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German Pages [211] Year 2022
Beihefte zur Zeitschrift für Geschichtsdidaktik
Band 26
Herausgegeben im Auftrag der Konferenz für Geschichtsdidaktik vom Vorstand: Michele Barricelli, Martin Lücke, Monika Fenn, Markus Bernhardt und Christine Gundermann
Meike Hensel-Grobe / Heidrun Ochs (Hg.)
Geschichtsdidaktik Update Aktuelle geschichtsdidaktische Forschungsansätze der Early Career Researchers
Mit 9 Abbildungen
V&R unipress
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. Gefördert durch die Konferenz für Geschichtsdidaktik e.V. © 2022 Brill | V&R unipress, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau und V&R unipress. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Ausschnitt aus einem »liber ethicorum« des Frater Henricus de Allemania (© Kupferstichkabinett. Staatliche Museen zu Berlin, Inventar-Nr.: Min 1233). Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2198-5391 ISBN 978-3-7370-1419-9
Inhalt
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
7
Theoriekonzepte in der Diskussion Philipp McLean Reflexive Aneignung von Geschichtskultur als möglicher Beitrag zur Entwicklung von Mündigkeit durch historische Bildung? . . . . . . . . .
13
Ruth Fiona Roll Reflexivität, Reflexion und Selbstreflexion als Begriffe der Geschichtsdidaktik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
31
Philipp Bernhard Eine geschichtsdidaktische Vermessung Postkolonialer Theorie. Potenziale und Grenzen Postkolonialer Kritik für die Geschichtsdidaktik und den Geschichtsunterricht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Geschichtsunterricht und Lehrkräfte im Fokus Helene Bergmann Wie kann fachspezifisches Textverstehen wirksam unterstützt werden? Eine experimentelle Studie zu den Effekten differenzieller Leseunterstützung bei der Textarbeit im Geschichtsunterricht . . . . . . .
73
Tobias Flink »Erklären in Geschichte ist halt ganz normales Erklären von z. B. Themen« – Erste Ergebnisse einer Interventionsstudie zu schülerseitigem historischem Erklären . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhalt
Lisa Genthner »[…] also für mich ist ein Sachurteil immer etwas, was man tatsächlich faktisch ja eindeutig bestimmen kann« – (Wie) setzen Geschichtslehrkräfte Ergebnisoffenheit bei der Urteilsbildung um? . . . . 111
Schüler*innenerzählungen in der Analyse Marie Hohmann »Die Hinrichtung von Robespierre war das Ende der Monarchie in Frankreich.« – Die Französische Revolution in Schüler*innendarstellungen (bilingualer) Lerngruppen in Deutschland und Frankreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 Lukas Greven Kontinuität (nicht ohne Veränderungen)? Zum forschend-historischen Lernen im Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten . . . . . . . . . 149
Hochschuldidaktische Perspektiven Jessica Kreutz Kohärenz in der Geschichtslehrerausbildung. Entwicklung einer Theorie für die Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 Burghard Barte »Das Ganze mehr verdichten« – Theoriefragment eines datenbegründeten Deutungsangebots zur Organisation historischen Fachwissens . . . . . . . 189
Vorwort
»Die X. Nachwuchstagung der Konferenz für Geschichtsdidaktik fand am 3./4. Juli 2020 an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz statt.« – So war es geplant und so sollte der erste Satz der Einführung in den Tagungsband lauten. Der entsprechende Call for Papers traf auf großes Interesse. Die Auswahl der Beiträger*innen fiel angesichts der Vielfalt und Qualität der eingegangenen Exposés nicht leicht. Ähnliches galt für die Posterpräsentationen, die ebenfalls in das geplante Tagungsformat integriert werden sollten, um Promovierenden in einer frühen Phase der Projektkonzeption einen intensiven Austausch über ihre Ansätze und Methoden zu ermöglichen. Schließlich stand die Planung fest – und dann kam die Pandemie. In der Hoffnung, doch noch eine Präsenztagung ermöglichen zu können, wurde der Termin zunächst verschoben. Als sich im Herbst die Situation noch verschlimmerte, musste die Tagung auf ein digitales Format umgestellt werden und fand schließlich am 13./14. November 2020 statt. Die Herausforderung bestand darin, die spezifischen Anliegen und Zielsetzungen einer solchen Tagung in den digitalen Raum zu übersetzen. Gerade für die Early Career Researchers soll das Format die Möglichkeit bieten, ihre Forschungsansätze vorzustellen, mit den Teilnehmer*innen der Tagung zu diskutieren und sich innerhalb der wissenschaftlichen Community zu vernetzen. Die Umstellung einer Tagung auf ein digitales Format ist nur ein kleiner Aspekt unter all den Auswirkungen, die sich aus den pandemiebedingten Einschränkungen für die Wissenschaft ergaben. In den Gesprächen wurde deutlich, dass für einige Beiträger*innen die Durchführung ihrer empirischen Studien massiv beeinträchtigt oder nur mit erheblicher Zeitverzögerung möglich war. Für alle in der Geschichtsdidaktik war und ist nicht nur die eingeschränkte Zugänglichkeit von Bibliotheken und Archiven ein Problem, sondern vor allem die fehlende Möglichkeit zur Durchführung der Studien und zur Datenerhebung. Die Sorgen um die Fortführung der Projekte, die Einhaltung von Zeitplänen und damit auch um das eigene berufliche Fortkommen sind folglich gerade bei den Early Career Researchers groß.
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Vorwort
So war die Tagung für alle Beteiligten ein willkommener Treffpunkt, um den Fachdiskurs nach der Phase der durch die Pandemie erzwungenen Einschränkungen in den Mittelpunkt zu stellen. Es zeichnet alle Beiträger*innen aus, dass sie sich auf dieses neue, digitale Tagungsformat eingelassen haben. Die Vorträge und Posterpräsentationen wurden intensiv rezipiert und diskutiert. Auch die Gelegenheit zum informellen Austausch und zum Knüpfen von Kontakten in den digitalen Kaffeepausen wurde genutzt. Der Begriff »Update« im Titel des Bandes kann deshalb umfassend verstanden werden. Er bezieht sich vor allem auf das Grundanliegen, einen Einblick in die aktuellen Forschungen der Early Career Researchers zu geben; er deutet aber auch auf all die Veränderungen hin, die sich aus dieser Krise für die Situation der hier im Mittelpunkt stehenden Gruppe und für die Geschichtsdidaktik, z. B. im Bereich der Digitalisierung, insgesamt ergeben. Dieser Band enthält die überarbeiteten Beiträge der Tagung und bietet damit einen Einblick in aktuelle geschichtsdidaktische Projekte, die auch die inhaltliche und methodische Breite sowie Tendenzen des Fachs aufzeigen. Die Beiträge sind in vier Sektionen unterteilt, die bis auf kleine Ausnahmen das Tagungskonzept abbilden und als Orientierung dienen sollen. Unter dem Aspekt der Theoriekonzepte werden Beiträge zusammengefasst, die sich mit der Definition, Bedeutung und Entwicklung von Reflexion, Reflexivität (Ruth Fiona Roll), mit der reflexiven Aneignung von Geschichtskultur (Philipp McLean) sowie mit der »Vermessung von postkolonialen Theorien« (Philipp Bernhard) aus Perspektive der Geschichtsdidaktik beschäftigen. Die zweite und erwartungsgemäß größte Sektion bilden Beiträge, die sich mit dem Geschichtsunterricht, den Lehrkräften und zentralen Aspekten des historischen Lernens befassen. In den (Interventions-) Studien wird gefragt, wie fachspezifisches Textverstehen (Helene Bergmann) und historisches Erklären (Tobias Flink) konzeptualisiert und gefördert werden können. In einem weiteren Beitrag stehen die Überzeugungen und didaktischen Konzeptionen von Lehrkräften in Bezug auf die Urteilsbildung im Vordergrund (Lisa Genthner). Die Forschungsprojekte der dritten Sektion beschäftigen sich mit unterschiedlichen methodischen Ansätzen mit der Analyse von Schüler*innenerzählungen und bilden damit noch einmal einen besonderen Schwerpunkt bei der Erforschung des historischen Lernens. So geht es beispielsweise um den Wandel und die spezifischen Ausprägungen im forschend-historischen Lernen am Beispiel des Wettbewerbs um den Preis des Bundespräsidenten (Lukas Greven) und um einen Vergleich von Schüler*innendarstellungen zur Französischen Revolution in Deutschland und Frankreich (Marie Hohmann). In der vierten Sektion sind Beiträge mit hochschuldidaktischen Perspektiven zusammengefasst. Es wird beispielsweise der Frage nachgegangen, wie Studierende in fachwissenschaftlichen Seminaren historisches Wissen organisieren
Vorwort
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und verknüpfen (Burghard Barte), wobei vor allem auch forschungsmethodische Herausforderungen thematisiert werden. In einer weiteren Theorie und Empirie verzahnenden Studie steht die Kohärenz in der Geschichtslehrerausbildung im Mittelpunkt (Jessica Kreutz). Ohne die Unterstützung verschiedener Institutionen und Personen wäre die Durchführung der Tagung und die Drucklegung des Bandes kaum möglich gewesen. Unser Dank gilt dem Vorstand der Konferenz für Geschichtsdidaktik für die Unterstützung, vor allem auch für die aktive Mitgestaltung der Tagung und die Aufnahme des Bandes in die Reihe »Beihefte zur Zeitschrift für Geschichtsdidaktik«. Sehr herzlich möchten wir zudem allen Beteiligten der Tagung danken, den Vortragenden, Sektionsleiter*innen, Aktiven der Posterausstellung und Teilnehmer*innen für das Commitment zum aktiven Gestalten des Austausches, den guten Geistern im Hintergrund, die eine digitale Tagung erst ermöglichen, und insbesondere den Autor*innen des vorliegenden Bandes. Meike Hensel-Grobe und Heidrun Ochs Mainz, November 2021
Theoriekonzepte in der Diskussion
Philipp McLean
Reflexive Aneignung von Geschichtskultur als möglicher Beitrag zur Entwicklung von Mündigkeit durch historische Bildung?1
1.
Einleitung
Geht man davon aus, dass ein zentrales Ziel der historischen Bildung unter Bezugnahme auf den Kompetenzerwerb und durch eine Reflexion historischer Phänomene der Beitrag zur Mündigkeit einer Person ist,2 dann stellt sich die Frage, was und wie historische Bildung zur Mündigkeit eines Individuums oder gar der Gesellschaft beitragen kann und soll. Bei der Mündigkeit handelt es sich nämlich um ein schillerndes, zwischen verschiedenen Deutungsmöglichkeiten oszillierendes Bildungsziel, welches unter anderem in einigen Bezügen zu Recht als »Pathosformel« kritisiert wird.3 Diese Kritik resultiert aus der differenten und sich zum Teil widersprechenden Verwendungsweise des Begriffs in unterschiedlichen Kontexten.4 Es verwundert daher nicht, dass Axel Honneth zu der Einschätzung kommt, dass es sich bei der Mündigkeit um einen Begriff handelt, der normative Paradoxien hervorruft.5 Gleichzeitig handelt es sich bei der Mündigkeit um eine conditio sine qua non unserer Gesellschaftsform: Eine bürgerlich-demokratische Gesellschaft muss die Mündigkeit aus politisch-legitimatorischen Gründen (für die meisten Gesell1 Förderhinweis: Die hier vorgestellten Überlegungen entstanden im Zusammenhang mit meinem Dissertationsprojekt »Historische Mündigkeit? Überlegungen zu einer kritischen Geschichtsdidaktik«, welches ich zurzeit im Rahmen des Qualitätsoffensive Lehrerbildung Projektes »The Next Level« an der Goethe-Universität Frankfurt a.M. verfolge. »The Next Level« wird im Rahmen der gemeinsamen »Qualitätsoffensive Lehrerbildung« von Bund und Ländern aus Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung gefördert. 2 Z. B. Schreiber 2007, S. 18, 43; Barricelli/Gautschi/Körber 2017, S. 208. 3 Rieger-Ladich 2002. 4 Um die differente Verwendung des Begriffs hier zumindest ansatzweise zu umreißen, sei auf das Ausbildungsziel eines/einer mündigen Arbeitnehmer*in verweisen (z. B. Goeudevert 1995), auf die eines/einer mündigen Staatsbürger*in (z. B. Hessisches Kultusministerium [2011], S. 11) oder die Mündigkeit eines widerständigen Individuums als ein sich selbstbestimmendes Subjekt (z. B. Adorno 1971). 5 Für Beispiele dieser paradoxen Verwendungsweisen siehe Honneth, 2002; zum Begriff der normativen Paradoxien siehe Honneth/Sutterlüty 2011.
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Philipp McLean
schaftsmitglieder) voraussetzen bzw. herstellen und eine kapitalistische Wirtschaftsform ist gezwungen, sie als Grundlage für den freien Vertragsschluss zu unterstellen.6 Neben diesen zwei genannten gesellschaftlichen Stabilisierungsund Legitimierungsfunktionen besitzt Mündigkeit aber auch noch eine kritischemanzipative Dimension: In dieser zielt Mündigkeit auf die Wahrnehmung und Erweiterung von individuellen Möglichkeiten der Selbstbestimmung, die Widerständigkeit gegenüber oktroyierten Abhängigkeiten und Zwängen sowie gleichzeitig auf die solidarische Vergrößerung der Selbstbestimmungsmöglichkeiten aller ab.7 Vor allem um die auf die Emanzipation zielende Dimension der Mündigkeit soll es in diesem Beitrag gehen: Es soll auf theoretischer Ebene programmatisch der Vermutung nachgegangen werden, dass die reflexive Aneignung von Geschichtskultur eine Möglichkeit darstellt, das Ziel einer emanzipativen Mündigkeit durch historische Bildung zu befördern. Dazu wird zunächst knapp geklärt, auf welch unterschiedliche Arten Mündigkeit verstanden werden kann, und eine prozessuale, nicht-dichotome Verständnisweise der Mündigkeit vorgeschlagen (Abschnitt 2.). Im Anschluss daran wird der Zusammenhang von Mündigkeit und historischer Bildung beleuchtet (Abschnitt 3.), um dann die Begriffe Reflex, Reflexion und Reflexivität, die für die reflexive Aneignung eine wichtige Rolle spielen, zu klären (Abschnitt 4.). Auch der Begriff der Aneignung soll danach, basierend auf Überlegungen von Martin Lücke und Oliver Musenberg sowie der Sozialphilosophin Rahel Jaeggi, näher bestimmt werden (Abschnitt 5.). Als Resultat dieser Begriffsbestimmungen wird abschließend (Abschnitt 6.) diskutiert, ob und wie eine reflexive Aneignung von Geschichtskultur zu einer nicht-dichotom emanzipativ verstandenen Mündigkeit beitragen kann.
2.
Verständnisweisen von Mündigkeit
Hinsichtlich des Mündigkeitsbegriffs können nicht nur die bereits angeklungenen unterschiedlichen semantischen Bedeutungen beschrieben werden, sondern es können auch zwei grundsätzlich verschiedene Verwendungsweisen differenziert werden. Die erste Verwendungsweise entspringt der rechtlichen Dimension des Begriffs. Diese entstammt begriffsgeschichtlich der westgermanischen Munt, welche überwiegend mit Bedeutungen wie Schutz, Schutzherrschaft oder Vormundschaft konnotiert wurde.8 Entscheidend für die Zuschreibung der Munt 6 Eidam 2006, S. 106f.; Plumpe 2019, S. 64–80. 7 Vgl. z. B. Kant 1999a; Foucault 2005, S. 690; Adorno 1971, S. 135. 8 Zur Begriffsgeschichte der Mündigkeit: Ogris/Olechowski 2019; Benner/Brüggen 2010b; Rieger-Ladich 2002, S. 23–42; Sommer 1988; Sommer 1984.
Reflexive Aneignung von Geschichtskultur
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waren einerseits körperliche und zum Teil daran geknüpfte geistige Eigenschaften und andererseits die Stellung im sozialen Gefüge der Gesellschaft. Die Munt garantierte jenen, denen sie zukam, die Selbst- und Eigenständigkeit vor Gericht, also die Rechtsfähigkeit. Darüber hinaus kam den Mündigen gegenüber Unmündigen, die ihrer Mundgewalt unterlagen, das Recht und die Pflicht zu, sie (die Unmündigen) nach außen zu vertreten sowie zu schützen und nach innen über sie zu herrschen.9 Der heutige rechtliche Mündigkeitsbegriff hat viele dieser Bedeutungen behalten, allerdings unter einer wesentlichen Ausdehnung der Personengruppe, denen die Mündigkeit zukommt (nämlich so gut wie allen erwachsenen Bürger*innen). Damit einher geht auch die Entkopplung der Mündigkeit vom sozialen Status einer Person. Rechtlich gesehen muss nun nicht mehr begründet werden, warum jemand mündig ist, sondern begründet werden, warum jemand unmündig ist. Dennoch bleibt diese Bestimmung der Mündigkeit eine soziale: Sie gibt an, wem das Recht zu selbstständigen Entscheidungen (in bestimmten Bereichen) zu- oder abgesprochen wird. Entscheidend hinsichtlich dieser rechtlichen Verwendungsweise ist, dass die Mündigkeitszuschreibung binär-dichotom erfolgt: Das bedeutet, dass eine eindeutige Zuschreibung mit klaren Kriterien darüber erfolgen soll (und muss), ob eine Person zu einem bestimmten Zeitpunkt mündig oder unmündig ist (in der Regel in der heutigen Rechtsprechung anhand des Alters und der geistigen Fähigkeiten). Die Zergliederung der im Mittelalter holistisch vorgestellten Mündigkeit in verschiedene Teilmündigkeiten10 stellt dabei zwar den Versuch dar, der Prozesshaftigkeit der menschlichen Entwicklung Rechnung zu tragen, aber dennoch bedarf es für jede dieser Teilmündigkeiten einer binär-dichotomen Entscheidung, ob eine Person zu einem Zeitpunkt mündig oder unmündig ist. An der Art und Weise der grundlegenden binär-dichotomen Zuschreibung in Form des Entweder-oders ändert also auch die Aufsplittung der Mündigkeit nichts. Die zweite Verwendungsweise der Mündigkeit stammt im Wesentlichen aus Überlegungen der Aufklärung11 und der ihr folgenden idealistischen Philoso9 Man könnte auch sagen: die Verantwortung. Dem Begriff der Verantwortung liegt dabei ebenfalls das Konzept eines Gerichtsverfahrens zugrunde (vgl. Kluge/Seebold 2011). Jene, die Verantwortung haben, sind so einerseits frei, sich vor Gericht verantworten zu dürfen und sind gleichzeitig unfrei, insofern sie sich vor dem Gesetz verantworten müssen. Zu diesem Doppelcharakter der Verantwortung, der in vielfacherweise dem Charakter der Mündigkeit ähnelt, siehe z. B. Günther 2002. 10 Auf diese Weise soll es möglich werden, den natürlichen Rechtspersonen sukzessive einzelne rechtliche Mündigkeitsbereiche bzw. Verantwortungen zuzusprechen, die gewissermaßen mit der Entwicklung geistiger Fähigkeiten korrelieren sollen. Gemeint ist hier z. B. die Religionsmündigkeit (§5 KErzG), Strafmündigkeit (§19 StGB) und die Ehemündigkeit (§1303 BGB). 11 Zur ambivalenten Periodisierung »der Aufklärung« siehe z. B. Stollberg-Rilinger 2011.
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Philipp McLean
phie. Sie steht in einer engen Verbindung zu einem universell gedachten menschlichen Freiheitsvermögen.12 In diesem Verständnis ist Mündigkeit nicht mehr nur auf das einzelne Individuum bezogen, sondern wird darüber hinaus als ein die gesamte Gesellschaft (oder gar Menschheit) umfassender Entwicklungsprozess verstanden.13 Einer sozialphilosophischen Traditionslinie von Hegel über Marx und Adorno folgend, wird Mündigkeit dabei so bestimmt, dass sie auf die Emanzipation des Subjekts von oktroyierten Abhängigkeiten und Zwängen sowie dessen Möglichkeit zur freien (Selbst-)Bestimmung zielt und auf eine Transformation der Gesellschaft hinwirken muss, um entsprechende Freiheitsmöglichkeiten der Individuen zu sichern und diese sogar zu erweitern. Diese intendierte Selbstbefreiung beinhaltet in dieser Deutung zumeist eine Widerständigkeit gegenüber gesellschaftlichen Präformationstendenzen, da das Mündigkeitspotenzial des Subjekts wesentlich von den jeweils herrschenden gesellschaftlichen (Vor-)Bedingungen abhängt.14 Durch die Rückbindung der Mündigkeit an gesellschaftliche Prozesse findet sie immer in Bezügen der Freiheit und Unfreiheit statt.15 Entsprechend bezieht sich Mündigkeit in dieser zweiten Verwendungsweise auf das gesamte Leben des Individuums und überschreitet es sogar in der Vorstellung eines lang anhaltenden gesellschaftlichen Entwicklungsprozesses.16 Dieser zweite prozessual und emanzipativ verstandene Mündigkeitsbegriff konfligiert mit der juristischen Verständnisweise, da diese durch eine eindeutige Zuweisung von Mündigkeit oder Unmündigkeit zu einem bestimmten Zeitpunkt gekennzeichnet ist. Das Verständnis einer historisch-gesellschaftlichen Bedingtheit von Freiheits- und Mündigkeitspotenzialen verbietet dabei nahezu, Mündigkeit weiter in binär-dichotomer Weise zu fassen.17 Vielmehr ist Mündigkeit in dieser Verständnisweise als ein fluider und potenziell nicht abzuschließender Entwicklungsprozess zu begreifen, der nicht nur die individuelle Dimension betrifft, sondern immer auch zur gesellschaftlich (und individuell) bedingten Fremdbestimmung und Prägung in Relation steht. Zentral ist im Rahmen des weiteren Vorgehens die Feststellung, dass eine emanzipativ verstandene Mündigkeit nicht im Modus des Entweder-oders anzutreffen ist, sondern Mündigkeit nur in Bezügen zur (gesellschaftlichen und individuellen) Freiheit und Unfreiheit auftritt; sie kann also nur in einem Modus des Sowohl12 Sie wurde unter anderem prominent bei Kant ex negativo bestimmt: Kant, 1999a. 13 Dammer/Wortmann 2014, S. 61; Rieger-Ladich 2002, S. 439–453; Sommer 1984, S. 227. 14 Dies schließt nicht die Möglichkeit aus, sich reflexiv dennoch positiv zur bestehenden Gesellschaft zu verhalten. 15 Vgl. Adorno 1971, S. 135; Dammer/Wortmann 2014; Benner/Brüggen 2010b. 16 Vgl. Koselleck 2004, S. XVIf. 17 Menke 2018, S. 199–206, 210; Jaeggi 2014, S. 216–253; Adorno 1971, S. 135; vgl. Rieger-Ladich 2002, S. 439–453.
Reflexive Aneignung von Geschichtskultur
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als-auch beschrieben werden.18 Darüber hinaus erscheint sie nur in praktischen Vollzügen (der Befreiung) und muss daher ständig aktualisiert werden. Es gibt keinen Punkt, an dem der Prozess abgeschlossen wäre und ein Individuum oder die Gesellschaft vollständig mündig wäre. Es ist dann auch dieses zweite Verständnis einer emanzipativen Mündigkeit, auf das im Folgenden abgestellt wird, weil es die Art und Weise von Mündigkeit beschreibt, zu der bestenfalls eine auf die Freiheit von Gesellschaft und Individuum ausgerichtete Bildung beiträgt.19
3.
Mündigkeit, historische Bildung und Reflexion
Betrachtet man das semantische Feld, in dem der Begriff Mündigkeit üblicherweise verwendet wird,20 so lässt sich feststellen, dass der Begriff zwar im oben beschriebenen Sinn zwischen verschiedenen Bedeutungen changiert (vgl. auch Fußnote 4), es aber dennoch einen relativ feststehenden Bedeutungskern des Begriffs gibt: Dieser verweist auf die Selbstständigkeit oder gar Selbstbestimmungsmöglichkeit eines Subjekts, auch gegenüber anderen Subjekten bei gleichzeitiger Verflechtung in und mit der Gesellschaft. Es ist die Bildung, die spätestens seit der Aufklärung als einer der zentralen Prozesse gilt, durch den diese Selbstbestimmungsmöglichkeit (d. h. Freiheit) des Subjekts hergestellt und auch die Subjektwerdung selbst erreicht werden soll.21 Die Hoffnung, dass Bildungsprozesse in dieser Hinsicht etwas bewirken können, ruht darauf, dass Individuen Erkenntnisse und Einsichten durch Bewertung, Auseinandersetzung und Durchdenken – kurz: Reflexion – gewinnen können und sich auf diese Weise zu gesellschaftlich Präformiertem verhalten und sich bestenfalls so selbst bestimmen können.22 Aus diesem Grund wird auf diese beiden Begriffe – Bildung und Reflexion – im Folgenden der Fokus gerichtet. Auch wenn bisher keine ausgearbeitete Theorie der historischen Bildung vorliegt,23 so gibt es doch fundierte Überlegungen dazu, was historisches Lernen ausmacht (oder ausmachen sollte). Auf diese Überlegungen zurückgreifend, 18 Jaeggi/Celikates 2017, S. 41–63; Adorno 2003, S. 625; Kant 1999b, S. 58–61; Koselleck 1989, S. 349–375. 19 Vgl. McLean 2021. 20 Die Bestimmung des semantischen Feldes nehme ich im Rahmen meiner Dissertation vor. Mündigkeit wird häufig zusammen mit den Begriffen Bildung, Emanzipation, Fortschritt, Freiheit/Autonomie, Reflexion, Subjekt/Identität und Verantwortung verwendet und steht in einem reziproken Verhältnis zu diesen. Für alle diese Begriffe gilt mehr oder weniger, dass sie sich auf Subjekt und Gesellschaft beziehen und dabei realen Vollzug und Potenzial beschreiben können. Zum Charakter der Freiheit als Potenzial siehe Agamben, 1998. 21 Benner/Brüggen 2010a. 22 Vgl. Menke 2013, S. 75–81; Saar 2013, S. 57f.; Kant 2007 [1785], S. 60f., 65f. 23 Vgl. Dittrich 2014.
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Philipp McLean
kann auch der Begriff der historischen Bildung annäherungsweise bestimmt werden, stellt doch Lernen eine Grundvoraussetzung der Bildung bzw. Bildsamkeit dar.24 Viele geschichtsdidaktische Theorien des historischen Lernens laufen darauf hinaus, dass das »historische Lernen im Spannungsfeld gesellschaftlicher Anforderungen, subjektiver Bedeutungszuschreibungen und Kompetenzen historischen Denkens«25 stattfindet. Dies geschieht mit dem Ziel, sich spezifische Zeiterfahrungen deutend anzueignen und dabei ebenfalls die Kompetenzen, die für diese Aneignung notwendig sind, weiterzuentwickeln.26 Es geht bei einem so verstandenen bildenden Lernen um den Erkenntnisgewinn und den Zugewinn der Bedingungen der Möglichkeit, weitere Erkenntnisse zu gewinnen (in der Form der Kompetenzaneignung). Die sinnbildende Aneignung im Rahmen des Lernens bzw. der Bildung erfolgt dabei nicht um ihrer selbst willen, sondern sie ist verbunden mit einer Handlungsabsicht im Rahmen der Welt- und Selbstinterpretation – dies wird in der Geschichtsdidaktik häufig mit dem Begriff der Orientierung bezeichnet.27 Auf den Begriff der Aneignung und seine tiefgreifenden (man könnte auch sagen bildenden) Eingriffe wird im Folgenden noch zurückzukommen sein. Darüber hinaus kann hinsichtlich des angestrebten Ziels des historischen Lernens, der »Sinnbildung über Zeiterfahrung«28, im Anschluss an Christopher Menkes Hegeldeutung auf den Zeitcharakter der Freiheit selbst verwiesen werden.29 Dieser Zeitcharakter läuft darauf hinaus, dass Freiheit und damit eines der wesentlichen Ziele der Mündigkeit nur retrospektiv erschlossen werden kann. Dies bedeutet, dass Mündigkeit und Selbstwerdung auf die Deutung von Zeiterfahrungen angewiesen sind. Der Zeitcharakter der Freiheit zeigt sich auch darin, dass es sich bei der Emanzipation (also der Befreiung) aufgrund ihres grundsätzlichen Zeitcharakters um ein Prinzip des historischen Denkens handelt.30 Mit anderen Worten: Es gibt gute Gründe anzunehmen, dass die Mündigkeit nicht von außen an die historische Bildung herangetragen wird,31 sondern sie mit dem Begriff der historischen Bildung immanent einhergeht.32
24 Benner/Brüggen 2010b, S. 174. 25 Meyer-Hamme 2018, S. 91. 26 Rüsen, 2008 S. 61, 73. Rüsen verwendet in diesem Abschnitt ebenfalls den Begriff der Aneignung. Auch Kuhn sieht ähnlich wie Rüsen in »der Aneignung von Geschichte und der Entwicklung eines historischen Bewußtseins eine unverzichtbare Voraussetzung« für den Einbezug des jeweiligen »Schülerinteresses« in die historische Bildung (Kuhn 1997, S. 357). 27 Rüsen 1983, S. 51. Der Begriff der Orientierung unterschlägt aber m. E. zum Teil die mit ihm verbundene Handlungsabsicht. 28 Ebd. 29 Menke 2018; Menke 2013. 30 Rüsen 1981. 31 So etwa Bernhardt 2018, S. 70; Schönemann 2014, S. 21.
Reflexive Aneignung von Geschichtskultur
4.
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Reflex, Reflexion und Reflexivität
Auf Grundlage der bisher in diesem Beitrag vorgestellten Überlegungen wird im Weiteren der Vermutung nachgegangen, dass (historische) Bildungsprozesse dann zur Mündigkeit beitragen könnten, wenn sie einerseits reflexiv ausgerichtet sind und andererseits in der Form eines Aneignungsprozesses auftreten. Es ist jedoch keinesfalls so, dass Reflexionsprozesse per se zu Freiheit, Mündigkeit oder einem praktischen Selbst- oder Weltverhältnis führen würden.33 Vielmehr ist entscheidend, worauf Reflexionsprozesse gerichtet sind und welche Ziele mit ihnen verfolgt werden. Für einen historischen Lernprozess ist dabei nicht nur die Form und das Ziel des Prozesses wichtig, sondern auch der Inhalt.34 Bei diesem Inhalt handelt es sich formal gesehen mindestens um historische Phänomene, wie sie in der Geschichtskultur des jeweils zu Bildenden auftreten. Aus diesem Grund wird im Folgenden der Fokus darauf gerichtet, wie eine reflexive Aneignung von Geschichtskultur zur Mündigkeit einer Person beitragen könnte. Allerdings widersetzt sich Mündigkeit und möglicherweise auch die Reflexion35 als intelligible Eigenschaften gleichzeitig in gewisser Weise der empirischen Beforschung, weil Freiheit retrospektiv immer nur so gefasst werden kann, als ob sie möglich gewesen wäre.36 Freiheit im Sinne des Potenzials von Entscheidungsoder Selbstbestimmungsmöglichkeit ist immer schon vergangen, wenn man sie empirisch in ihrer Realisation retrospektiv in den Blick nehmen und als solche deuten kann. Daher kann empirisch bestenfalls erfasst werden, welchen Performanzen und Äußerungen der oder die Forschende ein größeres Maß an 32 An diesen auch im geschichtsdidaktischen Diskurs feststellbaren Tendenzen können sicherlich einerseits die Überbleibsel und das Erbe der kritisch-emanzipativen Geschichtsdidaktik erblickt werden, die vor allem in den 1970ern verstärkt diskutierte wurden (vgl. z. B. Bergmann 1997). Andererseits hat sicherlich auch die Rüsensche Geschichtstheorie, auf der zahlreiche geschichtsdidaktische Modelle fußen, mit ihren nicht immer unproblematischen aufklärerischen und idealistischen Grundlagen ihren Anteil daran. Zu guter Letzt dürfte auch die aufklärerische Tradition bzw. Entstehungsgeschichte der europäischen Geschichtswissenschaft dazu beigetragen haben, dass auch die Geschichtswissenschaft zumindest implizit mit der Vorstellung verbunden ist, dass ihre Reflexion der Vergangenheit etwas zur Reflexivität ihrer Rezipienten beiträgt. Vgl. z. B. Rüsen 1993. 33 Häcker 2019, S. 86–91; vgl. Habermas 1968. 34 Vgl. McLean/Henke-Bockschatz 2018; Lücke 2015, S. 201. Es wäre auf jeden Fall die Frage zu diskutieren, welche Inhalte es sein können, die in besonderen Maßen geeignet sind, um zu Erkenntnissen über Freiheit und Unfreiheit beizutragen. 35 Möglicherweise ist es schlicht sinnvoller, hinsichtlich der Reflexion und der Reflexivität darauf zu verweisen, dass viele Prozesse unterhalb der Oberfläche des Mess- und Beobachtbaren in den Untiefen des Unbewussten stattfinden und sich nur ab und an Erkenntnisse und (zum Teil aber nicht immer) auch deren Begründungen ihren Weg an die Oberfläche bahnen, dann aber auch mit großer Wucht auftreten können. Vgl. dazu den Vorschlag eines Brandungsmodells von Fiona Roll im gleichen Band. 36 Vgl. Esser 2009; Schönemann 2017, S. 111; Menke 2018.
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Philipp McLean
Mündigkeit oder Freiheit zuschreiben würde.37 Aus der Möglichkeit zur Reflexion resultiert also bestenfalls die Möglichkeit zur Befreiung. Es handelt sich dabei weder um notwendige Zusammenhänge noch um notwendigerweise empirisch messbare Zusammenhänge. Aus diesem Grund haben die folgenden Überlegungen (eher) spekulativen Charakter und sind programmatisch zu verstehen, weil sie ohne empirische Überprüfung auf die normative Ausrichtung der historischen Bildung – gewissermaßen auf ihren Ethos – zielen. Um zu klären, warum die reflexive Aneignung als möglicher Beitrag zur Mündigkeit verstanden werden kann, werden im Folgenden die beiden Begriffe reflexiv und Aneignung geklärt. Die hier vorgeschlagene Verwendung der Begriffe Reflex, Reflexion und Reflexivität gehen auf ein Modell von Stefan Müller zurück. Dieser stützt sich seinerseits auf Überlegungen von Georg W.F. Hegel und Theodor W. Adorno.38 Der Reflex – hergeleitet aus der Hegelschen Beschreibung der ersten Stellung des Gedankens zur Objektivität – beschreibt dabei, dass das Subjekt sich noch unbefangen auf die sich ihm als Wirklichkeit erscheinenden Phänomene – man könnte auch sagen Objekte – bezieht und sich in diese versenkt.39 Dabei müssen diese Objekte nicht notwendigerweise materiell vorliegen. In Bezug auf die Geschichte wäre das Objekt also ein historisches Phänomen, welches in der jeweiligen Geschichtskultur erscheint bzw. als Phänomen wahrgenommen werden kann.40 In der Hegelschen zweiten Stellung des Gedankens zur Objektivität – der Reflexion – findet ein Denken über diesen ersten Denkprozess statt. In diesem Denken werden die Urteils- und Wahrnehmungsmaßstäbe des Reflexes einer Kritik unterzogen. Man kann daher Reflexion auch, wie dies in diesem Text bereits geschehen ist, mit dem Terminus des Nachdenkens erfassen. Der Reflexion liegt nämlich notwendigerweise der Reflex zugrunde, auf den sie sich bezieht. Die Reflexion findet daher zeitlich nach dem Reflex statt. Hinsichtlich der Reflexivität weiche ich nun mit Stefan Müller von der Hegelschen Terminologie ab: Sie bezeichnet jene Gedankenoperation, die das Objekt des Reflexes und das Reflexionsurteil in einem weiteren Denkprozess zurück auf das Subjekt bezieht. Diese hebt auf das eigene Selbst und die gesellschaftlichen Bedingungen des Zustandekommens des Reflexes und/oder des Reflexionsurteils ab. Dabei sind reflexive Urteile bestenfalls nicht binär-dicho37 Gleichwohl gibt es gute Hinweise darauf, dass zumindest der hier gemachte Vorschlag des Verständnisses der Reflexivität zur Mündigkeit von Personen beitragen kann. Siehe Müller 2021. 38 Müller 2021; vgl. Menke 2018; ders., 2016; Hegel 2015 [1830], § 26–78. 39 Vgl. Bloch 1985, S. 39f. 40 An folgendem Vorgang kann man z. B. merken, dass es sich auch beim Reflex bereits um eine Bewusstseinsleistung handelt: Ein Phänomen der Wirklichkeit wird als ein eigenständiges Objekt wahrgenommen und von anderen differenziert. Die Differenz zum Selbst gehört also zum Reflex. Vgl. Jaeggi 2002.
Reflexive Aneignung von Geschichtskultur
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tom strukturiert, wenn sie etwas zur Mündigkeit beitragen sollen. Sie können dann nämlich hinsichtlich der Urteils- und Wahrnehmungsmöglichkeiten auf die jeweils konkret vorliegende Verflechtung von Freiheitsmöglichkeiten und (gesellschaftlichen und natürlichen) Notwendigkeiten verweisen. Reflex, Reflexion und Reflexivität lassen sich dementsprechend in einer Arbeitsdefinition folgendermaßen fassen: – Reflex – Bezug des Subjekts auf ein ihm unmittelbar als Objekt erscheinendes Phänomen. – Reflexion – Die Urteils- und Wahrnehmungsgrundlagen des Reflexes werden zum Objekt des Nachdenkens gemacht. Entsprechend wird die Gültigkeit des Subjekt-Objekt-Verhältnisses, auf der Grundlage bestimmter Maßstäbe, einer Kritik unterzogen. – Reflexivität – Der Zusammenhang des Zustandekommens des Reflexes und/ oder Reflexion hinsichtlich der subjektiven Bedingungen und damit auch die Verflechtungen in die gesellschaftlichen Bedingtheiten des Subjekts werden zum Objekt des Nachdenkens gemacht. Es handelt sich um eine Selbstreflexion, weil hier vor allem die subjektive Seite in der Subjekt-Objekt-Beziehung (bei gleichzeitiger Berücksichtigung des Bezugs des Subjekts auf das Objekt) zum Objekt des Nachdenkens gemacht wird.
5.
Aneignung von Geschichtskultur
Bezüglich des Aneignungsbegriffs stützen sich die hier vorgestellten Überlegungen zunächst auf den Ansatz der »eigensinnigen Aneignung«. Dieser wird seit einiger Zeit von Martin Lücke, Oliver Musenberg und anderen in der Geschichtsdidaktik diskutiert.41 Die »eigensinnige Aneignung« zielt auf »durch den Eigen-Sinn der Lernenden selbst erschlossene Ausschnitte aus dem »Universum des Historischen« […], die selbst erzählt oder historisch imaginiert sein können»42. Das so beschriebene, stark auf die subjektive Dimension (historischer) Bildungsprozesse fokussierende Konzept43 soll hier durch sozialphilosophische Konzepte zur Aneignung und Entfremdung von Rahel Jaeggi ergänzt werden.44 Diese Ergänzungen scheinen mir aus zweierlei Gründen gewinnbringend: Einerseits handelt es sich bei Jaeggis Ansatz um eine Aktualisierung der unter anderem auf Karl Marx zurückgehenden Verständnisweise von Aneignung, auf die sich auch Musenberg bezieht.45 Andererseits zielt die bisher beschriebene 41 42 43 44 45
Musenberg 2016, 2017; Lücke 2015. Lücke 2015, S. 201. Musenberg 2016, S. 30. Dies Ausführungen fußen im Wesentlichen auf Jaeggi 2016, S. 64–70 und Jaeggi 2002. Musenberg 2016, S. 28.
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»eigensinnige Aneignung« deutlich auf den Reflex bezüglich historischer Phänomene ab. Für eine emanzipativ verstandene Mündigkeit wären allerdings auch die daran anknüpfenden reflexiven Prozesse von Interesse. Die Anvisierung des Reflexes als Ziel der »eigensinnigen Aneignung« ist dabei durchaus beabsichtig: Durch den Eigensinn sollen die je eigenen Vorstellungen hinsichtlich eines historischen Phänomens überhaupt erst evoziert werden bzw. ein Verhalten zu einer bestehenden Vorstellung ermöglicht werden.46 Die Einnahme einer solchen Stellung des Gedankens zur Objektivität mit Eigensinn in der Form eines Reflexes stellt dabei, wie beschrieben, eine nicht zu unterschätzende und nicht selbstverständliche kognitive Leistung dar; einfacher wäre die schlichte Reproduktion des Vorgefundenen oder eine Nicht-Beschäftigung mit dem jeweiligen historischen Phänomen. Entsprechend den Ausführungen im vorherigen Abschnitt stellt dieser Reflex darüber hinaus auch eine notwendige Voraussetzung für die Reflexivität dar. Auf diese stellt zwar auch Musenberg grundsätzlich ab, verweist aber gleichzeitig darauf, dass die Fokussierung auf den eigensinnigen Reflex die Vorstellung eines autonomen Subjekts unterlaufen kann, weil sie nicht zwangsläufigerweise auf eine Bewusstwerdung des Reflexes hinausläuft.47 Auch Wolfgang Hasberg macht auf ein ähnliches Problem hinsichtlich der eigensinnigen Aneignung aufmerksam: Das Stehenbleiben bei einem aus Eigensinn resultierenden Reflex könnte dazu führen, dass die hervorgebrachten Narrative ausschließlichen hinsichtlich des Eigeninteresses bzw. zur Stabilisierung der eigenen oder einer imaginierten kollektiven Identität gestaltet werden, ohne die Möglichkeit des Korrektivs durch den Eigensinn des historischen Phänomens. Entsprechend würden zwar Narrative verfertigt, diese hätten jedoch nichts oder nur sehr wenig mit den historischen Phänomenen (wie bspw. Quellen) zu tun und würden sogar verhindern, dass sich zu diesen verhalten wird, weil der Eigensinn des Subjekts absolut gesetzt wird.48 Die »eigensinnige Aneignung« sorgt hier also für das Paradox, dass sie die notwendige Voraussetzung für einen eigenständigen Umgang mit historischen Phänomenen ist (weil erst durch ihn eine subjektive Bedeutung eingebracht wird) und gleichzeitig der
46 Lücke 2015, S. 201. Darüber hinaus soll die Perspektive der eigensinnigen Aneignung für Betrachter*innen auch die Möglichkeit eröffnen, die subjektive Konstruktion von (Denk-) Gegenständen und Bedeutungszuweisung sowie die nicht bewusste Ebene des eigensinnigen Handelns und Denkens in den Blick nehmen zu können. Musenberg 2016, 30–32; Lücke 2015, S. 200. Überdies spielt auch die Anerkennung des Eigen-Sinns einer Person auch vor dem Hintergrund einer Theorie der Anerkennung (bspw. Honneth 1994) eine nicht zu unterschätzende ethische Rolle. 47 Musenberg 2016, S. 20, 31f. 48 Vgl. Hasberg 2015, S. 153f.
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Beschäftigung mit den tatsächlichen Phänomenen (und deren Eigensinn) im Weg stehen kann. In dem von Jaeggi formulierten Ansatz wird Aneignung als ein aktiver Durchdringungsprozess verstanden, indem ein Objekt nicht passiv übernommen oder genutzt wird, sondern eigenständig und eigensinnig von einem Subjekt verarbeitet oder verwendet wird. Vergleichbar etwa mit dem psychoanalytischen Begriff des Durcharbeitens.49 In diesem Sinne geht die Aneignung über eine theoretische Einsicht hinaus, weil sich das Subjekt das Angeeignete, welches ihm ursprünglich fremd war, nur in einem praktischen Prozess zu eigen machen kann.50 Anders als bei einer Prägung handelt es sich um einen bewusst vollzogenen, aktiven und produktiven Akt (oder Prozess) der Übernahme des Angeeigneten.51 Aneignung ist daher auch hinsichtlich immaterieller Objekte, wie etwa Begriffen oder Narrativen, immer eine Form des praktischen Weltverhältnisses. Im Rahmen des Aneignungsprozesses wird das Angeeignete zu einem Teil des Selbst, weil es durch den Eigensinn des Subjekts angeeignet wird. Gleichzeitig unterliegt das Angeeignete aber auch weiterhin seinem je eigenen Eigensinn. Damit steht es nie in der totalen Verfügungsmacht des Subjekts und ist ihm fremd. So bleibt das Angeeignete dem Subjekt immer fremd und eigen zugleich.52 Entsprechend diesen Überlegungen ist der Eigensinn immer in die Aneignung eingefasst53 und liegt wie in dem zuvor formulierten Paradox doppelt vor: Eigensinn kommt sowohl dem Subjekt als auch dem Objekt zu. Eine Lösungsmöglichkeit für dieses Paradox ist, die Aneignung als einen doppelten Transformationsprozess zu verstehen: Einerseits unterliegt also der/ die Aneignende dem Eigensinn des Angeeigneten. Andererseits bleibt aber auch das Angeeignete im Aneignungsprozess nicht unberührt, weil es durch die jeweils spezifische Nutzung oder durch ein bestimmtes Verständnis einen qualitativen Gehalt erhält, der sich durch die Subjekt-Objekt-Verbindung erst ergibt. Sozi49 Diese Parallele scheint mir unter anderem deswegen interessant, weil auch im Rahmen des Durcharbeitens betont wird, dass das »Durcharbeiten durch Deutung des Analytikers begünstigt« werden kann. Laplanche/Pontalis 1973, S. 123. Entsprechend kann davon ausgegangen werden, dass die Unterstützung eines Aneignungsprozesses durch die Lehrkraft durchaus auch begünstigend auf den Erfolg des Prozesses wirken kann. Darüber hinaus verdeutlicht der psychoanalytische Begriff des Durcharbeitens auch, dass der Bewusstwerdung des Eigensinns eine Relevanz zukommt. 50 Dabei kann es sich aber auch um einen praktischen Denkprozess handeln. 51 Jaeggi 2002; vgl. Bloch 1985, S. 39–43. Damit wird ein unbewusster Prozess erst dann retrospektiv zur Aneignung, wenn man sich ihn durch eine (Selbst-)Reflexion bewusst gemacht hat. 52 Damit zielt die so beschriebene Aneignung genau auf jenen neuralgischen Punkt des SubjektObjekt-Verhältnisses, welcher von Hasberg 2015 problematisiert wird. 53 Dies hat auch damit zu tun, dass der Gegenbegriff zu dem hier vorgeschlagenen Aneignungsbegriff die Entfremdung ist. Mit diesem werden Effekte beschrieben, die es verunmöglichen, sich etwas eigensinnig zu eigen zu machen. Vgl. Jaeggi 2016.
