Geschichtswissenschaft in Greifswald: Festschrift zum 150jährigen Bestehen des Historischen Instituts der Universität Greifswald 3515109463, 9783515109468

Im Wintersemester 2013/14 feierte das Historische Institut der Universität Greifswald sein 150jähriges Bestehen. Anlässl

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German Pages 297 [302] Year 2015

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INHALTSVERZEICHNIS
VORWORT
DIE ENTWICKLUNG DER GESCHICHTSWISSENSCHAFT AN DER UNIVERSITÄT GREIFSWALD 1765–1863
VOM „MITGLIED DES HISTORISCHEN SEMINARS“ IM JAHR 1863 ZUM MODULARISIERTEN BACHELOR-STUDENTEN DES JAHRES 2013
DAS MITTELALTER IN FORSCHUNG UND LEHRE AM HISTORISCHEN INSTITUT IM 19. UND 20. JAHRHUNDERT
VON ERNST MORITZ ARNDT ZU HERBERT LANGER
ERNST BERNHEIM
NORDEUROPAFORSCHUNG IM HISTORISCHEN INSTITUT
OSTEUROPA, OSTFORSCHUNG UND OSTEUROPÄISCHE GESCHICHTE IN GREIFSWALD
HISTORIKER UND GESCHICHTSSCHREIBUNG IN GREIFSWALD VON 1945 BIS 1970
VERGANGENHEIT, DIE NICHT VERGEHT
INNOVATION UND INDOKTRINATION
„DIE BREITE MASSE (…) ZUR LEITUNG (…) BEFÄHIGEN.“
PERSONENREGISTER
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Geschichtswissenschaft in Greifswald: Festschrift zum 150jährigen Bestehen des Historischen Instituts der Universität Greifswald
 3515109463, 9783515109468

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BEITRÄGE ZUR GESCHICHTE DER UNIVERSITÄT GREIFSWALD



BAND 11

NIELS HEGEWISCH / KARL-HEINZ SPIESS / THOMAS STAMM-KUHLMANN (HG.)

GESCHICHTSWISSENSCHAFT IN GREIFSWALD FESTSCHRIFT ZUM 150JÄHRIGEN BESTEHEN DES HISTORISCHEN INSTITUTS DER UNIVERSITÄT GREIFSWALD

FRANZ STEINER VERLAG STUTTGART

GESCHICHTSWISSENSCHAFT IN GREIFSWALD

BEITRÄGE ZUR GESCHICHTE DER UNIVERSITÄT GREIFSWALD HERAUSGEGEBEN VON DIRK ALVERMANN, MARIACARLA GADEBUSCH BONDIO, THOMAS K. KUHN, KONRAD OTT, JÜRGEN REGGE UND KARL-HEINZ SPIESS MITBEGRÜNDET VON CHRISTOPH FRIEDRICH, JÖRG OHLEMACHER UND HEINZ-PETER SCHMIEDEBACH

BAND 11

FRANZ STEINER VERLAG STUTTGART 2015

GESCHICHTSWISSENSCHAFT IN GREIFSWALD Festschrift zum 150jährigen Bestehen des Historischen Instituts der Universität Greifswald HERAUSGEGEBEN VON NIELS HEGEWISCH, KARL-HEINZ SPIESS UND THOMAS STAMM-KUHLMANN

FRANZ STEINER VERLAG STUTTGART 2015

Umschlagbild: Aufriss der Fassade aus dem Bauplan des Institutsgebäudes in der Domstraße 9a in Greifswald vom 1. März 1912 mit freundlicher Genehmigung des Universitätsarchivs Greifswald

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. ISBN 978-3-515-10946-8 (Print) ISBN 978-3-515-10947-5 (E-Book) Jede Verwertung des Werkes außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere für Übersetzung, Nachdruck, Mikroverfilmung oder vergleichbare Verfahren sowie für die Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen. Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. © 2015 Franz Steiner Verlag, Stuttgart Druck: Offsetdruck Bokor, Bad Tölz Printed in Germany

INHALTSVERZEICHNIS

Vorwort ................................................................................................................... 7 Michael Czolkoß Die Entwicklung der Geschichtswissenschaft an der Universität Greifswald 1765–1863 ............................................................................................ 9 Thomas Stamm-Kuhlmann Vom „Mitglied des Historischen Seminars“ im Jahr 1863 zum modularisierten Bachelor-Studenten des Jahres 2013. Wissenschaftsgeschichtliche und hochschuldidaktische Reflexionen ............................................................................... 53 Karl-Heinz Spieß Das Mittelalter in Forschung und Lehre am Historischen Institut im 19. und 20. Jahrhundert ......................................................................................... 65 Michael North Von Ernst Moritz Arndt zu Herbert Langer. Protagonisten der neueren Geschichte in Greifswald ...................................................................................... 83 Frank Möller Ernst Bernheim. Geschichtstheorie und Hochschuldidaktik im Kaiserreich ........ 99 Jens E. Olesen Nordeuropaforschung im Historischen Institut ................................................... 119 Mathias Niendorf Osteuropa, Ostforschung und Osteuropäische Geschichte in Greifswald. Vom 20. ins 21. Jahrhundert ............................................................................... 135 Tomasz Ślepowroński Historiker und Geschichtsschreibung in Greifswald von 1945 bis 1970 ............ 175 Niels Hegewisch Vergangenheit, die nicht vergeht. Kontinuitätslinien Greifswalder Arndt-Rezeption 1931–1985 ............................................................................... 189 Martin Buchsteiner Innovation und Indoktrination. Die Geschichtsmethodik an der Universität Greifswald zwischen 1945 und 1990 .................................................................. 215

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Inhaltsverzeichnis

Martin Nitsche „Die breite Masse (…) zur Leitung (…) befähigen.“ Theorie und Empirie der Greifswalder Geschichtsmethodik zwischen Idealismus und Indoktrination (1960 bis 1990) ................................................................................................... 273 Personenregister .................................................................................................. 293

VORWORT Wissenschaftliche Institutionen sind von den methodischen und didaktischen Konzepten nicht zu trennen, zu deren Verwirklichung sie geschaffen wurden. Wenn eine Einrichtung wie das Historische Institut der Universität Greifswald seit über 150 Jahren existiert, bedeutet das, dass an den zum ersten Mal 1863 verankerten Grundsätzen weiterhin Bedarf besteht und dass diese Einrichtung es vermocht hat, dem Wandel der Wissenschaftsentwicklung zu folgen. Eine ideologieanfällige Disziplin wie die Geschichtswissenschaft steht freilich auch unter der Anforderung, sich den politischen und gesellschaftlichen Konjunkturen zu öffnen, was ein Risiko sein kann. Insofern müssen Greifswalder Historiker von heute die Genugtuung über die lange Tradition ihres Faches mit der Reflexion darüber verbinden, wie es die Abfolge der verschiedensten Regime überstanden hat. Als 1863 ein „Historisches Seminar“ ins Leben gerufen wurde, bewegte man sich noch im Horizont der preußischen Monarchie und des Deutschen Bundes. Kaiserreich, Weimarer Republik, Nationalsozialismus, Besatzungsherrschaft, Deutsche Demokratische Republik und Bundesrepublik Deutschland folgten. Wo einstmals besonders die hohe Schule der Quellenkritik an vorwiegend lateinischen Texten des Altertums und des Mittelalters eingeübt wurde und noch immer geübt wird, wird heute auch über Globalisierung und europäische Integration geforscht und gelehrt. Schon das 100jährige und das 125jährige Bestehen des Instituts sind zu Rückblicken genutzt worden und es gehört zum Charakter von Jubiläen, dass sie ihrerseits eines Tages historisiert werden und als Quelle für den jeweiligen Zeitgeist dienen können. Das wird auch diesem Band widerfahren. Es bleibt aber immer ein Bestand gesicherten Wissens, auf dem nachfolgende Generationen aufbauen können. Zumindest gilt dies für genau den Zeitraum, in dem das Historische Institut der Universität Greifswald existiert. Zum Wintersemester 2013/14 hatten die Lehrstuhlinhaber des Historischen Instituts beschlossen, in einer Ringvorlesung die Geschichte ihrer Disziplinen in Greifswald vorzustellen. Erfreulicherweise haben weitere heute am Historischen Institut tätige Dozenten und fortgeschrittene Studenten die Gelehrtengeschichte des 19. Jahrhunderts und die Geschichtsmethodik des 20. Jahrhunderts beleuchtet – auch zwei der berühmtesten Namen, die sich mit Greifswald verbinden, nämlich Ernst Moritz Arndt und Ernst Bernheim, wurden besonders gewürdigt. Das Jubiläum selbst wurde in einem von der Rektorin und dem Oberbürgermeister der Hansestadt Greifswald sowie zahlreichen weiteren Gästen besuchten Festakt in der historischen Aula am 24. Oktober 2013 begangen. Der aus den Vorträgen erwachsene Sammelband zeichnet nun die Traditionslinien der Greifswalder Geschichtswissenschaft vom frühen 19. bis ins 21. Jahrhundert nach. Die Herausgeber danken den Autoren, die ihren Vortrag für den

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Vorwort

Druck überarbeitet haben, und für die Gelegenheit zur Veröffentlichung in den Beiträgen zur Geschichte der Universität Greifswald. Greifswald, im März 2015 Niels Hegewisch Karl-Heinz Spieß Thomas Stamm-Kuhlmann

DIE ENTWICKLUNG DER GESCHICHTSWISSENSCHAFT AN DER UNIVERSITÄT GREIFSWALD 1765–1863 Michael Czolkoß 1. Einleitung Der vorliegende Beitrag soll dazu dienen, die 1863 erfolgte Gründung des Historischen Seminars an der Universität Greifswald im größeren Kontext der Entstehung der Disziplin „Geschichtswissenschaft“ zu verorten.1 Die Institutionalisierung historischer Seminare erfolgte dabei in einer regelrechten Gründungswelle, die in den deutschen Staaten und in Österreich im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts im Wesentlichen abgeschlossen war.2 Da diese Institutionalisierung in gewisser Hinsicht den Abschluss des Disziplinbildungsprozesses darstellt, erstreckt sich der Untersuchungszeitraum im Kern vom Jahre 1765 bis in die 1860er Jahre. 1765 markiert für Greifswald eine Zäsur, da in diesem Jahr die Professur für Geschichte und Moralphilosophie getrennt und somit erstmals eine eigenständige Geschichtsprofessur geschaffen worden war. In Anlehnung an Sebastian Manhart3 werde ich der These nachgehen, dass man den Disziplinbildungsprozess anhand einer zunehmend exklusiven Reflexivität des Faches und des Studiengangs „Geschichte“ sowie der Kategorie „Geschichtsforschung“ beobachten kann. Das Fach Geschichte wird dabei vertreten durch die Gesamtheit aller Geschichtsdozenten an einer jeweiligen Universität. In dem hier gewählten Untersuchungszeitraum traten dabei nur Professoren und einige wenige Privatdozenten in Erscheinung. Das Wort Studiengang verwende ich im heutigen Sinne. Hier kann man folglich die Frage stellen, ab wann es möglich war, sich in Greifswald oder auch andernorts für ein Studium der Geschichte einzuschreiben. Etwas unschärfer ist die Kategorie Geschichtsforschung. Darunter   1

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Der Aufsatz beruht zu großen Teilen auf meiner Masterarbeit (Zur Entwicklung von Professionalitätskriterien und Disziplin. Die Greifswalder Geschichtswissenschaft im Kontext der preußischen Hochschullandschaft – von den 1830er Jahren bis zur Institutsgründung 1863), die ich im SoSe 2013 an der Universität Greifswald eingereicht habe. Basierend auf dieser Arbeit erscheint demnächst Michael Czolkoß, Studien zur Geschichte der Geschichtswissenschaft. Die Universität Greifswald in der preußischen Hochschullandschaft (1830–1865), Marburg 2015. Mein besonderer Dank für seine zahlreichen Anregungen zu diesem Aufsatz gilt Dr. Dirk Alvermann (Universitätsarchiv Greifswald). Siehe unten Übersicht 1. Sebastian Manhart, In den Feldern des Wissens. Studiengang, Fach und disziplinäre Semantik in den Geschichts- und Staatswissenschaften (1780–1860), Würzburg 2011.

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Michael Czolkoß

möchte ich ebenfalls im heutigen Sinne den „organisierten Kommunikationszusammenhang von Spezialisten“4 über die Geschichte und den Gegenstandsbereich der Geschichtswissenschaft verstanden wissen. Das Wort Spezialisten verweist hier darauf, dass zwar theoretisch Jeder und Jede versuchen kann, sich in diesen Kommunikationszusammenhang einzuschalten, sei es durch die Publikation von Büchern oder heutzutage durch das Verfassen von Wikipedia-Artikeln. Um jedoch den Stand der Forschung beeinflussen zu können, müssen die Arbeiten in gewissen Medien rezipiert, bzw. selbst dort veröffentlicht werden. Für die Geschichtswissenschaft wäre dies bspw. die 1859 gegründete Historische Zeitschrift, oder – für die pommersche Landesgeschichte – die seit 1832 bestehenden Baltischen Studien. Die Kategorie Geschichtsforschung soll hier ferner etwas offener gehalten werden und sämtliche Aktivitäten beinhalten, die im weitesten Sinne Geschichtsforschung ermöglichen. Dazu zählen die Begründung historischer Gesellschaften und Vereine, die Beteiligung am Aufbau archäologischer Sammlungen und Ähnliches. Die zunehmend exklusive Reflexivität dieser drei Kategorien und mithin der Disziplinbildungsprozess kann demnach als abgeschlossen betrachtet werden, wenn sich die Fachvertreter ausschließlich aus dem Feld der Absolventen eines Studiengangs Geschichte rekrutieren und wenn gleichsam die Geschichtsforschung ausschließlich von den Fachvertretern betrieben wird. Dabei muss bemerkt werden, dass eine derartige Exklusivität unabhängig von der konkreten Disziplin nie vollständig erreicht werden wird und dass ein solcher Prozess theoretisch reversibel ist. In diesem Sinne beobachtet Manhart völlig zutreffend, dass im „Zusammenhang mit der allmählichen Durchsetzung der Theorien und Regeln des wissenschaftlichen historischen Forschens (...) wesentliche Erkenntnisse sowie theoretische und methodische Innovationen in der Geschichtswissenschaft im Organisationsrahmen und vom Personal anderer Fächer und Fakultäten bzw. Akademien oder auch durch Privatgelehrte erbracht“

worden seien. Demnach seien „[h]istorische Disziplin und Universitätsfach Geschichte (...) noch bis weit in das 19. Jahrhundert hinein organisatorisch und personell nicht zusammen[gefallen].“5 Um den Disziplinbildungsprozess anhand des Greifswalder Beispiels nachzuzeichnen, werden die drei soeben eingeführten Kategorien nacheinander zu beleuchten sein. Zuvor jedoch sollen in idealtypischer Gegenüberstellung die wesentlichen Veränderungen der Funktionen von Universität und Wissenschaft im deutschsprachigen Raum von der Mitte des 18. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts vor Augen geführt werden.

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Ebd., 44. Ebd., 46.

Die Entwicklung der Geschichtswissenschaft in Greifswald 1765–1863

1832 1843 1854 1857 1861 1863 1865 1866 1870

Königsberg Breslau Wien München, Würzburg Bonn Greifswald Marburg, Rostock Graz Freiburg

1872 1873 1875 1876 1877 1878 1879 1885 1889

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Straßburg, Kiel, Erlangen Gießen Halle, Tübingen Göttingen Leipzig Münster Jena Berlin Heidelberg

Übersicht 1: Die Begründung historischer Institute/Seminare an den deutschen und österreichischen Universitäten im 19. Jahrhundert6

2. Die Kennzeichen von Universität und Wissenschaft in Deutschland 1750–1850 Auf den Mediävisten Peter Moraw geht die bekannte Unterscheidung zwischen „vorklassischer“ und „klassischer Universität“ zurück. Es war ebenfalls Moraw, der die frühneuzeitliche Universität als „Familienuniversität“ charakterisierte. Dieser Begriff verweist dabei unter anderem auf den Umstand, dass es bis etwa 1800 an den deutschen Universitäten üblich war, Professuren auf den Sohn oder   6

In der Literatur finden sich bisweilen abweichende Gründungsdaten für die historischen Institute. Dies zeugt sicherlich in erster Linie von dem fließenden Übergang von historischen Gesellschaften zu historischen Seminaren/Instituten (siehe dazu auch den Beitrag von Thomas Stamm-Kuhlmann in diesem Band). Die Angaben dieser tabellarischen Übersicht basieren auf: Bernhard vom Brocke, Die Entstehung der deutschen Forschungsuniversität, ihre Blüte und Krise um 1900, in: Rainer Christoph Schwinges (Hg.), Humboldt International. Der Export des deutschen Universitätsmodells im 19. und 20. Jahrhundert, Basel 2001, 367–401, hier 376; ders., Wege aus der Krise: Universitätsseminar, Akademiekommission oder Forschungsinstitut. Formen der Institutionalisierung in den Geistes- und Naturwissenschaften 1810 – 1990 – 1995, in: Christoph König / Eberhard Lämmert (Hgg.), Konkurrenten in der Fakultät. Kultur, Wissen und Universität um 1900, Frankfurt a. M. 1999, 191–215, hier 196– 199; Markus Huttner, Historische Gesellschaften und die Entstehung historischer Seminare – zu den Anfängen institutionalisierter Geschichtsstudien an den deutschen Universitäten des 19. Jahrhunderts, in: Matthias Middell / Gabriele Lingelbach / Frank Hadler (Hgg.), Historische Institute im internationalen Vergleich, Leipzig 2001, 39–82, hier 45; Walter Höflechner (Hg.), Das Historische Seminar der Karl-Franzens-Universität Graz, o. O. 2007/1991, 327ff. (online-Publikation; abrufbar unter: http://gams.uni-graz.at:8080/fedora/get/o:wissg-hs/bdef: Navigator.fs/get/; 30.01.2014); Laetitia Boehm / Rainer A. Müller (Hgg.), Universitäten und Hochschulen in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Eine Universitätsgeschichte in Einzeldarstellungen, Düsseldorf 1983; Werner Freitag (Hg.), Halle und die deutsche Geschichtswissenschaft um 1900, 2. Auflage, Halle/Saale 2004; Markus Völkel, Zwischen Fachwissenschaft und humanistischem Erbe. Die Geschichtswissenschaft an der Universität Rostock auf dem Weg in die Moderne, in: Gisela Boeck / Hans-Uwe Lammel (Hgg.), Wissen im Wandel – Disziplinengeschichte im 19. Jahrhundert, Rostock 2011, 105–127.

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Michael Czolkoß

den Schwiegersohn gewissermaßen zu vererben. Dank dieser Praxis entstanden an vielen Universitäten – so auch in Greifswald – regelrechte Professorendynastien. Ein weiteres Kennzeichen der vorklassischen Familienuniversität war die Selektion des Lehrkörpers nach der regionalen Herkunft.7 Gegen diese vermeintlich nepotistische Familienuniversität habe sich dann nach borussischer Lesart ab dem beginnenden 19. Jahrhundert langsam aber stetig die „Leistungsuniversität“ durchgesetzt. Will heißen, Professor werden konnte nur noch, wer sich durch herausragende Forschungsleistungen ausgezeichnet hatte.8 Die regionale, soziale und die familiäre Herkunft seien demgegenüber in den Hintergrund getreten. In der borussischen Geschichtsschreibung wurde dieser Wandel von der Familien- zur Leistungsuniversität mit dem Namen Wilhelm von Humboldts und der im Jahre 1810 erfolgten Gründung der Berliner FriedrichWilhelms-Universität kausal in Verbindung gebracht. Man muss kein ausgewiesener Experte auf dem Gebiet der Universitätsgeschichte sein, um zu erkennen, dass eine derartig harte Kontrastierung grob vereinfachend ist. So plädierte Peter Moraw zuletzt selbst nachdrücklich dafür, die geschichtlichen Phasen der vorklassischen und der klassischen Universität weniger chronologisch als vielmehr idealtypisch zu begreifen.9 In der universitätsgeschichtlichen Forschung wird denn auch seit einigen Jahrzehnten der vermeintliche Zäsurcharakter der Zeit um 1800 immer weiter relativiert. So wird heute stärker betont, dass die Berliner Universität keine revolutionäre Neuschöpfung gewesen sei, sondern an die Modelle der Reformuniversitäten Halle und Göttingen anknüpfen konnte. Zudem wird die historische Rolle Humboldts – der ja auch in den heutigen hochschulpolitischen Debatten allgegenwärtig ist – mittlerweile deutlich differenzierter bewertet als dies früher der Fall war. Bisweilen ist gar vom „Mythos Humboldt“ die Rede.10   7

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Peter Moraw, Universitäten, Gelehrte und Gelehrsamkeit in Deutschland vor und um 1800, in: Schwinges, Humboldt, 17–31, v. a. 18–21. Zur Familienuniversität vgl. bspw. Marita Baumgarten, Professoren und Universitäten im 19. Jahrhundert. Zur Sozialgeschichte deutscher Geistes- und Naturwissenschaftler, Göttingen 1997, 21. In konkretem Bezug auf Greifswald: Dirk Alvermann, Die frühneuzeitliche „Familienuniversität“ im Spiegel der Greifswalder Professorenporträts, in: ders. / Birgit Dahlenburg (Hgg.), Greifswalder Köpfe. Gelehrtenporträts und Lebensbilder des 16.–18. Jahrhunderts aus der pommerschen Landesuniversität, Rostock 2006, 23–30, v. a. 26–30. Die Geschichte der Professorenberufungen und die These vom Berufungswandel werden hier nicht diskutiert. Vgl. dazu (mit einem Fokus auf Greifswald) Marita Baumgarten, Berufungswandel und Universitätssystem im 19. Jahrhundert. Die Universität Greifswald, in: Werner Buchholz (Hg.), Die Universität Greifswald und die deutsche Hochschullandschaft im 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart 2004, 87–115; Czolkoß, Studien, v. a. 53–60, 139–163. Moraw, Universitäten, 20. Vgl. dazu Sylvia Paletschek, Verbreitete sich ein ,Humboldt’sches’ Modell an den deutschen Universitäten im 19. Jahrhundert?, in: Schwinges, Humboldt, 75–104; Martin Eichler, Die Wahrheit des Mythos Humboldt, in: Historische Zeitschrift 294/2012, 59–78; Notker Hammerstein, Jus und Historie. Ein Beitrag zur Geschichte des historischen Denkens an deutschen Universitäten im späten 17. und im 18. Jahrhundert, Göttingen 1972, 12f.

Die Entwicklung der Geschichtswissenschaft in Greifswald 1765–1863

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Diese Debatten sollen hier nicht nachgezeichnet werden. Festzuhalten bleibt jedoch, dass die Verwendung dieser stark normativ aufgeladenen Begrifflichkeiten, Familienuniversität und Leistungsuniversität, eine gewisse Belastung für die universitätsgeschichtliche Forschung darstellte und wohl auch weiterhin darstellt. Sie hat dazu geführt, die spezifischen Funktionen und damit auch Leistungen der Universitäten für die frühneuzeitliche Gesellschaft zu unterschätzen. Zugleich wurde und wird die Leistungsfähigkeit der Universität des 19. Jahrhunderts oft maßlos überschätzt. Ein wesentlich neuartiger Aspekt der Universität des 19. Jahrhunderts war die Aufwertung der Philosophischen Fakultät. Bis um etwa 1800 war sie den drei höheren Fakultäten (Theologie, Rechtswissenschaft, Medizin) nachgeordnet. Die Studenten absolvierten an der Philosophischen Fakultät eine Art Propädeutikum, bevor sie sich dem eigentlichen, berufsbezogenen Studium zuwandten. Die einzelnen Lehrgebiete der Philosophischen Fakultät hatten mithin in erster Linie eine Auxiliarfunktion, so zum Beispiel die Geschichte für die Rechtswissenschaft.11 Es entsprach dieser Hierarchie und den noch nicht sonderlich differenzierten wissenschaftlichen Disziplinen, dass bis etwa 1800 für Professoren die Möglichkeit bestand, von der Philosophischen an eine der drei höheren Fakultäten aufzusteigen. Mit dem Deutschen Idealismus (Kant, Hegel) und Neuhumanismus (Humboldt) avancierte die Philosophische Fakultät nicht nur zu einer gleichrangigen, sondern wohl zumindest auf der normativen Ebene zur wichtigsten Fakultät der Universität des 19. Jahrhunderts, da hier – und zwar zunächst einmal bei den Philosophen selbst – fernab eines konkreten Berufsbezugs und fernab von Utilitätserwägungen einzig und allein das Interesse der reinen Wissenschaft verfolgt werden könne und die Freiheit bestehe, der Wahrheit auf den Grund zu gehen.12 Die Aufwertung der Philosophischen Fakultät spiegelt sich in der Praxis im 19. Jahrhundert darin wider, dass ein Wechsel der Professoren in die drei übrigen Fakultäten zunehmend nicht mehr stattfand. Wichtig war dabei sicher auch, dass die Unterschiede in der Besoldung eingeebnet wurden. Den wohl deutlichsten Ausdruck der Aufwertung der Philosophischen Fakultät liefert die Tatsache, dass nun im 19. Jahrhundert die Möglichkeit bestand, sein Studium allein an dieser Fakultät zu absolvieren und abzuschließen. Gleichzeitig etablierte sich jedoch ein dem Kantschen und dem neuhumanistischen Ideal eigentlich widersprechender Praxis- bzw. Berufsbezug der Philosophischen Fakultät. Sie avancierte zur Ausbildungsstätte für Gymnasiallehrer. Wenn man den Funktionswandel der Universität von einer eher praxisorientierten landesherrlichen Ausbildungsanstalt hin zu einer – dem Ideal nach – unab   11 12

Zur engen Verbindung von entstehender Geschichtswissenschaft und Juristenausbildung vgl. Josef Engel, Die deutschen Universitäten und die Geschichtswissenschaft, in: Historische Zeitschrift 189/1959, 223–378. Programmatisch ausformuliert findet sich dieses Ideal bei Immanuel Kant, Der Streit der Fakultäten [1794], in: ders., Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik 1, hg. v. Wilhelm Weischedel, Frankfurt a. M. 1977, 265–393, v. a. 280–285.

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Michael Czolkoß

hängigen Einrichtung, die Wissenschaft auch um ihrer selbst willen betreibt, konstatiert, so muss auch danach gefragt werden, was im 18. und 19. Jahrhundert überhaupt unter „Wissenschaft“ verstanden wurde.13 Dabei kann in wiederum idealtypischer Gegenüberstellung die frühmoderne Wissenschaft als heteronomes System und die moderne Wissenschaft als autonomes System charakterisiert werden. Heteronome Systeme sind fremdbestimmt, wohingegen autonome Systeme unabhängig und selbstbestimmt sind. Für die frühmoderne Wissenschaft bestand das vorrangige Ziel der Wissenschaft in der Tradierung bekannten Wissens. Ein Professor sollte ein „Gelehrter“ sein14, der die Fähigkeit besitzt, Wissen aus den verschiedensten Bereichen – sei es Philologie, Mathematik, Philosophie oder auch Geschichte – an die Studenten weiterzugeben.15 Gegenüber neuen Forschungsergebnissen musste der Gelehrte nicht aufgeschlossen sein.16 Dem entsprach es, dass es auch im 18. Jahrhundert noch üblich war, als Professor mehrere Lehrgebiete bzw. Lehrstühle auf sich zu vereinen.17 Was demgegenüber nach systemtheoretischer Lesart die moderne Wissenschaft ausmacht, kann man recht anschaulich bei Rudolf Stichweh nachlesen: „Die Wissenschaft des frühen 19. Jahrhunderts weist alle wissenschaftsexternen Formen der Wissenserzeugung und alles Wissen, das ihr aus einer vorwissenschaftlichen Vergangenheit überkommen ist und nicht die wissenschaftlichen Prüfinstanzen durchlaufen hat, der Tendenz 18 nach ab. In diesem Sinne ist sie erstmals autopoietische Wissenschaft, weil sie nicht mehr die Elemente des Wissens aus der Umwelt und aus einer vorwissenschaftlichen Vergangenheit übernimmt, um diesen dann lediglich eine wissenschaftliche Struktur aufzuerlegen. An die Stelle der Übernahme von Elementen aus der Umwelt tritt das Phänomen, daß die Wissenschaft (...) alle Elemente, aus denen sie besteht, selbst produziert.“19

Geisteswissenschaftliche Disziplinen wie die klassische Philologie oder auch die Geschichte können dabei die Bestandteile ihres Wissens nicht in einer Art und   13

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Reflexionen allgemeiner Art zum Begriff finden sich bei Laetitia Boehm, Wissenschaft – Wissenschaften – Universitätsreform. Historische und theoretische Aspekte zur Verwissenschaftlichung von Wissen und zur Wissenschaftsorganisation in der frühen Neuzeit [1978], in: Gert Melville / Rainer A. Müller / Winfried Müller (Hgg.), Geschichtsdenken, Bildungsgeschichte, Wissenschaftsorganisation. Ausgewählte Aufsätze von Laetitia Boehm anlässlich ihres 65. Geburtstages, Berlin 1996, 549–585, hier 550–553. Dem Typus des Gelehrten entspricht das Wissenschaftsideal des Polyhistorismus: „Dem Polyhistorismus ist es selbstverständlich, daß ein Gelehrter über ziemlich alle Zweige der Wissenschaften orientiert ist, daß er von allen Disziplinen etwas versteht und in möglichst vielen zu Hause ist.“ Hammerstein, Jus und Historie, 15. Zum Wandel vom Gelehrten zum Forscher vgl. William Clark, Academic Charisma and the Origins of the Research University, Chicago 2007, hier u. a. 257–261. Baumgarten, Berufungswandel, 89. Dies., Professoren und Universitäten, 21. Autopoietische Systeme begreift Stichweh als „autonome Systeme, die sich durch zusätzliche Eigenschaften auszeichnen.“ Er nennt hier bspw. die operationale Geschlossenheit. Rudolf Stichweh, Die Autopoiesis der Wissenschaft [1987], in: ders., Wissenschaft, Universität, Professionen. Soziologische Analysen, Frankfurt a. M. 1994, 52–83, hier 53f. (Zitat auf 53). Stichweh, Autopoiesis, 57f.

Die Entwicklung der Geschichtswissenschaft in Greifswald 1765–1863

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Weise produzieren wie die experimentellen Wissenschaften. Abhilfe schuf hier der Begriff der „Kritik“. Man gab nicht mehr kommentarlos wieder, was bspw. Tacitus über die Germanen zu sagen wusste, sondern man richtete den Blick auf Widersprüche und mögliche Inkonsistenzen in überlieferten Werken. Anthony Grafton brachte dies im Hinblick auf die klassische Philologie im Deutschland des frühen 19. Jahrhunderts auf die Formel: „[P]reference for error over truth.“20 An die Stelle der Tradierung bekannten Wissens trat also das Auffinden neuen Wissens als Paradigma in Erscheinung. Der Bezug auf „Wahrheit“ ist dabei das zweite entscheidende Kriterium der modernen Wissenschaft.21 Die „Wahrheit“ neuen Wissens muss allerdings bewiesen werden. Dazu bedarf es einer spezifischen Methodik und theoretischer Konzepte, die in der Philologie andere sind als in der Chemie oder der Kameralistik. Aus dieser Konstellation folgt – wenn man der Systemtheorie folgen will – der Prozess der Differenzierung der einzelnen wissenschaftlichen Disziplinen der modernen Universität.22 Dieser Differenzierungsprozess wird dabei durch eine kontinuierliche Komplexitätssteigerung begleitet, die wiederum dazu führt, dass der Beruf des Professors eine neue Aufgabenbeschreibung erhält. Der universal gebildete Gelehrte ist nicht mehr gefragt. In Erscheinung tritt nun der zunehmend hochgradig spezialisierte Forscher, der auf einem eng abgesteckten Gebiet den Forschungsstand überblicken und durch neues Wissen erweitern und revidieren kann. 3. Das Fach Geschichte (A) 1. Professur (1765 begründet) 1) Johann Georg Peter Möller (1729–1807). Geboren in Rostock, Studium in Rostock und Greifswald. 1765–1807 Inhaber der ordentlichen Professur für Geschichte und Beredsamkeit.23 2) Ernst Moritz Arndt (1769–1860). Geboren auf Rügen, Studium in Greifswald und Jena. Ab 1800 Privatdozent, 1805–1808 außerordentlicher Professor für Geschichte.24 3) Christian Friedrich Rühs (1781–1820). Geboren in Greifswald, Studium in Greifswald und Göttingen. Ab 1802 Privatdozent, 1808–1810 außerordentlicher Professor für Geschichte.25  

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Zit. nach ebd., 59. Zur Frage der Quellenkritik vgl. auch den Beitrag von Thomas StammKuhlmann in diesem Band. Manhart, Felder des Wissens, 25f. Vgl. auch Kant, Streit der Fakultäten, 282. Manhart, Felder des Wissens, 113f. Christian Friedrich Rühs, Dem Andenken Johan Georg Peter Möller’s. Ritters vom Wasaorden, Königl. schwed. Kammerraths und Professor’s zu Greifswald, Greifswald 1808. Zu Arndt siehe die Beiträge von Michael North und Niels Hegewisch in diesem Band. Heinz Duchhardt, Fachhistorie und „politische“ Historie: der Mediävist, Landeshistoriker, Kulturhistoriker und Publizist Friedrich Rühs, in: Paul-Joachim Heinig u. a. (Hgg.), Reich,

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Michael Czolkoß

4) Ludwig Gotthard Kosegarten (1758–1818). Geboren in Mecklenburg, Studium in Greifswald, Bützow und Rostock. 1808–1817 Inhaber der ordentlichen Professur für Geschichte und griechische Literatur. Ab 1817 ordentlicher Professor an der Theologischen Fakultät und Pastor zu St. Jacobi. 5) Peter Friedrich Kanngießer (1774–1833). Geboren in Glindenberg bei Magdeburg, Studium in Halle. 1817–1833 Inhaber der ordentlichen Professur für Geschichte. 6) Friedrich Wilhelm Barthold (1799–1858).   Geboren in Berlin, Studium in Berlin und Breslau. Ab 1831 außerordentlicher Professor, 1834–1858 Inhaber der ordentlichen Professur für Geschichte.26 7) Carl Hopf (1832–1873).   Geboren in Hamm, Studium in Bonn. 1858–1864 außerordentlicher Professor für Geschichte. 8) Rudolf Usinger (1835–1874). Geboren in Nienburg an der Weser, Studium in Göttingen und Berlin. Ab 1865 außerordentlicher Professor, 1866–1868 Inhaber einer ordentlichen Professur für Geschichte. (B) 2. Professur (1857 begründet) [Karl Ludwig von Urlichs (1813–1889). Geboren in Osnabrück, Studium in Bonn. 1847–1855 Inhaber einer Professur für klassische Philologie und alte Geschichte.] 1) Arnold Dietrich Schaefer (1819–1883).   Geboren in Seehausen bei Bremen, Studium in Leipzig. 1857–1865 Inhaber der ordentlichen Professur für Geschichte (die Ernennung Schaefers war noch 1857 erfolgt, der Amtsantritt in Greifswald fiel in das Jahr 1858).27 2) Theodor Hirsch (1806–1881).  Geboren in Altschottland bei Danzig, Studium in Berlin. 1865–1881 Inhaber einer ordentlichen Professur für Geschichte. (C) Weitere Privatdozenten für Geschichte (1) Karl Robert Klempin (1816–1874): Geboren in Swinemünde/Usedom, Studium in Berlin und Greifswald. 1846 Habilitation in Greifswald, bis 1848 wirkte er als Privatdozent, bevor ihn ein Nervenleiden zwang, seine Tätigkeit aufzugeben. Später ging Klempin nach Stettin, wo er sich als Archivar der Verwissenschaftlichung des Archivwesens und der pommerschen Landesgeschichte widmete.28  

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Regionen und Europa in Mittelalter und Neuzeit. Festschrift für Peter Moraw, Berlin 2000, 715–730. Michael Czolkoß, Friedrich Wilhelm Barthold, in: Dirk Alvermann / Niels Jörn (Hgg.), Biographisches Lexikon für Pommern, Bd. 2, Köln / Weimar / Wien 2015. Roderich Schmidt, Arnold Schaefer, 1819–1883 [1968], in: ders., Fundatio et confirmatio universitatis. Von den Anfängen deutscher Universitäten, Goldbach 1998, 349–368; Julius Asbach, Zur Erinnerung an Arnold Dietrich Schaefer, Leipzig 1895. Erich Randt, Karl Robert Klempin, in: ders. / Adolf Hofmeister / Martin Wehrmann (Hgg.), Pommersche Lebensbilder. Pommern des 19. und 20. Jahrhunderts, Bd. 1, Stettin 1934, 176– 189.

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(2) Karl August Friedrich Pertz (1828–1881): Geboren in Hannover, Studium in Bonn. Seit den 1840er Jahren Mitarbeit bei der Monumenta Germaniae Historica (ab 1854 ständiger Mitarbeiter). Allem Anschein nach wurde Pertz von der MGH in den Bibliotheksdienst abgeschoben. Zunächst war er als Adjunkt in der Königlichen Berliner Bibliothek tätig, 1860 wechselte er als Kustos an die Bibliothek Greifswald. 1861 erfolgte seine Habilitation in Greifswald, wo er anschließend als Privatdozent tätig war.29 Übersicht 2: Die Vertreter des Faches Geschichte an der Universität Greifswald 1765–186530

Die Entwicklung des Faches Geschichte an der Universität Greifswald ist derjenigen im übrigen deutschsprachig-protestantischen Raum sehr ähnlich. Im Jahre 1765 entstand eine erste eigenständige Professur für Geschichte aus der Teilung der Professur für Geschichte und Moral (praktische Philosophie). Die Tatsache, dass Greifswald Teil desjenigen pommerschen Territoriums war, das bis 1815 zu Schweden gehörte, scheint diese Entwicklung eher befördert als behindert zu haben.31 Die Verbindung von historischen und moralphilosophischen Lehrstühlen war auch außerhalb Greifswalds üblich und durchaus sinnvoll, da in der Aufklärungshistorie des 18. Jahrhunderts eine Vorstellung weit verbreitet war, nach der historische Persönlichkeiten und Vorkommnisse der Jugend als Vorbilder zu präsentieren seien. Die Geschichte sollte demnach vornehmlich eine Erziehungsfunktion erbringen (historia magistra vitae). Zudem entsprach die Verbindung der Lehrgebiete Geschichte und praktische Philosophie der eingangs erwähnten für   29

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31

Bei K. A. F. Pertz handelt es sich um den Sohn des langjährigen Leiters der MGH, Georg H. J. Pertz (1795–1876). Zu seiner Biographie vgl. Harry Bresslau, Geschichte der Monumenta Germaniae Historica, Hannover 1994/1921, 330–333. Vgl. auch den Beitrag von Karl-Heinz Spieß in diesem Band sowie Pertz’ Lebenslauf in: Universitätsarchiv Greifswald (im Folgenden: UAG), Philosophische Fakultät I–22, Historiker, 1857–1875, fol. 32r–33r. Zu den Biographien und den Habilitationsverfahren von Klempin und Pertz vgl. Czolkoß, Studien, 77– 81. Viele der hier angegebenen biographischen Daten finden sich in der Allgemeinen Deutschen Biographie (im Folgenden: ADB) und der Neuen Deutschen Biographie (im Folgenden: NDB). Auf die einzelnen Artikel wird nicht verwiesen. Weiterführende Informationen über die hier aufgelisteten sowie die späteren Greifswalder Historiker finden sich bei Adolf Hofmeister, Aus der Geschichte des Historischen Instituts, in: Universität Greifswald (Hg.), Festschrift zur 500-Jahrfeier der Universität Greifswald, Bd. 2, Greifswald 1956, 92–115; Czolkoß, Studien. Ivar Seth, Die Universität Greifswald und ihre Stellung in der schwedischen Kulturpolitik 1637–1815, Berlin (Ost) 1956, 165f. Seth schreibt, dass man in Greifswald dieser Aufspaltung aus Kostengründen eher ablehnend gegenübergestanden habe. Letztlich setzten sich aber die Befürworter durch, die v. a. auf die Situation an den reichsschwedischen Universitäten verweisen konnten, wo eigenständige Geschichtsprofessuren bereits etabliert waren. Vgl. auch die Dekanatsmemorabilien von 1766, in: Roderich Schmidt / Karl-Heinz Spieß (Hgg.), Die Matrikel der Universität Greifswald und die Dekanatsbücher der Theologischen, der Juristischen und der Philosophischen Fakultät 1700–1821. Bd. 2, Text der Dekanatsbücher, Stuttgart 2004, 930–932.

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die frühneuzeitliche Universität typischen Kumulation von Lehrgebieten in einer Professur. Dass in der Denomination des ersten „richtigen“ Geschichtsprofessors Johann Georg Peter Möller noch die „Beredsamkeit“ verankert war, verweist auf den Umstand, dass die Geschichtswissenschaft als akademische Disziplin im Wesentlichen auch aus der Rhetorik hervorgegangen ist.32 Das Fach Geschichte war nach 1765 für gut einhundert Jahre nur durch diese eine ordentliche Professur vertreten, temporär ergänzt um eine außerordentliche Professur (1805–1810, 1831–1833) und Privatdozenturen.33 Etwa ab der Mitte des 19. Jahrhunderts bahnte sich der Ausbau auf eine Zwei-Professuren-Struktur an. Den Ausgangspunkt bildete dabei das Jahr 1847, in dem Karl Ludwig von Urlichs auf ein Ordinariat für klassische Philologie und alte Geschichte berufen wurde – Urlichs bot in der Folge auch seiner Denomination entsprechend einschlägige Lehrveranstaltungen zur alten Geschichte an.34 Diese vorübergehende (bis 1855) Kombination der genannten Lehrgebiete in einer Professur verweist auf den engen Zusammenhang – gerade auch im Hinblick auf die Methodik – von klassischer Philologie und Geschichte im 19. Jahrhundert. Dabei kam der klassischen Philologie in Greifswald wie auch andernorts ganz klar die Leitfunktion zu, was sich u. a. in der Anzahl der Professuren widerspiegelt.35 Als Urlichs 1855 an die Universität Würzburg wechselte, drängte die Universität darauf, seine Professur zu teilen. Neben einem Philologen sollte nun zusätzlich ein zweiter Historiker berufen werden, der vorzugsweise die alte Geschichte unterrichten sollte. In Berlin unterstützte man dieses Ansinnen und so wurde nach mehr als zwei Jahre währenden Verhandlungen mit verschiedenen Kandidaten Arnold Schaefer berufen, der zuvor Gymnasiallehrer in Sachsen gewesen war. Ein solcher Sprung vom Gymnasium an die Universität war damals nichts Außergewöhnliches. Die Habilitation setzte sich im 19. Jahrhundert erst langsam als Zugangsvoraussetzung für eine Professur durch.36 Kurz nach Schaefers Ankunft in Greifswald verstarb der schwerkranke Barthold. Die Philosophische Fakultät hätte in der Folge Barthold gern durch einen   32 33 34 35 36

Hartmut Boockmann, Ein Blick auf die Göttinger Geschichtswissenschaft (1737–1987), in: Hans-Günther Schlotter (Hg.), Die Geschichte der Verfassung und der Fachbereiche der Georg-August-Universität zu Göttingen, Göttingen 1994, 121–126, hier 121. Neben Arndt, Rühs, Klempin und Pertz scheint es im Untersuchungszeitraum keine weiteren Privatdozenten für Geschichte gegeben zu haben. Diese Vermutung basiert allerdings auf einem etwas wackeligen Fundament und bedarf einer quellenbasierten Überprüfung. Vgl. dazu UAG, Altes Rektorat Hbg 45/3, Gesamtverzeichnis der tatsächlich gehaltenen Vorlesungen, WiSe 1843/44-WiSe 1862/63. Zur Entwicklung der Altphilologie in Greifswald vgl. Georg Rommel, Klassische Philologie in Greifswald 1820 bis 1862. Berufungsverfahren im Übergang von der Familien- zur Forschungsuniversität, in: Buchholz, Universität Greifswald, 117–143. Notker Hammerstein, Vom Interesse des Staates. Graduierungen und Berechtigungswesen im 19. Jahrhundert, in: Rainer Christoph Schwinges (Hg.), Examen, Titel, Promotionen. Akademisches und staatliches Qualifikationswesen vom 13. bis zum 21. Jahrhundert, Basel 2007, 169–194, hier 176, 187–191; Paletschek, Humboldt’sches Modell, 91f. (mit Anm. 33 und 34).

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bereits etablierten ordentlichen Professor ersetzt, aber finanzielle Überlegungen führten letzten Endes zur Anstellung des jungen Bonner Privatdozenten Carl Hopf als Extraordinarius. Ab 1858 waren somit dauerhaft zwei historische Professuren etabliert, zunächst eine ordentliche und eine außerordentliche. Im Jahr 1866 erfolgte dann die endgültige Etablierung einer zweiten ordentlichen Professur. Von ihrer Denomination her waren beide Professuren übrigens nicht spezialisiert. Sowohl Schaefer als auch Hopf oder Usinger waren schlicht Professoren für Geschichte (bisweilen wurden auch die „historischen Hülfswissenschaften“ in der Denomination festgeschrieben). In der Praxis war Schaefer jedoch schwerpunktmäßig für die alte Geschichte zuständig, Hopf hingegen besorgte die mittlere und neuere Geschichte.37 Eine vergleichbare Entwicklung zeigte sich auch an anderen deutschen Universitäten. So war in Kiel die Geschichte von 1812–1837 nur durch einen einzigen außerordentlichen Professor vertreten.38 Größere Universitäten, wie Berlin, Bonn oder Leipzig etablierten jedoch entsprechend früher mehrere historische Professuren.39 Eine spürbare Expansion in der Anzahl der Lehrstühle – und dieser Befund gilt fachübergreifend – setzte erst im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts ein. Ohnehin kann man festhalten, dass die Entwicklung der preußischen und der übrigen deutschen Universitäten bis etwa 1860 eher stagnierte. Das betrifft bspw. die finanzielle Ausstattung der Hochschulen oder auch die Anzahl der Studenten.40 Die eingangs dargebotene Übersicht über die Fachvertreter verweist noch auf einige andere Entwicklungen, die im ersten Kapitel angesprochen worden sind. So ist augenfällig, dass bis in das frühe 19. Jahrhundert, also bis einschließlich Kosegarten, alle Geschichtsprofessoren entweder direkt in Greifswald oder aber zumindest in Pommern oder Mecklenburg geboren worden sind. Zudem haben sie ausnahmslos ihr komplettes oder aber zumindest einen Teil ihres Studiums in Greifswald absolviert. Ab Peter Friedrich Kanngießer findet sich hingegen kein einziges „Landeskind“ mehr auf einer historischen Professur. Zwar ist die Fallzahl der hier angeführten Dozenten zugegebenermaßen zu gering, als dass man daraus verallgemeinerbare Aussagen ableiten könnte, doch spiegeln sich hier eindeutig   37 38 39

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Zur Entwicklung der Denominationen vgl. Czolkoß, Studien, 68–70. Engel, Geschichtswissenschaft, 261 (mit Anm. 4–6). 1815 wurde in Leipzig bereits ein drittes Ordinariat für Geschichte geschaffen. Vgl. Markus Huttner, Disziplinentwicklung und Professorenberufung. Das Fach Geschichte an der Universität Leipzig im 19. Jahrhundert, in: Neues Archiv für sächsische Geschichte 71/2000, 171– 238, hier 179. Eine umfangreiche Darstellung der Entwicklung des Faches Geschichte in Leipzig bietet ders., Geschichte als akademische Disziplin. Historische Studien und historisches Studium an der Universität Leipzig vom 16. bis zum 19. Jahrhundert, Leipzig 2007. Hartwin Spenkuch, Die Politik des Kultusministeriums gegenüber den Wissenschaften und den Hochschulen, in: Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften (Hg.), Acta Borussica, N. F., 2. Reihe: Preußen als Kulturstaat, Abteilung I: Das preußische Kultusministerium als Staatsbehörde und gesellschaftliche Agentur (1817–1934), Bd. 2.1: Das Kultusministerium auf seinen Wirkungsfeldern Schule, Wissenschaft, Kirchen, Künste und Medizinalwesen. Darstellung, Berlin 2010, 135–287, hier v. a. 142–144, 163f.

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Trends wider, die nicht nur für die anderen Fächer der Universität Greifswald, sondern auch für die übrigen deutschen Universitäten gelten. Erwähnenswert sind ferner die Biographien von Arndt und Kosegarten. Arndt studierte als gebürtiger Pommer in Greifswald und Jena und begann in Greifswald später auch seine akademische Laufbahn. Bevor er ein Extraordinariat erhielt, heiratete er im Jahre 1801 mit Charlotte Marie Quistorp die Tochter des Greifswalder Professors für Naturgeschichte und Ökonomie Johann Quistorp. Ein solcher Karriereverlauf passt sehr gut zu den Mustern der Familienuniversität, wenngleich man bei Arndt nicht vergessen darf, dass sein sozialer Aufstieg – sein Vater war ein „Freigelassener“ – alles andere als typisch war. Bei Kosegarten fällt auf, dass er seiner Denomination nach für Geschichte und griechische Literatur zuständig war. Eine solche Kombination von Lehrgebieten war allerdings – wie bereits angedeutet – in dieser Zeit bereits eher die Ausnahme denn die Regel.41 Einen weiteren Anachronismus stellt der Wechsel des studierten Theologen Kosegarten 1817 von der Philosophischen in die Theologische Fakultät dar, auch wenn ein derartiger Wechsel in dieser Zeit noch nicht gänzlich unüblich war. Auch bei Kosegarten gilt es, eine Anmerkung hinzuzufügen: Sein Aufstieg in die Theologische Fakultät war eine politisch motivierte Versetzung als Spätfolge der französischen Besatzungszeit. 4. Der Studiengang Geschichte Der zentrale Befund kann hier sogleich vorweggenommen werden: Im Untersuchungszeitraum gab es in Greifswald keinen Studiengang Geschichte – das gilt im Übrigen für ganz Preußen. Als Student schrieb man sich für das Studium lediglich an einer Fakultät ein. Für die Philosophische Fakultät ist dieser Befund von besonderem Interesse, da die hier unterrichteten Fächer keinen direkten Berufsbezug hatten. Weder für Philologen und Historiker, noch für Philosophen gab es im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts so etwas wie einen Arbeitsmarkt. Auch die an der Philosophischen Fakultät angesiedelten naturwissenschaftlichen Fächer42 wie die Chemie, oder die, wenn man so will, sozialwissenschaftlichen Fächer wie die entstehende Nationalökonomie hatten zu diesem Zeitpunkt noch kaum einen konkreten Berufsbezug.   41

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Der genannte Schwiegervater Arndts, Johann Quistorp, wäre das wohl fast bessere Beispiel. Er war der Neffe des 1788 verstorbenen Greifswalder Theologieprofessors und Generalsuperintendenten Bernhard Friedrich Quistorp und gelangte auf eine Professur, ohne irgendwelche wissenschaftlichen Meriten vorweisen zu können. Vgl. Agneta Schönrock, Das Projekt „Greifswalder Hochschullehrerlexikon des 19. und 20. Jahrhunderts“, in: Buchholz, Universität Greifswald, 57–86, hier 81. Die erste naturwissenschaftliche Fakultät in Deutschland wurde im Jahr 1863 an der Universität Tübingen gegründet. Vgl. Hans Jörg Sandkühler, Natur und Wissenskulturen. SorbonneVorlesungen über Epistemologie und Pluralismus, Stuttgart / Weimar 2002, 145 (Anm. 1).

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Dennoch hatte die Philosophische Fakultät, wie bereits erwähnt, eine recht klar definierte Ausbildungsfunktion, die in der Bereitstellung der Gymnasiallehrerschaft bestand. Die studierten Theologen, aus denen sich vormals die Lehrerschaft rekrutiert hatte, konnten demgegenüber allenfalls noch an unteren Schulformen Lehrer werden. Vor diesem Hintergrund muss auch daran erinnert werden, dass das Gymnasium im frühen 19. Jahrhundert seinen im Kern bis heute bestehenden Zuschnitt erhielt. Unter besonderer Fokussierung auf die alten Sprachen zielte die Kultusbürokratie darauf ab, die vormals an den Philosophischen Fakultäten angesiedelte propädeutische Ausbildung an die Gymnasien zu verlegen. Dem entsprechend avancierte der Erwerb des Abiturs 1834 in Preußen – in anderen deutschen Staaten vollzog sich eine parallele Entwicklung – zur einzigen Zugangsberechtigung für ein Universitätsstudium.43 Diese Bemerkungen sind deswegen wichtig, weil sie auf die Studieninhalte verweisen. Dabei kann man zunächst festhalten, dass ein Studium im 19. Jahrhundert prinzipiell – wie Hans-Ulrich Wehler bemerkt – „frei, ungebunden [und] ohne Curricula“44 war. Da jedoch für einen Großteil der Studenten der Philosophischen Fakultät der Karriereweg des Oberschullehrers vorgezeichnet war, steht zu erwarten, dass sich die Studieninhalte an den Prüfungsanforderungen für das Lehramt ausrichteten. Solche Prüfungsanforderungen waren damals bereits in Lehrerprüfungsordnungen festgelegt. Diese huldigten dabei nicht nur in Preußen lange dem Ideal einer universalen Allgemeinbildung. Das heißt, Lehrer mussten prinzipiell in der Lage sein, alle Schulfächer zu unterrichten. Daraus folgte wiederum, dass die Abschlussprüfungen auch die Lehrinhalte aller Fächer der Philosophischen Fakultät zum Gegenstand hatten. Das heute geläufige Modell der Fachlehrerausbildung mit zwei bis drei Haupt- bzw. Nebenfächern setzte sich in den hin und wieder erneuerten Lehrerprüfungsordnungen erst allmählich durch. Dieser Verlauf soll hier nicht im Detail nachvollzogen werden.45 Als Zäsur kann für Preußen in jedem Fall das Jahr 1866 genannt werden. Seit diesem Jahr konnte der Lehramtskandidat neben dem Hauptfach auch Nebenfächer wählen. Entsprechend wurden die Prüfungsanforderungen auf einige Fächer konzentriert. Seit 1866 verringerte sich somit die Zahl der zu belegenden Haupt- und Nebenfächer, die ein Lehramt konstituierten. Eine zunehmende Fokussierung auf zwei bis drei Haupt   43 44 45

Hammerstein, Interesse des Staates, 173–175; Harm-Hinrich Brandt, Studierende im Humboldt’schen Modell des 19. Jahrhunderts, in: Schwinges, Humboldt International, 131–150, hier 135–137. Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Bd. 2, Von der Reformära bis zur industriellen und politischen „Deutschen Doppelrevolution“ 1815–1845/49, München 2008/ 1987, 515. Vgl. dazu Peter Lundgreen, Examina und Tätigkeitsfelder für Absolventen der Philosophischen Fakultät. Berufskonstruktion und Professionalisierung im 19. Jahrhundert, in: Rainer Christoph Schwinges (Hg.), Artisten und Philosophen. Wissenschafts- und Wirkungsgeschichte einer Fakultät vom 13. bis zum 19. Jahrhundert, Basel 1999, 319–334.

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fächer war die Folge. Gleichzeitig versuchte die Kultusbürokratie jedoch, am Ideal der Allgemeinbildung festzuhalten.46 Für die Greifswalder Geschichtsdozenten im Untersuchungszeitraum und damit auch für den Disziplinbildungsprozess hatte diese Gemengelage spürbare Konsequenzen, die sich besonders anschaulich an der Lehrtätigkeit illustrieren lassen. Hierbei ist zunächst festzuhalten, dass es für die damaligen Professoren außerordentlich wichtig war, möglichst viele Studenten für ihre Lehrveranstaltungen zu gewinnen, da die Hörer Kolleggelder zahlten. Die Kolleggelder machten einen durchaus beträchtlichen Teil der damals meist sehr spärlichen Professoreneinkünfte aus.47 Diese organisatorischen (Prüfungsanforderungen) und ökonomischen (Kolleggelder) Zwänge standen in einem Spannungsverhältnis mit den erhabenen Idealen des Idealismus und Neuhumanismus. Auch deshalb war die vielzitierte Einheit von Forschung und Lehre in der Praxis nur schwer umzusetzen. Friedrich Wilhelm Barthold bspw. klagte 1834 gegenüber dem Kultusminister – also genau in dem Jahr, als das Abitur als Zugangsvoraussetzung für die Universitäten verbindlich festgeschrieben wurde –, dass die meisten der Zuhörer seiner Lehrveranstaltungen nichts von Wissenschaft verstünden, sodass er zu seinem Leidwesen genötigt sei, den „höheren Standpunkt des Vortrags oft verlassen“ zu müssen.48 An Bartholds weiterer Tätigkeit zeigt sich sehr anschaulich, wie schwierig es für ihn war, seine Forschungs- mit seiner Lehrtätigkeit in Einklang zu bringen. Als Forscher befasste Barthold sich bspw. mit der pommerschen Landesgeschichte. Theodor Pyl sieht in ihm dabei den ersten Historiker, der versucht hat, einen systematischen Gesamtentwurf der Geschichte Pommerns vorzulegen.49 Für dieses Vorhaben, aus dem mehrere Bände zur pommerschen Geschichte resultierten50, erhielt Barthold im Übrigen eine beträchtliche finanzielle Unterstützung von Seiten des Berliner Kultusministeriums.51   46 47

48

49 50 51

Ebd., hier v. a. 332f. Ausführlich beleuchtet und mit Blick auf den Disziplinbildungsprozess diskutiert wird die Entwicklung der Professorengehälter bei Czolkoß, Studien, 88–95. Vgl. dazu ferner Manhart, Felder des Wissens, 28, 115f.; Charles E. McClelland, Die deutschen Hochschullehrer als Elite 1815–1850, in: Klaus Schwabe (Hg.), Deutsche Hochschullehrer als Elite 1815–1945. Büdinger Forschungen zur Sozialgeschichte 1983, Boppard am Rhein 1988, 27–53, hier 37. Barthold an Kultusminister (27.09.1834), in: Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz (im Folgenden: GStA PK), I. HA Rep. 76 Va, Sekt. 7, Tit. 4, Nr. 1, Die Anstellung und Besoldung der ordentlichen und außerordentlichen Professoren an der Universität zu Greifswald, Bd. 12, fol. 50r–55v, hier fol. 54v. Theodor Pyl, Die Pflege der heimatlichen Geschichte und Altertumskunde in Pommern seit dem Anfang des 19. Jahrhunderts, in: Pommersche Jahrbücher 7/1906, 111–168, hier 151– 153. Friedrich Wilhelm Barthold, Geschichte von Rügen und Pommern, 5 Teilbde., Berlin 1839– 45. Vgl. dazu GStA PK, I. HA Rep. 89, Nr. 19489, Die Herausgabe der Geschichte von Pommern durch den Prof. Dr. Barthold zu Greifswald.

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In seinen kostenfreien öffentlichen Vorlesungen (Publice) bot Barthold in der Regel Überblicksthemen zur deutschen Geschichte an, die oft bereits auf eine bestimmte Epoche begrenzt waren. Das entsprach dem Trend der Zeit, in der sich die Universitätshistoriker zunehmend von der Weltgeschichte zur Geschichte der Nationen wandten.52 Derartige kostenfreie Vorlesungen waren meist relativ gut frequentiert. In den kostenpflichtigen Lehrveranstaltungen (Privatim, Privatissimum) war es für Barthold und seine Kollegen hingegen sehr schwierig, überhaupt Hörer zu finden. In diesen Veranstaltungen boten die Dozenten in der Regel speziellere Themen an. Im Wintersemester 1836/37, als Barthold gerade an seiner Geschichte Pommerns arbeitete, wollte er ein Privatim zur pommerschen Geschichte abhalten, das wegen eines Mangels an Nachfrage jedoch nicht zustande kam.53 Der häufige Ausfall angekündigter Lehrveranstaltungen aufgrund zu geringer Nachfrage ist im Übrigen kein Greifswalder Spezifikum. Selbst an der größten preußischen Universität in Berlin sind im Zeitraum von 1810 bis 1834 Wolfgang Virmond zufolge fakultätsübergreifend gut ein Viertel aller Lehrveranstaltungen nachweislich, offenkundig oder wahrscheinlich nicht zustande gekommen. Ein Mangel an Hörern sei dabei die häufigste Ursache gewesen.54 Es entspricht der oben bereits angedeuteten relativen Stagnation in der Entwicklung der deutschen Universitäten von etwa 1830 bis in die 1860er Jahre, dass sich an der geringen studentischen Frequenz gerade der kostenpflichtigen Lehrveranstaltungen in Greifswald kaum etwas änderte. Barthold schnitt dabei als einziger Historiker unter seinen Kollegen der Philosophischen, der Juristischen und der Theologischen Fakultät nicht schlecht ab. Einzig die Mediziner konnten sich signifikant höherer Studentenzahlen erfreuen.55 Um diese Ausführungen zu illustrieren, sei an dieser Stelle kurz auf die Entwicklung der Studentenzahlen in Greifswald verwiesen. Um 1830 zählte die Universität insgesamt etwa 200 Studenten, an der Philosophischen Fakultät waren dabei zu Beginn der 1830er teilweise wenig mehr als zehn Studenten immatrikuliert. Am besten frequentiert war die Theologische Fakultät. Bis in die Mitte der 1850er Jahre stagnierte die Gesamtzahl der Studenten. Die Theologische Fakultät hatte dabei jedoch dramatisch an Boden verloren und war nunmehr die kleinste der vier Fakultäten.56 Im Wintersemester 1855–56 waren hier gerade einmal 23 Studenten immatrikuliert. Im gleichen Semester verzeichnete die Medizinische Fakultät 73, die Philosophische Fa   52

53 54 55 56

Klaus Ries, Vom nationalen Universalismus zum universalistischen Nationalismus. Das Lehrangebot für Geschichte an der Universität Jena zwischen 1750 und 1820, in: Thomas Bach / Jonas Maatsch / Ulrich Rasche (Hgg.), ‚Gelehrte‘ Wissenschaft. Das Vorlesungsprogramm der Universität Jena um 1800, Stuttgart 2008, 215–225, v. a. 219–221. UAG, Altes Rektorat R 21, Verzeichnis der angekündigten und tatsächlich gehaltenen Vorlesungen, Bd. 1, 1833–1843, fol. 107v–108r. Wolfgang Virmond (Hg.), Die Vorlesungen der Berliner Universität 1810–1834 nach dem deutschen und lateinischen Lektionskatalog sowie den Ministerialakten, Berlin 2011, IX. Vgl. dazu v. a. UAG, Altes Rektorat Hbg 45/3. Zwischen 1860 und 1865 verdrängte sie die Juristische Fakultät auf den letzten Platz, dann nahm sie selbst wieder diese Position ein.

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kultät 64 und die Juristische Fakultät 61 Studenten. Fortan blieb die Medizinische die größte Fakultät und baute im Laufe der Jahre ihren Vorsprung immer weiter aus, aber auch die Philosophische Fakultät wuchs seit etwa 1857 relativ kontinuierlich und verzeichnete im Wintersemester 1862–63 erstmals 100 Studenten. Die Gesamtanzahl der Studenten an der Universität Greifswald lag in diesem Semester bei 312. 1866 waren erstmals mehr als 400 Studenten immatrikuliert, 1872 hatte die Universität bereits 520 Studenten.57 Damit blieb die Greifswalder Alma mater im gesamten Untersuchungszeitraum die kleinste der insgesamt sechs preußischen Universitäten. In Berlin, Bonn, Halle, Breslau und Königsberg waren die Studentenzahlen zwischen etwa 1830 und 1860 jedoch sogar rückläufig, eine spürbare Expansion erfolgte auch hier ab etwa 1860.58 Im Hinblick auf die Entstehung (bzw. Verbreitung) der quellenkritischen Methode ist besonders interessant, dass Friedrich Wilhelm Barthold in Greifswald bereits in den 1830er Jahren Lehrveranstaltungen angeboten hat, in denen in dialogischer Form Quellen kritisch besprochen werden sollten. Seinen eigenen Aussagen zufolge59 sollten die Studenten dabei auch Aufsätze verfassen. Diese Übungen, in denen Barthold meist die Arbeiten berühmter Geschichtsschreiber wie Gregor von Tours oder auch des Biographen Karls des Großen, Einhard, besprechen wollte, kamen dabei wegen Hörermangels häufig nicht zu Stande.60 Der Zusammenhang mit dem Fehlen eines Studiengangs Geschichte ist hierbei evident. Wenn die Studenten in allen Fächern Prüfungen ablegen müssen, dann kann in diesen Prüfungen konsequenterweise lediglich „Überblickswissen“ thematisiert werden. Klar ist, dass das Ideal des universal gebildeten Hochschulabsolventen in einer gewissen Spannung zum Trend der Differenzierung der Dis   57

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Alle Angaben stammen aus: Carsten Woigk, Die Studierenden der Universität zu Greifswald 1808–2006, in: Dirk Alvermann / Karl-Heinz Spieß (Hgg.), Universität und Gesellschaft. Festschrift zur 550-Jahrfeier der Universität Greifswald. Bd. 1, Die Geschichte der Fakultäten im 19. und 20. Jahrhundert, Rostock 2006, 561–583, hier 566–568. Hartmut Titze (Hg.), Datenhandbuch zur deutschen Bildungsgeschichte. Bd. I: Hochschulen, 2. Teil: Wachstum und Differenzierung der deutschen Universitäten 1830–1945, Göttingen 1995, 80f., 102, 127f., 248–250, 268, 388. Wie das in der Praxis aussah, kann leider nicht rekonstruiert werden. Die Aussagen hier beruhen auf einer Art Absichtserklärung von Barthold gegenüber dem preußischen Kultusminister. Vgl. Barthold an Kultusminister (11.04.1833), in: Archiwum Państwowe w Szczecinie, Uniwersytet w Greifswaldzie, Nr. 61, Acta Personalia Cancellariae Academicae betreffend den Professor ordinarius der Geschichte Dr. Fr. Wilh. Barthold, 1831–1854, unfoliiert. Es ist durchaus wahrscheinlich, dass Barthold derartig „moderne“ Seminare durchführte, schließlich hatte er bei seinem akademischen Lehrer Friedrich Wilken eine solche Praxis als Student selbst kennengelernt. Wilken zählte neben dem Greifswalder Friedrich Rühs zu den ersten Historikern überhaupt, die historische Übungen (im Sinne der späteren Seminare) abgehalten haben. Vgl. dazu Huttner, Historische Gesellschaften, v. a. 47. So bspw. im SoSe 1842, als Barthold ein Privatim zu Einhards Lebensbeschreibungen Karls des Großen erfolglos anbot. Vgl. UAG, Altes Rektorat R 21, fol. 275v–276r. Im SoSe 1845 fanden sich immerhin zwei Hörer für ein Privatim zu Gregor von Tours Historia Francorum. Vgl. UAG, Altes Rektorat Hbg 45/3, fol. 72v–73r.

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ziplinen stand. Die Topoi der damaligen hochschulpolitischen Diskussionen ähnelten dabei sehr stark den heutigen. Den Hintergrund hierfür bildete bspw. die Einführung staatlicher Examina für künftige Gymnasiallehrer, die einen konkreten Berufsbezug für die Studenten der Philosophischen Fakultät herstellten. So klagte der Göttinger Altertumswissenschaftler Carl Otfried Müller bereits 1831 darüber, „daß jüngere Dozenten den Typus des Studenten, dem es nicht um die Vorbereitung auf ein Amt gehe (...), sondern um seine Bildung, gar nicht mehr zu Gesicht bekämen.“61

Welches Gewicht man derartigen Äußerungen auch immer beimessen mag, der hier beklagte Bedeutungsverlust der „Bildung“ – man könnte sicher präziser von Allgemeinbildung sprechen – muss in jedem Fall auch vor dem Hintergrund der Aufwertung der Philosophischen Fakultät gelesen werden. Aus wissenschaftshistorischer Perspektive ist diese Aufwertung wohl ohne großen Widerspruch als bedeutende Entwicklung zu sehen. Für die im 19. Jahrhundert an den philosophischen Fakultäten Lehrenden bedeutete dieser Schritt zunächst einmal, dass ein Großteil der Hörer wegbrach. Und auch wenn es die Intention der Bildungsreformer gewesen ist, die propädeutische Ausbildung an den Gymnasien unterzubringen, so konnte man doch darüber klagen, dass die Mehrheit der Studenten nun nicht mehr auf universitärem Niveau mit der Geschichte, der Philosophie und anderen Geisteswissenschaften in Berührung kam. Noch eher von aufklärerischen Utilitätserwägungen als vom neuhumanistischen Bildungsideal inspiriert, hatte man jedenfalls 1795 im Visitationsrezess für die Universität Greifswald den Versuch unternommen, angesichts des sich ausbreitenden „Umfang[s] gesamter Wißenschaften“62 ein Lehrplanschema zu entwerfen, in dem präzise geregelt wurde, was an den jeweiligen Fakultäten in jedem Semester zu lesen sei. Ziel war es, den Studenten einen zügigen Abschluss des Studiums in zwei bis drei Jahren zu ermöglichen.63 An der Philosophischen Fakultät sollten demnach anwendungsorientierte Themen gelesen werden (bspw. „Die bürgerliche Baukunst mit Anleitung zu Rissen und Bauanschlägen“ oder „Anleitung zum Mühlen-, Brücken- und Wasserbau“). Im Hinblick auf das Lehrfach Geschichte sollte die „Geschichte der europäischen Staaten“, „deutsche Reichshistorie“, „Universalhistorie“, „pommersche Geschichte“ sowie „[a]bwechselnd Diplomatik, Heraldik, etc.“, also historische Hilfswissenschaften (das richtete sich vorrangig an die Juristen!) gelesen werden.64

  61 62 63 64

Zit. nach Boockmann, Geschichtswissenschaft, 122. Königlicher Visitationsrezess für die Universität (1795), in: Dirk Alvermann / Karl-Heinz Spieß (Hgg.), Quellen zur Verfassungsgeschichte der Universität Greifswald. Bd. 3, Von der Freiheitszeit bis zum Übergang an Preußen 1721–1815, Stuttgart 2014, 508–533, hier 516. Zum Visitationsrezess von 1795 vgl. ebd., 508–511. Königlicher Visitationsrezess für die Universität (1795), 530–533.

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Auch wenn die großangelegten Reforminitiativen des späten 18. Jahrhunderts alles in allem als gescheitert bezeichnet werden müssen65, orientierte sich doch allem Anschein nach zumindest der Greifswalder Geschichtsprofessor Kanngießer später, als Greifswald längst Teil Preußens geworden war, an dem alten Lehrplanschema. So bot er im Sommersemester 1820 folgende Lehrveranstaltungen an: „Universalgeschichte“, „Europäische Staatengeschichte“ und „Deutsche Geschichte.“ Anstelle der pommerschen Geschichte und der Hilfswissenschaften kündigte Kanngießer zusätzlich „Alte Litteraturgeschichte, lateinisch mit einem Examinatorio“ sowie ein „lateinisches Disputatorium auf dem Grund ausgearbeiteter Aufsätze oder Theses“ an.66 Es scheint gleichsam dem Sinn der Reformversuche des späten 18. Jahrhunderts zu entsprechen, dass die Lehrveranstaltungen Greifswalder Historiker bis in die 1830er Jahre hinein sehr stark von Studenten auch der Theologischen, der Juristischen und sogar der Medizinischen Fakultät besucht worden sind. Im Sommersemester 1831 bspw. las Peter Friedrich Kanngießer wieder „Universalgeschichte“ (Publice) vor insgesamt 22 Hörern, von ihnen war lediglich einer (!) an der Philosophischen Fakultät immatrikuliert. Unter den elf Hörern seines Privatims zur Europäischen Staatengeschichte im selben Semester fanden sich immerhin drei Studenten der Philosophischen Fakultät. Eine Vorlesung zur alten Geschichte kam wegen Hörermangels nicht zustande. Sein Publice mit dem Titel „Englische Sprache“ fand vor acht Hörern statt, unter ihnen befand sich kein einziger aus der Philosophischen Fakultät. Der Titel der zuletzt genannten Vorlesung verweist dabei auf den Umstand, dass Kanngießer noch eher dem Typ des Polyhistors zuzurechnen ist, der nicht im modernen Sinne forschte, sondern sich im Wesentlichen auf die Sammlung und Tradierung von Wissen beschränkte.67 Diese Einschätzung wird durch einige weitere Indizien gestützt. So hielt Kanngießer im Sommer 1832 noch eine Vorlesung in lateinischer Sprache68 zur „Geschichte der neueren Zeitereignisse“ – die Hörer stammten vornehmlich aus der Theologischen Fakultät. Im gleichen Semester hielt Kanngießer wiederum einen Kursus zur englischen Sprache (sieben Hörer) und „lateinische Examinatorien“ vor sechs Hörern.   65 66

67 68

Vgl. dazu Dirk Alvermann, Greifswalder Universitätsreformen 1648–1815, in: ders. / Nils Jörn / Jens E. Olesen (Hgg.), Die Universität Greifswald in der Bildungslandschaft des Ostseeraums, Berlin 2007, 69–104, hier 93–100. Verzeichniß der Vorlesungen, welche auf der Königl. Akademie zu Greifswald unter dem Rektorate des Herrn Doctors und Professors Voigt von Ostern bis Michaelis 1820 sollen gehalten werden, Greifswald 1820 (online einsehbar unter: Digitale Bibliothek MecklenburgVorpommern). So auch die Einschätzung von Thomas Stamm-Kuhlmann, Die Philosophische Fakultät vom Anschluss an Preußen 1815 bis zur deutschen Wiedervereinigung 1990, in: Alvermann / Spieß (Hgg.), Universität, 371–480, hier 382f. Eine derartige Praxis war bereits seit dem 18. Jahrhundert zunehmend unüblich geworden. Vgl. Friedrich Paulsen, Die deutschen Universitäten und das Universitätsstudium, Hildesheim 1966/1902, 59f.

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Sein angekündigtes „Collegium“ zu den „historischen Hülfswissenschaften“ kam hingegen wegen Hörermangels nicht zustande.69 Im Sommersemester 1832 und im darauffolgenden Wintersemester zeigen sich auch an der Lehrtätigkeit Bartholds die oben beschriebenen strukturellen Probleme. Während seine öffentlichen kostenfreien Vorlesungen zur Geschichte der Französischen Revolution und zur Geschichte des Zeitalters Karls V. recht gut besucht waren (22 bzw. 18 Hörer), wurden seine kostenpflichtigen Vorlesungen zur Geschichte des Mittelalters und zur Geschichte des preußischen Staates nicht verlangt.70 Ob auch in der Zeit nach etwa 1840 die Lehrveranstaltungen der Historiker von Studenten aller Fakultäten derart stark nachgefragt worden sind, lässt sich aus den überlieferten Quellen leider nicht ermitteln.71 In jedem Falle zeigt dieser Umstand an, dass die Geschichte bzw. die Philosophische Fakultät durchaus noch ihre herkömmliche propädeutische Funktion hatte und die Vermittlung historischen Wissens ein Angebot darstellte, das Studenten aller Fakultäten in Anspruch nahmen. Eine diesbezüglich interessante Marginalie, die andeutet, dass auch noch in der zweiten Jahrhunderthälfte relativ offene Grenzen zwischen den Fakultäten herrschten, findet sich aus dem Jahr 1860 in den Verzeichnissen der tatsächlich gehaltenen Vorlesungen. Hier bemerkte ein Philosophieprofessor, dass er „[a]uf Wunsch mehrerer Studirenden (!) der juristischen Fakultät“ eine geplante Vorlesung über Ästhetik durch eine Vorlesung zur Rechtsphilosophie ersetzt habe.72 Es wurde bereits angedeutet, dass sich an der geringen Frequenz gerade der kostenpflichtigen Lehrveranstaltungen auch gegen Ende des Untersuchungszeitraums kaum etwas änderte. Dieser Befund soll anhand einiger Beispiele im Folgenden noch etwas illustriert werden. Ferner bleibt zu ermitteln, inwiefern die Themen der Lehrveranstaltungen Spezialisierungstendenzen erkennen lassen. Von der geringen Frequenz betroffen waren vor allem die beiden Privatdozenten Klempin und Pertz. In den gerade einmal zwei Semestern (1847–48), in denen Klempin Lehrveranstaltungen anbot, fand er insgesamt nicht mehr als elf Hörer. Seine Publices zum „Zeitalter der Französischen Revolution“ und zur „Nordischen Mythologie“ fanden sechs resp. fünf Hörer. Alle seine darüberhinaus angekündigten kostenpflichtigen Lehrveranstaltungen – mit den Titeln: „Philosophie der Geschichte“, „alte Geschichte“, „historisches Conversatorium“ – kamen aufgrund eines Mangels an Hörern nicht zustande.73 Das Gleiche gilt für Karl Pertz,   69

70 71 72 73

Im WiSe 1818/19 hatte Kanngießer bspw. auch noch einen Einführungskurs in das Hebräische angeboten. Vgl. Stamm-Kuhlmann, Philosophische Fakultät, 382. Die Angaben zu den Lehrveranstaltungen stammen aus: UAG, Altes Rektorat R 447, Bd. 17, Labores, Ostern 1831 bis Ostern 1832, fol. 20r–21v; UAG, Altes Rektorat R 448, Bd. 1, Labores, Ostern 1832 bis Ostern 1833, fol. 58r/v. UAG, Altes Rektorat R 448, Bd. 1, fol. 65r/v, fol. 75r/v. Die Labores ab den 1840er Jahren enthalten keine Angaben mehr zur Fakultätszugehörigkeit der Studenten. UAG, Altes Rektorat Hbg 45/3, fol. 465v–466r. UAG, Altes Rektorat Hbg 45/3, fol. 134v–135r, fol. 150v–151r.

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der in den zwei Semestern vom Frühjahr 1862 bis zum Frühjahr 1863 für seine Lehrveranstaltungen – „Quellenkunde des deutschen Mittelalters“, „Geschichte des deutschen Mittelalters“ (zweimal), „Erklärung von Richer’s Historiarum libri IV“, „Geschichte der geographischen Entdeckungen“ – so gut wie gar keine Hörer fand.74 Demgegenüber ist es denn fast schon rekordverdächtig, wenn der ab 1858 in Greifswald tätige außerordentliche Professor Carl Hopf für sein hilfswissenschaftliches Privatissimum zur Diplomatik im Winter 1861–62 fünf Hörer findet.75 Als letztes Beispiel sei der später als pommerscher Landeshistoriker bekannt gewordene Theodor Pyl (1826–1904)76 angeführt, der im Untersuchungszeitraum jedoch noch keine spezifisch historischen Lehrveranstaltungen abhielt. Pyl lehrte ab dem Sommer 1853 an der Universität Greifswald und fand dabei fast nie Hörer, sodass er bisweilen mehrere Semester in Folge keine einzige seiner angekündigten Veranstaltungen auch tatsächlich abhielt. Als Titel seiner Veranstaltungen finden sich u. a. „Geschichte der deutschen Kunst“, „Kunstmythologie“ oder auch „Christliche Archäologie.“77 Folglich wurde er in den gedruckten Vorlesungsverzeichnissen unter der Rubrik „Philologie, Kunstgeschichte und Sprachwissenschaft“ geführt. In der Kategorie „Geschichte“ wurden demgegenüber lediglich die Veranstaltungen von Barthold, Urlichs (in Auswahl), Klempin, Schaefer, Hopf und Pertz gelistet.78 Jedoch bot auch Urlichs im Sommer 1850 eine Veranstaltung mit dem Titel „alte Kunstgeschichte“ an79, was Manharts Forschungsansatz ein weiteres Mal bestärkt und verdeutlicht, dass sich die Fachwissenschaftler für Philologie oder Geschichte in einem großen, noch relativ offenen disziplinären Feld bewegten, in dem zahlreiche noch relativ unbestimmte Gegenstandsbereiche (Archäologie, Kunstgeschichte, Mythologie) ineinander übergingen. Trotz aller diskutierten Hindernisse zeigte sich zum Ende des Untersuchungszeitraums doch eine gewisse Spezialisierung der Historiker und damit eine Professionalisierung ihrer Tätigkeit. Arnold Schaefer und Carl Hopf, die ab 1858 in Greifswald waren, profitierten dabei von dem langsamen Ansteigen der Studentenzahlen. So brachte Schaefer im Sommersemester 1858 alle seiner drei angekündigten Veranstaltungen zustande. Es handelte sich dabei um ein Publice zu dem Thema „Griechische Geschichte“ (14 Hörer), zudem las Schaefer als Privatim „Neuere Geschichte“ vor sechs Hörern und fand auch bereits sieben Hörer für seine „Historischen Uebungen“, die er fortan regelmäßig anbot und auch zu   74 75 76 77 78 79

Die Angaben sind bei Pertz an dieser Stelle allerdings nicht ganz eindeutig. Vgl. UAG, Altes Rektorat Hbg 45/3, fol. 531v–532r, fol. 543v–544r. UAG, Altes Rektorat Hbg 45/3, fol. 492v–493r. Zur Biographie vgl. Martin Wehrmann, Karl Theodor Pyl, in: Pommersche Jahrbücher 6/1905, 1–13. Diese Beispiele stammen aus 1853–54. Vgl. UAG, Altes Rektorat Hbg 45/3, fol. 299v–300r, fol. 314v–315r, fol. 327v–328r. Vgl. dazu bspw. UAG, Altes Rektorat R 28, Die angekündigten Vorlesungen, 1852–1860, fol. 22r, fol. 170v; UAG, Altes Rektorat Hbg 47/19, Gedruckte Vorlesungsverzeichnisse, 1860– 1866/67, fol. 54r, fol. 137r/v. UAG, Altes Rektorat Hbg 45/3, fol. 218v.

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stande brachte. Ab dem Wintersemester 1859–60 findet sich dabei erstmals die Bezeichnung „Uebung an der Historischen Gesellschaft.“80 Die Historische Gesellschaft war Adolf Hofmeister zufolge 1859 gegründet worden, allem Anschein nach hat sie sich aber keine Statuten gegeben.81 Im Hinblick auf die Trennung der Zuständigkeiten in einerseits alte Geschichte und andererseits mittlere und neuere Geschichte stand die Entwicklung in Greifswald derjenigen im restlichen Preußen kaum nach, obwohl eine eigenständige Professur für alte Geschichte erst 1881 eingerichtet worden ist.82 In der Praxis hatte Barthold schon lange keine alte Geschichte mehr gelesen, dies übernahmen die Vertreter der klassischen Philologie, vorrangig von Urlichs in den Jahren 1847 bis 1855. Dass man 1857 mit Schaefer einen Geschichtsprofessor engagierte, der nun diesen Acker bestellen sollte, weist darauf hin, dass sich die (alte) Geschichte langsam als Disziplin von der (klassischen) Philologie emanzipierte. Mit Schaefers Ankunft wurde denn auch die Trennung der Zuständigkeiten in der Lehre festgeschrieben. Er selbst vertrat als Ordinarius zwar noch die ganze Geschichte, Hopf hingegen sowie auch sein Nachfolger Usinger unterrichteten mittlere und neuere Geschichte. Mit Schaefers Nachfolger Theodor Hirsch verfestigte sich diese Aufgabenteilung.83 Josef Engel sprach davon, dass sich im Verlaufe des 19. Jahrhunderts ein „Wissenschaftsbewußtsein“ von der Geschichte entwickelt habe, nach dem die Geschichte „nicht mehr ohne ein tieferes, selbständiges Eindringen in einzelne Bereiche zu betreiben war.“84 Diese Überzeugung war allem Anschein nach um die Jahrhundertmitte auch zur Kultusbürokratie durchgedrungen. In diese Richtung äußerte sich zumindest der preußische Kultusminister gegenüber seinem Amtskollegen aus dem Finanzministerium anlässlich der Übermittlung eines Gesuchs um die Anstellung eines Althistorikers von Seiten der Philosophischen Fakultät der Universität Bonn:   80 81 82 83

84

UAG, Altes Rektorat Hbg 45/3, fol. 427v–428r, fol. 465v–466r. Hofmeister, Geschichte des Historischen Instituts, 93. Engel, Geschichtswissenschaft, 342f. (Anm. 2). Wobei Hirsch neben der alten Geschichte stets auch Lehrveranstaltungen zur Geographie angeboten hat. Exemplarisch sei hier auf das WiSe 1867–68 verwiesen. Hirsch kündigte im Vorlesungsverzeichnis eine Veranstaltung zur Geschichte Griechenlands an, hinzukamen „allgemeine Erdkunde“ sowie „geographische Übungen.“ Die Übungen des Historischen Seminars leitete er abwechselnd mit Prof. Usinger. Usinger selbst bot die „Geschichte Europas von 1789 bis 1815“ sowie „Geschichtsquellen des deutschen Mittelalters“ an. Ergänzt wurde das Lehrangebot durch eine Veranstaltung zur „griechischen Paläographie“ von PD Pertz. Vgl. Verzeichniss der Vorlesungen, welche im Winterhalbjahre 1867–68 an der Königlichen Universität Greifswald und an der Königlichen staats- und landwirthschaftlichen Akademie Eldena gehalten werden sollen, Greifswald 1867, 6, 8. Zum (bisher kaum erforschten) Verhältnis von Geschichte und Geographie vgl. Jürgen Osterhammel, Transnationale Gesellschaftsgeschichte: Erweiterung oder Alternative?, in: Geschichte und Gesellschaft 27/2001, 464–479, hier 475. Manhart, Felder des Wissens, 204 (Anm. 172). Engel, Geschichtswissenschaft, 338.

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Michael Czolkoß „Der Umfang der historischen Disciplinen ist aber ein so großer, daß es unthunlich ist, jeden einzelnen Lehrer der Geschichte an der Universität die Pflicht aufzulegen, daß er Discussionen über das ganze Gebiet der Wissenschaft Vorträge halte (!); ein jeder kann vielmehr nur diejenigen Theile der Geschichte zum Gegenstand seiner Vorlesungen machen, denen er seine wissenschaftliche Thätigkeit zugewandt hat.“85

Das Ideal der Einheit von Forschung und Lehre kommt hier klar zum Vorschein. Dass dieses Ideal in der Praxis oft nicht umgesetzt werden konnte, hatte – dies sollten die vorangegangenen Ausführungen deutlich gemacht haben – in erster Linie strukturelle Ursachen. Das Fehlen von Fachstudiengängen, die noch nicht ganz abgeschüttelte propädeutische Funktion der Philosophischen Fakultät und die geringe studentische Frequenz der Universitäten sind dabei zu nennen. Trotz dieser strukturellen Hindernisse kam es zur Differenzierung der wissenschaftlichen Disziplinen. Dies muss wohl nicht zuletzt vor dem Hintergrund der eingangs angedeuteten Durchsetzung des „Forschungsimperativs“ erklärt werden. Wer im Sinne des Forschungsimperativs als Wissenschaftler ein Auskommen erreichen wollte, musste – den Leitkriterien Neuheit und Wahrheit des Wissens folgend – Forschungsergebnisse erarbeiten und diese auch publizieren.86 Eine derartige Praxis führt dabei nach systemtheoretischer Lesart zu einem kontinuierlich anwachsenden Wissensbestand, der wiederum die Komplexität des Systems Wissenschaft unaufhaltsam anwachsen lässt. Dieser Wachstumsprozess – der im Einzelfall jedoch durchaus durch Rückschritt oder Stillstand („Entdifferenzierung“) geprägt sein kann87 – macht es für Außenstehende (Umwelt) zunehmend unmöglich, die Entwicklungen innerhalb des Systems Wissenschaft zu überblicken. Diesen Wachstums- und Differenzierungsprozess sowie die ihm inhärente Eigendynamik haben auch bereits Zeitgenossen – fernab soziologischer Theoriebildung – durchblickt, wie das folgende Zitat des preußischen Kultusministers Johann Albrecht Friedrich Eichhorn aus dem Jahre 1847 andeutet: „Sodann liegt es in der Natur der Wissenschaften, welche das fast unabsehbare Gebiet der philosophischen Fakultät ausmachen, daß in dem Maße, als große Fortschritte in einer Wissenschaft gemacht werden und sich dieselbe in Unterabteilungen spaltet, auch bald als Bedürfnis hervortritt, für letztere besondere Lehrer anzustellen, da ein Gelehrter nicht mehr imstande ist, die ganze betreffende Wissenschaft im allgemeinen und besonderen genügend zu vertreten.“88

  85 86 87 88  

Kultusminister an Finanzminister (Entwurf, 12.12.1864), in: GStA PK, I. HA Rep. 76 Va, Sekt. 3, Tit. 4, Nr. 40, Die Anstellung und Besoldung der außerordentlichen und ordentlichen Professoren in der philosophischen Fakultät der Universität zu Bonn, Bd. 4, fol. 167r–167av. Zum „Forschungsimperativ“ vgl. bspw. R. Steven Turner, The Prussian Universities and the Concept of Research, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 5/1980, 68–93, hier 68. Rudolf Stichweh, Differenzierung der Wissenschaft [1979], in: ders., Wissenschaft, 15–51, hier 47f. Johann Albrecht Friedrich Eichhorn, Immediatbericht des Kultusministers (Berlin, 06.03. 1847), in: Acta Borussica, Bd. 2.2: Das Kultusministerium auf seinen Wirkungsfeldern Schu-

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5. Geschichtsforschung Um das Bild des Disziplinbildungsprozesses zu vervollständigen, muss abschließend noch die Geschichtsforschung beleuchtet werden. Im Fokus soll dabei die Geschichtsforschung der Fachhistoriker stehen. Vorab ist es jedoch geboten, einige Schlaglichter auf die Vertreter anderer Fächer und deren Beiträge zur Geschichtsforschung zu werfen. Gleichsam soll auch exemplarisch auf die Tätigkeiten der Fachhistoriker auf fachfremden Feldern hingewiesen werden. Die Ausführungen in diesen drei Abschnitten werden dabei deutlich machen, dass der Disziplinbildungsprozess im Untersuchungszeitraum deutliche Fortschritte machte, wenngleich nicht von einem linearen Prozess gesprochen werden kann. 5.1 Vertreter anderer Fächer auf dem Feld der Geschichtsforschung Es sollte bereits deutlich geworden sein, dass sowohl (lange) vor 1765 als auch noch im 19. Jahrhundert Geschichtsforschung – im weiteren und im engeren Sinne – von Vertretern aller möglichen Fächer betrieben worden ist. Dafür ließen sich auch für die Universität Greifswald unzählige Beispiele zeigen. Diese müssen hier nicht umfänglich dargestellt werden. Wichtiger ist es, den allgemeinen Entwicklungstrend festzuhalten. Demnach lässt sich feststellen, dass in der Frühen Neuzeit – und dieser Befund gilt generell für die Universitäten des deutschsprachigen Raums – Geschichtsforschung vor allem an den juristischen Fakultäten betrieben worden ist.89 Auch an den übrigen drei Fakultäten ließen sich Aktivitäten auf dem Feld der Geschichtsforschung zeigen. Demgegenüber erfolgte im späten 18. und 19. Jahrhundert eine zunehmende Beschränkung auf die Philosophische und auch die Theologische Fakultät. In ersterer waren es dabei bekanntermaßen die Altphilologen, die maßgeblich die Entwicklung der historischen Methode vorantrieben. Der Theologischen Fakultät fiel demgegenüber das Monopol auf die Religions- und Kirchengeschichte zu – dies war eine recht exzeptionelle Entwicklung und sollte dazu führen, dass in Deutschland, anders als beispielsweise in Frankreich und England, die „Profangeschichte“ einerseits und die Kirchen- und Religionsgeschichte andererseits nahezu unberührt nebeneinander betrieben worden sind.90 Diese hier angedeutete zunehmende exklusive Zuständigkeit für die Geschichtsforschung in der Philosophischen und der Theologischen Fakultät hängt dabei eng mit dem bereits angesprochenen Umstand zusammen, dass es mehr und mehr unmöglich wurde, als Professor zwischen den Fakultäten zu wechseln.  

89 90

le, Wissenschaft, Kirchen, Künste und Medizinalwesen. Dokumente, Berlin 2010, 385–404, hier 390f. Siehe oben Anm. 11. Irmtraud Götz v. Olenhusen, Die neue Religionsgeschichte, in: Christoph Cornelißen (Hg.), Geschichtswissenschaften. Eine Einführung, Frankfurt a. M. 2000, 271–281, hier 276–279.

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Ein prominentes Greifswalder Beispiel für einen Geschichtsforscher aus der Juristischen Fakultät ist Augustin von Balthasar (1701–1786).91 Balthasar gehörte einer der berühmtesten Greifswalder Gelehrtendynastien an, er hatte in Greifswald und Jena studiert und dabei Geschichte, Philosophie, Geometrie und Physik gehört, sich aber hauptsächlich dem Studium der Rechte gewidmet. Zwischen 1727 und 1763 war er Professor an der Juristischen Fakultät in Greifswald. Neben seinen zahlreichen Beiträgen zu historischen Themen – meist hatten diese einen rechts- und lokalgeschichtlichen Fokus – initiierte Balthasar einige wichtige Quellensammlungen. In erster Linie ist hier die Sammlung Vitae Pomeranorum zu nennen, die sog. „Gelegenheitsschrifttum“ bedeutender Pommern aus dem 16. bis 18. Jahrhundert enthält (u. a. Dichtungen zu Hochzeiten, Leichenpredigten, Lebensbeschreibungen). In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wurde diese Sammlung maßgeblich von dem Greifswalder Rechtsprofessor Johann Carl Dähnert (1719–1785)92 weitergeführt. Auch noch im 19. Jahrhundert erfuhr sie einige weitere Ergänzungen. 1898 umfassten die Vitae Pomeranorum etwa 8.000 Lebensbeschreibungen, die noch heute in der Universitätsbibliothek Greifswald verwahrt werden.93 Eine Art Konkurrenzunternehmen stammt von Christian Nettelbladt (1696– 1775). Nettelbladt, dessen Familie ursprünglich aus Rostock stammte, der aber in Schweden aufgewachsen war, war ebenfalls (bis 1743) Rechtsprofessor in Greifswald. Seit 1728 hatte er hier die Schwedische Bibliothek herausgegeben, die ähnlich wie die Vitae Pomeranorum Urkunden, historische Darstellungen sowie Lebensbeschreibungen bedeutender Schweden enthält. Balthasar und Nettelbladt waren regelrecht verfeindet. Insgesamt muss man sagen, dass sich Nettelbladt in Greifswald in einer sehr schwierigen Lage befand, da er gegen den Willen der Universität vom schwedischen König berufen worden ist, der mit dieser und anderen Personalentscheidungen eine „Schwedisierung“ Pommerns verfolgte. In dieser Gemengelage entstanden also sowohl die Schwedische Bibliothek als auch die Vitae Pomeranorum. Es waren augenscheinlich sowohl ein forschendes Interesse an der Geschichte wie auch kulturpolitische, patriotische und aufklärerische Motive, die Balthasar und Nettelbladt zu ihren Quellensammlungen motivierten.94   91 92

93 94  

Zu seinem Werdegang vgl. Dirk Alvermann (Hg.), Im Hause des Herrn immerdar. Die Lebensgeschichte des Augustin von Balthasar (1701–1786) von ihm selbst erzählt, Greifswald 2003, 3–18. Darauf basieren die folgenden Angaben. Dähnert leistete v. a. auch mit seinen zahlreichen Quelleneditionen einen wichtigen Beitrag zur Geschichtsforschung. Zu erwähnen ist hier die viele Bände umfassende Sammlung gemeiner und besonderer pommerscher und rügischer Landes-Urkunden (...) (1765–1802). Zu Dähnert siehe auch den Beitrag von Jens E. Olesen in diesem Band. Einen aktuellen Überblick zum Stand der Überlieferung, zu Nutzungsmöglichkeiten sowie Hinweise auf die relevante Literatur liefert Horst Hartmann, Die Vitae Pomeranorum als kulturhistorische Quelle, in: Baltische Studien N. F. 85/1999, 57–61. Alvermann, Augustin von Balthasar, 16. Zu Nettelbladt und seiner schwierigen Stellung in Greifswald vgl. ebd., 7f. sowie Günter Mangelsdorf, Christian Nettelbladt und seine Ausgrabung von 1727 in Weitenhagen bei Greifswald, in: Dirk Alvermann / Nils Jörn / Kjell Åke

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Die Vitae Pomeranorum und auch die Schwedische Bibliothek stellen Quellensammlungen von bleibendem Wert für die Geschichtswissenschaft dar, obgleich man sicher die These formulieren darf, dass sie nicht ausschließlich – wie es der Geschichtsforschung im modernen Sinne (idealtypisch) entspräche – um der Wissenschaft selbst willen angelegt worden sind. Im Sinne der Systemtheorie wären die aufklärerischen Motive Balthasars und die kulturpolitischen Konflikte als wissenschaftsexterne Anregungen zu deuten, die anzeigen, dass sich die Wissenschaft als autonomes System noch nicht voll entfaltet hatte. Anschaulich darstellen lässt sich dies auch an einem zweiten Beispiel aus der Tätigkeit Balthasars, der Gründung einer historischen Gesellschaft im Jahre 1742. An der 1742 erfolgten Gründung dieser ersten Gesellschaft für pommersche Geschichte, der Societas Collectorum Historiae et Juris Patrii, waren neben Balthasar einige seiner Amtskollegen beteiligt, so bspw. der Professor für Geschichte und praktische Philosophie Albert Georg Schwartz (1687–1755).95 Der in den Statuten festgeschriebene Zweck der Gesellschaft lautete wie folgt: „Gleichwie fast aller Orten, sowol in Deutschland, als auch bey andern gesitteten Voelkern, ein Uberfluß von geschriebenen und ungeschriebenen Gesetzen anzutreffen, daß man daher mehr über deren Menge, als Mangel, zu klagen Ursache hat: also ist auch solches von unserm Pommerlande eine offenkundige und niemanden verborgene Sache. Je groesser nun aber die Anzahl der Gesetze in unserm Vaterlande ist, desto beschwerlicher fällt dagegen eine noethige Kundschaft von selbigen zu erwerben; indem, wo nicht die meisten gar unbekannt, dennoch nur mangelhaft, sogar, daß selbige auch nicht in oeffentlichen archiven in vollstaendiger Ordnung nach der Zeitfolge verhanden und aufzuweisen sind; wovon bey allerhand, sonderlich gerichtlichen Vorfallenheiten, die Erfahrung einzeuget. Diesem Mangel nun moeglichster massen abzuhelffen, und alle und jede Materien, so in die Landes-Rechte und wolhergebrachte Gewohnheiten, auch Geschichte des Vaterlandes, einen Einfluß haben, so weit thunlich, zu erschoepfen, sind einige Liebhaber der Landes-Rechte und Geschichte auf die Gedanken gerathen, eine Gesellschaft zu errichten (...).“96

Die Gesellschaft traf sich – so wurde es zumindest in den Statuten festgelegt – einmal monatlich. Dabei sollten die Mitglieder nacheinander schriftliche Ausarbeitungen zur pommerschen Geschichte anhand der Gesetzestexte verfassen. Diese sollten in gemeinsamer Runde diskutiert, verbessert und letzten Endes gedruckt werden. Aus der Tätigkeit dieser Gesellschaft, die nur wenige Jahre Bestand hatte, ging das erste Pommersche Urkundenbuch hervor. Dieses trägt den Titel: Auserle  

95 96

Modéer (Hgg.), Virtus est satis hoc uno testificata libro. Festgabe für Manfred Herling, Münster / Hamburg / London 2003, 201–210, hier 201f. Hier wird auch Nettelbladts Tätigkeit als Archäologe und Ur- und Frühhistoriker thematisiert, die sich ebenfalls unter das weite Feld „Geschichtsforschung“ subsumieren ließe. Zu Nettelbladt siehe auch den Beitrag von Jens E. Olesen in diesem Band. Alvermann, Augustin von Balthasar, 6, 14. Zur Societas Collectorum Historiae et Juris Patrii vgl. Detlef Döring, Gelehrte Gesellschaften in Pommern im Zeitalter der Aufklärung, in: Alvermann / Jörn / Olesen (Hgg.), Bildungslandschaft, 123–153, v. a. 147–152. Maaßregeln der Pommerschen Gesellschaft, welche unter dem Nahmen Collectorum Historiae et Juris Patrii zu Greifswald im Jahre 1742 errichtet und am 1. October desselben Jahres eröffnet worden, Greifswald 1742, III.

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sene Sammlung verschiedener glaubwürdiger, guten theils nie gedruckter, Urkunden und Nachrichten, welche zur Kenntniss der Landes-Verfassung und Rechte des Herzogthums Vor- und Hinter-Pommern, wie auch des Fuerstenthums Ruegen dienen koennen. Das Werk erschien in zwei Bänden in den Jahren 1747 und 1756.97 Aus dem Titel dieser Edition sowie aus den zitierten Statuten wird dabei deutlich, dass die an der Gesellschaft beteiligten Gelehrten den Zweck verfolgten, das Verständnis zeitgenössischer Rechtstexte zu befördern. Ein Selbstzweck historischer Wissenschaft, wie er für ein autonomes System kennzeichnend wäre, kommt hier nicht zum Ausdruck. Zu dieser Einschätzung gelangt auch Detlef Döring, der konstatiert, dass die Beschäftigung mit der Geschichte von Seiten der Societas weniger einem „antiquarische[n] Interesse“ als vielmehr „den Bedürfnissen der Gegenwart“ diente.98 Balthasar, Nettelbladt und Dähnert waren typische Repräsentanten der engen Verbindung von Jus und Historie (Hammerstein) im 18. Jahrhundert. Der wohl prominenteste fachfremde Greifswalder Geschichtsforscher des 19. Jahrhunderts war Johann Gottfried Ludwig Kosegarten (1792–1860). Er war der Sohn des vormaligen Geschichtsprofessors Ludwig Gotthard Kosegarten – die Strukturen der Familienuniversität waren also weiterhin wirksam. Kosegarten war bis in die Jahrhundertmitte Professor für alttestamentliche Exegese und orientalische Sprachen an der Theologischen Fakultät. Dennoch machte er sich vor allem auf dem Felde der Geschichtsforschung einen Namen. So war er maßgeblich an der 1824 erfolgten Gründung der Gesellschaft für Pommersche Geschichte und Altertumskunde99 beteiligt. Zudem zeichnete er für die ersten kritischen Quelleneditionen zur pommerschen Geschichte aus den 1840er Jahren mitverantwortlich und veröffentlichte anlässlich der 400-Jahrfeier der Universität Greifswald die bis heute genutzte zweibändige Geschichte der Universität Greifswald mit urkundlichen Beilagen (1856–57).100 Anders als Balthasar, Nettelbladt und Dähnert kann man Kosegarten auch bereits als Geschichtsforscher im engeren Sinne charakterisieren. 5.2 Tätigkeiten der Fachhistoriker auf fachfremden Feldern Neben den auf dem Gebiet der Geschichtsforschung aktiven fachfremden Professoren lässt sich gleichsam zeigen, dass – mal mehr, mal weniger ausgeprägt – fast alle Fachhistoriker des Untersuchungszeitraums auch noch auf anderen Gebieten  

97 98 99

Alvermann, Augustin von Balthasar, 14. Döring, Gelehrte Gesellschaften, 150. Zur Gründung der Gesellschaft für pommersche Geschichte und Altertumskunde vgl. Rembert Unterstell, Klio in Pommern. Die Geschichte der Pommerschen Historiographie 1815 bis 1945, Köln / Weimar / Wien 1996, 22–27. Vgl. auch Maciej Szukała, Powstanie i działalność Towarzystwa Historii i Starożytności Pomorza w Szczecinie w latach 1824–1918, Szczecin 2000. 100 Zu seinem Werdegang vgl. Arnold Dietrich Schaefer, Nachruf auf Johann Gottfried Ludwig Kosegarten (1792–1860), in: Baltische Studien 20/1865, 58–70.

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als dem der Geschichtsforschung tätig waren. Das prominenteste Beispiel hierfür ist Ernst Moritz Arndt, der heute eher als „Patriot“, politisch streitbarer Publizist und nicht zuletzt auch als Dichter bekannt ist. Genannt wurde in diesem Zusammenhang auch bereits Peter Friedrich Kanngießer, der – vor seiner Berufung auf das Greifswalder Geschichtsordinariat war Kanngießer Professor für klassische Philologie in Breslau – wie Arndt auch dichterische Arbeiten publizierte.101 Als Beispiel für einen klassischen Gelehrten kann man auch den lange Zeit amtierenden ersten Geschichtsprofessor Johann Georg Peter Möller nennen. Möller veröffentlichte Deutsch-Schwedische Wörterbücher und hat sich vor allem als Übersetzer schwedischer Literatur sowie als Herausgeber aufklärerischer Rezensionsjournale einen Namen gemacht. Einer seiner Nachfolger, Friedrich Rühs, der noch unter Möller studiert hatte, widmete seinem akademischen Lehrer im Jahre 1808 einen Nachruf, in dem die eingangs dargestellte Wandlung des Wissenschaftsverständnisses zum Ausdruck kommt. Rühs schrieb über Möller, dass er ein „Gelehrter“ gewesen sei, der „durch [seinen] mündlichen Unterricht zur Bildung vieler Staatsbürger und [durch seine] schriftstellerische Thätigkeit zur Verbreitung nützlicher Kenntnisse“ beigetragen habe, auch wenn er „das Gebiet der Wissenschaften nicht unmittelbar durch neue Entdeckungen“ erweitert habe.102 Als Historiker trat Möller nur durch einige kleinere Gelegenheitsschriften in Erscheinung.103 Friedrich Rühs selbst, der – wie noch zu zeigen sein wird – durchaus schon als Geschichtsforscher im modernen Sinne gelten darf, hat nur am Rande auf anderen Gebieten als dem der Geschichte gewirkt. Drei Beispiele kann man hier nennen. Zum einen war er in Greifswald lange Zeit Vizebibliothekar. Die Verbindung einer historischen Professur mit einem Bibliothekarsamt war jedoch auch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts an preußischen Universitäten gewöhnlich. Neben Möller und Rühs waren in Greifswald bspw. auch Kanngießer und Theodor Hirsch als Bibliothekare tätig. Gleichsam wurde Carl Hopf nach seinem Weggang aus Greifswald 1864 in Königsberg zum ordentlichen Professor für Geschichte und zum Universitätsbibliothekar ernannt. Als zweiten Punkt muss man Rühs’ Wirken als politischer Publizist nennen. Dabei veröffentlichte Rühs auch umfangreiche Monographien, in denen heute vor allem – ähnlich wie bei seinem Freund und „Bruder im Geiste“ Ernst Moritz Arndt – frankophobe und judenfeindliche Tiraden auffallen, aufgrund derer man Rühs in die Frühgeschichte des völkischen Nationalismus einordnen muss.104 Zu guter Letzt kann auf Rühs’  

101 Jürgen Kroymann, Geschichte der klassischen Philologie an der Universität Greifswald, in: Universität Greifswald (Hg.), Festschrift, 120–135, hier 120. Auch Kroymann gelangt hier zu dem Urteil, dass Kanngießer noch „die ältere Generation einer mehr antiquarischen Gelehrsamkeit und enzyklopädischer Vielwisserei“ repräsentiert habe. 102 Rühs, Möller, 3. 103 Ebd., 16. Siehe auch das Schriftenverzeichnis Möllers: ebd., 19f. 104 Vgl. dazu Michael Rohrschneider, Der Historiker Christian Friedrich Rühs und die Franzosen. Eine Studie zum deutschen Frankreichbild im frühen 19. Jahrhundert, in: Francia. Forschungen zur westeuropäischen Geschichte 33/2006, 129–146. Vgl. auch Michael F. Scholz,  

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Lehrtätigkeit verwiesen werden. Rühs bot hier wie alle seine zeitgenössischen Fachkollegen ein breites Spektrum an Themen an, wobei es sich nicht immer um genuin historische Stoffe handeln musste. Der Anschaulichkeit halber sei hier ein längeres Zitat aus einer sog. „Fleißliste“ wiedergegeben. In der vom 12. Oktober 1803 datierenden Quelle berichtet Rühs an die vorgesetzten Behörden: „Im verfloßnen halben Jahre habe ich 1) über die alte Geschichte, verbunden mit der alten Erdkunde, öffentliche Vorlesungen gehalten, und habe sie bis auf die Kriege der Griechen mit den Persern hinabgeführt. Den sämtlichen Herrn, die dieses Collegium besucht haben, (...) bin ich das Lob eines besonderen Fleißes und vorzüglicher Aufmerksamkeit schuldig. 2) Besonders habe ich den Herrn Held und Ledebour in 2 wöchentlichen Stunden Schakespears (!) Romeo und Julie (!) erklärt. 3) Ebendenselben habe ich auch in der Spanischen Sprache Unterricht ertheilt und einige von den novelas exemplares des Cervantes mit ihnen gelesen.“105

Die drei letzten Fachhistoriker des Untersuchungszeitraums, Friedrich Wilhelm Barthold, Arnold Schaefer und Carl Hopf, können durchaus als „moderne“ Fachhistoriker bezeichnet werden. Gewisse Einschränkungen muss man bei Barthold machen. Er arbeitete bisweilen noch als Hauslehrer, um sein Gehalt aufzubessern.106 Daneben klagte Barthold gegenüber den vorgesetzten Behörden immer wieder, dass er wegen seiner prekären finanziellen Situation einen Großteil seiner Arbeitskraft aufwenden müsse, um für eine größere Käuferschicht quasi populärwissenschaftliche Arbeiten zu publizieren.107 Arnold Schaefer und Carl Hopf hingegen arbeiteten ausschließlich in dem eng umrissenen Aufgabenfeld des an der Universität angestellten Historikers. Schaefers pädagogische Veröffentlichungen und seine tagespolitische Publizistik datieren allesamt aus der Zeit vor seiner Berufung im Jahre 1857.108  

105 106 107

108

Der Historiker Christian Friedrich Rühs und die Ambivalenz der frühen deutschen Nationalbewegung, in: Deutsch-Finnische Gesellschaft e. V. (Hg.), Pro Finlandia 2001. Festschrift für Manfred Menger, Reinbek 2001, 125–139. Eine etwas merkwürdig und polemisch anmutende „Ehrenrettung“ von Arndt und Rühs versucht Ludwig Biewer, Freunde, ‚Bekenner‘ und ‚Komplizen‘: Ernst Moritz Arndt und Friedrich Rühs, in: Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte N. F. 21/2011, 209–231. UAG, Altes Rektorat R 432, Labores 1803–1806, fol. 35r. Vgl. Barthold an Kultusminister (27.09.1834), in: GStA PK, I. HA Rep. 76 Va, Sekt. 7, Tit. 4, Nr. 1, Bd. 12, fol. 50r–55v, hier fol. 51v. Exemplarisch sei hier auf einen Brief verwiesen, in dem Barthold gegenüber dem preußischen Hochschulreferenten Johannes Schulze den Wunsch äußerte, sich „frei von aller Sorge und literarischer Fröhnerei“ seinem Hauptwerke (Geschichte von Rügen und Pommern) widmen zu können. Barthold an Schulze (11.11.1836), in: GStA PK, VI. HA, Nachlass Johannes Schulze, Nr. 5, Bd. 1, fol. 127r–128r. Bartholds Arbeiten zur pommerschen Geschichte wurden durch das Kultusministerium über mehrere Jahre hinweg finanziell gefördert. Der Minister Altenstein selbst begründete dies in einem Schreiben vom 13.10.1836 (Entwurf) damit, dass Barthold nicht weiter auf „Nebenerwerb durch Schriftstellerei“ rechnen könne, da das Pommern-Projekt seine ganze Kraft in Anspruch nehmen würde. Vgl. GStA PK, I. HA Rep. 89, Nr. 19489, unfoliiert. Vgl. dazu ausführlich Asbach, Schaefer.

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Das eingangs vorgestellte idealtypische Profil des Forschers bildete sich wie andernorts so auch in Greifswald im Verlaufe des späten 18. und des 19. Jahrhunderts unverkennbar heraus. Auch wenn die Fallzahl der Greifswalder Geschichtsprofessoren zu gering ist, um aus der Untersuchung ihres Werdegangs allgemeingültige Aussagen ableiten zu können, so spiegelt die zunehmende Verengung ihrer Arbeitsbereiche doch eindeutig säkulare Trends wider. Nicht zuletzt hängt dies mit der Spezialisierung der Ausbildung zusammen. Carl Hopf als der jüngste Greifswalder Geschichtsprofessor des Untersuchungszeitraums hatte sich in Bonn bereits mit einschlägig historischen Arbeiten sowohl promoviert (1852) als auch habilitiert (1855) und erhielt Dank großzügiger Reisestipendien von Seiten des preußischen Kultusministeriums – bei deren Vermittlung Alexander von Humboldt Hopf geholfen hatte – die Möglichkeit, Archivbestände u. a. in Wien und Venedig zu erforschen.109 Es war kein Greifswalder Spezifikum, dass Gelehrte alten Typs und moderne Forscher zeitweise als Kollegen fungierten – für Greifswald stellen die zu Beginn des 19. Jahrhunderts aktiven Historiker Johann Georg Peter Möller, Ernst Moritz Arndt und Friedrich Rühs eine Personenkonstellation dar, wie sie kaum kontrastreicher das breite Spektrum an Tätigkeitsfeldern von um 1800 aktiven Geschichtsprofessoren widerspiegeln könnte. Die auf Rühs folgenden Ordinarien Kosegarten sen. und Peter Friedrich Kanngießer zeigen mit ihrer Tätigkeit und ihrem Werdegang an, dass der Wandel vom Gelehrten zum Forscher nicht als linearer Prozess aufgefasst werden darf. Dies ließe sich auch an den großen Universitäten wie Leipzig illustrieren. Hier war nach 1819 kurzzeitig Christian Daniel Beck (1757–1832) als Geschichtsordinarius tätig, der auf den Gebieten Philologie, Geschichte und Theologie las und publizierte. Ein anderes Beispiel wäre Karl Heinrich Ludwig Pölitz (1772–1838), der von 1815 bis 1820 in Leipzig Professor für sächsische Geschichte und Statistik war und sich in seinen Publikationen auf den Feldern der Philosophie, der Geschichte, der Theologie, der Geographie, der Germanistik und des Staatsrechts bewegte. Beck und Pölitz hatten im Verlaufe ihrer Karriere – ähnlich wie Kosegarten sen. in Greifswald – Professuren verschiedenster Fächer inne.110

  109 Czolkoß, Studien, u. a. 108–111. Zu Humboldts Rolle in der Wissenschaftspolitik vgl. Wolfgang Neugebauer, Wissenschaftsautonomie und universitäre Geschichtswissenschaft im Preußen des 19. Jahrhunderts, in: Rüdiger vom Bruch (Hg.), Die Berliner Universität im Kontext der deutschen Universitätslandschaft nach 1800, um 1860 und um 1910, München 2010, 129–148, hier 134–136, 147. Dass Humboldt ein Förderer Hopfs war, geht aus Briefen hervor, die Hopf in den 1850er Jahren an Humboldt sandte. Diese Briefe werden im Deutschen Literaturarchiv Marbach aufbewahrt (Signatur: DLA 66.2223). 110 Huttner, Disziplinentwicklung, 188–190. Vgl. auch die entsprechenden Artikel in der ADB.

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5.3 Tätigkeiten der Fachhistoriker auf dem Feld der Geschichtsforschung Nachdem beleuchtet worden ist, welche Beiträge die Vertreter anderer Fächer auf dem Feld der Geschichtsforschung erbracht haben und auf welchen Gebieten sich die Greifswalder Fachhistoriker neben dem der Geschichte betätigten, soll abschließend – und dies kann wieder nur anhand einiger ausgewählter Beispiele erfolgen – darauf eingegangen werden, welche konkreten Beiträge die Greifswalder Fachhistoriker als Geschichtsforscher hervorgebracht haben. Im Sinne der eingangs angestellten Überlegungen sind unter historischer Forschung solche Arbeiten zu verstehen, die neue Erkenntnisse über die Geschichte hervorbringen und sich dabei darum bemühen, mittels der Methode der Quellenkritik die Wahrheit ihrer Erkenntnisse zu beweisen. Eine zentrale Forderung an geschichtswissenschaftliche Arbeit in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts war ferner die möglichst umfangreiche Nutzung von bisher unveröffentlichten Quellen. Alternativ war es natürlich auch legitim, edierte Quellen zu nutzen. Diese Option bestand in vielerlei Hinsicht jedoch erst ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als in zunehmender Zahl kritische Quelleneditionen veröffentlicht wurden. In diesem Sinne kann man Johann Georg Peter Möller, Ernst Moritz Arndt, Ludwig Gotthard Kosegarten und Peter Friedrich Kanngießer wohl allenfalls mit mehr oder weniger großen Einschränkungen als Geschichtsforscher bezeichnen. Neben seiner Tätigkeit als Dichter und ungeachtet der Tatsache, dass seine historischen Arbeiten eher noch „antiquarischen“ Charakter hatten, muss doch erwähnt werden, dass Kanngießer eine zentrale Rolle bei der Begründung der Sammlung historischer Altertümer111 (im Rahmen der Gründung der Gesellschaft für Pommersche Geschichte und Altertumskunde) spielte. Ferner veröffentlichte er eine umfangreiche Monographie zur Geschichte Pommerns112, die Theodor Pyl als „treffliches Werk“ bezeichnet, welches „auf genauer Prüfung der Quellen“ beruhe. Pyl attestiert Kanngießer insgesamt eine „kritische Schulung“, nur an manchen Stellen habe er sich in seiner Beurteilung „durch die unkritische Tradition älterer Nachrichten“ täuschen lassen.113 Zu Friedrich Wilhelm Bartholds Hauptwerken zählt in erster Linie seine bereits angesprochene Geschichte von Rügen und Pommern, die ab 1839 erschienen ist und in wesentlichen Teilen auf Archivalien beruhte, die Barthold Dank der Unterstützung durch das preußische Kultusministerium in den Archiven des Landes einsehen konnte. Darüberhinaus publizierte Barthold Arbeiten zu einem gro   111 Bezeichnenderweise war neben Kanngießer v. a. auch der Rechtsprofessor Karl Schildener (1777–1843) am Aufbau und an der Pflege der Sammlung beteiligt. Vgl. Hermanfrid Schubart, Die Vorgeschichtsforschung an der Universität Greifswald, in: Universität Greifswald (Hg.), Festschrift, 116–120, hier 117. 112 Peter Friedrich Kanngießer, Geschichte von Pommern bis auf das Jahr 1129. Bd. 1, Bekehrungsgeschichte der Pommern zum Christenthume, Greifswald 1824. 113 Pyl, Heimatliche Geschichte, 123f.

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ßen Themenspektrum, wobei er regional mehr oder weniger auf die deutsche Geschichte beschränkt blieb. Zeitlich erstrecken sich seine Arbeiten vom Hochmittelalter bis in das 18. Jahrhundert. Seine erste Arbeit, die 1826 in Berlin erschien und aus seiner Dissertation hervorgegangen war, widmete sich einem Feldherren des Dreißigjährigen Krieges (Johann von Werth im nächsten Zusammenhange mit der Zeitgeschichte). Die Militärgeschichte bildete auch in der Folge eines seiner Arbeitsfelder, 1833 veröffentlichte Barthold bei einem Hamburger Verleger die Arbeit Georg von Frundsberg oder das deutsche Kriegshandwerk zur Zeit der Reformation. Hervorgetan hat sich Barthold aber auch als Kulturhistoriker, so bspw. mit seinem Werk Deutschland und die Hugenotten. Geschichte des Einflusses der Deutschen auf Frankreichs kirchliche und bürgerliche Verhältnisse von der Zeit des Schmalkaldischen Bundes bis zum Gesetze von Nantes 1531–1598, das 1848 in Bremen erschien. 1851 veröffentlichte er die Geschichte der deutschen Hansa in drei Teilbänden. Abschließend sei noch auf eine religionsgeschichtliche Studie verwiesen: Die Erweckten im protestantischen Deutschland während des Ausgangs des 17. und der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, besonders die frommen Grafenhöfe. Diese Arbeit erschien zuerst 1852–53 und erfuhr 1968 eine Neuausgabe in der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft. Hartmut Lehmann zufolge ist Barthold damit einer Reihe von Autoren zuzuordnen, die am Anfang der Pietismusforschung stünden.114 Insgesamt ist Bartholds Werk bisher von Seiten der Historiographiegeschichte nahezu völlig ignoriert worden. An den wenigen Stellen, wo er erwähnt wird, taucht er meist als Vertreter einer vorkritischen Geschichtswissenschaft auf, der aufgrund seiner Vielschreiberei kaum nachhaltig wirksame Arbeiten hinterlassen habe. Es scheint jedoch nicht unwahrscheinlich, dass diese negativen Urteile, die in der Regel aus dem 19. Jahrhundert stammen und in der Folge unkritisch reproduziert worden sind, politisch eingefärbt sind. Schließlich war Barthold in seinem Werk Geschichte des großen deutschen Krieges von Gustav Adolfs Tode ab, das 1841–43 in zwei Bänden in Stuttgart erschienen ist, hart mit Gustav II. Adolf, dem Helden des Protestantismus, ins Gericht gegangen und hatte ihn als feindlichen Eroberer und nicht als Befreier dargestellt. Von der borussischen Geschichtsschreibung wurde dergleichen bekanntermaßen nicht goutiert.115 Derartige Aussagen sind jedoch zugegebenermaßen nicht viel mehr als vage Vermutungen. Eine historiographiegeschichtliche Verortung Bartholds ist bisher nicht in Ansätzen geleistet, obgleich er – wie bspw. auch sein Vorgänger Kanngießer – sicher ein interessantes Untersuchungsobjekt wäre, gerade wenn man die Postulate der   114 Vgl. Hartmut Lehmann, Einführung, in: ders. u. a. (Hgg.), Geschichte des Pietismus. Bd. 4, Glaubenswelt und Lebenswelten, Göttingen 2004, 1–18, hier 3. 115 Zu den vorangegangenen Absätzen über Barthold vgl. Czolkoß, Barthold. Hier findet sich auch ein Verzeichnis seiner wichtigsten Publikationen. Vgl. ferner Michael Czolkoß, „Leider muß ich klagen und fast verzagen.“ Briefe Friedrich Wilhelm Bartholds an Friedrich Wilken (1832–35) und einen unbekannten Freund (1853), in: Baltische Studien N. F. 100/2014, S. 155–196.

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neueren Wissenschaftsgeschichtsschreibung ernst nehmen und die Konzeption der Wissenschaftsgeschichte als Errungenschaftsgeschichte überwinden will.116 Der knapp 20 Jahre jüngere Arnold Schaefer hatte einen Karriereweg zurückgelegt, der demjenigen Bartholds durchaus ähnelte. Weder Barthold noch Schaefer hatten ein Habilitationsverfahren durchlaufen und sie beide wirkten vor ihrer Berufung als Gymnasiallehrer. Schaefers Studienschwerpunkte lagen in der klassischen Philologie und folglich kam er auch zunächst mit der alten Geschichte in Berührung. Schaefer publizierte in den knapp zwei Jahrzehnten nach seiner 1842 erfolgten Promotion nahezu ausschließlich auf dem Feld der Altertumswissenschaften.117 Kulminationspunkt dieser Schaffensperiode wurde seine in den Jahren 1856–58 in drei Bänden veröffentlichte Abhandlung Demosthenes und seine Zeit. Nach Abschluss dieses Unterfangens wandte er sich seit den späten 1850er Jahren der Geschichte des Siebenjährigen Krieges zu. Diese thematische Öffnung war auch wegen seiner Anstellung in Greifswald geboten, schließlich war Schaefer hier für das Fach in seiner ganzen Breite verantwortlich. Für die Arbeit an diesem Gegenstand unternahm Schaefer bereits während seiner Zeit in Greifswald in den Semesterferien ausgedehnte Archivreisen u. a. nach Paris und London. Resultat seiner Forschung war die in den Jahren 1867–74 in drei Teilbänden erschienene Darstellung Geschichte des Siebenjährigen Krieges. Die beiden Abhandlungen zu Demosthenes und zum Siebenjährigen Krieg stellen zweifelsfrei die beiden Hauptwerke Schaefers dar, die deutliche Mehrheit seiner sonstigen Publikationen widmete sich ebenfalls im weiteren Sinne diesen Themen oder war zumindest in den gleichen Epochen angesiedelt. Eine ins Auge fallende Ausnahme stellt ein Aufsatz zur hochmittelalterlichen Geschichte mit dem Titel Der Fürstentag zu Tribur im Jahre 1076 dar, der 1862 in der Historischen Zeitschrift erschienen ist. Sowohl sein Demosthenes als auch seine Darstellung des Siebenjährigen Krieges erfuhren eine breite und überwiegend positive Rezeption in Deutschland und auch im Ausland.118 Schaefer avancierte in der Folge zu einem der angesehensten Historiker in Preußen. So erhielt er 1861–62 einen Ruf aus Königsberg, den er jedoch ablehnte.119 1865 erfolgte schließlich seine Versetzung – Schaefer fühlte sich in Greifswald augenscheinlich sehr wohl und wäre auch gern hier geblieben – an die   116 Ute Daniel, Kompendium Kulturgeschichte. Theorien, Praxis, Schlüsselwörter, 5. Auflage, Frankfurt a. M. 2006, 361–379. 117 Ein Verzeichnis seiner Werke findet sich bei Asbach, Schaefer, 69–80. 118 Schmidt, Schaefer, 350–353. Zur Rezeption seines Werkes siehe auch seinen Nachlass, der in einer eigenen Kapsel dutzende zeitgenössische Rezensionen aus dem In- und Ausland enthält. Universitäts- und Landesbibliothek Bonn, S 1097,2, Nachlass Arnold Schaefer. 119 Roderich Schmidt schreibt, dass Schaefer 1863 einen Ruf nach Königsberg abgelehnt habe. Vgl. Schmidt, Schaefer, 357. Aus Schaefers Greifswalder Personalakte geht aber hervor, dass Schaefer den Ruf aus Königsberg bereits im Winter 1861–62 erhalten haben muss. Vgl. Rektor an Universitätskuratorium (Entwurf, 20.01.1862), in: UAG, Personalakten Nr. 156, Arnold (Dietrich) Schaefer, 1857–1865, unfoliiert.

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zweitgrößte preußische Universität nach Bonn.120 1875 erhielt er schließlich den sehr ehrenvollen Ruf an die Spitze der preußischen Staatsarchive, den er jedoch ablehnte, sodass an seiner Stelle Heinrich von Sybel (1817–1895) dieses Amt bekleidete.121 Trotz alledem gehört Schaefer heute nicht zu „den überragenden Gestalten, die im Pantheon der Wissenschaften immerwährender Bewunderung teilhaftig werden.“122 Im Hinblick auf Carl Hopf wurde bereits darauf verwiesen, dass er eine akademische Karriere verfolgte, die stark heutigen Mustern ähnelte. Weder bekleidete er vor seiner universitären Laufbahn das Amt eines Gymnasiallehrers, noch wechselte er im Laufe seiner kurzen Karriere – der 1832 geborene Hopf starb bereits 1873 – zwischen verschiedenen Fachprofessuren. Auch wenn Hopf in Greifswald sowie später in Königsberg seiner Denomination nach für die „ganze“ Geschichte zuständig war, so kann man ihn doch als Mediävisten bezeichnen, wobei der regionale Schwerpunkt seiner Forschungen auf dem östlichen Mittelmeerraum lag. Dies zeigt sich bereits an seinen Qualifikationsarbeiten, die beide an der Universität Bonn entstanden sind. Seine 1852 abgefasste Dissertation trug den Titel Über die Quellen der Grafschaft Athen, 1855 folgte die Habilitation über Die Seestaaten Italiens und ihr Einfluß auf die Entwicklung der politischen, commerciellen, höheren geistigen Verhältnisse im Mittelalter.123 Sein in zwei Bänden 1866–67 in Leipzig veröffentlichtes Hauptwerk, die Geschichte Griechenlands vom Beginn des Mittelalters bis auf unsere Zeit, bewegte sich weiterhin in dem Themenfeld seiner Qualifikationsschriften. Typisch für die Zeit war ferner die bei Hopf anzutreffende Kombination von einem Interesse für das Mittelalter bei gleichzeitiger Schwerpunktlegung auf die historischen Hilfswissenschaften. Hierbei bewegte sich Hopf vor allem auf dem Feld der Genealogie, wo er ein weiteres seiner wichtigsten Werke veröffentlichte, den zweibändigen Historisch-Genealogischen Atlas seit Christi Geburt bis auf unsere Zeit (1858/1866). Obgleich sich in der NDB die Einschätzung findet, wonach dieses Werk „grundlegend für weitere Forschungen“124 gewesen sei, spielt auch Carl Hopf in der historiographiegeschichtlichen Literatur – soweit ich das zu überblicken vermag – bis heute keine Rolle.   120 121 122 123

Zu Schaefers Versetzung nach Bonn vgl. Schmidt, Schaefer, 355–357. Huttner, Disziplinentwicklung, 227 (Anm. 222). Schmidt, Schaefer, 349. Laut eigener Aussage. Vgl. Hopf an Philosophische Fakultät (03.02.1858), in: UAG, Philosophische Fakultät I–22, fol. 2r–4v. In der Literatur findet sich bisweilen die Arbeit Geschichte der Insel Andros und ihrer Beherrscher von 1207–1416 als Habilitationsschrift angegeben. Vgl. Wolfgang Weber, Biographisches Lexikon zur Geschichtswissenschaft in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Die Lehrstuhlinhaber für Geschichte von den Anfängen des Faches bis 1970, 2. Auflage, Frankfurt a. M. u. a. 1987, 259. Hierbei ist anzumerken, dass es zu dieser Zeit nicht üblich war, eine spezielle Habilitationsschrift anzufertigen. Im Zuge der Habilitation wurden eine oder mehrere bereits fertiggestellte Schriften bei der Fakultät eingereicht. Insofern ist die explizite Benennung von Habilitationsschriften im Zweifelsfall irreführend. 124 Peter Wirth, Hopf, Carl, in: NDB, Bd. 9, Berlin 1972, 609.

