Schulische Fachkulturen und Geschlecht: Physik und Deutsch - natürliche Gegenpole? [1. Aufl.] 9783839406885

Diese ethnografische Studie untersucht zwei breite Forschungsfelder, die bislang noch nicht in dieser Weise zusammengeda

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German Pages 314 [312] Year 2015

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Inhalt
Einleitung
1. Kulturelle Zuschreibungen und Grenzziehungen
1.1 Kulturkonzepte und Positionen zu fachkulturellen Feldern
1.2 Literarische und naturwissenschaftliche Welten: Zwei Fachkulturen?
1.2.1 Die Zwei-Kulturen-Debatte um Snow
1.2.2 Epistemische Felder und ihre Formen der Differenzierungen
1.3 Die Geschichte fachkultureller Welten in der Schule: Physik und Deutsch
1.3.1 Physik
1.3.2 Deutsch
1.3.3 Unterschiede und Gemeisamkeiten beider Fächer
2. Gendering-Prozesse und fachkulturelle Felder: Siamesische Zwillinge?
2.1 Gender – doing gender – undoing gender
2.2 Ergebnisse fachkultureller Forschung unter Genderaspekten
2.3 Schulische Fächer und Geschlecht
2.4 Vorläufige Bilanz: Physik und Deutsch als schulische Fachkulturen
3. Symbolische Reproduktion schulischer Fachkulturen durch Habitus, Feld und Illusio
3.1 Strukturen, Individuen und Ressourcen: Zusammenhänge in praxeologischer Sicht
3.2 Habitus und Positionen
3.3 Felder, Räume und Orte
3.4 Die Illusio als Macht der Gewohnheit
4. Forschungsdesign
4.1 Das Forschungsfeld
4.1.1 Das Edith-Benderoth-Gymnasium
4.1.2 Die beobachteten Klassen
4.1.3 Die Unterrichtsfächer Deutsch und Physik am Edith-Benderoth-Gymnasium
4.2 Methodische Anlage der Studie
4.2.1 Das ethnografische Verfahren und dessen Realisierung
4.2.2 Überblick über das erhobene Material
4.3 Methodenreflexion: Chancen und Risiken ethnografischer Zugänge
5. Technik, Macht und Männlichkeit versus Sprache, Emotionen und Weiblichkeit? Positionen der Akteurinnen und Akteure
5.1 Konturen der Unterrichtsfächer Deutsch und Physik nach Aussagen der Schülerinnen und Schüler
5.2 Konturen der Unterrichtsfächer Deutsch und Physik nach Aussagen der Lehrerinnen und Lehrer
5.2.1 Fach und Geschlecht: Konstruktionen der Physiklehrkräfte
5.2.2 Fach und Geschlecht: Konstruktionen der Deutschlehrkräfte
5.3 Inklusion und Exklusion: fachkulturelle Mechanismen des gendering in Physik und Deutsch
6. Besonderheiten des bilingualen Physikunterrichts
6.1 Bilingualer Sachfachunterricht am Edith-Benderoth-Gymnasium
6.2 Veränderungen im schulorganisatorischen und schulsozialen Rahmen
6.3 Konzeptionelle Hintergründe der Lehrkräfte zum bilingualen Unterricht
6.4 Umgang mit der Bewertungspraxis von Sprache durch Lehrende und Lernende
6.4.1 Lehrende
6.4.2 Schüler und Schülerinnen untereinander
6.4.3 Lernende und Lehrende
6.5 Gendering-Prozesse im bilingualen Physikunterricht
7. Feldmerkmale: Unterrichtsorte am Edith-Benderoth-Gymnasium
7.1 Unterrichtsorte im Fach Deutsch
7.1.1 Klasse A
7.1.2 Klasse B
7.1.3 Klasse C
7.2 Unterrichtsorte im Fach Physik
7.3 Institutionelle Vorgaben und örtliche Gestaltung: Dimensionen fachkultureller Strukturen
8. Räume als Produzenten fachkultureller und gegenderter Strukturen
8.1 Fachkulturelle Symbolik: das Pult
8.2 Fachräume – Von Gastgebern und Gästen
8.3 Sitzordnungen als geschlechtliche Arrangements
8.3.1 Klasse A: Geschlechtertrennung
8.3.2 Klasse B: Aushandlungen
8.3.3 Klasse C: konkurrierende Prinzipien
8.3.4 Sitz- und Kooperationsordnungen in den Fächern
8.4 Räume: (k)einer wie der andere?
9. Fazit: Fachkulturen als mehrdimensionale Wirkungsgefüge
9.1 Die Illusio des Unterrichtsfaches Physik
9.2 Die Illusio des Unterrichtsfaches Deutsch
9.3 Gegenderte schulische Fachkulturen – eine symbolische Macht?
Literatur
Anhang
Bereiche des standardisierten Fragebogens
Leitfaden des Konstruktinterviews
Überblick über die erhobenen Daten
Abbildungsverzeichnis
Tabellenverzeichnis
Dank
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Schulische Fachkulturen und Geschlecht: Physik und Deutsch - natürliche Gegenpole? [1. Aufl.]
 9783839406885

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Katharina Willems Schulische Fachkulturen und Geschlecht

Theorie Bilden Band 10 Hannelore Faulstich-Wieland, Hans-Christoph Koller, Karl-Josef Pazzini, Michael Wimmer (Herausgeber im Auftrag des Fachbereichs Erziehungswissenschaft der Universität Hamburg)

Editorial Die Universität ist traditionell der hervorragende Ort für Theoriebildung. Ohne diese können weder Forschung noch Lehre ihre Funktionen und die in sie gesetzten gesellschaftlichen Erwartungen erfüllen. Zwischen Theorie, wissenschaftlicher Forschung und universitärer Bildung besteht ein unlösbares Band. Auf diesen Zusammenhang soll die Schriftenreihe »Theorie Bilden« wieder aufmerksam machen in einer Zeit, in der Effizienz- und Verwertungsimperative wissenschaftliche Bildung auf ein Bescheidwissen zu reduzieren drohen und in der theoretisch ausgerichtete Erkenntnis- und Forschungsinteressen durch praktische oder technische Nützlichkeitsforderungen zunehmend delegitimiert werden. Dabei ist der Zusammenhang von Theorie und Bildung in besonderem Maße für die Erziehungswissenschaft von Bedeutung, ist doch Bildung nicht nur einer ihrer zentralen theoretischen Gegenstände, sondern zugleich auch eine ihrer praktischen Aufgaben. In ihr verbindet sich daher die Bildung von Theorien mit der Aufgabe, die Studierenden zur Theoriebildung zu befähigen. In dieser Schriftenreihe werden theoretisch ausgerichtete Ergebnisse aus Forschung und Lehre von Mitgliedern des Fachbereichs publiziert, die das Profil des Faches Erziehungswissenschaft, seine bildungstheoretische Besonderheit im Schnittfeld zu den Fachdidaktiken, aber auch transdisziplinäre Ansätze dokumentieren. Es handelt sich dabei um im Kontext der Fakultät entstandene Forschungsarbeiten, hervorragende Promotionen, Habilitationen, aus Ringvorlesungen oder Tagungen hervorgehende Sammelbände, Festschriften, aber auch Abhandlungen im Umfang zwischen Zeitschriftenaufsatz und Buch sowie andere experimentelle Darstellungsformen.

Die Autorin dieses Bandes: Katharina Willems (Dr. phil.) forscht an der Universität Hamburg und ist freiberufliche Bildungstrainerin und Mediatorin. Ihre Schwerpunkte sind empirische Schulforschung, Genderverhältnisse und Konfliktmanagement.

Katharina Willems

Schulische Fachkulturen und Geschlecht Physik und Deutsch – natürliche Gegenpole?

Für Emma Luna und Lara

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

© 2007 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung & Innenlayout: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat & Satz: Katharina Willems Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-89942-688-5 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt Einleitung 1. Kulturelle Zuschreibungen und Grenzziehungen 1.1 Kulturkonzepte und Positionen zu fachkulturellen Feldern 1.2 Literarische und naturwissenschaftliche Welten: Zwei Fachkulturen? 1.2.1 Die Zwei-Kulturen-Debatte um Snow 1.2.2 Epistemische Felder und ihre Formen der Differenzierungen 1.3 Die Geschichte fachkultureller Welten in der Schule: Physik und Deutsch 1.3.1 Physik 1.3.2 Deutsch 1.3.3 Unterschiede und Gemeisamkeiten beider Fächer 2. Gendering-Prozesse und fachkulturelle Felder: Siamesische Zwillinge? 2.1 Gender – doing gender – undoing gender 2.2 Ergebnisse fachkultureller Forschung unter Genderaspekten 2.3 Schulische Fächer und Geschlecht 2.4 Vorläufige Bilanz: Physik und Deutsch als schulische Fachkulturen 3. Symbolische Reproduktion schulischer Fachkulturen durch Habitus, Feld und Illusio 3.1 Strukturen, Individuen und Ressourcen: Zusammenhänge in praxeologischer Sicht 3.2 Habitus und Positionen 3.3 Felder, Räume und Orte 3.4 Die Illusio als Macht der Gewohnheit

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4. Forschungsdesign 4.1 Das Forschungsfeld 4.1.1 Das Edith-Benderoth-Gymnasium 4.1.2 Die beobachteten Klassen 4.1.3 Die Unterrichtsfächer Deutsch und Physik am Edith-Benderoth-Gymnasium 4.2 Methodische Anlage der Studie 4.2.1 Das ethnografische Verfahren und dessen Realisierung 4.2.2 Überblick über das erhobene Material 4.3 Methodenreflexion: Chancen und Risiken ethnografischer Zugänge 5. Technik, Macht und Männlichkeit versus Sprache, Emotionen und Weiblichkeit? Positionen der Akteurinnen und Akteure 5.1 Konturen der Unterrichtsfächer Deutsch und Physik nach Aussagen der Schülerinnen und Schüler 5.2 Konturen der Unterrichtsfächer Deutsch und Physik nach Aussagen der Lehrerinnen und Lehrer 5.2.1 Fach und Geschlecht: Konstruktionen der Physiklehrkräfte 5.2.2 Fach und Geschlecht: Konstruktionen der Deutschlehrkräfte 5.3 Inklusion und Exklusion: fachkulturelle Mechanismen des gendering in Physik und Deutsch

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Besonderheiten des bilingualen Physikunterrichts 185 Bilingualer Sachfachunterricht am Edith-Benderoth-Gymnasium 188 Veränderungen im schulorganisatorischen und schulsozialen Rahmen 189 Konzeptionelle Hintergründe der Lehrkräfte zum bilingualen Unterricht 190 6.4 Umgang mit der Bewertungspraxis von Sprache durch Lehrende und Lernende 193 6.4.1 Lehrende 194 6.4.2 Schüler und Schülerinnen untereinander 198 6.4.3 Lernende und Lehrende 199 6.5 Gendering-Prozesse im bilingualen Physikunterricht 204 6. 6.1 6.2 6.3

7. Feldmerkmale: Unterrichtsorte am EdithBenderoth-Gymnasium 7.1 Unterrichtsorte im Fach Deutsch 7.1.1 Klasse A 7.1.2 Klasse B 7.1.3 Klasse C

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7.2 Unterrichtsorte im Fach Physik 7.3 Institutionelle Vorgaben und örtliche Gestaltung: Dimensionen fachkultureller Strukturen

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8. Räume als Produzenten fachkultureller und gegenderter Strukturen 8.1 Fachkulturelle Symbolik: das Pult 8.2 Fachräume – Von Gastgebern und Gästen 8.3 Sitzordnungen als geschlechtliche Arrangements 8.3.1 Klasse A: Geschlechtertrennung 8.3.2 Klasse B: Aushandlungen 8.3.3 Klasse C: konkurrierende Prinzipien 8.3.4 Sitz- und Kooperationsordnungen in den Fächern 8.4 Räume: (k)einer wie der andere?

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9. 9.1 9.2 9.3

253 256 264 272

Fazit: Fachkulturen als mehrdimensionale Wirkungsgefüge Die Illusio des Unterrichtsfaches Physik Die Illusio des Unterrichtsfaches Deutsch Gegenderte schulische Fachkulturen – eine symbolische Macht?

Literatur

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Anhang Bereiche des standardisierten Fragebogens Leitfaden des Konstruktinterviews Überblick über die erhobenen Daten Abbildungsverzeichnis Tabellenverzeichnis

301 301 305 308 309 309

Dank

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Einleitung

Seitdem die weiterführenden Schulen in den 1960er Jahren die Koedukation eingeführt haben, hat sich insbesondere für die Mädchen und jungen Frauen viel getan: Mädchen machen inzwischen qualitativ und quantitativ höhere Bildungsabschlüsse als ihre männlichen Mitschüler und sie durchlaufen das Schulsystem schneller als die Jungen. Das öffentliche Bild hat sich sogar dahingehend gewandelt, dass wiederholt von den Jungen als Verlierern des Bildungssystems gesprochen wird (vgl. Focus Nr. 32/2002, Die Zeit 31/02, Der Spiegel 21/2004, Süddeutsche Zeitung 13.3.2006; vgl. dazu auch Rose/ Schmauch 2005). Bislang lässt sich jedoch konstatieren, dass die Kategorie Geschlecht recht unsystematisch in bildungspolitischen Fragestellungen und Untersuchungen aufgegriffen wurde. Dies macht es schwierig, solch generelle Aussagen wissenschaftlich abgesichert zu treffen. Die PISA-Studien 2000 und 2003 (PISA = Program for International Student Assessment, vgl. Baumert u. a. 2001 und PISA-Konsortium Deutschland 2004) sowie die TIMSStudie (TIMSS = Third International Mathematics and Science Studies vgl. Baumert u. a. 1997) eröffneten hier eine veränderte Perspektive: Zum einen wurde das Geschlecht der Lernenden systematisch in die Erhebungen einbezogen – in dieser Konsequenz eine Seltenheit in der (empirischen) Schul- und Bildungsforschung. Zum anderen nehmen bei den Diskussionen in Fachdiskussionen nach Bekanntgabe der Ergebnisse die Geschlechterdifferenzen zunehmend eine zentrale Rolle ein. Gerade unter Einbezug neuer Differenzierungen und Perspektiven wird deutlich, dass durch eine formal gleiche Bildungsbeteiligung von Mädchen und Jungen das Ziel einer Chancengleichheit der Geschlechter im Bildungswesen sicherlich noch nicht erreicht ist. Bislang kann weder davon gesprochen werden, dass Mädchen und Jungen in allen Unterrichtsfächern die gleichen Leistungen erbringen, noch ist von einer gleichen Beteiligung an den Fächern auszugehen. Vielmehr hält sich bei aller Veränderung, welche in der Bildungslandschaft in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten auch unter Genderaspekten hervorgebracht wurde, ein 9

SCHULISCHE FACHKULTUREN UND GESCHLECHT

Phänomen nach wie vor sehr stabil: die Geschlechterzuschreibungen der Fächer bzw. Fachbereiche im Hinblick auf Interessen, Fachwahlen sowie Selbsteinschätzungen. Danach dominieren die Jungen im naturwissenschaftlichen Bereich, die Mädchen in den sprachlichen Fächern.1 Diese Situation ist bereits seit Jahren benannt und wird auch als problematisch eingeschätzt, da entsprechend Mädchen wie Jungen nach wie vor keine optimale Förderung erhalten. Dennoch bestätigen alle aktuellen Leistungsstudien – und zwar nationale wie internationale – diese Aufteilung der Bereiche. Die Aufhebung traditioneller geschlechtsspezifischer Zuweisungen des naturwissenschaftlichen bzw. sprachlichen Bereichs in der Sekundarstufe hat also bis heute nicht zu einer geschlechtsunabhängigen Wahlmöglichkeit für die Lernenden geführt. Neben PISA 2000 und 2003 bestätigt die fachbezogene empirische Erhebung TIMSS die beobachteten Geschlechterdifferenzen: Demnach tendieren die Jungen weiterhin in ihrer Wahl zu den mathematisch-naturwissenschaftlichen Fächern, die Mädchen zu sozial- und geisteswissenschaftlichen.2 Auch in den Fachleistungen, dieses sagen die Ergebnisse der Hamburger LAU-Studie (Aspekte der Lernausgangslage und der Lernentwicklung von Schülerinnen und Schülern der n-ten Klassen an Hamburger Schulen, vgl. www.hamburgerbildungsserver.de/schulentwicklung/lau; letzter Zugriff am 13.2.07) zeigen sich (z. T. signifikante) Unterschiede Vergeschlechtlichte fachkulturelle Strukturen halten sich in Bezug auf die Fächer also hartnäckig. Mit der Beobachtung, dass Jungen und Mädchen in den schulischen Fächern unterschiedliche Vorlieben ausbilden, werden zwei Themenbereiche miteinander verknüpft: schulische Fächer und die Kategorie Geschlecht. Spätestens durch ein wiederholtes Auftreten der Aussage, dass hier Geschlechterdomä1 Über die Darstellung der Studien wird das Bild vermittelt, alle Mädchen würden Stärken im sprachlichen und Schwächen im naturwissenschaftlichen Bereich haben, bei den Jungen entsprechend umgekehrt. Selbstverständlich trifft dieses nicht auf alle Angehörigen der Geschlechtergruppen zu, sondern die Aussagen beziehen sich auf Mehrheiten. Gerade weil die Zahlen jedoch recht eindeutige Mehrheitsverhältnisse aufweisen, finden die von den stereotypen Zugehörigkeiten abweichenden Jungen und Mädchen relativ wenig Beachtung. 2 Die Wahlen in (fach-)hochschulischen Bereichen zeigen, dass sich diese Tendenz in den Studiengängen fortsetzt. Von den Studierenden im Wintersemester 2004/2005 waren z. B. in der Physik 81% männlich und 19% weiblich. Physik lag bei den männlichen Studierenden auf Platz 10 der gewählten Studienfächer, bei den Frauen auf Platz 43. Umgekehrt zeigten sich die Geschlechterverhältnisse z. B. in der Germanistik: hier stellten die weiblichen Studierenden, 77% der Studierendenschaft, 23% waren Männer. Germanistik war bei den Studentinnen das zweitbeliebteste Studienfach, bei den Männern lag die Germanistik auf Platz 13. (vgl. Statistisches Bundesamt 2006, vgl. dazu auch Costas 2002 und Kahlert/ Mischau 2000). Zu den ungleichen Verteilungen der Interessenslagen bei Schülerinnen und Schülern in Bezug auf schulische Unterrichtsfächer vgl. z. B., Vogel/ Hinz 2000, Nissen u. a. 2003 und Wächter 2003.

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EINLEITUNG

nen geprägt werden, stellt sich die Frage, ob dieses möglicherweise mit den spezifischen Kulturen der Fächer zu tun haben könnte. Um dieser Frage nachzugehen, ist es zunächst notwendig zu überprüfen, ob sich bei den relevanten Fächern von Fachkulturen sprechen lässt. Sowohl die historische Nachzeichnung der beiden Fächer als auch die Auszüge aus außerschulischer Fachkulturforschung verweisen darauf, dass die in diesen Teilen zitierten Autorinnen und Autoren davon ausgehen, dass es sich zumindest bei den (fach-) hochschulischen Disziplinen Physik und Germanistik um eigenständige Fachkulturen handelt. Ob sich dieses auch für die Fächer Physik und Deutsch innerhalb des schulischen Bereichs behaupten lässt, wird im Rahmen dieser Arbeit anhand unterschiedlicher Ausschnitte der genannten Fächer überprüft werden. Mit den Unterrichtsfächern Deutsch und Physik werden zwei Fächer untersucht, die traditionell den Polen weiblich bzw. männlich zugeschrieben sind. Physik gilt als „Königsdisziplin“ (vgl. z. B. Rübsamen 1983) der Naturwissenschaften – und damit als Inbegriff des Faches, welches vermeintlich männliche Interessenslagen anspricht. Das eigentliche Pendant zu dieser ‚harten’ Naturwissenschaft wäre – gemessen an der Teilhabe der Mädchen aufgrund von Anteilen in gewählten Unterrichtsfächern – eigentlich Französisch oder Englisch (vgl. z. B. Schmenk 2002). Die Feldvorgabe ließ jedoch eine Untersuchung dieser sprachlichen Fächer im Sample des Längsschnitts in den drei Klassen nicht zu. Möglich war jedoch, das Unterrichtsfach Deutsch zu erheben. Dieses Fach birgt im Nachhinein den Vorteil, dass es sehr viel breiter zu beobachten war, zugleich aber noch die allgemeinen sprachlichen Fächern zugeschriebenen Attribuierungen gelten. Darüber hinaus wird der bilinguale Physikunterricht (d. h. der in diesem Fall in englischer Sprache abgehaltene Physikunterricht) in die Untersuchung einbezogen, da in diesem Fach eine Zuschreibung auf die Geschlechtergruppen bzw. auch auf die Pole naturwissenschaftliches vs. sprachwissenschaftliches Fach bei weitem nicht so eindeutig funktioniert. Es gilt in dieser Arbeit also zu überprüfen, ob es Kriterien gibt, nach denen die Unterrichtsfächer Physik bzw. der bilinguale Physikunterricht und Deutsch als je eigene Fachkulturen gefasst werden können und welche Fach-Charakteristika auf eine solche Klassifikation eigenständiger kultureller Felder verweisen bzw. diese in Frage stellen. Zentrales Anliegen dieser Arbeit ist jedoch darüber hinaus ein Hinterfragen der schulischen Felder unter dem speziellen Fokus möglicher genderingProzesse. Geschlecht, verstanden als Dimension des Sozialen, welche sich nicht aus der sozialen Ordnung herausdenken lässt, sondern immer als Ordnungsschema mitgedacht wird, wirkt in den unterschiedlichen Feldern spezifisch, je nachdem welche den Fächern eigenen Mechanismen zum Tragen kommen. Hierfür ist ein Nachzeichnen der den Feldern zu Grunde liegenden geschlechtlichen Zuschreibungen erforderlich. Mit Pierre Bourdieu gesprochen soll der Frage nachgegangen werden, worin die beteiligten Personen, 11

SCHULISCHE FACHKULTUREN UND GESCHLECHT

Lernende wie Lehrende, den Spieleinsatz (vgl. Bourdieu 1987a: 122) sehen, also das, worum es in den beiden Fächern geht. Meine These lautet, dass Gender und Fachkulturen jeweils dichotom konstruiert und immer wieder deckungsgleich gemacht werden – worin eine Erklärung der genderingMechanismen und der daraus hervorgehenden unterschiedlichen Effekte für Jungen und Mädchen liegen könnte. Folgende Fragen gilt es für eine Überprüfung der These zu klären: Welche disziplinären Charakteristika aktivieren oder aktivieren eben nicht Geschlechterdifferenzen? Wann ist die Geschlechtszugehörigkeit der Handelnden im Feld also folgenreich? Wie funktioniert das Verhältnis zwischen doing gender und doing discipline3 in den beiden Unterrichtsfächern Deutsch und Physik? Im Vordergrund der Untersuchung stehen Fragen nach Praxiszusammenhängen, in denen die Prozesse des doing discipline zum Ausdruck kommen. Die Praxis von Kulturen zu untersuchen verlangt auch, den Blick auf Differenzen zu richten. Selbstverständlich spielen hierbei Macht und soziale Ungleichheiten eine Rolle. Diese können zum Einen als Differenzen entlang unterschiedlicher sozialer Gruppierungen betrachtet werden, es gilt m. E. jedoch auch, die Differenzlinien innerhalb dieser Gruppen zu fokussieren. Insofern ist Karl H. Hörning und Julia Reuter zuzustimmen, wenn sie konstatieren: „Doing culture ist immer auch doing difference, gleichwohl nicht alle Differenzen als Ungleichheiten praktiziert werden. Es bleiben immer auch Spielräume, dasselbe anders zu machen.“ (2004: 11, Herv. im Orig.). In der vorliegenden Arbeit wird dieser Blick u. a. in der Kontrastierung von monolingualem mit bilingualem Physikunterrichts berücksichtigt. Auch auf der Ebene des doing gender wird diese Perspektive integriert: Zwei Fragen sind in dieser Studie forschungsleitend: zum einen die Frage nach den üblichen Praktiken innerhalb der Fächer Deutsch und Physik, welche Hinweise auf ein Verständnis der Fächer als eigene Fachkulturen geben 3 Während sich für andere Kategorien des „doing difference“ die englischsprachigen Übersetzungen als recht eindeutig anbieten (doing adult, doing gender etc.), gestaltet sich dieses bei der Kategorie der Herstellung von Fachkulturen weit schwieriger: So können Ungenauigkeiten bzw. sogar doppelte Lesarten nicht ausgeschlossen werden. Dieses wäre z. B. der Fall, wenn von „doing subject“ gesprochen würde, subject kann zum einen als englische Übersetzung des Wortes „Schulfach“ gelesen werden, bedeutet aber auch die Übersetzung von „Subjekt“. Ein Aufschlüsseln in die einzelnen Fächer als z. B. „doing physics“ stößt spätestens bei dem zweiten betrachteten Fach an Grenzen: sollte hier von „doing german“ oder von „doing language“ oder von „doing philology“ gesprochen werden? Zudem würde hiermit nicht deutlich, dass ich mich auf aktive Herstellungsprozesse beziehe, welche durchaus mehrere Fachkulturen gleichzeitig umfassen können. Die nur halb übersetze Variante des „doing Fachkultur“ böte zwar eine eindeutige Lesart, verbietet sich jedoch aus sprachlichen Gründen. Aus den genannten Gründen habe ich mich entschieden, in dieser Arbeit von „doing discipline“ zu sprechen.

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EINLEITUNG

könnten. Interessant ist hierbei, ob und ggf. wie die Fächer als dichotome Kategorien konstruiert werden. Zum anderen ist die Frage zentral, wieso die Strukturen im Hinblick auf die Kategorie Geschlecht derart schwer aufzubrechen sind bzw. in welchen Mechanismen sie möglicherweise immer wieder neu gefestigt werden. Die vorliegende ethnografische Untersuchung basiert auf einer dreijährigen Längsschnittstudie an einem Gymnasium einer westdeutschen Großstadt. Das Sample für die Erhebung bilden drei Klassen der Mittelstufe des EdithBenderoth-Gymnasiums, speziell des Deutsch- und Physikunterrichts.4 Die beiden zentralen Pole der Fragestellung dieser Arbeit – Gender und Fachkulturen – sind bislang in schulischer Forschung erstaunlich wenig berücksichtigt worden. Während fachkulturelle Konstruktionsprozesse in (fach-) hochschulischen Kontexten bereits mehrfach untersucht wurden (vgl. als eine der ersten Engler 1993, aktuell z. B. Heintz u. a. 2004), stellt die schulische Forschung hier vor allem blinde Flecken dar.5 Gleichzeitig dürfte wohl kaum bestritten werden, dass entscheidende Weichen für die Ausbildung fachkultureller Habitus in der Schule gestellt werden, während sie in den (Fach-) Hochschulen ‚nur noch’ verstärkt, bestätigt oder geschliffen werden. Schulische Fachkulturen als Untersuchungsgegenstand fanden bisher – wenn überhaupt – v. a. unter didaktischen Fragestellungen Berücksichtigung (vgl. hierzu z. B. zahlreiche Veröffentlichungen des IPN, des Leibniz-Instituts für die Pädagogik der Naturwissenschaften, Kiel). Zwar fordert Horst Speichert bereits 1982 in seinem Text „Null Bock auf Newton, Einstein und Konsorten. Warum naturwissenschaftlicher Unterricht so unbeliebt ist und was dagegen getan werden kann“ für die naturwissenschaftlichen Fächer, dass „das lernende Subjekt näher in Augenschein genommen werden“ (1982: 7) müsste. In seinen Aussagen beschränkt sich der Autor ebenso wie die Marburger Forschungsgruppe „Soznat“, in die er eingebunden ist, auf die Untersuchungen der „sozialen Aspekte des mathematisch-naturwissenschaftlichen Unterrichts“ (ebd.), konkret stehen im Mittelpunkt dann jedoch ausschließlich die verabsolutierten Zugänge zu den fachlichen Inhalten – und damit die didaktischen Zugänge der Fächer. Dieses Bild, und damit der Zugang zu schulischen Fachkulturen, hat sich seitdem wenig gewandelt. Bei der Bearbeitung der Frage nach den Konstruktionsprozessen von Fachkulturen und Geschlecht kann von zwei Perspektiven aus vorgegangen werden: entweder werden dabei die Geschlechterdifferenzen oder aber die fachkultu4 Der Schulname wurde ebenso wie sämtliche Personennamen anonymisiert. 5 Eine multidisziplinäre Erhebung dieser Form ist bisher erst in wenigen Studien, und meines Wissens ausschließlich in (fach-)hochschulischen Fachkulturstudien üblich (vgl. z. B. auch Schaeper 1997, Münst 2002).

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SCHULISCHE FACHKULTUREN UND GESCHLECHT

rellen Differenzen in den Mittelpunkt gestellt. Ersterem Ansatz folgend wird also bereits von einer Geschlechterdifferenz ausgegangen und für die schulischen Fachkulturen hinterfragt, inwieweit sie sich disziplinär geschlechterdifferent präsentieren. Nach diesem Fokus wird Geschlecht als omnipräsente Kategorie angenommen. Oder aber – und diesem Ansatz folgt diese Studie – die Geschlechterdifferenzen rücken zunächst in den Hintergrund und die Konstruktionsprozesse werden auf verschiedenen Ebenen in den fachkulturellen Feldern hinterfragt. Ob die Kategorie Geschlecht dabei eine Rolle spielt – oder aber auch nicht –, wird zu untersuchen sein. Die Wirksamkeit von Geschlecht wird damit also zu einer Frage der sozialen Praxis. Selbstverständlich sind die Akteurinnen und Akteure des schulischen Raums damit nicht geschlechtslos. Die Untersuchung folgt einem Ansatz, welcher, mit Erving Goffman gesprochen, die Möglichkeit einer Entdramatisierung von Geschlecht mit einbezieht (vgl. dazu ausführlich Faulstich-Wieland/ Weber/ Willems 2004 bzw. auch Budde/ Faulstich-Wieland 2004). Das bedeutet, dass die Kategorie Geschlecht in bestimmten sozialen Kontexten zu Gunsten anderer Kategorien zurückgestellt werden kann, während eben diese dann in den Vordergrund der Interaktion gerückt werden. Schulische Akteurinnen und Akteure scheinen Expertinnen und Experten darin zu sein, sich situativ der Möglichkeiten eines „doing difference“ (West/ Fenstermaker 1995) zu bedienen (vgl. dazu Faulstich-Wieland/ Weber/ Willems 2004). Inwiefern und in welcher Form sich das auch für fachkulturelle Kontexte behaupten lässt, wird hier hinterfragt. Diese Studie geht von der These aus, dass unterschiedliche Fachkulturen unterschiedliche Kontexte ausbilden, sich also quasi ihre spezifischen ‚Umwelten’ schaffen, in denen die Akteurinnen und Akteure ihre Interaktionen auch auf eine spezifische Art und Weise gestalten. Eben diese Mechanismen werden hier auf verschiedenen Ebenen für die Unterrichtsfächer Deutsch und Physik empirisch untersucht. Als theoretischer Rahmen werden dabei vor allem die theoretischen Ansätze von Pierre Bourdieu zu Habitus, Feld und Illusio herangezogen, da sich dieses Instrumentarium in besonderem Maße eignet, die fachkulturellen Spezifika empirisch greifbar zu machen. Pierre Bourdieu und Loïc Wacquant zufolge existiert die soziale Realität „sozusagen zweimal, in den Sachen und in den Köpfen, in den Feldern und in den Habitus, innerhalb und außerhalb der Akteure“ (1996: 161). Im Mittelpunkt von Bourdieus Arbeiten steht die Frage nach der Herstellung und Aufrechterhaltung sozialer Ungleichheiten. Um die soziale Welt zu analysieren, bietet er unterschiedliche Erkenntniskonzepte. Genereller (handlungstheoretischer) Ansatz ist, dass individuelles Handeln und gesellschaftliche Strukturen eng miteinander verwoben sind und aufeinander verweisen. Damit verlässt Bourdieu die Position, dass soziale Praxis sich durch Normati14

EINLEITUNG

vität auszeichnen würde, und betrachtet stattdessen soziales Handeln als relational. Da Bourdieus Konzepte in der Forschungspraxis entwickelt und modifiziert wurden, gibt es keine eindeutigen Definitionen seiner theoretischen Werkzeuge. Entsprechend soll es auch in dieser Arbeit darum gehen, „nicht nur über, sondern auch mit Bourdieu [zu] arbeiten“ (Gebauer/ Wulf 1993, zit. n. Audehm 2001: 103). Bourdieus Ansätze dienen dazu, die soziale Praxis mit ihrer eigenen praktischen Logik zu verstehen. Mit Bourdieu lässt sich von den verschiedenen Fachkulturen auch als ‚Felder’ sprechen,6 in denen die Akteure und Akteurinnen einen fachkulturellen Habitus ausbilden. Die Habitustheorie lässt sich dabei verstehen als „Theorie des Erzeugungsmodus der Praxisformen“ (Bourdieu 1976a: 164), d. h. Habitusformen sind Vermittlungsglieder zwischen den Bedingungen der sozialen Lage – bzw. den Strukturen – und dem jeweiligen Umgang mit eben diesen Bedingungen – bzw. der Praxis. Der Habitus fußt auf Selbstverständlichkeiten und lässt sich definieren als „System verinnerlichter Strukturen, Gewohnheiten, Routinen, Denk-, Wahrnehmungs-, Urteilsund Handlungsmuster“ (vgl. z. B. Bourdieu 1987a: 112), welche kulturell unbewusst erworben und reproduziert werden. Habitus und Feld stehen in unmittelbarem „Komplementärverhältnis; sie stellen die zwei Seiten der Medaille des Sozialen dar“ (Schwingel 2000: 73f.). Beide müssen entsprechend in empirischen Analysen immer aufeinander bezogen werden. Für ein angemessenes Agieren in einem spezifischen Feld benötigen die Akteurinnen und Akteure eine Strategie, welche den Einzelnen zwar einen gewissen Handlungsspielraum lässt, der jedoch eine gemeinsame ‚Illusio’, das woran alle glauben, die an den Aushandlungen der Felder und ihrer Grenzen beteiligt sind, zu Grunde liegt. Ebenso wie die Zugehörigkeit zu einem Feld erworben werden muss, wird auch die Illusio in Auseinandersetzung mit den äußeren Strukturen handelnd erworben. Bourdieu fasst alles Handeln als strategisches Vorgehen, Grundlage ist das situativ spezifische Interesse an einer Akkumulation der Kapitalien, feldspezifische Regeln werden über dieses Interesse anerkannt – und ggf. reproduziert. In empirischen Arbeiten stellt sich immer die Frage der Wechselwirkung zwischen theoretischem Rahmen und empirischem Datenmaterial. Loïc Wacquant verdeutlicht Bourdieus Position zur Verbundenheit von Theorie und Empirie: Bourdieu ist der Auffassung, dass jeder Forschungsakt empirisch ist (da er es mit der Welt der beobachtbaren Erscheinungen zu tun hat) und zugleich theoretisch (da er 6 Ich betrachte in dieser Arbeit die beiden Unterrichtsfächer Deutsch und Physik als eigenständige Felder. Zur Vielschichtigkeit der bourdieuschen Begrifflichkeit „Feld“ und zum Hintergrund dieser Entscheidung vgl. auch Kapitel 3.3. dieser Arbeit.

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SCHULISCHE FACHKULTUREN UND GESCHLECHT

notwendig mit den Hypothesen über die grundlegende Struktur der Relationen arbeitet, die durch die Beobachtungen erfasst werden sollen). Jede noch so geringfügige empirische Operation – die Wahl einer Messskala, eine Entscheidung bei der Kodierung, die Konstruktion eines Indikators oder die Aufnahme einer Frage in den Fragebogen – beinhaltet bewusste oder unbewusste theoretische Entscheidungen; jedes noch so abstrakte Begriffs-Puzzle gewinnt Klarheit erst durch die systematische Konfrontation mit der empirischen Realität. (Wacquant 1996: 91)

Bei dem ineinandergreifenden Wechselspiel aus theoretischer Positionierung und Erhebung bzw. Auswertung der empirischen Daten haben sich im Verlauf der Arbeit folgende Ausschnitte als aufschlussreich für die Aussagen zu gegenderten Fachkulturen ergeben: die drei theoretischen Säulen Habitus, Feld und Illusio werden über das Datenmaterial als mehrdimensionaler Ausdruck fachkultureller Konstrukte fassbar gemacht. Dabei zeigt sich das enge Zusammenspiel aus Theorie und Empirie auch in den materiellen Entsprechungen, welche auf der Erscheinungsebene die theoretischen Ausschnitte abbilden. Kultur ist immer auch praktisch hergestellte Materialität. Die Ebene des Habitus wird in dieser Arbeit empirisch verdeutlicht, indem ich die Positionen schulischer Akteurinnen und Akteure über die jeweiligen fachlichen Realitätskonstruktionen aufgreife. Der Habitus ist nicht reflexiv zugänglich, in den Aussagen qualitativer und quantitativer Befragungen finden sich jedoch Äußerungen, die auf (reflexiv nicht greifbare) geteilte Wahrnehmungs- und Denkmuster schließen lassen. Für die Analyse von sozialen Feldern ist es entscheidend, deren Grenzen zu analysieren. Die Ausbildungsmechanismen und Formen der Aufrechterhaltung fachkultureller Felder scheinen mir beschreibbar über fachkulturelle Orte und Räume. Das Zusammenspiel von Feld und Habitus funktioniert nur deshalb so beidseitig aufeinander bezogen, weil jedem Feld ein spezifischer „Sinn für das Spiel“ (z. B. Bourdieu 1987a: 122) zu Grunde liegt. Im Zuge dieser Arbeit scheinen mir Aussagen zur fachkulturellen Illusio zentral für die Beschreibung der Felder. Die Illusio wird von den Teilnehmenden passgenau für jedes Feld entwickelt und nur träge verändert. Um diese Illusio der beiden Unterrichtsfächer Deutsch und Physik rekonstruieren und auf gegenderte Dimensionen hin untersuchen zu können, muss der Blick auf kollektive und möglichst selbstverständliche Alltagspraktiken gerichtet werden. Zudem ist eine mehrdimensionale Perspektive auf die beiden schulischen Felder unabdingbar. Dies wird auf verschiedenen Ebenen berücksichtigt: Bereits in der methodischen Anlage der Studie wird diese Mehrdimensionalität sichtbar. Zunächst werden methodentrianguliert qualitative ebenso wie quantitative Daten herangezogen. Durch den Abgleich der sich ergänzenden Erhebungsmethoden ergibt sich eine zusätzliche Dichte in den Feldbeschreibun16

EINLEITUNG

gen. So werden sowohl explizite Aussagen der Lehrenden und Lernenden erhoben, welche deren diskursiv zugängliche Positionen abbilden, als auch über die im Längsschnitt der auf drei Feldphasen angelegte teilnehmende Beobachtung implizite Positionen erfasst. Auch in der Auswertung des Materials wurde methodenplural vorgegangen. Um ein möglichst genaues Bild der fachkulturellen Felder zu erhalten, ist es ein Anliegen der Studie, gerade auch die fachkulturellen Konstruktionsprozesse in den Blick zu nehmen, die aufgrund ihrer doxischen Selbstverständlichkeit im schulischen Alltag wenig Aufmerksamkeit erfahren – und entsprechend selten reflektiert werden. Die Foki dieser Studie berücksichtigen dabei, wiederum im Sinne einer Mehrdimensionalität, strukturell-materielle wie auch interaktive Konstruktionsprozesse. Diese können als kulturformend gesehen werden, sie bilden zugleich die Fachkulturen ab und werden von diesen hervorgebracht. Materielle Seiten fachkultureller Kultur wie z. B. die Unterrichtsorte sind jedoch nicht als fixe Größen zu verstehen, vielmehr wird in dieser Arbeit gezeigt, dass die Materialität der Kulturen immer auch praktisch und habitualisiert hergestellt ist. Hörning und Reuter sprechen sogar davon, dass sich Kultur „häufig erst im Umgang mit Dingen und Körpern wirklich ‚dingfest’, d. h. sichtbar, aufzeigbar, nachweisbar, nachvollziehbar machen“ (2004: 12) lässt. Denn interessant sei die Frage, wie Kultur im Zuge ihrer ‚lebenspraktischen Vereinnahmung“ wirke und rückwirke (ebd.). Diese materialen Bereiche wurden von Seiten der Schulforschung bislang eher vernachlässigt: die Schulforschung beginnt gerade erst, sich raumsoziologischen Fragestellungen anzunähern, empirisch sind diese bisher wenig untersucht (vgl. jedoch Breidenstein 2004). Ähnlich verhält es sich mit der Kategorie Geschlecht innerhalb der fachkulturellen Forschung: In den unterschiedlichen Bildungsfeldern finden sich bereits Ansätze; während jedoch die hochschulische Fachkulturforschung Geschlecht zumindest z. T. bereits berücksichtigt, findet die Kategorie in Untersuchungen zu schulischen Fachkulturen bisher jedoch keinen Eingang. Diese Geschlechtsblindheit ist umso erstaunlicher, als doch die erwähnten Bildungsstudien (PISA, TIMSS, LAU etc.) seit längerer Zeit Geschlechterdifferenzen in den Fächern nicht nur vermuten lassen, sondern empirisch eindeutig bestätigen. Die hier vorliegende Studie greift genau diese Lücke auf und versucht, die genannten Leerstellen schulischer Forschung zu füllen. Damit soll zugleich ein Beitrag geleistet werden für Unterrichtsentwicklung und die Entwicklung einer geschlechtergerechten Schulkultur.

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Die Arbeit gliedert sich in einen theoretischen (Kapitel 1 bis Kapitel 4), einen empirischen (Kapitel 5 bis Kapitel 8) und einen resümierenden Teil (Kapitel 9). Das erste Kapitel führt in die Zusammenhänge von kulturellen Zuschreibungen und Grenzziehungen zwischen den epistemischen Feldern Physik und Deutsch ein. Zunächst erfolgt hier eine Positionierung innerhalb der verschiedenen und interdisziplinären Kulturkonzepte. Anschließend wird ausgehend von der Debatte um Charles P. Snow und seinen Vortrag „The Two Cultures and the Scientific Revolution“ (1959, dt. 1969) ein Überblick über die im Zuge der historischen Entwicklung zugeschriebenen Taxonomien zu den beiden fachkulturellen Polen Naturwissenschaften und Literatur- und Geisteswissenschaften gegeben. Entscheidend ist die den beiden Polen bis heute zugeschriebene unterschiedliche Wertigkeit, nach welcher die Naturwissenschaften, und allen voran die Physik, als ‚gesellschaftliche Leitdisziplin’ gesehen werden. Inwieweit diese Zuschreibungen auf sozialen Konstruktionen beruhen, wird anhand verschiedener Positionen hinterfragt. Im Anschluss daran wird dann die historische Entwicklung für die beiden konkreten Schulfächer Physik und Deutsch aufgezeigt, welche sich in weiten Teilen an den beschriebenen Taxonomien orientiert. Das zweite Kapitel stellt die für diese Arbeit zentralen theoretischen Ansätze der Debatte um die Kategorie Geschlecht vor und skizziert Ergebnisse aus vorliegenden Studien (fach-)hochschulischer und schulischer Forschung zum Zusammenspiel von Gender und Disziplinen bzw. Unterrichtsfächern. Resümierend wird an dieser Stelle betrachtet, ob und wieso sich bei den Unterrichtsfächern Physik und Deutsch begründet von eigenständigen schulischen Fachkulturen sprechen lässt. Im Kapitel 3 schließt sich eine Verortung im theoretischen Feld der bourdieuschen Begriffslandschaft an. Zentrale Begrifflichkeiten, welche für die dichte Beschreibung der beiden Unterrichtsfächer und ihrer fachkulturellen Besonderheiten herangezogen werden, sind Habitus, Feld und Illusio. Es ist unumstritten, dass sich Habitus und Feld gegenseitig bedingen und gemeinsam wirken. Entsprechend werden beide Dimensionen auch als zusammengehörig gedacht. Die feldspezifischen Spielregeln greifen jedoch nur deshalb, weil die Akteure und Akteurinnen des jeweiligen Feldes eine geteilte Illusio, einen geteilten Glauben an die Bedeutung des Spiels implizieren. Über die Aufschlüsselung der Illusio könen also Rückschlüsse auf feldspezifische Annahmen und Spielregeln verdeutlicht werden. Auf der empirischen Darstellungsebene werden in der Arbeit raumtheoretische Betrachtungen berücksichtigt, welche die Trennung der empirischen Ausschnitte der Unterrichtsräume und –orte beider Fächer in dieser Arbeit begründen. Mit diesem Verständnis wird für den schulischen Bereich noch relatives Neuland betreten, entspre-

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EINLEITUNG

chend werden in diesem Kapitel theoretische Konzeptionen für den raumtheoretischen Bereich erläutert. Im vierten Kapitel wird der methodische Zugang der Studie präsentiert und reflektiert. Zunächst werden das Forschungsfeld selber und seine schulindividuellen Gestaltungsformen der Unterrichtsfächer Deutsch und Physik dargestellt. In beiden Fächern stehen der Schule unterschiedliche Ressourcen zur Verfügung, welche zum Einsatz gebracht werden können. Anschließend wird das methodische Instrumentarium der Erhebungs- und Auswertungsmethoden in das methodische Gesamtkonzept eingebettet vorgestellt. Ein Überblick über das Sample der Studie schließt sich an. Die Chancen und Risiken ethnografischer Verfahren werden konkret auf die Erfahrungen dieser Untersuchung bezogen abschließend diskutiert. Das fünfte Kapitel stellt die Positionen der Schülerinnen und Schüler des Edith-Benderoth-Gymnasiums sowie ihrer Lehrenden dar. Nachgezeichnet werden auf die beiden Unterrichtsfächer bezogene Vorannahmen, Selbst- und Fremdzuschreibungen und sowie daraus hervorgehende Schlussfolgerungen, kurz die geteilten Denk- und Wahrnehmungsmuster. In diesen doxischen Positionierungen der Akteurinnen und Akteure liegt die habituelle Seite der Konstruktionen fachkultureller Felder. Hinterfragt wird, ob und ggf. welche Verweise auf die Illusio der Fächer als gegenderte Illusio gesehen werden können. Kapitel 6 verfolgt die Besonderheiten des bilingualen Physikunterrichts am Edith-Benderoth-Gymnasium. In den Fokus gerät damit ein Feld, welches weder eindeutig als männliche, noch eindeutig als weibliche Domäne zugeordnet wird. Inbesondere wird der Frage nachgegangen, ob sich durch den spezifischen Stellenwert von Sprache im Untericht Veränderungen hinsichtlich der geschlechtlichen Konnotation des Faches Physik ergeben – und damit möglicherweise auch in der fachkulturellen Zugehörigkeit. Entsprechend der Zuschreibung des sprachlichen Bereichs als weibliche Interessens- und Kompetenzdomäne wäre eine veränderte Beteiligung und/ oder Interessensentwicklung der Mädchen sowie eine veränderte Kompetenzzuschreibung von Seiten der Lehrenden durchaus zu erwarten gewesen. Zur Beantwortung der Frage erweist sich vor allem die konzeptuelle Trennung von physikalischinhaltlicher und sprachlicher Ebene als bedeutsam. Die Inszenierung von Orten und Räumen beinhaltet sowohl symbolische Botschaften als auch Informationen über soziale Gefüge. Empirische Forschung kann diesen Darstellungen anhand unterschiedlicher Fragestellungen nachgehen: Wie sehen die feldspezifischen Darstellungsformen aus und worin unterschieden sie sich? Welche Denkmuster und Handlungsstrukturen spiegeln sich in den örtlichen und räumlichen Inszenierungen? Wie werden sie entwickelt und aufrecht erhalten, wo ggf. hinterfragt? In Kapitel 7 wird unter19

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sucht, inwieweit physikalisch-materielle Ausgestaltungen der Unterrichtsorte in beiden Unterrichtsfächer Schlüsse auf fachkulturelle Spezifika zulassen. Gefragt wird, ob sich in der Inszenierung der Orte, welchen aktive Gestaltungsprozesse der Akteurinnen und Akteure zu Grunde liegen, Verweise auf die Illusio der Unterrichtsfächer finden lassen. Räume als organisierendes Prinzip des schulischen Mit- und Nebeneinanders sind Thema des achten Kapitels. Welchen Gestaltungsprinzipien von Räumen folgen die Lehrenden und Lernenden in Physik und Deutsch, und welchen fächerübergreifend? Offensichtlich kommt den unterschiedlichen Formen des doing difference eine entscheidende Rolle zu. Eingegangen wird insbesondere auf die Bedeutung des doing Gender in den Raumgestaltungen. Kapitel 9 fasst die Ergebnisse zusammen und stellt sie in einen vergleichenden Rahmen. In erster Linie werden die sich aus den unterschiedlichen Untersuchungsperspektiven ergebenden Aussagen über die Illusio der Fächer je für Physik und Deutsch zusammengestellt. Es zeigt sich deutlich, dass in beiden Fächern unterschiedliche Exklusions- und Inklusionsmechanismen greifen, und dass diese wiederum in weiten Teilen gegenderte Züge tragen. Abschließend wird gefragt, ob es sich nicht bei der Durchsetzung und Anerkennung der fachkulturellen Prinzipien um Formen symbolischer Macht handelt und welche Anknüpfungspunkte für ein degendering beider Fachkulturen sich daraus ergeben.

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1. Kulturelle Zuschreibungen und Grenzziehungen

Bisher sind schulische fachkulturelle Felder als soziale Konstruktionen wenig erforscht. Fachkulturelle Forschung richtet sich in erster Linie auf (fach-) hochschulische Disziplinen, dabei stehen horizontale Differenzen im Mittelpunkt der Untersuchungen – meist wird eine vergleichende Betrachtung männlich konnotierter Fächer mit weiblich konnotierten Fächern vorgenommen (vgl. z. B Liebau/ Huber 1985, Engler/ Friebertshäuser 1989, Engler 1993, Schaeper 1997, Münst 2002). Innerhalb der Fachkulturen werden dabei homologe und kollektive Sinnstrukturen angenommen (vgl. hierzu z. B. auch Zinnecker 2004). Die Studien folgen entsprechend einem Vorgehen, welches die Felder – theoretisch gesetzt und anders als das Vorgehen, welchem diese Studie folgt – als eigene Fachkulturen begreift, ohne zu hinterfragen, wodurch sich spezifische fachkulturelle Felder als eigene Felder eigentlich auszeichnen. Hinter diesen Forschungen steht zugleich ein spezifisches Verständnis von Kultur, nach dem von einem recht statischen Kulturbegriff ausgegangen wird. Daneben hat sich gerade in jüngerer Zeit eine Perspektive auf Kultur entwickelt, nach der Kultur(en) als prozessual variabel und in den relevanten Bedeutungsstrukturen sozial konstruiert gesehen werden (vgl. dazu z. B. Hörning/ Reuter 2004). Entsprechend finden auch vertikale Differenzen innerhalb einer Fachkultur verstärkt Berücksichtigung. Ich werde in diesem Teil der Arbeit zunächst die Veränderungen in der Sicht auf Kulturkonzepte sowie die Ansätze der jüngeren außerschulischen Fachkulturforschung darstellen. In der anschließenden Erläuterung meines eigenen Verständnisses der Dimensionen, welche fachkulturelle Felder als spezifische und voneinander abgrenzbare Konstruktionen charakterisieren, wird deutlich, dass sich aus diesem Verständnis heraus Fachkulturen ganz allgemein als eigenständige kulturelle Felder fassen lassen (Kapitel 1.1.). Felder sind immer historisch geworden und damit durch und durch gesellschaftlich. 21

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Die Entwicklung fachkultureller Welten als dichotome Pole wird in Kapitel 1.2. anhand der Diskussion um Charles P. Snows These von den „Zwei Kulturen“ (1969) nachgezeichnet. Für den Bereich der außerschulischen Fachkulturforschung liegen bereits einige Konzepte und Begrifflichkeiten vor, welche ebenfalls an dieser Stelle dargestellt werden. Wie stark sich diese Polarisierungen bis heute auch in der Entwicklung der Unterrichtsfächer erkennen lassen, zeigt die historische und abschließend die vergleichende Verortung der beiden konkreten Unterrichtsfächer Physik und Deutsch (Kapitel 1.3.).

1.1. Kulturkonzepte und Positionen zu fachkulturellen Feldern In der Erziehungswissenschaft erfreut sich die Verwendung des Kulturbegriffs seit einiger Zeit anhaltender Beliebtheit: Während Ewald Terhart schon 1994 die „unübersehbare Karriere des ‚Kultur’-Begriffs im Zusammenhang mit Schule, Unterricht und Lehrerberuf“ konstatierte (1994: 686), spricht Ingrid Gogolin auch 1998 noch von einer „neuen Konjunktur“ des Kulturbegriffs in der Erziehungswissenschaft (1998: 126). Verschiedentlich wurde inzwischen bemängelt, dass eine Definition dessen, was jeweils unter Kultur verstanden wird, bzw. was nach dem jeweiligen Verständnis der Autorinnen und Autoren darunter verstanden werden sollte, oft fehlt. Während Walter Herzog lediglich festhält, dass „meist undefiniert bleibt, was unter Kultur zu verstehen ist“ (1999: 230, Herv. im Orig.), kritisierte Gogolin bereits deutlicher eine „bewusstlose Verwendung“ (1998: 125) des Kulturbegriffs in der neueren Pädagogik. Auch Terhart kritisiert an der „exzessiven Verwendung des KulturBegriffs“ (1994: 686) für den Bereich der Schulpädagogik die fehlenden expliziten Darstellungen der jeweiligen Implikationen unterschiedlicher Konzepte von Kultur. Dennoch werden in den verschiedenen Disziplinen Konzeptionen und Definitionen von Kultur auch immer wieder neu vorgenommen und begründet. Dabei werden sowohl zwischen den Fächern (vgl. Sökefeld 1999) als auch innerhalb der Fächer unterschiedliche Kulturkonzepte gedacht: Für den Bereich der Kulturanthropologie verweist Georg Auernheimer allein für den angloamerikanischen Bereich auf ca. 150 verschiedene Definitionen (1988: 97). Ich werde im Folgenden zunächst eine Diskussion und terminologische Verortung des Kultur-Begriffs vornehmen; dabei mache ich einleitend Anleihen aus der Diskussion um den (anthropologischen) Kulturbegriff. Möglichkeiten und Grenzen der Übertragbarkeit eines allgemeinen Kulturverständnisses auf schulische Fachkulturen schließen sich an.

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1. KULTURELLE ZUSCHREIBUNGEN UND GRENZZIEHUNGEN

Zunächst muss zwischen einer vertikal-singulären und einer horizontalpluralistischen Verwendung unterschieden werden. Das anthropologische Verständnis von Kultur im Singular geht auf Edward B. Tylors Definition von 1871 zurück, der zufolge Kultur als differentia specifica, also als Unterscheidung zwischen Mensch und Tier, gedacht wird (Tylor 1903[1871]). Kultur stellt so den einen Pol der Dichotomie Natur–Kultur dar; in der Fortsetzung führte diese Auffassung zu einem vertikal-hierarchischen Verständnis verschiedener regionaler Entwicklungsstufen der Menschen, etwa in der Gegenüberstellung der westeuropäischen Kulturen mit den sogenannten ‚Naturvölkern’. Den Vertretern dieser Richtung ging es in erster Linie um die Entwicklung der menschlichen Kultur im Sinne von Zivilisation: „Culture, or Civilisation, taken in this wide ethnographic sense, is that complex whole which includes knowledge, belief, art, morals, law, custom, and other capabilities and habits acquired by man as a member of society.“ (Tylor 1903[1871]: 1)

Tylor und andere haben nicht bestritten, dass es Unterschiede zwischen den Menschen und Gruppierungen gab, nur standen diese Unterschiede nicht im Mittelpunkt ihres Interesses (dazu vgl. Herzog 1999, Sökefeld 1999). Im alltäglichen wie publizistisch-politischen Sprachgebrauch – und teilweise ebenso im erziehungswissenschaftlichen Kontext – wird dieses Verständnis von Kultur verwendet für die Gesamtheit geistiger und wissenschaftlicher Errungenschaften einer Nation bzw. einer Gesellschaft.7 Statt der Frage nach der „Kultur an sich“ (Geertz 1996: 72) setzte sich nach dem ersten Weltkrieg die Beforschung einzelner Kulturen durch teilnehmende Beobachtungen und in Langzeitstudien durch. Kulturen wurden nun verstanden als „kompakte, zusammenhängende und zusammenhaltende, eigenständige [...] Mikrowelten“ (ebd.). Diese Auffassung von Kulturen im Plural geht von einem (gleichwertigen) Nebeneinander verschiedener Kultu7 Häufig werden in alltäglichen Diskursen die Begrifflichkeiten „Kultur“ und „Bildung“ synonym gebraucht. Georg Bollenbeck arbeitet heraus, dass ein solches Verständnis von Bildung in der Regel an die Vorstellungen des deutschen Bildungsbürgertums angelehnt ist, nach dem Bildung sich vollzieht „als individuelle Aneignung geistiger Güter einer nationalen „Kultur“, zu der vorrangig Wissenschaft und Kunst gerechnet werden“ (Bollenbeck 1996: 13). Das Verständnis von Kultur und Bildung als konsensual geteilte Grundlage für die Mitglieder einer Gesellschaft ermöglicht zugleich das Zugrundelegen dieser Kultur-Inhalte als normativen Maßstab. Erkennbar ist ein solches Verständnis in der vor kurzem geführten Diskussion um eine „deutsche Leitkultur“. Die enge gedachte Verknüpfung von „Nation“ und „Kultur“ zeigt sich auch in der Formulierung des Artikel 35 des deutschen Einigungsvertrags, in dem die Bundesrepublik als „Kulturstaat“ definiert wird (http://www.jura.uni-sb.de/Vertraege/Einheit/ein1_a35.htm, Zugriff: 2.8.2006). (Zur Problematik der Verknüpfung von kultureller Zugehörigkeit und ethnischer Zugehörigkeit vgl. auch Mecheril 2002: 20ff.).

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ren aus. In der Ethnologie geht dieses Verständnis auf Franz Boas Definition zurück: „Culture may be defined as the totality of the mental and physical reactions and activities that characterize the behaviour of the individuals composing a social group collectively and individually, in relation to their natural environment, to other groups, to members of the group itself and of each individual to himself.“ (Boas 1948: 159).

Diese Auffassung von Kultur als „shared behaviour“ (Watson-Gegeo 1988: 577) einer klar abgrenzbaren Gruppe birgt jedoch zugleich Risiken einer eingeschränkten Forschungssicht: Kulturen werden hiernach als „kohärente Entitäten“ (Hu 2001: 23) konzipiert, die vermeintlich in ihren jeweiligen repräsentativen Charakteristika durch einen außerhalb der Gruppe befindlichen Beobachter beschreibbar sein müssten. Adelheid Hu lehnt diese Vorstellung als „essentialistisch, objektivistisch“ ab, da Kultur nicht außerhalb des Betrachters existiere (vgl. 2001: 24). Im Zentrum dieses essentialistischen Ansatzes steht zumeist das Interesse, die Homogenitäten innerhalb der Kulturgruppen zu erkennen. Clifford Geertz relativiert die Annahme kompakter und homogener kultureller Einheiten durch seinen Verweis auf die „Interkulturalität“ in der Kultur (vgl. 1996: 69ff.) und macht deutlich, dass es sich trotz eines horizontalen Nebeneinanders nicht um feststehende, statische Gebilde handele, sondern ein prozessuales, dynamisches Kulturverständnis zu Grunde gelegt werden müsse. Jüngere Ansätze – vor allem in Anlehnung an die cultural studies – legen den Fokus noch stärker auf Differenzen, Widersprüche und Heterogenitäten, die sich innerhalb einer Kultur aufzeigen lassen (vgl. z. B. Chambers 1996, Bhaba 1997). Kulturen werden nach diesem Verständnis je nach Kontext kontinuierlich von allen Kulturangehörigen neu konstruiert. Wolf-Dietrich Bukow stützt dieses Verständnis und konstatiert mit Bezug auf Adam Kuper, dass es sich bei „der Kultur nicht um ein statisches Phänomen“ handele, sondern „um etwas, das stets in der Form eines diskursiven Prozesses eingebettet erscheint“ (2002: 123), Kuper nennt dieses den „symbolic discourse“ (1999: 13). Schlussfolgernd äußert Bukow: „Man kann eigentlich nicht mehr über Kultur dikutieren, ohne zugleich die Alltagspraxis in den Blick zu nehmen und die Frage nach der Macht im kulturellen Diskurs zu stellen“ (ebd.). Wie hängt nun die Entwicklung kultureller Konzepte mit der Ausbildung (hoch-)schulischer Fachkulturen zusammen? Aus dem singulären Verständnis von Kultur als Kennzeichen zunächst ‚zivilisierter’ und später ‚gebildeter’ Gesellschaften entwickelte sich das Verständnis von Wissenschaft als Institution, welche eine strukturierte und über den allgemeinen Common Sense 24

1. KULTURELLE ZUSCHREIBUNGEN UND GRENZZIEHUNGEN

hinausgehende Darstellung unseres Wissens und unserer Deutung der Welt sichern sollte und soll. Diese Idee erweiterte sich bald auf diverse wissenschaftliche Ansätze, welche unterschiedlichen fachkulturellen Interpretationsmustern und –methoden von Sachverhalten Rechnung trugen und tragen. Nach diesem Ansatz ist die Wissenschaftsgemeinschaft bis heute in wissenschaftlichen Disziplinen organisiert. Der Disziplinenbegriff wird hierbei wenig einheitlich verwendet und steht für unterschiedliche Zusammenhänge: Auf der einen Seite werden unter Disziplinen die organisatorisch zusammengefassten Einheiten des Hochschulsystems verstanden, auf der anderen Seite werden sie als kognitiv verwandte Wissens- und Forschungssysteme gefasst. Es haben sich also im Laufe der Wissenschaftsentwicklung verschiedene symbolische Konstruktionen von Wirklichkeit gebildet – und somit ein Verständnis von Wissenschaft, nach dem den einzelnen Fächern verschiedene epistemische Kulturen zu Grunde liegen. Differenzierter betrachtet handelt es sich bei den einzelnen Disziplinen natürlich nicht um geschlossene Systeme; Disziplinen wie die Soziologie oder die Mathematik veranschaulichen dies deutlich mit ihren stark differierenden Unterbereichen. Die bis zum 20. Jahrhundert relativ homogenen Einheiten der Fachdisziplinen, in denen die epistemischen Bereiche und die organisatorischen Einheiten relativ deckungsgleich waren, haben sich inzwischen deutlich auseinander entwickelt. Interdisziplinäre Forschungsansätze verstärken die Tendenz, dass die epistemischen Felder z. B. über Forschungszugänge etc. Einheiten bilden, die den Struktureinheiten der Disziplinen nicht entsprechen. Da sich bislang keine einheitlichen Verwendungen im Sprachgebrauch durchgesetzt haben und mal von Fächern, mal von Disziplinen gesprochen wird, bleibe ich im Rahmen dieser Arbeit bei der m. E. gängigeren Begrifflichkeit und spreche für den hochschulischen Bereich von Disziplinen, für den schulischen Bereich von Fächern und in den Prozessen der Herstellung von Fachkulturen von doing discipline.8 Ich lehne mich dabei an ein Wissenschaftsverständnis an, welches dem Bild prozessualer Entwicklungen verschiedener paralleler Kulturen folgt. Wenngleich offiziell zwischen den Kulturen von einem Gleichheitspostulat ausgegangen wird, unterscheiden sich diese auch durch ihre unterschiedlichen Strukturen und Einbindungen in gesellschaftliche und institutionsspezifische Machtverhältnisse. Unterschiedliche Zugänge zu Ressourcen spielen hierbei eine wichtige Rolle. Zugleich werden die verschiedenen fachkulturellen Felder auch in interaktiven Prozessen ausgehandelt – nicht zuletzt durch Praktiken der Unterscheidungen und der Grenzziehungen der Fächer zu- und 8 Ausführlich beschäftigen sich Heintz u. a. mit Grenzen und Schnittflächen von Disziplinen (vgl. 2004: 40ff.). Reflektierende Überlegungen zu den Konturen von Disziplinarität finden sich auch bei Heike Kahlert (2005: 31f.) und Sabine Hark (2005: 69ff.).

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untereinander. Diese Abgrenzungen zeigen sich in den angesprochenen Bereichen auf unterschiedlichen Ebenen: Sie durchziehen sowohl das Wissenschaftssystem an sich als auch die einzelnen systemcharakterisierenden Wissenschaften. Darüber hinaus sind die Unterscheidungen jedoch auch auf einer allgemein-gesellschaftlichen Ebene präsent – und das in mehr oder weniger übereinstimmenden Kategorien in fast allen Regionen der Erde. Auch schulische Unterrichtsfächer lehnen sich an die unterschiedlichen Weltzugänge als Grundlage für die Ausbildung der fachkulturellen Felder an. Mit der differenzierenden Betrachtung der verschiedenen wissenschaftlichen Zugänge ging eine deutliche Ausprägung schulischer Fächer einher.9 Hochschulische Disziplinen sind nun nicht unmittelbar auf schulische Fächer übertragbar, gleichwohl gehen diese aus ihnen hervor, vermittelnd wirken die disziplinären Methoden und die Fächerdidaktiken (d. h. nicht nur die Frage was stofflich vermittelt wird, sondern auch die Frage wie etwas vermittelt wird).10 Ebenso wenig, wie wissenschaftliche Disziplinen jedoch unmittelbar schulische Fächer produzieren, sind schulische Fächer als reine Wissenschaftskulturen zu sehen, sondern beinhalten weitere (institutionsspezifische) Komponenten, welche die jeweiligen Fächer zu dem machen, woran wir sie erkennen und klassifizieren – ihre fachkulturellen Spezifika. Ein zentraler Begriff für die Frage nach der realen Ausgestaltung schulischer Unterrichtsfächer – und damit zentral für die Beantwortung der Frage dieser Arbeit, ob bei den schulischen Fächern Deutsch und Physik von Fachkulturen gesprochen werden kann – ist m. E. der der Schulkultur. Für Werner Helsper u. a. (1998) beinhaltet die Frage nach Schulkultur Aushandlungsprozesse auf zwei Ebenen: zwischen Lernenden, Lehrenden, Schulleitung und Eltern auf der einen Seite, und zwischen institutioneller und individueller Ebene auf der anderen Seite. Schulkultur wird somit „als Ergebnis der kollektiven und individuellen Auseinandersetzungen und Interaktionen der schulischen Akteure mit äußeren Vorgaben und damit als die über Handlungen einzelschulspezifisch ausgeformte, regelgeleitete Struktur konzipiert, die ihrerseits wiederum konstitutiv für die schulischen Mikroprozesse ist […]. Daraus kann wiederum die Institutionalisierung transformierter Regeln und Strukturen für schulisches Handeln resultieren.“ (Helsper u. a. 1998: 45)

9 Als Beispiel sei an dieser Stelle die Umbennennung des Unterrichtsfaches Rechnen in Mathematik zu Beginn der 1970er Jahre genannt. Vergleichbare Umbenennungen und Umorientierungen lassen sich auch in anderen Fächern finden. 10 Bis heute wird die enge Verwandtschaft schulischer Fächer und wissenschaftlicher Disziplinen in den universitären Ausbildungsstrukturen für Lehramtsstudierende deutlich: Es werden wissenschaftliche Disziplinen plus die didaktischen Grundlagen des Faches unterrichtet, und nicht etwa Schulfächer.

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1. KULTURELLE ZUSCHREIBUNGEN UND GRENZZIEHUNGEN

Schulkultur ist also bereits Ausdruck von Aushandlungsprozessen im Sinne eines Resultats, zum anderen ist sie aber auch genau der Rahmen, in dem die Aushandlungen stattfinden. Schulische Fächer stellen einen der vielen Bausteine einer Schulkultur dar. Bestimmte strukturelle und professionsspezifische Bedingungen rahmen also die Aushandlungsprozesse schulischer fachkultureller Bereiche, welche sich meist innerhalb der Fächer, zum Teil aber auch in Auseinandersetzung mit bzw. Abgrenzung von anderen Fächern reproduzieren. Diese Idee ist nicht neu, so fordert Forrester Musgrove bereits 1968, dass Schulforschung „Fächer innerhalb der Schule als auch innerhalb der Nation insgesamt als soziale Systeme untersuchen [solle], die durch Kommunikationsnetzwerke, materielle Ausstattungen und Ideologien gestützt werden. Innerhalb einer Schule und auch innerhalb einer breiteren Gesellschaft sind Schulfächer wie Gemeinschaften von Menschen, die miteinander wetteifern und zusammen arbeiten, ihre Grenzen bestimmen und verteidigen, Ergebenheit von ihren Mitgliedern verlangen und ihnen ein Gefühl von Identität verleihen [...] und sogar Neuerungen, die ihrem Wesen nach intellektuelle zu sein scheinen, können nutzbringend als das Ergebnis sozialer Interaktion betrachtet werden.“ (Musgrove 1968: 101, deutsch nach Goodson 1999a: 151)

Während Forschungen zum Stichwort Schulkultur eher Konjunktur haben (vgl. z. B. Holtappels 1995, Helsper u. a. 1998 und 2001, Kramer 2002, Ekholm u. a. 2003), sind schulische Fachkulturen wenig erforscht – und wenn, dann ist der engere Blick einer vorrangig traditionellen fachdidaktischen Forschung, die sich in erster Linie mit den Aufgaben und der Vermittlung von Fachinhalten beschäftigt, erst wenig geöffnet für die Frage nach der Bedeutung, Konstruktion und Wirkung der schulischen fachkulturellen Felder.11 Im Mittelpunkt steht bisher die Diskussion um Vor- und Nachteile curricularer Veränderungen bzw. um disziplinenübergreifende Unterrichtsmöglichkeiten. Die Konstruktionsprozesse und -bedingungen schulischer Fachkulturen sind bisher als Forschungsgegenstand unterrepräsentiert. Ausnahmen bilden zwei Studien, welche zugleich den Fokus auf die Kategorie Geschlecht richten: zum einen die Längsschnittstudie von Helga Jungwirth (1990), in welcher der Einfluss von Unterrichtsformen auf geschlechtsspezifische Interaktionsstrukturen im Mathematikunterricht an höheren allgemeinbildenden Schulen untersucht wurde, zum anderen die Untersuchung von Marianne Horstkemper und Margret Kraul (1998), die an rheinland-pfälzischen Gymnasien Strategie11 In der Darstellung der „Lehr- und Lernforschung im fachdidaktischen Kontext“ im Sammelband von Claudia Finkbeiner und Gerhard W. Schnaitmann (2001) findet sich zwischen etwa elf Beiträgen zu unterschiedlichen Disziplinen mit dem Beitrag von Bodo von Borries nur eine Darstellung, welche fachkulturelle Deutungsmuster zum Thema hat (vgl. Borries 2001).

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entwürfe von Lehrerinnen und Lehrern für eine geschlechterbewusste Pädagogik wissenschaftlich begleiteten (vgl. auch Horstkemper 2000). Dennoch lässt sich konstatieren, dass sich im Zuge (v. a. außerschulischer) fachkultureller Betrachtungen der Blick auf Kulturkonzepte in der letzten Zeit deutlich verändert hat:12 In der jüngeren Fachkulturforschung wird versucht, Kulturalität über die symbolischen Dimensionen sozialer Praktiken in einzelnen fachkulturellen Feldern zu fassen. Kulturen werden danach im weiteren Sinne konzeptualisiert als Handlungsrepertoire ihrer Mitglieder. Den theoretischen Hintergrund für diese Forschungsansätze bildet in verschiedenen Arbeiten Bourdieus Habitusmodell (vgl. v. a. Engler 1993 und Schaeper 1997). Einen zentralen Text der fachkulturellen Forschung stellt der Aufsatz „Die Kulturen der Fächer“ (1985) von Eckart Liebau und Ludwig Huber dar. Auch Liebau und Huber orientieren sich an Bourdieus Habitusmodell, sie definieren getrennte (Fach-)Kulturen als „unterscheidbare, in sich systematisch verbundene Zusammenhänge von Wahrnehmungs-, Denk-, Wertungs- und Handlungsmustern“ (1985: 315). Die Autoren beschreiben in ihrem Aufsatz zunächst phänomenologisch die Unterschiede zwischen den (hochschulischen) Fächern und ihren Studierenden in verschiedenen Dimensionen (z. B. Wohnformen, Kommunikation, Studienstrategien bis hin zu politischen und sozialen Orientierungen). Anschließend wird der Blick auf die Unterschiede zwischen den Fächern erweitert um die Frage nach der Reproduktion wissenschaftlicher Disziplinen. Hierfür werden in Anlehnung an Bourdieu die kulturellen, ökonomischen und sozialen Ressourcen mit einbezogen. Somit rekonstruieren Liebau und Huber einen Zusammenhang zwischen den „Außenbeziehungen“ der Wissenschaften und den „Binnenräumen und Studentenschaften in den Disziplinen“ (vgl. a.a.O.: 327). Damit gehen die Autoren über das bis dahin vorherrschende Konzept hinaus, nach dem ein fachspezifischer Habitus vor allem als Erlernen, Üben und Ausbilden unterschiedlicher Kompetenzen verstanden wurde. Vor dem Hintergrund des wissenschaftlichen Selbstverständnisses eines Gleichheitspostulats der Wissenschaften wurden bzw. werden Unterschiede lediglich durch unterschiedliche Sach- und Fachkompetenz der Disziplinen, also mit Bourdieu gesprochen nur durch kulturellen Reichtum, legitimiert. Liebau und Huber greifen nun in ihrem Artikel 12 Während für den erziehungswissenschaftlichen Bereich eine Auseinandersetzung über den Kulturbegriff immer wieder, aber vor allem auf einer rein theoretischen Ebene geführt wurde (vgl. z. B. Mollenhauer 1983, Nothnagel 1993, Duncker 1994, Herzog 1999, Wimmer 2002, Liebau/ Zirfas 2004, Scholz 2004,), liegen bisher wenig Arbeiten vor, die nach einem geeigneten Kulturbegriff im Rahmen einer empirischen Auseinandersetzung suchen (vgl. jedoch z. B. Zinnecker 2004). Speziell für den schulischen – und dort den unterrichtlichen – Bereich sind mir keine vergleichbaren Untersuchungen bekannt.

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die Strukturen auf, die den Fächern ein Rekurrieren auf unterschiedliche Ressourcen ermöglichen. Damit wird den Wissenschaften die Ideologie der Gleichheit entzogen und durch Verweise auf unterschiedliche, hinter den Fächern erkennbare gesellschaftliche Strukturen und Machtverhältnisse ersetzt. Liebau und Huber stellen hierzu fest: „Die Disziplinen existieren nicht allein auf der Welt, sondern sind systematisch in die verschiedenen Bereiche und Dimensionen gesellschaftlicher Herrschaft und damit in die gesellschaftlichen Konflikte einbezogen. Sie sind ohne ihre Außenbeziehungen nicht zu verstehen.“ (a.a.O.: 337)13

Fachkulturelle Felder – und zwar schulische und hochschulische sowie außerschulische – lassen sich mit Liebau und Huber eindeutig verstehen als soziale Konstruktionen, welche in gesellschaftliche Prozesse eingebunden sind und in direkter Auseinandersetzung mit der kulturellen Umwelt stattfinden. Ich teile diese Auffassung und gehe zugleich von weiteren zentralen Annahmen hinsichtlich schulischer Fächer aus: Bei schulischen fachkulturellen Feldern handelt es sich um parallel zueinander existierende Kulturen, welche prozessual veränderlich sind und immer wieder interaktiv neu ausgehandelt werden. Damit folge ich nicht einem normativen, sondern vielmehr einem ethnogra13 Auch Auffassungen zum Zusammenhang von Kulturen und strukturellen Aspekten, welche nicht explizit im fachkulturellen Diskussionskontext entstanden sind, lassen sich an dieser Stelle ergänzen, da sie ohne weiteres auf schulische Fachkulturen übertragbar sind. Jeffrey Alexander teilt die Auffassung, dass Kulturen nicht ohne die Strukturen betrachtet werden können, in die sie eingebettet sind: „We cannot understand culture without reference to subjective meaning, and we cannot understand culture without reference to social structural constraints. We cannot interprete social behaviour without acknowledging that it follows codes that it does not invent; at the same time, human invention creates a changing environment for every cultural code.” (1990: 26). Karl Hörning und Rainer Winter verweisen explizit auf die strukturellen Machtaspekte bei kulturellen Aushandlungsprozessen: „Kultur ist [...] nicht stabil, homogen und festgefügt, sondern durch Offenheit, Widersprüche, Aushandlung, Konflikt, Innovation und Widerstand gekennzeichnet. Kultur wird als Prozess sozialer Ungleichheit betrachtet, in dem um Macht gekämpft und gerungen wird.“ (1999: 9f). Bourdieu hat vielleicht am klarsten das Augenmerk auf das Verhältnis von Kultur, Macht und sozialer Ungleichheit gerichtet, in seinen Ausarbeitungen fasst er Kultur als ständig umkämpftes symbolisches Kapital (vgl. v. a. Bourdieu 1985). Die Kultur, genauer die „legitime Kultur der Klassengesellschaften“ sei „dazu bestimmt, Herrschaft auszudrücken und zu legitimieren“ (1987b: 359): „Weil die Aneignung der Kulturgüter Anlagen und Kompetenzen voraussetzt, die ungleich verteilt sind (obwohl scheinbar angeboren), bilden diese Werke den Gegenstand einer exklusiven (materiellen oder symbolischen) Aneignung, und weil ihnen die Funktion von (objektiviertem und inkorporiertem) kulturellem Kapital zukommt, sichern sie einen Gewinn an Distinktion [...] und einen Gewinn an Legitimität, den Gewinn überhaupt.“ (ebd., Herv. im Original).

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fisch-empirischen Kulturbegriff. Bei der Herstellung und Aufrechterhaltung der jeweiligen Fachkultur sowie auch ihrer Abgrenzung zu anderen Fachkulturen handelt es sich um aktive Herstellungsprozesse, das doing discipline. Fachkulturen prägen nicht nur Menschen, sie werden auch von ihnen gemacht. Dies geschieht durch eine Vielfalt eigener Wahrnehmungen und Handlungen jeweils in der Auseinandersetzung mit der kulturellen Umwelt, also in interaktiven Praktiken. Die kollektive (Re-)Produktion schulischer Fachkulturen erfolgt dabei meines Erachtens über zwei zentrale Prozesse: x Zunächst finden Zugänge zu schulischen Fachkulturen über Prozesse der Enkulturation statt: die Lernenden treffen in der Schule auf Strukturen, Praktiken und Denkschemata der unterschiedlichen Unterrichtsfächer, die ihnen in dem von mir beobachteteten gymnasialen Feld bis dahin z. T. bereits bekannt sind (z. B. Deutsch), denen sie zum Teil jedoch auch zum ersten Mal begegnen (z. B. Physik). In geringerem Maße gilt dies auch für die Lehrkräfte, wobei diese durch ihre eigene Schulzeit und ihre Ausbildungen bereits weit vertrauter mit den spezifischen kulturellen Codes der jeweiligen Fächer sind und sich eher als Vertreter und Vertreterinnen ihrer eigenen Fächer bzw. Fachbereiche zählen lassen. Durch ihre Anwesenheit in den Unterrichtsfächern werden die Anwesenden zu einem „bestimmten Habitus verpflichtet“ (Nothnagel 1993: 465)14 und tragen so zu einer (Re-)Produktion der fachkulturellen Spezifika bei. Lernende wie Lehrende wirken an der Ausgestaltung des Fachhabitus durch ihr jeweiliges Verständnis des Faches und die Beteiligung in interaktiven Aushandlungsprozessen mit und bewirken so zugleich seine prozessuale Veränderbarkeit. x Eine weitere zentrale Praktik bei der Herstellung und Aufrechterhaltung der jeweiligen Fachkulturen verweist auf die bereits zitierte These von Karl Hörning und Julia Reuter: „Doing culture ist immer auch doing difference.“ (2004: 11, Herv. im Orig.) Zentral ist in diesem Fall die Abgrenzung zu anderen Fächern bzw. Fachgebieten. Hierbei greifen zwei unterschiedliche Formen der Grenzziehung: Zum einen finden Abgrenzungsprozesse nach außen, d. h. zu anderen fachkulturellen Feldern statt. Das ‚Nicht xy-Sein’ bildet dabei eine wichtige Praktik; in dem hier dargestell14 Anders als in den von Nothnagel (1993) untersuchten Organisationen greift in der Schule nicht der Unterschied zwischen Mitgliedern und Nicht-Mitgliedern, sondern die Lernenden und Lehrenden werden durch institutionelle Vorgaben wie Stundenpläne, Rahmenpläne etc. zu einem bestimmten Zeitpunkt einem bestimmten Fach und dem dazugehörigen Ort zugewiesen. Die Zugehörigkeit zu einer Fachkultur erfolgt also in erster Linie nach zeitlichen Kriterien. Befinden sich die Akteure und Akteurinnen jedoch zur zugewiesenen Zeit am zugewiesenen Ort, unterwerfen sie sich damit formal automatisch den in diesem Fach (und bei dieser Lehrkraft) üblichen Handlungs- und Verhaltensnormen – und diese sind eng an die fachkulturellen Normen angelehnt.

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ten Forschungskontext fallen darunter die Abgrenzungen zwischen dem naturwissenschaftlichen und dem sprachlichen Bereich bzw. konkret zwischen den Unterrichtsfächern Physik und Deutsch. Zum anderen aber bilden sich – auch von außen – erkennbare Fachkulturprofile über die relativ hohe Übereinstimmung in den Positionen der Angehörigen einer fachkulturellen Feldes etwa zum Verständnis des Schulfaches, zu seinen Aufgaben und Gestaltungsweisen. Hier findet also eine Abgrenzung nach innen statt. Beide Formen der Grenzziehung sind nur zum Teil als bewusste und entsprechend reflektierte Konstruktionsprozesse zu sehen – wenn, dann deutlicher sicher noch im Bereich der Abgrenzung nach außen. Gerold Scholz hält zum gängigen Umgang mit Grenzen in der Schule fest: „Was tatsächlich eine Grenzziehung ausmacht [...], wird als Grenze oder Barriere in der Schule nicht thematisiert, sondern einfach gelebt.“ (2004: 516). Darin spiegelt sich die routinierte Selbstverständlichkeit im Umgang der handelnden Personen mit fachkulturellen Abgrenzungen.15 Neben den relativ homogenen Denk- und Handlungsmustern innerhalb der fachkulturellen Felder kommen den kulturellen Codes als prägende Elemente, gleichzeitig aber auch als Produkte bei der Hervorbringung von Kulturen, für die fachkulturelle Präsentation eine entscheidende Rolle zu. Welche Übereinstimmungen jedoch letztlich zu einer für Beteiligte und Außenstehende als solche erkennbaren Fachkultur führen bzw. welche Heterogenitäten auch u. U. wenig Berücksichtigung finden, ist die hier die zu klärende Frage. Für die schulischen Unterrichtsfächer Deutsch und Physik gilt es im Folgenden zu überprüfen, welche Formen der Übereinstimmungen und Grenzen zu anderen Fächern ein Verständnis als eigenständige Fachkulturen stützen bzw. in Frage stellen (zur Beantwortung dieser Frage vgl. Kapitel 2.4.). Zunächst scheint mir hierfür eine historische Kontextualisierung bedeutsam.

1.2. Literarische und naturwissenschaftliche Welten: Zwei Fachkulturen? Die Debatte, ob nun die literarisch-geisteswissenschaftliche und die naturwissenschaftlich-technische Sphäre zwei verschiedene Kulturen bilden und worin diese sich voneinander unterscheiden könnten, tauchte mit unterschiedlicher Stoßrichtung in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder auf. An einer These kommt die Debatte bis heute jedoch kaum vorbei: der von Charles Per15 Inklusion und Exklusion bedingen sich in der Regel gegenseitig, dies lässt sich deutlich auch in einem anderen Feld schulischer Interaktionen beobachten, nämlich bei der Herstellung und Aufrechterhaltung des Systems hegemonialer Männlichkeiten (vgl. hierzu auch Willems/ Budde 2006).

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cy Snow aufgestellten Zwei-Kulturen-These (1969) (vgl. hierzu z. B. Hericks 2003). Ich greife deshalb die von und um Snow ausgelöste Debatte an dieser Stelle auf, auch, weil sie m. E. stellvertretend für den damaligen historischen Kontext stehen kann und zudem Stellungnahmen von Personen aus unterschiedlichen Disziplinen und Professionen wie auch aus unterschiedlichen Ländern hervorgerufen hat. Anhand dieser Debatte wird zugleich deutlich, welche Attribuierungen die Beteiligten der Diskussion für die beiden Kulturen zu Grunde legten. Die Aufteilung der Disziplinen in (fach-)hochschulische Ausbildungen orientiert sich bis heute an der Trennung der von Snow konstatierten ‚zwei Welten’.

1.2.1.

Die Zwei-Kulturen-Debatte um Snow

Charles Percy Snow konstatierte und beklagte in seinem 1959 in Cambridge gehaltenen Vortrag „The Two Cultures and the Scientific Revolution“ das Nebeneinander und die gegenseitigen Aversionen zweier grundverschiedener Kulturen westlicher Industriegesellschaften: der literarisch-geisteswissenschaftlichen und der naturwissenschaftlich-technischen Kultur. Wenngleich die beiden Bereiche seit langem oppositionell gedacht wurden, eröffnete Snows offene Benennung der beiden Kulturen innerhalb der „Intelligenz der Industriegesellschaften“ (Kreuzer 1969: 8) eine engagierte Diskussion um die Frage, ob es zwischen beiden Sphären eine Trennung gibt und geben solle. Snow schreibt: „Das Leben der gesamten westlichen Gesellschaft spaltet sich immer mehr in zwei diametrale Gruppen auf. [...] Literarisch Gebildete auf der einen Seite – auf der anderen Naturwissenschaftler, als deren repräsentativste Gruppe die Physiker gelten. Zwischen beiden eine Kluft gegenseitigen Nichtverstehens, manchmal – und zwar vor allem bei der jungen Generation – Feindseligkeit und Antipathie, in erster Linie aber mangelndes Verständnis. Man hat ein seltsam verzerrtes Bild voneinander.“(1969: 11f.)

Ein entscheidendes Thema in seinem Aufsatz ist Snows Annahme einer aus der Kluft entstehenden kulturellen Verarmung beider Bereiche. Snow befürchtet daraus resultierende politisch-soziale Konsequenzen zum einen für sein Land, aber auch für die Übernahme von Verantwortung bei der Frage einer ungerechten Aufteilung der Welt zwischen den „industrialisierten Ländern und den übrigen“ (a.a.O.: 22).16

16 Snows Rede hat vermutlich auch im internationalen Kontext so viele und zum Teil vehemente Reaktionen ausgelöst, weil sie Sachverhalte berührte, die für Vertreter und Vertreterinnen beider ‘Kulturen’ zu dem Zeitpunkt aktuell bedeutungsvoll waren. Kreuzer verweist darauf, dass sich Snow und auch andere be-

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Zunächst entfaltet Snow sein Kulturverständnis anhand der Darstellung der naturwissenschaftlichen „szientifischen“ Kultur, als deren repräsentativste Gruppe er die Physiker erachtet (a.a.O.: 11f.), folgendermaßen: „Auf der einen Seite steht die naturwissenschaftliche Kultur, die tatsächlich eine Kultur nicht nur im intellektuellen, sondern auch im anthropologischen Sinne ist. Das heißt, die ihr angehören, brauchen einander gar nicht wirklich völlig zu verstehen und verstehen einander natürlich auch nicht wirklich ganz; die Biologen haben meist eine ziemlich verschwommene Vorstellung von der modernen Physik, aber es gibt doch eine gemeinsame Einstellung, gemeinsame Maßstäbe und Verhaltensweisen, gemeinsame Auffassungen und Ausgangspunkte.“ (a.a.O.: 15)

Snow spricht hier einen von den Angehörigen einer Fachkultur geteilten habituellen Hintergrund an, der über einen reinen Fachbezug bzw. Fachbereichsbezug hinausgeht. Seiner Einschätzung nach teilen die Naturwissenschaftlerinnen und Naturwissenschaftler einheitliche Einstellungen im Hinblick auf „geistige Normen wie etwa religiöse, politische oder klassenbedingte Vorstellungen“ (a.a.O.: 15). Damit geht Snow von einem Kulturbegriff aus, der sehr dem an Bourdieus Habituskonzept angelehnten Konzept von Liebau und Huber (vgl. 1985, s. o.) entspricht, der jedoch zugleich auch deutlich macht, dass sich Snows Auffassung zufolge vergleichsweise homogene Muster innerhalb der Disziplinen vermuten lassen. An seiner polarisierenden Positionierung zu Gunsten des naturwissenschaftlichen Bereichs jedoch entzündete sich die eigentliche Debatte um Snows Aufsatz.17 Im Zentrum der Diskussionen stand die Frage nach der reits zehn Jahre vorher zur Frage der zwei Kulturen geäußert hatten, ohne damit eine bemerkenswerte Resonanz hervorgerufen zu haben (vgl. Kreuzer 1969: 8). 17 Im Mittelpunkt der – zum Teil sehr heftigen – Kritik an seiner Rede standen vor allem folgende Bereiche: Snows Verwendung der Begrifflichkeiten wurde von seinen Kritikern als wertend und ungenau zurückgewiesen. Dabei wurde einzig von Michael Yudkin bemängelt, dass Snow den Begriff „Kulturen“ an keiner Stelle näher definiert: Im Zentrum seiner Begriffskritik steht Snows dehnbare Verwendung des Begriffes der „traditionellen Kultur“, die zunächst als „Reservat literarischer Intellektueller“ das Pendant zur naturwissenschaftlichen „szientifischen Kultur“ darstellt (Yudkin 1969: 26ff.). Diese eingeführte dichotome Verwendung beider Attribute für die Kulturen weiche Snow in seinem Text einseitig für die „traditionelle Kultur“ auf, indem er unter „traditioneller Kultur“ all das fasst, was seiner Meinung nach nicht eindeutig „szientifisch“ sei (ebd.). Frank R. Leavis bezeichnet diesen definitorischen Übergang von der „literarischen Kultur“ zur „traditionellen Kultur“ vorwurfsvoll als „Glanzstück an unschuldiger Ahnungslosigkeit“ (1969: 36). Die Kritik an Snows Begriffswahl konzentriert sich jedoch auf die damit vorgenommenen wertenden Zuschreibungen und die Frage nach deren Berechtigung. Insgesamt fällt auf, dass kaum eine(r) der Kritiker oder Kritikerinnen die dichotome Konstellation beider Kulturen als gegensätzliches Weltenkonstrukt an sich in Frage stellt.

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Zulässigkeit, eine der beiden Kulturen als geeigneter für die Auflösung der Barrieren zwischen den Oppositionen zu betrachten. Snow behauptet in seiner „Rede-Lecture“, dass sich die Aufspaltung in zwei Kulturen nur durch die naturwissenschaftliche Seite bzw. durch eine „naturwissenschaftliche Revolution“ (Snow 1969: 22) überwinden lasse. Dafür sei es notwendig, den Einfluss der bisher dirigierenden literarischen Kultur zu schmälern (vgl. a.a.O.: 16). Zudem stellt er den Exklusivitätsanspruch der Naturwissenschaften fest, denn schließlich „haben die meisten Menschen, die nicht Naturwissenschaftler sind, überhaupt keine Vorstellung von diesem Gebäude“ (a.a.O.: 17). Gemeinsam sei der gesellschaftlichen Gruppe der Naturwissenschafts-Angehörigen die „selbstverschuldete Verarmung“ eines mangelnden „Einfühlungsvermögens“ (ebd.) psychologischen und sozialen Fragen gegenüber, welche aus der Überzeugung resultiert, „die Literatur der überkommenen Kultur [könne] durchweg dieses Interesse [an Psychologie] nicht befriedigen“ (a.a.O.: 16). Umgekehrt unterstellt Snow den Angehörigen der literarischen Kultur die Position, sie stellten sich „gern immer noch so, als gäbe es das Reich der Natur gar nicht. Als wäre die Erforschung seiner Ordnung weder um ihrer selbst willen noch ihrer Folgen wegen interessant. Als wäre das wissenschaftliche Gebäude der physikalischen Welt in seiner geistigen Tiefe, Komplexität und Gliederung nicht die schönste und wunderbarste Gemeinschaftsleistung des menschlichen Geistes.“ (a.a.O.: 17)

Seine ‚Parteilichkeit’ für die naturwissenschaftliche Seite macht deutlich, wie wenig Snow selbst es auf eine Überwindung der von ihm beklagten Diskrepanz zwischen beiden Bereichen angelegt hatte.18 Durch seine eindeutige Positionierung als Vertreter der szientifischen Seite und der alleinigen Zuschreibung des Lösungspotenzials an ‚seine’ Kultur provozierte Snow vor allem die Vertreterinnen und Vertreter der literarischen Seite, die Potenzial für eine Überwindung der Kluft ebenso in ‚ihrer Kultur’ bzw. mindestens in der Gesamtkultur beider Teilbereiche sahen (vgl. z. B. Leavis 1969, Nitschke 1969, 18 Auf der Ebene moralischer Verantwortlichkeit, auf welcher viele Reaktionen erfolgten, versteht Snow die Naturwissenschaftler als Optimisten im Sinne eines notwendigen Handlungsoptimismus: Sie würden die Notwendigkeit zum Handeln leichter als andere erkennen und unterlägen weniger der Versuchung, „die Hände in den Schoß zu legen, [und] sich mit der eigenen unüberbietbaren Tragödie zufrieden zu geben“. In dieses Lob eingebunden erhebt Snow rückwirkend gegen die literarischen Intellektuellen den Vorwurf der sozialen und politischen Verantwortlichkeit bis hin zu Ausschwitz. Die Begründung dafür lautet: „Die Literatur wandelt sich langsamer als die Wissenschaft. Sie korrigiert sich nicht in derselben Weise automatisch wie jene, und deshalb dauern die Phasen ihrer Irrwege länger“ (a.a.O.: 13). Die Naturwissenschaftler haben daher die „Zukunft im Blut“, Angehörige der literarischen Kultur hingegen seien von dem Wunsch geprägt „es gäbe gar keine Zukunft“ (a.a.O.: 16).

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Domin 1969). Das Verständnis zweier dichotomer bzw. sogar diametraler Kulturen wird jedoch ebenso von Seiten derer gestärkt, die zu Gunsten der literarischen Kultur argumentieren. Auch Hans Mohr, der stärker differenziert und darauf verweist, dass innerhalb der beiden von Snow gegenübergestellten Kulturen jeweils unterschiedliche subkulturelle Strömungen existieren, stimmt dem Modell zweier oppositioneller Kulturen generell zu (Mohr1969: 155). Yudkin geht von einer möglichen Kulturenpluralität aus, auch er räumt jedoch gleichzeitig ein, dass „die Kluft zwischen dem Naturwissenschaftler und dem Nicht-Naturwissenschaftler wahrscheinlich am tiefsten“ sei (1969: 27). Bei aller polarisierenden Parteilichkeit für eine der beiden fachkulturellen Welten verweisen Snow und einige seiner Kollegen bereits darauf, dass es sich bei den beiden Polen um Simplifikationen handele, „jedoch um eine sehr nützliche Simplifikation, da sie eine rasche Verständigung ermöglicht“ (Steinbuch 1969: 143). Die Notwendigkeit einer eindeutigen Entscheidung für eine Zugehörigkeit zu einem der beiden Bereiche entspricht der dargestellten (vermeintlichen) Eindeutigkeit beider kultureller Welten: Snow selbst, der zunächst als Physiker und später als Romancier gearbeitet hatte, aber auch Karl Steinbuch heben einleitend in ihren Aufsätzen hervor, dass sie beide aus professioneller Sicht beiden Kulturbereichen angehören (vgl. Snow 1969: 11, Steinbuch 1969: 143). Zudem werden an einigen Stellen explizit Hinweise auf ‚Überläufer’ gegeben.19 Seine These der kulturellen Zweiteilung der Welt kann Snow somit auf ein stabiles Fundament an – international – geteilten Vorstellungen stützen; nur in ausgesprochen wenigen Reaktionen wird das dichotome Modell überhaupt in Frage gestellt.20 Eine mögliche Zuordnung weiterer Disziplinen zu einer der beiden Welten scheint für die zentrale Frage nach der gesellschaftli19 Helmut Kreuzer etwa nennt als Beispiel der Verwobenheit beider Bereiche, dass es durchaus ‘Überläufer’ aus dem mathematischen, naturwissenschaftlichtechnischen Bereich zur Literatur gibt: „Musil war Ingenieur, Broch Mathematiker und Textil-Industrieller, Norman Mailer Bautechniker, Schnitzler, Carossa, Döblin, Benn, Baroja, Duhamel, Aragon, Isherwood und hundert andere waren Ärzte, Max Frisch war Architekt wie R. A. Schröder; Ernst Jünger und Zuckmeyer studierten zeitweilig Naturwissenschaften, T. S. Eliot, Max Bense, Arno Schmidt Mathematik, usf.“ (1969: 135). 20 Einige Stellungnahmen sehen das dichotome Fachkultur-Modell Snows erweitert um weitere eigenständige Kulturbereiche, die neben der naturwissenschaftlichen und der literarischen Kultur anzuordnen sind. Überwiegend wird hier der Philosophie ein eigener Platz eingeräumt (vgl. z. B. Domin 1969, Kreuzer 1969: 144/178). Am deutlichsten widerspricht noch Hellmuth Glubrecht dem Konzept einer Spaltung der Kulturen in allein zwei Pole und stellt dagegen seine Vorstellung eines Gesamtgefüges multipler kultureller Teilbereiche, innerhalb dessen „die Naturwissenschaft wie ein riesiger, ständig wachsender Turmbau“ hervorrage (Glubrecht 1969: 198).

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chen Relevanz der beiden fachkulturellen Pole nicht sehr bedeutungsvoll, daher tritt dieser Aspekt in der Debatte in den Hintergrund. An der Art der Argumentation und der Wahl der Argumente wird deutlich, dass die Aufteilung in naturwissenschaftlich-technische und literarisch-geisteswissenschaftliche Welten übereinstimmend als zentrale Ausgangsposition für die Bearbeitung gesellschaftlicher Aufgaben gesehen wurde: Es wurde z. B. nicht darüber gestritten, ob die Verantwortung für eine Einflussnahme auf gesellschaftliche Lebensbedingungen innerhalb und vor allem auch außerhalb westlicher Industrienationen überhaupt auf Seiten der Intellektuellen lag, sondern verhandelt wurde im Wesentlichen, welchem von beiden Ressorts diese Verantwortung berechtigterweise zukommen solle. Deutlich wird an diesem Punkt, wie sehr die Gesellschaft von dem Denkmuster der zwei Welten geprägt war.

1.2.2.

Epistemische Felder und ihre Formen der Differenzierungen

Die Einteilung der Welt in naturwissenschaftliche und literarische Sphären, welche von Snow und seinen Zeitgenossinen und Zeitgenossen vor allem auf einer Ebene der intellektuell-gesellschaftlichen Verantwortung diskutiert wurde, zeigte sich und zeigt sich bis heute in der Einteilung der wissenschaftlichen Disziplinen an den Hochschulen und Fachhochschulen: Während bis 1918 an den Philosophischen Fakultäten sowohl naturwissenschaftliche Fächer als auch sprachliche und geisteswissenschaftliche Fächer unterrichtet wurden, richteten die meisten Universitäten ab 1918 eigene mathematischnaturwissenschaftliche Fakultäten ein (vgl. Huerkamp 1996: 92ff.).21 Damit wurden die einst heterogenen Sammel-Fakultäten in die später von Snow aufgegriffenen Bereiche aufgeteilt. Die dichotome Wahrnehmung der fachkulturellen Welt taucht in alltäglichen und wissenschaftsspezifischen Kontexten immer wieder auf – wenngleich außer Frage steht, dass sich weitere Disziplinen als eigene Bereiche daneben fest etabliert haben (z. B. Jura, Kunst, Medizin, Sport etc.).22 Diese scheinen jedoch keine vergleichbar bedeutsame Rolle 21 Neben den mathematisch-naturwissenschaftlichen Fächern wurden laut Huerkamp (a.a.O.: 92) die Fächer Pharmazie, Nationalökonomie, Landwirtschaft und Zahnheilkunde ausgegliedert. Somit bestanden als Sammelbereiche weiterhin, wenn auch jetzt in die zwei Sphären getrennt, vor allem die zusammengefassten mathematisch-naturwissenschaftlichen Fächer und die sprachlich-kulturwissenschaftlichen Fächer. 22 Als ein Beispiel mag gelten, dass die Universität Hamburg plante, ab dem Wintersemester 2005/2006 eine in das Studium einführende einjährige Kollegstufe nach dem Vorbild der US-amerikanischen „undergraduate studies“ einzuführen. Die Studierenden sollen dabei zwischen drei Fächergruppen wählen können: Naturwissenschaften, Geistes-, Sprach- und Kulturwissenschaften oder aber Rechts-, Sozial- und Wirtschaftswissenschaften (vgl. Die Tageszeitung vom 14.4.04).

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zu spielen.23 Seit dieser Trennung wurden die sprachlich-kulturwissenschaftlichen24 und die mathematisch-naturwissenschaftlichen Disziplinen nicht wieder miteinander verbunden, vielmehr existieren sie inzwischen als deutlich ausdifferenzierte Fachdisziplinen. Im Bereich der sprach- und kulturwissenschaftlichen Disziplinen wurden v. a. die Fächer unterrichtet, welche auch an den Schulen gelehrt wurden. Die Aufteilungen der Disziplinen im (Fach-) Hochschulsystem zeigt sich auf den beiden Ebenen von Lehre und Forschung unterschiedlich (vgl. hierzu Heintz u. a. 2004: 43ff.): Während innerhalb der Forschung im Verlaufe des 20. Jahrhunderts die Entwicklung eher zur Auflösung der Disziplinengrenzen tendierte, ist der Bereich der Lehre nach wie vor recht streng an den Disziplinengrenzen orientiert. Eben an diese Aufteilung der Disziplinen lehnt sich die der schulischen Unterrichtsfächer innerhalb der Lehramtsausbildung an: die eigentliche Fachausbildung erfolgt an den Fachdisziplinen, die didaktische Qualifikation entweder auch dort als klar abgetrennte Bereiche oder davon losgelöst an den erziehungswissenschaftlichen Fakultäten. Die interdisziplinären Forschungszusammenhänge berühren die Ausbildungsverläufe der Lehramtsstudierenden in der Regel verhältnismäßig wenig, entsprechend werden auch die Fachgrenzen innerhalb der Disziplinen sehr klar vermittelt. Sowohl der naturwissenschaftliche als auch der sprachliche Bereich werden mit unterschiedlichen epistemologischen Attribuierungen versehen. In der 23 Wenngleich einzelnen Disziplinen möglicherweise deshalb keine vergleichbare Bedeutung zugesprochen wird, weil sie als Einzeldisziplinen stehen, oder/ und keinem Fachbereich eindeutig zugerechnet werden (z. B. Jura, Philosophie), so gilt dies beispielsweise nicht für den künstlerisch-musischen Bereich von Kunst, Theater und Musik. Die Zuordnung vieler Disziplinen ist dabei heute ebenso wenig eindeutig wie zu Zeiten Snows. Liebau und Huber verweisen darauf, dass die Fächer oder Disziplinen in unterschiedlichen Bündelungen auftreten: „bald „Sprach“-, bald „Sprach- und Kulturwissenschaften“, bald „Geisteswissenschaften“ oder „arts“ bzw. „humanities“ auf der einen Seite; die Sozialwissenschaften bzw. „social sciences“ diesen hier subsumiert, dort daneben gestellt, bald die Wirtschaftswissenschaften einschließend, bald nicht; auf der anderen Seite „die“ Naturwissenschaften, Mathematik inbegriffen oder extra, und, längst nicht immer berücksichtigt, die Ingenieurwissenschaften“ (1985: 315f.). Die beiden Pole der Fachbereiche sind unbeeinflusst jeder begrifflichen Varianz darin jedoch eindeutig als Oppositionen auszumachen. In dieser Arbeit wird, wenn nicht die Bezeichnung historische Diskurse spiegeln und entsprechend die exakten und entsprechend changierenden Bezeichnungen erfordern, von sprachlichen und naturwissenschaftlichen Disziplinen und Fächern gesprochen. 24 Die Bezeichnung „Sprach- und Kulturwissenschaften“ ging laut Hartmut Titze ab 1924/25 aus der vorherigen, nicht weiter nach Bereichen unterscheidenden Bezeichnung der „Geisteswissenschaften“ hervor, und umfasste nach wie vor die Disziplinen: Alte Sprachen, Germanistik, Neue Sprachen, Geschichte, Musik, Philosophie, Pädagogik, Religionslehre, Kunst, Archäologie, Publizistik, Leibesübungen, sonstige Kulturwissenschaften (Titze 1987: 81-85, 124).