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alkonstruktivistisch gewendet könnte man hier mit Jaeggi formulieren: »In einem Aneignungsprozess verändert sich beides, das Angeeignete, aber auch der Aneignende […]. Das Angeeignete konstruiert sich im Aneignungsprozess; umgekehrt gibt es das Angeeignete nicht ohne Aneignung. […] [E]in Aneignungsprozess ist an vorgegebenes bzw. vorfindbares Material gebunden, damit auch an eine Eigensinnigkeit und Eigendynamik, über die man gerade nicht verfügt.«54 Dies bedeutet für den Aneignungsprozess, wieder mit Jaeggi gesprochen, dass eine gelingende Welt- und Selbstaneignung darin besteht, »sich die Welt zu eigen zu machen, ohne dass sie einem immer schon zu Eigen wäre, und sie und das eigene Leben gestalten zu wollen, ohne dabei von einer totalen Verfügungsmacht auszugehen«55. Die Auflösung der Paradoxie kann also nur durch ihre (An-) Erkennung und das heißt reflexive Wendung auf sie gelingen.56
6.
Reflexive Aneignung von Geschichtskultur als Beitragsmöglichkeit zur Mündigkeit
Aus dem zuvor Ausgeführten dürfte die Verknüpfung zwischen der Idee einer kritisch-emanzipatorischen Mündigkeit und einer gelungenen (eigensinnigen) Aneignung deutlich geworden sein: Beide können im Modus der Gleichzeitigkeit von Freiheit und Unfreiheit beschrieben werden und haben dann eine höhere Realisierungswahrscheinlichkeit, wenn das Spannungsverhältnis zwischen Freiheit und Unfreiheit reflexiv aufgefasst wird. Vor dem Hintergrund dieser reflexiven Erfassung der Gleichzeitigkeit von Freiheit und Unfreiheit wird deutlich, dass eine Aneignung von historischer Bildung und Geschichtskultur, die beide jeweils individuelle Freiheitsmöglichkeiten bieten und gesellschaftlich präformiert vorliegen, dann zu einem mündigeren Verhältnis führen könnte, wenn sie reflexiv den Eigensinn von Subjekt und Objekt im Aneignungsprozess einbezieht. Mit Adorno lässt sich hinsichtlich dieses Verhältnisses formulieren, dass erst in der Anerkennung, im Aushalten und der reflexiven Wendung auf die »Ohnmacht«, die durch die unvermeidliche strukturelle Prägung des Subjekts durch die Gesellschaft zustande kommt (und die auch die Ausbildung des Eigensinns umfasst), gleichzeitig die Hoffnung und die Möglichkeit zur Wider-
54 Ebd., S. 65f. 55 Ebd., S. 66. 56 Dies bedeutet auch, die Kehrseite des Anerkennungsbegriffs zu berücksichtigen: Aneignungen können auch zu einem problembehafteten Prozess des Zu-Eigen-Machens im Sinne des Versuchs eines Weg-Nehmens führen (wie dies bspw. im Rahmen einer »kulturellen Aneignung« diskutiert wird).
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ständigkeit gegen sie liegt und damit die Mündigkeit dort ihre Begründung findet.57 Damit bleibt die Idee des Eigensinns in der Aneignung auch für die hier beschriebene reflexive Aneignung von zentraler Bedeutung: Musenberg arbeitet (mit Bezug auf Alf Lüdtke) heraus, dass es gerade die Struktur des Eigensinns ist, die die binär-dichotome Struktur eines Entweder-oders unterläuft, indem sie als eine Form oder einen Keim der Widerständigkeit gegen das Gegebene interpretiert werden kann.58 Erst auf der Grundlage eines solchen Keims der Widerständigkeit, der die gesellschaftlich normierte(n) Wahrnehmung(n) von (Denk-) Objekten brüchig werden lässt, können weitergehende Prozesse des Nachdenkens über diese angeregt werden.59 Im Sinne einer anhand Klaus Holzkamps Überlegungen weitergedachten subjektorientierten Geschichtsdidaktik könnte man davon sprechen, dass hier eine Verunsicherung entstehen kann, der ein expansives Lernen in der Form einer Aneignung folgen kann.60 Damit sich dieser jedoch als Bildungsprozesse vollziehen kann, scheint es mir notwendig zu sein, auch den Eigensinn der Objekte reflexiv anzuerkennen, was auch die reflexive Wendung auf den eigenen Eigensinn einschließt. Damit möchte ich allerdings nicht auf eine Verstärkung des kognitivistischen Lernens oder auf das Festhalten von klassischen Bildungsidealen hinaus.61 Vielmehr möchte ich vorschlagen, im Sinne einer emanzipativ-kritischen Mündigkeit den subjektiv motivierten Keim der Widerständigkeit, die Eigensinnigkeit, zu fördern und danach die Akteur*innen in ihrer jeweiligen subjektiven Perspektive darin zu unterstützen, – ebenfalls mit ihrem Eigensinn – ihren eigenen Eigensinn, den Eigensinn der Objekte und die Vergangenheit und Gegenwart der Gesellschaft, die ihn geformt hat, einer Kritik zu unterziehen.62
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57 58 59 60 61 62
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Ruth Fiona Roll
Reflexivität, Reflexion und Selbstreflexion als Begriffe der Geschichtsdidaktik
1.
Problemstellung
Jörn Rüsen bezeichnet »Selbstreflexion« als »geradezu ein Lebenselement im Alltag der Wissenschaft«,1 Wolfgang Hasberg zufolge stellt »Reflexivität« »ein Qualitätsmerkmal historischen Denkens«2 dar. Wenn die gedanklichen Handlungen, die sich hinter den Begriffen Reflexion, Reflexivität oder Selbstreflexion verbergen, eine so prominente Stelle innerhalb des historischen Denkens und Arbeitens sowie folgerichtig des historischen Lernens einnehmen, dann steht ihnen ein bisher verwehrter Platz im »Olymp der Geschichtsdidaktik«3 zu.4 Der häufige Wortgebrauch von Reflexion, Reflexivität und Selbstreflexion in geschichtsdidaktischen Publikationen legt den zentralen Stellenwert dieser gedanklichen Operationen für das historische Denken und Lernen nahe, doch täuscht er darüber hinweg, dass die Verwendung uneinheitlich erfolgt: Derselbe Sachverhalt wird von der einen Person als Reflexion oder Reflexivität von einer anderen als Selbstreflexion bezeichnet, aber auch bei derselben Person kann ein Begriffsdurcheinander herrschen. Ein Grund für einen unsystematischen Gebrauch ist der fehlende Forschungsüberblick über bestehende Begriffsdefinitionen, Verwendungskontexte und eine nachvollziehbare Verflechtung der Theoriearbeit. Wenn sich für die Diagnostik die Frage stellt, wie Reflexionen und Selbstreflexionen erkannt werden können, sollte die bestehende Deutungsvielfalt kritisch hinterfragt werden und eine Einigung darüber stattfinden, was aus ge-
1 Rüsen 1983, S. 20. 2 Hasberg 2005, S. 699. Hasberg bezeichnet »Reflexionskompetenz« als »Metakompetenz«, die anderen Kompetenzen übergeordnet ist. Ebd., S. 698. 3 Heuer/Hasberg/Seidenfuß 2020, S. 83. In diesem Beitrag nehmen die Autoren eine Metaperspektive auf die Disziplingeschichte ein und hinterfragen u. a. eine Zwangsläufigkeit bestimmter Begriffskarrieren. 4 In Barricelli/Lücke 2012, Mayer/Pandel/Schneider 2013, Mayer 2014 oder in Norden 2020 als jüngster Publikation sucht man einen eigenen Eintrag zu diesen Begriffen vergebens.
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schichtsdidaktischer Perspektive im schulischen und außerschulischen Bereich terminologisch unter den Begriffen zu verstehen sein sollte. Ein Erkenntnisinteresse meines Promotionsvorhabens liegt darin, einen Überblick darüber zu erlangen, was innerhalb der Fachdisziplin in der Vergangenheit und im aktuellen Diskurs unter Reflexion, Reflexivität und Selbstreflexion verstanden wurde und wird.5 Hierbei suche ich nach Parametern zur Erfassung von Reflexionen und Selbstreflexionen in schriftlichen Aussagen am Beispiel von Schüler*innentexten zur Nachbereitung von Gedenkstättenbesuchen.6 Anstatt hier auf die Konzeption der qualitativen empirischen Studie einzugehen, soll der Beitrag Schlaglichter auf die geschichtsdidaktische Entwicklung des Gebrauchs der drei zusammenhängenden Termini werfen, Definitionen entwickeln und ein Modell zur Differenzierung von reflexiven Gedankengängen vorstellen. Zum Einstieg sollen die etymologische Herleitung und grammatikalische Einordnung der Worte Reflexivität, Reflexion und Selbstreflexion vergegenwärtigt werden (Kapitel 2). Anschließend wird der Wandel des Begriffsgebrauchs von einem vorausgesetzten hin zu einem fachspezifisch definierten Verständnis anhand von Beispielen aus zwei Phasen der Disziplingeschichte der Geschichtsdidaktik herausgearbeitet, um eine zusammenführende Definition anzubieten (Kapitel 3). Nachdem in Frage gestellt wird, ob Reflexionsakte graduiert werden können (Kapitel 4), soll schließlich eine Möglichkeit der Erfassung von Reflexionen und Selbstreflexionen zur Diskussion gestellt werden (das sogenannte Brandungsmodell; Kapitel 5).
5 Betrachtet werden Ausführungen von Klaus Bergmann, Bodo von Borries, Johann Gustav Droysen, Wolfgang Hasberg, Jochen Huhn, Karl-Ernst Jeismann, Annette Kuhn, Theodor Litt, Philipp McLean, Jörg van Norden, Hans-Jürgen Pandel, Jörn Rüsen, Rolf Schörken, Waltraud Schreiber, Peter Schulz-Hageleit, Birgit Wenzel, Meik Zülsdorf-Kersting, der FUER-Gruppe und aus der Didaktik der Sozialwissenschaften solche von Stefan Müller. Nicht vertieft berücksichtigt werden Beiträge, in denen Reflexion als Bestandteil von handlungsorientiertem Unterricht verstanden wird, da die Reflexion hier eine andere Funktion als die von mir vorgestellte hat. Sie dient in diesem Fall der Kontrolle und Evaluation von Handlung, nicht aber, oder zumindest nicht im Schwerpunkt, der Auseinandersetzung mit Deutungen von Vergangenem in Bezug auf die Gegenwart und Zukunft oder aber der Selbstreflexion. 6 Textbeispiele sind zu finden in Pollmann 2020 und Roll 2020.
Reflexivität, Reflexion und Selbstreflexion als Begriffe der Geschichtsdidaktik
2.
33
Etymologie der Begriffe Reflexivität, Reflexion und Selbstreflexion
Reflexivität beinhaltet das Adjektiv reflexiv, die Endung -ität weist ebenfalls auf eine »Eigenschaftsbezeichnun[g]«7 hin – etwas ist reflexiv –, weshalb das Wort insgesamt die Eigenschaft eines Gedankens oder das Reflexionsvermögen einer Person anspricht. Reflexion hingegen steht für den gedanklichen Prozess. Etymologisch sind die Begriffe auf das lateinische Verb reflectere zurückzuführen, das so viel heißt wie zurückwenden oder -beugen.8 Wer reflektiert, versucht, sich in eine andere, vorherige Körperposition zu bringen und ändert dabei seine Blickrichtung, schaut zurück auf etwas, das hinter ihr oder ihm liegt. Im übertragenen Sinne tun wir dies auch mental, wenn wir, mit Klaus Bergmann gesprochen, »[i]nnehalten«9 und auf selbst Getanes, Gedachtes oder Gefühltes zurückschauen.10 Eine Reflexion wird nur vorgenommen, wenn eine fortlaufende Handlung irritiert und deswegen unterbrochen wird.11 Sie ist mehr als eine reine Rekapitulation von abgeschlossenen Handlungen12 und auch mehr als »[d]as bloße Nachdenken über Inhalte«, denn es steht nicht weniger im Mittelpunkt als das »Inbeziehungsetzen von Denkinhalten und Prozessen zu [beispielsweise] eigenen Interessen, Zielen und Lernerfahrungen«.13 Der Begriff Selbstreflexion ist ein Kompositum. Die erste Worthälfte zeigt grammatikalisch an, was einer Reflexion unterzogen werden soll. Zu klären bleibt also, was unter Selbst14 verstanden werden kann: Bettina Hannover und Werner Greve sprechen in Bezug auf das Selbst von den »Annahmen, die das Individuum über die eigene Person entwickelt«.15 Getanes, Gedachtes oder Gefühltes werden 7 Wortbedeutung.info Suche: -ität (https://www.wortbedeutung.info/-it%C3%A4t/, zuletzt aufgerufen am 29. 03. 2021). 8 Vgl. PONS.de Suche: reflecto (https://de.pons.com/%C3%BCbersetzung/latein-deutsch/refle cto, zuletzt aufgerufen am 28. 03. 2021). Auf die Übersetzung ging Peter Schulz-Hageleit bereits in den 1970er-Jahren ein: ders. 1977, S. 25. 9 Bergmann 2013a, S. 111; ders. 2013b, S. 75. 10 In der Diskussion zu diesem Beitrag während der KGD-Nachwuchstagung kam Jessica Kreutz auf die Verbindung des Verbs reflectere und Nomens animus zu sprechen. Im Zusammendenken dieser Wörter, das bereits in der Antike vorherrschte, wird deutlich, dass neben der körperlichen Bewegung gleichermaßen reflexiv eine Zuwendung zu den eigenen Gedanken, aber genauso zu eigenen Empfindungen, Wünschen/Verlangen, Vorsätzen und dem eigenen Gedächtnis vorgenommen werden kann. Vgl. die vielfältigen Übersetzungsmöglichkeiten für das Wort animus, die ebendiese Ausdeutungen berücksichtigen: PONS.de Suche: animus (https://de.pons.com/%C3%BCbersetzung/latein-deutsch/animus, zuletzt aufgerufen am 28. 03. 2021). 11 Vgl. Dewey 2002, S. 14f. 12 Vgl. Tisdale 1998, S. 6. 13 Christmann 2003, S. 72; vgl. Tisdale 1998, S. 6. 14 Bei diesem Begriff handelt es sich um einen Kollektivsingular. Vgl. Hannover 2012, S. 17. 15 Hannover/Greve 2012, S. 544.
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also bei der Selbstreflexion mit den Vorstellungen über die eigene Person in Beziehung gesetzt. Selbstreflexion ist deswegen »immer eine Form der Selbstkritik«.16 Mit ihr einhergehen kann der Entwurf eines Ichs, das das denkende Subjekt in der Zukunft gerne sein möchte.17 Dies ist besonders in Lernprozessen relevant, in denen das Gelernte die eigene Einstellung und eigenen Werte anspricht, wie es im historischen Lernen der Fall sein kann. Mit dem Hinweis auf eigene Einstellungen und Werte ist, wie im Folgenden gezeigt werden soll, auch direkt eine Besonderheit angesprochen, die einen spezifisch geschichtsdidaktischen Gebrauch der Begriffe Reflexivität, Reflexion und Selbstreflexion ausmacht:18 In Verbindung mit historischem Denken dienen Reflexionsakte19 der Ausdeutung von Gedachtem, Getanem und Gefühltem in Bezug auf die normative Prägung der eigenen Person, die lebensgeschichtlich und weiter gedacht historisch zu begründen ist und somit »Geschichtsbewußtheit«20 respektive Geschichtsbewusstsein als Voraussetzung hat. Bereits bei Johann Gustav Droysen finden sich Ausführungen über die Bedeutung von Reflexion in der geschichtswissenschaftlichen Methodik, »in uns unbewußt Gewordenes und so oder so Überkommenes prüfen zu müssen«,21 doch soll dies hier allein eine Randnotiz bleiben, die auf die lange geschichtswissenschaftlich bzw. geschichtstheoretisch anerkannte Bedeutsamkeit des Begriffs hindeutet.22 Im Fokus stehen nachfolgend Begriffsverwendungen seit der Emanzipation der Geschichtsdidaktik als eigenständige Fachdisziplin.
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Dörner 1985, S. 175f. Vgl. Silvia/Eddington 2012, S. 433f. Eine fachspezifische Differenzierung wird auf den folgenden Seiten vorgenommen. Selbstreflexion ist in diesem Begriff mit bedacht. Jeismann 1988, S. 11. Droysen 1960, S. 32. In meiner Dissertationsschrift wird ein eigenes Kapitel zu Droysens Begriffsgebrauch zu finden sein. 22 Reflexion spricht die Frage der Standortgebundenheit an. Reinhart Koselleck zufolge entwickelte sich in der Geschichtswissenschaft im 18. Jahrhundert das Bewusstsein für die Abhängigkeit des eigenen historischen Erzählens vom eigenen Standort. Vgl. Koselleck 2015, insbes. S. 184–187.
Reflexivität, Reflexion und Selbstreflexion als Begriffe der Geschichtsdidaktik
35
3.
Wandel des geschichtsdidaktischen Begriffsgebrauchs von vorausgesetzten Verständnissen hin zu eigenen Definitionen
3.1
1970er-Jahre: Reflexion in einer Schrittfolge historischen Lernens
Wenige Jahre nach dem Entstehen der Geschichtsdidaktik als Fachwissenschaft betonte Rolf Schörken ebenso wie es kurze Zeit nach ihm Vertreter*innen der Kritischen Geschichtsdidaktik taten, namentlich Annette Kuhn23 sowie HansJürgen Pandel und Klaus Bergmann,24 und wenig später auch andere Geschichtsdidaktiker*innen, auf die ich im weiteren Text zu sprechen kommen werde, die Notwendigkeit von Reflexion im Kontext des historischen Lernens.25 Weil Reflexion im historischen Lernprozess relevant erschien, wurde sie, hier besteht eine große Gemeinsamkeit der Ansätze der genannten Personen, in Schrittabfolgen des historischen Lernens hineingeschrieben. Schörken sieht Reflexion angezeigt, um Legitimation von »Loyalitäten« zu hinterfragen.26 »Sympathie- und Zugehörigkeitsgefühle« sollen gedanklich durchdrungen werden.27 Deren »Reflexion« versteht er als »Grobziel« eines Unterrichts, in dem aus »G e s c h i c h t s bewußtsein« ein »Geschichtsb e w u ß t s e i n « werden kann.28 Er unterscheidet vier verschiedene Lernziele, deren Bestandteile einiges vorwegnehmen, das später von anderen Geschichtsdidaktiker*innen erarbeitet wird. Die einzelnen Ziele können als Schritte einer reflexiven Auseinandersetzung mit Vergangenheit verstanden werden. Schörken geht mit dem ersten Lernziel davon aus, dass, um hinterfragen zu können, warum wir uns bestimmten Gruppen gegenüber zugewandt verhalten, eine Bestandsaufnahme vorgenommen werden muss, wem gegenüber Loyalitätsgefühle bestehen, welche thematischen Präferenzen für die Beschäftigung mit Vergangenheit daraus resultieren und wie diese zuvor an einen herangetragen wurden (»Auffindung solcher Gefühle und Analyse ihres Zustandekommens«).29 Das zweite Ziel (der »Rollenwechsel«) entspricht einem Perspektivwechsel oder der Alteritätserfahrung, vielleicht sogar einer multiperspektivischen Betrachtung unterschiedlichster Positionen, wobei Schörken nicht formuliert, ob es sich um historische oder gegenwärtige Perspektiven handelt, die entdeckt oder eingenommen werden sollen.30 Bei Schör23 24 25 26 27 28 29 30
Kuhn 1974. Bergmann/Pandel 1975. Schörken 1972, S. 97. Ebd. Ebd. Ebd. Hervorhebung original. Ebd. Ebd. Schörken spricht hier von der »Entdeckung« und »Einnahme von Alternativpositionen«. Die oben zur Wiedergabe entsprechend gewählten Verbformen entdeckt und eingenommen
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ken ist eine Gemeinsamkeit mit der Kritischen Geschichtsdidaktik Annette Kuhns im Zusammendenken von Individuum und Gesellschaft im dritten Lernziel feststellbar (»Analyse der gesellschaftlichen Auswirkungen des individuellen Loyalitätsverhaltens«), in dem die Rückwirkungen persönlicher Loyalität auf die Gesellschaft erkannt werden sollen.31 Das Individuum wird nicht nur von äußeren Faktoren in seinen Präferenzen beeinflusst oder gar fremdbestimmt, es wirkt auch selbst auf die Gesellschaft ein und soll seinen Einfluss genauso betrachten lernen. Es soll Loyalitätskonflikte erkennen und zu deren Aushandlung beitragen.32 Dieses Ziel hängt mit dem vierten Lernziel zusammen (»Begründung der eigenen Loyalitäten«).33 Schörken geht hier nicht von einem geschlossenen »wir« aus, sondern von »Wir-Gruppen«, zu denen sich Überschneidungen ergeben.34 In einer Endnote weist er auch darauf hin, »[s]trenggenommen [könne] man vom ›gemeinsamen‹ Schicksal eines Volkes nur sprechen, wenn man vom Klassen- wie vom Herrschaftsbegriff abstrahiert.«35 Überschneidungen oder andere mögliche Konflikte, einhergehende »Orientierungsunsicherheiten«, die innerhalb der »Identifikation« entstehen, sollen im Lernziel der »Begründung der eigenen Identität« ausgehalten werden;36 das Ziel bleibt es also, sich am Ende mit einer Gruppe bzw. Gruppen, die man als solche definiert, identifizieren zu können. Reflexion kommt somit eine Orientierungsfunktion zu, sich mit ihrer Hilfe in der Gegenwart verorten zu können, um handlungsfähig zu sein, wie es heute mit der Theorie Rüsens assoziiert wird. Schörken selbst hat den Begriff Reflexion in diesem Beitrag nicht definiert. Aspekte der hier vorgestellten Lernziele finden sich dafür in Definitionen wieder, die ab den 1990er-Jahren formuliert wurden.
3.2
1990er-Jahre bis heute: Begriffsdefinitionen
Seit den 1970er-Jahren verwiesen Klaus Bergmann, Bodo von Borries, Karl-Ernst Jeismann, Annette Kuhn, Jörn Rüsen und Peter Schulz-Hageleit wiederholt auf den Stellenwert von Reflexionsakten für das historische Denken und Lernen.37 Beginnend mit den 1990er-Jahren kommt es in der Disziplingeschichte zu einer
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sind im Zusammenhang mit der über Perspektivübernahme angesprochenen Empathie ungenau, gar irreführend, können hier allerdings nicht weiter problematisiert werden. Ebd.; vgl. Kuhn 1980, S. 71f. Vgl. Schörken 1972 S. 97f. Ebd. Ebd. S. 97. Ebd. S. 100, Anm. 4. Ebd. S. 97. Für Karl-Ernst Jeismann gilt dies bis zum Jahr 1990 (dem Jahr seiner Emeritierung), für die anderen genannten Personen noch über dieses Jahr hinaus.
Reflexivität, Reflexion und Selbstreflexion als Begriffe der Geschichtsdidaktik
37
neuen Entwicklung, denn neben der Einforderung und Befürwortung von Reflexionsakten, ohne die sich hinter den entsprechenden Begriffen verbergenden Prozesse genauer zu klären, werden von einzelnen der genannten Personen und weiteren Geschichtsdidaktiker*innen Begriffsdefinitionen formuliert. Zu erwähnen sind hier chronologisch Jochen Huhn,38 Peter Schulz-Hageleit,39 Birgit Wenzel,40 Jörn Rüsen,41 Bodo von Borries,42 Waltraud Schreiber43 und Meik Zülsdorf-Kersting.44 Eingegangen wird im Folgenden auf einen Beitrag von Jochen Huhn, zwei Beiträge von Waltraud Schreiber und zwei Beiträge mit identischer Definition von Peter Schulz-Hageleit, an denen gezeigt werden kann, dass dieselben Inhalte über unterschiedliche Begriffe verhandelt werden und die Definitionen mit ihren unterschiedlichen Schwerpunkten als Basis für eine Gesamtdefinition von Reflexion dienen können (Kapitel 3.3). Andere hier bereits angesprochene Gedanken können die Definition weiter schärfen. Definitionen von Reflexivität und Selbstreflexion werden abgegrenzt. Jochen Huhn und Peter Schulz-Hageleit gehören zur »Minderheit von Fachvertretern, die konsequent stärker vom Subjekt und vom Sozialisationsprozeß als von Fachwissenschaft und Gesellschaftsanalyse ausgeht«, so Bodo von Borries.45 Waltraud Schreiber, so kann es aus ihrer wesentlichen theoretischen Mitarbeit am Kompetenzstrukturmodell zur Förderung eines reflektierten und (selbst-)reflexiven Geschichtsbewusstseins (FUER-Modell) abgeleitet werden, hat die Methodik der Geschichtswissenschaft im Blick, orientiert sich aber dennoch am Subjekt, wie nicht zuletzt an ihrem Interesse am Begriff der Lebenswelt zu erkennen ist.46 Huhns Definitionen von reflexivem Denken und Selbstreflexion aus dem Jahr 1995 suchen in ihrer Genauigkeit ihres gleichen: »Reflexives Denken meint den Versuch, sich Faktoren des eigenen Bezugsrahmens bewußt zu machen: Durch welche Erfahrungen, Vorinformationen, Wertvorstellungen wird meine Perspektive beeinflußt? […] In der Perspektive verbinden sich historische Fakten und Wertvorstellungen, von ihr werden Interpretationen und Beurteilungen beeinflußt.«47
38 39 40 41 42 43 44
Huhn 1995, S. 29, 37. Schulz-Hageleit 1998, S. 92; ders. 2004, S. 130. Wenzel 2000, S. 681. Rüsen 2003, S. 40–43; ders. 2013, S. 93–95. Borries 2011, S. 288. Schreiber 2002, S. 29; dies. 2003a, S. 393; dies. 2003b, S. 18. Cohors-Fresenborg/Kaune/Zülsdorf-Kersting 2014; Zülsdorf-Kersting/Praetorius 2017, S. 252f. Reflexion wird hier von Monitoring abgegrenzt. 45 Borries 1990, S. 2. 46 Vgl. Schreiber 1995. 47 Huhn 1995, S. 29. Hervorhebungen original.
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Reflexives Denken bedeutet bei Huhn, ähnlich wie bei Rolf Schörken,48 auf den ich oben ausführlich eingegangen bin, oder bei Annette Kuhn,49 Hans-Jürgen Pandel und Klaus Bergmann,50 Karl-Ernst Jeismann und Erich Kosthorst,51 Jörn Rüsen52 oder Philipp McLean53 so viel wie Normreflexion der Eigenperspektive, eine ideologiekritische Betrachtung eigener Überzeugungen. Über diese Definition hinaus bemüht sich Huhn um eine Klärung des Begriffs der Selbstreflexion. Wenn er auf das soziologische Konzept der Rollendistanz (nach Lothar Krappmann)54 zu sprechen kommt, greift er Aspekte der obigen Definition von reflexivem Denken auf: »Rollendistanz bezeichnet eine Selbstreflexion, in der ich mich gedanklich gleichsam neben mich stelle und meine Rolle betrachte. Das heißt in unserem Zusammenhang, daß ich zu erkennen suche, was mich in einer bestimmten Situation bewegt, welche Gedanken, Erwartungen und Gefühle ich habe, welche Werte und Normen darin erkennbar werden.«55
Huhn spricht hier von einer Person, die sich »in einer bestimmten Situation« befindet und eine oder mehrere Rollen einnimmt, die sie durch Selbstreflexion hinterfragt. Im ersten Teil der Definition bestimmt Huhn »Selbstreflexion« als eine Form von »Rollendistanz« – nicht »Rollenwechsel« wie bei Schörken –,56 denn Ich stelle »mich gedanklich gleichsam neben mich«.57 Im zweiten Teil erläutert er den gedanklichen Akt, der mit dem sich neben einen selbst stellen erlangt werden soll – und das auf zwei Ebenen, und zwar, »daß ich [a] zu erkennen suche, was mich in einer bestimmten Situation bewegt, welche Gedanken, Erwartungen und Gefühle ich habe, [b] welche Werte und Normen darin erkennbar werden.«58 Auch Waltraud Schreiber räumt den Begriffen Reflexivität und Selbstreflexion eine fachimmanente Bedeutung ein und misst ihnen einen hohen Stellenwert bei. Nachdem Schreiber bereits in ihrer Dissertationsschrift an mehreren Stellen auf die hier relevanten Begriffe zu sprechen kam,59 fand eine Fokussierung auf die
48 49 50 51 52 53 54 55 56 57
Schörken 1972, S. 97f. Kuhn 1980, S. 59f., 71f. Bergmann/Pandel 1975, S. 124. Jeismann/Kosthorst 1973, S. 54. Rüsen 2003, S. 40. Hier sei auf dessen Beitrag im vorliegenden Band verwiesen. Krappmann 2016. Huhn 1995, S. 37 im Original alles fettgedruckt. Schörken 1972, S. 97. Huhn 1995, S. 37, im Original alles fettgedruckt. Dies kommt dem Verständnis von »Selbstzerlegung« von Theodor Litt 1918, S. 180–183 nahe. 58 Huhn 1995, S. 37, im Original alles fettgedruckt. 59 Vgl. Schreiber 1995.
Reflexivität, Reflexion und Selbstreflexion als Begriffe der Geschichtsdidaktik
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Begriffsklärung innerhalb der Theoriearbeit des FUER-Modells statt.60 Gerade zwei unbekanntere Aufsätze61 sind zur Klärung der hier relevanten Begriffe besonders aufschlussreich. Ihr Begriffsverständnis von Selbstreflexion aus Beiträgen der Jahre 2002 und 2003 lässt sich gut mit jenem von Jochen Huhn vergleichen und ergänzt dieses. Wenn Schreiber Selbstreflexion über das »AufmerksamWerden auf die eigene Rolle«62 definiert, ist damit nicht die Rollendistanz gemeint, die Jochen Huhn anspricht. Stattdessen steht nach meinem Verständnis das im Zentrum, was sie ein Jahr zuvor ausführlicher zu diesem Begriff formulierte: »In der ›Selbstreflexion‹ ziehe ›ich‹ die Rückwirkung ›meiner‹ Beschäftigung mit Vergangenheit/Geschichte auf ›mich‹ selbst in Betracht und die Rückwirkungen auf Vergangenheit/Geschichte, die sich daraus ergeben, daß gerade ›ich‹ mich ihr zuwende.«63 Weder bei Jochen Huhn noch bei Waltraud Schreiber ist mit Selbstreflexion zweifelsfrei die Reflexion des Selbst gemeint, wie es meine obige etymologische Herleitung nahelegt. Es ist diskutabel, ob das »gerade ›ich‹« bei Schreiber für das Selbst steht, für »Sympathie- und Zugehörigkeitsgefühle«64 entlang individueller »Differenzkategorien«,65 für weniger oder für mehr. Das Verhältnis von Reflexivität und Selbstreflexion klärt Schreiber darüber, dass sie Reflexivität als »Verallgemeinerung« von Selbstreflexion fasst.66 Dies bestärkt den Eindruck, dass nicht das Selbst als solches reflektiert wird. Der unter Selbstreflexion verhandelte Inhalt entspricht vielmehr jenem, den Peter Schulz-Hageleit mit dem Begriff Reflexivität verbindet: »Reflexivität heißt Rückbezug des in der Geschichte Erkannten auf die eigene Person und Gegenwart wie auch umgekehrt: Einbringen der persönlichen und politischen Erfahrung in Rekonstruktion und Deutung der Vergangenheit.«67 In dieser Definition setzt sich eine denkende Person mit etwas, das sie »in der Geschichte [e]rkann[t]«68 hat, ins Verhältnis und bezieht die eigene historische Prägung bewusst mit in die »Deutung der Ver60 Nicht alle Artikel sind hier in Alleinarbeit entstanden, sondern vielmehr in Koautor*innenschaft. Die Artikel, an denen Schreiber mitwirkte, sind jene, die in Bezug auf das Theoriekonzept des FUER-Modells viel zitiert werden. 61 Die Artikel werden in keiner der beiden Ganzschriften zum FUER-Modell erwähnt, vgl. Schreiber 2006; Körber/Schreiber/Schöner 2007. 62 Schreiber 2003a, S. 393. 63 Schreiber 2002, S. 29 Hervorhebung original. »Rückwirkungen« auf die Vergangenheit kann es nicht geben, da Vergangenheit unveränderlich ist. Hierauf gehe ich unten erneut ein. 64 Schörken 1972, S. 97. 65 »Differenzkategorien« sind beispielsweise Zugehörigkeitsgefühle entsprechend einer persönlichen Zuordnung zu oder Erfahrung von einer »Klasse (class), Ethnie (race), Migration, Nation, Hautfarbe/whiteness, Geschlecht, Sexualität, Alter oder Religion«, genauso wie dis/ ability. Barsch u. a. 2020, S. 10. 66 Schreiber 2003a, S. 393. 67 Schulz-Hageleit 2004, S. 92; zuvor bereits zu finden in ders. 1998, S. 130. 68 Ebd.
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gangenheit« ein.69 Peter Schulz-Hageleit konkretisiert das »gerade ›ich‹« von Waltraud Schreiber70 hinsichtlich Eigenarten, die die Frage nach dem »gerade ›ich‹« in die Auseinandersetzung mit Vergangenem selbst »[e]inbring[t]«.71 Genauso wie bei Schreiber mit dem Begriff der »Rückwirkung«,72 wird mit »Rückbezug«73 ein Wechselverhältnis zwischen dem denkenden Subjekt und der Vergangenheit bzw. Geschichte(n) angesprochen. In Bezug auf die Vergangenheit sollte es als ein in nur eine Richtung ausgerichtetes Verhältnis verstanden werden, da Vergangenheit nicht durch das denkende Subjekt verändert werden kann.
3.3
Definition unter Berücksichtigung von Vergangenheitsdeutungen, Gegenwartsverständnis, Gegenwartserfahrung und Zukunftsperspektiven
Aus den obigen Definitionen kann geschlossen werden, dass Reflexionsakte der Orientierung innerhalb der eigenen zeitlichen und räumlichen Selbstverortung dienen und zur »Sinnbildung« beitragen können.74 Genauer betrachtet, können alle jeismannschen Dimensionen »Vergangenheitsdeutung[en]«,75 »Gegenwartsverständnis«,76 die eigene »Gegenwartserfahrung«77 oder bestehende Pläne für die Zukunft Bezugspunkte von Reflexionen und Selbstreflexionen sein.78 Die Schlüsse aus den Reflexionsakten können sich in individuellen Zukunftsentwürfen entfalten.79 Die hiermit angesprochenen zeitlichen Dimensionen wurden in den oben vorgestellten Definitionen nur zum Teil berücksichtigt, sollten allerdings in eine fachspezifische Definition von Reflexion hineingeschrieben 69 70 71 72 73 74
75 76 77
78 79
Ebd. Schreiber 2002, S. 29. Schulz-Hageleit 2004, S. 92; ders. 1998, S. 130. Schreiber 2002, S. 29. Kursivsetzung R.F.R. Schulz-Hageleit 2004, S. 92; ders. 1998, S. 130. Kursivsetzung R.F.R. Huhn spricht selbst von der »Sinnbildung«, die aus reflexivem Denken hervorgehen kann. Huhn 1995, S. 29. Nicht unerwähnt bleiben soll, dass Rüsen gezielt den Begriff der reflexiven Sinnbildung verhandelt. Rüsen 2003, S. 40–43; ders. 2013, S. 93–95. An dieser Stelle besteht allerdings nicht genug Raum, um auf die Bedeutung und verschiedenen Formen von Sinnbildung einzugehen. Jeismann 1990, S. 63f. Ebd.; Jeismann 1985, S. 16. Jörg van Norden ersetzt das Gegenwartsverständnis in der jeismannschen Trias wiederholt mit Gegenwartserfahrung, einem nicht bedeutungsgleichen Begriff, der hier gesondert aufgeführt werden soll, weil er insbesondere zu Reflexionsakten passt, die sich auf geschichtskulturelle Partizipation und Rezeption beziehen. Norden 2018, S. 286. Vgl. Jeismann 1985, S. 16; ders. 1990, S. 63f. Er bringt diese Begriffe im letztgenannten Beitrag selbst mit Reflexion und Selbstreflexion in Verbindung. Ebd.
Reflexivität, Reflexion und Selbstreflexion als Begriffe der Geschichtsdidaktik
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werden. Erweitert um diese Dimensionen sollen hier die vorangehenden Ausführungen zum etymologischen Ursprung und dem Begriffsgebrauch von Rolf Schörken, Jochen Huhn, Waltraud Schreiber und Peter Schulz-Hageleit in folgender Definition von Reflexion zusammengeführt werden:80 Reflexion im geschichtsdidaktischen Sinne bezeichnet eine gedankliche Handlung, die auf eine Irritation durch eigene Rekonstruktion und Deutung von Vergangenheit, die Auseinandersetzung mit Geschichte(n) oder anderen geschichtskulturellen Repräsentationen zurückzuführen ist. Bei der Reflexion stelle ich mich gleichsam neben mich und befrage mich selbst nach dem Zusammenhang der Irritation mit meinen eigenen Vergangenheitsdeutungen, meinem Gegenwartsverständnis, meiner Gegenwartserfahrung und persönlich relevanten Zukunftsperspektiven. Als Reaktion auf die Irritation verknüpfe ich neu Erkanntes mit Vorinformationen, gleiche Erwartungen mit dem nun Erkannten ab, frage mich nach eigenen Bewertungen und Emotionen, die ich mit dem neu Erkannten verbinde, und hinterfrage den normativen Ursprung meiner Bewertungen und/oder Emotionen. Ich stelle die Frage, welchen Unterschied es macht, dass gerade ›ich‹ mich der Vergangenheit, Geschichte(n) oder geschichtskulturellen Repräsentationen zuwende und betrachte meine eigene Prägung durch Sympathie- und Zugehörigkeitsgefühle, meine Wertvorstellungen und Normen. Ich stelle einen Rückbezug des Erkannten zu mir selbst her, in dem ich mich frage, ob ich aus dem Erkannten persönliche Orientierung erlange. Während der Begriff Reflexion für eine Handlung steht, soll der Begriff Reflexivität für das Reflexionsvermögen einer Person verwendet werden. Damit der Begriff Selbstreflexion nicht zur »Tautologie« wird,81 könnte unter dieser in Abgrenzung die Reflexion des Selbst, also der »Annahmen […] über die eigene Person«, verstanden werden.82
4.
Eignung einer Graduierung von Reflexionsakten zur Diagnostik
Zwischen den Überzeugungen verschiedener Geschichtsdidaktiker*innen seit den späten 1970er-Jahren tut sich eine für die Diagnostik wesentliche Gemeinsamkeit auf: Karl-Ernst Jeismann (1979),83 Bodo von Borries (grundlegend 1980)84 und 80 Innerhalb der Definition werden direkte Wortübernahmen aus den bereits vorgestellten Ansätzen nicht erneut kenntlich gemacht. Für den genauen Nachvollzug sei auf die vorangehenden Unterkapitel verwiesen. Der Begriff »geschichtskulturelle Repräsentationen« ist auf folgenden Beitrag zurückzuführen: Thünemann 2018, S. 128. 81 Tisdale 1998, S. 4. 82 Hannover/Greve 2012, S. 544. 83 Jeismann 1979, S. 42.
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Waltraud Schreiber (2003)85 sowie Wolfgang Hasberg (2005)86 und Jörg van Norden (2011)87 sprechen über graduelle oder typenabhängige Unterschiede in der an Reflexion gebundenen Bezugnahme oder Verweigerung einer Bezugnahme auf Geschichte(n)/Vergangenheit. Wie diese Unterschiede zu erkennen sind, wurde dabei noch nicht abschließend ausdifferenziert. Eine Differenzierung von Reflexionsakten anhand einer Graduierung vornehmen zu wollen, ist allerdings problematisch: Die Bilder unterscheidbarer Grade oder Stufen gleichsam einer Treppe passen deswegen nicht, weil im Zusammenhang mit reflexiven Gedankengängen nicht von einem kontinuierlichen Voranschreiten weder im Sinne einer einzuhaltenden Reihenfolge noch im Sinne von Qualitätsunterschieden ausgegangen werden kann. Es ist nicht sinnvoll, von den Inhalten der Reflexion (geht es um eine Reflexion über eigenes Handeln, über eigene Normen oder um das Selbst) auf die Qualität der Reflexion zu schließen oder überhaupt von außen bestimmten Erkenntnissen Qualität zuzuweisen.88 So »trivial«, wie das Geschichtsbewusstsein ist,89 können Schlüsse, die aus Reflexionsakten gezogen werden, von außen betrachtet unlogisch sein sowie Aussagen über Vergangenes, auf die Bezug genommen wird, historisch nicht triftig und einfach nicht durchdacht erscheinen. Qualitätsmessung sollte besser von der reflektierenden Person selbst vorgenommen werden: Für sie hat die Reflexion einen eigenen Wert. Sie allein kann einschätzen, wie bedeutsam die gewonnene Erkenntnis für sie selbst ist und bei ihr allein wird sich nachträglich zeigen, wie nachhaltig die Wirkung der eigenen Gedanken zu einer Orientierung beitragen konnten. Es ist die Struktur des Denkprozesses oder des Gedankens als solche, die bestimmt, ob jemand reflektiert hat oder nicht. Für die Diagnostik stellt sich folglich nicht die Frage der Qualitätsfeststellung, sondern danach, woran in Sprachhandlungen Reflexionen und Selbstreflexionen erkannt werden können. Innerhalb der Schwerpunktsetzungen der bestehenden theoretischen Annäherungen zeigen sich bereits Anhaltspunkte, um in empirischen Befunden verschiedene reflexive Gedankengänge ausfindig zu machen. So wird bei Jochen Huhn danach gefragt, »welche Erfahrungen, Vorinformationen, Wertvorstellungen« die eigene »Perspektive« beinträchtigen und »welche Gedanken, Erwar84 85 86 87 88
Borries 1980, S. 247, 260f. Schreiber 2003a, S. 393. Hasberg 2005, S. 699. Norden 2011, S. 239, Tab. 14. Hieraus ergibt sich das Problem, das Tobias Hasenberg im Kolloquium zwischen der Universität zu Köln und der RWTH Aachen University am 9. Februar 2021 mit »Pose statt Position« betitelte. Dieses Problem wird oft bei Gesprächen zu meinem Dissertationsvorhaben angesprochen: Um der Aufforderung der Reflexion Folge zu leisten und den Erwartungen des Gegenübers zu entsprechen, entscheiden sich Personen auch dazu, Erkenntnisse zu erfinden. 89 Knigge 1988.
Reflexivität, Reflexion und Selbstreflexion als Begriffe der Geschichtsdidaktik
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tungen und Gefühle« auf »welche Werte und Normen« schließen lassen.90 KarlErnst Jeismann zufolge kann »Reflexivität« es erlauben, zwischen »Wahrnehmung, Urteil, Einstellung zu unterscheiden und auf diese Weise die unterschiedlichen Strukturen und Zugriffe des Bewußtseins zu erkennen.«91
5.