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Gehen wir noch einmal zurück zur Frage der Lehrtätigkeit der Fachhistoriker und der Frage, inwiefern eine Kombination von Forschung und Lehre im Untersuchungszeitraum möglich war, so zeigt sich am Beispiel Carl Hopfs, dass um 1860 ein spürbarer Wandel eintrat. Hopf bot in seinen kostenfreien öffentlichen Vorlesungen Themen an, die bisweilen durchaus einen klaren Bezug zu seinen Publikationsschwerpunkten erkennen lassen. Er las in Greifswald über die „Geschichte der Kreuzzüge“, die „Preußische Geschichte“, die „Geschichte Italiens von 1492 an“, die „Geschichte Griechenlands“, „Machiavelli und seine Zeit“ sowie die „Geographie des Mittelalters.“125 Bei seinen kostenpflichtigen Lehrveranstaltungen kam es zwar auch noch zu Ausfällen aufgrund von Hörermangel, aber der Trend zeigt, dass nun auch spezifischere Themen nachgefragt wurden. Für ein Privatissimum zur „Diplomatik“ fand Hopf, wie bereits erwähnt, im Winter 1860– 61 schon fünf Teilnehmer.126 5.4. Fallbeispiel: Friedrich Rühs Friedrich Rühs ist der einzige Greifswalder Historiker des Untersuchungszeitraums, der in aktuelleren Forschungen zur Geschichte der Geschichtswissenschaft eine gewisse Berücksichtigung findet. Rühs wurde 1781 in Greifswald geboren. Hier nahm er zunächst auch das Studium auf, bald ging er allerdings nach Göttingen. Dort begann 1801 seine wissenschaftliche Karriere als Privatdozent, 1802 setzte er sie, ebenfalls als Privatdozent, in Greifswald fort, wo er auch als Vizebibliothekar tätig wurde.127 Zur Zeit der französischen Besatzung SchwedischPommerns wurde Rühs 1808 die gering dotierte außerplanmäßige Geschichtsprofessur übertragen, Ernst Moritz Arndt hatte für ihn das Feld räumen müssen.128 Nicht zuletzt wegen seiner Göttinger Kontakte erhielt Rühs 1810 den Ruf auf die erste und zunächst einzige Geschichtsprofessur an der neugegründeten FriedrichWilhelms-Universität in Berlin129, die er bis zu seinem frühen Tod 1820 innehaben sollte. In diese letzten Lebensjahre fallen auch die bedeutendsten ihm zuteil gewordenen Ehrungen: 1817 die Ernennung zum Historiographen des preußischen Staates, zwei Jahre später wurde Rühs Mitglied der preußischen Akademie der   125 Vom WiSe 1858–59 bis zum SoSe 1861. Dabei hatte er durchschnittlich zehn Hörer. Vgl. UAG, Altes Rektorat Hbg 45/3, fol. 440v–441r, fol. 453v–454r, fol. 466v–467r, fol. 479v– 480r, fol. 492v–493r, fol. 504v–505r. In den folgenden Semestern glänzte Hopf eher durch Abwesenheit. Vgl. dazu den Beitrag von Karl-Heinz Spieß in diesem Band. 126 UAG, Altes Rektorat Hbg 45/3, fol. 492v–493r. 127 Zu seiner Bibliothekarstätigkeit vgl. Manfred Menger, Thomas Thorilds Vizebibliothekar. Zur Einstellung und zum Wirken von Friedrich Rühs an der Universität Greifswald, in: Carola Häntsch / Joachim Krüger / Jens E. Olesen (Hgg.), Thomas Thorild (1759–1808). Ein schwedischer Philosoph in Greifswald, Greifswald 2008, 127–153. Vgl. auch Duchhardt, Fachhistorie, 726–730. 128 Schmidt / Spieß, Matrikel, 1054. 129 Duchhardt, Fachhistorie, 718.

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Wissenschaften.130 Von seinem äußerst umfangreichen wissenschaftlichen Werk verdienen vor allem seine Arbeiten zur nordischen Geschichte Erwähnung. Verwiesen sei hier auf seine mehrere Bände umfassende Geschichte Schwedens, die in Schweden selbst auf große Resonanz stieß und auch ins Schwedische übersetzt wurde. Rühs verfasste zudem als erster (1809) eine – kulturhistorisch orientierte – Studie zur Geschichte Finnlands.131 Neben seiner wegweisenden Rolle auf dem Feld der Nordeuropaforschung ist auch sein 1816 veröffentlichtes Handbuch der Geschichte des Mittelalters zu erwähnen, das große Verbreitung fand und sich nicht zuletzt dadurch auszeichnet, dass es – fernab romantischer Verklärung – einen Beitrag zur Entdämonisierung des Mittelalters darstellt. Rühs’ erklärtes Ziel war es, das Mittelalter – welches er bereits auf die Zeit von etwa 500 bis 1500 datierte – als eigenständige Epoche zu betrachten und zu würdigen und es eben nicht nach den Wertmaßstäben des frühen 19. Jahrhunderts ahistorisch zu verurteilen.132 Im Fokus der folgenden Ausführungen soll jedoch Rühs’ Geschichtstheorie und sein im Jahre 1811 veröffentlichter Entwurf einer Propädeutik des historischen Studiums stehen.133 Bei der Propädeutik handelt es sich um die Verschriftlichung seiner Einführungsvorlesung in das Geschichtsstudium, die er regelmäßig auch bereits in Göttingen und Greifswald gehalten hatte.134   130 Heinz Duchhardt, Friedrich Rühs und die Berliner Akademie der Wissenschaften, in: Dieter Hein / Klaus Hildebrand / Andreas Schulz (Hgg.), Historie und Leben. Der Historiker als Wissenschaftler und Zeitgenosse, Festschrift für Lothar Gall zum 70. Geburtstag, München 2006, 15–20. 131 Zu Rühs’ Tätigkeit als Nordeuropaforscher siehe den Beitrag von Jens E. Olesen in diesem Band. Für einen knappen Überblick über Rühs’ Leben und Werk vgl. Duchhardt, Fachhistorie, 715–718; Rohrschneider, Friedrich Rühs, 131–135; Ludwig Biewer, Christian Friedrich Rühs (1781–1820), ein Greifswalder Historiker von nationaler Bedeutung?! – Ein Gedankensplitter, in: Alvermann / Jörn / Modéer (Hgg.), Virtus, 211–216; Leopold Magon, Die Geschichte der Nordischen Studien und die Begründung des Nordischen Instituts. Zugleich ein Beitrag zur Geschichte der deutsch-nordischen kulturellen Verbindungen, in: Universität Greifswald (Hg.), Festschrift, 239–272, hier 246–250. 132 Johannes Helmrath, Geschichte des Mittelalters an der Berliner Universität 1810–1918, in: Heinz-Elmar Tenorth (Hg.), Geschichte der Universität Unter den Linden. Bd. 4, Genese der Disziplinen, Die Konstitution der Universität, Berlin 2010, 265–289, hier 271f. 133 Friedrich Rühs, Entwurf einer Propädeutik des historischen Studiums [1811], hg. u. eingeleitet v. Dirk Fleischer u. Hans Schleier, Waltrop 1997. Die Einleitung von Fleischer und Schleier mit dem Titel Über die methodische Kompetenz eines Historikers. Friedrich Rühs’ Konzept für historische Forschung und Darstellung findet sich auf VII–LXXIII. 134 Horst Walter Blanke / Dirk Fleischer / Jörn Rüsen, Historik als akademische Praxis. Eine Dokumentation der geschichtstheoretischen Vorlesungen an deutschsprachigen Universitäten von 1750 bis 1900, in: Dilthey-Jahrbuch für Philosophie und Geschichte der Geisteswissenschaften 1/1983, 182–255, hier 232 u. 235. Dieser Dokumentation zufolge hat übrigens auch Johann Georg Peter Möller von 1772–1801 (Eine Encyclopädie der Geschichte nebst den Historischen Hülfswissenschaften und der Geschichte des Menschen und der Handlung) Einführungsvorlesungen in das Geschichtsstudium angeboten. Vgl. ebd., 234.

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Es entspricht der schon mehrfach angedeuteten noch nicht sehr weit fortgeschrittenen Verselbstständigung der Geschichte als Disziplin, dass Rühs in seinem Werk den größten Teil des Umfangs dafür bereithält, alle möglichen anderen Wissenschaftsgebiete in ihrer Bedeutung für die Geschichte darzustellen. Bspw. legt er ausführlich dar, inwiefern die Sprachkunde, die Philosophie und die Staatswissenschaft „Vor- und Hülfskenntnisse“ für den Historiker bereithalten würden. Daneben schildert Rühs sehr ausführlich die Entwicklung und die Bedeutung zahlreicher Wissenschaften, die wir heute mehrheitlich den historischen Hilfsund Nebenwissenschaften zuordnen. Genannt seien hier die Chronologie, die Erdkunde, die Ethnologie, die Genealogie, die Münzkunde, die Denkmälerkunde, die Inschriftenkunde, die Medaillenkunde, die Urkundenlehre und schlussendlich die „Schriftstellerkunde“. In diesen Kapiteln finden sich zahlreiche rein deskriptive Passagen, die zum Beispiel die Geschichte der geographischen Entdeckungen und die Geschichte der Geschichtsschreibung beleuchten; hier wird deutlich, dass es sich bei diesem Buch um eine Einführung für Studenten handelte. Wenn wir im Folgenden der Einfachheit halber in Anlehnung an Stefan Jordan die Geschichtstheorie als „jene[n] Teilbereich der Geschichtswissenschaft [verstehen], dessen allgemeine Aufgabe die Reflexion der praktischen Arbeit des Historikers“135 und der Historikerin ist, dann muss man festhalten, dass sich Rühs zu solchen Fragen kaum äußert. Erkenntnistheoretische Fragen beispielsweise werden allenfalls am Rande behandelt. Das war jedoch damals alles andere als ungewöhnlich. Man kann sagen, dass sich Rühs mit dieser Konzeption seiner Arbeit auf der Höhe der Zeit bewegte.136 Auch wenn Rühs’ Propädeutik also kaum eine systematische Geschichtstheorie im heutigen Sinne enthält, so kann man aus dieser Schrift doch seine Geschichtstheorie rekonstruieren. Von Bedeutung ist vor allem, dass Rühs keinen konkreten Gegenwartsbezug bzw. eine praktische Funktion heranziehen muss, um die Beschäftigung mit der Geschichte zu legitimieren. Demgegenüber sieht er es als Aufgabe der Geschichtsschreibung an, den Menschen in einem „gegebenen Zeit- und Raumverhältnis, nach seiner Entstehung, mithin alle Ereignisse und Handlungen, wodurch dieser Zustand herbei geführt ward, und die auf ihn einwirkten, zu erforschen und darzustellen.“137

  135 Stefan Jordan, Zur Geschichte der Geschichtstheorie. Wissenschaftsgeschichtliche und wissenschaftstheoretische Aspekte, in: ders. / Peter Th. Walther (Hgg.), Wissenschaftsgeschichte und Geschichtswissenschaft. Aspekte einer problematischen Beziehung. Wolfgang Küttler zum 65. Geburtstag, Waltrop 2002, 187–206, hier 187. 136 Vgl. Fleischer / Schleier, Rühs’ Konzept, XLVII–L; Horst Walter Blanke, Historiographiegeschichte als Historik, Stuttgart-Bad Cannstadt 1991, 234, 245f. (mit Anm. 675). 137 Rühs, Propädeutik, 6. Die folgenden Zitate und paraphrasierten Inhaltswiedergaben stammen – sofern nicht anders vermerkt – ausnahmslos aus dieser Ausgabe von Rühs’ Propädeutik. Daher verzichte ich auf Anmerkungen und gebe stattdessen die jeweilige Seitenzahl in Klammern im Text an.

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Die Geschichte zeige die Entstehung eines gegebenen Zustandes und sei als Wissenschaft als Zweck an sich legitimiert. Eine „practische Anwendbarkeit“ historischen Wissens dürfe nicht das Ziel historischer Arbeit sein. Rühs wendet sich explizit gegen die in der Aufklärung weit verbreitete Auffassung, nach der die Geschichte eine Moral, „eine Philosophie oder Politik in Beispielen“ sein müsse (S. 14). Obgleich die Geschichte also nicht als Lehrmeisterin der Moral instrumentalisiert werden soll, ist Rühs dennoch überzeugt, dass sie einen Nutzen habe. So hält er ganz allgemein fest, dass die „Bekanntschaft mit der Geschichte nothwendige Bedingung zu wahrhaft gelehrter und menschlicher Bildung“ sei (S. 1). Zudem betont Rühs eine Art Orientierungsfunktion: „Wer in der Zeit wirken soll, (...) muss die Zeit kennen, und sie kann nicht anders als durch die Vergangenheit begriffen werden.“ (S. 15) Im Hinblick auf den universitären Geschichtsunterricht meint Rühs, dass dieser die Studenten „zur vollkommensten selbstständigen Ausbildung in der Wissenschaft durch eigne Thätigkeit“ befähigen solle, wodurch sich für die Dozenten vor allem die Aufgabe ergebe, Quellenkritik exemplarisch vorzuführen (S. 19).138 Diese vom Neuhumanismus geprägten Äußerungen leiten zu der Frage über, was Rühs unter Quellenkritik verstand und welchen Stellenwert er ihr beimaß. Da Rühs, wie auch allgemein die Historiker seiner Zeit, die Ansicht vertrat, man könne mittels der Quellenkritik die „historische Wahrheit“ rekonstruieren, soll im Folgenden auch thematisiert werden, was Rühs unter historischer Wahrheit verstand. Rühs formuliert in seiner Propädeutik wiederholt die zentrale Forderung, dass man sich als Geschichtsschreiber „so viel als möglich an die Quellen [halten soll]: wenn man sie kennt, braucht man hundert Commentatoren, Darsteller und Pragmatiker139 nicht gelesen zu haben.“ (S. 20) Aus dieser Prämisse ergibt sich dann   138 Auf S. 18–20 finden sich in der Propädeutik Vorschläge, in welchen Schulformen bzw. Jahrgangsstufen welche historischen Inhalte an die Schüler zu vermitteln seien. Aus GenderPerspektive interessant ist dabei nicht zuletzt Rühs’ Insistieren auf einer verschiedenartigen historischen Erziehung für Jungen und Mädchen: „Eine besondre Berücksichtigung verdient der Unterricht des weiblichen Geschlechts in der Geschichte; es ist zu wenig dafür geschehen; ihm sollte eine nähere Beziehung auf die Bedürfnisse desselben gegeben werden; es müsste gezeigt werden, was die Weiber einem jeden Zeitalter waren, wirklich und idealisch (!), in der Ansicht der Dichter, deren Benutzung zu diesem Zweck zu empfehlen ist.“ (S. 18) 139 Was Rühs und seine Zeitgenossen als „Pragmatismus“ bezeichnen, wird in der heutigen historiographiegeschichtlichen Literatur i. d. R. als „Aufklärungshistorie“ bezeichnet. Die Aufklärungshistorie steht dabei v. a. für die bereits angesprochene moralische Lehrmeisterfunktion der Geschichte. Laut Stefan Jordan, der im Hinblick auf die Geschichte der Geschichtstheorie eine eigene Epoche für die Zeit von etwa 1800–1850 („Schwellenzeit“) zu etablieren versucht hat, einte die Ablehnung des Pragmatismus die Geschichtstheoretiker der Schwellenzeit. Vgl. Stefan Jordan, Einleitung: Deutschsprachige Geschichtstheorie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: ders. (Hg.), Schwellenzeittexte. Quellen zur deutschsprachigen Geschichtstheorie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Waltrop 1999, XIX–LV, hier XXIX– XXXI.

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auch seine Überzeugung, dass der Geschichtsforscher prinzipiell zuerst Philologe sein müsse, und dies nicht nur, da Übersetzungen eine sehr unzureichende Hilfe seien, sondern auch, „weil die Gesetze der philologischen und historischen Critik eigentlich bloss durch die Anwendung verschieden sind, und überhaupt selbst in historischen Dingen die erstere [also die philologische Kritik, M. C.] oft allein zur Entscheidung hinreicht.“ (S. 25)

Eine von den Philologen sich abgrenzende historische Methode stand Rühs also noch nicht vor Augen. Im Hinblick auf die Quellenkritik sei es vor allem wichtig, die Autoren der Dokumente danach zu untersuchen, in welchen persönlichen Verhältnissen sie gestanden hätten, also danach zu fragen, welcher Religion oder „Partei“ sie angehört haben. Eine besondere Vorsicht ist Rühs zufolge bei Autobiographien geboten (S. 236f.). Interessant ist hier vor allem Rühs’ Einschätzung, dass solche Geschichtsschreiber, die zugleich Zeitzeugen sind, nur schwerlich „die Geschichte ihrer Zeit wahrhaft“ beschreiben können (S. 237f.): „Wir [Historiker, M. C.] z. B. sind im Stande, das Mittelalter weit richtiger und bestimmter zu begreifen, als der arme Klosterbruder, der in seiner Celle Annallen (!) schrieb, und dessen Blick höchstens auf den Bezirk seiner Diöcese beschränkt war.“ (S. 238)

Neben diesen (ausgewählten) Gesichtspunkten der Quellenkritik dürfe der Historiker nicht den Fehler begehen, historische Kulturen oder Ereignisse nach zeitgenössischen Wertmaßstäben zu beurteilen, vielmehr müsse die „Vertrautheit mit der Geschichte (...) [den Historiker] über seine Zeit erheben.“ Ebenso wenig dürfe man mit einem vorgefertigten Resultat an die Geschichtsbetrachtung herangehen (S. 250). Das einzige Ziel müsse die Durchdringung der „historischen Wahrheit“ sein. Diese könne man nach Rühs ergründen, wenn man die vorangegangenen Aspekte – insbesondere eine akribische Quellenkritik – berücksichtige: „Alle historische Wahrheit beruht zunächst auf Zeugnissen, die durch die Critik gehörig gewürdigt und abgewogen werden. Durch sie kann in der Geschichte ein Grad von überzeugender und nothwendiger Gewissheit erreicht werden, die in ihrer Art der gleichkommt, die in andern Fächern durch die Demonstration erlangt wird. Wenn ein Satz durch die historische Beweisführung so weit erhärtet und ausgemacht ist, dass gegen diese kein Einwand weiter gemacht werden kann, so kommt ihm historische Wahrheit zu: die Gewissheit ist hinreichend begründet, weil auf diesem Wege sich keine andre erlangen lässt.“ (S. 180)

Interessant an dieser Äußerung ist besonders die Gleichsetzung der historischquellenkritischen Methode mit derjenigen der experimentellen „Demonstration“. Diese Gleichsetzung verweist auf die damalige Leitfunktion der mathematischnaturwissenschaftlichen Methodik.140 Rühs’ Propädeutik zählt sicher zu den bedeutendsten Publikationen der Greifswalder Fachhistoriker meines Untersuchungszeitraumes. Die Frage nach   140 Theodor Litt, Einführung, in: Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte [1821ff.], Stuttgart 1980, 3–34, hier 4f.

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dem Verbreitungsgrad dieser Schrift kann hier jedoch nicht in befriedigender Weise beantwortet werden – die Einschätzungen darüber gehen in der Forschung weit auseinander.141 Wie nicht zuletzt die hier genutzte 1997er Neuauflage beweist, findet Rühs’ Propädeutik mittlerweile durchaus Berücksichtigung in der historiographiegeschichtlichen Literatur142, wobei – und dies betrifft auch Rühs’ Zeitgenossen – die Geschichtstheorie der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in der Forschung bis heute eher stiefmütterlich behandelt wird. Fragt man nun danach, inwiefern Rühs’ Propädeutik den state of the art der damaligen Geschichtstheorie widerspiegelt, so kann man alles in allem festhalten, dass er den wegweisenden geschichtstheoretischen Neuerungen der Zeit folgte. Zu nennen wäre hier Rühs’ Standpunkt, wonach die Geschichte nicht länger als Beispielsammlung zur moralischen Unterweisung dienen solle, sondern die allgemeiner formulierte Aufgabe habe, die Bildung zu befördern. Ohne apriorische Vorgaben solle man an die Geschichte herangehen, die – durch ihren Status als Wissenschaft als Selbstzweck legitimiert – essentieller Bestandteil einer universalen Bildung sein müsse. Dieser Aspekt verweist auf den allgemeinen Trend der Abgrenzung der entstehenden Geschichtswissenschaft gegenüber der Philosophie – insbesondere gegenüber der Geschichtsphilosophie der Aufklärung, die die Geschichte dazu nutzte, ihre philosophischen Leitsätze zu untermauern, die a priori als wahr „bewiesen“ worden waren.143 Viele der Punkte, die sich bei Rühs und seinen Zeitgenossen finden, sind jedoch auf die Arbeit von Philosophen zurückzuführen. Hier ist namentlich Johann Gottfried Herder (1744–1803) zu nennen, von dem Rühs bewusst oder unbewusst viele Gedanken übernommen hat.144  

141 U. Muhlack zufolge war Rühs’ Propädeutik das in seiner Zeit meistgenutzte Lehrbuch der Historik. Vgl. Ulrich Muhlack, Geschichtswissenschaft im Humanismus und in der Aufklärung. Die Vorgeschichte des Historismus, München 1991, 384. Auch F. Jaeger und J. Rüsen präsentieren die Propädeutik als eines der Standardwerke seiner Zeit. Vgl. Friedrich Jaeger / Jörn Rüsen, Geschichte des Historismus. Eine Einführung, München 1992, 56f. Die Neuherausgeber der Schrift sind eher skeptisch und meinen, dass Rühs’ Propädeutik bald nach seinem Tod wohl kaum noch genutzt worden sei. Vgl. Fleischer / Schleier, Rühs’ Konzept, LXXI. Eine Dokumentation geschichtstheoretischer Vorlesungen belegt zumindest einen gewissen Verbreitungsgrad des Werkes. Vgl. Blanke / Fleischer / Rüsen, Geschichtstheoretische Vorlesungen, 236, 246f., 254. 142 Stefan Jordan hat in der von ihm 1999 herausgegebenen Quellensammlung zur Geschichtstheorie der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts keinen Textauszug von Rühs ediert. In der umfangreichen Einleitung zu dieser Edition (siehe Anm. 139) geht er jedoch an mehreren Stellen auf Rühs ein. Auch Blanke nimmt in seiner Studie (siehe Anm. 136) an mehreren Stellen Bezug auf die Propädeutik. 143 Jordan, Einleitung, XXXIVf.; Blanke, Historiographiegeschichte, 250f. Ausformuliert wird die aufklärerische Geschichtsphilosophie bei Immanuel Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht [1784], in: ders., Schriften zur Anthropologie, 33–50. 144 Zu dieser Einschätzung gelangt auch H.-J. Pandel, der davon ausgeht, dass Rühs Herders Positionen „unreflektiert und unbewußt“ übernommen habe. Vgl. Hans-Jürgen Pandel, Historik und Didaktik. Das Problem der Distribution historiographisch erzeugten Wissens in der deutschen Geschichtswissenschaft von der Spätaufklärung zum Frühhistorismus (1765– 1830), Stuttgart-Bad Cannstatt 1990, 238f.

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Herders Werk Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit (1774) gilt gemeinhin als erstes „epochemachendes Exemplar historistischer Geschichtsbetrachtung.“145 Reflexionen über die historische Methodik, der Versuch der „Einfühlung“ und die Einsicht in die Relativität historischer Erscheinungen sind hier bereits vorzufinden.146 Wie bei den späteren Geschichtstheoretikern so findet sich auch bei Herder die Kritik an der Geschichtsphilosophie der Aufklärung, die seiner Ansicht nach in der geschichtlichen Entwicklung einen linearen Fortschritt zu erkennen glaube, welcher im Zeitalter der Aufklärung kulminiere. Konkret wirft Herder dieser Denkart vor, historische „Fakta erhöhet oder erdichtet, Gegenfakta verkleinert oder verschwiegen“147 zu haben. Zwar sucht auch Herder nach einem „Plan des Fortstrebens“148 in der Geschichte, jedoch plädiert er gleichzeitig und mehrfach dafür, vergangene Epochen zu historisieren, sprich sie nicht mittels zeitgenössischer Maßstäbe zu bewerten, sondern zu versuchen, sie vor dem Hintergrund des Standes der historischen Entwicklung aus sich heraus zu verstehen. Denn wenn man dies nicht täte, könne man immer nur Zerrbilder oder gar „Fratzen“ historischer Kulturen erzeugen.149 In eine ähnliche Richtung weist die überragende Wichtigkeit, die Rühs dem Studium der Quellen beimaß. Gerade die dem Objektivitätsideal entsprechende Fokussierung auf die Quellen sollte schließlich dem Auffinden der historischen „Wahrheit“ dienen. Es passt dabei ins Bild, dass den – im Sinne Bernheims – Überrestquellen ein höherer Wert zugesprochen wurde als den Traditionsquellen. Friedrich Rühs’ Positionen spiegeln in diesen Fragen eindeutig charakteristische Trends seiner Zeit wider.150 Stefan Jordan zufolge gab es in der Geschichtstheorie der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts schon eine Art von Heuristik, auch wenn der Begriff in den Texten häufig nicht expliziert wurde.151 Die Heuristik hatte   145 Marion Heinz, Historismus oder Metaphysik?, Zu Herders Bückeburger Geschichtsphilosophie, in: Martin Bollacher (Hg.), Johann Gottfried Herder. Geschichte und Kultur, Würzburg 1994, 75–85, hier 75. 146 Tino Markworth, Unterwegs zum Historismus. Der Wandel des geschichtlichen Denkens Herders von 1771 bis 1773, in: Bollacher (Hg.), Herder, 51–59, hier v. a. 51. Vgl. auch Michael Rosen, Die Geschichte, in: Hans Jörg Sandkühler (Hg.), Handbuch Deutscher Idealismus, Stuttgart / Weimar 2005, 218–240, hier 222. Jedoch sollte dieser Topos (Herder als „Gründervater“ des Historismus) nicht überstrapaziert werden. So legt Heinz dar, dass Herders geschichtsphilosophisches Denken in vielerlei Hinsicht metaphysisch grundiert blieb. Vgl. Heinz, Historismus, v. a. 85. 147 Johann Gottfried Herder, Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit [1774], in: Herders Werke in fünf Bänden, ausgewählt u. eingeleitet v. Regine Otto, Bd. 3, 5. Auflage, Berlin (Ost) / Weimar 1978, 41–137, hier u. a. 70 (hier das Zitat), 81, 83, 108, 111. Vgl. dazu auch Rosen, Geschichte, 225. 148 Herder, Auch eine Philosophie, 70. 149 Vgl. ebd., u. a. 45, 52. Die „philosophisch kalte europäische Welt“ habe demnach kein Verständnisvermögen für das Eigenrecht historischer Kulturen, sondern reduziere sie auf reine Mittel zum Zweck. Ebd., 47f. 150 Jordan, Einleitung, v. a. XXXVf., XXXVIIIf.; Blanke, Historiographiegeschichte, 162, 246. 151 Jordan, Einleitung, XXXIX.

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demnach die Aufgabe, die Glaubwürdigkeit der Zeugen zu überprüfen. Diese Punkte fanden sich auch bei Rühs, der darauf hinwies, dass man die „Parteizugehörigkeit“, Konfession usw. der Quellenautoren hinterfragen müsse. Aufgabe der Heuristik war demnach das Ergründen der „Fakten“ aus den Quellen. In einem weiteren Schritt, der nach Jordan den Kern der zeitgenössischen Geschichtstheorie bildete, galt es, die gewonnenen Fakten durch die Kritik zu verifizieren. So eben sei die historische Wahrheit zu ergründen. Weiterführende Schritte der Interpretation und des Verstehens der ermittelten Fakten oder auch die Bedeutung von Fragestellungen für die historische Forschung wurden hingegen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch kaum reflektiert.152 Die Historiker der Zeit teilten das Selbstverständnis, „sich als erkennende Historiker im Gleichklang mit der Geschichte selber zu befinden.“153 Sorgfältige Quellenkritik und eine unparteiliche Einstellung befähigte sie ihrer Ansicht nach, die Wahrheit des Geschichtsverlaufs zu rekonstruieren. Dies könnten sie vor allem besser als die Zeitgenossen selbst, da man erst als zeitlich distanziert lebender Historiker die Fähigkeit haben könne, sich auch inhaltlich und moralisch zu distanzieren und so einen objektiven Beobachterstandpunkt einzunehmen. In all diesen Fragen unterscheiden sich Rühs’ Positionen wohl bestenfalls geringfügig von denjenigen seiner Zeitgenossen. In diesem Sinne bezeichnete später Johann Gustav Droysen (1808–1884) Rühs’ Propädeutik – trotz aller Kritik, die er an diesem Werk äußerte – als „sehr lehrreich (...) für den damaligen Zustand der Historik.“154 Heinz Duchhardt meint gar, dass Rühs im „Grad der Reflexion über das Fach und der Methode der Wissensvermittlung“ Leopold von Ranke „durchaus an die Seite gestellt werden“ könne.155 6. Resümee Die vorangegangenen Ausführungen sollten deutlich gemacht haben, dass es auch lange vor der Gründung des Historischen Instituts im Jahre 1863 Geschichtsforschung an der Universität Greifswald gegeben hat. Diejenigen, die dabei als Verfasser historischer Werke, Begründer historischer Gesellschaften oder Initiatoren archäologischer Sammlungen in Erscheinung traten, mussten nicht zwangsläufig Vertreter des Faches Geschichte sein. Gleichzeitig waren auch jene Fachvertreter   152 ebd., XXXIXf. Vgl. dazu auch Friedrich Jaeger, Historische Kulturwissenschaft, in: ders. / Jürgen Straub (Hgg.), Handbuch der Kulturwissenschaften. Bd. 2, Paradigmen und Disziplinen, Stuttgart / Weimar 2011/2004, 518–545, hier 518–520. Neben dem Aspekt der „Interpretation“, der im Wesentlichen von Johann Gustav Droysen ausformuliert worden sei, betont Jaeger an dieser Stelle auch den „Bezug auf die Quellen als alleinigem Zugang zur Wahrheit“ (519) und den „Aufstieg der Quellenkritik zum Zentrum der historischen Forschung“ (519f.) als die methodischen Errungenschaften der spätaufklärerischen Historiographie. 153 Blanke, Historiographiegeschichte, 264. 154 Zit. nach Jordan, Einleitung, L. 155 Duchhardt, Fachhistorie, 726.

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keineswegs auf ihre Rolle als Historiker beschränkt. Sie erarbeiteten DeutschSchwedische Wörterbücher, wie Johann Georg Peter Möller, sie gaben Sprachkurse in Hebräisch und Englisch, wie Peter Friedrich Kanngießer, und bisweilen mischten sie sich in die Tagespolitik ein und verfassten, wie Ernst Moritz Arndt und Friedrich Rühs, xenophobe Tiraden gegen fremde Völker und die Juden. Die vermeintlichen Zäsuren von 1765 und 1863 verlieren dabei (wie so oft) bei genauerem Hinsehen viel von ihrer Strahlkraft – vor allem aus diesem Grunde wurden in Kapitel 5.1 Beispiele auch aus der Zeit vor 1765 analysiert. Dass es um 1850 in Greifswald wie auch andernorts in Preußen und Deutschland erst in Ansätzen so etwas wie eine eigenständige Disziplin Geschichtswissenschaft gab, hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass noch keine Fachstudiengänge an der Philosophischen Fakultät existierten. Die Gründung des mit eigenen Statuten versehenen Historischen Seminars schuf indes neue Rahmenbedingungen für den Disziplinbildungsprozess. Wichtig hierbei war vor allem, dass eben jene Strukturen dauerhaft Bestand hatten. Unabhängig von den jeweiligen Lehrstuhlinhabern war historisches Forschen – in der Organisationsform des Seminars – nun auch für die Studenten möglich. Somit konnten auch in wachsender Zahl einschlägig historische Promotionsprojekte verfolgt und eine kontinuierliche Nachwuchsförderung in Gang gesetzt werden. Zudem waren die Historischen Institute dotiert, sodass kleine Bibliotheken angelegt werden konnten. Im Hinblick auf zukünftige wissenschaftshistorische Forschungen bleibt zu hoffen, dass der Disziplinbildungsprozess der Geschichtswissenschaft wie auch der Prozess der Verwissenschaftlichung im Allgemeinen aus möglichst vielen Perspektiven unter die Lupe genommen wird – Wissenschaftsgeschichte ist schließlich mehr als nur Geistesgeschichte, und erst recht ist sie mehr als die Chronologie bahnbrechender Entdeckungen „großer“ Männer. Diese Überzeugung findet sich bereits 1959 bei Josef Engel. Engel nahm dabei in erster Linie auf Friedrich Meineckes berühmte Arbeiten zur Geschichte des Historismus Bezug und kritisierte diese als eine „Fußwanderung durch ein Hochgebirge (...) über die ragenden Gipfel der Geschichtsschreibung vom 17. bis zum 19. Jahrhundert“, die zwar einen „Ausblick auf das im Sonnenglanz aufscheinende majestätische Schneemassiv der Rankeschen Geschichtswerke“ erlaube, dabei aber „die Steine, das Erdreich, den Boden, aus dem sich das Gebirge fügte“, vernachlässige.156 Nach Pierre Bourdieu beschreibe eine rein geistesgeschichtliche Konzeption der Wissenschaftsgeschichte „den Fortpflanzungsvorgang der Wissenschaft als eine Art Parthenogenese“, aus der sich „die Wissenschaft selbst hervorbringt, ohne je vom Gesellschaftlichen berührt worden zu sein.“157 Diese Einsicht ist heute zweifelsohne konsensfähig und folgerichtig sind in den vergangenen Jahren auch zahlreiche innovative Studien zur Geschichte der   156 Engel, Geschichtswissenschaft, 229. 157 Pierre Bourdieu, Vom Gebrauch der Wissenschaft. Für eine klinische Soziologie des wissenschaftlichen Feldes, Konstanz 1998, 17.

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Geschichtswissenschaft erschienen.158 Dennoch existieren in dem – im Sinne Engels – „Erdreich“ der Wissenschaftsgeschichte weiterhin zahlreiche dunkle Flecken. Nennen könnte man hier den Prozess der Akademisierung, also der zunehmenden Standardisierung und Professionalisierung akademischer Karrieren, der einerseits dazu beitrug, dass sich Qualitätsstandards ausbreiteten, der aber andererseits auch Verlierer produzierte. Unabhängig vom jeweiligen Fachgebiet wurden im Verlauf des 19. Jahrhunderts schließlich zunehmend all diejenigen von den wissenschaftlichen Diskursen ausgeschlossen, die nicht Teil der academic community waren. Dies betraf bspw. die Privatgelehrten, aber in erster Linie auch Frauen.159 In diesem Zusammenhang ist gerade auch die Geschichte der Qualifikationsarbeiten und -verfahren von Belang, die im 19. Jahrhundert – im Vergleich zu heute – verhältnismäßig unbedeutend waren160 bzw. andere Funktionen erfüllten.161 Abschließend sei hier auch noch auf die bislang kaum genutzte Quellengattung der Vorlesungsverzeichnisse162 bzw. der „Fleißlisten“ verwiesen. Auf normativer Ebene zeigen die gedruckten Vorlesungsverzeichnisse, wie sich das Verständnis von der Kategorisierung der verschiedenen Wissenschaftszweige bei den Zeitgenossen wandelte, und so veranschaulichen sie den Differenzierungsprozess der wissenschaftlichen Disziplinen. In den Greifswalder Lektionskatalogen finden   158 Exemplarisch sei verwiesen auf: Jan Eckel / Thomas Etzemüller (Hgg.), Neue Zugänge zur Geschichte der Geschichtswissenschaft, Göttingen 2007. 159 Von daher lässt sich der Prozess der „Verwissenschaftlichung“ auch als „Vermännlichung“ beschreiben. Vgl. Claudia Opitz-Belakhal, Geschlechtergeschichte, Frankfurt a. M. 2010, 164. Zu Historikerinnen um 1800 vgl. Angelika Epple, Empfindsame Geschichtsschreibung. Eine Geschlechtergeschichte der Historiographie zwischen Aufklärung und Historismus, Köln / Weimar / Wien 2003. 160 Vgl. dazu als Einstieg Schwinges (Hg.), Examen. Obgleich die Äußerung vielleicht nicht sonderlich repräsentativ sein mag, sei zur Veranschaulichung der Bedeutung von Dissertationen im 19. Jh. an dieser Stelle aus der Vorrede der Dissertation von Karl Marx zitiert: „Die Form dieser Abhandlung würde einesteils streng wissenschaftlicher, andrerseits in manchen Ausführungen minder pedantisch gehalten sein, wäre nicht ihre primitive Bestimmung die einer Doktordissertation gewesen.“ Karl Marx, Differenz der demokritischen und epikureischen Naturphilosophie nebst einem Anhange [1841], in: MEW, Ergänzungsbd., 1. Teil: Schriften, Manuskripte, Briefe bis 1844, Berlin (Ost) 1968, 257–373, hier 261. 161 Ulrich Rasche, Die deutschen Universitäten und die ständische Gesellschaft. Über institutionengeschichtliche und sozioökonomische Dimensionen von Zeugnissen, Dissertationen und Promotionen in der Frühen Neuzeit, in: Rainer A. Müller (Hg.), Bilder – Daten – Promotionen. Studien zum Promotionswesen in der frühen Neuzeit, Stuttgart 2007, 150–273. 162 Vgl. dazu bspw. Ulrich Rasche, Seit wann und warum gibt es Vorlesungsverzeichnisse an den deutschen Universitäten?, in: Zeitschrift für Historische Forschung 36/2009, 445–478; Jens Bruning, Vorlesungsverzeichnisse, in: Ulrich Rasche (Hg.), Quellen zur frühneuzeitlichen Universitätsgeschichte. Typen, Bestände, Forschungsperspektiven, Wiesbaden 2011, 269– 292; Clark, Academic Charisma, 33–67; Markus Huttner, Vorlesungsverzeichnisse als historische Quelle. Zu Entstehungsgeschichte, Überlieferungslage und Aussagewert Leipziger Lektionskataloge vom 17. zum 19. Jahrhundert, in: Ulrich von Hehl (Hg.), Sachsens Landesuniversität in Monarchie, Republik und Diktatur. Beiträge zur Geschichte der Universität Leipzig vom Kaiserreich bis zur Auflösung des Landes Sachsens 1952, Leipzig 2005, 51–71.

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sich bspw. lange Zeit lediglich vier Kategorien, je eine pro Fakultät. Im Verzeichnis für das Sommersemester 1797 wird demnach nur unterschieden zwischen den „Theologischen Wissenschaften“, den „Juristischen Wissenschaften“, den „Medicinischen Wissenschaften“ und den „Philosophischen, philologischen, historischphysicalischen und mathematischen Wissenschaften.“ Im Winter 1820–21 findet sich hingegen eine deutlich feinere Gliederung, allerdings nur für die Philosophische Fakultät. Ihre Lehrgebiete werden nun unterteilt in „Philosophische Wissenschaften“, „Mathematische Wissenschaften“, „Naturwissenschaften“, „Kameralwissenschaften“, „Philologie“ sowie „Geschichte und Hülfswissenschaften derselben.“ Interessant ist dabei jedoch, dass neben den Lehrveranstaltungen von Kanngießer hier auch eine Veranstaltung des klassischen Philologen Moritz Hermann Eduard Meier (1796–1855) angeführt wurde („Griechische Alterthümer“). Zudem wurden in dieser Kategorie auch noch die Vorlesung „Allgemeine Litterärgeschichte“ von Professor Johannes F. Florello (1777–1850) sowie die Vorlesung „Kunstgeschichte“ von Professor Christian Wilhelm Ahlwardt (1760–1830) geführt. Die Geschichte blieb fortan zusammen mit den Hilfswissenschaften als Kategorie erhalten. Im Verlaufe der Zeit wurden dort jedoch zunehmend ausschließlich die Veranstaltungen der Fachhistoriker gelistet.163 Die „Fleißlisten“ bzw. „Labores“ sowie auch Verzeichnisse „tatsächlich gehaltener Vorlesungen“ gestatten demgegenüber einen Blick in die Praxis und gewähren einen Einblick in die Frage, ob Forschung und Lehre in Einklang zu bringen waren. Da derartige Verzeichnisse häufig auch die Namen und die Fakultätszugehörigkeit der Hörer enthalten, erlauben sie auch die Rekonstruktion von Stundenplänen einzelner Studenten.

  163 Vgl. die Vorlesungsverzeichnisse aus den genannten Semestern. Diese gedruckten Kataloge sind online einsehbar in der Digitalen Bibliothek Mecklenburg-Vorpommern. Vgl. auch (in Bezug auf die Berliner Universität) Heinz-Elmar Tenorth, Genese der Disziplinen – Die Konstitution der Universität. Zur Einleitung, in: ders. (Hg.), Disziplinen, 9–40, hier 32.

VOM „MITGLIED DES HISTORISCHEN SEMINARS“ IM JAHR 1863 ZUM MODULARISIERTEN BACHELOR-STUDENTEN DES JAHRES 2013 Wissenschaftsgeschichtliche und hochschuldidaktische Reflexionen Thomas Stamm-Kuhlmann Unter Historikern ist es ein vertrautes Problem, für ein Jubiläum festzulegen, aus welchen Gründen gefeiert werden soll und welches Datum man der festlichen Erinnerung zugrunde legen will. Besonders offensichtlich ist das bei so langwierigen und umfassenden Vorgängen wie einer Stadtgründung. Als beispielsweise im Jahr 2000 die Festschrift zum Gründungsjubiläum der Stadt Greifswald erschien, haben wir gefeiert, dass 750 Jahre zuvor, am 14. Mai 1250, der Marktflecken Greifswald durch Herzog Wartislaw III. von Pommern das lübische Stadtrecht verliehen bekommen hat. Diese Verleihung, so schrieb Günter Mangelsdorf in seinem Kapitel der Festschrift von 2000, sei „ein gewisser Abschluss der frühen Stadtentwicklung“ 1 gewesen, denn eine Siedlung habe es dort schon seit rund zwei Jahrzehnten gegeben. 2 Ähnlich verhält es sich auch mit dem Historischen Institut. Wir jetzt lebenden Historiker haben uns entschieden, den 29. August 1863 zum Geburtstag unseres Instituts zu ernennen, denn an diesem Tag hat der königlich-preußische Minister der geistlichen, Unterrichts- und Medizinalangelegenheiten Heinrich von Mühler das Reglement des Historischen Seminars „bis auf weiteres“ bestätigt. 3 In dem Aktenvorgang, der hierzu im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz in Berlin-Dahlem überliefert ist, heißt es aber: „Bei der Universität in Greifswald ist seit dem Jahre 1859 zur Förderung des Studiums der Geschichte an derselben ein historisches Seminar errichtet, wie solche Institute bereits an andern Universitäten mit anerkanntem Nutzen bestehen, diese Seminarien haben insbesondere

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Vgl. Günter Mangelsdorf, Zur Ur- und Frühgeschichte des Greifswalder Gebietes, zu den Anfängen des Klosters Eldena und der Stadt Greifswald im 12./13. Jahrhundert, in: Horst Wernicke (Hg.), Greifswald. Geschichte der Stadt, Rostock 2000, 15–32, hier: 27. Vgl. ebd. 26. Reglement für das historische Seminar der königl[ichen] Universität zu Greifswald. Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz (im Folgenden: GStA PK), I HA Rep 76 Kultusministerium Va Sektion 7 Tit. X Nr. 31 Bd. 1 Bl. 45–46. Vermerk auf Bl. 46: „Vorstehendes Reglement wird bis auf Weiteres hiedurch genehmigt. Berlin, den 29. August 1863. Der Minister pp.“ (Konzept).

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Thomas Stamm-Kuhlmann den Zweck, die Studirenden in das Quellenstudium der Geschichte und die Kenntniß der historischen Litteratur einzuführen sowie für den Unterricht im historischen Fache vorzubereiten, und sind deshalb für die Heranbildung künftiger Geschichtslehrer an Universitäten, Gymnasien und Schulen von unverkennbarer Wichtigkeit.“ 4

Das Seminar arbeitete also schon, als ihm die Statuten zu Teil wurden. Noch höhere, nämlich königliche Weihen, hatte das Seminar zu Anfang desselben Monats erhalten, indem nämlich König Wilhelm I. auf Antrag des Ministers genehmigt hatte, „daß dem historischen Seminar bei der Universität zu Greifswald Behufs der Bewilligung einer Prämie von 25 rthlr, in jedem Semester an dasjenige Seminar-Mitglied, welches die beste eines Preises würdige historische Abhandlung liefert, die Summe von Fünfzig Thalern jährlich aus disponibeln Mitteln der Universität“ 5

gewährt wurde. Wichtig hierbei ist die Verstetigung der Bewilligung, denn ein einmaliger Zuschuss von einhundert Talern war „zur Beschaffung des nöthigsten historisch-geographischen Lehrapparats“ 6 schon 1859 gewährt worden. Eine Institution bedarf zu ihrer Legitimation der Anerkennung. Deswegen scheint es mir kennzeichnend, dass wir einer äußeren Instanz, sei es nun der Pommernherzog, der Minister oder der Preußenkönig, bedürfen, um an die Existenz der Einrichtung wirklich glauben zu können. In dem Hin und Her um die Etablierung und finanzielle Ausstattung des Historischen Seminars sind Argumente ausgetauscht worden, die uns heute zeitlos erscheinen mögen. So finden wir das „Krümel vom Tisch-Argument“, das immer wieder in der Forschungsförderung vorkommt und das eine Überlebensstrategie der Geisteswissenschaften darin begründet hat, von eigentlich für andere Fächer locker gemachten Geldbeträgen auch etwas mitbekommen zu wollen. Wir müssen uns vergegenwärtigen, dass 1859 die imposanten Klinikbauten an der heutigen Löfflerstraße bezogen worden waren, die die bescheidenen Greifswalder Altstadthäuschen überragten und zeigten, mit welchem Aufwand sich die Universität inzwischen für die medizinische Ausbildung engagierte. 1862 war auch ein Neubau für das Chemische Laboratorium in der Langefuhrstraße, der heutigen Friedrich-Löffler-Straße, fertiggestellt worden. 7 So meinte denn das Kuratorium der Universität in einem Bericht an den Minister,

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Minister der geistlichen etc. Angelegenheiten an Seine Majestät den König. Neuenbrügge bei Soldin, den 30. Juli 1863 (Konzept). GStA PK, I HA Rep 76 Kultusministerium Va Sektion 7 Tit. X Nr. 31 Bd. 1 Bl. 40. Wilhelm I. an den Minister der geistlichen etc. Angelegenheiten. Allerhöchster Erlass. Bad Gastein, den 6ten August 1863. Gez. Wilhelm. Kontrasigniert: v[on] Mühler. GStA PK, I HA Rep 76 Kultusministerium Va Sektion 7 Tit. X Nr. 31 Bd. 1 Bl. 42. Minister der geistlichen etc. Angelegenheiten an das Königl[iche] Universitäts-Curatorium zu Greifswald, Berlin, den 15the Juni 1859. GStA PK, I HA Rep 76 Kultusministerium Va Sektion 7 Tit. X Nr. 31 Bd. 1 Bl. 12. Vgl. Gerhard Wolter / Gerhard Ruhlig, Über die Entwicklung der chemischen Lehre und Forschung an der Universität Greifswald, in: Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald

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„Dazu kommt aber auch noch daß, nachdem in neuerer Zeit so bedeutende Aufwendungen zur Förderung des Studiums der Medicin und der Naturwissenschaften gemacht worden, es mindestens billig erscheint, daß auch etwas zur Förderung des Studiums anderer Disciplinen geschieht, und daß dabei insbesondere bei der erfreulichen Zunahme derjenigen Studirenden, welche sich dem Lehrfache widmen, auf diese Rücksicht genommen wird.“ 8

Ferner müsse ausgeschlossen bleiben, dass die pro Semester ausgesetzten 25 Taler für die beste historische Abhandlung nicht „den Charakter bloßer Unterstützungen“ annähmen. Hier sollte kein Stipendium gewährt werden, sondern es sollten die „Kosten“ ersetzt werden, die bei der „Bearbeitung historischer Aufgaben“ nun einmal anfallen könnten. 9 Wir haben uns zu fragen, welche Kosten damit gemeint sein könnten. Da fällt zunächst einmal die Literaturbeschaffung ins Gewicht. Auch Professoren mussten einen beträchtlichen Teil ihres Einkommens für Bücherkäufe ausgeben, da die jeweiligen Universitätsbibliotheken offenbar nirgendwo für Forschungszwecke hinreichten, und es waren sehr häufig Reisen in fremde Bibliotheken notwendig, da es kein Fernleihsystem gab. Reisen zum Exzerpieren ungedruckter Quellen kamen hinzu, die schneller als heute notwendig wurden, da der umfangreiche Bestand an Editionen und Urkundenbüchern, auf die wir uns heute stützen können, natürlich noch nicht erarbeitet war. Sie bereitzustellen hat gerade einen wesentlichen Teil der historischen Forschung seit 1863 ausgemacht. Hier ist die Gelegenheit für einige grundsätzliche Überlegungen. Ich stütze sie auf die Tatsache, dass in einem Bericht, den das Universitätskuratorium im Jahre 1859, ebenfalls bereits der Greifswalder Historiker wegen, an den Minister eingereicht hatte, davon die Rede war, dass andere Fächer schon über Seminare verfügten. Das „philologische und juristische Seminar“ wurden genannt. 10 Es müssen also zwei Ebenen der Darstellung unterschieden werden. Wir haben es zum einen damit zu tun, dass Seminare als organisatorische Einheiten der Wissenschaft im 19. Jahrhundert entstanden sind, und zum anderen damit, dass die Geschichtswissenschaft gerade damals, 1863, ihr Seminar bekommen hat. Die Universität des 18. Jahrhunderts bestand so gut wie ausschließlich aus Vorlesungen. Für diese Vorlesungen gab es nicht einmal genügend Hörsäle, und da die Hörerzahlen oft klein waren, konnten die Vorlesungen in den Privathäusern der Professoren abgehalten werden. Dort standen die Bibliotheken der Professoren, dort wurden auch Sammlungen von Instrumenten und Präparaten aufbewahrt und dort wohnten häufig auch Studierende als Pensionsgäste, die halfen, die Einkommen der Professoren aufzubessern. Dienstzimmer waren nicht vorhanden.

(Hg.), Festschrift zur 500-Jahrfeier der Universität Greifswald. 17. 10. 1956, Bd. 2, Greifswald 1956, 462–468, hier: 463. 8 Universitätscuratorium an Minister, Greifswald, 8. Februar 1862. GStA PK, I HA Rep 76 Kultusministerium Va Sektion 7 Tit. X Nr. 31 Bd. 1 Bl. 22 v/ Bl. 23. 9 Ebd. Bl. 23. 10 Universitäts-Curatorium an Minister, Greifswald, 1. März 1859. GStA PK, I HA Rep 76 Kultusministerium Va Sektion 7 Tit. X Nr. 31 Bd. 1 Bl. 1v.

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Es gab somit auch keinen räumlichen Anknüpfungspunkt, an dem man die Vertreter einer Disziplin hätte aufsuchen können, es sei denn, man suchte den Professor zu Hause auf. Eine Ausnahme bildete die Anatomie. Sowohl zur Aufbewahrung der Leichen als auch zur Demonstration der Sektionen benötigte man Spezialräume und ein Auditorium, die auf Universitätskosten bereitgestellt wurden. Beides fand im hiesigen Hauptgebäude seinen Platz, zusammen mit einigen Professorenwohnungen. Auch die Universitätsbibliothek war hier, in der jetzigen Aula, aufgestellt. In dem Maße aber, in dem in der Philosophischen Fakultät die Fächergrenzen klarer gezogen wurden, entstand der Wunsch, die einzelnen Fächer an einer festen Adresse vorzufinden, sowohl im übertragenen als auch im wörtlichen Sinn. Um im wörtlichen Sinn antreffbar zu sein, mussten die einzelnen Fächer auch Fachräume und Dienstzimmer aufweisen können. Bei der Ausdifferenzierung und Verselbstständigung der Fächer wiederum bildete Deutschland nicht unbedingt die Avantgarde. So hat die University of North Carolina bereits 1853 ein eigenständiges History Department bekommen und die vielleicht bekanntere University of Michigan folgte 1855. 11 In der Medizin kam als wichtigstes Differenzierungsmittel die Klinik hinzu. Friedrich August Gottlob Berndt kündigte in Greifswald erstmals 1826 „exercitationes clinico-medicas“ an 12 und entwickelte 1831 das Greifswalder sogenannte Landeslazarett zur Medizinisch-chirurgischen Klinik weiter, um einen Krankenbestand zu haben, dessen Therapie man kontrollieren und planmäßig verbessern konnte, und auch, um den Studenten Unterricht am Krankenbett erteilen zu können. 13 Von hier datiert sich die bis heute gültige Einteilung in Kliniken als Organisationseinheiten der Universitätsmedizin. Die Naturwissenschaften benötigten Laboratorien. Vorlesungen sollten Experimente einschließen, dazu wurden Instrumente, Verbrauchsmaterialien und entsprechende Lagerräume benötigt. Es war für mich persönlich ein Vergnügen, einmal unser altes Physikalisches Institut von 1889 besichtigen zu können und zu sehen, wie hervorragend funktional die Raumaufteilung dieses Gebäudes geplant gewesen ist. Wenn man aber einen Doktorgrad in den Naturwissenschaften nur noch aufgrund einer experimentellen Arbeit erwerben konnte, so war auch dem Promovenden Zugang zum Laboratorium zu verschaffen, und der Ausstattungsaufwand 11 Vgl. Gabriele Lingelbach, Klio macht Karriere. Die Institutionalisierung der Geschichtswissenschaft in Frankreich und den USA in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Göttingen 2003, 82. 12 Vgl. Wilhelm Schmidt-Kessen / Hans Schulz, Berndt, in: Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald (Hg.), Festschrift, 367–370, hier: 369. 13 Vgl. Heinz-Peter Schmiedebach, Die Medizinische Fakultät Greifswald in den letzten 200 Jahren – Akademische Tradition und gesellschaftliche Anforderungen, in: Dirk Alvermann / Karl-Heinz Spieß (Hgg.), Universität und Gesellschaft. Festschrift zur 550-Jahrfeier der Universität Greifswald, Bd. 1: Die Geschichte der Fakultäten im 19. und 20. Jahrhundert, Rostock 2006, 289–370, hier: 294.

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war bereits Mitte des 19. Jahrhunderts derart groß geworden, dass sich kein Promovend mehr ein Privatlabor leisten konnte. Die Universität musste also dieses Labor nicht nur für die Forschung des Professors, sondern auch für seine Studenten vorhalten. Als nächste Stufe kam hinzu, dass die Studenten nicht erst bei der Abschlussarbeit experimentell arbeiten sollten. Sie mussten die Methode lernen, und Praktikumsräume mussten deshalb her. Was das Praktikum als Lehrform in den Naturwissenschaften ist, sollte in den Geisteswissenschaften das Seminar sein. Während Arbeitstische, Bunsenbrenner und Wasseranschluss für die Naturwissenschaftler eingerichtet wurden, sollten Juristen, Philologen und Historiker an Forschungsliteratur, Gesetzsammlungen, Quelleneditionen, Atlanten, Urkunden, Siegeln und Münzen arbeiten. Im Entwurf der Statuten, der dem Ministerium eingereicht wurde, ist ein „historisch geographischer Lehrapparat“ erwähnt. 14 Im Idealfall waren die Bücher im selben Raum aufgestellt, in dem sich die Seminargruppe traf. Die meisten von uns haben das im Lauf ihres Studiums nur noch als Belästigung erlebt, wenn man sich als Student aus der Seminarbibliothek ein Buch holen wollte, der Raum aber durch eine Lehrveranstaltung versperrt war. Die organisatorische Differenzierung der Universität war in dem Augenblick zu einem gewissen Abschluss gelangt, da das Laboratorium, als Organisationseinheit einem Ordinarius unterstellt, die Bezeichnung „Institut“ erhielt. In den Geisteswissenschaften pflegte man den organisatorischen Betrieb, der sich um den Ordinarius, seinen Assistenten, später sogar eine Sekretärin, Übungsräume und die Bibliothek gruppierte, als Seminar zu bezeichnen, und dabei ist es in den westlichen Bundesländern bis heute geblieben. Zu welchem Datum aber wir in den jeweiligen deutschen Universitäten Historische Seminare als „gegründet“ betrachten dürfen, ist eine wissenschaftliche Setzung, die daran geknüpft sein sollte, dass ein Mindeststandard an organisatorischer Selbstständigkeit und institutioneller Dauer gegeben war. Diese Standards kann man für Königsberg 1833 15 und für Bonn 1861 16 als gegeben ansehen, da beide Universitäten in den genannten Jahren Statuten für ihr historisches Seminar erhielten. Schon um 1900 begann sich dann bereits Kritik am Seminarwesen zu formieren, und erste Umgestaltungsabsichten äußerten sich, wie durch Karl Lamprecht und Kurt Breysig, in der Verwendung der Bezeichnung „Institut.“ 17 In Greifswald dagegen hat der Mediävist Adolf Hofmeister in der Senatssitzung des 8. August 1951 vorgeschlagen, das Historische Seminar in „Institut für mittlere und neuere Geschichte und historische Hilfswissenschaften“ umzubenen-

14 „Entwurf der Statuten für das historische Seminar der Universität Greifswald.“ Abschrift. GStA PK, I HA Rep 76 Kultusministerium Va Sektion 7 Tit. X Nr. 31 Bd. 1 Bl. 33v. 15 Vgl. Hans-Jürgen Pandel, Die Entstehung der historischen Seminare in Deutschland, in: Werner Freitag (Hg.), Halle und die deutsche Geschichtswissenschaft um 1900, Halle (Saale) 2004, 25–36, hier: 31. 16 Vgl. ebd.,32. 17 Vgl. ebd., 33.

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nen, später wurde einfach „Historisches Institut“ daraus. 18 In diesem Jahr geschah organisatorisch eine Menge. Die Philosophische Fakultät hatte sich am 28. Juli geteilt 19, und die Naturwissenschaften waren ausgeschieden. Sie bildeten eine eigene Fakultät. Möglicherweise sollte durch die einheitliche Bezeichnungsweise die Gleichrangigkeit der Geisteswissenschaften unterstrichen werden, möglicherweise haben wir es aber auch mit Einflüssen aus dem sowjetischen Hochschulsystem zu tun, dem die ostdeutsche Studienorganisation damals angeglichen werden sollte. Soviel zum Universitätsaufbau. Entscheidend ist aber, dass diese organisatorischen Differenzierungen, so banal sie sich anhören mögen, eng mit der jeweiligen Disziplingeschichte verbunden sind. Hier ist es eben interessant, zu beobachten, wann eine Disziplin als reif für die Einrichtung eines „Seminars“ betrachtet wird. Als Parallele möchte ich deswegen zuerst die Rechtswissenschaft beleuchten, weil die Jurisprudenz zu den Fächern gehört, mit denen die Universität überhaupt entstanden ist. Hier ist bemerkenswert, dass trotz der ins 13. Jahrhundert zurückreichenden Tradition juristischer Gelehrsamkeit bestimmte Phänomene des Wissenschaftswandels sich nicht anders darstellen als in der Philosophischen Fakultät. Dazu gehört auch hier die Ablösung der sogenannten Familien- durch die Forscheruniversität in der Mitte des 19. Jahrhunderts 20 und der Gedanke, dass der Rechtsprofessor nicht nur Regeln zu tradieren und Urteile zu schreiben, sondern auch selbst zu forschen hatte, was hier weitgehend mit dem Siegeszug der Historischen Rechtsschule zusammenfiel. So hat sich der Greifswalder Karl Schildener besonders mit den germanischen Rechtsaltertümern befasst und schon 1818 das alte Rechtsbuch der Insel Gotland „in der Ursprache und einer wieder aufgefundenen altdeutschen Übersetzung“ ediert. 21 Als großes Talent der Greifswalder Juristenfakultät wird der schleswig-holsteinische Freiheitskämpfer Georg Beseler betrachtet, der 1842 berufen worden ist. Auf Beseler wird nun auch zurückgeführt, dass 1854 das Juristische Seminar gegründet wurde, das nach der Vermutung von Hans-Georg Knothe sogar das älteste Juristische Seminar in Deutschland gewesen sein könnte. Die Statuten dieses Seminars liegen in einer Fassung vor, die am 3. September 1863, vier Tage nach den Statuten der Historiker, fixiert wurde, so dass wir annehmen können, dass sich das Berliner Kultusministerium systematisch mit den Greifswalder Seminaren befasst hat. Laut diesen Statuten hatte das Juristische Seminar die Aufgabe,

18 Auskunft des Universitätsarchivs Greifswald vom 29. August 2013. 19 Durch Erlass des Staatssekretärs für Hochschulwesen der DDR vom selben Tag. Vgl. Thomas Stamm-Kuhlmann, Die philosophische Fakultät vom Anschluß an Preußen 1815 bis zur deutschen Wiedervereinigung 1990, in: Alvermann / Spieß (Hgg.), Universität und Gesellschaft,,371–480, hier: S. 441. 20 Vgl. Hans-Georg Knothe / Jürgen Regge / Irene Vorholz, Die Juristische (Rechts- und Staatswissenschaftliche) Fakultät 1815–2005, in: Alvermann / Spieß (Hgg.), Universität und Gesellschaft, 165–287, hier: 180, 194. 21 Vgl. ebd., 189.

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„die Studirenden durch Uebungen verschiedener Art anzuregen, den ihnen überlieferten Stoff sich lebendig anzueignen, und dieselben tiefer in das Innere der Rechtswissenschaft einzuführen, als dies bei Vorlesungen geschehen kann.“

Das Juristische Seminar war sogar in drei Abteilungen gegliedert, nämlich für Römisches Recht, für Deutsches Recht und für Prozeß. Weiter hieß es dann: „Die Abtheilungs-Dirigenten ernennt der Minister der Unterrichts-Angelegenheiten.“ Damit war schon für eine größere Organisationseinheit Vorsorge getragen, während die Direktion des Historischen Seminars allein dem Professor Arnold Dietrich Schäfer übertragen worden ist. Und hier, bei den Juristen, war auch schon an Leitungsfragen gedacht, mit denen wir uns heute noch zu befassen haben. Es hieß nämlich: „Allgemeine Seminar-Angelegenheiten werden von denselben [also den Dirigenten] collegialisch bearbeitet, wobei die Führung des Vorsitzes von der Anciennität in der Facultät abhängig ist.“ 22

Um Mitglied im Juristischen Seminar zu werden, musste der Student die Vorlesungen über Institutionen und Pandekten sowie je nach Abteilung weitere Vorlesungen gehört haben. 23 Das Seminar war somit für Fortgeschrittene, was sich in der Philosophischen Fakultät noch darin erhalten hat, dass bei den Lehrveranstaltungen lange Zeit zwischen Seminaren und Proseminaren unterschieden wurde. Es gab auch in der Jurisprudenz, wie bei den Historikern, einen jährlichen Preis für selbstständige Arbeiten der Studierenden. 24 Analog zum Historischen Seminar bildete sich dann auch eine Seminarbibliothek heraus, die einen zweiten Bestand an rechtswissenschaftlicher Literatur parallel zur Universitätsbibliothek bereithielt. Da diese Seminarbibliotheken aus Mitteln finanziert wurden, die das Ministerium den Professoren zugewiesen hatte, unterstanden sie auch diesen und waren eben nicht, wie heute die Fachbibliotheken, nachgeordnete Dienststellen der Zentralen Universitätsbibliothek. Das Philologische Seminar ist nun von Bedeutung, weil sich die moderne Geschichtswissenschaft zumindest in Deutschland unter der Patenschaft der Philologie entwickelt hat, was man nicht zuletzt an der Person Leopolds von Ranke beobachten kann, der seine Laufbahn als Lateinlehrer am Gymnasium begonnen hat, wie noch einige Professoren nach ihm. Die Philologie – man verstand darunter immer die Pflege der Alten Sprachen – hatte im Aufklärungszeitalter Triumphe in der Textkritik gefeiert. Und Textkritik, die zur Quellenkritik überleitet, ist im ersten Jahrhundert der modernen Geschichtswissenschaft auch das Zentrum der Ausbildung gewesen, an der der professionelle Historiker zu erkennen war. Die klassische Philologie hat sich aber im 19. Jahrhundert auch in einem Maße mit Sach-

22 „Statuten des juristischen Seminars der Universität zu Greifswald“ vom 3. September 1863. Faksimile, in: ebd., 197. 23 Vgl. ebd. 24 Vgl. ebd.

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zeugnissen und Institutionen der Antike befasst, dass manche ihrer Fragestellungen sich kaum noch von der Historie unterschieden. Moritz Hermann Eduard Meier, der 1820 zum außerordentlichen Professor für Klassische Philologie und Altertumswissenschaft in Greifswald ernannt wurde, hat „sogleich“ eine „Philologische Gesellschaft“ 25 gegründet, der nur fortgeschrittene Studenten angehören durften. 1852 wurde diese „Gesellschaft“ in „Philologisches Seminar“ umbenannt. 26 Das Historische Seminar war also nicht das erste Seminar, das in Greifswald begründet wurde. Dennoch spielt die Seminargründung in der Disziplingeschichte der Historie eine womöglich bedeutendere Rolle als in den soeben genannten Gebieten. Das liegt an dem zunächst noch sehr unklaren Status, den die Geschichte um 1800 hatte. Zwar gab es hin und wieder Lehrstühle, welche die Denomination Geschichte trugen. Sieht man jedoch nach, wer die Inhaber waren, so findet man Juristen, Theologen oder eben Philologen. Es gab eben lange Zeit noch kein Fachstudium der Geschichte. 27 Zu der Ausbildung einer besonderen historischen Methode hat das Seminar entscheidend beigetragen. Dass die Vorlesung dazu verführt, Sachverhalte als objektiv gegeben und endgültig zu behaupten, trifft sicherlich auch für andere Disziplinen zu. Das schöne Buch von Ludwik Fleck Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache, das uns zeigt, wie Tatsachen konstruiert werden, ist von einem Mediziner für Mediziner geschrieben. 28 Es gibt aber natürlich auch in der Geschichte den Typus des faktengläubigen Brotstudenten, der möglichst viel auswendig lernen möchte. Ihm ist nur im Seminar beizukommen, denn hier lässt sich am besten vermitteln, dass der Forschungsprozess grundsätzlich offen ist. Wie zeigt sich das am Reglement des Historischen Seminars aus dem Jahr 1863? § 1 bestimmt: „Das historische Seminar hat den Zweck Studirende in das Quellenstudium der Geschichte und in die Kenntniß der historischen Litteratur einzuführen, auch dieselben für den Unterricht in der Geschichte vorzubereiten.“

Es geht also um Quellenstudium, das am besten geübt werden kann, wenn die Echtheit, die Intention und die Aussagekraft der einzelnen Quelle diskutiert werden können. Hierzu muss sie natürlich erst einmal vorliegen, wozu die neu angeschaffte Bibliothek dienen sollte. Seit 1825 die Monumenta Germaniae Historica

25 Jürgen Kroymann, Geschichte der Klassischen Philologie an der Universität Greifswald, in: Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald (Hg.), Festschrift, 120–135, hier: 121. 26 Vgl. Stamm-Kuhlmann, Die philosophische Fakultät, 382. 27 Ich verweise hierzu auf den Beitrag von Michael Czolkoß im selben Band. 28 Ludwik Fleck, Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv [Berlin 1935], Mit einer Einleitung hrsg. von Lothar Schäfer und Thomas Schnelle, 4. Aufl., Frankfurt a. M. 1999.

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begonnen hatten zu erscheinen 29, war es immerhin möglich, in einem einzelnen Druckexemplar ein Capitulare Karls des Großen oder einen „bedeutenden Geschichtsschreiber und Chronisten“ 30 vollständig zu studieren, zu übersetzen und zu interpretieren, während dies bis dahin nur dem einzelnen Forscher möglich gewesen war, der sich in eine entlegene, womöglich in Italien befindliche Klosterbibliothek begeben und unter den Augen mehr oder weniger wachsamer Mönche seine Exzerpte angefertigt hatte. Da es sich nur um ein einzelnes Druckexemplar handelte und der Fotokopierer noch nicht erfunden war, erschien es zweckmäßig, einem einzelnen Seminarangehörigen das Referat über diese Quelle oder einen Ausschnitt daraus zu übertragen. Damit war die Grundstruktur des Seminarunterrichts geboren. Deswegen bestimmt § 5: „Die ordentlichen Mitglieder des Seminars sind verpflichtet, der Reihe nach über einen bestimmten Abschnitt den Vortrag zu übernehmen und die dabei sich ergebenden Fragen kritisch zu erörtern.“

Damit aber nicht genug. Auch die Hausarbeit als der Königsweg des geisteswissenschaftlichen Studiums war schon vorgesehen. Es heißt in §6: „Sämmtliche Seminarmitglieder haben über historische Themata, deren Feststellung durch den Direktor des Seminars erfolgt, Abhandlungen zu liefern. Dieselben werden durch die Seminaristen sowohl wie durch den Direktor beurteilt.“

Wir müssen uns klar machen, dass das Prinzip, die Mitglieder des Seminars könnten gleich dem Direktor die Abhandlungen beurteilen, einer autoritären Wissenschaftsauffassung entgegen stand, wie wir sie in der Menschheitsgeschichte leider nur zu oft antreffen. Die Idee der prinzipiellen Gleichberechtigung von Lehrenden und Lernenden in der Wissenschaft war damit verankert, die wir heute noch gern als Kern des Humboldtschen Universitätsmodells hochleben lassen. Im Seminar ist der Professor nichts anderes als dasjenige Mitglied mit der größten Erfahrung. Das führt uns zur Krise des Seminars als Lehrform, die uns schon beschäftigte, als wir 1999 begannen, das Studium an der Philosophischen Fakultät zu modularisieren. Das erste Problem, das der Zulassung, will ich mir zuerst vornehmen. Das Reglement sah vor, dass der Seminardirektor den Studenten prüfte, bevor er ihn ins Seminar aufnahm (§ 2). In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts kannte man einerseits die persönliche Anmeldung in der Sprechstunde des Professors und andererseits die sogenannte Hauptseminaraufnahmeprüfung, die aber in der Regel schon durch die obligate Zwischenprüfung ersetzt worden war. Seit es Kapazitätsverordnungen und einklagbare Studienplätze gibt, ist an eine Zulassung nach Willkür des Professors ohnehin nicht mehr zu denken. Wir unterstellen heute, 29 Vgl. Gerhard Schmitz, Stein und die Monumenta Germaniae Historica in den 1820er Jahren, in: Heinz Duchhardt (Hg.), Stein. Die späten Jahre des preußischen Reformers 1815–1831, Göttingen 2007, 15–37, hier: 19. 30 § 4 des Reglements.

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dass jeder Absolvent bestimmter Basismodule die Fähigkeit hat, im Hauptseminar mitzuarbeiten. Das stimmt nicht immer. Gravierender ist natürlich die Mitgliederzahl. § 3 von 1863 bestimmt: „Die Zahl der ordentlichen Mitglieder des Seminars darf sechs nicht übersteigen. Außerdem werden außerordentliche Mitglieder zu den Übungen des Seminars zugelassen.“ 31

Mir ist nach der Lektüre des Reglements nicht klar geworden, wie sich die Rechte und Pflichten der ordentlichen und der außerordentlichen Seminarmitglieder unterschieden haben. Auf alle Fälle ist klar, dass an die Arbeit in kleinen Gruppen gedacht war. Heute gilt im Fach Geschichte für die Aufnahme von Studierenden ins Seminar die Richtzahl von 30 Teilnehmern, und ich habe in meinem eigenen Studium während der siebziger Jahre gelegentlich Seminare mit rund hundert Teilnehmern erlebt. Wir müssen davon ausgehen, dass dergleichen auch heute noch in Deutschland vorkommt. Das dritte und meiner Meinung nach wesentliche Problem des Seminarunterrichts in der heutigen Zeit ist aber, dass sich natürlich seit 1863 die Akzente in der Ausbildung verschoben haben. Die Quellenkritik steht nicht mehr im Mittelpunkt, sondern sie ist zu einer bloßen Voraussetzung geworden. Natürlich gehen wir nicht hinter die Maßstäbe von damals zurück, im Gegenteil. Aber wir begnügen uns auch nicht mehr damit zu erörtern, welchen Aussagewert diese oder jene Zeile bei Ammianus Marcellinus oder Otto von Freising denn wohl haben möge. Auch nicht, wenn es um die verschiedenen Fassungen von Adolf Hitlers „Weisung für den Fall Grün“ geht. Wir sind nicht mehr einfach stolz darauf herausgefunden zu haben, dass dieses oder jenes Ereignis sagenhaft und erfunden oder jene Urkunde gefälscht war, sondern wir wollen generalisierende Aussagen über die Vergangenheit machen. Wir wollen verstehen, welche sozialen Auswirkungen das Heiratsverhalten der deutschen Reichsfürsten oder die Konsumgewohnheiten Danziger Kaufleute hatten. Wir müssen dazu erst einmal einen großen Vorlauf an Faktenwissen noch im Seminar vermitteln und wollen dann zu Aussagen gelangen, die sich nicht so leicht von den Mitgliedern eines Seminars kritisieren lassen. Das scheint mir der Grund zu sein, warum Seminarreferate auch langweilig sein können. Es gibt also Gründe, warum wir Historiker uns bei der Neugestaltung des Bachelor-Studiums die Möglichkeit offen gehalten haben, die verschiedensten Lehrformen zu erproben, wozu auch die gemeinsame kursorische Quellenlektüre gehören kann. Ebenso haben wir verschiedene Formen von Leistungsnachweisen vorgesehen, und es gibt die Möglichkeit, sich in verschiedenen Modulen auch durch eine Klausur oder ein mündliches Gespräch prüfen zu lassen. Ein Ziel aber werden wir nie aus dem Auge verlieren, solange die Geschichtswissenschaft eine akademische Disziplin ist: den Studenten in die Position zu versetzen, selbst Forscher zu werden. 31 „Reglement für das historische Seminar der königl[ichen] Universität zu Greifswald. GStA PK, I HA Rep 76 Kultusministerium Va Sektion 7 Tit. X Nr. 31 Bd. 1 Bl. 45.

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Eine Frage, die wir uns mit einer gewissen Regelmäßigkeit stellen, ist die Frage nach dem Professorentypus. Damals wie heute genügt es nicht, die Neugier des Forschers zu haben. In der Mitte des 19. Jahrhunderts kam der Greifswalder Professor Friedrich Wilhelm Barthold mit seinem Gehalt nicht aus und entfaltete eine umfangreiche populärwissenschaftliche Publizistik, die Einnahmen bringen sollte. 32 Auch heute erwartet die Öffentlichkeit, die das Hochschulsystem finanziert, dass wir unsere Tätigkeit anschaulich machen. Der Historiker ist eingebunden in die Traditionspflege seiner Region, was gerade in einem Bundesland mit einer neuen Identität nicht einfach ist. Der Historiker soll die politische Bildung unterstützen, die Lügengespinste der Extremisten aufdecken und die Demokratie stärken. Musste er früher um Reisestipendien bitten, so muss er heute Drittmittel beantragen, Forschungsteams führen und sich als Manager bewähren. Ob für versponnene Außenseiter in der Universität Platz ist, scheint mir damals wie heute zweifelhaft zu sein. Die Personalbeurteilungen des 19. Jahrhunderts legen nahe, dass die soziale Kompetenz der Professoren immer ein Berufungskriterium war, und die Anziehungskraft der Vorlesungen hat gerade zu einer Zeit eine Rolle gespielt, in der man sich keineswegs sicher sein konnte, dass das Lehrangebot überhaupt nachgefragt werden würde. 33 Die Betreuungsrelationen haben sich massiv verschoben, aber die Hausarbeit soll immer noch gründlich durchgesehen werden. Die Bachelorarbeiten, die wir auf dreißig Seiten begrenzen wollten, tendieren dazu, darüber hinaus zu wachsen. In allem diesem aber stehen wir nicht allein. Und so möchte ich diese Gelegenheit auch nutzen, den Kollegen anderer Fächer, mit denen wir uns ergänzen und an den verschiedensten Stellen zusammen arbeiten, für diese Zusammenarbeit herzlich zu danken.

32 Vgl. Michael Czolkoß, Zur Entwicklung von Professionalitätskriterien und Disziplin. Die Greifswalder Geschichtswissenschaft im Kontext der preußischen Hochschullandschaft, Von den 1830er Jahren bis zur Institutsgründung 1863, Ungedruckte Masterarbeit, Greifswald 2013, 80. 33 Vgl. ebd., 93–101.

DAS MITTELALTER IN FORSCHUNG UND LEHRE AM HISTORISCHEN INSTITUT IM 19. UND 20. JAHRHUNDERT Karl-Heinz Spieß Wie bereits in den vorangehenden Beiträgen erläutert wurde, war das Fach Geschichte lange Zeit nicht so weit ausdifferenziert, dass man von einem spezifischen Vertreter der mittelalterlichen Geschichte sprechen könnte. Selbst die erste Geschichtsprofessur war in Greifswald erst 1765 durch eine Abspaltung von der Professur für Moral und praktische Philosophie entstanden. 1 Im Königlichschwedischen Visitationsrezeß von 1795 wurde erstmals ein zuvor heftig diskutierter Lehrplan in Gesetzesform beigefügt. 2 Er sollte den Studenten ein zügiges Studium in drei Jahren ermöglichen. Dort werden drei epochenübergreifende historische Vorlesungen aufgeführt, eine über die deutsche Reichshistorie, eine über die Geschichte der europäischen Staaten und eine über die Universalhistorie – eine aus heutiger Sicht durchaus beeindruckende Perspektive auf das Reich, Europa und die ganze Welt, die von einem einzigen Professor geleistet werden sollte. Allerdings beschränkte sich die Vermittlung des historischen Wissens bis weit in das 19. Jahrhundert auf die Weitergabe bekannter Daten und Fakten in Vorlesungen, ohne dass man von den Professoren und Studenten eigenständige Quellen- und Forschungsarbeit verlangte. 3 Eine Verwissenschaftlichung der Geschichtsschreibung und damit auch des Geschichtsstudiums setzte erst um die Mitte des 19. Jahrhunderts ein. In Greifswald ist sie mit dem Wirken von Arnold Schaefer verbunden, dem auch die Einrichtung des Historischen Seminars im Jahr 1863 zu verdanken ist. Nicht umsonst heißt es über ihn im Jahr 1870, dass es ihm

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Vgl. Ivar Seth, Die Universität Greifswald und deren Stellung in der schwedischen Kulturpolitik 1637–1815, Uppsala 1952, 237f. und die Auseinandersetzungen in der Fakultät bei Roderich Schmidt / Karl-Heinz Spieß (Hgg.), Die Matrikel der Universität Greifswald und die Dekanatsbücher der Theologischen, der Juristischen und der Philosophischen Fakultät 1700–1821. Bd. 2, Text der Dekanatsbücher, Stuttgart 2004, 930–932. Dirk Alvermann / Karl-Heinz Spieß (Hgg.), Quellen zur Verfassungsgeschichte der Universität Greifswald. Bd. 3, 1721–1815, bearb. von Sabine-Maria Weitzel und Marco PohlmannLinke, Stuttgart 2014, Nr. 77 (20.12.1795), 529–833. Michael Czolkoß, Zur Entwicklung von Professionalitätskriterien und Disziplin. Die Greifswalder Geschichtswissenschaft im Kontext des preußischen Hochschulsystems – Von den 1830er Jahren bis zur Institutsgründung 1863, Masterarbeit, Greifswald 2013, 48–93.

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gelungen sei, „sehr allmählich dem historischen Quellenstudium Eingang zu verschaffen.“ 4 Die Anfänge der historischen Wissenschaft waren demnach holprig und das gilt auch für die mittelalterliche Geschichte in Greifswald. Ich könnte meinen Beitrag leicht als Erfolgsgeschichte der Greifswalder Mediävistik gestalten, doch reizt es mich mehr, auf die Schwierigkeiten einzugehen. Ich widerstehe auch weitestgehend dem Versuch, über die wissenschaftlichen Werke zu referieren, sondern möchte mich mehr den Menschen zuwenden, die für das Mittelalter zuständig waren. Mich interessiert mehr die Person als das Werk, zumal zum letzteren schon häufiger publiziert worden ist. Weiterhin strebe ich keine Vollständigkeit des Überblicks an, d. h. nicht jeder, der mittelalterliche Geschichte in Greifswald gelehrt hat, kann genannt werden. Schließlich ist das Problem der Abgrenzung von den anderen Beiträgen zu nennen. Da Michael North die Hansegeschichte thematisiert, weil sie sowohl das Mittelalter wie auch die Frühe Neuzeit bearbeitet blende ich die Hansegeschichte weitestgehend aus. Kommen wir zurück zu dem Historischen Seminar zum Zeitpunkt der Gründung. Arnold Schaefer war als Ordinarius in althergebrachter Weise für das gesamte Gebiet der Geschichte zuständig, wenn auch mit dem Schwerpunkt auf der Alten und der Neueren Geschichte. 5 Ihm zur Seite stand seit 1858 der außerordentliche Professor für Geschichte und historische Hilfswissenschaften Carl Hopf, dessen Spezialgebiet die Kreuzfahrerherrschaften im Mittelmeerraum waren. 6 Er könnte damit als erster Mediävist in Greifswald in die Ruhmesliste des Historischen Seminars aufgenommen werden, doch zeichnete er sich durch ständige Abwesenheit in Italien und Griechenland aus. Die großzügige Förderung seiner archivalischen Forschungen hatte Hopf übrigens seiner Bekanntschaft mit Alexander von Humboldt zu verdanken. 7 In den sechs Jahren seiner Greifswalder Tätigkeit war er allein drei Jahre auf Forschungsreise, so dass die Fakultät bei seiner Wegberufung nach Königsberg 1864 spitz bemerkte: „Eine empfindliche Lücke sei durch sein Fortbleiben nicht herbeigeführt. Seine Vorlesungen figurierten nur im Lectionskatalog, diese Tatsache weiß man hier und auch anderswo.“ 8 Neben Karl Hopf vertrat auch der 1861 in Greifswald habilitierte Karl Pertz als Privatdozent die mittelalterliche Geschichte, doch trägt er trotz seines bekannten Namens auch nicht zum Ruhm der Greifswalder Historiker bei. Er war der Sohn des Historikers Georg Heinrich Pertz, der die Monumenta Germaniae Histo4 5 6 7 8

Adolf Hofmeister, Aus der Geschichte des Historischen Instituts, in: Ernst-Moritz-ArndtUniversität Greifswald (Hg.), Festschrift zur 500-Jahrfeier der Universität Greifswald. 17. 10. 1956, Bd. 2, Greifswald 1956, 92–115, hier 94. Vgl. Hofmeister, Aus der Geschichte des Historischen Instituts, 93f., Roderich Schmidt, Arnold Schaefer, Neuabdruck in: ders., Fundatio et confirmatio universitatis. Von den Anfängen deutscher Universitäten, Goldbach 1998, 349–368. Zu ihm siehe: Wolfgang Weber, Biographisches Lexikon zur Geschichtswissenschaft in Deutschland, Österreich und der Schweiz, 2. Auflage, Frankfurt a. M. 1987, 259. Vgl. Czolkoß, Zur Entwicklung von Professionalitätskriterien und Disziplin, 89 auf der Grundlage von Briefen. Hofmeister, Aus der Geschichte des Historischen Instituts, 94 (dort auch das Zitat).

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rica (MGH) in der heutigen Gestalt begründet hatte und sie jahrzehntelang auch leitete. 9 Er wollte unbedingt seinen Sohn Karl als seinen Nachfolger etablieren. In einem Brief an den Freiherrn vom Stein äußerte sich Pertz schon in diese Richtung, obwohl dieser gerade einmal drei Monate (!) alt war: „Übrigens ist der künftige Fortsetzer der Monumenta das kleine Ebenbild seines Vaters und bereitet sich durch eine feste Gesundheit, Ruhe und Besonnenheit auf seinen künftigen Beruf vor.“ 10

Er protegierte Karl entsprechend, ohne dass der Sohn die notwendigen Voraussetzungen mit sich brachte. Dank seines Vaters war er zwar Mitarbeiter bei der MGH, Bibliothekar und schließlich in Greifswald Privatdozent geworden, aber seine Lehrveranstaltungen fanden keinen Zuspruch und seine wissenschaftlichen Arbeiten wurden kritisiert. So heißt es über ihn: „Er konnte mit andauerndem Fleiße tätig sein, aber er verwandte diesen Fleiß unfruchtbar auf Nebensachen und Äußerlichkeiten; er arbeitete langsam und ohne rechten Erfolg; seine Kenntnisse blieben auch auf Gebieten, auf denen er sich jahrelang beschäftigt hatte, immer mangel- und lückenhaft, und seine mäßige und subalterne Begabung reichte nicht aus, um ihn für die wissenschaftliche Laufbahn zu befähigen, zu der ihn der Vater bestimmt hatte.“ 11

Als der Sohn 1872 einen mangelhaften Band mit Merowingerurkunden in der MGH publiziert hatte 12, stürzte der despotisch an ihm als Nachfolger festhaltende Vater und musste die MGH verlassen. 13 Nach Ablösung der sogenannten Familienuniversität, bei der das verwandtschaftliche Netzwerk eine wichtige Rolle bei der Erlangung einer Professur gespielt hatte, durch die moderne Leistungsuniversität im 19. Jahrhundert ließ sich auch die MGH nicht mehr wie ein Familienunternehmen leiten. Es hat übrigens 129 Jahre gedauert, bis Theo Kölzer 2001 eine verbesserte Edition der Merowingerurkunden in der MGH vorlegen konnte. 14 Nachfolger von Arnold Schaefer wurde als ordentlicher Professor Theodor Hirsch, während die außerordentliche Professur mit dem Schwerpunkt im Mittelalter von 1865 bis 1868 von Rudolf Usinger bekleidet wurde. 15 Aus dieser Zeit ist 9 10 11 12 13 14 15

Vgl. Horst Fuhrmann, „Sind eben alles Menschen gewesen.“ Gelehrtenleben im 19. und 20. Jahrhundert. Dargestellt am Beispiel der Monumenta Germaniae Historica und ihrer Mitarbeiter, München 1996, 29ff. Ebd., 45. Harry Bresslau, Zur Geschichte der Monumenta Germaniae historica, im Auftrag ihrer Zentraldirektion, in: Neues Archiv der Gesellschaft für ältere deutsche Geschichtskunde 42/1921, 1–769, hier 330. Georg Heinrich Pertz (Hg.), Diplomata Regum Francorum e Stirpe Merowingica (MGH, Diplomata, Bd. 1), Hannover 1872. Vgl. Theo Kölzer (Hg.), Die Urkunden der Merowinger. Erster Teil (MGH, Diplomata Regum Francorum e Stirpe Merovingica), Hannover 2001, VI. Fuhrmann, „Sind eben alles Menschen gewesen“, 45–48. Theo Kölzer (Hg.), Die Urkunden der Merowinger, 2 Bde. (MGH, Diplomata Regum Francorum e Stirpe Merovingica), Hannover 2001. Vgl. Hofmeister, Aus der Geschichte des Historischen Instituts, 95; Karl-Michael Chilcott, Das Historische Seminar Greifswalds im Zeichen des bürgerlichen Historismus (1863– 1933/45), in: Der Rektor der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald (Hg.), 125 Jahre Historisches Seminar, Sektion Geschichtswissenschaft der Ernst-Moritz-Arndt-Universität

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eine Klage über die Zustände im Historischen Seminar erhalten, die ein helles Licht auf die Unterschiede zwischen einen ordentlichen und einem außerordentlichen Professor wirft. Hirsch bezog als Ordinarius und Leiter der Universitätsbibliothek 1.700 Taler jährlich, Usinger dagegen nach mehrmaligem Betteln um Gehalterhöhung nur 700 Taler. Sie reichten nicht zum Lebensunterhalt aus, weshalb er sich verschulden musste und vor der Gehaltszahlung kein Brot mehr im Haus hatte. Hirsch dagegen kassierte als Ordinarius noch zusätzlich beträchtliche Kolleggelder und Prüfungshonorare, über die er eifersüchtig wachte. Hinzu kamen Unterschiede im Wesen – Hirsch war durchsetzungsfähig, Usinger wird als ein fast kindlich gutmütiger Mann beschrieben –, vor allem aber unterschieden sie sich im Wissenschaftsverständnis. Hirsch war ein Schulmann, zuvor als Gymnasialdirektor in Danzig tätig, der nur angelerntes Wissen schätzte, während Usinger quellenorientiert arbeiten wollte. Die Studenten gerieten zwischen beide Ansichten und suchten bei Usinger Rat, während sie zu Hirsch als Prüfer gehen mussten. Er vergab unmögliche Prüfungsaufgaben, wie z. B. „Welches nach Bruno und Thietmar die gewerblichen Zustände Deutschlands am Ende des 10. Jahrhunderts seien?“ 16 Bei beiden Chronisten ist von Gewerbe oder Handwerk überhaupt nicht die Rede! Die verfahrene Situation ließ sich nur dadurch lösen, dass Usinger Greifswald schon nach zwei Jahren verließ und nach Kiel ging; ihm folgten Carl von Norden und Bernhard Erdmannsdörfer, die ebenfalls nur sehr kurz in Greifswald blieben. 17 Eine größere Kontinuität stellt sich erst mit dem aus Dorpat berufenen Heinrich Ulmann ein, der von 1874 bis 1912, d. h. immerhin 38 Jahre eine Geschichtsprofessur innehatte. Er hatte zwar seine Dissertation über Gottfried von Viterbo in der mittelalterlichen Geschichte angesiedelt 18, verlegte aber sehr bald seinen Schwerpunkt in das beginnende 16. und in das 19. Jahrhundert. Heute noch zitiert werden seine Biographie des Franz von Sickingen und seine Geschichte Kaiser Maximilians I. 19 Sein Spätwerk war den Befreiungskriegen von 1813/14 gewidmet 20, so dass er nach heutiger Einteilung Mediävist, Frühneuzeithistoriker und Vertreter der neuesten Geschichte war. Er repräsentiert damit den im 19. Jahrhundert häufiger auftretenden Historiker, der seine quellenkritischen Fähigkeiten zuerst im Bereich des Mittelalters erprobte und sich danach der Neuzeit widmete. 21

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Greifswald 1988. Kolloquium am 29. November 1988 in Greifswald, Greifswald 1990, 17–32, hier 21–23. Vgl. Hofmeister, Aus der Geschichte des Historischen Instituts, 95–98 (Zitat: 97). Zu beiden ebd., 98–100. Heinrich Ulmann, Gotfried von Viterbo. Beitrag zur Historiographie des Mittelalters, Göttingen 1863. Ders., Franz von Sickingen: nach meistens ungedruckten Quellen, Leipzig 1872; Ders., Kaiser Maximilian I.: auf urkundlicher Grundlage dargestellt, 2 Bde., Stuttgart 1884 und 1891. Ders., Geschichte der Befreiungskriege 1813 und 1814, 2 Bde., München u. a. 1914–1915. Vgl. das Werk von Carl von Norden, Bernhard Erdmannsdörfer und: Thomas StammKuhlmann, Die Philosophische Fakultät vom Anschluss an Preußen 1815 bis zur deutschen Wiedervereinigung 1990, in: Dirk Alvermann / Karl-Heinz Spieß (Hgg.), Universität und Ge-

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Obwohl er sich mit der Frühneuzeit beschäftigte, war Ulmann für die Abteilung Mittelalterliche Geschichte zuständig, während Theodor Hirsch die Abteilungen Alte Geschichte und Geographie leitete. 22 Faktisch fehlte ein Schwerpunkt im Mittelalter. Hirsch, der nach eigenem Eingeständnis an einem geschwächten Gesichts-, Gehör- und Gliedersystem litt, hörte dennoch nicht auf, Vorlesungen zu halten. Ihn ereilte deshalb am 17. Februar 1881 mit 74 Jahren der klassische Tod eines Professors während der Vorlesung am Katheder! 23 Damals gab es noch keine Altersgrenze für Professoren, die ein solches Ausharren bis zum Schluss verhindert hätte. Eine solche mit 68 Jahren wurde erst 1921 in Preußen eingeführt. 24 Am 14. Februar 1881, d. h. drei Tage vor dem plötzlichen Tod Theodor Hirschs hatte Heinrich Ullmann einen Antrag bei der Philosophischen Fakultät eingereicht, um das Ministerium zur der Gewährung einer außerordentlichen Professor für Geschichte mit Schwerpunkt im Mittelalter und vor allem in den Historischen Hilfswissenschaften bereits für 1882 zu bewegen. 25 Das Verscheiden Hirschs, der den Antrag mit seiner Unterschrift unterstützt hatte26, machte die Notwendigkeit noch dringlicher. 27 Ullmann verweist zunächst auf die steigende Zahl von in Greifswald studierenden Fachhistorikern, die eine „allseitige Durchbildung“ erwarten, sie aber nicht erhielten. Ich gebe den Text in einer gerafften und um Verständlichkeit bemühten Form wieder: „Die glücklicheren unter unseren Fachstudenten müssen auswärts suchen, was sie hier [d. h. in Greifswald] nicht lernen können: es ist die verschwindende Minderzahl; die Mehrzahl muß aus Mangel an Mitteln ihr Studium hier vollenden, ohne diejenige Ausbildung zu erwarten, welche sie befähigt, als Archivare oder Mitarbeiter einer der zahlreichen, mit öffentlichen Mitteln arbeitenden Unternehmungen zur Herausgabe von Geschichtsquellen ihren Weg zu machen. Aber auch für die Zahl von historischen Studirenden, welche auf das Lehramt lossteuern, ist eine Kenntniß der Diplomatik, Chronologie u.s.w. unerläßlich. Meine Erfahrungen als Lehrer lassen mich unaufhörlich den Mangel dieser und anderer Kenntniße bei meinen Schülern schmerzlich auffinden, ohne daß ich im Stande wäre, Abhilfe zu gewähren. Jeder Billigdenkender, der ermisst, welche Fortschritte in der jüngsten Zeit z. B. die spezielle Diplomatik erfahren hat und fortwährend erfährt, wird zugeben, daß mehr als gewisse allgemeine Grundzüge von einem Professor nicht erwartet werden dürfen, der die beiden Disciplinen der mittleren und neueren Geschichte vertreten muß. Solche Grundzüge habe ich bisher als Einleitung der Quellenkunde vorausgeschickt: ich werde künftig darauf verzichten müssen, da gerade in der Diplomatik zur Zeit alle Grundlagen in Frage gestellt werden, so daß nur jemand, der sich diesen Zweig [d. h. die Hilfswissenschaften] mehr oder weniger zur Lebens-

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sellschaft. Festschrift zur 550-Jahrfeier der Universität Greifswald 1456–2006, Bd. 1: Die Geschichte der Fakultäten im 19. und 20. Jahrhundert, Rostock 2006, 371–480, hier 385. Vgl. Hofmeister, Aus der Geschichte des Historischen Instituts, 100. Ebd., 101. Universitätsarchiv Greifswald (im Folgenden: UAG), PA 10, Bd. 2 vom 20.01.1921 betreffend Ernst Bernheim. UAG, Phil. Fak. 261, Dekanat Schuppe 1880/81, Bd. 1. Ich danke Frau Marie Vetter für Recherchen im Universitätsarchiv und die Anfertigung von Kopien. Auf dem Antrag findet sich der handschriftliche Vermerk „Ich unterstützte diesen Antrag, Hirsch.“ Zu der durch den Tod Hirschs verursachten Neuorganisation des Historischen Seminars Hofmeister, Aus der Geschichte des Historischen Instituts, 101.

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Karl-Heinz Spieß aufgabe macht, den Wandlungen der Wissenschaft nachkommen kann. Genealogie und Paläographie werden hier gar nicht vorgetragen, so daß man sehr eigenthümliche Erfahrungen macht, wenn man einmal genöthigt ist, seinen Studirenden ältere Handschriften vorzulegen. Sollte man einem künftigen Gymnasiallehrer der Geschichte nicht den Grad von Ausbildung schuldig sein, daß er etwaige literarische oder in den Rathsarchiven geborgenen Schätze seines späteren Wohnortes auszubeuten im Stande ist? Aber auch abgesehen von den speziell so genannten Hülfswissenschaften ist die hiesige philosophische Fakultät einer weiteren historischen Kraft dringend bedürftig. Vorlesungen über Geschichte des Städtewesens, besonders der hansischen, wären gerade hier besonders am Ort. Vorlesungen über Verfassungsgeschichte werden (abgesehen vom Alterthum) nicht gehalten: der Unterzeichnete hat sich darauf beschränken müssen, das Nothwendigste in die allgemeinen historischen Verträge einzuschieben. Ueberhaupt muß ausgesprochen werden, dass die Verbindung der mittleren und neueren Geschichte in einer Hand immer schwieriger wird, ohne Unterstützung fast unausführbar geworden ist, seit hier nach und nach ein blühendes historisches Fachstudium erwachsen ist. Auf keiner preußischen Hochschule mangelt eine solche Unterstützung. Der Unterzeichnete hat mit Rücksicht auf den Umstand, daß eine so große Zahl Historiker durch äußere Verhältniße gezwungen sind, ihre Universitätsstudien hier ganz durchzuführen, es für seine Pflicht gehalten, die von ihnen vertretenen Fächer ihre ganzen chronologischen Ausdehnung nach vorzutragen. Er fühlt bei der von Tag zu Tag anschwellenden Masse neuer Quellen und Bearbeitungen mehr und mehr die Unmöglichkeit, auf dem ganzen unredlich weitem Gebiet das Detail mit dem Stand der Forschung zu vereinbaren. Es ist unthunlich die Geschichte des Mittelalters heutzutage zu beschränken auf die germanischromanische Welt: gebieterisch macht sich Forderung geltend, z. B. im Zeitalter der Kreuzzüge auch das oströmische und orientalische Material zu bewältigen. Das Arbeitsgebiet des Unterzeichneten ist hauptsächlich die neuere Geschichte. Er muß im Interesse der Sache dringend wünschen, einen Theil der bisher von ihm getragenen mittelalterlichen Arbeit auf andere Schultern zu lagern (...).“

Ich habe das Gutachten so ausführlich zitiert, weil es die zunehmende Fächerdifferenzierung vor Augen führt und die zeitlose Problematik einer gründlichen Geschichtslehrerausbildung thematisiert. Die Eingabe Ulmanns wurde erhört, so dass im August 1883 eine außerordentliche Professur für mittelalterliche Geschichte und geschichtliche Hilfswissenschaften an Ernst Bernheim verliehen werden konnte. Bernheim ist zweifellos der bekannteste Greifswalder Historiker. Über ihn existieren zahlreiche Würdigungen, das Buch von Irene Blechle behandelt ihn als „Entdecker“ der Hochschulpädagogik. 28 Mircea Ogrin hat ihm eine Biographie gewidmet 29, zudem hat Frank Möller einen eigenen Beitrag über ihn in diesem Band. Somit kann ich mich mit einigen Schlaglichtern auf den Mittelalterhistoriker begnügen, der von 1883 bis 1921, d. h. 38 Jahre in Greifswald gelehrt hat. Er wurde als Sohn eines jüdischen Hamburger Großkaufmanns geboren (1850–1942). Beide Eltern gehörten der jüdischen Freigemeinde an. Er hatte sich schon früh zum Studium der Geschichte entschlossen, das er 1868 in Berlin begann. Zu seinen Lehrern in Berlin, Heidelberg und Straßburg gehören so bekannte Namen wie Wilhelm Wattenbach (1818–1897), Leopold von Ranke (1795–1886), 28 Irene Blechle, „Entdecker“ der Hochschulpädagogik. Die Universitätsreformer Ernst Bernheim (1850–1942) und Hans Schmidkunz (1863–1934), Aachen 2002. 29 Mircea Ogrin, Ernst Bernheim (1850–1942). Historiker und Wissenschaftspolitiker im Kaiserreich und in der Weimarer Republik, Stuttgart 2012.

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Johann Gustav Droysen (1808–1884) und Julius Weizsäcker (1828–1889), der verdiente Herausgeber der deutschen Reichstagsakten. 30 Bei ihm wurde Bernheim im Alter von 23 Jahren mit einer Dissertation über „Lothar III. und das Wormser Konkordat“ 31 promoviert. In einem Brief an seine Mutter, die besorgt nach seinen Studienergebnissen gefragt hatte, teilte er ihr beruhigend mit: „Eine schwere Menge Hefte von Weisheit habe ich zusammengeschrieben, Logik studiert, Kant geochst, Karls des Großen Thaten und Streiche im Urtext gelesen, Jurisprudenz getrieben; kurz es ist ganz evident, wie fleißig ich war.“ 32

Fleißig war Bernheim auch weiterhin, denn nur zwei Jahre nach der Promotion erfolgte 1875 die Habilitation in Göttingen mit einer Arbeit über den Traktat De investitura episcoporum, der im Investiturstreit entstanden ist. Es folgten wirtschaftlich angespannte acht Jahre als Privatdozent, bis ihn schließlich 1883 der Ruf nach Greifswald von allen Ängsten erlöste. Seinem Lehrer Weizsäcker gegenüber machte er seiner Erleichterung darüber keinen Hehl: „(…) Sie können sich vielleicht vorstellen, wie ich aufathme, aus dem niederziehenden Sumpf verlängerten Privatdozenthums herauszukommen!“ 33 In den acht Jahren der Privatdozentenzeit hatte Bernheim aber auch schöne Erlebnisse gehabt, denn er durfte im Auftrag der Deutschen Reichstagsakten eine Archivreise nach Italien unternehmen. In Lucca schrieb er folgende Zeilen nach Hause. Die Stadt ist „(…) ein kleines Florenz, aber mittelalterlicher durchweg und gemütlicher. Der Wall ist geradezu herrlich. Da legte ich mich häufig an einer schönen Stelle lang unter die Bäume in das nach Thymian duftende Gras und so wurde aus dem zusammengeknautschen Scribifax förmlich merklich ein vernünftiger Mensch (…).“ 34

In Greifswald wurde Ernst Bernheim freundlich aufgenommen, wie er selbst in einem Brief an seinen Kollegen Karl Lamprecht mitteilt: „Ich habe meine Collegien mit erfreulichen Theilnahme begonnen, und es behagt mir bis jetzt ungemein in dieser pommerschen Luft. Der ganze Ton der Universitätskreise ist hier ein natürlicherer als in Göttingen, die meisten Collegen sind mir sympathisch, und ich finde auch die Bibliothek besser als ihr Ruf ist.“ 35

Da Bernheim seine Lehrveranstaltungen und deren Besuch erwähnt, seien ein paar Worte zu dieser Materie angefügt. Bernheim hielt wie die anderen Kollegen auch eine öffentliche Vorlesung ab, zu der alle Studenten, auch aus anderen Fächern, Zutritt hatten. Daneben gab es die Übungen, die privatim waren und für die Hör-

30 Vgl. ebd., 20ff. 31 Ernst Bernheim, Lothar III. und das Wormser Konkordat (Dissertation), Straßburg 1873 (veröffentlicht 1874). 32 Ogrin, Ernst Bernheim, 23. 33 Ebd., 35. Nachlass Quidde, Briefe Bernheims, Nr. 18. 34 Ebd., S. 29. Nachlass Bernheim, Nr. 78, 36. 35 Ebd., 40.

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geld bezahlt werden musste. 36 Sie waren nur von wenigen Studenten besucht, zumal im Historischen Seminar anfangs nur sechs Studenten zugelassen waren. In der von Bernheim geleiteten Abteilung Hilfswissenschaften sind in den 17 Jahren bis zur Jahrhundertwende höchstens zehn, meist nur drei bis fünf Teilnehmer aufgeführt. 37 So heißt es in dem Bericht für das Jahr 1894/95 folgendermaßen: „In der unter Leitung des Professor Bernheim stehenden Abtheilung wurden im Sommersemester 1894 mit einem Zuhörer die wichtigsten Reichsgesetze Deutschlands durchgearbeitet, im Wintersemester 1984/95 mit zwei Theilnehmern die Annalen Lamperts von Hersfeld einer kritischen Erörterung unterzogen.“ 38

Nach 1900 stiegen die Zahlen der Studenten im Historischen Seminar an, aber Greifswald hatte insgesamt nur 1.000 Studenten, Berlin dagegen 10.000. Bernheim sah angesichts dieser Zahlen die Gefahr einer mangelhaften Betreuung der Studenten und veröffentlichte 1912 eine Schrift mit dem Titel Das Persönliche im akademischen Unterricht und die unverhältnismäßige Frequenz unserer Universitäten. 39 Seiner Meinung nach hätten die Studenten selber eingesehen, „daß der Arbeitsunterricht die förderlichste Art der wissenschaftlichen Ausbildung sei, und drängen so unwiderstehlich auf Teilnahme an den Seminaren, daß die Überfüllung derselben eine chronische Erscheinung geworden ist. Wie verhält man sich nun zu dieser völlig veränderten Situation? Nur wenige Dozenten entschließen sich allerdings, einfach die Tür zuzumachen, wenn die alte Normalzahl von zehn bis zwanzig Auserwählten aufgenommen ist. Das ist wenigstens konsequent. Rechtfertigen läßt es sich wohl nur, wenn man darauf rechnen darf, daß die ausgeschlossenen Adepten von anderen Kollegen versorgt werden. Es kann das sogar auf eine recht nützliche Organisation führen (…): die Scheidung in Proseminar der Unterstufe und Seminar der Oberstufe.“ 40

Die Einrichtung des Historischen Seminars mit bis zu sechs Studenten hatte das reine Vorlesungshören durch Quellenarbeit abgelöst, stieß aber jetzt an seine organisatorischen Grenzen. Es gab ja noch keine Kopiergeräte, so dass man eine größere Zahl von Studenten mit den Quellen hätte versorgen können, die gemeinsam interpretiert werden sollten. Wie man sieht, ist die derzeitig immer noch praktizierte Zweiteilung in ein Proseminar und ein Hauptseminar oder in ein Basisund Aufbaumodul aus der Sicht des 19. Jahrhunderts, das von dem Ideal der individuell betreuten Kleingruppe ausging, schon eine Notlösung. Wozu die großen Zahlen führten, beschreibt Bernheim mit Worten, die jeden heutigen Hochschullehrer ebenfalls auf der Zunge liegen: „Da sitzt auf den vorde36 So kündigte der neuberufene Bernheim in einem Schreiben vom 23.09.1883 eine zweistündige öffentliche Vorlesung „Uebungen auf dem Gebiet der historischen Hilfswissenschaften“ und ein vierstündiges Privatkolleg über „Geschichte des Papstthums“ für das Wintersemester an. 37 Siehe die Aufstellung bei Hofmeister, Aus der Geschichte des Historischen Instituts, 109f. 38 Chronik der Königlichen Universität Greifswald für das Jahr 1894/95, hg. von Eduard Koschwitz, Greifswald 1895, 23. UAG, Phil. Fak. 281. 39 Ernst Bernheim, Die ungenügende Ausdrucksfähigkeit der Studierenden. Das Persönliche im akademischen Unterricht und die unverhältnißmäßige Frequenz unserer Universitäten. Zwei Vorträge, Leipzig 1912. 40 Ebd., 62.

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ren Bänken das auserwählte Häuflein der Aktiven“ und die große Masse sitzt dahinter und hört zu. „Die Leute sitzen im eigentlichsten Sinne des Wortes inaktiv da; was sie lernen, ist schädlicher als nichts: in müssiger Lethargie die Zeit vergeuden, falls sie es nicht vorziehen, allmählich zu verschwinden.“ 41

Bernheim stehen bei der Schilderung dieser Zustände die Großstadtuniversitäten vor Augen, von denen die Studenten nach Greifswald kämen, weil sie in der Massenuniversität „keine Möglichkeit sehen, sich ihren Dozenten zu nähern, ein Eingehen auf ihre persönlichen Studieninteressen zu finden. Wir an den kleinen Orten können dem entsprechen und tun es möglichst uneingeschränkt; das ist kein sonderlicher Verdienst von uns, die kleineren Verhältnisse erlauben es uns eben.“ 42

Bernheim erkannte nicht nur hellsichtig die Fehler im akademischen Betrieb, sondern äußerte sich auch kritisch über die Leistungen der Studenten. Seine Schrift Die ungenügende Ausdrucksfähigkeit der Studierenden geißelt deren mangelnde Beherrschung ihrer Muttersprache, und beklagt deren Begriffsstutzigkeit und mangelnde logische Schulung. 43 Er betont, es handele sich um ein weitverbreitetes Problem, um dem Eindruck entgegenzuwirken, „wir hätten da unten in Pommern ein ganz besonders mißratenes Gewächs von Studiosen.“ 44 Bernheim begnügte sich jedoch nicht mit der Kritik am System und den Studierenden, sondern machte auch konstruktive Vorschläge. Seine 1909 bereits in 3. Auflage erschienene Schrift über Das akademische Studium der Geschichtswissenschaft enthält Interpretationsübungen für das Wormser Konkordat oder die Werke Ottos von Freising, die ich rückhaltlos für die heutigen Proseminare empfehlen könnte. Allerdings setzen sie einen Umstand voraus, der heute nicht mehr gegeben ist, nämlich eine so gute Kenntnis des Lateins, dass die Studierenden die Texte ohne Wörterbuch übersetzen können. Da Frank Möller noch einen eigenen Beitrag zu Bernheims Hochschulpädagogik beisteuert, möchte ich jetzt einen kurzen Blick auf den Mittelalterhistoriker Bernheim werfen. Schwerpunkte seines Schaffens waren das Wormser Konkordat von 1122 45, die Werke Ottos von Freising 46 und Die mittelalterlichen Zeitanschauungen in ihrem Einfluss auf Politik und Geschichtsschreibung, so der Titel des 1918 erschienenen Buches. 47

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Ebd., 63. Ebd., 69. Ebd., 19. Ebd., 10. Ernst Bernheim, Das akademische Studium der Geschichtswissenschaft, Greifswald 1909, 25–35 und 50–60. 46 Ders., Der Charakter Ottos von Freising und seiner Werke, in: Mittheilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung VI/1885, 1–51. 47 Ders., Mittelalterliche Zeitanschauungen in ihrem Einfluss auf Politik und Geschichtsschreibung, Tübingen 1918 (Neudruck: Aalen 1964).

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Es geht Bernheim darum, die Gedanken- und Geisteswelt der mittelalterlichen Autoren zu erfassen und die von diesen verwendeten Begriffe in ihrem mittelalterlichen Bedeutungsgehalt zu erkennen, wie z. B. Pax, Regnum, Sacerdotium usw. Für diesen begriffsgeschichtlichen Ansatz bedürfe der Fachhistoriker der Ergänzung durch die Wirtschafts- und Kulturgeschichte, aber auch der Geschichtsphilosophie, womit Bernheim als ein Vorkämpfer für interdisziplinäres Forschen angesehen werden darf. 48 Ich schließe das Kapitel Bernheim mit einigen Hinweisen zum persönlichen Schicksal. Er hatte nach Erlangung der Professur in Greifswald 1886 die evangelisch getaufte Amalie Jessen geheiratet und war kurz danach von der jüdischen Konfession zur evangelischen übergetreten. Aus der Ehe gingen fünf Kinder hervor, von denen eines im Kindesalter gestorben war. Die Tochter blieb unverheiratet und lebte im Haushalt der Eltern, die drei Söhne waren Rechtsanwalt, Studienrat und Arzt in Stolp, Demmin und Anklam. 49 1921 wurde Bernheim emeritiert, genoss aber weiterhin größtes Ansehen in der internationalen und deutschen Wissenschaft, aber auch an der Greifswalder Universität, deren Rektor er 1899/1900 gewesen war. Mit dem Ansehen war es vorbei, als die Nationalsozialisten alle Deutschen jüdischer Abstammung verfolgten, auch wenn diese schon lange evangelisch waren. In einer flammenden Eingabe wandte sich sein ältester Sohn 1937 gegen den drohenden Entzug des Reichsbürgerrechts, auch wenn das für den 87jährigen Bernheim praktisch nur den Entzug des Wahlrechts und das Recht zum Hissen der Reichsflagge mit sich gebracht hätte. Er schildert seinen Vater „als deutschesten unter deutschen Männern“, der seine Tätigkeit als Universitätslehrer der deutschen Geschichte stets mit dem Ziel ausgeübt habe, „seine Schüler und Hörer zu nationalen deutschen Männern heranzubilden.“ Politisch habe sein Vater der Nationalliberalen und später der Deutschen Volkspartei angehört und sich im Wort und Schrift „ganz zum deutschvaterländischen Nationalbewusstsein bekannt.“ 50 Die Philosophische Fakultät unterstützte in einem Gutachten vom 9. März 1937 die Eingabe mit dem Zusatz, Bernheim habe keiner Loge angehört und sich auch sonst von dem so verbreiteten jüdischen Cliquenwesen ferngehalten. Das Gutachten schließt mit folgenden Sätzen: „Auf jeden Fall gehört Geheimrat Bernheim, der übrigens Matthias Claudius zu seinen Vorfahren zählt, zu den recht seltenen Ausnahmen, in denen unter dem Einfluss einer arischen Frau das jüdische Erbgut eine starke Zurückdrängung erfahren hat, so dass ein Aufgehen der Familie im deutschen Volkstum zwangsläufig erfolgen muss. Bemerkenswert ist ferne die Tatsache, dass keinerlei jüdische Verwandtschaft mehr vorhanden ist.“ 51

1940 fragte die Philosophische Fakultät bei dem Reichsministerium Rust in Berlin an, „ob ein Glückwunsch der Fakultät zum 90. Geburtstag von Bernheim ange48 Zu diesem Werk vgl. auch Ogrin, Ernst Bernheim, 81. 49 Vgl. Ebd., 41f. und eine Eingabe des ältesten Sohnes an den Reichsinnenminister. UAG, PA 10, Bd. 1 (undatiert, kurz vor dem 87. Geburtstag geschrieben, d. h. vor 19.02.1937). 50 Blechle, „Entdecker“ der Hochschulpädagogik, 467. 51 Ebd., 471.

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zeigt sei, obwohl er kein Arier ist.“ 52 Wenn auch das Ministerium gnädig einem Glückwunsch zustimmte, gab es nach dem bald darauf erfolgten Tod Bernheims erneut Probleme, weil man die Beisetzung seiner Asche auf dem städtischen Friedhof wegen seiner jüdischen Herkunft verweigerte. 53 Wieder bedurfte es einer Eingabe seiner Familie und der Philosophischen Fakultät, bis Ernst Bernheim über ein Jahr nach seinem Tod dort seine letzte Ruhe finden konnte. Bevor wir auf seinen Nachfolger auf dem Mittelalterlehrstuhl Adolf Hofmeister zu sprechen kommen, ist zunächst auf den 1874 geborenen Fritz Curschmann einzugehen. 54 Er wurde in Leipzig von Karl Lamprecht im Jahr 1890 mit einer Dissertation über „Hungersnöte im Mittelalter“ promoviert, eine Arbeit, die bis heute ihren Wert als Überblicks- und Quellenwerk besitzt. 55 1905 erfolgte die Habilitation in Greifswald mit der Schrift Die Diözese Brandenburg. Untersuchungen zur historischen Geographie und Verfassungsgeschichte eines ostdeutschen Kolonialbistums. 56 Seine Lehrveranstaltungen in Greifswald betreffen das Spätmittelalter, die Historischen Hilfswissenschaften, die Geschichte Pommerns und die Siedlungsgeschichte. 57 1919 wurde er zum außerordentlichen, 1928 zum ordentlichen Professor ernannt. Da sich sein Schwerpunkt zur historischen Geographie verlagerte, erreichte er 1926 die Gründung einer eigenen Historisch-Geographischen Abteilung des Historischen Instituts. Diese Abteilung bestand auch noch unter Curschmanns Nachfolger Friedrich Mager, wurde aber 1951 aus dem Historischen Institut ausgelagert und mit dem Geographischen Institut vereinigt. 58 Curschmann erlangte internationale Anerkennung als Wegbereiter der noch jungen Disziplin „Historische Geographie“ mit dem Schwerpunkt Mittelalter. In der Landesgeschichte sind seine Arbeiten zum Historischen Atlas von Pommern grundlegend. Die Unterlagen im hiesigen Universitätsarchiv erlauben es, auch einige persönliche Facetten von Curschmann aufzuzeigen. So heißt es von ihm: 52 UAG, PA 10, Bd. 2 vom 3.02.1940. Die Zustimmung ging per Schnellbrief am 14.02. in Berlin ab und erreichte den Kurator am 19.02., d. h. am Geburtstag Bernheims. 53 Bernheim starb am 3.03.1942; seine Asche wurde laut Schreiben des Greifswalder Oberbürgermeisters vom 25.08.1943 am 22.07.1943 beigesetzt. UAG, PA 10, Bd. 2. Vgl. auch Ogrin, Ernst Bernheim, 101–103. 54 Zu ihm Hofmeister, Aus der Geschichte des Historischen Instituts, 106f.; Heinrich F. Curschmann, Das Historisch-Geographische Seminar in Greifswald von 1926–1940, in: Ivo Asmus / Haik Thomas Porada / Dirk Schleinert (Hgg.), Geographische und historische Beiträge zur Landeskunde Pommerns: Eginhard Wegner zum 80. Geburtstag, Schwerin 1998, 35–39 55 Fritz Curschmann, Hungersnöte im Mittelalter Ein Beitrag zur deutschen Wirtschaftsgeschichte des 8. bis 13. Jahrhunderts, Leipzig 1900. 56 Ders., Die Diözese Brandenburg. Untersuchungen zur historischen Geographie und Verfassungsgeschichte eines ostdeutschen Kolonialbistums, Leipzig 1906. 57 UAG, Phil. Fak. 312, Übersicht über die Anzahl der Hörer bei Herrn Privatdozent Dr. Curschmann vom Sommersemester 1905 bis Wintersemester 1908/09. Die öffentliche Vorlesung über die Geschichte Pommerns von den Anfängen bis 1815 wurde von 56 Hörern besucht, ansonsten liegen die Zahlen bei rund 20. 58 Hofmeister, Aus der Geschichte des Historischen Instituts, 106f.; Curschmann, Das Historisch-Geographische Seminar, 35–39.

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Karl-Heinz Spieß „Curschmann war rein äußerlich eine gute und imponierende Erscheinung, von schlanker, sportlicher Figur, der man den Offizier ansah. Den körperlichen Ausgleich für seine wissenschaftliche Arbeit schuf er sich dadurch, daß er regelmäßig und bei jedem Wetter den Weg von seinem Haus zum Seminar mehrmals täglich mit dem Fahrrad zurücklegte. Im Sommer fuhr er vor Arbeitsbeginn frühmorgens an die Ostsee, schwamm eine erhebliche Strecke und kehrte dann erfrischt zurück, womit er manche seiner nicht so sportlichen Studenten beschämte.“ 59

Als Familienvater mit vier Kindern befand er sich bis zur Ernennung zum ordentlichen Professor in einer finanziell schwierigen Lage, die er in seiner Bitte um Gehaltsaufbesserung aus dem Jahr 1929 deutlich schildert: „So habe ich als regelmäßige Einnahme nicht mehr als mein Extraordinariengehalt, das nach Abzug der Steuern im Monat bisher etwa 750 Mark betragen hat und sich von jetzt an auf 780 RM erhöhen wird. Hiervon soll eine Familie von 6 Köpfen, Eltern und vier Kindern im Alter von 19, 17, 15 und 10 Jahren, von denen die drei ältesten schon in den teueren Ausbildungsjahren stehen, unterhalten werden. Das hat sich unter den Lebensverhältnissen, unter denen ein Professor nun einmal lebt, schon im vergangenen Jahre als unmöglich erwiesen und die Jahreswende mit ihren unvermeidlich erhöhten Aufwendungen hat es uns von neuem erschreckend vor Augen geführt, wie die Einnahmen und die unvermeidlichen Ausgaben nicht im Einklang zu bringen sind. Auf jede Weise haben wir schon versucht, die Kosten für die Lebenshaltung unserer Familie zu beschränken: gemeinsame Veranstaltungen der Universität machen wir nicht mit, von der einfachsten Geselligkeit, wie sie in unseren Kreisen üblich ist, haben wir uns fast ganz zurückgezogen, die Vermehrung meiner wissenschaftlichen Bibliothek habe ich seit Jahren aufgeben müssen. Weiter lässt sich nur noch sparen an den für notwendig erkannten Aufwendungen für die Erziehung und Ausbildung der Kinder. Das ist aber wohl das Bitterste, was man Eltern zumuten kann.“ 60

Aus diesen Worten wird verständlich, warum Curschmann im Jahr 1931 hartnäckig um 200 Reichsmark Reisegeld kämpfte, die ihm die Teilnahme an einem Kongress in Budapest ermöglichen sollten. 61 Der Universitätskurator, also der heutige Kanzler, versah die Ablehnung des dritten Gesuchs mit folgender Bemerkung: „Ich bin seit drei Jahren gewohnt, daß Professor Curschmann alle paar Monate mit ganz ungewöhnlich starken Worten mir vorträgt, welch überragende Bedeutung gerade sein Fach, sein Seminar, seine persönliche Arbeit haben. Bin weiter gewohnt, daß er – mit einem seiner häufigen Wünsche abgewiesen – stets zweimal oder dreimal mit demselben Anliegen wiederkommt. So hat sein Votum bei mir seine Überzeugungskraft verloren.“ 62

59 Werner v. Schulmann, Fritz Curschmann (1874–1946) und die historisch-geographische Forschung an der Universität Greifswald, in: Baltische Studien N.F. 60/1974, 127–133, hier 128. 60 UAG, Abschrift vom 3.02.1929. 61 UAG, PA 274, Bd. 3. Es handelt sich um eine Sitzung des Gesamtvorstandes des Internationalen Ausschusses, zu der Curschmann als Vorsitzender des Unterausschusses für Historische Geographie geladen war. Das Treffen sollte den Internationalen Historikerkongress 1933 in Warschau vorbereiten. Das erste Gesuch stammt vom 7.02.1931. Die Sitzung sollte in der Woche nach Pfingsten stattfinden. 62 UAG, PA 274, Bd. 3 vom 25.04.1931. In der ersten Ablehnung vom 19.02.1931 hieß es: „Ich glaube nicht, daß die historische Geographie ein so wichtiger Wissenschaftszweig ist, daß es

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Jeder, der die Universität kennt, weiß wie zeitlos dieses Ringen zwischen einer nüchternen Universitätsverwaltung mit einem von seiner Bedeutung überaus überzeugten Professor ist. Eine professorale Übergenauigkeit zeigte Curschmann beim Ausfüllen des berüchtigten Ariernachweises im Jahr 1935 und stellte sich damit selbst ein Bein. Die entscheidende Frage im Formblatt „Stammen Sie von nichtarischen, insbesondere jüdischen Eltern oder Großeltern ab?“ beantwortete er nicht einfach mit nein, wie es offenbar durchaus möglich gewesen wäre, sondern fügte einen Zusatz an: „Die Beantwortung der Frage 3 a kann verschieden ausfallen, je nach dem sie zu verstehen ist. Soll sie eine Zusammenfassung der folgenden Einzelangaben sein, so wäre gemäß dem neuen Staatsbürgergesetz und seiner ersten Ausführungsbestimmung, die grundsätzlich Nachforschungen über die Großeltern hinaus untersagen, mit nein zu beantworten. Handelt es sich um eine gewissermaßen historische Auskunft, dahingehend, ob ich weiß oder glaube, daß unter meinen Vorfahren auch nichtarische Persönlichkeiten wären, so kann ich nicht so kurz, mit einen Worte antworten: Mit Sicherheit weiß ich, daß die Eltern meiner mütterlichen Großmutter Christen waren, ihre mütterlichen Großeltern aber sich zur mosaischen Religion bekannt haben. Über ihre väterlichen Vorfahren habe ich trotz mancherlei Nachforschungen in früheren Jahren nicht das Geringste feststellen können und vermag daher auch über ihre Rassenzugehörigkeit und Religion Sicheres nicht auszusagen.“ 63

Mit seinen allzu gründlichen Recherchen über die geforderten Großeltern hinaus bis zu den Ur-Urgroßeltern setzte sich Curschmann der Willkür der Nationalsozialisten aus. 1936 wurde ihm als Mischling zweiten Grades die Prüfungserlaubnis entzogen, 1939 wurde er zwangsemeritiert. Nach dem Ende des Dritten Reiches wurde er zwar 1945 wieder in seine Rechte eingesetzt, doch starb er bald darauf im Jahr 1946. 64 Kehren wir zurück in das Jahr 1921 und kommen wir zur Nachfolge Ernst Bernheims. Auf den Berufungsvorschlag der Philosophischen Fakultät stand an erster Stelle Fritz Curschmann, an zweiter Bernhard Schmeidler und erst an dritter Adolf Hofmeister, dem bescheinigt wurde, dass er an Reinheit und Tiefe der Auffassung hinter Schmeidler zurückstehe, diesen aber an Vielseitigkeit und Zahl der Veröffentlichungen sehr überträfe. 65 Wie Adolf Hofmeister von außen eingeschätzt wurde, belegt das Votum von Paul Kehr, der vom preußischen Kultusministerium um seine Einschätzung gebeten worden war:

sich empfiehlt, Professor Curschmann auf Staatskosten zu internationalen Tagungen zu entsenden.“ Schließlich zahlte der Ausschuss selbst die Reisekosten (Schreiben vom 8.05.1931). 63 UAG, PA 274, Bd. 3 vom 5.01.1935. 64 Vgl. Maud Antonia Viehberg, Restriktionen gegen Greifswalder Hochschullehrer im Nationalsozialismus, in: Werner Buchholz (Hg.), Die Universität Greifswald und die deutsche Hochschullandschaft im 19. und 20. Jahrhundert. Kolloquium des Lehrstuhls für Pommersche Geschichte der Universität Greifswald in Verbindung mit der Gesellschaft für Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte am 13. und 14. März 2003 in Greifswald, Stuttgart 2004, 271–307, hier 279–284. 65 UAG, PA 221, Bd. 1 vom 22.02.1921.

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Karl-Heinz Spieß „Hofmeister ist in seiner Art ein Ausläufer der Waitzschen Schule und der MonumentaTradition, an deren Erhaltung der historischen Wissenschaft und auch dem akademischen Betrieb viel liegen müßte. Damit ist auch schon gesagt, daß er kein synthetischer Kopf ist, kein Denker, kein Mann von Horizont. Also der geborene Professor an einer mittleren Universität.“ 66

Hofmeister erhielt trotz oder auch gerade wegen dieser nicht gerade schmeichelhaften Empfehlung den Ruf und wirkte bis 1954, d. h. 33 Jahre als Mittelalterhistoriker an unserer Universität. Er war 1905 in Berlin mit einer Dissertation über „Markgrafen und Markgrafschaften im italischen Königsreich in der Zeit von Karl dem Großen bis auf Otto den Großen (774–962)“ promoviert worden 67 und hatte sich 1909 mit Studien über den Bildungsweg Ottos von Freising habilitiert. 68 Sein bleibendes Verdienst sind die MGH-Editionen der Chronik Ottos von Freising und Ottos von St. Blasien, die Edition der Prüfeninger Vita Ottos von Bamberg sowie seine Schriften zur Genealogie des pommerschen Herzogshauses, zur geschichtlichen Stellung der Universität Greifswald und zum Kampf um die Ostsee vom 9. bis 12. Jahrhundert. 69 Im Sinne der von Paul Kehr in seinem Gutachten angesprochenen Monumenta-Tradition hat Hofmeister in Forschung und Lehre zeitlebens das akribische Quellenstudium an die erste Stelle gesetzt. Er wollte den Studierenden vornehmlich das Handwerkszeug des Historikers vermitteln, nämlich Paläographie, Chronologie, Genealogie und Quellenkunde. 70 Wie Paul Kehr erkannt hatte, war er kein synthetischer Kopf, sondern ein eher trockener Hilfswissenschaftler im besten Sinne des Wortes. Selbst sein Schüler Roderich Schmidt, der seinen Lehrer sehr verehrte, sagte über ihn:

66 Fuhrmann, „Sind eben alles Menschen gewesen“, 94. 67 Adolf Hofmeister, Markgrafen und Markgrafschaften im italischen Königreich in der Zeit von Karl dem Großen bis auf Otto den Großen (774–962): Allgemeiner Teil, Kap. 1–3, Innsbruck 1905 (Diss. Phil.), Berlin 1905. 68 Ders., Studien über Otto von Freising, in: Neues Archiv für der Gesellschaft für ältere deutsche Geschichtskunde 37/1912, 99–161 und 633–768. 69 Ders. (Hg.), Ottonis episcopi Frisingensis Chronica sive Historia de duabus civitatibus (MGH, SS rer. Germ., Bd. 45), Hannover 1912; Ders. (Hg.), Ottonis de Sancto Blasio Chronica. Accedunt ex chronica universali Turicensi excerpta (MGH, SS rer. Germ., Bd. 53), Hannover 1912; Ders., Das Leben des Bischofs Otto von Bamberg von einem Prüfeninger Mönch, Leipzig 1928; Ders., Genealogische Untersuchungen zur Geschichte des pommerschen Herzogshauses, Greifswald 1938; Ders., Die geschichtliche Stellung der Universität Greifswald, Greifswald 1932; Ders., Der Kampf um die Ostsee vom 9. bis 12. Jahrhundert, Greifswald 1931. Siehe über ihn auch: Ursula Scheil (Hg.), Festschrift Adolf Hofmeister zum 70. Geburtstage am 9. August 1953 dargebracht von seinen Schülern, Freunden und Fachgenossen, Halle (Saale) 1955. 70 Vgl. Johannes Schildhauer, 100 Jahre Historisches Institut Greifswald, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald, Gesellschafts- und Sprachwissenschaftliche Reihe 14/1965, 181–192.