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Regel werden dabei Klassifikationskriterien eingesetzt, welche Wissens- sowie Erkenntnisformen der Disziplinen kategorisieren (vgl. Becher 1989): Hildegard Schaeper und auch Agnes S. Münst kategorisieren in ihren Untersuchungen fachkultureller Felder nach den Taxonomien hart–weich bzw. rein– angewandt (vgl. Schaeper 1997: 75, Münst 2002: 36). Huber zufolge wird die Einteilung der hart–weich-Dimension danach vorgenommen, inwieweit wissenschaftlichen Aussagen „messbare, quantifizierbare und reproduzierbare“ Daten zu Grunde gelegt werden (1991: 10). Je mehr sie dies tun, als desto ‚härter’ gelten sie, wenn mit ihren Aussagen „anerkanntermaßen subjektive Perspektiven eingehen, die sich dem Geist einer Epoche oder Nation, den Traditionen einer „Schule“ oder der Disposition des Autors verdanken können“ (ebd.), dann seien dieses ‚weiche’ Disziplinen.25 Die Kategorien rein–angewandt sind an Tony Becher (1987: 289) angelehnt, welcher dadurch den Grad der Anwendungsbezogenheit ausgedrückt sieht. Sowohl die Physik als auch die Germanistik ordnet Becher den reinen Wissenschaften zu, während etwa die Elektrotechnik oder die Erziehungswissenschaft den angewandten Wissenschaften zugeschrieben wird. Becher kombiniert die Klassifikationskriterien und ordnet Disziplinen den Bereichen hart/rein, weich/rein, hart/angewandt und weich/angewandt zu. Er nennt die Physik als Beispiel für die Kombination hart/rein, die Germanistik für weich/rein; die Disziplin Maschinenbau ist ihm zufolge ein Beispiel für hart/angewandt, während z. B. die Sozialpädagogik als Vertreterfach des Bereichs weich/angewandt gilt (vgl. 1987: 289). Münst und Schaeper greifen diese Kombinationen für ihre Untersuchungsbereiche auf. Alternative, jedoch weniger verbreitete mögliche Klassifikationstaxonomien wären life-sytem vs. non-life system oder kristalline vs. zellulare Wissensstrukturen (vgl. Becher 1987). Richard Whitley schlägt ein weiteres Klassifikationssystem vor, nach dem die Disziplinen in zwei Merkmalen unterschieden werden sollten (vgl. 1984): Er selber nennt die erste Dimension den Grad des kognitiven Konsenses, welcher entweder über die Einschätzung der Angehörigen der Disziplinen selbst oder aber über die Rate der Ablehnungen in wissenschaftlichen Zeitschriften gemessen wurde. Demzufolge herrscht bei naturwissenschaftlichen Disziplinen ein weit höherer disziplinärer kognitiver Konsens als etwa in den Sozialwissenschaften. Auch bei der Akzeptanz oder Ablehnung wissenschaftlicher Beiträge greifen in den sozialwissenschaftlichen Disziplinen eher Kriterien wie institutionelle Zugehörigkeit, ‚theoretische Schule’ etc., während in den Naturwissenschaften eher die wissenschaftliche Aussage entscheidet. Stephen 25 Huber nennt hier als Beispiele die Natur- und Ingenieurwissenschaften, Medizin und Psychologie, aber auch die Linguistik, welche ja traditionell eher dem sprachwissenschaftlichen Bereich zugerechnet wird (ebd.). Für den ‘weichen’ Bereich nennt er die Geistes- und Sozialwissenschaften.

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Cole relativiert die Aussagen des höheren kognitiven Konsens in den Naturwissenschaften, indem er darauf verweist, dass innerhalb der naturwissenschaftlichen Disziplinen erhebliche Unterschiede bestehen (vgl. Cole 1983). Die zweite Dimension der Klassifikation nach Whitley bezieht sich auf die Kooperation innerhalb der Disziplinen. Wenngleich es sicherlich Disziplinen gibt, in denen weniger im Team geforscht und z. B. auch publiziert wird als in anderen, so greifen hier z. B. auch ökonomische Kriterien, welche letztlich Kooperationen erforderlich machen, weil viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler an einem gemeinsamen Projekt arbeiten (z. B. im Kontext der Teilchenphysik). Whitleys Klassifikationsdimensionen sind bisher empirisch erstaunlich wenig eingesetzt worden (vgl. allerdings Knorr 1999). In ihrer vergleichenden Betrachtung verschiedener Disziplinen greifen Heintz u. a. (2004: 37ff.) auf ein weiteres Unterscheidungsmerkmal zurück: den Grad der Laboratorisierung der jeweiligen Disziplinen. Laboratorisierung beinhaltet verschiedene Dimensionen: Zum einen bedeutet Laboratorisierung, dass „wissenschaftliche Beobachtung unter bestimmten Bedingungen stattfindet, die sich systematisch kontrollieren und gezielt variieren lassen“ (a.a.O.: 38). Die Kontextabhängigkeit wird über die Arbeit im Labor weitgehend reduziert. Hierin liegt der größte Unterschied zu den stärker am Feld orientierten Disziplinen, welche sich nur direkt vor Ort, also im Feld machen lassen und welche in der Regel auch nicht zu wiederholen sind, da die Feldbedingungen ständigen Veränderungen unterliegen. Zum zweiten beinhaltet Laboratorisierung eine ‚künstliche’ Inszenierung von Gegenständen, welche quasi Natur isoliert abbilden sollen, um diese Auschnitte besser analysieren zu können. Beispiel ist hier die Teilchenphysik, in welcher z. T. kilometerlange Beschleunigeranlagen gebaut werden, um künstliche Kollisionen beobachten zu können. Nicht nur die Messinstrumente in Form von immer spezieller werdenden Apparaturen, sondern auch die Untersuchungsobjekte werden so selbst erzeugt. Ein hoher Grad an Laboratorisierung bedeutet also eine verhältnismäßig große zeitliche und räumliche Unabhängigkeit von den zu erforschenden Gegenständen. Wenngleich die Ergebnisse nach einer weitgehenden Laboratorisierung unterschiedlichen Filtern (Apparatureinstellungen, Entscheidungen über eben diese Einstellungen etc.) unterliegen und somit Modelle abbilden, wird den auf diese Art hervorgebrachten Untersuchungsergebnissen eine vermeintlich hohe Objektivität zugeschrieben. Heintz u. a. hinterfragen die zugewiesenen Taxonomien (a.a.O.: 22ff.), indem sie zunächst auf Niklas Luhmann verweisen, welcher die Zugehörigkeit zu den wissenschaftlichen Disziplinen als bestimmten Spielregeln unterliegend herausstreicht: Zentral ist laut Luhmann die Festlegung auf den binären Code von Wahrheit. Die zu Grunde liegende Differenz ist demnach die der Beurteilung eines Sachverhalts bzw. einer Aussage als wahr bzw. falsch (vgl. z. B. 39

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Luhmann 1981 und 1990). Wahrheit ist in Luhmanns Sinne keine formulierbare Eigenschaft, sondern ein Symbol, welches anzeigt, dass eine Aussage auf der Basis konsensueller und standardisierter wissenschaftlicher Konventionen getroffen wurde. Hierin unterscheidet sich eine wissenschaftliche Aussage etwa von einem politischen Statement, welches persönlichen Interessen oder subjektiven Wahrnehmungen folgt. Für ein Wahren des wissenschaftlichen Ausdrucks genügt in der Regel ein Einhalten wissenschaftlicher Verbalisierungsformen, z. B. über Publikationen, anschließend werden dann die zur Behauptung führenden Versuche schlicht geglaubt, ohne jedes Mal überprüft zu werden.26 Wahrheit gilt ab diesem Prozess nicht mehr als subjektive Einschätzung, sondern als gesicherte und damit objektive Aussage. Luhmann verdeutlicht mit seinen Überlegungen, dass die Kategorisierung als wissenschaftlich bzw. nicht-wissenschaftlich einer kulturellen Konstruktion folgt. Während Luhmann jedoch für alle wissenschaftlichen Disziplinen von gleichen Prozessen und Verfahren ausgeht, weist Bourdieu darauf hin, dass unterschiedliche Disziplinen unterschiedliche „Brechungsstärken“ aufweisen würden (1998a: 28): Je niedriger der Standardisierungsgrad einer Disziplin, desto wahrscheinlicher können außerwissenschaftliche Blickrichtungen die getroffenen Aussagen anders bewerten und hinterfragen. ‚Wahrheit’ funktioniert laut Bourdieu also in den unterschiedlichen Disziplinen unterschiedlich bzw. über unterschiedliche Symbole (ebd.). Qualitative Feldforschung unterliegt demnach einer weit höheren Angreifbarkeit der wissenschaftlichen Aussagen, als etwa ein sehr hoch standardisiertes Verfahren wissenschaftlicher Aussagen (und Überprüfbarkeit) wie etwa in der Physik. Schaeper arbeitet heraus, dass die Taxonomien zugleich auch Wertigkeiten in den Klassifikationen beinhalten. Sie sieht diese vor allem in der historischen Entwicklung der Disziplinen belegt, nach denen z. B. das Image der Naturwissenschaften als möglichst ‚reine’ Wissenschaften erwiesen und zugleich 26 Ein bekanntes Beispiel hierfür sind die Brüder Bogdanov, welche in der Physik in zahlreichen Veröffentlichungen Fachinhalte v. a. der modernen physikalischen Theorie publizieren konnten, ohne dass in den Publikationsprozessen aufgefallen wäre, dass die eingereichten Texte inhaltlichen Nonsens ergeben. Dieses wurde erst deutlich später gesehen. Beiden Brüdern wurde sogar in der Physik der Doktortitel für ihre im Nachhinein als sinnlos erkannten Arbeiten verliehen. Meines Erachtens zeigt dieses Beispiel deutlich den Konstruktionsprozess von Wahrheiten: Die Aussagen der Brüder waren sprachlich so in eine physikalische Fachsprache eingebettet, verpackt, dass nur wenige Fachkollegen die Inkohärenz der Aussagen überhaupt bemerkten. Stattdessen bezeichneten die Gutachter die Arbeiten als „fundiert, originell und von Interesse“. Im Zuge der Diskussion um diesen Skandal der Physik wurde eingeräumt, dass die zunehmende Spezialisierung innerhalb bereits spezialisierter Bereich der Physik immer mehr Probleme der wissenschaftlichen Nachweise hervorbringen werde (vgl. Die Zeit 46/2002).

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1. KULTURELLE ZUSCHREIBUNGEN UND GRENZZIEHUNGEN

die Nähe zu handwerklichen Arbeitsweisen quasi verleugnet werden musste, um als Universitätsdisziplinen anerkannt und etabliert zu werden (vgl. Schaeper 1997: 75f.). Die zugeschriebene Klarheit und Eindeutigkeit der Disziplinen sowie der ihnen zugeschriebene Abstraktionsgrad, welche für Physik sehr hoch, und auch eindeutig höher als für die Biologie oder die Chemie, für die Germanistik hingegen eher niedrig eingeschätzt werden, spiegeln sich auch in den Selbst- und Fremdzuschreibungen der Angehörigen der jeweiligen Disziplinen (vgl. hierzu ausführlich Becher 1981 und 1990). Sogar innerhalb der Physik greift eine interne Unterscheidung zwischen theoretisch und angewandt-experimentell arbeitenden Physikerinnen und Physikern, welche die zugeschriebene Wertigkeit sehr deutlich stützt: „The ladder of specialism runs down from theoretical particle physics to experimental physics, and finally to areas in applied physics such as metallurgy“ (Becher 1990: 5).27 Rosemarie Rübsamen arbeitete bereits 1983 in ihrem Aufsatz „Patriarchat – der (un-)heimliche Inhalt der Naturwissenschaft und Technik“ heraus, dass die Physik, gefolgt von der Chemie, als ‚Königsdisziplin’ der Naturwissenschaften betrachtet wird, weil sie als Disziplin, welche sich mit der unbelebten Materie beschäftigt, vermeintlich Grundlagen schafft, auf welchen die wissenschaftlichen Analysen der belebten Materie z. B. in der Biologie, Biochemie und Biophysik aufbauen. Rübsamen stellt generell in Frage, dass „die belebten Organismen nach Gesetzmäßigkeiten (physikalisch-chemisch, vielleicht noch informationstheoretisch) funktionieren, die von unbelebten Systemen bekannt sind“ (1983: 299). Die Ableitung von Naturgesetzen v. a. aus der Physik auf z. B. die Biologie stelle somit ein Konstrukt dar, welches von hegemonialen Interessen geleitet sein, jedoch nicht von begründeten Abhängigkeiten. Rübsamen führt verschiedene Beispiele ins Feld, in welchen die Kontrolle über physikalisch-chemische Teilfunktionen das Interesse der Herrschaft über „lebende Wesen“ begründet: genetische Veränderungen in der Landwirtschaft, Genforschung, Hirnforschung, Durchsetzung der Atomenergie (vgl. dazu ausführlich a.a.O.: 301f.). Sie schlussfolgert daraus, dass diese Verhältnisse der Wissenschaften „auf irgendeine Weise gesellschaftliche Strukturen widerspiegeln, und zwar solche Strukturen, die entscheidend für die Ausübung von Herrschaft sind“ (a.a.O.: 303). Rübsamen stellt die innerhalb der Naturwissenschaften nachgezeichneten Hierarchiestufen in Frage, unstrittig scheint jedoch, dass in einer generellen Betrachtung der wissenschaftlichen Disziplinen, etwa wie Snow sie getrennt hat, die Naturwissenschaften als Gesellschaftsträger gesehen werden. Die derzeit immer wieder 27 Die Bedeutsamkeit von Interaktions- und Kommunikationsbeziehungen, welche gleichzeitig Kompetenzen zum männlichen Geschlecht assoziieren und zum weiblichen Geschlecht dissoziieren, für gendering-Prozesse in natur- und ingenieurwissenschaftlichen Studienfächern arbeitet Münst in ihrer Untersuchung (2002) eindrucksvoll heraus.

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aufgegriffene Debatte über die Relevanz der Naturwissenschaften und die damit zusammenhängende Begründung für eine Notwendigkeit von Fördermitteln, Motivations- und Interessensforschungen etc. verweist darauf, dass naturwissenschaftliche Zugänge nach wie vor als die erfolgversprechenden und zukunftsweisenden Disziplinen und Berufssparten gesehen werden. Insofern steht die Physik quasi als ‚Leitkultur’ im Ansehen der verschiedenen epistemischen Felder an der Spitze der Hierarchiepyramide. Insgesamt lässt sich konstatieren, dass die von Snow initiierte Debatte Positionen aufgreift, welche sich in der Praxis fachkultureller Welten bereits länger schon spiegelten, und die Pole expliziert, die bis heute aktuell sind und hochschulische Disziplinen ebenso wie schulische Fächer entscheidend prägen. Die dokumentierte Vehemenz der fachkulturellen Debatte verweist m. E. jedoch vor allem auf die zugeschriebenen Konnotationen und Wertigkeiten der jeweiligen Pole der zwei Kulturen. Dabei bewegt sich die Debatte zwischen intellektuellen Zuschreibungen, Existenzberechtigungen und Zugangsmöglichkeiten zu und von Fächern und Disziplinen bis hin zu Ressourcenzuweisungen und damit verbundenen Positionierungen in der wissenschaftlichen Community. Universitäre Ausbildung und schulische Fachsozialisation bilden – zumindest für die Seite der Lehrenden – einen schwer zu durchbrechenden Kreislauf mit innerhalb der Disziplinen weitgehend homogenen Handlungsmustern und Denkstrukturen. Für die Lernenden liegt der bedeutsame Anfangspunkt der fachkulturellen Sozialisation in der Schule. Im Folgenden werde ich die beiden hier im Fokus liegenden Unterrichtsfächer Physik und Deutsch in ihrer historischen Entwicklung nachzeichnen und auf Brüche und Stimmigkeiten innerhalb der Fachentwicklung hin beleuchten.

1.3. Die Geschichte fachkultureller Welten in der S c h u l e : P h y s i k u n d D e u t s c h 28 Wenngleich die Feststellungen der dichotomen Wahrnehmung für den Hochschulbereich gemacht wurden, so lassen sie sich ebenso auf den schulischen Bereich übertragen, da hier die Trennung zwischen dem sprachlichen und dem naturwissenschaftlichen Bereich ebenso deutlich vorgenommen wurde 28 Bei den im Folgenden genannten konkreten Angaben bezüglich des Stundenumfangs, der Inhalte etc. für beide Fächer beziehe ich mich auf die für den Forschungszeitraum gültigen Stundentafeln, Versetzungsordnungen und Rahmenrichtlinien verschiedener norddeutscher Bundesländer, aus denen die relevanten Informationen zusammengetragen wurden. Um die Anonymität des Feldes zu gewährleisten, wird weder zitiert noch werden Literaturangaben genannt.

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1. KULTURELLE ZUSCHREIBUNGEN UND GRENZZIEHUNGEN

und wird. Ungeachtet der seit längerer Zeit andauernden Debatten über Notwendigkeiten ‚core-Kanons’ zu schaffen und die bestehenden Fächeraufteilungen in Frage zu stellen, existieren die Fächerkanons in weitreichender Übereinstimmung weltweit in folgender Form: „Die Curricula der Elementarstufe und der Sekundarstufe I umfassen so gut wie überall moderne nationale Sprachen, Sozialwissenschaften, Naturwissenschaften, Mathematik und moderne Kunst“ (Benavot u. a. 1991). Bei Eddy Jozefzoon und Ruud Gorter findet sich eine sehr ähnliche Aufstellung: „mother tongue, maths/ arithmetic, physical education, arts/ crafts/ textiles, human and social sciences, natural sciences, health education“ und stufenspezifisch: „foreign language, technology, interdisciplinary work“ (1985: 17). Im schulischen Fächerkanon in Deutschland finden sich diese Bereiche heute ausdifferenziert in den Unterrichtsfächern Physik, Chemie und Biologie für den naturwissenschaftlichen Bereich und dem Fach Deutsch für den sprachlichen Bereich.29 Diese Aufteilung hat eine lange Geschichte, die hier im Folgenden für den gymnasialen Bereich skizziert wird (vgl. dazu Nündel 1980, Weltner 1980, Zimmer 1983, Schenk 1984, Freudenstein u. a. 1986, Duismann u. a. 1986, Lind 1999). Dabei werden die Entwicklungen didaktischer Positionen weitgehend ausgeklammert (vgl. dazu für Physik Lind 1999, für Deutsch vgl. Fritzsche 1994). Die historische Nachzeichnung der Fächerentwicklungen birgt eine (auch methodische) Absicherung, den Fächern nicht allgemeingültige Stereotype zuzuschreiben, sondern Fachcharakteristika pointieren zu können. Zudem soll dem Vorwurf entgegengearbeitet werden, Schulfachforschung arbeite ahistorisch und spezifische Konstruktionsbedingungen der Fächer (gesellschaftliche Entwicklungen, spezielle Bildungsbedingungen etwa an spezifischen Schulformen und unterschiedliche Wissenschaftsverständnisse) blieben unterbelichtet (vgl. hierzu Goodson 1999b: 34). Auch für eine Darstellung der fachkulturellen Habitus bietet sich eine historische Nachzeichnung an, denn der Habitus „ist die Gegenwart der Vergangenheit, die ihn erzeugt hat“ (Bourdieu 1999: 105). Auch in der Gender-Forschung wird immer wieder eine Kontextualisierung der Aussagen und Daten gefordert. Die hier dargestellten historischen Näherungen stellen eine solche Form von Kontextualisierung dar. Drei Schwerpunkte bieten sich vor dem Hintergrund meiner Fragestellung als relevant an: Erstens die Frage nach der Entwicklung beider Fächer als Unterrichtsfächer, eingebunden in den Kontext einer Etablierung verschiedener Disziplinen 29 Selbstverständlich lassen sich auch alle anderen fremdsprachlichen Fächer unter diesen Bereich fassen, ich beziehe mich jedoch im Folgenden nur auf das Fach Deutsch.

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als eigenständige Schulfächer insgesamt und speziell für die Physik als ‚Vertreterfach’ für den naturwissenschaftlichen Bereich, zweitens die Frage nach curricularen Inhalten jeweiliger Welt- und Wissenschaftsauffassungen, die z. T. für den heutigen Deutsch- und Physikunterricht noch prägend sind, sowie drittens der Blick auf geschlechtsspezifische Entwicklungen in den beiden Fächern, welche jedoch in den Beiträgen zur Historie der Fächer erstaunlich konsequent ausgeklammert bleiben. Knappe Angaben dazu finden sich bei Faulstich-Wieland (1991).

1.3.1.

Physik

Die Geschichte des Faches Physik ist bis heute verknüpft mit der Frage nach Notwendigkeit und Nutzen einer Abkopplung bzw. Anbindung an die Disziplinen Chemie und z. T. auch Biologie. Die Disziplinen wurden dann z. B. unter den Überschriften „Naturwissenschaftlicher Unterricht, Naturlehre, Realien“ zusammengefasst. Bereits im 17. Jahrhundert forderte Johann Amos Comenius vor dem Hintergrund eines veränderten Wissenschaftsverständnisses des empirischen Realismus, Physik als eigenständigen Lehrgegenstand einzuführen. In den Realschulen fand bereits zu Beginn des 18. Jahrhunderts eine Unterweisung in naturwissenschaftlichen Fächern – und eben als Teilbereich auch in Physik – statt, an den Gymnasien noch nicht. An den Universitäten war Physik bereits ein etabliertes Lehrfach, wurde jedoch an der philosophischen Fakultät unterrichtet und verfolgte bis Mitte des 18. Jahrhunderts den inhaltlichen Anspruch, einen vollständigen Überblick über das gesamte Gebiet der Physik zu geben. Im Laufe des 18. Jahrhunderts wurde die Aufgabe der wissenschaftlichen Vorbildung nach und nach von der philosophischen Fakultät an die Gymnasien verlagert, Physik etablierte sich somit auch als gymnasiales Unterrichtsfach, zunächst für den Bereich der Prima. Zu dieser Zeit wurden die Inhalte wie auch die Lehrform der universitären Lehre für den gymnasialen Unterricht einfach übernommen, zumeist „war die übliche Lehrmethode das Vorlesen und Erklären des Lehrbuchtextes“ (Lind 1999: 114). Die fachliche Vorbildung der Lehrenden war eher gering – eine physikalische Fakultät für die Ausbildung von Lehrerinnen und Lehrern gab es erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts – die Fachsprache war somit damals wenig ausgeprägt. Gegen Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts entstanden aus der philosophischen Fakultät einzelne Disziplinen mit zunehmend auf ihr Fach spezialisierten und auch darin forschenden Lehrenden. Eine parallele Entwicklung fand nach und nach auch an den Gymnasien statt, wenngleich nicht sofort einheitlich an allen Physikunterricht unterrichtet, sondern zum Teil zunächst Privatkurse gegen Honorar angeboten wurden. Im Verlauf des 18. Jahrhunderts hatten sich Inhalte und Selbstverständnis der Physik zunehmend 44

1. KULTURELLE ZUSCHREIBUNGEN UND GRENZZIEHUNGEN

gewandelt, eine Abkehr von der scholastischen Physik und ein starkes Interesse an der Experimentalphysik setzte sich durch. Mit der Eigenständigkeit der Disziplin als Universitätsfach fanden auch die neuen Inhalte Eingang in die Schulphysik: Nicht mehr das philosophische Erkenntnisinteresse stand im Mittelpunkt, sondern die Wissenschaftlichkeit methodischer Zugriffe auf physikalische Phänomene. Physik verstand sich zwar weiterhin als erklärende Wissenschaft, fortan jedoch weniger im Sinne teleologischer, als nun kausaler Zusammenhänge. Lehrbücher wurden standardisiert und Inhalte vereinheitlicht, was vorher keineswegs der Fall gewesen war. Gunter Lind betont, dass die Gebiete, die Ende des 18. Jahrhunderts festgelegt wurden, auch ein Jahrhundert später noch vertreten waren: „Am Anfang standen Statik und Dynamik fester und flüssiger und gasförmiger Körper, dann folgte ein kurzer Abriss der Chemie und den ausführlichsten Teil bildete die Physik der sogenannten Imponderabilien Wärme, Licht, Elektrizität und Magnetismus [...]. Als Addenda konnten noch die Meteorologie und die Astronomie behandelt sein.“ (a.a.O. : 117).30

Experimentelle Lehrmethoden charakterisierten den Physikunterricht so sehr, dass Gebiete, die nicht in Demonstrationsexperimenten präsentiert werden konnten, vernachlässigt wurden. Lediglich fehlende Apparate schränkten die Experimentierfreudigkeit im gymnasialen Physikunterricht ein. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurde die Bildungs- und Schulpolitik zunehmend als Mittel verstanden, nationale Erneuerungen nicht nur punktuell an Einzelschulen, sondern systematisch durchzusetzen. Formale Bildung als ideelle Menschenbildung stand der materialen Bildung, die eher auf praktische Brauchbarkeit zielte, gegenüber. Die neuhumanistische Kritik an verdächtigen, realistischen Strömungen führte zwar nicht zur vollständigen Abschaffung, immerhin aber doch zur Reduzierung des Physikunterrichts.31 Zunächst wurden die Disziplinen Chemie und Physik zu Naturlehre zusammengefasst – eine Entwicklung, die sich an den Volksschulen bis nach dem Zweiten Weltkrieg durchsetzte. Die Konzeption von formaler – oft als Synonym für humanistische – Bildung und materialer Bildung als Gegensätze legte den Grundstein für eine dichotome und zugleich wertende Wahrnehmung der Unterrichtsfächer. Physik wurde jetzt als Legitimation formaler Bildung in gymnasiale Curricula integriert, allerdings deutlich enger an die Mathematik angelehnt als zuvor. Formalbildende Inhalte und Unterrichtsformen gewannen die 30 Diese Inhalte lassen sich auch heute noch in den Bildungsplänen erkennen. 31 In Bayern wurden im Zuge der radikalen Bildungsreform 1830 die naturwissenschaftlichen Fächer aus dem gymnasialen Lehrplan gestrichen, in Preußen wurde eher auf die curricularen Gestaltungsmöglichkeiten der Einzelschulen verwiesen und die neuhumanistischen Ideale sehr viel pragmatischer umgesetzt (a.a.O.: 124).

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Oberhand, der Experimentierunterricht wurde reduziert und als bloße Unterhaltung abgewertet. Lehrwerke orientierten sich nun einige Zeit an entwicklungspsychologischen Prämissen, der Unterricht wurde auch inhaltlich in Bildungsstufen organisiert. In den preußischen Realschulen setzte sich der Physikunterricht neben den anderen Naturwissenschaften als gesonderter Unterrichtsgegenstand durch; in den die Hochschulreife ermöglichenden Gymnasien wurde Physik auf ein reines Oberstufenfach reduziert und im Stundenumfang gegenüber den historisch und sprachlich ausgerichteten Fächern hinten angestellt. Klaus Weltner stellt hierzu heraus: „Der Streit zwischen Realismus und Neuhumanismus wurde nicht mehr innerhalb des Gymnasiums ausgetragen, sondern auf den Konflikt zwischen zwei Schultypen verlagert.“ (Weltner 1980: 354). Die formale Bildung wurde zum Charakteristikum des Gymnasiums. Gegen den Widerstand der Schulverwaltung wurde der naturwissenschaftliche Unterricht von Lehrkräften und Seminarleiterinnen und -leitern jedoch weiter gefördert. Diese Entwicklung trug dem steigenden Bedarf an naturwissenschaftlich-technisch gebildeten Menschen Rechnung. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts kam den Naturwissenschaften ein höherer Stellenwert im höheren Schulsystem zu, eine Vergleichbarkeit der beiden Fächergruppen mathematisch-naturwissenschaftlich und philologisch-historisch war jetzt eher gegeben. In den Lehrplänen von 1882 war der „Physikunterricht an den Gymnasien ([inzwischen wieder] zusammen mit Chemie und Mineralogie) mit zwei Wochenstunden ab Tertia, der Physikunterricht an den Realgymnasien dreistündig ab Untersekunda, an den Oberrealschulen zweistündig ab Obertertia, dreistündig ab Obersekunda vertreten“ (Paulsen 2, 1921, zit. n. Schenk 1984: 78).

Die Bedeutung des naturwissenschaftlichen, speziell aber auch des Physikunterrichts stieg mit deren Bedeutung zunächst v. a. für rüstungsindustrielle, später für die allgemeinwirtschaftliche und -industrielle Entwicklung. Wichtigste Aufgabe war jedoch weiterhin die formale Bildung. Dies spiegelt sich auch in den „Meraner Beschlüssen“ von 1905, in welchen die Gesellschaft deutscher Naturforscher und Ärzte (GDNÄ) die Grundsätze des Physikunterrichts für das 20. Jahrhundert zusammenfasste, die noch heute aktuell sind: „1) Die Physik ist im Unterricht nicht als mathematische Wissenschaft, sondern als Naturwissenschaft zu behandeln. 2) Die Physik als Unterrichtsgegenstand ist so zu betreiben, dass sie als Vorbild für die Art, wie überhaupt im Bereiche der Erfahrungswissenschaften Kenntnis gewonnen wird, dienen kann. 3) Für die physikalische Ausbildung der Schüler sind planmäßig geordnete Übungen im eigenen Beobachten und Experimentieren erforderlich.“ (Weltner 1980: 355)

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1. KULTURELLE ZUSCHREIBUNGEN UND GRENZZIEHUNGEN

Physik wurde somit geradezu als ‚Motor’ erfahrungswissenschaftlicher Forschung betrachtet, Möglichkeiten wissenschaftlichen Fortschritts wurden gleichzeitig über die Beherrschung dieser Methode definiert. Die große Wirksamkeit der Meraner Vorschläge lag wohl u. a. daran, dass die Lehrerinnenund Lehrerschaft den zugeschriebenen Bildungswert ihres Faches unterstützte und ein großes Selbstbewusstsein des Faches entstand. Daraus hervorgehend wurden auch die materialen Aspekte der Physik wieder in die Unterrichtsplanung einbezogen. Spiralcurricular sollten zunächst in der Mittelstufe eher experimentelle, in der Oberstufe eher theoretische Aspekte des Physikunterrichts im Mittelpunkt stehen, dies wurde jedoch bald wieder in Frage gestellt. In den Höheren Schulen wurde zunächst die Betonung auf geschichtsorientierte und philosophische geistige Fragestellungen gelegt, wirtschaftliche und gar gesellschaftliche Fragen wurden ausgeklammert. Charakterliche Bildung der Schülerinnen und Schüler als Bildungsaufgabe wurde zunehmend in die Pole material–formal integriert. Methodisch wurden daraufhin Schülerversuche fester Bestandteil des Physikunterrichts, dadurch konnte das Monopol der Gesinnungsfächer auf Charaktererziehung gebrochen und (idealisierte) spezifische naturwissenschaftliche erzieherische Werte proklamiert werden. Diese wissenschaftsorientierte und zugleich unpolitische Haltung führte dazu, dass beide Weltkriege den Physikunterricht für ideologische und militärische Interessen vereinnahmen konnten. Zu Beginn des Nationalsozialismus wurde der Physikunterricht zu Gunsten des Biologieunterrichts und seiner Rassenlehre hinten angestellt. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden Inhalte und Konzepte des Physikunterrichts überarbeitet. Während Martin Wagenschein mit seinen Forderungen für den Physikunterricht von Dispositionen der Schülerinnen und Schüler ausging (vgl. v. a. 1962 aber auch 1970), orientierte sich der KMK-Beschluss von 1970 nicht mehr an der Persönlichkeitsbildung der Jugendlichen, sondern an den Qualifikationsanforderungen der Gesellschaft und somit an bildungsökonomischen Aspekten. Der Stundenumfang des Physikunterrichts an den zur allgemeinen Hochschulreife führenden Schulen ist vom Ende des 19. Jahrhunderts bis 1972 nicht wesentlich geändert worden, die Verbreitung stieg jedoch mit der Zahl der neu gegründeten Schulen, die vornehmlich diesem Zweig angehörten. Das IPN (Leibniz-Institut für die Pädagogik der Naturwissenschaften) in Kiel entwarf nach seiner Gründung in den 1960er Jahren Vorlagen für den Physikunterricht, der nun schulformunabhängig ab Jahrgangsstufe 6 stattfinden sollte. Gleichzeitig wurde über die Saarbrückener Rahmenvereinbarungen von 1960 an alt- und neusprachlichen Gymnasien Wahlfreiheit zwischen Physik-, Chemie- und Biologieunterricht für die Stufen 12 und 13 eingerichtet – in Klasse 11 blieb er verpflichtend, an mathematisch-naturwissenschaftlichen 47

SCHULISCHE FACHKULTUREN UND GESCHLECHT

Gymnasien ist der Physikunterricht für die Stufen 11–13 weiterhin ein Pflichtfach. Heute gilt ein weitgreifendes Verständnis von Physikunterricht, welches sich bemüht, Inhalte mehrdimensional zu betrachten und welches ein gewisses Maß an naturwissenschaftlicher Bildung für die Ausbildung von Verantwortung und die Möglichkeit zu gesellschaftlicher Teilhabe von Individuen als notwendig erachtet. Aktuelle Reformansätze greifen seit einigen Jahren auch im deutschsprachigen Raum die im anglo-amerikanischen Raum bereits seit einigen Jahrzehnten geführte Diskussion um „Science for all“ auf, in der die verschiedenen inhaltlichen Ebenen, die im Physikunterricht berücksichtigt werden sollen, unter dem Konzept der „Scientific Literacy“ diskutiert werden (vgl. dazu ausführlich Gräber u. a. 2002).32 Im Vordergrund steht dabei die Frage, welchen Beitrag Naturwissenschaften für Individuum und Gesellschaft leisten sollen – leider wird hierbei selten für die einzelnen Fächer differenziert. Robin Millar unterscheidet zwischen intrinsischer und instrumenteller Rechtfertigung für naturwissenschaftliche Bildung (1996, nach Gräber/ Nentwig 2002: 9), wobei unter intrinsischer Rechtfertigung die „intellektuelle Schönheit und Erklärungsmächtigkeit naturwissenschaftlichen Wissens“ (ebd.) zu fassen ist, deren Verständnis für das Verständnis eines Individuums von sich selbst notwendig ist. Die instrumentelle Rechtfertigung richtet sich hingegen auf praktischen Nutzen, gesellschaftliche Relevanz etc.. Roger Bybee hat ein hierarchisches Modell entwickelt, welches verschiedene Stufen von Komplexität und Umfang in einem lebenslangen Prozess kategorisiert: „Nominale Scientific Literacy: x Identifiziert Begriffe und Fragen als naturwissenschaftlich, zeigt jedoch falsche Themen, Probleme, Informationen, Wissen oder Verständnis. x Falsche Vorstellungen von naturwissenschaftlichen Konzepten und Prozessen. x Unzureichende und unangemessene Erklärungen naturwissenschaftlicher Phänomene. x Aktuelle Äußerungen zu Naturwissenschaft sind naiv. Funktionale Scientific Literacy: x Verwendet naturwissenschaftliches Vokabular. x Definiert naturwissenschaftliche Begriffe korrekt. x Lernt technische Ausdrücke auswendig. Konzeptionelle und prozedurale Scientific Literacy: x Versteht Konzepte der Naturwissenschaft. x Versteht prozedurales Wissen und Fertigkeiten in der Naturwissenschaft.

32 Der Begriff der „Scientific Literacy“ wurde bereits 1952 erstmals von James B. Cohen benutzt (vgl. Gräber/ Nentwig 2002: 11).

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x

Versteht Beziehungen zwischen den einzelnen Teilen einer naturwissenschaftlichen Disziplin und konzeptioneller Struktur. x Versteht die grundlegenden Prinzipien und Prozesse der Naturwissenschaft. Multidimensionale Scientific Literacy: x Versteht die Besonderheiten der Naturwissenschaft. x Unterscheidet Naturwissenschaft von anderen Disziplinen. x Kennt Geschichte und Wesen der naturwissenschaftlichen Disziplinen. x Begreift Naturwissenschaft in einem sozialen Kontext.“ (vgl. Bybee 2002: 31)

Bybee hebt hervor, dass funktionaler Scientific Literacy in schulischen Zusammenhängen lange ein hoher Stellenwert zugeschrieben wurde. Eine Reaktion sei nun, im naturwissenschaftlichen Unterricht möglichst wenig Fachvokabular zu verwenden. Bybee fordert eine Balance zwischen den Positionen, die möglich werde, indem andere Bereiche neben der funktionalen Scientific Literacy betont werden (vgl. a.a.O.: 26). Die Vielschichtigkeit des Konzeptes ruft innerhalb der naturwissenschaftlichen Gemeinschaft bislang breite Zustimmung hervor, gleichzeitig liegt in der damit verbundenen Uneindeutigkeit jedoch auch seine Schwäche: Konkrete Aussagen zu einzelnen Fächern, unterschiedlichen Lehr- und Lernsituationen und unterschiedliche Lehrende und Lernende sind bislang noch als blinder Fleck des Konzeptes auszumachen.33 Bislang ist Physik im gymnasialen Bereich in der Regel ein eigenständiges Unterrichtsfach ab der 7. Klasse, im Primarbereich Bestandteil des Sachkundeunterrichts. In der Sekundarstufe II ist Physik zunächst Pflicht (Klasse 11), in der 12. und 13. Klasse kann der naturwissenschaftliche Bereich wahlweise über Biologie, Chemie oder Physik abgedeckt werden. Interessant ist, dass die konkrete Stundenverteilung innerhalb der naturwissenschaftlich-technischen Fächer – ausgeklammert ist Chemie – in den Jahrgängen 5 und 6 den Einzelschulen überlassen bleibt, die Regelstundentafeln schreiben lediglich den Umfang von vier Stunden für die Fächer Biologie, Physik und Technik (Klasse 5) bzw. zwei Stunden für die Fächer Biologie und Physik vor (Klasse 6). Einige Gymnasien unterrichten derzeit in diesen Stufen das Fach „Natur“, „Natex“ o. ä., andere separieren die Fächer in die Ursprungsdisziplinen. Es lässt sich jedoch auch hieran erkennen, dass die Frage nach einer integrierten Naturwissenschaft bzw. deren Trennung bis heute aktuell ist. 33 Deshalb wird dieses Konzept für die Untersuchungen zum Physikunterricht in dieser Arbeit auch lediglich als eines von verschiedenen möglichen Konzepten vorgestellt und nicht als Gesamtfolie zu Grunde gelegt. Ausführliche Kritik an dem Konzept der Scientific Literacy findet sich z. B. bei Morris H. Shamos, der sowohl die Begründungen für das Konzept als auch deren mögliche Umsetzung in die Praxis in Frage stellt (vgl. z. B. 1995).

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Die Ausbildung der Mädchen war aus der Diskussion um die naturwissenschaftliche Bildung zunächst ausgeklammert: Naturwissenschaftlicher Unterricht fand an den Mädchenschulen im 19. Jahrhundert gar nicht oder in sehr viel geringerem Stundenumfang statt. Die systematische Praxis, Frauen von naturwissenschaftlichen Bereichen fernzuhalten, griff also in der Schule ebenso wie im Wissenschaftsbetrieb (vgl. Faulstich-Wieland 1991: 97). In der Neuordnung des Preußischen Ministeriums für das höhere Mädchenschulwesen wurde eine Ausweitung bzw. Einführung des mathematischen und naturwissenschaftlichen Unterrichts beschlossen, gleichzeitig wurde jedoch festgehalten, dass „durch diese Änderung die weibliche Eigenart in keiner Weise benachteiligt werden [soll]. Vielmehr werden Religion und Deutsch nach wie vor im Mittelpunkt der Mädchen- und Frauenbildung stehen“ (Beckmann 1933, nach Faulstich-Wieland 1991: 24). Wenn Physikunterricht erteilt wurde, dann für die Mädchen meist mit deutlich anderen Inhalten als für die Jungen: Während sich dieser an technischen Neuerungen orientierte, stand für den Unterricht der Mädchen eine Ausrichtung auf die Aufgaben als Hausfrauen und Mütter im Vordergrund und sollte, so findet es sich bei Silvia Conradt und Kirsten Heckmann-Jantz, „an die Beobachtungen von Vorgängen aus dem engeren Lebenskreis der Schülerinnen“ anknüpfen (1985: 141f.). Die Interessen der Mädchen wurden bei der Auswahl der Unterrichtsinhalte in Hamburg bis 1963 – zumindest in einigen Schulstufen – explizit ausgeklammert: „Besonders im neunten Schuljahr bestimmen das technische Interesse der Jungen, ihre Freude an Versuchen, Messen, Konstruieren und Werken die Auswahl der Bildungsstoffe“ (a.a.O.: 196). Die unterschiedlichen Ausprägungen des Physikunterrichts für Mädchen und Jungen finden sich also auf unterschiedlichen Ebenen. Die unterschiedliche Verteilung der Geschlechter auf die Schulprofile Höherer Bildung festigte die Wahrnehmung von Naturwissenschaften allgemein und eben auch von Physik als Jungenfach: Am sichersten verankert war der Physikunterricht an den mathematisch-naturwissenschaftlichen Gymnasien – also an den Bildungsstätten, an denen in erster Linie Jungen ausgebildet wurden – und den humanistischen Gymnasien, an denen ebenfalls Jungen die Mehrheit der Schülerschaft stellten. An den neusprachlichen Gymnasien, an denen in erster Linie Mädchen unterrichtet wurden, spielten naturwissenschaftliche und physikalische Bildung eher eine untergeordnete Rolle. Inzwischen wird in einigen Bundesländern wieder – als konzeptionelle Antwort auf die Koedukationsdebatte der neuen Frauenbewegung – für Naturwissenschaften/ Technik von möglichen unterschiedlichen Interessensgebieten und Arbeitsweisen für Mädchen und Jungen ausgegangen. Es sollen inhaltliche Bezüge bevorzugt werden, die beide Geschlechter gleichermaßen interessieren (z. B. Anwendungen in der Medizin, der Biologie oder dem Umweltschutz). Zudem wird ein Bewusstsein für die ‚Problematik’ bei den Lehrenden gefordert, die sie bei ihrem 50

1. KULTURELLE ZUSCHREIBUNGEN UND GRENZZIEHUNGEN

Verhalten im Unterricht sowie bei der Organisation von Lehr- und Lernprozessen berücksichtigen sollen.

1.3.2.

Deutsch

Muttersprachlicher Unterricht begründete sich erst im 17. Jahrhundert aus dem eigenen Wert der Sprache heraus, zu Beginn der Neuzeit wurde deutsche (Schrift-)Sprache in erster Linie in Lateinschulen vermittelt, um den Katechismus lesen zu können, im Verlauf des 15. Jahrhunderts dann, um v. a. dem Bürgertum berufliche Kontakte zu ermöglichen. Mit der Einführung der Schulpflicht wurde der muttersprachliche Unterricht etabliert, wobei dieser sich vom 15. bis zum 18. Jahrhundert zunächst auf die Ausbildung von Lesekompetenzen und orthografischen Kenntnissen beschränkte, in weiterführenden Schulen kamen Stilübungen und die Vermittlung von Fertigkeiten zum Verfassen eigener Texte hinzu. Hasko Zimmer verweist darauf, dass die Lektüre deutscher Dichter im Unterricht nicht nur weitgehend unbekannt war, sondern an den Gelehrtenschulen gar unter Strafe gestellt wurde (1983: 36). Lebenspraktische und allgemeinbildende Orientierungen standen also zunächst im Zentrum des Deutschunterrichts, neben der beruflichen Qualifikation umfasste dies v. a. auch sozialisatorische Aspekte, v. a. in religiöser und patriotischer Hinsicht. Im 17. und 18. Jahrhundert löste die deutsche Sprache langsam das Lateinische als Unterrichtssprache ab, Ziel war es, eine deutsche Einheitssprache zu verbreiten. Durch die Nutzung in verschiedenen Unterrichtsfächern, die 1816 von der Sektion für den Kultus und den öffentlichen Unterricht und der wissenschaftlichen Deputation in einem Lehrplanentwurf als obligatorische Lerngegenstände neben dem vormals reinen Latein- und Griechischunterricht eingerichtet wurden, kam dem Deutschen der Status einer Wissenschaftssprache zu – auch in diesem Punkt war die Vorherrschaft des Lateinischen damit gebrochen. 1812 wurde Deutsch als Hauptfach ins Gymnasium übernommen und als relevanter Prüfungsbereich etabliert. Johann Wilhelm von Süvern konzipierte in seinem Lehrplanentwurf von 1816, der jedoch abgelehnt wurde, Deutsch neben den klassischen Sprachen und Mathematik als dritten Schwerpunkt im gymnasialen Lehrplan mit durchschnittlich mehr als vier Wochenstunden. Erst 1892 löste dann der deutsche Aufsatz den lateinischen Aufsatz in der Oberstufe ab (vgl. Schober 1997: 204). Deutschunterricht fungierte als Mittel der Allgemeinbildung für alle, gleichzeitig diente der Sprachunterricht aber auch einer sozialen Selektion nach Bildungsschichten. Dem Stilunterricht an Höheren Bildungsstätten kam hierbei eine zentrale Funktion zu. Der Stil wurde angelehnt an die Dichtungen der Zeit, die damit zunehmend in den Unterricht einbezogen wurden. Auch die Reproduktion von Texten wurde geübt, und Reden nicht nur verfasst, sondern auch inszeniert – der Anfang des Schultheaters. Gegen Ende des 18. 51

SCHULISCHE FACHKULTUREN UND GESCHLECHT

Jahrhunderts sollte der Deutschunterricht nicht mehr nur praktische und gesellschaftliche Kompetenzen vermitteln, sondern auch die Bereiche formale, ästhetische und moralische Bildung einbeziehen. Ein grundlegend allgemeinbildender Beitrag wurde dem Deutschunterricht zugeschrieben, zu dem alle Menschen Zugang erhalten sollten. Ansehen und Bedeutung des Sprach- und Literaturunterrichts wuchsen zunehmend, sowohl an Gymnasien als auch an den Volksschulen wurde der muttersprachliche Unterricht zum wichtigsten Fach. Der Grammatikunterricht wurde als besonders geeignete Disziplin für eine Schulung der logischen Denkfähigkeit angesehen. Eine Verordnung vom 24.02.1837, die den Lehrplan an preußischen Gymnasien regeln sollte, kann auch als der erste Deutschlehrplan angesehen werden. Die formale Bildung wird als Ausgangspunkt der Vorgaben erkennbar, Robert Ulshöfer kritisierte daran, „dass er das Fach Deutsch zu einem theoretisch-intellektuellen Fach macht, das den Schüler zur Rezeptivität und Reproduktivität verurteilt“ (1964, nach Freudenstein u. a. 1986: 232). Die Gymnasien wurden wegen ihrer humanistischen Bildungsvorstellungen kritisch beobachtet, die Stundenzahl für Deutsch und auch Mathematik wurde deutlich reduziert zu Gunsten einer Erhöhung der Stundenzahl der klassischen Sprachen. Stärker jedoch richtete sich die Kritik gegen die Realschulen der Zeit, in denen Mathematik, Naturwissenschaften und neuere Sprachen ja schon die wesentlichen Bildungsinhalte waren. Der Deutschunterricht des 19. Jahrhunderts war geprägt durch zwei Prinzipien: zum einen das Konzept der Sprachdenklehre – nach damaligem Verständnis vermittelte der Deutschunterricht nun nicht mehr ‚Lerngegenstände’, sondern vielmehr ‚Lernmedien’, klare Sprachstrukturen sollten zu klaren Denkstrukturen führen. Zum anderen stand der ‚deutschkundliche’ Unterricht ganz im Zeichen einer Nationalerziehung. Lesebücher dienten zunehmend als Vehikel für moralische, patriotische und nationalistische Programme. Lesebücher können laut Otto Schober (1997: 206) überhaupt erst seit den 1960er Jahren des vergangenen Jahrhunderts als „literarische Arbeitsbücher“ angesehen werden, die politischer Indoktrination entsagen. Im Vergleich zu den Höheren Realschulen und stärker noch zu den lateinlosen Oberrealschulen war die Zahl der Unterrichtsstunden an (altsprachlichen) Gymnasien deutlich reduziert. Der Literaturunterricht gewann erst ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts an den Gymnasien an Bedeutung, Hintergrund war u. a. die mangelnde wissenschaftliche Fundierung, da es noch keinen Studiengang Germanistik gab, aber auch der vage Unterrichtsgegenstand selbst. Erst mit der zunehmenden Wertschätzung der ‚humanisierenden’ klassischen Literatur änderte sich diese Position. Mit der Ideologisierung des Deutschunterrichts ging auch ein Bedeutungszuwachs innerhalb des schulischen Fächerkanons im Höheren Schulwesen einher. Die Legitimationskrise der alt- und neuhumanistischen Bildung trug letztlich ebenso dazu bei: humanistische Bildungsinhalte wurden gleichgesetzt mit 52

1. KULTURELLE ZUSCHREIBUNGEN UND GRENZZIEHUNGEN

‚undeutschen’ Bildungsinhalten. Ab 1882 erfolgte ein stetiger Abbau der altphilologischen Unterrichtsstunden um bis zu 19 Stunden an den Gymnasien zu Gunsten der realistischen Fächer, der Deutschunterricht gewann hingegen fünf Stunden hinzu (vgl. Zimmer 1983: 48f.). An den in Preußen nach 1922 eingerichteten deutschen Oberschulen steigerte sich die Stundenzahl durch einen Zusammenschluss zu einer „deutschkundlichen Fächergruppe“ (Deutsch, Religion, Geschichte, Erdkunde) auf beherrschende 44 (!) Wochenstunden. Durch die Gymnasialreform von 1924/25 wurde dieser Bereich auch an den Gymnasien zu den Kernfächern ernannt. Eine kritische inhaltliche Analyse fand während der Weimarer Republik weder auf staatlicher noch auf didaktischer Ebene statt, so dass sich eine erneute Funktionalisierung des Deutschunterrichts mit dem Beginn des Faschismus nahtlos einfügte. Im Gegensatz zu anderen Fächern wie z. B. Biologie, Sport, Geschichte erfolgten auf die Inhalte des Deutschunterrichts jedoch keine bedeutenden Eingriffe. Lehrwerke und Lesebücher wurden übernommen. Erst ab 1938 griff die Gesinnungsschulung auch auf die deutschkundlichen Fächer über. Der Deutschunterricht wurde hierfür zentral eingesetzt, im Sprachunterricht weniger als im Literaturunterricht, der Aufsatzunterricht war zunächst ausgenommen (vgl. Frank 1973: 835ff.). Der Zusammenbruch der NS-Diktatur und die sich anschließende kritische Auseinandersetzung damit boten Raum für tiefgreifende Reformen des Faches. Zimmer resümiert hierzu knapp: „Die Nachkriegsentwicklung des gymnasialen Deutschunterrichts in der Bundesrepublik [...] ist bis in die sechziger Jahre hinein entscheidend dadurch geprägt worden, dass diese Aufgaben nicht gelöst, sondern abgewehrt worden sind.“ (1983: 59)

Die vormals zugeschriebene Sozialisationsfunktion des Faches Deutsch wurde – mit anderen Inhalten versehen – fortgesetzt. Grundlage war der Fortbestand der traditionellen Bildungskonzeption der Gymnasien. Erst mit der Legitimationskrise des Gymnasiums ab Mitte der 1960er Jahre änderte sich auch die Konzeption des Deutschunterrichts. Während nach 1945 eine Politisierung des Deutschunterrichts zunächst undenkbar schien, wurden jedoch spätestens zu Beginn der 1970er Jahre gesellschaftspolitische Themen wieder stärker einbezogen. Das Ziel sollte jetzt eine „politische Bildung durch Deutschunterricht sein“ (Frank 1978: 17), kein politisierter Deutschunterricht, welcher das Risiko einer erneuten Ideologisierung barg. Zentrales Medium war zunächst wiederum der Literaturunterricht, aber im Zuge der Pragmatischen Wende kam auch dem Sprachunterricht durch das neue Leitziel ‚Kommunikationsfähigkeit’ eine große Bedeutung zu, individuelle und kreative Aspekte mussten erst wiederentdeckt werden. Deutschunterricht bestand fast von Anfang an aus den zentralen Bausteinen literarischer Bildung und Sprachunterricht. Eine Trennung des Faches in die beiden Bereiche wurde vor 53

SCHULISCHE FACHKULTUREN UND GESCHLECHT

allem in den 1960er Jahren diskutiert, um eine engere Anbindung an die hochschulische Germanistik, die diese Trennung bereits vorgenommen hatte, zu ermöglichen. Wenngleich die Gewichtung beider Teile immer wieder strittig ist, ist Deutsch als einheitliches Unterrichtsfach erhalten geblieben. Die Frage, welchen Stellenwert die sprachlichen Anteile im Unterrichtsfach Deutsch haben sollten, wird derzeit auf verschiedenen Ebenen diskutiert (z. B. in den Rahmenplänen, aber auch bei Fragen nach gesellschaftlicher Verantwortung des Faches Deutsch). Eine eindeutig linguistische Ausrichtung ist nur in den Rahmenplänen für den Unterricht in der Sekundarstufe II vorgesehen, Deutsch kann m. E. dennoch in erster Linie als sprachliches Fach betrachtet werden, da der sprachliche Bereich sowohl für die Abwägungen von Zielen als auch von Inhalten des Faches in der (Bewertungs-)Praxis relevanter gemacht wird als etwa die Kompetenz oder der Erwerb literarischer, medialer oder weiterer Inhalte.34 Erkennbar ist dies sowohl in dem geäußerten Selbstverständnis der Lehrenden, Schülerinnen und Schüler und ihrer Eltern (vgl. Gogolin/ Neumann 1997) als auch in Bereichen schulischer Bewertungspraxis, in Bewertungskriterien, später dann als Einstellungskriterium bei Ausbildungsplätzen etc. Im Folgenden möchte ich diese Behauptung begründen: Gogolin hat dargestellt, dass in der Institution Schule in Deutschland von einem monolingualen Selbstverständnis in Hinblick auf den sprachlichen Habitus ausgegangen werden kann (vgl. v. a. Gogolin 1994). Grundlage dafür ist die Auffassung, dass „Bildung in der deutschen Schule in der zur Muttersprache erhobenen deutschen Sprache, und nicht anders, stattfinden müsse“ (Gogolin 1997: 15). Schulischer Common Sense bestehe darüber, dass weiteren Sprachen zwar in transitorischer Absicht Relevanz eingeräumt werden könne, jedoch nur um das eigentliche Ziel, einen möglichst schnellen und vollständigen Erwerb der deutschen Sprache, zu stützen.35 Diese vermittelte Perspektive gilt sowohl für die zwei- oder mehrsprachigen Kinder, die Deutsch lernen sollen, als auch für die, die Deutsch bereits als Muttersprache mitbringen und damit als ‚Maßstabgruppe’ gesetzt werden. Eine Nutzung der verschiedenen Herkunftssprachen findet bei mehrsprachigen Schülerinnen und Schülern v. a. auf der Hinterbühne, also nicht im offiziellen Unterrichts34 Hierin liegt auch die Begründung, weshalb ich das Fach Deutsch in dieser Arbeit als sprachliches Fach fasse, und nicht wie etwa Snow als Gegenpol zu naturwissenschaftlich-technischen Fächern unter den Bereich der literarischgeisteswissenschaftlichen Fächer. 35 Gogolin hält fest: „Wenn überhaupt eine gründliche Revision der sprachlichen Verfasstheit der Schule von einzelnen Lehrkräften in Erwägung gezogen wurde, so mit dem Anklang des Bedauerns über etwas Unerreichbares: Eine Schule als Schule für alle zu konzipieren oder gar zu realisieren, in der Mehrsprachigkeit gepflegt und zum Bildungsziel erhoben werde, sei ein unerfüllbarer Traum.“ (1997: 21).

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1. KULTURELLE ZUSCHREIBUNGEN UND GRENZZIEHUNGEN

gespräch statt (vgl. Jäger 1995). Aktive Mehrsprachigkeit stellt jedoch zu keinem Zeitpunkt den monolingualen Habitus in Frage, sondern zeigt nur, dass die Nutzerinnen und Nutzer einen „Sinn für die eigene soziale Stellung im Raum“ besitzen (Bourdieu 1985: 17). Offensichtlich wird der Bildungsgrad Einzelner zu weiten Teilen an der deutschsprachigen Kompetenz der Person gemessen, diese Kompetenzen werden zwar nicht ausschließlich, aber in erster Linie im Fach Deutsch vermittelt. Somit kommt dem Fach automatisch ein Stellenwert als gesellschaftlicher Türöffner zu, definiert über das sprachliche Lernangebot und gemessen am sprachlichen Lernzuwachs: Wer hohe Kompetenzen mitbringt und sich der ‚Leitkultur’ mit seinen Deutschkenntnissen möglichst weit annähert, dem stehen die Türen weiter offen als denen, die weiter vom Idealbild entfernt sind. Inhaltlich bildet der Rahmenplan Deutsch nach wie vor verschiedene komplexe Bereiche ab, dazu zählen Sprache und Literatur, Sachtexte und Medienprodukte, welche sich in die Arbeitsbereiche Literatur, Sachtexte und Medien, Schreiben, Sprechen und Gespräch und Sprachverwendung und integrative Grammatik auffächern. Der Bereich Medienkompetenz ist neu hinzugekommen; alle vier Bereiche werden als eng miteinander verzahnt verstanden und sollen spiralcurricular unterrichtet werden. Zusätzlich erwähnt etwa Schober den Bereich des interkulturellen Deutschunterrichts (DaZ: Deutsch als Zweitsprache und DaF: Deutsch als Fremdsprache) (Schober 1997: 224ff.). Dass dem Deutschunterricht mit der Ausbildung fundamentaler Sprech-, Lese- und Schreibkompetenzen eine fächerübergreifende Aufgabe zukommt, wird betont, gleichzeitig soll diese Aufgabe aber explizit nicht ausschließlich dem Deutschunterricht zukommen, sondern in allen dafür geeigneten Fächern gepflegt werden. Im Vordergrund der formulierten Ziele des Deutschunterrichts steht die individuelle Persönlichkeitsentwicklung der Schülerinnen und Schüler, sowohl in sprachlicher und kreativer Hinsicht als auch bezogen auf die Entwicklung von Werten und Normen. Das Fach Deutsch zählt seit langem zu den sogenannten Hauptfächern, deren Rolle sich darin ablesen lässt, dass sie in keiner Klassenstufe abgewählt werden können und die in besonderer Weise für Versetzungen relevant sind. Inzwischen sieht die Regelstundentafel in den Jahrgängen 5 bis 8 und Jahrgang 10 eine Wochenstundenzahl von vier vor, in der 9. Klasse nur drei Stunden, in Klasse 5 wird jedoch ab dem Schuljahr 2004/2005 die Stundenzahl auf fünf erhöht. Damit steht Deutsch im Stundenumfang neben Mathematik mit gleicher Stundenzahl und der 1. Fremdsprache, die insgesamt mit einer Stunde weniger unterrichtet wird, deutlich an der Spitze der Unterrichtsfächer.

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SCHULISCHE FACHKULTUREN UND GESCHLECHT

Deutschunterricht für Mädchen gestaltete sich im Laufe der Zeit in einigen Punkten anders als für Jungen. In erster Linie wurde dies allgemein bestimmt durch den späteren Bildungszugang, den Mädchen bekamen. Die gegründeten Mädchenschulen setzten jedoch auch inhaltlich andere Schwerpunkte als die mehrheitlich naturwissenschaftlich oder altsprachlich ausgerichteten Gymnasien, welche die Jungen besuchten. Deutschunterricht wurde bereits als Pendant des naturwissenschaftlichen Unterrichts betrachtet und behandelt, mit einer Reduzierung der naturwissenschaftlichen Unterrichtsstunden ging meist eine Erhöhung des Deutschunterrichts einher. Im 19. Jahrhundert entschieden sich die Gymnasien im Streit um die klassischen bzw. neuen Sprachen mehrheitlich zu Gunsten der neuen Sprachen. Seit der Durchsetzung des koedukativen Unterrichts an Gymnasien, der in der DDR bereits ab 1945 stattfand, sich in der BRD hingegen erst mit der Bildungsreform in den 1970ern durchsetzte, erhalten auch beide Geschlechter eine Unterweisung in gleichem Umfang und zu gleichen Inhalten. Heute findet sich in den Rahmenplänen lediglich der Hinweis auf eine Berücksichtigung geschlechtsbezogener Sozialisation für den Deutschunterricht.

1.3.3.

Unterschiede und Gemeinsamkeiten beider Fächer

Resümierend lassen sich für die Entwicklung der Fächer Deutsch und Physik verschiedene Gemeinsamkeiten, aber auch Unterschiede festhalten: x Beide Fächer unterliegen quasi von Beginn an bis heute dem dichotom konstruierten Verständnis von naturwissenschaftlichem und sprachlichem Zweig. Je nach gesellschaftlicher und bildungspolitischer Entwicklung ging dadurch in der Regel die Priorisierung des einen Faches mit einer Abwertung des anderen Faches einher, mit den jeweiligen Konsequenzen für den Stundenumfang. x In der Tradition des Gymnasiums nimmt das Schulfach eine zentrale Rolle ein. Durch die deutliche Abgrenzung schulischer Fachgebiete und Fächer voneinander, die mit der Einführung von Lehr- bzw. Rahmenplänen umgesetzt wurde, wurde auch der Einsatz von Fachlehrkräften erst möglich. Gleichzeitig wurde damit auch eine Bindung der Inhalte an die (Aus-) Bildung der Lehrkräfte zentral, das Feld tendenziell individueller pädagogischer Interpretation wurde standardisiert, verbindliche Inhalte erarbeitet und so stärkere fachinterne Übereinstimmungen in „Didaktik“, Methodik und Inhalten erwirkt.36 Mit dieser Entwicklung einer standardisierten 36 Die Entwicklung fachdidaktischer Konzepte war jedoch zu diesem Zeitpunkt noch kaum institutionalisiert, der eigentliche Durchbruch der Fachdidaktiken als eigenständige Disziplinen begann in Deutschland erst nach 1945 mit der flächendeckenden Akademisierung der Lehrerbildung (vgl. Hopmann/ Riquarts 1999: 12).

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1. KULTURELLE ZUSCHREIBUNGEN UND GRENZZIEHUNGEN

Fachsozialisation der Lehrkräfte kann auch von der Begründung eines Fachhabitus der Lehrenden gesprochen werden. Zudem wird dadurch eine wichtige Kontrollinstanz geschaffen, indem „nicht weiter spezifizierte dominante Gruppierungen die Kontrolle über mutmaßlich untergeordnete Gruppen bei der Definition von Schulwissen ausüben“ (Goodson 1999a: 153). Dieser Aspekt von „Knowledge und Control“ gilt für Physik und Deutsch gleichermaßen. x Beiden Fächern werden allgemeinbildende Aufgaben zugeschrieben, für die Physik gilt hierbei in stärkerem Maße eine fachliche Perspektive – naturwissenschaftliche/ physikalische Kompetenzen als Beitrag zu einem Verständnis der ‚Allgemeinkultur’, der Deutschunterricht setzt zunehmend darauf, die Persönlichkeit der Lernenden zu formen und zu fördern. x Lange Zeit galt: Die Anzahl der Unterrichtsstunden sind „der klarste Ausdruck des Ansehens eines Faches im Vergleich zu anderen“ (Lind 1999: 138). Für die heutige gymnasiale Situation würde ich diese Aussage in Frage stellen, zumindest jedoch konkretisieren. Der Stellenwert eines Faches, etwa bezogen auf Versetzungsrelevanz etc. korreliert mit seinem Stundenumfang. So ist der Stundenumfang von Deutsch als Hauptfach im Gymnasium neben Mathematik der höchste eines Einzelfaches überhaupt.37 Was sich genau hinter ‚dem Ansehen’ eines Faches verbirgt, ist damit jedoch nicht geklärt, und beide Faktoren sind m. E. auch nicht notwendigerweise gekoppelt. So wird z. B. bezogen auf den „Schwierigkeitsrad“ eines Faches Physik allgemein als anspruchsvoller eingestuft als Deutsch, das „Ansehen“ ist in diesem Punkt also vermutlich höher. Physik fordert laut dem allgemeinen Diskurs zudem andere Kompetenzen als Deutsch, und zwar in der Regel solche, die als ‚hart’ gelten, während mit Deutsch eher ‚weiche’ Kompetenzen konnotiert werden (vgl. hierzu genauer Kapitel 1.2.2 sowie Kapitel 2.2. und 2.3.). Dass der Stundenumfang des Faches Deutsch heute jedoch allein schon schulorganisatorisch eine besondere Relevanz mit sich bringt (Anzahl der Lehrkräfte an einer Schule, Anzahl der Klassenarbeiten pro Schuljahr etc.), ist damit unbestritten. Um das Ansehen von Deutsch und Physik jedoch vergleichen zu können, müssen – wie in dieser Arbeit vorgenommen – weitere Ressourcen beider Fächer mehrdimensional miteinander verglichen werden. x Das Fach Deutsch weist einige Besonderheiten auf. So sind Gegenstand und Medium deckungsgleich, Ernst Nündel folgert daraus, dass die Inhalte „mehr den politisch-gesellschaftlichen Bedingungen unterworfen“ seien als bei anderen Fächern (Nündel 1980: 146). Als Beleg führt er an, dass 37 In der Regelstundentafel erscheinen die Stundenvorgaben einmal für die einzelnen Fächer, zusätzlich aber auch für die Naturwissenschaften (Chemie, Biologie, Physik, Technik) insgesamt. Diese Gesamtstundenzahl liegt ein bis zwei Stunden höher als die des Faches Deutsch.

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SCHULISCHE FACHKULTUREN UND GESCHLECHT

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auch heute noch der Deutschunterricht in verschiedenen Bundesländern sehr unterschiedlich durchgeführt werde. Zu relativieren wäre diese Aussage insofern, als dass zwar die Zielsetzungen des Deutschunterrichts temporär wechselten, der inhaltliche Kanon jedoch lange konstant blieb. So konnten gleiche Inhalte für unterschiedliche Ziele eingesetzt werden, z. B. Dichtung für Stilbildung oder auch für Moralerziehung. Die Besonderheit der Bündelung naturwissenschaftlicher Fächer innerhalb der jeweiligen Einzelschulen besteht nach wie vor, zum Teil zeigt sich diese in organisatorischen Belangen, zum Teil auch in räumlichen Ordnungen. Deutsch besteht nach wie vor ausschließlich als eigenständiges Fach. An der Ausrichtung der Gymnasien als mathematisch-naturwissenschaftliche bzw. alt- oder neusprachliche ist die dichotome Ausrichtung bis heute verankert.38 Während lange Zeit die Relevanz der Fächer, meist gemessen anhand der Unterrichtsstundenanzahl beider Fächer, konkurrierend gedacht und praktiziert wurde, scheint diese Konkurrenz heute schulorganisatorisch keine besondere Rolle mehr zu spielen. Beide Fächer haben – nebeneinander – ihren festen Platz im Fächerkanon, und zwar mit ihrem recht fixierten jeweiligen Umfang. Gegenüberstellungen beider Fächer finden jedoch nach wie vor statt, in erster Linie in den standardisierten Leistungsvergleichen (TIMSS, PISA etc.), aber auch in den inhaltlichen Zuschreibungen von Interessens- und Begabungskonzepten durch die Lehrenden und Lernenden selbst. Wahlmöglichkeiten widerspiegeln sehr deutlich das Kriterium, dass beide Fächerbereiche abgedeckt werden müssen. Dieses beinhaltet gleichzeitig das Konzept, dass zwischen beiden Fächern in der Regel keine Verbindungen hergestellt werden können.39

38 In beiden Fällen beinhaltet das Fächerangebot jeweils sowohl sprachliche als auch naturwissenschaftliche Fächer, jedoch in unterschiedlicher Schwerpunktlegung. 39 Eine der wenigen Ausnahmen bildet das Fach Sachkunde im Grundschulbereich: hier werden naturwissenschaftliche und sozial-/ kulturbezogene Aspekte als Lernbereiche miteinander verwoben. An den Waldorfschulen wird das Konzept ebenso aufgeweicht, da hier deutlich stärker zu Projektthemen fächerübergreifend unterrichtet wird und zudem einzelne Lehrkräfte deutlich mehr Fächer abdecken. Dadurch ist die Ausgestaltung des Fachunterrichtes enger an das Wissen und Konzept einzelner Personen gebunden, und weniger z. B. an Fachkollegien. Ein ansatzweise abweichendes und interdisziplinär gedachtes Konzept verfolgt z. B. die Hamburger Max-Brauer-Schule in ihrem Reformprogramm „Profiloberstufe“, in der ebenfalls Fächer aus beiden Bereichen gekoppelt wer den (vgl. http://maxbrauerschule/unsere-schule/oberstufe/die-studienstufe-profiloberstufe/ letzter Zugriff am 13.2.07) bzw. die Gesamtschule Winterhude, Reformschule für Hamburg, in ihrem inzwischen prämierten interdisziplinär ausgerichteten naturwissenschaftlichen Konzept der jahrgangsübergreifenden Stufen

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1. KULTURELLE ZUSCHREIBUNGEN UND GRENZZIEHUNGEN

Einige Linien bezüglich der Entwicklung der Fächer sind in der historischen Betrachtung bereits nachgezeichnet worden, die Orientierung an den Fachbereichen, denen die Fächer Physik und Deutsch zugehören, ist als zentraler Baustein deutlich erkennbar. Hierin widerspiegelt sich für das deutsche Schulsystem deutlich Snows Verständnis der zwei Kulturen. Die Darstellung macht gleichzeitig sehr deutlich, dass die dichotome Auffassung und die gegenseitige Abgrenzung von Seiten beider Fächer erarbeitet und aufrecht erhalten wird. Die Fragen, was ein Unterrichtsfach überhaupt erst zu einem Unterrichtsfach werden lässt und welche Intentionen ein Schulfach und seine Vertreterinnen und Vertreter verfolgen, sind damit aus einer der möglichen Perspektiven erhellt. Ein reines Nachzeichnen der sozio-historischen Entwicklung der Schulfächer klammert vor allem die Rolle der (heute) Beteiligten an den Konstruktionsprozessen schulischer Fächer bislang aus. Dieser Fokus wird im empirischen Teil dieser Arbeit für das Edith-Benderoth-Gymnasium nachgezeichnet. Insbesondere interessiert dabei auch die Frage, ob und ggf. wie Geschlechterdifferenzen hierbei zum Ausdruck gebracht werden. Zunächst soll der Blick jedoch allgemeiner auf das Zusammenspiel von Gender und schulischen Unterrichtsfächern gelenkt werden.

8-10 (vgl. dazu die Laudatio von Prof. Dr. Witlof Vollstädt zur Verleihung des 3. Platzes des Cornelsen-Förderpreises Zukunft Schule 2005/2006 unter www.cornelsen.de/sites/zukunft_schule/laudatio_preis3.pdf letzter Zugriff: 13.2.07)

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2. Gendering-Prozesse und fachkulturelle Felder: Siamesische Zwillinge?

Anders als noch bei Snow, der der Vergeschlechtlichung beider disziplinärer Bereiche keine Aufmerksamkeit schenkte und für beide Seiten männliche Vertreter dachte, zeigt sich in der historischen Betrachtung, wie stark die Entwicklung und die inhaltliche Ausrichtung der Fächer immer wieder und bis heute von Genderaspekten durchzogen ist: Ablesbar ist dieses an den Fächerangeboten der einzelnen Schulformen – Physik für die mathematischnaturwissenschaftlichen Gymnasien und die humanistischen Gymnasien, die Schulformen also, welche sich in erster Linie der schulischen Ausbildung der Jungen widmete, Deutsch an den neusprachlichen Gymnasien, und damit den Bildungsstätten der Mädchen. Jeweils umgekehrt spielten der Deutschunterricht an den Jungenschulen und Physik an den Mädchenschulen eine untergeordnete Rolle. Aber auch inhaltlich bestimmen nach wie vor deutliche Geschlechterzuschreibungen die beiden Fächer. Naturwissenschaften werden hierbei bis heute unverändert als ‚harte’, männliche Domäne konstruiert, die weiblichen Interessentinnen werden zwar inzwischen gesehen, aber unterschiedliche Interessensgebiete für beide Geschlechtergruppen angenommen. Dieses gilt umgekehrt ebenso für das Fach Deutsch: dieses Fach gilt als ‚weich’ und weiblich (vgl. hierzu Kapitel 2.2. wie auch die empirische Darstellung in Kapitel 5). Ebenso wie für den Bereich der Unterrichtsfächer bzw. der universitären Disziplinen von sozialen Konstruktionsprozessen ausgegangen werden kann, ist dieses für den Bereich der Kategorie Geschlecht festzuhalten. Welches Verständnis verbirgt sich hinter diesem Ansatz, der sich in der Erziehungswissenschaft ebenso wie in den Nachbardisziplinen – spätestens seit Beginn der 1990er Jahre und damit fast 20 Jahre nach der Rezeption von „social construction of gender“ (vgl. West/ Zimmerman 1991) in der angelsächsischen Diskussion – inzwischen fest etabliert hat? 61

SCHULISCHE FACHKULTUREN UND GESCHLECHT

Zunächst bedeutet eine Herangehensweise nach dem sozialkonstruktivistischen Ansatz, dass der Blick auf die Praktiken und Prozesse gelenkt wird, welche wir anwenden, um in alltäglichen Handlungen Geschlecht als soziale Kategorie zu stabilisieren und uns ihr zuzuordnen. Im Mittelpunkt steht also die Frage nach den (Re-)Produktionspraktiken von Geschlecht. Dieser Ansatz bedeutet nicht, dass die Kategorie Geschlecht und unsere Zugehörigkeit zu ihr in irgendeiner Form unverbindlich würde. Mit Judith Lorber lässt sich die soziale Konstruktion von zwei – und gerade nur zwei – Geschlechtern aus historischen und empirischen Gründen als Voraussetzung für die Herstellung und Reproduktion der Hierarchie im Geschlechterverhältnis begreifen, zwei konstruktivistische Ebenen treten also miteinander in Korrespondenz (vgl. Lorber 1999). An dieser Stelle möchte ich zunächst (Kapitel 2.1.) knapp einige Grundlagen der in der Tradition interaktionstheoretischer und ethnomethodologischer Ansätze stehenden Annahmen vorstellen, welche von Geschlecht als sozialer Konstruktion ausgehen. In der Regel wird in den Konzepten, welche genderorientierte Forschung und Fragestellungen entscheidend geprägt haben und prägen, auf Ansätze zurückgegriffen, welche die Kategorie Geschlecht in den Mittelpunkt stellen, also mit Goffman gesprochen Geschlecht dramatisieren (vgl. Goffman 2001). Für die hochschulische Fachkulturforschung liegen bereits einige Ergebnisse vor, die Geschlecht bereits als zentrale Strukturkategorie berücksichtigt haben. Auch diese sollen hier knapp dargestellt werden (Kapitel 2.2.). Zu den Prozessen des gendering – also der geschlechtlichen Prägung – der Fächer speziell in schulischen Kontexten liegen bisher wenige Erkenntnisse vor. Hintergründe, die darauf verweisen, dass es möglicherweise geschlechterrelevante Aspekte für die Interessensbekundungen an schulischen Unterrichtsfächern und dem Geschlecht der Lernenden geben könnte, werden in Kapitel 2.3. skizziert. Abschließend wird in Kapitel 2.4. die Frage beantwortet, ob sich nach den bisherigen theoretischen Darstellungen bei den Unterrichtsfächern Deutsch und Physik von Fachkulturen sprechen lässt und welche Fragestellungen sich für das schulische Feld des EdithBenderoth-Gymnasiums an die Relevanz der Kategorie Geschlecht in den beiden Fächern ergeben.

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2. GENDERING-PROZESSE UND FACHKULTURELLE FELDER: SIAMESISCHE ZWILLINGE?

2.1. Gender – doing gender – undoing gender Ausgangspunkt meines theoretischen Verständnisses der Kategorie Geschlecht ist, Geschlecht als eines der zentralen gesellschaftlichen Ordnungsprinzipien zu begreifen. Die meisten Gesellschaften kennen nur zwei Gender, ‚Männer’ und ‚Frauen’.40 Die zentralen Bausteine, auf denen Geschlecht aufbaut, sind die Zuschreibungen von sozial konstruiertem Status, Geschlecht ist somit nicht unbedingt an biologische Grundlagen gebunden (vgl. z. B. diverse Ausprägungen des crossover gender). Mit Stefan Hirschauer spielen jedoch drei zentrale „axiomatische[n] Basisannahmen“ (Hirschauer z. B. 1994) eine entscheidende Rolle dabei, dass wir in alltäglichen Aushandlungen die Seite des biologischen Geschlechts als solches so wenig in Frage stellen und gleichzeitig so sehr als Grundlage für unsere Annahme eines konstruierten sozialen Geschlechts voraussetzen. Und zwar gehen wir Hirschauer zufolge x von der „Naturhaftigkeit von Geschlecht“ aus: Gender-Ungleichheiten werden also letztlich häufig an genetische oder physiologische Ursachen rückgebunden, biologische Ursachen zugleich selten in Frage gestellt. Die Kategorie des biologischen Geschlechts wird v. a. in wissenschaftlichen Kontexten als soziale Konstruktion betrachtet (vgl. z. B. Lorber 1999: 85ff., Butler 1995),41 außerhalb dieser wissenschaftlichen Kontexte wird jedoch von einem biologischen Geschlecht als einer unwiderruflichen und wenig beeinflussbaren Klassifikation ausgegangen.

40 In einigen Gesellschaften wird dieses Denkmodell bzw. die gängige Praxis erweitert und von nicht dichotomen gendern ausgegangen. Neben Männern und Frauen existieren z. B. in Indien die Hijiras (vgl. Nanda 1990) oder die Xaniths von Oman (vgl. Wikan 1982) bzw. die Berdachen bei den US-amerikanischen Indianern (vgl. Williams 1986). Bei den weiteren gendern handelt es sich um biologische Männer, die sich als soziale Frauen verhalten und so behandelt werden, quasi ‘männliche Frauen’. Umgekehrt gibt es ebenso ‘weibliche Männer’ z. B. in einigen afrikanischen und indianischen Gesellschaften (vgl. Amadiume 1987, Blackwood 1984). Die dichotome Abgrenzung stellt also eines der möglichen Denkmodelle von gender dar, bei den genannten weiteren Modellen sind die binären Pole ,männlich’ – ,weiblich’ jedoch nicht vollends außer Kraft gesetzt, sondern sie bleiben auch hier recht stabil: Entscheidend für die Klassifikationen sind auch in diesen Fällen die Verfügungsgewalten über Prestige, Reichtum und soziale Herrschaftsverhältnisse. 41 Biologisch-medizinische Klassifikationen über chromosomale, hormonelle, gonadale und morphologische Kategorien lassen keine klaren Zuordnungsebenen zu, sondern zeigen vielmehr fließende Übergänge und Variationen auf: Die Ebenen der Geschlechtszuweisung als ,männlich’ bzw. ,weiblich’ korrelieren nicht in der Form miteinander, dass es deterministische und eindeutige Zuordnungen gäbe: eine Person kann gleichzeitig chromosomal als männlich, morphologisch jedoch als Frau definiert werden (vgl. Heinsohn/ Götschel 2001: 12f.).

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SCHULISCHE FACHKULTUREN UND GESCHLECHT

x davon aus, dass diese Klassifikation (spätestens) von Geburt an festgelegt ist.42 Geschlecht wird so nicht nur als eine Kategorie konstruiert, der wir uns nicht nicht zuordnen können, die Zuordnung erfolgt lebenslang. Hirschauer spricht hier von der „Annahme der Konstanz“. x davon aus, dass eine Zuordnung zu genau einem der beiden Geschlechter erfolgt: als Mann oder als Frau. Es gibt keine Zwischenformen, wenn sie doch einmal auftreten, werden sie durch operative Geschlechtsumwandlungen bzw. -anpassungen geglättet und eindeutig gemacht (vgl. Lorber 1999: 89f.). Wir gehen also weder von Zwischenformen noch von Uneindeutigkeiten in der Geschlechtszugehörigkeit aus. Die Kopplung von biologischem (engl. sex) und sozialem Geschlecht (engl. gender) ist die Grundlage für die meisten Zuweisungen für die Geschlechtergruppen zu jeweiligem als adäquat angesehenem Verhalten. Christine Delphy hält hierzu fest, dass die Basis für ein Verständnis von Gender als sozialer Konstruktion unmittelbar mit der Annahme eines biologischen Essentialismus verankert ist: We have continued to think of gender in terms of sex: to see it as a social dichotomy determined by a natural dichotomy. We now see gender as the content with sex as the container. The content may vary, and some consider it must vary, but the container is considered to be invariable because it is part of nature, and ‚nature does not change’. (Delphy 1993: 3, Herv. im Orig.)

Meiner Ansicht nach lässt sich die Naturalisierung des Geschlechterverhaltens als Zirkelschluss fassen: Gesellschaftliche Annahmen bilden sich in der Praxis des Eindeutigmachens von biologischem Geschlecht ab, die vermeintlichen ‚Naturgesetze’ des biologischen Geschlechts dienen jedoch gleichzeitig als Legitimation und Anweisungen für soziales Geschlechterverhalten. Die Verknüpfung von biologischem und sozialem Geschlecht gestaltet sich als komplexer Ablauf mit prozessualem Charakter, welcher auf vielerlei Ebenen gleichzeitig geschieht und an dessen Entstehung und Aufrechterhaltung verschiedene Sozialisationsinstanzen über die Altersspanne beteiligt sind.43 Schule ist – wie in dieser Arbeit nachgezeichnet wird – eine von diesen 42 Im Zuge der Pränataldiagnostik und -beobachtungen wird die Frage nach der Geschlechtszugehörigkeit des Kindes bereits schon im Stadium als Fötus gestellt. Mittlerweile ist es durchaus üblich, im Rahmen der Schwangerschaftsvorsorge die zweite vorgesehene Ultraschalluntersuchung in der 19.-22. Schwangerschaftswoche zu nutzen, um das Geschlecht festzustellen (bzw. sich ausdrücklich vor der Beschallung dagegen zu entscheiden, es zu erfahren) (vgl. Brockmann/ Reichard 2000). 43 Erving Goffman beschreibt den Weg der Geschlechtersozialisation ausführlich in „Interaktion und Geschlecht“ (2001).

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2. GENDERING-PROZESSE UND FACHKULTURELLE FELDER: SIAMESISCHE ZWILLINGE?

Instanzen, und zudem durch die verpflichtende Teilnahme an der Schule diejenige, welche praktisch alle Mädchen und Jungen über mehrere Jahre durchlaufen. Gender ist die Seite, die wir im Alltag in allen Handlungen und Äußerungen antreffen, wir stellen Geschlecht her und dar, gleichzeitig wird uns Gender auch immer zugeschrieben. Candace West und Don Zimmerman (1991) haben den Begriff des „doing gender“ im Sinne der Herstellung und Aufrechterhaltung von geschlechtsangemessenem Verhalten durch interaktive Aushandlungen geprägt. Beide sehen die entscheidende Komponente in der Bewertung der Angemessenheit unseres Verhaltens als männliche oder weibliche Person. Dabei werden keine eindeutigen Verhaltenskodizes zu Grunde gelegt, denen wir zu folgen haben, sondern wir greifen in unseren Handlungen und Äußerungen auf ein Repertoire zurück, welches durchaus Gestaltungsfreiräume bietet. Der Maßstab dessen, was als Gender-angemessenes Verhalten gilt, folgt hierbei sozialen und temporären Wandlungen. Jedes Verhalten unterliegt dabei jedoch dem Risiko, als angemessenes oder eben unangemessenes männliches bzw. weibliches Verhalten bewertet zu werden. West und Zimmerman sprechen hier von dem „risk of gender assessment“ (1991: 23). Nach dem Prinzip der „accountability“ (ebd.) betonen West und Zimmerman die Verantwortung bzw. Verpflichtung jeder/ jedes Einzelnen, die eigene Geschlechtszugehörigkeit seiner Umwelt gegenüber unmissverständlich zu erkennen zu geben. Wenn wir uns einmal als weiblich bzw. männlich zu erkennen geben und entsprechend auch von unserer Umwelt so eingeordnet worden sind, dann bemühen wir uns in der Regel, unsere Handlungen geschlechtsadäquat zu gestalten. Das Prinzip, auf welches wir dabei permanent zurückgreifen, ist wiederum das der Geschlechterdifferenz. Die Frage, welche West und Zimmerman (vgl. 1991) aufwerfen, lautet: „Can we avoid doing gender?“. Zunächst kann diese Frage verneint werden: In unseren alltäglichen Handlungen ist die Kategorie Geschlecht eine ganz zentrale, in jeder unserer Handlungen und Äußerungen aktualisieren und (re-)produzieren wir Geschlechterdifferenzen, ob wir das wollen oder nicht. Geschlechterdifferenz fungiert dabei als Platzanweiser, der Frauen und Männern unterschiedliche Positionen im – zumeist hierarchischen – Gesellschaftsgefüge zuweist. Nach diesem Ansatz wird Gender dramatisiert, indem es als soziale Kategorie in den Mittelpunkt gestellt wird.44

44 Eine Dramatisierung der Kategorie Geschlecht wäre z. B. die Regel der mündlichen Beteiligung im Unterricht, nach der Jungen und Mädchen abwechselnd aufgerufen werden bzw. jeweils ein Junge ein Mädchen aufrufen soll und vice versa. Hierbei wird unabhängig von quantitativer Zusammensetzung der Geschlechtergruppen in der Klasse, Leistungsstand einzelner Lerner und Lernerinnen, Sitzpositionen etc. Geschlecht als Kategorie ,obenauf gelegt’.

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Inzwischen mehren sich die Stimmen, welche weitere Varianten im Umgang mit der Kategorie Geschlecht sehen: Heintz u. a. arbeiten in ihrer Analyse der Geschlechtsdarstellung bei Meteorologinnen die Inszenierungsform des overdoing gender heraus. Sie verstehen darunter die „demonstrative Überzeichnung weiblicher Stereotype“ welche „Raum zur Selbstdarstellung jenseits gängiger gesellschaftlicher Verhaltenserwartungen“ schafft (2004: 257). Ziel des overdoing gender ist den Autorinnen zufolge die Ironisierung des eigenen Geschlechterverhaltens, und durch die Überzeichnung die Entlarvung des Verhaltens als Inszenierung. Stefan Hirschauer (1994) sowie Bettina Heintz und Eva Nadai (1998) sprechen vom „undoing gender“ als dem bewussten Absehen von Gender, also einer ebenso konstruktiven Leistung wie dem doing gender. Unter undoing gender wird das Ruhenlassen von alltäglichen Geschlechterdifferenzen verstanden. Barrie Thorne nennt diese Konstruktion „Neutralisation“ (1993), in der Terminologie von Goffman kann hier von einer Entdramatisierung der Kategorie Geschlecht gesprochen werden (vgl. Goffman 1996). Neben eher theoretischen Überlegungen zu einer Entwicklung des entdramatisierenden Umgangs mit der Kategorie Geschlecht finden sich bei Faulstich-Wieland/ Weber/ Willems (2004) auch empirische Belege, dass zumindest im Feld Schule die Kategorie Geschlecht zeitweise hinter andere Kategorien zurücktritt. Diese anderen Kategorien werden von den Akteurinnen und Akteuren in den institutionsgebundenen strukturellen Situationen als strategisch erfolgsversprechender empfunden und entsprechend eingesetzt. Sie entsprechen dem Konzept von „doing difference“ (West/ Fenstermaker 1995) und könnten z. B. in Form eines Sich-Inszenierens als Schülerin oder Schüler (doing student) auftreten. Oder aber in Interaktionen wird die Kategorie des Alters/ der Statusgruppe in den Vordergrund gestellt, ein doing adult wäre die zentrale Kategorie der Handlung. Bei diesen Inszenierungspraktiken lässt es sich sehr wohl gleichzeitig von einem undoing gender sprechen – eben indem andere Kriterien für die Handlung situativ bedeutsamer gemacht werden. Unter diesem Blickwinkel relativiert sich die These der Omnirelevanz von Gender, quasi ‚nebenher’ reproduzieren wir auch immer Geschlechterdifferenzen, diese bilden jedoch nicht immer den einzigen Rahmen, sondern lediglich eine der Folien, vor deren Hintergrund wir handeln. Zentral scheint mir bei diesem Ansatz, dass die Kategorie Geschlecht weiterhin als Strukturkategorie berücksichtigt wird, zugleich jedoch auch der Blick in deutlich entdramatisierender Weise auf die jeweils situativ eingesetzten Kategorien gewendet wird. Dadurch werden die schulischen Akteure auch unter einer geschlechtersensiblen Fragestellung nicht zu sehr auf gegenderte Handlungen reduziert, sondern differenzierter im Wechselspiel mit ihrem Umfeld und den schulischen Rahmenbedingungen wahrgenommen.45 45 Ausführlich zum Zusammenspiel von Entdramatisierung und Dramatisierung

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2. GENDERING-PROZESSE UND FACHKULTURELLE FELDER: SIAMESISCHE ZWILLINGE?

Goffman weist darauf hin, dass unsere Glaubensvorstellungen in Bezug auf Geschlecht sich immer wieder über geschlechterdramatisierende Inszenierungen reproduzieren. Strukturen und deren Interpretationen stabilisieren sich so gegenseitig. Institutionelle Differenzierungen signalisieren nach außen wie nach innen die Trennung der Geschlechtergruppen, z. B. über getrennte Toiletten oder ritualisierte Gruppenbildungen. Die Praxis legitimiert die Trennung, möglich werden sie erst über institutionelle Arrangements, die auf die Zweigeschlechtlichkeit verweisen. Goffman spricht hier von der „institutional reflexivity“ – bzw. in der deutschen Übersetzung auch von der „institutionellen Reflexion“ (vgl. 2001: 38 bzw. 40ff.). Zentrale Elemente für solche Inszenierungen sieht Goffman in symbolischen Repräsentationen. Demzufolge teilen wir unsere Welt in binäre Oppositionen, rund–eckig, weich–hart, oben–unten, stark–schwach etc. Diese Charakterisierungen werden nach dem „ursprünglichen Teilungsprinzip, das die menschlichen Wesen in Männer und Frauen unterteilt“ (Bourdieu 1997a: 189) in männlich–weiblich zugewiesen. Willkürliche Einteilungen erhalten damit eine geschlechtliche Zuweisung, so werden Klassifikationen wie hart oder stark eben eher mit männlich assoziiert, weich und schwach eher mit weiblich. Bourdieu stellt heraus, dass hinter diesen Zuweisungen die Illusio liegt, welche für Zuschreibungen von bestimmten Bereichen, Kompetenzen und Assoziationen als für männlich oder weiblich konstitutiv ist. Die in diese Zuweisungen eingebundene Asymmetrie der zugeschriebenen Felder und deren Wertigkeiten legitimiert die unterschiedlichen Zugriffsmöglichkeiten symbolischen Kapitals durch Männer und Frauen (vgl. ebd.). Die symbolischen Zuschreibungsprozesse basieren Bourdieu zufolge letztlich auf zwei ineinander greifenden Operationen: sie legitimieren ein Herrschaftsverhältnis, indem sie es somatisieren, also in etwas Biologisches einschreibt, welches seinerseits eine biologisierte gesellschaftliche Konstruktion ist (vgl. ebda: 175). Veränderungen seien demnach auch nur über eine „symbolische Revolution“ zu erreichen, die Dinge und materiellen Strukturen müssten nicht nur neu geordnet werden, sondern eine „Transformation der Kategorien der Wahrnehmung, die uns dazu bringen, dass wir bei der Perpetuierung der bestehenden Gesellschaftsordnung mitspielen“, sei nötig (a.a.O.: 216). Wie schwierig diese Entkopplung zu gestalten ist, zeigt die profunde Verwobenheit von (schulischen) Fachkulturen und Geschlechtergruppen in unserer Wahrnehmung.

vgl. auch Budde/ Faulstich-Wieland 2004 bzw. Budde 2006.

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2.2. Ergebnisse fachkultureller Forschung unter Genderaspekten Die Aufteilung der Fächer ging und geht einher mit der Zuweisung der Fächer bzw. Fachbereiche als männliche oder weibliche Disziplinen. Dieses zeigt sich unter anderem in den Zahlen der Studienfach- und/ oder Kurswahlen. Claudia Huerkamp zeichnet in ihrer historischen Darstellung der Entstehung des naturwissenschaftlich-mathematischen und des sprachlich-kulturwissenschaftlichen Bereichs (seit Beginn der Aufteilung der Fakultäten in naturwissenschaftliche und sprachliche Bereiche ab 1918 als zwei getrennte Studienbereiche) sehr klar eine geschlechtliche Aufteilung auf die unterschiedlichen Fakultäten nach: Sprach- und Kulturwissenschaften wurden seitdem v. a. von Studentinnen, naturwissenschaftliche Fachrichtungen v. a. von Studenten gewählt. Einzig während der Kriegszeiten, in denen die männlichen Kommilitonen eingezogen wurden, erreichten die Frauen auch hier eine numerische Überlegenheit, 1943 sogar bis zu knapp 70% an der naturwissenschaftlichen Fakultät (Huerkamp 1996: 99).46 Den Ausgangspunkt und zugleich den Kern der hochschulischen Forschungen bildet entsprechend zumeist die Frage nach Ungleichheiten in der Verteilung der Geschlechter auf verschiedene Studienfächer und die mit den quantitativen Gewichtungen einhergehenden Kompetenz- und Eignungszuschreibungen. Die konsensuale Annahme der beiden fachkulturellen Pole spielt jedoch dabei eine entscheidende Rolle: diese spiegelt sich deutlich in der Auswahl der in den Studien untersuchten Disziplinen, zumeist wurden Fächer aus dem sprach- und geisteswissenschaftlichen Bereich mit denen aus dem natur- und ingenieurwissenschaftlichen Bereich verglichen (vgl. Liebau/ Huber 1985, Engler/ Friebertshäuser 1989, Engler 1993), oder aber alle untersuchten Fächer lagen explizit nur im natur- und ingenieurwissenschaftlichen Bereich (vgl. z. B. Walter 1998, Münst 2002), auch durch diese Wahl des Samples legen die Autoren und Autorinnen implizit die Annahme zweier dichotomer Felder zu Grunde.47 Der eindeutige Schwerpunkt der fachkulturellen Forschung liegt 46 Die von Snow gestellte Frage der jeweiligen gesellschaftlichen Verantwortung unterschiedlicher Disziplinen steht heute nicht mehr im Zentrum der fachkulturellen Forschung, wenngleich sich im Kontext der 1970er Jahre die ZweiKulturen-Debatte erneut entfachte, die Verantwortung für gesellschaftliche und v. a. ökologische Probleme wurde jedoch auch damals eindeutig dem technischnaturwissenschaftlichen Bereich zugewisen. Auch im Zuge dieser Technikkritik wurde das Muster der zwei kulturellen Pole nicht in Frage gestellt. Schulische fachkulturelle Forschung berücksichtigt diese Fragestellungen jedoch heute vergleichsweise wenig. 47 Eine Ausnahme von dieser Orientierung an den zwei Polen bildet die Studie von Hartmut Lüdtke zu „Universitäten als Zeitregime“ (2004), in der er in die Typologien der Fachkulturen auch diverse andere Disziplinen (u. a. Philosophie,

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auf der Seite der naturwissenschaftlichen Disziplinen, meines Wissens liegt bislang nur eine Studie vor, welche sich explizit mit der Frage der geschlechtlichen Konnotation und Konstruktion von sprachlichen Fächern beschäftigt: Barbara Schmenks Untersuchung „Geschlechtsspezifisches Fremdsprachenlernen?“ von 2002. Schmenk weist darin anhand der Analyse verschiedener internationaler Studien eindrucksvoll nach, dass insbesondere das Fach Französisch als besonderes ‚Mädchenfach’ konstruiert wird. Zwei unterschiedliche Konstruktionsargumentationen greifen hierbei vor allem: Zum Einen wird Französisch stereotypisierend über Begriffe wie romantisch, attraktiv, feminin attribuiert, laut Pritchard sogar „associated with fine wines, good cooking haute couture and luxurious perfumes – all either ‚domestic’ or ‚feminine’ in orientation“ (1987: 65), zum Anderen greifen die Zahlen der Wahlen von gymnasialen Leistungskursen, aber auch der hochschulischen Disziplin Französisch, in beiden Bereichen zieht das Fach überwiegend weibliche Lernende an. Schmenk arbeitet zugleich kritisch heraus, dass die stereotypisierenden Zuschreibungen von Gender-Attribuierungen bei verschiedenen Sprachen nicht zwingend mit schulischen Leistungen oder Interessenszuwendungen der lernenden Jungen und Mädchen kohärent sein müssen. Schmenk behandelt in ihrer Studie vorwiegend Fremdsprachen, stellt allerdings auch selber immer wieder Bezüge zum Unterrichtsfach Deutsch her. Ebenso wie v. a. für Französisch, aber auch für weitere Fremdsprachen gilt das Unterrichtsfach Deutsch als weibliche Domäne. Insofern lassen sich weite Teile ihrer Analyse m. E. auch auf dieses Fach übertragen. Ebenso wie die hochschulischen Studien berücksichtigen auch die im schulischen Bereich erhobenen standardisierten Tests wie LAU, PISA oder TIMSS entweder den sprachlichen und den naturwissenschaftlichen Bereich vergleichend, oder aber einen dieser beiden Bereiche. Damit spiegelt sich auch in der Wahl der untersuchten Disziplinen die Fortsetzung der von Snow angenommenen Einteilung der Welt in der wissenschaftlichen Sphäre bis heute. Fachkulturelle Forschungen operieren mit unterschiedlichen theoretischen Hintergründen, übereinstimmend wird jedoch eine aktive Beteiligung bei der Herstellung und Aufrechterhaltung sozialer Kontexte angenommen Das Hauptverdienst feministischer Wissenschaftskritik (vgl. z. B. Harding 1990 und 1994, Haraway 1991, Keller/ Longino 1996, Schiebinger 1999; für den deutschen Kontext z. B. Bauer/ Ebeling 2004, Götschel/ Heinsohn 2004, Heintz u. a. Kunstwissenschaften, Psychologie, Theologie, Rechtswissenschaften) miteinbezieht. Auch Hildegard Schaeper (1997) legt mit ihrer Untersuchung die Auswahl der Disziplinen bereits weiter an (Germanistik, Pädagogik, Wirtschaftswissenschaften, Biologie und Physik), die Orientierung an den Sprach- und Naturwissenschaften ist aber deutlich.

