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German Pages [281] Year 2022
Beiträge zu Grundfragen des Rechts
Band 40
Herausgegeben von Stephan Meder
Stephan Meder (Hg.)
Geschichte und Zukunft des Urheberrechts III
V&R unipress
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2022 Brill | V&R unipress, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau und V&R unipress. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2198-5405 ISBN 978-3-7370-1453-3
Inhalt
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Renate Frohne Teque plagiaria lege convenire possum. Der letzte Abschnitt des Vorwortes zu Buch II der Elegantiarum linguae latinae libri VI von Lorenzo Valla (vor 1450) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Rainer Nomine Nicolaische Buchhandlung gegen Matthias Becker und andere. Oder: Die wilde verwegene Jagd auf Theodor Körner’s sämmtliche Werke . . . .
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Thomas Gergen Der „Courrier du Grand-Duché de Luxembourg“ (1844–1868) und die Pressezensur im Großherzogtum Luxemburg seit 1834 . . . . . . . . .
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Thomas Rüfner Der Pestfloh-Professor. Zur Ginsengwurzel-Entscheidung des Bundesgerichtshofs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Bastiaan D. van der Velden Jaray, Patents as global property . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 Christoph Sorge Adversus Mediatores. Wenzel Goldbaums Kampf für ein Kernurheberrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 Natalia Theissen Künstliche Intelligenz und Urheberrecht zwischen Gegenwart und Zukunft. Auf der Suche nach dem Urheber der KI-generierten Werke
. . 165
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Inhalt
Alexander Ihlefeldt Regulierte Selbstregulierung im Urheberrecht durch Rechtsprechung. Eine Untersuchung am Beispiel der Internet-Intermediären und den Nutzern von Open Source Software . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 Kostas N. Christodoulou Zur Interrelation zwischen Urheber- und Datenschutzrecht . . . . . . . . 195 Stephan Meder Provenienzforschung als Disziplin der Rechtsgeschichte: Zentralismus und Pluralismus innerhalb der kolonialrechtlichen Debatten um 1900 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 Christoph-Eric Mecke Kulturgüter kolonialer Provenienz in Deutschland: Rechte auf Restitution? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 Albrecht Götz von Olenhusen A Fellow of Infinite Jest, of Most Excellent Fancy… – Nachruf auf Rechtsanwalt Dr. Klaus Neuenfeld, Weimar 17. 12. 1935–19. 5. 2021 Autorenverzeichnis
. . . . 269
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273
Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277
Vorwort
Im September 2021 sollte in Hannover die 19. Tagung des Arbeitskreises „Geschichte und Zukunft des Urheberrechts“ stattfinden. Im Zuge der Corona-Pandemie wurden die Pläne leider durchkreuzt. Um den Referentinnen und Referenten dennoch eine Publikationsgelegenheit für ihre teils schon ausgearbeiteten Vorträge zu bieten, hatte sich der Herausgeber kurzfristig dazu entschlossen, den Band III auch ohne Tagung und wissenschaftlichen Austausch auf den Weg zu bringen. Die Beiträge spannen einen weiten Bogen von der Vergangenheit in die Zukunft. Sie reichen von einem Plagiatsfall des ‚klagenden‘ Humanisten Lorenzo Valla über den Nachdruck von Theodor Körners Werken bis zur Luxemburgischen Pressezensur im 19. Jahrhundert und erörtern urheberrechtliche Fragen der Künstlichen Intelligenz, der Nutzung von Open-SourceSoftware und des geltenden Datenschutzrechts. Daneben finden sich drei Beiträge zu benachbarten Disziplinen des Urheberrechts, die historische Schlaglichter besonders auf den Schutz des allgemeinen Persönlichkeitsrechts, auf das Patenrecht und auf die Leistungsschutzrechte werfen. Zwei Beiträge zum Kunstrecht, hier der Provenienzforschung, sind im Rahmen des von der VolkswagenStiftung geförderten PAESE-Verbundprojekts mit dem Landesmuseum Hannover entstanden. Im Mittelpunkt stehen dabei aktuelle Themen wie etwa der Zusammenhang zwischen Kulturgüterschutz im Privatrecht, Selbstregulierung von Museen und internationalen Menschenrechten sowie der Kontrast von kolonialer Jurisprudenz und rechtsethnologischer Forschung um 1900. Alle Beiträge machen deutlich, dass der zu allen Zeiten bestehende Interessenkonflikt zwischen Werkschöpfer, Verwerter und Nutzer sowie zwischen Exklusivitäts- und Zugangsinteressen mit vorgefertigten Schablonen nicht zu lösen ist. Mit einem Blick ‚zurück nach vorn‘ liefern sie Anstöße zum Nachdenken über ein künftiges Urheberrecht.
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Vorwort
Der Band schließt mit einem Nachruf auf Klaus Neuenfeld, der im letzten Jahr verstarb. Als langjähriger Teilnehmer hat er den Arbeitskreis mit einer Vielzahl von Vorträgen und Publikationen zur Urheberrechtsgeschichte sehr bereichert. Hannover, im Juni 2022
Stephan Meder
Renate Frohne
Teque plagiaria lege convenire possum. Der letzte Abschnitt des Vorwortes zu Buch II der Elegantiarum linguae latinae libri VI von Lorenzo Valla (vor 1450)
I.
Zur Erinnerung
Bei dem großen Umfang der altgriechischen Literatur, ihrer Vielfalt und der weiten Verbreitung der griechischen Sprache in hellenistischer Zeit, in den drei Jahrhunderten vor der Zeitenwende, einer Zeit des durch die dicht verzweigten Verkehrswege erleichterten geistigen Austausches, konnte es kaum ausbleiben, dass Älteres und zeitnah Gesagtes gelegentlich von den unredlichen Rezipienten aufgegriffen wurde, die den bescheideneren Horizont ihrer eigenen Arbeiten durch Plagiate erweitern wollten. Das ist erforscht; die Textstellen sind bekannt1. Schon im 6. Jh. v. Chr. wünschte sich Theognis, er könnte seine Elegien mit einem Siegel vor Diebstahl schützen. Man sprach von kléptein, stehlen, logoklopia, Wort-/Gedankendiebstahl; andrapodizein meinte sowohl ‚entführen‘ wie ‚Kriegsgefangene in die Sklaverei führen‘2, das Adjektiv plagios ‚schräg/seitlich‘, im übertragenen Sinn ‚unredlich/hinterlistig‘ und auch ‚metaphorisch‘. In Rom wurden die ersten Plagiatsvorwürfe (transferre) 166 v. Chr. gegen den Komödien-Dichter Terenz erhoben. Das lateinische plagiarius3, Entführer, ist seit Cicero belegt; bei Seneca (De tranquillitate 8,4) zählen plagiarii zu jenen, die Andere einkreisen, um ihnen etwas zu entwenden, und erscheinen im 1. Brief an Timotheos (1,10 Vulgata) mit Mördern, Lügnern und ‚Schmutzigen‘ in der Reihe der dem Gesetz Fernen. Im Codex Iustinianus 9,20,1 steht das Nomen plagium; die plagiarii in 9,20,7 bezeichnen Diebesbanden und Menschenhändler (Mommsen S. 780/1); in 9,20,16 leitet der Begriff den Kindes-Entführer betreffenden GesetzesText4 ein. In der Collatio legum Mosaicarum et Romanarum (14,3 § 6) befindet sich 1 2 3 4
Chr. H. Brecht: Plagium, in RE; A. Berger: Lex Fabia, in RE; K. Ziegler: Plagiat, in RE und DKIP. G. Thür: Andrapodistes, in DNP; P. A. Cartledge: Sklavenhandel, in DNP. Vgl. III.5; III.11 Fazit; Cicero: Ad Quintum fratrem 1,2,2 § 6. Dig 48,15 De lege Fabia de plagiariis; Codex 9,20 Ad legem Fabiam; Inst 4,10,18. Im Recht findet sich folgender Sprachgebrauch: Codex 9,20,2 legis Fabiae crimen; 9,20,8 plagii crimen; Dig 48,15,6 furti [crimen]; Inst 4,10,9 liberorum hominum furtum; Codex 9,20,16 plagiarii, qui viventium filiorum miserandas infligunt parentibus orbitates; Codex 9,20,11 abducti plagio
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Renate Frohne
das Nomen plagiator, das bei Hieronymus einem Verführer gilt; es gibt auch das Femininum: die Liebesgöttin ist eine plagiaria. Rund 1400 Jahre nach dem römischen Dichter Martial5, der in einigen Epigrammen einen Dieb seiner Texte anprangert, verwendet der italienische Humanist Lorenzo Valla6 im Vorwort zu Buch II seiner Elegantiae die Verbindung plagiaria lex in einer Anspielung auf Martial; (III.11 Fazit). Damit wird der Begriff berühmt und geht – zunächst noch neben der Bedeutung ‚Strafverfolgung eines Entführers‘ – als Bezeichnung für den Diebstahl geistigen Eigentums in die Neuzeit.
II.
Martials Epigramme gegen seinen Plagiator
In Buch I seiner Epigramme klagt Martial7 einen Dieb seiner Texte an, der das Diebesgut als Eigenschöpfung ausgibt und sogar in Lesungen damit vor die Gäste tritt. Martial bezeichnet seine Büchlein, libelli8, metaphorisch als von ihm freigelassene Sklaven9, die ihrem Patron aber weiterhin in bestimmten Bereichen verpflichtet sind. Der mit dem fingierten ironischen Namen Fidentinus (fides, Treue) gekennzeichnete Dieb, plagiarius, hat sie aufgegriffen und sich dienstbar gemacht. Martial bittet seinen Freund Quintianus, ihm als Beistand, adsertor, bei der Durchsetzung seiner Interessen zu helfen10.
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facta venditio; Codex 6,2,10 (von 293 n. Chr.) stehen drei Begriffe: abducta manicipia furto vel – d. h. bzw. – plagio. RömLitGesch II S. 555; W. Maaz: Martial im Mittelalter, in LexMA. F. Bezner: Valla, in DNP Suppl. 9; D. Hoeges: Valla, in LexMA; M. Cortesi: Valla, in TRE; Blum S. 33–40; Keßler S. 72–88 Martial 1,52: Ich empfehle dir, Quintian, unsere/meine Büchlein sofern ich noch von unseren/ meinen reden kann, die dein Dichter rezitiert. Wenn sie sich über die schwere Knechtschaft beklagen, komm’ dann als Beistand und leiste Gewähr, und wenn jener sich Eigentümer nennen wird, sage, dass die Büchlein die meinen sind, und freigelassen. Wenn du das dreioder viermal [förmlich] ausgerufen hast, wirst du dem plagiarius, Entführer, Anstand beibringen. Martial 1,53: Eine Seite, Fidentinus, ist in unseren Büchlein von dir, aber gezeichnet von der unbestreitbaren Art des Eigentümers, die deine Gedichte eines offenkundigen Diebstahls überführt; [gekürzt: stehen sie doch da wie irdene Ware neben Kristall, ein Rabe neben Schwänen, die Elster neben einer Nachtigall]. Unsere/meine Büchlein bedürfen … keines Richters; deine Seite steht dir gegenüber und sagt dir ‚ein Dieb bist du.‘ Vgl. Anm. 5; es gab wohl schon frühere Gedichte, die Martials Namen bekannt gemacht hatten. D. Schanbacher: Mancipatio; Mancipium, in DNP; Kaser II Register; KLB § 15 Sklaven; § 16 Freilassung. C. Paulus: Adsertor, in DNP; HS Adserere; Adsertio; Adsertor.
Teque plagiaria lege convenire possum
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III.1. Lorenzo Valla (1404/7? – 1457) Elegantiarum linguae latinae libri VI. Aus dem Vorwort zu Buch II Das rund vier Druckseiten füllende Vorwort – nicht aus einem Guss (DNP Suppl 9, Sp. 1111; Sp. 1008 zwischen 1435 und 1449) – widmet sich zwei Themen; die Erinnerung Vallas an die Begegnung mit seinem Plagiator ( ab III.2) ist eine das zweite Thema ergänzende Episode. Die Gedanken bewegen sich von der Antike bis in Vallas Gegenwart. Durch die Partikel quamquam (ergänzend, berichtigend, ‚wohlgemerkt‘, III.1fin), quare (anknüpfend, III.11) und igitur (nach einem Einschub anknüpfend, III.11) sind die Scharniere der ‚Montage‘ deutlich zu erkennen. Die Teilstücke stammen also aus verschiedenen Arbeitsphasen, enthalten aber keinen Hinweis auf eine genaue Datierung. Die ersten beiden Seiten füllt eine lange Aufzählung antiker und mittelalterlicher Autoren, die Werke über die lateinische Sprache und Grammatik verfassten; von Caesar (De analogia) über Donat und Isidor bis zu Papias (11. Jh.), Eberhard von Béthune und Hugotio von Pisa (beide frühes 13. Jh.). Letztere lehrten – so Valla – für viel Geld, dass man nichts wissen könne, und entließen den ihnen anvertrauten Schüler als einen einfältigen Toren. Im zweiten Teil geht es um die Unterstützung, die Valla von seinen Lehrern Giovanni Aurispa und Leonardo Bruni erfuhr. Nach einer ihnen vorgelegten Kostprobe, degustatio, der sich noch in einer frühen Arbeitsphase befindenden Elegantiae – begonnen in Pavia 1431–1433, weitergeführt in Mailand und Genua, 1435/6 in Ferrara und Florenz – rieten sie Valla, das Begonnene fortzusetzen und versicherten ihn ihres Beistandes; die Muße als Sekretär von König Alfons I. (V.; Lex MA Alfons 17.) in Neapel 1435–1447 ermöglichte es Valla, neben anderen Schriften auch die Elegantiae auszuarbeiten. Der Satz (III.1fin) ‚auf Fragen möchte ich antworten, dass ich dieses Werk auf Anraten der größten Männer [Aurispa; Bruni] abgefasst und herausgegeben habe‘, ist aus einer Retrospektive formuliert und setzt den Abschluss des ganzen Werkes voraus. Der Tod Brunis am 9. 3. 1444 wird im Vorwort zu Buch II aber nicht erwähnt; (DNP Suppl 9, SP. 1008)11. Der letzte mit quamquam, wohlgemerkt, beginnende Satz leitet zu der Episode über, der erinnernden Wiedergabe der Begegnung und des Gespräches Vallas mit seinem anonym gebliebenen Plagiator. Diese Begegnung wird in einer reiferen Phase der Arbeit an den Elegantiae stattgefunden haben, als Valla unterrichtete und Verluste schon ausgearbeiteter Passagen ihm einigen Kummer bereiteten; (III.4; III.7).
11 Vgl. die frühen Textausgaben, IV.1.
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Renate Frohne
Die Laudatio auf G. Aurispa und L. Bruni, die 1434/5 Valla zur Vollendung seines begonnenen Werkes der Elegantiae rieten Übersetzung, Gliederung, Zwischentitel, Auslegung von R. F.; (…) Quellenangaben, kurze Hinweise, Querverweise; […] Quellenangaben, Ergänzungen im Valla-Text, in den Gesetzes-Texten und Übertragungen; …/… Varianten; [Ms …] Lesarten in Vallas Autograph; der lateinische Text steht S. 32–33. Valla: Nichts ist immer und überall vollkommen. Nicht alle sind Alleskönner. Ich möchte aber auch dem nicht zustimmen, was Priscian meinte, nämlich, dass die jeweils ältesten Verfasser grammatischer Werke sich am meisten geirrt, die jüngeren sich hingegen bei weitem durch ihre Begabung und große Sorgfalt ausgezeichnet hätten. Nur das möchte ich betonen, was ich wahrheitsgemäß sagen kann, dass ich mich nicht so sehr aufgrund meines eigenen Wollens, das glühend war, auf dieses Werk eingelassen habe, als vielmehr aufgrund des Rates der klügsten und mir eng verbundenen Freunde, vor allem [Giovanni] Aurispas [um 1370–1459] und [Leonardo] Brunis [um 1370–1444] aus Arezzo12. Aurispa weckte meine Begabung durch seine Griechisch-Vorlesung, [d. h. ich lernte, griechische Texte zu lesen und zu verstehen], Bruni [nach 1426] durch seine Unterweisung in der lateinischen Stilistik. Jener [Aurispa] war mein Lehrer, denn er las allein für mich, dieser mein emendator, [mein intellektueller und moralischer] Förderer, jeder der beiden war für mich wie ein Vater. Als ich ihnen nämlich einmal – separat – von meinem Herzenswunsch erzählt und ihnen auch eine Kostprobe meines geplanten Werkes gezeigt hatte13, forderten sie mich ganz unabhängig von einander auf, das Begonnene fortzusetzen; sie hießen mich, es mit ihrer Befürwortung herauszugeben, so dass mir keine freie Hand blieb (III.11), mich ihrer Empfehlung zu widersetzen, hätte ich das gewollt; vielmehr spornten sie, wie man sagt, den Laufenden an. Ihr, die Ihr allen Lobes würdig seid, höchste Verdienste um die Wissenschaften und die Gelehrten erworben habt: Ihr fürchtet nicht, dass Andere dorthin kommen, wohin Ihr trotz des sehr steilen Weges gelangt seid; vielmehr ermahnt Ihr, entflammt Ihr und reicht, [frei von Bedenken], gleichsam aus der Höhe dem Hinaufsteigenden die Hand. Jenen, die Fragen stellen und meinen Wagemut bewundern, möchte ich zur Antwort geben, dass ich dieses Werk dank des Zuspruchs der bedeutendsten Gelehrten vollendet und herausgegeben habe. Wohlgemerkt: Was meine cupiditas, die Leidenschaft und den Enthusiasmus betrifft: Welch eine Gleichgültigkeit und auch welch Mangel an Energie hätte sich schließlich bei mir gezeigt, hätte ich zugelassen, dass ein Anderer mir mein Lob, wie es auch ausfallen mag, wegschnappen würde.
12 F. Schalk: Aurispa, in LexMA; G. Busetto: Bruni, Leonardo, in LexMA; F. Bezner: Bruni, in LexMA; Troje: Graeca leguntur, S. 283. – Bei der Arbeit an den In Novum Testamentum … Annotationes (1449) wurde Valla von Kardinal Bessarion mit seinen Griechisch-Kenntnissen unterstützt; (Hunger S. 555). 13 F. Bezner: Valla, in DNP Suppl 9, Sp. 1007/8 betr. die Elegantiae, mit komplexer Genese von 1435 bis 1449 (?). Das lateinische Wort elegantia bezeichnet die Feinheit, im literarischen Sinn die Richtigkeit des Ausdrucks nach dem Vorbild Ciceros; auch die Gründlichkeit der Arbeitsweise.
Teque plagiaria lege convenire possum
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III.2. In einer späteren Arbeitsphase sah Valla den Erfolg seiner Mühen durch ehrgeizige Plagiatoren gefährdet Valla: Es gibt [nämlich Leute], die einiges von dem, was von mir gelehrt bzw. [aus meinen Materialsammlungen vor einer Veröffentlichung schon mal] vorweggenommen wird14, entweder von mir [direkt in meinen Vorträgen] bzw. durch Weitergabe meiner Hörer Vernommenes, [eher belanglose Dinge], die ich nie zurückgehalten habe/als mein Eigenes beanspruchen wollte, [Ms sumpsi; R,V, P, K suppressi nach Plinius: Naturalis historia 25,1,1, § 1 elaborata abscondere atque supprimere, d. h. Ausgearbeitetes verstecken und unterdrücken], in ihre eigenen Werke übertragen haben: [Leute], die es mit der Publikation eilig haben, um als erste Erfinder15 zu gelten. Doch die Sache selbst wird aufdecken, welchem Herrn, dominus, dieser Besitz in Wahrheit zusteht.
Die Plagiatoren des Gehörten sind kaum zu belangen; die damaligen Vorlesungen waren Diktate, die oft nochmal abgeschrieben und weitergereicht wurden und dem Wortlaut des Dozenten nicht unbedingt treu blieben. Diese Mitschriften haben ihre eigenen Geschichten und es gilt das Wort von Horaz (Briefe 1,18,71) ‚einmal ausgesandt [ent]flieht das Wort unwiderruflich.‘ Vallas praecipiuntur, was von mir gelehrt wird, dürfte eine Anspielung auf seine allgemeinen Vorlesungs-Einleitungen, praelectiones, sein, zu deren Themen die Frage nach dem Verfasser der in den lectiones zu erklärenden Schrift gehörte. Der letzte Satz ‚Doch die Sache selbst‘ gilt aber nicht dem Schicksal von in Vorlesungen Gehörtem, sondern dem einer bestimmten Sache, res ipsa, d. h. einiger von Valla vermisster Manuskriptseiten, Opfer wohl eines handfesten Diebstahls und damit auch Gegenstand des von Valla angedrohten Rechtsstreites, ebenfalls res (Dig 50,16,179). Sinngemäß: Doch ein Schriftstück mit meinen Ausführungen wird selbst, ist es wirklich gestohlen, den Dieb ausfindig machen und offenlegen, welchen Herren Eigentum es in Wirklichkeit ist, cuius domini vere sit. Es wird gleichsam personifiziert einen Suchruf auffangen und zu seinem Herrn zurückkehren16.
14 Praecipere: vorwegnehmen, vortragen, Unterricht erteilen. – Dig 47,2,52 § 19 neque verbo neque scriptura quis furtum facit; hoc enim iure utimur, ut furtum sine contrectatione non fiat; vgl. S. 15. 15 M. Baumbach: Protos Heuretes, erster Erfinder, in DNP; S. Heinbold: Auflage, zweite, in DNP. 16 Dig 41,2,12 § 1; HS Dominium; Possessio; Proprietas; 5 Mose 4,30 alle diese Worte werden dich finden … und du wirst zurückkehren (Fassung der Septuaginta).
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Renate Frohne
III.3. Ein Fall war von besonderer Brisanz. Ausgerechnet ein Freund verriet sich als Vallas Plagiator Den im folgenden zu erklärenden kurzen Text bestimmen ‚Kürze und Würze‘, brevitas und facetum; (DNP Suppl 9, Sp. 674; Burckhardt S. 110 böse Zungen). Der heutige Leser vermisst sachdienliche Informationen und tut sich wegen der Mehrschichtigkeit des Ausdrucks schwer. Der wohl-strukturierte Text enthält Bezüge auf die lateinische Literatur, die Philosophie und das Römische Recht, ist aber kein streng juristischer Text, auch kein Kapitel Römischer Rechtsgeschichte s. v. Diebstahl oder Entführung. Die bei jedem Gedanken mitschwingenden Quellen werden nicht genannt. Es geht in diesem Text auch nicht um die Pflicht eines Autors, seine Quellen korrekt und informativ zu benennen, sondern um die Frage der Bewertung des Diebstahls einiger Blätter eines Manuskriptes Vallas mit sprachgeschichtlichen Erkenntnissen sowie deren Verwendung durch den Dieb in seinem eigenen – noch unfertigen? – Werk; und um die Frage ‚wie bezeichnet man eigentlich das geistige Eigentum?‘17 Valla: Als ich [nämlich] etliche Büchlein/einige kleinere Schriften, libelli, eines dieser [gerade erwähnten notorischen Diebe] als Freundschaftsdienst in seiner Gegenwart zu lesen begonnen hatte, entdeckte ich, deprehendi, Einiges, das von mir stammte; mir war klar, dass das, was ich mir nicht bewusst war, [einmal irgendwie] preisgegeben zu haben, mir durch einen Diebstahl [Ms furtim, heimlich] weggenommen wurde; [ich vermisste diese Ausführungen18, hatte aber bislang gegen Niemanden einen Grund zur Klage; Dig 50,16,14 § 1; zur Bedeutung von ‚heimlich‘ vgl. LexMA Diebstahl, Sp. 988 B.]. Den Namen dieses Freundes da schone ich.
Die Themen und Büchlein – kleine/etliche/nicht nennenswerte (?) – will Valla wie auch den Namen des Freundes, eines Vielschreibers (?), anonym lassen. Auch dieser redet Valla nicht mit seinem Namen an; unter Freunden war die Anrede domine üblich (DNP). Der Begriff Büchlein, libellus, ist vielschichtig. Martial verwendet ihn für seine Epigramme, Catull für ein neues Gedichtbändchen, Horaz für eine einzige Satire (1,10,92), Quintilian für ein Tagebuch; als libelli gelten auch Bittschriften, Beschwerden und Klageschriften. Ist in Vallas Verwendung des Wortes libelli das Diminutiv von Bedeutung, sind vielleicht Entwürfe/Faszikel gemeint, jedenfalls 17 Burckhardt S. 160 betr. das sparsame Zitieren; Valla rechnet mit der Bildung seiner Leser; damals erschienen Nachschlagewerke, die Gesuchtes leicht auffindbar machten. Der Text des Corpus Juris Civilis war zu Vallas Zeit durch mehrere Handschriften bekannt; Valla hat sich in Buch VI der Elegantiae mit dem Sprachgebrauch der Juristen befasst; vgl. Troje: Crisis S. 54 (Hinweis von Chr. Sorge); Savigny VI S. 374. 18 Amittere bedeutet ‚verlieren‘ und zwar derart, dass man das Verlorene hinterher vermisst; perdere, verlieren, aufgrund eigener Schuld; cognoscere bedeutet als juristischer Terminus ‚eine Identität bezeugen‘; tollere ‚aufheben/wegtragen‘; Beispiele in HS.
Teque plagiaria lege convenire possum
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keine volumina, Wälzer. Am 21. 5. 1516 teilte der St. Galler Reformator und Humanist Joachim von Watt/Vadianus (vgl. III.12) dem Rektor der Universität Wien mit, er beabsichtige libellos aliquot von Valla zu edieren, u. a. die Schrift über den freien Willen; (Briefe I Anhang Nr. 11); sein eigenes Werk De poetica et carminis ratione bezeichnete er in einem Brief von 5. 6. 1518 ebenfalls als libellus (Briefe I Anhang Nr. 20), das sich damit sowohl als feiner Ausdruck wie auch als Zeugnis der Bescheidenheit ausweist. Valla vermisst eigene Ausarbeitungen; er fragt den Freund nicht ‚wie kommt denn das in deinen Text?‘ Er scheint sicher zu sein, gerade einen Diebstahl, eine heimlich ausgeführte contrectatio fraudulosa (Dig 47,2,1 § 3; 47,2,50 § 2)19 entdeckt zu haben, ausgerechnet von Abschnitten, die er für die Publikation der Elegantiae aufsparen wollte.20 Das Geschehene lässt zwei Bewertungen zu: Man kann sagen, es zeuge ja schon von einiger Dummheit und Impertinenz des Freundes, wenn dieser, wie sich zeigen wird, durchaus belesen, gerade Valla um das Mitlesen seiner Texte bittet, die Valla gestohlene Passagen enthalten. Denkbar ist es auch, dass der Freund von der Annahme ausgeht, Valla werde sich geschmeichelt fühlen, wenn er ganz unerwartet von ihm ausgearbeiteten und dann vermissten grammatikalischen Regeln auf einer Textseite in einem Büchlein seines Freundes wieder begegnet.21
III.4. Welche für die Elegantiae ausgearbeiteten Kapitel wurden Valla von dem Freund gestohlen? Valla: Bei den entwendeten Stellen ging es um per und quam in Wort-Verbindungen, was ich im letzten Buch [in Buch I] besprochen habe, und um quisque in der Verbindung mit einem Superlativ. Die Ausführung in einem Büchlein des Freundes wirkte nachlässig und war ohne Sachkenntnis verfasst, so dass man sah, dass sie von irgendwoandersher ‚abgepflückt‘ war: nicht aus sich/mit eigener Kraft vorgetragen und [Reflex von bei mir] Gehört[em], nicht durchdacht/ergründet.22 19 Dig 47,2,1pr und § 3 ein Diebstahl ist das betrügerische Ansichnehmen einer [beweglichen] Sache, um sich zu bereichern, entweder an der Sache selbst, [weil man sie einfach haben möchte], oder auch ihrer Nutzung oder dem Besitz. – Dig 50,17,139 § 1 was zufällig weggetragen werden kann, ist kein Eigentum. – Belege für furtum, Diebstahl, bei HS; Mommsen S. 741. 20 F. Geldner: Buchdruck, in LexMA, Sp.820 betr. Italien; vgl. IV.1. 21 LAW = Lexikon der Alten Welt s. v. Imitatio; Mimesis; Plagiat; Zitat; Seneca Rhetor: Suasoriae 3,7. –Speyer, Register s. v. Eigentum, geistiges. – Der Freund Vallas war sich selbst wohl der beste Freund; vgl. Aristoteles: Nikomachische Ethik XI 1168b Beschreibung und Kritik der Selbstliebe; zur Selbstliebe bei Epikur vgl. HellenPhil IV/1 S. 166–167. 22 Proferre, vorlegen; z. B. librum, tabulas, testamentum. – Vallas Hinweis auf den Inhalt und ursprünglichen Standort, Buch I, der ihm entwendeten Passus ist in dieser Form eine plena probatio, ein vollständiger Beweis, ex evidentia. Aus Vallas erinnernder Darstellung – a parte
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Renate Frohne
Der Freund wollte vielleicht durch die sich in Vallas Augen als unsachgemäß erweisenden Änderungen dem Diebesgut ein neues Aussehen geben und dessen Herkunft verschleiern, war auch überfordert, oder zählte zu jenen, die nicht dem Ciceronianismus huldigten und eine individuelle Latinität pflegten23. Ob das Diebesgut vernichtet wurde oder sich noch im Besitz des Freundes befand, geht aus dem Text nicht hervor; wenn ja, dann hätte ein Handschriften-Abgleich Klarheit bringen können; (vgl. Codex 4,21,20).
III.5. „Die Szene wird zum Tribunal.“ Valla drohte dem Freund mit einer Klage nach der plagiaria lex Valla: Bestürzt/betroffen/verunsichert, conturbatus [HellenPhil IV/1, S. 167], war ich dennoch, und ich sagte zu diesem Menschen: Diese meine grammatische Regel, elegantia, erkenne ich wieder; [ich sehe an Details, dass du deinen Text nach einem von mir erarbeiteten Résumé verfasst hast]; ich bekräftige, assero [vgl. II.], dass diese Elegantia mein Eigentum bzw. [mit Martial gesagt] mein ‚Sklave‘ ist.24 Teque plagiariã lege convenire25 possum. Und dich nach der plagiaria lex vor Gericht erscheinen lassen kann ich. [d. h. nach dem die Entführer betreffenden Gesetz, das dich zu Fall bringen/ einfangen wird].
Wie ist diese Drohung mit der Klageformel, causa actionis26, zu verstehen? Valla bezieht sich auf die genannten Epigramme Martials; er droht dem Freund aber
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für einen Leser der Elegantiae gedacht – geht nicht hervor, mit welchen Worten er dem Freund bedeutete und bewies, diese und jene Stelle sei sein, Vallas, Eigentum; es ist auch nicht gesagt, ob Buch I zu der Zeit schon als Beweismittel vorlag. – Der Beweis ist Gegenstand der Gesetze im Codex 4,19 und wurde in scholastischen Kommentaren intensiv diskutiert. Der gleich Valla in Diensten von Alfons V. (III.1) stehende Ludovicus Pontanus/Romanus (1409– 1439) verfasste u. a. Kurzkommentare, z. B. über Beweise. Durch ihn könnte Valla angeregt worden sein, zur Verdeutlichung im Nachhinein die ihm entwendeten Passus so genau zu benennen; (vgl. Wikipedia Lud. Pont.; DNP Probatio, Sp. 357; LexMA Beweis; Kaser KLB § 7 IV.2.b.; § 84; § 87 II.6). Burkhardt S. 169 mit Anm. 5 ex naturae genio. – Wir wissen nicht, wer der Freund und Plagiator Vallas war. Mit der lateinischen Sprache und dem Römischen Recht war er vertraut; vielleicht Bartolomeo Facio; (vgl. LexMA Facio). Vgl. Anm. 9; LSh mancipium II. A.B. – Dig 59,16,195 §§ 2 und 3. HS convenire; DNP Actiones; Anspruch; Crimen; Delikt; Editio; Mommsen S. 734, S. 739; S. 780. Würde der Freund die Anspielung auf Martial nicht verstehen, könnte er Valla eine übertriebene Klageandrohung, calumnia, vorwerfen; Dig 48,16,1, § 1; Dig 47,2,93 betr. die Streitsucht; vgl. III.12 die Valla vorgeworfene lacessendi intemperies. G. Schiemann: Furtum, in DNP; Mommsen S. 739 und Register; Kaser II S. 433f. – Schiller: Kraniche des Ibykus; Tribunal bedeutet hier die Gerichtsbühne, das ‚hohe Gericht‘.
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nicht mit einer actio furti (Dig 13,1,7 § 1), sondern mit einer Klage publici iudicii (Codex 6,2,22; 9,20,7 § 1; 9,20,13; Inst 4,18,2; 4,18,10), bei der es nach Römischem Recht u. U. um Leben und Tod geht; er denkt an ein crimen, nicht an ein bloßes delictum; (Mommsen S. 782 betr. Strafen). Dig 48,15,1 lautet Capitale crimen adversus eum ex lege Fabia de plagio nascitur. Der Titel betrifft a) die Entführung von Freien und Freigelassenen (Freiheitsberaubung) und b) von Sklaven (Sachdiebstahl; ein Sklave gilt als res corporalis; vgl. Mommsen S. 781)27. – Würde Valla sich wirklich zu einer Klage entschließen, gälte zunächst, was Johannes Andreae (1270–1348) in einer Summa schlicht beschreibt (Übersetzung nach dem lateinischen Text bei Savigny IV, S. 549): Wer seine Anklage vorlegen möchte, muss zuerst seine Absicht und deren Grund in einem libellus conventionalis erklären; dieser libellus (III.3) muss vom Kläger dem Richter übergeben werden und von diesem dem Angeklagten; (vgl. Kaser KLB § 82.I.1.). – Rund 100 Jahre nach Valla fasste Conrad Lagus in seiner Juris utriusque traditio methodica (1543; fol. 209r– 213r) unter dem Titel De libellis, quibus actiones proponuntur alle gewonnenen Kenntnisse betr. libelli zusammen. Was mit der Drohung gemeint ist, ist einsichtig; unüblich ist die Formulierung. Im Recht lauten die Titel z. B. de lege Fabia; ad legem Fabiam. In Vallas Formulierung plagiariã lege convenire steht das adjektivisch gebrauchte Wort also nicht wie üblich nach dem Bezugswort lex; (vgl. LatGramm § 267 1.). Plãga bedeutet ‚Hieb/Stoß‘; plaga u. a. ‚Fangnetz‘. Da plagium, plagiare und plagiarius ein kurzes a haben, kreisen die Begriffe um den Sinn ‚jemanden zu Fall bringen/ mit einem Netz fangen‘. Eine plagiaria lex gibt es im Corpus iuris nicht, und aus Dig 48,15 und Codex 9,20 hat Valla keine Begriffe und Wendungen direkt übernommen. Die übertragene und auch ironische Begriffsbildung ist vielleicht gespieltes (?) Ergebnis der conturbatio, weil das Geschehen Valla schier die Sprache verschlägt, oder eine bewusst provozierende Neubildung (vgl. besonders III.11 Fazit). – Eine spontane Entschuldigung des Freundes, etwa ‚das ist mir jetzt peinlich‘ oder ‚ich erkläre es dir und lösche es‘, würde die Lage beruhigen; der Freund hat Valla aber wohl nicht um ein Gespräch gebeten, um zu beichten und etwas ‚Mitgenommenes‘ gleich zurückzugeben; (Dig 47,2,43 § 7; 47,2,66); Valla fordert auch keine Rückgabe; (Dig 13,1,7 § 1; 13,1,8 § 2).
27 Kaser KLB § 15 Sklaven als Rechtsobjekte.
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III.6. Die Rechtfertigung des Freundes und Plagiators Valla: At ille Aber jener,
erubescens ioco tamen atque urbanitate errötend, doch im Scherz/mit Witz bzw. mit Esprit und dazu auch feinem Benehmen/gebildetem Ausdruck [Ms subito] erubescens errötend plötzlich
elusit, quod diceret spottete/wich [dem Angriff] aus, weil er wohl sagte, uti rebus amicorum Nutzen zu ziehen aus Dingen, die Freunden gehören, licere [Ms libere] ut suis. sei [rechtlich] erlaubt, [Ms sei beliebig/stehe frei], wie aus eigenen Dingen
Ist licere oder libere zu lesen? Der Konjunktiv quod diceret drückt die persönliche Sehweise Vallas aus, die ihn bestimmt, die Antwort des Freundes aus seiner Erinnerung zu pointieren. Ist, wie es die frühen Textausgaben drucken, licere zu lesen, nimmt der Freund in seiner Antwort auf Vallas Drohung mit einer Klage ebenfalls verbal eine juristische Position ein: er fordert Rechtsverzicht; sein Verhalten sei erlaubt. Ein solches ‚erlaubt sein‘ gibt es aber nicht; Cicero definiert (Philippica 13,6,14) licere werde das genannt, was in Gesetzen, was in der Gewohnheit der Vorfahren, dem mos maiorum, und in gesellschaftlichen Konventionen zugestanden sei, denn es sei nicht jedem erlaubt, was er könne; und Dig 50,17,144 nicht alles, was erlaubt ist, ist auch honestum, ehrenvoll/sittlich gut. Liest man, wie es in Vallas Autographon steht, libere, stellt sich die Frage nach der Herkunft dieser Vorstellung, die sich beliebig über den mos maiorum hinwegsetzt. Der ungebundene Tenor lässt an eine sophistische Quelle denken; (DNP Antiphon; HistWbPhil Naturrecht, Sp. 564/5). Dachte Valla beim Schreiben ‚ach, der macht einfach, was er will; so geht’s nicht‘, stand das libere auch schon auf dem Papier, ohne nachträglich geändert worden zu sein. Vermutlich ist es ein Verschreibfehler, der einen Blick auf eine weitere Gedankenschicht Vallas freigibt. Wäre libere hier gewollt, würde diese sophistische Aussage sich von den juristischen erkennbar abheben. Mit dem geflügelten Wort spielt der Freund den uomo piacevole der Zeit28; er versucht die Sache zu retten. Dass er auf eine juristisch-formulierte Klage-Androhung auch mit einem Teilsatz aus einer Komödie antwortet, heißt, dass er ‚in 28 Burckhardt S. 106. – DNP Probatio, Sp. 359.
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anderer Kleidung‘ daherkommt, sich einer Travestie bedient und Vallas Drohung parodiert.
Uti rebus amicorum licere ut suis. Das Vorbild und die Übernahme Das aus dem Kreis um Pythagoras stammende Sprichwort koinà tà tõn phìlõn, d. h. gemeinsam [das Gut] der Freunde, ist in manch einem Werk der Antike wörtlich oder abgewandelt überliefert; (vgl. LSc S. 968; ThWbNT III S. 789; ThBegriffsLex I S. 491ff.; Aristoteles: Nikomachische Ethik VIII c.11). Der Rechtfertigung des Freundes nahe sind die Sätze des Prolog-Sprechers in der Terenz-Komödie Andria (166 v. Chr.) mit einer Antwort auf Vorwürfe, Terenz plagiiere Stücke des griechischen Komödien-Dichters Menander: ‚Was aus der Komödie Perinthia für die Andria passte, gesteht [der Dichter] übertragen und sogar wie Eigenes genutzt zu haben, fatetur transtulisse atque usum pro suis.‘29 Terenz war allzeit ein gern und viel gelesener Autor; Anspielungen auf seine Stücke wurden zu Vallas Zeit unmittelbar erkannt und verstanden; (LexMA Terenz im Mittelalter). Implizit gesteht der Freund also seinen Diebstahl und den Gebrauch von einigen Stellen in Vallas Manuskript; auf das fatetur, [der Dichter] gesteht, verzichtet er aber wohlweislich, würde er sich doch mit einem expliziten Geständnis selbst verurteilen; (Dig 42,2,1). In seiner Formulierung stellt der Freund die Freunde ins Zentrum des Satzbildes seiner Rechtfertigung, denjenigen Wert, der dem zum Epikureismus neigenden Valla besonders am Herzen liegt. Dabei denkt er auch an die Übernahme des griechischen Sprichwortes in Terenz’ Komödie Adelphoe/Die Brüder (5,3,18) communia esse amicorum omnia, gemeinsam sei der Freunde alles [Gut], bedenkt aber Ciceros Differenzierung nicht, (es komme darauf an), ‚dass man Gemeinsames als Gemeinsames benutzt, einzelnen Menschen hingegen Gehörendes als jeweils eben diesen Menschen Gehörendes [achtet]‘ (De officiis 1,7,20), und übersieht, dass Freundschaft und Gemeinsames auf Recht und Gegenseitigkeit beruhen, dass die Goldene Regel gilt und der Schriftsinn des Sprichwortes nur eine Maßgabe innerhalb der pythagoreischen Gemeinschaft war. Valla merkt natürlich, dass der Freund an verschiedene antike Fassungen des Sprichwortes denkt, diese aber durch kleine Änderungen (Dig 50,17,65) zu seinen Gunsten umformt und Dig 7,8,14 § 1 nicht beachtet ‚ein Gebrauch gilt nicht für 29 Ein Terenz-Zitat könnte auch hinter Vallas Rücknahme seiner Drohung (III.5; III.10) stehen. In der Komödie Adelphoe/Die Brüder (I 1) sagt der Vater: ‚Ich gebe ihm etwas, lasse so manches durchgehen … und habe es nicht nötig, in allem mein Recht durchzusetzen.‘ – Dig 48,16,6pr § 1 ‚Derjenige ließ eine Anklage fallen, der mit seinem Gegner über die Beilegung des Streites gesprochen … und den zur Anklage führenden Gemütszustand, affectus, abgelegt hat.‘
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den eigenen Vorteil, sondern eben für den Gebrauch, nicht den Missbrauch‘: eine zentrale Aussage in dieser Episode, frei von Ironie und Metaphorik; (vgl. Mommsen S. 736; Dig 7,8,14 § 1 usui fructus deest).
III.7. Belehrend korrigierte Valla die Rechtfertigung des Freundes im Sinne von Dig 7,8,14 § 1; dann spielte er den von dem Freund und Plagiator seiner Güter und der Anerkennung beraubten Gelehrten Valla: Aber ‚sowas‘, sagte ich, [den Eigennutz, compendium, in den Vordergrund zu stellen], ist missbrauchen bzw. ausnutzen, nicht gebrauchen: istud abuti est, non uti. Nichts nämlich für mich wird [dann] übriggelassen, sobald du für die Sache, die ich [im Quellenstudium] ausgearbeitet, [bewusst aber noch nicht publiziert] habe, einmal die Siegespalme ergattert hast.30
III.8. Exkurs a) ist ein Geisteswerk ein vom Manuskriptmaterial unabhängiges Rechtsobjekt? b) Quisque cum superlativo, Beispiel eines Valla entwendeten Textabschnittes a) Ein in unserem Kreis mehrfach zitierter Satz steht in den Digesten 41,1,9 § 1 litterae, licet aureae sint, chartis membranisque cedunt, d. h. mag eine Schrift auch golden sein, sie gehört zum Pergament. In § 2 heißt es jedoch, sed non uti litterae chartis membranisve cedunt, ita solent picturae tabulis cedere, sed ex diverso placuit tabulas picturae cedere, d. h. das gilt aber nicht für Gemälde, denn da gehören die Holzbretter/Bildträger zum Gemälde. Dieser Gedanke befindet sich in ähnlicher Form Dig 50,16,14, einem Gesetz, das sich mit der Rückgabe beschädigter Kunstwerke befasst, denn earum rerum pretium non in substantia, sed in arte [est] positum, d. h. der künstlerische Wert ist höher als der Wert des Materials. Der Wert eines Kunstwerkes, auch kunsthandwerklicher Erzeugnisse, ist deutlich gesehen; es fehlt der eine Schritt und ein Begriff, um dem geistigen Eigentum ein iustum pretium zuzuerkennen; (vgl. III.11fin. – DNP Person, Sp. 621; HistWbPhil Person, Sp. 269 2.; Sp. 290 unten ‚proprie‘, ‚vere‘ in der
30 Dig 50,17,206 nach dem Naturrecht ist es ‚billig‘, dass niemand durch Schädigung eines Anderen reicher wird; Codex 12,21,1 palma laboris; Mommsen S. 741; Burckhardt S. 140 und Savigny VI S. 469/70 betr. die stattlichen Honorare; occupare ‚in Aneignungsabsicht von einer herrenlosen Sache Besitz ergreifen‘ (HS).
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Beschreibung eines durch sich selbst handelnden Individuums bei Thomas von Aquin; Sp. 291 dominium; Valla (III.2) cuius domini vere sit haec possessio. – Speyer S. 16/7. – Zur tabula picta vgl. O. Behrends: Die Spezifikationslehre … in der Geschichte der römischen Jurisprudenz. In: Zeitschrift der Savigny-Stiftung RA.112, 1995, S. 195–238, bes. S. 207; (Hinweis von Chr. Sorge). b) Die in III.4 genannte Stelle, locus, nämlich quisque cum superlativo, befindet sich in Buch I der Elegantiae und füllt in der Ausgabe von 1482 58 gedruckte Zeilen. Um den klassischen Sprachgebrauch herauszuarbeiten, zitiert Valla Stellen (ohne genaue Angabe) aus Vegetius, Laktanz, Sallust, drei Schriften Ciceros, Caesar, Sueton, Digesten, Martial und Ovid. Diesem Beispiel ist abzulesen, dass Valla die vielen ihm erreichbaren Texte/Handschriften aufmerksam durcharbeitete, die aussagekräftigen Elegantiae auslas und auf ‚Karteikarten‘, in Heften, rubriziert und geordnet (p; q; vgl. Bildungsgeschichte S. 269) festhielt und dann auswertete. Die Investition war groß, schwierig der Umgang mit vielleicht schlecht lesbaren Handschriften. Ein Verlust war kaum zu verkraften. Das inscite tractatus, d. h. die Stelle war im Büchlein des Freundes ohne Sachkenntnis behandelt (III.4), weist auf eine längere und zusammenhängende Darstellung; also entwendete der Freund eine oder mehrere fertige Auswertungen Vallas (elabor-avi); nicht ersichtlich ist, ob er auch noch ‚Karteikarten‘ einsteckte; mit verbliebenen Karten wäre Valla immerhin die Grundlage geblieben, die Ergebnisse neu zu formulieren.
III.9. Der Freund ist Vallas Gedanken genau gefolgt. Er reagierte entrüstet und sah die Schuld für den Verlust der Texte nun in Vallas eigenem Verhalten Valla: Darauf sagte der Freund, und das noch geistvoller [III.6; oder: in besonders frecher Weise], urbanius, dass ich ein schlechter Vater sei, weil ich meine leiblichen [bald erwachsenen] Söhne, die ich [ ja schließlich] erzogen hätte, aus meiner Hausgemeinschaft, contubernium, ‚raus‘werfen würde. Er selbst würde sie zum einen aus Mitleid und dann um unserer [!] Freundschaft willen zu sich in sein Haus aufnehmen und als die Seinen erziehen, [natürlich nicht als Sklaven, sondern als freie Menschen; er sei kein Entführer; und die Schuld für den Verlust der eigenen Kinder trüge allein ich].31
Mit dem Valla metaphorisch unterstellten ‚Raus‘wurf seiner Kinder ist keine Kindesaussetzung gemeint (Kaser II S. 109; S. 204), sondern die in den Ostpro31 Kaser II S. 328; Dig 11,7,14 § 7 humanitas, misericordia, pietas, affectio in einem Satz, aber in anderem Kontext; Dig 25,3,4; Speyer S. 16 Anm. 5; Codex 8, 51, 2 colligere (HS im Sinn von ‚auflesen‘, ‚einsammeln‘ bzw. ‚zu sich nehmen‘ im Titel De infantibus expositis).
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vinzen des Römischen Reiches tolerierte Absage/Verstoßung wegen iniuria oder Undank des Kindes, abdicatio/apokeryxis, die von Kaiser Diokletian verboten wurde. Das einer Verstoßung vorangehende förmliche Prozedere ‚übersieht‘ der Freund; ganz so einfach und willkürlich, wie von ihm angedeutet, war eine Verstoßung nicht möglich; (vgl. DNP Abdicatio; Belege bei LSh; Codex 8,46,4. – Aristoteles bezeichnet eine Verstoßung als etwas ganz Ungewöhnliches (Nikomachische Ethik VIIIfin; zu Epikur vgl. HellenPhil 4/1, S. 264 linke Kolumne.32 – Rauswerfen, eicere, und abdicare, absagen, werden bei Cicero (De oratore 2,24,102) synonym gesetzt). Der Freund hat den Spieß umgedreht. Er fingiert in einer probatio artificialis einen ungeheuerlichen Vorwurf an Valla, um den eigenen Standpunkt zu stärken, sua confirmare (DNP Argumentatio, Sp. 1072/3), und zwar nach Codex Theodosianus 9,18,1pr = Codex Iustinianus 9,20,16 ‚Entführer sind jene, die Eltern traurige Verluste lebensvoller Kinder zufügen‘, und bezieht sich zudem textnah auf die Gesetze CTh 5,9,1 und 2 sowie Codex 8,51,2, die aber für die Aussetzung Neugeborener gelten: ‚Wir [Honorius und Theodosius] geben keinen Herren … die Möglichkeit der Rückforderung, wenn ein dem Mitleid befreundeter Wille, [d. h. ein mitleidiger Mensch], zum Tode Ausgesetzte [Neugeborene] aufnimmt, und der Vater wird jenes Kind nicht [wieder] das seine nennen können, das er zum Sterben verachtete…‘. Damit stellt der Freund sich scheinheilig als guten Christen vor, während Valla die Grundpflicht des Vaters und das Grundrecht der Kinder auf Erziehung (Dig 1,1,1 § 3) verworfen habe.33 Mit dem ‚Auflesen‘ gesteht der Freund durch die Blume das Vorgehen bei seinem Diebstahl und sieht es als erlaubte Mitnahme eines derelictum.34 – Die Metapher ‚Bücher sind die von ihrem Vater geliebten Kinder‘ findet sich in Buch IX c. 7/1168a1 der Nikomachischen Ethik von Aristoteles: ‚Dichter … hängen mit Inbrunst an ihren Schöpfungen und lieben sie wie Kinder‘; das Verb hyperagapãn, über(aus)lieben, ist selten belegt. Und ‚die im Schöpfer gegebene Möglichkeit, energeia, wird durch das Werk Wirklichkeit‘, d. h. die wesenseigene Begabung eines Dichters ermöglicht sein einmaliges Werk. Eine Übersetzung der NE hatte L. Bruni gefertigt; (vgl. Dirlmeier S. 205, S. 550; Speyer S. 16).
32 Kaser II Register: Aussetzung, ausgesetzte Kinder; Apokeryxis. 33 Kaser II S. 206 Erziehungspflicht; S. 60ff. Ethisierung des Rechts. 34 HS derelinquere; derelictum. – Dig 47,2,43 im Auszug: § 4 Wer etwas [herum]liegendes Fremdes, um Gewinn zu machen, aufgehoben hat, macht sich des Diebstahls schuldig, [egal], ob er weiß, wem es gehört oder nicht … § 5 Hat der dominus das [Herum]liegende aufgegeben, dereliquit, ist das An-sich-Nehmen kein Diebstahl, auch wenn ich die Absicht habe es zu stehlen …; eine Sache gehört uns sofort dann nicht mehr, wenn wir sie aufgeben.
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Ein weiterer Schlüssel zum Verständnis der Antwort des Freundes liegt in dem Begriff der Hausgemeinschaft, contubernium. 1431 hatte Valla in Pavia die Nachfolge des verstorbenen Gasparino Barzizza35 als Rhetorik-Professor angetreten; dieser hatte in einer häuslichen Latein-/Privatschule, contubernium, begabte junge Leute unterrichtet. – Die Schulgemeinschaft Epikurs war in Athen im ‚Garten‘ zuhause. Der Freund sagte jedenfalls unmissverständlich: ‚Du hast deine in intensiven Bemühungen erarbeiteten Sprachregeln, deine Geisteskinder, aus deiner Studierstube hinausgeworfen; ich habe sie aufgelesen und gebe ihnen in meinem Buch die ihnen angemessene Stellung.‘36
III.10. „Der Klügere gibt nach.“ Der Angriff des Freundes zeitigte bei Valla die gewünschte Wirkung Valla: Ich ließ ab gegen ihn verärgert bzw. unwirsch aufzutreten [und ließ meine Klageandrohung fallen; destiti von desistere], da ich zur Einsicht fand, dass ich mir meinen eigenen sorglosen Umgang mit meinen Gütern eher als Fehler/Schuld, vitium, anrechnen musste als ihm, [dem Freund], das Auflesen von Gütern, mit denen eben Menschen wie ich so unaufmerksam umgegangen waren.
Die anfänglich vorschnelle Sicherheit Vallas ‚der Freund ist schuldig/hat mich bestohlen‘ erweist sich als Selbsttäuschung. Mit dem intelligens wird Valla bislang Unbewusstes bewusst. Große negligentia, Nachlässigkeit, gilt aber als culpa, d. h. Verschulden, und größere culpa steht der Täuschungsabsicht, dolus, nahe, was Valla wohl nicht vorzuwerfen ist; (vgl. Dig 50,16,213 § 2; 50,16,226; Kaser II S. 347; 356). Valla spricht aber nicht nur von Unaufmerksamkeit; seine angedeutete vitiositas gilt als ein habitus inconstans im ganzen Leben (Cicero: Tusculanae disputationes 4,13,29; 4,15,34; Dig 29,4,15; vgl. Grimm s.v. klug, Sp. 1277 im Sinn von ‚Herr über seine Affekte‘). – Petrarca beschuldigte das Mittelalter, 35 LexMA Barzizza. – Bildungsgeschichte S. 20–22 betr. contubernia in verschiedenen italienischen Städten; DNP Suppl 9, Sp. 881. 36 T. Dorandi: Abschrift, in DNP, betr. Techniken und Arbeitsschritte; Sp. 38 im Mittelalter. – Als der Freund bei einer ‚zeitweiligen Abwesenheit‘ Vallas daliegendes Material/Hefte sah, hätte er auch warten und Valla ansprechen können, etwa ‚ich seh’ das gerade; interessant; darf ich das in mein Buch übernehmen?‘ Ein anderer Fall zum Vergleich: Bei einem Besuch bei Petrus Crinitus in Florenz stößt Budé (fol. 48 GH der Annotationes, Druck 1556) bei der Durchsicht einiger Bücher auf einen von Angelo Poliziano geschriebenen und verschlüsselten Text. ‚Als ich diese Notizen mit Crinitus’ Erlaubnis durchlaufen durfte, habe ich mir die eine oder andere Stelle, die zu meinem Vorhaben passte, [nämlich Annotationes zum Römischen Recht zu schreiben], ins Gedächtnis eingeprägt.‘ Die von Budé als Beispiel genannte Stelle betr. die Aspekte rhetòn kai diánoia, Gesagtes/Geschriebenes und Gedanke/Für-gut-Befinden in Dig 27,1,1pr; (vgl. HistWbPhil Rhetorik, Sp. 1019; LSc diánoia IV;Troje: Graeca leguntur, S. 93; Crisis S. 15; S. 35; Savigny VI S. 379–385).
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die Geistesfrüchte der Antike durch Vernachlässigung, negligentia, dem Vergessen preisgegeben zu haben, ohne der Nachwelt etwas aus den Eigenen, ex proprio, zu hinterlassen; vgl. Hunger S. 537).
Das Vorgefallene lässt sich ungefähr erklären Als Valla dem Freund einen Diebstahl bzw. metaphorisch die Entführung seiner ‚Sklaven‘/Texte vorwarf, stieg die Schamesröte dem Freund ins Gesicht; mit einem fadenscheinigen Argument versuchte er sich herauszureden; III.9 gesteht er implizit, Vallas ‚Geisteskinder‘ zusammengelesen und mit nach Hause genommen zu haben. Der Freund und Manuskript-Dieb wird also vor geraumer Zeit (?) bei einem Besuch in Vallas Zuhause eine zeitweilige Abwesenheit des dominus in einem plötzlichen affectus possidendi (Inst 4,1,7) heimlich, furtim, genutzt haben, um dabei herumliegende Papiere/Resumés einzustecken. Dann wollte er die inventa/elaborata Vallas auch nutzen und verwendete sie in seinen libelli. – Dig 50,17,168 ‚Die Gelegenheit ist zu ergreifen, die eine gütigere Antwort nahelegt. [Denn], was geschehen ist, weil es im Dunkeln liegt, erhält seine Auslegung [rasch] aus der Vorliebe eines Jeden‘. Fragen bleiben; „Gelegenheit macht Diebe“ (Codex 6,2,20pr pro occasione furti); war der Freund sich des Gesetzes Dig 47,2,53 bewusst, ‚wenn jemand aus einem Haus, in dem sich niemand befand, etwas raubte, lautet die Klageformel actio de bonis raptis; im Fall einer Verurteilung muss er das Vierfache ersetzen … ?‘ – Mommsen S. 737 „Auf die Form, in welcher das Delict ausgeführt wird, kommt es rechtlich nicht an. ‚Wegträger‘ ist, … welcher ohne Wissen des Eigenthümers eine Sache an sich nimmt.“
III.11. Die guten Vorsätze Vallas Valla: Deshalb: wer sieht nicht, dass es nicht unehrenhaft ist, non inhonestum esse, dass ich [in Zukunft] das aus mir [selbst Heraus]Gefundene [ea … ex me inventa; vgl. IV. 2,9] meinen [philologischen] Werken anvertraue, was Andere, nicht einmal, wenn es gestohlen ist, als Schande/ehrenrührig, turpe, für sich erachten, ihren Schriften einzufügen. Dieses Werk der Elegantiae [auf der Grundlage meiner Beispiel-Sammlungen] zusammenzustellen bin ich also nicht allein durch den Zuspruch von Aurispa und Bruni bewogen worden, sondern auch durch die necessitas, die Notwendigkeit. Zu diesem Begonnenen muss ich [ jetzt] zurückkehren; (Inst 4,1,13).
Die Episode ist abgeschlossen. Mit dem quare, deshalb, leitet Valla einen neuen Gedanken ein. Lehrhaft-suggestiv umschreibt er den von ihm persönlich aus dieser unerfreulichen Begegnung zu ziehenden Schluss, nämlich seine inventa, seine eigenen Erkenntnisse, bevor sie von notorischen Dieben in seinen Vorle-
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sungen aufgefangen oder sogar konkret gestohlen werden, rechtzeitig in Studien festzuhalten und vielleicht auch schon in Faszikeln kursieren zu lassen; (DNP Suppl 9, Sp. 1008; Martial 1,66,8 mutare dominum non potest liber notus, d. h. ein bekanntes Buch kann seinen Autor nicht [mehr] wechseln). Valla sagt nicht quis non videt honestum esse, sondern zum non videt parallel mit doppelter Negation betont non inhonestum esse. Mit dem Wort turpe wird u. a. ein Ehrverlust benannt. Im Fall seiner Verurteilung hätte der Dieb als Nebenstrafe eine Minderung seiner Rechtsstellung zu gewärtigen; (Inst 4,16,7. – Mommsen S. 754). Zeigt Valla in III.1fin und III.7, dass er sich für sein Werk einige Anerkennung erhofft, legen die IV.2 zusammengestellten Belege für auffallend viele Anklänge der Formulierungen Vallas an Vor-Formulierungen Priscians es nahe, die von Priscian mehrfach angesprochene necessitas hier als markantes Schlusswort zu sehen, nämlich als den Zwang/Druck, das Werk angesichts zu befürchtender Diebstähle zum Abschluss zu bringen; damit wäre ja auch der Ehrenpreis gewonnen; das honestum ist hier materiell zu verstehen; (Burckhardt S. 140; TRE Valla, S. 502 Zeilen 1–17).
Fazit: Was ist mit der Wendung teque plagiariã lege convenire possum gewonnen? In spielerischer Form – einer Episode; nach Art einer Fazetie; vor der Mitte des 15. Jahrhunderts; kurz vor der Erfindung des Buchdrucks; fast 1400 Jahre nach Martial – ist von Valla angedacht: Wer das geistige Eigentum eines Anderen zu Unrecht entwendet und nutzt, wäre wegen einer besonderen Art von Diebstahl zu belangen. Valla spricht von einer/der plagiaria lex; doch weder in den Digesten noch im Codex Iustinianus ist davon die Rede, sondern nur von der Lex Fabia (III.5). De plagiariis in Dig 48,15 ist ein späterer Zusatz. Hätte Valla De crimine plagii formuliert, wäre der Bezug auf Martials Epigramme 1,52;1,53 verloren gegangen. Da der Namensgeber dieses Fabischen Gesetzes so gut wie unbekannt ist, verzichtet Valla auf das nichts-besagende Adjektiv Fabia und bildet den Begriff (aliquem, jemanden) plagiariã lege convenire. Dass – bislang unentdeckt (?) – der Ausdruck plagiaria lex einmal in irgendeinem zu Vallas Zeit präsenten scholastischen oder frühhumanistischen juristischen Werk gefunden wird, ist nicht auszuschließen. Mit negativem Befund habe ich Azo Porcius’ (†1220) und Bartolus de Saxoferratos (†1357) Kommentare zu Dig 48,15 eingesehen. Alle die Wortfolge betreffenden Überlegungen würden sich jedoch als nichtig erweisen, hätte Valla bei plagiariã lege convenire versehentlich die Wörter vertauscht. Einige Flüchtigkeitsfehler in seinem Manuskript (IV.1) lassen durchaus an eine solche Unachtsamkeit denken. In dem Satz (III.1) ‚jeder von beiden [Lehrern]
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war für mich wie ein Vater‘ schreibt er (fol. 33r) z. B. uterque parentis me locum apud obtinens, anstelle von uterque parentis apud me locum obtinens.
Vallas Episode standen Martials Epigramme Pate Martial impones plagiario pudorem Valla teque plagiariã lege convenire possum
Formal kann die in der Römischen Rechtssprache unübliche Wendung plagiariã lege convenire so erklärt werden, dass a) plagiaria bei Valla an die Stelle von plagiario in impones plagiario pudorem bei Martial tritt, und dass b) der präzise Begriff lege die Schmach, pudorem, den allgemein moralischen Begriff bei Martial, ersetzt; c) convenire, anklagen, hat einen juristischen Vorgang im Blick, im Gegensatz zu dem blassen impones pudorem, d. h. du wirst Scham aufbürden. d) Denkbar ist ebenso, dass Valla die singuläre Wendung aus Codex 9,20,9 von 293 n. Chr. abwandelt und Fabiae durch plagiaria ersetzt: eum, qui mancipium alienum celat, Fabiae legis crimine teneri non est incerti iuris, d. h. dass derjenige, der sich einen fremden Sklaven aneignet, eines Verbrechens aufgrund der Fabia lex überführt wird, ist [in Dig 17,2,51 von Ulpian; vgl. S. 17] festgehalten. In Vallas Texten ist auf jedes Wort und bei Komposita auch auf jede Vorsilbe zu achten. Sein Eigentum (III.5), seine ‚Geisteskinder‘ (III.9fin) beschreibt er als ex me inventa – sinngemäß auch als excogitata im Gegensatz zu dem als non excogitatum charakterisierten Plagiat des Freundes –, aus mir Gefundendes, anstelle der üblichen Konstruktion ab aliquo inventa; (vgl. III.10 ex proprio bei Petrarca. – Zum geistigen Eigentum vgl. Gieseke S. 115; S. 122 u. ö.; zur Tradition und zum Inhalt des Begriffes invenire/inventio vgl. Bildungsgeschichte S. 159/ 160).
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III.12. Was geschah am Ende der Begegnung? Vallas Dialog37 mit seinem Plagiator ist, wie es sich zu seiner Zeit für diese Gattung geziemte, offen, ein Vexierbild. Also ist der Leser, vermutlich zwischen einer Zustimmung und Ablehnung dieses oder jenes schwankend, gehalten, selbst eine Beurteilung zu finden. Über Valla schreibt Budé (fol. 9vG seiner Annotationes), er sei morosus gewesen: eigensinnig, pedantisch, launisch, grantig (d. h. zornig); auch empfindlich und ängstlich. In dem III.3 erwähnten Brief Vadians von 21. 5. 1516 ist von Vallas lacessendi intemperies peculiaris die Rede, d. h. seiner eigentümlichen Maßlosigkeit des Angreifens und Spottens, nicht bereit, die Sprache und die Tugend eines anderen Menschen im Rahmen ihrer jeweiligen Zeit zu sehen. Valla könnte den Freund also einfach vor die Tür gestellt und die Freundschaft aufgekündigt haben; das hieß auch abdicatio, Absage. Da er diesmal aber versöhnlich nachgab und sich selbst einer Unaufmerksamkeit bezichtigte, sagte er vielleicht: Ach, Mensch, fertig! War alles nicht so gescheit … Du musst mir aber noch Einiges erklären … Kosten wir erst einmal im Cortile etwas Geistiges, einen feinen Falerner? „Wein macht doch ehrlich.“38
IV.1. Vallas Manuskript und die ersten gedruckten Editionen Ms Das in humanistischer Kursive geschriebene Autographon von Vallas Elegantiae ist unter der Signatur Pal. Lat. 1759 in der Biblioteca Apostolica Vaticana erhalten; online; Anschrift bei Wikipedia Lorenzo Valla, am Ende von Textausgaben; dort auch die Abbildung der Grabplatte mit dem Gesicht 37 Burckhardt S. 140; TRE Valla, S. 502 Zeilen 1–17. In ihrem Beitrag in der TRE schreibt M. Cortesi über Vallas Werk: „Kennzeichnend … ist ein radikales Ausbrechen aus der klassischen und scholastischen Tradition und die Forderung geistiger und sittlicher Erneuerung … Die dialogische Anlage … seiner Schriften dient [dem] Weg, zur Wahrheit zu finden.“ In der hier vorgestellten Begegnung Vallas mit seinem Freund und Plagiator scheinen gleichwohl scholastische Dialog-Formen durch; vgl. LexMA Dissensiones; Disputatio(n), Sp. 1118 betr. nicht geregelte Rechtsfälle; Sp. 1116 betr. die disputatio temptativa, „die den Gegner auf die Probe stellt, indem sie sich auf das stützt, was der Antwortende billigen muß“; LexMA Quaestiones iuris, Sp. 351 betr. mit quare eingeleitete Fragen zu unterschiedlichen Wortbedeutungen und deren Werten, wie z. B. III.11 dem honestum als materiellem und nicht primär sittlichem Ziel. – So verwundert es auch nicht, wenn von F. Rexroth (in: Fröhliche Scholastik. Die Wissenschaftsrevolution des Mittelalters. 20192) Sätze formuliert werden, die ebensogut zu Vallas Gedanken passen würden und zeigen, dass manch eine scholastische Sehweise bzw. Formulierung zu Vallas Zeit weiter präsent ist; zwei Beispiele: S. 289 „Die Beschäftigung mit Rechtsnormen beinhaltet stets ethische Unterweisung“; vgl. hier III.10; S. 295 „durch intellektuelle Leistung … allgemeine Werte in die verbindliche Form von Gesetzen zu fassen und mit Strafandrohungen zu bewehren“; vgl. hier III.5 und III.11fin b,c; LexMA Besitz, Sp. 2066. 38 DKIP ‚Falernus ager‘ in der nördlichen Campagna, berühmt durch Wein- und Obstbau. – DNP Wein, Sp. 435 Falerner-Wein zählte zu den Spitzenweinen. – Platon: Gastmahl 270e.