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„Es war eine harte Schule, die er seinen Schülern angedeihen ließ. Die gleiche Entsagung, den gleichen Fleiß und das gleiche Streben nach Erkenntnis der Wahrheit sine ira et studio, die für ihn kennzeichnend waren, forderte er auch von ihnen.“ 71

Wesentlich kritischer sind universitätsinterne Charakterisierungen Hofmeisters. So schrieb der Universitätskurator 1946: „Hofmeisters Arbeiten und Lektionen sind gründlich in ihrer Quellenkenntnis, wirken jedoch wegen ihrer trockenen Aufzählung der Daten und der zu geringen inneren Beziehungen und Rückschlüsse langweilig.“ Der Kurator führt fort: „Ähnlich ist das persönliche und politische Verhalten von Prof. Hofmeister. Er ist allgemein als pedantischer, engherziger Bürger angesehen, der ein wenig schrullige Manieren hat. Politisch ist Prof. Hofmeister nie hervorgetreten. Er steht auf dem Standpunkt, Wissenschaftler seien (?) Demokraten aus ‚Weltanschauung‘, was sich bei ihm nur in kritischer Ablehnung der bestehenden Verhältnisse äußert.“

Selbst ein langes Wirken in Greifswald wurde gegen ihn ausgelegt: „Bezeichnend für den Grad innerer Aktivität, unter Umständen auch für seinen Beruf als Wissenschaftler, ist das bedenklich lange zurückliegende Datum der Berufung nach Greifswald. In den meisten Fällen wurde Greifswald von Wissenschaftlern mit Rang und Namen bestenfalls als Sprungbrett, nie als Lebensziel aufgefasst.“ 72

Der Dekan bestätigte die akribische Quellenarbeit und fügte hinzu „Politisch, insbesondere parteipolitisch, hat er sich nie betätigt. Seine Einstellung ist hier wie überall je und je die eines alle Faktoren sorgsam abwägenden maßvollen Historikers gewesen“,

was den Kurator zu dem Zusatz veranlasste, „Die Charakteristik über Professor Dr. Hofmeister spricht für sich. Seine Nichtmitgliedschaft zur NSDAP rührt nach dem letzten Absatz der Charakteristik daher, daß er wie überall je und je ein alle Faktoren sorgsam abwägender maßvoller Historiker gewesen ist, was zu gut deutsch heißt, daß vor lauter Wissenschaft eine Stellungnahme zum Leben nicht mehr erfolgen konnte.“ 73

Wie man sieht, konnte alles gegen Hofmeister gewendet werden, sei es sein langes Wirken in Greifswald, sei es seine Nichtzugehörigkeit zur NSDAP. Es ist in der Tat wohl die unpolitische Hinwendung zum Studium der mittelalterlichen Quellen gewesen, die Hofmeister die Lehre in der Weimarer Republik, im Dritten Reich und in der DDR ermöglichte. Nach 1945 sorgte er als einziger am Institut verbliebener Professor für personelle Kontinuität und ermöglichte durch seinen persönlichen Einsatz die Aufrechterhaltung des Historischen Instituts, wie die DDR-Regierung bei seiner Emeritierung 1954 feststellte. Staatssekretär Prof. Dr. Gerhard Harig schrieb am 8.07.1954 anlässlich der Emeritierung Hofmeisters: 71 Roderich Schmidt, Adolf Hofmeister zum Gedächtnis, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald, Gesellschafts- und sprachwissenschaftliche Reihe 6/1956–57, 121–123. 72 UAG, PA 221, Bd. 4. 73 UAG, PA 221, Bd. 4, nur die letztgenannte Bemerkung des Kurators Wolf ist datiert und zuvor auf den 24.11.1946.

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Karl-Heinz Spieß „Nach der Zerschlagung des Hitlerfaschismus durch die ruhmreiche Rote Armee stellten Sie sich ohne Zögern dem Wiederaufbau der Universität Greifswald als einer Pflegestätte wahrhaft humanistischer und patriotischer Wissenschaft zur Verfügung und ermöglichten durch Ihren persönlichen Einsatz die Aufrechterhaltung des Historischen Instituts.“ 74

Die lobenden Worte im Emeritierungsschreiben täuschen, denn spätestens seit 1950 war man nicht mehr mit dem bürgerlichen Historiker Hofmeister zufrieden. Konrad Fritze äußerte sich 1988 anlässlich der 125-Jahrfeier des Instituts kritisch: „Die Themen, die Adolf Hofmeister in seinen Seminaren bearbeiten ließ, hielten sich durchweg im Rahmen der traditionellen bürgerlichen deutschen Geschichtswissenschaft – und ebenso die Themen der von ihm nach 1945 angeregten und betreuten Dissertationen (...). Eine neue, die marxistisch-leninistische Geschichtsauffassung und die Forderung nach anderen (…) Lehrformen und Ausbildungsmethoden wurden in das damalige Historische Seminar ausschließlich von außen und von unten hineingetragen.“ 75

Was das „von unten“ bedeutete, illustriert ein Schreiben der FDJ vom 30. November 1950: „Uns ist allen bekannt, daß ein Professor die Geschichte des Mittelalters liest und dabei die Genealogie der Fürstenhäuser überbetont. (…) Es ist klar, daß wir den alten Professor nicht mehr zum historischen Materialisten erziehen können. Was wir tun müssen, ist so schnell wie möglich einen guten Dozenten für Neuere Geschichte einzusetzen, der konsequent auf dem Boden des dialektischen Materialismus steht.“ 76

Die Kritik aus der Universität blies 1950 in dasselbe Horn: „Prof. Hofmeister hält sich als Historiker für einen unpolitischen Menschen, der sein Lebensziel darin sieht, die Genealogien der Grafen und Fürsten des Mittelalters zu analysieren. Fortschrittlichen Ideen steht er sehr abwartend und vorsichtig gegenüber und äußert oft Bedenken, ist aber keine Kämpfernatur und fügt sich in entscheidenden Fragen der Mehrheit. Als Lehrer wirkt er auf die Studierenden in politischer Hinsicht rückschrittlich.“ 77

Immerhin ließ man Hofmeister bis zu seiner Emeritierung 1954/55 weiter lehren. Kurz danach verstarb er am 7. April 1956. Jetzt war die letzte Hürde vor der Einführung des Marxismus-Leninismus gefallen. Johannes Schildhauer, seit 1952 Dozent am Historischen Institut, habilitierte sich 1957 und wurde 1958 Professor für mittlere und neuere Geschichte sowie Institutsdirektor. 78 Als Schüler von Adolf Hofmeister war er – obwohl seit 1946 Parteigenosse – 1949 mit dem durch74 UAG, PA 221, Bd. 3. 75 Konrad Fritze, Vom Historischen Seminar zur Sektion Geschichtswissenschaft 1945–1988, in: Der Rektor der Ernst-Moritz-Arndt Universität Greifswald (Hg.), 125 Jahre Historisches Seminar, 45–64, hier 46. 76 UAG, PA 221, Bd. 2. Die Kritik an der bürgerlichen Geschichtswissenschaft betraf auch Roderich Schmidt, den Assistenten Hofmeisters. Aufgrund der Anfeindungen verließ er 1958 Greifswald. Vgl. Roderich Schmidt, In diesem Hause fing alles an – Momente der Erinnerung an die alma mater Gryphiswaldensis, in: Der Rektor der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald (Hg.), „In diesem Haus fing alles an.“ Goldenes Doktorjubiläum Ruth SchmidtWiegand und Roderich Schmidt, Greifswald 2001, 30–34, hier 33. 77 UAG, PA 221, Bd. 3 vom 1.08.1950. Die „politische Charakteristik“ stammt vom damaligen Rektor Hans Beyer. 78 Vgl. seinen 1960 entstandenen Lebenslauf. UAG, PA 4054, Bd. 1.

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aus bürgerlichen Thema „Die Grafen von Dassel. Herkunft und Genealogie“ promoviert worden 79 und hatte sich danach der neuen Geschichtsauffassung zugewandt. Johannes Schildhauer beschäftigte sich wissenschaftlich mit der Geschichte der Hanse im 15. und 16. Jahrhundert und fand damit breite Anerkennung, nicht nur in der DDR-Geschichtsschreibung. 80 Sein gemeinsam mit Konrad Fritze und Walter Stark verfasstes Überblickswerk Die Hanse aus dem Jahr 1974 erlebte bis 1995 fünf Auflagen. 81 Konrad Fritze hat über ihn zum 125jährigen Jubiläum des Historischen Instituts folgende Sätze geschrieben, denen ich nichts hinzufügen möchte: „Seine methodisch vorbildlich angelegten Lehrveranstaltungen, seine anregende marxistische Interpretation der Geschichte fanden sofort großen Anklang bei den Studenten. Insbesondere diejenigen, die sich aktiv für den Sozialismus engagieren wollten, betrachteten ihn bald als ihre wichtigste Bezugsperson am Institut, sahen ihn ihm ihr Leitbild.“ 82

Konrad Fritze war seit 1966 Professor am Historischen Institut mit einem Schwerpunkt in der allgemeinen mittelalterlichen Geschichte und in der Hansegeschichte. 83 Er war 1957 mit einer Arbeit über „Die wirtschaftliche und soziale Lage Stralsunds im 13. und 14. Jahrhundert“ promoviert worden 84 und hatte sich 1963 mit „Studien zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte wendischer Hansestädte in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts“ habilitiert. 85 1977 wurde er Direktor des Historischen Instituts und leitete nach der Emeritierung von Schildhauer im Jahr 1984 den Hanseschwerpunkt des Instituts bis zu seinem Tod im Jahr 1991 mit 60 Jahren. 86 Die allgemeine mittelalterliche Geschichte wurde in der DDR-Zeit 79 In seinem Promotionsgutachten lobt Hofmeister die „in mühsamer methodisch sauberer Kleinarbeit“ gewonnenen Ergebnisse und vergibt die Note „valde laudabile“ (sehr gut). UAG, Phil. Dis. 1193 (5.07.1949). Die Dissertation wurde publiziert unter dem Titel Die Grafen von Dassel. Herkunft und Genealogie, Einbeck 1966. 80 Siehe den Beitrag von Michael North in diesem Band. 81 Konrad Fritze / Johannes Schildhauer, Die Hanse, Berlin 1975. 82 Konrad Fritze, Vom Historischen Seminar zur Sektion Geschichtswissenschaft 1945–1988, in: Der Rektor der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald (Hg.), 125 Jahre Historisches Seminar, 45–64, hier 49. Vgl. auch Kjell Å. Modéer, Die Universität Greifswald und Schweden. Rechts- und Kulturhistorische Betrachtungen, in: Dirk Alvermann / Karl-Heinz Spieß (Hgg.), Bausteine zur Greifswalder Universitätsgeschichte. Vorträge anlässlich des Jubiläums „550 Jahre Universität Greifswald“, Stuttgart 2008, 107–127, hier 122, der in Bezug auf Schildhauer und Fritze festhält, beide hätten „sich mehr in Richtung eines DDR-politischen Mainstreams“ orientiert. 83 Zu ihm vgl. das Schriftenverzeichnis in: Detlef Kattinger / Horst Wernicke / Ralf-Gunnar Werlich (Hgg.), Akteure und Gegner der Hanse. Zur Prosopographie der Hansezeit, Weimar 1998, 405–416. 84 Konrad Fritze, Die wirtschaftliche und soziale Entwicklung Stralsunds im 13. und 14. Jahrhundert, Diss. Greifswald 1957. 85 Ders., Studien zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte wendischer Hansestädte in der ersten Hälfte des 15.Jahrhunderts, Greifswald 1963. 86 Johannes Schildhauer, Dem Andenken an Konrad Fritze (1930–1991), in: Jahrbuch für Regionalgeschichte 17/1990, 14–19.

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zwar gelehrt, doch gab es hierzu mit Ausnahme der Hansegeschichte keinen eigenen Forschungsschwerpunkt. In der Wendezeit verblieb Horst Wernicke als einziger Professor am Historischen Institut. 1992 wurde er zum Professor für Geschichte des Mittelalters/Hansegeschichte ernannt und führt so bis heute die Hansegeschichte fort, für die das Historische Institut in Greifswald über die DDR hinaus große Anerkennung gefunden hat. Da er in unserer Vortragsreihe über das Wirken von Johannes Schildhauer und Konrad Fritze sowie der anderen Historiker berichtete, beschließe ich den Überblick mit mir selbst. Am 1. April 1994 wurde ich als Professor für Allgemeine Geschichte des Mittelalters und Historische Hilfswissenschaften berufen. Mit der Verknüpfung der Mittelalterlichen Geschichte und der Historischen Hilfswissenschaften folgte man der großen Tradition der beiden Fächer am Historischen Seminar. Umso mehr ist zu bedauern, dass die neue Beschreibung des Lehrstuhls für die Nachfolge nach meiner Emeritierung auf die historischen Hilfswissenschaften verzichtet hat. So bleibt die Hoffnung, dass die Studierenden an unserem Institut auch ohne die Nennung der historischen Hilfswissenschaften in der Lehrstuhldenomination künftig Grundkenntnisse in der Heraldik, der Paläographie oder der Diplomatik erlangen können.

VON ERNST MORITZ ARNDT ZU HERBERT LANGER Protagonisten der neueren Geschichte in Greifswald Michael North Ernst Moritz Arndt (1769–1860) Über Ernst Moritz Arndt in Greifswald zu sprechen, heißt Eulen nach Athen tragen. Dennoch erscheint mir, dass trotz der hitzigen Debatte um Ernst Moritz Arndt vor einigen Jahren seine Rolle als Historiker weitgehend unterbelichtet geblieben ist. Gerade das Beispiel Ernst Moritz Arndt zeigt, dass es eine solide Geschichtswissenschaft in Greifswald (ansatzweise) schon 60 Jahre vor der offiziellen Gründung des Historischen Instituts gegeben hat. Entsprechend konnte der junge Arndt (geboren 1769 in Groß Schoritz auf Rügen) nach häuslichem Unterricht und zweijährigem Besuch des Stralsunder Gymnasiums 1791 auch historische Veranstaltungen hören. So hörte er bei Prof. Johann Georg Peter Möller (1729–1807) die „Encyclopaedie der Historie“, „Universalhistorie“, „Schwedische Historie und Statistik“ sowie eine Vorlesung über die neuesten Staatsveränderungen. Beeindruckt wollen ihn nach eigenen Angaben die Vorlesungen von Gottlieb Schlegel haben.1 Der gebürtige Königsberger Schlegel (1739–1810) verkörperte bereits die wissenschaftliche Kommunikation der Aufklärung im Ostseeraum. Er wurde nach dem Studium in Königsberg Rektor der Rigaer Kathedralschule und verfasste während dieser Zeit über 50 Veröffentlichungen. 1780 zog er sich auf ein Pastorat zurück, um zehn Jahre später in Greifswald eine Professur und die Generalsuperintendentur zu übernehmen.2 Auch die Vorlesungen der schwedischen Professoren Johann Christoph Muhrbeck und Karl Brisman hatte Arndt in guter Erinnerung. 1792 wechselte Arndt nach Jena, wo er bis 1794 blieb und danach bereitete er sich auf das theologische Examen in Greifswald vor. Nach Hauslehrer- und Reisetätigkeit legte Arndt im Jahre 1800 seine Dissertation unter dem Titel Dissertatio historico-philosophica sistens momenta quasdam, quibus status civilis contra Russovii et aliorium commenta defendi posse videtur (Historisch-philosophische Erörterung, die einige Gründe aufstellt, mit denen die Zivilisation gegen die Einfälle Rousseaus und anderer verteidigt werden könnte) vor, in der er sich kritisch mit Rousseau auseinandersetzt. 1 2

Manfred Reißland, Zu Ernst Moritz Arndts Tätigkeit an der Universität Greifswald, in: ErnstMoritz-Arndt-Universität Greifswald (Hg.), Festschrift zur 500-Jahrfeier der Universität Greifswald. 17.10.1956, Bd. 1, Greifswald 1956, 203–225, hier 203f. Henryk Rietz, Z dziejów życia umysłowego Rygi w okresie oświecenia, Toruń 1977, 87.

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Im Dezember 1801 erhielt Arndt eine Einstellung als Adjunkt an der Philosophischen Fakultät, wo er eine Reihe von Veranstaltungen ankündigte, die aber nicht alle von Studierenden besucht wurden. Hörer fanden folgende Vorlesungen: – – – – – – – –

„Geschichte der merkwürdigern Revolutionen Europas seit Carl den 8ten von Frankreich bis auf den Tod Ludwig des Vierzehnten als eine Einleitung in die Geschichte unserer Zeiten, publice“ (7. März bis 21. September 1800) „Geschichte von Italien zugleich als Geschichte der neuern Kunst und der neueren Staatsverfassung Europens“ (29. Oktober 1800 bis 28. März 1801) Vorlesung in der Griechischen Sprache nach der Wahl der Zuhörer – Einzelne Idyllen Theokrits und Plutarchs Cäsars, abwechselnd (29. Oktober 1800 bis 28. März 1801) „Geschichte der drey letzten Jahrhunderte“ (19. Mai bis 19. September 1802) „Lesen und Sprechen Italiänischer und französischer Werke“ (13. Mai bis 17. September 1802) „Geschichte der Europ. Staaten nach Spittler“ (25. Oktober 1802 bis 30. März 1803) „Universalgeschichte (9. Mai bis 10. September 1803) „Geschichte der letzten drei Jahrhunderte“ (9. Mai bis 16. September 1803).

In seiner Zeit als Adjunkt erarbeitete Arndt sein wohl wichtigstes Werk Versuch einer Geschichte der Leibeigenschaft in Pommern und Rügen nebst einer Einleitung in die alte teutsche Leibeigenschaft.3 Hierin setzt sich Arndt gründlich mit der Geschichte Mecklenburgs und Vorpommerns seit der Slawenzeit auseinander, um mit alten Vorurteilen aufzuräumen bzw. gängige Auffassungen zur Leibeigenschaft zu widerlegen. Arndt skizziert dabei ein differenziertes Bild von der Verfassung und Siedlung der Slawen bis zur Einwanderung deutscher Siedler im Hochmittelalter. Er nutzt dabei die klassischen Chronisten wie Adam von Bremen, Helmold von Bosau sowie die chronikalischen Berichte über Otto von Bamberg. Über den Arndtschen Forschungsstand ist auch die Germania SlavicaForschung nicht viel weiter hinausgekommen. Einige Beispiele mögen Arndts Forschungsansatz erläutern. So widerlegt er die damals gängige Gleichsetzung von Leibeigenschaft/Sklaverei und slavischer Siedlung: „So kämpften und so fielen die Slaven, und die Teutschen besetzten allmählig ihr Land nach denselben Grundsätzen, nach welchen noch im neunzehnten Jahrhundert die Sieger von Marengo und Mackiewicz verfahren. Sie waren nach allem, was wir gesehen haben, ein eben so schönes, starkes, edles und tapferes Volk, als die Teutschen. Wären also die Sklaven, die man später in ihren alten Wohnsitzen sieht, ihre Kinder, wie man uns so gern einbildet, so sieht man, es lag in den physischen und moralischen Eigenschaften nichts, das sie besonders zur Knechtschaft bestimmt hatte, wie man uns ebenfalls einbilden möge. Und wären auch die

3

Ernst Moritz Arndt, Versuch einer Geschichte der Leibeigenschaft in Pommern und Rügen nebst einer Einleitung in die alte teutsche Leibeigenschaft, Berlin 1803.

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Sklaven und Leibeigene in ganz Teutschland von Slaven entsprossen, so wollen wir doch bekennen, es gibt keine Verjährung des Unrechts.“4

Auch die Auffassung von der Einführung der Leibeigenschaft aus dem Westen im Zuge der Kolonisation wird von ihm argumentativ auseinandergenommen: „Die gewöhnliche Art der Landesbesetzung, wie man sie sehr sicher und zuversichtlich annimmt, ist ungefähr diese: Edelleute, nichts als Edelleute bringen die Menge ihrer leibeigenen Knechte mit ins Land, mit Weibern und Kindern. (...) Erstlich, nicht alle Eingewanderte kamen mit Edelleuten und unter Edelleuten zu wohnen. Die Klöster riefen urkundlich zuerst Kolonisten und pflanzten diese auf ihren Dörfern und unbebauten Gründen an; der Fürst selbst hatte eine Menge Domainen, die auch bevölkert werden sollten, und die keine Edelleute mit den Ihrigen bebauen konnten. Unter welchen Bedingungen riefen jene die Ansiedler? Das wissen wir nicht. Aber daß diese wenigenstens freie Menschen waren, die über ihren eignen Leib gebietend einrückten, können wir wissen, daß diese auch nicht auf Bedingungen gekommen sind, wie die, unter welchen wir sie später wohnend finden, können wir auch wissen, denn noch nie sind Menschen so verrückt gewesen, freiwillig in eine Art von Sklaverei zu gehen.“5

Dagegen zeigt er deutlich die Motive der Gutsherren, insbesondere des Adels, zur Einführung der Eigenwirtschaft (Gutswirtschaft) und deren Folgen für das Bauerntum. „Der Adel machte es den Fürsten nach, er reiste, studierte, diente fremden Fürsten, fing an prächtiger zu leben und brauchte also mehr Geld. Wer also unter ihm stand, ward mehr angestrengt. Hier fängt die Mißhandlung und der Druck der Bauern wohl an, denen man nach und nach ihre letzten Rechte beschnitt, wie die adligen und unadligen Kronikanten, wie die öffentlichen Verhandlungen und Verträge des bezeugen. Bisher hatte man mit ihnen ziemlich auf gleichem Fuß, doch als Herr und Vater gelebt, war nicht viel gebildeteter, und hatte auch wohl nicht einmal viele Bedürfnisse voraus. Nun wurden sie angespannt, manche aus ihren alten Sitzen vertrieben und eine Menge Bauerdörfer gelegt und in Hufe verwandelt. Der Mensch ist nie unbarmherziger, als wenn er den Luxus ohne Bildung kennt. Mit den Rügenschen Inseladel, so wie mit dem ganzen Lande, hatte es hier auch wieder sein Eigenes. Was schon Adam und Helmold von diesen Insulanern sagten, es sei ein rauh und trotzig, aber freiheitliebend Volk, bestätigte sich noch jetzt. Man war dort muthig und schlaglustig, und griff sogleich zu der Wehr; aber man liebte und ehrte auch die eigene und fremde Freiheit. Kanzow sagt ausdrücklich. Der Rügensche Adel habe lange es dem Pommerschen nicht nachgemacht, sei nicht in fremde Länder und fremde Dienste gezogen, weil sein Trotz sich keinem fremden Willen habe unterwerfen, sondern lieber frei unter feinen Windhunden und Bauern leben wollen.“6

Dennoch fällt Arndt keine Pauschalurteile, sondern differenziert wie ein moderner Gutsherrschaftshistoriker zwischen den verschiedenen Bauern und Besitztypen. Er legt hierbei Thomas Kantzow als Quelle zu Grunde: „Der Bauern Wesen aber ist nicht durchaus gleich. Etliche haben ihr Erbe an den Hufen, darauf sie wohnen. Dieselbe geben ihre bescheidene Zinse und haben auch bestimmten Dienst, dieselben stehen wohl und sind reich. Und wann einem nicht geliebet, auf dem Hofe länger zu wohnen, oder seine Kinder darauf wohnen zu lassen, so verkauft er’s mit seiner Herrschaft 4 5 6

Ebd., 98. Ebd., 104f. Ebd., 143f.

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Michael North Willen und giebt der Herrschaft den Zehenden und Kaufgeld, und der wieder auf den Hof zeucht giebt der Herrschaft auch Geld, und also zeucht der andere mit seinen Kindern und Gütern frei weg dahin er will. Aber mit den andern ißts nicht so, denn die haben an den Höfen kein Erbe und müssen der Herrschaft so viele Tage dienen, als sie immer von ihnen haben wollen und können oft über solchen Dienst ihr eigen Werk nicht thun und müssen derohalben verarmen und entlaufen, und ist von denselben Bauern ein Sprichwort, daß sie nur sechs Tage in der Woche dienen, den siebenten müssen sie Briefe tragen. Demnach seind dieselben Bauern nicht viel anders als leibeigen, denn die Herrschaft verjaget sie, wenn sie will. Wenn aber die Bauern wollen anders wohin ziehen, oder ihre Kinder an andere Orte begeben, und es nicht mit Willen der Herrschaft thun, obgleich ihre Hufe zu guter Wehre gebracht, so hohlet sie doch die Herrschaft wieder als ihre eignen leute, und müssen derselben Bauren Kinder, es sei Sohn oder Tochter, aus ihrer Herrschaft ziehen, sie gebe es denn sonderlich nach. Denn es ist nicht genug, daß ihres Vaters Hufe besetzt ist, sondern sie müssen auch andere wüste Höfe, wo die Herrschaft will, annehmen und bauen. Doch entlaufen ihrer viele, oder entziehen heimlich, daß ofte die Höfe wüste werden. Als dann muß die Herrschaft sehen, daß sie einen andern Bauern darauf bringe.“7

Deutlich arbeitet Arndt die rechtliche Fundierung der Leibeigenschaft durch die pommerschen Juristen und Vizepräsidenten des Wismarer Tribunals David Mevius und Augustin von Balthasar heraus: „Wir wollen nun aus den beiden Haupt=Schriftstellern dieser Zeit, die zuerst die Observanz der Unterdrückung zu einer Art von Rechtlichkeit erheben, wenigstens beide die Leibeigenschaft für ein sehr natürliches gutes Ding halten, das sie auch wohl bei Gelegenheit herausstreichen, aus diesen wollen wir einige Stellen herausgeben, die auch das Geschichtliche zu erläutern dienen können.“8

Während Mevius in Vom Zustande und Abforderung der Bauersleute, Stralsund 1645 postuliert, „Jede Obrigkeit muß zur Einholung und Wiederablieferung des Flüchtigen helfen; Kanzelabkündigung, Steckbrief dabei üblich“9, taxiert Balthasar in De hominibus propr. in Pomerania etc. 1779 die Leibeigenen: „Vormals ward eine Magd auf 20 Gulden (10 Rthlr.), ein Knecht auf 40 taxirt, jetzt werde ein Bauerknecht mit 100 und mehr Thaler aufgegeben. Das sey auch nicht gleich zu bestimmen; denn man müsse auch die körperlichen und geistigen Eigenschaften in Anschlag bringen; z. B. die Fruchtbarkeit, das Geschlecht, Alter, den Reichthum, damit das Vermögen den Herrn nicht aus dem Gute gehe. So bestialisch sah der Herr Vicepräsident es an. – Er nennt auch und difinirt einen Leibeigenen res immobilis.(...) Damit der Wehr nicht geschadet werde, sollen Bauern nicht an Gelde, sondern am Leibe gestraft werden, es seien dann reiche Leute.“10

Im Laufe der weiteren Untersuchung bietet Arndt eine differenzierte Untersuchung von Gutswirtschaft und Leibeigenschaft nach der Größe des Gutes ebenso nach der Besitzkategorie (Domäne, Adel, Städte).11 Wie in der modernen Gutswirtschaftsforschung üblich, zeigt er, dass Gutswirtschaft und Gutsherrschaft auch in Mecklenburg und Pommern kein monolithisches System waren, sondern durch7 8 9 10 11

Ebd., 148f. Ebd., 169. Ebd., 170f. Ebd., 172. Im Original befinden sich die Zitate auf den Seiten 33 und 52. Ebd., 190–207.

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aus unterschiedliche Handlungsoptionen der Gutsherren in der Behandlung ihrer Untertanen/Bauern bestanden. So zeigt er zum Beispiel, dass von den Gutsherren unterschiedlich hohe Gesindelöhne bezahlt werden mussten (je nach Angebot und Nachfrage nach Frondiensten und Lohnarbeitern).12 Als Maßnahmen, die zur Verbesserung der Lage der bäuerlichen Bevölkerung getroffen werden sollten, führt er die Domänenreformen des Gouverneurs von Hessenstein (von 1778) ebenso an wie anderer Herren, die ihren Untertanen persönliche Freiheit gegeben hätten.13 Auch die dänischen Domänenreformen, von der Verkoppelungsgesetzgebung bis zur Aufhebung der Leibeigenschaft auf den Adelsgütern (1797–1805), wird als Modell genannt, dessen Vorbild Pommern folgen sollte.14 Arndts Untersuchung, für die er von einigen pommerschen Adeligen beim Generalgouverneur angezeigt wurde, war wohl das wirkmächtigste seiner Werke, denn es führte 1806 unmittelbar zur Aufhebung der Leibeigenschaft im Staatsstreich Gustavs IV. Adolf, der Schwedisch-Pommern in das Königreich inkorporierte. Eine Reform unterblieb jedoch, da die französische Invasion Pommerns eine geregelte Verwaltungstätigkeit nicht zuließ. Arndt verließ SchwedischPommern, wandte sich nach Schweden und kehrte erst am 1. Mai 1810 in seine Professur an der Universität Greifswald zurück. Hier schloss er ein weiteres historisches Werk, Schwedische Geschichten unter Gustav III., vorzüglich aber unter Gustav IV. Adolf, an, das als zeithistorische Studie durchaus ernst genommen werden sollte. Arndts Verbundenheit mit Schweden wollte er in einer Eloge zum Geburtstag des schwedischen Königs am 7. Oktober 1810 zum Ausdruck bringen, dies schien seinen Professorenkollegen aber nicht opportun. Vor allem die Tatsache, dass sich Schweden und Frankreich seit 1810 in einem Bündnis befanden, schränkte Arndts Wirkungsmöglichkeit ein. 1812 begab er sich nach St. Petersburg, um mit dem Freiherrn vom Stein an der antinapoleonischen Propaganda zu arbeiten. Damit ging seine Rolle als Greifswalder Historiker zu Ende. Die ArndtRezeption wird noch in einem Beitrag von Niels Hegewisch behandelt werden. Ich schließe meinen ersten Teil mit einem Zitat von Johannes Schildhauer, einem weiteren Protagonisten der neueren Geschichte in Greifswald, der 1969 zum 200. Geburtstag von Ernst Moritz Arndt schrieb: „Sein Leben und Werk haben in der wechselvollen Geschichte der letzten hundert Jahre eine oftmalige, aber zugleich sehr unterschiedliche Wertung erfahren. (…) Dabei gilt es, Arndt aus seiner Zeit heraus zu verstehen, seine Leistung für den historischen Fortschritt herauszuarbeiten sowie die klassen- und zeitbedingten Grenzen seiner Erkenntnis und seines Wirkens zu umreißen.“15

12 13 14 15

Ebd., 206f. Ebd., 218–222. Ebd., 236f. Johannes Schildhauer, Ernst Moritz Arndt Weg, Ziel und Vermächtnis, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald, Gesellschafts- und sprachwissenschaftliche Reihe 18/1969, 7–19, hier 7.

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Heinrich Ulmann (1841–1931) Heinrich Ulmann war einer der Historiker mit sehr langer Wirksamkeit am Historischen Seminar in Greifswald. Er war wie die meisten seiner Zeitgenossen epochenübergeifend tätig, hat aber nach seiner Dissertation und Habilitation wichtige Werke der neueren Geschichte hinterlassen. Der Waitz-Schüler Ulmann (Waitz war vermutlich der einflussreichste Ranke-Schüler), der seine Habilitationsschrift seinem Lehrer widmete, erhielt bereits 1868 einen Ruf nach Greifswald als Nachfolger von Rudolf Usinger (1835–1874, ebenfalls Waitz Schüler), zog aber Dorpat als Erstruf vor. Von Dorpat ging er 1874 als Ordinarius nach Greifswald und blieb dort bis zu seiner Emeritierung. Einen Ruf nach Göttingen zu erhalten, war ihm nicht vergönnt. Bei seiner Berufung nach Greifswald wurde Ulmann neben einem Umzugskostenzuschuss von 400 Talern ein jährliches Gehalt von 1.400 Talern gewährt, daß sind umgerechnet 4.200 Mark, zu denen noch Kolleggelder kamen – ein überdurchschnittliches Gehalt verglichen mit der Arbeiterfamilie, die mit 700 Mark im Jahr auskommen musste. Bereits in Dorpat hatte sich Ulmann der Neuzeit zugewandt und die grundlegende Biographie des Reichsritters Franz von Sickingen verfasst.16 Für diese Arbeit hat er zahlreiche Archive benutzt, so das ernestinische Archiv in Weimar, die preußischen Staatsarchive in Kassel und Koblenz, das Haus-, Hof- und Staatsarchiv in Wien, die bayerischen Archive, die Stadtarchive von Frankfurt und Straßburg, das Staatsarchiv in Dresden sowie das „von früher im übelsten Zustand befindliche badische Generallandesarchiv.“ Die Tatsache, dass die Archivreisen zum Teil von Dorpat unternommen wurden, zeigt die Mobilität der damaligen Frühneuzeithistoriker. Sickingen wird in dieser Schrift als Mann des Übergangs gezeichnet, der die Revolte eines Teils der Reichsritterschaft gegenüber Kaiser und Fürsten initiierte und damit die Befriedung und institutionelle Verdichtung des Reiches, wie sie durch die Verkündigung durch den ewigen Landfrieden und die Etablierung eines Reichsregiments vollzogen waren, bekämpfte. Ulmann vergleicht Sickingen mit Wallenstein, wenn er schreibt „Wallenstein hat in weit höherem Grade als Sickingen etwas vom Wesen des abenteuernden Glücksritters an sich. (…) Sickingen hat sich emporgearbeitet in conconsequentem Schwanken zwischen den Parteien: (…) Aber gereifter hat er festen Fußes Position genommen, während gerade Wallenstein in sein Verderben stürzte durch doppelzüngige Planmacherei. Sickingens Sturz entspricht der Halbheit, mit welcher er, einmal im Zustand der Auflehnung gegen die bestehenden Gewalten begriffen, vor der Anwendung alleräußerster Mittel zurückschrickt und seiner ganzen Anlage nach zurückschrecken mußte.“17

Eine weitere Monographie ist Maximilian I. und seiner Italienpolitik gewidmet.18 Hier wurde in der Geschichtswissenschaft lange Zeit eine Maximilian zugeschrie16 17 18

Heinrich Ulmann, Franz von Sickingen. Nach meistens ungedruckten Quellen, Leipzig 1872. Ebd., 264. Heinrich Ulmann, Kaiser Maximilian’s I. Absichten auf das Papsttum in den Jahren 1507– 1511, Stuttgart 1888.

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bene Äußerung, er wolle nach Rom ziehen, um Kaiser und Papst zu werden, für bare Münze genommen. Ulmann revidiert diese Auffassung und zeigt, dass Maximilian nicht wirklich daran lag, das Papsttum zu erlangen, dafür sei sein Betreiben nicht zielgerichtet genug gewesen. Insgesamt gibt er eine recht genaue und neutrale Beschreibung der Bestrebungen Maximilians, der in Bündnissen mit und gegen Frankreich die habsburgische Stellung in Oberitalien zu festigen suchte und mit Mühe die Erhebung zum Kaiser, nicht in Rom, sondern auf Reichsboden in Trient erreichte. Neben diesen Standardwerken lässt er in seinen Aufsätzen und in seiner Geschichte der Befreiungskriege 1813–181419 den borussischen Historiker durchblicken. Auch er ist dem Charme der preußisch-deutschen Einigung erlegen, wenn er in einem Aufsatz für die Historische Zeitschrift über den englisch-hannoverschen Diplomaten Ernst Graf zu Münster zum Wiener Kongress 1868 schreibt „Dieser unnatürliche Versuch, Preußen zur Unterordnung zu zwingen, hat nach fünfzig Jahren äußerer Ohnmacht und innerer Sammlung zu jener Umwälzung geführt, die wir sich vollziehen sehen.“20 In seinen Lehrveranstaltungen ist Ulmann durchaus europäisch (wie sich das für einen Frühneuzeitler gehört) und liest ausgiebig über die Geschichte des Reformationszeitalters, die Geschichte Europas zwischen 1648 und 1786 sowie über die Geschichte Europas im Zeitalter der Französischen Revolution und Napoleonischen Kaiserreiches. Als interessante Übungen fallen „kritische Uebungen über die Eroberung Roms i. J. 1527“, den sogenannten Sacco di Roma auf. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts und dem beginnenden 20. Jahrhundert kommen dann auch zunehmend Veranstaltungen zur Geschichte des preußischen Staates seit dem Großen Kurfürsten hinzu. Hans Oskar Glagau (1871–1934) Während Ulmann zur Elite der deutschen Historiker gehörte, kann man dies von seinem Nachfolger Hans Glagau nicht unbedingt behaupten. Als außerordentlicher Professor in Marburg wurde er erst im damals höherem Alter von 41 Jahren gegen den Willen der Fakultät 1912 nach Greifswald berufen – aus einer Editionstätigkeit für die Historische Kommission für Hessen und Waldeck.21 Er erhielt dasselbe Gehalt (4.200 Mark) wie Heinrich Ulmann 40 Jahre zuvor; hinzu kam ein Wohngeldzuschuss von 720 Mark. Von den Hörergeldern musste er „soweit sie im Rechnungsjahre den Betrag von 3.000 M. übersteigen nach wie vor bis

19 20 21

Ders., Geschichte der Befreiungskriege 1813–1814, Bd.1, München 1914, Bd. 2, München 1915. Ders., Ernst Graf zu Münster, in: Historische Zeitschrift 20/1868, 338–392, hier 339. Wolfgang Weber, Biographisches Lexikon zur Geschichtswissenschaft in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Die Lehrstuhlinhaber von den Anfängen des Faches bis 1970, Frankfurt a. M. u. a. 1984, 175–176.

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4.000 M. zu 25 v. H., von dem darüber hinausgehenden Betrage zur Hälfte in die Staatskasse fließen“ lassen.22 Glagau wurde von seinen Greifswalder Kollegen nicht gerade der rote Teppich ausgerollt. Im Gegenteil, Bernheim hatte sich die Seminarzeit von Ulmann gesichert und sein Seminar von Sonnabend 8–10 Uhr auf Mittwoch 8–10 Uhr verlegt. Der Dekan bat daher Glagau am 24. Juni 1912 „vielleicht legen Sie Ihre Übungen nun auf die freiwerdende Zeit Sonnabend 8–10 Uhr?“23 Dabei war Glagau eigentlich ganz gut in Deutschland vernetzt. Er hatte bei dem gebürtigen Greifswalder Max Lenz promoviert, dem führenden Vertreter der sogenannten Neorankeaner24, die sich gegen die kleindeutsch-borussische Geschichtsschreibung eines Heinrichs von Treitschke wandten. Glagaus 34-seitige Dissertation behandelte die französische Legislative und den Ursprung der Revolutionskriege (III. Kap. Narbonnes politisches Programm).25 Sein Habilitationsvater war Georg von Below, dessen Frau Minnie von Below Glagau seine Habilitationsschrift über Anna von Hessen widmete.26 Georg von Below (1858–1927) war als Herausgeber der Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte und Mitherausgeber der Historischen Zeitschrift einer der einflussreichsten deutschen Historiker, der keiner Polemik – insbesondere in Methodenfragen – aus dem Weg ging. Von Belows verfassungsgeschichtlich fundierter Wirtschaftsgeschichte scheint Glagau in seinem Oeuvre aber nur am Rande stimuliert geworden zu sein. Neben Vorlesungen zur Allgemeinen Geschichte im Zeitalter der Renaissance und der Reformation bzw. zur Gegenreformation und Dreißigjährigem Krieg lag ein Schwerpunkt auf der Französischen Revolution, Napoleon und den Befreiungskriegen. Übungen zu Wallenstein, den Steinschen Reformen bis über Mirabeau und die Außenpolitik Friedrichs des Großen zeigen seine Konzentration auf politische und Diplomatiegeschichte. Seine nach der Habilitation entstandenen Veröffentlichungen zeichnen sich durch die Analyse diplomatiegeschichtlicher Quellen aus, die er durchaus unter verschiedenen Aspekten befragte. Zu diesem Zweck bereiste er zahlreiche europäische Archive und beantragte hierfür Reisestipendien, die er auch erhielt. So stützt sich beispielsweise seine Schrift Reformversuche und Sturz des Absolutismus in Frankreich (1774–1788)27 auf die Berichte des Grafen Mercy-Argenteau, des österreichischen Botschafters in Paris, vor und während der Französischen Revolution, der sowohl mit der Habsburgerin Marie Antoinette als auch mit Reformministern wie Turgot oder Necker vernetzt war. 22 23 24 25 26 27

Universitätsarchiv Greifswald (im Folgenden: UAG), Akte Glagau, Abschrift Berlin 1. Juli 1912, Universitäts-Kurator Greifswald, Eing. 2t. Jul.1912, II, Nr. 2554. UAG, Dekanat der Philosophischen Fakultät der Universität Greifswald, J. Nr. 182, Greifswald, den 24. Juni 1912. Freundlicher Hinweis von Wolfgang Weber, Universität Augsburg. Hans Glagau, Die französische Legislative und der Ursprung der Revolutionskriege: III. Kap. Narbonnes politisches Programm, Berlin 1896. Ders., Eine Vorkämpferin landesherrlicher Macht. Anna von Hessen die Mutter Philipps des Grossmütigen (1485–1525), Marburg 1899. Ders., Reformversuche und Sturz des Absolutismus in Frankreich (1774–1788), München 1908.

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Nicht erfolgreich war Glagaus Antrag an das Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung in Berlin auf die Gewährung eines Sanatoriumaufenthaltes in Davos für seinen todkranken Sohn Werner Glagau.28 Werner Glagau starb im Alter von 22 Jahren am 27. Oktober 1927 in der Lungenheilstätte Schömberg bei Wildbad im Schwarzwald. Jetzt finanzierte das Ministerium die Beerdigungskosten und die Reisekosten der Eltern zur Beerdigung (zu 70 % als Notstandsbeihilfe).29 Von dem Verlust seines Sohn scheint sich Glagau nicht mehr erholt zu haben. 1934 ließ er sich aus Krankheitsgründen von seinen amtlichen Pflichten entbinden und starb im Dezember desselben Jahres im Alter von 63 Jahren. Zwar erhielt er in dem außerplanmäßigen Professor Carl Petersen aus Kiel einen Nachfolger, der als Hauptherausgeber des Handwörterbuches des Grenz- und Auslandsdeutschtums seinen Wohnsitz in Berlin nehmen durfte und damit in Greifswald kaum Akzente setzte (wie das bei pendelnden Professoren so üblich ist). Die gesundheitlichen Folgen der Pendeltätigkeit (Herzkrankheit) führten dann dazu, dass Petersen seine Lehrtätigkeit in Greifswald einstellte und im Januar 1942 im Alter von 56 Jahren verstarb. Entsprechend fanden erst wieder mit der Aufnahme der Lehrtätigkeit von Johannes Schildhauer seit dem Herbstsemester 1952/53 regelmäßige Lehrveranstaltungen zur neueren Geschichte statt. Johannes Schildhauer (1918–1995) Johannes Schildhauer, der lange Zeit der einzige Professor am Historischen Institut der Universität Greifswald war, hat sich in seinen Veröffentlichungen sowohl mit dem Mittelalter als auch schwerpunktmäßig mit der Hansegeschichte beschäftigt, die in diesem Band vom Kollegen Spieß gewürdigt wird. Er war aber auch ein Frühneuzeitler, weil er immer wieder über die Epochengrenzen hinaus ging und wichtige Arbeiten zum 16. Jahrhundert vorlegt hat. Zu diesen gehört seine Habilitationsschrift Soziale, politische und religiöse Auseinandersetzungen in den Hansestädten Stralsund, Rostock und Wismar im ersten Drittel des 16. Jahrhunderts.30 Dies ist eine äußerst solide sozialgeschichtliche Arbeit zu den Hansestädten in der Umbruchsphase der Reformation, in denen die Mittelschichten der Kaufleute und Handwerker für kurze Zeit in sogenannten Ausschüssen (Stralsunder 48er Ausschuss, Rostocker 64er Ausschuss und Wismarer 40er Ausschuss) eine Mitwirkung am Stadtregiment erreichten und dabei bald die Unterschichten aus dem Auge verloren. Schildhauers Studie reiht sich ein in eine Reihe von gleichzeitig entstandenen Untersuchungen, die polnische Historiker wie Maria Bogucka, Tadeusz Cieślak 28 29 30

UAG, Akte Glagau, Abschrift, Gesuch, Greifswald, den 24. November 1926. UAG, Akte Glagau, Abschrift, Gesuch, Greifswald, den 4. November 1927. Der UniversitätsKurator. II Nr. 5656, Greifswald, den 7. November 1927. Johannes Schildhauer, Soziale, politische und religiöse Auseinandersetzungen in den Hansestädten Stralsund, Rostock und Wismar im ersten Drittel des 16. Jahrhunderts, Weimar 1959.

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und Józef Buława über Danzig, Stettin und Thorn in dieser Periode veröffentlichten.31 Das Konzept der frühbürgerlichen Revolution, das Max Steinmetz seit 196032 entwickelte und propagierte, ist bei Schildhauer noch nicht präsent. Schildhauers letzte Monographie Hansestädtischer Alltag. Untersuchungen auf der Grundlage der Stralsunder Bürgertestamente vom Anfang des 14. bis zum Ausgang des 16. Jahrhunderts33 nimmt einige Ideen der Sozialgeschichte wieder auf, wenn er die Bewohner Stralsunds nach ihrer rechtlich politischen Stellung, ihrer beruflichen Tätigkeit, Haus- und Grundbesitz, Mobilienbesitz und Kreditbeziehungen untersucht. Dass unter den Testatoren die Stralsunder Oberschicht, d. h. Ratsherren, Kaufleute und Geistliche überwogen, ist klar, aber auch Handwerker treten im 16. Jahrhundert zunehmend auf. Schildhauers Interesse an der Kulturgeschichte wird in diesem Buch einmal mehr deutlich. Dieses hatte sich auch in seinem populären Werk Die Hanse34 artikuliert, das international rezipiert und ins Englische übersetzt wurde. Am bedeutendsten für die internationale Forschung erscheint mir aber Schildhauers Aufsatz Zur Verlagerung des See- und Handelsverkehrs im nordeuropäischen Raum während des 15. und 16. Jahrhunderts – auf der Grundlage der Danziger Pfahlkammerbücher35, in dem er systematisch das Vordringen der Niederländer im Ostseeraum zwischen 1460 und 1583 untersucht. Ich habe diesen Aufsatz wie auch andere vielfach zitiert; zuletzt in meiner Geschichte der Ostsee. Handel und Kulturen im Ostseeraum. Wichtig erscheint mir Schildhauer – unterstützt von Konrad Fritze und Walter Stark – als Organisator der Greifswalder Ostseeraumforschung. Bis dies soweit war, musste sich ein Teil der Greifswalder Historiker dem starken Druck der Partei beugen. Die Auseinandersetzungen, die im Protokoll der Mitgliederversammlung der Grundorganisation Historiker am 30. Oktober 1961 zum Ausdruck kommen, sind vor kurzem von Jan Peters – einem der „Opfer“ – in seiner Autobiographie angesprochen worden. In dieser Versammlung musste Schildhauer Selbstkritik üben, dass er aufgrund seiner langen Krankheit die Situation im Institut schleifen lassen, die Brisanz der Dissertation von Wilhelmus nicht erkannt und insbesondere keine ständige Verbindung mit dem Parteigruppenorganisator gehal31

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Maria Bogucka, Walki społeczne w Gdańsku w XVI w. [w:] Szkice z dziejów Pomorza, pod red. G. Labudy, t. 1, Warszawa 1958, 369–448; Tadeusz Cieślak, Postulaty rewolty pospólstwa gdańskiego w r. 1525, in: Czasopismo Prawno-Historyczne 6/1954, 121–152; Ders., Rewolty szczecińskie z r. 1428–1524 oraz ich konsekwen cje prawne, in: Zapiski Towarzystwa Naukowego w Toruniu 6/1954, 103–114; Józef Buława, Walki społeczno-ustrojowe w Toruniu w pierwszej połowie XVI w., Toruń 1971. Max Steinmetz, Die frühbürgerliche Revolution in Deutschland (1476–1535). Thesen, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 8/1960, 114–124. Johannes Schildhauer, Hansestädtischer Alltag. Untersuchungen auf der Grundlage der Stralsunder Bürgertestamente vom Anfang des 14. bis zum Ausgang des 16. Jahrhunderts, Weimar 1992. Ders., Die Hanse: Geschichte und Kultur, Leipzig 1984. Ders., Zur Verlagerung des See- und Handelsverkehrs im nordeuropäischen Raum während des 15. und 16. Jahrhunderts – auf der Grundlage der Danziger Pfahlkammerbücher, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 4/1968, 187–211.

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ten habe. Die Auseinandersetzungen gipfelten in dem Vorwurf der Gruppenbildung gegenüber den Kollegen Peters, Wilhelmus und Fritze, von denen letzterer diesen Vorwurf vehement zurückwies. „Ich bin der Meinung, daß es am Institut 2 Arbeitsgemeinschaften gibt, die Arbeitsgemeinschaft Widerstandskampf und Ostseegeschichte, daß dieses aber keine Fraktionen oder Gruppen sind, sondern daß dieses Arbeitskreise sind, in denen Diskussionen über die fachlichen und politischen Probleme geführt werden.“36

Daraufhin wurde ihm vom Gen. Weiß vorgeworfen: „Wieso kommt es, daß die Arbeitsgemeinschaft Ostseegeschichte dauernd schwankt und wieso kommt es, daß man die andere Arbeitsgemeinschaft als außenstehend bezeichnet?“ Insbesondere der hauptamtliche Sekretär der SED an der Philosophischen Fakultät der Universität Greifswald Karl Heinz Jahnke tat sich hier als Scharfmacher hervor. Erst nach dessen Wechsel nach Rostock 1968 scheint sich die Situation entspannt und der Druck auf die Kollegen nachgelassen zu haben. Dies war möglicherweise auch ein Verdienst Schildhauers, dem immerhin in der Jahresbeurteilung 1972/73 von Konrad Fritze bestätigt wurde, „Sein Leitungsstil zeichnet sich durch politische Zielklarheit, Umsicht, Gründlichkeit sowie durch das Bestreben aus, echte Kollektivität unter den leitenden Mitarbeitern der Sektion zu entwickeln. Es wäre jedoch gut, wenn Prof. Dr. Schildhauer als Sektionsdirektor und Hochschullehrer sich noch stärker bemühte, in seinem Auftreten gegenüber Leitungen, aber auch gegenüber allen Mitarbeitern und Studenten eine manchmal ungerechtfertigte Nachgiebigkeit zu überwinden.“37

Neben dieser „Beruhigung“ scheint auch die neue Profilierung des Historischen Instituts in Greifswald einen Schub der Forschung ausgelöst zu haben. Man würde meinen, dass die Profilierung der Universität ein Begriff aus dem 21. Jahrhundert darstellt. Aber bereits 1967 legten die Greifswalder Historiker eine „Konzeption zur Profilierung der Forschung am Historischen Institut Greifswald auf dem Schwerpunkt: Geschichte des Ostseeraumes“ vor.38 Dabei wurde dem Institut im Rahmen der Profilierung des geschichtswissenschaftlichen Bereiches der ErnstMoritz-Arndt Universität Greifswald sowie ihrer Philosophischen Fakultät „die Geschichte des Ostseeraumes von der jüngsten bis zur ältesten Zeit“ als Schwerpunkt in Forschung und Lehre zugewiesen. Neben den Beziehungen Deutschlands und den Ländern Nordeuropas im 20. Jahrhundert sollten vor allem die „Geschichte des Ostseeraumes in der Zeit des Überganges vom Feudalismus zum Kapitalismus“39 untersucht werden. Hierzu sollten die „lose[n] Kontakte (…) zu progressiven Historikern in Finnland und Schweden“ weiter entwickelt sowie „be36 37 38 39

Auszug aus dem Protokoll der Mitgliederversammlung der GO Historiker am 30.10.1951, 155, 4: UAG, UPL 24. UAG, Schreiben von Prof. Dr. K. Fritze vom 6.07.1973: Jahresbeurteilung 1972/73 Prof. Dr. Schildhauer. UAG, VPL 245, 72–79. Ebd., 77.

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reits bestehenden Verbindungen zu den wissenschaftlichen Einrichtungen in Tartu, Tallin, Riga, Gdańsk, Toruń und Szczecin“ ausgebaut werden.40 Die seit den 1970er Jahren regelmäßig stattfindenden Greifswalder Kolloquien zur Geschichte des Ostseeraumes haben dann Greifswald auch in der internationalen Wahrnehmung zu einem Zentrum der Ostseeraumforschung gemacht, das es bis heute ist. Johannes Schildhauer und seine Mitstreiter begannen dann auch schon bald, westeuropäische Historiker für die Greifswalder Forschungen zu interessieren. Ein Medium des Zusammentreffens der Hanse- und Ostseeraumforscher war die Association Internationale d’Histoire des Mers Nordiques de l’Europe, die 1974 in Stettin gegründet worden war und der Schildhauer und Fritze als DDRHistoriker angehörten. An der Tagung der Association vom 19. bis 23. April 1979 in Helsinki mit dem Thema „The Baltic as an Intermediary between East and West 1400–1800“ nahm auch Johannes Schildhauer teil und berichtete darüber ausführlich. Dabei ist die Gratwanderung, die in einem solchen Bericht gemacht werden musste, durchaus bewundernswert. Auch heutzutage muss für eine Reisebeihilfe der Deutschen Forschungsgemeinschaft bzw. jetzt des Deutschen Akademischen Austauschdiensts über die Bedeutung einer Tagung für die weitere wissenschaftliche Arbeit berichtet werden. Dies macht Schildhauer, und gleichzeitig war natürlich auch ein Statement zu der politischen Situation gefordert. Da ich selbst 1982 zum Sekretär der Association gewählt wurde und auch die Tagung von 1979 aus dem Berichten finnischer und westeuropäischer Kollegen kannte, kann ich durchaus erkennen, wie Schildhauer geschickt darüber berichtet hat. Sein Ziel war, auch künftig eine Repräsentation der DDR-Wissenschaft auf diesen Tagungen zu erreichen. So macht er deutlich, dass den 22 Vertretern der kapitalistischen Länder nur vier der sozialistischen Länder (drei Polen und Schildhauer) gegenüberstanden. Er fährt fort: „Die Rücknahme der Zusage für Prof. Dr. Fritze, Greifswald, sowie das Nichterscheinen der mit Vorträgen angemeldeten sowjetischen Vertreter bedeutete gegenüber früheren Tagungen eine Schwächung unserer Position, die aus politischem Interesse heraus nicht zugelassen werden sollte. Das ‚plötzliche Erkranken’ der Historiker der sozialistischen Länder wird von den Vertretern der westlichen Länder, insbesondere der BRD, nur mit einem Lächeln quittiert.“41

Interessant ist auch der nächste Bericht von der Vorstandssitzung der Association im September 1981 in Amsterdam. Auf dieser Sitzung wurde die Tagung in Utrecht 1982 vorbereitet, wobei Schildhauer formuliert: „Es erwies sich als sehr günstig, daß ich mit dem Vertreter aus der SU, Professor Dr. Raimo Pullat, Vizepräsident der Akademie der Wissenschaften der ESSR, sowohl Vorabsprachen treffen sowie auch während der Beratungen Gespräche führen konnte. Es wurde durchgesetzt, daß die Länder jeweils mit 2 Vorträgen auftreten werden, wobei von Seiten der Vertreter der SU und der DDR eine Ausweitung der Thematik dahingehend er-

40 41

Ebd., 73. UAG, Akte Schildhauer, Reisebericht Teil 2, Reisebericht, Greifswald, 23.05.79, S. 301.

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reicht wurde, daß unsere marxistischen Forschungsergebnisse zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte im baltischen Raum zum Tragen kommen.“42

Noch weitere Statements sind interessant. Unter der Rubrik „Hinweise zur Verbesserung der Vorbereitung und der materiellen Sicherung“ führt Schildhauer aus: „Die Teilnahme von 2 DDR-Historikern ist auf der Konferenz 1982 in den Niederlanden unbedingt erforderlich, damit die soz. Länder von den Vorträgen und der Diskussion her ein Gegengewicht gegen die zahlenmäßig stärkeren kap. Länder bilden können.“43

Unter der Rubrik „Probleme aus Kontakten und gegnerischen Aktivitäten bzw. besondere Vorkommnisse“: „Von westdeutscher Seite war das Bemühen um den sowjetischen Genossen deutlich zu spüren.“ 44 Jedoch brauchte man sich nicht um Raimo Pullat zu bemühen, er kam selbst auf einen zu und wollte ein Bier mit einem trinken. Vor allem suchte er den Kontakt zu westdeutschen Historikern, um einen geplanten Aufenthalt am Institut für Europäische Geschichte in Mainz, wo er 1983 und 1985 länger forschte, in die Wege zu leiten. Leider nahmen die Genossen Schildhauers Forderung zur Präsenz zweier DDR-Historiker auf der Tagung in Utrecht nicht ernst. Uns Teilnehmern wurde von der Organisatorin Johanna Maria van Winter verkündet, dass Schildhauer und Fritze keine Reisegenehmigung erhalten hatten. Da dies bei der nächsten internationalen Tagung der Association 1985 in Exeter wiederum der Fall war, schlug ich dem Vorstand vor, die folgende Konferenz in der DDR zu veranstalten, um eine entsprechende Präsenz der dortigen Hanse- und Ostseeraumhistoriker zu erreichen. Von da an begann meine Zusammenarbeit mit Johannes Schildhauer und vor allem mit Konrad Fritze, die in der internationalen Konferenz im April 1989 in Rostock gipfelte. Hier lernte ich auch Herbert Langer persönlich kennen und es war nicht abzusehen, dass ich einmal sein Nachfolger werden würde. Herbert Langer (1927–2013) Herbert Langer war sicher der bedeutendste Frühneuzeithistoriker in der damaligen DDR. So schreibt Georg Schmidt in seinem 1995 bei Beck-Wissen erschienenen Dreißigjährigen Krieg: „Im gleichen Jahr erschien die Kulturgeschichte des 30jährigen Krieges von Herbert Langer, die auch eine Sozialgeschichte dieses Krieges ist. Zusammen mit Konrad Repgen, (…), darf Langer als der wohl profilierteste deutsche Kenner der Geschichte dieses Krieges gelten.“45

Herbert Langer war ein Spätberufener (aufgrund von Krieg und Vertreibung), dessen Interesse am Dreißigjährigen Krieg aber spätestens im Jahr 1955 einsetzte, als er in Anklam in einer Schulaufführung den Wachtmeister in Wallensteins La42 43 44 45

UAG, Akte Schildhauer, Reisebericht Teil 1, Sofortbericht, Greifswald, 8.9.81, S. 221f. Ebd., S. 222. Ebd. Georg Schmidt, Der Dreißigjährige Krieg, München 1995, 104.

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ger übernahm. Herbert Langer war zu dieser Zeit schon Musik- und Geschichtslehrer an der Geschwister-Scholl-Oberschule, nachdem er am Putbusser Pädagogium 1946/47 einen Kurs für Geschichtslehrer besucht hatte. Durch ein Fernstudium an der PH-Potsdam bildete er sich nebenbei (seit 1956) zum Diplomlehrer für Geschichte weiter, wurde aber während dieser Zeit von den Greifswalder Historikern entdeckt und als Assistent am Historischen Institut eingestellt. Unter der Anleitung von Johannes Schildhauer und Konrad Fritze entstand hier seine Dissertation Stralsund 1600–1630. Eine Hansestadt in der Krise und im europäischen Konflikt, die 1965 abgeschlossen wurde.46 An diesem Buch liest man sich bis heute fest, insbesondere fasziniert die gründliche wirtschafts- und sozialhistorische Analyse. Auch das differenzierte Wallensteinbild fällt auf, da Langer mit dem tradierten Geschichtsbild vom „bösen katholischen, kaiserlichen Wallenstein“ und den „guten Schweden“ bricht. Seine Sichtweise ist dabei zweifelsohne durch die tschechischen Historiker Josef Polišensky und Miroslav Hroch stimuliert, die Wallensteins Politik in verschiedenen Kontexten analysieren.47 Die Auseinandersetzung mit der tschechischen, aber auch der westeuropäischen und schwedischen Forschung bildete dann auch die Grundlage für Herbert Langers Dissertation B, die Habilitationsschrift, in der er mehrere Beiträge zum 17. Jahrhundert für die Geschichte des deutschen Volkes, das Standardwerk der DDR-Geschichtsschreibung, zusammenfasst. Hier erstaunt die breite Perspektive von wirtschafts-, sozial- und politischer Geschichte, zu der dann in der Buchveröffentlichung die Kulturgeschichte noch stärker hinzutritt. Mit seinem auf der Habilitationsschrift basierenden Hortus Bellicus. Der Dreißigjährige Krieg: Eine Kulturgeschichte hat Herbert Langer, seit 1973 Professor für Allgemeine Geschichte, und damit auch das Historische Institut in Greifswald international Furore gemacht.48 Durch seinen marxistischen Blick hatte er ein feines Gespür für die unterschiedlichen Interessen von Kriegsherren, Soldaten, Städtern, Bauern, etc. Während sich die historischen Anthropologen Ende der 1990er Jahre rühmten, „das spannungsreiche Verhältnis zwischen Alltag und Katastrophe mittels einer Verschränkung mikro- und makro-historischer Perspektiven zu untersuchen, den Großen Krieg gewissermaßen ‚aus der Nähe‘ zu betrachten“49, hatte dies Herbert Langer schon in den 70er Jahren gemacht und seit 1978 konnte man das im Hortus Bellicus bereits nachlesen. Langers 46 47

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Herbert Langer, Stralsund 1600–1630. Eine Hansestadt in der Krise und im europäischen Konflikt, Weimar 1970. Josef Polišensky, Třicetiletá Válka a evropske krize 17. století, Praha 1970; Miroslav Hroch, Handel und Politik im Ostseeraum während des Dreißigjährigen Krieges: zur Rolle des Kaufmannskapitals in der aufkommenden allgemeinen Krise der Feudalgesellschaft in Europa, Praha 1976. Herbert Langer, Hortus Bellicus. Der Dreißigjährige Krieg: Eine Kulturgeschichte, Leipzig 1978, 3. Auflage 1982, 4. Auflage 1985. Michael Rohrschneider, Rezension zu Benigna von Krusenstjern und Hans Medick (Hrsg.): Zwischen Alltag und Katastrophe. Der Dreißigjährige Krieg aus der Nähe. Göttingen 1999, in: H-Soz-u-Kult, 29.12.1999 (http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/id=117).

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„Kulturgeschichte verbindet gekonnt die strukturellen Spannungsgefüge der feudalen Gesellschaft Alteuropas mit den Besonderheiten der Kriegssituation, wobei vor allem die Kapitel zum Leben der Soldaten und ihrem täglichen Kleinkrieg mit den Bauern hervorzuheben sind.“50

Aber auch die Literatur und die Musik kommen nicht zu kurz, wenn er anschaulich das Wirken von Heinrich Schütz – heute würde man sagen als „displaced artist“ – in den Wirren des Dreißigjährigen Krieges schildert. Man merkt in diesen Kapiteln, dass Herbert Langer ein besonderes Verhältnis zu den Schützschen Werken hatte, von denen er selbst einige aufgeführt hat. Die natürliche Vertrautheit mit Kultur, die Herbert Langer in seinen Büchern, aber auch in seinen Vorträgen ausstrahlte, ist heute den meisten Historikern abhandengekommen. Der Hortus Bellicus erschien dann nicht nur in zahlreichen Auflagen in der DDR und in der Bundesrepublik, sondern auch in Schweden51 und in Großbritannien.52 Spätestens seit dem Erscheinen dieses Buches war Langer nicht nur in Mitteleuropa und in Schweden ein geschätzter Redner, sondern er wurde auch in die zahlreichen Jubiläen des Dreißigjährigen Krieges, insbesondere in die Münsteraner Ausstellung „350 Jahre Westfälischer Frieden“ von 1998 einbezogen. Darüber hinaus übersetzte er die Wallenstein-Biographie Polišenskýs für den Böhlau Verlag.53 Die Zahl seiner Aufsätze ist kaum mehr zu übersehen. Aber auch in der kleinen Form fasziniert Langer bis heute durch seinen packenden Zugriff auf das jeweilige Thema. Ich lege Ihnen nur zwei Veröffentlichungen ans Herz: einmal das mit Jens E. Olesen zusammen herausgegebene Buch Eine deutsch-schwedisch Adelsfamilie im Ostseeraum. Das „Geschlechterregister“ der Mörner (1468– 1653)54 sowie einen seiner jüngsten Aufsätze Die Universität Greifswald im Dreißigjährigen Krieg (2011).55 Hier lässt Herbert Langer das Besatzungsregime des kaiserlichen Obersten Lodovico Francesco Perusi(us), der im kulturellen Gedächtnis Greifswalds als Teufel in Menschgestalt gilt, in einem neuen Licht erscheinen. Alles im allen stand und steht die neuere Geschichte in Greifswald in einer langen, produktiven Tradition – sie war schon immer in großem Maße europäisch verortet und gleichzeitig auf die Ostsee ausgerichtet; dass die Universität heute einen geisteswissenschaftlichen Schwerpunkt besitzt, der inzwischen schon von einem zweiten (Internationalen) Graduiertenkolleg getragen wird, verdankt sie dieser klugen Profilierung.

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Schmidt, Der Dreißigjährige Krieg, 104. Herbert Langer, Trettiåriga kriget: en kulturhistoria, Stockholm 1981, 2. Auflage 1989. Ders., Thirty Years’ War, New York 1980, 2. Auflage 1990. Josef Polišenský / Josef Kollmann, Wallenstein: Feldherr des Dreißigjährigen Kriegs, übers. aus dem Tschech. von Herbert Langer, Köln / Weimar / Wien 1997. Herbert Langer / Jens E. Olesen (Hgg.), Eine deutsch-schwedisch Adelsfamilie im Ostseeraum. Das „Geschlechterregister“ der Mörner (1468–1653), Greifswald 2001. Herbert Langer, Die Universität Greifswald im Dreißigjährigen Krieg, in: Militär und Gesellschaft in der frühen Neuzeit 15/2011, 72–97.

ERNST BERNHEIM Geschichtstheorie und Hochschuldidaktik im Kaiserreich Frank Möller „Wenn der Universitätslehrer, der nicht inmitten der Schulpraxis steht, [es] unternimmt, über den Schulunterricht zu reden, so kann es fraglich erscheinen, ob er dazu berechtigt sei.“ So eröffnete der Greifswalder Geschichtsprofessor Ernst Bernheim 1899 eine Schrift über das Verhältnis zwischen Geschichtsunterricht und Geschichtswissenschaft. Den Zusammenhang sah er im gemeinsamen Fach: „Der Unterricht jeder Art und Stufe muss so beschaffen sein, dass er demjenigen nicht entgegenwirkt, was die betreffende Wissenschaft als wahr erkennt, sondern dass er vielmehr in Stoff und Anschauungsweise (Methode) damit übereinstimmt.“ 1

Von daher sei der Wissenschaftler aufgefordert, sich auch um den Schulunterricht zu kümmern. Es könne dem Wissenschaftler „nicht gleichgültig sein, wie das, was er erforscht und denkt, in den weiten Kreisen des Volkes durch die Schulen zur Wirkung gelangt“, es könne aber auch dem Schullehrer „nicht entbehrlich scheinen, in Übereinstimmung mit der fortschreitenden Wissenschaft zu stehen, um durch seine Arbeit der rechten Erkenntnis im Volke die Wege zu bereiten.“ 2 Die universitäre Ausbildung nun, so hat Bernheim an anderer Stelle deutlich gemacht, verbindet diese beiden Bereiche. Denn hier begegne der Wissenschaftler dem angehenden Lehrer, hier übernehme er die Aufgabe diesen auszubilden. Ernst Bernheim hat in den letzten zwanzig Jahren neue Aufmerksamkeit erhalten, nachdem er lange Zeit kaum beachtet wurde. Für die Historische Sozialwissenschaft der 1960er und 70er Jahre galt er als Vertreter des Historismus überholt – in Hans-Ulrich Wehlers Reihe Deutsche Historiker fehlte er, in Siegfried Quandts Reihe Deutsche Geschichtsdidaktiker wurde er als einengender Positivist abgeurteilt. 3 Doch seitdem haben ihn nicht nur zahlreiche Aufsätze, sondern auch mehrere Monographien gewürdigt. 4 Dieses neu erwachte Interesse lässt sich m. E. 1 2 3 4

Ernst Bernheim, Geschichtsunterricht und Geschichtswissenschaft im Verhältnis zur kulturund sozialgeschichtlichen Bewegung unseres Jahrhunderts, in: Neue Bahnen 10/1899, 265– 300, hier 265. Ebd., 266. Hans-Ulrich Wehler (Hg.), Deutsche Historiker, 5 Bde., Göttingen 1973; Horst Buscello, Ernst Bernheim (1850–1942), in: Siegfried Quandt (Hg.), Deutsche Geschichtsdidaktiker des 19. und 20. Jahrhunderts. Wege, Konzeptionen, Wirkungen, Paderborn 1978, 219–256. Irene Blechle hat 2002 ein Buch über die Hochschulpädagogen Bernheim und Hans Schmidkunz veröffentlicht, aus einer Magisterarbeit an der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifs-

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leicht erklären: Einerseits führt der Widerstand gegen eine narratologische und konstruktivistische Geschichtstheorie, die Geschichte nur als Erzählung und Text begreift und ihre Wissenschaftlichkeit bezweifelt, zu einem neuen Interesse an den Klassikern des Historismus, die unser Fach erklären und begründen. Andererseits sind Universitätslehre und Geschichtsstudium, Lehrerausbildung und Geschichtsunterricht heute mit ähnlichen Fragen wie Bernheim vor 100 Jahren konfrontiert: Massenuniversität, Verschulung des Studiums, Relevanz des Faches und die Frage des Verhältnisses von Theorie und Praxis in der Lehrerausbildung. Der Universitätslehrer und Geschichtstheoretiker, der – wie das Einstiegszitat zeigt – sich für Hochschullehre und für Geschichtsunterricht an der Schule interessierte, spielte selbstverständlich in diesen neueren Arbeiten immer auch eine Rolle. Wenig behandelt wurde jedoch bisher, in welchem Verhältnis Bernheims Geschichtstheorie zu seinen didaktischen und pädagogischen Vorstellungen stand. 5 Gefragt wird daher im Folgenden nach dem Zusammenhang zwischen Bernheims geschichtstheoretischen Vorstellungen und seinem Konzept einer Reform des Geschichtsstudiums. Dazu wird zuerst die Person Bernheims knapp vorgestellt, da seine wissenschaftliche und didaktische Stellung erst vor dem biographischen Hintergrund verständlich wird. Danach wird Bernheims geschichtstheoretische Position herausgearbeitet. Schließlich soll Bernheims Vorstellung von Hochschulreform und Hochschuldidaktik vorgestellt werden. Dabei soll immer die krisenhafte Situation berücksichtig werden, vor der Bernheims Ideen entstanden. In der Zusammenfassung sollen abschließend die Bezugspunkte zwischen Geschichtstheorie und Hochschuldidaktik im Denken des Greifswalder Historikers herausgearbeitet werden.

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wald von Knut Langewand entstand 2009 ein Band über die Geschichtstheorie Bernheims und seit letztem Jahr liegt eine umfangreiche Frankfurter Dissertation von Mircea Ogrin vor, die alle Bereiche des Wirkens Bernheims betrachtet: Irene Blechle, „Entdecker“ der Hochschulpädagogik. Die Universitätsreformer Ernst Bernheim (1850–1942) und Hans Schmidkunz (1863–1934), Aachen 2002; Knut Langewand, Historik im Historismus. Geschichtsphilosophie und historische Methode bei Ernst Bernheim, Frankfurt a. M. u. a. 2009; Mircea Ogrin, Ernst Bernheim (1850–1942). Historiker und Wissenschaftspolitiker im Kaiserreich und der Weimarer Republik, Stuttgart 2012. Ogrin geht möglicherweise auf den Zusammenhang zwischen Geschichtstheorie und didaktik kaum ein, da er Bernheims Wissenschaftstheorie vor allem als anschlussfähig für die moderne Globalgeschichte sieht. Eine knappe Behandlung der „Parallele“ zwischen Geschichtstheorie und pädagogisch-didaktischer Position findet sich auf S. 295. Aus Sicht der DDR-Historiographie wird diese Frage behandelt von Karl-Michael Chilcott, Zur Geschichtsauffassung Ernst Bernheims (1850–1942) und seinen geschichtsdidaktischen Intentionen für das Studium der historischen Wissenschaften, in: Karlheinz Jackstel (Hg.), Studien zur Geschichte der Hochschulpädagogik (II). Beiträge zu einem hochschulpädagogischen Kolloquium im April 1988, Halle (Saale) 1989, 18–30. Vgl. auch Michael Stolle, Das didaktische Gedächtnis. Neurobiologische und historiographische Ansätze für eine fachspezifische Hochschuldidaktik, in: Rainer Pöppinghege (Hg.), Geschichte lehren an der Hochschule. Reformansätze, Methoden, Praxisbeispiele, Schwalbach/Ts. 2007, 29–46.

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1. Biographie Ernst Bernheim 6 wurde am 19. Februar 1850 in Hamburg in eine emanzipierte jüdische Kaufmannsfamilie geboren. Sein Großvater mütterlicherseits, Aron Simon, hatte 1815 als Freiwilliger gegen Napoleon gekämpft und war später aus der jüdischen Gemeinde ausgetreten. Sein Vater Ludwig Bernheim verließ ebenfalls die jüdisch-orthodoxe Gemeinde und schloss sich 1848 dem reformjüdischen Neuen Israelitischen Tempelverein an. 7 Hier wurde nicht nur in deutscher Sprache gepredigt, sondern auch der Anspruch aufgegeben, jemals ins Heilige Land zurückzukehren. Unter dem Einfluss seiner Mutter entwickelte Ernst Bernheim schon früh künstlerische, historische und nationale Interessen. Sie stand ihm auch bei der Berufswahl zur Seite. Damit entsprach Bernheims Entwicklung einem im 19. Jahrhundert oft anzutreffenden Fall, dass aus wirtschaftsbürgerlichen Familien ins Bildungsbürgertum gewechselt wurde. 8 Bernheim begann 1869 das Geschichtsstudium in Berlin, wo er mit Leopold Ranke und Johann Gustav Droysen gleich bei zwei Größen des deutschen Historismus Vorlesungen hörte. Während eines einsemestrigen Aufenthalts an der Universität Heidelberg entwickelte er bei Wilhelm Wattenbach das Interesse an der mittelalterlichen Quellenkunde. Seit 1872 studierte er an der neu konstituierten Universität in Straßburg und promovierte dort über den deutschen Kaiser Lothar III. Schon eineinhalb Jahre später schloss er in Göttingen bei Georg Waitz seine Habilitation ab. Die Zeit als Privatdozent in Göttingen erlebte Bernheim als finanziell unsicher. Er wirkte an einer Edition der Reichstagsakten des späten Mittelalters mit und unternahm in diesem Zusammenhang auch eine Reise nach Italien. In der Lehre beschäftigte er sich zum ersten Mal mit Geschichtstheorie und gab ein Kolleg zur „Modernen Geschichtsauffassung“, an dem auch als junger Student der später berühmte Historiker Karl Lamprecht teilnahm. Bernheim litt unter der Unsicherheit und den Zwängen dieser acht Jahre. Als sein Schüler Karl Lamprecht sofort eine Professur erlangte, stellte er „die Freiheit mit der Sie Ihren eigensten Neigungen nachgehen können“, dem „Labyrinthe“ seiner eigenen Editionstätigkeit gegenüber. 9 Der ganze Wissenschaftsbetrieb sei nur noch auf Opportunismus ausgelegt: „Das akademische Leben ist in meinen Augen wesentlich nur noch Schwindel, wobei es gar nicht darauf ankommt, ob man etwas leistet, sondern ob man geschickt und möglichst gewissenhaft strebt.“ 10 Im Sommer 1883 erhielt Bernheim nach langem Warten dann doch einen Ruf an das Historische Institut 6

Der biographische Abriss im Folgenden nach Langewand, Historik, 23–28; Blechle, Entdecker, besonders 29–49, 332–341; Ogrin, Bernheim, 20–103. 7 Vgl. Andreas Brämer, Judentum und religiöse Reform. Der Hamburger Israelitische Tempel 1817–1938, Hamburg 2000. 8 Den individuellen Wechsel zwischen Wirtschafts- zum Bildungsbürgertum in der Generationenfolge behandelt besonders Franz J. Bauer, Bürgerwege und Bürgerwelten. Familienbiographische Untersuchungen zum deutschen Bürgertum im 19. Jahrhundert, Göttingen 1991. 9 Brief Bernheim an Lamprecht 9.2.1883, zit. n. Blechle, Entdecker, 39. 10 Brief Bernheim an Lamprecht 2.8.1883, zit. n. ebd., 42.

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der Universität Greifswald. Diese Berufung auf eine außerordentliche Professur für Geschichte des Mittelalters und der historischen Hilfswissenschaften betrachtete Bernheim als „Akt der Gerechtigkeit.“ 11 Er beteuerte, er habe sich geschworen, „einmal dagegen zu wirken, daß man die freudige höchstwertige Lebenskraft unseres Standes mit Absicht dem schnödesten Wettkampf um die leibliche und geistige Existenz preisgibt, wie es jetzt in der Einrichtung des Privatdozententums [und] der Stipendien geschieht.“ 12

Diese kritische Reflexion über die Lebensbedingungen der Wissenschaft kann als Ursache für das besondere Interesse Bernheims an Universitätsreform und Hochschuldidaktik gesehen werden. Die Universität Greifswald war damals, ähnlich wie heute, für viele Dozenten eine Durchgangsstation. Junge, karriereorientierte Professoren nutzten sie als Sprungbrett für attraktivere Stellen in Deutschland. Auch Bernheim versuchte 1895 erfolglos einen Ruf nach Leipzig zu erhalten. Sowohl bei der späten Berufung Bernheims als auch bei seinem Scheitern, von dort wieder wegzukommen, scheint möglicherweise seine jüdische Herkunft eine Rolle gespielt zu haben. Dass er vor seiner Heirat 1886 zum Protestantismus, dem Glauben seiner Braut, konvertiert war, half ihm in der universitären Landschaft Deutschlands wenig. In Greifswald jedoch fühlte sich Bernheim wohl und erlangte großes Ansehen. 1889 wurde seine Professur in ein „richtiges“ Ordinariat umgewandelt. Seine Akzeptanz an der Universität fand ihren Ausdruck darin, dass er 1895/96 und dann wieder 1909 zum Dekan der Philosophischen Fakultät und 1899 sogar zum Rektor der Universität gewählt wurde. 13 Bernheims geschichtstheoretisches Interesse führte 1889 zur Veröffentlichung seines Lehrbuchs der historischen Methode, in dem er seine Erfahrungen aus einführenden und quellenkundlichen Übungen in einer geschichtstheoretischen Einführung zusammenfasste. 14 Das Werk, das bis 1912 in vier, immer mehr erweiterten Auflagen erschien und nach dem Krieg unter dem Titel Einleitung in die Geschichtswissenschaft als verkürztes Lehrbuch für Studenten fortgesetzt wurde, avancierte bald zum Standardwerk der historischen Methode. Es wurde noch 1910 als „dasjenige Buch“ bezeichnet, „aus welchem der deutsche Geschichtsstudent vor allem seine Kenntnisse“ bezieht 15, fand zahlreiche Übersetzungen und ist bis in die Gegenwart die Grundlage fast aller „Einführungen in die Geschichtswissen11 Brief Bernheim an Lamprecht, 1.8.1883, zit. n. ebd., 45. 12 Brief Bernheim an Lamprecht, 10.1.1884, zit. n. ebd., 46. 13 Grundlegend Thomas Stamm-Kuhlmann, Die Philosophische Fakultät vom Anschluss an Preußen 1815 bis zur deutschen Wiedervereinigung 1990, in: Dirk Alvermann / Karl Heinz Spieß (Hgg.), Universität und Gesellschaft. Festschrift zur 550-Jahrfeier der Universität Greifswald 1456–2006, Bd. 1, Die Geschichte der Fakultäten im 19. und 20. Jahrhundert, Rostock 2006, 371–480. 14 Im Folgenden wird folgende Auflage verwendet: Ernst Bernheim, Lehrbuch der historischen Methode und der Geschichtsphilosophie. Mit Nachweis der wichtigsten Quellen und Hilfsmittel zum Studium der Geschichte, Leipzig, 5. u. 6. Aufl. 1908. Online verfügbar unter: https://archive.org/details/lehrbuchderhist03berngoog (1.11.2014). 15 Zit. n. Langewand, Historik, 88.

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schaft.“ Dass Bernheim es trotzdem nie zum Klassiker der Geschichtstheorie geschafft hat, liegt wahrscheinlich an seiner zu großen Ausführlichkeit, den unzähligen mittelalterlichen Beispielen und einer eher trockenen Sprache. In dieser Zeit wurde Bernheim auch in den sogenannten „Methodenstreit“ hineingezogen. Sein Schüler und Freund aus Göttinger Zeit, Karl Lamprecht, hatte mit seiner Deutschen Geschichte den Anspruch erhoben, eine neue Kultur-und Wirtschaftsgeschichte zu präsentieren, in der auch die „Gesetzmäßigkeiten“ der Geschichte aufgedeckt würden. Dieser neuartige Ansatz wurde von der an politischer Ereignisgeschichte orientierten, etablierten Geschichtswissenschaft vehement abgelehnt. 16 Bernheim, der Lamprechts Offenheit für neue Themen und Methoden begrüßte, aber dessen Determinismus ablehnte, wurde von vielen Gegnern Lamprechts, insbesondere dem bissigen Georg von Below, als Anhänger Lamprechts angegriffen. Ab der Jahrhundertwende kam es schließlich auch noch zu einer Entfremdung zwischen Lamprecht und Bernheim, da dieser in einem Aufsatz Lamprechts Ansatz zur Richtung des Positivismus gezählt hatte, wodurch Lamprecht seine Originalität angegriffen sah. 17 Seit den 1890er Jahren wandte sich Bernheim dann verstärkt der Didaktik und der Hochschulreform zu. Neben zahlreichen Schriften – auf die noch eingegangen wird – engagierte er sich für Ferienkurse zur Lehrerfortbildung 18 und beteiligte sich an der Gründung mehrerer Vereine, die auf lokaler Ebene Bildungsanstrengungen vernetzen wollten. 19 Die Zusammenarbeit mit dem Pädagogen Hans Schmidkunz führte 1910 zur Gründung der „Gesellschaft für Hochschulpädagogik“ in der Bernheim seit 1913 bis zum Ende des Vereins 1934 Vorsitzender war. 20 Mit der Unterstützung Bernheims erhielt Schmidkunz in Greifswald auch den ersten Lehrstuhl für Hochschulpädagogik an einer deutschen Universität. Bernheim hatte sich bereits kurz vor dem Ersten Weltkrieg mit einer Schrift zur politischen Bildung zu Wort gemeldet. In seiner Staatsbürgerkunde analysierte er europäische Verfassungen und kam – für einen nationalliberalen Anhänger des Kaiserreichs nicht überraschend – zum Ergebnis, dass die Bismarcksche Reichsverfassung in gelungener Weise die Prinzipien von Volks- und Fürstensouveränität verbinde. Durch die Kriegsniederlage empfand er politische Bildung als besonders wichtig und hielt in seinen letzten Semestern zahlreiche Veranstaltungen zu verfassungsrechtlichen Problemen der Gegenwart. In seiner Schrift Weshalb sind Deutschlands Friedensschlüsse meist unglücklich ausgefallen? aus dem 16 Ein guter Überblick zu den erkenntnistheoretischen Fragen des Methodenstreits bei Harald A. Wiltsche, „... wie es eigentlich geworden ist.“ Ein wissenschaftsphilosophischer Blick auf den Methodenstreit um Karl Lamprechts Kulturgeschichte, in: Archiv für Kulturgeschichte 87/2005, 251–284. Grundlegend Luise Schorn-Schütte, Karl Lamprecht. Kulturgeschichtsschreibung zwischen Wissenschaft und Politik, Göttingen 1984; Roger Chickering, Karl Lamprecht. A German Academic Life, Atlantic Highlands 1993. 17 Ogrin, Bernheim, 66. 18 Seit 1900 bis ins Jahr 1926 gehörte er auch dem Leitungsgremium dieser Ferienkurse an. 19 Dazu ausführlich Blechle, Entdecker. 20 Ogrin, Bernheim, 73–80; Bernheim wurde als Nachfolger Karl Lamprechts Vorsitzender, da dieser wegen seiner Gegnerschaft zu Schmidkunz zurückgetreten war.

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Jahr 1921 erwies er sich als gemäßigter Anhänger der Dolchstoßlegende, der das deutsche Volk zum gesunden Realismus aufforderte, um das Extrem eines „heftig auftrumpfenden Nationalgefühls, das ruhiger Erwägung der wirklichen Verhältnisse auch nicht gerecht“ werde, zu vermeiden. 21 1921 wurde Bernheim emeritiert, sein Nachfolger wurde Adolf Hofmeister. Seit 1924 gab er keine Lehrveranstaltungen mehr. Zwar scheint Bernheim noch eine neue Auflage seines Lehrbuches geplant zu haben, wie Materialien in seinem Nachlass beweisen. Dazu kam es aber nicht mehr. Auch die „Gesellschaft für Hochschulpädagogik“ entwickelte in der Weimarer Republik trotz aller Anstrengungen keine besondere Wirkung mehr. In hohem Alter wurde Ernst Bernheim noch einmal mit seiner jüdischen Herkunft konfrontiert. Nach der Errichtung der nationalsozialistischen Diktatur und den Nürnberger Gesetzen sah er sich plötzlich als „Volksfeind“ betrachtet. Insgesamt überstand Bernheim, wegen seines hohen Alters, seiner Verdienste und auch der Unterstützung in Greifswald, die NS-Maßnahmen unbeschadet. 22 Dass der über 80jährige gezwungen wurde, in einem Bettelbrief um Beibehaltung des Reichsbürgerrechtes auf seine „eigene nationale Gesinnung“ hinzuweisen 23, dass der Dekan der philosophischen Fakultät zur Verteidigung Bernheims darauf verwies, er gehöre „zu den recht seltenen Ausnahmen, in denen unter dem Einfluss einer arischen Frau das jüdische Erbgut eine starke Zurückdrängung erfahren hat“ 24, zeigt jedoch, zu welcher Würdelosigkeit das System die Menschen dieser Zeit zwang. 1940 konnte der Dekan immerhin, nach Genehmigung durch den Reichsminister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung, Bernheim zum 90. Geburtstag gratulieren. Zwei Jahre später, am 3. März 1942, verstarb Bernheim. Ob er die Deportation der taubstummen Pflegetochter der Familie Hetti Meyer nach Theresienstadt noch bewusst erlebt hat, ist unklar. 25 Die Grabstelle Bernheims wurde 1985 eingeebnet, am Wohnhaus in der Arndtstraße 26 erinnert eine Gedenktafel an einen der wichtigsten Historiker des Greifswalder Historischen Instituts. 2. Geschichtstheorie Bernheim war ein Kind des Historismus – und zwar im ganz wörtlichen Sinne, da große Vertreter des Historismus, Leopold von Ranke, Johann Gustav Droysen und Georg Waitz, zu seinen wissenschaftlichen Lehrern gehörten. Die Historiker des 21 Ernst Bernheim, Weshalb sind Deutschlands Friedensschlüsse meist unglücklich ausgefallen? Greifswald 1921, 38. 22 Hier spielte wahrscheinlich eine wichtige Rolle, dass ihm 1938 das vorläufige Reichsbürgerrecht wieder verliehen wurde. 23 Von Bernheim selbst liegt ein undatierter Entwurf an Hitler vor, der wahrscheinlich in einen Antrag des Sohnes an das Reichsinnenministerium vom 1936 mündete; beides abgedr. bei Blechle, Entdecker, 467–470. 24 Gutachten des Dekans der philosophischen Fakultät, E. Wilke, 9.3.1937, abgedr. bei ebd., 471. 25 Ebd., 337.

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Historismus waren die Begründer der Geschichte als wissenschaftlichem Fach. Zentraler Bestandteil ihres Verständnisses war die Vorstellung, dass die Geschichte empirisch aus den Quellen durch intuitives „Verstehen“ erschlossen werden könne, dass das Individuum und sein Wille und zwar besonders in den Bereichen Staat und Nation im Mittelpunkt der Geschichte stehe und schließlich, dass die Geschichte sich in einem inneren Zusammenhang entwickelt habe. 26 Verbunden ist mit dem Historismus auch der institutionelle und organisatorische Erfolg der Geschichtswissenschaft, die sich weltweit als universitäre Disziplin etablierte. 27 Zur Zeit Bernheims war jedoch der klassische Historismus vorbei, die genannten drei Vertreter starben alle in den 1880er Jahren. Die Geschichtswissenschaft sah sich in dieser Zeit in der Krise, insofern sie zahlreichen Angriffen auf ihre Stellung ausgesetzt war. Der Aufschwung der naturwissenschaftlichen Fächer ließ nicht nur die Bedeutung der Geschichtswissenschaft schwinden, sondern ihre Methodik den auf allgemeine Regeln abzielenden Gesetzeswissenschaften unterlegen erscheinen. Der auf Auguste Comte zurückgehende Positivismus und dann besonders die Geschichtstheorie Karl Marx‘ wiederum bezweifelten die individualistischen Grundannahmen des Historismus. Schließlich zeigte sich mehr und mehr, dass das Ranke’sche Ideal, „Jede Epoche ist unmittelbar zu Gott“ 28, letztlich in einen Werterelativismus mündet. Ernst Bernheim ist „als progressiver, theoriebewusster Historiker im Übergang vom klassischen zum krisenhaften Historismus“ eingeschätzt worden. 29 Tatsächlich teilt Bernheim noch die optimistische Position seiner Vorgänger, dass die Geschichtswissenschaft mit ihrer Methode die Vergangenheit objektiv erkennen kann. Er ist sich jedoch der zeitgenössischen Angriffe auf die Wissenschaftlichkeit der Geschichte bewusst und fordert daher – im Unterschied zu vielen seiner Kollegen – eine theoretische Reflexion des Faches. Man kann ihn daher zum „selbstreflektierenden Historismus“ nach Stefan Jordan zählen. 30 Im Mittelpunkt seiner geschichtstheoretischen Vorstellungen steht dabei die Entwicklung und Vermittlung der historischen Methode. Sein Hauptwerk, das Lehrbuch der historischen Methode und Geschichtsphilosophie, ist daher sowohl theoretische Reflexion als auch propädeutische Lehre. 26 Eine genaue Definition des Historismus ist hier unnötig. Als Einstieg: Friedrich Jaeger / Jörn Rüsen, Geschichte des Historismus. Eine Einführung, München 1992; Otto Gerhard Oexle, Geschichtswissenschaft im Zeichen des Historismus, Göttingen 1996. 27 Gabriele Lingelbach, Klio macht Karriere. Die Institutionalisierung der Geschichtswissenschaft in Frankreich und den USA in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Göttingen 2003. 28 Leopold von Ranke, Über die Epochen der neueren Geschichte. Vorträge dem Könige Maximillian II. von Bayern im Herbst 1854 zu Berchtesgaden gehalten, Vortrag vom 25. September 1854, Historisch-kritische Ausgabe, Hg. v. Theodor Schieder u. Helmut Berding, München 1971, 60. 29 Langewand, Historik, 92. 30 Stefan Jordan, Zur Geschichte der Geschichtstheorie. Wissenschaftsgeschichtliche und wissenschaftstheoretische Aspekte, in: Ders. / Peter Th. Walther (Hgg.), Wissenschaftsgeschichte und Geschichtswissenschaft. Aspekte einer problematischen Beziehung, Wolfgang Küttler zum 65. Geburtstag, Waltrop 2002, 187–206, hier 204.

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Bernheim unterscheidet drei Formen, wie sich mit Geschichte beschäftigt wird. Die früheste Form sei das reine Erzählen des Geschehenen: Lieder und Epen von Helden und Abenteuern. Dieser „referierenden Geschichte“ folge dann das Interesse an der Nutzanwendung der Geschichte für die Gegenwart. Eine solche „pragmatische Geschichte“ suche Vorbilder und Beispiele für politisches Verhalten, für Vaterlandsliebe und für Moral. Die neueste und eigentlich wissenschaftliche Geschichtsbetrachtung sei die „genetische Geschichte“, die wissen will, wie die Gegenwart entstanden ist, die also nach Ursache und Wirkung fragt. 31 Dieser Entwicklungsgedanke erst definiere Geschichtswissenschaft als Fach: „Die Geschichtswissenschaft ist die Wissenschaft, welche die Thatsachen der Entwicklung der Menschen in ihren (singulären wie typischen und kollektiven) Bethätigungen als sociale Wesen im kausalen Zusammenhange erforscht und darstellt.“ 32

Bemerkenswert an dieser Definition ist, dass Bernheim hier den Bezug des Historismus auf die „großen Männer“ überwindet und auch das Leben und die Bestrebungen der breiten Masse für erforschenswert hält. In seinem Schwerpunkt auf die Entwicklung der Menschheit bleibt er jedoch dem bürgerlichen, fortschrittsoptimistischen Blick des 19. Jahrhunderts verhaftet. Droysen Heuristik Kritik Interpretation Darstellung, später: Topik

Bernheim Quellenkunde Kritik Auffassung = 1. Interpretation, 2. Kombination, 3. Reproduktion Darstellung

Arbeitsgänge in der historiographischen Erkenntnis

Bernheim folgt bei seiner Einteilung des Prozesses der historischen Forschung weitgehend Droysens Historik. Nachdem mit der Quellenkunde die historischen Quellen gefunden und – etwa durch die Hilfswissenschaften – für die Auswertung erschlossen wurden, müssen sie in der äußeren und inneren Kritik einerseits auf Echtheit, andererseits auf ihre Perspektive und Zuverlässigkeit untersucht werden. In der Auffassung werden dann die Erkenntnisse aus den Quellen als historische Tatsachen gedeutet, die schließlich in der Darstellung an ein Publikum vermittelt werden. Im größten Teil seines Lehrbuches – über 300 Seiten – beschäftigt Bernheim sich mit der Quellenkunde und der Quellenkritik. Sie bilden für Bernheim den Mittelpunkt der historischen Methode. Bernheim ist davon überzeugt, dass mit der entwickelten Quellenkritik des Historismus nicht nur echte und gefälschte Quellen unterschieden, sondern dass vor allem die Perspektive und die Einseitigkeiten des historischen Autors korrigiert und daher aus den Quellen zuverlässige Ergebnisse 31 Bernheim, Geschichtsunterricht und Geschichtswissenschaft, 269. 32 Ders., Lehrbuch, 6.

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über die Vergangenheit gewonnen werden können. Die zwar von Droysen übernommene, aber von Bernheim erstmals scharf gefasste und auf die Intention des Verfassers bezogene Unterscheidung zwischen Traditions- und Überrestquellen gilt auch heute noch als wesentliches Merkmal zur Beurteilung des Quellenwerts. Überhaupt geht die noch heute vertretene Quellenkunde und -kritik der aktuellen Geschichtswissenschaft weitgehend auf die von Bernheim formulierten Prinzipien zurück. Doch auch wenn wir heute die Quellenkunde und -kritik Bernheims besonders hervorheben, so ist es das wesentlich kürzere Kapitel zur „Auffassung“, das eigentlich den Mittelpunkt seiner geschichtstheoretischen Überlegungen darstellt. Die „Auffassung“ ist für Bernheim die wissenschaftliche Entwicklung des Bildes der Vergangenheit aus den durch Quellenkritik gewonnenen Daten 33 der Quellen. Hier wird im Geiste des Historikers die Vergangenheit rekonstruiert. Die „Auffassung“ unterteilt Bernheim in die Interpretation, also die Auswertung der Quellen, die Kombination, also das Verknüpfen der gewonnenen Daten, und schließlich die Reproduktion, mit der sich der Historiker die „Tatsachen im Zusammenhang“34 vorstelle. Zur „Auffassung“, insbesondere zur Kombination, gehört für Bernheim zwar „schöpferische Phantasie.“ Diese müsse aber durch wissenschaftliche Rückbindung an die Quellen und ihre Ergebnisse gezügelt werden. „[I]m übrigen sind die Funktionen der Kombinierung dem freien Walten der Phantasie entzogen und in einer Weise an die realen Daten und Erfahrungsanalogien gebunden, daß man wohl sagen kann, es gehöre Phantasie zur Kombination, nicht aber, die Kombination sei eine Funktion der Phantasie.“ 35

Auch für die Darstellung betont Bernheim, dass sie eben keine Kunst sei. Die Ästhetik helfe „die im Zusammenhange erkannten Thatsachen in erkenntnisgemässem Ausdruck wiederzugeben.“ 36 Das Ziel sei es also nicht Kunstwerke herzustellen, sondern Erkenntnis zu vermitteln. 37 Kann Geschichte objektiv sein? Dass es die Geschichte wirklich gebe, könne nur der bezweifeln, so argumentiert Bernheim, der sein eigenes Leben für einen Traum halte. Zudem könne jeder Mensch das Handeln und die Ideen eines anderen Menschen begreifen, da es eine Identität der menschlichen Natur gäbe. 38 Die Schwierigkeiten, die sich ergeben, wenn man aus den unvollständigen und parteiischen Quellen die Wahrheit zu finden sucht, glaubt Bernheim, können durch eine 33 Bernheim hat in der ersten Auflage noch von Tatsachen gesprochen, die die Quellen bieten. Hinter dem Wechsel des Begriffs steht jedoch nicht, wie Ogrin annimmt (206), eine Rücknahme der „Tatsächlichkeit“, sondern Bernheim benutzt eine genauere Begrifflichkeit. „Daten“ sind für ihn die wissenschaftlich gewonnenen Ergebnisse der Quellen, „Tatsachen“ werden dagegen aus den Daten in der „Auffassung“ durch „Kombination“ gewonnen, sind also ein erst später folgendes Ergebnis der wissenschaftlichen Arbeit. 34 Bernheim, Lehrbuch, 625. 35 Ebd., 616 36 Ebd., 722. 37 Ebd., 735 38 Ebd., 169f.

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entwickelte Quellenkritik überwunden werden. Doch das wirkliche Problem für die Objektivität der Geschichtswissenschaft sieht Bernheim in der Auffassung, denn der „individuelle Standpunkt“ 39 des Historikers könne eine der Wirklichkeit entsprechende Erkenntnis verhindern. „[I]nwieweit vermögen wir von unserer Individualität abstrahierend die Thatsachen der Geschichte in ihrem Zusammenhang voraussetzungslos aufzufassen?“ – das ist Bernheims zentrale Frage. Bernheim sieht zwei Lösungen: Einerseits müsse der Historiker die „seinem Standpunkt entgegengesetzten unsympathischen Momente mit Bewusstsein aufsuchen“ – wir würden vielleicht sagen: eine Fremdperspektive, die man ablehnt, trotzdem einnehmen –, andererseits könne der Historiker sich besonders auf „relative Wertmaßstäbe“ beziehen, d. h. die Position des zu bewertenden Ereignisses einnehmen. 40 „[E]inerlei ob einem die Einigung Deutschlands als Glück oder Unglück für Europa gilt, man kann dieselbe als ein Entwickelungsfacit ansehen und unbefangen untersuchen, wer dafür und wer dawider handelnd sich hervorgethan hat.“ 41

Im Rahmen der Auffassung und gerade zum Erreichen historischer Objektivität ist für Bernheim nun die Beschäftigung mit der Geschichtsphilosophie wichtig. 42 Die Geschichtsphilosophie, als eine philosophische oder prinzipielle Wissenschaft im Gegensatz zur deskriptiven Geschichtswissenschaft stehend, beschäftige sich nach Bernheim mit den „Prinzipien der Geschichte, (...) d. h. die allgemeinen Ursachen, Grundbedingungen und Prozesse, auf denen einerseits das Geschehen und der Zusammenhang der geschichtlichen Tatsachen, der Entwicklung, andererseits deren Erkenntnis beruht.“ 43

Er stellt sich gegen die Kritik an der Geschichtsphilosophie, wie sie von den Historikern seiner Zeit vertreten wurde, und fordert sogar eine enge Zusammenarbeit zwischen Historikern und Geschichtsphilosophen. Denn die Historiker bräuchten die Theorien der Geschichtsphilosophie, die den Fortschritt in der Geschichte erklären, um sich über ihren eigenen Standpunkt klar zu werden. Daher beschäftigte sich Bernheim auch in der Lehre und in seinen Schriften mit geschichtsphilosophischen Positionen. Dabei berücksichtigte er einerseits die positivistische Welterklärung nach Comte und zu diesem Ansatz rechnete er selbst auch Karl Marx, und andererseits idealistische Vorstellungen. Ein Mediävist, der im Kaiserreich ein Seminar „Welt- und Geschichtsanschauungen des modernen Sozialismus“ anbot, war wohl außergewöhnlich. 44 Er selbst bezog sich besonders auf die Vor39 40 41 42

Ebd., 702. Ebd., 712. Ebd., 713. In den späteren Auflagen des Lehrbuchs hat Bernheim zwar die Betrachtung der Geschichtsphilosophie in der Gliederung an andere Stelle gesetzt. In seiner Vorstellung gehört sie jedoch – wie ursprünglich auch geschehen – zur Auffassung. 43 Ebd., 738. 44 Im WS 1893/94; andere Veranstaltungen zu diesem Komplex waren „Der moderne Sozialismus und die Geschichtswissenschaft“ (SS 1892), „Die Entwicklung der Sozialdemokratie und ihrer materialistischen Geschichtsauffassung“ (SS 1899); vgl. Ogrin, Bernheim, 346f.

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stellungen des Göttinger Philosophen Hermann Lotze, dessen skeptischidealistische Vorstellung einer nicht-teleologischen Verwirklichung der Humanität in der Geschichte Bernheim wohl besonders ansprach. 45 Geschichtsphilosophie in Verbindung mit seiner genetischen Geschichtsauffassung ermöglichen es Bernheim nun, den Status der Geschichtswissenschaft als objektiver Wissenschaft herzuleiten. Während wir heute von einer Vielzahl möglicher Geschichten ausgehen, die je nach subjektivem Standpunkt des Historikers ausgewählt werden und unterschiedlich ausfallen können, sieht Bernheim in dem spezifischen Blick aus der „menschlichen Gesamtentwicklung“ einen quasi neutralen Standpunkt. Bernheim würde daher dem modernen Argument widersprechen, der Historiker stelle je nach subjektivem Standpunkt seine Fragen, suche seine Quellen aus und erzähle seine Geschichte. Denn mit der Frage nach der Entwicklungsrichtung der Geschichte könne der Historiker seine relativen Wertmaßstäbe überwinden und sich zu „universalhistorischen Gesichtspunkten“ erheben. Der Historiker „muß darauf bedacht sein, den höchsten Standpunkt einzunehmen, welcher ihm nach seinen Anlagen erreichbar ist: über die Interessen seiner persönlichen Stellung, seiner Partei, seiner Nation hinaus muß er sich zu universalhistorischen Gesichtspunkten, zu denen der Geschichtsphilosophie erheben, um die relativen Wertmaßstäbe, die er anwendet, auch in ihren kleinsten Abstufungen an jenem umfassendsten, dem Maßstabe der menschlichen Gesamtentwicklung, zu messen.“ 46

Es ist dies eine – ohne dass sich Bernheim dessen bewusst gewesen wäre – quasi marxistische Position: Wer die Entwicklungsrichtung der Geschichte kennt, kann sie objektiv bewerten. Mit den neuen Tendenzen nach dem Ersten Weltkrieg konnte Bernheim aus dieser objektivistischen Position heraus nichts anfangen. Expressionistische Geschichtsschreibung, wie er sie in Theodor Lessing und Oswald Spengler verwirklicht sah, lehnte er vehement ab. In ihnen sah Bernheim eine anti-rationale, spekulative und subjektive Abwendung von echter Wissenschaft. Hier wurde – so Bernheim – Erleben gegen Erkenntnis gestellt, es bestand „Zügellosigkeit unter dem Namen der Freiheit“ und damit eine „Gefahr für unser wissenschaftliches und politisches Denken.“ 47 Seine Abrechnung mit Spengler könnte auch heute als Ablehnung der modernen, narrativen Geschichtstheorie formuliert sein: „Wir dürfen nicht zugeben, dass man über die Geschichte dichten soll, wenn man sie verstehen will.“ 48 Man kann Bernheims Objektivitätsbegriff durchaus als ‚zu simpel‘ bewerten. Bernheim fällt hinter Droysen zurück, da er dessen Verständnis der historischen Erzählung nicht erreicht. Ihm fehlt zudem ein Gefühl für die Wertkrise des Historismus, wie sie dann von Max Weber in seinem Beitrag zur „Objektivität“ klargestellt wurde. Die wesentliche Bedeutung der Darstellung, der historischen Erzählung, für die intersubjektive Triftigkeit der Aussagen ist ihm ebenfalls 45 46 47 48

Dazu Langewand, Historik, 62–64. Bernheim, Lehrbuch, 772. Dazu Ogrin, Bernheim, 292–295, zit. n. ebd., 292, 293. Zit. n. ebd., 139.

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nicht klar. Tatsächlich wird Bernheims Vorstellung, dass mit gründlicher Quellenkritik die ‚Wahrheit‘ gefunden werden kann, auch noch heute von vielen Historikern geteilt. In der praktischen Arbeit des Faches reicht es anscheinend aus, den Wahrheitsanspruch aus der historischen Methode herzuleiten. 3. Hochschulreform und Hochschuldidaktik Bevor Bernheims Position zu Hochschulreform und Hochschuldidaktik auf seine geschichtstheoretischen Vorstellungen bezogen werden kann, muss man sich klar machen, dass sie durch die Krisenlage der deutschen Universitäten am Ende des 19. Jahrhunderts erklärt wird. Die Universitäten standen vor dem neuen Phänomen wachsender Studentenzahlen. Das führte wiederum zu einer veränderten, sozial offeneren Studentenklientel und dadurch wiederum zu einem sinkenden Bildungsniveau. Zudem standen die Universitäten vor einem Theorie-PraxisProblem, also der grundlegenden Frage, wie die Rolle der Wissenschaft in der Industriegesellschaft des Kaiserreichs definiert werden sollte. Überfüllung. Ausgangspunkt der Situation war ein ungeheures Wachstum der Studentenzahlen und damit zusammenhängend die Überfüllung der deutschen Universitäten. Die Universitäten, deren Studentenzahlen seit dem Vormärz etwa gleich geblieben waren, wuchsen in ganz Deutschland von etwa 12.000 im Jahr 1870 auf weit über 50.000 Studenten zu Beginn des Ersten Weltkriegs. Grund dafür war das Bevölkerungswachstum des Kaiserreichs, ein gestiegener Bedarf an Akademikern und damit zusammenhängend auch die Öffnung der Universität gegenüber neuen sozialen Schichten. 49 Die Folge war ein Ausbau der Universitäten durch Neugründungen, die Notwendigkeit durch Neubauten Raum an den Universitäten zu schaffen – so wurden mit Ausnahme des Hauptgebäudes fast alle Gebäude des Greifswalder Campus in den 1880er Jahren errichtet 50 – und der Ausbau von Dozentenstellen – dabei besonders die wachsende Verwendung von billigen, nicht-festbesoldeten Dozenten. Am Ende stand die Frage, wie das Studium für die gestiegenen Studentenmassen organisiert werden könnte. Gesunkenes Bildungsniveau der Studierenden. Aus der Steigerung der Studentenzahlen und der Öffnung der Universitäten gegenüber sozialen Schichten, die vorher keine Akademiker gestellt hatten, entstand dabei die Wahrnehmung, dass das Bildungsniveau der Studierenden gesunken sei. Die Klagen über die unzureichenden Vorkenntnisse der Studenten rissen in den Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg nicht ab. Auch Bernheim selbst hat in einem Vortrag die Mängel in der „elementaren Beherrschung der Muttersprache“ bei den Studierenden heraus-

49 Allg. Konrad H. Jarausch, Universität und Hochschule, in: Christa Berg (Hg.), Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte. Bd. IV, 1870–1918, Von der Reichsgründung bis zum Ende des Ersten Weltkriegs, München 1991, 313–344, hier 314–319 und 324–328. 50 Universitätsbibliothek (1880–1882); Hörsaalgebäude (Audimax, 1884–1886); Augenklinik (1885–1887); Institut für Physiologie (1886–1888); Physikalisches Institut (1889–1891).

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gestellt. 51 Er listet zahlreiche Fehler aus seiner Lehrpraxis auf, wie falsche Präpositionen und Fallverwendung, unpassende Verwendung von Vokabeln und Fremdworten und die Gleichstellung von unter- und übergeordneten Begriffen. Als Beispiele verweist er auf die fehlerhafte Aufzählung „Aristokratie und Junkertum“ oder nennt die Unfähigkeit zu erkennen, dass die Exekutive, auch wenn ihre Aufgabe von einer gesetzgebenden Körperschaft übernommen wird, Exekutive bleibt. Bernheim sieht hier kein reines Sprachproblem, sondern einen grundlegenden „Mangel an logischem Bewusstsein und an entsprechender Kontrolle des Ausdrucks.“ 52 Diese „Ungewandtheit im Denken“ führt bei ihm zu der bis heute oft zu hörenden Klage, „wie manches Mal habe ich denken müssen und auch wohl ausgesprochen: ‚und Sie wollen demnächst als Lehrer Ihren Schülern etwas klar machen?!‘“ 53 Bernheim wendet sich jedoch gegen eine billige Schuldzuweisung an die Schulen. Zwar wirft er dem Deutsch-Unterricht, insbesondere den AufsatzÜbungen, vor, hier würde zu viel an Literaturstoffen gearbeitet, also bereits „gedanklich und sprachlich formuliertes Material“ bearbeitet, anstatt aus dem „Anschauungs- und Erfahrungskreis“ der Schüler die Themen zu nehmen. 54 Aber Bernheim erklärt eben auch die Universitäten für verantwortlich, da sie schließlich die angehenden Lehrer ausbilden würden. Theorie-Praxis-Problem. 55 Am drängendsten wurde an den deutschen Hochschulen jedoch ein Theorie-Praxis-Problem wahrgenommen, das sich in mehrfacher Hinsicht zeigte. Die Entwicklung der modernen, industriell-kapitalistischen Gesellschaft warf die Frage auf, ob die Ansprüche des neu-humanistischen Bildungsideals auf eine allgemeine geistige Entwicklung des Individuums beibehalten werden können. Auch der Anspruch individueller Wissenschaftsfreiheit schien in den Zeiten der Entstehung der Großforschung und der Forschungsinstitute in Gefahr. Konkret ging es darum, wie berufsorientiert die universitäre Ausbildung sein solle. Dabei entzündete sich diese Auseinandersetzung zumeist an der Frage, ob die praktische Orientierung in universitärer Unabhängigkeit oder durch staatliche Kontrolle durchgeführt werden solle. Und für die Geschichtswissenschaft kulminierten diese Probleme in der Frage nach der gesellschaftlichen Relevanz: Was kann Geschichte für die Gesellschaft leisten? Diese letzte Frage hatte 1890 besondere Aktualität gewonnen, als der Kaiser sich in die Schulpolitik einmischte. Wilhelm II. forderte nämlich eine praxisbezogene, weniger am humanistischen Ideal orientierte Schulbildung. Besonders der Geschichtsunterricht solle verstärkt auf den „nationalen Nährwert“ des Unterrichts achten und staats- und monarchietreue Untertanen erziehen. Gegen den darauf 51 Gedruckt als Bernheim, Die ungenügende Ausdrucksfähigkeit der Studierenden, Leipzig 1912, hier 5. 52 Ebd., 20. 53 Ernst Bernheim, Der Universitätsunterricht und die Erfordernisse der Gegenwart, Berlin 1898, 35f. 54 Ders., Ausdrucksfähigkeit, 32, 34. 55 Allg. Ulrich Hermann, Pädagogisches Denken und Anfänge der Reformpädagogik, in: Christa Berg (Hg.), Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte. Bd. IV, 1870–1918, Von der Reichsgründung bis zum Ende des Ersten Weltkriegs, München 1991, 147–178, hier 150–153.

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folgenden neuen Lehrplan für Geschichte von 1892, der das Schulfach im nationalen Sinne einzuspannen suchte, opponierten auf der „Versammlung Deutscher Historiker“, die Ostern 1893 in München stattfand, Geschichtswissenschaftler wie Geschichtslehrer gemeinsam. 56 Bernheim nahm hier nun – wie so oft – eine vermittelnde Stellung ein. Einerseits sprach er im wilhelminischen Sinne der historischen Bildung eine wichtige Funktion in der Auseinandersetzung der Völker zu. Die Geschichte zeige die Rolle sozialer Gemeinschaften und des Staates und vermittle daher auch Vaterlandsliebe. Aber das sei nur ein positiver Nebeneffekt der wissenschaftlichen Beschäftigung mit der Geschichte. Denn andererseits lautet Bernheims zentrale Forderung, dass das Schulfach Geschichte an die Wissenschaft angebunden sein soll. Der Schulunterricht solle keinen staatlichen Auftrag erfüllen, sondern das Wissen der Historiker für die Schüler präsentieren. Hieraus leitet Bernheim auch die Verantwortung der Universitätsgelehrten für den Schulunterricht ab. Aus seinem universitären Verständnis von Geschichtswissenschaft folgt für Bernheim auch das eigentliche Ziel des Geschichtsunterrichts – und hier hört er sich ganz modern an: Der Schüler „soll die Begebenheiten und schließlich die Gegenwart als etwas Gewordenes begreifen.“ 57 Doch nicht nur von den Schulen wurde Praxisorientierung gefordert, sondern auch an die Hochschulen wurde die Aufforderung herangetragen, sie sollten die Berufsorientierung des Studiums stärker in den Mittelpunkt stellen. Alleine die zunehmende Spezialisierung der Fächer und der Aufstieg der praktischen Naturwissenschaften ließ den Anspruch auf allgemeine Bildung im Sinne Humboldts in die Defensive geraten. Die Gründung von Fachhochschulen und Technischen Universitäten war ebenfalls Ausdruck dieser Entwicklung. 58 Auch Bernheim betonte, ausgehend von seinem eigenen Fach, die Doppelrolle der Universität: Sie habe die Aufgabe sowohl die zukünftigen Wissenschaftler als auch die Staatsbeamten auszubilden. Dabei sah er die neue Entwicklung kritisch. Wie er in seiner Rektoratsrede feststellte, werde der „Geist des Studiums (…) zunehmend von den Zielen berufsmässiger Bildung bestimmt.“ Diese jedoch würden durch die Staatsprüfungen nicht von der Universität, sondern vom Staat definiert. Damit sei die „wissenschaftliche Freiheit“ gefährdet. 59 Die praktische Richtung wolle „am Liebsten die Universitäten in einzelne Fachschulen auflösen, worin die jungen Leute möglichst ohne Umschweife auf ihren speziellen Beruf dressiert werden.“ 60 Doch Bernheim lehnte Veränderungen nicht grundsätzlich ab. Vielmehr sah er gerade in einer Reform der Hochschule und in der Verbesserung der Hochschullehre die Möglichkeit, das Humboldtsche Ideal in der Gegenwart zu erhalten. 56 Dieser Protest stellte interessanterweise die letzte gemeinsame Willensbekundung beider Gruppen dar. Bereits zwei Jahre später mit der Gründung des „Verbandes Deutscher Historiker“, dem dann 1913 der „Verband Deutscher Geschichtslehrer“ folgte, zeigte sich eine Spaltung zwischen Wissenschaftlern und Lehrern. 57 Bernheim, Geschichtsunterricht und Geschichtswissenschaft, 268. 58 Jarausch, Universität und Hochschule, 319–324. 59 Ernst Bernheim, Die gefährdete Stellung unserer deutschen Universitäten. Rede zum Antritt des Rektorats der Universität in Greifswald am 15. Mai 1899, Greifswald 1899, 14. 60 Ders., Universitätsunterricht, 10.

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Schon diese Überlegungen wurden von konservativer Seite als ein Angriff auf die Autonomie der Dozenten betrachtet. So war etwa der berühmte Altphilologe Wilamowitz-Moellendorf entsetzt, dass über die Universitätslehre überhaupt diskutiert werde: „Wer überhaupt weiß, was Wissenschaft ist, kann sich mit niemandem auf eine Debatte einlassen, der wissenschaftlichen Unterricht mit der Abrichtung für irgendeinen Beruf verwechselt.“ Wie der Universitätsprofessor lehre, darüber habe er „vor keinem irdischen Tribunale“ Rechenschaft abzulegen. 61 Bernheim dagegen war der Meinung, dass die Freiheit der Wissenschaft gerade durch eine Auseinandersetzung um bessere Lehre gesichert werden könne. Dazu beteiligte er sich nicht nur an den erwähnten Vereinigungen, sondern präsentierte in seiner Schrift Der Universitätsunterricht und die Erfordernisse der Gegenwart von 1898 auch das Programm einer Reform des Studiums, das er schließlich in seiner Rektoratsrede von 1900 noch einmal aufgriff. Bernheim beschreibt klar das Ziel des Studiums. Es sei eben nicht Fachwissen, sondern wissenschaftliches Denken. „Bei allem akademischen Unterricht kommt es in erster Linie nicht darauf an, Fachkenntnisse und praktische Routine einzupauken, sondern richtig beobachten und denken, sowie das Beobachtete und Gedachte entsprechend formulieren zu lehren, im Allgemeinen und in fachwissenschaftlicher Differenzierung.“ 62

Und hier sieht Bernheim die – auch begriffliche – Brücke zwischen seinen geschichtstheoretischen Vorstellungen und dem Ziel des Hochschulstudiums: „Die Auffassung! Ich halte sie für das Ein und Alles höherer Bildung, wissenschaftlichen Denkens.“ 63 Daraus ergibt sich für Bernheim logisch, dass die rezeptiven, nur Wissen vermittelnden Teile des Studiums reduziert, die aktivierenden, zum Selbstlernen anregenden Teile verstärkt werden müssen. Er wendet sich daher gegen die äußerst umfangreichen Privatvorlesungen und fordert stattdessen Überblicksvorlesungen und als Kern des Arbeitsunterrichts Seminare, die auch noch in Pro- und Hauptseminare aufgegliedert werden sollen. „Selbständig beobachten, denken, arbeiten lernen ist das allgemeine Unterrichtsprinzip, das im seminarartigen Unterricht seine eigentlichste und bis jetzt einzige Stätte innerhalb des Universitätsstudiums findet.“ 64 Bernheims Vorstellungen eines erarbeitenden Unterrichts stießen zu seiner Zeit auf starke Kritik, da er von vielen Kritikern als Anhänger der praktischen Richtung eingeschätzt wurde. So befürchtete der Pädagoge Friedrich Paulsen in Bernheims Plänen eine zu starke Reglementierung des Studiums und damit eine Abkehr von der Freiheit der Wissenschaft. Die Studenten könnten gerade deshalb so viel lernen, weil sie im Studium allein gelassen würden. Als Antwort auf die Kritik, seine Vorschläge seien nicht konkret umsetzbar, veröffentlichte Bernheim 61 Ulrich von Wilamowitz-Moellerndorff, Philologie und Schulreform. Prorektoratsrede, gehalten zur akademischen Preisverteilung 1. Juni 1892, in: Ders., Reden und Vorträge, Berlin 1901, 97–119, hier 103. 62 Bernheim, Universitätsunterricht, 13f. 63 Ebd., 20. 64 Bernheim, Universitätsunterricht, 34.

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1901 einen ausgearbeiteten Studienplan, der zeigen sollte, wie er sich das Arbeitsstudium vorstelle. In dieser Schrift präsentiert Bernheim detailliert fünf Anfängerübungen mit ihren einzelnen Sitzungen. Er gibt damit einen faszinierenden Einblick in die von ihm praktizierte Lehre und präsentiert seine Methodik. Er will damit zeigen, wie „Anfänger ohne Vorkenntnisse sofort mitarbeiten und eigene Ausarbeitungen anfertigen“ können. 65 Die mit Absicht schweren Themen der vorgestellten Übungen sind: 1. Die Werke Otto von Freisings und die Zeit Barbarossas, 2. Sagen der Merowingerzeit und Kritik an Gregor von Tours sowie anderer fränkischer Autoren, 3. Die Verfassungen der französischen Revolution und die deutsche Verfassungsentwicklung, 4. Das Wormser Konkordat, und 5. eine Übung, die sich gezielt den methodischen Fragen des Lehrvortrags am Beispiel vorhandener Sekundärliteratur widmet. Fasst man die konkreten didaktischen und methodischen Ansätze und Prinzipien dieser Übungen zusammen, so sind folgende Punkte besonders auffallend: Quellenarbeit. Im Mittelpunkt der Hochschullehre Bernheims steht die Quellenarbeit. Die Studenten sollen Geschichte nicht als fertiges Produkt, sondern als Ergebnis der Auswertung der Quellen kennenlernen. Bernheim wendet sich sogar gegen die Verwendung von Sekundärliteratur, da die Anfänger „möglichst unbeeinflusst selbst untersuchen und nur subjektiv Neues finden sollen.“ 66 An den oft lateinischen Quellen soll die Entwicklung der Sprache gezeigt werden. Als Beispiel nennt er etwa das Übersetzungsproblem der Formel „ Servus servorum Dei“, das in mittelalterlichen Quellen eben nicht mit dem deutschen Wort „Sklave“ übersetzt werden könne. Arbeitsaufgaben und wöchentliche Hausarbeiten. Bernheim lässt die Studenten fast alles selbst machen. In den Lehrveranstaltungen wird übersetzt, und es werden kleine Abhandlungen geschrieben. Die zu bearbeitende Quelle liegt jedem Studenten vor – nicht ganz selbstverständlich in den Zeiten vor der Erfindung des Kopierers. Von Sitzung zu Sitzung werden Leseaufgaben, Ausarbeitungen oder Kurzreferate aufgegeben. Oft handelt es sich dabei um mehrere und verschiedene Aufgaben, die dann zusammengetragen werden. Entstehende Fragen beantwortet Bernheim nicht selbst, sondern delegiert sie als Aufgaben an Studenten, die die Antworten bis zur nächsten Sitzung erarbeiten sollen. Die Studierenden sollen also selbsttätig lernen. Die bisher übliche Form, dass der Dozent in Privatvorlesungen ausführlich seine eigenen Forschungen vorstellt, der Studierende nur passiv zuhört, lehnt Bernheim ab. Arbeitsunterricht. Als Lösung bei überfüllten Lehrveranstaltungen empfiehlt Bernheim sogar einen Arbeitsunterricht, bei dem Aufgaben während der Veranstaltung von allen Studierenden in Stillarbeit bearbeitet werden. 67 So könne die aktive Arbeit eines jeden gesichert werden, da sich keiner in der Masse verstecken 65 Ders., Das akademische Studium der Geschichtswissenschaft. Mit Beispielen von Anfängerübungen und einem Studienplan, 3., erw. Aufl. der Schrift „Entwurf eines Studienplans“ usw., Greifswald 1909, 24. 66 Ebd., 25. 67 Gruppenarbeit kennt Bernheim noch nicht.

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könne. Die Ergebnisse sollen anonym vom Dozenten eingesammelt und in der folgenden Sitzung besprochen werden. Das stoße auf großes Interesse, denn „die Besprechung dieser Arbeiten richtet sich nicht, wie sonst gewöhnlich, unmittelbar nur an die Adresse des einen oder der wenigen, welche eine Vorarbeit, ein Referat geliefert haben (...), sondern alle haben die Schwierigkeiten, die sich bieten, selbst erlebt.“

Das Ergebnis sei eine „individuelle innere Betätigung, wie sie sonst bei einer großen Zahl von Mitgliedern schwerlich zu erzielen“ sei. 68 Praktische Bedeutung der Hilfswissenschaften. Bernheim räumt als Mediävist und durch seinen starken Bezug auf die Quellen den historischen Hilfswissenschaften einen hohen Rang ein. Von daher hält er sie auch für das Studium für wichtig. Jedoch setzt er sie den Studierenden nicht gesondert als Pflichtstoff vor, sondern zeigt ihre Notwendigkeit in der Beschäftigung mit den Quellen. Die Quellenlektüre zeige, dass Kenntnisse insbesondere der Paläographie und der Urkundenlehre notwendig seien. Auch die Bedeutung lateinischer Sprachkenntnisse soll sich durch die Beschäftigung mit lateinischen Texten erweisen. Bei den Studierenden solle damit „aktuelles Interesse“ geweckt werden. 69 Kontroversität und Objektivität. Schon in der Quellenkritik, aber dann besonders in der Betrachtung verschiedener Historiker, stellt Bernheim – wie man heute sagen würde – Perspektivität und Kontroversität in den Mittelpunkt. So sollen die Studierenden etwa an der Geschichtsschreibung zu Gregor VII. erkennen, dass die katholische Kirche des Mittelalters je nach den „Werturteilen“ des Autors unterschiedlich bewertet wird. Daran will er eine Diskussion der Fragen von Unparteilichkeit und Objektivität anschließen. 70 Didaktische Übungen. Auch Bernheim bejaht die vorherrschende Meinung, dass an der Universität kein Raum für praktische Lehrerausbildung sei. Praktische Erfahrung soll der spätere Lehrer erst an der Schule machen. Tatsächlich jedoch hält Bernheim Geschichtsdidaktik für ein Thema der Universität, schon 1890 hatte er selbst eine Veranstaltung zu „Methode und Erfordernisse des Geschichtsunterrichts“ gegeben. Didaktische Anforderungen stellt Bernheim vor allem aber an die von den Studierenden gehaltenen Lehrvorträge. Die Studierenden sollen nicht nur selbst den Stoff lernen und ihren Kommilitonen vermitteln, sondern eben auch das Halten der Vorträge üben. Dazu sollen der Dozent und auch die Kommilitonen die gewählte Gliederung und die Gewichtung der Vorträge beurteilen und besprechen, die Kommilitonen sich dafür sogar mit dem Material des Vortrages vorbereiten. Letztlich bejaht Bernheim damit doch, dass an den Universitäten didaktische Fähigkeiten vermittelt werden. So lasse sich „ohne besondere Anstalten oder Einrichtungen ein recht wesentlicher Beitrag zur pädagogischen Vorbildung des künftigen Lehrer erzielen, einerlei, ob künftiger Schul- oder Hoch-

68 Bernheim, Das akademische Studium, 17f. 69 Ders., Universitätsunterricht, 41. 70 Ders., Das akademische Studium, 67.

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Frank Möller schullehrer, denn die Grundbedingungen eines guten Vortrages sind formell und sachlich für beide Kategorien dieselben.“ 71

Didaktischer Aufbau des Studiums und der Prüfungen. Bernheim tritt dafür ein, dass die Organisation des Studiums sich an einer didaktisch sinnvollen und effizienten Lehre ausrichtet. Dazu fordert er – was dann ja auch in den folgenden Jahrzehnten umgesetzt wurde – eine Teilung des Studiums in eine Anfänger- und eine Fortgeschrittenen-Phase – also Grund- und Hauptstudium mit Proseminar und Hauptseminar. Gerade die frühe Ausbildung in den Methoden des Faches ermögliche dem angehenden Wissenschaftler dann die Spezialisierung für seine Promotion, ohne in eine „kleinliche Beschränktheit des Gesichtskreises“ 72 zu verfallen; der Schulamtskandidat gewinne die Zeit, sich breiter auszubilden. Die Prüfungen selbst, so fordert Bernheim, sollten nicht auswendiges Wissen abfragen, sondern sich an dem Konzept der Geschichtswissenschaft als eines Denkfaches orientieren. * Ernst Bernheim war einer der bedeutendsten Historiker der Universität Greifswald. Von 1883 bis 1921 Hochschullehrer, dabei auch zur Jahrhundertwende Rektor der Universität, hat er das Historische Seminar geprägt. Über seine mediävistischen Arbeiten und auch über sein äußerst erfolgreiches Hauptwerk, das Lehrbuch hinaus, wirkte er mit seinen hochschulreformerischen Tätigkeiten und seinen politischen Bildungsschriften. Auf mehreren Ebenen korrespondieren dabei Bernheims Vorstellungen von Geschichtswissenschaft und seine Geschichtsdidaktik miteinander. 1. Gegen einen Zeitgeist, der eine praktische Ausrichtung der Geschichtslehrer an Patriotismus und Kaisertreue forderte, betont Bernheim die Einheit von Geschichtswissenschaft und Geschichtsunterricht. 2. Schulische Bildung wird dabei zwar der Wissenschaft untergeordnet, diese könne jedoch ihren Führungsanspruch für historische Bildung nur erheben, weil sie zu „objektiver“ Erkenntnis in der Lage sei. 3. Nur eine Definition von Geschichte, die alle Erklärungsansätze und Wertdiskussionen der Gegenwart berücksichtigt – Bernheim fasst das im Begriff Geschichtsphilosophie zusammen –, habe die Offenheit und Breite, um die „gewordene Gegenwart“ zu erklären. 4. Aus der Verbindung von Geschichtswissenschaft und Geschichtsunterricht folge jedoch auch, dass die Hochschule sich den Problemen der Schule annehmen und insbesondere für die beste Ausbildung der angehenden Lehrer sorgen müsse. 5. Die Geschichte, die Bernheim über ihre Methode definiert, besteht daher nicht einfach aus den Tatsachen der Vergangenheit, sondern aus der Auffassung 71 Ebd., 69. 72 Bernheim, Das akademische Studium, 75.