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2004, Schmitz/ Schinzel 2004, Bauer 2006, Ebeling/ Schmitz 2006) ist meines Erachtens, die Kategorie Geschlecht als Strukturkategorie eingeführt zu haben, und nicht Geschlecht als eigene, neue Wissenschaft bzw. separaten Ausschnitt der Wissenschaftsbereiche parallel neben bisherigen Wissenschaftszweigen stehen zu lassen. Wissenschaftliche Paradigmen wie ‚Wertfreiheit’, ‚Objektivität’und ‚Rationalität’sowie ‚Positivismus’, aber auch Organisationsformen der Wissenschaften werden dabei in Frage gestellt. Voraussetzung dafür ist die Einsicht, dass Wissenschaften soziale Bereiche sind, welche von gesellschaftlichen Verhältnissen geprägt werden, dementsprechend also kontextualisiert betrachtet werden müssen. Kerstin Palm kategorisiert in Anlehnung an Evelyn F. Keller (1995) und Londa Schiebinger (1987) die Schnittstellen von Genderforschung und Naturwissenschaften in drei zentrale Bereiche, welche insgesamt ein umfassendes Reflexionsangebot bereitstellen, nämlich „Women in Science“, „Science of Gender“ und „Gender in Science“ (2004: 52ff.). Unter „Women in Science“ werden die Forschungsbereiche gefasst, in welchen die Frage nach „Geschlechterverhältnissen im naturwissenschaftlichen Tätigkeitsbereich in historischer Perspektive und auf die heutige Situation bezogen“ im Mittelpunkt steht (ebd.). Dieses Forschungsfeld macht besonders deutlich, wie stark die Zuweisung von Naturwissenschaften allgemein, aber auch der einzelnen naturwissenschaftlichen Disziplinen noch einmal unterschiedlich, in verschiedenen kulturellen und regionalen Kontexten different kontruiert wird. In der interkulturell vergleichenden Studie „Women in Science ’94“ (1994) wurde deutlich, dass sowohl der Beschäftigungsgrad von Frauen in naturwissenschaftlichen Tätigkeitsbereichen (von ca. 5% in Deutschland bis z. B. 30 % bis 47 % in Ungarn, Portugal und den Philippinen) als auch die Einflussfaktoren auf diese Unterschiedlichkeiten in verschiedenen Ländern – verglichen werden verschiedene Länder aus Europa, Asien und Nordamerika – sehr variieren. Dadurch erscheinen naturwissenschaftliche Disziplinen, die an einem Ort als Männerdomänen konstruiert werden, anderenorts als Frauendomänen. Unter dem Schlagwort „Science of Gender“ werden die „wechselnden naturwissenschaftlichen Aussagen und Theorien über Geschlechtlichkeit und Sexualität von den Anfängen der Naturwissenschaften bis heute“ (Palm 2004: 54) gebündelt. Im Mittelpunkt steht hierbei ein kritisches Hinterfragen der jeweils prägenden Normen, welche die Geschlechterideologien hervorbringen. Wie bereits bei dem Bereich von „Women in Science“ ist auch hier ein Kreislauf erkennbar, welcher „bestimmte gesellschaftliche Auffassungen und Zustände zunächst unbemerkt auf Natur projiziert“ (a.a.O.: 55), um diese dann wieder abzuleiten und zu legitimieren. Der Bereich „Gender in Science“ thematisiert, welche „erkenntnistheoretischen und wissenssoziologischen Rückschlüsse sich in Bezug auf die Beschaffenheit des naturwissenschaftlichen Erkenntnisvorgangs aus diesen 70

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Befunden einer Ideologie bestimmten naturwissenschaftlichen Theoriebildung“ ableiten lassen (a.a.O.: 56). Der Vorwurf eines „feministischen Empirismus“, nach welchem Genderforschung in den Naturwissenschaften vermeintlich gegen Konventionen empirischer Forschung verstoße, wird mittlerweile auch genau gegenteilig gelesen: er trage zur Reformierung der Naturwissenschaften bei, indem ideologische Vezerrungen aufgedeckt und komplexe wie auch seriöse Theoriebildungen vorgenommen werden, gerade weil sie die Perspektivität von Erkenntnis berücksichtigen. Donna Haraway entwickelte diesen Ansatz weiter und bezieht zusätzlich weitere Strukturkategorien wie soziale Positionierung, ethnische Zugehörigkeit, Alter oder auch Gesundheitszustand mit ein. Sie spricht in diesem Kontext von „situated knowledges“ (1991: 196). Palm sieht in diesem Ansatz die Chance, zentrale naturwissenschaftliche Basiskonzepte wie z. B. die Dichotomie belebter vs. unbelebter Natur zu hinterfragen und innnerhalb der jeweiligen gesellschaftlichen Strömung zu kontextualisieren (vgl. 2004: 61). Bisher sind Reflexionen fachkultureller Kontexte vor allem im Bereich hochschulischer Forschung vorgenommen worden, Geschlecht wird hierbei als konstituierendes Merkmal hegemonialer fachkultureller Strukturen und Inhalte berücksichtigt bzw. sogar in den Vordergrund der Betrachtungen gestellt. Für den schulischen Bereich liegen meines Wissens bislang keine Studien unter diesem Fokus vor. Steffani Engler, Barbara Friebertshäuser, Agnes S. Münst, Hildegard Schaeper, Christel Walter, Barbara Schmenk und auch Bettina Heintz, Martina Merz und Christina Schuhmacher folgen in ihren Arbeiten zu (universitärer) Fachkulturforschung dem Forschungsansatz, die Fragen nach Ausprägungen der Fachhabitus und habitus-ausbildenden Strukturen miteinander zu verknüpfen (vgl. Engler/ Friebertshäuser 1989, Engler 1993, Schaeper 1997, Walter 1998, Münst 2002, Schmenk 2002, Heintz u. a. 2004). Geschlecht wird in diesen Studien als zentrale Strukturkategorie berücksichtigt. Folgende Ergebnisse, welche ganz unterschiedliche Ebenen der Relevanz von Geschlecht berücksichtigen, lassen sich aus dem Bereich der (fach-)hochschulischen Fachkulturforschung festhalten: x Generell gilt über die Disziplinengrenzen hinweg für die Bundesrepublik Deutschland, dass der Anteil der Frauen mit dem Anstieg der akademischen Qualifikationsstufe abfällt. Dies gilt so auch für alle Disziplinen, die im Rahmen der fachkulturellen Forschung an Hochschulen untersucht wurden. Wann genau die entscheidenden Weichen für oder gegen eine akademische Laufbahn gestellt werden, ob direkt nach dem ersten Hochschulabschuss bzw. noch während der Promotion, oder aber erst bei der Entscheidung zur Habilitation, darüber gibt es verschiedene Auffassungen. Generell gestalten sich jedoch die Verläufe bei Wissenschaftlern anders 71

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als bei Wissenschaftlerinnen (vgl. dazu z. B. Krais/ Krumpeter 1997, Allmendinger u. a. 1999, Krais 2000, Leemann 2002, Heintz u. a. 2004). Jerry Jacobs spricht von „revolving doors“, also von „Drehtüren“ (1989), durch welche Frauen aus dem Wissenschaftssystem wieder herausbefördert werden, indem sie auf verschiedenen Ebenen systematischen Benachteiligung unterliegen. x Entgegen der bis heute üblichen Annahme, dass naturwissenschaftliche Fächer geringere Aufstiegschancen bieten würden, konstatierten Nina Toren und Vered Kraus bereits 1987, dass der ohnehin geringe Frauenanteil in den naturwissenschaftlichen Disziplinen für den Erwerb von Spitzenpositionen eher förderlich ist – ganz im Gegensatz zu den Geisteswissenschaften, hier funktioniert das Verhältnis genau umgekehrt (vgl. Toren/ Kraus 1987). x Heintz u. a. arbeiten heraus, dass Frauen im Feld der Naturwissenschaften eher an ihrer wissenschaftlichen Leistung gemessen werden als in den Geisteswissenschaften (2004: 55ff.). So weisen Regula J. Leemann und Bettina Heintz (2000) in ihrer Studie zur Qualität der Betreuung in wissenschaftlichen Qualifikationsstellen an Schweizer Hochschulen nach, dass für die Betreuungssituation nicht die Geschlechtszugehörigkeit einer Person, sondern vielmehr ihre Zugehörigkeit zu einer Disziplin entscheidend sei. Auch in der bereits sehr viel älteren Studie von Jonathan Cole (1979) zur wissenschaftlichen Anerkennung weist dieser nach, dass in der Soziologie und der Psychologie ausschließlich Frauen auf die Frage, welche Personen in ihrem Fach einen wichtigen Beitrag geleistet haben, auch Frauen nennen, in der Biologie hingegen Männer wie Frauen weibliche Personen nennen. Weitere Dimensionen, wie die Dauer der Promotion, die Intensität der Einbindung in die akademische Lehre oder auch der Umfang der Publikationslisten, verweisen darauf, das in den naturwissenschaftlich-mathematischen Feldern andere Ausschlussmechanismen wirksam werden als in den Geisteswissenschaften (vgl. ausführlich Heintz u. a. 2004: 59ff.). x Heintz u. a. sehen als generellen Grund in den unterschiedlich greifenden Mechanismen für männliche und weibliche Karriereverläufe in der Wissenschaft, dass Frauen sich eher in Disziplinen wie z. B. den Geistes- und Sozialwissenschaften, der Soziologie oder der Erziehungswissenschaft ansiedeln, welche weniger standardisierten wissenschaftlichen Verfahren und einem geringeren kognitiven Konsens folgen – und somit entsprechende Freiräume für subjektive und geschlechtliche Zuschreibungen bieten (a.a.O.: 69ff.). Innerhalb dieser Freiräume greifen dann verschiedene der bereits beschriebenen Ausschlussmechanismen. Diese Zuschreibungsprozesse bringen Männern auf Grund der gesellschaftlichen „gender status beliefs“ (Ridgeway 2001: 269) eher Vorteile ein, Frauen hingegen eher Nachteile. Heintz u. a. konstatieren schlussfolgernd: „Die horizontale Segregation der Diszip72

2. GENDERING-PROZESSE UND FACHKULTURELLE FELDER: SIAMESISCHE ZWILLINGE?

linen erweist sich als wesentliche Ursache für die vertikale Segregation“ (2004: 68). x Die nach wie vor geltende ungleiche Verteilung der Geschlechter auf einzelne Disziplinen auf verschiedenen Qualifikationsstufen (Studierende und wissenschaftliches Personal) bildet zum Teil den expliziten Ausgangspunkt der Untersuchungen (z. B. Engler 1993), zum Teil die Hintergrundfolie, auf welcher die für die Untersuchung ausgewählten Disziplinen bestimmt wurden: Walter (1998) untersucht als habituell maskulin (Naturund Ingenieurwissenschaften) bzw. habituell feminin (Sozialarbeit/ Sozialpädagogik) geltende Fächer an Fachhochschulen und kontrastiert diese mit weniger eindeutig zugeschriebenen Disziplinen (Verwaltungswissenschaften), Schaeper (1997) richtet ihren Blick auf die Lehrenden und deren Beitrag zu fach-, aber auch geschlechtsspezifischen Prägungen der akademischen Lehrkulturen in den Disziplinen Germanistik, Pädagogik, Wirtschaftswissenschaften, Biologie und Physik. Münst (2002) greift diese Perspektive auf, vergleicht jedoch mit Biologie, Physik, Informatik und Raumplanung v. a. verschiedene natur- und ingenieurswissenschaftliche Disziplinen – und damit diejenigen, die in der Regel eine geringere Anzahl Studentinnen als Studenten aufweisen. Auch Heintz u. a. richten den forschenden Blick auf unterschiedliche Disziplinen (Botanik, Pharmazie, Meteorologie, Architektur), orientierten sich dabei jedoch nicht an Studierendenzahlen, sondern an Professionsorientierung und Laboratorisierungsgrad (vgl. 2004). Auch in dieser Studie mussten als Voraussetzungen beide Geschlechter in angemessenem Maße in den Disziplinen vertreten sein. x Die Positionen der universitären Disziplinen können als hierarchisch betrachtet werden. Dabei spielt v. a. die Ausstattung mit verschiedenen Ressourcen eine entscheidende Rolle. Die Verteilung von männlichen und weiblichen Studierenden auf die Studienfächer korreliert dabei laut Engler (vgl. 1993: 242) mit den an Bourdieu angelehnten Kapitaliensorten – ökonomisches, kulturelles und soziales Kapital. In Studienfächern, die über viel ökonomisches Kapital verfügen, und dieses sind in der Regel die vermeintlich ‚harten’ naturwissenschaftlichen, aber auch die wirtschaftswissenschaftlichen Wissenschaftsdisziplinen, sind tendenziell Studenten überproportional und Studentinnen unterproportional vertreten, Im Hinblick auf kulturelle Ressourcen, diese bestimmen das Feld v. a. der vermeintlich ‚weichen’ sprachlich-geisteswissenschaftlichen Disziplinen, gestaltet sich das Bild genau umgekehrt. Da kulturelles und ökonomisches Kapital nicht gleichwertig sind, erweist sich das Zusammenspiel von Geschlecht und Ressourcen somit als gesellschaftliche Strukturverflechtung, welche zugleich Machtverhältnisse reproduziert (vgl. dazu ausführlich Engler 1993, Schaeper 1997, Schmenk 2002). Für eine differenzierte Beschreibung der Rangordnung der Disziplinen ist Schaeper zufolge eine Erwei73

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terung des Analyserasters über die Kapitalienausstattung und -nutzung hinaus von Nöten (1997: 232). x Multiple Dimensionen sind bisher in den Studien zu universitären und fachhochschulischen Disziplinen entwickelt und eingesetzt worden. Dabei zeigen sich folgende Erkenntnisse: Disziplinär geprägte Lehrkulturen und Habitusformen zeichnen sich vor allem im Zusammenspiel verschiedener Aspekte (Stellenwert von Forschung und Lehre, affektive Bedeutung der Lehre, Lehrziele und Lehrpraktiken) deutlich ab (Schaeper 1997: 232ff.): Die Lehrkulturen und der Lehrhabitus der Natur- und Wirtschaftswissenschaften sind weniger studierendenorientiert und stärker auf Forschungsaufgaben ausgerichtet als die der Geistes- und Sozialwissenschaften, dort steht weiterhin die Lehre im Vordergrund, kooperative Lehr-Lernformen werden präferiert und ein persönliches, erfahrungsbezogenes Lernen steht im Mittelpunkt. Die Lehrpraktiken lassen sich laut Schaeper für geistesund sozialwissenschaftliche Fächer als kritisch-hinterfragend beschreiben, im Bereich der Natur- und Wirtschaftswissenschaften als eher affirmativkonservativ. Bis auf die eher von Kontextfaktoren geprägte affektive Bedeutung der Lehre erweisen sich alle weiteren Dimensionen als hierarchisch geprägtes Gefüge: Die ‚Bewertung’ der Disziplinen folgt eindeutig dem Schema der Höherbewertung für alle Dimensionen des naturwissenschaftlichen Bereichs (kapitalkräftiger, ‚hart’, objektiv, männlich geprägt) gegenüber dem sprachlich-geisteswissenschaftlichen Bereich (kapitalärmer, ‚weich’, emotional, weiblich geprägt (1997: 233). Auch Münst (2002) zeigt über die Analyse der Lehrpraxis in den einzelnen (ingenieurund naturwissenschaftlichen) Fächern, dass zwischen dem methodischen Vorgehen und der Geschlechterrelation eindeutig Zusammenhänge bestehen, welche für männliche und weibliche Wissenschaftlerinnen unterschiedliche Konsequenzen mit sich bringen. Die Herstellung von Hierarchie einerseits, wobei fast ausschließlich männliche Personen als Lehrende, Hilfskräfte und Studenten geschlechterdifferenzierend agieren (und zwar lernform- und fächerunabhängig), und die Zuschreibung von Fachkompetenz andererseits, wobei in der Regel Fachkompetenz vom weiblichen Geschlecht dissoziiert und mit dem männlichen Geschlecht assoziiert wird, zeigen, dass Geschlechterdifferenzierungen und auch -hierarchisierungen zu Gunsten der männlichen Lehrenden und Studenten auf vielfältige Weise hergestellt werden (a.a.O.: 199ff.). x Schmenk stellt heraus, dass, während die zahlenmäßige Unterrepräsentanz von Frauen in naturwissenschaftlichen Fächern fast immer als Problem gesehen werde, die quantitative Überlegenheit von Frauen in den sprachlichen Bildungs- und Ausbildungssektoren hingegen selten problematisiert wird (2002: 11). Sie leitet daraus eine generelle Aussage hinsichtlich des Stellenwertes der beiden Bereiche ab: Bemühungen einer gleichberechtig74

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ten Teilhabe an der naturwissenschaftlichen Welt lohnen diverse Anstrengungen, für den sprachlichen Bereich lohne sich dieser Aufwand hingegen offensichtlich nicht. x Ingeborg Christ sieht allenfalls in der Erkenntnis der Jungen, dass Fremdsprachen für das spätere Berufsleben relevant sein könnten, ihre Motivation für das Fach (1996: 23). Bei Mädchen hingegen unterstellt sie eine quasi angeborene Superiorität. Um die Jungen aus ihrer unzureichenden Motivation herauszufördern schlägt sie vor, neben der literarischen Analyse (einem Unterrichtsinhalt, von dem sie unterstellt, er würde vorrangig die Mädchen ansprechen) eher politische oder historische Themen anzubieten. Explizit die Idee, bilingualen Sachfachunterricht auch für den Erwerb der Fremdsprachen zu nutzen, hält sie für hilfreich, um die Motivation der Jungen zu fördern. Hinter diesem Verständnis verbirgt sich laut Schmenk das binäre Attributionspaar von instrumenteller Orientierung (der Jungen) und integrativer Orientierung (der Mädchen). Dieses Muster entspricht den Zuschreibungen, welche auch im Fach Physik dem allgemeinen Verständnis geschlechtsspezifischer Kompetenzen und Interessen entsprechen. Schmenk arbeitet heraus, dass dieses Begriffspaar v. a. deshalb mit besonderer Vorsicht zu rezipieren ist, weil seine „Anbindbarkeit an den Geschlechterdualismus besonders resistent gegen Differenzierungsversuche des Konstrukts Motivation“ sei. (2002: 53). Entsprechend würde vehement daran gearbeitet, die soziale Seite von integrativer Orientierung herauszustellen und die weibliche Affinität zu entsprechenden Orientierungen zu betonen (ebd.). x Einhergehend mit den geschlechtlichen Konnotationen der Disziplinenklassifikationen greifen auch die Assoziation von naturwissenschaftlicher Kompetenz bei Männern und die entsprechende Dissoziation bei Frauen. Für die sprachlichen Fächer zeigt sich die Zuschreibung entsprechend umgekehrt: sprachliche Kompetenz wird überwiegend assoziiert mit Frauen und dissoziiert bei Männern. Schmenk sieht den Hintergrund dieser Zuschreibungen darin, dass Frauen deshalb als bessere Fremdsprachenlernerinnen gelten, weil „ihre [zugeschriebenen] spezifisch weiblichen Eigenschaften bestimmten Positiva entsprechen, die den Fremdsprachenerwerb fördern sollen“ (2002: 95). Die zugeschriebenen Eigenschaften seien Empathie, soziales Engagement, Hilfsbereitschaft, Offenheit und Sensibilität (ebd.). Sie stellt diese Zuschreibungen zu Recht in Frage und arbeitet heraus, dass die Kompetenzzuschreibungen in einigen Studien für Jungen entgegen dem gängigen Stereotyp durchaus positiv ausfallen, sogar bisweilen von der männlichen Überlegenheit beim Fremdsprachenlernen ausgegangen wird (vgl. z. B. Cross 1983, Boyle 1987, Scarcella/ Zimmerman 1998). Schmenk entlarvt diese Kompetenzzuschreibungen ebenso als soziale Konstruktion wie im Falle der vermeintlichen Superiorität der Mäd75

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chen. Beispielhaft mag die Argumentation für das vermeintlich bessere Hörverstehen bei männlichen Lernern stehen, welches sich Joseph Boyle zufolge entwickelt, weil Mädchen schneller sprechen lernen würden als Jungen, letztere also entsprechend zum Zuhören gezwungen würden. Ein weiteres Argument Boyles ist, dass Männern größere Gesprächsmöglichkeiten überhaupt und auch größere Themenkreise als Frauen zustehen. Ihre Sprechkompetenz sei zwar nicht besser als die der weiblichen Lernerinnen, wohl aber die Hörkompetenz (vgl. Boyle 1987). In einer früheren Studie hatte Lars H. Ekstrand (1980) genau das Gegenteil behauptet: Frauen seien besonders kompetente Zuhörerinnen, da ihre Lebenswelt vornehmlich der Familienkreis sei. Zudem müssten Frauen früh die Rufe ihrer Babys verstehen können. Deutlich wird an den widersprüchlichen Argumentationslinien, dass sich die Studien in ihren Begründungen für weibliche bzw. männliche Spracherwerbskompetenz an extrem generalisierten stereotypen Alltagsvorstellungen über Geschlechter und der sozialen Position der Geschlechtergruppen orientieren, sich damit in ihrem Fazit jedoch z. T. entgegenstehen. Dieses kann laut Schmenk vertreten werden, weil keine Spezifika der Geschlechter – und schon gar nicht des untersuchten Samples – untersucht werden, sondern allgemein zugeschriebene Stereotype herangezogen werden. Schmenk resümiert den bemerkenswerten Zustand, dass dieselben Stereotype von männlichem und weiblichem Rollenverhalten wie z. B. der weiblichen Unterordnung wahlweise für erfolgreiches oder eben weniger erfolgreiches Fremdsprachenlernen verantwortlich gemacht werden (2002: 105). Zugleich sieht sie in der damit einhergehenden Formulierung der Superiorität der männlichen Lernenden die mögliche Trendwende einer „Maskulisierung des Fremdsprachenlernens“. Die aufgeführten Aspekte zeigen deutlich, dass hochschulische Disziplinen von den in ihnen handelnden Akteuren und Akteurinnen eindeutig und in verschiedenen Dimensionen als vergeschlechtlichte Bereiche entworfen werden. Unterschiedliche Mechanismen und facettenreiche Dimensionen kommen hierbei zum Tragen. Grundlegend ist zunächst die Einteilung der Disziplinen in getrennte fachkulturelle Bereiche – den naturwissenschaftlichen auf der einen Seite, den sprachlichen auf der anderen Seite. Das gendering der Fachkulturen greift erst in dem Moment, in dem die Pole mit vergeschlechtlichten Attributen konnotiert werden, welche binären Oppositionen folgen und zugleich unterschiedliche Wertigkeiten beinhalten. Diese Zuordnungen sind historisch betrachtet ausgesprochen stabil, generell gilt das Prinzip, dass als männlich konnotierte Kompetenz, Methode, Inhalt höher bzw. besser bewertet werden als die weibliche Attribuierung. Die Konsequenzen dieser gendering-Prozesse zeigen sich auf inhaltlichen, konzeptionellen wie auch interaktionellen Aushandlungen innerhalb der Disziplinen. Es ist zu vermuten, dass 76

2. GENDERING-PROZESSE UND FACHKULTURELLE FELDER: SIAMESISCHE ZWILLINGE?

diese Mechanismen ebenso für den schulischen Bereich greifen könnten; dieser Frage soll im folgenden Abschnitt nachgegangen werden.

2.3. Schulische Fächer und Geschlecht Auf der Landkarte schulischer Forschung bildet die Frage nach dem Zusammenspiel von Fächern und Geschlecht bislang noch einen blinden Fleck. Anders als mittlerweile in der hochschulischen Fachkulturforschung ergeben sich Aussagen zum Zusammenhang von fachkulturellen Strukturen und Geschlecht eher ‚nebenbei’, sie werden jedoch nicht systematisch betrachtet und einbezogen. An dieser Stelle soll vorgestellt werden, welche Ansätze und Erkenntnisse zu schulischen Fächern und Geschlecht im Rahmen dieser Arbeit zu Grunde gelegt werden, um anhand von fragenden Thesen dieses Zusammenspiel empirisch genauer untersuchen zu können. Fast alle Aussagen stützen sich auf quantitative Erhebungen, eher selten kombiniert mit qualitativen Daten. Mehrheitlich werden die schulischen Unterrichtsfächer aus didaktischer Sicht analysiert. Zunächst lässt sich festhalten, dass auch das Feld Schule das gesellschaftliche Verständnis von genau zwei Geschlechterklassifikationen widerspiegelt: alle Angehörigen einer Schule klassifizieren sich bzw. werden von anderen als männlich oder weiblich klassifiziert. Das schulische Feld bildet bei dieser dichotomen Denkweise keine Ausnahme. Das Kriterium Geschlecht spielt sowohl bei schulorganisatorischen Fragen (quantitative Klassenzusammensetzungen, Anmeldezahlen etc.) als auch in alltäglichen unterrichtlichen und außerunterrichtlichen Interaktionen, dem doing gender, eine Rolle. Generell lässt sich beobachten, dass Jungen und Mädchen in den einzelnen Schulformen bzw. Bildungsgängen unterschiedlich stark vertreten sind. Die Bildungsexpansion ist seit Mitte der 1960er Jahre vor allem zu Gunsten von Frauen ausgefallen, Mädchen sind inzwischen in den leistungsstärkeren Schulformen stärker präsent als Jungen, in den leistungsschwächeren Schulformen dominieren quantitativ die Jungen (vgl. dazu Statistisches Bundesamt 2006). Dazu zwei Eckdaten im Zeitverlauf (vgl. Abbildung 1): x Der Anteil von jungen Frauen an den Schulabgängerinnen und Schulabgängern ohne Hauptschulabschluss nimmt ab (1960 bei 44,3%, 1991 nur noch 38,2%; 1992 in der neuen BRD bei 36,7%, sinkt dann auf 36,2% 2002 und 36,1% 2004), der Anteil der Männer nimmt entsprechend zu. x Der Anteil von jungen Frauen mit Allgemeiner Hochschulreife nimmt hingegen zu (von 1967 gut ein Drittel gestiegen auf deutlich mehr als die

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SCHULISCHE FACHKULTUREN UND GESCHLECHT

Hälfte, nämlich 55,8% in 2002 und auf 56,7 in 2004), der Anteil der Männer nimmt hier entsprechend ab. Abbildung 1: Schulabschlüsse weiblicher Absolventinnen an allgemeinbildenden Schulen 1967-2004

60 55 50 45 40 35 30

04 20

02 20

00 20

95 19

92 19

-

91 19

90 19

85 19

80 19

75 19

70 19

67 19

ohne Hauptschulabschluss

Allgemeine Hochschulreife

(Quelle: Eigene Darstellung nach Bundesministerium für Bildung und Forschung [2004] und Statistischem Bundesamt [2006]) Unabhängig von den besuchten Schulformen zeigen sich in den selbst- und fremdzugeschriebenen Interessen und Kompetenzen in den sprachlichen und naturwissenschaftlichen Fächern deutliche Unterschiede zwischen Jungen und Mädchen, und dieses in allen Schulformen. Betrachten wir die Aussagen der Schülerinnen und Schüler zu den Unterrichtsfächern Physik und Deutsch, so lässt sich generell festhalten, dass Physik bei beiden Geschlechtergruppen ein unbeliebtes Fach ist, in welchem die Jungen allerdings ein höheres Interesse wie auch ein höheres Begabungsselbstkonzept aufweisen. Deutsch hingegegen ist generell bei den Schülerinnen beliebter als bei den Jungen – etwa doppelt so viele Mädchen wie Jungen nennen Deutsch als Lieblingsfach – zugleich haben die Mädchen in Deutsch ein höheres Interesse wie auch ein höheres Selbstkonzept der Begabung (vgl. dazu Kapitel 5.1. dieser Arbeit). Ortwin Renn (2002) stellt nach einer Befragung, die er mit Schülerinnen und Schülern durchführte, über deren Assoziationen zu naturwissenschaftlichen Fächern fest, dass übereinstimmende Aussagen zu den geschlechtlichen Zuschreibungen von Domänen bestanden: Demnach stellen die Naturwissenschaften, wobei Technik weniger eindeutig als die ‚reinen’ Naturwissenschaften beurteilt wurde, aus Sicht der Lernenden eine eindeutige männliche Domäne dar, die Sprachen zählen zu den klar weiblich zugeschriebenen Domänen (2002: 371). Schulformübergreifend bestätigen auch die Ergebnisse aus 78

2. GENDERING-PROZESSE UND FACHKULTURELLE FELDER: SIAMESISCHE ZWILLINGE?

Schulleistungsstudien wie PISA oder TIMSS, aber auch regionale Studien wie LAU und KESS, die Kompetenzen und Interessen aus Teilbereichen des schulischen Fächerkanons thematisieren, sehr eindringlich, dass – ebenso wie in den hochschulischen Disziplinen – auch in der Schule die Fächer gegendert entworfen werden. Einige wenige Daten mögen an dieser Stelle veranschaulichen, worin diese geschlechtliche Prägung liegt (vgl. hierzu auch FaulstichWieland 2004, Nyssen/ Hoppe 2005a und 2005b) Zunächst zeigen die verschiedenen Schulleistungsstudien übereinstimmend, dass Jungen und Mädchen in den schulischen Fächern unterschiedliche Kompetenzen aufweisen. So stellt z. B. PISA 2003 (vgl. Tabelle 1) fest, dass Mädchen eine bessere Lesekompetenz zeigen, sie liegen 42 Punkte über der Kompetenz der Jungen. In Mathematik hingegen liegen die Jungen neun Kompetenzpunkte über der Leistung der Mädchen. Während diese beiden Werte statistisch signifikant sind, zeigen sich im Bereich der Naturwissenschaften und des Problemlösens keine signifikanten Unterschiede zwischen den Geschlechtergruppen (jeweils sechs Kompetenzpunkte Unterschied): Tabelle 1: Mittelwerte und Geschlechterdifferenzen in den Ergebnissen aus PISA 2003 KompetenzMittelwert Mittelwert Mittelwert Jungen/Mädchenbereich Gesamt Jungen Mädchen Differenz Lesekompetenz 491 471 513 -42* Mathematik 503 508 499 9* Naturwissenschaften 502 506 500 6 Problemlösen 513 511 517 -6 * Statistisch signifikant Quelle: Pisa-Konsortium Deutschland (2004)

Wichtig ist jedoch die Differenzierung, dass sowohl bei den kompetenten als auch bei den nicht kompetenten Schülern und Schülerinnen jeweils beide Geschlechtergruppen vertreten sind (vgl. Tabelle 2). Auf der unteren Kompetenzstufe finden sich in allen Bereichen mehr Jungen als Mädchen (11,9% zu 9,7%), besonders deutlich ist der Unterschied bei der Lesekompetenz, (28% der Schüler, aber nur 11,7 % der Schülerinnen). Aber auch im oberen Kompetenzbereich sind die männlichen Lerner stärker vertreten (gesamt 11,8 %) als die weiblichen Lernerinnen (10,4%). Die größte Diskrepanz zwischen den Geschlechtergruppen zu Gunsten der Mädchen zeigt sich auch auf dieser Stufe in der Lesekompetenz (24,7% der Jungen und 38,6% Mädchen), in Mathematik genau umgekehrt zu Ungunsten der Mädchen (Jungen 18,2% und Mädchen 14,2%). Diese Daten zeigen, dass es bezüglich der Leistungsunterschiede durchaus Geschlechterdifferenzen gibt, die verändert werden sollten, 79

SCHULISCHE FACHKULTUREN UND GESCHLECHT

weil sie dem Qualitätskriterium der bestmöglichen Förderung aller widersprechen. Tabelle 2: Anteile von Mädchen und Jungen auf den Kompetenzstufen aus PISA 2003 Kompetenz-bereich Anteil auf den unteren Anteil auf den oberen Kompetenzstufen in % Kompetenzstufen in % Mädchen Jungen Mädchen Jungen Mathematik 21,3 21,4 14,2 18,3 Lesen 16,3 28,0 38,6 24,7 Naturwissenschaften 22,9 24,0 33,8 36,5 Problemlösen 12,8 15,1 21,9 21,7 Gesamt Bereiche 9,7 11,9 10,4 11,8 Quelle: Pisa-Konsortium Deutschland (2004)

Zwischen den Geschlechtergruppen gibt es bezüglich der schulischen Unterrichtsfächer nicht nur Leistungs-, sondern auch Interessensunterschiede: Diese werden besonders deutlich, wenn man konkret die Fächer Deutsch und Physik betrachtet. Sie betreffen zum einen das insgesamt geringe Interesse an Physik, welches für beide Geschlechtergruppen gilt, zum anderen die darüber hinaus bestehende Differenzierung zwischen den Geschlechtern, nach der die Jungen z. B. bei der Wahl von gymnasialen Oberstufenkursen doch deutlich häufiger als ihre Mitschülerinnen Physik freiwillig wählen (vgl. Faulstich-Wieland 2004). Während es für Physik eine Reihe von Untersuchungen gibt, die auch unter dem Fokus der Geschlechterdifferenzen bereits der Frage nach Interessensausbildungen nachgehen (vgl. z. B. Langeheine u. a. 2000 und 2001), und es Hinweise auf Zusammenhänge zwischen Interessen und Leistungen gibt (insbesondere die Arbeitsgruppe um Albert Ziegler, vgl. Ziegler u. a. 1998 und 1999), finden sich vergleichbare Studien für den sprachlichen Bereich kaum (vgl. aber zur Frage der Motivation beim Fremdsprachenlernen: Riemer 2001). Für den Physikunterricht lässt sich sagen, dass dem domänenspezifischen Selbstkonzept eine große Bedeutung zukommt. Viele Jungen verfügen auch bei schlechteren Leistungen über besseres Selbstwertgefühl, bei den Mädchen ist dieses genau umgekehrt (vgl. dazu z. B. Köller/ Klieme 2000, Schwarzer/ Satow 2003). Der Zusammenhang zwischen Selbstkonzepten und Interesse bzw. auch Leistung verweist jedoch auf eine Wechselwirkung: Eine Leistungssteigerung kann ebenso durch Interesse bewirkt werden, wie eine Interessenssteigerung durch die Erfahrung von Können erfolgen kann. Ebenso kann sich das Selbstkonzept der Begabung durch Kompetenzerfahrungen 80

2. GENDERING-PROZESSE UND FACHKULTURELLE FELDER: SIAMESISCHE ZWILLINGE?

steigern. Michael Bleicher u. a. konstatieren auf Grund ihrer Studie „Zum Einfluss emotionaler Faktoren auf das Lernen in den Fächern Physik und Deutsch“, dass ein enger Zusammenhang zwischen dem Wohlbefinden der Lernenden und ihrem Interesse an den Fächern nachgewiesen kann (vgl. 2001: 544). Auch Lehrkräften und Eltern kommt bei der vergeschlechtlichten Wahrnehmung und Prägung der schulischen Fächer eine zentrale Rolle zu: Eltern, die der Meinung sind, Physik sei eher ein Jungenfach, unterstützen mit dieser Einstellung die Jungen, während sie die Mädchen hemmen – Ziegler u. a. sprechen von einem Enhancement-Effekt für die Jungen und einem GolemEffekt für die Mädchen (vgl. Ziegler u. a. 1999, Dresel u. a. 2001, Dresel u. a. 2006). Ortwin Renn (2002) setzt diese Beobachtung für den Bereich der beratenden Beeinflussung durch die Eltern hinsichtlich der Berufswahl ihrer Töchter und Söhne fort. Demzufolge raten nur sechs Prozent der Väter ihren Töchtern zu technik- oder ingenieurwissenschaftlichen Berufen, bei den Jungen werden immerhin 22 Prozent in diese Richtung beraten. Die Mütter haben in keinem einzigen Fall explizit zu einem ingenieur- oder naturwissenschaftlichen Studium geraten, vielmehr sollen Mädchen wie Jungen ihren Neigungen und Fähigkeiten nachgehen. Den Mädchen werden jedoch zugleich von ihren Müttern explizit soziale, pflegerische und kulturelle Berufe nahe gelegt. Renn schlussfolgert daraus, dass sich beide Geschlechtergruppen, deutlicher jedoch noch die Mädchen, in puncto Interessensausbildung und Berufswahl gegen den Rat der Eltern und des Umfeldes durchsetzen müssten (vgl. 2002: 371). Ebenso wie die Schülerinnen und Schüler greifen auch die Lehrkräfte v. a. auf Interessens- und Begabungskonzepte als Basis für die geschlechtlichen Zuschreibungen zurück, beide Seiten sehen dabei Ursachen für Interessen und Begabungen außerhalb des schulischen – und damit ihres – Einflussbereiches. Entsprechend sehen auch die Lehrkräfte selber kaum schulische Möglichkeiten, den Geschlechterdifferenzen entgegenzuwirken. Gleichzeitig sind aber etwa ein Drittel von ihnen nach wie vor der Auffassung, Jungen seien begabter in Physik. Auch vertreten die Lehrenden stereotype Vorstellungen z. B. davon, welche Studienfächer für Mädchen bzw. Jungen geeigneter seien. Für Mädchen sind dies Grundschullehramt und sprachliche Fächer, für Jungen sind es naturwissenschaftliche Fächer (vgl. Ziegler u. a. 1998). Diese heimlichen Impulse prägen die Aushandlungen und impliziten Bewertungen innerhalb der Fächer und konstituieren die Fächer als gegenderte Domänen. Insgesamt lassen sich klare Tendenzen erkennen, wie Jungen und Mädchen (bzw. auch ihre Eltern und Lehrkräfte) zu den schulischen Fächern Physik und Deutsch stehen. Es zeichnet sich hierbei jedoch keine eindeutige geschlechtsgebundene Benachteiligung ab, sondern vielmehr werden gender-

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SCHULISCHE FACHKULTUREN UND GESCHLECHT

spezifische Einteilungen inklusive symbolischer Hierarchien in männliche und weibliche Geschlechterreviere bedeutsam. Es ist davon auszugehen, dass für diese Einteilungen und Wahrnehmungen die Fach-Sozialisationsprozesse schulischer Unterrichtsfächer entscheidend sind. Dabei greift meines Erachtens eine Reduzierung auf fachliche Inhalte als Erklärungsmuster für Leistungen und Interessen von Mädchen und Jungen zu kurz. Vielmehr lässt sich aus den Studien zu (fach-)hochschulischen Disziplinen ableiten, dass die vergeschlechtlichten Mechanismen innerhalb der Disziplinen auf sehr unterschiedlichen Ebenen stattfinden und immer wieder aufeinander verweisen (vgl. Kapitel 2.2.). Die in dieser Arbeit angelegte mehrdimensionale Betrachtung schulischer Fächer trägt dieser Erkenntnis Rechnung. Am Beispiel der Bedeutung von Unterrichtsstrukturen möchte ich einen weniger beachteten Aspekt erläutern: Offensichtlich spielen erkennbare Unterrichtsstrukturen und -abläufe eine wichtige Rolle für die Frage der Interessensausbildung und damit zusammenhängend der Lern- und Leistungsförderung. Eberhard Todt zufolge kommt der Strukturiertheit des Unterrichts eine Schlüsselrolle zu, welche, wenn sie im positiven Sinne erfüllt werden kann, erst die Rahmenbedingungen für weitere z. B. sozio-emotionale oder methodisch-didaktische Komponenten eröffnet. So schätzen Schülerinnen und Schüler insgesamt die Strukturiertheit des Dargebotenen als wichtig ein (vgl. 2000: 245). Auch bei Jochen Schweitzers Analyse lernförderlicher Merkmale wird als Punkt „ein klar strukturierter, anspruchsvoller und transparenter Unterricht“ genannt (vgl. 2001: 135). Olaf Köller und Ulrich Trautwein zufolge fördern hierarchische Ordnungen und netzartige Beziehungen der Themen zueinander die Ausbildung kognitiver Strukturen, die für die Schüler und Schülerinnen erkennbaren Sequenzierungen begünstigen die Interferenzbildung bei den Lernenden (vgl. 2001: 183). Anhand einer Analyse empirischer Unterrichtsbeispiele aus dem Physik- und Deutschunterricht zeigen Hannelore Faulstich-Wieland und Katharina Willems, dass insbesondere eine erkennbare chronologische Struktur entscheidend ist (vgl. 2002). Auch konnte gezeigt werden, dass die Unterrichtsgliederung in Deutsch sehr viel klarer verläuft als in Physik. Die Klarheit der Struktur in Deutsch zeigt sich auf verschiedenen Ebenen: Zunächst ist im Verlauf der Stunde eine eindeutige Struktur auszumachen und auch für die Lernenden erkennbar. Zudem werden gefällte Urteile von Seiten der Lehrkraft begründet, die Lernenden bekommen klare Anweisungen für Hausaufgaben, Heftführung und benötigte Unterrichtsmaterialien, aber auch für die Unterrichtsbeteiligung, auf der Inhaltsebene werden unbekannte Vokabeln systematisch geklärt, bevor Texte interpretiert werden, und die Lernenden erhalten klares Feedback. Diese Strukturiertheit beinhaltet 82

2. GENDERING-PROZESSE UND FACHKULTURELLE FELDER: SIAMESISCHE ZWILLINGE?

jedoch noch einen Spielraum für persönliche Freiheiten und Umgang mit den Inhalten. In Physik ist der chronologische Verlauf weniger deutlich erkennbar strukturiert, der Gesprächsaufbau beinhaltet keine sytematischen Erklärungen, Feedback auf Antworten der Schülerinnen und Schüler erfolgt häufig nur in Form von Zustimmung oder Ablehnung ohne dazugehörige Begründung, Hintergründe für Versuchsbeobachtungen beschränken sich auf die Funktionsweise, das ‚Wieso’ dahinter bleibt ungeklärt. Zudem konnte beobachtet werden, dass die Lehrenden die Verantwortung für den Wissenserwerb an die Lernenden abgeben, auch auf der disziplinarischen Ebene erfolgt vergleichsweise wenig Intervention von Seiten der Lehrenden. Diese beobachteten fachspezifischen Strukturen stehen den sonst durchaus üblichen Zuschreibungen von Physik als ‚exakter Disziplin’ und Deutsch als ‚Laberfach’ entgegen. Klare Strukturen sind jedoch offenbar wichtig für die Interessensausbildung der Lernenden – hierin kann ein Verweis gelesen werden, welcher erklären könnte, warum Deutsch bei den Schülerinnen wie Schülern insgesamt beliebter ist als Physik. Damit zusammen hängt aber vor dem Hintergrund der Zuschreibung als Mädchendomäne auch, dass diese Dimension unmittelbar Auswirkungen auf Fachinteressen und Leistungszuschreibungen hat: Die klare Struktur wird von den Mädchen noch stärker als von den Jungen als fördernder bzw. hemmender Faktor für die Ausbildung von Interessen und Leistungen wahrgenommen als von den Jungen (vgl. Todt/ Schreiber 1998 und Todt 2000). Aber auch die Feedback-Interaktionspraktiken unterscheiden sich laut Faulstich-Wieland/ Willems in Deutsch und Physik, und zwar vor allem darin, wie kritisiert wird: Während im Physikunterricht die Kritik auch mit den inhaltlichen Antworten weiblicher Lernerinnen verbunden ist und Kritik häufiger sowohl persönlich als auch ironisch formuliert wurde, zugleich jedoch kein explizites Lob beobachtet werden konnte, beschränkt sich die Kritik im Fach Deutsch auf Störungen disziplinarischer Art. Inhaltliche Beiträge wurden ernst genommen und wohlwollend auf ihre Brauchbarkeit hin bearbeitet. Explizites Lob wurde in Deutsch häufig beobachtet. Die Feedbackstrukturen wurden in Physik für Jungen und Mädchen unterschiedlich gestaltet, in Deutsch für beide Geschlechtergruppen gleich (genauer vgl. FaulstichWieland/ Willems 2002). Nach Marianne Horstkemper (1987) und Eberhard Todt (2000) sind die Feedbackstrukturen für Jungen und Mädchen unterschiedlich wichtig, so dass hierin eine Erklärung für die Herausbildung jeweiliger Fächerpräferenzen gesehen werden kann. An diesen Beispielen wird deutlich, dass die Lehrkräfte durchaus Einfluss auf die Ausbildung von Fachinteressen und Begabungsselbstkonzepten haben – und damit im Zirkelschluss auch auf die Inhalte der Fächer.

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SCHULISCHE FACHKULTUREN UND GESCHLECHT

Insgesamt lässt sich für die Analyse der Unterrichtsfächer Deutsch und Physik festhalten, dass beide Fächer von den in den Feldern handelnden Akteuren und Akteurinnen gegendert entworfen werden. Das gendering der Fächer greift sowohl auf der konzeptionellen, auf der interaktiven und auch auf der inhaltlichen Ebene (hierzu vgl. v.a. Kapitel 5). Physik wird hierbei als männliche Domäne, Deutsch als weibliche Domäne gegendert konstruiert.

2.4. Vorläufige Bilanz: Physik und Deutsch als schulische Fachkulturen Eckart Liebau und Ludwig Huber haben mit ihrer Definition aus der hochschulischen Disziplinenstudie von 1985 deutlich gemacht, dass fachkulturelle Felder immer in sehr verschiedenen Dimensionen inszeniert werden und erkennbar sind als „unterscheidbare, in sich sytematisch verbundene Zusammenhänge von Wahrnehmungs-, Denk-, Wertungs- und Handlungsmustern“ (1985: 315, vgl. auch Bourdieu 1987a) (vgl. dazu ausführlich Kapitel 1.1.). Entsprechend mehrdimensional muss auch jede Form fachkultureller Analysen angelegt sein – dieses zeigen und fordern sehr deutlich die verschiedenen Facetten, nach welchen ich die Frage angegangen bin, ob und nach welchen Kriterien es sich bei den schulischen Fächern Deutsch und Physik von eigenen Fachkulturen sprechen lässt. Eindimensionale Herangehensweisen an fach- oder disziplinenspezifische Fragestellungen, z. B. über eine rein quantitative Erhebung der Interessens- und Kompetenzzuschreibungen der Feldangehörigen, oder über eine alleinige Analyse von Unterrichtssequenzen nach methodisch-didaktischen Fragestellungen, werden der Komplexität fachkultureller Wirkungsgefüge nicht gerecht. Schulische fachkulturelle Fragestellungen werden bisher jedoch v. a. unter dieser eindimensionalen Herangehensweise bearbeitet. Konsequenterweise wurde meines Wissens bisher auch nicht weiter hinterfragt, ob sich das Konzept der fachkulturellen Felder auch auf schulische Fächer übertragen lässt. Vor einer Analyse der Felder muss jedoch notwendigerweise diese Klärung stehen. Fachhochschulische Forschung – das haben die vorangegangenen Ausführungen gezeigt – ist hier bereits einen Schritt weiter: für diese Institutionen wurde bereits ein Repertoire an Dimensionen theoretisch erarbeitet und auch empirisch überprüft, welches eindeutige Verweise darauf liefert, dass man bei wissenschaftlichen Disziplinen von eigenen Fachkulturen sprechen kann. Dieses Repertoire beinhaltete im Sinne der Definition von Liebau und Huber mehrdimensionale Herangehensweisen. Die Herstellungs- und Aufrechterhaltungsmechanismen der jeweiligen Kulturen bewegen sich dabei immer auch entlang der zwei Perspektiven der Abgrenzung, des doing difference 84

2. GENDERING-PROZESSE UND FACHKULTURELLE FELDER: SIAMESISCHE ZWILLINGE?

nach außen einerseits und nach innen andererseits. So wurden die Disziplinen – dies zeigt v. a. die historische Nachzeichnung – institutionalisiert und im Sinne Snows These von der Teilung der Welt in eine naturwissenschaftliche und eine sprachliche Sphäre voneinander abgegrenzt. Zugleich wurden die Disziplinen aber auch mit Fachimages belegt, welche die Angehörigen der Disziplin meist vor ihrem Eintritt in die Disziplin kannten und welche zu facheigenen habitualisierten Strukturen innerhalb der Disziplin führen. Diese unterliegen doxischen Selbstverständlichkeiten und werden selten in Frage gestellt. Die Fachkonnotationen und die inneren Strukturen entsprechen dabei einander in vielfältiger Hinsicht. Die vorrangige Orientierung an getroffenen wissenschaftlichen Aussagen einer Person bei deren Beurteilung innerhalb der deutlich standardisierten Disziplinen und die stärkere subjektive Zuschreibung anhand der Person selbst anstelle, vor oder zumindest parallel zu den getroffenen wissenschaftlichen Aussagen innerhalb der Disziplinen, in denen weniger standardisierte Verfahren der Fachnorm entsprechen, mögen hierfür beispielhaft stehen. Über die hochschulische Fachkulturforschung wurde nachgewiesen, dass es offenbar vergleichbare Kriterien gibt, welche die Disziplinen voneinander unterscheidbar und abgrenzbar machen. Diese Kriterien umfassen z. B. den Stellenwert und die Inszenierungsform der akademischen Lehre, die Publikationsmöglichkeiten, die Betreuungssituationen, die Dauer der Erstellung wissenschaftlicher Qualifikationsarbeiten, Kooperation und kognitiven Konsens, aber auch die numerische Verteilung auf die Disziplinen bei Studierenden wie wissenschaftlichen Beschäftigten, die methodischen Standards wie z. B. den Laboratorisierungsgrad, die Taxonomien, nach denen Fachinhalte kodiert und ausgewählt werden etc. Deutlich wird hierbei, dass bei der Herstellung und der Abgrenzung der einzelnen Disziplinen aktive Herstellungsprozesse greifen: das doing discipline. Damit unterliegen die jeweiligen Ausrichtungen einem historischen und gesellschaftlichen Wandel – die unterschiedlichen Konnotationen der Fächer zu unterschiedlichen Zeiten und in verschiedenen Regionen unterstreichen dies. Die Analyse (fach-) hochschulischer Disziplinen weist deutlich nach, dass die Verfügbarkeit wie auch die Nutzungspraktiken facheigenener Ressourcen eine zentrale Rolle bei den Prozessen des doing discipline spielen. Fachhochschulische und hochschulische Fachkulturforschung hat bislang häufig unter der Prämisse gearbeitet, fachkulturelle Felder in ihren spezifischen Dimensionen genau zu beschreiben, dabei jedoch von der Setzung auszugehen, dass es sich bei den untersuchten Disziplinen überhaupt um unabhängige Fachkulturen handelt. Wenngleich dieses Vorgehen forschungslogisch Leerstellen offen lässt, so bestätigen die hier nachgezeichneten Ausschnitte dieser Forschungsarbeiten, dass diese Setzung Berechtigung hat: offensichtlich handelt es bei den untersuchten Disziplinen um spezifische Fachkulturen mit in 85

SCHULISCHE FACHKULTUREN UND GESCHLECHT

sich überinstimmenden habituellen Mustern. Über die Begründung fachkultureller Felder und deren Abgrenzungen voneinander hinaus zeigen die Disziplinenanalysen der Fachhochschulen und Hochschulen sehr eindrücklich, dass die doxischen Selbstverständlichkeiten sich an gegenderten Zuschreibungen der jeweiligen Disziplinen orientieren, bzw. umgekehrt disziplinenspezifische Strukturen und Handlungsmuster als männlich oder weiblich interpretiert werden. So sind fast alle verwendeten Taxonomien deutlich binär geschlechtlich konnotiert. Die vermeintlich ‚harten’ Disziplinen werden so mit Männlichkeit und als männlich zugeschriebenen Attributen assoziiert, die vermeintlich ‚weichen’ mit Weiblichkeit und entsprechend weiblichen Attributen. Die unterschiedlichen Wertigkeiten der Disziplinen entsprechen den gesellschaftlichen „gender status beliefs“ (vgl. Ridgeway 2001: 256), welche auch die Assoziation von naturwissenschaftlicher Fachkompetenz bei Männern und gleichzeitig die Dissoziation von naturwissenschaftlicher Fachkompetenz bei Frauen beinhaltet. Umgekehrte Zuschreibungen dominieren für die sprachlichen Fächer. In den genannten Dimensionen, welche die kulturell und habituell unterschiedlichen Praktiken der Felder nachweisen, zeigen sich fast durchgehend unterschied liche Anforderungen an die beiden Geschlechtergruppen. Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen arbeiten demzufolge innerhalb ihrer Disziplinen deutlich unter unterschiedlichen Voraussetzungen. Innerhalb der naturwissenschaftlichen Disziplinen werden als weiblich empfundene Verhaltensweisen entsprechend wenig honoriert, in den Sprachwissenschaften entsprechend umgekehrt. Die Handlungs- und Inszenierungspraktiken der Feldangehörigen sind also ebenso in vielerlei Hinsicht gegendert wie die Fachinhalte und methodischen Zugangsweisen. Generell lässt sich konstatieren, dass die Ausbildung und Aufrechterhaltung der fachkulturellen Disziplinen und die gendering-Prozesse dieser Felder nicht trennbar sind – quasi siamesische Zwillinge also. Eine Trennung ist zwar analytisch denkbar, indem etwa Geschlecht als Analysekategorie nicht berücksichtigt wird, eine solche Fragestellung ist jedoch schwer denkbar, weil sie ein wesentliches konstituierendes Element vernachlässigen würde. Für die schulischen Fächer Deutsch und Physik scheinen nun vergleichbare Muster zu gelten, die Strukturen wie auch die Fachkonnotationen der Unterrichtsfächer wirken ebenso in sich geschlossen, die konstante Abgrenzung beider Bereiche voneinander, wie sie die historische Nachzeichnung der Unterrichtsfächer Deutsch und Physik zeigt, aber auch die übereinstimmenden Aussagen und Wahrnehmungsmuster der Lernenden, ihrer Lehrenden und ihrer Eltern unterstreichen dieses. Auch für Physik und Deutsch zeigen sich bei den Entwürfen der Fächer deutlich die geschlechtlichen Konnotationen als Begründungsgrundlage. Sowohl die definitorischen Grundlagen und die theoretischen Herleitungen, welche die beiden Fächer ebenso wie die analysierten Disziplinen als eigene kulturelle Felder begreifbar machen, weisen deutliche 86

2. GENDERING-PROZESSE UND FACHKULTURELLE FELDER: SIAMESISCHE ZWILLINGE?

Parallelen auf und sind somit meiner Auffassung nach gut und berechtigt übertragbar. Meiner Ansicht nach ist somit auch für die schulischen Unterrichtsfächer Physik und Deutsch von eigenen Fachkulturen zu sprechen. Da für die Schule die fachkulturellen Felder sehr viel weniger analysiert und beschrieben sind – die beschriebenen Dimensionen lassen bisher vor allem Einsichten und Hinweise auf die methodisch-didaktische Gestaltung des Fachunterrichts zu, um allen Lernenden Interesse am Fach zu eröffnen – gilt es, die fehlenden Dimensionen institutionenspezifisch noch zu füllen. Die vielschichtigen Ebenen des Zusammenspiels von doing gender und doing discipline stellen hier bisher eine Leerstelle dar. Am ehesten sind bisher Aussagen zu dem Bereich feministischer Naturwissenschaftskritik gefallen, welche sich mit dem schulischen Pendant zu „Women in Science“ beschäftigt. Offen ist also noch, ob und ggf. wie die gendering-Prozesse, welche aus den hochschulischen Fachkulturforschungen bereits bekannt sind, in den Fächern greifen und wie genau die beiden Kategorien Geschlecht und schulische Fächer, konkret Deutsch und Physik, in Zusammenhang gebracht werden können. Welche Argumente werden für die Zuweisungen zwischen den Geschlechtergruppen und den Fachkulturen eingesetzt? Welche Akteure setzen hierbei welche Praktiken zur Aufrechterhaltung der Ordnung ein? Gibt es evtl. Situationen, in denen die Strukturkategorie Geschlecht von den Handelnden ruhen gelassen wird? Dahinter steht die Frage Goffmans, wie die Geschlechterunterschiede „als Garanten für unsere sozialen Arrangements geltend gemacht wurden (und werden) und, mehr noch, wie die institutionellen Mechanismen der Gesellschaft sicherstellen konnten, dass uns diese Erklärungen als stichhaltig erscheinen“ (2001: 107). Für diese Fragestellungen bieten sich bourdieusche Konzepte als Analysewerkzeug an, nicht zuletzt, weil diese eine mehrdimensionale Betrachtung sozialer Kontexte geradezu fordern.

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3. Symbolische Reproduktion schulischer Fachkulturen durch Habitus, Feld und Illusio

Um das schulische Feld und die darin konzipierten Fachkulturen der Unterrichtsfächer Deutsch und Physik erfassen zu können, greife ich auf die theoretischen Ansätze von Pierre Bourdieu zurück. Die Konzepte von Habitus, Feld und Illusio bilden meiner Ansicht nach den Ausschnitt der bourdieuschen Theorielandschaft, der sich in besonderem Maße eignet, um dem Zusammenspiel von individuellem Handeln, symbolischer Ordnung und sozialen Strukturen nachzugehen und entsprechend schulische Fachkulturen zu beschreiben. Zentral scheint mir dabei das Zusammenspiel und die gegenseitige Bedingtheit der gewählten Bausteine. Meine Lesart der theoretischen Bausteine sowie deren Bedeutung für diese Arbeit werde ich in Abschnitt 3.1. skizzieren. Zunächst werde ich aufzeigen, wieso ich der von Bourdieu angebotenen Blickrichtung einer praxeologischen Herangehensweise folge und worin ich für die Analyse schulischer Fachkulturen besonders ergiebige Foki vermute: Da die unterschiedlichen schulischen Fachkulturen eng an Inklusions- und Exklusionsprozesse gekoppelt sind – Mädchen und Jungen werden nach wie vor geschlechtsspezifische Zugangs- und Nutzungsweisen in Physik und Deutsch zugeschrieben –, stellt sich die Frage, welche Ressourcen bei den einzelnen Fächern angeboten und genutzt werden. Dahinter stehen, das zeigen die Auswertungen fachkultureller Analysen in den vorangegangenen beiden Kapiteln, jeweils unterschiedliche „Wahrnehmungs-, Denk-, Wertungs- und Handlungsmuster“ (Liebau/ Huber 1985: 315). Eng verbunden mit diesen Weltsichten ist die Ausbildung von gesellschaftlichen Machtstrukturen; diese Strukturen spiegeln sich auch in den schulischen Fächern. Grundlage für die Ausbildung hierarchischer Strukturen ist die Verteilung von symbolischem Kapital. Daher wird der Frage nach der (Re-)Produktion von symbolischem Kapital bzw. den fachkulturellen Ressourcen eine besondere Bedeutung

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SCHULISCHE FACHKULTUREN UND GESCHLECHT

beigemessen, welche sich sowohl im theoretischen Ansatz als auch im empirischen Teil der Arbeit widerspiegelt. Die drei hier dargestellten theoretischen Komponenten Habitus, Feld und Illusio werden später in den gewählten Ausschnitten der empirischen Analyse des Feldes ihre direkte Anwendung finden. Hierbei ist wichtig, dass es sich nicht um eine willkürliche Zuweisung empirischer Ausschnitte an theoretische Konzepte handelt, sondern sich im Laufe der Arbeit mit Material und Theorie genau diese Passgenauigkeiten für meine Fragestellung ergeben haben. Den Fokus des Habitus, welcher in Kapitel 3.2. theoretisch beleuchtet wird, möchte ich im empirischen Teil durch die Aussagen der Akteurinnen und Akteure der beiden schulischen Felder nachzeichnen. Die Lernenden kommen hier über ihre Positionen zu Wort, welche sie in der durchgeführten quantitativen Befragung geäußert haben. Die Lehrkräfte haben sich in Interviews positioniert. Die empirische Dimension der Feldseite bildet die Betrachtung schulischer Orte und Räume. Hierbei rekurriere ich auf ein noch junges sozialwissenschaftliches Forschungsfeld, welches einiger theoretischer Erläuterungen bedarf. Diese folgen im Anschluss an die feldtheoretischen Ausführungen in Kapitel 3.3. Beide Seiten – Feld und Habitus – werden auf eine jeweils feldkulturelle, in diesem Fall damit fachkulturelle spezifische Weise konstruiert. Die jeweils zu Grunde liegenden Werte und Spielregeln der Fachkulturen entstehen erst durch den doxischen Glauben der Akteurinnen und Akteure an das, was auf dem Spiel steht. Dieser Glaube, mit Bourdieu die Illusio, ist die Ebene, welche in dieser Arbeit im Hinblick auf die beiden Unterrichtsfächer und ihre gegenderten Strukturen aufgezeigt werden soll. Zunächst wird in Abschnitt 3.4. meine Lesart dieses theoretischen Konzepts vorgestellt. Die Illusio stellt bei Bourdieu ein theoretisches Konstrukt dar, welches sich seiner Auffassung zufolge jedoch nur empirisch dicht erfassen lässt. Hierfür werden die habituellen und feldspezifischen Aussagen der Fachkulturen zusammen betrachtet und herangezogen. Die Illusio wird entsprechend nicht wie Habitus und Feld an spezifischem empirischem Material dargestellt werden, sondern sie ‚spricht’ aus den beiden anderen Komponenten. Ich werde die Illusio der Fächer Deutsch und Physik also in der Analyse der vorangegangenen Teilaspekte am Ende dieser Arbeit ausführlich darstellen. Insgesamt berühre ich mit den drei Ebenen jeweils zunächst theoretisch, wie auch später in der empirischen Analyse, die Ebenen der Akteurspositionen, der (materialisierten) Strukturen und der Handlungsebenen.

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3. SYMBOLISCHE REPRODUKTION VON FACHKULTUREN: HABITUS, FELD, ILLUSIO

3.1. Strukturen, Individuen und Ressourcen: Zusammenhänge in praxeologischer Sicht Bourdieu beschäftigt sich in seinen Darstellungen konsequent mit der Erarbeitung eines geeigneten Instrumentariums, welches gleichzeitig eine Beschreibung individueller Handlungspraktiken sowie gesellschaftlicher Strukturen zulässt und darüber hinaus deren Verhältnis zueinander in den Blick nehmen kann. Die Pole Individuum–Gesellschaft bzw. Praxis–Struktur wurden bisher durch vermeintlich widersprüchliche Analyseansätze untersucht: subjektorientierte Ansätze und strukturorientierte Ansätze. Bourdieu entwirft mit seiner Theorie der praxeologischen Erkenntnisweise einen Forschungsansatz, welcher die dichotomen theoretischen Positionen um die Pole Subjektivismus und Objektivismus zu überwinden sucht. Subjektorientierte Strömungen – Bourdieu zählt hierzu etwa den französischen Existenzialismus als eine besondere Ausprägung der Phänomenologie – stellen die Primärerfahrungen sozialer Akteurinnen und Akteure in den Mittelpunkt ihrer Betrachtungen. Sie analysieren, wie die soziale Welt den Individuen, die in dieser Welt situiert sind, erscheint. Diese Erfahrungen werden registriert und beschrieben, von ihnen ausgehend werden Aussagen über die soziale Welt möglich. Bourdieus Kritik an diesen theoretischen Ansätzen lautet, dass die Frage nach den Bedingungen der Handlungsmöglichkeiten sozialer Akteurinnen und Akteure – und auch die Frage nach den Bedingungen der für die Primärerfahrungen charakteristischen Selbstverständlichkeiten – außen vor gelassen wird. Es handelt sich somit um eine Bestandsaufnahme des Gegebenen und damit der herrschenden Ordnung. Strukturorientierte Ansätze hingegen – zu denen Bourdieu etwa den Strukturalismus und den Marxismus zählt – richten ihren Blick auf objektive Beziehungen und Strukturen, welche die sozialen Akteure und Akteurinnen in ihren Handlungspraktiken zu Grunde legen. Die Handelnden selber treten in dieser Betrachtung hinter die Beschreibung der Strukturen und somit die Bedingungen der Primärerfahrungen völlig zurück. Da diese Strukturen den Handelnden selbst jedoch nicht reflexiv zugänglich sind, ist automatisch ein Bruch mit ihren unmittelbaren Primärerfahrungen und -wahrnehmungen erforderlich. Bourdieus Kritik an den jeweiligen Auslassungen wird in seiner zugespitzten Darstellung beider theoretischer Ansätze deutlich: Auf der einen Seite werden die sozialen Akteurinnen und Akteure unabhängig von objektiven Strukturen betrachtet, auf der anderen Seite gibt es übermächtige Strukturen, die quasi unabhängig von den strukturierten (subjektiven) Dispositionen der Handelnden gedacht werden. Bourdieu versucht über seinen theoretischen Ansatz einer praxeologischen Erkenntnisweise diese Lücken zu schließen und beide Pole als dialektischen Zusammenhang zu fassen. Dies gelingt, indem die Grenzen einer rein sub91

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jektorientierten bzw. strukturorientierten Betrachtungsweise anerkannt werden.48 Entscheidend ist hierbei die Frage nach der Möglichkeit sowie der Notwendigkeit einer Reflexivität der Praxis: laut Bourdieu unterliegt das alltägliche Handeln nicht einer bewussten und reflektierten Logik, sondern folgt sozialisatorisch angeeigneten Selbstverständlichkeiten und Sicherheiten, die wiederum die Praxis überhaupt erst ermöglichen. Mit anderen Worten: Da „die Handelnden nie ganz genau wissen, was sie tun, hat ihr Handeln mehr Sinn, als sie selber wissen“ (Bourdieu 1987a: 127). Somit gilt es, durch ein relationales Denken der beiden Ebenen Praxis und Struktur diesen ‚Sinn’ aufzudecken. Die praxeologischen Überlegungen Bourdieus zu einer Überwindung rein subjektivistischer und objektivistischer Herangehensweisen an soziale Sachverhalte und Positionen beinhalten ein deutliches Plädoyer für die Notwendigkeit von Kontextualisierungen. Im Bereich feministischer Naturwissenschaftskritik zeigt sich ein ähnliches Bestreben in der Forderung danach, standpunkttheoretisch vorzugehen und zu reflektieren, dass sich der „Erfahrungskontext eines Erkenntnissubjekts entscheidend auf die Erkenntnisfähigkeit und das Erkenntnisinteresse auswirkt“ (Palm 2004: 58). Haraway spricht hier von „situated knowledges“ (1991: 196). Auch der Dualismus subjektiv vs. objektiv ist aus fachkultureller Forschung bekannt: Die Zuschreibungen gelten für die naturwissenschaftlichen Fächer (vermeintlich objektiv) und die sprachlichen Fächer (vermeintlich subjektiv), wie die Zusammenschau der fachkulturellen Konstruktionen in den Kapiteln eins und zwei dieser Arbeit gezeigt hat. Im Kontext fachkultureller Forschung, und dies ist insbesondere auch das Verdienst feministischer Wissenschaftskritik, wird immer wieder gefordert, diese für die Konstruktion von Wertigkeiten innerhalb der fachkulturellen Welt zentrale Dichotomie in Frage zu stellen, mindestens jedoch zu reflektieren. Während die Forderung nach einem dialektischen Verständnis der Pole „objektivistisch“ und „subjektivistisch“ bei Bourdieu Ausgangspunkt und generelle Grundlage seiner theoretischen Überlegungen darstellt, werden in der fachkulturellen Forschung erste Ansätze sichtbar, welche den Dualismus zu überwinden suchen (vgl. dazu auch Kapitel 1.2.2. und 2.2.). Meiner Lesart nach folgen mindestens diverse Bourdieurezeptionen, in weiten Zügen jedoch auch Bourdieu selber einer erstaunlich unreflektierten Haltung bei der Verwendung der Begrifflichkeiten „subjektivistisch“ und v. a. „objektivistisch“ – bei allen Hinweisen auf die Konstruiertheit von sozialen Wirklichkeiten finden sich meiner Kenntnis nach keine Aussagen, in welchen zumindest der Begriff ‚objektiv’ einer kritischen Befragung unterzogen würde. Vielmehr stellt Bourdieu selber in „Zur Sozio48 Bourdieus Sicht auf Möglichkeiten und Grenzen sozialwissenschaftlicher – strukturaler und phänomenologischer – Praxis findet sich in ausführlicher Darstellung bei Janning (vgl. 1991: 13ff.).

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logie der symbolischen Formen“ (1974: 24) heraus, dass objektive Verfahren etwa die „objektive Beobachtung und objektives Experiment“ seien. Diese schreibt er zugleich dem Feld der Naturwissenschaften zu.49 Anders als in der fachkulturellen Konstruktion von Disziplinen und Fächern verwendet Bourdieu jedoch beide Prämissen als Pole eines Kontinuums, nicht als höherbzw. minderwertig. Über das bourdieusche Kapitalkonzept wird es möglich, das Zusammenwirken der Dispositionen der Handelnden und die kontextualisierenden Strukturen fassbar zu machen und so die einzelnen Ressourcen50 der fachkulturellen Felder nachzuzeichnen. Kapital stellt laut Bourdieu ein „grundlegendes Prinzip der inneren Regelmäßigkeiten der sozialen Welt“ (1992a: 49) dar und verhindert, „dass Wechselspiele des gesellschaftlichen Lebens [...] nicht wie einfache Glücksspiele verlaufen, in denen jederzeit eine Überraschung möglich ist“ (ebd.). Das Kapital ist vielmehr eine der „Objektivität der Dinge innewohnende Kraft, die dafür sorgt, dass nicht alles gleich möglich oder gleich unmöglich ist“ (a.a.O.: 50). Die Verteilungsstruktur der Kapitalien in einem spezifischen Feld wie den schulischen Fachkulturen spiegelt die gesellschaftliche Welt: Ressourcen und Erfolgschancen werden in Anlehnung an gesamtgesellschaftliche Bilder und Weltsichten vergeben, Geschlecht spielt dabei eine wichtige Rolle.

49 Deutlich wird Bourdieus Verständnis von Objektivität in seinen Ausführungen zu Raumordnungen: Wenngleich Bourdieu selber anmerkt, dass es sich bei der Aufteilung von sozialem und physischem Raum um eine rein analytische Trennung handelt, da Raum sich nicht entnaturalisieren lasse (vgl. Bourdieu 1991: 28), so zeigt sich jedoch in der auffallend häufigen Verwendung der Begrifflichkeiten Objektivierung, objektivierter Zustand, Objektivität räumlicher Strukturen etc. im Kontext mit dem statischen Entwurf von physischem Raum, dass Bourdieu mit dem Begriff der Objektivität etwas Starres, Abgebildetes, nicht oder wenig Wandelbares verbindet, sehr verwandt mit dem in fachkulturellen Kontexten konnotierten „objektiv“. 50 Für die Analyse schulischer Fachkulturen scheint mir der Begriff des symbolischen Kapitals als Komponente, über welche Positionen im sozialen Raum gefunden und gefestigt werden, nicht ganz zutreffend – zumindest wenn er nach Bourdieus Verständnis eingesetzt wird, nach dem alle Handlungen nach Differenzierung, Gewinn, Ausnutzung, also nach der Verbesserung der sozialen Position durch Vermehrung von Kapital trachten. Passender scheint mir daher der allgemeinere Begriff der „Ressourcen“, welcher ebenfalls immer wieder von Bourdieu verwendet wird, da diese zu Aushandlungen um Kapitalmehrung eingesetzt werden können, aber nicht notwendigerweise müssen. Ich verwende daher in der Analyse der Fachkulturen den Ressourcenbegriff. Budde teilt diesen Ansatz und verdeutlicht dies, indem er von Geschlecht als (situativ) „ruhende Ressource“ (2005: 25) spricht. Er betont damit das gleichzeitige Verschwinden und Beharren der Strukturkategorie Geschlecht.

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Bourdieu unterscheidet vier zentrale Kapitalsorten: das ökonomische, das kulturelle, das soziale und das symbolische Kapital. Ökonomisches Kapital ist „unmittelbar und direkt in Geld konvertierbar“ (a.a.O.: 52). Kulturelles Kapital existiert in drei Formen: (1.) in verinnerlichtem, inkorporiertem Zustand, in Form von dauerhaften Dispositionen des Organismus, (2.) in objektiviertem Zustand, in Form von kulturellen Gütern, Bildern, Büchern, Lexika, Instrumenten oder Maschinen, in denen bestimmte Theorien und deren Kritiken, Problematiken usw. Spuren hinterlassen oder sich verwirklicht haben, und schließlich (3.) in institutionalisiertem Zustand, einer Form von Objektivation. (a.a.O.: 53, Herv. im Orig.)

Letzteres geschieht über die Vergabe von akademischen Titeln, schulischen Abschlüssen etc. Unter sozialem Kapital fasst Bourdieu die Gesamtheit der aktuellen und potentiellen Ressourcen, die mit dem Besitz eines dauerhaften Netzes von mehr oder weniger institutionalisierten Beziehungen gegenseitigen Kennens oder Anerkennens verbunden sind; oder anders ausgedrückt, es handelt sich dabei um Ressourcen, die auf der Zugehörigkeit zu einer Gruppe beruhen. (a.a.O.: 63, Herv. im Orig.)

Entscheidend für das Kapitalvolumen ist entsprechend das Gesamtkapital der Gruppenmitglieder bzw. der Umfang des sozialen Beziehungsnetzes, auf das die kapitaltragenden Personen zurückgreifen können. Die Existenz dieses Netzes ist weder eine natürliche noch eine soziale ‚Gegebenheit’, sondern sie ist vielmehr „das Produkt einer fortlaufenden Institutionalisierungsarbeit“ (a.a.O.: 65), Inklusions- und Exklusionsprozesse bilden für die Frage der Zugehörigkeiten zu den Netzwerken zentrale Handlungstaktiken, auch Rituale sind laut Bourdieu für diese Prozesse entscheidende Interaktionsmomente. Die Macht, welche mit der Akkumulation von sozialem Kapital einhergeht, ist zu weiten Teilen auf die Logik des Kennens und Anerkennens bestimmter Symbole zurückzuführen. Erst dadurch funktioniert die Repräsentation der Gemeinschaft durch einzelne Mitglieder, z. B. der fachkulturellen Gemeinschaft Physik durch eine Lehrkraft: Der Repräsentant setzt sich an die Stelle des von ihm Repräsentierten. Alle Kapitalarten können um den Preis der Transformationsarbeit mit Hilfe von ökonomischem Kapital erworben werden, sie können also gegenseitig konvertiert werden. Die Übertragbarkeit ist allerdings unterschiedlich aufwändig bzw. es können unterschiedliche Verluste auftreten, Bourdieu spricht hier von „Schwundrisiko“ (a.a.O.: 73). Während kulturelles Kapital in inkorporiertem Zustand nicht delegiert werden kann, sondern lebenslang an den Träger bzw. die Trägerin gebunden bleibt, lässt sich kulturelles Kapital in objektiviertem Zustand bzw. auch in institutionalisiertem Zustand (in Form von 94

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Titeln, Nachfolgen etc.) delegieren. Für den Umwandlungsprozess bzw. den Kapitalerwerb ist Zeit notwendig. In der Schule finden genau hierzu immer wieder explizite Aushandlungsprozesse statt: Wer bekommt welches Zeitkontingent für sein Fach etc. Im schulischen Feld werden die Kapitalübertragungen recht offen ausgehandelt, dies ist deshalb möglich, weil die Übertragungen explizit dem Auftrag von Schule entsprechen. Anders als etwa bei sozialem Kapital in kollegialen Kontexten der Lehrenden einer Schule bestehen zwischen den Lernenden und ihren Lehrkräften weit weniger langfristige Verpflichtungen, die Beziehung beider muss vergleichsweise ausgewogen gestaltet werden, um funktionieren zu können. Die von vornherein hierarchische Beziehung zwischen Lehrenden und Lernenden lässt dies sogar nur bedingt zu.51 Aufhänger dieser Arbeit war die nach wie vor ungleiche Verteilung und Zugangsmöglichkeit von Mädchen und Jungen zu prestigeträchtigen Berufen bzw. die dem vorgeschaltete Frage nach fachkulturellen Hierarchien und der Verteilung von Ressourcen in schulischen fachkulturellen Feldern. Relevant für eine Beantwortung dieser Frage wird nun vor allem ein Aufspüren von Wirkungsmechanismen der fachkulturellen Ressourcen durch symbolisches Kapital. Dies stellt das Kapital dar, welches am deutlichsten den Zugang zur Macht ermöglicht und sichert. Denn Macht kann sich nicht „umstandslos in ihrer Rohheit, auf willkürliche Weise, ausüben“ (Bourdieu/ Wacquant 1996: 76), sondern benötigt dafür die Anerkennung der jeweiligen symbolischen Ordnung durch die beteiligten Akteurinnen und Akteure. Bourdieu beschreibt symbolisches Kapital als eine Art ‚Kredit“, welcher als die legitim anerkannte Form der drei anderen Kapitalsorten funktioniert (1987a: 218). Diese werden „bekannt, anerkannt und erkannt [...] entsprechend den von ihm selbst durchgesetzten Wahrnehmungskategorien“ (Bourdieu 1992b: 149). Symbolisches Kapital wird eingesetzt als prägendes Moment von Weltsichten und Denkschemata, also von Wahrnehmungs- und letztlich auch Handlungskategorien der sozialen Welt. Dadurch bildet es die Grundlage von Herrschaft. Markus Schwingel stellt heraus, dass symbolisches Kapital im Unterschied zu ökonomischem und kulturellem (inkorporiertem und objektiviertem) Kapital, welches der Logik der Knappheit folgend wirkt, nach einer Logik der Hervorhebung und Anerkennung funktioniert (vgl. Schwingel 2000: 91). Das Zurschaustellen des symbolischen Kapitals ist somit ein Mechanismus, der sichert, „dass Kapital zu Kapital kommt“ (Bourdieu 1987a: 218). Wie die 51 Die Lernenden, welche sich um ein persönlich ausgewogenes Verhältnis offen bemühen, unterliegen schnell dem Risiko, als ‘Streber’ bzw. ‘Schleimer’ etc. stigmatisiert zu werden, da sie sich damit von der Norm der Gesamtheit ihrer Klassenkameraden und Klassenkameradinnen absetzen. Das Kapital kann hier also durchaus zum negativen Stigma werden.

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Transformationsprozesse von Ressourcen in den schulischen Fachkulturen konkret funktionieren, wird in den empirischer Analysen aus dem Untersuchungsfeld vorgestellt.

3.2. Habitus und Positionen Der Habitus ist nach Bourdieu zugleich Produkt und Produzent von Handlungspraktiken, mit anderen Worten „nicht nur strukturierende [...] sondern auch strukturierte Struktur“ (vgl. z. B. 1987b: 279). Um diese Annahme zu erläutern, greift Bourdieu selber mehrfach auf einen zentralen Aspekt der von Noam Chomsky entwickelten generativen Grammatik zurück (vgl. Chomsky 1969). Laut Chomsky verfügt jede kompetent sprechende Person über ein begrenztes Repertoire an grammatischen Regeln, woraus sie theoretisch eine unbegrenzte Zahl grammatikalisch korrekter Sätze bilden kann, welche „in zweierlei Hinsicht adäquat sind: Adäquat sind sie zum einen der Situation, zum anderen auch dem handelnden Subjekt [gegenüber]“ (zit. n. Krais/ Gebauer 2002: 32). Ähnlich verhält sich der Habitus, welcher als „System generativer Schemata“ (Bourdieu 1987b: 279) den immer neu hervorgebrachten – generierten – Handlungen der Akteurinnen und Akteure zu Grunde liegt. Beate Krais und Gunter Gebauer betonen, es mache „nicht das Regelwerk [...] die Grammatik, sondern die Aktivitäten der Subjekte, ihre Regel-erzeugende Produktion“ (2002: 33). Der Habitus bildet so als ‚Handlungsgrammatik’ keine statische Grundlage, sondern die Basis für variationsfähige Praxisformen. Dadurch sind die habitusgenerierenden Handlungen unter stabilen gesellschaftlichen Bedingungen durch das ihnen zu Grunde liegende strukturierende Prinzip weitgehend vorhersehbar. Der Habitus strukturiert sowohl das individuelle als auch das kollektive Handeln, so bilden sich für verschiedene gesellschaftliche Gruppen mit relativer Homogenität der sozialen Position im sozialen Raum homologe kultur- bzw. auch disziplinspezifische Formen des Habitus aus. Die Angehörigen einer Fachkultur etwa teilen ihre Realitätskonstruktionen über gemeinsame Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsmuster.52 Soziale Akteure und Akteurinnen können jedoch innerhalb des Dispositionssystems individuelle Stile entwickeln und dennoch der ‚Handlungsgrammatik’ folgen. Der Habitus bildet also ein Bindeglied zwischen Individuum und Gesellschaft. Engler arbeitet heraus, dass der Habitus als das Körper gewordenen 52 Gerhard Portele verdeutlicht die fachhabituell unterschiedlichen Zugänge zu Problemwahrnehmung und -lösung eindrucksvoll anhand eines nachbarschaftlichen Konfliktfalls, welcher von Fachwissenschaftlern und Fachwissenschaftlerinnen unterschiedlicher Disziplinen (Jura, Psychologie, Wirtschaftswissenschaften etc.) jeweils sehr spezifisch angegangen wurde (vgl. 1985: 298 ff.).

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Soziale zu deuten sei und somit der „sozialisierte Körper (das, was man Individuum nennt) [...] nicht das Gegenteil von Gesellschaft [sei], sondern eine ihrer Existenzformen (Engler 2003: 236). In diesem Sinne gibt es keine Subjektivität, welche außerhalb oder vor dem Sozialen gedacht werden kann, Individuen und Welt stellen sich gegenseitig immer wieder her. Die „Habitusformen als Systeme dauerhafter und übertragbarer Dispositionen“ (Bourdieu 1987a: 98) werden nicht als abstrakte Systeme erlernt, sondern durch Handeln erworben, sie werden „praktisch gekonnt, nicht symbolisch gewusst“ (Portele 1985: 301, Herv. im Orig.). Anders als Chomsky, welcher die Grammatik als angeboren begreift, versteht Bourdieu den Habitus also als angeeignete und somit erfahrungsbedingte Konstruktion, welche in permanentem Abgleich zwischen gesellschaftlicher Bestätigung bzw. Korrektur und Aktivitäten der handelnden Personen stattfindet.53 Krais und Gebauer sprechen hier von einer „kreisförmigen Bewegung [...], die von der geregelten Gesellschaft zum Produktionssystem des Subjekts führt und dann in dessen regelhaftes soziales Verhalten einmündet“ (2002: 33). Der Habitus ist jedoch nicht zu verstehen als abstraktes kognitives Prinzip, sondern wirkt als inkorporierte Praxis, d. h. in den körperlichen Leib eingeschrieben in Form von Gesten, Körperhaltung, ästhetischem Geschmack etc.54 Ulle Jäger (2004) arbeitet heraus, dass für ein Funktionieren des Habitus letztlich der körperliche Leib als „Speicher“ (Bourdieu 1987a: 127) entscheidend ist. Dieser wird im Verlauf der Sozialisation durch praktische Mimesis, d. h. ohne der Reflexion zugänglich zu sein, gefüllt „mit operativen Schemata, die das Handeln bestimmen“ (Jäger 2004: 186).55 Ebenso kann der Habitus aber auch in Gegenstände oder – wie im Rahmen dieser Untersuchung aufgezeigt wird – in Architektur eingeschrieben sein. Durch die Einschreibung werden soziale Normen auf einer doxischen Ebene reproduziert, welche einer kritischen und reflexiv handhabbaren Analyse nur sehr begrenzt zugänglich ist.56 53 Bei der Entstehung des Habitus sind unterschiedliche Sozialisationsinstanzen entscheidend: die Primärsozialisation z. B. über die Familie und die Sekundärsozialisation z. B. über die Schule. Frank Lettke spricht entsprechend auch von „Primärhabitus“ und „Sekundärhabitus“ (Lettke 2000: 137f.). Ich fokussiere in dieser Arbeit nur auf den sekundärhabitusbildenden Bereich anhand des Sozialisationskontextes Schule. 54 Bourdieu verwendet die Begriffe Körper und Leib keineswegs trennscharf, die Erscheinungsform des Habitus scheint eher auf Leib bezogen, an einigen Stellen bezeichnet er diese auch als leibliche Hexis (vgl. Bourdieu 1987a: v. a. 136f.). Zur z. T. synonymen Verwendung der Begriffe Inkorporierung und Verinnerlichung bei Bourdieu vgl. ausführlich Jäger (2004: 179ff.). 55 Mimesis meint hier keinesfalls ein blindes Imitieren, sondern wird als eigene Konstruktionsleistung, als Produktion von etwas Neuem, als Aneignung einer interpretierten Welt verstanden (vgl. dazu auch Klein 2001). 56 Bourdieu spricht von „reflexiven“ an Stelle von „bewussten“ oder „unbewussten“ Vorgängen, da er als unbewusst nur Phänomene fasst, welche „sich nicht

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Besonders deutlich zeigt sich dies in der Frage nach Herstellung und Wirkungsmechanismus eines geschlechtlichen Habitus. Bourdieu stellt seine Lesart des Zusammenspiels der Kategorie Geschlecht und des Habitus v. a. in dem Aufsatz „Die männliche Herrschaft“ (1997a, frz. 1990a) dar, welcher später dann als Buch (frz. 1998b, dt. 2005) überarbeitet wurde.57 Die Kategorie Geschlecht bildet – neben sozialer Klasse und ethnischer Zugehörigkeit58 – eines der grundlegenden Strukturierungsmuster sozialer Praxis. Sie ist durch den Habitus in alltäglichen Handlungspraktiken permanent präsent. Die Geschlechterklassifikation wird zugleich als primäres Teilungsprinzip anderen Grundmustern sozialer Unterscheidungen zu Grunde gelegt. Bourdieu veranschaulicht das folgendermaßen: Das Geschlecht ist eine ganz fundamentale Dimension des Habitus, die, wie in der Musik die Kreuze oder die Schlüssel, alle mit den fundamentalen sozialen Faktoren zusammenhängenden sozialen Eigenschaften modifiziert. (Bourdieu 1997b: 222)

Charakteristisch für die Kategorie Geschlecht ist jedoch, dass sie zum einen antagonistisch konstruiert ist, zum anderen jedoch v. a. diese Antagonie hierarchisch gedacht wird. Auf diese beiden Strategien stützt Bourdieu seine Annahme von zwei geschlechtlichen Habitus, einem weiblichen und einem männlichen. Entscheidend für diese Lesart sind zwei Grundmuster. Zum einen wirken die hergestellten Distinktionen zu der jeweils anderen Geschlechtergruppe. Bourdieu hält hierzu fest, dass „Ordnung einführen heißt Unterscheidung ein[zu]führen“ (Bourdieu 1987a: 369). Beide geschlechtlichen Habitus werden ihm zufolge in Abgrenzung voneinander ausgeformt und insofern relational definiert. Robert W. Connell spricht hier von relationalen Konzepten, „die sich aufeinander beziehen und erst im Verhältnis zueinander Bedeutung erhalten“. (1999: 63, vgl. dazu auch Meuser 1998: 115ff.). Zum anderen zieht Bourdieu für seine Annahme die zu Grunde liegende Machtverteilung im gültigen Herrschaftsverhältnis heran: Er konnotiert den männlichen Habitus unmittelbar mit herrschenden sozialen Positionen, dem Besitz symboder simplen Reflexion erschließen“ (1974: 24), damit wäre sogar das Denken habituell und nicht bewusst hinterfragt. 57 Eine ausführliche Auseinandersetzung mit diesem Text findet sich bei Beate Krais (vgl. 2001). Bourdieu selber führt an anderer Stelle aus, dass die Frage, ob von einem „Geschlechterhabitus“ oder von einem „vergeschlechtlichen Klassenhabitus“ gesprochen wird, Geschlecht also als – wovon in der feministischen Forschung ausgegangen wird – primäres, oder aber als sekundäres Merkmal sozialer Unterscheidungen zu verstehen ist, letztlich eine Frage ideologischer Interessen sei (Bourdieu 1997b: 224f.). Ich spreche in dieser Arbeit, in der Geschlecht als zentrale Unterscheidungskategorie im Vordergrund steht, von geschlechtlichem Habitus. 58 Zunehmend geraten – zu Recht – auch die Kategorien Alter und Gesundheit in den Blick.

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lischer Macht und der Ausübung symbolischer Gewalt (vgl. z. B. 1997a: 188).59 Wenngleich Robert Connell (vgl. 1999: 97) an diesem Punkt zwar zwischen verschiedenen Männlichkeiten differenziert (hegemonialer, untergeordneter, komplizenhafter und marginalisierter Männlichkeit), so stellt die hegemoniale Struktur doch das Muster dar, auf welches sich alle Männer in der einen oder anderen Form beziehen müssen (vgl. hierzu ausführlich auch Connell 1995 sowie Brandes 2002: 77 und Budde 2005). Insofern unterstreicht diese Differenzierung Bourdieus Lesart.60 Auch Michael Meuser stützt diese These, verweist aber darauf, dass nicht von dem männlichen oder weiblichen Habitus als Prototyp ausgegangen werden kann, da soziale, kulturelle, ethnische, religiöse etc. Zusammenhänge unterschiedliche Ausprägungen hervorbringen (vgl. Meuser 1998: 115f.). Auch Holger Brandes stellt heraus, dass Männer in der Regel die Form von Männlichkeit repräsentieren, die ihrem jeweiligen spezifischen sozialen Kontext angemessen ist (vgl. 2002: 116). Auch dahinter steht die Frage, ob es überhaupt ergiebig ist, von einem männlichen Habitus auszugehen. Bezogen auf das Feld schulischer Fachkulturen werden die empirischen Darstellungen hier aufschlussreich sein. Der Geschlechterhabitus wirkt insofern grundlegend als Querschnittsmuster in andere Bereiche, als seine dualistische und zugleich machtvolle Ordnung – selbstverständlich und nicht reflexiv gehandhabt – auch auf andere Bereiche übertragen wird, so z. B. oben/ unten, Herrschende/ Beherrschte, aber auch ‚harte’ und ‚weiche’ Unterrichts- und Studienfächer, und sie damit als ‚natürliche’ Kategorien implementiert. Die geschlechtsspezifische Prägung des Habitus wird auch deshalb so leicht als soziale Ordnung verobjektiviert, da das Geschlechterverhältnis über die körperlichen Einschreibungen somatisiert ist (vgl. Bourdieu 1997a: 173 und 188). Mit anderen Worten: geschlechtlich stereotype Zuschreibungen basieren zu entscheidenden Teilen auf einer Festlegung der Körperwahrnehmung und des Körperausdrucks, diese unterliegen zugleich einer zugeschriebenen ‚Natürlichkeit’. Körperlichkeit wird so als etwas ‚Vorsoziales’ konstruiert. Zugleich geht damit eine große Veränderungsresistenz einher. Erschwerend kommt hinzu, dass der Geschlechterhabitus aufgrund seiner Körpergebundenheit einen hohen Anteil an Unbewusstheit enthält, die davor schützt, das Einverleibte explizit und kommunizierbar zu

59 Bourdieu bezeichnet die männliche Herrschaft ebenso wie sprachliche Herrschaft (vgl. 1990a) als symbolische und zugleich als „sanfte Gewalt“ (vgl. auch 1997b), welche also nicht auf Zwang und Aggression beruht, sondern durch in das Denken und Wahrnehmen sozialer Akteure und Akteurinnen eingelagerte Selbstverständlichkeiten tradiert wird. 60 Eine vergleichbare Analyse der Binnenrelationen von Weiblichkeiten liegt meines Wissens bisher nicht vor.

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machen (vgl. Bourdieu 1976a: 200).61 Zudem greifen Habitusveränderungen oder -abweichungen nur recht langsam, da „die Neigung zum Verharren im Sosein“ (Bourdieu 1987a: 117) auch Veränderungen des Feldes nicht unmittelbar auf den Habitus wirken lässt. Die Trägheit, mit der gesellschaftliche Veränderungen in der Geschlechterordnung vonstatten gehen, verdeutlicht dies (vgl. dazu auch Bourdieu 1997b: 227). Wenngleich der Habitus an individuelle Körper gebunden ist, so ist er also immer auch Ausdruck des Überindividuellen und der Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppierung, in diesem Fall zu einer Geschlechtergruppe. Für den vorliegenden Forschungskontext stellt sich die Frage, wie sich die habituellen Dispositionen von vergeschlechtlichtem und fachkulturellem Habitus zueinander verhalten. Können soziale Akteurinnen und Akteure zwei Habitus gleichzeitig haben? Oder gibt es ‚Unterhabitus’ bzw. Habitus ‚unterschiedlicher Reichweite’? Meinem Verständnis zufolge ist der Habitus einer Person durch die körperliche Einschreibung individueller Erfahrungen nicht als multiples Konstrukt vorstellbar. So fügen sich die Prägungen eines Habitus als Gesamtbild zusammen, wenngleich sie in verschiedenen sozialen Bereichen gemacht werden. Entscheidend ist jedoch, dass in der analytischen Betrachtung je nach gewähltem Ausschnitt unterschiedliche Dimensionen des Habitus voneinander trennbar sind. Hierbei handelt es sich jedoch meiner Auffassung nach um ein ‚künstliches Auseinandernehmen’, so kann ich in meiner Untersuchung auf den geschlechtlichen und gleichzeitig den fachkulturellen Habitus der Akteure und Akteurinnen fokussieren, den Habitus ethnischer oder sozialer Zugehörigkeit jedoch gleichzeitig ‚ausblenden’. Hier sind deutliche Parallelen zu den Herstellungsmechanismen des ethnomethodologischen Konzepts des doing gender, bzw. erweitert des doing difference zu sehen: Je nach kontextueller Notwendigkeit agieren Schülerinnen und Schüler nach situativ bedeutsamen Kriterien und stellen so mal das Schüler(in)-Sein (doing student), mal die eigene Geschlechtszugehörigkeit (doing gender) in den Vordergrund ihres Handelns (vgl. Faulstich-Wieland/ Weber/ Willems 2004). Ebenso können meines Erachtens fachkulturelle bzw. vergeschlechtlichte Dimensionen des Habitus die situative Kompetenz bzw. das angemessene Verhalten der Handelnden ausmachen. Dennoch bildet sich ein Habitus pro Person. Der geschlechtliche Habitus einer Person wird erkennbar (und damit auch erst erforschbar), indem diese ihre Geschlechtszugehörigkeit in einem spezifischen Handlungskontext bedeutsam macht. So bauen die jeweiligen schulischen Fachkulturen etwa auf eine jeweils spezifische Weise auf ver-

61 Bourdieu bezeichnet den Habitus verschiedentlich auch als „Spontaneität ohne Willen und Bewusstsein“ (Bourdieu 1987a: 105, vgl. auch Bourdieu 1996: 127).

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geschlechtlichten Habitusdimensionen auf. Hierin liegt das gendering der Fächer. Auf der empirischen Ebene werde ich die habituellen Dispositionen der Akteure und Akteurinnen in den schulischen fachkulturellen Feldern anhand von deren formulierten Positionen beleuchten. Habituelle Dispositionen sind nicht reflexiv zugänglich und entsprechend auch nicht als explizite Aussagen oder Positionierungen abfragbar. Bourdieu geht davon aus, dass soziale Gruppen durchaus übereinstimmende Habitus ausbilden und diese jeweils feldspezifische Prägungen aufweisen. In dieser Arbeit wird versucht, den Habitusformen einer sozialen Gruppe, in diesem Fall den Angehörigen der schulischen Fachkulturen Deutsch bzw. Physik, nachzuspüren. Zunächst ist hierfür die Frage wichtig, ob sich systematische und kollektive Entwürfe von der sozialen Gruppe der Physiklernenden und Physiklehrkräfte bzw. der Deutschlernenden und der Deutschlehrkräfte erkennen lassen. Ich gehe zunächst mit Bourdieu davon aus, dass Übereinstimmungen nicht erst in darauf ausgerichteter Kommunikation oder Interaktion hergestellt werden müssen, weil sie „das Resultat von Dispositionen sind, die, dank der Verinnerlichung der gleichen objektiven Strukturen, objektiv übereinstimmen“ (1976a: 179). Die Akteurinnen und Akteure wissen weder von sich selbst noch von anderen Mitgliedern der sozialen Gruppe explizit, welche Handlungen notwendig und angemessen sind, um sich situations- und gruppenadäquat zu verhalten, sie handeln habituell richtig mit der Kenntnis um den Sinn für das jeweilige Spiel. Greifbar werden die habituellen fachkulturellen Spezifika jedoch, wenn die Beteiligten eben nicht explizit nach ihren Handlungen, sondern nach ihren Positionen gefragt werden. Die eigene Praxis bleibt eine habituelle, und somit vorreflexiv geprägt, Begründungen und Hintergründe für die in der Praxis relevanten Gesichtspunkte werden jedoch trotzdem genannt. Bei der Gruppe der Lernenden ziehe ich hierbei die Aussagen aus quantitativen Erhebungen heran, die sich auf verschiedenen Ebenen mit gegenderten Zuschreibungen innerhalb der Fächer beschäftigen. Die Lehrenden äußern sich in Auszügen aus Interviews zu geschlechtlichen und fachkulturellen Zuschreibungen. Insgesamt können diese Aussagen meines Erachtens gelesen werden als gemeinsame Denk-, Wert- und Handlungsmuster – und damit als empirische Aussagen zu habituellen Dispositionen.

3.3. Felder, Räume und Orte Bourdieu hat die soziale Welt als mehrdimensionalen sozialen Raum in Form verschiedener, relativ autonomer sozialer Felder beschrieben, so etwa das Feld der Literatur (vgl. Bourdieu 1999) oder der Religion (vgl. Bourdieu 101

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2000a). Ausgangspunkt seiner Beschreibungen waren Felder kultureller Produktion (vgl. Bourdieu 1999), später erweiterte er diesen Fokus auch auf die Felder der Ökonomie, der Politik und des Rechts (vgl. z. B.1998c, 2000b und diverse Veröffentlichungen in der Zeitschrift Actes de la recherche en sciences sociales). Sein Blick richtete sich dabei auf die Frage nach dem Verhältnis zwischen sozialer Welt und kulturellen Objekten. Bourdieu suchte hierzu die interne bzw. objektimmanente Sicht der eigenen Logiken und Regeln zu verbinden mit einer externen, kontextualisierenden Sicht der Objekte als historisch geschaffene und mit sozialen Funktionen versehene (vgl. 1998c: 54ff.).62 Bourdieus Konzept des sozialen Raums versucht, „verschiedene Formen von Handlungsressourcen, die er als Kapital bezeichnet, zur Erfassung der Sozialstruktur heranzuziehen“ (Rehbein 2003: 79). Der Fokus liegt dabei zentral auf kulturellem und ökonomischem Kapital, welche Bourdieu als die zentralen strukturierende Komponenten ansieht. Die Verteilung der Ressourcen, die Position der Akteurinnen und Akteure im sozialen Raum und die den Positionen charakteristischen Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsformen gehen laut Bourdieu einher. Boike Rehbein betont die Statik, die mit diesem Entwurf der Darstellung einer Gesellschaft einhergeht. So fasse Raum die sozialen Positionen zwar relativ zueinander, ordnet aber einer bestimmten Kapitalkomposition einen bestimmten Ort zu. Damit bleibt seine Relation zu anderen Orten [...] für alle Eigenschaften gleich. Ein Individuum hätte also seinem Ort gemäß zu anderen Individuen in allen Bereichen der Praxis die gleichen Relationen. Bourdieu spricht hier von Homologie. (a.a.O.: 84, Herv. im Orig.)

Diese Homologie lässt sich allerdings nur denken, wenn man nicht davon ausgeht, dass in den jeweiligen Feldern unterschiedliche und spezifische Formen von Kapital entscheidend wären. Dies ist aber der Fall. Bourdieu selber stellt das an anderer Stelle heraus, indem er Parallelen zwischen dem Feldbegriff und dem Spielbegriff herstellt. Demnach gleiche das jeweilige feldspezifische Kapital Spielchips, welche an die Teilnehmer und Teilnehmerinnen verteilt würden, dies jedoch innerhalb der Gesellschaften – und der Felder – durchaus ungleich (vgl. Bourdieu 1992a: 38). Wenn sich nun aber die Verteilung der Chips in den Feldern unterscheidet, können die Felder, so Rehbein, nicht innerhalb des sozialen Raums homolog sein (vgl. Rehbein 2003: 86). Stattdessen geht Rehbein von dominanten und weniger dominanten 62 Bourdieu verdeutlicht dieses Zusammenspiel an einem Beispiel: „Der Erfolg der impressionistischen Revolution wäre kaum möglich gewesen ohne das Auftreten eines neuen Publikums aus jungen Künstlern (Malern) und Schriftstellern, das bedingt war durch die „Überproduktion“ von Hochschulabsolventen, die selber ein Ergebnis des gleichzeitigen Wandels des Bildungssystems war.“ (vgl. a.a.O.: 66).

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Feldern aus, die jeweils gesellschaftsspezifisch von der Konjunktur und dem Marktwert der jeweilig relevanten Kapitalien bestimmt seien (vgl. a.a.O.: 87f.). Für eine Analyse der Felder ist es entscheidend, deren Grenzen zu analysieren. Insgesamt bietet m. E. der Feldbegriff als dynamischer, relationaler und mehrdimensionaler Begriff für die Analyse schulischer Fachkulturen Vorteile gegenüber dem Konzept des sozialen Raumes. Bourdieu selber verwendet den Begriff des Feldes nicht einheitlich für verschiedene Einheiten,63 er selber stellt heraus, dass der Begriff „auf verschiedenen Aggregationsebenen“ (1996: 135) benutzt werden kann: in der Universität für die Gesamtheit der humanwissenschaftlichen Disziplinen bzw. der entsprechenden Fakultäten. Entsprechend kann Schule als ein eigenes soziales Feld betrachtet werden, spezifiziert wird der Blick, wenn – wie im Kontext dieser Untersuchung – mit dem Gymnasium eine spezielle Schulform in den Blick genommen wird. In diesem Falle ließe sich auch von den Unterrichtsfächern als Sub-Feldern sprechen. Für meine Untersuchung scheint es mir jedoch sinnvoll, den Begriff des Feldes unter einem deutlich stärker zugespitzten Fokus auf die unterschiedlichen Fachkulturen als eigene ‚Universen’ mit jeweils eigenen Logiken anzuwenden. Ich begreife dabei schulische Fachkulturen nicht im weiteren Sinne, also z. B. als Zusammenschluss verschiedener geistes- und naturwissenschaftlicher Fächer, sondern als eigenständige Unterrichtsfächer, hier Deutsch und Physik bzw. bilingualer Physikunterricht. Während Bourdieu, wie beschrieben, den Begriff des sozialen Raums als abstrakt konstruierte Darstellung eines Beziehungsraums von Menschen begreift, der sich über das Zusammenspiel von Strukturen und habituellem Handeln konstituiert, ermöglicht der Feldbegriff in seiner differenzierteren Form, d. h. nicht als Synonym für sozialen Raum, sondern z. B. in der von mir dargestellten Verwendung für Unterrichtsfächer, bereits stärker, die einzelnen relationalen Gefüge zu analysieren. Bourdieu sagt dazu: „In Feldbegriffen denken heißt relational denken.“ (Bourdieu/ Wacquant 1996: 126). Bourdieu versteht Raum jedoch immer als „sozial konstruiert und markiert“ (Bourdieu 1991: 28). Felder sind jeweils geprägt durch eigene Dynamiken und spezifische soziale Praktiken, „they indicate the particularity of and homology among different social environments“ (McCall 1992: 840). Bourdieu und Wacquant verstehen ein Feld als einen Raum, „in dem ein Feldeffekt wirksam ist, so dass 63 Zum Teil bezeichnet Bourdieu soziale Felder auch synonym als „Räume“. Beide Begriffe werden z. T. im Singular, dann wieder im Plural und sowohl als Oberbegriffe als auch als Unterkategorien verwendet. Der Feldbegriff wird auch in einem eher umgangssprachlichen Sinn als Synonym für „Gebiet“, „Bereich“ verwendet. Ich setze Bourdieus Raumbegriff in dieser Arbeit jedoch in einem spezifischeren Kontext ein.

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sich das, was einem Objekt widerfährt, das durch den Raum hindurchgeht, nicht vollständig durch seine intrinsischen Eigenschaften erklären lässt“ (1996: 131). Die Regularitäten, welche innerhalb eines spezifischen Feldes gelten, funktionieren unbewusst, angemessenes Verhalten wird über den Habitus der Akteurinnen und Akteure geregelt. Dabei ist der Habitus nicht mit dem Eintritt in ein Feld abgeschlossen, sondern er muss lediglich „praktisch kompatibel sein oder eine genügende Nähe aufweisen“, er muss „formbar und geeignet sein [...], um sich in einen konformen Habitus konvertieren zu lassen, [...] kongruent und lernfähig (docile), das heißt offen für die Möglichkeit der Restrukturierung“ (Bourdieu 1997c: 120, zitierte Übersetzung nach Krais/ Gebauer 2002: 61f., Herv. im Orig.). Felder werden über Abgrenzungen hergestellt, so arbeiten die Feldangehörigen kontinuierlich an der Aufrechterhaltung der Grenzen zu anderen Feldern, sie „existieren überhaupt nur in den Unterschieden, die sie trennen“ (Bourdieu 1998c: 63). Zugleich sind die Grenzen zwischen den Feldern – und damit die Felder selbst – dynamisch und fließend, die „Grenzen des Feldes liegen schlicht dort, wo die Feldeffekte aufhören“ (Bourdieu 1996: 131), aber die „Frage nach den Grenzen des Feldes wird immer im Feld selber gestellt“ (a.a.O.: 130, Herv. im Orig.).64 Gleichzeitig finden aber auch innerhalb der Felder Kämpfe um Positionen und Strategien statt, jedes Feld bildet seine eigene Zensur gegenüber seinen Mitgliedern aus. Strategisches Vorgehen der Handelnden spielt eine entscheidende Rolle bei den Kämpfen sowohl innerhalb der Felder als auch zwischen ihnen. Zentraler Gegenstand der Kämpfe sind Macht und Prestige, die Position der Akteure im Feld richtet sich nach ihren Kapitalressourcen, Kapitalien funktionieren immer nur in Verbindung mit einem Feld. Felder bilden Netze objektiver Relationen der Akteure und Akteurinnen zwischen (hierarchischen) Positionen im Feld des Möglichen. Die Mitglieder eines Feldes sind also keineswegs homogen, sie folgen jedoch bis zu einem gewissen Grad der Übereinstimmung homologen Strukturen und teilen die Illusio, den Glauben an die gültigen Regeln des Feldes. Bourdieu spricht hier auch von einem „Konsens“ (1992c: 58) bezüglich der Spielregeln. In der Beschreibung der Varianz der Feldangehörigen liegt die zentrale Fragestellung einer Feldanalyse. Akteure und Strukturen eines Feldes bieten hier eng aufeinander bezogene Indizien. Die Anerkennung einer Person und ihrer inhaltlichen Leistung hängen unmittelbar miteinander zusammen.

64 In einigen Fällen werden die Abgrenzungen der Felder nach ‘außen’ rechtlich oder institutionalisiert erstellt (z. B. Zugangssperre durch den numerus clausus, Zugang oder Verlassenmüssen einer Schulform nach Notendurchschnitt etc.). Meist funktionieren die Aufteilungen des sozialen Raumes jedoch über interaktive Aushandlungen.

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Über die Teilnahme am Feld – Bourdieu verwendet hierfür auch die Metapher des Spiels – erkennen die Akteurinnen und Akteure das Feld an und lassen sich auf die in ihm geltenden Regeln und Kriterien ein. Die Illusio als praktischer Glaube an das Feld bzw. das Spiel stellt die Voraussetzung für die Teilnahme dar und konstruiert zugleich ihren Rahmen. Eine weitere Bedingung ist das Interesse der Feldangehörigen an den jeweiligen Spezifika des Feldes, es gibt entsprechend keine interessenlose gesellschaftliche Praxis. Die Spielregeln einzelner Felder greifen erst über die Inkorporierung des Habitus, indem sie performativ wirksam werden, mimetische Prozesse sind demnach bei der Entwicklung von Konditionen eines jeweiligen Feldes und für die Praxis der Feldteilnahme entscheidend. Felder bilden also abgegrenzte Bereiche des sozialen Raums und zeichnen sich durch spezifische Strukturen aus. Geschlecht, verstanden als Dimension des Sozialen, welche sich nicht aus der sozialen Ordnung herausdenken lässt (d. h. es gibt weder geschlechtsfreie Kontexte noch Geschlecht als isoliert zu betrachtende Dimension), wirkt je nach der spezifischen Logik der Felder. Engler stellt hierzu allerdings fest, dass Bourdieu „Frauen ganz allgemein außerhalb der sozialen Spiele in Feldern, in denen es um Macht und Einfluss geht“, situiere (Engler 2003: 243). So gehe er von einer Geschlechtsdifferenzierung in der Sozialisation aus, welche „Männer dazu bestimmt, die Machtspiele zu lieben, und die Frauen dazu, die Männer, die sie spielen, zu lieben“ (Bourdieu 1997a: 201). Es gelte entsprechend, Bourdieus Konzepte als offene Konzepte zu verstehen, welche „in Auseinandersetzung mit der Konstruktion des Gegenstandes zuzuschneiden und weiter zu entwickeln“ seien (Engler 2003: 243). Im Kontext der Frage nach den gendering-Prozessen der schulischen Fachkulturen geht es also darum, die Praktiken zu analysieren, welche Geschlechtereffekte hervorbringen bzw. wirksam machen – bzw. auch die, die Geschlecht als Ressource ruhen lassen (vgl. Budde 2005). Im empirischen Teil dieser Studie werden diese Mechanismen, über welche die Felder sich konstituieren, auf zwei Ebenen beschrieben: zunächst auf einer stärker strukturellen Ebene anhand der materiell-architektonischen Nutzung fachkultureller Orte. Darüber hinaus werden fachkulturelle genderingProzesse auf einer Ebene analysiert, welche den klassischen Raumbegriff erweitert auf die Herstellung interaktiver Räume. Denn ebenso wie sich die Materialität des Raumes nur in Relation zu ihrem sozialen Kontext erklären lässt, gilt auch, dass sich soziale Kontexte immer auch auf ihre materiell räumlichen Bedingungen beziehen und daher „beide Seiten einer Medaille“ berücksichtigt werden müssen. Orte und Räume bilden entsprechend einen entscheidenden Rahmen, der das soziale Miteinander von Personen und Gruppen organisiert, welche wiederum selbst die Orte und Räume hervorbringen. Als Ausdruck 105

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fachkultureller Kulturen spiegelt die Analyse von Räumen und Orten den Einsatz von Ressourcen und symbolischem Kapital aus Bereichen, welche doxischen Ordnungen unterliegen und welche auf Grund ihrer vermeintlichen Selbstverständlichkeit als Ausdruck eines sozialen Feldes selten reflektiert werden. Um die beiden Darstellungen einordnen zu können, ist es zentral, knappe Einblicke in die jüngere sozialwissenschaftliche Forschungsrichtung der Raumforschung zu erhalten. Dies soll im Folgenden geschehen. Zunächst werden Bourdieus Begrifflichkeiten des sozialen und angeeigneten physischen Raums vorgestellt. Daran anschließend werden deren Verwandtschaften mit absolutistischen und relationalen Raumkonzepten nachgezeichnet. Schließlich wird aufgezeigt, inwiefern sich Konzepte von Orten und Räumen für die Frage nach der Wirksamkeit räumlicher (gendering-)Prozesse in den schulischen Fachkulturen als fruchtbar erweisen könnten. Die Kategorie Raum65 spielt nach wie vor in sozial- und erziehungswissenschaftlichen Kontexten eine randständige Rolle. Die Dimension des Raumes zählt zwar – wie die Dimension der Zeit und die der Leiblichkeit – ganz selbstverständlich als Grundlage des sozialen Handelns. Während jedoch die Zeit seit längerem selbstverständlich als soziale Konstruktion betrachtet wird, welche wir immer wieder unterschiedlich konstituieren und in welcher wir uns kontextabhängig positionieren, wird die Dimension des Raumes vergleichsweise starr gedacht: Raum wird verstanden als materielle Umweltbedingung, die als gegeben vorausgesetzt werden kann und wenig beeinflussbar ist.66 Dahinter steht die Annahme von Raum als ‚geographischem’ Gegenstand. Raum und Handeln werden so als zwei nebeneinanderstehende Welten konzipiert. Demzufolge findet die Kategorie Raum etwa als sozialisatorischer Faktor oder als (an-)ordnendes Prinzip bislang wenig Aufmerksamkeit. Wenn überhaupt, dann werden die Ergebnisse von Raumkonstitution in Form von konkreten Orten, zugewiesenen Territorien etc. betrachtet, nicht aber die Konstitutions- und Aushandlungsprozesse von Räumen. Auch wenn vor allem im letzten Jahrzehnt in den sozialwissenschaftlichen Disziplinen das Thema Raum seine Abseitsposition bereits etwas verlassen konnte, indem vermehrt neuere Raumtheorien aufgegriffen und weiterentwickelt wurden (vgl. z. B. Nissen 1998, Sturm 2000, Löw 2001, Ruhne 2003), so steht eine in diesen 65 Martina Löw differenziert zur Verwendung des Raumbegriffs: „Raum existiert nur als wissenschaftliche Abstraktion, in der Wechselwirkung zwischen Struktur und Handeln konstituieren sich Räume immer im Plural.“ (2001: 271). 66 Doreen Massey äußert zum Vergleich von Zeit und Raum, es entstehe der Eindruck: „die Zeit schreite fort, während der Raum nur so herumlungert“ (Massey 1993: 118). (Zur Verwobenheit von Zeit und Raum ausführlich vgl. auch Massey 1999).