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Lorenzo Vallas; vgl. M. Lucentini u. a.: Rom, Wege in die Stadt; 2000; S. 418 Rundgang in der Lateran-Basilika im rechten Arm des Querschiffes. – Wikipedia Biblioteca Palatina. – Das Manuskript enthält Schreibfehler des Autors, die von den Herausgebern korrigiert wurden; drei nennenswerte Lesarten Vallas sind im Text mit [Ms …] vermerkt. Die frühen Druckausgaben sind im GW (=Gesamtkatalog der Wiegendrucke; 1925ff. online) verzeichnet. Ich danke H. Eisenhut, Kantonsbibliothekarin von Appenzell AR in Trogen, für Hilfe beim Suchen. Die ersten Editionen: vor dem 26. 7. 1471 in Rom, bei Johannes Philippus de Lignamine; GW 49295. – Lexikon des gesamten Buchwesens (Hg. C. Corsten u. a.) 1995; Band V S. 545 linke Kolumne, betr. Lignamine. – Wikipedia. – Aus der Staatsbibliothek in Bamberg und der BN Paris erhielt ich Kopien des Vorwortes zu Buch II der Elegantiae. Ein Druckfehler: R setzt (III.5) anstelle von hanc ego elegantiam agnosco als Nachhall von (III.4) negligenter das unsinnige negligentiam; V,P,K schreiben wie im Ms elegantiam. 1471 in Venedig, bei Nicolas Jenson; GW 49308; online. – LexMA Jenson; Colonia. 1471/2 in Paris, durch U. Gering; M. Friburger; M. Crantz; GW M 49287; online. Im Kolophon steht Aedibus sorboni[a]e, d. h. in den Räumlichkeiten der Sorbonne. Informationen zu den Herausgebern, die 1470 in Paris die Kunst des Buchdrucks einführten, bei Wikipedia. Der Druck ist sehr ansprechend, enthält aber einige Flüchtigkeitsfehler. 1482 in Köln, durch Johannes Koelhoff in rundgotischer Letter gedruckt; GW M 49270. – LexMA Koelhoff. – In der Stiftsbibliothek St. Gallen (Schweiz) konnte ich diese Ausgabe aus der Bibliothek des St. Galler Reformators und Humanisten Joachim von Watt/Vadianus einsehen; Bib Vad Nr. 1 [!], Stiftsbibliothek BBr II/7, Inc 1453.
IV.2. Mit dem Zitieren nahm es Valla nicht so genau In eigener Sache: Vallas Übernahmen aus Priscians Institutiones grammaticae; vor 526 n. Chr. 1.
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Zum Ende der Aufzählung von Autoren der älteren Zeit (III.1), die grammatische Werke verfassten, referiert Valla ohne Stellenangabe den Satz Priscians, die jeweils ältesten Verfasser grammatischer Werke hätten sich am meisten geirrt, die jüngeren diese jedoch sowohl durch ihre Begabung wie mit ihrer Sorgfalt bei weitem übertroffen. Um diesen Satz einem der Werke Priscians zuordnen und verifizieren zu können, konsultierte ich die Geschichte der römischen Literatur von Schanz, Hosius, Krüger; IV 2 Die Literatur des 5. und 6. Jahrhunderts. 1920; ND 1971; § 1111–1115 mit den Testimonien ‚Herausgabe und Zweck des Buches‘, sc.
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der Institutiones grammaticae. Der von Valla abgewandelte Satz findet sich a. a. O. S. 224 und betrifft lateinische Autoren, welche griechische Grammatiker rezipierten: In quibus maxime vetustissima grammatica ars arguitur peccasse, cuius auctores quanto sunt iuniores, tanto perspicaciores et ingeniis floruisse et diligentia valuisse omnium iudicio eruditissimorum, d. h. die älteste grammatische Kunst wird dabei am meisten beschuldigt Fehler gemacht zu haben, während deren Autoren, je jünger sie sind, im Urteil aller bedeutenden Fachleute als umso einsichtsvoller aufgrund ihrer Begabungen wie auch der Sorgfalt ausgewiesen werden; (vgl. Anm. 37; Rexroth fand diesen Priscian-Satz bei Bernhard von Utrecht (um 1100; LexMA) zitiert; S. 141/2 mit Anm. 92 S. 386/7). Da Valla diese Wertung als von Priscian stammend referiert, Priscian sie jedoch auf Gelehrten-Urteile bezieht, war ich aufmerksam geworden und las weiter; mit Valla gesagt (III.3) entdeckte ich am 24. 11. 2020 Einiges, das mir bekannt vorkam. a.a.O S. 224 Zeile 19ff. eine Selbstaussage Priscians: ‚Eiliger als ich wollte, trieben jene mich an, diese [meine] Bücher herauszugeben, die es auf fremde Arbeiten abgesehen haben und sowohl verstohlen, furtim, wie auch gleichsam auf Beutezügen die Werke Anderer heimlich entwenden, dann nur den Titel ändern und versuchen den Ruhm des ganzen Werkes auf sich zu übertragen.‘ Priscians Begründung der eiligen Herausgabe seines Werkes wird man nicht verwenden, um Vallas Darstellung der Begegnung mit seinem Plagiator ins Reich der Fiktion zu verweisen. Die vergleichbare Situation zeitigte einfach eine vergleichbare Reaktion und Sprache; Valla hatte den Priscian-Text aber wohl vor sich liegen, als er den zweiten Abschnitt des Vorwortes zu Buch II seiner Elegantiae verfasste. – Die gedruckte Erstausgabe erschien 1470 in Venedig; a. a. O. S. 231. Weitere signifikante Übernahmen sind: a. a. O. S. 224 Zeile 15 bezeichnet Priscian seine Arbeit als res ardua; vgl. III.1fin auf Aurispa und Bruni bezogen licet perquam arduum est, d. h. wenn der Weg auch noch so steil ist. a. a. O. S. 225 Zeile 28 multo labore inventa; vgl. III.4; III.7 in qua ipse elaboravi; auch S. 223 Zeile 23. a. a. O. S. 229 Urteile Priscians über sich: excusatio mihi sit audacis incepti difficillima recusatio tuae iussionis; d. h. als eine Entschuldigung für mein wagemutiges Unterfangen … diene mir die schwierigste, [d. h. unmögliche], Verweigerung deines, [d. h. des Adressaten], Befehls; vgl. III.1 illorum auctoritati repugnare voluissem. a. a. O. S. 226 Zeile 38 necessarium esse duximus … multos et diversos usus colligere; a.a.O S. 223 Zeile 23 necessarium autem esse duximus multo labore
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exquisita inventaque exempla … subicere; d. h. ich hielt es für erforderlich, die mit viel Arbeit ausfindig gemachten und gefundenen Beispiele anzufügen; vgl. III.7 in qua ipse elaboravi; a.a.O S. 229 s. o. si quid etiam ex aliis vel ex nobis congruum inveniatur, d. h. wenn etwas Passendes von Anderen bzw. aus uns/mir gefunden wird; vgl. III.11 ea me mandare litteris ex me inventa. 10. Vallas Priscian-‚Zitate‘/Referate entdeckte ich am 24. 11. 2020. Mein Thema war es, Vallas Begegnung mit dem Plagiator zu erklären; ich habe aber nicht die gesamte Valla betreffende Sekundär-Literatur gelesen. Sollten andere Philologen vor mir in ihrem Arbeitsfeld ebenfalls auf diese Rückgriffe Vallas auf Priscian gestoßen sein und diese auch publiziert haben: Ich habe ihre inventa nicht plagiiert; an dem genannten Tag waren diese ‚Übernahmen‘ Vallas mein Zufallsfund.
Abkürzungen. Literatur Nachschlagewerke Bildungsgeschichte Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte Band I, 15. bis 17. Jh. (Hg. N. Hammerstein, A. Buck). 1996. Curtius E.R. Curtius: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter. 1948; 1961 (3). DK1P Der Kleine Pauly. Lexikon der Antike (5 Bände). DNP Der Neue Pauly. Lexikon der Antike (Bände 1–12/2). Die nur mit dem Titel genannten Werke gelten als allgemein bekannt und sind leicht zugänglich. DNP Suppl 2 Geschichte der antiken Texte. DNP Suppl 6 Geschichte der Altertumswissenschaften. DNP Suppl 9 Renaissance – Humanismus. DNP 13–15/3 Rezeptions- und Wissenschaftsgeschichte. HellenPhil Die hellenistische Philosophie. Band IV/1 und IV/2 (Hg. H. Flashar). 1994. HistWbPhil Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hunger H. Hunger: Geschichte der Textüberlieferung der antiken und mittelalterlichen Literatur. Band I. 1961. HS H. Heumann, E. Seckel: Handlexikon zu den Quellen des römischen Rechts. 1971. Kaser II M. Kaser: Das römische Privatrecht. Die nachklassischen Entwicklungen. 1975 (2). KLB M. Kaser: Römisches Privatrecht. Iuristische Kurzlehrbücher. 1972 (7) u. ö. LatGramm H. Rubenbauer, J.B. Hoffmann, R. Heine: Lateinische Grammatik. 1977 u. ö.
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LatLitAntike IV
Die lateinische Literatur der Antike. Die Literatur des Umbruchs. 117–284 n. Chr. (Hg. K. Sallman). 1997. LatLitAntike V Die lateinische Literatur von 284 bis 374 n. Chr. Restauration und Erneuerung. (Hg. R. Herzog). 1989. LexMA Lexikon des Mittelalters. Mommsen Th. Mommsen: Römisches Strafrecht. 1899, ND 1961. RE Paulys Real-Encyclopädie der classischen Altertumswissenschaft. (Hg. G. Wissowa u. a.) 1893–1980. RGG Religion in Geschichte und Gegenwart. RömLitGesch II C. Hosius: Geschichte der römischen Literatur. II Teil, 30 v. Chr. bis auf Hadrian. 1935; ND 1980. Schanz IV 1 M. Schanz: Geschichte der römischen Literatur. IV 1 Die Literatur des 4. Jahrhunderts. 1914; ND 1970. Schanz Hosius IV 2 M. Schanz, C. Hosius, G. Krüger: Geschichte der römischen Literatur. IV 2 Die Literatur des 5. und 6. Jahrhunderts. 1920; ND 1971. Speyer W. Speyer: Die literarische Fälschung im heidnischen und christlichen Altertum. 1971. ThBegrLex Theologisches Begriffslexikon zum Neuen Testament. (Hg. E. Beyreuther, H. Bietenhard). 1986 (4). ThWbNT Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament. (Hg. G. Kittel, G. Friedrich). 1933, Sonderausgabe 2019. TRE Theologische Realenzyklopädie. TuscLex Tusculum-Lexikon griechischer und lateinischer Autoren des Altertums und des Mittelalters. (Hg. W. Buchwald, A. Hohlweg, O. Prinz). 1982.
Wörterbücher Grimm Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm. Lampe G.W.H. Lampe: A Patristic Greec Lexicon. Oxford 1984 u. ö. LSc A Greek-English Lexicon compiled by H.G. Liddell and R. Scott. Oxford 1843 u. ö.; 1958. LSh A Latin Dictionary … by Ch.T. Lewis and Ch. Short. Oxford 1897 u. ö.; 1958.
Römisches Recht Codex Codex Iustinianus. Dig Digesta/Pandectae. Inst Corpus Iuris Civilis. Die Institutionen. Übersetzt von O. Behrends, R. Knütel, B. Kupisch, H. Seiler. 2013 (4. überarbeitete und erweiterte Auflage).
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Literatur betr. Valla, die Überlieferung der Digesten, das 15. Jahrhundert, den Humanismus Aristoteles NE F. Dirlmeier: Aristoteles. Nikomachische Ethik. Übersetzung und Kommentar. 1969 (5). (Eine Übersetzung der Nikomachischen Ethik ins Lateinische durch Leonardo Bruni lag schon 1417 vor). Blum P.R. Blum (Hg.): Philosophen der Renaissance. 1999. Budé Guillaume Budé: Annotationes priores et posteriores in Pandectas. 1508 u. ö.; 2017 Reprint der Ausgabe von 1556 by Forgotten Books. Burckhardt J. Burckhardt: Die Kultur der Renaissance. 1869; ND 1962. (Mehrere in der Begegnung Vallas mit seinem Freund erkennbare Aspekte der Zeit sind bei B. angesprochen: S. 103 der Ehrgeiz und der Durst nach Größe; S. 113 Fn.1 das Interesse an schnellen Publikationen; S. 106 der Typus des amusanten Menschen, uomo piacevole; S. 108 die Parodie des Feierlichen; S. 109 nachahmende Dramatik; S. 110 der Neid der Berühmten untereinander; S. 113 das Motto ‚veritas odium parit‘; S. 160 betr. das sparsame Zitieren). Dirlmeier Vgl. Aristoteles Gieseke L. Gieseke: Vom Privileg zum Urheberrecht. 1995; ND 1998. Keßler E. Keßler: Die Philosophie der Renaissance. Das 15. Jahrhundert. 2008. Pfeiffer R. Pfeiffer: Die Klassische Philologie von Petrarca bis Mommsen. 1982. Pieler P.E. Pieler: Byzantinische Rechtsliteratur, in : H. Hunger: Die hochsprachliche Literatur der Byzantiner. II 1978, S. 343–480. Savigny Friedrich Carl von Savigny: Geschichte des römischen Rechts im Mittelalter. 1815–18311; 1834–18512; ND 1956; Reprint durch Forgotten Books 2018. Troje H.E. Troje: Graeca leguntur. 1971; Crisis Digestorum. Studien zur historia pandectarum. 2011. Vadian J. Vadian: Vadianische Briefsammlung. (Hg. E. Arbenz, H. Wartmann). St. Gallen 1891–1913. Voigt M. Voigt: Über die Lex Fabia de plagiariis. In: Bericht über die Verhandlungen der … Gesellschaft der Wissenschaften zu Leipzig. 1885.
Lorenzo Valla: Der letzte Passus im Vorwort zu Buch II der Elegantiae39 III. 2: Sunt enim, qui nonnulla horum, quae a me praecipiuntur, vel de me vel de auditoribus meis audita, numquam enim ista suppressi [Ms sumpsi], 39 Der Wortlaut des hier abschließend zum Nachlesen gesetzten lateinischen Textes folgt dem der frühen Ausgaben aus Rom, Venedig, Paris und Köln; (IV.1). Varianten im Manuskript Vallas sind durch [Ms …] gekennzeichnet. Die schulübliche Orthographie, die Textgliederung, Zeichensetzung und Kennzeichnung des ã = Ablativ erleichtern das Verfolgen der Gedanken.
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in opera sua retulerint festinentque edere, ut ipsi priores invenisse videantur. Sed res ipsa deprehendet, cuius domini vere sit haec possessio. III. 3: Quorum unius libellos quosdam pro amicitiã cum legendos – eo praesente – coepissem, deprehendi quaedam mea: et quae me amisisse nesciebam, furto [Ms furtim] mihi sublata cognovi. Parco illius nomini. III. 4: Erat autem locus de per et quam in compositione, de qua re proximo libro disputavi. Et de quisque, cum adiungitur superlativo. Negligenter ille [locus] quidem et inscite tractatus, ut scires aliunde decerptum; non ex se prolatum et auditum, non excogitatum esse. III. 5: Conturbatus tamen sum et inquam homini: „Hanc ego elegantiam agnosco et mancipium meum assero teque plagiariã lege convenire possum.“ III. 6: At ille erubescens [Ms subito erubescens] ioco tamen atque urbanitate elusit, quod diceret uti rebus amicorum licere [Ms libere] ut suis. III. 7: „At istud, inquam, abuti est, non uti; nihil enim mihi reliqui fit, ubi tu huius rei, in qua ipse elaboravi, palmam semel occupaveris.“ III. 9: Tum ille etiam urbanius, quod malus parens essem, qui filios, quos genuissem et educassem, e contubernio eicerem. Ipse tum misericordiã, tum amicitiã nostrã ad se domum suam colligeret atque educaret pro suis. III. 10: Destiti in illum stomachari, intelligens multo magis mihi bona mea negligenti, quam illi bona ab aliis neglecta colligenti vitio dandum esse. III. 11: Quare quis non videt non inhonestum esse ea me mandare litteris ex me inventa, quae alii ne furto quidem sublata turpe sibi ducunt scriptis suis inserere. Adductus sum igitur ad hoc opus componendum non modo magnorum hominum consilio, sed etiam necessitate. Nunc ad inceptum redeundum est.
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Nicolaische Buchhandlung gegen Matthias Becker und andere. Oder: Die wilde verwegene Jagd auf Theodor Körner’s sämmtliche Werke
I. Am 4. Februar 1833 gelang dem Philologen Dr. Gustav Parthey (1798–1872), seit 1825 Inhaber der bestsituierten Nicolaischen Verlagsbuchhandlung in Berlin, ein einmaliger Coup.1 An diesem Wintertag nämlich übertrug ihm Anna Maria Körner (1762–1843), Witwe des Geh. Oberregierungs-Rats Christian Gottfried Körner (1756–1831),2 den „Verlag einer Gesamt-Ausgabe der Werke ihres verstorbenen Sohnes Theodor Körner“. Bis dahin hatte der Buchhändler nur ein Teil-Œuvre des bereits am 26. August 1813 blutjung dahingeschiedenen Dichterhelden vermarkten können. Carl Theodor Körner war als Offizier des Lützow’schen Freicorps in einem der Befreiungskriege gegen Napoleon gefallen.3 Nach seinem jähen Ende hatte der romantische Dichter wegen seiner im Felde verfassten „patriotischen Gesänge“ allgemeine Berühmtheit und – gerechtfertigt oder nicht4 – posthum den Rang eines deutschen Klassikers erlangt.5 1 Zu G. Parthey etwa Nomine, Sachverständigen-Verein 2001, 468. P. war Sohn des früheren Inhabers Daniel Parthey (1745–1822) und Enkel von Christoph Friedrich Nicolai (1733–1811), der wesentlichen Einfluss auf die Ausgestaltung der verlagsrechtlichen Vorschriften des preuß. ALR hatte nehmen können; Voigtländer, VerlagsR, Archiv f. Geschichte d. dt. Buchhandels 1898, 67. Siehe auch Schütze, 275 Jahre Nicolaische VBH 1988. Zu dem – seinerzeit auch den Verlag umfassenden – Begriff des Buchhandels etwa Keiderling, Die Modernisierung 2000, 31. 2 Ehemals sächs. Appellationsrat, Schriftsteller, ab 1815 im preuß. Staatsdienst; vgl. Brasch, Das Grab 1861, 17; Seifert, Christian Körner 1960. 3 Zur Person Jäger, Körner, NDB 1980, 378. Schulz, Dt. Literatur, Bd. VII/2 1989, 10, nennt einen Grund für die Körnerverehrung: „Die Sachsen zogen mit Napoleons Heeren … und wurden …. nahezu aufgerieben, während ihr Landsmann … als patriotischer Sänger der antinapoleonischen Sache auftrat.“ Weber, Lyrik der Befreiungskriege 2016, 189, meint, Körner sei der Dichter der (gebildeten) Freiwilligen gewesen, nach dem Sieg habe ihn „die deutsche Nation oder zumindest ihr literarisch aktiver Teil als ihren Helden“ adoptiert. Eine eingehende Darstellung der Kriege von 1807 bis 1813 bei Förster, Preußen und Deutschland unter der Fremdherrschaft, s.d. (1890?). 4 Die literarische Qualität der Arbeiten war immer umstritten. Die Wiener Allgemeine LiteraturZeitung bemängelte schon im Januar 1815, 103, die „Seichtigkeit“ zweier Dramen, sprach aber
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Der schriftliche, neun Paragraphen umfassende „Verlagskontrakt“6 sah vor, dass das „Eigenthum“ an dem Gesamtwerk „ohne alle Beschränkung in Hinsicht des Drucks, Papiers, der Zahl der abzudruckenden Exemplarien und der künftigen Auflagen [zu] übergeben … [war], indem sich [Frau] Körner … aller und jeder weiteren Ansprüche für jetzt und die Zukunft begibt“. Dafür erhielt die Witwe 1.500 preußische Taler und 12 Freiexemplare (§§ 1, 2, 5 des Kontraktes). Etwaige Rechte Dritter, insbesondere solche der Leipziger Buchhandlung Hartknoch,7 waren vom Verleger abzugelten; für den Kampf gegen den – sicher erwarteten – unerlaubten „Nachdruck“ der Ausgabe sollte Parthey alleine zuständig sein (§§ 3 und 4). Als weiterer Vertragspartner war der Schriftsteller und preußische Oberregierungsrat Karl Streckfuß (1778 bis 1844) gewonnen. Der im literarischen Milieu bestvernetzte gebürtige Sachse sollte als Herausgeber bereits gedruckter Werke, aber auch zahlreicher noch unveröffentlichter Arbeiten und Briefe fungieren und ein Vorwort schreiben (§§ 6 bis 9). Streckfuß war ein alter Freund der Familie und wurde deshalb „ohne jedes Honorar“ tätig. Er machte „jedoch die Bedingung, daß ohne seine Zustimmung nichts aufgenommen werde“ und erlangte damit ein Stück Deutungshoheit über das Schaffen des berühmten Autors. Die Edition selbst erschien im Januar 1834 in Berlin und Wien (bei Carl Gerold). Unter dem Titel Theodor Körner’s sämmtliche Werke. Einzig rechtmäßige Gesammt=Ausgabe in Einem Bande versammelte sie auf XXII und 384 Seiten sämtliche bis dahin gedruckten Werke des Dichters, aber auch zahlreiche, jedoch längst nicht alle unveröffentlichten Arbeiten und Briefe. Neben dem umfänglichen Vorwort von Streckfuß waren (wieder) abgedruckt die Sammlung der Kriegsgedichte Leyer und Schwert, weitere vermischte Gedichte (auch aus dem Nachlass), dramatische Werke (Trauer- und Lustspiele, Opern, Erzählungen), sogar mündliche Erzählungen Körners. Als Draufgabe konnte sich der Leser über voller Hochachtung von dem „für das Vaterland rühmlich gefallenen Dichter“. Nach Jäger, Körner, NDB 1980, 378, darf der „dichterische Wert der … Texte nicht zu hoch veranschlagt werden“. 5 Bis 1867 beherrschte der Stuttgarter Cotta den Klassikermarkt, der potentiell ewige Verträge über den Verlag der Werke von Goethe, Schiller und Herder besaß und, was den poetischen, gut verkäuflichen Verlag der Zeit anging, neben Göschen (Leipzig: Lessing, Wieland, Kloppstock; G. Reimer, Berlin: Jean Paul), eine monopolartige, im wahrsten Sinne des Wortes von Bundes wegen privilegierte Stellung hatte. Entsprechend gab es fortlaufend Klagen über (zu) hohe Preise. Cotta wurde vorgeworfen, die Rezeption der wichtigsten deutschen Dichter durch das breite Publikum zu behindern; dazu Sippell-Amon, Auswirkungen, AGB 1973, Sp. 349; siehe auch Fouquet-Plümacher, Kleist auf dem Buchmarkt, 19. Zur heutigen Bedeutung der Klassiker Matz, Deutschland entsorgt seine Literatur, FAZ vom 19.3.22, 18. 6 In: Preuß. Akademie der Künste, Akte 1399 (unfoliert); https://archiv.adk.de/media/4198746 (21.2.22). 7 Bei Friedrich Hartknoch dem Jüngeren (1769–1819) erschienen auch Werke von Knigge, Arndt, Schopenhauer und Tiedge.
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einige Poeme auf den Gefallenen, vier seiner Kriegslieder in englischer Übersetzung sowie eine von dem bekannten Schriftsteller Christoph August Tiedge (1752–1841) verfertigte Biographie und Charakteristik freuen. Der Subskriptionspreis des Bandes, der bis 1847 insgesamt vier Auflagen erleben sollte, betrug 4 fl. 48 Kreutzer.8 Daneben (und wiederholt in den Jahren 1842, 1847, 1853, 1855, 1863, 1867) legte Nicolai eine Gesamtausgabe in vier Bänden auf, sehr viel später lieferte die Buchhandlung auch so genannte Prachtausgaben. Wie im Verlagsvertrag vorausgesehen, machte sich sofort nach dem Erscheinen eine Heerschar von Verlagsbuchhändlern über das Werk her, die sich das Autoren-Honorar sparten. Parthey aber schickte sich an, das (vermeintlich) erworbene geistige Eigentum, zumindest aber sein Verlagsrecht, mit Zähnen und Klauen zu verteidigen. So führte er ab 1834 zahlreiche Prozesse gegen fremde Herausgeber, die in den nicht-preußischen Staaten des deutschen Bundes ihr Wesen trieben, vor allem aber bekämpfte er inländische Raubdrucker und deren Distributoren. Die einzelnen Verfahren sind der Erinnerung wert, weil sie ein Schlaglicht werfen auf die zumindest in Preußen (aber auch anderswo) überraschend gute justitielle Bewältigung der seit Jahrzehnten virulenten Nachdrucksproblematik.9 Interessant ist auch, dass ein ab 1834 in Bayern – allerdings vor den dortigen Polizeibehörden – geführter Rechtsstreit Gegenstand einer Beratung im preußischen Staatsrat werden konnte; die in dem Fall getroffenen abwegigen Entscheidungen nahm Julius Eduard Hitzig (1780–1849), der Doyen der preußischen Wissenschaft vom Urheber-Recht, als abschreckendes Beispiel in seinen Kommentar zum Urheberrechtsgesetz von 1837 auf.10 Zwei spätere Verfahren lagen dem Königlich Preußischen Literarischen SachverständigenVerein zur Begutachtung vor.11 Zuletzt musste die sächsische Gerichtsbarkeit über die Wirkungen eines in Preußen ergangenen Urteils befinden. Am bitteren Ende jedoch stand für Parthey eine wegweisende Entscheidung des Berliner Obertribunals, das gleich mehrere der (noch heute diskutierten) Fragen um das so genannte ewige Verlagsrecht beantwortete.12 8 So eine großvolumige „Suscriptions-Anzeige“ von Juni 1833, Literarischer Anzeiger 1833, Nr. IV. 9 Vgl. die Auflistung zahlreicher Nachdrucks-Prozesse seit 1837 bei Nomine, SV-Verein 2001, 355ff. Ein Beispiel aus der Zeit vor 1837 gibt v. Ungern-Sternberg, Wieland, AGB 1974, Sp. 1463, der den ab 1792 geführten Rechstreit um den Nachdruck der Werke Wielands darstellt. 10 Hitzig, Das Preuß. Gesetz, 1838. Zur Person etwa Gieseke, Erinnerung, UFITA 2006, 173. 11 Dazu eingehend Nomine, SV-Verein 2000; Hitzig war Gründungsvorsitzender. 12 Das ewige Verlagsrecht entsprach der „traditionellen, gewerberechtlichen Lehre“ vom Verlagseigentum, so Vogel, Urheberrechtsgeschichte 1978, Sp. 97; Gieseke, Privileg 1995, 189; Jänisch, Geistiges Eigentum 2002, 49; Heymann, Zeitliche Begrenzung, in: Sitzungsberichte preuß. Akademie der Wissenschaften 1927, 81; Nomine, Vestigia, UFITA 2007 (II), 484. Zu der Diskussion um den Nachdruck ab 1790 zuletzt Andersch, Büchernachdruck 2018. Siehe auch v. Oelenhusen, „Ewiges geistiges Eigentum“, in: FS Roeber 1982, 83.
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Aus Raumgründen verbietet sich hier allerdings die eigentlich gebotene vertiefte Auseinandersetzung mit der cause célèbre. Möglich ist aber ein Überblick über das Geschehen, wobei der eigentliche Sachverhalt etwas breiter erzählt werden muss: schon die tatsächliche Grundlage, auf der die gerichtlichen Entscheidungen fußten, ist für die Nachgeborenen nicht ohne weiteres nachzuvollziehen.13 Im übrigen liegt der Schwerpunkt auf dem vom Obertribunal entschiedenen Fall „Parthey wider Becker“.
II. Der 1791 in Dresden geborene Körner war schon früh mit den Größen des Literaturbetriebes (wie Goethe und Schiller, aber auch Daniel Parthey (1745– 1822), dem vormaligen Inhaber der Nicolaischen Buchhandlung und Vater von G. Parthey) in freundlichen Kontakt gekommen. Er verbrachte seine Jugend zunächst als ewiger (Bergbau-)Student in Freiberg und Leipzig; ermuntert durch den stolzen Vater und dessen illustre Bekannte verfertigte er nebenbei Gedichte. In Wien allerdings, wohin er 1811 wechselte und bis zu seiner Meldung in den Krieg blieb, schrieb Körner zahlreiche kleinere Lustspiele und Erzählungen, daneben Opern- und Operettenlibretti sowie mehrere Dramen, die ihm die Stellung eines Hoftheaterdichters einbrachten. Unmittelbar nach dem Eintritt in das Freikorps begann er mit der Abfassung der erwähnten Kampf- und Freiheitslieder, unter diesen auch die bekannte Lützows wilde verwegene Jagd. Zum Teil vertont und zunächst wohl handschriftlich weitergegeben, wurden die Texte, so ging jedenfalls die Fama, begeistert im Kreise der Kriegsfreiwilligen gesungen.14 Einer breiteren Öffentlichkeit allerdings blieb die umfangreiche Gesamtproduktion zunächst verborgen. Vor dem gewaltsamen Tod des Poeten am 26. August 1813 bei Gadebusch kamen nur einige frühe Gedichte im Druck heraus (1810 als „Knospen“15 bei Göschen in Leipzig). Einzelne Arbeiten fanden auch den Weg in die Literaturzeitungen.16 Am 17. Juni 1813 erlitt Körner bei Leipzig eine erste lebensbedrohliche Kriegsverletzung, wurde aber aufopferungsvoll gesundgepflegt. Kurz danach tauchte in Berlin ein Propaganda-Flugblatt auf, das die heroisch überwundene Gefahr thematisierte: Drei Deutsche 13 Zu den Problemen historischer Rekonstruktionsarbeit zuletzt Geimer, Die Farben der Vergangenheit, 2022, 9. 14 So jedenfalls Mühlfeld, Körner 1862, 190. 15 Darin etwa: Der Kampf der Geister; Der Schreckenstein. Neudruck erst 1831 bei Vogler in Potsdam. 16 Etwa Urania 1810, 132: Der Schreckenstein. Dazu Goedeke, Grundriß III 1881, 231. Nachweise bei Peschel, Körner-Bibliographie 1891, 19. Er gibt einen (allerdings nicht ganz fehlerfreien) Überblick über das (nach-)gedruckte Werk.
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Gedichte von Theodor Körner. Jäger beim Lützowschen Freicorps, darin das Lied des Jäger-Corps, bei Einweihung der Fahnen und das in Todesnot geschriebene Sonnet Abschied vom Leben, welches am 21. August 1813 auch die Nr. 100 der Berlinerischen Nachrichten schmückte.17 Alle übrigen Werke erschienen posthum. Noch mit lebzeitiger Zustimmung des Verfassers publizierte der renommierte Wiener Verleger Johann Baptist Wallishausser (1790–1831) eine Vielzahl der Bühnenstücke Körners wie Toni oder Der grüne Domino; sie kamen ab Winter 1813 unter dem Titel Dramatische Beiträge heraus, zum Teil auch als Einzelausgaben.18 Ein Wilhelm Kunze veröffentlichte im November 1813 in Leipzig einige der Kampfgesänge, aber auch frühere Arbeiten als Zwölf freie deutsche Gedichte, wohl ebenfalls mit Erlaubnis des Dichters selbst.19 Im Februar 1814 brachte der Buchhändler Baumgärtner ebenda zahlreiche (Kriegs-)Gedichte unter dem martialischen Titel: Körner’s poetischer Nachlass oder dessen Gefühle im poetischen Ausdrucke, bei Gelegenheit des ausgebrochenen deutschen Freiheitskrieges. Aus dem Portefeuille des Gebliebenen, herausgegeben von Freymann. Der Herausgeber hatte sich irgendwie in den Besitz eines Körnerschen Taschenbuchs gebracht, in das zahlreiche Kriegslieder eingeschrieben waren.20 Wohl ebenfalls im Frühjahr 1814 folgte bei Carl Gottlob Gärtner (1767–1828) in Dresden das jetzt von Vater Christian Körner veröffentlichte Büchlein Für Theodor Körners Freunde, welches Gedichte auf den Verblichenen, aber auch einige Poeme aus dem Nachlass brachte. 1814 besorgte dann Körner senior die erwähnte Gedichtsammlung Leyer und Schwert, sie enthielt auch die freien Lieder und erschien bei Nicolai in Berlin. Gustav Parthey behauptete später, das Manuskript dazu habe der Dichter selbst und „wenige Wochen vor seinem Tode“ dem Vater Daniel Parthey überlassen.21 1815 wechselte Christian Körner in den preußischen Staatsdienst; im selben Jahr gab er zusätzlich einen mehrbändigen Poetische[n] Nachlaß heraus (bei der im Verlagsvertrag erwähnten Buchhandlung Hartknoch in Leipzig), darin auch die
17 NN., Th. Körner: „Da kritzelte er, mit unverbundener tiefer Wunde, ohne letzte Stärkung, in der Nacht folgendes Sonnet in seine Schreibtafel, und fiel bald darauf in einen Todesschlummer, aus dem er aber den andern Mittag glücklich wieder zum frischen Leben erwachte“. 18 Nicht allerdings die Verlagsrechte an den Trauerspielen Zriny und Rosamunde; dazu Berger, Körner 1912, 199. Einige Arbeiten wie das das Singspiel Der vierjährige Posten erschienen auch gesondert. Näher Rabenlechner, Streifzüge 1931, 29 (Nachdruck 1994). 19 Kunze erklärte, Körner habe ihm die wilde Jagd diktiert und 11 weitere Gedichte zur Veröffentlichung übergeben; A.B., Körner’s Leier und Schwert, Gartenlaube 1863, 116. Eine zweite Auflage erschien kurz danach bei Nicolai; Weber, Lyrik der Befreiungskriege 2016, 192. 20 Peschel, Körner’s Tagebuch 1893, 20; vgl. Weber, Lyrik, 192. 21 Zu dem Vorgang Weber, Lyrik, 192 Fn. 272; G. Parthey, Eingabe an den preuß. Justizminister vom 20. Oktober 1852, in: Acta des JustizM betr. den Nachdruck 1846–1855, GStA PK, HA I, Rep. 84 a, Nr. 2375, Bl. 339.
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zunächst nicht bei Wallishauer erschienenen Dramen Zriny und Rosamunde.22 1821 veranstaltete er auch eine zweite, vermehrte Ausgabe der Dramatische[n] Beiträge, nun allerdings bei Nicolai. Die genannten Anthologien erlebten zahlreiche Auflagen.23
III. Wenig verwunderlich erschienen ab der Jahreswende 1813/14 eine Unzahl von (Nach-)Drucken sowohl einzelner Werke als auch der Sammlungen, ohne dass auch nur eine gefühlte Erlaubnis dazu vorgelegen hätte. So gab etwa der Wiener Buchhändler Rudolph Sammer 1814 die Sammlung Leyer und Schwert heraus, gar als die „von dem Vater des Dichters veranstaltete Ausgabe“. Sammer immerhin berief sich noch auf eine gegenüber der Allgemeinheit bestehende Pflicht zum Handeln: „Die Buchhandlung glaubt dem Publicum bey der Herausgabe seines Nachlasses zugleich einen Dienst leisten zu müssen, indem sie die authentische Nachricht von dem Tode des Dichters liefert, welche vielleicht Wenigen bekannt, aber jedem interessant seyn wird“. 1815 druckte die ebenfalls in der österreichischen Hauptstadt domizilierte Haas’sche Buchhandlung sowohl Leyer und Schwert als auch den Poetische[n] Nachlass; der Nachdruck wurde als Theodor Körners vermischte Gedichte und Erzählungen unters Volk gebracht. Der örtliche Konkurrent Ph. Bauer ließ im gleichen Jahr Theodor Körners Gedichte und dann einige Prosaische Aufsätze im Taschenformat folgen.24 Th. Körner’s sämmtliche Gedichte vertrieb auch die W. Spitzische Buchhandlung in Köln, die 1816 in der Rheinprovinz des Königreichs Preußen ihren Geschäften nachging.25 Der bekannte Nachdrucker C. F. Macklot in Stuttgart (Königreich Württemberg) publizierte zwei Jahre später gleich eine Ausgabe von Theodor Körners sämmtliche[n] Werke[n].26 1817 schlug die Firma Gebrüder Schumann aus Zwickau zu und übernahm einige auserlesene Gedichte Körners in ihre Etui=Bibliothek der deutschen Classiker. Der Inhaber August Schumann (1773–1826) war auf den Verlag der Werke Verstorbener spezialisiert, die er als gemeinfrei behauptete. Im übrigen 22 Enthalten waren auch frühere Gedichte (wie die Knospen) und Erzählungen. Der erste Band kostete nach einer Anzeige in der Allg. Literatur-Ztg. 9/1814, Sp. 137, einen Reichstaler. 23 Allein Leyer und Schwert erschien bis 1834 in sieben Auflagen. 24 Bauer, Verzeichniß der Verlags-Bücher 1817, 18; zu Bauer etwa Hupfer, Geschichte des antiquarischen Buchhandels 2003, 172. 25 Peschel, Körner-Bibliographie 1891, 22. 26 Der erste Band etwa enthielt die Knospen, Leyer und Schwert, Vermischte Gedichte und sogar einen Nachtrag aus des Dichters Nachlasse. Zu dem Skandal um den Nachdruck der Enzyklopädie Nomine, Rezension Gergen, Privilegienpraxis, UFITA 2010, 898ff.
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druckte Schumann ausschließlich mehr oder minder vollständige Auszüge aus fremden Werken, was er ebenfalls für erlaubt hielt. Zur letzten Sicherheit schließlich handelte Schuhmann gewöhnlich unter auswärtigen Briefkastenfirmen, im konkreten Fall als (Schein-)Verlag Forstmann zu Aachen.27 Auch die wirklich professionellen Verwerter fremder Geistesleistung bewegten sich in der Grauzone um die offene Frage, ob die Aufnahme einzelner Arbeiten oder gar eines Gesamtwerkes in eine Buchreihe verschiedener Autoren nicht als erlaubte, jedenfalls moralisch vertretbare Anthologie, Chrestomathie oder Auszug durchgehen könnte.28 So widmete 1823 der Karlsruher Hofbuchhändler C(hristian) F(riedrich) Müller dem Werk Körners gleich mehrere Bände seiner Sammlung der vorzüglichsten deutschen Klassiker, die er unter der wohlklingenden Firma Bureau der deutschen Classiker an die Öffentlichkeit brachte. Die Kollektion nachgedruckter Kassenschlager umfasste zuletzt 173 Bände und war sogar mit einem „Großherzoglich Badischen gnädigsten [Druck-]Privilegio“ versehen. Die Ausstattung der Reihe war gediegen; in einem Werbeprospekt verteidigte auch das Bureau die Herausgabe als jedenfalls sittlich erlaubt.29 1827 bemächtigte sich auch das berühmt-berüchtigte Bibliographische Institut (damals noch in Gotha, wenig später in Hildburghausen, Herzogthum SachsenMeiningen) einiger Arbeiten Körners. Sein Geschäftsführer und faktischer Inhaber, der gelernte Kaufmann und Hassadeur Carl Joseph Meyer (1796–1856), hatte den Verlag erst im Jahr zuvor gegründet. Die Haupt-Geschäftsidee ähnelte der seines Karlsruher Kollegen: Angeblich zum Nutz und Frommen des breiten Publikums druckte Meyer ab dem 15. Juli 1827 eine Cabinets-Bibliothek der Deutschen Classiker, die – allwöchentlich im Format von 9 x 14 cm ausgeliefert – eine „Auswahl des Schönsten und Gediegensten aus … sämmtlichen Werken“ zahlreicher mutmaßlicher Großdichter präsentierte und zuletzt auf über 150 Bändchen anschwoll. Daneben verkaufte der Jungverleger eine Miniaturausgabe, die putzige 7,0 x 11,5 cm maß, beide Ausgaben selbstverständlich zu unerreicht wohlfeilen Preisen. Im Besitz irgendwelcher, von den Originalverlegern teuer bezahlter (Verlags-)Rechte war er nicht. Er behauptete aber, die ausgegebene 27 Die schlichte Ausstattung war mit 9 gGr pro Band relativ teuer; Berger, Buchhandel, Archiv f. Geschichte dt. BH II 1879, 129. Vgl. NN, Miniaturbuch, Etui-Bibliothek, https://www.yump u.com/de/document/read/10875387/deutschsprachige-miniaturbuch-reihen-etui-bibliothek -der-. Schumann gab auch eine vielbeachtete Taschenbibliothek der ausländischen Klassiker heraus (insoweit ohne auf fremde Rechte achten zu müssen). 28 Bloße Auszüge aus Werken waren wohl so gut wie überall gestattet (explizit etwa durch Ziff. IV des sächsischen Censur-Mandats vom 10. 8. 1812; abgedruckt bei Nomine, Schelling, in: Gergen (Hg.), Reichshofrat 2019, 238. 29 Vgl. Füssel/Estermann, Belletristische Verlage, in: Jäger (Hg.), Geschichte des dt. BH (Kaiserreich) 2003/2, 174. Dazu auch Fürst, „Diebesbande“, in: Buchhandelsgeschichte 1997, B 45. Das Bureau druckte auch Gesamtausgaben der Werke Körners, 1818 etwa als Sämmtliche Werke – 1828 auch unter der Fa. C. F. Müller in Amberg, also im Königreich Bayern.
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Anthologie, insbesondere auch die Veröffentlichung (nur) von Auswahlbändchen greife nicht in die Rechte von Autoren und deren (Monopol-)Verleger ein. Auch Meyer zeigte sich überzeugt, dass der Abdruck klassischer Werken der Nationalliteratur im Interesse der bildungshungrigen Öffentlichkeit erlaubt, jedenfalls moralisch geboten sei30 und räumte deshalb auch Körners Gedichten und dem zwischenzeitlich gut bekannten Zriny einen Platz in seinen Sammlungen ein: im fünften bzw. im 34. Band. Begünstigt wurde das hier nur ansatzweise darstellbare Treiben vor allem dadurch, dass bis 1833 – dem Jahr des Vertragsschlusses zwischen der Witwe Körner und Gustav Parthey – der für den Schutz des geistigen Eigentums eigentlich zuständige Deutsche Bund noch nicht einmal ein allgemein geltendes Nachdrucks-Verbot verfügt hatte (es sollte erst 1834 folgen), von dem Erlass einer die Einzelheiten regelnden Norm ganz zu schweigen; die erging erst weitere drei Jahre später und auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner als Bundesbeschluss vom 9. November 1837.31 Die Sicherung der intellektuellen Leistung war damit allein den (um die vierzig) deutschen Ländern überlassen, die auf diesem Gebiet schon immer völlig unterschiedliche politische und wirtschaftliche Interessen verfolgten. In einigen Bundesstaaten war der Rechtsschutz nach wie vor nur mittels eines gnädig erteilten Privilegs zu erreichen, so etwa im Königreich Württemberg, das den Nachdruck insbesondere ausländischer Schriftwerke duldete und mitunter gar förderte. Andere Ländern hatten die ungenehmigte Vervielfältigung von Schriftwerken zwar schon vor 1815 gesetzlich oder gesetzesähnlich untersagt: so etwa Sachsen (Mandat, den Buchhandel betreffend, von 1773) und Preußen (ALR für die preußischen Staaten von 1794), aber auch in Österreich (Zensurpatent vom 11. Juni 1781) und Baden (Landrecht von 1810).32 Die entsprechenden Vorschriften hätten aber unterschiedlicher nicht sein können, was Anknüpfungspunkt und Gegenstand, wie auch Umfang und Dauer des Schutzes geistiger Erzeugnisse anbelangte. Einige Gesetze, etwa das ALR, waren fokussiert auf ein – allerdings vom Autor zu erwerbendes – Verlagsrecht (grundsätzlich des Buchhändlers) und stellten die bereits erwähnte gewerberechtliche, potentiell ewige Druckbefugnis in den Vordergrund, während andere an das geistige Eigentum des Urhebers anknüpften – etwa das badische Landrecht.33 Sachsen wiederum verband die Organisation des Buchhandels mit dem Privilegienge30 Dazu Sarkowski, Das Bibliograph. Institut 1976, 24; vgl. Hohlfeld, Das Bibliograph. Institut 1926, 48 u. 202, der auch die einzelnen Bände auflistet. Eingehend zu Meyer auch: Neuenfeld, Der Verleger Carl Joseph Meyer, in: UFITA 2012, 119ff. 31 Eingehend Wadle, Bundesbeschluß, GE I 1996, 223; vgl. Nomine, Zur Geschichte, JEHL 2021 (II), 1. 32 Dazu etwa Nomine, Plus valet, in: v. Olenhusen/Gergen (Hg.), FS Vogel 2017, 149. 33 Vgl. Wadle, Ein Projekt, GE II 2003, 359.
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danken. Zuletzt gab es auch Bundesglieder, die, wie die Freie Stadt Frankfurt, vollständig auf eine moderne(re) Gesetzgebung verzichteten.34 Zur weiteren Verwirrung trug bei, dass selbst Länder mit gesetzlicher Regelung noch DruckPrivilegien gewährten, gerade auch zugunsten im Inland (nach-)gedruckter ausländischer Werke.35 Das war insoweit auch unproblematisch möglich, als sich die gesetzlichen Verbote grundsätzlich gegen den Nachdruck einheimischer Schriften richteten. Ab 1827 hatte Preußen auf diesen Umstand mit der Vereinbarung zahlreicher Literatur-Verträge mit anderen deutschen Staaten reagiert, der Deutsche Bund immerhin 1832 einen Beschluss über die Gewähr formeller Gegenseitigkeit gefasst.36 Theodor Parthey also musste 1833 eine tatsächlich und rechtlich schwierige Lage meistern: Sein Autor Theodor Körner war ein minderjährig verstorbener Sachse und hatte selbst a) nur wenige frühe Gedichte drucken lassen (in Sachsen), b) auch nicht alle Dramen in Verlag gegeben (wenn, in Österreich), c) die Herausgabe von zwölf der zuletzt verfassten (Freiheits-)Gedichte nur irgendwie veranlasst (in Sachsen) und d) die Veröffentlichung kleinerer Werke in deutschen Zeitschriften bzw. als Flugblätter allenfalls geduldet. Daneben hatte sein Vater als (Mit-)Erbe37 herausgegeben: e) die Gedichtsammlung „Leyer und Schwert“ bei Nicolai (in Preußen), f) bereits anderweit gedruckte Dramen und Gedichte bei dem Sachsen Hartknoch und g) eine vermehrte Neuauflage der in Österreich erschienen Werke (wieder bei Nicolai).
IV. In Berlin allerdings, wo der Vertrag mit der Witwe Körner (als Erbin auch nach dem Vater des Autors) geschlossen wurde, konnte Parthey auf das gesetzliche Nachdrucksverbot des ALR setzen: § 1294, Teil II, Tit. 20 ALR regelte kurz und bündig: „Bücher, auf welche ein Königlicher Unterthan das Verlagsrecht hat, soll 34 Zusammenfassend Wadle, Rechtsprobleme, GE II, 133. Württemberg, wo das Rescript vom 25. 2. 1815 galt, machte immerhin das überkommene Privilegiensystem berechenbarer; eingehend Gergen, Nachdrucksprivilegienpraxis 2007. 35 Auch das preuß. ALR erlaubte den Nachdruck von Büchern aus Staaten, die ihrerseits in ihrem Lande den Nachdruck zum Schaden preuß. Verleger zuließen; dazu Wadle, Privilegien, GE II, 165. Die verlagsrechtl. Vorschriften des ALR abgedruckt bei Eisenlohr, Slg I 1856, 51 und auszugsweise im Anhang. 36 Beschluß, die Sicherstellung der Schriftsteller und Verleger gegen den ND betreffend, vom 6. 9. 1832; Prot. DBV 1832, 1176. Eisenlohr, Slg II 1857, 51, listet 31 bis 1929 geschlossene Staatsverträge zwischen Preußen und anderen Bundesstaaten auf. 37 Th. Körner war kinderlos; nach sächsischem Recht erbten beide Eltern; vgl. Curtius, Handbuch des Civilrechts 2/2, Abt. 4, 1848, 541. Körner senior starb dann wohl als preuß. Staatsbürger und wurde dort von seiner Ehefrau beerbt.
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niemand nachdrucken“.38 Geschützt war – wie bereits gesagt – ein vom Autor abgeleitetes Verwertungsrecht, nämlich die gewerberechtliche „Befugniß eine Schrift durch den Druck zu vervielfältigen“, deren Voraussetzungen, Umfang und Dauer erstaunlich ausführlich in den verlagsrechtlichen Bestimmungen im ersten Teil des Gesetzes (§§ 996–1036, Tit. 11) normiert waren.39 Nach diesen Vorschriften gab der Schriftsteller, der einen Verlagsvertrag abschloss, die Mehrzahl seiner Rechte an den Buchhändler ab. Der dem Autor verbleibende Rest war inhaltlich und vor allem zeitlich sehr beschränkt, weil prinzipiell unvererblich. Dafür aber konnte der Verleger, dessen Handlung die Zeiten überdauerte, auf einen praktisch unbefristeten Schutz, das bereits erwähnte „ewige Verlagsrecht“ hoffen.40 Das ALR unterschied insoweit zwischen der sogenannten Auflage einer Schrift (dem unveränderten Abdruck im selben Format, § 1011) und der Ausgabe (dem Neudruck in veränderter Form oder mit verändertem Inhalt; § 1012). Beim Fehlen einer Vereinbarung über die Auflagenhöhe konnte der Verleger beliebig viele Exemplare drucken lassen;41 bis zu deren Absatz war (selbst) dem Verfasser jede neue Ausgabe verboten, wenn er nicht die verbliebene Reste dem Buchhändler abkaufte (§§ 1018f.). Das Recht des Autors, einen veränderten Neudruck, eine neue Ausgabe also zu verhindern, endete prinzipiell mit dessen Ableben (§§ 1017, 1020); eine zeitliche Begrenzung des Verlegerrechts dagegen war zumindest nicht ausdrücklich geregelt. § 1029 allerdings sah vor, dass mit dem Eingehen einer Buchhandlung (und dem Tode des Verfassers) jedermann eine neue Ausgabe veranstalten durfte. Einer weiterexistierenden Buchhandlung aber verblieb jedenfalls das Recht, ohne zeitliche Schranke, also theoretisch ad calendas graecas Neuauflagen zu veranstalten (und damit auch weitere Ausgaben zu verhindern): das ewige Verlagseigentum also.42 38 In den nach 1815 gewonnenen Rheinprovinz(en) war der Nachdruck nach dem fortgeltenden Rheinischen StGB vom 19. 2. 1810 verpönt. Dort war sogar das geistige Eigentum des Autors anerkannt. Das (französische) G. vom 19. 7. 1793 bzw. das Dekret vom 5. 2. 1810 (Règlement sur l’imprimerie et la librairie) schützten dessen Recht (und dann das der Witwe) auf Lebenszeit, das der Kinder 20 Jahre lang (Art. 39 und 40); abgedruckt bei Osterrieth, Altes und Neues 1892, 39. Vgl. Sattler, Das Urheberrecht nach dem Tode 2010, 82. 39 Eingehend Dölemeyer, in: Coing (Hg.), HB der Quellen (III/3) 1986, 4009; Andersch, Diskussion 2018, 457.Vgl. Nomine, Entwurf, UFITA Bd. 2003 II, 365. 40 Gieseke, Privileg 1998, 189. NN, Ueber das Verlagsrecht, in: Börsenblatt Nr. 49 vom 21. 5. 1844, meint, das Verlagsrecht einer Buchhandlung sei angesichts des § 1029 ALR „in dubio von ewiger Dauer“. Erst die Bundesgesetzgebung sowie das preuß. Urheberrechtsgesetz von 1837 führten eine zeitliche Schranke (das Jahr 1867) ein; dazu sogleich. Vgl. Veit, Erweiterung des Schutzes 1855. Instruktiv Peukert, Die Gemeinfreiheit 2012. 41 Das galt natürlich erst recht, wenn der Verleger vertragsgemäß beliebig viele Auflagen veranstalten durfte. 42 Löhnig, Der Schutz, ZNR 2007, 214, meint, das ALR habe das Verlagsrecht als „ein vom Eigentumsrecht des Autors verschiedenes Benutzungsrecht“ geregelt und ein „geistiges Ei-
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Angesichts des Bundesbeschlusses von 1832 und der bestehenden zwischenstaatlichen Literaturverträge waren diese Normen auch in den nicht-preußischen Staaten von Bedeutung. Diesen rechtlichen wie tatsächlichen Umständen nun trug der erwähnte Verlagsvertrag ohne weiteres Rechnung. Der erfahrene Buchhändler Parthey hatte jedenfalls die Befugnis gekauft, das Gesamtwerk unbegrenzt neu aufzulegen, dabei praktischerweise das Recht gleich miterworben, andere Formate und anderes Papier zu wählen (also auch neue Ausgaben zu veranstalten). Damit, so glaubte er jedenfalls, war das Verlagsrecht zumindest in Preußen für immer geschützt.43 Zur weiteren Stabilisierung seiner Rechtsposition beantragte er bei der königlich-württembergischen Obrigkeit ein „sechsjähriges Privileg gegen den Nachdruck der Gesamtausgabe von Theodor Körners Schriften“, das seiner Buchhandlung auch unter dem 21. Februar 1833 gnädigst erteilt wurde.44 1. Die zu erwartende Probe aufs Exempel machte zunächst die Verlagsbuchhandlung von Johann Alois Schlosser (1777–1858) im bayerischen Augsburg. Schon 1834, im Jahr des Nicolaischen Erstdrucks, publizierte sie ungeniert Theodor Körner’s sämmtliche Werke. Neue nach den besten Lesearten besorgte und durch beigefügte erläuternde Anmerkungen auch zum Schulgebrauch eingerichtete Ausgabe. Das Werk erschien sowohl in neun Bändchen „im roten Umschlag“ als auch in einem einzigen, „länglichen Bande“, bestimmte Teile des Originals (etwa das Vorwort) fehlten. Zur Verschleierung der infamen Tat, die auch im Königreich Bayern strafbar war (Art. 397 III StGB gestattete den Nachdruck eines Werkes nur, wenn es „zu eigenthümlicher Form verarbeitet“, also inhaltlich bearbeitet herausgegeben wurde),45 firmierte als Verleger ein Dr. Adolph Markgraf, als Druckort und -jahr waren Yverdun 1833 angegeben. Parthey, der sich „durch diese Nachdrucke auf das Empfindlichste in [seinem] gentum“ des Autors anerkannt. Vogel, Urhebergeschichte 1978, Sp. 97 schreibt dagegen, der Autor sei „nicht Träger eigener positiv-rechtlich definierter Rechte“ gewesen. Jänisch, Geistiges Eigentum 2002, 47, spricht von Autorbefugnissen, die „heute als Elemente des Urheberrechts begriffen“ würden. Instruktiv auch Strömholm, Le droit moral 1966, 217. 43 Kaiser, Preuß. Gesetzgbg. I 1862, 19, riet noch Jahrzehnte später dazu, einen möglichst umfassenden Verlagsvertrag zu schließen: „Ueberdies sprechen die §§ 1013–1015 … nur von Auflagen, … welche in der Praxis äußerst selten vorkommen. Dieser Umstand hat namentlich mit Rücksicht auf §§ 1016–1018, in denen wieder von Ausgaben, also von veränderten Abdrücken, die Rede ist, den juristischen Schriftstellern Anlaß zu weitläufigen Auseinandersetzungen gegeben, welche aber einem verständigen Verlagsvertrage gegenüber … für die Praxis ohne allen Werth sind.“ 44 Regierungsblatt f. Württemberg vom 2. 3. 1833, 48. Eingehend Gergen, Nachdrucksprivilegienpraxis 2007, 318. 45 Th. I, Art. 397 III des bayerischen StGB von 1813: „Wer ein Werk … ohne Einwilligung seines Urhebers , … oder Anderer, welche die Rechte … erlangt haben, durch Vervielfältigung mittelst Druckes … in dem Publikum bekannt macht, ohne dasselbe zu eigenthümlicher Form verarbeitet zu haben, wird, … nach den … Polizeistrafgesetzen … bestraft.“
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Eigenthum verletzt“ sah, dessen Möglichkeiten zur Klageerhebung in Bayern aber aus naheliegenden Gründen begrenzt waren, nahm den für einen Berliner Buchhändler üblichen Weg: Er bat das preußische Außenministerium um Vermittlung einer Strafanzeige gegen Schlosser (verbunden mit dem Antrag auf Beschlagnahme der Nachdrucksexemplare) nach dem Königreich Bayern, mit dem seit 1929 ein Staatsvertrag bestand.46 Der Magistrat zu Augsburg, die für die Verfolgung und Aburteilung des Nachdrucks zuständige bayerische Polizeibehörde, ließ tatsächlich einige der von Schlosser vertriebenen Bücher beschlagnahmen;47 sprach dann aber den Buchhändler – horribile dictu – „per sent. de publicato den 19. Juni 1835“ in der Sache frei. Am 28. Oktober 1835 befand auch die Regierung des Oberdonaukreises in zweiter und letzter Instanz, Schlosser sei des Nachdrucks nicht schuldig und hob die „provisorisch verfügte Hemmung des Debits“ mit einer, so jedenfalls der bereits erwähnte Hitzig, wahrlich „monströsen“ Begründung wieder auf: Die zu „eigenthümlicher Form verarbeiteten“ Augsburger Ausgaben seinen kein Nachdruck im Sinne der Norm: „Die Schlossersche Ausgabe in Einem Bande [ist] mit der von [Nicolai] veranstalteten … gleichzeitig erfolgt, [kann] daher kein Nachdruck der letztern seyn, welches dadurch außer Zweifel gesetzt [wird], daß … wesentliche Bestandtheile …, namentlich der ganze Nachlaß des Dichters, dessen Charakteristik, und die Vorrede von Streckfuß [fehlen]. Von der andern Ausgabe [gilt] im Materiellen das nämliche; außerdem [ist] aber bei dieser auch noch eine andere Form [sprich: ein anderes Format, R.N.] gewählt worden.“48
Parthey war außer sich: Unter Vermittlung des preußischen Außenministeriums wandte er sich an den bayerischen Innenminister und forderte die Abänderung der Augsburger Entscheidung.49 Tatsächlich erging schon am 8. April 1836 eine an Eindeutigkeit nicht zu überbietende „Ministerial=Entschließung“, die „von Oberaufsichts wegen“ zur neuerlichen Würdigung des Geschehens um den buchstäblichen Nachdruck der Körner’schen Werke anwies und befahl, „dem Debite der fraglichen Werte sogleich wieder Instand“ zu geben: „Die … gefaßten Beschlüsse … ermangeln des strengen Einklanges mit den … gesetzlichen Vorschriften. Nach Art. 397 [StGB] … wird nämlich der Begriff des Nachdrucks nur durch das Verarbeiten eines Werkes zu eigenthümlicher Form beseitigt. Bloße Zugaben … oder Aenderungen im Formate aber sind keine Verarbeitung … . Sie
46 Mit Schreiben vom 19. 9.1834; Acta betr. die Beschwerde über den Nachdruck von Werken von Theodor Körner (1834 bis 1838), GStA PK III. HA, MdA III, Nr. 18643 (unfoliert). Den Vertrag mit Bayern erwähnt Eisenlohr, Slg. II 1857, 51. 47 Schlosser allerdings verkaufte ungeniert weiter – jedenfalls in Süddeutschland. 48 Hitzig, Das Preuß. Gesetz 1838, 12, der den Fall nacherzählt – allerdings nicht bis zu Ende. 49 Das ausführlich begründete Schreiben vom 11. 12. 1835 in der Akte Körner (o. Fn. 46).
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… fügen dem … Nachdrucke … noch die erschwerende Thatsache eines absichtlichen Versuches zu fraudulöser Umgehung des Gesetzes bey.“50
Das einigermaßen skurril anmutende Erst-Erkenntnis war allerdings geeignet, sogar die preußische Urheberrechtsgesetzgebung zu befördern: Es diente dem damaligen Geheimen Legationsrat Karl Heinrich Philipsborn (1784–1848) als (einziger!) Beleg für die – auch von Hitzig behauptete – Inkompetenz der ausländischen wie der einheimischen Richter in Nachdrucksachen. In einer bereits Anfang 1836 verfassten Denkschrift des Außenministeriums regte er an, dem Gericht professionelle Sachverständige (insbesondere Buchhändler) zur Seite zu stellen, die allein in der Lage schienen, auch den „verschleierten“ Nachdruck zu entlarven: Wie bekannt, ordnete dann das 1837 ergangene preußische Urheberrechtsgesetz die Errichtung von Sachverständigen-Vereinen an (§ 17).51 2. Zum eigentlichen Angstgegner von Parthey sollte sich aber der 35 Jahre junge Kölner Mathias Becker entwickeln. Der nämlich druckte Anfang 1851 die – vier Jahre zuvor erschienene – dritte Auflage der Nicolaischen Gesamtausgabe unter dem aufreizenden Titel „Theodor Körner’s sämmtliche Werke. Neue rechtmäßige Ausgabe. Vollständig in zwei Bänden.“ zum größten Teil wortwörtlich nach (einige wenige, bis dahin ungedruckte Arbeiten, wie auch die Zugaben von Streckfuß und Tiedke allerdings ließ er weg) und verbreitete die wohl mehrere tausend Exemplare starke Auflage über „Antiquare und Winkelhändler“; jedenfalls bot er die Folianten wohl nicht wie üblich pro novitate dem regulären deutschen Buchhandel an. Zwischenzeitlich allerdings hatte sich die Rechtslage grundstürzend geändert. Mit dem Urheberrechtsgesetz vom 11. Juni 1837, publiziert am 18. Dezember des Jahres, war in Preußen das ausschließliche, übertragbare und vererbbare Recht des Autors (unter anderem) auf Vervielfältigung von Werken der Literatur und Kunst festgeschrieben worden. Die deutschlandweit vorbildliche Schutzfrist ( jetzt nur noch für den Urheber und dessen Erben) betrug 30 Jahre post mortem auctoris, danach endete sie allerdings bedingungslos (was auch das Ende des ewigen Verlagsrechts im Jahr 1867 bedeutete). Das Strafgesetz sah auch Schadensersatzansprüche vor und verlangte die Errichtung von SachverständigenVereinen, die im Gerichtsverfahren gehört werden sollten; entgegenstehende Vorschriften des ALR wurden außer Kraft gesetzt.52 1844 hatte eine Verordnung 50 In: Königlich-bayerisches Intelligenzblatt f. den Isarkreis 1837, Extrabeilage Nr. 96. 51 Zu der (zu den Akten des Geheimen Staatsarchivs zu Berlin gelangten) Denkschrift etwa Nomine, SV-Verein 2000, 43. Der pensionierte Kriminalrichter Hitzig hielt die Mehrzahl seiner Kollegen für inkompetent; ein Beispiel dazu bei Nomine, Schelling, in: Gergen (Hg.), Reichshofrat 2019, 175. 52 Grundlegend zu dieser preuß. Norm Wadle, Preuß. UrheberrechtsG v. 1837, GE I 1996, 167. Vgl. Nomine, SV-Verein 2000, 26; der Text auszugsweise hier im Anhang. Parallel sorgte die Bundesgesetzgebung für ein zeitliches Ende der älteren Verlagsrechte (insbesondere) an den
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vom 5. Juli 1844 auch klargestellt, unter welchen Bedingungen und wie lange die Rechte an Werken längst verstorbener Autoren (also der typischen Klassiker) fortbestehen sollten.53 Auch der deutsche Bund hatte zwischenzeitlich einige wenige „gemeinsame Grundsätze“ zugunsten der Urheber beschlossen. Der Bundesbeschluss vom 9. November 1837, der nach und nach von den einzelnen deutschen Ländern (wie auch Preußen) in innerstaatliches Recht umgesetzt worden war, verordnete unter anderem: „Art. 1 Literarische Erzeugnisse aller Art … dürfen ohne Einwilligung des Urhebers sowie Desjenigen, welchem derselbe seine Rechte … übertragen hat, auf mechanischem Wege nicht vervielfältigt werden. Art. 2 Das … bezeichnete Recht des Urhebers … geht auf dessen Erben und Rechtsnachfolger über, und soll … mindestens während eines Zeitraumes von zehn Jahren, anerkannt … werden. Diese Frist … ist für die in den letztverflossenen zwanzig Jahren … erschienenen Druckschriften … vom Tage des gegenwärtigen Bundesbeschlusses … an zu rechnen.“
Ergänzend regelte der Bundesbeschluss vom 19. Juni 1845: Art. 1 Der … Schutz gegen den Nachdruck … wird … für die Lebensdauer der Urheber …, und auf dreißig Jahre nach dem Tode derselben gewährt. Art. 2 Werke anonymer … Autoren, sowie posthume … Werke … genießen solchen Schutzes während dreißig Jahren, von dem Tage ihres Erscheinens an.54
Gustav Parthey im fernen Berlin, dem das unerfreuliche Handeln durch Bekannte zugetragen wurde, reagierte sofort: Noch vor Fertigstellung der letzten Bücher zeigte er den im Grunde völlig unbedeutenden Buchdrucker Becker an, der sich alsbald vor der Zuchtpolizeikammer des königlichen Landgerichts zu Köln zu verantworten hatte. Diese machte kurzen Prozess und verurteilte Becker wegen Verstoßes gegen das Urheberrechtsgesetz von 1837 zu einer Geldstrafe von 50 Talern, ersatzweise 60 Tagen Gefängnis und zur Einziehung der zwischenzeitlich polizeilich beschlagnahmten Nachdrucksexemplare.55 In der Berufungsinstanz vor der Appellationskammer (wohl des Landgerichts Köln) verteidigte sich der Beschuldigte mit dem nicht von der Hand zu weisenden Hinweis, der Nachdruckschutz habe 30 Jahre nach Körners Tod geendet (§ 6 des Gesetzes von 1837), dessen Werke seien also seit 1843 gemeinfrei. Der Berufungsrichter, der Becker freisprach, sah das ähnlich, gab aber eine andere, eher fernliegende Begründung: Körners Werke seien unzweifelhaft vor Klassikern; ausführlich Wächter, Der 9. November 1867, in: Börsenblatt 1867, 2830, 2882, 2913. Dazu auch Sippel-Amon, Die Auswirkungen der Beendigung, AGB Bd. XIV (1974), 450. 53 Preuß. Gesetzesslg. 1844, 261; auszugsweise abgedruckt im Anhang. 54 Abgedruckt bei Eisenlohr, Slg I, 2. 55 Zum Beschlagnahmeverfahren Nomine, SV-Verein 2000, 105; Goltz, Vorläufige Beschlagnahme, Archiv f. preuß. StrafR, 1861, 8.