Ernst Bernheim: Geschichtstheorie und Hochschuldidaktik im Kaiserreich

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dieser Tatsachen als einem analytischen Denkstil. Sie sei daher – für Studenten wie Schüler – ein Denk-Fach, kein Wissensfach. Daran müsse sich auch das Studium orientieren. 6. Methodische Disziplinierung sind für Bernheims Geschichtstheorie als auch für seine Reformdidaktik zentral. Wissenschaftliche Freiheit, in Forschung wie Lehre, entstehe nicht aus einem bürgerlichen Genie-Kult sondern aus einer strengen Methode. Bernheim erweist sich in seinem Verständnis von Geschichtswissenschaft wie -didaktik als ein echter Reformer. Das Alte soll bewahrt werden, indem es kritisch reflektiert und Neues vorsichtig adaptiert wird. Genauso wie der klassische Historismus durch eine Erweiterung um positivistische Erklärungen, massenpsychologische und kulturgeschichtliche Phänomene gerettet werden soll, soll auch das neuhumanistische Bildungsideal durch Reformen und eine Öffnung zur praktischen Bildung gesichert werden. Diese zwei Seiten des Reformers, Bewahren und Innovation, die besondere Kombination aus „Dazu-gehören-Wollen“ und dem scharfen Blick des „Außenstehenden“ mögen bei Bernheim in seiner Herkunft als assimilierter Jude wurzeln. In einem 150jährigen Jubiläum kann die Geschichte des Historischen Instituts in Greifswald leicht zur Erzählung der Taten ‚großer Männer‘ verkommen. Ernst Bernheim als einen ‚großen Mann‘ der Geschichtswissenschaft zu betrachten, wäre sicher fragwürdig. Seine Geschichtstheorie ist als Produkt des Historismus überholt. Seine hochschuldidaktischen Forderungen waren lange gültig, sind aber heute durch die Verschulung im Rahmen der BA-Ausbildung bedroht. Aber man kann beim Blick auf seine Biographie und sein Werk eine ungeheure Breite feststellen: der Mediävist, der sich für moderne Verfassungsgeschichte interessiert, der nationale Deutsche, der eine globale Sichtweise fordert, der Quellenkundler, der sich für Geschichtsphilosophie begeistert, der Nationalliberale, der die Theorien Karl Marx‘ ernst nimmt, der Ordinarius, der sich um Studenten und Schullehrer sorgt, und der Anhänger des Humboldtschen Bildungsideals, der Reformpädagogik betreibt. Es fällt schwer, davon nicht beeindruckt zu sein.

NORDEUROPAFORSCHUNG IM HISTORISCHEN INSTITUT Jens E. Olesen Die Universität Greifswald pflegt als Ostseeuniversität seit langem enge Kontakte nach Skandinavien und Finnland und kann in Lehre und Forschung auf eine mehr als über drei Jahrhunderte währende Tradition der Beziehungen nach Nordeuropa zurückblicken. Schon im Gründungsjahr 1456 kamen dänische und schwedische Studenten nach Greifswald, um an der neuen Universität zu studieren. Hier studierten von Anfang an besonders Kanoniker und Ordensmitglieder sowie Söhne der hansestädtischen Eliten und des Adels.1 Besonders schwedische Studenten kamen im 17. und 18. Jahrhundert nach Greifswald, als Schwedisch-Pommern von 1630/1648 bis 1815 dem schwedischen Reich als Herzogtum angehörte.2 In der Preußischen Zeit nach 1815 waren die Beziehungen zu Skandinavien weniger ausgeprägt, aber in der Zwischenkriegszeit des 20. Jahrhunderts gab es erneut viele Studenten aus Nordeuropa.3 Im Jahre 1918 wurde auch das Nordische Institut (später die Nordeuropäischen Auslandsinstitute) gegründet.4 Nach dem Zweiten Weltkrieg pflegte die Universität, besonders ab den 1960er Jahren, Kontakte zu einigen nordeuropäischen Universitäten mit Dozenten- und Studentenaustauschen. Nach der Auflösung der DDR wurden Partnerschaftsverträge mit mehreren nordeuropäischen Universitäten abgeschlossen und Forschungskontakte intensiviert. Ein Lehrstuhl für Nordische Geschichte wurde am Historischen Institut eingerichtet, um die traditionsreichen historischen Studien zu Skandinavien und Finnland weiterhin in einem festen Rahmen zu pflegen.5 In allen fünf Fakultäten der Universität werden heute Forschungsprojekte und Austausche mit nordischen Universitäten und Fachkollegen durchgeführt. Besonders in der Philosophischen Fakultät und im Historischen Institut werden viele 1

2 3 4 5

Jens E. Olesen, Nordeuropäische Studenten in Greifswald 1456–2006, in: Dirk Alvermann / Karl-Heinz Spieß (Hgg.), Universität und Gesellschaft. Festschrift zur 550-Jahrfeier der Universität Greifswald 1456–2006, Bd. 2, Stadt, Region und Staat, Rostock 2006, 251–289, hier 254f.; Achim Link, Auf dem Weg zur Landesuniversität. Studien zur Herkunft spätmittelalterlicher Studenten am Beispiel Greifswald (1456–1524), Stuttgart 2000, 106–110. Ivar Seth, Die Universität Greifswald und ihre Stellung in der schwedischen Kulturpolitik 1637–1815, Berlin 1956, 55–66, 186–219. Jana Fietz, Nordische Studenten an der Universität Greifswald in der Zeit von 1815 bis 1933, Stuttgart 2004, 34–37, 70–88, 179–184. Siehe u. a. Fietz, Studenten, 51–65. Rainer Höll, Die Nordeuropa-Institute der Universität Greifswald von 1918 bis 1945. Mit vergleichenden Betrachtungen zur Greifswalder Nordeuropaforschung nach 1945, Greifswald 1997. Siehe u. a. Olesen, Studenten, 281f.

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Kontakte und gemeinsame Projekte gepflegt.6 Im Folgendem soll weniger auf die Kontakte nach Nordeuropa in Form von Netzwerken, Forschungsprojekten sowie Studenten- und Dozentenaustauschen eingegangen, sondern vor allem die Nordeuropaforschung im Historischen Institut seit dem 18. Jahrhundert erörtert werden. **** In der mittelalterlichen Universität existierte Geschichte als selbständiges Fach nicht. Die Aufgabe der Universität war es, den Studenten das philologischtheologische, juristische und auch naturwissenschaftlich-medizinische Wissen zu vermitteln, das die Studenten befähigte, in der Kirche und in ihren Ämtern zu wirken. Die Kirche übte auf den Lehrbetrieb der Universitäten einen entscheidenden Einfluss aus. Schon das Mittelalter kannte für die Ausbildung der Kleriker und Juristen historische Abrisse der Kaiser- und Papstgeschichte. Sie sollten den jungen Theologen als Hilfe für das Verständnis der „historia scholastica“ dienen und die kommenden Juristen benötigten ein Minimum historischen Faktenwissens, um sich die klassischen Dekrete erschließen zu können.7 Erst der Humanismus und die Renaissance sollten aber zu einer vertieften Hinwendung zu den Klassikern der Antike, unter ihnen auch den Historikern, führen, die in der ursprünglichen Fassung studiert wurden. Die alte Geschichte wurde anhand der klassischen Historiker studiert, und die „Historie“ unter die „Artes Liberales“ aufgenommen, die an der „Artistenfakultät“ (später die Philosophische Fakultät) gelehrt wurden. Die vornehmsten Fakultäten waren aber die Theologische, die Juristische und die Medizinische. Dies änderte sich nicht mit der Reformation, sondern setzte sich weiter fort. Greifswald wurde nach der Reformation nach dem Wittenberger Modell eröffnet. Unter den neuen Professoren kam 1544 Michael Beuther aus Wittenberg als Professor für Poesie und Historie nach Greifswald. Es scheint, als habe er in seinen vier Jahren an der Universität Geschichte, wahrscheinlich Universalgeschichte, gelehrt, denn seinen späteren Historischen Kalender hatte er allem Anschein nach schon in Greifswald angefangen.8 Der erste Universitätslehrer, der in Greifswald historische Themen behandelte, war mit Sicherheit Johann Trygophorus, der u. a. 1616 über die Germania des Tacitus oder 1625 über Universalgeschichte lehrte. Mit ihm wurde die Reihe der Universitätslehrer, die im 17. Jahrhundert in ihren Vorlesungen immer wieder die Historie, hauptsächlich auf die Bedürfnisse der Theologen zugeschnitten, eingelei6 7

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Siehe u. a. die jährlichen Berichte an das Akademische Auslandsamt (heute International Office). Walter Stark, Über das Studium der Geschichte an der Universität Greifswald in den ersten vier Jahrhunderten ihres Bestehens (1456–1863), in: Der Rektor der Ernst-Moritz-ArndtUniversität Greifswald (Hg.), 125 Jahre Historisches Seminar, Sektion Geschichtswissenschaft der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald 1988, Greifswald 1990, 9–17, hier 9f. Siehe J. G. L. Kosegarten, Geschichte der Universität Greifswald mit urkundlichen Beilagen. Bd. 1, Greifswald 1857, 198.

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tet. Historie blieb eine Hilfsdisziplin und bedeutete nicht die Bezeichnung des realen Geschehens selbst, sondern wurde als Bericht, als Erzählung oder Nachricht über Ereignisse oder Zusammenhänge verstanden.9 In der Frühen Neuzeit und besonders nach dem Dreißigjährigen Krieg traten die Juristen an den Universitäten in den Vordergrund. Diese machten gegenüber der Historie ihre praktisch und aktuell angelegten Ausbildungsanforderungen geltend und versuchten auf diese Weise die Rechtsausbildung zu legitimieren. Zwar blieb die Historie in der Philosophischen Fakultät, doch begannen viele Juristen sich mit historischen Vorlesungen und Publikationen zu profilieren. In der älteren „Schwedenzeit“ konzentrierte sich das Interesse der Historiker und Juristen weiterhin vorrangig auf die Erforschung und Beschreibung der staatlichen Verhältnisse Pommerns und ihrer Entstehung, doch auch den schwedischen Zuständen widmeten sie ihre Aufmerksamkeit. Die Geschichte wurde innerhalb der Rechtswissenschaft gut gepflegt. Davon zeugen vor allem die Tätigkeiten von Theodor Horn (1699–1736, Professor für Logik und Metaphysik), der u. a. über Samuel Pufendorfs Einführung in die Geschichte lehrte, und Johann Philipp Palten. Letzterer studierte in Greifswald und unternahm mehrere Reisen ins Ausland. Palten wurde 1699 „professor historiarum.“ Spätestens 1703 bezeichnete er sich aber als „professor historiae civilis“, also als Professor der politischen Geschichte. Es ist charakteristisch, dass die alte Universalgeschichte völlig in den Hintergrund trat; stattdessen hielt Palten Vorlesungen über Grotius und Pufendorf sowie über die Geschichte fast aller europäischen Staaten. In seiner rastlosen akademischen Lehrtätigkeit sammelte er alte handschriftliche Quellen zur Pommerschen Geschichte und fertigte Abschriften von Chroniken und Urkunden an. Als er 1710 verstarb, hinterließ er 20 handgeschriebene Foliobände gesammelten historischen Materials.10 Der bedeutendste Schüler Paltens war Andreas Westphal, der die vorgezeichnete Arbeitsrichtung mit zeitgeschichtlichen Studien, einer Geschichte Karls XII. (1729) sowie Urkundensammlungen und -untersuchungen fortführte. Zusammen mit Westphal leisteten der Jurist Augustin von Balthasar (1701–1786) in den Jahren von 1727/34–1763 und der Professor der Eloquenz, Moral und Geschichte Albert Georg Schwartz viel Arbeit bei der Erforschung der Geschichte Pommerns. Balthazar stellte die Entwicklung des Rechtswesens in Pommern und Rügen dar. Schwartz verfasste eine Historia finium principatis Rugiae (1727), eine Geschichte des Fürstentums Rügens, eine Pommersche Lehnshistorie (1740) und lehrte über die Geschichte des Deutschen Reiches, Pommerns und Rügens. Gemeinsam veröffentlichten die beiden die Pommerschen Urkundenregesten, ein für lange Zeit unentbehrliches Hilfsmittel zur Geschichte Pommerns.11

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Stark, Studium, 10. Ebd.,11f. Dirk Alvermann (Hg.), Im Hause des Herrn immerdar. Die Lebensgeschichte des Augustin von Balthazar (1701–1786) von ihm selbst erzählt, Greifswald 2003, hier vor allem den ersten Teil der Einleitung: 3–18.

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Für Schweden und die Geschichte dieses Landes setzte sich an der Universität Greifswald besonders der Jurist Christian von Nettelbladt (1696–1775) ein. Er studierte u. a. in Hamburg und in Stockholm. Hier setzte er seine umfangreichen juristischen Privatstudien fort und wartete auf die Chance, im königlichen Dienst angestellt zu werden. Sein Vater versuchte, ihm zu einer Stelle als Professor an der Universität Greifswald zu verhelfen; dies gelang vorerst nicht. Im Jahr 1724 erhielt er aber eine andere vakant gewordene juristische Professur an der Greifswalder Universität. Der schwedische König vergab die Professur unter Umgehung der juristischen Gremien an Nettelbladt. Der Günstling des schwedischen Königs wurde von den einheimischen Kollegen reserviert behandelt. Nettelbladt stürzte sich dessen ungeachtet von Anfang an eifrig in die Arbeit. Es scheint, als hätte er dem schwedischen König beweisen wollen, dass er der richtige für die ihm übertragene Professur sei. In seinen Vorlesungen und Seminaren behandelte er die schwedischen Geschichte sowie Themen zur Geschichte von Recht und Staatsrecht. Er betreute mehr als ein Dutzend Dissertationen, die sich vor allem mit seinen bevorzugten Themen, der schwedischen Geschichte und den Auswirkungen des Westfälischen Friedens 1648 beschäftigten. Seine Studenten arbeiteten später selbst als Professoren oder schwedische Beamte und trugen seine Ideen weiter.12 Neben seiner umfassenden Lehrtätigkeit verfasste Nettelbladt mehrere Bücher, Aufsätze und Rezensionen. Er wurde dadurch über die Grenzen Pommerns hinweg bekannt und 1729 in die Königliche Gelehrte Gesellschaft von Uppsala aufgenommen. In Greifswald veröffentlichte er u. a. eine Schwedische Bibliothec, in der er seine Meinung zu in oder über Schweden herausgebrachten wissenschaftlichen Arbeiten kundtat. Sein offen ausgesprochenes Ziel war es, zu beweisen, dass die im Heiligen Römischen Reich oft zu Unrecht verkannte schwedische Wissenschaft zu beachtenswerten Leistungen in der Lage sei. In seinen Schriften bemühte er sich deshalb, die Überlegenheit des Nordens hervorzuheben. Er bezog sich auf die alte Geschichte Skandinaviens, die einzigartige frühe Literatur und betonte nicht zuletzt immer wieder den Anteil Schwedens am Zustandekommen des Westfälischen Friedens und der Zurückdrängung des katholischen Glaubens im Reich. Neben der Erforschung von Runen untersuchte und beschrieb er Gräberfelder in Pommern und sammelte Leichenreden berühmter schwedischer Persönlichkeiten, die er auch veröffentlichte. Immer wieder versuchte er, die Rechtmäßigkeit der von Schweden auf dem Kontinent erworbenen Besitzungen juristisch zu legitimieren.13 Christian von Nettelbladt fand nur schwerlich Anerkennung unter seinen Greifswalder Kollegen. Sein 1729 in Greifswald gedrucktes Werk Themis Romano-Suetica gab Anlass zu einem hitzigen Streit, da Nettelbladt in dieser Publikati12 13

Nils Jörn, Stockholm-Greifswald-Wetzlar: wichtige Stationen im Leben des schwedischen Reichskammergerichtsassessors Christian von Nettelbladt, in: Stadtgeschichtliches Museum Wismar (Hg.), Schwedenzeit, Wismar 1998, 87–103, hier 87–90; Seth, Universität,123–125. Jörn, Stockholm-Greifswald-Wetzlar, 90; Günter Mangelsdorf, Christian Nettelbladt und seine Ausgrabung von 1727 in Weitenhagen bei Greifswald, in: Dirk Alvermann / Nils Jörn / Kjell Å. Modéer (Hgg.), Virtus est satis hoc uno testificata libro. Festgabe für Manfred Herling, Münster / Hamburg / Berlin 2003, 201–210.

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on untersuchte, ob die schwedische Rechtsprechung nicht einfach auf Pommern übertragen werden könnte. Er argumentierte, dass dies die schwedische Herrschaftsausübung in Pommern vereinfachen und Vorpommern enger an das schwedische „Mutterland“ binden würde.14 Neben solchen Streitfragen kamen persönliche Auseinandersetzungen hinzu und machten die kollegiale Zusammenarbeit mehr als schwierig. Mehrmals wurde Nettelbladt von seinen Gegnern als aufbrausend, streitsüchtig und hinterhältig charakterisiert. Das Spektrum der Streitpunkte war umfassend, aber wenn Nettelbladt merkte, dass er Gefahr lief, in einer Auseinandersetzung zu unterliegen, rief er die Stralsunder Regierung um Hilfe an, die letztinstanzlich immer für Nettelbladt entschied. 1731 wurde er aus dem Konzil ausgeschlossen. Das Konzil untersagte ihm auch die weitere Arbeit an seiner Schwedischen Bibliothec und forderte ihn auf, seine wissenschaftlichen Arbeiten den Gremien zur Zensur vorzulegen. Nettelbladt protestierte vehement und beschwerte sich in Schweden, man würde ihm seine Arbeit für das schwedische Gemeinwohl erschweren. 1733 beklagte er sich bei der Regierung in Stralsund und am Stockholmer Hof unter Hinweis auf seine bisherige Arbeit zum Ruhme Schwedens. Vor diesem Hintergrund wurde Nettelbladt nicht nur wieder in das Konzil aufgenommen, sondern auch im Mai 1733 zum Rektor der Greifswalder Universität gewählt. Seine 1734 begonnene Assistenz am Konsistorium, dem geistlichen Gericht für Vorpommern, öffnete ihm den Weg an das Reichskammergericht in Wetzlar. Im Jahre 1740 siedelte er von Greifswald nach Wetzlar um und trat seine neue Stelle als Assessor an. Wichtige Teile seiner großen Buchsammlung verkaufte Nettelbladt der Greifswalder Bibliothek.15 Die schwedische und nordische Geschichte wurde weiterhin von Juristen betrieben. Von der Mitte des 18. Jahrhunderts an wurde die skandinavische Geschichte in Greifswald hauptsächlich durch Johann Carl Dähnert (1719–1785) und Thomas Heinrich Gadebusch bestimmt. Beide waren keine Historiker von Beruf, was sie aber nicht hinderte, Bedeutendes in der Landesgeschichte zu leisten. Dähnert wirkte viele Jahre als Bibliothekar und als Professor für Schwedisches Staatsrecht, vor allem aber als Sekretär der „Deutschen Gesellschaft“ und Redakteur der Critischen Nachrichten, einer gelehrten Zeitschrift. Von 1765 bis 1782 gab er in acht Foliobänden die Pommerschen und Rügenschen Landesurkunden sowie sein Plattdeutsches Wörterbuch der Pommerschen Mundart (1781) heraus. Mit Gadebuschs Namen bleiben vor allem der Wendisch-Rugianische Landesgebrauch, ein Grundriss der Pommerschen Geschichte und die Schwedisch-Pommersche Staatskunde verbunden.16

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Jörn Stockholm-Greifswald-Wetzlar, 90. Nils Jörn, „Ob rathsam sey, daß die Universität sich einen so kostbaren meuble anschaffe?“, Der Ankauf der Nettelbladtschen Bibliothek durch die Universität Greifswald im Jahre 1743, in: Alvermann / Jörn / Modéer (Hgg.), Virtus, 179–200; Jörn, Stockholm-Greifswald-Wetzlar, 91–99. Vgl. Seth, Universität, 126. Fietz, Studenten, 28. Seth, Universität, 136f., 140f.; Stark, Studium, 12.

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Johann Carl Dähnert gehörte zu den wichtigsten Aufklärer des 18. Jahrhunderts in Pommern. Er wurde 1719 in Stralsund geboren. Nach dem Besuch des Stralsunder Gymnasiums in den Jahren 1725–28 ging er 1738 an die Universität Greifswald, wo er neben Theologie auch andere Studienfächer belegte. Nach drei Semestern finanzierte er seinen Unterhalt durch Repetitorien und als Hilfsprediger am Greifswalder Dom. Im Jahre 1743 wurde er Sekretär der 1739 gegründeten oben erwähnten Königlich Deutschen Gesellschaft, später auch deren Vorsteher. Rastlos publizierte er die meisten Artikel beim Organ der Vereinigung „Critischer Versuch zur Aufnahme der deutschen Sprache.“ In den Jahren 1743–48 trat Dähnert auch als Mitherausgeber der Pommerschen Nachrichten von Gelehrten Sachen auf. In dieser Zeitschrift berichtete er über die Schwedische Akademie der Wissenschaften und schwedische akademische Werke. Sein Engagement im publizistischen Sektor wurde noch durch die Leidenschaft für das Bibliothekswesen ergänzt. Mit dem Ausbau der Landesuniversitäten unter der Regierungszeit der Hüte-Partei wurde die Stelle des Bibliothekars an der Universität neu eingerichtet und 1747 nach mehrmaligen Bitten Dähnert zuteil. Er wurde 1748 Professor für Wissenschaftsgeschichte und unterrichtete schon zum damaligen Zeitpunkt Teile des Schwedischen Staatsrechts. Sein Hauptinteresse lag jedoch auf dem Ausbau der Universitätsbibliothek, wo er eine systematische Ordnung einführte. Ab 1750 gab er die periodisch erscheinenden Schriften Die Kritischen Nachrichten und Die Pommersche Bibliothek heraus. 1758 übernahm er den neu eingerichteten Lehrstuhl für Schwedisches Staatsrecht und Staatsverfassung, die erste modern ausgerichtete Fachprofessur der Universität. 1759 veröffentlichte Dähnert Des Schwedischen Reichs Grund-Gesetze, Zum Gebrauch bey seinen Akademischen Vorlesungen darüber auf höchsten Befehl aus dem Schwedischen übersetzt. Zwei Jahre später wurde er in die Greifswalder Freimaurerloge aufgenommen. Dähnert trug wesentlich zur Verbreitung der Freimaurerei in Schwedisch-Pommern bei und blieb deren System der „Strikten Observanz“ bis zu seinem Tod 1785 treu.17 Der erste eigentliche Fachhistoriker aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts war Johann Georg Peter Möller (1729–1807), der 1765 vom schwedischen König als ordentlicher Professor für Geschichte und Beredsamkeit berufen wurde. Die Professur entstand durch eine Abspaltung von der Professur für Moral und praktische Philosophie. Möller wurde 1755 an der Universität zum Magister promoviert. Während des Siebenjährigen Krieges ging er nach Schweden, wo er bis 1764 blieb. Dort erwarb er sich umfangreiche Kenntnisse in schwedischer und englischer Sprache sowie in der Nordischen Geschichte. 1769, 1789 und 1799 wurde er zum Rektor gewählt. In den Jahren von 1786–96 leitete er außerdem die Universitätsbibliothek Greifswald.18

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Wilhelm Braun, Aus der Geschichte der Universitätsbibliothek, in: Ernst-Moritz-ArndtUniversität Greifswald (Hg.), Festschrift zur 500-Jahrfeier der Universität Greifswald. 17.10.1956, Bd. 1, Greifswald 1956, 175–197, hier 178–181. Eine Kanzlei-Kopie der Ernennung für Johann Peter Georg Möller wurde von der Universität Stettin anlässlich des 150. Jubiläums des Historischen Instituts als Geschenk überreicht.

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Möller publizierte als Universitätsprofessor weniger historischer Werke, sondern schrieb für die von Zobel und Dähnert herausgegebenen Neuen critischen Nachrichten, in denen unter anderem schwedische Literatur im Reich bekannt gemacht wurde. Später übernahm er selbständig die Redaktion der Zeitschrift. Unter dem Titel Neueste Critische Nachrichten gab er von 1775 bis 1807, seit 1780 auf eigene Kosten, 33 Bände heraus. Außerdem verfasste er Beiträge für andere Zeitschriften. Er veröffentlichte darüber hinaus Werke und Schriften zur Geschichte Pommerns und zum Andenken verstorbener Gelehrter. Möller übersetzte Schriften zur Topographie, Staatswissenschaft und Geschichte Schwedens. Besondere praktische Bedeutung erlangte sein schwedisch-deutsches Wörterbuch, das er 1801 in einer neuen Auflage herausbrachte.19 Das Fach Geschichte wurde weiterhin auch von den Bibliothekaren der Universität gepflegt. Dies war der Fall mit Jakob Wallenius (1761–1819), der nach Studien in Uppsala 1786 Unterbibliothekar an der Universitätsbibliothek wurde. In dieser Eigenschaft legte er bis 1796 die Real-, Nominal- und Repositorienkataloge der Bibliothek an. Er wirkte als Schwedischlehrer und wurde 1796 Professor des Deutschen Stils, der Ästhetik, der Latinität und der Morgenländischen Sprachen an der Universität. 1806 erfolgte seine Ernennung zum Dr. theol. h.c. durch die Theologische Fakultät der Universität Rostock. Im vierten Koalitionskrieg gegen Napoleon war er kurze Zeit Prediger im schwedischen Feldlazarett Greifswald. Wallenius schrieb theologische, philosophische und literaturhistorische Abhandlungen in schwedischer und lateinischer Sprache. Er war Mitarbeiter am Teutsch-Schwedischen und Schwedisch-Teutschen wörterbuch, das in zwei Bänden 1785 und 1790 erschien.20 Ein anderer Bibliothekar an der Universität war der Schwede Thomas Thorild (1759–1808), der als Philosoph und Professor für die Schwedische Sprache bekannt wurde.21 Zu den historischen Beiträgen von Jakob Wallenius gehört u. a. Über die Lage Schwedens am Ende des sechszehnten Jahrhunderts: Eine Rede zum feierlichen Andenken des Upsalischen Conciliums, gehalten am 16. März 1793. Nach dem Tod des Königs Gustav III. im Jahre 1792 hielt Wallenius die Trauerrede an der Universität. Später referierte er u. a. „Von dem Erbrecht der Schwedischen Könige“ (1799) und hielt eine Rede für König Gustav IV. Adolf im Juli 1800. Von 1810 bis zu seinem Tod war Jakob Wallenius Pastor der St.-Margarethen Kirche in Patzig auf Rügen.22

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Leopold Magon, Die Geschichte der Nordischen Studien und die Begründung des nordischen Instituts. Zugleich ein Beitrag zur Geschichte der deutsch-nordischen kulturellen Verbindungen, in: Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald (Hg.), Festschrift, Bd. 2, 239–272, hier 246f.; Stark, Studium, 13. Seth, Universität, 283–286. Carola Häntsch / Joachim Krüger / Jens E. Olesen (Hgg.), Thomas Thorild (1759–1808). Ein schwedischer Philosoph in Greifswald, Greifswald 2008. Jakob Wallenius, Über die Lage Schwedens am Ende des sechszehnten Jahrhunderts. Eine Rede, zum feierlichen Andenken des Upsalischen Conciliums, am 16. März 1593, Greifswald 1793; Seth, Universität, 299f.

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Eine junge Generation von Historikern, wie Christian Friedrich Rühs, Ernst Moritz Arndt und dem Rechtshistoriker Karl Schildener, bahnte sich in diesen Jahren zu Anfang des 19. Jahrhunderts den Weg an die Universität Greifswald.23 Rühs wurde in Greifswald am 1. März 1781 geboren. Er besuchte die Stadtschule und schrieb sich 1797 an der hiesigen Universität ein. Er folgte mit Interesse u. a. den Geschichtsvorlesungen von Johann Georg Peter Möller und dem bekannten Bibliothekar Thomas Thorild. Dann wechselte Rühs im Jahre 1800 an die Universität Göttingen, wo er besonders die Vorlesungen und Seminare von dem berühmten Historiker August Ludwig Schlözer (1735–1809) besuchte. Schlözer gehörte zu den profiliertesten Fachwissenschaftlern und politischen Publizisten seiner Zeit.24 Er hatte einige Jahre in St. Petersburg verbracht und arbeitete in Göttingen als Slawist und Osteuropahistoriker, Staatsrechtler, Politologe und als politischer Schriftsteller. Der junge Rühs fühlte sich bald als Schlözer-Schüler und blieb seinem Lehrer stets eng verbunden. Am 28. Juni 1800 wurde er in Göttingen promoviert. Ein Jahr später erfolgte die Habilitation, 1802 auch die in Greifswald. Schlözers umfassende Interessen, inklusive der nordischen Geschichte, scheinen Rühs stark geprägt zu haben und lenkten seine Interessen u. a. auf die skandinavische Geschichte. Schon 1801 konnte Rühs sein Buch Versuch einer Geschichte der Religion, Staatsverfassung und Cultur der alten Skandinavier fertigstellen. Mit Recht gilt er als Gründer der Nordeuropa-Forschung (inkl. Finnland) in Greifswald, wohin er 1801 zurückkehrte.25 Es scheint, als hatte Rühs schon in Göttingen einen Plan, eine schwedische Geschichte zu verfassen, entwickelt. Daran arbeitete er mit Eifer und schon 1803 lag der erste Band vor. Bis 1814 konnte er insgesamt fünf Bände mit mehr als zweieinhalbtausend Seiten zur Geschichte Schwedens bis 1718 und dem Ende der schwedischen Großmachtzeit publizieren. Ein sechster Band sollte die Zeit bis 1809 darstellen und war im Manuskript schon fertiggestellt, wurde aber aus unbekannten Gründen nicht gedruckt und gilt als verschollen. Seine Schwedische Geschichte wurde 1823 ins schwedische übersetzt und fand u. a. bei dem bekannten schwedischen Historiker Erik Gustaf Geijer Anklang.26 Christian Friedrich Rühs fand in Greifswald auf Empfehlung seines Lehrers und Förderers Thomas Thorild und wahrscheinlich auch dank der Hilfe seines Vaters eine Anstellung als Vizebibliothekar an der Universitätsbibliothek. Hier 23 24 25 26

Ludwig Biewer, Freunde, „Bekenner“ und „Komplizen“: Ernst Moritz Arndt und Friedrich Rühs, in: Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte 21/2012, 209– 231. Heinz Duchhardt / Martin Espenhorst (Hgg), August Ludwig (von) Schlözer in Europa, Göttingen 2012; Martin Peters, Altes Reich und Europa. Der Historiker, Statistiker und Publizist August Ludwig (v.) Schlözer (1735–1809), Münster 2003. Ludwig Biewer, Christian Friedrich Rühs (1781–1820). Ein Greifswalder Historiker von nationaler Bedeutung?! – ein Gedankensplitter, in: Alvermann / Jörn / Modéer (Hgg.), Virtus, 211–216. Manfred Menger, Christian Friedrich Rühs – ein Wegbereiter Greifswalder Nordeuropaforschung, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald, Gesellschaftswissenschaftliche Reihe 34/1985, 68–72.

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wurde er mit dem Ordnen und Katalogisieren der Buchbestände beauftragt. Seine Interesse für Schweden stellte er 1804 weiter unter Beweis, als er Briefe über Schweden veröffentlichte, und 1806 erschien sein Buch Erinnerungen an Gustav Adolf sowie eine Übersetzung der Werke von König Gustav III. (1805–1808, drei Bände). Unruhig und immer bei der Arbeit gelangen Rühs in diesen Jahren zahlreiche Veröffentlichungen.27 Nach dem Tod von Johann Georg Peter Möller im Jahre 1807 bewarb sich Rühs in Konkurrenz mit Ernst Moritz Arndt um den nun vakanten Lehrstuhl, hatte aber keinen Erfolg. Berufen wurde der Theologe und Pfarrer Ludwig Gotthard „Theobul“ Kosegarten (1758–1818), der den Franzosen (Schwedisch-Pommern war 1807–1810 besetzt) genehmer war.28 Arndt, der eine außerordentliche Geschichtsprofessur in Greifswald innehatte, wurde auf Druck der Franzosen aus dem Dienst entfernt und Rühs 1808 berufen. Der Kampf um Finnland zwischen Schweden und Russland inspirierte den jungen Historiker zu seinem Buch Finnland und seine Bewohner. Das Buch erschien 1809 und war gegen jene Machterweiterung Russlands gerichtet und stellt ein Pionierwerk dar. Es erschien 1811 und 1813 in schwedischer Sprache und 1827 in finnischer Übersetzung. Mit Recht ist das Buch als „die erste umfassende Darstellung der Geschichte und der Landeskunde Finnlands“ charakterisiert worden.29 Rühs strebte eine Stelle an einer anderen Universität an, denn er scheint unter der Franzosenherrschaft gelitten zu haben. Er hatte Pläne hinsichtlich der Universität Uppsala oder in Åbo/Turku, was aber nicht verwirklicht wurde. Im Jahre 1810 machte er eine Reise nach Stockholm, erhielt aber bald den ehrenvollen Ruf auf den zunächst einzigen Lehrstuhl für Geschichte an der neuen FriedrichWilhelms-Universität zu Berlin, wo er neben Geschichte auch die Hilfswissenschaften zu vertreten hatte. Schon im folgenden Jahr publizierte Rühs 1811 seinen Entwurf einer Propädeutik des historischen Studiums. Das Buch war ein Vorläufer von Droysens bekannter Historik und zeigt Rühs als modernen Historiker und Vorläufer der späteren historisch-kritischen Schule. In Berlin trieb er wie gewöhnlich energisch und rastlos seine Forschungen voran. 1812 übersetzte er noch vor den Gebrüdern Grimm die Edda ins Deutsche und publizierte im darauf folgenden Jahr Über den Ursprung der Isländischen Poesie. Rühs veröffentlichte 1816 ein umfassendes Handbuch der Geschichte des Mittelalters und lieferte u. a. mehrere Studien zur Preußischen Geschichte. Außerdem veröffentlichte er ein Buch über Das Verhältnis Holsteins und Schleswigs zu Deutschland und Dänemark. 1817 wurde er angefragt, ob er nicht in Greifswald den vakanten historischen Lehrstuhl von Kosegarten übernehmen wolle. Ob Rühs dieses Angebot ernsthaft in Erwägung zog, bleibt unbekannt. Im selben Jahr wurde er zum „Historiographen des 27 28

29

Menger, Rühs, 70. Siehe u. a. Dirk Alvermann, Ludwig Gotthard Kosegarten (1758–1818). Thematische Annäherungen, in: Mecklenburgische Jahrbücher 124/2009, 169–212; Bruno Markwardt, Greifswalder Dozenten als Dichter. Zur Würdigung E. M. Arndts und G. l. Kosegartens, in: ErnstMoritz-Arndt-Universität Greifswald (Hg.), Festschrift, Bd. 1, 227–260. Biewer, Rühs, 214.

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preußischen Staates“ berufen, eine hohe Anerkennung und die höchste Ehre, die einem im Dienste Preußens stehenden Historiker widerfahren konnte. In wenigen Jahren hatte er über 20 Bücher und viele Aufsätze veröffentlicht. Seine Gesundheit war vor diesem Hintergrund nicht die beste, und allzu früh starb er auf einer Italienreise in Florenz in der Nacht vom 31. Januar auf den 1. Februar 1820. Sein Neffe Karl Gustav Homeyer (1795–1874) übernahm die Pflege seines Werkes und betonte die Notwendigkeit nordischer Studien an der Universität in Berlin.30 Christian Friedrich Rühs war sein Leben lang mit Ernst Moritz Arndt befreundet. Beide brachten frischen Wind in die Greifswalder Gelehrtenschaft. Und beide verfolgten über die Jahre den Weg von Schwedisch-Pommern Richtung Preußen. Arndt wurde 1769 in Groß Schoritz bei Garz auf Rügen geboren und starb am 29. Januar 1860 in Bonn. Nach dem Schulbesuch am Stralsunder Gymnasium studierte er von 1791–1793 in Greifswald und 1793–1794 in Jena Geschichte und Theologie, worin er 1796 in Greifswald sein Examen ablegte. Er wirkte anschließend als Hauslehrer bei dem gelehrten Pfarrer Ludwig Gotthard Kosegarten in Altenkirchen auf Rügen. Das Leben als Pfarrer scheint für ihn aber nicht attraktiv gewesen zu sein. Er unternahm 1798–1799 eine längere Bildungsreise nach Österreich, Ungarn, Italien und Frankreich und kehrte letztendlich in sein Heimatland Pommern zurück. Seine lebenslange Abneigung gegen Frankreich entwickelte sich markant in diesen Jahren.31 1800 wurde Ernst Moritz Arndt in Greifswald promoviert und lehrte seit 1801 als Adjunkt Geschichte an der Universität Greifswald. Hier übte u. a. der Philosoph und Universitätsbibliothekar Thomas Thorild großen Einfluss auf seine Anschauungen und sein Denken aus sowie Christian Friedrich Rühs, der u. a. von Kant und Herder beeinflusst war und in schwedischer Tradition Vorstellungen von durch germanische Rechtsideen geprägten Ordnungen der germanischen Volksgemeinschaften vertrat. Im Jahre 1803 erschien Arndts beachtetes Buch Versuch einer Geschichte der Leibeigenschaft in Pommern und auf Rügen das u. a. dazu beitrug, dass die Leibeigenschaft in Schwedisch-Pommern abgeschafft wurde.32 In demselben Jahr konnte er sein Werk Germanien und Europa veröffentlichen und 1804 erschien die zweite Auflage der Darstellung seiner großen Bildungsreise. In den Jahren 1803–1804 hielt Arndt sich in Schweden auf und knüpfte mehrere Kontakte. Von Greifswald aus publizierte er 1805 den ersten Band seines wohl bedeutendsten Werkes, den Geist der Zeit I. In diesem Buch kam sein Hass auf Napoleon und Frankreich deutlich zum Ausdruck; an dem zweiten Teil des Werkes schrieb er von 1806 bis 1808.33 Ernst Moritz Arndt wurde am 11. April 1806 zum außerordentlichen Professor für Geschichte ernannt, unternahm aber schon ab November desselben Jahres 30

31 32 33

Biewer, Freunde, 217–219. Über Rühs nach 1810 siehe u. a. Michael Scholz, Der Historiker Christian Friedrich Rühs und die Ambivalenz der frühen deutschen Nationalbewegung, in: Fritz Petrick / Dörte Putensen (Hgg.), Pro Finlandia. Festschrift für Manfred Menger, Reinbek 2001, 125–139. Markwardt, Dozenten, 232–250. Siehe hierzu auch den Beitrag von Michael North in diesem Band. Biewer, Freunde, 220f.

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eine große Reise mit Karl Schildener nach Schweden, die wegen der Besetzung Schwedisch-Pommerns durch die Franzosen länger als geplant dauerte. Er wurde 1808 auf Druck der Franzosen aus seinem Amt an der Universität entlassen. Sein Freund Rühs erhielt diese Stelle, aber 1810 nach der Beendigung der französischen Besatzungszeit bekam Arndt seine Professur zurück. Bei der erneuten französischen Besetzung Pommerns musste er sein Lehramt wieder verlassen und diesmal kehrte er nicht zurück. Die Jahre 1812–1813 verbrachte er als Privatsekretär und Vertrauter des großen preußischen Reformers Karl Freiherr vom Stein.34 Als das Heilige Römische Reich Deutscher Nation 1806 aufgelöst wurde, wurde Schwedisch-Pommern dem schwedischen Reich einverleibt. Arndt wurde von König Gustav IV. Adolf beauftragt, die schwedischen Gesetze ins Deutsche zu übersetzen. Er redigierte in Schweden auch die Zeitschrift Der nordische Controlleur, was gegen die Franzosen gerichtet war. Arndt war in diesen Jahren deutlich schwedisch orientiert, er publizierte viele Beiträge über Schweden, und er sah in dem Schwedenkönig Europas Retter gegen Napoleon. Als Gustav IV. Adolf 1809 nach dem Verlust Finnlands an Russland abgesetzt wurde, orientierte Arndt sich zunehmend in Richtung Preußen und unterstützte die nationale Einheitsbewegung. In seiner späteren Karriere spielten Schweden und die schwedische Geschichte keine bedeutende Rolle mehr.35 Bei der Arbeit an der Übersetzung der schwedischen Gesetzestexte 1806 wurde Arndt von seinem Freund Karl Schildener (1777–1843) geholfen. Dieser war ein Gelehrter alten Typs, wurde 1798 in Jena zum Dr. jur. promoviert. Vier Jahre später wurde er in seiner Heimatstadt Greifswald zum Adjunkten, 1810 zum außerordentlichen Professor und 1814 zum Ordinarius der juristischen Fakultät berufen. Wie Arndt, Rühs und auch andere besaß Schildener eine tiefe Heimat-, Vaterlands- und Freiheitsliebe. Die Patrioten Arndt, Rühs und Schildener verband außerdem die Liebe zu den nordischen Ländern und das wissenschaftliche Interesse an ihnen. 1820 wurde Schildener, der schon einige Jahre nicht mehr ganz gesund war und nur noch eingeschränkt lehren konnte, in der Nachfolge von Johann Georg Peter Möller und Thomas Thorild (Bibliothekare von 1786–1796 respektive 1796–1808) die Leitung der Universitätsbibliothek übertragen, die er bis zu seinem Tod innehatte. Er erforschte das frühmittelalterliche nordische Recht, wie es insbesondere in der Edda überliefert ist, und gab eine Studie über das älteste gotländische Recht heraus (Guta-Lagh, das ist der Insel Gothland altes Rechtsbuch, 1818). Damit begründete er die skandinavische Rechtsgeschichte, lange bevor sie in den nordischen Ländern an Profil gewinnen konnte.36

34 35 36

Siehe u. a. Stefan Jacob, Arndt und Stein. Über das politische Verhältnis zwischen den geistigen Führern der deutschen Erhebung von 1807 bis 1813/15, Rügen / Bonn 1993. Jens E. Olesen, Schwedisch-Pommern in der schwedischen Politik nach 1806, in: Michael North / Robert Riemer (Hgg.), Das Ende des Alten Reiches im Ostseeraum. Wahrnehmungen und Transformationen, Köln / Weimar / Wien 2008, 274–292. Barbara Peters, Karl Schildener und sein Guta-Lagh – Das ist der Insel Gothland altes Rechtsbuch, in: Bernhard Diestelkamp u. a. (Hgg.), Liber Amicorum Kjell Å. Modéer, Lund 2007, 535–552.

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Der Übergang Schwedisch-Pommerns an Preußen 1815 als Folge des WienerKongresses bedeutete für die Universität Greifswald eine Neuorientierung. Die Existenz der Universität war gesichert und das Fach Geschichte wurde weiterhin gepflegt. Mit dem Interesse für Schweden und Skandinavien war es allerdings für die Historiker an der Universität vorerst vorbei. Kosegartens Nachfolger Peter Friedrich Kanngießer und Friedrich Wilhelm Barthold behandelten vorrangig die pommersche Geschichte. Barthold lieferte darüber hinaus eine der ersten Darstellungen der Geschichte der Hanse und behandelte darin vereinzelt die Beziehungen zu Skandinavien.37 Die Beschäftigung mit der Hansegeschichte als Zugang zur nordischen Geschichte setzte sich in den folgenden Jahrzehnten weiter fort. 1857 wurde der aus Bremen stammende Historiker Arnold Schaefer (1819–1883) zum Professor in Greifswald berufen. Mit ihm kam die historisch-kritische Methode nach Greifswald, wie sie ihm während seiner historisch-philologischen Studien in Leipzig vermittelt worden war. Sein Vorgänger Friedrich Wilhelm Barthold verstarb bereits im Januar 1858. In den nächsten Jahren bis 1865 wirkte Schaefer als Professor in Greifswald mit Schwerpunkten in der Hansegeschichte und der Unterweisung in wissenschaftlicher Forschungsarbeit anhand von Quellen.38 Sein Nachfolger wurde Theodor Hirsch (1806–1881), der von 1865 bis zu seinem Tod in Greifswald wirkte. Er forschte u. a. zur Gewerbegeschichte Danzigs und der Geschichte der Hanse und berührte somit Aspekte der skandinavischen Geschichte im Mittelalter. Auch der Historiker Rudolf Usinger (1835–1874), der von 1865 bis 1868 in Greifswald arbeitete, bezog in seiner methodischen Quellenarbeit vereinzelt Aspekte der Geschichte der nordischen Länder im Mittelalter mit ein.39 Nach der Gründung des Historischen Seminars 1863 und bis zum Ersten Weltkrieg wurden vor allem die kritisch-methodischen und theoretischen Aspekte des Faches behandelt und insgesamt nur wenig zu der Geschichte Nordeuropas in Greifswald geforscht. Eine seltene Ausnahme bildete Fritz Curschmann (1874– 1946), der sich von 1904 bis 1939 gewissenhaft um die Rezeption und die wissenschaftliche Aufarbeitung des schwedischen Matrikelwesens in Pommern in der Frühen Neuzeit kümmerte. Sein Hauptinteresse war und blieb die historische Geographie sowie die Geschichte Pommerns. Von 1913 bis zu seinem Tod war er Vorsitzender des Rügisch-Pommerschen Geschichtsvereins und gemeinsam mit Ernst Bernheim sowie Hans Glagau Herausgeber der Pommerschen Jahrbücher.40 Die Gründung des Nordischen Instituts 1917–1918 und des Finnland-Instituts 1919 lieferten die Grundlagen für eine verstärkte Orientierung und dauerhafte Beschäftigung in Greifswald mit Nordeuropa, obwohl diese neuen Institute nicht 37 38 39 40

Siehe u. a. Adolf Hofmeister, Aus der Geschichte des Historischen Instituts, in: Ernst-MoritzArndt-Universität Greifswald (Hg.), Festschrift, Bd. 2, 92–115, hier 93. Karl-Michael Chilcott, Das Historische Seminar Greifswald im Zeichen des bürgerlichen Historismus (1863–1933/45), in: Der Rektor der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald (Hg.), 125 Jahre, 17–32, hier 17f. Siehe auch: Hofmeister, Geschichte, 93f. Hofmeister, Geschichte, 95–97. Chilcott, Seminar, 26–28.

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im Historischen Seminar räumlich untergebracht wurden.41 Im Fach Geschichte vertrat Hans Glagau (1871–1934) in den Jahren von 1912 bis zu seinem Tod die Neuere Geschichte. Von 1921 bis 1955 lag die Geschichte des Mittelalters und der Frühen Neuzeit in den Händen von Adolf Hofmeister (1883–1955), womit er Nachfolger von Ernst Bernheim wurde. In Greifswald beschäftigte sich Hofmeister mit der Geschichte Pommerns und veröffentlichte ab 1924 die neue Reihe „Denkmäler der Pommerschen Geschichte.“ In seiner Publikation Der Kampf um die Ostsee vom 9. bis 12. Jahrhundert (1931) behandelte er Fragen, die aus skandinavischer Sicht hinsichtlich der Wikinger- und Kreuzzugszeit zentral waren. Im Jahre 1932 veröffentlichte er die Schrift Die geschichtliche Stellung der Universität Greifswald und berührte dabei auch vereinzelt Kontakte nach Skandinavien.42 Professor Adolf Hofmeister war ein echter Humanist alten Typs und spornte seine Studenten und Schüler u. a. mit intensiven Quellenstudien an. Über viele Jahre war er bei der Zentraldirektion der Monumenta Germaniae Historica bis zu deren Auflösung 1935 ein sehr aktives Mitglied.43 Hofmeister gehörte nach dem Zweiten Weltkrieg mit seiner Integrität zu den wenigen Hochschullehrern, die in der DDR in den ersten Nachkriegsjahren weiter arbeiten durften, ohne Marxisten zu sein. 1953 wurde er in die Hauptsektion für Geschichte der Deutschen Akademie der Wissenschaften der DDR berufen. Seit 1951 gab es im Historischen Institut zwei Studienpläne: einen für die Ausbildung von Diplom-Historikern und einen für die der Geschichtslehrerstudenten. Den Personalbedarf versuchte Hofmeister als langjähriger Institutsdirektor, mit Lehraufträgen zu bewältigen.44 Unter den Kollegen im Historischen Seminar in der Weimarer Republik lehrte Johannes Paul (1891–1990), der von 1936 und bis zum Kriegsende zum außerordentlichen Professor für Mittlere und Neuere Geschichte als Nachfolger des verstorbenen Hans Glagau und der damit zusammenhängenden Berufung zum Mitdirektor des Historischen Seminars berufen wurde. Er war seit 1922 als Assistent und Mitarbeiter sehr aktiv im Nordischen Institut und setzte 1933 die Aufteilung der Nordischen Auslandsinstitute im großen Streit mit Professor Leopold Magon (1887–1968) durch. Paul pflegte mit seiner „Nordlandbegeisterung“ besonders Kontakte nach Schweden und veröffentlichte vorrangig zur Geschichte dieses Landes. Er gab seit 1928 u. a. die Zeitschrift Nordische Rundschau und mehrere Informationsblätter heraus.45 Seine dreibändige Biographie zu Gustav II. Adolf (1927–1932) verdient erwähnt zu werden, obwohl er sich hier nur teilweise von der alten Auffassung vom Schwedenkönig als Verteidiger der Deutschen Libertät und des protestantischen Glaubens befreien konnte. Paul publizierte auch über den schwedischen Freiheitshelden Engelbrecht Engelbrechtsson, die Reformation in 41 42 43 44 45

Höll, Nordeuropa-Institute; Fietz, Studenten, 51–65. Hofmeister, Geschichte, 108. Siehe hierzu auch den Beitrag von Karl-Heinz Spieß in diesem Band. Konrad Fritze, Vom Historischen Seminar zur Sektion Geschichtswissenschaft 1945–1988, in: Der Rektor der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald (Hg.), 125 Jahre, 45–64, hier 45–48. Marco Nase, „Att Sverige skall dominara här.“ Johannes Paul und das Schwedische Institut der Universität Greifswald 1933–1945, Greifswald 2014.

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Schweden, Lübeck und die Wasa, die nordische Politik der Habsburger vor dem 30-jährigen Krieg sowie über Schweden und Stralsund. Im Jahre 1925 veröffentlichte Paul in Breslau übrigens eine konzentrierte Darstellung über die Nordische Geschichte. Nach 1933 wurde er Mitglied in der NSDAP und widmete sich hauptsächlich Redaktions- und Informationstätigkeiten. In seinen Lehrveranstaltungen im Historischen Seminar behandelte er vorrangig Themen aus der schwedischen und nordischen Geschichte, Ostseeraumgeschichte sowie einzelne Kapitel zur Weltgeschichte. Während der Kriegsjahre war er u. a. in Finnland. Er geriet am Kriegsende auf Rügen in russische Gefangenschaft und lebte seit seiner Freilassung 1955 in Hamburg.46 In den Kriegsjahren war auch der Historiker Ulrich Noack (1899–1974) von der Mitte des Jahres 1941 bis Ende 1945 als außerplanmäßiger Professor für mittlere, neuere und nordische Geschichte tätig. Er verfasste einen ersten Band zur Geschichte der nordischen Völker, der die Zeit von 793 bis 1014 behandelte (erschienen 1941), noch bevor er nach Greifswald kam. Ein zweiter Band, der die Zeit bis 1660 behandeln sollte, befand sich angeblich in Vorbereitung. Es ist aber ungewiss, ob Noack in Greifswald daran tatsächlich gearbeitet hat. Der zweite und der dritte Band sind nie erschienen. Immerhin versuchte er, in Greifswald den ersten Band zu überarbeiten, der auf berechtigte fachliche Kritik gestoßen war. Im Jahre 1942 lieferte er einen interessanten Überblick über Die Entwicklung der norwegischen Geschichtsschreibung. Am 1. Dezember 1946 nahm er eine Berufung an die Julius-Maximilians-Universität Würzburg als Professor für mittlere und neuere Geschichte sowie Hilfswissenschaften an.47 In den ersten Jahren nach der Gründung der DDR 1949 ruhte die Nordeuropaforschung im Historischen Seminar in Greifswald weitgehend und blühte zuerst als Folge der III. Hochschulreform 1968/1969 erneut auf. Die neue marxistischleninistische Geschichtsauffassung hatte sich in den Jahren nach der Wiedereröffnung der Universität im Februar 1946 durchgesetzt und prägte maßgebend auch das Geschichtsstudium. Diese erste Umgestaltungsphase der Universität und des Historischen Seminars wurde durch die II. Hochschulreform von 1951 abgeschlossen. Das Historische Seminar wurde jetzt in Historisches Institut umbenannt.48 Im Nordischen Institut in der Fallada-Straße wurden die nordischen Sprachen und Literatur sowie Finnisch in Forschung und Lehre gepflegt. Mit der Gründung der Sektion Nordeuropawissenschaft 1968 wurden die Neueste Geschichte, also die Geschichte der Nachkriegszeit, sowie die Mitarbeiter aus der Wirtschafts-, Politik-, Staats- und Rechtswissenschaft hier integriert. Dies bedeutete, dass die Geschichte Nordeuropas nach 1945 prinzipiell nicht zu den Aufgaben des Histori-

46 47 48

Ebd. Fritz Petrick, Der Historiker Ulrich Noack in Greifswald 1941–1945 unter besonderer Berücksichtigung seiner Tätigkeit in Norwegen 1938–1941, in: ders., „Ruhestörung.“ Studien zur Nordeuropapolitik Hitlerdeutschlands, Berlin 1998, 59–68. Fritze, Seminar, 45–48.

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schen Instituts gehörte, obwohl man sich Jahre später um eine Zusammenarbeit in Form von gemeinsamen Forschungsprojekten bemühte.49 Am Historischen Institut wurden von der Mitte der fünfziger Jahre an besonders die Hansegeschichte erforscht und damit auch vereinzelt Berührungspunkte zu der mittelalterlichen Geschichte Nordeuropas behandelt. Der Schwerpunkt wurde später unter dem Titel „Geschichte des Ostseeraumes vom Mittelalter bis zum 20. Jahrhundert“ erweitert. Leiter des Schwerpunktes war vor allem Professor Johannes Schildhauer unterstützt von den Kollegen Konrad Fritze und Walter Stark. Diese drei arbeiteten besonders über die Geschichte der Hanse und verfassten über die Jahre eine beachtliche Reihe von Aufsätzen und Publikationen. Schildhauer war am 1. September 1952 am Historischen Institut vorerst als Dozent für neuere Geschichte angestellt worden. Er hatte 1948 sein Staatsexamen in Greifswald abgelegt und promovierte ein Jahr später bei Adolf Hofmeister. Nach dem Tod seines Doktorvaters wurde Schildhauer 1957 zum neuen Institutsdirektor ernannt und bekleidete dieses Amt bis 1977.50 Ende der fünfziger und Anfang der sechziger Jahre wuchs die Anzahl der Mitarbeiter im Historischen Institut. In die Arbeitsbereiche Mittelalter und frühe Neuzeit traten Herbert J. Langer, Klaus Spading und Walter Stark sowie Joachim Mai und Jan Peters ein. Für die nordische Geschichte setzten sich besonders Herbert Langer und Jan Peters ein. Die schwedische Politik im Dreißigjährigen Krieg sowie die Geschichte Pommerns (hier vor allem die Geschichte Stralsunds) sollten Langer lebenslang beschäftigen und ihm einen bekannten Namen über die DDR hinaus verschaffen. Jan Peters forschte und publizierte in seiner Greifswalder Zeit besonders zu schwedisch-pommerschen Themen.51 Der Arbeitsbereich Neueste Geschichte erlebte im Institut den größten Zuwachs an neuen jungen wissenschaftlichen Mitarbeitern, von denen sich mehrere zu Themen in der Geschichte Nordeuropas spezialisierten: Wolfgang Wilhelmus vorrangig zu Schweden, Fritz Petrick zu Dänemark-Norwegen und Manfred Menger zu Finnland. Sie und ihre Mitarbeiter gehörten alle zu der Arbeitsgruppe „Geschichte des Ostseeraumes“ (gegründet 1960). Es erwies sich aber aus mehreren Gründen als notwendig, diesen Kreis zu teilen, u. a. um die Erforschung der deutsch-nordeuropäischen Beziehungen, insbesondere im Zweiten Weltkrieg, zu intensivieren.52 Es ist hier nicht möglich, auf alle Aspekte der Nordeuropaforschung im Historischen Institut bis 1989/1990 näher einzugehen. Es soll nur erwähnt werden, dass es in der DDR an keiner Hochschule einen Lehrstuhl für Nordische Geschichte gab. Es wurden aber viele Forschungen zur Zeitgeschichte Nordeuropas an der 49 50 51 52

Fritz Petrick, Forschungen zur Zeitgeschichte Nordeuropas in Greifswald 1970–1990. In memoriam Johannes Schildhauer (28.11.1918–1.4.1995), in: ders., „Ruhestörung“, 193–210, hier 196–199. Manfred Menger, On the Constitution of the Science of History in the Cold War years: Developments in Greifswald, in: Juhana Aunesluoma / Pauli Kettunen (Hgg.), The Cold War and the Politics of History, Helsinki 2008, 189–205. Fritze, Seminar, 50f. Menger, Constitution. Vgl. Fritze, Seminar, 53.

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Universität Greifswald betrieben, und zwar insbesondere bis 1945 an der seit 1968/1969 existierenden Sektion Geschichtswissenschaft, dem früheren und heutigen Historischen Institut, sowie an der oben erwähnten interdisziplinär strukturierten Sektion Nordeuropawissenschaften für die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Auch mehrere Tagungen zur Geschichte Nordeuropas und dem Ostseeraum sowie die elf „Finnen-Seminare“ verdienen erwähnt zu werden. Über die umfassende Tätigkeit zur Erforschung der Geschichte Nordeuropas im Zeitraum von 1970 bis 1990 haben vor allem Fritz Petrick und Manfred Menger (Institutsdirektor 1982–1990) Überblicksdarstellungen und Beiträge publiziert.53 Mit der Errichtung eines Lehrstuhls für Nordische Geschichte am Historischen Institut 1994 wurde der Beschäftigung mit der nordeuropäischen Geschichte in Forschung und Lehre eine feste Grundlage gegeben. Der Lehrstuhl arbeitet epochenübergreifend und nimmt mit seinen Mitarbeitern und Gastforschern einen wichtigen Platz im universitären Schwerpunkt Nordeuropa/Ostseeraum-Studien ein. In den Jahren seit 1996 wurden u. a. Projekte zur Kalmarer Union, der Reformation in Nordeuropa, dem Dominium Maris Baltici sowie zu mehreren Aspekte des 19.–20. Jahrhunderts durchgeführt. Der Lehrstuhl veröffentlicht seit 2000 zwei Publikationsreihen. Die Arbeit am Lehrstuhl setzt die altehrwürdigen Kontakte und Beziehungen zu Skandinavien und Finnland fort. Die heutige Forschung und Lehre in der nordischen Geschichte verbindet auf diese Weise Tradition und Zukunft.

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Siehe Anm. 47–48.

OSTEUROPA, OSTFORSCHUNG UND OSTEUROPÄISCHE GESCHICHTE IN GREIFSWALD Vom 20. ins 21. Jahrhundert Mathias Niendorf Osteuropäische Geschichte als eine eigenständige Disziplin besitzt in Greifswald keine längere Tradition. Zurück reicht sie allenfalls bis zum Herbstsemester 1957, als mit Joachim Mai (1930–2009) erstmals ein entsprechend qualifizierter Assistent eingestellt wurde.1 Knapp zwei Jahrzehnte sollten noch vergehen, bis dieser Assistent 1975 schließlich zum Professor ernannt wurde. Nach Mais Nachfolger Christian Lübke (*1953) ist der Verfasser dieses Beitrages (*1961) somit erst der dritte Hochschullehrer vor Ort. Eine eher schwache institutionelle Verankerung muss jedoch keineswegs bedeuten, dass im akademischen Leben Greifswalds nicht zuvor schon Osteuropa in der einen oder anderen Form eine Rolle gespielt hätte. Daher soll im Folgenden der Fokus nicht so sehr auf die historische Forschung im engeren Sinne gerichtet werden. Vielmehr geht es eher allgemein um den Wissenschaftsstandort Greifswald und dessen Verbindungen mit Osteuropa. Dass Vollständigkeit gar nicht erst versucht werden kann, versteht sich von selbst. Angestrebt wird im Sinne der Universitätshistorikerin Sylvia Paletschek lediglich das Herausarbeiten einiger „exemplarisch-eklektischer Facetten.“2 Solche Facetten wären zunächst die politischen wie institutionellen Rahmenbedingungen, sodann die Rekrutierung von Lehrenden wie von Studenten (und später auch Studentinnen), Beziehungen nach Osteuropa im weitesten Sinne, Forschung und Lehre, sowie deren Ausstrahlung über das engere Fach hinaus. Je 1

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Alexander Fischer, Zur Geschichte Osteuropas in der ehemaligen DDR, in: Erwin Oberländer (Hg.), Geschichte Osteuropas. Zur Entwicklung einer historischen Disziplin in Deutschland, Österreich und der Schweiz 1945–1990, Stuttgart 1992, 304–341, hier 319f.; M[anfred]. M[enger]., Joachim Mai 60 Jahre, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 38/1990, 251f.; Helmut Elsner, Osteuropäische Geschichte in der Lehre an den Universitäten und Hochschulen, in: Manfred Hellmann (Hg.), Osteuropa in der historischen Forschung der DDR. Bd. 1, Darstellungen, Düsseldorf 1972, 82–103, hier 89f. Zu Mai als Vertreter einer „zweiten“ Generation von DDR-Historikern s. Ilko-Sascha Kowalczuk, Legitimation eines neuen Staates. Parteiarbeiter an der historischen Front. Geschichtswissenschaft in der SBZ/DDR 1945 bis 1961, Berlin 1997, 184f., 188. Sylvia Paletschek, Stand und Perspektiven der neueren Universitätsgeschichte, in: N.T.M. Zeitschrift für Geschichte der Wissenschaften, Technik und Medizin 19/2011, 169–189, hier 186.

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nach Relevanz, je nach Überlieferung und Forschungsstand, wird mal die eine, mal die andere Perspektive stärker das Bild bestimmen. Das Grundprinzip einer chronologischen Gliederung bleibt davon unberührt. Zuvor bedarf es allerdings noch einer Begriffsklärung. Was „Osteuropäische Geschichte“ denn sei, wird bis heute immer wieder kontrovers diskutiert.3 Einem pragmatischen Ansatz zufolge müsste gefragt werden, womit OsteuropaHistorikerinnen und -Historiker sich befassen. Dies wären in erster Linie Territorien, die östlich eines geschlossenen deutschen beziehungsweise italienischen Sprachgebiets liegen, landläufiger Auffassung nach aber noch zu Europa gehören. Nicht nur das Fach an sich, seine Voraussetzungen, Fragestellungen und Methoden, sondern auch die Definition seines Gegenstandes selbst unterliegt somit zeitbedingten wie epochenspezifischen Wandlungen. So erscheint die imaginäre Linie Elbe – Saale – Böhmerwald – Adria4 für das Mittelalter im Allgemeinen von größerer Bedeutung als für spätere Epochen, aber hinsichtlich der Agrarstruktur etwa bleibt diese Grenze bis in das 20. Jahrhundert hinein eine wahrnehmbare und wahrgenommene Scheidelinie. Dieses so genannte „Ostelbien“ wäre damit Teil eines größeren Ostmitteleuropas, zusammen mit Polen, Tschechien, der Slowakei und Ungarn, eventuell auch dem Baltikum. Letzteres könnte, wenigstens in der Vormoderne, alternativ (mit weiteren Ostseeanrainern) zu einer eigenen Subregion Nordosteuropa gerechnet werden. Die Grenzen Ostmitteleuropas erscheinen fließend, auch hinsichtlich möglicher Übergänge zu den beiden weiteren Subregionen, Südosteuropa und Russland. Slowenien einerseits und Weißrussland und die Ukraine andererseits stehen sinnbildlich für die Probleme einer allzu schematischen, ahistorischen Binnengliederung Osteuropas. In dem vorliegenden Beitrag folgt auf einen historischen Abriss jener Disziplin in Deutschland (1) ein Streifzug durch die Geschichte akademischer Osteuropa-Bezüge in Greifswald. Nach einem Blick auf die Vorgeschichte bis zum Ersten Weltkrieg (2) widmen sich die beiden nachfolgenden Abschnitte Zwischenkriegszeit und Zweitem Weltkrieg (3) bzw. SBZ und DDR (4); den Abschluss bildet ein knapper, persönlich gehaltener Ausblick in die Nachwendezeit (5). Entsprechend den Forschungsinteressen des Verfassers, aber auch dem Profil der Universität gilt dabei ein besonderes Augenmerk Polen und Litauen. Der Schwerpunkt liegt auf dem mittleren Teil, also den Jahren 1919 bis 1945. Die nationalsozialistische Machtübernahme 1933 und der Beginn des Zweiten Weltkriegs 1939 brachten zwar jeweils Änderungen mit sich, treten in ihrem Zäsurcharakter aber doch hinter den anderen Ereignissen zurück. Jene zweieinhalb Jahrzehnte vom Ende des Ersten bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs sind vergleichsweise auch am besten erforscht. Wichtige Vorarbeiten wurden von Autoren 3 4

Stefan Creuzberger u. a. (Hgg.), Wohin steuert die Osteuropaforschung?, Eine Diskussion, Köln 2000. Klaus Zernack, Osteuropa. Eine Einführung in seine Geschichte, München 1977, 26f. Vgl. hierzu die kritische Würdigung von Andreas Kappeler, Osteuropäische Geschichte, in: Michael Maurer (Hg.), Aufriß der Historischen Wissenschaften. Bd. 2, Räume, Stuttgart 2001, 198–265, hier v. a. 210.

Osteuropa, Ostforschung und Osteuropäische Geschichte in Greifswald

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aus der DDR geleistet, die sich bereits auf die Bestände des Universitätsarchivs stützen konnten.5 Neue Möglichkeiten bieten inzwischen eine fortgeschrittene Digitalisierung von Hochschulschriften sowie Spezialuntersuchungen im Rahmen des Forschungsprojektes „Die Universität Greifswald im Nationalsozialismus.“6 Für eine wirklich umfassende Darstellung bedürfte es allerdings Recherchen in weiteren Archiven.7 Insofern hält das Thema noch reichlich Stoff für Qualifikationsarbeiten bereit. In den Jubiläumsschriften sowohl der Universität wie des Historischen Instituts wird der Osteuropäischen Geschichte vor Ort keine nähere Beachtung zu Teil.8 Auch die Forschung der alten Bundesrepublik hat sich weniger für Greifswald und dessen akademisches Milieu als für einzelne Vertreter der Ostforschung interessiert, wobei deren Karrieren jedoch nur zum Teil mit der pommerschen Landesuniversität verbunden waren. 1. Zur Geschichte des Faches Osteuropäische Geschichte in Deutschland Osteuropäische Geschichte als eine Subdisziplin der Geschichtswissenschaft ist vergleichsweise jungen Datums, jünger zumindest als das Greifswalder Historische Institut. Voraussetzung für die Etablierung jenes neuen Spezialfaches war, vereinfachend gesprochen, der sich zuspitzende deutsch-russische Interessengegensatz Ende des 19. Jahrhunderts. Zu den Begleiterscheinungen gehörte ein zunehmender Bedarf an Politikberatung. Folgerichtig wurde die erste Professur für Osteuropäische Geschichte in Berlin eingerichtet (1892 Extraordinariat, 1902 Ausbau zum Seminar für Osteuropäische Geschichte und Landeskunde, 1906 Aufwertung

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Wolfgang Köstler, Die „Ostarbeit“ an der Universität Greifswald 1919–1945, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald, Gesellschafts- und sprachwissenschaftliche Reihe 18/1969, Nr.3/4, 273–289; Hans-Dieter Hoffmann, Das Institut Oder-Donau in Stettin: eine spezielle Institution im Dienste des deutschen Imperialismus, in: ebd., 289–296. http://www.ns-zeit.uni-greifswald.de/ (5.5.2014). Für freundliche Unterstützung danke ich dem Leiter des hiesigen Universitätsarchivs Dr. Dirk Alvermann, ebenso Dr. Marie-Luise Bott (Berlin) und Kyrill Budnick sowie Klemens Grube (Greifswald). Das letzte Institutsjubiläum wurde zum Anlass genommen, Kollegen osteuropäischer Partneruniversitäten zu Wort kommen zu lassen, die ihrerseits die Zusammenarbeit mit Greifswald thematisieren: Der Rektor der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald (Hg.), 125 Jahre Historisches Seminar, Sektion Geschichtswissenschaft der Ernst-Moritz-ArndtUniversität Greifswald 1988. Kolloquium am 29. November 1988 in Greifswald, Greifswald 1990. Ein erster Anfang in der Aufarbeitung der eigenen Fachgeschichte vor Ort ist von der Slavistik gemacht worden. Erheblicher Forschungsbedarf besteht allerdings noch hinsichtlich der Karriereverläufe Greifswalder Slavisten vor und nach 1945, nicht zuletzt im Falle des Institutsdirektors (ab 1954) und Dekans der Philosophischen Fakultät (1954–1963) Ferdinand Liewehr (1896–1985); vgl. Manfred Niemeyer, Zur Geschichte des Greifswalder Instituts für Slawistik. Teil 1, Struktur und Lehre, Übersichten, Greifswald 2006.

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zum Ordinariat).9 Ihr erster Inhaber Theodor Schiemann (1847–1921) stammte aus dem Baltikum, von wo aus er, biographisch bedingt, antirussische Vorbehalte in die Reichshauptstadt mitbrachte. Auch wenn bereits sein Nachfolger Otto Hoetzsch (1876–1946) ihm darin nicht unbedingt folgte, lässt sich doch von einer Berliner Tradition sprechen: In borussischer Perspektive stand Russland als imperiale Macht im Brennpunkt.10 Anderswo, nicht zuletzt in der Donaumonarchie, fanden ebenso die kleineren Ethnien Beachtung.11 Polen und Tschechen, Litauer, Sorben und Kaschuben zogen nach dem Ersten Weltkrieg auch in Deutschland erhöhte Aufmerksamkeit auf sich. Die Umgestaltung der Landkarte Europas, die Entstehung neuer, sich als Nationalstaaten verstehender Nachbarländer schien auch die Forschungslandschaft vor neue Herausforderungen zu stellen. Keine deutsche Regierung und keine deutsche Partei, von der äußersten Rechten bis hin zu den Kommunisten, erkannte die nach dem Ersten Weltkrieg entstandene Ostgrenze jemals an. In dem früh propagierten Kampf gegen Versailles fiel der historischen Argumentation eine Schlüsselrolle zu. Mit den Waffen der Wissenschaft sollte Berlins Revisionsanspruch gegenüber den neuen Nachbarn legitimiert werden. Zum Hauptgegner, ja geradezu zum „öffentlichen Feind“ avancierte Polen.12 Hiervon profitierte eine neue Form staatlich subventionierter Wissenschaft in Deutschland, die so genannte Ostforschung.13 Nach ersten Anfängen im Kaiserreich erlebte sie einen Boom in Weimarer Republik und NS-Staat. Hervorstechendstes Merkmal war ihre hochgradige Politisierung. Ostforschung bedeutete mehr als herkömmliche, auf einen kleinen Kreis von Entscheidungsträgern abgestimmte Politikberatung. Parallel entwickelt und auch umgesetzt wurden Konzepte von Popularisierung: der Einsatz neuer Medien wie Rundfunk und Film, aber auch von Vermittlungsinstanzen wie Volkshochschulen oder Jugendherbergen. Angestrebt war von vorneherein also eine größtmögliche Breitenwirkung. Die Absage an alle Formen von Forschung im Elfenbeinturm, der rasche Transfer wissenschaftlicher Erkenntnisse in die Öffentlichkeit können als ebenso modern gelten wie das Prinzip der Interdisziplinarität. Anders als zu Zeiten der Familienuniversitäten sollte eine breite fachliche Kompetenz sich nun nicht mehr in einer einzelnen Gelehrtenpersönlichkeit vereinigen, sondern in einem Team. Historiker sollten nicht isoliert, sondern in Verbindung mit Kollegen der Ur- und Frühge-

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Klaus Meyer, Osteuropäische Geschichte, in: Reimer Hansen / Wolfgang Ribbe (Hgg.), Geschichtswissenschaft in Berlin im 19. und 20. Jahrhundert, Berlin / New York 1992, 553– 570. Hans-Joachim Torke, Werner Philipp. Leben und Werk eines Osteuropa-Historikers, in: Berliner Jahrbuch für osteuropäische Geschichte 1995/1, 29–42, hier 41. Arnold Suppan / Marija Wakounig / Georg Kastner (Hgg.), Osteuropäische Geschichte in Wien. 100 Jahre Forschung und Lehre an der Universität, Innsbruck / Wien / Bozen 2007. Peter Fischer, Die deutsche Publizistik als Faktor der deutsch-polnischen Beziehungen 1919– 1939, Wiesbaden 1991, 25–27. Immer noch anregend die viel diskutierte Studie von Michael Burleigh, Germany turns eastwards. A study of Ostforschung in the Third Reich, 2. Auflage, Cambridge u. a. 1989.

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schichte, der Sprachwissenschaft oder auch der Volkswirtschaft forschen und publizieren und auf diese Weise deutsche Besitzansprüche legitimieren helfen. Als ein Beispiel hierfür kann das Handwörterbuch des Grenz- und Auslanddeutschtums gelten, ein Projekt, das von der Leipziger „Stiftung für deutsche Volks- und Kulturbodenforschung“ getragen wurde.14 Als Mitherausgeber zeichnete der 1939 von Kiel nach Greifswald berufene Carl Ernst Petersen (1885– 1942). Da die Redaktion „aus arbeitstechnischen Gründen“ nach Berlin verlegt wurde, machte das Ministerium Petersen zur Auflage, seinen Wohnsitz ebenfalls in der Reichshauptstadt zu nehmen und von dort aus seinen Lehrverpflichtungen in Greifswald nachzukommen. Eine Anwesenheit von einem Tag in der Woche vor Ort erachtete die Berliner Wissenschaftsbürokratie für ausreichend.15 Diese Bevorzugung eines politisch instrumentalisierbaren Großprojektes auf Kosten des etablierten Hochschulsystems darf als symptomatisch gelten. Ostforschung als Verbundforschung wurde vorzugsweise nicht direkt an Universitäten, sondern an mehr oder weniger lose angebundenen Forschungseinrichtungen angesiedelt. Eine führende Rolle spielten die 1916 beziehungsweise 1918 gegründeten Osteuropa-Institute in Königsberg und Breslau.16 Leipzig wurde 1921 Sitz der oben erwähnten „Stiftung für deutsche Volks- und Kulturbodenforschung.“ In der Reichshauptstadt erfolgte 1933, während des Übergangs von Weimarer Republik zum NS-Staat, die Gründung der zentralen, nach außen wenig in Erscheinung tretenden Forschungsverbünde und Koordinierungsinstanzen, der „Publikationsstelle Berlin-Dahlem (PuSte)“ und der „Nordostdeutschen [ab 1936: Nord- und Ostdeutschen] Forschungsgemeinschaft.“17 Was ihre Funktion und Methodik anbelangt, rief die deutsche Ostforschung spiegelbildliche Entsprechungen in Polen auf den Plan. Eine ähnliche Form politisierter, interdisziplinär betriebener und auf Breitenwirkung bedachter Wissenschaft konzentrierte sich nach Kriegsende in Posen (Poznań). Später trat das Thorner Ostsee-Institut (Instytut Bałtycki w Toruniu) hinzu, das 1927 seine Arbeit aufnahm und dessen Hauptsitz 1937 nach Gdingen (Gdynia) verlegt wurde, wo 14

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Carl Petersen u. a. (Hgg.), Handwörterbuch des Grenz- und Auslanddeutschtums, Bd. 1–3, Breslau 1933–1938. Das Werk blieb ein Torso; vgl. Willi Oberkrome, Geschichte, Volk und Theorie. Das Handwörterbuch des Grenz- und Auslanddeutschtums, in: Peter Schöttler (Hg.), Geschichtsschreibung als Legitimationswissenschaft 1918–1945, Frankfurt a. M. 1997, 104– 127. Der Reichsminister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung in Berlin am 17.2.1939 an Carl Petersen in Kiel (Abschrift); Universitätsarchiv Greifswald (im Folgenden: UAG), PA 128 Bd. 2; zum Hintergrund vgl. Ingo Haar, Leipziger Stiftung für deutsche Volks- und Kulturbodenforschung, in: Ders. / Michael Fahlbusch / Matthias Berg (Hgg.), Handbuch der völkischen Wissenschaften. Personen – Institutionen – Forschungsprogramme – Stiftungen, München 2008, 374–382, hier 380f. Diese beiden Universitätsstandorte hatte bereits Schiemann 1900 für den Ausbau des Fachs Osteuropäische Geschichte empfohlen; vgl. Frank Golczewski, Osteuropäische Geschichte in Hamburg, in: Rainer Nicolaysen / Axel Schildt (Hgg.), 100 Jahre Geschichtswissenschaft in Hamburg, Berlin / Hamburg 2011, 65–82, hier 66f. Michael Fahlbusch, Wissenschaft im Dienst der nationalsozialistischen Politik?, Die „Volksdeutschen Forschungsgemeinschaften“ von 1931 bis 1945, Baden-Baden 1999, 178–247.

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seit 1931 eine Zweigstelle bestanden hatte; 1934 erfolgte die Gründung eines Schlesischen Instituts in Kattowitz (Instytut Śląski w Katowicach). In koordinierten Aktivitäten insbesondere der Philologien, der Ur- und Frühgeschichte sowie der Mediävistik sollte Warschaus Anrecht auf seine westlichen Landesteile legitimiert und entsprechend deutsche Ansprüche zurückgewiesen werden. Von ihren Ressourcen erwies sich die polnische „Westforschung“ ihrem deutschen Gegenüber indes klar unterlegen, zumal sie nicht auf einem ähnlich breiten gesellschaftlichen Konsens aufbauen konnte.18 Auf deutscher Seite unterscheidet man idealtypisch eine politisierte Ostforschung von einer eher traditionellen, auch im methodischen Sinne, Osteuropahistoriographie.19 Letztere beschäftigte sich vorzugsweise mit Russland, seinen großen Männern, oder, wie im Falle Katharinas II., sogar einzelnen Frauen. Das Urteil aus heutiger Sicht fällt ambivalent aus. Selbst wenn sich die Osteuropäische Geschichte auf klassische Themenfelder wie die Außenpolitik konzentrierte, so verdient doch hervorgehoben zu werden, dass dabei Russland als solches den Bezugsrahmen darstellte. Hierin liegt ein prinzipieller Unterschied zum Ansatz der Ostforschung. Dass diese sich stärker Ostmitteleuropa als Russland zuwandte, ist weniger entscheidend als ihre ethnozentrische Verengung: Nicht Polen (oder anderen Ländern Osteuropas) galt das Interesse der Ostforschung, sondern dessen deutschem Anteil; Polen selbst wurde, wenn überhaupt, in erster Linie als Objekt deutschen Einflusses wahrgenommen und untersucht. Das Schlagwort der „Kulturträger-Theorie“ bringt diese Sichtweise auf den Punkt. Der DDR bot sich hier ein dankbares Betätigungsfeld. Es gab wohl nur wenige Bereiche der Geschichtswissenschaft, in denen eine Abgrenzung gegenüber älteren Traditionen so scharf zum Ausdruck gebracht werden konnte. Beflügelt wurden derlei Anstrengungen durch den Umstand, dass namhafte Vertreter jener Ostforschung ihre Karriere nach 1945 im Westen fortsetzen konnten. Unbestreitbar war die Expansion der Osteuropäischen Geschichte als Subdisziplin in der alten Bundesrepublik ein Kind des Kalten Krieges. Eine jüngere Generation von Osteuropahistorikern war jedoch überzeugt, sich von den problematischen Anfängen ihres Faches emanzipiert zu haben.20 Einen Einschnitt bildeten die Ostverträge. Gezielt wurden nun Kontakte nicht mehr nur zu Vertretern des 18

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Jan M. Piskorski / Jörg Hackmann / Rudolf Jaworski (Hgg.), Deutsche Ostforschung und polnische Westforschung im Spannungsfeld von Wissenschaft und Politik. Disziplinen im Vergleich, Osnabrück / Poznań 2002; Markus Krzoska, Deutsche Ostforschung – polnische Westforschung. Prolegomena zu einem Vergleich, in: Zeitschrift für OstmitteleuropaForschung 52/2003, 398–418. Dittmar Dahlmann, Die deutsche Osteuropahistoriographie in der Zwischenkriegszeit, in: Ders. (Hg.), Hundert Jahre Osteuropäische Geschichte. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, Stuttgart 2005, 21–35, hier 23; zugespitzt Ingo Haar, Osteuropaforschung und „Ostforschung“ im Paradigmenstreit: Otto Hoetzsch, Albert Brackmann und die deutsche Geschichtswissenschaft, in: ebd., 37–53; vgl. Golczewski, Osteuropäische Geschichte, 72f. Jörg Hackmann, Ein Abschied auf Raten. Ostforschungstraditionen und ihre Nachwirkungen in der bundesdeutschen Ostmitteleuropaforschung, in: Michael Fahlbusch / Ingo Haar (Hgg.), Völkische Wissenschaften und Politikberatung im 20. Jahrhundert. Expertise und „Neuordnung“ Europas, Paderborn u. a. 2010, 347–361.

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Exils, sondern auch zu Kolleginnen und Kollegen innerhalb des sowjetischen Machtbereichs gesucht. Die Einrichtung einer gemeinsamen Schulbuchkommission der Bundesrepublik und Volkspolens im Rahmen der UNESCO, aber auch die Institutionalisierung einer eigenen Forschungsrichtung in Westberlin, der Arbeitsgruppe „Germania Slavica“, seien beispielhaft erwähnt.21 Die bewusste Abkehr von ideologisch geprägten Prämissen und Dichotomien wie deutscher Kultur versus slavische Unkultur erleichterten nicht nur Kontaktaufnahmen, sondern ermöglichten auch eine beschränkte Zusammenarbeit selbst mit Historikern der DDR. Dort mutierte nach 1945 die Beschäftigung mit Osteuropa von einer Feind- zu einer Freundwissenschaft, was nicht nur positive Auswirkungen hatte.22 Nicht nur – aber eben: doch auch, denn was sich auf jeden Fall verbessert hatte, wenn auch nicht sogleich nach Kriegsende, waren die Voraussetzungen an Sprachkompetenz. Die Art, wie davon gebraucht gemacht wurde, relativierte diesen Entwicklungssprung allerdings. Neben ideologischen Vorgaben und Restriktionen sind dabei auch strukturelle Voraussetzungen in Rechnung zu stellen. Die DDR folgte weitgehend dem sowjetischem Modell: Die Hochschulen des Landes dienten vorrangig der Lehre, gerade auch der Lehrerbildung, während sich die Forschung an eigenen Akademie-Instituten konzentrieren sollte.23 Unabhängig vom jeweiligen Arbeitsplatz boten sich den Historikerinnen und Historikern der DDR auf jeden Fall mehr Kooperationsmöglichkeiten innerhalb des sowjetischen Machtbereichs als ihren westdeutschen Kollegen. 2. Osteuropa im Gesichtsfeld Greifswalds: Von der Jahrhundertwende bis zum Ende des Ersten Weltkriegs Legt man eine Maximaldefinition von Osteuropäischer Geschichte zugrunde, so fällt es nicht schwer, Greifswald selbst in jener Großregion zu verorten. Unzwei21

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Klaus Zernack, Die Geschichte Preußens und das Problem der deutsch-polnischen Beziehungen. Zugleich ein Rückblick auf die Preußen-Welle, in: Ders., Preußen – Deutschland – Polen. Aufsätze zur Geschichte der deutsch polnischen Beziehungen, hg. v. Wolfram Fischer u. Michael G. Müller, 2. Auflage, Berlin 2001, 105–133, hier v. a. 114; Sebastian Brather / Christine Kratzke (Hgg.), Auf dem Weg zum Germania Slavica-Konzept. Perspektiven von Geschichtswissenschaft, Archäologie, Onomastik und Kunstgeschichte seit dem 19. Jahrhundert, [Leipzig] 2005. Helmut Elsner, Die Geschichte des östlichen Europa in Forschung und Lehre im Rahmen der Wissenschafts- und Hochschulpolitik der DDR, in: Hellmann (Hg.), Osteuropa, 11–81. Dabei war universitäre Forschung an sich nicht untersagt, sondern sogar eher erwünscht; vgl. Wolfgang Hardtwig / Alexander Thomas, Forschung und Parteilichkeit. Die Neuzeithistorie an der Berliner Universität nach 1945, in: Heinz-Elmar Tenorth (Hg.), Geschichte der Universität Unter den Linden 1810–2010, Berlin 2010, 333–359, hier 355; Michael Abeßer, Allein gelassen an der „historischen Front“ – Zur besonderen Lage der Osteuropäischen Geschichte in Jena von 1947 bis 1981 zwischen Ideologie und Wissenschaft, in: Uwe Hoßfeld / Tobias Kaiser / Heinz Mestrup (Hgg.), Hochschule im Sozialismus. Studien zur Geschichte der Friedrich-Schiller-Universität Jena (1945–1990), Bd. 2, Köln / Weimar / Wien 2007, 1715–1748, hier 1735f.

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felhaft ist die Universitätsstadt Teil des postkarolingischen Europas, liegt östlich jener viel beschworenen Linie Elbe – Saale – Böhmerwald, inmitten einer großen mittelalterlichen Kontaktzone, der Germania Slavica. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts, nicht zuletzt auch als Folge der Borussifizierung pommerscher Landesgeschichte24, galten solche Traditionslinien allenfalls noch als historische Reminiszenz, ohne Relevanz für die Orientierung in einer rein deutsch gedachten Gegenwart. Seit einigen Generationen Teil einer Provinz Pommern wurde Greifswald nun ausgerechnet zu jener Zeit von der Vergangenheit Preußens als einer ostmitteleuropäischen Macht eingeholt.25 Dessen Könige waren es schließlich gewesen, die Ende des 18. Jahrhunderts im Verbund mit den Herrschern von Russland und Österreich die Teilungen Polen-Litauens betrieben hatten. Die Spätfolgen jener einschneidenden Ereignisse machten sich um die Jahrhundertwende in der Kleinstadt am Ryck bemerkbar. „Kein Kolleg, kein Ausflug, ohne daß man polnisch hört“, beklagten sich deutschnational gesinnte Studenten 1905 in der Presse.26 Wie auch immer die tatsächlichen Ausmaße jenes Phänomens zu bewerten sind, erklärt sie sich doch dessen bewusste, als Störung empfundene Wahrnehmung vor dem Hintergrund einer neuen, ungewohnt dynamischen Entwicklung. Bis zum 19. Jahrhundert hatte Greifswald trotz seiner geographischen Nähe keine besondere Anziehungskraft auf den akademischen Nachwuchs PolenLitauens auszuüben vermocht.27 In den 1870er Jahren dagegen wurde es auf einmal die beliebteste Universität für Polen in Deutschland, noch vor Berlin. Hierfür gab nicht allein die verbesserte Verkehrsanbindung den Ausschlag, auch nicht die neu entdeckten touristischen Qualitäten einer Hansestadt am Meer, ebenso wenig wie der Ruf der Universitätsmedizin allein so viele junge Polen aus Posen oder Westpreußen angezogen hätte. Die Hauptattraktion Greifswalds machte vielmehr das so genannte „sztundowanie“ aus. Dieser polnische Neologismus, ein dem Deutschen nachgebildetes Fremdwort, stand für das „Stunden“ von Studiengebühren – eine Regelung, die auch an anderen Universitäten Preußens bestand, deren Umsetzung aber offenbar nirgendwo sonst so großzügig gehandhabt wurde. Russische oder genauer gesagt: russländische Studenten vermochte Greifswald dage24

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Vgl. Rembert Unterstell, Klio in Pommern. Die Geschichte der pommerschen Historiographie 1815 bis 1945, Köln / Weimar / Wien 1996, 29f., der freilich die Erträge der polnischen Forschung nicht zur Kenntnis nimmt; vgl. Lucyna Turek-Kwiatkowska, Przemiany świadomości historycznej społeczeństwa pomorskiego w XIX wieku [Wandlungen des Geschichtsbewusstseins der pommerschen Gesellschaft im 19. Jh.], Szczecin 1989, 277f. Klaus Zernack, Preußen als Problem der osteuropäischen Geschichte, in: Ders., Preußen, 87– 104. Nachdruck eines ursprünglich in der Akademischen Turnzeitung veröffentlichten Artikels in: Der Gesellige (Graudenz), 11.3.1905, Nr. 60; Ausschnitt in: UAG, K1765; vgl. Józef Borzyszkowski, Aleksander Majkowski (1876–1938). Biografia historyczna [Aleksander Majkowski (1876–1938). Historische Biographie], Gdańsk / Wejherowo 2002, 153 mit Anm. 56. Witold Molik, Polnische Studenten in Greifswald im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts, in: Dirk Alvermann / Nils Jörn / Jens E. Olesen (Hgg.), Die Universität Greifswald in der Bildungslandschaft des Ostseeraums, Berlin 2007, 371–383.

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gen weniger anzuziehen; in der Beliebtheitsskala unter den 21 deutschen Universitäten vor dem Ersten Weltkrieg belegte es (noch vor dem mecklenburgischen Rostock) Platz 18. Ohne die Deutschbalten, die über ein Drittel jener Gruppe ausmachten, hätte sich dieser Rang noch weiter nach unten verschoben.28 Ähnlich wie im Falle des Russländischen Reiches stellt sich die Frage des Spannungsverhältnisses von Staatsangehörigkeit und nationaler oder ethnischer Selbstverortung auch bei Preußen. Witold Molik, der beste Kenner der Materie, geht von einer Mindestzahl von 678 Studenten polnischer Nationalität in dem Zeitraum von den 1830er Jahren bis zum Ende des Ersten Weltkriegs aus. Ganz überwiegend handelte es sich um junge Männer aus den ehemals polnischen Territorien Deutschlands. Preußische Staatsangehörige wie die meisten ihrer Kommilitonen auch, wurden sie von den Behörden mit besonderem Misstrauen verfolgt. Einzelne von ihnen haben bis heute sichtbare Spuren in Greifswald hinterlassen, so der spätere Arzt und Kommunalpolitiker Julian Domański (1874–1941).29 An den Wänden des Universitätskarzers findet sich seine Unterschrift über dem Datum „25. II. 1901.“30 Mit der diakritischen Schreibweise, dem Akut (poln. „kreska“) über dem (n) des Namenzuges, ließ er keinen Zweifel an seiner polnischen Identität.31 Bekannter geworden ist Domańskis Kommilitone, „der hervorragendste unter den kaschubischen Schriftstellern“:32 Aleksander Majkowski (1876–1938), der als Anführer der „Jungkaschuben“ eine regionale kaschubische Identität mit einer polnischen verbinden, aber nicht gleichsetzen wollte.33 Ihn ehrt eine Gedenktafel in der Bahnhofstraße 57. Korrekt werden die Jahre 1900–1901 als Zeit von Maj28 29 30 31

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Trude Maurer, Affinität oder Auslese?, Zur eigentümlichen Nationalitätenstruktur der Greifswalder Studentenschaft aus dem Russischen Reich im 19. und frühen 20. Jahrhundert, in: Alvermann / Jörn / Olesen (Hgg.), Universität Greifswald, 341–369, hier v. a. 342f., 347. Jerzy Szews, Domański Julian Benedykt, in: Stanisław Gierszewski (Hg.), Słownik biograficzny Pomorza Nadwiślańskiego [Biographisches Lexikon Pommerellens]. Bd. 1, Gdańsk 1992, 335f. Eckhard Oberdörfer, Mestwin, der Kaschubenfürst. Alexander Majkowski als Student in Greifswald, in: Pommern. Zeitschrift für Kultur und Geschichte 41/2003, Nr. 2, 26–29, hier 27f. (mit Abbildung). Witold Molik, Richtungen und Methoden der Forschung zu polnischen Studenten an deutschen Hochschulen im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts, in: Hartmut Rüdiger Peter (Hg.), Schnorrer, Verschwörer, Bombenwerfer?, Studenten aus dem Russischen Reich an deutschen Hochschulen vor dem 1. Weltkrieg, Frankfurt a. M. u. a. 2001, 51–69, hier 58. Jerzy Samp, Kaschubische Literatur, in: Józef Borzyszkowski / Dietmar Albrecht (Hgg.), Pomorze – Mała Ojczyzna Kaszubów (Historia i współczesność). Kaschubisch – pommersche Heimat (Geschichte und Gegenwart), Gdańsk/Danzig / Lübeck/Lubeka 2000, 652–696, hier 674. Oberdörfer, Mestwin, 26–29; Józef Borzyszkowski, Aleksander Majkowski (1876–1938). Biografia historyczna [Aleksander Majkowski (1876–1938). Historische Biographie], Gdańsk / Wejherowo 2002, 140–155; Hans-Jürgen Bömelburg, Grenzüberschreitende kaschubische Biographien mit schmaler zeitgenössischer Resonanz: Gulgowski, Lorentz und Majkowski, Nationale und interkulturelle Ursachen, in: Tobias Weger (Hg.), Grenzüberschreitende Biographien zwischen Ost- und Mitteleuropa. Wirkung – Interaktion – Rezeption, Frankfurt a. M. 2009, 255–283.

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kowskis Greifswald-Aufenthalt angegeben; was unterschlagen wird, ist der Grund für dessen abruptes Ende: Zusammen mit seinem Kommilitonen Domański war der künftige Arzt und Schriftsteller mit dem consilium abeundi von der Universität verwiesen worden, unter dem Vorwurf, sich an der Gründungsversammlung eines polnischen Arbeitervereins beteiligt zu haben. Majkowski selbst rühmte sich in seinen Memoiren, mit einigen Kommilitonen zusammen polnische Landarbeiter auf umliegenden Gütern aufgesucht und ihnen Lesen und Schreiben in der Muttersprache beigebracht zu haben. Diese Verbindung von sozialer und nationaler Frage wog in den Augen der Behörden offenbar schwerer als das Engagement in den exklusiven Vereinigungen polnischer Akademiker, die seit längerem in Greifswald existierten.34 Politische Betätigung war auch deutschen Studenten untersagt, doch im Falle tatsächlicher oder vermeintlicher nationalpolnischer Hintergründe wurde sie behördlicherseits mit besonderer Energie verfolgt. Davor schützten Majkowski auch nicht persönlich gute Beziehungen zu Vertretern der Universität. Auch in Greifswald gewann der staatsnahe, antipolnische „Deutsche Ostmarkenverein“ – gerade in der Beamtenschaft – an Mitgliedern.35 Der kaschubische Medizinstudent zog es vor, Preußen den Rücken zu kehren und sein Studium in der bayerischen Landeshauptstadt abzuschließen. Zuvor kam es allerdings noch zu einem Zwischenspiel in Berlin. Bei keinem geringeren als Theodor Schiemann besuchte Majkowski eine Vorlesung „Das letzte Jahrhundert in Polen.“ Hinter der Ankündigung verbarg sich eine Wiederaufnahme aus dem Repertoire ähnlich bezeichneter Veranstaltungen wie „Über die polnische Revolution.“ Durch abfällige, gegen Polen gerichtete Bemerkungen des Berliner Professors fühlten sich nicht nur Majkowski und seine Landsleute provoziert. Es kam am 13. Dezember 1901 zu einer konzertierten Aktion von Polen, Russen und Tschechen, der sich auch Bayern anschlossen. Gemeinsam organisierten sie ein „Katzen-Konzert“, einen lärmenden Protest, der zum Abbruch der Veranstaltung führte und als „Schiemann-Skandal“ in die Annalen der Universitätsgeschichte eingegangen ist. Deutschnationale Studenten protestierten ihrerseits mit Rufen wie „Polen raus!“36 Dass der historisch interessierte Majkowski an sich für Medizin eingeschrieben war, kann als typisch für die polnischen Studenten Greifswalds gelten. Auf der Beliebtheitsskala folgten die Fächer Landwirtschaft und Jura. Wie viele Polen sich primär für ein Studium der Geschichte entschieden, ist nicht mehr zu ermit-

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Szczepan Wierzchosławski, Polskie organizacje studenckie na uniwersytecie w Gryfii w drugiej połowie XIX i początkach XX wieku [Polnische Studentenorganisationen an der Universität Greifswald in der zweiten Hälfte des 19. und zu Beginn des 20. Jh.], in: Studia Historica Slavo-Germanica 10/1981, 127–140. Jens Oldenburg, Der Deutsche Ostmarkenverein 1894–1934, Berlin 2002; Janus Pajewski (Hg.), Dzieje Hakaty [Geschichte des Ostmarkenvereins], Poznań 1966. Ryszard Ergetowski, Schiemann-Skandal. Karta z dziejów studenckiej Polonii w Berlinie (1901 r.) [Der „Schiemann-Skandal.“ Ein Blatt aus der Geschichte des studentischen Polentums in Berlin (1901)], in: Rozprawy z dziejów oświaty 24/1981, 111–141.

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teln.37 Es darf aber davon ausgegangen werden, dass auch angehende Ärzte (wie Majkowski), Rechtsanwälte oder Landwirte im Rahmen ihrer Möglichkeiten die eine oder andere geisteswissenschaftliche Veranstaltung besucht haben. Bei wem hätten Hörer aller Fakultäten, seien es nun Polen, Kaschuben oder Deutsche, etwas über Osteuropa im modernen Sinne lernen können? Die bekannten Persönlichkeiten der Universitätsgeschichte scheiden jedenfalls aus. Ernst Moritz Arndt (1769–1860) verfasste einen Gutteil seiner patriotischen, gegen das Frankreich Napoléons gerichteten Schriften erst in Russland. Auch seine Auseinandersetzung mit Polen in der Paulskirche erfolgte lange nach dem Fortgang aus Greifswald. Die Gründung des Historischen Instituts sollte der spätere Namenspatron der Universität nicht mehr erleben. Lag bei Arndt die Beschäftigung mit osteuropäischen Themen nach seiner Zeit in Greifswald, fiel sie für Theodor Hirsch (1806–1881) in die Jahre davor. Seine Edition der Littauischen Wegeberichte (1863) kann, wie Stefan Striegler (*1974) anderthalb Jahrhunderte nach ihrem Erscheinen nachweisen konnte, als durchaus zuverlässig, wenngleich nicht als vollständig gelten.38 Keine direkten Verbindungen zu Osteuropa unterhielt Ernst Bernheim (1850– 1942), sicherlich der Greifswalder Historiker mit der größten internationalen Ausstrahlung – gerade auch nach Osteuropa. Sein Lehrbuch der Historischen Methode sowie dessen spätere Kurzfassung wurden dort teils im Original, teils in Übersetzungen rezipiert.39 Auch Bernheims Kollegen, den gebürtigen Thüringer Heinrich Ulmann (1841–1931) verband wenig mit Osteuropa. Bei aller Verehrung für Bismarck soll er jedoch dessen Memoiren zum Gegenstand kritischer Quellenanalyse gemacht und – anders als Schiemann – „Verständnis für Befreiungsbewegungen in Griechenland und Polen“ gezeigt haben.40 Einer anderen Generation gehörte bereits Ludwig Bergsträßer (1883–1960) an. Der später vor allem als Zeithistoriker und Politologe, aber auch als linksliberaler Politiker hervorgetretene Elsässer war erst kurz vor seiner Habilitation 1910 nach Greifswald gekommen. Im Rahmen einer Vorlesung im WS 1913/14 behandelte er die aktuelle Lage auf dem Balkan.41 Den Ersten Weltkrieg, den er damals noch glücklich verhindert wähnte, erlebte der „nicht felddiensttaugliche“ Professor unter anderem in der Presseabteilung des Oberbefehlshabers Ost in Kaunas 37 38 39 40 41

Molik, Polnische Studenten, 381. Stefan Striegler, Die littauischen Wegeberichte. Rekonstruktion und Konstruktion eines historischen Grenzraumes 1384–1402, unveröffentlichte MA-Arbeit Greifswald 2010, 19–21, 155f. Aleksandra Kuligowska, Auffassung w koncepcji historii Ernsta Bernheima [„Auffassung“ in der Geschichtskonzeption Ernst Bernheims], Poznań 2013. Karl-Michael Chilcott, Das Historische Seminar Greifswald im Zeichen des bürgerlichen Historismus (1863–1933/45), in: Der Rektor der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald (Hg.), 125 Jahre Historisches Seminar, 17–32, hier 21 (Zitat), 23. Verzeichnis der Vorlesungen der Königlichen Universität zu Greifswald im Winterhalbjahr 1913–14, 27, http://ub-goobi-pr2.ub.uni-greifswald.de/viewer/image/PPN670499994_WH_19 1314/29/#topDocAnchor (26.8.2014); separate Publikation in der Burschenschaftlichen Bücherei: Ludwig Bergsträßer, Die Balkankrisis, Berlin 1914.

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(Kowno). Der Historiker in Uniform erlangte dort Zugang zum Archiv der evangelischen Gemeinde und verwertete dies in einen Artikel: Die älteste Verfassung der Stadt Kowno erschien in einem Organ der Besatzer, der Kownoer Zeitung vom 5.8.1916. Einen größeren Leserkreis dürfte ein Beitrag erreicht haben, der Eingang in einen Sammelband fand. Sein Titel erscheint gut gewählt. Unter der Überschrift „Einflüsse deutscher Kultur in Litauen“ wird geradezu lehrbuchmäßig die Kulturträger-Theorie entfaltet: Litauen verdankte – dem ausdrücklich als Greifswalder Professor zeichnenden – Bergsträßer zufolge seine Entwicklung der „Stetigkeit des deutschen Kultureinflusses“: „es ist immer der Deutsche, der für dieses Land Anreger, Bringer und Träger der neuen Wirtschaftsform wird.“42 Auch Bergsträßers Kollege, der einige Jahre ältere Fritz Curschmann (1874– 1946), gebürtiger Berliner und Lamprecht-Schüler, sammelte als Reserveoffizier im Ersten Weltkrieg Eindrücke in Osteuropa. Sie fanden ihren Niederschlag nicht nur in der Lehre („Geschichte der Völker und Staaten Ost-Europas“, laut Vorlesungsverzeichnissen 1917 und 191843), sondern auch in der einflussreichen, gerade im Bildungsbürgertum viel gelesenen Deutschen Rundschau.44 Curschmanns Ausführungen über Geschichte, Gegenwart und Zukunftsperspektiven Weißrusslands zeugen von einer vergleichsweise intensiven, offenbar auch auf Kenntnis zumindest des Polnischen beruhenden Auseinandersetzung mit dem östlichen Europa, insbesondere dem Großfürstentum Litauen. Auch hatte Curschmann direkten Zugang zu weißrussischen Intellektuellen gefunden. Politische Vorstellungen von einem Block befreundeter, mehr oder weniger von Deutschland abhängiger Nachbarländer erwiesen sich indes schon bald ebenso als Illusion wie die persönlichen Hoffnungen des Autors auf eine Professur im damals deutsch besetzten Dorpat (Tartu). L[udwig] Bergsträßer, Einflüsse deutscher Kultur in Litauen, in: Das Litauen-Buch. Eine Auslese aus der Zeitung der 10. Armee, o. O. 1918, 93; Verweis auf den Zeitungsartikel bei [Paul] Karge, Zur Geschichte des Deutschtums in Wilna und Kauen, ebd., 94–103, hier 101f. Selbstkritischer Rückblick (überwiegend in der 3. P. Sg.): Ludwig Bergsträßer, Mein Weg [München 1953], 6f., hier 6: „Im ersten Weltkrieg gehörte auch er lange Zeit zu den Gläubigen.“ Zum Hintergrund Vejas Gabriel Liulevicius, War land on the Eastern Front. Culture, national identity and German occupation in World War I, Cambridge u. a. 2000, v. a. 115– 117. 43 Verzeichnis der Vorlesungen der Königlichen Universität zu Greifswald im Winterhalbjahr 1917–18, 21 (http://ub-goobi-pr2.ub.uni-greifswald.de/viewer/image/PPN670499994_WH_ 191718/22/#topDocAnchor) bzw. (…) im Sommerhalbjahr 1918, 22, http://ub-goobipr2.ub.uni-greifswald.de/viewer/image/PPN670499994_SH_1918/23/ (jeweils 26.8.2014). 44 Fritz Curschmann, Die Weißruthenen. Ein erwachendes slawisches Bauernvolk, in: Deutsche Rundschau 176/1918, 273–296; zum Hintergrund vgl. Margot Goeller, Hüter der Kultur. Bildungsbürgerlichkeit in den Kulturzeitschriften „Deutsche Rundschau“ und „Neue Rundschau“ (1890–1914), Frankfurt a. M. u. a. 2011. Welchen Widerhall derartige Publikationen in Greifswald selbst fanden, lässt sich kaum beantworten. Immerhin befand sich hier mit dem gebürtigen Tilsiter und Professor für Romanische Philologie Gustav Thurau (1863–1918) ein zahlendes Mitglied der Litauischen literarischen Gesellschaft; s. Domas Kaunas, Knygos kultūra ir kūrėjas. Istoriografiniai tyrimai ir vertinimai [Kultur und Schöpfer des Buches. Historiographische Untersuchungen und Bewertungen], Vilnius 2009, 54. 42

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3. Im Schatten der Ostforschung: Greifswald 1919 bis 1945 Auch wenn keine Quellen über Curschmanns persönliche Reaktion auf die Niederlage bekannt sind, kam sie für ihn vermutlich ebenso überraschend wie für Millionen anderer Deutscher auch.45 Gerade in Richtung Osten hatte man fest damit gerechnet, ein Friedensschluss werde territoriale Gewinne und nicht etwa Gebietsverluste mit sich bringen, standen zum Zeitpunkt des Waffenstillstands deutsche Truppen doch tief im Innern Russlands.46 Für Pommern zog die Rückkehr eines polnischen Staates auf die Landkarte Europas gravierende Folgen nach sich.47 Seit 1920 grenzte die Provinz an ein Gebiet, für welches sich im deutschen Sprachgebrauch eine Kampfvokabel einbürgerte: „Korridor“, oder auch „polnischer Korridor.“ Gemeint war das Kernstück der ehemaligen Provinz Westpreußen, das nun Ostpreußen vom Rest des Reichsgebietes abtrennte. Die Rückgewinnung jener Landverbindung gehörte zum Hauptziel der Berliner Revisionspolitik. In den propagandistischen Auseinandersetzungen mit Warschau wurde darüber gestritten, ob die Kaschuben der deutschen oder der polnischen Seite zuzurechnen seien. Die Frage gewann an Brisanz wie an Komplexität durch den Umstand, dass Teile jener Bevölkerungsgruppe auf Reichsgebiet, nämlich in den ostpommerschen Grenzkreisen Bütow und Lauenburg, zurückgeblieben waren. Jenseits der Grenze, in der neu gegründeten Wojewodschaft Pommerellen, übernahmen auch ehemalige Greifswalder Studenten Funktionen in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft – Majkowski als Kreisvorsitzender des Polnischen Volksrats (Rada Ludowa) und Stellvertretender Leiter der Kommission für die Festlegung der deutsch-polnischen Grenze in deren nördlichem Teilabschnitt.48 Ohne, dass sie sich vermutlich je begegnet sind, engagierte sich weiter südlich ein anderer ehemaliger Greifswalder für eine Grenzziehung in deutschem Sinne: Paul Laskowsky, Oberlehrer im posenschen Meseritz und Mitglied des dortigen Deutschen Volksrats. Im Rahmen einer reichsweiten Lobbyarbeit zur Abwehr polnischer Gebietsansprüche schrieb er auch den amtierenden Rektor seiner Alma mater an. Laskowsky berief sich darauf, Erich Pernice (1864-1945) „während meiner schönen Greifswalder Studienzeit“ persönlich kennen gelernt zu haben und bat ihn, seinen Einfluss geltend zu machen, um in der Bürgerschaft eine breite

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Vgl., wenn auch nicht näher auf Osteuropa eingehend, Ernst Bernheim, Weshalb sind Deutschlands Friedensschlüsse meist unglücklich ausgefallen?, Greifswald 1921. Klaus Hildebrand, Das deutsche Ostimperium 1918. Betrachtungen über eine historische „Augenblickserscheinung.“ In: Wolfram Pyta / Ludwig Richter (Hgg.). Gestaltungskraft des Politischen. Festschrift für Eberhard Kolb, Berlin 1998, 109–124. Kyra T. Inachin, Pommern als Grenzprovinz in der Agitation der politischen Rechten 1919– 1933, in: Edward Włodarczyk (Hg.), Pogranicze polsko-niemieckie. Przeszłość – Teraźniejszość – Przyszłość, Szczecin 2001, 129–163. Borzyszkowski / Albrecht (Hgg.), Pomorze, 375, 382. Majkowskis Greifswalder Kommilitone und Arztkollege Domański übernahm 1921/22 das Amt eines kommissarischen Bürgermeisters im posenschen Kletzko (Kłecko); Szews, Domański Julian Benedykt, 336.

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Unterstützung für den Verbleib des westposenschen Restkreises bei Deutschland zu organisieren.49 Einen solchen Appells in nationaler Hinsicht hätte es kaum bedurft. Bürgerschaft, Studierende und Professorenschaft waren sich in der Ablehnung der Versailler Friedensordnung einig. 1926 protestierte eine Abordnung Greifswalder Korporationen in Gleiwitz gegen die Abtretung Ostoberschlesiens, wobei auch eine entsprechende Resolution ihrer Hochschullehrer zur Verlesung gelangte.50 Ob Greifswalder Studenten tatsächlich in größerer Zahl dem „Grenzschutz Ost“ beigetreten sind, wie eine DDR-Studie behauptet, lässt sich auf Grundlage der Akten des Universitätsarchivs nicht zweifelsfrei beantworten.51 Beschränkungen der politischen Betätigung jedenfalls waren nach Kriegsende entfallen; in Greifswald bewegte sich diese ganz überwiegend in deutschnationalen, sehr früh auch schon in nationalsozialistischen Bahnen.52 In der Greifswalder Hochschulzeitung, dem Organ der „freien Studentenschaft“, riefen Autoren zur nationalen Pflichterfüllung im Osten auf.53 Sämtliche Beiträge weisen mehr oder weniger offen antipolnische Tendenzen auf. Es ist schwer vorstellbar, dass sich in einem solchen Klima polnische Studierendenvereinigungen hätten frei entfalten oder behaupten können.54 In der erhitzten Atmosphäre nach Kriegsende liefen polnische Studenten nicht nur Gefahr, auf der Straße angepöbelt zu werden, sondern auch des Hörsaals verwiesen zu werden. Aus dem Februar 1919 datiert die Resolution einer „allgemeinen Studentenversammlung“, der Studentenausschuss „möge veranlassen, daß die studierenden Polen, die nicht Deutsche sein wollen, von der hiesigen Universität entfernt werden.“55 Es kann daher kaum verwundern, wenn sich ehemalige polnische Studenten an weiteren Kontakten zu ihrer Alma mater desinteressiert zeigten.56 Verbin49

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Laskowsky in Meseritz am 28.3. 1919 an den Rektor in Greifswald; UAG, R 100, Bl. 272; zum Hintergrund vgl. Rudolf Jaworski / Marian Wojciechowski (Hgg.). Deutsche und Polen zwischen den Kriegen. Minderheitenstatus und „Volkstumskampf“ im Grenzgebiet. Amtliche Berichterstattung in beiden Ländern 1920–1939, Bd. 1, München u. a. 1997, 453–347, 551– 590. Köstler, „Ostarbeit“, 278. Vgl. ebd., 276 und die dort angegebene Signatur UAG, R 402. Vgl. Helge Matthiesen, Greifswald in Vorpommern. Konservatives Milieu im Kaiserreich, in Demokratie und Diktatur 1900–1990, Düsseldorf 2000, 223–225; Maurer, Affinität, 360–362. Vgl. Otto Rohde. Jeder Student einmal im deutschen Osten, in: Greifswalder Hochschulzeitung 7/1932, Nr. 1, 42–44; [an.], Der Kampf der Deutschen in Polen um ihr Polentum!, in: ebd., Nr. 8, 35f. Zumindest vorübergehend scheint Mitte der 1920er Jahre in Greifswald ein Zweigverein des polnischen Studierendenverbandes „Silesia“ bestanden zu haben; vgl. Anna Poniatowska / Stefan Liman / Iwona Krężałek, Związek Polaków w Niemczech w latach 1922–1982 [Der Bund der Polen in Deutschland 1922-1982], Warszawa 1987, 126. Studenten-Ausschuß der Königlichen Universität Greifswald am 25.2.1919 an Rektor und Senat ebd.; UAG, R 221, Bl. 146; vgl. Joachim Mai, Der preußische Staat und die polnischen Studenten in Greifswald 1870–1919, in: Greifswald-Stralsunder Jahrbuch 13–14/1982, 116– 126, hier 124. Demgegenüber unterhielt der spätere Wojewode von Pommerellen (1924–26) Stanisław Wachowiak (1890–1972) die Verbindung zu seinem prominenten Münchner Lehrer Lujo

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dungen aus Studienzeiten aufrecht zu erhalten und bei Bedarf für eigene Zwecke einzusetzen, blieb einem deutschen Alumnus wie Laskowsky vorbehalten. Über die Entwicklung der Studierendenschaft von 1918 bis 1945 liegen bisher nur Voruntersuchungen vor.57 Sie zeigen, dass nach einem Hoch unmittelbar nach dem Ende des Ersten Weltkriegs (SS 1920: 1939 Immatrikulierte) der Rückgang in den 1930er Jahren dramatisch verlief. Sanken die Zahlen im Reichsdurchschnitt um rund die Hälfte, gingen sie in Greifswald sogar um zwei Drittel zurück: Im Sommersemester 1939 waren insgesamt gerade noch 565 Studierende eingeschrieben.58 Dabei sollte, wie schon im Kaiserreich, auch hier die Frage der Staatsangehörigkeit nicht im Vordergrund stehen. Für unser Thema wäre es wichtiger zu wissen, wie viele Angehörige deutscher Minderheiten aus Osteuropa in Greifswald ein Studium aufnahmen, fortführten oder abschlossen. Die Expansion der Studierendenzahlen nach dem Ersten Weltkrieg zumindest wurde auch von Deutschbalten getragen.59 Einer jüngsten Studie zufolge studierten zwischen Wintersemester 1931/32 und WS 1944/45 mindestens 227 „Auslanddeutsche“ bzw. „Volksdeutsche fremder Staatsangehörigkeit“ in Greifswald, die meisten von ihnen aus Polen, Lettland und Estland.60 Während des Zweiten Weltkriegs stieg nicht nur der Frauenanteil, sondern auch der Anteil akademischen Nachwuchses aus den besetzten Gebieten Osteuropas. Den Anfang machten offenbar Studierende aus dem Baltikum, die in Folge des Hitler-Stalin-Paktes in das Deutsche Reich umsiedelten. Eine eigene Gruppe, deren Gesamtzahl 28 nicht überstieg, bildeten Studierende aus der ehemaligen Tschechoslowakei, dem „Protektorat Böhmen und Mähren.“61 Greifswald war eine der wenigen Universitäten, die Tschechen nach der Schließung heimischer Hochschulen – zumindest für ein Medizinstudium – noch offen stand. Während sich die Hörsäle leerten, füllten sich die Lager in und um Greifswald. Ob und gegebenenfalls auf welche Weise Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter zu Objekten der Ostforschung wurden, bedarf noch der Untersuchung.62

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Brentano (1844–1931) bis zu dessen Tod aufrecht; vgl. Stanisław Wachowiak, Czasy, które przeżyłem [Zeiten, die ich durchlebt habe], Warszawa 1991, 27f. Erster Überblick: Tina Kröger, Aspekte des Ausländerstudiums an der Universität Greifswald 1933 bis 1945, in: Dirk Alvermann (Hg.), „Die letzten Schranken fallen lassen ...“, Studien zur Universität Greifswald im Nationalsozialismus, Weimar 2014 [im Druck]. Matthiesen, Greifswald, 336; Maurer, Affinität, 362 Anm. 112. Maurer, Affinität, 358–366. Kröger, Aspekte. Vgl. Die Universität Greifswald im Nationalsozialismus, 13.10.1943: Die Universität Greifswald lehnt die Erhöhung der Zahl tschechischer Studenten ab, in: http://www.ns-zeit.unigreifswald.de/index.php?id=46&tx_ttnews[tt_news]=119&cHash=08463d2ae5cf7b53eb8a5c 06621f7511 (5.5.2014). Zum Hintergrund Detlef Brandes, Die Tschechen unter deutschem Protektorat. Bd. 1, München / Wien 1969, 89–95. An der Berliner Humboldt-Universität läuft derzeit ein interdisziplinäres Forschungsprojekt zu Sprachaufnahmen sowjetischer Kriegsgefangener. In der Greifswalder Universitätsklinik wurden einige Rotarmisten mit Ernährungsexperimenten vor dem Hungertod bewahrt, ohne dass andere Schicksalsgenossen von den dabei gewonnenen Erkenntnissen profitiert hätten;

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Bedeutend besser erforscht ist das Zusammenspiel von Studenten und Professoren, von Stadt und Universität, was Aktivitäten anbelangt, die sich gegen die Nachbarn an der Versailler Ostgrenze richteten. Während 1926 Greifswalder Hochschullehrer schon in Schriftform gegen die Abtretung Oberschlesiens protestiert hatten, kam es 1930 vor Ort zu einer antipolnischen Demonstration Greifswalder Studierender. Einen Höhepunkt mit „Event“Charakter bildete die so genannte Ostmarkenhochschulwoche vom 22.–25. November 1932. Es handelte sich um eine interdisziplinäre Veranstaltung mit Auftritten Greifswalder Professoren und Vertretern aus Politik und Wirtschaft. Gezeigt wurde auch der „Ostmarkenfilm“, dessen Vorführung im Gegensatz zu den übrigen Veranstaltungen Eintritt kostete. Gemeinsamer Tenor war der Schutz Ostdeutschlands vor angeblichen drohenden Gefahren aus Polen. In einem später publizierten Beitrag wurde „die polnische akademische Jugend“ in ihrem nationalen Engagement als „geradezu vorbildlich“ angesehen, „sodaß ihr selbst der politische Gegner höchste Achtung zollen muß.“63 Insofern haben wir es mit einem Paradebeispiel von Ostforschung in ihrer popularisierten Form zu tun: Öffentliche Inszenierung, Lehrende und Lernende verschiedener Fachrichtungen, in engem Kontakt zu politischen Entscheidungsträgern, verbunden in nationalem Engagement für einen „Deutschen Osten.“ Während „Ostforschung“ rein begrifflich noch mit Wissenschaft in Verbindung zu bringen war, benannte „Ostarbeit“ Versuche der Umsetzung und direkten Einwirkens auf die Gesellschaft. In dieser Hinsicht konnte die NS-Politik ohne weiteres an die Weimarer Republik anschließen. Lokale und regionale Amtsträger formulierten Erwartungshaltungen gegenüber der Universität, denen diese als Preußens wie „des Reiches Stiefkind“64 mangels zentraler Unterstützung kaum gerecht werden konnte. Sie verdienen aber Beachtung insofern, als sie allesamt einer verstärkten Ausrichtung nach Osteuropa das Wort redeten. So sei, musste sich der Rektor im Mai 1932 belehren lassen, „in den ostpommerschen Grenzkreisen mit Bitterkeit zum Ausdruck gebracht worden, daß sich unsere Landesuniversität Greifswald zu wenig um die Grenzlandfragen Ostpommerns kümmere und z. B. dem Kaschubenproblem noch keinerlei Aufmerksamkeit geschenkt habe.“65

Ähnliche Vorhaltungen kamen zweieinhalb Jahre später von der regionalen Parteiführung der NSDAP.66

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vgl. Monika Warszewski, Gefangen im nationalsozialistischen Pommern. Zum Schicksal der Kriegsgefangenen im Wehrkreis II, Unveröffentlichte Hausarbeit im Rahmen der Ersten Staatsprüfung für das Lehramt an Gymnasien, Greifswald 2012, 47–49. Dr. Moritzmann, Greifswalder Student und pommersche Ostprobleme, in: Greifswalder Hochschul-Zeitung 7/1932, Nr. 8, 37–40, hier 39. Helmut Heiber, Universität unterm Hakenkreuz, Bd. II/2, München u. a. 1994, 369. Pressestelle der Provinzialverwaltung von Pommern in Stettin am 28.5.1932 an den Rektor in Greifswald, in: UAG, R 979, Bl. 5. Vgl. NSDAP Gauleitung Pommern in Greifswald am 24.11.1936 an den Rektor ebd., in: UAG, R 979, Bl. 110f. hier 110 [Schreibfehler stillschweigend korrigiert]: „Es macht sich bei

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Dabei versuchte die Universität, unter dem Rektorat Karl Reschkes (1886– 1941) in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre durchaus aktiv zu werden. Stets wurden die Studierenden in besonderem Maße eingebunden, sofern nicht überhaupt die Initiative von ihnen ausgegangen war. Charakteristisch erscheint der Begriff der „Arbeitsgemeinschaft“, der nicht nur das Interdisziplinäre, sondern auch das Einbeziehen von Studierenden zum Ausdruck bringen sollte. Nach zentralen Vorgaben wurde eine solche „Hochschularbeitsgemeinschaft für Raumforschung“ im Wintersemester 1936/37 in Greifswald gegründet.67 Institutionell wie personell konnte sie vermutlich an einen 1934 gegründeten „Studentischen Grenzlanddienst“ anknüpfen.68 Auf jeden Fall sah sich der akademische Nachwuchs Greifswalds einem vielfältigen Angebot nationalpädagogischer Natur ausgesetzt. Zum Jahreswechsel 1936/37 fand vor den Toren der Stadt in Lubmin ein „Grenzlandlager“ statt, dem sich kurz darauf eine zweitägige „Grenzlandtagung“ in Greifswald anschloss. Verbindendes Thema war „Der polnische Staat.“69 Als auswärtiger Referent trat damals bereits Theodor Oberländer (1905-1998) auf. Mit dem prominenten Ostforscher aus Königsberg wurde die Gründung einer „wissenschaftliche[n] Arbeitsgemeinschaft für Grenzlandfragen“ beschlossen. Diese war als Vorstufe eines eigenen, pommerschen „Ost-Institutes“ gedacht, für das sogleich weit reichende Pläne ausgearbeitet wurden. So heißt es in dem Programmentwurf von Anfang 1937: „Als Vorbild dienen 1.) das Institut für Osteuropäische Wirtschaft in Königsberg, 2.) die polnischen Institute in Thorn, Kattowitz und Warschau“; eines der „vorgesehene[n] Themen“ war „1) Sprachuntersuchung: Kassubisch [!], Deutsche und polnische Einflüsse.“ Nicht allein das hier offen formulierte Prinzip des „Lernens vom Gegner“ verdient Beachtung. Geradezu revolutionär mutet die Absage an die Ordinarienuniversität an: „Träger des Instituts sollen nicht Professoren alten Stils, sondern Dozenten und Studenten sein.“ Ebenfalls bemerkenswert erscheint die geographische Rekrutierung der Kooperationspartner. Abgesehen von dem wohl mehr als

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der Ostarbeit immer wieder der Mangel geltend, dass die Ernst Moritz Arndt-Hochschule zu wenig nach dem Osten ausgerichtet ist. Mit Ausnahme des Slavistischen Institutes ist keine Stelle vorhanden, die planmäßig ihr Augenmerk auf den ostdeutschen und osteuropäischen Raum sichtet. Dies jedoch wäre die tatsächliche Aufgabe Greifswalds [Hervorhebung im Original], der pommerschen Landesuniversität.“ Die Universität Greifswald im Nationalsozialismus, 10.5.1940: Die Hochschularbeitsgemeinschaft für Raumforschung in Greifswald regt Forschungsarbeiten zu „kriegswichtigen“ Themen an, http://www.ns-zeit.uni-greifswald.de/index.php?id=46&tx_ttnews[tt_news]=59&cHa sh=59141b349699ac309a80eddde6c38962 (18.5.2014); Ariane Leendertz, Reichsarbeitsgemeinschaft für Raumforschung, in: Ingo Haar / Michael Fahlbusch (Hgg.), Handbuch der völkischen Wissenschaften. Personen, Institutionen, Forschungsprogramme, Stiftungen, München 2008, 520–527. Vgl. die Aktennotiz vom 4.5.1937 in: UAG, R 979, Bl. 195. Aleksander Drożdżyński / Jan Zaborowski, Oberländer. Przez „Ostforschung“, wywiad i NSDAP do Rządu RFN [Oberländer. Über „Ostforschung“, Nachrichtendienst und NSDAP in die Bundesregierung], Poznań / Warszawa 1960, 239f. In dem Faksimile ist von „Winterlager“ und „Wintertagung“ die Rede.

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persönlicher Berater fungierenden Oberländer findet sich keine etablierte Institution der Ostforschung erwähnt.70 Lediglich die 1933 gegründete Hochschule für Lehrerbildung in Lauenburg71 lag östlich von Greifswald, während sonst an die bereits existierenden Kooperationen mit den Hochschulstandorten Rostock, Hannover, Kiel und Göttingen angeknüpft werden sollte. In solch einem Verbund hätte Greifswald als einzige ostdeutsche Universität womöglich seine Nische finden und behaupten können, ohne die Konkurrenz größerer Osteuropa-Kompetenz befürchten zu müssen. Versuchte sich der Rektor hier scheinbar selbstlos in den Dienst einer nationalen Sache zu stellen, die zugleich einer strukturschwachen Region zugutekommen würde, sollte doch dabei der eigene wissenschaftliche Nachwuchs nicht zu kurz kommen. Als eine Art Koordinator schlug Reschke einen ehemaligen Assistenten am Historischen Institut vor, der mangels beruflicher Perspektive in den Schuldienst gewechselt war. Vergleichsweise bescheiden mutet die abschließend geforderte (und offenbar nie bewilligte) Summe von 5000 Reichsmark als eine Art Anschubfinanzierung an.72 Vor diesem Hintergrund erfolgte wenig später der förmliche Antrag auf Ernennung zur „Ost- und Grenzlanduniversität.“73 Die Ablehnung aus Berlin kam postwendend mit der Begründung, keinen Präzedenzfall für andere grenznahen Hochschulen des Reiches schaffen zu wollen. Offenbar auf Bitten des Rektors 70

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Der Rektor in Greifswald am 23.2.1937 an den Reichs- und Preußischen Minister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung in Berlin; UAG, R 979, Bl. 168-170 (Schreiben), 171f. (Programm). – Das erwähnte Warschauer Institut sollte die deutschen Minderheiten Zentralund Ostpolens untersuchen, entfaltete aber keine den beiden anderen Einrichtungen vergleichbare Tätigkeit. Vgl. auch Martin Aust / Daniel Schönpflug (Hgg.), Vom Gegner lernen. Feindschaften und Kulturtransfers im Europa des 19. und 20. Jahrhunderts, Frankfurt a. M. / New York 2007. Vgl. den populären Rückblick von Paul Bode, Die Hochschule in der Grenzstadt Lauenburg, in: Pommersches Heimatbuch 2009, 125–128; Heiber, Universität, Bd. II/1, München u. a 1992, 466. Der Rektor in Greifswald am 23.2.1937 an den Reichsminister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung in Berlin; UAG, R 979, Bl. 168f. (Anschreiben), 170f. (Anlage). Vgl. die ungewöhnliche Emphase des Mediziners Reschke über Heinz Kauffmann: „Den möchte ich wieder hier her haben. Er soll sich hier habilitieren und ich bitte darum, ihn durch das Dozentenwerk so zu unterstützen, daß er mit seiner Frau und seinem Kind ein auskömmliches Gehalt hat. Er gehört (…) zu den Leuten, die wir als Nachwuchs an der Universität festhalten müssen.“ (Bl. 169). Kauffmann selbst verzichtete dann auf die ihm zugedachte Aufgabe, nicht nur, weil er meinte, dass er sich erst die erforderlichen Kenntnisse, etwa in sprachlicher Hinsicht, aneignen müsse, sondern auch, weil ihm eine solche Stelle keine sicheren Perspektiven eröffne und er so Gefahr laufe, „am Ende kein rechter Professor und auch kein rechter Lehrer“ zu werden; ebd., R 978, Bl. 7–10, hier 10. Der Rektor in Greifswald am 6.3.1937 an den Reichs- und Preußischen Minister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung in Berlin, und dessen abschlägiger Bescheid vom 25. 3.: UAG, R 979, Bl. 190f. Zu den Hintergründen s. Heiber, Universität, Bd. II/2, 374f.; vgl. ebd. 370: „Pommern blieb Pommern und lag weiterhin ziemlich im Osten am nördlichen Rand des Reiches. Um aber ‚Ostuniversität’ zu werden, dazu lag man bereits zu weit westlich – da hätte Berlin ja auch noch kommen können!“

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versuchte Oberländer, etwas über die Hintergründe in Erfahrung zu bringen. Ihm wurde zu verstehen gegeben, dass der Ausbau von Berlin und Königsberg Priorität genieße.74 Trotz dieser Zurücksetzung liefen die Greifswalder Aktivitäten in kleinerem, dem bisherigen Rahmen weiter. An den Ferienlagern an der Grenze zu Polen beteiligten sich nach wie vor auch Studierende von außerhalb. Ob Freizeitangebote für die Dorfbevölkerung, ob Mithilfe bei Ausgrabungen oder dem Verzetteln von Kirchenbüchern – die Aktivitäten in den ostpommerschen Grenzkreisen wurden argwöhnisch von diplomatischen Vertretern Warschaus beobachtet und als das beschrieben, was sie waren: eine Mischung aus Erwachsenenbildung, Regionalförderung und Demonstration nationaler Präsenz. Die antipolnische Spitze nach innen wie nach außen war unübersehbar. Was den Konsul in Stettin besonders beeindruckte, war gerade das Prinzip studentischer Ferienlager, die er – wiederum ganz im Sinne des „Lernens vom Gegner“ – seinen Landsleuten zur Nachahmung empfahl.75 Der Respekt, der hier von polnischer Seite den Deutschen gezollt wurde, blieb diesen selbst vermutlich verborgen. Im Mai 1937 hatte Greifswald keine Chance mehr, zu den Zentren staatlich geförderter Ostforschung aufzurücken. Doch versuchte die „Nord- und Ostdeutsche Forschungsgemeinschaft“ die Universität stärker in ihre Arbeit einzubinden, zusammen mit der erwähnten Hochschule für Lehrerbildung in Lauenburg. Eine Vortragsreise durch Ostpommern mit 64 Teilnehmern wurde organisiert. Den Eröffnungsvortrag der so genannten „Kaschubentagung“ hielt der Mediävist Adolf Hofmeister (1883–1956). Tenor soll gewesen sein, „daß die Kaschuben nicht Polen oder ein eigener Volksstamm seien, sondern ‚Pommeranen, und der Name bezeichnet nur einen ihrer Stämme’.“76 Dass diese und ähnliche Theorien nur wenige Jahre später zur offiziellen Doktrin im Reichsgau Danzig-Westpreußen werden sollten, hatte der Greifswalder Gelehrte nicht voraussehen können. Institutionell schien der schnelle Sieg gegen Polen aber auch seiner Hochschule neue Möglichkeiten zu eröffnen. Nicht über das Stadium erster Planungen hinaus gelangten Erwägungen von Mai bis September 1941, eine der kleineren deutschen Universitäten als Ganze nach Krakau umzusiedeln. Im Gespräch war damals neben Marburg und Gießen auch Greifswald.77 Zuvor, im September 1939, war das Gerücht aufgekommen,

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Köstler, „Ostarbeit“, 282; Die Universität Greifswald im Nationalsozialismus, 20.1.1936: Die Theologische Fakultät bittet um finanzielle Mittel für „auslanddeutsche“ Studenten aus Polen, in: http://www.ns-zeit.uni-greifswald.de/index.php?id=46&tx_ttnews[tt_news]=115&cHash= 96a2eaa065eb0db97c0b0df2da0252c3 (5.5.2014). S. die beiden Vorträge von Heliodor Sztark (1886–1969) von Anfang Oktober 1936, in: Henryk Chałupczak / Edward Kołodziej (Hgg.), Zjazdy i konferencje konsulów polskich w Niemczech. Referaty 1928–1938 [Die Generalversammlungen und Konferenzen der polnischen Konsuln in Deutschland 1928–1938. Vorträge], Lublin 2001, 294–305, 328–335, hier v. a. 229f., 331: „Wzorując się na przykładach niemieckich.“ Fahlbusch, Wissenschaft, 237; Burleigh, Germany, 138. Burleigh, Germany, 289; Heiber, Universität, Bd. II/1, 198–202.