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Raumtheorien geforderte perspektivische Wende zu einem erweiterten Raumverständnis bzw. die Klärung eines Zusammenspiels zwischen Orten und Räumen noch aus. Nach dieser müsste nicht nur die Kategorie Raum als zentrale Kategorie in Gesellschaftsanalysen überhaupt bearbeitet und berücksichtigt werden, sondern v. a. das dahinterstehende Raumkonzept müsste überdacht und möglichst überwunden werden. Dieter Läpple etwa fordert, den „gesellschaftliche[n] Funktions- und Entwicklungszusammenhang“ (1991:42) mitzudenken. In die Schul- und Bildungsforschung hat die Kategorie Raum bislang wenig Eingang gefunden; wenn doch, dann beziehen sich die Arbeiten mehrheitlich auf den Grundschulbereich und beschreiben dort Aspekte wie Raumatmosphäre, Schulhofgestaltung oder Sitzordnungen (vgl. z. B. Owu 1992 und Dreier u. a. 1999). Für den Sekundarschulbereich hat Christian Rittelmeyer verschiedene Studien vorgelegt, welche sich jedoch ebenfalls vor allem den architektonischen Gegebenheiten wie Farben, Lichtquellen etc. zuwenden (vgl. 1987, 1990 und 1997). Auch in tagtäglichen schulischen Abläufen wird das Thema Raum bisher meist nur marginal berührt, wenn doch einmal, dann stehen fast ausschließlich pragmatische Fragestellungen wie die von Belegungen, Klassenraumzuweisungen und dem Umgang mit Platzproblemen im Vordergrund. Wenngleich damit zentrale Bereiche für die Konstitution und Aufrechterhaltung des schulischen Betriebs berührt werden, so spiegelt diese Form der Thematisierung eine deutliche Ausrichtung allein auf materielle Aspekte wider. Zugleich wird Raum in den meisten Fällen zugleich als absolut konzeptionalisiert: Räume sind eben groß, klein, diesen oder jenen Fächern zugeschrieben, von Lehrkräften und/ oder Lernenden nutzbar etc. Erste Ansätze, die erweiterte Raumkonzepte auch für die Schulforschung zu Grunde legen und von einer gleichzeitigen Existenz mehrerer Räume ausgehen, finden sich etwa bei Georg Breidenstein (2004), welcher visuelle, haptische und akustische Räume innerhalb des Geschehens im Klassenzimmer identifiziert und die spezifische Strukturiertheit der jeweiligen (parallelen) Räume herausstellt. Ein Raumbegriff, der die Frage nach dem ‚Wie’ der Entstehung von Räumen implizieren würde, ist jedoch im Bereich Schule noch nicht systematisch implementiert. Auch im Bereich der Genderforschung hat Raum sich als Kategorie bisher nicht etabliert, wenngleich insbesondere auch von feministisch orientierten Raumtheoretikerinnen (vgl. z. B. Geiger 1986, Rodenstein 1994, Breckner/ Sturm 1998, Dörhöfer/ Terlinden 1998, Sturm 2000) die Notwendigkeit des Einbeziehens gesellschaftlicher Raum-Dimensionen seit einiger Zeit angemahnt wird, um soziale Prozesse auch unter Gender-Perspektiven in den Blick bekommen zu können. Eine Ausnahme bildet hier der noch jüngere 107

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Bereich, der Fragestellungen nach dem Zusammenwirken von Gender und öffentlichen Räumen betrachtet. Hierzu liegen inzwischen zahlreiche Studien vor (vgl. z. B. Thabe 2001, Becker 2001, Ruhne 2003). Renate Ruhne fragt nach dem Wirkungsgefüge von Raum und Geschlecht anhand von (Un-) Sicherheiten im öffentlichen Raum. Ihrem Verständnis zufolge stellen Raum wie auch Geschlecht „offene, dynamische und das heißt wandlungsfähige Kategorien“ dar (2003: 188), welche sich auf spezifische Weise immer wieder neu konstruieren und rekonstruieren. Für das Wirkungsgefüge von beiden Kategorien in öffentlichen Räumen arbeitet Ruhne heraus, dass sich v. a. auch in einer historischen Betrachtung sowohl Wandlungsprozesse abzeichnen als auch Beharrungstendenzen erkennbar sind. Für die Stabilität der zugeschriebenen Nutzung und Herstellung öffentlicher Räume ist laut Ruhne v. a. ein Rekurrieren auf die Dichotomie männlich–weiblich verantwortlich zu machen. Doing gender und doing space greifen also in ihren dichotomen Konstruktionsmechanismen ineinander. Damit zeichnet sie anschaulich nach, wie deutlich „Geschlechterverhältnisse als gleichzeitig räumliche Verhältnisse und Raumverhältnisse als gleichzeitig geschlechtliche Verhältnisse“ (Ruhne a.a.O.: 147, Herv. im Orig.) gelesen werden können – und sollten. Dennoch ist die empirische Forschungslage hierzu derzeit noch ausgesprochen dünn. Welcher Stand lässt sich also bislang für die Raumforschung festhalten? Anknüpfend an das oben ausgeführte und an Bourdieu angelehnte Verständnis von Feld stellt sich die Frage, inwieweit Bourdieu selber theoretische Differenzierungen vorgeschlagen hat, mit denen sich Felder unter räumlichen Aspekten genauer analysieren ließen. Bourdieu setzt sich zentral in dem Text „Physischer, sozialer und angeeigneter physischer Raum“ (1991) damit auseinander, wie das Verhältnis handelnder Akteure und ihrer Positionierung im sozialen Raum untersucht werden könnte. Hierfür setzt er dem Konzept des sozialen Raums den physischen Raum entgegen (vgl. Bourdieu 1991 und 1997d).67 Vom physischen Raum spricht Bourdieu auch als der „physischen 67 Bourdieu konzipiert neben dem sozialen und dem physischen Raum auch noch den angeeigneten physischen Raum (vgl. Bourdieu 1991). Hierbei ist bereits der Aspekt berücksichtigt, dass sowohl der physische Raum als starr-materialistische Konstruktion als auch der soziale Raum sich nur als künstliche Abstraktionen fassen lassen. Ein relationales Denken beider Abstrahierungen zueinander wird über das Konzept des angeeigneten physischen Raumes leichter, da hierbei die Aneignungs- oder Verteilungsprozesse von Raum stärker berücksichtigt werden, die „Korrespondenz zwischen einer bestimmten Ordnung der Koexistenz von Akteuren und einer bestimmten Ordnung der Koexistenz von Eigenschaften“ (ebd.: 26) ins Blickfeld rückt. Bourdieu spricht hier auch von Kämpfen um die Aneignung des Raumes (vgl. Bourdieu 1997d: 165). Der Aneignungsprozess von Raum ist abhängig von dem Kapitalumfang der handelnden Personen. Die in dieser Arbeit vorgenommene Betrachtung des physischen Raumes beider Fachkulturen anhand der Unterrichtsorte vernachlässigt zunächst den Aspekt der Aneignung, da ich Aneignung nicht als (abgeschlossenen) räum-

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Geographie“ (1991: 28), er versteht darunter „eine soziale Struktur in objektiviertem Zustand [...], die Objektivierung und Naturalisierung gegenwärtiger wie vergangener Verhältnisse“ (ebd.). Sozialer Raum und physischer Raum stehen in unmittelbarer Wechselbeziehung zueinander, so bringt sich „die Struktur des Sozialraums in den verschiedensten Kontexten in Gestalt räumlicher Oppositionen zum Ausdruck, wobei der bewohnte (bzw. angeeignete) [physische] Raum wie eine Art spontane Symbolisierung des Sozialraums funktioniert“ (1997d: 160). Dabei betont Bourdieu, dass es sich bei dieser Aufteilung um ein rein analytisches Vorgehen handle, da Raum sich nicht „entnaturalisieren“ lasse (Bourdieu 1991: 28). Die analytische Unterteilung der Räume ist entsprechend nur möglich aufgrund eines abstrakten Denkmodells: Der physische Raum lässt sich nur denken unter willentlicher Absehung von allem, was darauf zurückzuführen ist, dass er ein bewohnter und angeeigneter Raum ist, das heißt eine soziale Konstruktion und eine Projektion des sozialen Raumes (ebd.).

Auch der soziale Raum ist für Bourdieu ein „abstrakter Raum“ (ebd.), welcher die „soziale Welt in Form eines – mehrdimensionalen – Raums“ (a.a.O.: 9) abbildet. Der soziale Raum „realisiert sich [...] tendenziell auf mehr oder minder exakte oder vollständige Weise innnerhalb“ des physischen Raums, wenngleich er diesem nicht entspricht (a.a.O.: 28). Bourdieus besonderes Augenmerk galt gesellschaftlich-räumlichen Analysen, also dem sozialen Raum, wenngleich er in seinen Arbeiten immer wieder auch von einer engen Verzahnung von sozialem und physischem Raum ausgeht. Dies wird deutlich, wenn er konstatiert, dass der soziale Raum, den er auch als objektivierten Raum bezeichnet (vgl. a.a.O.: 29), sich „in die Objektivität der räumlichen Strukturen“ (a.a.O.: 28) einschreibt. Damit entwirft er den physischen Raum als starr und statisch, als passiv. Es lässt sich also festhalten, dass Bourdieu mit zwei verschiedenen Entwürfen von Raum arbeitet: dem sozialen Raum als abstrakter Verdeutlichung sozialer lichen Prozess betrachte, sondern Räume und Orte in der hier dargestellten Form immer auch als bereits angeeignet fasse. Es existiert also – auch in der hier vorgenommenen Beschreibung der fachlichen Orte als physische Räume – kein beschreibbarer Raum, der nicht bereits Aneignungsprozesse beinhaltet. An späterer Stelle richte ich den Blick auf das Wechselspiel der Orte (als physischer Raum) und Räume (als soziale Räume); erst dann werden Aneignungsprozesse – genereller gesprochen verstanden als Prozesse des Umgangs mit Raum und der Raumnutzung – thematisiert. Bourdieus Bezeichnung des physischen Raumes scheint mir daher zunächst deutlicher zu machen, was ich unter Orten verstehe und beschreibe.

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Prozesse und Strukturen, und dem physischen Raum als starrer Folie, auf der sich die relationalen (An-)Ordnungen abbilden. Bourdieu geht damit von zwei Raumkonzepten aus, welche sich an die zwei bekanntesten Grundkonzepte anlehnen. Alle bisher entwickelten Modelle stützen sich auf philosophische bzw. physikalische Raum- und Weltbilder. Im Wesentlichen sind dabei in den unterschiedlichsten Disziplinen seit langer Zeit immer wieder übereinstimmend zwei raumtheoretische Grundpositionen erkennbar, Carl Friedrich von Weizsäcker benennt diese beiden Standpunkte als „absolutistische“ bzw. „relativistische“ [bzw. in der Weiterentwicklung als relationale] Positionen (Weizsäcker 1986: 256ff.). Beide Konzepte folgen unterschiedlichen Vorstellungen des Verhältnisses von Materie und Raum. Martina Löw fasst beide Positionen folgendermaßen sehr knapp zusammen: „Während Absolutisten einen Dualismus annehmen, d. h. es existieren ihnen zufolge Raum und Körper, sind relativistische Traditionen der Auffassung, dass Raum sich aus der Struktur der relativen Lagen der Körper ergibt.“ (Löw 2001: 17, Herv. im Orig.). Etwas ausführlicher lassen sich beide Positionen folgendermaßen beschreiben: Der bis heute – zumindest in unserem Kulturkreis – vorherrschende Raumdiskurs folgt einer absolutistischen Raumvorstellung.68 Nach diesem dualistischen Konzept existieren Raum und Körper bzw. Handeln als zwei voneinander getrennte Wirklichkeiten, Raum wird also eine kontinuierliche Existenz auch ohne Handeln, Kö rper, Menschen zugeschrieben.Zugleich werden Räume in dieser Konzeptualisierung als statische ‚Behälter’ gedacht, die nach Belieben gefüllt oder auch leer gelassen werden können, indem Menschen sich anordnen und Dinge angeordnet werden.69 Raum erscheint hiernach starr und aus jeglichem Handlungskontext herausgelöst, quasi als neutrale Hintergrundfolie, auf der das soziale Geschehen stattfindet bzw. – als ‚Behälterraum’ gesprochen – wo „Raum wie ein Behälter das soziale Geschehen zu umschließen scheint“ (Löw 2001: 63). Bei Bourdieu wäre dies der physische Raum. Dieser Wahrnehmung liegt das Konzept eines euklidischen und darum dreidimensionalen Raums zu Grunde (hierzu näher vgl. Weizsäcker 1986, Hawking 1988, Läpple 1991, Sturm 2000). Die absolutistischen Raumkonzeptionen haben sich bis heute als dominante Raumbilder gehalten, wenngleich Martina Löw darauf verweist, dass es sich dabei „keineswegs um 68 Zu den Vertretern der absolutistischen Raumvorstellung zählt Carl Friedrich von Weizsäcker Nikolaus Kopernikus, Johannes Kepler, Galileo Galilei, Isaac Newton (vgl. Weizsäcker 1986: 256ff.). Löw zeigt auf, dass sich diese Denktradition bis heute in verschiedenen Varianten in den Konzeptualisierungen etwa bei Anthony Giddens (1988), Georg Simmel (1992 [orig. 1903] und 1995 [orig. 1908]) und Niklas Luhmann (1997) findet (vgl. Löw 2001: 36ff.). 69 Einstein hat die Bezeichnung „container“ für diese Raumvorstellung geprägt (Einstein 1960: XIII), im deutschsprachigen Raum wird in Anlehnung daran meist von „Behälterraum“ gesprochen.

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homogene[n] Positionen handelt“ (Löw 2001: 35), da sie sich in ihrem Verständnis von Raum und Handeln/ Körper als zwei unabhängige Koexistenzen, oder aber von Raum als Resultat der Lageanordnung von Körpern unterscheiden. Löw selber benennt die Grenzen eines absolutistischen Raumverständnisses wie folgt: Die Mehrdimensionalität, die laut Löw bei der Konstitution von Räumen berücksichtigt werden muss, werde nach diesem Denkmodell in keiner Weise entwickelt. Ein absolutistisches Raumverständnis konzipiere Raum immer schon als konkreten Ort, raumproduzierende Prozesse wie auch räumliche Strukturen könnten damit jedoch nicht erfasst werden. Es werde ein Raum unterstellt, der „das Handeln aller gleichermaßen vorstrukturiert“ (Löw 2001: 64). Die Konstitution mehrerer Räume an einem Ort, die durch unterschiedliche Teilgruppen hervorgebracht werden, sei so ausgeschlossen. Löw äußert zudem die Befürchtung, dass aus einem absolutistischem Raumverständnis heraus Räume nicht weiter in den Blick sozialwissenschaftlicher Forschung genommen würden, sondern „Gesellschaft nur aus sozialen Prozessen heraus erklärt werden“ solle (a.a.O.: 130). Räumliche Entwicklungen wie Verinselungen der Lebenswelten, Globalisierungsprozesse und die Folge neuer Technologien, wie z. B. die Verknüpfung virtueller und realer Welten, aber auch Entwürfe gesellschaftlich gegenkultureller oder institutionalisierter Räume, würden durch die Vorstellung von räumlichen „Einheitlichkeitskonstruktionen“ (a.a.O.: 131) begrifflich nicht fassbar werden. Es gebe zwar „Bewegungen im Raum, jedoch keine bewegten Räume“ (a.a.O.: 65, Herv. im Orig.). Durch die klare Abgrenzung von Räumlichem und Sozialem werde Raum letztlich entpolitisiert (vgl. a.a.O.: 65). In den Varianten des absolutistischen Raumdenkens werden Konstitutionsprozesse von Raum als Dualismus zwischen Handlung und Raum gefasst. Über das Bewusstmachen dieser Ansätze werden zugleich auch die Grenzen absolutistischer Raumkonzepte deutlich. Um dieses Modell dynamischer zu denken – und so erst Raum als Kategorie handlungstheoretisch analysierbar zu machen – muss Handeln selbst als raumbildender Prozess verstanden werden. Räumliche Strukturen sind somit zugleich als gesellschaftliche Strukturen zu denken und zwischen beiden besteht ein Wechselverhältnis. Diesen Ansatz berücksichtigt das relativistische Raumkonzept bereits stärker. Dem zufolge werden Raum und Handeln nicht mehr als zwei verschiedene Realitäten gefasst, dadurch ergibt sich eine veränderte Perspektive auf Raumkonstitution, da Handeln auch als raumbildend verstanden werden kann und sich nicht nur vor dem starren Hintergrund in Räumen abspielt. Handeln strukturiert und bildet Strukturen ab, das gilt natürlich ebenso für die Konstitution von Räumen. Mit diesem Verständnis geht gleichzeitig auch die 111

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Auffassung einer historischen Bedingtheit und der möglichen Veränderbarkeit von Räumen einher. Diese Denkart von Räumen entstand zu Beginn des 20. Jahrhunderts, v. a. beeinflusst durch die von Einstein entwickelte Relativitätstheorie. Die konzeptionelle Auflösung des absoluten und unabhängig existierenden Raumes wird in den relativistischen Raumkonzepten von der Auffassung abgelöst, dass Raum sich aus der Struktur der relativen Lagen der Körper ergebe.70 Die soziale Dimension der Lageverhältnisse der Körper bleibt bei den Betrachtungen bisher außen vor, entsprechend dienen relativistische Raumkonzepte vor allem als Ausgangspunkt, von dem aus relationale Konzepte entwickelt werden können. Um auch soziale Prozesse fassen zu können, ist der von Löw geprägte relationale Raumbegriff hilfreich, in welchem sie Raum keine eigene Realität mehr unterstellt, sondern den sie begreift als „relationale (An-)Ordnung71 von Lebewesen und sozialen Gütern an Orten“ (Löw 2001: 271). Dies beinhaltet zum einen, dass sowohl Menschen als auch Dinge angeordnet werden, vor allem steht aber der Anordnungsprozess als Bewegung bzw. auch als gesellschaftlicher Prozess im Zentrum der Überlegungen. Raum ist also zum einen prozessual gedacht, zum anderen zeigt sich hierin eine „Bedeutungsverschiebung zwischen „Materialität“ und „Sozialität“ des Raumes (Ruhne 2003: 72). Räumliche Strukturen sind nach Löw immer auch als „Formen gesellschaftlicher Strukturen“ zu begreifen (Löw 2001: 167, Herv. im Orig.). Räume lösen sich diesem Verständnis entsprechend nicht auf, sondern verändern ihre Konstitution (vgl. a.a.O.: 131). Die Frage nach der Mehrdimensionalität von Raumkonstitutionen wird in den relationalen Modellen insofern aufgegriffen, als dass in den Blick genommen wird, was angeordnet wird (Menschen oder Dinge oder Ereignisse etc.), wer anordnet (welche Rechte und Machtverhältnisse spielen eine Rolle) und wie dabei gesellschaftliche Räume hergestellt 70 Unterschiedliche VertreterInnen verfolgen dabei Konzepte, nach denen Raum aus den Relationen der Körper abgeleitet werden kann (vgl. z. B. Werlen 1987, Zeiher/ Zeiher 1994, Scheller 1997 u. a.). Bei diesen Darstellungen handelt es sich jedoch nicht um systematische Theoriedarstellungen, eine Konkretisierung dessen, was als relativistisch gefasst werden kann und soll, bleibt zunächst aus. In verschiedenen philosophischen Ansätzen, etwa von Hannah Arendt (z. B. 1960), Norbert Elias (vgl. 1994) oder Niklas Luhmann (vgl. 1998) findet die Kategorie Raum bereits Eingang (vgl. ausführlich dazu List 1993). Diese unterschiedlichen Konzeptionen von Raum wurden bei der Entwicklung neuerer raumtheoretischer Konzeptionen jedoch nur begrenzt aufgegriffen – zum Teil entwickeln die AutorInnen bereits in den Ausführungen selbst Vorbehalte gegen die Verwendbarkeit von derartigen Raumkonzepten, oder aber ihnen wird nachträglich diese Verwendbarkeit für die Analyse der Verknüpfung von Handeln und Raum abgesprochen. 71 Durch die Begrifflichkeit und die Schreibweise der (An-)Ordnung soll deutlich gemacht werden, dass Raumkonstitution sowohl ein Produkt als auch ein produzierendes Element von Strukturen ist (vgl. dazu Löw 2001: 177).

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3. SYMBOLISCHE REPRODUKTION VON FACHKULTUREN: HABITUS, FELD, ILLUSIO

werden, sich überlappen und ablösen (vgl. a.a.O.: 151). Raum ist demnach immer kontextuell zu betrachten. Diese These vertritt auch Doreen Massey, die folgende drei Punkte für die Konzeptualisierung von Raum für bedeutsam hält: (i) space is a product of interrelations. It is constituted through interactions, from the immensity of the global to the intimately tiny. […] (ii) space is the sphere of the possibility of the existence of multiplicity […]. Without space no multiplicity, without multiplicity no space. If space is indeed the product of interrelations, then it must be predicted upon the existence of plurality. Multiplicity and space are coconstitutive. (iii) Finally, and precisely because space is the product of relation-between, relations which are necessarily embedded material practices which have to be carried out, it is always in a process of becoming; it is always being made. It is never finished, never closed. (Massey 1999: 28, Herv. im Orig.)

Eine der Dimensionen, die Konstituierungsprozesse von Raum noch einmal vor einer anderen Folie sichtbar macht, ist der Einbezug der Kategorie Macht72: Raumordnungen sind zugleich immer auch als Machtordnungen bzw. machtvolle Anordnungen zu sehen, da die Konstitution von Räumen immer Aushandlungsprozesse voraussetzt und diesen Prozessen Machtaushandlungen immanent sind. Insofern gibt es keine machtfreien Räume. Gerade bei Raumanalysen im schulisch-institutionellen Kontext wird sehr schnell deutlich, wie sehr Raumaushandlungen und Machtaushandlungen miteinander verwoben sind. So notwendig das reflexive Einbeziehen der Kategorie Macht in die Analyse gesellschaftlicher Räume auch ist, so schwierig gestaltet sich dieser Schritt als bewusster Schritt bei der alltäglichen Konstitution von Räumen und Raumordnungen, da damit gleichsam ein Hinterfragen gefestigter gesellschaftlicher Strukturen einhergeht.73 72 In verschiedenen Ansätzen relationaler Raumtheorien werden Analysedimensionen unterschiedlicher Komplexität vorgestellt. Den differenziertesten Ansatz repräsentiert das „dynamische Analyse Modell für Raum“, welches Gabriele Sturm entwickelt (2000: 199) und Renate Ruhne um die Kategorie Geschlecht ergänzt hat (vgl. 2003: 161ff.). Für den Kontext dieser Arbeit, welche sich ja nicht ausschließlich mit der Analyse von Raumgegebenheiten beschäftigt, scheinen diese Modelle in ihrem Detailreichtum zu komplex. In beiden spielt jedoch auch die Kategorie Macht als durchgängiges Moment eine zentrale Rolle, dieses Element löse ich aus dem Kontext des restlichen Modells, um es zu berücksichtigen. 73 Deutlicher als andere Raumtheoretikerinnen und –theoretiker hat sich Michel Foucault dem Aspekt der Macht in und durch Raumanordnungen gewidmet. Raum konstituiert sich seiner Ansicht nach als „Ensemble von Relationen“ (Foucault 1991: 66), welche über ihre Platzierungen und Lagerungen eine spezifische Ordnung zum Ausdruck bringen. Dabei geht er von einem relationalen Raumbegriff aus. Sein Fokus liegt darauf, dass jede Form von Raumkonstitution

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SCHULISCHE FACHKULTUREN UND GESCHLECHT

Meines Erachtens bieten aktuelle raumtheoretische Konzeptionen gute Ansätze, um die Komplexität sozialer Felder, wie z. B. die schulischer Fachkulturen, sehr viel deutlicher zu erfassen. Nicht nur geraten so parallele Räume und Prozesse in den Blick, zugleich können sich überlappende Vorgänge und Bühnen mit ihren jeweils spezifischen Interessen und Strategien systematischer erfasst und analysiert werden. Im empirischen Teil wird dies anhand der parallelen und zugleich jeweils in sich geschlossenen Raumkonstruktionen der schulischen Akteure deutlich. Räume verstanden als herstellbar und veränderbar verändern auch den Blick auf Werte und Logiken, welche hinter den raumbildenden Strategien stehen, dies kann die jeweilige fachkulturelle Konstruktion, ein Professionalitätsverständnis der Lehrenden, die Geschlechterzuschreibungen der Akteurinnen und Akteure im Feld etc. sein. Die doxa des Feldes lässt sich m. E. über die Berücksichtigung von Räumen z. T. auflösen bzw. erfassen. Der Prämisse ethnografischer Feldforschung, eine möglichst dichte Beschreibung der Felder zu ermöglichen, wird hier klar entsprochen. Dennoch gilt es auch, die Ebene der materiellen Abbildungen schulischer Felder mit einzubeziehen. Für eine Erforschung der schulischen fachkulturellen Felder greift meines Erachtens eine rein relationale Betrachtung von Räumen ebenso zu kurz wie eine rein absolutistische. Stattdessen schlage ich folgende reflexive Verkopplung von sozialen und materiell-physischen Analysen vor: Um die Beschreibung der Fachkulturen auch empirisch darstellbar und lesbar zu machen, arbeite ich in dieser Arbeit mit der empirischen Darstellung von schulischen Orten und Räumen.74 Diese begriffliche Differenzierung lehnt sich zwar an die bourdieuschen Begrifflichkeiten des physischen und sozialen Raums an. Räume werden hier jedoch nicht als sozialer Raum gefasst, sondern als Herstellung von symbolischen und machtvollen Bereichen innerhalb der Felder der Fachkulturen, welche innerhalb der physischen Räume stattfinden. Erst durch diese Verkopplung gelingt es, soziale Prozesse auf der einen Seite beschreiben zu können, auf der anderen Seite aber auch die Ebene zu berücksichtigen, in die sich soziale Prozesse einschreiben – die ein Durchsetzungsmechanismus von Macht ist (vgl. z. B. 1980: 69). Foucaults Ansatz ist jedoch nicht, einen theoretischen Raumbegriff zu entwickeln, sondern räumliche Situationen zu diagnostizieren. Aktuelle Auseinandersetzungen zu Raum und Macht finden sich insbesondere in dem Sammelband von Rudolf Maresch und Niels Werber „Raum – Wissen – Macht“ (2002). 74 Bourdieu selbst greift zu einem späterem Zeitpunkt verstärkt auf die Begrifflichkeiten Ort und Raum zurück (vgl. 1997d). Er versteht Ort dabei als geografische Position, als „Punkt im physischen Raum [...], an dem sich ein Akteur oder ein Ding platziert findet, stattfindet, sich wiederfindet“, und welcher fassbar wird über „die Ausbreitung, die Oberfläche und das Volumen“ (Bourdieu 1997d: 160). Raum bleibt bei ihm jedoch ausschließlich der Sozialraum im weiteren Sinne.

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3. SYMBOLISCHE REPRODUKTION VON FACHKULTUREN: HABITUS, FELD, ILLUSIO

materiell-physische Ebene des starren Raums bzw. der Orte. Und nur dadurch wird es möglich, die „konstituierenden Komponenten von Raum zu differenzieren und in ihrer Wirkung aufeinander zu analysieren“ (Sturm 1999: 29). Ein solcher kombinierter Ansatz geht in seinem Ertrag über beide isolierten Einzelansätze hinaus. Meines Erachtens liegen die Vorteile in einer verknüpften Betrachtung von Orten (welche zunächst in ihrer materiellen Existenz beschrieben werden) auf der einen Seite und Räumen auf der anderen Seite darin, dass sich so der Blick auf die Prozesse öffnen kann, nach welchen beide Ressourcen etwa einer Fachkultur sich wechselseitig bedingen und in ihren Konstrukten stützen. Entscheidend scheint mir allerdings, auch die Beschreibung der Orte auf der Raumebene zu lesen, d. h. in den Interpretationen der Darstellungen den Blick weg vom ‚Behälterraumblick‚ zu erweitern. Der Ort spricht ebenso seine eigene Sprache wie die Räume auch, und zwischen beiden bestehen deutliche Bezüge. In Kapitel 7 dieser Arbeit findet sich eine Darstellung dieser Orte als abstrahierte ‚Draufsicht’. Erst durch die Darstellung von Räumen gelingt jedoch auch die Erfassung der Sozialität gegenderter Fachkulturen. Entsprechend werden weiterhin Räume unterschiedlicher Reichweite dargestellt (vgl. Kapitel 8 dieser Arbeit). Bei dieser Vorgehensweise handelt es sich selbstverständlich um ein künstliches Auseinandernehmen, welches erst möglich wird, indem einem relationalen Denken zufolge eine Parallelität von mehreren Räumen im gleichen Feld angenommen wird. Denn in der empirischen Erhebung und Auswertung kann es immer nur um einzelne Räume gehen, niemals um den Raum an sich.

3.4. Die Illusio als Macht der Gewohnheit Zwischen den beiden theoretischen Komponenten Habitus und Feld lässt sich eine Art Komplizenschaft konstatieren. Der Habitus ist gekennzeichnet durch eine Pluralität, welche sich auf die Differenzierung gesellschaftlicher Felder stützt, Bourdieu spricht hier auch von Lebensstilen (vgl. z. B. 1987b). Innerhalb einzelner Felder bildet sich so ein System dauerhafter Dispositionen, welche zugleich als strukturierende und strukturierte Strukturen wirken (vgl. Bourdieu 1976a: 164). Diese bilden ein Erzeugungs- und Strukturierungsprinzip von Praxisformen und Repräsentationen, die objektiv „geregelt“ und „regelmäßig“ sein können, ohne im geringsten das Resultat einer gehorsamen Erfüllung von Regeln zu sein; die objektiv ihrem Zweck angepasst sein können, ohne das bewusste Anvisieren der Ziele und Zwecke und die

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SCHULISCHE FACHKULTUREN UND GESCHLECHT

explizite Beherrschung der zu ihrem Erreichen notwendigen Operationen vorauszusetzen, und die [...] kollektiv abgestimmt sein können, ohne das Werk der planenden Tätigkeit eines „Dirigenten“ zu sein (ebd.).

Was steht also hinter der unbewussten habituellen Übereinstimmung der Akteurinnen und Akteure eines bestimmten Feldes? Worauf stützt sich ein Habitus? Jedes Feld fordert von den Akteurinnen und Akteuren bestimmte Handlungen, indem es spezifische Ziele voraussetzt. Die Handelnden verfolgen also im Feld bestimmte Interessen, um diese Ziele zu erreichen. Diese Interessen werden auch deshalb so feldspezifisch übereinstimmend verfolgt, weil jedem Feld eine spezifische Illusio zu Grunde liegt. Bourdieu bezeichnet dies als – und er greift an dieser Stelle erneut auf die Metapher des Spiels zurück – den „Sinn für das Spiel“ (1987a: 122, vgl. auch 1999: 360ff.). Für eine Teilnahme am „Spiel“ wird eine gewisse Spielerfahrung der Akteurinnen und Akteure eines Feldes ebenso vorausgesetzt wie deren Identifikation mit dem „Spiel“ selbst. Mit anderen Worten: Die Illusio eines jeweiligen Feldes wird gleichzeitig vorausgesetzt und produziert. Wenngleich die Akteure und Akteurinnen eines Feldes durchaus recht heterogen sein können, so teilen sie die Illusio ihres Feldes. Somit ist die spezifische Illusio eines Feldes zwar historisch geworden und abhängig von den jeweiligen in ihm agierenden Personen leicht wandelbar, sie verändert sich jedoch insgesamt nur wenig und recht träge. Die Regeln des Feldes, wie auch deren Ziele und die Ergebnisse, werden von den Feldangehörigen nicht in Frage gestellt. Abweichungen von kollektiven Vorstellungen werden sanktioniert und führen ggf. zum Ausschluss der Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus dem Feld: Der praktische Glaube an das Feld ist das Eintrittsgeld, das alle Felder stillschweigend nicht nur fordern, indem sie Spielverderber bestrafen und ausschließen, sondern auch, indem sie praktisch so tun, als könnte durch die Operationen der Auswahl und der Ausbildung Neueingetretener (Initiationsriten, Prüfungen etc.) erreicht werden, dass diese den Grundvoraussetzungen des Feldes die unbestrittene, unreflektierte, naive, eingeborene Anerkennung zollen. (Bourdieu 1987a: 124)

Der Eintritt in Felder erfolgt entweder z. B. über die Geburt oder er muss erworben werden – im Falle der fachkulturellen Felder über institutionalisierte Zutritte bzw. sogar über die von Bourdieu angesprochenen Initiationsriten. Eine Zutrittsberechtigung wird jedenfalls nicht über „spontane Willensentscheidungen“ (vgl. a.a.O.: 125) erwirkt. Die Kenntnis der feldspezifischen Prämissen, der Illusio, wird dann über ein Wechselspiel aus Anerkennungsakten und Korrekturen bzw. Sanktionen erworben. Es handelt sich jedoch nur 116

3. SYMBOLISCHE REPRODUKTION VON FACHKULTUREN: HABITUS, FELD, ILLUSIO

selten um explizite Einweisungen, sondern eher um eine „stumme Erfahrung der Welt als einer selbstverständlichen“ (a.a.O.: 126). Bourdieu hält hierzu fest: Die illusio gehört nicht zu den expliziten Prinzipien, den Thesen, die man aufstellt und die verteidigt werden, sondern zum Handeln, zur Routine, zu den Dingen, die man tut, weil es sich gehört und weil man sie immer getan hat. (Bourdieu 2001: 129)

Wer die Regeln nicht beherrscht oder aber sich bewusst in Opposition zu den bekannten Regeln begibt, der stellt für die Angehörigen eines Feldes in seinen möglicherweise uneindeutigen Praktiken regelrecht eine Bedrohung dar. Denn durch Unkenntnis oder Boykott der gängigen Spielregeln eines Feldes werden möglicherweise Handlungsweisen innerhalb des Feldes gezeigt, welche die Illusio des Feldes hinterfragen oder gar angreifen könnten und damit den Fortgang des Spieles gefährden, indem sie sie konterkarieren oder in Frage stellen. Daran hat in der Regel kaum eine Person eines Feldes, welche ihrer Zugehörigkeit sicher ist, ein Interesse. Diejenigen, die ein Feld ‚regieren’, werden entsprechend immer bemüht sein, die Spielregeln aufrechtzuerhalten. Erst das kollektive Interesse und der Glaube an die spezifischen feldbezogenen Regeln lassen das Feld entstehen. Dabei sind entscheidende konstituierende Mechanismen eines Feldes die Abgrenzungen zu anderen Feldern nach innen oder nach außen. Die Feldangehörigen können aber den feldimpliziten Glauben, welcher doxische Züge trägt, nicht mehr ‚von außen’ betrachten. Bourdieu hält hierzu fest: „Hat man sich [...] die für ein Feld konstitutive Sicht erst einmal angeeignet, ist es nicht mehr möglich, sie von außen zu sehen ...“ (2001: 122). Die Anerkennung der spezifischen Feldprämissen funktioniert über unzählige kleine Handlungen, welche unbewusst und unhinterfragt funktionieren und damit die Regeln des Feldes immer wieder reproduzieren und stabilisieren. Die Logik des jeweiligen Feldes bleibt damit unerschlossen. Werner Fuchs-Heinritz und Alexandra König konstatieren hierzu sogar: „Die feldspezifische illusio bleibt Außenstehenden mehr oder weniger unverständlich, wirkt gar sinn- und zwecklos auf sie.“ (2005: 146). Felder wie z. B. die schulischen Unterrichtsfächer Deutsch und Physik können auch deshalb so nebeneinander existieren, weil in Physik andere Ziele herrschen als in Deutsch. Durch die Abgrenzung voneinander können beide nebeneinander existieren, ich würde Fuchs-Heinritz und König jedoch nicht zustimmen, wenn sie feststellen, dass durch die feldspezifische Illusio die Unabhängigkeit der Felder gewährleistet sei (ebd.). In weiter auseinander liegenden Feldern mag das der Fall sein, die beiden Unterrichtsfächer Deutsch und Physik jedoch brauchen sich m. E. gegenseitig für ihre eigene Illusio und sind insofern nicht unabhängig voneinander denkbar. Die Besonderheit in diesen Feldern liegt darin, dass sie zwei Pole eines binären Paares bilden. Die Existenz der 117

SCHULISCHE FACHKULTUREN UND GESCHLECHT

Kategorisierung Naturwissenschaften würde etwa ohne weitere XY-wissenschaften, in diesem Fall die Kategorisierung Geisteswissenschaften, ihre Notwendigkeit verlieren. Wer die Illusio eines Feldes nicht kennt, unterliegt einem hohen Risko, sich nicht feldadäquat zu verhalten und dafür von anderen Feldangehörigen sanktioniert zu werden. Gleichwohl werden die aktuellen Spieleinsätze innerhalb der Feldangehörigen immer wieder neu verhandelt, Felder bieten in derlei Hinsicht geradezu Arenen für durchaus heftige Kämpfe (man denke an die zähen Verhandlungen der Rahmenpläne der Fächer, welche letztlich einen Teil der Regel explizieren und den Umgang damit vereinheitlichen sollen). Eine Möglichkeit, die Logiken fachkultureller Felder zu rekonstruieren, ist, sich die aktiven Entwürfe kollektiver Alltagspraktiken näher anzuschauen. In dieser Arbeit erfolgt dies über die Zusammenschau der beiden Ebenen von Habitus und Feld bzw. deren praktischer Darstellung.

118

4.

Forschungsdesign

Die generelle Fragestellung der hier vorliegenden Studie, nach der die fachkulturellen Felder des Deutsch- und Physikunterrichts auf gendering-Prozesse und -Strukturen hinterfragt wird, war eingebettet in ein größer angelegtes Forschungsprojekt, in das DFG-Projekt „Soziale Konstruktion von Geschlecht in schulischen Interaktionen in der Sekundarstufe I“, welches unter der Leitung von Prof. Dr. Hannelore Faulstich-Wieland in der Zeit von 1998-2004 in einem dreijährigen Längsschnitt drei Klassen eines norddeutschen Gymnasiums beobachtete (vgl. Kapitel 4.1.). In der Interaktionsstudie wird ausgehend von der Annahme der sozialen Konstruktion von Geschlecht nicht nach Differenzen zwischen den Geschlechtern, sondern nach den Inszenierungsformen von Geschlecht durch schulische Akteure und Akteurinnen gefragt. Ausführlich finden sich die Ergebnisse der DFG-Studie dokumentiert in FaulstichWieland/ Weber/ Willems (2004): „Doing Gender im heutigen Schulalltag. Empirische Studien zur sozialen Konstruktion von Geschlecht in schulischen Interaktionen“. Durch die Einbindung in das DFG-Projekt eröffneten sich diverse Möglichkeiten für die hier vorliegende Untersuchung, welche in dem Umfang von einer einzelnen Forscherin kaum leistbar gewesen wären. Vor allem der Umfang des erhobenen Datenmaterials war nur durch die Größe des Forschungsteams75 realisierbar, ein weiterer entscheidender Vorteil liegt meiner Ansicht

75 Die Studie wurde von Hannelore Faulstich-Wieland als Projektleiterin, den wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen Damaris Güting (1998-2002), Nicola Gast-von der Haar (1998-2000), Katharina Willems (ab 2000) und Martina Weber (ab 2001), den studentischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern Holger Dudzus, Oliver Peters und Tordis Pohl (in der Zeit 1998/1999), Silke Ebsen, Katharina Willems, Verena Warncke (1999/2000), Julia Gröne, Angélica Harms, Manu Loganey, Julia Neumann (2000/2001), Manfred Nusseck (2000-2002), Stefan Kayser, Christiane Otto (2002), Vasca Scheppelmann (2000-2003) und Karen

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SCHULISCHE FACHKULTUREN UND GESCHLECHT

in der dauerhaften Möglichkeit, die erhobenen Daten in einem Kreis von Personen, welche mit dem Feld sehr vertraut waren, zu validieren und sich zugleich unterschiedliche Lesarten vorzustellen. So waren an mehreren Stellen unterschiedliche Perspektiven gesichert, bereits bei der Erhebung und ebenso bei der Auswertung. Der Prozess, eine klare eigene und unabhängige Fragestellung für diese Studie aus dem laufenden Projekt heraus zu entwickeln, war nicht ganz einfach, zumal sich dabei herausstellte, dass trotz der großen Datenmenge nur zum Teil das Material vorlag, welches die Frage nach dem gendering in Physik und Deutsch erhellen könnte. An den Stellen, an denen sich bestehende Leerstellen als problematisch erwiesen – wie etwa bei den expliziten Aussagen der Fachlehrenden – wurde entsprechend nacherhoben. An dieser Stelle zeige ich also in einer etwas ineinander verschränkten Darstellung zwischen dem DFG-Projekt und meiner eigenen Untersuchung auf, welche methodischen Prämissen befolgt und entsprechend durch die Wahl des Methodenrepertoires beachtet wurden. Ebenso greift die Darstellung des Samples den Datensatz des DFG-Projektes auf, da dieser in vollem Umfang für die hier vorliegende Arbeit zur Verfügung stand. Auch in der abschließenden Methodenreflexion findet sich die Verwobenheit beider Projekte. Zunächst wird jedoch das Forschungsfeld selber näher vorgestellt.

4.1. Das Forschungsfeld Jedes Feld bringt seinen eigenen und spezifischen Bedingungen mit sich. In diesem Kapitel wird aufgezeigt, welche spezifischen Ressourcen die engere und weitere institutionelle ‚Rahmung’ der schulischen Fachkulturen Deutsch und Physik am Edith-Benderoth-Gymnasium bilden. Hierfür skizziere ich zunächst das Gymnasium selbst, dann die drei Beobachtungsklassen und abschließend zeige ich die schulinternen bzw. schulbehördlichen Vorgaben der beobachteten Fächer auf. Die Besonderheit des Samples liegt in der doppelten Betrachtungsweise der Lernenden und ihrer Zugehörigkeiten durch die Fragestellung dieser Studie: Innerhalb der Organisationsform Edith-BenderothGymnasium werden dieselben konkreten Gruppen (Klasse A, Klasse B und Klasse C und die jeweiligen Fachlehrkräfte) zum einen als drei getrennte Gesamtgefüge betrachtet, welche durch spezifische Charakteristika markiert sind und sich unterscheiden (z. B. die quantitative Zusammensetzung der Geschlechtergruppen in den unterschiedlichen Klassen), zum anderen werden sie in der Frage nach der Illusio der Fächer betrachtet als fachkulturelle Com-

Vinke (2003), der Praktikantin Sophie Dishman (2001) sowie dem Doktoranden Jürgen Budde (seit 2002) im Projektteam durchgeführt.

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4. FORSCHUNGSDESIGN

munities (z. B. die Lernenden und Lehrenden im Unterrichtsfach Physik oder Deutsch am Edith-Benderoth-Gymnasium). In dieser Betrachtung werden klassenübergreifend kulturvergleichende Aussagen gemacht. Somit steht der gleiche Personenkreis in unterschiedlichen Betrachtungskontexten.

4.1.1.

Das Edith-Benderoth-Gymnasium76

Das Edith-Benderoth-Gymnasium liegt in einem eher ruhigen und gutbürgerlichen Stadtteil einer norddeutschen Stadt. Innerhalb des Stadtteils liegen in unmittelbarer Nähe ein weiteres Gymnasium, welches bis vor einigen Jahren Aufbaugymnasium war, ein anderes Gymnasium, welches mit der beforschten Schule eine Oberstufenkooperation aufrecht hält, und eine Gesamtschule sowie verschiedene Grundschulen. Trotz der denkbaren Konkurrenz der Schulen untereinander sichert sich jede Schule offenbar ihre Schüler- und Schülerinnenschaft durch besondere Profile. Am Edith-Benderoth-Gymnasium kommen die Lernenden zum Teil aus dem direkten Wohnumfeld, zum erheblichen Teil jedoch auch aus weiter entlegenen Stadtteilen. Die Aussage von Eckart Liebau u. a. (1997) zu den Gründen der Wahl des Gymnasiums, nach denen nicht der besonderen Attraktivität der Schulform, sondern vielmehr dem privilegierten Bildungsabschluss der Gymnasien zufo lge eben diese Schulform von Lernenden und v.a. ihren Elten angewählt wird, ist insofern zu konkretisieren: sicherlich unterscheiden sich auch die Schülerinnen- und Schülerschaft des Edith-Benderoth-Gymn asiums sowie ihre Eltern nicht von diesen Interessen, dennoch gäbe es in unmittelbarem Umfeld weitere Schulen gleicher Schulform, welche sie jedoch nicht gewählt haben. Entsprechend ist davon auszugehen, dass der Ruf der Schule bzw. das besondere Profil ausschlaggebend ist für die Entscheidung einer Schullaufbahn am EdithBenderoth-Gymnasium. Die durchgängig vierzügige Schule präsentiert sich offen und vielseitig, Leitlinien wie z. B. Toleranz, Interkulturalität, Menschenrechte sind an den Prämissen der UNESCO-Projektarbeit angelehnt, ziehen sich jedoch wie ein roter Faden durch das Schulprofil und die schulische Atmosphäre. Auch das bilinguale Profil der Schule knüpft an diese Perspektive an. Die Lernenden können ab Klasse 7 verstärkt Sachfachunterricht auf Englisch belegen, auch der Englischunterricht selber ist in der Stundenzahl aufgestockt.77 Seit 2003 wird das bilinguale Profil um einen weiteren interessanten Baustein ausgebaut, seither können die Lernenden des Edith-Benderoth-Gymnasiums zusätzlich zum normalen deutschen Abitur den international anerkannten Abschluss 76 Eine Darstellung der Schule wie auch ergänzende Aussagen zur Selbstverortung der Jungendlichen der drei Beobachtungsklassen über den Längsschnitt finden sich sehr viel ausführlicher in Faulstich-Wieland/ Weber/ Willems 2004: 45ff.) 77 Eine ausführliche Darstellung des bilingualen Profils findet sich in Kapitel 6.

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SCHULISCHE FACHKULTUREN UND GESCHLECHT

„Internationale Baccalaureate“ ablegen. Insgesamt lässt sich beobachten, dass das Edith-Benderoth-Gymnasium deutlich dem gymnasialen Habitus einer durchaus gewählt elitären Organisation entspricht. Die zusätzlichen Möglichkeiten im bilingualen Bereich – durch den internationalen Abschluss, aber auch durch die Ausrichtung des berufsberatenden Bereichs – unterstreichen eine Perspektive auf privilegierte Lebens- und Berufsausrichtungen eindrücklich. Dazu passt, dass die Jugendlichen aus verhältnismäßig problemarmen und gutsituierten Familienverhältnissen kommen, der Anteil der Migranten und Migrantinnen ist – wie allgemein an Gymnasien – recht gering. Diese Realitäten decken sich mit Bourdieus Aussage zur hohen Bedeutung von symbolischem Kapital an den Gymnasien: Ganz klar, dass man den Kindern der ökonomisch und kulturell am stärksten benachteiligten Familien keinen Zugang zu den verschiedenen, besonders den höchsten Ebenen des Schulsystem verschaffen kann, ohne den ökonomischen und symbolischen Wert der Zeugnisse und Diplome grundlegend zu verändern (und ohne zumindest dem Anschein nach die Titelinhaber einem Risiko auszusetzen). (Bourdieu 1997e: 529)

Die Schulleitung selber unterstreicht zwar durchaus selbstbewusst das eigene Profil, bezeichnet die eigene Einrichtung jedoch gleichzeitig als „ganz normales Gymnasium“. Die Schule war bis 1968 ein reines Mädchengymnasium. Dieses Profil zeigt sich bis heute deutlich in dem – besonders für Gymnasien – ungewöhnlich hohen Anteil an weiblichen Personen auf Funktionsstellen; so ist die Schulleitung ebenso wie die Stellvertretung seit Jahren weiblich, und dieses auch weiterhin trotz eines Wechsels in der Position der Leitung. An der Schule arbeiten ca. 70 Lehrerinnen und Lehrer, davon mehr Frauen als Männer. Durch die höheren Teilzeitanteile bei den Lehrerinnen ist die Geschlechterverteilung in den Unterrichtsstunden jedoch recht homogen. Das Kollegium zeichnet sich allgemein aus durch ein hohes Engagement und eine intensive Bereitschaft zu u. a. geschlechtsbezogenen Forschungskooperationen. Die Schülerinnen- und Schülerschaft der Schule besteht aus ca. 900 Jungen und Mädchen, wobei in den Anfangsklassen etwa beide Geschlechtergruppen gleich vertreten sind, mit der Höhe der Klassenstufe reduziert sich die Anzahl der Jungen deutlich, so dass ein klarer Mädchenüberhang in den Abschlussklassen entsteht.

122

4. FORSCHUNGSDESIGN

4.1.2. Die beobachteten Klassen Im Verlauf der Mittelstufe wurden drei Klassen über drei Feldphasen im Längsschnitt ca. drei Jahre lang teilnehmend begleitet. Diese drei Klassen wurden aufgrund der These von Rosabeth M. Kanter (1977) gewählt, welcher zufolge die geschlechtlich-quantitative Zusammensetzung einer sozialen Gruppe durchaus Einfluss auf deren soziales Miteinander hat. Moss Kanter unterscheidet „uniform groups“, in denen alle Mitglieder einer Geschlechtergruppe angehören, „skewed groups“, welche deutliche Mehrheits- (+85%) und Minderheitsverhältnisse (+15%) aufweisen, „tilted groups“, in denen Mehrheits- und Minderheitsverhältnisse vorliegen, allerdings weniger extrem als in den „skewed groups“, und „balanced groups“, die dem Namen entsprechend ausgewogenen Verhältnisse aufweisen. Kanters These lautet, dass in den schieflagigen Gruppen die Minderheiten zu Repräsentantinnen und Repräsentanten ihrer Gruppe werden – sie spricht von „tokens“ – und nicht als Individuen gesehen werden. Daraus ergibt sich ein deutlich stereotyperes Verhalten dieser Personen. Angelehnt an diese These wurden drei verschieden zusammengesetzte Klassen ausgewählt: x Klasse A, welche von Jahrgang 8 bis 10 begleitet wurde und zu Beginn der Erhebung im achten Jahrgang bereits quantitativ jungendominant zusammengesetzt war (17 Jungen, 6 Mädchen). Diese hielt sich über die drei Jahre in unterschiedlichen Dominanzverhältnissen so (Jahrgang 9: 13 Jungen, 7 Mädchen; in Jahrgang 10 schließlich 14 Jungen und 12 Mädchen). x Klasse B, welche in den Jahrgängen sieben, acht und neun begleitet wurde und in allen Jahren quantitativ mädchendominant war (Jahrgang 7: 15 Mädchen, 9 Jungen; Jahrgang 8: 16 Mädchen und 10 Jungen; Jahrgang 9: 15 Mädchen und 8 Jungen). x Klasse C, welche ebenfalls von Jahrgang sieben bis neun begleitet wurde, allerdings in Jahrgang acht mit einer Parallelklasse zusammengelegt wurde. Dadurch veränderte sich die ursprünglich quantitativ ausgewogene Geschlechterzusammensetzung der Klasse hin zu einer mädchendominanten Gruppe (Jahrgang 7: 11 Mädchen, 10 Jungen; Jahrgang 8: 16 Mädchen, 10 Jungen; Jahrgang 9: 14 Mädchen, 8 Jungen). Das ursprünglich vorgesehene Design der Studie, die drei Klassen über die gleichen Jahrgänge hinweg und in drei konstant unterschiedlichen Geschlechterzusammensetzungen zu begleiten, ließ sich durch die Feldvorgaben nicht ganz realisieren. Dieses spiegelt jedoch deutlich wider, dass wir es mit einem hochkomplexen sozialen Gefüge zu tun hatten, welches keine ausschließlich linearen Forschungsstrategien garantieren kann. Die dargestellten Geschlechterverhältnisse der drei Klassen beinhalten auch nicht, dass sich kontinuierlich dieselben Lernenden zu Klassen zusammen fanden. 123

SCHULISCHE FACHKULTUREN UND GESCHLECHT

Die Klasse A hatte in mehrfacher Hinsicht eine besondere Position im Gefüge des Samples, nicht nur weil hier andere Stufen beobachtet wurden (Stufe acht, neun und zehn). Zunächst war die Fluktuation in dieser Klasse besonders augenfällig: von den 19 Mädchen, welche im Verlauf der Mittelstufe zur Klassengemeinschaft gehörten, waren nur zwei durchgängig in der Klasse A, von den insgesamt 30 Jungen, welche irgendwann einmal zur Klasse A gehörten, waren fünf dauerhaft in der Klasse. Diese sieben Jungen und Mädchen bildeten über alle sechs Schuljahre fester Kern der Klasse, insgesamt – dieses bildet das andere Extrem der Verweildauer ab – waren 19 Jungen und Mädchen ein Jahr oder weniger dabei. Die restlichen 23 Jungen und Mädchen waren ein bis fünf Jahre in der Klasse A, wobei die Anzahl der kurzen Angehörigkeiten überwiegt. Der Hintergrund für diese häufigen Wechsel ist nach Ansicht der Lehrenden in der Besonderheit der Klasse zu sehen, die letzte nichtbilinguale Klasse der Schule zu sein. So sammelten sich dort die Lernenden, welche das bilinguale Profil nicht ansprechend oder aber zu anspruchsvoll fanden oder welche von anderen, nicht bilingualen Schulen gewechselt haben. Die Leistungen der Klasse galten den Zuschreibungen nach als unterdurchschnittlich und nicht dem gymnasialen Niveau entsprechend, allerdings sehen fast alle Lehrenden, welche die Klasse als eher leistungsschwach beurteilen, den deutliche Zusammenhang zur sozialen Anstrengung, welche die Klassengemeinschaft permanent leisten muss, um der hohen Wechselquote in der Zusammensetzung etwas entgegenzusetzen. Auf der anderen Seite wird auch die zahlenmäßige Jungendominanz der Klasse bereitwillig als Erklärungsmuster herangezogen; den Jungen wird hierbei die Verantwortlichkeit für die aktive Ausrichtung Klasse zugewiesen, den Mädchen eher ihre in dieser Hinsicht vermeintlich fehlende Aktivität, welche als leistungssteigernd eingeschätzt wird, angelastet. Die Zuschreibungen der Lehrenden in bezug auf die Leistungsbereitschaft und das Leistungsvermögen der Klasse decken sich interessanterweise keineswegs mit der Einschätzung der Jungen, allerdings tendenziell mit der der Mädchen und spiegeln sich auch in dem niedrigen Selbstwertgefühl der Mädchen. Die von Jahrgang sieben bis neun beobachtete bilinguale Klasse B bildet nicht nur in der quantitativen Geschlechterzusammensetzung der Gruppe durch die Mädchendominanz das Pendant zur Klasse A: in dieser Klasse bleibt die Gruppenzusammensetzung über die drei Beobachtungsjahre bzw. über die gesamte Mittelstufenzeit vergleichsweise konstant (12 der 24 Mädchen waren konstant in der Klasse, immerhin auch vier der insgesamt 15 Jungen). Insgesamt bildet sich also ein konstanter Kern von 16 Personen. Auch hinsichtlich der Leistungszuschreibungen bildet diese Klasse das andere Extrem: die Klasse gilt unter den Lehrenden als ausgesprochen leistungsstark, 124

4. FORSCHUNGSDESIGN

die Daten aus der Lernausgangslageuntersuchung im 7. Jahrgang bestätigen diese Einschätzung (vgl. Lehmann u. a. 1999). Als gängiges Erklärungsmuster wird von Lehrenden wie Lernenden vor allem die Mädchendominanz herangezogen; Undiszipliniertheit, vor allem die störende Lautstärke der Klasse, aber auch ein Mangel an Lerneifer und -bereitschaft, wird hingegen in erster Linie der männlichen Minderheit in der Klasse zugeschrieben. Wenn dieses Verhalten auch bei Mädchen beobachtet wird, so gelten diese als ‚unübliche’ Mädchen. Das Klassenimage der Klasse B ist insgesamt deutlich von geschlechterstereotypen Zuschreibungen durchdrungen. Die Jungen und Mädchen der Klasse B schätzen sich selbst und das Klassenklima durchgehend als eher positiv ein, die Jungen überschätzen ihre Leistungen eher, die Mädchen bleiben mit ihrer Wahrnehmung realistischer. Klasse C wurde ebenfalls in den Jahrgängen sieben bis neun begleitet. Diese Klasse war bis zum Jahrgang 7 in puncto Geschlechterzusammensetzung ausgewogen, durch die Zusammenlegung mit der Parallelklasse ergab sich eine zahlenmäßige Mädchendominanz der ‚neuen’ Klasse. Aus der ursprünglichen Klasse C waren vierzehn Schülerinnen und Schüler (neun Mädchen und fünf Jungen, einer mit einem Jahr Unterbrechung) von Beginn an in dieser Klasse, aus der dazugelegten Klasse kamen fünf Mädchen und vier Jungen gleich dazu, zwei weitere im Verlauf der ersten Monate im achten Jahrgang. Die Klassenzusammensetzung weist also trotz der Zusammenlegung eine relativ große Stabilität auf. Die Klasse wird in Jahrgang sieben von den Lehrkräften als sympathisch und begeisterungsfähig und durchaus leistungsstark beschrieben, dieser Eindruck bricht jedoch deutlich ein, nachdem die Klasse neu zusammengesetzt ist. Die negativen Eindrücke betreffen sowohl das Leistungsvermögen der neuen Klasse als auch deren Sozialgefüge. Im Jahrgang neun fängt sich den Lehrkräften zufolge die Klasse wieder und entspricht eher dem Eindruck von Klassenstufe 7. Die Lernenden selber schätzen das Klassenklima jedoch konstant als eher gut ein, die Mädchen immer einen Tick besser als die Jungen. Die Einschätzung der Jungen, der zufolge sie über ein höheres Selbstwertgefühl und bessere Leistungen verfügen als die Mädchen, deckt sich mit dem Eindruck, den die Lehrkräfte schildern. Bei den Mädchen differieren die Wahrnehmungen: sie schätzen sich selber nach Leistungen und Selbstwertgefühl besser ein als die Lehrenden sie wahrnehmen. Bemerkenswert ist, dass in allen drei Klassen die Wahrnehmungen der Klassen durch die Lehrenden nicht deckungsgleich mit denen der Jugendlichen selbst sind. Die stereotypen Zuschreibungen, welche als Erklärungsmuster herangezogen werden, fallen für die Jungen günstiger aus als für die Mädchen. Da die Einschätzungen der Jungen tendenziell Überschätzungen spiegeln, bleibt zu vermuten, dass diese Zuschreibungen den Jungen zu einem po125

SCHULISCHE FACHKULTUREN UND GESCHLECHT

sitiven Selbstbild verhelfen, während die eher negativen Zuschreibungen an die Mädchen diese entweder nicht beeinflussen (Klasse C) oder ungünstig auf sie einwirken (Klasse A).

4.1.3.

Die Unterrichtsfächer Deutsch und Physik am EdithBenderoth-Gymnasium

Schulische Fächer können von verschiedenen Seiten Vorgaben bekommen, welche die Lehrkräfte in der Umsetzung im Unterricht berücksichtigen müssen. Es stellt sich jedoch die Frage, von welcher Kultur bzw. welchen Kulturen Vorgaben gemacht werden. Brunkhorst stellt fest: „Die Kulturabhängigkeit der Bedeutung von Kultur zu betonen, ist fast schon ein Pleonasmus.“ (1984: 319). Dies gilt ebenso für den Bereich der Fachkulturen. Für die Felder der beiden betrachteten Fachkulturen kommen sehr unterschiedliche Instanzen als prägend in Frage, welche jeweils andere Lesarten dessen ermöglichen, wer nun eigentlich (schulische) Fachkulturen beeinflusst. So können schulübergreifende Vorgaben von schulbehördlicher Seite aus gemacht werden, auch einzelne Schulen und einzelne Lehrkräfte bzw. Lernende können diese unterschiedlich ausfüllen. Selbstverständlich gibt es auch außerschulische gesellschaftliche Vorstellungen dessen, was eine Fachkultur ausmacht und woran diese zu erkennen sei. Alle Bereiche reproduzieren durch ihre Vorgaben und Vorstellungen auch immer wieder ein Gesamtbild dessen, was – prozessual veränderbar – einzelne Fachkulturen ausmacht. Im Folgenden sollen nun die strukturellen Rahmenbedingungen, die Ressourcen der beiden Unterrichtsfächer Deutsch und Physik am Edith-Benderoth-Gymnasium, genauer betrachtet werden. Dabei spielen behördliche Vorgaben ebenso eine Rolle wie schulinterne Regelungen. Lehrkräfte Zum Zeitpunkt unserer Erhebung (Stand 1. Feldphase, 2. Halbjahr Schuljahr 1998/1999) waren am Edith-Benderoth-Gymnasium 71 Lehrkräfte beschäftigt, davon 45 Frauen und 26 Männer. Da mehr Frauen als Männer in Teilzeit unterrichteten, war das Geschlechterverhältnis in Bezug auf die erteilten Unterrichtsstunden recht ausgewogen. Das Physikkollegium bestand aus sieben Lehrkräften, davon sechs Männer und eine Frau. Dreizehn Frauen und acht Männer unterrichteten das Unterrichtsfach Deutsch. In den drei an der Studie beteiligten Klassen konnten im Verlauf der drei Feldphasen insgesamt vier Lehrer und eine Lehrerin für Physik, sieben Lehrerinnen und ein Lehrer in Deutsch beobachtet werden. Eine Übersicht bietet die folgende Tabelle:

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4. FORSCHUNGSDESIGN

Tabelle 3: Übersicht über die unterrichtenden Lehrkräfte in den Klassen A, B und C Klasse A A A B B B C C C

Erhebungsjahr 1998 1999 2000 1998 1999 2000 1998 1999 2000

Physik Hr. Blümer Hr. Blümer Hr. Blümer Hr. Pickert Fr. Langer Hr. Reine Hr. Fehn

Deutsch Fr. Böttcher Fr. Simon Fr. Ferreira Fr. Scholz Hr. Weiland Fr. Hollstein Fr. Müller Fr. Müller Fr. Danker

Auffällig ist, dass in beiden Fächern viele Lehrkraftwechsel stattfinden. In Physik hat einzig die Klasse A über alle drei Jahre hinweg denselben Lehrer, in den beiden anderen Klassen wechseln die Lehrkräfte mit dem Übergang zum bilingualen Unterricht, also bereits nach einem Schuljahr. Der Physikunterricht wird in den drei Klassen über alle drei Jahre fast ausschließlich von männlichen Lehrkräften erteilt. Die einzige Physiklehrerin der Schule wird in der Klasse B im Jahrgang 9 eingesetzt, in dem Jahr also, ab dem der Physikunterricht bilingual erteilt wird. Auch in Deutsch finden jährlich Lehrkraftwechsel statt, die einzige Ausnahme findet sich in der Klasse C. Dort bleibt die Lehrerin in den beiden ersten Feldphasen gleich. Der Deutschunterricht wird fast ausschließlich von weiblichen Lehrkräften erteilt. Der einzige von einem Lehrer erteilte Deutschunterricht findet in der Klasse B in der zweiten Feldphase statt. Von den geschlechterstereotypen Zuweisungen abweichender Unterricht hinsichtlich der Kopplung Fach-Geschlecht der Lehrkraft findet damit nur in Klasse B statt, in beiden Fächern je ein Jahr. Dies ist zugleich auch die einzige Klasse, in der in keinem der beiden Fächer eine Lehrkraft länger als ein Schuljahr unterrichtet. Möglicherweise werden dieser Klasse die häufigen Wechsel zugemutet, da sie gleichzeitig in der Zusammensetzung der Schülerund Schülerinnenschaft am meisten Konstanz und somit Stabilität aufweist.78 78 Bei insgesamt 24 Mädchen und 15 Jungen, die in den Jahrgängen 5 bis 9 der Klasse B angehörten, bleibt ein Kern von 16 Schülerinnen und Schülern (12 Mädchen und vier Jungen) von Jahrgang 5 bis 9 in der Klasse, ein Mädchen und fünf Jungen waren vier der fünf Jahre in der Klasse B, ein weiteres Mädchen drei Jahre. Sieben Schülerinnen und drei Schüler waren zwei Jahre, je drei Schüler und Schülerinnen ein Jahr oder weniger in der Klasse. Die Stabilität der Zusammensetzung wird deutlich etwa im Vergleich mit der Klasse A, welche die stärkste Fluktuation aufweist: Von insgesamt 19 Mädchen und 30 Jungen, die der Klasse A von Jahrgang 5 bis 10 angehörten, blieben nur sieben

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SCHULISCHE FACHKULTUREN UND GESCHLECHT

Für beide Fächer gibt es Fachkonferenzen und gewählte Fachvertreter bzw. Fachvertreterinnen, für die dritte Feldphase weist der Physiklehrer Herr Blümer allerdings darauf hin, dass der gewählte Physikfachvertreter seit längerer Zeit erkrankt ist und bisher kein neuer Vertreter bestimmt wurde (vgl. LIp0105k79). Unterrichtsstunden Das Fach Deutsch wird in allen Jahrgangsstufen unterrichtet, der Physikunterricht beginnt im Jahrgang 8. Entsprechend der Stundentafel werden im Jahrgang 7 und 8 vier, im Jahrgang 9 drei Stunden Deutsch erteilt, im Jahrgang 10 steigt die Stundenzahl wieder auf vier pro Woche. Das Fach Physik wird in den (bilingualen) Klassen B und C im Jahrgang 8 zweistündig und auf Deutsch erteilt. Im Jahrgang 9, also im ersten Jahr, in dem der bilinguale Physikfachunterricht stattfindet, wird er dreistündig und in Jahrgang 10 wieder zweistündig unterrichtet. In der Klasse A als nicht bilingualer Klasse findet der Unterricht in allen Jahrgängen zweistündig statt. Auch dieses entspricht der Flexibilisierungstafel bzw. der Stundentafelvorgabe. Außerunterrichtliche Angebote Am Edith-Benderoth-Gymnasium wird seit 1993 von einer Deutschlehrerin der kreative Schreibkurs „Die flinken Federn“ angeboten, wobei regelmäßig Gruppen aus den Jahrgängen 7 und 8 bzw. 9 und 10 zusammengefasst werden. Unregelmäßig treffen sich auch Interessierte aus den Oberstufenkursen. Dieses Angebot wird mehrheitlich von Mädchen wahrgenommen. In Physik finden keine regelmäßigen außerunterrichtlichen Angebote statt. Sowohl in Deutsch als auch in Physik beteiligt sich die Schule an verschiedenen Fachwettbewerben.

SchülerInnen, zwei Mädchen und fünf Jungen, in allen Jahrgängen in der Klasse. Ein Schüler war fünf Jahre dabei, drei SchülerInnen drei Jahre, zehn SchülerInnen gehörten der Klasse ein bis zwei Schuljahre an und neunzehn SchülerInnen blieben ein Schuljahr oder weniger in der Klasse (vgl. Faulstich-Wieland/ Weber/ Willems 2004: 52ff.). 79 Die Protokollbezeichnung ergibt sich aus dem Inhalt des Dokuments (z. B. LI = Interview mit einer Lehrkraft), dem Fach (z. B. p = Physik, d = Deutsch), dem Beobachtungsdatum (Jahr: z. B. 01 = 2001, Monat: z. B. 05 = Mai) und der Ethnografin (k = Katharina Willems).

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4. FORSCHUNGSDESIGN

Physik und Deutsch – unterschiedliche Ressourcen Die Ressourcen beider Fächer, zum einen als institutionsübergreifende Rahmenvorgaben, zum anderen aber auch als Entscheidung der Einzelschule, ihre Kapitalien an bestimmter Stelle und auf spezifische Art und Weise einzusetzen, spiegeln die unterschiedlichen Positionen von Physik und Deutsch im Gesamtgefüge der Fächer. In einigen Bereichen sind diese zudem klar gegendert: Dies wird deutlich vor allem in der personellen Ausstattung der Fächer, in Physik ist das Verhältnis der männlichen zu den weiblichen Lehrkräften mit 6: 1 klar männlich dominiert, in Deutsch finden wir die spiegelbildliche Entsprechung: mit einem Verhältnis von 7: 1 Frauen zu Männern ist das Fach stark weiblich geprägt. Dazu kommt, dass das Fach im Neigungskursbereich ebenfalls nur durch weibliche Besetzung repräsentiert ist. Diese Stunden kommen als Angebot zu den ohnehin deutlich höheren Unterrichtsstundenauflagen für Deutsch hinzu. Wenn sich die Stundenanzahl als Metapher für den Stellenwert des Faches im Gesamtkanon lesen lässt, bildet Deutsch in allen Klassenstufen den höher gestuften Bereich, welcher fast ausnahmslos über weibliches Personal abgedeckt wird. Eine alternative Lesart wäre die, dass in der Schule Exklusivität, welche als Attribut eher dem Fach Physik zugesprochen wird, sich durch wenige Stunden auszeichnet, die das Fach besondern, und nicht durch die Entsprechung einer alltäglichen Routine. In Physik werden generell weniger Stunden fast ausschließlich von Männern unterrichtet. Der Neigungskursbereich ist nicht besetzt, weder weiblich noch männlich. Hieraus ließe sich lesen, dass aus der Fachkultur Physik heraus außerhalb des eigentlichen schulischen Unterrichtsrahmens keine (regelmäßigen) Angebote gemacht werden, oder aber, dass die Schülerinnen und Schüler diesen Bereich nicht nachfragen, vielleicht weil sie ihn nicht als ‚Hobby’ oder ‚Vertiefungsbereich ‚verstehen. Auffällig unterschiedlich stellen sich die Orte dar, in denen beide Fächer unterrichtet werden, zum großen Teil auch die fachkulturellen Räume. Diese Inszenierungen werden in Kapitel 7 dargestellt.

4.2. Methodische Anlage der Studie Die Praxis qualitativer Forschung zeichnet sich dadurch aus, dass den Forschenden ein weites Spektrum an Methoden zur Verfügung steht, welche es sinnhaft und dem Forschungsgegenstand angemessen miteinander zu kombinieren gilt. Dabei gibt es nicht für das hier vorliegende spezifische Forschungsfeld die angemessene Methode oder Methodentriangulation, sondern es greifen verschiedene Prämissen, welche insgesamt das Ziel verfolgen, eine

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SCHULISCHE FACHKULTUREN UND GESCHLECHT

möglichst „dichte Beschreibung“ (vgl. Geertz 1987)80 des gewählten Feldes zu ermöglichen. In Anlehnung an Geertz, aber auch an die ethnomethodologischen Forschungsvorstellungen von Harold Garfinkel (1967) geht es darum, das Alltagshandeln ins Zentrum des Forschungsinteresses zu rücken und die nicht abfragbaren Praktiken („seen but unnoticed“) zu beleuchten. Hierbei wird weniger ein konkreter Forschungsstil als vielmehr eine spezifische Forschungshaltung benötigt. Dichte Beschreibungen sind zunächst (Re-)Konstruktionen beobachteter habitueller Handlungen und ihrer dahinter stehenden Denkformen. Hierfür ist der Abgleich unterschiedlicher kultureller Sinnbereiche bzw. Beschreibungsebenen gefordert, die gleichzeitig miteinander verbunden und kontrastiert werden. Die dichte Beschreibung ist Stephan Wolff (2000: 90) zufolge ein Vorgang, welcher letztlich immer unabgeschlossen bleibt, denn es ließen sich immer noch weitere Interpretationsfolien aneinander anlegen. Um diese (Re-)Konstruktionen in der praktischen Forschung erreichen zu können, ist nicht nur die Wahl der Erhebungsmethoden, sondern ebenso die Entscheidung für oder gegen spezifische Auswertungsverfahren bzw. das Zusammenspiel zwischen beiden Prozessen entscheidend. Die in dieser Studie getroffene Auswahl der vorwiegend ethnografischen Erhebungs- und Auswertungsmethoden wird anschließend vorgestellt und begründet.

4.2.1.

Das ethnografische Verfahren und dessen Realisierung

Innerhalb der Ethnografie gelten wenige Prinzipien, welche jedoch zugleich den Forschenden eine klare Haltung dem Forschungsfeld gegenüber abverlangen: Generell werden Interaktionen, Milieus oder Organisationen beforscht, nicht Individuen. Die Beziehung zwischen Forschenden und Er80 Mit der Begrifflichkeit „dichte Beschreibung“ greift Clifford Geertz auf eine von Gilbert Ryle (1971) getroffene Unterscheidung zwischen einer „dünnen“ und einer „dichten“ Beschreibung eines Sachverhalts zurück. Ryle erläutert die Unterscheidung selbst am Beispiel des Augenzwinkerns zweier Personen bei Anwesenheit einer dritten: nach einer dünnen (phänomenologischen) Beschreibung würde eine beobachtende Person die schnelle zuckende Bewegung eines Augenlids bei beiden Personen vermerkt haben. Nach einer dichten Beschreibung könnte die beschreibende Person notieren, dass dieses spezifische Zwinkern u.U. bei einer Person offenbar ein ungewolltes nervöses Zucken ist, während die andere Person durch das gezielte Zwinkern der dritten anwesenden Person heimliche Zeichen zwischen den beiden Zwinkernden vortäuschen will. Hier würde sich ein komplexer Vorgang über das Vorgehen des Zwinkerers rekonstruieren lassen: „(1) er richtet sich absichtlich (2) an jemand Bestimmten, (3) um eine bestimmte Nachricht zu übermitteln, (4) und zwar nach einem bestimmten gesellschaftlichen Code und (5) ohne dass die übrigen Anwesenden eingeweiht sind.“ (Geertz 1987: 10f.). Zwischen diesen beiden Interpretationsfolien der dünnen und der dichten Beschreibung ist laut Geertz „der Gegenstand der Ethnografie“ angesiedelt (a.a.O.: 12).

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4. FORSCHUNGSDESIGN

forschtem soll als Fremdheitsrelation gestaltet und verstanden werden, Ziel ist die „Befremdung der eigenen Kultur“ (Hirschauer/ Amann 1997). Zudem gilt es, eine möglichst große Kontextgebundenheit innerhalb des Feldes herzustellen. Innerhalb dieser Prinzipien (vgl. Bohnsack 1997: 3) stellt die Ethnografie keine eindeutige Methode dar, sondern bezeichnet „einen Forschungsstil, der methodenplural angelegt ist.“ (Bohnsack 1997: 3). Ausführungen zu ethnografischer Forschung wurde bereits verschiedentlich sehr bereichernd dargestellt (vgl. z. B. Emerson u. a. 1995, Bohnsack 1997, Hirschauer/ Amann 1997, Zinnecker 2000, Güting 2004, Kelle 2004), so dass dieses an dieser Stelle nicht noch einmal wiederholt werden soll. Vielmehr werden im Folgenden die in dieser Studie aus dem Repertoire ethnografischer Zugänge eingesetzten Erhebungs- und Auswertungsmethoden vorgestellt. Generell wechselten sich in den drei Feldphasen Erhebungs- und Auswertungsphasen im Sinne der Grounded Theory (vgl. v.a. Strauss/ Corbin 1990) immer ab; zum einen waren zeitlich längere Pausen zwischen der jeweils nach den Sommerferien beginnenden Teilnahme im Feld, welche unterschiedlich lange dauerte, zum anderen ergaben sich parallele Erhebungs- und Auswertungssequenzen im kleineren Rahmen auch jeweils während der drei Erhebungsphasen. In dieser Studie wurden die folgenden Datengewinnungsinstrumente miteinander kombiniert: x teilnehmende Beobachtungen im Unterricht und in außerunterrichtlichen Situationen (Pausen etc.) in den drei Beobachtungsklassen x Audio- und Videomitschnitte (zum Teil später nicht transkribiert) x Personenfokussierungen im Unterrichtsgeschehen (Lernende und Lehrende) x Konstruktinterviews mit Deutsch- und Physikfachlehrkräften x standardisierte Befragungen in allen Jahrgängen der drei Beobachtungsklassen in allen drei Feldphasen x Memos, in welchen subjektive Eindrücke oder Irritationen festgehalten wurden x vereinzelt Dokumentenanalysen x unregelmäßige Erstellung von Fotografien Um Einsichten in feldspezifische Lebenswelten zu erhalten sind verschiedene ethnografische Zugänge denkbar, welche auch jeweils unterschiedliche Aussagen zulassen. Grob gesprochen können forschende Personen entweder über Dokumente oder bestenfalls über direkte Gespräche mit den Feldangehörigen Informationen erfragen, oder sie können an deren Alltagspraxis teilnehmen, um sich mit Abläufen und doxischen Selbstverständlichkeiten vertraut zu 131

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machen. In letzterem Fall spricht man von der teilnehmenden Beobachtung. Diese beiden Elemente bilden das Herzstück dieser Studie und wurden miteinander verschränkt. Zusätzlich zu diesen qualitativen Methoden wurden über eine quantitative Befragung parallel Positionen der Lernenden erhoben und die jeweiligen Aussagen aufeinander bezogen. Eine ausführliche Darstellung zu Erhebungssystematik und Auswertung der quantitativen Erhebung findet sich in Kapitel fünf. An dieser Stelle werden einige Hintergründe zum methodischen Vorgehen der teilnehmenden Beobachtung und der Konstruktinterviews erfolgen, die die zentralen Informationsquellen für die hier vorliegende mehrdimensionale Annäherung an die Frage nach der Illusio der Fächer und deren gendering-Implikationen darstellen. Die weiteren Erhebungsmethoden wurden eingesetzt, um ergänzende, vertiefende oder bewusst irritierende Feldeindrücke zu sammeln – etwa über die eigene Sprache der Fotos (einige Abbildungen finden sich in Kapitel 7.2.). Da es sich jedoch hier um keine systematische Erhebung dieser Daten handelt, werden die Methoden hier nur sehr knapp bzw. nicht weiter beleuchtet. Alle Daten wurden in alltäglichen face-to-faceSituationen erhoben und bilden insofern keinen akulturellen Bereich ab, welcher künstlich geschaffen wurde, sondern gewähren vielmehr Einblicke in ein bereits bestehendes und in seinen Strukturen gefestigtes organisatorisches Feld. Der fragende Blick richtet sich also auf Eigenwelten kollektiver Handlungsfelder innerhalb einer etablierten Organisation, zugleich wird der Blick auf individuelle Akteurinnen und Akteure beibehalten, welche die Gruppe als Gesamtheit erst hervorbringen. Teilnehmende Beobachtungen Bei der teilnehmenden Beobachtung steht das Handeln der Akteurinnen und Akteure in ihrem gewohnten Feld im Mittelpunkt der Datenerhebung. Alltägliche Routinen werden nur dann analysierbar, wenn ihre Beobachtung über einen längeren Zeitraum erfolgt, denn nur dann sind Handlungsmuster, Systematik des Vorgehens und das Abweichen von Routinen und die Bedeutung des Abweichens erkennbar. Habituelle Handlungen der Feldangehörigen sowie die sich in den Handlungen spiegelnden Strukturen entziehen sich oft dem Bewusstsein der Akteurinnen und Akteure. Entsprechend lassen sich keine Handlungsmotive beobachten, sondern nur die konkreten Handlungen selbst. Für einen Vergleich zwischen expliziten Positionierungen zu den Handlungskonzepten und den real zu beobachtenden Handlungen bietet sich die teilnehmende Beobachtung als unverschleierter Blick auf die soziale Praxis an – zumal sich erst hierdurch mögliche Widersprüche zwischen gesagten Konzepten und gezeigten Interaktionen aufdecken lassen. Die Beschreibung der beobachteten Situation steht im Mittelpunkt des Datenerhebungsprozesses, nicht die Interpretation der Situation (zu teilnehmender 132

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Beobachtung vgl. z. B. auch Apel u. a. 1995, Emerson u. a. 1995, Friebertshäuser 1997a, Schaeper 1997, Lüders 2000a, Faulstich-Wieland/ Weber/ Willems 2004). Entsprechend wurden die ethnografischen Protokolle auch ggf. um eine weitere Datensorte ergänzt: die Memos. Hierin wurden Assoziationen, beobachtete Widersprüche und Brüche sowie methodische Erläuterungen (z. B. zur Position der Videokameras bei Aufnahmen etc.) festgehalten. Die teilnehmenden Beobachtungen fanden mehrheitlich, jedoch nicht ausschließlich im Unterrichtsgeschehen statt. Je nach fachkulturellem Setting fanden sich die Protokollierenden hierfür einige Minuten vor dem Beginn der Unterrichtsstunden an dem Unterrichtsort – meist im Klassenraum oder Fachraum – ein. Zu Beginn einer jeden Feldphase musste hierfür in jeder Klasse geklärt werden, welche Plätze üblicherweise frei waren bzw. wo im Raum weitere Stühle aufgestellt werden konnten. Je nach Größe und Anordnung des Raumes ergaben sich hierbei unmittelbare Sitznachbarschaften mit den Lernenden oder aber Sitzpositionen, welche den Protokollierenden vorbehalten waren, von den Lernenden selber jedoch nicht legitim gewählt werden konnten (z. B. im Gang bzw. von vorne in die Klasse blickend neben dem Pult). Bei Tandemprotokollen haben sich in der Regel die beiden Protokollierenden an zwei unterschiedlichen Stellen im Raum positioniert, um so unterschiedliche Perspektiven auf das Geschehen, die Bewegungen im Raum und die Vielzahl der anwesenden Personen sichern zu können. Die teilnehmende Beobachtung war durch keinerlei Fragen oder Beobachtungsleitfaden strukturiert – außer über die generelle, übergreifende Frage des DFG-Forschungsprojektes, nach der die Erforschung „sozialer Konstruktion von Geschlecht in schulischen Interaktionen in der Sekundarstufe I“ gefordert war. Trotz (oder gerade auf Grund?) methodischer Schulungen der Projektmitarbeiterinnen und -mitarbeiter ergaben sich vielfältige unterschiedliche ‚Vorlieben’ für beobachtbare Themen, welche insgesamt sehr dichte Bilder vermittelten, jedoch nicht immer einfach zusammenzudenken waren (z. B. Haarpraktiken der Schülerinnen und Schüler, materielle Ausstattungen der Fachräume, Sitzpositionen). Lediglich Rahmendaten wie Datum, Klasse, Stunde, fehlende oder verspätete Personen, Themen der Stunde und Kürzel der Protokollierenden sowie ggf. Vermerke zu ergänzendem erhobenem Material der Stunde wurden immer festgehalten. Neben den ‚offenen’ Protokollen wurden Personenfokussierungen der Lernenden und der Lehrenden erhoben. Hierfür wurde neben dem allgemeinen Unterrichtsgeschehen pro Protokollantin bzw. Protokollant speziell auf vier Lernende, welche im Idealfall nahe beieinander saßen, oder auf die Lehrkraft geachtet. In diesen Fokussierungen zeigte sich noch einmal deutlich, dass durch die üblicherweise große Anzahl der anwesenden Personen im Raum und die dadurch entstehende dichte Frequenz an parallelen Interaktionen (z. B. Vorderbühnengeschehen vs. Hinterbühnengeschehen) in den 133

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‚normalen’ Protokollen immer nur Ausschnitte verfolgt werden konnten. Ein Nachzeichnen der vollständigen Chronologie einer Unterrichtsstunde wurde hierbei zu Gunsten einer dichten Beschreibung einzelner Sequenzen im Unterrichtsgeschehen hintenan gestellt, wodurch sich besonders für die Auswertung fachkulturell-didaktischer Fragen unüberwindbare Leerstellen ergaben (z. B. lässt sich die Klarheit der Struktur des Unterrichtsaufbaus v.a. dann beurteilen, wenn die Unterrichtsstunde im chronologischen Verlauf deutlich wird). Konstruktinterviews Konstruktinterviews wurden ursprünglich im Bereich der Organisationsforschung und v.a. Organisationsberatung entwickelt (vgl. König/ Volmer 1997). Hintergrund der Entwicklung war, dass diagnostische und beratende Prozesse methodisch getrennt werden sollten. Vor der Beratung sollen entsprechend subjektive Sinnkonstruktionen der Feldangehörigen geklärt werden, um danach organisationsspezifisch beraten zu können. Konstruktinterviews stellen generell eine besondere Form von Leitfadeninterviews dar. Es wird davon ausgegangen, dass subjektive Theorien der Interviewten zu bestimmten Themenbereichen über die von ihnen formulierten Konstrukte ihre Ausdrucksform finden. Es werden also keine oder wenig Kategorien von außen vorgegeben, sondern in offenen Fragen wird die Möglichkeit eröffnet, „persönliche Konstrukte der Wirklichkeit“ (a.a.O.: 144) darzustellen. Die Entscheidung, für die Frage nach subjektiven fachkulturellen Konzepten zusätzlich zu den weiteren bereits erhobenen Daten Interviews mit Fachlehrkräften zu führen, fiel während der letzten Erhebungsphase am EdithBenderoth-Gymnasium. Über diese Interviews sollte v.a. die habituelle Darstellung der Feldangehörigen um eine weitere Nuance verdichtet werden, da von den Lernenden bereits über die quantitative Befragung explizite Positionen vorlagen. Die Lehrkräfte, mit denen zu diesem Zeitpunkt ein enger Kontakt bestand, waren die in diesem Schuljahr aktuell unterrichtenden Fachlehrkräfte. Zugleich war dieses das von mir angedachte Sample, da sich bei diesen Personen noch aktuelle Bezüge zu Unterrichtsbeobachtungen herstellen ließen – welche in den Interviews erfragt werden, um möglichst deutliche Bezüge zum konkreten Feld zu sichern –, während die teilnehmenden Beobachtungen bei den Fachlehrkräften der vorhergegangenen Jahre zum Teil über ein Schuljahr zurück lagen. Die drei Deutschlehrerinnen wie auch die zwei Physiklehrer und die Physiklehrerin kannten mich aus den teilnehmenden Beobachtungen in den Klassen. Alle sechs Fachlehrkräfte waren zu den Interviews gerne bereit. Die Entwicklung des Leitfadens war an das Vorgehen von Konstruktinterviews angelehnt, wonach ca. drei bis sechs Leitfragen und mögliche weitere Nachfragekategorien festgelegt werden. Die verhältnismäßig geringe Zahl 134

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der Leitfragen soll verhindern, den Gedankenfluss der Interviewten allzu häufig zu unterbrechen, gleichzeitig sichert sie bei weniger gesprächigen Gesprächspartnerinnen oder -partnern, dass genügend Themenbereiche angesprochen werden. Insbesondere die Nachfragekategorien dienten der Möglichkeit, den Blick auf bestimmte Themenkomplexe zu weiten, sie wurden jedoch sehr unterschiedlich eingesetzt, da in einigen Interviewverläufen über die Nachfragen Themen zu sehr übergestülpt erschienen. Nachfragen wurden v.a. als Verständnisfragen, als Aufforderung zum freien Assoziieren oder zur Konkretisierung bzw. zum Fokussieren beschriebener Situationen genutzt. Eine sehr detaillierte Aufschlüsselung der Interviewplanung, Konzeption und Durchführung zeigen Eckard König und Gerda Volmer auf (zu Interviews allgemein vgl. z. B. Friebertshäuser 1997b und Hopf 2000). Der Leitfaden und inhaltliche Erläuterungen finden sich im Anhang dieser Arbeit. An unterschiedlicher Stelle im Verlauf der Interviews wurden die mit dem Programm Pajek für jede Klasse für alle drei Jahrgänge entwickelten Interaktionsnetze der Klassenmitglieder eingebracht, auf welche sich die Interviewten bei Bedarf beziehen konnten (zur Konzeption, Lesart und Abbildung dieser Netzwerke vgl. Faulstich-Wieland/ Weber/ Willems 2004: 43 und 2004: 121ff.). Über die Netzwerke ergab sich häufiger die Tendenz, auch Schülerinnen und Schüler in das Gespräch einzubringen, welche bis zu diesem Zeitpunkt weniger Erwähnung gefunden hatten. Die geplante Dauer der Interviews wurde auf Wunsch einiger Lehrkräfte auf ca. 60 bis maximal 90 Minutenverabredet, die tatsächliche Dauer variierte später zwischen 50 Minuten und 130 Minuten. Alle Interviews fanden in von den Lehrkräften selbst gewählten Räumen innerhalb des Schulgebäudes statt, wobei die Physiklehrkräfte alle drei gerne in einem der Physikfachräume oder in der Physiksammlung interviewt werden wollten, die Deutschlehrkräfte einmal im LehrerInnenzimmer, einmal im Beratungsraum und einmal in einem normalen Klassenraum die Interviews abhalten wollten. Sowohl im LehrerInnenzimmer als auch im Beratungsraum fand das Interview auf einer vergleichsweise öffentlichen Bühne statt, es waren sowohl weitere Lehrkräfte kürzerer Zeiträume anwesend als auch im Beratungsraum Schülerinnen und Schüler. Die Wahl der Orte beinhaltet gleichzeitig eine zusätzliche, wenn auch nicht explizit formulierte fachkulturelle Positionierung, welche sich mit den generellen Ortsentwürfen der beiden Fächer deckt (vgl. Kapitel 8). Bei allen Interviews war neben mir als Interviewerin eine studentische Hilfskraft anwesend, welche sich Gesprächsnotizen machte. Diese wurden später in Form von Memos verfasst. Alle Interviews wurden transkribiert. Allen Interviewten wurde angeboten, die transkribierten Interviews zur Validierung vorzulegen, hierfür sah jedoch keine der Personen eine Notwendigkeit.

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SCHULISCHE FACHKULTUREN UND GESCHLECHT

Ebenso wie über die pluralen Erhebungsmethoden wurde versucht, über die unterschiedlichen Auswertungsmethoden variable Zugänge zu Feldaussagen zu gewinnen. Folgende Auswertungsmethoden kamen in dieser Untersuchung zum Einsatz: x Computergestütze Datenauswertung durch WinMAX® bzw. später MaxQDA® x Sequenzanalysen der ethnografischen Protokolle sowie der Audio- und Videoaufzeichnungen x Validierung der Datenauswertungen in teaminternen Projektsitzungen, interdisziplinären Colloquien sowie auf Fachtagungen x Erstellung von Interaktionsnetzwerken durch Pajek® x Auswertung der quantitativen Erhebungen durch SPSS® x Methodenvariable Vergleiche (z. B. ethnografisches Protokoll vs. Videomitschnitt) Die Pluralität der Auswertungsweisen, welche eingesetzt wurden, zeigt, auf wie vielen verschiedenen Ebenen mit den erhobenen Daten umgegangen wurde, ehe sich Aussagen daraus generieren ließen. Die Auswertungen beziehen sich auf unterschiedliche Ausschnitte des Forschungsprozesses: Es wurden sowohl methodenhinterfragende Auswertungen vorgenommen (z. B. über die methodenvariablen Vergleiche gleicher Sequenzen, vgl. dazu auch FaulstichWieland/ Weber/ Willems 2004: 33ff.), deren Ergebnisse z. T. unmittelbar für weitere Erhebungssituationen fruchtbar gemacht werden konnten, als auch z. B. über lange Zeiträume individuell und/ oder im Team für die computergestützten Auswertungen Codes induktiv entwickelt und später validiert wurden. Zudem wurden alle unterschiedlichen Textsorten (schriftliche Protokolle, Audioaufnahmen und deren Transkripte, Videomitschnitte und – soweit erstellt – deren Transkripte, aber auch Raumpläne, Fotografien etc.) in kleinschrittigen Verfahren sequenziert und v.a. nach turn-by-turn-Analysen (vgl. Krummheuer/ Naujok 1999: 67) innerhalb eines Dokument oder aber dokumentenkomparativ analysiert. Hierfür wurden z. T. auch quantifizierende Materialübersichten erstellt. Einige Auswertungsraster wurden im Laufe der drei Erhebungsphasen konsequent immer weiter verfeinert, andere nur einmalig eingesetzt. Fast immer orientierten sich die Auswertungen von Texten an rekonstruktiven Verfahren. Ausführlichere Einblicke sollen an dieser Stelle in die Validierung der Datenauswertungen in unterschiedlichen Kontexten gegeben werden, da hierin eine Methode zu sehen ist, welche bislang in Methodenhandbüchern wenig beachtet wird. Zu den weiteren auswertenden Vorgehensweisen finden sich ausführliche Darstellungen z. B. bei Kuckartz 1997 und Kelle 2000, zur 136

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computergestützten Auswertung über MaxQDA®, Pajek® (vgl. hierzu auch Faulstich-Wieland/ Weber/ Willems 2004: 43 und 121ff.) und SPSS® sowie zur Sequanzanalyse v.a. bei Bohnsack 1984 und 1993, bei Bohnsack/ Nohl 2001, aber auch bei Budde 2005. Kollektives Validieren der Dateninterpretationen Laut Clifford Geertz ist eine Datenanalyse „das Herausarbeiten von Bedeutungsstrukturen“ (1987: 15). Beim mehrmaligen Bearbeiten eines Protokolls ergeben sich fast immer unterschiedliche Lesarten dieser Strukturen – und dieses unabhängig davon, ob es durch verschiedenen Personen parallel oder durch eine einzelne Person mehrfach gelesen wird. Vergleichbar gilt dieses auch für die Umgangsweise mit anderen Datensorten. Die unterschiedlichen Interpretationen sind durch das jeweilige Hintergrundwissen, Informationen über kontextuelle Zusammenhänge des Ausschnitts und subjektive Interessen bedingt. Die Lesarten stellen immer nur Annäherungen dar, sie bleiben subjektive Konstruktionen, dennoch lassen sich zumindest die Begründungen für die Lesarten verdichten bzw. lässt sich der Grad der Kontextualisierung erhöhen. Ein besonders wirkungsvolles Vorgehen, um den Umgang mit variablen Lesarten zu verbessern und dennoch aus ihnen Aussagen zu ermöglichen, ist die kollektive Validierung von Textstellen. Erstaunlicherweise wird diese Methode in Methodenhandbüchern kaum behandelt, allerdings setzen sich Christian Lüders (2000b) und Ines Steinke (1999) mit der Thematik auseinander. Bei Lüders findet sich im Kontext der Problematik von Reichweite und Gültigkeit qualitativer Forschung der Vermerk, dass die Arbeit in einer Forschergruppe eine Antwort auf die z. T. wenig systematischen, seiner Meinung nach aber notwendigen Beratungs- und Validierungsprozesse bildet: „Denn die Erfahrung zeigt, dass derartige Strukturen der kollektiven Beratung erheblich zur Validierung, Systematisierung und zur theoretischen Einordnung der Ergebnisse beitragen können.“ (2000b: 641). Auch Ines Steinke sieht in Gruppendiskussionen über das Material die Möglichkeit einer Qualitätssicherung durch „intersubjektive Nachvollziehbarkeit“ (1999: 207). Um die Produktivität dieses Vorgehens für das hier verwendete Datenmaterial zu verdeutlichen, werden hier verschiedene Kontexte vorgestellt, in denen Ausschnitte aus der Studie zur Diskussion gestellt wurde. Dabei wurde zum Teil ‚Rohmaterial’, d. h. bislang unbearbeitete Datenausschnitte eingesetzt – außerhalb des Forschungsteams immer anonymisiert. Zum Teil wurden Rohmaterial und vorgeschlagene Lesart bzw. deren Auswertung gemeinsam präsentiert, es wurden jedoch auch reine Interpretationspassagen (z. B. Veröffentlichungen) debattiert, ohne dass das Originalmaterial erneut hinzugezogen wurde. Den wichtigste Kreis für die kollektive Auseinandersetzung stellt das Forschungsteam des DFG-Projektes dar. Durch die über die Laufzeit wechselnde 137

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Zusammensetzung fanden sich hier immer wieder Forschende zusammen, welche über unterschiedlich lange Zeiträume mit dem Forschungsfokus und dem Datenmaterial vertraut waren. Zudem entstanden durch die interdisziplinären Backgrounds des Teams und die verschiedenen wissenschaftlichen Arbeiten aus diesem Kreis unterschiedliche Interessensschwerpunkte. Durch diese ‚Mischung’ war die Gruppe gezwungen, immer wieder Selbstverständlichkeiten, Vorannahmen und Thesen zu überdenken bzw. neu zu begründen. Die Annäherung an das Datenmaterial aus unterschiedlichen theoretischen Richtungen eröffnete so die Möglichkeit eines kontinuierlichen Abgleichs unterschiedlicher Lesarten. Durch die längere Vertrautheit mit dem Feld unterlag die Herstellung bzw. Aufrechterhaltung eines eigenen befremdeten Blicks auf das Feld immer wieder Risiken. Gerade über quereinsteigende Teammitglieder, welche weniger Informationen über kontextualisierende Zusammenhänge und Entwicklungen des Feldes hatten, wurden Deutungen erklärungsbedürftig – und damit reflektiert. Auch mögliche vorschnelle Interpretationen durch Déjà vu-Situationen im Feld wurden z. T. korrigiert über die Nachfragen der Projektangehörigen, welche in der konkreten Situation nicht anwesend waren, aber mit dem erstellten Datenmaterial weiter arbeiten sollten und wollten. Im Verlaufe des Projektes entstanden so Lesarten durch Personen, welche an den Erhebungen beteiligt gewesen waren, aber auch intensive Auseinandersetzungen mit dem Material durch Personen, welche nicht selber im Feld gewesen waren. Diese Position ermöglichten einen zusätzlich veränderten Blick.81 Im Rahmen von Mitgliedschaften in dauerhaft angelegten interdisziplinären Workshops und Forschungskolloquien, in denen sich über die Zeit Vertrautheit mit dem Forschungskontext, jedoch jedes Mal eine gewisse Unvertrautheit mit dem spezifischen Material ergab, wurden – bedingt durch die disziplinenspezifisch unterschiedlichen Methodenrepertoires der Teilnehmenden – speziell methodische Verfahren und deren Triangulationen überprüft. Ebenso boten diese Kreise geeignete Foren für die Diskussion der Analyseergebnisse als wissenschaftliche Texte. Vorteilhaft war in diesen Gruppen, dass sich über die längerfristige Zusammenarbeit gleichzeitig eine emotionale Bindung der Teilnehmenden untereinander und damit gekoppelt auch ein Interesse an deren Forschungsarbeiten ergab, zugleich aber der vertraute Rahmen für die Artikulation kritischer Anmerkungen genutzt wurde. Eine weitere bedeutsame Rolle in bezug auf die Validierung und Kommentierung der (teil-)ausgewerteten Daten kam den Feldangehörigen selber zu. Im Rahmen von zwei schulöffentlichen Feedbackveranstaltungen meldeten Mitglieder des DFG-Forschungsteams generelle, klassenspezifische und 81 Zur Problematik der Auswertung von fremderhobenem Material vgl. Budde (2005: 73).

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4. FORSCHUNGSDESIGN

aus eigenem Forschungsinteresse bearbeitete Ausschnitte der Studie zurück. Diese Veranstaltungen wurden ausschließlich von Lehrenden besucht. Wegen deren besonderer Rolle als Feldexpertinnen und Feldexperten waren Skepsis wie auch Zustimmung für die Fortsetzung des Kurses bezüglich der Auswertungsverfahren und -aussagen immens bedeutsam, weil hierüber validiert werden konnte, ob die Bemühungen um eine Beschreibung der institutionsspezifischen Strukturen und ihrer versteckten Selbstverständlichkeiten geglückt schien oder nicht. Zugleich empfanden wir diesen Akteurinnen und Akteuren gegenüber eine besondere forschungsethische Verantwortung. Dies war völlig anders bei der Präsentation des Materials auf disziplinenspezifischen und/ oder interdisziplinären Workshops und Tagungen, wo meist in verhältnismäßig kurzer Zeit an spezifischen Ausschnitten gearbeitet wurde. Hier war nur eine eher rudimentäre Vertrautheit mit dem Projekt und der Fragestellung gegeben, auch die Teilnehmenden der Arbeitsgruppen kannten sich in der Regel nicht oder wenig. Der Vorteil dieser Gruppen lag jedoch darin, dass hier fachkulturell spezifische Lesarten zu den kulturvergleichenden Datenausschnitten angeboten wurden, welches eine andere Art der Befremdung darstellte (z. B. wenn Physiklehrkräfte Sequenzen aus dem Deutschunterricht interpretierten). Diese Irritationen waren im Sinne ethnografischer Forschung erwünscht. Multidimensionale Lesarten wurden besonders auf Tagungen nutzbar, die inhaltlich und thematisch verschiedene Teildimensionen der Fragestellung verbanden (z. B. Gender und Fachkultur bzw. Interkulturalität und Raumforschung). Resümierend lässt sich also festhalten, dass die bewusst gesuchte kontiniuierliche Validierung und Korrektur des methodischen Verfahrens und der Interpretation der Daten in unterschiedlichen Gruppen einen dauerhaften Prozess ermöglichte, in welchem Fragestellungen, Datenzugänge und getroffene Aussagen changierend zwischen Konstruktion und Rekonstruktion gehalten wurden. Meines Erachtens ist Lüders (2000b) also voll zuzustimmen, wenn er in kollektiven Beratungsstrukturen eine Möglichkeit der Qualitätssicherung qualitativ-empirischer Forschung sieht.

4.2.2.

Überblick über das erhobene Datenmaterial82

Ethnografische Forschung zeichnet sich unter anderem durch die länger andauernde Präsenz im Forschungsfeld aus. Im Rahmen des DFG-Forschungsprojektes „Soziale Konstruktionen von Geschlecht in der Sekundarstufe I“ wurde insgesamt in drei aufeinander folgenden Feldphasen nach je-

82 Ein tabellarischer Überblick über die erhobenen Daten findet sich im Anhang dieser Arbeit.

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weils etwas unterschiedlichen Prämissen beobachtet, weil sich der Forschungsfokus und damit das gewählte Feld im Laufe der Phasen verengte. In der ersten Feldphase wurden die drei Beobachtungsklassen nacheinander über mehrere Wochen in vielen unterschiedlichen Fächern beobachtet, hierbei entstanden 179 Protokolle von 123 Unterrichtsstunden. Entsprechend wurde in 56 Unterrichtsstunden im Tandemverfahren protokolliert, d. h. zwei Personen waren an verschiedenen Orten im Unterrichtsgeschehen anwesend, formulieren ihre Protokolle jedoch unabhängig voneinander, so dass z. T. gleiche, z. T. aber auch unterschiedliche Ausschnitte des Feldes in den Blick kommen. In 23 Stunden wurden Video- bzw. Audiomitschnitte angefertigt, diese jedoch nicht transkribiert.83 Im Laufe der zweiten Feldphase verdichtete sich der Forschungsfokus auf weniger Fächer (Deutsch, Englisch, Biologie, Mathematik und Physik)84. Nun wurden alle Klassen parallel beobachtet, allerdings in weniger Fächern. Hier wurden 80 Unterrichtsstunden beobachtet, 16 davon durch Audio- oder Videotranskriptionen erfasst. Von den 78 ethnografischen Protokollen dieser Feldphase stellen 10 Tandemprotokolle dar. In der dritten Feldphase ist eine weitere Protokollart dazugekommen: 36 der 139 in dieser Feldphase erstellten ethnografischen Protokolle sind Fokussierungen von Lernenden (jeweils vier Lernende wurden hierfür in einer Stunde beobachtet), zusätzlich gibt es acht Stunden, in denen die Lehrenden fokussiert wurden. Material wurde zu 92 Unterrichtsstunden erstellt, davon 83 Da einige Unterrichtsstunden durch verschiedene, parallel erhobene Methoden dokumentiert wurden, und andere Situationen außerhalb des Unterrichtes protokolliert wurden, weicht die Anzahl der beobachteten Unterrichtsstunden teilweise von der Summe der Protokolle ab. 84 Ursprünglich war geplant, während der jeweiligen Feldphasen alle Unterrichtsstunden in den Fächern Deutsch, Englisch, Biologie, Mathematik und Physik in den drei Klassen zu beobachten. Mit Deutsch und Englisch hat man zwei sprachliche Fächer, die eher ‘weiblich’ konnotiert sind, mit Mathematik und Physik zwei eher ‘männlich’ konnotierte Fächer und mit Biologie eine Naturwissenschaft, die von den Belegzahlen in den gymnasialen Oberstufen und im Studium eine Mädchendominanz aufweist. Biologie erwies sich dabei als nicht auswertbar: In der A-Klasse fanden in der ersten Feldphase nur zwei Biologiestunden statt. Im 9. Jahrgang wird kein Biologie erteilt. Im 10. Jahrgang erhielten wir keinen Zugang zu den Biologiestunden. In der B-Klasse wurden während des 7. und 8. Jahrgangs die Biologiestunden häufig als Klassenlehrerstunden genutzt. Einzig in der C-Klasse konnte im 7. und 8. Jahrgang am Biologieunterricht teilgenommen werden. Physik wurde erst ab dem 8. Jahrgang erteilt, in den Klassen B und C jedoch auf Englisch, so dass sich hier eine spannende Perspektive ergibt, nämlich eine ‘männlich’ konnotierte Naturwissenschaft in einer Fremdsprache unterrichtet zu sehen. Dafür wurde Englisch als Unterrichtsfach nicht mehr ausführlich beobachtet. Die Fokussierungen der Schülerinnen und Schüler erstreckten sich folglich auf die Fächer Deutsch, Mathematik und Physik.