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Publikation des Urheberrechtsgesetzes von 1837 erschienen, weshalb sich die Dauer des Nachdruckschutzes gemäß § 1 der Verordnung von 1844 nach dem früheren, in der preußischen Rheinprovinz (!) geltenden (Straf-)Recht bemesse. Danach aber sei das Werk schon mit dem Tode des unverheirateten und kinderlos verstorbenen Dichters ins Freie gefallen (Art. 39 und 40 des bereits erwähnten Dekrets von 1810). Nichts anderes folge aus dem in Preußen am 16. Januar 1846 publizierten Bundesbeschluss von 1845: Die dort festgeschriebene 30jährige Schutzfrist sei ebenfalls lange verstrichen. Der zuständige Oberprocurator war irritiert. Seinen Recurs zum Rheinischen Revisions- und Kassationshof in Berlin gründete auf dem Argument, der Verlagsvertrag stehe unter „dem Schutz“ des ALR; ein Anknüpfen an das französische Recht des Nachdrucksortes sei abwegig. Verkannt habe das Berufungsgericht auch Art. 2 des Bundesbeschlusses von 1845, der der 1833 und damit „posthum“ gedruckten Gesamtausgabe einen dreißig Jahre dauernden Nachdruckschutz ab dem „Erscheinen“ gewähre. Der Vortrag überzeugte: Der oberste Gerichtshof für die Rheinprovinzen verwarf am 11. November 1851 die Berufung und stellte das erstinstanzliche Urteil wieder her. Die Begründung allerdings war dünn, Mühe gab sich der Gerichtshof nur bei der Beantwortung der Frage, warum das Recht des eigentlichen Druckortes entscheide: Grundlage sei das ALR als „damals gültiges Gesetz“ nach § 1 der preußischen VO von 1844, die nicht danach unterscheide, „ob das den Nachdruck verbietende Gesetz in dem ganzen Umfang der Monarchie gegolten“ habe. In der (nicht näher begründeten) Annahme, die von Nicolai veranstaltete „Ausgabe der [sc.: aller] Werke“ sei erst 1833 erfolgt, erkannte das Gericht kurz und bündig, „dass die 1833 … rechtmäßig veranstaltete Ausgabe … in Berlin erschienen ist, und bei Publication [des G. von 1837] bereits gegen Nachdruck durch … § 1024 und 1034 … und Theil II, Titel 20, § 1294 geschützt war, mithin für sie auch der Schutz des [G. von 1837] nach § 2. [der VO von 1844], während 30 Jahren von 1837 an gerechnet … eintrat.“56
Parthey triumphierte; der noch vorhandene „Vorrat der Nachdrucksexemplare“ fiel am 18. März 1851 der Vernichtung anheim.57 Überzeugt von seiner Mission ließ er 11 Monate später bei dem Elberfelder Antiquar Ferdinand Schmitz zehn Stücke eines 1848 bei J. Ullrich in Stuttgart erschienenen Nachdrucks „Theodor Körner’s sämmtliche[r] Werke. Vollständig in zwei Bänden“ sowie 17 offensichtlich noch nicht eingezogene Exemplare der Beckerschen Ausgabe von 1851 beschlagnahmen. Der zur Untersuchung gezogene Schmitz, der den Verkauf einiger Bücher freimütig einräumte, erklärte vor dem örtlichen „Zuchtgericht“, Becker habe bei Übergabe versichert, den „Prozeß gewonnen“ zu haben, der 56 Urteil vom 11. 11. 1851, abgedruckt etwa in Archiv f. das Civil- u. Criminal-Recht der Rheinprovinzen 1851, 116. 57 So eine Anzeige der Nicolaischen BH im Börsenblatt 1852, 1380.
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Nachdruck sei frei verkäuflich. Der Richter verurteilte den Angeklagten gleichwohl wegen des „öffentlichen Verkaufs von Nachdrucken“ zu einer Geldbuße von 50 Talern, eventuell 17 Tagen Gefängnis und zur Vernichtung der in Beschlag genommenen Bücher. In der Berufung behauptete Schmitz, „die confiscirten Exemplare [seien] Nachdrücke, welche nur den Inhalt der bei Lebzeiten und unmittelbar nach des Dichters Tode 1813 bekannten und schon gedruckten Werke wiedergäben, keinesfalls also die Ausgabe von Nicolai … berühr[ten]“. Auch spreche das ALR „nur vom Vertrag mit dem Dichter …, [räume] dagegen aber … den Erben … keine Disposition über die zu verlegenden Werke [ein], mithin sei der Nicolai’sche Vertrag unbefugter Weise abgeschlossen worden“. Diese neue Argumentation überzeugte die Correctionell=Appellationskammer zu Elberfeld, die am 2. Februar 1852 das erstinstanzliche Urteil aufhob und Schmitz freisprach. Der Berliner Revisions- und Kassationshof sah rechtlich und tatsächlich näher hin, stellte zum Beispiel fest, dass Becker alle (?) bis 1833 nicht veröffentlichten Teile der Nicolai’schen Gesamtausgabe weggelassen hatte – und verwarf am 16. Juni 1852 den Rekurs des „öffentlichen Ministeriums“, also der Staatsanwaltschaft. Ein tragender Grund war die Annahme, dass die Witwe Körner zwar – wie jeder andere auch – das Gesamtwerk (wieder) herausbringen durfte, die (ursprünglichen), im wesentlichen nachgelassenen Schriften aber keinen Schutz gegen Nachdruck (mehr) genössen, also gemeinfrei seien. Das Gericht führte dazu aus: „I. E., daß der Verlagsvertrag … unter der Herrschaft [des ALR] geschlossen worden ist; Daß … die …Werke mit geringen Ausnahmen posthume Werke sind; Daß hinsichtlich der … bei Lebzeiten … erschienenen Werke die Mutter … als Erbin zufolge §§ 1020, 1029 und 1030 ALR der Nicolaischen Buchhandlung ein ausschließliches Recht auf eine neue Ausgabe dieser Werke nicht übertragen konnte …; Daß die incriminirten Ausgaben … die in der Nicolaischen Gesamtausgabe … zum ersten Mal gedruckten posthumen Koernerschen Werke nicht enthalten, mithin insoweit ein Nachdruck gar nicht Statt gefunden hat; Daß zwar die nachgedruckten übrigen, schon vor 1834 … erschienenen posthumen Koernerschen Werke der Nicolaischen Buchhandlung von der Mutter des Dichters als dessen Erbin in Verlag gegeben werden konnten, weil [nicht] festgestellt worden ist, daß frühere Verleger dieser Werke über die erste Auflage hinaus ein vertragsmäßiges Recht auf eine neue Ausgabe derselben … besaßen resp. damals noch nicht alle Exemplare der früheren Ausgabe abgelegt hatten, conf. §§. 1016 bis 1018 …; Daß aber das [ALR] posthume Werke gegen Nachdruck nicht gesichert hat, indem es überall unterstellt, daß der Verleger mit dem Autor contrahirt habe, und daß es nach dem Tode des Autors auf die Veranstaltung einer neuen Ausgabe ankomme; Daß zwar der [BB von 1845] Art. 2 posthume Werke während 30 Jahren seit dem Jahre ihres Erscheinens gegen Nachdruck schützt; Daß aber der Ausdruck ‚Erscheinen‘ nur das erste Erscheinen anzeigt, weil sonst die Vorschrift, daß posthume Werke nur innerhalb 30 Jahren gegen Nachdruck gesichert sein sollen, durch neue Auflagen oder
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Ausgaben beliebig umgangen werden könnte; Daß … bei dem Erscheinen der incriminirten Ausgaben seit dem ersten rechtmäßigen Erscheinen der … posthumen Werke … schon mehr als 30 Jahre verflossen waren, und folglich jene Ausgaben als strafbarer Nachdruck nicht angesehen werden können.“58
Parthey setzte alle seinerzeit üblichen Hebel in Bewegung, um die für ihn fatale höchstrichterliche Entscheidung aus der Welt zu schaffen. Den interessierten Nachahmern wie auch den Lesern teilte er unverzüglich mit, das Urteil betreffe nur einen Einzelfall, der Nachdruck seiner Bücher sei nach wie vor verboten, er werde sich „höheren Ortes beschweren“. Was er auch tat. Er ließ unverzüglich eine – auch dem ihm bestbekannten preußischen Justizminister Simons vorgelegte – Denkschrift drucken, in der er sämtliche Einwände gegen das Urteil zusammentrug und „ehrerbietigst um hochgeneigte Prüfung und Remedur“ bat.59 In diesem Zusammenhang brachte er ein interessantes neues Argument: Die Mutter des Dichters sei zusammen mit Streckfuß „als Schriftsteller anzusehen, der [eine] neue Ausgabe besorgte“, damit sei der Vertrag nach §§ 1031, 1032 ALR zu beurteilen, „wonach in Betreff solcher neuen Ausgaben dasselbe gilt, was bei neuen Werken vorgeschrieben ist.“ Die Attacke, die der Chef der Nicolaischen Buchhandlung ohnehin wohl nur für die Öffentlichkeit ritt, blieb erfolglos. Mehr oder minder hilflos musste er deshalb zusehen, wie sich Mathias Becker zu neuen Taten aufmachte. 1853 gab der Kölner frech die sämtlichen Werke Körners in zweiter „rechtmäßiger Ausgabe“ heraus; die gegen ihn im November des Jahres erhobene Zivilklage, die sich unter anderem auf „Untersagung des Verkaufs und die Verbreitung“ sowie auf Schadensersatz und Vernichtung der Nachdrucke richtete, wies das königliche Landgericht zu Köln am 21. Januar 1854 ab; die Berufung zum dortigen Rheinischen Appellationsgerichtshof (dem Vorgänger des OLG Köln) scheiterte neun Monate später.60 In der Entscheidung verhielt sich das Gericht unter anderem zu der noch heute diskutierten Frage, ob der Autor nach dem ALR – wie auch immer – Träger „eigener positiv-rechtlich definierter subjektiver Rechte“ gewesen sei.61 Der Leitsatz lautete: „Das ALR giebt dem Verfasser einer Schrift nicht ein eigentliches, auf seine Erben übergehendes literarisches Eigenthum, sondern statuirt nur einzelne persönliche 58 Urteil vom 16. 6. 1852, (unter anderem) in: JMin.-Blatt Preußen 1852; Archiv für Zivil- u. KriminalR der Rheinprovinzen 1852, 310. Dazu NN., Börsenblatt 22. 9. 1852, 1380; NN., Das literarische Eigenthum, Börsenblatt 24. 9. 1852, 1395. Vermutlich hat Parthey in der Folge Schmitz auch zivilrechtlich auf Unterlassung des Vertriebes in Anspruch genommen (neben Becker und dem Kölner Buchhändler Treitz); hierzu sogleich. 59 G. Parthey, Eingabe an den preuß. Justizminister vom 20. Oktober 1852, in: Acta des JustizM betr. den Nachdruck 1846–1855, GStA PK, HA I, Rep. 84 a, Nr. 2375, Bl. 339. 60 Urteil vom 11. 10. 1854, Archiv f. das Civil- und Criminal-Recht, 1855, 92. 61 Vgl. oben Fn. 42.
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Rechte des Verfassers und des Verlegers. Von einem dauernden, über die Lebenszeit des Verfassers hinausgehenden Verlagsrechte des Herausgebers kann daher …, abgesehen von zwei speciellen Ausnahmen (ALR I. II. §. 1030 u. 1020) nur insofern die Rede sein, als der Herausgeber durch einen mit dem Verfasser selbst abgeschlossenen Vertrag ausdrücklich ein Recht auf alle künftigen Ausgaben erworben hat. Ist solches nicht geschehen, so gewähren auch [das Gesetz von 1837 und die VO von 1844] keinen Schutz gegen den Nachdruck. In der Rheinprovinz galten bis zum Erscheinen [des Gesetzes von 1837] in Bezug auf den Nachdruck nur [das G. von 1793] und [das Dekret von 1810] … . Sie erkennen aber ein literarisches Eigenthum nur während des Lebens des Autors und seiner Wittwe und 20 Jahre nach deren Tode zum Vortheile der Erben an. Der Art. 2 [des BB von 1845] … ist nur auf das erste Erscheinen des Originalwerkes zu beziehen.“
Das Urteil war ein weiterer Tiefschlag; es löste eine heftige Diskussion in den Kreisen der Buchhändler, aber auch der Wissenschaft aus. Sehr schnell meldete sich der Leipziger Advokat Hartmann Schellwitz zu Wort, ein bekannt aggressiv auftretender Fachmann des Urheberrechts, Spezialist der Ligations-PR avant la lettre und hartnäckiger Verfechter ewiger (Urheber-)Rechte. Schellwitz trat 1855 mit einer 41 Seiten starken Monographie hervor – möglicherweise auf Veranlassung von Parthey und auch bei Nicolai erschienen: „Das Recht des Autors an seinen Werken nach den Grundsätzen des preußischen Landrechts in einer kritischen Beleuchtung eines Erkenntnisses des Königlichen Appellationsgerichts zu Köln, den Becker’schen Nachdruck von Theodor Körner’s sämmtlichen Werken betreffend.“ Dort wies der Anwalt zum einen darauf hin, das Gericht habe – wie seine Vorgänger – den eigentlich auf der Hand liegenden Umstand verkannt, dass der Sachse Körner an seinen Werken ein (schließlich den Eltern vererbtes) Autorrecht nach sächsischem Recht erworben habe; dieses (fortbestehende und jetzt bei Nicolai befindliche) Recht sei gemäß § 38 des Gesetzes von 1837 auch in Preußen geschützt. Im übrigen erkenne das ALR „nicht nur das Recht an Geistesarbeiten … als ‚Eigenthum‘ sondern auch die beständige Fortdauer desselben, zuerst in der Person des Autors und seiner Erben, §. 1014, dann in der Person des ersten Verlegers §. 1020 und 1029, endlich aber in der Person des neuen Herausgebers §. 1031. … ausdrücklich an“.62 Aber auch Schellwitz konnte den Lauf der Dinge nicht mehr aufhalten. Mit Urteil vom 22. April 1856 wies der Rheinische Senat des zwischenzeitlich errichteten Berliner Obertribunals die Revision kostenpflichtig zurück. Das Urteil gab eine Tour d’Horizon über das preußische Verlags-/Urheberrecht:63 62 Siehe auch zu Schellwitz etwa Nomine, Schelling, in: Gergen (Hg.), Reichshofrat 2019, 176. Vgl. die Besprechungen der Schrift von G., in: Magazin Rechts= und Staats=Wissenschaft 1856, 405; 2. (sic!), JB deutsche Rechtswissenschaft 1857, 416. Ablehnend Eisenlohr, Krit. Zeitschrift f. d. gesammte Rechtswissenschaft 1856, 381. Siehe auch E., Nicolai’sche BH gegen Becker, Börsenblatt 20. 02. 1856, 314. 63 Archiv f. Rechtsfälle aus der Praxis der RÄ d. OT 1856, 338.
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„[In der Erwägung], daß die Anwendbarkeit des [ALR] auf der [VO von 1844] beruht, welche im § 1. bestimmt, daß der Schutz des [G. von 1837] auch für diejenigen vor Publikation desselben … erschienenen Schriften statt finden solle, welche durch die damals gültigen Gesetze … noch geschützt gewesen; daß [das ALR] … bei Bestimmung der Rechte des Verfassers an den literarischen Erzeugnissen nicht von den … Grundsätzen des Eigenthums ausgeht, sondern, soviel die vorliegende Frage wegen Uebergangs dieser Rechte auf die Erben betrifft, letzteren nur gewisse einzelne Befugnisse in den §§ 1014. 1020. und 1030. … zuweist; daß den Erben namentlich nicht ein unbedingtes Widerspruchsrecht gegen neue … Ausgaben gegeben wird, wie dies aus der Vergleichung der Bestimmungen [des ALR] mit seinem Entwurf unzweideutig hervorgeht …; daß hier keiner der Fälle vorliegt, in welchen die Erben des Verfassers ein solches Widerspruchsrecht geltend machen können, da weder von einer neuen Auflage im Sinne der §§ 1011. und 1013. die Rede ist, noch ein Verlagsvertrag zwischen dem Verfasser und dem Kassationskläger besteht, in welchem für die Mutter des ersteren Vorbehalte gemacht worden, – §§ 1020. 1029., noch endlich die Mutter zu den im § 1030. genannten Erben gehört; daß endlich [das ALR], indem es überall einen von dem Verfasser selbst geschlossenen Verlagsvertrag unterstellt, den Erben keine ausschließlichen Befugnisse in Bezug auf den Abdruck posthumer Werke eingeräumt, … daher nach allem Diesen der Kassationskläger durch den Vertrag … den in [dem ALR] ausgesprochenen Schutz gegen Nachdruck nicht erlangt hat; … daß im Eingang [der VO von 1844] die Frage über den Schutz gegen Nachdruck für die vor Publikation [des G. von 1837] erschienenen Werke als eine zweifelhafte betrachtet und zu deren Beseitigung bestimmt wird, daß dieser Schutz dann eintreten soll, wenn dieselben durch die damals gültigen Gesetze gegen Nachdruck noch geschützt waren; daß unter den damals gültigen Gesetzen die Vorschriften des älteren Rechts, nicht aber die Bestimmungen des … Bundesbeschlusses vom 9. November jenes Jahres zu verstehen sind, … auf den unmittelbar … das … [G. von 1837] folgte; – daß [die Verordnung 1844] deshalb umsoweniger auf jenen Bundesbeschluß zu beziehen ist, da der § 35. [des G. von 1837] von den bereits gedruckten Schriften spricht, und dennoch der denselben zu gewährende Schutz in der deklarirenden [VO von 1844] bisher als zweifelhaft angesehen wird; daß sodann der § 2. dieser Verordnung die Dauer des Schutzes … nach Verschiedenheit der Fälle regelt, daher die Bestimmung in dem ersten Absatz, in allen anderen Fällen dreißig Jahre von Publikation jenes Gesetzes nicht die vorliegende Frage entscheidet; … daß in den §§ 1. und 2. des … [BB von 1845] nur die Frist, welche der [BB von 1837] zum Schutze gegen Nachdruck festgesetzt, erweitert, nicht aber die Bestimmung des § 1. [der VO von 1844] darüber, welche der vor Publikation [des G. von 1837] erschienenen Schriften zu schützen, abgeändert worden, daher, da nach der obigen Ausführung posthume Werke in den Vorschriften [des ALR] keinen Schutz gegen Nachdruck finden, der § 2. des [BB von 1845], wenn man ihm überhaupt rückwirkende Kraft beilegt, auf die Ausgabe des Kassationsverklagten, insoweit darin die in der Ausgabe des Kassationsklägers enthaltenen posthumen Werke abgedruckt sind, nicht angewendet werden kann …“.
3. Ähnlich schlecht erging es Parthey im Königreich Sachsen, wo er 1855 den Kölner Buchhändler und Antiquar Joseph Treitz in die rechtlichen Schranken weisen wollte. Derselbe verkaufte auf der Ostermesse in Leipzig wohl 3000 Ex-
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emplare der 1851 und 1853 von Becker gedruckten Körnerschen Gesamtausgabe, obwohl auch in Sachsen der (wissentliche) Vertrieb selbst von ausländischen Nachdrucken seit langem untersagt war.64 Im Mai 1855 nahm Parthey, vermutlich vertreten durch Rechtsanwalt Schellwitz, den Konkurrenten vor dem örtlichen Handelsgericht auf Schadensersatz in Anspruch; zur Begründung verwies er auf die ihm günstige (erstinstanzliche) Rechtsprechung des Zuchtgerichts zu Köln. Treitz aber wandte doppelte Rechtshängigkeit ein: Parthey habe ihn (wie auch – oben geschildert – Becker und Schmitz) vor dem Landgericht Köln auf Unterlassung des Vertriebes der beiden Beckerschen Auflagen verklagt, nach Klagabweisung in erster Instanz liege die Sache nun dem Rheinischen Appellhof zur Berufungsentscheidung vor. Das Leipziger Handelsgericht wie das dortige Appellationsgericht wiesen die Klage aus prozessrechtlichen Gründen („exceptio rei judicatae“ bzw. „rei in judicium deductae“) ab, das zuletzt angerufene Oberappellationsgericht zu Dresden verwarf die Revision im Januar 1858 ohne Prüfung der in Preußen so ausgiebig erörterten materiell-rechtlichen Fragen um den (Fort-)Bestand des Verlagsrechts (und auch ohne Prüfung des bekannten Einwandes von Parthey, die Sache müsse eigentlich nach sächsischem Recht beurteilt werden): Die Einrede anderweiter Rechtshängigkeit sei nach der zwischen Sachsen und Preußen geschlossenen Übereinkunft zur Beförderung der Rechtspflege vom 21. Dezember 1839 zu beachten; im übrigen gelte: „Denn während der Kläger … zwei von … B. in Köln während der Jahre 1851 und 1853 veranstaltete Auflagen von … Körner’s Werken für verbotenen Nachdruck der [bei Nicolai] erschienenen Ausgabe angesehen und den Beklagten als wissentlichen Theilnehmer … verurtheilt wissen will, ist auch vor der Preußischen Behörde der Antrag des Klägers … dahin gestellt: daß die von B. … veranstaltete Auflage … als Nachdruck der Nicolai’schen Ausgabe erklärt, auch Beklagter in einen … Schadenersatz verurtheilt werde.“65
4. Anfang der 1850er Jahre kämpfte Parthey noch an einer ganz anderen Front: Der bereits erwähnte Verlagsbuchhändler Meyer stellte (entsprechend dem bereits geschilderten Geschäftsmodell) ausgewählte Werke von Körner in seine Groschenbibliothek der Deutschen Classiker für alle Stände ein, die er seit dem 15. Juli 1850 unter dem Motto: Bildung macht frei herausgab und in kurzen
64 Seit 1844 durch Art. 6 iVm Art. 1 Gesetz vom 22. 2. 1844; Eisenlohr, Slg. I, 65. Es ist möglich, dass weitere Nachdrucke (auch) unter der Fa. Treitz erschienen sind. 65 Siehe die Darstellung des Falles bei L., Wochenblatt für merkwürdige Rechtsfälle 1858, 137; dazu auch Mothes, Erinnerungen (o. J.), D S.9, sowie die Akten des sächs. Staatsarchivs „Klage der Nicolaischen Buchhandlung gegen Joseph Treitz aus Köln wegen nichtautorisierten Nachdrucks“ (1855–1859), Bestand 20080, Königliches Bezirksgericht Leipzig (AG Leipzig 15100).
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zeitlichen Abständen um jeweils ein (Papp-)Bändchen erweiterte.66 Th. Körner’s Gedichte und das Drama Zriny, die wohl bekanntesten Arbeiten des Dichters, zierten so ungefragt die zweite und dritte Lieferung der (zuletzt auf 365 Hefte anschwellenden) Sammlung. Parthey denunzierte den im Ausland residierenden Schmutzkonkurrenten sowie drei mit ihm verbundene Berliner (Buch-)Händler und Antiquare beim örtlichen Stadtgericht. Der Untersuchungsrichter ermittelte vornehmlich wegen Beihilfe gegen die in der Hauptstadt ansässigen Vertriebspartner des – notorisch abwesenden – Verlegers Meyer; zuletzt erforderte er zu der Frage, ob (formal) ein Nachdruck vorliege, ein Gutachten des Literarischen Sachverständigen-Vereins. Das Gremium, dem selbstverständlich auch Parthey als einer der bedeutendsten Buchhändler der Hauptstadt zugehörte, ging in gewohnt gründlicher Weise zu Werke und äußerte sich auch zu rein rechtlichen, eigentlich allein richterlicher Erkenntnis unterliegenden Fragen:67 Die sichtlich bemühten Spezialisten erkannten am 8. Dezember 1851 auf Nachdruck, ohne sich groß bei dem Problem des (Fort-)Bestehens des erworbenen Verlags- bzw. Urheberrechts aufzuhalten:68 „Die Nicolai’sche Buchhandlung ist kraft ihres Verlags-Contractes … alleinige berechtigte Verlegerin der gesammten Körner’schen Werke. Ihr ausschließliches Recht dauert nicht mehr in perpetuum wie der Vertrag bestimmt, sondern … für Preußen nur noch 30 Jahre nach Erlassung des Gesetzes von 1837… . Bis 1867 darf also Niemand in Preußen diese Werke … nachdrucken oder … verbreiten. Meyer hat nachgedruckte Theile desselben in Preußen verbreitet, also ist er straffällig nach Preußischem Gesetze. Er möchte dagegen einwenden daß … die Aufnahme einzelner … Gedichte … in kritische und litterar-historische Werke und in Sammlungen zum Schulgebrauche als Nachdruck nicht anzusehen. Er könnte sagen, meine Groschen Bibliothek … ist … ein litterar-historisches Werk und eine Sammlung zum Schulgebrauch im weitesten Sinne. … Endlich habe ich auch nach Preußischen Gesetzen nicht gefehlt, indem ich aus der Gesammtmasse der Körner’schen Werke nur ein Drama und von seinen Gedichten nur einen Theil in eine Sammlung aufnahm, welche bereits mehr als 80 Bände enthält … Die Sammlung ist [aber] derart compilirt, daß ihr der litterar-historische Charakter ebenso abgeht als der einer Sammlung zum Schulgebrauch … . Es wird auch gar nicht als Sammlung verkauft, sondern jedes Stück einzeln für einen guten Groschen und es scheint demnach weniger um die Bildung zu thun … als um die vielen guten Groschen, die in die Kasse des Verkäufers zurückfließen sollen.“
66 Dazu Hohlfeld, Bibliograph. Institut 1926, 73. Es war die dritte Ausgabe der „billigen“ Klassikersammlung aus Hildburghausen. 67 Die Kompetenz zu dieser genuin richterlichen Tätigkeit besaß der Verein wohl nicht; ausführlich Nomine, SV-Verein 2000, 187. 68 Das Gutachten, das ohne Parthey erging, in: Heydemann/Dambach, Nachdrucksgesetzgebung 1863, 586.
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Das Gutachten überzeugte den Richter wohl nicht; ein Erkenntnis (insbesondere also ein für Parthey günstiges Urteil) erging jedenfalls nicht (mehr).69 5. Wohl ermutigt von diesen Umständen holte zuletzt der Berliner Buchhändler G. Mertens zu einem wirklich herben Schlag aus. 1855 druckte dieser Verleger zunächst eine neue rechtmäßige Ausgabe in zwei Bänden von Körners Werken; mit Zustimmung von C. Ullrich, einem (Berliner?) Kunsthändler und Erbes-Erben des Dichters, gab Mertens 1858 eine von dem Publizisten Adolf Wolff (1811–1861) besorgte „vollständigste Sammlung. Nebst Briefen von und an Körner“ in zunächst drei, dann vier Bänden heraus, die die Nicolaische Gesamtausgabe nicht nur um 69 bis dahin unveröffentlichte Gedichte und ein Festspiel übertraf, sondern z. B. auch 96 von Streckfuß (wohl aus gutem Grund) zurückgehaltene Briefe abdruckte.70 Parthey, der ebenfalls 1855 eine (vierte) Auflage des Gesamtwerkes herausgebracht hatte, nahm Mertens zivilrechtlich vor dem Stadtgericht in Anspruch. Dabei beschränkte er sich für dieses Mal auf die Behauptung, er sei in seinem Verlagsrecht an der bereits 1814 (und wieder in der Gesamtausgabe von 1833) bei Nicolai erschienenen Sammlung Leyer und Schwert beeinträchtigt. Vertreten wohl von RA Franz Hinschius (1810–1877), einem ausgewiesenen Kenner der Materie und Gründungsmitglied des literarischen Sachverständigen-Vereins, gelang es ihm immerhin, den Richter zur Anforderung eines Gutachtens zu bewegen; dies ungeachtet der Tatsache, dass die Gedichte Teil auch der (höchstrichterlich nicht als Nachdruck) beurteilten Beckerschen Ausgabe gewesen waren. Der Verein, der die Druckwerke akribisch miteinander verglich, hielt schließlich beide von Mertens verantwortete Ausgaben für „totalen Nachdruck“ – was Inhalt und Form der Gedichtsammlung anging. Die Entscheidung der Dauerstreitfrage um das Verlagsrecht überließ er für dieses Mal ausdrücklich dem Richter.71 Die Entscheidung des Gerichts wie auch der schlussendliche Ausgang des Rechtsstreits ist nicht bekannt. Zwei Zeitgenossen, die im Grunde positiv über die von Schlosser besorgte, sehr vermehrte Ausgabe schrieben, erwähnten nebenbei eine Verurteilung von Mertens und das Einstampfen der Nachdrucke. Möglich ist, dass Parthey mit seinem schon früher hilfsweise vorgetragenen Hinweis durchdrang, das Verlagsrecht an Leyer und Schwert sei schon 1814 und vom Dichter selbst, zwar mündlich, aber doch rechtswirksam an Daniel Parthey als Inhaber der ersichtlich fortbestehenden Nicolaischen Buchhandlung übertragen worden. Dagegen spricht allerdings, dass das preußische Justizministerium auf Nachfrage noch 1862 mitteilte, die Sache befinde sich in der „Revisions=Instanz“ 69 Nomine, SV-Verein 2000, 212; dort auch zu den prozessrechtlichen Problemen des Falles. 70 Die Wolff bei Ullrich und einigen Berliner Buchhändlern eingesammelt hatte; Pröhle, Körner, Beilage zu Nr. 70 der Allg. Ztg. 11. 03. 1859. 71 GA vom 21. 05. 1860, in: Heydemann/Dambach, Nachdrucksgesetzgebung 1863, Nr. 49. Eingehend Nomine, SV-Verein, 428.
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und Parthey einem – ihm in die Karten spielenden – (auch falschen) Gerücht vom Sieg auf ganzer Linie sicher nicht entgegengetreten wäre.
V. Mit dem endgültigen Auslaufen des Klassiker-Schutzes 30 Jahre nach Emanation der Gesetze von 1837 hatte sich die Sache ohnehin erledigt.72 Vermutlich hielt sich der Schaden, den über die Jahre die Nicolaische Buchhandlung durch die durchaus zahlreichen Fremdauflagen erlitt, eher in Grenzen. Nicht gering zu achten war auf der anderen Seite wohl der Werbeeffekt, den das rigorose Vorgehen gegen die angeblichen Nachdrucke des Körner’schen Gesamtwerkes erzeugte. Jedenfalls gab die Buchhandlung Nicolai unverdrossen weitere Ausgaben der sämtlichen Werke Theodor Körners heraus, wobei die ab den 1860er Jahren erschienen Sammlungen sogar die von Mertens erstmals publizierten Einzelwerke (als Nachdruck vom Nachdruck?) enthielten.73
Anhang ALR von 1794, Teil1, Tit. 11 § 996 § 998 § 1011 § 1012 § 1013
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Das Verlagsrecht besteht in der Befugniß, eine Schrift durch den Druck zu vervielfältigen und … ausschließend abzusetzen. In der Regel erlangt der Buchhändler das Verlagsrecht nur durch einen mit dem Verfasser darüber abgeschlossenen schriftlichen Vertrag. Wenn ein neuer unveränderter Abdruck einer Schrift in ebendemselben Formate veranlaßt wird, so heißt solches eine neue Auflage. Wenn aber eine Schrift in verändertem Formate, oder mit Veränderungen im Inhalte, von Neuem gedruckt wird, so wird solches eine neue Ausgabe genannt. Ist im Verlagsvertrage die Zahl der Exemplare der ersten Auflage nicht bestimmt, so steht es dem Verleger frei, auch ohne ausdrückliche Einwilligung des Verfassers, neue Auflagen zu veranstalten. Ist aber die Zahl bestimmt, so muß der Verleger, wenn er eine neue Auflage machen will, sich darüber mit dem Schriftsteller oder dessen Erben, anderweit abfinden.
72 Der erste Verlag, der das endgültige Ende des ewigen Verlagsrechts nutzte, war Reclam in Leipzig, Er legte schon am 10. November 1867 die bekannte „Universalbibliothek“ vor; NN., Das Reclam-Heft war eine Jahrhundertidee, SZ vom 10. 11. 2017. Einer der ersten Bände enthielt Körners Leyer und Schwert. 73 Darauf weist eine Anzeige des Berliner Buchhändlers Hempel im Börsenblatt vom 4. 1. 1868 hin.
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§ 1016 Hingegen erstreckt sich das Verlagsrecht in der Regel, … nur auf die erste Ausgabe des Werks … . § 1017 Der erste Verleger kann also niemals eine neue Ausgabe machen, ohne mit dem Schriftsteller einen neuen Vertrag darüber geschlossen zu haben. § 1018 Dagegen kann auch der Schriftsteller keine neue Ausgabe veranstalten, so lange der erste Verleger die von ihm … veranstalteten Auflagen noch nicht abgesetzt hat. § 1020 Das Recht des Verfassers, daß ohne seine Zuziehung keine neue Ausgabe veranstaltet werden darf, geht, wenn nicht ein anderes ausdrücklich und schriftlich verabredet worden, auf seine Erben nicht über. § 1024 Niemand darf ohne Einwilligung des Verfassers und seines Verlegers, einzelne gedruckte Schriften in ganze Sammlungen aufnehmen oder Auszüge davon besonders drucken lassen. § 1029 Wenn keine Buchhandlung, welche auf die neue Ausgabe eines Buches ein Verlagsrecht hat, mehr vorhanden, und auch das Recht des Schriftstellers nach § 1020 erloschen ist, so steht jedem frei, eine neue Ausgabe des Werkes zu veranstalten. § 1030 Sind jedoch in diesem Falle noch Kinder … vorhanden, so muß der neue Verleger wegen der … neuen Ausgabe, mit diesen sich abfinden. § 1031 Uebrigens gilt zwischen diesem neuen Verleger und dem Schriftsteller, welcher, welcher diese neue Ausgabe besorgt, alles das, was bei neuen Werken verordnet ist. § 1032 Auch der Nachdruck solcher Ausgaben ist unter eben den Umständen unerlaubt, unter welchen der Nachdruck eines neuen Werkes nach obigen Vorschriften nicht stattfindet. § 1034 Wer Bücher … nachdruckt, muß den rechtmäßigen Verleger entschädigen.
Gesetz zum Schutz des Eigenthums an Werken der Wissenschaft und Kunst vom 11. Juni 1837 §1
Das Recht, eine … Schrift, … von neuem abdrucken … zu lassen, steht nur dem Autor derselben … zu … . § 5 Der Schutz des gegenwärtigen Gesetzes gegen Nachdruck … soll dem Autor einer Schrift … während seines Lebens zukommen. § 6 Auch die Erben des Autors sollen denselben Schutz noch dreißig Jahre lang nach dem Tode ihres Erblassers genießen, … . Nach Ablauf dieser dreißig Jahre hört der Schutz dieses Gesetzes auf. § 9 Das ausschließende Recht zur … Verbreitung von Schriften, …, kann, … durch eine hierauf gerichtete Vereinbarung, auf Andere übertragen werden. § 35 Das gegenwärtige Gesetz soll auch zu Gunsten aller bereits gedruckten Schriften … in Anwendung kommen. § 37 Alle diesem Gesetze entgegenstehende oder von ihm abweichende frühere Vorschriften treten außer Kraft.
Nicolaische Buchhandlung gegen Matthias Becker und andere
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Preußische VO von 1844 § 1 Der Schutz des [G. vom 11. Juni 1837] soll auch für diejenigen vor Publication desselben im Inlande erschienenen Schriften … stattfinden, welche durch die damals gültigen Gesetze gegen Nachdruck noch geschützt waren. § 2 Dieser Schutz dauert, wenn der Autor … bei Publication des Gesetzes … noch am Leben war, während seiner Lebenszeit und noch 30 Jahre nach seinem Tode, in allen andern Fällen 30 Jahre von Publication jenes Gesetzes an. § 3 Mit dem Ablaufe der … bestimmten Frist hört in Ansehung der vor Publication des Gesetzes … erschienenen Schriften … jedes ausschließliche Recht zur Vervielfältigung derselben auf.
Thomas Gergen
Der „Courrier du Grand-Duché de Luxembourg“ (1844–1868) und die Pressezensur im Großherzogtum Luxemburg seit 1834
I.
Wegfall des Junktims zwischen Nachdruck und Zensur im Deutschen Bund (1834)
Auf den Geheimen Wiener Konferenzen wurde im Jahre 1834 das seit 1815 in Art. 18d der Deutschen Bundesakte verankerte Junktim zwischen Nachdruckschutz und Zensur durchbrochen. Während Fürst Metternich seine schon in den 1820er Jahren gescheiterten Organisationspläne nur wenig modifiziert erneut vorlegte, setzte die preußische Seite auf strikte Trennung der hoheitlich-polizeilichen Kontrolle einerseits vom Schutz gegen den Nachdruck andererseits. Die Frage des Nachdrucks mündete bekanntlich im Bundesbeschluss vom 9. November 1837, welcher allgemeine Grundsätze formulierte, an die sich die Gesetzgebung der Bundesstaaten halten sollte. Schon mit Gesetz vom 11. Juni 1837 hatte Preußen das modernste Urhebergesetz der Zeit geschaffen1. Im Grundrechtekatalog der Paulskirchenverfassung figurieren Pressefreiheit und Urheberrecht eindeutig; Art. IV § 143 gewährt Meinungs- und Pressefreiheit. Die Kompetenz für den Erlass eines Preßgesetzes lag beim Reich. Obwohl gescheitert, war der Grundrechtekatalog in den Folgejahren nicht ohne Nachhall, zumindest als politische Leitlinien bei der Ausformung neuen Rechts anerkannt. Der Beschluss der Bundesversammlung über „Bestimmungen zur Verhinderung des Mißbrauchs der Presse“2 vom 6. Juli 1854 führte indes Formen der mittel-
1 Elmar Wadle, Das Junktim zwischen Zensur und Nachdruckschutz und dessen Aufhebung im Jahre 1834. In: Helmut Reinalter (Hg.), Die Anfänge des Liberalismus und der Demokratie in Deutschland und Österreich 1830–1848/9, Frankfurt a.M. 2002, S. 229–249; Ders., Kontrolle und Schutz. Presserecht des 19. Jahrhunderts im Spannungsfeld von öffentlichem Recht und Privatrecht. In: Ders. (Hg.), Beiträge zur Geschichte des Urheberrechts. Etappen auf einem langen Weg, Berlin 2012, S. 49–71, S. 61–65. 2 BV-Protokolle 1854 § 213 (hier bes. S. 919–924).
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Thomas Gergen
baren Kontrolle als allgemein zugelassen ein, ja sogar als für alle Bundesstaaten verbindlich vorgeschrieben3, wozu Luxemburg zwischen 1815 und 1866 gehörte.
II.
Wechselvolle Geschichte Luxemburgs im „langen“ 19. Jahrhundert
Das Herzogtum Luxemburg wurde bekanntlich 1795 von französischen Revolutionstruppen annektiert, wodurch die österreichische Herrschaft, welche seit dem Ende des Spanischen Erbfolgekrieges 1714 in Luxemburg bestanden hatte, jäh beendet wurde. Die Neuordnung Europas während des Wiener Kongresses 1815 löste Luxemburg aus dem französischen Herrschaftsverband heraus (bis 1714, also vor den österreichischen Habsburgern, hatte Louis XIV regiert). Die Hauptstadt wurde zur Bundesfestung, in die eine preußische Garnison einrückte. Das nun geschaffene Großherzogtum Luxemburg wurde dem König der Niederlande, Wilhelm I., in Personalunion zugesprochen, war aber auch gleichzeitig bis 1866 Mitglied im Deutschen Bund sowie im deutschen Zollverein von Februar 1842 bis Dezember 1918. Aus diesen Verbünden resultierte eine besondere Gemengelage der verschiedenen Rechts- und Sprachräume4. Die Belgische Revolution von 1830 führte 1839 mit dem Londoner Vertrag zu einer Teilung des luxemburgischen Territoriums zwischen Belgien und dem niederländischen König. Diese Teilung verlieh dem Großherzogtum seine heutige geographische Form. 1867, d. h. ein Jahr nach dem Verlassen des Deutschen Bundes im Jahre 1866, erhielt Luxemburg in einem ebenfalls in London geschlossenen Vertrag den Status eines auf ewig neutralen und unbewaffneten Staates. Wilhelm II. billigte Luxemburg eine eigene Verfassung zu, die es sich 1868 gab. So heißt es im zweisprachig formulierten Gesetz vom 17. Oktober, 3 Erst das Reichspressegesetz vom 7. Mai 1874 brachte gewisse Fortschritte, indem es manche der in den Einzelstaaten noch geltenden Einschränkungen beseitigte, wie Kautionen, Konzessionen, Stempelsteuern, Entzug des Postzugangs. Im Zuge des Kulturkampfes und der Sozialistengesetze wurden Eingriffe ins Pressewesen wieder alltäglich, siehe Wadle, Kontrolle und Schutz, S. 70–71. 4 Hierzu bemerkenswert: Eine Durchsicht der Memoriale von 1815 an führt zu dem Schluss, dass durchgehend alle Normen zweisprachig abgefasst waren. Daran änderten weder der I. Weltkrieg noch der Versailler Vertrag etwas. Erst als Großherzogin Charlotte 1940 mit der Regierung nach der erneuten Besetzung Luxemburgs durch Nazi-Deutschland ins Londoner Exil fliehen musste, trat ein Vorzeichenwechsel ein. Denn war das Mémorial Nr. 31 vom 30. Mai 1940 noch in gewöhnlicher synoptischer Zweisprachigkeit gedruckt, erschien das Memorial Nr. 52 vom 18. September 1940 lediglich in deutscher Sprache. Ausführlicher dazu bereits: Gergen, Translation von und durch Normen. Forschungsansätze zur juristischen Übersetzung. In: Pasicrisie luxembourgeoise 4/2014, S. 309–336; Ders., Translation von Recht im mehrsprachigen Kontext. Das Beispiel von Elsass-Lothringen, Saarland und Luxemburg. In: Zeitschrift für die Geschichte der Saargegend 61 (2013), S. 59–80.
Der „Courrier du Grand-Duché de Luxembourg“ (1844–1868)
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wodurch die Verfassung vom 27. November 1856 revidiert wird (französische Fassung dort rechts synoptisch stehend: Loi du 17 octobre 1868, portant révision de la Constitution du 27 novembre 1856)5, Art. 1: „Das Großherzogthum Luxemburg ist ein unabhängiger, untheilbarer und unveräußerlicher und auf ewig neutraler Staat.“ Art. 1: „Le Grand-Duché de Luxembourg forme un État indépendant, indivisible et inaliénable et perpétuellement neutre.“ Art. 3 sprach im Übrigen der Familie Nassau die Krone des Großherzogtums zu, die nur in dieser Familie erblich ist. Nach dem Tod des niederländischen Königs Wilhelm III. fiel das Großherzogtum 1890, aufgrund eines fehlenden männlichen Erben im Haus Oranien-Nassau, an Adolf von Nassau-Weilburg. Die Personalunion zwischen den Niederlanden und Luxemburg war damit beendet; Luxemburg hatte mithin seine eigene Dynastie6.
III.
Der „Courrier du Grand-Duché de Luxembourg“ in den Jahren 1844–1868
1.
Die Rolle der Unternehmerfamilie Metz
Die Familie Metz, „représentants les plus illustres parmi les parrains de la vie politique et économique de notre pays au 19ième siècle“7, begründeten eine eigene Dynastie; die drei Gebrüder Metz waren: der älteste Bruder Charles Metz (1799–1853), sodann Norbert Metz (1811–1885) und schließlich der jüngste Bruder namens Auguste Metz (1812–1854)8. Der Familienname Metz lässt in Luxemburg stets an die Gründer der modernen Stahl- und Eisenindustrie denken9, denn sie besaßen mehrere Hochöfen sowie Gießereien in Luxemburg. Durch die Fusion der Metzer Gießereien sowie anderer Gießereien kam es späterhin zur Gründung der ARBED (Aciéries Réunies de Burbach-Eich-Dudelange). Die Gebrüder Metz waren aber nicht nur wichtige luxemburgische Industrielle, sondern auch einflussreiche Politiker. Alle drei Brüder halfen bei der 5 Vgl. die Wortlaute der im Folgenden genannten Normen alle auf www.legilux.lu [22. 02. 2021]. Dieses verfassungsändernde Gesetz ist publiziert im ebenfalls zweisprachig gehaltenen Memorial des Großherzogthums Luxemburg resp. des Memorial du Grand-Duché de Luxembourg vom 22. Oktober 1868, Memorial Nr. 25, S. 213–242, hier S. 213. 6 Statt vieler: P. Zimmer, 1815–2015 Zweihundert Jahre Großherzogtum Luxemburg, hg. von der Confédération Générale de la Fonction Publique CGFP, http://www.cgfp.lu/derniere-edition -details.html [10. 07. 2022], S. 1–8, v. a. S. 2–4. 7 Jules Mersch, Les Metz, La Dynastie Du Fer (Biographie nationale du pays de Luxembourg vol. 6, fasc. 12), Luxemburg 1963. S. 311. 8 Mersch, Les Metz, La Dynastie du Fer, S. 318. 9 Mersch, Les Metz, La Dynastie du Fer, S. 311.
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Thomas Gergen
Schaffung der luxemburgischen Verfassung10 und waren aktiv in politischen Versammlungen, so der Ständeversammlung („assemblée des Etats“). Des Weiteren wurde Charles Metz der erste luxemburgische Kammerpräsident. Allgemein wird den Gebrüdern Metz vorgeworfen, eine allzu pro-belgische Warte und damit anti-deutsche Position vertreten zu haben. Sie dementierten dies aber stets und sahen sich als reine Verteidiger der luxemburgischen Interessen11. Die Gebrüder Metz waren obendrein Journalisten und Verleger. 1844 wurden Charles und Norbert Metz Inhaber der Zeitung „Courrier du Grand-Duché de Luxembourg“, die das „Journal de la ville et du Grand-Duché de Luxembourg“ fortan ersetzte. Charles Metz wurde der Hauptredakteur der Zeitung, auch Norbert Metz schrieb regelmäßig Artikel. Auguste Metz war indes nicht an der Zeitung beteiligt. Beim Courrier handelt es sich um eine demokratische Zeitung und um ein Organ des aufstrebenden Industriekapitals12. Luxemburg befand sich zu dieser Zeit noch unter niederländischer Herrschaft und damit auch niederländischer Pressegesetzgebung. Der Courrier war keine orangistische Zeitung, also keine pro-holländische Zeitung, und hatte somit unter dem Druck des holländischen Königs und der noch orangistischen, luxemburgischen Regierung mit der Zensur zu kämpfen. Zusätzlich musste sich die Zeitung gegen andere Wettbewerber durchsetzen, weswegen Auseinandersetzungen nicht ausblieben, des Öfteren mit Kirchenvertretern. Die Gebrüder Metz, die vielfach als antiklerikal beschrieben werden und die immer Regierung vor Religion stellten, führten somit einen heftigen Kampf gegen Kirchenvertreter, die sie als Gefahr für Luxemburg ansahen. Auseinandersetzungen des Courrier in den Jahren von 1844–1868 betrafen zuerst den Kampf gegen die Zensur. Später traten hinzu der Streit des Courrier mit anderen Zeitungen, insbesondere mit der Luxemburger Zeitung von Ernest Grégoire, und schlussendlich der Konflikt mit der katholischen Kirche, namentlich Johannes Theodor Laurent sowie Nicolas Adames.
10 État, Circulaire du 22 avril 1848 N° 4984–136 concernant la publication de la liste des députés élus lors des élections du 19 avril courant (1848), in: legilux, http://legilux.public.lu/eli/eta t/leg/cmin/1848/04/22/n1/jo (Stand: 22. 02. 2021). 11 Mersch, Les Metz, La Dynastie du Fer, S. 437; Robert Mayer, Die Gebrüder Metz um 1850. In: Le moniteur du collectionneur: organe officiel de la Fédération des sociétés philatéliques du Grand-Duché de Luxembourg, Luxemburg 1988, n° 4, S. 126–127. 12 Grundsätzlich dazu: Romain Hilgert, Zeitungen in Luxemburg 1704–2004, Luxemburg 2004, S. 54–57 sowie das fünfbändige Werk von Pierre Grégoire, Drucker, Gazettisten und Zensoren durch vier Jahrhunderte luxemburgischer Geschichte, Luxemburg 1964–1966. Weitere Literatur, etwa zur ersten Zeitung bzw. Zeitschrift (Juli 1704): Jules Vannérus, La plus ancienne revue du Luxembourg. La clef du cabinet des princes de l’Europe. In: D’Hémecht 3/1932, S. 1– 5 und grundlegend: Emil van der Vekene, Die Luxemburger Drucker und ihre Drucke bis zum Ende des 18. Jahrhunderts. Eine Bio-Bibliographie, Wiesbaden 1968.
Der „Courrier du Grand-Duché de Luxembourg“ (1844–1868)
2.
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Der Courrier und die Luxemburger Zeitung gegen die Zensur
Norbert und Charles Metz waren, obschon sie sehr reich waren und zu den wohlhabendsten Bürger gehörten, keine „Notablen“, sondern standen mit ihrer Zeitung „Le courrier du Grand-Duché de Luxembourg“ auf der Seite der Bevölkerung. Wegen Kritik an der Regierung haderten sie mit der Zensur13. Luxemburg hatte wenig Erfahrung mit Presseerzeugnissen. Seit den „Affiches, annonces et avis divers de la ville de Luxembourg“ 1814, wenn nicht seit dem „Écho des Forêts“ 1799, war das Land bis zum „Luxemburger Wochenblatt“ 1821 ohne Zeitung, auch nach einer vorübergehenden Lockerung der Zensur. Das gültige niederländische Pressegesetz verzichtete zwar auf eine Vorzensur, schrieb den Zeitungen allerdings ein Minimum von 300 Abonnenten vor, was für Luxemburger Verhältnisse viele Leser voraussetzte. Das Gesetz vom 21. August 1832 führte die Pressegesetze des Deutschen Bundes einschließlich der Vorzensur in der Festung Luxemburg ein. Nach der Entdeckung revolutionärer Literatur bei einem Buchhändler wurde die Zensur 1835 noch einmal verschärft und nach der Restauration 1839 auf das gesamte Großherzogtum ausgedehnt. Jede Ausgabe wanderte vor Drucklegung zu einem Zensor, zunächst zum Gouverneur Théodore de la Fontaine, ab 1845 zum Obergerichtsrat Jean-Henri Heuardt14. Aber nicht nur der 1844 gegründete Courrier hatte Probleme mit der Zensur, sondern vor allem die zeitgleich gegründete und konkurrierende Luxemburger Zeitung von Ernest Grégoire. Ernest Grégoire wurde in Charleville (Frankreich) geboren. Grégoire hatte ein wechselvolles Leben hinter sich: anfangs Arzt, später Kaufmann und dann Redakteur15. In Frankreich war er Republikaner und antiklerikal. Durch zum Teil seltsame Umstände landete Grégoire in Belgien, wo er 1830 an der belgischen Revolution teilnahm und auf der Seite der Belgier kämpfte. Er war hier teils Antimonarchist und Verteidiger der Republik. Das Jahr darauf wechselte Ernest Grégoire aber die Fronten und versuchte sogar, dem holländischen Königshaus in Belgien den Thron zu erhalten. Grégoire setzte sich für die Pressefreiheit ein und lag deswegen im Kampf mit der Regierung. In dieser Zeit war in Luxemburg Fontaine der amtierende Gouverneur, der von Anfang an versucht haben soll, Grégoire und dessen Zeitung zu zerstören16. Fontaine soll von der Bevölkerung 13 Gast Mannes/Josiane Weber, Zensur im Vormärz (1815–1848). Literatur und Presse in Luxemburg unter der Vormundschaft des Deutschen Bundes [Begleitbuch zur Ausstellung Zensur im Vormärz in Luxemburg (1815–1848) in der Nationalbibliothek Luxemburg/Bibliothèque nationale du Luxembourg 1998], Luxemburg 1998, S. 66. 14 Hilgert, Zeitungen in Luxemburg 1704–2004, S. 39 und S. 41. 15 V. Loy, Biographies des hommes de la révolution, par un belge, qui a pris la révolution au sérieux. Conspiration Grégoire, 3. Auflage, Brüssel 1833, S. 99. 16 Mannes/Weber, Zensur im Vormärz (1815–1848), S. 45.
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Thomas Gergen
Beschwerden bekommen haben dergestalt, dass diese sich vom „polemischen und bösartigen Ton“ der Zeitung Grégoires angegriffen fühlten. Daraufhin beschloss Fontaine, es mit der milden Zensur bewenden zu lassen. Der Gouverneur sendete dem Courrier sowie der Luxemburger Zeitung einen Warnbrief zu, dass die Zensur „alle böswilligen Verleumdungen in beiden Zeitungen streichen würde“. Als die Luxemburger Zeitung mit einer französischsprachigen Beilage einen Angriff auf ihre Konkurrenz, den Courrier und seine Redakteure startete, strich der Zensor diese Artikel. Auch weitere Artikel von Grégoire wurden öfters von der Regierung gestrichen, was auch daran lag, dass Grégoire den Gouverneur Fontaine und die Regierung öfters provozierte17. Nachdem am 2. Oktober 1844 Norbert Metz, Ernest Grégoire im Courrier der double trahison18 beschuldigt hatte, durfte Grégoire sich in seiner Zeitung wegen der Zensur nicht verteidigen. Er beschimpfte Fontaine daher, parteiisch zu sein19. Schon am 14. Juni 1845 bekam die Luxemburger Zeitung die Druckerlaubnis entzogen. „Grégoire wollte den Krieg, er hat ihn dann auch bekommen; aber er hat ihn auch, einer solch feindlichen Übermacht nicht gewachsen verloren“20. Nicht nur die Luxemburger Zeitung, sondern auch ihre Konkurrenz, der Courrier du Grand-Duché de Luxembourg, hatten mit der Zensur zu kämpfen. Wenn auch weniger, denn die Gebrüder Metz waren politisch sowie industriell gut in Luxemburg gefestigt, und konnten sich somit mehr Erlauben als andere Zeitungen. Der Courrier tendierte dazu, anti-klerikal zu sein, und nicht immer konform mit der Linie der Regierung21. Denn die Ideen der Freiheit, die der Courrier verbreitete, stellten für die Regierung Fontaines Umsturzideen dar22. Der Courrier hatte aber nicht nur Probleme mit der Regierung, sondern auch mit dem König. Am 3. Dezember 1845 erschien im Courrier ein Artikel über Probleme im Athénée, in dem vor allem der Vikar Laurent angegriffen wurde23. Diese Artikel gefielen König Wilhelm II. überhaupt nicht. In seinem Schreiben an den Kanzler Blochausen fragte er, warum der Courrier solch einen Artikel veröffentlichen dürfe, der die Harmonie zwischen Staat und Klerus stören und die Bevölkerung aufhetzen würde. Blochausen bezog sich auf die Pressegesetze, die von der 17 Mannes/Weber, Zensur im Vormärz (1815–1848), S. 47. 18 o. A., Grand-Duché de Luxembourg. Luxembourg, 2 octobre, in: Courrier du Grand-Duché de Luxembourg N.27 (02. 10. 1844), S. 1. 19 Mannes/Weber, Zensur im Vormärz (1815–1848), S. 47. 20 Mannes/Weber, Zensur im Vormärz (1815–1848), S. 53. 21 André Grosbusch, Droit de l’homme. Il y a 150 ans: La liberté de la presse au Luxembourg, in: Forum Nr. 182 (März 1998), S. 3–6. 22 Mersch, Les Metz, La Dynastie du Fer, S. 434. 23 o. A., Grand-Duché de Luxembourg. Luxembourg, 3 décembre, in: Courrier du Grand-Duché de Luxembourg N.45 (03. 12. 1845), S. 1.
Der „Courrier du Grand-Duché de Luxembourg“ (1844–1868)
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Frankfurter Bundesversammlung ausgegangen waren und wonach ein Zensor nicht einfach Artikel streichen durfte, außer wenn der König, die Regierung oder ein Staat des deutschen Bundes angegriffen wurden. Des Weiteren handele es sich beim Courrier um eine unabhängige Zeitung; daher sei manchmal mit regierungsfeindlichen Artikeln zu rechnen24. Der König, der mit dieser Antwort keineswegs einverstanden war, meinte, dass der Zensor jegliche Artikel streichen müsse, die die Bürger des Landes zu gegenseitigem Hass anstacheln würden. Außerdem müsse jeder geschriebene Artikel vom Regierungschef oder vom Zensor einzeln eine Druckerlaubnis bekommen25. Die Gebrüder Metz waren immer wieder politisch sowie journalistisch aktiv, um sich für die Pressefreiheit einzusetzen. Am 23. Juni 1847 kritisierte Charles Metz zum Beispiel die Regierung wegen der wenigen Pressefreiheiten, wie folgt: „Chez nous la presse est à peu près libre : elle peut parler de tout, pourvu qu’elle sache se taire sur mille choses : elle peut parler des actes du gouvernement et des Etats, pourvu qu’elle les trouve on ne saurait mieux.“26
Als am 22. November 1847 in Luxemburg ein neues Pressegesetz eingeführt wurde, wollte der Courrier dazu einen Kommentar in der Zeitung vom 4. Dezember abgeben27. In diesem Kommentar fand man sehr kritische Aussagen. Man stellte die Frage, warum es in einem liberalen Land wie Luxemburg noch so wenige Pressefreiheiten gebe. Sehr kritische Bemerkungen über den König führten letztlich zur Streichung des Beitrages. Der Herausgeber des Courrier Victor Hoffman ließ sich dies aber nicht gefallen, und schrieb einen Zettel an die Abonnenten der Zeitung, in dem stand, dass der Courrier Schwierigkeiten mit der Zensur habe, und deshalb keine Zeitung am 4. Dezember erscheinen werde. Der Regierung gefiel dieses Papier ganz und gar nicht. Hoffman erhielt eine Warnung mit dem Inhalt, dass er in Zukunft seine Zeitung nicht einfach erscheinen lassen und seine Leser nicht wieder von den Schwierigkeiten mit der Zensur in Kenntnis setzen dürfe28. Daraufhin verteidigte sich Hoffman damit, dass es keine Gesetze gebe, die es einem Verleger verbieten würden, seinen Abonnenten eine entsprechende Nachricht mitzuteilen. Fontaine riet Hoffman, sich an alle Gesetze zu halten, sonst würde er dem Courrier die Konzession entziehen29. Später setzte sich Charles Metz wieder einmal für die Pressefreiheit
24 Mannes/Weber, Zensur im Vormärz (1815–1848), S. 66. 25 Mannes/Weber, Zensur im Vormärz (1815–1848), S. 67. 26 o. A., Grand-Duché de Luxembourg. Luxembourg, 23 juin, in: Courrier du Grand-Duché de Luxembourg N.50 (23. 06. 1847), S. 1. 27 Mannes/Weber, Zensur im Vormärz (1815–1848), S. 67. 28 Mannes/Weber, Zensur im Vormärz (1815–1848), S. 69. 29 Mannes/Weber, Zensur im Vormärz (1815–1848), S. 70.
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ein, indem er dem König einen Brief schickte und dort mehr Freiheiten für die Presse verlangte30. Durch die neue Verfassung von 1848 kam es in Luxemburg dann endlich zur Pressefreiheit und zur Abschaffung der Zensur. Dies konnte der Courrier seinen Lesern in der Ausgabe vom 18. März 1848 mitteilen31. Die Pressefreiheit hielt aber nicht lange an, denn 1856 gab es in Luxemburg einen Staatsputsch. Durch diesen Staatsputsch wurde der König wieder zum Souverän. Zwar wurde die Zensur nicht wieder eingeführt, doch blieb die Pressefreiheit beschränkt, denn die Herausgeber mussten eine staatliche Genehmigung beantragen und eine Kaution zur Verfügung stellen32. Nach 1856 versuchte die Regierung wiederholt, das Erscheinen des Courrier durch den Entzug der Buchdruckerkonzession zu verhindern. Der Courrier musste so öfters die Druckerei wechseln33. Wieder einmal waren die politisch aktiven und liberal geprägten Gebrüder Metz der Regierung gegenüber kritisch. Am 8. März 1857 schrieben sie: „Nous espérons que le régime qui pèse actuellement sur la presse, n’est que provisoire“34. Sie erhofften sich, dass es in Luxemburg wieder mehr Pressefreiheiten geben würde. Dank der Verfassung von 1868 gab es in Luxemburg definitive Pressefreiheit.
3.
Streit mit der Luxemburger Zeitung von Ernest Grégoire
„En général, on n’aime pas plus à Luxembourg que partout, ces journalistes qui comme des oiseaux de passage vous arrivent d’autres pays, pour rester jusqu’à ce qu’une meilleure nourriture, ou un autre vent les appellent ailleurs“35. So ist es also kein Wunder, dass die Gebrüder Metz und der ausländische Ernest Grégoire nicht ohne Konflikt aneinander vorbeikamen.
30 Jules Mersch, Les rois des Pays-Bas, grand-ducs de Luxembourg. In: Alphonse Sprunck/ Auguste Collart/Jules Mersch (Hg.), Le diplomate G.-A.-F. de Feltz (1744–1820)/Souvenirs luxembourgo-italiens (De Gilkens)/Les rois des Pays-Bas, grands-ducs de Luxembourg, Luxembourg 1958, S. 156 (Biographie nationale du pays de Luxembourg vol. 5, fasc. 9). 31 o. A., Grand-Duché de Luxembourg. Luxembourg, 18 mars, in: Courrier du Grand-Duché de Luxembourg N.23 (18. 03. 1848), S. 1. 32 Grosbusch, Droit de l’homme. Il y a 150 ans: La liberté de la presse au Luxembourg, in: Forum Nr. 182 (März 1998), S. 3–6. 33 Hilgert, Zeitungen in Luxemburg 1704–2004, S. 75. 34 o. A., Grand-Duché de Luxembourg. Luxembourg, le 7 mars. La concession d’imprimeur, in: Courrier du Grand-Duché de Luxembourg N.29 (08. 03. 1857), S. 1–2. 35 o. A., Grand-Duché de Luxembourg. Luxembourg, le 2 septembre, in: Courrier du GrandDuché de Luxembourg N. 74 (02. 09. 1848), S. 1.
Der „Courrier du Grand-Duché de Luxembourg“ (1844–1868)
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Der Courrier lag aber auch im Streit mit anderen Zeitungen, zum Beispiel dem Volksfreund, der Union und sogar dem Luxemburger Wort. Die erste Streitigkeit mit einer Zeitung, war aber mit der Zeitung Luxemburger Zeitung von Ernest Grégoire. Der 2. Februar 1831 sah Grégoire als orangistischen Anführer eines gescheiterten orangistischen Putsches in Gent. Nach dieser Niederlage floh er, wurde späterhin verhaftet, aber wieder freigelassen und verschwand aus Belgien36. In den 1830er Jahren wurde Grégoire dann ein orangistischer Agent37, der ab 1836 in Trier lebte38. In Trier wollte Grégoire eine katholische Zeitung drucken, bekam jedoch keine Erlaubnis dazu. Deswegen kam er nach Luxemburg und wurde so zum Direktor und verantwortlichen Redakteur der Zeitung „Luxemburger Zeitung“39. Die Unterschiede zwischen den Gebrüdern Metz und deren Courrier einerseits und Ernest Grégoire und seiner Luxemburger Zeitung andererseits konnten nicht eindeutiger sein. Beim Courrier handelte es sich um eine französische, freisinnige und antikirchliche Zeitung, die für das liberale gebildete Bürgertum in Luxemburg sprach. Die Luxemburger Zeitung war hingegen ein deutsches, katholisches, ultramontanes Blatt, das für das katholische deutschsprachige Volk eintrat40. Obwohl zeitgleich gegründet, begannen die Auseinandersetzungen bereits vor der Entstehung der Zeitungen. Grégoire schloss mit dem Drucker Jacques Lamort (1785–1856) ein Abkommen, dass dieser statt das „Journal de la Ville et du Grand-Duché de Luxembourg“ seine Zeitung drucken sollte. Das Abkommen wurde geschlossen, aber zum Ende des „Journal“ kam es aber nicht41, denn Norbert Metz wurde der neue Besitzer der Zeitung und änderte den Titel auf den Courrier. Die Auseinandersetzungen entstanden aber nicht nur aus der Konkurrenz heraus. Die Gebrüder Metz und vor allem Norbert Metz waren politisch in Luxemburg sehr aktiv. Die Ideologien von Grégoire und Metz waren gegensätzlich. Norbert Metz schämte sich nicht dafür, im Courrier Ernest Grégoire öffentlich zu kritisieren und sogar zu beleidigen. Im Courrier vom 25. September 1844 bezeichnete Norbert Metz Grégoire als prétendu Luxembourgeois allemand42. Er 36 Constantin Rodenbach, Épisodes de la révolution. Dans les flandres 1829,1830,1831, Brüssel 1833, S. 215. 37 Hilgert, Zeitungen in Luxemburg 1704–2004, S. 49. Vgl. ferner Marcel Noppeney, Luxembourg 1830. La Révolution belge et la presse luxembourgeoise, Luxemburg 1934. 38 Mannes/Weber, Zensur im Vormärz (1815–1848), S. 45. 39 Hilgert, Zeitungen in Luxemburg 1704–2004, S. 49. 40 Mannes/Weber, Zensur im Vormärz (1815–1848), S. 44. 41 Hilgert, Zeitungen in Luxemburg 1704–2004, S. 54. 42 o. A., Grand-Duché de Luxembourg. Luxembourg, 25 Septembre, in: Courrier du GrandDuché de Luxembourg N.25 (25. 09. 1844), S. 1.
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wird hier als angeblicher Luxemburger bezeichnet, da Grégoires Zeitung offiziell eine luxemburgische Zeitung war, Grégoire aber die Zeitung wie eine deutsche Zeitung führte. Des Weiteren wurde Grégoire in der gleichen Zeitung als jemand charakterisiert, qui prêche la suprématie de l’Eglise sur l’Etat43. Norbert beschuldigte daraufhin Grégoire, dass er die Kirche vor die Regierung stelle, was auf die ultramontane Denkweise von Grégoire zurückzuführen sei. Die Beschuldigungen erreichten am 2. Oktober 1844 ihren Höhenpunkt. Norbert Metz beschuldigte Ernest Grégoire der double trahison. Was genau mit dem doppelten Verrat gemeint war, wurde nicht gesagt. In der gleichen Zeitung beschrieb Norbert Grégoire auch als einen Mann ohne Nationalgefühl, der seine Zeitung nütze, um die luxemburgischen Institutionen anzugreifen und als einen, der sich nur für das Geld interessiere44. Bei dem doppelten Verrat, den Norbert Metz angedeutet hatte, ging es darum, dass Grégoire 1830 an der belgischen Revolution teilgenommen hatte, das Jahr darauf einen Staatsputsch in Gent im Namen des holländischen Königs verursacht habe. Die Beschuldigungen führten dazu, dass Ernest Grégoire Norbert Metz anklagte. Grégoire sah die Beschuldigungen als eine Art Rufmord, der dazu führte, dass er dem Hass der Bevölkerung ausgesetzt war. Des Weiteren stützten sich die Anschuldigungen von Norbert nicht auf Beweise, sondern dienten lediglich als Beleidigungen45. Der Courrier selbst teilte seinen Lesern am 30. Oktober 1844 mit, dass Grégoire die Zeitung vor Gericht bringen werde46. Auf der Seite von Ernest Grégoires Zeitung, der Luxemburger Zeitung, konnte man aber keine Reaktion darauf lesen. Das lag daran, dass der Gouverneur Fontaine jegliche Artikel hierüber zensieren ließ. Grégoire konnte sich so nicht verteidigen oder selbst den Courrier angreifen. So fühlte er sich von Fontaine unfair behandelt und warf ihm Parteilichkeit vor47. Der Gerichtshof gab Ernest Grégoire im Prozess recht und Norbert Metz musste eine Geldbuße bezahlen48. Die Handlungen des Prozesses endeten aber nicht nur damit. Nach Ernest Grégoire soll Norbert Metz’s Anwalt Charles Metz, diesen im Laufe des Prozesses mehrmals beleidigt haben. Deswegen wurde Grégoire sauer, schlug auf den Tisch und griff den Gerichtshof mit Gesten und Worten an. Wegen der Beleidigungen gegen den Gerichtshof wurde Grégoire 43 o. A., Grand-Duché de Luxembourg. Luxembourg, 25 Septembre, in: Courrier du GrandDuché de Luxembourg N.25 (25. 09. 1844), S. 1. 44 o. A., Grand-Duché de Luxembourg. Luxembourg, 2 octobre, in: Courrier du Grand-Duché de Luxembourg N.27 (02. 10. 1844), S. 1. 45 Mersch, Les Metz, La Dynastie du Fer, S. 489. 46 o. A., Grand-Duché de Luxembourg. Luxembourg, 30 octobre, in: Courrier du Grand-Duché de Luxembourg N.35 (30. 10. 1844), S. 1. 47 Mannes/Weber, Zensur im Vormärz (1815–1848), S. 49. 48 Mersch, Les Metz, La Dynastie du Fer, S. 489.