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die Ernst-Moritz-Arndt-Universität werde weiter nach Osten, ins hinterpommersche Stolp, verlegt.78 Die Kriegsentwicklung machte derartige Gedankenspiele rasch hinfällig. Was blieb, war Greifswalds Mangel an Osteuropa-Kompetenz. Preußens ältester Universität erwuchs diesbezüglich sogar weitere Konkurrenz – nicht nur in Gestalt zweier Neugründungen, der Reichsuniversität Posen und des Instituts für Deutsche Ostarbeit in Krakau, sondern auch der traditionsreichen Universität Dorpat. Diese Gründung des Schwedenkönigs Gustav Adolf aus dem Jahre 1632 war im Dezember 1942 im Gespräch als künftige „Ost-Hochschule.“79 Vor diesem Hintergrund nimmt sich die Bilanz der Ernst-Moritz-Arndt-Universität bescheiden aus. Eine eigene Gründung, wenngleich in Stettin angesiedelt, war das „Institut Oder-Donau.“80 Pläne, es in der Universitätsstadt selbst unterzubringen, waren an der Ablehnung des Reichsministeriums für Erziehung, Wissenschaft und Volksbildung gescheitert. Dessen Verweis auf die Kriegslage hinderte indessen das Berliner Wirtschaftsressort nicht, dem Vorhaben seine Unterstützung zu leihen. Das im April 1943 als eingetragener Verein gegründete Institut kann zugleich als ein frühes Beispiel von private-public partnership gelten. Zu einem Großteil wurde es von der Wirtschaft (Gauwirtschaftskammer und Provinzialverband) finanziert. An seiner Wiege standen also keineswegs nur ideologische oder wissenschaftspolitische Überlegungen, sondern tatsächlich auch ökonomische Interessen. Große Hoffnungen hatten sich in Stettin mit dem 1939 begonnenen, dann ins Stocken geratenen Bau eines Oder-Donau-Kanals verbunden. Das Institut sollte Bestandsaufnahmen wie Perspektiven eines deutsch dominierten Osteuropas und damit zugleich Argumente für einen Weiterbau der Wasserstraße liefern. Damit hatte Pommern Jahrzehnte nach Ostpreußen und Schlesien eine eigene Institution der Ostforschung erhalten.81 Auch die Nachwuchsförderung kam nicht zu kurz. Obschon dem Institut keine lange Lebensdauer beschieden war, konnten ein paar Mitarbeiter doch wirtschaftswissenschaftliche Promotionen an der Universität Greifswald abschließen. Einer von ihnen, Andreas Michael Bora (*1917), behandelte das Verkehrswege78

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Theodor Oberländer in Breslau am 29.9.1939 an den Rektor in Greifswald, in: UAG, R 211. Er bezog sich dabei auf „Gerüchte an der Front in Kongresspolen“; dieser Hinweis fehlt bei Irene Vorholz, Die Rechts- und Staatswissenschaftliche Fakultät der Ernst-Moritz-ArndtUniversität Greifswald. Von der Novemberrevolution 1918 bis zur Neukonstituierung der Fakultät 1992, Köln u. a. 2000, 133 Anm. 230; vgl. Heiber, Universität, Bd. II/1, 151, 216. Burleigh, Germany, 296; Heiber, Universität, Bd. II/1, 202. Klemens Grube, Das Stettiner Oder-Donau-Institut im Spannungsfeld von Wirtschaftsinteresse, Wissenschaft und Krieg, in: Alvermann (Hg.), „Die letzten Schranken fallen lassen ...“; Hoffmann, Institut. Zu erwähnen wäre eventuell noch das „Institut für Heimatforschung in Schneidemühl“, eine ursprünglich für die Grenzmark Posen-Westpreußen gegründete Einrichtung, die nach der Gebietsreform 1938 an Pommern gelangte, schon Ende 1939 aber nicht mehr in Erscheinung trat und am 30.1.1942 förmlich geschlossen wurde; vgl. Christoph Jahr, Institut für Heimatforschung in Schneidemühl, in: Haar / Fahlbusch (Hgg.), Handbuch, 256–260.

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netz der Ukraine.82 Angesichts der vom Autor beklagten, leicht nachvollziehbaren Probleme, in Kriegszeiten an aktuelles Datenmaterial zu gelangen, handelte es sich fast schon um eine wirtschaftshistorische Arbeit. In Greifswald selbst blieb es im Wesentlichen bei den Vorkriegsstrukturen. Dies bedeutete eine überwiegende Ausrichtung nach Nordeuropa. Sinnbildhaft steht hierfür eine Habilitationsschrift, die man auch als einen Beitrag zur Geschichte Osteuropas verstehen könnte. Sie erschien als Band 5 in der Greifswalder Reihe „Schweden und Nordeuropa“: Die Universität Dorpat und das Eindringen der frühen Aufklärung in Livland 1690–1710 (Essen 1943; ND Hildesheim u. a. 1969). Bei aller fachlichen Kritik im Detail glaubten die Professoren Paul und Hofmeister der Arbeit doch eines zugutehalten zu müssen: „die Betonung der germanischen Ostseekulturgemeinschaft, zu der auch Holland zu rechnen ist.“83 Es handelte sich um eine externe Habilitation, da der Kandidat Georg von Rauch (1904–1991) formal an der Reichsuniversität Posen als Dozent wirkte, bei Drucklegung der Arbeit aber schon der Wehrmacht angehörte.84 Mit Greifswald verband den Deutschbalten und späteren Kieler Ordinarius für Osteuropäische Geschichte kaum mehr als das Habilitationskolloquium im März 1941 über „die Politik der Westmächte zur Zeit der polnischen Revolution 1863.“85 Den ihm gewährten Lehrauftrag „für die Geschichte der baltischen Provinzen“ konnte Rauch nicht mehr wahrnehmen. Veranstaltungen im osteuropäischen Kontext wurden bis Kriegsende – und darüber hinaus – eher selten angeboten. Dieses Defizits war man sich in Greifswald durchaus bewusst. Es fehle „noch immer ein Vertreter der Geschichte des Ostseeraums“, beklagte eine interne Aufstellung von Sommer 1939. Überlegungen, den „Professor für Grenzlandkunde und allgemeine Erziehungswissenschaft“ Gustav Simoleit aus Lauenburg nach Greifswald versetzen zu lassen, erreichten kein konkretes Stadium.86

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Andreas Michael Bora, Das Verkehrswesen der Ukraine und seine volkswirtschaftliche Bedeutung für die europäische Großraumwirtschaft, Rechts- und staatswissenschaftliche Dissertation Greifswald 1943 (MSchr.). Gemeinsames, undatiertes Gutachten Pauls und Hofmeisters in: UAG, Phil/Math-Nat. Habil, Nr. 26. Michael Garleff, Georg von Rauch und die interethnischen Beziehungen in der baltischen Region. Zu seiner Geschichtsschreibung der Jahre 1935 bis 1943, in: Ders. (Hg.), Zwischen Konfrontation und Kompromiß. Oldenburger Symposium „Interethnische Beziehungen in Ostmitteleuropa als historiographisches Problem der 1930er/1940er Jahre“, München 1995, 197–215, hier 198–201; zum institutionellen Hintergrund: Błażej Białkowski, Utopie einer besseren Tyrannis. Deutsche Historiker an der Reichsuniversität Posen (1941–1945), Paderborn u. a. 2011. Philosophische Fakultät in Greifswald am 27.3.1941 an den Reichsminister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung in Berlin, in: UAG, Phil/Math-Nat. Habil, Nr. 26. „Gewisse antipolnische Akzente“ konstatiert in Veröffentlichungen Rauchs aus jener Zeit dessen Schüler Garleff, 208f. (Zitat 209). Vgl. Der Rektor in Greifswald am 3.8.1939 an den Kreisleiter der NSDAP ebd.; UAG, R 1166, Bl. 326–330, hier 329.

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Dafür deckte manches die Slavistik ab.87 Seit Ende des Ersten Weltkrieges bestanden (mit Unterbrechungen und in wechselnden personellen Konstellationen) in Greifswald Lektorate für Russisch und Polnisch. Die Angebote richteten sich wohl in erster Linie an angehende Philologen, doch bestand eine Nachfrage auch seitens der Theologen. Für Offiziere der Garnison und der benachbarten Luftwaffenstützpunkte wurden später vor Ort eigene Kurse abgehalten. Zu einer einflussreichen Persönlichkeit in Kommunalpolitik und Universität entwickelte sich, zunächst noch als Lektor, der Studienrat Dr. Hermann Brüske (1883–1951).88 Der gebürtige Stettiner hatte vor 1914 bereits Slavistik studiert und war aus dem Ersten Weltkrieg als Invalide, aber mit einer zusätzlichen Dolmetscherausbildung zurückgekehrt. Pläne für eine Habilitation zerschlugen sich wohl infolge verschlechterter finanzieller Verhältnisse. Brüske galt dessen ungeachtet als bürgerliche Respektsperson und konnte so maßgeblich zum Aufstieg des Nationalsozialismus beitragen.89 1934 wurde Brüske Gründungsdirektor des Instituts für Slawistik; im Dezember 1939 erfolgte seine Ernennung zum Honorarprofessor „für slawische Philologie unter besonderer Berücksichtigung der Kulturkunde.“90 Aus diesem Themenbereich veröffentlichte Brüske auch populäre Darstellungen91, während er in der Forschung wenig hervortrat. 1935 bot er eine „Geschichte Polens (in polnischer Sprache)“ an.92 Dies blieb ein Einzelfall, während sich Überblicksveranstaltungen zu Gegenwartsproblemen regelmäßig angekündigt finden. Eine Mischung aus ideologischer Linientreue und historischer Phantasie lässt ein Titel von 1942 vermuten: „Pugatschov als Vorläufer des Bolschewismus.“93 Im Historischen Institut selbst lässt das Angebot nur selten einen mehr oder weniger direkten Osteuropa-Bezug erkennen. Singulär steht eine Vorlesung im Sommersemester 1933 „Geschichte Rußlands und der Ostseestaaten.“ Angeboten wurde sie von dem damals gerade aus Riga zurück berufenen Johannes Paul

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Niemeyer, Geschichte, 4f., 50–54. UAG, PA 23. In Bd. 2 der umfangreichen Personalakte Brüskes Wiedergabe von dessen Lebenslauf im Antrag des Dekans der Philosophischen Fakultät vom 9.11.1933 an den Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung in Berlin (Bl. 65). Vgl. Matthiesen, Greifswald, 267f., 331f. Kurt Gabka u. a., Zur Geschichte der slawistischen Lehre und Forschung an der Universität Greifswald, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald, Gesellschaftswissenschaftliche Reihe 35/1986, 15–19, hier 16. Hermann Brüske, Rußland von heute. Sowjetrussische Humoristen und Satiriker, in: Greifswalder Hochschulzeitung 7/1932, Nr. 6, 11f. Ernst Moritz Arndt-Universität Greifswald, Personal- und Vorlesungsverzeichnis für das Wintersemester 1935/36 und das Sommersemester 1936, 43, http://ub-goobi-pr2.u b.uni-greifswald.de/viewer/image/PPN657561959WiSe193536SoSe1936/49/#topDocAnchor (26.8.2014). Ernst Moritz Arndt-Universität Greifswald, Personal- und Vorlesungsverzeichnis SommerSemester 1942, 45; vgl. Niemeyer, Geschichte, 50–54. Zum historischen und historiographischen Hintergrund Dorothea Peters, Politische und gesellschaftliche Vorstellungen in der Aufstandsbewegung unter Pugačev (1773–1775), Wiesbaden 1973.

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(1891–1990).94 Zuvor hatte lediglich Curschmann (unter wechselnden Titeln angekündigte) Veranstaltungen zur mittelalterlichen Ostsiedlung abgehalten, so im Wintersemester 1925/26 „Deutschland u. der slavische Osten.“95 Unbestreitbar gewinnen die Veranstaltungstitel nach 1933 eine tagespolitische Zuspitzung. Derselbe Curschmann las nun „Urkunden zur Geschichte der deutschen Ostgrenze“ (WS 1933/34)96, ein Thema, das er wenige Jahre später bis in die Gegenwart fortführte („Uebungen zur Entwicklung der deutschen Ostgrenze vom 10. Jhd. bis zum Versailler Vertrag“, SS 1937).97 Aufhorchen lässt eine Ankündigung, von der allerdings nicht mit Sicherheit zu sagen ist, ob die Veranstaltung – angesichts der kriegsbedingten, vorübergehenden Universitätsschließung – tatsächlich auch gehalten wurde: „Die Überwindung des Versailler Vertrages 1919–1939“ im WS 1939/40.98 Der verantwortlich zeichnende Hermann Christern (1892–1941), erst 1936 nach Umhabilitierung in Greifswald, gehört zu den weniger bekannten Angehörigen des Historischen Instituts. Von Hause aus Westeuropahistoriker mit einem Schwerpunkt in der englischen Geschichte, bot er wiederholt Veranstaltungen aus einer Ostforscherperspektive an.99 Polen selbst wurde nur einmal, und zwar in dessen Bezügen zu Pommern, Gegenstand eines Seminars100, wobei auch hier noch zu klären wäre, ob Adolf Hofmeister im WS 1939/40 dieses abhalten bzw. später nachholen konnte. Zuvor hatte lediglich im Rahmen des im Sommer 1933 eingeführten Fachs „Wehrwissenschaft“ Walter Wendorff, Generalmajor a. D., im WS 1935/36 eine Veranstaltung „Der Feldzug 1914 in Polen“101 angekündigt. Die stärkste ideologi94

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Universität Greifswald, Personal- und Vorlesungsverzeichnis für das Sommersemester 1933, 37, http://ub-goobi-pr2.ub.uni-greifswald.de/viewer/image/PPN657561908SoSe1933/43/#top DocAnchor (26.8.2014). Vgl. Marco Nase, „Att Sverige skall dominera här.“ Johannes Paul und das Schwedische Institut der Universität Greifswald 1933–1945, Greifswald 2014. Universität Greifswald, Personalverzeichnis, Vorlesungsverzeichnis für das W.-S. 1925/6, 30, http://ub-goobi-pr2.ub.uni-greifswald.de/viewer/image/PPN657561908WiSe192526/31/LOG _0068/#Geschichte (26.8.2014). Ernst Moritz Arndt-Universität Greifswald, Personal- und Vorlesungsverzeichnis für das Wintersemester 1933/34, 36, http://ub-goobi-pr2.ub.uni-greifswald.de/viewer/image/PPN657 561908WiSe193334/39/#topDocAnchor (26.8.2014). Ernst Moritz Arndt-Universität Greifswald, Personal- und Vorlesungsverzeichnis für das Sommersemester 1937, 38, http://ub-goobi-pr2.ub.uni-greifswald.de/viewer/image/PPN65756 1959SoSe1937/44/#topDocAnchor (26.8.2014). Ernst Moritz Arndt-Universität Greifswald, Personal- und Vorlesungsverzeichnis. WinterSemester 1939/40, 40, http://ub-goobi-pr2.ub.uni-greifswald.de/viewer/image/PPN65756195 9WiSe193940/46/#topDocAnchor (26.8.2014). Postum publizierte Vortragsmanuskripte erwecken den Eindruck eines in antitschechischen und antirussischen Vorurteilen befangenen Apologeten nationalsozialistischer Expansionspolitik: Hermann Christern, Das Reich und der deutsche Lebensraum. Vermächtnis eines Greifswalder Historikers herausgegeben von Dr. Elisabeth Christern, Greifswald 1942. Ernst Moritz Arndt-Universität Greifswald, Personal- und Vorlesungsverzeichnis WinterSemester 1939/40, 40, http://ub-goobi-pr2.ub.uni-greifswald.de/viewer/image/PPN65756195 9WiSe193940/46/#topDocAnchor (26.8.2014). Ernst Moritz Arndt-Universität Greifswald, Personal- und Vorlesungsverzeichnis für das Wintersemester 1935/36 und das Sommersemester 1936, 38, http://ub-goobi-pr2.ub.

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sche Prägung lassen Ankündigungen der Ur- und Frühgeschichte vermuten. Den Begriff der „Rasse“ zu gebrauchen, blieb dem Rektor vorbehalten. Im Sommersemester 1943 las Carl Engel (1895–1947) über „Völker- und Rassengeschichte des Ostraums.“102 Vermutlich unterscheidet sich dieses Lehrprogramm nicht wesentlich von dem anderer deutscher Universitäten jener Zeit, auch nicht in seiner zunehmenden verbalen Radikalisierung:103 Osteuropa erscheint, wenn überhaupt, lediglich aus einem Blickwinkel spezifischer deutscher Interessen. Diese Verengung fällt umso mehr bei einem Vergleich mit dem Lehrangebot der Nordischen Geschichte auf. Studentinnen und Studenten Johannes Pauls konnten sich in so genannten Arbeitsgemeinschaften wie „Geistesleben und Politik im modernen Schweden“ oder „Die Gegenwart im Spiegelbild der skandinav. Presse“ (SS 1937)104 Kenntnisse der betreffenden Länder aus deren jeweils eigener Perspektive aneignen. Da die dominierende Ostforschung indes ohnehin interdisziplinär angelegt war, liegt es in der Logik ihres Ansatzes, im Rahmen dieses Beitrages auch auf Nachbardisziplinen der Geschichtswissenschaft einzugehen. Greifswalds bis heute bekanntesten Ostforscher waren keine ausgebildeten Historiker, gehörten nicht einmal der Philosophischen Fakultät an, behandelten aber sehr wohl Themen der Geschichte Osteuropas. Es verwundert daher kaum, dass ein Michael Burleigh den bereits erwähnten Oberländer irrtümlich zu einem Greifswalder Historiker ernennen konnte.105 Anders als die meisten Kollegen seiner Generation brachte dieser vielseitige Ostforscher und Politiker von Haus aus keinen Osteuropabezug mit.106 Er stammte aus dem thüringischen Meiningen, schloss ein Studium als Diplomlandwirt ab und gehörte zu dem Kreis deutscher Agrarexperten, die während der 1920er und Anfang der 1930er Jahre wiederholt in der Sowjetunion weilten. Promoviert wurde Oberländer jedoch zunächst auf Grundlage einer Arbeit über Litauen.107 Einen zweiten Doktortitel, diesmal der Staats- und Wirtschaftswissenschaften, erwarb er bereits ein Jahr später in Königsberg. Auch die dort 1930 als Dissertation ange-

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uni-greifswald.de/viewer/image/PPN657561959WiSe193536SoSe1936/44/#topDocAnchor (26.8.2014). Ernst Moritz Arndt-Universität Greifswald, Personal- und Vorlesungsverzeichnis SommerSemester 1943, 41, http://ub-goobi-pr2.ub.uni-greifswald.de/viewer/image/PPN657561959So Se1943/46/#topDocAnchor (26.8.2014). Zur Beobachtung einer solchen Radikalisierung in den Publikationen von Ostforschern vgl. Burleigh, Germany, 155f., Hans-Christian Petersen, Bevölkerungsökonomie – Ostforschung – Politik. Eine biographische Studie zu Peter-Heinz Seraphim (1902–1979), Osnabrück 2007, 207. Ernst Moritz Arndt-Universität Greifswald, Personal- und Vorlesungsverzeichnis für das Sommersemester 1937, 38, http://ub-goobi-pr2.ub.uni-greifswald.de/viewer/image/PPN65756 1959SoSe1937/44/#topDocAnchor (26.8.2014). Burleigh, Germany, 145 Anm. 352. Philipp-Christian Wachs, Der Fall Theodor Oberländer (1905–1998). Ein Lehrstück deutscher Geschichte, Frankfurt a. M. u. a. 2000. Theodor Oberländer, Die landwirtschaftlichen Grundlagen des Landes Litauen, Landw. Diss. Berlin 1929.

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nommene Arbeit war dem ländlichen Raum gewidmet (Die Landflucht in Deutschland und ihre Bekämpfung durch agrar-politische Maßnahmen). Nach seiner Habilitation 1933108 wurde er am 1. April 1937 Professor für osteuropäische Wirtschaft an der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät in Königsberg, jedoch schon im September desselben Jahres zum Verlassen Ostpreußens gezwungen. Der Hintergrund war ein Zerwürfnis mit Gauleiter Erich Koch (1896–1986), als dessen Vertrauensmann Oberländer zuvor zahlreiche politische Funktionen wahrgenommen hatte. Eine solche zweite Karriere hatte er zielstrebig neben und in enger Verbindung mit seiner akademischen Laufbahn verfolgt. Von den zahlreichen Ämtern seien nur die eines Vorsitzenden des antipolnischen „Bund Deutscher Osten“ (BDO) genannt – zunächst als Landesleiter für Ostpreußen, dann, ab Oktober 1934 nach persönlicher Intervention von Rudolf Heß, als Bundesleiter.109 Diese Verbands- und auch Parteiämter musste Oberländer 1937 aufgeben, ebenso seine Position in der einflussreichen Nord- und Ostdeutschen Forschungsgemeinschaft. Welche Rolle dabei ein Konflikt des NSDAP- und SA-Mitglieds Oberländer mit der SS spielte, ist in der Forschung umstritten. In diesen Kontext gehört auch die Frage, inwieweit der Wechsel nach Greifswald einer Strafversetzung gleichkam.110 Die von der DDR in Faksimile publizierte Korrespondenz der zivilen Zentralbehörden wie Oberländers selbst deutet darauf hin, dass dessen Einmischung in Fragen Ostdeutschlands und Osteuropas vorerst nicht mehr erwünscht war. Nach außen sollte diesem Eindruck aber kein Vorschub geleistet werden, wie er sich bei einer Versetzung des Königsberger Professors an eine westdeutsche Universität unweigerlich aufgedrängt hätte. Aus nachträglicher Sicht zumindest wirkt der Ruf nach Greifswald wie ein Kompromiss – er erfolgte zwar an eine Universität in Ostdeutschland, doch handelte es sich dabei um eine Hochschule, die von ihrer Größe wie von ihrem Profil her wenig Gestaltungsmöglichkeiten in puncto Ostforschung und „Ostarbeit“ bot. Eine solche Lösung kam wohl auch dem Reichskriegsministerium entgegen, das sich vergeblich für eine Versetzung Oberländers nach Berlin stark machte, um von dessen (dort weiterhin geschätzter) OsteuropaExpertise profitieren zu können.111

108 In Buchform: Theodor Oberländer, Die agrarische Überbevölkerung Polens, Berlin 1935. 109 Karol Fiedor, BUND Deutscher Osten w systemie antypolskiej propagandy [Der „Bund Deutscher Osten“ im System antipolnischer Propaganda], Warszawa / Wrocław 1977, 34f. 110 Dass Greifswald tatsächlich als Abschiebestation für politisch unliebsame Professoren galt, dokumentiert u. a. der Fall des Hallenser Prorektors Gustav Aubin (1881–1938); vgl. Eduard Mühle, Für Volk und deutschen Osten. Der Historiker Hermann Aubin und die deutsche Ostforschung, Düsseldorf 2005, 93f.; Heiber, Universität, Bd. 1, München u. a. 1991, 144–146. Weitere Greifswalder Fälle bei Matthiesen, 336f., der eine Verortung Oberländers in diesem Kontext für fraglich hält. 111 Drożdżyński / Zaborowski, Oberländer, 46; Ausschuß für Deutsche Einheit (Hg.), Die Wahrheit über Oberländer, 2. Auflage, Berlin 1960, 32, 53f., 56, 58, 61. Den Kompromisscharakter als „eine verblüffende Lösung, die alle Beteiligten zufrieden stellte“ betont auch Wachs, Fall, 46.

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Auf jeden Fall war seine Zeit in Greifswald kurz bemessen, währte sie doch lediglich vom 12. November 1937 bis zum 30. September 1940; am 1. Oktober 1940 wechselte Oberländer an die Deutsche Karls-Universität Prag. Die knapp drei Jahre in Greifswald wurden schon in Friedenszeiten immer wieder unterbrochen durch verschiedene Tätigkeiten in der Reichshauptstadt, darunter so genannte „Reserveübungen.“112 In jene Zeit fiel die Zusammenarbeit Oberländers mit der „Abwehr.“113 An einer ihrer wichtigsten Stellen, in Breslau, war er zu Beginn des Zweiten Weltkriegs tätig und wurde nach der Niederwerfung Polens an die Abwehrstelle Krakau versetzt.114 Als dort am 6. November 1939 in einem Hörsaalgebäude 183 Polen, die meisten von ihnen Professoren, verhaftet wurden, weilte der Oberleutnant Oberländer nach einem Autounfall bereits wieder zur medizinischen Behandlung in Greifswald. Er gehörte nicht zu den deutschen Hochschullehrern, die sich für die Freilassung ihrer in Konzentrationslager deportierten Kollegen einsetzten.115 Doch erfüllte ihn seine Arbeit in Krakau mit solcher Befriedigung, dass er sie, wie er am 10. November dem Rektor der Ernst-Moritz-ArndtUniversität schrieb, „unter keinen Umständen mit irgendeiner Tätigkeit eintauschen“ wolle.116 Zu schätzen wusste er offenbar nicht zuletzt die UkraineBestände von Polens ältester Universität.117 Von Greifswald aus kehrte Oberländer verschiedentlich nach Krakau zurück und beteiligte sich dort im Juni 1940 mit einem Vortrag an der ersten Arbeitstagung des neu gegründeten Instituts für Deutsche Ostarbeit.118 Dass Greifswald für einen Mann mit solchen Verbindungen und solchen Ambitionen wie Theodor Oberländer zu klein erscheinen musste, liegt auf der Hand.

112 Schriftwechsel zwischen Oberländer, Reichskriegsministerium und Reichserziehungsministerium (Oktober bis Dezember 1937) im Faksimile abgedruckt in: Ausschuß für Deutsche Einheit (Hg.), Wahrheit, 53–60. 113 Wachs, Fall, 45–51. 114 Das Hauptinteresse von Politik, Propaganda und Publizistik hat sich bisher auf Oberländers Rolle im Krieg gegen die Sowjetunion konzentriert. Ihm ist im Wesentlichen auch die historische Forschung gefolgt, so dass die mit Polen verbundenen Aktivitäten des Greifswalder Gelehrten noch immer nicht als abschließend geklärt gelten können. Belege für eine unmittelbare Beteiligung Oberländers an Diversions- und Sabotagetätigkeiten, wie etwa dem fingierten Überfall auf den Sender Gleiwitz, fehlen. Vgl. Wachs, Fall, 60f., dem es nicht gelungen ist, ein klares Bild von Oberländers amtlicher Funktion zu gewinnen. Die von der DDR im Faksimile reproduzierten Archivalien müssen wohl als authentisch gelten, gerade, weil sie kaum mehr als Indizien für die weit reichenden Schlussfolgerungen im redaktionellen Teil liefern; vgl. Ausschuß für Deutsche Einheit (Hg.), 63–73. 115 Henryk Pierzchała, Wyrwani ze szponów Państwa-SS. Sonderaktion Krakau 1939–1941 [Den Fängen des SS-Staates entrissen. Die „Sonderaktion Krakau“ 1939–1941], Kraków 1997. 116 Theodor Oberländer in Greifswald am 10.11. 1939 an den Rektor ebd., UAG, R 211, Bl. 21; ungenau zitiert auch bei Vorholz, Fakultät, 139. Vor allem aber wurde dieser Brief eben nicht, wie ihr Text suggeriert, aus Krakau abgeschickt. 117 Vgl. Wachs, Fall, 61, der auf einen Brief Oberländers an seine Frau vom 5. Oktober verweist. 118 Institut für Deutsche Ostarbeit Krakau (Hg.), Jahrbuch 1941, Krakau 1941; Burleigh, Germany, 192–194; vgl. auch Anetta Rybicka, Instytut Niemieckiej Pracy Wschodniej. Institut für Deutsche Ostarbeit. Kraków 1940–1945, Warszawa 2002, 16.

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Ohnehin hat er nach Kriegsbeginn dort offenbar kaum noch gelehrt.119 Bis dahin allerdings soll „sein praktischer Einsatz in politischer und landwirtschaftlicher Hinsicht nicht nur bei den maßgebenden Stellen, sondern auch bei den Studenten weitgehendsten Anklang“ gefunden haben.120 Ein Teil seiner Aktivitäten hatte gerade darauf abgezielt, Ostdeutschland und Osteuropa „im Rahmen der Ostgrenzarbeit“ stärker in das Blickfeld der Universität zu bringen, so etwa durch eine „Ostbücherei.“121 Wenn der 93jährige Pensionär rückschauend seine ersten Eindrücke von Greifswald als einer „vom Osten chemisch reinen Universität“ beschrieb122, so war er doch bemüht gewesen, entsprechende Prozesse in Gang zu setzen. Auch hatte Oberländer sich in Greifswald nicht nur ein Haus gebaut, sondern vor den Toren der Stadt auch ein Stück Land erworben, das er mit seiner Frau zusammen nach Kriegsende selbst bewirtschaften wollte.123 Was im Nachhinein wie ein Intermezzo anmutet, war also nicht unbedingt von Anfang an darauf angelegt. Publizistisch zumindest blieb Oberländer auch in seiner Greifswalder Zeit alten Interessen treu. Eine Radikalisierung des Denkens deutet ein in der Forschung umstrittener Artikel von Frühjahr 1940 an: Von der Front des Volkstumskampfes. Offensichtlich wurde dieser Artikel in Neues Bauerntum – auf Veranlassung Himmlers – redaktionell so verändert, dass er in Wortwahl und Gedanken dessen eigene Texte widerspiegelte, insbesondere was Forderungen nach massenhaften Bevölkerungsverschiebungen anbelangt. Selbst wenn diese Eingriffe nicht mehr im Detail nachweisbar sind, erscheint doch bemerkenswert, dass Oberländer sich bis Kriegsende nicht davon distanzierte, aber mit Befriedigung ein viertel Jahr nach Erscheinen „die vielen lobenden Zuschriften“ zur Kenntnis nahm.124 Seinen prominentesten Auftritt an der Ernst-Moritz-Arndt-Universität hatte Oberländer ein Jahr zuvor absolviert: die Rektoratsrede zur Machtübernahme. Prädestiniert schien der Professor für Wirtschaftliche Staatswissenschaften insofern, als er eigenen Angaben zufolge sich 1923 in München dem Marsch zur Feldherrnhalle angeschlossen hatte – ob aus Überzeugung oder eher zufällig, wie er nach 1945 erklärte, mag dahin gestellt bleiben. Die DDR-Propaganda unterstellte Oberländer, in dessen Rede von 1939 seien einschlägige Erfahrungen eigener Spionage- und Diversionstätigkeit gegen Litauen eingeflossen. Beweise ist sie schuldig geblieben.125

119 Vorholz, Fakultät, 139. 120 Der Rektor in Greifswald am 3.8.1939 an den Kreisleiter der NSDAP ebd.; UAG, R 1166, Bl. 326–330, hier 328. 121 Vorholz, Fakultät, 118. 122 Vorholz, Fakultät, 119f. 123 Wachs, Fall, 62f. Auch blieben zumindest Teile seiner Bibliothek in Greifswald zurück; vgl. Manfred Straube, Neue Beweise für die faschistische Vergangenheit Theodor Oberländers, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 8/1960, 856–873, hier 857 Anm. 1. 124 Wachs, Fall, 178f. mit Anm. 228 (Zitat). 125 Ausschuß für Deutsche Einheit (Hg.), Wahrheit, 30–41. Die dort reproduzierten Polizei- und Gerichtsakten dokumentieren lediglich Oberländers Kontakte zur deutschen Minderheit und

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Bemerkenswert erscheint die Rede zur Machtergreifung höchstens durch die – bereits im Titel anklingende – Absage an das Kriterium der Rasse. Ansonsten fokussiert sie sich nach längeren historischen Ausführungen auf Litauens Politik gegenüber den Deutschen im Memelgebiet, der ein völliger Fehlschlag diagnostiziert wurde. Oberländer bescheinigte den Litauern zwar einen zunehmenden Realitätssinn, schloss aber mit einem Satz, welcher im Lichte der eingangs beschworenen Annexionen Österreichs und Teilen der Tschechoslowakei wie eine Drohung wirken musste: „Die Initiative liegt bei Kauen [lit. Kaunas, Hauptstadt Litauens – MN], die Entscheidung in Berlin, bei Adolf Hitler.“126 Nachfolger Oberländers wurde im Juli 1941 ein einstiger Mitarbeiter, von Hause aus Nationalökonom und Demograph, der anders als sein Vorgänger kaum als umstritten zu bezeichnen ist: Völlig unbestritten verkörperte Peter-Heinz Seraphim (1902–1979) wie kein zweiter Wissenschaftler die Fragwürdigkeit einer Verbindung von Forschung und Judenvernichtung.127 Anders als Oberländer, aber ähnlich wie Rauch, war Peter-Heinz Seraphim Osteuropa von Haus aus vertraut: Er entstammte einer deutschbaltischen Familie aus Riga, war knapp zu jung für den Ersten Weltkrieg, aber nicht zu jung, um noch der Baltischen Landwehr beizutreten. Insofern war er wie viele Vertreter seiner Generation Antikommunist, deutschnational geprägt, nicht unbedingt nationalsozialistisch. Wirtschaftswissenschaftliches Studium und spätere Assistententätigkeiten führten ihn nach Königsberg und Breslau, mithin in die Zentren der Ostforschung. Die Publikation, die seine Karriere bis 1945 ebenso beförderte, wie sie ihm nach dem Zweiten Weltkrieg eine Rückkehr in die Wissenschaft versperrte, war das später so genannte „Judenbuch“: die 1938 in Essen erschienene Monographie Das Judentum im osteuropäischen Raum. Erhältlich waren die 736 Seiten mit zahlreichen Schaubildern für 9 Reichsmark, was auch nach damaligen Verhältnissen erschwinglich schien.128 Der günstige Preis erklärt sich durch Subventionen aus der Politik; Breitenwirkung wurde also ausdrücklich angestrebt. Ein Blick ins Innere lässt dafür den Anspruch eines hoch wissenschaftlichen Werkes erkennen, untermauert nicht zuletzt durch die erwähnten Graphiken.

dessen Überwachung durch litauische Behörden. Die These eines von ihm in Königsberg unterhaltenen „Spionagenetzes“ übernimmt, ohne weitere Belege, Wachs, Fall, 61. 126 [Theodor] Oberländer, Nationalität und Volkswille im Memelgebiet, Greifswald 1939, 14. Zum Hintergrund Nerius Šepetys, Litauen im Visier des Dritten Reiches. Ungeschehene Geschichte eines Reichsprotektorates März – September 1939, Vilnius 2002; vgl. Vytautas Žalys, Ringen um Identität. Warum Litauen zwischen 1923 und 1939 im Memelgebiet keinen Erfolg hatte. Kova dėl identiteto. Kodėl Lietuvai nesisekė Klaipėdoje tarp 1923–1939 m., Lüneburg 1993. Demgegenüber hatte Oberländer noch in seiner agrarwissenschaftlichen Dissertation Die landwirtschaftlichen Grundlagen des Landes Litauen, Landw. Diss. Berlin 1929, am Schluss einen verhalten positiven, nicht ohne paternalistisches Wohlwollen für „das litauische Volk“ gehaltenen Ausblick formuliert (S. 60). 127 Zum Folgenden Petersen, Bevölkerungsökonomie, passim; apologetisch die Autobiographie: Ursula Reinhard (Hg.), Glieder einer Kette. Erinnerungen an Peter-Heinz Seraphim, o. O. 1980 (MSchr., vervielf.). 128 Petersen, Bevölkerungsökonomie, 123.

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Auch wenn die Darstellung noch vor seiner Zeit in Greifswald abgeschlossen wurde, blieb der Autor doch den damals geäußerten Grundgedanken treu. Seraphim übernahm letztlich eine rassische Definition von Judentum, wenngleich er deren Problematik in methodischer Hinsicht durchaus sah. Ein Schlüsselbegriff ist bei ihm derjenige der Fremdheit, welche den Juden gegenüber seinen „Wirtsvölkern“ auszeichne. Diese versuchten sich zwar jener Fremden zu erwehren, scheiterten aber letztlich daran, dass es ihnen an einer geschlossenen Weltanschauung fehle. Eine solche biete eben nur der Nationalsozialismus mit seiner Lehre von der unterschiedlichen Wertigkeit einzelner Rassen. Vermochte Seraphim auch 1938 vielleicht noch die Tragweite seiner Publikationen nicht abschätzen zu können, so ist doch zu konstatieren, dass er an ihrer thematisch und ideologisch einschlägigen Ausrichtung in seiner Greifswalder Zeit festhielt, auch noch, nachdem er sich im besetzten Osteuropa ein Bild von der Praxis nationalsozialistischer Rassenpolitik hatte machen können. Vor seiner Berufung an die pommersche Landesuniversität war Seraphim von September 1939 bis Dezember 1940 als Kriegsverwaltungsrat in Polen tätig gewesen; befördert zum Kriegsoberverwaltungsrat (im Range eines Oberstleutnants) verbrachte er die Monate von August bis Dezember 1941 in der Ukraine. Seine Eindrücke hielt er, wie viele andere Akteure jener Zeit auch, in einer Denkschrift fest. Seraphims Ausführungen vom 29. November 1941 kritisieren das deutsche Vorgehen gegenüber der einheimischen Bevölkerung als kontraproduktiv, bezeichnen die Massenexekutionen von Juden an einer Stelle sogar als „grauenhaft.“129 Diese partielle Distanzierung von der Umsetzung, nicht aber von den Grundsätzen der NS-Ideologie hinderte ihn nicht daran, anschließend weiter im selben Geist zu publizieren. Sein historischer Abriss Deutschtum und Judentum in Osteuropa130 erschien zu einem Zeitpunkt, als das Thema tatsächlich bereits größtenteils Geschichte geworden war. Was den Greifswalder Seraphim so einzigartig macht, ist die Rezeption seines Werkes in Kreisen der NS-Täter. Von seinem Schreibtisch führte kein direkter Weg zu einem Massengrab in Osteuropa131, aber Das Judentum im osteuropäischen Raum bildete ein Referenzwerk, wenn im Reichministerium für die besetzten Ostgebiete die Zuordnung von Opfergruppen diskutiert wurde.132 Vor diesem Hintergrund erscheint die Mitwirkung Seraphims an Kunstraubaktionen in Westund Osteuropa vergleichsweise nachrangig.133

129 Ebd., 187–194 (Zitat 190, 193). 130 Peter-Heinz Seraphim, Deutschtum und Judentum in Osteuropa, in: Hermann Aubin u. a (Hgg.), Deutsche Ostforschung. Ergebnisse und Aufgaben seit dem ersten Weltkrieg, Bd. 2, Leipzig 1943, 428–446. Im Rückblick bekannte sich Seraphim vorbehaltlos zu seinem (von ihm selbst so genannten) „Judenbuch“, ging aber auf weitere Veröffentlichungen aus dem thematischen Umfeld nicht näher ein; s. Reinhard (Hg.), Glieder einer Kette, 255–258, 275, 351–353. 131 Petersen, Bevölkerungsökonomie, 351f.; vgl. Krzoska, Ostforschung, 416 mit Anm. 54. 132 Petersen, Bevölkerungsökonomie, 193f. 133 Ebd., 212–219.

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In dieser Hinsicht ebenfalls noch zu untersuchen wäre ein weiterer Greifswalder Ostforscher: Der 1939 als Professor für Vor- und Frühgeschichte nach Greifswald berufene Carl Engel, ab 1942 zugleich Rektor, unterhielt noch aus seiner Zeit am Herder-Institut in Riga (1934–1939) eine ganze Reihe von Kontakten nach Osteuropa.134 Gleich 1941 errichtete er Bezirksämter für Frühgeschichte in den neu eroberten Republiken Estland, Lettland und Litauen. Auch an der Vorgeschichte Weißrusslands zeigte er sich interessiert. Seine edierten Tagebücher vermitteln den Eindruck einer rastlosen Reisetätigkeit, gewähren aber nur sehr allgemeine Einblicke in seine Geschäfte vor Ort.135 Ein weiteres Forschungs-Desiderat wäre die Rolle Greifswalds als Anlaufstation für evakuierte Universitäten ab Herbst 1944. Diese Funktion erstreckte sich nicht nur auf Hamburg, Kiel und Rostock, sondern auch auf die Hochschulen im Osten des deutschen Machtgebietes. Zu den durchreisenden Flüchtlingen gehörte u. a. Jonas Puzinas (1905–1978), ein Bekannter Engels und Gründervater der litauischen Ur- und Frühgeschichte, der zeitweise sogar eine Anstellung an den Nordischen Auslandsinstituten in Greifswald fand.136 4. Osteuropäische Geschichte in SBZ und in der DDR Gerade Rektor Engel steht – bis zu seiner Verhaftung im Juli 1945 – für eine gewisse Kontinuität der Universität über das Ende der NS-Zeit hinaus. Gemeinsam mit dem Kampfkommandanten Rudolf Petershagen, dessen Stellvertreter Max Otto Wurmbach und dem Direktor der medizinischen Klinik Gerhardt Katsch fasste er den Beschluss zur Kapitulation. Als Parlamentäre fuhren sie (ohne den in der Stadt zurückgebliebenen Kommandanten) am 29. April 1945 der Roten Armee entgegen. Die gegen Hitlers Befehl erfolgte kampflose Übergabe hatte eine in vergleichsweise geordneten Bahnen vollzogene Besatzung zur Folge und hinterließ entsprechend weniger Traumata in der Zivilbevölkerung als andernorts. Die Hemmschwelle für einen Beitritt in die Gesellschaft für DeutschSowjetische Freundschaft137 mochte in Greifswald daher nicht so hoch gewesen sein. Eine Mitgliedschaft konnte nun ähnlich als Ausweis von Systemkonformität gelten, wie es unter anderen Vorzeichen eine solche im Ostmarkenverein oder im 134 Jonas Beran, Carl Engel 1895–1947, in: Klaus-Dieter Jäger (Hg.), Alteuropäische Forschungen, N.F. 1/1997, 133–146. 135 Günter Mangelsdorf (Hg.), Zwischen Greifswald und Riga. Auszüge aus den Tagebüchern des Greifswalder Rektors und Professors der Ur- und Frühgeschichte, Dr. Carl Engel, vom 1. November 1938 bis zum 26. Juli 1945, Stuttgart 2007; Anja Heuß, Kunst- und Kulturgutraub. Eine vergleichende Studie zur Besatzungspolitik der Nationalsozialisten in Frankreich und der Sowjetunion, Heidelberg 2000, 147–150. 136 Vgl. Heiber, Universität, Bd. II/2, 337f.; Mangelsdorf (Hg.), Greifswald, 519; Michael Parak / Carsten Schreiber (Hgg.), „Flüchtlingsprofessoren“. Karrieren geflohener und vertriebener Hochschullehrer in de SBZ / DDR, Leipzig / Berlin 2008, 43–56. 137 Jan C. Behrends, Die erfundene Freundschaft. Propaganda für die Sowjetunion in Polen und in der DDR, Köln / Weimar / Wien 2006, v. a. 149–167.

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Bund Deutscher Osten gewesen war. Derartige Integrationsangebote waren umso wichtiger, als das bürgerliche, akademisch geprägte Milieu der Universitätsstadt den neuen Machthabern nicht ohne weiteres zugänglich war.138 Einen Extremfall stellte der Slavist und Nationalsozialist Brüske dar. Seine Dienste als Dolmetscher im Verkehr mit den Besatzungsbehörden erwiesen sich als vorerst unverzichtbar. Erst nach einem halben Jahr wurde Brüske als Institutsdirektor abgesetzt, konnte aber weiter als Lektor arbeiten.139 Personelle Kontinuitäten erschwerten in Greifswald eine kritische Aufarbeitung der Vergangenheit. Vergleichsweise einfach vollzog sich noch die Aussonderung bzw. Zensur unerwünschter Literatur.140 Aufwendige Recherchen wurden darüber hinaus von Greifswalder Archivaren und Bibliothekaren für die zentral gesteuerte Kampagne gegen die bundesdeutsche Ostforschung geleistet. Sie galt weniger dem mittlerweile selbst dort als kompromittiert geltenden Seraphim als dessen prominentem Vorgänger in Greifswald, dem späteren Bonner Minister Oberländer.141 Gerade eine strukturkonservative Universität wie die Greifswalder konnte sich nicht ganz ohne Anpassungsleistungen behaupten.142 Gespür für die Zeichen der Zeit verriet wieder einmal Adolf Hofmeister. Er bemühte sich um die Installierung einer Professur für Osteuropäische Geschichte in Greifswald. Als 1951 der Deutschbalte (und frühere PuSte-Mitarbeiter) Harald Cosack (1880–1960) als Professor für „Geschichte der Länder des Ostens“ (seit 1947) an der Universität Rostock in den Ruhestand getreten war, hielt Hofmeister die Zeit für gekommen und warb für dessen Reaktivierung in Greifswald. Mit diesem Ansinnen drang er bei den zuständigen Behörden allerdings nicht durch. 1951 war die Grundsatzentscheidung gefallen, Osteuropäische Geschichte in Berlin, Leipzig und Halle zu konzentrieren.143 So blieb es bei Improvisationen, bis Joachim Mai nach Greifswald kam. Er war ein Schüler des von seiner ungewöhnlichen Biographie her bemerkenswerten Eduard Winter (1896–1982).144 Im Herbstsemester 1957 gab der neue Assistent 138 Vgl. Matthiesen, Greifswald, 533–545. 139 Niemeyer, Geschichte, 37. 140 So befindet sich in der Greifswalder Universitätsbibliothek ein Exemplar (Sign. 570/Hs 334c[50]) der Rektoratsrede Oberländers zum 30. Januar 1939, in welcher der oben zitierte Schlusssatz nach dem Komma jäh vor einem schwarzen Balken abbricht: „Die Initiative liegt bei Kauen, die Entscheidung in Berlin,“. 141 Petersen, Bevölkerungsökonomie, 329–331. 142 Alexander Fischer, Zur Geschichte Osteuropas in der ehemaligen DDR, in: Erwin Oberländer (Hg.), Geschichte Osteuropas. Zur Entwicklung einer historischen Disziplin in Deutschland, Österreich und der Schweiz 1945–1990, Stuttgart 1992, 304–341, hier 319f. 143 Antrag der Philosophischen Fakultät in Greifswald am 13.2.1952 (Entwurf); UAG, Nachlass Adolf Hofmeister, vorl. Nr. 799; vgl. Elsner, Geschichte, 102; Abeßer, 1716. 144 Quellennah, aus Sicht eines Schülers: Conrad Grau, Eduard Winter als Osteuropahistoriker in Halle und Berlin von 1946 bis 1956, in: Berliner Jahrbuch für osteuropäische Geschichte 1995/1, 43–76. Winter selbst erwähnt in seinen Erinnerungen weder Greifswald noch Mai; vgl. Gerhard Oberkofler (Hg.), Eduard Winter. Erinnerungen (1945–1976), Frankfurt a. M. u. a. 1994.

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sogleich sein Debüt mit einer „Einführung in das Studium der osteuropäischen Geschichte.“145 Er las regelmäßig „Geschichte der Völker der UdSSR“, meist zweigeteilt – von 1861 bis 1917 und dann von der Oktoberrevolution „bis zur Gegenwart.“ Bis zu seiner Ernennung als Professor 1975 weilte Mai wiederholt zu längeren Studienaufenthalten in der Sowjetunion. In Zeiten seiner Abwesenheit wurde er verschiedentlich vertreten, unter anderem auch von dem aus der Tschechoslowakei stammenden Herbert Langer (1927–2013). Seinerseits unterrichtete Mai bis 1960 auch in Rostock, bis mit dem gebürtigen Oberschlesier Johannes Kalisch (1928–2002) dort ein eigener wissenschaftlicher Assistent eingestellt wurde.146 Greifswalds erstem Osteuropahistoriker gelang es schließlich, eine Reihe von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern um sich zu versammeln, darunter auch die heute an der Humboldt-Universität lehrende Kaukasus-Spezialistin Eva-Maria Auch (*1955).147 Mai selber ist bemerkenswert im Hinblick auf die Breite seines Œuvres, nicht in zeitlicher, aber doch in territorialer Hinsicht. Mit der „borussischen“ Tradition einer ausschließlichen Russlandfixierung hat der gebürtige Berliner Mai jedenfalls gebrochen. Angesichts einer zunehmenden Spezialisierung des Faches fühlten sich – länder- und systemübergreifend – Vertreter der Osteuropäischen Geschichte seit längerem schon entweder nur für Polen (und vielleicht noch Ostmitteleuropa allgemein) oder aber für Russland bzw. die Sowjetunion kompetent. Mai nun hat aber große Studien zur Geschichte beider Länder in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts publiziert. Was sie (neben dem Untersuchungszeitraum) verbindet, ist formal gesehen, dass sie jeweils den deutschen Faktor zum Thema haben. Inhaltlich jedoch, daran lässt der Autor in seinen ideologiekritisch geprägten Ausführungen keinen Zweifel, geht es ihm gerade um eine Abkehr von Ansätzen der Ostforschung.148 Eine ähnliche Umorientierung erfolgte in der Lehre. Der akademischen Jugend war nicht länger die Rolle einer Wacht im Deutschen Osten zugedacht. Studierende sollten nicht mehr diesseits, sondern jenseits der eigenen Grenzen Arbeits- und Ferienaufenthalte absolvieren. Gelernt werden sollte von Freunden, nicht vom Gegner. 145 Ernst Moritz Arndt-Universität Greifswald, Personal- und Vorlesungsverzeichnis Studienjahr 1957/58. Herbstsemester, 62, http://ub-goobi-pr2.ub.uni-greifswald.de/viewer/image/PPN657 561959_1957_58/64/LOG_0043/#Philosophische%20Fakult%E4t (26.8.2014). 146 Elsner, Geschichte, 89. 147 Selbstdarstellung: http://www.geschichte.hu-berlin.de/bereiche-und-lehrstuehle/aserbaidschan /personen/1684507 (11.5.2014). 148 Joachim Mai, Die preußisch-deutsche Polenpolitik 1885 bis 1887. Eine Studie zur Herausbildung des Imperialismus in Deutschland, Berlin 1962; Ders., Das deutsche Kapital in Rußland 1850–1894, Berlin 1970. Vgl. hierzu die zeitnahen Versuche der Kontextualisierung aus westdeutscher Sicht: Hans-Werner Rautenberg, Polen und das Baltikum in der Geschichtsschreibung der DDR, in: Hellmann (Hg.), Osteuropa, Bd. 1, 289–310, hier 295f.; Hermann Böhm, Die Periode des Kapitalismus in Rußland 1861–1917, in: ebd., 149–163, hier 152– 154. Zu möglichen pragmatischen Gesichtspunkten bei der Themenwahl, insbesondere im Hinblick auf die Zugänglichkeit von Archiven vgl. Abeßer, 1732 mit Anm. 125.

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Eine Neuerung bedeuteten Exkursionen mit dem Austausch von Studierenden, wie sie seit 1958 mit dem Partnerinstitut Brünn (Brno), ab 1966 auch Thorn (Toruń) gepflegt wurden; Kontakte nach Danzig (Gdańsk) entwickelten sich wohl eher spontan auf Dozentenebene.149 Greifswald am nächsten aber lag im wahrsten Sinne des Wortes Stettin (Szczecin).150 Als „vorbildlich“ galt Mitte der 1980er Jahre die „Zusammenarbeit mit der Universität Vilnius.“151 Diese scheint tatsächlich, wie Manfred Mengers Laudatio zum 60. Geburtstag Mais ausführt, ein besonderer Verdienst des Jubilars.152 Der Austausch mit Litauen musste im Rahmen einer Universitätspartnerschaft erfolgen. Ansprechpartner aus Greifswalder Sicht wäre aber eher das Wilnaer Akademieinstitut mit seiner Forschungsausrichtung gewesen.153 Dem zum 50. Jahrestag der Oktoberrevolution im Dezember 1967 unterzeichneten Freundschaftsvertrag war im Sommer ein von FDJ bzw. Komsomol beider Universitäten organisierter Austausch von „Studentenbrigaden“ vorausgegangen.154 An der Um149 Konrad Fritze, Vom Historischen Seminar zur Sektion Geschichtswissenschaft 1945–1988, in: Der Rektor der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald (Hg.), 125 Jahre Historisches Seminar, 45–64, hier 51; Stanisław Gierszewski, Zu den Wissenschaftsbeziehungen der Historiker aus Greifswald und Gdańsk, in: ebd., 138–141, hier 140. 150 Tomasz Ślepowroński, Polska i wschodnioniemiecka historiografia Pomorza Zachodniego (1945–1970). Instytucje – koncepcje – badania. Polnische und ostdeutsche Geschichtsforschung Pommerns (1945–1970). Institutionen – Konzepte – Forschung, Szczecin 2008, 447. 151 Undatierte interne Aufstellung im Direktorat Internationale Beziehungen: Gespräche zur Investitur mit ausländischen Gästen 1985, UAG, Prorektor Gewi 110; vgl. Robertas Žiugžda, Die internationalen Wissenschaftsbeziehungen der Historiker an der Vincas-KapsukasUniversität Vilnius 1970–1988, in: Der Rektor der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald (Hg.), 125 Jahre Historisches Seminar, 134–138; Nadežda N. Žukauskienė, Die Zusammenarbeit von Hochschulen der Litauischen SSR und der DDR 1964-1980, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald, Gesellschafts- und sprachwissenschaftliche Reihe 33/1984, Nr. 3–4, 23–31; dies. [N. Žukauskene], Vysšie školy Sovetskoj Litvy i GDR na puti sotrudničestva [Die Hochschulen Sowjetlitauens und der DDR auf dem Wege der Zusammenarbeit], in: K[ostas]. Navickas (Hg.), Istoričeskoe značenie velikoj pobedy. Materialy naučnoj konferencii, posvjaščennoj 30-letiju pobedy Sovetskogo Sojuza v Velikoj Otečestvennoj vojne 1941–1945 gg., Vil’njus 1975, 33–43, hier v. a. 38–42. 152 M[anfred]. M[enger]., Joachim Mai 60 Jahre, 251; vgl. Joachim Mai, Sozialistische Partnerschaft DDR – UdSSR, verkörpert in der kulturellen und wissenschaftlichen Zusammenarbeit zwischen der DDR und der Litauischen SSR, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der ErnstMoritz-Arndt-Universität Greifswald. Gesellschafts- und sprachwissenschaftliche Reihe 33/1984, Nr. 3–4, 3–5. Die umfassende Bestandsaufnahme der Osteuropaforschung in der DDR, die Ende der 1960er Jahre von dem Münsteraner Litauen-Historiker Manfred Hellmann initiiert wurde, nennt einzelne Titel zu Estland und Lettland, während die südlichste der drei baltischen Sowjetrepubliken unerwähnt bleibt; vgl. Hans-Werner Rautenberg, Polen und das Baltikum in der Geschichtsschreibung der DDR, in: Hellmann (Hg.), Osteuropa, Bd. 1, 289– 310, hier 309. 153 Freundliche Auskünfte meines Kollegen Horst Wernicke, für die ich ihm auch an dieser Stelle danke. 154 Werner Imig, Die Verwirklichung des Freundschaftsvertrages zwischen der Ernst-MoritzArndt-Universität Greifswald und der Vincas-Kapsukas-Universität Vilnius 1967–1981, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald, Gesellschaftsund sprachwissenschaftliche Reihe 33/1984, Nr. 3–4, 31–37, hier 32.

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setzung des Freundschaftsvertrages beteiligten sich später noch das Institut für Parteigeschichte beim ZK der KP Litauens sowie das dortige Hoch- und Fachschulministerium. Diese Konstellation erklärt womöglich ein Kooperationsprojekt, dessen Wahl auch auf den zweiten Blick wenig glücklich erscheint: die Zusammenarbeit zwischen deutscher und litauischer Arbeiterklasse in der Zwischenkriegszeit. Während das hoch industrialisierte Deutschland mit der größten Kommunistischen Partei außerhalb der Sowjetunion aufwarten konnte, fehlte es dem Agrarland Litauen an Voraussetzungen für eine revolutionäre Arbeiterbewegung. Das ohnehin schmale Blickfeld des Forschungsvorhabens verengte sich insofern noch weiter, als in der gemeinsam erstellten Dokumentation Sozialdemokratie und Gewerkschaften unberücksichtigt blieben.155 Selbst innerhalb jenes vorgegebenen Rahmens hielt sich der Gewinn für die internationale Forschung in Grenzen. Obschon die Universität Greifswald unter den litauischen Kooperationspartnern mit auf dem Titelblatt erscheint und DDR-Historiker unmittelbar an der Edition beteiligt waren, wurde diese lediglich einsprachig auf Litauisch publiziert; auch im Original russische oder deutsche Quellen finden sich ausschließlich in Übersetzung. Dafür bot die gemeinsame Projektarbeit zumindest Gelegenheit zum Ausbau persönlicher wie institutioneller Kontakte. Wie beides ineinander übergehen konnte, beleuchtet eine scheinbar beiläufige, aus heutiger Sicht dennoch bemerkenswert erscheinende Episode. Jonas Kubilius (1921–2011), der langjährige Rektor der Universität Vilnius (1958–1991), von Hause aus Mathematiker, erkundigte sich 1969 am Rande eines offiziellen Empfangs nach einem litauischen Studenten im preußischen Greifswald.156 Jener Wilhelm Storost mit dem Künstlernamen Vydûnas (1868–1953) war zweifellos ein Vorkämpfer gegen nationale Unterdrückung, aufgrund seiner esoterischen Weltanschauung aber kaum als Vorläufer eines sozialistischen Litauens in Anspruch zu nehmen.157 Erst 1990 konnten seine Werke neu aufgelegt werden. Solcher möglichen ideologischen Vorbehalte gegen einen prominenten Gasthörer war man sich in Greifswald offenbar nicht bewusst. Eifrig bemühten sich die Universitätsbehörden, den Wunsch ihres sowjetischen Partners zu erfül-

155 J. Jakaitienė (Hg.), Bendroje kovoje. Lietuvos ir Vokietijos darbininkų klasės internacionalinis solidarumas 1918–1939. Dokumentai, spaudos medžiaga, atsiminimai [In gemeinsamem Kampfe. Die internationale Solidarität der Arbeiterklassen Litauens und Deutschlands. Dokumente, Presseauszüge, Erinnerungen], Vilnius 1983. 156 Der Prorektor in Greifswald am 22.12.1969 an den Leiter des Universitätsarchivs ebd.; UAG, Prorekt. Gewi, Bd. 80. Über den Suchvorgang ließ sich weiter nichts in Erfahrung bringen; freundliche Auskunft von Dirk Alvermann am 3.6.2014 an den Verfasser. Eine Gegenüberlieferung im Universitätsarchiv Vilnius ließ sich Ende September 2014 nicht ermitteln. 157 Zu Leben und Werk: Vacys Bagdonavičius, Vydūnas. Trumpa biografija [Vydûnas. Eine Kurzbiographie], 2. Auflage, Kintai 2008, Aufsatzsammlung: Ders., Sugrįžti prie Vydūno. Straipsniai, esė, pokalbiai [Zurückkommen auf Vydûnas. Artikel, Essays, Gespräche], Vilnius 2001 (Erwähnung Greifswalds S. 18); zur Bedeutung für die Unabhängigkeitsbewegung: Bernardas Aleknavičius, Vydūnas, Vilnius 1999.

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len, der sich mit der Nachfrage nach einem im westdeutschen Exil verstorbenen Landsmann als eine Art Nationalkommunist zu erkennen gab. Im Rahmen jener Kooperation entstand des Weiteren die Dissertation („B“) des 1926 geborenen Dieter Langehr. Als dritter Gutachter fungierte nach Mai und Manfred Menger (*1936) mit dem Parteihistoriker Kostas Navickas (*1917) ein sowjetlitauischer Hochschullehrer. Der Autor selbst konnte für seine Arbeit über Litauen unter deutscher Besatzung von 1917 bis 1919 erstmalig Dokumente aus Archiven beider Länder nutzen. Diese zweifellos nicht alltäglichen Voraussetzungen relativieren sich allerdings durch den Umstand, dass dem Greifswalder Doktoranden die einschlägige westdeutsche Arbeit zum Thema unzugänglich geblieben ist. Seine eigene, nur als Maschinenschrift vorliegende Dissertation wiederum war lange Zeit nicht für den Fernleihverkehr frei gegeben, so dass auch ihrer Rezeption enge Grenzen gesetzt waren und sind.158 Die Bilanz des Kooperationsvertrages fällt somit zwiespältig aus. Dies gilt umso mehr, als Litauischkenntnisse auf Seiten der DDR-Historiker nicht oder nur unzureichend vorhanden waren und eine Rezeption der im Partnerland erschienenen Arbeiten daher über das Russische erfolgen musste.159 Was Kontakte zur Sowjetunion und der Russländischen Föderation als solche anbelangt, boten sich besondere Anknüpfungspunkte in der Greifswalder Lokalgeschichte. Der 20. Jahrestag der Kapitulation von 1945 wurde zum Anlass einer groß inszenierten Begegnung mit ehemaligen Akteuren genommen; Ehrengäste waren sowjetische Militärs. Ihre Erinnerungen spiegeln allerdings eher die offizielle Erwartungshaltung jener Jahre als die Ereignisse unmittelbar bei Kriegsende.160 Eine Reihe weiterer Veröffentlichungen wurde von Joachim Mai initiiert

158 Dieter Langehr, Die Politik des imperialistischen Deutschlands gegenüber Litauen in den Jahren 1917 bis 1919. Dissertation zur Erlangung des akademischen Grades Doktor der Wissenschaften (Dr. sc. phil.) des Wissenschaftlichen Rats der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald, Greifswald 1982 (MSchr.). Der Autor setzt sich zwar auseinander mit Marianne Bienhold, Die Entstehung des litauischen Staates in den Jahren 1918–1919 im Spiegel deutscher Akten, 2. Auflage, Bochum 1978, doch unzugänglich geblieben ist ihm offenbar: Gerd Linde, Die deutsche Politik in Litauen im Ersten Weltkrieg, Wiesbaden 1965. Weder Langehrs Arbeit noch die dort erstmals ausgewerteten Akten sächsischer Provenienz finden sich zitiert bei Tomas Balkelis, Demobilisierung, Remobilisierung. Paramilitärische Verbände in Litauen 1918–1920, in: Osteuropa 64/2014, Nr. 2–4, 197–220; das gleiche gilt für die breit rezipierte, auch auf Deutsch vorliegende Arbeit: Liulevicius, War land. 159 Vgl. Berndt Frisch, Kritische und selbstkritische Anmerkungen zur Forschung über die Beziehungen der deutschen und litauischen Arbeiterbewegung in der DDR, in: Norbert Angermann / Joachim Tauber (Hgg.), Deutschland und Litauen. Bestandsaufnahmen und Aufgaben der historischen Forschung, Lüneburg 1995, 77–80. Dass selbst die Korrespondenz auf Russisch der Universitätsverwaltung Schwierigkeiten bereitete, lässt ein Schreiben des Wilnaer Prorektors vom 9.4.1975 an den Rektor in Greifswald vermuten: Über mehreren Ausdrücken sind auf Empfängerseite mit Bleistift die deutschen Übersetzungen eingetragen worden, so steht z. B. „einverstanden“ über einem „My soglasny“; UAG, DIB 83 (unfol.). 160 Historisches Institut der Ernst-Moritz-Arndt-Universität (Hg.), Befreiung und Neubeginn, Berlin 1966.

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und auch herausgegeben.161 Das öffentliche wie fachwissenschaftliche Interesse an diesen Vorgängen hat das Jahr 1989 überdauert, wie ein auswärtiger Chronist notierte: „Die kampflose Übergabe entwickelte sich zum zentralen Mythos der neueren Stadtgeschichte.“162 5. Ausblick: Von der Wende zur Jahrtausendwende Zweifellos bedeutete der Untergang der DDR einen weniger gravierenden Einschnitt als ihre Gründung. Auch in der erweiterten Bundesrepublik ist Aufgeschlossenheit, nicht Abgrenzung gegenüber den Nachbarn im Süden und Osten erwünscht. Osteuropäische Geschichte heute versucht, Verständnis und Interesse für jenen Teil des Kontinents zu wecken und wach zu halten, nicht aber Sympathien für ein bestimmtes Gesellschaftssystem zu erzwingen.163 In den Straßen Greifswalds ist das Polnische längst zu einem selbstverständlichen Bestandteil des Alltags geworden; zu den jährlichen Höhepunkten zählt das Kulturfestival „polenmARkT.“ Neue Chancen eröffnen sich Studierenden. Gesamteuropäische Austauschprogramme wie Erasmus fördern Sprachenlernen auf individueller Ebene, während Schulkenntnisse im Russischen immer weniger vorausgesetzt werden können. Universitätspartnerschaften und Kooperationen aus DDR-Zeiten werden fortgesetzt, teilweise auch ausgebaut, wobei in personeller Hinsicht die Kontinuität auf osteuropäischer Seite stärker ausgeprägt erscheint. Auch für die Osteuropäische Geschichte in Greifswald gab es nach dem Untergang der DDR eine Zeit des Übergangs.164 Joachim Mais Weiterbeschäftigung geriet zum Gegenstand gerichtlicher Auseinandersetzungen. Der Allgemeinen Geschichte zugeordnet, vertrat Eva Maria Auch von 1992–1994 die Lehre in der Osteuropäischen Geschichte. Als absehbar wurde, dass sich die Besetzung der Professur verzögern würde, konnte 1995/96 als Vertretungsprofessor Włodzimierz

161 Joachim Mai, Sowjetische Quellen zur kampflosen Übergabe Greifswalds an die Rote Armee im Jahre 1945, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald, Gesellschafts- und sprachwissenschaftliche Reihe, 9/1959–60, 18–22; Ders. (Hg.), Vom Narew bis an die Elbe. Erinnerungen sowjetischer Kriegsteilnehmer der 2. Belorussischen Front, Berlin 1965; aus einer Seminararbeit hervor ging S[iegfrid]. Rönsch, Die kampflose Übergabe Greifswalds an die Rote Armee – ein Schritt auf dem Weg zur deutschsowjetischen Freundschaft, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Ernst-Moritz-ArndtUniversität Greifswald, Gesellschafts- und sprachwissenschaftliche Reihe, 9/1959–60, 23–27. 162 Matthiesen, Greifswald, 584; Ders., Das Kriegsende 1945 und der Mythos von der kampflosen Übergabe, in: Horst Wernicke (Hg.), Greifswald. Geschichte der Stadt, Schwerin 2000, 135–140. 163 Vgl. Kappeler, Geschichte, 256f. 164 Aus der Sicht des ersten frei gewählten Rektors (1990–1994): Hans-Jürgen Zobel, Die Erneuerung der Ernst-Moritz-Arndt-Universität nach der Wende, in: Roderich Schmidt (Hg.), Tausend Jahre pommersche Geschichte, Köln / Weimar / Wien 1999, 463–480.

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Stępiński (*1949) aus Szczecin gewonnen werden.165 Erster etatmäßiger Osteuropahistoriker nach der Wende wurde 1998 Christian Lübke, der nun seit 2007 eines der größten außeruniversitären Forschungsinstitute in Deutschland, das Leipziger Geisteswissenschaftliche Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas (GWZO) leitet. Bekannt geworden ist er – auch einem breiteren Publikum – als Kenner der Frühzeit Polens und der wechselseitigen slavisch-germanischen Beziehungen.166 Sein Assistent Jörg Hackmann (*1962) habilitierte sich 2006 mit einer groß angelegten, tradierte territoriale und chronologische Grenzen überschreitenden Arbeit zum Ostseeraum und ist nun Inhaber der Alfred-DöblinProfessur an der Universität Szczecin.167 Unabhängig von persönlichen Konstellationen sind in einem historischen Längsschnitt gewisse strukturelle wie thematische Kontinuitäten auffallend. Hierzu gehören zunächst die traditionell engen Verbindungen der Universität nicht nur nach Ostdeutschland, sondern auch ins Baltikum. Selbst wenn es kein Spezifikum Greifswalds sein sollte, so sticht doch das starke Engagement der Studierenden ins Auge168 – in welche Richtung auch immer dieses zielen mochte. Kleinere Brüche und Zäsuren sollten dabei allerdings nicht aus dem Blickfeld geraten. Im Laufe eines Forscherlebens etwa konnten sich Akzente schließlich auch verschieben. So nahm die letzte Publikation des Ruheständlers Joachim Mai ein Thema auf, dem dieser bereits zu DDR-Zeiten eine Quellenedition gewidmet hatte: Die Rote Armee und die Kapitulation Greifswalds 1945. In der Diktion und in den Leitkategorien von Arbeiterklasse und Intelligenz in älteren Traditionen wurzelnd, erfährt das Bändchen aus dem Jahre 1995 doch eine nicht unwesentliche Ergänzung: Erstmals finden die Massenvergewaltigungen in der Frauenklinik Erwähnung.169 Mit dem Litauen-Schwerpunkt schließlich hat Mai – ob bewusst oder nicht – eine Tradition aufgegriffen, die sich bis auf Theodor Hirsch zurückführen ließe. Dieser hatte kurz vor seiner Berufung nach Greifswald eine gediegene Quellenedition nach den Standards des 19. Jahrhunderts vorgelegt, über deren Perspektive er freilich nicht hinausgegangen ist: Litauen erscheint allein als militärisches Objekt des Deutschen Ordens. Ähnlich stand für Bergsträßer die Kontinuität deutschen Kultureinflusses im Vordergrund. Der für ein breites Publikum bestimmte Artikel Curschmanns dagegen spiegelt nicht nur Eindrücke von Land und Leuten wider, sondern lässt auch auf Kenntnisse der inneren Geschichte Litauens schließen. Hintergrund war allerdings deutsches Hegemoniestreben über jenen Teil des Kontinents. Auch ein Theodor Oberländer kannte Ostpreußens Nachbarn aus ei165 Selbstdarstellung: http://www.hist.us.szn.pl/index.php/instytut-mainmenu-59/jednostki/zakla d-studiow-niemcoznawczych-ihism-us/1775-wlodzimierz-stepinski-ihism (6.8.2014). 166 Selbstdarstellung: http://www.uni-leipzig.de/~gwzo/index.php?Itemid=476 (2.5.2014) 167 Jörg Hackmann, Geselligkeit in Nordosteuropa. Studien zu Vereinskultur, Zivilgesellschaft und Nationalisierungsprozessen in einer polykulturellen Region (1770–1950), Greifswald 2006 (MSchr.); Selbstdarstellung: http://www.clio-online.de/forscherinnen=2582 (21.6.2014). 168 Vgl. Heiber, Universität, Bd. II/2, 371. 169 Joachim Mai (Hg.), Greifswald 1945. Neue Dokumente und Materialien, Berlin 1995, hier v. a. 9; vgl. in diesem Zusammenhang auch Frisch, Kritische und selbstkritische Anmerkungen.

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gener Anschauung. Seine Greifswalder Rede jedoch konzentrierte sich im Sinne der Ostforschung ganz auf die deutsche Bevölkerung Litauens; anders als bei Bergsträßers Artikel aus dem Ersten Weltkrieg ist zudem ein aggressiver Unterton unüberhörbar. Auch wenn die DDR noch so sehr ihre Distanz zu jener Art von Ostforschung betonte, galt ihr Interesse ebenfalls nur einer bestimmten Bevölkerungsgruppe, in diesem Falle der klassenbewussten Arbeiterschaft. In Hackmanns Habilitationsschrift schließlich erscheint Litauen als Teil einer größeren Kulturregion, des Ostseeraums. Insofern spiegelt die Greifswalder Beschäftigung mit Litauen die Geschichte deutscher Auseinandersetzung mit Osteuropa insgesamt. Allerdings gilt festzuhalten: Weder hat Greifswald in der Osteuropäischen Geschichte, noch hat Osteuropäische Geschichte in Greifswald eine besondere Rolle gespielt. Gründe hierfür scheinen mir einerseits in der Kontinuität der Peripherie, andererseits in der spezifischen Profilbildung der Universität zu liegen. Für eine Förderung im Zeichen der Ostforschung war Greifswald nicht groß genug, schien Pommern insgesamt nicht gefährdet genug. Gefährdet war eher die Universität selbst, wenn nicht in ihrem Bestand, so doch in ihrem Standort. Bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs musste sich Preußens älteste, aber kleinste Universität der Konkurrenz von Königsberg und Breslau, sowie nicht zuletzt – auch über 1945 hinaus – derjenigen Berlins stellen.170 Zu DDR-Zeiten traten weitere Universitäten einschließlich Rostock hinzu. Wenn Greifswald einmal zentrale Funktionen innerhalb der deutschen Wissenschaftslandschaft wahrnahm, dann am ehesten im Bereich der Nordischen Geschichte und Skandinavistik. Hier liegen sicherlich auch Anknüpfungspunkte für das Fach Osteuropäische Geschichte vor – ohne dabei ältere, deutschzentrierte Großraumkonzepte aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts aufgreifen zu wollen.171 So sehr der bereits vollzogene bzw. bevorstehende Fortfall der Professuren für Ur- und Frühgeschichte, für Pommersche Geschichte sowie für Hansegeschichte auch Einschränkungen mit sich bringt, so bleibt doch die gemeinsame Perspektive auf den Ostseeraum für das Historische Institut verbindend. Kooperationsmöglichkeiten bieten darüber hinaus die in Greifswald traditionell stark vertretenen Philologien: nicht nur Slavistik, Fennistik und Skandinavistik, sondern, inzwischen einmalig in Deutschland, auch Baltistik. Die genannten Fächer tragen maßgeblich den universitären Schwerpunkt „Kulturen des Ostseeraums.“ Dieser führt in gewisser Weise Traditionen der DDR („Arbeitsgruppe Geschichte des Ostseeraumes“) fort.172. Wie lange „Kultur“ nach „Volk“ und „Klasse“ noch als Leitbild historischer, auch osteuropabezogener For170 Vgl. Köstler, „Ostarbeit“, 275. 171 Vgl. Zernack, Osteuropa, 51–59, und aus der ihm zum 75. Geburtstag gewidmeten Festschrift: Jörg Hackmann / Robert Schweitzer, Nordosteuropa als Geschichtsregion – ein neuer Blick auf den Ostseeraum?, in: Dies. (Hgg.), Nordosteuropa als Geschichtsregion, Helsinki / Gdańsk 2006, 13–25, hier v. a. 20–24. Wichtig auch der umfassende Überblick von Ralph Tuchtenhagen, Die Rolle des Nordens in der deutschen historischen Osteuropaforschung, in: Nordost-Archiv N.F. 9/2000, 11–49. 172 Fritze, Seminar, 53.

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schung dominieren wird, bleibt abzuwarten.173 Interdisziplinär angelegt ist das Internationale Graduiertenkolleg „Baltic Borderlands“ mit den (altschwedischen) Partneruniversitäten in Tartu und Lund. Derartige Länder übergreifende Kooperationen eröffnen weitere Perspektiven, als es die an sich begrüßenswerte Einrichtung von Zentren und Lehrstühlen für einzelne Nationalgeschichten Osteuropas bietet.174 Greifswald als Teil der Germania Slavica, der pommerschen, der schwedischen, der preußisch-deutschen und der DDR-Geschichte liegt ebenso an der Schnittstelle von Ost und West wie von Nord und Süd. Die Einsicht ist nicht neu, aber in ihren Möglichkeiten noch keineswegs ausgeschöpft. Dies gilt auch für die Lehre. Bemerkenswert erscheint aus Sicht des Osteuropahistorikers, um nur ein Beispiel zu nennen, die Selbstverständlichkeit, mit welcher Greifswalder Studierende in der Lage sind, auf die russische Frühgeschichte, auf die Anfänge der Kiever Rus‘ gewissermaßen von Norden aus zu blicken. Ohne dadurch eine Position im „Normannenstreit“175 zu präjudizieren, kann Begeisterung für „die“ Wikinger, können Kenntnisse ihrer Geschichte doch eine Brücke nach Osteuropa schlagen. Begeisterung gepaart mit Kritikfähigkeit gehört zu den Eigenschaften, die heutigen Studierenden häufig nicht zugebilligt werden. Erfahrungen des Verfassers weisen in eine andere Richtung. Unvergessen bleibt ihm eine Übung „Die polnischen Aufstände im 19. und 20. Jahrhundert“ (SS 2010), in deren Rahmen, eher als Abrundung gedacht, die 1848 in Berlin erschienene Flugschrift Ernst Moritz Arndts „Polenlärm und Polenbegeisterung“ gelesen wurde. Tiefen Eindruck hinterließ die Betroffenheit, die Worte auslösten wie die von den „Polacken“, denen „die deutschen Polennarren“176 gegenüber gestellt wurden. Erlebnisse dieser Art sind es, die den Glauben an das aufklärerische Potenzial von Geschichte wach halten – nicht nur, aber auch in Greifswald.

173 Rainer Lindner, Osteuropäische Geschichte als Kulturgeschichte, in: Osteuropa 53/2003, 1757–1771. 174 Mathias Niendorf, Mehr als eine Addition von Nationalhistoriographien. Chancen der Osteuropäischen Geschichte als Regionalwissenschaft, in: Creuzberger u. a. (Hgg.), Osteuropaforschung, 101–106. 175 Birgit Scholz, Von der Chronistik zur modernen Geschichtswissenschaft. Die Warägerfrage in der russischen, deutschen und schwedischen Historiographie, Wiesbaden 2000. 176 Gesamter Absatz, zit. nach August Leffson / Wilhelm Steffens (Hgg.), Arndts Werke. Zwölfter Teil. Kleine Schriften III, Hg. v. Wilhelm Steffens, Berlin u. a. [1912], 127–130, hier 128: „Ich behaupte eben mit der richtenden Weltgeschichte vorweg: die Polen und überhaupt der ganze slawonische Stamm sind geringhaltiger als die Deutschen, und die deutschen Polennarren haben weder einen politischen noch einen geistigen und sittlichen Grund, die Kinder ihres Blutes den Polacken zu Gefallen aufzuopfern und in den schlechteren Stoff hineinstampfen zu lassen.“ Vgl. Maria Muallem, Das Polenbild bei Ernst Moritz Arndt und die deutsche Publizistik in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Frankfurt a. M. u. a. 2001, 144–148.

HISTORIKER UND GESCHICHTSSCHREIBUNG IN GREIFSWALD VON 1945 BIS 1970 Tomasz Ślepowroński Die Besetzung Greifswalds durch die Rote Armee und das Ende des Zweiten Weltkrieges stellten einheimische Historiker vor Herausforderungen, die aus der beginnenden sowjetischen Okkupation resultierten. Die Tradition der Landesgeschichte, die traditionsorientierte Methodologie und die Themenauswahl in der Forschung wurden ebenso wie die politischen Ansichten und Einstellungen sowie das frühere Handeln im Lichte der neuen Wirklichkeit durch die neue Verwaltung überprüft. Wie in der ganzen Sowjetischen Besatzungszone (SBZ), so kamen auch in Vorpommern wichtige Impulse wie die Entnazifizierungsbefehle von der Sowjetischen Militäradministration (SMAD). Deren oberstes Ziel war es, jede Spur des Nationalsozialismus und alle Forscher mit Verbindungen zur NSDAP aus der deutschen Wissenschaft schnell und vollständig zu entfernen. Zugleich sollten diejenigen Wissenschaftler kaltgestellt werden, die man der Bourgeoisie zurechnete. Man hielt sie für überflüssig und schädlich beim geplanten Bau einer neuen deutschen Gesellschaft. 1 Hierbei erwies sich das Ausmaß des „Braun-Werdens“ der deutschen Wissenschaft jedoch als erheblich. 2 Dieser Umstand sowie die unzureichende Anzahl an Wissenschaftlern, die sich in der SBZ zur geforderten Weltanschauung bekannten, führten dazu, dass die Verifizierungsmaschen im Entnazifizierungsnetz sehr schnell vergrößert werden mussten und man notgedrungen Forscher mit konservativen Ansichten duldete, sofern sie die sich vollziehenden gesellschaftlich-politischen Umwandlungen nicht offen anfochten. 3 Von dieser Entwicklung war auch der Kreis von Wissenschaftlern an der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald betroffen, die dank der Kapitulation der deutschen Garnison am 30. April 1945 und der vollständigen Bewahrung der 1

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Werner Müller, Die Anfänge „sozialistischer Umgestaltung“ der Universität in der Nachkriegszeit, in: Peter Jakubowski / Ernst Munch (Hgg.), Universität und Stadt. Wissenschaftliche Tagung anlässlich des 575. Jubiläums der Eröffnung der Universität Rostock, Rostock 1995, 268. Für die NS-Zeit in der Geschichtswissenschaft z. B.: Henryk Olszewski, Nauka historii w upadku, studium o historiografii i ideologii historycznej w imperialistycznych Niemczech, Warszawa / Poznań 1982, 386–397. Ralph Jessen, Professoren im Sozialismus. Aspekte des Strukturwandels der Hochschullehrerschaft in der Ulbricht – Ära, in: Hartmut Kaelble / Jürgen Kocka / Hartmut Zwahr (Hgg.), Sozialgeschichte der DDR, Stuttgart 1994, 222. Über Exilhistoriker in der SBZ/DDR: Mario Keßler, Exilerfahrung in Wissenschaft und Politik. Remigrierte Historiker in der früheren DDR, Köln 2001.

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Stadt vor der Zerstörung akademische Seminare und die wissenschaftliche Arbeit rasch wieder aufnehmen konnte. Erste Aktivitäten in diese Richtung wurden Ende Mai zunächst durch die SMAD aufgehalten und die Kader der Universität wurden einer detaillierten Entnazifizierung – mit der Unterstützung einheimischer KPDMitglieder – unterzogen. Ausschlaggebend hierfür war wahrscheinlich, dass man Greifswald als „Hauptstadt der Nazibewegung“ in Pommern und als Bollwerk der Liberalen, Konservativen und Deutschnationalen wahrnahm. 4 Die sowjetische Verwaltung untersagte den Professoren, ihre Arbeit aufzunehmen, und den Studenten, die Mitglieder der NSDAP gewesen waren, zu lernen. Freilich stieß die SMAD bei ihren Entnazifizierungsbemühungen auf einen ähnlichen Widerstand wie in Rostock, wo man meinte, dass die NSDAP-Mitgliedschaft selbst kein ausreichend belastender Umstand darstelle. Diese auch von dem ersten Nachkriegsrektor Ernst Lohmeyer und den einzelnen Fakultätsverwaltungen vertretene Einstellung ergab sich nicht aus dem Willen, die nationalsozialistische Ideologie weiter zu kultivieren, sondern sie ist vielmehr als Solidarität des akademischen Kreises und Versuch, die Hochschule funktionsfähig zu erhalten, zu interpretieren. Denn es gehörten nicht weniger als drei Viertel der in Greifswald gebliebenen akademischen Lehrer der NSDAP und ihren Satellitenorganisationen an. Hieraus erklärt sich schließlich auch die aus der heutigen Sicht schockierende Tatsache, dass in Protokollen erster Tagungen z. B. des Fakultätsrates der Philosophischen Fakultät keine kritische Reflexion über die nahe Vergangenheit zu finden ist. Für die Verteidigung seiner Wissenschaftler zahlte der Rektor persönlich einen tragischen Preis, denn er wurde in der Nacht vor der Wiedereröffnung der Hochschule vom Volkskommissariat für innere Angelegenheiten (NKWD) entführt und unter Geheimhaltung am 16. September 1946 erschossen. 5 Selbstverständlich ist das Jahr 1945 sowohl für das Historische Seminar als auch für die ganze Universität als eine deutliche Zäsur zu verstehen, obwohl es zu weit führte, von einer „Stunde Null“ zu sprechen. 6 Zwar hatte die Politik der SMAD zur Folge, dass eine Reihe von Historikern und Prähistorikern wie Hans Jürgen Eggers, Hermann Bollnow und Erwin Assmann die Universität verlassen mussten und andere wie Carl Engel, Johanes Paul und Hans Volkmann in sowjetischer Gefangenschaft blieben und ihre Posten in Greifswald nicht wieder annehmen sollten. Demgegenüber schlugen Personen wie Adolf Hofmeister und Fritz Curschmann – bis zu seinem Tod im Februar 1946 – eine Brücke zwischen der alten und der neuen Zeit. 7 Der Greifswalder Kader blieb damit unterbesetzt und 4 5 6 7

Joachim Mai, Greifswald in den Jahren 1933/34. Eine Stadt im NS-Gleichschaltungsprozess, in: Kyra T. Inachin / Bert Becker (Hgg.), Pommern zwischen Zäsur und Kontinuität, 1918 / 1933 / 1945 / 1989, Schwerin 1999, 175–180. Tomasz Ślepowroński, Polska i wschodnioniemiecka historiografia Pomorza Zachodniego (1945–1970). Instytucje - koncepcje – badania, Szczecin 2008, 257–262. Hans-Ulrich Thamer, Der Nationalsozialismus, Stuttgart 2002, 400–406; Anna WolffPowęska, Pamięć. Brzemię i uwolnienie. Niemcy wobec nazistowskiej przeszłości (1945– 2010), Poznań 2011, 325–334, 416–419. Thomas Stamm-Kuhlmann, Die Philosophische Fakultät von 1815–1990, in: Dirk Alvermann / Karl-Heinz Spieß (Hgg.), Universität und Gesellschaft. Festschrift zur 550-Jahrfeier der

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traditionsorientiert. Er unterlag mit Blick auf die Weltanschauung keiner Wandlung und dies nicht zuletzt auch deshalb, weil es nicht gelang, die im Exil verbleibenden Schüler Friedrich Meineckes – Dietrich Gerhard und Gerhard Masur – nach Greifswald zu holen. Darüber hinaus siedelte der Nordeuropa-Forscher Ulrich Noack nach Würzburg über. Zu einem Durchbruch sollte die Beschäftigung von Heinz Herz als einem Gastprofessor im Jahre 1947 verhelfen. Auch wenn er ein NSDAP-Mitglied gewesen war, passte er sich sehr schnell den neuen Zeiten an und trat in die SPD ein, mit der er sich im Jahre 1946 in der SED wiederfand. In Greifswald lehrte er die „Geschichte der Arbeiterbewegung“, zog jedoch bereits nach kurzer Zeit nach Rostock um. Auch der Versuch, die durch den Nationalsozialismus unbelasteten Wilhelm Treue und Hans Herzfeld einzustellen, misslang, obwohl letzterer anfangs einen Lehrstuhl an der Universität übernahm. 8 Diese misslungenen Bemühungen um Neubesetzungen führten dazu, dass die Verwaltung Hofmeister dulden und einen modus vivendi mit ihm finden musste. So sollte der Umbau der historischen Wissenschaft in Greifswald erst mit dem Aufbau eines neuen Historikerkaders erfolgen, der bereits im Sinne der SED ausgebildet wurde. Als einziger Stern der akademischen Greifswalder Geschichtsschreibung setzte Hofmeister traditionelle Forschung fort, ohne den von der Verwaltung geforderten neuen Richtungen und methodologischen Strömungen Aufmerksamkeit zu schenken. Förderlich für die Toleranz der Partei war neben dem oben erwähnten Mangel an personellen Alternativen auch Hofmeisters demonstrativ zur Schau getragene politische Unparteilichkeit und ausschließliche Konzentration auf wissenschaftliche Forschung. 9 Die in der Fakultät vorgenommenen Veränderungen führten zu einer Schwächung der Stellung des Direktors. Eine Etappe in diesem Prozess war die Umbenennung des „Historischen Seminars“ in „Historisches Institut“ im Jahre 1951. Es kann nicht beantwortet werden, inwieweit sich Hofmeister zu diesem Zeitpunkt der Unabwendbarkeit der kommenden Veränderungen bewusst war. Nach 1945 nahm er mit großem Engagement Johannes Hoffmann und insbesondere den jungen Roderich Schmidt als Schüler unter seine wissenschaftliche Obhut. In ihnen sah Hofmeister die Zukunft der Landesgeschichte in Greifswald. Dies wurde von der SED freilich als ein Versuch der Reproduktion des überkommenen wissenschaftlichen Kreises und als Förderung einer neuen Generation bürgerlicher Historiker interpretiert und als absolut unzulässig angesehen. 10 Wahrscheinlich gab gerade diese Situation den Ansporn zu einem Angriff auf Hofmeister, der von Universität Greifswald 1456–2006, Bd. I, Die Geschichte der Fakultäten im 19. und 20. Jahrhundert, Rostock 2006, 432f. 8 Ślepowroński, Polska i wschodnioniemiecka, 267. 9 Universitätsarchiv Greifswald (im Folgenden: UAG), PA, Adolf Hofmeister, Syg. PA 221. Siehe dazu auch den Beitrag von Karl-Heinz Spieß in diesem Band. 10 Tomasz Ślepowroński, Historycy w „godzinie zero.” Proces denazyfikacji i instrumentalizacji dziejopisarstwa niemieckiego w Radzieckiej Strefie Okupacyjnej (Uniwersytet w Gryfii\Greifswaldzie w latach 1945–1949\52), in: Włodzimierz Stępiński / Tomasz Ślepowroński (Hgg.), Na drodze do niemieckiej katastrofy. Twórcy idei, sportowcy, uczeni, policjanci, Wrocław 2012, 170f.

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Mitgliedern der universitären FDJ durchgeführt wurde. In einem Schreiben vom Jahr 1950 an die SED-Kreisleitung kritisierten die Autoren Hofmeisters Forschungspräferenzen und verlangten, dass im Historischen Seminar ein Fachmann im Bereich der neusten Geschichte angestellt werde, der konsequent auf der Grundlage des dialektischen Materialismus stehe. Vorgeschlagen wurde der an der hiesigen Arbeiter- und Bauernfakultät vortragende Hans Schröder, den man als ersten Historiker des neuen Typus im Hofmeister-Kreis unterbrachte. 11 Diese lokalen Ereignisse wurden begleitet von der sich wandelnden politischen Atmosphäre in der DDR, zu deren Symbol die während des I. FDJKongresses im Jahre 1950 ausgesprochene stalinistische Parole „Stürmt die Festung Wissenschaft!“ wurde. Diese gab den Ansporn zum Beginn einer endgültigen Umwandlung des bisherigen Bildungssystems und des Hochschulwesens sowie zum Abschluss des Kaderaustausches in der SBZ. 12 Diese Prozesse sollte das 1951 gegründete Staatssekretariat für das Hochschulwesen beaufsichtigen und leiten. 13 Man darf hierüber jedoch nicht vergessen, dass als Kopf der ganzen Operation und zugleich als das Zentrum mit dem stärksten Einfluss auf getroffene Entscheidungen die Abteilung für Wissenschaft und Hochschulen, die im Rahmen des Zentralkomitees (ZK) der SED wirkte, gelten muss. 14 Die theoretisch-ideologische Grundlage für die Veränderung der Geschichtswissenschaft in der DDR stellte der Beschluss des 7. Plenums des ZKs der SED vom Jahr 1951 dar, worin den marxistischen Historikern das Signal zum Beginn einer „vollen Offensive“ gegeben wurde. 15 Schließlich führte die Rede Walter Ulbrichts Ende 1952 zum Verzicht auf die Miseretheorie, um zu einer positiveren Interpretation der deutschen Geschichte zu gelangen, die den Geist des siegreichen Marxismus widerspiegeln sollte. 16 In diesem Sinne sollten die DDR-Historiker die traditionelle, auf dem Historismus basierende Methodologie verlassen und sich nur mit ausgewähl11 UAG, PA, Adolf Hofmeister, Syg. PA 221. 12 Christoph Kleßmann, Die doppelte Staatsgründung. Deutsche Geschichte 1945–1955, Bonn 1991, 286; Marianne Müller / Egon Erwin Müller, „...stürmt die Festung Wissenschaft.” Die Sowjetisierung der mitteldeutschen Universitäten seit 1945, Berlin 1953, 256; Karl-Heinz Günther / Gottfried Uhlig, Geschichte der Schule in der DDR 1945–1968, Berlin 1969, 66f. 13 Grundriss der Deutschen Geschichte. Von den Anfängen der Geschichte des deutschen Volkes bis zur Gestaltung der entwickelten sozialistischen Gesellschaft in der Deutschen Demokratischen Republik, Berlin 1979, 515. 14 Stiftung Archiv der Parteien- und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv (im Folgenden: SAPMO-BArch), Akademie der Wissenschaften der DDR - Fachgebiet Geschichte, Bd 1, 1952–1958, Syg. DY 30/IV 2/9.04/397; SAPMO-BArch, Museum für Deutsche Geschichte in Berlin, Bd 1, 1951–1955, Syg. DY 30/IV 2/9.04/252; SAPMO-BArch, Berichte und Informationen des Sektors Geschichte an die Abteilungsleitung, 1952–1957, Syg. DY 30/IV 2/9.04/52. 15 Lothar Mertens, Lexikon der DDR-Historiker. Biographien und Bibliographien zu den Geschichtswissenschaftlern aus den Deutschen Demokratischen Republik, München 2006, 46. 16 Walter Schmidt, Die Geschichtswissenschaft in der DDR in den fünfziger Jahren, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 31/1983, 291; Maciej Górny, Przede wszystkim ma być naród. Marksistowskie historiografie w Europie Środkowo – Wschodniej, Warszawa 2007, 68.

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ten Aspekten der deutschen Vergangenheit beschäftigen, im Lichte derer der ostdeutsche Teilstaat als Produkt des fortschrittlichen und positiven Anteils der deutschen Geschichte erscheint. 17 Zum Paradigma der ostdeutschen Geschichtsschreibung wurde die Kategorie der gesellschaftlichen Klasse erhoben, durch die sich ein Bild der Geschichte als Kampf des Proletariats für die Befreiung der Menschheit von Ausbeutung und Unterjochung ergab. Der Historiker sollte die Entwicklung der gesellschaftlichen Verhältnisse aus der Entwicklung der Produktionsverhältnisse ableiten und das Aufkommen bestimmter gesellschaftlicher Formationen als das Ergebnis von Klassenkämpfen darstellen. 18 Die Durchsetzung dieser Linie erforderte den erfolgreichen Abschluss des Kaderaustausches. Die Zeit der Toleranz gegenüber den bürgerlichen Historikern lief ab. In dieser Atmosphäre kam es in Greifswald zu einem weiteren Angriff gegen Hofmeister als einem nicht ausreichend der marxistischen Philosophie des Materialismus ergebenen Professor. Solche kritische Worte, die ein am 15. April 1953 in der Ostseezeitung veröffentlichter Artikel enthielt, gaben unzweideutig zu verstehen, dass auch in Greifswald die Zeit eines Generationsumbruches gekommen war. 19 Dieser vollzog sich 1954 mit Hofmeisters Versetzung in den Ruhestand, wodurch im Institut eine lange „königslose“ Periode begann. Unberücksichtigt blieb der Vorschlag des bisherigen Direktors, der als Nachfolger für den Posten seinen unlängst habilitierten Schüler Frithjof Sielaff vorschlug. Er wurde – genauso wie sein Doktorvater – durch die überzeugten Marxisten am Historischen Institut mit H. Schröder an der Spitze angegriffen, die als ihren Kandidaten Johannes Schildhauer förderten und dessen Karriere sich infolgedessen rasch entwickelte. 20 Schildhauer gehörte nicht nur zu Hofmeisters Schülerkreis, sondern war darüber hinaus Mitglied der SED. Er erfreute er sich des vollen Vertrauens und der vollen Unterstützung der Partei. Der Posten des Direktors sollte somit unbesetzt bleiben, bis Schildhauer seine Habilitationsschrift angefertigt und verteidigt hätte. Auf diese Weise sollte endlich die gewünschte ideologische und politische Arbeitsatmosphäre am Institut geschaffen werden. Dies geschah 1957 mit der Ernennung Schildhauers zum Direktor des Historischen Instituts, bei der sich niemand daran störte, dass Schildhauer von 1939 bis 1943 als Wehrmachtsoffizier gedient hatte und im September 1937 mit 19 Jahren der NSDAP beigetreten war! 21 17 Leo Stern, Gegenwartsaufgaben der deutschen Geschichtsforschung, Berlin 1952, 55; Heinz Heitzer, Forschungen zur Geschichte der DDR 1949–1961, in: Historische Forschungen in der DDR 1960–1970. Analysen und Berichte. Zum XIII. Internationalen Historikerkongress in Moskau 1970, Berlin 1970, 609. 18 Friedeman Neuhaus, Geschichte im Umbruch. Geschichtspolitik, Geschichtsunterricht und Geschichtsbewusstsein in der DDR und den neuen Bundesländern 1983–1993, Frankfurt a. M. u. a. 1998, 40. 19 Ślepowroński, Polska i wschodnioniemiecka, 271. 20 Sektion Geschichtswissenschaft (1945–1965), in: Wissenschaftliche Zeitschrift der ErnstMoritz-Arndt-Universität Greifswald, Gesellschaftswissenschaftliche Reihe 23/1974, 169f. 21 Lothar Mertens, Priester der Klio oder Hofchronisten der Partei?, Kollektivbiographische Analysen zur DDR-Historikerschaft, Göttingen 2006, 18.

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Mit dem Wechsel auf dem Posten des Institutsdirektors konnte die Partei vertrauensvoll die Aufgabe der Forschung im neuen Geist in die Hände Schildhauers und seiner Mitarbeiter übergeben. Für die Partei war dies von großer Bedeutung, denn bisher dominierte nach wie vor die traditionelle Forschung zur Geschichte Pommerns, die nur selten um die Geschichte Preußens und Deutschlands vom Klassenstandpunkt aus gesehen erweitert wurde. Der Schwerpunkt lag stattdessen in der Geschichte des Mittelalters und der Neuzeit bei besonderer Berücksichtigung der Geschichte mittelalterlicher Städte, der Geschichte regionaler Dynastien, der Geschichte des Siedlungswesens, der Toponomastik und der Kunst- und Kulturgeschichte. Von 1955 angefangen wurden zahlreiche Bücher zu Stadtjubiläen (u. a. Greifswald, Stralsund, Wolgast, Barth) mit populärwissenschaftlichem Charakter veröffentlicht. Allmählich wurden diese mit Elementen ergänzt, die für die SED-Geschichtspolitik von Bedeutung waren. Schildhauer beschrieb Gesellenund Tagelöhneraufstände in Städten und Konrad Fritze den Kampf zwischen Bürgertum und feudalen Herzögen im südlichen Baltikum. Agrargeschichtliche Themen wurden von Jan Peters in einer Doktorarbeit berücksichtigt, in der er sich im marxistischen Geist mit der Frage der gesellschaftlichen Stellung von Armen und der Landwirtschaftspolitik Schwedens befasste. Ende der 50er Jahre warfen u. a. Joachim Copius, Klaus Schreiner und Karl Heinz Jahnke die Frage über die Anfänge der Arbeiterbewegung im 19. Jahrhundert auf. Man untersuchte den Einfluss der russischen Revolution von 1917 auf die Arbeiterbewegung in Pommern, die Rolle der Leitung des Spartakus-Bundes und der SPD-Linken, der Arbeiterund Soldatenräte und konterrevolutionärer Gruppierungen sowie die Aktivitäten von Landarbeitern. 22 Zum ersten bedeutenden Erfolg der siegreichen Historikergruppe wurde eine im Jahre 1958 organisierte und der Revolution des Jahres 1918 gewidmete Konferenz, zu der sich 131 Teilnehmer unter der Parole „Ich bin, ich werde sein“ einfanden. 23 Zu diesem Zeitpunkt war R. Schmidt bereits in die Bundesrepublik ausgereist, da er nach dem Tod seines Lehrers Hofmeister und angesichts der Veränderungen, die sich im Institut vollzogen hatten, für sich weder in Greifswald noch der DDR eine Zukunft sah. In dieser Periode wurde die Geschichte der antifaschistischen Widerstandsbewegung und insbesondere ihrer jugendlichen Anhänger ein Forschungsschwerpunkt. Hierzu wurden einige internationale Konferenzen veranstaltet. Zu dieser Zeit wurde ferner unter der Leitung Schildhauers die Arbeitsgemeinschaft „Geschichte der revolutionären deutschen Jugendbewegung“ gegründet, die sich außer wissenschaftlichen Aufgaben auch propagandistische Ziele wie den Kampf gegen den angeblichen Imperialismus in der Bundesrepublik und die Vertiefung der sozialistischen Erziehung der DDR-Jugend zum Ziel setzte. 24 22 Ślepowroński, Polska i wschodnioniemiecka, 397f. 23 Wissenschaftliche Zeitschrift der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald, Gesellschaftsund sprachwissenschaftliche Reihe 9/1958–59, 1. 24 Wolfgang Höch, Die Jugend im antifaschistischen Widerstandskampf in Deutschland (1933– 1945), in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 10/1962, 941–948.

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Kennzeichnend für die 60er Jahre war ein Aufschwung der Geschichtswissenschaft in Greifswald, wovon zahlreiche Dissertationen zeugen, sowie die Herausbildung eines Forschungsteams am Historischen Institut und am Institut für Marxismus-Leninismus, in dem Arbeiten über das Wirken der pommerschen KPD entstanden. Im Jahre 1961 wurde das Promotionsverfahren für Herbert Schäwel und Herbert Langer eröffnet. Jan Peters promovierte in demselben Jahr und Willi Stern im Jahr 1964. Bereits 1963 hatte unter der Leitung Schildhauers W. Wilhelmus promoviert. Er wurde der erste wissenschaftliche Mitarbeiter, der sich mit der Frage der Entstehung der DDR beschäftigte, darunter fiel auch die lebenswichtige Frage der Legitimation des noch jungen Staates. Im Jahre 1966 debütierten in diesem Bereich auch Forscher des Instituts für Marxismus-Leninismus wie Ernst-Joachim Krüger und Joachim Copius. Zudem stellte W. Lamprecht Thesen seiner Dissertation vor, die er auch in demselben Jahr mit Erfolg verteidigte. 25 Die Feier zum 100. Gründungstag des Historischen Seminars im Jahre 1963 gab den Anlass zur Bestätigung des vollständigen Sieges der neuen sozialistischen Geschichtsschreibung durch den Institutsdirektor. Schildhauer erinnerte an die Richtlinien der marxistischen Geschichtswissenschaft und betonte die Bedeutung des in den Jahren 1951–1952 eingeführten historischen Materialismus nicht nur für die Erklärung der deutschen Geschichte, sondern auch für die Ausbildung des sozialistischen wissenschaftlichen Nachwuchses. Er hob hervor, dass das Institut bei der Untersuchung der Geschichte des Baltikums und der jugendlichen Arbeiterbewegung zahlreiche wissenschaftliche und zugleich freundschaftliche Kontakte mit Historikern aus der UdSSR, der Tschechoslowakei und Polen geknüpft habe. Er betonte die Aufgaben des Instituts im Kampf gegen wachsende nationalistische und revisionistische Tendenzen sowie gegen europäisierende Tendenzen in den historischen Wissenschaften. Zugleich fand er warme Worte für Hofmeister, indem er ihn zum Kreis der Vorläufer einer antifaschistisch-demokratischen Umwandlung in der humanistischen Gesellschaft Greifswalds rechnete. 26 Diese Kreation einer lokalen Legende zeigt, dass Schildhauer dem wachsenden Bedarf am Erschaffen eines Bildes vom Entstehen der sozialistischen Universität entsprach, indem er die Ursprünge positiver antifaschistischer Traditionen in die Vergangenheit zurückverlegte. Bis Mitte der 60er Jahre waren K. Fritz, J. Schildhauer und Walter Stark für die regionale Geschichte des Mittelalters und der Neuzeit zuständig. Das 19. und 20. Jahrhundert gehörten zum Bereich von H. Schröder, K. H. Jahnke, W. Lamprecht, J. Mai und W. Wilhelmus. Es lässt sich feststellen, dass sich der Forschungsschwerpunkt im Institut allmählich zur neueren und neuesten Zeiten verlagerte, was den Präferenzen der SED entsprach und im Gegensatz zur traditionellen Geschichtsschreibung vor 1945 stand. Im Mittelpunkt befand sich das kreierte 25 Ślepowroński, Polska i wschodnioniemieck, 379–381. 26 Johannes Schildhauer, 100 Jahre Historisches Institut Greifswald, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald, Gesellschafts- und sprachwissenschaftliche Reihe 14/1965, 191; ders., Zum 100-jährigen Bestehen des Historischen Instituts Greifswald, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 12/1964, 304.

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Bild eines heroischen und einsamen Kampfes der regionalen KPD gegen die Nazis, die wiederum Unterstützung bei der monopolistischen Bourgeoisie und dem Junkertum gefunden hätten. Kommunisten hätten gegen die Unterdrückung des arbeitenden Volkes gekämpft und seien wegen der verräterischen Politik rechtsorientierter SPD-Führer und Gewerkschafter gescheitert. So seien Aktionen unterbunden worden, die die Gründung einer faschistischen Diktatur verhindern sollten. Man unterstrich in diesem Zusammenhang die Rolle der KPD als der einzigen politischen Kraft, die nach dem Krieg auf kollektive Weise einen Plan für den antifaschistisch-demokratischen Wiederaufbau ausgearbeitet habe. Dieser Plan habe durch die Vereinigung linksorientierter Parteien, die Vergesellschaftung sowie die Agrarreform die Revolution des Jahres 1918 vollendet. 27 Mitte der 60er Jahre interessierte man sich für Industrialisierungsprozesse, für die Entstehung und die Wirkung landwirtschaftlicher Genossenschaften und Volkseigener Güter, für das Bildungswesen, das Klassenbewusstsein und das sozialistische Staatswesen. Dies alles hatte jedoch wenig mit Geschichtsschreibung zu tun, und es ist anzumerken, dass – außer mit wenigen Ausnahmen – die meisten Arbeiten in diesem Zusammenhang von sehr jungen Wissenschaftlern gleich nach dem Studienabschluss geschrieben wurden. 28 Mit Problemen der Weltgeschichte beschäftigte sich im Prinzip nur J. Mai, hauptsächlich in Bezug auf die deutsch-polnischen Beziehungen, ausgewählte Fragen der UdSSR-Geschichte und die Beziehungen zwischen der DDR und der Sowjetunion. 29 Den oben erwähnten SED-Richtlinien unterlagen insbesondere Historiker, die sich mit der neuesten Geschichte und hier vor allem der DDR-Geschichte befassten. Die Einheit der Forschungs- und Erziehungsziele, bei der auffallenden Armut der aufgeworfenen Forschungsfragen, entpuppte sich bei der Feier zum „20. Jahrestag der Befreiung vom Faschismus.“ Mitte der 60er Jahre wurde dieses Jubiläum zum wissenschaftlich-propagandistischen Hauptunternehmen der Greifswalder Historiker. Im Mittelpunkt der geplanten internationalen Konferenz stand die Darstellung des Umbruchs der Jahre 1945/46 im „norddeutschen“ Gebiet. 30 Greifswald sollte zu einem besonders exponierten Ort werden, denn hier fand eine blutlose Übergabe der Stadt an die sowjetische Armee durch Oberst Petershagen statt. Die Konferenz sollte drei Themenbereiche umfassen: Die Befreiung Meck27 Ślepowroński, Polska i wschodnioniemiecka, 399–401. 28 Johannes Schildhauer, Rozwój badań nad dziejami Pomorza Zachodniego w Niemieckiej Republice Demokratycznej, in: Przegląd Zachodniopomorski 10/1967, 59–74; ders., Forschungen zur pommerschen Geschichte. Literaturbericht über die wichtigsten in der DDR publizierten bzw. noch unveröffentlichten Arbeiten, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald, Gesellschafts- und sprachwissenschaftliche Reihe 16/1967, 11f. 29 Joachim Mai, Der Kampf der Sowjetunion um einen Friedensvertrag mit Deutschland 1945– 1952, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald, Gesellschafts- und sprachwissenschaftliche Reihe 8/1958–59, 461–467; Joachim Mai, Die preußisch-deutsche Polenpolitik 1885/87. Eine Studie zur Herausbildung des Imperialismus in Deutschland, Berlin 1962; ders., Das deutsche Kapital in Russland (1850–1894), Berlin 1970. 30 UAG, Philosophische Fakultät, II Nr. 2, Fakultätssitzung, 29.03.1965.

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lenburgs und Vorpommerns durch die Rote Armee; die antifaschistische Widerstandsbewegung unter der Leitung der KPD und die Stellung der KPD in den Aktionen des Nationalkomitees Freies Deutschland; und schließlich den demokratischen Wiederaufbau mit Hilfe sowjetischer Institutionen und die Tätigkeit der „Aktivisten der ersten Stunde.“ Die Konferenz fand 1965 statt und als Vortragende wurden hervorragende sowjetische und polnische Historiker eingeladen. Man tagte unter der Parole: „Befreiung und Neubeginn.“ 31 Die 60er Jahre waren auch die Zeit, während der sich die Greifswalder Historiker im Forum des ganzen Staates zeigten. Sie publizierten in den periodisch erscheinenden Schriften Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, Beiträge zur Erforschung der Geschichte der örtlichen Arbeiterbewegung, Geschichtsunterricht und Staatsbürgerkunde und Jahrbuch für die Geschichte der UdSSR und der volksdemokratischen Länder Europas. Die Mitarbeiter des Historischen Instituts an der Greifswalder Universität gehörten zudem vielen Ausschüssen der DDR an. So war etwa Jan Peters Mitglied des Vorbereitungskomitees für den Internationalen Historikerkongress in Stockholm im Jahre 1960. 32 Es ist auffallend, dass die Interessen der Institutswissenschaftler sich nicht der Biographistik zuwandten, war diese doch vor 1945 eines der wichtigsten Forschungsthemen. Außer der Person von Oberst Petershagen 33, deren Betrachtung mit hagiographischen Elementen versehen war, erfreute sich nur E. M. Arndt einer größeren Popularität. Die DDR entdeckte in seinen frühen Schriften die Kritik über die Leibeigenschaft von Bauern in schwedischem Pommern und verschwieg dabei antifranzösische und nationalistische Elemente. 34 Man scheute sich auch nicht davor, seine Person als einen Ideenvorläufer der DDR vorzuführen, wobei man annahm, dass diese Ideen erst in sozialistischen Bedingungen verwirklicht werden konnten, und auch das nur dank der Politik der Arbeiterpartei und der DDR-Regierung. 35 Bei der Beschreibung und Bewertung der Geschichtsschreibung in Greifswald nach 1945 muss ferner ausdrücklich betont werden, dass deutsche Pommernkenner in Greifswald einem überwältigenden Druck ausgesetzt waren. Die Themenbereiche der Forschung wurden stets relativ genau von Schildhauer bestimmt und dem zentralen Plan der historischen DDR-Forschung untergeordnet. Zu einem festen Leitmotiv von Tagungen des Fakultätsrates wurden Appelle der Parteiverwaltung zur Stärkung der ideologisch-erzieherischen Arbeit von Jugendlichen und jungen wissenschaftlichen Mitarbeitern. Dass man die Historiker im Zustand einer ständigen emotionalen Mobilisierung hielt und den internen Druck ihres Kreises verstärkte, bewirkte – ebenso wie schlichte Angstgefühle – eine Neigung zum 31 Ślepowroński, Polska i wschodnioniemiecka, 385f. 32 Ebd., 388f. 33 Michael Matthiesen, Das Kriegsende 1945 und der Mythos von der kampflosen Übergabe in Greifswald, in: Horst Wernicke (Hg.), Greifswald. Geschichte der Stadt, Schwerin 2000, 135–140. 34 Siehe hierzu den Beitrag von Michael North in diesem Band. 35 Wolfgang Urban, Ernst Moritz Arndt und der Umgang mit seiner Erbe, in: Hefte der ErnstMoritz-Arndt-Gesellschaft 4/1995, 14f. Siehe hierzu auch den Beitrag von Niels Hegewisch in diesem Band.

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Opportunismus. Dies hinderte die Greifswalder Historiker an jeder selbständigen Erweiterung der Forschungsperspektive über die durch die SED genehmigten und empfohlenen Bereiche hinaus! Während der Tagungen des Rates der Philosophischen Fakultät legten alle Institute Berichte über ihre Tätigkeit vor, in denen Analysen der „politisch-ideologischen Erziehungsarbeit“ den größten Umfang in Anspruch nahmen. Die auch für europäische Verhältnisse hervorragenden Forscher belastete man auf diese Weise mit strikt ideologischen und erzieherischen Pflichten in einem Ausmaß, das polnischen Hochschulen fern blieb und in Polen mit dem längst überwundenen Stalinismus in der Didaktik und Wissenschaft assoziiert worden wäre. Das nächste, sehr wichtige Aufsichtsinstrument über die Forschung und Didaktik stellte die universitätsinterne Grundorganisation der SED dar, die Veröffentlichungen nicht nur in Hinblick auf ihren wissenschaftlichen Wert, sondern auch für ihre politische Einstellung bewertete. In ein solches Prokrustesbett wurden besonders häufig nach dem 13. August 1961, als die Nervosität der Verwaltung ihren Höhepunkt erreichte, Historiker gelegt. Ein Beispiel hierfür ist der Fall von W. Wilhelmus im Februar 1962, dessen Schrift über die nationale Frage in Deutschland in den Jahren 1945–1948 als eine revisionistische Dissertation eingeschätzt wurde. Die Unzufriedenheit der Partei richtete sich auch gegen die übrigen Historiker, da sie nicht entsprechend wachsam gewesen wären. Als Abschluss der Transformation derjenigen Institutionen, in denen in Greifswald geschichtswissenschaftlich gearbeitet wurde, fungierte laut der Reform vom Jahr 1968 die Fusion des Historischen Instituts und des Prähistorischen Instituts in der Sektion für Humanistische Wissenschaften. 36 Pommernkunde an der Universität in Greifswald stand unter dem ständigen administrativen und ideologischen Druck der Verwaltung. Dies zeigt sich auch in den Veröffentlichungen. Im Kontext des DDR-Hochschulsystems handelte es sich hierbei um keine Besonderheit. Allerdings scheint es mir immer noch eine offene Frage zu sein, inwieweit das ideologische Korsett, das die Greifswalder Historiker beschränkte, von außen aufgezwungen wurde oder ihnen als Verkleidung diente, die sie allen Widrigkeiten zum Trotz inspirierte und neue Studien über Themen erlaubte, die sie selbst als relevant und zugleich modern empfanden. Kurzum: Waren die Greifswalder Geschichtswissenschaftler völlig dem Willen der Partei unterworfen worden oder suchten sie nach Bereichen, in denen sie ihre Forschung freizügiger führen konnten? Die Universitätsmauern – ohne eine außergewöhnliche Genehmigung seitens der Verwaltung – waren mit Sicherheit keine besonders freizügige Umwelt. Schutz konnte man auch nicht in den Spalten der Universitätszeitschrift finden, die einen eigenartigen Spiegel bildete, in dem man die Erfolge und den Ertrag Greifswalder Wissenschaftler sehen konnte. Die Zeitschrift der Universität war umso wichtiger für die Universitätsverwaltung, als zu ihr nicht nur Historiker Zugang hatten. Deswegen ließ man hier keine Experimente zu, auch wenn Pommernkenner danach verlangten. Ein Beispiel für ein eigenartiges Experiment der Regionalgeschichte in der DDR stellt der Greifswalder Fall der Genehmigung für die Veröffentlichung einer 36 Ślepowroński, Polska i wschodnioniemiecka, 391–394.

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historischen Zeitschrift außerhalb der Universität dar. Ursächlich hierfür waren wahrscheinlich die Jubiläumsfeier der Greifswalder Hochschule im Jahre 1956 und die Veröffentlichung der ersten Bände der 1955 in Hamburg reaktivierten Baltischen Studien. Nun durfte eine Gruppe von Museumsmitarbeitern und Archivaren in Vorpommern ein eigenes Periodikum herausgeben, das die positivistische regionale Tradition in den Geisteswissenschaften wieder aufleben lassen sollte. Schließlich setzte sich die Idee der Herausgabe eines Jahrbuches als gemeinsames Periodikum von Institutionen, die in Greifswald und Stralsund wirkten, d. h. des Stadtarchivs und des Kulturhistorischen Museums in Stralsund, des Staatsarchivs und Stadtarchivs in Greifswald und des Museums Greifswald, durch. 37 Die Struktur des Jahrbuches umfasste: Geschichte der Gegend und einzelner Ortschaften, Geschichte der Quellen und der Literatur, Archivkunde, Museumswesen und Bibliothekswissenschaft sowie Abhandlungen zur Kultur- und Ideologiegeschichte. Außerdem wurden darin Studien zur Urgeschichte, Anthropologie und Kunstgeschichte sowie zur Sprachwissenschaft und Onomastik veröffentlicht. Die Initiatoren waren sich bewusst, dass eine Voraussetzung für die Erlangung der Druckzustimmung eine entsprechende Berücksichtigung der Geschichte der neuesten Zeit, darunter insbesondere der Arbeiterbewegung, gewesen war. Sie nahmen an, dass es genügte, wenn sie die Spalten des Periodikums Parteihistorikern von der Universität zur Verfügung stellten, denn die neuste Geschichte ab 1945 war allmählich zu deren Domäne geworden. 38 Nach der ersten Ablehnung durch die Verwaltung und dem Vorlegen eines geänderten Manuskripts wurde 1960 eine Zustimmung erteilt. 1961 erschien die erste Ausgabe. Der in der DDR unerwünschte Name „Pommern“ musste jedoch getilgt werden. Er ging über die Politik der Verwaltung in regionalen Kreisen hinaus. So musste man sich zwangsweise für den Titel Greifswald-Stralsunder Jahrbuch (GSJ) entscheiden. Das erste Redaktionskollegium bestand aus Willi Nitschke, Herbert Ewe, Joachim Wächter, Ursula Meyer und Rudolf Biederstedt. In gewissem Widerspruch zu den in Polen verbreiteten Klischees über die Orthodoxie der DDR-Periodika der Ulbricht-Epoche stand die Offenheit des GSJ, das seine Spalten schon in den ersten Ausgaben westdeutschen Autoren wie Christa Pieske, Hans Jürgen Eggers, Helmuth Heyden und Walter Borchers zur Verfügung stellte. 39 Auch ältere Epochen gehörten – im Gegensatz zu der durch den Staat und die Universitätshistoriker bevorzugten und forcierten Tendenz für die neueste Zeit – zu den Hauptinteressen der GSJ-Autoren. Die Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts wurde dagegen nur fragmentarisch behandelt. Die Herausgaberichtlinien des Jahrbuches weckten starke Zweifel der Partei, was zur Schwächung der Stel37 Joachim Wächter, Zur Geschichte des Greifswald-Stralsunder Jahrbuchs, in: Haik T. Porada (Hg.), Beiträge zur Geschichte Vorpommerns. Die Demminer Kolloquien 1985–1994, Schwerin 1997, 406. 38 Ślepowroński, Polska i wschodnioniemiecka, 407f. 39 Włodzimierz Stępiński, Czasopiśmiennictwo historyczne Pomorza Zachodniego od drugiej połowy XX w. po czasy współczesne, in: Zapiski Historyczne 63/1998, 61.

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lung der Redaktion Ende der 60er Jahre führte, als es zum Wechsel auf dem Posten des Direktors des Staatsarchivs in Greifswald kam. Ein neues Gesetz über Archive aus dem Jahr 1969 hatte zur Folge, dass J. Wächter von seinem Amt abgesetzt wurde, da er als Parteiloser nicht das Vertrauen der Verwaltung besaß. Er wurde von Johannes Kornow ersetzt, der sich der vollen Unterstützung der SEDKreisleitung in Greifswald erfreute. Den Eingriff der Verwaltung empfand die Redaktion als einen harten Schlag, den sie nicht verwinden konnte. Ein Zerfallsprozess setzte ein, der 1982 mit dem Band Nr. 13/14 zum Abschluss kam, obwohl in den letzten Ausgaben die Zahl der Artikel wuchs, deren Autoren auf materialistischer Grundlage die Geschichte der Arbeiterbewegung und der Entstehung der DDR berücksichtigten. 40 Spricht man über die Enklaven der traditionellen Geschichtsschreibung, darf man die schon früher erwähnten Untersuchungen zur Geschichte der Hanse nicht vergessen. In der offiziellen Greifswalder Geschichtsschreibung wurde betont, dass die Erforschung der Hanse auf Feststellungen der 2. Parteikonferenz der SED im Jahr 1952 und Beschlüssen des Zentralkomitees der SED im Jahr 1955 ruhte. Hierdurch sei in Bezug auf die Verbesserung der Lage in der wissenschaftlichen Forschung und des Bildungsprozesses in den Geisteswissenschaften der Nachdruck auf die Erforschung der Ostseegeschichte, hauptsächlich in der Hanse-Zeit, gelegt worden – natürlich unter den Vorzeichen der marxistischen Methodologie. 41 Die Historiker selbst, mit Schildhauer und Fritze an der Spitze, unterstrichen lieber die traditionelle Bedeutung dieser Forschungsrichtung und beriefen sich hierbei auf die großen Errungenschaften und die 90jährige Geschichte des Hansischen Geschichtsvereins. Zugleich – um die Proportion zu bewahren – übten sie Kritik an deren Unterordnung unter die Einflüsse der „chauvinistischen preußisch-deutschen Politik Heinrich von Treitschkes.“ 42 Die bedeutende Rolle Greifswalder Historiker in der Forschung über die Geschichte des Hanse bezeugte ein Artikel unter der Redaktion Schildhauers, Fritzes und anderer, der für den 11. Internationalen Historikerkongress in Stockholm im Jahre 1960 vorbereitet wurde. Die Autoren präsentierten den Ertrag der Hansegeschichtsschreibung seit 1945 und stellten die Entstehung der Arbeitsgemeinschaft des Hansischen Geschichtsvereins in den Mittelpunkt. 43 Ihr Artikel wurde in eine Reihe mit den DDR-Zunftberühmtheiten (Johannes Kalisch, Walter Markov) sowie bekannten Forschern aus der UdSSR, Frankreich, der Tschechoslowakei und Polen gestellt. Schließlich – im Jahre 1970 – wurden Schildhauer und Fritze zu Mitgliedern der Redaktion der Hansischen Studien und spielten dort eine zunehmend wichtige Rolle. 44 40 Ślepowroński, Polska i wschodnioniemiecka, 413–416. 41 Sektion Geschichtswissenschaft (1945–1965), 169f. 42 Johannes Schildhauer, Konrad Fritze, Stand und Aufgaben der Hansegeschichtsforschung in der DDR, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald, Gesellschafts- und sprachwissenschaftliche Reihe 9/1959–60, 167–169. 43 Konrad Fritze u. a., Forschungen zur Stadt- und Hansegeschichte in der DDR, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 8/1960, 74–104. 44 Ślepowroński, Polska i wschodnioniemiecka, 424f.

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Das Engagement für die Erforschung der Hansegeschichte war auch in Greifswald von Bedeutung, wie am Beispiel des Habilitationskolloquiums von Fritze im Jahre 1963 augenfällig wird. Der wirtschaftlichen Geschichte der Städte im Spätmittelalter gewidmet, stärkte es dessen Position und verursachte eine noch aktivere Beteiligung an der nationalen und internationalen Hanseforschung. Im Jahre 1960 entstand in Greifswald der „Arbeitskreis Ostseegeschichte“ als erste Initiative dieser Art in der DDR. Hierdurch wurde eine Antwort gegeben auf die Impulse seitens der „Deutschen Historiker-Gesellschaft“ der DDR 45 und der Ministerialverwaltung. Der Arbeitskreis versammelte Forscher aus Greifswald, Rostock und Berlin. Die Leitung des Gremiums übernahmen die Greifswalder, worin zweifellos die Anerkennung der Greifswalder Hanseforschung zum Ausdruck kam. Zu den Hauptaufgaben zählten wissenschaftliche Publikationen und Veranstaltungen wie etwa die Kritik von Veröffentlichungen von Historikern aus NATO-Ländern sowie die Unterstützung der „Friedenspolitik“ der DDR. Untersucht wurde die Geschichte des Hansegebietes vom 16. bis zum 20. Jahrhundert. Zudem sollte die Forschung auch die positive Rolle der DDR bei der Festigung des Friedens in Europa berücksichtigen. Darüber hinaus rückten die Untersuchungen positive Traditionen des deutschen Volkes in den Vordergrund, die sich in der Geschichte der Hanse und ihrer Städte manifestierten. Die Hansegeschichte wurde so für den gegenwärtigen Kampf um die Lösung der nationalen Frage in Deutschland nutzbar gemacht. 46 Die zwei oben dargestellten Aspekte der Handlungen von DDR-Pommernforschern, die versuchten, an die traditionelle Richtungen der Landesgeschichte aus der Zeit vor 1945 anzuknüpfen, scheinen völlig unterschiedlich zu sein. Einerseits misstrauisch von der Parteiverwaltung und der Wissenschaft beäugt – das Beispiel GSJ –, erfreuten sie sich andererseits der vollen Unterstützung Ostberlins, wie das Beispiel der Hanseatischen Studien zeigt. Im Rahmen des ersten Vorhabens wirkten hauptsächlich Museumsmitarbeiter und Archivare, im Rahmen des zweiten Vorhabens die wichtigsten Historiker der Greifswalder Universität mit. Beide Initiativen verband – außer dem Willen, an die Tradition anzuknüpfen – die Tatsache, dass alle daran Beteiligten mehr oder weniger offen mit ideologischen, durch parteilich-staatliche Zentren aufgezwungenen Paradigmen ringen mussten und im kleineren oder größeren Ausmaß die geforderten Perspektiven einnahmen. Der gegenwärtige Leser kann sie als durchdrungen von Materialismus und Servilismus der Verwaltung gegenüber empfinden. Im Vergleich mit dem damaligen Ertrag der DDR-Geschichtsschreibung lassen sich das GSJ und die Hansischen Studien wenigstens teilweise verteidigen. Sie können zugleich als eines der interessantesten Produkte Greifswalder Geschichtsschreibung betrachtet werden. Einen weiteren interessanten Aspekt stellt ferner die damalige Zusammenarbeit der Greifswalder Historiker mit ihren Kollegen aus Stettin dar. Meiner 45 Die Gesellschaft wurde am 18. März 1958 in Leipzig gegründet und im Jahr 1972 in „Historiker-Gesellschaft der DDR“ umbenannt. 46 Konrad Fritze, Gründung der Arbeitsgemeinschaft „Ostseegeschichte“, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 8/1960, 1651–1653.

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Ansicht nach war die deutsch-polnische Kooperation gerade in solchen grenznahen wissenschaftlichen Zentren beider Staaten am stärksten entwickelt. Deren ausführliche Darstellung sprengte gleichwohl den Rahmen dieses Beitrags. Bis 1970 kam es an der Universität in Greifswald zu einem bewussten SichAbschließen der Zunft von bürgerlich-positivistischen Traditionen und einem individualistischen Historismus, was eine notwendige Folge der Umwandlungen war, die sich in der DDR-Wissenschaft unter dem Zwang der SED vollzogen. Nach dem Tod Curschmanns und Hofmeisters und nach dem Weggang anderer Forscher gab man viele bisher mit Erfolg betriebene Bereiche wie die Kunstgeschichte, die Urgeschichte, die Sprachwissenschaft, die historische Geographie, die Literatur- und Sprachgeschichte, die Ethnographie, die Architekturgeschichte, die Kirchen- und Musikgeschichte sowie die Historischen Hilfswissenschaften im Prinzip auf. Man versuchte zwar traditionelle Forschungsthemen aufrechtzuerhalten, jedoch führte der übermächtige politische und ideologische Druck der SED dazu, dass die gegenwärtigen Bewertungen dieser Epoche Greifswalder Geschichtsschreibung (nicht immer mit Recht) ihren Ertrag entschieden herabwürdigen.