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4. FORSCHUNGSDESIGN

sind 31 Stunden im Tandem erhoben worden, 24 Stunden wurden transkribiert. Zusätzlich gibt es Protokolle von Gesprächen mit Schülerinnen und Schülern sowie Pausenbeobachtungen. Über alle drei Feldphasen liegen damit aus dem gesamten Projekt insgesamt fast 400 ethnografische Protokolle zu Unterrichtsstunden sowie Gesprächen mit Schülerinnen und Schülern bzw. Lehrerinnen und Lehrern vor. Fast 300 Stunden wurden während der drei Schuljahre in den drei Klassen beobachtet, davon fast 100 Stunden im Tandem. In 36 Stunden wurden dabei einzelne Schülerinnen und Schülern fokussiert, in weiteren acht Stunden lag der Fokus der Beobachtung auf den Lehrkräften. Von 73 Unterrichtsstunden liegen Audioband- bzw. Videomitschnitte vo r, 36 davon sind transkribiert. Zudem liegen 29 separate Sitzpläne aus den drei Erhebungsphasen vor. Ergänzend wurden mit Schülerinnen und Schülern die an einem Tag erhobenen Videomitschnitte von Stunden am Ende des Schultages in Kleingruppen gemeinsam angesehen und im Sinne der Methode des „Nachträglichen Lauten Denkens“ (vgl. Weidle/ Wagner 1982) kommentiert. Die Mitschnitte wurden hierfür entweder auf Wunsch der Lernenden selber oder durch eine der Forscherinnen unterbrochen und die Lernenden nach ihren Assoziationen befragt. Diese Gespräche wurden protokolliert und per Audioaufnahmen aufgezeichnet und später transkribiert. Auch mit Lehrkräften wurden Interviews geführt, aufgezeichnet und später transkribiert. Zusätzlich zu den qualitativen Daten wurde jeweils zum Halbjahrswechsel alle Klassen der beteiligten Jahrgänge der drei Beobachtungsklassen mit standardisierten Fragebögen befragt (eine zusammenfassende Darstellung des Fragebogensfindet sich im Anhang). In Kapitel 5 dieser Arbeit findet sich eine ausführliche Darstellung des Samples und der erfragten Aspekte. Da die Erhebungen wie auch die Auswertungen über die gesamte Projektlaufzeit immer wieder im Team vorgenommen und besprochen wurden und ich selber auch in diversen anderen Fächern Daten erhoben habe, bleibt der Einfluss der Eindrücke auch aus anderen Fächern als Deutsch und Physik für den hier angelegten Auswertungsfokus nicht aus. Dennoch wurden für die Untersuchungen des Physik- und Deutschunterrichts schwerpunktmäßig folgende Aufzeichnungen herangezogen: Aus der ersten Erhebungsphase stehen 20 Protokolle aus dem Deutschunterricht zur Verfügung, davon sieben als Tandemprotokolle, welche in insgesamt 13 Stunden erhoben wurden. Zusätzlich wurde ein Video- und zwei Audiotranskripte erstellt. 141

SCHULISCHE FACHKULTUREN UND GESCHLECHT

Aus dem Physikunterricht konnten nur Daten aus der Klasse A erhoben werden, weil in den beiden anderen Klassen noch kein Physikunterricht erteilt wurde. Es wurden in der Klasse A vier Stunden protokolliert, davon drei im Tandem, also entstanden sieben Protokolle. Zusätzlich wurde ein Sitzplan erstellt und eine Stunde videografiert. In der zweiten Feldphase wurden in Deutsch in 19 Stunden insgesamt 22 Protokolle verfasst, davon drei als Tandemprotokolle. Weiterhin gab es sechs Audiomitschnitte, einen Videomitschnitt und zwei Sitzpläne. Aus dem Verfahren des „Nachträglichen Lauten Denkens“ in zwei Gruppen entstanden zwei Transkripte und zwei Tandemprotokolle. In Physik wurden 15 Stunden beobachtet, darüber wurden 15 Protokolle geschrieben, drei davon als Tandems, zusätzlich wurden in drei Stunden Audiotranskripte und von zwei Stunden Videomitschnitte erstellt. Vier Physiksitzpläne wurden verfasst und in einer Gruppe ein Transkript und zwei Tandemprotokolle zum Nachträglichen Lauten Denken protokolliert. In der Feldphase drei wurden in Deutsch über 28 Stunden insgesamt 35 Protokolle geschrieben, sieben davon als Tandemprotokolle. Lehrkräfte wurden zweimal fokussiert, die Lernenden zwölfmal. Zusätzlich wurden neun Audiomitschnitte erstellt, zwei Videomitschnitte und sieben Sitzpläne aus dem Deutschunterricht. Zu Physik liegen aus der dritten Feldphase zu 29 Stunden Material vor, 36 Protokolle wurden verfasst, sieben als Tandem. Fünfmal wurden die Physiklehrkräfte fokussiert, zwölfmal die Lernenden. Darüber hinaus wurden sechs Audiomitschnitte und vier Videoaufzeichnungen transkribiert. Siebenmal wurden Sitzpläne erstellt. Zusammengefasst ergeben sich also zu Deutsch im Laufe der drei Feldphasen 63 protokollierte Stunden, welche siebenmal in Tandems und insgesamt in 74 Protokollen beschrieben wurden. Zwei Fokussierungen der Deutschlehrkräfte, 12 der Deutschlernenden, neun Sitzpläne sowie vier Videomitschnitte und 18 Audioaufzeichnungen ergänzen die Daten zu Deutsch. Herangezogen werden können weiterhin die zwei Transkripte und zwei Tandemprotokolle aus dem Nachträglichen Lauten Denken. In Physik wurden etwas weniger, nämlich 48 Stunden insgesamt erfasst, davon 13 Tandemprotokolle geschrieben und insgesamt 58 Protokolle. Hier wurden die Lehrkräfte fünfmal, die Lernenden 12 Mal fokussiert. 13 Sitzpläne wurden erstellt, neun Audio- und sieben Videoaufzeichnungen gemacht und aus dem Nachträglichen Lauten Denken entstanden ein Transkript und ein Tandem.

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4. FORSCHUNGSDESIGN

Ergänzend wurden in den Physikfachräumen Fotos erstellt und in geringem Umfang Dokumentenanalysen herangezogen. Um die Sichtweisen der Fachlehrenden expliziter in den Fokus nehmen zu können, wurden in der letzten Feldphase von mir Konstruktinterviews (vgl. König/ Volmer 1997) mit den je drei Deutsch- und Physikfachlehrkräften aller drei Klassen geführt.

4.3. Methodenreflexion: Chancen und Risiken ethnografischer Zugänge Bourdieus methodologische und wissenschaftstheoretische Überlegungen werden – auch in der fachkulturellen Forschung und im Gegensatz zu einem regelrechten Boom, mit dem Bourdieus Ansätze sonst rezipiert werden – bisher verhältnismäßig wenig wahrgenommen. Anhand des Konzeptes der symbolischen Gewalt stellt Bourdieu dar, inwieweit sich Beziehungen zwischen Forschenden und Beforschten als Herrschaftsverhältnisse lesen lassen.85 Deutlich wird dabei: Vorwissenschaftliche und wissenschaftliche Erkenntnis können nicht gleichgesetzt werden, sondern eine wissenschaftliche Betrachtung sollte zunächst den Eigensinn der Praxis betonen – und damit die Tatsache, dass auf der Ebene der alltäglichen Praxis sozialen Handelns andere Gesetze herrschen als im Bereich der das wissenschaftliche Denken bestimmenden Logik (1987a: 26ff.). Praktische Handlungen lassen sich also nicht darauf reduzieren, Anwendungen bestimmter (wissenschaftlich) beobachtbarer Regeln zu sein. Handeln ist nicht als das reine Umsetzen von Regeln zu verstehen, es gibt eine eigene „praktische Logik“, welche durch die Anwendung einiger weniger (unbewusster) generativer Schemata, die nicht mit Regeln gleichzusetzen sind, gesteuert wird. Zentral für Bourdieu ist die Fragestellung, wie eine forschende Person sicherstellen kann, dass sie ihr/ sein ‚Objekt’ wissenschaftlich erfasst. Verschiedene Voraussetzungen sind nach Bourdieu essentiell, um Übersetzungsrisiken auszuschließen bzw. zu minimieren. Entscheidend sind hierbei die unterschiedlichen Logiken, in denen sich wissenschaftlich forschende Personen und handelnde Akteure in Hinblick auf ein soziales Feld bewegen. Deutlich wird dieses durch die unterschiedlichen Bedingungen, welchen Forschende und Feldangehörige in einem Beobachtungsfeld unterliegen: Zum 85 Bourdieus Forderung ist, dass die Sichtweisen von WissenschaftlerInnen auf Selbstverständlichkeiten in Denk- und Wahrnehmungsschemata bezüglich der beobachteten Felder untersucht werden müssen. Dadurch wird deutlich, inwiefern sich der forschende Blick als ‘Draufsicht’ und die alltägliche Handlungspraxis der sozialen Felder voneinander unterscheiden.

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SCHULISCHE FACHKULTUREN UND GESCHLECHT

einen gibt es für Forschende die Möglichkeit einer künstlich hergestellten Zeitlosigkeit im Umgang mit dem erhobenen Material. Während der zeitliche Kontext sozialer Handlungen chronologisch fortschreitend und irreversibel ist, jede Handlung also in ein Davor bzw. Danach einbettet ist, kann wissenschaftliche Forschung diese Handlungen quasi ‚zeitlos’ analysieren und Sequenzen in andere Zusammenhänge stellen als in die chronologisch real davor oder danach liegenden; das Verorten in einem zeitlichen Ablauf ist hier möglich, jedoch nicht zwingend. Daraus können sich im Laufe des Forschungs- und Auswertungsprozesses veränderte Lesarten derselben Datenausschnitte ergeben, wobei m. E. die zeitlich späteren nicht zwingend die besseren oder treffenderen Interpretationen sein müssen. Hier gilt es die jeweiligen Assoziationen der Interpretationen zu reflektieren – und ggf. sogar in Form von Memos festzuhalten. Für wissenschaftliche Zugänge gilt zum anderen generell das Primat der Handlungsentlastetheit praktischer Zwänge. Die theoretische ‚Draufsicht’ intellektueller Wissenschaft unterliegt oft dem Risiko eines „Intellektualozentrismus“ (Bourdieu 1987a: 56), darunter versteht Bourdieu eine unhinterfragte Übertragung der praktischen und der Praxis implizit bleibenden Handlung und Erkenntnisweise auf die handlungsentlastete (objektivistische) wissenschaftliche Sicht, bildlich gesprochen wird so der „Standpunkt des Schauspielers mit dem des Zuschauers“ verwechselt (a.a.O.: 151). Ein entscheidender Faktor für die Schwierigkeit einer Beschreibung der Logik der Praxis aus wissenschaftlich-objektivistischer Perspektive liegt Bourdieu zufolge darin, dass forschende Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen die Tendenz haben, ihren Standpunkt in einem hierarchisch-wertenden Verhältnis höher anzusiedeln als den „Alltagsverstand“ sozialer Praxis (a.a.O.: 55). Seiner Meinung nach ist für eine adäquate wissenschaftliche Perspektive zunächst eine Offenheit für Alltagserfahrungen notwendig, wobei das wissenschaftliche und alltägliche Begreifen eines sozialen Feldes oder einer konkreten Handlung nahe beieinander liegen, da die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus vorwissenschaftlichen Erfahrungen oft mit den Forschungsfeldern vertraut sind. Die von mir für diese Studie gewählten Foki greifen diese Überlegungen unmittelbar auf: Das Sample fasst ‚normale’, also alltägliche Unterrichtsstunden, und auch der ethnografische Blick auf fachkulturelle Orte und Räume richtet sich nicht auf Besonderheiten im schulischen Alltag, sondern auf sich wiederholende alltägliche Abläufe. Entscheidend war jedoch, dass hiermit Ausschnitte aus schulischem Alltag betrachtet werden, welche in ihrer Herstellungspraxis eben durch ihre Alltäglichkeit und routinierte Handhabung eher wenig Aufmerksamkeit und Reflexion erfahren. Für die schulischen Akteure stellen sie Routinehandlungen dar. Insofern bietet die Handlungsentlastetheit 144

4. FORSCHUNGSDESIGN

in der Forschungsperspektive eine zentrale Rahmenbedingung und zugleich eine Entscheidungsbasis für die Wahl der Foki. In verschiedenen Schritten habe ich meine eigene Vertrautheit mit dem Feld – zudem aus doppelter Perspektive: als Schülerin, aber auch als Lehrerin – reflektiert und in Memos dokumentiert, um so eine klare Trennung zwischen alltäglicher und wissenschaftlicher Betrachtung zu sichern. Zudem habe ich während der Feldaufenthalte quasi auf einer Metaebene beobachtet und anschließend reflektiert, wie ich selber im Feld wahrgenommen wurde. Damit greife ich Bourdieus Anregung auf, dass eine Betrachtung der Gesamtsituation aus verschiedenen Standpunkten bzw. eine Betrachtung meiner selbst von außen auch die Besonderheiten des Forscherinnenstandpunktes spiegelt. Die hier dargestellten Reflexionen beziehen sich auf meine Rolle der teilnehmenden Beobachterin im Feld. Hintergrund ist der Anspruch ethnografischer Forschung – und insbesondere teilnehmender Beobachtung – den Spagat zu leisten zwischen der möglichst dichten teilnehmenden Anwesenheit im Feld und dem Risiko, ob durch die Anwesenheit der Forschenden nicht das „natürliche Feld“ (Krappmann/ Oswald 1995) zerstört werden könne. Die Beobachtungen sollten also zugleich die ungestörte Routine des alltäglichen Geschehens einfangen, zugleich sollte die forschende Person die analytische Distanz wahren und möglichst die Quadratur des Kreises vollziehen und im Feld gleichzeitig anwesend und scheinbar nicht anwesend sein. Lothar Krappmann und Hans Oswald halten die simulierte Unsichtbarkeit zumindest im Beobachtungsfeld Schule für keine gute Entscheidung und begründen diese Position damit, dass die ‚Störungen’ durch die Anwesenheit von Beobachtenden den Feldangehörigen möglicherweise sogar gerade Interaktionskompetenzen des üblichen Handlungsrepertoires entlocken, welche als besonders fruchtbar für das Bemühen um Feldeindrücke gewertet werden können (vgl. a.a.O.: 44). Auffallen würden die Forschenden laut Krappmann und Oswald ohnehin, dafür stellt ein Klassenraum ein zu besonderes und ‚prekäres’ Territorium dar, als dass klassen- bzw. schulfremde Personen dort unbemerkt bleiben könnten, jedoch sei nichts irritierender als fehlende Informationen über den Grund der Anwesenheit dieser feldfremden Person. Entsprechend gelte es gerade, dem Informationsbedürfnis der Feldangehörigen zu entsprechen und „die Aushandlung seiner Identität aktiv mitzubetreiben“ (a.a.O.: 45). Durch die Selbstverständlichkeit, jederzeit nachfragen und in die Notizen Einsicht erhalten zu können, erlahme das Interesse der Jugendlichen schnell, so dass sich wieder die erwünschte ‚Feldnormalität’ einstelle (ebd.). Ich teile Krappmanns und Oswalds Auffassung darüber, dass bei qualitativer Forschung die Anwesenheit der Forscherin immer auch das jeweilige Feld beeinflusst. Dieser Einfluss ist bisweilen sehr schwer überprüfbar, da er selten 145

SCHULISCHE FACHKULTUREN UND GESCHLECHT

unmittelbare und bewusste Reaktionen hervorruft. Generell galt für unsere Beobachtungen die Prämisse, dass im Falle einer Nichterwünschtheit unserer Anwesenheit im Feld wir dieses selbstverständlich respektiert und das Feld nicht aufgesucht haben. An dieser Stelle gilt es jedoch auch für die für unsere Anwesenheit geöffneten Feldsituationen eine Rekonstruktion meiner Position im Feld vorzunehmen, um damit im Sinne des analytischen Realismus eine Transparenz des Forschungsprozesses und eine reflexive Distanz zur eigenen Forschungssituation herzustellen. 86 In Bourdieus Sinne kann hierbei von einem „epistemologischen Bruch“ (vgl. Krais/ Gebauer 2002: 13) mit dem biographisch geprägten Standpunkt der forschenden Person gesprochen werden; dieser ist nötig, um eine wissenschaftliche Betrachtungsweise zu sichern. Die forschende Person macht sich selbst zum Bestandteil der Forschung und gewinnt so die Möglichkeit, den eigenen Standpunkt zu objektivieren, indem er vom Standpunkt anderer – also von außen – betrachtet wird. Die Besonderheiten der eigenen Position werden so aufgedeckt. Da mir durch meine Biografie das Feld Schule – speziell auch das Gymnasium – aus doppelter Perspektive (als Schülerin und auch als Lehrerin) sehr vertraut ist, schien mir eine bewusste Entkoppelung alltäglicher und wissenschaftlicher Betrachtungsweise des Feldes umso bedeutsamer. Ich habe daher versucht anhand verschiedener von den sozialen Akteuren und Akteurinnen des Feldes explizit vorgenommener Zuschreibungen meine eigene Position im Feld zu reflektieren. Dieses bedeutet nicht zwingend, dass weitere Charakteristika von mir als Forscherin im Feld keinerlei Relevanz im Forschungsprozess gehabt hätten (z. B. meine eigene Geschlechtszugehörigkeit), diese lassen sich lediglich nicht anhand protokollierter Äußerungen oder Handlungen als Standpunkte der Teilnehmenden des Feldes belegen. Im Verlauf der drei Feldphasen hat es viele Situationen gegeben, in denen direkte Gesprächskontakte zwischen den Schülern oder Schülerinnen und mir stattgefunden haben. In der Mehrzahl der Fälle ging es dabei um die Forschungsmethoden (z. B. „Warum kommt der Kameramann XY nicht mehr?“) oder um internes Wissen, um welches wir die Klassenmitglieder baten (z. B. Sitzpläne, „In welchem Raum findet morgen Physik statt?“ etc.). Bei den 86 Analytischer Realismus gründet auf der Sicht, dass die soziale Welt eine interpretierte Welt ist, und zwar sowohl interpretiert durch die befragten Personen als auch durch die Forschung betreibende Person. Er akzeptiert, dass die Bedeutung und das Wissen, das durch Forschung entsteht, durch einen Kommunikationsprozess diskursiv gewonnen wurde. Er hält jedoch an der Vorstellung fest, dass die Personen, Phänomene und Institutionen usw., die den Leserinnen und Lesern näher gebracht werden sollen, dicht, differenziert und in aller Komplexität und Vielstimmigkeit dargestellt werden sollten. Von ganz besonderer Bedeutsamkeit sind dabei Transparenz und Reflexivität in Bezug auf den Forschungsprozess (vgl. hierzu Hu 2001, aber auch Altheide/ Johnson 1994).

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4. FORSCHUNGSDESIGN

Kontakten mit den Lehrenden handelte es sich v.a. um Begrüßungen zu Beginn der Stunden oder Absprachen, wann wir wie anwesend sein würden. In einigen wenigen Fällen haben schulische Akteure meine bzw. unsere Anwesenheit im Feld auf spezifische Weise thematisiert. Zum einen betrachte ich hierfür Sequenzen, in denen sich schulische Akteure erkennbar auf mich bezogen und damit das sonst vorrangige Interaktionsmuster der LehrendenLernenden-Interaktion, in welcher wir eine passiv-beobachtende Rolle einnahmen, durchbrochen haben. Zum anderen zeigen sich speziell in den Interviewsituationen von Lehrkräften (fachkulturell unterschiedlich) vorgenommene Kontextualisierungen, welche mich in verschiedener Form als dem Feld zugehörig bzw. nicht zugehörig verorteten. Von Seiten der Akteurinnen und Akteure wurde auf meine Anwesenheit im Feld explizit v.a. dann Bezug genommen, wenn die Handelnden den Radius meiner bzw. unserer Funktion im Feld und der daraus folgenden Handlungen überprüfen bzw. in ihrem Sinne neu justieren wollten. Dieses zeigt sich in einer Situation, in welcher die unterrichtende Lehrkraft während der Stunde den Klassenraum für kurze Zeit verlassen wollte, und mich bat die Aufsicht zu übernehmen: „Er bittet die Ss, sich möglichst ruhig zu verhalten und zu arbeiten und ruft mir beim herausgehen zu: „Vielleicht können Sie ja aufpassen, dass hier nicht alles über Tische und Bänke springt?!“. Ich nicke ihm zu.“ (Bmb91015k)

Durch diese Bitte wird zugleich deutlich, dass eine Verantwortlichkeit von meiner Seite als Erwachsene, Lehrende etc., die in einer Unruhesituation in der Klasse von sich aus für Ordnung sorgen würden, von der Lehrkraft nicht als selbstverständlich vorausgesetzt wurde, sondern ich explizit um ein Verlassen der unbeteiligten Beobachterinnenrolle gebeten werden musste. Ein Beispiel einer Absicherung durch einen Schüler stützt die Annahme, dass den Ethnografinnen unseres Forschungsteams – also auch mir – in erster Linie eine Beobachterinnenrolle zugeschrieben wurde, welche für ihn in seiner Rolle als Schüler und dem dazugehörigen doing student nicht gefährlich werden konnte: in der Pause vor einer Mathestunde in der Klasse B, in der einige Schülerinnen und Schüler eine Arbeit nachschreiben sollen, bereitet Knut die anwesende Protokollantin schon einmal darauf vor, dass er im Folgenden „Ninas Hilfe in Anspruch nehmen wolle“ (Bm00126j), also plant, abzuschreiben. Durch die Mitteilung offenbart er den geplanten Regelverstoß, sichert sich jedoch zugleich ab, dass die Protokollantin diesen nicht öffentlich machen würde. Durch das bereits entgegengebrachte Vertrauen, den Regelverstoß überhaupt mitzuteilen und sich danach erst abzusichern, wird deutlich, dass der Schüler die Protokollantin in erster Linie für ‚neutral’ hält, die 147

SCHULISCHE FACHKULTUREN UND GESCHLECHT

Absicherung spricht jedoch für eine Zuschreibung als tendenziell eher parteilich für die Lehrenden als für die Lernenden. Knut sieht vermutlich auch deshalb wenig Risiko in seiner Offenbarung, weil ihm bewusst ist, dass wir als Forscherinnen im Feld sind und nicht als Schulangehörige, von denen etwa Sanktionen ausgehen könnten. Eine Restrisiko bleibt durch die Zuschreibung der Protokollantin als erwachsene Person: Eine Parteilichkeit zwischen Lehrkraft und Ethnografin ist für ihn in einem möglichen Bündnis der Erwachsenen zu sehen. Damit rekurriert er ebenso wie die Lehrkraft in dem obigen Beispiel auf das Kriterium „Alter der Forscherinnen“ für eine Zuweisung zu einer Statusgruppe. Beide Beispiele verdeutlichen jedoch auch, dass die Beteiligten uns zunächst nicht als Schulangehörige betrachten, welche selbstverständlich das gültige Regelwerk zu kennen und zu befolgen haben. Meine zugeschriebe Zugehörigkeit zu bestimmten Kategorien zeigte sich besonders auch in den Interviewsituationen mit den Lehrkräften. Zwei Deutschlehrerinnen war aus vorhergegangenen gemeinsamen Fortbildungen bekannt, dass ich selber auch als Lehrkraft gearbeitet habe. Beide haben in den Interviews von sich aus bezug auf meine professionelle Schuleinbindung genommen und mich eindeutig als potentielle (Deutsch-) Kollegin gesehen. Dieses zeigt sich nicht nur in der Wahl der von den Lehrkräften angeschnittenen Themen (z. B. Bildungssituation der Stadt, Einstellungschancen für Junglehrkräfte, Rolle des Faches in der Stundentafel der Schulen etc.), sondern auch in der Art, in der fachkulturelle Kompetenz für das Fach Deutsch im Gespräch vorausgesetzt wurde (z. B. „Du kennst doch die Mephistoinszenierung mit Gründgens?“ „Wie heißt noch der Autor von „Crazy“?“). In keinem der Interviews mit Physikfachlehrkräften war meine Kompetenz hinsichtlich des Feldes ein Thema, weder wurde für das soziale Feld Schule noch fachkulturell spezielle Kenntnisse vorausgesetzt oder deren Vorhandensein erfragt. Meine Rolle wurde hier sehr viel deutlicher auf die einer wissenschaftlichen Forscherin begrenzt, d. h. die interviewten Lehrkräfte gaben mir bereitwillig alle benötigten Informationen zu Fach und Schule, es fand jedoch wenig Austausch über die Informationen statt. Ob es sich bei der Konstruktion von Kollegialität um ein fachkulturell unterschiedliches Umgehen handelt, welches dem Selbstverständnis der Lehrenden nach potentiell eher einer fachkulturellen gesellschaftlichen ‚Offenheit’ in dem Fach Deutsch entspricht, während innerhalb der Fachkultur Physik eher Exklusivität und Abgrenzung dargestellt wird, lässt sich hier nicht eindeutig klären. Anhand dieser Auszüge wird jedoch deutlich, dass den Feldangehörigen meine Anwesenheit durchaus in verschiedenen Situationen bewusst war und sie versucht haben, mich in den alltäglichen Feldkontext einzubinden. Andererseits sprechen die wenigen protokollierten Situationen, in denen explizit auf 148

4. FORSCHUNGSDESIGN

mich Bezug genommen wurde, durchaus dafür, dass meine bzw. unsere Anwesenheit im Feld über weite Strecken keinerlei direkt auf uns gerichtete Aufmerksamkeit hervorgerufen, d. h. auch den Ablauf üblicher Handlungen nicht über die bloße Zurkenntnisnahme unsere Anwesenheit hinaus weiter beeinflusst hat. Die Varianz der Bezugnahmen zeigt, dass die Beteiligten situativ entschieden haben, meist wenn es sich um die Absicherung hinsichtlich unserer ‚Funktion’ ging: Die Lernenden wollten klären, ob ich ‚nur’ Beobachterin war oder auch Regelverstöße verraten könne, die Lehrende, ob ich auch die Aufsichtsfunktion wahrnehmen würde. In der Mehrzahl der Fälle ging die Kontaktaufnahme und die Themenvorgabe jedoch von mir aus. Ein letzter Aspekt, welcher unmittelbar mit der Art des Feldzugangs und vor allem aber auch der Spezifik des untersuchten Feldes zu tun hat, liegt in der (zugeschriebenen) Charakteristik von Schulethnografien. Eine der Prämissen ethnografischen Schreibens war ursprünglich die Trennung zwischen Gegenstand und Adressaten bzw. Adressatinnen der Forschung. Inzwischen hat sich herauskristallisiert, dass von einer solchen Trennung nicht selbstverständlich ausgegangen werden kann: Die Verfasserinnen und Verfasser ethnografischer Texte sind in ihnen präsent und die, über die geschrieben wird, setzten sich mit ihnen auseinander und melden bisweilen ihr Feedback zu dem Geschriebenen an (vgl. dazu ausführlich Gottwik 1997: 11ff.). Die klaren Gegenüberstellungen von Subjekten und Objekten der Forschung, die bis zum Ende des europäischen Kolonialzeitalters konstitutiv für ethnografische Beschreibungen waren, stellen sich also in diesem Fall der heutigen Schulethnografie gänzlich anders dar. Ethnografie hat sich damit gelöst von dem Vorwurf, letztlich nur Herrschaftswissen zu produzieren. Vielmehr können die Urteile der Beforschten über die Forschung alsproduktives Potentia l gesehen werden. Im Falle schulethnografischer Forschung wirken die Hierarchieebene zwischen Forschenden und Beforschten – zumindest im Fall der Lehrenden als Hauptfokus oder Teil des erforschten Feldes – m. E. immer unmittelbar auf den Umgang mit den erhobenen Daten bzw. bereits auf den Erhebungsprozess selber. Das potentiell hegemoniale Verhältnis zwischen Forschenden und Beforschten gestaltet sich in der Schule grundsätzlich anders, da im Vergleich zu anderen Feldern in der Schulethnografie davon ausgegangen werden kann, dass beide Seiten persönliche Einblicke in alltägliche Abläufe im Handlungsfeld des jeweils anderen hatten. Während in ethnografischen Kontexten oft von der „Darstellung fremder Kulturen“ gesprochen wird – wobei unter Kulturen in diesem Kontext dann meist andere Gesellschaften verstanden werden und bei diesem Blick meist Machtverhältnisse in Form eines ‚geistigen Kolonialismus’ eine Rolle spielten – sehe ich bei der Schulforschung eher die Gefahr, dass es sich damit um ein Feld handelt, welches praktisch alle 149

SCHULISCHE FACHKULTUREN UND GESCHLECHT

Forschenden in der einen oder anderen Form selber kennen gelernt haben. Ebenso sind Lehrende an den Universitäten ausgebildet worden. Im Unterschied zu anderen Forschungsfeldern liegen die Kompetenzbereiche – zumindest aber Schnittmengen derselben – von Lehrenden und (Fach-)Hochschulangehörigen relativ dicht beieinander. Vor allem über das Feld der Lehre wird diese Gemeinsamkeit bedient. Insofern stellt sich hier deutlicher als in voneinander entfernteren Bereichen die Frage der Deutungshohheit des ethnografisch Beobachteten: Wer kann eigentlich besser beurteilen, was in Schule eigentlich passiert und vor allem wie es passieren sollte? Wer hat die besseren (bildungspolitischen) Informationen und wer berät wen, wer entwirft die Standards etc.? Die vermeintliche Vertrautheit mit dem jeweils anderen Feld beinhaltet auch den möglichen Anspruch, beurteilen zu können, was good practice wie auch was bad practice ist. Im Gegensatz zu einem unbekannteren Feld glauben Schulforschende häufiger beurteilen zu können, was eine ‚gute’ professionelle Haltung ausmacht, die Lehrkräfte kennen jedoch diesen Diskurs, halten ihn (möglicherweise auf Grund des Diskurses um ‚abgehobene’ und zu kurz greifende Forschung) für wenige reflektiert („Ihr seid ja keine Praktikerinnen und Praktiker“, lautet ein möglicher Vorwurf). etc.. Im Verlaufe der Forschung fühlen sich so beide Seiten möglicherweise voneinander beobachtet. In beiden Berufen ist es unüblich, hinter die Berufskulissen zu schauen, konkret während des Unterrichts hospitiert zu werden. In der Schule drehen Forschende durch die teilnehmende Beobachtung die ursprüngliche Schulsituation geradezu auf den Kopf: Die Lehrenden kommen quasi in die Situation ihrer Schülerinnen und Schüler, welche sie normalerweise beobachten und beurteilen. In der Blickrichtung der Forschenden auf die Lehrkräfte mag u. a. hierin ein Grund liegen, weshalb ein Rechtfertigungsbedarf relativ schnell eintritt. Umgekehrt ist es im Rahmen ethnografischer Schulforschung schwierig, Daten zurückzumelden: inhaltlich liegen die Foki auf unterschiedlichen Interessensebenen. Während die Lehrende ein berechtigtes Interesse an Rückmeldungen zum Unterricht haben, liegt das Interesse der Forschenden in erster Linie auf der Erhebung und der Auswertung nach ihrem Fokus, welcher nicht immer der reine Unterricht ist. Ethnografische Forschung ist entsprechend nur selten auf Feedbacks angelegt. Das Risiko schulethnografischer Studien liegt m. E. in einer Abwehr der (lehrenden) Feldangehörigen gegen die erarbeiteten Forschungseinsichten in das schulische Feld. Möglicherweise ist hierin auch ein Anschein von Konkurrenz um gewürdigte Interpretationen zu sehen. Vergleichbare Prozesse konnte ich bei anderen Themen nicht beobachten. Insofern schienen mir einige Reaktionen aus dem Feld verständlich, welche bereits im Verlauf der Datenerhebung erkennen ließen, dass die feldangehörigen Lehrkräfte zum Teil schwankten zwischen der Zustimmung, Einblicke zu gewähren und sich überwiegend ausgesprochen offen für die Feedbackmöglichkeit von ‚außen’ 150

4. FORSCHUNGSDESIGN

zu positionieren, und der Befürchtung, persönlich für etwas verantwortlich gesehen werden zu können, in dem sie sich selber eher als Vertreterinnen und Vertreter ihrer Institution, zum Teil sogar eindeutig als ‚Opfer’ von z. B. bildungspolitischen Entscheidungen sahen. Wenngleich sich die Befürchtungen aus dem Feld in m. E. allen Fällen unkompliziert auffangen ließen und im Sinne Krappmanns und Oswalds die eingehaltene größtmögliche Transprenz tatsächlich eine sehr normalisierende Wirkung hatte, so schienen mir hierin doch deutliche Hinweise darauf zu liegen, dass ethnografische Beschreibung und anschließende gebündelte fokussierte Darstellung selbstverständlich nach wie vor einen Machtgewinn über die Beschriebenen bedeuten, mit dem es nicht zuletzt aus forschungsethischen Gründen sehr behutsam umzugehen gilt.

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5. Technik, Macht und Männlichkeit versus Sprache, Emotionen und Weiblichkeit? Positionen der Akteurinnen und Akteure

Bei der Erforschung der schulischen Fachkulturen richte ich den Fokus darauf, dass es sich bei der Herstellung und Aufrechterhaltung der jeweiligen Fachkultur sowie auch ihrer Abgrenzung zu anderen Fachkulturen um aktive Herstellungsprozesse handelt. Fachkulturen prägen Menschen nicht nur, sie werden auch von ihnen gemacht. Dies geschieht durch eine Vielfalt eigener Wahrnehmungen und Handlungen jeweils in der Auseinandersetzung mit der kulturellen Umwelt, also in interaktiven Praktiken. Diese Praktiken werden gesteuert über den „Sinn für das Spiel“ (vgl. Bourdieu 1987a: 122); dieser Sinn ist als langwieriger Prozess dialektisch auf das Feld abgestimmt. Die Umformung des ursprünglichen Habitus einer Person erfolgt unauffällig und nicht reflektiert. Bourdieu hält hierzu fest: Der Habitus ist gleichzeitig ein System von Schemata der Produktion von Praktiken und Bewertung der Praktiken. Und beide Male kommt in seinen Operationen die soziale Position zum Ausdruck, in denen er sich entwickelt hat. Folglich produziert der Habitus Praktiken und Vorstellungen, die klassifiziert werden können, die objektiv differenzierbar sind; als solche sind sie jedoch unmittelbar nur für die Akteure wahrnehmbar, die den Kode besitzen, die zum Verständnis ihres sozialen Sinns notwendigen Klassifikationsschemata. In diesem Sinne impliziert der Habitus einen sense of one’s place wie einen sense of other’s place. (Bourdieu 1992b: 144, Herv. im Orig.)

Innerhalb der jeweiligen Felder, in diesem Fall der schulischen Unterrichtsfächer Deutsch und Physik, gelten spezifische Spielregeln. Diese hängen ab von den Kapitalsorten bzw. den Ressourcen, die in den jeweiligen Feldern hoch im Kurs stehen. Diese Werteinschätzungen sind zeitlich veränderbar, 153

SCHULISCHE FACHKULTUREN UND GESCHLECHT

werden von den Angehörigen eines Feldes jedoch zu weiten Teilen übereinstimmend geteilt. Wer in das Feld eintritt, erkennt die Spielregeln des Feldes an, konkret bezogen auf die Unterrichtsfächer würde ihm sonst der Zutritt verweigert oder die Nichtanerkennung der Regeln sanktioniert, z. B. würde er temporär des Unterrichts verwiesen. Joseph Jurt weist in einer Ausarbeitung über das literarische Feld darauf hin, wie schwer das symbolische Kapital, welches für ein Feld erworben wurde und welches dort erfolgreich eingesetzt werden kann, auf ein anderes Feld übertragen werden kann (vgl. 2001: 46). In der Schule gestaltet sich dies für die Lernenden auch durchaus kompliziert, weil durch die fachliche Zuweisung der Formen, Inhalte etc., also der Fachkulturen, den einzelnen Feldern sehr klare Grenzen gesetzt sind. Ressourcen, welche in einem Feld bedeutsam sein können, können also in einem anderen wertlos sein. Den Handelnden der Felder sind diese Spielregeln jedoch nicht bewusst bzw. nicht reflexiv zugänglich: Die spezifische Logik eines Feldes nimmt als spezifischer Habitus Gestalt an, genauer genommen als [...] „Geist“ oder „Sinn“ bezeichneten Sinn für das Spiel, der praktisch niemals artikuliert oder vorgeschrieben wird. (Bourdieu 2001: 19f.)

Bezogen auf die Kategorie Gender stellt sich die Frage, ob sich die Ressource der Geschlechtszugehörigkeit in den beiden Unterrichtsfeldern vergleichbar einsetzen lässt oder sehr unterschiedlich greift. Die den Interaktionen zu Grunde liegenden habituellen Positionierungen lassen sich leider nicht einfach bei den Akteurinnen und Akteuren erfragen. Entsprechend ist es vergleichsweise schwierig, diese nachzuzeichnen. Bezogen auf die Frage der gegenderten Zuschreibungen in Physik und Deutsch werden die habituellen fachkulturellen Spezifika jedoch fassbar, wenn die Beteiligten nicht explizit nach ihren Handlungen, sondern nach ihren Positionen gefragt werden. Die Handlungspraxis verbleibt dadurch auf der vorreflexiven Ebene, die Begründungen und habituellen Prägungen für die in der Praxis relevanten Gesichtspunkte werden jedoch trotzdem genannt. Um die Positionen der Lehrkräfte und der Schüler und Schülerinnen darzustellen, werden verschiedene Datentypen herangezogen: Zuerst stehen in Kapitel 5.1. die Aussagen der Lernenden, welche quantitativ erhoben wurden (eine zusammenfassende Darstellung des Fragebogens siehe Anhang). Hierfür wurden die Schülerinnen und Schüler der beteiligten Klassen jeweils zum Halbjahreswechsel mit einem standardisierten Fragebogen befragt. Konkret bedeutet das, dass Anfang 1999 drei der vier Klassen des 7.87 und alle vier Klassen des 8. Jahrgangs einen Fragebogen ausfüllten. Anfang 2000 wurde

87 In einer Klasse hatte der Elternbeirat eine Beteiligung abgelehnt.

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5. TECHNIK, MACHT UND MÄNNLICHKEIT / SPRACHE, EMOTIONEN UND WEIBLICHKEIT?

die Befragung in allen Klassen des 8. und 9. Jahrgangs durchgeführt. Anfang 2001 waren alle Klassen des 9. und 10. Jahrgangs an der Erhebung beteiligt. Erfragt wurden u. a. folgende Aspekte: x Selbsteinschätzungen hinsichtlich Leistungsfähigkeit, Schullust und Selbstbild; x Einschätzung der Schulfächer nach verschiedenen Kriterien; x Fach- und Sachinteresse an den Fächern Biologie, Mathematik, Deutsch sowie Physik in der zweiten und dritten Erhebung; x Selbstkonzept der Begabung in Biologie, Mathematik, Deutsch sowie Physik in der zweiten und dritten Erhebung; Im Querschnitt entstanden dabei folgende auswertbare Fragebögen: Tabelle 4: Auswertbare Fragebögen Geschlecht Weiblich Männlich Gesamt

1998/99 82 59 141

Schuljahr 1999/2000 94 63 157

2000/2001 93 65 158

Kontrastierend zu den Aussagen der Schülerinnen und Schüler werden die Positionierungen der Lehrkräfte zu den beiden Unterrichtsfächern Deutsch und Physik herangezogen (vgl. Kapitel 5.2.). Zentrale Datengrundlage hierfür sind die im Rahmen von Konstruktinterviews (vgl. König/ Volmer 1997) getroffenen Aussagen. Es wurden Interviews mit den Fachlehrkräften der Unterrichtsfächer Deutsch und Physik in allen drei Klassen in der letzten Feldphase durchgeführt, d. h. in Physik mit zwei männlichen und einer weiblichen Lehrkraft, wobei die Lehrerin der Klasse B und der Lehrer der Klasse C den Unterricht bilingual erteilt haben, der Lehrer der Klasse A monolingual. In Deutsch liegen insgesamt drei Interviews mit den Deutschlehrkräften aller Klassen aus der letzten Feldphase vor. Ein weiteres Interview mit der Klassenlehrerin der Klasse C wird ebenfalls herangezogen, auch wenn diese Fachlehrerin für Biologie ist. Anhand von Ausschnitten aus diesen Interviews wird das Verständnis der Lehrenden von ‚ihrer’ Fachkultur nachgezeichnet (vgl. hierzu auch Willems 2004 und 2005). Abschließend werden in Kapitel 5.3. die Aussagen der Lernenden und Lehrenden zusammen betrachtet und auf die zu Grunde liegende Illusio der Fächer zu vergeschlechtlichten Strukturen und Wirkungsmechanismen hin untersucht.

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SCHULISCHE FACHKULTUREN UND GESCHLECHT

5.1. Konturen der Unterrichtsfächer Deutsch und Physik nach Aussagen der Schülerinnen und Schüler Schulischer Alltag wird ganz wesentlich durch die Einteilung des Lernens in verschiedene Fächer strukturiert. Einige gelten dabei als Hauptfächer, dieser Status bedeutet in der Regel auch, dass sie mit bis zu fünf Stunden pro Woche im Stundenplan vertreten sind. Andere werden nur ein- oder zweimal in der Woche unterrichtet, sie bilden dann Nebenfächer. Jedes Fach hat allerdings insofern Eigenständigkeit, als der dort behandelte Stoff ‚für sich’ steht und die Benotung sich nur auf die Leistungen in diesem Fach bezieht. Es sind deshalb unterschiedliche Beziehungen zu einem Fach denkbar: Man kann den Stoff oder die Art und Weise, wie er vermittelt wird, interessant oder uninteressant finden. Man kann ein Fach aus diesem Grund besonders gern oder ungern besuchen. Es gibt jedoch keinen zwingenden Zusammenhang zwischen diesen Variablen, da man ein Fach auch aus anderen Gründen als Lieblingsfach oder eben als unbeliebtestes Fach wählen kann, nämlich z. B., weil man mit der Lehrkraft besonders gut klar kommt, weil man den Stoff für später gut oder gar nicht gebrauchen kann usw.. In der standardisierten Befragung sollte deshalb in Erfahrung gebracht werden, welche Fächer welche Bedeutung für die Jugendlichen haben. In offenen Fragen wurden die Schülerinnen und Schüler gebeten, anzugeben, welches Schulfach sie am interessantesten finden, welches ihr momentanes Lieblingsfach ist und welches Fach sie am wenigsten mögen. Für die beiden letzten Varianten wurden dann noch die Gründe – mit standardisierten Vorgaben – für die Wahl abgefragt. Die Einschätzung der Lernenden der beiden Unterrichtsfächer als „interessantestes Fach“ fällt für Deutsch und Physik unterschiedlich aus (vgl. Tabelle 5). Jeweils ein Fach konnte genannt werden, insgesamt wurden von den Lernenden 17 Fächer jemals erwähnt. Die Nennungen streuten breit, die relativ geringen Prozentzahlen verweisen auf die recht individuellen Einschätzungen. Dies spiegelt sich in dem Zusammenhang zwischen Rang und Prozentanteil.

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5. TECHNIK, MACHT UND MÄNNLICHKEIT / SPRACHE, EMOTIONEN UND WEIBLICHKEIT?

Tabelle 5: Rangplätze (Prozent der Nennungen) der Fächer Deutsch und Physik als „interessantestes Fach“ Schülerinnen Schüler 1998/99 1999/2000 2000/2001 1998/99 1999/2000 2000/2001 (n = 78) (n = 94) (n = 85) (n = 56) (n = 63) (n = 60) Deutsch 6 3 6 11,5 10 9 (8%) (10%) (6%) (2%) (3%) (3%) Physik 10,5 9,5 9 1 8 5,5 (4%) (4%) (4%) (18%) (5%) (7%) Fach

Deutsch wird insgesamt eher von den Schülerinnen als interessantestes Fach eingeschätzt als von den Schülern: Deutsch liegt bei der ersten und letzten Erhebung in der Einschätzung der Schülerinnen mit Rang 6 und 8% bzw. 6% der Nennungen im oberen Drittel, in der zweiten Erhebung mit Rang 3 wird es häufiger als interessantestes Fach genannt. Bei den Schülern stößt Deutsch in keinem Jahr auf besonders großes Interesse, lediglich 2% bis 3% schätzen Deutsch als interessantestes Fach ein. Physik liegt in der Einschätzung der Mädchen durchgängig im Mittelfeld, jeweils 4% nennen es als interessantestes Fach. Bei den Schülern liegt Physik in der ersten Erhebung, d. h. zu einem Zeitpunkt, an dem nur die Hälfte der Befragten schon Erfahrung mit Physik hatte, auf Rangplatz 1. Danach wird das Fach nur noch von fünf bzw. sieben Prozent der Schüler als interessantestes eingestuft. Bei den Lernenden werden also offenbar durch das Fach Physik Erwartungen geweckt, welche sich später jedoch nicht erfüllen. Tabelle 6: Rangplätze (Prozent der Nennungen) der Fächer Deutsch und Physik als „Lieblingsfach“ Schülerinnen Schüler 1998/99 1999/2000 2000/2001 1998/99 1999/2000 2000/2001 (n = 82) (n = 94) (n = 90) (n = 59) (n = 63) (n = 65) Deutsch 3 2 4,5 8,5 4 7,5 (10%) (15%) (10%) (5%) (10%) (6%) Physik 8 15 4 14 7,5 (6%) (1%) (0%) (12%) (2%) (6%) Fach

In der Einschätzung als „Lieblingsfach“ (vgl. Tabelle 6) gibt es ebenfalls weite Streuungen. Bei den Schülerinnen liegt Deutsch deutlich eher vorn, immer geben mindestens 10% der Schülerinnen das Fach als Lieblingsfach an. Die Schüler ordnen Deutsch – mit Ausnahme der zweiten Erhebung, in der die Beliebtheit ansteigt – eher auf einem Platz im Mittelfeld an. Physik geht in 157

SCHULISCHE FACHKULTUREN UND GESCHLECHT

der Wahl als Lieblingsfach bei den Schülerinnen massiv nach unten: Haben noch 6% in der ersten Erhebung – die wie gesagt zum Teil vor der konkreten Erfahrung mit Physik lag – dieses Fach als Lieblingsfach angegeben, so fällt der Anteil auf 1% Nennungen in den Jahrgängen 8 und 9 und auf keine Nennung in der letzten Erhebung. Bei den Jungen fällt er zunächst von 12% auf nur 2% deutlich ab, steigt dann aber wieder auf 6% der Nennungen an. Die Einschätzung der Mädchen und der Jungen in der zweiten Erhebung, also in dem ersten Jahr, in dem tatsächlich Physikunterricht erteilt wurde, ist also sehr ähnlich, während das Fach in der Gunst der Mädchen aber noch fällt, steigt es bei den Jungen wieder an. Im Vergleich der drei Klassen zeigt sich, dass in der zweiten und dritten Erhebung Physik nur noch in der Klasse A als Lieblingsfach überhaupt genannt wird, in den beiden anderen Klassen kommt Physik nach Einschätzung beider Geschlechtergruppen nur in dem Moment als Lieblingsfach vor, in dem das Fach noch nicht real erteilt wird. Für die Begründung der Einschätzung der Fächer als beliebtestes bzw. unbeliebtestes Fach standen den Jugendlichen sieben Antwortmöglichkeiten zur Auswahl, von denen sie auch mehrere ankreuzen konnten (Themen sind interessant/ uninteressant; gute/ schlechte Leistungen; brauchbar/ unbrauchbar außerhalb der Schule; Verhältnis zur Lehrkraft gut/ schlecht; Leistungsanforderungen niedrig/ hoch; macht Spaß/ keinen Spaß; brauchbar/ unbrauchbar für späteren Beruf). Die Gründe, weshalb die Jugendlichen Deutsch als Lieblingsfach angeben, unterscheiden sich zwischen den Jungen und den Mädchen. Wenn Jungen Deutsch als beliebtestes Fach benennen, geben sie immer als Grund die gute eigene Leistung an, teilweise werden zusätzlich andere Gründe benannt, teilweise ist dieses der alleinige Grund (ein Schüler nennt keinerlei Gründe). Bei den Mädchen tauchen hingegen unterschiedliche Gründe für die Einschätzung als beliebtestes Fach auf: Am auffälligsten ist, dass sie deutlicher als die Jungen die Brauchbarkeit des Faches für den späteren Beruf als Kriterium heranziehen. Die geringen Anforderungen des Faches nennen die Mädchen in allen drei Klassen, allerdings immer nur in der ersten Erhebungsphase. Die eigene Leistung spielt ebenfalls eine Rolle, allerdings nicht so häufig wie bei den Jungen. Hingegen äußern die Mädchen häufiger als die Jungen, dass sie das Fach Deutsch interessant finden. Wenn Physik von den Jungen als Lieblingsfach genannt ist, was fast ausschließlich in der Klasse A, also in der einzig durchgängig unterrichtssprachlich monolingualen Klasse der Fall ist, fällt auf, dass diese durchgängig die eigene gute Leistung wie die geringen Anforderungen nennen, meist noch zusätzlich das Fach als interessant schätzen. Die Mädchen nennen die Interessantheit des Faches am häufigsten. Beide Geschlechtergruppen greifen auffällig selten auf die Kriterien „das Fach macht Spaß“ bzw. auf die „Brauchbar158

5. TECHNIK, MACHT UND MÄNNLICHKEIT / SPRACHE, EMOTIONEN UND WEIBLICHKEIT?

keit außerhalb von Schule“ und „Brauchbarkeit für den späteren Beruf“ für ihre Einschätzungen als Lieblingsfach zurück. Tabelle 7: Rangplätze (Prozent der Nennungen) der Fächer Deutsch und Physik als unbeliebtestes Fach

Fach

1998/99 (n = 81) Deutsch 7 (6%) Physik 1 (20%)

Schülerinnen Schüler 1999/2000 2000/2001 1998/99 1999/2000 2000/2001 (n = 94) (n = 93) (n = 58) (n = 63) (n = 65) 6 7,5 2,5 8 9,5 (5%) (3%) (16%) (3%) (2%) 1 1 6 1 4,5 (42%) (38%) (9%) (24%) (12%)

Bei vielen Schülerinnen und Schülern zählt Physik zu den unbeliebtesten Fächern (vgl. Tabelle 7). Differenzen zwischen den Geschlechtern werden hier vor allem durch die Quantitäten markiert. Bereits in der ersten Erhebung erklärten 20% der Schülerinnen, aber nur 9% der Schüler Physik zum unbeliebtesten Fach. Dieser Anteil wächst in der zweiten Erhebung bei den Mädchen auf 42% und beträgt auch in der letzten Erhebung noch 38%. Konstant ist Physik damit auf Rangplatz 1 der unbeliebtesten Fächer bei den Mädchen. Bei den Jungen belegt es in der zweiten Erhebung mit 24% Nennungen ebenfalls den ersten Platz, rutscht dann aber mit ‚nur noch’ 12% auf den 4,5. Rang. Deutsch bleibt bei beiden Geschlechtergruppen fast durchgängig im mittleren Drittel – mit Ausnahme der ersten Erhebung, in der 16% der Jungen es zu ihrem unbeliebtesten Fach erklärt haben. Die Schülerinnen und Schüler nennen auch hier für die beiden Fächer unterschiedliche Gründe, warum das Fach bei ihnen besonders unbeliebt ist. Für die Jungen spielt für die Unbeliebtheit von Deutsch die eigene schlechte Fachleistung eine entscheidende Rolle, die Mädchen nennen dieses Kriterium gar nicht. Beide Gruppen teilen hingegen die Einschätzung von Deutsch als uninteressantem Fach. In der negativen Einschätzung des Faches Physik überwiegt bei den Mädchen die Einschätzung als „uninteressant“, oft genannt in Kombination mit der Unbrauchbarkeit für den späteren Beruf. Die Jungen nennen diese beiden Kriterien fast nie, bei ihnen ist das Verhältnis zur Lehrkraft der entscheidende Grund für die Ablehnung. Interessant ist hierbei, dass das Verhältnis zur Lehrkraft als negativer Grund nie in den Jahren angegeben wurde, in denen der Physikunterricht auf Englisch erteilt wurde.

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SCHULISCHE FACHKULTUREN UND GESCHLECHT

Geschlechterdifferenzen finden sich bei den Begründungen zu Deutsch und zu Physik: Jungen begründen ihre Abneigung gegen das Fach Deutsch an erster Stelle damit, es sei uninteressant, Mädchen geben dies als häufigsten Grund für Physik an. Die Lernenden entsprechen insofern in diesem Punkt den Einschätzungen der Lehrenden von Deutsch und Physik als zugeschriebene Interessensbereiche der Mädchen bzw. der Jungen. Eine Abweichung liegt darin, dass auch für die Jungen die Physiklehrkräfte ihr Fach als uninteressant einordnen, diese selber jedoch nicht. das Fach Deutsch lehnen die Mädchen hingegen fast ebenso häufig mit dem Argument ab, es sei uninteressant, ab wie die Jungen. Die Unterstellung der Lehrenden, es gebe ein quasi natürliches Interesse der Schülerinnen für das Fach Deutsch, wie sie in Kapitel 5.2. zum Ausdruck kommt, teilen die Lernenden somit nicht. Der entscheidende Geschlechterunterschied – vergleicht man die Nennungen zu den beliebtesten und den unbeliebtesten Fächern – liegt zum einen in der Einschätzung von Physik als unbeliebtestem Fach, die bei den Jungen weniger deutlich ausfällt als bei den Mädchen, letztlich jedoch für beide Geschlechtergruppen gilt. Deutlich ist zum anderen, dass Physik bei sehr wenigen Schülerinnen zu den Lieblingsfächern gehört. Für Deutsch sind die Unterschiede zwischen den Geschlechtergruppen nicht so eindeutig, die Mädchen geben lediglich Deutsch etwas häufiger als Lieblingsfach an als die Jungen. Um das Interesse der Jugendlichen an den verschiedenen Schulfächern genauer erfassen zu können sowie um ihre Einschätzung der eigenen Leistungsfähigkeit und des eigenen Zutrauens in den Fächern zu erfassen, wurden die in der TIMS-Studie verwendeten Skalen zu Sach- und Fachinteresse sowie zum Begabungsselbstkonzept übernommen. Dort wird zwischen dem Fachund dem Sachinteresse an den einzelnen Fächern unterschieden. Am Beispiel des Faches Deutsch sollen die Skalen und ihre Items im Folgenden vorgestellt werden. Das Sachinteresse wurde mit fünf Items gemessen. Bei jedem konnten die Schülerinnen und Schüler auf einer vierstufigen Skala ankreuzen, ob die Aussage auf sie persönlich „voll und ganz“, „etwas“, „weniger“ oder „überhaupt nicht“ zutrifft. Vorgegeben waren folgende Items: x Texte zu lesen und zu verfassen macht mir einfach großen Spaß. x Es ist mir sehr wichtig, mich im Deutschen gut und gewandt verständlich machen zu können. x Ich habe große Freude daran, beim Bücherlesen Entdeckungen zu machen. x Ich bin bereit, auch einen Teil meiner Freizeit dafür zu verwenden, die deutsche Sprache und Literatur besser kennen zu lernen. x Es bedeutet mir viel, mit der deutschen Sprache und Literatur vertrauter zu werden. 160

5. TECHNIK, MACHT UND MÄNNLICHKEIT / SPRACHE, EMOTIONEN UND WEIBLICHKEIT?

Das Fachinteresse bezieht sich weniger auf die Inhalte des Faches, sondern mehr auf dieses als Schulfach. Hier wurden folgende vier Fragen gestellt mit jeweils fünfstufigen Antwortmöglichkeiten: x Wie viel liegt Dir daran, im Fach Deutsch viel zu wissen? x Wie viel liegt Dir daran, den Stoff des Fachs Deutsch zu behalten? x Wie gern würdest Du im Fach Deutsch noch mehr Stunden haben als bisher? x Wie sehr freust Du Dich auf eine Stunde im Fach Deutsch? Das Selbstkonzept der Begabung wurde wiederum mit fünf Aussagen auf einer vierstufigen Skala erfragt: x Deutsch würde ich viel lieber machen, wenn das Fach nicht so schwer wäre. x Obwohl ich mir bestimmt Mühe gebe, fällt mir Deutsch schwerer als vielen meiner Mitschüler/innen. x Kein Mensch kann alles ... Für Deutsch habe ich einfach keine Begabung. x Bei manchen Sachen in Deutsch, die ich nicht verstanden habe, weiß ich von vornherein: „Das verstehe ich nie!“ x Deutsch liegt mir nicht besonders. Folgendermaßen haben sich die Lernenden zu den Fragen geäußert: Tabelle 8: Fach- und Sachinteressen sowie Selbstkonzept der Begabung für die Fächer Deutsch und Physik – Klassen A, B, C 1998/99 1999/00 2000/01 Interessen M J M J M J (n= 82) (n= 59) (n= 94) (n= 63) (n= 90) (n= 61) Deutsch-Fachinteresse 3,4 3,2 3,6 3,3 3,6* 3,3* Deutsch-Sachinteresse 3,0* 2,8* 3,0* 2,6* 3,1 2,9 Physik-Fachinteresse 2,4 2,5 2,6 2,8 Physik-Sachinteresse 1,6* 1,9* 1,7* 2,0* Deutsch-Begabungs3,2 3,0 3,4 3,2 3,4 3,3 konzept Physik-Begabungs2,5* 3,0* 2,7 3,0 konzept * Statistisch signifikant, M: Mädchen, J: Jungen

Betrachtet man die Werte (vgl. Tabelle 8) für das Fach- bzw. das Sachinteresse, so fällt als erstes auf, dass sie im Allgemeinen nicht sehr hoch lie161

SCHULISCHE FACHKULTUREN UND GESCHLECHT

gen, sondern sich im Wesentlichen weder im Bereich von „großes Interesse“ noch von „gar kein Interesse“ bewegen: Die Fragen zu den Fachinteressen konnten mit fünf Ausprägungen beantwortet werden, ein Wert von 3 bedeutet also „weder – noch“. Bei den Sachinteressen waren vier Stufen möglich, so dass der mittlere Neutralwert bei 2,5 liegt. Die Schülerinnen sind in allen drei Befragungen stärker als die Schüler an Deutsch interessiert (Fachinteresse), in den Jahrgängen 9 und 10 ist dieser Wert signifikant. Jungen sind demgegenüber tendenziell immer stärker an Physik interessiert, allerdings wird der Wert zu keinem Zeitpunkt signifikant, die Werte der Jungen und Mädchen liegen vielmehr immer zwischen 2,4, und 2,8, also relativ eng beieinander. Bei dem Sachinteresse an den Inhalten im Fach Deutsch (Texte lesen, sich gut ausdrücken können usw.) liegen die Werte um 3, also bei „trifft etwas zu“, bei den Mädchen sind sie stets etwas höher als bei den Jungen. Signifikant stärker interessiert sind die Mädchen in den Jahrgängen 7, 8 und 9, während in der letzten Erhebung kein signifikanter Unterschied mehr auftritt. Beim Sachinteresse an physikalischen Fragen sind die Differenzen in beiden Erhebungen (8./9. und 9./10. Jahrgang) signifikant. Dabei liegen die Werte bei den Jungen im Bereich von wenig Interesse, bei den Mädchen gehen sie noch deutlicher in Richtung auf kein Interesse. Das Selbstkonzept der Begabung, das mit vierstufigen Items erfragt wurde, liegt mit Mittelwerten über 3 bei Deutsch relativ hoch – tendenziell bei den Mädchen leicht höher als bei den Jungen, jedoch in keinem Fall signifikant. Das Begabungsselbstkonzept in Physik liegt nicht so hoch. Hier erreichen Jungen den Wert 3,0 – verfügen also damit über die Einschätzung, eher klarzukommen, während Mädchen darunter bleiben: In Physik haben die Mädchen in der zweiten Erhebung mit 2,5 signifikant geringere Werte. Auch in der letzten Erhebung liegen ihre Werte tendenziell niedriger, bleiben aber im Zufallsbereich. In den drei beobachteten Klassen A, B und C sind die Tendenzen nicht so eindeutig wie in der Gesamtstichprobe – bedingt natürlich auch dadurch, dass die Zahl der Befragten sehr klein wird. Bei der Darstellung der einzelnen Klassen gibt es möglicherweise Hinweise darauf, ob die quantitative Geschlechterzusammensetzung einer Klasse Veränderungen in den Selbstkonzepten der Jungen und Mädchen hervorbringt (vgl. zur Zusammensetzung der Klassen auch Kapitel 4.1.2. und Faulstich-Wieland/ Weber/ Willems 2004).

162

5. TECHNIK, MACHT UND MÄNNLICHKEIT / SPRACHE, EMOTIONEN UND WEIBLICHKEIT?

Tabelle 9: Fach- und Sachinteressen sowie Selbstkonzept der Begabung für die Fächer Deutsch und Physik – Klasse A

Interesse Deutsch-Fachinteresse Deutsch-Sachinteresse Physik-Fachinteresse Physik-Sachinteresse Deutsch-Begabungskonzept Physik-Begabungskonzept

1998/99 1999/00 2000/01 M J M J M J (n= 4) (n= 12) (n= 7) (n= 10) (n= 7) (n= 12) 3,1 3,1 3,9 3,6 3,7 3,7 2,6 2,8 3,0 2,5 3,1 2,9 2,7 3,2 2,9 3,6 1,6 2,4 1,9 2,6 2,4 3,2 3,2 3,3 3,1 3,1 -

-

2,1

2,9

2,4

3,2

M: Mädchen, J: Jungen

In der Klasse A sind die Mädchen unterrepräsentiert, sie stellen eine Minderheit im Klassenverband dar. Die quantitativ größte Differenz zwischen der Jungen- und der Mädchenanzahl der Klasse liegt im ersten Erhebungsjahr. In den Interessen der Schülerinnen und Schüler gibt es keine Signifikanzen. Auffällig ist, dass die Mädchen in Physik wie auch in Deutsch (und dieses trifft ebenso für die Fächer Biologie und Mathematik zu) zu allen Zeitpunkten niedrigere Werte in den Begabungsselbstkonzepten haben als die Jungen (außer in Deutsch im 10. Jahrgang, da sind die Werte gleich). Signifikant sind die Unterschiede im 8. Jahrgang in Deutsch. Das Begabungsselbstkonzept beider Geschlechtergruppen weicht deutlich von den Aussagen durch die real erteilten Benotungen im Fach Deutsch ab. Die für den Jahrgang 1999/2000 vorliegenden Daten belegen dieses: die Durchschnittsnote der Jungen liegt in Deutsch bei 3,4, die der Mädchen bei deutlich besseren 3,0. In dieser Klasse ist schwer zu sagen, ob die ungleichen Einschätzungen der Jungen und Mädchen mit dem unausgewogenen Geschlechterverhältnis der Klasse zusammenhängen könnten oder mit dem Charakteristikum der Klasse, dass sie einer ständigen und überaus starken Fluktuation unterliegt und sich die Lerngruppen dadurch ständig ändern.

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SCHULISCHE FACHKULTUREN UND GESCHLECHT

Tabelle 10: Fach- und Sachinteressen sowie Selbstkonzept der Begabung für die Fächer Deutsch und Physik – Klasse B 1998/99 1999/00 2000/01 M J M J M J (n= 10) (n= 7) (n= 16) (n= 9) (n= 13) (n= 5) Deutsch-Fachinteresse 3,3 3,3 3,1 3,1 3,5 2,7 Deutsch-Sachinteresse 2,8 2,8 2,3 2,6 3,1 2,9 Physik-Fachinteresse 1,8 2,3 2,6 3,0 Physik-Sachinteresse 1,3 1,7 1,6 2,2 Deutsch-Begabungs3,1 3,6 3,2 3,5 3,5 3,2 konzept Physik-Begabungs2,6 2,9 3,2 3,5 konzept Interesse

M: Mädchen, J: Jungen

In der Klasse B dominieren zahlenmäßig die Mädchen. Dieses führt jedoch nicht dazu, dass die Jungen deshalb ihre Selbsteinschätzung realistischer gestalten würden als in der jungendominanten Klasse A, ganz im Gegenteil. Während es in den Interessen keinerlei signifikante Differenzen gibt, ist erstaunlich, dass die Jungen – die ja eine Minderheit bilden – im 7.und 8. Jahrgang ein signifikant höheres Begabungsselbstkonzept in Deutsch haben als die Mädchen. Auch in dieser Klasse sprechen die realen Noten eigentlich eine andere Sprache: Die Durchschnittsnoten der Jungen im Schuljahr 1999/2000 liegen in Deutsch mit 3,2 deutlich schlechter als die der Mädchen mit 2,8. Tabelle 11: Fach- und Sachinteressen sowie Selbstkonzept der Begabung für die Fächer Deutsch und Physik – Klasse C 1998/99 1999/00 2000/01 M J M J M J (n = 11) (n = 9) (n = 14) (n = 9) (n = 9) (n = 7) Deutsch-Fachinteresse 4,1 3,5 3,9 3,4 3,7 3,5 Deutsch-Sachinteresse 3,4 2,9 3,2 2,7 3,2 3,3 Physik-Fachinteresse 2,7 2,5 3,0 3,0 Physik-Sachinteresse 1,8 1,7 1,9 2,0 Deutsch-Begabungskonzept 3,0 2,7 3,4 3,2 3,7 3,5 Physik-Begabungskonzept 2,8 3,3 3,1 2,9 Fach

M: Mädchen, J: Jungen

Die Klasse C ist in Jahrgang 7 zahlenmäßig geschlechterhomogen zusammengesetzt, ab Jahrgang 8 und nach der Zusammenlegung zweier Klassen 164

5. TECHNIK, MACHT UND MÄNNLICHKEIT / SPRACHE, EMOTIONEN UND WEIBLICHKEIT?

mädchendominant. In dieser Klasse gibt es weder in den Interessen noch im Begabungsselbstkonzept signifikante Differenzen. In Deutsch liegen die Werte tendenziell ähnlich wie in der Gesamtstichprobe. In Physik finden wir hier dagegen zum Teil leicht höhere oder gleiche Werte bei den Mädchen, dies gilt auch für das Begabungsselbstkonzept im 9. Jahrgang. Im Leistungsdurchschnitt schneiden die Mädchen (Gesamt 3,1) der Klasse C besser ab als die Jungen (Gesamt 3,2). Dies steht jedoch in deutlicher Diskrepanz zur Wahrnehmung der Lehrkräfte, welche die Mädchen als leistungsschwächer beurteilen als die Jungen (hierzu ausführlich vgl. Faulstich-Wieland/ Weber/ Willems 2004: 48ff.). Insgesamt lassen sich durchaus Differenzen in den Einschätzungen der Jungen und Mädchen erkennen, deutlich wird aber auch, dass keineswegs die – offenbar deutlich verkürzten – Zuweisungen von Physik als Jungen- und Deutsch als Mädchendomäne stehen bleiben können, sondern dass sich ebenso Tendenzen abzeichnen, in denen Jungen und Mädchen sehr ähnliche Positionen vertreten. Hinweise auf Konzeptionen einer geteilten Illusio der Fachkulturen gibt nun vor allem die Zusammenschau mit den Aussagen der Lehrenden am Ende des Kapitels.

5.2. Konturen der Unterrichtsfächer Deutsch und Physik nach Aussagen der Lehrerinnen und Lehrer Der Erwerb von geschlechtsspezifischen Verhaltensweisen findet zu weiten Teilen über „Sozialisationsagenten“ (Alfermann 1996: 24) statt, zu denen die Lehrpersonen zu zählen sind. Diese sind zugleich Vertreter und Vertreterinnen ihrer Geschlechtergruppe, aber auch Repräsentantinnen und Repräsentanten ihrer Unterrichtsfächer, somit kommt ihnen als Sozialisationsinstanz in der Schule in zweierlei Hinsicht eine wichtige Funktion zu. Ihren Geschlechterhabitus vermitteln die Lehrkräfte in tagtäglichen Interaktionen mit Schülerinnen und Schülern, ebenso wie ihre Erwartungen an den Geschlechterhabitus anderer. Dieser ist durch seine doxische Anlage quasi ‚natürlich’ zugeschrieben und wird in der Regel nicht reflektiert, lässt sich jedoch auch nicht ausblenden. Im Rahmen der Institution Schule reicht ein weiteres Merkmal recht nahe an die Omnipräsenz des Geschlechterhabitus heran: Lehrpersonen sind in der Schule immer auch Vertreterinnen und Vertreter ihres Unterrichtsfaches. Diese fachkulturelle Zugehörigkeit trägt zwar ebenso doxische Züge, sie ist jedoch deutlich stärker reflektiert. Dies mag vor allem daran liegen, dass die fachkulturelle Zugehörigkeit angeeignet werden muss. Es gibt kaum schulische Kontexte und Begegnungen zwischen Lehrperson und Schülerinnen und 165

SCHULISCHE FACHKULTUREN UND GESCHLECHT

Schülern bzw. auch Kolleginnen und Kollegen, bei denen die Fachzugehörigkeit der Lehrperson ausgeblendet wäre. Beispielhaft mag die Fotowand des Kollegiums im Edith-Benderoth-Gymnasium stehen: dort besteht die Beschriftung der Fotos aus vier Informationen: Geschlecht (Herr oder Frau), Nachname, Namenskürzel und Unterrichtsfächer. Auch auf Adresslisten von Kollegien findet sich neben Name und Adresse in der Regel die Fächerkombination der Lehrkraft. Den Lehrkräften kommt als „carrying agents“ (Münch/ Smelser 1992: 147) bei der Sozialisation eine zentrale Funktion zu. Als „Träger und Trägerinnen“ beider Kulturen, der Geschlechter- und der Fachkulturen, geben die Lehrkräfte den Schülern und Schülerinnen sowohl für die Geschlechterrolle als auch für die Fachkultur des eigenen Unterrichtsfaches ein Orientierungssystem vor, welches für diese sinnstiftend ist und ihnen sagt, wie sie etwas zu sehen, zu interpretieren und wie sie sich zu verhalten haben. Beide Bereiche werden im Folgenden für das Unterrichtsfach Physik und anschließend für das Fach Deutsch näher betrachtet. Hierfür werden zunächst die von den interviewten Lehrkräften angeführten Merkmale zu Fachkonstruktionen wie auch zu Geschlechterkonstruktionen der Lehrkräfte dargestellt und anhand von Interviewpassagen illustriert. Abschließend werden in einer vergleichenden Zusammenschau auch mit den Positionen der Lernenden die Differenzen und möglichen Übereinstimmungen beider Fächer aufgezeigt.

5.2.1.

Fach und Geschlecht: Konstruktionen der Physiklehrkräfte88

Die Lehrkräfte haben ein recht einheitliches Verständnis dessen, welche Inhalte im Physikunterricht zentral sind: Es gibt ‚Wirklichkeiten’, diese können auch objektiv vermittelt werden. Grundlage ist die mathematischnaturwissenschaftliche Erstellung dieser Wirklichkeiten. Eine Lehrkraft äußert dies sehr deutlich auf die Frage „Wenn sie jetzt mal einer Person, die schulische Abläufe und Einteilungen nicht kennt, erklären sollten, was Physikunterricht ist, wie würden sie das dann erklären?“: Oh, das ist eine schwierige Frage. Also ich kann das natürlich definieren. Physik versucht mit Hilfe von Gesetzmäßigkeiten die Wirklichkeit zu beschreiben und zu erklären. (LIp10221k)

88 An dieser Stelle wird nicht weiter zwischen dem monolingualen und dem bilingualen Physikunterricht unterschieden, da der bilinguale Physikunterricht in zentralen Strukturen des Fachverständnisses nicht von der Fachkultur Physik des monolingualen Unterrichts abweicht (vgl. ausführlich Kapitel 6 dieser Arbeit).

166

5. TECHNIK, MACHT UND MÄNNLICHKEIT / SPRACHE, EMOTIONEN UND WEIBLICHKEIT?

Die Vermittlung der Wirklichkeit ist somit der eigentliche Inhalt und das Ziel des Physikunterrichts. Eine andere Lehrkraft stützt diese Position. Deutlich wird das in der Aussage, in welcher die Lehrerin die Physiklehrinhalte mit Inhalten aus dem Englischunterricht vergleicht: Und in Physik kommt es eben sehr viel mehr darauf an, Dinge zu erklären, Modelle für etwas zu entwickeln, sich etwas zu veranschaulichen. Und natürlich spielt auch hier der Stil eine gewisse Rolle, aber es geht in erster Linie darum, etwas klar auszudrücken. [...] Und im Englischen kommt es eben sehr viel mehr darauf an, wie sie etwas sagen. Es ist nicht so eindeutig, richtig oder falsch im Englischen. Man kann ja verschiedene Meinungen haben, man kann ja verschiedener Meinung sein zu einem Thema. (LIp10319k)

Die Möglichkeit eines „eindeutig richtig oder falsch“ wird hier dem Physikunterricht zugeschrieben, in Englisch hingegen sind „verschiedene [...] Meinungen [...] zu einem Thema“ durchaus denkbar. Wenngleich das Ziel einer Lösung bzw. einer Wahrheit nicht in Frage gestellt wird, differenzieren die Fachlehrkräfte diese recht absolutistische Auffassung aus, indem sie für methodische und didaktische Zugangsweisen durchaus verschiedene Formen denkbar finden. Ein Lehrer formuliert: Mir geht es weniger um Daten und Zahlen, eher praktisch. Aber ich denke, was ich versuchen möchte zu vermitteln, sind nicht unbedingt Inhalte oder bestimmtes Wissen – vermutlich wissen nach 10 Jahren nicht mehr viele, wie man den Widerstand berechnet. Wichtiger finde ich es Methoden zu lernen, wie man sich Problemen nähert. Also erst einmal zu überlegen, was habe ich da vor mir, welche Variabeln könnte es da geben, wie stehen die in Beziehung und wie könnte ich an das Problem herangehen. (LIp10221k)

Eine andere Lehrerin teilt diese Auffassung, problematisiert dieses Vorgehen jedoch mit dem Argument der Erwartungshaltung der Lernenden: Das gibt es auch. Aber leider verwirrt es die Schüler oft, wenn man es macht. Wenn man verschiedene Lösungsmöglichkeiten anschreibt, dann, die wollen oft gerne eine klare Vorgabe haben. (LIp10319k)

Ein zentraler Punkt in der Darstellung der Lehrkräfte ist deren Positionierung zu der Interessenslage der Lernenden. Von den Lehrkräften wird eine Interessensentwicklung der Schüler und Schülerinnen außerhalb ihres eigenen Einflussbereiches vorausgesetzt, die das inhaltliche Unterrichtskonzept prägt. Folgendermaßen antwortet einer der befragten Physiklehrer auf die Frage, ob es seiner Meinung nach eine spezielle Physik-Fachkultur gebe:

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SCHULISCHE FACHKULTUREN UND GESCHLECHT

Also ich denke schon, dass das Fach Physik für die meisten Schülerinnen und Schüler eher schwierig ist und eher langweilig. (Nachfrage K.W.: Was heißt das, was heißt schwierig oder langweilig?) Äh, langweilig – langweilig heißt, also beispielsweise Strom. Wenn ich versuche jetzt in der zehnten Klasse den Schülerinnen und Schülern zu vermitteln, wie entsteht Strom, was passiert da im Kraftwerk. Dann sagen sich viele, im Inneren sag ich jetzt mal, aus meiner Sicht, wozu? Hauptsache, da kommt der Strom aus der Steckdose. Es interessiert mich überhaupt nicht, wie die das machen. Es gibt Leute, die das wissen, das reicht mir völlig. So und insofern [...] ist das relativ langweilig. Nicht, und wenn ich jetzt in der achten Klasse mit Linsen irgend etwas mache und über Fernrohre spreche, ja was interessiert mich denn, wie das damals war mit Galilei und was weiß ich, äh, ich habe zu Hause ein Fernrohr, ich kann da durchgucken, ich sehe alles vergrößert, das reicht mir. Ja, oder ein Fernglas – ich kann von mir aus in die Alpen fahren und mir da irgend etwas angucken. Interessiert mich doch nicht, wie das funktioniert. (LIp0105k)

Der Physiklehrer nennt spontan zwei Attribute, „schwierig“ und „langweilig“, die seiner Meinung nach das Fach Physik aus Sicht der meisten Schülerinnen und Schüler auszeichnen. Während er sein Verständnis von „schwierig“ im Anschluss nicht näher erläutert, gibt er verschiedene Beispiele dafür, warum Physikunterricht für viele Schüler und Schülerinnen „langweilig“ sei. Hierbei nennt er Unterrichtsinhalte aus verschiedenen Klassenstufen, für die 10. Stufe „Induktion“, für die 8. Stufe aus dem Bereich „Optik“. Zu beiden Bereichen stellt der Lehrer zum einen knapp einige Themenangebote („wie entsteht Strom, was passiert da im Kraftwerk“ bzw. „mit Linsen irgend etwas mache[n] und über Fernrohre spreche[n]“ und „wie das damals war mit Galilei“), und zum anderen die – von ihm vermutete – Haltung der Schülerinnen und Schüler dar („Es interessiert mich überhaupt nicht, wie die das machen. Es gibt Leute, die das wissen, das reicht mir völlig.“ bzw. „Interessiert mich doch nicht, wie das funktioniert.“). Das Gelangweiltsein der Schülerinnen und Schüler sieht der Physiklehrer in beiden Fällen als logische Folge aus ihrer Haltung gegenüber dem Funktionieren – im Mittelpunkt steht, dass etwas funktioniert. Seiner Wahrnehmung nach ist diese Haltung von Desinteresse geprägt. Zugleich stellen aus seiner Sicht die Funktionsweisen die zentralen von ihm genannten Unterrichtsinhalte dar – also die Frage, wie etwas funktioniert. Sprachlich wechselt der Physiklehrer jeweils bei der Formulierung der Lernendensicht in eine stereotypisierend-verweigernde Sprache. Hierdurch, wie auch durch den ironisch anklingenden Unterton, wird seine deutliche Abwertung dieser Position deutlich. Zugleich entsteht hier aber auch der Eindruck, als habe der Lehrer auf diese Position keinen Einfluss, es wird von ihm auch nicht formuliert, dass er anstreben würde, die aus seiner Sicht negative Haltung der Jugendlichen zu ändern.

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5. TECHNIK, MACHT UND MÄNNLICHKEIT / SPRACHE, EMOTIONEN UND WEIBLICHKEIT?

Die von dem Physiklehrer – immerhin bei der Mehrzahl der Schülerinnen und Schüler – wahrgenommene Position hat somit exkludierenden Charakter: Nur diejenigen, die sich aus eigener Motivation für die Inhalte des Physikunterrichts interessieren, finden diesen auch nicht langweilig. Hier ist eine Parallele zum genannten Attribut ‚schwierig’ zu erkennen: Da die Mehrzahl der Schülerinnen und Schüler den Physikunterricht seiner Ansicht nach inhaltlich als ‚schwierig’ empfindet, dieses jedoch ebenso wenig wie bei der von dem Fachlehrer vermuteten Konnotation als inhaltlich ‚langweilig’ in methodischer oder didaktischer Hinsicht für seinen Physikunterricht problematisiert wird, stellen nur wenige Schülerinnen und Schüler die Zielgruppe seines Unterrichts dar. Ein anderer Fachlehrer bezieht die Frage nach den Interessen der Lernenden gleich auf die Frage nach Geschlechterunterschieden. Auf die Frage „Wie schätzen Sie das Interesse der Schüler und Schülerinnen am Fach Physik ein?“ antwortet er: Da sehe ich keine großen Geschlechterunterschiede, Physik ist so’n Fach, dass muss man halt machen. Einige interessieren sich halt dafür, andere eben nicht. Das gilt aber jeweils für beide Geschlechter. Da sehe ich keine großen Unterschiede. [...] Ja, na ja, zum Beispiel beim Thema Astronomie, da sind dann eher ein paar Jungen, die sich damit schon mal privat beschäftigt haben und dazu was gelesen hatten. Das werde ich wohl auch im Laufe dieses Halbjahrs noch machen, das interessiert dann einige mehr. Zur Zeit machen wir Radioaktivität, das finden dann auch wieder einige interessant, weil sie dazu immer mal wieder was in den Zeitungen gelesen haben. Aber generell könnte ich jetzt nicht sagen, dass Jungen oder Mädchen sich mehr für Physik interessieren würden. (LIp10221k)

In seiner Aussage distanziert sich der Lehrer von „großen Geschlechterunterschieden“ und sieht vielmehr Physik als ein Fach für alle, „das muss man halt machen“. Er vertritt jedoch in der Aussage hierzu gleichermaßen ein Interessensbild der Lernenden, nach welchem der Einfluss auf das Interesse der Jugendlichen an Physik allgemein, jedoch auch an spezifischen Themen außerhalb des Lehrers und seiner Unterrichtsgestaltung zu liegen scheint, sogar außerhalb des schulischen Informationsbereichs. Die Aussagen der Lehrkräfte zu den Interessens- und Fähigkeitszuschreibungen der Geschlechter bezüglich ihres Faches vermitteln recht einheitlich ein sehr anderes Bild als das der beschriebenen Geschlechterneutralität. Zwar stützen die meisten Physiklehrkräfte die genannte Position und gehen von gleichen Fähigkeiten bei Mädchen und Jungen hinsichtlich ihres Faches aus. Allerdings finden sich ausschließlich von Physiklehrkräften auch biologistische Argumentationen („aber ich glaube wirklich, es gibt Unterschiede in den Genen. Anders kann ich mir das nicht erklären“ aus LIp0105k). Deutliche 169

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Interessensunterschiede werden von allen Lehrkräften in Zusammenhang mit den verschiedenen Unterrichtsthemen wahrgenommen, meistens werden diese mit geschlechtsspezifischen Interessensgebieten erklärt: Woran es vielleicht liegen könnte, dass das Thema bei den Mädchen auch relativ gut ankommt? Na ja, es ist aktuell. Das Thema Radioaktivität hat auch etwas mit Gefahr zu tun, mit Gesundheit, ähm, ja ich sag mal, mit nicht physikalischen Themen, ja? (lacht). Es tut mir leid. Und äh, bei den Jungs, vielleicht eher so ein bisschen, was passiert da wirklich jetzt rein physikalisch [...]. Nach dem Motto, was ist eigentlich los im Atom? Warum zerfällt das Ding? Oder, wie kann ich es spalten, wie kann ich das Ding kaputtkriegen? Und also, es ist mehr so der technische Teil, während das andere eher der biologische Teil ist. (LIp0105k)

Eine andere Lehrkraft zieht eine ähnliche Begründung heran: Ja, das hat eine größere gesellschaftliche Relevanz, denke ich mal. Sie [die Mädchen, K.W.] haben mehr darüber gelesen schon in Zeitungen, also Tschernobyl, der Unfall ist allen bekannt, oder es wird gelesen, sie lesen über Störfälle, sie bekommen mit Diskussion Atomkraft: ja oder nein. Es wird generell mehr diskutiert und dadurch ist bei ihnen stärker das Gefühl, das ist wichtig, bzw. sie fragen gar nicht, wofür lernen wir das. (LIp0203k).

Innerhalb des Unterrichtsfaches Physik werden hier verschiedene Themenbereiche Jungen- bzw. Mädcheninteressen zugeschrieben: Nach Aussage der Lehrkräfte interessieren sich die Jungen stärker für die ‚echten’ physikalischen Themen, während die Mädchen bei gesellschaftsrelevanten und biologischen Bereichen angesprochen werden. Auch greifen die Physiklehrkräfte die Zuschreibung Faktenwissen = männlich und Diskussionswissen = weiblich auf. Folgender Interviewausschnitt stellt zudem das Fachwissensinteresse der Mädchen in Frage: Ja, die Mädchen, also auch bei den Versuchen, [...] da sind die Mädchen eben auch interessierter daran, jetzt Erklärung aufzuschreiben, nun weiß ich natürlich nicht, ob sie darum interessierter sind, weil sie wissen, dass es die Note verbessert, wenn sie Erklärungen schreiben. Aber die sprechen mich dann öfter auch an und wollen das mit mir noch mal diskutieren, was sie da nun aufschreiben können oder ob diese Idee richtig ist, die sie haben. Ich mein, jetzt ist aber alles tendenziell. Jungs machen das auch. Aber mein Eindruck ist, dass die Mädchen das tendenziell mehr machen. Nun kann ich nicht sagen, liegt es daran, dass es sie wirklich mehr interessiert, oder liegt es daran, dass sie einfacher ehrgeiziger sind. Aber sie machen es schon mehr. Jungs tendieren dann doch auch eher dazu, den Versuch, jetzt habe ich ja meine Ergebnisse und ich hab das jetzt erfüllt und jetzt schau ich nicht mehr, so auf, wo Fehlerquellen sind. Das ist dann nicht mehr so interessant, das Ergebnis steht und es ist vollständig und das wird dann abgegeben. (LIp0203k)

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Die Lehrerin vermutet hinter den Vorgehensweisen bei den Mädchen ein Fleißinteresse, Mädchen seien „ehrgeiziger“ bzw. möglicherweise „stärker an den Noten interessiert“, während sie für die Jungen ein eher ‚schludriges’ Vorgehen beschreibt: Jungen seien dann bereits zufrieden, wenn die geforderten Ergebnisse erstellt seien, weitere Erklärungen seien nicht so interessant. Damit greift sie auf eine neben der dichotomen Aufteilung Faktenwissen– Diskussionswissen zusätzliche stereotype Verhaltenszuschreibung zurück. Als logische Konsequenz aus den unterschiedlichen Interessensbereichen wird dann auch die quantitative Geschlechterverteilung in den Kursen wenig in Frage gestellt: Es ist natürlich Tatsache, das kann man in jeder Leistungskursstatistik oder auch in jeder Studienstatistik sehen, dass die Jungs sich, warum auch immer, viel stärker für Physik interessieren. [...] Und ähm, jetzt auf den Bereich Physik – ich weiß, alle wissen, dass hauptsächlich Jungs Physik gerne mögen und eben Leistungskurs und später Studienfach Physik wählen. (LIp0105k).

Bezogen auf die Fachkultur Physik spiegeln die Aussagen der Lehrenden deutlich gegenderte Zuschreibungen auf verschiedenen Ebenen, der inhaltlichen ebenso wie auf der Ebene der zugeschriebenen Kompetenzen und Interessen.

5.2.2.

Fach und Geschlecht: Konstruktionen der Deutschlehrkräfte

Das fachkulturelle Verständnis der Deutschlehrkräfte spiegelt deutlich das zentrale fachkulturelle Ziel einer Entwicklung der Persönlichkeit der Lernenden. Eine Lehrerin nennt explizit als Ziel des Deutschunterrichts die „Erziehung zur Mündigkeit“ (LId0210k), die jeweiligen – auch außerschulischen – Lebensumstände und Lebenswelten der Lernenden werden hierbei mitgedacht: Das ist – letztlich ist das typisch für den Deutschunterricht und, äh, in jeder Mittelstufenklasse gibt es ja solche Entwicklungen, solche Cliquenbildungen, solche Individualisierungen und auch solche Probleme der einzelnen Schülerinnen und Schüler. Das bringt einfach die Pubertät mit sich und ich denke das Fach Deutsch ist doch sehr aufgerufen daran mit zu arbeiten. (LId0210k)

Die Lehrkräfte sehen ihre Rolle als bewusst auf die Persönlichkeitsentwicklung der Schülerinnen und Schüler Einfluss nehmend. Mit diesen Zielsetzungen eng verknüpft sind die Inhalte und Vermittlungsformen des Deutschunter-

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SCHULISCHE FACHKULTUREN UND GESCHLECHT

richts. So äußert sich eine Lehrerin, nach ihrem Verständnis von Deutschfachkultur befragt, wie folgt: Deutsch [hat] für mich auch die Dimension [...] eines gesellschaftswissenschaftlichen Faches und auch eines philosophischen Faches, ethisch, religiös oder wie auch immer man das nennen kann. Dass ich von Schülern wünsche, dass sie sich als Individuum mit einem Text beschäftigen, auseinandersetzen können. Dass sie sich zu dem Text äußern können aufgrund ihrer eigenen Erfahrungen, ihrer eigenen Biografie, und dass sie das kontrastieren können mit anderen Entwürfen aus der Klasse. [...] Solange etwas kompatibel ist mit dem Text, [...] ist an und für sich jede Interpretation ja zulässig. Ich kann ja ‚nen Schiller so oder so oder so interpretieren. Je nachdem in welcher Zeit ich lebe, ob ich Mann oder Frau bin oder welche politische Meinung ich habe. [...] Und der Deutschunterricht gibt die Möglichkeit in irgendeiner Form sich mit persönlich auseinander zu setzen mit etwas. Und nicht einfach irgendeine Formel oder wie auch immer etwas ausrechnen zu können oder bestimmte Vokabeln wissen zu müssen, um etwas ausdrücken zu können. (LId0105k)

Diese Deutschlehrerin stellt klar heraus, dass ihrer Ansicht nach im Deutschunterricht Individuen, deren Handlungen und Gefühle sowie ihre Positionierung zu ihrer gesellschaftlichen Umwelt eine zentrale Rolle spielen und spielen sollten. Die Auseinandersetzung mit den Unterrichtsinhalten, wobei sie hier ausschließlich Textarbeit nennt, wird in direktem Zusammenhang mit der Auseinandersetzung und Weiterentwicklung der eigenen Persönlichkeit gesehen. Die Lehrerin betont, dass den Schülern und Schülerinnen bei der Interpretation der Texte ein breiter Spielraum zur Verfügung steht (es „ist an und für sich jede Interpretation ja zulässig“). Auch die geforderten individuellen Textinterpretationen müssen jedoch noch „mit dem Text in irgendeiner Form kompatibel sein“ sein, wobei sie nicht näher definiert, was dieses beinhaltet. Indem sie jedoch die Deutschfachkultur von anderen Fachkulturen abgrenzt, in denen die Lernenden „irgendeine Formel“ oder „bestimmte Vokabeln wissen [...] müssen, um etwas ausdrücken zu können“, nimmt sie für den Deutschunterricht in Anspruch, dass diese Beschränktheit auf Formalitäten hier nicht gelten würde. Etwas später benennt die Lehrerin selbst weitere mögliche Themenbereiche des Deutschunterrichts und begründet, wieso sie diese aufgrund ihrer thematischen Prioritätensetzung (individuelle Textinterpretationen) bewusst in den Hintergrund stellt: Also vielleicht vernachlässige ich ein bisschen das Formale: Grammatik und Satzbau usw. Und ich vernachlässige auch wenn ich jetzt Gedichte mache, sozusagen Reim, Rhythmus, Reim usw. Ich spreche lieber über die Gedichte und nicht also über diese formalen Dinge [...]. Und da habe ich vielleicht eine kleine Schwäche, weil

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also für mich das andere auch wirklich sehr wichtig ist. Geht mir eigentlich auch um Inhalte. Geht mir darum, dass Schüler sich mit Literatur auseinandersetzen. Und zwar, eben auch selbständig werden. Darauf kommt es mir an, selbständig zu werden. (ebd.)

Die Lehrerin räumt die Vernachlässigung der „formalen“ Inhalte von Deutschunterricht als „kleine Schwäche“ ein. Hiermit deutet sie an, dass diese Bereiche möglicherweise für andere Personen (auch Lernende?) von höherem Interesse und Bedeutung sein könnten, sie aber ihre Meinung über die Wichtigkeit der Unterrichtsinhalte als Maßstab anlegt. Die Auseinandersetzung mit Literatur benennt sie als wichtigstes Medium zum Erlangen des für sie zentralen Erziehungsziels: der Erziehung der Schülerinnen und Schüler zur Selbständigkeit. Die Vermittlung von „Inhalten“ wird von ihr als hierfür wichtig erachtet, wobei sie „Inhalte“ ausschließlich auf den Bereich „Literatur“ bezieht. Die von ihr als „formal“ bezeichneten Themenbereiche schließt sie implizit als Nicht-Inhalte aus und wertet sie somit, wie schon vorher bei der Bezugnahme auf vorgegebene Formeln und Inhalte in anderen Fachkulturen, ab. Auch eine andere Lehrerin schätzt den Literaturunterricht als den zentralen Unterrichtsgegenstand ein, über den die Lehrkräfte offenbar am ehesten das fachliche Ziel der Persönlichkeitsentwicklung erreichen können. Sie schätzt gerade auch die Inhalte des Literaturunterrichts, welche die Lernenden nicht selber haben bestimmen können: Und aber auch immer wieder durch die Distanz zu Literatur, die man sich nicht selber ausgesucht hat oder zumindest – gut, die Schülerinnen und Schüler haben ein Mitspracherecht, aber letztlich gibt es halt auch einen Lehrplan. Aber das kann dann auch wieder wohltuend sein, da auf Distanz zu gehen und dann mal wieder etwas aus einer Lebensschicht zu erfahren, die man nicht unbedingt teilt. Das kann auch entlastend sein, eben nicht über etwas Eigenes zu sprechen. Und da die richtige Balance zu finden, das ist natürlich ein Kunststück. (LId0210k)

Die enge Verbindung der schulischen, über das Fach Deutsch durchaus hinausgehenden Themenbereiche, bis hin zu persönlichen außerschulischen Themen, welche aufgegriffen werden sollten, unterstützt sie dann auch im Deutschunterricht folgendermaßen: Aber ich bin auch dann auf alles eingegangen, so also auch – Mareike konnte ihr, durfte erzählen von ihrem Engagement und ähm, auch als ich erfuhr, dass es da eine Mädchenband gibt, habe ich, bin ich drauf eingegangen oder auch Jörgs Aktivitäten im Theater. Ich habe das alles sehr begrüßt und gefördert und auch gebeten oder auch Lindas Tanztheater, ähm auch versucht zu veröffentlichen zu zeigen, welche Gaben da auch in der Klasse vorhanden sind. Und dass eben auch nicht nur Schule für die meisten im Vordergrund steht, sondern eben auch anderes und habe sie oft

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Stellung nehmen zu lassen, äh Stellung nehmen lassen zu Fragen der Jugendkultur, des Alltags und der Politik, so dass sie oft auch sich einbringen konnten, nicht. Und auch wenn wir Literatur behandelt haben, die nichts mit der aktuellen Gegenwart zu tun haben, z. B. den Schimmelreiter von Theodor Storm, dann habe ich sie Kleingruppen bilden lassen und sie konnten sich Einzelthemen aussuchen und in Kleingruppen etwas erarbeiten und mit Methodenvielfalt. So dass sie dann auch ganz individuell gestalten konnten. (ebd.)

Die Auseinandersetzung mit der eigenen, aber gerade auch mit nicht vertrauten Lebenswelten steht entsprechend im Mittelpunkt des Unterrichts. Wer möchte, darf sich jedoch auch auf einer persönlichen Ebene deutlich in ihren Unterricht einbringen. Die Lehrerin betont, dass sie entsprechend auch die außerschulischen Interessens- und Kompetenzbereiche der Jugendlichen mit in den Fachunterricht einbezieht, um den Schülerinnen und Schülern eine ‚Bühne’ für ihre Persönlichkeitsentwicklung zugeben. Eben diese individuelle Wahl der Interessenschwerpunkte spiegelt sich dann auch im Literaturunterricht wieder. Die Zugänge zu den Fachthemen werden also möglichst subjektiv gestaltet. Dass die Lehrkräfte hierbei von sehr unterschiedlichen Interessenslagen für die Mädchen und die Jungen ausgehen, beschreibt eine Lehrerin in folgendem Interviewausschnitt: Ich habe den Eindruck, also Mädchen interessieren sich ja stärker für Literatur. Sie lesen ja auch mehr als Jungen. Also wenn man jetzt fragt, wer hat in der letzten Zeit ein Buch gelesen, dann können ihnen die Mädchen mehr aufzählen. Also sie sind von sich aus schon mehr an Literatur interessiert. (LId0202k)

Eine Kollegin stützt diese Einschätzung, sie sieht die Interessen der Jungen eher in außerschulischen Bereichen: Ja, es gibt in der Klasse also zwei, drei Jungen, die sehr gerne und sehr viel lesen. Aber die meisten lesen nicht gerne in der Altersstufe. Die verbringen dann lieber ihre Freizeit am Computer oder beim Sport oder eben in der Hiphop-Kultur. (LId0210k)

Die durch die Lehrkräfte zugeschriebenen unterschiedlichen Interessenslagen beider Geschlechtergruppen spiegeln sich auch in der Einschätzung der generellen Fähigkeiten von Mädchen und Jungen: Mädchen [liegt es mehr] sich dafür zu interessieren, sich irgend etwas auszudenken, über irgend etwas nachzudenken und Jungens [wollen] vielleicht irgendwie eher mit

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etwas fertig sein. So wie dieses Ja – Nein und richtig – falsch und so wie Mathe. Und irgendwie zielgerichteter und zielorientierter. (LId0202k)

Eine andere Lehrkraft teilt ihre Ansichten über die Vorgehensweisen beider Geschlechter und erläutert die Unterschiede an einem Beispiel: Das käme den Mädchen eher entgegen, irgendwie die Bilder dann zu entwickeln. Ein Junge würde eher die Frage beantworten, was ist ein Alchimist. Ein Alchimist ist ..., dann hat er in irgendeinem Lexikon nachgeguckt: das und das, Punkt, fertig. (LId0105k)

In diesen Ausführungen werden beiden Geschlechtergruppen eigene Interessen und Fähigkeiten zugeordnet: Mädchen liegt die assoziative Auseinandersetzung mit Literatur, sie interessieren sich quasi schon naturgemäß, jedenfalls aber von sich aus dafür und lassen sich dabei Zeit, denken über Inhalte nach und entwickeln Bilder dazu. Jungen hingegen wollen schnelle Fakten und eindeutige Zuordnungen und setzen sich dafür ein. Die unterschiedlichen Interessenslagen beider Geschlechtergruppen finden auch in der Wahl der Inhalte Berücksichtigung. Folgender längerer Interviewausschnitt legt dieses dar: Auch die Ergebnisse dieser Umfragen und Forschungsprojekte, dass eben die Jungen Deutsch als sehr schwieriges Fach betrachten und auch nicht gerade als Lieblingsfach, sondern als unbeliebtes Fach, das hat mich auch sehr nachdenklich gemacht. Und bei der Auswahl meiner Stoffe beziehe ich diesen Blickwinkel durchaus mit ein. [...] Ja, Jungen spricht auf jeden Fall die männliche Perspektive an, ich finde das auch etwas ungerecht, dass seit Jahrhunderten eigentlich immer die Mädchen sich automatisch in jede Männerperspektive hineinversetzen können und äh wenig weibliche Heldinnen haben, wenig Geschichten aus weiblicher Sicht in der IchPerspektive. Aber den Mädchen fällt das ganz leicht, sich in Jungen- oder Männerperspektiven hineinzuversetzen. Und die Jungen sind doch sehr zurückhaltend und kritisch, wenn es mal eine weibliche Ich-Perspektive gibt. Das finde ich sehr schade und ich habe da auch eine Zeitlang versucht gegenzusteuern und ihnen dann auch immer auch z. B. Erzählungen von Christa Wolf präsentiert. Aber das verstehen die Jungen nicht und ich weiß auch nicht, wie ich das Dilemma lösen kann. Ich finde die Jungen sollten es auch lernen, sich in weibliche Perspektiven hineinzuversetzen. Aber die schalten da sehr schnell ab und mögen gerne lieber Männerperspektiven. Das sehe ich nach wie vor als Problem, ähm, aber in der Pubertät, in diesen schwierigen Jahren, muss ich das nicht auf Biegen und Brechen machen. Ich kann, ich werde da also Romane dann vor allem aus männlicher Sicht behandeln. Also Schimmelreiter kommt z. B. sehr gut an. Aber schon so ein Stück von Dürrenmatt „Besuch der alten Dame“ wo es eben eine weibliche Sicht gibt und eine weibliche Hauptfigur, lehnen viele Jungen ab. Damit können die in der Pubertätszeit gar nicht

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viel anfangen. [...] Obwohl das ein witziges Stück ist, was viel Aktion beinhaltet und was eigentlich auch gut verständlich ist für eine Mittelstufenklasse, mögen das viele Jungen nicht. [...] Während sie den Schimmelreiter, so was mögen sie eigentlich gerne. Wo es auch um Heldentaten geht, um action und ja, es kommt da auch sehr stark auf die Balance an und auf das Fingerspitzengefühl. (Nachfrage K.W.: Und bei so aktueller Literatur wie jetzt „Crazy“ z. B., wenn das jetzt die Perspektive eines Mädchens gewesen wäre? Meinen Sie, dass da mehr die Jugendkultur im Vordergrund gestanden hätte oder war das dann auch wirklich dieser Junge?) Das war der Junge, ja. Bei einem Mädchen, also da hätten sich glaube ich die Jungen sogar geweigert das zu lesen. Jugendbücher aus der Sicht eines Mädchens finden sie ganz schrecklich. Und (lacht) aber die Mädchen konnten sich nach wie vor gut darauf einlassen, obwohl in dem Buch so gut wie kein Mädchen vorkommt oder die Mädchen kommen im Grunde nur als Objekte, Objekte auch der Begierde und der ersten sexuellen Erfahrungen vor und nicht als echte Partnerinnen, nicht als echte Freundinnen und, äh gut, wir haben das kritisch auch angemerkt, dennoch haben die Mädchen das Buch gerne gelesen, genauso gerne wie die Jungen. (LId0210k)

Aus der als geschlechtsspezifisch unterschiedlich eingeschätzten Interessenslage der Lernenden – die Jungen schätzen Deutsch als „schwierig“ ein und bewerten es als „unbeliebtes Fach“ – zieht die Lehrerin die Konsequenz, dass die Unterrichtsinhalte allein und eindeutig an der vermuteten Interessenslage der Jungen ausgerichtet werden. Dies gilt uneingeschränkt zumindest für die Zeit der Pubertät. Die Vermutung der Lehrerin reicht hierbei von dem Problem, dass die Jungen sich „nicht interessieren“, Texte „nicht verstehen“ bzw. damit „nichts anfangen“ können, sich „nicht auf den Text einlassen“, bis hin dazu, dass sie sich „weigern, dass Buch zu lesen“. Eine Lösung bietet ihrer Ansicht nach nur das Ausrichten des Lehrstoffs an männlichen Protagonisten, Büchern mit ‚action’ und den Identifikationsmöglichkeiten, welche die Jungen brauchen. Die Mädchen finden aufgrund der Zuschreibung der Interessen und Kompetenzen keine Berücksichtigung ihrer eigenen Schwerpunkte, statt dessen betont die Lehrkraft mehrfach, dass die Mädchen kein Problem mit der Anpassung an die auf die männlichen Klassenkameraden ausgerichteten Bedürfnisse hätten, sondern es fällt „ihnen ganz leicht“, sie „können sich gut darauf einlassen“, sich „automatisch in jede Männerperspektive hineinversetzen“ und „lesen das Buch genauso gerne wie die Jungen“. Bemerkenswert ist das gleichzeitige Bewusstsein der Lehrerin für die Dilemmasituation, in welche sie sowohl die Jungen als auch die Mädchen bringt und welche die Lehrerin durchaus reflektiert: Für die Mädchen empfindet sie selber diese Praktik als „ungerecht“, zudem empfindet sie selber die Rolle der Mädchen und Frauen – zumindest in „Crazy“ – als so problematisch, dass sie kritisch kommentiert werden sollte und wurde.

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Die Position, die dieselbe Lehrerin etwas vorher konstatiert und nach welcher die Auseinandersetzung mit Literatur, „die man sich nicht selber ausgesucht hat“ (nach der die Lernenden „dann mal wieder etwas aus einer Lebensschicht [zu] erfahren, die man nicht unbedingt teilt“ (LId0210k), bereichernd ist für den Lernprozess und die Entwicklung der Lernenden, gilt also offenbar nicht gleichermaßen für die Jungen und die Mädchen, da von den Jungen diese Offenheit für das Fach Deutsch gar nicht erst erwartet wird. Insgesamt zeigt sich an den Aussagen der Deutschlehrkräfte, dass zwei Grundsätze gegeneinander stehen: auf der einen Seite der subjektive Themenzugang und die Ausbildung der individuellen Persönlichkeit als generelles Zeil des Deutschunterrichts und auf der anderen Seite die für beide Geschlechtergruppen unterschiedlichen zugeschriebenen Interessen und Kompetenzen. Durch die Verallgemeinerung, welche die Lernenden in erster Linie als Angehörige einer Geschlechtergruppe fasst, wird in der konkreten Unterrichtspraxis die Möglichkeit eines von der Geschlechterzuschreibung absehenden Zugangs fast unmöglich gemacht.