Brandungsmodell zur Erfassung von Reflexionen und Selbstreflexionen
Die bestehende Theoriearbeit der Geschichtsdidaktik kombiniert mit meinen Erkenntnissen aus der empirischen Erkundung legen nahe, in der Diagnostik im schulischen respektive außerschulischen Bereich folgende reflexive Sprachhandlungen92 als Anhaltspunkte für Reflexionen respektive Selbstreflexionen zu verstehen. Ausgangspunkt für Reflexionsakte ist in jedem Fall eine Irritation: – Erwähnung – Bewertung ohne Attribution – Bewertung mit Attribution – Begründung über Norm/»Tatsachenüberzeugung«93 – Reflexion der Begründungsnorm – Selbstreflexion (»Annahmen […] über die eigene Person«)94 – Entwurf eines zukünftigen Ichs Das Erwähnen von Beobachtungen zu eigenen und fremden »Vergangenheitsdeutung[en]«, eigener »Gegenwartserfahrung«, eigenem »Gegenwartsverständnis« oder »Zukunftserwartung[en]«95 deutet bereits auf das »Innehalten«96 und, um auf den etymologischen Ursprung von Reflexion zurückzukommen, ein Zurückbeugen, oder Zurückdrehen, eine Retrospektive auf etwas, mit dem man sich befasst hat. Erwähnungen kann zusätzlicher reflexiver Gehalt beigemessen werden, wenn in diesen Bewertungen angesprochen werden. Diese können dabei ohne oder mit einem expliziten Bezugsobjekt, einer sogenannten Attribution, vorgenommen werden. Mit der Bezugnahme auf die eigenen Normen, wie sie von verschiedenen Geschichtsdidaktiker*innen angesprochen wird, gelangen wir zu einem Punkt, der dann offensichtlicher mit Reflexion assoziiert wird. Gleiches 90 Huhn 1995, S. 29, 37. 91 Jeismann 1988, S. 11. 92 Da das Brandungsmodell im Zusammenhang mit schriftlichen Texten entstanden ist, gilt es zu diskutieren, ob es ebenfalls auf mündliche Sprachhandlungen übertragen werden kann. 93 Reisenzein 2009, S. 442. 94 Hannover/Greve 2012, S. 544. 95 Vgl. Jeismann 1985, S. 16; ders. 1990, S. 63f.; Norden 2018, S. 286. 96 Bergmann 2013a, S. 111; ders. 2013b, S. 75.
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gilt für die Reflexion über die eigenen Begründungsnormen. Wird ferner hinterfragt, was die eigenen Gedanken und Gefühle mit den Vorstellungen »über die eigene Person« zu tun haben, so kann von Selbstreflexion gesprochen werden.97 Diese kann eine »Rollendistanz«98 beinhalten. Sie ist zu unterscheiden von Aussagen, in denen eine Zukunftserwartung oder -perspektive angesprochen wird. Der Zusammenhang zwischen den von mir angesprochenen Anhaltspunkten zur Erkennung von Reflexionen bzw. Selbstreflexionen besteht nicht zwangsläufig in einem progressiven Voranschreiten, das das Sinnbild einer Treppe nahelegt. Passend erscheint mir stattdessen das Bild des Verhaltens des Meeres an einem Deich: Die ersten Aspekte sind wie das Wellen schlagende Wasser: Nicht alles aufgewühlte Wasser schlägt Wellen (dies entspricht der Erwähnung), die Wellen, die entstehen sind wiederum unterschiedlich groß und können in der Brandung ineinander übergehen und größer werden (dies wiederum ähnelt den Bewertungen bis hin zur Reflexion der Begründungsnorm). Wellen können abflachen, wenn sich das Meer beruhigt. Vergleichbar ist dies mit der Klärung einer Irritation, die über Reflexion herbeigeführt wurde. Die Selbstreflexion ist dann das Wasser, das in Wogen oder flach zulaufend ans Ufer tritt und sich in Gischt verwandelt. Bei ruhigem Wasser ist die Gischt als Sinnbild der Auswirkung auf das Selbst gut sicht- und beobachtbar, bei stürmischer See ist der Eindruck nur sehr kurz und deswegen nicht zu vergegenwärtigen. Nur selten schlägt das Wasser über den Deich. Es kann überschwappen oder es kann ihn überfluten. Beide Szenarien können mit der Selbstreflexion über das zukünftige Ich gleichgesetzt werden. Im ersten Fall, dem Überschwappen, schließen Gedanken über das zukünftige Ich an Selbstreflexion an, die die Frage nach den »Annahmen […] über die eigene Person«99 stellt, indem beispielsweise gefragt wird, was möchte und kann ich zukünftig entsprechend meiner Erkenntnis in die Tat umsetzen? Muss ich an mir arbeiten, um diese Ziele realistisch erreichen zu können? Im Fall der Überflutung hingegen, werden Ziele für die Zukunft formuliert (in Zukunft gedenke ich, Folgendes zu tun…), ohne die Rückfrage an die eigene Person zu stellen, ob diese bei der eigenen Persönlichkeitsstruktur realistisch erreicht werden können, ohne am eigenen Selbst zu arbeiten.
97 Hannover/Greve 2012, S. 544. 98 Huhn 1995, S. 37. 99 Hannover/Greve 2012, S. 544.
Reflexivität, Reflexion und Selbstreflexion als Begriffe der Geschichtsdidaktik
6.
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Fazit und Ausblick
Die Anstrengung, Definitionen zu formulieren, um den alltagssprachlichen Begriffsgebrauch abzuschütteln, wird zwar schon seit etwa 30 Jahren unternommen, dennoch blieb die Vorstellung, Reflexion, Reflexivität und Selbstreflexion als Zentralbegriffe der Geschichtsdidaktik zu etablieren und sie in der Empirie beobachtbar zu machen, bisher ein Wunsch vereinzelter Stimmen und eine Forschungslücke. Dabei zeigt sich, dass die Herangehensweise, Reflexion mit verschiedenen Schritten des historischen Lernens in Verbindung zu bringen, wie es verschiedene Geschichtsdidaktiker*innen in den 1970er-Jahren vorsahen, als Anregung zu einer Differenzierung von reflexiven Gedankengängen dienen kann. Exemplarisch vorgestellte Definitionen zu reflexionsbezogenen Begriffen können produktiv zu einer Gesamtdefinition von Reflexion zusammengeführt werden, die von einer Definition von Selbstreflexion abzugrenzen ist. Reflexion und Reflexivität sind zwar zusammen zu denken, aber nicht austauschbar zu verwenden. Wenn eingeschätzt werden soll, ob Schüler*innen Informationen über Vergangenes, Geschichte(n) und Geschichtskultur (selbst)reflektiert und (selbst)reflexiv betrachten, so meine Kernannahme, ist es relevant, bei der Diagnostik zwischen »Vergangenheitsdeutung«, »Gegenwartsverständnis«, »Gegenwartserfahrung« und »Zukunftserwartung«100 zu unterscheiden. Die von mir vorgenommene empirische Analyse vermag es, anhand der hier genannten Anhaltspunkte des Brandungsmodells die jeismannschen Dimensionen für diagnostische Zwecke auszudifferenzieren und einen Ansatz der Unterscheidung von reflexiven Aussagen zu bieten.
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Eine geschichtsdidaktische Vermessung Postkolonialer Theorie. Potenziale und Grenzen Postkolonialer Kritik für die Geschichtsdidaktik und den Geschichtsunterricht
1.
Die Relevanz Postkolonialer Theorie für die Geschichtsdidaktik
Postkoloniale Theorie polarisiert. Kritiker*innen werfen ihr eine Herabwürdigung der emanzipatorischen Ideale der Aufklärung vor und sehen in ihr, gerade wenn sie von privilegierten weißen1 Intellektuellen betrieben wird, einen »Diskurs des Selbsthasses«, der geradezu obsessiv überall nach kolonialen Kontinuitäten und Kolonialrassismus sucht.2 Befürworter*innen hingegen preisen Postkoloniale Theorie als die rechtmäßige Erbin antikolonialer und teilweise auch marxistischer Theorietraditionen3 oder sehen in ihr gar eine neue globale kritische Theoriebildung für das 21. Jahrhundert in der Tradition der Frankfurter Schule.4 Seit der Jahrtausendwende ist die aus dem angloamerikanischen Kontext stammende Postkoloniale Theorie auch verstärkt in der deutschen Wissenschaftslandschaft angekommen,5 wobei sich die Verankerung in den einzelnen Disziplinen ganz unterschiedlich darstellt. In der Geschichtswissenschaft ist Postkoloniale Theorie sicherlich zentral für den immer noch andauernden Boom der Kolonialgeschichtsschreibung seit den 2000er Jahren verantwortlich.6 Durch die in den letzten Jahren wachsende mediale Aufmerksamkeit für Fragen nach dem Umgang mit der Deutschen Kolonialvergangenheit in Erinnerungskultur und Geschichtspolitik sowie für Debatten über Kontinuitäten v. a. von Kolonialrassismus haben Argumente Postkolonialer Theorie zudem mittlerweile eine 1 Im Folgenden bezeichnen weiß und Schwarz gesellschaftlich konstruierte Positionen. Schwarz wird dabei als politische Selbstbezeichnung großgeschrieben. 2 Heinze 2020, S. 12. 3 Vgl. Young 2016, S. 6. 4 Vgl. Kerner 2018, S. 616f. 5 Vgl. Castro Varela/Dhawan 2015, S. 7. 6 Ein systematischer Sammelband Postkoloniale Geschichtswissenschaft liegt allerdings noch nicht vor.
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breite Öffentlichkeit erreicht. Dies ist maßgeblich das Verdienst der vielen in Deutschland seit den ausgehenden 2000er Jahren gegründeten zivilgesellschaftlichen postkolonialen Initiativen, die sich in ihrer Arbeit – mehr oder weniger explizit – auf Postkoloniale Theorie berufen.7 Einen wichtigen Katalysator, dass die in der Erinnerungskultur lange vernachlässigte deutsche Kolonialgeschichte und die Argumente Postkolonialer Kritik gesamtgesellschaftlich diskutiert werden, stellten dabei die Auseinandersetzungen um das Humboldt Forum im wiederaufgebauten Berliner Stadtschloss und die Forderungen nach Rückgaben von aus der Kolonialzeit stammenden Kulturgütern aus ethnologischen Sammlungen dar.8 Somit sind es vor allem zwei Entwicklungen, die unsere Disziplin zur Auseinandersetzung mit Postkolonialer Theorie auffordern: zum einen die Rezeption in der für die Geschichtsdidaktik zentralen Bezugsdisziplin, der Geschichtswissenschaft, und zum anderen die skizzierten Kontroversen in der bundesdeutschen Geschichts- und Erinnerungskultur. Dabei ergeben sich zahlreiche Anknüpfungspunkte zu mehreren aktuell in der Geschichtsdidaktik diskutierten Debatten, z. B. um Diversität und Inklusion,9 rassismuskritisches historisches Lernen10 und vor allem zu welt- und globalgeschichtlichem Lernen.11 Im deutschen Kontext wurde Postkoloniale Theorie erstmals 2016 mit der Zeitschrift für Geschichtsdidaktik zum Thema Geschichtsdidaktik postkolonial prominent auf die Tagesordnung der Disziplin gesetzt. In der Einleitung des Bandes hat der Heftherausgeber, Bernd-Stefan Grewe, den bis heute einzigen systematischen theoretischen Aufschlag zum Potenzial Postkolonialer Theorie für die Geschichtsdidaktik vorgelegt, an den die
7 In Deutschland existieren mittlerweile so viele postkoloniale Stadtinitiativen wie in keinem anderen europäischen Land. 2018 wurde das bundesweite Netzwerk Decolonize! gegründet, in dem sich Postkolonial- und Decolonize-Gruppen sowie weitere zivilgesellschaftliche Akteur*innen, v. a. Selbstorganisationen Schwarzer Menschen in Deutschland, zusammengeschlossen haben. Ziel dieser erinnerungspolitischen sozialen Bewegung ist die kritische Auseinandersetzung mit der Geschichte und Erinnerung an den deutschen Kolonialismus sowie die Bekämpfung von Kolonialrassismus (vgl. https://decolonize.noblogs.org/, aufgerufen am 30. 04. 2021). Ausführlicher zu den geschichtspolitischen postkolonialen Initiativen, vgl. Bernhard 2016, S. 101f. 8 Bereits 2013 haben postkoloniale Initiativen, zusammen mit weiteren zivilgesellschaftlichen Akteur*innen, im Rahmen des Aufrufs NoHumboldt21! die Aussetzung der Arbeiten am Humboldt Forum gefordert (vgl. https://www.no-humboldt21.de/resolution/, aufgerufen am 30. 04. 2021). Zu ihrer Kritik am Humboldt Forum ausführlich: vgl. AfricAvenir International e.V. 2017. 9 Vgl. z. B. Barsch u. a. 2020, S. 9–24. 10 Vgl. z. B. Brüning/Deile/Lücke (Hrsg.) 2016. 11 Vgl. z. B. Popp/Schumann/Bernhard 2019, S. 1–16.
Eine geschichtsdidaktische Vermessung Postkolonialer Theorie
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geschichtsdidaktische Erschließung Postkolonialer Theorie in meiner Dissertation anknüpft.12 Im vorliegenden Beitrag sollen nun Kernthesen meiner geschichtsdidaktischen Vermessung Postkolonialer Theorie zur Diskussion gestellt werden. Mit Blick auf Potenziale und Grenzen Postkolonialer Kritik für die Geschichtsdidaktik soll insgesamt eine vermittelnde Position zwischen den beiden eingangs angeführten Einschätzungen Postkolonialer Theorie vertreten werden. So wird zwar argumentiert, dass durchaus Kritik an Postkolonialer Theoriebildung geübt werden kann, dass diese als notwendiger Anstoß von außen jedoch unverzichtbare Impulse für die Weiterentwicklung der Geschichtsdidaktik zu leisten in der Lage ist.13 Nach einer Begriffsdefinition (2.) wird ausführlich das zentrale Ergebnis der in meiner Dissertation vorgenommenen Übersetzung Postkolonialer Theoriebildung für die Geschichtsdidaktik und den Geschichtsunterricht vorgestellt (3.). Dabei handelt es sich um vier deduktiv aus der Postkolonialen Theorie abgeleitete Claims, anhand derer das Potenzial Postkolonialer Theoriebildung für die Geschichtsdidaktik erläutert werden soll. Gemeint sind damit vier Postulate an die Geschichtsdidaktik, die sie bei der Auseinandersetzung mit Themen zur europäischen Kolonialgeschichte berücksichtigen muss, will sie den zentralen Einsichten Postkolonialer Theoriebildung gerecht werden. Postkoloniale Theorie fordert in diesem Sinne für geschichtsdidaktische Reflexionen erstens ein erweitertes Kolonialismusverständnis (Claim 1), zweitens die Überwindung von Eurozentrismus (Claim 2), drittens das Aufzeigen der Gegenwartsbedeutung des Kolonialismus und von kolonialen Kontinuitäten (Claim 3) sowie viertens die Auseinandersetzung mit Kolonialrassismus (Claim 4). Abschließend wird aufgezeigt, wo aus geschichtsdidaktischer Perspektive Grenzen der Postkolonialen Theoriebildung liegen, und es wird eine Verortung Postkolonialer Theorie im geschichtsdidaktischen Theoriediskurs vorgenommen (4.).
12 Vgl. Grewe 2016, S. 5–30. 13 Die geschichtsdidaktische Theoriebildung hat von Beginn an wichtige Impulse von außen erhalten. Dies erfolgte z. B. durch soziale bzw. (geschichts-)politische Bewegungen (etwa die Frauenbewegung oder die Geschichtswerkstätten) und/oder durch die Bezugsdisziplinen der Didaktik der Geschichte (so im Falle des interkulturellen Lernens oder der Globalgeschichte).
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2.
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Begriffsdefinition: Postkoloniale Kritik statt Postkoloniale Theorie
Dass der Begriff postkolonial nicht immer klar definiert wird und bis heute »unscharf« bleibt, geben auch die beiden führenden Vertreter*innen Postkolonialer Theorie im deutschsprachigen Raum, María do Mar Castro Varela und Nikita Dhawan, offen zu.14 Das Präfix post impliziert, wie Stuart Hall betont, ähnlich wie in verwandten Fällen (etwa der Postmoderne), eine produktive Spannung zwischen einem chronologischen nach dem formellen Ende kolonialer Herrschaft und einem epistemologischen Hinausgehen über den Kolonialismus, verstanden rein als Herrschaftsbeziehung.15 Bernd-Stefan Grewe hat überzeugend argumentiert, dass sich die Relevanz Postkolonialer Theoriebildung – gerade auch für die Geschichtsdidaktik – erst erschließt, wenn man sich auf ihren im Sinne von Hall erweiterten Kolonialismusbegriff einlässt. Kolonialismus meint demzufolge nicht ausschließlich politische oder wirtschaftliche Herrschaft. Vielmehr stellt Kolonialismus auch eine Ideologie bzw. Mentalität dar, mit der Beherrschung bzw. Ausbeutung der Kolonien gerechtfertigt wurde und die auch wiederum Rückwirkungen auf die kolonialen Metropolen hatte und Welt- und Selbstbilder westlicher Gesellschaften bis heute prägt (vgl. ausführlich Claim 1).16 Vor allem die marxistische Kritik hat von Beginn an die Vernachlässigung ökonomischer und sozialer Kategorien in den häufig von Literaturwissenschaftler*innen wie Edward Said, Homi Bhabha und Gayatri Spivak verfassten kanonischen Texten aus der Entstehungszeit Postkolonialer Theorie in den 1970er/1980er Jahren kritisiert. Allerdings ist diese Kritik im postkolonialen Diskursfeld inzwischen auch selbstkritisch aufgenommen worden. So wurde längst ein »materialist turn«17 in den Postkolonialen Studien diagnostiziert, so dass die Verschränkung und gegenseitige Bedingtheit von Kolonialismus als Herrschaftspraxis und von Kolonialismus als diskursiver Machtstruktur und Ideologie mittlerweile als konstitutives Zugriffselement Postkolonialer Theorie gelten kann. Insgesamt haben marxistische Theoretiker*innen auch gezeigt, dass Postkoloniale Theorie weder das Erbe antikolonialer und marxistischer Theoriebildung angetreten hat,18 noch eine einheitliche Theorie darstellt, die eine neue globale
14 15 16 17 18
Castro Varela/Dhawan 2015, S. 15. Vgl. Hall 2002, S. 236–238. Vgl. Grewe 2016, S. 9f. Procter 2007, S. 173. Zu einer ausführlichen Kritik an dieser v. a. von Robert Young vertretenen These, vgl. Lazarus 2013, S. 332–335.
Eine geschichtsdidaktische Vermessung Postkolonialer Theorie
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kritische Theorie begründen könnte.19 Bei Postkolonialer Theorie handelt es sich m. E. daher auch nicht um ein kohärentes Theoriegebäude, sondern um ein kritisches Korrektiv. Und gerade in dieser »open-ended critical inquiry«,20 die zu fortgesetzten kritischen Interventionen auffordert,21 liegt m. E. das Potenzial Postkolonialer Theorie für die Geschichtsdidaktik. Um diesen kritischen Impetus in den Vordergrund zu stellen, wird im Folgenden, statt von Postkolonialer Theorie, synonym auch von Postkolonialer Kritik gesprochen. Diese stellt einen machtkritischen, emanzipatorischen Zugang dar. Sie fragt nach häufig vergessenen bzw. verdrängten Zusammenhängen und Verflechtungen von materiellen wie diskursiven Herrschafts- und Ausbeutungsmechanismen des historischen europäischen Kolonialismus (ab 1415/1492) mit gegenwärtigen globalen wirtschaftlichen, politischen und diskursiven Machtstrukturen. Dabei stellt Postkoloniale Kritik, auch nach dem materialist turn, weiterhin zentral ein wissenspolitisches Projekt dar. Ihm geht es darum, globale diskursive Machtstrukturen in Form einer eurozentrischen Wissensordnung sowie deren Rolle bei der Rechtfertigung kolonialer (und neokolonialer) Ausbeutungsverhältnisse sichtbar und kritisierbar zu machen. Postkoloniale Kritik will (ähnlich wie feministische Kritik) als engagierte Wissenschaft und erklärtermaßen normativer Ansatz nicht nur Veränderungen im akademischen Feld anstoßen, sondern auch in Politik und Gesellschaft hineinwirken. Und ähnlich wie feministische Kritik ist es eine Perspektive, die stets mitzudenken ist. Im Unterschied z. B. zur Querschnittskategorie Gender sind Postkolonialer Kritik m. E. allerdings insofern Grenzen gesetzt, da sie nicht in gleicher Weise auf die Zeit vor Beginn der europäischen Expansion und des europäischen Kolonialismus der Neuzeit angewendet werden kann. Allerdings geht die Zuständigkeit Postkolonialer Kritik weit über Phänomene hinaus, die im gegebenen Geschichtsunterricht in den Kapiteln Kolonialismus bzw. Imperialismus22 behandelt werden. Dies gilt nicht nur für die Geschichte der Gegenwart und dortige Fragen nach dem kolonialen Erbe, sondern
19 20 21 22
Vgl. hierzu: Chibber 2013, S. 3. Dirlik 2006, S. 82. Vgl. Castro Varela/Dhawan 2015, S. 17. Die europäische und deutsche Kolonialgeschichte wird im Narrativ des bundesdeutschen Normalcurriculums und in Geschichtsschulbüchern – abgesehen vom ausführlich behandelten Beginn der europäischen Expansion in die Amerikas im 15. und 16. Jahrhundert – vor allem als Teil des europäischen Imperialismus dargestellt. Das Fehlen der Abgrenzung der Begriffe Kolonialismus und Imperialismus hat nicht nur zur Folge, dass im Geschichtsunterricht die Auseinandersetzung mit dem Kolonialismus weitgehend auf diese Phase des Hochimperialismus Ende des 19. bzw. Anfang des 20. Jahrhunderts beschränkt bleibt. Auch wird dadurch der Eindruck erweckt, dass sich Imperialismus als Phänomen ausschließlich auf die europäische Kolonialherrschaft in Afrika und Asien bezieht.
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mit Blick auf historiographische und rezeptionsgeschichtliche Aspekte auch für vorkoloniale Epochen.23
3.
Das Potenzial Postkolonialer Theorie für die Geschichtsdidaktik – die vier postkolonialen Claims
Die im Folgenden ausgeführten vier Claims stellen eine idealtypische Checkliste für die Analyse und Planung von z. B. Lehr-Lernmitteln, Geschichtsunterricht oder geschichtskulturellen Produkten zu Themen des europäischen Kolonialismus dar, wenn zentrale Erkenntnisse Postkolonialer Theorie sowie geschichtsdidaktische Standards berücksichtigt werden sollen.
Claim 1: erweitertes Kolonialismusverständnis Claim 1 betrifft Fragen nach dem Kolonialismusverständnis und zielt stark auf die Inhaltsebene. Postkoloniale Theorie richtet sich dabei in mehrerlei Hinsicht gegen ein aus ihrer Sicht verkürztes Verständnis, das Kolonialismus vor allem als abgeschlossene Epoche und als vergangenes territoriales Herrschaftsverhältnis in Übersee bzw. als Form politischer Herrschaft auffasst.24 Ein im Sinne Postkolonialer Theorie erweitertes Kolonialismusverständnis stellt demgegenüber vier Forderungen, die auch für die geschichtsdidaktische Auseinandersetzung mit dem europäischen Kolonialismus folgenreich sind: – Erstens muss klargestellt werden, dass Kolonialismus in diesem Sinne nicht mit der Auflösung der großen Kolonialreiche in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts endete, sondern dass die Folgen des historischen Kolonialismus auf verschiedenen Ebenen bis in die Gegenwart andauern. Aus geschichtsdidaktischer Perspektive betrifft dies vor allem das Prinzip des Gegenwartsbezugs sowie die Konzeptualisierung von Dauer und Wandel und von Kontinuität (vgl. hierzu ausführlich Claim 3). – Zweitens soll Kolonialismus, wie oben mit Hall und Grewe skizziert, nicht nur als politische bzw. wirtschaftliche Herrschaft, sondern auch als Ideologie bzw. mentale Struktur behandelt werden. Hieraus ergibt sich die Frage, welche Rolle diese kulturelle Dimension von Kolonialismus für das Geschichtsbe23 So wäre es ein lohnendes Unterfangen mit dem Instrumentarium Postkolonialer Kritik z. B. die Kapitel zur Steinzeit in aktuellen Schulbüchern auf im 19. Jahrhundert unter dem Einfluss eines kolonialen Weltbildes entstandene Topoi zu untersuchen. 24 Zur kritischen Auseinandersetzung mit herkömmlichen Kolonialismus-Definitionen, vgl. z. B. Conrad 2012, S. 3f.
Eine geschichtsdidaktische Vermessung Postkolonialer Theorie
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wusstsein von Gesellschaften spielt. Dies gilt für die Gesellschaften in den (ehemaligen) Kolonien und in den (ehemaligen) Metropolen und in gleicher Weise für die Untersuchung der Vergangenheit wie für die Auseinandersetzung mit dem Andauern entsprechender Mentalitäten und Denkmuster in der Gegenwart.25 – Drittens soll Kolonialismus als Beziehungs- bzw. Verflechtungsgeschichte dargestellt werden. Vor dem Hintergrund eines Verständnisses des europäischen Kolonialismus als globales Phänomen werden dabei sowohl Wechselwirkungen zwischen den Kolonien und den Metropolen als auch zwischen den Kolonialmächten und den Kolonisierten untereinander in den Fokus gerückt. Eine postkoloniale Perspektive betont dabei besonders die Handlungsmacht bzw. Handlungsfähigkeit (agency) der Kolonisierten und den Widerstand gegen die jeweilige Kolonialmacht. – Viertens soll der europäische Kolonialismus der Neuzeit als Gewaltherrschaft und Unrechtssystem charakterisiert werden. Die Bedeutung von Gewalt für die Durchsetzung und Aufrechterhaltung kolonialer Herrschaft wurde bereits vor der Entstehung der Postkolonialen Theorieschule v. a. von Intellektuellen des antikolonialen Widerstandskampfes wie z. B. Frantz Fanon thematisiert.26 Diese Kritik aufgreifend fordert auch Postkoloniale Theorie, dass Kolonialismus und die mit ihm einhergehende Gewalt27 als »darker side«28 der Geschichte der europäischen Moderne mitgedacht und Kolonialismus als Unrechtssystem benannt und kritisiert werden müssen. Mit Blick auf eine historisch reflektierte Urteilsbildung muss die Frage, inwiefern Kolonialismus ein Unrechtssystem darstellte, aus geschichtsdidaktischer Sicht m. E. allerdings differenziert betrachtet werden. Dass der Kolonialismus aus heutiger Perspektive ein Unrechtssystem darstellt, dazu liegen eindeutige Erklärungen der Vereinten Nationen vor.29 Die Frage, inwiefern Kolonialismus bzw. das Verhalten bestimmter Akteur*innen auch aus zeitgenössischer Perspektive 25 Vgl. Grewe 2016, S. 9f. 26 Vgl. z. B. Fanon 1981 [1961]. 27 Sogar einer der schärfsten Kritiker Postkolonialer Theorie, Vivek Chibber, erkennt an, dass ein Verdienst der Postkolonialen Theoriebildung darin liegt, die Gewalt und Brutalität des Kolonialismus herausgearbeitet und in den wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Diskurs eingebracht zu haben (vgl. https://www.deutschlandfunkkultur.de/soziologe-vivek-ch ibber-die-blinden-flecken-des.2162.de.print?dram:article_id=463589, aufgerufen am 30. 04. 2021). 28 Mignolo 2011. 29 So erklärte z. B. die UN-Generalversammlung am 12. Oktober 1970 im »Programme of action for the full implementation of the Declaration on the Granting of Independence to Colonial Countries and Peoples« die Fortsetzung von Kolonialismus in all seinen Formen und Manifestationen zu einem Verbrechen (vgl. https://www.refworld.org/docid/3b00f0530.html, aufgerufen am 30. 04. 2021).
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Unrecht darstellten (bzw. zeitgenössisch als Unrecht gesehen wurden), lässt sich hingegen – auch mit Blick auf die verschiedenen Phasen und unterschiedlichen Formen kolonialer Herrschaft im Rahmen der über 500-jährigen Geschichte der europäischen Expansion – pauschal wohl nicht beantworten. Die Rekonstruktion der zeitgenössischen Wertmaßstäbe und Haltungen zum europäischen Kolonialismus ist dabei aus geschichtsdidaktischer Sicht aus zwei Gründen zentral. Ein differenzierter Blick auf zeitgenössische Urteile über den historischen Kolonialismus kann zum einen simplifizierender und ahistorischer Moralisierung und der Entwicklung unreflektierter moralischer Überlegenheitsgefühle entgegenwirken. Zum anderen kann am Beispiel zeitgenössischer Personen die – entgegen dem Mainstream der Zeit – anders dachten und/oder Widerstand leisteten, historisches Lernen angeleitet werden, das ein Denken in Alternativen30 ermöglicht.
Claim 2: Überwindung des Eurozentrismus Das postkoloniale Claim 2 betrifft Forderungen nach einer Kritik an und Überwindung des Eurozentrismus.31 Dabei handelt es sich um eine Frage, die in der Geschichtsdidaktik – im Zuge der Debatte um eine globalgeschichtliche Erweiterung des auf einem nationalen Denkrahmen basierenden deutschen Geschichtsunterrichts – seit längerem diskutiert,32 von Postkolonialer Kritik nun aber systematisch eingefordert wird. Hinsichtlich eines kritischen Umgangs mit der Quellenlage bzw. Quellenüberlieferung, mit Narrativen und Begriffen sowie mit Blick auf eine reflexive Auseinandersetzung mit Mechanismen der Herstellung von Differenz und der Produktion von Wissen, stellt Postkoloniale Theorie die geschichtsdidaktische Auseinandersetzung mit der Kolonialgeschichte vor mehrere Herausforderungen. Eine Kernforderung Postkolonialer Kritik lautet dabei, die Narrative, Perspektiven und auch Weltbilder der Kolonisierten gleichberechtigt in die bisher einseitig eurozentrischen Geschichtsdarstellungen zu integrieren, um so die agency der Kolonisierten herauszustellen. Im Folgenden soll argumentiert werden, dass geschichtsdidaktische Konzepte und Gütekriterien einen wichtigen Beitrag leisten können, um diese Forderungen in einer Weise umzusetzen, die dem Anliegen gerecht wird und zugleich der Gefahr einer Romantisierung entgegenwirkt.
30 Vgl. Schulz-Hageleit 2008, S. 403–418. 31 Eurozentrismus wird hier als Projekt einer unkritischen Universalisierung europäischer historischer Erfahrungen, Wertvorstellungen und Weltbilder verstanden, die als grundsätzlich überlegen imaginiert werden (vgl. Popp 2014, S. 63f.). 32 Vgl. hierzu Bernhard/Popp/Schumann 2021, S. 18–32.
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Eine erste Herausforderung liegt in dem häufig vorzufindenden Umstand, dass es an Quellen mangelt, die die Sicht der Kolonisierten widerspiegeln, und in der Frage, wie mit vorhandenen Quellen aus der Perspektive der Kolonisator*innen umgegangen werden kann. Neben einem gegen den Strich lesen europäischer Quellen muss die Geschichtsdidaktik, gerade mit Blick auf die Geschichte schriftloser Kulturen, m. E. verstärkt Forschungsergebnisse benachbarter Disziplinen, wie der Anthropologie, Archäologie, Ethnologie, bzw. Erkenntnisse aus interdisziplinären Forschungsfeldern wie den Material Culture Studies heranziehen. Aus geschichtsdidaktischer Sicht ist es mit Blick auf das Unterrichtsprinzip der Quellenorientierung und die Methodenkompetenz dabei m. E. für den Geschichtsunterricht nicht ausreichend, wenn die Forschungsergebnisse der Nachbardisziplinen lediglich in Darstellungstexten referiert werden. Vielmehr sollten die Lernenden im Sinne der Erweiterung ihrer historischen Methodenkompetenz einen direkten Einblick in die Forschungsprozesse, die eingesetzten Methoden und die verwendeten Quellen bzw. Materialien erhalten und die Ergebnisse kritisch diskutieren. Dabei gilt es, z. B. im Fall von oral history-Quellen, wie Erzählungen von Legenden und Mythen, auch klar zu benennen, wo die jeweilige Methode an Grenzen stößt.33 Den postkolonialen Impetus, Geschichten von erfolgreichem Widerstand in das gegebene eurozentrische Geschichtsnarrativ zu integrieren, gilt es aus geschichtsdidaktischer Sicht mit den Forderungen der globalgeschichtlichen Forschung in Einklang zu bringen, Kolonialgeschichte als machtsensible Verflechtungsgeschichte zu schreiben. Dies bedeutet z. B. eine pauschale Einteilung in aktive Kolonisator*innen und passive Kolonisierte zu vermeiden und so die Vorstellung einer totalen Herrschaft der Kolonialmächte über die Kolonisierten aufzubrechen, zugleich aber doch den Gewaltcharakter des Systems nicht zu verschleiern. Als agency gilt dabei ein weites Spektrum von Verhaltensweisen, das von Widerstand, Mimikry, eigen-sinnigen34 Aneignungen bis hin zur Kollaboration mit der Kolonialmacht oder gar der Übernahme der Machtposition der Kolonisatoren nach dem offiziellen Ende formeller Kolonialherrschaft reicht. Dabei gilt es auch die Grenzen dieser Handlungsfähigkeit zu benennen. Eine postkoloniale Geschichtsvermittlung muss die Spannung aushalten, einerseits die existierende Machtungleichheit und Gewalt herauszuarbeiten, andererseits aber dennoch Spielräume der Kolonisierten und Formen von agency hervorzuheben.35 33 So lassen sich beispielsweise über Kultur, Mentalität, Weltbilder oder die soziale Organisation gerade von schriftlosen Kulturen mithilfe der oral history wertvolle Erkenntnisse gewinnen, die so über andere Quellengattungen kaum oder gar nicht zugänglich sind. Mit Blick auf die res gestae zum Beispiel sind oral history-Zugriffen allerdings klare Grenzen gesetzt. 34 Vgl. Alf Lüdtke 2015 [1993]. 35 Vgl. Schaper 2019, S. 14f.
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Die postkoloniale Kritik am Eurozentrismus von historischen Kategorien (wie Fortschritt), Begriffen (etwa Revolution oder Indianer) und (Raum-)Konzepten (wie Orient) berührt Fragen, die im geschichtsdidaktischen Kompetenzdiskurs in den Bereich der Sachkompetenz fallen. Die von Dipesh Chakrabarty geforderte Überwindung der unkritischen Universalisierung von an europäischen Maßstäben und Normen entwickelten Kategorien, Begriffen und (Raum-)Konzepten wurde von Bernd-Stefan Grewe zu Recht als eine der zentralen Herausforderungen Postkolonialer Theorie für die Geschichtsdidaktik diagnostiziert.36 Aus geschichtsdidaktischer Perspektive gilt es nun hierzu Reflexionen, Kontextualisierungen bzw. Kommentierungen anzuregen sowie mögliche Alternativen zu diskutieren. Gerade im Falle von in der postkolonialen Debatte besonders umstrittenen Kategorien, Begriffen und (Raum-)Konzepten reicht es m. E. allerdings mit Blick auf die Förderung historischer Begriffskompetenz37 nicht aus, bestimmte Begriffe (wie z. B. Indianer) als veraltet oder rassistisch zu markieren und einfach nur zu ersetzen. Vielmehr gilt es auch die Debatten um die Ersetzung dieser Begrifflichkeiten durch nicht-eurozentrische Alternativen reflexiv zu diskutieren. Dabei müssen zum einen Herkunft, De- und Konnotation der nichteurozentrischen Alternativen erläutert werden (z. B. für den Begriff Native American). Zum anderen muss gezeigt werden, dass es in den meisten Fällen unterschiedliche Positionen sowie kontroverse Auseinandersetzungen um die korrekte Begriffsverwendung gibt und dass sich auch die alternative Begriffsverwendung – je nach Kontext sowie im Verlauf der Zeit – wandeln kann. So existieren zum Begriff Native American als Alternativen z. B. Indigene, First Nations oder die Verwendung der jeweiligen Eigenbezeichnung der Gruppen.38 Dadurch kann den Lernenden ein m. E. in postkolonialen Debatten um Sprachgerechtigkeit bisweilen vernachlässigter Punkt veranschaulicht werden, nämlich dass es nie die eine richtige, für alle Zeit gültige Begriffsbezeichnung geben kann.
36 Vgl. Grewe 2016, S. 25–27. 37 Vgl. Schöner 2007, S. 272–277. 38 Der Historiker Manuel Menrath verwendet in seiner 2020 erschienenen Monografie »Unter dem Nordlicht. Indianer aus Kanada erzählen von ihrem Land«, sofern er nicht die Eigenbezeichnung der jeweiligen Gruppe benutzt, bewusst den Begriff Indianer, den er im Deutschen (anders als im Englischen) für die am wenigsten problematische Bezeichnung mit dem geringsten kolonialen Beigeschmack hält (vgl. https://www.deutschlandfunkkultur.de/manu el-menrath-unter-dem-nordlicht-kanadas-unerzaehlte.950.de.html?dram:article_id=483041, aufgerufen am 30. 04. 2021).
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Claim 3: Aufzeigen der Bedeutung der andauernden Geschichte des Kolonialismus für das Verständnis der Gegenwart und Zukunft (Aufzeigen kolonialer Kontinuitäten) Zentral für die Postkoloniale Theorie ist es aufzuzeigen, dass die Geschichte des Kolonialismus bzw. dass koloniale Beziehungen in vielerlei Hinsicht andauern und dass eine Analyse dieser kolonialen Kontinuitäten für die Lösung zentraler Probleme der Gegenwart und Zukunft eine wichtige Rolle spielt. Die Beziehungen zwischen der kolonialen Vergangenheit und der Gegenwart zu spezifizieren, stellt dabei eine sowohl von Postkolonialer Kritik als auch von geschichtsdidaktischer Theorie bisher unterschätzte Herausforderung dar. Koloniale Kontinuitäten werden in der Postkolonialen Theorie – und vor allem auch von postkolonialen Aktivist*innen – zwar häufig postuliert. Allerdings wird nur selten konkret erläutert, wie genau welche Strukturen aus der Zeit des historischen Kolonialismus bis in die Gegenwart nachwirken.39 Die Folge ist ein häufig eher metaphorisches Sprechen über die Beziehung gegenwärtiger Phänomene zur Kolonialvergangenheit. Dies ist zum Beispiel dann der Fall, wenn kolonial als vermeintlich selbsterklärendes Adjektiv eingesetzt wird und plakativ von kolonialer Mentalität, kolonialem Erbe oder eben pauschal von kolonialen Kontinuitäten die Rede ist. Problematisch daran ist vor allem, dass Postkoloniale Kritik – häufig ohne empirisch triftige Erläuterung der behaupteten Zusammenhänge – Geschichte als politisches Argument anführt und Konsequenzen aus den aufgezeigten Kontinuitäten für die Gegenwart fordert. Um solche Zusammenhänge zwischen Vergangenheit und Gegenwart zu konkretisieren ist m. E. eine Profilierung des auch in der Geschichtstheorie bzw. Geschichtswissenschaft40 bisher eher schwach definierten Kontinuitätsbegriffs nötig, wobei unterschiedliche Grade an Triftigkeit unterschieden werden sollen. Für die Beschreibung von kolonialen Kontinuitäten im engeren Sinn – bei Klaus Bergmann handelt es sich hier um die Kategorie des Gegenwartsbezugs als Ursachenzusammenhang41 –, sollen mit den beiden Historikerinnen Birthe Kundrus und Sybille Steinbacher drei Formen von Kontinuität unterschieden werden. – Kontinuität im Sinne »einer klaren Gradlinigkeit«:42 Diese Kontinuität lässt sich definieren über exakt benennbare, direkt wirksame Kausalzusammenhänge, etwa in Form von Wirkungsketten. Solche gradlinigen Kontinuitäten
39 40 41 42
Vgl. Stoler 2016, S. 4–6. Vgl. Kundrus/Steinbacher 2013, S. 12. Vgl. Bergmann 2007, S. 104f. Kundrus/Steinbacher 2013, S. 14.
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könnten z. B. über Personen, Strukturen (wie Institutionen) oder über die Tradierung von Wissen bzw. Ideologien erfolgen. – Kontinuität als das Andauernde in der Veränderung: Ein solches Verständnis von Kontinuität, das nach dem »Andauernden der Veränderung«43 bzw. dem Verhältnis von Kontinuität und Bruch fragt, berücksichtigt im Gegensatz zur Vorstellung gradliniger Kontinuitäten den Faktor Wandel. Bei Ursachenzusammenhängen dieses Typs gilt es stets von der Stabilität bestimmter Elemente bei gleichzeitiger Veränderung anderer auszugehen.44 Unter diesen zweiten Typus fallen wohl die meisten der in Postkolonialer Theorie, Geschichtswissenschaft und auch von Aktivist*innen diskutierten Fälle kolonialer Kontinuitäten. – Die Konstruktion von Kontinuitäten durch Gesellschaften: Schließlich können auch Gesellschaften selbst Kontinuitäten, wie z. B. Traditionen, konstruieren.45 Idealtypisch können aus geschichtsdidaktischer Sicht die Benennung und der empirische Beleg von kolonialen Kontinuitäten von der Frage nach der gegenwärtigen Bedeutung der aufgezeigten kolonialen Kontinuitäten getrennt werden. Dabei geht es um Urteile über die Gegenwarts- und Zukunftsbedeutung des historischen Kolonialismus, bei denen die in der deutschsprachigen Geschichtsdidaktik etablierte Unterscheidung zwischen Sach- und Werturteil kaum weiterhilft.46 Vielmehr handelt es sich hier m. E. um den von Holger Thünemann als Relevanzurteil beschriebenen Urteilstypus. Unter einem Relevanzurteil versteht er ein Urteil über die Bedeutung des zur Diskussion stehenden Phänomens für die Gegenwart und Zukunft. Dabei geht es im Kern um die Frage, welchen Beitrag ein bestimmtes historisches Phänomen für die historische Orientierung leisten kann. Relevanzurteile beruhen dabei auf mehr oder weniger explizit dargelegten – und stets standortgebundenen – Wertmaßstäben. Aus geschichtsdidaktischer Sicht gilt es diese Wertvorstellungen offenzulegen und plural über die jeweiligen Implikationen für die Gegenwart zu diskutieren. Dabei setzen Relevanzurteile, laut Thünemann, mehr oder weniger explizit, vergangenheitsbezogene Valenzurteile voraus, bei denen ein bestimmtes historisches Phänomen auf der Grundlage heutiger Wert- und Moralmaßstäbe beurteilt wird.47 Beim 43 44 45 46
Ebd. Vgl. Ebd., S. 13. Vgl. Ebd., S. 13f. Inga Kahlcke und Lisa Fauth zeigen, dass in der Geschichtsdidaktik bis heute keine einheitlichen Definitionen der Begriffe Sach- und Werturteil existieren. Auch besteht kein Konsens darüber, wie genau die beiden Urteilsebenen zueinander in Beziehung stehen und voneinander abgegrenzt werden können (vgl. Kahlcke/Fauth 2020, S. 35, S. 37–39). 47 Vgl. Thünemann 2020, S. 17f.
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Urteil über die Bedeutung kolonialer Kontinuitäten für die Gegenwart und Zukunft geht es m. E. nun genau um ein solches Relevanzurteil. Dem liegt dabei das Valenzurteil zugrunde, dass es sich beim historischen Kolonialismus, zumindest vor dem Hintergrund heutiger moralischer Maßstäbe, um ein Unrechtssystem handelt (vgl. hierzu Claim 1). Diese Einschätzung legt nahe, dass bei der Auseinandersetzung mit kolonialen Kontinuitäten vor allem die Bedeutung der Folgen von historischem Unrecht für die Gegenwart ausgehandelt wird. Mit Blick auf solche Relevanzurteile ist aus der Perspektive Postkolonialer Kritik relativ eindeutig, dass es um Anerkennung von und Entschuldigung für Unrecht sowie um Wiedergutmachung, Reparationen und die Veränderung andauernder Machstrukturen gehen muss. Um hier jenseits simplifizierender Täter-Opfer-Dichotomien über historische Verantwortung nachdenken zu können, erscheint m. E. das vom Literaturwissenschaftler und Holocaust-Forscher Michael Rothberg vorgeschlagene Konzept der implication bzw. des implicated subject zukunftsweisend. Mit implication versucht Rothberg für historisches Unrecht, das wir selbst nicht getan haben, eine Kategorie kollektiver Verantwortung zu entwickeln.48 Er definiert das implicated subject dabei wie folgt: »An implicated subject is neither a victim nor a perpetrator, but rather a participant in histories and social formations that generate the positions of victim and perpetrator, and yet in which most people do not occupy such clear-cut roles. Less ›actively‹ involved than perpetrators, implicated subjects do not fit the mold of the ›passive‹ bystander, either. Although indirect or belated, their actions and inactions help produce and reproduce the positions of victims and perpetrators.«49 Rothberg zeigt, dass sich die Kategorie der implication gerade für die Auseinandersetzung über Fragen nach kollektiver Verantwortung für Geschichten von historischer Gewalt eignet, bei denen es um z. T. weit zurückliegende Beispiele geht, wie den Transatlantischen Versklavungshandel, bei denen weder gradlinige Kontinuitäten, noch klare Brüche identifiziert werden können.50
Claim 4: Die Auseinandersetzung mit Kolonialrassismus Claim 4 betrifft Fragen nach dem Rassismusverständnis. Dabei kann mit Hilfe eines postkolonialen Zugriffs ein historisierender Blick auf Rassismus51 erfolgen, der gerade mit Blick auf das Fortwirken von Rassismus in der Gegenwart wichtige 48 49 50 51
Vgl. Rothberg 2019, S. 1, S. 12. Ebd., S. 1. Vgl. Ebd., S. 8. Vgl. Kimmich/Bergmann/Lavorano 2016, S. 115f.