Der „Courrier du Grand-Duché de Luxembourg“ (1844–1868)
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verhaftet und musste eine Kaution zahlen. Grégoire meinte, dass die Regierung also damals Gouverneur Fontaine, einer der nach Grégoire von Anfang an gegen ihn war, unter einer Decke mit der Justiz steckte. Grégoire glaubte also, dass die Justiz wieder einmal parteiisch gegen ihn war, auch wenn er den Prozess eigentlich gewonnen hatte49. Die Streitigkeiten zwischen dem Courrier und der Luxemburger Zeitung endeten damit, dass Grégoire sich am 3. Mai 1844 nach Thionville absetzte, nachdem dieser angeklagt wurde, weil er einen Text nicht in der vom Zensor gutheißenden Form in Druck gegeben hatte und so gegen das Pressegesetz des Deutschen Bundes verstoßen hatte50. Grégoire gab sich damit aber nicht geschlagen und schrieb in Frankreich eine Streitschrift: „Impuissance d’une constitution pour protéger le droit contre une administration Disposant de la Censure et des Tribunaux“, in der er sich zu rechtfertigen versuchte und die Verwaltung Luxemburgs harsch kritisierte. Er behauptete dazu: „es sind die Männer der Loge, die das Großherzogtum regieren“51. In diesem Buch setzte sich Grégoire überdies mit deutlichen Worten für die Pressefreiheit ein. Schlussendlich kann man sagen, dass die Streitigkeiten des Courrier und der Luxemburger Zeitung von Anfang an vorgezeichnet waren. Die politischen Ideen sowie die Einstellungen von Ernest Grégoire und der Gebrüder Metz waren zu gegensätzlich. Man kann auf beiden Seiten aber auch Gemeinsamkeiten vorfinden. Beide setzten sich aktiv für die Pressefreiheit und somit gegen die Zensur in Luxemburg ein. Auch wenn dies für ein anderes Ziel war, wollte Grégoire die Pressefreiheit, um verstärkt seine religiösen Ideen zu verbreiten, während die
49 Mannes/Weber, Zensur im Vormärz (1815–1848), S. 49–50. 50 Hilgert, Zeitungen in Luxemburg 1704–2004, S. 53. Ein erwähnenswerter Zeitgenosse Grégoires aus unmittelbarer Nachbarschaft war Johann Guittienne. Als ein „Angehöriger der äußerst radikalen Linken“ sah Friedrich Wilhelm IV. diesen Juristen liberaler Gesinnung, genannt „Der Franzos“, 1848 Mitglied des Frankfurter Vorparlaments und der Preußischen Nationalversammlung, später Bürgermeister des Amtes Oberesch zu Niedaltdorf/Saarland. Der Dichter Fritz Reuter schilderte in seiner plattdeutschen Mundart die Inhaftierung von Guittienne und seiner selbst; zur gemeinsamen Festungszeit als Gefangene siehe Fritz Reuters Werke in hochdeutscher Sprache, Band III, „Aus meiner Festungszeit“, Stuttgart o. J. Dazu Gernot Karge, Johann Guittienne aus Niedaltdorf. Seine Familie und seine Nachfahren. In: Saarländische Familienkunde. Mitteilungen der Arbeitsgemeinschaft für Saarländische Familienkunde im Historischen Verein für die Saargegend e.V., Band 3, Jahrgang 11/1978, Heft 43, S. 307–315 sowie Zweitabdruck in: Unsere Heimat, Jahrgang 33/2008, Heft 2, S. 65–72, hier v. a. S. 65–66. Jüngeren Datums ist: Ders., Aus dem Leben des Johann Guittienne (1809– 1889), in: Hans-Gerd Dauster (Hg.), Die Einwohner von Niedaltdorf und Rémeldorff, Saarlouis 2004. 51 Ernest Grégoire, Impuissance D’une Constitution Pour Protéger Le Droit Contre Une Administration Disposant De La Censure Et Des Tribunaux, Nancy 1845, S. 22.
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Thomas Gergen
Gebrüder Metz dank der Pressefreiheit ihre liberalen und industriefreundlichen Ideen mitteilen wollten. Konflikte mit dem Klerus blieben nicht aus.
IV.
Streit mit prominenten Vertretern des Klerus
Der Courrier führte auch Auseinandersetzungen mit anderen Persönlichkeiten, in Sonderheit Johannes Theodor Laurent.
1.
Johannes Theodor Laurent – apostolischer Vikar von Luxemburg
Johannes Theodor Laurent wurde am 6. Juli 1804 in Aachen geboren. Laurent stammte aus einer bescheidenen, bäuerlichen Familie52. Im Jahr 1839 wurde er Bischof von Chersones53. Am 1. Dezember 1841 wurde Laurent zum apostolischen Vikar von Luxemburg ernannt54. Laurent wurde Vikar, nachdem König Wilhelm II. eine Allianz mit Papst Gregor XIV. schloss. Nach Wilhelm war Luxemburg zu liberal und man müsse die katholischen Werte in Luxemburg mehr fördern55. Luxemburg berief sich in dieser Zeit noch auf die Tradition des napoleonischen Konkordates56. Am 30. Januar 1842 traf Laurent dann in Luxemburg ein, was für die Regierung völlig überraschend war57. Hier kam es dann auch direkt zu Konflikten mit der Regierung und mit den Gebrüdern Metz, die einen festen Stand in der Regierung besaßen. Die Regierung, die Gebrüder Metz sowie das gebildete Bürgertum in Luxemburg gehörten dem Freimauerorden an und neigten sich so in politischer Beziehung nach 52 Joseph Goedert, Erlebnisse/Erinnerungen u. historische Gestalten um das Luxemburger Wort. Mgr Laurent à Luxembourg, in: Luxemburger Wort (22. 03. 1948), S. 33–34. Generell vgl. Peter Bruck, Die Lebensgeschichte des Luxemburger Wort für Wahrheit und Recht 1848–1854, Luxemburg 1884 sowie Georges Hellinghausen, 150 Jahre Luxemburger Wort. Selbstverständnis und Identität einer Zeitung, Luxemburg 1998. 53 Robert Oscar Claeßen, „Laurent, Johann Theodor“ in: Neue Deutsche Biographie 13 (1982), S. 721, URL: https://www.deutsche-biographie.de/pnd117607010.html#ndbcontent (Stand: 22. 02. 2021). 54 O. Fösser, Johannes Theodor Laurent, Titularbischof von Chersones, apostolischer Vikar von Hamburg und Luxemburg und seine Verdienste um die katholische Kirche in Deutschland (Frankfurter zeitgemäße Broschüren, 11,5), Frankfurt 1890, S. 25. Überdies vgl. Karl Möller, Leben und Briefe von Johannes Theodor Laurent, zweiter Teil: 1840–1856, Trier. 55 Goedert, Luxemburger Wort, S. 33–34. 56 Georges Hellinghausen, Kampf um die apostolischen Vikare des Nordens J.Th. Laurent und C.A. Lüpke. Der Hl. Stuhl und die protestantischen Staaten Norddeutschlands und Dänemark um 1840 (Miscellanea Historiae Pontificae, 53), Rom 1987, S. 79. 57 Hilgert, Zeitungen in Luxemburg 1704–2004, S. 48.
Der „Courrier du Grand-Duché de Luxembourg“ (1844–1868)
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Frankreich. So ist es nicht überraschend, dass die Regierung und der deutsche, streng römisch-katholische Laurent „mit den Köpfen zusammenstoßen“. Diesbezüglich wird Laurent als ein sehr sturer Mann beschrieben, der fest auf seinen religiösen Prinzipien beharrte, was die Diskussion mit ihm erschwerte58. Norbert Metz, Eigentümer des Courrier, sah Laurent als eine Bedrohung für Luxemburg. Bereits im Journal de la ville et du Grand-Duché de Luxembourg vom 29. März 1843 beschreibt Norbert Metz ihn als „un personnage dont il fallait se méfier“59. In der Politik kam es zwischen Laurent und Norbert Metz auch zu Streitereien. Laurent soll einen Brief an den König gesendet haben, dass er nicht zufrieden sei, dass Norbert Metz zum „membre de la commission d’instruction“ gewählt wurde. Des Weiteren beschreibt er Norbert Metz, Willmar und Gellé als Männer, die nur wenig Sympathie für die Kirche zeigen. Laurent warf Norbert auch vor, in der „Assemblée des Etats“ ein leidenschaftlicher Gegner von ihm und der Kirche zu sein60. Ziel von Laurent war es vor allem, neue Schulgesetze zu schaffen, damit die Kirche sich mehr in schulische Angelegenheiten einmischen konnte, was ihm zum Teil auch gelang. Wie bereits mehrmals erwähnt, pochten die Gebrüder Metz auf liberale, rationale Ideen, und stellten so die Gesetze sowie den Staat und die Regierung vor die Kirche. Die Gebrüder Metz, die Teil der Regierung waren, waren dementsprechend auch gegen die neuen Schulgesetze von Laurent. Ein Beispiel eines der neuen Gesetze von Laurent, war, dass die katholische Kirche nicht nur den Religionsunterricht durchführen, sondern dass die Lehrer von der Kirche ausgebildet werden und die Unterrichts- und Lehrbücher ebenfalls von der katholischen Kirche stammen sollten. Im Courrier vom 9. September 1846 wird dann auch gesagt, dass Laurent versuchte den Klerus in die Schule einzubringen. Im Übrigen handelte es sich bei Laurent wie bei dem vorherigen besprochenen Grégoire wieder einmal um einen Ausländer, der versuchte sich in luxemburgische Angelegenheiten einzumischen. Die Gebrüder Metz stellten sich gegen solche Leute61. Am 20. März 1847 kam es dann zu einer scharfen Kritik im Courrier. Laurent wird als einer beschrieben, der nach Luxemburg gekommen ist, um seine Domination spüren zu lassen und als einen, der den Frieden in Luxemburg stören würde. Er wird somit als „malheur pour le Luxembourg“ bezeichnet und als
58 59 60 61
Fösser, Johannes Theodor Laurent, S. 25. Mersch, Les Metz, La Dynastie du Fer, S. 489. Mersch, Les Metz, La Dynastie du Fer, S. 486. o. A., Grand-Duché de Luxembourg. Luxembourg, le 9 septembre, in: Courrier du GrandDuché de Luxembourg N.72 (09. 10. 1846), S. 1.
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jemand „qui apporte le désordre et des dissentions inconnues“62. Die vielen Kritiken des Courrier sollen einen „bruit qui commence à courir le pays“63 angezettelt haben. Im März 1847 wendete sich dann ein großer Teil des luxemburgischen Volkes gegen Laurent. Grund dafür war der Tod von Jean-Baptiste Gellé. Laurent sah Gellé als seinen größten politischen Feind an64. Im dem vorherigen erwähnten Courrier vom 20. März 1847 nahmen die Gebrüder Metz das Beispiel von Gellé um zu zeigen wie extrem/absurd Laurent eigentlich ist. Laurent soll sich geweigert haben, im Namen der Kirche für Gellé zu beten und ließ dessen Beerdigung stoppen. Laurent meinte, dass Gellé keine Beerdigung der Kirche verdient hätte und dies nur, weil dieser sein engster politischer Gegner war65. Am 1. Mai 1848 verließ Johannes Theodor Laurent luxemburgisches Territorium. Grund dafür war, dass die Regierung Laurent beschuldigt hatte, die Revolution vom März 1848 begünstigt zu haben. Der Vikar Laurent sollte nämlich einen großen Kampf zwischen den Klerikalen und den Antiklerikalen gestartet haben, der die Stabilität des Regimes somit bedroht hatte und es dann zur Revolution kam. Der Vatikan und der König wurden so indirekt gezwungen, Laurent von Luxemburg zu entfernen66. Hier ist nur kurz anzumerken, dass aus religiösen Quellen hervorgeht, dass Laurent überhaupt nicht dafür verantwortlich war, aber die Regierung damit eine Chance sah in loszuwerden. Der Courrier vom 3. Mai 1848 war mit dem Rückzug von Laurent zufrieden. Hier steht, dass Laurent in Luxemburg mit einer Mission gekommen ist, dass er sich jedoch mit dem falschen Land und mit dem falschen Volk angelegt hat. Jetzt, wo er weg sei, könne man die richtige Religion wiederfinden, nämlich die Religion, welche tolerant sei67. Nachdem Laurent das Land verlassen hatte, gab es Gerüchte, dass dieser nach Luxemburg zurückkommen würde. Am 19. August 1848 kommentiert der Courrier dieses Gerücht. An Laurent wird erneut Kritik dergestalt geübt, als dieser Luxemburg gespalten und nur die Kirche als Gesetz anerkannt habe. Hervorgehoben sei, dass die Gebrüder Metz nicht gegen Laurent oder allgemein gegen die Kirche als solche waren, es aber keineswegs durchgehen lassen 62 o. A., Grand-Duché de Luxembourg. Luxembourg, le 19 mars, in : Courrier du Grand-Duché de Luxembourg N.23 (20. 03. 1847), S. 1. 63 Joseph Goedert, Jean-Théodore Laurent, Vicaire Apostolique de Luxembourg, 1804–1884 (Biographie nationale du pays de Luxembourg vol. 4, fasc. 8), Luxemburg 1957, S. 553. 64 Martin Blum/Nicolas Gonner (Hg.), Leben und Wirken des hochwürdigsten Herrn Nikolaus Adames, ersten Bischofs von Luxemburg: für das Volk bearbeitet, Luxemburg 1892, S. 31. 65 o. A., Grand-Duché de Luxembourg. Luxembourg, le 19 mars, in: Courrier du Grand-Duché de Luxembourg N.23 (20. 03. 1847), S. 1. 66 Hilgert, Zeitungen in Luxemburg 1704–2004, S. 48. 67 o. A., Grand-Duché de Luxembourg. Luxembourg, le 2 mai, in: Courrier du Grand-Duché de Luxembourg N.38 (03. 05. 1848), S. 1.
Der „Courrier du Grand-Duché de Luxembourg“ (1844–1868)
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konnten, dass eine Person wie Laurent dem Frieden in Luxemburg schaden würde. In der Folgewoche (26. August 1848), kommentierte der Courrier erneut die Gerüchte, indem dort wieder einmal die wesentlichen Kritikpunkte an Laurent wiederholt wurden, der wohl nicht mehr ins Land zurückkommen sollte68.
2.
Nicolas Adames – erster Bischof von Luxemburg
Wir überspringen einige Jahre. Es kommt jetzt zu einer neuen Generation, die indes ungleich weniger Auseinandersetzungen führte. Auf der einen Seite treffen wir Nicolas Adames: einen Luxemburger, der, nachdem Laurent 1848 das Land verlassen hatte, der neue apostolische Pro-Vikar in Luxemburg wurde69. Am 27. Juni 1870 wurde das apostolische Vikariat Luxemburg zum Bistum erhoben und Nicolas Adames sogar zum ersten Bischof von Luxemburg ernannt70. Auf der anderen Seite haben wir es mit Jules Metz zu tun. Nachdem der ehemalige Hauptredakteur und Besitzer des Courrier Charles Metz 1853 gestorben war, übernahm sein Sohn Jules Metz dessen Rolle. Er wurde somit der neue Hauptredakteur des Courrier und Besitzer mit seinem Onkel Norbert Metz. Wie es sich für einen Metz gehörte, war Jules Metz auch politisch in Luxemburg aktiv71. Wie bereits bei seinem Vater und seinem Onkel, entstanden zwischen ihm und der Kirche erneut Streitereien und vor allem mit dem späteren Bischof Nicolas Adames. Der Streit des Courrier von Jules Metz und Nicolas Adames begann damit, dass der Courrier eine Kampagne gegen die Schulgesetze von 1843 begann. Die Gesetze von 1843 wurden damals von Johannes Theodor Laurent eingeführt. Grund für die Kampagne war, dass die Kirche in den Augen von Jules Metz einen zu großen Einfluss auf die schulischen Affären besaß. Bereits Norbert und Charles Metz waren früher dagegen72.
68 o. A., Grand-Duché de Luxembourg. Luxembourg, le 26 août, in: Courrier du Grand-Duché de Luxembourg N.70 (26. 08. 1848), S. 1. 69 Georges Hellinghausen, Nicolas Adames (1870–1883) (8. Februar 2011), in: cathol.lu, URL: https://cathol.lu/article1913 (Stand: 10. 07. 2022). 70 David M. Cheney, Archbishop Nikolaus Adames (19. 09. 2019), in: The Hierarchy of the Catholic Church, URL: http://www.catholic-hierarchy.org/bishop/badame.html (Stand: 10. 07. 2022). 71 Mersch, Les Metz, La Dynastie du Fer, S. 320. 72 Jules Mersch, Les imprimeurs Schroell. Theophil Schroell 1829–1893 (Biographie nationale du pays de Luxembourg depuis ses origines jusqu’à nos jours, Bd. XVI, vol. 8, fasc. 16), Luxemburg 1968, S. 413–534, hier S. 444.Vgl. ferner: Imprimerie Joseph Schroell, 1837–1912
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Am 6. November 1860 kommentiert der Courrier einen der Hirtenbriefe des Pro-Vikars Adames. In diesem soll stehen, dass Adames seinen gläubigen Anhängern raten würde, den Courrier nicht zu lesen. Der Courrier selbst, der sich als eine Zeitung ansieht, die die Werte der katholischen Religion vertritt, ist mit der Aussage Adames nicht zufrieden und übt deswegen Kritik aus73. In einem späteren Courrier vom 21. Februar 1861 kommentierte dieser einen neuen Hirtenbrief von Adames. Hier soll Adames im Allgemeinen die liberalen Zeitungen angegriffen haben. Der Courrier war natürlich nicht mit Adames Hirtenbrief einverstanden74. Der Streit mit der Kirche spitzte sich dann im Oktober 1862 zu, nachdem der Courrier die Artikel „Considérations philosophiques et religieuses sur l’état de la société européenne“ von dem Abt B. Gilson veröffentlicht hatte. Die katholische Gesellschaft soll von diesen Artikeln geschockt gewesen sein. Nach der Kirche sollen diese Artikel „des opinions contraires aux doctrines et aux dogmes de l’Eglise catholique et des propositions qui devraient blesser les sentiments du clergé“ enthalten. Der Streit mit der Kirche und mit Adames erreichte ihren Gipfel, als der Courrier am 27. November 1862 „une correspondance de source parisienne“ publiziert hatte. Adames beruteilte diese als „une haute inconvenance sur des choses se rapportant au culte“75. Einen Monat später publizierte Adames einen neuen Hirtenbrief, in dem er sagte, dass der Courrier die öffentliche Sittlichkeit ruinieren würde, sie würden Lügen verbreiten und die Gottlosigkeit lehren und verbreiten. Im großen Ganzen würde der Courrier den katholischen Glauben zerstören wollen. Adames entschied sich somit den Redaktor Jules Metz sowie seine Komplizen (zum Beispiel Theophil Schroell) zu exkommunizieren. Des Weiteren wären alle treuen Leser, alle Abonnenten, sowie alle die den Courrier auf irgendeiner Art und Weise unterstützen oder sich daran beteiligen, im „Sakrament der Busse nicht gültig losgesprochen werden können“76. Durch diese Exkommunizierung sowie die Bedrohung von Adames an die Leser verlor der Courrier eine Vielzahl an Abonnenten77. Das war aber nicht alles. Im Courrier vom 17. April 1863 meinte Jules Metz, dass nach dessen Exkommunizierung die Zeitung Luxemburger Wort, eine
73 74 75 76 77
Zeitungsverlag. Denkschrift herausgegeben bei Gelegenheit des Buchdruckerei-Jubiläums der Firma J Schroell, Diekirch 1912. o. A., Luxembourg, 5 novembre. Revue politique, in: Courrier du Grand-Duché de Luxembourg N.261 (06. 11. 1860), S. 1. o. A., Luxembourg, 20 février. Revue politique, 3, in: Courrier du Grand-Duché de Luxembourg N.44 (21. 02. 1861), S. 1. Mersch, Theophil Schroell, S. 445. Hilgert, Zeitungen in Luxemburg 1704–2004, S. 76; Mersch, Theophil Schroell, S. 445. Mersch, Les Metz, La Dynastie du Fer, S. 322.
Der „Courrier du Grand-Duché de Luxembourg“ (1844–1868)
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prominente katholische Zeitung, an alle Abonnenten des Courrier eine Zeitung gesendet hätte mit einer Einladung, das Luxemburger Wort zu abonnieren78. Jules Metz verdächtigte also Adames, mit dem Luxemburger Wort zusammengearbeitet zu haben, indem er die Leute des Courrier gezielt exkommuniziert hätte, um das Luxemburger Wort zu stärken. Am 7. März 1863 reichte deswegen Jules Metz Klage gegen Adames ein und verlangte zusätzlich auch Geld wegen Geschäftsschädigung79. Insgesamt dauerte der Prozess 2 Jahre. Die Grundfrage des Prozesses lautete, inwieweit die Kirche sich in staatliche Belange einzumischen befugt war80. Wie bereits gesagt, fordert Jules Metz von Adames Schadensersatz, denn nachdem Adames ihn exkommuniziert hatte, und die Leser ermutigt hat nicht mehr die Zeitung zu lesen, präsentiert Jules Metz im Prozess, dass der Courrier insgesamt 150 von seinen 600 Abonnenten verloren haben soll81. Auf der Seite von Jules Metz erläutert man, dass Adames und somit die Religion insgesamt überhaupt nicht das Recht dazu hätten. Grund dafür wäre, dass alles was der Courrier veröffentlicht hat der Pressefreiheit entsprechend war und, dass Adames Exkommunizierung nach dem kanonischem Recht nicht erlaubt wäre82. Auf der Seite von Adames werden mehrere Zeitungsartikel des Courrier erwähnt, die jeweils kirchenfeindlich gewesen sein sollen. Adames unterstreicht im Prozess sogar, dass der „Courrier au service de Satan“83 sei. Er gibt Jules Mersch insoweit recht, als es Pressefreiheit in Luxemburg gegeben und dieser die Pressefreiheit lediglich ausgenutzt habe84. Schlussendlich gewann Nicolas Adames den Prozess am 3. Juni 1864. Der Courrier selbst gab das Gerichtsurteil am 8. Juni 1864 bekannt85. Jules Metz verlor durch den Prozess eine Menge Geld und schlussendlich auch die Lust am Journalismus86. Im Februar 1865 gab Jules Metz dann die Zeitung an Theophil 78 o. A., Luxembourg, 16 avril. Revue politique, in: Courrier du Grand-Duché de Luxembourg N.91 (16. 04. 1863), S. 1. 79 Hilgert, Zeitungen in Luxemburg 1704–2004, S. 76. 80 Pierre Brück, Affaire De Monsieur Jules Metz, Rédacteur Du „Courrier“ Du Grand-Duché De Luxembourg, Contre Monseigneur Adames: Audience Civile Du 14 Juillet 1863, Tribunal D’arrondissement De Luxembourg, Luxemburg 1863. S. 4. 81 Hilgert, Zeitungen in Luxemburg 1704–2004, S. 76. 82 Pierre Brück, Affaire de Monsieur Jules Metz, rédacteur „du Courrier“ du Grand-Duché de Luxembourg, contre Monseigneur Adames: audience civile du 13 mai 1864, Cour supérieure de justice, Luxemburg 1864, S. 2. 83 Brück, Affaire de Monsieur Jules Metz, S. 16. 84 Brück, Affaire de Monsieur Jules Metz 1864, S. 5. 85 o. A., Luxembourg, 7 juin. Revue politique, in: Courrier du Grand-Duché de Luxembourg N.134 (08. 06. 1864), S. 2. 86 Mersch, Les Metz, La Dynastie du Fer, S. 325.
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Schroell ab. Dieser leitete die Zeitung bis zu ihrer letzten Ausgabe am 27. Dezember 186887. Der junge Theophil (1829–1893) hatte zum 1. Januar 1851 bereits im Alter von 22 Jahren von seinem Vater die Redaktion von „Der Wächter an der Sauer“ übernommen, der am 3. Januar 1849 das „Diekircher Wochenblatt“ ersetzt hatte. Theophil machte aus dem Samstag und mittwochs erscheinenden Blatt eines der interessantesten Zeitungen der ersten Hälfte der 1850er Jahre. Nahezu jede Nummer begann mit einem längeren Artikel zur innenpolitischen Lage, der dann eine kommentierte Presserevue aller einheimischen Zeitungen folgte. Ausländische Presse kam ebenfalls zu Wort in diesem linksliberalen Blatt, das gemeinsam mit dem Courrier gegen die Restauration und das katholische „Luxemburger Wort“ kämpfte. Noch bis Ende 1867 erschien Der Wächter an der Sauer, allerdings ab 1860 gemäßigt liberal im Einklang mit der neuen Regierung.
V.
Fazit
Folgendes darf aus unserer Studie festgehalten werden: (1) Der Courrier unter der Leitung der Gebrüder Metz stand im Kreuzfeuer vieler Auseinandersetzungen um freie Meinungsäußerung und Pressezensur. Sieht man sich die Auseinandersetzungen näher an, entstanden die Konflikte fast immer auf Initiative der Gebrüder Metz. So handelte der Courrier nicht, um sich zur Wehr zu setzen, sondern griff Zeitungen sowie Personen konkret an. Der Courrier hatte Probleme mit der Zensur, weil die Zeitung Monarchie wie Kirche offen zu kritisieren wagte. Als Ernest Grégoire mit seiner Zeitung nach Luxemburg kam, war es der Courrier, der Grégoire und dessen Zeitung bloßstellte. (2) Im Konflikt mit der katholischen Kirche waren gleichfalls die Gebrüder Metz notorische und giftige Kritiker mittels ihres Courrier. Dass sie sich mehr erlauben konnten als andere Presseorgane, war sicher ihrer starken wirtschaftlichen Macht und Verankerung in der Politik Luxemburgs geschuldet. Vormärzliche Ideen und liberalistische Äußerungsfreiheit waren mithin dank einer abgesicherten Unternehmerposition möglich. Den Gebrüdern Metz wurde öfters vorgeworfen, eine anti-deutsche und eine pro-belgische Position zu vertreten. Diese Kritik geht einher mit der Bindung Luxemburgs an den von Preußen dominierten Zollverein, dem das Großherzogtum sogar bis 1919 angehörte. Ernest Grégoire und Johannes Theodor Laurent betrachtete der Courrier als Gegner, waren sie doch auch jeweils Deutsche. (3) Der ehemalige Redakteur des Courrier namens Schrobilgen sagte zwar, dass der Courrier nichts mehr mit Journalismus zu tun habe, sondern nur noch 87 Mersch, Theophil Schroell, S. 447.
Der „Courrier du Grand-Duché de Luxembourg“ (1844–1868)
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den persönlichen Interessen der Familie Metz diene88; doch greift dies zu kurz. Denn den Gebrüdern Metz ist wie gezeigt zugutezuhalten, dass sie mit ihren publizistischen Unternehmungen neben ihren eigenen unternehmerischen Interessen obendrein Luxemburgs Wirtschaft sowie Vormärzideen fördern resp. verbreiten wollten89. (4) Des Weiteren bleibt dunkel, welche religiösen Anschauungen die Gebrüder Metz genau vertraten, wurde ihnen doch vorgeworfen, gegen die katholische Kirche vorzugehen. Gezeigt hat sich indessen, dass sie nicht die Kirche als solche bekämpfen, sondern lediglich die kirchliche Einmischung in die Belange des Staates verhindern wollten. (5) Eine nuancierte Betrachtung ist sicherlich zielführend. Martin Blum beschreibt die Gebrüder Metz richtigerweise, wie folgt: „Sie waren eben die Männer der Situation, d. h. sie wussten sich jeder Situation anzupassen.“90 Aufklärerisches Verlegertum setzte für sie stets ökonomische Absicherung voraus, die ihnen obendrein politisches Gewicht verlieh.
88 Jules Mersch, Mathieu Lambert Schrobilgen, 1789–1883 (Biographie nationale du pays de Luxembourg, fasc. 1), Luxemburg 1947, S. 42–43. Schrobilgen war Regentschaftssekretär, Richter und liberaler Journalist. Siehe auch Hilgert, Zeitungen, S. 50. 89 Siehe hierzu die parallele Entwicklung in der Pfalz: Gergen, Zwischen Betriebswirtschaft und Aufklärung – Der Zweibrücker Verleger Georg Ritter und das „demokratische Experiment“. In: Gabriele B. Clemens/Bärbel Holtz (Hg.), Vormärzliche Verleger zwischen Zensur, Buchmarkt und Lesepublikum (Wissenschaftliche Tagung der Siebenpfeiffer-Stiftung am 15. und 16. Oktober 2021 in Kirkel/Saar), im Erscheinen für 2023. 90 Martin Blum, Leben und Wirken des hochwürdigen Herrn Nikolaus Adames, S. 31.
Thomas Rüfner
Der Pestfloh-Professor. Zur Ginsengwurzel-Entscheidung des Bundesgerichtshofs
I.
Die Wiederkehr der actio iniuriarum aestimatoria
Die Ginsengwurzel-Entscheidung aus dem Jahr 19611 gilt als Meilenstein der Judikatur zum Allgemeinen Persönlichkeitsrecht. Der 1. Zivilsenat des BGH hatte im Herrenreiter-Urteil von 19582 erstmals den Anspruch auf eine Geldentschädigung wegen einer Verletzung des Persönlichkeitsrechts anerkannt. Er hatte sich damit gegen die in §§ 253 und 847 a. F. (heute: § 253 Abs. 2) BGB kodifizierte Entscheidung des Gesetzgebers gestellt, Ersatz für Nichtvermögensschäden nur bei Verletzung bestimmter, im Gesetz benannter Rechtsgüter zu gewähren, zu denen die persönliche Ehre oder das Persönlichkeitsrecht nicht gehörten. Wegen des Verstoßes gegen das Gesetz wurde die Entscheidung von Karl Larenz scharf kritisiert.3 Werner Flume warf den beteiligten Richtern sogar Rechtsbeugung vor.4 Mit dem Ginsengwurzel-Urteil schwenkte der 6. Zivilsenat auf die neue Linie ein und vertiefte die Begründung der Rechtsfortbildung contra legem. Der 1. Senat hatte argumentiert, die unbefugte Nutzung einer Fotografie sei als Verletzung der „Freiheit der Selbstentschließung [des Abgebildeten] über seinen
1 2 3 4
BGH, 19. 9. 1961, VI ZR 259/60, BGHZ 36, 363. BGH, 14. 2. 1958, I ZR 151/56, BGHZ 26, 349. Larenz, Urteilsanmerkung, NJW 1958, 827–829 (828). Nach Jauernig, Außerordentliche Rechtsbehelfe, in: Gottwald/Roth (Hg.), Festschrift für Ekkehard Schumann, 2001, 241–258 (249 Fn. 51) erhob Flume den Vorwurf bei der Zivilrechtslehrertagung 1959; eine Zivilrechtslehrertagung nennt auch Jakobs, Werner Flume 1908–2009, in: ders., Gedenkreden auf Frederick Alexander Mann, Brigitte Knobbe-Keuk, Werner Flume, 2011, 75–112 (91); demgegenüber spricht Pawlowski, Schmerzensgeld für fehlgeschlagene Ehestörung?, NJW 1983, 2809f. (2809) von einer Bemerkung Flumes auf dem Deutschen Juristentag 1966; zur Kritik Flumes an der Linie der Rechtsprechung vgl. Flume, Richter und Recht, in: Verhandlungen des 46. Deutschen Juristentages, Bd. 2, Teil K, 1967, K5–K35 (K6– K11). Zum spiegelbildlichen Vorwurf Flumes gegen das Reichsgericht wegen RG, 27. 6. 1882, II 276/82, RGZ 7, 295 vgl. Vergau, Der Ersatz immateriellen Schadens in der Rechtsprechung des 19. Jahrhunderts zum französischen und deutschen Deliktsrecht, 206, 97.
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persönlichen Lebensbereich“5 analog zur Einschränkung der körperlichen Bewegungsfreiheit und damit eines in § 847 BGB a. F. genannten Rechtsgutes zu behandeln. Im Ginsengwurzel-Fall wurde eine Analogie zu § 847 BGB a. F. nicht mehr erwähnt. Stattdessen erklärte der 6. Zivilsenat, die „Ausschaltung des immateriellen Schadensersatzes im Persönlichkeitsschutz“ lasse die „Wertentscheidung des Grundgesetzes“6 in Art. 1 und Art. 2 Abs. 1 GG außer Acht. Der Schutz der Menschenwürde und der freien Entfaltung der Persönlichkeit, die beim „Herrenreiter“ nur als Argumente für die analoge Anwendung des § 847 BGB a. F. auf eine „Freiheitsberaubung ‚im Geistigen‘“7 erschienen, wurden im Ginsengwurzel-Urteil unmittelbar für die Teilaufhebung von § 253 BGB mobilisiert. Einschränkend erklärte der BGH, eine Geldentschädigung sei nur zu zahlen, „wenn den Schädiger der Vorwurf einer schweren Schuld trifft oder wenn es sich um eine objektiv erheblich ins Gewicht fallende Beeinträchtigung des Persönlichkeitsrechts handelt“8. Im konkreten Fall seien diese Voraussetzungen gegeben, weil die Beklagte leichtfertig und aus Gewinnstreben gehandelt habe und weil die dem Kläger „zugefügte Kränkung […] keineswegs unbedeutend“ gewesen sei. Der in BGHZ dokumentierte Urteilswortlaut ist konsequent anonymisiert. Dadurch wird der Zugang zum zeitgeschichtlichen Kontext des Falles verstellt. Im Folgenden wird dieser Kontext untersucht. Er ist auch für die juristische Bewertung relevant. Die Hintergründe geben Anlass zu einer erneuten Reflexion über die Gründe, aus denen der BGH sich von der Auffassung des historischen Gesetzgebers distanzierte. In den Materialien zum BGB wird ausgeführt, „[n]ach der allgemeinen Volksansicht sei es nicht ehrenvoll, sich Beleidigungen durch Geld abkaufen zu lassen, und derjenige habe wenig Ehre zu verlieren, der die Verletzung derselben durch eine Klage auf Geld zu repariren versuche“.9 Stattdessen erklärte das höchste Zivilgericht der jungen Bundesrepublik, eine Geldentschädigung müsse gewährt werden, weil ansonsten „Verletzungen der Würde und Ehre des Menschen ohne eine Sanktion der Zivilrechtsordnung blieben“10. Der Sache nach wurde die actio iniuriarum aestimatoria des römischen und Gemeinen Rechts wiederbelebt, die bei Ehrverletzungen eine Klage auf eine nach den Umständen zu bestimmende Geldsumme ermöglichte.11 Allerdings umfasst 5 6 7 8 9
BGHZ 26, 349 (356). BGHZ 35, 363 (368). BGHZ 26, 349 (356). BGHZ 35, 363 (369). Bericht der XII. Kommission des Reichstages vom 12. Juni 1896, bei Mugdan (Hg.), Die gesammten Materialien zum Bürgerlichen Gesetzbuch für das Deutsche Reich, Bd. 2, 1899, 1297. 10 BGHZ 35, 363 (368). 11 Zu Tatbestand und Rechtsfolgen eingehend Zimmermann, The Law of Obligations, 1990, 1092–1094, 1063–1074; Moosheimer, Die actio injuriarum aestimatoria im 18. und 19. Jahr-
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der Tatbestand der Persönlichkeitsverletzung auch Tatbestände, die keine Ehrverletzung (iniuria) darstellen.
II.
Der Tatbestand des Urteils
Der Kläger im Ginsengwurzel-Fall war nach dem in BGHZ überlieferten Tatbestand ein außerordentlicher Professor für Völker- und Kirchenrecht an der „Universität G.“ namens „B.“. Professor B. hatte von einer Reise nach Korea Ginsengwurzeln mitgebracht und überließ diese dem „ihm befreundeten Professor H. in J., einem Pharmakologen“. Letzterer veröffentlichte einen wissenschaftlichen Beitrag zu Ginseng und sprach darin dem Kläger seinen Dank aus. 1957 erschien in einer Zeitschrift „H. und W.“ ein „populärwissenschaftlicher Aufsatz“ über Ginseng, in dem der Kläger in einer Reihe mit dem befreundeten Pharmakologen und weiteren Personen als „einer der bekanntesten Ginseng-Forscher Europas“ bezeichnet wurde. Dies wiederum griff die beklagte Firma auf und nahm in einem Werbeprospekt für ein ginsenghaltiges Kräftigungsmittel die Professoren „H.“ und „B“ – also neben dem Pharmakologen, der über Ginseng publiziert hatte, auch den Völker- und Kirchenrechtler und späteren Kläger – für die Aussage in Anspruch, Ginseng wirke „auf den gesunden Organismus erneuernd (ohne jedoch aufzuputschen), kreislauffördernd, aufbauend bei Drüsen- und Potenzschwäche und körperlich-seelischer Zerschlagenheit“. Außerdem erschien in einer Zeitschrift „M.“ in Nachbarschaft zu einer Werbeanzeige der Beklagten eine „redaktionelle Notiz“, die besonders die Wirksamkeit von Ginseng als „Bestandteil der asiatischen Liebestränke“ hervorhob. Diese Notiz war von einer Werbeagentur im Auftrag der Beklagten platziert worden. Der Kläger, „Professor B.“, war der Auffassung, durch die Werbung der Beklagten werde der Eindruck erweckt, „als habe er sich auf einem fremden Fachgebiet ein Urteil in einer umstrittenen Frage angemaßt oder als habe er entgeltlich und standeswidrig seinen Namen der Werbung für ein zweifelhaftes Produkt zur Verfügung gestellt“. Er forderte deshalb eine Entschädigung in Höhe von 10.000 DM; 8.000 DM wurden ihm zugesprochen.12 Zur Einordnung dieses Betrages mag der Hinweis genügen, dass die Hefte des „Spiegel“, die Anfang 1962 über den Fall berichteten, je 1 DM kosteten. Heute beträgt der Preis eines Heftes fast das Zehnfache (4,99 €). In einem der „Spiegel“Hefte wird der Kleinwagen Simca 1000 mit einem Preis von 4.995 DM beworben.13 hundert, 1997, 3–9; zur Renaissance der Klage in Deutschland nach dem 2. Weltkrieg Zimmermann, 1092–1094. 12 BGHZ 35, 363 (363–365). 13 Der Spiegel, 5/1962, 7.
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Die in GRUR veröffentlichte Fassung des Urteils14 ist weniger strikt anonymisiert. Der Name des Kräftigungsmittels der Beklagten ist angegeben: „ROYPAN Gelee Royal Ginseng“. Demnach war Beklagte die Roypan Diätetik KG, deren Werbepraktiken noch in anderen Fällen vor Gericht und in der Öffentlichkeit verhandelt wurden.15 Ferner erfährt man, dass die Zeitschrift in der zuerst aus dem Kläger ein Ginseng-Experte gemacht worden war, „Heim und Welt“ hieß. Das ist insofern bemerkenswert als der redaktionelle, vor allem aber der Anzeigenteil dieser Zeitschrift gleichfalls noch verschiedentlich die Gerichte beschäftigte,16 trägt aber zur Klärung des Hintergrundes der Entscheidung des BGH wenig bei. Dasselbe gilt für die Information, dass die „redaktionelle Notiz“, die den Kläger nicht nannte, aber die Bedeutung von Ginseng als Bestandteil von Liebestränken hervorhob, in der Kulturzeitschrift „magnum“ zu finden war. Auch dass es sich bei der „Universität G.“ um die Universität Graz handelte, hilft für sich genommen nicht viel weiter. Da sich der Kontext der Entscheidung nicht erkennen lässt, lässt sich schwer nachvollziehen, warum die Voraussetzungen für eine Geldentschädigung wegen Persönlichkeitsrechtsverletzung erfüllt waren, wie sie der BGH gerade in der Ginsengwurzel-Entscheidung formulierte. Die Nennung des Klägers als GinsengExperte im Zusammenhang mit einem „anstößigen Präparat“ mochte geeignet sein, den Kirchen- und Völkerrechtler in ein „schiefes Licht“ zu stellen.17 Warum der BGH darin eine Verletzung sah, die nur mit dem Gegenwert von anderthalb Kleinwagen ausgeglichen werden konnte, ist, auch wenn man die Moralvorstellungen der Zeit in Rechnung stellt, nicht ohne weiteres erkennbar.18
III.
Die Hauptpersonen
Die Google-Büchersuche macht es einfach, den Hintergrund der Entscheidung aufzudecken. Gibt man die im Urteil zitierte Dankesformel „durch die liebenswürdige Unterstützung“ zusammen mit dem Wort „Ginseng“ ein, so stößt man 14 BGH, GRUR 1962, 105. 15 Vgl. Mythos des 20. Jahrhunderts, Der Spiegel 38/1959, 71–73 sowie BGH, 20. 5. 1969, VI ZR 256/67, GRUR 1969, 555. 16 BGH, 28. 10. 1955, I ZR 188/54, GRUR 1956, 93; BGH, 9. 3. 1962, I ZR 149/60, GRUR 1962, 419; BGH, 21. 5. 1979, I ZR 109/77, GRUR 1979, 646; BGH, 11. 9. 1984, 1 StR 408/84, NStZ 1985, 70; OLG Düsseldorf, 19. 12. 1991, 2 U 1/91, GRUR 1993, 159; KG, 14. 4. 2005, 10 U 103/04, NJW 2005, 2320; LG Frankenthal, 11. 11. 2005, 14 U 173/05, NJW 2006, 621; vgl. zum eigenartigen Charakter des Anzeigenteils dieser bis 2014 bestehenden Zeitschrift auch Röbel, Bräute heute, Der Spiegel 37/2008, 107. 17 Rötelmann, Urteilsanmerkung, NJW 1962, 736f. (736). 18 Vgl. auch Flume, in: Verhandlungen des 46. DJT II (Fn. 4) K10 Fn. 23, für den im Ginsengwurzel-Fall „kein Anlaß für richterliches Eingreifen“ bestand.
Der Pestfloh-Professor
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auf den Beitrag des Pharmakologen „Professor H. in J.“, der ursächlich dafür war, dass der Kläger, „Professor B.“ gemeinsam mit seinem Freund als GinsengExperte dargestellt wurde.
1.
Der Pharmakologe Heinrich Hofmann
Der Beitrag stammt von Heinrich Hofmann (1909–1971), Direktor des Instituts für Pharmakologie der Universität Jena, und erschien in den Wissenschaftlichen Annalen der Deutschen Akademie der Wissenschaften in (Ost-) Berlin. Hofmann ist also der im BGH-Urteil genannte Professor „H. in J.“. Er kommt zu dem Schluss, die vielfältige Anwendung von Ginseng in der ostasiatischen Medizin lasse sich „nicht mit der Wirkung experimentell nachweisbarer Inhaltsstoffe in Zusammenhang“ bringen.19 Der Artikel fußt auf früheren Publikationen Hofmanns mit demselben Resultat.20 Allerdings kündigt Hofmann weitere Forschungen an. Diese sollen mittels „einer größeren Menge koreanischer Ginsengwurzeln“ durchgeführt werden, die er „durch die liebenswürdige Unterstützung von Professor Brandweiner, Wien,“ erhalten habe.21 Ungeachtet der abweichenden Ortsangabe (Wien statt Graz22) handelt es sich offenbar um den im Urteil als „Professor B.“ bezeichneten Kläger. Angesichts des Ergebnisses von Hofmanns Untersuchung ist es besonders erstaunlich, dass Hofmann und Brandweiner als Gewährsleute für die Wirksamkeit von Ginseng in Anspruch genommen wurden. Entgegen Hofmanns Ankündigung hat er anscheinend keine weiteren Forschungsergebnisse zu Ginseng veröffentlicht. Womöglich unterblieben weitere Experimente – oder deren Publikation – deshalb, weil Hofmann bald nach Erscheinen seines Beitrages in politische Bedrängnis geriet: Der Pharmakologe Heinrich Hofmann war der Sohn von Arthur Hofmann, dem langjährigen, 1933 abgesetzten23 Bürgermeister von Aue im Erzgebirge. 1940 war er der NSDAP beigetreten. Nicht zuletzt weil ihm nach 1945
19 Hofmann, Panax Ginseng eine Wunderdroge Asiens, Wissenschaftliche Annalen 5 (1956) 814–820 (820). 20 Hofmann/Held-Hornbogen/Voigt, Panax Ginseng, Die Pharmazie 5 (1950) 560–563 (561); Hofmann, Pharmakologische Betrachtungen über Panax Ginseng, Forschungen und Fortschritte 26 (1950) 128–130 (130). 21 Hofmann, Panax Ginseng eine Wunderdroge Asiens, Wissenschaftliche Annalen 5 (1956) 814–820 (817). 22 Brandweiner hatte seine Privatwohnung im Jahr 1952 von seinem Dienstort Graz nach Wien verlegt, vgl. Fleck, Der Fall Brandweiner, 1987, 100. 23 Ulbricht, Kommunalverfassung und Kommunalpolitik, in: Vollnhals (Hg.), Sachsen in der NS-Zeit, 2002, 85–103 (91); Wagner, „Machtergreifung“ in Sachsen, 2002, 207.
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ein französischer Fremdarbeiter, ein Graf Jedlinski (oder Jedlinsky),24 bescheinigte, er habe sich im Widerstand engagiert, konnte Hofmann seine wissenschaftliche Laufbahn fortsetzen.25 Er stand ursprünglich der Entwicklung in der DDR positiv gegenüber und engagierte sich in der Friedensbewegung. Kritische Äußerungen – unter anderem zur Niederschlagung des Ungarnaufstandes im Herbst 1956 – brachten Hofmann dann aber ins Visier der Staatsicherheit, die ihn der „Schädlingstätigkeit“ verdächtigte und über ihn einen Vorgang unter dem Codenamen „Parasit“ anlegte.26 Ein Disziplinarverfahren im Jahr 1959, das Hofmann vor allem seine Zusammenarbeit mit westlichen Arzneimittelherstellern zum Vorwurf machte, endete aufgrund der Solidarität seiner Fakultätskollegen und einer entlastenden gutachtlichen Stellungnahme ergebnislos. Als das Ginseng-Urteil erging, war Hofmann wegen des Mauerbaus endgültig an der Lage in der DDR verzweifelt. Im Mai 1962 wurde er verhaftet, weil er versucht hatte, mit einem gefälschten Pass die DDR zu verlassen. Im Prozess wurde Hofmann neben der versuchten Republikflucht wiederum die Zusammenarbeit mit westlichen Firmen vorgeworfen. Die Anschuldigungen mündeten in die Behauptung, Hofmanns Zuarbeit habe es den Konzernen im Westen ermöglicht, „trotz verstärkter Forschung auf dem Gebiet der Atom- und Raketenrüstung sowie auf dem Gebiet der chemobakteriologischen Kampfstoffe ihre Positionen in der Produktion und im Handel mit pharmazeutischen Erzeugnissen beizubehalten“.27 Hofmann wurde zu 13 Jahren Zuchthaus verurteilt. 1967 wurde er von der Bundesrepublik freigekauft. 1971 starb er.28
2.
Der Kläger Heinrich Brandweiner
Dass es sich beim Kläger um den Grazer Rechtsprofessor Heinrich Brandweiner (1910–1997) handelt, lässt sich aufgrund des anonymisierten Urteilstextes nicht leicht ermitteln, war und ist aber kein Geheimnis. Der „Spiegel“ berichtete über den Fall mit Nennung von Namen, Fachgebiet und Dienststellung des Klägers.29
24 Möglicherweise handelte es sich um den unter dem Künstlernamen Jean Witold bekannten Komponisten und Musikwissenschaftler Comte Jean Witold Jedlinski (1913–1966). 25 Gottwald, „Der arme Heinrich sitzt für alle“. Der Fall des Jenaer Pharmakologen Heinrich Hofmann und die Staatssicherheit, in: John/van Laak/von Puttkammer (Hg.), Zeit-Geschichten, 2005, 66–74 (66f.); Gottwald, Heinrich Hoffmann und die Staatssicherheit, in: Hoßfeld/Kaiser/Mestrup (Hg.), Hochschule im Sozialismus, Bd. 2, 2007, 2106–2132 (2107f.). 26 Gottwald, in: Hoßfeld/Kaiser/Mestrup (Fn. 25) 2106–2132 (2113). 27 Anklageschrift gegen Hofmann vom 21. 12. 1962, zitiert nach Gottwald, in: Hoßfeld/Kaiser/ Mestrup (Fn. 25) 2106–2132 (2124). 28 Gottwald, in: Hoßfeld/Kaiser/Mestrup (Fn. 25) 2106–2132 (2111–2128). 29 Geld ohne Schmerz, Der Spiegel 1–2/1962, 22–28 (22).
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Brandweiner schrieb einen Leserbrief.30 Die Koreareise, von der er das Ginseng mitbrachte, und deren Folgen stehen im Mittelpunkt eines 1987 publizierten Buches von Christian Fleck.31 a)
Eine Karriere mit vielen Seitenwechseln
Brandweiner, Sohn des Wiener Hautarztes Prof. Dr. Alfred Brandweiner,32 hatte bis 1935 in Wien die Rechte studiert und promoviert. Unter seinen Wiener Professoren war der Kirchenrechtler Rudolf Köstler, der ihn nach dem Krieg als ehemaligen Schüler nannte.33 Nach dem Studium soll Brandweiner in Münster Assistent des Rechtshistorikers Karl Gottfried Hugelmann gewesen sein.34 Ein unmittelbarer Kontakt zu Hans Kelsen ist nicht ersichtlich, obgleich Brandweiner sich später selbst als Kelsen-Schüler bezeichnete.35 Im Krieg diente Brandweiner als Kriegsgerichtsrat und später als Referent für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht im Wehrmachtsrechtsamt. Nach Kriegsende war Brandweiner kurz als Staatsanwalt tätig, bevor er seine außerordentliche Professur für Völker- und Kirchenrecht an der Universität Graz erhielt.36 Politisch wechselte Brandweiner mehrfach die Seiten. 1934 oder 1935 trat er der austrofaschistischen Vaterländischen Front bei. Vermutlich schon 1935 hatte er sich er aber auch der in Österreich illegalen NSDAP angeschlossen.37 Am Ende des Zweiten Weltkrieges war er im österreichischen Widerstand aktiv. Nach dem Krieg wurde er zunächst Mitglied der christdemokratischen Österreichischen Volkspartei (ÖVP). Bereits 1948 trat er aus der ÖVP aus und orientierte sich nach links.38 Er schloss sich dem stark kommunistisch beeinflussten Österreichischen Friedensrat an.39
30 Der Spiegel, 5/1962, 6f. 31 Fleck, Fall Brandweiner (Fn. 22) insbesondere 123. 32 Fleck, Fall Brandweiner (Fn. 22) 63; vgl. Fischer, Geschichte der Gesellschaft der Ärzte in Wien 1837–1937, 1938, 261. 33 Köstler, in: Grass (Hg.), Österreichische Geschichtswissenschaft in Selbstdarstellungen, Bd. 2, 1951, 93–104 (98). 34 Vgl. die Bemerkung bei Veitter, Das Recht der Volksgruppen und Sprachminderheiten in Österreich, 1970, 320 Fn. 148. 35 Fleck, Fall Brandweiner (Fn. 22) 121. 36 Fleck, Fall Brandweiner (Fn. 22) 63–66. 37 Binder, Josef Dobretsberger (1903–1970), in: Ebner/Haselsteiner/Wiesflecker-Friedhuber (Hg.), Geschichtsforschung in Graz, 1990, 297–304 (302). 38 Fleck, Fall Brandweiner (Fn. 22) 116–119. 39 Fleck, Fall Brandweiner (Fn. 22) 5–16.
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Die Koreareise 1952
Im Frühjahr 1952 reiste Brandweiner als Vorsitzender einer Untersuchungskommission der von Kommunisten dominierten Internationalen Vereinigung Demokratischer Juristen nach (Nord-) Korea und China, um den angeblichen Einsatz biologischer Waffen durch die USA im Koreakrieg zu untersuchen.40 Von dieser Reise brachte er die Ginsengwurzeln mit, für die ihm der Pharmakologe Hofmann dankte. Möglicherweise lernten Brandweiner und Hofmann sich Ende 1952 beim „Internationalen Völkerkongreß für den Frieden“ in Wien kennen, an dem beide teilnahmen.41 Heute besteht weitgehende Einigkeit, dass der Vorwurf, die USA hätten in Korea – unter anderem durch Abwurf von mit der Pest infizierten Flöhen – einen „Bakterienkrieg“ geführt – eine Erfindung der nordkoreanischen, chinesischen und sowjetischen Propaganda war.42 Erst recht dürfte eindeutig sein, dass die Juristenkommission zu einer objektiven Untersuchung nicht in der Lage war – schon deshalb, weil sie auf von Dolmetschern übersetzte Aussagen von Zeugen angewiesen war, die ihr von den Kriegsgegnern der USA angeboten wurden.43 Mit ihrem Bericht, in dem sie die Vorwürfe gegen die USA bestätigten, stellten sich die Kommissionsmitglieder um Brandweiner in den Dienst einer kommunistischen Desinformationskampagne. In Österreich und im westlichen Ausland fanden die Berichte der Juristenkommission außerhalb der kommunistischen Anhängerschaft ohnehin keinen Glauben. In der Presse wurde Brandweiner als „Pestfloh“ oder „Pestfloh-Pro40 Fleck, Fall Brandweiner (Fn. 22) 38f. 41 Gottwald, Heinrich Hofmann (Fn. 28) 2111; Fleck, Fall Brandweiner (Fn. 22) 102. 42 Weathersby, Deceiving the deceivers: Moscow, Beijing, Pyongyang, and the allegations of bacteriological weapons use in Korea, Cold War International History Project Bulletin 11 (1998) 176–185; Leitenberg, New Russian evidence on the Korean biological warfare allegations: background and analysis, Cold War International History Project Bulletin 11 (1998) 185–199; Leitenberg, China’s false allegations of the use of biological weapons by the United States during the Korean War, Cold War International History Project Working Paper #76, 2016; zum Bestehen eines „broader academic consensus“ in der Frage Kuech, Cultivating, cleansing, and performing the American germ invasion: the anatomy of a Chinese Korean war propaganda campaign, Modern China 46 (2020) 612–641, 613 sowie – trotz skeptischer Grundhaltung – Buchanan, The courage of Galileo: Joseph Needham and the ‚germ warfare‘ allegations in the Korean war, History 86 (2001) 503–522 (521). Das Buch von Endicott/ Hagermann, The United States and Biological Warfare, 1998, in dem der Einsatz von BWaffen für wahrscheinlich gehalten wird, war mir nicht zugänglich. Zu methodischen Mängeln des Buches vgl. die Rezension von Harris, Journal of American History 87 (2000) 285f. 43 Vgl. zu den methodischen Mängeln der Beweiserhebung Fleck, Fall Brandweiner (Fn. 22) 76; zu entsprechenden Einwänden gegen die Arbeit einer Kommission von naturwissenschaftlichen Experten, die ebenfalls 1952 nach China und Korea reiste, Buchanan, The courage of Galileo: Joseph Needham and the ‚germ warfare‘ allegations in the Korean war, History 86 (2001) 503–522 (512).
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fessor“ tituliert.44 Ein mit dem Vorwurf, Brandweiner habe in seinem Antrag auf Genehmigung der Asienreise beim Unterrichtsministerium falsche Angaben gemacht und mit seiner Mission „die Neutralitätsinteressen des österreichischen Staates gefährdet“, eingeleitetes Disziplinarverfahren wurde Mitte 1953 ohne Ergebnis eingestellt.45 Hoch geehrt wurde Brandweiner im kommunistischen Machtbereich. Er wurde auf Gastprofessuren in Ost-Berlin, Potsdam und Leipzig berufen46 und zum korrespondierenden Mitglied (später auswärtigen Mitglied) der Deutschen Akademie der Wissenschaften (ab 1972: Akademie der Wissenschaften der DDR) gewählt.47 1958 nahm Brandweiner den internationalen Lenin-Preis entgegen. Ein Jahr später erhielt er die Ehrendoktorwürde der Universität Pyöngyang. In seinen Publikationen, die vorzugsweise in der DDR erschienen, vertrat Brandweiner die von der Sowjetunion und der DDR präferierten Positionen. Er bestritt die (Teil-) Identität der Bundesrepublik mit dem deutschen Reich48 und betrachtete die Pariser Verträge, die unter anderem den Nato-Beitritt der Bundesrepublik vorsahen, als völkerrechtswidrig.49 Für ersteres wie auch für die Ablehnung der für die Rechtslage der wiedergegründeten Republik Österreich maßgeblichen Okkupationstheorie50 konnte sich Brandweiner allerdings auf die Autorität Kelsens berufen.51 44 Vom „Pestfloh-Professor“ spricht noch 1978 der steirische Bundesrat Gmoser: Stenographisches Protokoll der 373. Sitzung des Bundesrats, XIV. Gesetzgebungsperiode, 9. 3. 1978, 12619; vgl. auch Fleck, Fall Brandweiner (Fn. 22) 106. 45 Fleck, Fall Brandweiner (Fn. 22) 42, 66–70, 78f.; Grandner, Otto Skrbensky, in: Dreidemy u. a., Bananen, Cola, Zeitgeschichte: Oliver Rathkolb und das lange 20. Jahrhundert, 2015, 519–532 (529f.). 46 Fleck, Fall Brandweiner (Fn. 22) 107f. 47 Berlin Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, Heinrich Brandweiner, https:// www.bbaw.de/die-akademie/akademie-historische-aspekte/mitglieder-historisch/historisch es-mitglied-heinrich-brandweiner-324 (zuletzt abgerufen am 7. 1. 2022). 48 Brandweiner, Die deutsche Demokratische Republik und das Problem der Staatennachfolge, Deutsche Außenpolitik 1 (1956) 496–502, 496; Brandweiner, Der sowjetische Vorschlag eines Friedensvertrages mit Deutschland, Sitzungsberichte der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Klasse für Philosophie, Geschichte, Staats- und Rechtswissenschaften und Wirtschaftswissenschaften, 1959 Nr. 2, 5. 49 Brandweiner, Einführung, in: ders. (Hg.), Die Pariser Verträge, 1956, 1–35. 50 Dazu Brandweiner, The international status of Austria, in: Lipsky (Hg.), Law and Politics in the World Community, 1953, 221–242. 51 Kelsen, The international legal status of Germany to be established immediately upon termination of the war, AJIL 38 (144) 689–694 (689f.) (zur Annahme einer Annexion, nicht Okkupation Österreichs) und 693 (für den Untergang des Deutschen Reiches); Kelsen, The legal status of Germany according to the declaration of Berlin, AJIL 39 (1945) 518–526 (519). – Vgl. zur Problematik der Rechtslage Deutschlands und Österreichs nach dem zweiten Weltkrieg und den Gründen für die jeweils herrschenden Auffassungen Stolleis, Besatzungsherrschaft und Wiederaufbau deutscher Staatlichkeit 1945–1949, in: Isensee/Kirchhoff, Handbuch des Staatsrechts, Bd. 1, 3. Auflage, 2003, 269–313 (Rn. 36–42).
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Das Ende
Anzeichen für eine Distanzierung Brandweiners vom kommunistischen Block wurden im Herbst 1961, just zur Zeit des Ginsengwurzel-Urteils, erkennbar: Brandweiner klagte über die Unterdrückung von geplanten Publikationen durch DDR-Behörden und äußerte, er sei im Hinblick auf die Zuverlässigkeit der 1952 erhobenen Beweise für einen amerikanischen Bakterienkrieg „in zunehmendem Maße skeptischer geworden“.52 Im Februar 1962 wurde erneut ein Disziplinarverfahren gegen Brandweiner eröffnet. Brandweiner äußerte die Vermutung, dass die zahlreichen Feinde, die er sich gemacht hatte, eine günstige Gelegenheit sahen, gegen ihn vorzugehen, nachdem er die Unterstützung der Kommunisten verloren hatte.53 Die dem Verfahren – und der Suspendierung Brandweiners – zugrundeliegenden Vorwürfe änderten sich mehrfach. Ursprünglich ging es um die Bevorzugung von Hörern eines bestimmten, mit Brandweiner befreundeten Repetitors bei Prüfungen, dann um maßloses Schuldenmachen.54 Nachdem sich das Verfahren schon zwei Jahre hingezogen hatte, wurden im Februar 1964 neue Anklagepunkte aufgenommen. Neben den Vorwürfen, Brandweiner sei in standeswidriger Weise vom katholischen in das kommunistische Lager übergewechselt und habe sich in leichtfertiger Weise gutachtlich zu den angeblichen Kriegsverbrechen der USA in Korea geäußert, führten die Disziplinarrichter einen weiteren Anklagepunkt auf: Die Klage vor deutschen Gerichten, die zur Ginsengwurzel-Entscheidung des BGH führte, sei standeswidrig gewesen, weil „niemandem, am wenigsten einem Universitätsprofessor, seine Ehre um Geld feil sein soll“.55 Das Verfahren wurde 1966 durch eine Verständigung erledigt. Brandweiner wurde nicht entlassen oder sonst bestraft, aber in den Ruhestand versetzt.56 Spätere Bemühungen um ein Wiederaufgreifen des Verfahrens scheiterten.57 Brandweiner lebte bis 1997, trat aber nicht mehr in Erscheinung. Seine Gastprofessuren in der DDR hatte er nach eigenen Angaben schon 1958 niedergelegt.58 Mitglied der Ost-Berliner Akademie der Wissenschaften blieb er bis zu deren Auflösung 1992.59 52 Brandweiner, in der „Wochen-Presse“ vom 7. 10. 1961, zitiert nach Fleck, Fall Brandweiner (Fn. 22) 123. 53 Fleck, Fall Brandweiner (Fn. 22) 135. 54 Fleck, Fall Brandweiner (Fn. 22) 124f. 55 Fleck, Fall Brandweiner (Fn. 22) 128f. 56 Fleck, Fall Brandweiner (Fn. 22) 133f. 57 Fleck, Fall Brandweiner (Fn. 22) 134. 58 Fleck, Fall Brandweiner (Fn. 22) 121. 59 Berlin Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, Heinrich Brandweiner, https:// www.bbaw.de/die-akademie/akademie-historische-aspekte/mitglieder-historisch/historisch es-mitglied-heinrich-brandweiner-324 (zuletzt abgerufen am 7. 1. 2022).
Der Pestfloh-Professor
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Die Lebensläufe Brandweiners und seines Freundes Hofmann weisen erstaunliche Parallelen auf. Beide waren fast gleichaltrig, stammten aus bürgerlichen Elternhäusern, traten in den Dreißigerjahren wohl aus Karrieregründen in die NSDAP ein, stützten nach dem Krieg zunächst das neue politische System und wurden dann zu Dissidenten. An dieser Stelle enden jedoch die Übereinstimmungen. Zwar ist die erneute disziplinarrechtliche Verfolgung Brandweiners ab 1962 aus heutiger Sicht fragwürdig: Die erhobenen Vorwürfe erscheinen zwar ehrenrührig, aber kaum justiziabel.60 Mit dem von der Staatssicherheit inszenierten Schauprozess gegen Hofmann lässt sich das Verfahren in Österreich nicht vergleichen. Der Preis, den Hofmann für seine Haltung zu zahlen hatte, war sehr viel höher als die Nachteile, die Brandweiner erlitt: Brandweiner ging vorzeitig in Pension und konnte dieselbe dreißig Jahre lang in Anspruch nehmen; Hofmann starb nach mehrjähriger Haft in Bautzen noch vor Erreichen des Ruhestandsalters. d)
Brandweiners Beweggründe
Im Gesamtkontext des „Falles Brandweiner“ lässt sich nachvollziehen, warum Brandweiner gegen seine Erwähnung als Ginsengforscher klagte – und womöglich auch, warum der BGH eine schwere Persönlichkeitsverletzung bejahte. Nach Justin Stagl ist gerade für Wissenschaftler auch im Hochschulbetrieb der Gegenwart der „‚vormoderne‘ Imperativ der Ehre“ nicht obsolet. Brandweiners Gelehrtenehre, die „besondere Ehre der uneigennützigen Wahrheitssuche und -verkündung“,61 war durch seine Äußerungen zum angeblichen Bakterienkrieg in Korea bereits angeschlagen. Nur darum musste er ernsthaft befürchten, aufgrund der Roypan-Werbung könne der Eindruck entstehen, er habe „sich auf einem fremden Fachgebiet ein Urteil in einer umstrittenen Frage angemaßt“. Im Hinblick auf den gegen Brandweiner im Raum stehenden Vorwurf des Schuldenmachens lag auch der Verdacht, er habe womöglich „entgeltlich und standeswidrig seinen Namen der Werbung für ein zweifelhaftes Produkt zur Verfügung gestellt“ nicht fern.62 Ob man diese Umstände rechtlich als geeignet ansehen kann, ein objektiv erhebliches Gewicht der erlittenen Persönlichkeitsverletzung zu begründen, ist allerdings fraglich. Da die besondere Vulnerabilität Brandweiners aus dem veröffentlichten Tatbestand nicht ersichtlich wird, ist das Urteil jedenfalls unge60 Zur Bewertung des Verfahrens und den anwendbaren Maßstäben Fleck, Fall Brandweiner (Fn. 22) 127, 130f. 61 Stagl, Die Ehre des Wissenschaftlers, in: Vogt/Zingerle (Hg.), Ehre, 1994, 35–56 (54); vgl. dazu die Deutung der Ginsengwurzel-Entscheidung als Anerkennung eines Persönlichkeitsrechts am wissenschaftlichen Ruf bei Hubmann, Urteilsanmerkung, JZ 1962, 121f. (121). 62 BGHZ 35, 363 (364).