VERGANGENHEIT, DIE NICHT VERGEHT Kontinuitätslinien Greifswalder Arndt-Rezeption 1931–1985 Niels Hegewisch 1. Einleitung Ernst Moritz Arndt ist in Greifswald ein heißes Eisen. Man kann kaum über Arndt und schon gar nicht über Arndt-Rezeption sprechen, ohne sich dabei auf das im Schicksalsjahr 1933 verliehene Namenspatronat der Universität Greifswald zu beziehen. Dass dieses Namenspatronat heute so umstritten ist und hierüber in den letzten zwanzig Jahren bereits drei erbitterte Debatten geführt wurden, ist freilich nur zu einem kleinen Teil dem Wirken des historischen Arndt und zu einem ungleich größeren Teil dessen vielschichtiger und ambivalenter Rezeption in Greifswald und darüber hinaus geschuldet. Die Universität Greifswald ist sich dieser Problematik bewusst. Dies offenbart ein Blick auf die Universitätshomepage. Etwas versteckt in der Rubrik „Informieren“ zwischen Stellenausschreibungen, dem Veranstaltungskalender und Statistiken zur Entwicklung der Studierendenzahlen findet sich ein Kurzporträt des Namenspatrons ohne Verfasserangabe. Arndt wird hier eingeführt als ein Angehöriger derjenigen Generation, die in der deutschen Sattelzeit „Schlüsselbegriffe des politischen Denkens und der Kultur der Moderne einem tiefgreifenden Bedeutungswandel unterzogen hat.“ Seine Beiträge zur Transformation von Begriffen wie „Geschichte, Literatur, Nation, Recht, Bildung und Glauben“ seien seinerzeit einflussreich gewesen und forderten bis heute „unvermindert zu intensiven Auseinandersetzungen“ heraus. Arndt, so heißt es weiter, sei nicht nur von der Romantik, sondern auch der Aufklärung beeinflusst worden, habe die kulturelle und politische Vorherrschaft des napoleonischen Frankreichs kritisiert, sei für bürgerliche Freiheit und Menschenrechte eingetreten und habe sich für die nationale Einheit Deutschlands eingesetzt. Im Zusammenhang mit der Forderung nach der Erhaltung sprachlicher wie kultureller Besonderheiten habe Arndt jedoch auch „völkische Abgrenzungsszenarien“ entwickelt, die Deutschen als Abstammungsgemeinschaft definiert und deren Reinhaltung von fremden Einflüssen gefordert. Darüber hinaus habe er sich gegen die Gewährung voller staatsbürgerlicher Rechte für Juden ausgesprochen und sich über außereuropäische Völker im Zusammenhang mit zeitgenössischen Rassentheorien abwertend geäußert. 1 1

http://www.uni-greifswald.de/informieren/ernst-moritz-arndt.html (29.4.2014). Greifswalder Wirken Arndts siehe den Beitrag von Jens Olesen in diesem Band.

Für

das

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Die Universität macht im Jahr 2014 also keinen Hehl daraus, dass sie sich zu Beginn des „Dritten Reiches“ einen komplizierten Namenspatron wählte, zu dem sie sich freilich sowohl in der DDR als auch im wiedervereinigten Deutschland wiederholt – zuletzt im Jahr 2010 mit deutlicher Mehrheit im Akademischen Senat 2 – bekannte. Arndt diente somit nicht allein im Kontext der zwei deutschen Diktaturen als Identifikationsfigur, sondern er erfüllt diese Funktion auch weiterhin. Es ist meiner Ansicht nach erklärungsbedürftig, wie eine historische Persönlichkeit mittleren Ranges, die sich zwar mit Aufklärung, Menschenrechten und politischer Freiheit in Verbindung bringen lässt, aber eben auch das Gepräge eines frühmodernen nationalistischen und in Teilen rassistisch-antisemitischen Hasspredigers trägt, über die tiefgreifenden politisch-gesellschaftlichen Umbrüche des 20. Jahrhunderts hinweg eine solche Rolle spielen kann. Um sich der Beantwortung dieser Frage zu nähern, nimmt dieser Beitrag die Greifswalder Arndt-Rezeption in ihrer Hochphase, der Zeit zwischen 1931 und 1985, in den Blick. In diesen 54 Jahren haben sich Greifswalder Wissenschaftler verschiedener Disziplinen sowie auswärtige Forscher in Greifswald wertend und bilanzierend zu Arndt geäußert. Auffällig ist hierbei eine durchgehend positive Bewertung Arndts, ungeachtet dessen, ob ein Rezipient in der späten Weimarer Republik, dem nationalsozialistischen Deutschland oder dem real existierenden Sozialismus lebte. Auffällig ist ferner das zu allen Zeiten vorrangige Streben nach einer Aktualisierung Arndts für die politisch-ideologischen Bedürfnisse der eigenen Zeit, hinter das ein Verständnis Arndts aus und in seiner Zeit deutlich zurücktritt. Der vorliegende Beitrag will daher zweierlei für die spezifisch Greifswalder Arndt-Rezeption nachweisen: – Es gab ein hohes Maß an inhaltlicher Kontinuität der Greifswalder ArndtRezeption im „Dritten Reich“ und der DDR auf der Ebene der dominierenden Narrative. – Darüber hinaus bestand eine funktionale Kontinuität der Arndt-Rezeption mit Blick auf dessen Instrumentalisierung für die politisch-ideologischen Bedürfnisse der jeweiligen Zeit. Bildlich gesprochen: Als 1945 im Stück der Greifswalder Arndt-Rezeption der Vorhang fiel, wurde vielleicht das Bühnenbild umgebaut und es wurden die Schauspieler ausgetauscht, doch das gespielte Stück blieb dasselbe. Die Geschichte der Greifswalder Arndt-Rezeption ist damit auch ein anschauliches Beispiel für die stets vorhandene, aber oft geleugnete politische Funktion der Geschichtswissenschaft sowie für die gefährliche Naivität der Annahme (oder Behauptung), es ginge dem Historiker stets und einzig darum, die Dinge ‚aus ihrer Zeit heraus’ zu verstehen. Sie illustriert vielmehr, wie erinnerungskulturelle Großwetterlagen und geschichtspolitische Weichenstellungen der Zentrale sich in der Peripherie auswirken. 3 2 3

http://www.uni-greifswald.de/organisieren/leitung/senat/senatsbeschluss.html (9.5.2014). Für die Geschichtswissenschaft im „Dritten Reich“ und der DDR hat dies am Beispiel der Bauernkriege Laurenz Müller herausgearbeitet. Es bestehen zahlreiche Parallelen zur Arndt-

Vergangenheit, die nicht vergeht

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Im Folgenden werde ich zunächst auf die allgemeinen Tendenzen der ArndtRezeption in Deutschland (2) und Greifswald (3) eingehen. Anschließend werde ich die Greifswalder Arndt-Rezeption anhand von Beispielen aus der Zeit zwischen 1931 und 1943 (4) sowie 1956 und 1985 (5) illustrieren. 2. Allgemeine Tendenzen der Arndt-Rezeption in Deutschland Ernst Moritz Arndt hat sich in einer überdurchschnittlich langen Lebens- und Schaffenszeit zu einer Vielzahl von Themen geäußert. Dabei überwog das auf öffentliche Resonanz orientierte Interesse eines politischen Publizisten. Eine Vorliebe für Breite statt Tiefe, Meinung statt Erkenntnis und eine Beschäftigung mit Tagesfragen statt einer systematischen Durchdringung wissenschaftlicher Fragestellungen kennzeichnen das Werk Arndts. Er war weder nach heutigen noch nach zeitgenössischen Maßstäben ein Historiker oder gar ein Politikwissenschaftler, zu dem ihn manch ein wohlgesonnener Rezipient heute gerne machen möchte. 4 Aus einem aufschlussreichen Überblick des Greifswalder Theologen Irmfried Garbe lassen sich vier Charakteristika der deutschen Arndt-Rezeption gewinnen: 5 (1) Bereits zu Lebzeiten wurde Arndt auf einige wenige Aspekte seines langen Lebens und Wirkens reduziert und zwar insbesondere auf seinen Beitrag zum frühen deutschen Nationalismus. Nach der gescheiterten Revolution von 1848/49 verehrte man Arndt, so Garbe, als „liberalen Patrioten.“ Im Kaiserreich ging der Arndt der antinapoleonischen Kriege in die Schulbücher ein und seine Kriegsgedichte bestimmten die populäre Arndt-Rezeption. Folgerichtig hob man im Ersten Weltkrieg dessen aggressive Abgrenzungsvorstellungen gegenüber benachbarten Völkern hervor. In der Weimarer Republik entstand in der Wissenschaft ein differenzierteres Arndt-Bild, doch es dominierte insbesondere in der öffentlichen Wahrnehmung nach wie vor der Nationalist Arndt. Die Nationalsozialisten suchten und fanden im Arndtschen Werk Anknüpfungspunkte für ihre Vorstellungen von der Größe Deutschlands und der Reinheit der deutschen „Rasse.“ Nach einer „Karenzphase“ der Arndt-Rezeption nach dem Zweiten Weltkrieg wurde dieser in der Bundesrepublik kaum, in der DDR dafür umso mehr beachtet. Arndt galt im

4 5

Rezeption im Kontext der beiden deutschen Diktaturen. Laurenz Müller, Diktatur und Revolution. Reformation und Bauernkrieg in der Geschichtsschreibung des ‚Dritten Reiches’ und der DDR, Stuttgart 2004, 6–8. Vgl. Jürgen Elvert, Geschichtswissenschaft, in: Frank-Rutger Hausmann (Hg.), Geisteswissenschaften im Dritten Reich 1933–1945, München 2002, 87– 135; Karen Schönwälder, Historiker und Politik. Geschichtswissenschaft im Nationalsozialismus, Frankfurt a. M. / New York 1992; Ilko-Sascha Kowalczuk, Legitimation eines neuen Staates. Parteiarbeiter an der historischen Front, Geschichtswissenschaft in der SBZ/DDR, 1945 bis 1961, Berlin 1997; Martin Sabrow, Das Diktat des Konsenses, München 2001. Vgl. o. Hg., Wortmeldungen zu Ernst Moritz Arndt, Greifswald 2010. Für die folgenden Punkte: Irmfried Garbe, Rezeption des Werkes von Ernst Moritz Arndt, http://www.uni-greifswald.de/informieren/ernst-moritz-arndt/rezeption.html (29.4.2014).

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Kontext der Erbe-Rezeption der „zweite[n] deutsche[n] Geschichtswissenschaft“ 6 als ein Vordenker der Verbindung von nationaler Einheit und sozialer Umwälzung sowie als Idealtyp des politisch engagierten Wissenschaftlers. Im Ganzen gesehen überschattet der nationalistische Anteil die Rezeption des Arndtschen Werks. Es handelt sich bei den einzelnen Etappen der Arndt-Rezeption um Variationen desselben Themas. (2) Mit der Reduzierung Arndts auf seinen Nationalismus war eine konsequente politische Vereinnahmung Arndts durch dessen Rezipienten verbunden. Im Kaiserreich wurde Arndt von einer „borussisch-reichsdeutschen Geschichtsschreibung“ gleichsam nationalisiert, indem man ihn zum Nationaldichter und „gute[m] deutsche[n] Gewissen erklärte. Im Ersten Weltkrieg war die ArndtRezeption eingebettet in die „Mobilmachungs- und Durchhaltepropaganda.“ Arndt wurde zu einem „Propagandisten des Siegfriedens“ stilisiert. In der Weimarer Republik diente Arndt deutschnationalen Kräften als Idealbild des „nationalbewegte[n] Kämpfer[s]“, woran im Nationalsozialismus bereitwillig angeknüpft wurde. Die politische Vereinnahmung Arndts setzte sich auch in der DDR fort und zwar als anknüpfungsfähige „fortschrittliche Tradition“ deutscher Geschichte, deren Erbe die DDR für sich beanspruchte. Die Bezugnahme auf Arndt ging demnach zumeist mit dessen Instrumentalisierung für die Legitimation der bzw. den Kampf gegen die herrschende Ordnung einher. Auch hier kann man von Variationen eines gleichbleibenden Themas sprechen. 7 (3) Sowohl die Bedingung der Möglichkeit als auch die Folge einer solchen Arndt-Rezeption war die selektive Wahrnehmung der Quellen durch die Rezipienten. Schriften und Reden über Arndt, so Garbe, bezogen sich in der Regel auf die immer gleichen Quellen, die lediglich für einen Ausschnitt des Arndtschen Werkes stehen. Da eine historisch-kritische Gesamtausgabe der Schriften Ernst Moritz Arndts bis heute nicht vorliegt 8, bedienten und bedienen sich Arndt-Rezipienten zumeist an Sammlungen aus dem Kontext gerissener Zitate, propagandistischen Auftragswerken, wortgewaltigen Kriegsgedichten und anderen „Kraftworten“ Arndts. Zu keinem Zeitpunkt habe es, so Garbe, eine kontinuierliche, geschweige denn systematische Arndt-Forschung gegeben. Stattdessen, so könnte man hinzufügen, machte sich jede Zeit den Arndt, der ihr passte. (4) Und schließlich hat sich die Arndt-Rezeption kontinuierlich regionalisiert. War Arndt im 19. Jahrhundert noch eine bekannte nationale Persönlichkeit, beschränkte sich die Arndt-Rezeption im 20. Jahrhundert zusehends auf seine Wirkungsstätten in Pommern und im Rheinland. Zugespitzt gesagt zählt Arndt heute zu dem Heer von Namenspatronen, nach denen deutschlandweit Plätze, Straßen oder Universitäten benannt sind, deren Leben oder Werk allerdings nur noch einer 6 7 8

Konrad H. Jarausch / Matthias Middell / Martin Sabrow, Störfall DDR-Geschichtswissenschaft, Problemfelder einer kritischen Historisierung, in: Georg G. Iggers u. a. (Hgg.), Die DDR-Geschichtswissenschaft als Forschungsproblem, München 1998, 1. Vgl. Müller, Diktatur, 324f. Ein solches Projekt scheiterte in Greifswald zuletzt 1994/95 an internen Auseinandersetzungen in der Philosophischen Fakultät. Für diesen Hinweis danke ich Karl-Heinz Spieß.

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kleinen Schar Eingeweihter bekannt ist. 9 Nicht schlagend, aber erhellend ist in diesem Zusammenhang, dass Arndt es bei der Zuschauerwahl, durch die das ZDF 2003 die „größten Deutschen“ ermitteln wollte, nicht auf einen der ersten zweihundert Plätze schaffte. 10 Mag Arndt in Greifswald immer noch Gefühlswallungen zwischen Euphorie und Hysterie hervorrufen, scheint im Rest der Republik eine Arndt-Amnesie eingetreten zu sein. Fasst man die Tendenzen der Arndt-Rezeption in Deutschland zusammen, so gleicht diese einem Trichter: Von dem lange währenden und vielschichtigen Wirken Arndts bleibt – wenn überhaupt – die popularisierte Erinnerung an einzelne Versatzstücke seines Werkes in einigen wenigen Regionen. 3. Narrative Greifswalder Arndt-Rezeption Wie haben sich diese großen Tendenzen der Arndt-Rezeption nun in Greifswald niedergeschlagen? Es sei vorausgeschickt, dass sie auch die Greifswalder ArndtRezeption bestimmten und sich in einer Reihe über den Untersuchungszeitraum stabiler Arndt-Narrative niederschlugen. Dass man sich in Greifswald an Arndt selektiv, auf die eigene Gegenwart bezogen und mit einem zunehmend regionalen Fokus erinnerte, wird bereits an der für den Greifswalder Fall typischen Anlassbezogenheit einer Beschäftigung mit Ernst Moritz Arndt deutlich. So sind die meisten der im Folgenden behandelten Beiträge im Zuge verschiedener Feierlichkeiten wie dem 10. Jahrestag des Arndtschen Namenspatronats 1943, dem 500. Jubiläum der Universität 1956, dem 100. Todestag Arndts 1960, dem 100. Jubiläum des Historischen Instituts 1963, dem 200. Geburtstag Arndts 1969 und dem 125. Todestag Arndts 1985 entstanden. Nach der Wende – auch ein Befund – reißt die Serie ab. An der Universität Greifswald wurden weder der 60. Jahrestag des Namenspatronats 2003 noch Arndts 250. Geburtstag 2009 oder sein 150. Todestag 2010 begangen. Einzig der vorliegende Band samt zugehöriger Vorlesungsreihe zum 150. Jubiläum der Gründung des Historischen Instituts bildet eine Ausnahme. Einen aufschlussreichen Einstieg in die Rezeptionsgeschichte Arndts aus Greifswalder Perspektive erlaubt ein Porträt, das der im vorpommerschen

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Deutschlandweit sind immerhin 83 Straßen und Plätze nach Arndt benannt. Siehe hierzu die Internetseite: www.strassenkatalog.de (19.9.2014). 10 Für die ersten 200 Plätze siehe: http://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Unsere_Besten&ol did=21541351 (29.4.2014). Das ZDF gab eine Liste mit Namensvorschlägen heraus, die jedoch nur als Orientierung diente. Auf dieser Liste fehlt Arndt. Die teilnehmenden Zuschauer konnten die Liste ergänzen. Die Abstimmung erfolgte per Post, per Mobiltelefon und im Internet: http://web.archive.org/web/20030814230155/http://www.zdf.de/ZDFde/inhalt/41/0,28 57,A,00.html (29.4.2014). Mit Blick auf die bekannt gewordene Manipulation der ZDFRedaktion auf die Auswahl von „Deutschlands Besten“ im Jahr 2014 ist freilich Vorsicht geboten. Hierzu: Stefan Niggemeier, Mit dem Zweiten trickst man schlechter, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 8.7.2014.

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Conerow geborene Ernst Müsebeck 11 1934 in den vom Greifswalder Historiker Adolf Hofmeister herausgegebenen Pommerschen Lebensbildern zeichnet. Dies gilt bereits für den Ton, den Müsebeck anschlägt. Arndts Lebensgeschichte wird hier überaus wohlwollend im Stile einer Heldengeschichte und Aufsteigerbiographie erzählt. Die Universität Greifswald, so stellt Müsebeck gleich zu Beginn klar, trage Arndts Namen zu Recht. 12 Aufschlussreich ist Müsebecks Beitrag vor allem deshalb, weil hier bereits die wichtigsten, im weiteren Verlauf immer wieder reproduzierten Arndt-Narrative auftreten. (1) Arndt, der Vorkämpfer für nationale Einheit: In erster Linie präsentiert Müsebeck Arndt als unermüdlichen Kämpfer für die nationale Einheit und Freiheit nicht nur der Deutschen, sondern aller europäischen Völker. Bei Arndt hätten sich ein „leidenschaftliches Ethos“ mit den „gewaltigen Kräften des deutschen Schwertes“ im Kampf für „die Freiheit der europäischen Kultur, die Möglichkeit einer Entwicklung auf nationaler und volklicher Grundlage“ verbunden. Arndt sei nichts weniger als das „Gewissen des Volkes“ gewesen und habe „in seiner Persönlichkeit die sittliche Massenenergie des idealen Deutschtums“ dargestellt. 13 In dieser Eigenschaft habe er die historische Bestimmung eines „mächtige[n] Deutschlands“ klar erkannt, „die Welten des Ostens und des Westens auseinanderzuhalten.“ 14 (2) Arndt, der Demokrat: Mit der Forderung nach nationaler Einheit eng verbunden sei Arndts Eintreten für die Demokratie gewesen. Müsebeck leugnet das Spannungsfeld nicht, das zwischen der Verwendung des Demokratie- und Volkssouveränitätsbegriffs in der deutschen Nationalbewegung einerseits und seiner Bedeutung im 20. Jahrhundert andererseits besteht. 15 Stattdessen deutet er Arndts gemäßigten Monarchismus als ein vorzeitiges Bekenntnis zur noch jungen nationalsozialistischen Führerdemokratie um. Arndt gilt Müsebeck als Demokrat „im ethischen Sinne“, denn er habe stets „vom Volke aus“ gedacht und eine „bewußte und lebendige Teilnahme aller Volksgenossen an allen Fragen der Kultur und Politik“ gefordert. Es sei ihm dabei um eine „immer stärkere Mobilisierung aller Kräfte zur Verwirklichung der Größe und der Freiheit des nationalen Kultur- und Machtstaates“ gegangen. Die Monarchie habe ihm „nicht als Legitimitätsprinzip“ gegolten, sondern als die höchste Personifizierung des Volkswillens.“ Arndt lehre, 11 Müsebeck, 1870 geboren und 1939 gestorben, hatte in Greifswald Geschichte, Germanistik und Staatswissenschaften studiert, war später im Reichsarchiv tätig und stieg bis zu dessen kommissarischem Leiter auf. 1914 legte Müsebeck den ersten Teil seiner unvollendeten Arndt-Biographie vor. Ernst Müsebeck, Der junge Arndt. 1769–1815, Gotha 1914. 12 Ernst Müsebeck, Ernst Moritz Arndt, in: Adolf Hofmeister (Hg.), Pommersche Lebensbilder, Bd. 1, Stettin 1934, 4. 13 Ebd., 12. 14 Ebd., 14. 15 Hierzu aufschlussreich: Thomas Stamm-Kuhlmann, Ernst Moritz Arndt über Demokratie und Volkssouveränität, Sein Abstimmungsverhalten in der Frankfurter Nationalversammlung nach dem stenographischen Bericht, in: Baltische Studien. Pommersche Jahrbücher für Landesgeschichte, Neue Folge, 92/2006, 103–112.

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dass die „enthusiastische Steigerung des Politischen zum Sittlichen, ja zum Religiösen als ein Volkswille“ eine starke Person an der Spitze brauche, die „den brausenden Tiefen und den hin und her wogenden (...) Kräfte[n]“ des Volkes „einen sicheren Halt“ gebe. 16 (3) Arndt, der Freund des ‚einfachen Volkes’: Mit dem Narrativ des demokratischen Arndt verwandt ist die Betonung seiner besonderen Beziehung zum ‚einfachen Volk’, worunter Müsebeck und spätere Rezipienten insbesondere die leibeigenen Bauern verstehen. Arndt habe aufgrund seiner eigenen Herkunft aus „behäbiger und doch empfänglicher Erdkraft“ 17 die historische Rolle des mit seiner Scholle verwachsenen „deutschen Bauernstand[es]“ als „eigentlich staatsbegründende[n] und staatserhaltende[n] Teil des Volkes“ erkannt. 18 Auch hier wird Arndt als ein Vordenker – nämlich der nationalsozialistischen „Volksgemeinschaft“ 19 – sowie als früher Mahner vor der Degeneration des bindungslosen Menschen der Moderne präsentiert. Der Versuch Müsebecks, Arndt für die eigene Zeit zu vereinnahmen, wird an dieser Stelle besonders deutlich. (4) Arndt, der Missbrauchte und (bewusst) falsch Verstandene: Ungeachtet seiner eigenen Instrumentalisierungsbemühungen kritisiert Müsebeck im selben Atemzug, dass von verschiedener Seite immer wieder versucht werde, Arndt zum „Parteimann“ 20 zu machen und ihn ideologisch zu vereinnahmen. Auch diese Doppelbödigkeit der Arndt-Rezeption des gleichzeitigen Betreibens und Bedauerns seiner politischen Instrumentalisierung ist durchaus charakteristisch. Dasselbe gilt auch für Müsebecks Forderung, durch eine zu erstellende kritische Gesamtausgabe der Werke Arndts endlich und unmissverständlich, den ‚wahren’ Arndt hervortreten zu lassen. Wenn endlich der ‚wahre’ Arndt hervorgekehrt und gegen jegliche Vereinnahmung geschützt sei, dann werde Arndt seine Rolle als ein „Kündiger starken deutschen Volkstums im Worte und in der Tat“ ausfüllen können. 21 Schon aus diesem Grunde sei das Unternehmen einer ArndtGesamtausgabe „eine würdige Aufgabe des dritten Reiches.“ 22 (5) Arndt, das Vorbild: Ernst Moritz Arndt, der Kämpfer für nationale Einheit, die sozialen Bedürfnisse des ‚einfachen Volkes’ und dessen gelenkte politische Teilhabe, von dem die Zeitgenossen viel lernen könnten – so lautet das Bild, das Müsebeck von Arndt zeichnet und das nachfolgende Rezipienten sowohl in der Zeit des Nationalsozialismus als auch der DDR in der Akzentsetzung variieren und um weitere Elemente ergänzen, aber nicht grundsätzlich in Frage stellen. Müsebecks Behauptung, dass Arndt zweifellos „in die Reihen jener Gestalten unserer deutschen Geschichte (...) [gehöre], deren lebendiges Dasein (...) allen kommenden Geschlechtern ewiggültige Gesinnungen“ zur Orientierung darbiete, ist, wie 16 17 18 19 20 21 22

Für den gesamten Absatz: Müsebeck, Arndt, 18f. Ebd., 1. Ebd., 5. Ebd., 6. Ebd., 23. Ebd. Ebd.

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ich im Folgenden zeigen werde, durchaus typisch für den Ton, der vom Großteil der hier untersuchten Greifswalder Arndt-Rezipienten angeschlagen wird. 23 4. Greifswalder Arndt-Rezeption 1931–1943 Die Greifswalder Arndt-Rezeption in der Zeit des Nationalsozialismus konzentrierte sich auf das Thema des Arndtschen Beitrags zur deutschen ‚Volkwerdung’ und fand ihren Höhepunkt in den Greifswalder Arndt-Tagen im Jahr 1943. Auf die sogenannte ‚Volkwerdung’ der Deutschen und den Beitrag Arndts hierzu wurde noch vor der Machtergreifung durch den Greifswalder Historiker Carl Petersen Bezug genommen. Petersen, der dem George-Kreis nahestand und von 1939 bis zu seinem Tode 1942 außerplanmäßiger und außerordentlicher Professor für mittlere und neuere Geschichte mit Schwerpunkt auf nordische Geistesgeschichte an der Universität Greifswald war, erwähnte Arndt in einem längeren Aufsatz über Deutschen und Nordischen Geist aus dem Jahr 1931 zwar nur am Rande, doch pries er ihn als einen entscheidenden Faktor bei der „Volkwerdung“ nicht nur der Deutschen, sondern aller nordischen Völker. 24 Arndt habe, so Petersen nebulös, die „Sendung Deutschlands als ein schweres, aus Lage und Geschichte (...) erwachsendes Schicksal“ in ihrer ganzen Tragweite erkannt. 25 Bei Vorstellungen einer ‚Volkwerdung’ handelte es sich, grob gesagt, um ein im Dunstkreis der Konservativen Revolution entwickeltes Konzept. Man verstand hierunter insbesondere in der Soziologie des ‚Dritten Reiches’ denjenigen Prozess, der aus einer Gruppe von Menschen ein ‚Volk’ im engeren Sinne mache. Die „Volkbildung“ bezeichnete „das Erreichen eines höheren Aggregatszustandes des ‚Volk-seins’.“ Die herrschende Vorstellung ging von drei Stufen der Volkbildung aus: (1) Herausbildung eines Selbstbewusstseins; (2) Geben eines adäquaten Herrschaftssystems und Schaffung eines ‚Raumes’; (3) Überwindung der sozialen Gegensätze. Die Nationalsozialisten nahmen für sich in Anspruch, mit der Machtergreifung eine neue Epoche deutscher Volkbildung eingeläutet zu haben. 26 Petersen kam auf Arndts Beitrag zur deutschen Volkwerdung verschiedentlich zurück. Etwa in einer 1934 veröffentlichten Edition von „Kernstellen“ 27 Arndts, die er gemeinsam mit dem Leiter des nie vollendeten Editionsprojektes der ArndtGesamtausgabe, Paul Hermann Ruth, herausgab. Diese unsystematische Zitaten23 Ebd. 24 Carl Petersen, Deutscher und nordischer Geist. Ihre Wechselwirkungen im Verlauf der Geschichte, Versuch eines Umrisses, in: ders. (Hg.), Deutschland und der Norden. Umrisse, Reden, Vorträge, Ein Gedenkbuch, Breslau 1931, 2–80, hier: 8. 25 Ebd., 4. 26 Siehe hierzu: Otthein Rammstedt, Deutsche Soziologie 1933-1945. Die Normalität einer Anpassung, Frankfurt a. M. 1986, Kap. 2. Vgl. Michaela Christ / Maja Suderland (Hgg.), Soziologie und Nationalsozialismus. Positionen, Debatten, Perspektiven, Berlin 2014. 27 So lautet es im Titel: Carl Petersen / Paul Hermann Ruth (Hgg.), Ernst Moritz Arndt. Deutsche Volkwerdung, Sein politisches Vermächtnis an die deutsche Gegenwart, Kernstellen aus seinen Schriften und Briefen, Breslau 1934.

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sammlung ist ein aufschlussreiches Beispiel für das von Garbe beklagte Elend eklektizistisch-opportunistischer Arndt-Rezeption. Obgleich es sich hierbei nur um eine Ansammlung nationalistischer, rassistischer und antisemitischer ArndtFragmente handelt, verweisen der Untertitel und die Gliederung des Bandes auf eine Reihe der oben genannten Arndt-Narrative. So beschwört der Untertitel pathetisch Arndts „politisches Vermächtnis an die deutsche Gegenwart“ 28, das offenbar aus der vorgelegten Ansammlung aus dem Zusammenhang gerissener Zitate bestehen sollte. Mit dem Begriff des Vermächtnisses bedienten Petersen und Ruth das Narrativ von Arndt als Vorbild und implizierten, dass es ein Arndtsches Programm gäbe, das nachfolgende Generationen binden würde. Bemerkenswert ist, wie ich weiter unten zeigen werde, dass ebendieser Begriff mit derselben Intention sich auch in der Arndt-Rezeption der DDR einer großen Beliebtheit erfreute. An ihrer Absicht, Arndt für die ideologischen Bedürfnisse ihrer eigenen Zeit zu instrumentalisieren, ließen die beiden Herausgeber auch in ihrem einleitenden Vorwort keinen Zweifel. Arndt habe die in dem Band versammelten Worte an einer „Schicksalswende“ des deutschen Volkes geäußert. Sie „pochen an die Tore der Gegenwart als Mahnung und Geleit im Kampf um [die] deutsche Zukunft.“ Sie kündeten „einer neuen Jugend“ das Wunder der deutschen Volkwerdung“ im „wahre[n]“ Deutschland. 29 In diesem Zusammenhang stellten Petersen und Ruth Arndt auch als einen Vordenker der nationalsozialistischen Rassenpolitik dar, die sie durch entsprechende Arndt-Zitate in den Kapiteln „Rassenvermischung und Rassenauslese“ sowie „Gefährdung des deutschen Volkes durch jüdische Zersetzung“ ideengeschichtlich zu legitimieren suchten. Hierbei handelt es sich keineswegs um einen auf Greifswald beschränkten Einzelfall. Das Narrativ von Arndt als Vorbild für Rassenhygieniker und Eugeniker wurde bereits in der Weimarer Republik etabliert. 30 So auch bei dem in Greifswald promovierten Psychologen und Philosophen Kurt Hildebrandt, der als überzeugter Nationalsozialist Arndt 1938 in einem kleinen Aufsatz über dessen Rassebegriff als zu Unrecht übersehenen Vordenker des „germanischen Rassengedanken[s]“ 31 sowie als vorausschauenden Kritiker des „Rassenchaos“ 32 pries. 33 Überraschender ist jedoch der Befund, dass solche 28 Ebd. 29 Ebd., 5. 30 Siehe hierzu: Ralf Klausnitzer, Leib, Geist, Seele. Ernst Moritz Arndts Verbindungen mit geschichtsphilosophischen und völkerpsychologischen Spekulationen der Romantik und ihre Rezeption in der NS-Zeit, in: Dirk Alvermann / Irmfried Garbe (Hgg.), Ernst Moritz Arndt. Anstösse und Wirkungen, Köln u. a. 2011, 73–120. 31 Kurt Hildebrandt, Ernst Moritz Arndts Rassebegriff, in: Rasse: Monatsschrift für den deutschen Gedanken 5/1938, 333–341, hier: 333. 32 Ebd., 340. 33 Neben seiner nationalsozialistischen Gesinnung offenbarte Hildebrandt mit dem Aufsatz freilich auch seine Unkenntnis den ‚Forschungsstand’ der nicht erst durch den Nationalsozialismus inspirierten Umdeutung Arndts zum Protorassisten betreffend. Siehe hierzu etwa: Ludwig Schemann, Die Rasse in den Geisteswissenschaften. Studien zur Geschichte des Rassengedankens, Bd. III, Die Rassenfragen im Schrifttum der Neuzeit, München 1931, 109f.,

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Bezüge in der Greifswalder Arndt-Rezeption nur eine randständige Rolle spielten und hinter dessen Beitrag zur ‚Volkwerdung’ zurücktraten. In diesem Sinne äußerte sich Petersen in der politisch programmatischen Broschüre Nation und Geschichte im Jahr 1936 erneut. Petersen stellt hierin dem französischen Konzept eines inklusiven, auf den Staat und seine Verfassung bezogenen Nationalismus die deutsche Spielart eines exklusiven, auf Bluts- und Geistesverwandtschaft beruhenden „völkischen Nationalismus“ 34 gegenüber. Selbstredend sei letzterer dem ersterem überlegen. Den Nachweis führt Petersen mit Arndt als Kronzeugen. Dieser habe bewiesen, dass eine Nation eine Abstammungsgemeinschaft sein müsse, wolle sie erfolgreich sein. Der Einzelne, so könne man von Arndt lernen, zähle nur als Teil des Volksganzen etwas. 35 Die kollektive „Einheit von Blut und Geist“ und nicht das individuelle Bekenntnis zu einem Staat oder einer Verfassung sei der „tragende Grund“ des „politischen Daseins“ eines Volkes. Das Volk suche sich aus dem „unerschöpflichen Quell seiner Blutkräfte“ immer wieder aufs Neue „die ihm gemäßen Lebensformen“ und umso schädlicher müsse es sein, diese Grundlagen zugunsten einer willkürlich gesetzten politischen Verfassung zu vernachlässigen. 36 Auf dieser abschüssigen Bahn fragwürdiger Kausalitäten gelangt Petersen zu dem Schluss – und er beruft sich hierbei wieder auf seinen Kronzeugen Arndt –, dass der „deutsche Lebensraum“ erweitert werden müsse. Denn gehe man von dem überlegenen ‚deutschen’ Nationsverständnis aus, dann lebten derzeit „viele Millionen, die unbezweifelbar zur deutschen Blut- und Geistgemeinschaft gehören“ außerhalb der politischen Grenzen Deutschlands. Es gelte daher, die politischen Grenzen der ‚Realität’ eines „geschlossenen deutschen Volksraum[s]“ anzupassen. 37 Die ethnischen Deutschen außerhalb des politischen Deutschlands hätten als „Vorbereiter und Durchdringer“ in Zukunft „zu gestaltender Räume“ bereits wichtige Vorarbeiten geleistet. 38 Wiederum wird hier das Narrativ von Arndt als Kämpfer für die nationale Einheit und Vorbild für die Rechtfertigung einer auf Expansion gerichteten Politik der Gegenwart vereinnahmt. Alles, was bisher geschah, bildete freilich nur das Vorspiel für einen ersten unbestreitbaren Höhepunkt Greifswalder Arndt-Rezeption. Vom 19. bis zum 24. Juli 1943 veranstaltete die Universität Greifswald zur Feier des 10. Jahrestages ihrer Umbenennung in Ernst-Moritz-Arndt-Universität festliche Arndttage. Im Zentrum der Feierlichkeiten stand eine Arbeitstagung des von den Universitäten Greifswald und Bonn und u. a. von der (Deutschen) Forschungsgemeinschaft geförderten Arbeitskreises zur Erstellung der Arndt-Gesamtausgabe. In diesem Rahmen wurde ferner eine zweitägige Studienfahrt zu Arndt-Stätten in der Region

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369; Rudolf Fahrner, Arndt. Geistiges und politisches Verhalten, Stuttgart 1937; Hermann Blome, Der Rassengedanke in der deutschen Romantik und seine Grundlagen im 18. Jahrhundert, München / Berlin 1943, 292–318. Carl Petersen, Nation und Geschichte, Leipzig 1936, 22. Ebd., 3. Ebd., 18, siehe auch: Ebd., 16. Ebd., 13. Ebd., 21f.

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durchgeführt und an drei aufeinanderfolgenden Abenden wurden feierliche ArndtVorträge in der Aula der Universität gehalten. Dass zur gleichen Zeit ein Weltkrieg tobte und die Wehrmacht im selben Jahr in der Schlacht von Stalingrad eine vernichtende Niederlage erlitten hatte, machte sich durchaus bemerkbar. 39 So musste ein geplanter vierter Vortrag über Arndts Kampf für das deutsche Bauerntum entfallen, weil der Referent zwischenzeitlich einberufen worden war; Paul Hermann Ruth galt wenige Zeit später als verschollen und der sich ebenfalls mit einem Festvortrag an der Arndt-Woche beteiligende Direktor des Nordischen Instituts Leopold Magon war als Veteran des Ersten Weltkrieges zum Zeitpunkt der Drucklegung der Vorträge erneut einberufen worden. 40 Im Vorwort des Bandes verweist der Vor- und Frühgeschichtler Carl Engel in seiner Eigenschaft als Rektor der Universität Greifswald auf die Namenssuche zehn Jahre zuvor. Man habe 1933 festgestellt, dass der Name Universität Greifswald doch ein wenig zu bescheiden sei und nicht lange suchen müssen, bis man mit Ernst Moritz Arndt einen geeigneten Namenspatron gefunden habe. Arndt sei nicht nur seiner pommerschen Heimat stets eng verbunden gewesen, sondern müsse zugleich als „einer der bedeutendsten Repräsentanten deutschen Geistes und des Kampfes um deutsche Größe und deutsche Volkwerdung“ gelten. Eine gewisse Dankbarkeit meint man gegenüber der Universität Bonn herauszuhören, die den Greifswaldern den Namen nicht streitig gemacht habe. Engel hebt zudem die Bedeutung der Herausgabe von Arndts Schriften hervor. Dieses Unternehmen werde „auf den besonderen Wunsch der führenden Stellen trotz des totalen Krieges weitergefördert.“ Allein dies spreche für „die Bedeutung, die dem Gedankengut E. M. Arndts für unsere Zeit zuerkannt wird.“ Unmissverständlich plädiert Engel in seiner pathetischen Schlusspassage dafür, Arndt zu aktualisieren: „Wenn wir uns den ernsten Mann in dem langen, hochgeschlossenen Biedermeierrock vorstellen -, so mag er auf den ersten Blick ein wenig antiquiert, ein wenig als patriotischer Biedermann erscheinen. Wenn wir uns dann aber seine Ideen, seine Werke vergegenwärtigen, dann erkennen wir bald, daß er unserer Zeit fast näher steht als der seinen; daß viele seiner

39 Aufschlussreich hierfür ist etwa das Tagebuch Carl Engels, in dem nicht nur die Ereignisse der Arndtwoche protokolliert werden, sondern wenig später, am 1. August 1943, auch auf die „katastrophale Lage, in der es reißend schnell mit uns zu Ende zu gehen scheint“ eingegangen wird. Weiter heißt es: „Ich bin hell wach, schlafe kaum, bin auf alles gefaßt und handle doch nach dem alten militärischen Grundsatz: weitermachen! Es wird nur darauf ankommen, die Stunde nicht zu verpassen. Der Revolver liegt geladen, und die letzte Kugel ist für mich.“ Günter Mangelsdorf (Hg.), Zwischen Greifswald und Riga. Auszüge aus den Tagebüchern des Greifswalder Rektors und Professors der Ur- und Frühgeschichte, Dr. Carl Engel, Vom 1. November 1938 bis 26. Juli 1945, Stuttgart 2007, S. 219f. Auch für diesen Hinweis danke ich Karl-Heinz Spieß. 40 Siehe hierzu das Nachwort in: o. Hg., Ernst Moritz Arndt. Ursprung, Wesen, Wirkung. Drei Vorträge an den Arndttagen der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald vom 19.–24. Juli 1943, Greifswald 1944, 71. Vgl. zu Magon auch den Beitrag von Jens Olesen in diesem Band. Den dritten Vortrag über Arndt und Pommern, den ich hier nicht behandele, steuerte der Heimathistoriker Erich Gülzow bei. Es handelt sich hierbei um eine deskriptiv gehaltene Darstellung von Arndts Jugendjahren.

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Niels Hegewisch prophetischen Gedanken und Forderungen erst in unserer Zeit voll verstanden und in die Tat umgesetzt worden sind, oder doch allmählich der Verwirklichung entgegengeführt werden.“

Arndt, so ließe sich Engels Argument zuspitzen, kann man gerade nicht aus seiner Zeit heraus verstehen, weil er seiner Zeit voraus gewesen war. Das Vorwort, das zugleich die Ansprache zur Eröffnung der Arndttage war, schließt mit der Versicherung „im Namen aller Kameraden (...): die Ernst-Moritz-Arndt-Universität sieht es als ihre vornehmste Pflicht an, das geistige Erbe des ‚ewigen Deutschen’ nicht nur zu verwalten, sondern auch in die lebendige Wirklichkeit umzusetzen.“ 41

Den ersten Vortrag der Arndttage hielt Ruth. Er ging hierbei – noch einmal – auf Arndt und die deutsche Volkwerdung ein. Da Ruth meistenteils in dieselbe Kerbe wie vor ihm Petersen schlug, werde ich mich auf die Hervorhebung einzelner erwähnenswerter Aspekte beschränken. Dies betrifft zunächst den historischen Kontext, in den Ruth Arndt einbettet. Die Zeit um 1800 markiere das „Kerngeschehen unseres völkischen Schicksals.“ 42 Nach Ruth hat sich um die Jahrhundertwende „die politische Erweckung des deutschen Volkes“ zugetragen und zwar unter maßgeblicher Beteiligung Arndts als „Erwecker und Träger der völkischen Deutschen Bewegung.“ 43 Seit dieser Zeit hätten sich der deutsche Mensch, der deutsche Staat und das deutsche Volk in Abgrenzung zur „westlichen Auflösungsbewegung“ mit ihrer „bindungslose[n] Freiheit des Einzelmenschen, der Materialisierung aller Lebenswerte und der Mechanisierung aller Lebensgesetze“ entwickelt. 44 Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass ebendiese Zeit – wenngleich unter anderen Vorzeichen – nur wenige Jahre später auch den Arndt-Rezipienten in der DDR als Zeitenwende gelten wird. Im Ganzen gesehen bedient sich Ruth in seinem Beitrag dreier ArndtNarrative: (1) Arndt wird als Freund des ‚einfachen Volkes’ präsentiert, denn er habe sich für „die Erhaltung und die politisch-soziale Befreiung des Bauernstandes in seiner Heimat“ eingesetzt. Hierfür gebühre ihm Anerkennung, auch wenn er letztlich gescheitert sei. 45 Die nationalsozialistische Bauernpolitik habe schließlich mit dem Reichserbhofgesetz vollenden können, was Arndt zwar vorhergesehen habe, dessen Umsetzung ihm jedoch versagt geblieben sei. 46 Und auch hier sei bereits auf spätere Kontinuitäten verwiesen. Denn Arndts agrarpolitische Visionen zu verwirklichen, nahm zwanzig Jahre später auch die DDR für sich in Anspruch – dann freilich durch die Kollektivierung der Landwirtschaft. Die gleiche Kontinuität lässt sich auch für die Erweckung des politischen Selbstbewusstseins

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Für den ganzen Absatz: Carl Engel, Vorwort, in: ebd., 3f. Paul Hermann Ruth, Arndt und die deutsche Volkwerdung, in: ebd., 6. Ebd. Ebd., 7. Ebd., 14. Ebd., 24 f. Ganz ähnlich lautet der Befund für die Rezeption der Bauernkriege im Nationalsozialismus und der DDR. Siehe hierzu: Müller, Diktatur, 1.

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des ‚einfachen Volks’ beobachten, die nationalsozialistische wie DDRRezipienten Arndt gleichermaßen zugutehielten. 47 (2) Von großer Bedeutung ist bei Ruth naturgemäß das Narrativ von Arndt als Kämpfer für die nationale Einheit. Sein Beitrag zum Prozess der ‚Volkwerdung’ der Deutschen habe darin bestanden, der schon bestehenden Dynamik durch die Propagierung von Tracht, Gruß, Feier und Ertüchtigung einen dauerhaften Rahmen zu geben. 48 Trotz einiger „altfränkisch anmutender Züge“ hätten diese „ersten Ansätze deutscher Volkstumsarbeit“ vieles von dem vorweggenommen, was erst in letzter Zeit zur vollen Blüte gelangt sei. Arndt wird von Ruth als Vordenker einer zeitgenössischen völkischen Politik präsentiert, die aus der industriellen Massengesellschaft einen „lebendigen Volkskörper“ gemacht habe. 49 Folgerichtig lobt Ruth Arndt für dessen Propagierung der Reinheit von Blut und Sprache – auch wenn er hier noch nicht zu voller Klarheit vorgedrungen sei. Dass es Ruth darum geht, Arndt für die eigene Zeit zu verstehen und ideologisch zu instrumentalisieren, wird besonders deutlich, wenn er Arndt für dessen Warnung vor „massenhafte[r] jüdische[r] Einwanderung aus dem Osten“ lobt. Arndt habe die „zunehmende jüdische Zersetzungstätigkeit in Deutschland“ klar gesehen. 50 (3) Eine krude Reverenz erweist Ruth darüber hinaus dem Narrativ von Arndt als Vorbild, indem er dessen prophetisches „Ahnungsvermögen“ preist. Wenn jemand, wie Arndt, in der Lage gewesen sei, sein Todesjahr korrekt vorauszusagen 51, dann könne man getrost auch dessen weiteren Prophezeiungen folgen, die im Falle Arndts etwa die Vision eines Germaniens betrafen, das von Don und Dnjepr bis zur Nordsee reicht. 52 Über einen ähnlich starken Aktualitätsbezug, wenngleich mit einem anderen Fokus, verfügt auch der Beitrag von Leopold Magon. „Arndttage“, so eröffnet Magon seinen Vortrag, bedürften „im Kriege keiner besonderen Rechtfertigung.“ Arndt habe die „Wehrhaftmachung jedes freien deutschen Mannes“ 53 gelehrt und erkannt, dass der Soldat ein „politische[r] Mann“ 54 sein müsse. Das Narrativ von Arndt als Kämpfer für die deutsche Einheit wird in Magons Beitrag als ein militanter Freiheitskampf der Deutschen gegen die französischen Besatzer unter Anleitung Arndts als „Wegbereiter deutscher Wehrerziehung“ reproduziert. 55 Besondere Beachtung schenkt Magon Arndts Katechismus für den teutschen Kriegsund Wehrmann von 1813. In dieser Schrift zeige Arndt, dass auch einfache Soldaten über die politischen Motive eines Feldzuges im Bilde sein müssten. Im Fall des gegenwärtigen Feldzugs sei dies nichts weniger als „die Wahrung und Vertei47 48 49 50 51 52 53

Für erstere siehe: Ruth, Arndt, 22. Ebd., 23. Ebd., 24. Ebd., 29f. Für diese spannende Behauptung liefert Ruth leider keinen Beleg. Ebd., 30. Leopold Magon, Ernst Moritz Arndt als Wegbereiter deutscher Wehrerziehung, in: o. Hg., Ernst Moritz Arndt, 34. 54 Ebd., 41. 55 Ebd., 46.

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digung (...) [der] edlen deutschen Art.“ 56 Arndts Kriegspropaganda aus der Zeit der antinapoleonischen Kriege motiviere, so Magon, die deutschen Soldaten auch heute noch, denn diese seien gleich ihren Vorfahren „zum neuen Freiheitskriege angetreten“, um das Arndtsche Vermächtnis der deutschen ‚Volkwerdung’ zu verteidigen. 57 Wer Soldaten politisch indoktriniert, so die Essenz von Magons Aufsatz, der achtet Arndts Vermächtnis. Im Original klingt das wie folgt: „[W]as in diesem Kriege an Aufklärung und politischer Ausrichtung der Soldaten geleistet wird, geht bewußt oder unbewußt, über ein Jahrhundert hinweg auf das Vorbild Arndts zurück.“ 58

Sein Lob Arndts als Wehrerzieher verbindet Magon mit einer Warnung. Was passiere, wenn man sich vom Vorbild Arndt abwende, das zeige der Erste Weltkrieg. Dieser sei allein deshalb verloren worden, weil man sich während der Demagogenverfolgung zur „Ausmerzung“ von Arndts wehrkraftfördernder Agitation habe hinreißen lassen. Es handele sich bei der politischen Verfolgung Arndts um einen „der verhängnisvollsten Rückschläge in der Geschichte des 19. Jahrhunderts.“ In dem persönlichen Schicksal eines politischen Publizisten der Vormärzzeit erkennt Magon demnach allen Ernstes eine direkte Ursache für den militärischen Zusammenbruch des deutschen Kaiserreichs im Jahr 1918. Seine Kausalkette lautet: Das Verstummen Arndts habe zu einer „Zersplitterung und Verpöbelung im Volke“ geführt, die schließlich jene „Brüchigkeit des Volksgefüges“ gezeitigt habe, der das deutsche Heer im Ersten Weltkrieg zum Opfer gefallen sei. Eine bemerkenswerte Modifikation der Dolchstoßlegende. 59 Die hier skizzierte Greifswalder Arndt-Rezeption aus der Zeit des Nationalsozialismus lässt sich in wenigen Worten zusammenfassen: Arndt ist ein Vorbild, weil er sich leidenschaftlich bis hin zur Militanz für die nationale Einigung einsetzte und diese nicht bloß politisch, sondern auch völkisch verstand. Das Interesse Greifswalder Arndt-Rezipienten gründete auf der kaum verhüllten Absicht, Arndt als Prophet, Vordenker oder Motivator des nationalsozialistischen Deutschland nutzbar zu machen. Ein erkenntnisleitendes Interesse an Arndt in seiner Zeit und ein Verständnis Arndts aus seiner Zeit vermag man nicht zu erkennen. 5. Greifswalder Arndt-Rezeption 1956–1985 Selbst die oben geschilderte wehrkraftfördernde Arndt-Rezeption konnte die deutsche Niederlage im Zweiten Weltkrieg nicht abwenden. In der unmittelbaren Nachkriegszeit trat die von Garbe beobachtete „Karenzphase“ der ArndtRezeption in ganz Deutschland ein. Auf den ersten Blick erscheint dies insbesondere für die sowjetische Besatzungszone bzw. die DDR plausibel, wo man sich scharf vom Nationalsozialismus abzugrenzen suchte. Man möchte meinen, dass 56 57 58 59

Ebd., 44f. Ebd., 32. Ebd., 46. Für den Absatz: Ebd., 42.

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Arndt über alle Maßen kontaminiert war und zwangsläufig in Vergessenheit geraten musste. Dem war mitnichten so. Stattdessen reüssierten nach Ablauf der Karenzphase die meisten der überkommenen Narrative in veränderter Gestalt. 60 So wurden in der frühen DDR mit den Bildern von Arndt als Kämpfer für die nationale Einheit und als Freund des einfachen Volkes die gleichen Facetten Arndts wie zur Zeit des Nationalsozialismus in den Vordergrund gerückt. Die ArndtRezeption blieb somit über einen radikalen Systemumbruch hinweg weitgehend stabil. Kurzum: Es war nicht das Arndt-Bild, das Veränderungen unterworfen war, sondern es wurde lediglich dessen politisch-ideologischer Rahmen den gewandelten Bedürfnissen angepasst. Die Grundlage hierfür wurde durch die geschichtspolitische Vorgabe einer Hinwendung der DDR-Geschichtswissenschaft zu den nationalsozialistisch unbelasteten und im Sinne des historischen Materialismus ‚fortschrittlichen’ Aspekten der deutschen Geschichte gelegt. 61 Die Stoßrichtung der sogenannten ‚ErbeRezeption’ erläuterte 1981 unter Bezugnahme auf Arndt der damalige Rektor der Universität Greifswald auf einem Symposium anlässlich des 525jährigen Bestehens der Universität: „Die Beschäftigung mit dem Erbe dient nicht in erster Linie der ‚Andacht’ oder der musealen Bewahrung des Überlieferten (...). Wir sind (...) nicht einfach Gralshüter des Erbes, brauchen es nicht als ästhetische Dekoration, als bloß abstraktes Bildungsgut oder gar der Gegenwart abgeneigte Zuflucht. Wir erschließen es zum Nutzen und zur Bereicherung unseres heutigen Daseins. Uns erscheint das historisch-kulturelle Erbe als ein ‚Arsenal’ oder Reservoir, dessen wir bedürfen und das wir nutzen. (...) [D]er aktuelle Bezug, der Aspekt des Gegenwärtigen, bildet den entscheidenden Ausgangspunkt seiner kritischen Aneignung und Verarbeitung.“ 62

Zum Zeitpunkt dieser Äußerungen konnte man bereits auf eine umfangreiche Rezeption Arndts durch die DDR-Geschichtswissenschaft zurückblicken. In Greifswald setzte die (Wieder-)Entdeckung Arndts als fortschrittliche Tradition mit dem 500. Jubiläum der Universität ein. 63 In der zu diesem Anlass im Jahr 1956 erschienenen Festschrift steuerte Manfred Reißland, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Historischen Institut, einen Beitrag über Ernst Moritz Arndts Tätigkeit an der Universität Greifswald bei. Hierin betreibt Reißland eine ausführliche Exegese derjenigen Werke, die Arndt in Greifswald verfasste. An dieser Stelle sollen nur wertende und bilanzierende Aussagen Reißlands über Arndt interessieren. Lenkt man den Blick auf diese, so fällt die Verknüpfung der beiden Narrative von Arndt als Kämpfer für die nationale Einheit und Arndt als Freund des einfachen Volkes bei gleichzeitiger Einbettung in die materialistische Geschichtsauffassung ins Auge. Das zentrale Argument lautet: Arndts Nationalismus war eine Folge seiner sozialen Zielsetzung. Man müsse Arndts nationalistische Äußerungen folglich als 60 Die naheliegende Ausnahme bildete das Narrativ von Arndt als Protorassisten. 61 Müller, Diktatur, 182–185. 62 Dieter Birnbaum, Erbe und Verpflichtung, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Ernst-MoritzArndt-Universität Greifswald, Gesellschafts- und sprachwissenschaftliche Reihe 31/1982, 3. 63 Zur spezifischen Situation der Greifswalder Geschichtswissenschaft in der DDR siehe auch den Beitrag von Tomasz Ślepowroński in diesem Band.

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Beitrag zu seiner übergeordneten Zielsetzung der Befreiung und politischen Ertüchtigung der Bauernschaft sehen. Arndt habe die Befreiung von der französischen Vorherrschaft und die Einheit Deutschlands nur deshalb angestrebt, weil es sich hierbei um eine Voraussetzung handelte, die Lage der Volksmassen zu verbessern. Reißland versteigt sich sogar dazu, in Arndt einen materialistischen Soziologen und sozialistischen Historiker neuen Typs zu sehen. Wie die sozialistische Geschichtswissenschaft sei Arndt auf der Suche nach den ewigen Gesetzen der Geschichte gewesen. Dabei habe er schnell erkannt, dass hierzu der ständige Kampf der Menschen um Besitz zähle, und daher das bürgerliche Eigentumskonzept infrage gestellt. Und schließlich habe Arndt sich nicht auf eine Existenz als Stubengelehrter beschränkt, sondern habe sich zum politischen Aktivisten aufgeschwungen. Diese Einheit von Wissenschaft und Politik preist Reißland als vorbildlich. 64 Um diesen neuen Blick auf Arndt zu untermauern, bemüht Reißland das Narrativ des unverstandenen und missbrauchten Arndts, denn bürgerliche Historiker hätten die „sozialen Gedanken“ Arndts zugunsten seiner nationalistischen Äußerungen systematisch vernachlässigt, weshalb der soziale Arndt „weite[n] Kreise[n] unseres Volkes“ unbekannt sei. 65 Aus dem ideologischen Gegenwartsbezug einer solchen Arndt-Rezeption macht Reißland keinen Hehl. Die Arndt-Rezeption wird ausdrücklich mit der Ansicht verknüpft, dass in der eigenen Gegenwart die von Arndt vorgelebte Verbindung von nationalem und sozialem Gedanken nur in der DDR als dem wahren deutschen Nationalstaat der Nachkriegszeit zu erreichen sei. 66 Und auch Arndt habe bereits klar erkannt, dass das Volk hierbei geführt werden müsse. Gesetze müssten, so stimmt Reißland Arndt zu, von denjenigen gegeben werden, die „in der Lage sind, die wahren Volksbelange zu erkennen.“67 Durch dieses Manöver werden gemäß den geschichtspolitischen Vorgaben der Zentrale durch einen Historiker an der Peripherie zwei durch die nationalsozialistische Propaganda eigentlich hoffnungslos verunreinigte Arndt-Narrative gleichsam dekontaminiert, indem man Arndt nicht nur zu einem Vordenker der materialistischen Geschichtsauffassung, sondern auch des SED-Staates stilisiert. Diese Position baute Reißland drei Jahre später in der Wissenschaftlichen Zeitschrift der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald aus. Mit Schwerpunkt auf Arndts Schicksal während der Demagogenverfolgung wird Arndt erneut als Versöhner von nationaler Einigung und sozialer Umwälzung dargestellt sowie auf seine Vorbildfunktion für die eigene Gegenwart verwiesen. Es sei die besondere Aufgabe der Werktätigen in der DDR, „im Kampf um den einheitlichen, demo-

64 Für den Absatz: Manfred Reißland, Arndts Tätigkeit an der Universität Greifswald, in: ErnstMoritz-Arndt-Universität Greifswald (Hg.), Festschrift zur 500-Jahrfeier der Universität Greifswald, Bd. 1, Greifswald 1956, 206–209. 65 Ebd., 203. 66 Vgl. Müller, Diktatur, 185. 67 Reißland, Tätigkeit, 214.

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kratischen und friedliebenden Nationalstaat“ 68 an das Erbe Arndts anzuknüpfen. Den Historikern obliege es, den Werktätigen das hierzu erforderliche Wissen über Arndt bereitzustellen und das Arndt-Bild von den böswilligen Fehlinterpretationen imperialistischer Ideologen aus der Zeit des Nationalsozialismus zu bereinigen. 69 Dazu gehöre auch die Feststellung, dass Arndt mit seinem Ansinnen nicht zuletzt wegen seiner politischen Verfolgung im Vormärz gescheitert sei, worin Reißland „die historische Schuld des deutschen Bürgertums“ 70 erkennt. Doch Arndts Kampf sei nicht umsonst gewesen. „Die Arbeiterklasse, die im Osten Deutschlands die Macht erobert und die Ausbeutung und Unterdrückung beseitigt hat, bewahrt sein Vermächtnis, indem sie seinen Patriotismus auf höherer Stufe verkörpert.“ 71

Der „proletarische Patriotismus und Internationalismus“, wie ihn Arndt erträumte, werde in der DDR verwirklicht und „zu einer friedlichen und glücklichen Zukunft des Volkes führen.“ 72 Diese Umdeutung, Wiederentdeckung oder Freilegung des ‚wahren’ Arndts durch die DDR-Geschichtswissenschaft führte in Greifswald im Jahr 1969 – Arndts 200. Geburtstag – zum bis heute unübertroffenen Höhepunkt Greifswalder Arndt-Rezeption. Die Feierlichkeiten zu Arndts 100. Todestag im Januar 1960 standen hinter dem nun betriebenen Aufwand weit zurück. Begnügte man sich 1960 noch mit einem Festvortrag, musikalischer Einrahmung und ArndtRezitation – immerhin entfielen für die Dauer des Festaktes auf Anweisung des Rektors sämtliche Lehrveranstaltungen –, wurde der Universität neun Jahre später vom Präsidenten des Nationalkomitees der Nationalen Front im Rahmen zwei Tage währender Feierlichkeiten die Arndt-Medaille verliehen. 73 Zu diesem Anlass wurde eine Arndt-Ausstellung organisiert, eine vollständige Ausgabe der Wissenschaftlichen Zeitschrift der Universität widmete sich Arndt und eine ArndtBibliographie wurde vorgelegt. 74 Bei der Planung des Festaktes wurde auf dessen „internationale[s] Gewicht“ Wert gelegt, indem man ausländische Gäste einlud

68 Ders., Ernst Moritz Arndt und die Demagogenverfolgung, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald, Gesellschafts- und sprachwissenschaftliche Reihe 9/1959–1960, 195. 69 Ebd., 207f. 70 Ebd., 195. 71 Ebd. 72 Ebd. 73 Einladung und Dienstanweisung anlässlich des Festaktes zum 100. Todestag Ernst Moritz Arndts am 21.1.1960, in: Universitätsarchiv Greifswald (im Folgenden: UAG), Mathematisch-naturwissenschaftliche Fakultät, Nr. 102. Der Festvortrag wurde später in der Reihe Greifswalder Universitätsreden gedruckt: Harald Raab, Ernst Moritz Arndt und die russische Befreiungsbewegung 1812. Festvortrag anlässlich des 100. Todestages von Ernst Moritz Arndt am 19. Januar 1960, Greifswald 1960. 74 Gerhard Loh, Arndt-Bibliographie. Verzeichnis der Schriften von und über Ernst Moritz Arndt, Berlin u. a. 1969.

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und versuchte, ein bekanntes Orchester wie die Schweriner Staatskapelle oder das Berliner Sinfonie-Orchester für das Rahmenprogramm zu gewinnen. 75 Die Ostsee-Zeitung betitelte ihre Berichte über die Verleihung der ArndtMedaille an die Universität gravitätisch mit „Arndts Vermächtnis in der DDR erfüllt“ und „Das Erbe Arndts ist hier und heute in guten Händen.“ 76 Ergänzt wurde die Berichterstattung durch einen Beitrag des Greifswalder Historikers Walter Stark 77, der Arndt als Rufer und Kämpfer für Deutschlands Freiheit einführte. Unumwunden geht Stark von der Frage aus, was Arndt „den Bürgern eines sozialistischen deutschen Staates heute noch zu sagen“ habe, und beantwortet sie wie Reißland damit, dass Arndt auf die Kombination von nationaler Einheit und sozialer Umwälzung hingearbeitet habe, hierdurch den Übergang von der Feudalgesellschaft zur Moderne beschleunigt und damit Hand an jenes Rad der Geschichte gelegt habe, dessen Triebkräfte – ganz im Sinne des historischen Materialismus – schlussendlich die DDR hervorgebracht hätten. 78 Neue Töne schlug Stark an, wenn er sich, wie 1943 bereits Magon, auf Arndts Katechismus für den deutschen Soldaten berief, der sich als wirkungsvolles Propagandainstrument des Nationalkomitees Freies Deutschland gegen den „elenden Kadavergehorsam“ deutscher Soldaten im Zweiten Weltkrieg erwiesen habe. Stark schreibt damit – ohne hierauf einzugehen – demselben Werk Arndts die diametral entgegensetzte Wirkung im Zweiten Weltkrieg zu wie Magon ein Vierteljahrhundert zuvor am selben Ort. Einig sind sich die beiden freilich darin, dass das Arndtsche Werk eine große Rolle bei der Wehrerziehung spielen solle, dass Arndt mithin zum Vorbild für Soldaten tauge. Arndts Katechismus, so Stark, habe durch seine „fortschrittlichen Gedanken über die Pflichten des Soldaten“ den Weg für eine Nationale Volksarmee gewiesen, die sich als wahre Armee des Volkes nicht zu Angriffs75 Zur Not könne man sich jedoch auch mit „Greifswalder Künstlern“ begnügen. So das Ergebnis der „Rücksprache mit Gen. Bürger, Nationalrat, und Ing. Witte sowie Kolln. Hermann, Verlag der Wissenschaften (VEB), bezüglich der Arndt-Bibliographie und der Festveranstaltung Ende 1969 zum 200. Geburtstag Ernst-Moritz [sic] Arndts“ in: UAG, UPL, Nr. 49, Blätter 209–210. 76 Ostsee-Zeitung vom 5. sowie 6./7. Dezember 1969. Neben einer biographischen Skizze Arndts befassten sich weitere Artikel u. a. mit Arndt-Gedenkstätten, Kollektiven mit Arndtschem Namenspatronat und geschichtsdidaktischen Projekten Greifswalder Studenten zum Thema Arndt. 77 Der 2009 verstorbene Stark war zum Ende seiner Karriere außerordentlicher Professor an der Sektion Geschichtswissenschaft. 78 Diese Metapher stammt freilich nicht von Stark, sondern von Heinz Teske, einem DiplomPhilosophen bei der SED-Bezirksleitung Rostock: „Als politischer Professor und politischer Schriftsteller, als Propagandist und Prophet für eine freie, sozial gerechte, wehrhafte, glückliche, in friedlicher Arbeit mit den Nachbarvölkern verbundene Volksgemeinschaft [sic], für eine sich ihrer menschlichen Würde bewußten Persönlichkeit greift Arndt in das Rad der Geschichte, dessen Lauf beschleunigend.“ Der Beitrag Teskes zur Arndt-Festschrift von 1969 ist ein eindrucksvolles Beispiel für die in dieser Phase der Arndt-Rezeption in der DDR typische, wenngleich krude Mischung aus Arndt-Hagiographie und politischer Propaganda. Heinz Teske, Ernst Moritz Arndts Stellung zu einigen weltanschaulichen und politischen Fragen während der Zeit von 1802–1808, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Ernst-Moritz-ArndtUniversität Greifswald, Gesellschafts- und sprachwissenschaftliche Reihe 18/1969, 73.

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kriegen missbrauchen ließe. Zurecht werde Arndts Vermächtnis von der NVA gepflegt. 79 Dies war nicht das erste Mal, dass sich Stark zu Arndt äußerte. Zum vier Jahre zuvor begangenen 100jährigen Jubiläum des Historischen Instituts steuerte er in der Wissenschaftlichen Zeitschrift der Ernst-Moritz-Arndt-Universität einen Beitrag zu Ernst Moritz Arndt im Jahre 1813 bei. Stark bedient sich hier des Narrativs vom vorbildlichen Arndt. Die Verwaltung von Arndts „verpflichtendem Erbe“ 80 sei eine wichtige Aufgabe der Universität Greifswald. Arndt habe der eigenen Zeit und insbesondere der „sozialistischen Nation“, so Stark, „vieles zu sagen.“ 81 Die Doppelzüngigkeit, mit der Stark einerseits davor warnt, an Arndt „unbillige – d. h. unhistorische – Forderungen“ 82 zu stellen, um im selben Atemzug die Freilegung des hinter bürgerlichen „Geschichtslüge[n]“ 83 verborgenen ‚wahren’ Arndt durch die DDR-Geschichtswissenschaft im Auftrag und unter Anleitung von Partei und Arbeiterschaft zu preisen, ist exemplarisch für den Umgang (nicht nur) Greifswalder Historiker mit der Zeit der antinapoleonischen Kriege insgesamt. Wenn man sich also, wie in den diversen Greifswalder Arndt-Debatten seit 1990 immer wieder vorgekommen, zustimmend auf die Forderung von DDRHistorikern beruft, Arndt aus seiner Zeit heraus zu verstehen, dann darf man dabei nicht übersehen, dass es sich hierbei um eine zutiefst politische Forderung handelte, die man ihrerseits wieder aus ihrer Zeit heraus verstehen muss. 84 Denn die Forderung nach einer scheinbaren Historisierung Arndts erfüllt nicht nur bei Stark die Funktion einer Legitimierung der herrschenden Verhältnisse. „Damals wie heute haben reaktionäre Kräfte die Einheit der Nation ihren Klasseninteressen geopfert, damals wie heute versuchen historisch überfällig gewordene Klassen durch ein Bündnis mit ausländischen Mächten ihre Herrschaft aufrechtzuerhalten.“ 85

79 Walter Stark, Rufer und Kämpfer für Deutschlands Freiheit, in: Ostsee-Zeitung vom 5. Dezember 1969. 80 Ders., Ernst Moritz Arndt im Jahre 1813, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Ernst-MoritzArndt-Universität Greifswald, Gesellschafts- und sprachwissenschaftliche Reihe 14/1965, 265. 81 Ebd., 273. 82 Ebd. 83 Ebd., 270. 84 Dies ließe sich der ‚Entlastung’ Arndts durch den unten zitierten Schildhauer-Beitrag entgegnen, der auch Michael North in seinem Beitrag zur Ringvorlesung anlässlich des 150jährigen Bestehens des Historischen Instituts (s. dessen Beitrag in diesem Band) folgte, woraus wiederum die Ostsee-Zeitung am 22. November 2013 die Überschrift „Greifswalder Historiker sagt: Arndt steht für solide Wissenschaft“ machte. Repräsentativ für die vielen lokalen „Arndtianer“, die dieses Argument immer wieder vorbringen: Wolfgang Urban, Ernst Moritz Arndt und der Umgang mit seinem Erbe, in: Hefte der Ernst-Moritz-Arndt-Gesellschaft 4/1995, 18, 21. 85 Stark, Ernst Moritz Arndt, 270. Vgl. auch hier die Parallelen zur Rezeption des Bauernkrieges durch die Brille der Formationstheorie des Historischen Materialismus in der DDRGeschichtswissenschaft. Müller, Diktatur, 5.

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Die DDR steht demnach denselben Herausforderungen wie seinerzeit Arndt gegenüber und sollte daher auf dessen Erfahrungen zurückgreifen. Arndt wird hier nicht historisiert, sondern politisiert. Eine konsequente Historisierung erfolgt nur dann, wenn für die eigene Gegenwart problematische Aspekte des Arndtschen Werks heruntergespielt werden. Dies gilt insbesondere für Arndts „Hurrapatriotismus“, seinen „Chauvinismus“ und dessen „Überspitzungen“ bei seinem „ungerechte[m] Urteil über das französische Volk.“ Dies alles sei harmlos und stehe einer Aktualisierung Arndts zur Legitimation der DDR nicht im Weg, denn schon Engels habe erkannt, dass „Deutschtümelei“ eine notwendige Entwicklungsphase auf dem Weg zum Sozialismus gewesen sei. 86 Worauf eine solche ArndtRezeption hinausläuft, ist keine systematische Auseinandersetzung mit einem vielschichtigen Werk, sondern eine Art Rosinenpickerei zur Befriedigung der politisch-ideologischen Motive des Tages. Auf dieser Linie bewegte sich auch Johannes Schildhauer, der Direktor der Greifswalder Sektion für Geschichtswissenschaft, in seiner Festrede anlässlich der Verleihung der Arndt-Medaille, die am darauffolgenden Tag in der OstseeZeitung abgedruckt wurde. 87 Schildhauer weist wie Reißland und Stark vor ihm darauf hin, dass die Befreiung der Massen und das Glück der Nation für Arndt untrennbar verbunden gewesen seien. Er richtet den Blick freilich nicht lange in die Vergangenheit. Zum einen könne die DDR für sich beanspruchen, zu vollenden, „[w]as Ernst Moritz Arndt vor mehr als 150 Jahren vorgeahnt hatte.“ Zum anderen parallelisiert Schildhauer die auf Seiten Napoleons kämpfenden deutschen Fürsten aus den Befreiungskriegen mit den westdeutschen Politikern, die sich im Bündnis mit den USA befänden. „Arndts anklagende Worte gegen die Kräfte der Reaktion seinerzeit“ träfen heutzutage „in gleicher Weise die imperialistischen und militaristischen Kreise und ihre Helfershelfer in Westdeutschland.“ Ferner führt Schildhauer eine neue Facette in die Greifswalder Arndt-Rezeption ein, indem er Arndts Aufenthalt in St. Petersburg 1812 sowie die dort verfasste Kriegspropaganda als Ausweis deutsch-russischer Freundschaft heranzieht und auch hierin Parallelen zur Gegenwart sieht. Arndt habe die Deutschen gelehrt,

86 Stark, Ernst Moritz Arndt, 272f. Eine andere Variante der Entlastung Arndts vom Vorwurf des Rassismus etc. bestand in der „Aufzählung von Namen jener Männer, die von ihm als wertvolle Persönlichkeiten angesehen und verehrt wurden“ und die nicht-deutscher Herkunft waren, wie etwa Sokrates, Platon, Gustav Adolf, Kutusow und weitere. Teske, Stellung, 71. 87 Die bei der Diskussion meines Vortrags angeführte These, dass man Schildhauer zur Beteiligung an den Arndt-Feierlichkeiten „verdonnert“ hätte, ließ sich durch eine Recherche im Universitätsarchiv Greifswald nicht belegen. Die Überlieferung zu den Feierlichkeiten von 1969 ist freilich dünn und auf unterschiedliche Akten verteilt. Sie belegt lediglich, dass Schildhauer als Vorsitzender eine interdisziplinäre Kommission zur Vorbereitung der Feierlichkeiten leitete, zu der auch Walter Stark gehörte. Für die weiteren Mitglieder siehe: Beschlußprotokoll der Sitzung der Universitätskommission zur Vorbereitung der Arndt-Ehrung vom 10.11.1969, in: UAG, UPL, Nr. 85, Blätter 36–38. Vgl. Schreiben Schildhauers an die Mitglieder der „Arndt-Kommission“ vom 8. Januar 1969, in: UAG, Sektion Nordeuropawissenschaft, Nr. 95.

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„[w]er Deutschlands Freiheit erringen oder erhalten will, der darf nicht gegen das russische Volk kämpfen, sondern muß mit ihm freundschaftlich verbunden sein.“ 88

Dem hier skizzierten Grundriss folgten die Beiträge der eigens zum ArndtJubiläum erstellten Ausgabe der Wissenschaftlichen Zeitschrift. Den Auftakt machte wiederum Schildhauer, der auf die verwickelte Rezeptionsgeschichte Arndts hinweist und fordert, Arndt aus seiner Zeit heraus zu verstehen. Anschließend, und nicht nur in dieser Hinsicht gleicht der Beitrag Schildhauers demjenigen Starks, geschieht das exakte Gegenteil, indem Schildhauer Arndt als Vorbereiter des „Aufbauwerk[s]“ 89 der DDR preist. Und auch Schildhauer begegnet den für diese Deutung Arndts problematischen Aspekten seines Werkes mit dem Verweis auf Engels und einen überbordenden deutschen Nationalismus als notwendige Entwicklungsstufe auf dem Weg zum Sozialismus. Besonderen Wert legt Schildhauer auf das Vermächtnis, das Arndt der DDR hinterlassen habe. Dieses besteht für ihn aus drei Elementen: Erstens, Arndts Beschleunigung des notwendigen historischen Ablaufs, indem er durch seinen Beitrag zur Bauernbefreiung zum Übergang vom Feudalismus zur bürgerlichen Gesellschaft beitrug. 90 Insbesondere habe Arndt durch seine Agitation gegen die Leibeigenschaft und seine Kriegspropaganda das politische Bewusstsein der Volksmassen geweckt. In diesem Sinne sei Arndt ein Demokrat gewesen, freilich ohne zur Erkenntnis vorzudringen, „daß eine wirkliche Demokratie ökonomisch und politisch fest verankert sein muß und nicht vom guten Willen der Herrschenden abhängig gemacht werden kann.“ 91

Zweitens, Arndts bereits oben erwähnter Beitrag zur deutsch-russischen Freundschaft. 92 Drittens, das Vorleben der „Einheit von Politik und Wissenschaft.“ Arndt habe mit seiner Untersuchung der Leibeigenschaft in Pommern gezeigt, dass „die Geschichtswissenschaft (...) eine scharfe Waffe im Kampf für den Fortschritt“ sei. Er habe gegen „das Philistertum zahlreicher Wissenschaftler“ gekämpft, die sich mit „kleinbürgerlicher Gleichgültigkeit“ und „Untertanengeist“ in den „Elfenbeinturm“ zurückzogen, „als es für Deutschland zu handeln und zu kämpfen galt.“ Hierin sei Arndt als „deutsche[r] Patriot“ auch heute noch ein Vorbild insbesondere für die ihrer politischen Aufgabe bewusste DDR-Geschichtswissenschaft. 93

88 Für den ganzen Absatz: Johannes Schildhauer, Wissenschaft und Kunst führen wir zu hoher Blüte, in: Ostsee-Zeitung vom 6./7. Dezember 1969. Diese Argumentation findet sich bereits in Schildhauers Beitrag zum 100. Todestag Arndts: ders., Ernst Moritz Arndt und die Universität Greifswald, in: Ostsee-Zeitung vom 29.1.1960. 89 Ders., Arndts Weg, Ziel und Vermächtnis, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Ernst-MoritzArndt-Universität Greifswald, Gesellschafts- und sprachwissenschaftliche Reihe 18/1969, 7. Vgl. ebd., 19. 90 Ebd., 9, 13, 19. 91 Ebd., 14f. 92 Ebd., 13. 93 Ebd., 18f.

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Die weiteren Beiträge sind – in ermüdender Redundanz vorgetragene – Variationen dieses Themas durch Militärmediziner, Archivare, Pädagogen, Philologen, Slawisten, Marxisten-Leninisten, SED-Funktionäre und andere. Ausnahmslos wird am Ende eines jeden Beitrages gebetsmühlenartig vorgetragen, dass das Arndtsche Vermächtnis in der DDR aufgegangen sei. Erwähnenswert ist im Kontext der Arndt-Feierlichkeiten schließlich noch deren Würdigung durch den ehemaligen Greifswalder Historiker Johannes Paul im Vorwort zu einer 1971 erschienenen kleinen Biographie Arndts. Man meint einen gewissen Trotz bei seiner Feststellung zu vernehmen, dass Arndt „anläßlich seines 200. Geburtstags im Osten unseres Vaterlandes ziemlich lautstark als Wegbereiter, ja ‚Gallionsfigur’ eines deutschen Arbeiter- und Bauernstaates gefeiert worden ist“,

während ihm in der Bundesrepublik sein Platz unter den großen Deutschen streitig gemacht werde, nur „weil sein bisweilen wortreiches, vaterländisches Pathos uns heute nicht mehr recht liegt.“ 94 Ihren Scheitelpunkt hatte die Greifswalder Arndt-Rezeption mit den Feierlichkeiten des Jahres 1969 überschritten. 95 Die wenigen Beiträge zu Arndt bis zum Jahr 1989 nehmen sich eher pflichtschuldig aus. Hierbei dürfte auch eine Rolle gespielt haben, dass Arndt für die Geschichtspolitik der DDR insgesamt an Bedeutung verlor. Seine Rezeption regionalisierte sich, wie etwa die sparsame Bezugnahme auf Arndt im Rahmen einer 1985 anlässlich seines 125. Todestages durchgeführten Konferenz über Werk und Wirken Greifswalder Wissenschaftler zu Beginn der bürgerlichen Umwälzung deutlich macht. Zwar widmete man Arndt eine weitere Ausgabe der Wissenschaftlichen Zeitschrift, doch zeigt die Ansprache des Prorektors für Gesellschaftswissenschaften, Artur Bethke, ebenso wie die Einbindung der lokalen Gliederung des Heimatverbandes eine Tendenz zur Regionalisierung Greifswalder Arndt-Rezeption. Eher pflichtschuldig wird erwähnt, dass man sich auch „um das Erbe, ausgehend von einem klaren theoretischen Konzept und von gesicherten Positionen der marxistisch-leninistischen Geschichtsbetrachtung“ bemühen müsse, um „neue Erkenntnisse über Ernst Moritz Arndt und seine Zeit zu gewinnen und sie zum Nutzen und zur Bereicherung unseres heutigen Daseins, für die Auseinandersetzungen der Gegenwart zu erschließen.“ 96

Bemerkenswert ist, dass in dieser späten Phase Greifswalder Arndt-Rezeption in der DDR offensiver auf Rassismus, Judenfeindschaft, Franzosenhass und andere Problemzonen des Arndtschen Werkes hingewiesen wurde. So heißt es in dem 94 Johannes Paul, Ernst Moritz Arndt. „Das ganze Teutschland soll es sein!“, Göttingen u. a. 1971, 9. Zum Greifswalder Wirken Johannes Pauls siehe den Beitrag von Jens Olesen in diesem Band. 95 Hierbei dürfte die endgültige Zementierung der deutschen Zweistaatlichkeit eine Rolle gespielt haben, da Arndt als wirkungsvolles Instrument der Propagierung eines gesamtdeutschen Staates unter sozialistischen Vorzeichen an Bedeutung verlor. 96 Artur Bethke, Ansprache zur Konferenz „Werk und Wirken Greifswalder Wissenschaftler zu Beginn der bürgerlichen Umwälzung“, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Ernst-MoritzArndt-Universität Greifswald, Gesellschaftswissenschaftliche Reihe 34/1985, 3.

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Beitrag Werner Imigs, dem Leiter der Arbeitsgruppe Universitätsgeschichte und wie Schildhauer ein ehemaliges NSDAP-Mitglied 97, dass man Arndts „nationalistische Ausbrüche gegen den Aggressor Napoleon und die Franzosen (...) durchaus kritisch“ sehe. Man dürfe jedoch nicht ihrer „bewußt mißbräuchliche[n] Interpretation für reaktionäre Ziele“ auf den Leim gehen und sie für „Arndts politische und moralische Grundhaltung“ als charakteristisch erachten. 98 Es klingt das Narrativ des missverstandenen Arndts an, allerdings deutlich zurückhaltender als in früheren Zeiten. Hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang auch ein Beitrag von Elke Fischer aus der Sektion für Geschichtswissenschaft, die Arndts Rolle in der Revolution von 1848/49 untersucht und den späten Arndt nicht als Beschleuniger, sondern als Bremser des historischen Prozesses identifiziert.99 Es handelt sich hierbei um den einzigen, konsequent kritischen Beitrag in den hier untersuchten 54 Jahren Greifswalder Arndt-Rezeption zwischen 1931 und 1985. Auf Zustimmung dürfte ferner eine ebenfalls in diesem Zusammenhang geäußerte Forderung des Dozenten für Marxistisch-Leninistische Philosophie Reinhardt Pester gestoßen sein, die den Finger in die Wunde der Greifswalder ArndtRezeption legte: Man solle sich doch mit Arndt systematisch und nicht nur „an runden Geburts- und Todestagen“ 100 beschäftigen. Dazu sollte es in der DDR jedoch keine Gelegenheit mehr geben. 6. Ausblick Die Wende von 1989/90 markiert auch für die Greifswalder Arndt-Rezeption einen tiefen Einschnitt. Zum einen verlor Arndt auf der Ebene nationaler Erinnerungskultur und Geschichtspolitik im wiedervereinigten Deutschland weiter an Bedeutung, zum anderen vollzog sich bei der Beschäftigung mit Arndt in Greifswald ein fundamentaler Perspektivwechsel. Nach Jahrzehnten einer durchweg wohlwollenden Arndt-Rezeption verschafften sich nun kritische Stimmen mit Vehemenz Gehör. Seit den 1990er Jahren steht Arndt nicht nur wegen seines Werkes, sondern auch wegen seiner Instrumentalisierung im Nationalsozialismus und in der DDR insbesondere als Namenspatron der Universität in der Kritik. Diese Kritik wird bisweilen zugespitzt und polemisch geäußert, wenn etwa, wie im Jahr 2010 geschehen, kostümierte Anti-Arndt-Aktivisten auf inkriminierende Weise notorische Passagen aus Arndts Werk deklamierten und kühn eine direkte

97 Lothar Mertens, Priester der Klio oder Hofchronisten der Partei?, Kollektivbiographische Analysen zur DDR-Historikerschaft, Göttingen 2006, 16, 18. 98 Werner Imig, Ernst Moritz Arndts humanistisches Denken und Handeln, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald, Gesellschaftswissenschaftliche Reihe 34/1985, 11f. 99 Elke Fischer, Ernst Moritz Arndt im Spannungsfeld der deutschen Revolution 1848/49, in: ebd., 87–91. 100 Reinhardt Pester, Zum Verständnis des Epochenumbruchs als philosophie- und wissenschaftshistorischer Prozeß, in: ebd., 16.

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Linie von Arndt zu Hitler zogen. 101 Die Schärfe der Kritik lässt sich freilich mit dem gewiss nachholenden Charakter Greifswalder Arndt-Kritik erklären, denn immerhin rennen hiesige Arndt-Kritiker gegen mindestens ein halbes Jahrhundert beinahe widerspruchsloser Arndt-Verklärung an. Auch in der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Arndt nimmt in den gut 25 Jahren seit der Wiedervereinigung eine kritische Perspektive größeren Raum ein. Wer sich heute wissenschaftlich mit Arndt beschäftigt, sei es in wohlwollender oder kritischer Absicht, der kommt schlicht nicht umhin, zum Vorwurf des Rassismus, der Judenfeindschaft, des Franzosenhass etc. Stellung zu nehmen. Und so weisen selbst engagierte Verteidigungsschriften Arndts eine defensive Grundhaltung auf, indem sie sich auf eine Relativierung der Arndt-Kritik konzentrieren, die sich nunmehr nicht allein durch einen Verweis auf Engels’ Verständnis für Deutschtümelei entkräften lässt. 102 Der Qualität der Arndt-Forschung tut derlei keinen Abbruch. Im Gegenteil, es kann beobachtet werden, dass nicht nur die Urteile über Arndt differenzierter und weniger auf die politisch-ideologischen Bedürfnisse des Tages bezogen sind, sondern auch auf der Grundlage eines breiteren Quellenfundaments zustande kommen. Neben Arndts Hauptwerk Geist der Zeit, der Schrift zur Bauernbefreiung und Germanien und Europa wurden in jüngster Zeit ebenjene Schriften eingehender untersucht, die, wie etwa Ueber Volkshass und den Gebrauch einer fremden Sprache oder der Versuch in vergleichender Völkergeschichte 103, mit dem einseitigen Arndt-Bild der DDR-Geschichtswissenschaft nicht vereinbar waren. Für die jüngsten differenzierten Greifswalder Beiträge zu Ernst Moritz Arndt sind exemplarisch zwei zu nennen: der 2007 von Walter Erhart und Arne Koch herausgegebene Sammelband Ernst Moritz Arndt, Deutscher Nationalismus – Europa – Transatlantische Perspektiven 104 und der 2011 von Dirk Alvermann und Irmfried Garbe herausgegebene Sammelband Ernst Moritz Arndt, Anstöße und Wirkungen 105. Die Greifswalder Arndt-Rezeption hat, so kann man bilanzieren, ihre stromlinienförmige Uniformität verloren. Arndt, der seinerzeit kein Blatt vor den Mund genommen hat, ist nun selbst kontrovers geworden und damit verfügen auch die lange etablierten Narrative nicht mehr über die vertraute Selbstverständlichkeit. Die Reaktion hierauf ist bisweilen schrill, wie insbesondere die öffentliche Debat101 Stefan Eggebrecht, Jetzt wird’s Ernst, Spiegel-Online vom 18.1.2010, http://www.spiegel.de/ unispiegel/studium/greifswalder-namensstreit-jetzt-wird-s-ernst-a-672400.html (20.5.2014). 102 Dies gilt etwa für die Beiträge in der hier bereits angeführten Flugschrift Wortmeldungen zu Ernst Moritz Arndt aus dem Jahr 2010. 103 Müsebeck pries das heute als in Teilen rassistisch geltende Werk als ein „vielfach auf eigener Beobachtung beruhende[s] Buch“, das auf dem Gebiet der „Volkspsychologie“ eine Vorreiterrolle einnehme. Müsebeck, Arndt, 21. Vgl. Brian Vick, Arndt and German Ideas of Race: Between Kant and Social Darwinism, in: Walter Erhart / Arne Koch (Hgg.), Ernst Moritz Arndt (1769–1860). Deutscher Nationalismus – Europa – Transatlantische Perspektive, Tübingen 2007, 63–76. 104 Tübingen 2007. 105 Köln u. a. 2011.

Vergangenheit, die nicht vergeht

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te in den Leserbriefspalten der Ostsee-Zeitung in den Jahren 2009 und 2010 zeigt. In der aufgeheizten Konfrontation militanter Arndt-Gegner und Arndt-Verteidiger hatten es die abwägenden Beiträge von Fachwissenschaftlern sowie deren Angebote zur Versachlichung – so durch Thomas Stamm-Kuhlmann auf Seiten der Arndt-Kritiker und Dirk Alvermann auf Seiten der Arndt-Verteidiger – schwer, durchzudringen. 106 Immerhin, neben der Berichterstattung in der Lokalpresse und der Dokumentation öffentlicher Anhörungen im Internet 107 – beide sicherlich keine Sternstunden demokratischer Diskussionskultur in Vorpommern – werden die Materialsammlungen zu den Arndt-Debatten in den Jahren 2000 und 2003 für spätere Historiker ein ergiebiges Material zur Erforschung der Greifswalder Erinnerungskultur abgeben. 108 Für die Gegenwart und nähere Zukunft gilt hingegen, dass das letzte Wort in Sachen Arndt mit Sicherheit noch nicht gesprochen ist.

106 Siehe hierzu die Dokumentation der Gutachten sowie den Mitschnitt der „wissenschaftlichen Anhörung“ des Senats der Universität Greifswald zu Arndt aus dem Dezember 2009: http://www.uni-greifswald.de/organisieren/leitung/senat/wissenschaftliche-anhoerung-arndt.h tml (20.5.2014). 107 Der Mitschnitt der „öffentlichen Anhörung“ des Senats der Universität Greifswald aus dem Januar 2010 findet sich hier: http://www.uni-greifswald.de/organisieren/leitung/senat/ oeffentliche-anhoerung-arndt.html (20.5.2014). 108 Ernst-Moritz-Arndt-Gesellschaft e.V. (Hg.), Ernst Moritz Arndt im Widerstreit der Meinungen. Materialien zu neueren Diskussionen, Groß Schoritz 2000; Karl-Ewald Tietz (Hg.), Ernst Moritz Arndt weiterhin im Widerstreit der Meinungen. Neue Materialien zu einer alten Diskussion, Groß Schoritz 2003. Vgl. auch die Internetseiten der beiden Initiativen Uni ohne Arndt (www.uniohnearndt.de) und der Arndt-AG (www.arndtag.wordpress.com).

INNOVATION UND INDOKTRINATION Die Geschichtsmethodik an der Universität Greifswald zwischen 1945 und 1990 Martin Buchsteiner I. Vorbemerkung Wer sich mit der Geschichtslehrerausbildung in der DDR beschäftigen will, sieht sich vor einige Probleme gestellt. Historiker und Bildungswissenschaftler scheinen bislang eher an den politischen Richtlinien und Folgen 1 sowie der Auswahl und Vermittlung der Inhalte 2 des sozialistischen Geschichtsunterrichts interessiert zu sein. In den Fokus gelangten dabei auch die Lehrer, allerdings stehen hierbei kollektivbiographische Untersuchungen im Vordergrund, die insbesondere nach

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Vgl. etwa Holger Thünemann, Geschichte für heute? – Geschichtsunterricht und Geschichtsmethodik in der DDR, in: Geschichte für heute 2/2009, 16–26; Saskia Handro, Geschichtsunterricht und historisch-politische Sozialisation in der SBZ und DDR (1945–1961). Eine Studie zur Region Sachsen-Anhalt, Weinheim 2002; Heike Christina Mätzing, Geschichte im Zeichen des historischen Materialismus. Untersuchungen zu Geschichtswissenschaft und Geschichtsunterricht in der DDR, Hannover 1999; Wolfgang Protzner, Der Geschichtsunterricht in der DDR als Instrument der SED-Politik, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 43/1993, 42– 51. Für Darstellung vor 1990 vgl. aus Sicht der Bundesrepublik Hans Georg Wolf, Die Entwicklung des Geschichtsunterrichts in der DDR von 1955–1975, Münster 1979; Hans-Dieter Schmid, Geschichtsunterricht in der DDR. Eine Einführung, Stuttgart 1979; Dieter Riesenberger, Geschichte und Geschichtsunterricht in der DDR. Aspekte und Tendenzen, Göttingen, 1973. Für die Perspektive der DDR siehe Gerhard Topsch, Die Entwicklung des Geschichtsunterrichts auf dem Gebiet der sowjetischen Besatzungszone und der DDR von der Aufnahme 1946/47 bis 1965, Halle 1983; Hans-Jürgen Ruckick, Die Entwicklung des Geschichtsunterrichts in der DDR von 1959–1971, Leipzig 1984; Karlheinz Jackstel, 30 Jahre sozialistischer Geschichtsunterricht in der DDR, in: Geschichtsunterricht und Staatsbürgerkunde 21/1979, 798–808. Vgl. in diesem Zusammenhang auch Friedemann Neuhaus, Geschichte im Umbruch. Geschichtspolitik, Geschichtsunterricht und Geschichtsbewusstsein in der DDR und den neuen Bundesländern 1983–1993, Frankfurt a. M. 1998. Vgl. May Jehle / Henning Schluß, Der Mauerbau im Medium der Schola-Schallplatte und ihr Einsatz in einer aufgezeichneten Unterrichtsstunde, in: Eva Matthes / Christian Ritzi / Ulrich Wiegmann (Hgg.), Der Mauerbau 1961 – Bildungsgeschichtliche Einsichten, Bad Heilbrunn 2013, 129–160; Karin Kneile-Klenk, Nationalsozialismus in Unterrichtsfilmen und Schulfernsehsendungen der DDR, Beltz 2001; Florian Arloth, Identitätsbildung und DDR – Geschichtsunterricht anhand ausgewählter Schulbuchanalysen zum Thema „Preußen im 17. und 18. Jahrhundert“, Augsburg 2000.

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Handlungsoptionen und -strategien in Phasen des gesellschaftlichen und politischen Umbruchs fragen. 3 Der Befund zur Literatur der anderen Seite des hier besprochenen Vermittlungsprozesses fällt nur ein wenig positiver aus. Die Liste der Publikationen zur Geschichtsmethodik der DDR ist überschaubar. Im Vordergrund stehen Arbeiten, die nach wissenschaftlichen Traditionslinien und Konzepten 4 sowie Forschungsergebnissen und deren Diskussion fragen. 5 Analysen der den Rahmen bildenden politischen und administrativen Strukturen der Lehrerbildung fehlen weitgehend. 6 Dies gilt auch und insbesondere für biographische Arbeiten zu den Akteuren der Geschichtslehrerausbildung. 7 Dass, so Marco Demantowsky, „keine Epoche der historischen Bildung in Deutschland umfassender erforscht worden ist als die der

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Vgl. Henrik Bispinck, Bildungsbürger in Demokratie und Diktatur. Lehrer an höheren Schulen in Mecklenburg 1918 bis 1961, München 2011; Hans-Joachim Hausten, Der Lehrer und sein Image. Fakten und Reminiszenzen zum Persönlichkeitsbild des Lehrers und seinen Herausforderungen in der DDR, Frankfurt a. M. 2009; Berthold Ebert / Herbert Egerland, Vom Neulehrer zum sozialistischen Lehrer – Lehrerbildung in der DDR, in: Hartmut Wenzel (Hg.), Lehrer, Lehrerbild und Lehrerbildung – Bilder zur Geschichte des Lehrerberufs in Mitteldeutschland. Katalog zur Ausstellung Lehrer, Lehrerbild, Lehrerbildung der Franckeschen Stiftungen vom 28. Januar bis 25. März 2007, Halle a. d. Saale 2008, 69–77. Rainer Bölling, Sozialgeschichte der deutschen Lehrer. Ein Überblick von 1800 bis zur Gegenwart, Göttingen 1983. Vgl. auch Ruth Johanna Benrath, „So anders war's doch gar nicht!“? – Wie Geschichtslehrkräfte aus der DDR mit den Transformationsherausforderungen im Geschichtsunterricht umgehen, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 58/2007, 328–341; dies., Kontinuität im Wandel. Eine empirisch-qualitative Untersuchung zur Transformation des didaktischen Handels von Geschichtslehrkräften aus der DDR, Idenstein 2005. Vgl. Marko Demantowsky, Die Geschichtsmethodik in der SBZ und DDR – Ihre konzeptuelle, institutionelle und personelle Konstituierung als akademische Disziplin 1945–1970, Idenstein 2003; ders., Das Geschichtsbewusstsein in der SBZ und DDR. Historisch-didaktisches Denken und sein geistiges Bezugsfeld (unter besonderer Berücksichtigung der Sowjetpädagogik), Bibliographie und Bestandsverzeichnis 1946–1973, Berlin 2003; Bernd Schönemann, Historisches Lernen und Geschichtsmethodik in der SBZ/DDR als Gegenstand und Problem geschichtsdidaktischer Forschung, in: Sonja Häder / Heinz-Elmar Tenorth (Hgg.), Bildungsgeschichte einer Diktatur. Bildung und Erziehung in SBZ und DDR im historischgesellschaftlichen Kontext, Weinheim 1997, 183–202. Vgl. besonders Wolfgang Hasberg, Empirische Forschung in der Geschichtsdidaktik. Nutzen und Nachteil für den Unterricht, 2 Bde., Neuried 2001. Für Ausnahmen vgl. Henning Rohrmann, Forschung, Lehre, Menschenformung. Studien zur „Pädagogisierung“ der Universität Rostock in der Ulbricht-Ära, Rostock 2013; Ulf Thiel, Historische Bildung in Sachsen 1830 bis 1933. Ein Längsschnitt zur Genese des sächsischen Geschichtsunterrichts vor dem Hintergrund der Entwicklung von Schulstrukturen und Geschichtslehrerbildung, Hamburg 2012; Sylvia Mebus, Zur Entwicklung der Lehrerausbildung in der SBZ/DDR 1945 bis 1959 am Beispiel Dresdens. Pädagogik zwischen Selbst- und Fremdbestimmung, Frankfurt a. M. 1999. Vgl. in diesem Zusammenhang auch Eckart Schiele, Hochschulreform und Lehrerausbildung in der DDR seit 1965, Berlin 1984. Erste Ansätze liefert Demantowsky, Geschichtsmethodik.

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SBZ und DDR“ kann vor diesem Hintergrund nur als Hinweis verstanden werden, sich auch anderen Zeiträumen zu widmen. 8 Die folgende Darstellung zur Geschichtsmethodik 9 an der Universität Greifswald zwischen 1945 und 1990 greift neben den Publikationen der dortigen Geschichtsmethodiker auf die im Universitätsarchiv überlieferten Verwaltungsakten zurück. Die Hoffnung, auf diese Weise die eingangs eingeforderte Verbindung zwischen den administrativen Strukturen, den handelnden Personen und deren konzeptionell-methodischem Vorgehen herstellen zu können, erwies sich indes als trügerisch. Die für den Untersuchungszeitraum relevante Überlieferung des Universitätsarchivs ist wenig ergiebig. Dirk Alvermann, der Leiter des Archivs, bezeichnete sie lakonisch als „Schrott.“ 10 Die Gründe dafür sind vielfältig. Erwähnt seien hier lediglich die nach 1990 nur sehr spärlich erfolgte Abgabe von Schriftgut seitens des Instituts an das Archiv, die dabei bzw. schon im Vorfeld von einzelnen Abteilungen vorgenommen Vernichtungen als wertlos deklarierter Papiere und nicht zuletzt die schlechte Qualität des damals verwandten Papiers, das die Schrift teilweise kaum noch erkennen lässt. Bei dem was da ist, erschwert schließlich der für die DDR-Zeit typische Nominalstil, der mehr Phrasen als Informationen liefert, den Erkenntnisgewinn. Ausgeglichen werden kann dies nur durch ein möglichst breites Suchen. Die Recherche erfolgte im Bestand der Pädagogischen und Philosophischen Fakultät, des Prorektorats für Gesellschaftswissenschaften, des Wissenschaftlichen Rats und des Direktorats für Forschung. Aufgrund datenrechtlicher Bestimmungen konnten nur wenige Personalakten eingesehen werden 11; die Unterlagen der Ehrenkommission sind noch gänzlich unter Verschluss. 8

Demantowsky, Geschichtsmethodik, 14–15. Die Zahl der Arbeiten zum Kaiserreich, zur Weimarer Republik und zum Nationalsozialismus ist tatsächlich verschwindend gering. Vgl. Peter Leidinger (Hg.), Geschichtsunterricht und Geschichtsdidaktik vom Kaiserreich bis zur Gegenwart. Festschrift des Verbandes der Geschichtslehrer Deutschlands zum 75jährigen Bestehen, Stuttgart 1988; Klaus Bergmann / Gerhard Schneider (Hgg.), Gesellschaft, Staat, Geschichtsunterricht. Beiträge zu einer Geschichte der Geschichtsdidaktik und des Geschichtsunterrichts von 1500–1980, Düsseldorf 1982. 9 Die Bezeichnung variiert in den Dokumenten zwischen Geschichtsmethodik und Methodik des Geschichtsunterrichts. In den 1940er und 1950er Jahren ist dies nicht inhaltlich begründet. Spätestens ab 1956 lautet die offizielle Bezeichnung „Geschichtsmethodik.“ Krause entschied sich 1981 gegen den Begriff und setzte die Umbenennung des Wissenschaftsbereiches in „Methodik des Geschichtsunterrichts“ durch. Vgl. Universitätsarchiv Greifswald (im Folgenden: UAG), Prorektor Gesellschaftswissenschaften, Nr. 102: Fritze an Rektor, 10.04.1981. Für die Zustimmung vgl. ebd.: Randnotiz Rektorat, 5.05.1981. Zur inhaltlichen Begründung vgl. Alfried Krause / Martin Richter, Historische Methode und Geschichtsmethodik – Überlegungen zum Verhältnis von Fach und Methodik, in: Der Rektor der Ernst-Moritz-ArndtUniversität Greifswald (Hg.), 125 Jahre Historisches Seminar, Sektion Geschichtswissenschaft der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald 1988. Kolloquium am 29. November 1988 in Greifswald, Greifswald 1990, 146–155. 10 Gespräch mit Dirk Alvermann, 14.10.2013. 11 Die Überlieferung in den nach 1990 fortgeführten Personalakten ist zudem sehr spärlich, da den betreffenden Personen die Möglichkeit gegeben wurde, einzelne Dokumente zu kassieren. Gespräch mit Dirk Alvermann, 14.10.2013.

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Auf eine Recherche im Bestand des Rektorats musste aus Zeitgründen verzichtet werden. Befragt werden konnten jedoch Akten der Behörde für die Unterlagen der Staatssicherheit, des Universitätsarchivs Rostock und die Zeitzeugen Alfried Krause, Martin Richter und Gabriele Magull. Wenige Wochen vor dem Redaktionsschluss des vorliegenden Tagungsbandes wurden die durch mehrere Umzüge des Historischen Instituts in Vergessenheit geratenen Unterlagen des Wissenschaftsbereichs Geschichtsmethodik wiederentdeckt. Sie dokumentieren die Entwicklung von 1960 bis 1992. Momentan werden sie gemeinsam mit den Unterrichtsmitteln durch die Studentin Lena Widdel gesichtet und für die Sicherung im Universitätsarchiv vorbereitet. Langfristig sollen sie im Rahmen von Qualifizierungsschriften ausgewertet werden. II. Reformpädagogik und Sozialismus – Gründerjahre, 1945–1952 Anders als es die Aufnahme des Beitrages in den Tagungsband vermuten lässt, erfolgt die Ausbildung von Geschichtslehrern am Historischen Institut der Universität Greifswald nicht schon seit 150, sondern erst seit 50 Jahren. 1988, als die Sektion Geschichte „125 Jahre Historisches Seminar“ feierte, diskutierten die damaligen Geschichtsmethodiker Alfried Krause und Martin Richter das Verhältnis von Fach und Methode und stellten sich in die Tradition von Ernst Bernheim. Damit reicht ihre Geschichte bis 1883 zurück. 12 Zu diesem Zeitpunkt war die universitäre Ausbildung von Lehrern allerdings noch die Ausnahme. Sie beschränkte sich auf die Vermittlung von Fachwissen und war allein Gymnasiallehrern vorbehalten. 13 Die Masse der Lehrer, die Volksschullehrer, besuchten die sogenannten Lehrerseminare. Die universitäre und methodisch-didaktische Ausbildung aller Lehrer begann erst in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts mit der Errichtung Pädagogischer Akademien. 14 An der Universität Greifswald war es zu keiner solchen Gründung gekommen. Hier leitete am 12. Juli 1946 der Befehl Nr. 205 des Obersten Chefs der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland die akademisch-pädagogische

12 Krause / Richter, Methode, 146–155. 13 Lediglich an der Universität Jena erfolgte seit 1844 eine pädagogische Ausbildung. Vgl. etwa Bölling, Lehrer, 150ff.; Helmut Genschel, Geschichtsdidaktik und Geschichtsunterricht im nationalsozialistischen Deutschland, in: Bergmann / Schneider (Hgg.), Gesellschaft, 261–294. 14 Während des Nationalsozialismus erfolgte eine Umbenennung der Akademien in Hochschulen für Lehrerbildung. Für die damit verbundene Umstrukturierung und die inhaltliche Neuausrichtung vgl. etwa Ulrike Gutzmann, Von der Hochschule für Lehrerbildung zur Lehrerbildungsanstalt. Die Neuregelung der Volksschullehrerausbildung in der Zeit des Nationalsozialismus und ihre Umsetzung in Schleswig-Holstein und Hamburg, Düsseldorf 2000; Hermann Langer, Zur Ausbildung von Mecklenburgs Volksschullehrern unterm Hakenkreuz (1932–1945), in: Zeitgeschichte regional 1/2012, 74–85.

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Ausbildung der Lehrer ein. 15 Hintergrund war der im Oktober 1945 veröffentliche Aufruf zur demokratischen Schulreform, der neben den massenhaften Entlassungen nationalsozialistisch belasteter Lehrer die Schaffung einer Einheitsschule und die Etablierung einer als Disziplin eigenständigen Erziehungswissenschaft forderte. Die Eröffnung Pädagogischer Fakultäten an den Universitäten der Sowjetischen Besatzungszone folgte einerseits zentralen Vorgaben – so hatte es an allen Standorten ein Institut für Theoretische Pädagogik mit den Abteilungen Allgemeine Didaktik, Pädagogische Psychologie und Geschichte der Pädagogik zu geben, ferner ein Institut für musische und körperliche Ertüchtigung und schließlich ein Institut für Praktische Pädagogik mit den einzelnen Methodik-Abteilungen –, andererseits ließ die Verordnung Freiräume sowohl bei den Schwerpunkten der Lehre als auch bei der Gründung besonderer Abteilungen und Institute. 16 In Berlin etwa engagierte man sich verstärkt in der Lehrmittelforschung 17, in Greifswald widmete man sich u. a. der pädagogischen Diabetesforschung, der landwirtschaftlichen Pädagogik und der Jugendbewegung. 18 Diese Freiheit bei der inhaltlichen Ausrichtung bedeutete auch Freiräume bei der personellen Besetzung. In Greifswald fiel dem Bund entschiedener Schulreformer, der während der Weimarer Republik gegründet worden war 19, eine entscheidende Bedeutung zu. Um den 1942 verstorbenen Ernst Bernheim war ein Netzwerk reformpädagogisch interessierter und engagierter Personen entstanden. 20 Als Gegner und Verfolgte des Nationalsozialismus sowie durch die Nähe in den bildungspolitischen Zielen genossen sie nach 1945 Ansehen bei der Besatzungsmacht und gelangten zu einigem Einfluss. 21 15 Vgl. Befehl Nr. 205 des Obersten Chefs der SMAD vom 12. Juli 1946 zur Gründung von pädagogischen Fakultäten an den Universitäten der Besatzungszone, in: Jan Foitzik (Hg.), Inventar der Befehle des Obersten Chefs der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland (SMAD) 1945–1949, München 1995, 107. Für die Eröffnung der Pädagogischen Fakultät in Greifswald vgl. PVV UG, Sommersemester 1947, Greifswald 1947. 16 Vgl. Christa Kersting, Konstitutionsprozesse der Pädagogischen Fakultäten in der SBZ und DDR von 1945 bis 1955, in: Dietrich Benner u. a. (Hgg.), Deutsche Bildungsgeschichte seit 1945. Erziehungsverhältnisse und pädagogische Reflektionen in SBZ und DDR, Westzonen und Bundesrepublik, Berlin 1993, 117–145. Vgl. auch Demantowsky, Geschichtsmethodik, 66. 17 Vgl. ebd., 65. 18 Vgl. PVV UG, Wintersemester 1950–51, 24. Eine ausführliche Studie zur Geschichte der Pädagogischen Fakultät der Universität Greifswald fehlt bislang. 19 Vgl. dazu allgemein Ingrid Neuner, Der Bund entschiedener Schulreformer 1919–1933. Programmatik und Realisation, Bad Heilbrunn 1980. 20 Vgl. Mircea Ogrin, Ernst Bernheim (1850–1942). Historiker und Wissenschaftspolitiker im Kaiserreich und in der Weimarer Republik, Frankfurt a. M. 2007; Werner Naumann, Ernst Bernheim und Hans Schmidkunz in Greifswald – zwei führende Vertreter der hochschulpädagogischen Reformbewegung in Deutschland im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts, in: Stier und Greif 12/2002, 124–136. Vgl. auch den Beitrag von Frank Möller in diesem Band. 21 Vgl. dazu u. a. Peter Dudek, Reformpädagogik in der SBZ und der DDR 1945–1950, Weinheim 1996; Gerhard Arnhardt, Zur Akzeptanz reformpädagogischen Denkens und Handelns in der SBZ und DDR – Interpretiert an Beiträgen aus den Fachzeitschriften die neue schule

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Der in Hohensee in der Nähe von Greifswald aufgewachsene Curt Martens (1885–1966) gehörte zu diesem pommerschen Netzwerk von Reformpädagogen. Zwischen 1902 und 1905 absolvierte er eine Ausbildung zum Volksschullehrer am Lehrerseminar in Camin. Bis 1918 wirkte Martens in Quilow, Wolgast und Stralsund als Lehrer für die Fächer Deutsch und Geschichte. Nach dem Ersten Weltkrieg, an dem er als Sanitäter teilnahm, erlangte er das Rektoratsexamen und übernahm in Stettin die Leitung der dortigen Weltlichen Schule, die reformpädagogische Ziele verfolgte und umzusetzen versuchte. 1933 erhielt Martens, der Mitglied der Gewerkschaft, der SPD und Freimaurer war, Berufsverbot. Seinen Lebensunterhalt verdiente er bis 1945 als Versicherungskaufmann. Nach dem Ende des Krieges, das er als Mitglied des Volkssturms erlebte, übernahm Martens in Wolgast die Leitung der dortigen Schule und das Amt des Bezirksschulrats. 22 Am 15. Oktober 1946 wurde er, der Volksschullehrer ohne Abitur, Promotion oder gar Habilitation, zum Professor mit Lehrauftrag für die Didaktik und Methodik des Geschichtsunterrichts ernannt. Er übernahm in dieser Funktion auch das Amt des Prodekans der neu gegründeten Pädagogischen Fakultät. 23 Im Sommersemester 1947 hielt Martens eine Vorlesung über die „Didaktische Gestaltung politischer und soziologischer Probleme im Geschichtsunterricht.“ Daneben leitete er einmal wöchentlich das „Pädagogische Praktikum“ sowie die daran anschließende „Übung zum Pädagogischen Praktikum mit besonderer Berücksichtigung des Geschichtsunterrichts“, in der vermutlich die einzelnen Probestunden besprochen wurden. 24 Diese Struktur der didaktischen Ausbildung Vorlesung, schulpraktische Tätigkeit und Übung findet sich in ähnlicher Form auch bei den anderen Fächern, die an der Universität Greifswald studiert werden konnten. Hierbei handelte es sich um Deutsch, Englisch, Erdkunde, Französisch, Kunst, Musik und das Lehramt für die Unterstufe. 25 Im Wintersemester 1947/48 begann eine stärkere Systematisierung des Studiums. Im Personal- und Vorlesungsverzeichnis sind die einzelnen Veranstaltungen den Kategorien „Allgemeinbildende und pädagogische Fächer“, „Methodik der Unterrichtsfächer“, „Schulpraxis“ und „Fachstudium“ zugeordnet. Hinzu kam die, in der Physik schon im Sommersemester vorgesehene 26, Trennung zwischen Mit-

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und pädagogik bis zur Mitte der 50er Jahre, in: Pädagogik und Schulalltag 46/1991, 673– 679. Zur Reformpädagogik der 1920er vgl. allgemein Knut Engeler, Geschichtsunterricht und Reformpädagogik. Methodische Neuerungen im gymnasialen Geschichtsunterricht der Weimarer Zeit, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 55/2004, 442–450. Vgl. UAG, PA, Nr. 284 (Curt Martens). Vgl. PVV UG, Sommersemester 1947, 11; PVV UG, Wintersemester 1947/48, 12. Vgl. PVV UG, Sommersemester 1947, 23. Im PVV UG, Wintersemester 1948/49, 32 heißt es: „Zur Einführung in die Schulpraxis finden pädagogische Praktika mit angeschlossen Übungen zur Vorbereitung und Auswertung des Unterrichts statt.“ Vgl. PVV UG, Sommersemester 1947, 11–12 und 23–24. Vgl. ebd., 24. Allerdings war die Didaktik und Methodik des Physikunterrichts aber noch unbesetzt. Vgl. ebd.

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tel- und Oberschullehrern. Sie zielte auf eine schnellere Ausbildung und verweist auf den damals herrschenden Lehrer- und Fachkräftemangel, der durch die außeruniversitäre Neulehrerbewegung nicht gedeckt werden konnte. 27 Martens gab nun jeweils eine Vorlesungen zur Didaktik und Methodik des Geschichtsunterrichts auf der Mittel- bzw. auf der Oberstufe. Anders als noch im Sommersemester bezogen sich die Veranstaltungen nun auf konkrete Stoffeinheiten; zum einen die Neuzeit (1517–1789), zum anderen die Prähistorie, das Altertum und das Frühmittelalter. Ebenfalls getrennt nach Mittel- und Oberstufe wurden das Praktikum und die anschließende Übung erteilt. Die Lehrbelastung Martens stieg darüber hinaus um eine Vorlesung und ein Kolloquium zu „Politischen und sozialen Problemen der Gegenwart.“ 28 Bei diesen Veranstaltungen, die inhaltlich einem zentral vorgegebenen Plan folgten, handelte es sich nicht um wissenschaftliche Kurse, sondern um eine ideologische Schulung. Dass der Freidenker Martens sie übernahm, verweist auf zweierlei. Zum ersten auf dessen politischen Wandel – Martens war 1946 nach der Vereinigung von SPD und KPD der SED beigetreten und in deren Massenorganisationen, der Deutsch-Sowjetischen Freundschaft und dem Kulturbund, engagiert 29 –, zum zweiten auf einen Richtungswechsel in der Politik der Besatzungsmacht, die Abschied nahm vom „besonderen deutschen Weg zum Sozialismus.“ 30 Durch seine „Linientreue“, die ihn von 1947–1951 zum Leiter des für die ideologische Schulung zuständigen Instituts für Soziologie des Erziehungs- und Bildungswesens werden ließ 31, überstand Martens diese erste Sowjetisierungswelle; anders erging es der Reformpädagogik verpflichteten Kollegen in Jena, Halle, Leipzig und Potsdam, die sämtlich entlassen wurden. 32 Im Februar 1950 wirkte Martens auf einer gemeinsamen Konferenz der Mitglieder der Pädagogischen Fakultäten der Universitäten Rostock und Greifswald an der Verabschiedung einer Resolution mit, die den Lehrkörper zur Parteilichkeit aufforderte und den Marxismus-Leninismus sowie die sowjetische Pädagogik zur „Grundlage für eine erfolgreiche pädagogische Theorie und Praxis“ erhob. 33 27 Vgl. dazu Jakob Heinz, Neulehrer in Mecklenburg und Vorpommern nach 1945, Schwerin 2011; Petra Gruner, Die Neulehrer – Ein Schlüsselsymbol der DDR-Gesellschaft. Biographische Konstruktionen von Lehrern zwischen Erfahrungen und gesellschaftlichen Erwartungen, Weinheim 2000; Brigitte Hohlfeld, Die Neulehrer in der SBZ, DDR 1945–1953. Ihre Rolle bei der Umgestaltung von Gesellschaft und Staat, Weinheim 1992. 28 Vgl. PVV UG, Wintersemester 1947/48, 24 und 26. 29 Vgl. UAG, PA, Nr. 284 (Martens, Curt). 30 Vgl. dazu allgemein Günter Benser, Der besondere deutsche Weg zum Sozialismus, Berlin 2009; Dietrich Staritz, Ein „besonderer“ deutscher Weg zum Sozialismus?, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 51/1982, 15–31. 31 Vgl. PVV UG, Semester 1947–1951, passim. 1951 erfolgte die Umbenennung des Instituts in Institut für Gesellschaftswissenschaften und politische Erziehung. Vgl. PVV UG, Sommersemester 1951, 16. 32 Vgl. dazu Demantowsky, Geschichtsmethodik, 66, 79, 85 und 174. 33 Vgl. Universitätsarchiv Rostock (im Folgenden: UAR), 2.11.1 (Pädagogische Fakultät), Nr. 32 (Tagungen). Vgl. dazu auch Demantowsky, Geschichtsmethodik, 175.

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In der geschichtsdidaktischen Ausbildung folgte Martens dem Muster von Vorlesung, Praktika und Übung. Zwischen 1948 und 1950 las er in den Sommersemestern zur Strukturierung des Unterrichtsstoffes, gab somit fachorientierte Veranstaltungen 34, während er in den Wintersemestern speziell zur Methodik und Didaktik des Geschichtsunterrichts auf der Mittel- bzw. Oberschule sprach. 35 Diese Einschätzung ist freilich mit Vorsicht zu genießen, da sie lediglich aus den Veranstaltungstiteln geschlussfolgert werden kann. Aufzeichnungen zu den Vorlesungen fanden sich nicht. 36 Nachgewiesen werden kann indes eine Erhöhung des praktischen Anteils in der Ausbildung. Ab dem Wintersemester 1948/49 war im 1. und 2. Semester pro Woche ein zweistündiges, im 3. und 4. Semester ein vierstündiges und im 5. und 6. Semester ein sechsstündiges Praktikum vorgesehen. 37 Im Frühjahrssemester 1951 – ab Mitte 1951 wurde im Rahmen der II. Hochschulreform 38 die übliche Zählung Sommer- und Wintersemester in der DDR abgeschafft, ab diesem Zeitpunkt wurde in Studienjahren gerechnet, die in Frühjahrs- und Herbstsemester eingeteilt wurden 39 – nahm man von dieser Regelung der praktischen Ausbildung wieder Abstand. Nun hatten die Studierenden sowohl nach dem 1. als auch nach dem 2. Studienjahr ein sechswöchiges pädagogisches Praktikum abzuleisten. Im 5. und 6. Semester folgten dann Schulpraktische Übungen (SPÜ), die einmal pro Woche abgehalten wurden. In Bezug auf den zu vermittelnden Stoff wurden die Fachwissenschaften stärker einbezogen. Das Vorlesungsverzeichnis weist erstmals Pflichtveranstaltungen für Lehramtsstudenten aus. 40 Bereits im Sommersemester 1950 gab Martens keine fachorientierte Veranstaltung mehr. In den folgenden Jahren bis zu seiner Pensionierung 1953 hielt er

34 Vgl. PVV UG, Sommersemester 1948 (Thema: „Mittelalter und neuste Zeit“); PVV UG, Sommer-Semester 1949, 30 (Thema für die Mittelstufe: „Schulmäßige Gestaltung des Geschichtsstoffes vom Zeitalter der unumschränkten Fürstenherrschaft bis zum Beginn des 1. Weltkrieges“; Thema für die Oberstufe: „Didaktische und Methodische Gestaltung des Geschichtsstoffes vom Zeitalter der unumschränkten Fürstenherrschaft bis zum Beginn des 1. Weltkrieges“). 35 PVV UG, Wintersemester 1948/49 und PVV UG, Wintersemester, 1949/50. 36 Hierbei handelt es sich um ein allgemeines Quellenproblem. Vgl. dazu auch Demantowsky, Geschichtsmethodik, 143. 37 Vgl. PVV UG, Wintersemester 1948/49, 32. 38 Vgl. dazu etwa Marianne Müller / Egon Erwin Müller, „...stürmt die Festung Wissenschaft!“, Die Sowjetisierung der mitteldeutschen Universitäten seit 1945, Berlin 1953. 39 Das Frühjahrssemester begann im Februar und endete im Juni. Das Herbstsemester zog sich von September bis Dezember. Die restliche Zeit des Jahres waren mit Prüfungen (Juni bis Juli) und Praktika (Januar bis Februar) belegt. Vgl. PVV UG, Frühjahrssemester 1960/61, 3. Mitte der 1960er Jahre wurde einer Änderung vorgenommen. Das Studium begann nun im September mit einer vormilitärischen Ausbildung, es folgte von September-Oktober der Ernteeinsatz. Das Herbstsemester lief anschließend von Oktober bis Februar. Es schloss sich eine vorlesungsfreie Zeit bis März an, der dann das Frühjahrssemester folgte. Im Juni und Juli wurden die Prüfungen abgenommen. Vgl. PVV UG, Herbstsemester 1964/65, 13. 40 Vgl. PVV UG, Frühjahrssemester 1951/52, 63.

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nur noch Vorlesungen sowie Übungen zur Didaktik und Methodik des Geschichtsunterrichts für die Mittel- bzw. Oberstufe, über deren konkrete Inhalte – wie erwähnt – leider nichts bekannt ist. 41 Dieses Quellenproblem sollte nach der II. Hochschulreform, die die Freiheit der Lehre beschränkte, indem sie den Universitäten einen sozialistischen Erziehungsauftrag erteilte und einheitliche, ideologisierte Lehrpläne und -inhalte forderte 42, eigentlich nicht mehr bestehen. Zur Ausarbeitung eines Studienplans für angehende Geschichtslehrer wurde im Januar 1952 eine zentrale Kommission gebildet, der auch Martens angehörte. Martens hatte sich scheinbar durch seine politische Haltung als Leiter des Instituts für die Soziologie des Erziehungs- und Bildungswesens qualifiziert. 43 Die Kommission, eine von vielen zur Umsetzung der II. Hochschulreform, stellte ihre Arbeit jedoch wenig später wieder ein. Ihre Aufgabe übernahm – wie wohl auch in den anderen Disziplinen – die Studienplankommission für die Fachwissenschaft. Das Resultat war eine methodische Ausbildung im Rahmen von acht Semesterwochenstunden (SWS), was in etwa fünf Prozent des gesamten Studieninhalts entsprach. Gelehrt wurde jeweils zur Hälfte in Vorlesungen und Seminaren oder Übungen. Nach dem zweiten und dem vierten Semester absolvierten die Lehramtsstudenten in den Semesterferien ein vier- bzw. sechswöchiges Schulpraktikum, dass jedoch unter keinem didaktischmethodischem Schwerpunkt stand. Am Ende des ersten Praktikums hatte der Student eine Probelektion zu geben, die den praktischen Anteil an der Staatsexamensprüfung ausmachte. Die theoretische Prüfung erfolgte nach dem 3. Studienjahr. 44 Diese Studienordnung bedeutete einen weiteren Schritt auf dem Weg zur Zentralisierung des Bildungssystems der DDR. Sie ließ der Geschichtslehrerausbildung allerdings eine gewisse inhaltliche Freiheit, die sich vor allem auf die Lehre bezog. Im Bereich der Forschung bemühte sich die Staats- und Parteiführung der DDR bereits seit 1949 um eine Koordination und Führung. Zu diesem Zweck wurde das Deutsche Pädagogische Zentralinstitut (DPZI) gegründet, das – 41 Vgl. PVV UG, Semester 1950–1952/53, passim. Die bei Demantowsky zu findende Angabe, im Zuge der Sowjetisierungskampagne sei ab dem Sommer-Semester 1950 der Begriff Didaktik aus dem Vorlesungsverzeichnis verschwunden, ist nicht zutreffend. Vgl. Demantowsky, Geschichtsmethodik, 199, Anm. 843. 42 Zur Umsetzung des Erziehungsauftrages diente vor allem das für alle Studierenden gleichermaßen geltende gesellschaftliche Grundstudium, das Veranstaltungen im Bereich MarxismusLeninismus und den Erwerb der russischen Sprache vorsah. Vgl. dazu etwa Müller / Müller, Sowjetisierung, 1953. Für eine Fallstudie vgl. Rohrmann, Pädagogisierung. 43 Das Amt hatte Martens seit dem Wintersemester 1947/48 inne. Vgl. PVV UG, Wintersemester 1947/48, 7. Im Sommersemester 1951 erfolgte die Umbenennung des Bereichs in Institut für Gesellschaft und politische Bildung. Mit der Gründung der eigenständigen Institute für Gesellschaftswissenschaften, die im Rahmen der II. Hochschulreform an allen Universitäten der DDR erfolgte, verschwand das Institut. Vgl. PVV UG, Sommersemester 1951, 16; PVV UG, Frühjahrssemester 1951/52, 18. Im Wintersemester 1950/51 hatte sich Martens, wie viele anderer seiner Greifswalder Kollegen an der dortigen Einführungsvorlesung zu Schulrecht und Schulorganisation beteiligt. Vgl. PVV UG, Wintersemester 1950/51, 35. 44 Vgl. Demantowsky, Geschichtsmethodik, 256.

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seit 1970 als Akademie der Pädagogischen Wissenschaften (APW) bezeichnet – bis 1989 Forschungsvorhaben erteilte bzw. genehmigte. 45 In Greifswald gab es unter Martens keinerlei Forschungsbemühungen. Er selbst hatte scheinbar keine Ambitionen zu promovieren und als häufig einziger Solist unter den Fachmethodikern der Universität Greifswald wohl auch nicht die Zeit, die durch sein gesellschaftliches Engagement zusätzlich eingeschränkt war. Mit 67 Jahren wurde Martens 1953 in den Ruhestand versetzt. Obwohl er nie nach akademischen Weihen gestrebt hatte, bestand er nach der Pensionierung auf den damit verbundenen Privilegien; konkret die Erwähnung im Personal- und Vorlesungsverzeichnis als Emeritus, das Tragen des Talars etc. Die Universität, die ihn bereits im Personal- und Vorlesungsverzeichnis des Frühjahrssemester 1951/52 nur noch als Dozent und nicht mehr als Professor geführt hatte 46, verweigerte dem Quereinsteiger diese Rechte, musste sie ihm nach einem langjährigen Rechtsstreit 1958 aber zugestehen. 47 Fragt man nach einer Beurteilung Martens finden sich zwei Einschätzungen. Die teleologische Meistererzählung der Greifswalder Geschichtsmethodik, die etwa in Form der Diplomarbeit von Antje Romann aus dem Jahr 1988 vorliegt, sieht Martens „Verdienst“ darin, „sich als Schüler von Ernst Bernheim von dessen bürgerlichen Auffassungen über Geschichte“ getrennt und sich „der Geschichtsauffassung von Marx und Engels“ zugewandt zu haben. „Dieser Schritt“ sei, so Romann weiter, „von entscheidender Bedeutung für die weitere Ausbildung der Studierenden, die auf der Grundlage des Marxismus-Leninismus zu erfolgen hatte.“ 48 Marko Demantowsky indes bezeichnet die Zeit unter Martens in seiner Analyse der Geschichtsmethodik der SBZ/DDR als die eines Scheiterns, da es Martens nicht gelang, die Geschichtsmethodik als Disziplin zu konstituieren. 49 Er verweist damit zu Recht auf die fehlende Forschungsleistung Martens, ignoriert freilich aber auch dessen Tätigkeit in der Kommission zur Entwicklung eines Studienplans. Martens, dem der Aufstieg vom Volksschullehrer zum Professor ermöglicht wurde, versuchte nach 1945, seine Vorstellungen einer (sozial-) demokratischen Schulreform umzusetzen, passte sich dann aber den Sowjetisierungstendenzen an, um das ihm zuteil und lieb gewordene Sozialprestige nicht zu verlieren. Hinweise auf propagandistische Tätigkeiten, wie Zeitungsartikel etc., 45 Vgl. dazu Ulrich Wiegmann, Zum Verhältnis von universitärer und außeruniversitärer Erziehungswissenschaft, in: Gerd Geißler / Ulrich Wiegmann (Hgg.), Schule und Erziehung in der DDR. Studien und Dokumente, Berlin 1995, 127–146. Vgl. auch Eberhard Meumann, Geschichte des Deutschen Pädagogischen Zentralinstituts 1949–1952 unter besonderer Berücksichtigung der Herausbildung und Verbreitung der marxistisch-leninistischen Pädagogik in der DDR, Berlin 1982. 46 Vgl. PVV UG, Frühjahrssemester 1951/52, 32. 47 Vgl. UAG, PA, Nr. 284 (Martens, Curt). Für die erste Erwähnung als Emeritus im Personalund Vorlesungsverzeichnis vgl. PVV UG, Frühjahrsemester 1959/60, 55. 48 Antje Romann, Zur Geschichte der Geschichtsmethodik an der Ernst-Moritz-ArndtUniversität Greifswald, Greifswald 1988, 7. 49 Vgl. Demantowsky, Geschichtsmethodik, 85–87.