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Implikationen für die geschichtsdidaktische Debatte um rassismuskritisches historisches Lernen hat. In der deutschen postkolonialen Debatte wird zur Charakterisierung von antiSchwarzem Rassismus synonym auch der schwach definierte Begriff Kolonialrassismus verwendet. Problematisch beim Sprechen über Kolonialrassismus ist meiner Einschätzung nach, dass dabei bisweilen die beiden Zeitebenen der Vergangenheit und der Gegenwart verwischt werden, was Missverständnisse zur Folge haben kann. Ein postkolonialer, historisierender Zugriff auf Kolonialrassismus kann hier zu einer Differenzierung beitragen, wofür im Folgenden begriffliche Präzisierungen vorgeschlagen werden. Kolonialrassismus I: Kolonialer Rassismus (historische Ebene) Auf der Ebene der Vergangenheit geht es aus postkolonialer Perspektive um die Analyse konkreter Erscheinungsformen von Kolonialrassismus in spezifischen kolonialen Kontexten. Historisch gesehen stellt der Kolonialrassismus für viele Rassismusforscher*innen die prototypische, biologistisch argumentierende Form des Rassismus dar.52 Mit Blick auf den globalen Charakter des europäischen Kolonialunternehmens gilt es m. E. die – gerade bei postkolonialen Aktivist*innen und in antirassistischen Initiativen – zu beobachtende Gleichsetzung von Kolonialrassismus mit anti-Schwarzem Rassismus zu differenzieren. So kann unter Kolonialrassismus auch der Rassismus gegen die indigene Bevölkerung der Amerikas oder der antiasiatische Rassismus im Kontext der europäischen Expansion im asiatischen Raum fallen, die in Teilen anders funktionierten als der anti-Schwarze Rassismus (der allerdings zweifellos den Prototyp des Kolonialrassismus darstellt). Um auf historischer Ebene die konkrete Erscheinungsform des Rassismus in einem spezifischen historischen kolonialen Kontext zu fassen, wird daher die Verwendung des Begriffs kolonialer Rassismus vorgeschlagen.
52 Floris Biskamp nennt fünf Merkmale von Kolonialrassismus: erstens, die Rechtfertigung extremer Formen von Entrechtung und Ausbeutung; zweitens, eine unüberwindbare bzw. wesenhafte Differenz zwischen den Kolonisierenden und den Kolonisierten; drittens, die Einstufung der rassifizierten Anderen als minderwertige Menschengruppe (was bis zum Ausschluss aus der Menschheitsfamilie gehen kann); viertens, die Charakterisierung der Anderen als irrational, naturnah, triebhaft und faul (bis hin zur behaupteten Unfähigkeit, ein sinnvolles, selbstbestimmtes Leben führen zu können); und fünftens, die Begründung dieser Zuschreibungen durch die Biologie bzw. die biologische Abstammung, was in der Konstruktion verschiedener Menschenrassen gipfelte (vgl. Biskamp 2017, S. 272f.).
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Kolonialrassismus II (Ebene der Gegenwart) Mit Blick auf gegenwärtige Formen von Rassismus bzw. Rassismen53 ist es aus postkolonialer Perspektive von zentraler Bedeutung genau aufzuzeigen, wie kolonialer Rassismus in der Gegenwart fortwirkt (vgl. Claim 3). Dabei sollen im Folgenden zwei Spielarten des Kolonialrassismus auf der Ebene der Gegenwart unterschieden werden. A, Koloniale Imaginationen und Praktiken in aktuellen Rassismen: In diese Kategorie fallen tradierte Imaginationen (Begriffe, Bilder und Stereotypen) wie z. B. Vorstellungen vom edlen Wilden,54 aber auch Praktiken aus dem Repertoire des kolonialen Rassismus, die in heutigen Rassismen nach wie vor präsent sind, z. B. im Umgang deutscher Behörden mit Schwarzen Geflüchteten aus afrikanischen Ländern.55 B, Postkolonialer Rassismus aus Erinnerungsabwehr: Unter Postkolonialem Rassismus aus Erinnerungsabwehr verstehen Wulf Hund und Malina Emmerink die systematische Ausklammerung bzw. aktive Zurückweisung der Bedeutung der Kolonialgeschichte und des Kolonialismus in öffentlichen Diskussionen zu Rassismus heute, was ein unerkanntes Fortwirken von kolonialem Rassismus in gegenwärtigen Rassismen erleichtert.56 Heute kann sich Postkolonialer Rassismus aus Erinnerungsabwehr, so Hund und Emmerink, konkret darin äußern, »[…] koloniales Unrecht herunterzuspielen, langjährige Auswirkungen des Kolonialismus zu bestreiten und die Bevölkerung der ehemaligen Kolonien für gegenwärtige Probleme allein verantwortlich zu machen. Zudem trachtet er danach, postkoloniale Kritik als Flucht vor der eigenen Verantwortung zu delegitimieren und heutige wirtschaftliche wie politische Probleme zur Folge vormo53 Da die Begründungsmuster des Rassismus ebenso wie die sozialen bzw. gesellschaftlichen Machtverhältnisse, die dadurch legitimiert werden, jeweils historisch spezifiziert werden müssen, hat Stuart Hall vorgeschlagen, von Rassismen im Plural zu sprechen (vgl. Hall 2000, S. 11). Dabei gehen viele aktuelle Formen von Rassismus nicht länger von angeblich höheroder minderwertigen Rassen aus, sondern sprechen stattdessen von vermeintlich unterschiedlich wertvollen Kulturen oder Religionen (vgl. Biskamp 2017, S. 274f.) 54 Für ein Beispiel, dass Vorstellungen vom edlen Wilden in Unterrichtsmaterialien noch erschreckend gradlinig tradiert werden, siehe z. B. den offenen Brief der NGO glokal e.V., in der kolonialer Rassismus in der 2015 im Klett Verlag erschienenen Serie »Meine Indianerhefte« kritisiert wird (vgl. https://www.glokal.org/wp-content/uploads/2018/09/OffenerBrief_Klett. pdf, aufgerufen am 30. 04. 2021). 55 Konkrete Beispiele sind die willkürliche Altersfestsetzung, die Unterbringung in z. T. menschenunwürdigen Lagern sowie der Einsatz von Brechmittelfolter. Dabei handelt es sich um Fälle kolonialer Kontinuitäten, bei denen Dauer und Wandel zu konstatieren ist (vgl. https:// taz.de/!5679550/, aufgerufen am 30. 04. 2021). 56 Mit dem Begriff der Erinnerungsabwehr beziehen sie sich u. a. auf Theodor W. Adorno, der damit die Zurückweisung der Geschichte des Antisemitismus und deren Fortwirken in der bundesrepublikanischen Nachkriegsgesellschaft beschrieben hat (vgl. Hund/Emmerink 2018, S. 292).
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derner Einstellungen und Handlungen zu erklären«.57 Hierunter fallen auch das Nicht-Erkennen von Rassismus bzw. die Widerstände gegen Änderungsforderungen in heutigen geschichts- und erinnerungskulturellen Debatten z. B. um Straßenumbenennungen, rassistische Begriffe in Kinderbuchklassikern oder um Blackfacing.58
4.
Die Grenzen Postkolonialer Theorie aus geschichtsdidaktischer Perspektive und die Verortung Postkolonialer Kritik im geschichtsdidaktischen Diskurs
Bereits bei der Begriffsdefinition (2.) wurde dargelegt, dass Postkoloniale Kritik, anders als z. B. die transversale Kategorie Gender, was die Anwendbarkeit auf Epochen vor Beginn der europäischen Expansion angeht, an ihre Grenzen stößt. Auch die vier Claims sind in vollem Umfang nur auf die Beschäftigung mit der Geschichte des europäischen Kolonialismus der Neuzeit anwendbar. Daher stellt die Auseinandersetzung mit Postkolonialer Kritik für das historische Lernen m. E. auch kein universales Unterrichtsprinzip dar, wie dies Bettina Degner für das interkulturelle Geschichtslernen postuliert hat.59 Diese zeitliche Einschränkung gilt vor allem für Claims 1 und 4, das erweiterte Kolonialismusbzw. Rassismusverständnis. Was Fragen des Eurozentrismus (Claim 2) und von Kontinuitäten (Claim 3) angeht, wäre zu diskutieren, inwiefern hier einzelne Punkte auch über die thematische Auseinandersetzung mit dem neuzeitlichen Kolonialismus hinaus relevant sind. Was meine Studie nicht diskutiert ist die Frage, ob die geschichtsdidaktischen Fundamentalkategorien des Geschichtsbewusstseins und der Geschichtskultur weiterentwickelt oder im Zuge einer postkolonialen Geschichtsdidaktik gar überwunden werden müssen.60 Vielmehr soll gezeigt werden, dass das Instrumentarium der Geschichtsdidaktik durch die Auseinandersetzung mit Postkolonialer Theorie so fortentwickelt werden kann, dass damit die Erfahrungen und Diagnosen des postkolonialen Theorieprojektes für historisches Lernen fruchtbar gemacht werden können. Im geschichtsdidaktischen Theoriegebäude kann Postkoloniale Kritik dabei als Teil der überfälligen globalgeschichtlichen Perspektivierung des geschichtsdidaktischen Diskurses und der Erweiterung des natio-
57 58 59 60
Ebd., S. 270. Vgl. Ebd., S. 292. Vgl. Alavi 1998, S. 75. So kritisiert z. B. Bärbel Völkel, dass ein an der Kategorie Geschichtsbewusstsein orientiertes historisches Lernen nicht nur Eurozentrismus, sondern als unbeabsichtigtes Nebenprodukt auch Rassismus reproduziert (vgl. z. B. Völkel 2015, S. 73–92).
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nalhistorischen Denkrahmens eingeordnet werden. Denn die postkoloniale Welt ist von Anfang an global gewesen. Mit Blick auf den deutschen Kontext und einen globalgeschichtlich orientierten Geschichtsunterricht in der nicht nur postkolonialen, sondern auch postnationalsozialistischen, postsozialistischen und postmigrantischen Gesellschaft des 21. Jahrhunderts, in der unterschiedliche Geschichten, Erinnerungen und Traumata von Migration, Depravierung, Verlust und Genozid aufeinandertreffen, muss Postkoloniale Kritik allerdings auch weitergedacht und in Dialog mit diesen Erfahrungen und Perspektiven gebracht werden.61 Dies gilt z. B. für die postimperialen Beziehungen Deutschlands zu Osteuropa oder auch den Nachfolgestaaten des Osmanischen Reichs.62
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61 Vgl. Steyerl 2012, S. 39. 62 Vgl. Terkessidis 2019, S. 189–193.
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Philipp Bernhard
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Geschichtsunterricht und Lehrkräfte im Fokus
Helene Bergmann
Wie kann fachspezifisches Textverstehen wirksam unterstützt werden? Eine experimentelle Studie zu den Effekten differenzieller Leseunterstützung bei der Textarbeit im Geschichtsunterricht
1.
Fallbeispiel: Verstehenshürden bei der Erschließung fachspezifischer Sachtexte S1: Das hier ist das letzte (…) Handelsexpedition #00:32:24–4# S1: Was ist das? #00:32:28–4# S2: Ich schreib noch. #00:32:28–4# ¨ hm, ist die Ableitung, dass man in fremden La¨ ndern Tempel und Pala¨ ste bauen S1: A kann #00:32:58–8# S2: (Liest vor) (…) schu¨ tzte das Land auch gegen Feinde, fu¨ hrte Kriege, schickte Handelsexpeditionen in fremde La¨ nder (…) ja #00:33:15–4# S1: Ja #00:33:15–4# S2: Das sind glaube ich, damit ist gemeint, dass halt der (…) die suchen halt Scha¨ tze und geben des dem Pharao. #00:33:36–2# S1: Da steht ja, dass sie in fremden La¨ ndern Tempel, Pala¨ ste und Pyramiden bauen. #00:33:44–1# I: Wie verstehst du HANDELSEXPEDITIONEN? #00:33:46–2# S2: Also, dass halt (…) eine Expedition ist glaub ich sowas, dass sie was suchen, Scha¨ tze zum Beispiel und das dann verkaufen, halt handeln. #00:34:04–8# S1: Dass sie in fremden La¨ ndern, Tempel, Pala¨ ste und Pyramiden bauen du¨ rfen. #00:34:22–5# S2: Der Pharao schickt Leute, die Scha¨ tze suchen und damit handeln. #00:35:56–4#
Zwei Sechstklässler einer Gemeinschaftsschule erörtern im obigen Gesprächsauszug die Bedeutung des Fachworts »Handelsexpedition«, das ihnen während der gemeinsamen Lektüre und aufgabenbasierten Erarbeitung eines Schulbuch-
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textes zur altägyptischen Pharaonenherrschaft begegnet ist.1 Solche Nominalkomposita sind ein typisches Phänomen von Fachsprache,2 wo sie einerseits aus sprachökonomischen Gründen und andererseits zur differenzierten Darstellung verwendet werden.3 Für Lernende stellen Komposita jedoch häufig eine sprachliche Herausforderung beim Verständnis von Schulbuchtexten dar.4 Im Beispiel orientiert sich Schüler 1, der die Bedeutung von »Handelsexpedition« nicht kennt, bei seinen Klärungsversuchen zunächst am Satzkontext, einer längeren Aufzählung der verschiedenen Aufgaben eines Pharaos. (»Der Pharao schützte das Land auch gegen Feinde, führte Kriege, schickte Handelsexpeditionen in fremde Länder und ließ Tempel, Paläste und Pyramiden bauen.«)5 Aufgrund einer falschen Analogiebildung, die neben fehlendem Begriffswissen wahrscheinlich auch mit der syntaktischen Komplexität der Textstelle zusammenhängt, nimmt er an, Handelsexpeditionen bedeuteten die Umsetzung von Bauvorhaben in fremden Ländern und hält bis zum Schluss an dieser Fehldeutung fest. Dagegen nähert sich Schüler 2 der Bedeutung des zusammengesetzten Nomens, welches weder im Textzusammenhang noch im Schulbuchregister erklärt wird, schrittweise an. Als erstes versucht er, die Bedeutung der einzelnen Bestandteile des Kompositums zu erfassen, übersetzt »Expedition« mit »Suche«, anschließend »handeln« als »verkaufen« und mutmaßt dann, dass es bei »Handelsexpeditionen« um die Suche und den Verkauf von »Schätzen« im Auftrag des Pharaos geht. Mit dieser Interpretation nähert er sich der Wortbedeutung allmählich an und nutzt mit dem morphologischen Dekodieren6 eine Rezeptionsstrategie, die laut Bangel vor allem starke Leser*innen regelmäßig anwenden, während schwache Leser*innen sie eher übergehen, was das Textverständnis erschwert.7 Trotz der erfolgreichen Annäherung an die ungefähre Wortbedeutung ist bei Schüler 2 unklar, was er mit »Schätzen« meint. Zwar könnten damit auch antike Handelsgüter wie wertvolle Edelmetalle oder Duftstoffe gemeint sein. Letztlich ist aber nicht klar, ob an Handelswaren wie bestimmte Rohstoffe und Bodenschätze oder an eine »Schatzsuche« im Sinne verlorener oder ver1 Auszug aus einem während der Pilotierungsphase der nachfolgend vorgestellten Studie geführten Interview mit zwei Schülern, die im Team einen Sachtext aus dem Geschichtsschulbuch bearbeiteten. Insgesamt wurden vier Interviews mit jeweils zwei Schüler*innen geführt (n = 8), um das Text- und Aufgabenverständnis zu überprüfen und das in der Intervention eingesetzte Lesefördermaterial daraufhin zu optimieren. 2 Vgl. Roelcke 2020, S. 112–121. 3 Vgl. Kniffka/Roelcke 2016, S. 65. 4 Vgl. Fuhrhop/Olthoff 2019, S. 53. 5 Aus: Brückner/Kümmerle 2016, S. 50. 6 Vgl. Fuhrhop/Olthoff 2019, S. 53. 7 So unterscheiden sich schwächere und stärkere Leser*innen bezüglich der Fähigkeit des Decodierens syntaktischer Strukturen und der Fähigkeit, syntaktische Mehrdeutigkeiten aufzulösen. Zudem zeigen gute Leser*innen gegenüber schwächeren einen schnellen und kontextunabhängigen Zugriff auf Wortbedeutungen. Vgl. Weng 2008, S. 15 sowie Bangel 2018.
Wie kann fachspezifisches Textverstehen wirksam unterstützt werden?
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steckter Wertgegenstände denkt. Das Konzept von Handel müsste also hinsichtlich zeittypischer Handelswaren und insgesamt noch weiter geklärt, erweitert und verfeinert werden. Das Beispiel zeigt an einem sehr kleinen Ausschnitt eines Texterschließungsprozesses typische Verstehenshürden in Fachtexten des Geschichtsunterrichts. Im dargestellten Fall ist es ein fachtexttypisches Wortkompositum in einem Sachtext aus dem Geschichtsschulbuch,8 das eine sprachliche sowie kognitive Herausforderung beim Textverstehen darstellt. Neben weiteren Wortkomposita enthält der sehr kompakte Text, der auf nur einer Seite das Thema Pharaonenherrschaft abzuhandeln versucht, zahlreiche weitere, oft sehr abstrakte und verallgemeinernde Fachwörter. Überwiegend handelt es sich dabei um historisch-politische Fachbegriffe wie etwa Staat, Herrschaftssystem oder Monarchie, welche nicht zum alltäglichen Sprachgebrauch von Fünft- oder Sechstklässler*innen gehören. Da hinter den Begriffen meist komplexe historisch-politische Fachkonzepte stehen, führt die reine Übersetzung noch nicht zu einem vertieften Verständnis. Zudem variiert zeitspezifisch die Bedeutung eines Begriffs wie Monarchie, welcher im Hinblick auf die Antike ein anderes Phänomen bezeichnet als etwa in Bezug auf gegenwärtige Monarchien oder Teilmonarchien. Und nicht nur Phänomene wandeln sich, sondern auch die gesellschaftlich verhandelten Konnotationen und Wertungen von Begriffen.9 Zum Verständnis wird daher neben semantischem Wissen auch historisches Kontextwissen benötigt, über das Leser*innen in dieser frühen Lektürephase aber meist noch nicht verfügen.10 Der hier exemplarisch angesprochene, für Sachtexte aus Geschichtslehrbüchern durchaus typische Verfassertext, enthält neben Fachwörtern außerdem zahlreiche bildungssprachliche Wörter, Zeitverhältniswörter, niedrigfrequente Wörter (wie »spähen«), mehrdeutige Wörter sowie abschwächende Begriffe. Letztere dienen dazu, die Unsicherheit historischer Erkenntnisse, etwa in Bezug auf Datierungen auszudrücken (»um 3000 v. Chr.«) und treten in Verbindung mit fachspezifischen Abkürzungen auf. Diese lexikalischen Auffälligkeiten stellen teilweise allgemeine Fachsprachenphänomene11 und, wie im Fall der Zeitverhältniswörter und epistemisch modalen Wörter, fachspezifische Textmerkmale dar.12 Daneben finden sich weitere grammatische und formale Auffälligkeiten, wie etwa Definitionen, komplexe Sätze, komplizierte Verweisstrukturen und verwirrende argumentative Strukturen,13 die den Lesefluss und das Textver8 9 10 11 12 13
Vgl. Fuhrhop/Olthoff 2019, S. 56. Vgl. Sauer 2019, S. 12. Vgl. Langer-Plän/Beilner 2006, S. 230. Vgl. Roelcke 2020, S. 112–121. Vgl. Siegmund 2018, S. 133–143; sowie beispielsweise Beese/Benholz 2013, S. 113f. Vgl. Brückner/Kümmerle 2016.
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ständnis stören können. Trotz solcher übergreifender Sprachmerkmale historischer Fachtexte, die nicht nur leseschwachen Lernenden das Textverständnis erschweren können, haben konkrete Texte unterschiedliche Schwierigkeitsschwerpunkte. Das Textverständnis unterstützende Lesehilfen und -methoden müssen daher auf den jeweiligen Text abgestimmt werden.14 Das nachfolgend vorgestellte fachdidaktische Entwicklungs- und Evaluationsprojekt untersucht die Wirksamkeit solcher Lesehilfen für den Geschichtsunterricht anhand einer selbst entwickelten, an Fünftklässler*innen gerichteten textbasierten Unterrichtssequenz zur altägyptischen Pharaonenherrschaft. Lesehilfen werden im Kontext des sprachsensiblen Fachunterrichts insbesondere für sprachund leseschwache Lernende empfohlen und finden sich zunehmend auch in fachspezifischen Unterrichtsmaterialien wieder. Wie sich Lesestrategienutzung auf das Textverstehen im Geschichtsunterricht und damit auch auf das historische Lernen auswirkt, wird in einer experimentellen Studie mit mehreren Testzeitpunkten mit vorwiegend quantitativen Methoden untersucht.
2.
Erkenntnisinteresse, Hypothesen und Theoriehintergründe
Das zentrale Ziel der Interventionsstudie besteht darin herauszufinden, welche Arten von Leseunterstützung sich eignen, um Lernende mit unterschiedlichen Lern- und Sprachvoraussetzungen bei der Erschließung von Sachtexten des Geschichtsunterrichts jeweils optimal zu unterstützen. Denn wie eingangs am Beispiel der fachsprachlichen Lexik gezeigt wurde, wird zum Verständnis historischer Sach- und Quellentexte sowohl allgemeine als auch fachspezifische Lesekompetenz benötigt, über die nicht alle Lernenden einer Klasse gleichermaßen verfügen. Stattdessen sind die Lesefähigkeiten innerhalb einer Lerngruppe oft sehr breit gestreut. Sie reichen von sehr guten Leser*innen, die ganze Textabschnitte flüssig lesen und mühelos deren Sinn erfassen, bis hin zu sehr leseschwachen Lernenden, die sich einen Text mühsam Wort für Wort zu erschließen versuchen.15 Die breite Streuung der Sprach- und Lesefähigkeiten von Schüler*innen in der Eingangsphase der Sekundarstufe I zeigt auch die nachfolgende Abbildung (Abb. 1) eines in der Pilotierungsphase dieser Studie durchgeführten C-Tests. Dieser misst die allgemeine Sprachkompetenz, welche wiederum stark mit Leseverstehen korreliert.16 Die nachfolgend abgebildeten Ergebnissen einen solchen C-Tests zeigen, dass mindestens fünf der 23 getesteten Fünftklässler*innen 14 Vgl. Mainzer-Murrenhoff/Mierwald 2018, o. S. (digitale Version). 15 Vgl. Wenig 2008, S. 15. 16 Vgl. Grotjahn 2019, S. 586–609; Linnemann 2017, S. 149–168.
Wie kann fachspezifisches Textverstehen wirksam unterstützt werden?
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einer baden-württembergischen Gemeinschaftsschule einen hohen Sprachförderbedarf aufweisen und bei der Texterschließung besonderer Unterstützung bedürfen (WE-Wert < 55). Ihre Fähigkeiten im Bereich des Leseverstehens sowie in weiteren sprachlichen Bereichen wie den formalsprachlichen Fähigkeiten (R/ F-Wert) sind im Vergleich zur Referenzgruppe gering ausgeprägt. Drei weitere Lernende sind nicht weit vom Grenzwert 55 entfernt, der deutlichen oder hohen Förderbedarf markiert. Erreichte Punktzahl (max. 80)
90 80 70 60 50 40 30 20
79 76 75 73 76 71 70 70 70 73 68 69 67 67 66 65 6462 61 63 62 61 58 57 5653 55 55 55 52 53 58 51 51 50 50 46 43 40 39 40 35 34 33 25 19
10 0 1
2
3
4
5
6
7
8
9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23
Tes!eilnehmer*innen (n = 23) R/F Wert
WE Wert
Abb. 1: Ergebnisse eines C-Tests in der Eingangsstufe der Sek. I (n = 23). Maximale Punktzahl: 80. Grenzwert für sprachlichen Förderbedarf: WE < 55. WE-Wert = Worterkennungswert, gibt Hinweise auf Wortschatz und Textverständnis. R/F-Wert = richtig/falsch Wert, bildet die formalsprachlichen Fähigkeiten ab.
Ob anschließende hierarchiehöhere Verstehens- und Sinnbildungsprozesse und damit auch das historische Lernen aus und mit Texten gelingt, hängt jedoch entscheidend vom Verlauf des Leseprozesses ab. Daher wird im Kontext der jüngsten PISA-Studien auch explizit zur Förderung von Lesekompetenz im Geschichtsunterricht aufgerufen.17 Für das historische Lernen ist die Frage einer wirksamen Leseunterstützung für lese- und sprachschwache, aber auch lesestärkere Schüler*innen sowohl in Bezug auf die fachlich hochrelevanten Quellentexte als auch hinsichtlich fachspezifischer Darstellungstexte bedeutsam. Diese Studie konzentriert sich jedoch auf Darstellungstexte und hier im speziellen auf Sachtexte aus Geschichtslehrbüchern. Zu deren Erschließung existieren vergleichsweise wenig methodische Ideen,18 während sich die Anerkennung von Quellen als fachlich und unterrichtlich sehr bedeutsame Textgattung bereits in zahlreichen methodischen Vorschlägen und unterrichtsprakti17 Becker-Mrotzek u. a. 2018, S. 22. 18 Vgl. Rox-Helmer 2010, S. 188; sowie exemplarisch zur Gewichtung dieses Themas in Praxishandreichungen: Kühberger/Windischbauer 2013, S. 61–65.
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schen Handreichungen wiederspiegelt.19 Während Quellentexten oft per se ein höherer Anspruch und Schwierigkeitsgrad zugesprochen wird, zeigen Analysen von Verfassertexten aus Geschichtslehrbüchern, dass diese keineswegs immer leichter verständlich sind.20 In meinem Promotionsprojekt untersuche ich daher, ob sich das Verständnis solcher in der Praxis viel rezipierter Verfassertexte aus Geschichtsschulbüchern21 durch fachspezifisch profilierte, differenzielle Lesefördermaßnahmen22 verbessern lässt. Dabei wird von einem engen Zusammenhang zwischen den Sprachfähigkeiten der Lernenden und ihrem fachlichen Lernerfolg ausgegangen. Ein solcher Zusammenhang wurde durch die linguistische, aber etwa auch die mathematikdidaktische Forschung mehrfach nachgewiesen.23 Dies legt nahe, dass eine sprachsensible Lernumgebung auch das historische Lernen im Fach Geschichte erleichtert. Darüber hinaus wird in Anlehnung an Befunde der Aptitude-Treatment-Interaction Forschung24 davon ausgegangen, dass die Wirksamkeit unterrichtlicher Instruktionen (treatment) von den individuellen Merkmalen der Lernenden (aptitude) abhängt und Unterrichtsmethoden daher an die Fähigkeiten der Lernenden angepasst werden müssen, um optimale Resultate zu erzielen.25 So lautet eine der zentralen und empirisch relativ gut abgesicherten ATI-Hypothesen, dass lern- und sprachschwache Schüler*innen im Unterricht von stärker strukturierten Lernarrangements sowie zusätzlichen Hilfen profitieren. Ler-
19 Vgl. etwa die einschlägigen Handbücher von Hans-Jürgen Pandel oder Michael Sauer zu Quellenarbeit im Geschichtsunterricht. 20 Zu potentiellen Verstehenshürden in Sachtexten des Geschichtsunterrichts siehe etwa: Kniffka/Linnemann 2016, S. 163–178; sowie z. B. auch die aktuelle Analyse von Degener/ Kreutz 2020, S. 233–252. 21 Vgl. zur realen Nutzung von Schulbuchbausteinen Sauer 2018, S. 406–417. 22 Wenn nachfolgend von Leseförderung oder Fördermaßnahmen gesprochen wird, so sind damit auch, aber nicht nur sprachliche Hilfen für Lernende mit diagnostizierten Lern- und Sprachschwächen gemeint, die häufig mit dem Begriff Förderung assoziiert werden (vgl. Achour/Sieberkrob 2015, S. 18). Der Begriff Leseförderung wird hier stattdessen in einem weiteren Sinn genutzt, um differenzierende sprachliche Hilfestellungen zu kennzeichnen, die alle Schüler*innen einer Lerngruppe mit ihren jeweils unterschiedlichen Sprach- und Lernvoraussetzungen, Förderbedarfen, aber auch Begabungen möglichst optimal unterstützen. 23 Vgl. zu entsprechenden linguistischen Befunden z. B. Ahrenholz u. a. 2019, S. 1–16; Artelt u. a. 2002, S. 6–27; sowie für entsprechende mathedidaktische Forschungsergebnisse etwa Prediger u. a. 2015, S. 77–104. 24 Hierbei handelt es sich um einen in den 70er Jahren von Cronbach und Snow begründeten und nachfolgend als ATI-Forschung abgekürzten Zweig der pädagogisch-psychologischen Lehr-/Lernforschung, der sich mit den unterschiedlichen Lernbedarfen von Schüler*innen innerhalb einer Lerngruppe beschäftigt. 25 Vgl. Snow 1989, S. 13–59; Cronbach 1975, S. 42–58.
Wie kann fachspezifisches Textverstehen wirksam unterstützt werden?
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nende mit günstigeren Lern- und Sprachvoraussetzungen profitieren dagegen scheinbar von offeneren und stärker selbstgesteuerten Lernangeboten.26 Auf diese und weitere ATI-Annahmen, etwa zu Expertise-Umkehr-Effekten und Redundanzeffekten (Beeinträchtigung des Lernens durch unpassende Instruktionen) baut die untersuchte sprachlich unterstützte Textarbeit auf, deren Wirkungsanalyse auch dazu beitragen soll, die bisher vor allem unter Laborbedingungen nachgewiesenen ATI-Effekte zu adaptivem Unterricht im »ökologisch validen« Setting27 des realen Klassenunterrichts zu untersuchen und weiter abzusichern. Neben Befunden der DaF-/DaZ-Forschung und der allgemeinen Lehr-/Lernforschung wird außerdem an Theorien und Befunde der linguistischen Leseforschung angeknüpft, wie die durch zahlreiche Studien untermauerte Erkenntnis, dass Textverstehen besonders wirksam und nachhaltig durch Lesestrategievermittlung und -anwendung gefördert werden kann.28 Entsprechend bilden fachspezifisch profilierte, also auf historische Kategorien und Vermittlungsziele ausgerichtete Strategieanwendungsaufgaben den Kern der untersuchten Lesefördermaßnahme. Warum es sich lohnt, diese rezeptive Seite fachspezifischen Sprachhandelns in fachdidaktischen Studien stärker in den Blick zu nehmen, die narrative Kompetenz also gewissermaßen vom Kopf auf die Füße zu stellen, soll die nachfolgende Kurzzusammenfassung des geschichtsdidaktischen Forschungsstands zu sprachlichen Aspekten historischen Lernens deutlich machen.
3.
Fachdidaktischer Forschungsstand zu Sprache und historischem Lernen
Der Zusammenhang von Sprache und fachlichem Lernen wird in jüngerer Zeit vor allem im Kontext des sogenannten sprachsensiblen oder sprachbewussten Fachunterrichts betont, ist für Geschichtsdidaktiker*innen allerdings nicht neu. Bereits seit den 1970er Jahren erfolgt eine theoretische und empirische Auseinandersetzung mit sprachlichen Aspekten historischen Lernens; sei es im Zusammenhang mit historischem Begriffslernen, anlässlich von Quellenarbeit als fachspezifischer Erkenntnismethode oder in Bezug auf historische Narrationskompetenz.29 Im Einklang mit Forderungen der linguistischen Forschung nach einer Neubewertung der sprachlichen Anteile fachlichen Lernens30 findet jedoch 26 27 28 29 30
Vgl. Kalyuga/Renkl 2003, S. 23–31; Kalyuga/Renkl 2010, S. 209–215. Vgl. Fahrenberg 2017. Vgl. etwa die Metaanalyse von Schneider u. a. 2013, S. 22–26. Vgl. Handro 2016, S. 270–273. Beese/Benholz 2013, S. 50.
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zurzeit eine »geschichtsdidaktische Neuakzentuierung sprachlichen Lernens«31 statt. Große empirische Schulleistungsstudien wie IGLU und PISA trugen ihren Teil dazu bei, indem sie wiederholt auf die Zusammenhänge zwischen schwach ausgeprägten Sprach- und insbesondere Lesefähigkeiten und dem Schulerfolg hinwiesen. Auch die jüngste PISA-Studie zeigte erneut, dass es um die Lesekompetenz eines Teils der deutschen Schüler*innen nicht gut bestellt ist. So kann immerhin ein Fünftel der deutschen 15-Jährigen nicht einmal auf Grundschulniveau lesen und komplexere Anforderungen wie das Verstehen, Nutzen und Bewerten von Fachtexten daher nur schwerlich bewältigen.32 Dass inzwischen auch die Geschichtsdidaktik für dieses Problem sensibilisiert ist, zeigt sich an der steigenden Anzahl fachdidaktischer Publikationen33 und Forschungsarbeiten zur sprachlichen Dimension historischen Lernens. Bei den Studien handelt es sich mehrheitlich um qualitativ ausgerichtete Untersuchungen, die etwa Sprachanforderungen und Sprachhandlungsprozeduren in Schulbuch- oder Schülertexten,34 sprachbildende Aufgaben und verschiedene Aspekte narrativer Kompetenz, wie fachspezifische Schreibhandlungen35 untersuchen. Quantitative Wirksamkeitsstudien zu den Effekten von Scaffolding-Konzepten36 und konkreten Sprachfördermaßnahmen im Geschichtsunterricht gibt es dagegen kaum.37 Ausnahmen bilden noch laufende unveröffentlichte oder sprachwissenschaftliche Studien, wie etwa die Untersuchung der Linguistin Marion Bönnighausen zur Wirksamkeit von Leseförderung in verschiedenen Schulfächern, darunter auch das Fach Geschichte.38 Hinsichtlich der negativen Auswirkungen schwach entwickelter Lesefähigkeiten auf den fachlichen Lernerfolg, welche den Geschichtsunterricht als genuines Sprachfach besonders betreffen, sollte diese Forschung zu konkreten unterrichtlichen Interventionen weiter ausgebaut werden. Dies gilt insbesondere für quantitative Untersuchungen zu fachspezifischen rezeptiven Sprachhandlungen, die in der deutschsprachigen fachdidaktischen Forschung bislang weniger Aufmerksamkeit erfuhren als aktives Sprachhandeln, wie Argumentieren oder Schreiben im Geschichtsunterricht. 31 32 33 34 35 36
Handro 2016, S. 273. Vgl. Becker-Mrotzek 2019, S. 21f. Vgl. etwa Bernhardt/Conrad 2018, S. 2–9; sowie z. B. Buck 2019, S. 5–12. Vgl. Oleschko 2015, S. 47–62; Oleschko/Moraitis 2012, S. 11–46. Vgl. z. B. Wickner 2018, S. 38–45. Der Begriff Scaffolding bezeichnet nach Gibbons Unterstützungssysteme im (sprachsensiblen) Fachunterricht, die Schüler*innen, deren Muttersprache von der Unterrichtssprache abweicht, bei der Aneignung neuen fachlichen und sprachlichen Wissens helfen sollen (vgl. Gibbon 2019, S. 15). Laut Kniffka und Roelcke ist die Begriffsverwendung in der sprach- und erziehungswissenschaftlichen Literatur aber nicht einheitlich (vgl. 2016). 37 Vgl. Eckerth/Resch 2016. 38 Vgl. Handro/Kilimann 2019, S. 165–222.
Wie kann fachspezifisches Textverstehen wirksam unterstützt werden?
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Ein Blick in die angloamerikanische Forschung zeigt, dass diese bezüglich fachspezifischer Leseprozesse weiter fortgeschritten ist. So verweisen etwa McCully und Osman in ihrer Metaanalyse auf eine Reihe empirischer Untersuchungen zu Lesefördermaßnahmen im Geschichtsunterricht (beziehungsweise im Fach social studies, welches auch die historische Bildung miteinschließt). Sie enthalten Hinweise auf signifikante Effekte leseunterstützender Maßnahmen wie Strategiearbeit auf das Verständnis fachspezifischer Texte, sind in ihrer Vergleichbarkeit allerdings stark eingeschränkt, weil teilweise sehr unterschiedliche Forschungsdesigns und Leseförderansätze umgesetzt wurden. Nur eine kleine Anzahl der von Mc Cully und Osman ausgewerteten Studien erfüllt die Voraussetzungen von als sehr valide geltenden experimentellen Studien. Die Autoren kommen daher zu dem Schluss, dass es weiterer quantitativer Wirksamkeitsstudien und Replikationsstudien bedarf.39 Zudem fehlt es in den besagten Untersuchungen an Hinweisen zur differenziellen Wirkung von Sprachfördermaßnahmen in leistungsheterogenen Klassen, der dieses Projekt nachgeht. Es kann als geschichtsdidaktischer Beitrag zur Forschung zum sprachsensiblen Fachunterricht gesehen werden, der Sprachbildung und -förderung als Aufgabe aller Schulfächer und Möglichkeit zum produktiven Umgang mit Heterogenität begreift.40 Als entscheidender Hebel gilt dabei die Stärkung der sprachlichen Handlungsfähigkeit von Lernenden, insbesondere im Bereich der sogenannten Bildungssprache, welche als prädisponierend für schulischen Lernerfolg angesehen wird. Um in der Schule erfolgreich zu sein, müssen Lernende demnach über Kenntnisse bezüglich fachspezifischer Sprachregister und Textgattungen verfügen.41 Dies gilt es auch und gerade beim Lesen und bei der Textarbeit im Geschichtsunterricht zu bedenken. Einen niederschwelligen Zugang zu einer sprachsensiblen Unterrichtsgestaltung, der keine spezifischen Kompetenzen von Lehrkräften etwa im Bereich des Mikroscaffolding (der sprachfördernden Unterrichtsinteraktion) voraussetzt, bietet entsprechendes vorgefertigtes Unterrichtsmaterial. Allerdings besteht hier laut Goschler und Butler noch eine Diskrepanz zwischen den bereits in relativ großer Zahl existierenden Sprachfördermaterialien für den Fachunterricht und den fehlenden Wirksamkeitsnachweisen dieser häufig in Einzelinitiativen entwickelten Förderkonzepte.42 Dies trifft, so zumindest mein Eindruck nach einer Durchsicht der derzeit verfügbaren fachspezifischen Sprachfördermaterialien, auch für den Geschichtsunterricht zu.
39 Vgl. McCulley/Osman 2015, S. 183–195; sowie z. B. auch Reisman/McGrew 2018, S. 529–550; Kareva/Echevarria 2013, S. 239–248. 40 Vgl. Achour/Sieberkrob 2015, S. 18–37. 41 Vgl. Kniffka/Roelcke 2016, S. 23. 42 Vgl. Busse 2019, S. 14.
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Zwar ist feststellbar, dass zunehmend Geschichtsschulbücher oder die dazugehörigen Arbeitshefte mit den Etiketten sprachsensibel und differenzierend versehen werden. Dies bedeutet etwa, dass Lehrwerkstexte für verschiedene Schülergruppen in verschiedenen Versionen angeboten werden; gekürzt, syntaktisch vereinfacht oder sogar in leichter Sprache, die sogenannte defensive Textentlastung.43 Unklar bleibt jedoch in vielen Fällen, inwieweit hierbei aktuelle Forschungsergebnisse zur Wirksamkeit von Sprachunterstützung oder zu Strategien der Binnendifferenzierung berücksichtigt werden.44 So ist im Vorwort eines Geschichtsarbeitshefts für sprachschwächere Lernende lediglich zu lesen, die empfohlenen Lesehilfen und -aufgaben hätten sich im eigenen Unterricht als notwendig und wirksam erwiesen.45 Solche individuellen Erfahrungen von Expert*innen aus der Praxis sind überaus wichtig, ersetzen aber nicht systematische Untersuchungen der Wirksamkeit der jeweils propagierten Sprachfördermaßnahmen46. Zudem wäre eine Diskussion darüber interessant, inwieweit für ein verbessertes Textverständnis im Geschichtsunterricht tatsächlich die zunehmend zu beobachtenden sprachlichen Eingriffe, etwa durch Umwandlung in die sogenannte Leichte Sprache, notwendig sind. In der nachfolgend vorgestellten Intervention wird auf solche sprachlichen und inhaltlichen Textvereinfachungen zunächst verzichtet und stattdessen versucht, über eine veränderte Darbietungsform der Unterrichtstexte eine bessere Lesbarkeit und gesteigerte Lesemotivation zu erzielen. So wird lediglich die äußere Form der Texte (extrinsic load47) verändert, der intrinsic load bleibt jedoch für alle Lernenden gleich. Hinzu kommt die Arbeit mit Lesestrategien,48 die bereits etablierten Leseförderprogrammen für den Deutschunterricht entnommen, fachspezifisch profiliert und zu konkreten Lesestrategieanwendungsaufgaben für den Geschichtsunterricht weiterentwickelt wurden. 43 44 45 46 47 48
Vgl. Leisen 2012, S. 4. Vgl. dazu etwa Friesen/Leuders/Loibl 2021, S. 42–45; Van Geel u. a. 2018, S. 51–67. Vgl. Nartschik 2012. Vgl. Busse 2019, S. 14. Vgl. hierzu und zum Folgenden Scheiter 2017. Im Unterschied zu Leseanimationen oder Lautleseverfahren sind Lesestrategien primär auf die Erschließung des inhaltlichen Textzusammenhangs ausgerichtet und tragen dadurch viel stärker zur Verbesserung des Leseprozesses und des Textverstehens bei. Sie können als »mentale Schritte, mit denen man sich einen Text gezielt und bewusst eigenständig erarbeitet« beschrieben werden (Rosebrock 2012, S. 8.) Lesestrategien helfen dem*der Leser*in, die in einem Text enthaltenen Informationen zu erschließen und in ein Gesamtkonstrukt, ein mentales Repräsentationsmodell, einzubinden (globale Kohärenzbildung, vgl. Schneider u. a. 2013, S. 22). Inzwischen ist umfänglich belegt worden, dass lesestrategisches Wissen und Können Textverstehen erheblich und nachhaltig unterstützt; vorausgesetzt die Lesestrategien werden adäquat vermittelt, ausreichend geübt und in ihrer Funktion erklärt (vgl. Philipp 2012, S. 59–73.)
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Aufbau der Interventionsstudie und forschungsmethodisches Vorgehen
Die adaptive Lerneinheit, deren zentrales Förderelement die Strategiearbeit ¨ gypdarstellt, thematisiert Aspekte von Herrschaft und Gesellschaft im Alten A ten, ein curricular für den Geschichtsunterrichts in der fünften oder sechsten Klassenstufe vorgesehenes Thema. Die Intervention umfasst inklusive Prä- und Posttests drei Unterrichtsdoppelstunden. Je nach Sprachvoraussetzung der Schüler*innen werden diese differenziell gefördert, indem Art und Umfang der Leseunterstützung bei der Textarbeit variiert wird. Bei der Zuweisung zu den unterschiedlichen Fördergruppen werden die Fähigkeiten der Schüler*innen im Bereich Textverstehen als zentrale Heterogenita¨tsvariable betrachtet und vorab diagnostiziert. Nach der Intervention wird die Wirkung der verschiedenen Varianten von Leseunterstützung auf das Textverständnis und den historischen Kompetenzaufbau untersucht. Die zentrale abhängige Variable (das Zielmerkmal der Intervention) stellt das mithilfe der Texte und der begleitenden Leseaufgaben erarbeitete themenspezifische historische Sachwissen dar.49 Lernende, die sprachliche Hilfen zum Textverständnis erhalten (A- und B-Gruppe)
Besseres Textverständnis und Fachwissen
Lernende, die keine sprachlichen Hilfen zum Textverständnis erhalten (Kontrollgruppe)
Geringeres Textverständnis und Fachwissen
• Unabhängige Variable
• Abhängige Variable (Zielmerkmal)
Abb. 2: Vereinfachtes Untersuchungsschema mit Experimental- und Kontrollgruppe zur Verdeutlichung der zentralen Untersuchungshypothesen. Innerhalb der geförderten Gruppe gibt es zwei verschiedene Treatments (A- und B-Gruppe), um leseschwächere sowie lesestärkere Lernende jeweils optimal bei der Textarbeit zu unterstützen.