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eignet, die in den Entscheidungsgründen geforderte Beschränkung der Geldentschädigung auf schwere Fälle zu illustrieren. Für Brandweiner war der Prozesserfolg – wie bereits gesehen – von geringem Wert. Gerade weil er bereits in dem Ruf stand, seine Ehre als Wissenschaftler, durch ein bewusst wahrheitswidriges, womöglich zur Erlangung materieller Vorteile erstattetes Gutachten zum Koreakrieg verloren zu haben, konnte auch das Urteil des BGH Brandweiner nicht helfen. Vielmehr dürfte die zweifelhafte Reputation Brandweiners die Deutung der Prozessführung in Deutschland als ihrerseits standeswidriges „Feilhalten der Ehre“ für die Zeitgenossen erst recht plausibel gemacht haben.
IV.
Das Feilhalten der Ehre
Der wegen Brandweiners Klage in Deutschland erhobene Vorwurf, ihm sei „seine Ehre um Geld feil“ gewesen, ist die eigentliche Pointe des Falles. Es lohnt sich, der Vorstellung, eine Klage auf materiellen Schadensersatz wegen einer Persönlichkeitsverletzung, sei ihrerseits Ausdruck einer ehrlosen Gesinnung, über den Fall Brandweiner hinaus nachzugehen.
1.
Kodifikationen des 19. Jahrhunderts: „Pecuniäre Vortheile“ aus einer Beleidigung
Aus deutscher Sicht kehrt mit dem Vorwurf, Brandweiner sei seine „Ehre um Geld feil“ gewesen, die Argumentation wieder, mit der die Verfasser des BGB die Geldentschädigung bei Ehrverletzungen abgelehnt hatten: Es sei „nicht ehrenvoll, sich Beleidigungen durch Geld abkaufen zu lassen“. Die Disziplinarkammer und der als Anklagevertreter (Disziplinaranwalt) fungierende Rechtshistoriker Heinrich Demelius63 bezogen sich indessen – vermutlich bewusst – auf die Materialien zum österreichischen ABGB: Bei der Beratung des Vorläufers des heutigen § 1330 ABGB erklärte Franz von Zeiller (1751–1828) im Jahr 1806, die neue Vorschrift werde verhindern, dass „die Ehre des Bürgers taxirt und feil geboten wird“.64 Der Ausschluss einer Geldentschädigung für Ehrverletzungen – sofern nicht ein „wirklicher Schade“ (§ 1330 Abs. 1 ABGB) entsteht, sollte nach Auffassung Zeillers „zur Ehre der Nation“ gereichen. 63 Fleck, Fall Brandweiner (Fn. 22) 126. 64 Ofner (Hg.), Der Ur-Entwurf und die Beratungsprotokolle des Österreichischen Allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuches, Bd. 2, 1889, 196; dazu Bydlinski, Der Ersatz des ideellen Schadens als sachliches und methodisches Problem, JBl. 1965, 173–194 und 237–254 (253).
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In den Materialien zum Dresdener Entwurf eines Allgemeinen Deutschen Obligationenrechts findet sich derselbe Gedanke. In den Kommissionsberatungen wurde gegen die Beibehaltung der „ästimatorischen Injurienklage“ vorgebracht, „daß die Ehre ein Gut sei, welches in Geld sich nicht anschlagen lasse und für deren Verletzung der Empfang einer Geldsumme daher überhaupt keine Genugthuung bilden […] könne“ und dass es überdies „dem wahren Ehrgefühle widerstreiten müsse, aus einer Beleidigung pecuniäre Vortheile zu ziehen“. Diese Auffassung sah man als „heutzutage auch in den Massen als vorherrschend“ an.65 In Österreich ist gemäß § 1330 ABGB bis heute ein allgemeiner Anspruch auf Geldentschädigung wegen Ehr- oder Persönlichkeitsverletzungen nicht anerkannt.66 Lediglich bei Äußerungen, die nicht nur eine Ehrkränkung, sondern eine schwere Verletzung der Menschenwürde darstellen, wird in der Literatur ein Anspruch auf Geldentschädigung befürwortet.67 Im Schweizer Obligationenrecht von 1881, das sich sonst in vielen Punkten am Dresdener Entwurf orientierte, wurde hingegen eine Geldentschädigung wegen Persönlichkeitsverletzungen vorgesehen. In der Neufassung des OR von 1912 ist der Anspruch in Art. 49 OR geregelt.68
2.
Das 18. Jahrhundert: Eine „schmutzige Klag“
Das Argument vom unehrenhaften „Feilhalten der Ehre“, lässt sich noch weiter zurückverfolgen. In Sachsen wurde die actio iniuriarum aestimatoria schon 1712 durch ein Edikt Augusts des Starken beseitigt, das zugleich auch den Zweikampf zurückzudrängen und die Kriminalstrafe als einzige Sanktion bei Ehrverletzungen zu etablieren suchte.69 Ein Jahr später erging in Preußen kurz nach dem Regierungsantritt König Friedrich Wilhelms I. ein sehr ähnlich formuliertes
65 Protokolle der Commission zur Ausarbeitung eines Allgemeinen Deutschen Obligationenrechtes, CCXXXIII.–CCLIX., 1865, 248. Sitzung, 3621f. 66 Karner/Koziol, Der Ersatz ideellen Schadens im österreichischen Recht und seine Reform, in: Verhandlungen des 15. Österreichischen Juristentages, Bd. 2,1, 2003, 98; Harrer/Wagner, in: Schwimann/Kodek, ABGB Praxiskommentar, Bd. 6, 4. Auflage, 2016, § 1330 Rn. 10. 67 Bydlinski, Der Ersatz des ideellen Schadens als sachliches und methodisches Problem, JBl. 1965, 173–194 und 237–254 (254); Canaris, Grundprobleme des privatrechtlichen Persönlichkeitsschutzes, JBl. 1991, 205–221 (220); Posch, in Schwimann/Kodek, ABGB Praxiskommentar, Bd. 1, 5. Auflage, 2018, § 16 Rn. 30. 68 Dazu Hofer, „Freier Mann im freien Staat“. Persönlichkeitsschutz in der Schweiz, ZRG (Germ. Abt.) 136 (2019) 261–303. 69 § 22 des kurfürstlichen Mandats Wider die Selbst-Rache, Injurien, Friedens-Stöhrungen und Duelle, den 2. Julii, Anno 1712, in: Luenig (Hg.), Codex Augusteus oder Neuvermehrtes Corpus Juris Saxonici, 1724, Sp. 1785–1804 (1791f.).
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Edikt.70 Das Allgemeine Landrecht von 1794 knüpfte daran an und schloss wie das ABGB eine Geldentschädigung wegen Ehrverletzungen aus, die nicht zu einem Vermögensschaden geführt hatten (I 6 § 131 ALR).71 August der Starke und der preußischen Soldatenkönig begründeten die Abschaffung der actio iniuriarum aestimatoria nahezu wortgleich mit dem missbräuchlichen Verhalten „von bösen, ungewissenhafften und eigennützigen Advocaten“, die den Parteien „viel kostbare Weitläuffigkeit zugezogen“72 hätten. Hingegen klingt bei dem sächsischen Rechtsgelehrten Johannes Balthasar Wernher (1677–1743) bald nach Erlass des sächsischen Edikts de Duellis bereits der Gedanke an, der sich bei von Zeiller, bei der Dresdener Kommission und in den Materialien zum BGB wiederfindet: Es handele sich bei der actio iniuriarum aestimatoria um eine anstößige (odiosum) Art von Klage; sie sei „nicht so sehr darauf gerichtet, auszugleichen, was in der Meinung der Menschen als Verlust an Wertschätzung erscheinen konnte, als dazu, aus Anlass eines von einem anderen begangenen Unrechts einen Gewinn zu erlangen“.73 Schärfer formulierte der bayerische Jurist Wiguläus von Kreittmayr (1705–1790): Die Klage auf Geldentschädigung wegen Ehrverletzungen sei zwar nach dem Codex Maximilianeus Bavaricius Civilis möglich, aber „keine reputirliche Sache“. Man rechne „dem Kläger selbst (er victorisire gleich oder nicht) seine schmutzige Klag allemal zur großen Unehr an“.74
3.
Nach 1945: „Geld ohne Schmerz“
Das Argument, die Forderung einer Geldentschädigung wegen Ehrverletzung komme einem „Feilhalten der Ehre“ gleich, ist nicht nur älter als das BGB, sondern wurde auch noch lange nach Inkrafttreten des Gesetzbuchs verwendet.
70 Art. 11 Abs. 8 des Mandats Wider die Selbst-Rache, Injurien, Friedensstörungen und Duelle, De dato den 28ten Junii 1713, in: Mylius (Hg.), Corpus Constitutionum Marchicarum, 1737, III. Abtheilung, Sp. 41–58 (52f.). 71 Insofern unrichtig Gottwald, Das allgemeine Persönlichkeitsrecht, 1996, 217, der die Schmerzensgeldregelung in I 6 § 112 ALR auf Ehrverletzungen bezieht. Zur Beseitigung der actio iniuriarum aestimatoria in Sachsen und Preußen eingehend Moosheimer, Actio injuriarum aestimatoria (Fn. 11) 13–30; Ebert, Pönale Elemente im deutschen Privatrecht, 2004, 70. 72 So die Formulierungen der sächsischen Vorschrift, vgl. oben Fn. 69. 73 „nec tam ad reparandum id, quod, hominum opinione, existimationi detractum videri poterat, tendat, quam ad lucrum, occasione alieni delicti, consequendum“ – Wernher, Selectae Observationes Forenses, Bd. 2, Vitembergae 1716, 372 (Pars III, Observatio 126). 74 Kreittmayr, Anmerkungen über den Codicem Maximilianeum Bavaricum Civilem, Bd. 4, 1765, 1799 (17. Kap. , § VI); zur Position Kreittmayrs Zimmermann, Law of Obligations (Fn. 11) 1091.
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Dass es in Österreich zur Zeit der Ginsengwurzel-Entscheidung noch Wiederhall fand, kann aus dem von der der Disziplinarkammer erhobenen Vorwurf geschlossen werden. Denn auch wenn das Vorgehen gegen Brandweiner – viele Jahre nach den zugrundeliegenden Geschehnissen und nach dem Scheitern eines früheren Disziplinarverfahrens – rechtlich fragwürdig gewesen sein mag, so hatten doch die ansonsten erhobenen Beschuldigungen betreffend Brandweiners Wechsel vom christlichen ins kommunistische Lager und die Erstattung von fragwürdigen „Gutachten“ zu amerikanischen Kriegsverbrechen ein aus Sicht der Zeitgenossen empörendes Verhalten zum Gegenstand. Es ist anzunehmen, dass die Disziplinarkammer auch soweit sie Brandweiner seine Klage in Deutschland vorwarf, im Einklang mit den Wertvorstellungen zumindest eines erheblichen Teils der Zeitgenossen war. Für Deutschland belegt die Berichterstattung des „Spiegel“ über die Rechtsprechung zu Persönlichkeitsverletzungen, dass das Argument nach wie vor als zugkräftig angesehen wurde: Die Autoren des „Spiegel“, denen es natürlich im Kern um Beschränkungen der Berichterstattungsfreiheit und eine potenzielle persönliche Haftung ging, zitierten unter der Überschrift „Geld ohne Schmerz“ unter anderem den BGH-Richter Günther Wilms mit der Äußerung, „er habe sich eben ein Haus gebaut und wäre nicht einmal undankbar, wenn er einen sehr kapitalkräftigen Beleidiger finde“.75 In einem späteren Artikel wurde konstatiert, die Rechtsprechung habe zu einer „Kommerzialisierung der Ehre“ geführt, „die menschliche Würde eher versilbert als geschützt hat“.76 Auch in der juristischen Literatur blieb das Argument präsent. So wurde davor gewarnt, dass der Beleidigte, der eine Geldentschädigung verlangte in den Ruf eines „gold digger“ geraten könnte.77 Von anderer Seite wurde geltend gemacht, mit der Rechtsprechung setze sich „in voller Klarheit jene bereits von Hobbes analysierte […] Tatsache durch, daß der Wert der dissoziierten Individuen sich […] wie ein Marktpreis einpendelt“.78
75 Geld ohne Schmerz, Der Spiegel 1–2/1962, 22–26 (24). 76 Feld der Ehre, Der Spiegel 19/1970, 102–104 (104). 77 Kreuzer, Persönlichkeitsschutz und Entgegnungsanspruch, in: Leibholz u. a. (Hg.), Menschenwürde und freiheitliche Rechtsordnung. Festschrift für Willi Geiger zum, 65. Geburtstag, 1974, 61–112 (97). 78 Knieper, Soraya und die Schmerzensgeldrechtsprechung des BVerfG, ZRP 1974, 137–140 (139).
96 4.
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Geldentschädigung und Duell
Dass die Argumentation mit dem „Feilhalten der Ehre“ über einen langen Zeitraum in der juristischen Diskussion präsent war, beweist natürlich nicht ihre Stichhaltigkeit. Der Befund läuft aber einem Narrativ zuwider, das vorgetragen wird, um die Entscheidung des BGB gegen die Gewährung einer Geldentschädigung zu diskreditieren (und die Missachtung des Gesetzes in der Rechtsprechung zum Allgemeinen Persönlichkeitsrecht zu rechtfertigen). Danach bestand ein direkter Zusammenhang zwischen der Ablehnung einer Geldentschädigung als unehrenhaft und der Verbreitung des Duells im gehobenen Bürgertum der wilhelminischen Epoche. So bedeutet nach Ina Ebert die Aussage in den Materialien zum BGB, es sei „nicht ehrenvoll, sich Beleidigungen durch Geld abkaufen zu lassen“, „im Klartext: Der wahre Ehrenmann hatte einen Beleidiger, jedenfalls nach den Moralvorstellungen der Schichten, aus denen sich die Mehrheit der BGB-Kommissionen zusammensetzte[…], zum Duell zu fordern. Wer statt dessen den Rechtsweg beschritt, war ein Feigling, der gegen den Ehrenkodex verstieß, wofür er nicht noch durch Gewährung einer Geldentschädigung zu belohnen war[…]“.79 Demnach war die gesetzgeberische Entscheidung gegen die Geldentschädigung unmittelbare Folge davon, dass sich die bürgerliche Oberschicht in Deutschland den ursprünglich adeligen Ehrbegriff und den Brauch des Ehrenzweikampfes zu eigen gemacht hatte und daran noch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts festhielt,80 als das Duell in anderen Teilen Europas, insbesondere in Großbritannien, bereits ungebräuchlich geworden war. Umgekehrt meint Gert Brüggemeier, die Ablehnung eines Geldersatzes sei der Grund dafür gewesen, „daß sich außerrechtliche Formen des ‚Ehrenhandels‘ in Deutschland länger hielten als in anderen westlichen Ländern“.81 Nach diesen Vorstellungen war die Ablehnung der Geldentschädigung für Ehrverletzungen Symptom des bedenklichen deutschen Sonderweges der „Feudalisierung des Bürgertums“, der die Herausbildung demokratischer Strukturen
79 Ebert, Pönale Elemente (Fn. 71) 484; ähnlich Peifer, Eigenheit oder Eigentum – Was schützt das Persönlichkeitsrecht?, NJW 2002, 495–500 (496); Gottwald, Persönlichkeitsrecht (Fn. 71) 217; nach Müller, Zum Ausgleich des immateriellen Schadens nach § 847 BGB, VersR 1993, 909–916 (909) soll hingegen die Vorstellung, dass eine Beleidigung nur durch ein Duell ausgeräumt werden könne, für das ALR, aber nicht mehr bei Schaffung des BGB relevant gewesen sein. 80 Dazu Frevert, Ehrenmänner. Das Duell in der bürgerlichen Gesellschaft, 2. Auflage, 1995, 11– 23 u. passim; Burkhart, Eine Geschichte der Ehre, 2006, 104f.; Speikamp, Ohrfeige, Duell und Ehrenmord, 2010, 135. 81 Brüggemeier, „Du sollst dir kein Bildnis machen …“. Der I. Zivilsenat und die Paradoxien des Persönlichkeitsrechts, in: Calliess u. a. (Hg.), Soziologische Jurisprudenz. Festschrift für Gunther Teubner zum 65. Geburtstag, 2009, 231–248 (234).
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verhinderte.82 Mit den Entscheidungen im Herrenreiter- und Ginsengwurzelfall wurde dieser „Sonderweg“83 im Bereich des Ehrenschutzes verlassen. Die maßgeblich auf Art. 1 GG gestützte Rechtsprechung zur Geldentschädigung für Persönlichkeitsverletzungen erscheint als (stark verspäteter) Nachvollzug des Übergangs von der ständischen Ehre zur universalen Würde, der nach dem amerikanischen Religionssoziologen Peter Berger charakteristisch für die Moderne ist.84 Demgegenüber hat sich gezeigt, dass das Argument, mit dem die Geldentschädigung bei der Schaffung des BGB abgelehnt wurde, bereits zu Beginn des 18. Jahrhunderts erscheint. Deshalb ist es nicht plausibel, einen unmittelbaren Zusammenhang mit Wertvorstellungen des deutschen Bürgertums zu konstruieren, die sich erst im 19. Jahrhundert durchsetzten.85 Andererseits wuchs am Ende des 19. Jahrhunderts, als das BGB entstand, die Kritik am Duell, was ebenfalls gegen den behaupteten Zusammenhang spricht.86 Gegen die Konstruktion eines kausalen Nexus zwischen Duellwesen und Ausschluss der Geldentschädigung spricht ferner, dass die Dresdener Kommission die Überzeugung, dass es „dem wahren Ehrgefühle widerstreiten müsse, aus einer Beleidigung pecuniäre Vortheile zu ziehen“, ausdrücklich „den Massen“ und nicht etwa nur den „besseren Volkskreisen“87 zuschrieb. Für Arbeiter und Kleinbürger wurde das Duell aber auch im 19. Jahrhundert nicht als akzeptable Form der Ehrenwahrung angesehen.88 Schließlich müsste sich die Ablehnung des Geldersatzes, wenn für sie die Bejahung des Duells durch die bürgerlichen Juristen eine Hauptursache war, auf den Geldersatz für Ehrenkränkungen beschränken. Indessen lehnten die deutschen Juristen des 19. Jahrhunderts mit verwandten Argumenten auch den Geldersatz auch für andere Arten von Nichtvermögensschäden ab.89
82 Zu diesem „Feudalisierungsprozeß“ Zunkel, Art. „Ehre, Reputation“, in: Brunner/Konze/ Koselleck (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 2, 1975, 1–63 (51f.); kritisch zur Einordnung des Duells in diesen Kontext Speikamp, Ohrfeige, Duell und Ehrenmord (Fn. 80) 138. 83 Von einem solchen spricht ausdrücklich Brüggemeier, in: FS Teubner (Fn. 79) 234. 84 Berger/Berger/Kellner, Das Unbehagen in der Modernität, 1987, 75–85. 85 Frevert, Ehrenmänner (Fn. 80) 93–108; Speikamp, Ohrfeige, Duell und Ehrenmord (Fn. 80) 138. 86 Frevert, Ehrenmänner (Fn. 80) 289. 87 Die von Ebert, Pönale Elemente (Fn. 71) 484 zitierte Wendung in den Protokollen der II. Kommission bei Mugdan (Hg.), Die gesammten Materialien zum Bürgerlichen Gesetzbuch für das Deutsche Reich, 1899, 517, bezieht sich nicht auf die Geldentschädigung für Ehrverletzungen, sondern allgemein auf den Schadensersatz für Nichtvermögensschäden. 88 Frevert, Ehrenmänner (Fn. 80) 105–107; Speikamp, Ohrfeige, Duell und Ehrenmord (Fn. 80) 143. 89 Dazu Leuze, Die Entwicklung des Persönlichkeitsrechts im 19. Jahrhundert, 1962, 65–72; vgl. auch die vorige Fn.
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Dass umgekehrt das Fehlen eines Geldanspruchs kausal für die lange Fortexistenz des Duellwesens gewesen sein soll, ist unwahrscheinlich, weil das Duell auch in Frankreich bis zum Ende des 19. Jahrhunderts und darüber hinaus verbreitet blieb,90 obgleich der Code civil eine Geldentschädigung wegen ideeller Schäden ermöglichte.91 Natürlich ist es möglich, dass die Verfasser des BGB die Motive dafür, dass sie – wie bereits die vernunftrechtlichen Kodifikationen in Preußen und Österreich und wie der Dresdener Entwurf – die gemeinrechtliche actio iniuriarum aestimatoria nicht in das neue Gesetzbuch übernahmen, nicht vollständig offenlegten. Es ist aber nicht erwiesen und nicht naheliegend, dass es gerade und ausschließlich ein vormoderner, auf das Duell fixierter Ehrbegriff war, der die Entscheidung leitete. Womöglich spielte die Sorge um die Wirkung hoher Entschädigungszahlungen für Ehrverletzungen auf die Freiheit der öffentlichen Debatte eine Rolle.92 Diese Wirkungen, die für die Autoren des „Spiegel“ im Vordergrund standen, wenn sie anlässlich der neuen Rechtsprechung des BGH über die Gewährung von „Geld ohne Schmerz“ spotteten, waren am Ende des 19. Jahrhunderts aus der Schweiz durchaus bekannt.93
V.
Die Zukunft der Injurienklage
Die Erkenntnisse zum historischen Kontext der Ginsengwurzel-Entscheidung und die dadurch veranlasste Vergewisserung über die Herkunft des Arguments es sei „nicht ehrenvoll, sich Beleidigungen durch Geld abkaufen zu lassen“ können eine umfassende Auseinandersetzung mit der Rechtsprechung zur Entschädigung wegen Persönlichkeitsverletzungen nicht ersetzen. Jedoch hat sich gezeigt, dass die Entscheidung als Präzedenzfall – insbesondere zur Frage, was als eine schwerwiegende Beeinträchtigung des Persönlichkeitsrechts anzusehen ist – nur begrenzten Wert hat. Der Blick auf die Geschichte des Topos vom „Feilhalten der Ehre“ legt nahe, dass die Entscheidung des BGB-Gesetzgebers nicht einfach als Auswuchs vor- und unmoderner Vorstellungen von Ehre und Ehrenzweikampf gesehen werden kann, wie es häufig geschieht. 90 Speikamp, Ohrfeige, Duell und Ehrenmord (Fn. 80) 135; Leifers, Das Duell in Frankreich 1789–1830, 2013, 303–326; gegen die Annahme eines solchen Zusammenhangs auch schon Zimmermann, Law of Obligations (Fn. 11) 1091f. Fn. 304. 91 Zur französischen Praxis im 19. Jahrhundert Vergau, Ersatz immateriellen Schadens (Fn. 4) 23–32. 92 In diesem Sinn bereits Rüfner, Die Verfassung der Freiheit, in: Raab/von Ungern-Sternberg, Demokratie3 (1849–1919–1949), 2020, 49–77 (76f.). 93 Hofer, „Freier Mann im freien Staat“. Persönlichkeitsschutz in der Schweiz, ZRG (Germ. Abt.) 136 (2019) 261–303 (284–291).
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In der Tendenz sprechen die Ergebnisse für eine Begrenzung der Geldentschädigung für Persönlichkeitsverletzungen, der es nach wie vor an einer tragfähigen gesetzlichen Grundlage fehlt. Soweit es um Verletzungen der persönlichen Ehre geht, den ursprünglichen Anwendungsbereich der actio iniuriarum, könnte dafür womöglich das österreichische Recht als Inspirationsquelle dienen: demnach wäre die Geldentschädigung für Ehrverletzungen auf solche Beleidigungen zu beschränken, die zugleich den Kern der Menschenwürde treffen. Das wäre für die sexistischen Herabsetzungen im Fernsehansagerin-Fall94 ebenso zu bejahen wie neuerdings für die Schmähungen im Internet, denen sich Renate Künast ausgesetzt sah,95 aber kaum für die Verletzung der ohnehin versehrten Gelehrtenehre Heinrich Brandweiners im Ginsengwurzel-Fall.
94 BGH, 5. 3. 1963, VI ZR 55/62, BGHZ 39, 124; nach Flume, in: Verhandlungen des 46. DJT II (Fn. 4) K10 Fn. 23 war dieser Fall – im Gegensatz zu den Herrenreiter- und GinsengwurzelEntscheidungen „wirklich bedrängend“. 95 BVerfG, 19. 12. 2021, 1 BvR 1073/20, GRUR 2022, 335.
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Jaray, Patents as global property*
In the Paul Jaray archives at the ETH Zurich Research Collection, his car and zeppelin designs, technical drawings and commercial correspondence are filed, but also a copy of the Deutsches Patentgesetz vom 7. April 1891 (Hg. v. Gustav Sanftenberg. 10. Aufl. Leipzig: Reclam, 1912). Vienna-born engineer and inventor Paul Jaray (1889–1974) was a leading pioneer in automotive aerodynamics in the early 1920s. In the 1930s he designed iconic record-breaking German racing cars, the socalled Silver Arrows (Silberpfeile), of the Adler and Auto-Union companies. For Paul Jaray, claiming the patents for his innovations in the field of airplanes, zeppelins and cars was an ongoing struggle. In the beginning of the 20th century patent law was an emerging field of law, combining scientific, legal, and entrepreneurial skills in a globalizing marketplace. Patents provided a business model for engineers, but also a challenge. It was complicated to fit the invention in the words of the patent, to register the patent in several countries, monitor infringements abroad and turn them into a profitable business model. The first step of granting a patent was to file and claim a patent. When Jaray applied for his first patent, he got lost in the formalistic red tape process of writing a patent application: “Mein Bruder K., damals bereits Professor an der deutschen technischen Hochschule in Prag, dem ich die die Berechnungs-Unterlagen für den von mir vorgesehenen freitragenden, dicken Flügel und einen Durchschlag der Patenschrift mit der Bitte einsandte, meine statische Berechnung zu kontrollieren, retournierte mir das Manuskript mit der Bemerkung, ich möge die Finger weglassen von jedem Patent und auch dieses nicht weiter verfolgen. Tatsachlich machte das Wiener Patentamt Einwendungen – ich wusste ja nicht, dass das fast stets der Fall ist und das man für beinahe jedes Patent selbst oder mit Hilfe eines Patentanwaltes kämpfen muss – ich verlor den Mut schon bei den ersten Beanstandungen des Patentprüfers und damit war die Angelegenheit für mich erledigt.”1 * The research was made for the exposition ‘Architecture of Speed, Paul Jaray and the shape of necessity’, Arsenale Institute, Venice, 2021, curated by Wolfgang Scheppe, Hampton C. Wayt and Bastiaan van der Velden. 1 Handschriften und Autographen der ETH-Bibliothek (Zurich), Paul Jaray (Ingenieur – Erfinder – Aerodynamiker), Hs 1146:8 ‘Ein Aussenseiter’, Typoscript, p. 15.
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Bastiaan D. van der Velden
The patents Jaray claimed were not very profitable, even those he made as an employee of Zeppelin where he worked throughout the first World war. Jerry Sloniger, an automotive author who interviewed Jaray in the early 1970ties, writes about these early experiences: “By war’s end Jaray had begun to amass some of his many patents. Most of them – at this stage in his career – were concerned with airships […]. Jaray’s financial recompense for these patents was, however, meager.”2 There was no legal requirement in the patent application that the invention must be a commercial successful: “Doch ist es für die Frage der Patentfähigkeit nicht erforderlich, daβ eine Erfindung euch in wirtschaftlicher oder pekuniärer Hinsicht erfolgreich ist.”3 The concept of a car can be protected on several fields of intellectual property law. Technical innovations can be protected with a patent. Certain creative aspects of visible features of a specific design of a car can be protected by a copyright and registered design. A trademark can be registered, protecting certain names, words, images, logo and sometimes a design. Finally, there are certain trade secrets protected by law, focusing on confidentiality and non-disclosure agreements in contracts with employees and business partners.4 The Patent legislation in Germany and the US in the early 20th century, but also today, required that an invention is a novelty, but the Patent laws did not contain rules or guidelines what makes an idea of an inventor a patentable ‘invention’ with ‘novelty’. This raises problems, definitely when the invention is an enhancement based on one or more older inventions, either patented, formerly patented or never patented though published.5 In Germany a patentable invention requires an intellectual challenge above the average work an engineer is used to perform based on his professional skills. When another engineer would have solved the technical problem with his professional skills on a similar way, the ‘invention’ is not patentable. During the administrative process of awarding a patent, the Patent Office has several research tools to analyze patents and technical literature, to decide in what extent an invention is a mere adaption of existing accessible knowledge or a novelty. Nonetheless it is impossible for the Patent Office to consult all publicly available knowledge, thus it depends highly on other stakeholders in the industry to raise an objection or demand a nullification of the patent. A patent allows the owner exclusive usage, monopolizing an invention for a given period, thus there must be high standards before a patent can be awarded. From the first international cooperation and the introduction of international patent legislation in 1883 in the Paris Convention, patent protection 2 J. Sloniger, ‘The slippery shapes of Paul Jaray’, Automobile Quarterly 3/1975. 3 H. Teudt, Wann gelten technische Neuerungen als Patentfa¨ hig? (Berlin: Springer 1910) p. 2. 4 J. Küster ed., Patent-, Muster- und Marken-Schutz in der Motoren- und Fahrzeug-Industrie, Berlin, R.C. Schmidt; New York, E. Steiger 1908. 5 H. Teudt, Wann gelten technische Neuerungen als Patentfa¨ hig? (Berlin: Springer 1910) p. III.
Jaray, Patents as global property
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has been accompanied by a critical discussion about the innovation-inhibiting and trade-promoting effects of patents as well as the loss of state sovereignty in decision-making.6 The patent is a property right on new technical knowledge (novelty) for a limited time span, assigning to the inventor control over the commercial use of their invention during that period. Today, as in the pre WWII area, this right was limited to a specific nation state. The inventor had to file his patent in every country where an industry was active in the field of the patent, and a patent in a given country could block production and the import to that country of goods infringing the patent. Under international legislation only the ‘priority date’ was uniform; when a patent was filed in one of the member-states of the Paris Convention for the Protection of Industrial Property (20 March 1883) at a certain date, the other countries would accept this date as the moment protection starts. Another law in connection with the awarding of patents in Germany was the 1904 Law on the protection of inventions, designs and trademarks at exhibitions (Gesetz, betreffend den Schutz von Erfindungen, Mustern und Warenzeichen auf Ausstellungen, Deutsches Reichsgesetzblatt Band 1904, No. 13, p. 141), making the date of presentation on a German or foreign official public trade show equal to the filing date of a patent.7 So a patent had to be reapplied in every industrialized country. The entity that filed a patent had the right to exclusively exploit the protected specific knowledge economically, though it might block innovation by others. On the other hand, the publication of the patent made this specific information accessible for other competitors in the market. Jaray states in his biography: “1921 Erste Patentanmeldung für den Stromlinienwagen, die erste aerodynamische einwandfreie Lösung, der Autoform, die sich seit 1936 langsam durchzusetzen beginnt.”8 Thus the aerodynamic cars became mainstream at the moment the patent was almost expiring, but in his own view, the Jaray patents were not there to block innovations by others: “Ich habe die Aufgabe meiner Patente nie darin gesehen, den Bau von Stromlinienkarosserien zu behindern, im Gegenteil: Zweck meiner Arbeiten auf dem Gebiet der Aerodynamik des Kraftwagens war stets, den Bau richtig geformter Stromlinienkarosserien zu erleich-
6 The Paris Convention for the Protection of Industrial Property of 1883; M. Seckelmann, ‘From the Paris Convention (1883) to the TRIPS Agreement (1994): the history of the international patent agreements as a history of propertisation?’, Jahrbuch der Juristischen Zeitgeschichte, vol. 14, no. 1, 2013, p. 38–60. 7 As well in Article 11(1) of the Paris Convention. 8 Handschriften und Autographen der ETH-Bibliothek (Zurich), Paul Jaray (Ingenieur – Erfinder – Aerodynamiker), Hs 1146:3.
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tern.”9 Thus only at the moment the Jaray patent on streamlining was expiring, others started to apply the concept. On May 25, 1877 the first Reichs-Patentgesetz was enacted in Germany, which also provided for the establishment of an authority that should issue patents. Before 1877 the German states all had their own Patent legislation. New patent laws were enacted in 1891 and 1936. According to § 7 of the Patentgesetz the duration of the patent is fifteen years; this period begins on the day following the registration of the invention. In 1923 the duration in Germany was changed from 15 to 18 years, that year the USA had a 17 years duration.10 Though patents could expire at an earlier date when the yearly administrative fee was not paid. To stay in the front row of aerodynamic car design, it was necessary for Jaray to refile several streamline patents around 1934.11 National patent laws differ one from the other. In the USA patents were granted under the name of the inventor.12 The German legislation placed the company where the inventor worked central. The German Patent Act did not have specific provisions, but according to jurisprudence the employer was entitled to the inventions of the employee. Though specific agreements in the employment contract could result in other outcome. Only free inventions could be patented by an employee himself.13 Three categories existed: Betriebserfindungen, Diensterfindungen and freie Erfindungen. Betriebserfindungen were patents awarded to the work of several employees, with the knowledge and material of the company they worked for, for these patents only the company was recognized in the patent. Diensterfindungen were patents for inventions made during research for a company, both the inventor and the company were mentioned, and the employer was entitled to a remuneration. Jaray claims that he 9 P. Jaray, ‘Zur Patentlage der Stromlinienkarosserie’, ATZ Automobiltechnische Zeitschrift, 1935, heft 7, p. 186. 10 Gesetz über die patentamtlichen Gebühren, 9. Juli 1923. J. Eylau, Entscheidungen des Reichsgerichts in Zivilsachen. Patent- und Gebrauchsmusterrecht, Berlin: De Gruyter, 1952, p. 491. R. Busse ed., Patentgesetz und Gebrauchsmustergesetz: in der Fassung v. 18. 7. 1953, Berlin: Walter de Gruyter, 1956, p. 205. Richards & Geier, Patent laws and legislation, New York: Richards & Geier 1922, p. 4. U. Kornblum, ‘Technik und Rechtswissenschaft’, in: A. Hermann & C. Schönbeck (eds) Technik und Wissenschaft. Technik und Kultur, Berlin, Heidelberg Springer 1991. 11 For Jaray, living outside Germany after 1923, also § 12 of the Patentgesetz is of importance, someone who does not live in Germany can only claim the grant of a patent and the rights from the patent if he has appointed a representative in Germany. Thus, Reinhard von KoenigFachsenfeld acted as his representative in Germany in the 1930ties. 12 An application of a joint invention, where one of the parties did not contribute to the invention could even lead to a void patent, losing all rights. Richards & Geier, Patent laws and legislation, New York: Richards & Geier 1922 p. 5. 13 [United States Department of Justice], Investigation of government patent practices and policies, Monographs on nongovernmental organizations, foreign countries, legal and historical studies, and bibliography, Washington, U.S. Govt. Print. Off. [1947], p. 111.
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received little money for the patents for Zeppelin.14 Finally, the freie Erfindungen were inventions outside the duties of the employee, these could be granted to the inventor personally. Since the designs by Jaray of the aerodynamic bodies of cars was made when appointed at Zeppelin, and the use of the Zeppelin wind tunnels, the invention gives the impression to be a Diensterfindung, and in that case the employer Zeppelin would be the owner of the patent together with the inventor. But Jaray’s work was recognized as a freie Erfindung. Jaray states that his employment for Zeppelin was based on an order from the German military authorities, furthermore he drew the designs during a holiday, and most important, Zeppelin waived its rights in a contract with Jaray.15 Only much later, the inventor was recognized when a company filed a patent application. The 1936 German Patent Act ‘Gesetz über den gewerblichen Rechtsschutz’ introduced an ‘Erfinderprinzip’, where in the previous law the patent was registered under the name of the company registering the patent, a so called ‘Anmelderprinzip’. From 1936 on the employee inventors, working for private companies, were mentioned in the patent to protect their ‘Honour’ by symbolically stating their name on the patent.16 The 1936 German Patent law introduces new open norms, adapting the law to the language of the new regime, when the Reichsregierung considers a compulsory license necessary to promote the welfare of the national community (Förderung des Wohles der Volksgemeinschaft), the right of prohibition of exploitation to which the patent holder is entitled no longer applies.17 The verification of designs for air streamed cars in Germany in 1920–1922 based on mathematical calculations was possible due to the design of wind tunnels. In the second place an innovative impulse came from the shift of airplane engineers to car construction after the ban on airplane industries in Germany after WWI.18 But the market was not yet ready for the invention, furthermore it lacked the construction of the autobahn for long distance travelling by car, the need to have faster cars with a smaller engine on the autobahn, and the end of the area of independent coach builders. Moreover, new production forms 14 J. Sloniger, ‘The slippery shapes of Paul Jaray’, Automobile Quarterly 3/1975. 15 ‘Zur Geschichte der Jarray-Stromlinienpatente (Aktenmäβig dargestellt)’, ATZ Automobiltechnische Zeitschrift, 1934, Heft 4, p. 107, 108, 111, 112. 16 P. Wiegand, ‘Das neue Patentgesetz’, Siemens Zeitschrift, Band 17, April 1937, Heft 4, p. 177– 186. A.K. Schmidt, Erfinderprinzip und Erfinderpersönlichkeitsrecht im deutschen Patentrecht von 1877 bis 1936, Tübingen: Mohr Siebeck, 2009. L. Barner, ‘Aryanization Expanded? Patent Rights of Jews under the Nazi Regime’, in: H. Siegrist & A. Dimou ed., Expanding intellectual property: copyrights and patents in twentieth-century Europe and beyond, Budapest: CEU Press, 2017, p. 127–144. 17 F. Mächtel, Das Patentrecht im Krieg, Tübingen: Mohr Siebeck, 2009, p. 349–350. G. Klauer, ‘The New German Patent Law’, 18 Journal of the Patent and Trademark Office Society 481 (1936) p. 481–500. 18 J. Sloniger, ‘The slippery shapes of Paul Jaray’, Automobile Quarterly 3/1975.
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introduced in the automotive industry in the early 1930ties made it possible to forming metal sheets in rounder forms. But even with several new technical innovations necessary to construct streamlined cars, companies that developed air streamed cars in the 1930ties had big problems selling them due to the unconventional shapes making the industry restraint to further develop such concepts.19
Technical novelty Patents do not protect a discovery, a patent can only be awarded to technical novelty with proven applicability to either products or processes. Henry Ford (1863–1947) was sued in 1903 for infringement of U.S. Patent 549,160 belonging to patent attorney and ‘inventor’ George B. Selden (1846–1922). In the opinion of Ford, the Selden patent for a gasoline engine on four wheels was “too general to be recognized”.20 Due process Ford showed that the Selden Road-Engine as described in the patent was not a functioning machine, even with later improvements added. This patent ought not to have be granted in first instance. Finally, Ford won after a 8-year court battle the litigation because the court only considered the Selden Road-Engine with the outdated Brayton Ready Motor as described in the patent protected. Since Ford used an Otto engine, his car was not an infringement of the Selden Road-Engine patent.
The long application process for German patent DE441618 Paul Jaray filed his first patent for a streamlined ‘Kraftwagen’ on 8 September 1921. The patent was published on 9 March 1927. Almost six years the German Patent authorities took to award this patent. There were precursor, competitors and enemies in the field of car aerodynamics. In Switzerland J.A. Lüthy-Hubmann patented a torpedo shaped car body in 1914.21 The German Edmund Rumpler filed a patent for a “Drei- oder vierraedriges Automobil” on 17 July 1919 19 Even Wunibald Kamm, who showed that the tapper back of the Jaray design could be modified in an almost horizontal backside, was not patenting his invention. J. Potthoff & I.C. Schmid: Wunibald I. E. Kamm – Wegbereiter der modernen Kraftfahrtechnik. Springer Verlag, 2012, p. 113. 20 V. Curcio compares the Breer/Chrysler vs Jaray case with the Selden vs. Ford case: Chrysler: The Life and Times of an Automotive Genius (New York: Oxford University Press 2000) p. 550. 21 Schweizerisches Handelsamtsblatt, Band 33 (1915), Heft 41, p. 212: ‘Kl. 126 b, Nr. 68586. 27. April 1914, 7 Uhr p. – Karosserie für Automobile. – J.A. Lüthy-Hubmann, Wil (St. Gallen, Schweiz).’ With a ‘Patentanspruch: Karosserie für Automobile, dadurch gekennzeichnet, dass dieselbe torpedoartig gestaltet ist und die Räder des Automobils in sich schliesst’.
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(DE346341), followed by a series of patents for his Tropfenwagen. Jaray knew the work of Rumpler.22 Rumpler’s aerodynamic Tropfenwagen was shown to the public at the Deutschen Automobilausstellung in Berlin on 23 September 1921. The Rumpler patent was published on 5 August 1924 and a Tropfen-car was produced in three model series from 1921 to 1925. To show that his design was of a higher quality, Jaray starts building scale models of the Rumpler Tropfenwagen, testing them in a wind tunnel in 1922 to show that the aerodynamic features of Rumpler’s design are less favorable than stated in the patent: “Rumpler was the initiator, I admit. Half a year before us he had a loaf shape with horizontal, but ONLY horizontal streamlining. Two dimensional. Klemperer did proper measurements on the Rumpler in our tunnel, he added; ‘As I expected, it didn’t really have any better values than a normal car. No worse, but hardly better.’”23 Jaray published his first sketches for a streamlined car in an article together with the windtunnel tests by Klemperer in the Zeitschrift für Flugtechnik und Motorluftschifffahrt on 31 July 1922.24 For Jaray, it was not only the overall line of the car, every detail had to be reconsidered: “We didn’t put door handles on my cars, for instance. Only a hole and you kept the key in your pocket. But for somebody to say, ‘okay, no handles,’ well, that wouldn’t mean the car was streamlined.”25 Data on the long process of awarding the Jaray patent are recorded in an article published in the Automobiltechnische Zeitschrift.26 His first proposal of the patent was reject by the German patent office because it interfered with four existing patents, including one of Rumpler, and the Lüthy-Hubmann patent. A new version was submitted on 13 October 1922, and the patent office made this patent application known to the public to give the opportunity to oppose the patent. The statutory period for this procedure is from three up to six months.27 During this period, everyone is entitled to object the grant of the patent, on the grounds that the invention is either not new, unpatentable, the patent an invention of a previous applicant or illegally appropriated.28 22 Jaray in an interview with J. Sloniger, in St. Gallen on June 14 1974: ‘Rumpler war der Initiant, das gebe ich zu.’ 23 J. Sloniger, ‘The slippery shapes of Paul Jaray’, Automobile Quarterly 3/1975. 24 J. Sloniger, ‘The slippery shapes of Paul Jaray’, Automobile Quarterly 3/1975. The earliest windtunne experiments were conducted in the first months of 1921. ‘Zur Geschichte der Jarray-Stromlinienpatente (Aktenmäβig dargestellt)’, ATZ Automobiltechnische Zeitschrift, 1934, Heft 4, p. 107. This unsigned article was most probably written by Jaray and certainly created with documents made available by Jaray. 25 J. Sloniger, ‘The slippery shapes of Paul Jaray’, Automobile Quarterly 3/1975. 26 ‘Zur Geschichte der Jarray-Stromlinienpatente (Aktenmäβig dargestellt)’, ATZ Automobiltechnische Zeitschrift, 1934, Heft 4, p. 107–114. 27 Par. 23 of the 1891 German Patentgesetz. 28 A. Levy, Taschenbuch Des Gewerblichen Rechtsschutzes, Berlin 1904, p. 25.
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The Jaray Patent was challenged by Paul Ehrhardt, an engineer associated to Edmund Rumpler from 1911.29 Ehrhardt stated in March 1923 that the car design was identical to the known form of an airplane wing, adapted to movement above a road, thus not a novelty or an intellectual challenge above the average work of an engineer. The 1922 Jaray design has been compared with a ‘Flugzeugflügel Junker’scher Schule’.30 Such a form was already patented for vehicles by LüthyHubmann. Moreover, the use of ‘Doppeltkörper’ to reduce drag was already developed and according to Ehrhardt published by the Göttinger Institute, the “Modellversuchsanstalt für Aerodynamik der Motorluftschiff-Studiengesellschaft”, an allegation Ehrhardt was not able to proof and later on in the procedure firmly rejected by the patent office. Jaray had the hope that he could easily refute the objections of Ehrhardt, but it seems he was now trapped in a Kafkaesque red tape paper labyrinth. The patent office wrote Jaray on 29 may 1923 that another older patent application concerning aerodynamic cars was pending, and this applicant was allowed to submit models and new drawings to explain his patent, and since both patents interfered, the Jaray patent application was adjourned.31 Most frustrating for Jaray was the fact that the patent office did not reveal data on the older patent application and was unwilling to do so in the following months. On 21 January 1924, the patent office writes Jaray that the Swiss LüthyHubmann patent is not interfering with Jaray’s application. There were no publications by the Göttinger Institute covering his patent, and the publication mentioned by Ehrhardt in the Berliner Illustrierte of 1 January 1922 were published months after Jaray’s initial patent application of 8 September 1921. Finally, the patent office states that the older patent application, one by Rumpler, is not interfering with the Jaray application. Ehrhardt, not satisfied with this outcome, formulates new objections. According to Ehrhardt, the concept of aerodynamic closed car bodies was his proper idea, devised when negotiating in June 1920 with Zeppelin the construction of cars for the Salve car company. Jaray had tortious appropriated these concepts and used them for his own benefit. Moreover, Jaray was not able to construct functioning cars, according to Ehrhardt. Jaray, on good terms with the Zeppelin directors, received within days a letter from Dr. Dürr that these allegations by Ehrhardt were false, and that Zeppelin considered Jaray the sole inventor.
29 P. Supf, Das Buch der deutschen Fluggeschichte: Vorkriegszeit, Kriegszeit, Nachkriegszeit bis 1932, Stuttgart, Drei Brunnen Verlag, 1956, p. 43. 30 Newspaper clipping, undated, without reference, titled ‘Ein neuer deutscher Stromlinienwagen’, in Handschriften und Autographen der ETH-Bibliothek (Zurich), Paul Jaray (Ingenieur – Erfinder – Aerodynamiker), Hs 1144: 198 4. 31 A. Levy, Taschenbuch Des Gewerblichen Rechtsschutzes, Berlin 1904, p. 24.
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In January 1924, the patent office was of the opinion that the older Rumpler patent application was not interfering with the Jaray application. However, in June 1924 the patent office once again suspended the Jaray application due to the Rumpler patent. On 7 November 1923 Rumpler orally explained the patent office that a drawing for his pending 1921 patent “ought the have been drawn in a teardrop form”; the drawing gave wrong impression, but this was due to flaw of a draftsman – a concept clearly made up by Rumpler after Jaray filed his application on 8 September 1921. Now the only way out for Jaray was to challenge with legal assistance, the Rumpler patent application (no. R 59 150). This design was almost identical to the 1913 GB191312648 patent for Motor Road Vehicle of William John MellershJackson. After several letters, the patent office accepted the point of view of Jaray, and the Rumpler patent application was rejected the first May 1926. With this obstacle put aside, it was time to apply for a reexamination of his initial patent 1921. In the meantime the patent office had discovered two existing streamline patents, but with some minor changes in the wording, the Jaray patent was accepted on by the patent office on 25 January 1927.
Licenses With the patent in his possession, it was now time for Jaray to start exploitation of his streamline. In the 1920ties only some concept cars were built using the Jaray streamline, some of them initiated by Jaray himself to proof the value of his patent. Next to the prototypes using Audi and Dixi cars, a Ley and Apollo were constructed. Apollo built from 1924 a Jaray two/three seater enclosed and streamlined body option “for an excessive price”.32 With the construction of the Autobahn, the European public the mid 1930ties seems more ready for the streamline, and Jaray’s name is connected to this novelty: “Voraussichtlich werden schon auf der kommenden Berliner Automobil-Ausstellung mehrere Jaray-Stromlinienwagen verschiedener Bauart und Herkunft zu sehen …”33 Also the French L’Auto-vélo of 19 February 1936 stresses the role of Jaray: “Bien entendu les lignes purement aérodynamiques sont plus recherchées que jamais et les travaux de l’ingénieur Paul Jaray en sont la base”. Several manufacturers buy a Jaray license: Jaray-Stromlinie. Die Daimler-Benz A.G. in Stuttgart-Untertürkheim, die MaybachMotorenbau A.G. in Friedrichshafen, die Fahrzeugfabrik Bungartz & Co. in München, die Tatra-Werke A.G. in Prag und die Jawa-Werke in Prag haben bereits Lizenzverträge 32 J.E. Sloniger, Performance cars from Germany, 1894–1965, Cambridge: Bentley 1966, p. 121. 33 Motor, unabhängige Monatsschrift für den Kraftfahrer, vol. 23 (1935) p. 56.
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über die Jaray Patente für Stromlinien-Karosserien abgeschlossen. Kürzlich hat auch die Auto-Union A.G. in Chemnitz die Lizenz zum Bau der Jaray-Karosserien erworben.34
The German Autobahn needed streamlined busses in the 1930ties, and here the Jaray patens were an essential tool to adapt coaches to the needs of the long distance high speed travelling. For the construction of streamlined buses, the body manufacturers had to acquire a patent license from Aktiengesellschaft für Verkehrspatente. In 1935 Magirus, Walter Vetter Karosserie- und Fahrzeugbau GmbH, Gaubschat and Talbot. The Waggon-Fabrik Uerdingen (Niederrhein) was planning to build Stromlinien-Omnibussen.35 The Jawa was constructed on a D.K.W.-licence engine and chassis, with a streamlined coachwork by Jaray. The S.W.35 Maybach was built by Spohn to a Jaray streamlined design for the 1935 Berlin Motor Show.36 In 1935, Daimler-Benz AG presented at the 100th anniversary of the Deutsche Reichsbahn in Nuremberg the first express bus, a “Bus ohne Haube”.37 Also Fiat, Hanomag, Wikov38, Skoda, Mercedes Alfa, Steyr, Adler, Peugeot and Singer were contracting streamline designs. All companies, except Tatra, only built a prototype or two, then the contracts were dissolved.39 Capitalization of the patent and licenses was difficult for Jaray, the license fee was connected to the number of automobiles built, and generally one a couple of concept cars were assembled: “Neither did Jaray make any money from mass transit, though builders of railway cars and bus/truck designers in the Thirties knew they could obtain equal speeds for a third less power via Jaray’s methods. But they wouldn’t pay the license fees, preferring inefficiency or the wait until his patents expired.”40
A.G. für Verkehrspatente v. Oskar Bergmann In February 1934, the Automobiltechnische Zeitschrift published an issue on aerodynamics, placing the work of Jaray in the center. This publication was according to engineer and car designer Oskar Bergmann a misrepresentation of
34 35 36 37
Der Motorfahrer, Illustrierte Auto- u. Motorradzeitung, 13. Jahr, 1. Februar 1935, Nr. 3, P. 1. Schweizerische Bauzeitung, Band 105/106 (1935), 7 sept. 1935, Heft 10, Inseratenseite 8. J.E. Sloniger, Performance cars from Germany, 1894–1965, Cambridge: Robert Bentley 1966. Olaf von Fersen ed., Ein Jahrhundert Automobiltechnik, Nutzfahrzeuge, Berlin: SpringerVerlag 1987, p. 29. 38 ‘Wikov car built under Jaray license’, Automotive Industries, 26 March 1932; Jerry E. Sloniger, Performance cars from Germany, 1894–1965, Cambridge: Robert Bentley 1966, p. 142. 39 Jerry Sloniger, ‘The slippery shapes of Paul Jaray’, Automobile Quarterly 3/1975. 40 J. Sloniger, ‘The slippery shapes of Paul Jaray’, Automobile Quarterly 3/1975.
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historical facts, wiping out his pioneer works.41 Bergmann demanded the editors to correct these faults, stressing that the 1922 Jaray patent was invalid due to his older claim, the Bergmann design of a cigar or zeppelin standing high on wheels, published in 1911 and ‘shown’ on an automotive fair that year. Moreover Bergmann stated in 1934 in several automotive journals adds that the Jaray patent was invalid and everybody could design streamline cars with a straight back end, and information on streamlined designs was available at his office. On all levels Jaray tried to collect evidence that Bergmann maybe had a vision when he designed his cars in 1906 or 1911, but failed to file a patent at that date, misunderstood basic concepts of aerodynamics, was unable to build a functioning car and that the Jaray patent added important new features to scientific reliable aerodynamics.42 This Bergmann zeppelin on wheels, a form suitable for airships, neglected the proximity to the ground of cars. Jaray had three cars built in 1923, the Ley T6, Audi Typ K and Dixi G7 (the last two by the Gläser firm). Thus the Jaray patent is not a mere drawing-table concept, whereas the Bergmann designs only existed on paper, though the designer gave the impression that there are “Ausstellungsobjekte”; Jaray stresses on the fact that only scale models were made.43 Since Bergmann had not challenged the Jaray patent after the publication in 1927 (or within 5 years after this date), for example on the argument that there was a lack of novelty, the adds published by Bergman promoting his own business, were a tortious act. The court awarded Jaray damages, but in the end Bergmann was penniless and owned only a suit, a pair of orthopedically shoes and a table that was also used as a bed.44 This 1936 court case in Germany, where an Austrian Jewish citizen and his Swiss incorporated, the A.G. für Verkehrspatente sue a German, Oskar Bergmann for torts may raise some eyebrows. In two instances, in two German cities Jaray was able to win the lawsuit. Jewish patent lawyers were banned in 1933, though some could stay in their function and finally in November 1938 all were banned.45 The symbolic submission of the judiciary to the Führer and his state was carried out in June 1936 in 41 Oskar Bergmann was involved in the 1911 design of the streamlined Blitzen-Benz. Around 1910 he was the director of a private school for car design in Berlin. 42 A.G. für Verkehrspatente v. O. Bergmann, Landgericht Stuttgart, 1 Aug. 1936, Archive of Koenig-Fachsenfeld, Stadtarchiv Aalen. 43 According to a letter of O. Bergmann to the editor of Motor-Kritik, 21 juni 1936, Archive of Koenig-Fachsenfeld, Bergmann only had scale models of his carsdesigns. Hans-Hermann Braess & Ulrich Seiffert ed., Automobildesign und Technik: Formgebung, Funktionalita¨t, Technik, Wiesbaden: Friedr. Vieweg & Sohn Verlag, 2007, p. 10. 44 Zwangsvollstreckungssache A.G. für Verkehrspatente v. O. Bergmann, Amtsgericht Berlin, 16 Oct. 1936, Archive of Koenig-Fachsenfeld, Stadtarchiv Aalen. 45 L. Gruchmann: Justiz im Dritten Reich 1933–1940. Anpassung und Unterwerfung in der Ära Gürtner. 3. verbesserte Auflage. Oldenbourg, München 2001, ISBN 3-486-53833-0, (Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte, 28) p. 187.
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the court room, with the swastika on the judges robe and the Hitler salute at the beginning of the court proceeding, which became mandatory. From this moment, party membership and an active role within party organizations was mandatory for the appointment as a judge and promotion within the system. But even then, at Landgericht level (where the Jaray case was judges) judges could act more independent from the nazi politics as in the Amtsgericht.46 In private law the research of Rainer Schröder on civil jurisprudence in the court of appeal region of Celle during the Third Reich is exemplary.47 His research shows little influence of Nazi ideology on judges in civil law cases in courts, tough it is hard to believe Jewish citizens had undiscriminatory access to the legal system and the courts in this period. Also in civil law Nazi ideology took it over and judges followed “to pervert justice by expropriating Jewish property, denying Jews insurance proceeds, and robbing Jews of the benefits of their bargain in contract law.”48 Even before the enactment of the “Gesetzes zum Schutze des deutschen Blutes und der Ehre” in September 1935, courts were willing to accept that registrars (Standesbeamte) refused to marry Jews with “German-blooded” people.49 German Judges and public prosecutors even expanded definitions in legislation directed against Jews, giving the wording of the paragraphs a much broader sense. For example, when the so-called “Blood Protection Act” was applied, the term “sexual intercourse” for Jewish defendants was expanded to include kisses and hugs.50 Courts also denied the application of the Tenant Protection Act to Jewish tenants and granted landlords the right to terminate the contract without notice.51 In December 1938 a decree on the Aryanization resulted in the closure of the remaining Jewish businesses in Germany on January 1, 1939, and Jews were forbidden from practically all professions. From this date, patents and real estate were also released for Aryanization. 46 K.U. Scheib, Strafjustiz im Nationalsozialismus bei der Staatsanwaltschaft Ulm und den Gerichten im Landgerichtsbezirk Ulm, p. 343–347. 47 R. Schröder, … aber im Zivilrecht sind die Richter standhaft geblieben! Die Urteile des OLG Celle aus dem Dritten Reich, Nomos, 1988. 48 Kenneth F. Ledford, ‘Judging German Judges in the Third Reich’, in: Alan E. Steinweis & Robert D. Rachlin ed., The Law in Nazi Germany, Ideology, Opportunism, and the Perversion of Justice, New York / Oxford: Berghahn 2013, p. 178. 49 S.A. Glienke: Die Ausstellung “Ungesühnte Nazijustiz” (1959–1962). Zur Geschichte der Aufarbeitung nationalsozialistischer Justizverbrechen. Baden-Baden 2008, p. 190; G. Spendel: ‘Freispruch für die NS-Justiz? Strafrechtliche Ahndung von Justizverbrechen in Deutschland’, In: J. Weber & M. Piazolo (ed.): Justiz im Zwielicht. Ihre Rolle in Diktaturen und die Antwort des Rechtsstaates. München 1998, p. 65–75. 50 W. Dressen, ‘Blinde Justiz. NS-Justizverbrechen vor Gericht’, In J. Weber & M. Piazolo (ed.): Justiz im Zwielicht. Ihre Rolle in Diktaturen und die Antwort des Rechtsstaates. München 1998, p. 77–94. 51 R. Krumsiek: ‘Einführung. Nationalsozialismus und Justiz’, In: Nationalsozialismus und Justiz. Die Aufarbeitung von Gewaltverbrechen damals und heute. Münster 1993, p. 11–16.
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Back to Jaray, it seems important to stress that not Jaray himself, but the Swiss A.G. für Verkehrspatente owning the patents sued a German citizen, Oskar Bergmann. The A.G. für Verkehrspatente had, next to Jaray, at least three important participants: Haas and Koenig-Fachsenfeld. De Haas was director of the Swiss Montana Verlag. The Jaray-Mercedes 200 was sold to Walter de Haas in the late 1930s. Walter de Haas (a.k.a. Hanns Günther), was a close friend of Paul Jaray and board member of the Swiss Aktiengesellschaft für Verkehrspatente, was an author and editor for the Franckh’sche Verlagshandlung in Stuttgart, Germany. The first letters concerning the case against Bergmann form the ‘Jaray-team’ were sent by a of the Franckh’sche Verlagshandlung, in the name of the Aktiengesellschaft für Verkehrspatente; and meetings took place between the lawyer and Walter de Haas.52 The Franckh’sche Verlagshandlung signed this letter “Mit deutschem Gruβ!” and the name of the inventor is not mentioned. Also the court decision only mentions that the Swiss Aktiengesellschaft für Verkehrspatente is owner of the “bekannten Jarayschen Stromlinienpatente”.53 Moreover, Jaray was not a German citizen, but an Austrian (and the Anschluss only took place on 12 March 1938), and thus the observation by Gruchmann is applicable: “im Ausland die Rassenzugehörigkeit nicht ‘zuverlässig’ festgestellt werden konnte.”54 Germany was during the pre-war years reluctant to interfere in patent law, due to its international character. Such measures would interfere in the international trade, and Germany benefitted from patent fees in foreign currency.55 By 1937, the German government used the regulation on patents to make it for foreign firm impossible to use them.56 Even when patents in Germany were expropriated, the patents outside the country were difficult to expropriate, thus hindering the export from Germany of products constructed with these patent knowledge. Maybe inside Germany Adler, Hanomag or Auto Union could have raced with their record smashing cars, but with his French patent, Jaray was legally entitled to seize these cars in Le Mans and other countries ware his streamline was patented. At the end of the 1920ties, Rumpler worked on the construction of busses and trucks. He presented a front-wheel-driven two-axle bus at the 21st 52 Franckh’sche Verlagshandlung to Rechtsanwalt Mühleisen, 18 july 1936, Archive of KoenigFachsenfeld, Stadtarchiv Aalen. 53 A.G. für Verkehrspatente v. O. Bergmann, Landgericht Stuttgart, 1 Aug. 1936, Archive of Koenig-Fachsenfeld, Stadtarchiv Aalen. 54 L. Gruchmann: Justiz im Dritten Reich 1933–1940. Anpassung und Unterwerfung in der Ära Gürtner. 3. verbesserte Auflage. Oldenbourg, München 2001, (Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte, 28) p. 187. 55 L. Barner, ‘Aryanization Expanded? Patent Rights of Jews under the Nazi Regime’, in: H. Siegrist & A. Dimou ed., Expanding intellectual property: copyrights and patents in twentiethcentury Europe and beyond, Budapest: CEU Press, 2017, p. 127–144. 56 ‘Samenhang tussen Patijn’s stap en het fascistisch complot?’, Het volksdagblad: dagblad voor Nederland, 22 jan. 1938.
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Prague Motor Show in 1929. There were patent disputes over the spring pad construction with the Czech company Tatra, which obtained an injunction in Prague and had Rumpler’s bus chassis confiscated from the stand.57 The international patent practice was a block chain technology avant la letter.
Discussing air flow: Automobiltechnische Zeitschrift, 1935, Heft 7 One of the issues in 1935 of the German Automobiltechnische Zeitschrift is dedicated to streamline. Max Schirmer explains at length the way winds tunnels should be used to research the air flow.58 Patent issues of the Stromlinienkarosserie were discussed by Paul G. Ehrhardt (1889–1961), the German engineer, test pilot and author of hunting and aviation literature who tried to block the Jaray streamline patent between 1921 and 1927.59 The first problem to be encountered in the research for available streamline patents is the fact that there was no specific category (Klasseneinteilung) for this kind of inventions in the Reichspatentoffice.60 Thus extensive searches would be necessary in order to find existing patents dealing with this field of work. But even then, such a difficult search cannot make the claim to absolute completeness, since it is impossible to research the entire patent specifications in question.61 There were older patents in the field of aerodynamics. The author places the “Velo-Torpille” patent ahead in the line of patents for streamlined vehicles, but this patent was filed in the category of bikes.62 This design by the French engineer Etienne Bunau Varilla (1890–1961), an airplane pioneer who bombed in 1914 the Friedrichshafen military industrial complex where Jaray worked, is an egg shaped form placed on a bike, filed on 2 October 1913 (Patent-schrift Nr. 276 702). The US patent of Bunau Varilla for bike states that his invention aims “to reduce the theoretical 57 https://archiv-axel-oskar-mathieu.de/ [on 9 jan. 2022]. Par 5 of the 1891 German Patentgesetz states that automobiles that were only for a short term in the country, would not infringe existing German patent rights. 58 M. Schirmer, ‘Praktische Strömungsforschung an Kraftfahrzeugen’, ATZ Automobiltechnische Zeitschrift, 1935, Heft 7, p. 176–181. 59 Publishing for example: P.G. Erhardt, So entsteht ein Auto: 50 Jahr Adler 1880–1930 (Frankfurt a.M.: Bücherei der Adlerwerke 1930); Tatra 77; Koprˇivnice (Mähren), Tatra-Werke, 1935. For Paul G. Ehrhardt’s role in the Ganz affair: Paul Schilperoord, The Extraordinary Life of Josef Ganz: The Jewish Engineer Behind Hitler’s Volkswagen, RVPP 2011. 60 P.G. Ehrhardt, ‘Patentlage für Fahraufbauten als Körper kleinsten Luftwiderstandes (“Stromlinienkarosserie”)’, ATZ Automobiltechnische Zeitschrift, 1935, heft 7, p. 182–186. 61 Hampton Wayt wrote me that the same problem arises when research is conducted on the US streamline patents, as disclosed on the US patent site. Even the patent applications do not always mention the “streamline” or similar terms, making it difficult to research them. 62 French patent 473534, Appareil coupe-vent pour appareils de transport à équilibre cinématique.
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fusiform body which determines an easy penetration and passage through the air with the least resistance to a front part and a rear part, while leaving between them a space for gaining access to the machine.”63 This is reached by “enveloping surfaces of such a form as to facilitate penetrating the air, and to avoid the forming of eddies at the rear of the moving body.” Bunau Varilla explains that his invention was the result of the study of aviation, and “this object has been attained by a number of different methods which have been applied in connection with traveling vehicles of a stable equilibrium, such as motor-cars and the like.” Small details show the difference in writing a patent, in the German patent for Bunau Varilla’s “coupe-vent”, “Windschneider” or “wind dividing apparatus”, the inspiration came from “Studium des Vogelfluges”, a research not to be found in the US patent.64 According to Ehrhardt the Bunau Varilla patent made it more complex for later patents to fulfill the novelty criterion. It seems the author was not aware of the 1902 Walter C. Baker teardrop shaped record breaking Torpedo Kid electrical race car.65 Though Baker patented in 1902 other motor vehicle related inventions, he did not patented his teardrop car.66 In the opinion of Ehrhardt, the wording of the Jaray patent should be understood that the “Kraftwagen, dessen die Maschinenanlage, die Nutzräume, das Fahrgestell und die Räder überdeckender Oberbau einen halben Stromlinienkörper mit im wesentlichen ebener, der Fahrbahn paralleler Bodenfläche bildet, dadurch gekennzeichnet, daß der Stromlinienkörper an seinem hinteren Ende in eine waagerechte Schneide ausläuft.” Only the wording after ‘dadurch gekennzeichnet’ is a patentable novelty “daß der Stromlinienkörper an seinem hinteren Ende in eine waagerechte Schneide ausläuft”.67
And even this was not so new, specifically these features of Jaray patent could be found in many 1920ties roadster models. According to Ehrhardt this is not a novelty as such. In models like the 1921 Lincoln Model L 3 or the 1922 Duesenberg roadster the back is pulled down, but in general this aerodynamic element is disturbed by attached spare wheels, suitcases and bumpers, and the design of the front of the roadsters were as cubic as most of the cars of this period.
63 US patent 1913796958, Wind-dividing apparatus for transport-vehicles with kinematic equilibrium, Priority 23 oct. 1913. 64 G. de Rassenfosse e.o., ‘Low-Quality Patents in the Eye of the Beholder: Evidence from Multiple Examiners’, Journal of Law, Economics, & Organization (2020); E. Webster e.o., ‘Patent examination outcomes and the national treatment principle’, RAND Journal of Economics, 45 (2), p. 449–469. 65 ‘The electric automobile built like a drop of oil’, Popular Science Monthly, vol 88, no. 6, june 1916, p. 896. See also: Electric Vehicles, Vol. 8, no. 2, p. 40. 66 US709859 A, Motor-vehicle Patent. 67 The same way: N.N.: (F. Gebauer): ‘Die “echte” Stromlinie als Schulbeispiel jüdischer Wissenschaft’, NKZ 1939 nr. 51, p. 1195.