5.3. Inklusion und Exklusion: fachkulturelle Mechanismen des gendering in Physik und Deutsch Lehrende wie auch Lernende haben sehr deutliche Positionen zu den beiden Unterrichtsfächern Deutsch und Physik. Anhand der Äußerungen aus der quantitativen Erhebung (Lernende) und der Interviews (Lehrende) wurden diese explizit gemacht. Im Vordergrund der Analyse standen dabei Positionierungen, welche sich nicht auf der unmittelbar interaktionellen Ebene abspielen, sondern welche die Vorannahmen, Zuschreibungen und daraus hervorgehende Schlussfolgerungen, kurz die geteilten Denk- und Wahrnehmungsmuster, abbilden. Hierin liegt die habituelle Seite der Fachkulturen: in den doxischen Positionierungen ihrer Akteurinnen und Akteure. In der vergleichenden Betrachtung der Aussagen von Seiten der Schülerinnen und Schüler mit denen der Fachlehrer und Fachlehrerinnen zeigen sich deutlich auch gegenderte fachkulturelle Unterschiede. Inwieweit greifen sich nun die Positionen von Lernenden und Lehrenden gegenseitig auf und bilden kollektive Muster habitueller Prägungen? Wo sind ggf. Brüche in der Einheitlichkeit erkennbar? Betrachten wir zunächst noch einmal einige Aussagen der Lernenden, nach Fachaussagen gebündelt zunächst zum Fach Deutsch, anschließend dann zu Physik: 177

SCHULISCHE FACHKULTUREN UND GESCHLECHT

Für das Fach Deutsch konstatieren die Mädchen eine deutlich höhere Einschätzung als „interessantes Fach“ als die Jungen. Auch die Einschätzung als „Lieblingsfach“ liegt bei den Mädchen höher, bei den Jungen schwankt sie zudem stärker von Jahr zu Jahr. Hier unterschieden sich auch die Begründungen beider Geschlechtergruppen: bei den Jungen zählt v.a. die gute eigene Leistung als Argument genannt, ebenso wird die schlechte Fachleistung als Argument für die Nennung als unbeliebtestes Fach herangezogen. Bei den Mädchen fällt dieses Argument auch, aber seltener, vielmehr nennen sie die Brauchbarkeit für den späteren Beruf, das Fachinteresse und – in der ersten Erhebungsphase – die geringen Anforderungen. Beide Geschlechter nennen als Argument für die Einschätzung als unbeliebtes Fach, dass das Fach uninteressant sei. In der Einschätzung von Deutsch als unbeliebtestetes Fach liegen die Geschlechtergruppen ähnlich: Deutsch liegt fast immer im mittleren Drittel. Insgesamt liegen jedoch sowohl das Fach- als auch das Sachinteresse der Lernenden in Deutsch deutlich über beiden entsprechenden Bereichen in Physik. Auch das Begabungsselbstkonzept liegt bei beiden Geschlechtergruppen in Deutsch insgesamt relativ hoch, und deutlich höher als in Physik. Wenngleich die Mädchen in Deutsch die besseren Schulnoten haben, zeigen die Jungen ein noch höheres Begabungsselbstkonzept als ihre Klassenkameradinnen. Die Wahrnehmung des Faches Physik gestaltet sich etwas anders: Die Mädchen ordnen die Interessantheit des Faches durchgehend im unteren Mittelfeld ein, die Einschätzung bleibt mit jeweils 4% jedoch konstant. In der Beliebtheitsskala sinkt Physik rapide ab dem Moment, in dem real Physikunterricht erteilt wird. Die Jungen schätzen das Fach insgesamt deutlich als interessanter ein als die Mädchen, auch diese Lage ändert sich zur negativen Einschätzung mit dem Beginn des Faches ale reales Unterrichtsfach. Im Gegensatz zu den Mädchen fängt sich die Einschätzung der Jungen von Physik als interessantem Fach jedoch wieder. Die Aussagen zur Beliebtheit des Faches verlaufen bei den Jungen – anders als bei den Mädchen – in einer Wellenbewegung: Mit der realen Erfahrung von Physik als Fach fällt die Einschätzung als Lieblingsfach, bei den Mädchen sinkt sie in den kommenden Jahren weiter, bei den Jungen erholt sie sich. Offenbar lässt sich jedoch für beide Geschlechtergruppen konstatieren, dass das Fach Physik Erwartungen weckt, die später nicht eingelöst werden können. Pauschal sind beide Geschlechtergruppen an dem Fach relativ wenig interessiert und bezeichnen es auch wenig als beliebtes Fach. Als Lieblingsfach wird Physik fast überhaupt nur in der monolingualen Klasse genannt. Die Argumente für die Einschätzung bei den Jungen sind die gute eigene Leistung und die geringen Fachanforderungen, bei den Mädchen die Interessantheit des 178

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Faches. Wenn Physik als unbeliebtestes Fach eingeschätzt wird, dieses ist bei den Mädchen in allen Erhebungen der Fall, greift die Einschätzung als uninteressant und die geringe Brauchbarkeit für den späteren Beruf, die Jungen bemängeln ihr Verhältnis zur Lehrkraft, allerdings nicht in den Jahren, in denen Physik bilingual erteilt wurde. Beide Geschlechtergruppen greifen insgesamt auffällig selten auf die Kriterien „das Fach macht Spaß“ bzw. auf die „Brauchbarkeit außerhalb von Schule“ und „Brauchbarkeit für den späteren Beruf“ für ihre Einschätzungen als Lieblingsfach zurück. Das Begabungsselbstkonzept in Physik liegt bei beiden Geschlechtern eher niederig, bei den Mädchen in der zweiten Erhebung zudem signifikant niedriger als bei den Jungen. Für das Fach Physik zeigt sich eine weiter interessante Aussage des fachkulturellen Verständnisses der Akteurinnen und Akteure: Offensichtlich beeinflusst der Wechsel der Unterrichtssprache im Jahrgang 9 die Einstellung der Lernenden zum Fach sehr wenig. Wenngleich Englisch im gleichen Jahr bei beiden Geschlechtergruppen auf Rang drei zu den interessantesten Fächern zählt (Mädchen 13%, Jungen 10%), bei den Mädchen mit 20% sogar das Lieblingsfach ist, hat dieses keine positiven Auswirkungen auf die Positionierungen zum Fach Physik. Diese Aussage der Lernenden bestätigt, dass das Fach Physik auch in bilingualer Form fachkulturell eindeutig der Physik, und nicht den Sprachen zugeordnet wird. Für die beiden Unterrichtsfächer Deutsch und Physik konstruieren die Lehrkräfte in verschiedener Hinsicht deutlich unterschiedliche fachkulturelle Bedeutungszusammenhänge. Zunächst weisen die beiden Fächer ein sehr unterschiedliches fachkulturelles Verständnis der Unterrichtsausrichtung auf: Erkennbar ist in den Aussagen der Fachlehrkräfte, dass in den beiden Fachkulturen unterschiedliche Faktoren für wichtig gehalten werden, nach denen dann die Unterrichtsinhalte und -methoden ausgewählt werden. Betrachten wir auch hier die Fächer zusammengefasst in ihren Zuschreibungen: Der Deutschunterricht ist nach Aussage der Lehrkräfte explizit an der Entwicklung der Persönlichkeit der Lernenden ausgerichtet, dieses steht vor dem Erlernen konkreter Fachinhalte. Die Möglichkeiten der inhaltlichen Schwerpunkte in Deutsch sind eher vielfältig, Fachinhalte werden dann als zentral erachtet, wenn sie der Entwicklung der Individuen möglichst dienlich sind. Literaturunterricht stellt hierbei einen zentralen Bereich dar. Bei der Beschäftigung mit den Unterrichtsinhalten sind explizit subjektive und vielfältige Lösungen gefordert, die formalen Vorgaben werden hierbei eher als Einschränkung angesehen. Außerunterrichtliche Themen und Lebenswelten der Jugendlichen werden entsprechend auch konzeptionell in den Fachunterricht 179

SCHULISCHE FACHKULTUREN UND GESCHLECHT

integriert und anschließend mit den eigentlichen Deutsch-Unterrichtsinhalten verknüpft. Die Lehrkräfte selbst scheinen ihren Einfluss auf das Erreichen unterrichtlicher Ziele nicht in Frage zu stellen. Zugleich gehen die Deutschlehrkräfte sehr einheitlich von klaren Geschlechterzuschreibungen für ihr Fach aus. Dies betrifft sowohl inhaltliche Interessen als auch fachliche Kompetenzen der Mädchen und Jungen. Den Zuschreibungen nach liegen den Schülerinnen die von den Deutschlehrkräften dargestellten Themen und Inhalte des Deutschunterrichts generell deutlich mehr als den Schülern. Während den Jungen Fähigkeiten zugeschrieben werden, die den Deutschlehrkräften für ihr Fach wenig brauchbar und fördernswert erscheinen – sie sind zielorientiert, schnell mit Fakten zufrieden und wenig diskussionsfreudig bezüglich ihrer Ergebnisse –, wird den Mädchen ein quasi natürliches Interesse an dem Fach Deutsch unterstellt. Indem Deutsch in seinen inhaltlichen Ausrichtungen als subjektiv, individuell, verhandelbar, bildhaft entworfen wird, entspricht es inhaltlich deutlich mehr den parallel dazu entworfenen Kompetenzen und Fähigkeiten der Mädchen, Deutsch wird also als ‚Mädchenfach’ konstruiert. Entsprechend besteht nach Ansicht der Lehrkräfte auch keine Notwendigkeit, die Mädchen über ihr Eigeninteresse hinaus für dieses Fach zu motivieren. Die für Deutsch konstruierte Inklusion der Mädchen geht einher mit der konstruierten Exklusion der Jungen. Eine Lösung dieser Dilemmasituation sehen die Lehrkräfte vor allem darin, dass sie ihren Unterricht in Inhalten und Methoden gänzlich nach der Interessenslage der Jungen ausrichten, um diese ‚Ausgeschlossenen’ fachlich zu integrieren. Den Mädchen wird dabei in puncto Motivation und Kompetenz unterstellt, dass sie sich dieser Ausrichtung anpassen würden und könnten. Für das Fach Deutsch greifen Inklusions- und Exklusionsmechanismen auf verschiedenen Ebenen: Im Deutschunterricht beschreiben die Lehrkräfte ihren – zumindest versuchten – Einfluss auf die Schüler und Schülerinnen als unterrichtsbestimmend. Zunächst werden hierüber faktisch ausschließlich diejenigen Lerner und Lernerinnen angesprochen, die sich tatsächlich durch die unter dieser Prämisse gewählten Unterrichtsthemen auch angesprochen fühlen und sich dafür interessieren. Da andere Themen bewusst wenig behandelt werden, gibt es für die Nicht-Interessierten kaum Möglichkeiten, andere Interessensbereiche im Deutschunterricht zu entwickeln. Dieser Exklusionsmechanismus aus dem Deutschunterricht, welcher für beide Geschlechtergruppen gilt, scheint den Lehrkräften nicht bewusst. Stattdessen entwickeln sie jedoch Vorgehensweisen, die der vermuteten Exklusion der Jungen aus dem Deutschunterricht vorbeugen sollen. Hintergrund ist die Zuschreibung der fachkulturellen Interessenslage und Kompetenzlage der Mädchen und Jungen: Mädchen können eben Deutsch und interessieren sich per se dafür, Jungen eben per se nicht. Somit wird das Fach zwar als ‚Mädchenfach’ ent180

5. TECHNIK, MACHT UND MÄNNLICHKEIT / SPRACHE, EMOTIONEN UND WEIBLICHKEIT?

worfen, bei der Ausrichtung des Unterrichts und der Inhalte erfolgt jedoch eine Orientierung ausschließlich an den Jungen. Insgesamt wird so ein Fachverständnis entworfen, welches die Lernenden vorrangig als Angehörige einer Geschlechtergruppe begreift und den Unterricht entsprechend – und im Widerspruch zu dem Anspruch des Faches, individuelle und subjektive Zugänge zu ermöglichen – auf kollektive Verbände ausrichtet. Diejenigen Jungen und Mädchen, welche den zugeschriebenen Geschlechterprämissen nicht entsprechen, werden eben durch die entsprechend gestalteten Zugänge ausgeschlossen. Für das Fach Physik greifen andere Inklusions- und Exklusionsprozesse. Nach Darstellung der Physiklehrkräfte werden thematische Schwerpunkte nach ihrer fachlichen Verwertbarkeit – Erkenntnis über Funktionsweisen physikalischer Vorgänge und Zusammenhänge – entschieden. Die Physiklehrkräfte konstatieren sehr deutlich, dass diese fachlichen Inhalte im Vordergrund stehen, der Unterricht orientiert sich an unbelebten Gegenständen und Phänomenen und deren Funktionsweisen bzw. Zusammenhängen. Ziel des Unterrichts ist ein korrekter Umgang mit physikalischer Materie. Ergebnisse sind dabei nicht verhandelbar, sondern stehen eindeutig fest und werden als Faktenwissen vermittelt. Hierbei sind durchaus verschiedene Zugangswege zu Ergebnissen möglich, diese führen bei den Schülern und Schülerinnen jedoch eher zu Verwirrung als zur fachlichen Klärung. Die Adressatinnen und Adressaten des Fachunterrichts spielen für die Unterrichtsausrichtung eine marginale Rolle. Vielmehr gibt es nach Aussage der Lehrenden eben Jugendliche, welche bereits ein Interesse am Fach Physik mitbringen, bei der Mehrheit der Lernenden gehen die Fachlehrkräfte jedoch davon aus, dass das Fach für sie „langweilig“ oder „schwierig“ sei. Entsprechend sei die Position der Lernenden mehrheitlich eher von Desinteresse geprägt. Generell entsteht für den Physikunterricht der Eindruck einer recht pessimistischen Einschätzung des Unterrichtsfaches, gemessen an den vermuteten Interessen der Lernenden an dem Fach. Das Professionsverständnis der Physiklehrer spiegelt deutlich, dass diese wenig eigenen Einfluss auf bereits bestehende Interessen und wenig Zugriffsmöglichkeiten auf die (mangelnde) Interessensausbildungen der Lernenden sehen, sie vermuten sie eher außerhalb ihres Einflussbereichs. Entsprechend werden die Inhalte quasi einheitlich vorgegeben, subjektive Positionierungen sind ebenso wenig gefragt wie dem fachkulturellen Ziel förderlich, den „objektiven Wirklichkeiten“ auf die Spur zu kommen. Entgegen diesen Aussagen, welche für beide Geschlechtergruppen gleichermaßen zutreffen, nennen die Physiklehrkräfte deutlich unterschiedliche Zuschreibungen für männliche und weibliche Lernende, wenn sie direkt auf mögliche Geschlechterunterschiede angesprochen werden: Demnach treffen 181

SCHULISCHE FACHKULTUREN UND GESCHLECHT

bei näherer Betrachtung nur wenige Themen den Interessensnerv der Mädchen. Dies seien die gesellschaftlichen oder biologisch ausgerichteten Themen. Für den Kern der Physikinhalte, die wirklich ‚physikalischen’ Themen, interessieren sich nach Ansicht der Lehrkräfte jedoch ausschließlich die Jungen. Über die Interessenslage hinaus weisen die Lehrenden beiden Geschlechtergruppen auch deutlich stereotype Arbeitsweisen und Kompetenzbereiche zu: die Mädchen sind hiernach eher ehrgeizig und fleißig, die Jungen etwas schluderig und vor allem ergebnisorientiert. Damit würden die Jungen im Endeffekt trotz der weniger den schulischen Anforderungen entsprechenden Arbeitshaltung eher die für ein Verstehen und erfolgreiche Mitarbeit in Physik benötigte Herangehensweise mitbringen. Die für das Fach Physik von den Lehrenden für beide Geschlechtergruppen explizit konstatierte gleiche fachliche Ausgangslage wird durch ihre Geschlechterzuschreibungen deutlich revidiert. Vielmehr installieren die Lehrkräfte über die Zuschreibungen konzeptionell einen Exklusionsmechanismus für ihr Fach: Im Physikunterricht wird die Zielgruppe des Unterrichts generell dadurch beschränkt, dass die Lehrkräfte ihren Einfluss auf die Interessenslage der Schülerinnen und Schüler als beschränkt betrachten. Hierdurch richten sie den Unterricht v. a. an den (wenigen) Jungen und Mädchen aus, die auch unabhängig von ihrem Einflussbereich schon/ noch Interesse an physikalischen Themen und deren Bestimmung haben. Über die Kopplung an geschlechtlich zugewiesene Interessensbereiche sind den genannten geschlechtlichen Konzepten zufolge hierüber konzeptionell die Jungen deutlich stärker in fachliche Inhalte einbezogen als die Mädchen. In beiden Fächern klingt an, dass die Lehrkräfte die Unterrichtsausrichtung nach von ihnen als wichtig erachteten Faktoren vornehmen, die Position der Jugendlichen wird dabei – sicherlich mit der Intention, dieses sei für diese besonders förderlich – von ihnen vorweggedacht. Generell lassen die Aussagen der Lehrkräfte beider Fächer den Schluss zu, dass sie sich selber für den Bereich der geschlechtsbezogenen Interessensausbildung relativ wenig Handlungs- und Einflussmöglichkeiten zugestehen, stattdessen werden Unterschiede als ‚gegeben’ analysiert, zum Teil problematisiert, dann jedoch in die Unterrichtsplanung aufgenommen. Für das Fach Physik erfolgt dann keine weitere Form des Entgegensteuerns, in Deutsch setzen die Lehrenden konzeptionell auf Auffangmechanismen, stellen die geschlechtsbezogenen Zuschreibungen selber jedoch nicht in Frage. Die durch die Zuschreibungen hervorgebrachten Mechanismen fachlicher Inklusion und Exklusion führen letztlich entscheidend zum gendering der beiden Fächer: Für das Fach Physik greift die Exklusion massiver als in Deutsch: die wenig angenommenen Fachinteressierten werden fachkulturell ‚bedient’, 182

5. TECHNIK, MACHT UND MÄNNLICHKEIT / SPRACHE, EMOTIONEN UND WEIBLICHKEIT?

die anderen bleiben ausgeschlossen. Wie dargestellt betrifft der konstruierte Ausschluss zwar deutlicher die weiblichen Lernenden, es erfolgt jedoch nicht ein dem Fach Deutsch entsprechendes Pendant einer Ausrichtung an den Nicht-Interessierten bzw. Ausgeschlossenen. Deutsch wird hingegen als weibliches Fach konstruiert, dadurch die Jungen ausgeschlossen. Die Ausrichtung erfolgt dann aber an den Jungen, letztlich also an der ‚out-group’. Mit dem vorliegenden Muster der Inklusion für die Mädchen und der Exklusion für die Jungen rekurrieren die Lehrkräfte auf Mechanismen der gesellschaftlichen Konstruktion dichotomer Geschlechterstrukturen: Weiblichkeit wird konnotiert mit Inklusion, Zugehörigkeit, Solidarität etc., Männlichkeit wird oftmals hergestellt über Exklusion, Konkurrenz, Randgruppen. Die damit unmittelbar verbundene gesellschaftliche Zuschreibung von Emotionalität als weibliche Ressource und Rationalität als männliche Ressource findet sich also auch in den fachkulturellen Konstruktionsprozessen der Lehrkräfte: als gegenderte Illusio der beiden Fächer.

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6. Besonderheiten des bilingualen Physikunterrichts

In verschiedenen Studien (u. a. PISA, LAU, TIMSS) wird immer wieder dargestellt, dass Mädchen sprachlichen Fächern eher zugeneigt und darin leistungsstärker seien, dies umgekehrt in naturwissenschaftlichen Fächern für die Jungen gelte. Die Besonderheit des bilingualen Physikunterrichts wäre demzufolge, dass keine so klare Zuordnung mehr möglich ist, ob es sich um ein primär sprachliches oder ein primär naturwissenschaftliches Fach handelt und wie sich die Geschlechtergruppen entsprechend dazu positionieren. Die zu überprüfende Vermutung, welche zum Einbeziehen des bilingualen Physikunterrichts als ‚Kontrollfach’ in dieser Studie geführt hat, war, dass sich durch die Erweiterung des sprachlichen Bereichs, welcher den Mädcheninteressen und -kompetenzen zugeschrieben wird, veränderte und verbesserte Spielräume für die weiblichen Lernerinnen ergeben könnten. Dieser Frage wird in diesem Kapitel nachgegangen. Hierfür werden die Besonderheiten des Faches nachgezeichnet. Zunächst erfolgt jedoch eine Klärung der Frage, was überhaupt unter bilingualem Unterricht zu verstehen ist. Seit den 1960er Jahren findet in der Bundesrepublik eine kontinuierliche Entwicklung bilingualer Bildungsgänge bzw. – als Variante – bilingualer Module statt. Während das Modell des Modulunterrichts bilingualen Sachfachunterricht nur zeitweise in kürzeren Unterrichtssequenzen bzw. in fächerübergreifendem Unterricht vorsieht – eine Variante, die bislang vorrangig in Österreich umgesetzt wird (vgl. Christ 2002: 16) –, bleiben im Bildungsgang „bilingualer Zweig“ die Klassen in einer Klassengemeinschaft von Anfang bis Ende zusammen. In der BRD wird derzeit an ca. 400 Schulen bilingualer Unterricht praktiziert. In der Regel sind die bilingualen Modelle dadurch gekennzeichnet, dass die betreffende Fremdsprache von Klasse 5 an mit einer erhöhten Stundenzahl und zudem in mindestens einem weiteren Fach in dieser 185

SCHULISCHE FACHKULTUREN UND GESCHLECHT

Sprache unterrichtet wird. Vorrangig werden Fächer des gesellschaftswissenschaftlichen Kanons für den bilingualen Unterricht gewählt, Ingeborg Christ verweist darauf, dass vor allem der bilinguale Unterricht im Englischen in naturwissenschaftlichen Fächern, und dann meist in Biologie, stattfindet (vgl. a.a.O.: 15). Bilingualer Unterricht wird bisher unter verschiedenen Bezeichnungen diskutiert: „Bilingualer Sachfachunterricht“ ist der in Deutschland gängige Terminus, aber auch „sachbezogener Fremdsprachenunterricht“ wird genannt, findet in der BRD allerdings wenig statt. Gleichzeitig wird immer wieder darauf verwiesen, dass die meisten Bezeichnungen irreführend sind (vgl. Wolff 2000a und 2000b). Entscheidend ist m. E. das Verhältnis der beiden konstituierenden Komponenten Sprache und Fachwissen. Zum einen findet der Unterricht nicht in zwei Sprachen statt, sondern wird in der Regel einsprachig in der Fremdsprache abgehalten, wobei allerdings vor allem zu Beginn ein zwischenzeitliches ‚code switching’, also ein Wechsel in die Muttersprache bzw. offizielle Unterrichtssprache Deutsch möglich ist. Zum anderen besteht eine klare Trennung zwischen den Inhalten und Zielen des Sachfachunterrichts und des Fremdsprachenunterrichts. Zwei Konzepte zeichnen sich hier ab: Denkbar wäre das Modell, welches das Sachlernen z. B. im Physikunterricht in das Gesamtkonzept des primären Lerngegenstands „Sprachkompetenz“ fächerübergreifend einbindet. Hierbei träte entsprechend der Sachlerneffekt hinter dem Ziel des Spracherwerbs zurück. Bislang steht im fremdsprachlichen Sachfachunterricht jedoch eindeutig die Vermittlung von Sachkompetenz und nicht die Vermittlung von Sprachkompetenz im Mittelpunkt, das Sprachenlernen ist begleitendes ‚Mittel zum Zweck“: Sylvia Fehling und Claudia Finkbeiner konstatieren für den bilingualen Sachfachunterricht, dass die „Vermittlung von Sachkompetenz und nicht von Sprachkompetenz [...] im Mittelpunkt des bilingualen Sachfachunterrichts“ stehen solle (2002: 24). Bilingualer Sachfachunterricht entspricht also nicht dem Konzept von bilingualism, der zweisprachigen Erziehung aus dem englischsprachigen Raum. Dieter Wolff nennt eine neue Bezeichnung, welche für unterschiedliche Formen von Sachfachunterricht in einer Fremdsprache gelten kann: den Begriff Content and Language Integrated Learning (CLIL).89 Sprache und Sachfach sollen nach diesem Konzept miteinander verknüpft und ineinander integriert werden. Der bislang in Deutschland praktizierte bilinguale Sachfachunterricht wäre demnach eine der möglichen Varianten fremdsprachlichen Fach89 CLIL ist folgendermaßen definiert: „Content and language integrating learning (CLIL) is a generic term and refers to any educational situation in which an additional language and therefore not the most widely used language of the environment is used for the teaching and learning of subjects other than the language itself.” (Wolff 2002: 8).

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6. BESONDERHEITEN DES BILINGUALEN PHYSIKUNTERRICHTS

unterrichts. Christ formuliert, der bilinguale Unterricht sei eine „Form des Lernens von Fremdsprachen, bei dem der Inhaltsbezug vergessen lässt, dass man Sprache lernt“ (Christ 2002: 15). Sprachen zu lernen im bilingualen Unterricht bedeutet ihrer Auffassung nach: x eine andere Art der Sprachanwendung als im üblichen schulischen Fremdsprachenunterricht; x andere Verfahren der Sprachvermittlung; x eine andere Zielrichtung des Sprachenlernens; x eine andere Art des Umgangs mit Fehlern; x ein anderes Verhältnis von Muttersprache und Fremdsprache; x vorrangige Bemühungen der Lernenden um Erfassen von Inhalten; x Bemühungen der Lernenden, sich vorrangig über Inhalte zu verständigen; x fächerübergreifende Arbeit, Teamarbeit der Lehrenden und ggf. gemeinsamer Unterricht. (vgl. ebd.) Diese Sichtweise spiegelt sehr viel deutlicher ein Zusammenspiel von fachlichen Inhalten und Sprachenlernen, in dem das Sprachenlernen quasi unbemerkt nebenher erfolgt, als dies etwa in dem oben dargestellten Konzept von Fehling und Finkbeiner vertreten wurde. Der entscheidende Unterschied zwischen monolingualem und bilingualem Unterricht ergibt sich durch die Veränderung der Unterrichtssprache. Bereits die anhaltende Diskussion, ob Sachinhalte oder sprachliche Kompetenz den primären Lerninhalt darstellen sollen bzw. in welcher Form die Unterrichtssprache verändert werden sollte, verweist darauf, dass Sprache auf verschiedenen Ebenen im bilingualen Physikunterricht relevant ist. Im Folgenden werde ich Konzepte und Ausgestaltungsformen des bilingualen Unterrichts am Edith-Benderoth-Gymnasium darstellen (Kapitel 6.1.).90 Anschließend stellt sich die Frage, ob darin ggf. eine vom monolingualen Physikunterricht abweichende vergeschlechtlichende Ausrichtung des bilingualen Physikunterrichts erkennbar ist. Die Beobachtungen beziehen sich zum einen auf den schulorganisatorischen bzw. schulsozialen Rahmen (Kapitel 6.2.), zum anderen auf die konzeptionellen Hintergründe der Lehrkräfte zum bilingualen Unterricht (Kapitel 6.3.). Anschließend werden die Praktiken im Um90 Ich habe Daten aus zwei Klassen (B und C) erheben können, dieses Sample ergibt sich aus dem angelegten Längsschnitt des DFG-Projektes: Die beiden Klassen erhielten nur im 9. Jahrgang bilingualen Physikunterricht, damit konnten sie lediglich in der letzten Feldphase beobachtet werden. Die Klasse, die bis zum Jahrgang 10 begleitet wurde, war eine monolinguale Klasse und bot damit keine Daten für diesen Fokus. Insgesamt liegen diesem Auswertungsteil 21 ethnografische Protokolle, drei Unterrichtstranskripte und zwei Interviews mit Lehrkräften zu Grunde.

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SCHULISCHE FACHKULTUREN UND GESCHLECHT

gang mit Sprache, insbesondere mit dem Fokus auf Bewertungskriterien und Bewertungspraxis beleuchtet (Kapitel 6.4.). Hierfür fokussiere ich die einzelnen Akteursgruppen nacheinander – zunächst die Lehrenden, dann die Lernenden untereinander, und schließlich die Lehrenden und Lernenden in ihren gemeinsamen Praktiken. Den Abschluss bildet die Frage, ob und inwieweit im bilingualen Unterricht veränderte gendering-Strukturen nachzuweisen sind (Kapitel 6.5.).

6.1. Bilingualer Sachfachunterricht am Edith-Benderoth-Gymnasium Das Edith-Benderoth-Gymnasium bietet seit 1970 bilingualen Sachfachunterricht91 an, seit 1996 werden die Klassen 5 bis 10 ausschließlich als bilinguale Klassen (deutsch-englisch) geführt. Der bilinguale Unterricht „erfolgt nach dem Prinzip der „aufgeklärten Einsprachigkeit“ (Butzkamm 1973), in der die Muttersprache punktuell zulässig ist. Diese Einsprachigkeit findet nicht auf dem Niveau des fertig gebildeten Sprechers statt, sondern entspricht dem jeweiligen Alter und Kenntnisstand der Lernenden.“ (vgl. Schulprogramm des EdithBenderoth-Gymnasiums). Für die bilingualen Sachfächer gelten die Rahmenpläne des Bundeslandes. Der bilinguale Unterricht beginnt im Jahrgang 6 mit dem Fach Sport, in Klasse 7 wird dann Geschichte auf Englisch erteilt. Der Geschichtsunterricht bleibt bis einschließlich Jahrgang 10 bilingual. Im Jahrgang 8 kommt zudem Erdkunde als neues bilinguales Fach dazu und bleibt auch im Jahrgang 9 bilingual. Nach einem Jahr Physikunterricht auf Deutsch wird auch der Physikunterricht im Jahrgang 9 auf Englisch erteilt. Für den Jahrgang 10 sieht das Schulprogramm des Edith-Benderoth-Gymnasiums das Fach Geschichte und eine Naturwissenschaft als bilinguale Fächer vor. Die bilingualen Sachfach-Fächer werden im ersten Unterrichtsjahr mit einer zusätzlichen Stunde unterrichtet, zudem wird der Englischunterricht im Jahrgang 5 um drei Stunden gegenüber den Stundenplanvorgaben erhöht, in den Jahrgängen 6 bis einschließlich 10 um je zwei Stunden. Ziele des bilingualen Bildungsangebots sind (vgl. Schulprogramm des Edith-Benderoth-Gymnasiums): x der Erwerb einer vertieften fremdsprachlichen und interkulturellen Kompetenz im Sinne der Vorbereitung auf die Internationalisierung der Lebenswelten und die europäische Integration; x Persönlichkeitsbildung durch Erweiterung und Relativierung der eigenen Lebenswelt;

91 Am Edith-Benderoth-Gymnasium wird dieser Begriff von Anfang an verwendet, Diskussionen um die Begrifflichkeit lassen sich keinen Dokumenten entnehmen.

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6. BESONDERHEITEN DES BILINGUALEN PHYSIKUNTERRICHTS

x Erfahrungen mit der Fremdsprache als Arbeitssprache in anderen Fächern; x der Erwerb einer bikulturellen Kompetenz der Schülerinnen und Schüler auf die Vermittlung von Sprache und Kultur des Landes bzw. der Länder ihrer Zielsprache. Der bilinguale Unterricht wird zum Teil von ausgebildeten Englisch-Fachlehrkräften erteilt, zum Teil von Fachlehrkräften, die hierfür nicht speziell ausgebildet sind, sich den Unterricht auf Englisch jedoch zutrauen. Der Unterricht erfolgt in einem „bilingualen Zweig“, d. h. die Klassen bleiben in einer Klassengemeinschaft von Anfang bis Ende zusammen. Die Schule dokumentiert die Teilnahme am bilingualen Zweig mit einem Vermerk im Abschlusszeugnis bzw. Abiturzeugnis.92

6.2. Veränderungen im schulorganisatorischen und schulsozialen Rahmen Mit der Erweiterung um die sprachliche Komponente im bilingualen Physikunterricht am Edith-Benderoth-Gymnasium gehen auch schulorganisatorische (durch eine Erhöhung der Fachstundenzahl) bzw. schulsoziale (durch eine Erweiterung der reinen Fachlehrkraftfunktion) Veränderungen einher: Auf der schulorganisatorischen Ebene wird die Unterrichtsstundenzahl im ersten Lernjahr des bilingualen Sachfachunterrichts um eine Stunde erhöht. Die Begründung für diese Regelung liegt in dem erforderlichen zeitlichen Mehraufwand für sprachliche Aspekte. Die Lehrkräfte merken jedoch einheitlich an, dass sie diese Stunde nicht vollends für Vokabelarbeit etc. bräuchten, sondern dadurch effektiv mehr Physikunterrichtszeit hätten (vgl. LIp10221k und LIp10319k). Der Physiklehrer Herr Fehn sieht durch diese zusätzliche Stunde eine verbesserte Möglichkeit für ein individuelles Eingehen auf die Schüler und Schülerinnen (vgl. LIp10221k). Durch diese Stunde gewinnt das Fach Physik zugleich einen höheren Stellenwert im Stundenplan. Auf der schulsozialen Ebene wird folgende Veränderung bedeutsam: Die Anforderungen des bilingualen Physikunterrichts verschieben sich für die Lernenden, aber auch für die Lehrenden. Diese müssen den fachlichen wie auch den sprachlichen Bereich bedienen können. Zugleich können sie damit aber auch als Vertreterinnen und Vertreter beider Bereiche gesehen werden. Hiermit einher geht eine Erweiterung der Kompetenzbereiche der Lehrkräfte um eine soziale Komponente: In dem Moment, in dem der Physikunterricht bilingual erteilt wird, bieten sich den Physiklehrkräften erweiterte Kontakt-

92 Es gibt bislang keine für alle Bundesländer geltende standardisierte Zertifizierung bilingualen Unterrichts.

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möglichkeiten zu den Schülerinnen und Schülern, so haben beide Lehrkräfte des bilingualen Physikunterrichts die Klassen auf Englandreisen begleitet, Frau Langer die Klasse B im 8. Jahrgang – sie ist damals noch in der vorherigen Funktion als Englischlehrerin der Klasse gefahren – Herr Fehn die Klasse C im 9. Jahrgang in seiner Funktion als Lehrkraft des bilingualen Physikunterrichts. Er betont explizit, es habe „wirklich Spaß gemacht, die Schüler noch mal ganz anders zu erleben“ (LIp10221k). Das Fach Physik erfährt hiermit im sozialen Kontext für die Schülerinnen und Schüler, wie auch für die Lehrkräfte, eine deutliche Aufwertung.

6.3. Konzeptionelle Hintergründe der Lehrkräfte zum bilingualen Unterricht Zwischen dem physikalisch-inhaltlichen Unterricht und Sprachunterricht erfolgt keine klare Stundenaufteilung, eine Lehrkraft äußert sich dazu wie folgt: Wir klären eigentlich nicht so viele Vokabeln, da geht zwar immer schon ein bisschen Zeit bei drauf, aber nicht eine Stunde pro Woche. Ich nehme auch nicht eine Stunde extra für Spracherwerb, sondern mache das so nebenbei, wenn ich auch neue Vokabeln einführe. (LIp10221k)

Der Lehrer weist dem sprachlichen Lernen in dieser Aussage einen recht geringen Stellenwert zu, die Aussage „wir klären eigentlich nicht so viele Vokabeln“ deutet darauf hin, dass unter Spracherwerb im Physikunterricht in erster Linie das Erlernen und Verwenden von physikalischem Fachvokabular verstanden wird. Diese Position wird gestützt durch seine Aussage ein wenig später im Interview, in dem er ein gleiches Verständnis spezieller Fachvokabeln bei seinen Kolleginnen und Kollegen anderer bilingualer Unterrichtsfächer bestätigt: Die Schüler sind ja auch schon besser geworden, in der neunten Klasse war das ja ganz neu für sie, das Fachvokabular ist ja auch sehr spezifisch. Wenn ich mich etwa mit meinen Kollegen und Kolleginnen austausche, die Geschichte auf Englisch unterrichten, dann verstehen wir uns gegenseitig kaum, weil das schon wirklich spezielle Vokabeln sind, mit denen wir da arbeiten. Aber ich habe auch bei den Schülern gemerkt, dass sie einfach sicherer geworden sind mit der Sprache in Physik. Da merkt man schon, dass sie ja jetzt auch schon eine ganze Weile Fachunterricht auf Englisch haben. (LIp10221k)

Der Lehrer nennt hier verschiedene Faktoren, die seiner Ansicht nach für den Sprachleistungsstand der Lernenden eine Rolle spielen: Zum einen die ‚Gewöhnungszeit’, („in der neunten Klasse war das ja ganz neu für sie“), die 190

6. BESONDERHEITEN DES BILINGUALEN PHYSIKUNTERRICHTS

Klasse war zum Zeitpunkt des Interviews im zweiten Halbjahr des 9. Jahrgangs, die von ihm als legitim empfundene Zurückhaltung zu Beginn des 9. Jahrgangs lässt nun nach. Die zeitlich längere Dauer des bilingualen Physikunterrichts geht offenbar unmittelbar auch mit dem (fach-)sprachlichen Leistungszuwachs einher. Herr Fehn stellt einen unmittelbaren Zusammenhang her zwischen der Tatsache, „dass sie einfach sicherer geworden sind mit der Sprache in Physik“ und „dass sie ja jetzt auch schon eine ganze Weile Fachunterricht auf Englisch haben“. Der Leistungszuwachs für das Fach Physik wird eindeutig gemessen an dem Erwerb des physikspezifischen Fachvokabulars. Diese Sicht verweist darauf, dass sich die Fachkultur Physik hier durchsetzt und sie eben nicht neben eine andere (fremdsprachliche) Fachkultur positioniert wird. Erstaunlich ist, dass der Lehrer sich nicht auf die Wirkung des Gesamtprogramms des bilingualen Zweiges bezieht, die Klasse hat ja nun schon seit Jahrgang 5 eine erhöhte Stundenzahl im Englischunterricht und erhält in mehreren Fächern bilingualen Unterricht. Er erwähnt auch nicht das im Schulprogramm genannte übergeordnete Ziel und Verständnis des bilingualen Zweiges, sich insgesamt auf Englisch in Fachkontexten ausdrücken zu können (vgl. Schulprogramm der Schule). Ein Zusammenspiel und gegenseitiges Voneinanderprofitieren der unterschiedlichen bilingualen Fächer wird nicht nur nicht erwähnt, sondern die Fächer grenzen sich durch ihr jeweils eigenes Vokabular explizit voneinander ab.93 Eine andere Lehrkraft formuliert dies etwas anders, sie schreibt der sprachlichen Seite eine durchaus zentralere Rolle im bilingualen Unterricht zu: [...] ich kann ja sehr viel flexibler gestalten und auch dadurch, dass ich den Freiraum hab, mich mit der sprachlichen Seite mehr zu befassen, kann ich ja die Ausformulierung von Problemen, die Erklärung von Phänomenen kann ich ja ausführlicher machen. Das ist mir aber generell wichtig. Sei es nun auf Deutsch oder sei es auf Englisch. Dass die Schüler lernen, sich auszudrücken. Über das Lernen den Unterschied zwischen Beobachtung und Interpretation zu verstehen und dass sie auch lernen, ihre Aussage klar zu gestalten. Das wäre mir auf Deutsch und auf Englisch wichtig. Und da hab ich eben in Physik auf Englisch, dadurch, dass ich die eine Stunde mehr hab, mehr Zeit dafür, für solche Dinge. Auch Zeit zu sagen, gut, das war jetzt meine Erklärung, jetzt lesen wir es noch mal im Buch durch und gucken 93 Auch Frau Langer teilt diese Position, am Beispiel „work“ versucht sie im Unterricht die Verwendung als physikalische Fachvokabel und als „daily language“-Vokabel zu klären: „Frau Langer führt aus: „In physics words get a special meaning. Like „work“. In daily language they mean something different. What means work in daily language?“ Mehrere SchülerInnen antworten darauf. Frau Langer sammelt die Begriffe an der Tafel, z. B.: „Job“, „Homework“ etc.“ (Bp01004d).

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SCHULISCHE FACHKULTUREN UND GESCHLECHT

noch mal, hier ist es auf einer anderen Art und Weise erklärt. Und dann kann ich fragen, fallen euch Unterschiede auf zwischen dem, was wir bisher gemacht haben. Ist hier etwas anderes noch zusätzlich erklärt? Ich kann also in dieser Form über den Text reden. Das wäre im Physikunterricht auf Deutsch auch sinnvoll und hilfreich, aber da hat man dann oft die Zeit nicht dafür. (LIp10319k)

Die Lehrerin betont zwei Mal, dass sie hinsichtlich des Stellenwerts von Sprache keinen Unterschied macht zwischen deutschsprachigem oder englischsprachigem Physikunterricht. Dahinter erkennbar ist generell ein Sprachkompetenzen einbeziehendes Verständnis von naturwissenschaftlichem Unterricht. Ihrer Darstellung nach ermöglicht der fremdsprachliche Unterricht den ‚Freiraum’, über Sprache inhaltliche Anforderungen zu erfüllen, sie nennt explizit Ausdrucksvermögen, Klarheit in formulierten Beobachtungen und medial unterschiedliche Darstellungsformen bei Erklärungen gleicher Versuche. Diese Form der Textarbeit, ebenso wie das Trainieren einer Differenzierung zwischen Beobachtung und Interpretation, beinhaltet deutlich Sprachund Textarbeit implizierende Kompetenzen. Diese hält sie auch im deutschsprachigen Unterricht für erstrebenswert, sie seien aber zeitlich kaum möglich. Möglicherweise spielt bei ihrer Perspektive auf naturwissenschaftlichen Unterricht auch ihre Funktion als Sprachlehrerin im zweiten Unterrichtsfach (Englisch) eine Rolle. Die Form der Darstellung, die vertiefte Spracharbeit als ‚Freiraum’ zu sehen und die Betonung dessen, dass der erweiterte Zeitrahmen erst die Arbeit an Sprachkomponenten möglich mache, deutet darauf hin, dass sie persönlich im ‚normalen’ Physikunterricht keine Realisierungsmöglichkeit hierfür sieht. Deutlich wird an einer weiteren Interviewstelle dann, wie wenig ihre Sicht auf den Stellenwert von Sprache im Physikunterricht letztlich das fachkulturelle Verständnis von Physik verändert: KW: Sie haben ja nun einen Blick auf beide Bereiche, auf den sprachlichen und auf den naturwissenschaftlichen, wie würden Sie die beschreiben oder wo würden Sie Unterschiede sehen zwischen beiden Bereichen? L: Ja, im Englischen kommt es ja stark darauf an, wie man etwas formuliert, auf das, wie man es sprachlich in Worte fasst und es kommt und es wird auch viel, zwischenmenschliche Bereiche werden thematisiert, Gefühle werden thematisiert. Also, sowohl die Form ist anders, weil mehr Wert auf den Stil gelegt wird, als auch die Inhalte sind anders. Und in Physik kommt es eben sehr viel mehr darauf an, Dinge zu erklären, Modelle für etwas zu entwickeln, sich etwas zu veranschaulichen. Und natürlich spielt auch hier der Stil eine gewisse Rolle, aber es geht in erster Linie darum, etwas klar auszudrücken. Und in den Physikarbeiten z. B. da, wenn ich das mit den Schülern durchgehe, dann sag ich auch immer, hierfür gab es einen Punkt, dafür gab es einen Punkt oder ich mache es so, dass ich für jeden richtigen Gedanken ein Haken ransetze und je nach dem kriegen sie dann Punkte in der

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6. BESONDERHEITEN DES BILINGUALEN PHYSIKUNTERRICHTS

Arbeit. Und im Englischen kommt es eben sehr viel mehr darauf an, wie sie etwas sagen. Es ist nicht so eindeutig, richtig oder falsch im Englischen. Man kann ja verschiedene Meinungen haben, man kann ja verschiedener Meinung sein zu einem Thema. (LIp10319k)

Sie beschreibt für den Physikunterricht die Notwendigkeit einer „klaren“ Ausdrucksweise, wobei die Möglichkeit zu eindeutig richtigen oder falschen Antworten in diesem Fach auch gegeben ist, „verschiedene Meinungen“ wie in Englisch gibt es ihrem Verständnis nach hier nicht. Stil spielt hier mehr als Mittel zum Zweck eine Rolle, zentral ist jedoch der physikalisch korrekte Inhalt. Wenngleich beide Lehrkräfte etwas unterschiedliche Positionen zum Stellenwert von sprachlichen Lerninhalten im bilingualen Physikunterricht beschreiben, spiegelt sich doch deutlich die Position von Sylvia Fehring und Claudia Finkbeiner wider, nach welcher nicht die Vermittlung von Sprachkompetenz, sondern von Sachkompetenz im Mittelpunkt des bilingualen Sachfachunterrichts steht (vgl. 2002: 25ff.). Physikunterricht vermittelt so den Eindruck eines übersetzten monolingualen Unterrichts und bleibt damit zentral der Fachkultur Physik verhaftet. Der zwischen Sprache und physikalischem Fachinhalt verbindende Lernerfolg liegt hiernach in der Verantwortung der Schüler und Schülerinnen selber.

6.4. Umgang mit der Bewertungspraxis von Sprache durch Lehrende und Lernende Sprache kann also nach unterschiedlichen Konzepten unterschiedliche Rollen im bilingualen Unterricht spielen, je nachdem, wie bedeutsam das Element gemacht wird und welche Sprachkompetenzen im Unterricht gefordert werden. Unabhängig von dem Umfang der geforderten Sprachkompetenz findet jedoch in jedem bilingualen Unterricht eine Bewertung der erbrachten Leistung statt. Durch die Sprache kommt im bilingualen Unterricht also dauerhaft eine weitere Korrekturebene hinzu, auf der sich die Lernenden zusätzlich beweisen müssen. Es gibt hier verschiedene Fehlermöglichkeiten: x Ein Beitrag kann physikalisch und sprachlich falsch sein, dann wird er als falsch bewertet. x Ein Beitrag kann physikalisch falsch sein, sprachlich aber korrekt, dann wird er vermutlich – der Prämisse folgend, dass fachliche Inhalte im Vordergrund stehen – korrigiert, also als falsch bewertet.

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SCHULISCHE FACHKULTUREN UND GESCHLECHT

x Ein Beitrag kann physikalisch korrekt, sprachlich jedoch falsch ausgedrückt sein, dann greifen mehr Optionen: Es bleibt das Risiko, dass der richtige Inhalt missverständlich formuliert wird oder – je nach sprachlichem Misslingen – auch gar nicht als inhaltlich korrekt verstanden wird. Möglicherweise erfolgt ausschließlich eine sprachlich korrigierende Reaktion, der inhaltliche Beitrag bleibt unberücksichtigt. Oder die sprachliche Ebene wird ignoriert und die Antwort somit als richtig eingestuft. Diese Wahrscheinlichkeit ist relativ gering. Eher noch erfolgt eine differenzierende Reaktion, die Sprache wird korrigiert, der Inhalt als richtig gewertet, damit wäre zumindest ein Teil korrekt. x Um sicher eine positive Bewertung zu bekommen, müssen sowohl physikalischer Inhalt als auch sprachliche Formulierung richtig sein. Damit sind die Korrekturrisiken im bilingualen Physikunterricht deutlich höher als im monolingualen Physikunterricht, da sprachliche Korrekturen hier in aller Regel selten oder gar nicht erfolgen. Sprache bildet hier also ein Ausschlusskriterium, welches zusätzlich zu physikalisch-inhaltlichem Ausschluss gilt. Wie gehen die Akteurinnen und Akteure nun aber praktisch mit dem Element Fremdsprache und der damit zusammenhängenden Bewertungspraxis im bilingualen Unterricht um? Wo entstehen möglicherweise konzeptionelle Freiräume, wie werden diese genutzt? Hierzu möchte ich zunächst die Positionen der Lehrkräfte, dann die der Lernenden untereinander und abschließend die gemeinsamen Praktiken der Lernenden und Lehrenden darstellen.

6.4.1.

Lehrende

Die Lehrkräfte bewerten, in welchem Verhältnis Sprache und physikalische Inhalte zueinander stehen: klare Sprache wird hierbei als stützend für inhaltliche Klarheit positiv beurteilt, sonst ist die sprachliche Ebene scheinbar irrelevant. Die Bewertungsgrundlage wird jedoch in der physikalisch-fachlichen Kompetenz der Aussage gesehen: „Wenn die Idee klar im Kopf ist, dann kann jemand das auch auf Englisch klar ausdrücken“ (LIp10319k). Deutlich spricht jedoch aus den Positionen der Lehrenden eine Ambivalenz der Bewertungspraxis: Auf der einen Seite formulieren die Lehrkräfte in den Interviews, dass die sprachliche Ebene nur dann in die Bewertungen etwa von schriftlichen Tests eingeht, wenn der physikalische Inhalt dadurch falsch oder unvollständig dargestellt wird (vgl. LIp10319k und LIp0221k). Diese Aussage relativiert sich dann, wenn die reale Unterrichtspraxis beschrieben wird. Frau Langer äußert sich dazu wie folgt:

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[...] natürlich geht es indirekt ein. Wenn jemand sich gut ausdrücken kann und kann es wirklich sehr klar und deutlich formulieren, das macht natürlich einen ganz anderen Eindruck. Wenn ich so was lese, schön flüssig, da bin ich gleich begeistert. Jemand anderes, wo man sich erst durchkämpfen muss, was will der eigentlich sagen, manches ist dann missverständlich. (LIp10319k)

Wie deutlich Sprache in der mündlichen Unterrichtspraxis im Vordergrund steht, zeigt der folgende Transkriptausschnitt aus dem Physikuntericht der Klasse B anschaulich. Es geht darum, einen durchgeführten Versuch nachträglich zu beschreiben: Linda: Fr. Langer: Linda: Fr. Langer: Linda: Fr. Langer: Linda: Fr. Langer:

We had a glass and there was this long ähmmm Tube! Tube and then a tab with water so we took this tube into hands and warmed it up and we saw the bubbles came out of the … Glass Glass and then the result was when you warm it up with hands the particles moved faster and they … they need more space Ja, they need more space and so they come out of water. So it expanded, ok. So we looked at the gasses, now how could we examine the behaviour of, let's say of water? We looked at the air and we had an experiment that it expands if it's heated, can you think of any experiment we do carry out with the liquid? (Bp01213ltrans)

Der Beschreibungsversuch der Schülerin Linda gestaltet sich wenig flüssig. Die Lehrerin lässt sie eine Weile probieren, beschleunigt die Antwort-Sequenz jedoch hin zur gewünschten Aussage, indem sie ihr mehrfach die fehlenden Vokabeln in den Mund legt. Die eigentlichen physikalischen Inhalte werden somit von der Lehrerin selbst, nicht mehr von Linda formuliert. Dieses gilt auch für die für den Versuch zentrale Aussage „it expanded“. Das abschließende „ok“ kann als Anerkennung für Lindas Leistung, ebenso aber auch als stützend für die zentrale Aussage „it expanded“, welche sie selber eingebracht hatte, gelesen werden. Ein weiteres Feedback erfährt Linda nicht. Ob ihre Äußerungen für die anderen Schülerinnen und Schüler bereits verständlich waren bzw. gewesen wären, bleibt offen. Gleichzeitig zeigt sich dieselbe Lehrkraft jedoch an einer anderen Stelle im Interview auf meine Frage „Was würde denn passieren, wenn jemand z. B. einen Physiktest im englischen Physikunterricht einfach auf Deutsch abgeben würde?“ erstaunt über die Frage und antwortet, dass dieser Fall noch nicht vorgekommen und auch nicht unbedingt zu erwarten sei:

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Das ist noch nie vorgekommen. Was würde da passieren? Also ich könnte nicht anders, als ihm eine reguläre Note geben, unabhängig davon, wie er es geschrieben hat. Ich würde mich zwar sehr wundern und ich würde auf jedem Fall mit dem Schüler hinterher sprechen und sagen, wieso machst du das und warum schreibst du das alles auf Deutsch, aber ...[...]. Wenn sie einzelne Worte oder auch mal einen Absatz, das ist überhaupt kein Problem. Aber das machen sie auch gar nicht, weil wir ja alles auf Englisch besprochen haben. Und sie sind so drin, über dieses Thema jetzt auf Englisch zu reden, dass sie von sich aus gar nicht so auf die Idee kommen. Aber ich könnte dem Schüler, nein, da gibt es auch gar keine Handhabe, dem eine schlechtere Note zu geben. (LIp10319k)

Deutlich wird in diesem Beispiel auch thematisiert, dass ein von den Lernenden vorgenommener Sprachwechsel keine Sanktionsmöglichkeiten hinsichtlich der Leistungsbewertung bietet. Dadurch lässt sich konstatieren, dass den Lernenden im bilingualen Physikunterricht nicht nur der sprachliche Bereich zur eigenen Einschätzung überlassen wird, sondern dieser auch weitgehend aus dem Bewertungsraster herausfällt. Auch bei Herrn Fehn zeigt sich diese Ambivalenz in Hinblick auf die Sprache und deren Bewertung, die Unklarheit für die Schülerinnen und Schüler ist bei ihm möglicherweise sogar noch größer, da er weitere Spielräume zulässt, zugleich steht seine Praxis jedoch in weitgehender Übereinstimmung mit der von ihm geäußerten Position zum geringeren Stellenwert von Sprache im bilingualen Unterricht (vgl. LIp10221k). Die Freiräume zeigen sich beispielhaft in den zugestandenen Möglichkeiten des ‚code switchings’, d. h., dass im Unterrichtsgespräch flexibel zwischen beiden Sprachen gewechselt werden kann. Hier wird den Lernenden ein großer Bereich überlassen, in dem sie eigene Einschätzungen ihrer Kompetenzen und Bedürfnisse vornehmen und ihr Handlungsrepertoire entsprechend danach ausrichten können. Wann die Lernenden von welcher Sprache Gebrauch machen, ist ihnen weitgehend freigestellt. Der Sprachgebrauch ist dabei für die Lehrkraft ebenso durchlässig wie für die Schüler und Schülerinnen, wobei die Lehrkräfte selber weit seltener von einem Wechsel ins Deutsche Gebrauch machen. An dem folgenden Beispiel einer Frage-Antwort-Sequenz zwischen Herrn Fehn und Detlef zeigt sich exemplarisch, in welcher Art sich fließende Sprachwechsel ergeben können. Der Lehrer eröffnet die Sequenz mit einer auf Englisch gestellten Frage: „Could somebody explain what is the idea of this?“, Detlef meldet sich: „In deutsch?“, der Lehrer zurück: „You can also tell me and tell the others in german …“. Detlef erklärt kurz, einige Mädchen ergänzen vor sich hinmurmelnd auf deutsch noch etwas. Der Lehrer fragt zurück, an Detlef gerichtet: „Wieviel wäre dann 1kg?“, Sascha meldet sich, kommt dran und antwortet richtig. Der Lehrer fragt nach Aufgabe C: „Can you tell me which formula you have to take?“, Detlef antwor-

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tet: „The second.”. Der Lehrer: „Not only …”, Detlef ergänzt: „Beide …”, der Lehrer: „Yes, that’s the idea, you have to combine them!” (Cp00130k)

Sowohl Detlef als auch der Lehrer wechseln hier innerhalb dieser fragendentwickelnden Sequenz sehr flexibel die Sprachen, wobei der Lehrer zwei Mal nach einer deutschen Äußerung von Detlef wieder auf Englisch als Unterrichtssprache wechselt. Zunächst eröffnet der Schüler auf die Frage des Lehrers das Thema, in welcher Sprache geantwortet wird bzw. werden soll, der Lehrer stellt ihm dieses frei. Während der Beantwortung der inhaltlichphysikalischen Frage steht dieses Thema dann soweit im Hintergrund, dass auch der Lehrer sich auf Deutsch als Unterrichtssprache einlässt. Es bleibt dann unklar, in welcher Sprache Sascha antwortet. Danach behält der Lehrer Englisch als Unterrichtssprache bei, Detlef wechselt wiederum situativ, antwortet allerdings in beiden Sprachen nur in fragmentarischen Sätzen. Freiräume, welche den Lernenden zugestanden werden, zeigen sich auch auf der Ebene des disziplinierenden Umgangs. Generell ist der bilinguale Unterricht deutlich frontal geprägt, es fällt dabei jedoch auf, dass die Lehrkräfte relativ wenig auf Störungen durch die Lernenden reagieren. Bei einem bei der Lehrerin auf Überzeugung beruhenden Konzept von Lehrkraftzentriertheit (vgl. LIp10319k) könnte ja davon ausgegangen werden, dass die Lehrkraft sich entsprechend bemüht, dass alle Lernenden dieser Zentriertheit ‚folgen’. Offensichtlich gestehen die Lehrkräfte im bilingualen Unterricht den Schülerinnen und Schülern mehr ‚Nischen’ zu, da sie sich im Unterricht über sprachliche Unklarheiten austauschen dürfen, das gegenseitige Helfen auf der sprachlichen Ebene sogar als produktiv angesehen wird. Die sonst üblichen disziplinierenden Kommentare, die oftmals einen ironischen Beiton haben und zudem das hierarchische Verhältnis zwischen Lehrenden und Lernenden bewusst halten, erfolgen hier deutlich reduziert. Die Regie darüber, welche Störungen wann und in welcher Form zugelassen bzw. sanktioniert werden, liegt letztlich nach wie vor bei den Lehrkräften, dennoch flechten diese durch die zugestandenen Freiräume ein enthierarchisierendes Element ein. Für die Lehrkräfte scheint der sprachliche Bereich auf der Ebene der Leistungsbewertung so etwas wie eine ‚Spielwiese’ zu bieten, sie gestehen den Lernenden einen relativ großen Verhandlungsspielraum zu, auf dieser Ebene werden Möglichkeiten von Nachfragen, Klärungen und Unsicherheiten eingeräumt bzw. von der Lehrkraft auch vorgesehen. Unmittelbare Korrekturen im sprachlichen Bereich – seien es Vokabular oder Aussprache – kommen selten vor (vgl. z. B. Bp01213ltrans), meist ziehen sie zumindest keine expliziten negativen Bewertungen nach sich. Es gibt offenbar zwischen allen Beteiligten die Übereinstimmung darüber, dass der Normalfall Englisch als Unterrichtssprache vorsieht. Indem die Leh197

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renden jedoch über die beschriebenen Grenzen der Bewertungsmöglichkeiten und -konzepte keine klar durchschaubaren Vorgaben für die Schülerinnen und Schüler machen, reagieren diese auf die ambivalenten Vorgaben risikominimierend, ganz im Sinne eines doing student.

6.4.2.

Schüler und Schülerinnen untereinander

Generell lässt sich beobachten, dass die etwas ungeklärten Anforderungen hinsichtlich der erwünschten Sprache, welche für das offizielle Unterrichtsgespräch gelten, sich nicht auf die Phasen der Gruppenarbeit bzw. von Experimenten übertragen lassen. In diesen Situationen, in denen die Lernenden untereinander interagieren, sprechen die Lernenden ausschließlich Deutsch miteinander. Vokabelklärungen werden somit v. a. nötig, wenn es um das gemeinsame Frontal-Unterrichtsgespräch bzw. um die adäquate Bearbeitung eines Gruppenarbeitsauftrags geht. Während an keiner Stelle protokolliert ist, dass die Schüler und Schülerinnen sich gegenseitig auf der sprachlichen Ebene vor der Klassenöffentlichkeit, also auf der Vorderbühne, korrigieren würden, nehmen sie sich jedoch untereinander für Vokabelklärungen gegenseitig in Anspruch (vgl. z. B. Bp01004d, Bp01208v), Hilfestellungen bei sprachlichen Unsicherheiten werden also wann immer möglich auf der Hinterbühne verhandelt. Auch wenn die Gemeinschaft nicht zu einer gemeinsamen Klärung der Frage kommt, wird die Lehrkraft nicht herangezogen: Yutaka arbeitet weiter und fragt kurze Zeit später: „Joe, was ist noch mal „tension“?“ Knut äfft im Spaß nach: „Attention, attention.“ Joe antwortet: „Druck oder so.“ Knut wirft ernsthaft ein: „Ne, Druck ist doch „friction“!“. Frederik erwidert: „Ne, Druck ist doch „pressure“!“. Knut antwortet achselzuckend: „Ach, was weiß ich, ey.“ (Bp01208v)

Die Lernenden verlagern damit die sprachliche Komponente des Unterrichts auf eine Ebene, auf welche die Lehrkräfte nicht für eine Bewertung zugreifen können. Deutlich zeigt sich an dieser Taktik, dass die Schüler und Schülerinnen durchaus reflektiert mit Sprache im bilingualen Unterricht umgehen: Da es für besonders gute englische Äußerungen selten explizit Anerkennung auf der sprachlichen Ebene gibt, Deutsch als Unterrichtssprache jedoch wesentlich weniger Fehlerpotenzial birgt und das Ausweichen auf Deutsch nicht oder nur in Ausnahmen sanktioniert wird, greifen die Lernenden so oft wie möglich auf die weniger fehlerriskante Sprache Deutsch zurück. Offen bleibt, ob sich auch die Unterrichtsbeteiligung aufgrund der sprachlichen Anforderungen verändert. Diese Frage lässt sich aus unseren Daten heraus nicht beantworten.

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Dass sich das doing student auch auf der inhaltlichen Ebene findet, zeigt die Feststellung der Schülerin Nina, welche aufzeigt, dass es zwischen einer zum Verstehen ausreichenden Sprachkompetenz und dem inhaltlichen Verstehen nicht notwendigerweise Verbindungen geben muss: Nina meint etwas süffisant: „Selbst wenn man weiß, dass es „T-Energy“ (ich kann das Wort immer noch nicht akustisch verstehen, D. G.) heißt, dann weiß man immer noch nicht, was das eigentlich ist.“ Marianne guckt auf das Arbeitsblatt und liest vor: „Energie der Lage.“ Nina zuckt etwas mit den Schultern und es wirkt, als könne sie damit nicht viel anfangen, obwohl sie daran interessiert scheint, was es eigentlich mit dieser Energie auf sich hat. (Bp01004d)

Auch in diesem Fall wird die Lehrkraft nicht zur Klärung herangezogen, die Schülerinnen verbleiben eher mit der Wissenslücke, als dass sie sich öffentlich vor der Lehrkraft und der Klassengemeinschaft als Nicht-Wissende outen.

6.4.3.

Lernende und Lehrende

Direkte Vokabelnachfragen der Lernenden an die Lehrkräfte sind im Unterricht nur in zwei Situationen protokolliert: In einem Fall, um eine bereits angefangene und ins Stocken geratene Antwort im offiziellen Unterrichtsgespräch zu Ende formulieren zu können (vgl. Bp01213ltrans). Die zweite protokollierte Variante direkter Vokabelnachfragen verschiedener Schülerinnen und Schüler erfolgt während eines Physiktests (vgl. Cp00220j). Hier besteht für die Lernenden keine (legitime) Möglichkeit, sich mit der Nachfrage an Sitzpartnerinnen oder -partner zu wenden, da direkte Kommunikation der Lernenden untereinander in Prüfungssituationen als Regelverstoß sanktioniert werden würde, sie wenden sich also in doing-studentManier regelkonform an die Lehrkraft. Ein Abweichen vom üblicherweise als adäquat geltenden Inszenieren als Schülerin oder Schüler ist an einer Stelle protokolliert. Hier lässt sich auf der sprachlichen Ebene m. E. eine Art Enthierarchisierung beobachten. Die Stelle stammt aus einem Protokoll des Physikunterrichts der Klasse C, in welchem verschiedene Schüler den Lehrer in seiner Vokabelverwendung wiederholt korrigieren. Das Unterrichtsthema ist „molecular motion and heat“. Der Lehrer stellt die Frage: „Why do you think that „average“ does make sense here?“, Jens meldet sich, kommt aber noch nicht dran. Der Lehrer wartet wieder ab. Dann sagt er etwas von „smallest temperature“, woraufhin jemand in die Klasse ruft: „lowest, oder?“. Er nickt, bedankt sich und sagt dann: „Please remind me if I do something wrong!“. Er fragt

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noch einmal: „Why does it make sense to talk of an ‚average’?“, jetzt kommt Jens dran, der sich wieder gemeldet hatte. Er sagt etwas von „different movements which causes the velocity“, genau bekomme ich seine Antwort nicht mit, der Lehrer nickt zustimmend dazu. Der Lehrer fragt: „Do you think there is a lowest temperature as well?“, Jens und Mariam melden sich, Mariam hat nur die Hand etwas angehoben. Michelle fragt Jens nach der Uhrzeit, er raunt sie ihr zu. Michaela meldet sich jetzt auch, der Lehrer ruft niemanden der drei auf. Herr Fehn kritisiert: „Now we come to the problem that you didn’t read the homework. Please: somebody who read the text?“. Als dann immer noch keine weiteren Meldungen erfolgen, zeichnet er neun Punkte in ein Quadrat. Zwischen den Punkten, die offenbar Moleküle darstellen sollen, zeichnet er in alle Richtungen Bewegungspfeilchen. Neben das Quadrat schreibt er „solid = Festkörper“. Dann fragt er zum dritten Mal: „Could there be a smallest temperature?“, Jens korrigiert ihn: „Lowest!“. Herr Fehn wiederholt: „Could there be a lowest temperature?“, Sascha antwortet darauf richtig, der Lehrer sagt dazu laut: „Could someone repeat this, it was important!“. Sascha selber wiederholt, was er gesagt hatte und der Lehrer schreibt es an der Tafel mit: There is a lowest temperature, when the particles don’t move anymore (well nearly). This happens at T = 273°C. (Cp00123k).

Der Lehrer stellt eine inhaltliche Frage und gibt dann eine weitere Erläuterung dazu, da die Meldebeteiligung ihm offensichtlicht nicht ausreicht. In dieser Erläuterung nutzt er eine falsche Vokabel, jemand aus der Klasse ruft die Korrektur in den Raum. Herr Fehn akzeptiert die Korrektur, bedankt sich dafür und fordert explizit dazu auf, ihn bei möglichen Fehlern weiterhin zu korrigieren. Etwas später formuliert er eine neue Frage und greift die genannte richtige Vokabel darin wieder auf. Die Beteiligung ist ihm weiterhin zu gering, deshalb erfolgt eine visualisierte Darstellung an der Tafel, er fragt dann erneut die gleiche Frage. Hierbei nennt er wiederum die falsche Vokabel, Jens korrigiert ihn knapp, der Lehrer greift die Korrektur dieses Mal kommentarlos auf, wiederholt den Satz jedoch in ‚Lehrendenmanier’ in korrigierter Form, sonst identisch, noch einmal. Er verlässt dieses Mal jedoch nicht die inhaltliche Ebene. Nach erfolgter Antwort greift er die korrigierte Vokabel in seinem Antwortsatz an der Tafel noch einmal auf. Den Schülerinnen und Schülern wird hier von dem Lehrer explizit die Möglichkeit eingeräumt, die Lehrkraft korrigieren zu können. Da eine Schülerin oder ein Schüler die Lehrkraft bereits vor seiner Aufforderung korrigiert hatte, kann davon ausgegangen werden, dass der Klasse diese Option bekannt ist. Der Lehrer erweitert hiermit die sonst üblichen schulischen Umgangsformen, nach denen Korrekturen einseitig von den Lehrenden an die Lernenden bzw. innerhalb der Lernendengruppe erfolgen.94 Gleichzeitig zeigt sich in 94 Eine Wissens- bzw. Kompetenzverschiebung von Lehrenden auf Schüler und Schülerinnen erfolgt m. E. derzeit noch am ehesten im Fach Informatik. Durch die bekannten unterschiedlichen Mediensozialisationsverläufe zwischen den

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diesem Beispiel die Ambiguität der enthierarchisierenden Ebene: Das Korrekturangebot bezieht sich nur auf die sprachliche Ebene, für die übrige physikalisch-inhaltliche Ebene gilt weiterhin der hierarchisierende Modus: Der Lehrer vermittelt die Möglichkeit genau einer richtigen Sichtweise auf den physikalischen Sachverhalt, diese gilt es für die Schüler und Schülerinnen zu formulieren. Der Fachkultur Physik werden also auf der sprachlichen Ebene zwar Freistellen eingeräumt, durch den Noten-freien, eher ungeregelten Bereich eröffnen sich den Lernenden Möglichkeiten, dem hierarchischen Verhältnis Lernende–Lehrende in veränderter, offener Form zu begegnen. Der inhaltliche Bereich ist jedoch von dieser veränderten Umgangsform offenkundig nicht berührt. Über dieses Verständnis der Fachkultur scheint zwischen Lehrenden und Lernenden Übereinstimmung zu herrschen. Ein Beispiel aus dem Physikunterricht der Klase C stützt den Eindruck, dass für die sprachliche und die physikalisch-fachliche Ebene unterschiedliche Maßstäbe hinsichtlich der Transparenz und Verhandlungsmöglichkeit geltend gemacht werden: Dann fährt er fort und schreibt Formeln an die Tafel. Als er fertig angeschrieben hat, dreht er sich um. Dann dreht er sich zurück und sagt: „I did something wrong!“ und wischt eine Formel wieder aus und schreibt sie etwas anders. [...]. Der Lehrer geht wieder in der Klasse herum. Plötzlich fragt er: „Do you all know what delivered means in german?“, als viele bejahen, nennt er die Übersetzung auch nicht mehr, sondern geht weiter rum. (Cp00130k)

Der Lehrer nimmt an einer Stelle scheinbar willkürliche Änderungen bzw. Korrekturen vor, kommentiert dieses ausschließlich mit seinem Versehen, inhaltliche Begründungen bleiben aus. Aus der Klasse sind keinerlei Nachfragen auf dieses undurchsichtige Vorgehen protokolliert. Hingegen zeigt sich nachfolgend, und weitere Protokollstellen belegen diese Praxis als regelmäßige (vgl. z. B. Bp01208v, Cp00109g, Cp00123g, Cp00130k), dass die Lehrkräfte sich immer wieder vergewissern, ob sprachlich alles verstanden wurde, Vokabeln bekannt sind etc. Dass die Fachkultur Physik als physikalisch-inhaltliches Unterfangen eher im Vordergrund steht als die sprachliche Seite, verdeutlicht ebenso der folgende Unterrichtsausschnitt: Der Lehrer fragt jetzt in die Klasse: „Did you hear about proportionality?“, in der Klasse murmeln viele:„Yes!“, es klingt so, als seien sie mit dem Begriff durchaus vertraut. Michelle meldet sich daraufhin und fragt: „How do you know if it’s proportional?“, der Lehrer kommt zu ihr und antwortet aber für alle „Eine Gerade ist genau dann Altersgruppen der Lehrenden bzw. der Lernenden sind hier Korrekturen von Lehrenden durch Lernende am ehesten legitimiert.

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proportional, wenn sie durch den Nullpunkt geht!“, dann wiederholt er die Erklärung noch einmal auf Englisch und erläutert an der Tafelzeichnung die dabei verwendeten Begriffe (Nullpunkt, Gerade ...), indem er darauf zeigt, wenn er die Vokabel nennt. Michelle nickt ihm zu und sagt: „Okay!“. Sascha meldet sich, allerdings ziemlich klein, da er den abgewinkelten Arm auf dem Tisch liegen lässt und so quasi nur mit dem Unterarm aufzeigt. Außerdem sitzt er ganz hinten. Der Lehrer übersieht ihn zweimal und nimmt einen anderen Jungen und ein Mädchen dran, daraufhin ruft Sascha jetzt ohne drangenommen worden zu sein, in die Klasse: „Sie erklären das viel komplizierter, als wir das gelernt haben!“. Der Lehrer guckt ihn erstaunt an und antwortet: „I don’t think so. I think you learned it exactly this way. What was different?“. Sascha zuckt daraufhin nur mit den Schultern und sagt vor sich hin: „Ich weiß nicht …“. Der Lehrer wartet noch einen Augenblick und guckt fragend in die Klasse, sein Blick sieht aus wie eine Aufforderung an alle, zu sagen, was sie anders gelernt haben. Niemand meldet sich. Dann fährt er fort und schreibt Formeln an die Tafel. (Cp00130k)

Auf die Nachfrage des Lehrers, ob die Klasse mit einer Fachvokabel vertraut sei, antworten die Schülerinnen und Schüler indirekt mit zustimmendem, aber wenig explizit bestätigendem Gemurmel. Michelle fordert durch ihre englische Nachfrage eine Erklärung dafür, wie Proportionalität zu erkennen sei. Sie verneint damit nicht die Frage, sondern lässt sie offen, lässt aber zugleich Unsicherheiten im Umgang mit dem Unterrichtsinhalt erkennen. Der Lehrer beantwortet die Nachfrage mit einer Definition, dafür wechselt er, obwohl sie auf Englisch gefragt hat, als Erklärungssprache auf Deutsch. Er scheint davon auszugehen, dass die fachlichen Inhalte so zuverlässiger gesichert werden. Erst nachdem der Inhalt bereits einmal auf Deutsch geklärt wurde, wechselt er die Sprache zurück ins Englische, der physikalische Inhalt wird nun in der Fremdsprache lediglich noch einmal nach-erläutert. Für die Fachkultur Physik ergeben sich aus dieser Sequenz zwei weitere mögliche Aussagen. Erstens: Die gestellte Frage ist nicht als wirkliche Frage mit Antwortmöglichkeit gemeint, sondern dient eigentlich als Einführung für eine ohnehin geplante Erläuterung bzw. Einführung in die Begrifflichkeit „proportionality“. Entsprechend wird auch den Antworten der Lernenden nicht weiter Rechnung getragen: Erklärt wird, was geplant war, nicht was sich aus dem Wissensstand der Klasse als notwendig ergibt. Und zweitens: Die Beseitigung inhaltlichphysikalischer Unklarheiten unterliegt offenbar allein dem Aufgabenbereich der Lehrkraft: Nachdem sich viele Schülerinnen und Schüler als mit dem Fachbegriff vertraut positioniert haben, hätte der Lehrer Michelles Nachfrage ja ebenso von einer Mitschülerin oder einem Mitschüler klären lassen können, alle drei folgenden Darstellungsformen nimmt er jedoch selber vor. Sascha interveniert wenig später auf Deutsch und protestiert, wobei er sich über die Art der Erklärung beschwert. Er drückt mit seiner Kritik jedoch auch aus, dass er die Erläuterungen inhaltlich nicht hilfreich fand, sondern 202

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sogar eher verkomplizierend. Der Lehrer klärt auch hier nicht die Inhalte nach, sondern verweist auf die Formulierungsebene. Die Reaktion erfolgt dabei ziemlich energisch, der Lehrer weist die Kritik klar zurück. Mit Holzkamp, der dies für den Bereich von zurückgewiesenen Fragen formuliert (vgl. 1995: 461ff.), lässt sich hier davon sprechen, dass Saschas von dem Lehrer zurückgewiesene Bemerkung als nicht legitim etikettiert wird. Der Lehrer bleibt jetzt in der englischen Sprache und bietet nicht, wie vorher, Deutsch als vereinfachte Kommunikationsebene an. Zunächst weist der Lehrer die Kritik zurück („I don’t think so“), seine Formulierung „exactly“ vermittelt dem Schüler, dass er sich irren muss und es zudem genau einen richtigen Erklärungsweg des Sachverhalts auch bei unterschiedlichen Fachlehrer und Fachlehrerinnen gebe. Auch der anschließende auffordernde Blick in die Klasse eröffnet nicht gerade eine reale Verhandlungsmöglichkeit, sondern fordert zur begründeten Stärkung der von Sascha vorgebrachten Kritik auf, welche bereits deutlich zurückgewiesen und bewertet wurde. Entsprechend wiederholt weder Sascha selber seine Kritik, noch äußern sich andere Klassenkameradinnen oder Klassenkameraden unterstützend dazu. Im Unterschied zu der expliziten Aufforderung, seine sprachlichen Kenntnisse ggf. zu verbessern (vgl. Cp00123k), nimmt der Lehrer hier eine massive Grenzziehung vor: Physikalische Kenntnisse scheinen nach seinem fachkulturellen Selbstverständnis, aber auch nach dem der Lernenden, von der erwünschten Kritik deutlich ausgenommen zu sein. Es zeichnen sich also sowohl für den unterrichts-interaktionellen Bereich als auch für den speziellen Bereich der Korrektur- und Bewertungspraxis zwei Ebenen ab: die sprachliche und die physikalisch-inhaltliche Komponente. Wenngleich mit dem sprachlichen Bereich von den Lehrkräften, und damit der bewertenden Instanz, Komponenten in den Unterricht eingeflochten werden, die gar nicht als zu bewerten vorgesehen sind, zeigen diese BewertungsFreiräume vergleichsweise wenig Wirkungen, die tatsächlich von der ‚üblichen’ monolingualen Fachkultur abweichen würden, einfach indem die Schüler und Schülerinnen diese Freiräume ihrer Strategie des doing student folgend vergleichsweise wenig nutzen. Auch in der bei Lernenden und Lehrenden übereinstimmenden Einschätzung, dass die für den sprachlichen Bereich geltenden Freiheiten auf der inhaltlich-physikalischen Ebene nicht in gleichem Maße gelten, setzt sich die physikalische Seite der Fachkultur durch: Es werden Fakten geschaffen, welche von den Schülerinnen und Schülern nicht hinterfragt werden. Somit ist weiterhin der physikalisch-inhaltliche Bereich der für die Bewertungspraxis und damit die Fachkultur Physik entscheidende.

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6.5. Gendering-Prozesse im bilingualen Physikunterricht Im bilingualen Physikunterricht kommt der sprachlichen Ebene logischerweise eine deutlich höhere Bedeutung zu, als dies im monolingualen Unterricht der Fall wäre. Es konnte aufgezeigt werden, dass die (monolinguale) Fachkultur Physik in verschiedenen Bereichen durch die erweiterte Sprachkomponente aufgeweicht wird. An dieser Stelle soll hinterfragt werden, inwieweit die Veränderungen möglicherweise zu einem veränderten gendering des Faches führen. Die Aufwertung, welche das Fach Physik im bilingualen Zweig wie dargestellt auf der schulorganisatorischen Ebene durch die zusätzliche Unterrichtsstunde erfährt, wirkt sich förderlich für die soziale Anbindung der Klassen an die unterrichtenden Fachlehrkräfte aus: Die Fachinhalte können ruhiger behandelt werden, es gibt mehr Raum für persönliches Eingehen etc. Deutlicher zeigt sich das Einflechten einer identitätsstiftenden Komponente durch die Lehrenden noch auf der schulsozialen Ebene: Durch die gemeinsamen Erfahrungen in außerunterrichtlichen Situationen kommt den Lehrenden eine Rolle zu, welche deutlich über die übliche Fachlehrkraftfunktion hinausgeht. Marianne Horstkemper (1987) zufolge nimmt der Beziehungsaspekt im Lehrenden-Lernenden-Verhältnis insbesondere für die Mädchen einen hohen Stellenwert ein, es ist also zu vermuten, dass diese in besonderer Weise von der veränderten Rolle der Lehrenden profitieren. Der bilinguale Physikunterricht wurde in dieser Studie v.a. deshalb herangezogen, um zu überprüfen, ob sich durch den veränderten Stellenwert der Sprache im Untericht auch veränderte Beteiligungsmöglichkeiten oder –praktiken vor allem für die weiblichen Lernerinnen ergeben, da diesen der sprachliche Bereich ja als Interessens- und Kompetenzdomäne zugeschrieben wird. Dieses hat sich jedoch nicht bestätigt: Die Lehrkräfte nutzen die sprachliche Komponente, indem sie ihren Unterricht unterschiedlichen Sprachlernkonzepten folgend akzentuieren: Entweder steht das Erlernen der Fachsprache Physik im Vordergrund, oder aber ein erweitertes Sprachlernkonzept, welches generell stärker Sprach- und Textarbeit in den Mittelpunkt rückt, jedoch unabhängig von monolingualem oder bilingualem Physikunterricht vertreten wird. Allein hierdurch entstehen etwas ungeregelte Räume. Beide Konzeptionen erhalten durch die zusätzliche Unterrichtsstunde erweiterte Realisierungsmöglichkeiten. Eine Veränderung in der Beteiligung der Jungen und Mädchen am Unterrichtsfach Physik ist nach keinem der beiden Modelle nachweisbar, zumindest lassen sich nach dem in unserem Fokus erhobenen Datenmaterial keine expliziten Aussagen dazu machen. Die Physiklehrerin Frau Langer stellt im Interview auf die Frage, ob es Veränderungen in den Fachleistungen oder 204

6. BESONDERHEITEN DES BILINGUALEN PHYSIKUNTERRICHTS

der Beteiligung am Unterricht bei dem Wechsel von monolingualem zu bilingualem Physikunterricht gegeben hätte, am Beispiel diverser Schülerinnen und Schülern dar, dass sie bei Veränderungen von „altersbedingten Schwankungen“ in der Mitarbeit oder der schulischen Haltung generell ausgehen würde, da sich im Falle solcher Veränderungen diese in beiden von ihr unterrichteten Fächern – Englisch und Physik – und z. T. auch noch in weiteren Fächern – zeigen würden. In ihren Beispielen greift sie sowohl auf leistungsstarke als auch eher leistungsschwache Mädchen und Jungen zurück. In keinem Fall hat sie eine Leistungs- oder Beteiligungsverschiebung nach Beginn des bilingualen Unterrichts wahrgenommen (vgl. LIp10319k). Prägend für die Unterrichtskultur ist m. E. das zwischen Lernenden und Lehrenden übereinstimmende fachkulturelle Verständnis von Sprache im bilingualen Unterricht: Beiden Seiten scheint bewusst, dass sich über den Wechsel in die englische Unterrichtssprache vermehrt Fehlermöglichkeiten ergeben. Während die Lehrkräfte für den Umgang mit Sprache nun explizit Freiräume gestalten, scheinen die Lernenden diese Angebote nicht nutzen zu wollen und weichen v. a. taktisch auf ein doing student aus. Offenbar folgen sie einem grundsätzlich anderen Verständnis dessen, wie die englische Sprache für das Fach bewertungsrelevant sei. Indem sie v. a. den Freiraum des ‚code-switchings’ ins Deutsche nutzen, versuchen sie, die mögliche Fehlerquote so gering wie möglich zu halten. In dieser Praktik lassen sich zwischen den Jungen und den Mädchen keine Unterschiede in den Interaktionen feststellen, für Vertreterinnen und Vertreter beider Geschlechter ist in Protokollstellen festgehalten, dass die protokollierenden Personen erstaunt seien über die fortgeschrittenen Englischkenntnisse, die guten Formulierungen etc. Ebenso sind beide Geschlechter an wenig flüssigen Sprachsequenzen beteiligt. Auch bei der gegenseitigen Hilfe v. a. wenn es um Vokabelnachfragen geht, nehmen sich Jungen wie Mädchen gegenseitig, allerdings vorrangig gleichgeschlechtlich in Anspruch. Ein Abweichen von der üblichen Strategie des doing student findet sich in dem Moment zwischen Lehrenden und Lernenden, in dem die Lernenden ihre Lehrkräfte sprachlich korrigieren sollen und dies auch tun. Das scheint jedoch auch nur möglich, da es sich für beide um eine Fremdsprache – und zumal eine fremdsprachliche Fachsprache – handelt, in der Fehler legitim sind. Übereinstimmung besteht offenbar zwischen Lernenden und Lehrenden darüber, dass die für die sprachliche Ebene eingeräumten Nischen nicht für die physikalisch-inhaltliche Ebene gelten: Hier gilt die auch für den monolingualen Bereich greifende Fachkultur Physik, welche ein inhaltliches Infragestellen weder fördert noch schätzt, genau eine Lösungsmöglichkeit als richtig erachtet etc. In dieser Frage werden weder von den Lehrenden Freiräume angeboten, noch würden diese von den Lernenden nachgefragt, und wenn, dann halten beide Seiten eine Zurückweisung bzw. Sanktionierung für 205

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legitim. Lehrende wie Lernende sind sich also einer Trennung der beiden Komponenten – sprachlicher und physikalisch-inhaltlicher – bewusst und werten diese als für die Fachkultur Physik unterschiedlich relevant: Der sprachliche Bereich ermöglicht Freiräume, für das Fach und die in ihm stattfindenden Prozesse prägend ist jedoch auch weiterhin die Fachkultur Physik. Auch für diese Einschätzung lassen sich für männliche und weibliche Lernende und Lehrende keine Unterschiede beobachten. Das Zusammenspiel beider Bausteine des bilingualen Physikunterrichts eröffnet somit zum einen gewollte (hierarchische) Freiräume, zum anderen ergeben sich aber auch ungeregelte Räume, welche von den Schülerinnen und Schülern erst einmal durchschaut werden müssen, um adäquat mitarbeiten zu können. In der Regel weichen sie hier risikominimierend auf die vertrauten Muster des doing student aus. Zusammenfassend lassen sich also kaum Elemente im bilingualen Physikunterricht finden, die die Aussage rechtfertigen würden, dass durch die veränderte Unterrichtsprache Strukturen geschaffen würden, welche die Fachkultur Physik in spezifischer Weise als gegendert erscheinen lassen. Auf die durch das Element Sprache entstehenden ambivalenten Räume reagieren die Lernenden verstärkt mit einem doing student. Zudem teilen Lernende wie Lehrende offenbar die Auffassung, dass die physikalisch-inhaltliche Komponente gegenüber der sprachlichen im Vordergrund steht – und sich somit die Fachkultur Physik im bilingualen Unterricht gegenüber der monolingualen Fachkultur nicht verändert. Insgesamt lässt sich konstatieren, dass der bilinguale Physikunterricht der Fachkultur Physik zugerechnet werden kann. Sowohl in der Analyse des monolingualen Physikunterrichts als auch des bilingualen Physikunterrichts zeigen sich häufige Lehrkraftwechsel als üblich (vgl. Kapitel 4.). Hieraus könnte ein Verweis gelesen werden, dass die Fachkultur an habituellen Übereinstimmungen festgemacht wird, welche den Lernenden signalisiert, dass sie es mit dem Fach Physik zu tun haben. Ansonsten wären die Lehrkräfte nicht in dieser hohen Frequenz austauschbar. Ein weiterer Hinweis auf die habituelle Übereinstimmung kann in der Ausgestaltung der fachspezifischen Umwelten, der Unterrichtsorte, vermutet werden. Diese bleiben konstant und stellen sich in allen Klassen recht homogen ausgestaltet dar. Das folgende Kapitel zeichnet diesen Ausschnitt fachkultureller Felder nach.

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7. Feldmerkmale: Unterrichtsorte am Edith-Benderoth-Gymnasium

Bourdieu hält in seinem Vortrag „Über einige Eigenschaften von Feldern“ fest: „Immer dann, wenn man ein neues Feld untersucht, [...] entdeckt man besondere, nur für ein bestimmtes Feld charakteristische Merkmale und erweitert doch gleichzeitig das Wissen über die universalen Mechanismen von Feldern, die zu besonderen Feldern erst aufgrund sekundärer Variablen werden.“ (Bourdieu 1976b, zit. n. Jurt 2003: 122)

So sind sowohl materiell-physische als auch soziale Raumdimensionen in allen Feldern bedeutsame Komponenten, denn Menschen sind immer auch ortsgebunden (vgl. Bourdieu 1997d). In diesem Abschnitt werden die jeweiligen Orte der Unterrichtsfächer ethnografisch dicht beschrieben (Kapitel 7.1. Deutsch, Kapitel 7.2. Physik). Die sich in Kapitel 7.3. anschließende Zusammenschau der materiell-physischen Ressourcen verweist auf die unterschiedlichen hierarchischen Positionen der beiden Fächer an der Schule. Damit nehme ich eine Beschreibung der statisch-absolutistisch abstrahierten Dimension fachkultureller Felder vor, welche in Kapitel 8 dieser Arbeit um die soziale, also damit um die dynamisch-relational gedachte Raumanalyse ergänzt wird.

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SCHULISCHE FACHKULTUREN UND GESCHLECHT

7.1. Unterrichtsorte im Fach Deutsch Der Deutschunterricht fand in den jeweiligen Klassenräumen der Klassen A, B und C statt (vgl. Abbildung 2), welche im Folgenden beschrieben werden. Eine speziell auf den Deutschunterricht ausgerichtete Gestaltung der Räumlichkeiten ist somit nicht gegeben, die wenige fachbezogene Nutzung der Klassenräume für Aushänge, Anleitungen, Ergebnisse kann nicht eindeutig dem Deutschunterricht zugeschrieben werden. Abbildung 2: Unterricht im Klassenraum

Die Materialien für den Deutschunterricht sind in Form von Lehrbüchern für die Schüler und Schülerinnen in der für alle Fächer gemeinsam angelegten Lehrbuchsammlung der Schule gelagert. Nachschlagewerke und weitere Fachliteratur befinden sich in der allgemeinen ‚LehrerInnenbibliothek’ im LehrerInnenarbeitszimmer, einem Nebenraum des LehrerInnenzimmers. Dort lagern auch mehrere Kassettenrekorder, die für den Deutschunterricht ebenso wie für alle anderen Fächer zur Verfügung stehen.

7.1.1.

Klasse A

Klasse A bleibt vom 7. bis zum Beginn des 10. Jahrgangs im gleichen Raum, der mit ca. sechs mal neun Metern eher klein ist. Der Eindruck von Enge wird verstärkt durch die Möblierung: Neben den Tischen und Stühlen kann man auf der rechten und linken Seite nur mit Mühe nach vorn oder hinten gehen. Auf der linken Raumseite sind große Fenster, durch die allerdings wegen der dichten Belaubung der Bäume, die vor dem Gebäude stehen, wenig Tageslicht fällt. Vorne ist die Tafel, das Lehrerpult steht auf der rechten Seite und wirkt 208

7. FELDMERKMALE: UNTERRICHTSORTE AM EDITH-BENDEROTH-GYMNASIUM

eher wie in die Sitzreihen der Schülerinnen und Schüler integriert. Hinten steht in der linken Ecke ein älterer Holzschrank, in der rechten Ecke ein Regal mit Materialien, Spielen und einigen zerfledderten Büchern. Auf den Fensterbänken stehen eine große Grünpflanze, ein kleiner Blumentopf mit einer Pflanze, ein leerer Blumentopf und eine Blumenvase mit einigen grünen Blättern. Die Wandgestaltung an der rechten Wand wird durch eine große längliche Tafel bestimmt. Auf ihr hängen – so eine Beschreibung vom Beginn der ersten Feldphase – einige Blätter aus Rechenpapier mit darauf gemalten geometrischen Formen. Auf zwei roten Kartonplakaten steht „Was mir gefallen hat“ bzw. „Was mir nicht gefallen hat“. Ein Stadtplan verzeichnet den zu dieser Zeit stattfindenden „Sponsored Walk“ für die Obdachlosenhilfe. Weiterhin hängen an der Wand Hinweiszettel für den Putzdienst – nämlich darauf zu achten, dass die Stühle nach der letzten Stunde hochgestellt werden, ein zerfledderter Stundenplan, ein Spielplan der Fußballweltmeisterschaft, sowie Informationsplakate über UNESCO und die richtige Müllsortierung. Ebenfalls an dieser Wand hängt eine große Wanduhr in Form einer Swatch-Armbanduhr. An der hinteren Wand befindet sich eine Pinnwand mit einem Zettel für alle Klassendienste sowie ein Plakat mit Fotos von einem Klassenausflug. Auf manchen Stühlen liegen zum Teil recht bunt bemalte Kissen. Die Protokollantin vermerkt, dass sie die Raumatmosphäre wenig angenehm findet: Insgesamt wirkt der Raum auf mich eher etwas kahl und vernachlässigt, als würde sich niemand besonders viel Mühe machen, ihn gemütlich oder auch nur ordentlich zu gestalten. In dem hinteren Regal z. B. liegt alles ziemlich durcheinander, so dass es nicht gerade Lust macht, sich mit etwas davon zu beschäftigen. Die meisten Dinge, die irgendwo aufgehängt sind, scheinen eher durch Zufall und das Engagement einzelner Lehrkräfte oder Schüler und Schülerinnen für eine bestimmte Sache zustande gekommen zu sein und insgesamt – auch wenn die Aufzählung einen anderen Eindruck erwecken mag – hängt nicht sehr viel an den Wänden. Nur an einzelnen Gegenständen, wie manchen der Sitzkissen, zeigt sich eine stärkere Identifikation, vielleicht ist es kein Zufall, dass hier nicht etwas für alle, sondern das eigene Sitzkissen liebevoll gestaltet wurde. Vieles, was zu sehen ist, wirkt auch recht schmuddelig, was aufgehängt ist, zerfleddert und der ganze Raum eher dreckig. (Am Ende des Tages habe ich allerdings beobachtet, dass eine Schülerin aus der Klasse den Raum gefegt hat.) (ARaum80710d)

Wenn überhaupt etwas an den Wänden aufgehängt wird, dann dient dies eher zu Unterrichtszwecken als zur Identifikation und Gestaltung. Im 9. Jahrgang z. B. sind es im Rahmen der Berufsfindung von den Schülerinnen und Schülern zum Thema „Wie stellt ihr euch das Leben mit 30 vor“ erstellte Collagen, die für eine Weile im Klassenzimmer zu sehen sind (vgl. Ad91102d). 209

SCHULISCHE FACHKULTUREN UND GESCHLECHT

Da die Zahl der Schülerinnen und Schüler im 10. Jahrgang von 19 auf 26 gestiegen ist, wirkt das Klassenzimmer nun noch kleiner als vorher. Das Regal ist mittlerweile weitgehend leer. Über der Tafel vorne hängen Poster, und zwar von Madonna, Christina Aguilera, Rammstein, zwei Boxern mit russischen Schriftzeichen und einer Comicfigur. Ein weiteres Plakat von Metallica hängt zwischen den Fenstern. Auf der Pinnwand hinten hängen noch Zettel aus dem vorigen Schuljahr mit Klassendiensten und Geburtstagsangaben. Die rechte Wand mit der Klemmleiste ist leer. Insgesamt macht der Klassenraum einen sehr kärglichen Eindruck (vgl. Ay00831v). Eine Identifikation lässt sich nicht erkennen. Die Klassenlehrerin fragt zu Schuljahresbeginn die Klasse, ob sie sich angesichts der gestiegenen Zahl der Schülerinnen und Schüler um einen anderen Raum bemühen solle, wozu sie ermuntert wird. Als sie dann jedoch kurze Zeit später vorschlägt, das Klassenzimmer – sollten sie doch in diesem bleiben – zu streichen und andere Poster aufzuhängen, erhält sie keine Reaktion auf diese Idee (vgl. Ay00831a). Es gelingt dann jedoch sehr schnell, einen neuen Raum zu bekommen, der ist zwar „unwesentlich größer als der alte, aber er ist sehr viel heller“ (Am00914a). Die Sitzordnung besteht jetzt aus einem Hufeisen mit drei innenstehenden Tischen, womit der Raum voll ausgefüllt ist: „Neben bzw. hinter dem Hufeisen ist praktisch kein Platz vorhanden, um sich dort als Protokollantin hinzusetzen“ (Am01004v). Bemerkenswert sind Schubladenschränkchen: Ich wundere mich, dass neben Siegfrieds Tisch im Innenkreis ein metallenes Schubladenschränkchen steht, auf das er auch seine Tasche gelegt hat. Es scheint so sein Privatschränkchen zu sein, vorne neben der Tafel stehen noch zwei gleiche Schränkchen, die offensichtlich mehr allen gehören. (Am01101k)

Drei Wochen später sind einige der Schubladen mit Namen beschriftet, was darauf hindeutet, dass jede Schülerin und jeder Schüler nun ein eigenes Fach hat (vgl. Am01121k). Die Wanddekoration scheint weitgehend vom alten Klassenraum mitgenommen worden zu sein. Neben der Tafel hängt ein Poster mit Waffengraffitis und der Aufschrift „in memoriam Tupac Shakur“. Direkt über der Tafel hängen drei DIN-A4-Zettel mit Kommentaren zu Torwartwechseln beim HSV. An der Pinnwand sind das Poster mit russischer Schrift zu den Boxbrüdern Klitschko und eines von Uma Thurman angebracht. Dazwischen hängt eine Karte der USA. Es deutet nichts auf eine gezielte Gestaltung des Raumes hin. Die Klassenleiterin, von der Protokollantin auf die Gestaltung angesprochen, verteidigt sich mit dem Hinweis, sie hätte angeregt, neue Poster aufzuhängen, aber keine Reaktion von den Schülerinnen und Schülern bekommen. Daraufhin hätte sie nicht erneut die Initiative ergriffen. 210

7. FELDMERKMALE: UNTERRICHTSORTE AM EDITH-BENDEROTH-GYMNASIUM

Während sie das sagt, fällt mir erneut auf, dass auf den kleinen Schubladenschränkchen neben der Tafel immer mehr Müll gestapelt wird: dort liegt seit Wochen ein großer Pappkarton, eine lange zusammengeknüllte Stoffbahn und einiges mehr, was wirklich nicht so einladend aussieht und was die Schüler und Schülerinnen ja, da sie nach vorne gucken, dauernd ansehen. (Ad00214k)

Die Beschreibungen vermitteln insgesamt den Eindruck, dass die Enge des Raumes auch als Enge für Gestaltungsideen wirkt. Die Wände werden offenbar nicht gezielt, sondern eher zufällig für Ästhetik und Kommunikation bzw. unterrichtsfunktional genutzt. Wenn überhaupt, werden persönliche Bereiche – wie durch Sitzkissen oder die Aneignung des Schränkchens – ‚geschmückt’, nicht jedoch Symbole für Gemeinsamkeit bzw. Klassengemeinschaft geschaffen.

7.1.2.

Klasse B

Die Protokollstellen über den Klassenraum der Klasse B vermitteln im 7. Jahrgang den Eindruck, als mache die Klasse den Versuch gezielter Gestaltung. So beschweren sich die Schülerund Schülerinnen über die zur Verfügung stehenden Tische, von denen viele vollgekritzelt seien (vgl. By81007d). Vor allem wohl für die Pausennutzung ist in der Klasse eine Musikanlage vorhanden, die gewöhnlich während der Pausen auch eingeschaltet wird (vgl. Bx81008n; Bb81027n; Bb81029n). Die Wände der Klasse scheinen von den Schülerinnen und Schülern selbst bemalt worden zu sein. Im 8. Jahrgang hat die Klasse einen neuen Klassenraum bekommen. Sie ist nun in dem neu erbauten Pavillon untergebracht. Der Raum ist augenscheinlich zu Beginn des Schuljahres wenig gestaltet: Die Klasse wirkt noch ziemlich kahl. Bisher hängt nur vorne an der Wand ein Stundenplan etwas verloren, an der Wand gegenüber der Fensterfront sind Haken, an denen einige Turnbeutel und Fahrradhelme hängen, vorne neben der Tafel stehen noch ein Kartenhalter und ein OHP [Overhead Projektor]. (Bb90906k)

Zu Anfang des Schuljahres besprechen die Schüler und Schülerinnen mit ihrem Klassenlehrer, dass sie eine Pinnwand haben möchten (vgl. Bb90908h). Zwei Tage später teilt der Lehrer mit, dass eine Korkwand bestellt worden sei. Außerdem solle die Klasse einen Schrank bekommen (vgl. Bb90910h), den sie eine Woche später erhalten hat (vgl. Bm90917d). Im nächsten Schuljahr bezieht die Klasse B wieder einen Klassenraum im Hauptgebäude. Aus dieser Zeit – die Klasse B ist nun im 9. Jahrgang – gibt es eine ausführlichere Beschreibung des Klassenraums:

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SCHULISCHE FACHKULTUREN UND GESCHLECHT

Der Klassenraum ist himmelblau gestrichen, allerdings relativ fleckig. Das Regal hinter Kerstin ist leer, an der Pinnwand hinter Joe, Knut usw. hängen einige Tierfotokopien, eine Klassenliste und eine Einladung, an der Mediationsgruppe der Schule teilzunehmen. Sonst ist sie leer. Einige Informationen (Hausregeln, ein Brief ...) hängen an der Innenseite der Tür. An der Pinnwand hinten haben die Schüler und Schülerinnen nach Moderationsmethode auf bunten Kärtchen zu folgenden Überschriften ihre Meinung aufgeschrieben: „Um Unterricht zu ermöglichen a) bin ich bereit, b) erwarte ich von meinen Mitschülern (ich meine es steht nicht Mitschülerinnen und Mitschülern), c) von meinen Lehrern, d) von den Inhalten/Methoden.“. Dann gibt es noch ein paar Karten, die in keine Kategorie zu passen schienen (z. B. Sauberkeit im Klassenraum). Ich habe mir noch nicht genau angesehen, was dort auf den Kärtchen steht, es sieht auf jeden Fall so aus, als habe die Klasse diese gemeinsam erstellt und sortiert. Pflanzen gibt es im Klassenraum nicht. (Bd01030k)

Die Lage des Klassenraums zum Schulhof der benachbarten Schule erzwingt manchmal, auf das Lüften zu verzichten: Als ich in die Klasse komme, sitzen wieder alle Lernenden an ihren Plätzen. Dieses Mal liegt das wohl daran, dass sie bis vor wenigen Minuten, also in die Pause hinein, eine Englischarbeit geschrieben haben. Die Luft in der Klasse ist völlig verbraucht, es macht aber – auch während der anschließenden Deutschstunde – niemand ein Fenster auf. Dieses mag wiederum daran liegen, dass die B ihre Fensterfront direkt zum Schulhof der benachbarten Schule ausgerichtet hat und dort immer während der ersten Zeit der vierten Stunde die große Pause ist, was mit unglaublichem Lärm verbunden ist. (Bd01107k)

Nach diesen Beschreibungen entsteht der Eindruck, dass die Klasse B bis auf die Bemühungen in der zweiten Feldphase um Pinnwand und Schrank und die individuelle Umgestaltung der Wände in Jahrgang 7 und 9 letztlich wenig Anstrengung unternommen hat, die Klassenräume persönlicher zu gestalten, sie wirken über die drei Feldphasen recht karg.

7.1.3.

Klasse C

In der Beschreibung des Klassenraums der Klasse C im 7. Jahrgang ist dessen Größe mit zwölf Meter Länge und sechs bis sieben Meter Breite angegeben. Der Raum bietet der Klasse wenig Platz, wie aus dem Protokoll einer Klassenstunde hervorgeht, in der die Klasse darüber debattiert, ob sie sich an einer Aktion von Schüler und Schülerinnen beteiligen möchte, in der gegenüber der Kultusbehörde auf Missstände im Schulwesen aufmerksam gemacht werden soll: Monja, die mit Jens Klassensprecherin ist, schlägt unter anderem vor, größere Klassenräume zu fordern, da der jetzige zu klein sei (vgl. Cy81214d).