Während der Intervention durchlaufen die Schüler*innen in Einzel- sowie Partnerarbeit einen zyklischen Leseprozess mit mehreren Textbegegnungen. So wird beispielsweise die Beschäftigung mit einem längeren Einführungstext zur Pharaonenherrschaft mit der Formulierung einer »Leseerwartung« im Plenum eingeleitet. Nach dieser ersten Begegnung mit dem Text anhand einer kurzen, besonders interessanten Textpassage, erfolgt die erste Begegnung mit dem ge49 Vgl. zu historischem Sachwissen als Facette historischer Kompetenz etwa Schreiber 2008, S. 198–212.
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samten Text im Rahmen eines ersten orientierenden und stillen Lesens. Danach wird der Text erneut in Gänze gelesen, diesmal jedoch im Rahmen wechselseitigen lauten Lesens, und von den Lernenden anschließend abschnittweise zusammengefasst. Es schließen sich weitere Partnerarbeitsphasen und auf Lesestrategien basierende Aufgaben an, wie etwa die Arbeit mit einem Wortglossar. Letzteres fokussiert die für die spezifische Textgrundlage zentralen historischpolitischen Fachbegriffe (Monarchie, Herrschaft, Gemeinwohl, Steuern etc.) und stellt sie zur Förderung konzeptuellen Lernens50 in einen größeren Kontext. Weitere strategiebasierte Leseaufgaben, welche auch explizit als Werkzeuge zur Texterschließung vermittelt und später von den Lernenden reflektiert werden, beinhalten etwa die Visualisierung und anschließende kreative Weiterverarbeitung zentraler Textinhalte.51 Die anvisierte Stichprobe von 200 Fünftklässler*innen der Gemeinschaftsschule wird, voraussichtlich cluster-randomisiert, unterschiedlichen Treatmentund Kontrollgruppen zugeteilt. Während die Inhalte und das Textmaterial in beiden Fo¨ rdergruppen (Gruppe A: leseschwächere Lernende; Gruppe B: lesestärkere Lernende) identisch sind, wird das Ausmaß und die Art der Leseunterstu¨ tzung variiert. Die Kontrollgruppe erhält keinerlei sprachliche Hilfen. In den beiden Treatmentgruppen wiederum variiert die Textdarbietungsform (genauer der Strukturierungsgrad der Texte und der Aufgaben,52 jedoch erfolgen keine Texteingriffe im Sinne von Vereinfachungen oder Kürzungen, der intrinsic load bleibt also für alle gleich. Auch die in Form konkreter Aufgaben vermittelten Texterschließungsstrategien, als zentrales Förderelement der Intervention, werden variiert und in Anknüpfung an zentrale ATI-Prinzipien je nach Gruppe mehr oder weniger offen gestaltet.53 Sie sollen zu einer Intensivierung des Leseprozesses beitragen54 und neben historischem Sachwissen auch Aspekte historischer Sachkompetenz fördern. Zur Messung der Effekte der Lesefördermaßnahme auf das als abhängige Variable betrachtete Textverständnis wird vor und nach der Intervention ein Leseverstehens- und Fachwissenstest durchgeführt. Dieser prüft die wesentlichen Teile des durch die Textauseinandersetzung erarbeiteten historischen Sachwissens sowie darüber hinaus in kleinerem Umfang auch konzeptuelle und 50 51 52 53
Vgl. Hellmuth/Kühberger 2016, S. 3–8. Vgl. dazu auch Bergmann 2020, S. 22–30. Vgl. Krüger/Hemmer 2019, S. 107–165. Dies bedeutet etwa, dass die leseschwächeren Lernenden bei der Strategiearbeit mithilfe von Aufgabengerüsten (scaffolds) stärker angeleitet und die Texte in dieser Gruppe portioniert werden, um den extraneous load für Leseschwächeren zu verringern. Insgesamt erhält diese Gruppe in Anknüpfung an die einführend dargestellten ATI-Prinzipien also mehr prompts (Hilfen) bei der Textarbeit. 54 Vgl. Winter/Bönnighausen 2012.
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gattungsbezogene Kenntnisse, die durch die Begleitaufgaben zu den Texten vermittelt werden. Der Test erfragt also zum einen klassisches historisches Sachwissen zu altägyptischen Herrschaftspraxen, zum anderen prüft er auch transferierbares konzeptuelles Wissen im Sinne des Verfügens über historischpolitische Fachbegriffe und -konzepte wie etwa Herrschaft oder Monarchie. Im Gegensatz zu themen- oder fallspezifischem Inhaltswissen können solche Konzepte und Kategorien auf unterschiedliche Sachverhalte und Fragen angewendet und analytisch genutzt werden und sind damit der Kompetenzorientierung zuzurechnen.55 Nach dem hier zugrunde gelegten FUER-Kompetenzmodell wird diesbezüglich von historischer »Begriffs- und Strukturierungskompetenz«56 als Teil »historischer Sachkompetenz«57 gesprochen. Beide Wissenstypen, historische Sachkompetenz und demgegenüber das klassische historische Sachwissen, besitzen laut Körber unterschiedliche Funktionen im historischen Erkenntnisprozess und sind daher als einander ergänzend anzusehen.58 Um im Anschluss an die Intervention deren Wirksamkeit anhand der schon erwähnten Outcome-Merkmale Textverstehen und historisches Sachwissen zu überprüfen, wird ein Leseverstehens- und Wissenstest benötigt. Aufgrund der abweichenden Zielgruppe ist leider kein direkter Rückgriff auf bereits validierte Items wie die des HiTCH-Tests59 möglich. Daher wird in Anlehnung an die Struktur bereits etablierter Testinstrumente der Leseforschung, wie den IGLULeseverstehenstest, ein eigener standardisierter Test entwickelt, mit dem Textverständnis und die Entwicklung des historischen Sachwissens überprüft werden können. Um den Einfluss sprachlicher Fähigkeiten auf das Testergebnis zu verringern, werden mehrheitlich geschlossene Antwortformate verwendet. Eine entsprechende Frage zur Reproduktion von Informationen, zu der mehrere Antworten zur Wahl stehen, lautet etwa: »Warum galt der Pharao als gottähnlich?« In den Anforderungsbereichen, die auf einfache und komplexere Schlussfolgerungen zielen, werden dagegen offene Fragen verwendet, wie etwa: »Erkläre: Warum ist Tutanchamun eigentlich gar kein bedeutender König, aber trotzdem sehr berühmt?« Um die Itemschwierigkeit und -verständlichkeit zu prüfen, wurde der Fragebogen bereits einmal in einer größeren Stichprobe (n = 75) im Feld getestet und das Verständnis der Fragen zusätzlich im Rahmen von kognitiven Interviews mit vier Schüler*innen überprüft.60 Zur Erhöhung der Qualität und Validität des Tests wird außerdem ein Expertenreview durchgeführt, bei dem unter anderem 55 56 57 58 59 60
Vgl. Körber 2017a, o. S. (digitale Version). Schreiber 2008, S. 206. Körber 2017b, S. 12. Vgl. Körber 2017b, S. 15f. Vgl. Trautwein u. a. 2017. »Probing«, vgl. Pohontsch/Meyer 2015, S. 53.
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Einschätzungen dazu erbeten werden, wie gut die relevanten Konstrukte durch die Items abgebildet werden, welche Anzahl richtiger Antworten erwartet wird und welche Relevanz die Fragen für die historisch-politische Bildung in Klasse fünf besitzen. Die Auswertung des Tests erfolgt regressionsanalytisch. Als qualitative Ergänzung wird außerdem ein Leseprodukt der Schüler*innen ausgewertet, das Aufschluss über den individuellen Lernprozess geben soll. Die Zuweisung der Schüler*innen zu den verschiedenen Fördergruppen erfolgt auf der Basis der Ergebnisse vorab durchgeführter sprachdiagnostischer Tests. Dabei wird ein Teil der Treatments auch unpassend zugeteilt, um deren differenzielle Wirkungen zu erfassen. Zur Durchführung der Unterrichtseinheit werden die Lehrkräfte intensiv geschult, erhalten standardisierte Materialien sowie Unterrichtsskripte und es erfolgt zusätzlich eine Implementationskontrolle. Als Instrument zur Erfassung der Fähigkeiten im Bereich Textverstehen und Basis der Gruppenzuteilung dient der Lernstand 5-Test, der Lesegeschwindigkeit und -verständnis misst und jeweils zu Schuljahresbeginn in allen fünften Klassen Baden-Württembergs durchgeführt wird. Er ist somit auch für Lehrkräfte leicht verfügbar.61 Ergänzend wird ein C-Test durchgeführt, der als sehr zeitökonomisches und reliables Instrument zur Erfassung allgemeiner Sprachfähigkeiten gilt, welche wiederum stark mit Leseverstehen korrelieren.62 In Entsprechung zu diesen Befunden aus der Forschungsliteratur zeigte der bereits probeweise durchgeführte C-Test (siehe Abb. 2) eine hohe Übereinstimmung mit den Ergebnissen des Lernstand 5Tests. Neben dem Textverstehen als angenommene zentrale Heterogenitätsvariable werden zudem mögliche Hintergrundvariablen erfasst, die die individuellen Lernvoraussetzungen beim Lesen und beim historischen Lernen betreffen, um diese Einflüsse gegebenenfalls kontrollieren zu können. Hierzu zählen etwa das Leseselbstkonzept, die Lesegewohnheiten bei Sachtexten sowie das lesestrategische Wissen. Diese potentiell moderierenden Variablen werden mithilfe von IGLU- und PISA-Items erhoben.63 Darüber hinaus werden das individuelle Fachinteresse (Geschichtsinteresse) und die fachliche Leistung als latente Variablen in den Blick genommen.
61 Vgl. Institut fu¨ r Bildungsanalysen Baden-Wu¨ rttemberg 2019 (online). 62 Vgl. Grotjahn 2019, S. 586–609; Linnemann 2017, S. 149–168. 63 Vgl. Bos u. a. 2005.
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Zwischenbilanz: Herausforderungen einer quantitativen Wirksamkeitsstudie
Nach Abschluss der konzeptionellen Arbeit an der Lesefördermaßnahme, die gemeinsam mit Expert*innen aus der Schulpraxis entwickelt und erprobt wurde, besteht nun eine Herausforderung darin, ein valides standardisiertes Messinstrument zur Erhebung der Effekte der Intervention zu entwickeln. Erschwerend wirkt dabei, dass geschichtsdidaktisch Forschenden anders als in anderen Disziplinen bisher wenig etablierte und reliable Wissens- und Kompetenztests zur Verfügung stehen, wenngleich etwa das HiTCH-Projekt diese Lücke zu schließen versucht.64 Eine weitere forschungsmethodische Herausforderung, die im Folgenden einmal näher beleuchtet werden soll, weil sie ein typisches Problem fachdidaktischer Unterrichtsforschung betrifft, sind verzerrende Effekte durch Störeinflüsse. Zwar zählen experimentelle Studien dem Grade-Klassifikationssystems nach zu den aussagekräftigsten Formen empirischer Forschung. Allerdings ist bei mangelnder Kontrolle mit verschiedenen Validitätsbedrohungen zu rechnen, etwa durch Konfundierungen und Störeinflüsse.65 Zwar werden die sogenannten programmexternen Störfaktoren, wie etwa die durch unkontrollierte Probandenauswahl entstehenden Selektionseffekte, durch die zufällige, randomisierte Zuteilung der Treatments behoben. Trotzdem sind diverse Beeinträchtigungen der internen Validität denkbar, sei es durch Designeffekte (verzerrende Effekte, die durch die Anwendung eines Untersuchungsdesigns bedingt sind) oder auch durch Treatmentkontaminationen, also implementationsbedingte Verfälschungen der Treatmenteigenschaften. Da sie die Aussagekraft der Studienergebnisse schmälern und Kausalitäten (Ursache-WirkungsZusammenhänge) verschleiern, müssen solche Konfundierungen unterschiedlicher Genese kontrolliert werden. Doch was bedeutet das für dieses Forschungsvorhaben? Mit welchen Arten von Störeinflüssen muss gerechnet werden, wenn statt der Durchführung von Laborexperimenten realer Geschichtsunterricht, der in sozialen Zusammenhängen stattfindet, beforscht wird? Hier wird vor allem das Phänomen relevant, dass die Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe (Cluster) die untersuchten Wirkbeziehungen möglicherweise beeinflusst (moderiert). So könnte es zum Beispiel passieren, dass bei einer zufälligen Zuteilung von Schüler*innen einer Klasse zu unterschiedlichen Fördergruppen ein Wettstreit der Lernenden eintritt oder eine Lehrkraft kompensatorisch eingreift, was die Ergebnisse homogenisieren und damit verzerren würde. Hinzu kommen weitere potentiell verzerrende Effekte wie etwa auf Seiten der Lernenden Em64 Vgl. Trautwein u. a. 2017. 65 Vgl. zum Folgenden Wirtz 2018, S. 384f.; Wirtz/Strohmer 2019, S. 789–800; Köster 2016, S. 9– 62.
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pörung über unterschiedlich schwere Aufgaben. Auch eine Treatmentdiffusion im Sinne des inhaltlichen Austauschs der Schüler*innen über Versuchsgruppen hinweg ist denkbar. Um solche unerwünschten, durch die soziale Gruppenzugehörigkeit bedingten Hintergrundeinflüsse auszuschließen, greift diese Studie auf eine spezielle Form der Randomisierung zurück, die sogenannte ClusterRandomisierung. Dies bedeutet, dass statt Individuen ganze Lerngruppen den Experimental- und den Kontrollgruppen per Zufall zugeordnet werden, während die Outcome-Merkmale Textverstehen und historische Sachkompetenz auf Individualebene erhoben werden. Auf diese Weise können Bedrohungen der internen Validität wie die beschriebenen Intraklasseneffekte abgewendet und die Wahrscheinlichkeit der Messung empirisch valider Effekte erhöht werden. Wie bereits beschrieben, werden darüber hinaus weitere Maßnahmen zur Reduzierung potentieller Störeinflüsse ergriffen, wie die Kontrolle der Implementationsstreue und die Erhebung vermuteter Drittvariablen wie Lesemotivation oder Geschichtsinteresse. Neben diesem Einblick in aktuelle forschungsmethodische Herausforderungen der quantitativen Hauptstudie soll abschließend noch einmal auf Kernpunkte der Diskussion zum Vortrag eingegangen werden. Kritische Nachfragen bezogen sich vor allem auf die praktische Umsetzbarkeit und das AufwandNutzen-Verhältnis fachintegrierter Lesefördermaßnahmen. Diese Skepsis ist verständlich und notwendig, wenn es um zusätzliche Aufgaben für ein zeitlich eher marginalisiertes Unterrichtsfach wie Geschichte geht. Fachlich sinnvolle sprachliche Unterstützungsangebote erfordern, das kann nicht einfach negiert werden und zeigte sich auch bei der Entwicklung des hier vorgestellten Leseförderkonzepts, zusätzliche Unterrichts- und Vorbereitungszeit. Zudem setzen sie eine ausgeprägte fachdidaktische Kompetenz der Lehrperson voraus, da es bei sinnvollen sprachlichen Hilfen immer darum geht, diese fachspezifisch zu profilieren und zu nutzen. Um etwa im Bereich der Textarbeit tatsächlich historisches Lernen statt allgemeiner Lesekompetenz zu fördern, sollten Lesemethoden und -aufgaben an fachspezifischen Lernzielen, Erkenntnisweisen und historischen Kategorien wie Zeit und Wandel und weiteren sprachlichen Markern eines reflektierten Geschichtsbewusstseins ausgerichtet werden.66 Um einen solchen sprachbildenden und -fördernden Geschichtsunterricht umzusetzen, der sprachliches und historisches Lernen sinnvoll verknüpft, bedarf es jedoch entsprechend aus- oder weitergebildeter Geschichtslehrkräfte.67 Hierzu wäre, damit es nicht bei Einzelinitiativen einzelner Dozierender bleibt, eine formale, bisher überwiegend nur im Fach Deutsch umgesetzte Verankerung von Sprachförderung im Lehr66 Vgl. Degener/Kreutz 2020, S. 233–252; Schrader 2019, S. 129 sowie auch die Ausführungen auf S. 2 dieses Beitrags zu Sprachmerkmalen fachspezifischer Texte. 67 Vgl. Kniffka/Roelcke 2016, S. 116; Busse 2019, S. 7.
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amtsstudium notwendig. Solche Maßnahmen zur Umsetzung eines sprachsensiblen Geschichtsunterrichts in der Breite setzen systematische Untersuchungen der Wirksamkeit von Scaffolding-Ansätzen und konkreten fachspezifischen Sprachfördermaßnahmen voraus. Die vorgestellte Studie will in diesem Sinn einen Beitrag zu einer empirischen Fundierung eines sprachbewussten und adaptiven Geschichtsunterrichts leisten.
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Wie kann fachspezifisches Textverstehen wirksam unterstützt werden?
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Tobias Flink
»Erklären in Geschichte ist halt ganz normales Erklären von z. B. Themen«1 – Erste Ergebnisse einer Interventionsstudie zu schülerseitigem historischem Erklären
1.
Einleitung
Der vorliegende Beitrag will exemplarisch für die Sprachhandlung des historischen Erklärens zeigen, dass die Untersuchung von schülerseitigem Wissen über bzw. ihrer Konzepte zu fachspezifischen Sprachhandlungen aufschlussreiche Einblicke in potentielle Gründe für das in empirischen Studien häufiger konstatierte schwache bzw. fachunspezifische Schreibhandeln von Schüler*innen bieten kann. Zunächst (2.) wird, entlang des titelgebenden Zitats, dargelegt, wie (2.1 »ist halt ganz normales Erklären«) und was (2.2 »von z. B. Themen«) in der Geschichtswissenschaft erklärt wird. Nach dieser theoretischen Grundlegung wird der Forschungsstand zum historischen Erklären im Geschichtsunterricht vorgestellt (3.); da Schüler*innen maßgeblich über den gleichnamigen Operator mit historischem Erklären in Berührung kommen, konzentriert sich das Kapitel auf theoretische Überlegungen sowie empirische Forschungsergebnisse zu Operatoren. Aufgrund spärlicher deutschsprachiger Forschungsergebnisse zum Operator erklären im Geschichtsunterricht werden die Operatoren generell bzw. ausgewählte empirische Studien zu Sprachhandlungen betrachtet. Ausgehend von der Kritik an den Operatoren und den teilweise ernüchternden Ergebnissen empirischer Studien wird das Forschungsparadigma des Conceptual Change und das damit einhergehende Design der im Promotionsvorhaben durchgeführten Interventionsstudie vorgestellt (4.). Anschließend (5.) wird anhand zweier Antworten aus dem Prä-Test aus einer neunten Klasse exemplarisch gezeigt, wie divergent die Vorstellungen von Schüler*innen zur Sprachhandlung des historischen Erklärens sein können. Die Antworten werden 1 Das Zitat ist mit korrigierter Schreibweise entnommen aus Aufgabe I des Prä-Tests eines Studienteilnehmers aus der Kontrollgruppe der Jahrgangsstufe 9 (K9.17_1.1). Zur Kodierung: »K« = »Kontrollgruppe«, »9« = neunte Klasse, Zahl vor dem Unterstrich (»17«) = Position des*der Teilnehmenden in der Klasse, erste Zahl nach dem Unterstrich (»1«) = Prä-Test, letzte Zahl (»1«) = bearbeitete Aufgabe.
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hinsichtlich der beiden Kernfragen analysiert, wie und was im Geschichtsunterricht erklärt wird. Im Fazit (6.) wird abschließend ein Ausblick auf die folgenden Auswertungsschritte des Promotionsvorhabens gegeben.
2.
»Erklären in Geschichte […]«
Die Frage nach der fachspezifischen Form des Erklärens hat Geschichtsphilosophie und -theorie vor große Herausforderungen gestellt. Arthur C. Danto konstatiert, dass »nur wenige Probleme der Geschichtsphilosophie ein derartiges Maß an geballtem philosophischem Scharfsinn auf sich gezogen haben« wie das der historischen Erklärung.2 Vor allem die Frage danach, wie in der Geschichtswissenschaft erklärt wird, wurde lange und intensiv diskutiert.3 Damit verknüpft ist die Frage nach dem Gegenstand der Erklärung, also was Historiker*innen erklären. Beide Fragen werden in den folgenden Unterkapiteln erörtert.
2.1
»[…] ist halt ganz normales Erklären […]« – Wie erklärt man in Geschichte?
Zu Beginn ist die Sprachhandlung des Erklärens in allgemeiner Form – man könnte auch analog zum titelgebenden Zitat schreiben als »ganz normales Erklären« – auf Basis sprachwissenschaftlicher Überlegungen zu definieren: »ERKLÄREN soll – das deutet schon die Etymologie an – Klarheit schaffen über Zusammenhänge, die für den zu erklärenden Sachverhalt, das sog. Explanandum, konstitutiv sind, aber – zumindest nach Vermutung des Sprechers/Schreibers – dem Adressaten bisher unklar waren. Er soll sie verstehen.«4
Aus dieser Begriffsbestimmung des Erklärens lassen sich die folgenden allgemeinen Merkmale ableiten: Erstens sind an einer Erklärung mindestens zwei Personen beteiligt, von denen, zweitens, der oder die Erklärende mehr über das Explanandum weiß als der oder die Adressierte(n). Drittens verfolgt der oder die Erklärende schriftlich oder mündlich das Ziel, dass der oder die Adressierte(n) das Explanandum versteht/verstehen bzw. dass die Zusammenhänge – im etymologischen Sinne des Wortes – klar werden.5
2 Danto 1974, S. 324. 3 Vgl. für einen Überblick: Lorenz 1997. 4 Klein 2009, S. 27 (Hervorhebung i. O.). Zum Begriff »Explanandum«: lat. »was zu erklären ist«: vgl. Lorenz 1997, S. 70. 5 »Erklären«: lat. »claritas« = »Klarheit«.
»Erklären in Geschichte ist halt ganz normales Erklären von z. B. Themen«
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Es ist wichtig festzuhalten, dass es sich hierbei um allgemeine Merkmale von Erklärungen handelt. Die eine Form des Erklärens gibt es nicht, vielmehr ist Erklären »ein Konzept, das in einer diffusen Weise zwischen alltäglicher und theoretischer Sprache angesiedelt ist.«6 Erklärungen begegnen uns zum einen als alltägliche Sprachhandlungen, beispielsweise erklären wir die Funktionsweise eines Computers; zum anderen als je fachspezifische Erklärungen aus den einzelnen Wissenschaften, so auch der Geschichtswissenschaft. Wie aber ist eine historische Erklärung7 beschaffen? Dieses »strittigste Problem der Geschichtstheorie«,8 das bis heute nur bedingt zufriedenstellend gelöst worden ist, blickt auf eine über hundert Jahre andauernde Diskussion, die bis zu Johann Gustav Droysens Grundriß der Historik 1868 und seiner darin eingeführten These des Dualismus von Erklären und Verstehen zurückverfolgt werden kann.9 Eine Intensivierung erfuhr die Diskussion in der Reaktion auf Carl Gustav Hempels und Paul Oppenheims Studies in the Logic of Explanation (1948).10 Die beiden Philosophen veröffentlichten das – mittlerweile »fast schon klassische«11 – deduktiv-nomologische Modell der wissenschaftlichen Erklärung (H-O-Modell) und postulierten die These der einheitlichen Erklärform für alle Wissenschaften: Durch die Anwendung allgemeingültiger Gesetze könne das Explanandum aus den gegebenen Anfangsbedingungen abgeleitet, also deduziert, und damit auch prognostiziert werden.12 Die darauffolgende geschichtsphilosophische und -theoretische Diskussion wiederzugeben, ist hier weder möglich noch aufgrund ihrer ausführlichen Darstellung notwendig.13 Der Vorschlag bzgl. der genuin geschichtswissenschaftlichen Form des Erklärens, der sich der größten Zustimmung erfreut, wurde von Arthur C. Danto unterbreitet. Auf die Aufforderung, ein historisches Explanandum zu erklären, so Danto, antworte ein*e Historiker*in »spontan mit einer Erzählung«.14 In dieser Narration werde sowohl erzählt, was geschehen ist, als auch durch die Darlegung des historischen Kontextes weiter ausgeführt, wie es dazu gekommen ist: »daß also eine Erzählung, insoweit sie erklärt, zugleich genau angibt, was geschehen ist, und daß sie, insofern sie genau wiedergibt, was geschehen ist, zugleich auch erklärt. In
6 Ehlich 2009, S. 11. 7 Die Termini »historische Erklärung«, »geschichtswissenschaftliche Erklärung«, »Erklärung in Geschichtswissenschaft bzw. -unterricht« und »Erklärung im Fach Geschichte« werden in diesem Beitrag synonym verwendet. 8 Lorenz 1997, S. 7. 9 Vgl. Haussmann 1991, S. 149. 10 Hempel/Oppenheim 1948, S. 135–175. 11 Haussmann 1991, S. 24. 12 Griech. »nomos« = »Gesetz«. 13 Vgl. dazu Lorenz 1997; vgl. auch Roberts 1996. 14 Danto 1974, S. 321.
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dieser Weise also bilden erzählende Beschreibung und historische Erklärung ein unauflösbares Ganzes.«15
Ebenso, aber etwas anschaulicher anhand eines Beispiels, argumentiert HansJürgen Pandel: »Jede Erzählung ist eine Erklärung. Die Erzählung will nicht einfach darstellen, dass es einen Sklavenhandel gegeben hat, sondern wie und warum aus freien Schwarzen in Afrika Zwangsarbeit leistende Sklaven in Amerika wurden. Weiterhin will man wissen, welche Wirkungen des [sic] Sklavenhandel hatte, d. h. für welche anderen Ereignisse der Sklavenhandel Ursache war.«16
Arthur C. Dantos Argumentation für die Erzählung als genuine Form der historischen Erklärung erfreut sich, trotz teilweise berechtigter Kritik,17 nach wie vor großer Beliebtheit.18 Der hervorzuhebende Vorteil der narrativen Erklärung besteht darin, dass andere Arten des Erklärens in sie integriert werden können.19 So war die Entwicklung geschichtswissenschaftlicher Erklärtypologien überaus fruchtbar; Birgit Wenzel beispielsweise differenziert zehn unterschiedliche Erklärungsmuster.20 Auch wenn manche Grenzen zwischen den Erklärungsmustern Fragen hinsichtlich ihrer Trennschärfe aufwerfen, so zeigt ihre Typologie dennoch die Spannbreite der Vorschläge, Erklärmodelle für die Disziplin Geschichte zu entwickeln. Ihre Typologie – exemplarisch ausgewählt, es finden sich weitere Vorschläge mit sich teils überschneidenden Terminologien und/oder Definitionen21 – zeigt zudem, dass die Diskussion um genuin historisches Erklären noch nicht beendet ist22 und dass sich die narrative Erklärung zwar breiter, aber nicht uneingeschränkter Zustimmung erfreut. Historiker*innen erklären demnach narrativ, also durch das Erzählen einer Geschichte, und können sich im Rahmen der Narration anderer Erklärmodi bedienen. Eng verknüpft mit der Frage nach der Form der historischen Erklärung ist die Frage nach dem historischen Explanandum – Was erklären Historiker*innen? 15 16 17 18
19 20 21 22
Ebd., S. 322. Pandel 2010, S. 88 (Hervorhebungen i. O.). Vgl. z. B. Roberts 1996; vgl. auch Gerber 2012. So heben Holger Thünemann und Johannes Jansen (u. a. in Bezug auf Lorenz 1997 und die Überlegungen Karl-Ernst Jeismanns zum Geschichtsbewusstsein) die konzeptionelle Nähe von historischen Erklärungen und historischen Sachurteilen hervor. Historische Erklärungen gewinnen durch diese Überlegungen Anschlussfähigkeit an die Zentralkategorie Geschichtsbewusstsein, was erneut die hohe Relevanz der Frage nach ihrer Beschaffenheit unterstreicht. Vgl. Thünemann/Jansen 2018, hier v. a. S. 97–98. Vgl. Rüsen 1986, S. 37. Vgl. Wenzel 2009, S. 169–187. Vgl. z. B. Rüsen 1986. Vgl. hierzu jüngere Überlegungen: Brauch/Heine/Bramann 2020, S. 137–163; sowie Ruck/ Memminger 2019, S. 146–165.
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»[…] von z. B. Themen« – Was erklärt man in Geschichte?
Historische Explananda, so argumentiert Jörn Rüsen u. a. gegen die einfache Übernahme des H-O-Modells für geschichtswissenschaftliche Erklärungen, zeichnen sich durch ihre »zeitliche[…] Besonderheit« aus:23 Historiker*innen erklärten in ihren Erzählungen einmalige, raumzeitlich gebundene Entwicklungen und suchten nicht allgemeine Regeln, die sie auf den untersuchten Fall anwenden – wie es im deduktiv-nomologischen H-O-Modell der Fall ist.24 Der Gegenstand dieser Entwicklung ist dabei abhängig vom Forschungsinteresse und kann »irgend etwas im Erfahrungshorizont der menschlichen Lebenspraxis sein, dem irgendeine Bedeutung für die Zeitorientierung dieser Praxis zukommen kann.«25 Ein weiteres Merkmal historischer Explananda ist ihre Beschaffenheit: Im obigen Zitat Hans-Jürgen Pandels wird deutlich, dass Historiker*innen nicht einen festen Zeitpunkt, sondern den zeitlichen Kontext eines historischen Phänomens sowie die mit ihm verbundenen kausalen Verbindungen zu zeitlich vorherigen und nachfolgenden Phänomenen, also seinen Ursachen und Wirkungen, erklären. Und so sieht auch Jörn Rüsen die historische Spezifität zu erklärender Phänomene in »ihre[r] Zeitqualität, […] ihre[m] Stellenwert in einem als sinn- und bedeutungsvoll angesehenen Zeitverlauf«.26 Wenn es also der Geschichtswissenschaft um die Erklärung historischer Entwicklungen geht, dann, so Arthur C. Danto, erklären Historiker*innen Veränderungen in der Vergangenheit: »Der Wandel von F – G ist die Veränderung in x, die Erklärung verlangt. Doch um den Wandel zu erklären, bedarf es der Beziehung auf etwas, das in t-2 mit x geschieht, ein Ereignis (von beliebigem Komplexitätsgrad), das die Veränderung in x verursachte.«27
Er entwickelte in Anlehnung an das H-O-Modell das Schema einer narrativen Erklärung, um die Veränderung des Referenzsubjekts x der jeweiligen Narration darzustellen: (1) x ist F in t-1. (2) H ereignet sich mit x in t-2. (3) x ist G in t-3.28 23 Rüsen 1986, S. 114 (Hervorhebung i. O.). 24 Vgl. Hempel/Oppenheim 1948. 25 Rüsen 1986, S. 37. Jörn Rüsen illustriert mit den folgenden Beispielen die Bandbreite historischer Explananda: »Dieses ›Etwas‹ […] kann ein Mensch z. B. Brutus), eine Menschengruppe (z. B. die Arbeiterschaft), ein Begriff (z. B. die Menschheit), ein Nahrungsmittel (z. B. Reis), ein Preis (z. B. der Getreidepreis), eine Wirtschaftsform (z. B. das Handwerk) […] sein«. Ebd., S. 37f. 26 Ebd., S. 27. 27 Danto 1974, S. 376 (Hervorhebung i. O.). 28 Ebd., S. 376 (Hervorhebungen i. O.).
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Im Zeitverlauf von t-1 bis t-3 verändert sich demnach x von F (t-1) durch das Ereignis H (t-2) zu G (t-3). Dem besonderen Charakter historischer Explananda als Veränderung in der Vergangenheit trägt das Schema Rechnung, indem das Explanandum nicht wie im H-O-Modell aus dem Explanans deduziert wird und am Ende herauskommt, sondern dass das Referenzsubjekt x zu Beginn (1) in seiner Ausgangslage F und am Ende (3) der Erklärung in der veränderten Form G vorliegt. Das Explanandum ((1) und (3)) rahmt demnach das Explanans im Mittelteil (2). Als Zwischenfazit kann konstatiert werden, dass sich an der besonderen Form der narrativen Erklärung zeigt, dass die Fragen nach dem Was? und dem Wie? historischen Erklärens nicht losgelöst voneinander beantwortet werden können: Das Was?, die Veränderung des Referenzsubjekts, strukturiert das Wie?, die Form der Erzählung, und zwar insofern, als der Inhalt die Form, die triadische Struktur einer Geschichte mit Anfang (1), Mittelteil (2) und Ende (3), vorgibt.29 Auch wenn die narrative Erklärung als einzige genuin historische Erklärungsform nicht unumstritten ist, haben sich zahlreiche Vertreter*innen aus Geschichtsphilosophie, -theorie und -didaktik für sie ausgesprochen bzw. Arthur C. Dantos Modell theoretisch weiterentwickelt. Mit ausreichender Berechtigung kann sie demnach als vorherrschende Erklärungsform in der Geschichtswissenschaft angesehen werden. Da die Sprachhandlung des Erklärens in dieser Definition sehr nah30 an die für die Geschichtstheorie elementare Kategorie des Erzählens rückt,31 sollte sie ihren Weg auch in den Geschichtsunterricht an deutschen Schulen gefunden haben.
3.
Forschungsstand
Schüler*innen kommen im Geschichtsunterricht, neben inhaltlichen und instruktionalen Erklärungen in Schulbüchern sowie durch die Lehrkraft, maßgeblich über den gleichnamigen Operator mit historischem Erklären in Kontakt. Operatoren sind laut den Einheitlichen Prüfungsanforderungen in der Abitur29 Vgl. ebd.: »daß es jetzt eigentlich vollkommen klar sein müßte, in welchem Sinne eine historische Erklärung die Form einer Erzählung annimmt. Einfach in dem Sinne nämlich, daß (1), (2) und (3) bereits die Struktur der Erzählung eigentümlich ist. Sie hat einen Anfang (1), einen Mittelteil (2) und ein Ende (3).« 30 Erzählen und Erklären haben demnach die gleiche Grundstruktur, unterscheiden sich jedoch insofern, als die Erzählung als übergeordnete Sprachhandlung auch beschreibende, argumentierende, sowie Anteile weiterer Sprachhandlungen beinhalten kann. Vgl. auch Schnepf 2011, S. 12: »Keine Erzählung kommt ohne Erklärungen oder erklärende Elemente aus […] Erklärungen geben sich oftmals so selbstverständlich, dass sie als solche in zusammenhängenden Erzählungen gar nicht auffallen und deshalb einfach »geschluckt« werden.« 31 Vgl. Rüsen 2008, S. 30.
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prüfung Geschichte (EPA) »der Standardsprache entnommene, hier aber genau definierte Fachtermini […], die eine spezifische Handlungsanweisung beinhalten«,32 und leiten Aufgaben ein, die es den Lernenden ermöglichen sollen, ihre Kompetenz(en) zur Performanz zu bringen. Der Operator erklären wird in den EPA mit der Handlungsanweisung charakterisiert, »historische Sachverhalte durch Wissen und Einsichten in einen Zusammenhang (Theorie, Modell, Regel, Gesetz, Funktionszusammenhang) ein[zu]ordnen und [zu] begründen«.33
Diese »handlungsinitiierende[n] Verben« sollen den Lernenden Transparenz hinsichtlich der in der jeweiligen Aufgabe von ihnen erwarteten Leistung bieten.34 Paradoxerweise kritisieren Forschende u. a. aus der Geschichtsdidaktik, den Bildungswissenschaften und der Sprachdidaktik vor allem ihre Intransparenz. Mit je exemplarischen Positionen wird die Kritik bzgl. der Intransparenz in vier Aspekten zusammengefasst: Jelko Peters moniert, erstens, ihre »entdidaktisiert[e] Veröffentlichung«,35 also ihr Erscheinen ohne Nennung der Herausgebenden. Karl-Heinz Dammer hinterfragt, zweitens, die Beliebigkeit, mit der einzelne Operatoren definiert und nicht, bzw. nur bedingt, nachvollziehbar voneinander abgegrenzt werden.36 Helmuth Feilke kritisiert, drittens, die paradoxe Situation, dass sprachliche Formen in der Schule zwar gefordert, aber nicht gelehrt würden.37 Saskia Handro, viertens, bemängelt aus geschichtsdidaktischer Perspektive, dass die Operatoren »nicht in ihrer fachlichen Relevanz erhellt« würden, also fachspezifisch unklar beziehungsweise gar nicht konturiert seien.38 Im vorliegenden Beitrag ist mit Blick auf die obige Definition von erklären vor allem Saskia Handros Kritik nachzuvollziehen. Welche Vorgaben bezüglich des Was? und des Wie? finden sich in der Definition der EPA? Zu erklären sind »historische Sachverhalte«. Die Explananda sind durch das Adjektiv »historische« zum einen fachlich spezifiziert, zum anderen ist »Sachverhalte« ein ausreichend abstrakter Begriff, um die Vielfalt möglicher Refe-
32 33 34 35 36
Dammer 2007, S. 53. Kultusministerkonferenz 2005, S. 8. Ebd., S. 7. Peters 2015, S. 301. Vgl. Dammer 2007, S. 54: »In diesem […] Sinne oder Unsinne werden zahlreiche in ihrer standardsprachlichen Bedeutung ähnliche, wenn nicht gar synonyme Begriffe minutiös in einer Weise voneinander abgegrenzt, der gegenüber scholastische Disputationen fast eine feyerabendliche Beliebigkeit ausstrahlen.« Vgl. hierzu auch Schönemann/Thünemann/Zülsdorf-Kersting 2011, S. 17f. Die Verfasser stellen die berechtigte Frage, ob die Schüler*innen sich die Vielzahl an Operatoren überhaupt merken, geschweige denn die jeweiligen Sprachhandlungen trennscharf ausführen können. 37 Vgl. Feilke 2012, S. 4. 38 Handro 2013, S. 320.
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renzsubjekte einer Erklärung39 nicht einzuschränken. Jedoch birgt die Abstraktheit des Begriffs für (v. a. jüngere) Lernende Verständnisschwierigkeiten und daher muss das Explanandum in der Aufgabe genau und vor allem als Veränderung des Referenzsubjekts definiert werden. Während also das Was? der Erklärung sowohl einigermaßen mit geschichtstheoretischen Überlegungen übereinstimmt als auch – jedoch nur durch entsprechende Konkretion in der Aufgabenstellung – Transparenz hinsichtlich des Explanandums bieten kann, überzeugt die Definition hinsichtlich der Frage nach dem Wie? nicht. Zwar ist ein Bezug zu (geschichts-)philosophischen Überlegungen und dem H-O-Modell durch die Einordnungsleistung in einen übergeordneten Zusammenhang (es stehen u. a. »Gesetz« und »Theorie« in den Klammern!) zu erkennen. Jedoch ist die Angabe von fünf möglichen Arten des Zusammenhangs (vermutlich gegeben, um die Definition wie auch hinsichtlich des Explanandums möglichst offen zu halten) alles andere als transparent, zumal die Lernenden wissen müssen, in welche Art von Zusammenhang sie die historischen Sachverhalte begründet einordnen sollen und welche inhaltlichen wie sprachlichen Besonderheiten mit den Zusammenhängen jeweils verbunden sind. Die beiden Verben einordnen und begründen könnten hier erste Anhaltspunkte bieten, jedoch sind sie selber Operatoren, sodass sich die Frage nach den jeweils erwarteten Sprachhandlungen erneut stellt und sie demnach nur unter der Voraussetzung eine Hilfestellung sind, dass sie ihrerseits sprachlich und strukturell operationalisiert sind. Zudem ist vor dem Hintergrund von Helmuth Feilkes Kritik problematisch, dass keinerlei sprachliche oder strukturelle Hilfestellungen in der Definition gegeben werden. Vor dem Hintergrund dieser, exemplarisch an erklären aufgezeigten, berechtigten Kritik an der Intransparenz der Operatoren fordern Geschichtsdidaktiker*innen, die sprachlichen Anforderungen im Fach Geschichte transparenter zu gestalten, zum Beispiel indem den Lernenden »Angaben über Zieltextformate«40 an die Hand gegeben werden. Dies ist nur möglich, wenn die einzelnen Operatoren zuvor ›aufgeschlüsselt‹, also in ihren sprachlichen und strukturellen Spezifika operationalisiert werden.41 Diese Forderung gewinnt mit Blick auf jüngere empirische Studien zu Schreibhandlungen von Schüler*innen und Studierenden umso mehr an Bedeutung: In zahlreichen Studien – die Vielzahl kann hier aus Platzgründen nur angedeutet werden – wird die sprachliche Darstellungsleistung der Teilnehmenden als problematisch oder schwach eingeschätzt. So stellt Olaf Hartung – obwohl er grundsätzlich positiv auf die Produkte der Studienteilnehmenden blickt – fest, »dass viele Schüler/innen 39 Vgl. Rüsen 1986, S. 38: »irgend etwas im Erfahrungshorizont der menschlichen Lebenspraxis«. 40 Hartung 2016, S. 189. 41 Vgl. Oleschko/Moraitis 2012, S. 34; vgl. auch Altun/Günther 2018, S. 159.
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Schwierigkeiten haben, eine kohärente Themenfolge zu entwickeln.«42 Monika Waldis, Philipp Marti und Martin Nitsche kritisieren in ihrer Analyse von Narrationen von Geschichtslehramtsstudierenden, dass diese »ausgesprochen kurz, wenig strukturiert und wenig sorgfältig gestaltet« sind.43 Mareike-Cathrine Wickner stellt heraus, dass Lernende »über grundlegende Fähigkeiten zur Bewältigung von historischen Schilderungs- und Erklärungsaufgaben« verfügen, jedoch im Bereich der Fachsprache schwächer abschneiden.44 Ausgehend von der breiten Kritik an der Intransparenz der Operatoren, die durch empirisch herausgestellte Schwierigkeiten der Lernenden im fachspezifischen Sprachhandeln umso gewichtiger erscheint, ist die Forderung, Sprachhandlungen fachspezifisch zu operationalisieren, Operatoren also »aufzuschlüsseln«, für die Geschichtsdidaktik von großer Relevanz.
4.
Forschungsdesign
Ausgehend von dieser Forderung wurde im Rahmen des Promotionsvorhabens, in das der vorliegende Beitrag eingebettet ist, die Sprachhandlung des Erklärens fachspezifisch als narratives Erklären operationalisiert (Forschungsfrage 1, s. u.).45 Zwei weitere übergeordnete Forschungsfragen stehen dem Vorhaben vor: 1. Theoretisch: Wie lässt sich historisches Erklären operationalisieren? 2. Empirisch: Welche Konzepte haben Lernende von historischem Erklären und wie gehen sie vor, wenn sie eine Aufgabe lösen, die mit dem Operator erklären eingeleitet wird? 3. Pragmatisch: Kann am Konzept bzw. an der Performanz der Lernenden angeknüpft werden und ihr Wissen über historisches Erklären durch Interventionen verändert bzw. verbessert werden? Die im Folgenden vorgestellten Ergebnisse beziehen sich auf den ersten Teil der empirischen Forschungsfrage (Welche Konzepte haben Lernende von historischem Erklären?) und ordnen sich aufgrund der Frage nach den Konzepten in das Forschungsparadigma des Conceptual Change ein. Dieses geht davon aus, dass Wissen und Vorstellungen von Lernenden in übergeordneten Konzepten strukturiert sind und dass diese Konzepte z. B. im Unterricht oder bei der Bearbeitung von Aufgaben aktiviert werden. Lernende erwerben außerhalb des Unterrichts Vorstellungen (sogenannte Präkonzepte), die sich im Alltag zur Er42 43 44 45
Hartung 2013, S. 282. Waldis/Marti/Nitsche 2015, S. 86. Wickner 2019, S. 142. Der Arbeitstitel des Promotionsvorhabens lautet: Strukturelle und sprachliche Merkmale narrativer Erklärungen im Fach Geschichte (Stand: November 2020).