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Thus Ehrhardt reduces the role of Jaray to some technical aspects of his patent, whereas Solinger writes that Jaray was to first to formulate a “mathematical dissertation on the proper application of streamlining principles to automobiles”, but this aspect, the mathematical formulas are inherently considered non-patentable when it describes a natural phenomenon, though a patent can be granted on the application of the formula.68 Finally Jaray got a last word in this issue of the Automobiltechnische Zeitschrift.69 Jaray was happy to read that his patent was the most essential in the field of streamlining cars. He states that not every model dressed up with an airflow or airstream logo is streamlined. Streamlining is a science, and calculations and wind tunnels are the key. He recognized the fact that the Bunau Varilla patent was known to him. But in his own view, not the mere fact that the “Stromlinienkörper an seinem hinteren Ende in eine waagerechte Schneide ausläuft” was the novelty, but the design of a teardrop placed on top of a teardrop, with covered wheels and no air flow disturbing parts placed outside the car body. The wordplay Ehrhardt made was according to Jaray a peculiarity of the German patent granting procedure that in the formulation of the patent claim, if an invention has several characteristic features, usually only one of them is indicated after the formula “dadurch gekennzeichnet ….”. But in the end, Jaray wants to draw cars designed as close as possible to a perfect streamline.
Jahresgebühren The duration of the German streamline Patent given Priority in September 1921 and awarded in 1927 was 18 years, in the USA there was a 17 years duration.70 Thus in 1939 or 1938 the streamline Patents would expire, but this might even been at an earlier date.71 When a Patent was awarded in Germany, the owner of the patent has to pay a yearly fee to keep his patent, a fee which increased with the number of years the patent was held, the “Jahresgebühren”. In other jurisdictions 68 A.R. Hughes, Dissecting the Software Patent Problem: An Argument Against Patentability Based on the Relationship Between Software and Mathematics, University of Tasmania, 2012. 69 P. Jaray, ‘Zur Patentlage der Stromlinienkarosserie’, ATZ Automobiltechnische Zeitschrift, 1935, heft 7, p. 186–189. 70 Gesetz über die patentamtlichen Gebühren, 9. Juli 1923. J. Eylau, Entscheidungen des Reichsgerichts in Zivilsachen. Patent- und Gebrauchsmusterrecht, Berlin: De Gruyter, 1952, p. 491. R. Busse ed., Patentgesetz und Gebrauchsmustergesetz: in der Fassung v. 18. 7. 1953, Berlin: De Gruyter, 1956, p. 205. Richards & Geier, Patent laws and legislation, New York: Richards & Geier 1922, p. 4. 71 The statement of Jaray in an interview with Jerry Sloniger, in St. Gallen on June 14 1974, ‘54:50 Man darf nicht vergessen: die Patente sind 1935 alle abgelaufen’, that the patents ended in 1935 seems to be an error.
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such payments have to be made every three, five or ten years. The importance is the same, when the fee is not paid in time, certain extra penalties were charged, but in the end, the patent expired. Though the maximum duration of a German patent can never be longer as 18 years.72 The table of 1923 – a period of enormous inflation, shows a fee of 60.000 Mark in the first year up to 20.000.000 Mark in the 18th year. In average after 5 years the owner of the Patent stopped paying the yearly fees and thus lost his patent.73 Jaray states in a note containing his patents in 1940 “wenn auch die meisten davon schon fallen gelassen oder erloschen sein dürften”.74 A lawyer writes: “Die Jahresgebühren haben nicht bloß den Zweck, eine Ertragsquelle für das Reich zu sein, sondern auch den, die Industrie von dem Banne werthloser Patente zu befreien, indem sie den Patentinhaber alljährlich zur Prüfung veranlassen, ob er die stets wachsenden Gebühren noch ferner entrichten will.”75
At the moment the Jahresgebühren for his patents are becoming higher and higher, Jaray sees the growing need for his patents due to the construction of highways, and he needs funds to preserve his patent before expiration. At the same time in Germany the Nazi regime has taken control, starting persecution of Jewish citizens. The need for them to sell their patent-rights in Germany to third parties became clear from 1933.76 On 5 August 1933 Jaray sold 22 car patents to the Montana Verlag A.G. of Walter de Haas.77 On 23 September 1933, the “Aktiengesellschaft für Verkehrspatente” was founded and the car-patents were transferred to the new company.78 The directors were Walter de Haas, Walther Keller, and Dr. Emil Bell, Paul Jaray acted as Technical Director.79 The next year two new patents for cooling and heating cars were filed, now on the names of
72 R. Busse ed., Patentgesetz und Gebrauchsmustergesetz: in der Fassung v. 18. 7. 1953, Berlin: De Gruyter, 1956, p. 205. Richards & Geier, Patent laws and legislation, New York: Richards & Geier 1922, p. 4. 73 Aroynd 1905, only 2,7% of the patentfees in Germany was paid until the last year, thus for the whole period of 15 years: H. Teudt, Wann gelten technische Neuerungen als Patentfa¨hig? (1910) p. 2. 74 Annex to a letter by Jaray to von König, 21 feb. 1940, Archive of Koenig-Fachsenfeld, Stadtarchiv Aalen. 75 A. Seligsohn, Patentgesetz und Gesetz betreffend den Schutz von Gebrauchsmustern, Berlin, J. Guttentag, 1892, p. 89. 76 L. Barner, ‘Aryanization Expanded? Patent Rights of Jews under the Nazi Regime’, in: Hannes Siegrist & Augusta Dimou ed., Expanding intellectual property: copyrights and patents in twentieth-century Europe and beyond, Budapest: CEU Press, 2017, p. 127–144. 77 Schweizerisches Handelsamtsblatt, Band 51 (6. Oktober 1933) Heft 234, p. 2343. 78 Schweizerisches Handelsamtsblatt, Band 51 (6. Oktober 1933) Heft 234, p. 2343. 79 On Bell: H. Stadler, Bell in der Welt. Die Maschinenfabrik Bell AG Kriens, Brunner Verlag, Kriens 2008.
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Jaray and the A.G. für Verkehrspatente.80 In October 1937, the Swiss A.G. für Verkehrspatente was dissolved by resolution of the general assembly.81 To monitor and license his aerodynamic patents in the United States and Canada, Paul Jaray founded in 1931the Streamline Corporation of America in New York. At a certain moment after the Chrysler settlement Jaray terminated his contract with the Streamline Corporation of America: “The mess ended when Jaray – on the advice of his representative [Leo] Koenig – exercised an option clause in his agreement with the U.S. branch and regained the rights to his own patent.”82 The company was still existing in 1941.83
Jaray-Lizenzplakette The 1939 the Berlin International Mobility Show staged the first Kraft durch Freude-cars, the whole show was “a business card of the National Socialist State”.84 The Hanomag D19 Diesel Stromlinien-Rekordwagen constructed by Lazar Schargorodsky and designed by Jaray was shown as well. On 8 February 1939 the Hanomag reached a record speed of 165 km/h near Dessau. Jaray had had calculated and drawn the outline of the car, and licensed Hanomag to build cars. The licensee, in this case Hanomag, was obliged to attach a notice on the body of car, and Jaray had a so called “Lizenzplakette” placed: “Derartige Patentvermerke dienen nicht nur Überwachungsmaßnahmen des Lizenzgebers (z. B. der Lizenzgebührenkontrolle), sondern auch der Klarstellung daß der Patentschutz sich auf die nach einem Verfahrenspatent erstreckt (§ 6 Satz 2 PatG). Dem Hauptzweck nach soll der Patentvermerk jedoch Verletzungshandlungen vorbeugen.”85
This Lizenzplakette got the attention of the directors of the Berlin International Mobility Show, who drew attention to his Jewish roots. Due to this sign, the car posed severe problems for the organizers: “auf einer Internationalen AutomobilAusstellung in Berlin ein Wagen mit einer Jaray-Lizenzplakette entfernt werden sollte. Durch Entfernen der Plakette konnte das Verbleiben gesichert werden.”86 80 Schweizerisches Handelsamtsblatt, Band 53 (22. Januar 1935) Heft 17, p. 193. 81 Staatsarchiv Luzern, A 1044/12214 Aktiengesellschaft für Verkehrspatente in Liquidation, Luzern, 1933–1937. 82 J. Sloniger, ‘The slippery shapes of Paul Jaray’, Automobile Quarterly 3/1975. 83 Harry Chalmers was technical director of the Jaray Streamline Corporation of America, in: MIT Technology Review 1941–02 (february), p. VI. 84 ‘Kraft durch Freude-wagen drukt reeds nu zijn stempel op Duitsche autoproductie’, Het Vaderland, 23 feb. 1939. 85 Kartellrundschau: Schriftenreihe für Kartell- und Konzernrecht des In- und Auslandes, Nummer 10, C. Heymann, 1969, p. 20. 86 R. Koenig-Fachsenfeld, Vom Zeppelin auf Rädern bis zur K-Form (Ein historischer Überblick), typoscript, Archive of Koenig-Fachsenfeld, Stadtarchiv Aalen. R. Koenig-Fachsenfeld:
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Engineer and car historian Koenig-Fachsenfeld writes: “Korpsführer Hühnlein befahl einst eine kleine JarayLizenzplakette von der Karosserie des Hanomag Diesel Rekordwagens zu entfernen, um ihn zu arisieren.”87 Taunting those labeled as Jew became a strategy that took place at all levels. In the Neuen Kraftfahrer-Zeitung NKZ no. 51/1939 Christian Schmid of the German Forschungsinstitut für Kraftfahrwesen und Fahrzeugmotoren in Stuttgart published an article on streamline cars. The research institute had verified several models including Jaray’s, coming to the conclusion that his designs had a different coefficient of drag as stated by Jaray. Without consent of the author, the editors of NKZ added a headline: “Die echte Stromlinie als Schulbeispiel jüdischer Wissenschaft”.88 The author now withdrew his name but the article was published.
Publications by Jaray Publications by the inventor in professional journals is an important instrument in protection the invention and the patent. Such a “Defensive publication” is a tool in the war on patents. By publishing details on the invention, the inventor can block other competitors in the same field, since similar inventions by other parties are no more patentable due to a lack of novelty. Jaray’s “Tropfen, Aerodynamik und Automobil”, Allgemeine Automobil-Zeitung, no 49–50, dec. 1923 could be such a publication. In the case against Chrysler we see a similar tactic: “Lowell H. Brown had sent letters to both B.E. Hutchinson and O.R. Skelton on March 15, 1933, in which he enclosed a detailed article written by Jaray entitled ‘The Effect of Streamlining on Comfort’ and said he hoped ‘this article will interest you and will help you in the study of our patent.’ The files at Chrysler also yield another detailed article received by the company on June 26, 1932; this one was called, ‘The Stream-Line Body, Jaray’s System.’ It was published by the Stream-Line body company of Zurich.” Thus
‘Vom Zeppelin auf Rädern bis zur K-Form: Ein historischer Überblick – A historical Review’, In: Road vehicle aerodynamics, Kolloquium über Industrieaerodynamik: Proceedings of the Colloquium on Industrial Aerodynamics, 4, C. Kramer (Hrsg.), Kolloquium über Industrieaerodynamik, Aachen, 1980, p. 1–17. 87 Koenig-Fachsenfeld to the editors of Automobil Chronik, Munchen, typoscript, Archive of Koenig-Fachsenfeld, Stadtarchiv Aalen. 88 N.N.: (F. Gebauer): ‘Die “echte” Stromlinie als Schulbeispiel jüdischer Wissenschaft’, NKZ 1939 nr. 51, p. 1195. Hierzu eigenhändiger Vermerk von C. Schmid, Archiv Schmid (Universitätsarchiv Stuttgart, collection FKFS). In: J. Potthoff & I.C. Schmid: Wunibald I. E. Kamm – Wegbereiter der modernen Kraftfahrtechnik. Springer Verlag, 2012, p. 182.
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Vincent Curcio comes to the conclusion that it is “inconceivable that the Chrysler Corporation was unaware of Jaray’s work and patent as the Airflow was developed.”89
Jaray stated that these publications, or bare publicity in his own words, wasted all the income generated by licenses on his Patents: “if we registered 100,000 Swiss franc income from licenses, we had already spent three times as much on our public relations.”90
Patent 442112, Zusatz zu Patent 441618 Many of the Jaray patens are a so called “Zusatz” Patent. Patent 442112 for a “Kraftwagen”, was an enhancement of the streamline form for cars, and an addition to the main patent DE441618. This legal procedure for the patent of the Ley Rennwagen, as a “Zusatz zu Patent” or addition to the main Patent of streamlined cars, had certain legal and financial advantages. Apart from the application and grant (first year) fee, this addition on the patent is free of charge, but the additional patent only gives a protection for the duration of the main patent. When an invention aims to improve or further develop an invention that is protected by a patent of the applicant, it can be filed up to a period of eighteen months after the date of filing the main application. Such addition (or divisional patent application) was available for improvements, and other development based on the first invention. In this way the patent holder can continue research and development in a quickly emerging market and protect the invention in less costly way, and the novelty-question for later applications were no legal barrier when filing a “Zusatz Patent” to the main patent.91 In the same way, the German patents Nr. 446040, Nr. 398758, Nr. 442111 and Nr. 481049 were a “Zusatz” to the main Patent and expired at the same date of the main patent.
Jaray Streamline Corporation (New York) v. Chrysler Corporation In 1930 the Jaray Streamline Corporation of America is founded in New York to represent and exploit the Jaray Patens in the United States and Canada.92 In the first years, the company published a series of articles in journals promoting the 89 V. Curcio, Chrysler: The Life and Times of an Automotive Genius (New York: Oxford University Press 2000) p. 550. 90 J. Sloniger, ‘Paul Jaray und seine Autos’, TFI-Info 2012, p. 35. 91 T.Ph. Berger, Patentgesetz. Gesetz betreffend den Schutz von Gebrauchsmustern. Gesetz über Muster und Modellschutz. Gesetz über Markenschutz, Berlin: Guttentag, 1893, p. 28. 92 Later this company was replaced by a holding company named Streamline Motors, Inc., consisting three subsidiary companies: The Jaray Streamline Corporation of America; Motor
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advantages of streamlining. At the same time, the patent is protected by legal means. In the “Patent Suits” of the Official Gazette of the United States Patent Office, 14. Aug. 1934, a case of Jaray against the local Chrysler dealer is mentionned.93 “1,631,269, P. Jaray, Motor car, filed May 24, 1934, D. C., E. D. N. Y., Doc. E 7261, Jaray Streamline Corp. of America V. Simons-Stewart Co., Inc.”94 Simons-Stewart, the New York agent for Chrysler, was probably held liable for the patent infringement by Chrysler. On 24 May 1935 the Jaray Streamline Corporation sued the car manufacturer Chrysler in the United States District Court, Eastern District of New York.95 Chrysler biographer Vincent Curcio states: “The suit made Carl Breer mad as a hornet, because he claimed, and it seemed to be so, that the Airflow car had been developed through his own aerodynamic research at Chrysler.”96 Within some weeks, an agreement was reached and the dispute was settled out of court. An independent consulting engineer and patent expert of Detroit, Walter T. Fishleigh (1880–1947), acting on behalf of Chrysler was appointed. Fishleigh, a designer of airstream cars in his own right, and well aware of the designs of Jaray, advised to settle the case out of court and to sign a license agreement.97 To avoid a court case, a license was bought from Jaray Co. covering designs of the recent Plymouth, Dodge and DeSoto Airflows as well as Chrysler Airflow designs.98 For the Jaray Streamline Co. the recognition of the patent by Chysler was an important step, making it for other US manufacturers more difficult to disregard the patent.99 “Es ist praktisch von grosser Bedeutung, da dadurch anerkannt wird, dass sowohl der Chrysler-Airflow, wie der gleichartige De Soto-Typ unter die Jaray-Patente fallen.”100 When we take the efforts in account the Chrysler Cor-
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Patents Management Corporation, acting as an agent for European patent holders; and United Rail Car Corporation, for the development of streamlined train coaches. ‘Chrysler adds new line’, New York Times, May 17, 1931. V. Curcio, Chrysler: The Life and Times of an Automotive Genius (New York: Oxford University Press 2000) p. 327. Official Gazette of the United States Patent Office, 14. Aug. 1934, vol. 445, p. 280. ‘Chrysler buys license under Jaray Streamline Patent; Suit is settled’, Automotive Industries, July 27, 1935, p. 98. V. Curcio, Chrysler: The Life and Times of an Automotive Genius (New York: Oxford University Press 2000) p. 550. Walter T. Fishleigh was a designer who made in 1930 a proposal for a coupe, that first got Edsel Ford interested in streamlining and inspired the Ford V-8. Fishleigh discussed the Jaray patent in a 1931 meeting of the S.A.E. (Lowell H. Brown, United States Patent # 1,631,269 to Paul Jaray, Typoscript, p. 50); L. Sorensen, ‘The Fishleigh Fords’, Special-Interest Autos magazine, March-April, 1977. D. Cole, ‘Diego Rivera’s portrait of Edsel Ford’, V8 Times, May-June 2004. K. Ludvigsen, ‘The Time Tunnel – An Historical Survey of Automotive Aerodynamics’, SAE Technical Paper 700035, 1970. Lowell H. Brown, United States Patent # 1,631,269 to Paul Jaray, Typoscript, p. 6. Streamlining as covered by the Jaray Patents (Jaray Streamline Corporation of America 1935) p. 3. Schweizerische Bauzeitung, Band 105/106 (1935), 7 sept. 1935, Heft 10, Inseratenseite 8.
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poration spent to defend itself, this $25,000 was almost five times the license fee Jaray received from the company, a $5,300, an amount that probably barley covered the legal fees Jaray had to pay. A real minus for Chrysler was that the research of the independent streamlining expert Walter T. Fishleigh showed that the Airflow wasn’t truly streamlined in a pure sense.101 Jerry Sloniger summarizes the case: “The upshot was a deal which gave Jaray Streamline the lavish defense package plus a scant $5000 for license rights, plus of course a royalty, said to involve substantial sums of money, in the event Chrysler built shoals of Airflows. Another $300 was paid for Airflows already exported. But of the $5300 cash settlement, not a dollar found its way over to Paul Jaray in Switzerland. It had already been consumed for legal expenses. The snag in the whole scenario was the fact that Chrysler – operating from a position of solid money power – had managed to concede the worth of Jaray patents without necessarily admitting direct infringement by its Airflow. Chrysler had also taken out a license, but at the same time delayed substantive cash payments until such time as it built a vast number of derivations. As it happened, of course, the Airflow proved to be a sales flop.”102
Not only the sale of the Airflow was a flop, for Jaray the outcome of the lawsuit was little rewarding: “‘Chrysler lost the trial to us, you know,’ he recalled. ‘But it was a ‘special case’ somehow. Nobody here saw any of the very few dollars awarded. How so? A whole lot was going on in America that I didn’t know about.’”103 Also other infringements were hard to turn into cash. The Jaray Streamline Corp. sued Pierce-Arrow over the design of the Silver Arrow. An agreement on a license was reached between the two parties, but the mother firm Studebaker went bankrupt on March 18 1933, before payment was made.104 The Lincoln Zephyr Ford, initially designed with a rear-engine by John Tjaarda (1897–1962), was introduced in November 1935. The Jaray Co. was of the opinion that Ford streamlined this car on the concepts of his patent, but “it couldn’t afford to press its suit.”105 Though only a moral win for Jaray, was the dispute of the US patent authority against Breer, the chief designer of Chrysler some years later.106 Breer claimed a patent for the redistribution of the engine block and other parts in combination 101 V. Curcio, Chrysler: The Life and Times of an Automotive Genius (New York: Oxford University Press 2000) p. 550. 102 J. Sloniger, ‘The slippery shapes of Paul Jaray’, Automobile Quarterly 3/1975, p. 332. 103 J. Sloniger, ‘The slippery shapes of Paul Jaray’, Automobile Quarterly 3/1975. 104 J. Sloniger, ‘The slippery shapes of Paul Jaray’, Automobile Quarterly 3/1975. 105 V. Curcio, Chrysler: The Life and Times of an Automotive Genius (New York: Oxford University Press 2000) p. 551. J. Sloniger, ‘The slippery shapes of Paul Jaray’, Automobile Quarterly 3/1975. 106 In re Breer, Patent Appeal No. 3907. February 28, 1938. Appeal from Board of Patent Appeals, Serial No. 723,915.
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with “stiff front springs and relatively soft rear springs” to achieve an optimal center of gravity of the automobile. Examiners of the Patent Office now had to decide if the invention was new and useful, and patentable.107 In the process to identify if a patent is a novelty, all patents in the same field are taken into consideration to identify if the claim by Breer is a novelty. The Examiner made reference to the Jaray US patent 1,631,269, of 7 June 1927. The Examiner “rejected all of the appealed claims upon the patent to Jaray.” This could only lead to a rejection of the Breer patent claim.108
Final remarks When asked if he ever had a lawyer to protect his patent rights, Jaray answered “Oh yes, but he never brought anything in.”109 The Chrysler case had a positive outcome, but all the payments went to the legal and other costs of the American Streamline co. To get justice in the automotive industry is a special field of research in jurisprudence. The landmark article from 1963 “Non-Contractual Relations in Business: A Preliminary Study” by Macauly shows that law and legal procedures were not the preferred instruments. The decision makers in the automotive industry took recourse to custom and other non-contractual social practices to maintain order. Interviewing keyplayers from the business, Macauly noted: “You can settle any dispute if you keep the lawyers and accountants out of it. They just do not understand the give-and-take needed in business.” It seems Jaray misunderstood this aspect, relying too much on his patents and rights, when he tells about the reactions of the auto industry on his streamline designs: “Wenn du uns versucht zu zwingen aufgrund der Patente, machen wir es überhaupt nicht.”110 In the same interview he was asked why the car industry did not wanted to use his designs, Jaray answered: “Sie wollten sich nicht festlegen.” The industry preferred to wait until the patents expired.111 Macauly comes to the
107 Section 4888 of the 1878 Revised Statutes, as amended by Act May 23, 1930, 35 U.S.C.A. § 33. See also W.R. Woodward, ‘Definiteness and Particularity in Patent Claims’, Michigan Law Review, Vol. 46, No. 6 (Apr., 1948), p. 755–786. 108 The Court of Customs and Patent Appeals did not find the Breer claims in the Jaray patent, though Breer’s appeal was rejected. 109 ‘Haben Sie jemals einen Anwalt gehabt? Oh ja, aber er hat nie etwas hereingebracht’ Jaray in an interview of Jerry Sloniger in St. Gallen on June 14, 1974, Jaray archives at the ETH Zurich Research Collection. 110 Jaray in an interview with Sloniger in St. Gallen on June 14, 1974, Jaray archives at the ETH Zurich Research Collection. 111 ‘Die paar Jahre werden auch noch durchgehen, bis sie abgelaufen sind.’ Jaray in an interview with J. Sloniger in St. Gallen on June 14, 1974.
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conclusion that a “law suit may settle a particular dispute, but such an action often results in a ‘divorce’ ending the ‘marriage’ between the two businesses”.112 Jaray’s patents were providing little gain, the patents even hindered his work. Taking into account the huge success and the dozens of variations of the streamlined die cast toys, maybe an better source of income would have been claiming the copyright on the miniature cars modeled after his designs.
112 S. Macaulay, ‘Non-Contractual Relations in Business: A Preliminary Study’, American Sociological Review, Vol. 28, No. 1 (Feb., 1963), p. 55–67, here p. 65.
Christoph Sorge
Adversus Mediatores. Wenzel Goldbaums Kampf für ein Kernurheberrecht
I.
Schöpfung und Leistung
Die Geschichte des Urheberrechts ist auch eine Geschichte wundersamer Rechtevermehrung. In unmittelbarer Nachbarschaft zum Stammrecht, das den Schutz von „Werken der Literatur, Wissenschaft und Kunst“ bezweckt, siedelten sich im Laufe der Zeit weitere Schutzrechte an, die das auf den geistigen Schöpfer1 bezogene System nicht nur unerheblich irritierten. Teils ähnlich komfortabel ausgestaltet wie das subjektive Urheberrecht schützen diese Rechte vornehmlich unternehmerische, von einem Werk abhängige Kulturleistungen. Inzwischen sind auch werkunabhängige Leistungsschutzrechte hinzugekommen, sodass jetzt etwa Licht- und Laufbilder, Tonträger, Datenbanken, Funksendungen und jüngst auch Presseveröffentlichungen unter einem Dach mit dem Kernurheberrecht im Sinne von §§ 1, 2, 11 UrhG vereinigt sind.2
1.
Entgrenzung und Gabelung des Urheberrechts
Der seit Beginn des 20. Jahrhunderts immer schneller abrollende Reformprozess in Richtung Leistungsschutz hat dabei nicht nur tatbestandliche „Hybriden auf dem Grenzgebiet zwischen Urheberrecht und gewerblichem Rechtsschutz“3 geschaffen, sondern auch zu einer Gabelung der Urheberrechtsidee geführt. Ursprünglich schützte das Urheberrechtsgesetz nur das „Werk als Ausdrucksform
1 Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird allein das generische Maskulinum verwendet. 2 Teilweise mit eigenen Schutzrechte-Hierarchien: Datenbanken z. B. können entweder nach § 4 UrhG Werkschutz genießen und den Schöpfer mit Rechten ausstatten oder im Kleid eines verwandten Schutzrechts nach § 87a–87e UrhG auftauchen und (nur) den Rechtskreis des Herstellers erweitern. Dasselbe gilt für Lichtbilder und Presseerzeugnisse. 3 So der Titel des Generalberichts von Herman Cohen Jehoram, damaliger Vizepräsident der ALAI; übers. u. abgedr. in: GRUR Int 1991, 687–696.
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des individuellen Geistes“4, und zwar ungeachtet einer ökonomischen Nutzbarmachung. Das Werk wurde als Endprodukt eines Schöpfungsvorgangs angesehen, bei dem sich der Geist selbst verwirklicht, oder – pragmatischer mit Goldbaum umschrieben – wodurch sich Gedanken individuell ausdrücken, um als Rechtsgut anerkannt zu werden.5 Eine ‚gewerbliche Entgrenzung‘ und schließlich auch eine Gabelung des Kernurheberrechts setzte erstmals während des Wirtschaftswunders in den 1950er-Jahren ein. Zwar hatte der deutsche Gesetzgeber bereits 1910 im Anschluss an die Berliner Revisionskonferenz der Berner Union mit einer ‚Fiktion‘ in § 2 Abs. 2 LUG den Auftakt für industriellen Schutz gegeben. Heftig in Bewegung geriet das gesamte Urheberrechtsystem aber erst in der Nachkriegszeit, angestoßen von einem internationalen Interessengeflecht aus Musikindustrie, Bühnenkünstlern und Lohnarbeitern. Stand der Leistungsschutz 1951 mit dem Rom-Entwurf schon ante portas von LUG und KUG, so bildeten die unzähligen Folgekonferenzen und -entwürfe viele Gelegenheiten, sich publizistisch mit dem Thema zu beschäftigen. Allmählich entwickelten sich die ‚Nachbarrechte‘ zum Lieblingskind von Professoren und Doktoranden, das forcierte Modethema beherrschte die Fachöffentlichkeit. In der Folgezeit bis zum Inkrafttreten des Urheberrechtsgesetzes 1966 brachen dann regelrechte Federkriege aus. Obwohl die herrschende Meinung im Urheberrecht einer Kodifizierung des Leistungsschutzes skeptisch gegenüberstand, suchte man überwiegend nach Kompromissformeln, da die neuen Schutzrechte auch ausübenden Künstlern, die (häufig) schöpferisch tätig waren, zugutekommen sollten. Eine ältere Generation von Kernurheberrechtlern, die mit einem Bein noch in der Weimarer Republik stand, verwarf dagegen das Leistungsschutzrecht zumeist in Gänze und wies jegliche Reformvorschläge als systemfremd ab. Für sie bedeutete der Aufstieg des Leistungsschutzes die geöffnete Büchse der Pandora – ein gewerbliches Gespenst, das in ganz Europa umging.
2.
Ein Urheberrechtler alten Schlags
Gewidmet ist der Beitrag Wenzel Goldbaum (1885–1960), einem der prominentesten Gelehrten aus dem Kreis dieser ‚letzten Kernurheberrechtler‘, geschult noch am kaiserzeitlichen LUG und KUG. Im Mittelpunkt steht seine 1957 im Franz Vahlen Verlag publizierte Streitschrift „Schöpfung oder Leistung?“. Goldbaums 4 Hier in ‚klassisch-idealistischer‘ Definition auf Grundlage von Nicolai Hartmanns ontologischer Wende von Hubmann, Urheber- und Verlagsrecht, 1. Aufl. 1959, S. 32 u. 27–31; vgl. auch ders., Das Recht des schöpferischen Geistes, 1954, S. 11–30. 5 Goldbaum, Urheberrecht und Urhebervertragsrecht, 3. Aufl. 1961, zu § 1 u. §§ 1, 2, 3, 4, 15a KUG Nr.
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Schrift bildete nicht nur einen scharfen Angriff auf die Reformbewegung und eine engagierte Verteidigung des freien Schöpfers, sondern sie ist ebenso ein heute längst vergriffenes, vergessenes und kaum noch beachtetes Dokument der Zeitgeschichte. Obwohl die Geschichte der Leistungsschutzrechte in der Literatur gut aufgearbeitet ist6 und besonders im Bereich der ausübenden Künstler gewichtige Studien von Michael Grünberger und Simon Apel vorliegen,7 erscheint es lohnenswert, sich den urheberrechtlichen Diskurs der 1950er-Jahre erneut vor Augen zu führen. Denn erst durch die Brille von Goldbaums Streitschrift werden – abseits von dogmatischen Streitigkeiten und politischen Grabenkämpfen – auch persönliche Facetten und wissenschaftliche Netzwerke sichtbar, die das Diskursfeld von Urheberrecht und Leistungsschutz ebenso prägten wie die großen Bühnen der diplomatischen Konferenzen. Darüber hinaus verweist Goldbaums Kernurheberrechtslehre auf einen höchst aktuellen Aspekt, der am Schluss des Beitrags näher beleuchtet wird.8 Denn die Ausweitung von quasi-urheberrechtlichen Schutzrechten scheint heute an einem Wendepunkt angelangt zu sein. Wurden die Schutzrechte ursprünglich und mehrheitlich von zentralisierten Werkmittlern in Film, Radio und Fernsehen in Anspruch genommen, so sind inzwischen ganz andere technologische Mittler aufgetreten, die einen solchen Schutz gar nicht mehr benötigen. Im Unterschied zu Plattformen und sonstigen digitalen Diensteanbietern beruhen die jüngsten ‚technologischen Intermediäre‘ auf dem Konzept verteilter Datenbanken und Peer-to-Peer-Netzwerken, in denen die Nutzer selbstverwaltete Applikationen betreiben. Hier macht sich nicht nur ein technologischer, sondern auch ein funktionaler Wandel bemerkbar. Stehen herkömmliche Filesharing-Systeme in Verruf, Computer- und Internetkriminalität zu fördern und Urheberrechtsverletzungen zu unterstützen,9 so gibt es neuerdings urheberrechtsfreundliche Alternativen wie z. B. in der Filmbranche. Mit ‚Mikrolizenzierungen‘ auf Blockchainbasis werden hier nicht nur legale, sondern auch vielversprechende Lö6 Vgl. nur Davies, ZGE 9 (2017), 125–134; Schmieder, Das Recht des Werkmittlers, 1963, S. 13–23, 28f., 35–38,46–51; Ulmer, Der Rechtsschutz der ausübenden Künstler, der Hersteller von Tonträger und der Sendegesellschaften, 1957; ders., GRUR Ausl 1961, 569–594, 569–574; Möhring, Die internationale Regelung des Rechts der ausübenden Künstler und anderer sogenannter Nachbarrechte, 1958, S. 56–160 (einschl. Materialien); Runge, Urheber- und Verlagsrecht, 1. Lfg., 1948, S. 340–348. 7 Grünberger, Das Interpretenrecht, 2006, S. 7–37; ders., in: Schricker/Loewenheim (Hg.), Urheberrecht, 6. Aufl. 2020, Vorbem. §§ 73–84 Rn. 12–21, teilw. rev. im Anschluss an Apel, Der ausübende Musiker im Recht Deutschlands und der USA, 2011, insb. S. 110–132, 153–181; ders., ZGE 4 (2012), 1–36, insb. 13–20, 22–25, 31–33. 8 Siehe Abschnitt V. bei Fn. 199. 9 Vgl. nur die Rspr. zur öffentlichen Zugänglichmachung (§ 19a UrhG) im Filesharing-System bei Stollwerck, in: Ahlberg/Götting u. a. (Hg.), BeckOK Urheberrecht, Stand 15. 1. 2022, Rn. 77; Ungern-Sternberg, GRUR 2022, 3–18, 9f.
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sungen für die arbeitsteilige und immer komplexer werdende Produktion und Verwertung angeboten.10 Durch ein solches ‚unvermitteltes‘ Netzwerk gelangt zugleich der soloselbständige Schöpfer und die auf der Idee der freien Berufe fußende Kreativwirtschaft wieder in den Fokus. Solche Perspektiven standen Goldbaum freilich nicht zur Verfügung. Seine Streitschrift eröffnete er noch mit dem Fanal „Der erste Urheberrechtler: Rubens“ und zitierte ausgiebig aus einem Vortrag von 1615, den der geschäftstüchtige Barockmaler vor der Antwerpener Lukasgilde hielt.11 Unter dem Leitmotto Rubens’, dass „der Gedanke […] ebenso Privateigentum [ist] wie die Goldkette, die einer um den Hals trägt“, stand auch Goldbaums Schrift.12 Heute wissen wir, dass der zunftbefreite, vom heroischen Humanismus geprägte Hofmaler Rubens vielleicht geistig, aber wohl kaum ‚betriebswirtschaftlich‘ als Schutzpatron aller soloselbständigen Schöpfer gelten kann.13 Um Großaufträge oder etwa Triptychon-Bestellungen in seiner Werkstatt erfüllen zu können, beschäftigte er ein ganzes Heer von Hilfsmalern, die seine Alleinurheberschaft zumindest bei den nicht angeleiteten Werken in Frage stellen können.14
3.
Fortgang des Beitrags
Nach einer werkbiographischen Einführung (II.) gibt der Beitrag eine Tour d’Horizon über den Aufstieg des Leistungsschutzrechts im 20. Jahrhundert (III.). Aus dem Blickwinkel von Goldbaum werden hier neben den wichtigsten Stationen zum Leistungsschutzrecht vor allem die teils erbitterten Kämpfe geschildert, die auf den Konferenzen, in Fachzeitschriften und vor Gericht geführt wurden. Im folgenden Abschnitt (IV.) widmet sich der Beitrag sowohl den inhaltlichen Schwerpunkten als auch den stilistischen Besonderheiten der Streitschrift. Goldbaums Weggefährten wie Erich Schulze und Gegner wie Hubmann und Troller kommen dabei ebenso zur Sprache wie die aus seiner Anwaltspraxis entspringende Motivation zur Verteidigung des Kernurheberrechts einschließlich des rechtstheoretischen Hintergrunds. Am Ende des Beitrags wird ein 10 Vgl. etwa die vom Produzenten Hendrik Frey ins Leben gerufene Idee zu einer auf Blockchain betriebenen Handelsplattform für Filmlizenzen und sonstige Auswertungsrechte (https:// www.swisscom.ch/de/about/news/aktuell/filmrechte-handel-mit-blockchain.html; abger. 2. 1. 2022). Weitere Beispiele unten bei Fn. 209. 11 Goldbaum, Schöpfung oder Leistung, 1957, S. 2–10. 12 So die Widmung bei Goldbaum, Schöpfung (Fn. 11), S. 2. 13 Vgl. eingehend zu den Produktionsbedingungen in der Werkstatt und zu Rubens Vermarktungsstrategien: Büttner, Herr P.P. Rubens, 2006, S. 109–121, 128–148. 14 Zu dieser Frage siehe Kirchmaier, KuR 6 (2010), 175–179, 176–179. Zu ‚schöngefärbt‘ dagegen Schlechtriem, UFITA 7 (1934), 147–178, 174: „Die fremden Hände schafften nach seinem Willen, sie sollten und konnten nichts Eigenes bewirken.“
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Ausblick auf das Leistungsschutzrecht des 21. Jahrhunderts gewagt, auch hier ausgehend von Goldbaums Sehepunkt auf den freien Schöpfer (V.). Obwohl Goldbaum als Experte des Filmrechts in die Annalen der Urheberrechtslehre eingegangen ist, bleibt diese Materie aus zwei Gründen ausgeklammert. Zum einen tendierte das zwischen Urheberrecht und Leistungsschutz changierende Filmrecht von Anfang an mehr zum Gesamtkunstwerk als zu den gewerblichen Schutzrechten. Zum anderen bedarf es einer gesonderten Studie, um die zum Teil widersprüchlichen Ausführungen von Goldbaum in Bezug auf das Filmrecht angemessen zu würdigen.15
II.
Der „Kämpfer Goldbaum wird schwerlich zu ersetzen sein“
Als Wenzel Goldbaum16 an einem Sonntag, es war der 15. Mai 1960, im tropischen Lima nach einem Herzanfall nicht mehr aufwachte, ging sicherlich ein Raunen durch die internationale Szene des Urheberrechts. Die dreiseitige Todesanzeige im 31. Band der UFITA, verfasst von seinem Freund Erich Schulze, Mitstreiter bei der GEMA und Mitherausgeber der berühmten Entscheidungssammlung zum Urheberrecht, verleiht den Emotionen treffenden Ausdruck: „Wenn gesagt wird, Goldbaum habe für das Urheberrecht gelebt, so ist dies nicht richtig; er hat für das Urheberrecht gestritten.“ Der „Kämpfer Goldbaum wird schwerlich zu ersetzen sein.“17 Der 1881 in Łódz´ geborene Goldbaum, Sohn eines in Deutschland studierten jüdischen Arztes mit enormer Sprachbegabung, verkörperte Eigenschaften, die heutzutage nur noch selten in einer Person vereinigt sind: Intellektueller sans phrase, Anwalt aus Berufung, Rechtsgelehrter von höchstem Rang, leidenschaftlicher Verbandssyndikus sowie Librettist und Literat im Sartre’schen Sinn. Er pflegte das ‚eingreifende Schreiben‘18 und vermochte, selbst sperrige Materien
15 Vgl. nur die konträr zum Leitbild des freien Schöpfers stehende Lehre zum unternehmerischen „Recht an der immateriellen Kombinationsidee“. Goldbaum, Urheberrecht und Urhebervertragsrecht, 2. Aufl. 1927, zu § 1 Nr. 2, zu § 2 Nr. 3f.; ders., Tonfilmrecht, 1929, S. 34–49, insb. 47. 16 Zu Goldbaum vgl. Wießner/Apel, ZGE 13 (2021), 333–339; dies., Wenzel Goldbaum (1885– 1960), in: Apel/Pahlow u. a. (Hg.), Biographisches Handbuch des Geistigen Eigentums, 2017, S. 119–125 – jeweils mit umfangreicher Bibliographie. 17 E.Schulze, UFITA 31 (1960), 257–259, 257. 18 Performanz durch Sprache und Sprache als Aufruf zum Verändern: Urheberrecht soll nicht bloß erläutert und erklärt, sondern dem Fachpublikum als Aufgabe anheimgestellt werden. Exemplarisch bei Goldbaum, Verfall und Auflösung der sogenannten Berner Union […], 1959, S. 75 Note 14: „Ohne Kenntnis der wirtschaftlichen Belange über die zugehörigen rechtlichen Probleme schreiben, heißt verantwortungslos handeln.“ [Hervorheb. v. Verf.]. Vgl. zu diesem Stil Sartre, Was ist Literatur, 1958 (frz. 1948), S. 17f., 31–33.
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mit formvollendeter Feder zu bändigen. Eine „acuité de sa pensée“ und „la saveur de son style“ sprachen aus seinen Beiträgen und Büchern.19 An erster Stelle war Goldbaum jedoch Urheberrechtler durch und durch.20 Sein Werk enthält die Weisheit des Geistigen Eigentums aus drei Zeitaltern – Kaiserreich, Weimarer Republik und Bundesrepublik. Der traurige Gedankenstrich zwischen Berliner Bühnenkultur und Exil in Ekuador, zwischen der Flucht vor der ‚Säuberung des Schrifttums‘ und der Verleihung der Richard-StraußMedaille konnte weder dem Werk noch der Person Abbruch tun.21 Seine lebenslange Aufgabe sah Goldbaum – neben einem starken Sozialengagement22 – in einer ‚neuhumanistischen‘ Bildungsoffensive für die Urheberrechtslehre. Nicht Paukerei, nicht Wissen, sondern aneignendes Studium führte nach Goldbaum zum Erfolg. So heißt es in der Vorrede zur zweiten Auflage seines Urheberrechtskommentars: „Allerdings hatte ich auch dieses Mal nicht den Ehrgeiz, ein juristisches Adreßbuch zu schreiben. Das Urheberrecht will gelernt und studiert sein: es ist viel zu schwierig und heute in der Periode einer entscheidenden Wendung ins Materielle – Film, Radio, Ferndruck – schlechterdings chaotisch. Auf andern Gebieten mögen Werke ihr Lebensrecht […] lediglich aus der übersichtlichen Anordnung, die den Suchenden schnell finden läßt, ableiten. Auf unserm Gebiet ist das ausgeschlossen. Der Richter und der Anwalt, die dieses Recht nicht gründlich studiert haben, sind nicht in der Lage, ihre Aufgabe zu erfüllen.“23
19 n.n., [Buchanzeige:] Goldbaum, Schöpfung oder Leistung?, in: Le Droit d’Auteur, Juli 1958, 116, weiter: „Goethe disait à peu près: vert est l’arbre de la vie, grises sont les théories. Sans doute, mais dans les livres des M. Goldbaum rien ne paraît gris.“ 20 Verheiratet war Goldbaum mit Marie Alexander-Katz, der Tochter des besonders im Patentrecht reüssierenden Paul Alexander-Katz, Rechtsprofessor an der Königlich Technischen Hochschule zu Berlin. 21 Die NS-Diktatur hatte die Familie Goldbaum über Paris nach Lima vertrieben. Schicksal und Lebenskunst ermöglichten es dem vermögenslosen Vater, mit seinen Söhnen eine Versicherungsgesellschaft zu gründen. Neben Redakteurs- und Übersetzungsarbeiten konnte Goldbaum so zumindest die Familienexistenz sichern (vgl. Wießner/Apel, ZGE 13 [2021], 333, 335). Ein Teil der fünf Kinder ging ab Paris andere Wege. Sein ältester Sohn Heinz emigrierte nach Palästina, der zweitgeborene Peter, später in der BRD erfolgreicher Drehbuchautor und Theateragent, floh über England in die Vereinigten Staaten. Vgl. H. Goldbaum, Die Geschichte der Familie Goldbaum, URL: https://www.oocities.org/goldbaum1/german.htm [archiviert; zuletzt abger. 5. 10. 2021]. 22 Dieser Charakterzug drückte sich nicht nur in seiner Rolle als Verbandssyndikus, sondern auch in seinen Praxis-Kommentaren aus, wenn er etwa beim UWG auch die „unbedeutenden Kaufleute“ adressiert und daher „Urteile so an[]führt, daß nicht nur die den Juristen verständlichen Kernsätze wiedergegeben werden, sondern auch die Tatbestände […], daß der Laie den Fall kennen lernt.“ Goldbaum, Gesetz gegen den Unlauteren Wettbewerb, 1926, Vorwort. 23 Goldbaum, Urheberrecht2 (Fn. 15), S. 5f.
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In der aktuellen Literatur wird Goldbaum häufig mit dem „Grundsatz“ der „Zweckübertragung“24 in Verbindung gebracht, eine von ihm zu Beginn der 20erJahre entwickelte und nunmehr in § 31 Abs. 5 UrhG verankerte Auslegungsregel für Nutzungsverträge.25 Aber schon ein flüchtiger Blick in das Schrifttum reicht aus, um zu erkennen, dass der ursprünglich auf Theater- und Tonfilmrecht spezialisierte Berliner Anwalt und Sozius von Gerhard Jacoby ein wesentlich breiteres Fundament vorzuweisen hat.26 Goldbaums bekannte Auslegungsregel, damals in den ‚Goldenen Zwanzigern‘ statuiert gegen den Verwertungshunger der Filmindustrie und gegen ausbeuterische Verlagsverträge,27 ist nur die Spitze des Eisbergs, keinesfalls die Krönung seines Schaffens. Auf die Marburger Dissertation zur Gefährdungshaftung, ein pandektistisches Gesellenstück mit reichlich Digestenzierrat, folgte bereits vor dem Ersten Weltkrieg empirisch gesättigte Praktikerliteratur zum Theater- und Theatervertragsrecht. In der Weimarer Republik erschienen neben Schriften zum Filmrecht auch Kommentare im „Paragraphengestrüpp“28 des Arbeits-, Wirtschafts- und sonstigen Regulierungsrechts. Dabei pflegte er eine kritische Seinsanalyse und berücksichtigte Tatsachen auch normativ,29 ähnlich wie es im jungen Arbeitsrecht üblich war: „Denn nicht alles geltende Recht ist wirksam und nicht alles wirksame Recht ist ausgesprochen“30. Mit Dernburg vertrat Goldbaum dagegen strikt die Ansicht, dass das Urheberrecht „kein Sonderrecht“ wie das
24 Zuletzt Goldbaum, Urheberrecht3 (Fn. 5), zu § 8 LUG/§ 10 KUG, S. 73–75. Heute semantisch korrekter „Übertragungszwecktheorie“ genannt, vgl. nur Rehbinder/Peukert, Urheberrecht, 18. Aufl. 2018, Rn. 915. 25 Die man in Anlehnung an RGZ, 118, 282–288, 286 – Musikantenmädel, auf die einfache Formel bringen kann: Einräumungen von Nutzungsrechten verstehen sich nicht von selbst. Vgl. dazu Wandtke/Ostendorff, Urheberrecht, 8. Aufl. 2021, § 5 Rn. 35–42; Rehbinder/Peukert, Urheberrecht (Fn. 24), Rn. 919 (speziell zum Leistungsschutz); eingehend: Burda, Die Zweckbindung im Urhebervertragsrecht, 2020, S. 9–21; Kraus, Die Zweckübertragungslehre im Urheberrecht, 2020, S. 57–66. 26 Schicksalshaft befand sich das Anwaltsbüro von Goldbaum und Jacoby in der Wilhelmstraße, wo auch die ‚Genossenschaft Deutscher Tonsetzer‘ ansässig war und die nach der Machtergreifung 1933 zu einer ‚Allee des Unrechts‘ wurde, als sich das Kabinett Hitler dort ansiedelte. 27 Motive bei Goldbaum, Urheberrecht3 (Fn. 5), S. 74. 28 Goldbaum, Devisenverordnung und Devisengesetz, 1922, Vorwort. 29 Die Kritik der Tatsachen unterscheidet Goldbaum von der im Verlags- und Urheberrecht seit jeher gepflegten Praxisaffinität. Dies bringt ihn zugleich in die Nähe zu Johann Stephan Pütter (1725–1807), dem großen Göttinger Reichspublizisten und ‚Pragmatisten‘. Auch Pütter wusste, usus modernus, Empirie und Kritik meisterhaft miteinander zu kombinieren. Vgl. dazu Sorge, Die „selbstredende Natur der Sache“, in: Meder (Hg.), Geschichte und Zukunft des Urheberrechts, 2018, S. 147–177. 30 So Sinzheimer, Die soziologische Methode in der Privatrechtswissenschaft, Vortrag 1909, erneut in: Kahn-Freund/Ramm (Hg.), Hugo Sinzheimer. Gesammelte Aufsätze und Reden II, 1976, S. 3–23, 5 [i.O. hervorgehob.]. Vgl. zu der von Philipp Lotmar maßgeblich initiierten soziologischen Richtung: Dubischar, RdA 1990, 83–97, 86–89.
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Arbeitsrecht sei, sondern ein normativ Allgemeines bilde, da es allen Bürgern und nicht nur einer Berufsgruppe offen stünde.31 Dass dieses normativ Allgemeine, kodifiziert im LUG und KUG, dennoch einen ganz bestimmten Realtypus – einen Beruf und eine Berufung – zu erfassen suchte, entging freilich auch Goldbaum nicht.32 Ganz im Gegenteil vertrat er die Auffassung, dass das Urheberrecht zum „Schutz der Personen“ geschaffen wurde und sich nicht im „Werkschutz“ erschöpfe.33 Besonders seine Verbandsbroschüren, die er in den ersten Jahren der Weimarer Republik im Namen aller Bühnenschriftsteller verfasste, geben davon reichlich Zeugnis.34 Im Zuge der Gewerkschaftsbewegungen rief auch Goldbaum zu einem Wirtschaftskampf auf und verlangte von den geistigen Arbeitern organisierte „Selbsthilfe“.35 Dichter und Komponisten sollten Seite an Seite mit den Handarbeitern einen „Vortrupp, die Pionierkompagnie der freischaffenden geistigen Arbeiter“36 bilden, um neue Technologien zu umarmen, ausbeuterischen Leistungsmittlern das Handwerk zu legen und nicht zuletzt um gegenüber der amerikanischen Konkurrenz die große Aufholjagd zu starten.37 Hinter allen Agitationen machte sich eine progressive, aber stets ausgewogene Tendenz bemerkbar: „‚Neue Zeiten, neue Lieder‘, singt Heinrich Heine“ – dies war Goldbaums höchstpersönlicher Appell an Politik, Wissenschaft, Lehre und Universität.38 Während der gesamten Zeit bis zur Flucht vor den NS-Schergen schrieb er auf seinem Stammgebiet etliche Beiträge für GRUR, ‚Juristische Wochenschrift‘, ‚Markenschutz und Wettbewerb‘ und andere Fachzeitschriften, stets mit scharfem Blick auf urheberrechtliche Randbereiche und auf gesellschaftliche Verhältnisse.39 Ein feines Sensorium für die Abschichtung des Kernurheberrechts 31 Goldbaum, GRUR 1926, 297–303, 297, mit Zitat von Dernburg/Kohler, Urheber-, Patent-, Zeichenrecht, Versicherungsrecht und Rechtsverfolgung, 1910, S. 3, allerdings geflissentlich unter Auslassung des Folgeabsatzes: „So hätte es [das Urheberrecht] seinen Platz im deutschen Bürgerlichen Gesetzbuch beanspruchen und finden können.“ Das punktuelle Zitat bei Goldbaum verweist zugleich auf seine ‚Berührungsängste‘ mit den Arbeitsrechtlern der neueren Zeit, vgl. Sorge, Abhängige Autoren, 2020, S. 71–80. 32 Sehr deutlich spricht Goldbaum, Verfall und Auflösung (Fn. 18), S. 82, auch später noch von der „Aufgabe, eine bestimmte soziale Gruppe arbeitender Menschen zu schützen […].“ 33 Goldbaum, Artikel 158. Geistiges Eigentum, in: H.C.Nipperdey (Hg.), Die Grundrechte und Grundpflichten der Reichsverfassung III, 1930, S. 374–384, 375. 34 Vgl. nur Goldbaum, Die gefährliche Spannung. Ein Beitrag zur Revolutionierung der freien Geistesarbeiter, 1920, 22 S.; ders., Die deutschen Urheber, ihre Not – ihre Rettung, 1920, 20 S. 35 Goldbaum, Die gefährliche Spannung (Fn. 34), S. 13. 36 Goldbaum, Die gefährliche Spannung (Fn. 34), S. 11. 37 Gegen den „schädigenden Wettbewerb der ausländischen Geistesarbeiter“ erwartete Goldbaum, Die gefährliche Spannung (Fn. 34), S. 20–22, indes weder Hilfe vom Staat noch von den Verbänden, sondern das Publikum sollte hier Partei ergreifen. 38 So im Schlusssatz seiner kritischen Auseinandersetzung mit dem Stand von „Theorie und Praxis des Urheberrechtes“, in: GRUR 1923, 182–187, 187 [re.Sp.]. 39 Vgl. die Bibliographie in: UFITA 31 (1960), 375–384, insb. 381–384.
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von benachbarten und übergeordneten Materien, z. B. Arbeits- und Wettbewerbsrecht oder allgemeines Privatrecht, können als sein Markenzeichen gelten.40 Goldbaums zuerst 1922, dann in zwei weiteren Auflagen erschienener Kommentar zum „Urheberrecht und Urhebervertragsrecht“ gelangte auf diese Weise schnell in den Rang eines Standardwerks. Nach dem Zweiten Weltkrieg widmete sich Goldbaum neben dem lateinamerikanischen verstärkt dem internationalen Urheberrecht, das er mit rechtsvergleichenden Länderberichten unterfütterte. In den 1950er-Jahren bis zu seinem Ableben lag sein Schwerpunkt auf der Debatte zum Leistungsschutz. Die auch im Leistungsschutz oft bemühte Metapher des ‚Kampfes‘41 fügt sich zu Goldbaum passgenau: Der Kampf für ein Kernurheberrecht prägte nicht nur sein ganzes Juristenleben, sondern kämpferisch zeigte er sich auch in seinen Schriften ‚gegen den Strom‘. In der hier im Fokus stehenden Abrechnung „Schöpfung oder Leistung?“ von 1957 spiegelt sich dieser Charakterzug besonders deutlich wider. Philipp Möhring brachte damals eine Buchanzeige in der NJW. Er meinte, seinem Kollegen sei hier eine regelrechte „Philippika aus der Feder geflossen“.42 Obwohl man zwischen den Zeilen auch einige Vorbehalte Möhrings erkennt und ihm der „Anschein der Bitterkeit“ von Goldbaums Schrift wenig gefiel, lobte er des Verfassers „eigenen Stil, der übersprudelt von Leben, Temperament, Esprit und Geistesschärfe.“43
III.
Aufstieg des Leistungsschutzes im 20. Jahrhundert
Bereits im Wilhelminischen Kaiserreich führten technologische Multiplikatoren wie Schallplatte, Rundfunk und Film sowie Emanzipationsforderungen aus den freien Berufen zu einschneidenden Änderungen auf dem Gebiet des Urheberrechts.44 Doch erst die massenhafte Mediendurchdringung und die Nivellierung 40 Insbesondere die Verbindungen zum Wettbewerbsrecht hatte – von Alexander Elster abgesehen – wohl keiner so durchdrungen wie Goldbaum, ohne dabei die conditio sine qua non des Urheberrechts, die Beziehung zwischen Schöpfer und Werk, aus den Augen zu verlieren. Vgl. nur Goldbaum, GRUR 1926, 297–303, wo er durch glasklare Skizzen sowohl Riezlers ‚Privatrechtsintegration‘ als auch Elsters ‚Verwettbewerbsrechtlichung‘ des Urheberrechts widerlegt. Zuletzt sehr ausführlich ders., Urheberrecht und Urhebervertragsrecht3 (Fn. 5), Einleitung IV. 41 Aus damaliger Perspektive etwa E.E.Hirsch, Vorrede, in: Papaconstandinou, Schutz des ausübenden Künstlers, 1960, S. XVI [n.pag.]; aktuell z. B. Niggemeier, Der Kampf ums Leistungsschutzrecht hat erst begonnen, Zeit-Online v. 1. 8. 2013; URL: https://www.zeit.de/digital /internet/2013-07/leistungsschutzrecht-google-niggemeier? [zuletzt abger. 12. 12. 2021]. 42 Möhring, NJW 1959, 328. 43 Möhring, NJW 1959, 328. 44 Schon kurz nach Markteinführung des Grammophons rückte etwa das LG Berlin I 1899 das „geistige Arbeitswerk“ des Opernsängers in den Mittelpunkt; dazu Apel, ZGE 2012, 1–36, 5f.
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der geistigen Arbeiter in der Weimarer Republik45 warf in diesem Zusammenhang eine Gretchenfrage auf, die bis heute rechtspolitisch höchst umstritten bleibt: Soll das originäre Ausschließlichkeitsrecht – der Kern des ‚geistigen Eigentums‘ – auch auf solche künstlerischen oder organisatorischen Leistungen im Kultursektor ausgedehnt werden, denen kein individueller Schöpfungsakt zugrunde liegt? Adressiert waren und sind mit dieser Frage ausübende, insbesondere nachschaffende Künstler, also Schauspieler und Artisten ohne eigene Interpretationsleistung, aber auch alle gewerblichen „Werkmittler“46, z. B. Theaterbühnen, Filmunternehmen, Sendeanstalten, Tonträgerhersteller und Notensetzer. Beide Gruppen erbringen unstreitig „Werte“47 durch Kulturleistungen, die nicht ausschließlich mit gewerblichen Aspekten zu erfassen sind. Ob sie dagegen auch „Werke“ oder sonstige urheberrechtlich schützenswerte Güter erzeugen, selbst wenn ihre Leistungen nicht über Darstellung oder Vermittlung vorhandenen Kulturguts hinauskommen, ist seit der Novelle des LUG von 1910 fortwährende quaestio iuris.
1.
Die internationale Bühne von 1928 bis 1961
Dass sich im aktuellen UrhG unter der missverständlichen Rubrik „Verwandte Schutzrechte“48 ein Bündel von Leistungsschutzrechten auf dem Niveau eines ‚Quasi-Urheberrechts‘49 etablieren konnte,50 ging maßgeblich auf die zwischen
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mit Verweis auf die auszugsweise Wiedergabe bei n.n., GRUR 1900, 131f.; vgl. auch Grünberger, in: Schricker/Loewenheim, Urheberrecht, 6. Aufl. 2020, Vorbem. Rn. 13; ders., Interpretenrecht (Fn. 7), S. 7f. Genau genommen waren es die für das Urheberrecht neuartigen Gravitationszentren der „Filmindustrie in Deutschland und in der Welt“ sowie das „mächtig um sich greifende Arbeitsrecht“, so prägnant Goldbaum, Urheberrecht und Urhebervertragsrecht, 1. Aufl. 1922, Vorwort [n. pag.]. Begriffsprägend Schmieder, Das Recht des Werkmittlers, 1963, S. 3–12 et passim. Elster, Urheber- und Erfinder-, Warenzeichen- und Wettbewerbsrecht (Gewerblicher Rechtsschutz), 2. Aufl. 1928, S. 116. Der Titel von Teil 2 UrhG schreibt eine gemeinsame Abstammung vor, kann sie aber nicht voraussetzen. Denn die ‚innere Verwandtschaft‘ (Savigny) des monistisch konzipierten Urheberrechts kann lediglich zu dem Schutz des ausübenden Künstlers bestehen, nicht aber zu den rein gewerblichen Rechten etwa des Datenbankherstellers oder des Presseverlegers. Ähnlich bereits Hirsch Ballin, UFITA 18 (1954), 310–328, 315: „nicht einmal […] Wahlverwandtschaft“; E.Schulze, Recht und Unrecht, 1954, S. 55: „unter falscher Bezeichnung segelnde Rechte“. Zum Begriff: Hirsch Ballin (Fn. 48), 314; ders., Kommt Herstellern von Tonträgern ein QuasiUrheberrecht zu?, 1959 (Schriftenreihe INTERGU XII), S. 15f. et passim; Tournier, Das QuasiBearbeiterrecht im deutschen Gesetz, 1954 (Schriftenreihe INTERGU V), S. 59–72, 61 et
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1928 und 1961 ausgearbeiteten Entwürfe und Abkommen von internationalen Organisationen zu den sog. droits voisins zurück.51 Auf internationaler Bühne eröffnete die römische Revisionskonferenz von 1928 mit einem „Wunsch“ das Ringen um den Leistungsschutz. Die teilnehmenden Regierungen sollten „die Möglichkeit von Maßnahmen erwägen, die die Rechte der ausübenden Künstler schützen.“52 Dass es nur bei einem Wunsch geblieben und nicht zu einem den Leistungsschutz anerkennenden Artikel auf der Romkonferenz gekommen ist, lag nicht nur an Parteigeist und Lagerbildung, sondern auch an der schlechten Aufbereitung des geltenden Rechts in diesem Punkt.53 Ein ähnliches Echo hinterließ die heftige Diskussion über die Frage, ob in den Minimalschutz des neugefassten Art. 13 RBÜ auch gewerbliche Rechte an der Schallplatte eingehen sollen. Großbritanniens Vorschlag zugunsten eines originären Aufführungsrechts des Herstellers, der sich im Einklang mit einer gewichtigen Strömung des italienischen Urheberrechts befand,54 scheiterte am Widerstand der französischen Delegation.55 In Vorbereitung der nächsten Konferenz in Brüssel wurden die ‚erwünschten‘ Leistungsschutzrechte durch das UNIDROIT noch vor Kriegsausbruch aufgegriffen.56 Das renommierte Institut für Rechtsvergleichung veranlasste 1938 im Schweizer Samaden ein „avant-projet de convention“57 und ließ – im Einvernehmen mit dem Berner Büro – insgesamt vier Vorentwürfe58 ausarbeiten, die
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passim; Samson, GRUR 1960, 174–178, 176; vgl. ferner den Überblick bei Nipperdey, Der Leistungsschutz des ausübenden Künstlers (Schriftenreihe INTERGU X), S. 13f. Zur Frage, ob das Leistungsschutzrecht als Recht oder nur als ein Rechte bündelndes Rechtsinstitut zu erfassen, vgl. Schack, Urheber- und Urhebervertragsrecht, 10. Aufl. 2021, S. 369f. Rn. 747 mit Fn. 56 mwN. Überblicke bei Davies, ZGE 9 (2017), 125–134; Peter, UFITA 33/I (1961), 18–169, 18–21. Wunsch Nr. V. der RBÜ v. 2. Juni 1928, abgedr. in: Hoffmann, Die Berner Übereinkunft zum Schutze von Werken der Literatur und Kunst, 1935, S. 271. So im Rückblick Hoffmann, GRUR 1934, 699–706, 703 [li.Sp.]. Goldbaum war übrigens darüber pikiert, dass es die „deutsche Regierung […] nicht für nötig befunden“ hat, „den deutschen Kommentator der Berner Konvention von 1908 […] als Delegierten zuzuziehen […].“ (ders., Berner Übereinkunft zum Schutz von Werken der Literatur und Kunst, 1928, Vorwort [n.pag.]). Vgl. auch de Sanctis, UFITA 14 (1941), S. 104–116, 105–107. Siehe die Zusammenfassung bei Hoffmann, Berner Übereinkunft (Fn. 53), S. 198f., 214–216. Das Institut besaß in den 1930er-Jahren eine Art Vermittlerrolle für das bereits angespannte Verhältnis zwischen der Internationalen Arbeitsorganisation und dem Berner Büro. Aufschlussreich sind hier die Verhandlungen und Einlassungen von Ostertag, Piola Caselli und de Sanctis sowie die Studie „Droit des Artistes exécutants“, S.D.N.-U.D.P. 1935 – études IX, Doc. 2. Alle Dokumente verfügbar unter https://www.unidroit.org/studies/intellectual-prope rty/#1622917470985-cb0f1379-14a5 [zuletzt abger. 7.12.21]. Der sperrige Gesamttitel lautet: „Conventions connexes à la Convention de Berne pour la protection des œuvres littéraires et artistiques“. Publiziert 1939 jeweils zu einem Gebiet der droit voisins: Künstler und Schallplattenhersteller, Rundfunk, Presse und bildende Künste; abgedr. in: UFITA 14 (1941), S. 57–62. Die Entwürfe
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noch sehr zurückhaltend im Minimalschutz waren und vieles der Landesgesetzgebung vorbehalten wollten.59 Zum ersten Mal regelten diese Sonderkonventionen, die „unbeschadet der Rechte des Urhebers“60 ein Opt-In–Modell für Verbandsländer zur Verfügung stellten, selbständige Leistungsschutzrechte mit Abwehrbefugnissen und gesetzlichen Entgeltansprüchen.61 In den 1950er-Jahren, nach kurzer Unterbrechung durch den Zweiten Weltkrieg, nahm der Aufstieg des immaterialgüterrechtlichen Leistungsschutzes an Fahrt auf. Zahlreiche Expertengremien und NGOs koalierten, zahlreiche Entwürfe und Gegenentwürfe konkurrierten in einem rasanten Wettlauf um die ‚besten‘ Schutzrechte für die Werkmittler. Erneut gaben hier die ‚Wünsche‘ des Berner Verbands den Startschuss, diesmal ausgehend von der ersten Nachkriegskonferenz in Brüssel 1948.62 Während der kurz darauf beschlossene RomEntwurf 1951 sehr großzügig subjektive Rechte kodifizierte,63 kehrten die übrigen Projekte wieder zu einem Minimalstandard zurück und überließen das meiste den Kontraktstaaten.64 Einen vorläufigen Schlussstein bildete schließlich das Rom-Abkommen von 1961.65
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basierten auf dem „Avant-projet d’arrangement connexe à la Convention de Berne revisée et concernant la protection de certains droit voisins du droit d’auteur“, ein von Fritz Ostertag im Namen des Berner Büros ebenfalls 1939 veröffentlichter Vorentwurf, abgedr. in: Le Droit d’Auteur, Juni 1939, 71–72. Dadurch kam der rechtsdogmatische Diskurs erst richtig in Schwung, vgl. nur Hoffmann, UFITA 12 (1939), 97–114, inbes. 102–110. So etwa Artt. 5 u. 7 des gemeinsamen Vorentwurfs für ausübende Künstler und Schallplattenhersteller. Dagegen wurden die weitergehenden Artt. 3–5 des ‚Avant-projet‘ von Ostertag (Fn. 58) aufgrund schwammiger Ausdrucksweise vom UNIDROIT zurückgewiesen, vgl. Caselli/de Sanctis, Observations […] sur l’Avant-projet […], S.D.N.-U.D.P. 1939 – Études V, Droit intellectuels – Doc. 18 (siehe https://www.unidroit.org/studies/intellectual-propert y/#1622917470985-cb0f1379-14a5 [zuletzt abger. 7.12.21]). Ein umfängliches Verwertungsrecht war in den Vorentwürfen nicht verankert. Einige beäugten den Vorstoß jedoch skeptisch und sahen die Gefahr eines leistungsschutzrechtlichen Dammbruchs; vgl. nur A.Müller, UFITA 14 (1941), 89–98, 97. Der abgelehnte Art. 14quater wurde für das Brüsseler Programm nur stiefmütterlich vorbereitet und – abgesehen vom britischen Engagement – von den Delegierten mit Geringschätzung übergangen. Vgl. dazu Baum, GRUR 1949, 1–44, 23. Vgl. Artt. 4, 6, 8 Rom-Entwurf 1951, abgedr. in: UFITA 18 (1954), 77–83. Peter, Der Haager Entwurf (UFITA-Schriftenreihe 19), 1960, S. 13. Der Genf-Entwurf wies die höchste Regelungsdichte auf, da hier unter der Leitung der Internationalen Arbeitsorganisation etliche Kompromisse in Artikel gegossen wurden, während der Haager-Entwurf eine Synthese mit dem Rom-Entwurf versuchte; vgl. Ulmer, GRUR Ausl 1961, 569–593, 570. Insbesondere von französischer und italienischer Seite wurden Bedenken geäußert, dass die Urheber zu kurz kommen könnten, wenn Leistungsschutzberechtigte mit einem Ausschließlichkeitsrecht in die Lage versetzt werden, die Benutzung ihrer Leistung zum Zwecke der Wiedergabe zu untersagen. Im Ergebnis mussten aber nur die ausübenden Künstler Abschläge hinnehmen und auf ein vollwertiges Immaterialgüterrecht beim Mindestschutz verzichten. Dazu Ulmer, GRUR Ausl 1961, 569–594, 575, 581.