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die auf eine innere Überzeugung schließen lassen könnten, konnten nicht ermittelt werden. III. Konkretes und Abstraktes – Aufbau des Sozialismus, 1952–1957 Auf Martens folgte 1952 Walther Eckermann, der bis dato an der Pädagogischen Fakultät der Universität Rostock die Geschichtsmethodik vertreten hatte. Dass Eckermann nach Greifswald ging, hatte im Wesentlichen zwei Ursachen. Zum einen war seitens des Staatssekretariats für Hochschulwesen beschlossen worden, in Rostock die Pädagogische Fakultät zu schließen und sie im Tausch mit der Landwirtschaftlichen Fakultät in die an der Universität Greifswald bestehenden Strukturen zu integrieren. 50 Der Wechsel Eckermanns folgte allerdings nicht automatisch; Eckermann hatte zur gleichen Zeit ein Angebot von der Universität Leipzig erhalten 51, das er aber wohl in erster Linie aufgrund seiner regionalen Bindung ausschlug. 52 Walther Eckermann wurde 1899 in Wittenberge als Sohn des Gymnasiallehrers August Eckermann geboren. Durch die Anstellungswechsel seines Vaters verbrachte er seine Jugend in Lübeck, Wernigerode und Rostock. Von 1917 bis 1918 nahm Eckermann als Soldat einer Fernsprecher-Abteilung am Krieg teil. 1918 erwarb er in Rostock das Abitur und nahm dort das Studium der Geschichte, Germanistik und Geographie auf. Parallel war Eckermann als Hauslehrer in Mecklenburg und Pommern tätig und promovierte 1922 im Bereich der Geographie zu den Siedlungen des nordöstlichen Mecklenburg. 1926 schloss er das Studium ab und nahm eine Stelle als Oberschullehrer am Fridericianum in Schwerin an. Im gleichen Jahr trat er wieder aus der NSDAP aus, der er 1925 beigetreten war. Nach der Machtergreifung Hitlers wurde Eckermann aufgrund seiner Mitgliedschaft in der Deutschen Friedensgesellschaft der Unterricht in der Oberstufe verweigert. Um weitere berufliche Nachteile zu vermeiden, trat er 1935 der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt und 1937 wieder der NSDAP bei. 1942 wurde Eckermann zur Wehrmacht eingezogen, wo er zuletzt als Meteorologe tätig war. Nach dem Kriegsende kehrte Eckermann an die Schule zurück. Bereits 1946 erteilte er in Schwerin Ausbildungskurse für die sogenannten Neulehrer, die nach 50 Vgl. ebd., 205–208. 51 Vgl. UAR, PA Eckermann, Walther: Dekan Pädagogische Fakultät Leipzig an Dekan Pädagogische Fakultät Rostock, 2.04.1952. 52 Neben der fachlich-thematischen Bindung an das Land ist zu berücksichtigen, dass Eckermann Frau und Kinder hatte, die in Rostock-Gehlsheim lebten. Eckermann bemühte sich allerdings nicht, sie nach Greifswald zu holen, wo er eine außereheliche Beziehung einging. Vgl. Die Behörde des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (im Folgenden: BStU), AOP, 196/56, Bd. 2, Bl. 203–205: Bericht des GI „Wolf“, 28.10.1955. Zur „beruflichen“ Bindung vgl. Eckermann, Walther, Rudolf Gahlbeck. Der Maler mecklenburgischer Landschaft, in: Die Mecklenburgische Heimat 10/1931, 7–8; ders., Mecklenburg, in: Der Türmer 33/1930–31, 10–16.

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den Massenentlassungen der alten, zumeist nationalsozialistisch belasteten Lehrkräfte an den Volksschulen eingesetzt werden sollten. Wenige Wochen später wurde Eckermann Leiter eines Schulungskurses in Ludwigslust, der älteren Geschichtslehrern die Chance eröffnete, weiterhin in ihrem Beruf tätig zu sein. Ein Jahr später, 1947, erhielt Eckermann einen Lehrauftrag für die Methodik des Geschichts- und Geographieunterrichts an der Pädagogischen Fakultät der Universität Rostock und trat – zum Beweis seiner Loyalität – der SED, der Einheitsgewerkschaft und der Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft bei. 53 Von Oktober 1949 bis Februar 1950 besuchte er die Parteihochschule „Karl Marx.“ Im gleichen Zeitraum erschien seine Einführung in das Studium der Geschichtswissenschaft, in der er, in Auseinandersetzung mit Bernheim, eine auf der Grundlage des historischen Materialismus fußende Methodik des Faches zu entwickeln versuchte. 54 Im November 1952 folgte die Berufung als Professor mit Lehrauftrag für die Methodik des Geschichts- und Geographieunterrichts an der Universität Greifswald. Kurz darauf wurde er zum Dekan der Pädagogischen Fakultät gewählt. 55 Eckermann brachte neben seinen wissenschaftlichen Ambitionen auch Mitarbeiter aus Rostock mit nach Greifswald. Peter Hintze und Friedrich Weitendorf waren allerdings nicht in der Lehre tätig, sondern arbeiteten an ihren Dissertationen. Unterstützung erhielt Eckermann durch seinen Assistenten Hans Greune, der ebenfalls promovierte. Im Bereich Methodik des Geographieunterrichts konnte Eckermann zwischen 1953 und 1956 zeitweise auf zwei Assistenten, Ruth Kuhn und Kurt Müller, sowie den Lehrbeauftragten Walter Schmidt zurückgreifen. 56 Weder Peter Hintze, der zum Zeitbewusstsein forschte, noch Hans Greune, den die psychologische Wirkung des Lehrervortrages beschäftigte, gelang es, ihre Promotion abzuschließen. 57 Greune veröffentlichte 1955 allerdings einen Band mit Geschichtserzählungen. 58 Ab 1956 war er hauptamtlicher Sekretär der Freien Deutschen Jugend (FDJ) an der Universität Greifswald. In dieser Funktion setzte er sich aktiv für die „ideologische Zertrümmerung der Schulreformer“ ein. 59 Spä53 Vgl. UAG, PA, Nr. 282 (Walther Eckermann). Vgl. auch UAR, PA Eckermann, Walter. In seinem 1952 verfassten Lebenslauf gab Eckermann an, bereits während des Nationalsozialismus Kontakt mit Antifaschisten gehabt und sich im Oktober 1945 zur Aufnahme in die KPD gemeldet zu haben. Nachweise ließen sich hierfür nicht finden. Vgl. ebd. Für die Angaben zur Mitgliedschaft in der NSDAP vgl. BStU, MfS HA XX, Nr. 5749. 54 Walther Eckermann, Neue Geschichtswissenschaft. Eine Einführung in ihr Studium, Rudolstadt 1949. 55 Vgl. UAG, PA, Nr. 282 (Walther Eckermann). Vgl. auch UAR, PA Eckermann, Walter. 56 Vgl. Personal- und Vorlesungsverzeichnis der Universität Greifswald (im Folgenden: PVV UG), Semester 1953/54–1955/56, passim. 57 Vgl. dazu UAG, Pädagogische Fakultät, Nr. 64: Eckermann an den IV. Parteitag der SED, 26.03.1954; UAR, 2.11.1 (Pädagogische Fakultät), Nr. 3: Eckermann an Dekan der Pädagogischen Fakultät, 28.06.1951. Vgl. dazu auch Demantowsky, Geschichtsmethodik, 201, Anm. 856, 857 und 860. 58 Hans Greune, Historische Erzählungen, Berlin 1955. 59 BStU, AOP, 196/56, Bd. 2, Bl. 194: Bericht Unteroffizier „Lämmchen“, 26.09.1955.

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ter beteiligte er sich u. a. an Lehrplandiskussionen und entwickelte Unterrichtshilfen für den Staatsbürgerkundeunterricht. 60 Peter Hintze hatte der Waffen-SS angehört und dies nach 1945 lange Zeit verheimlicht. Nach Bekanntwerden des Faktes endete seine akademische Karriere. Er wurde Oberschullehrer. 61 Friedrich Weitendorf, der sich die Frage nach dem Verhältnis zwischen Bildung und patriotischer Erziehung im Geschichtsunterricht der Grundschule gestellt hatte, beendete seine Promotion und erhielt 1953 den Doktorgrad. 62 Eckermann war damit der erste Geschichtsmethodiker der DDR, der eine Promotion abnahm und Greifswald damit die erste Universität, die einem Geschichtsmethodiker die akademische Weihe erteilte. Weitendorf übernahm später eine Stelle am Deutschen Pädagogischen Zentralinstitut (DPZI). 63 Unter seiner Leitung entstand 1961 das erste Methodische Handbuch für den Geschichtslehrer. 64 Vier Jahre später, 1965, legte Weitendorf seine Habilitation vor, die zur theoretischen Grundlage für die künftige Lehrplangestaltung wurde. 65 Eckermann selbst interessierte sich, ebenso wie sein Assistent Greune, mehr für die Frage, auf welche Weise sich das gegenstandslose Erkenntnisobjekt Geschichte veranschaulichen lässt. Eckermann plädierte für eine detaillierte Beschreibung, mit deren Hilfe abstrakte Begriffe und Konzepte erklärt bzw. hergeleitet werden sollen. In der Lehre betont Eckermann zudem die Bedeutung der Anschauungsmittel – modern formuliert der Medien des historischen Lernens. 66 Bereits seit 1950 schulte Albert Voll die Lehramtsstudierenden der Universität Greifswald in der Analyse von Bild, Funk, Photographie und Film und machte sie mit moderner Vorführtechnik vertraut. 67 Im Jahr 1956 entstand an der Universität eine Film- und Bildstelle, deren Leiter Kurt Ruttkowski fortan die Kurse des im gleichen Jahr verstorbenen Voll gab. 68 Dass es eine Zusammenarbeit zwischen

60 Hans Greune, Drei Gesellschaftsordnungen in einem Schuljahr, in: Geschichte in der Schule 12/1959, 211–212; ders. u. a., Unterrichtshilfen Staatsbürgerkunde 10. Klasse, 2. Teil: Zum Lehrplan 1970, Berlin 1970. 61 Vgl. BStU, AOP 196/56, Bd. 2, Bl. 204: Bericht GI „Wolf“, 28.10.1955. 62 Friedrich Weitendorf, Über das richtige Verhältnis von Bildung und patriotischer Erziehung im Geschichtsunterricht der Grundschule. Ein Beitrag zur Verwirklichung des Bildungs- und Erziehungsziels der deutschen demokratischen Schule, Greifswald 1953. Für eine Schilderung des Betreuungsverhältnisses zwischen Eckermann und Weitendorf sowie eine Einschätzung der Arbeit vgl. Rudolf Bonna, Die Erzählung in der Geschichtsmethodik von SBZ und DDR nebst einem Quellenband, Bochum 1996, 248–251. 63 Zur Biographie vgl. Friedrich Weitendorf verstorben, in: Geschichte und Staatsbürgerkunde 32/1990, 254; Friedrich Weitendorf 65 Jahre, in: ebd., 28/1986, 622. 64 Vgl. Friedrich Weitendorf u. a., Geschichtsunterricht. Methodisches Handbuch für den Lehrer, Berlin 1961. 65 Friedrich Weitendorf, Begriffliche Verallgemeinerung im Geschichtsunterricht der Klassen 5 bis 7, Berlin 1967. Vgl. dazu auch Demantowsky, Geschichtsmethodik, 348–350. 66 Vgl. PVV UG, Frühjahrssemester 1955/56, 76. 67 Vgl. PVV UG, Wintersemester 1950/51, 19. 68 Vgl. PVV UG, Frühjahrssemester, 1956/57, 20; PVV, Herbstsemester 1956/57, 3. Vgl. dazu auch UAG, Direktorat für Forschung, Nr. 123.

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Eckermann und Voll bzw. Ruttkowski gab, ist aufgrund der Tatsache, dass Eckermann Dekan der Fakultät war und den Forschungsauftrag „die Bedeutung der Anschauungsmittel für die Verwirklichung des Prinzips der Einheit des Konkreten und Abstrakten im Geschichtsunterricht der Mittelstufe der deutschen demokratischen Schule“

bearbeitete 69, mit großer Wahrscheinlichkeit anzunehmen; direkte Nachweise ließen sich allerdings nicht finden. Neben der Forschung interessierte sich Eckermann auch für Hochschulpolitik, was sich u. a. an der Übernahme der kommissarischen Leitung des Instituts für systematische Pädagogik und Geschichte der Pädagogik und in seinem Kreistagsmandat dokumentiert. 70 Dass er dabei auch seine eigene Meinung vertrat, zeigt sein Engagement in der Diskussion um die Schaffung Pädagogischer Institute, die 1953 nach sowjetischem Vorbild die Ausbildung der Mittelschullehrer zu übernehmen hatten, während die Oberschullehrer ihren Abschluss weiterhin an den Universitäten erlangen sollten. Konkret bedeutet dies die Auflösung der Pädagogischen Fakultäten, die Schaffung zentraler Pädagogischer Institute und die Eingliederung einzelner Mitarbeiter der alten Pädagogischen Fakultäten in neue den Philosophischen Fakultäten angegliederte Institute. 71 Eckermanns Protest72,

69 UAG, Direktorat für Forschung, Nr. 120: Jahresbericht Eckermann 1955, 20.01.1956. Für eine Beschreibung des Forschungsprojekts vgl. UAG, Direktorat für Forschung, Nr. 156: Jahresbericht Abt. Geschichte am Institut für Unterrichtsmethodik, 1954, 01.02.1955. Dort heißt es: „Da der Stoff des Geschichtsunterrichts nicht mehr unmittelbar anschaubar ist, muss der vom Lehrer rekonstruierend so dargestellt werden, dass die Schüler lebendige Vorstellungen vom historischen Geschehen entwickeln können. Das geschieht durch die plastische Schilderung des Lehrers, in der dieser durch die Verwendung von Worten sowie von Anschauungsmitteln mit konkretem Inhalt die Schüler befähigt, das durch den Vortrag angesprochene 2. Signalsystem unmittelbar mit dem 1. zu verbinden. Dieser Vorgang bildet gleichzeitig eine Grundlage für die Verwirklichung des Erziehungszieles im Geschichtsunterricht, denn die Schüler der Grundschule können nur dann die zur Parteinahme notwendigen positiven Emotionen entwickeln, wenn sie durch die anschauliche Darbietung die entsprechend enge Beziehung zum historischen Gesehen gewonnen haben.“ Um den Schülern die Möglichkeit zu geben, das Abstrakte erkennen zu können, „muss der Lehrer bereits in der Darbietung diese (wesentlichen) Eigenschaften hervorheben. (…) Die doppelte Funktion der Anschauungsmittel (Veranschaulichung des Konkreten und Verdeutlichung des Abstrakten) entspricht ihrem Inhalt und ergibt sich aus ihrem Erkenntniswert.“ Vgl. auch Walther Eckermann, Zur Frage der Verwirklichung der Einheit von Konkreten und Abstrakten im Unterricht der Grundschule, in: Pädagogik 9/1954, 337–354 [auch in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Ernst-MoritzArndt-Universität Greifswald, Gesellschafts- und sprachwissenschaftliche Reihe 4/1954–55, 43, und 5/1955–56, 69–86]; ders., Zur Frage der Verwirklichung der Einheit des Konkreten und Abstrakten im Geschichtsunterricht, in: Pädagogik 10/1955, 729–739 und 809–820; ders., Zur Frage der Verwirklichung der Einheit des Konkreten und Abstrakten im Geschichtsunterricht. Beiträge zur Methodik des Geschichtsunterrichts, Berlin 1957. 70 Vgl. UAG, PA, Nr. 282 (Walther Eckermann). 71 Vgl. W. G. Karzow, Über Aufgaben und Inhalt der Methodik des Geschichtsunterrichts, in: Geschichte in der Schule 8/1955, 345–349.

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ebenso wie der vieler anderer Kollegen, konnte diese Strukturreform freilich nicht verhindern. Wenig später entstanden – die Pädagogische Hochschule in Potsdam als Vorbild nehmend – Pädagogische Institute in Erfurt, Güstrow, Halle, Leipzig, Mühlhausen und Dresden, wo die Ausbildung der Geschichtslehrer für die Mittelschulen erfolgen sollte. 73 1955 wurden die Pädagogischen Fakultäten in Jena, Leipzig, Rostock und Greifswald geschlossen, wo Eckermann zum Direktor des neu geschaffenen Instituts für Pädagogik und wenige Wochen später zum Prodekan der Philosophischen Fakultät gewählt wurde. 74 Für die Arbeit am Forschungsauftrag, in dessen Rahmen 1955 erste Schulversuche durchgeführt wurden, bedeutete „die Umgestaltung der Fakultät in ein Institut und die dadurch hervorgerufene Mehrbelastung“ Eckermanns einen vorläufigen „Stillstand.“ 75 Vor diesem Hintergrund ist die Einschätzung Demantowskys, die Auflösung der Fakultäten sei eine „Rückstufung“, nicht ganz unzutreffend. 76 Man könnte es im Sinne Bernheims aber auch positiv werten und von einer dadurch wieder möglich werdenden engeren Verbindung von Fach und Methodik sprechen. Im Personal- und Vorlesungsverzeichnis taucht die Methodik tatsächlich vom Herbstsemester 1954/55 bis zum Herbstsemester 1956/57 beim jeweiligen Fach mit auf. Mit dem Frühjahrssemester 1957/58 erfolgte die Zuordnung indes wieder zur Pädagogik. Anders als die bereits erwähnten Strukturmaßnahmen von 1949 und 1952 betraf die von 1955 in erster Linie nicht nur die Form, sondern durch die fast zeitgleich gestartete Initiative zur Ausarbeitung verbindlicher Hochschullehrbücher in weitaus stärkerem Maße auch die Lehrinhalte. In die Kommission zur Erarbeitung eines Handbuchs Geschichtsmethodik berief das Staatssekretariat für Hochschulwesen die Großen der Zeit, Walther Strauß (Berlin), Friedrich Donath (Leipzig), Bernhard Stohr (Dresden), der allerdings später unfreiwillig ausschied, und auch Walther Eckermann, der bereits als Gutachter für die „vom Verlag Volk und Wissen neu entwickelten Lehrbücher für den Geschichtsunterricht in der Grundschule“ tätig war. 77 Das von der Kommission 1958 vorgelegte Manuskript wurde je72 UAG, Pädagogische Fakultät, Nr. 21: Eckermann / Wegner an Ministerrat der DDR, 5.08.1953. 73 Vgl. dazu Demantowsky, Geschichtsmethodik, 2003 (wie Anm. 4),186–189. Die Trennung ließ sich allerdings nicht strikt umsetzen. Die Pädagogischen Institute waren nicht der Lage, die geforderten Zahlen an Mittelschullehrern auszubilden, so dass ab 1956 an den Universitäten wieder die Immatrikulation von Mittelstufenlehrern möglich war, was sich in den Personal- und Vorlesungsverzeichnissen im Wiederauftauchen gesonderter Kurse zeigt. Vgl. allgemein Sonja Häder / Heinz-Elmar Tenorth (Hgg.), Bildungsgeschichte einer Diktatur, Weinheim 1997. Für Greifswald vgl. etwa PVV, Frühjahrssemester 1957/58, 77. 74 Vgl. UAG, PA, Nr. 282 (Walther Eckermann). 75 UAG, Direktorat für Forschung, Nr. 120: Jahresbericht Eckermann 1955, 20.01.1956. Hinzu kam eine „hartnäckige Regenbogenhautentzündung, die [Eckermann] am Lesen und Schreiben hinderte.“ Ebd. Vgl. in diesem Zusammenhang auch UAG, Direktorat für Forschung, Nr. 120: Jahresforschungsbericht Institut für Pädagogik, 1955, 31.01.1956. 76 Demantowsky, Geschichtsmethodik, 65. 77 Vgl. UAG, Direktorat für Forschung, Nr. 120: Jahresbericht Eckermann 1955, 20.01.1956.

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doch abgelehnt, da die „Fragen der sozialistischen Erziehung nur unzureichend (…) behandelt“ worden seien. 78 Der sich hierin dokumentierende Anspruch der Staats- und Parteiführung zeigte und konkretisierte sich wenig später im Erlass neuer Studienpläne für die Lehrerausbildung, die an denen der Pädagogischen Institute orientiert waren und zum 1. September 1958 in Kraft traten. Neu war zum einen der Zwang zum Erwerb der russischen Sprache für alle Studierenden und die Einführung von obligatorischen Praktika während der vorlesungsfreien Zeit in der Landwirtschaft oder in der Industrie, zum anderen die Verlängerung des Studiums für Mittelstufenlehrer von zwei auf vier Jahre und die Ausdehnung des fachmethodischen Anteils von bislang acht auf zehn SWS. Für Eckermann scheinen diese beiden Zurückweisungen als Hochschulpolitiker und Geschichtsmethodiker nicht besonders problematisch gewesen zu sein. Seit längerem hegte er den Wunsch eines Wechsels in die Geschichtswissenschaft. Bereits 1952 war ihm dieser auch in Aussicht gestellt worden. 79 Eckermann begann daraufhin mit den Arbeiten an seiner Habilitation zur „Entwicklung der Wollmanufaktur im Mecklenburg des 18. Jahrhunderts.“ Das Thema wurde zurückgewiesen, Eckermann wählte offiziell ein anderes 80, bearbeitete das alte jedoch weiter und schloss es 1954 auch ab. Nun wandte er sich hilfesuchend an seinen befreundeten Berliner Kollegen Strauß, der für den Fall, dass Eckermann dem Manuskript einen „pädagogischen Charakter“ gäbe, ein Habilitationsverfahren durchführen werde. Eckermann befolgte den Hinweis, indem er einige Phrasen einstreute und einen methodischen Teil formulierte. 81 1955 wurde die Arbeit an der Pädagogischen Fakultät der Humboldt-Universität als Habilitation angenommen und Eckermann ein Jahr später auf den Lehrstuhl für deutsche Geschichte an der Pädagogischen Hochschule Potsdam berufen. Hier lehrte er bis zu seiner Emeritierung im Jahr 1964. 82 Eckermann war ebenso wie Martens karrierebewusst und in einem gewissen Maße eitel. Dem Ministerium für Staatssicherheit, das den ehemaligen Nazi überwachte, galt er als „typischer kleinbürgerlicher Intellektueller“, der durch Liebesaffären negativ auffiel. 83 Die nachfolgenden Greifswalder Geschichtsmethodiker indes verwiesen auf den „Wert“ seiner wissenschaftlichen Arbeit, insbe-

78 Vgl. Demantowsky, Geschichtsmethodik, 257–259. Für das Zitat vgl. ebd., 259. 79 UAR, PA Eckermann, Walther: Staatssekretariat für Hochschulwesen an Eckermann, 9.08.1952. 80 Vgl. UAR, 2.11.1 (Pädagogische Fakultät), Nr. 3. Als Arbeitstitel ist dort „Der Strukturwandel an den Oberschulen Mecklenburgs 1945–50“ notiert. 81 Demantowsky, Geschichtsmethodik, 202. 82 Vgl. Walther Eckermann zum Gedenken, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 27/1979, 362; Lothar Mertens, Lexikon der DDR-Historiker: Biographien und Bibliographien zu den Geschichtswissenschaftlern aus der Deutschen Demokratischen Republik, München 2006, 192. 83 Vgl. etwa BStU, AOP, 196/56, Bd. 2, Bl. 204: Bericht GI „Wolf“, 28.10.1955.

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sondere des Aufsatzes zur Einheit von Konkretem und Abstrakten 84, mit dem Eckermann, „die theoretische Grundlage dafür geliefert“ habe, „wie der Unterricht zu gestalten sei.“ 85 Die von Eckermann angeregte Forschung zum Einsatz und zur Wirkung einzelner Unterrichtsmittel sollte in Greifswald zum Schwerpunkt der Geschichtsmethodik werden. Nach dem Fortgang Eckermanns blieb die Geschichtsmethodik in Greifswald für zwei Semester unbesetzt, Vorlesungen fanden nicht mehr statt. 86 Der im Frühjahrssemester 1955/56 für den ausgeschiedenen Greune neu eingestellte Assistent, Ulrich Schmidt, wechselte zum Herbstsemester ebenfalls an die Pädagogische Hochschule Potsdam. 87 Geeigneter wissenschaftlich qualifizierter Nachwuchs war weder in Greifswald noch an den anderen Universitäten der DDR vorhanden. Weitendorf, der Doktorand Eckermanns, machte am DPZI Karriere und der zweite zu diesem Zeitpunkt in der Geschichtsmethodik Promovierte, Florian Osburg, war zwar kurz ins Gespräch gebracht 88, dann aber ins Staatssekretariat für Hochschulwesen versetzt worden. Als Referent für Pädagogik oblag ihm allerdings die Wiederbesetzung der Greifswalder Stelle. Osburg schlug den in Leipzig an seiner Promotion zu Problemen des Dokumentarfilms im Geschichtsunterricht arbeitenden Alfried Krause vor. 89 Krause indes hatte wenig Erfahrung, er war erst seit zwei Jahren an der Universität. In Greifswald favorisierte man deshalb Manfred Radtke, der dem dortigen Institut für Pädagogik angehörte und kommissarisch die Abteilung Geschichte der Pädagogik leitete. 90 Radtke lehnte jedoch ab. 91 VI. Emotionale Wirksamkeit und audiovisuelle Unterrichtsmittel, 1957–1989 1. Etablierung des Forschungsschwerpunktes Im Frühjahrssemester des Studienjahres 1957/58 nahm Alfried Krause als Oberassistent seine Tätigkeit in Greifswald auf. 1922 im ostpreußischen Sternsee geboren, wurde er nach Abschluss des Abiturs am Gymnasium Allenstein 1941 einberufen. Zunächst wurde er im „Osten, dann in Österreich eingesetzt.“ Das Kriegsende erlebte Krause in amerikanischer Kriegsgefangenschaft, anschließend begab er sich in der Nähe von Leipzig. Dort besuchte er einen der Neulehrerkurse, wechselte dann aber schnell an die Universität. Nach dem Studium wirkte Krause vier 84 Vgl. Eckermann, Einheit. 85 Romann, Geschichtsmethodik, 18–19. 86 Anfang 1957 nahm Eckermann letztmalig das Staatsexamen ab. Vgl. UAG, Direktorat für Forschung, Nr. 121: Jahresbericht Institut für Pädagogik, 1956, 17.01.1957. 87 Ebd. Vgl. auch PVV, Frühjahrssemester 1955/56, 31. 88 Vgl. Demantowsky, Geschichtsmethodik, 202, Anm. 869. 89 Vgl. ebd., 203. 90 Vgl. PVV, Herbstsemester 1956/57, 34. 91 UAG, Philosophische Fakultät, Nr. 32: Radtke an Dekan, 24.09.1957.

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Jahre lang als Lehrer. 1955 erhielt er eine Stelle als wissenschaftlicher Assistent bei Donath, der als einer der ersten empirische Unterrichtsforschungen betrieb. Am methodischen Vorgehen seines Lehrers orientiert, untersuchte Krause den Einfluss des Mediums Film auf Schülerleistungen. Eine wesentliche Grundlage bildeten dabei amerikanische Lehr- und Propagandafilme sowie deren wissenschaftliche Reflexion. Bereits im ersten Jahr der Promotion forderte Krause das DPZI auf, seinem Forschungsthema mehr Aufmerksamkeit zu widmen und langfristig die Produktion von Unterrichtsfilmen anzuregen. 92 Die Aufforderung, die Geschichtsdidaktik in Greifswald zu übernehmen, muss Krause wenig zugesagt haben. Hinzu kam, dass die Bedingungen des Neuanfangs in Greifswald durchaus ungünstig waren. Einerseits soll er sich verpflichtet haben müssen, bis zum Ende des Jahres 1957 seine Promotion abzuschließen 93, andererseits fehlten sowohl die Personalstellen als auch die Räume, die man der Greifswalder Geschichtsmethodik unter Eckermann zugesprochen hatte. Krause musste jedoch nicht, wie anfänglich geplant, in die alte Waschküche oder die Umkleideräume eines Kindergartens ziehen 94 und brauchte auch nicht alleine anfangen. Ihm zur Seite stand Eckhard Behling, der seit 1945 als Neulehrer tätig war und nun als Lektor vor allem die Betreuung der Schulpraktika übernahm. Krause gab eine Vorlesung zur Allgemeinen Methodik des Geschichtsunterrichts und ein Seminar „Zur Rekonstruktion des Historischen im Unterricht.“ 95 Ein solch spezifisches Seminar wurde trotz der hohen Arbeitsbelastung auch in den Studienjahren 1958/59 und 1959/60 angeboten. 96 Der hier deutlich werdende Widerspruch „zwischen Überlastung durch die anfallenden Arbeiten und der Notwendigkeit der eigenen Qualifikation“, bestand an allen Sektionen mit Ausnahme der Mathematik und Physik. 97 Mit Blick auf die Geschichtsmethodik hielt der Jahresbericht des Instituts für Pädagogik fest: „Diese Sektion (Unterabteilung) ist erst seit dem Herbstsemester durch einen Oberassistenten und einen Lektor besetzt. Diese betreuen 98 Studierende. Die Betreuung von 98 Studierenden durch nur einen Oberassistenten und einen Lektor führt zu einer starken Belastung der beiden

92 UAG, Phil. Fak. II, Nr. 1/53: Personalbogen Krause, 1967. Vgl. auch Demantowsky, Geschichtsmethodik, 240–241. 93 Vgl. ebd., 203. In den Akten fand sich allerdings lediglich der Hinweis: „Die Promotion wird voraussichtlich im F.S. 1958 abgeschlossen“, UAG, Direktorat für Forschung, Nr. 121: Jahresbericht Institut für Pädagogik, 1957, 15.01.1958. 94 Vgl. UAG, Philosophische Fakultät, Nr. 32: Radtke an Verwaltungsdirektor, 11.07.1958. Vgl. auch Demantowsky, Geschichtsmethodik, 204. 95 Vgl. PVV, Frühjahrssemester 1957/58, 77. 96 Die Seminare thematisierten „Probleme der Stoffauswahl“ und der „audio-visuellen Veranschaulichung.“ Vgl. PVV, Herbstsemester 1958/59, 87; PVV, Frühjahrssemester 1959/60, 91. 97 UAG, Prorektor für Gesellschaftswissenschaften, Nr. 83: Ziele und Aufgaben der sozialistischen Lehrerausbildung. In der Geschichte waren zu diesem Zeitpunkt 146 Lehramtsstudenten eingeschrieben. Die drei Lehrenden hatten ein Lehrangebot von 52 Stunden vorzuhalten. Vgl. ebd.

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Herren. Die Übungsstunden umfassen im Durchschnitt 7 Studenten. Eine gedeihliche Arbeit in der Gruppe ist deshalb nicht immer möglich. Es müssen einige Studenten ins Berufspraktikum geschickt werden, die noch nicht einmal vor der Klasse gestanden haben. Es wird deshalb gebeten, entsprechende Mittel für die Honorierung von nebenamtlichen Mentoren (etwa 6) bereitzustellen, da dann die Gruppen auf etwa 5 Studenten verkleinert werden können.“ 98

Statt Lehrer aus der Umgebung verpflichten zu müssen, gelang es 1958, Martin Richter, der in Leipzig bereits als Hilfskraft für Krause gearbeitet und bei diesem auch seine Diplomarbeit geschrieben hatte, als Assistent nach Greifswald zu holen. 99 Die Arbeitsbelastung blieb jedoch: „Im Frühjahrssemester wurden 32 Lehrveranstaltungen mit 192 Studenten, im Herbstsemester 39 Veranstaltungen mit 266 Studenten durchgeführt.“ 100 Gleichwohl gab Krause bis 1963 neben dem allgemeinen Methodikveranstaltungen und den SPÜ auch wieder spezielle Seminare, so zur „Einführung in die Unterrichtsforschung“, zu „Problemen der audiovisuellen Veranschaulichung“, zu „Problemen der Stoffauswahl und Stoffanordnung“ und zur „Entwicklung der Selbsttätigkeit der Schüler im Geschichtsunterricht durch die Verwendung von Lehrmitteln.“ 101 Nach längerer Pause bot er im Frühjahrssemester 1967/68 eine Veranstaltung zu „Probleme[n] des präzisierten Lehrplans“ an. 102 In den folgenden Jahren lassen sich derartige Veranstaltungen nicht mehr nachweisen. Dies ist zum einen dem Quellenproblem geschuldet – ab 1970 wurden keine Personal- und Vorlesungsverzeichnisse mehr gedruckt 103 – zum anderen eine Konsequenz der formalen und inhaltlichen Vereinheitlichung der Studiengänge in der DDR. Doch noch einmal zurück: Neben Krause hatten auch Richter und Behling ein ausgesprochenes Interesse an der Forschung. Während Richter, wie Krause, zum Einsatz und zur Wirkungsweise des Films arbeitete 104, interessierte sich Behling für „die schulpolitische Entwicklung Mecklenburgs von 1945 bis zur Gegenwart.“ 105 Im Herbstsemester 1958/59 gab er ein Seminar zum „Anteil des Ge-

98 UAG, Direktorat für Forschung, Nr. 121: Jahresbericht Institut für Pädagogik, 1957, 15.01.1958. 99 Vgl. PVV, Frühjahrssemester 1958/59, 34. 100 UAG, Direktorat für Forschung, Nr. 122: Jahresbericht Institut für Pädagogik, 1958, 20.01.1959. Vgl. dazu auch Zeitzeugeninterview Martin Richter, 9.08.2013. Privatarchiv (PA) Buchsteiner. 101 Vgl. PVV, Herbstsemester 1958/69, 87; PVV, Frühjahrssemester 1959/60, 91; PVV, Herbstsemester 1959/60, 90; PVV, Herbstsemester 1962/63, 114. 102 Vgl. PVV, Frühjahrssemester 1967/68, 112. 103 Eine Ausnahme bildet das Personalverzeichnis von 1973, das jedoch nur für den Dienstgebrauch vorgesehen worden. Vgl. Personalverzeichnis der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald 1973, hrsg. vom Rektorat, Greifswald 1972. 104 Für den Arbeitstitel „Die Festigung des Lehrstoffes mit Hilfe audio-visueller Lehrmittel im Geschichtsunterricht“ vgl. UAG, Direktorat für Forschung, Nr. 122: Jahresbericht Institut für Pädagogik, 1958, 20.01.1959. 105 Vgl. UAG, Pädagogische Fakultät, Nr. 44: Aktennotiz. Vgl. auch UAG, Direktorat für Forschung, Nr. 122: Jahresbericht Institut für Pädagogik, 1958, 20.01.1959.

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schichtsunterrichts an der Ausbildung sozialistischer Überzeugung.“ 106 Wenig später geriet Behling, mittlerweile zum Sekretär der Grundorganisation der SED „Geschichte, Kunsterziehung und Musikwissenschaft“ gewählt, in das Visier der Staatssicherheit. Behling hatte sich bei einem Arzt in Barth Literatur ausgeliehen, die in der DDR auf dem Index stand. Die Grundorganisation der SED, zu der auch seine Kollegen Krause und Richter gehörten 107, schloss ihn daraufhin aus der Partei aus und schlugen vor, auch das Dienstverhältnis zu beenden. 108 Behling ging daraufhin an die Schule zurück. Für ihn sprang im Studienjahr 1959/60 Christa Wagner als Lektorin ein. Sie war bis zu diesem Zeitpunkt Lehrerin an der KrullSchule in Greifswald. Ihr Mann, der Leiter des Pharmazeutischen Instituts der Universität, erhielt wenig später eine Stellung in Leipzig. Christa Wagner folgte ihm dorthin. 109 Ihr Fortgang markierte zugleich einen Neubeginn. Dieser neue Anfang ließe sich auch mit der Promotion Krauses „Zur Rekonstruktion des Historischen mit Hilfe des dokumentarischen Laufbildes“ 1960 in Leipzig datieren. 110 Kurz darauf erhielt die Geschichtsmethodik in Greifswald zwei zusätzliche Assistentenstellen. Nach den Sanktionen, die Krause – so Demantowsky – infolge der nicht eingehaltenen Selbstverpflichtung gedroht hatten 111, wirkt dies wie eine Belohnung. Tatsächlich dürfte neben dem Fortgang Wagners die Wiederzulassung der Ausbildung von Mittelstufenlehrer, die bekanntlich an die Pädagogischen Institute ausgelagert worden war, und die sich verzögernde Wiederaufnahme der Geschichtslehrerausbildung in Rostock der

106 Vgl. PVV, Herbstsemester 1958/59, 87. 107 Krause, der in einem sozialdemokratischen Milieu aufgewachsen war, trat 1946 der SED bei. UAG, Phil. Fak. II, Nr. 1/53: Personalbogen Krause, 1967. Irrtümlich ist dort das Jahr 1945 vermerkt. Demantowsky gibt an, Krause sei 1946 Mitglied der SPD gewesen und erwähnt, dass Krause in seinem der Dissertation beigefügten Lebenslauf, behauptete, 1945 in die KPD eingetreten zu sein. Vgl. Demantowsky, Geschichtsmethodik, 205, Anm. 886. Letztere Angabe fand sich nicht belegt, erstere kann anhand der Akten (noch) nicht überprüft werden. Krause selbst widersprach beiden. Vgl. Zeitzeugengespräch Alfried Krause, 9.08.2013, PA Buchsteiner. Richter war der SED 1947 beigetreten. Vgl. Zeitzeugengespräch Martin Richter, 9.08.2013, ebd. 108 Vgl. dazu Demantowsky, Geschichtsmethodik, 204–205. 109 Vgl. Zeitzeugengespräch Martin Richter, 29.01.2014, PA Buchsteiner; PVV, Frühjahrssemester 1959/60, 33. 110 Vgl. Alfried Krause, Zur Rekonstruktion des Historischen mit Hilfe des dokumentarischen Laufbildes im Geschichtsunterricht der 7. und 8. Klasse, Diss. Leipzig, Ms. 1960. Vgl. dazu auch Alfried Krause, Der Film im Geschichtsunterricht, Berlin 1962. 111 Demantowsky verweist auf Gehaltsabzüge, die der Dekan der Philosophischen Fakultät in einem Schreiben an den Direktor des Instituts für Pädagogik forderte. Vgl. Demantowsky, Geschichtsmethodik, 203. Nachweisen ließen sich diese jedoch nicht. Vgl. in diesem Zusammenhang auch UAG, Direktorat für Forschung, Nr. 122: Jahresbericht Institut für Pädagogik, 1958, 20.01.1959. Dort heißt es unter dem Stichpunkt Promotionen zu Krause „Die Rekonstruktion des Historischen mit Hilfe des dokumentarischen Laufbildes im Geschichtsunterricht der Mittelstufe“ – „fertig.“

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Grund für die Personalentscheidung gewesen sein. 112 Zu berücksichtigen ist in diesem Zusammenhang nicht zuletzt, dass die Greifswalder Geschichtsmethodik fortan auch für die Methodik des Staatsbürgerkundeunterrichts verantwortlich war. Bereits ein Jahr zuvor, 1959, war Krause die Leitung des Autorenkollektivs zum Staatsbürgerkundelehrbuch für die Klasse 9 übertragen worden. 113 In der Lehre vertrat vor allem Richter den neuen Studiengang, der 1963 allerdings wieder geschlossen und an das Pädagogische Institut in Güstrow verlegt worden war. 114 Dessen ungeachtet wurden bis Mitte der 1970er Jahre in Greifswald ausgebildete Geschichtslehrer häufig als Staatsbürgerkundelehrer eingesetzt, was den Direktor der Sektion Geschichtswissenschaft Johannes Schildhauer veranlasste, die Gründung einer Sektion für Staatsbürgerkunde zu fordern. 115 Hierzu kam es jedoch nicht. Der Schwerpunkt blieb die Geschichtsmethodik, im Speziellen die Unterrichtsmittelforschung. Krause profilierte sich hier einerseits durch eine entsprechende Mitarbeit an dem durch Weitendorf herausgegebenen methodischen Handbuch 116, andererseits durch die gezielte Vergabe von Promotionsthemen. Die 1960 eingestellten Assistenten Wolfgang Schütz und Heinz Ebermann arbeiteten, ebenso wie Richter, zur Wirkung von Unterrichtsfilmen auf Lern- und Behaltensleistungen der Schüler. Bereits zwei Jahre nach ihrer Besetzung waren beide Assistentenstellen jedoch wieder frei. Ebermann übernahm von 1962 bis 1965 das Amt des 1. Sekretärs der FDJ-Hochschulgruppe. 117 Schütz war von 1962 bis 1964 im Schuldienst tätig. Der Grund für diese Unterbrechung lag in Anforderungen an eine akademische Karriere im Bereich der Pädagogik. Seit Mitte der 1950er Jahre war neben der wissenschaftlichen Qualifikationsschrift, eine zweijährige Berufserfahrung und eine ebenfalls zweijährige hauptamtliche Tätigkeit im gesellschaftlichen Bereich, etwa in einer der Massenorganisationen, notwendig. Um die Lehre aufrechtzuerhalten, war Krause gezwungen, sich nach neuen Mitarbeitern umzusehen. Hier half ihm der persönliche Kontakt zu Carl Heinz

112 Vgl. dazu auch UAG, Prorektor für Gesellschaftswissenschaften, Nr. 23: Heinz Quitzsch / Horst Gärtner: Prognostische Einschätzung zur Profilierung der Ernst-Moritz-ArndtUniversität Greifswald bis 1980 (2. Fassung), August 1967. Dort heißt es, die Lehramtsausbildung solle an der Universität Greifswald Schwerpunkt werden. Perspektivisch ging man von einer Verdopplung der Lehramtsstudenten aus. Für das Fach Geschichte, das in der Kombination mit Kunst, Slawistik oder Sport angeboten werden sollte, bedeute dies 40 Studenten pro Jahr. 113 UAG, Direktorat für Forschung, Nr. 205: Jahresbericht Institut für Pädagogik, 1959, 10.01.1960. 114 Vgl. PVV, Semester 1960/61, 1961/62, 1962/63, passim. 115 UAG, Wissenschaftlicher Rat, Nr. 101: Sitzungsprotokoll der Gesellschaftswissenschaftlichen Fakultät, 20.03.1974. 116 Vgl. UAG, Direktorat für Forschung, Nr. 205: Jahresbericht Institut für Pädagogik, 1959, 10.01.1960. Vgl. dazu auch Weitendorf, Handbuch. 117 Vgl. PVV, Semester 1962/63, 1963/64 und 1964/65, passim. Wahrscheinlich war er anschließend im Schuldienst tätig.

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Splanemann, einem der Lektoren am Institut für Kunsterziehung. 118 Dessen 1926 in Parchim geborene Frau Ilse Splanemann hatte 1946 einen Neulehrerkurs absolviert und war seit den 1950er Jahren Lehrerin für Deutsch und Geschichte an der Krull-Schule in Greifswald. Krause ließ sie die Prüfungen zum Oberstufenexamen absolvieren und setzte ihre Einstellung als wissenschaftliche Mitarbeiterin durch. 119 Die zweite Stelle besetzte Krause mit Martin Herzig, der bei ihm Student gewesen war und gerade seine Prüfung abgeschlossen hatte. Beide erhielten im Rahmen der inhaltlichen Schwerpunktsetzung Krauses Promotionsthemen. Splanemann erforschte – an die Arbeiten des Instituts für Kunsterziehung anknüpfend – die Wirkung von Bild und Ton auf die Urteilsbildung von Schülern. Sie suchte damit zugleich das theoretische Konzept zur Entwicklung eines sozialistischen Geschichtsbewusstseins, das Krause vertrat, umzusetzen. 120 Herzig indes widmete sich dem Einfluss des Fernsehens. 121 Er unterstützte damit Krauses Tätigkeit als Mitglied der Anfang der 1960er Jahre am DPZI gegründeten zentralen Forschungsgemeinschaft „Schule und Fernsehen.“ Im Juli 1963 präsentierte Krause auf der in Greifswald stattfindenden Jahrestagung der Geschichtsmethodiker der DDR erstmals die Forschungsergebnisse seiner Abteilung. Splanemann und Richter, der gerade seine Dissertation abgeschlossen hatte 122, referierten zum Einsatz von Bild und Ton und wiesen dessen Eignung nach, eine gefühlsmäßige Parteilichkeit zu erzeugen. Im Anschluss führten die Greifswalder Geschichtsmethodiker einen auf der Grundlage ihrer Erkenntnisse entwickelten Lehrfilm zum „militärischen Verlauf des ersten Weltkrieges“ vor. Die Produktion, die zunächst – so der Wunsch Krauses – vom DPZI getragen werden sollte, nach dessen Zurückweisung jedoch in Eigeninitiative und durch die technische Unterstützung der Hochschulbildstelle realisiert worden war, stieß auf breite Zustimmung. Das DPZI, das durch den Leiter der Sektion 5 Unterrichtsmittel, Gerhard Lietze vertreten war, gab sich ebenfalls überzeugt, lehnte mit Verweis auf den Arbeitsaufwand und die Kosten aber erneut eine Zusammenarbeit ab. Angeblich stimmte der Schweriner Bezirksschulrat Lietze um, indem er drohte, sich direkt an Walter Ulbricht zu wenden, würde das DPZI bei seiner Haltung bleiben. 123 Die Erfolgsaussichten einer solchen Beschwerde beim Staatsrats-

118 Vgl. PVV, Herbstsemester 1962/63, 48. Splanemann war seit 1956 an der Universität angestellt. Vgl. PVV, Frühjahrssemester 1956/57, 33. 119 Zeitzeugengespräch Martin Richter, 29.01.2014. PA Buchsteiner. 120 Vgl. Ilse Splanemann, Tonbildreihe und Radiovision im Fach Geschichte unter besonderer Berücksichtigung ihres Beitrags zur Entwicklung des sozialistischen Geschichtsbewusstseins, Diss. Greifswald, Ms. 1971. 121 Vgl. Martin Herzig, Probleme des Verhältnisses von Fernsehen und Geschichtsunterricht unter besonderer Berücksichtigung des Schülerprogramms des Deutschen Fernsehfunks, Diss. Greifswald, Ms. 1967. 122 Vgl. Martin Richter, Der Unterrichtsspielfilm als Mittel zur Erlangung dauerhafter Kenntnisse im Geschichtsunterricht der 9. Klasse untersucht am Beispiel einer vergleichenden Betrachtung von Unterrichtsspielfilm und Hörszene, Diss. Greifswald, Ms. 1963. 123 Vgl. Romann, Geschichtsmethodik, 26–27 und 37.

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vorsitzenden waren durchaus gut, hatte dieser doch wenige Monate zuvor auf dem VI. Parteitag der SED die „Entwicklung von modernen Unterrichtsmitteln“ gefordert. 124 1964 entstand innerhalb der zentralen Forschungsgemeinschaft „Schule und Fernsehen“, zu deren Mitgliedern auch Krause zählte, am Historischen Institut der Universität Greifswald eine Arbeitsgemeinschaft „Fernsehen und Geschichtsunterricht.“ Ihr gehörten neben Krause, Richter, und Herzig die Fachhistoriker Herbert Langer und Klaus Spading als ständige Mitglieder an, die wechselnd von „rund 20 Geschichtslehrer[n]“ unterstützt wurden. 125 Das Jahr 1963 war darüber hinaus in zwei weiteren Punkten für die Greifswalder Geschichtsmethodik prägend. Zum einen wurde im Studienplan der Diplomlehrer ein schulpraktisches Semester eingeführt. 126 Auf diese Weise hoffte man, der allgemeinen Kritik, „viele Absolventen [würden] ihre Unterrichtsfächer zwar theoretisch einigermaßen“ beherrschen, seien „aber unzureichend über die konkrete Anwendung ihrer wissenschaftlichen Disziplin in der Praxis orientiert“, entgegenzuwirken. In der der Änderung vorangegangenen, durch das Staatssekretariat für Hochschulwesen initiierten Diskussion zur Verbesserung der Situation hatte die Philosophische Fakultät der Universität Greifswald erklärt: „Viele Absolventen verstehen es unzureichend, aus der Fülle des Stoffes das für die Schüler Faßliche und den Lehrplananforderungen entsprechende Wesentliche herauszuheben und in solcher Weise darzustellen, daß die Schüler alles richtig und dauerhaft begreifen.“

Zur Lösung des Problems schlug sie eine Art Orientierungspraktikum vor; Studierende sollten verstärkt als Pionierleiter an den Schulen eingesetzt werden. 127 In der Folge betreuten z. T. vier Studenten die Pioniergruppe einer einzelnen Klasse. 128 Die „politisch-pädagogische Tätigkeit der Lehrerstudenten im Grundstudium“ wurde daher wenig später auf andere Bereiche, wie die Propagandaarbeit im Rahmen des FDJ-Schuljahres, in der vormilitärischen Ausbildung oder im Wehrsport ausgedehnt. 129 Das zweite prägende Moment des Jahres 1963 war die der 1953 begonnenen Trennung von Methodik und Pädagogik folgende Angliederung der Abteilung Geschichtsmethodik an das Historische Institut. Beide Seiten werteten die Ent-

124 Vgl. etwa Bundesministerium für Gesamtdeutsche Fragen (Hg.), Der VI. Parteitag der SED vom 15. bis 21. Januar 1963. Kommentar, Materialien und Dokumente, Bonn 1964, 105. 125 Romann, Geschichtsmethodik, 30. 126 Vgl. Studienplan für die Fachrichtung Geschichte, Berlin 1963, enthalten in: UAG, Philosophische Fakultät II, Nr. 94. 127 Vgl. UAG, Philosophische Fakultät II, Nr. 134: Überlegungen zur Verbesserung der Lehrerausbildung, Institut für Pädagogik, Oktober 1962; Vgl. auch ebd.: Memorandum der Philosophischen Fakultät der EMAU an den VI. Parteitag der SED, 1963; Ostsee-Zeitung, 16.01.1963. 128 Vgl. UAG, Direktorat für Weiterbildung, Nr. 14: Stand der politisch-pädagogischen Tätigkeit im Grundstudium, ca. 1970. 129 Vgl. UAG, Direktorat für Weiterbildung, Nr. 14: Ergebnisprotokoll der Sitzung der Kommission für Lehrerbildung am 16.04.1971.

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scheidung als Bereicherung. 130 Als Beleg dafür kann die Zusammenarbeit bei der Anfertigung der Manuskripte für die Lehrfilme genommen werden. 131 In vielen Fällen „wurden Stoffe gewählt, die eine neue geschichtswissenschaftliche Interpretation erfahren hatten, ohne daß die neuen Erkenntnisse bis zum Sendungstermin ihren Niederschlag in den Lehrplänen und Lehrbüchern gefunden hatten.“ 132

Innerhalb von zwei Jahren entstanden, vorwiegend unter der Regie von Krause und Herzig, zwölf Filmbeiträge 133, die im Schulfernsehen der DDR ausgestrahlt werden sollten. 134 Gezeigt wurden indes nur fünf. Inhaltliche Eingriffe in die Manuskripte durch den Leiter der Arbeitsgruppe Schülerprogramme beim Schulfernsehen Saueracker 135 und – im obenstehenden Zitat bereits angedeutete – konzeptionelle Schwierigkeiten des Sendeformats waren die Ursache. 136 1967 promovierte Herzig aus seinen Erfahrungen schöpfend über „Probleme des Verhältnisses von Fernsehen und Geschichtsunterricht unter besonderer Berücksichtigung des Schülerprogramms des Deutschen Fernsehfunks.“ 137 Im gleichen Jahr strahlte das Fernsehen der DDR eine 15teilige Dokumentation unter dem Titel Kämpfer und Sieger aus, die die Geschichte von KPD und SED thematisierte. 138 Beim DPZI entstand der Wunsch, „diese Beiträge für schulische Zwecke nutzbar zu machen.“ Den Auftrag, entsprechende Unterrichtsfilme zu produzieren, erhielt die Abteilung Geschichtsmethodik. Neben Bildmaterial der Sendereihe stützten sich die einzelnen Filme der Greifswalder auch auf die Ergebnisse eigener Recherchen vor

130 Vgl. dazu etwa Konrad Fritze, Vom Historischen Seminar zur Sektion Geschichtswissenschaft 1945–1988, in: Der Rektor der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald (Hg.), 125 Jahre Historisches Seminar, 45–64, hier 51. 131 Vgl. dazu UAG, Prorektor Gesellschaftswissenschaften, Nr. 102: Jahresaufgabenplan der Sektion Geschichtswissenschaft für das Jahr 1981, 2.02.1981. Dort heißt es explizit: „Es gibt gute Ergebnisse bei der Kooperation von Fachhistorikern und Geschichtsmethodikern; davon zeugen die seit Jahren mit Erfolg gestalteten Tonbildreihen und Unterrichtsfilme für die Schule, die Lehrtätigkeit an der Universität und im Parteilehrjahr sowie die erarbeiteten Schulfunksendungen.“ 132 Romann, Geschichtsmethodik, 36. 133 Vgl. dazu Tabelle 2 im Anhang. Eine Analyse der einzelnen Lehrfilme, die ihre Entstehung sowie den methodisch-didaktischen Gehalt in den Blick nimmt, steht noch aus. 134 Vgl. Edith Gaida / Armin Klein, Schulfernsehen in der DDR. Anspruch, Möglichkeiten und Erfahrungen, in: Klaus Dieter Felsmann (Hg.), Das Politische im Diskurs zur Medienkompetenz, München 2003, 149–156. 135 Vgl. Romann, Geschichtsmethodik, 31–33. 136 Vgl. Gaida / Klein, Schulfernsehen. 137 Vgl. Martin Herzig, Probleme des Verhältnisses von Fernsehen und Geschichtsunterricht unter besonderer Berücksichtigung des Schülerprogramms des Deutschen Fernsehfunks, Diss. Greifswald, Ms. 1967. Als Außengutachter war Friedrich Donath tätig Vgl. UAG, Phil. Fak. II, Nr. 9/3: Vorlage für Fakultätsratsitzung, 16.10.1967. 138 Vgl. dazu Neues Deutschland, 17.03.1967.

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allem unter Zeitzeugen. 139 Bis 1977 entstanden unter der Leitung von Krause und Richter acht Unterrichtsfilme. 140 Ebenso wie bei den Beiträgen zum Schülerfernsehen sahen sich die Geschichtsmethodiker auch hier mit Kritik und Änderungswünschen konfrontiert. So sollte etwa im Film zum Nationalkomitee Freies Deutschland, die „führende Rolle der Sowjetunion bei der Zerschlagung des Faschismus“ deutlicher benannt und eine Bedeutung des Nationalkomitees für den Aufbau des Sozialismus in der DDR konstruiert werden. 141 Der möglicherweise entstehende Eindruck, die Geschichtsmethodiker hätten die Geschichtspolitik der SED nur bedingt und auf Anweisung der Behörden mitgetragen, täuscht allerdings. Krause und seine Mitarbeiter beteiligten sich aktiv an geschichtspropagandistischen Veranstaltungen und Publikationen. Zu einzelnen Jubiläen, etwa zum „Republikgeburtstag“, zum Jahrestag der Oktoberrevolution oder den Geburtstagen von Marx und Lenin produzierten sie eigene Unterrichtsmittel. 142 Als problematisch erwies sich neben der Zensur auch die Zusammenarbeit mit der DEFA, da die Filmgesellschaft nur über begrenzte Kapazitäten verfügte, die sie nicht nur für Geschichtspropaganda, sondern eben auch für künstlerische Projekte nutzen wollte. Gleichwohl gelang es, sowohl damals bekannte Regisseure als auch Komponisten, wie etwa Hans-Hendrik Wehding, oder Fernsehmoderatoren, erwähnt sei hier Klaus Feldmann, für eine Mitarbeit zu gewinnen. 143 Ebenso kompliziert wie die Herstellung gestaltete sich schließlich auch der schulische Einsatz von Unterrichtsfilmen. Er erforderte einen hohen organisatorischen Aufwand, da die meisten Schulen nicht über die technische Ausstattung verfügten.

139 Romann, Geschichtsmethodik, 62 und 65. 140 Vgl. dazu Tabelle 3 im Anhang. Eine Untersuchung der einzelnen Filme steht ebenfalls noch aus. 141 Romann, Geschichtsmethodik, 64. Vgl. dazu auch Zeitzeugengespräch Martin Richter, 9.08.2013. PA Buchsteiner. 142 Zum „Republikgeburtstag“ vgl. UAG, Prorektor Gesellschaftswissenschaften, Nr. 83: Maßnahmenplan zur Vorbereitung des 20. Jahrestages der Gründung der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, 30.11.1965. Vgl. dazu auch Alfried Krause / Martin Richter / Ilse Splanemann, 20 Jahre DDR – Konkret, anschaulich und emotional. Tonbildreihe im Geschichtsunterricht, in: Geschichtsunterricht und Staatsbürgerkunde 11/1969, 409–422. Anlässlich des 100. Geburtstages von Lenin erarbeitete der Wissenschaftsbereich gemeinsam mit der Sektion Sprach- und Literaturwissenschaft eine Tonbildreihe mit dem Titel „Lenin in Deutschland“ in deutscher und russischer Sprache. Ferner entstand eine gleichnamige Radiovisionssendung. Vgl. UAG, Prorektor für Gesellschaftswissenschaften, Nr. 84: Sektion Geschichtswissenschaft an Prorektor Gesellschaftswissenschaften, 28.05.1969. Für Beiträge zum Jahrestag der Oktoberrevolution vgl. UAG, Prorektor Gesellschaftswissenschaften, Nr. 83: Verzeichnis der am 14.02.1968 von der EMAU Greifswald übergebenen Arbeiten für die zentrale Ausstellung aus Anlaß des 150. Geburtstages von Karl Marx (Leistungsschau in Leipzig). 143 Vgl. Romann, Geschichtsmethodik, Anhang: Interview mit Alfried Krause, 3.2.1988.

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Parallel zu den Filmbeiträgen und Unterrichtsfilmen entwickelte die Abteilung daher sogenannte Tonbildreihen. Hierbei handelte es sich um DiaBilderserien, deren einzelnen Elementen Sprechertexte und Angaben zu Tonaufnahmen, bei denen es sich um Musik oder Redemitschnitte handeln konnte, zugeordnet wurden. Der Vorteil gegenüber den Unterrichtsfilmen bestand einerseits in der kostengünstigeren Produktion, andererseits bot die Tonbildreihe die Möglichkeit einer längeren Verweildauer und ermöglichte eine Individualisierung des Lehr- und Lernprozesses durch den Lehrer. Die Tonbildreihen, für die sich insbesondere Splanemann verantwortlich zeichnete, produzierten vor allem Studenten. 144 1967 schickten die Greifswalder Geschichtsmethodiker zwei Beispiele zur zentralen Leistungsschau der Studenten und Wissenschaftler nach Leipzig. 145 Die öffentliche Vorführung mündete – ähnlich wie 1963 beim Lehrfilm – in einer Zusammenarbeit mit dem DPZI und der Redaktion Schulfunk beim Radio der DDR. Bereits im Oktober 1968 sendete der staatliche Rundfunk die erste von insgesamt 14 Radiovisionen 146, die als Tonbildreihe konzipiert waren und sich daher nicht nur an Schüler, sondern in erster Linie an Lehrer und (Geschichts-)Propagandisten der Massenorganisationen wandten. Im Laufe der Sendung wurden sie zu einem Mitschnitt aufgefordert. Die einzelnen Bilder und ein Regieheft konnten anschließend bei der Greifswalder Abteilung bestellt werden. 147 1972 wurde der Versand eingestellt, da er – allein durch Splanemann und einzelne Studenten organisiert – einen zu großen Aufwand bedeutete. 148 Durch das Engagement und die öffentlichkeitswirksame Arbeit gelang es Krause, bereits 1965 einen eigenen Forschungsschwerpunkt aufzubauen. Im „Auftrage des wissenschaftlichen Rates beim Ministerium für Volksbildung, Arbeitsgruppe Geschichte“ beschäftigte sich die „Abteilung Methodik des Geschichtsunterrichts“ mit dem „Forschungskomplex: Audio-visuelle Lehr- und Lernmittel im Geschichtsunterricht.“ Eine solche Spezialisierung war eigentlich nicht vorgesehen. Sämtliche Methodiken hatten sich, ungeachtet ihrer neuen Zuordnung zu den Fächern, weiterhin an der Pädagogik zu orientieren. In Greifswald arbeitete diese zu „Probleme[n] der politisch-moralischen Erziehung der Kinder und Jugendli-

144 Vgl. UAG, Prorektor für Gesellschaftswissenschaften, Nr. 37: Arbeitsprogramm der Sektion Geschichtswissenschaft der EMAU Greifswald zum 30. Jahrestag der DDR, 31.01.1978. Nachgewiesen werden konnte auch eine im Rahmen eines Schülerprojekts entstandene Tonbildreihe zu „Karl Krull.“ Vgl. ebd. 145 Vgl. UAG, Prorektor Gesellschaftswissenschaften, Nr. 83: Manfred Menger (Historisches Institut) an Prorektor Gesellschaftswissenschaften, 1.09.1967. Vgl. dazu auch Neues Deutschland, 8.05.1967. 146 Vgl. dazu Tabelle 4 im Anhang. 147 Vgl. Alfried Krause / Peter Multhauf / Ilse Splanemann, Geschichte in Radiovision, in: Geschichtsunterricht und Staatsbürgerkunde 12/1970, 88–93; Alfried Krause / Ilse Splanemann, Radiovision als Kommunikationsmittel in Geschichtspropaganda und Geschichtsunterricht, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald, Gesellschafts- und sprachwissenschaftliche Reihe 25/1972, 53–64. 148 Vgl. Romann, Geschichtsmethodik, 52.

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chen in der sozialistischen Gesellschaft.“ Die Schwerpunkte lagen dabei auf „Methoden der politisch-moralischen Erziehung“, „Fragen des selbstkritischen Verhaltens“ und „Fragen der Schulentwicklung in der DDR.“ 149 1967 wuchs der Druck auf die Geschichtsmethodik. Nun drängte auch das Ministerium für Volksbildung auf eine Eingliederung der Abteilung in das wissenschaftliche Programm der Pädagogik. 150 Den Hintergrund bildete die dritte Hochschulreform, die unter dem Stichwort der Profilierung an den Universitäten einheitliche Forschungsschwerpunkte durchzusetzen versuchte. Für Greifswald war eine „Zusammenfassung (…) auf dem Bereich der Erziehungswissenschaften“ vorgesehen. Im März 1968 schlug das Prorektorat für Gesellschaftswissenschaften „philosophische und pädagogische Probleme des sozialen und Leistungsverhaltens von Lernenden“ als Thema vor. Auf diese Weise könnte man, so die Begründung, „mit dem Forschungskomplex Erziehungstheorie des DPZI kooperieren“ und gleichzeitig nicht nur auf die bisherigen Arbeiten des Instituts für Pädagogik und des Rubenow-Instituts für Bildungsforschung, sondern auch auf die der Methodik-Abteilungen der einzelnen Fachinstitute aufbauen. 151 Tatsächlich hatte nicht nur die Geschichtsmethodik einen speziellen Schwerpunkt entwickelt. In der Kunsterziehung beschäftigten sich die Mitarbeiter mit Fragen der Bildgestaltung und Persönlichkeitsbildung, die Methodiken der naturwissenschaftlichen Fächer arbeiteten zur Programmierung und die Abteilung Körpererziehung übte mit ihren Forschungsansätzen gar „die Funktion eines Leitinstituts im Rahmen der DDR aus.“ 152 Neben der inhaltlichen Vielfalt erschwerte auch die neue Struktur die staatlich geforderte Fokussierung. Anfang Oktober informierte Walter Friede, Mitarbeiter des Instituts für Pädagogik, über „erste Kooperationen (…) mit den Methodikern der Philosophischen (…) und der Mathematisch-Naturwissenschaftlichen Fakultät.“ Initiiert worden war „ein gemeinsames Forschungsseminar“; „alle weiteren Bemühungen, auch inhaltlich an einem Schwerpunkt der pädagogischen Forschung zu arbeiten“, waren indes „an der Bindung der Methodiker an den Forschungsschwerpunkt ihres Instituts gescheitert.“ 153

149 UAG, Direktorat für Forschung, Nr. 1: Perspektivplan 1966–1970, beschlossen vom Rat der Fakultät am 8.02.1965. 150 Vgl. UAG, Prorektor für Gesellschaftswissenschaften, Nr. 23: Heinz Quitzsch / Horst Gärtner, Prognostische Einschätzung zur Profilierung der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald bis 1980 (2. Fassung), August 1967. Der Titel des Forschungskomplexes war etwas verändert worden. Er lautete nun: „Probleme der Einheit von Bildung und Erziehung in der unterrichtlichen und außerunterrichtlichen Arbeit (unter besonderer Berücksichtigung der Erziehungsmethodik).“ Ebd. 151 UAG, Prorektor für Gesellschaftswissenschaften, Nr. 23: Prorektor für Gesellschaftswissenschaften an Minister für Hoch- und Fachschulwesen, 18.03.1968. 152 UAG, Prorektor Gesellschaftswissenschaften, Nr. 25: Zum Stand der gesellschaftswissenschaftlichen Forschung an der EMAU-Greifswald, Bericht Senat, 4.03.1968. 153 UAG, Prorektor Gesellschaftswissenschaften, Nr. 25: Institut für Pädagogik der EMAU an Prorektor für Gesellschaftswissenschaften, 1.10.1968. Hervorhebung im Original.

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Im Programm des Historischen Instituts stellte die Lehrerbildung einen zentralen Punkt dar. Das 1963 auf dem VI. Parteitag der SED und wenig später im Gesetz über das einheitliche sozialistische Bildungssystem 154 formulierte Ideal des sozialistischen Lehrers 155 konkretisierend, entwickelten Fachhistoriker und Methodiker 1968 ihr Leitbild des „sozialistischen Geschichtslehrers“ 156 und leiteten entsprechende Maßnahmen ab. Vorgesehen war eine – bereits seit 1963 praktizierte – „enge Zusammenarbeit der Historiker und Methodiker“ sowohl bei der „Gestaltung und Durchführung des Studienprozesses“ als auch bei der Begutachtung der „Lehrpläne und Lehrbücher für den Geschichtsunterricht“, auf deren Gestaltung man eine „größere Einflussnahme“ ausüben wollte. Hinsichtlich der „Forschung auf dem Gebiet der Methodik“ übernahm das Programm den „von der Arbeitsgruppe Geschichtsunterricht beim Wissenschaftlichen Rat des Ministeriums für Volksbildung festgelegten Forschungsplan“, der bekanntlich drei Promotionen beinhaltete. 157 Gegenüber dem Prorektorat betonte der Leiter des Historischen Instituts Johannes Schildhauer zudem die „enge Zusammenarbeit [Krauses]

154 Vgl. Protokoll der Verhandlungen des VI. Parteitages der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, 15. bis 21. Januar 1963, hrsg. von der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, Berlin 1963; Gesetz über das einheitliche sozialistische Bildungssystem vom 25. Februar 1965, in: Gesetzblatt der Deutschen Demokratischen Republik 1965, Teil I, 83. 155 Vgl. dazu UAG, Phil. Fak. II, Nr. 134: Memorandum der Philosophischen Fakultät der EMAU an den VI. Parteitag der SED, 1963. Vgl. dazu auch Ostsee-Zeitung, 16.01.1963. 156 UAG, Prorektor für Gesellschaftswissenschaften, Nr. 37: Programm der Sektion Geschichtswissenschaft der EMAU Greifswald, Mai 1968. Konkret heißt es dort: „Um seinen gesellschaftlichen Erziehungsauftrag erfüllen zu können, muß der sozialistische Geschichtslehrer über ein gründliches Verständnis der methodologischen Grundlagen der Geschichtswissenschaft verfügen und in der Lage sein, historische Erscheinungen, Ereignisse und Prozesse in ihrer Einheit von Einzelnem, Besonderem und Allgemeinem zu verstehen sowie das Wirken spezifischer historischer Gesetze und Gesetzmäßigkeiten im Rahmen der allgemeinen Gesetze des historischen Materialismus zu erfassen. (…) Das schließt die Beherrschung grundlegender Arbeitstechniken des Historikers ein.“ Weiter heißt es: „Hauptsächlich sind die Regionalgeschichte, insbesondere die Geschichte der örtlichen Arbeiterbewegung und die wissenschaftliche Gestaltung des Bildungs- und Erziehungsprozesses, vor allem in seinem Fach, Gegenstand seiner Forschungstätigkeit. Der sozialistische Geschichtslehrer muß in vielfältiger Weise befähigt sein, den außerschulischen bzw. außerunterrichtlichen Bildungs- und Erziehungsprozeß im Fach Geschichte zu gestalten und zu steuern. Das betrifft die Gestaltung und Organisation von historischen Exkursionen, Museums- bzw. Ausstellungsbesuchen, die Arbeit mit Arbeiterveteranen, die Durchführung von Arbeitsgemeinschaften, von Pionier- und FDJ-Veranstaltungen mit historischer Thematik, von Feierstunden mit historischen Aspekten u. a. Angesichts der wachsenden Aktualität sinnvoller Freizeitgestaltung und der Befähigung der Menschen dazu, gewinnt diese Seite der Tätigkeit des Geschichtslehrers an Bedeutung. Aber auch über die Schule hinaus muß er mit seinem historischen Wissen und Können in der gesellschaftlichen Praxis der Gegenwart unmittelbar politisch wirksam werden und propagandistisch tätig sein.“ 157 UAG, Prorektor für Gesellschaftswissenschaften, Nr. 37: Programm der Sektion Geschichtswissenschaft der EMAU Greifswald, Mai 1968.

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mit dem Deutschen Fernsehfunk und dem Staatl. Rundfunkkomitee, Abt. Schulfunk.“ 158 Die Verbundenheit zwischen dem nunmehr als Sektion bezeichneten Institut und dessen „neue[m] Lehrkomplex“ 159 der Geschichtsmethodik dokumentiert auch die Habilitation Krauses im September 1968. Krause wählte zwar seinen Doktorvater Donath als Erstgutachter, ließ das Verfahren jedoch nicht – wie bei der Promotion – in Leipzig, sondern an der Universität Greifswald durchführen. 160 Bereits wenige Tage später wurde der Forschungsschwerpunkt „akustische Lichtbildreihen, Film und Fernsehen als Unterrichtsmittel im Geschichtsunterricht“ in die „Vorläufige Ordnung der Sektion Geschichtswissenschaft“ aufgenommen. 161 Angesichts dieser Entwicklung, die sich ähnlich auch in den anderen Instituten bzw. Sektionen vollzog, tauchte bei den Pädagogen „die Frage auf, ob unser Institut überhaupt als Leitzentrum anzusehen ist.“ 162 Eine Antwort ließ sich nur im Rahmen der ministeriellen Vorgabe finden. Das Prorektorat für Gesellschaftswissenschaften rekurrierte daher bei der Begründung der Planvorhaben für das Jahr 1969 auf Beschlüsse der 6. Tagung des Zentralkomitees der SED und der 9. Tagung der Volkskammer, in denen die Auseinandersetzung mit „Probleme[n] der sozialen Kommunikation bei der Leitung ideologischer Prozesse“ gefordert wurden. 163 Auf diese Weise gelang es, die thematische Vielfalt weitgehend zu erhalten. Das Programm der Gesellschaftswissenschaften vom Mai 1969 berücksichtigte sowohl den Forschungskomplex der Pädagogik als auch die Schwerpunkte einzelner Methodiken. Insgesamt wurden drei Planvorhaben angegeben: Zum einen Untersuchungen zur

158 UAG, Prorektor Gesellschaftswissenschaften, Nr. 25: Historisches Institut an Prorektorat Gesellschaftswissenschaften, 26.09.1968. 159 Ebd.: Heinz Quitzsch, Analyse der Forschungsanträge 1969 des Bereichs Gesellschaftswissenschaften an der EMAU-Greifswald, 14.10.1968. 160 Vgl. Alfried Krause, Untersuchung zum System und zur Funktion der Unterrichtsmittel im Fach Geschichte unter besonderer Berücksichtigung der politischen Karikatur als Unterrichtsmittel, Habil. Greifswald, Ms. 1968. Vgl. dazu auch Alfried Krause, Die politische Karikatur im Geschichtsunterricht, Berlin 1975. 161 UAG, Wissenschaftlicher Rat, Nr. 159: Vorläufige Ordnung der Sektion Geschichtswissenschaft, Sept./Okt. 1968. Für die Entwicklung der bereits bestehenden Schwerpunkte vgl. Johannes Schildhauer, 100 Jahre Historisches Institut Greifswald, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald, Gesellschafts- und sprachwissenschaftliche Reihe 14/1967, 177–180. 162 UAG, Prorektor Gesellschaftswissenschaften, Nr. 25: Institut für Pädagogik der EMAU an Prorektor für Gesellschaftswissenschaften, 1.10.1968. Vgl. in diesem Zusammenhang auch Horst Lengsfeld, Zur Zusammenarbeit von Fachwissenschaft und Pädagogik in der Lehrerausbildung an der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald, Gesellschafts- und sprachwissenschaftliche Reihe 14/1965, 9–12. 163 UAG, Prorektor Gesellschaftswissenschaften, Nr. 25: Ministerrat der DDR, Ministerium für Volksbildung, Abt. Wissenschaft an Prorektor für Gesellschaftswissenschaft der EMAUGreifswald, 16.05.1969.

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Martin Buchsteiner „Entwicklung eines pädagogisch-psychologisch begründeten und praktikablen Methodensystems für die wirksame Realisierung der Ziele und Inhalte der sozialistischen Erziehung“,

zum zweiten Arbeiten zur „Programmierung des Unterrichts“ und zum dritten Forschungen zu „Probleme[n] der ästhetischen Erziehung und der Wechselbeziehung zwischen ästhetischer und weltanschaulicher Bildung und Erziehung, bezogen auf die Unterrichtsfächer Deutsch/Literatur, Kunst- und Musikerziehung und Geschichte.“

Dieses letztgenannte Vorhaben war Bestandteil des vom DPZI geleiteten Projektes „Aufgaben, Methoden, übergreifende Linien zur Entwicklung des Systems der künstlerischästhetischen Bildung und Erziehung unter dem Aspekt der organischen Einheit von kulturellkünstlerischer und ideologischer Bildung und Erziehung.“

Ein wesentliches Ziel der einzelnen Untersuchungen, die „auf der Grundlage des neuen Lehrplanwerkes“ zu erfolgen hatten, war die Erstellung von Beiträgen zu „schulpolitischen Materialien.“ Geplant waren die Publikation „Methodischer Hilfen“, auch „Materialien zur Realisierung des neuen Lehrplanwerkes, besonders unter den Aspekten der Zielstellung, des Inhalts und des Systemcharakters der sozialistischen Bildung und Erziehung“

genannt sowie die Mitarbeit am Lehrbuch der sozialistischen Pädagogik, am Lehrbuch Theorie und Methodik der sozialistischen Erziehung und an der Pädagogischen Enzyklopädie. Darüber hinaus verpflichteten sich die Greifswalder zur Erstellung von „Prognosematerialien zur Weiterentwicklung der Volksbildung nach 1980 als Grundlage für die staatlichen Entscheidungsfindungen 1975“ und zur Konzeption eines Lehrplanes für den Sportunterricht. 164 Für die Geschichtsmethodik war der mit dem Programm erzielte Kompromiss nicht befriedigend, da nur die Untersuchungen zur „Funktion [der Unterrichtsmittel] bei der Herausbildung des sozialistischen Geschichtsbewusstseins“, die im Grunde genommen erst mit der Arbeit von Splanemann begonnen worden waren, durchgesetzt werden konnten. Der mit der Habilitation von Krause theoretisch abgesteckte Forschungskomplex zur „Stellung der audio-visuellen Unterrichtsmittel im System der Unterrichtsmittel des Faches Geschichte“ und die in diesem Rahmen für das DPZI durchgeführten praktischen Arbeiten hatten keine Berücksichtigung gefunden. 165 Auf Drängen der Sektion Geschichtswissenschaft bat der Prorektor für Gesellschaftswissenschaften Heinz Quitzsch die Abteilung Wissenschaft beim Ministerium für Volksbildung, 164 UAG, Prorektor Gesellschaftswissenschaften, Nr. 25: Planvorhaben für die pädagogische Forschung an der EMAU Greifswald, 15.05.1969. Für das Datum vgl. ebd.: Prorektor Gesellschaftswissenschaften an Direktor der Sektion Geschichtswissenschaft, 16.05.1969. 165 UAG, Prorektor Gesellschaftswissenschaften, Nr. 25: Direktor Sektion Geschichtswissenschaft an Prorektor Gesellschaftswissenschaften, 4.06.1969.

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„noch nicht so ausschließlich fest[zu]leg[en], daß die Methodik des Geschichtsunterrichts nur in Zusammenhang mit der Ästhetik die Forschung weiterführt.“

Vielmehr sollte „das Problem nochmals mit dem Ministerium bzw. dem DPZI (…) beraten“ werden. 166 Im September 1969 ernannte die Universität Greifswald Krause zum außerordentlichen Professor und schuf damit Fakten. 167 Zwei Monate später bestätigte das Ministerium den Schwerpunkt audiovisuelle Unterrichtsmittel. 168 Notwendig wurde allerdings noch eine konkretere Einordnung in den Forschungsplan des DPZI, die die „politisch-ideologische Zielstellung“ stärker herausstellen und so die Anbindung an den vom Ministerium genehmigten Forschungskomplex sichern sollte. 169 1970 wurde Krause zum ordentlichen Professor ernannt und die Arbeit des von ihm geleiteten Wissenschaftsbereichs „als bedeutende Grundlage für die Arbeit des Instituts für Unterrichtsmittel der APW“ ein-

166 UAG, Prorektor Gesellschaftswissenschaften, Nr. 25: Quitzsch an Habrecht (Ministerium für Volksbildung, Abt. Wissenschaft), 18.06.1969. 167 UAG, Wissenschaftlicher Rat, Nr. 198: Aktennotiz zur Promotion B, 30.01.1970. Zuvor, 1967 war Krause bereits zum Wahrnehmungsdozent ernannt worden. Für die Gutachten vgl. UAG, Phil. Fak. II, Nr. 1/53: Donath an Dekan Philosophische Fakultät, 19.10.1967. Dekan Philosophische Fakultät an Ministerium für Hoch- und Fachschulwesen, 17.10.1967. Die Ernennung zum ordentlichen Professor erfolgte 1970. Vgl. Romann, Geschichtsmethodik, Anhang: Biographie Alfried Krause. 168 UAG, Wissenschaftlicher Rat, Nr. 96: Sitzungsprotokoll der Gesellschaftswissenschaftlichen Fakultät, 26.11.1969. 169 UAG, Prorektor Gesellschaftswissenschaften, Nr. 26: Prorektor Gesellschaftswissenschaften an Direktor DPZI, 30.12.1969. Dort heißt es: „Von der Sektion Geschichtswissenschaft wurden uns folgende Bemerkungen übermittelt: Die politisch-ideologische Zielstellung ist im Abschnitt 2, insbesondere im Rahmen der ‚Aufgabenstellung für die einzelnen Unterrichtsfächer‘ bzw. zusammengefaßten Unterrichtsfächer, noch nicht in genügendem Maße ausgewiesen. Für das Projekt 2.4. ‚Ziel, Inhalt, Methoden und Organisationsformen des gesellschaftswissenschaftlichen Unterrichts‘ wird das besonders deutlich, weil es auch den Bereich des Geschichtsunterrichts umfaßt. In diesem Rahmen fehlt zum Beispiel die Einordnung der Forschungsthematik des Bereichs ‚Methodik des Geschichtsunterrichts‘ unserer Sektion ‚Untersuchungen zur Stellung der audiovisuellen Unterrichtsmittel des Faches Geschichte und ihrer Funktion bei der Herausbildung des sozialistischen Geschichtsbewußtseins‘ auf 35ff. Ebenso halten wir die Einordnung in das Projekt 2.5 (38ff.), in das Projekt 2.14 (72ff.) und in das Projekt 1.2 (S. 10 ff.) für erforderlich, weil sich von der Thematik her entsprechende Bezüge und Einordnungen, z. B. in das Problem der Wechselwirkung von ästhetischer und staatsbürgerlicher Erziehung (vgl. S. 40) ergeben.“ Vgl. dazu auch UAG, Prorektor für Gesellschaftswissenschaften, Nr. 26: Ergänzung zur Koordinierungsvereinbarung zwischen der Akademie der Pädagogischen Wissenschaften der DDR und der EMAU Greifswald, unterschrieben im Juli und August 1970), am 10.08.1972. Ergänzt wurden hier die Punkte „Entwicklung und Erprobung fachspezifischer Unterrichtsmittel; Theoretische Grundlagen für die Entwicklung und die Nutzung von Unterrichtsmitteln“ sowie „Untersuchungen zur Funktion, zur Gestaltung und zum Einsatz audiovisueller Unterrichtsmittel (Tonbildreihen, Radiovision, Unterrichtsfilm) für das Fach Geschichte unter Mitbeachtung des Beitrages des Faches Geschichte zur ästhetischen Bildung und Erziehung.“

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geschätzt. 170 Krauses Schwerpunktsetzung wurde daraufhin nicht mehr diskutiert. 171 Die Forderung nach einer stärkeren Zusammenarbeit mit den Erziehungswissenschaften, der Germanistik, Kunst- und Musikerziehung indes tauchte bis Ende 1980 immer mal wieder auf. 172 Seit Mitte der 1970er Jahre bestimmte die 170 UAG, Prorektor für Gesellschaftswissenschaften, Nr. 26: Beratung mit Vertretern der Akademie der Pädagogischen Wissenschaften am 27.11.1973, Greifswald, 30.11.1973. 171 Vgl. dazu etwa UAG, Prorektor für Gesellschaftswissenschaften, Nr. 37: Forschungsbericht der Sektion Geschichtswissenschaft 1976/77, 1.04.1978. In dem bis zum Jahr 1985 ausgewiesen Plan heißt es: „In der geschichtsmethodischen Forschung geht es um die Akzentuierung der Erziehungsproblematik und der Veranschaulichung im Bereich der Kulturgeschichte durch audio-visuelle Unterrichtsmittel, um die Klärung des Verhältnisses zwischen Film und Fernsehen mit Vorschlägen für schulpolitische Entscheidungen, um die Entwicklung von Unterrichtsmitteln und Schulausstattungen für die 80er Jahre.“ Ein Jahr später, 1979, erfolgte eine Präzisierung des Forschungsthemas, das nun den Titel „Funktion und Wirksamkeit audiovisueller Unterrichtsmittel im Prozeß der ideologischen Erziehung im Geschichtsunterricht“ trug. Vgl. UAG, Prorektor für Gesellschaftswissenschaften, Nr. 37: Jahresaufgabenplan der Sektion Geschichtswissenschaft für das Jahr 1980. 172 Vgl. etwa UAG, Prorektor für Gesellschaftswissenschaften, Nr. 26: Beratung mit Vertretern der Akademie der Pädagogischen Wissenschaften am 27.11.1973, Greifswald, 30.11.1973. 1977 hielt Krause fest, dass sich in Bezug auf die „Zusammenarbeit zwischen den Fachrichtungen Geschichte und denen der Sektion GKM (…) nicht viel getan“ habe. Für ihn war jedoch „nicht die Organisationsform“ ausschlaggebend, sondern das Verhältnis der Kollegen zueinander, die in der Kooperation eine Gefahr für die Fachspezifik sahen. Der Literaturwissenschaftler Manfred Häckel verwies auf die Kooperationsvereinbarungen mit der APW, die die Forschung zentral steuerten und dabei die einzelnen Fachmethodiken „im Republikmaßstab“ zusammenfassten. Die Methodiken erschienen damit, so Häckel, „nur lokal so vereinzelt.“ UAG, Wissenschaftlicher Rat, Nr. 105: Sitzungsprotokoll der Gesellschaftswissenschaftlichen Fakultät, 13.04.1977. Anfang der 1980er Jahren wurde indes wieder verstärkt auf eine Zusammenarbeit der Fachmethodiken eines Hochschulstandortes gedrängt. Die Gesellschaftswissenschaftliche Fakultät der Universität Greifswald beriet im Juni 1982 „zum ersten Mal“ über einen gemeinsamen Schwerpunkt der pädagogischen Forschung. Schnell kristallisierte sich dabei das Themenfeld „Einsatz von Unterrichtsmitteln“ heraus. In den zentralen Plänen des Ministeriums für Hoch- und Fachschulwesen waren einzelne Wissenschaftsbereiche, wie die Kunsterziehung und die Deutsch-Methodik, obwohl „die Kollegen dort (…) auch Aufgabenblätter“ herausgaben, nicht mit diesem Schwerpunkt aufgeführt worden. Statt ihrer waren als Bearbeiter die Fachmethodiken anderer Universitäten, etwa die aus Halle, wo sich jedoch „keiner verantwortlich“ fühlte, aufgeführt. In Greifswald schlug man daher eine „Konzentration im Bereich der gesellschaftswissenschaftlichen Unterrichtsmittelforschung“ oder anders formuliert eine Änderung des zentralen Planes vor und suchte – auch hier ist eine Parallele zur Entwicklung in Vorbereitung der III. Hochschulreform erkennbar – die eigenen Forschungskomplexe zu etablieren. Als Verantwortlicher für die Koordinierung der „Zusammenarbeit auf diesem Gebiet“ wurde Krause vorgeschlagen, der sich bereit erklärte, die „entsprechende Orientierung zu übernehmen.“ UAG, Wissenschaftlicher Rat, Arbeitssitzung der Gesellschaftswissenschaftlichen Fakultät, 09.06.1982. Mehr als ein erster Informationsaustausch kam nicht zustande. Vgl. UAG, Philosophische Fakultät, Sektion Erziehungswissenschaften, Nr. 101. Die Ursachen dafür scheinen – wie Ende der 1980er Jahre – fachspezifische Besonderheiten, die das Maß inhaltlicher Kooperation einschränkten, vor allem aber fehlende konkrete Vorstellungen und damit konkrete Anforderungen der APW gewesen zu sein. Vgl. dazu auch UAG, Wissenschaftlicher Rat, Nr. 113: Arbeitssitzung der Gesellschaftswis-

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Sektion Geschichtswissenschaft einen sogenannten „Verbindungsmann“ zur Sektion Germanistik, Kunst- und Musikerziehung. 173 Diese Funktion übernahm Hans Arwed Müller, der 1974 als Lehrer im Hochschuldienst an den Wissenschaftsbereich Geschichtsmethodik gekommen war. Müller erprobte im Rahmen seines Dissertationsvorhabens den schulischen Einsatz der in Greifswald entstandenen Unterrichtsfilme. Durch die ihm übertragenen Aufgaben, zu denen 1975/76 auch die des FDJ-Sekretärs zählten, „kam es jedoch zu einem gewissen Verzug“, der durch eine „gezielte Freistellung – zu einem späteren Zeitpunkt – (…) wieder aufgeholt“ werden sollte. 174 Müller stützte sich bei seiner Arbeit auch auf die Ergebnisse der Untersuchung von Wolfang Schütz, der nach den erwähnten Unterbrechungen 1971 seine Promotion verteidigt hatte. 175 Schütz war anschließend als wissenschaftlicher Mitarbeiter des 1968 geschaffenen Direktorats für Erziehung und Ausbildung der Universität Greifswald tätig. 176 Der Grund für diesen Wechsel ist in der Rückkehr Richters an den Wissenschaftsbereich zu sehen. 177 Wechseln musste vermutlich auch Martin Herzig, der nach dem Abschluss der Promotion zunächst in Stralsund an einer Schule und anschließend als hauptamtlicher FDJ-Sekretär an der Universität Greifswald tätig gewesen war. 178 Die Voraussetzungen einer wissenschaftlichen Karriere in der DDR waren damit erfüllt; sie schloss sich jedoch nicht an, da mit Richter und Splanemann, die 1971 ihre Promotion verteidigt hatte 179, bereits die im Plan vorgesehenen zwei Oberassis-

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senschaftlichen Fakultät, 09.01.1985. In der Beratung kritisierte der Nordeuropawissenschaftler Artur Bethke: „Die Haltung ‚Das ist mir Wurscht‘ ist eine Position, die Leute in die Isolierung gebracht hat. (…) Die Haltung ‚Ich habe nur meine Beziehungen zur APW‘ hat der Arbeit in der Methodik geschadet. Jetzt ist es so: Es ist auch für unsere Beziehung zur APW wichtig, daß wir in der Methodik zusammenkommen. (…) Es gibt ein anderes Regime in der pädagogischen Forschung, – und hier entscheidet nicht die Universität.“ Vgl. UAG, Prorektor für Gesellschaftswissenschaften, Nr. 37: Jahresaufgabenplan der Sektion Geschichtswissenschaft für das Jahr 1980; UAG, Prorektor Gesellschaftswissenschaften, Nr. 102: Jahresaufgabenplan der Sektion Geschichtswissenschaft für das Jahr 1981, 2.02.1981; ebd.: UAG, Prorektor Gesellschaftswissenschaften, Nr. 102: Jahresaufgabenplan der Sektion Geschichtswissenschaft für das Jahr 1982. UAG, Prorektor für Gesellschaftswissenschaften, Nr. 37: Bericht über den Stand der Arbeit mit dem wissenschaftlichen Nachwuchs am Ende des Studienjahres 1975/76. Vgl. Wolfgang Schütz, Untersuchungen zum historischen Unterrichtsfilm in der Kombination von konkreter und abstrakter Darstellung, Diss. Greifswald, Ms. 1971. Als Außengutachter war Rolf Rackwitz aus Leipzig tätig. Vgl. UAG, Wissenschaftlicher Rat, Nr. 99: Sitzungsprotokoll der Gesellschaftswissenschaftlichen Fakultät, 8.12.1971. Vgl. UAG, Wissenschaftlicher Rat, Nr. 99: Sitzungsprotokoll der Gesellschaftswissenschaftlichen Fakultät, 8.12.1971; Personalverzeichnis 1973, 5. Später erhielt Schütz eine Stelle in der Deutschmethodik. Vgl. Zeitzeugeninterview Martin Richter, 29.04.2014. PA Buchsteiner. Vgl. PVV, Herbstsemester 1968/69, 67. Vgl. Zeitzeugeninterview Martin Richter, 29.01.2014. PA Buchsteiner; Personalverzeichnis 1973, 15, 19 und 21. Ilse Splanemann, Tonbildreihe und Radiovision im Fach Geschichte unter besonderer Berücksichtigung ihres Beitrages zur Entwicklung des sozialistischen Geschichtsbewusstseins,

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tentenstellen besetzt worden waren. Herzig wurde Chefredakteur der FDJZeitschrift Forum und später Mitarbeiter im Urania Verlag Leipzig. 180 Auf die frei gewordene Assistentenstelle gelangte der Greifswalder Geschichtsstudent Peter Multhauf. 181 Da seine Arbeitsweise, insbesondere das Arbeitstempo, nicht den Vorstellungen Krauses entsprach 182, musste er den Wissenschaftsbereich nach etwa fünf Jahren wieder verlassen. Für ihn kam der bereits erwähnte Hans Arwed Müller. Neben ihm beschäftigte der Wissenschaftsbereich zwei weitere Assistenten, Rudolf Juretschka und Wolfgang Arndt 183, sowie die Lehrerin im Hochschuldienst Gabriele Magull. Diese Stellenausstattung blieb der Greifswalder Geschichtsmethodik bis Ende 1989 fast durchgängig erhalten. Sie verdeutlicht eindrucksvoll die Akzeptanz und politische Relevanz des durch Krause gesetzten inhaltlichen Schwerpunktes. 2. Rationalisierung und Ideologisierung der Lehre an Universität und Schule Neben der – auf Umwegen erfolgten – Festschreibung des Forschungsschwerpunktes sorgte die III. Hochschulreform auch für eine stärkere institutionelle Bindung der Geschichtsmethodik an das Fach. 1968 erhielt Krause das an den Sektionen neu geschaffene Amt des stellvertretenden Direktors für Erziehung, Ausund Weiterbildung. 184 In dieser Eigenschaft oblag ihm die Kooperation mit den Organen der Volksbildung oder vereinfacht ausgedrückt, die Anwerbung und Betreuung von Studenten. Krause war damit u. a. auch für die Situation in den Studentenheimen, die vormilitärische Ausbildung und DRK-Schulungen, die sogenannten „Studententage“ und nicht zuletzt für die „Beziehungen zwischen Arbei-

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Diss. Greifswald, Ms. 1971. Als Außengutachter war der Journalist und Leiter der Abteilung Schulfunk/Propaganda beim Staatlichen Rundfunkkomitee der DDR Erwin Weigelt tätig. Vgl. UAG, Wissenschaftlicher Rat, Nr. 99: Sitzungsprotokoll der Gesellschaftswissenschaftlichen Fakultät, 9.06.1971. Im Zusammenhang mit der Dissertation vgl. auch Ilse Splanemann, Neue Formen der audiovisuellen Veranschaulichung im Geschichtsunterricht, in: Geschichtsunterricht und Staatsbürgerkunde 7/1965, 127–134; dies., Ästhetische Erziehung im Geschichtsunterricht und die Funktion audiovisueller Unterrichtsmittel, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald, Gesellschafts- und sprachwissenschaftliche Reihe 28/1979, 199–203; dies., Die Tonbildreihe – ein Mittel zur Herausbildung des sozialistischen Geschichtsbewusstseins, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der ErnstMoritz-Arndt-Universität Greifswald, Gesellschafts- und sprachwissenschaftliche Reihe 18/1969, 374, 331–333; dies., Die akustische Lichtbildreihe im Geschichtsunterricht, in: Unterrichtsmittel-Information, hrsg. vom DPZI, 1971. Vgl. Zeitzeugeninterview Martin Richter, 29.01.2014. PA Buchsteiner. Personalverzeichnis 1973, 67. Vgl. Zeitzeugeninterview Martin Richter, 29.01.2014. PA Buchsteiner. Personalverzeichnis 1973, 68. PVV UG, 1973, 67.

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terjugend und Studenten“ verantwortlich. 185 Die einzelnen, in diesen Bereichen vorgesehenen Aufgaben übernahmen insbesondere die Mitarbeiter des Wissenschaftsbereichs Methodik. 186 Krause selbst widmete sich vor allem der akademischen Ausbildung. Ende 1968 entstand auf seine Initiative hin eine Kommission zur Vereinheitlichung der Lehrerbildung. 187 Diskutiert wurde u. a. der Anteil der einzelnen Disziplinen an der Fachlehrerausbildung. Eine Konzeption aus dem Jahre 1968 sprach den Fächern 70 bzw. 45 SWS zu, für den Marxismus-Leninismus sah sie 20 SWS, für Pädagogik und Psychologie insgesamt 16 SWS und für die Methodik 15 SWS vor. 188 Den Hintergrund dieser Bemühungen bildete der Beschluss des Ministeriums für Volksbildung, die separate Ausbildung von Mittel- und Oberschullehrern mit dem Studienjahr 1969/70 abzuschaffen und das Lehramtsstudium neu zu strukturieren. Der 1969 durch das Ministerium für Hoch- und Fachschulwesen herausgegebene Studienplan erhöhte den Anteil der pädagogischen und der schulpraktischen Ausbildung. Im siebten Semester hatten die Studierenden künftig ein fünfwöchiges, das sogenannte „kleine Schulpraktikum“, im achten Semester dann ein vierzehnwöchiges „großes Schulpraktikum“ zu absolvieren. Parallel zu diesem begannen sie ihre Diplomarbeit. Im Anschluss erhielten sie Zeit für deren Fertigstellung und die Vorbereitungen auf die folgenden Prüfungen. Für Krause schuf

185 Vgl. etwa UAG, Prorektor Gesellschaftswissenschaften, Nr. 22: Kurzprotokoll Dienstbesprechung Rektor mit Prorektoren und Direktoren, 19.10.1970; ebd.: Kurzprotokoll außerordentliche Dienstbesprechung des Rektors mit Prorektoren und Funktionaldirektoren, 28.09.1970; ebd.: Plan der Dienstbesprechung des Rektors mit den Prorektoren und Funktionaldirektoren, 1969; ebd.: Festlegungsprotokoll, 7.11.1969; ebd.: Festlegungsprotokoll, 14.09.1969. Für das Zitat vgl. ebd.: Kurzprotokoll, 4.06.1969. Mitte der 1980er wurde Krause der Vorsitz über die Fakultätskommission zur Vorbereitung der Studententage übertragen. Vgl. UAG, Wissenschaftlicher Rat, Arbeitssitzung der Gesellschaftswissenschaftlichen Fakultät, 12.02.1986. 186 Für die Betreuung der Studentengruppen waren etwa ab Mitte der 1970er Jahre Gabriele Magull und Hans Arwed Müller zuständig. Magull übernahm zudem die als „Absolventenlenkung“ bezeichnete Berufsberatung und die Organisation der Ferienlager. Müller oblag zusätzlich die vormilitärische Ausbildung. Vgl. dazu UAG, Prorektor für Gesellschaftswissenschaften, Nr. 37: Jahresaufgabenplan der Sektion Geschichtswissenschaft für das Jahr 1977; ebd.: Jahresaufgabenplan der Sektion Geschichtswissenschaft für das Jahr 1978; ebd.: Jahresaufgabenplan der Sektion Geschichtswissenschaft für das Jahr 1980; UAG, Prorektor Gesellschaftswissenschaften, Nr. 102: Jahresaufgabenplan der Sektion Geschichtswissenschaft für das Jahr 1981; ebd.: Jahresaufgabenplan der Sektion Geschichtswissenschaft für das Jahr 1982. 187 Vgl. UAG, Direktorat für Weiterbildung, Nr. 14: Ergebnisprotokoll einer Beratung zur einheitlichen Gestaltung der Lehrerausbildung an der EMAU 27.11.1968. 188 Vgl. UAG, Direktorat für Weiterbildung, Nr. 14: Konzeption zur perspektivischen Entwicklung der Ausbildung von Fachlehrern, 1968. Zusätzlich waren Veranstaltungen in der Sprecherziehung (1 SWS), im Bereich der Sprachen (4 SWS), der Kybernetik und Datenverarbeitung (5 SWS), der Schulhygiene (1 SWS) und des Sportes (8 SWS) zu absolvieren. Vgl. ebd.

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der neue Studienplan die „Voraussetzungen für eine neue Qualität der Ausbildung.“ 189 Die durch ihn geleitete Kommission beteiligte sich daher aktiv an der „Durchsetzung der zentralen Beschlüsse und Dokumente im Bereich der Lehrerbildung.“ Darüber hinaus widmete sie sich Fragen der Kooperation mit den Schulen im Bereich der Ausbildung, der wissenschaftlichen Nachwuchsförderung und der Weiterbildung von Lehrern. 190 In seine Arbeit als stellvertretender Direktor für Erziehung, Aus- und Weiterbildung brachte Krause gezielt seine Forschungsergebnisse ein. Um die Zahl der vorzeitigen Studienabgänger zu senken, regte er beispielsweise im Juni 1969 an, nicht nur kurzfristig individuelle Fördermaßnahmen für Studenten des ersten Studienjahres anzubieten, sondern langfristig den Übergang von der Oberschule zur Universität zu erleichtern, wofür einerseits eine stärkere Orientierung der Schullehrpläne an den Anforderungen der Hochschule, anderseits aber auch eine hochschulmethodische Aufbereitung des universitären Lehrstoffes notwendig gewesen sei. 191 Bereits im Dezember 1969 beschloss das Prorektorat Gesellschaftswissenschaften – aufbauend auf einem Referat Krauses zu „Stand und Problemen der Rationalisierung des Ausbildungsprozesses“ – ein „Stufenprogramm zur Einführung neuer Lehrmittel.“ Dessen Umsetzung oblag einer Arbeitsgruppe, der Mitarbeiter aller Sektionen, der Leiter der Universitäts-Film- und Bildstelle und „eine Studentengruppe“ angehörten. Ihre vornehmliche Aufgabe bestand darin, „sich einen Überblick über die Veränderungen der Lehr- und Lernprozesse sowie über die Wirkung neuer Unterrichtsmittel [zu] verschaffen und ggf. [zu] verallgemeinern.“ Die dabei „gewonnenen Erfahrungen“ sollten bis 1975 in jährlichen Kolloquien mit Ausstellungen vermittelt werden. Um die technischen Voraussetzungen bieten zu können, wurde der Aufbau eines „moderne[n] und leistungsfähige[n] Vervielfältigungszentrums“ geplant. 192 Ein Jahr später, 1970, forderte Krause eine bessere mediale Ausstattung der Seminarräume und die Einrichtung eines „audiovisuelle[n] Zentrum[s] (…), das über ein internes Fernsehsystem völlig neue Möglichkeiten der Lehreraus- und -

189 UAG, Wissenschaftlicher Rat, Nr. 105: Sitzungsprotokoll der Gesellschaftswissenschaftlichen Fakultät, 15.06.1977. 190 UAG, Direktorat für Weiterbildung, Nr. 14: Arbeitsordnung der Kommission Lehrerbildung des Wissenschaftlichen Rates der Ernst-Moritz-Arndt-Universität, ca. 1971. Vgl. in diesem Zusammenhang auch UAG, Philosophische Fakultät II, Nr. 2/11: Historisches Institut an Dekan der philosophischen Fakultät,18.01.1967. Dort wird auf seit 1958 bestehende „enge Verbindungen zu [den] Bezirkskabinetten für Lehrerweiterbildung in Rostock und Neubrandenburg“ verwiesen, in dessen Rahmen, das „Institut regelmäßig fachliche und methodische Weiterbildungsveranstaltungen für Geschichtslehrer“ anbiete. Darüber hinaus wird auf die Funktion einzelner Mitarbeiter als „nebenamtliche Mentoren im Fernstudium Geschichte für Lehrer, Schulfunktionäre, Parteifunktionäre, Offiziere der NVA“ sowie die Betreuung von „besonders befähigte[n] Lehrer[n]“ als „apl. Doktor-Aspiranten“ hingewiesen. 191 UAG, Prorektor Gesellschaftswissenschaften, Nr. 22: Festlegungsprotokoll, 18.06.1969. 192 Ebd., Festlegungsprotokoll, 7.11.1969.

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weiterbildung“ eröffnen würde und auch der „Berufsbildung, der Erwachsenenqualifizierung, der Kreisschule für Marxismus, der Volkshochschule sowie de[n] Betriebsakademien“ zur Verfügung stehen sollte. 193 Weder das Vervielfältigungs- noch das audiovisuelle Zentrum konnten jedoch in den folgenden Jahren realisiert werden. Vor diesen Hintergrund erklärte die Sektion Geschichtswissenschaft die „Entwicklung neuer Unterrichtsmittel (…) und den Einsatz moderner Kommunikationsmittel“ zu einem Bestandteil des sozialistischen Wettbewerbs und damit „zur Sache aller Wissenschaftsbereiche.“ Einbezogen worden waren darüber hinaus die „Staatliche Leitung und Gewerkschaftsleitung“, die an „Lösung[en]“ für den „Einsatz moderner Unterrichtsmittel, [einer] Aktualisierung des historischen Stoffes“ und – sehr abstrakt gehalten – die Umsetzung der „Einheit von Rationalem und Emotionalem in der Ausbildung“ arbeiten sollten. 194 Konkret verständigte man sich darauf, den „Seminarraum I (…) von einem Kollektiv unter Leitung von Dr. Richter unmittelbar nach Abschluß der erforderlichen handwerklichen Arbeiten so einzurichten, daß der rationelle Einsatz von Unterrichtsmitteln mit geringer Zugriffszeit möglich ist und der Raum der ästhetischen Erziehung entspricht.“ 195

In den kommenden Semestern wurden zudem einzelne Seminare der Wissenschaftsbereiche mit Blick auf die „Nutzung audiovisueller Unterrichtsmittel“ und deren Auswirkungen auf „die Erhöhung des Bildungs- und Erziehungseffektes der Lehrveranstaltungen“ evaluiert. Die Auswertung und Ableitung von Schlussfolgerungen – „insbesondere für die Modernisierung und bessere Verfügbarkeit der Unterrichtsmittel“ übertrug die Sektionsleitung ebenfalls Richter. 196 In der Überlieferung fand sich bislang keine solcher Einschätzungen. Hinweise über den Ablauf einzelner Lehrveranstaltungen bietet indes der Abschlussbericht einer Hospitationsgruppe des Rektors aus dem Jahr 1979. Demnach unterstützten die Dozenten der Sektion Geschichte in ihren Vorlesungen

193 UAG, Direktorat für Weiterbildung, Nr. 14: Vorlage für den Gesellschaftswissenschaftlichen Rat der EMAU Greifswald, 18.12.1970. 194 UAG, Prorektor für Gesellschaftswissenschaften, Nr. 37: Jahresaufgabenplan der Sektion Geschichtswissenschaft für das Jahr 1977. Vgl. dazu auch ebd., Nr. 8: Informationsbericht der Sektion Geschichtswissenschaft, Oktober 1971. 195 Ebd., Nr. 37: Jahresaufgabenplan der Sektion Geschichtswissenschaft für das Jahr 1977. Dem Kollektiv gehörten neben Richter die Fachhistoriker Klaus Spading und E. Fischer sowie der Mitarbeiter des Wissenschaftsbereichs Geschichtsmethodik Wolfgang Arndt an. Vgl. ebd. 196 UAG, Prorektor für Gesellschaftswissenschaften, Nr. 37: Jahresaufgabenplan der Sektion Geschichtswissenschaft für das Jahr 1978; ebd.: Jahresaufgabenplan der Sektion Geschichtswissenschaft für das Jahr 1980; UAG, Prorektor Gesellschaftswissenschaften, Nr. 102: Jahresaufgabenplan der Sektion Geschichtswissenschaft für das Jahr 1981, 2.02.1981; ebd.: Jahresaufgabenplan der Sektion Geschichtswissenschaft für das Jahr 1982.

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Martin Buchsteiner „die Anschaulichkeit der verbalen Darstellung (…) durch die Einbeziehung historischer Karten (…), durch Statistiken und Schemata an der Tafel und durch die Verwendung bildhafter Quellen.“ 197

Im Juni 1977, und damit hinter dem eigenen Zeitplan zurück, präsentierte die Arbeitsgemeinschaft „Rationalisierung“ dem Prorektorat erste Ergebnisse. Entstanden war eine die „Parteilichkeit als methodologisches Prinzip“ festschreibende „Einführung in allgemeine Methoden und Techniken der wissenschaftlichen Arbeit“, die einen verbindlichen Katalog von in den einzelnen Studienjahren zu vermittelnden Arbeitstechniken enthielt. Zusammengestellt hatte die Arbeitsgemeinschaft ferner einen auf die Inhalte der Veranstaltungen des Instituts für Marxismus-Leninismus abgestimmten Studienplan für das Grundstudium und Vorschläge für eine zeitliche Koordination der einzelnen Prüfungsleistungen. Für einzelne Lehrgebiete der Fächer Deutsch und Geschichte waren zudem Beispiele für „spezielle Studienanleitungen und Studienmaterialien“ erarbeitet worden 198, mit denen auch auf die Ergebnisse der Evaluierung des großen Schulpraktikums reagiert werden sollte. In der Auswertung war deutlich geworden, dass in „einer Reihe von Sektionen (…), die Fachausbildung stärker als bisher auf die Belange des Unterrichts“ orientiert werden müsse, damit „die Studenten besser auf die Erfordernisse der Schule“ vorbereitet seien. 199 Diese Einschätzung erinnert an den Befund aus dem Jahre 1962, der zu einem verstärkten Einsatz Studierender in der schulischen und universitären Ausbildung geführt hatte. In diesem Zusammenhang der propagandistischen Tätigkeit verwundert es etwas, dass von den Studierenden „die erzieherischen Potenzen des Unterrichtsstoffes (…) nicht immer erkannt und demzufolge dann nicht ausreichend genutzt“ worden waren. 200 Für die Studierenden des Faches Geschichte galt diese Einschätzung nicht. Sie waren von Beginn an, spätestens aber im dritten Studienjahr zur „geschichtspro197 UAG, Prorektor für Gesellschaftswissenschaften, Nr. 37: Abschlussbericht der Hospitationsgruppe des Rektors in der Sektion Geschichtswissenschaft, 1.10.1979. 198 UAG, Wissenschaftlicher Rat, Nr. 105: Manfred Häckel / Alfried Krause, Empfehlung zur Erhöhung der Effektivität des Studiums im 1. Studienjahr in den Fachkombinationen Geschichte/Deutsch und Deutsch/Geschichte, ohne Datum. Bei der Erstellung des Studienplans hatte Krause von den Erfahrungen seines Mitarbeiters Hans Arwed Müller profitiert, der im Studienjahr 1974/75 Seminarleiter im Fach marxistisch-leninistische Philosophie gewesen war. Vgl. UAG, Wissenschaftlicher Rat, Nr. 117. 199 UAG, Direktorat für Weiterbildung, Nr. 14: Bericht der Methodikkommission über das große Schulpraktikum der Lehrerstudenten 1970. Ausdrücklich ausgenommen worden waren die Fächer Chemie, Deutsch und Geschichte. Die im „Bereich der methodischen Ausbildung praktizierte forschungsbezogene Lehre“ habe sich hier, so der Bericht, „positiv auf das Leistungsbild der Studenten im Rahmen der unterrichtspraktischen Tätigkeit“ ausgewirkt. Ebd. Neben den Methodiken kritisierte die Evaluierungsgruppe auch die Mentoren. Künftig sollten sie nicht mehr durch die Schuldirektoren, sondern die Kreisschulräte ausgewählt und in speziellen Kursen für ihre Aufgaben qualifiziert werden. Vgl. ebd. 200 UAG, Direktorat für Weiterbildung, Nr. 14: Bericht der Methodikkommission über das große Schulpraktikum der Lehrerstudenten 1970.

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pagandistische[n] Tätigkeit“ verpflichtet. Die Studenten der Sektion Geschichtswissenschaften übernahmen die „Vorbereitung und Durchführung der geschichtspropagandistischen Arbeit im Werk für Nachrichtenelektronik“ 201, im Medizinischen Zentrum 202 und an einzelnen Schulen der Stadt. 203 Neben Vortragsveranstaltungen richteten sie sogenannte Traditionskabinette ein oder gestalteten anlässlich von Jahrestagen Wandzeitungen und Flure. Unterstützung erhielten die Studierenden dabei durch die Geschichtsmethodiker, die – so ist es für Richter überliefert – extra Lehrveranstaltungen dafür anboten. 204 Für den Wissenschaftsbereich Geschichtsmethodik erwies sich dieses bereits seit Anfang der 1960er Jahre gezeigte Engagement als sehr vorteilhaft. Durch die Erstellung audiovisueller Unterrichtsmittel, die – vielfach an Jahrestagen orientiert – sowohl für den Einsatz im schulischen als auch im außerschulischen Kontext konzipiert wurden, erlangte die durch Krause und seine Mitarbeiter auf Leistungsschauen gezielt präsentierte Arbeit mehr Aufmerksamkeit und eine größere Förderung. 205 Der Prorektor für Gesellschaftswissenschaften sprach mit Blick auf die Tonbildreihen und Radiovisionen des Wissenschaftsbereichs von einer „wesentliche[n] Neuerung in der Unterrichts- und Propagandaarbeit“ 206, die zeige wie „die Geschichtswissenschaft in den vielfältigsten Formen für die kommunistische Erziehung der Jugend nutzbar zu machen“ sei. 207

201 UAG, Prorektor Gesellschaftswissenschaften, Nr. 8: Informationsbericht der Sektion Geschichtswissenschaft, Oktober 1971. 202 UAG, Prorektor Gesellschaftswissenschaften, Nr. 102: Jahresaufgabenplan der Sektion Geschichtswissenschaft für das Jahr 1981, 2.02.1981. 203 Vgl. UAG, Wissenschaftlicher Rat, Nr. 112: Universitätsleistungsschau 1984; UAG, Prorektor Gesellschaftswissenschaften, Nr. 102: Jahresaufgabenplan der Sektion Geschichtswissenschaft für das Jahr 1982. 204 UAG, Prorektor Gesellschaftswissenschaften, Nr. 102: Jahresaufgabenplan der Sektion Geschichtswissenschaft für das Jahr 1981, 2.02.1981; ebd., Nr. 37: Jahresaufgabenplan der Sektion Geschichtswissenschaft für das Jahr 1980. 205 Vgl. etwa UAG, Prorektor für Gesellschaftswissenschaften, Nr. 26: Hervorragende gesellschaftswissenschaftliche Forschungsleistungen [auf der Leipziger Leistungsschau] 1972. Vgl. dazu auch UAG, Prorektor Gesellschaftswissenschaften, Nr. 37: Johannes Schildhauer / Konrad Fritze, Forschungsbericht 1976/77, 1.04.1978. Hier ist vermerkt: „Die intensivste Anleitung ihrer Forschung erhielten die Kollegen der (…) Geschichtsmethodik (…) von Seiten der APW. Hervorhebung verdient die unbürokratische, auf Hilfe und Unterstützung orientierte Art, in der das Direktorat für Forschung seine Leitungsfunktion ausübt.“ 206 UAG, Prorektor Gesellschaftswissenschaften, Nr. 26, Formblatt 1, Hervorragende gesellschaftswissenschaftliche Forschungsleistungen 1972, Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald. 207 UAG, Prorektor für Gesellschaftswissenschaften, Nr. 15: Aktennotiz, Februar 1975. Vgl. dazu auch UAG, Prorektor Gesellschaftswissenschaften, Nr. 37: Johannes Schildhauer / Konrad Fritze, Forschungsbericht 1976/77, 1.04.1978. Dort heißt es: „In Erfüllung des Planes der pädagogischen Forschung wurden 1976/77 Unterrichtsmittel – Tonbildreihen und Unterrichtsfilme – entwickelt, die den Schülern auf der Grundlage des Lehrplans Leben und Werk so hervorragender Führer der Arbeiterbewegung wie K. Marx, F. Engels, K. Liebknecht, R.

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Der Erfolg Krauses begründete sich jedoch nicht allein durch Linientreue 208, sondern vor allem durch den Wunsch nach „Plastizität und Lebendigkeit“, die, wie Krause 1976 formulierte, „unserem Geschichtsbild“ fehle. Die Darstellung von Geschichte nahm in der DDR – im Bestreben die Gesetzmäßigkeit der historischen Entwicklung nachzuweisen – mehr die Struktur als Personen in den Blick. In der Vermittlung der eigenen Geschichte stützten sich die DDR-Historiker dann vor allem auf Parteitagsdokumente, die damit auch zum Inhalt des Geschichtsunterrichts in den oberen Klassenstufen wurden. Diese Vorgabe führte, wie es Krause formulierte, dazu, dass „bei der Jugend“ die „notwendige Plastizität, die Erlebensstärke der Geschichte [nur] in ungenügendem Maße vorhanden“ war 209, und erklärte aus seiner Sicht den Rückgang „geschichtsbewußten Handeln[s]“ oder, anders ausgedrückt, die sinkende Bereitschaft, parteipolitische Aktivitäten und Ämter wahrzunehmen. Krause, der davon ausging, dass „der historische Erkenntnisprozeß (…) verinnerlicht und über die ganze Persönlichkeit angeeignet werden“ müsse 210, setzte daher auf die bewusste Verknüpfung von Sachinformationen mit Emotionen. Diesem Ziel diente die Wirkungsforschung des Wissenschaftsbereiches, die Ergebnisse waren die zu Unterrichts- und Propagandazwecken entstandenen Filmbeiträge, Dia- und Tonbildreihen. An der Universität fand seine Forderung, die „Art der Darstellung der Geschichte interessant und lesbar“ werden zu lassen, Zustimmung. In einem Sitzungsprotokoll findet sich gar der Hinweis, man könne in dieser Hinsicht „vom Gegner sehr viel lernen.“ 211 Große Aufmerksamkeit erlangte Krause schließlich mit einem Beitrag in der FDJ-Zeitschrift Forum, deren Chefredakteur bekanntlich

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Luxemburg, E. Thälmann und W. Pieck nahebringen. Massenwirksamkeit wurde ferner mit einer Schulfunksendung über W. I. Lenins Aprilthesen erzielt.“ Bereits in 1970er Jahren begannen Krause und seine Mitarbeiter die im Wissenschaftsbereich entstandenen Unterrichtsmittel einer „fachwissenschaftliche[n] Begutachtung“ zu unterziehen, um sie ideologischen Änderungen und dem Lernniveau der Schüler anzupassen. Überarbeitet wurde etwa der Unterrichtsfilm „Nationales Komitee ‚Freies Deutschland‘“ sowie die Tonbildreihen „Die Novemberevolution 1918“ und „Gedanken zum Roten Oktober.“ Romann, Geschichtsmethodik, 66. Vgl. UAG, Wissenschaftlicher Rat, Nr. 104: Sitzungsprotokoll der Gesellschaftswissenschaftlichen Fakultät, 9.06.1976. Vgl. dazu auch ebd.: Sitzungsprotokoll der Gesellschaftswissenschaftlichen Fakultät, 17.03.1976. UAG, Wissenschaftlicher Rat, Nr. 104: Sitzungsprotokoll der Gesellschaftswissenschaftlichen Fakultät, 17.03.1976. Tatsächlich hatte das DPZI Mitte der 1960er Jahre den Wissenschaftsbereich Geschichtsmethodik mit einer „Analyse des Antikommunismus in audiovisuellen Unterrichtsmitteln für den Geschichtsunterricht der BRD“ beauftragt. Der Plan ließ sich jedoch nicht umsetzen, da „eine entsprechende Dienstreise zur Einsichtnahme in die betreffenden Unterrichtsmittel nicht gewährt wurde.“ UAG, Prorektor Gesellschaftswissenschaften, Nr. 37: Johannes Schildhauer / Konrad Fritze, Forschungsbericht 1976/77, 1.04.1978. Für die Anträge vgl. UAG, Prorektor für Gesellschaftswissenschaften, Nr. 37: Internationale Beziehungen, geplante Reisen. Vgl. in diesem Zusammenhang auch UAG, Prorektor für Gesellschaftswissenschaften, Nr. 23: Stellungnahme zu den Problemen des 7Jahrplanes an der EMAU Greifswald, 19.12.1960, 15.

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sein Schüler Herzig war. Krause eckte – nach eigener und Aussage von Richter – mit dieser offenen Kritik an. 212 Schaut man auf den beruflichen Werdegang, so erwies sich diese Kritik jedoch als nicht hinderlich. Krause wurde Mitglied der zentralen Fachkommission Methodik des Geschichtsunterrichts beim Ministerium für Hoch- und Fachschulwesen 213 und gemeinsam mit Splanemann zum Mitglied im Wissenschaftlichen Rat des Instituts für Unterrichtsmittel der APW berufen. 214 1977 erhielt der Wissenschaftsbereich schließlich den Auftrag, einen Film über Wilhelm Pieck zu konzipieren. Wie bereits bei den früheren Produktionen kam es auch diesmal zu Auseinandersetzungen zwischen den Geschichtsmethodikern sowie den künstlerisch und politisch Verantwortlichen. 215 Im Herbst 1978 lud der Wissenschaftsbereich Geschichtsmethodik zu einer Tagung ein, auf der mit internationaler Beteiligung über „Probleme der ideologischen Erziehung im Geschichtsunterricht“ diskutiert werden sollte. 216 Die Grundlage bildeten dabei die mit der von Splanemann ein Jahr zuvor eingereichten Habilitation217 gewonnenen und durch die Qualifizierungsarbeiten von Richter, Arndt und Müller weiter „vertiefte[n] Einsichten über die Rolle der ästhetischen Erziehung, der emotionalen Darstellung und des Einsatzes von Musik im Geschichtsunterricht.“ 218 An der Tagung beteiligten sich das „Institut für Unterrichtsmittel, Unterricht im Fernsehen, Schulfunk, [das] Pädagogische Institut Budapest, [die] Pädagogische Fakultät Prag, [die] APW der UdSSR.“ 219 Die Universitäten Brno, Torun und 212 Vgl. Zeitzeugeninterview Alfried Krause, 9.08.2013. PA Buchsteiner; Zeitzeugeninterview Martin Richter, 9.08.2013. PA Buchsteiner. 213 Vgl. UAG, Prorektor Gesellschaftswissenschaften, Nr. 111: Kaderentwicklungsprogramm bis 1995, November 1985. 214 Vgl. UAG, Prorektor für Gesellschaftswissenschaften, Nr. 37: Prorektor für Gesellschaftswissenschaft an APW, 2.11.1976. 215 Romann, Geschichtsmethodik, 66. 216 UAG, Prorektor für Gesellschaftswissenschaften, Nr. 37: Jahresaufgabenplan der Sektion Geschichtswissenschaft für das Jahr 1977. Für die Organisation waren Krause und Magull verantwortlich. Vgl. ebd. 217 Ilse Splanemann, Untersuchungen zur ästhetischen Erziehung im Geschichtsunterricht unter besonderer Berücksichtigung der Aneignung eines wissenschaftlichen Geschichtsbildes mit Hilfe audio-visueller Unterrichtsmittel. Die Gutachten übernahmen Krause, Schildhauer und der Berliner Florian Osburg. Vgl. UAG, Wissenschaftlicher Rat, Nr. 105: Sitzungsprotokoll der Gesellschaftswissenschaftlichen Fakultät, 9.11.1977; ebd.: Sitzungsprotokoll der Gesellschaftswissenschaftlichen Fakultät, 12.10.1977; ebd.: Sitzungsprotokoll der Gesellschaftswissenschaftlichen Fakultät, 14.12.1977. Vgl. dazu auch UAG, Wissenschaftlicher Rat, Nr. 106: Sitzungsprotokoll der Gesellschaftswissenschaftlichen Fakultät, 14.06.1978; ebd., Nr. 107: Sitzungsprotokoll der Fakultätskommission für Forschungspreise, 13.06.1979; UAG, Prorektor für Gesellschaftswissenschaften, Nr. 37: Direktorat für Kader und Qualifizierung: Ergänzung zum Kaderentwicklungsprogramm, 26.01.1977. 218 UAG, Prorektor Gesellschaftswissenschaften, Nr. 37: Johannes Schildhauer / Konrad Fritze, Forschungsbericht 1976/77, 1.04.1978. 219 UAG, Prorektor für Gesellschaftswissenschaften, Nr. 107: Sitzungsprotokoll der Gesellschaftswissenschaftlichen Fakultät, 12.12.1979.

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Vilnius waren, obwohl Mitarbeiter des Wissenschaftsbereichs seit den 1960er Jahren hier in regelmäßigen Abständen Gastvorlesungen hielten 220, nicht durch Referenten vertreten. Unter dem Stichpunkt „grundlegende Ergebnisse“ der Tagung „Kommunistische Erziehung im Geschichtsunterricht und die Funktion audiovisueller Unterrichtsmittel“ hielt Krause im Dezember 1979 der Sektion Geschichtswissenschaft gegenüber lakonisch fest: „Unsere theoretische Position wurde bestätigt, zugleich wurden wertvolle Anregungen und Ergänzungen gewonnen.“ Als persönliches Fazit formulierte er: „Dieses Kolloquium bestätigte, daß wir auf diesem Gebiet im sozialistischen Lager das Niveau mitbestimmen.“ 221 Wesentlich ausführlicher informierte Krause über die Resultate der Jahrestagung der Geschichtsmethodiker der DDR zum Thema „Unterrichtsmittel im Geschichtsunterricht“, die im Juni 1979, ebenfalls in Greifswald stattgefunden hatte. An dieser Veranstaltung nahmen alle dem Ministerium für Hoch- und Fachschulwesen unterstellten methodischen Einrichtungen der DDR sowie Mitarbeiter des Verlages Volk und Wissen teil. 222 Abgesehen von Hermann Meltzer aus Leipzig, der „Zur Rolle der Unterrichtsmittel bei der Entwicklung der Schülertätigkeit“ sprach, referierten allein die Greifswalder Methodiker. Sie erklärten, dass die „Steigerung der Effektivität des Unterrichts (…) die Einbeziehung von Unterrichtsmitteln erforderlich“ mache. Hinter dem Schlagwort „Effektivität“ verbarg sich der Wunsch der Methodiker nach einer Zentralisierung der Lerninhalte und ihrer Fokussierung auf von den Schülern zu übernehmende ideologische Positionen. Bei der Einübung von Konventionen, so die empirischen Erfahrungen der Greifswalder, hatte sich eine auf Emotionen setzende „lebendige und anschauliche Darbietung des Stoffes“ bewährt. Durch die „Einführung des Geschichtsunterrichts im Fachunterrichtsraum“, die für das Schuljahr 1979/80 an „allen Schulen der DDR“ geplant war, sahen die Greifswalder „neue (…) Möglichkeiten hinsichtlich der Veränderung grundlegender Methoden des Geschichtsunterrichts“, womit sie in erster Linie den Einsatz audiovisueller Unterrichtsmittel meinten, die

220 Vgl. UAG, Prorektor für Gesellschaftswissenschaften, Nr. 37: Internationale Beziehungen, geplante Reisen; ebd.: Jahresaufgabenplan der Sektion Geschichtswissenschaft für das Jahr 1977; UAG, Prorektor für Gesellschaftswissenschaften, Nr. 102: Jahresaufgabenplan der Sektion Geschichtswissenschaft für das Jahr 1981, 2.02.1981; ebd.: Jahresaufgabenplan der Sektion Geschichtswissenschaft für das Jahr 1982. Seit Anfang der 1980 bestanden darüber hinaus Beziehungen zum Pädagogischen Zentralinstitut in Budapest, zur APW der UdSSR sowie zu den Hochschulen in Szeged und Sarajewo. Vgl. UAG, Prorektor für Gesellschaftswissenschaft, Nr. 94: Planvorschlag für den Fünfjahrplan 1981–1985 der pädagogischen Forschung nach Sektionen, 1980. 221 UAG, Prorektor für Gesellschaftswissenschaften, Nr. 107: Sitzungsprotokoll der Gesellschaftswissenschaftlichen Fakultät, 12.12.1979. Für die einzelnen Referate der Tagung vgl. Wissenschaftliche Zeitschrift der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald, Gesellschaftsund sprachwissenschaftliche Reihe 28/1979, H. 3/4. 222 UAG, Prorektor für Gesellschaftswissenschaften, Nr. 107: Sitzungsprotokoll der Gesellschaftswissenschaftlichen Fakultät, 12.12.1979.

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in einem noch größeren Umfang die Lehrbuch- und Lehrererzählung ablösen sollte. Im Ergebnis der Referate hielt die Tagung fest, dass die „Forschungsergebnisse (…) noch rascher in die Praxis zu überführen“ seien und dies „in erster Linie durch eine stärkere Orientierung“ auf Einsatzkonzeptionen, die sogenannten Unterrichtshilfen zu erfolgen habe. Im Schulalltag konzentrierten sich die Lehrer, so die Einschätzung Krauses, „immer stärker auf die Unterrichtshilfen, die zum Teil sehr ins Detail gehend ausgearbeitet sind. Der Lehrer geht immer mehr dazu über, das zu machen, was in den Unterrichtshilfen angeboten wird, und das nicht zu machen, was dort nicht enthalten ist. So ergibt sich ein direkter Übergang von unseren Unterrichtsmitteln in die Praxis.“ 223

Für Krause bedeutete die Tagung somit „konzeptionell einen Schritt voran.“224 Bestätigt wird dieser Eindruck zum einen durch eine Änderung bei der Formulierung des Forschungsschwerpunktes, die nicht mehr den Aspekt der „Erziehung“, sondern den des „optimalen Einsatzes“ betonte 225, zum anderen durch die seinem Wissenschaftsbereich übertragene Aufgabe, innerhalb der nächsten zwei Jahre für sämtliche Klassenstufen neue Unterrichtshilfen zu entwickeln. Unterstützung sollten die Methodiker dabei vom „Institut für Schulfernsehen und Schulfunk u. a. Einrichtungen“ erhalten. 226 Die auf den beiden Veranstaltungen erhaltene Bestätigung der theoretischen Position markierte sowohl den Höhepunkt als auch den Abschluss der Forschungsarbeit im Bereich audiovisuelle Unterrichtsmittel. 1979 verteidigte Arndt seine Dissertation. 227 Zwei Jahre später, 1981, promovierte Rudolf Juretschka. 228 Er legte mit seiner Arbeit „theoretisch und empirisch gesichertes Unterrichtsmate-

223 UAG, Wissenschaftlicher Rat, Nr. 107: Sitzungsprotokoll der Gesellschaftswissenschaftlichen Fakultät, 12.12.1979. 224 Ebd. 225 UAG, Prorektorat Gesellschaftswissenschaften, Nr. 94: Planvorschlag für den Fünfjahrplan 1981–1985 der pädagogischen Forschung nach Sektionen, 1980. Vgl. dazu auch ebd., Nr. 113: Arbeitssitzung der Gesellschaftswissenschaftlichen Fakultät, 06.03.1985. Dort heißt es unter dem Punkt „Beratung Forschungsplan 1986–1990“ bezüglich der Geschichtsmethodik: „Weiterentwicklung des Geschichtsunterrichts. Zur Funktion der Unterrichtsmittel. Unterrichtsmittel zum neuen Lehrplan. Verzahnung mit dem Plan der APW ist noch zu durchdenken.“ 226 UAG, Wissenschaftlicher Rat, Nr. 107: Sitzungsprotokoll der Gesellschaftswissenschaftlichen Fakultät, 12.12.1979. 227 Vgl. Wolfgang Arndt, Untersuchungen zur Funktion von Musik in den audiovisuellen Unterrichtsmitteln des Geschichtsunterrichts, Diss. Greifswald, Ms. 1981. Die Gutachten übernahmen neben Krause der Historiker Klaus Vetter aus Berlin und der stellvertretende Direktor des Instituts für Unterrichtsmittel der APW Ewald Topp. Vgl. UAG, Wissenschaftlicher Rat, Nr. 117. 228 Vgl. Rudolf Juretschka, Die Darstellung funktioneller Sachzusammenhänge und funktionalstruktureller, gesellschaftlicher Zusammenhänge in der Tonbildreihe für den Geschichtsunterricht, Diss. Greifswald, Ms. 1981. Die Gutachten schrieben Krause, Splanemann und Topp. Vgl. UAG, Wissenschaftlicher Rat, Nr. 117.