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7. FELDMERKMALE: UNTERRICHTSORTE AM EDITH-BENDEROTH-GYMNASIUM

In einem anderem der Beobachtungsprotokolle wird der Klassenraum des 7. Jahrgangs ausführlich beschrieben. Vorne hängt die übliche Tafel, daneben noch eine Magnettafel. An dieser Wand hängt noch eine Uhr, ansonsten ist die Stirnseite des Raumes kahl. An einer der Seitenwände erhält der Raum durch drei große Fenster Licht. Die Gardinen an den Fenstern werden als gelb, schmuddelig und hässlich beschrieben, sie wirkten, als hingen sie „schon seit Jahrzehnten“ dort (vgl. CRaum80111d). An der Fensterseite steht ein halb hohes Holzregal, auf dem sich einige Büroordner und ein Locher, außerdem eine große Blattpflanze befinden. Auf einer der Fensterbänke gibt es noch zwei kleine Pflanzen. In der Ecke von Fenster- und Tafelseite steht ein Besen. An der anderen langen Seitenwand hängt neben der Eingangstür eine große Pinnwand. Auf dieser befindet sich ein Poster des Popstars Robbie Williams, das aus einer Jugendzeitschrift herausgelöst wurde, neben dem Poster hängen ein Comic-Kalender, in dem die Geburtstage der Klasse notiert sind, eine Landkarte der Britischen Inseln, ein Stundenplan und weitere fünf Zettel mit Sachmitteilungen wie Informationen über Mülltrennung oder eine Liste von Büchern, die die Schüler und Schülerinnen abgeben sollen. Neben der Pinnwand sind noch zwei weitere Poster an dieser Wand des Klassenraums befestigt. Das eine ist mit „New Zealand, Island of Contrasts“ beschriftet und zeigt einen Pinguin auf der einen Seite und ein Großstadtbild auf der anderen. Auf dem zweiten, schon recht zerfledderten Poster ist das Monster „Godzilla“ zu sehen, das gerade ein Auto zu verschlingen scheint. An der Rückwand des Raumes hängen zwei Werbeplakate der Fahrradfirma „Giant“. Auf beiden sind Radsportler abgebildet, der eine im Flug beim Sprung über ein Hindernis, der andere in einer Frontalaufnahme. An dieser Wand steht noch ein Schrank, weitere Dekoration gibt es nicht. Die Protokollantin beschreibt in einem Vergleich zum Klassenzimmer der Klasse A diesen Raum als ansprechender, doch sie charakterisiert auch diesen als eher trist: Insgesamt empfinde ich den Raum als gepflegter und ordentlicher als den der Klasse A, es fliegen nicht einfach Zettel auf dem Boden rum, auf denen rumgetrampelt wird o. Ä. Gleichzeitig wirkt der Raum auf mich auch ein wenig kahl und lieblos, teilweise sind die Wände wirklich kahl und die vorhandenen Poster etc. stehen mehr isoliert da, als würden einfach einzelne das aufhängen, was sie persönlich wichtig finden. [...] Außer dem Geburtstagskalender gibt es nichts, was die soziale Gemeinschaft betont. (CRaum80111d)

Ebenso wie die Klasse B ist auch Klasse C im 8. Jahrgang im neuen Pavillon untergebracht. In diesem Zusammenhang beklagt die Klassenlehrerin das Verhalten der Jungen, die den neuen Raum unachtsam behandelten: Es gibt ganz viele Sachen, [...] Behandlung einfach des Mobiliars, der Toiletten, ne? [...] Auf der einen Seite finden sie schön, dass sie schöne neue Räume haben und

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SCHULISCHE FACHKULTUREN UND GESCHLECHT

alles nett und fein aussieht und auf der anderen Seite [...] behandeln sie dies Inventar nicht besonders pfleglich. (LIe9912d)

Im nächsten Schuljahr – Klasse C ist nun im 9. Jahrgang – zieht die Klasse wieder aus dem Pavillon aus und zurück ins Hauptgebäude. Das neue Klassenzimmer ist kleiner und spärlicher möbliert als das alte: Die Klasse zieht dieses Schuljahr in einen neuen Klassenraum: Nr. 116 im ersten Stock des Hauptgebäudes. Frau Helfrich erklärte mir, dass die Zuteilung der Klassenzimmer immer von der Klassengröße abhängt. Da sie mit 22 Schülerinnen und Schülern eine relativ kleine Klasse sind, mussten sie die Klasse tauschen. Der Klassenraum ist wirklich kleiner: so wie die Tische zu Anfang der Stunde stehen, kann man nicht hinter der (von vorne gesehen) rechten Sitzreihe her gehen. Es gibt auch keinen Schrank in der Klasse, sondern nur niedrige Holzregale. Insgesamt wirkt der Raum unfreundlicher als der letzte. Zu Anfang der Stunde holt Frau Helfrich ihre Klasse auf dem Schulhof ab, um aus der alten Klasse alle Dinge zu holen, die der Klasse gehören: Ordner, Poster, Regal etc. (Cy00831s)

Nachdem die Klasse etwas über einen Monat im neuen Klassenzimmer ist, wird die Gestaltung des Raumes in einem Protokoll beobachtet: Der Raum machte auf mich einen ziemlich verwahrlosten Eindruck. Die Wände könnten mal wieder Farbe bekommen und die Pinbretter waren ziemlich unordentlich. Auch der neue Computer, der vermutlich aus dem vorigen Jahrtausend stammt, stand unangeschlossen und ein wenig verstaubt auf einem Tisch in der hinteren Ecke. Eine kleine Pflanze stand auf dem Fensterbrett. Sie machte eine ziemlich traurige Gestalt. Es war eine Art Benjamini und nur wenige Blätter hingen noch. Die Ordner, Blumenvasen und andere Dinge, die auf den Regalen ganz hinten lagen, wurden scheinbar auch nicht oft genutzt. Eine nicht funktionierende Uhr hing neben der Tafel. (Ce01004m)

Der Eindruck einer geringen Identifikation der Klasse mit ihrem Raum verstärkt sich mit folgender Protokollpassage, die gut zwei Monate später notiert wurde. Zur Gestaltung des Klassenzimmers, das als verwahrlost beschrieben wurde, hat die Klasse nun auch ein Problem mit herumliegendem Müll, der nicht beseitigt wurde: Die Schülerinnen und Schüler erzählen Frau Helfrich, dass sie Würmer bzw. Maden in einem der Regale an der hinteren Wand des Klassenzimmers entdeckt hätten und das total widerlich fänden. Die Lehrerin reagiert etwas gereizt und sagt den Jugendlichen, dass sie nicht genug Ordnung halten würden und dass das so nicht ginge. Sie hält den Schüler und Schülerinnen etwas gereizt eine Standpauke über Sauberkeit und sagt, dass sie zu Hause ja auch Ordnung halten müssten und man erwarten

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7. FELDMERKMALE: UNTERRICHTSORTE AM EDITH-BENDEROTH-GYMNASIUM

könnte, dass sie den gleichen Standard auch im Klassenzimmer einhalten würden. Sie sagt: „Jeder muss den Müll wegschmeißen, den er produziert.“ (Ce01215j)

Klasse C unternimmt – ähnlich wie die beiden anderen Klassen – wenig Anstrengungen zur gemeinsamen Gestaltung des Klassenraums bzw. verlaufen einmal vorgenommene Gestaltungsversuche im Sande (vertrocknete Pflanzen, stehen gebliebene Uhr, nicht genutzte Ordner etc.) und führen damit sogar eher zum Eindruck von Verwahrlosung. Die Klassenzimmer können in einer Kurzformel als ‚öde Orte’ beschrieben werden. Im Gegensatz zum Schulgebäude insgesamt, durch dessen Gestaltung der Versuch deutlich wird, eine Atmosphäre des Willkommens und der Gemeinsamkeit zu schaffen, machen die Klassenzimmer der beobachteten Klassen wesentlich weniger den Eindruck von anregender und Zugehörigkeit signalisierender Ausformung.

7.2. Unterrichtsorte im Fach Physik Sehr anders sehen die Unterrichtsorte für Physik aus. Nicht nur verfügt der Physikunterricht über eigene Fachräume, diese unterscheiden sich von den anderen naturwissenschaftlichen Fachräumen noch durch ihre Abgeschlossenheit: Während alle anderen Fachräume direkt von den Schulfluren abgehen und dabei höchstens nebeneinander oder räumlich nah beieinander liegen, bilden die Physiksammlung, der Physikhörsaal und der Physikpraktikumsraum, im Schuljargon zusammenfassend als ‚die Physik’ bezeichnet, einen vom Treppenhaus durch eine Glastür abgetrennten Bereich. Durch die Glastür betritt man einen ca. 12 m2 großen Vorraum, von dem die Sammlung und die beiden Fachräume abgehen. Da die Türen der Physikräume von außen ohne Schlüssel nicht zu öffnen sind,95 warten in der Regel bis zu zwei Klassen in kleinen Grüppchen stehend in diesem Vorraum darauf, dass die Fachlehrkräfte ihnen von innen öffnen oder die Tür von außen aufschließen und dann den Raum mit ihnen gemeinsam betreten. Im Vorraum hängt ein gerahmtes Poster zu „berühmten Naturwissenschaftlerinnen seit der Antike“, an den Türen sind jeweils die Belegungspläne der Unterrichtsräume angebracht. Sonst ist der Raum leer. Rechter Hand des Vorraums geht der Physikhörsaal (vgl. Abbildung 3) ab, ein rechteckiger, ca. 5 x 9 m (45 m2) großer, weiß gestrichener Raum. Die Schülerinnen und Schüler betreten den Physikhörsaal von rechts hinten, die Tafel 95 Den Schlüssel für die Physikfachräume haben ausschließlich die PhysikFachlehrkräfte.

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SCHULISCHE FACHKULTUREN UND GESCHLECHT

und das Pult befinden sich an der gegenüberliegenden Stirnseite. Den Raumnutzerinnen und -nutzern bietet sich beim Betreten ein für Schulräume eher ungewohntes Bild: Direkt vor ihnen befindet sich der Sitzbereich in Form von zur Tür hin ansteigenden Sitzreihen. Zu den Sitzgelegenheiten gelangen die Schülerinnen und Schüler entweder von der hinteren Raumseite über eine zum Sitzbereich gehörige Treppe, oder sie gehen über die schmalen Durchgangsmöglichkeiten rechts und links der ansteigenden Sitzreihen nach vorne zur Tafelseite des Raumes und dann in den Mittelgang, der die sechs Sitzreihen in zwei Hälften à drei Stühle teilt. Bei den für die Schüler und Schülerinnen vorgesehenen Sitzgelegenheiten handelt es sich um fest in Reihen montierte Klappstühle; vor jeder Sitzreihe ist eine vergleichsweise schmale Tischleiste befestigt, auf der kaum ein DIN-A4-Heft Platz findet. Die Tische sind teilweise bekritzelt. Zwischen den einzelnen Reihen ist verhältnismäßig wenig Platz. Die Bestuhlung des Hörsaals wurde im Schuljahr 2001/2002 verändert, es wurden neue Stuhlreihen montiert. Dadurch wirkt der Raum wesentlich moderner, zugleich aber auch steriler. Nach wie vor gibt es sechs Reihen mit je drei Stühlen. Die erste Sitzreihe hat nun keine Tische mehr, wodurch sie häufig frei bleibt. Ebenfalls verändert wurde das in ca. 1,5 m Abstand vor den Sitzreihen gelegene Pult: Bisher befand sich vor den Sitzreihen ein überdimensional großes, fest installiertes und geklinkertes Pult (Maße ca. 1 x 3 m), an dessen rechter Seite ein Becken mit Wasseranschluss installiert war, im Hörsaal gab es darüber hinaus keine weiteren Gas- oder Wasseranschlüsse. Das Pult wurde nun auf deutlich kleinere Maße reduziert (1 x 0,75 m) und mit einer weißen Oberfläche versehen, ist jedoch weiterhin fest installiert. Es steht nun links vor den Stuhlreihen und ermöglicht somit einen freieren Blick auf die Tafel. Hinter dem Pult erstreckt sich nahezu über die gesamte Raumbreite eine aus zwei ineinander verschiebbaren Flächen bestehende Tafel. Links der Tafel ist eine schwenkbare OHP-Projektionsfläche angebracht. Vorne rechts neben dem Pult befindet sich die Tür zur Physiksammlung. In dem Hörsaal gibt es erst seit der Umgestaltung einen Schrank, der zentriert an der hinteren Stirnseite des Raumes steht. Weiteres Mobiliar findet sich nicht. In dem Raum sind keinerlei Poster oder Plakate angebracht. An der linken Raumseite ist eine breite Fensterfront, dadurch wirkt der Raum recht hell, an den Fenstern hängen ockergelbe Gardinen, die sich zum Teil aus der Befestigung gelöst haben und nun lappenartig herunterhängen. Die Fensterbänke sind leer.

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7. FELDMERKMALE: UNTERRICHTSORTE AM EDITH-BENDEROTH-GYMNASIUM

Abbildung 3: Physikhörsaal

Der von den Schüler und Schülerinnen als ‚normaler’ Physikraum (vgl. Abbildung 4) bezeichnete andere Fachraum, der an der Tür als Physikpraktikum benannt wird, ist ein rechteckiger, weiß gestrichener Raum von ca. 5 x 12m (60 m2). Der Raum wird über die vorne rechts in Pulthöhe liegende Tür betreten. Die Tische der Schüler und Schülerinnen sind in fünf Reihen symmetrisch angeordnet – je ein Tisch mit drei Sitzplätzen rechts und links von den fest montierten Gas- und Stromanschlüssen. Durch die festen Anschlüsse sind die Tische nicht beliebig im Raum verschiebbar. Die Tische sind etwas tiefer und deutlich breiter und höher als die üblichen Schultische, zudem mit heller Plastikoberfläche und Metallbeinen versehen. Die Sitzabstände zwischen den Tischreihen sind eher weit, an den einzelnen Tischen sitzen die Schüler und Schülerinnen allerdings recht eng. Für den an sich eher großen Raum stehen die zehn Lernendentische nah beieinander, so dass rechts und links der Tischseiten bis zur Wand noch ca. 1,2 m breite Gänge frei bleiben. Der vordere Bereich des Raumes ist ebenso aufgebaut wie im Physikhörsaal: der Bereich ist um eine Stufe erhöht, das Pult deutlich größer als die Tische der Lernenden und fest gemauert, links des Pults ist ein Wasserbecken installiert. Über die Pultbreite erstreckt sich eine hochziehbare Tafel, links vorne ist auch in diesem Raum eine schwenkbare OHP-Wand fest installiert. Links neben der Tür hängen einige Lineale und Geodreiecke für die Nutzung an der Tafel sowie ein Erste-Hilfe-Kasten, direkt neben der Tür steht ein schmaler Ablagetisch.

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SCHULISCHE FACHKULTUREN UND GESCHLECHT

Abbildung 4: Physikpraktikumsraum (‚normaler’ Physikraum)

Zwischen der letzten Sitzreihe und den an der hinteren Schmalseite stehenden zwei weißen Schränken sind ca. 1,5 m Abstand. In den Schränken werden Versuchsmaterialien gelagert. Vor den Schränken steht unter einer Abdeckfolie ein OH-Projektor auf einem Rollwagen. Hinten rechts im Raum befindet sich der Zugang zur Physiksammlung. Rechts und links der hinteren Tür – und somit hinter den Tischreihen der Schülerinnen und Schüler und eher in dem Bereich, dem sie sich selten zuwenden – hängen zwei Astronomieposter. Auf der Längsseite des Raumes erstreckt sich über die vordere Raumhälfte eine Wandtafel, die meist ungenutzt ist, teilweise werden an dieser jedoch Plakate zu Physikwettbewerben aufgehängt. Durch die auf der gegenüberliegenden Seite liegende Fensterfront wirkt der Raum hell, vor den Fenstern hängen ockergelbe Gardinen, die Fensterbänke sind leer. Die Physiksammlung (vgl. Abbildung 5) von ca. 40 m2 verbindet beide Fachräume, sie ist in der Regel nur für die (Fach-)Lehrkräfte zugänglich. In hohen Schränken werden dort Unterrichtsmaterialien, Fachbücher der Lehrkräfte sowie z. T. Physiklehrbücher für die Schülerinnen und Schüler gelagert.96 Die Physikkolleginnen und -kollegen halten sich häufig in den Pausen in der Physiksammlung auf, weil sie mit Vor- und Nachbereitung der Versuchsvorführungen und Lernendenversuche beschäftigt sind. Hierfür stehen in der Sammlung diverse Rollwagen bereit, auf denen Materialien aufgebaut werden. Die

96 Der weitaus größere Teil der Lehrbücher in Klassensätzen befindet sich in der Lehrbuchsammlung der Schule.

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7. FELDMERKMALE: UNTERRICHTSORTE AM EDITH-BENDEROTH-GYMNASIUM

Physiksammlung gleicht einem großen Werkstattraum, da auch auf den Tischen viel Material zeitweise liegen gelassen werden kann. Abbildung 5: Physiksammlung

Der Physikpraktikumsraum scheint zumindest von den Lehrkräften dem Hörsaal vorgezogen zu werden, denn keine der Klassen hatte über ein Schuljahr ausschließlich im Physikhörsaal Unterricht, sondern immer auch einen Anteil der Stunden im ‚normalen’ Physikraum. Umgekehrt gab es aber Klassen, denen über ein Schuljahr hinweg ausschließlich der ‚normale’ Physikfachraum zugeteilt wurde.

7.3. Institutionelle Vorgaben und örtliche Gestaltung: Dimensionen fachkultureller Strukturen Anhand der materiellen Ausgestaltungen von Unterrichtsorten lassen sich sehr deutlich Verweise auf die jeweiligen fachkulturellen Konstruktionen erkennen. Es wird deutlich, dass die spezifischen Güter der Fächer auf sehr unterschiedliche Art bzw. mit sehr unterschiedlicher ‚Intensität’ präsent sind: Für das Unterrichtsfach Physik gilt, dass die Physikfachräume ausschließlich dem Fach Physik vorbehalten sind und die gesamte Ausstattung einzig hierfür genutzt wird. Aus einer ‚Draufsicht’ auf die Orte zeigt sich die Exklusivität der Orte in einer besonderen Form anhand der Physiksammlung: Diese Orte bieten gleichermaßen Rückzugsmöglichkeiten für die Lehrenden – allerdings eben auch ausschließlich für die Physik-Lehrenden –, Möglichkeiten für fach219

SCHULISCHE FACHKULTUREN UND GESCHLECHT

internen Austausch, Ressourcen für Unterrichtsvorbereitungen auf dem Rollwagen etc., oder persönliche Arbeitsplatzgestaltung. Für die Schülerinnen und Schüler ist dieser Bereich in der außerunterrichtlichen Zeit gar nicht, in unterrichtlichen Kontexten nur sehr begrenzt zugänglich, die Lehrenden sind auch nicht über Klingel etc. erreichbar, wenn sie sich hier aufhalten. Die Zuweisung der Orte als schulischer Bereich, in welchem Nutzung und Gestaltung in erster Linie den Fachlehrkräften vorbehalten sind, zeigt sich auch in der Gestaltung der Wände etc.: Hier finden sich keinerlei erkennbare Hinweise auf Mitgestaltung von Schülerinnen und Schülern etwa in Form von Unterrichtsprodukten etc., oder auch auf außerschulische Themen, welche nicht mit Physik zusammenhingen. Vergleichbare Zusatzorte und damit Konzentrationen an fachspezifischen Gütern stehen nur wenigen Fächern zu, Deutsch gehört nicht hierzu. Das deutsch-fachliche Pendant zur Physiksammlung ist deutlich mehr den Bereichen der Allgemeinheit zugewiesen, sei es die Sammlung der allgemeinen Nachschlagewerke, aber auch die deutschspezifische Fachbuchsammlung für die Lehrenden oder die Medienausstattung, welche im allgemeinen LehrerInnenzimmer aufbewahrt wird. Die zusätzliche fachliche Ausstattung wird dann eher dem persönlichen Bereich zugewiesen, diese legt in der Regel jede Lehrkraft individuell in ihrem eigenen Fach ab. In den üblichen Unterrichtsorten, den Klassenzimmern, werden die Gestaltungsvorgaben zu einem großen Anteil von den Lernenden gemacht – und sind damit auch durchaus eher thematisch außerschulischen Interessensgebieten vorbehalten. Damit werden die fachspezifischen Materialien insgesamt weniger einem spezifischen Kreis vorbehalten, sondern sind für Deutsch ebenso wie für andere Fächer nutzbar. Fachspezifische Arbeitsplätze gibt es für Deutsch nicht. Die Lehrkräfte sind entsprechend in Pausen, Freistunden etc. – für Kolleginnen und Kollegen, aber auch für die Schülerinnen und Schüler – im allgemeinen LehrerInnenzimmer anzutreffen. In den jeweiligen Fachprofilen über Orte entsteht so relativ konsequent das Bild eines exklusiven Unterrichtsfaches Physik, welches spezieller Nutzungs- und Gestaltungsmöglichkeiten bedarf – und diese auch zuge standen bekommt. Auf der anderen Seite wird ein fachspezifisches Bild von dem Fach Deutsch erkennbar, welches keinerlei äußerlich messbare Komponenten von Fachspezifik erkennen lässt. Scheinbar alle Ressourcen, die im Deutschunterricht genutzt werden, sind auch von anderen Fächern bzw. Gruppen gestaltbar und mitnutzbar. Die beobachteten Strukturen werden von allen Beteiligten weder in Frage gestellt, noch aus Sicht des ‚eigenen’ Faches mit anderen verglichen. Schulische Orte werden somit von den Schulangehörigen offenbar wenig als Gesamtressourcen betrachtet, welche nach bestimmten Kriterien verteilt werden. 220

7. FELDMERKMALE: UNTERRICHTSORTE AM EDITH-BENDEROTH-GYMNASIUM

Oder aber die Strukturen sind bereits so fest eingeschrieben, dass sie weder hinterfragt noch als wandelbar begriffen werden. Diese Trägheit ist speziell materiellen Strukturen eigen. Bourdieu hält hierzu in „Ortseffekte“ fest: Ein Teil der Beharrungskraft der Strukturen im Sozialraum resultiert aus dem Umstand, dass sie sich ja in den physischen Raum einschreiben und nur um den Preis einer mühevollen Verpflanzung, eines Umzugs von Dingen, einer Entwurzelung bzw. Umsiedlung von Personen veränderbar sind, was wiederum höchst schwierige und kostspielige gesellschaftliche Veränderungen voraussetzt. (Bourdieu 1997d: 161, Herv. im Orig.)

Mit Bourdieu gedacht ergibt sich aus den dargestellten empirischen Eindrücken eine interessante Lesart der Fachkulturen und deren jeweiliger Position im Gesamtfeld schulischer Fächer: Der soziale Raum manifestiert sich auf der physischen Ebene als die Verteilung einerseits von Gütern, aber andererseits auch von physisch lokalisierten sozialen Akteurinnen und Akteuren. Dabei gelten für die Handelnden unterschiedliche Chancen, sich die Güter anzueignen. Dieses hängt ab von der Form und Größe ihres Kapitals. Für den sozialen Raum ergeben sich dadurch unterschiedliche ‚Regionen’ mit unterschiedlich differentiellen Werten (vgl. hierzu Bourdieu 1991: 29). Die in den verschiedenen Feldern korrespondierende Verteilung der Güter im physischen Raum überlappt sich nun tendenziell, dadurch ergeben sich Konzentrationen von Gütern an bestimmten Orten des physischen Raumes. Übersetzt in die fachkulturellen Bereiche einer Einzelschule bedeutet dies zum Beispiel, dass die Ressource ‚Gesamtfläche des Gebäudes’ unter den verschiedenen Nutzerinnen und Nutzern sinnvoll und nach bestimmten Prinzipien aufgeteilt werden muss. Wenn nun also die Fachkultur Physik einen ‚Lagerraum’ für ihre (ökonomisch wertvollen) Geräte, aber auch den Raum für die Unterrichtsvorbereitung auf Gerätewagen etc. zugesprochen bekommt, kann das als eine Konzentration des Gutes Quadratmeterzahl gelesen werden. Für die Fachkultur Deutsch greift diese nicht in vergleichbarem Maße. Gelesen werden kann die allseitige Übereinstimmung mit dieser ungleichen Verteilung mit der geteilten Illusio des Faches Physik durchaus als Exklusivitätsanspruch des Faches Physik: Physik benötigt diese exklusiven Flächen, um die fachlichen Inhalte vermitteln zu können, und bekommt sie zugestanden. Das Fach Deutsch hat diesen Exklusivitätsanspruch nicht, vielmehr erweckt es den Eindruck, als sei Deutsch beliebig an jeder Stelle, mit wenig spezifischer Ausstattung und atmosphärischen Notwendigkeiten unterrichtbar. Es wären ja durchaus vergleichbare Orte für Deutsch denkbar (Medienraum, Leseraum, Sprachlabor etc.), welche sich mit fachlichen Inhalten begründen ließen. Diese werden jedoch von keiner Seite ernsthaft angedacht und eingefordert.

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SCHULISCHE FACHKULTUREN UND GESCHLECHT

Die Zuweisung der Unterrichtsorte unterstreicht die Homogenität der bilingualen Physik und monolingualen Physik: die bilinguale Physik wird nicht etwa im Sprachlabor oder im Klassenraum unterrichtet (wie dies in Englisch der Fall ist), sondern in den üblichen Physikräumen. Für eine fachkulturspezifische Feldanalyse ist nun zudem eine genauere Betrachtung der Nutzung der Orte sowie der Herstellung sozialer Räume an den beschriebenen Fachorten vonnöten. Denn, mit Bourdieu gesprochen, man kann mit den falschen Plausibilitäten und der substantialistischen Verkennung von Orten nur mittels einer stringenten Analyse der Wechselbeziehungen zwischen den Strukturen des Sozialraums und jenen des physischen Raums brechen“ (Bourdieu 1997d: 159, Herv. im Orig.).

Diese Forderung soll durch die Betrachtung der fachkulturellen Räume im nächsten Kapitel erfüllt werden.

222

8. Räume als Produzenten fachkultureller und gegenderter Strukturen

Die Konstitution fachkultureller Felder erfolgt über ein enges Zusammenwirken von Akteurinnen bzw. Akteuren und Strukturen des Feldes. In diesem Kapitel werden Ausschnitte räumlicher Prozesse auf die Auswirkungen fachkultureller und gegenderter Strukturen hin untersucht. Dabei stehen diejenigen Herstellungsprozesse im Mittelpunkt der Betrachtungen, welche örtlichen Faktoren (vgl. Kapitel 7), v. a. als materiell-architektonische Bedingungen, und ihre räumlichen Wirkungen miteinander verknüpfen. Hierbei werden einem relationalen Raumverständnis zufolge fachkulturelle Räume nicht als starre Rahmung der Handlungen gefasst, sondern als sozial konstruierte Anordnungen verstanden, welche gleichzeitig Resultat und Voraussetzung fachkultureller Charakteristika sind. Wie in der Darstellung fachkultureller Orte bereits deutlich wurde, sind schulische Akteurinnen und Akteure immer auch mit materiell-architektonischen Positionierungen konfrontiert, denn „in einer Schule geschieht fast nichts außerhalb der baulichen Umgebung“ (Kleberg 1994: 32). Das gilt ebenso für Räume: soziale Aushandlungen finden immer in räumlichen Strukturen statt. Schulische Räume sind durch ihre Institutionalisierung zumeist bereits (vor-)strukturiert, sie werden jedoch ständig neu hervorgebracht und bleiben über ein individuelles Handeln hinaus wirksam. Somit bilden sie quasi eine ‚Grenzregion’ zwischen kollektivem Handeln und eigener Konstituierung. Die Analyse von Räumen bietet sich also an, um die Sozialität fachkultureller Gemeinschaften näher zu erfassen. Während die Untersuchung der Unterrichtsorte in Kapitel sieben bereits deutlich auf fachkulturelle Gestaltungsunterschiede zwischen Physik und Deutsch verwiesen hat, muss diese Frage für die Herstellung von Räumen erst noch beantwortet werden. An dieser Stelle werden daher vier unterschiedliche räumliche Bereiche herausgegriffen und auf fachkulturelle Spezifika analysiert: Zunächst die Positionierung des 223

SCHULISCHE FACHKULTUREN UND GESCHLECHT

Pults als Mobiliar, welches auf der einen Seite in jedem Fach- und Klassenraum vorhanden ist, zugleich aber als ‚Lehrkrafttisch’ einen besonderen symbolischen Charakter erhält (Kapitel 8.1.). Zweitens werden fachkulturelle Räume auf ihre Herstellung von Vorgabelegitimität durch ‚Hausrecht’ hinterfragt: So sind mal die Lehrenden, mal die Lernenden die gastgebende Seite – und dies mit unterschiedlichen Konsequenzen (Kapitel 8.2.). Die Aushandlungen der Sitzordnungen in allen Klassen und in beiden Fächern stellt schließlich den dritten Bereich dar (Kapitel 8.3.). Hier greift die Kategorie Geschlecht als zentrales (an-)ordnendes Prinzip, die abschließende Darstellung der Sitz- und Kooperationsanordnungen in den beiden Unterrichtsfächern Deutsch und Physik verweist jedoch auch auf weitere mögliche Anordnungskriterien nach dem doing difference, welche die Kategorie Geschlecht in den Hintergrund treten lassen. In Kapitel 8.4. werden die unterschiedlichen räumlichen Ausschnitte der fachkulturellen Inszenierungspraktiken resümierend zusammengefasst. Bei allen betrachteten Bereichen handelt es sich um alltägliche Raumbildungsprozesse, nicht um besondere oder einmalige Inszenierungen.

8.1. Fachkulturelle Symbolik: das Pult Zunächst ist zu beobachten, dass in allen Fach- und Klassenräumen ein Möbelstück, das Pult, in seiner Funktion allein der Nutzung durch die Lehrkraft zugeordnet ist. Damit gehört es zur Standardausstattung sämtlicher Unterrichtsorte und erhält eine gewisse Normalität. Zugleich unterstreicht es als einziges ‚privilegiertes’ Mobiliar symbolisch die besondere Position der Lehrkräfte an den Unterrichtsorten. Dies gilt zunächst für beide Unterrichtsfächer, wird jedoch fachkulturell unterschiedlich gestaltet: Das unterschiedliche Mobiliar in Deutsch und Physik (vgl. Kapitel 7) betrifft auch die Position des Pults: In nahezu allen Klassenräumen – und damit den Unterrichtsorten für Deutsch – steht das Pult zentriert mit geringem Sitzabstand vorne vor der Tafel. Abweichungen erlauben in der Regel nur eine geringe Verschiebung nach rechts oder links, nur in einem Fall nach ganz links. In beiden Physikräumen steht das Pult etwas links versetzt vor der Tafel, ist dort aber fest montiert. Für beide Fächer unterscheidet sich das Pult deutlich von allen anderen Tischen in den Räumen. In den Klassenräumen findet sich in der Regel ein Holzpult, das deutlich stabiler, breiter und tiefer ist als die Tische der Schüler und Schülerinnen. Die Seiten sind durch hölzerne Seitenwände abgeschirmt, so dass bei den Deutschlehrkräften in Sitzposition hinter dem Pult die Beine verdeckt sind. Das Pult ist in der Regel der einzige Tisch im Raum, der eigene (abschließbare) Schubladen hat. Diese werden jedoch offenbar kaum genutzt. 224

8. RÄUME ALS PRODUZENTEN FACHKULTURELLER UND GEGENDERTER STRUKTUREN

Die Deutschlehrkräfte setzen sich – wenn sie sich überhaupt setzen – eher selten auf einen Stuhl hinter das Pult, sondern viel eher auf eine Ecke des Pults oder aber ganz unabhängig vom Pult auf andere Stühle im Raum bzw. an oder auf Tische der Lernenden. Dadurch wird dem Pult die Funktion des zentralen ‚Lehrkrafttisches’ etwas genommen. Zum Teil entsteht durch die Sitzposition der Deutschlehrkräfte eher auf Höhe der vorderen Tische der Eindruck eines geschlossenen Kreises. Häufiger wurde protokolliert, dass die Lehrkräfte das Pult als Ablage für ihr Unterrichtsmaterial wie Kopien, Heftstapel, Bücher etc. nutzen und dem Tisch damit eine rein funktionale Bestimmung zuweisen. Eine eindeutige Nutzung des Pults als spezifisch der Lehrkraft zugewiesener Tisch ist v. a. in der Klasse A zu beobachten, dort nutzt die Deutschlehrerin, die zugleich Klassenlehrerin ist, das Pult regelmäßig für allgemeine klassenorganisatorische Abläufe wie Zeugnisse und Wahlzettel einsammeln etc.. In Physik stellt das massive Pult, das baulich eher einem Tresen als einem Tisch gleicht, in beiden Fachräumen durch Größe und Material eine deutliche Trennlinie zwischen Schülern und Schülerinnen und Lehrkraft dar. Die Lehrkraft kann sich zwar der Klasse direkt zuwenden, ist aber bei jeglicher Tätigkeit hinter dem Pult und an der Tafel ab dem Oberkörper bzw. der Hüfte abwärts verdeckt. Ein Hinsetzen hinter dem Pult ist quasi unmöglich – und konnte auch nicht beobachtet werden –, da dann kaum noch Sichtkontakt zwischen Lehrkraft und Klasse möglich wäre. Ein Setzen auf eine der Pultecken, wie es bei den Deutschlehrkräften beobachtet werden konnte, ist in Physik auf Grund der Höhe des Pults und seines Abschlusses nach vorne hin mit der erhöhten Stufe ebenfalls nicht möglich. Die Physiklehrkräfte setzen sich generell selten hin, auch die anlehnende Haltung an eine Tischecke konnte bei ihnen kaum beobachtet werden. Die Physiklehrkräfte nutzen das Pult ebenfalls als Ablagefläche für Unterrichtsmaterialien, Stundenplanungen etc. Zum Teil wird das Pult auch für Versuchsaufbauten und -vorführungen genutzt. Besonders hierbei wird seine Funktion als zentraler Tisch untermauert.97 Durch die Positionierung des Pults und die von den Schülern und Schülerinnen oftmals gewählte Sitzordnung, bei der die erste Sitzreihe freigelassen wird, kann so in beiden Physikräumen ein beträchtlicher Gesprächs- und Interaktionsabstand zwischen der Lehrkraft und der Klasse entstehen. Im Extremfall erklärt die Lehrkraft etwas vorne hinter dem Pult an der Tafel und 97 In einem Fall ist protokolliert, dass ein Physiklehrer einen Versuchsaufbau auf dem Rollwagen aufgebaut hat und diesen auch hinten im Klassenraum stehen lässt (vgl. Cp00123g). Die Lernenden müssen in diesem Fall ihre zugewiesenen Sitzplätze verlassen und sich um den Wagen gruppieren, um den Versuch sehen und dem Unterricht weiter folgen zu können. In allen anderen Fällen, in denen der Rollwagen für einen Versuchsaufbau genutzt wurde, wurde dieser unmittelbar vor das Pult geschoben.

225

SCHULISCHE FACHKULTUREN UND GESCHLECHT

die Schülerinnen und Schüler sitzen erst ab der zweiten Reihe. Der Abstand könnte so bis zu 3,5 Meter betragen. Den Physiklehrkräften scheint dieser Abstand – auch schon ohne die freigelassene erste Reihe – als unterrichtskontextueller Nachteil durchaus bewusst. So merken die Lehrkräfte in den Interviews an, dass die Schüler und Schülerinnen nicht gut sehen könnten bzw. deshalb die Sitzordnung rotiert, weil dann „alle mal vorne sitzen, d. h. vielleicht dicht am Lehrer, aber auch näher bei Versuchen“ (LIp0105k). Auch den Schülern und Schülerinnen gegenüber formuliert der Physiklehrer der Klasse A dieses explizit. Der Lehrer führt gerade in das Thema Induktion ein, indem er einen Versuch am Pult vorführt. Die Klasse soll den Zeigerausschlag beobachten: Der Lehrer schließt das Gerät an die Leiterschaukel an, der Zeiger schlägt nicht aus. Erklärend zu seinem Tun führt der Lehrer aus, dass wenn er nun per Hand die Schaukel bewegt, der Zeiger leicht ausschlägt. Er fragt, was dies denn bedeute. Hendrin sagt ohne aufgerufen worden zu sein mit sicherer Stimme: „Es wird Strom erzeugt.“ Der Lehrer erwidert: „Ja richtig – und was müsste man nun machen, um mehr Strom zu erzeugen? Der Zeiger ist ja nur minimal ausgeschlagen – eigentlich konnten nur die Leute, die vorne sitzen, das sehen.“ (Ap0922v).

Dem Lehrer ist offensichtlich bewusst, dass nur wenige Lernende der Einführung vorne folgen können, dennoch nimmt er keine erklärenden Kommentare für diejenigen vor, welche den Ausschlag nicht einsehen können. Erklärungen folgen erst später, indem der Lehrer einen Merksatz wiederum an die Tafel schreibt (zu unterschiedlichen Auswirkungen der Sitzordnung auf die Beteiligungsmöglichkeiten beider Geschlechtergruppen vgl. Kapitel 8.3.4.). In keinem Fall konnte eine von der Norm abweichende Nutzung des Pults beobachtet werden, so dass davon ausgegangen werden kann, dass zwischen Lehrenden und Lernenden weitgehende Zustimmung zur gemeinsam zugeschriebenen fachkulturellen Funktion des Pults besteht.

8.2. Fachräume – Von Gastgebern und Gästen Schulischer Alltag ist durch Ortswechsel in relativ kurzen Zeitabständen charakterisiert. Dabei greifen zwei zentrale örtliche Nutzungsmuster, diese bilden sich auch in den Fächern Deutsch und Physik ab. Für die beiden Unterrichtsfächer gelten zunächst bezogen auf die Unterrichtsorte generell unterschiedliche Nutzungsvoraussetzungen: Für das Unterrichtsfach Physik findet der Unterricht für alle Schulklassen in speziell für dieses Fach eingerichteten Fachräumen statt, die den Klassen per Raumplan für ein Schuljahr zugewie226

8. RÄUME ALS PRODUZENTEN FACHKULTURELLER UND GEGENDERTER STRUKTUREN

sen werden, der Deutschunterricht findet im Klassenraum der jeweiligen Klassen statt. Den Schülern und Schülerinnen kommt somit für Physik vergleichsweise ein ‚Gäste’-Status zu, während sich die Fachlehrkräfte in der ‚gastgebenden’ Position befinden und immer in denselben – ‚ihren’ – Räumlichkeiten unterrichten, in Deutsch gestaltet sich dieses Bild genau umgekehrt. Diese Tatsache findet ihren Ausdruck in unterschiedlichen Bereichen der schulischen Fachkulturen: Für die Klassenräume ist üblicherweise der Zugang an die Regelung des ‚Schlüsseldienstes’ gekoppelt: Zu Beginn eines jeden Schuljahres werden – neben weiteren Ämtern – ein bis zwei Verantwortliche aus jeder Klasse gewählt bzw. melden sich freiwillig, die den Schlüsseldienst übernehmen. Das beinhaltet die Verantwortlichkeit dafür, dass der Klassenraum abgeschlossen wird, wenn die Klasse den Raum verlässt, also bei allen Unterrichtsstunden, die in Fachräumen stattfinden, sowie möglichst bei Unterrichtsschluss, und wieder aufgeschlossen wird, wenn die Klasse morgens kommt bzw. die folgende Stunde im Klassenraum Unterricht stattfindet. Wenngleich alle Lehrkräfte der Schule in der Regel mit ihrem Generalschlüssel jeden Klassenraum auf- und abschließen können, liegt die Verantwortung für die Klassenräume doch in der Regel bei den Schülerinnen und Schülern. Für den Physikunterricht gibt es keine vergleichbare Zuständigkeit von Seiten der Lernenden, da hier ausschließlich die Physiklehrkräfte Schlüssel für den Raum besitzen. Da die Räume nur mit Schlüssel oder von innen per Hand zu öffnen sind, können die Klassen sie also nur betreten, wenn die Physiklehrkräfte ihnen öffnen, d. h. sie empfangen oder mindestens zeitgleich mit ihnen den Raum betreten. Diese Tatsache zeigt auch in einer weiteren schulischen ‚Normal-Situation’ Wirkung: zu spät kommende Schülerinnen und Schüler können die Fachräume nicht ohne Hilfe/ Zustimmung der Lehrkraft betreten. Sie werden deutlicher veröffentlicht, als dieses in den Klassenräumen der Fall ist, indem sie nur hinein gelassen werden können, wenn die Physiklehrkraft das Unterrichtsgeschehen unterbricht, um von innen zu öffnen. Die ‚Herrschaft’ über die Tür zeigt sich auch darin, dass die Lernenden in keinem Fall ihren Klassenkameradinnen oder Klassenkameraden die Tür selber öffnen. Hingegen zeigt folgendes Protokoll eine Situation, in der ein Physiklehrer verspäteten Schülern gegenüber bewusst ausspielt, dass sie nicht alleine in den Raum kommen konnten: Es klopft an der Tür, Henning springt sofort von seiner Bank auf und will öffnen. Der Lehrer hält ihn zurück: „Bleib sitzen und lass die Tür zu, ich will jetzt nicht mehr gestört werden.“ Ich glaube, er sagt auch noch etwas von einer Abmachung, die sie hätten. Henning verharrt noch stehend und fragt: „Darf ich wenigstens sehen, wer draußen ist?“ Lehrer dazu: „Nein.“ [...] Der Lehrer geht jetzt selber zur Tür, als

227

SCHULISCHE FACHKULTUREN UND GESCHLECHT

es energischer klopft. Er öffnet sie ganz kurz und ruft nur raus: „Ihr könnt noch einen Moment draußen warten.“ (Ap01201k).

In die Klassenräume können sie hineinschlüpfen, ohne notwendigerweise in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu geraten. Folgendes Beispiel mag dieses verdeutlichen: Mareika kommt mitten in der Stunde, sie entschuldigt sich für ihre Verspätung und murmelt etwas von einer Entschuldigung, die sie nachreichen könne. (Bd91012d).

Von dem Deutschlehrer ist keine Reaktion auf Mareikas Verspätung protokolliert, so dass vermutet werden kann, dass ihr Zuspätkommen den Unterrichtsfluss nicht weiter stört. Auch im Hinblick auf die Raumgestaltung zeigen die beiden Rollen Gast– GastgeberIn Wirkung: Lernende und Lehrende im Fach Physik teilen augenscheinlich die Auffassung, dass die Gestaltung der Fachräume allein im Ermessen des Physikfachkollegiums liegt. Keine der Klassen identifiziert sich offenbar mit den Räumlichkeiten als ‚ihren’ Räumen und beansprucht eine (in den Klassenräumen zumindest etwas stärker erkennbare) bewusste Gestaltung. Umgekehrt findet über die beschriebene sparsame und fachbezogene Gestaltung hinaus auch keine andere Form der Raumgestaltung durch die Lehrkräfte statt – sei es als Bestandteil oder auch außerhalb des Unterrichts. Auch für die Lehrkräfte steht möglicherweise dahinter, dass zu viele verschiedene Klassen wechselweise die Räume nutzen und eine persönlichere Gestaltung der Räume somit nicht möglich oder nötig scheint. Die realisierte Form von nüchterner, kalter Sachlichkeit kann jedoch auch als durchaus bewusste (oder unbewusste, aber unhinterfragte) Gestaltung, nämlich als spezifischer Ausdruck der Physikfachkultur verstanden werden. Für das Fach Deutsch gestaltet sich die Rollenverteilung genau umgekehrt: Die Klassen erwarten die Deutschlehrkräfte in ‚ihrem’ Klassenraum, in dem sie häufig bereits in der vorhergehenden Stunde Unterricht hatten, oder den sie während der Pausen aufgesucht haben. Somit geben die Schülerinnen und Schüler zu einem großen Ausmaß die Atmosphäre vor, in der die Lehrkräfte die Klasse antreffen. Wenngleich in allen drei Klassen vornehmlich der Eindruck entsteht, dass der Gestaltung des Klassenraums sowohl von Seiten der Lehrkräfte als auch von Seiten der Klassen selbst eher wenig Aufmerksamkeit und Interesse zukommt, lassen sich im Vergleich mit den Physikräumen deutliche Unterschiede im Grad der klassenbezogenen und auch variablen Gestaltung erkennen. In allen Klassenräumen der beobachteten Klassen findet sich Dekoration und Ausgestaltung, die von den Klassen selber vorgenommen 228

8. RÄUME ALS PRODUZENTEN FACHKULTURELLER UND GEGENDERTER STRUKTUREN

wurde. Explizite Bezüge zum Deutschunterricht in Form von Postern, Ergebnissen oder Hilfestellungen aus dem Unterricht sind allerdings in keiner Klasse protokolliert worden. Den Deutschlehrkräften wird von den ‚gastgebenden’ Klassen auch im Hinblick auf das Mobiliar die Raumatmosphäre deutlicher vorgegeben, als dies in Physik, in der ‚Gastrolle’ der Klasse, der Fall ist. Zunächst unterscheidet sich das schuleigene Mobiliar für die Klassenräume von dem des ‚normalen’ Physikraums als dem zentraleren Raum für den Physikunterricht deutlich, auch ohne dass die Schülerinnen und Schüler darauf viel Einfluss hätten: In den Klassenräumen finden sich in aller Regel hölzerne Schultische und Stühle, denen anzusehen ist, dass sie schon diverse Klassengenerationen durchlaufen haben. Im Physikpraktikumsraum stehen neuere und deutlich größere Tische aus hellem Oberflächenmaterial mit Metallbeinen. Die Tischreihen im Physikhörsaal hingegen lagen zwar eher unter dem Standard der Klassenraumtische, die neu installierten Tischreihen liegen jedoch deutlich darüber. Im Hinblick auf weiteres Mobiliar im Raum weichen die Vorgabemöglichkeiten durch die Schülerinnen und Schüler bei beiden Fächern voneinander ab: Die Schränke lassen deutliche Qualitätsunterschiede und Nutzungszuschreibungen erkennen. Die Schränke im Physikpraktikumsraum dienen ausschließlich der Aufbewahrung von Fachmaterialien und stehen den Schülerinnen und Schülern somit nicht zur eigenen und selbstbestimmten Nutzung zur Verfügung. Die Schränke in den Klassenräumen werden hingegen vorwiegend von den Schülern und Schülerinnen genutzt, wenn die Deutschlehrkräfte diese, etwa zur Aufbewahrung von Büchern im Klassensatz o. Ä., für ihr Fach nutzen möchten, sprechen sie das mit den Klassen ab.

8.3. Sitzordnungen als Geschlechterarrangements Sitzordnungen bestimmen für die einzelnen Schülerinnen und Schüler den Ort im Raum und die Verortung im sozialen Arrangement der Klasse. Beide regulieren die Interaktionsmöglichkeiten zwischen Lehrkräften und Schülerinnen und Schülern sowie zwischen Schülerinnen und Schülern untereinander. Doing gender greift für die Anordnungen als vorrangiges Anordnungskriterium, dies gilt für Lernende ebenso wie für Lehrende. Die Beispiele verdeutlichen jedoch auch, dass die Klassenkameradinnen und Klassenkameraden durchaus situativ und kontextuell differenzieren, wenn es um die Kriterien der Sitzanordnungen geht. In wenigen Fällen, welche vor allem für die Klasse C protokolliert sind, weichen beide Seiten von Geschlecht als zentralem Zuordnungsprinzip ab, z. T. entstehen Abweichungen mit zunehmendem Alter durch geschlechterheterogene Freundschaften. Deutlich ist dies jedoch auch in den anderen Klassen zu beobachten, wenn die Lernenden das Anordnungs229

SCHULISCHE FACHKULTUREN UND GESCHLECHT

kriterium des doing gender durch ein vorrangiges doing student ersetzen. Die Darstellungen zu den Zuordnungsprozessen in den Fächern greifen diesen Aspekt auf.

8.3.1.

Klasse A: Geschlechtertrennung

Klasse A ist eine zahlenmäßig jungendominante Klasse (vgl. zum Sample Kapitel 4 dieser Arbeit). Die sechs Mädchen der Klasse A sitzen im 8. Jahrgang im Klassenraum alle zusammen am rechten Rand des Klassenraums und stellen damit eine deutliche Geschlechtertrennung her. Diese wird auch aufrechterhalten, wenn mehr Sitzplätze als Personen vorhanden sind. Dann bleiben in einer Bank eher Plätze frei, als dass sie mit Personen des anderen Geschlechts ‚aufgefüllt’ würden, wie beispielsweise im Physikraum Gudrun und Nicole hätten sich hier auf die freien Plätze in der ersten bzw. zweiten Reihe neben Alexander bzw. zwischen Mathias und Siegfried setzen können. Stattdessen besetzen sie eine eigene Reihe, in der wiederum ein Platz frei bleibt. Wird dieses Muster einmal durchbrochen, so arrangieren sich die Beteiligten dennoch ‚grenzziehend’. Im Physikunterricht saßen Klaus und Nicole in einer Dreierreihe, mit einem leeren Platz zwischen sich. Dieser freie Platz zwischen sich und Nicole genügte jedoch offenbar noch nicht, Klaus wendet sich zusätzlich durch seine Körperhaltung deutlich von Nicole ab: Klaus sitzt etwas nach hinten gelehnt und relativ weit von der am selben Tisch sitzenden Nicole. Er sitzt auch in die andere Richtung gewandt, so dass seine Beine über den Tisch hinaus nach links gerichtet sind. (Ap80702d)

Abbildung 6: Sitzplan im Physikraum im Schuljahr 1998/99. Grau unterlegt: Plätze der Mädchen, –: freier Sitzplatz (Sara, Ali, Sergio und Sören fehlen)

Gemauerter Tresen mit Anschlüssen

230



Alexander

Sven

Mathias



Siegfried



Gudrun

Nicole

– –

Klaus –

Christof –

Fest installierte Anschlüsse

Steffen

Sandro

Mustafa

Helmut

Kurt

Achmed

Silvia

Nathalie

Susanne

Joachim –

– –

Veith –

8. RÄUME ALS PRODUZENTEN FACHKULTURELLER UND GEGENDERTER STRUKTUREN

Sitzordnungen werden in der Regel ausgehandelt. Das heißt zunächst einmal, die Jugendlichen selber stellen die geschlechtshomogene Gruppierung her. In folgendem Beispiel wird das deutlich: Als die Klasse in den Raum kommt, rennen sie rein und sind ganz wild auf einen Platz am Computer. [...] Die Lernenden verteilen sich erst einmal auf die [...] vorhandenen Computer. Kurt stellt sich zuerst an den PC, an dem auch Silvia und Nathalie sind, aber Nathalie stumpt ihn weg. Er setzt sich dann an den hinteren PC. (Ai80916d)

Im Physikraum war ein ‚rotierendes System’ eingeführt worden, das heißt, der Lehrer erwartet, dass die Schülerinnen und Schüler, die in einer Reihe sitzen, jeweils in der folgenden Stunde eine Reihe nach vorn rutschen – wobei die jeweils erste Reihe dann zur letzten nach hinten wechselt. Auf diese Weise will er sichern, dass alle wenigstens ab und zu mal sehen können, was bei Experimenten vorgeführt wird. Weder die Schülerinnen und Schüler noch der Lehrer selbst praktizieren dieses System allerdings konsequent. Zwar zeigen die Sitzpläne der Physikstunden, dass eine gewisse Form des Rotierens vorgenommen wird, da aber keine strikte Sitzordnung herrscht, sondern innerhalb der Sitzreihen öfter mal andere zusammensitzen, funktioniert das Verfahren nur bedingt. Der Lehrer selbst besteht auch nicht immer darauf, wie folgende Szene zeigt: Als wir in den Physikraum gehen, ruft Susanne schon: „Heut sitzen wir vorne.“ Es gibt wohl Streit, wer vorne sitzt. Herr Blümer sagt: „Mir ist es egal.“ Silvia schlägt einem mit dem Ordner in die Seite, der aber schon dabei war, Platz zu machen. Nun sind die Plätze ausgehandelt. (Ap91103d)

In dieser Szene bestehen die Schülerinnen darauf, dass sie laut rotierendem System dran seien, vorne zu sitzen, wogegen offensichtlich einige Schüler verstoßen haben. Hier erhalten sie keine Unterstützung von Seiten des Lehrers, können sich aber dennoch durchsetzen. Deutlich wird an dieser Stelle, dass den Lernenden offensichtlich sehr bewusst ist, dass es im Physikunterricht im Sinnen eines doing student wichtig ist, vorne zu sitzen. Üblicherweise ist dies nicht gerade die Position im Raum, welche sich die Jugendlichen freiwillig wünschen. Zu Beginn des Schuljahres 2000/2001, als die Klasse A in den 10. Jahrgang wechselt, gibt die Sitzordnung nun keine strikte Geschlechtertrennung mehr wieder. Nach wie vor gibt es zwar „auf der linken Seite eine Jungenriege und auch einige Mädchentische, aber es gibt auch vier gemischtgeschlechtliche Tische“ (Ay00831v). Als die Klasse kurze Zeit später dann einen neuen Klassenraum bekommt, führt dies zu einer erneuten deutlicheren Geschlechtertrennung in der Sitzordnung. 231

SCHULISCHE FACHKULTUREN UND GESCHLECHT

Die Sitzordnung ist im Gegensatz zu der im alten Klassenraum sehr geschlechtshomogen. Von der Tafel aus gesehen sitzen links die Mädchen und rechts die Jungen. Nur Kurt durchbricht das Schema, er sitzt auf der Mädchenseite zwischen Elisa und Sigrun. (Am01004v)

Allerdings fehlen in der Stunde auch vier Schülerinnen und ein Schüler. Es wird im 10. Schuljahr für die Klasse sehr typisch, dass immer viele Schülerinnen und Schüler abwesend sind, so dass eine stabile Sitzordnung kaum zustande kommt. Auch für die Lehrkräfte scheint die geschlechtergetrennte Sitzordnung der Normalfall zu sein, Abweichungen werden explizit betont. So wird Klaus’ Platz „unter den Mädchen“ von der Lehrerin in einer Stunde besonders hervorgehoben. Die Lehrerin prüfte die Liste der Wahlfächer für die kommende Zeit, wozu sie die einzelnen Schülerinnen und Schüler noch einmal aufrief und kontrollierte, ob die Angaben auf ihrem Zettel stimmten: Bei Klaus fragt sie nach, ob jetzt Darstellendes Spiel bleibt. Als sie ihn nicht sofort sieht, sagt sie: „Ah, Klaus hat sich bei den Mädchen versteckt!“ Er sitzt neben Susanne, auf der anderen Seite sitzen Antje und Silvia. (Ad00214k)

Wenngleich man vor allem in der Entwicklung von der 8. bis zur 10. Klasse erkennen kann, dass ein Nebeneinandersitzen von Mädchen und Jungen möglich wird, haben wir es dennoch mit einer in der Regel geschlechtsgetrennten Ordnung zu tun, deren Durchbrechen mit dem Risiko verbunden ist, hohe Aufmerksamkeit zu erwecken und in den Rahmen der ‚richtigen’ Geschlechtszugehörigkeit zurückgedrängt zu werden.

8.3.2.

Klasse B: Aushandlungen

In ihrem Klassenraum sitzt die Klasse B im 7. Jahrgang jeweils an Zweiertischen zusammen, die frontal zum Lehrer ausgerichtet sind.98 Der Klassenlehrer legte zunächst die Sitzordnung der Klasse fest. Im Gespräch erklärt er dies als Versuch, einen günstigen Einfluss auf die Klassengemeinschaft zu nehmen. Ohne seinen dirigierenden Eingriff könne es zu Außenseiterpositionen kommen (vgl. Bz81007d). Nach dieser Sitzordnung (vgl. Abbildung 7) sitzen nur zwei der Jungen, Joe und Frederik, zusammen, alle anderen Jungen sitzen jeweils neben einem Mädchen. Auf diese Weise gibt es sechs gemischtgeschlechtlich besetzte

98 Nur die Französischlehrerin lässt vor ihrem Unterricht die Tische in eine Hufeisenform stellen. Wie sie im Gespräch sagt, sei es ihr im Sprachenunterricht wichtig, dass die SchülerInnen untereinander Blickkontakt hätten, des Weiteren ändere sie mehrmals im Laufe des Schuljahres die Sitzordnung (vgl. Bz81009d).

232

8. RÄUME ALS PRODUZENTEN FACHKULTURELLER UND GEGENDERTER STRUKTUREN

Tische, einen ‚Jungentisch’, fünf ‚Mädchentische’ und eines der Mädchen, Jolanda, sitzt allein. Abbildung 7: Sitzplan der Klasse B im Klassenraum bis 7.10.98. Grau unterlegt: Plätze der Mädchen, fett gerahmt: gemischtgeschlechtliche Tische, –: freier Sitzplatz

Pult Joke

Erik

Nina Marianne

Joe

Frederik

Olin

Almut

Stefanie

Dirk

Sabine

Melanie

Mark

Sieghard Melinda

Juliana

Sonja

Knut

Lara

Ariane

Kerstin Mareika

Jolanda



In der zweiten Oktoberwoche, nach den Herbstferien, wird die Sitzordnung geändert (vgl. Abbildung 8). Von dieser Klassenstunde liegen Protokolle vor (vgl. Bb81007n und By81007d), in denen ein Eindruck davon vermittelt wird, wie die Schülerinnen und Schüler aushandeln, wo sie in der Klasse sitzen. Die Geschlechtszugehörigkeit spielt dabei für die Jugendlichen wie auch für den Lehrer eine erhebliche Rolle: Der Lehrer hatte bereits angekündigt, dass Schülerinnen und Schüler ab den Herbstferien wieder umgesetzt werden würden. Nun schlägt er vor, dass die Umsetzung in dieser Stunde gemacht werden könnte. Die Klasse stimmt zu. Der Lehrer erklärt, dass die neue Umsetzung im Prinzip freiwillig erfolgen würde, abgesehen von einigen Ausnahmen. Er erklärt näher: „Einige sollen nicht hinten sitzen.“ (Nach der Stunde erklärt er uns, dass er die Sitzordnung stark gelenkt hätte, insbesondere was die Zusammensetzung der Schülerinnen und Schüler betrifft.) Er erkundigt sich nun bei der Klasse, ob er bereits irgendwem „etwas versprochen“ habe. Er sagt, dass er es nicht mehr so genau wisse. Einige Jungen und Mädchen melden sich (ich glaube etwa vier oder max. fünf, teilweise auch erst verzögert). Als erstes sagt eine Schülerin, dass er versprochen habe, dass [...] zusammensitzen könnten (ich glaube sie nennt drei Namen). Es sind drei Mädchen und der Lehrer stimmt nur kurz mit einem: „O.K.“ zu. Schließlich kommt Sieghard dran. Er sagt mit neutraler, leicht aufgeregter Stimme: „Sie haben versprochen, dass alle Jungen zusammen in der Reihe hinten sitzen können.“ Der Lehrer lacht und sagt: „Nee, das hab ich nicht verspro-

233

SCHULISCHE FACHKULTUREN UND GESCHLECHT

chen. Bestimmt nicht!“. Marianne wirft nun leicht provozierend ein, dass er XX (unverständlich, N.G.) versprochen hätte. L weist auch das amüsiert von sich und sagt, dass er das nicht versprochen habe. Als Knut hinten sitzen möchte, sagt der Lehrer etwas von: „Solange bis Du wieder negativ auffällst.“ Knut erwidert: „Als wäre ich jemals negativ aufgefallen!“ und dann beschwert er sich kokettierend bei dem Lehrer, dass die Gäste (er meint Damaris und mich und sieht kurz zu uns nach hinten) jetzt einen schlechten Eindruck von ihm bekommen würden. […]. Es werden nun von den Schülern und Schülerinnen weitere Vorschläge bezüglich des Sitzplans gemacht, wobei der Lehrer auf jeden Vorschlag eingeht, nachdenkt und verhandelt. Es werden einige Wünsche vorgetragen, wovon ich nur wenige mitschreiben kann, da sie zu schnell vorgebracht werden und ich den ‚Verhandlungen“ nicht folgen kann: Sonja, Sabine und Juliana. Knut neben Mark in der vorletzten Reihe. Sieghard möchte „hier“ bei Frederik bleiben (er sitzt neben Melinda und auf der anderen Seite des Ganges sitzt Frederik), Mareika und Almut wollen neben Melanie (Als der Lehrer dem zustimmt, ruft Knut, dass doch auch noch XX (unverständlich, N.G.) neben Melanie sitzen wolle, der Lehrer nimmt das zur Kenntnis, ändert aber zunächst nichts am Plan). Olin sagt nun, wer „dort sitzen soll, wo Almut saß“ (Almut sitzt nach wie vor neben ihm). Mark wirft ironisch ein, dass er neben Melanie sitzen wolle (er sitzt neben Melanie). Es wird nun wild gestikuliert und verhandelt, wer wo sitzen könnte. Der Lehrer löst ein Sitzproblem von Mareika, Almut und Melanie, indem er sagt, dass er vorschlagen würde, dass die es sich aussuchen dürften und zusammensitzen könnten, weil sie ja das letzte mal „in den sauren Apfel haben beißen müssen“. (Ich frage mich warum und denke, dass sie neben Melinda die einzigen Mädchen sind, die neben Jungen sitzen.). Marianne wiegt ab, mit Blick nach hinten zu Sonja, Juliana und Jolanda: „Oh, nicht in die Gammelecke!“ Dann aber fällt ihr ein: „An die Anlage?“. Juliana will es schmackhaft machen und ruft: „Hier, der ganze Schrank für Dich allein!“. Einen Moment ist es recht still in der Klasse. [...]. Nach Knut geht der Lehrer rüber zu Mareika, die weint. L fragt sie, was denn los sei. Sie kann vor Schluchzen gar nicht richtig reden. Sie sagt etwas, dass sie es ungerecht und blöd findet, wo sie sitzt. L verspricht ihr, dass er sie vormerkt für die nächste Umsetzung. Mareika ist aber nicht getröstet. Er spricht einige Zeit mit ihr, sie weint aber weiter und sagt nichts mehr. Schließlich sagt der Lehrer: „O.K., dann rück den Tisch ran. Aber ich will nichts hören!“. Mareika schiebt sofort ihren Tisch an den Tisch von Almut und Melanie und beruhigt sich. Sie tauscht nun den Platz mit Almut, so dass Mareika an der Außenwand sitzt, Melanie in der Mitte und Almut auf der Klassenraum-Seite. Dem Lehrer fällt nun auf, dass Erik noch keinen Platz hat, weil er nicht da ist. Er geht auf Knut zu und fragt diesen, ob das ein Problem werden würde. Knut ist nicht richtig interessiert und antwortet etwas gelangweilt: „Vielleicht.“. Der Lehrer fragt Dirk, ob er mit Erik klar kommt. Als der bejaht, sagt der Lehrer, dass Erik neben Dirk sitzen soll. (Erik setzt sich aber später an den hintersten Tisch, wo auch erst Mareika und dann Almut sitzt.) Nun ist alles geklärt. (Bb81007n)

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8. RÄUME ALS PRODUZENTEN FACHKULTURELLER UND GEGENDERTER STRUKTUREN

Abbildung 8: Sitzplan der Klasse B im Klassenraum ab 8.10.98. Grau unterlegt: Plätze der Mädchen, fett umrahmt: gemischgeschlechtliche Tische, –: freier Sitzplatz

Pult Juliana

Sonja

Sieghard Frederik

Olin

Joe

Ariane Marianne

Stefanie

Lara

Melinda

Joke

Jolanda



Dirk

Knut

Mark

Kerstin

Sabine

Erik

Nina

Almut

Melanie Mareika

Die Freiwilligkeit der Sitzordnung wird vom Lehrer betont und gegenüber den Schülerinnen und Schülern hervorgehoben. Zugleich schränkt er sie ein – allerdings nur bezogen auf die Frage, wer hinten oder vorne sitzen müsse. Offensichtlich wird die Aushandlung der Sitzordnung wohl von beiden Parteien als Versuch der Durchsetzung der je eigenen Interessen angesehen. Dass der Lehrer dabei über eine Machtposition verfügt, ist allen Beteiligten bewusst – er selbst offenbart dies, indem er nachfragt, was er „versprochen habe“. Die Interessen, die hier eingebracht werden, beziehen sich zum einen auf die Frage, wer mit wem zusammen sitzen darf oder muss, zum anderen auf den Ort, an dem man sitzen darf oder muss. Geschlecht ist bei diesen Aushandlungen eine relevante Kategorie: Von Sieghard wird behauptet, es hätte ein Versprechen gegeben, die Jungen wieder zusammen und in der letzten Reihe sitzen zu lassen. Der Lehrer dementiert dies zwar, im Endeffekt erreichen die Jungen jedoch zumindest, dass sie alle zusammen sitzen – die letzte Reihe allerdings erkämpfen sich die Mädchen. Knut und Mark kokettieren mit der Sitznachbarschaft mit Melanie, die Ironie, mit der sie dies tun, zeigt, wie wenig eine solche Sitzordnung akzeptierbar ist. Genau dies verstärkt der Lehrer durch seinen Hinweis, die Mädchen hätten beim letzten Mal – als er nämlich geschlechtsheterogene Paarbildungen angeordnet hatte – in „den sauren Apfel“ beißen müssen. Der „saure Apfel“ ist dabei eine Metapher für Unerwünschtes, Erzwungenes, und gerade nicht für Normales oder gar Erfreuliches – die Verwendung dieser Metapher zeigt klar, dass Sitzordnungen eine institutionelle Reflexivität in der Herstellung von Zweigeschlechtlichkeit haben (vgl. hierzu auch Goffman 2001).

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SCHULISCHE FACHKULTUREN UND GESCHLECHT

Im 8. Jahrgang durften sich die Schülerinnen und Schüler zunächst ihre Sitzplätze selbst aussuchen. Allerdings schien es Probleme mit dieser Sitzordnung zu geben, die daher rührten, dass sie sich viel miteinander unterhielten, statt ihre Aufmerksamkeit dem Unterricht zu widmen. Der Klassenlehrer äußert sich in dieser Richtung: Am Anfang konnten sie erst mal so sitzen, wie sie wollten. Aber dann hat das nicht geklappt. Es gab auch Beschwerden von anderen. (Ich glaube er meint Lehrer.) Und dann habe ich sie umgesetzt, wo sie sich dann nicht ganz so viel zu sagen haben. (Bz91207d)

Der neue Sitzplan bringt eine Änderung hinsichtlich der Geschlechterverteilung. Die Schüler und Schülerinnen hatten von sich aus zunächst mehr geschlechtshomogene Tischgemeinschaften gebildet als nach der neuen Sitzordnung. Aber auch in dieser neuen Verteilung ist eine geschlechtliche Abgrenzung der Jungen und Mädchen untereinander zu beobachten, wie in folgendem Protokollauszug verzeichnet ist: Mir fällt auf, dass die beiden Tischhälften bei den gemischtgeschlechtlichen Sitzpaaren deutlich angegrenzt sind, die gleichgeschlechtlichen Paare sitzen eher auch dem Tischnachbarn bzw. der -nachbarin zugewandt bzw. auch über die (imaginäre) Mittellinie des Tisches hinüber. Die gemischtgeschlechtlichen Paare sitzen eher gerade und nach vorne gewandt, bis auf Knut und Melinda, die mehr auf ihrem Tisch liegen, aber jede/r nur auf seiner/ihrer Seite. (Bb91201kVideo)

Auch die Lehrkräfte nutzen Gelegenheiten, geschlechterhomogene Sitzanordnungen zumindest für den Ausnahmenfall wieder herzustellen. Die Mehrheit der Schülerinnen und Schüler agiert dabei übereinstimmend. Folgende Szene aus dem Deutschunterricht belegt dieses: Herr Weiland gibt eine Aufgabe, die in Paargruppen bearbeitet werden soll. Er schaut sich um, wer zusammenarbeiten kann. Die meisten sitzen sowieso zu zweit am Tisch, [...] dabei gibt es neun „geschlechterhomogene“ Tische und drei „heterogene“, Jolanda sitzt alleine. Herr Weiland sagt: „Jolanda, Du arbeitest mit Nina.“ Der Platz neben Nina ist frei, weil ihr Nachbar Olin nicht da ist. Jolanda verzieht unwillig das Gesicht und wendet etwas ein. Nina, die drei Tischreihen vor ihr sitzt, ruft nach hinten: „Olin ist nicht da!“ Schließlich nimmt Jolanda ihre Sachen und setzt sich neben Nina. Jemand (Erik?) ruft: „Und was ist mit Joe?“ Der Nachbar von Joe, Mark, ist nämlich auch nicht da. Herr Weiland antwortet: „Joe arbeitet alleine.“ Dabei läuft er auf die andere Seite der Klasse, an die Stelle, wo Joe sitzt. Jemand schlägt vor, dass Frederik mit Joe arbeitet. Frederik sitzt neben Almut, eine Tischreihe hinter Joe. Herr Weiland fragt: „Möchtest Du alleine, Almut?“ Almut scheint einverstanden, denn nun setzt sich Frederik an Joes Tisch. In dieser Konstellation

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8. RÄUME ALS PRODUZENTEN FACHKULTURELLER UND GEGENDERTER STRUKTUREN

bleiben die Tisch- und Arbeitsgruppen dann bestehen. Später, als Mark doch noch kommt, sitzt Mark dann wieder an seinem normalen Platz neben Joe und Frederik geht wieder nach hinten an seinen Platz neben Almut. (Bd90930d)

Als Olin zur zweiten Deutschstunde doch noch erscheint, bestätigt sich das Vorgehen des Lehrers: Olin wird an den Einzelplatz von Jolanda gesetzt, obwohl er versucht hatte, sich seinen Stammplatz vorne neben Nina zu erobern. Der Lehrer lässt jedoch Jolanda dort und erhält damit das geschlechterhomogene Paar aufrecht, anders als auf der anderen Klassenseite bei Mark, bei dem ein geschlechterheterogenes Paar nicht zu vermeiden gewesen wäre. Deutlich wird, dass der Lehrer versucht, auf jeden Fall geschlechtshomogene Sitzpaare herzustellen, es kommen nur Sitzplatzverschiebungen in Frage, bei denen dieses Kriterium aufrechterhalten wird. Dabei scheint es auch naheliegender, einen geschlechterheterogenen Sitzplatz aufzulösen, um daraus ein geschlechterhomogenes Arbeitspaar und eine gegengeschlechtliche Einzelperson arbeiten zu lassen, als das heterogene Paar und eine Einzelperson bestehen zu lassen. Auch die Schülerinnen und Schüler haben dagegen keine Einwände. Rückgängig gemacht wird das Muster erst, als Mark doch noch kommt und ‚seinen’ Platz beansprucht. Dies scheint Vorrecht gegenüber der Ausnahmezuteilung zu haben, denn daraufhin geht Frederik zurück zu Almut. Bei der Anordnung geschlechterhomogener Sitzräume handelt es sich also offenbar um eine ritualisierte Praktik, welche die Beteiligten zum großen Teil mittragen bzw. durch eigene Vorschläge stützen. Es gibt jedoch auch Widerstände: Jolanda, die sich zunächst gegen den vorgeschlagenen Sitzplatzwechsel wehrt, oppositioniert ebenso zunächst kurz gegen die angewiesene Konstellation wie Olin, welcher den heterogenen Stammplatz einem Einzeltisch vorzieht. Jolanda und Olin fügen sich jedoch letztlich den Lehrervorschlägen, Jolanda stützt auch Olins Wunsch nicht, obwohl sie damit die Möglichkeit gehabt hätte, auch ihren Einzeltisch wieder zugewiesen zu bekommen. Die Motive für die Sitzwünsche der beiden, nach denen sie nicht so übereinstimmend wie die anderen dem vorrangigen Prinzip der grenzziehenden Geschlechteranordnung entsprechen, bleiben hier offen, zu vermuten wäre das Kriterium der ‚Sitztradition’, welches ebenso greifen würde wie bei Mark. Im 9. Jahrgang gibt es ein Losverfahren für die Verteilung der Sitzplätze im Klassenraum. Interessanterweise entsteht dadurch eine weitgehend geschlechtsgetrennte Sitzordnung. Dass diese ausgeloste Sitzordnung nicht so ganz auf Zufall beruht, offenbart Ariane im Gespräch: Ariane erklärt mir nun, dass die Sitzordnung gelost wurde. Ich frage sie wie das Losverfahren ausgesehen hat und sie erklärt, dass jeder Platz eine Nummer bekom-

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men hat und den Schülern somit die Plätze durch das Los zugeteilt wurden. Ich frage weiter, wie es denn dann kommt, dass fast alle Mädchen auf der rechten und fast alle Jungen auf der linken Seite sitzen, worauf sie antwortet, sie hätten Glück gehabt. Dann räumt sie ein, dass Marianne zunächst auf der ‚Jungenseite‚ und einer der Jungen zunächst auf der ‚Mädchenseite‚ saß (ich erinnere leider nicht wer). Die beiden seien aber so unzufrieden gewesen, dass die Klassenlehrerin ihnen erlaubt hat die Seiten zu wechseln. (Bw01110j)

Demnach wurde nach der Verlosung der Sitzplätze noch einmal in der Klasse die Sitzordnung verhandelt. Der Geschlechtszugehörigkeit der Lernenden kommt hier eine große Bedeutung zu, sie zeigen eine deutliche Neigung, sich in geschlechtshomogenen Gruppen zusammenzusetzen. Marianne mochte nicht auf der ‚Jungenseite’ bleiben, ein Junge wiederum nicht auf der ‚Mädchenseite’. Die Klassenlehrerin ließ sich auf diese Begründung ein und erlaubte den beiden, sich umsetzen. Ilka sitzt zwischen den beiden Jungen Stephan und Frederik, sie soll dort sitzen, damit diese sich nicht so viel miteinander während des Unterrichts unterhalten können. Sobald aber einmal ein Platz auf der ‚Mädchenseite’ frei ist, wechselt sie hinüber, weil auch sie nicht gern zwischen Jungen sitzt. Wie sie sagt, wird dies von vielen Lehrkräften akzeptiert (vgl. Bw01110j). In der Klasse B steuern die Lehrkräfte die Sitzordnung verhältnismäßig stark. Ein Argument ist dabei, auf diese Weise zu verhindern, dass Schüler und Schülerinnen im Unterricht miteinander schwätzen können. Auch gegen die Steuerungen bzw. zum Teil durch ein gegenkulturelles Unterlaufen der verordneten Sitzvorschriften stellen die Schülerinnen und Schüler häufig geschlechtsgetrennte Ordnungen her.

8.3.3.

Klasse C: konkurrierende Prinzipien

Im 7. Jahrgang zeigt sich im Sitzplan der Klasse C eine Geschlechtertrennung, die allerdings durch die beiden hinteren Tische jeweils durchbrochen wird (vgl. Abbildung 9). Auf der ‚Jungenseite’ sitzen hinten Monja und Anne zusammen und auf der ‚Mädchenseite’ Oliver, Joshua und Peter.

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8. RÄUME ALS PRODUZENTEN FACHKULTURELLER UND GEGENDERTER STRUKTUREN

Abbildung 9: Sitzordnung der Klasse C im 7. Jahrgang. Grau unterlegt: Plätze der Mädchen, –: freier Sitzplatz

Pult Wanja

Petra

Torsten Jens

Christine Jürgen

Michaela

Lilli

Normen Emil

Judith Luisa

Colin

Oliver

Monja Anne

Tamara

Peter

Joshua –

Die Klassenlehrerin berichtet in einem Gespräch, dass die Schülerinnen und Schüler einen Modus der Sitzverteilung befürworteten, die Plätze auszulosen und den sich daraus ergebenden Sitzplan wiederholt nach jeweils drei Wochen erneut per Losentscheid zu ändern: Jetzt sei aber gerade in der letzten Stunde [...] abgestimmt worden, dass der Sitzplatz gelost wird. Die Schülerinnen und Schüler hätten gesagt, dass sie ‚Mischen’ besser finden würden. Sie würden das jetzt mal ausprobieren und die Sitzordnung würde dann drei Wochen so bleiben. Das wollten sie dann 2-3-mal ausprobieren, dann also immer nach drei Wochen wieder neu auslosen. Frau Helfrich erklärt kurz, wie der Prozess dahin zustande gekommen sei: Zunächst sei vorgeschlagen worden, die Sitzordnung ganz zu wählen. Der nächste Vorschlag zielte dahin, jeweils einen Partner oder eine Partnerin zu wählen, und dann die Tische für die Zweiergruppe zu losen. Schließlich wurde vorgeschlagen, ganz zu losen, also jeden einzelnen Sitzplatz zu verlosen. Daraufhin sei über alle drei Vorschläge abgestimmt worden, wobei der letzte die Mehrzahl der Stimmen hatte. Auf Nachfrage von Nicola (einer Protokollantin, K.W.) erzählt Frau Helfrich, dass Wanja und Christine das vorgeschlagen hätten, sie wollten, dass die Sitzordnung geändert und „mehr gemischt“ würde. Luisa und Peter und die Jungs waren eigentlich zufrieden mit der Sitzordnung. (Cz90126d)

Im 8. Jahrgang wird der Sitzplan im Klassenraum mehrfach geändert. In dem von den Jugendlichen selbst gewählten Sitzplan zeigen sich zwei interessante Details (vgl. Abbildung 10). Zum einen gibt es erneut eine Tendenz zu einer geschlechtshomogenen Sitznachbarschaft. Zum anderen zeigt sich in der Sitzverteilung deutlich die Sortierung der zwei zusammengelegten Parallelklassen

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– zur Verdeutlichung werden die Namen der ‚neuen’ Klassenkameradinnen und -kameraden kursiv geschrieben. Abbildung 10: Sitzordnung der Klasse C nach den Herbstferien im 8. Jahrgang. Grau unterlegt: Plätze der Mädchen, kursiv: ‚neue’ Klassenkameraden und -kameradinnen

Pult Detlef

Michelle

Serpil

Rowena

Petra

Dominic

Torsten

Dennis Joshua

Jens

Lilli Koray

Sascha

Luisa

Judith

Michaela

Oliver

Christine

Normen

Wanja

Naemi

Catrin

Karin

(Mariam) (Sascha) (Koray)

Monja

Tamara

Die jeweiligen Klammern um drei Namen in der letzten Sitzreihe bezeichnen eine weitere Veränderung, die kurz darauf erfolgt: Mariam kommt neu in die Klasse, Sascha und Koray setzen sich um und rücken von den Mädchen weg weiter nach vorn neben Joshua, ihre ehemaligen Plätze blieben frei. Insbesondere nach diesem Platzwechsel zeigt sich deutlicher eine Sortierung der Schülerinnen und Schüler unter dem Gesichtspunkt der neuen Klassenzusammensetzung: Bis auf Normen und Oliver sitzt eine der beiden ehemaligen Klassen auf der rechten Seite des Raumes, die andere Klasse und alle neu dazu Gekommenen sitzen links. Ende November wird erneut der Sitzplan geändert. Die beiden Gruppen ‚alter und neuer’ Schüler und Schülerinnen mischen sich, und nun bilden sich die Sitzgruppen geschlechterhomogen (vgl. Cy91122d). Dieser geschlechtsgetrennte Sitzplan wurde nicht von der Lehrerin dirigiert, sondern bildet Präferenzen der Lernenden ab. Auch im 9. Jahrgang ändert sich während der ersten Monate des Schuljahres mehrfach die Sitzordnung der Klasse. Die Geschlechterverteilung ist zunächst gemischter als in der vorhergehenden Sitzordnung. Mit dem Sitzplan allerdings, der kurz darauf entstanden ist, ändert sich die etwas gemischtere Geschlechterverteilung deutlich (vgl. Abbildung 11): Es bildet sich eine strikte Geschlechtertrennung diagonal durch den Raum aus.

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8. RÄUME ALS PRODUZENTEN FACHKULTURELLER UND GEGENDERTER STRUKTUREN

Abbildung 11: Neue Sitzordnung Klasse C im 9. Jahrgang. Grau unterlegt: Plätze der Mädchen, –: freier Sitplatz

Pult Jens



Torsten



Normen

Oliver

Detlef

Mariam

Karin

Michelle

Dennis

Christine

Sascha –

Tamara



Luisa



Petra

Michaela

Judith

Monja

Lilli

Wanja

Sascha, Detlef und Oliver scheinen mitunter auch Plätze zu tauschen, nämlich Oliver neben Dennis, Detlef innen und Sascha außen. Die strikte Geschlechtergrenze wird dadurch nicht durchbrochen. Diese Geschlechterverteilung wird im Sitzplan, der knapp zwei Monate später aufgezeichnet wird, wieder aufgehoben, die Mädchen und Jungen sitzen wieder ‚gemischter’. Im Physikraum sind die Plätze der Schüler und Schülerinnen nicht festgelegt, sondern scheinen von Stunde zu Stunde zu wechseln. Aus der Zeit zwischen Mitte Dezember und Ende Januar sind fünf Sitzpläne aufgezeichnet worden, die zeigen, dass nicht alle Mädchen und Jungen feste Plätze haben, aber deutliche Präferenzen für bestimmte Sitznachbarn oder Sitznachbarinnen. Dennis, Normen, Oliver und Sascha sitzen in hinteren Reihen nah beieinander und stets auf derselben Seite des Physikraums, bis auf eine Stunde sitzt Detlef auch dort. Wanja, Lilli und Judith sitzen als Nachbarinnen zusammen, wechseln allerdings in anderen Stunden die Reihen und Klassenraumseiten, ebenso handhaben es Christine und Petra. Die anderen Jungen und Mädchen wechseln mitunter die Nachbarschaft, aber immer werden geschlechtshomogene Reihen gebildet. Betrachtet man die Sitzordnung in der Klasse C über die drei Jahrgänge hinweg, so neigen die Schülerinnen und Schüler mit Ausnahme einer kleinen gemischtgeschlechtlichen Gruppe von Freunden und Freundinnen trotz Versuchen ‚geloster’ Durchmischung im Wesentlichen zu geschlechtshomogenen

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Gruppenbildungen. Im 9. Jahrgang wählen sie zeitweilig sogar eine strikte Geschlechtertrennung in der Sitzverteilung diagonal durch den Raum. Ein anderes Kriterium für die Wahl von Sitznachbarinnen und Sitznachbarn ist eine Gruppenbildung im Zusammenhang mit der Zusammenlegung von zwei Klassen. Als die Klasse im 8. Jahrgang neu gebildet wird, wechseln die Jugendlichen häufig ihre Sitzordnung. Es hat den Anschein, als suchten sie eine Synthese zwischen der Bildung von Mädchen- und Jungengruppen und dem Zusammenhalt als ‚alte’ und ‚neue’ Gruppe. Dabei scheint abwechselnd mal der Faktor der Geschlechtszugehörigkeit im Vordergrund zu stehen und ein anderes Mal der Faktor der Neuzusammensetzung der Klasse.

8.3.4.

Sitz- und Kooperationsordnungen in den Fächern

Generell gelten die vorrangig geschlechtergetrennten Anordnungen bei der Sitzplatzwahl in beiden Fächern. An verschiedenen Stellen ist jedoch protokolliert, dass die Sitzordnung im Physikunterricht noch deutlicher geschlechtergetrennte Räume aufmacht, als dies für das Fach Deutsch zu beobachten gewesen wäre. Folgender Ausschnitt belegt dieses: Die Sitzordnung im Physikraum ist viel stärker nach Geschlechtern getrennt als im Klassenraum – es gibt nur einen gemischtgeschlechtlichen Dreiertisch, an dem Elisa, Kurt und Jennifer sitzen. (Ap00922v)

Die räumliche Anordnung bezieht sich jedoch nicht nur auf die Wahl der Sitzpartnerinnen oder Sitzpartner an den einzelnen Tischen, sondern zugleich fallen unterschiedliche Raumbildungen in den beiden Fächern auf. Folgendes Tandemprotokoll weist darauf hin: Die Klasse kann sich im Physikraum selber setzen wie sie will. Das führt dazu, dass die vorderen Reihen alle mit Jungen besetzt sind, während in den hinteren beiden Reihen auf der einen Seite und in der einen Reihe auf der anderen Seite die fünf Mädchen sitzen. (Ap90908h)

Die zweite Protokollantin hält hierzu fest: Bereits zu Beginn der Physikstunde fällt mir auf, dass sich die Sitzordnung im Vergleich zu der im Klassenraum (die ich während der vorhergehenden Deutschstunde kennen gelernt habe) umgekehrt hat. Während im Klassenraum die Mädchen überwiegend vorne sitzen, nehmen sie hier die hinteren Plätze ein. (Ap90908v)

Im Protokoll wird folgende Verteilung der Jungen und Mädchen im Raum festgehalten (vgl. Abbildung 12).

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Abbildung 12. Sitzordnung im Physikraum , Klasse A, Schuljahr 1999/2000. w: Schülerin, m: Schüler, –: freier Sitzplatz. Grau unterlegt: Plätze der Mädchen

Gemauerter Tresen mit Anschlüssen m m m w –

m m – w –

m m m – –

Fest installierte Anschlüsse

m m w – Protok.

m m w w –

– – – – –

Diese Überlappung von Geschlechterräumen und deren Anordnung an den Unterrichtsorten führt dazu, dass die Mädchen in Physik durch ihre Positionierung im hinteren Bereich im Vergleich zu den Jungen deutlich benachteiligte Teilnahmemöglichkeiten wählen: Das Unterrichtsgeschehen spielt sich in der Regel vorne ab und ist von hinten schlechter zu sehen, zumindest, wenn es um Ergebnisfixierung an der Tafel bzw. Versuchsaufbauten geht. An einer Stelle äußert dies ein Schüler explizit, allerdings ohne den Lehrer direkt darauf aufmerksam zu machen. Sören sitzt in dieser Stunde etwa auf der Höhe, in der sonst eher die Mädchen sitzen. Direkt im Anschluss beginnt er [der Lehrer, K.W.] mit einem Versuch. Er hat vorne auf einem Wagen einen Geigerzähler an einen Lautsprecher angeschlossen sowie eine große Uhr und eine radioaktive Quelle dort platziert. Zunächst wird der normale radioaktive Zerfall pro halber Minute gemessen. Anschließend hält Herr Blümer eine Glasscheibe zwischen radioaktive Quelle und Messgerät. Es werden weniger radioaktive Zerfälle gemessen. Nachdem Herr Blümer die Daten angeschrieben hat sagt er, dass er eben einen kleinen Fehler gemacht habe. Sören sagt daraufhin leise zu sich, bzw. für die Ohren seiner Nachbarn bestimmt: „Ja – den konnten wir von hier hinten sowieso nicht sehen.“ (Ap01201v)

Es bleibt offen, ob der Fehler beim Anschreiben oder bei dem Versuch unterlaufen ist und welchen Ausschnitt Sören nicht sehen konnte. Deutlich wird durch das „sowieso“ jedoch, dass es für ihn und seine Sitznachbarinnen und nachbarn, für die er mitspricht, eher normal ist, bestimmte Unterrichtsausschnitte, welche sich vorne am Pult abspielen, nicht mitzubekommen, sonst wäre ein stärkerer Protest und zudem eine direkte Intervention an den Lehrer zu erwarten gewesen.

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Folgendes Beispiel aus dem Physikunterricht der Klasse C zeigt, dass sich Lehrkräfte und Lernende gleichermaßen dieser Verschränkung von Sitzpositionen und Teilnahmemöglichkeiten bewusst sind. In den Momenten, in denen es unausweichlich für das Unterrichtsgeschehen ist, etwas zu sehen, werden die letzten Reihen nach vorne gebeten: Herr Reine präsentiert nun ein großes, plastisches Raummodell von unserem Sonnensystem auf dem Pult. Er fordert die letzten beiden Reihen auf, nach vorne zu kommen [...]. Aus irgendeinem Grund kommen kurz darauf auch noch aus der drittletzten Reihe Karin, Catrin und Naemi mit nach vorne. (Cp90929d)

Auch im darauffolgenden Jahr und bei einem anderen Lehrer zeigt sich dieses Ritual, die Jungen nehmen auch hier die vorderen Reihen ein: Ganz hinten links neben mir hat Herr Fehn einen Tisch mit einem Versuchsaufbau zwischendurch hingestellt. Die Schüler und Schülerinnen sollen jetzt mit nach hinten kommen und sich um den Versuchsaufbau stellen. Er selbst will den Versuch vorführen. Die Jungen bilden den inneren Kreis um den Versuchstisch während sich die Mädchen eher im Hintergrund halten. Nur Michaela steht auch noch mit vorne. (Cp00123g)

Die räumlichen Inszenierungen beider Geschlechtergruppen in Physik können durchaus als Hierarchisierung gelesen werden: Die Schülerinnen und Schüler wie auch die Lehrkräfte haben verschiedentlich die vorderen Zonen der Physikunterrichtsorte als die privilegierten Bereiche etikettiert, diese werden nun den Jungen überlassen bzw. von diesen belegt. Damit geht die Durchsetzung einer dichotomen und hierarchisch zu Gunsten der Jungen etablierten Ordnung einher. Die Exklusion durch eine räumliche Zuweisung bezieht sich hier also v.a. auf die für den Unterricht zentrale Teilhabemöglichkeit, wer nichts sieht, kann auch nicht antworten, diese Exklusion erscheint durch das Sitzordnungsritual noch als zu Ungunsten der Mädchen gegendert Praxis. Die Protokolle belegen, dass die Sitzordnungen in Deutsch heterogener erscheinen, die Analyse der Sitzordnungen in den Klassenräumen, in denen der Deutschunterricht ja stattfindet, zeigt jedoch auch hierfür, dass die Jugendlichen wenn möglich geschlechtergetrennt sitzen. Wenngleich sich zeitweise auch deutliche Geschlechterbereiche als Vorne-hinten-Anordnungen ergeben, so ist die Anordnung vorrangig doch etwas anders gelagert: Es bilden sich in Deutsch eher Sitzgruppen, d. h. kleinere Geschlechter-Sitzeinheiten, diese können von den direkten Sitzgruppennachbarn oder -nachbarinnen bis hin zu halben Klassenräumen reichen. Dabei sind jedoch weniger klar aktiv hergestellte Trennungen in vordere und hintere Räume erkennbar, eher sind die Verlagerungen seitlich. Das heißt auf der rechten oder linken Klassenraumseite oder in Grüppchen gemischt. Selbst wenn sich Anordnungen ergeben, in denen etwa 244

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überwiegend Jungen vorne oder hinten sitzen, und die Mädchen entsprechend in der Mehrheit im anderen Bereich, so würden sich für die Geschlechtergruppen im Deutschunterricht weniger Konsequenzen hinsichtlich der Beteiligung ergeben, da der Deutschunterricht insgesamt weniger nach vorne ausgerichtet ist bzw. auch die Orte weniger Entfernungen zwischen dem hinteren Bereich und der Tafel aufweisen. Neben den üblichen geschlechterhomogenen Grenzziehungen gibt es jedoch in allen Klassen Situationen, in denen die Lernenden von sich aus geschlechterheterogene Sitz- bzw. Interaktionspartnerinnen und -partner wählen, und zwar gilt dies von Jungen zu Mädchen wie auch umgekehrt von Mädchen zu Jungen. Die Zuordnungen erfolgen entweder als räumliche Zuordnung für Gruppenarbeitsphasen, oder z. B. beim Abschreiben in Prüfungssituationen. Damit durchbrechen die Jugendlichen die üblichen ritualisierten Geschlechterbereiche und stellen Aktionsräume nach anderen Kriterien her. Neben Zwangszuordnungen durch Lehrkräfte ist der entscheidende Aspekt hierbei, sich Interaktionspartner und -partnerinnen zu suchen, welche dazu verhelfen können, die Erwartungskontexte der Schule möglichst adäquat erfüllen zu können. Es geht also darum, sich eine möglichst gute Ausgangsbasis für ein doing student zu verschaffen. Diese Praktiken zeigen sich fachkulturunabhängig in beiden Unterrichtsfächern. Folgende Beispiele aus dem Deutschunterricht zweier Klassen zeigen, dass die als gut eingeschätzte Leistungsfähigkeit der Klassenkameradinnen und Klassenkameraden die entscheidende Rolle für die gemeinschaftlichen räumlichen Zuordnungen spielt. Aus der Klasse B ist folgende Szene protokolliert: Dirk ist zu Mareika und Sabine gedreht, er hält ein Arbeitsblatt mit einem Text in der Hand und sie tauschen sich aus. Später kommt Herr Weiland dort vorbei, danach sitzt Dirk wieder nach vorne gewandt und schaut auf sein Heft. Kurz darauf dreht sich Dirk wieder zu Mareika und Sabine und zieht an einem Arbeitsblatt oder Heft, aber Sabine verteidigt es und hält es fest. Dirk dreht sich wieder nach vorne um und schreibt. (Bd90903d)

Dirk wählt sich für die Bearbeitung der Aufgabe im Deutschunterricht freiwillig die beiden hinter ihm sitzenden Mädchen Mareika und Sabine als Arbeitspartnerinnen. Er eröffnet damit einen geschlechterheterogenen Raum. Besonders Sabine ist in der Klasse bekannt als sehr leistungsstarke Schülerin. Genau darauf zielt Dirk offenbar auch ab, als er versucht, über das zunächst von ihm gesuchte Gespräch hinaus auch von deren Aufzeichnungen zu profitieren. Die Mädchen öffnen den gemeinsamen Raum nur zum Teil, in dem Moment, wo Dirk den Austausch ersetzen will durch ein rein einseitiges Profitieren, kündi245

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gen sie die Kooperation durch eine Grenzziehung auf, dies wird von Dirk offenbar akzeptiert. Im Deutschunterricht in der Klasse C hat es den Anschein, dass die Anfrage zur Kooperation einer Schülerin an ihren Klassenkameraden durchaus bis hin zum einseitigen Abschreiben bewilligt worden wäre, das gewünschte Ergebnis jedoch schlicht noch nicht vorliegt: Dann dreht sich Luisa schließlich zu Sascha um und meint: „Ich kapier das nicht!“ Sascha entgegnet: „Ist doch leicht!“ Luisa: „Find ich nicht leicht.“ Jetzt beugt sich Luisa noch weiter zu Sascha hin und sagt halblaut in verschwörerischem Ton: „Darf ich mal? Dein Heft?“ Sascha meint gelassen in normaler Lautstärke: „Ich hab das doch noch nicht gemacht!“ Luisa stöhnt. (Cd8113d)

Auch aus dem Physikunterricht verweist folgendes Beispiel auf diese Praktik des geschlechtsunabhängigen doing student: So äußert Knut seinen Wunsch nach der Zusammenarbeit mit Inga, weil er sich davon fachliche Hilfe verspricht. Anweisung des Lehrers war, dass die Gruppen sich frei finden sollten: Als Inga vorbeikommt, sagt Knut: „Ey, Schwester, Du hilfst aber uns, ja?“ Also bleibt Inga dort. [...] Sie lehnt sich dabei quer über den Tisch. Sie stöpselt die Stecker ein und dreht an den Reglern der beiden Messgeräte, die anderen sehen zu. Knut fragt: „Was ist denn Ampere?“ Ich bekomme nicht mit, ob sie eine Antwort gibt. Die Messgeräte stehen so, dass Kerstin, Melinda und Stefanie sie sehen können, Mark und Knut sitzen auf der entgegengesetzten Seite. Von hinten, an dem Tisch von Erik, wird irgendetwas gerufen. Knut steht auf und sagt: „Ich verhandele jetzt den Preis von Inga.“ Er geht zu Erik und kommt später wieder. (Bp90917d)

Knut fordert Inga gezielt zur Zusammenarbeit auf, indem er sich als Hilfesuchender outet, macht er die Kopplung des Wunsches an ihre Leistung auch explizit. Inga stellt sich dann tatsächlich als die Aktivste der Gruppe heraus, sie nimmt zunächst den Versuchsaufbau in die Hand. Knut scheint ihre Position gerne zu akzeptieren, er fragt sie erneut nach ihrer Fachkenntnis. Inga nimmt diese Rolle auch an. Indem sie sich und die Geräte allerdings so zu den anderen Gruppenmitgliedern positioniert, dass vor allem die Mädchen der gemischtgeschlechtlichen Gruppe sie einsehen können, schränkt sie den gemeinsamen Raum doch über das Kriterium der Geschlechterhomogenität wieder etwas ein. Knut überlässt ihr den fachlich-inhaltlichen Raum dann einen Moment ganz, indem er sie und ihren fachlichen Wert für die Gruppe öffentlich verhandeln geht. Damit gefährdet er jedoch nicht seine eigene fachliche Aufwertung, schließlich geht es noch nicht um die Präsentation der Ergebnisse.

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In den beschriebenen Situationen werden über die gemeinschaftlichen Anordnungen die Grenzen der üblichen gegenderten Räume durchbrochen. Das Anordnungsprinzip des doing gender wird ersetzt durch das vorrangige Anordnen nach den Regeln des doing student. Diese Praxis lässt sich in allen Klassen und in beiden Unterrichtsfächern gleichermaßen beobachten, sie weist also keine fachkulturellen Spezifika auf.

8.4. Räume: (k)einer wie der andere? Räume bilden das organisierende Prinzip des sozialen Mit- und Nebeneinanders. Dabei können sie von den fachkulturellen Gemeinschaften auf sehr unterschiedliche Weise gestaltet werden. Bereits durch die Wahl der hier aufgegriffenen unterschiedlichen Raumbereiche wird deutlich, dass sich diese zwar analytisch voneinander trennen lassen, Räume jedoch immer auch gleichzeitig existieren und sich überlappen bzw. die Akteure und Akteurinnen an der Herstellung verschiedener Räume gleichzeitig beteiligt sein können. So bilden alle hier betrachteten Ausschnitte fachkulturelle Anordnungen, welche parallel zueinander existieren und gemeinsam die jeweilige fachkulturelle Illusio stützen. Zudem zeigen die Ausschnitte exemplarisch auf, dass räumliche Konstruktionen unmittelbar zusammenhängen mit materiell-architektonischen Ressourcen – und entsprechend auch in ihren Wechselwirkungen betrachtet werden sollten. Die konkrete Beantwortung der Frage nach dem ‚Wie’ der Gestaltung fachkultureller Räume erfolgte anhand der Analyse verschiedener Bereiche, welche alle Bestandteil alltäglicher unterrichtlicher und fachkultureller Abläufe sind. Deutlich wird dabei, dass jeweils unterschiedliche Kriterien für die Raumbildungsprozesse entscheidend sind. So greifen Lehrende wie Lernende übereinstimmend auf drei unterschiedliche Formen des doing difference (vgl. West/ Fenstermaker 1995) zurück: Das doing discipline steht im Vordergrund, wenn fachkulturelle Charakteristika das entscheidende Kriterium für die Raumgestaltung darstellen, beim doing gender ist Geschlecht die relevante Kategorie, und bei der Einrichtung von Räumen im Sinne des doing student ist die Rauminszenierung der Schüler und Schülerinnen nach institutionsadäquaten Praktiken zentral. In den dargestellten Beispielen lässt sich jeweils eine Kategorie als entscheidend für die raumorganisatorischen Konstruktionen lesen, dennoch wird gleichzeitig sehr deutlich, dass die Kategorien auch ineinander verschränkt auftreten. Eine genauere Zusammenschau der betrachteten Räume belegt dies.

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Die Symbolik des Pults zeigt sich auf zwei verschiedenen Ebenen, von denen die eine gelesen werden kann als stereotype Anordnung, die fast unabhängig von Lehrenden und Lernenden eine zeitliche Gültigkeit aufweist. So gibt es immer genau ein Pult, dieses hat immer eine gewisse Privilegiertheit gegenüber der Normausstattung der übrigen Tische. Auch die Möglichkeit, das Pult als fest zugewiesenen Platz nutzen zu können, sich aber auch während des Unterrichtsgeschehens frei bewegen zu dürfen, ist ein Privileg der Lehrkräfte gegenüber den Schülern und Schülerinnen, welche nach Foucault örtlich fixiert sind, indem sie Plätze zugewiesen bekommen (vgl. 1998: 26).99 Abgesehen von diesen allgemeingültigen Konditionen in der Raumgestaltung sind jedoch fachkulturell unterschiedliche Charakteristika in der Nutzung deutlich erkennbar, und damit Praktiken des doing discipline. So entsteht für beide Fächer bezogen auf die Legitimität der Gestaltungsvorgaben und die Rolle, in die sich Lehrende wie Lernende übereinstimmend fügen, ein binäres Bild: Das Pult, welches in beiden Fächern den Lehrenden symbolisch ihre Position im Raum zuweist, wird von den Deutschlehrkräften sehr viel offensichtlicher als Baustein für das den Anwesenden gemeinsame unterrichtliche Arrangement genutzt, im deutlichsten Fall schließt das Pult den Kreis des Tischarrangements. In Physik bildet es durch seine bauliche Anordnung bereits eine deutliche Grenze zwischen Lehrkraft und Lernenden – die Lehrkräfte unterstreichen darüber hinaus jedoch noch diese Grenze, indem sie beispielsweise die unterrichtliche Anordnung auf das Pult, und damit frontal nach vorn ausrichten. Bei den Physiklehrkräften erstreckt sich die ausschließlich von ihnen gestaltete fachliche Nutzung über das gesamte Unterrichtsmobiliar, hingegen ist bei den Deutschlehrkräften zu beobachten, dass sie die potenziellen Privilegien (Schubladen, Sitzposition direkt am Pult etc.) – und damit das Pult als symbolisches Kapital – weniger nutzen als die Physiklehrkräfte. Ein zentraler Unterschied in den Rauminszenierungen beider Fächer liegt darin, dass in Physik die Lehrkräfte das ‚Hausrecht’ genießen und die Lernenden fast klischeehaft im 45-Minuten-Rhythmus ‚austauschbar’ sind. In Deutsch gestaltet sich die Lage genau umgekehrt. Atmosphärisch wird somit die Vorgabe des Unterrichtsrahmens einmal von den Lehrenden, einmal von den Jugendlichen gestaltet. Sehr deutlich zeigt sich die unterschiedliche fachkulturelle Illusio vor allem in den Möglichkeiten, Teilnahmemöglichkeiten am Unterricht zu bestimmen bzw. zu regulieren: In Deutsch können die Lernenden, auch wenn sie zu spät kommen, noch in das Geschehen einsteigen, in Physik ist die alleinige Entscheidungsgewalt über eine Teilnahme den Lehrenden zugewiesen. 99 Foucault zufolge stellt die ostentative Zurschaustellung angeeigneten Raumes die Form par excellence der ostentativen Zurschaustellung von Macht dar (vgl. ebd.).

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8. RÄUME ALS PRODUZENTEN FACHKULTURELLER UND GEGENDERTER STRUKTUREN

Besonders an dieser Stelle wird deutlich, dass Raumanordnungen immer auch als hierarchische und machtvolle Anordnungen zu lesen sind. Gerade über die Möglichkeit, den Lernenden den Zugang zum Fachunterricht zu verweigern, obliegt den Physiklehrkräften eine entscheidende Kontrolle, welche durch die zugesprochene Schlüsselgewalt vergleichsweise einfach und absolut durchzusetzen ist. Insgesamt konstruieren Lehrende wie Lernende die fachkulturellen Räume über die Nutzung des Pults und die Frage nach dem ‚Hausrecht’ in sehr übereinstimmender Weise im Sinne eines doing discipline: Für die Fachkultur Deutsch werden Räume hergestellt, die Konnotationen als kommunikatives, wenig hierarchisches und vielmehr kooperatives Fach zulassen. Spezifische facheigene Räume sind nicht vorgesehen und es gibt nur bedingte Möglichkeiten zur Herstellung von Distanzen.100 In Physik hingegen verweisen die eigenen Räume, die Herrschaft über Schlüssel und Zugang durch Lehrende, der erhöhte Bereich – der eine deutliche sichtbare Trennlinie markiert und damit Abstand gewährleistet – sehr viel deutlicher auf Assoziationen zum hegemonialen Männlichkeitsbild. Direkte Verweise auf Geschlecht als organisierendes Prinzip fachkultureller räumlicher Zusammenhänge sind unter dem Fokus des Pults und der Nutzungshoheit der Unterrichtsorte nicht erkennbar. Deutlich anders sieht dies für die Bedeutung von Sitzordnungen aus. Diese werden zwischen Lernenden und Lehrenden in oft aufwändigen Verfahren ausgehandelt. Doing gender greift dabei als zentrales, jedoch nicht einziges Kriterium für die Raumanordnung. Je nachdem, welche weiteren Kriterien im Vordergrund stehen, ergeben sich auch unterschiedliche soziale Räume: Die Lehrenden greifen in die Aushandlungen der Sitzordnungen vornehmlich unter dem Aspekt der Disziplinierung bestimmter Schüler oder Schülerinnen dirigierend ein. So werden von ihnen Lernende an Einzeltische gesetzt oder es wird auf einen Mechanismus der Dramatisierung von Geschlecht zurückgegriffen, indem gezielt gemischtgeschlechtliche Tische hergestellt werden.101 100 Virginia Woolf hebt in „Ein eigenes Zimmer“ gerade darauf ab, dass in weiblichen Lebenszusammenhängen die eigenen Räume fehlen (Woolf 1978). Eine ähnliche Aussage findet sich in Christa Wolfs „Kein Ort. Nirgends.“ (Wolf 1979). 101 Zur neuen Kritik an der Koedukation in den 1980er Jahren gehörte auch der Vorwurf, Mädchen würden benutzt, um auf Jungen mäßigend einzuwirken. Dies sollte erreicht werden, indem Mädchen neben Jungen gesetzt wurden. Genau diese Hoffnung legen die Lehrenden in die Herstellung gemischtgeschlechtlicher Sitzanordnungen. Dass auch die Jugendlichen dies wissen, dokumentiert folgender Ausschnitt aus der Klasse C: Sascha und Torsten kabbeln sich schon seit einiger Zeit während des Unterrichts: „Die Lehrerin interveniert schließlich: „Also, hier, Sascha und Torsten! Die neue Sitzordnung

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SCHULISCHE FACHKULTUREN UND GESCHLECHT

Weniger zentral und auch weniger konsequent durchgesetzt sind die versprochenen Steuerungen der Leistung einzelner Lernerinnen und Lerner – z. B. über das Rotationsprinzip im Physikraum soll die wechselnde optimale Teilnahmemöglichkeit am Unterricht erreicht werden – und die soziale Integration aller, aber auch diese Argumente werden von den Lehrenden angeführt. In der Mehrzahl der beobachteten Sitzordnungsverhandlungen stehen jedoch die Wünsche der Jugendlichen im Vordergrund – und auch hier folgen die Akteure und Akteurinnen einer Praxis des doing gender, welche mit Barrie Thorne als „borderwork“ gelesen werden kann: Thorne fasst darunter „interaction across – yet interaction based on and even strengthening – gender boundaries“ (1993: 64). Die Klassen stellen wann immer möglich geschlechtshomogene Sitzordnungen her – die räumlichen Einheiten reichen von Zweiertischen über ganze Bankreihen bis hin zu eindeutigen Mädchenoder Jungenbereichen im Klassenzimmer. Freundschaft ist ein wichtiges Auswahlkriterium, aber hierfür kommen primär nur gleichgeschlechtliche Klassenkameradinnen und Klassenkameraden in Frage. Auch wenn andere Kriterien darüber hinaus relevant werden – z. B. in Physik im Sinne eines doing student möglichst vorne, oder als doing peer, im Falle eines Sitzwunsches nach Vertrautheit mit ‚alten’ Klassenkameradinnen und -kameraden –, wird die geschlechterhomogene Anordnung aufrechterhalten. Und wenn die Herstellung eindeutiger Geschlechterräume bisweilen und mit zunehmendem Alter zeitweise aufgeweicht wird, finden alle Klassen schnell und konsequent zu geschlechterhomogenen Arrangements zurück. Darüber, dass geschlechterhomogene Räume die Normalität bilden, scheint bei Lernenden und Lehrenden Übereinstimmung zu herrschen. Verstöße gegen diese Normalität werden von beiden Seiten (ironisch) besondert oder aber sogar sanktioniert. Indem z. B. die Klassenlehrerin in der Klasse A Klaus entlarvt als „bei den Mädchen versteckt“, verweist sie ebenso auf die gültige Norm geschlechterhomogener Räume, wie wenn der Forderung zweier Mädchen in Klasse C von der Klassenlehrerin stattgegeben wird, auf die ‚richtige’ Geschlechterseite im Klassenzimmer wechseln zu können. Die dargestellten räumlichen Anordnungen in den Fächern z. B. durch Zusammensetzen, Umdrehen oder Gruppenfindungen, bei denen die Akteurinnen und Akteure nicht das Kriterium Geschlecht, sondern Inszenierungspraktiken als Schülerinnen und Schüler im Umgang mit den Anforderungen der Institution in den Vordergrund stellen, verweisen darauf, dass doing gender nicht das einzige Anordnungsprinzip für Sitz- und Kooperationsordnungen bildet. Hier wird von beiden Seiten mit dem jeweils anderen Geschlecht kooperiert und räumliche Zuordnungen werden über Geschlechtergrenzen hinweg gescheint mir nicht gut zu sein.“ Normen, spöttisch: „Torsten, rück doch rüber zu Tamara!“ Sascha lacht höhnisch zu Torsten und wiederholt lachend: „Ja! Torsten, rück doch rüber zu Tamara!“ (Cd81127n).