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klärung von Ereignissen bewähren, die jedoch nicht oder nur bedingt geeignet sind, um wissenschaftliche Phänomene im Unterricht zu erklären und daher im Unterricht verändert werden müssen.46 Das komplexe Verhältnis von Vorstellungen, Wissen und Konzepten kann an dieser Stelle aus Platzgründen nur überblicksartig aufgeschlüsselt werden. Seit dem bildungspolitischen Paradigmenwechsel zur Kompetenzorientierung existieren zunehmend theoretische Überlegungen, die sich mit historischem Wissen,47 dem Verhältnis von Wissen und Können/Kompetenzen48 und den Zusammenhängen von Wissen, Kompetenzen und Konzepten49 beschäftigen; eine konsensuale Lösung dieses Zusammenhangs wurde jedoch noch nicht vorgestellt. Der gebräuchlichen Übersetzung ins Deutsche als »Veränderung von Wissensstrukturen«50 folgend, wird angenommen, dass das Wissen von Lernenden über historisches Erklären – mit großer Wahrscheinlichkeit beeinflusst, wenn nicht gar verdeckt durch ein aus dem Alltag bekanntes Konzept von Erklären – gezielt verändert werden kann, um es an die wissenschaftsförmige Operationalisierung als narratives Erklären anzunähern.51 Hierzu wurde eine Interventionsstudie (lateinisch: intervenire = »dazwischen treten«)52 im quasi-experimentellen Setting53 konzipiert. Zwei Gymnasien konnten im Rückgriff auf persönliche Kontakte mit je einer neunten Klasse (n = 29 bzw. 27) und einem Leistungskurs Geschichte der Q2 (Jahrgangsstufe 12; n = 15 bzw. 10) für die Teilnahme an der Studie gewonnen werden. Die Kurse einer Schule dienten als Experimentalgruppen, in denen die Interventionen stattfanden, die Kurse der anderen Schule als Kontrollgruppen. Der Ablauf der Studie (Zeitraum: Juni 2019 – März 2020) orientiert sich an der klassischen Durchführung eines Experiments mit der Einteilung in Prä-, Postund Follow Up-Test. Um erwartete Störvariablen (z. B. Standorte der Schulen, Schüler*innen-Klientel) kontrollieren zu können, wurde ein zusätzlicher PräTest durchgeführt. Dieser bestand aus einem Fragebogen zur Erhebung soziodemographischer Merkmale, einem C-Test zur Erhebung rezeptiver und produktiver Sprachfertigkeiten54 sowie dem HiTCH-Teiltest55 zur Erhebung fachspezifischer Sach- und Methodenkompetenzen. 46 47 48 49 50 51 52 53 54 55
Vgl. Duit/Treagust/Widodo 2008, S. 629. Vgl. Günther-Arndt 2014, S. 24–49. Vgl. z. B. Gautschi 2010, S. 67–90. Vgl. z. B. Kühberger 2012; vgl. auch Thünemann/Jansen 2018. Stark 2003, S. 133. Vgl. hierzu Rauthe 2014, insbesondere S. 22f. Leutner 2013, S. 17. Vgl. Döring/Bortz 2016, S. 199. Vgl. Grotjahn 2002, S. 211–225. Vgl. Trautwein u. a. 2017. Ich bedanke mich beim HiTCH-Konsortium für die Bereitstellung des Testinstruments.
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Prä-, Post- und Follow Up-Test sind gleich strukturiert und die Lernenden der neunten wie zwölften Jahrgangsstufe bearbeiteten die gleichen Aufgaben, wenn auch die Materialien in Umfang und Sprache für die Neuntklässler*innen vereinfacht wurden. Die Tests bestehen aus zwei Aufgaben, einem offenen Schreibauftrag, der die Lernenden aufforderte aufzuschreiben, was sie unter erklären im Fach Geschichte verstehen (Aufgabe 1) und einem materialgestützten Schreibauftrag, wonach die Schüler*innen eine solche Erklärung verfassen sollten (Aufgabe 2). Die Antworten auf beide Aufgaben werden zurzeit mithilfe inhaltsanalytischer Verfahren computergestützt ausgewertet,56 die folgende Analyse ist also als ein Bericht aus einem work in progress zu verstehen.
5.
Erste Ergebnisse
Im Folgenden wird anhand von zwei Prä-Test-Antworten (Aufgabe 1) aus der Kontrollgruppe der Jahrgangsstufe neun57 analysiert, über welche Vorstellungen von bzw. welches Wissen über historisches Erklären, vor allem bzgl. des Was? und Wie?, Lernende verfügen. Beispiel 1: Schüler K9.17_1.1 »- Wenn jemanden, der es nicht versteht so geholfen wird, dass er es versteht. - Wenn der Lehrer uns etwas erklärt. - jemand erklärt z. B. den Ablauf der Französischen Revolution. - erklären in Geschichte ist halt ganz normales erklären von z. B. Themen.«
Grundsätzlich lässt K9.17 in seiner Antwort ein zustimmungsfähiges alltägliches Konzept von Erklärungen erkennen: Er nennt mindestens zwei Beteiligte (»jemanden« und indirekt in der Passivkonstruktion »geholfen wird«) und gibt das Ziel der Erklärung an: der Adressat soll verstehen. Im zweiten Spiegelstrich konkretisiert K9.17 das Setting der Erklärung für den Unterricht (leider nicht den Geschichtsunterricht), wenn »der Lehrer uns [gemeint: den Schüler*innen]« erklärt. Hinsichtlich der Frage nach dem Was? des Erklärens im Fach Geschichte bleibt die Antwort zunächst unspezifisch (zweimal »es«, »etwas«), dann gibt K9.17 jedoch ein zustimmungsfähiges historisches Explanandum: »den Ablauf der
56 Vgl. Mayring 2015. 57 Da der Prä-Test im Juni 2019 stattfand, waren die Lernenden zum Zeitpunkt der Testung eigentlich noch in der achten Klasse bzw. der Qualifikationsphase I. Aus Gründen der Übersichtlichkeit werden sie im Vorhaben immer mit der höheren Jahrgangsstufe bezeichnet, in der sie den Großteil der Erhebungen erlebten.
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Französischen Revolution.« Ohne zu viel in die Formulierung hineininterpretieren zu wollen, können sowohl in dem »Großereignis«58 ›Französische Revolution‹ als auch in dem Substantiv »Ablauf« temporale wie kausale Verknüpfungen angelegt sein. Ein Abgleich mit dem Explanandum in der verfassten Erklärung in Aufgabe zwei könnte Einblicke liefern, ob K9.17 die temporalen und kausalen Bezüge als Teil der Erklärung ansieht.59 Die Antwort wird also mit jedem Spiegelstrich spezifischer auf Erklären im Fach Geschichte ausgerichtet – bis K9.17 die aus dem Titel des vorliegenden Beitrages bereits bekannte Aussage tätigt. Es ist nun strittig, ob ein zustimmungsfähiges Konzept historischer Explananda vorliegt (»von z. B. Themen«). Bezüglich der Frage nach dem Wie? des historischen Erklärens lässt 9.17 keine spezifische Vorstellung erkennen, wenn er schreibt »halt ganz normales erklären«. Beispiel 2: Schülerin K9.1_1.1 »Unter ›erklären‹ im Fach Geschichte verstehe ich, dass man historische Ereignisse und ihren Ablauf sachlich beschreibt. Hierbei muss man sich an Informationen aus Quellen halten und darf nichts dazu schreiben bzw. erfinden. Es ist wichtig möglichst genaue Angaben zu machen, die die W-Fragen (Wie?; Wer?; Wann?;…) beantworten. Außerdem sollte man möglichst detailliert die einzelnen Geschehnisse und Schritte in der richtigen Reihenfolge, also chronologisch sortiert, schildern. Zusammenhänge sollten dabei klar werden.«
Die Antwort von K9.1 ist nicht nur sprachlich sehr elaboriert, sondern auch inhaltlich beachtlich genau und lässt auf ein elaboriertes Konzept historischen Erklärens schließen. So schreibt K9.1 hinsichtlich der Frage nach dem Was?, dass im Fach Geschichte »historische Ereignisse und ihr […] Ablauf«, »die einzelnen Geschehnisse und Schritte in der richtigen Reihenfolge, […] chronologisch sortiert« beschrieben würden, sodass »Zusammenhänge dabei klar werden«. K9.1 formuliert hier das, was Jörn Rüsen als Charakteristikum historischer Explananda definiert, nämlich den »Stellenwert [eines Referenzsubjekts, T.F.] in einem als sinn- und bedeutungsvoll angesehenen Zeitverlauf«.60 Ein vergangener Zeitverlauf wird demnach chronologisch aufgearbeitet, indem die temporalen und kausalen Bezüge zwischen einzelnen Ereignissen heraus- und narrativ sowie theoretisch plausibel dargestellt werden. Interessant ist zudem, dass K9.1 die etymologische Bedeutung des Wortes, »klar werden«, verwendet.
58 Vgl. für den Begriff des »Großereignisses« sowie seine Erklärung Gerber 2012, S. 52. 59 Vgl. 6. Fazit und Ausblick. 60 Rüsen 1986, S. 27.
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Auch hinsichtlich des Wie? historischen Erklärens ist die Antwort in ihrer Fachspezifik als zustimmungsfähig einzuschätzen: Auf Basis von quellengesicherten Informationen werden vergangene Abläufe beschrieben bzw. geschildert. Dass K9.1 die grundlegende Methode der Quellenanalyse anführt, lässt auf ein spezifisches epistemisches Verständnis im Sinne empirischer Plausibilität schließen; ebenso die Betonung, dass man »nichts dazu schreiben bzw. erfinden« dürfe. Hinsichtlich der Geschichtswissenschaftsspezifik ist die Antwort ebenfalls insofern zustimmungsfähig, als K9.1 den »sachlich[en]«, also möglichst objektiven und damit normativ plausiblen Charakter der Erklärung nennt. Des Weiteren weist die Antwort wissenschaftsspezifische Merkmale auf, da zur Beantwortung der W-Fragen »möglichst genaue Angaben« gemacht und »möglichst detailliert« geschildert werden müsste – im Gegensatz zum sonst meist oberflächlichen alltäglichen Erklären. An der Antwort zu bemängeln ist lediglich, dass K9.1 keine Informationen bezüglich der Form einer Erklärung angibt, also einer Erzählung mit Einleitung, Hauptteil und Schluss. Ein Aspekt, der angesichts der insgesamt elaborierten Antwort jedoch eher nachrangig ist, zumal in den Verben »schreiben« und »schildern« Ansätze von »erzählen« und in der zustimmungsfähigen Charakterisierung des Explanandums die temporale und kausale Verlaufsstruktur angelegt sind. Zwei wichtige Anmerkungen sollen die Analyse dieser Antwort abrunden: Erstens findet sich in der Antwort keine Spezifikation, wer erklärt, also ob Lehrkraft oder Lernende. Dies kann darauf hindeuten, dass K9.1 (im Gegensatz zu K9.17) bewusst ist, dass sich das Erklären im Fach Geschichte nicht auf lehrerseitige Aktivitäten beschränkt. Zweitens antwortet K9.1, dass man »nichts dazu schreiben [Hervorhebung T.F.]« dürfe. Die Vermutung liegt nahe, dass sie Erklären maßgeblich als schriftliche Tätigkeit ansieht, nicht als mündliche. Die weitere Analyse der Antworten wird zeigen, ob diese Hypothese haltbar ist.
6.
Fazit und Ausblick
Exemplarisch für das Sample wurden zwei Antworten aus der neunten Jahrgangsstufe vorgestellt und untersucht. Die Analyse hinsichtlich des Was? und des Wie? historischen Erklärens hat ergeben, dass die Antworten der Lernenden auf drei Ebenen sehr heterogen ausfallen: Erstens erstreckt sich der Umfang von Nichtbearbeitung über Stichpunkte und Ein-Satz-Antworten hin zu mehreren kohärenten Sätzen. Zweitens ist mit Blick auf die Spezifität eine große Bandbreite zu konstatieren: von nicht zustimmungsfähigen Konzeptionen historischen Erklärens, über alltägliche hin zu elaborierten Konzeptionen. In ihren Antworten führen die Lernenden, drittens, auf der inhaltlichen Ebene sehr unterschiedliche
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Merkmale an. So beziehen sie sich u. a. auf historische Explananda (abstrakt oder anhand von Beispielen) und auf Bestandteile des Explanans, sie spezifizieren das Setting der Erklärung hinsichtlich des (Geschichts-)Klassenraums, führen Medien und Quellen als Grundlage für die Erklärung an und nennen mögliche Zwecke der Erklärung. Die Antworten lassen darauf schließen, wie divers die Konzepte von bzw. das Wissen über historisches Erklären bei den Schüler*innen ausgeprägt sind. Vor diesem Hintergrund erscheinen die folgenden drei Auswertungsschritte vielversprechend. Erstens ist die Analyse der Antworten weiterzuführen, was Lernende unterschiedlicher Jahrgangsstufen unter Erklärungen im Fach Geschichte verstehen, und in diesem Kontext ist zu klären, welche Unterschiede zwischen Schüler*innen der Jahrgangsstufen neun und zwölf bestehen. Zweitens ist im Postund Follow Up-Test zu untersuchen, ob die Lernenden der Experimentalgruppen die Merkmale historischen Erklärens erlernen konnten, ob und in welchem Maße also die Interventionsmaßnahmen erfolgreich waren und ob eine Veränderung ihrer Wissensstrukturen stattgefunden hat. Schließlich ist drittens mit Blick auf Aufgabe 2 der Erhebungsinstrumente zu fragen: Wenden die Lernenden die erlernten Merkmale historischen Erklärens in ihren eigenen Erklärungen an? Haben sie das neu gelernte Wissen prozeduralisiert und zeigen sie es in ihren Performanzen?
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Lisa Genthner
»[…] also für mich ist ein Sachurteil immer etwas, was man tatsächlich faktisch ja eindeutig bestimmen kann« – (Wie) setzen Geschichtslehrkräfte Ergebnisoffenheit bei der Urteilsbildung um?
1.
Einleitung
In der Geschichtsdidaktik scheint unbestritten, dass Urteilsbildung – auch als »Herzstück des Faches Geschichte«1 bezeichnet – einen zentralen Bestandteil des historischen Erkenntnisprozesses darstellt. Dies zeigt sich auch darin, dass dem Urteilen in fachspezifischen Kompetenzmodellen sowie in den meisten aktuellen Kerncurricula eine zentrale Bedeutung zukommt.2 So sollen Schüler*innen lernen, sowohl eigene Deutungen vorzunehmen als auch mit bereits existierenden Urteilen, die ihnen innerhalb der Geschichtskultur begegnen, umzugehen. Im niedersächsischen Kerncurriculum wird der Urteilsbildung sogar ein eigener Kompetenzbereich eingeräumt. Dort heißt es, dass Schüler*innen bereits in der Unterstufe kriteriengeleitet eigene Sach- und Werturteile fällen sollen. Ab Klasse 10 sollen darüber hinaus die Kriterien dafür offengelegt werden.3 Empirische Ergebnisse deuten jedoch darauf hin, dass gerade in dem als so zentral angesehenen Bereich der Urteilsbildung Defizite bestehen und die Urteile der Schüler*innen den normativen Vorstellungen nicht gerecht werden. So kommen Schönemann u. a. in ihrer Untersuchung von Urteilen in Abiturklausuren zu folgendem Fazit: »Die Urteilsbildung (Sachurteils- wie Werturteilsbildung) erfolgte in allen Klausuren sehr unreflektiert. Die Prinzipien der Urteilsbildung waren den Prüflingen offenkundig nicht bekannt, so dass die Urteilsbildung insgesamt recht unbedarft erfolgte.«4 Die Autoren empfehlen deshalb 1 Zülsdorf-Kersting 2016, S. 197; Winklhöfer 2021, S. 77. 2 Vgl. u. a. Gautschi 2009; Niedersächsisches Kultusministerium 2015; Hessisches Kultusministerium 2016. In den Kompetenzmodellen dieser Kerncurricula und in dem Modell von Gautschi kommt Urteilsbildung durch entsprechende Kompetenzbereiche eine zentrale Bedeutung zu. Als fachspezifische Denkoperation spielt sie jedoch auch in den meisten anderen Lehrplänen und geschichtsdidaktischen Kompetenzmodellen eine wichtige Rolle, auch wenn nicht immer die Begriffe Urteilsbildung, Sachurteil oder Werturteil verwendet werden. 3 Vgl. Niedersächsisches Kultusministerium 2015, S. 15. 4 Schönemann/Thünemann/Zülsdorf-Kersting 2011, S. 78.
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gerade für diesen Bereich eine bewusstere Förderung und eine Vermittlung der unterschiedlichen Urteilstypen.5 Diese Forderung geht mit bestimmten Erwartungen an die Geschichtslehrkräfte einher: So müssen diese nicht nur selbst in der Lage sein, unterschiedliche Urteilsdimensionen zu differenzieren, sondern auch, ihren Schüler*innen diese fachspezifische Denkoperation zu vermitteln. Hierbei gehen jedoch die Erwartungen an die Lehrkräfte und der Stand der Forschung weit auseinander. Denn auch in der geschichtsdidaktischen Theorie wird noch darüber diskutiert, was ein historisches Urteil konkret auszeichnet und wie Urteilsbildung gefördert werden soll.6 Dennoch kommt den Lehrkräften bei der Vermittlung von Urteilsbildung als Schnittstelle zwischen Theorie und Praxis eine entscheidende Rolle zu. Ihre Überzeugungen und Praktiken zur Urteilsbildung stehen deshalb im Fokus des hier vorgestellten Dissertationsprojektes. Dieses verfolgt das Ziel, Überzeugungen der Lehrkräfte zur Bedeutung, zum Verständnis und zur Umsetzung von Urteilsbildung sowie deren Praxis der Urteilsbildung in Form von Unterrichtsplanungen zu untersuchen. Es soll nicht darum gehen, Defizite auf Seiten der Lehrkräfte aus einem normativen Blickwinkel aufzuzeigen. Vielmehr soll auf einer deskriptiven Ebene untersucht werden, wie Lehrkräfte mit den – zum Teil noch spärlich vorhandenen – theoretischen Überlegungen zur Umsetzung von Urteilsbildung im Geschichtsunterricht umgehen, welche Verständnisse sich in der Praxis etabliert haben und in welchen Bereichen weitere Ausschärfungen der geschichtsdidaktischen Theorie notwendig wären. Für die Untersuchung von Überzeugungen eignen sich qualitative Erhebungsmethoden, die tiefe Einblicke in die Sichtweisen der Lehrkräfte geben. Die Ergebnisse können zwar nicht generalisiert, jedoch die individuellen Überzeugungen einzelner Lehrkräfte mit einem qualitativen Ansatz in ihrer Komplexität untersucht werden.7 Auf diese Weise kann auch der Zusammenhang zwischen den Überzeugungen der Lehrkräfte und ihrer Unterrichtspraxis analysiert werden. Der vorliegende Beitrag konzentriert sich dabei auf einen Teilaspekt des Dissertationsvorhabens. Ausgehend von einem konstruktivistischen Verständnis von Geschichte wird in der Geschichtsdidaktik betont, dass Ergebnisoffenheit bei der Urteilsbildung von zentraler Bedeutung sei.8 Hinsichtlich der Anforderungen in Abiturklausuren offenbart sich jedoch eine Diskrepanz zwischen den normativen Vorgaben der Geschichtsdidaktik und der Umsetzung in der Praxis. So zeigen Körber u. a. in ihren empirischen Sichtungen von Erwartungshorizonten der Einheitlichen Prüfungsanforderungen (EPA), dass zum Teil ganz bestimmte 5 6 7 8
Vgl. Ebd., S. 124. Vgl. Becker 2010, S. 133. Vgl. Reusser/Pauli 2011, S. 648f.; Münch 2017, S. 173. Vgl. Jeismann 1978, S. 82.
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Deutungen und Wertungen eingefordert werden und bei einigen Erwartungshorizonten nicht von einer ergebnisoffenen Urteilsbildung gesprochen werden könne.9 Auch Schönemann/Thünemann/Zülsdorf-Kersting konstatieren hinsichtlich der Erwartungen an die Urteilsbildung in den Abituraufgaben: »Besonders in den höheren Anforderungsbereichen erscheint dieser Mangel an Ergebnisoffenheit als Problem.«10 In diesem Beitrag soll deshalb die Fragestellung im Mittelpunkt stehen, welche Überzeugungen sich hinsichtlich der Offenheit bzw. Lenkung der Urteilsbildung bei den Lehrkräften zeigen und inwiefern sich diese in den Praktiken in Form der Unterrichtsplanungen widerspiegeln.
2.
Theoretischer Rahmen
Die theoretischen Grundlagen für die historische Urteilsbildung stellen bis heute die Arbeiten von Weymar und Jeismann dar.11 Jeismann etabliert aufbauend auf Weymars Überlegungen die drei Dimensionen des historischen Denkens: Sachanalyse, Sachurteil und Werturteil. Bei der Sachanalyse werden nach Jeismann methodisch geleitet Quellen ausgewertet und historische Sachverhalte rekonstruiert. Auf Sachurteilsebene erfolge die Beurteilung der Bedeutung im historischen Kontext. Dabei seien Deutungskategorien wie z. B. Ursache oder Folgen anzulegen. Unter einem Werturteil versteht Jeismann die »Dimension der Wertung, des Sich-Verhaltens in Zustimmung, Abwehr oder auch Indifferenz«.12 Hierbei seien normative Kategorien anzulegen. Jeismann betont jedoch, dass es sich bei diesen Dimensionen um eine idealtypische Aufteilung handele, die Ebenen aber nicht trennscharf seien und der Urteilsprozess in der Realität nicht immer linear ablaufe.13 Auch die Bedeutung der Offenheit stellt er als zentral für den historischen Erkenntnisprozess heraus: »Da weder Analyse, Sachurteil noch Wertung eindeutig und unumstritten sind, muß er [der Schüler] lernen, unterschiedliche Vorstellungen zur Kenntnis zu nehmen, zu vergleichen und die Gründe der Abweichung zu begreifen – auch sich selbst für die eine oder andere Wertung, das eine oder andere Sachurteil zu entscheiden – aufgrund der Analyse des historischen Phänomens wie der zu formulierenden erkenntnisbestimmenden Prämissen.«14 So geht Jeismann offenbar davon aus, dass grundsätzlich unterschiedliche Sach- oder Werturteile möglich sind und dies auch mit den Schüler*innen the9 10 11 12 13 14
Vgl. Körber u. a. 2007, S. 722–737. Schönemann/Thünemann/Zülsdorf-Kersting 2011, S. 32. Vgl. Jeismann 1978; Weymar 1972, S. 326–350. Jeismann 1978, S. 58. Vgl. Ebd., S. 58f. Ebd., S. 82.
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matisiert werden müsse. Wichtig sei hierbei, dass Schüler*innen zur Reflexion über die Gründe für die unterschiedlichen Deutungen und Wertungen angeregt werden. Die Relevanz der Ergebnisoffenheit bei der Urteilsbildung wird grundsätzlich auch in der neueren Forschung herausgestellt.15 Pandel hinterfragt jedoch kritisch, inwiefern sich dieses Ziel der Offenheit mit einer Wertevermittlung im Geschichtsunterricht vereinbaren lasse. So befänden sich Lehrkräfte in einer »Zwickmühle zwischen Normativität und Liberalität, zwischen Indoktrinierung und Selbstbestimmung«.16 Da Entscheidungen hinsichtlich der Offenheit bzw. Lenkung des Urteilsprozesses von den Lehrkräften getroffen werden, kommt ihnen eine zentrale Rolle bei der Umsetzung der Urteilsbildung im Geschichtsunterricht zu. Ausgehend von der Forschung zu Beliefs von Lehrkräften stellt eine Grundannahme dieser Arbeit dar, dass Überzeugungen einen wichtigen Bestandteil der Lehrerprofessionalität darstellen und daher einen großen Einfluss auf die Planung und Durchführung des Geschichtsunterrichts haben können.17 Unter Überzeugungen werden hier »affektiv aufgeladene, eine Bewertungskomponente beinhaltende Vorstellungen über das Wesen und die Natur von Lehr-Lernprozessen, Lerninhalten […], welche für wahr oder wertvoll gehalten werden und welche ihrem berufsbezogenen Denken und Handeln Struktur, Halt, Sicherheit und Orientierung geben«,18 verstanden. Für diese Studie sind insbesondere Überzeugungen der Lehrkräfte zur Bedeutung, zum Verständnis sowie zur Umsetzung von Urteilsbildung im Geschichtsunterricht von Interesse. In engem Zusammenhang damit stehen aber auch grundlegende Überzeugungen zum Fach Geschichte und den Zielen des Geschichtsunterrichts. Nach Reusser/Pauli zeichnen sich solche berufsbezogenen Überzeugungen vor allem dadurch aus, dass sie den Lehrkräften teilweise selbst nicht bewusst sind und daher auch nicht immer explizit verbalisiert werden können.19 Diese Eigenschaften der Überzeugungen wurden sowohl bei der Planung des Forschungsdesigns als auch bei der Analyse der Aussagen berücksichtigt.
3.
Forschungsstand
Für die empirische Untersuchung ist der Forschungsstand zu Überzeugungen sowie zur historischen Urteilsbildung relevant. Erste Hinweise zu den Einstellungen der Lehrkräfte liefern die Ergebnisse von Messner/Buff. Diese kommen zu 15 Vgl. u. a. Langbehn 2017, S. 679f.; Stupperich 2018, S. 148f.; John 2020, S. 104. 16 Pandel 2013, S. 219. 17 Vgl. Reusser/Pauli 2011, S. 642; Voss u. a. 2011, S. 250; Baumert/Kunter 2011, S. 29–53; Heuer/ Resch/Seidenfuß 2017, S. 158–176. 18 Reusser/Pauli 2011, S. 642. 19 Vgl. Ebd., S. 648.
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dem Ergebnis, dass die geschichtsdidaktischen Überzeugungen der Lehrkräfte »als stofforientiert und weniger als prozessorientiert im Sinne der Förderung des historischen Denkens«20 beschrieben werden können. Hinsichtlich der Bedeutung von geschichtstheoretischen Überzeugungen von Lehrkräften stellt Maggioni in ihrer qualitativen Studie fest, dass Ziele im Geschichtsunterricht von den epistemologischen Überzeugungen der Lehrkräfte beeinflusst werden.21 In mehreren Studien wurde zudem herausgestellt, dass konstruktivistische geschichtstheoretische Überzeugungen der Lehrkräfte nicht unbedingt Einfluss auf die Gestaltung des Geschichtsunterrichts haben und auch widersprüchliche Überzeugungen bei Lehrkräften deutlich werden können.22 In der Beliefs-Forschung bestehen jedoch noch Desiderate hinsichtlich der Untersuchung von Überzeugungen zu bestimmten fachspezifischen Kompetenzbereichen und deren Förderung im Geschichtsunterricht. Bei der empirischen Forschung zur Urteilsbildung lag der Schwerpunkt der Forschung – wie in eingangs erwähnter Studie von Schönemann u. a. – bisher auf der Urteilsbildung von Schüler*innen.23 Diese Untersuchungen kommen zu dem Ergebnis, dass die Urteile der Lernenden von den normativen geschichtsdidaktischen Ansprüchen abweichen. Auf Lehrkräfte gehen in Ansätzen Dzubiel/ Giesing ein. So kommen sie auf der Basis von kleineren Befragungen zu dem Ergebnis, dass Referendar*innen häufig Schwierigkeiten haben, Urteile von Schüler*innen zu identifizieren und konstruktive Rückmeldungen zur Urteilsbildung zu geben.24 Diese ersten Befunde zu Urteilen von Schüler*innen und der Praxis von Referendar*innen unterstreichen die Notwendigkeit einer systematischen Untersuchung der Überzeugungen und Praktiken von Lehrkräften zu diesem zentralen Bereich des historischen Denkens.
4.
Forschungsdesign der qualitativen Studie
Im Rahmen der qualitativen Studie wurden 19 niedersächsische Lehrkräfte an Gymnasien und Gesamtschulen aus drei verschiedenen Erfahrungsstufen25 befragt. Für die Untersuchung der Überzeugungen wurden drei unterschiedliche Erhebungsmethoden trianguliert.
20 21 22 23 24 25
Messner/Buff 2007, S. 170. Vgl. Maggioni 2010, S. 327f. Vgl. Schröer 2015, S. 311; Maggioni 2010, S. 200–206; Nitsche 2019, S. 269. Vgl. Michler u. a. 2014, S. 65–85; Bracke 2017, S. 43–63. Vgl. Dzubiel/Giesing 2014, S. 701–717. Konkreter zu den Erfahrungsgruppen: bis zu vier Berufsjahren (Bj.): n=6, vier bis zehn Bj.: n=7, mehr als zehn Bj.: n=6. Das Referendariat wird zu diesen Berufsjahren gezählt.
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Zunächst wurden in einem ersten Erhebungstermin problemzentrierte,26 leitfadengestützte Interviews mit den Lehrkräften geführt (erste Erhebungsmethode).27 Anschließend wurden die Lehrkräfte gebeten, für den zweiten Erhebungstermin eine schriftliche Unterrichtsplanung einer bereits gehaltenen Geschichtsstunde mitzubringen, in der die Schüler*innen etwas beurteilen oder bewerten sollten und die für eine Förderung von Urteilsbildung aus Sicht der Lehrkräfte geeignet war. Denn in der Beliefs-Forschung wird davon ausgegangen, dass solche konkreten Stimuli Überzeugungen zugänglicher machen können.28 Der Umfang der Unterrichtsplanung, die Klassenstufe sowie das Thema wurden bewusst offengelassen, da auch diese Aspekte Einblicke in die Überzeugungen der Lehrkräfte liefern können. Die Lehrkräfte erzählten am zweiten Erhebungstermin ohne weiteren Impuls von ihrer Geschichtsstunde, deren schriftlicher Unterrichtsentwurf auch für die weitere Auswertung zur Verfügung stand (zweite Erhebungsmethode). Zudem wurde eine für die Studie entwickelte Vignettenplanung (Verlauf einer Unterrichtsstunde mit Materialien) eingesetzt, welche die Lehrpersonen kommentierten (dritte Erhebungsmethode). Diese erhöht insbesondere die Vergleichbarkeit innerhalb der Studie.29 Bei den Stundenplanungen muss berücksichtigt werden, dass es sich dabei größtenteils um gut ausgearbeitete Stunden, z. B. Lehrprobenstunden aus dem Referendariat, handelt. Es wird dadurch also nicht deutlich, wie die Lehrkraft in ihrer Alltagspraxis Urteilsbildung üblicherweise einbringt. Für eine Untersuchung von Überzeugungen können jedoch vor allem diese Unterrichtsstunden als besonders aussagekräftig erachtet werden. So können Erkenntnisse dazu gewonnen werden, wie sich die Lehrkräfte eine geeignete Integration von Urteilsbildung im Rahmen einer Geschichtsstunde idealerweise vorstellen. Die Auswertung erfolgt mithilfe der qualitativen Inhaltsanalyse nach Kuckartz.30
26 Vgl. Witzel 1985, S. 227–255. 27 Da zunächst grundlegende Überzeugungen zum Fach Geschichte, zu den Zielen des Geschichtsunterrichts und zur Kompetenzorientierung erhoben wurden, wurden die Lehrkräfte vor der ersten Erhebung lediglich darüber informiert, dass Vorstellungen von Lehrkräften untersucht werden sollen. Urteilsbildung wurde jedoch bewusst noch nicht genannt, um auf das Problem der sozialen Erwünschtheit gerade für den ersten Teil des Interviews zu reagieren und so aussagekräftigere Ergebnisse zu generieren. 28 Vgl. Reusser/Pauli 2011, S. 648f; Calderhead 1996, S. 711. 29 Die in diesem Beitrag präsentierten Fallbeispiele beziehen sich nur auf das Interview und die mitgebrachte Planung der Lehrkräfte, sodass die Vignettenplanung an dieser Stelle nicht näher vorgestellt wird. 30 Vgl. Kuckartz 2014.
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5.
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Vorstellung zweier Fallbeispiele
Im Folgenden werden zwei Fallbeispiele aus dem Sample gegenübergestellt und hinsichtlich der Ergebnisoffenheit beim Urteilen analysiert. Ausgehend von grundlegenden Überzeugungen zum Geschichtsunterricht und zu dem Aspekt der Ergebnisoffenheit werden die Unterrichtsplanungen der Lehrpersonen erläutert. Daraufhin werden Zusammenhänge zwischen den Überzeugungen und Praktiken der Lehrkräfte analysiert und die Planungen bzw. Überzeugungen miteinander verglichen. Die erste Lehrkraft, Frau Becker,31 äußert sich zu Beginn des Interviews über die Ziele des Geschichtsunterrichts: »Was mir als als höchstes Ziel wichtig wäre, ist die Urteilskompetenz, dass sie in der Lage sind, zu kritischen Fragen Stellung zu nehmen und ähm in der Lage sind Argumente abzuwägen selber ähm festzustellen wie Perspektive wie in welcher Perspektivität Argumente äh gebildet werden, wie sie dem auch unterliegen, wie sich das auch in der Zeit wandeln kann, also so auf Urteilsebene, das wäre eigentlich so das Wichtigste.«32
Frau Becker nennt also – ohne dass ihr der inhaltliche Schwerpunkt der Studie schon bekannt ist – die Förderung von Urteilsbildung als zentrales Ziel ihres Geschichtsunterrichts. Dabei scheint ihr insbesondere das Argumentieren und die Gewichtung von Argumenten wichtig zu sein. Zudem möchte sie auch zur Reflexion über die Perspektivität von Argumenten und Urteilen anregen. Auf unterschiedliche Urteilsebenen geht sie im gesamten Interview nicht ein. Obwohl Urteilsbildung aus ihrer Sicht also zentral ist, scheint für sie die Unterscheidung von Sach- und Werturteil im Geschichtsunterricht eine untergeordnete Rolle zu spielen. Die Unterrichtstunde von Frau Becker kann dem Themenbereich »Erster Weltkrieg« zugeordnet werden. In der Stunde soll über die Frage diskutiert werden, wer für den Ausbruch des Ersten Weltkrieges verantwortlich war.33 In der Vorstunde wurden bereits die zwei verwendeten Historikertexte gelesen und analysiert. Als Hausaufgabe sollten Argumente und ein initial statement für die Diskussion vorbereitet werden. Die folgende Tabelle stellt den Verlauf der Unterrichtsstunde auf Basis des schriftlichen Unterrichtsentwurfs der Lehrkraft dar:34
31 32 33 34
Bei den Namen handelt es sich zwecks Anonymisierung um Pseudonyme. 9_Transkript Interview Fr Becker, Pos. 5. Es handelt sich um eine Stunde für den bilingualen Unterricht der Oberstufe. Die Begriffe für die einzelnen Phasen sowie die Arbeitsaufträge sind wörtlich dem schriftlichen Unterrichtsentwurf entnommen; die Beschreibung der Inhalte wurde sinngemäß übernommen.
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Thema: Erster Weltkrieg Fragestellung: Crime or Tragedy? The Question of responsibility for the outbreak of WWI (Kl. 11) Einstieg UG36 Zwei Zitate (von Krumeich und Clark) werden gegenübergestellt.35 Die Lernenden entwickeln mithilfe ihres Vorwissens zur Juli-Krise und dieser Zitate die Fragestellung der Diskussion. Diese Fragestellung wird als Skala an der Tafel festgehalten. Erarbeitung I Die Lernenden tauschen sich über ihre Argumente zur Fragestellung aus und PA legen ein Eingangsstatement für die Diskussion fest. Talk to your partner who read the same text and agree on one of your initial statements for the discussion. Erarbeitung II/Diskussion Die Schüler*innen diskutieren ausgehend von ihren Eingangsstatements in GA kleinen Gruppen über die Fragestellung ( jeweils zwei Lernende haben den gleichen Text bearbeitet). Der Verlauf der Diskussion und die Gewichtung der Argumente werden von einem Beobachter notiert. Die Gruppe einigt sich auf ein Fazit und positioniert sich damit auf der Skala. (Binnendifferenzierung: Impulsarten für Diskussion, Phrasen für Statement) Präsentation Die Beobachter der Diskussion begründen das Statement mit Hilfe ihrer Notizen zum Diskussionsverlauf.
UG
Impuls: Shortly explain your conclusion to the question and which arguments were relevant for you. Reflexion Die Schüler*innen werden zur Reflexion über die unterschiedlichen Urteile UG/ und über die Perspektivität solcher Urteile angeregt. Meldekette Reflexionsimpulse: So now? Discuss what we should do with this result. Discuss who is right. Discuss on what grounds we can decide who is right. Or: In your opinion, is the question after 100 years still meaningful? Discuss what it implies when we look for the guilty nation. Tabelle 1: Verlauf der Geschichtsstunde von Frau Becker
Im Einstieg werden zur Entwicklung der Fragestellung zwei Historikerzitate aus den Darstellungstexten, die in der Vorstunde analysiert wurden, kontrastiert. In
35 Die Zitate stammen aus den zwei Historikertexten, die in der Vorstunde ausführlich analysiert wurden, jedoch nicht Grundlage dieser Stunde sind. 36 Zu den Abkürzungen: UG = Unterrichtsgespräch; PA = Partnerarbeit; GA = Gruppenarbeit.
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der ersten Erarbeitungsphase sollen sich die Schüler*innen über ihre initial statements austauschen. Daraufhin diskutieren die Lernenden in Kleingruppen und präsentieren anschließend ihr Fazit sowie die für sie wichtigsten Argumente. In der anschließenden Phase, »Reflexion« genannt, sollen die Schüler*innen darüber reflektieren, wie es zu unterschiedlichen Urteilen kommen kann. Im Planungsdokument selbst werden keine inhaltlichen Erwartungen an die Urteile formuliert. Methodische Erwartungen, z. B. die Nennung wichtiger Argumente, werden jedoch aufgegriffen. Auffällig ist zudem, dass keine neuen Materialien in der Stunde verwendet werden und der Schwerpunkt bereits in der ersten Erarbeitungsphase auf der Urteilsbildung zu liegen scheint. Urteile werden also nicht nur in der letzten Phase des Unterrichts gefällt, sondern bereits innerhalb der ersten Diskussionen in der Erarbeitungsphase. Als Sozialform für die Urteilsbildung wird eine Diskussion in einer Kleingruppe gewählt. Die anschließende Präsentation und Reflexion erfolgt im Plenum. In ihren Äußerungen zur Stunde formuliert Frau Becker ihre Erwartungen zur Phase der Reflexion folgendermaßen: »Mh ja ähm also in der Reflexion war wichtig, dass die Schüler erkennen, dass Grund dass diese dass das ne aktuelle Diskussion ist, in der eigentlich niemand falsch sein kann, dass es aber auf die als dass das grundsätzlich alle vertret alle Meinungen, die vertreten wurden, auch also richtig in dem Fall ja nicht, aber nachvollziehbar sind. Ähm und dass es eher davon abhängt, wie man Argumente gewichtet und je nach Position und auch je nach Argumentation, das ist diese Standortabhängigkeit gibt es eben verschiedene Perspektiven auf einen historischen Fall, das sollte in dieser Reflexion z. B. mit rauskommen. Und es kommt eben auf den Hintergrund des Betrachters an, also in dem Fall eben von von von Wissenschaftlern, aber letztlich ist es ja auch ne Frage, die sich dann in so ner Gesellschaft in so ner gesellschaftlichen Debatte kommt das ja auch da an auf Standortabhängigkeit. Ähm und dann war so ein Kernfazit, dass die ähm die Werte Moral ähm ähm Interessen einer Person eben ne Rolle spielen bei bei bei seiner Argumentationsweise und letztlich dann ja auch bei seinem abschließenden Urteil.«37
Ihre Erläuterungen zur Stunde und zu ihren Erwartungen in Bezug auf Urteilsbildung decken sich mit dem, was sie als allgemeines Ziel des Geschichtsunterrichts nennt. Zu keinem Zeitpunkt wird inhaltlich erläutert, in welche Richtung das Urteil gehen sollte. Dies zeigt, dass Frau Becker mit dieser Stunde nicht primär das Ziel verfolgt, bestimmte fachliche Inhalte zu vermitteln. Ihr ist dagegen besonders wichtig, den Schüler*innen zu verdeutlichen, dass je nach Perspektive und Gewichtung der Argumente unterschiedliche Narrationen entstehen können. Bei der Planung scheint sie dabei nicht von Jeismanns Dimensionen, der Sach- und Werturteilsebene, aus zu denken, sondern eher allgemeiner das Argumentieren und die Diskussion unterschiedlicher Perspektiven 37 9_Transkript Planung Fr Becker, Pos. 23.
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in den Vordergrund zu stellen. Auch dies deckt sich mit ihren grundlegenden Überzeugungen zum Geschichtsunterricht. Darüber hinaus wird ein Zusammenhang mit fachunspezifischen Methoden und Sozialformen deutlich: So versucht Frau Becker, durch Diskussionen innerhalb von Kleingruppen und dem Verteilen von Beobachter-Rollen eine möglichst breite Beteiligung bei der Urteilsbildung zu erreichen, was eine wichtige Grundlage für das Entstehen von Kontroversität innerhalb des Klassenzimmers darstellt. Im zweiten hier vorgestellten Fall (Herr Fischer) wird im Interview ähnlich wie bei Frau Becker dieses Ziel des Geschichtsunterrichts formuliert: »Also die sollen erstmal mitnehmen, dass Geschichte ganz klassisch natürlich erstmal ein Konstrukt ist ja also diese narrative Kompetenz, das bedeutet, dass wenn wir uns z. B. verschiedene Quellen, verschiedene Ansichten zu einem historischen Ereignis anschauen, dass sie jedes sozusagen die eigene Erzählung von Geschichte ist und dass sozusagen hinter dieser Erzählung bestimmte Faktoren stehen.«38
In der Äußerung wird eine konstruktivistische geschichtstheoretische Überzeugung deutlich. Demnach wäre, wie bei Frau Becker, eine Stunde zu erwarten, in der unterschiedliche Urteile der Schüler*innen angestrebt werden. Herr Fischer äußert sich im Laufe der Erhebungen konkreter zum Thema Offenheit: »Ähm also hier beim historischen Urteil sollte man denke ich also lenken, weil es also für mich ist ein Sachurteil immer etwas, was man tatsächlich faktisch ja eindeutig bestimmen kann. Also in der Regel.«39 »Ähm beim Werturteil ist es dann bisschen freier sag ich mal, ähm wobei man beim Werturteil natürlich auch ein bisschen aufpassen muss, dass da keine Stammtischrhetorik irgendwie kommt, aber letztendlich verstehen die Schüler unter bestimmten Werten unterschiedliche Dinge, deswegen kann man’s da ein bisschen freier laufen lassen.«40
In diesen Äußerungen wird dagegen deutlich, dass das Sachurteil offenbar als etwas »Faktisches« verstanden wird und das Gegenüberstellen unterschiedlicher Sachurteile in seinem Geschichtsunterricht eine untergeordnete Rolle zu spielen scheint. Dies stellt einen Widerspruch zu dem zuvor geäußerten Ziel des Geschichtsunterrichts dar. »Ein bisschen freier« könne dann die Werturteilsbildung ablaufen, da Schüler*innen unterschiedliche Verständnisse von Werten haben. In der Stundenplanung, die Herr Fischer bereitstellt, stehen der Versailler Vertrag und die Frage, warum die Reichsregierung diesen Frieden ungerecht empfindet, im Mittelpunkt. In der Stunde zuvor wurden die inhaltlichen Bestimmungen des Vertrages herausgearbeitet. 38 4_Transkript Interview Hr Fischer, Pos. 9. 39 4_Transkript Vignette Hr Fischer, Pos. 12. 40 4_Transkript Planung Hr Fischer, Pos. 15.