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In der Literatur wird häufig ein ‚römischer‘ Bogen gespannt mit dem Entwurf als „turning point“66 und dem zehn Jahre später geschlossenen Vertrag als „das erste und wichtigste Übereinkommen auf dem Gebiet des internationalen Leistungsschutzrechts“67. In einer Perspektive post festum mit Blick auf das normative Ergebnis ist diese Bewertung sicherlich zutreffend. Zeitgenössisch beherrschten aber das internationale Leistungsschutzrecht auch andere Vereinbarungen, namentlich das Welturheberrechtsabkommen von 1952,68 der GenfEntwurf von 1956 (ILO-Novelle)69 oder der Monaco-Entwurf von 1957.70 Die Berner Union dagegen – bis zum Zweiten Weltkrieg unangefochtene Speerspitze im Schutz der Kreativgüter – wurde beim Leistungsschutzrecht zunehmend in eine Zentrifuge getrieben.71 Neue transnationale Intermediäre wie die UNESCO, der Europarat und industrielle Gruppen, aber auch die neue Großmacht der Vereinigten Staaten von Amerika dominierten in den 50er-Jahren nicht nur die Expertengremien und damit den Fortgang der Nachbarrechte.72 An die Stelle der einst mächtigen Schaltzentrale der Berner Union trat nunmehr immer häufiger das Berner „Bureau“ in Erscheinung – eine geschäftige Koordinierungsstelle ohne Mandat, und, wie es schien, ohne Richtung und ohne Ziel.73 So schrieb 1955 ein enttäuschter Valerio de Sanctis, dass die gegenseitige Blockadepolitik von 66 Davies, ZGE 9 (2017), 125–134, 130. 67 Schack, Urheber- und Urhebervertragsrecht10 (Fn. 50), S. 516 Rn. 1074. Ähnlich Grünberger, Interpretenrecht (Fn. 7), S. 15 Rn. 41. 68 Die „Universal Copyright Convention“ verpflichtete die Staaten in Art. 1 freilich nur dazu, den Schöpfer (und sonstigen Inhaber) von Werken der Literatur, Wissenschaft und Kunst zu schützen. Durch schwammige Konkurrenzregeln (Artt. XVII–XIX einschl. Zusatzerklärung) wurde das Abkommen dennoch zum Diskussionsstoff. 69 Abgedr. in: UFITA 24/II (1957), 372–379 [dt. v. W.Peter]; auch als Anhang A in: Entwürfe des Bundesjustizministeriums zur Urheberrechtsreform, 1959, S. 241–244, u. bei Möhring, Die internationale Regelung (Fn. 6), S. 94–108. 70 Daneben sind weitere Entwürfe und Stellungnahmen beteiligter Interessengruppen zu berücksichtigen, u. a. die 1956 gemeinsam von der ALAI und CISAC ausgearbeiteten principes inter-auteurs (abgedr. in: Le Droit d’Auteur 69 [1956], Chronique des activités internationales, S. 69–80, 71–73) oder den im selben Jahr von Arpad Bogsch erstellten Bericht der Studiengruppe des Berner Büros und der UNESCO (abgedr. in: L’artiste exécutant, Le fabricant de phonogrammes, Le radiodiffuseur, April 1956, S. 37–47 [frz.], 49–58 [engl.]). Aufschlussreich auch die Teilnehmerlisten zu vielen Kommissionen und Konferenzen bei Goldbaum, Schöpfung (Fn. 11), S. 75–83. 71 Dazu aus organisationshistorischer Sicht: Löhr, Die Globalisierung geistiger Eigentumsrechte, 2010, S. 199–211, indes die zunehmende ‚Vernetzung‘ des Berner Büros positiv hervorhebend, wodurch der gleichzeitige Bedeutungsschwund der Berner Union beim Normativen freilich zu kurz kommt. 72 Nicht zu vergessen die umtriebige Internationale Arbeitsorganisation, die seit 1926 vehement den Schutz der ausübenden Künstler vorantrieb und auch die Kritiken des Rom-Entwurfs beeinflusste. Vgl. etwa die Stellungnahme der BRD zum Vergütungsanspruch in Art. 4, abgedr. in: UFITA 18 (1954), 83–88, 86; eingehend Ulmer, GRUR Ausl 1961, 569–594, 569f.; ferner Peter, UFITA 18 (1954), 343–365, insb. 351–355. 73 Vgl. dazu unten IV. 1. c) bei Fn. 135.
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Urhebern, Angestellten, Industrie und Regierungen „eine der Grundideen [des Leistungsschutzes], nämlich die Verbindung mit Bern, die noch den Samadener Entwürfen zugrunde lag, zu Fall gebracht“ hat.74
2.
Entwicklung in Deutschland bis zum Urheberrechtsgesetz
In Deutschland entflammte die Diskussion zuerst an der novellierten Vorschrift des § 2 Abs. 2 LUG zum sog. fiktiven Bearbeiterurheberrecht, dem „Schutzpatron der neu aufkommenden Industrie der Schallplatten“75. Besonders in der Literatur stieß die Norm auf wenig Gegenliebe76 und provozierte als redaktionell verunglückter „Fremdkörper“77 etliche Grundsatzdebatten.78 Der Gesetzgeber von 1910 hatte mit dem an sich schon verwickelten Bearbeiterurheberrecht79 einen dogmatischen Husarenritt veranstaltet, nur um die hinter den Künstlern stehenden Tonträgerhersteller zu schützen.80 Diese „verfehlte Konstruktion zugunsten der Industrie“, schreibt Erich Schulze später lakonisch, „erinnert an das Privilegienwesen vergangener Zeiten.“81 Voll auf der Linie des positiven Rechts lag dagegen Josef Kohler, der bereits an der Berliner Revisionskonferenz zur Berner Übereinkunft teilgenommen hatte.82 Kurz vor Veröffentlichung des deutschen Umsetzungsentwurfs riskierte Kohler hierfür sogar einen Salto mortale in seiner Grundanschauung. So war für ihn die „Augenblicksschöpfung des reproduzierenden Künstlers“ nicht mehr wie noch 74 de Sanctis, UFITA 20/II (1955), 22–38, 29. Von „doktrinären Meinungsverschiedenheiten“ sprach auch bereits A.Giannini, UFITA 7 (1934), 267–288, 275. 75 Goldbaum, Rechtsstellung des fiktiven Bearbeiters, UFITA 26/II (1958), 271–283, 271. 76 Vgl. nur Marwitz/Möhring, Das Urheberrecht an Werken der Literatur und der Tonkunst in Deutschland, 1929, zu § 2 Anm. 10; Goldbaum, Urheberrecht und Urhebervertragsrecht, 2. Aufl. 1927, zu § 2 Anm. VIII. 77 Marwitz, GRUR 1926, 573–577, 573 [li.Sp.]. 78 Eingehend zur „doppelten Fiktion“ vgl. Elster, Gewerblicher Rechtsschutz2 (Fn. 47), S. 112– 121; ders., GRUR 1927, 42–50, insb. 44–47; ferner Allfeld, LUG, 2. Aufl. 1928, zu § 2 Anm. 4f. – jeweils mwN. 79 Vgl. nur die Ausführungen von Riezler, Deutsches Urheber- und Erfinderrecht, 1909, S. 50– 52. 80 Durchgangserwerb zugunsten der Hersteller: Ursprünglicher Erwerb eines von dem vorgetragenen Werk abhängigen Ausschließlichkeitsrechts beim „Vortragenden“ an der Schallvorrichtung mit anschließendem Zweiterwerb des Unternehmens durch typisierte, stillschweigende Übertragung. Dagegen vertrat Elster, Gewerblicher Rechtsschutz2 (Fn. 47), S. 146, mit einem Direkterwerb „originär für die Firma“ eine Mindermeinung. 81 E.Schulze, Der Künstler und die Technik, 1958 (Schriftenreihe INTERGU V). 82 Besonders die deutsche Delegation forcierte eine „Erweiterung des Schutzinhalts“. Allerdings wurden die „Wünsche der Industrie“ u. a. für ein ‚Urheberrecht kraft Schallplatte‘ mehrheitlich abgelehnt; sie gehörten nur dem Gebiet „des gewerblichen Rechtsschutzes“ an (Denkschrift zur RBÜ v. 2. April 1909, S. 23, 37, abgedr. in: Verhandlungen des Reichstags XII/ I, Bd. 254, 1909, Anl. Nr. 1324).
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zuvor nur persönlichkeitsrechtlich relevant, sondern sollte bereits de lege lata vollständigen Schutz des „Autorrechts“ genießen.83 Mit Blick auf die Schallplattenindustrie vergaß er dabei freilich nicht hinzuzufügen, dass „abgesehen von dem Recht des Künstlers“ auch an den Fabrikanten zu denken ist, der „das Spiel des Künstlers“ auffängt und „in der Scheibe festlegt“.84 Bereits die Novelle von § 2 LUG, die nach Goldbaum europaweite Ausstrahlung hatte,85 verdeutlicht typische Interessengegensätze, die zwischen dem Investitionsschutz von Unternehmen und dem Subsistenzschutz von Künstlern und Werkschöpfern herrschen. Reibungspunkte können darüber hinaus auch innerhalb der jeweiligen Gruppen entstehen, insbesondere wenn es um die Zugangsinteressen der Endnutzer geht.86 Ein Beispiel für solche ‚industriellen Binnenkonflikte‘ mit Wettbewerbscharakter bildete die heftige Opposition der Schallplattenfabrikanten gegen ‚öffentliche Aufführung‘ ihrer Produkte im Rundfunk. Im Hintergrund stand hier die Einführung einer günstigeren Technologie bei ungünstiger Weltwirtschaftslage, was seit 1929 bei den Schallplattenherstellern zu drastischen Absatzstockungen führte.87 Inhaltlich nicht viel Neues brachten dann die folgenden Entwürfe des Reichsjustizministeriums 1932/34 und der Entwurf der NS-Akademie für Deutsches Recht 1939.88 Die Schutzrechte wurden zumindest in einer eigenständigen 83 Kohler, GRUR 1909, 230–232, 231 [li.Sp.]; anders noch ders., Urheberrecht an Schriftwerken und Verlagsrecht, 1907, S. 137. Angeblich ließ er sich durch den 1909 von Osterrieth dargebrachten Festschriftbeitrag zu seinen Ehren überzeugen (so Haensel, UFITA 19 [1955], 15–27, 19). Vielleicht gab es neben dieser dogmatisch schwachen, äußerst industriell gefärbten Schrift aber auch noch ‚handfestere‘ Motive für Kohlers Umschwung. 84 Auch in anderen Zweigen des Immaterialgüterrechts neigte Kohler häufig industriellen Interessen zu, vgl. Sorge, Abhängige Autoren (Fn. 31), S. 91–93. 85 So hätte sich das schweizerische Urheberrechtsgesetz von 1922 in Art. 4 an die deutsche Vorschrift angelehnt. Der britische Gesetzgeber wiederum habe als erster mit dem Dramatic and Musical Performers’ Protection Act von 1925 das Leistungsschutzrecht der ausübenden Künstler umfänglich geregelt. Vgl. Goldbaum, Leistungsschutz [Teil 1], in: Musik u. Dichtung 1954, 10–12, 11. 86 Lehrreich ist der 1936 entschiedene Schallplattenstreit, wo sich mehrere Hersteller mit dem Deutschen Rundfunk über die Einräumung einer Zwangslizenz nach § 22a LUG stritten (RGZ 153, 1–29). In reichlich ‚scholastischer Manier‘ bemühte sich hier der erste Senat, den Tatbestand der „öffentlichen Aufführung“ in § 22a LUG zu vermeiden, und bezeichnete daher die Radiosendung als ‚gesetzlich unbekannte Nutzungsart‘ (aaO., 19–26). 87 Aufschlussreich im Zusammenhang mit der Brüsseler Revisionskonferenz: Baum, GRUR 1949, 1–44, 27–30. Mit Änderung der Umstände können sich freilich leicht die Konfliktlinien wieder verschieben: Noch vor Kriegsbeginn 1939 koalierten Tonträgerhersteller und Sendeanstalten gegen die Interessen der Komponisten, vgl. Goldbaum, Schöpfung (Fn. 11), S. 54f., mit Verweis auf Haensel, UFITA 19 (1955), 15–35, 21. 88 Vgl. Maracke, Die Entstehung des Urheberrechtsgesetzes von 1965, 2003, S. 33, 41f., 46. Die seit dem Ministerialentwurf von 1934 vorgenommene Degradierung fotografischer Werke zum gewerblichen Bildnisschutz sei indes noch angeführt; vgl. auch die ‚ikonoklastische‘ Begründung, in: UFITA 2000/III, 743, 784, 879f.
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Rubrik „Angrenzende Rechtsgebiete“89 ausgeklammert, worin sich die später im UrhG von 1965 verwirklichte Abtrennung vom Kernurheberrecht bereits andeutete.90 Bedeutender als die Entwürfe war der wissenschaftliche Austausch zwischen den verbündeten Regimen Italiens und Deutschlands, deren Urheberrechtler sich in der UFITA eine Grundsatzdebatte darüber lieferten, ob das Leistungsschutzrecht der ausübenden Künstler mehr arbeitsrechtlich oder mehr urheberrechtlich geprägt sein sollte.91
3.
Wirtschaftswunder ‚Leistungsschutz‘
Im Zuge der nach dem Weltkrieg wieder aufkeimenden Kontroverse, deren Höhepunkt mit dem sog. Wirtschaftswunder in den 1950er-Jahren zusammenfiel, machten sich in literarischen und künstlerischen Kreisen erneut Existenzängste und drohende Statusverluste bemerkbar. Auf Seiten der Sendeanstalten, Schallplattenhersteller und Theaterbühnen wuchsen dagegen Begehrlichkeiten, ein weiteres ‚Stück vom Kuchen‘ der Ausschließlichkeitsrechte zu bekommen.92 War die Befürchtung der Urheber gerechtfertigt, „daß jeder weitere Mitesser ihren Anteil an der Schüssel mindert“?93 Die Konjunktur für Investitionshilfe und -schutz war jedenfalls günstig. Sowohl der zusammenwachsende europäische Binnenmarkt94 als auch die spezifisch westdeutsche Abhängigkeit vom Welt-
89 So indes erst der Abschnitt VI. im Entwurf von 1939 tituliert, vgl. Synopse bei Runge, Urheber- und Verlagsrecht, 2. Lfg., 1953, S. 926. 90 Im Anschluss an Hirsch Ballin (Fn. 48), 311, der den Grundsatz „Rubrica non lex“ differenziert betrachtet und die Gesetzesordnung zutreffend als rechtssystematische „Erkenntnisquelle“ ansieht. 91 Von italienischer Seite lieferten Beiträge u. a. Piola Caselli, Paolo Greco und Luigi di Franco, während Hoffmann, Seiller, de Boor und Elster aus deutscher Sicht replizierten. So nach der zwar eleganten, indes politisch teils ‚geglätteten‘ Darstellung von Haensel, Leistungsschutz oder Normalvertrag, 1954, S. 31–35, hier 31. 92 Zur „Kuchentheorie“, die sich primär auf die nur begrenzte Zahlungsbereitschaft der Nutzer bezieht, vgl. zeitgenössisch Möhring, Die internationale Regelung (Fn. 6), S. 45–47. Kritik übt Ulmer, Urheber- und Verlagsrecht, 3. Aufl. 1980, § 120 III 3, S. 518; schon Elster wollte in den nur an das Urheberrecht „angrenzenden“ Leistungsschutzrechten ein aliud, kein peius sehen (zuletzt in: UFITA 14 [1941], 63–73, 66); ähnlich für das geltende Recht, indes den schöpferischen Charakter betonend: Apel, ZGE 4 (2012), 1–36, 33f. 93 W.Peter, UFITA 24/II (1957), 336–371, 352. 94 In diesen Kontext gehören etwa die im Urheberrecht irritierend aufgenommenen Vorstöße des Europarats, der sich ganz in den Dienst des Rundfunks stellte, vgl. nur Frieberger, UFITA 31 (1960), 64–74.
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markt forderten geradezu einen leistungsschutzrechtlichen Tribut, einen Abschlag von der „irenischen Formel“95 der Sozialen Marktwirtschaft. Noch deutlicher als im kaiserzeitlichen Urheberrechtsdiskurs und in der Weimarer Republik gewannen in den 1950er-Jahren die Interessenvertreter der Industrie die Oberhand über freie Berufsträger. Am Ende der Dekade hatte Ernst E. Hirsch die Stimmungslage gut eingefangen. In einer bedeutenden Vorrede zu einer von ihm betreuten Doktorarbeit warnte Hirsch vor einer allzu ‚koordinierten Volkswirtschaft‘, die der politisch jungen, wirtschaftlich aber noch äußerst traditionsschwangeren BRD nicht gut zu Gesicht stehe: „Die zunehmende Macht der Verbände birgt bereits für sich allein schon schwere Gefahren für die freiheitliche demokratische Grundordnung.“96 Häufig herrschte, wie Goldbaum berichtet, aber auch bloß Verwunderung darüber, „was die neuerdings wie Pilze nach dem Regen aufschießenden ‚Experten‘ dem politisch und wirtschaftlich ohnmächtigen Schöpfer geistiger Kulturgüter zu bieten wagen.“97 Während die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) mit ihren zahlreichen Initiativen zugunsten der ausübenden Künstler eine schlagkräftige Gegenmacht gegen die Industrie bildete,98 schien es so, als ob der kultivierte Urtypus – der freie Schöpfer – in der Rechtspolitik um den Leistungsschutz aus den Augen verloren wurde. Die Machtverschiebung ging sogar so weit, dass die ILO selbstbewusst behaupten konnte, sie sei „la seule organisation intergouvernementale à posséder une structure tripartite“ und habe daher das legitime Mandat, sämtliche Interessen zu koordinieren.99 Vor diesem Hintergrund erschienen die literarisch-musikalischen Schutzverbände mit ihren Appellen, den Urheberrechtsschutz nicht zu verwässern, mehr als Rufer in der Wüste, nicht aber als Vertei-
95 Müller-Armack, Das gesellschaftspolitische Leitbild der Sozialen Marktwirtschaft, in: Evangelische Chronik 12 (1962), zit. n. ders., Wirtschaftsordnung und Wirtschaftspolitik, 2. Aufl. 1976, S. 293–315, 314. 96 E.E.Hirsch, Vorrede (Fn. 41), S. IX [n.pag.]. 97 Goldbaum, Leistungsschutz [Schluss], Musik u. Dichtung 1955, 16f., 16 [li.Sp.]. 98 Eine Schlüsselstellung besaß hier die Confédération internationale des travailleurs intellectuels (CITI). Seit ihrem rapport préliminaire von 1929, das Kondensat des ersten CITIKongresses 1927, drängte sie die ILO dazu, im Namen aller ausübenden Künstler rechtspolitisch aktiv zu werden. Bemerkenswert erscheint auch der Einsatz von Josef Kohler, in: Revue internationale du travail 1931, 671–694, insb. 686–689. Mit seinem langen, rechtsvergleichenden Beitrag im Verbandsorgan versuchte er, eine Koalition der geistigen Arbeiter mit der Industrie auch juristisch-konstruktiv zu untermauern. 99 L’O.I.T. et la protection des exécutants, des fabricants de phonogrammes et des organismes de radiodiffusion, in: Rev. int. d. trav. 88 (1956), 277–301, 289. Auch unter Industrieverbänden führte das Auftreten zu Unmut. Noch im selben Jahr erfolgte etwa ein zurückweisender Beschluss der Fédération internationale des associations de producteurs de films, worin es hieß, die ILO sei für Fragen der ‚Nachbarrechte‘ gar nicht zuständig. Abgedr. bei Goldbaum, Schöpfung (Fn. 11), S. 102.
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diger des eigenen Terrains.100 „Dem deutschen Wirtschaftswunder ist bisher kein Kulturwunder gefolgt“ – musste 1956 auch Dr. Hans Rehfisch, Präsident der ‚Verbandes Deutscher Bühnenschriftsteller und Bühnenkomponisten‘ resignierend feststellen.101 Der Bundesgerichtshof setzte dagegen zunächst einen frischen Kontrapunkt im Magnettonband-Urteil. Er konstatierte, dass „die durch die Entwicklung der Technik herbeigeführte Erschließung neuer Nutzungsmöglichkeiten für Urhebergut vor allem den Urhebern zugute kommen soll, deren schöpferischer Tätigkeit dieses Gut zu danken ist […].“102
Stand durch das bahnbrechende Judikat der geistige Schöpfer erneut im Rampenlicht der Praxis, so ernüchternd wirkten nach diesem Auftakt die nur fünf Jahre später ergangenen Grundsatzentscheidungen zu den Rechten der ausübenden Künstler.103 Hier erwies sich der erste Senat nicht nur „als Gefangener seiner eigenen Rechtsprechung“104, sondern ebenso als Oberaufseher über gewerbliche Interessen der Industrie und des öffentlich-rechtlichen Rundfunks. Freilich, prima facie ging es in den vier Entscheidungen um den Schutz der von Musikern erbrachten Darbietungen. Es ging um persönlichkeits-, wettbewerbs- und deliktsrechtliche Ansprüche von erstklassigen Orchestermitgliedern gegen ‚schmarotzende Letztverwerter‘, insbesondere gegen Düsseldorfer Gaststätten, die ihrem verköstigten Publikum kostenlosen Klassikgenuss verschafften. Auf den zweiten Blick jedoch, sobald die Aktivlegitimierten, der ökonomische Hintergrund und die wackeligen Entscheidungsgründe genauer unter die Lupe genommen werden, entpuppt sich der Schutz der ausübenden Künstler überwiegend als Fassade. Denn hinter den Musikern stand in drei von den vier Urteilen die „Deutsche Orchestervereinigung e.V.“, eine von öffentlich-rechtlichen Rundfunkorchestern gegründete Interessenvertretung, und hinter dieser standen wiederum die Interessen des NDR, WDR und Bayerischen Rundfunks. Formal wurden die Rechte durch die Interessenvertretungen bloß zugunsten der
100 Siehe nur Maracke, Urheberrechtsgesetz (Fn. 88), S. 95 mit Noten 191f., wo aus amtlichen Schreiben ersichtlich wird, wie das Justizministerium 1952 bei der Auswahl der Interessenverbände taktierte. Nur einigen wenigen sollte frühzeitig ein ‚offenes Ohr‘ geschenkt werden. Der „Schutzverband Deutscher Schriftsteller e.V.“ gehörte nicht dazu. 101 Rehfisch, Der Weg in die Zukunft – Leitartikel der ersten Nachkriegsnummer des Verbandsorgans: Der Autor 24 (1956), S. 1f., 1; zit. auch bei Goldbaum, Schöpfung (Fn. 11), S. 19. 102 BGH GRUR 1955, 492–502, 499 – Magnettonband. 103 BGH GRUR 1960, 614–619 – Figaros Hochzeit; GRUR 1960, 619–627 – Künstlerlizenz bei öffentlicher Wiedergabe von Schallplatten; GRUR 1960, 627–630 – Künstlerlizenz bei öffentlicher Wiedergabe von Rundfunksendungen; GRUR 1960, 630–634 – Orchester Grauke. 104 E.E.Hirsch, Vorrede (Fn. 41), S. VII.
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Künstler ‚wahrgenommen‘; in Wirklichkeit handelte es sich jedoch schlicht um eine Wahrnehmung sui lucri causa.105 Auch die Rechtsfortbildung des Senats, der ohne Rückgriff auf § 2 Abs. 2 und unter Vermeidung von § 22a LUG gesetzlich ‚schwerelosen‘ Leistungsschutz gewährte, ließ schnell erkennen, dass es vordergründig zwar um die Leistung der Musiker, eigentlich aber um unternehmerischen Schutz der Anstalten und Hersteller ging. Deutlich drückte sich diese Tendenz etwa im Figaro-Urteil aus. Der Urheberrechtssenat fingierte hier eine „stillschweigende Unterwerfung“ des Orchesters unter den Verwertungsbefehl des Rundfunks. Im „Wege ergänzender Vertragsauslegung“ seien die Musiker der klaren Dienstpflicht unterworfen, jeden sendebedingten Mitschnitt ihrer Aufführungen seitens des Arbeitgebers zu dulden.106 Hinzu kam noch eine völlig praxisferne Widerspruchslösung, wonach es den Musikern freistünde, einen vertraglichen Einwilligungsvorbehalt mit den Verwertern auszuhandeln. Die dogmatisch fragwürdigen Erwägungen dürften dabei nichts anderes gewesen sein als ein vorauseilender Gehorsam des Gerichts gegenüber der Regierung. So hatte der Ministerialentwurf von 1959 schon Ähnliches in § 83 Abs. 2 statuiert. Bei mittelbaren Verwertungen durch Benutzung der Tonträger zu Funksendungen oder zu öffentlichen Aufführungen sollten nach § 83 Abs. 2 des Entwurfs nicht einmal mehr Vergütungsansprüche greifen, wenn die Leistung in einem Arbeitsverhältnis mit Sendeunternehmen erfolgte. Solche Leistungen seien über den Lohn bereits ‚abgegolten‘.107
IV.
Schöpfung oder Leistung? – eine investigative Streitschrift
Es dürfte nicht zu viel gesagt sein, wenn die im UrhG kodifizierten Leistungsschutzrechte als Unwucht bezeichnet werden, die die Statik des Urheberrechts ins Wanken bringen. Darüber hinaus bergen die Vorschriften, nicht anders als zu Goldbaums Zeiten, selbst heute noch rechtspolitischen Sprengstoff und sind von einer sozialen Ambivalenz gekennzeichnet. Kurt Tucholsky – „Chansonnier der Republik“108, promovierter Jurist und für einige Zeit Schriftführer im ‚Schutzverband deutscher Schriftsteller‘ brachte die Kompromissformel zwischen künstlerischen und geschäftlichen Vermittlern bereits 1930 auf den Punkt. Auf 105 Positiver als ‚Musterprozesse‘ für Künstlerschutz bewertend dagegen Apel, Der ausübende Musiker (Fn. 7), S. 169–171. 106 BGH GRUR 1960, 614–619, 618f. – Rundfunksendung „Figaros Hochzeit“. 107 Vgl. Entwürfe des Bundesjustizministeriums zur Urheberrechtsreform, 1959, S. 69, 148. 108 A. Zweig, Brief an Kurt Tucholsky (Nachruf 1936), in: ders., Über Schriftsteller, 1967, S. 111– 120, 118.
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der einen Seite drängten die Dramaturgen und Schauspieler „das Werk und den Urheber des Werkes völlig an die Wand; das Werk wird Anlass und Vorwand.“109 Auf der anderen Seite stünden – unter dem Diktat des Massengeschmacks – halbgebildete „Kunstkaufleute“ und kalkulierende Unternehmen: „Der Mann, der aus dem Kunstwerk eine Ware macht, also für den Produktionsprozeß in der Kunst unerläßlich geworden ist, hat seit langem seine Grenzen überschritten – er maßt sich Rechte an, die ihm nicht zustehn. Der Kaufmann ist nicht dienendes Glied in der Kette, nicht mehr gleichberechtigter Faktor auf dem weiten Weg zwischen Künstler und Publikum: er herrscht. Wie macht er das? Er macht das elend schlecht.“110
Gut zwanzig Jahre nach diesem urheberrechtlichen Streiflicht in der „Weltbühne“ führte ein anderer Jurist Tucholskys Kritik an den gewerblichen Verwertern mit ebenso spitzer Feder fort.111 Die Gretchenfrage „Schöpfung oder Leistung?“ schmückte den Titel seiner Streitschrift, auf die Goldbaum – weniger faustisch als die Frage – bereits im Vorwort klar und eindeutig antwortete. Es sei eine Arbeit für die Urheber und gegen die „Leistungsschutz-Bewegung“, für urheberrechtliches „Sachverständnis“ und gegen „Komitees, Kommissionen, Unterkommissionen und Arbeitsgruppen“, eine Arbeit mit dem erklärten Ziel, die „Metamorphose des freien geistigen Arbeiters in den Industriekuli“ zu verhindern.112
1.
Der Faktencheck – „Bedürfnisfrage“ und „Büro-Demo-Kratie“
Der Aufbau der Streitschrift ist alles andere als übersichtlich. Dass die drei Teile – historischer Problemaufriss, aktuelle Konfliktlinien und Materialien – an einer geradlinigen Beweisführung mangeln und sich so „manches wiederholt“, wie Goldbaum selbst zugibt, fällt dabei weniger ins Gewicht. Neben Problemen bei der Literaturbeschaffung im ekuadorianischen Exil dürfte es vor allem am Thema gelegen haben. Die Materie befand sich im Fluss und die nie als Block agierende „Leistungsschutz-Bewegung“113 in zunehmender Unordnung.
109 Tucholsky, Der Mittler, in: ders., Gesammelte Werke 8, hrsg. v. Gerold-Tucholsky/Raddatz, 1960, S. 283–288, 283 (zuerst pseud. Ignaz Wrobel, in: Die Weltbühne, Jg. XXVI v. 11. 11. 1930). 110 Tucholsky, Der Mittler (Fn. 109), S. 284. 111 Und nahm den von Tucholsky gespielten Ball an, vgl. Goldbaum, Schöpfung (Fn. 11), S. 52f., 71. 112 Goldbaum, Schöpfung (Fn. 11), Vorwort [n.pag.]. 113 Goldbaum, Schöpfung (Fn. 11), Vorwort [n.pag.].
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a)
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Enthüllungen mit Stil
Allerdings wird der Zugang auch durch den Autor selbst erschwert, durch ein lebenslang gepflegtes Stilelement, das zwar den Reiz der Lektüre ausmacht, heute aber methodisch wohl als ‚unlauter‘ gelten dürfte: Goldbaums gezielte Vermischung der Tatsachendarstellungen und Rechtsanalysen mit einer beißenden Kritik – häufig ad personam, teilweise bis unter die Gürtellinie.114 Da wird Heinrich Hubmanns ‚metaphysische‘ Theorie auf seine Privatdozentur zurückgeführt oder Plinio Bolla, dem Schweizer Bundesrichter und Delegierten für etliche Konferenzen,115 attestiert, dass seine „unglückliche Liebe für die Materie des Urheberrechts mit seiner Ubiquität nicht Schritt halten konnte.“116 Selbst im Materialienteil, bei den angehängten Dokumenten sparte Goldbaum mit „Abwehr und Angriff“117 nicht. Hinzu kommt ein Potpourri an Protokollphrasen, Zeitungsausschnitten und Zitaten, flankiert durch historische Bonmots, die in der Präsentation nicht nur zufällig an die legendären Fotomontagen John Heartfields (Helmut Herzfeld) erinnern. Überschriften wie „Die Zauberformel“, „Die Büro-Demo-Kratie“ oder „Die Rechtswissenschaft des Als ob und die Verantwortung der Schreiber“, Exkurse zur Werkstatt von Rubens, Berichte aus der „ausgezeichneten Zeitschrift ‚Der Spiegel‘“ über Pressekonferenzen, über Gagen von Stars und Sternchen mögen hier nur einige Beispiele sein.118 Trotz des eigenwilligen Stils können zwei Elemente einer investigativen Kritik herausgeschält werden, die sich wie ein roter Faden durch das Werk ziehen: die Erörterung der von der Rechtspolitik verschwiegenen „Bedürfnisfrage“ nach einem neuen Schutzrecht und die Enthüllung mangelnden Sachverstands der Sachverständigen. Unter der „Bedürfnisfrage“ verstand Goldbaum die Aufgabe eines jeden Gesetzgebers, zunächst empirisch zu prüfen, ob für die zu schützenden Subjekte und Objekte der ins Auge gefassten Regelungen überhaupt die Notwendigkeit für ein legislatives Einschreiten besteht. Das Kriterium, an dem sich die gesetzgeberische Vorprüfung orientieren sollte, hing eng mit Goldbaums Urheberrechtstheorie zusammen. Unter Verzicht sowohl auf naturrechtliche Prämissen als auch auf ökonomische Gesetzmäßigkeiten fundierte er das Ur114 Wie ernst er diese Vermischung nahm und wie für ihn Person und Werk eins waren, zeigt exemplarisch eine ‚Anwendung auf sich selbst‘: „Die Stellungnahme zu meinem Kommentar [des Welturheberrechtsabkommens] ist gleichbedeutend mit der Stellungnahme zu dem Abkommen. Wer meine Arbeit billigt, lehnt das Genfer Diktat ab, und wer meine Arbeit ablehnt, billigt es. Zwischen diesen Extremen ist nur ein ganz schmaler Raum für Kompromißansichten.“ (Goldbaum, Verfall und Auflösung [Fn. 18], S. 43). 115 Vgl. Broggini, ZSR 104 (1963), 213–223, 216. 116 Goldbaum, Schöpfung (Fn. 11), S. 45f., 21. 117 So der Untertitel seiner Schrift. 118 Goldbaum, Schöpfung (Fn. 11), S. 9, 13, 15, 17.
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heberrecht nämlich in der tatsächlichen Beziehung „zwischen dem Gebenden und dem Wiedergebenden, also zwischen dem Schöpfer und dem Verleger, dem Drucker, dem Schauspieler, […], nun jedem, der das Werk wiedergibt, erlaubt oder unerlaubt.“119 Nicht anders als die Wissenschaft müsse auch der Gesetzgeber zuerst den Tatsachen ins Gesicht sehen. Besonders Ernst E. Hirsch bekannte sich bei der Leistungsschutzdebatte – „im Zeichen der sog. sozialen Marktwirtschaft“ – unmittelbar zu dieser ‚laizistischen Sicht‘, obwohl beide Gelehrte im Übrigen nicht immer einer Meinung waren.120 b)
Auf Tuchfühlung mit der Praxis
Goldbaums Verzicht auf Letztbegründungen bedeutete allerdings nicht, dass in seiner Theorie naturrechtliche oder ökonomische Erwägungen keine Rolle spielten.121 Vielmehr war er lediglich darauf bedacht, dass alle abstrakten, außerjuristischen Annahmen mit der rechtlichen Regelung vermittelt werden, d. h. über ein reflektierendes Urteil in den ‚bestimmten Beziehungen zwischen Menschen‘ zum Ausdruck kommen.122 Besagt ein römisch-rechtliches Prinzip hominum causa omne ius constitutum est, so erweiterte Goldbaum die anthropozentrische Sichtweise mithin ins Soziale: „Dingliche und absolute Rechte schweben nicht im luftleeren Raum juristischer Begriffsbildung, sondern haben ihre Wurzel im sozialen ‚Erdreich‘. Diese Rechte haben soziale Funktion, die ohne Kenntnis der sozialen Lage nicht zu ermitteln ist. Sie sind dem Bedürfnis im sozialen und wirtschaftlichen Feld anzupassen.“123
Gerade das ‚soziale Erdreich‘ hätten die vielköpfigen Kommissionen und unzähligen Sachverständigen bei der Frage nach dem Leistungsschutz indes sträflich vergessen. Denn ein Bedürfnis zur Statuierung besonderer Schutzrechte für ausübende Künstler, Schallplattenhersteller oder Radioanstalten sei nicht nur nicht geprüft, sondern von vornherein gar nicht existent gewesen. Abgesehen von den „Eulen“, die man mit dem Leistungsschutz zugunsten der Industrie „nach Athen“ trage, seien Gina Lollobrigida, Sophia Loren und Audrey Hepburn le119 Goldbaum, Schöpfung (Fn. 11), S. 12f.; ders., Urheberrecht3 (Fn. 5), Einl. III. 120 Sehr deutlich bei E.E.Hirsch, UFITA 26 (1958/II), 1–18, 7 u. 18 mit Note 24. 121 Pars pro toto steht dafür seine bekannte ‚Übertragungszwecklehre‘, die nach dem „Prinzip der Ökonomie des Rechts“ gestaltet ist, aber den „menschlichen Verkehr“ als „Massenerscheinung“ zum Ausgangspunkt nimmt (Goldbaum, Urheberrecht2 [Fn. 15], zu § 14 I u. § 8 III). 122 Goldbaum, Schöpfung (Fn. 11), S. 12f.; ders., Urheberrecht3 (Fn. 5), Einl. III. Diese ‚Methode‘ erinnert nicht nur zufällig an Savignys erweiterten Begriff der ‚Anwendung‘ des Rechts und an sein hermeneutisches Grundkonzept; vgl. eingehend dazu Meder, Mißverstehen und Verstehen (2004), S. 72f., 99–102, 138f., 183–186, 217f. 123 Goldbaum, Schöpfung (Fn. 11), S. 7f.
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bendige Beispiele für die bereits jetzt bestehende äußerst reputierliche „Vormachtstellung des ausübenden Künstlers“.124 Etliche Verträge in der Film- und Musikbranche sprächen hier für sich selbst.125 Und wer „sich auf den offenen Markt stellt und die Lorelei singt, hat weder aus göttlichem noch aus menschlichem noch aus dem Als ob-Recht irgendwelche Ansprüche gegen irgendwen […].“126 Wozu also Leistungsschutzrechte? Damit stemmte sich Goldbaum nicht nur gegen die überwiegende Ansicht in der Literatur,127 sondern auch gegen den Referententwurf von 1954, der den ausübenden Künstlern neben Einwilligungsvorbehalten für unmittelbare Verwertungen mit § 77 auch einen gesetzlichen Vergütungsanspruch bei der Wiedergabe fixierter Darbietungen einräumte.128 c)
Am grünen Tisch der Bürokraten
Während Goldbaum mit dieser Radikalposition nahezu allein dastand, war seine Kritik an der ‚Beamten- und Verbandsmentalität‘ der Leistungsschutzbewegung nicht ungewöhnlich und konnte im Gelehrtendiskurs durchaus auf Zustimmung stoßen.129 Im Kreuzfeuer einiger Kapitel von ‚Schöpfung oder Leistung‘ stand vor allem die „Tätigkeit der […] Internationalen Büro-Demo-Kratie“, worunter 124 Goldbaum, Schöpfung (Fn. 11), S. 9f. 125 Der Blick allein auf die ‚Hollywood Hills‘ erscheint freilich einseitig und blendet die prekären Arbeitsbedingungen der meisten Künstler aus. Vgl. nur Hubmann, Der Schutz des ausübenden Künstlers nach geltendem Recht, 1959 (Schriftenreihe INTERGU IX), S. 97: „Das soziale Bild […] ist nicht zutreffend, weil […] nur wenige die Höhe des Weltruhms erklimmen.“ Später Straus, GRUR Int 1985, 19–29, 19, der gegen eine ähnliche Perspektive Heinrich Bölls zutreffend Statistiken zu „Unterbeschäftigung“ und „Arbeitslosigkeit“ anführt. 126 Goldbaum, Schöpfung (Fn. 11), S. 30, dies gegen Haensel, Leistungsschutz (Fn. 91), S. 53f., der zwar ein umfassendes Ausschließlichkeitsrecht ablehnt, aber in Anlehnung an den belgischen Cour d’Appell einen Schalldiebstahl für möglich hält und analog dem Recht am eigenen Bild (§ 22 KUG) ein deliktisch geschütztes „Recht an der eigenen Stimme“ zugunsten ausübender Künstler kreiert. 127 Überwiegend wurde in der Literatur der 1950er-Jahre ein urheberrechtsähnliches Leistungsschutzrecht befürwortet (konsolidierend etwa Samson, GRUR 1960, 174–178). Selbst die Autoren der GEMA-nahen „Internationalen Gesellschaft für Urheberecht e.V.“, die das Thema ‚Leistungsschutz‘ nur mit spitzen Fingern anfassten und vor allem gegen Sende- und Aufführungsrechte schrieben, wagten Zugeständnisse und bemühten sich um Differenzierung. Vgl. nur Hubmann, Schutz des ausübenden Künstlers (Fn. 125), S. 24–30; Troller, Jurisprudenz auf dem Holzwege, 1959 (Schriftenreihe INTERGU XIII), S. 63–65, 94–96, 98– 100. Eingehend zum Debattenstand: Apel, Der ausübende Musiker (Fn. 7), S. 153–161. 128 Mit der Begründung, dass der Unterschied zum Urheberrechtsschutz es „nur rechtfertigen [kann], den Schutz der ausübenden Künstler anders auszugestalten, nicht aber ihn ganz zu versagen.“ Referentenentwurf, Begründung, S. 191f., teilw. abgedr. in: L. Delp (Hg.), Das künftige Urheberrecht, 1955, S. 57. 129 Vgl. nur E.E.Hirsch, Vorrede (Fn. 41), S. IX; dazu oben III. 3. bei Fn. 96.
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Goldbaum die Sitzungen und Konferenzen der UNESCO, der ILO und dem BIT, des Berner Büros und anderen Organisationen und Interessengruppen rund um das Thema ‚Urheberrechtsreform und Leistungsschutz‘ verstand.130 „Man sitzt, man reist, verhandelt, verdient“ – doch die sozioökonomischen Bedingungen des kreativen Schaffens, so Goldbaum, blieben am „grünen Tisch“ ebenso wie die Namen der verantwortlichen Bürokraten im Dunkeln.131 Um Licht hineinzubringen und die Entscheidungsprozesse in den Kommissionen durchsichtiger zu machen, bemühte sich Goldbaum, möglichst viele Protagonisten namentlich zu identifizieren, gelegentlich auch mit biographischen Angaben zu illustrieren. Denn es bestehe gar „kein Grund […], die Bürokratie, die das soziale Leben aufs Schwerste beeinflußt, durch den Nebel der Anonymität der Verantwortung vor der öffentlichen Meinung zu entziehen, der Verantwortung, welcher der gewöhnliche Bürger rücksichtslos ausgesetzt wird.“132
Hinzu kam, dass die großen Urheberrechtsorganisationen – ALAI, BIEM und CISAC – bei den wichtigen Verhandlungen der 50er-Jahre außen vor blieben, vielleicht sogar aufgrund unbequemer Einwände bewusst an den Rand gedrängt wurden.133 Daher verübelte Goldbaum besonders dem Berner Büro eine seit 1952 verstetigte, ‚mandatslose‘ Kooperation mit der Internationalen Arbeitsorganisation, die sich in einer Sonderbeilage zum Verbandsorgan des „Le Droit d’Auteur“ manifestierte.134 Auf Grundlage von Art. 16 und Nr. 5 des Zusatzprotokolls der Berner Übereinkunft von 1886 wurde ein von den Verbandsländern finanziertes internationales „Bureau“ errichtet. Das unter die Aufsicht der Schweizerischen Eidgenossenschaft gestellte „Bureau“ hatte die Funktion einer reinen Serviceagentur, insbesondere um Konferenzen vorzubereiten, den Verbandsländern Auskünfte 130 131 132 133
Goldbaum, Schöpfung (Fn. 11), S. 15–17. Goldbaum, Schöpfung (Fn. 11), S. 16f. So in Goldbaums anderer Streitschrift: Verfall und Auflösung (Fn. 18), S. 67 Note 3. In diese Richtung geht Peters, UFITA 33/I (1961), 18–169, 19f.; ähnlich, indes positiv wertend Ulmer, GRUR Ausl 1961, 569–594, 571–573. Goldbaum, Schöpfung (Fn. 11), S. 62, wiederum zitiert einen Verbandsvertreter der ausübenden Künstler auf der Pariser Konferenz zur „réunion d’étude“ von 1954, der „über die Einmischung der Urheber“ erstaunt war und „die Anwesenheit der Urhebervertreter“ überhaupt nicht verstand. 134 Die auf Französisch und Englisch erschienene Beilage wurde lediglich von April 1956 bis Januar 1957 herausgegeben und trug den sperrigen Titel „L’artiste exécutant. Le fabricant de phonogrammes. Le radiodiffuseur – The Performing Artiste. The Record Manufacturer. The Broadcaster.“ Überwiegend enthielt sie nur Sachstandsberichte zu den Kommissionen, Auszüge aus Entwürfen und Korrespondenzen sowie Chroniken und ‚amtliche‘ Bekanntgaben. Vereinzelt publizierten aber auch Funktionsträger und Professoren rechtspolitische Beiträge. Die anfänglich enge Kooperation zwischen dem Berner Büro und leistungsschutzaffinen Gruppen lässt sich rekonstruieren über die sorgfältige „Inventaire des Actes au sujet des droits intermédiaires“, in: L’artiste exécutant, April 1956, 10–13.
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zu erteilen und um „Nachrichten aller Art“ zu sammeln oder „Untersuchungen“ zum Schutz des Urheberrechts durchzuführen. Doch inzwischen, so jedenfalls Goldbaum, hatte sich das „Bureau“ institutionell verselbstständigt, kollaborierte hauptsächlich mit der ILO und betrieb eine verbandsfremde Rechtspolitik auf Kosten der freien Schöpfer.135 Dass das Berner Büro an dem „Verfall“ des Kernurheberrechts ein „gerüttelt Maß von Schuld“ treffe, wie er in seiner anderen Streitschrift zur Berner Union schreibt,136 gehe primär auf das Konto der ausschließlich in der Schweiz angeworbenen Direktoren. Insbesondere seit den Vorarbeiten zur Brüsseler Revisionskonferenz seien mit den ‚Spitzenbeamten‘ Fritz Ostertag (1868–1948), Béningne Mentha (1888–1974) und Jacques Secretan (1897–1964) am Himmel des Urheberrechts dunkle Wolken aufgezogen.137 So fungiere etwa das Verbandsorgan „Le Droit d’Auteur“ seit dem Direktor Secretan nur noch als „Sprachrohr der urheberfeindlichen Bewegung dieser Epoche“. Die einst weltweit renommierte Fachzeitschrift, so Goldbaum weiter, „poussiert die Bestrebungen der Tonträgerfabrikanten, Radioorganismen und ausübenden Künstler in einer Weise, die dem Verrat an der eigenen Sache gleichkommt.“138 Starke Wort, starke Wertungen. Man könnte die Reihe der ‚Attacken‘ beliebig verlängern und etwa Goldbaums Ansichten über die „katastrophale Wirkung“ der Wunschliste von Brüssel oder den Rom-Entwurf als schlechtes Plagiat der ursprünglichen Berner Übereinkunft erwähnen.139 Doch ohne Reflexion auf Goldbaums Vorverständnis – geprägt durch die Wirkungsgeschichte der Urheberrechtspraxis in der Weimarer Republik und sein Interesse am Erhalt eines Kernurheberrechts – müsste die Streitschrift heute fremd und unverstanden bleiben. Das Erscheinungsjahr von „Schöpfung oder Leistung?“ lässt zwar ver135 Dass ein Verhandlungsmandat für das Berner Büro nicht existierte, zeigt sich deutlich etwa im Bericht von Arpad Bogsch über das Pariser Treffen mit der UNESCO und der ‚Study Group‘ im Mai 1956. Der Direktor Secretan konnte hier nur vage Andeutungen machen und meinte, „the mandate […] finds its origin in various vœux“ der Revisionskonferenzen, in „various resolutions“ des permanenten Ausschusses, in „the individual expression of opinion of the Union’s Member States“ usw. (zit. nach Bogsch, in: L’artiste exécutant, April 1956, 49–58, 51f.). Vgl. eingehend zur ‚Akteursqualität‘: Löhr, Globalisierung (Fn. 71), S. 81– 84. 136 Goldbaum, Verfall und Auflösung (Fn. 18), S. 66. 137 Goldbaum, Verfall und Auflösung (Fn. 18), S. 63–81. Den Startschuss für das Berner Büro gab 1939 Fritz Ostertag mit seinem „Avant-projet“ und einem umfangreichen Katalog an Leistungsschutzrechten (vgl. oben Fn. 58). Seit Brüssel kam mit dem sog. „Comité permanent de l’Union“ noch eine Konkurrenzinstitution hinzu, die als ständige Vertretung der Verbandsländer nicht nur Konferenzen vorbereite, sondern auch Sachverständige bestellte und Unter-Kommissionen einberief. Vgl. WIPO (Hg.), Centenaire de la Convention de Berne 1886–1986, 1986, S. 40–42. 138 Goldbaum, Verfall und Auflösung (Fn. 18), S. 72. Dass die Direktoren zunehmend unter Rechtfertigungsdruck gerieten, zeigt etwa der „Anhang“ bei Mentha, UFITA 25 (1958-I), 42– 48, 46–48. 139 Goldbaum, Schöpfung (Fn. 11), S. 34f., 56f.
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muten, dass sich Goldbaum erst während der Hochkonjunktur der Debatte in den 1950er-Jahren näher mit dem Thema befasst hat. In dieses Bild würden auch seine komplementären Werke passen, nämlich der Kommentar zum Welturheberrechtsabkommen von 1956 und sein essayistischer Abgesang „Verfall und Auflösung der sogenannten Berner Union […]“ von 1959. Beide Werke rahmen die Streitschrift auch rechtspolitisch ein. Doch dieses Bild trügt. Goldbaums ‚Trio‘ ist vielmehr die Summe seines Schaffens, gleichsam die Schlussszene in seinem Kampf für das Kernurheberrecht. Zur Horizonterhellung von Goldbaums biographisch tief verwurzelten Beweggründen werden daher im Folgenden die für ihn bedeutenden ‚Rundfunkurteile‘ von 1926 exemplarisch behandelt.
2.
Das Motiv – Goldbaums ‚Rundfunkurteile‘ von 1926
Forscht man etwas in Goldbaums Werdegang, so dürfte nicht nur seine eigene Betätigung als Bühnenschriftsteller und als Schriftsteller für Theaterrecht den Ausschlag zur Ablehnung des Leistungsschutzes gegeben haben.140 Vielmehr kamen 1926 zwei ‚Rundfunkurteile‘ mit Hugo von Hofmannsthal und Gerhart Hauptmann auf der Klägerseite hinzu, die ihn in seiner kernurheberrechtlichen Kritik des Leistungsschutzes nicht nur bestärkten, sondern regelrecht beflügelten. Damals im Mai entschied das Reichsgericht zunächst in Sachen ‚Funkstunde AG gegen Hugo von Hofmannsthal‘, dass die Wiedergabe geschützter Werke im Rundfunk nur mit Zustimmung des Urhebers erfolgen darf.141 Es war ein epochemachendes Urteil zugunsten des freien Schöpfers, ebenso „für das deutsche Schrifttum wie für die deutsche Kultur.“142 Der ungeschriebene Leitspruch des heutigen Urheberrechts wurde hier erkoren, nämlich dass „dem Schöpfer eines Schriftwerkes dessen volle wirtschaftliche Ausbeute […] unverkürzt zukommen“ soll.143 140 Eine Pionierleistung ist ihm hier bei der Dogmatik des Theatervertragsrechts gelungen. Zuvor gelang es zwar Otto Opet (1866–1941), Rechtshistoriker, Sozialdemokrat, verhinderter und vertriebener Professor sowie Gründungsmitglied der UFITA, als erster 1897 eine Gesamtdarstellung zum Theaterrecht vorzulegen. Doch Goldbaums „Theaterrecht“ von 1914 darf als die erste Grundlegung mit privatrechtlichem Schwerpunkt gelten. Seinem Werk, das – ähnlich wie später Paul Dienstags Arbeiten – auch rechtsquellentheoretisch auf einem hohen Niveau stand, gingen kleinere Broschüren zum Aufführungsrecht (1912) und zum Schauspielervertragsrecht (1914) voraus. 141 RGZ 113, 413–424 = GRUR 1926, 345–349 – der Tor und der Tod; vollst. abgedr. bei Goldbaum, Tonfilmrecht (Fn. 15), Anh. Nr. 1, S. 65–75; zu beiden Urteilen eingehend H.-P. Hillig, UFITA I/2016, 179–188, jedoch ohne die Rolle von Goldbaum zu würdigen. 142 Goldbaum, Urheberrecht3 (Fn. 5), zu § 11 LUG, §§ 15, 22ff. KUG, S. 94. 143 RGZ 113, 413–424, 418. Ein Urheberpersönlichkeitsrecht wurde vom Senat indes verworfen, was einen Rückschritt im Vergleich mit der vorhergehenden Rechtsprechung bedeutete, wie Elster, JW 1926, 1665–1667, 1666, zutreffend zur Entscheidung ‚Hanneles Himmelfahrt‘
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a)
151
Hugo von Hofmannsthal als Agent Provocateur
Geklagt hatte von Hofmannsthal, der sich in seinen Rechten verletzt fühlte und 2.000 Reichsmark Schadensersatz begehrte, weil der Berliner Radiosender der Reichspost seinen „dramatischen Einakter ‚Der Tor und der Tod‘ durch Rundfunk zu Gehör gebracht“ hatte, ohne zuvor seine Zustimmung einzuholen.144 Vertreten wurde der angesehene Schriftsteller von Justizrat Dr. Johannes Mittelstaedt. Doch die treibende Kraft hinter dem Prozess war Goldbaum, der zu dieser Zeit als Syndikus bei Samuel Fischer fungierte, dem Hausverlag von Thomas Mann und Alfred Döblin. Auch von Hofmannsthal stand hier unter Vertrag.145 Nach eigener Auskunft erlangte Goldbaum, als er das aktuelle ‚Rundfunkblatt‘ durchstöberte, nur zufällig von der Sendung Kenntnis. Es war die ideale Vorlage für den Plan, „diese Angelegenheit auf breiter Ebene auszutragen.“146 Schließlich war Goldbaum schon seit Längerem auf der Suche „nach Motiven für einen Musterprozeß“ in Sachen Rundfunk, wie der Verbandskollege Richard Bars (1890–1987) berichtet.147 Am Ende stand die von Goldbaum eingeforderte Anerkennung eines neuen Nutzungsrechts, des ungeschriebenen Senderechts de lege lata.148 Landgericht, Kammergericht und schließlich auch der erste Senat des Reichsgerichts waren sich im Grundsatz einig: der Berliner Rundfunk hatte durch die Lesung von ‚Der Tor und der Tod‘ die ausschließliche Sendebefugnis des Bühnenschriftstellers missachtet. Mit einem solchen Fanal war keinesfalls zu rechnen, denn die neue Technik hatte – zumindest aus Schöpfersicht – eine Lücke ins Gesetz geschlagen. Der Senat musste sich die Gründe daher auch rechtsfortbildend abringen und partizipierte hier vor allem an der herausragenden Vorarbeit des Berliner Berufungsgerichts.149 Abgesehen von der umstrittenen Frage, ob die dem Gesetzgeber von 1901 noch unbekannte Nutzungsart des
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anmerkte. Vgl. Vogt, Die urheberrechtlichen Reformdiskussionen in Deutschland während der Zeit der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus, 2004, S. 249–251; zur RomKonferenz: Goldbaum, Berner Uebereinkunft zum Schutze von Werken der Literatur und Kunst, 1928, zu § 2 Anm. 3. RGZ 113, 413, 414. Vgl. Goldbaum, Urheberrecht3 (Fn. 5), S. 94. Goldbaum, Urheberrecht3 (Fn. 5), S. 94. Bars, Zur Geschichte des Senderrechts, unveröff. Manuskr. abgedr. in: E.Schulze, Geschätzte und geschützte Noten, 1995, S. 204–212, 206. Heute in den §§ 20ff. UrhG kodifiziert. So meint auch Richard Bars, der neben Goldbaum als einer der wenigen bei der Urteilsverkündung anwesend war, im Rückblick: „Dieses Recht war gewissermaßen, wie ein Geschenk des Himmels, den Dichtern und ihren Erben in den Schoß gefallen.“ (ders., Geschichte des Senderechts [Fn. 147], S. 206).
152
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Rundfunks ein ‚Bearbeiten‘, ‚Verbreiten‘ oder ‚Vervielfältigen‘ darstellte,150 lag der heikle Punkt vor allem bei der Erschöpfungsregel in § 11 Abs. 3 LUG: Der „öffentliche Vortrag“ eines Schriftwerkes ist frei, sobald es erschienen ist. Hierauf berief sich auch die Beklagtenseite. Aber war die Sendung im Radio wirklich (nur) ein Vortrag? b)
Mut zum Lückenschluss
Der Senat schloss die unstreitige „Lücke der Auslegung“151 mit Blick auf die Urheber.152 Er sah in der Radiosendung eine Verbreitungshandlung und entschied sich für eine restriktive, den Rundfunk nicht erfassende Lesart von § 11 Abs. 3 LUG. Als maßgeblich wurden dabei die „Wirkungsbereiche“ der jeweiligen Werkvermittlung angesehen. Die Wiedergabe eines Werks durch persönlichen Vortrag, gerichtet an eine begrenzte Zahl von Anwesenden, sei keinesfalls vergleichbar mit der Wiedergabe durch gesendeten Vortrag „an eine wirklich unbegrenzte Vielheit von Menschen […] in weiteste Ferne“.153 Gesprochenes Wort und gesendete Übertragung unterfielen daher getrennten Nutzungsbestimmungen, sobald ein Werk wiedergeben wird. Am technischen Fortschritt des Radios, mag es sich künftig als „Anreger zur Bildung“ oder als „Verführer zur Oberflächlichkeit“ herausstellen,154 sei der Urheber tunlichst zu beteiligen. Dies wäre indes nicht der Fall, „wenn der Rundfunk, als öffentlicher Vortrag, freistehe.“155 Sinngemäß lauteten die Gründe in dem zweiten, zeitgleich veröffentlichten Rundfunkurteil gegen die ‚Mitteldeutsche Rundfunk AG‘: Wer ein Bühnenwerk ohne Einwilligung des Urhebers sendet, verletzt ihn in seinen Rechten.156 Schon die Dresdner Berufungsinstanz sagte klar und deutlich, dass die dem Urheber gewährten „Ausschlußrechte“ extensiv auszulegen sind, sie wurden ihm „zum
150 Vgl. dazu H.-P. Hillig, UFITA I/2016, 179, 180f.; zum gesamten Meinungsstand eingehend Vogt, Reformdiskussionen (Fn. 143), S. 269–275; zeitgenössisch prägnant: Allfeld, Das Urheberrecht an Werken der Literatur und der Tonkunst, 2. Aufl. 1928, zu § 11 Anm. 4 aE. 151 Es handle sich nicht um eine „Gesetzeslücke“, sondern nur „um eine Lücke der Auslegung, die sich herausgestellt hat durch neue, die Unzulänglichkeit des bisherigen Maßstabs beweisende Erfahrungen. Diese Lücke muß durch berichtigte [sic!] Auslegung geschlossen werden.“ RGZ 113, 413, 419. 152 Der Senat und Goldbaum werden scharf kritisiert von Marwitz/Möhring, Urheberrecht (Fn. 76), zu § 11 Anm. 12, u. Anm. 34. 153 RGZ 113, 413, 421. 154 RGZ 113, 413, 423. 155 RGZ 113, 413, 422. 156 RG, Urt. v. 12. 5. 1926 – I 422/25 = JW 1926, 1665–1667 m. Anm. Elster = GRUR, 343–345 – Hanneles Himmelfahrt; vgl. auch die Berufungsinstanz OLG Dresden, Urt. v. 12. 11. 1925 – IV 4 O 204/25 = MuW 1926, 128f.
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Lohne und Ansporn“ gegeben, zur „volle[n] wirtschaftliche[n] Ausbeute mit nur wenigen bestimmt erklärten Einschränkungen“.157 Auf Goldbaums Initiative hin hatte Gerhart Hauptmann hier eine Klage in Leipzig anhängig gemacht.158 Im Februar 1925 sendete die ‚Mitteldeutsche‘ seine anspruchsvolle Kindertragödie ‚Hanneles Himmelfahrt‘, und zwar in Gestalt einer Aufführung „im Senderaume von Schauspielern und Schauspielerinnen mit verteilten Rollen und in dramatischer Bewegung, wie wenn sie auf der Bühne wären.“159 c)
Goldbaums Verbreitungstheorie
Für Goldbaum bedeuteten die Urteile vor allem wissenschaftlich einen vollen Erfolg. Gegen die ‚Vortragstheorie‘, die der Anwalt und umtriebige Interessenagent des Radios, Dr. Willy Hofmann, damals wenig überraschend vertrat,160 entwickelte Goldbaum eine den Schriftstellern angemessene ‚Verbreitungstheorie‘, die nun mit dem Reichsgericht im Rücken schnell zur „herrschenden Meinung“161 erstarkte.162 Sein Kernargument war keinesfalls nur ein begriffliches, sondern zielte sowohl auf die technische wie auf die wettbewerbliche Seite der Nutzung. Das Radio trete „neben Druck, Film, Grammophon als vierter gewaltiger Vermittler zwischen Werk und Öffentlichkeit“.163 Es ermögliche „eine neue Art der Verbreitung von Werken, nämlich eine Verbreitung ohne Vervielfältigung.“164 Befugnisse zu neuen Nutzungsarten „wachsen aber dem Urheber zu“, weder dem Vermittler noch der Öffentlichkeit.165 Auch wirtschaftlich gesehen müssten Urheber ausschließlich über die Sendung ihrer Werke verfügen können: Denn das Radio macht mächtig Konkurrenz, es kann „sich aller Werke be157 OLG Dresden MuW 1926, 128f., 129 [li.Sp.]. 158 Die Gerichtsorte, Berlin und Leipzig, wurden nach eigener Schilderung aus prozesstaktischen Gründen gewählt. Hauptmann sollte einen anderen Radiosender in Leipzig verklagen, da „das Berufungsgericht der Dresdener Spezialsenat war.“ (Goldbaum, Urheberrecht3 [Fn. 5], S. 94). 159 RG GRUR, 343–345, 343 – Hanneles Himmelfahrt. 160 Hoffmann, Arch. f. Funkr. 1928, 228–231; ders., GRUR 1925, 70–75, insb. 71f.; gute Darstellung des Meinungsstands bei Runge, Urheber- und Verlagsrecht (Fn. 6), S. 91–93; aus heutiger Sicht H.P. Hillig, UFITA I/2016, 179, 180. 161 Marwitz/Möhring, Urheberrecht (Fn. 76), zu § 11 Anm. 12. 162 „Die neue ‚Theorie‘ ging ‚glatt über die Bahn‘“, so Goldbaum, Urheberrecht3 (Fn. 5), S. 95. Das Kammergericht in der causa von Hofmannsthal gab hier den Takt vor. Als erster und nahezu einziger (!) Literaturnachweis wird Goldbaums Kommentar angeführt, vgl. KG GRUR 1925, 282–284, 282 [re.Sp.]. 163 Goldbaum, JW 1925, 930f., 930 [Hervorheb. v. Verf.]; ähnlich ders., Arch. F. Funkr. 1928, 210–213, 213. 164 Goldbaum, JW 1925, 930, 930 [re.Sp.]. 165 Goldbaum, Urheberrecht1 (Fn. 45), zu § 14 Anm. 3.
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mächtigen.“166 Mit der neuen Rechtsprechung hatte sich die Situation für den Rundfunk freilich gewandelt. Laut einer Anekdote Richard Bars’ hätte der „Rundfunk-Direktor Wagner“ nach Urteilsverkündung sogar eine Art „Schwächeanfall“ erlitten, vor lauter Ratlosigkeit, woher er nun „die Rechte für ein Gedicht von Liliencron“ bekomme.167 Die Verbreitungstheorie bekam in den 1950er-Jahren heftigen Gegenwind durch die Leistungsschutzbewegung.168 Obwohl die Aussicht auf erfolgreiche Gegenwehr gering war, da sich der Streit spätestens mit Anerkennung des Senderechts in § 13 des Referentenentwurfs erledigt hatte,169 legte Goldbaum in der letzten Auflage seines Kommentars noch einmal nach. So sicherte er die Theorie u. a. mit einem langen Zitat aus der Dissertation Ludwig Giesekes ab, einem Veteranen des Arbeitskreises ‚Geschichte und Zukunft des Urheberrechts‘, um Überzeugungskraft auch aus der Quelle der Tradition zu schöpfen.170 Ungeachtet dogmatischer Grabenkämpfe sollte Goldbaums Versprechen, die ‚Angelegenheit auf breiter Ebene auszutragen‘, vor den Toren der Justiz jedenfalls nicht haltmachen. Schon im Juni 1926 gründete er gemeinsam mit Richard Bars über den ‚Verband deutscher Bühnenschriftsteller‘ ad hoc eine Berliner ‚Gesellschaft für Senderechte mbH‘, die von nun an mit der kollektiven Rechtewahrnehmung beauftragt war und der Reichsrundfunkgesellschaft Generallizenzen erteilte.171 „Der eiserne Roland des neuen Berlin“, wie der Urheberrechtler Alfred Baum den Funkturm zur Einweihung 1926 taufte, sendete ab jetzt vorgetragene Werke nur noch mit Einwilligung der Schöpfer an die Millionen von Menschen.172 Aber nicht nur in Berlin und Leipzig, auch auf internationaler Bühne machte sich Goldbaum bemerkbar. So sparte er nicht mit Kritik an der römischen Revisionskonferenz, die in seinen Augen mit Art. 11bis Abs. 2 RBÜ der „Radio-
166 Goldbaum, Art. 158 WRV, in: H.C. Nipperdey (Hg.), Die Grundrechte und Grundpflichten der Reichsverfassung III, 1930, S. 374–384, 380; ferner ders., GRUR 1925, 230–232, 232f. 167 Bars, Geschichte des Senderechts (Fn. 147), S. 207. Der erste Direktor der Berliner Funkstunde, Friedrich Georg Knöpfke (1874–1933), wurde dagegen von Goldbaum, Verfall und Auflösung (Fn. 18), S. 68f., mit Kritik bedacht. 168 Eingehende Auseinandersetzung bei Goldbaum, Urheberrecht3 (Fn. 5), S. 96–109. 169 Die Verbreitungstheorie wurde explizit verworfen, vgl. Referentenentwurf, Begründung (Fn. 128), S. 95f. 170 Vgl. Goldbaum, Urheberrecht3 (Fn. 5), S. 96, mit Zitat aus: Gieseke, Geschichtliche Entwicklung des Deutschen Urheberrechts, 1957, S. 15. 171 H.P.Hillig, UFITA I/2016, 179, 185; aufschlussreich E.Fischer, Arch. f. Gesch. d. Buchw. 21 (1980), Sp. 2–666, 464–467, der von späteren Konflikten mit dem beteiligten ‚Schutzverband deutscher Schriftsteller‘ berichtet und auf „Ungereimtheiten“, insbesondere auf überzogene Verlegeranteile bei der Ausschüttung der Zeilenhonorare aufmerksam macht. 172 Baums Allegorie entstammt einem Gedicht anlässlich der Eröffnungsfeier, zit. n. Haensel, Leistungsschutz (Fn. 91), S. 14.
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zwangslizenz“ Tür und Tor geöffnet habe, um „alle Werke sofort nach Erscheinen […] zu expropriieren […].“173 Im Ergebnis, so kann mit Runge formuliert werden, zeigte Goldbaums Kampf für die Bühnenschriftsteller und ihr Senderecht, „wie durch die Zusammenarbeit von Wissenschaft und Rechtsprechung […] neue Erfindungen so in die Rechtsordnung eingefügt werden können, daß damit den praktischen Bedürfnissen genügt ist.“174 Eine Fortsetzung findet Goldbaums vehementer Einsatz für den Urtypus des freien Schöpfers in den 1950er-Jahren. Anders als bei den Rundfunkurteilen aus der Weimarer Republik hatte sich der Kontext indes verbreitert. Durch die alltagstauglich gewordenen Technologien von Film, Fernsehen und Rundfunk traten nun Industrie und Kollektive ausübender Künstler erneut auf den Plan. Im Zeichen der in der Medienkultur herrschenden „Marilyn-Monroe-Doktrin“175 konkurrierten mit dem Senderecht das Recht an der Sendung und mit dem Werk die Vorführung und Interpretation. Aus Goldbaums Sicht durfte der Rubikon des ursprünglichen LUG freilich nicht überschritten werden – Schöpfung, nicht Leistung!
3.