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8. RÄUME ALS PRODUZENTEN FACHKULTURELLER UND GEGENDERTER STRUKTUREN

schaffen. Diese Praktiken lassen sich in Deutsch ebenso wie in Physik beobachten, sie bilden also keine fachkulturellen Besonderheiten. Für die Beantwortung der Fragestellung dieser Studie, inwieweit Fachkulturen beteiligt sind an den gendering-Prozessen für die Unterrichtsfächer Deutsch und Physik und über welche Mechanismen gendering-Prozesse in den Fächern wirken, greife ich mit der Untersuchung der Herstellung von fachkulturellen und/oder gegenderten Räumen einen Aspekt heraus, der bislang in besonders deutlichem Maße im wissenschaftlichen, vor allem auch im schulischen und fachkulturellen Alltag unreflektiert bleibt – und damit bestehende Selbstverständlichkeiten unhinterfragt lässt. Eine Betrachtung des alltäglichen sozialen Gefüges unter einem räumlichen Fokus zeigt deutlich auf, dass bei der Herstellung räumlicher Anordnungen verschiedene Formen des doing difference im Vordergrund stehen. Die Praktiken, die einem doing discipline folgen, bringen dabei andere Räume ans Licht als die Praktiken des doing gender oder des doing student. Entscheidend ist also, unter welchem Fokus des doing difference fachkulturelle Wirkungsmechanismen betrachtet werden. Für eine Draufsicht auf fachkulturell differenzierende Charakteristika springen sicherlich eher diejenigen Räume ins Auge, welche einem doing discipline folgen – Beispiele hierfür wären die Räume der Pultnutzung und des ‚Hausrechts’. Meines Erachtens tragen aber auch die fachkulturell übergreifenden Praktiken wie die Sitzordnungen nach dem doing gender oder die Kooperationsanordnungen nach dem doing student dazu bei, eine ‚dichte’ Beschreibung der Fachkulturen vorzunehmen – und sollten daher berücksichtigt werden.

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9. Fazit: Fachkulturen als mehrdimensionale Wirkungsgefüge

Ziel dieser Studie war es, die beiden schulischen Unterrichtsfächer Deutsch und Physik sowie den bilingualen Physikunterricht im Hinblick auf fachkulturelle Konstruktionsmechanismen zu hinterfragen. Hierfür wurden verschiedene Ausschnitte fachkultureller Praktiken beleuchtet, insbesondere auch die Praktiken, die in schulischen Abläufen Selbstverständlichkeiten darstellen und entsprechend selten in den Fokus reflektierender Betrachtungen geraten. Das besondere Augenmerk galt der Frage, ob die Strukturkategorie Geschlecht bei der Ausbildung fachkultureller Merkmale bedeutsam ist oder nicht. Die weit verbreiteten Zuschreibungen beider Fächer zu jeweils einer von beiden Geschlechtergruppen – Deutsch als weibliche und Physik als männliche Domäne – bildeten hierbei zwar einen Anstoß für das Sample der Studie, nicht jedoch den prägenden Ansatz des Untersuchungsdesigns. Denn indem die Fächer in erster Linie als gegenderte Felder gesehen werden, wird die Frage, ob Geschlecht überhaupt eine fachkulturell relevante Kategorie darstellt, nicht mehr offengehalten, sondern bereits im Vorfeld beantwortet. In dieser Arbeit wurde Geschlecht als eine mögliche, jedoch nicht zwingend relevante Differenzkategorie beider Fächer mitgedacht. In den Bereichen, in denen sich Geschlecht als bedeutsam herausstellte, wurde dann hinterfragt, in welchen Praktiken dies zum Zuge kommt und worin die Bedeutsamkeit für die Akteurinnen und Akteure des Feldes zu liegen scheint. Ich habe versucht aufzuzeigen, dass sich veränderte Perspektiven eröffnen, wenn man mit Bourdieus konzeptionellem und analytischem Instrumentarium arbeitet. Indem nicht einzelne Bausteine als isolierte Module betrachtet wurden, sondern in mehrfacher Hinsicht mehrdimensional, und mit Bourdieu relational analysiert wurde, ergeben sich im Sinne Geertz’ „dichte Beschreibungen“ (vgl. 1987) der schulischen Felder. Soziales Handeln erscheint so nicht 253

SCHULISCHE FACHKULTUREN UND GESCHLECHT

als Resultat, sondern als ein Baustein neben konzeptionellen Positionierungen und materiellen, symbolischen Formen, welche insgesamt kulturelle Konstruktionen hervorbringen. In dieser Arbeit wurde nach dem WIE gegenderter fachkultureller Strukturen gefragt, forschungslogisch konsequent allerdings zunächst auch in Frage gestellt, ob sich danach überhaupt fragen lässt, ob schulischen Fächer Deutsch und Physik überhaupt eigene fachkulturelle Felder darstellen und womit sich diese ggf. charakterisieren ließen. Nachgewiesen wurde, dass beide Unterrichtsfächer – und das Feld des bilingualen Physikunterrichts entsprechend der allgemeinen Fachkultur Physik – eigenständige und habituell wiederkehrende Charakteristika, Strukturen und Inhalte aufzeigen und sich entsprechend sehr wohl von Deutsch und Physik als schulischen Fachkulturen sprechen lässt. Es hat sich deutlich gezeigt, dass sowohl auf der theoretischen wie auch auf der empirischen Ebene die Mehrdimensionalität der Betrachtungsweise nicht nur ergiebig, sondern geradezu notwendig ist. Die Erkenntnis des engen Aufeinanderbezogenseins von Habitus und Feld führt laut Bourdieu dazu, dass beide Seiten gemeinsam zu betrachten sind. Beate Krais konstatiert hierzu, der Habitus funktioniere immer innerhalb bestehender Strukturen, und dazu gehören die Strukturen des sozialen Raumes ebenso wie die sozialen Felder mit ihren besonderen Spielregeln und Einsätzen. Umgekehrt bedürfen die sozialen Strukturen, um real zu sein, ihres Gegenparts, des Habitus. So werden die gesellschaftlichen Verhältnisse [...] immer wieder reproduziert, revidiert, reorganisiert, transformiert durch die vom Habitus hervorgebrachten Praxen der Subjekte. (1993: 235).

Ebenso wie Habitus und Feld untrennbar ineinandergreifen, sieht Bourdieu diese Verbundenheit auch zwischen Theorie und Empirie. Diese Studie hat den Ansatz der gegenseitigen Bezugnahme theoretisch wie empirisch aufgegriffen – auf der theoretischen Ebene greifen die Kategorien Habitus, Feld und Illusio ineinander, auf der empirischen Ebene finden diese jeweils ihre Entsprechung: die habituellen Implikationen schulischer Akteure und Akteurinnen werden aufgezeigt über die Darstellung ihrer expliziten Positionierungen. Die empirische Darstellung schulischer Orte und Räume erwies sich hierbei als ausgesprochen aufschlussreich, die Konstruktionsleistungen der schulischen Akteure und Akteurinnen, welche in diesen Dimensionen stecken, sind enorm. So können z. B. die häufigen Lehrkraftwechsel in den Klassen auch gelesen werden als Verweis auf die Identifikation mit den Fachkulturen über andere Ressourcen: hier kommen die materiell-physikalischen Umwelten zum Tragen. Diese bleiben konstant und stellen sich in allen Klassen recht homogen ausgestaltet dar: als eindeutige und ausschließliche Fach-Räume in Physik, oder für Deutsch als ‚öde Orte’, welche wenig direkte Verbindungen zum Unterrichtsfach Deutsch aufweisen. 254

9. FAZIT: FACHKULTUREN ALS MEHRDIMENSIONALE WIRKUNGSGEFÜGE

Zugleich zeigt die empirische Darstellung, dass sich eine analytische Trennung von Orten und Räumen, wie sie in aktuellen raumtheoretischen Überlegungen bislang noch wenig angedacht wurde, als sinnvolle Vorgehensweise erweist, welche die Verschränkungen beider Beriche veranschaulicht und zugleich analytisch trennbar macht. Insgesamt wurden interaktive Konstruktionsprozesse ebenso wie strukturell-materielle Seiten der Fachkulturen miteinander verschränkt betrachtet. Bedeutsam für die Frage nach der Illusio der Fächer ist zudem sicherlich die vorgenommene Kontextualisierung über die historische und darüber hinaus die außerschulische Betrachtung. Tatsächlich hat sich jedoch auch herausgestellt, dass es Ebenen fachkultureller Grenzziehung gibt, in denen Geschlecht eben nicht als inkluierende oder exkluierende Kategorie bedeutsam wird. Selbst wenn von der Komponente Geschlecht als zentralem formendem Element abgesehen wird, bleibt eine übliche Zuweisung der beiden Fächer als dichotome Felder. Dass diese Dichotomie schon deutlich länger Tradition hat als die vergeschlechtlichende dichotome Zuweisung der Fächer Deutsch und Physik, zeigt die historische Nachzeichnung der Fächer, insbesondere die Debatte um Snows Thesen (1969). Ebenso deutlich wie in der historischen Betrachtung zeigt sich auch in der Betrachtung der beiden Fachkulturen im aktuellen Wissenschaftsdiskurs, dass sowohl das Verständnis beider Fächer als zwei entgegengesetzte Pole auf der Schiene unterschiedlicher Disziplinen bzw. Fächer als auch die zugeschriebenen unterschiedlichen Wertigkeiten von Deutsch und Physik sehr profund verankert sind und entsprechend selten noch bzw. wieder hinterfragt werden. Hinter der Antwort nach dem WIE der fachkulturellen (gegenderten) Konstruktionen verbergen sich doxische Denk-, Wert- und Handlungsmuster – die den Fachkulturen zu Grunde liegende Illusio. Diese ‚Spielregeln’, nach denen sich die Akteurinnen und Akteure im Feld richten, werden im Folgenden detailliert nachgezeichnet (Kapitel 9.1. und 9.2.). Während in den einzelnen Abschnitten der Studie die jeweiligen Fragestellungen vergleichend für beide Fächer vorgenommen wurden, so findet sich an dieser Stelle eine Zusammenschau der Aussagen zunächst für das Feld Physik, darin eingebunden für den bilingualen Physikunterricht, anschließend dann für das Feld Deutsch. Auf diese Weise wird deutlich, wie die unterschiedlichen Ausschnitte und Ebenen doxischer fachkultureller Konstruktionen durch die Fachangehörigen ineinander greifen und sich gegenseitig stützen. Die Illusio der Fächer zeigt sehr verschiedene Facetten. Wenngleich hier eine dichte Beschreibung vorgenommen wird, bleiben jedoch weitere Seiten vermutlich unbeleuchtet. Es ging an dieser Stelle auch nicht darum, ein 255

SCHULISCHE FACHKULTUREN UND GESCHLECHT

gänzlich vollständiges Erscheinungsbild dieser Annahmen darzustellen, sondern die Seiten der gegenderten Illusio der Unterrichtsfächer Deutsch und Physik möglichst gründlich aus verschiedenen Perspektiven nachzuzeichnen.

9.1. Die Illusio des Unterrichtsfaches Physik Das Fach Physik entwickelte sich erst im Laufe des 18. Jahrhunderts als Unterrichtsfach, zunächst an den Gymnasien. Dieser Moment kann als Beginn eines fachspezifischen Habitus gesehen werden, da es bis hierher keine speziellen Physiklehrkräfte gab. Die Diskussion um die Unterrichtsinhalte drehte sich seit der Etablierung des Faches vor allem um die Ausrichtung auf stärker formale oder stärker materiale Inhalte, unter welche zentral experimentierende Ansätze gefasst wurden. Der Bildungswert des Faches wurde auch immer wieder als persönlichkeitsformend verstanden, nur war man sich uneins, über welche Inhalte dies vorrangig geschehen sollte. Ein Thema des Faches Physik war und ist immer wieder die Abgrenzung von anderen Naturwissenschaften bzw. das Zusammenspiel mit ihnen. Bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurde das eigenständige Fach Physik zwischenzeitlich abgeschafft und mit anderen naturwissenschaftlichen Fächern zu ‚Naturlehre’ zusammengefasst. Diese Zusammenlegung wiederholt sich derzeit in den Reformbemühungen vieler Schulen. Mit der Einrichtung von Physik als reinem Oberstufenfach zur Mitte des 19. Jahrhunderts ging einerseits ein Hintenanstellen gegenüber den historisch und sprachlich ausgerichteten Fächern einher, zugleich erfuhr Physik aber auch den Status eines exklusiven, formal ausgerichteten Faches, welches in dieser Ausrichtung nur an den Gymnasien erteilt wurde. Erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts standen sich naturwissenschaftlich und philologisch ausgerichtete Fächer wieder gleich. Auch das Fach Physik wurde mit dem erklärten Ziel der Charaktererziehung für politisierende Zwecke missbraucht. Die geforderten persönlichkeitsbildenden Aufgaben des Physikunterrichts wurden nach dem Zweiten Weltkrieg wieder ersetzt durch umfassende Qualifikationsanforderungen. Diese bestehen bis heute unter dem Begriff der scientific literacy, allerdings ohne eindeutige Zuweisung der Inhalte an konkrete Fächer. Durch die ungleiche Verteilung von Schülerinnen und Schülern auf die unterschiedlichen Schulprofile wurde zunächst Physik für weibliche Lernende gar nicht, später in sehr geringem Umfang unterrichtet. Auch bei dem spät einsetzenden gemeinsamen Physikunterricht wurden explizit die Lerninteressen der Jungen in den Vordergrund gestellt. Heute wird Physik in allen Schulformen für beide Geschlechter mit gleichen Inhalten und in gleichem Rahmen unterrichtet, in Ausnahmefällen werden die Gruppen nach Geschlechtszugehörigkeit getrennt. Physik hat den Status eines zu verschiedenen Zeitpunkten abwählbaren Nebenfaches mit vergleichsweise niedrigem 256

9. FAZIT: FACHKULTUREN ALS MEHRDIMENSIONALE WIRKUNGSGEFÜGE

Stundenkontingent. In der historischen Nachzeichnung zeigt sich deutlich – ebenso wie schon für das Fach Deutsch – die dichotome Ausrichtung beider Bereiche aneinander. Im Gegensatz zum Unterrichtsfach Deutsch gilt Physik als Fach mit eher hohem Schwierigkeitsgrad und der Notwendigkeit sogenannter ‚harter’ Kompetenzen. Bereits Charles Snow und mit ihm die (selbsternannten) Vertreter der naturwissenschaftlichen Kulturseite sahen in den Naturwissenschaften mit ihren vermeintlich exakten und messbaren Aussagen die „tatsächliche Kultur“ (vgl. Snow 1969: 15). Hintergrund dieser Zuteilung war das Verständnis der naturwissenschaftlichen kulturellen Sphäre als „szientifischer Kultur“ (vgl. Yudkin 1969: 26). Dieses Verständnis ist inzwischen zwar gelockert, in weiten Teilen liegen hierin m. E. jedoch die feldspezifischen Prämissen des Faches Physik bis heute verborgen. Anhand verschiedener Ebenen der sozialen Praktiken innerhalb des Faches Physik wird diese Aussage im Folgenden nachgezeichnet. Wie für das Fach Deutsch gilt auch für Physik, dass die Diskussionen um relevante Ziele und Inhalte des Physikunterrichts bis über Snow hinaus keinen Geschlechterbezug erkennen ließen. Am Edith-Benderoth-Gymnasium bildet Physik bezogen auf die quantitative Geschlechterzusammensetzung der Lehrenden ein Extrem in männlicher Richtung: Es lehren sechs Männer und eine Frau Physik, in den beobachteten Klassen wurde einer von sieben Kursen in Physik von der Physiklehrerin erteilt. Die Zuschreibung des Faches Physik als ‚Jungenfach’ wird über verschiedene Aussagen konstruiert, einer der zentralen Belege hierfür sind die Beliebtheitszahlen des Faches und die damit zusammenhängenden Wahlzahlen bei den Lernenden. Die Aussagen der Lernenden hierzu lassen differenziertere Interpretationen zu: Zunächst gilt Physik bei Jungen wie bei Mädchen als unbeliebtes Unterrichtsfach. Dennoch wählen deutlich mehr Jungen als Mädchen freiwillig z. B. in Oberstufenkursen Physik (vgl. z. B. Nissen u. a. 2003: 26f.). In (fach-)hochschulischen Kontexten setzt sich dieser Trend noch sehr viel zugespitzter fort. Die – eben in der Mehrheit männlichen – Physikstudierenden entscheiden sich mit der Wahl für das Fach Physik für ein sehr prestigereiches Fach. Auch das domänenspezifische Selbstkonzept der Lernenden zeigt deutliche Geschlechterunterschiede: auch bei schlechteren Schulleistungen in Physik zeigen die Jungen ein besseres Selbstwertgefühl, bei den Mädchen ist dies genau umgekehrt. Das mag mit den Eignungszuweisungen von Lehrkräften (vgl. Ziegler u. a. 1998) zusammenhängen: Lehrende halten Jungen besonders für naturwissenschaftliche Studienfächer für geeignet, Mädchen werden eher die Studiengänge Grundschullehramt und sprachliche Fächer zugewiesen. Im Bereich der Naturwissenschaften zeigen sich PISA 2003 zufolge jedoch keine signifikanten Leistungsunterschiede

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SCHULISCHE FACHKULTUREN UND GESCHLECHT

zwischen den Geschlechtergruppen, die auf tatsächliche Kompetenzunterschiede verweisen würden (vgl. PISA-Konsortium Deutschland 2004). Mögliche Ursachen für die Entscheidungsunterschiede für oder gegen Physik können vielmehr in den Strukturen des Faches gesehen werden. Die Chronologie des Unterrichtsablaufs ist für die Schülerinnen und Schüler nicht klar erkennbar, Erläuterungen, Anweisungen und Feedback bleiben durchaus eher unklar und lassen fachliche Erklärungen für beobachtete Phänomene vermissen. Regeln und auch Disziplinierungen bleiben in Physik ebenfalls eher vage. Jungen sehen hierin deutlich weniger ein Manko als Mädchen, für die unklare Strukturen stärker ein Lern- und Motivationshindernis darstellen. Besonders auch das Feedbackverhalten wird für Jungen und Mädchen unterschiedlich gestaltet: während für die Schülerinnen das Desinteresse am Fach Physik eher verstärkt wird durch eine Konzentration auf Zurechtweisungen und durchaus persönliche Kritik, wird den männlichen Lernenden durch ein Anknüpfen an unterrichtsbezogene Aspekte eher die Chance geboten, ihr Desinteresse zu verringern (vgl. Faulstich-Wieland/ Willems 2002). Anders als in Deutsch werden jedoch die Mädchen nicht als Zielgruppe der Unterrichtsinhalte und -abläufe gesetzt, vielmehr gehen die Lehrkräfte davon aus, dass sich ohnehin wenig Lernende für das Fach interessieren würden und sie selber – möglicherweise sogar die Institution Schule insgesamt – auf diese Haltung auch wenig Einfluss haben, so die Aussagen der Lehrenden. Konsequenterweise werden am Edith-Benderoth-Gymnasium auch keine Neigungskurse für den Bereich Physik angeboten. Die Motivation für das Fach liegt somit in der Verantwortung der Lernenden. Damit ergibt sich folgende Situation: die Lernenden, die Mädchen noch deutlicher als die Jungen, konstatieren, dass die Zielsetzung und der Sinn des Faches sie tatsächlich nicht erreicht, die Lehrenden bleiben aber bei der Thematik, welche fachkulturellen Konzepte in Physik wie zu vermitteln seien. Dabei Lernende nicht zu erreichen gilt als normal und wird billigend in Kauf genommen. In diesem Zusammenspiel kann durchaus der fachspezifische Sinn gelesen werden, dass Physik eine exklusive Position im Gefüge des Fächerkanons einnimmt – eine Fortsetzung der Snow’schen These also. Die weiteren Aussagen der Fachlehrkräfte stützen dies: Die feststellbare quantitative Verteilung der Geschlechter in wählbaren Physikkursen ist für sie eine logische Folge der Interessensunterschiede zwischen Jungen und Mädchen. Die ‚echten’ physikalischen Themen werden eher den Jungeninteressen zugeordnet, für die Mädchen werden die thematischen Randbereiche und Schnittmengen zu anderen Fächern als interessant angenommen. Wenngleich die Lehrenden explizit eine gleiche fachliche Ausgangslage für Physik konstatieren, so wird im gleichen Zuge eine Kompetenzzuschreibung vorgenommen, die eindeutig gegendert wird. Dabei gehen die Lehrenden von gleichen Kompetenzen bei Mädchen und Jungen aus wie die Lehrenden in Deutsch: Jungen 258

9. FAZIT: FACHKULTUREN ALS MEHRDIMENSIONALE WIRKUNGSGEFÜGE

verfügen demnach über Faktenwissen, Mädchen über Diskussionswissen. Für das Fach Physik ist Ersteres nutzbarer, subjektive Positionierungen sind wenig, eben nur in den physikthematischen Randbereichen, gefragt – insofern ist der Ausschluss der weiblichen Lernenden vom Fach Physik nur die logische Folge der mitgebrachten Voraussetzungen. In seinem exklusiven Verständnis richtet sich Physik also nur an wenige Lernende überhaupt, wenn, dann aber vorrangig an Jungen. Auch die anhand fachkultureller Orte und Räume erhobenen Daten entsprechen diesem Verständnis sehr, verstärken den Eindruck des abgeschlossenen, besonderten Faches sogar noch. Hierbei ist Geschlecht jedoch nicht als grenzziehendes Kriterium auszumachen, vielmehr spiegeln die Raum- und Ortsinszenierungen die Illusio des Faches als exklusiv und hierarchisch strukturiert. Physik ist eines der wenigen Schulfächer, denen eigene und somit fachspezifische Unterrichtsorte zugestanden werden. Potenziell steht den Lehrenden die gesamte Ausstattung der Unterrichtsorte zur Verfügung. Die fachspezifische Nutzung v. a. auch der Physiksammlung ermöglicht den Lehrenden eine Konzentration auf fachspezifische Vor- und Nachbereitungen und garantiert fachinterne Zusammentreffen mit den Kollegen und Kolleginnen an diesen Orten. Zugleich ist dieser Bereich zusätzlich vom restlichen Schulgebäude isoliert, anderen Fachlehrkräften sowie Schülern und Schülerinnen nicht frei zugänglich bzw. für diese z. B. in den Pausen gar nicht erreichbar. Innerhalb dieser Orte, deren Gestaltung allein in den Händen der Fachlehrenden liegt, die wiederum fast ausschließlich auf physikfachliche Inhalte ausgerichtet wird, werden die Fachattribuierungen von Physik als im weitesten Sinne ‚gefährlich’ und ‚spezifisch’ herangezogen, aber anders als etwa in Deutsch geht es auch nicht um den kollektiven Erwerb fachlicher Qualifikationen, welche einen Austausch der Lernenden untereinander über das Medium der Fachthemen fördern sollen, um individuelle Lernendenpersönlichkeiten herauszubilden. Daraufhin sind die Unterrichtsorte, insbesondere der Hörsaal, auch gerade nicht angelegt. Ein Modul hat sich in Physik fest etabliert, welches auf diesen Austausch angelegt ist: die Lernendenexperimente. Diese funktionieren in der Regel über einen Zusammenschluss der Jugendlichen zu Arbeitsgruppen. Im Hörsaal funktioniert diese Arbeitsweise nicht, dort kann nur auf Demonstrationsexperimente der Lehrenden zurückgegriffen werden, in dem ‚normalen’ Physikraum werden jedoch die eher von den Lehrenden dirigierten Strukturen aufgeweicht und Freiräume geschaffen, in denen sich die Lernenden z. B. frei im Raum bewegen können und die verhältnismäßig starren Sitzanordnungen für bestimmte vorgegebene Zeitfenster auflösen können. Dieses Privileg ist sonst den Lehrenden vorbehalten. Ansonsten zeigt sich die alleinige Bestimmung über die Unterrichtsorte in recht hierachischer Weise etwa am Bespiel des Zutritts zu den 259

SCHULISCHE FACHKULTUREN UND GESCHLECHT

Räumen: die Entscheidung, wem und wann zu den Unterrichtsorten Zutritt gewährt wird, liegt bei ihnen und geht über die reine Schlüsselmacht hinaus. Nachgezeichnet wurde dies etwa am Beispiel der Verspätungen von Schülerinnen und Schülern. Auch in der Herstellung sozialer Räume spiegelt sich ein eher hegemoniales Verständnis des Faches: In der Nutzung des Pults zeigt sich, die fachkulturelle Illusio bestätigend und geradezu symbolisch, die Auffassung eines fachkulturellen Verständnisses von exklusiven Lernangeboten. Zunächst ist der Unterricht zwangsweise frontal ausgerichtet, weil das Pult an allen Unterrichtsorten fest gemauert ist und somit keine Verschiebungen zulässt. Durch die besondere Höhe und die Baumaterialien der Pulte, welche sich vom üblichen Mobiliar deutlich unterscheiden, wird eine klare Grenzziehung zwischen den Klassen und den Lehrkräften inszeniert. In der fast zwingenden Frontalausrichtung zeigt sich wiederum die Exklusivität des Physikunterrichts: Durch die Frontalinszenierung des Unterrichtsgeschehens sind immer diejenigen Schüler und Schülerinnen quasi vom Unterricht ausgeschlossen, zumindest aber deutlich benachteiligt, die weiter hinten sitzen. Die Lehrenden reflektieren dies durchaus, so lassen sie die Lernenden immer wieder an relevanten Stellen nach vorne kommen, damit alle sehen können. Die Fachlehrkräfte haben sich für dieses Problem Abhilfe über die rotierende Sitzordnung erhofft. Das Rotationsprinzip wird jedoch nicht konsequent eingehalten, so dass die im Hinblick auf Partizipationsmöglichkeiten ‚besseren’ Sitzplätze meist von den männlichen Lernenden belegt werden. Dies wiederum wird von den Fachlehrkräften nicht bemerkt und reflektiert. Verweise auf explizite geschlechtsspezifische Zuschreibungen in den Inszenierungen der Fachräume und -orte sind – bis auf die Praktiken in den Sitzordnungen – nicht erkennbar. Die Frage nach den Sitzarrangements bildet auch im Fach Physik eine Ausnahme, anhand derer deutlich auf Geschlecht als Strukturkategorie verwiesen wird. Trotz der zum Teil institutionalisierten Vorgaben durch die Fachlehrerinnen und Fachlehrer – etwa über das rotierende Prinzip – suchen sich die Jugendlichen mehrheitlich ihre Sitzplätze selbst. Dabei orientieren sie sich vor allem am Prinzip der Geschlechterhomogenität der Sitzbereiche – und stellen damit das doing gender in den Vordergrund ihrer Entscheidung. Den Schülerinnen und Schülern ist eine schlechtere Beteiligungsmöglichkeit in den hinteren Reihen durchaus bewusst, so dass an einigen Stellen auch im Sinne eines doing student Plätze im vorderen Bereich angestrebt werden. In der Regel akzeptieren die Lehrenden die Wahl der Lernenden und greifen vor allem dann ein, wenn es um disziplinierende Maßnahmen geht. In Physik sind sehr klar völlig andere Ausrichtungen und Zielsetzungen erkennbar als in Deutsch. Aus allen unterschiedlichen ausgewerteten Ebenen spricht die Zielsetzung des Faches als exklusives Wissensfeld. Wenngleich der Zugang zu und die Teilnahme an Physik wie für Deutsch über die 260

9. FAZIT: FACHKULTUREN ALS MEHRDIMENSIONALE WIRKUNGSGEFÜGE

Vorgaben des Feldes Schule geregelt wird, so stellen die Akteure und Akteurinnen ihr Fach immer wieder als besonders heraus. Diese Abgeschlossenheit wird besonders plastisch bei der Sicht auf räumliche und örtliche Inszenierungen: Grenzziehungen finden sich als zentrales Prinzip der fachkulturellen sozialen Praktiken, übereinstimmend sammelt sich das Physikwissen in einem klar abgegrenzten Bereich, schulumgangssprachlich bezeichnenderweise ‚die Physik’ genannt, die Zugänge zu den Fachorten werden räumlich und zeitlich nur über Fachlehrkräfte zugelassen, außerhalb der institutionell festgelegten Fachzeiten wird der persönliche, v. a. aber auch der Wissensaustausch (Nachfragen etc.) zwischen Lehrenden und Lernenden schwer gemacht. Zugleich findet eine Konzentration physikalischer Geräte, der Fachlehrkräfte und deren Anwesenheit an der Schule innerhalb der Fachräumlichkeiten statt. Sowohl Zeit als auch Orte stellen innerhalb der Institution Schule hart umkämpftes Kapital dar, gemessen daran kommt dem Fach Physik hier eine prestigeträchtige Position zu. Die als hegemonial konstruierte Illusio des Feldes wird an dieser Stelle sehr deutlich gleichzeitig vorausgesetzt und reproduziert. Die Konzentration auf Physik als Wissen über physikalische Inhalte und Vorgänge, welche völlig anders als in Deutsch außerfachliche und außerschulische Themen und Inhalte deutlich ausgrenzt, wird von Lehrenden und Lernenden gleichermaßen akzeptiert und getragen. Letztlich konsequent wird daher die Annahme der Fachlehrkräfte, das Interesse am Fach sei v. a. durch Einflüsse und Abläufe beeinflussbar, die außerhalb ihres Faches gesehen werden, auch als fachkulturelles Thema nicht weiter berücksichtigt. Hierin ist deutlich eine Konstruktion als exklusiver Wissensbereich erkennbar: Wer sich selber motiviert und Interesse entwickelt, ist dabei, wer nicht, bleibt selbstverantwortet außen vor. Auch das Modul Neigungskurse, welches legitim zwischen den Prinzipien des benoteten Fachunterrichts und den außerschulischen Bereichen angesiedelt werden könnte, wird entsprechend nicht angeboten, da diese Verbindung nicht der Illusio des Faches entspricht. Den Schülern und Schülerinnen gegenüber wird diese Sicht nicht transparent gemacht – zumindest nicht explizit. Sie verankern ihre Einschätzung des Faches Physik im Hinblick auf Selbstkonzepte wie auf Fachmotivation genau innerhalb des Feldes selber, deutlich sogar noch auf das Agieren der Lehrenden ausgerichtet. Der Glaube an das Feld wird somit von allen Beteiligten als ein Glaube installiert, der zentral auf Inklusions- und Exklusionsmechanismen ausgerichtet ist. Dabei spielt weniger die Abgrenzung zu anderen Fächern eine Rolle, als vielmehr die Abgrenzung nach innen, welche eine Feldzugehörigkeit ermöglicht oder eben nicht. Die hegemonialen Praktiken des Faches Physik verweisen zunächst nicht explizit auf ein gendering der Fachkultur. Hier kommt jedoch wieder die Zuweisung 261

SCHULISCHE FACHKULTUREN UND GESCHLECHT

von Feldern innerhalb unserer als zweigeteilt entworfenen Welt zum Tragen: hierarchische, ‚harte’ und theoretische Bereiche werden der männlichen Seite der Welt zugewiesen, die weibliche wäre hingegen eher kooperativ, ‚weich’ und diskursiv zugänglich. Insofern ergibt sich aus der in sich stimmigen Illusio des Faches automatisch auch eine gegenderte Illusio, da diese untrennbar miteinander verwoben sind. Innerhalb der bis hier nachgezeichneten Illusio wird Geschlecht als weiteres Inklusions- oder Exklusionsmerkmal an verschiedenen Fachausschnitten relevant: Die Prägung des Faches als männliches Fach lässt sich äußerlich quantitativ v. a. an den Geschlechterverteilungen der Lehrenden ablesen. Auch die Zahlen von (freiwilliger) Beteiligung durch die Lernenden weisen eine männliche Überzahl aus. Entscheidend sind jedoch die unsichtbaren Zuschreibungen des heimlichen Lehrplans, welche von den Fachlehrkräften und den Jugendlichen übereinstimmend entworfen werden: Die erfolgreiche Aneignung der physikalischen Fachinhalte als ‚hartes’ Wissen mit vermeintlich objektiven Wahrheiten setzt demzufolge besondere Kompetenzen voraus. Dies konzentriert sich v. a. auf Faktenwissen und wenig diskursive Auseinandersetzungen. Diese Kompetenzen werden eindeutig den Jungen zugeschrieben. Den Mädchen, welche die Kompetenzzuschreibung des Diskussionswissens für sich verbuchen können, eröffnen sich im Fach Physik nur wenige Themenbereiche, in denen sie ihre zugeschriebenen Kompetenzen erfolgreich einsetzen könnten. Hierin liegt das entscheidende gendering der Fachkultur Physik. Daraus ergeben sich Konsequenzen, die das Unterrichtsgeschehen und v. a. dessen Inhalte zu weiten Teilen bestimmen: Unterrichtsinhalte werden nicht diesen Interessenszuschreibungen angepasst, dies würde die Fachkultur Physik mit ihrem klar abgesteckten Wissensspektrum aufweichen. Vielmehr ergeben sich quasi als unveränderlich gedachte Folge Bereiche, welche den Jungen- und Mädcheninteressen anhand der angenommenen Kompetenzen zugeschrieben werden. Danach werden die ‚wirklich’ physikalischen Themen, also die Themen, die im Kern der entworfenen Fachkultur Physik anzusiedeln sind, den männlichen Lernenden zugewiesen. Den Mädchen werden Stärken und Interesse für Randbereiche der Physik übereignet. Zugleich liegen in den Zuweisungen der Bereiche nicht nur quantitative Ungleichheiten – Randbereiche kommen seltener vor als Kernthemen –, vor allem geht damit eine Wertung der (auch letztlich notenrelevanten) Fachkompetenzen einher. Die Illusio des Faches Physik unterliegt damit einer Vergeschlechtlichung als männliches Fach. Diese klar gegenderte Einteilung funktioniert nur über eine vorgenommene Dramatisierung von Geschlecht. Geschlecht wird hierbei als entscheidendes Kriterium für die Beurteilung gesetzt. Der bilinguale Physikunterricht kann sehr klar als der Fachkultur Physik zugehörig betrachtet werden, wenngleich er einige Spezifika mit sich bringt. Zunächst zeigen sich auf verschiedenen Ebenen Parallelen zu der bereits 262

9. FAZIT: FACHKULTUREN ALS MEHRDIMENSIONALE WIRKUNGSGEFÜGE

dargestellten Illusio des Unterrichtsfaches Physik allgemein: So findet der bilinguale Unterricht in den Physikfachräumen statt, die Materialien und Ausstattung sind entsprechend gleich. Die häufigen Lehrkraftwechsel lassen ebenso wie im monolingualen Physikunterricht den Schluss zu, dass die Fachlehrenden einen übereinstimmenden fachlichen Habitus inkorporiert haben, sonst würden die vielen Wechsel deutlicher den Transport der fachkulturellen Illusio gefährden. Es wäre nun zu vermuten gewesen, in der Veränderung der Unterrichtssprache entscheidende Unterschiede zum monolingualen Unterricht sehen zu können. Sprache und Inhalte stehen in dieser Unterrichtsform in einem veränderten Verhältnis zueinander. Dabei lässt der seit den 1960er Jahren entwickelte bilinguale Fachunterricht grundsätzlich zwei unterschiedliche Schwerpunktsetzungen für Unterrichtsinhalte und -konzeptionen zu: die sprachliche oder die fachinhaltliche Komponente. Der seit 1996 am Edith-Benderoth-Gymnasium erteilte bilinguale Physikunterricht ist konzeptionell als bilingualer Sachfachunterricht angelegt, die physikalischen Fachinhalte werden somit den sprachlichen Inhalten gegenüber deutlich in den Vordergrund gerückt. Die Auffassungen der Lehrenden wie auch der Lernenden verweisen darauf, dass beide Seiten dieses Konzept sehr übereinstimmend als fachkulturelle Illusio teilen. Neben den Freiräumen, welche sich über den Umgang mit der sprachlichen Ebene des bilingualen Physikunterrichts eröffnen, ergeben sich geringe Veränderungen auch im schulorganisatorischen Rahmen. Die für die Vokabelarbeit zugestandene erhöhte Unterrichtsstundenzahl führt zwar zu einer leichten Aufwertung des Faches im Stundenplan, inhaltlich bringt sie jedoch keine Veränderungen mit sich, da sie nach Aussagen der Fachlehrenden nicht explizit für die vorgesehene Spracharbeit gebraucht und genutzt wird. Die sprachliche Seite spielt aber eine bedeutende Rolle bei der Veränderung der Verantwortungs- und Kompetenzbereiche der Lehrenden: insbesondere ergeben sich andere und außerunterrichtliche Begegnungsformen z. B. durch die inhaltlich begründbare Begleitung der Englandreisen in den bilingualen Klassen in Jahrgang 8 bzw. Jahrgang 9 durch die (späteren) Physiklehrkräfte. In sozialer Hinsicht erfährt das Fach so eine deutliche Aufwertung. Generell sind offenbar im zugeschriebenen Stellenwert der Komponente ‚Sprache’ unterschiedliche Auffassungen möglich – in jedem Fall schienen diese jedoch unabhängig von der institutionell vorgesehenen Unterrichtssprachen Deutsch oder Englisch zu bestehen. So begründet die Lehrkraft, welche der Sprache einen hohen Stellenwert zuschreibt, dieses nicht mit der bilingualen Ausrichtung des Fachunterrichts, sondern sieht darin generell eine Möglichkeit, fachliche Kompetenzen zu erwerben und zu zeigen, indem die Lernenden sich sprachlich präzise ausdrücken. Auch in diesem Fall geht es jedoch primär um den sachkompetenten Erwerb physikalischer Inhalte. Dennoch ist den Lehrenden wie v.a. auch den Lernenden bewusst, dass sich 263

SCHULISCHE FACHKULTUREN UND GESCHLECHT

über die Ebene der Sprache im bilingualen Unterricht erhöhte Fehlerrisiken ergeben: nur wenn sprachliche und inhaltliche Komponente einer Antwort korrekt sind, können die Lernenden sicher sein, dass die Antwort als einwandfrei gewertet wird. Während die Lehrenden nun dieser erhöhten Anforderung mit der Eröffnung von für die sprachlicher Ebene eröffneten Freiräumen begegnen, greifen die Lernenden lieber risikominimierend auf die Inszenierungsform eines doing student zurück und antworten, wann immer möglich, auf Deutsch. Hintergrund hierfür mag sein, dass die Jungen und Mädchen die Konzepte der ihnen zugestandenen Freiräume nicht klar durchschauen, zumal diese auch nicht explizit erläutert werden. Vielmehr sind flexible Sprachwechsel im offiziellen Unterrichtsgespräch offenbar zulässig, wenngleich zwischen Lehrenden und Lernenden prinzipiell Einigkeit über die Normalität von Englisch als Unterrichtssprache zu bestehen scheint. In Interaktionen, z. B. im Rahmen von Gruppenarbeitsphasen, agieren die Schülerinnen und Schüler ohnehin ausschließlich auf Deutsch, sie nutzen die Hinterbühne jedoch auch für gegenseitige Hilfeersuchen und Hilfestellungen bei Vokabelfragen. Diese werden jedoch nicht auf die Vorderbühne gebracht, hier greift wieder das doing student. Auch die Nischen, die den Lernenden zugestanden werden, um sich sprachlich zu helfen, werden von den Lehrenden übereinstimmend mit den Handlungen der Jungen und Mädchen nur für die Hinterbühne eröffnet. In der Illusio des bilingualen Unterrichts hat sich durch das Element Sprache und den als weiblich zugeschriebenen sprachlichen Bereich – anders als möglicherweise zu erwarten gewesen wäre – kein Unterschied im gendering des Physikunterrichts gezeigt. Die reine Veränderung der Unterrichtssprache, ohne dass sich diese Veränderung auch stärker in einer veränderten Illusio der Fachkultur niederschlagen würde, zeigt offensichtlich keine Veränderung in der fachkulturellen Illusio und damit in den Konzepten des gendering in Physik.

9.2. Die Illusio des Unterrichtsfaches Deutsch Seit Beginn der Etablierung des muttersprachlichen Unterrichts als eigenes Fach variierten die Inhalte des Deutschunterrichts zwischen deutlich auf praktische und gesellschaftliche Qualifikationen ausgerichteten Inhalten einerseits, welche vor allem in der Sprach- und Schreiberziehung gesehen wurden, und allgemeinbildenden sozialisatorischen Inhalten andererseits, welche zum Teil über die Bereiche der Sprachdenklehre, vor allem aber über das Erlernen des Umgangs mit Literatur vermittelt werden sollten. Das deklarierte Ziel des Unterrichtsfaches war seit Beginn des Deutschunterrichts überwiegend die individuelle Persönlichkeitsentwicklung der Lernenden. Je nach zeitlicher 264

9. FAZIT: FACHKULTUREN ALS MEHRDIMENSIONALE WIRKUNGSGEFÜGE

Epoche unterlag die Positionierung des Faches in den Stundentafeln zeitlichen Prioritätenströmungen. Das Fach war – bis auf wenige Zeitfenster, in denen die sogenannten ‚deutschkundlichen’ Fächer zusammengelegt wurden – fast immer eigenständiges Unterrichtsfach – und dies beinhaltete die Ausbildung eines spezifischen fachkulturellen Habitus der Lehrenden, aber auch der Lernenden. Deutsch ist inzwischen seit langem eines der umfangsstärksten Fächer in der Schule, eine Erhöhung des Fachansehens und seiner Stundenzahl ging einher mit einem Stundenverlust zunächst in den altphilologischen, später dann auch v. a. in den mathematisch-naturwissenschaftlichen Fächern. Die Besonderheit des Deutschunterrichts ist, dass Inhalt und Medium deckungsgleich sind. Mit den unterschiedlichen Inhalten wurden und werden in dem Fach fächerübergreifende Qualifikationen gelehrt, im Vordergrund steht nach wie vor die Entwicklung der eigenen Lernenden-Persönlichkeit. Der muttersprachliche Unterricht, bzw. das heutige Fach Deutsch, ist bis dato in allen Schulformen Hauptfach (das bedeutet in der Regel auch nicht abwählbar), und zwar inzwischen mit gleichem Umfang und gleichen Inhalten für Jungen wie für Mädchen. Das war nicht immer so: Durch die unterschiedliche Ausrichtung auf die verschiedenen Bildungsinstitutionen und die geschlechterspezifisch unterschiedlichen Bildungszugänge überhaupt hatten Mädchen erst später Deutschunterricht, dann jedoch immer in größerem Stundenumfang. Hierin ist deutlich schon die frühe dichotome Ausrichtung zu den Naturwissenschaften – und damit auch zum Fach Physik – abzulesen. Der Schwierigkeitsgrad des Faches Deutsch gilt gemeinhin im Vergleich zu anderen Fächern als nicht besonders hoch, die erforderlichen Kompetenzen sind eher als ‚weich’ konnotierte Kompetenzen. Entsprechende Begründungen finden sich bereits bei Snow und seinen Zeitgenossen und Zeitgenossinnen, die an der sogenannten „Zwei-Kulturen-Debatte“ (1969) beteiligt waren. Entsprechend folgte für Snow daraus, dass den Disziplinen der literarisch-geisteswissenschaftlichen Kultur, zu denen auch Deutsch gezählt wurde, keinerlei Lösungspotenzial für die damals anstehenden gesellschaftlich relevanten Fragestellungen zugestanden wurde, sondern dass er dieses allein auf der Seite der naturwissenschaftlichen Kultur ansiedelte. Innerhalb der Entwicklung der Fachinhalte und -konnotationen lässt sich bis zu diesem Zeitpunkt wenig erkennen, dass die Aushandlung der Themen und Aufgaben einherging mit der Zuweisung zu einer der Geschlechtergruppen. Zumindest nicht explizit; umgekehrt gedacht, wurde die Bedeutung, die die Zuschreibungen z. B. an Schulformen mit sich brachten, nicht unter gendersensiblen Blickwinkeln reflektiert. Im Bereich des Schulfaches Deutsch wurde die Diskussion der als relevant angesehenen Fachinhalte angelehnt an die jeweiligen Zeitdiskurse, bei Snow und seinen Diskussionsgegnern und -gegnerinnen wurden ohnehin die Vertreter der beiden kulturellen Welten männlich gedacht. 265

SCHULISCHE FACHKULTUREN UND GESCHLECHT

Inzwischen sprechen die fachkulturellen Realitäten jedoch eine eigene, deutlich gegenderte Sprache: Studien v. a. im hochschulischen Bereich zeigen, dass in den Disziplinen, in denen z. B. eher kritisch-hinterfragende Wissensstrukturen vorherrschen und die zudem stärker auf Lehre als auf Forschung ausgerichtet sind – und dies sind die geistes- und sozialwissenschaftlich ausgerichteten Fächer –, Frauen zu höheren Anteilen vertreten sind als in den Fächern, in denen sich genau umgekehrte Ausrichtungen zeigen – nämlich in den Natur- und Wirtschaftswissenschaften (vgl. Nissen u a. 2003). Zugleich ordnen sich die Frauen damit den prestigeärmeren Disziplinen zu. Laut Ziegler u. a. (1998) halten Lehrkräfte Mädchen für genau diese Bereiche für geeigneter – insbesondere sehen sie deren Eignung für die Studienbereiche Grundschullehramt und sprachliche Fächer. Gleichzeitig weisen sie von sich, auf die Interessen und Begabungen der Lernenden Einfluss nehmen zu können. Schülerinnen und Schüler selber sagen aus, dass sie unterschiedliche Faktoren als förderlich wahrnehmen. Dabei zählen u. a. das Feedbackverhalten der Lehrenden und die Klarheit der Unterrichtsstruktur zu den Faktoren, welche in besonderem Maße von den Mädchen für die Ausbildung von Interesse und Leistung als wichtig erachtet werden (vgl. Horstkemper 1987 und Todt 2000). Eben diese Faktoren werden im Deutschunterricht im Sinne der Mädchen gestaltet: die Struktur und der Anlauf sind recht klar und das Feedback beinhaltet klare Regelanweisungen, es gibt häufiges Lob für die Lernenden und Kritik erfolgt als fachliches Feedback, welches Interpretationsspielräume offenlässt, und nicht als persönliche Kritik (vgl. Faulstich-Wieland/ Willems 2002). Inwieweit das Geschlecht der Lehrenden auf eine positive oder negative Prägung des Faches bei den Lernenden hinwirkt, kann über diese Studie nicht beantwortet werden. Deutlich ist jedoch, dass die Lernenden wahrscheinlicher von einer Frau unterrichtet werden als von einem Mann: das Fachkollegium Deutsch setzt sich aus 13 Frauen und 8 Männern zusammen, in den beobachteten Klassen erteilten sieben Lehrerinnen und ein Lehrer den Deutschunterricht, gemessen in Schuljahren, in denen in einer der drei Klassen der Unterricht von einem Mann erteilt wurde, beschränkt sich dieses auf einen von neun Kursen. Der auf Deutsch ausgerichtete Neigungskursbereich kommt durch die weibliche Leitung zu der weiblichen Präsenz als weiterer Bereich hinzu. Die Aussagen der Feldangehörigen zum Fach Deutsch stützen die bisher dargestellten Fachkonnotationen. Die Schülerinnen nennen das Fach Deutsch, anders als die Schüler, häufig als „interessantestes Fach“, vor allem aber auch als „Lieblingsfach“. Hingegen sehen nur wenige Jungen Deutsch als „interessantestes Fach“, bei der Einordnung als „Lieblingsfach“ ordnen sie Deutsch im Mittelfeld an. Sowohl bei den Jungen als auch bei den Mädchen liegen Fach- und Sachinteresse wie auch Begabungsselbstkonzept 266

9. FAZIT: FACHKULTUREN ALS MEHRDIMENSIONALE WIRKUNGSGEFÜGE

höher als in Physik. Wenngleich die Mädchen die besseren Noten haben, zeigen die Jungen ein höheres Selbstkonzept als ihre Klassenkameradinnen. Diese Einschätzung widerspricht den Aussagen, die sich über die v. a. nach PISA 2003, aber auch weiteren Schulleistungsstudien, gemessenen Daten ergeben: Für das Fach Deutsch ist entscheidend, dass, so PISA 2003, die Lesekompetenz der weiblichen Lernerinnen deutlich über denen der Jungen liegt, diese finden sich im Gegensatz dazu in genau diesem Bereich besonders häufig auf der untersten Kompetenzstufe. In der Lesekompetenz zeigt sich zugleich die größte Geschlechterdifferenz aller erhobenen Bereiche (vgl. PISA-Konsortium Deutschland 2004). Offensichtlich gelingt es also in Deutsch nicht, die guten Leistungen der Mädchen in ein positives Fachselbstkonzept zu übertragen, bei den Jungen funktioniert dies hingegen – und auch ohne die entsprechenden Notennachweise – umso besser. Die Lehrkräfte entwickeln in ihren Aussagen einen heimlichen Lehrplan, in dem sich die Linien der historischen Entwicklung des Faches sehr klar fortsetzen: Wichtigste Aufgabe des Faches ist ihrer Darstellung zufolge die Entwicklung einer individuellen Persönlichkeit; subjektive Positionierungen und Argumente sowie eine entsprechende Heterogenität in den Antwortmöglichkeiten werden explizit als förderlich erachtet. Konkrete Fachinhalte werden für diese Ziele nutzbar gemacht – oder hinten angestellt. Ein besonders geeignetes Medium zum Erreichen dieser Aufgabe ist der Literaturunterricht. Während die Lehrenden für die Mädchen von einem quasi natürlichen Interessensund Begabungskonzept für das Fach Deutsch ausgehen, wird den Jungen zugeschrieben, dass sie von sich aus wenig interessiert und auch wenig mit geeigneten Fähigkeiten zum Erreichen der Unterrichtsziele ausgestattet seien. Die Mädchen seien diskussionsfreudig, nähmen sich Zeit und Raum für ihre Aussagen, entwickelten Bilder im Hinblick auf die Unterrichtsthemen, die Jungen hingegen gelten als ziel- und faktenorientiert und wenig diskussionsfreudig. In der Konsequenz führt dies dazu, dass die Unterrichtsinhalte und -methoden auf die zugeschriebenen Interessen der Jungen ausgerichtet werden. Die Mädchen, so wird geurteilt, würden damit gleichermaßen motiviert und erreicht, notfalls würde ihnen eine Anpassung leichter fallen. Während die Lehrkräfte sich zum Erreichen ihrer Fachziele sehr offen auch für die außerschulischen Aktivitäten der Jugendlichen als Unterrichtsthemen zeigen und somit inner- und außerschulisches Geschehen explizit ineinander verschränken, äußern die Lernenden relativ übereinstimmend, dass sie die Brauchbarkeit des Faches Deutsch für später und für ihren Beruf als sehr gering einschätzen. Die Sprache des Feldes ergänzt die bisher dargestellten Positionen zum Fach Deutsch um weitere Facetten: Die Fachkonstruktionen, welche sich über 267

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Unterrichtsorte ablesen lassen, widerspiegeln noch erheblich deutlicher als die Aussagen der Feldangehörigen, dass die Fachgemeinschaft für das Fach Deutsch wenig fachspezifische Ressourcen exklusiv für sich beansprucht – und entsprechend auch gut ohne sie (oder gerade dadurch) ihre Fachinhalte verfolgen kann. Die Verschränkung von fachspezifischen und außerfachlichen Themen zieht sich wie ein roter Faden durch den beobachteten Bereich. Die für Lehren und Lernen benötigten Ressourcen sind immer auch für andere Fächer nutzbar und mitgestaltbar, und dies gilt auf der Ebene der Lehrkräfte genauso wie auf der Ebene der Schüler und Schülerinnen. Die Bereiche, die nicht eindeutig auch der Allgemeinheit zugewiesen sind, werden von den Lehrkräften individuell – und schon fast symbolisch im Rahmen der Größe ihres Faches im Lehrendenzimmer – gestaltet. Fachspezifische Arbeitsplätze, die exklusiv den Deutschlehrenden (oder auch -lernenden) vorbehalten wären, gibt es nicht, entsprechend für die Fachlehrkräfte auch kaum eine oder keine Rückzugsmöglichkeiten, wo sie nicht für den Ablauf des Schultages als Ansprechpartnerinnen und Ansprechpartner für Deutsch, aber vor allem auch darüber hinaus, zur Verfügung stehen. An den eigentlichen Unterrichtsorten, in den Klassenzimmern, geben die Schüler und Schülerinnen gemeinsam das Ambiente und die Gestaltung vor und greifen (zumindest bei den frei wählbaren Elementen) dabei überwiegend auf außerschulische Gestaltungselemente zurück, ansonsten prägt das klassenzimmereigene Mobiliar den Unterrichtsort. Die Ausrichtung auf eine gemeinsame und kooperative Herstellung zeigt sich auch in der Gestaltung von Räumen: Das Pult, das aufgrund seiner privilegierten Anordnung und Funktion den Lehrenden theoretisch eine besonderte Position sichern könnte, wird von diesen eher als Baustein zur Gestaltung gemeinsamer unterrichtlicher Arrangements genutzt und vor allem pragmatisch, z. B. als Ablagefläche, als Privileg jedoch wenig eingesetzt. Umgekehrt nutzen die Lernenden sehr wohl ihr Privileg, die Unterrichtsorte in ihrem Sinne zu gestalten, schließlich haben sie für Deutsch das ‚Hausrecht’. Dies eröffnet ihnen auch auf der unterrichtsinteraktionellen Ebene gute Möglichkeiten, stärker mitzubestimmen: Zu spät Kommende haben freien Zugang zum Klassenzimmer und können daher – praktisch gesehen – verhältnismäßig leicht noch in den Unterricht einsteigen. Auf der formalen Ebene scheinen die Lehrenden dieser wenig hierarchischen räumlichen Prägung zuzustimmen. In der Inszenierung von Räumen und Orten für das Fach Deutsch ist bisher keine explizite Bedeutsamkeit von Geschlechtzugehörigkeiten erkennbar. Auf allen Ebenen spiegelt sich jedoch die fachkulturelle Illusio einer gemeinsamen, ggf. sogar die außer-deutschfachkulturelle Gemeinschaft integrierenden Herstellung sozialer Kontexte über Räume und Orte. Doing differences werden über Inszenierungen als doing student oder doing discipline relevant, jedoch nicht im Sinne eines doing gender.

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9. FAZIT: FACHKULTUREN ALS MEHRDIMENSIONALE WIRKUNGSGEFÜGE

Die Sitzarrangements der Lernenden hingegen zeigen im Fach Deutsch eine deutliche Ausrichtung auf die Strukturkategorie Geschlecht: Sitzordnungen werden angewiesen und ausgehandelt in erster Linie unter doing-genderAspekten, die Lernenden wählen hierbei von sich aus in unterschiedlich großen Formationen eindeutig gleichgeschlechtliche Sitzpartnerinnen oder Sitzpartner bzw. ganze Sitzgruppen. Die Wünsche der Lernenden bilden zugleich das wichtigste Kriterium für die Entscheidungen bezüglich der Sitzordnung. Wenn die Lehrenden eingreifen, dann folgen sie disziplinierenden Vorhaben, hierfür ist es eine gängige Praxis, die gewünschten geschlechterhomogenen Anordnungen aufzulösen und die störenden Jungen oder Mädchen in gemischtgeschlechtlichen Konstellationen unterzubringen. Auch bei dieser Praxis ist Geschlecht also das vorrangige Kriterium. Bei Zuordnungen, die Freundschaften oder ein Profitieren von der Kompetenz der Klassenkameraden oder -kameradinnen relevant setzen, folgen die Jugendlichen ebenfalls wann immer möglich zunächst einer geschlechterhomogenen Zusammensetzung, zeitweise wird jedoch hier einem doing student Vorrang gegeben. Die Lernenden geben diese gegenderten Arrangements explizit vor, die Lehrenden folgen diesem Kriterium übereinstimmend. Aus den verschiedenen Blickwinkeln verdichtet sich die Illusio des Unterrichtsfaches Deutsch zu einem in sich stimmigen und fachspezifischen Gefüge. Welchen Sinn geben die Akteurinnen und Akteure also demnach ihrem Fach? Wie sehen die Spielregeln in Deutsch aus und worüber erkennen Lehrende und Lernende diese an? Und welche Relevanz wird der Kategorie Geschlecht innerhalb der untersuchten Fachkulturen zugewiesen? Zunächst lässt sich festhalten, dass Schüler und Schülerinnen ebenso wie ihre Lehrkräfte gelernt haben, das Fach Deutsch über dessen Zuweisung als eigenständiges Unterrichtsfach (und nicht etwa als Teil einer Schnittmenge aus unterschiedlichen Fächern) als unabhängiges Feld zu konzipieren. Entscheidend sind also bei der Konstruktion des Feldes die Grenzen zu anderen Feldern. Der Zutritt und die Aufenthaltsdauer der Mitglieder im Feld Deutsch sind nicht spontan, sondern institutionell geregelt, und die Fachmitglieder halten sich an diese institutionellen Vorgaben. Die deutsch-fachkulturellen Prämissen werden über die Kenntnis und Anerkennung der Feldregeln erworben. Die Illusio des Faches Deutsch verweist darauf, dass vor allem kollektives Aushandeln als selbstverständliches Ziel erachtet wird. Das Herstellen eines Fachklimas, in dem individuelle Positionen gefördert und vorschnelle, rein ergebnisorientierte Aussagen reduziert werden sollen, stand und steht an erster Stelle. Ziel der Fachkultur Deutsch ist es, die Fachressourcen, auch in materieller Hinsicht, dahingehend einzusetzen, dass jede/r Lernende möglichst optimal in seiner individuellen Persönlichkeits- und Meinungsentwicklung gefördert wird. Die Arbeitsweisen des Faches Deutsch entsprechen diesem Ziel: Die Entwicklung 269

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einer eigenen Persönlichkeit und die Kompetenz, diese auch kundtun zu können, erfordert die Positionierung als eigenständige Person (z. B. über gemeinsames Lesen und anschließenden Diskussionen über unterschiedliche Interpretationen eines Textes) sowie einen reflektierenden Umgang mit der eigenen Person, dies braucht Zeit und Spielräume. Die als besonders hilfreich erachteten Kompetenzen einer bildhaften Sprache, einer ausgeprägten Diskussionsbereitschaft und das Anliegen, sich nicht vorschnell festzulegen, stützen dies. Kommunikationsbereitschaft und -kompetenz sind notwendige Voraussetzungen für das Erreichen der Fachziele bei sich selbst und bei anderen. Auf den ersten Blick werden diese ‚Spielinhalte’ von den Beteiligten auf sehr vielfältigen Ebenen gemeinsam inszeniert und mitgetragen: Fachinhalte zählen hierzu ebenso wie die Arrangements der Unterrichtsorte. Der Umgang mit fachkulturellen Ressourcen und interaktionelle Praktiken stützen sich hier gegenseitig. Durch die dichte Beschreibung der Unterrichtskulturen in Deutsch werden an dieser Stelle weitere Differenzierungen von zwei Ausschnitten der Fachkultur möglich: zum einen die unterschiedliche Inszenierungspraktik der fachkulturellen Illusio durch die Lehrenden und die Lernenden, zum anderen ihre gendering-Mechanismen. Während Lehrende ihren Umgang mit den Jugendlichen wenig hierarchisch darstellen und sich sehr weit in den Dienst der fachkulturellen Illusio stellen – exemplarisch hierfür mag das klare und konstruktive Feedbackverhalten ebenso zählen wie die wenig privilegienorientierte Nutzung des Pults – greifen über die Inszenierungen der Lernenden soziale Arrangements zum Teil fast eher zufällig für Deutsch. Das zeigt etwa die Gestaltung der Unterrichtsorte als ‚Klassenheimat’, in der zwar auch das Fach Deutsch abgehalten wird, aber eben nicht nur dieses. Möglicherweise ist die Gestaltung der Orte für die Jugendlichen viel bedeutsamer im Hinblick auf die Pausen, dies lässt sich nicht eindeutig feststellen. Dennoch findet der Deutschunterricht auch nicht zufällig im Klassenraum statt, vielmehr wird eine Eignung des Faches für einen eher unspezifisch gehaltenen Unterrichtsort von allen Entscheidungsträgerinnen und -trägern angenommen. Auch in dem Ziel des Einbeziehens allgemeiner Themen, also auch außerunterrichtlicher Bereiche in den Deutschunterricht, gibt es eine einseitige Bewegung, die von den Lehrkräften ausgeht; umgekehrt werden die Inhalte und Ziele des Deutschunterrichts von Seiten der Jugendlichen als wenig relevant für außerschulische Perspektiven angesehen. Innen und Außen ergeben also keinen Kreislauf, sondern es erfolgen nur Inputs von außen. Auch anhand der Frage nach der Relevanz der Kategorie Geschlecht innerhalb der fachkulturellen Illusio des Faches Deutsch möchte ich den spezifischen Glauben an das Feld genauer durchleuchten: Die Konstruktion des 270

9. FAZIT: FACHKULTUREN ALS MEHRDIMENSIONALE WIRKUNGSGEFÜGE

Faches Deutsch als kommunikativ, kollektiv ausgerichtet und gleichzeitig individuell gestaltbar ist deutlich geworden. Hiermit ist zunächst noch keine explizite Aussage gemacht über ein gendering des Faches, also eine Zuweisung des Feldes zu einem Geschlecht. Die Zuweisungen, die Deutsch als ‚weiches’ Fach charakterisieren, sind jedoch unmittelbar mit unseren alltäglichen Assoziationenzu dem, was als weiblich bzw. als männlich gilt, verknüpft. Zwar handelt es sich zunächst um willkürliche Zuweisungen dieser symbolischen Repräsentationen (vgl. Goffman 2001), die Ordnungen sind jedoch extrem fest in unseren Genderkonzepten verankert. Bourdieu spricht nicht ohne Grund von „Nötigung durch Systematizität“ (vgl. s.o. 1997a und 1997b). Die Charakterisierung als ‚weich’ wird in unserer Gesellschaft dem weiblichen Bereich zugewiesen. Die Illusio des Faches Deutsch als ‚weiches’ Fach beinhaltet also zugleich die Implikationen einer Zuweisung als ‚weibliches’ Fach. Zum Maßstab erhoben werden hiermit als ‚weiblich’ zugeschriebene Kompetenzen. Ein deutlicher Verweis darauf, dass die Illusio des Faches Deutsch als gegenderte Illusio konstruiert wird, findet sich in der Tatsache, dass die Feldangehörigen diese Zuschreibung nicht mehr sehen können und sie entsprechend auch nicht in Frage stellen. Wie zeigt sich das gendering des Faches Deutsch? Zunächst wird das Fachziel für Jungen und Mädchen gleichermaßen formuliert. Die Lehrenden verweisen in ihren Positionen nun aber deutlich auf eine gegenderte Rezeption des Faches als weiblich: Um den fachspezifischen Sinn erfüllen zu können, sind von den Lernenden bestimmte Kompetenzen gefordert: Zuhören können, diskutieren mögen, sich austauschen stehen stellvertretend hierfür. Diese Kompetenzen schreiben die Lehrenden sehr eindeutig den Schülerinnen zu, sie unterstellen sogar, dass diese nicht einmal erst im Verlaufe der Deutschsozialisation erworben werden müssen, stattdessen vermuten sie eine natürliche, quasi angeborene Fachkompetenz bei den Mädchen. Im Gegensatz dazu verfügen die Jungen, so die Aussagen der Lehrenden, genau nicht über diese Fähigkeiten, sondern fast über entgegengesetzte: Zielstrebigkeit und schnörkellose Ergebnisorientierung zählen hierzu. Das Interesse der Jungen muss nun vermeintlich über kleine Umwege geweckt und wachgehalten werden, die Unterrichtskonzepte werden also konsequenterweise auf die männlichen Lernenden ausgerichtet. Dies scheint nur zum Teil erfolgreich, die Einschätzung des Faches Deutsch in den Positionen der Jugendlichen zeugen davon. Mädchen finden – wie von den Lehrkräften vermutet – das Fach wirklich interessanter als Jungen, ihre Begabung schätzen sie jedoch niedriger ein. Möglicherweise spiegelt sich hier das v. a. die Jungen aktiv inkludierende Vorgehen in Deutsch. In den fachkulturellen Interaktionen ergibt sich nun eine fast paradoxe Situation: trotz des allgemein anerkannten Fachsinns als individuell persönlichkeitsfördernd werden die Lernenden eben nicht als Individuen, sondern als Angehörige ihrer Geschlechtergruppe wahrgenommen – als männliche Deutschlerner oder 271

SCHULISCHE FACHKULTUREN UND GESCHLECHT

weibliche Deutschlernerinnen. Dabei wird weder gesehen, dass es keine einheitliche Mädchen- oder einheitliche Jungengruppe in Bezug auf Interessen und Begabung gibt, noch, dass das Zusammenspiel zwischen Themeninteresse und eigenen Voraussetzungen, wie z. B. der Begabung, bei allen Personen gleich funktioniert. Die Lehrenden trennen hingegen fachkonzeptionell ‚nur noch’ zwischen Jungen und Mädchen. Damit wird die Berücksichtigung individueller Interessen und Kompetenzen bereits auf einer vorgeschalteten Ebene beschnitten und Gender systematisch als Kategorie eingesetzt, anhand derer sich Fachinhalte, Bewertungen von Interessen und Kompetenzen und unterrichtliche Interaktionen ausrichten.

9.3. Gegenderte schulische Fachkulturen – eine symbolische Macht? Die Nachzeichnung der Illusio des Faches Physik gibt deutliche Hinweise darauf, dass die Mechanismen von Inklusion und Exklusion hier andere Züge zeigen als die Mechanismen, welche über die Illusio des Faches Deutsch entworfen werden. In beiden Fächern werden konzeptionell Zielgruppen entwickelt, auf welche das Fach ‚zugeschnitten’ wird. Für Physik wird das Bild eines Feldes mit exklusivem Zugang vermittelt – Lernende wie v.a. auch Lehrende gehen von einer ‚Normalität’ aus, nach welcher nur wenige Lernende überhaupt den Zugang zum Fach finden. Zudem gehen sie davon aus, dass weder schulische noch physik-fachkulturelle Strukturen auf den Zugang Einfluß hätten. Die vorangegangene Darstellung zeigt, dass sich diese Vorstellung auf der habituellen Ebene gleichermaßen zeigt wie auf der Ebene des Feldes. Diese Abgrenzung funktioniert zunächst v.a. als Abgrenzung zwischen Physikzugehörigkeit und Nicht-Physikzugehörigkeit, nicht in der Abgrenzung zu anderen fachkulturellen Feldern. Dieser Zugang regelt sich entsprechend auch über ausschließlich physikalische Fachthemen; fachfremde Diskurse, welche als ‚Hebammenthemen’ dienen könnten, werden praktisch nicht angeboten. In der Frage, wem dieser Zugang überhaupt zugetraut und von wem er erwartet wird, wem er aber auch möglich gemacht wird, zeigt sich der gendering-Mechanismus der Fachillusio: Jungen bilden hiernach eindeutig eher die Zielgruppe des Faches, damit geht einher, dass als männlich konnotierte Eigenschaften und Kompetenzen in Physik honoriert werden. Mädchen müssen entsprechend im Fach Physik eine doppelte Barriere brechen, um Zugänge zu finden und diese anerkannt zu bekommen: Generell ist das Fach Physik nicht individuell ausgerichtet, über die Zuschreibung würde also v.a. ein ‚kollektiver’ Zugang gelingen. Dieser bleibt ihnen jedoch auch versperrt, eben weil die Akteurinnen und Akteure unter diesem kollekti272

9. FAZIT: FACHKULTUREN ALS MEHRDIMENSIONALE WIRKUNGSGEFÜGE

ven Muster als DIE Jungen und DIE Mädchen den Mädchen Kompetenzen, Interessen und Charakteristika zuschreiben, welche für den Physikunterricht als weniger förderlich erachtet werden. Diese gegenderte Illusio überlagert die Fachkultur als mächtige Gesamtkonstruktion. Wenngleich sich im bilingualen Physikunterricht die Einflüsse von sprachlichen und physikalischen Elementen leicht ineinander verschieben, so spiegelt auch die Illusio des bilingualen Physikunterrichts die Denk- und Handlungsmuster der allgemeinen Physikillusio, es ergeben sich einige veränderte Freiräume, welche jedoch nicht die Gesamtillusio Physik in Frage stellen. In Deutsch ist die Ausrichtung des Faches an völlig anderen Prämissen orientiert: Individualität und Subjektivität prägen habituelle und feldorientierte Vorstellungen, generell werden als weiblich zugeschriebene Kompetenzen erwartet und gefördert. Die Illusio der Individualität, welche für Deutsch greift, scheint potentiell tatsächlich den Lernenden mehr Zugänge zum Fach zu ermöglichen als in Physik, dieses zeigen die Zahlen der Schülerinnen und Schüler über Interesse am Fach und Vorstellung von der Nutzbarkeit des Faches. In schul- und bildungspolitischen Debatten zeigt sich jedoch auch, dass Deutsch sehr viel stärker in die Verantwortung als ‚Mädchen für alles’ genommen wird: In Deutsch sind die Fachinhalte erkennbarer an gerade aktuellen gesellschaftlichen Diskursen (z. B. Berufsplanung, Integrationskonszepten) ausgerichtet, sich verändernde generelle und sogenannte ‚Schlüsselkompetenzen’ werden dem Aufgabenbereiches des Faches zugeschrieben. Auch die konzeptionelle Berücksichtigung eines allgemeinen Erziehungsauftrags wird von den beteiligten Akteuren und Akteurinnen wie selbstverständlich für das Fach Deutsch hoch eingeschätzt. Diese Ausrichtung der fachkulturellen Illusio bietet jedoch auch eher die Möglichkeit konzeptioneller Änderungen der Zielgruppenausrichtung. Barbara Schmenk zufolge ergeben sich entsprechend durchaus Ansätze, welche die Jungen als förderungswürdig erachten bzw. diesen honorierbare Kompetenzen für das Fach Deutsch zuschreiben (vgl. 2002, siehe auch Kapitel 2.2.). Diese Argumentation und die letztlich daraus resultierende Strategie unterliegt – ebenso wie dieses im Fach Physik greift – der kategorialen Denkweise von DEN Jungen und DEN Mädchen. Die zugrundeliegenden Zuschreibungen, welche von den Deutschfachangehörigen geteilt werden, und nach denen sich die Mädchen in Deutsch kompetent zeigen, sich dafür interessieren etc., während Jungen diese Interessen und Zugänge eben nicht in die Wiege gelegt wurden, übergehen den auf Individualität und Subjektivität gerichteten Ansatz des Faches.. Möglicherweise lässt sich das tatsächlich größere Interesse der Mädchen im Vergleich zu dem der Jungen an dem Fach Deutsch damit erklären, dass zwar in geschlechterkollektiven Erwartungen gedacht wird, jedoch individuelle Zu273

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gänge immer wieder ermöglichen, diese Kollektivzuschreibungen zu umgehen und tatsächlich als einzelne Lernerin oder einzelner Lerner wahrgenommen zu werden. In der Frage des Zusammenspiels zwischen doing gender und doing discipline insbesondere im Bereich des Sprachenlernens liegt m. E. jedoch noch einiger Forschungsbedarf. Die Illusio der fachkulturellen Felder wird in beiden untersuchten Unterrichtsfächern von allen Fachangehörigen sehr übereinstimmend – und auch in unterschiedlichen Dimensionen übereinstimmend – entworfen. Die Nachzeichnung der jeweiligen fachkulturellen Illusio der Unterrichtsfächer Physik und Deutsch eröffnet den Blick auf einen Ausschnitt symbolischer Ordnungen, kultureller Konstruktionen und symbolischer Auseinandersetzungen in der Organisation Schule. Gleichzeitig gerät damit – wie immer, wenn die soziale Praxis der Geschlechterverhältnisse fokussiert wird – die Frage der (Re-)Produktion von Machtverhältnissen in das Zentrum der Aufmerksamkeit. Wenngleich die ‚natürliche Ordnung’, welche als Prinzip dem Geschlechterverhältnis in unserer Gesellschaft zu Grunde gelegt wird, an einigen Stellen brüchig geworden ist, so stellt sich doch die Frage: „Wie wird aus einer symbolischen Ordnung, einer mentalen Repräsentation ein sozialer Operator, wie kann aus einer kulturellen Konstruktion immer wieder soziale Realität werden?“ (Krais 1993: 215f.). Bourdieu sieht einen entscheidenden Mechanismus in der generellen Struktur und Aufrechterhaltung von Herrschaftsverhältnissen in der Etablierung von symbolischer Macht.102 Demzufolge basiert die Einteilung in Herrschende und Beherrschte – im Falle der schulische Fachkulturen wäre das Pendant hierzu das Verhältnis der Ein- bzw. Ausgeschlossenen zu den fachkulturellen Feldern über spezifische fachkulturelle Zugänge – nicht auf Zwang, sondern über die Bewertungsschemata der Beteiligten, und zwar der Herrschenden wie der Beherrschten. Entscheidend dafür, dass die ungleichen Positionen aufrecht erhalten werden, ist die Zustimmung der Beherrschten. Symbolische Macht greift, weil sie in den Denk-, Wahrnehmungs- und Ordnungsschemata der Handelnden verankert ist, und letztlich „kann sie nur auf Menschen wirken, die von ihrem Habitus her für sie empfänglich sind, während andere sie gar nicht bemerken“ (Bourdieu 1990b: 28). Symbolische Macht ist tief in körperliche Dispositionen eingeschrieben, sie nimmt häufig körperliche Empfindungs- und Darstellungsformen an, welche sich z.B. im 102 Bourdieu verwendet die Begrifflichkeiten „symbolische Gewalt“ und „symbolische Macht“ anscheinend synonym, jedoch nicht ganz eindeutig. Falls sich ein Unterschied feststellen lässt, so sieht Schwingel diesen in der Bezeichnung, derzufolge die „symbolische Gewalt“ „für eine (staatlich oder durch andere Institutionen) mehr oder weniger monolpolisierte symbolische Macht verwendet wird.“ (Schwingel 1993, 212f., Herv. im Orig.).

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9. FAZIT: FACHKULTUREN ALS MEHRDIMENSIONALE WIRKUNGSGEFÜGE

Erröten, Sprechhemmungen, Zittern, aber auch in Ängstlichkeit, Schuldgefühlen etc. zeigen (vgl. Bourdieu 2001: 217). Symbolische Macht setzt voraus, dass subjektive Strukturen – der Habitus – und objektive Verhältnisse im Einklang miteinander sind, dass verinnerlicht ist, „was sich gehört“ (Krais 1993: 232). Bei diesem Konzept, welches Bourdieu als symbolische Macht bzw. symbolische Gewalt bezeichnet, geht es darum „Prozesse zu enthüllen, die für die Verwandlung [...] des kulturell Willkürlichen in Natürliches verantwortlich sind“ (Bourdieu 2005: 8). Welcher Vorteil liegt darin, fachkulturelle Wirkungsmechanismen für Lernende und Lehrende als symbolische Macht zu denken, zu bezeichnen und zu analysieren? Bourdieu sieht den Vorteil eines solchen Zugangs folgendermaßen: Die symbolische Gewalt ist eine Gewalt, die sich der stillschweigenden Komplizenschaft derer bedient, die sie erleiden, und oft auch derjenigen, die sie ausüben, und zwar in dem Maße, in dem beide Seiten sich dessen nicht bewusst sind, dass sie sie ausüben oder erleiden. Aufgabe der Soziologie wie aller Wissenschaften ist es, Verborgenes zu enthüllen; sie kann daher dazu beitragen, die symbolische Gewalt innerhalb der Beziehungen zu verringern. (Bourdieu 1998d: 21f.).

Worin liegt genau der Mechanismus gegenderter schulischer Fachkulturen, welcher so machtvoll wirkt? Meines Erachtens ist das entscheidende Prinzip, dass zwei als dichotom entworfene Bereiche konzeptionell deckungsgleich gemacht werden, und dieses passiert in der sozialen Praxis schulischer fachkultureller Felder, in habituellen Mustern wie in den materiellen Entwürfen. In der gegenderten Konstruktion der fachkulturellen Felder des Deutschund Physikunterrichts haben wir es mit dichotomen Konstruktionen auf verschiedenen Ebenen zu tun. Die Festschreibung als vergeschlechtlichte Bereiche funktioniert nun über die Herstellung einer Deckungsgleichheit der Dichotomien, welche eigentlich nicht unbedingt naheliegender Weise als verbunden zu sehen sind. Zunächst greift in unserer Gesellschaft die binäre Konstruktion der Zweigeschlechtlichkeit. Die binäre Einteilung in Männer und Frauen, welche unsere vergeschlechtlichte soziale Ordnung bestimmt, wirkt und durchdringt Organisationen, Interaktionen und unsere Blickrichtungen auf dieselben. Geschlecht ist ein wichtiger Status für jede Person, individuelle Merkmale werden jedoch verdeckt durch symbolische Konnotationen. So werden Bereiche willkürlich der männlichen oder weiblichen Welt zugeteilt (vgl. Kapitel 2.1.). Die fachkulturellen Felder Deutsch und Physik werden ebenso – und auch bereits ohne expliziten Bezug auf die Kategorie Geschlecht – als binäre Felder entworfen. Zur Kategorisierung und Zuschreibung von Inhalten, Denk275

SCHULISCHE FACHKULTUREN UND GESCHLECHT

und Wahrnehmungsstrukturen wird von den schulischen Akteurinnen und Akteuren auf gesellschaftliche Zuschreibungen zurückgegriffen, welche auch außerhalb von Schule Gültigkeit besitzen: hart, weich, objektiv, subjektiv, emotional, rational etc.. Argumente für das gendering der Fächer liefern die Setzungen in den Zuschreibungen der Geschlechtergruppen und der Fachkulturen, nach welchen Deutsch als ‚weiche’ Disziplin, als Meinungs- und Diskussionsfach entworfen wird, in dem persönliche Positionierungen und Aushandlungsprozesse gefragt sind. Tendenziell entspricht das Fach dem Pol ‚emotional’. Dieser Bereich ist als weiblich konnotiert. Physik hingegen wird als ‚harte’ Disziplin konstruiert, als ‚Faktenfach’, in dem vermeintlich objektive Wahrheiten genau einen richtigen Lösungsansatz bieten. Tendenziell entspricht das Fach dem Pol ‚rational’. Dieser Bereich ist als männlich konnotiert. Geschlechterstereotype werden in beiden Feldern auch dadurch reproduziert, dass genau das im fachkulturellen Sinne als gut, richtig oder kompetent bewertet wird, was eindeutig ist: in Physik wird ‚männliches Verhalten’ honoriert, in Deutsch ‚weibliches Verhalten’. In diesen Herstellungsprozessen geht es nicht nur um Aushandlungsprozesse zwischen einzelnen Lehrkräften und Klassen oder Individuen, sondern auch um den institutionellen Rahmen, wie z. B. Curricula, finanzielle Zuweisungen für Fächer, Orte etc.. Diese Bereiche stärken die polarisierenden Prozesse, indem sie auf Dichotomien abheben. Die symbolische Macht des gendering liegt in beiden Fachkulturen darin, dass Kategorien in doxischen Konstruktionen entworfen werden, und die daraus entstehenden Felder unhinterfragt reproduziert werden. Soziale wie mentale Strukturen transportieren die Selbstverständlichkeit der Einteilung – und damit die Inklusions- und Exklusionsmechanismen zu den fachkulturellen Feldern. Ein besonderer struktureller Mechanismus bei schulischen Fachkulturen liegt zudem darin, dass praktisch jeder und jede durch die Schulpflicht und den üblichen Fächerkanon, welchen in allen Schulformen gilt, diese Enkulturation durchläuft. Die Verschränktheit des doing gender und doing discipline zeigt sich als enges Ineinandergreifen beider Bereiche. In Anlehnung an Karin Gottschalls Wendung des „doing gender while doing work“ (1998) lässt sich hier für die fachkulturellen Felder des schulischen Physik- und Deutschunterrichts von „doing gender while doing discipline“ sprechen. Bedeutsam scheint mir jedoch eben diese Reihenfolge: Gender ist eine Dimension, welche die Prozesse des doing discipline prägt, und zwar eine entscheidende. Die Illusio des Faches Deutsch stützt sich jedoch auch auf die konzeptionelle Dimension der Individualität, im Fach Physik ist die Ausrichtung auf Exklusivität ein zentraler Baustein. Für die Perspektive eines möglichen degendering beider schulischer Fachkulturen böten diese weiteren Säulen der Felder mögliche Zugänge. 276

9. FAZIT: FACHKULTUREN ALS MEHRDIMENSIONALE WIRKUNGSGEFÜGE

Hierfür müsste ein Bewusstseinsprozess, welcher möglicherweise ein Umdenken bedeutet, in folgenden Bereichen greifen: Die Erkenntnis müsste sich durchsetzen, dass nicht nur Geschlecht auf sozialen Konstruktionen beruht, sondern auch schulische Fachkulturen. Kultur würde demzufolge als Produkt eines doing culture begriffen, Kultur als Praxis und nicht als ‚Norm’. Zudem wäre das Gleichheitspostulat, von dem Schule allgemein ausgeht, zu hinterfragen: Für Jungen und Mädchen gelten offenbar unterschiedliche Zugangsvoraussetzungen für eine ‚Kulturzugehörigkeit’ zu den Fächern Deutsch und Physik. Diese wird derzeit offensichtlich vorentschieden durch die individuelle Geschlechterzugehörigkeit. Letztlich ist für den Abbau der Vergeschlechtlichung schulischer Fachkulturen, also für ein degendering der Fachkulturen, nicht nur eine Reflektion schulischer doing gender-Prozesse, sondern auch der doing discipline-Prozesse notwendig. Insgesamt bietet das Feld vergeschlechtlicher Fachkulturen ein gutes Beispiel dafür, dass professionelles Handeln in der Schule ein grundlegend reflexives Verhältnis zu eigenem Handeln, Bedeutungsmustern und den daraus folgernden Konsequenzen beinhalten sollte. Derzeit scheint ein degendering besonders über einen entdramatisierenden Umgang mit der Kategorie Geschlecht möglich, weil hierdurch erst der Blick der Akteurinnen und Akteure schulischer Fachkulturen wieder frei würde auf die verschiedenen aus den Fachkulturen heraus entworfenen Zugangsbeschränkungen – aber auch Zugangsmöglichkeiten. Mit Judith Lorber gesprochen folgt dieses Vorgehen der Idee: „Man muss bei Gender ansetzen um Gender zu demontieren.“ (2004: 9). Dem Ziel der Realisierung einer Chancengleichheit für alle Lernden – auch unter dem Fokus unterschiedlicher schulischer Fächer – würden durch diesen Schritt die Türen m. E. deutlich geöffnet.

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300

Anhang

Bereiche des standardisierten Fragebogens 1. Selbsteinschätzungen hinsichtlich Leistungsfähigkeit, Schullust und Selbstbild Um die Selbsteinschätzung hinsichtlich der Leistungsfähigkeit zu erheben, sollten die Schülerinnen und Schüler sich auf die folgende Frage „Wenn Du Deine Leistungen mit denen Deiner Klassenkameradinnen und Klassenkameraden vergleichst, wo ordnest Du Dich zu?!“ dem ersten (=1), mittleren (=2) oder letzten Drittel (=3) zuordnen. Zur Ermittlung der Schullust wurde danach gefragt, wie gern die Schülerinnen und Schüler im großen und ganzen zur Schule gehen, Es gibt vier Antwortoptionen: 1= sehr gern, 2= ziemlich gern, 3= weniger gern, 4= gar nicht gern. Zur Ermittlung des Selbstbildes wurden angelehnt an die Androgynitätsskala nach Sandra Bem die Schülerinnen und Schüler gebeten, sich auf einem sechsstufigen Polaritätsprofil zu verorten.

2. Einschätzung der Schulfächer nach verschiedenen Kriterien In offenen Fragen sollten die Schülerinnen und Schüler angeben, wie sie einzelne Fächer in ihrer Schule einschätzen. Dazu gehörten Fragen nach dem Fach, das für sie am interessantesten ist, nach dem Lieblingsfach und nach dem unbeliebtesten Fach. Anschließend sollten sie bei sieben Gründen ankreuzen, ob die jeweilige Aussage für sie als Grund für die Wahl des Lieblingsfaches stimmt (=1) oder nicht stimmt (=2): x Das finde ich von den Themen her besonders interessant. x Da sind meine Leistungen gut. 301

SCHULISCHE FACHKULTUREN UND GESCHLECHT

x x x x x x x x x x x x x

Das kann ich außerhalb der Schule gut gebrauchen. Die Lehrerin bzw. den Lehrer finde ich besonders nett. Das finde ich in den Leistungsanforderungen nicht so schwer. Das macht mir so viel Spaß, dass es kaum wie Schule wirkt. Das kann ich später im Beruf gut gebrauchen. Gleichermaßen wurden sie gebeten, bei den folgenden Gründen anzugeben, ob sie für ihr unbeliebtestes Fach stimmen oder nicht: Das finde ich von den Themen her total uninteressant. Da sind meine Leistungen nicht besonders Das kann ich außerhalb der Schule sowieso nicht gebrauchen. Mit der Lehrerin bzw. dem Lehrer komme ich nicht gut klar. Das finde ich in den Leistungsanforderungen zu schwer. Das macht mir so wenig Spaß, dass es mir den ganzen Schultag verdirbt. Das werde ich später im Beruf auch nicht gebrauchen.

3. Fach- und Sachinteresse an den Fächern Biologie, Mathematik, Deutsch, sowie Physik in der zweiten und dritten Erhebung Die Fachinteressen wurden mit vier Items erfragt, die sich nur in der Nennung des jeweiligen Faches unterschieden. Es gab fünf Antwortstufen: x x x x

Wie viel liegt Dir daran, im Fach ... viel zu wissen? Wie gern würdest Du im Fach ... noch mehr Stunden haben als bisher? Wie sehr freust Du Dich auf eine Stunde im Fach ...? Wie viel liegt Dir daran, den Stoff des Fachs ... zu behalten?

Zur Ermittlung der Sachinteressen an einem Fach sollten die Schülerinnen und Schüler jeweils bei vier bis fünf Items ankreuzen, wie gut die Aussage für sie zutrifft. Es gab vier Antwortmöglichkeiten: Trifft voll und ganz zu = 1, trifft etwas zu = 2, trifft weniger zu = 3, trifft überhaupt nicht zu = 4. Biologiesachinteressen sollten durch folgende Items erfasst werden: x Die Beschäftigung mit biologischen Themen ist für mich sehr wichtig unabhängig von der Schule und anderen Personen. x Auf die Beschäftigung mit Biologie würde ich ungern verzichten, einfach weil sie mir Freude macht. x Für die Beschäftigung mit biologischen Dingen bin ich auch bereit, meine Freizeit zu verwenden. x Wenn ich mich mit biologischen Dingen befasse, kann ich darin richtig versunken sein. x Das Sachinteresse an Deutsch beinhaltete folgende Fragen: 302

ANHANG

x Texte zu lesen und selbst zu verfassen macht mir einfach großen Spaß. x Es ist mir sehr wichtig, mich im Deutschen gut und gewandt verständlich machen zu können. x Es bedeutet mir viel, mit der deutschen Sprache und Literatur vertrauter zu werden. x Ich habe große Freude daran, beim Bücherlesen Entdeckungen zu machen. x Ich bin bereit, auch einen Teil meiner Freizeit dafür zu verwenden, die deutsche Sprache und Literatur besser kennen zu lernen. Folgende Items bezogen sich auf die Sachinteressen an Mathematik: x An einem mathematischen Problem zu knobeln, macht mir einfach Spaß x Es ist für mich persönlich wichtig, ein/e gute/r Mathematiker/in zu sein x Wenn ich an einem mathematischen Problem sitze, kann es passieren, dass ich gar nicht merke, wie die Zeit verfliegt. x Wenn ich in Mathematik etwas Neues dazulernen kann, bin ich bereit, auch Freizeit dafür zu verwenden. x Mathematik gehört für mich persönlich zu den wichtigsten Dingen. Das Physiksachinteresse wurde mit diesen Items abgefragt: x Die Beschäftigung mit physikalischen Themen und Gegenständen ist für mich sehr wichtig – unabhängig von der Schule und anderen Personen. x Auf die Beschäftigung mit Physik würde ich ungern verzichten, einfach weil sie mir Freude macht. x Für die Beschäftigung mit physikalischen Dingen bin ich auch bereit, meine Freizeit zu verwenden. x Wenn ich mich mit physikalischen Dingen befasse, kann ich darin richtig versunken sein. Das Selbstkonzept der Begabung für die einzelnen Fächer wurde ebenfalls mit je fünf Items erfragt, die sich nur in der Fachbezeichnung unterschieden. Auch hier waren die Einschätzungen vierstufig: x ... würde ich viel lieber machen, wenn das Fach nicht so schwer wäre. x Obwohl ich mir bestimmt Mühe gebe, fällt mir ... schwerer als vielen meiner Mitschüler/innen. x Kein Mensch kann alles... Für ... habe ich einfach keine Begabung. x Bei manchen Sachen in ..., die ich nicht verstanden habe, weiß ich von vornherein: „Das verstehe ich nie!“ x ... liegt mir nicht besonders.

303

SCHULISCHE FACHKULTUREN UND GESCHLECHT

4. Einstellungen zu Fragen der Gleichberechtigung, zum Klassenklima und zum Selbstwertgefühl In Anlehnung an Einstellungen zur Geschlechtsrollenorientierung haben wir von Kraul/ Horstkemper (1999) zwei Skalen übernommen, mit denen Vorstellungen zur Gleichheit und Gleichbehandlung der Geschlechter erfasst werden sollten. Dazu gehörten zum einen die zwölf Items umfassende Skala zur gleichen Eignung sowie acht Items zur Einstellung zur gleichen Erziehung von Mädchen und Jungen erfragt werden – beide mit Antwortmöglichkeiten auf einer fünfstufigen Skala (finden in diesem Bericht keine Beachtung). Das Klassenklima wurde mit einer 14 Items umfassenden Skala erfragt. Die Skalierung erfolgte fünfstufig mit den Antwortmöglichkeiten ++ = sehr richtig, + =eher richtig als falsch, 0 = weder richtig noch falsch, – = eher falsch als richtig, -- = sehr falsch. Die negativ formulierten Items wurden bei der Berechnung natürlich umgepolt. x In unserer Klasse halten alle zusammen. x Ich habe in unserer Klasse mehrere gute Freunde/Freundinnen. x Bei uns kommen ziemlich oft Prügeleien vor. x In unserer Klasse helfen sich alle gegenseitig. x Es wäre gut, wenn einige Schüler/innen nicht zu unserer Klasse gehören würden. x In unserer Klasse versucht jede/r, möglichst besser zu sein als die Anderen. x Die Konkurrenz in unserer Klasse ist ziemlich stark. x Die meisten Mitschüler/innen in meiner Klasse kann ich gut leiden. x Wenn man in unserer Klasse nicht zu einer Clique gehört, hat man es schwer. x Unsere Klasse hält dicht, wenn ein/e Lehrer/in was ’rauskriegen will x Viele Schüler/innen sind hier manchmal neidisch, wenn andere bessere Leistungen haben als sie. x Mit jemandem, der oft schlechte Noten bekommt, möchte ich nicht befreundet sein. x Wenn jemand bei einer Klassenarbeit abschreibt, kann es sein, dass er verpetzt wird. x In unserer Klasse sieht jeder nur auf seinen Vorteil, wenn es um die Noten geht. x Schließlich wurde mit zehn Items das Selbstwertgefühl der Schülerinnen und Schüler gemessen. Auch diese Skala bot fünfstufige Antwortmöglichkeiten: ++ = sehr richtig, + =eher richtig als falsch, 0 = weder richtig noch falsch, – = eher falsch als richtig, -- = sehr falsch. x Im großen und ganzen neige ich dazu, mich für einen Versager zu halten. x Ich wollte, ich könnte von mir eine bessere Meinung haben. 304

ANHANG

x x x x x x x x

Ich glaube, ich habe eine Reihe guter Eigenschaften. Ich kann mich selbst gut leiden. Manchmal komme ich mir wirklich nutzlos vor. Ich glaube, dass ich mindestens soviel wert bin wie die Anderen. Im großen und ganzen bin ich mit mir zufrieden. Ich kann das meiste ebenso gut wie die anderen Ich habe nicht viel Grund, stolz auf mich zu sein. Ich denke oft, ich tauge überhaupt nichts.

5. Angaben über peer Beziehungen Schließlich umfasste der Fragebogen noch Angaben über das Verhältnis der Schülerinnen und Schüler zu den Gleichaltrigen. Gefragt wurde danach, ob sie sich außerhalb der Schule häufig mit Klassenkameradinnen und Klassenkameraden treffen. Als Antwortoptionen konnten sie ankreuzen: Ja, mit fast allen = 1, Ja, aber nur mit meiner Clique = 2, nein, eigentlich selten = 3. In der ersten Erhebung wurde auch der Versuch gemacht, Auskunft über Freundschaften zu erhalten. Dabei überforderte aber wohl die Differenzierung in „bester Freund“, „beste Freundin“, „fester Freund“ und „feste Freundin“ die Jugendlichen, so dass die Frage nicht sinnvoll ausgewertet werden konnte und in den folgenden Erhebungen entfiel.

Leitfaden der Konstruktinterviews Eröffnungsphase Vorstellung Inteviewerin und Stud. Forschungskontext DFG-Projekt und Hilfskraft, Forschungskontext Dissertationsfragestellung erläutern Hintergrund/ Planung der Interviews

alle Physik und Deutsch-Lehrkräfte der drei Klassen werden interviewt

Weitere Verwendung

Interviews werden in Dissertation ausgewertet und dafür aufgenommen und später transkribiert

Anonymisierung

alle Angaben werden anonymisiert

Zeitlicher Ablauf

vereinbart 60-90 Minuten fünf Fragen (Leitfaden) vorbereitet

305

SCHULISCHE FACHKULTUREN UND GESCHLECHT

Rollenverteilung Interviewerinnen

ich interviewe, Hilfskraft protokolliert

Block 1: Einstieg (warming up)

Könnten Sie uns kurz ihre Funktion an der Schule nennen? (ggf. FachleiterIn, Vertrauensperson, Ausschüsse...) Seit wann sind Sie Physiklehrer/ Deutschlehrerin in der jetzigen Klasse X?

Charakterisierung der Klasse Nachfragephase

Wie würden Sie die Klasse charakterisieren? mögliche Nachfragekategorien: Veränderungen im Längsschnitt, Leistungen, Geschlechterunterschiede, Sitzordnung, Arbeitsatmosphäre/ Disziplin, Fachinteresse, Klasse auf eigenen Wunsch übernommen?

Block 2: Unterrichtsplanung/ Ver- Wenn Sie sich die letzte Physik-/ lauf Deutschstunde in der Klasse X ins Gedächtnis rufen: Würden Sie uns zu dieser Stunde zunächst beschreiben, wie die Stunde ablief? Wie hätten Sie die Stunde gerne gehabt/ was hatten Sie anders geplant?

Nachfragephase

mögl. Nachfragekategorien: Arbeitsatmosphäre/ Disziplin: wie stellen Sie die her?, Mitarbeit, Material, methodische Form, Hausaufgaben: welche Rolle?, Sitzordnung, Kompetenzzuschreibungen/ Notenkonstruktionen, Rahmenbedingungen Physik-/ Deutschunterricht, Fachimage?

Unterscheidung generelle Abläufe – konkrete Beispiele !! einmalige Situationen Block 3: Fachkultur Sicht der Lehrkraft

306

Was ist Ihrer Meinung nach das Besondere am Physik-/ Deutschunterricht? (Sicht L-Sus?)

ANHANG

Abgrenzung Fächer

Worin unterscheidet sich Ihrer Meinung nach der Physikunterricht als naturwiss. Fach von einem geisteswiss. Fach wie etwa Deutsch? Abgrenzungen zu anderen Nawi? Wo sehen Sie Gemeinsamkeiten?

Ggf. bilingualer Physikunterricht

Worin unterscheidet sich der Physikunterricht auf englisch von dem auf deutsch? Was unterrichten sie lieber? Warum?

Nachfragephase

mögliche Nachfragen zu: Experimenten, methodischen Möglichkeiten, Fachsozialisation, ggf. zu bilingual: zusätzliche Stunde: wie verfügbar? Sehen Sie Unterschiede zwischen Jungen und Mädchen in bezug auf Ihr Unterrichtsfach? Wo (konkrete Beispiele, einzelne Ss?)? Sehen Sie Gemeinsamkeiten? Wo (konkrete Beispiele, einzelne Ss?)? evtl. Längsschnitt: Haben Sie Veränderungen zwischen der 8./9. und der 9./10. Klasse festgestellt?

Block 4: Geschlechterunterschiede im Physik-/ Deutschunterricht

Nachfragephase

Haben Sie sich schon einmal gewünscht, geschlechterhomogene Gruppen zu unterrichten? Warum?

Abschluss

Gibt es noch irgendetwas, was wichtig ist...? Herzlichen Dank!

Validierung

Das Interview kann transkribiert zur Validierung zur Verfügung gestellt werden. Wann?

307

308 63

Deutsch

74

58

396

35

36

139

19

15

78

20

7

179

Gesamt

17

13

97

7

7

31

3

3

10

7

3

56

Tandem

Protokolle

Video-

4

9

18

9

53

20 7

9

2

13

29

7

23

6

3

12

2

-

18

6

11

17

Audioaufnahme

4

1

2

7

2

4

1

1

5

aufnahme

4

6

-

1

6

Sitzplan

2

5

8

2

5

8

-

-

-

-

-

-

Lehrkraft

Fokussierung

12

12

36

12

12

36

-

-

-

-

-

-

Lernende

Fokussierung

protokolliert wurden, weicht die Anzahl der beobachteten Unterrichtsstunden teilweise von der Summe der Protokolle ab.

Da einige Unterrichtsstunden durch verschiedene, parallel erhobene Methoden dokumentiert wurden, und andere Situationen ausserhalb des Unterrichtes

48

Physik

295

28

Deutsch

Gesamt

29

92

Feldphase 3

Physik

22

Deutsch

80

Feldphase 2 15

13

Deutsch

Physik

4

123

Stunden

Beobachtete

Physik

Feldphase 1

Fach

Feldphase /

SCHULISCHE FACHKULTUREN UND GESCHLECHT

Überblick über die erhobenen Daten

ANHANG

Abbildungsverzeichnis Abbildung 1 Schulabschlüsse weiblicher Absolventinnen an allgemeinbildenden Schulen 1967-2004 Abbildung 2 Unterricht im Klassenraum Abbildung 3 Physikhörsaal Abbildung 4 Physikpraktikumsraum (‚normaler’ Physikraum) Abbildung 5 Physiksammlung Abbildung 6 Sitzplan im Physikraum im Schuljahr 1998/99 Abbildung 7 Sitzplan der Klasse B im Klassenraum bis 7.10.98 Abbildung 8 Sitzplan der Klasse B im Klassenraum ab 8.10.98 Abbildung 9 Sitzordnung der Klasse C im 7. Jahrgang Abbildung 10 Sitzordnung der Klasse C nach den Herbstferien im 8. Jahrgang Abbildung 11 Neue Sitzordnung Klasse C im 9. Jahrgang Abbildung 12 Sitzordnung im Physikraum, Klasse A, Schuljahr 1999/2000

78 208 217 218 219 230 233 235 239 240 241 243

Tabellenverzeichnis Tabelle 1 Tabelle 2 Tabelle 3 Tabelle 4 Tabelle 5 Tabelle 6 Tabelle 7 Tabelle 8 Tabelle 9 Tabelle 10 Tabelle 11

Mittelwerte und Geschlechterdifferenzen in den Ergebnissen aus PISA 2003 Anteile von Mädchen und Jungen auf den Kompetenzstufen aus PISA 2003 Übersicht über die unterrichtenden Lehrkräfte in den Klassen A, B und C Auswertbare Fragebögen Rangplätze der Fächer Deutsch und Physik als „interessantestes Fach“ Rangplätze der Fächer Deutsch und Physik als „Lieblingsfach“ Rangplätze der Fächer Deutsch und Physik als unbeliebtestes Fach Fach- und Sachinteressen sowie Selbstkonzept der Begabung für die Fächer Deutsch und Physik – Klasse A, B, und C Fach- und Sachinteressen sowie Selbstkonzept der Begabung für die Fächer Deutsch und Physik – Klasse A Fach- und Sachinteressen sowie Selbstkonzept der Begabung für die Fächer Deutsch und Physik – Klasse B Fach- und Sachinteressen sowie Selbstkonzept der Begabung für die Fächer Deutsch und Physik – Klasse C

79 80 127 155 157 157 159 161 163 164 164

309

Dank Ich habe in der Zeit des Schreibens an dieser Studie vielerlei Unterstützung von mir wichtigen Personen erfahren. Dafür möchte ich mich sehr herzlich bedanken, ich vermute, dass es mir ohne diese Unterstützung nicht so viel Spaß gemacht hätte. Ein großer Dank gilt den Schülerinnen und Schülern sowie den Lehrkräften des Edith-Benderoth-Gymnasiums, welche mich an „ihrer Welt“ haben teilnehmen lassen. Ganz besonders danke ich Prof. Dr. Hannelore Faulstich-Wieland für ihre Anregungen, auch für ihre Kritik und für ihre Kunst der Balance zwischen Anleiten und Probieren lassen. Ohne die Arbeit im Team wäre eine Erhebung in diesem Umfang nicht möglich gewesen, hierfür möchte ich mich bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des sozkon-Teams, insbesondere bei Dr. Damaris Güting, bedanken. Meinen Kolleginnen und Kollegen aus verschiedenen Forschungskolloquien danke ich für die vielen anregenden und intensiven Diskussionen, stellvertretend seien hier Dr. Marianne Dierks, Dr. Petra Merziger, Tanja Sturm, Simone Tosana und Stefan Dierbach genannt. Ein besonderer Dank gilt meinen beiden wichtigsten „Begleitpersonen“ Dr. Jürgen Budde und Dr. Bettina Suthues für die Motivation und die Erkenntnis, dass weniger manchmal mehr ist. Dr. Nina Feltz danke ich für den Mut und die Zeit danach. Meinen Eltern Annegret und Karl Willems bin ich für ihre vielfältige Unterstützung sehr dankbar. Die größten Anteil an dieser Arbeit haben jedoch die drei wichtigsten Menschen in meinem Leben geleistet: Marcial Velasco Garrido und unsere beiden Töchter Emma Luna und Lara. Für Eure Toleranz, mir Frei-Räume zu geben, Hochs- und Tiefs zu (er-)tragen und den Blick für die anderen wichtigen Dinge im Leben zu erhalten bin ich zutiefst dankbar: ¡Gracias por todo! 311

Theorie Bilden Hans-Christoph Koller, Winfried Marotzki, Olaf Sanders (Hg.) Bildungsprozesse und Fremdheitserfahrung Interdisziplinäre Beiträge zu einer Theorie transformatorischer Bildungsprozesse

Bettina Suthues Umstrittene Zugehörigkeiten Positionierungen von Mädchen in einem Jugendverband

April 2007, ca. 250 Seiten, kart., ca. 25,80 €, ISBN: 978-3-89942-588-8

Peter Faulstich (Hg.) Öffentliche Wissenschaft Neue Perspektiven der Vermittlung in der wissenschaftlichen Weiterbildung

Katharina Willems Schulische Fachkulturen und Geschlecht Physik und Deutsch – natürliche Gegenpole? April 2007, 314 Seiten, kart., 30,80 €, ISBN: 978-3-89942-688-5

Andrea Sabisch Inszenierung der Suche Vom Sichtbarwerden ästhetischer Erfahrung im Tagebuch Februar 2007, 290 Seiten, kart., 31,80 €, ISBN: 978-3-89942-656-4

Jenny Lüders Ambivalente Selbstpraktiken Eine Foucault’sche Perspektive auf Bildungsprozesse in Weblogs Januar 2007, 280 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN: 978-3-89942-599-4

Michael Wimmer Dekonstruktion und Erziehung Studien zum Paradoxieproblem in der Pädagogik

2006, 296 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN: 978-3-89942-489-8

2006, 244 Seiten, kart., 19,80 €, ISBN: 978-3-89942-455-3

Hans-Christoph Koller, Markus Rieger-Ladich (Hg.) Grenzgänge Pädagogische Lektüren zeitgenössischer Romane 2005, 178 Seiten, kart., 20,80 €, ISBN: 978-3-89942-286-3

Jürgen Budde Männlichkeit und gymnasialer Alltag Doing Gender im heutigen Bildungssystem 2005, 268 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN: 978-3-89942-324-2

Andrea Liesner, Olaf Sanders (Hg.) Bildung der Universität Beiträge zum Reformdiskurs 2005, 164 Seiten, kart., 18,80 €, ISBN: 978-3-89942-316-7

2006, 420 Seiten, kart., 33,80 €, ISBN: 978-3-89942-469-0

Leseproben und weitere Informationen finden Sie unter: www.transcript-verlag.de