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Thema: Versailler Vertrag Fragestellung: Warum empfindet die Reichsregierung den Frieden als ungerecht? (Kl. 9) Einstieg Die Schüler*innen interpretieren eine Bildquelle (politisches Plakat der Reichs- UG regierung) und formulieren die Fragestellung der Stunde. Die Schüler*innen bilden erste Hypothesen zur Fragestellung. Erarbeitung Die Schüler*innen arbeiten die Gründe für die ablehnende Haltung der Reichs- EA/ regierung heraus und tauschen sich anschließend in PA über ihre Ergebnisse aus. PA Beantworte die Leitfrage, indem du dafür wichtige Textstellen markierst. Zwei Gruppen bereiten ihre Ergebnisse auf Folie vor. Ergebnissicherung: Eine Gruppe stellt ihre Ergebnisse vor, die anderen Schüler*innen ergänzen. Vertiefende Erarbeitung: Erneutes Eingehen auf die Sinnpotenziale des Textes (anhand einer konkreten Textstelle) Vertiefung Beurteilt die Sicht der Reichsregierung, den Frieden als ungerecht zu bezeichnen. UG Der Versailler Vertrag sollte einen gerechten und dauerhaften Frieden schaffen. Nehmt aus heutiger Sicht persönlich dazu Stellung. Tabelle 2: Verlauf der Geschichtsstunde von Herrn Fischer
Nach dem Einstieg mit einem Plakat der Reichsregierung, in dem Kritik am Versailler Vertrag deutlich wird, analysieren die Schüler*innen in der Erarbeitungsphase der Stunde eine Rede von Gustav Bauer. Weitere Materialien werden nicht verwendet. Der Arbeitsauftrag zielt darauf ab, dass die Schüler*innen Gründe für die Annahme des Vertrags aus der Rede, in der Bauer diese Annahme rechtfertigt, herausarbeiten. In der Vertiefungsphase soll zunächst ein Sachurteil zu der Sicht der Reichsregierung gefällt werden. Zudem soll auch auf Werturteilsebene dazu Stellung genommen werden, inwiefern man von einem gerechten und dauerhaften Frieden sprechen kann. So wird auch im Planungsdokument bereits deutlich, dass dieser Lehrkraft die Unterscheidung der Sach- und Werturteilsebene wichtig ist. Auffällig ist an dieser Stunde, dass nur eine Textquelle verwendet wird. Urteilsbildung findet vor allem in der letzten Phase des Unterrichts im Plenumsgespräch statt. Als Erwartungen an die Urteilsbildung äußert Herr Fischer Folgendes: »warum haben die das damals gemacht ja und genau da kann man super ein historisches Urteil äh fällen nämlich dass es nämlich diese Sachzwänge gab, dass es eben Alternativen ähm nicht wirklich gab oder die Alternative, das Elend nur noch ver-
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schlimmert hätte ähm obwohl man es vielleicht aus heutiger Perspektive erstmal gar nicht so sehen würde, ja man würde sich ja erstmal ungerecht behandelt fühlen.«41 »dass sie gleichzeitig aber natürlich moralisch sehen, dass es eben nicht unbedingt ein gerechter Frieden äh damals war und auch aus heutiger Sicht nicht unbedingt ist mit den moralischen Kategorien, die wir dann eben an den Tag legen, kann sein, was ich hier äh Menschenrechte äh äh Haager Landkriegsordnung, äh was man da alles so ranziehen kann. […] Dann hab ich quasi am Ende nochmal Sach- und Werturteil sozusagen verknüpft als ein letzter Schritt, sodass sozusagen ihre Denkweise aus heutiger Sicht vielleicht sich von der der gar nicht so sehr unterscheidet, also dass es da eben durchaus auch historische Konstanten in Urteilsbildung geben kann.«42
Auch in seinen hier formulierten konkreten inhaltlichen Erwartungen kommt eher ein positivistisches Verständnis von Geschichte zutage. Weder beim Sachnoch beim Werturteil scheinen alternative Deutungen und Wertungen der Schüler*innen möglich zu sein. Das Sachurteil kann mithilfe des Inhaltes der Rede begründet werden. Da jedoch keine anderen Perspektiven zur Verfügung stehen, sind andere Urteile der Schüler*innen nicht zu vermuten. Besonders auffällig ist jedoch, dass auch auf Werturteilsebene von den Lernenden erwartet wird, dass sie den Versailler Vertrag als ungerecht bewerten. Im Unterschied zu Frau Becker denkt Herr Fischer bei der Umsetzung von Urteilsbildung vor allem von der Unterscheidung der Urteilsebenen aus. Bei dieser Geschichtsstunde geht es ihm aber nicht darum zu verdeutlichen, wie unterschiedlich historische Ereignisse auf Sach- und Werturteilsebene beurteilt bzw. bewertet werden können. Er möchte vielmehr aufzeigen, dass es »Konstanten« gibt und je nach Fragestellung bei der Sach- und Werturteilsbildung auch ähnliche Urteile gefällt werden können. Gerade dieses Ziel führt zu einer inhaltlichen Engführung und Lenkung des Urteilsprozesses. Die Engführung durch die bereitgestellte Quelle wird von Herrn Fischer nicht reflektiert. Methodische Erwartungen an die Urteile werden neben den inhaltlichen Zielsetzungen kaum deutlich. Es zeigt sich nur, dass er das Anlegen bestimmter normativer Kategorien bei der Werturteilsbildung erwartet. So offenbaren die Äußerungen von Herrn Fischer widersprüchliche geschichtstheoretische Überzeugungen. Eine mögliche Erklärung zu seinen inkonsistenten Äußerungen ist, dass Herr Fischer seine grundlegenden Überzeugungen zu Geschichte nicht auf seine Praktiken überträgt. Sobald über konkrete Planungen und die Umsetzung im Geschichtsunterricht gesprochen wird, wird sein formuliertes Ziel, Geschichte als Konstrukt zu vermitteln, nicht mehr deutlich. In Herrn Fischers Fall haben die geäußerten Überzeugungen also nicht unbedingt Einfluss auf seine Unterrichtsplanung. Hinsichtlich der Unterscheidung von 41 4_Transkript Planung Hr Fischer, Pos. 11. 42 4_Transkript Planung Hr Fischer, Pos. 17.
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Sach- und Werturteil sind die Beliefs von Herrn Fischer jedoch in sich konsistent: Sowohl im Interview als auch in Bezug auf die Unterrichtsstunde zum Versailler Vertrag wird deutlich, dass ihm eine Trennung dieser Urteilsebenen im Geschichtsunterricht besonders wichtig ist. Der Vergleich dieser zwei Fallbeispiele zeigt, wie unterschiedlich Lehrkräfte sich eine Förderung von Urteilsbildung im Geschichtsunterricht vorstellen: So legt Frau Becker den Schwerpunkt auf das Argumentieren und die Reflexion der Urteilsbildung, während Herr Fischer die Quellenanalyse und die darauf aufbauende Sach- und Werturteilsbildung in den Vordergrund stellt. Offenheit bei der Urteilsbildung wird jedoch nur in Zusammenhang mit der Förderung des Argumentierens deutlich. Eine so weitgehende Offenheit im Urteilsprozess – wie sie bei Frau Becker umgesetzt wird – findet sich im gesamten Sample jedoch nur in einer weiteren Planung wieder. Diese Tendenz bestätigt sich auch, wenn die Anzahl der Kodierungen hinsichtlich der Offenheit bzw. Lenkung betrachtet werden: Kategorien beim Werturteil beim Sachurteil uneindeutig GESAMT
Offenheit 14 1 34 49
Bestimmtes Urteil als Ziel 10 21 25 56
Tabelle 3: Anzahl der Kodierungen zu den Kategorien der Offenheit/Lenkung
Als bestimmtes Urteil bzw. als Offenheit wurde kodiert, wenn die Lehrkraft entweder explizit sagt, dass ein bestimmtes Urteil bzw. Offenheit erreicht werden soll oder wenn in ihren Beispielen zum Erwartungshorizont – ähnlich wie bei Herrn Fischer – sehr deutlich wird, dass alternative Deutungen keine Option darstellen. Nicht eindeutig wurde kodiert, wenn die Lehrkräfte nicht deutlich machen, auf welche Urteilsebene sie ihre Erwartungen beziehen bzw. Sach- und Werturteilsebene nicht unterscheiden. Betrachtet man die Gesamtzahl der Kodierungen, zeigt sich, dass mit 21 kodierten Stellen beim Sachurteil weitaus häufiger eine ganz bestimmte Deutung vermittelt bzw. nachvollzogen werden soll als beim Werturteil. Ergebnisoffenheit wird dagegen deutlich häufiger auf das Werturteil bezogen.
6.
Diskussion und Ausblick
Ausgehend vom Vergleich der Fallbeispiele und der Gesamtzahl von Kodierungen werden bestimmte Tendenzen hinsichtlich der Überzeugungen und Praktiken zur Offenheit bzw. Lenkung der Urteilsbildung deutlich. Offenbar zeigen sich Überzeugungen zur Ergebnisoffenheit bei der Urteilsbildung – wenn sie zu einer
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bestimmten Urteilsebene geäußert werden – nahezu ausschließlich in Bezug auf die Werturteilsbildung. Insbesondere die Sachurteilsbildung scheint dagegen eher als die Vermittlung eindeutiger Fakten oder auch als das gemeinsame Nachvollziehen von konventionellen Deutungen verstanden zu werden. So zeigen sich deutliche Diskrepanzen zu dem in der Geschichtsdidaktik etablierten Verständnis von Geschichte. Zugleich bestätigen die vorläufigen Ergebnisse die Befunde von Körber u. a. zur mangelnden Ergebnisoffenheit.43 Darüber hinaus muss berücksichtigt werden, dass die geäußerten Überzeugungen nicht unbedingt mit der Umsetzung in den Unterrichtsplanungen übereinstimmen. Auch in der Unterrichtspraxis zeigt sich – wie in den Geschichtsstunden im gesamten Sample deutlich wird – nur sehr selten eine explizite Vermittlung des Konstruktcharakters von Geschichte. Hierfür sind zwei Erklärungen denkbar: Zum einen ist auffällig, dass Offenheit am meisten betont wird, wenn nicht zwischen Urteilsebenen unterschieden wird. Dies könnte darauf hinweisen, dass Lehrkräfte sich gerade dann, wenn sie die Trennung von Sach- und Werturteil in ihrem Unterricht umsetzen möchten, genaue inhaltliche Erwartungen zurechtlegen. Denn die meisten Lehrkräfte im Sample bezeichnen die Definition und Unterscheidung von Sach- und Werturteil als zentrale Herausforderungen bei der Umsetzung von Urteilsbildung. Zum anderen kann die Lenkung des Urteilsprozesses auch darauf zurückgeführt werden, dass die Proband*innen vor allem von den fachlichen Inhalten aus denken, methodische Erwartungen zur Urteilsbildung jedoch nur wenig in Unterrichtsplanungen berücksichtigt werden.44 So äußern sich einige Lehrkräfte besorgt darüber, die fachlichen Vorgaben des Kerncurriculums aufgrund der »Stoffdichte« nicht erfüllen zu können. Deshalb kann vermutet werden, dass häufig der Schwerpunkt auf die Wissensvermittlung gelegt wird und dies im Umkehrschluss dazu führen kann, dass Lehrpersonen auch bestimmte Deutungen als zu vermittelndes Wissen verstehen. Dies geht dann mit klaren inhaltlichen Erwartungen an das Urteil einher. Neben diesen Einblicken in das Verständnis von Urteilsbildung im Geschichtsunterricht können die Fallbeispiele auch Einsichten in den Zusammenhang von grundlegenden geschichtstheoretischen Überzeugungen und Praktiken ermöglichen. Der Vergleich zeigt deutlich, dass Überzeugungen Einfluss auf die Unterrichtspraxis haben können – bei Frau Becker spiegeln sich diese auch in der Unterrichtsplanung wider. Es können jedoch auch inkonsistente, widersprüchliche Überzeugungen zutage treten. So zeigen sich bei Herrn Fischer sowohl konstruktivistische als auch positivistische geschichtstheoretische Überzeugungen.
43 Vgl. Körber u. a. 2007. 44 Vgl. Messner/Buff 2007.
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Diese Zusammenhänge müssen auch im Hinblick auf andere Aspekte der Urteilsbildung für das gesamte Sample weiter untersucht werden. Denn die Kategorie Offenheit stellt nur einen Baustein der Überzeugungen der Lehrkräfte zur Urteilsbildung im Geschichtsunterricht dar. In der weiteren Auswertung stehen das zugrundliegende Sach- und Werturteilsverständnis der Lehrkräfte und Überzeugungen zur Unterscheidung der Urteilsdimensionen sowie zur Methodik des Urteilens im Fokus. Gemeinsam bilden diese Kategorien ab, was Lehrkräfte unter Urteilsbildung verstehen.
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Schüler*innenerzählungen in der Analyse
Marie Hohmann
»Die Hinrichtung von Robespierre war das Ende der Monarchie in Frankreich.«1 – Die Französische Revolution in Schüler*innendarstellungen (bilingualer) Lerngruppen in Deutschland und Frankreich
1.
Einleitung
Der bilinguale Sachfachunterricht2 ist seit dem Elysée-Vertrag vom 22. Januar 1963, der im Januar 2020 zum 57. Jahrestag mit dem Vertrag von Aachen erneuert und vertieft wurde, in Deutschland und Frankreich in vielen Schulen Realität. Dabei ist gerade der Geschichtsunterricht ein beliebtes bilinguales Angebot. In der aktuellen Forschung wird der bilinguale Geschichtsunterricht zum Teil noch kontrovers diskutiert. So werden beispielsweise ein Mehrwert für die Sprachkompetenz,3 das interkulturelle Lernen4 sowie ausgewählte Sachfachkompetenzen wie der Multiperspektivität bzw. Perspektivübernahme und des Fremdverstehens genannt.5 Kritisiert werden dagegen unter anderem eine tatsächlich fehlende Zweisprachigkeit,6 eine fehlende Einbindung des Sachfachs Geschichte und der theoretischen Grundlagen in der Erforschung,7 Theoriedefizite8 und missachtete Selektionseffekte bzw. soziokulturelle Hintergründe der Schüler*innen in empirischen Studien zum Thema9 sowie die Frage des grundlegenden Mehrwertes.10 Maset und Schlutow bieten dagegen Zugänge an, die eine 1 F_L02_bGU_Prä_S07. Für eine genauere Erklärung siehe Unterkapitel 5. 2 Es wird auch Content and Language Integrated Learning (CLIL) oder Enseignement d’une Matière par l’Intégration d’une Langue Etrangère (EMILE) genannt. 3 Positive Effekte des sprachlichen Lernens werden für den bilingualen Geschichtsunterricht an mehreren Stellen attestiert (u. a. Dallinger 2016; Heimes 2011; Staschen-Dielmann 2012). 4 Effekte für das interkulturelle Lernen sehen beispielsweise Beetz/Blell/Klose 2005, hier S. 43; Kollenrott 2008, hier S. 23, und zuletzt Flucke 2020, hier S. 246. 5 Vorteile der Perspektivübernahme sehen u. a. Helbig 2001 durch die Quellenarbeit und im eingeschränkten Maße Clemen/Sauer 2007, während Lamsfuß-Schenk in ihrer Studie (2008, S. 248f.) vermehrtes Fremdverstehen fand. 6 Vgl. z. B. Alavi 2004, hier S. 39. 7 Vgl. u. a. Barricelli/Schmieder 2009, hier S. 206f.; Hasberg 2004, hier S. 133. 8 Vgl. etwa Bernhardt 2011 und Hasberg 2009. 9 Vgl. z. B. Bernhardt 2011, hier S. 215. 10 Z. B. Hasberg 2007, hier S. 54. Teilweise werden die Positionen schon im Titel klar benannt, beispielsweise von Bernhardt »Bilingualer Geschichtsunterricht – Nein Danke!« (2015).
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Marie Hohmann
geschichtsdidaktisch begründete Umsetzung des bilingualen Geschichtsunterrichts versuchen.11 Diese Kontroversen und Desiderata sollten Ansatzpunkte weiterer Forschungen sein. In Frankreich stehen sie noch am Anfang.12 In meinem Dissertationsprojekt stehen unter anderem aus diesem Grund der deutsche und der französische (bilinguale) Geschichtsunterricht gleichermaßen im Fokus. In diesem Beitrag sollen anhand eines Beispiels, einem Ausschnitt aus einer von einem Schüler verfassten Erzählung zur Französischen Revolution, Ansätze der Studie vorgestellt und zur Diskussion gestellt werden. Er folgt dabei den Fragen, wie frei gestaltete Texte von Lernenden, die subjektives historisches Denken beinhalten, ausgewertet und wie die Ergebnisse von verschiedenen Teilgruppen in Verbindung gebracht werden können. Hierfür wird zunächst das Studiendesign der vier Teilgruppen im deutschen (bzw. hessischen) und französischen bilingualen Geschichtsunterricht kurz erläutert (2), dann auf die curricularen Vorgaben zur Französischen Revolution im französischen und hessischen Geschichtsunterricht eingegangen (3). Anschließend werden Teile des Fragebogens als Erhebungsinstrument (4) sowie ausgewählte Teile des Analyseinstrumentes und der Auswertung anhand eines Ausschnitts aus einem Schüler*innentext einer bilingualen Lerngruppe in Frankreich vorgestellt (5).
2.
Studiendesign
Ziel der hier vorgestellten Studie ist es, historisches Denken im bilingualen Geschichtsunterricht in Deutschland und Frankreich zu vergleichen, wobei es an dieser Stelle nicht in erster Linie um den bilingualen Geschichtsunterricht13 gehen wird, da die Unterschiede zwischen Deutschland (am Beispiel Hessen) und 11 Vgl. Maset 2015; Schlutow 2016. 12 Es gibt einige Artikel aus dem schulpraktischen Bereich zum bilingualen Geschichtsunterricht, etwa Baury 2009; Chanoir/Verron 2007 oder Vigié 2010. In einer 2020 veröffentlichen Dissertation vergleicht Flucke den deutschen und französischen bilingualen Geschichtsunterricht und stellt die dort erlernten Inhalte und Fähigkeiten in einen europäischen Kontext. 13 Der bilinguale Geschichtsunterricht wird hier, wie im Schulalltag beobachtet, als Geschichtsunterricht mit »funktionaler Fremdsprachigkeit« (Butzkamm 2011, S. 91) definiert, der hauptsächlich in der Zielsprache gehalten wird und im Fall von Kommunikationsschwierigkeiten in die jeweilige Landesprache (meist die Muttersprache der Lernenden) wechselt. Damit tritt aber das Fremdsprachenlernen in Konkurrenz mit den fachlichen Inhalten, was in diesem Fall von Seiten der Geschichtsdidaktik, die einen »Aufbau fachterminologischer Kompetenzen in beiden Sprachen« fordert (Geiss 2009, S. 26), immer wieder kritisiert wird (für einen genaueren Überblick siehe u. a. Heimes 2011; Flucke 2020). Schlutow unterscheidet die Bezeichnung des bilingualen Geschichtsunterrichts von den allgemeineren CLIL im Fach Geschichte oder bilingualen Sachfachunterricht Geschichte, die fachspezifischer sei und die »historischen Ziele, Inhalte, Methoden und Medien« stärker betone (Schlutow 2015, S. 121).
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Frankreich (am Beispiel Straßburg) selbstverständlich größer sind. Es sei hier kurz angemerkt, dass in Frankreich ein national einheitlicher Lehrplan im Kontrast zum deutschen Bildungsföderalismus vorgegeben ist. Die Dissertation folgt den Definitionen von Pandel sowie Barricelli, die historisches Wissen als narratives Wissen und daraus folgend historisches Denken als narrativ organisiert sehen.14 In dieser qualitativ-empirischen Studie werden somit Aspekte des historischen Denkens aus diesen Narrationen mit Hilfe verschiedener analytischer Schritte herausgearbeitet. Das Design sieht eine viergeteilte Untersuchungsgruppe vor: bilinguale Schüler*innen in Deutschland und Frankreich sowie monolinguale Schüler*innen in Deutschland und Frankreich. Für die Untersuchung sollten dementsprechend Schüler*innen an hessischen bzw. Straßburger Schulen 2018/19 im bilingualen und im monolingualen Geschichtsunterricht Texte produzieren, die ihr Verständnis von der Französischen Revolution aufzeigen. Bei der Textproduktion sollten die Schüler*innen die Französische Revolution eigenständig darstellen. Auf die Gestaltung des Unterrichts wurde keinerlei Einfluss genommen. Die Länge der Unterrichtsreihe, die in beiden Ländern vor den Sommerferien stattfand, variierte von mehreren Wochen bis zu lediglich zwei Doppelstunden. Noch kürzere Unterrichtsreihen kamen zwar zeitbedingt vor, waren allerdings für das Untersuchungsdesign dieser Studie ungeeignet und wurden deshalb ausgeschlossen. Um das Vorwissen und die Entwicklung zu ermitteln, wurde in beiden Ländern im bilingualen Geschichtsunterricht die gleiche Aufgabe zu Beginn und am Ende der Unterrichtsreihe den Schüler*innen gestellt. Da der bilinguale Geschichtsunterricht im Vordergrund steht, wurde im monolingualen Geschichtsunterricht nur der Posttest durchgeführt. Das Erhebungsinstrument wird weiter unten (Abschnitt 4) vorgestellt.
3.
Die Französische Revolution in der Schule
Die curricularen Voraussetzungen sind für die Gegenüberstellung der Teilgruppen zu berücksichtigen. Es lohnt hierbei eine Gegenüberstellung der beiden Schulsysteme, dem französischen und dem hessischen und der Zeitpunkte der Behandlung der Französischen Revolution.
14 Vgl. Pandel 2015, S. 7; vgl. Barricelli 2005, S. 6.
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Alter Frankreich (in Jahren) 3–4 École Maternelle (Vorschule) 4–5 5–6 6–7
École Élémentaire (Grundstufe)
7–8
Hessen G9 Petite section Kindergarten (PS) _____________________ Moyenne section (MS) evtl. Vorschule Grande section (GS) Cours prépa- Grundschule ratoire (CP) Cours élémentaire 1 (CE1) Cours élémentaire 2 (CE2)
8–9 9–10 10–11 Collège (Mittelstufe, Sekundarstufe I)
13–14 14–15
Quatrième Troisième Seconde Lycée (gymnasiale Oberstufe, Sekundar- Première stufe II) Terminale
17–18 18–19
2. Klasse 3. Klasse
Cours moyen 4. Klasse 1 (CM1) Cours moyen Sekundarstufe I 5. Klasse 2 (CM2) (hier: Gymnasium) Sixième 6. Klasse Cinquième 7. Klasse
11–12 12–13
15–16 16–17
1. Klasse
Sekundarstufe II (gymnasiale Oberstufe)
8. Klasse 9. Klasse 10. Klasse Eingangsphase 1 + 2 Qualifikationsphase 1 +2 Qualifikationsphase 3+4
Tabelle 1: Gegenüberstellung des gymnasialen Lernweges in Frankreich und Hessen15
3.1
Vergleich des französischen und hessischen Schulsystems
Die École Maternelle in Frankreich nimmt die Kinder zu Beginn ihrer Schulpflicht auf, die dort mit dem dritten Lebensjahr beginnt. Darauf folgt der Grundschule entsprechend die École Élémentaire für die Schüler*innen im Alter von sechs bis elf Jahren. Im Anschluss besuchen alle Schüler*innen das Collège 15 Verändert nach: Ministère 2018; Sekretariat 2019. Die Untersuchungszeiträume sind fett markiert.
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bis etwa zum 16. Lebensjahr. Es ähnelt der Mittelstufe. Eine Trennung der Bildungswege findet erst hier statt. Am Ende des Collège können die Lernenden ihre Ausbildung in einem allgemeinbildenden oder beruflichen Lycée fortsetzen, das der deutschen Oberstufe entspricht. Die Erhebung fand in der Seconde beziehungsweise der E2 statt. Dies erwies sich vor allem daher als passender, da erst ab dem Lycée eine rein gymnasiale Gruppe besteht, die eine Vergleichbarkeit ermöglicht. Zudem wird die Französische Revolution in der deutschen Mittelstufe zum ersten Mal behandelt, in der französischen aber schon zum zweiten Mal. So besitzen alle Schüler*innen in der Oberstufe schon Vorkenntnisse, was in der Mittelstufe nicht der Fall ist. Die Lernenden sind sich in beiden Ländern altersmäßig ähnlich.
3.2
Die Französische Revolution im französischen Geschichtsunterricht
In Frankreich stellt die Französische Revolution ein wichtiges Thema im Geschichtsunterricht dar. Dabei steht die staatsbürgerliche Bildung mit dem republikanischen Thema im Vordergrund.16 Sie wird je nach Bildungsweg zwei bis drei Mal, nach einer mit jedem neuen Durchgang die Perspektive wechselnden Logik,17 unterrichtet: in der Grundstufe, Mittelstufe und für die Abiturient*innen in der Oberstufe. Schon in CM1 gibt es eine starke Verbindung zwischen der Behandlung der Französischen Revolution und der politischen Bildung (Enseignement Moral et Civique). Der Lehrplan betont, dass die Französische Revolution und das darauffolgende Kaiserreich einen bedeutsamen Einschnitt und Schlüsselereignisse für die Gegenwart darstellen. Hierfür werden als grundlegend angesehene Momente, darunter besonders die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte, herausgestellt und in Form einer linearen Erzählung behandelt. Dem Jahr 1789 und der ersten Phase der Revolution kommen hierbei eine besondere Bedeutung zu.18 In der Quatrième kommt es dann zu einem Bruch der Linearität. Wichtige Errungenschaften wie die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte oder die Neuordnung des französischen Territoriums sollen hervorgehoben und in einen historischen Kontext gesetzt werden. Es handelt sich hier um eine diskontinuierliche und unterbrochene Erzählung über die wichtigsten Meilensteine der Revolution. Auch hier wird ein Schwerpunkt auf den Beginn der Französischen
16 Vgl. Deleplace u. a. 2012, S. 177. 17 Vgl. Cock 2015. 18 Vgl. Ministère 2015; 2016, S. 2f.
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Revolution (v. a. das Jahr 1789) gelegt, um dann schnell zum französischen Kaiserreich zu kommen.19 In der Seconde, dem Untersuchungszeitpunkt der Studie, wird die Revolution anhand von einigen ausgewählten Ereignissen und Akteuren sowie wesentlicher politischer, wirtschaftlicher, sozialer und religiöser Umwälzungen behandelt, um die Veränderungen der damaligen Zeit anzusprechen.20 Inzwischen gibt es einen neuen französischen Lehrplan für Geschichte, der die Französische Revolution in die Première (entsprechend der Q1–2) verlegt, womit das Thema für die Abiturprüfung relevant wird. Diese drei Momente, in denen die Französische Revolution nach unterschiedlichen Konzeptionen behandelt wird, stehen in einem Spannungsverhältnis zueinander zwischen einer linearen Rekonstruktion, die auf dem Jahr 1789 aufbaut, und später einer konzeptuellen Geschichte.21
3.3
Die Französische Revolution im hessischen Geschichtsunterricht
Auch in Deutschland ist die Französische Revolution ein Standardthema. Sie wird als epochales Schlüsselereignis der europäischen Geschichte angesehen.22 Allerdings haben sich die Deutungen über die Zeit im Zusammenhang mit den jeweiligen politischen Zielen immer wieder verändert23 und bilden dabei einen sich wandelnden, spezifischen nationalen und kulturellen Rahmen ab.24 Im hessischen Geschichtsunterricht kommt die Französische Revolution je nach Bildungsweg ein- bzw. zweimal vor: in der Mittelstufe und für die Abiturient*innen in der Oberstufe. In der Mittelstufe begegnen die Schüler*innen zum ersten Mal der Französischen Revolution im Unterricht (9. Klasse G9 und 8. Klasse G8). Besonders die Revolution als Basis der bürgerlichen Gesellschaft und »eine[r] grundlegende[n] gesellschaftliche[n], wirtschaftliche[n] und politische[n] Umorientierung in Europa«25 wird hierbei betont. Die Reihe dreht sich 19 20 21 22 23 24 25
Vgl. Ministère 2016, S. 5f. Vgl. Ministère 2010, S. 5. Vgl. Cock 2015. Rohlfes 1999, S. 171. Fuchs/Onken 2020, S. 21. Günther-Arndt 1997, S. 11. HKM 2010, S. 21. Seit dem Schuljahr 2018/19 gilt in Hessen für das Fach Geschichte in der Mittelstufe ein Kerncurriculum. An dieser Stelle bezieht sich der Beitrag jedoch vereinfachend auf den vorher geltenden Lehrplan der G8. Nach den neuen Vorgaben sollte jede Schule ein eigenes Schulcurriculum erarbeiten. Dies geschah anhand der Vorgaben des Kultusministeriums, aber auch der vorher geltenden Lehrpläne. Falls eine Schule kein Schulcurriculum beschlossen hat, gilt für sie inhaltlich weiterhin der bisherige Lehrplan, den sie mit den Kompetenzerwartungen der Bildungsstandards im Kerncurriculum verknüpft. Für die gymnasiale Oberstufe werden dann die inhaltlichen Vorgaben des Lehrplans für die G8 vorausgesetzt.
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137
um Fragen der politischen Herrschaft und Partizipation und ist chronologisch gestaltet. Dabei wird der ersten Phase der Revolution viel Raum gegeben. In der Eingangsphase 2, dem Untersuchungszeitpunkt, wird die Französische Revolution ideengeschichtlich als Höhepunkt eines europäischen Modernisierungsprozesses untersucht, wobei auch hier eine chronologische Vorgehensweise gewählt wird.26 Ein zentraler Punkt ist dabei die Prüfung der Ideale der Revolution anhand der Losung Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, und die Reihe wird explizit in einem europäischen Kontext und über eine deutsche Rezeption betrachtet.27 Auch im bilingualen Geschichtsunterricht ist die Französische Revolution ein wichtiges Thema, da die Stoffverteilung in beiden Ländern mit einigen Entlastungen dem Lehrplan des monolingualen Unterrichtes folgt. Gerade in der Oberstufe zeigt sich eine gewisse Kompatibilität zwischen den Unterrichtsreihen zur Französischen Revolution in Deutschland und Frankreich, was den Austausch der Materialien im bilingualen Geschichtsunterricht für die Lehrkräfte auf beiden Seiten des Rheins erleichtert. Dies hat sich unter anderem dadurch gezeigt, dass die untersuchten bilingualen Kurse in beiden Ländern das DeutschFranzösische Geschichtsbuch von Nathan bzw. Klett als Hauptwerk benutzten.
4.
Schülertexte zur Französischen Revolution
Um das historische Denken der Schüler*innen zu erfassen, erhielten die teilnehmenden Gruppen im bi- und monolingualen Geschichtsunterricht einen Fragebogen, der aus zwei Teilen bestand.28 Im ersten Teil sollten die Lernenden die Französische Revolution in einer frei gewählten Struktur narrativieren, der zweite Teil ergänzte den Fragebogen mit offenen und geschlossenen Fragen. An dieser Stelle soll es um den ersten Teil des Fragebogens gehen. In einem Evaluationsprozess mit entsprechenden Pilotierungen wurde folgende Aufgabenstellung ausgewählt: »Stellen Sie die Geschichte der Französischen Revolution dar.29 Sie können Ihren Text so strukturieren, wie es Ihnen sinnvoll erscheint sowie Elemente 26 Vgl. HKM 2016, S. 26f. 27 Ebd., S. 27. 28 An dieser Stelle kann aufgrund der Länge des Beitrags auf die Frage der Diagnostizierung historischen Denkens aus Schüler*innentexten nicht weiter eingegangen werden. Verwiesen sei hier aber beispielsweise auf die einleitende Diskussion von Peter Seixas zu dieser Problematik im Band »New Directions in Assessing Historical Thinking« (Seixas 2015, S. 4–7). 29 Französisch: »Présentez l’histoire de la Révolution française.« Diese Frage wurde abgewandelt nach den Studien von Létourneau 2014 sowie Lantheaume/Létourneau 2016 und in der Pilotierungsphase weiter angepasst.
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betonen, die Sie als wichtig beurteilen. Achten Sie dabei nicht darauf, wie die Geschichte der Revolution üblicherweise dargestellt wird.«
Es handelt sich hier um eine offene Frage. Dieses Format ist besonders geeignet, da damit – der Zielsetzung entsprechend – ein weites Spektrum an Antwortmöglichkeiten abgedeckt werden kann.30 Zudem wird vermieden, dass die Befragten in eine bestimmte Richtung beeinflusst werden. Durch die Offenheit der Frage wurde es den Schüler*innen freigestellt, inwieweit sie deklaratives Wissen in ihre Erzählungen einbinden. Die Entscheidung über die Gestaltung der Narration lag hier bewusst ganz bei den Lernenden. Vielmehr stehen die Narrationen, welche den Darstellungen der Schüler*innen zugrunde liegen, im Zentrum der Untersuchung. Besondere Wichtigkeit kommt hierdurch der Fähigkeit der Schüler*innen zu, mit ihrem Wissen eine Narration zu erstellen – was beim Pretest nicht allen Schüler*innen gelang. Diese so entstandenen Texte eignen sich als Erhebungsinstrument, da, nach Pandel und Barricelli, historisches Wissen narratives Wissen und damit auch das historische Denken narrativ organisiert ist.31 Ein so offenes Aufgabenformat stellt gleichwohl für die Auswertung eine große Herausforderung dar. Trotz der Nutzung eines den Lernenden bekannten Operators (darstellen/présenter) ist insbesondere das Aufgabenformat ungewohnt, da die Schüler*innen ohne Materialzugaben eine Darstellung konstruieren sollten. Ebenso ist ihnen die Textgestaltung freigegeben, was im zweiten Teil des Fragebogens reflektiert werden sollte. Eine gewisse Irritation der Lernenden war durchaus gewollt, damit die Schüler*innen aus den eingeübten Arbeitstechniken herauskamen und ihre Erzählungen möglichst selbst und ohne Automatismen konstruierten.
5.
Auswertung und erste Ergebnisse
Die Texte der Schüler*innen variieren in der Länge, befinden sich aber handschriftlich meist im Bereich einer halben bis zu einer ganzen Seite. Dabei tragen einzelne Sätze schon viel Bedeutung in sich, wie das im Titel verwendete Zitat, das sehr interessante Perspektiven öffnet und deshalb hier als Beispiel dienen soll: »Dann gab es die Terrorherrschaft, in der viele Menschen hingerichtet wurden. Die Hinrichtung von Robespierre war das Ende der Monarchie in Frankreich. Danach kam das Direktorium.« (F_L02_bGU_Prä_ S07)32 30 Vgl. Züll/Menold 2019, S. 855–857. 31 Vgl. Pandel 2010, S. 7; vgl. Barricelli 2005, S. 6. 32 Das Zitat stammt aus einem Prätest eines bilingualen Kurses in Straßburg. Der Auszug wurde wegen seiner Anschaulichkeit für das Thema gewählt und ist nur bedingt repräsentativ für die anderen Schüler*innentexte.
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Für die Auswertung wird ein Mixed-Methods-Ansatz genutzt, der im Folgenden zwar nicht in Gänze, aber in einigen wesentlichen Aspekten an diesem kurzen Auszug aufgezeigt werden soll. Um die inhaltlichen Aspekte zu erfassen, wird im ersten Schritt die qualitative Inhaltsanalyse nach Udo Kuckartz mit induktiven und deduktiven Codes verwendet.33 Sebastian Barsch sieht die qualitative Inhaltsanalyse als besonders geeignet an, um subjektives historisches Denken zu erfassen.34 Er weist darauf hin, dass hierfür sowohl induktive als auch deduktive Codes, die beispielsweise auf Theorien über Teilbereiche des historischen Denkens beruhen, gebildet werden können.35 Dies eignet sich besonders für das hier vorgestellte Forschungsprojekt, da die gesammelten Schüler*innentexte als Ausdruck ihres historischen Denkens aus den vier Untersuchungsgruppen systematisiert gegenübergestellt werden sollen. Hierfür wurden aus dem Material in einem ersten Schritt induktiv inhaltliche Kategorien gebildet, die abbilden, was in der historischen Darstellung der Lernenden passiert.36 Einige Beispiele der häufigsten Kategorien werden in Tabelle 2 gezeigt.37 Kategorie Akteure38
Ereignisse
kollektiv
Beispiele aus den Schüler*innentexten Robespierre, Napoleon, Ludwig XVI., in wenigen Fällen Marie-Antoinette als einzige Frau… das Volk, die Jakobiner, die Adligen…
die Handlung dominierend passiv
revoltiert sich, richtet hin, beendet die Revolution wurde verhaftet/hingerichtet
individuell
Anthropomorphismen… Frankreich, die Revolution v.a. ikonische Ereignisse, z. B. der Sturm auf die Bastille oder Hinrichtungen/Tode…
Periodisierung Daten Phase…
33 34 35 36 37
14. Juli 1789, 1792 1. Phase, Terreur/Schreckensherrschaft
Kuckartz 2018, hier S. 63f. Barsch 2016, S. 217. Ebd. Vgl. Kuckartz 2018, S. 34, 83–86. Diese inhaltlichen Kategorien ähneln unter anderem den Untersuchungsergebnissen von Christian Mathis 2015 in der deutschsprachigen Schweiz und Laurence de Cock 2015 in Frankreich. Sie decken sich teilweise auch mit Ergebnissen anderer empirischer Studien und Modelle zum historischen Denken, v. a. die starke Fokussierung auf Akteure, vgl. z. B. bei Friedeburg/Hübner 1970; Ola Halldén 1998 oder Kölbl 2004. 38 Die Akteure sind die am häufigsten vergebenen Kodierungen.
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(Fortsetzung) Kategorie Ursachen
Wertungen
ideell
Beispiele aus den Schüler*innentexten Absolutismus, Privilegien der Adeligen gesellschaftliche Ungerechtigkeiten, Hungersnot Ideen der Aufklärung
ökonomisch… Gewalt39
Staatsschulden, Brotpreise, hohe Steuern blutig, Kämpfe, ermordet
Fortschritt Wandel…
Demokratie, Republik, Freiheit, gerechter Ende der Monarchie / Revolution, Beginn des Kaiserreichs / einer neuen Zeit
politisch sozial
Tabelle 2: Induktive Kategorienbildung: Beispiele für inhaltliche Codes
Inhaltlich lassen sich für den Beispielsatz mehrere der induktiv erarbeiteten Codierungen vergeben: Akteure, Ereignisse, räumliche Verortung und politische Systeme. Als Akteur kommt in diesem Beispiel Robespierre vor. Er wird zwar als Individuum hervorgehoben, bleibt aber passiv: Er wird hingerichtet. Dies ist ungewöhnlich in der Darstellung Robespierres, der größtenteils in einer aktiven, das Geschehen dominierenden Rolle beschrieben wird. So wird er meist als alleinig für die Terreur verantwortlich ausgewiesen. Dennoch beendet sein Tod in diesem Beispiel eine wichtige Phase der französischen Geschichte, die der Monarchie. Die zentralen Ereignisse in der Aussage sind Robespierres Hinrichtung und das daraus folgende Ende der Monarchie. Beide Ereignisse kommen in vielen Darstellungen der Lernenden vor, die Hinrichtung Robespierres allerdings eher in den Posttests und häufig in Verbindung mit dem Ende der Terreur. Das Ende der Monarchie wird meist in dieser Phase verordnet, die Robespierre dann oft zumindest indirekt mitbestimmt. Die Ereignisse werden im Beispiel in Frankreich räumlich verortet, obgleich räumliche Verortungen in den Beiträgen der Schüler*innen eher selten sind.40 Das Zitat beinhaltet auch politische Systeme: Die Monarchie wird zentral genannt, die Terreur impliziert, wenn man den vorherigen Satz mitcodiert. Die Terreur wird in den Texten als politisches System genutzt, ohne sie genauer zu bestimmen. Ihre Bedeutung und Ausmaß werden also als Orientierungsrahmen vorausgesetzt. Dennoch genügt die Qualitative Inhaltsanalyse hier nicht, um wirklich fachbezogenes Denken und seine sprachliche Fassung untersuchen zu können. Daher 39 Die Wertung der Gewalt ist nicht eindeutig. Sie kann genauer sowohl negativ (z. B. Ermordungen) als auch positiv (z. B. Kampf für die Freiheit) ausfallen. 40 Nach der Einteilung von Limón sind Zeit (time) und Raum (space) auch Second-Order Concepts (Limón 2002, S. 264).
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141
wird in einem zweiten Schritt zur Untersuchung des historischen Denkens eine weitere Analysesäule ausdifferenziert, die sich vor allem auf die bereits im Historical Thinking-Modell von Peter Seixas erprobten Elemente stützt. Diese wurden für eine größere Tragfähigkeit durch Elemente anderer Modelle ergänzt, beispielsweise durch das ähnliche Historical Thinking-Modell von Lévesque, das Historical Reasoning-Modell von van Drie und van Boxtel, aber auch Pandels Überlegungen zu den Dimensionen des Geschichtsbewusstseins, hier vor allem auf die Dimensionen der Geschichtlichkeit ausgerichtet.41 Gerade die kanadischen Historical Thinking-Modelle, aber auch das Historical Reasoning-Modell von van Drie und van Boxtel werden von der französischen Geschichtsdidaktik ebenfalls genutzt. Im Textbeispiel sind vor allem Elemente der Konzepte von Continuity and Change, Cause and Consequence und Historical Significance zu erkennen. 1. Continuity and Change: Wandel ist ein zentrales Konzept in einem großen Teil der Modelle zum historischen Denken.42 Seixas definiert Kontinuitäten und Wandel als zusammenhängend. Um einen historischen Wandel zu erkennen, muss dieser vor dem Hintergrund von Kontinuitäten betrachtet werden.43 Eine Periodisierung kann dabei helfen, sich mit Kontinuitäten und Wandel – mit dessen verschiedenen Richtungen und Geschwindigkeiten sowie turning points (Momente des starken Wandels) – zu beschäftigen. Da Periodisierungen zeitgleich Interpretationsprozesse sind, müssen sie reflektierbar bleiben. Eine Bewertung des Wandels findet durch die Einteilung in Fortschritt und Niedergang statt.44 Die Hinrichtung Robespierres wird im Auszug des Schülertextes als Moment des Wandels, sogar als turning point dargestellt, während eine Kontinuität zwischen Monarchie und Herrschaft Robespierres impliziert ist. Die Regierungsformen der Monarchie und der Schreckensherrschaft scheinen hier gleichgesetzt zu werden. 2. Cause and Consequence beschäftigt sich damit, wie kurz- und langfristige Ursachen und Folgen eines Wandels zueinanderstehen.45 Ursachen können dabei unterschiedlich viel Einfluss haben. In diesem Zusammenhang stellt sich auch die Frage nach dem Einfluss von einzelnen Akteur*innen oder des sie umgebenden Kontextes (Historical Agency46). Zudem können Ursachen unvor-
41 Vgl. u. a. Seixas/Morton 2013; Lévesque 2008; van Drie/van Boxtel 2008; Pandel 2007. 42 Vgl. beispielsweise Lévesque 2008; Limón 2002; Pandel 2007; Rohlfes 2005; Seixas 1996; 2017; Seixas/Morton 2013; van Drie/van Boxtel 2008. 43 Seixas 1996, S. 771. 44 Seixas/Morton 2013, S. 86. 45 Dieses Konzept kommt beispielsweise bei Coffin 2006; Lee 2005; Limón 2002; Seixas 1996, 2017; Seixas/Morton 2013; van Drie/van Boxtel 2008 vor. 46 Vgl. Seixas 1996, S. 776f.
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hersehbare Folgen haben. Die Schüler*innen sollen ferner erkennen, dass Folgen eines Wandels nicht zwangsläufig waren.47 Im Textausschnitt wird eine direkte monokausale Verbindung zwischen der Hinrichtung Robespierres und dem Ende der Monarchie hergestellt. Dies ist eine ungewöhnliche Verbindung, da die Hinrichtung Robespierres in den Darstellungen der Lernenden meist das Ende der Schreckensherrschaft bedeutet. Das Ende der Monarchie wird eher mit der Revolution, dem 14. Juli oder der Hinrichtung Ludwigs XVI. in Verbindung gebracht. Monokausale Verbindungen sind dagegen bei allen Schüler*innentexten vorrangig (außer bei den Ursachen der Revolution, was positionsbedingt erklärt werden kann). 3. Historical Significance: Seixas sieht die Bedeutung der Vergangenheit darin, die Gegenwart zu kontextualisieren.48 Daher ist die Bedeutung von historischen Ereignissen, Personen oder Strukturen an ihre Beziehung zur Gegenwart gebunden. Ein Ereignis wird durch seine Verbindung zu anderen Ereignissen und Prozessen und zur Gegenwart signifikant.49 Historical Significance ist konstruiert, sie entsteht dadurch, dass etwas einen bedeutsamen Platz in einer (historischen) Erzählung erhält.50 Damit die Lernenden selbst Narrative mit historischer Bedeutsamkeit konstruieren können, müssen sie genug über die fragliche Periode wissen, um mögliche Verbindungen zu heutigen Fragen zu erkennen.51 Da Bedeutsamkeit über Zeit und zwischen Gruppen variieren kann,52 ist sie in den untersuchten Teilgruppen von Interesse. Das Schülerzitat weist auch auf Historical Significance hin. Robespierres Hinrichtung resultiert in diesem Beispiel in einen tiefgreifenden Wandel, dem Ende der Monarchie, und ist deswegen historisch bedeutsam. Obwohl das Untersuchungsinstrument von Seixas bereits elaboriert ist, fehlt eine vertiefte Einbeziehung von Begriffen und Begriffskonzepten, die weitere Bedeutungsebenen in den Texten der Schüler*innen aufzeigen können. Einzelne Begriffe werden hier selbsterklärend für die implizierten Themen oder Entwicklungen bei der Beschreibung des Revolutionsbegriffs genutzt. Um sie besser einzuordnen, eignet sich etwa die Skalierung der Begriffsebenen nach Joachim Rohlfes als deduktiv gewonnene und vertiefte Kategorien. Rohlfes weist darauf hin, dass Begriffe semantisch gesehen, eine »abbreviaturhafte Bündelung der einen Sachverhalt ausmachenden Merkmale«53 darstellen. Sie sind nach ihm Abstraktionen der Realität, die dieser eine Ordnung ge47 48 49 50 51 52 53
Vgl. Seixas/Morton 2013, S. 110–114. Andere Definitionen stammen u. a. von Cercadillo 2006 oder Lévesque 2008. Vgl. Seixas 1996, S. 768f. Vgl. Seixas/Morton 2013, S. 20f. Ebd., S. 21. Seixas/Morton 2013, S. 22f. Rohlfes 2005, S. 68.