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rial und Vorschläge für (…) Gestaltungs- und Einsatzkriterien von Tonbildreihen“ vor. Nach Ansicht der Gutachter konnten die aus der „Untersuchung resultierenden Modellbeispiele und Einsatzkonzeptionen von Anschauungsmitteln zur Behandlung sogenannter schwieriger Stoffgebiete (…) für die Schulen unserer Republik vom Ministerium für Volksbildung übernommen werden.“ 229

Dieser Einschätzung folgte die Anstellung Juretschkas als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Unterrichtsmittel der APW. 230 Deutlicher konnte die Wertschätzung für Krauses Arbeit nicht ausfallen. 1982 promovierte schließlich auch Müller 231 und legte Richter seine Habilitation „zur emotionalen Einwirkung im Geschichtsunterricht und zur emotionalen Wirksamkeit der Unterrichtsmittel“ vor. 232 Richter griff mit seiner Arbeit „Fragen auf, die im Sinne des Rechenschaftsberichts an den X. Parteitag der SED unmittelbar darauf gerichtet sind, wie mit Hilfe der Unterrichtsmittel die geistige Anregung und Aktivierung der Schüler erhöht werden kann.“ Er schloss damit, so die Gutachten, „die bestehenden Lücken in der Unterrichtsmitteltheorie wie in der Methodik des Geschichtsunterrichts“ und „löst damit gleichzeitig eine Aufgabe des zentralen Plans der pädagogischen Forschung.“ 233 Die enge Verbindung zwischen „wissenschaftlicher Aufgabenstellung und schulpolitischer Zielstellung“ der Staats- und Parteiführung dokumentiert auch der Forschungsplan des Wissenschaftsbereichs für den Zeitraum 1981–1985. Darin verpflichteten sich die Mitarbeiter, mit ihren Untersuchungen einen „Beitrag zur Befähigung der Schüler zur Integration außerschulischer Informationen in das Geschichtsbild, zum Erfassen des Klassencharakters und der Absichten historischer Darstellungen des Klassengegners besonders durch Massenmedien“

und „zur politischen Argumentation mit der Geschichte (Beweisen, Widerlegen, Auseinandersetzen)“ zu leisten. Konkret beabsichtigten sie die Erarbeitung von „Gestaltungskriterien und Einsatzprinzipien“ sowie „Einsatzkonzeptionen“ und 229 UAG, Wissenschaftlicher Rat, Nr. 110: Dissertationen A und B, Zusammenstellung. 230 Vgl. Zeitzeugeninterview Martin Richter, 29.01.2014. PA Buchsteiner. 231 Vgl. Hans-Arwed Müller, Untersuchungen zur Informationsvermittlung und Informationsverarbeitung beim Einsatz historischer Unterrichtsfilme im Geschichtsunterricht der Klassen 8 bis 10, Diss. Greifswald, Ms. 1982. Die Gutachten übernahmen Krause, Splanemann und Topp. Vgl. UAG, Wissenschaftlicher Rat, Nr. 110: Arbeitssitzung der Gesellschaftswissenschaftlichen Fakultät, 08.09.1982. Zur Einschätzung der Arbeit vgl. ebd.: Auflistung Qualifikationsschriften der Fakultät; ebd.: Arbeitssitzung der Gesellschaftswissenschaftlichen Fakultät, 20.10.1982. 232 Vgl. Martin Richter, Untersuchungen zur emotionalen Wirksamkeit audiovisueller Unterrichtsmittel im Geschichtsunterricht, Diss. B Greifswald, Ms. 1981. Als Gutachter waren neben Krause, der Magdeburger Heinrich Rühmann und Rolf Rackwitz aus Leipzig tätig. Das Gutachten für die Erteilung der venia legendi, die um 1980 in der DDR von der Habilitation abgetrennt und als facultas docendi separat, im Falle Richters 1983, erteilt wurde, übernahmen Krause und Splanemann. Vgl. UAG, Wissenschaftlicher Rat, Nr. 117. 233 UAG, Wissenschaftlicher Rat, Nr. 110: Dissertationen A und B Okt. 1981-Mai 1982. Vorlage für den Dekan.

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„Modellbeispielen von Tonbildreihen und Sendungen des Schulfernsehens.“234 Der Wissenschaftsbereich wollte auf diese Weise – wie es in den Gutachten zur Habilitation Richters lobend hervorgehoben wurde – „auch unmittelbar für die Schulpraxis [zu ergänzen wäre die propagandistische Arbeit] fruchtbar“ sein, indem sie eine „theoretisch fundierte und mit vielen Beispielen illustrierte Anleitung zum Handeln“ gab. 235 Als theoretische Grundlage dienten die bereits erlangten „Untersuchungsergebnisse (…) zur emotionalen Wirksamkeit audiovisueller Unterrichtsmittel und zur ästhetischen Aneignung eines wissenschaftlichen Geschichtsbildes.“ 236

Publiziert werden sollten u. a. eine „geschlossene Publikation in einem Heft der Schriftenreihe Unterrichtsmittel – Information“ und eine „Monographie (mit starkem Anleitungscharakter) für die Gestaltung regionalgeschichtlicher Themen: Zur Gestaltung von Tonbildreihen.“ 237 Beide Vorhaben scheinen nicht umgesetzt worden zu sein. Dafür erschien 1984 das unter der Leitung Krauses entstandene Handbuch Zur Arbeit mit Unterrichtsmitteln. 238 Vier Jahre später, 1988, als eine Neuauflage des Handbuchs zur Methodik des Geschichtsunterrichts konzipiert wurde, erhielt Krause einen Platz im Gutachtergremium und Richter den Auftrag, am Kapitel „Übersicht über Methoden, Mittel und Organisationsformen des Geschichtsunterrichts“ mitzuwirken. 239 Das Projekt wurde 1990 aufgegeben. 3. Heimatgeschichte und das Ende des Sozialismus Der sich in der geschichtsmethodischen Forschung zeigende stärkere Praxisbezug spiegelte sich auch in der Lehre wieder. Auf dem X. Parteitag der SED hatte die Staats- und Parteiführung, mit Blick auf die für 1982 geplante Einführung des fünfjährigen Lehrerstudiums, eine „engere Verbindung der methodischen Theorie

234 UAG, Prorektorat Gesellschaftswissenschaften, Nr. 94: Planvorschlag für den Fünfjahrplan 1981–1985 der pädagogischen Forschung nach Sektionen, 1980. Inhaltlich wurde der Schwerpunkt auf die „biographische (…) Darstellung hervorragender Führer der Arbeiterbewegung“, die „konkrete, lebendige Darstellung der Geschichte in den Klassen 5 und 6“ sowie „bestimmte[r] Problemen der Kulturgeschichte“ gelegt. Vgl. ebd. Für die Bestätigung des Forschungsplanes durch die APW im August 1981 vgl. UAG, Prorektor für Gesellschaftswissenschaft, Nr. 94: APW an Prorektor für Gesellschaftswissenschaft, 5.08.1981. 235 UAG, Wissenschaftlicher Rat, Nr. 110: Dissertationen A und B, Okt. 1981-Mai 1982. Vorlage für den Dekan. 236 UAG, Prorektorat Gesellschaftswissenschaften, Nr. 94: Planvorschlag für den Fünfjahrplan 1981–1985 der pädagogischen Forschung nach Sektionen, 1980. 237 UAG, Prorektor für Gesellschaftswissenschaft, Nr. 94: Planvorschlag für den Fünfjahrplan 1981–1985 der pädagogischen Forschung nach Sektionen, 1980. 238 Vgl. Alfried Krause u. a., Zur Arbeit mit Unterrichtsmitteln. Beiträge zum Geschichtsunterricht, Berlin 1984. 239 Romann, Geschichtsmethodik, 81.

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mit der umfangreichen schulpraktischen Ausbildung“ gefordert. 240 Für Krause bedeutete dies, „auch Fragen des Lehrplans, der Unterrichtsmittel usw.“ mit einzubeziehen, „um dem Studenten die Beziehung zu seiner Arbeit zu vermitteln.“ In der Geschichtsmethodik hatte es sich „bewährt, das aus den Hospitationen in der Schule Gelernte im Unterrichtspraktikum anzuwenden.“ Auf diese Weise konnte sich die Mitarbeiter des Wissenschaftsbereichs am Ende des Praxissemesters „davon überzeugen (…), wie sich der Student“ die Theorie angeeignet hat. Neben der Universität, von der Krause eine über die eigentlichen Unterrichtsinhalte hinausgehende Vermittlung der „Fachprobleme seines späteren Unterrichts“ erwartete, sah er auch die Schulen, insbesondere die Mentoren in der Pflicht. Deren Schulung oblag den jeweiligen Fachmethodikern. Von den betreffenden Lehrern nahmen hieran jedoch – so Krause – nur „ca. 50 %“ teil. 241 Vor diesem Hintergrund, so scheint es, legten die Greifswalder Geschichtsmethodiker im Rahmen der Geschichtslehrerausbildung verstärkt Wert auf die Herstellung als wirksam eingestufter Unterrichtsmittel und Einsatzkonzeptionen. Seit September 1981 betreute der Wissenschaftsbereich ein sogenanntes „Jugendobjekt“ der Sektion, das unter dem Titel „Geschichtsbild“ die spätestens seit 1963 laufenden Aktivitäten der Gesellschaftswissenschaftlichen Fakultät im Bereich der Geschichtspropaganda bündelte. Im Rahmen einzelner Seminare oder der Diplomarbeit konnten Studenten sowohl in der Methodik, als auch in der Geschichte, Germanistik oder Kunsterziehung, Traditionskabinette einrichten oder – was in einem größeren Umfang erfolgte – Tonbildreihen konzipieren. Inhaltlich hatte man sich auf drei Themenkomplexe verständigt: „1. Kultur und Fortschritt – Kultur der mittelalterlichen Städte und Kulturgeschichte des 30jährigen Krieges. 2. Probleme des antiimperialistischen Kampfes der Völker – Probleme der Geschichte des Imperialismus bis 1945; zur Verbreitung der Ideen des MarxismusLeninismus in Asien, Afrika und Lateinamerika. 3. Geschichtsunterricht und Traditionspflege.“ 242

Im Mittelpunkt stand hier die Beschäftigung mit „Persönlichkeiten der Arbeiterklasse und des antifaschistischen Widerstandskampfes“, die den „Schülern erziehungswirksam“ nahegebracht werden und „gleichzeitig der Traditionspflege an den Schulen dienen [sollte], die den Namen dieser Persönlichkeiten tragen.“ 243 240 UAG, Prorektor Gesellschaftswissenschaften, Nr. 111: Konzeption für das Herangehen an die Kaderentwicklung in den Methodiken der Unterrichtsfächer, 1982. Konkret verstand man darunter, die „Studenten gründlich mit der Führung des Unterrichtsprozesses vertraut“ zu machen, sie „dabei tief in die Ziele und Inhalte der Lehrpläne der betreffenden Unterrichtsfächer“ einzuführen und sie „zu befähigen, die erzieherischen Potenzen ihrer Fächer für die Ausbildung von Überzeugungen und Haltungen bei den Schülern im Unterricht zu nutzen.“ 241 UAG, Wissenschaftlicher Rat, Nr. 110: Arbeitssitzung der Gesellschaftswissenschaftlichen Fakultät, 10.11.1982. 242 UAG, Wissenschaftlicher Rat, Nr. 110: Arbeitssitzung der Gesellschaftswissenschaftlichen Fakultät, 10.03.1982. 243 UAG, Wissenschaftlicher Rat, Nr. 111: Arbeitssitzung der Gesellschaftswissenschaftlichen Fakultät, 13.04.1983; Anlage: Bericht zur Arbeit am Jugendobjekt „Lebendiges Geschichts-

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1983 regten Mitglieder der Gesellschaftswissenschaftlichen Fakultät an, die Ergebnisse des Jugendprojektes „auf einer Konferenz vorzustellen“, um die „Volksbildung als Praxispartner“ sichtbar zu unterstützen. 244 Den Gedanken aufgreifend entstanden zwei Veranstaltungsreihen. Seit Ende 1983 präsentierten – initiiert und organisiert durch Splanemann 245 – Greifswalder Studenten ihre Arbeiten Kommilitonen von der Universität Rostock. Die gemeinsamen Konferenzen, auf denen keine „echte[n] Forschungsergebnisse“, sondern „Zuarbeiten zu Dissertationen oder Anschauungsmittel für Diplomarbeiten“ erwartet wurden 246, stießen auf eine große Resonanz und führten zu dem Wunsch Krauses, weitere Universitäten einzubeziehen. 247 Da es „vor allem um die Auswertung der Sekundärliteratur und die Propagierung“ ging, wurde auch eine Einbeziehung der Lehrer diskutiert. 248 In die vor allem akademische Öffentlichkeit gelangten die von den Studenten entwickelten Unterrichtsmittel nicht zuletzt über Ausstellungen auf den Wissenschaftsmethodischen Konferenzen der Geschichtswissenschaften in Leipzig249 sowie durch die regelmäßige „Leistungsschau“ der Greifswalder Universität, für die ab 1985 Krause verantwortlich war. 250

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bild – 8. wissenschaftliche Studentenkonferenz“, 18.04.1983. Im Berichtsjahr nahmen 30 Studenten am Jugendobjekt teil. Im Rahmen von Diplomarbeiten waren vier Tonbildreihen entstanden, die das Leben von Horst Viedt, Heinrich Belz und August Lewin thematisierten. In Zusammenarbeit mit der Sektion Kunstgeschichte war zudem ein „Greifswald-Kalender“ entstanden. Für die nächsten Jahre bis 1985 war die Entstehung von weiteren Tonbildreihen „Zur Verbreitung der Ideen des Marxismus/Leninismus in Asien, Afrika und Lateinamerika“ sowie anlässlich des „40. Jahrestag der Befreiung vom Faschismus“, des „100. Geburtstag[es] Ernst Thälmanns“ und des „40. Jahrestag des Vereinigungsparteitages“ von KPD und SPD geplant. Vor dem Hintergrund des Luther-Jahres bemühte sich der Wissenschaftsbereich auch um eine Zusammenarbeit mit den Theologen der Universität. Ebd. Vgl. in diesem Zusammenhang auch UAG, Wissenschaftlicher Rat, Nr. 111: Arbeitssitzung der Gesellschaftswissenschaftlichen Fakultät, 09.11.1984. UAG, Wissenschaftlicher Rat, Nr. 111: Arbeitssitzung der Gesellschaftswissenschaftlichen Fakultät, 13.04.1983. Vgl. Fritze, Seminar, 56. UAG, Wissenschaftlicher Rat, Nr. 111: Arbeitssitzung der Gesellschaftswissenschaftlichen Fakultät, 09.11.1984. In der Begründung der Anforderung wurde darauf hingewiesen, dass Forschungsarbeiten im Bereich des Mittelalters und der Neuzeit Lehramtsstudenten aufgrund fehlender „Vorkenntnisse (Heraldik, Sprachen usw.)“ nicht möglich seien und im Zentrum die „Ausarbeitung von audiovisuellen Unterrichtsmitteln“ stehe. Ebd. Vgl. UAG, Wissenschaftlicher Rat, Nr. 113: Arbeitssitzung der Gesellschaftswissenschaftlichen Fakultät, 20.02.1985. UAG, Wissenschaftlicher Rat, Nr. 111: Arbeitssitzung der Gesellschaftswissenschaftlichen Fakultät, 09.11.1984. UAG, Prorektor Gesellschaftswissenschaften, Nr. 102: Studienjahresaufgabenplan 1983/84. Vgl. UAG, Wissenschaftlicher Rat, Nr. 113: Arbeitssitzung der Gesellschaftswissenschaftlichen Fakultät, 20.02.1985; ebd.: Arbeitssitzung der Gesellschaftswissenschaftlichen Fakultät, 10.04.1985; ebd.: Arbeitssitzung der Gesellschaftswissenschaftlichen Fakultät, 10.07.1985. Vgl. auch ebd.,: Arbeitssitzung der Gesellschaftswissenschaftlichen Fakultät, 15.05.1985.

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Ebenfalls 1983 veranstaltete der Wissenschaftsbereich Geschichtsmethodik das erste von bis 1989 insgesamt drei Kolloquien zur Heimatgeschichte, das sich vor allem an Geschichtslehrer, Museologen und Ortschronisten wendete. 251 Auf den Tagungen standen allerdings weniger konkrete Unterrichtsmittel als vielmehr theoretische Reflektionen und „Modelle zur Selbstherstellung“ im Vordergrund. Begründet wurde dies mit dem regionalen Charakter der Inhalte, denen ein zentraler Vertrieb und Einsatz entgegenstand. Ungeachtet dessen forderten die Teilnehmer der Veranstaltung, ganz im Sinne der sogenannten „Erbe-Diskussion“, die Heimatgeschichte in die zentralen Lehrpläne einzubinden. 252 Die sich in den Kolloquien dokumentierende Neuausrichtung des DDRGeschichtsbilds führte auch zu einer kleineren Schwerpunktverschiebung innerhalb des Wissenschaftsbereichs. Ab 1981 bearbeitete die Lehrerin Ulrike Blumenthal, die nach dem Fortgang Juretschkas Assistentin bei Krause geworden war, das Promotionsthema „Heimatgeschichte und Geschichtsunterricht.“ Geplant war, dass Blumenthal nach der Dissertation auch am Wissenschaftsbereich habilitieren sollte. 253 Den Hintergrund bildete eine „Beratung über die Konzeption MHFs zur Entwicklung der Methodiken“ im Jahr 1981, in der darauf hingewiesen wurde, dass „in der Geschichtsmethodik (…) beide Hochschullehrer [gemeint waren Krause und Splanemann] 1987 bzw. 1988 emeritiert bzw. in den Ruhestand versetzt“ werden und „zu diesem Zeitpunkt (…) der einzige vorhandene Oberass. [Richter] bereits 57 Jahre alt“ sein werde. 254 Bekannt war dieses Problem spätes251 Vgl. dazu Alfried Krause / Martin Richter, Heimatgeschichte und Geschichtsunterricht, in: Geschichtsunterricht und Staatsbürgerkunde 25/1983, 530–536. Für das II. Kolloquium, das am 24.10.1985 stattfand vgl. Hans Klemp / Kuno Radtke / Martin Richter, Zweites Neubrandenburger Kolloquium zum Thema „Heimatgeschichte und Geschichtsunterricht“, in: Geschichte und Staatsbürgerkunde 28/1986, 201–205. 252 Vgl. Romann, Geschichtsmethodik, 74–75. Vgl. dazu auch Alfried Krause / Martin Richter, Tonbildreihen über Persönlichkeiten des Territoriums und ihre Nutzung – eine Möglichkeit zur Traditionspflege mit Hilfe der Heimatgeschichte. Anregungen zur Selbstgestaltung heimatgeschichtlicher Tonbildreihen, in: Geschichte und Staatsbürgerkunde 27/1985, 419–429. 253 UAG, Prorektor Gesellschaftswissenschaften, Nr. 111: Kaderentwicklungsprogramm bis 1995, November 1985. 254 Ebd.: Bethke an MHF, 29.07.1982; ebd.: Analyse über die kadermäßige Besetzung der Sektionen und des Bereiches Medizin (Führungskonzeption des Rektors III.1.), 19.01.1981, 14; ebd.: Sektion Geschichtswissenschaft, 27.05.1983 und 22.05.1984; ebd.: Kaderentwicklungsprogramm bis 1995, November 1985. Für das Zitat vgl. UAG, Prorektor für Gesellschaftswissenschaft, Nr. 91: Dezentralisierte Beratung der Sektionsdirektoren des Gewi-Bereiches am 21.4.1982. Vgl. in diesem Zusammenhang auch UAG, Prorektor Gesellschaftswissenschaften, Nr. 105: Sitzungsprotokoll der Gesellschaftswissenschaftlichen Fakultät, 9.02.1977. Krause formuliert hier: „Wir bilden vorwiegend Lehrer aus. Das ist ein Problem, denn die Lehrer studieren nur 4 Jahre, 2 Fächer und Pädagogik und nur 1 Sprache, Fachdiplomanden aber nur 1 Fach, 5 Jahre und 2 Sprachen. Wir versuchen die Vorbereitung auf das Forschungsstudium bereits vom 2. Studienjahr an mit persönlichen Studienplänen zu gestalten und auch bereits das Dissertationsthema vorzubereiten sowie Sprachen und M/L gezielt einzubeziehen. Das ist aber vorerst noch ein Experiment, denn das stellt an die Betreffenden sehr hohe Anforderungen. Es muß ja auch gewährleistet sein, wenn der ausgewählte Student die

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tens seit 1977, als Richter eine Berufung an die PH Güstrow abgelehnt und sich selbst erfolgreich als Nachfolger für Krause präsentiert hatte. 255 Um den „Ersatz der Spitzenposition (1 Professor, 1 Dozent) zielstrebig vorzubereiten“ schlug das Prorektorat eine „B-Aspirantur für [eine] schnellere Qualifizierung“ vor. 256 Für Krause indes bestand das eigentliche Problem in der nur bedingt gewahrten „Einheit von wissenschaftlicher Leistung und politischem Engagement“ oder anders formuliert, dem „hohen Zeitaufwand für gesellschaftliche Tätigkeit[en]“ im Rahmen der Partei und der Massenorganisationen. 257 Hinzu kam, dass die Lehrerausbildung wenig Freiraum für die auf eine akademische Karriere ausgerichtete Qualifizierung bot. Im Gegensatz zu den Fachwissenschaftlern, die ihre Disziplin plus zwei Sprachen in fünf Jahren studierten, absolvierten die Lehrämter in nur vier Jahren zwei Fächer nebst der Pädagogik und einer Sprache. Um Studenten auf ein Forschungsstudium, d. h. eine wissenschaftliche Karriere vorzubereiten, versuchte der Wissenschaftsbereich Geschichtsmethodik, „bereits vom 2. Studienjahr an (…) persönliche (…) Studienpläne (…) zu gestalten und auch bereits das Dissertationsthema vorzubereiten sowie Sprachen und M/L gezielt einzubeziehen.“

Promotion nicht schaffen sollte, daß er dann dennoch sein volles Diplom erhält – und das bedeutet, daß die Fachprüfungen, die zum Erwerb des Diploms vorausgesetzt werden, dennoch von ihm abzulegen sind. Assistent und Forschungsstudent: Nach den offiziellen Anforderungen ist der Assistent ein Beruf, früher war dies eine Qualifizierungsstufe. Die Assistenten erheben heute oft den Anspruch aus einen Ausbildungsstatus, - aber sie müssen nicht promovieren, sondern sie müssen promoviert sein. Damit will ich sagen, daß der Forschungsstudent von dem entlastet werden muß, was zum Assistentenstatus gehört.“ Andere Sektionen bestätigten diese Einschätzung. UAG, Prorektor für Gesellschaftswissenschaft, Nr. 92: Prorektor für Gesellschaftswissenschaften, Vorlage für UPL-Sitzung am 14.05.1987: Die weitere Entwicklung der pädagogischen Disziplinen an der Ernst-Moritz-Arndt-Universität, 11.05.1987. Hier wird auf ein generelles Problem aufmerksam gemacht: „Bei allen gutem Einvernehmen mit den Bezirksschulräten, welches sich auf dem Gebiet der Ausbildung sehr gut auswirkt, entscheiden diese in Kaderfragen in der Regel im Interesse der Volksbildung.“ 255 UAG, Prorektor für Gesellschaftswissenschaften, Nr. 37: Direktorat für Kader und Qualifizierung: Ergänzung zum Kaderentwicklungsprogramm, 26.01.1977; Vgl. dazu auch ebd., Nr. 111: Kaderentwicklungsprogramm bis 1995, November 1985. 256 UAG, Prorektor Gesellschaftswissenschaften, Nr. 111: Bethke an MHF, 29.07.1982; ebd.: Analyse über die kadermäßige Besetzung der Sektionen und des Bereiches Medizin (Führungskonzeption des Rektors III.1.), 19.01.1981, 14; ebd.: Sektion Geschichtswissenschaft, 27.05.1983 und 22.05.1984; ebd.: Kaderentwicklungs-programm bis 1995, November 1985. Für das Zitat vgl. UAG, Prorektor für Gesellschaftswissenschaft, Nr. 91: Dezentralisierte Beratung der Sektionsdirektoren des Gewi-Bereiches am 21.04.1982. Vgl. in diesem Zusammenhang auch UAG, Prorektor Gesellschaftswissenschaften, Nr. 105: Sitzungsprotokoll der Gesellschaftswissenschaftlichen Fakultät, 9.02.1977. 257 UAG, Wissenschaftlicher Rat, Nr. 105: Sitzungsprotokoll der Gesellschaftswissenschaftlichen Fakultät, 9.02.1977.

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Konkret bedeutete dies eine quasi Gleichsetzung von Promotion und Diplom. Das stellte an „die Betreffenden sehr hohe Anforderungen“, da zugleich gewährleistet werden musste, dass, falls „der ausgewählte Student die Promotion nicht schaffen sollte, (…) er dann dennoch sein volles Diplom erhält – und das bedeutet, daß die Fachprüfungen, die zum Erwerb des Diploms vorausgesetzt werden, dennoch von ihm abzulegen sind.“

Dass bei der Nachwuchsqualifizierung nicht in erster Linie auf Diplomlehrer – so wie im Falle Blumenthals – zurückgegriffen wurde, schließlich waren die Hochschulmethodiker zu einem zweijährigen Schuldienst verpflichtet, ergab sich aus dem konkret bestehenden Bedarf an Lehrern: „Bei allen gutem Einvernehmen mit den Bezirksschulräten, welches sich auf dem Gebiet der Ausbildung sehr gut auswirkt, entscheiden diese in Kaderfragen in der Regel im Interesse der Volksbildung.“ 258

Von der sogenannten B-Aspirantur sollte zunächst Hans-Arwed Müller profitieren, der als Nachfolger Richters gehandelt wurde; Wolfgang Arndt und Blumenthal galten als „Kaderreserve.“ 259 1985 beschloss die Sektion Geschichtswissenschaft die „Zuführung von 3 Hochschullehrerstellen.“ Neben einer für die Geschichte der Geschichtswissenschaft und einer für die Geschichte der DDR war eine Stelle auch für die Geschichtsmethodik vorgesehen. 260 Gleichzeitig wurde eine weitere Stelle geschaffen, die Krause mit der Lehrerin Helga Birke besetzte. Neu an den Wissenschaftsbereich kam schließlich auch Birgit Geißler, die nicht nur promovieren, sondern auch habilitieren sollte. 261 Nach dem „Abschluß der Arbeit am zentralen Projekt ‚Neugestaltung des Geschichtsunterrichts‘“ widmete sich der Wissenschaftsbereich „verstärkt Untersuchungen zur Einführung der Video-Technik 262 in den Geschichtsunterricht sowie Vorlaufsforschungen zur Unterrichtsgestaltung unter dem Aspekt der Komplexität des Aneignungsprozesses im Fach Geschichte.“ 263

258 UAG, Prorektor für Gesellschaftswissenschaft, Nr. 92: Prorektor für Gesellschaftswissenschaften, Vorlage für UPL-Sitzung am 14.05.1987: Die weitere Entwicklung der pädagogischen Disziplinen an der Ernst-Moritz-Arndt-Universität, 11.05.1987. 259 Vgl. UAG, Prorektor Gesellschaftswissenschaften, Nr. 111: Kaderentwicklungsprogramm bis 1995, November 1985. 260 Vgl. ebd. Ursprünglich war statt der Stelle in der Geschichtsmethodik eine für die Vor- und Frühgeschichte geplant. Sie wurde auf dem Dokument jedoch per Hand – vermutlich durch den Sektionsdirektor – gestrichen und der Geschichtsmethodik zugeschrieben. Vgl. ebd. 261 Vgl. UAG, Prorektor Gesellschaftswissenschaften, Nr. 111: Kaderentwicklungsprogramm bis 1995, November 1985. 262 Vgl. dazu Hans-Arwed Müller, Zur Nutzung der Videotechnik im Geschichtsunterricht, Ms. Greifswald 1987. 263 UAG, Prorektor für Gesellschaftswissenschaft, Nr. 92: Prorektor für Gesellschaftswissenschaften, Vorlage für UPL-Sitzung am 14.05.1987: Die weitere Entwicklung der pädagogischen Disziplinen an der Ernst-Moritz-Arndt-Universität, 11.05.1987. Vgl. auch Hans-Arwed Müller / Martin Richter, Zur konkreten, lebendigen und anschaulichen Darstellung der Ge-

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Die Rückkehr zur mehr theoretischen Forschung verdeutlicht auch das Promotionsthema Birkes, die Zeiterfahrungen bei Schülern untersuchte. Sie verteidigte ihre Arbeit am 6. November 1989 264 und war damit die einzige der vier neu an den Wissenschaftsbereich gelangten Mitarbeitern, die promovierte. Das Ende der dezidiert pragmatischen Ausrichtung, die mit dem Auftrag, für alle Klassenstufe neue Unterrichtsmittel zu erstellen, verbunden gewesen war, führte zugleich zu einem gewissen Bedeutungsverlust der Geschichtsmethodik. 1987 plante die Sektion „die Dozentur Methodik des Geschichtsunterrichts [die Splanemann innegehabt hatte] (…) in eine Dozentur Allgemeine Geschichte der neuesten Zeit umzuwandeln.“ 265 Statt drei Hochschullehrerstellen gab es am Wissenschaftsbereich nun wieder nur noch zwei. Im März 1989, Krause und Splanemann waren bereits in den Ruhestand verabschiedet und Richter zum ordentlichen Professor ernannt, tauchte die Geschichtsmethodik im Entwicklungskonzept der Sektion Geschichte gar nicht mehr auf. 266 Der personelle Abbau begann nach 1990 mit dem Ausscheiden von Arndt, Birke, Blumenthal und Geißler. Zwei Jahre später wurden Richter und Müller entlassen. Der Lehrstuhl Geschichtsmethodik, dessen Entwicklung in der Phase des Umbruchs 1989/90 einer gesonderten Darstellung bedarf, war damit gestrichen. Geblieben war Gabriele Magull, die die methodisch-didaktische Ausbildung der Lehramtsstudenten nun alleine zu bewältigen hatte. „Sagen wir der Schule: ‚Was liefert Ihr uns für Schüler?‘, antwortet die Schule: ‚Was liefert Ihr uns für Lehrer?‘“ 267 – ein Fazit Der vorstehende, durch Alfried Krause formulierte Ausspruch, verdeutlicht anschaulich die Wechselbeziehung zwischen schulischer und universitärer Ausbildung. Vor dem Hintergrund des realexistierenden Sozialismus der DDR dokumentiert das Zitat auch den weltanschaulich-erzieherischen Anspruch der Greifswalder Geschichtsmethodiker, die dem Leitbild des sozialistischen Geschichtslehrers verpflichtet, eine parteiliche Betrachtung der Geschichte zur Voraussetzung erklärten, um Einfluss auf die Gesellschaft nehmen zu können, respektive zu dür-

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schichte im Geschichtsunterricht – Bilanz und Ausblick, in: Pädagogische Forschung zwischen dem VIII. und IX. Pädagogischen Kongreß, Greifswald 1989, 29–34. Vgl. Helga Birke, Untersuchungen zur Zeitgraphik und zu ihrer Funktion im Geschichtsunterricht, Diss. Greifswald, Ms. 1989. Als Gutachter waren Krause, Richter und Wendelin Szalai aus Dresden tätig. Vgl. UAG, Wissenschaftlicher Rat, Nr. 120. UAG, Prorektor Gesellschaftswissenschaften, Nr. 111: Sektion Geschichtswissenschaft, Vorstellung über die Kaderentwicklung bis zum Jahre 2000, 18.01.1985. UAG, Wissenschaftlicher Rat, Nr. 115: Arbeitssitzung der Gesellschaftswissenschaftlichen Fakultät, 08.03.1989. Als neue Schwerpunkte wurden die Stadt- und Regionalgeschichte sowie die Geschichte Nordeuropas und der UdSSR bezeichnet. UAG, Wissenschaftlicher Rat, Nr. 110: Arbeitssitzung der Gesellschaftswissenschaftlichen Fakultät, 20.10.1982.

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fen. Über die Anbahnung eines reflexiven Geschichtsbewusstseins wurde in den Jahren 1945 bis 1989 nicht diskutiert. Das Ziel des Geschichtsunterrichts der DDR bestand in der Übernahme von Werturteilen und der Einübung von Konventionen. Dies enthob die Geschichtsmethodik der DDR nicht fachdidaktischer Überlegungen, etwa nach dem Gegenstandscharakter, wohl aber solcher nach dem Wesen und den Funktionen von Geschichte, da diesen durch den historischen Materialismus enge Grenzen gesetzt waren. Es verwundert daher nicht, dass nach einer Klärung der Zugriffsmöglichkeiten auf vergangene Ereignisse, die sich eher auf eine Abbildtheorie stützte, die Frage ihrer Instrumentalisierung als politisches Argument in der Auseinandersetzung der gesellschaftlich-weltanschaulichen Systeme im Vordergrund stand. Die Greifswalder Geschichtsmethodik leistete hier entscheidende Beiträge. Walther Eckermann entwickelte ein Prinzip der Auswahl und Strukturierung von Unterrichtsinhalten, mit dem Einzelerscheinungen zum Beleg der geschichtsphilosophischen Setzung werden konnten. Alfried Krause legte den Grundstein für die Instrumentalisierung historischer Quellen und Darstellungen, indem er ihre emotionale Wirkung in verschiedenen „Aggregatzuständen“ und in Kombination mit anderen Quellen und Darstellungen erprobte. Die Ergebnisse der empirischen Erhebungen wurden gezielt für die Entwicklung indoktrinierender Unterrichts- und Propagandamittel genutzt. Es folgte, zunächst nur für die Universität Greifswald 268, schließlich DDR-weit in allen Klassenstufen die Anordnung zum flächendeckenden Einsatz dieser Materialien. Ihr „Erfolg“ erklärt sich wohl aus zweierlei Gründen. Zum einen konnte eine bei den staatlichen Organen hinsichtlich der Parteilichkeit der einzelnen Lehrer und Dozenten bestehende Unsicherheit gemindert werden. Die Unterrichtsmittel erhöhten somit die „Effektivität“ der ideologischen Erziehung. Zum anderen enthoben sie aber auch die Lehrer und Dozenten einer eigenen parteilichen Positionierung und erhöhten damit die „Effektivität“ der Planung und Lehre. Ein nicht zu unterschätzender Faktor des Erfolges liegt ferner in der Person Krauses, der es verstand, seine Forschungsinteressen durchzusetzen, was vor allem durch eine Vielzahl von Veröffentlichungen, die gezielte Umsetzung der theoretischen Ergebnisse in praktische Konzeptionen und Materialien, die bewusst an politische Jahrestage etc. angebunden wurden, um eine Mehrfachverwendung zu ermöglichen, durch „Werbung“ unter Geschichtslehrern 269 und ein geschicktes InSzene-Setzen auf den vielfältigen Leistungsschauen gelang. Krause führte auf 268 Zum Einfluss Krauses vgl. auch UAG, Prorektor Gesellschaftswissenschaften, Nr. 26: Protokoll über die Beratung zwischen dem Deutsches Pädagogisches Zentral-Institut und der EMAU Greifswald am 12.12.1969 über die Koordinierungsvereinbarung zu den Methodikbereichen Deutsche Sprache und Literatur, Musik und Kunsterziehung, 13.01.1970; ebd., Nr. 8: Informationsbericht der Sektion Geschichtswissenschaft, Oktober 1971; ebd., Nr. 37: Jahresaufgabenplan der Sektion Geschichtswissenschaft für das Jahr 1980; ebd., Nr. 111: Kaderentwicklungsprogramm bis 1995, November 1985; Vgl. UAG, Wissenschaftlicher Rat, Nr. 110: Arbeitssitzung der Gesellschaftswissenschaftlichen Fakultät, 11.11.1981. 269 Vgl. dazu etwa UAG, Phil. Fak. II, Nr. 2/11: Historisches Institut an Dekan, 18.01.1967.

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diese Weise den Wissenschaftsbereich Geschichtsmethodik „aus der Position des geschätzten Mitarbeiters der APW heraus“ und ließ ihn „zu einem selbständigen Partner der APW werden.“ 270 Den Wert, den man den Greifswaldern staatlicherseits zusprach, zeigt die sehr gute personelle Ausstattung, über die der Wissenschaftsbereich mit bis zu sechs Mitarbeitern ab Ende der 1960er Jahre kontinuierlich verfügte. Für seine Arbeit erhielt Krause nach seiner Emeritierung daher u. a. auch die Verdienstmedaille der DDR, die Dr.-Theodor-Neubauer-Medaille in Gold und die Ehrenplakette der APW. 271 Inwieweit Krause und die einzelnen Mitarbeiter das System willfährig unterstützten oder aus Überzeugung handelten, kann und soll hier nicht geklärt werden. Fest steht, bis auf Blumental und Magull gehörten alle der SED an und waren in leitenden Funktionen der Massenorganisationen tätig. 272 Die Haltung zur führenden Rolle der Partei ist für Krause, Richter und Splanemann in ihrem Verhalten während zweier Parteiverfahren gegen Kollegen in den Jahren 1959 und 1984 dokumentiert. 273 Nachgewiesen werden kann gleichzeitig aber auch eine Zensur der am Wissenschaftsbereich erarbeiteten Unterrichtsmittelkonzeptionen und eine Beobachtung Richters und Krauses durch das Ministerium für Staatsicherheit. 274 Sucht man abschließend eine Verbindung zwischen der den Rahmen bildenden politischen und administrativen Strukturen und der Lehrerbildung bzw. der Ausrichtung in der Geschichtsmethodik herzustellen, so lässt sich konstatieren, dass die Zentralisierung der Lehrinhalte an den Schulen, ganz im Sinne des einleitenden Zitates Krauses, mit einer Zentralisierung der Form und der Inhalte der Lehrerausbildung einherging. Die ideologische Passung, die jede Lehr- und Studienplanänderung erforderte, hatten dabei in erster Linie die Geschichtsmethodiker herzustellen. Die Schwerpunktsetzungen des Wissenschaftsbereichs dokumentiert die Entwicklung vom Antifaschismus zum „sozialistischem Geschichtsbewusstsein“ und hin zum marxistisch-leninistischen Geschichtsbild. Der Mitte der 1980er Jahre gestartete Versuch, mit Fragen der Vermittlung von Heimatgeschichte und zur Zeitvorstellung bei Schülern neue Schwerpunkte zu setzen, gelang nicht oder konnte sich nicht mehr entfalten, zu sehr war man an die zentrale

270 UAG, Prorektor für Gesellschaftswissenschaft, Nr. 92: Prorektor für Gesellschaftswissenschaften, Vorlage für UPL-Sitzung am 14.05.1987: Die weitere Entwicklung der pädagogischen Disziplinen an der Ernst-Moritz-Arndt-Universität, 11.05.1987. 271 Vgl. Romann, Geschichtsmethodik, Anhang: Biographie Alfried Krause. 272 Für die einzelnen Ämter vgl. UAG, Phil. Fak. II, Nr. 1/53: Personalbogen Krause, 1967; UAG, UPL, Nr. 245; UAG, Prorektor für Gesellschaftswissenschaften, Nr. 10: Monatliche Informationsberichte der Sektionen und Einrichtungen an den Rektor und das MHF, 1973, Bd. 1; ebd., Nr. 11, Bd. 1; ebd., Nr. 13, Bd. 1 und ebd., Nr. 14. Vgl. auch Personalverzeichnis 1973. 273 Für die Affäre Mai vgl. UAG, Prorektor Gesellschaftswissenschaften, Nr. 121: Protokoll 1984. Dem Professor Joachim Mai wurden „Westkontakte“ vorgehalten. In der Diskussion warf ihm Krause „persönliche[n] Ehrgeiz“ und Splanemann eine „ständig[e]“ Missachtung des „Prinzip[s] der Kollektivität“ vor. Ebd. 274 Freundlicher Hinweis von Dr. Michael Heinz, Außenstelle der BStU Rostock-Waldeck.

268

Martin Buchsteiner

Planung gebunden und in ideologischen Denkmustern verhaftet. Die Abhängigkeit des „Erfolges“ von der Person Krause und den gesellschaftlichen Strukturen offenbart nicht zuletzt der Bedeutungsverlust, der nach 1987 einsetzte und 1990 seinen Höhepunkt erreichte. Anhang Tab. 1: Personal der Abteilung/des Wissenschaftsbereichs Geschichtsmethodik, 1946–1992 275 Leiter Curt Martens (Professor, 1946–1952)

Mitarbeiter ---

Walther Eckermann (Professor, 1952– Peter Hintze (Assistent, 1952–1953) 1956) Friedrich Weitendorf (Assistent, 1952– 1953) Hans Greune (Assistent, 1952–1956) Ulrich Schmidt (Assistent, 1956) Alfried Krause (Oberassistent, 1957– Eckhard Behling (Lektor, 1957–1959) 1969; Professor 1969–1987) Martin Richter (Assistent, 1958–1963; Lektor, 1968–1977, Oberassistent, 1978–1988) Christa Wagner (Lektor, 1959–1960) Heinz Ebermann (Assistent, 1960– 1962)

275 Vgl. PVV; UAG, Direktorat für Forschung, Nr. 120: Jahresbericht Eckermann 1955, 20.01.1956; UAG, Prorektor für Gesellschaftswissenschaften, Nr. 37: Bericht über den Stand der Arbeit mit dem wissenschaftlichen Nachwuchs am Ende des Studienjahres 1975/76; ebd.: Jahresaufgabenplan der Sektion Geschichtswissenschaft für das Jahr 1978; ebd., Nr. 42: Berufungskader des gesellschaftswissenschaftlichen Bereichs bis 1980, November 1978; ebd., Nr. 111: Kaderentwicklungsprogramm bis 1995, November 1985; UAG, Wissenschaftlicher Rat, Nr. 117.

269

Innovation und Indoktrination

Leiter

Mitarbeiter Wolfgang Schütz (Assistent, 1960– 1962 und 1964–1971) Ilse Splanemann (Assistent 1962–1971; Oberassistent 1972–1977; Dozent, 1977–1988) Martin Herzig (Assistent, 1962–1967; 1968–1969 Oberassistent) Walter Kortyka (Lehrer im Hochschuldienst, 1973–1975) Peter Multhauf (Assistent, 1968–1973) Rudolf Juretschka (Assistent, 1973– 1981) Hans-Arwed Müller (Lehrer im Hochschuldienst, 1975–1992) Wolfgang Arndt (Assistent, 1975–1980, Lektor, 1981–1990) Gabriele Magull (Lehrer im Hochschuldienst, 1975–1992) Ulrike Blumenthal (Forschungsstudentin, 1981–1989) Helga Birke (Lehrer im Hochschuldienst, 1985–1989) Birgit Geißler (Forschungsstudentin, 1985–1989)

Martin Richter (Professor, 1988–1992)

270

Martin Buchsteiner

Tab. 2: Beiträge des Wissenschaftsbereichs Geschichtsmethodik im Schülerfernsehen der DDR 276 Titel/Inhalt

Autor(en)

Datum

„Was die Nachkriegskrise lehrt“ / Martin Herzig / Alfried Krause Deutschland nach 1918

8.12.1965

„An der Schwelle der Zukunft“ / Martin Herzig / Alfried Krause Russland nach 1922

12.01.1965

„Ein Vertrag der Vernunft“ / Der Martin Herzig / Alfried Krause Rapallo-Vertrag

9.02.1965

„Ein deutscher Oberst behielt Martin Herzig / Alfried Krause Leben und Ehre“ / Kriegsende 1945 in Greifswald

1.06.1965

„Buchdruck – Globus – Karavel- Martin Herzig / Alfried Krause le“ / Europa im 15./16. Jahrhundert

1.10.1965

„Der große Krieg“ / Der Drei- Herbert Langer ßigjährige Krieg

29.10.1965

„Schwedentrunk“ / Der Dreißig- Herbert Langer jährige Krieg

26.10.1965

„Der Staat bin ich“ / Der europä- Klaus Spading ische Absolutismus

26.11.1965

„Spießrutenlauf“ / Preußen im Martin Herzig 18. Jahrhundert

25.01.1966

„Vom Kuli zum Herrn“ / unbe- Alfried Krause kannt

22.03.1966

„In Berlin ‚Unter den Linden …’ Karl-Heinz Jahnke oder Das Brandenburger Tor“ / unbekannt

26.04.1966

„Für wen, du gutes deutsches Martin Herzig Volk“ / unbekannt

24.05.1966

276 Vgl. Romann, Geschichtsmethodik, Anhang: Interview mit Alfried Krause, 3.2.1988. Die kursiv gesetzten Beiträge wurden nicht gesendet.

271

Innovation und Indoktrination

Tab. 3: Unterrichtsfilme des Wissenschaftsbereichs Geschichtsmethodik 277 Titel

Autor(en)

Datum

„Der militärische Verlauf des Alfried Krause / Martin Richter Ersten Weltkrieges“

1970

„Das National-Komitee ‚Freies Alfried Krause / Martin Richter Deutschland‘“

1972

„Die Gründung der Sozialisti- Alfried Krause / Martin Richter schen Einheitspartei Deutschlands“

1973

„Der Kampf der KPD um die Alfried Krause / Martin Richter nationale und soziale Befreiung des deutschen Volkes in der Zeit der Weltwirtschaftskrise“

1974

„Die Gründung der Deutschen Alfried Krause / Martin Richter Demokratischen Republik“

1974

„Wilhelm Pieck“

Alfried Krause / Martin Richter

1977

„Unser Hanshagen“

Martin Richter / Studenten

1970er

„Der Bauer stund auf dem Lan- Martin Richter / Studenten de…“

1970er

Tab. 4: Radiovisionen des Wissenschaftsbereichs Geschichtsmethodik 278 Titel

Autor(en)

Datum

„Die Novemberrevolution und die Alfried Krause / Ilse Splanemann Gründung der KPD“

1968

„Junkerland in Bauernhand. Die Alfried Krause / Ilse Splanemann demokratische Bodenreform“

1968

277 Vgl. Zeitzeugengespräch Martin Richter, 29.04.2014, PA Buchsteiner. 278 Vgl. Zeitzeugengespräch Martin Richter, 29.04.2014, PA Buchsteiner. Die kursiv gesetzten Titel entstanden nicht für die Schule, sondern für Vorführungen im Rahmen von Parteilehrgängen und Agitationsveranstaltungen.

272

Martin Buchsteiner

Titel

Autor(en)

Datum

„Ernst Moritz Arndt – Ein deut- Alfried Krause / Ilse Splanemann scher Patriot“

1968

„… und Lenin lebt“

Alfried Krause / Ilse Splanemann

1968

„Friedrich Engels – vom revoluti- Alfried Krause / Ilse Splanemann onären Demokraten zum Kommunisten“

1970

„Ruf über die Gräben“

1971

Alfried Krause / Ilse Splanemann

„Von Spinnmaschinen, Erfindern Rudolf Juretschka und Profiteuren“

1972

„Unser Handschlag – ihr Tod“

Alfried Krause / Ilse Splanemann

1972

„Unser Weg heißt Sozialismus“

Alfried Krause / Ilse Splanemann

1972

„Auf Leninschen Kurs“

Alfried Krause / Ilse Splanemann

1979

„Bündnis mit der Sowjetunion – Alfried Krause / Ilse Splanemann Quelle unserer Kraft“

1979

„Die Intensivierung der gesell- Alfried Krause / Ilse Splanemann schaftlichen Produktion – Hauptweg zur Erhöhung der Effektivität der Volkswirtschaft der DDR“

1979

„Der Leninsche Plan des Aufbaus Alfried Krause / Ilse Splanemann des Sozialismus – Grundlage für 50 Jahre UdSSR“

1979

„Die KPdSU – der Initiator und Alfried Krause / Martin Richter Organisator des Sieges der Sowjetunion“

1979

„DIE BREITE MASSE (…) ZUR LEITUNG (…) BEFÄHIGEN.“ Theorie und Empirie der Greifswalder Geschichtsmethodik zwischen Idealismus und Indoktrination (1960 bis 1990) Martin Nitsche Vorbemerkungen Während Martin Buchsteiner in seinem Aufsatz in diesem Band einen personellen und strukturellen Gesamtüberblick der Entwicklung der Greifswalder Geschichtsmethodik quasi quantitativ im Längsschnitt nachgezeichnet hat, will ich mich im Folgenden der Theorie und Forschung qualitativ mittels vergleichender Querschnitte zuwenden. Dies ist in dreierlei Hinsicht eine Herausforderung. Erstens, weil es sowohl hinsichtlich der Vorbereitungs- als auch der Darstellungszeit wie bei jeder Geschichtserzählung kaum möglich ist, einen angemessenen Überblick bis 1990 abzuliefern. Eine begründbare Auswahl wird also nötig sein. Die zweite besteht darin, dass ehemalige Mitarbeiter als Zeitzeugen noch leben. 1 Diese seien, so ein Bonmot unter Historikern, die Feinde der Geschichtswissenschaft 2, da sich Erinnerungen in der Rückschau immer überzeichnen. Dies geschieht auch dann, wenn es sich bei ihnen um historiographische Professionals handelt, wie Martin Sabrow z. B. an verschiedenen Lebenserinnerungen bekannter (männlicher) Historiker gezeigt hat. 3 Insofern hoffe ich, den Erinnerungen der damals Beteiligten keine Gewalt anzutun. Es ist nicht zuletzt eine Herausforderung, weil es bisher wenig Forschung zur Greifswalder Geschichtsmethodik gibt. Die theoretischen Grundlagen wurden bisher nicht in den Blick genommen. Nur zwei Veröffentlichungen, die bereits über zehn Jahre zurückliegen, thematisieren die Forschung am Greifswalder Standort. Während jedoch Marko Demantowskys Darstellung aufgrund der Forschungsfrage 1970 abbricht, berücksichtigt Wolf1 2

3

Im Folgenden schließt die männliche Form die weibliche stets mit ein. Vgl. z. B. Alexander von Plato, Zeitzeugen und die historische Zunft. Erinnerung, kommunikative Tradierung und kollektives Gedächtnis in der qualitativen Geschichtswissenschaft – ein Problemaufriss, in: BIOS – Zeitschrift für Biographieforschung, Oral History und Lebensverlaufsanalysen 13/2000, 5–29, hier 5, oder Hans Günter Hockerts, Zugänge zur Zeitgeschichte: Primärerfahrung, Erinnerungskultur, Geschichtswissenschaft, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 28/2001, 15–30, hier 19. Vgl. Martin Sabrow, Der Historiker als Zeitzeuge. Autobiographische Umbruchsreflexionen deutscher Fachgelehrter nach 1945, in: Konrad Jarausch / Martin Sabrow (Hgg.), Verletztes Gedächtnis, Frankfurt a. M. / New York 2002, 125–152.

274

Martin Nitsche

gang Hasberg zwar den gesamten Zeitraum der Forschungstätigkeit zwischen 1960 und 1989, bleibt aber aufgrund der überblicksartigen Anlage seiner Geschichte der empirischen Geschichtsdidaktik auf wenige Forschungsergebnisse beschränkt. Die forschungsleitenden Prämissen beider Arbeiten sind jedoch für diesen Aufsatz instruktiv. Beide fragen implizit, wie bei Disziplingeschichten naheliegend, danach, welche Orientierung die geschichtsmethodische Forschung für die Geschichtsdidaktik der Gegenwart bieten kann. Sie scheinen jedoch einen jeweils anderen Blickwinkel einzunehmen. Während Demantowsky das innovative Potential der Forschung vor allem zwischen 1960 und 1970 betont 4, deutet Hasberg die mangelnde Anschlussfähigkeit an heutige Konzepte an. Er verweist dabei auf die fehlende theoretische Reflexion der Disziplin. Nach dem Forschungsüberblick kommt er zu dem Schluss, dass die DDR-Geschichtsmethodik „als (...) Mittel der gezielten Indoktrination (...) keine strukturellen Einsichten zum historischen Lernen“ bereithält. Allenfalls sei das forschungsmethodische Vorgehen interessant. 5 Um beide Thesen zu differenzieren, wird im ersten Teil zunächst nach den theoretischen Prämissen der Geschichtsmethodik in Greifswald gefragt. Im zweiten Teil soll es dann explizit um die Forschung gehen. Dazu wird ein Überblick über die Forschungsentwicklung gegeben und drei Vorhaben werden vertiefter vorgestellt. Dabei beschränke ich mich auf die Jahre ab 1960, da erst seit diesem Zeitpunkt von einer eigenständigen geschichtsmethodischen Forschung am Standort gesprochen werden kann. 6 Geschichtstheoretische Vorstellungen Zum ersten Mal ließ Alfried Krause, Leiter der Geschichtsmethodik von 1957 bis 1987, in seiner Dissertation von 1960 eine geschichtstheoretische Grundierung anklingen, die zum Teil in Greifswald entstanden war. Darin heißt es, Geschichte sei ein Geflecht von „Ursache, Wirkung, Rückwirkung, Veränderung und Entwicklung der unmittelbar nicht wahrnehmbaren Geschichte.“ 7 Da Krause annahm, dass die Vergangenheit nicht unmittelbar zugänglich ist, setzte er seine Hoffnung darauf, dass das Unterrichtsmittel Film das vergangene Geschehen „unmittelbar

4

5 6 7

Vgl. Marko Demantowsky, Die Geschichtsmethodik in der SBZ und DDR – ihre konzeptuelle, institutionelle und personelle Konstituierung als akademische Disziplin 1945–1970, Idstein 2003, 352–358. Ähnlich Holger Thünemann, Geschichte für heute? – Geschichtsunterricht und Geschichtsmethodik in der DDR, in: Geschichte für heute. Zeitschrift für historischpolitische Bildung 2/2009, 16–26, hier 19. Wolfgang Hasberg, Empirische Forschung in der Geschichtsdidaktik: Nutzen und Nachteil für den Geschichtsunterricht, Bd. 2, Neuried 2001, 17, 92. Für die Zeit davor vgl. den Beitrag von Martin Buchsteiner in diesem Band. Alfried Krause, Zur Rekonstruktion des Historischen mit Hilfe des dokumentarischen Laufbildes im Geschichtsunterricht der 7. und 8. Klasse, Diss. Phil, Leipzig 1960, 13.

„Die breite Masse (...) zur Leitung (...) befähigen.“

275

veranschaulichen“ kann. 8 Was hier als Widerspruch zwischen der Vorstellung einer abgeschlossenen Vergangenheit und einem abbildungsdidaktischen Konzept erscheint, kann aus der Rückschau als Ausfluss eines dialektischen Geschichtsdenkens gedeutet werden. Dieses baute Krause in der 1968 in Greifswald vorgelegten Habilitation weiter aus. Er positionierte sich darin in einer über dreißigseitigen Auseinandersetzung zu der seit 1967 in der Zeitschrift für Geschichtswissenschaft geführten Diskussion zum sozialistischen Geschichtsbewusstsein als Ziel der Geschichtsvermittlung. In der Folge beteiligte er sich hieran auch selbst mit einem eigenen Beitrag. 9 Die Diskussion kann als eine verspätete Antwort der Historiker auf die Forderungen des VI. Parteitages der SED von 1963 verstanden werden. Auf diesem wurde im Rahmen des Neuen ökonomischen Systems (NÖS) festgelegt, die Wirtschaft und Wissenschaft stärker zu lenken. 10 Walter Ulbricht forderte dort an zentraler Stelle eine stärkere Anstrengungsbereitschaft von Wissenschaft und Bildungsinstitutionen für den Aufbau des Sozialismus und die Ausbildung sozialistischer Persönlichkeiten. 11 Die Diskussion in der Geschichtswissenschaft stellt sich in der Rückschau als Legitimationsversuch des Faches oder als Beteiligung an den Anstrengungen des Aufbaus eines sozialistischen Staates dar. Letzteres Motiv scheint Krauses theoretische Überlegungen zu durchdringen. Sein Geschichtsverständnis brachte er in der Habilitation deutlicher als in der Dissertation auf den Punkt: „Das sozialistische Geschichtsbewußtsein basiert auf dem dialektischen und historischen Materialismus und widerspiegelt die Geschichte nicht schlechthin als eine Abfolge von Ereignissen, sondern als gesetzmäßigen Prozeß, der erkennbar (...) ist; (...) es ist Bestandteil des Klassenbewusstseins der Arbeiterklasse.“ 12

Als Voraussetzung und Folge dieses Bewusstseins sah er das historische Denken an, das darin bestehe, nicht nur die Vergangenheit, sondern die Gegenwart „als Entwicklungsphase der Geschichte (...) zu verstehen, um die Gesetzmäßigkeiten gegenwärtig politisch anzuwenden.“ Der dialektische und historische Materialismus sei das System, durch das das historische Wissen als Verbindung aus „historischen Tatsachen, (...) historischen Begriffen“ und „historischen Fakten“ seine Ordnung erhalte. Das historische Denken sei daher dadurch geprägt, diese Ver-

8 9

Ebd., 26 Vgl. Alfried Krause, Geschichtswissenschaft und Geschichtsbewußtsein, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 16/1968, 1224–1226. 10 Vgl. Andreas Malycha / Peter Jochen Winters, Geschichte der SED. Von der Gründung bis zur Linkspartei, Bonn 2009, 170–184. 11 Vgl. Walter Ulbricht, Das Programm des Sozialismus und die Geschichtliche Aufgabe der sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, in: Neues Deutschland vom 16.01.1963, Beilage 1–14, hier 12f. 12 Alfried Krause, Untersuchungen zum System und zur Funktion der Unterrichtsmittel im Fach Geschichte unter besonderer Berücksichtigung der politischen Karikatur als Unterrichtsmittel, Habil. Greifswald 1968, 17.

276

Martin Nitsche

bindungen zu erkennen, da nur so ein „geschlossene[s] wissenschaftliche[s] Geschichtsbild“ entstehe. 13 Zusammenfassend wird hier ein geschichtstheoretisches Denken deutlich, das klassische Vorstellungen des historischen Materialismus andeutet. Dieser ist dadurch gekennzeichnet, dass Geschichte als ein ablaufender Prozess nach objektiven Gesetzen verstanden wird und der Kommunismus als Vollendung der Geschichte erreichbar sei. 14 Alle folgenden Arbeiten, die am Greifswalder Arbeitsbereich entstanden, folgten, soweit zu sehen ist, bis 1989 Krauses Grundkonzeption. 15 Was hier als systemkonform erscheint, differenziert sich jedoch im geschichtsdidaktischen Denken Krauses aus. Er formulierte zunächst das Ziel, ein sozialistisches Geschichtsbewusstsein als Teil des sozialistischen Bewusstseins zu entwickeln, historisches Denken auszubilden und ein wissenschaftliches Geschichtsbild als Grundlage zu etablieren, das durch Kenntnisse von historischen Tatsachen, Begriffen und Fakten geprägt sei. 16 Darin folgte Krause der Grundlinie der damaligen Diskussion in der Zeitschrift für Geschichtswissenschaft. Er wendete sich jedoch gegen die von geschichtsmethodischen Kollegen vorgetragene Position, dass im Geschichtsunterricht die Ereignisse der Vergangenheit als Beispiele des historischen Materialismus zu vermitteln wären. Vielmehr scheint die hermeneutisch orientierte Forderung auf, dass anhand der konkreten Personen und Ereignisse der Vergangenheit die abstrakt wirkenden Gesetze aus der Vergangenheit heraus im Unterricht verständlich zu machen seien. Was Krause hier forderte, kann eigentlich als historisches Verstehen aus der Zeit heraus bezeichnet werden. Dieses lässt sich als typisch hermeneutisches Begründungsmodell charakterisieren 17, wie es z. B. von Johann Gustav Droysen im 19. Jahrhundert vertreten wurde. 18 Von solchen bürgerlichen Vertretern des Historismus grenzte sich Krause jedoch deutlich ab, indem er den Blick auf die wirkenden Gesetzmäßigkeiten der Gegenwart im Geschichtsunterricht schärfen wollte, um „die politische Problematik aktueller Ereignisse mit dem historischen Materialismus in Einklang zu bringen.“ 19 Ihm schien intuitiv bewusst zu sein, dass die Übertragung von historischen

13 Ebd., 22–27. 14 Vgl. Günther Heydemann, Geschichtswissenschaft im geteilten Deutschland, Frankfurt a. M. u. a. 1980, 198–211. 15 Vgl. z. B. Martin Richter, Untersuchungen zur emotionalen Wirksamkeit audiovisueller Unterrichtsmittel im Geschichtsunterricht, Diss. B, Greifswald 1981, 1–3 sowie Ilse Splanemann, Tonbildreihe und Radiovision im Fach Geschichte unter besonderer Berücksichtigung ihres Beitrages zur Entwicklung eines sozialistischen Geschichtsbewußtseins, Diss. A, Greifswald 1971, 3, und Helga Birke, Untersuchungen zur Zeitgrafik und zu ihrer Funktion im Geschichtsunterricht, Diss. A, Greifswald 1989, 3. 16 Krause, Untersuchungen, 22–27. 17 Vgl. Chris Lorenz, Konstruktion der Vergangenheit. Eine Einführung in die Geschichtstheorie, Köln u. a. 1997, 89–126. 18 Vgl. Johann Gustav Droysen, Grundriss der Historik, Leipzig, 1868, 19. 19 Krause, Untersuchungen, 32.

„Die breite Masse (...) zur Leitung (...) befähigen.“

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Gesetzmäßigkeiten aus der Gegenwart das Bild der Vergangenheit stark vorprägt, sonst hätte er sich nicht gegen die beispielhafte Vermittlung historischer Gesetzmäßigkeiten gestellt. Darauf aufbauend, angelehnt an Walter Eckermanns Überlegungen zur Darstellung vom Konkreten zum Abstrakten 20, hegte er die Hoffnung, dass sich ein Erkenntnis- und Lernprozess initiieren lässt, in dem sich die Gesetzmäßigkeiten aus der konkreten Vergangenheit selbst ableiten lassen. Diese Vorstellung floss am Ende von Krauses akademischer Karriere 1988 in ein Schaubild ein, das er gemeinsam mit Martin Richter, Mitarbeiter seit 1958 und ab 1988 Nachfolger als Leiter des Wissenschaftsbereiches Geschichtsmethodik, entwickelte (Abb. 1).

Abb. 1: ‚Vom Konkreten zum Abstrakten im Prozeß der Aneignung von Geschichte‘ (Richter / Krause 1990, 154).

Sie bezogen sich dabei auf Ernst Bernheims Forderung, der historischen Methode stärkere Bedeutung zu schenken, auch wenn man die Anlehnung an den bürgerlichen Bernheim wohl im Kontext der Öffnung der ostdeutschen Geschichtswissenschaft in den 1980er Jahren sehen muss. 21 Krause und Richter legen nahe, dass die

20 Vgl. Walter Eckermann, Zur Frage der Verwirklichung der Einheit vom Konkreten und Abstrakten im Geschichtsunterricht. Beilage zu den Beiträgen zur Methodik des Geschichtsunterrichts, Berlin 1957. Vgl. dazu auch den Beitrag von Martin Buchsteiner in diesem Band. 21 Vgl. Martin Sabrow, Der Kalte Krieg der deutsch-deutschen Geschichtswissenschaft, Vortrag auf dem 49. Deutschen Historikertag, Sektion: Die organisierte Disziplin als Forschungsproblem. Perspektiven auf eine Geschichte des Historikerverbandes, am 26. September 2012 in Mainz, (http://www.zzf-pdm.de/Portals/_Rainbow/images/mitarbeiter/Vortrag_Martin_Sabro w_Kalter_Krieg_in_der_Geschichtswissenschaft_2012_%2009_26_Historikertag.pdf, 07.01. 14). Zu Ernst Bernheim siehe auch den Beitrag von Frank Möller im vorliegenden Band.

278

Martin Nitsche

Ableitung von Gesetzmäßigkeiten gelingt, wenn „in den Erscheinungen das Wesen“ erfasst, „zwischen den einzelnen Tatsachen das vielfältige Geflecht dialektischer Abhängigkeiten“ und „im Verlauf auch de[r] Prozeß und im Prozeß auch Gesetzmäßigkeiten“ erkannt werden. 22 Zielpunkt bleibt auch hier das sozialistische Geschichtsbewusstsein und Geschichtsbild. Allerdings gelang es Krause und den Greifswaldern nicht, sich mit ihrer Forderung nach einer Entwicklung der Gesetzmäßigkeiten aus der Zeit heraus durchzusetzen. Darauf deuten die Veröffentlichungen im Sammelband Geschichtsbewußtsein und sozialistische Gesellschaft von 1970 hin, in dem ihre Position unbeachtet blieb. Noch heute gilt der Sammelband als Standardwerk zum sozialistischen Geschichtsbewusstsein. 23 Darin wird wiederum materialistisches Denken an die Vergangenheit herangetragen. So bezeichnete Walter Schmidt, Mitherausgeber und Lehrstuhlinhaber am Institut für Gesellschaftswissenschaften beim Zentralkomitee der SED, in seinem Beitrag es „als wesentliche Aufgabe der Historiker [dazu] beizutragen, daß die historische Mission der Arbeiterklasse stets selbst als historisches Problem begriffen wird (...).“ 24 Es wird deutlich, dass bei den zentralen didaktischen Zieldiskussionen letztendlich andere die Richtung vorgaben, da anders als in der Diskussion in der Zeitschrift für Geschichtswissenschaft keine Geschichtsmethodiker mehr eingebunden waren, sondern fast ausnahmslos Vertreter von Parteiinstitutionen. Freilich wurde auch von den Greifswaldern nicht erkannt, dass eine geschlossene Normierung aus gegenwärtiger Sicht eine Annäherung an vergangene Vorstellungen unmöglich macht. 25 Damit ist ein zweiter Widerspruch in Krauses Denken benannt, der sich aus dem ersten ergibt: Einerseits sieht er die Vergangenheit als unzugänglich an, geht jedoch davon aus, dass sie medial widergespiegelt werden könne. Andererseits soll von der konkreten Vergangenheit ausgegangen werden, um die Gesetze des historischen Materialismus abzuleiten, die jedoch durch ihre Normierung den Blick auf Aspekte außerhalb des Bildes versperren.

22 Vgl. Alfried Krause / Martin Richter, Historische Methode und Geschichtsmethodik – Überlegungen zum Verhältnis von Fach und Methodik, in: Der Rektor der Ernst-Moritz-ArndtUniversität Greifswald (Hg.), 125 Jahre Historisches Seminar, Sektion Geschichtswissenschaft der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald 1988. Kolloquium am 29. November 1988 in Greifswald, Greifswald 1990, 146–155, hier 149f. 23 Vgl. Bernd Schönemann, Geschichtsbewusstsein – Theorie, in: Michele Barricelli / Martin Lücke (Hgg.), Handbuch Praxis des Geschichtsunterrichts, Bd.1, Schwalbach/Ts., 98–111, hier 99. 24 Walter Schmidt, Geschichtsbewußtsein und sozialistische Persönlichkeit bei der Gestaltung der entwickelten sozialistischen Gesellschaft, in: Helmut Meier / Walter Schmidt (Hgg.), Geschichtsbewußtsein und sozialistische Gesellschaft, Berlin 1970, 8–40, hier 32. 25 Inwiefern dies überhaupt möglich ist, bleibt seit den erkenntnistheoretischen Diskussionen der Postmoderne umstritten vgl. etwa Hans-Jürgen Goertz, Unsichere Geschichte. Zur Theorie historischer Referentialität, Stuttgart 2001.

„Die breite Masse (...) zur Leitung (...) befähigen.“

279

Um die Ableitung aus der Vergangenheit zu erreichen, wendete sich Krause 1968 gegen die Betonung von kognitiven Bildungszielen gegenüber emotionalen Erziehungszielen und fordert, „gleichermaßen im rationalen wie im emotionalen Bereich auf die Schüler einzuwirken, um sie über das Verstehen und Erleben der Geschichte zu sozialistischem Verhalten und Handeln in der Gesellschaft zu befähigen.“

Nicht im Geschichtsbild sah Krause die Äußerungen des Geschichtsbewusstseins, sondern im gesellschaftlichen Handeln. Er verband mit der Ausbildung des sozialistischen Geschichtsbewusstseins als Unterrichtsziel die Hoffnung, „die breite Masse (...) zur Leitung zu befähigen (...).“ 26 Krauses Vorstellungen waren anscheinend nicht nur Lippenbekenntnisse. Vielmehr verbarg sich dahinter ein sozialistisches Ideal, das auch in den Zeitzeugengesprächen mit ihm und Martin Richter deutlich geworden ist. Beide betonten, dass der Parteislogan „Plane mit, arbeite mit, regiere mit“ von ihnen ernst genommen worden sei. 27 Krause führt dazu aus: „Ich (...) sagte: Wenn das umgesetzt wird, in einer echten Arbeit, dann sind wir dem Westen überlegen. Es gibt bei uns keine Streiks, und die Streiks kosten auch sehr viel Geld, wenn nicht gearbeitet wird. So etwas haben wir nicht, wir haben eine Gewerkschaft, mit der wir uns verständigt haben. Aber die Arbeiter müssen das Recht haben, mitzuplanen, mitzudiskutieren, mitvorzuschlagen. Ich ging davon aus, dass die das machen; (...) natürlich habe ich mich da getäuscht.“ 28

Zu dieser systemstabilisierenden Täuschung trug er freilich selbst bei, wenn er aus seinen Überlegungen in der Habilitation schließlich die Zielstellung formulierte, dass die Schülerinnen und Schüler das objektiv bedeutsame Geschichtsbild als subjektiv bedeutsam erkennen sollen. Daher verwundert Krauses Forderung auch nicht, „analog dem Erkenntnis- und Fähigkeitssystem [des] Lehrplan[s] auch ein Wertungssystem vor[zu]geben (...), dass (...) anhand der Normen der marxistischen Ethik (...) ein sozialistisches Traditionsbewusstsein“ entwickeln hilft. 29 Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass es durchaus unterschiedliche theoretische Reflexionen im Detail gab, die auch von anderen abgegrenzt wurden. Da jedoch unstrittig blieb, dass die Fortschrittsgeschichte des Sozialismus erzählt werden soll, waren unterschiedliche Auffassungen für die Unterrichtsziele wirkungslos. Vielmehr hatten die ungelösten erkenntnis- und lerntheoretischen Herausforderungen, die ein geschlossenes Geschichtsbild mit sich bringt und auf die versucht wurde, dialektisch zu reagieren, Folgen für die Konzeption einer geschichtsmethodischen Theorie am Greifswalder Forschungsbereich.

26 27 28 29

Beide Krause, Untersuchungen, 23. Zeitzeugengespräch mit Martin Richter vom 10.08.2013, Privatarchiv (PA) Nitsche, Z. 609. Zeitzeugengespräch mit Alfried Krause vom 09.08.2013, PA Nitsche, Z. 355–363. Krause, Untersuchungen, 37–39.

280

Martin Nitsche

Geschichtsmethodische Theoriebildung Es mag nicht erstaunen, wenn Krause in den Unterrichtsmitteln den Weg sah, „die Erhöhung der Effektivität des Unterrichts“ zu erreichen. 30 Dass darunter natürlich verstanden wurde, die skizzierten Lernziele zu erfüllen, macht seine Unterscheidung der Unterrichtsmittel deutlich: „Wir unterscheiden somit 1. Unterrichtsmittel, die den Stoff repräsentieren, 2. Unterrichtsmittel, die Denkstrukturen repräsentieren, 3. Unterrichtsmittel, die eine spezifische Übungs- und Kontrollfunktion haben.“ 31 In Anlehnung an seine erkenntnistheoretische Vorstellung, aus dem historisch Konkreten das Abstrakte zu entwickeln, entwarf er eine Systematisierung der Unterrichtsmittel, die später in den Planvorschlägen des Wissenschaftsbereichs Geschichtsmethodik als „Unterrichtsmitteltheorie“ (Abb. 2) firmierte. 32

Abb. 2: Auszug aus der Unterrichtsmitteltheorie (Krause 1969, 313).

Untersucht man diese, wird deutlich, dass Quellen zwar im Konkreten berücksichtigt werden, historische Darstellungen aber überwiegen. Zudem lässt die Erläuterung erkennen, dass Originale dazu dienen, als „konkrete Darstellung (...) gesell-

30 Alfried Krause, Zum System und zur Funktion der Unterrichtsmittel im Fach Geschichte, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald, Gesellschaftsund sprachwissenschaftliche Reihe 18/1969, 307–315, hier 307. 31 Ebd., 310. 32 Vgl. Universitätsarchiv Greifswald, Philosophische Fakultät, Nr. 94.

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schaftlicher Erscheinungen oder Geschehnisse“ eingesetzt zu werden. Was Krause hier vorlegte, ist also eine Übersicht der Darstellungsmöglichkeiten, die „rational (...) [oder] emotional“ auf ein geschlossenes Geschichtsbild hinarbeiten. 33 Er verfolgte damit konsequent den Weg weiter, den er bereits mit seiner Dissertationsschrift eingeschlagen hatte. Will man herausarbeiten, wie die Greifswalder sich die Funktionsweise des Geschichtsunterrichts vorstellten, muss man allerdings auf die Dissertation B von Ilse Splanemann, Mitarbeiterin zwischen 1962 und 1988, aus dem Jahr 1977 zurückgreifen. Sie legte darin eine Systematisierung vor, die man als Unterrichtstheorie verstehen kann (Abb. 3). In ihrer Arbeit ist das sozialistische Geschichtsbewusstsein „höchstes Ziel in der kommunistischen Erziehung“ und gleichzeitig Resultat der Aneignung. 34 Als Aneignungsobjekt wird das wissenschaftliche Geschichtsbild im sozialistischen Sinne verstanden, das sowohl aus konkreten Tatsachenkenntnissen, Ereignissen und den abstrakten, gesetzmäßigen historischen Prozessen besteht, als auch aus dem „objektiven Wert.“ Dabei sei der „Wert“ auf marxistisch-leninistischer Grundlage objektiv, da er durch historische Gesetzmäßigkeiten gestützt werde, die „Wertung“ des Einzelnen jedoch subjektiv. Eine Wertung des Einzelnen sei somit falsch, wenn sie dem objektiven Wert nicht entspricht. Im Unterricht gehe es folglich darum, die Schüler dazu zu bringen, sich das richtige Geschichtsbild mit seinen objektiven Werten anzueignen. 35

Abb. 3: Die Greifswalder Geschichtsunterrichtstheorie (Splanemann 1977, 13).

33 Krause, System, 312. 34 Ilse Splanemann, Untersuchungen zur ästhetischen Erziehung im Geschichtsunterricht unter besonderer Berücksichtigung eines wissenschaftlichen Geschichtsbildes mit Hilfe audiovisueller Unterrichtsmittel, Diss. B, Greifswald 1977, 11. 35 Ebd., 14–15.

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Lerntheoretisch lag damit eine abbilddidaktische Vorstellung vor, in der die Selbsttätigkeit der Schüler, die besonders für die höheren Klassen befürwortet wurde, dazu dienen sollte, dass sie sich selbst von der Richtigkeit der offiziellen Vorstellungen überzeugten. Der Unterricht stellte sich so verkürzt als InhaltsMittel-Ziel-Relation dar, in dem die Schüler eine passive Rolle einnahmen. Damit kam den Unterrichtsmitteln in der geschichtsmethodischen Theorie der Greifswalder die Funktion zu, die Aneignung der Schüler entsprechend der Zielstellung bestmöglich zu steuern. Allerdings ist hinzuzufügen, dass sich auch in der Bundesrepublik erst im Verlauf der 1970er und 1980er Jahre subjektorientiertere Lerntheorien im Zuge der konstruktivistischen Erkenntnistheorie wieder stärker durchsetzten. 36 Die Geschichtsdidaktik entdeckte in dieser Zeit selbstständiges historisches Denken der Schüler als Kernaufgabe. 37 Erst in jüngster Zeit wurde eine Geschichtsunterrichtstheorie entwickelt, die versucht, die Komplexität solcher sozialen Prozesse zu berücksichtigen. 38 Theoretische Vorannahmen haben jedoch beim Versuch, Unterrichtsforschung zu betreiben, immer Auswirkungen auf die Ergebnisse. 39 Dies liegt daran, dass sie entweder die Fragestellung bzw. Hypothesenbildung steuern oder als Modell zur Interpretation der Ergebnisse herangezogen werden. Dies zeigt sich auch in den Forschungen der Greifswalder Geschichtsmethodik. Geschichtsmethodische Forschung in Greifswald zwischen 1960 und 1990 Während die bisherige Forschung der geschichtsmethodischen Theorie keine besondere Beachtung geschenkt hat, fand die Forschungspraxis mehr Aufmerksamkeit. Demantowsky spricht ihr gar innovatives Potential zu.40 Allerdings wird im Folgenden deutlich werden, dass die skizzierte Theorie für die Greifswalder sowohl forschungsleitend als auch begrenzend war. Um einen Eindruck zu erhalten, welche Rolle der Standort Greifswald im Kontext der DDR-Geschichtsmethodik spielte, wird zunächst ein Publikationsvergleich vorgenommen. Da keine umfassende Bibliographie aller Veröffentlichungen der DDR-Geschichtsmethodik bis 1989 vorliegt, bezieht sich dieser auf solche in der Zeitschrift Geschichte in der Schule, die ab 1959 als Geschichte und 36 Vgl. z. B. Klaus Holzkamp, Lernen. Subjektwissenschaftliche Grundlegung, Frankfurt a. M. 1995. 37 Vgl. z. B. Klaus Bergmann, Geschichtsdidaktik als Sozialwissenschaft, in: Hans Süssmuth (Hg.), Geschichtsdidaktische Positionen, Paderborn u. a. 1980, 17–47, hier 31–36, oder Annette Kuhn, Geschichtsdidaktik in emanzipatorischer Absicht. Versuch einer kritischen Überprüfung, in: ebd., 49–81, hier 65–73. 38 Vgl. z. B. Peter Gautschi / Markus Bernhardt / Ulrich Mayer, Guter Geschichtsunterricht – Prinzipien, in: Barricelli / Lücke (Hgg.), Handbuch, 326–348, hier 327. 39 Vgl. z. B. Andreas Helmke, Unterrichtsqualität erfassen, bewerten, verbessern, Seelze 2007, 17–20. 40 Vgl. Demantowsky, Geschichtsmethodik, 352–358. Ähnlich Thünemann, Geschichte, 19.

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Staatbürgerkunde firmierte. Dafür liegt dankenswerter Weise eine Gesamtbibliographie vor. Diese Zeitschrift war das wohl wirksamste Organ, das der Geschichtsmethodik zur Verfügung stand, da es sich nicht nur um ein reines Fachblatt handelte. 41 Es hatte vielmehr den Anspruch, wissenschaftlichen Austausch auf einem Niveau zu ermöglichen, der geeignet war, auch Lehrer einzubeziehen. Die Methodiker mussten sich jedoch mit verschiedensten Akteuren um den Publikationsplatz streiten. So schrieben dort seit den Anfängen neben Schulpraktikern v. a. Funktionäre ihre Artikel, die dazu einen leichteren Zugang hatten, da das Ministerium für Volksbildung als Herausgeber und Zensor fungierte. Seit Ende der 1950er Jahre musste sich die Geschichtsmethodik zudem den Platz mit der Staatsbürgerkundemethodik teilen. Diese wurde 1959 offizielles Unterrichtsfach. 42 1970 veröffentlichten Vertreter der Geschichtsmethodik und Staatsbürgerkundemethodik zu fast gleichen Teilen. 43 In diesem Kontext machen die Veröffentlichungen aller Greifswalder Mitarbeiter zwischen 1949 und 1990 8,9 Prozent der ausgewiesenen geschichtsmethodischen Publikationen aus. Dazu gehören neben Teilveröffentlichungen der Forschungsergebnisse auch Unterrichtsvorschläge, Tagungsberichte, Lehrplankommentare und Rezensionen. Absolut konnten 49 Veröffentlichungen gezählt werden. Damit liegen die Greifswalder auf Platz fünf von zehn der akademisch verankerten geschichtsmethodischen Arbeitsbereiche (Abb. 4). Allerdings standen auch noch andere Publikationsmöglichkeiten wie die wissenschaftlichen Zeitschriften der jeweiligen Institutionen oder Unterrichtsmittel-Information, die von der Akademie der Pädagogischen Wissenschaften (APW) herausgegeben wurde, zur Verfügung. Diese sind jedoch quantitativ bisher nicht ausgewertet worden. Insgesamt können zurzeit für die Greifswalder bis 1990 123 weitere Publikationen nachgewiesen werden. Dazu zählt ebenso die Mitarbeit an Geschichtslehrbüchern, das Verfassen von Aufsätzen in Fachzeitschriften sowie Unterrichtsvorschläge und Kommentare der am Standort entwickelten Unterrichtshilfen. 44 Daneben erschien 1984 das geschichtsmethodische Lehrbuch Zur Arbeit mit Unterrichtsmitteln 45, das als ostdeutsches Pendant zum geschichtsdidaktischen Handbuch Medien im Geschichtsunterricht von 1983 in der Bundesrepublik verstanden werden kann.

41 Vgl. Tilman Grammes / Henning Schluß / Hans-Joachim Vogler, Staatsbürgerkunde in der DDR. Ein Dokumentenband, Wiesbaden 2006, 155. 42 Vgl. Demantowsky, Geschichtsmethodik, 294–301. 43 Ebd., 421. 44 Marko Demantowsky, Das Geschichtsbewußtsein in der SBZ und DDR. Bestimmung, Erforschung, Formierung und ihr geistiges Bezugsfeld (unter besonderer Berücksichtigung der Sowjetpädagogik), Bibliographie und Bestandsverzeichnis 1946–1973 (http://www.unimuenster.de/Geschichte/AAhist-dida/Datenbank/Bibliographie-Druckfassung.pdf, 15.12.13) und Hans-Arwed Müller / Martin Richter, Zur konkreten und anschaulichen Darstellung der Geschichte im Geschichtsunterricht – Bilanz und Ausblick, in: Pädagogische Forschung zwischen dem VIII. und IX. Pädagogischen Kongreß, Greifswald 1989, 29–34. 45 Vgl. Autorenkollektiv geleitet v. Alfried Krause (Hg.), Zur Arbeit mit Unterrichtsmitteln, Berlin 1984.

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Abb.4: Verteilung geschichtsmethodischer Veröffentlichungen in GiS/GS zwischen 1949–1990 in absoluten Zahlen. 46

Wendet man sich den Themen und Fragestellungen der Forschung zu, so kann festgestellt werden, dass am Greifswalder Standort elf Qualifikationsschriften eingereicht wurden, die eine Entwicklung erkennen lassen. Alfried Krause fragte 1960 in seiner noch in Leipzig eingereichten Dissertation, welche Wirkung der dokumentarische Film im Geschichtsunterricht erzielt. Er startete zwischen 1956 und 1959 einen experimentellen Unterrichtsversuch mit 111 Schülern in drei 7. Klassen. Dazu setzte er einen Film zum Thema „Monopolkapitalismus im Kaiserreich“ ein. Um Vergleichswerte zu haben, brachte er in einer Klasse den Film, in der nächsten ein schematisches Standbild und in der letzten die Lehrererzählung ein. Anschließend wechselten die Medien in den jeweiligen Klassen durch. Die Leistungen der Schüler wurden an drei Zeitpunkten einer Überprüfung unterzogen: nach dem Filmeinsatz, nach der Lektionswiederholung und nach einem Jahr, als die Schüler bereits in der 8. Klasse waren. Als Tests setzte er offene Inhaltswiedergaben ein. Ergänzt wurde das Forschungsdesign durch Tonbandaufnahmen der Stunden und teilnehmende Beobachtungen durch die jeweiligen Geschichtslehrer. Außerdem wurden die Reaktionen der Schüler in Einzelinterviews erfasst. Er wertete zunächst sowohl die Arbeiten als auch die Interviews und Tonbandprotokolle hermeneutisch aus. 47 Anschließend unterzog er die Kontrollarbeiten auch einer deskriptiv-statistischen Auswertung, indem er mit den Fachlehrern ein Er-

46 Abkürzungen: Pädagogische Hochschule Dresden (PHDe); Pädagogische Hochschule Potsdam (PHPo); Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg (MLU); Karl-Marx-Universität Leipzig (KMU); Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald (EMAU); Humboldt-Universität Berlin (HU); Wilhelm-Pieck-Universität Rostock (URo); Pädagogische Hochschule Leipzig (PHL); Friedrich-Schiller-Universität Jena (FSJ); Pädagogische Hochschule Magdeburg (PHMa). 47 Vgl. Krause, Rekonstruktion,14–26.

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wartungsbild erstellte und die genannten Inhalte nach Oberbegriffen auszählte. 48 Schließlich wurden die Tests der Schüler von ihm sowie den Lehrern bewertet. Die Zensuren verglich er abschließend mit den Vornoten. 49 Als Ergebnis war eine positive Wirkung des Films auf das Interesse, die bildliche Vorstellung, die Aufmerksamkeit, die Beteiligung und die Leistung der Schüler festzustellen. Krause differenzierte seine Ergebnisse jedoch dahingehend, dass der Film nicht insgesamt besser geeignet sei. Stattdessen erhielten die Schüler durch den Film einen klareren Überblick über den Sachverhalt, beim Standbild jedoch vertiefte Kenntnisse von Einzelereignissen. Er konnte außerdem feststellen, dass der Film in den Arbeiten direkt im Anschluss bekanntes Vorwissen verdrängt hatte. Den Schülern gelang es erst nach der Wiederholung eine Verknüpfung mit dem Vorwissen zu erreichen. 50 Der Film sei schließlich besonders wirksam bei klarer Verbindung von Bild und Ton. Aufgrund der Verbesserung der Zensuren schlussfolgerte er: Der Film habe einen „großen Wert für die Herausbildung sozialistischer Überzeugungen.“ 51 Interessant ist, dass die Arbeit neben solch allgemeinen Formulierungen und dem Filmthema „Monopolkapitalismus im Kaiserreich“ politisch deutlich zurückhaltender wirkt als die Habilitation von 1968 und die folgenden Arbeiten seiner Schüler. Vermutlich liegt das darin begründet, dass Krause als erster die Filmwirkung im Geschichtsunterricht der DDR in den Blick nahm und er die Arbeit noch vor dem Mauerbau im Dezember 1960 und auch vor dem VI. Parteitag 1963 einreichte, der wie skizziert, den Druck auf die Wissenschaften erhöhte. Martin Richter ging in seiner Dissertation 1963, die hauptsächlich von Alfried Krause betreut wurde, bereits dazu über, sich einer spezielleren Frage, nämlich der nach der Dauerhaftigkeit der Kenntnisvermittlung mittels Unterrichtsfilm und Hörszene zu widmen. Daneben fragte er bereits nach der Wirkung auf Gefühl, Intellekt und die Entwicklung des sozialistischen Bewusstseins. 52 Martin Herzig versuchte seinerseits 1967 zu ergründen, welche Fernsehvorlieben Schüler besonders hinsichtlich historischer Sendungen haben und fragte nach geschichtsmethodischen Folgerungen, um darauf zu reagieren. 53 Anschließend entwickelte Alfried Krause 1968 in seiner Habilitationsschrift ausgehend von den bisherigen Ergebnissen anhand von Unterrichtsversuchen zur politischen Karikatur die beschriebene Unterrichtsmitteltheorie. Die weiteren Arbeiten kann man als Verfeinerung des bisher Erreichten deuten. Wolfgang Schütz untersuchte in seiner Doktorarbeit 1971 die Wirkung von

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Ebd., 82ff. Ebd., 103ff. Ebd., 179–185. Ebd., 187f. Vgl. Martin Richter, Der Unterrichtsfilm als Mittel zur Erfassung dauerhafter Kenntnisse im Geschichtsunterricht der 9. Klasse, phil. Diss., Greifswald 1963, 9. 53 Vgl. Martin Herzig, Probleme des Verhältnisses von Fernsehen und Geschichtsunterricht unter besonderer Berücksichtigung des Schülerprogramms des Deutschen Fernsehfunks, phil. Diss., Greifswald 1967.

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konkreten und abstrakten Darstellungsformen im Unterrichtsfilm. 54 Parallel legte Ilse Splanemann den Fokus in ihrer Dissertation A 1971 auf einen Wirkungsvergleich zwischen Tonbildreihe und Radiovision. Letztere war der Versuch, Schulen mit historischen Bildreihen zu beliefern und diese zentral über den Rundfunk durch einen eingesprochenen Kommentar erläutern zu lassen. Die Hinwendung zur Tonbildreihe und Radiovision kann möglicherweise als Ausweichen vor finanziellen und politischen Schwierigkeiten bei der Produktion von Unterrichtsfilmen gedeutet werden 55, da sich die Zusammenarbeit zwischen den Greifswaldern und der DEFA nicht immer einfach gestaltete. 56 Genauso wurde die Radiovision in den 1970er Jahren aus finanziellen Gründen nicht mehr fortgesetzt. 57 Außerdem lagen die Hürden der Zensur für Filme recht hoch, wie Martin Richter im Zeitzeugengespräch betonte. 58 Im Zeitraum zwischen 1977 und 1981 wendeten sich Ilse Splanemann und Martin Richter in ihren Dissertationen B der ästhetischen und emotionalen Wirksamkeit zu. Sie versuchten dabei explizit zu ergründen, wie Unterrichtsfilm und Tonbildreihe gestaltet und im Unterricht eingesetzt werden müssen, um die objektiven Werte des Geschichtsbildes in subjektive der Schüler zu übertragen. Das Forschungsvorgehen soll im Folgenden an Martin Richters Dissertation B gezeigt werden. Er wählte darin wie bereits Ilse Splanemann in ihren Dissertationen A und B ein hypothesenprüfendes Verfahren. An seinem Versuch waren 1.570 Schüler der 9. Klasse beteiligt. Darin setzte er drei Unterrichtsfilme ein, die am Greifswalder Standort entwickelt wurden und das (angebliche) Übergreifen der Revolution auf die Westfront 1918, den Hamburger Aufstand 1923 und das Nationalkomitee Freies Deutschland im 2. Weltkrieg thematisieren. Richter ging unter anderem davon aus, dass die Schüler durch die Filme den historischen Erlebnisgehalt, historische Details und Zusammenhänge tiefer erfassen als durch die Tonbildreihe. Außerdem fragte er z. B. danach, wie Film und Tonbildreihe gestaltet sein müssen, damit sie bei den Schülern die Einheit von Erkennen, Erleben und Werten erreichen, um die Ausbildung eines sozialistischen Geschichtsbewusstseins zu unterstützen. 59 Dabei nahm er an, dass die subjektiven Beziehungen zur Außenwelt einen Bedürfnisbefriedigungsprozess darstellen, der positive oder negative Gefühle hervorrufe, wenn Bedürfnisse erfüllt oder nicht erfüllt werden. Daher sei es wichtig, im Geschichtsunterricht positive Gefühle zu erzeugen, um 54 Vgl. Wolfgang Schütz, Untersuchungen zum historischen Unterrichtsfilm in der Kombination von konkreter und abstrakter Darstellung, Diss. A, Greifswald 1971. 55 Für die Übersicht über die entstandenen Unterrichtsfilme am Greifswalder Standort vgl. Martin Buchsteiners Aufsatz in diesem Band. 56 Vgl. Interview mit Alfried Krause, in: Antje Romann, Zur Geschichte der Geschichtsmethodik an der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald, Diplomarbeit, Greifswald, 1989, Anhang. Vgl. auch den Beitrag von Martin Buchsteiner in diesem Band. 57 Vgl. Zeitzeugengespräch mit Ilse Splanemann, in: Romann, Geschichte, Anhang. 58 Vgl. Zeitzeugengespräch mit Martin Richter vom 10.08.2013, PA Nitsche, Z.318–344. 59 Vgl. Martin Richter, Untersuchungen zur emotionalen Wirksamkeit audiovisueller Unterrichtsmittel im Geschichtsunterricht, Diss. B, Greifswald 1981, 4–6.

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eine ideologische Haltung zum Bedürfnis zu machen. 60 Unter Einbezug psychologischer Arbeiten, forderte Richter, dass die „eingesetzten audiovisuellen Unterrichtsmittel als Widerspieglung der objektiven Realität (...) beim Schüler nicht irgendeine, sondern eine im voraus geplante Wirkung realisieren.“ 61 Er versuchte dazu die Variablen der Untersuchung klein zu halten, indem er selbst als Unterrichtender in den Versuchsklassen agierte, während bei den Kontrollklassen auf die Versuche von Ilse Splanemann, die diese für ihre Dissertation B unternahm, zurückgriffen wurde. Er blieb dem Forschungsvorgehen des Greifswalder Standortes treu, indem er Tonbandaufzeichnungen der Stunden machte und durch Kontrollarbeiten in der Folgestunde die Wirksamkeit untersuchte und diese mit den Noten aus Geschichte und Mathematik verglich. Zusätzlich nutzte er wie bereits in seiner Dissertation Fotos, um die Reaktionen der Schüler auf die eingesetzten Filme zu erfassen. Als Kontrollarbeit setzte er einen kombinierten Test aus offenen und geschlossenen Aufgaben ein, der als teilstandardisiert bezeichnet werden kann, da dieser im Laborversuch erprobt worden war. 62 Die Antworten der Schüler wurden statistischen Tests unterzogen, um die Gruppenunterschiede63 zwischen Versuchs- und Kontrollklassen zu prüfen. 64 Als Ergebnis der Untersuchung wurde z. B. festgestellt, dass Film und Tonbildreihe die Schüler der Versuchsklassen emotional erreichen. Beide hätten klare parteiliche Wertungen vorgenommen. Besonders in den höheren Klassen eigne sich der Dokumentarfilm, da er als authentisch angesehen und als historischer Beweis verstanden werde. Die Grenzen der Einflussnahme zeigten sich jedoch, als etwa fünf von 360 Schülern eine Filmfigur, die den Klassenfeind darstellt, im Film über die Revolution an der Westfront als mutig bewerteten. Hierauf ging Richter jedoch in der Auswertung nicht ein. 65 Inwieweit Gefühle Einstellungen beeinflussen und inwieweit diese von der Selbst- oder Fremdsteuerung abhängen, ist bis heute weitgehend unklar. Forschungen in der Geschichtsdidaktik wurden dazu bisher kaum angestellt. 66 Wahrscheinlich sind die Wechselwirkungen individuell jedoch verschieden. Insgesamt zeigt Richters Arbeit den hohen methodischen Standard der Greifswalder Unterrichtsversuche. Er wählte statistische Auswertungsverfahren, die seit Ilse Splanemanns Dissertation A 1971 üblich und deutlich anspruchsvoller waren als die in 60 61 62 63

Ebd., 22–34. Ebd., 68. Ebd., 213ff. Für eine verständliche statistische Einführung zur Untersuchung der Gruppenunterschiede vgl. Bernhard Hauser / Winfried Humpert, signifikant?, Einführung in statistische Methoden für Lehrkräfte, Seelze-Velber 2009, 138–150. 64 Richter, Untersuchungen, 68–76. 65 Ebd., 80. 66 Vgl. Wolfgang Hasberg, Emotionalität historischen Lernens. Einblicke in und Ausblicke auf empirische Forschung, in: Juliane Brauer / Martin Lücke (Hgg.), Emotionen, Geschichte und historisches Lernen. Geschichtsdidaktische und geschichtskulturelle Perspektiven, Göttingen 2013, 47–73, hier 64–66.

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den empirischen Arbeiten in der bundesdeutschen Geschichtsdidaktik bis Mitte der 1980er Jahre eingesetzten. Allerdings nutzte die Potsdamer Geschichtsmethodik in ihren Untersuchungen zur weltanschaulichen Erziehung bereits voll standardisierte Verfahren. Sie ging damit methodisch über das Vorgehen am Greifswalder Standort hinaus. 67 In diesem Kontext können sowohl Splanemanns als auch Richters Dissertationen B als Höhepunkt der Greifswalder Medienwirkungsforschung angesehen werden, mit der versucht wurde, Überzeugungen der Schüler zu beeinflussen. In den 80er Jahren wendeten sich die Forschungsarbeiten der Greifswalder wieder unterschiedlichen Detailfragen zu. Gleich drei Dissertationen A wurden 1980 eingereicht. So untersuchte Rudolf Juretschka, wie historische Zusammenhänge gestaltet werden müssen, damit die Schüler Können entwickeln und ideologisch erzogen werden. 68 Wolfgang Arndt fragte, wie Musik gestaltet sein muss, um im historischen Dokumentarfilm entsprechend wirksam zu werden. 69 HansArwed Müller erkundete schließlich die vorhandenen Unterrichtsdokumentarfilme in der DDR hinsichtlich der Verarbeitung der Informationsmenge und deren Auswirkung auf den Lernerfolg. 70 Nach Alfried Krauses Emeritierung im Jahr 1987 und der Übernahme der Professur durch Martin Richter legte 1989 Helga Birke drei Tage vor dem Fall der Mauer eine Untersuchung zur Entwicklung und Wirkung von Zeitdarstellungen im Geschichtsunterricht vor. Darin zeigt sich eine Schwerpunkterweiterung, wie sie im Forschungsplan für die 2. Hälfte der 1980er Jahre festgehalten wurde. Erstmals stand hier das „Zeitverständnis und Zeitbewußtsein und die Funktion von Unterrichtsmitteln“ neben anderem auf der Agenda. 71 Die Forschungsarbeit soll daher abschließend vorgestellt werden. In Birkes Dissertation A wurde zunächst nach der theoretischen Fundierung des Zeitbegriffes gefragt, bei der die Autorin auch internationale und westdeutsche Literatur auswertete. 72 Sie entwickelte dabei ein Zeitkonzept, das Zeit als etwas Veränderbares, Unabgeschlossenes ansieht und neben physikalischer auch die soziale Zeit berücksichtigte. 73 Dabei nahm sie eine deutliche Trennung der Zeitdimensionen in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft vor, um Gegenwarts- und Perspektivbewusstsein zu entwickeln und klassifizierte das Zeitverständnis als Voraussetzung

67 Vgl. Hasberg, Forschung, 54. 68 Vgl. Rudolf Juretschka, Die Darstellung funktionaler Sachzusammenhänge und funktionalstruktureller gesellschaftlicher Zusammenhänge in der Tonbildreihe für den Geschichtsunterricht, Diss. A, Greifswald 1980. 69 Wolfgang Arndt, Zur Wirkung der Musik im historischen Dokumentarfilm als Unterrichtsmittel im Geschichtsunterricht der polytechnischen Oberschule, Diss. A, Greifswald 1980. 70 Hans-Arwed Müller, Untersuchungen zur Informationsvermittlung und Verarbeitung beim Einsatz historischer Unterrichtsdokumentarfilme im Geschichtsunterricht der Klassen 8 bis 10, Diss. A, Greifswald 1980. 71 Müller / Richter, Darstellung, 31. 72 Vgl. Helga Birke, Untersuchungen zur Zeitgrafik und zu ihrer Funktion im Geschichtsunterricht, Diss. A, Greifswald 1989, z. B. 46. 73 Ebd., 16–23.

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des Verstehens der Vergangenheit. 74 Damit entwickelte sie eine Zeitvorstellung, wie sie auch gegenwärtig in der konstruktivistisch orientierten Geschichtsdidaktik zu finden ist. 75 Weiterhin versuchte sie, die Bedeutung des Zeitverständnisses für ein wissenschaftliches Geschichtsbild zu ergründen und erstellte mit Unterstützung des Instituts für Unterrichtsmittel der APW eine kombinierte Zeitgrafik, bestehend aus Zeitstrahl und Zeitspirale. Dazu begann sie einen Unterrichtsversuch in den Klassen 5 und 10 nach zweijährigem Heimatkunde- und fünfjährigem Geschichtsunterricht. 76 Insgesamt beteiligten sich daran 1.402 Schüler. Sie wählte ein etwas anderes Vorgehen als die bisher vorgestellten Arbeiten, indem sie zunächst teilstandardisierte Vorerhebungen ohne Zeitgrafik in Klasse 5 und 10 durchführte. Anschließend ließ sie durch geschulte Lehrer die Zeitgrafik in Versuchsklassen zum Einsatz bringen und verglich sie mit Kontrollklassen, ohne das Medium einzusetzen. Zusätzlich protokollierte sie in bekannter Weise die Stunden auf Tonband und wertete die Kontrollarbeiten, durch das Rechenzentrum der Universität gestützt, statistisch aus. 77 Ihre Ergebnisse lassen sich wie folgt zusammenfassen: In Klasse 5 hätten die Schüler der Versuchsklassen mit Zeitstrahl ein besseres Zeitverständnis als in den Kontrollklassen entwickelt. Der Zeitstrahl sorge für ein umfangreicheres Wissen von Merkzahlen und klarere Vorstellungen von zeitlicher Dauer. Außerdem sei er für genauere Vorstellungen der zeitlichen Einordnung und der Zusammenhänge verantwortlich. Die Schüler der Klasse 5 seien mit Zeitstrahl insgesamt eher in der Lage, sich zeitlich zu orientieren. 78 In der 10. Klasse gelinge es den Schülern mit Zeitstrahl darüber hinaus besser, die Notwendigkeit historischer Entwicklungen zu beweisen. 79 Auch wenn gerade das letzte Ergebnis zeigt, dass der historische Materialismus noch immer grundlegend ist, so erscheint Birkes Arbeit insgesamt sprachlich deutlich abgerüstet. Nur in der Auseinandersetzung mit westlicher Literatur muss sie scheinbar Farbe bekennen. Interessanterweise erfasst sie jedoch aus meiner Sicht methodisch nicht das theoretisch entwickelte Zeitverständnis, wie sie behauptet, sondern wie es den Schülern gelingt, sich mit Hilfe des Zeitstrahls zu orientieren. Um Zeitvorstellungen der Schüler zu erfassen, hätte sie diese befragen müssen, da sonst subjektive Wahrnehmungen kaum zu rekonstruieren sind. 80 So kann festgestellt werden, dass Birkes Arbeit methodisch im Vergleich zu denen der 1980er Jahre etwas abfällt. Thematisch wird damit jedoch eine Schwerpunktverschiebung der Greifswalder Forschung vorgenommen, die zwar im Feld der Unterrichtsmittel verbleibt, je74 Ebd., 25–28. 75 Vgl. z. B. Hans-Jürgen Pandel, Zeit, in: Klaus Bergmann u. a. (Hgg.), Handbuch der Geschichtsdidaktik, Seelze-Velber 1997, 10–15; Waltraud Schreiber, Ein kategoriales Strukturmodell des Geschichtsbewusstseins respektive des Umgangs mit Geschichte, in: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 2/2003, 10–27, hier 10. 76 Vgl. Birke, Untersuchungen, 8–13. 77 Ebd., 127–131 78 Ebd., 136–148. 79 Ebd., 46–51. 80 Vgl. Uwe Flick, Qualitative Sozialforschung. Eine Einführung, Reinbek 2002, 117–130.

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doch erstmals nicht auf audiovisuelle Medien konzentriert ist. Ob in diesem Zusammenhang eine generelle Verschiebung des Forschungsinteresses nach 1989 eingeleitet werden sollte, muss letztendlich offen bleiben. Fazit Es zeigt sich, dass die theoretischen Überlegungen der Greifswalder Geschichtsmethodik, vertreten durch Alfried Krause, bis Ende der 1960er Jahre durchaus von anderen Standorten abweichen. Ein monolithisches Theorieverständnis, das die ganze Disziplin gleichschaltete, wird damit nicht deutlich. Letztendlich zielten die Überlegungen jedoch übergreifend auf die Ausbildung eines sozialistischen Geschichtsbewusstseins und die Erziehung zu entsprechend orientierten Wertvorstellungen ab. Auch die gegenwärtige Geschichtsdidaktik hat seit den 1970er Jahren das Ziel, Geschichtsbewusstsein auszubilden. Seitdem wird auch in der Bundesrepublik historisches Denken begrifflich als Voraussetzung und Folge einer solchen Ausbildung angesehen, wie dies auch Krause andeutete. Ziel ist es, sich in der Vergangenheit und Gegenwart zu orientieren und Handlungssicherheit in der Gesellschaft zu gewinnen. Die Vorstellungen darüber, wie ein solches Denken ausgeprägt und zu entwickeln ist, unterscheiden sich jedoch deutlich. Man kann das historische Denken der Greifswalder, das dem historischen Materialismus folgt, mit Jörn Rüsen als Mischung aus traditionalem und exemplarischem Denken interpretieren. Dabei geht es darum, Dauer im Wandel zu erkennen und daraus überzeitlich gültige Handlungsregeln abzuleiten, um politische Argumentationskraft aus der Vergangenheit zu entfalten. 81 Ein solches Denken, das letztendlich auf ein Geschichtsbild hinausläuft, ist indes nicht nur für die ostdeutsche Geschichtswissenschaft und -methodik charakteristisch. Auch im Geschichtsunterricht der Bundesrepublik bis zu Beginn der 1970er Jahre war, soweit wir wissen, ein nationalgeschichtliches Bild vorherrschend 82, das durch traditionales historisches Denken geprägt gewesen sein dürfte. Es hat sich bis heute in raumbezogenen Denkformen wie dem Ethnozentrismus erhalten. Die Wirkung von einund ausgrenzenden historischen Sinnbildungsformen ist aus der Vergangenheit bekannt. Solche zu fördern, kann heute nicht mehr das Ziel von Geschichtsvermittlung sein. Vielmehr scheint in Zeiten der Globalisierung genetisches historisches Denken angemessen. Dieses zeichnet sich dadurch aus, dass immer wieder neu Veränderungen erkannt, Fremdes und Vergangenes in Eigenes integriert und unterschiedliche Standpunkte in der Diskussion aushandelt werden. Ein solches historisches Denken wird es wohl in Reinform nicht geben. Als Bestreben, sich 81 Vgl. Jörn Rüsen, Historik. Theorie der Geschichtswissenschaft, Köln 2013, 210–215. 82 Vgl. z. B. Klaus Bergmann, Geschichtsdidaktik. Beiträge zu einer Theorie historischen Lernens, Schwalbach/Ts. 2008, 102; Karin Herbst, Didaktik des Geschichtsunterrichts zwischen Traditionalismus und Reformismus, Hannover 1977, 75–129 oder Hans Glöckel, Geschichtsunterricht, Bad Heilbrunn/Obb. 1973, 142.

„Die breite Masse (...) zur Leitung (...) befähigen.“

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der Vergangenheit (gedanklich) immer wieder anzunähern und Antworten auf historische Fragen auszuhandeln, scheint es in einer sich öffnenden und differenzierenden Gesellschaft jedoch angemessener zu sein als ein Beharren auf bisher erkannten Handlungsregeln und Traditionen. Hinsichtlich der Forschung kann Demantowsky zugestimmt werden. Die Greifswalder Medienforschung war als experimentelle Unterrichtsforschung, wie die gesamte geschichtsmethodische Forschung deutlich komplexer und innovativer als die geschichtsdidaktische in der Bundesrepublik bis in die 1980er Jahre. Sie ist es als experimentelle Unterrichtsforschung bis heute, da bisher nur wenige Versuche unternommen werden, die komplexen Wechselwirkungen verschiedener Aspekte des Unterrichts in den Blick zu bekommen. 83 Auch einige Ergebnisse könnten durchaus anregend sein. Besonders die frühe Arbeit von Krause mit ihrem Wirkungsvergleich zwischen Film und Standbild hält Anstöße bereit, ist doch bis heute umstritten, ob und inwieweit der Film als Darstellung im Geschichtsunterricht einzusetzen ist 84, da es in gegenwärtigen Vorschlägen eher darum geht, die Filme zu dekonstruieren. 85 Auch die Arbeit von Birke hat durchaus innovativen Charakter, da bis heute wenig bekannt ist, wie sich Schüler im Geschichtsunterricht zeitlich orientieren. Allerdings sind die Ergebnisse nur schwerlich auf den gegenwärtigen Geschichtsunterricht zu übertragen, da es in ihm nicht um selbsttätigen Nachvollzug des Vorgegebenen, sondern letztendlich um selbstständiges historisches Denken und eigenständige historische Orientierung gehen sollte. Daher sind eigene Forschungsbemühungen notwendig, die gegenwärtig an verschieden Standorten vorangetrieben werden. Dass diese allerdings länger dauern und aufwendiger sein dürften als in einem Unterricht, der ein geschlossenes Bild vorgibt, liegt auf der Hand, da die individuellen Einflüsse der Beteiligten zu berücksichtigen sind. Dafür ist ein großer personeller und materieller Aufwand nötig, wie die Greifswalder Forschung gezeigt hat. 86 Insofern wäre es wünschenswert, wenn zukünftig personell zumindest zum Teil an die Ausstattung der alten Geschichtsmethodik angeknüpft würde, damit in Greifswald durch Lehre und regional verankerte Forschung dazu beigetragen wird, angehende Geschichtslehrer zu befähigen, bei den Schülern ein zeitgemäßes, selbstständiges historisches Denken anzubahnen. 83 Vgl. für erste Ansätze z. B. Michele Barricelli / Juliane Brauer / Dorothee Wein, Zeugen der Shoah. Historisches Lernen mit lebensgeschichtlichen Videointerviews. Das Visual History Archive des Shoah Foundation Institute in der schulischen Bildung, in: Medaon 5/2009 (http://www.medaon.de/suchen.html?q=zeugen+der+shoah&search=Suche+starten, 06.06.14) oder Christoph Kühberger (Hgg.), Geschichte denken. Zum Umgang mit Geschichte und Vergangenheit von Schüler/innen der Sekundarstufe I am Beispiel „Spielfilm.“ Empirische Befunde – Diagnostische Tools – Methodische Hinweise, Innsbruck 2013. 84 Vgl. Gerhard Schneider, Filme, in: Hans-Jürgen Pandel / Gerhard Schneider (Hgg.), Handbuch Medien im Geschichtsunterricht, Schwalbach/Ts. 2005, 365–386. 85 Vgl. besonders Waltraud Schreiber / Anna Wenzel (Hgg.), Geschichte im Film. Beiträge zur Förderung historischer Kompetenz, Neuried 2006. 86 Zur Personalausstattung vgl. Martin Buchsteiners Beitrag in diesem Band.

PERSONENREGISTER Adam von Bremen, 84f. Ahlwardt, Christian Wilhelm, 52 Altenstein, Karl vom Stein zum, 36 Alvermann, Dirk, 212f., 217 Ammianus Marcellinus, 62 Arndt, Ernst Moritz, 15, 18, 20, 35–38, 42, 50, 83–87, 126–129, 145, 173, 183, 189–213 Arndt, Wolfgang, 248, 251, 255, 257, 264f., 269, 288 Assmann, Erwin, 176 Aubin, Gustav, 159 Auch, Eva-Maria, 166, 170 Balthasar, Augustin v., 32–34, 86, 121 Barbarossa, 114 Barthold, Friedrich Wilhelm, 16, 19, 22–24, 27–29, 36, 38–40, 63, 130 Beck, Christian Daniel, 37 Behling, Eckhard, 232–234, 268 Below, Georg v., 90, 103 Below, Minnie v., 90 Belz, Heinrich, 261 Bergsträßer, Ludwig, 145f., 171f. Berndt, Friedrich August Gottlob, 56 Bernheim, Ernst, 48, 70–75, 77, 90, 99–117, 130f., 145, 218f., 224, 226, 229, 277 Bernheim, Ludwig, 101 Beseler, Georg, 58 Bethke, Artur, 210, 247 Beuther, Michael, 120 Biederstedt, Rudolf, 185 Birke, Helga, 264f., 269, 288f., 291 Blechle, Irene, 70, 99 Blumenthal, Ulrike, 262, 264f., 269 Bogucka, Maria, 91 Bollnow, Hermann, 176 Bora, Andreas Michael, 154 Borchers, Walter, 185 Bourdieu, Pierre, 50 Brentano, Lujo, 148f. Breysig, Kurt, 57 Brisman, Karl, 83 Bruno von Merseburg, 68 Brüske, Hermann, 156, 165

Buława, Józef, 92 Burleigh, Michael, 158 Cäsar, Gaius Julius, 84 Cervantes, Miguel de, 36 Christern, Hermann, 157 Cieślak, Tadeusz, 91 Comte, Auguste, 105, 108 Copius, Joachim, 180f. Cosack, Harald, 165 Curschmann, Fritz, 75–77, 130, 146f., 157, 171, 176, 188 Dähnert, Johann Carl, 32, 34, 123–125 Demantowsky, Marco, 216, 223f., 229, 234, 273f., 282, 291 Demosthenes, 40 Domański, Julian, 143f., 147 Donath, Friedrich, 229, 232, 243 Döring, Detlef, 34 Droysen, Johann Gustav, 49, 71, 101, 104, 106f., 109, 127, 276 Duchhardt, Heinz, 49 Ebermann, Heinz, 235, 268 Eckermann, August, 225 Eckermann, Walther, 225–232, 266, 268, 277 Eggers, Hans Jürgen, 176, 185 Eichhorn, Johann A. Friedrich, 30 Einhard, 24 Engel, Carl, 158, 164, 176, 199f. Engel, Josef, 29, 50f. Engelbrechtsson, Engelbrecht, 131 Engels, Friedrich, 208f., 212, 224, 272 Erhart, Walter, 212 Ernst Graf zu Münster, 89 Ewe, Herbert, 185 Feldmann, Klaus, 239 Fischer, Elke, 211, 251 Fleck, Ludwik, 60 Florello, Johannes F., 52 Friede, Walter, 241 Friedrich der Große, 90

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Personenregister

Fritze, Konrad, 80–82, 92–96, 133, 180, 186f. Frundsberg, Georg v., 39 Gadebusch, Thomas Heinrich, 123 Garbe, Irmfried, 191f., 197, 202, 212 Geijer, Erik Gustaf, 126 Gerhard, Dietrich, 177 Geißler, Birgit, 264f., 269 Glagau, Hans Oskar, 89–91, 130f. Glagau, Werner, 91 Gottfried von Viterbo, 68 Grafton, Anthony, 15 Gregor VII., 115 Gregor von Tours, 24, 114 Greune, Hans, 226f., 231, 268 Grimm, Jacob, 127 Grimm, Wilhelm, 127 Grotius, Hugo, 121 Gülzow, Erich, 199 Gustav III., 87, 125, 127 Gustav II. Adolf, 39, 127, 131, 154, 208 Gustav IV. Adolf, 87, 125, 129 Hackmann, Jörg, 171f. Häckel, Manfred, 246 Harig, Gerhard, 79 Hasberg, Wolfgang, 273f. Hegel, Georg Friedrich Wilhelm, 13 Heinz, Marion, 48 Hellmann, Manfred, 167 Helmold von Bosau, 84f. Herder, Johann Gottfried, 47f., 128 Herz, Heinz, 177 Herzfeld, Hans, 177 Herzig, Martin, 236–238, 247f., 255, 269f., 285 Heß, Rudolf, 159 Hessen, Anna v., 90 Hessenstein, Friedrich Wilhelm v., 87 Heyden, Helmuth, 185 Himmler, Heinrich, 161 Hintze, Peter, 226f., 268 Hildebrandt, Kurt, 197 Hirsch, Theodor, 16, 29, 35, 67–69, 130, 145, 171 Hitler, Adolf, 62, 104, 162, 164, 212, 225 Hoetzsch, Otto, 138 Hoffmann, Johannes, 177 Hofmeister, Adolf, 29, 57, 77–81, 104, 131, 133, 153, 155, 157, 165, 176–181, 188, 194

Homeyer, Karl Gustav, 128 Hopf, Carl, 16, 19, 28f., 35–37, 41f., 66 Horn, Theodor, 121 Hroch, Miroslav, 96 Humboldt, Alexander v., 37, 67 Humboldt, Wilhelm v., 12f., 61, 112, 117 Imig, Werner, 211 Jahnke, Karl Heinz, 93, 180f., 270 Jessen, Amalie, 74 Jordan, Stefan, 44f., 47–49, 105 Juretschka, Rudolf, 248, 257f., 262, 269, 272, 288 Kalisch, Johannes, 166, 186 Kanngießer, Peter Friedrich, 16, 20, 26f., 35, 37–39, 50, 52, 130 Kant, Immanuel, 13, 71, 128 Kantzow, Thomas, 85 Karl V., 27 Karl VIII., 84 Karl XII., 121 Karl der Große, 24, 61, 71, 78 Katharina II., 140 Katsch, Gerhardt, 164 Kauffmann, Heinz, 152 Kehr, Paul, 77 Klempin, Karl Robert, 16–18, 27f. Knothe, Hans-Georg, 58 Koch, Arne, 212 Koch, Erich, 159 Kölzer, Theo, 67 Kornow, Johannes, 186 Kortyka, Walter, 269 Kosegarten, Johann G. Ludwig, 34 Kosegarten, Ludwig Gotthard, 16, 19f., 34, 37f., 127f., 130 Krause, Alfried, 217f., 231–268, 270–272, 274–281, 284f., 288, 290f. Kroymann, Jürgen, 35 Krüger, Ernst-Joachim, 181 Kubilius, Jonas, 168 Kuhn, Ruth, 226 Kutusow, Michail Illarionowitsch, 208 Lampert von Hersfeld, 72 Lamprecht, Karl, 57, 71, 75, 101, 103, 146 Lamprecht, W., 181 Langehr, Dieter, 169 Langer, Herbert, 95–97, 133, 166, 181, 237, 270

Personenregister Langewand, Knut, 100 Laskowsky, Paul, 147, 149 Lehmann, Hartmut, 39 Lenin, Wladimir Iljitsch, 239, 254, 272 Lenz, Max, 90 Lessing, Theodor, 109 Lewin, August, 261 Liebknecht, Karl, 253 Lietze, Gerhard, 236 Liewehr, Ferdinand, 137 Lohmeyer, Ernst, 176 Lothar III., 71, 101 Lotze, Hermann, 109 Lübke, Christian, 135, 171 Ludwig XIV., 84 Luxemburg, Rosa, 253f. Machiavelli, Niccolò, 42 Mager, Friedrich, 75 Magon, Leopold, 131, 199, 201f., 206 Magull, Gabriele, 218, 248f., 255, 265, 267, 269 Mai, Joachim, 133, 135, 165–167, 169–171, 181f., 267 Majkowski, Aleksander, 143–145, 147 Mangelsdorf, Günter, 53 Manhart, Sebastian, 9f., 28 Marie Antoinette, 90 Markov, Walter, 186 Martens, Curt, 220–225, 230, 268 Marx, Karl, 51, 105, 108, 117, 224, 226, 239, 253 Masur, Gerhard, 177 Maximilian I., 68, 88f. Meier, Moritz Hermann Eduard, 52, 60 Meinecke, Friedrich, 50, 177 Meltzer, Hermann, 256 Menger, Manfred, 133f., 167, 169 Mercy-Argenteau, Florimond C. v., 90 Mevius, David, 86 Meyer, Hetti, 104 Meyer, Ursula, 185 Mirabeau, Honoré Gabriel de Riqueti comte de, 90 Molik, Witold, 143 Möller, Frank, 70, 73 Möller, Johann Georg Peter, 15, 18, 35, 37f., 43, 50, 83, 124–127, 129 Moraw, Peter, 11f. Mühler, Heinrich v., 53 Muhrbeck, Johann Christoph, 83

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Müller, Hans Arwed, 247–249, 252, 255, 258, 264f., 269, 288 Müller, Laurenz, 190 Müller, Carl Otfried, 25 Müller, Kurt, 226 Multhauf, Peter, 248, 269 Müsebeck, Ernst, 194f., 212 Napoleon Bonaparte, 90, 101, 125, 128f., 145, 208, 211 Narbonne-Lara, Louis Marie de, 90 Navickas, Kostas, 169 Necker, Jacques, 90 Nettelbladt, Christian, 32–34, 122f. Niendorf, Mathias, 135 Nitschke, Willi, 185 Noack, Ulrich, 132, 177 North, Michael, 94, 207 Oberländer, Theodor, 151–153, 158–162, 165, 171 Ogrin, Mircea, 70, 100f., 107 Olesen, Jens E., 97 Osburg, Florian, 231, 255 Otto der Große, 78 Otto von Bamberg, 78, 84 Otto von Freising, 62, 73, 78, 114 Otto von St. Blasien, 78 Paletschek, Sylvia, 135 Palten, Johann Philipp, 121 Paul, Johannes, 131f., 155f., 158, 176, 210 Paulsen, Friedrich, 113 Pernice, Erich, 147 Pertz, Georg Heinrich, 17, 66f. Pertz, Karl A. F., 17f., 27–29, 66f. Perusi, Lodovico Francesco, 97 Pester, Reinhardt, 211 Peters, Jan, 92f., 133, 180f., 183 Petersen, Carl Ernst, 91, 139, 196–198, 200 Petershagen, Rudolf, 164, 182f. Petrick, Fritz, 133f. Pieck, Wilhelm, 254f., 271 Pieske, Christa, 185 Platon, 208 Plutarch, 84 Polišensky, Josef, 96f. Pölitz, Karl Heinrich Ludwig, 37 Pufendorf, Samuel, 121 Pugatschow, Jemeljan Iwanowitsch, 156 Pullat, Raimo, 94f. Puzinas, Jonas, 164

296

Personenregister

Pyl, Theodor, 22, 28, 38 Quandt, Siegfried, 99 Quistorp, Bernhard Friedrich, 20 Quistorp, Charlotte Marie, 20 Quistorp, Johann, 20 Quitzsch, Heinz, 243 Rackwitz, Rolf, 247, 258 Radtke, Manfred, 231 Ranke, Leopold v., 49f., 59, 70, 88, 101, 104, 105 Rauch, Georg v., 155, 162 Reißland, Manfred, 203–206, 208 Repgen, Konrad, 95 Reschke, Karl, 151f. Richer von Reims, 28 Richter, Martin, 218, 233–237, 239, 247, 251, 253, 255, 258f., 262–265, 267– 269, 271f., 277, 279, 285–288 Romann, Antje, 224 Rousseau, Jean-Jacques, 83 Rühmann, Heinrich, 258 Rühs, Christian Friedrich, 16, 18, 24, 35–37, 42–50, 126–129 Rüsen, Jörn, 290 Rust, Bernhard, 74 Ruth, Paul Hermann, 196f., 199–201 Ruttkowski, Kurt, 227f. Sabrow, Martin, 273 Schaefer, Arnold Dietrich, 16, 18f., 28f., 36f., 40f., 65–67, 130 Schäwel, Herbert, 181 Schiemann, Theodor, 138f., 144f. Schildener, Karl, 38, 58, 126, 129 Schildhauer, Johannes, 80–82, 87, 91–96, 133, 179–181, 183, 186, 207–209, 211, 235, 242, 255 Schlegel, Gottlieb, 83 Schlözer, August Ludwig, 126 Schmeidler, Bernhard, 77 Schmidkunz, Hans, 103 Schmidt, Georg, 95 Schmidt, Roderich, 40, 78, 80, 177, 180 Schmidt, Ulrich, 231, 268 Schmidt, Walter, 226, 278 Schreiner, Klaus, 180 Schröder, Hans, 178f., 181 Schulze, Johannes, 36 Schütz, Heinrich, 97 Schütz, Wolfgang, 235, 247, 269, 285

Schwartz, Albert Georg, 33, 121 Seraphim, Peter-Heinz, 162f., 165 Shakespeare, William, 36 Sickingen, Franz v., 68, 88 Sielaff, Frithjof, 179 Simoleit, Gustav, 155 Simon, Aron, 101 Sokrates, 208 Spading, Klaus, 133, 237, 270 Spengler, Oswald, 109 Spittler, Ludwig Timotheus, 84 Splanemann, Carl Heinz, 235f. Splanemann, Ilse, 236, 240, 244, 247, 255, 257f., 261f., 265, 267, 269, 271f., 281, 286–288 Stamm-Kuhlmann, Thomas, 213 Stark, Walter, 81, 92, 133, 181, 206–209 Stein, Heinrich F. K. vom und zum, 67, 87, 90, 129 Steinmetz, Max, 92 Stępiński, Włodzimierz, 170f. Stern, Willi, 181 Stichweh, Rudolf, 14 Stohr, Bernhard, 229 Storost, Wilhelm, 168 Strauß, Walther, 229f. Striegler, Stefan, 145 Sybel, Heinrich v., 41 Szalai, Wendelin, 265 Tacitus, 15, 120 Teske, Heinz, 207 Thälmann, Ernst, 254, 261 Thietmar von Merseburg, 68 Theokrit, 84 Thorild, Thomas, 125f., 128f. Thurau, Gustav, 146 Topp, Ewald, 257f. Treitschke, Heinrich v., 90, 186 Treue, Wilhelm, 177 Trygophorus, Johann, 120 Turgot, Anne Robert Jacques, 90 Ulbricht, Walter, 178, 236, 275 Ulmann, Heinrich, 68–70, 88–90, 145 Urlichs, Karl Ludwig v., 16, 18, 28f. Usinger, Rudolf, 16, 19, 29, 67f., 88, 130 Vetter, Klaus, 257 Viedt, Horst, 261 Virmond, Wolfgang, 23 Volkmann, Hans, 176

Personenregister Voll, Albert, 227f. Wachowiak, Stanisław, 148 Wächter, Joachim, 185f. Wagner, Christa, 234, 268 Waitz, Georg, 78, 88, 101, 104 Wallenius, Jakob, 125 Wallenstein, Albrecht v., 88, 90, 95–97 Wartislaw III., 53 Wattenbach, Wilhelm, 70, 101 Weber, Max, 109 Wehding, Hans-Hendrik, 239 Wehler, Hans-Ulrich, 21, 99 Weitendorf, Friedrich, 226f., 231, 235, 268 Weizsäcker, Julius v., 71

297

Wendorff, Walter, 157 Wernicke, Horst, 82 Werth, Johann v., 39 Westphal, Andreas, 121 Widdel, Lena, 218 Wilamowitz-Moellendorf, Tycho v., 113 Wilhelm I., 54 Wilhelm II., 111 Wilhelmus, Wolfgang, 92f., 133, 181, 184 Wilken, Friedrich, 24 Winter, Eduard, 165 Winter, Johanna Maria van, 95 Wurmbach, Max Otto, 164

b e i t r äg e z u r g e s c h i c h t e d e r u n i v e r s i tät g r e i f s wa l d

Herausgegeben von Dirk Alvermann, Mariacarla Gadebusch-Bondio, Thomas K. Kuhn, Konrad Ott, Jürgen Regge und Karl-Heinz Spieß, mitbegründet von Christoph Friedrich, Jörg Ohlemacher und Heinz-Peter Schmiedebach.

Franz Steiner Verlag

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ISSN 1439–7048

Achim Link Auf dem Weg zur Landesuniversität Studien zur Herkunft spätmittelalterlicher Studenten am Beispiel Greifswald (1456–1524) 2000. 226 S. mit 63 Abb., 34 Tab. und 8 Ktn., geb. ISBN 978-3-515-07619-7 Heinz-Peter Schmiedebach / Karl-Heinz Spieß (Hg.) Studentisches Aufbegehren in der frühen DDR Der Widerstand gegen die Umwandlung der Greifswalder medizinischen Fakultät in eine militärmedizinische Ausbildungsstätte im Jahr 1955 2001. XI, 254 S., geb. ISBN 978-3-515-07704-0 Geschichte der Medizinischen Fakultät Greifswald Geschichte der Medizinischen Fakultät von 1456 bis 1713 von Christoph Helwig d.J. und Dekanatsbuch der Medizinischen Fakultät von 1714 bis 1823 Hg. und übers. von Hans Georg Thümmel 2002. 367 S., geb. ISBN 978-3-515-07908-2 Stephanie Irrgang Peregrinatio Academica Wanderungen und Karrieren von Gelehrten der Universitäten Rostock, Greifswald, Trier und Mainz im 15. Jahrhundert 2002. 310 S., geb. ISBN 978-3-515-08085-9 Jana Fietz Nordische Studenten an der Universität Greifswald in der Zeit von 1815 bis 1933 2004. 265 S., geb. ISBN 978-3-515-08084-2

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Die Matrikel der Universität Greifswald und die Dekanatsbücher der Theologischen, der Juristischen und der Philosophischen Fakultät 1700–1821 Hg. von Roderich Schmidt und Karlheinz Spieß, bearb. von Reinhard Pohl Bd. 1: Text der Matrikel vom November 1700 bis Mai 1821 Bd. 2: Text der Dekanatsbücher Bd. 3: Register 2004. Zus. XXXIV, 1312 S. mit 10 Abb., geb. ISBN 978-3-515-08044-6 7. Günter Mangelsdorf (Hg.) Zwischen Greifswald und Riga Auszüge aus den Tagebüchern des Greifswalder Rektors und Professors der Ur- und Frühgeschichte, Dr. Carl Engel, vom 1. November 1938 bis 26. Juli 1945 2007. X, 610 S. mit 20 Abb., geb. ISBN 978-3-515-08942-5 8. Dirk Alvermann / Karl-Heinz Spieß (Hg.) Bausteine zur Greifswalder Universitätsgeschichte Vorträge anläßlich des Jubiläums „550 Jahre Universität Greifswald“ 2008. 207 S. mit 33 Abb., geb. ISBN 978-3-515-09151-0 9. Das Dekanatsbuch der Philosophischen Fakultät der Universität Greifswald 1456–1662 Übers. und eingel. von Hans Georg Thümmel, redigiert von Boris Spix 2008. 418 S. mit 3 Abb., geb. ISBN 978-3-515-09014-8 10.1 Dirk Alvermann / Karl-Heinz Spieß (Hg.) Quellen zur Verfassungsgeschichte der Universität Greifswald. Bd. 1 Von der Universitätsgründung bis zum Westfälischen Frieden 1456–1648 2011. LXI, 554 S., geb. ISBN 978-3-515-09655-3

10.2 Dirk Alvermann / Karl-Heinz Spieß (Hg.) Quellen zur Verfassungsgeschichte der Universität Greifswald. Bd. 2 Die schwedische Großmachtzeit bis zum Ende des Großen Nordischen Krieges 1649–1720 2012. LXXIX, 412 S., geb. ISBN 978-3-515-09834-2

10.3 Dirk Alvermann / Karl-Heinz Spieß (Hg.) Quellen zur Verfassungsgeschichte der Universität Greifswald. Bd. 3 Von der Freiheitszeit bis zum Übergang an Preußen 1721–1815 2014. XCIII, 716 S., geb. ISBN 978-3-515-10420-3

Im Wintersemester 2013/14 feierte das Historische Institut der Universität Greifswald sein 150jähriges Bestehen. Anlässlich dieses Jubiläums stellen die Autoren in diesem Band bekannte Greifswalder Historiker wie Ernst Moritz Arndt oder Ernst Bernheim vor – nicht ohne kritisch zu reflektieren, wie sich die Vertreter des ideologieanfälligen Fachs Geschichte im Kaiserreich, in der Weimarer Republik, im Nationalsozialismus und in der Deutschen Demokratischen Republik positionierten. Kernstück des Bandes bilden die Beiträge der am Historischen Institut tätigen Lehrstuhlinhaber: Sie zeichnen die Geschichte ihrer jeweiligen Disziplin im 19. und 20. Jahrhundert nach. Des Weiteren beleuchten Dozenten des Historischen Instituts die Gelehrtengeschichte der vergangenen hundert Jahre, die Rezeption Ernst Moritz Arndts sowie Fragen der Geschichtsmethodik. Zwei einführende Aufsätze geben über die Entwicklung der Geschichtswissenschaften in Greifswald Auskunft – von den Anfängen, noch vor der Gründung des Instituts im Jahr 1863, bis in die heutige Zeit. Ein Personenregister erschließt den reichhaltigen Band.

ISBN 978-3-515-10946-8

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