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143
ben.54 Hierfür hat Rohlfes eine Systematisierung von Komplexitäts- und Abstraktionsgraden von Begriffen vorgeschlagen.55
Abstraktionsgrad
A bs tr ak # o ns gr a d
Deutungsbegriffe
Beispiele: Feudalismus, Freiheit
Geschehensbegriffe
Beispiele: Sturm auf die Bastille, Terreur/Schreckensherrschaft
Komplexe Funktionsbegriffe
Beispiel: Bürger
Gegenstands- und funktionsbezogene Begriffe
Beispiele: König, Nationalversammlung
Symbolische Begriffe
Beispiele: Robespierre, Versailles
Abb. 1: Deduktive Kategorien: Begriffe nach Rohlfes mit Beispielen aus Texten der Schüler*innen.
Auf der untersten Ebene stehen für Rohlfes die symbolischen Begriffe. Diese sind historische Eigennamen, die formallogisch eigentlich keine Begriffe sind, aber aufgrund ihrer konkreten Einmaligkeit auf dahinterstehende allgemeine Konzepte verweisen. Beispiele aus den Schüler*innentexten sind hier Robespierre oder Versailles. Als Zweites kommen für ihn die gegenstands- und funktionsbezogenen Begriffe. »Solche Begriffe korrespondieren mit Erscheinungen der realen Welt, die man sehen, erleben, sich anschaulich vorstellen kann.«56 Diese Anschaulichkeit sichert ein basales Verständnis der Begriffe, auch ohne größere Kenntnisse derselben. In den Schüler*innentexten kommen sie beispielsweise in Form des Königs oder der Nationalversammlung vor. Auf der dritten Ebene kommen die komplexen Funktionsbegriffe: Sie enthalten beziehungsreiche und vielschichtige Sachverhalte, die ohne ausführliche Beschreibung mit zahlreichen weiteren Begriffen nicht zu verstehen sind. Ein Beispiel stellt der Begriff der Bürger dar. Darauf folgen die Geschehensbegriffe, welche Geschehenszusammenhänge bezeichnen, die eine gewisse Anschaulichkeit haben. Diese erfüllen eine Ordnungsfunktion, indem sie bestimmte Begebenheiten, wie historische Ereignisse oder Epochen, als zusammengehörig markieren. Beispiele der Lernenden dieser Studie hierfür sind das Ereignis des Sturms auf die Bastille oder die Phasierungen der Revolution, etwa die Terreur.
54 Ebd. 55 Ebd., S. 70–72. 56 Ebd., S 71.
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Auf der obersten Ebene sind die Deutungsbegriffe. Sie werden »durch gedankliche Konstruktion gewonnen« und »zeichnen sich durch einen erheblichen Theorieanteil aus«,57 sodass man Erklärungsmodelle für ihr Verständnis benötigt. Als Beispiele seien hier der Feudalismus oder die Freiheit genannt. Auch wenn alle diese Ebenen in den Texten der Lernenden vorkommen, sind die beiden ersten besonders präsent. In ihren Darstellungen fokussieren die Schüler*innen besonders auf die Akteure. Dabei werden Robespierre, Napoleon und Ludwig XVI. (in verschiedenen Schreibweisen) am häufigsten genannt. Andere Begriffe können je nach Nutzungskontext eine unterschiedliche Bedeutung erhalten. So wird das Volk, das als komplexer Funktionsbegriff interpretiert werden kann, als kollektiver Akteur oft wie ein gegenstands- und funktionsbezogener Begriff genutzt. Bei den im Zitat vorkommenden Begriffen gibt es zwei Bedeutungsebenen: Robespierre als symbolischen Begriff und die Monarchie als komplexen Funktionsbegriff. Robespierre wird im Beispiel, stellvertretend für die anderen Schüler*innentexte, als symbolischer Begriff genutzt. Sein Name wird dort meist direkt mit der Terrorherrschaft in Verbindung gebracht. Dies geschieht hier auch, da diese im vorherigen Satz angesprochen wird. Damit kommt es hier zu einer Verbindung der Terrorherrschaft und der Monarchie. Die Monarchie ist ein komplexer Funktionsbegriff, der ohne ausführliche Beschreibungen eigentlich nicht verständlich ist. Sie steht in den Texten oft stellvertretend für die Missverhältnisse vor der Revolution und als Gegensatz zu dieser. Meist wird dabei nicht auf die absolutistische Monarchie spezifiziert. Eine weitere Schwierigkeit bei der Auswertung ist es, die Art der Vernetzung von Inhalten, historischen Begriffskonzepten und Second-Order Concepts in einer Narration zu erfassen. Um hier die frei gestalteten Texte als Ganzes und die Vernetzung im historischen Denken der Lernenden erfassen zu können, wird eine adaptierte Version der SOLO-Taxonomie nach John Biggs auf die Narrationen angewandt.58 Diese befindet sich noch in der Ausarbeitung.
6.
Fazit und Ausblick
Anhand eines kurzen Auszugs aus einem Schüler*innentext zur Französischen Revolution eines bilingualen Kurses in Straßburg (Frankreich) wurden in diesem Beitrag Teile des Aufbaus und der Auswertungsschritte der Studie vorgestellt. Dabei wurden induktive und deduktive Kodierungsmöglichkeiten einer inhalt57 Ebd., S. 71f. 58 Vgl. Biggs/Collis 1982. Die SOLO-Taxonomie wurde beispielweise auch von Susanne Staschen-Dielmann (2012) für den bilingual-englischen Geschichtsunterricht adaptiert.
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lich-strukturierenden qualitativen Inhaltsanalyse am Textausschnitt aufgezeigt. Hierfür wurden vorab die curricularen Vorgaben und Gestaltungen zur Französischen Revolution für Frankreich und Hessen betrachtet. Die Studie befindet sich aktuell am Ende der ersten Phase der Auswertung, der qualitativen Inhaltsanalyse. Es wurden schon erste Kodierungen für die Historical Thinking Concepts vorgenommen. Daraufhin soll das adaptierte Rating herangezogen werden. Im Anschluss wird die auf das historische Denken adaptierte SOLO-Taxonomie auf die gesamten Schüler*innentexte angewandt. Das Theoriekonzept hierzu befindet sich noch in der Ausarbeitung. Die so gewonnenen Ergebnisse der vier untersuchten Teilgruppen sollen danach systematisch verglichen und in Beziehung gesetzt werden. Da der bilinguale Geschichtsunterricht eine politisch und gesellschaftlich geforderte Realität in den deutschen und französischen Schulen bleiben wird, bedarf es hierfür einer weiteren Erforschung des historischen Denkens und Lernens in diesen, um einen aus geschichtsdidaktischer Sicht sinnhaften Unterricht zu sichern. Die hier angeschnittene Studie möchte einen Beitrag hierzu leisten.
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Lukas Greven
Kontinuität (nicht ohne Veränderungen)? Zum forschend-historischen Lernen im Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten1
»Anfangs hätte ich nicht gedacht, dass mir die Arbeit so viel Spaß bringen würde, […] aber mir hat diese forschende, hinterfragende Vorgehensweise sehr gut gefallen, auch wenn es nicht immer leicht war.«2 »Die Behauptung, es gebe eine absolute geschichtliche Wahrheit, ist fragwürdig. Denn immer wird die Geschichtsschreibung von dem Standpunkt, von den Voraussetzungen […], dessen abhängen, der ein Geschehen beobachtet oder später erzählt.«3
In der Zusammenschau der beiden Auszüge aus zwei Wettbewerbsbeiträgen, ersterer von einer Teilnehmerin der 11. Jahrgangsstufe für den Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten 2012/13 und letzterer von drei Teilnehmenden der 12. Jahrgangsstufe für den Wettbewerb 1974/75 verfasst,4 wird ein besonderes Potential forschend-historischen Lernens für das Geschichtslernen offenbar: Forschend-historisches Lernen kann Schüler*innen zur und in der Beschäftigung mit einem historischen Gegenstand motivieren. In dieser Beschäftigung können die Lernenden ihrem Lernstand entsprechend selbstständig, quasi induktiv Einsichten in die Logik historischer Erkenntnisse als Beitrag zu ihrem Geschichtsbewusstsein erlangen oder bereits zuvor gewonnene erproben. Vor diesem Hintergrund wird die gesteigerte Aufmerksamkeit verständlich, welche das Konzept seit den späten 1990er-Jahren und schließlich im Zuge der Kompetenzorientierung seit den frühen 2000er-Jahren wieder im geschichtsdidaktischen Zusammenhang erfahren hat, nachdem das Interesse an ihm ab den 1980er-Jahren nachgelassen hatte. Denn es musste als besonders geeignet erscheinen, zur Förderung von Kompetenzen als domänenspezifischen Problemlösefähigkeiten beizutragen. Immerhin wertet es die Selbstständigkeit und -re1 Das Qualifikationsprojekt wird im Rahmen eines Promotionsstipendiums der Studienstiftung des deutschen Volkes sowie der Gerda-Henkel-Stiftung im Rahmen der Stipendienprogramme der Deutschen Universitätsstiftung gefördert. 2 Wettbewerbsbeitrag (WB) 2013-1052, S. 4. 3 WB 1975-0364, S. 61. 4 Für eine Zusammenstellung vergangener Wettbewerbsreihen und -runden vgl. https://www.ko erber-stiftung.de/geschichtswettbewerb/portraet, aufgerufen am 03. 05. 2021.
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gulation im historischen Lernprozess auf, möchte damit den Geschichtsunterricht konsequent als Denk- und Arbeitsfach verstanden wissen5 und ist von seinem Kern her eng an der »structure of […] [the] discipline«6 orientiert. Damit wurde das Konzept, wie schon bei seiner (Wieder-) 7Entdeckung ab dem Ende der 1960er-Jahre, mit höchsten Erwartungen aufgeladen. Allerdings läuft diese neuerliche Hinwendung Gefahr, ohne intime »Kenntnis ihrer eigenen Geschichte«8, insbesondere der seit den frühen 1970er-Jahren, damit auch ohne Einsicht in dessen Grenzen und Möglichkeiten zu erfolgen. Ohne eine solche Selbstvergewisserung droht den hohen Erwartungen jedoch in Konfrontation mit der Realität erneut die Enttäuschung, und die Diagnose Peter Knochs aus dem Jahr 19889, das Konzept sei »zunächst leidenschaftlich rezipiert und diskutiert, dann probiert und schließlich vergessen«10 worden, könnte wieder Gültigkeit erlangen – mit potentiell negativen Rückwirkungen auf die Akzeptanz offener Formen des Geschichtslernens im Allgemeinen. Denn die ernstzunehmende Kritik am Konzept (z. B. Überforderung breiter Schüler*innengruppen) hält (spätestens) seit den 1970er-Jahren an. Vor diesem Hintergrund konnte sich das Konzept im alltäglichen Geschichtsunterricht bis heute auch nicht nachhaltig etablieren.11 In Anschluss an die Formulierung Karin Herbsts im Rahmen ihrer disziplingeschichtlichen Überlegungen aus dem Jahr 1977 ist daher eine »konsequente Historisierung«12 zu fordern, in welcher die normativ-theoretischen Überlegungen im geschichtsdidaktischen Diskurs ebenso wie praktische Realisierungen Beachtung finden sollten. Die vorzustellende Studie möchte zu dieser konzepthistorischen Betrachtung einen Beitrag leisten. Zugleich geben ihre Erkenntnisse Einsichten darin, wo in offen-strukturierten Lernkontexten agierende Schüler*innen »auf dem Weg zur Wissenschaftsorientierung abgeholt werden können.«13 Ausgangspunkt der Studie ist dabei die Praxis forschend-historischen Lernens im Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten, also der größte das Konzept betreffende Feldversuch.14 Denn das forschend-historische Lernen ist seit der Gründung des
5 6 7 8 9 10 11 12 13 14
Vgl. Wilms 1986. Bruner 1969, S. 7. Zu den reformpädagogischen Wurzeln des Konzepts vgl. pointiert Wolter 2018, S. 31. So wäre in Anschluss an die Kritik Ludwig von Friedeburgs an der Bildungsreform der 1970er-Jahre zu formulieren. Friedeburg 1989, S. 9. Diese Feststellung erfolgte im Rekurs auf eine bereits 1977 durch Wolfgang Hug veröffentlichte Studie. Vgl. Hug 1977, S. 101f. Knoch 1988, S. 6. Vgl. z. B. Klausmeier 2020, S. 202f. Herbst 1977, S. 14. Henke-Bockschatz 2002, S. 93. Vgl. Borries 1992, S. 99.
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Wettbewerbs im Jahre 1973 durch den damaligen Bundespräsidenten Gustav Heinemann und den Stifter Kurt Körber dessen Leitkonzept.15
1.
Stand der Forschung und Erkenntnisinteresse der Studie
Die Praxis forschend-historischen Lernens im Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten war seit der (Wieder-)Zuwendung der Geschichtsdidaktik zum forschend(-historisch)en oder entdeckenden Lernen ab den frühen 1970er-Jahren, in denen sich die Geschichtsdidaktik zudem als »wissenschaftsbezogene Didaktik«16 neu zu konstituieren suchte, ein Erfahrungsreservoir, aus welchem es argumentativ zu schöpfen galt. Sie stellte sicher, dass das Konzept insgesamt »nicht mehr aus dem Blick der Geschichtsdidaktik gekommen«17 ist. Denn die Wettbewerbserfahrungen zu erschließen, wurde kontinuierlich im Rahmen qualitativer Untersuchungen mit geschichtsdidaktischem respektive -wissenschaftlichem Erkenntnisinteresse versucht. Studien mit einem Fokus auf den sich in den Beiträgen manifestierenden historischen Denk- und Lernprozessen stützten sich dabei zumeist auf exemplarisch ausgewählte Wettbewerbseinreichungen. Damit geriet forschend-historisches Lernen in seiner je gegenwärtigen Ausgestaltung in den Blick.18 Das wettbewerbsseitige Verständnis und die entsprechenden Hinweise zur Umsetzung forschend-historischen Lernens, also der Horizont, vor welchem sich die je gegenwärtige Praxis ausgestaltete, hingegen wurden ausschnitthaft in ihrer Gewordenheit untersucht. Dabei wurde wiederholt der alltagsgeschichtliche Zugriff und die für ihn kennzeichnende Oral-History19 als Medium und Methode zum exemplarischen Ausgangspunkt der Betrachtungen gemacht. Denn Oral History ist für viele Teilnehmende seit der erstmaligen Einführung im Rahmen des zweiten Wettbewerbs 1974/7520 zu einem wichtigen Merkmal ihrer Wettbewerbsarbeit geworden.21 Die vorliegenden Untersuchungen leisten dabei einen 15 Vgl. Kurt A. Körber/Dietrich Spangenberg, Vereinbarung zwischen Bundespräsidialamt und Körber-Stiftung (19. 3. 1973). Archiv der Körber-Stiftung, Hamburg, HHKRST01–001361, S. 1f. 16 Jeisman/Kosthorst 1973, S. 288. 17 Loos/Schreiber 2004, S. 721. 18 Vgl. z. B. Schneider 1992. Die Vorarbeiten methodisch fortschreibend vgl. Wosnitza/MeyerHamme 2019. Für eine Zusammenfassung aktuell laufender Forschungsvorhaben vgl. Pörschke 2021. 19 Gemeint ist hier und im Folgenden der wissenschaftsorientierte Ansatz, nicht der geschichtswissenschaftliche Ansatz selbst. 20 Vgl. Kurt A. Körber Stiftung, Wettbewerb 1975 für die Schuljugend zum Verständnis deutscher Freiheitsbewegungen »Gustav-Heinemann-Preis«. Vom Kaiserreich zur Republik 1918/19 (11.1974). Archiv der Körber-Stiftung, Hamburg, S. 3. 21 Vgl. insbesondere Siegfried 1995; Schildt 2015.
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wichtigen Beitrag zum Verständnis des Wettbewerbs als eine in geschichtskulturelle, zeitgeschichtliche und geschichtswissenschaftliche Entwicklungen eingebettete Praxis. In dieser Hinsicht förderlich sind insbesondere auch die umfangreichen Arbeiten Bodo von Borries, wobei im Zusammenhang der vorliegenden Studie seine abstrakte Feststellung unter Bezug auf das seitens der Wettbewerbsverantwortlichen kommunizierte Verständnis forschend-historischen Lernens einen wichtigen Impuls darstellt: Teilnehmende seien hier zunächst als »Geschichtsprofessoren« im (neo-)historistischen Verständnis verstanden worden, heute aber als »Geschichtskontrolleure« gedacht, also zur Kritik bestehender Deutungen aufgefordert.22 In Anschluss an diese Feststellung und vor dem Hintergrund der oben herausgestellten Notwendigkeit zur Historisierung zielt die vorzustellende Studie unter Fortschreibung der wettbewerbshistorischen Vorarbeiten darauf, zu untersuchen, inwiefern sich forschend-historisches Lernen vor dem Hintergrund von Veränderungen im (konzeptbezogenen) geschichtsdidaktischen Diskurs23 sowohl im seitens der Wettbewerbsverantwortlichen kommunizierten Verständnis als auch in der sich in den Beiträgen abzeichnenden praktischen Realisierung der Teilnehmenden gewandelt hat. Dabei wird forschend-historisches Lernen hier als eine Lernform gemäßigt-konstruktivistischer Prägung verstanden, die in struktureller und logischer Analogie zum disziplinspezifischen Erkenntnisprozess auf den Auf- und Ausbau der Fähigkeit zur Sinnbildung über Zeitkontingenzerfahrung zielt. Idealiter ist ein solcher Lernprozess dann als vollständig zu bezeichnen, wenn er neben seinem Vollzug auch die (Selbst-)Reflexion umfasst. Er wird zumeist in strukturiert-offenen Lernkontexten realisiert.24 Modelliert entlang des »[d]ynamische[n] Modells des Geschichtsbewusstseins«25 fungiert die Definition als Idealtyp im Weber’schen Verständnis und hat auch im Folgenden eine heuristische Funktion.26 Forschungspragmatische Erwägungen legen dabei nahe, sich, wie die oben benannten Vorarbeiten, der Leitfrage unter Fokussierung auf Oral History als Medium und Methode anzunähern. Denn forschend-historisches Lernen wird am Medium27 als Material und in der methodischen Regelung der in dessen Verarbeitung zur Anwendung gebrachten Operationen, d. h. anhand der zur Anwendung kommenden regelhaften und medienspezifischen Verfahrensweise, beschreib- und analysierbar. Die Fruchtbarkeit der verbundenen Betrachtung 22 23 24 25 26
Borries 2005, S. 173. Vgl. Jäger 2001, S. 82. Vgl. Brügelmann 1997. Hasberg 2005, S. 696. Vgl. Weber 1968, S. 42f., 50. Für ausführlichere Hinweise zu Konzeptsverständnis und -modellierung vgl. Greven 2020, S. 199–201. 27 Vgl. Pandel 1979, S. 12.
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von forschend-historischem Lernen und Oral History resultiert außerdem aus der »Ambiguität des Zeitzeugenberichts als Quelle und Darstellung.«28 Die Wahrnehmung dieses Doppelcharakters kann bei Berücksichtigung der Oral History im re- und de-konstruktive Annäherungen29 umfassenden forschendhistorischen Lernprozess den Einblick in »die Logik und Funktion der Historie«30 befördern. Eine Herausforderung stellt hingegen die mehrfach empirisch nachgewiesene Schwierigkeit der Lernenden zum kritischen Umgang mit Aussagen von Zeitzeug*innen dar.31 Damit ist in der Rezeption der vorliegenden Ergebnisse zu bedenken, dass insgesamt ein Geschichtslernen höchsten Anspruchs in den Blick rückt.
2.
Zur Entfaltung des Konzeptverständnisses in Geschichtsdidaktik und Geschichtswettbewerb
Die eingeführte Definition forschend-historischen Lernens ist Ausdruck des gegenwärtigen Standes einer das Konzept betreffenden historischen Entwicklung im (westdeutschen32) geschichtsdidaktischen Diskurs seit den späten 1960erJahren. Eine Untersuchung i. w. S. konzeptbezogener, geschichtsdidaktischer Publikationen seit den späten 1960er-Jahren macht dementsprechend sichtbar, dass das Konzept ausgehend von einer zunehmenden Verdichtung, d. h. Ausschärfung des disziplinspezifischen Kerns, Perspektiverweiterungen erfahren hat.33 Den bis heute im Konzept wirkenden reformpädagogischen Überlegungen wandte sich die sich neuorientierende und -konstituierende Geschichtsdidaktik Anfang der 1970er-Jahre in einer Zeit des (bildungspolitischen und gesellschaftlichen) Aufbruchs zu.34 Die Aufmerksamkeit, die die reformpädagogischen Ansätze dabei erhielten, war neu akzentuiert. Denn sie war, angeregt insbesondere durch den US-amerikanischen Lehr-Lern-Diskurs seit den späten 1960er28 Bertram 2016, S. 69 [Herv. i. O.]. Vgl. Grosch 2018, S. 75f. 29 Hier und im Folgenden wird bei einem Verweis auf Aspekte der Makro-Operationen, die in der Interaktion Lernender mit Zeitzeug*innenaussagen feststellbar sind, Formulierungen wie de-konstruktive Annäherungen gewählt. Dies soll anzeigen, dass die Teilnehmenden in den konkret betrachteten Sinneinheiten nur Teilaspekte der Makro-Operationen in der Verarbeitung der Zeitzeug*innenaussagen beachten. 30 Borries 2005, S. 171f. 31 Vgl. z. B. Bertram 2017, S. 139–141. 32 Die Begrenzung auf den westdeutschen Diskurs wird hier als zielführend erachtet, da dessen damaliger Stand mit dem ersten gesamtdeutschen Wettbewerb 1990/91 zum allgemeinen Orientierungsrahmen erhoben wurde, vgl. Schneider 1992, S. 17. 33 Vgl. Schönemann 2007, S. 9–30. 34 Vgl. Heuer/Hasberg/Seidenfuß 2020, S. 73f.
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Jahren, kognitionspsychologisch und epistemologisch grundiert.35 Dementsprechend gelang es den Protagonisten um Karl Filser, diese Überlegungen, zunächst noch unter der Bezeichnung entdeckenden Lernens, bis zum Ende der 1970er-Jahre disziplinspezifisch zu elaborieren.36 Denn im Diskurs lässt sich bereits zu dieser Zeit die Festlegung auf die Einsicht in die Erkenntnislogik der Historie als Kern des Konzepts feststellen.37 Die Verdichtung dieses Kerns, d. h. dessen weitere disziplinspezifische Ausschärfung, verlief anschließend über zwei Schritte: Zunächst erfolgte die Abkehr von der starken Fokussierung auf das Einüben (nur teilweise fachspezifischer) Arbeits- und Verfahrensweisen hin zu einer Konzentration auf die Entwicklung historischer Grundoperationen.38 Fußend auf dieser Festlegung auf die Operationen wurde schließlich der Kern im Zuge der konstruktivistisch-narrativistischen Wende seit den 1980er-Jahren weiter ausdifferenziert.39 Dieser Wende entsprechend erfolgte in den späten 1990er- bzw. frühen 2000er-Jahren eine wesentliche Perspektiverweiterung.40 Forschend-historisches Lernen bedeutet seitdem in den normativ-theoretischen Überlegungen explizit41 nicht mehr nur re-konstruktive Quellenarbeit, sondern auch de-konstruktive Beschäftigung mit geschichtskulturellen Sinnangeboten. Nicht immer unter enger, insbesondere nicht abbildhafter Orientierung an diesem je gegenwärtigen, konzeptbezogenen, geschichtsdidaktischen Diskurs, konsequent jedoch unter Ausrichtung an der Leitidee des Wettbewerbs, eines lokal-, regional-, oder biografiegeschichtlichen Lernens mit demokratiepädagogischem Impetus, entfaltete sich auch das wettbewerbsseitige Verständnis. Der Entfaltungsprozess lässt sich durch eine Analyse der für die oben beschriebene Strukturierung der Offenheit wesentlichen Begleit- und Unterstützungsmaterialien sichtbar machen,42 wenn sie um weitere Dokumente, wie Quellen der wettbewerbsinternen Kommunikation, ergänzt werden. Diese Ergänzung ist förderlich, weil sie die Materialien als verdichtetes Kompromissprodukt verschiedener an der Herstellung beteiligter Gremien (und ihrer Interessen) offenlegen.43 In der Betrachtung des Entfaltungsprozesses erweist sich eine Unterscheidung von drei Phasen als dienlich. Denn in der ersten Phase, die bis zum letzten 35 36 37 38 39 40 41 42 43
Vgl. John 2011, S. 193. Vgl. z. B. Filser 1979. Vgl. z. B. Huhn 1977, S. 304. Vgl. Filser 1979, S. 56. Zum Verhältnis von Operationen und Verfahrensweisen vgl. z. B. Rüsen/Jaeger 1994, S. 104. Vgl. Heuer/Hasberg/Seidenfuß 2020, S. 79f. Hasberg 1997, S. 724–726; Loos/Schreiber 2004, S. 722–726. Denkmöglich war ein solches forschend-historisches Lernen auch bereits früher, vgl. dazu Borries 2005, S. 173. Gemeint sind hier u. a. die Spurensuchen-Hefte mit Aufgabenstellungen sowie inhaltlichen und methodischen Hinweisen, vgl. z. B. Körber-Stiftung 2020. Vgl. Galinski/Lachauer 1982, S. 19.
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Wettbewerb der ersten Wettbewerbsreihe »Zum Verständnis deutscher Freiheitsbewegungen« 1975/76 andauerte, kommunizierten die Wettbewerbsverantwortlichen ein Verständnis des Konzepts, welches einem wenig disziplinspezifischen entdeckenden Lernen entsprach. Es verlangte von den Teilnehmenden vor allem ein Suchen, Sammeln, Collagieren und Kommentieren von Materialien, zugleich aber auch, dem Heinemann’schen Gründungsanliegen einer demokratiepädagogischen Wirkung44 entsprechend, einen Bezug auf die gesellschaftliche oder persönliche Gegenwart und Zukunft. Letzteres fiel den Teilnehmenden allerdings bereits in der ersten Ausschreibung so schwer, dass Gustav Heinemann sich im Austausch mit erfolgreichen Teilnehmenden aufgefordert sah, dieses Anliegen zu rechtfertigen und zu konkretisieren.45 Trotz dieser Schwierigkeiten beim Bezug auf Gegenwart und Zukunft mussten die Wettbewerbsverantwortlichen schließlich eingestehen, dass insbesondere die Spitzenbeitragenden nicht bei diesem Verständnis, also bei einer Zusammenstellung und Kommentierung stehenblieben. Im Rahmen der inhaltlichen Neuausrichtung des Wettbewerbs durch Loslösung von demokratiegeschichtlichen Themen im engeren Sinne ist daher ein Bemühen feststellbar, das Konzept wissenschaftsorientiert auszuschärfen.46 Dementsprechend begann mit der neuen Wettbewerbsreihe »Zur Sozialgeschichte des Alltags« 1977/78 die Entfaltung eines Verständnisses forschend-historischen Lernens, wie es vor dem Hintergrund der besonders bedeutsamen lokal- und regionalgeschichtlichen Ausrichtung quasi bis heute leitend ist. Für diese Phase ist dabei das Bestreben der Wettbewerbsverantwortlichen kennzeichnend, die kritisch-interpretierende Leistung aufzuwerten.47 Dies zielte nicht nur darauf, dem in der gesamten Wettbewerbshistorie beklagten Defizit der Teilnehmenden zum distanzierendabwägenden Umgang mit den gefundenen Materialien zu begegnen, sondern auch darauf, den Widerspruch zwischen Förderung einer ›antiquarischen Sammlerlust‹ und der Forderung historisch-kritischer Beurteilung abzumildern. Dementsprechend entfaltete sich in der die längste Zeit der Wettbewerbshistorie überspannenden Phase – in Parallelität zum geschichtsdidaktischen Diskurs – ein Verständnis forschend-historischen Lernens als re-konstruktiver Prozess.
44 Vgl. Heinemann 1975, S. 38. 45 Stefan Bartmann/Karl-Josef Mertes, »War Opa Revolutionär?« Filmbeitrag zur Ausschreibung des Geschichtswettbewerbs des Bundespräsidenten 1974/75 (5. 1. 1975). WDR Dokumentation und Archive, Köln, Nr. 0014537, 30:14–30:22. 46 Vgl. Reinhard Rürup, »Gustav-Heinemann-Preis für die Schuljugend«. Vorschläge für eine neue Themenreihe (22. 3. 1976). Archiv der Körber-Stiftung, Hamburg, HHKRST01–001331, S. 2. 47 Vgl. bspw. Kurt A. Körber Stiftung, Schülerwettbewerb Deutsche Geschichte um den Preis des Bundespräsidenten. Alltag im Nationalsozialismus. Vom Ende der Weimarer Republik bis zum Zweiten Weltkrieg. Lehrerheft (1980). Archiv der Körber-Stiftung, Hamburg, S. 6.
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In dieser zweiten Phase entwickelte sich auch die Oral History zu einem wissenschaftsorientierten Ansatz, dessen Produkte mehr sein konnten als eine »exotische Bereicherung der Quellenbasis«48. Er zeigte sich schließlich im Wettbewerb 1994/95 »Ost-West/West-Ost-Geschichte(n) – Jugendliche fragen nach« zur deutsch-deutschen Diktaturerfahrung49 voll entwickelt.50 Katalysierend wirkten dabei die Erfahrung von Naivität und Überforderung der Teilnehmenden bei Zeitzeug*innenbefragungen vor allem in den zeitgeschichtlich heiklen Wettbewerben der frühen 1980er-Jahre zur Alltagsgeschichte des Nationalsozialismus.51 Die Ausführungen zur Oral History zeichneten sich, eingebettet in das für die zweite Phase charakteristische, re-konstruktive Verständnis forschend-historischen Lernens, insgesamt durch das Bemühen aus, die Teilnehmenden aufgrund der spezifischen Eigenschaften von Zeitzeug*innenerzählungen (z. B. Retroperspektivität) für die Notwendigkeit zu sensibilisieren, diese in einem Netzwerk der reziproken Kritik mit weiteren Medien zu verarbeiten. Hinweise auf den Doppelcharakter als Quelle und Darstellung, insbesondere auf die für den Erkenntnisprozess daraus resultierenden Konsequenzen finden sich hingegen nur selten. Zeitzeug*innenaussagen werden vornehmlich als »mündliche Quellen«52 verstanden. Hinweise auf den darstellenden Charakter und den daraus resultierenden Bedarf der de-konstruktiven Annäherungen sind jedoch in der sich abzeichnenden dritten Phase verstärkt nachweisbar. So wird in der jüngsten Ausgabe des auch für die Wettbewerbsarbeit auf Initiative der KörberStiftung erstmals 1997 erstellten und inzwischen in der dritten Auflage vorliegenden Spurensucher-Handbuchs darauf hingewiesen, dass Zeitzeug*innenaussagen »immer ein Produkt aus erlebter Vergangenheit und nachträglicher Erinnerung bzw. Deutung [seien]«53, weshalb sie auch einen wichtigen Beitrag »zur Analyse von Geschichte als nachträglichem Konstrukt«54 leisten könnten.
48 Siegfried 1995, S. 111. 49 In der Vorbereitung des Wettbewerbs 1994/95 beunruhigte die Wettbewerbsverantwortlichen der Umstand, dass »bei der Befragung von Zeitzeugen […] weder zeitliche noch innere Abständigkeit angenommen werden« konnte, weshalb zusätzliche »Sicherungen gegen eine allzu kritiklose Übernahme von Legenden und Rechtfertigungsstrategien« angezeigt schienen. Siegfried 1995, S. 117. 50 Vgl. z. B. Plato 1994. 51 Insbesondere das Kuratorium um den damaligen Bundespräsidenten Karl Carstens wollte jeden Eindruck vermeiden, »daß affirmative oder verharmlosende Auffassungen über den Nationalsozialismus […] zu Lernzielen des Wettbewerbs gehör[t]en«. Galinski/Lachauer 1982, S. 20. 52 Herbert 1990, S. 66. 53 Erbar 2014, S. 115. 54 Ebd., S. 111.
Kontinuität (nicht ohne Veränderungen)?
3.
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Studiendesign und Sample
Vor dem Hintergrund des über die Zeit veränderlichen geschichtsdidaktischen und wettbewerbsseitigen normativ-theoretischen Entwurfs des Konzepts kann es auch in seiner sich in den Wettbewerbsbeiträgen abzeichnenden praktischen Realisierung als dynamisch, d. h. über die Zeit veränderlich, angenommen werden. Als Manifestationen der praktischen Realisierung werden dabei die Wettbewerbsbeiträge verstanden. Sie sind als ausführliche Schüler*innennarrationen zu verstehen, die sowohl aus dem individuellen historischen Orientierungsbedürfnis oder Forschungsinteresse der Lernenden als auch aus deren Streben nach einer Prämierung resultieren und die angeregt durch sowie in Zuschnitt auf das jeweils ausgeschriebene Wettbewerbsthema in mehrmonatiger Arbeit erstellt werden. Das der Studie zugrundeliegende Sample stellt dabei eine kombiniert bewusste und systematische Auswahl von Schüler*innenbeiträgen aus acht Wettbewerbsrunden dar (1974/75, 1978/79, 1982/83, 1988/89, 1994/95, 2000/01, 2006/07, 2012/13), weshalb die Studie in ihrem Design als retrospektive Längsschnittstudie bezeichnet sein soll. Die Studie berücksichtigt 16855 Einreichungen, die von Teilnehmenden der Klassen 9 und 10 sowie der Sekundarstufe II verfasst und mit einem der ersten drei Bundespreise ausgezeichnet wurden.56 Vor dem Hintergrund der oben angedeuteten, für den geschichtsdidaktischen Diskurs erschlossenen Perspektiverweiterungen sowie der idealtypisch entlang des dynamischen Modells des Geschichtsbewusstseins modellierten Definition wurde die Analyse der Beiträge dabei u. a. von der Annahme geleitet, dass die Lernenden forschend-historisches Lernen über die Zeit zunehmend reflektierter denkend vollziehen, das heißt, sich im forschend-historischen Lernprozess stärker auch de-konstruktiv dem Material annähern, insofern als darin das in den induktiven, re-konstruktiven Prozessen Erlernte zur Anwendung57 kommt.58 Die Analyse der zunächst nach Wettbewerbsrunden gruppierten und nach Sekundarstufen differenzierten Beiträge vor dem Hintergrund u. a. dieser Hypothese erfolgt integrativ inhaltsanalytisch.59 Die Inhaltsanalyse wird entlang 55 Dass im Vergleich zur Vorstudie, die in ihren Ergebnissen veröffentlicht wurde, eine geringere Anzahl von Beiträgen berücksichtigt wurde, resultiert daraus, dass durch die strikte Anwendung des Kriteriums Oral History als Medium und Methode vorhanden in der Gesamtauswertung zusätzliche Beiträge ausgeschlossen wurden. 56 Für ausführlichere Hinweise zum Sampling sowie zum Kategorienraster vgl. Greven 2020, S. 202f. Beachtet wurde in der Studie der Umstand, dass die Jahrgangsstufe 10 zu mancher Zeit und in bestimmten Bundesländern der Sekundarstufe II zugeordnet wird. 57 Vgl. Aebli 2011. 58 Vgl. Hasberg 1997, S. 724; Greven 2020, S. 203. 59 Vgl. Früh, 2017. Die Untersuchungsmaterialien wurden für den Forschungszweck digitalisiert und mit Hilfe von MAXQDA 2018/2020 ausgewertet. Die Daten wurden in SPSS weiterverarbeitet.
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Lukas Greven
eines deduktiv entworfenen Kategorienrasters, welches in Zuschnitt auf die Eigenheiten der Schüler*innenbeiträge als akzidentale Materialien induktiv modifiziert, ergänzt und erweitert wurde,60 computergestützt vorgenommen. Die so erzeugten Aggregatdaten werden anschließend deskriptiv-statistisch ausgewertet und aufbereitet.61 Die individuellen Beiträge werden weiterhin mit Hilfe einer hierarchischen Clusteranalyse unter Verwendung der Ward-Methode untersucht. Diese gruppiert die Beiträge hinsichtlich ihrer Ähnlichkeit in der prozentualen Häufigkeit von sechs, der im dynamischen Modell zentralständigen Sechser-Matrix nach der Forscher*innengruppe FUER-Geschichtsbewusstsein entlehnten Obercodes.62 Damit werden die Beiträge in diesem Schritt letztlich hinsichtlich ihrer Ähnlichkeit in der forschend-historisch lernenden Verarbeitung von Zeitzeug*innenerzählungen geordnet.
4.
Ausgewählte Erkenntnisse der Untersuchung der Wettbewerbsbeiträge
Geht es in einer ersten Annäherung darum, die Oral History Praxis im Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten in ihrer äußeren Gestalt zu kennzeichnen, so stechen über alle Wettbewerbe hinweg vier wesentliche Merkmale heraus: Die Arbeit mit Zeitzeug*innen meint in den Beiträgen des Geschichtswettbewerbs, der Unterscheidung William W. Cutlers folgend, active oral history,63 welche die Teilnehmenden in Form (teil-)strukturierter Interviews mit familienexternen Personen realisieren,64 wobei sie vor allem faktenbezogene65
60 Vgl. Atteslander 1975, S. 65. 61 In einer auf die Vorstudie folgenden Berechnung einer Intercoder-Übereinstimmung in Form des erweiterten Kappa-Koeffizienten konnte ein Übereinstimmungswert von κn=.78 erreicht werden. Vgl. Brennan/Prediger 1981. 62 Vgl. Hasberg 2003, S. 138. 63 Vgl. Cutler 1970, S. 158. 64 Diese Klassifikation wurde im Verhältnis zu den Beitragenden vorgenommen. Vor dem Hintergrund der Einschätzung der Wettbewerbsverantwortlichen, dass in den Beiträgen vor allem Familienmitglieder befragt werden, mag dieser Befund verwundern. Er wird aber als Konsequenz der Jurierungspraxis des Wettbewerbs verständlich, in welcher ein allzu unkritischer Umgang gerade im Spitzenpreisbereich sanktioniert werden wird, der – z. B. den Erkenntnissen Harald Welzers u. a. folgend – aufgrund des besonderes stark ausgeprägten Loyalitätsempfindens im Familienkontext bei Befragungen von Familienmitgliedern häufiger sein wird. Vgl. Domansky/Welzer 1999, S. 7. 65 Da von einem eher (neo-)positivistischen oder (neo-)historistischen Geschichtsverständnis der Teilnehmenden ausgegangen wird, wird der Faktenbegriff hier und im Folgenden hervorgehoben. Denn er weicht vom der Studie zugrundeliegenden Verständnis im Sinne von factum (Partizip Perfekt Passiv), d. h. etwas (durch die historisch Forschenden) Gemachtem, ab. Vgl. Hasberg 2020, S. 33, 48.
Kontinuität (nicht ohne Veränderungen)?
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Fragen stellen. In Parallelität zur Geschichts- und Unterrichtskultur dominiert somit eine sach- und geschehensorientierte Befragungspraxis.66 Daher ist es kaum verwunderlich, dass sich bei einer deskriptiv-statistischen Auswertung der forschend-historisch lernenden Verarbeitung der Zeitzeug*innenaussagen über alle Wettbewerbe hinweg zeigt, dass die Teilnehmenden in 60 % (Sek I: 66,9 %; Sek II: 58 %) aller Interaktionen mit Zeitzeug*innenaussagen vor allem um eine rekonstruktive Annäherung an Vergangenheit bemüht sind. De-konstruktive Annäherungen sind insgesamt von untergeordneter Bedeutung. Auch die »Orientierung in der Gegenwart und für die Zukunft durch forschend[-historisch]es Lernen«67 scheint den Teilnehmenden – in Parallelität zu entsprechenden Erkenntnissen zum schulischen Geschichtslernen i. e. S.68 und trotz aller entgegenlaufender Bemühungen der Wettbewerbsverantwortlichen seit der ersten Ausschreibung – schwer zu fallen. Dabei bedeutet diese Beobachtung nicht, dass sich keine gegenwarts- und zukunftsbezogenen Schlussfolgerungen in den Beiträgen finden. Vielmehr werden sie häufig nicht unter konkretem Rückbezug auf die forschend-historisch lernend verarbeiteten Materialien, d. h. »ohne Sachbasis«69 formuliert. Die Lernenden weisen eine Neigung dazu auf, materialanalyseentkoppelte allgemeine Überlegungen anzustellen, also, in Anschluss an Ulrich Herberts Formulierung im Rahmen der Auswertung des Wettbewerbs 1980/81, »lebensphilosophisch[e] Lehren aus der Geschichte«70 zu ziehen (Abb. 1). Diese globalen Beobachtungen zeigen sich auch als überzeitlich gültig. Dabei ist eine Dominanz re-konstruktiver Annäherungen in der Fokussierung auf Vergangenheit für alle untersuchten Wettbewerbe zu konstatieren.71 Die feststellbaren Schwankungen lassen sich durch einen Faktorenkomplex annähernd erklären, in welchem dem jeweiligen Thema des Wettbewerbs eine grundlegende Bedeutung zukommt (Abb. 2). Mit diesen Erkenntnissen geht es überein, wenn den in die Beiträge eingebundenen Zeitzeug*innenaussagen insgesamt vor allem eine affirmative (34,9 %; Sek I: 27 %; Sek II: 37,4 %) respektive illustrativ-exemplifizierende (30,7 %; Sek I: 32,2 %; Sek II: 30,2 %) Funktion beikommt und diese Feststellung für alle untersuchten Wettbewerbsrunden gilt. Vor dem Hintergrund dieser exemplarischen Ergebnisse scheint es unter Beachtung der Vorläufigkeit der Erkenntnisse angezeigt, die oben aufgeworfene 66 67 68 69 70 71
Siehe dazu z. B. die Beobachtungen bei Morgan 2021. Borries 2014, S. 388. Vgl. Schönemann/Thünemann/Zülsdorf-Kersting 2011, S. 68. Ebd., S. 70. Herbert 1982, S. 25. Da eine Differenzierung nach der Sekundarstufe der Beitragenden bei Betrachtung der ausgewählten Aspekte vergleichbare und der globalen Tendenz entsprechende Ergebnisse erzielt, wird hier im Sinne der Lesbarkeit auf eine solche verzichtet.
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Lukas Greven Fokussierung auf Vergangenheit – Re-Konstruktion Fokussierung auf Vergangenheit – De-Konstruktion Fokussierung auf Geschichte – Re-Konstruktion Fokussierung auf Geschichte – De-Konstruktion Fokussierung auf Gegenwart/Zukunft – Re-Konstruktion
Gesamt Sekundarstufe I Sekundarstufe II
Fokussierung auf Gegenwart/Zukunft – Re-Konstruktion 0
10
20
30
40
50
60
70
Abb. 1: Anteil der re- und de-konstruktiven Annäherungsweisen an Oral History als Medium in der entsprechenden Fokussierung insgesamt sowie bei Differenzierung nach Sekundarstufen [Anteil in %].
80 80 75 75 70 70 65 65 60 60 55 55 50 50 25 25 20 20
15 15 10 10 55 00
1974/75 1978/79 1978/79 1982/83 1982/83 1988/89 1988/89 1974/75
1994/95 1994/95
2000/01 2000/01 2006/07 2006/07 2012/13 2012/13
Abb. 2: Anteil der re- und de-konstruktiven Annäherungsweisen an Oral History als Medium in der entsprechenden Fokussierung insgesamt über die hier berücksichtigten Wettbewerbsrunden hinweg. [Anteil in %; Legende siehe Abb. 1].
Hypothese in ihr Gegenteil zu verkehren: In der praktischen Realisierung forschend-historischen Lernens mit Oral History wird – wie sich bereits in der
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Kontinuität (nicht ohne Veränderungen)?
Vorstudie abzeichnete72 – hinsichtlich der betrachteten Merkmale trotz der Veränderungen auf normativ-theoretischer Ebene eine Kontinuität offenkundig. Es zeigt sich insgesamt ein forschend-historisches Lernen, das weitestgehend mit dem oben dargestellten Verständnis der zweiten Phase deckungsgleich ist. Allerdings zeichnet sich über die Zeit auch eine ansatzweise entwickelte Sensibilität der Teilnehmenden für den Darstellungscharakter von Zeitzeug*innenaussagen ab (Abb. 1&2). Denn in allen Wettbewerbsrunden lassen sich dekonstruktive Annäherungen der Teilnehmenden an die Zeitzeug*innenerzählungen feststellen. Diese Beobachtung bestätigt sich in einer hierarchischen Clusteranalyse, in welcher sich drei Cluster von Beiträgen zeigen, zwischen denen die Mittelwerte der sechs fokussierten Obercodes, hochsignifikant (alle p