Das Diskursfeld – „Noch ein Beitrag zu den sogenannten Nachbarrechten“
Unter dem Titel „Jurisprudenz auf dem Holzwege“ publizierte Alois Troller, Luzerner Advokat, Vize-Präsident der ALAI und Freiburger Rechtsprofessor, im Jahre 1959 eine kleine, aber gehaltvolle Schrift zum Leistungsschutz.176 In Anspielung auf Herders „Note der Bescheidenheit“177 gab Troller ihr den Untertitel „Noch ein Beitrag zu den ‚sogenannten Nachbarrechten‘ oder dem ‚Leistungsschutz‘ […]“. Dies war offensichtlich zu tiefgestapelt, da er nicht nur, um bei Herder zu bleiben, „ein fliegendes Blatt, ein Beitrag zu Beiträgen“ verfasste, sondern mit seiner Schrift bereits Ende der 1950er-Jahre einen langen Bilanzstrich unter den Disput zum Leistungsschutz ziehen konnte. Alle ‚große Namen‘ – von Hoffmann und Runge über de Sanctis bis zu Nipperdey, Ulmer oder Hubmann – sind hier versammelt und werden von Troller eingehend gewürdigt.
Goldbaum, Berner Uebereinkunft (Fn. 143), zu Art. 11bis Anm. 2. Runge, Urheber- und Verlagsrecht (Fn. 6), S. 93. Goldbaum, Schöpfung (Fn. 11), S. 53. Die kurze, aber gehaltvolle Broschüre erschien als Band 13 der Schriftenreihe der INTERGU e.V., bekannt für ihre ablehnende Haltung gegenüber den neuen Schutzrechten. 177 Herder, Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, Vorrede 1784, zit. n. Berlin/ Weimar 1965, Bd. 1, S. 7–17.
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Die Kompromissformeln von Troller und Hubmann
Troller selbst war an der Ausarbeitung der „Principes inter-auteurs“, dem Gegenentwurf der ALAI-CISAC, beteiligt und hatte zuvor schon eine längere Abhandlung für die Beilage ‚L’artiste exécutant‘ geliefert, in der er ausführlich auch die sozioökonomische Lage von verschiedenen Berufsgruppen ausübender Künstler behandelte.178 Während Troller die Kategorie des Leistungsschutzrechts grundsätzlich ablehnte, wollte er bei den ausübenden Künstler differenzieren: für ‚nachschaffende‘ Künstlern nur arbeitsrechtlichen Schutz, für schöpferische Interpreten, die zwar abhängige, aber durchaus eigene ‚Werke‘ produzieren, sollte dagegen Urheberrechtsschutz eingreifen.179 Aus heutiger Sicht erscheint sein Standpunkt überlegt, auf urheberrechtlichen Systemerhalt bedacht und beinahe konservativ, denn seine Beispiele zu schöpferischen Interpreten orientierten sich nur an dem engen, arbeitsrechtlichen Muster des ‚leitenden Angestellten‘180 – Dirigent, Solist und Regisseur. Umso mehr dürften die heftigen Attacken auf „Herr[n] Doktor Troller“ von Goldbaum überraschen, der ihn der gemeinsamen Sache mit der Leistungsschutzbewegung bezichtigte. Insbesondere Trollers Konstruktion einer Miturheberschaft mit dem Interpreten war Goldbaum ein Dorn im Auge. Es führe zu „monströsen“ Folgen, da „dem Schöpfer nicht ein Ausübender verbunden wird, sondern, unter Umständen, tausende […].“181 Eine ähnliche Gereiztheit findet sich in der Kritik an der fein justierten Auffassung von Heinrich Hubmann, der Verwertungsrechte für ausübende Künstler, auch das Aufführungsrecht, grundsätzlich ablehnte und – abgesehen von arbeitsund wettbewerbsrechtsrechtlichen Regelungen – lediglich für einen persönlichkeitsrechtlichen Schutz eintrat. Ein maßgebliches Argument für seine Ansischt, das auch Goldbaum keineswegs fremd war,182 bildeten für Hubmann die verschiedenen „wirtschaftlichen Verhältnisse“.183 Während Musiker oder Schau178 Troller, L’avant-projet de convention internationale relative à la protection des artistes interpètes […], in: Le Droit d’Auteur, November 1956, 93–104, insb. 95ff.; ders., Les droits prétendument ‚voisins‘, in: L’artiste exécutant, Mai 1956, 21f. (Teil I), u. Juni 1956, 29–35 (Teil II), insb. 32–35. 179 Troller, Jurisprudenz (Fn. 127), S. 63–65, 81–84, 94f., 98–100; ders., L’artiste exécutant, Juni 1956, 29–35, 30f. 180 Zurückgehend auf § 1 Nr. 1 Angestellten-Versicherungsgesetz von 1924, das in Nr. 5 noch die „Bühnenmitglieder und Musiker ohne Rücksicht auf den Kunstwert ihrer Leistungen“ als (reguläre) Angestellte bezeichnet. Vgl. dazu Kaskel, Arbeitsrecht, 1. Aufl. 1925, S. 32–34 mit Note 1. 181 Goldbaum, Schöpfung (Fn. 11), S. 23 [Hervorheb v. Verf.]. 182 Deutlich in seiner Verbandstätigkeit zur Arbeitsrechtsreform, vgl. Sorge, Abhängige Autoren (Fn. 31), S. 70–81, insb. 75ff. 183 Hubmann, Schutz des ausübenden Künstlers (Fn. 125), S. 27–30, 47–49; ferner ders., Urheber- und Verlagsrecht, 1. Aufl. 1959, S. 36–40, 42–45.
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spieler „auf Bestellung“, häufig sogar in fester Anstellung ihr „Leistungsergebnis“ durch Lohn vergütet bekommen, seien Urheber selbständig, produzierten auf eigene Rechnung und auf eigenes Risiko.184 Daher sei es rechtspolitisch nur für den freien Schöpfer vertretbar, dass er „alle Verwertungsmöglichkeiten seines Werkes“ ipso iure erhält – von der Erstverwertung bis zur „Verwertung auf der Verbraucherstufe“.185 Diese bereits von Arbeitsrechtlern in der Weimarer Republik186 herausgestellte Differenz zwischen ‚Lohn- und Unternehmensschutz‘ war nicht sonderlich originell, konnte aber mit der Zustimmung vieler anderer Gelehrter im Urheberrecht rechnen.187 b)
Goldbaums rechtstheoretische Kritik
Vielleicht verübelte Goldbaum ihm seine Kehrtwende um 180 Grad. Denn nur fünf Jahre zuvor sprach Hubmann sich noch apodiktisch für „ein ausschließliches Verwertungsrecht“ der tätigen Künstler an ihren Vorträgen aus.188 Wahrscheinlicher dürfte allerdings sein, dass Goldbaums scharfe Angriffe nicht wegen einzelner Vorschläge von Troller und Hubmann erfolgten, sondern dass es hier vielmehr um ein fundamentales Konstruktionsproblem ging. So widmete Goldbaum insbesondere den jüngeren Urheberrechtlern ein Kapitel mit dem Titel „Die Rechtswissenschaft des Als ob und die Verantwortung der Schreiber“.189 Seine Kritik zielte dabei auf eine Methode prinzipienloser Rechtsfortbildung, nach der politische Ausnahmebestimmungen und vereinzelte Urteils184 Während hier die Differenz zwischen freien Schöpfern und ausübenden Künstlern betont wurde, grenzte man seit jeher beide gemeinsam von Gewerbetreibenden im Kultursektor ab (z. B. Schauspielunternehmer, Aufführungskommissionäre). Nach Goldbaum, Theaterrecht, 1914, S. 13, 18, sollte etwa der Auftragsschreiber für Hochzeitsreden mangels „künstlerische[r] Tätigkeit“ nicht mehr zur Berufsgruppe der ‚Schönen Künste‘, sondern zu den Gewerbetreibenden gehören. Vgl. auch ders./Jacoby, Rechte und Pflichten der Bühnen- und Filmschauspieler, 1922, S. 8, zu künstlerischen Bühnenmitgliedern. 185 Hubmann, Schutz des ausübenden Künstlers (Fn. 125), S. 29f. 186 Besonders klar war hier Wilhelm Silberschmidt (1862–1939), der gegen Potthoffs Ansicht, Urheberrecht sei in Wahrheit bloß Lohnschutz, eine eigene Theorie zur Erfassung des angestellten geistigen Arbeiters entwickelte. Vgl. nur Silberschmidt, LZ 1927, Sp. 707–718, insb. 715ff.; ders., Das deutsche Arbeitsrecht, Bd. I/1, 1926, S. 272–280; eingehend dazu Sorge, Abhängige Autoren (Fn. 31), S. 34–43. 187 So etwa Baum, GRUR 1959, 59–75, 74f.; Haensel, Leistungsschutz (Fn. 91), S. 108–134; Möhring, Die internationale Regelung (Fn. 6), S. 47–54; E.Schulze, Recht und Unrecht (Fn. 48), S. 56f.; ders., Der Künstler (Fn. 81), S. 30–35; vgl. auch beide Disziplinen gewissermaßen in Person vereinigend: Nipperdey, Der Leistungsschutz des ausübenden Künstlers, 1959, S. 44f. 188 Hubmann, Das Recht des schöpferischen Geistes, 1954, S. 178–181. Vgl. auch die etwas ‚leichtfüßige‘ Revision von dems., Schutz des ausübenden Künstlers (Fn. 125), S. 42 mit Note 60. 189 Goldbaum, Schöpfung (Fn. 11), S. 17–24.
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sprüche stillschweigend durch ein vorhandenes Rechtsinstitut vervollständigt werden, um sodann die fertige Konstruktion als Leistungsschutzrecht de lege lata postulieren zu können. In der Literatur bedient man „sich dabei des verwerflichen und verworfenen Mittels des Als ob: diese droit voisins ‚existieren‘ bereits“, schreibt Goldbaum. Ohne die Gesetzesreformen abzuwarten, habe die Wissenschaft „bereits eine Terminologie produziert, und diese Terminologie produziert Befugnisse“, obwohl die Zuständigkeit „umgekehrt sein müßte“: dem Gesetzgeber die Befugnisse, der Wissenschaft die Terminologie.190 Das Kapitel eröffnete Goldbaum mit Hans Vaihinger (1852–1933), Neukantianer und Begründer der ‚Als Ob-Philosophie‘. Vaihinger vertrat die These, dass alle Erkenntnis auf gewillkürten Fiktionen beruht und erkennende Subjekte auch in der Jurisprudenz nicht anders können, als durch „fictio iuris […] etwas NichtGeschehenes als geschehen oder umgekehrt zu betrachten“. Daneben herrsche ein bunter Strauß von Analogien, Personifikationen und Substantialisierungen, nur um Fälle mit Fiktionen zu entscheiden, „die der Wirklichkeit schroff“ widersprechen.191 Ob Goldbaum mit dem Philosophen Vaihinger einen guten Gewährsmann hatte, mag dahingestellt bleiben. Denn ging es bei der Frage nach dem Leistungsschutz wirklich um ein Problem der Erkenntnisleistung? Oder handelte es sich nicht vielmehr um eine auf sozioökonomischer Grundlage zu beantwortende Wert- und Wertungsfrage im Recht? Mehr Überzeugungskraft hätte das ‚Als-Ob-Kapitel‘ ausstrahlen können, wenn er nicht ein neukantianisches System, sondern die Fiktionslehren von Savigny und Jhering zum Maßstab der Kritik genommen hätten.192 So findet die ‚Als ob-Jurisprudenz‘ ihr historisches Pendant in Jherings „juristischer Nothlüge“, eine bereits bei den Römern gebräuchliche Figur, um neue Rechtsformen durch Scheingeschäfte ins Leben zu rufen, auch wenn es beim Leistungsschutz nicht um Geschäfte, sondern um Güter, um gewerbliche und künstlerische Leistungen und deren Ergebnisse ging.193 Und mit Savigny hätte Goldbaum nach 190 Goldbaum, Schöpfung (Fn. 11), S. 20. 191 Vaihinger, Die Philosophie des Als Ob, 7./8. Aufl. 1922, S. 48; zum römischen Recht: aaO., S. 249–251. 192 Vgl. Savigny, Vom Beruf unsrer Zeit, 1. Ausg. 1814, S. 32, zit. n.: Akamatsu/Rückert (Hg.), Politik und Neuere Legislationen, 2000, hier S. 232; Jhering, Geist des römischen Rechts III/1, 1. Aufl. 1865, S. 229–292, insb. 260–292; vgl. übergreifend Meder, Was bedeutet Dogmatik?, in: A. Raffeiner (Hg.), FS Kurt Ebert II, 2019, S. 519–540, 526–530. Zum ‚letzten Stand der Literatur‘ gehörte damals auch die von Goldbaum nicht erwähnte, 1940 erschienene Dissertation von Josef Esser, der hier die in Teilen ‚anti-romanistische‘ Kritik seines Lehrers Fritz von Hippel an der Bildersprache des Rechts aufgriff und fortführte. Vgl. dazu ausgewogen kritisch Wieacker, ZfdgS 102 (1942), 176–184. 193 Man könnte den urheberrechtlichen Leistungsschutz freilich auch der „historischen Fiction“ Jherings zuordnen. Beide Formen bilden für ihn ‚künstliche Wege juristischer Ökonomie‘. Die ‚historische Fiction‘ ziele jedoch auf die Verschleierung der faktischen Erweiterung des Rechtssatzes. Vgl. Jhering, Geist III/1 (Fn. 192), S. 289–292.
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dem Prinzip der „inneren Verwandtschaft“ die „analogische Rechtsfindung“ beim Leistungsschutzrecht verwerfen können, da hier „das Gegebene […] die Natur der Ausnahme von einer Regel hat.“194 Analogien oder dogmatische Fiktionen würden, wie Windscheid im gedanklichen Anschluss an Savigny und Jhering schreibt, in diesen Fällen gegen den Satz von der „Gleichheit des Grundes“, gegen das „Princip des Gesetzes“ verstoßen.195 Mit einem Leistungsschutz nach dem Urbild des Urheberrechts wird also nicht „die äußere Erscheinung des Gesetzes durchbrochen, um seinen Kern zu enthüllen“196, sondern gerade umgekehrt, der Kern wird durchbrochen, um den Schein des Gesetzlichen zu erzeugen. Einige Jahre nach Goldbaums Schrift wird Ernst E. Hirsch die ‚Als-Ob-Jurisprudenz‘, die das fiktive Bearbeiterurheberrecht in § 2 Abs. 2 LUG zu ihrem Ausgangspunkt genommen hatte, noch prägnanter kennzeichnen. Bei den teils fadenscheinigen Veröffentlichungen zum Leistungsschutz handele es sich in Wahrheit gar nicht um wissenschaftliche Auseinandersetzungen, sondern um einen politischen „Interessentenkampf“, um einen Kampf bloßer „Streitschriften mit Zweckargumenten zugunsten oder zuungunsten der einen oder der anderen Seite“.197 Besonders deutlich kommt dies etwa bei Elster zum Ausdruck, der 1935 für das Schallplattenschutzrecht wegen ökonomischen „Wahrheiten und Notwendigkeiten“ eine dogmatische Hydra konstruierte: das „gewerbliche-quasiurheberrechtliche“, abhängig-originäre „Zweckschutzrecht“.198 Dass sich auch Goldbaum auf dieses Terrain begab, um letztlich ‚Feuer mit Feuer‘ zu bekämpfen, gereichte seinem Werk nicht unbedingt zum Vorteil. Denn der hohe rechtstheoretische Anspruch, den er im Urheberrechtskommentar noch spielend erfüllte, litt im Spätwerk ‚Schöpfung oder Leistung‘ am polemischen Zuschnitt der Texte. Das Kapitel zur ‚Als ob-Jurisprudenz‘ steht hierfür exemplarisch.
V.
Ausblick auf den Leistungsschutz im 21. Jahrhundert
Versucht man aus der Perspektive der 1950er-Jahre einen Ausblick auf die weitere Entwicklung des Leistungsschutzrechts im 21. Jahrhundert, so sticht vor allem die Reformbeschleunigung ins Auge, die durch Digitalisierung analoger Lebens-, Konsum- und Arbeitswelten angetrieben wird. 194 195 196 197 198
Savigny, System des heutigen römischen Rechts I, 1840, § 46, S. 291, 293. Windscheid, Lehrbuch des Pandektenrechts I, 7. Aufl. 1891, § 22, S. 54. Windscheid, Lehrbuch des Pandektenrechts I, 7. Aufl. 1891, § 22, S. 54. E.E.Hirsch, Vorrede (Fn. 41), S. XVI [n.pag.]. Vgl. Elster, GRUR 1935, 140–149, u. 206–213 [Schluss], zit. 212 [re.Sp.], 208 [re.Sp.], 209 [li.Sp.].
160 1.
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Angestammte und Hinzugezogene, alte und neue Nachbarn im UrhG
Die ‚Nachbarrechte‘ zum Kernurheberrecht sind auf insgesamt zehn Schutzrechte angewachsen, zuletzt kamen Datenbankhersteller (§§ 87a-e UrhG) und Presseverleger (§§ 87f-h UrhG) hinzu. Neben der besonders reformfreudigen EU-Regulierung spielt beim Leistungsschutz der internationalrechtliche Kontext nach wie vor eine große Rolle. Mit dem TRIPS-Übereinkommen 1994 und dem WIPO-Vertrag über Darbietungen und Tonträger 1996 (WPPT) wurde die in Rom begonnene ‚Via Appia‘ des Leistungsschutzrechts fortgeführt und ausgebaut. Die Kontinuität auf dem Papier darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich die Lage seit TRIPS und WIPO radikal gewandelt hat. Inzwischen sind traditionelle Werkmittler durch digitale Dienstleister selbst in die Defensive geraten. Auch angestammte Medienunternehmen wie die New York Times kamen durch sogenannte „Aggregationsdienste“ ins Straucheln.199 Suchmaschinen, Social Media sowie Streaming- und Cloud-Dienste vermitteln Leistungsergebnisse von Presse, Verlag und Musikindustrie, machen geschützten ‚Content‘ über Nutzerupload zugänglich und geben die Inhalte für die Masse öffentlich wieder, häufig ohne Einwilligung des Leistungsschutzberechtigten. Ging die ‚Kuchentheorie‘ noch davon aus, dass allein den Urhebern vom Vergütungskuchen etwas weggenommen werden kann,200 so fürchten nunmehr auch die Werkmittler um ihre in den 1950er-Jahren errungenen Rechte und Einnahmen. Die „Hypertrophie“201 der geschützten Immaterialgüter im Urheberrechtsgesetz scheint sich dem Ende zuzuneigen und die einstige ‚Bewegung‘ übt sich vermehrt in Bestandsschutz. In Zeiten der Plattformökonomie verwundert es daher kaum, dass die DSM-Richtlinie neben der Wahrung des öffentlichen Kulturerbes auch zur Rettung eines verlagsbetriebenen „Qualitätsjournalismus“ und „einer freien und pluralistischen Presse“ angetreten ist.202 Mit dem geplanten „Digital Services Act“ geraten jetzt auch Host Provider in den Fokus der Regulierung.203 Doch wo bleibt bei alledem das ‚Werk‘, wo findet der ‚freie Schöpfer‘ seinen Platz im großen Gebäude eines zunehmend entsubjektivierten Immaterialgü-
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So in der Mitteilung EU COM (2015) 626 final, S. 11. Siehe oben III. 3. bei Fn. 92. Kritisch zum häufig verwendeten Topos jüngst Anger, Verwandte Schutzrechte, 2022, S. 176f. Insb. Artt. 6, 15 u. Erwägungsgründe 5, 54 RL (EU) 2019/790 – DSM-Richtlinie. Vgl. Spindler, GRUR 2022, 593f.; Janal, GRUR 2022, 211–221, 215–217; Berberich/Seip, GRUR-Prax 2021, 4–7.
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terrechts?204 Wirft man nur beiläufig einen Blick auf zwei wichtige ‚Mitteilungen der Kommission‘ von 2015 zum Urheberrecht205 und zieht die Summe aus den jüngeren Richtlinien, dann fällt auf, dass hier nicht die Urheber und die „Rechte des geistigen Eigentums in der Union“ (Art. 118 Abs. 1 AEUV) im Mittelpunkt stehen, sondern stets von einer einheitlich verstandenen ‚Kreativwirtschaft‘ die Rede ist.206 Nach der Kommission sind Schöpfung und Leistung „zwei Seiten einund derselben Medaille“ – schöpferische Inhalte und innovative Dienstleistungen garantieren den „Erfolg der Internet-Wirtschaft“.207 Anders aber als im Bild der Medaille liegen die Rechte an ‚Schöpfung und Leistung‘ selten in einer Hand. Hat sich also Goldbaums Menetekel von „Verfall“ und „Zersetzung“, von einer „wachsende[n] Interesselosigkeit“ an einem Kernurheberrecht erfüllt?208
2.
Dialektik des technischen Fortschritts als Chance für das Kernurheberrecht
Zwei Gründe dürften gegen dieses düstere Szenario sprechen. Zum einen bemüht sich der EuGH seit seiner Infopaq/DDF-Entscheidung, die insularen Regelungen der Richtlinien mit einem europäischen Werkbegriff einzuhegen. Trotz einiger Schwächen dieser rein richterrechtlichen Lösung209 versteht der EuGH die „eigene geistige Schöpfung“ als individuelle Gestaltung und bleibt damit einem Kernurheberrecht im Sinne Goldbaums zumindest nahe.210 Auch ein europäi204 Flankiert durch die Zunahme algorithmischer Technik- und ‚Kultur‘-Produktionen, vgl. nur Dornis, GRUR 2021, 784–792; Ory/Sorge, NJW 2019, 710–713 [letzt. nicht m. Verf. ident.]; s. auch den Beitrag von Natalia Theissen zu KI und Urheberrecht in diesem Band. 205 Mitteilung COM (2015) 626 final – modernes Urheberrecht; Mitteilung COM (2015) 192 final – Strategie für einen digitalen Binnenmarkt. 206 Ausgangspunkt des europäischen Urheberrechts bleibt die kommerzielle Sphäre, wo (gesetzliche) Vergütungsansprüche, nicht aber das mit der Person des Schöpfers verbundene Werk die Hauptrolle spielen. Der enge „Rahmen der Verwirklichung […] des Binnenmarkts“ definiert somit unvordenklich die „Rechte des geistigen Eigentums“, Art. 118 Abs. 1 AEUV. Vgl. auch A.Nordemann/J.B.Nordemann u. a., in: Fromm/Nordemann, Urheberrecht, 12. Aufl. 2018, zu § 11 Rn. 5. 207 So noch die Kommission in der Mitteilung EU COM (2015) 626 final – modernes Urheberrecht, S. 10. 208 Goldbaum, Verfall und Auflösung (Fn. 18), S. 9, 89. 209 Mit nur zwei definitorischen „Elementen“ lässt sich denn auch kaum die jahrhundertelange Arbeit an einem urheberrechtlichen Ordnungssystem auf mittlerer Abstraktionshöhe erledigen. Ähnlich G.Schulze, GRUR 2009, 1019–1022; für eine konsolidierende Richtlinie des „Urheberrechtsacquis“: Rehbinder/Peukert, Urheberrecht (Fn. 24), Rn. 168; vgl. ferner Sorge, Abhängige Autoren (Fn. 31), S. 124f. 210 EuGH GRUR 2019, 934 Rn. 37–51 – Infopaq; eingehend Schack, Urheber- und Urhebervertragsrecht10 (Fn. 50), S. 106–113 Rn. 184–202 (insb. 185, 188, 194); Wandtke/Ostendorff, Urheberrecht, 8. Aufl. 2021, S. 59–62 Rn. 4–6.
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scher ‚Verfall‘ der Berner Union ist wegen Art. 1 Abs. 4 WIPO-Urheberrechtsvertrag nicht zu befürchten.211 Zum anderen, und für das Kernurheberrecht wesentlich bedeutsamer, ist die jüngere Entwicklung der Digitalisierung zu würdigen. So befindet sich das auf zentralisierten Host- und Access-Servern beruhende Web 2.0 inzwischen in einem gewaltigen Umbruch zu dezentralisierten Netzwerken und Peer-to-PeerSystemen. Dieser Wandel birgt frisches Emanzipationspotenzial für freie Schöpfer. Durch Innovationen wie die sog. Distributed-Ledger-Technologie mit Konsensalgorithmus (Blockchain) könnten gewisse ‚Besitzstände‘ bei der Organisation, Distribution und dem Austausch von Kulturgütern aufgebrochen werden.212 Betroffen sind dabei sowohl traditionelle Werkmittler, aber auch die großen, digitalen Diensteanbieter. Denn Blockchain-Protokolle und darauf basierende Netzwerke sind nicht bloß ‚verteilte Datenbanken‘ und erfüllen ähnliche Funktionen wie ein Grundbuch oder andere öffentliche Register. Für Urheber und sonstige Kreative ergibt sich vielmehr die damit einhergehende Möglichkeit, eigene Marktzugänge einzurichten und zu unterhalten, flexibel Nutzungsrechte einzuräumen und auszugestalten sowie massenhaft Transaktionen in eigenem Namen und auf eigene Rechnung sicher und ohne zusätzliche Vertrauensgaranten abzuwickeln.213 Hoffnungen auf ein ‚schöpferorientiertes Upgrade‘ der (gescheiterten) digitalen Rechteverwaltung (DRM) sind ebenfalls nicht ganz unbegründet. Denn die Idee des Web 3.0, anstelle von intermediären Beziehungen Produzenten und Nutzer direkt miteinander zu verbinden, trägt mit dezentralen Applikationen bereits erste Früchte.214 Das breite Anwendungsfeld im Kulturbereich sei hier mit Stichworten wie ‚digital IP-Protection‘, ‚Smart Contracts‘ oder ‚Non-Fungible-Tokens‘ nur angedeutet.215 Aus urheberrechtlicher Sicht ist sicherlich zunächst Skepsis angezeigt, entsprang die jetzt vor allem in Florida und Texas beheimatete ‚Tech-Bewegung‘ doch einem libertären Milieu und war anfangs dem Prinzip der ‚rule of law‘ nicht 211 Auf die Integrationsklausel hebt auch EuGH GRUR 2019, 73 Rn. 38 – Levola/Smilde, ab. 212 Methodisch könnte dies ähnlich analysiert werden wie einst Pütter im 18. Jahrhundert neue verlegerische Produktionsverhältnisse durchleuchtete. Vgl. dazu Sorge, Die ‚selbstredende Natur der Sache‘, in: Meder (Hg.), Geschichte und Zukunft des Urheberrechts, 2018, S. 147– 177, 160–164, 175–177. 213 So zumindest das Versprechen. Hier ist vieles im Fluss und das meiste noch im ‚Laborstadium‘; sehr aufschlussreich dazu Janssens/Vanherpe, IRDI 2018, 93–110, insb. 105–109; vgl. auch den Entwurf einer Copyright Exchange von Liu, Buffalo Law Rev. 69/4 (2021), 1021– 1094, insb. 1034–1043, 1049–1062. 214 Eingehend dazu Glatz, Blockchain, in: Breidenbach/ders. (Hg.), Rechtshandbuch Legal Tech, 2. Aufl. 2021, S. 83–104 Rn. 12, 20–24, 45–50, 55–60; skeptisch aus datenschutzrechtlicher Sicht: Steinrötter, ZBB/JBB 2021, 373–390, insb. 373–383. 215 Vgl. nur Glatz, Filmrechte, in: Breidenbach/ders. (Hg.), Rechtshandbuch (Fn. 214), S. 209– 218; Heine/Stang, MMR 2021, 755–760 (Kunstmarkt); Schawe, MMR 2019, 218–222 (Rechtemanagement); Hohn-Heine/Barth, GRUR 2018, 1089–1096 (Immaterialgüterrecht).
Adversus Mediatores
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gerade zugewandt.216 Eine Abweisung a limine von Seiten der Wissenschaft wäre jedoch grundfalsch. Auch die WIPO hat kürzlich einen Artikel zu den Möglichkeiten von „IP rights“ auf „Blockchain platforms“ in ihrem Hausorgan lanciert.217 Dass es sich keinesfalls (nur) um Technikträume handelt, beweisen darüber hinaus sowohl der Musik- und Kunstmarkt218 als auch der Bereich kollektiver Rechtewahrnehmung.219 So hat im letzten Jahr die italienische Verwertungsgesellschaft Società Italiana degli Autori ed Editori (SIAE) damit begonnen, über vier Millionen Non-Fungible-Tokens auszugeben, um Autorenrechte auf Basis der Blockchain-Technologie digital zu repräsentieren und verfügbar zu machen.220 Es mag verfrüht sein, hier von einem weiteren digitalen Strukturwandel zu sprechen. Doch ähnlich wie sich die historische Emanzipation des Urhebers mit Goldbaum als ein ‚Abstreifen überlebter Ungerechtigkeit‘221 oder mit dem ersten Senat als ein „Umweg“ über die Verwerter beschreiben lässt,222 können die neuen digitalen Potenziale zumindest als Entwicklungshelfer für ein schöpferorientiertes Urheberrecht begriffen werden.
3.
Zurück zum Lauterkeitsrecht?
Bis heute sind die von Goldbaum beschriebenen Gefahren für das Kernurheberrecht nicht von der Hand zu weisen. Eine nur Investitionsschutz bezweckende Rechtevermehrung ins Unendliche schadet Kulturkonsumenten genauso wie dem schwächsten Glied in der Kette der Kreativwirtschaft – nämlich freischaffenden Urhebern. Beide Gruppen werden durch neue Schutzmonopole „mit der 216 Dazu kritisch Nemitz/Pfeffer, Prinzip Mensch, 2020, S. 168–183, allerdings technische Innovation, Machtmissbrauch und Big Tech verkürzend gleichgesetzt. 217 Rose, Blockchain: Transforming the registration of IP rights and strengthening the protection of unregistered IP rights (https://www.wipo.int/wipo_magazine_digital/en/2020/arti cle_0002.html; zuletzt abger. 18. 12. 2021). 218 Besonders aufsehenerregend war die 2021 erfolgte ‚Versteigerung‘ eines NFT-Kunstwerks des Künstlers ‚Beeple‘ bei Christie’s für die Rekordsumme von über 69 Millionen Dollar (https://www.christies.com/features/Monumental-collage-by-Beeple-is-first-purely-digital -artwork-NFT-to-come-to-auction-11510-7.aspx; zuletzt abger. 15. 12. 2021). Zur MusikBranche vgl. https://www.sueddeutsche.de/kultur/musikrechte-plattform-catalog-works-w u-tang-clan-1.5463784 (zuletzt abger. 15. 12. 2021). 219 Vgl. dazu Bouchagiar, in: Journal of the Copyright Society of the USA 66 (2019), 201–225. Selbst die VG Bild-Kunst ist bereits mit dem Thema konfrontiert worden, vgl. nur https:// www.btc-echo.de/news/nfts-nach-70-jahren-wertlos-digitale-kunst-trifft-auf-das-urheberr echt-114971/ (zuletzt abger. 15. 12. 2021). 220 Vgl. https://www.siae.it/it/iniziative-e-news/siae-rappresenta-i-diritti-degli-autori-con-asse t-digitali-creati-pi%C3%B9-di-4000000 (zuletzt abger. 15. 12. 2021). 221 Goldbaum, Schöpfung (Fn. 11), S. 12. 222 BGH GRUR 1960, 614–619, 616 – Figaros Hochzeit.
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Hypothek ‚Industrie‘ belastet.“223 Dass seit dem Schallplattenurteil von 1910224 für das Leistungsschutzrecht allerdings auch nach Lösungen im Lauterkeitsrecht gesucht wird, kann Goldbaums These, Urheberrecht sei ausschließlich ‚Schöpferund Werkschutz‘, zwar nicht in Gänze beglaubigen, aber zumindest in Teilen bestätigen.225 Abgesehen von den umstrittenen Fragen zur Nachahmungsfreiheit oder zur Verhaltens- und Ergebnisbezogenheit des Leistungsbegriffs dürfte jedenfalls Einigkeit darin bestehen, dass das Lauterkeitsrecht nicht mehr nur, wie Ulmer noch meinte, bloß „Schrittmacher“ auf dem Weg ins Urheberrecht ist.226 Vielmehr könnte das Lauterkeitsrecht ebenso als ein dauerhaftes Auffangnetz für den Schutz gewerblicher Kulturleistungen unterhalb oder jenseits der Schwelle persönlich geistiger Schöpfungen fungieren.227 Wenn Haimo Schack das Urheberrecht in einer „Legitimationskrise“ sieht und für den „wild gewachsenen Obstbaum“ die „Säge“ anzulegen empfiehlt,228 dann wären einige Zweige als Setzlinge im Lauterkeitsrecht vielleicht besser aufgehoben, um dort neue Wurzeln zu schlagen.229 Goldbaums Prophezeiung dagegen, dass in dem Augenblick, wo sich der Leistungsschutz durchsetzt zugleich das Kernurheberrecht zusammenstürzen muss, „da die Technik in das Unangemessene und fast Unmeßbare die Verwendung schöpferischen Geistesgut steigert“,230 war schon damals zu schwarzgemalt, zu dystopisch und berücksichtigte nicht die Dialektik des technischen Fortschritts.
223 So E.Schulze, Der Künstler (Fn. 81), S. 20f. 224 RG, Urt. v. 7. 4. 1910 – VI 344/09 = RGZ 73, 294–298. 225 Vgl. nur Eck, in: Gloy/Looschelders/Danckwerts, Wettbewerbsrecht, 5. Aufl. 2019, § 22 Rn. 12–17; Bullinger, in: Wandtke/ders., Urheberrecht, 5. Aufl. 2019, zu § 2 Rn. 160–162; Dreier, in: ders./Schulze, Urheberrechtsgesetz, 7. Aufl. 2022, Einl. Rn. 37; eingehend Schröer, Der unmittelbare Leistungsschutz, 2010, S. 349–353, 383–388, 476–482, der freilich einen (weit) über das Wettbewerbsrecht hinausgehenden Tatbestand konstruiert. 226 Ulmer, Der wettbewerbliche Schutz der Schallplattenhersteller, in: Möhring/ders./Wilde (Hg.), FS W. Hefermehl, 1971, S. 189–199, 199. 227 In Bezug auf den Grundsatz der Nachahmungsfreiheit schließt sich der Kreis zu der von Pfennig und Brugger angestoßenen Debatte zum Kartell- und Wettbewerbsrecht Ende der 1950er-Jahre in der UFITA; vgl. Pfennig, UFITA 25/I (1958), 129–151; Brugger, UFITA 27/I (1959), 189–232 [Teil 1], u. 31 (1960), 1–63 [Teil 2]. 228 Schack, Weniger Urheberrecht ist mehr, in: Bullinger/Grunert u. a. (Hg.), FS Wandtke, 2013, S. 9–20, 10. 229 Zumal „die Wurzeln dessen, was man heute als Leistungsschutz behandelt, zum Wettbewerbsrecht gehört und in den §§ 826 BGB und 1 UWG bereits geregelt ist“, so pointiert bereits Haensel, Leistungsschutz (Fn. 91), S. 44 [Hervorheb. v. Verf.]. 230 Goldbaum, Verfall und Auflösung (Fn. 18), Vorwort.
Natalia Theissen
Künstliche Intelligenz und Urheberrecht zwischen Gegenwart und Zukunft. Auf der Suche nach dem Urheber der KI-generierten Werke
I.
Einleitung
Die künstliche Intelligenz (KI) ist gleichzeitig ubiquitär und opak. Diskurse über Sinn, Zweck und Konsequenzen der KI finden nicht mehr ausschließlich im Rahmen eines intra- oder interdisziplinären Austausches statt, sondern erfolgen auch im nicht-akademischen Bereich. Gerade im Entertainment wurden und werden sowohl utopische als auch dystopische Szenarien evoziert. Sei dies eine KI in positronisch humanoider Form, die von Asimov als dem Menschen dienend imaginiert wurde,1 oder eine KI, die die menschliche Zivilisation dominiert und versklavt.2 Auch unabhängig von Werken des Genres der Science Fiction scheint der KI in einigen Bereichen ein Bedrohungspotential innezuwohnen. So hat die unter anderem von Elon Musk und Microsoft unterstützte Non-Profit-Organisation OpenAI LP das NLG-Programm ‚GPT-2‘, das englische Texte vervollständigt, ohne auf vorher festzulegende Textabschnitte zugreifen zu müssen, im Februar 2019 der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Die Vollversion wurde zunächst nicht veröffentlicht, da OpenAI „(…) concerns about malicious applications of the technology (…)“ habe.3 Zu statuieren ist aber unzweifelhaft, dass sich kreative und analytische Prozesse durch den Einsatz von KI zunehmend verselbstständigen und in das öffentliche Bewusstsein eindringen. So wurde das Gemälde ‚Edmond de Bellamy‘ aus der Bellamy-Serie durch KI autonom hergestellt und für 432,500 USD veräußert.4 Gerade hinsichtlich des Schutzes der durch KI-gestützten oder durch KI partiell autonom geschaffenen künstlerischen oder literarischen Werke steht das 1 Asimov Runaround in: I, Robot, 1. Aufl. 1950. 2 U. a. Der Film ‚Matrix‘, 1999. 3 https://openai.com/blog/better-language-models/ (letzter Zugriff: 24. 02. 2022). Trotz der äußerst medienwirksamen Deklaration der Gefahr einer potentiellen missbräuchlichen Anwendung wurde die Vollversion im November 2019 sowie das Nachfolgeprogramm ‚GPT-3‘ im Mai 2020 zur Verfügung gestellt. 4 https://www.christies.com/en/lot/lot-6166184 (letzter Zugriff: 05. 02. 2022).
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Natalia Theissen
Urheberrecht vor Herausforderungen, die in Zukunft aufgrund Innovationen im Bereich der KI noch relevanter werden. Der vorliegende Beitrag widmet sich der Frage, wer als der Urheber der durch Systeme der KI generierten Werke anzusehen ist. Die vorliegenden Ausführungen erheben keinen Anspruch auf Vollständigkeit.
II.
Der Begriff der künstlichen Intelligenz
Der Begriff der KI ist ein schillernder und amorpher, der (noch) nicht wissenschaftlich lauter definiert werden kann.5 So kann KI „im Prinzip auch ganz pauschal als Ziel praktisch aller IT-Anwendungen formuliert werden“.6 Entzieht sich der Begriff der KI auch im rechtswissenschaftlichen Kontext einer trennscharfen Definition, ist dennoch eine Begriffsklärung unabdingbar. Der Begriff der KI umfasst eine Vielzahl von Anwendungen. Iriondo statuiert, dass „Artificial intelligence is the science and engineering of making computers behave in ways that, until recently, we thought required human intelligence.“7 Das Europäische Parlament (EP) definiert denkbar weit ein KI-System als „eine Software, die mit einer oder mehreren der in Anhang I aufgeführten Techniken und Konzepte entwickelt worden ist und im Hinblick auf eine Reihe von Zielen, die vom Menschen festgelegt werden, Ergebnisse wie Inhalte, Vorhersagen, Empfehlungen oder Entscheidungen hervorbringen kann, die das Umfeld beeinflussen, mit dem sie interagieren.“8
KI ist ein Teilbereich des maschinellen Lernens. „Machine learning is the study of computer algorithms that allow computer programs to automatically improve through experience“9 Der Algorithmus ermöglicht in einem bestimmten Bereich unter Verwendung endlicher Rechenressourcen die Generierung garantiert ak5 Äußerst instruktiv zu den Begriffen ‚artificial‘ und ‚intelligence‘: Herberger NJW 2018, 2825. 6 BITKOM. Künstliche Intelligenz. Wirtschaftliche Bedeutung, gesellschaftliche Herausforderungen, menschliche Verantwortung. 2017, 35. https://www.bitkom.org/sites/default/files/file /import/171012-KI-Gipfelpapier-online.pdf (letzter Zugriff: 05. 02. 2022). 7 Iriondo Machine Learning (ML) vs. Artificial Intelligence (AI) – Crucial Differences 2018 (last updated: October 31 2021), https://pub.towardsai.net/differences-between-ai-and-machine-l earning-and-why-it-matters-1255b182fc6 (letzter Zugriff: 05. 02. 2022); vgl. auch Davies CLSR 2011, 601, 603f. 8 „Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Festlegung harmonisierter Vorschriften für künstliche Intelligenz (Gesetz über künstliche Intelligenz) und zur Änderung bestimmter Rechtsakte der Union“, Brüssel, den 21. 4. 2021 COM (2021) 206 final, Abs. 3 Nr. 1. 9 Iriondo Machine Learning (ML) vs. Artificial Intelligence (AI) – Crucial Differences 2018 (last updated: October 31 2021), https://pub.towardsai.net/differences-between-ai-and-machine-l earning-and-why-it-matters-1255b182fc6 (letzter Zugriff: 05. 02. 2022).
Künstliche Intelligenz und Urheberrecht zwischen Gegenwart und Zukunft
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kurater Lösungen in endlicher Zeit.10 Ein ‚step-by-step-algorithm‘ begrenzt ein System auf ein ‚Wenn-dann‘-Entscheidungsmodell, so dass der Entstehungsprozess eines Werkes durch den Programmierer vorgegeben wird. Ein KI-System ist hingegen als anpassungsfähig zu bezeichnen, wenn es auf Erfahrungen basierend lernt, ohne dass eine explizite Programmierung erfolgen muss. Der verwendete selbstlernende Algorithmus erkennt durch Analyse und Verarbeitung der zur Verfügung gestellten Trainingsdaten deren Struktur und verbessert dann sukzessive die eigene Leistungsfähigkeit, um die determinierten Aufgaben zu erfüllen. Der Lernprozess soll zu zunehmend belastbareren und präziseren Ergebnissen führen. Künstliche neuronale Netze (KNN), die die neuronalen Netze des menschlichen Gehirns nachbilden, ermöglichen die Selbstlernfähigkeit des Softwaresystems (‚Deep Learning‘).11 Nicht-deterministische Algorithmen der KI simulieren damit maschinell menschliche Intelligenzprozesse und können sich durch erfahrungsbasiertes Lernen – im Optimalfall auch ohne menschliche Intervention – selbst optimieren. Ist ein System erfolgreich in der Lage, selbst zu lernen und sich selbst hinsichtlich der Ergebnisse zu optimieren, ist die Genese der Ergebnisse selbst nicht nachvollziehbar.12 Die Belamy-Serie, hinter der das Künstlerkollektiv Obvious steht, wurde durch den Einsatz eines Generative Adversial Network (GAN) generiert. Ein KNN (generator) erzeugt durch Datensatzeinspeisung selbst Ausgangswerte, die von einem anderen KNN (discriminator) überprüft werden, um zu bestimmen, „inwiefern der generierte Ausgangswert mit den Eingangswerten aus einem vorhandenen Datensatz übereinstimmt bzw, wann die Schwelle der Ähnlichkeit zu den Eingangswerten vom generator erreicht wurde.“13 Die Ergebnisse der KI können variieren und unter anderem auch literarische oder künstlerische Werke umfassen. Ein KI-System wird als autonom klassifiziert, wenn es komplexe Aufgaben eigenständig ausführen kann. Der Begriff der Autonomie eines KI-Systems ist nicht falsch, greift aber zu kurz. Ein KI-System ist zutreffend gegenwärtig wohl nur als ‚weitgehend autonom‘ oder ‚quasi-autonom‘ zu bezeichnen, da der Mensch immer noch sine qua non ist. Der auch im akademischen Diskurs verwendete Begriff der Autonomie verweist daher auf Systeme, die nur quasi-au10 Mukundan/Ramani et al. A Practical Introduction to Rule Based Expert Systems 2007. 1, 8 https://www.researchgate.net/publication/265038834_A_Practical_Introduction_to_Rule_B ased_Expert_Systems (letzter Zugriff: 05. 02. 2022). 11 „Deep-learning software attempts to mimic the activity in layers of neurons in the neocortex, the wrinkly 80 percent of the brain where thinking occurs. The software learns, in a very real sense, to recognize patterns in digital representations of sounds, images, and other data.“ Hof MIT Tech. Rev. 2013, https://perma.cc/B5P4-K3UZ (letzter Zugriff: 05. 02. 2022). 12 Hoeren/Niehoff RW 2018, 47, 48ff. 13 Kevekordes in: Hoeren/Sieber/Holznagel MMR-HdB, Werkstand: 57. EL September 2021, Teil 29.1 Rn. 19.; ausführlich: Goodfellow/Pouget-Abadie et al. Communications of the ACM 2020, 139–144.
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Natalia Theissen
tonom agieren.14 Zu konkludieren ist daher, dass die gegenwärtig genutzten KIProgramme der ‚schwachen KI‘ angehören, die zwar quasi-autonom äußerst komplexe Aufgaben vollzieht, aber dennoch innerhalb menschlich vorgegebener Strukturen agiert. Eine ‚starke KI‘, die sich ihrer selbst bewusst ist und voll autonom handelt, ist gegenwärtig nicht existent.15
III.
Der Urheber und die KI de lege lata
Das Urheberrecht schützt den schöpferisch tätigen Menschen, der durch seine Schöpfungskraft ein Werk erschafft, mithin ein „durch Formgebung individualisierter Gedankeninhalt.“16 Das Urheberrecht weist damit einen anthropozentrischen Fokus auf, der den Urheber in Bezug auf sein Werk schützt.17
1.
Der urheberrechtliche Werkbegriff
Das Urheberrecht der EU-Mitgliedsstaaten ist durch die Entscheidungspraxis des EuGH so stark europarechtlich überformt, dass dieser von Pereira als „Copyright Supreme Court“ bezeichnet wird.18 In ständiger Rechtsprechung hat der EuGH unter Bezugnahme auf die Berner Übereinkunft19 einen autonomen und unionsweit einheitlichen Werkbegriff determiniert. Mithin liegt ein Werk im Sinne des Urheberrechts vor, wenn zwei Tatbestandsmerkmale kumulativ erfüllt sind. Ein urheberrechtlich geschütztes Werk ist gegeben, wenn dieses zum einen ein Original im Sinne einer eigenen geistigen Schöpfung des Urhebers darstellt und zum anderen das Werk diese Schöpfung zum Ausdruck bringt.20 Im Sinne des ersten Tatbestandsmerkmals liegt ein Original vor, wenn es dem Urheber gelingt „seinen schöpferischen Geist in origineller Weise zum Ausdruck 14 Vgl. auch Dornis GRUR 2021, 784, 788.; vgl. für die Differenzierung zwischen ‚autonomy‘ und ‚emergence‘: Calo California Law Review 2015, 513, 539f., DOI: org/10.2139/ssrn.2402972. 15 „But according to strong AI, the computer is not merely a tool in the study of the mind; rather, the appropriately programmed computer really is a mind, in the sense that computers given the right programs can be literally said to understand and have other cognitive states. In strong AI, because the programmed computer has cognitive states, the programs are not mere tools that enable us to test psychological explanations; rather, the programs are themselves the explanations.“ Searle, The Behavioral and Brain Sciences 1980, 417. 16 Gierke, Deutsches Privatrecht Band 1: Allgemeiner Teil u. Personenrecht, 1. Aufl. 1895, § 85, 756. 17 Vgl. zum Urheberpersönlichkeitsrecht u. a. Schlingloff GRUR 2017, 572ff. 18 Pereira GRUR Int., 2021, 323f. 19 Die EU ist nach Art. 1 IV des WIPO-Urheberrechtsvertrags (Umsetzung durch RL 2001/29) an die Berner Übereinkunft gebunden. 20 EuGH GRUR 2019, 1185 Rn. 29 – Cofemel/G-Star.
Künstliche Intelligenz und Urheberrecht zwischen Gegenwart und Zukunft
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zu bringen und zu einem Ergebnis zu gelangen, das eine geistige Schöpfung darstellt“21 sowie „die Persönlichkeit seines Urhebers widerspiegelt, indem er dessen freie kreative Entscheidungen zum Ausdruck bringt“22 und dem „geschaffenen Werk somit seine ‚persönliche Note‘ verleihen“ kann.23 Der EuGH definiert damit das Werk als Resultat der geistig-schöpferischen Tätigkeit einer Person und stellt mithin den Schöpfungsprozess in den Vordergrund. Im Sinne des zweiten Tatbestandsmerkmals muss das Werk hinreichend genau und objektiv zu identifizieren sein.24 Damit reicht auch eine flüchtige Wahrnehmbarkeit ohne dauerhafte Fixierung aus. Auf den ästhetischen Wert kommt es hingegen nicht an.25 An die notwendige Gestaltungshöhe sind keine großen Anforderungen zu stellen (‚kleine Münze‘).26 Der EuGH verweist in der Painer-Entscheidung auf die Relevanz des Spielraums, in dem die schöpferischen Fähigkeiten entwickelt werden können.27 Der EuGH differenziert anhand der Herstellung einer Portraitfotografie zwischen den verschiedenen Phasen der Entstehung eines Werkes. Zu unterscheiden seien die Vorbereitungsphase, die Ausführungsphase und die Finalisierungsphase.28 Der Urheber könne auf mehrfache Weise und zu differenten Zeitpunkten kreative Entscheidungen treffen.29 Zu konkludieren ist damit, dass bei einer starken Verengung des Spielraums oder gar einer Reduzierung auf null eine geistigpersönliche Schöpfung im Sinne des Urheberrechts nicht mehr gegeben ist. Diese Verengung oder Reduzierung auf null kann vorliegen, wenn Zwänge, technische Vorgaben oder Regeln die schöpferische Freiheit zu stark beschränken.30
2.
Der menschliche Urheber und die Rolle der KI in der Werkschöpfung
Werden durch KI-Systeme partiell autonom Werke generiert, ist hinsichtlich des urheberrechtlichen Schutzes dieser Werke ein Rückgriff auf die etablierte Rechtsdogmatik nicht uneingeschränkt möglich. Zu statuieren ist aber, dass diese rechtliche Problematik nicht eine genuin neue ist. So verwies bereits 1965 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30
EuGH GRUR Int. 2010, 35 Rn. 45 – Infopaq International. EuGH GRUR 2019, 1185 Rn. 30 – Cofemel/G-Star. EuGH GRUR 2012, 166 Rn. 92 – Painer. EuGH GRUR 2019, 73 Rn. 40 – Levola/Smilde. EuGH GRUR 2019, 1185 Rn. 54 – Cofemel/G-Star. Zur Gestaltungshöhe für viele: Bullinger in: Wandtke/Bullinger 5. Aufl. 2019, UrhG § 2 Rn. 23– 25. EuGH GRUR 2012, 166 Rn. 93 – Painer. Vgl. a. a. O. Rn. 91. EuGH GRUR 2012, 166 Rn. 92 – Painer. EuGH GRUR 2019, 1185 Rn. 31- Cofemel/G-Star; vgl. zu Datenbanken: EuGH GRUR 2012, 386 Rn. 39 – Football Dacato/Yahoo.
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das U.S. Copyright Office auf die notwendige Unterscheidung zwischen Mensch und Maschine im Rahmen der Werkschöpfung. „The crucial question is whether the ‚work‘ is basically one of human authorship, with the computer [or other device] merely being an assisting instrument, or whether the traditional elements of authorship in the work (literary, artistic, or musical expression or elements of selection, arrangement, etc.) were actually conceived and executed not by man but by a machine.“31
Zu differenzieren ist daher zunächst zwischen Softwareprogrammen, die eine wie auch immer gestaltete Unterstützungsfunktion bei der Werkschöpfung einnehmen und Programmen der KI, die quasi-autonom Werke generieren. Urheber i. S. d. § 7 UrhG bedienen sich seit geraumer Zeit zur Schöpfung eines Werkes verschiedener Werkzeuge, Maschinen oder Automaten. Auch Computer werden seit Jahrzehnten als Assistenz, z. B. bei der musikalischen Schöpfung, eingesetzt. Fungiert ein Computerprogramm nur als Unterstützung bei der Werkschöpfung und wird die konkrete Form durch die menschlich-gestalterische Leistung bestimmt, ist die Maschine als reines Werkzeug für die geistigschöpferische Tätigkeit anzusehen, mithin ist der urheberrechtliche Schutz möglich. Bei der rein aleatorischen Werkschöpfung ist zu statuieren, dass der Mensch eine bewusste Auswahl aus den Ergebnissen trifft und damit eine Variante als Werk festlegt. Dem Werk ist der urheberrechtliche Schutz daher wohl nicht zu verwehren.32 Diese etablierte Dogmatik kann auch für den Einsatz von partiell autonomen KI-Programmen nutzbar gemacht werden. Wenn die KI nur als Hilfsmittel steuernd eingesetzt wird, aber eine ausreichend kreative und intellektuelle Schöpfung des Menschen vorliegt, hat die KI nur eine ‚Gehilfenposition‘ inne. Diese ist für die Gewährung des Urheberschutzes unschädlich. Ist ein KI-Programm nur als Werkzeug zu qualifizieren, das die kreative intellektuelle Schöpfung eines Menschen ermöglicht, kann ein Werk im urheberrechtlichen Sinne vorliegen. Urheber ist dann derjenige, der die schöpfende Leistung erbringt. Die entscheidende Distinktion ist somit die zwischen der Leistung des Menschen und der Leistung des KI-Programms. Die ganz herrschende Meinung verneint eine Schöpfung im urheberrechtlichen Sinne, wenn eine Maschine ein Werk autonom oder quasi-autonom generiert,33 somit muss dies auch hinsichtlich der Werke, die durch partiell autonome 31 U.S. Copyright Office, Sixty-eight annual report to the Library of Congress by the Register of Copyrights, 1965, 5. 32 Für viele: Loewenheim/Leistner in: Schricker/Loewenheim, 6. Aufl. 2020, UrhG § 2 Rn. 40.; Bullinger in: Wandtke/Bullinger, 5. Aufl. 2019, UrhG § 2 Rn. 16. 33 Für viele: Loewenheim/Leistner in: Loewenheim, 3. Aufl. 2021, UrhR-HdB § 6 Rn. 18.; Schulze in: Dreier/Schulze 7. Aufl. 2022, UrhG § 2 Rn. 8.
Künstliche Intelligenz und Urheberrecht zwischen Gegenwart und Zukunft
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KI-Programme geschaffen werden, gelten. Unabhängig von dem ästhetischen oder intellektuellen Wert des generierten Werkes, ist diesem der urheberrechtliche Werkcharakter abzusprechen, da der anthropozentrische Fokus des Urheberrechts den Schöpfer und damit seine geistig-schöpferische Tätigkeit in den Vordergrund stellt. Generiert ein KI-Programm quasi-autonom Werke, darf man dennoch nicht der Annahme anheimfallen, dass eine menschlich-gestalterische Tätigkeit im Sinne eines Schöpfungsprozesses in jedem Fall abzusprechen ist und die erstellten Ergebnisse schutzlos gestellt sind. Vielmehr muss zunächst determiniert werden, ob der Mensch bei Nutzung eines KI-Programmes überhaupt geistigschöpferisch tätig sein kann. Ist dies positiv zu bescheiden, muss evaluiert werden, ob dieser in ausreichendem Maße menschlich-gestalterisch schöpft. Ory/ Sorge weisen zu Recht darauf hin, dass auch bei einer weitgehend autonom agierenden KI eine menschliche Einflussnahme grundsätzlich gegeben sei. Diese könne u. a. in der Auswahl der Trainingsdaten, der Berücksichtigung der Merkmale dieser oder eigener Anpassungen sowie Auswahlentscheidungen bestehen.34 Die Auswahl als auch die Berücksichtigung der Merkmale der Trainingsdaten selbst genügen den Anforderungen an den urheberrechtlichen Schöpfungsprozess wohl nicht, fehlt dem Mensch doch „der formative und damit eigenschöpferische Durchgriff auf das Ergebnis.“35 Entscheidend ist damit der Grad der Autonomie der KI und der Grad der menschlich-gestalterischen Tätigkeit. Der EuGH spricht einem Fußballspiel seinen Werkcharakter unter Hinweis auf die zu beachtenden Spielregeln ab. Die notwendige Einhaltung dieser schließe die künstlerische Freiheit i. S.d Urheberrechts aus.36 Eine mögliche Analogie zu den Regeln, die der Mensch sich bei Nutzung eines KI-Systems zum Zweck der Werkgenerierung durch die KI selbst unterwirft, überdehnt die Aussage des EuGH. Dennoch kann zumindest der Grundgedanke u. U. nutzbar gemacht werden. Unterliegt die menschlich-gestalterische Tätigkeit zu engen Regeln oder zu starken Zwängen, kann für die künstlerische Freiheit gerade bei quasi-autonomer KI kein oder zumindest nur ein unzureichender Raum verbleiben. Die menschlich-gestalterische Tätigkeit kann dann wohl nicht mehr als ein adäquater Beitrag i. S. d. urheberrechtlichen Schöpfungsprozesses qualifiziert werden. Unerheblich ist hingegen der Beitrag der KI selbst. Bullinger ist zuzustimmen, dass für die Erlangung des Urheberechtsschutzes entscheidend ist, dass die gestalterische Schwelle des § 2 Abs. 2 UrhG nur durch den menschlichen Beitrag über-
34 Ory/Sorge NJW 2019, 710f. 35 Dornis GRUR 2021, 784, 790. 36 EuGH GRUR 2012, 156 Rn. 98 – Football Assocciation Premier League u. Murphy.
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schritten werden kann.37 Dieser gestalterische Beitrag kann aber auch bei einer Nutzung einer partiell autonomen KI-Anwendung erbracht werden. Bei der Nutzung von KI-Programmen, die quasi-autonom Werke generieren, kann simplifiziert unter Bezug auf die ‚Painer-Entscheidung‘ des EuGH zwischen Vorbereitungsphase, Ausführungsphase und Finalisierungsphase differenziert werden.38 Der bloße Entschluss, ein KI-Programm überhaupt zu nutzen, um ein Werk zu generieren, kann die Schöpfungshöhe wohl nicht erreichen.39 Abzulehnen ist die ausreichende menschlich-gestalterische Tätigkeit auch bei der Entscheidung, ein bestimmtes KI-Programm einzusetzen. Wird der Beitrag des Menschen auf ein ‚Ein- und Ausschalten‘ des Programmes reduziert, kann eine geistig-schöpferische Tätigkeit durch den Menschen nicht mehr angenommen werden, so dass der urheberrechtliche Schutz des generierten Werkes nicht entstehen kann.40 Somit läge eine ‚Schöpfung ohne Schöpfer‘ vor, da der „…artist leaves the computer to do its own thing without knowing just what it is that the computer will be doing.“41 Hat der Nutzer eines quasi-autonomen KI-Programmes hingegen ausreichende Gestaltungsspielräume durch die Vornahme der für das Ergebnis zentralen Voreinstellungen, ist das durch die KI generierte Ergebnis dem Nutzer wohl zuzurechnen, da dieser die Ausführungsphase bestimmt. Ein urheberrechtlich geschütztes Werk kann damit vorliegen.42 Generiert das KI-Programm ein Werk aber weitgehend so autonom, dass die prägenden Parameter nicht durch eine menschliche Tätigkeit gestaltet werden, ist mangels einer eigenen geistig-schöpferischen Tätigkeit des Menschen in der Ausführungsphase nicht von einem urheberrechtlich geschützten Werk auszugehen. Fraglich ist aber, ob in der Finalisierungsphase die urheberrechtliche Schutzfähigkeit durch eine reine Auswahlentscheidung des Menschen aus den verschiedenen quasi-autonom generierten Ergebnissen erlangt werden kann, mithin die reine Auswahl als eine ausreichende menschlich-gestalterische Tätigkeit zu qualifizieren ist.43 Loewenheim verneint die urheberrechtliche Schutzfähigkeit bei durch KI geschaffenen Werken grundsätzlich, konzediert aber, dass der urheberrechtliche Schutz bei der individuellen Auswahl aus den Ergebnissen durch
37 Bullinger in: Wandtke/Bullinger, 5. Aufl. 2019, UrhG § 2 Rn. 16. 38 EuGH GRUR 2012, 166 Rn. 91 – Painer; Specht-Riemenschneider differenziert zwischen Vorbereitungs- und Gestaltungsphase: Specht-Riemenschneider WRP 2021, 273ff. 39 a. A. unter Berücksichtigung der ‚incentive theory‘: Senftleben/Buijtelaar 2020, 16ff., DOI: org/10.2139/ssrn.3707741. 40 Wohl in der Gestaltungsphase verortend: Specht-Riemenschneider WRP 2021, 273, 275f. 41 Boden/Edmonds Digital Creativity 2009, 21, 24., DOI: 10.1080/14626260902867915. 42 Wohl auch Specht-Riemenschneider unter Einbezug der deliktsrechtlichen Zurechnungsgrundsätze: Specht-Riemenschneider WRP 2021, 273ff. 43 Loewenheim/Leistner in: Loewenheim, 3. Aufl. 2021, UrhR-HdB § 6 Rn. 18.
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den Autor gegeben sein könne.44 Loewenheim/Leistner statuieren, dass ein urheberrechtlicher Schutz zuzusprechen sei, wenn zwei Voraussetzungen kumulativ erfüllt seien. So müsse das wesentliche Grundmuster des Werks durch einen Menschen geschaffen sein und dieser bei differenten automatisiert generierten Versionen eine Auswahl vornehmen.45 Schulze hingegen lässt wohl nur eine Auswahlentscheidung genügen.46 Hetmank/Lauber-Rönsberg argumentieren unter Berufung auf die Entstehungsvoraussetzungen als auch der Zuordnung des Urheberrechts, dass die reine Auswahlentscheidung unter mehreren quasi-autonom algorithmisch generierten Ergebnissen nicht ausreiche.47 In der Tat ist zweifelhaft, ob die urheberrechtliche Voraussetzung der menschlich-gestalterischen Tätigkeit bei einer reinen Auswahlentscheidung aus den partiell autonom generierten Ergebnissen, deren prägende Parameter gerade nicht von einem Menschen bestimmt werden, nicht das anthropozentrische Urheberrecht i. S. d. Personenbezogenheit aufweicht. Das von Loewenheim/Leistner additiv geforderte Merkmal der menschlichen Prägung des Werkgrundmusters ist durchaus überzeugend, aber wohl nur erfüllt, wenn die Autonomie der KI so extrem gering ist, dass ein großer Einwirkungsbereich für den Menschen verbleibt oder das Softwareprogramm im Sinne eines ‚step-by-step‘-Algorithmus von demjenigen, der auch die Auswahlentscheidung aus den Ergebnissen trifft, konzipiert ist. Dies ist realiter wohl nur in seltenen Fällen gegeben. Wird das finale Werk durch den Menschen hingegen deutlich individuell geprägt, indem dieser aus den durch die KI generierten Ergebnissen auswählt und z. B. durch eine eigene künstlerische Nachbearbeitung modifiziert, kann eine menschlich-gestalterische Handlung und damit ein urheberrechtlich geschütztes Werk angenommen werden. Richtig konkludieren daher Sorge/Ory: „Am Ende sind es sehr kleine Nuancen, die darüber entscheiden, ob die ganze Wucht des Urheberrechts einschlägig ist oder gar kein Schutz vorliegt.“48 Mag die Problematik des urheberrechtlichen Schutzes der durch KI-Programme generierten Werke gegenwärtig im europäischen und US-amerikanischen Rechtsraum auch eine vorwiegend akademische sein, hat das chinesische Volksgericht Nanshan bereits hinsichtlich des potentiellen Urheberrechtsschutzes von journalistischen Artikeln entschieden, die durch ein KI-Programm generiert wurden. Das Volksgericht bejaht das Merkmal der Originalität und die auch im chinesischen Recht für den Urheberrechtsschutz notwenige geistige Schöpfung. Es verweist im Rahmen einer von Denga zu Recht als „freihändig“ 44 45 46 47
ebd. Loewenheim/Leistner in: Schricker/Loewenheim, 6. Aufl. 2020, UrhG § 2 Rn. 41. Schulze in: Dreier/Schulze, 7. Aufl. 2022, UrhG § 2 Rn. 8. Hetmank/Lauber-Rönsberg GRUR 2018, 574, 577.; zustimmend: Specht-Riemenschneider WRP 2021, 273f. 48 Ory/Sorge NJW 2019, 710, 712.
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bezeichneten Gesamtwürdigung auf „objektive Umstände“ und „Fairness“.49 Die Positionierung Dengas, dass der Maßstab der „Fairness“ mit den deutschen urheberrechtlichen Begründungstheorien korrespondiert, mag diskutabel sein, ist aber sicherlich ein interessanter Ansatzpunkt für grundlegende Fragen des Schutzes von partiell autonom erzeugten Werken. Zu differenzieren ist zudem zwischen dem KI-Softwareprogramm selbst und den durch das KI-Programm generierten Werke. Das durch den Programmierer geschaffene Computerprogramm kann gerade bei komplexen und individuellen Softwareprogrammen durchaus schutzfähig sein, so dass der Softwareprogrammierer ein (Mit-)Urheberrecht gem. §§ 2 Abs.1 Nr. 1 i. V. m. 69a ff. UrhG an der KI-Software innehaben kann, wenn die Schöpfungshöhe i. S.v. § 69a Abs. 3 UrhG erreicht wird.50 Unklar ist aber, ob der Softwareprogrammierer Urheber der durch das KIProgramm generierten Werke ist. Ist der Schöpfungsprozess von dem Programmierer zu großen Teilen so vorgegeben, dass die Entstehung der generierten Werke auf die Entscheidungen des menschlichen Programmierers kausal zurückzuführen ist, kommt der Programmierer als (Mit-)Urheber an dem Ergebnis in Betracht.51 Dies ist gerade bei ‚step-by-step‘-Algorithmen denkbar, da das Ergebnis zu größten Teilen vom Programmierer determiniert wird und dieser damit prägende Gestaltungsentscheidungen getroffen hat. Das Programm kann somit als Ausführungswerkzeug angesehen werden. Die Nachvollziehbarkeit der Gestaltungsprozesse von komplexen KI-Programmen, die sich KNN bedienen und daher Ergebnisse weitgehend autonom generieren, ist aber kaum gegeben, da „…computer-generated works do not incorporate recognizable blocks of expression from the underlying program or from the data base that the program draws upon in the generative process.“52 Die urheberrechtliche Gestaltung der Ergebnisse durch den Programmierer kann dann wohl nicht mehr angenommen werden, da der schöpferische Durchgriff fehlt. Mithin kommt der Programmierer als Urheber in diesem Fall nicht in Betracht.53 49 Denga RDi 2021, 150f. 50 Zu den Schutzvoraussetzungen m. w. N.: Lehmann/Spindler in: Loewenheim, 3. Aufl. 2021, UrhR-HdB § 9 Rn. 39–52.; zur Schutzfähigkeit der KNN m. w. N.: Dreier in: Schulze/Dreier, 7. Aufl. 2022, UrhG § 69a Rn. 12. 51 Lauber-Rönsberg GRUR 2019, 244, 248; zustimmend: Dornis GRUR 2019, 1252, 1261f.; vgl. auch: Senftleben/Buijtelaar 2020, 9ff., DOI: org/10.2139/ssrn.3707741. 52 Samuelson 47 U. Pitt. L. Rev. 1986, 1185, 1215. 53 Loewenheim/Leistner in: Schricker/Loewenheim, 6. Aufl. 2020, UrhG § 2 Rn. 41; LauberRönsberg GRUR 2019, 244, 248.; auch für den US-amerikanischen Rechtsraum ablehnend: Denicola 69 Rutgers U.L.R. 2016, 251,283ff.; Senftleben/Buijtelaar 2020, 9ff. DOI: org/10.2139/ ssrn.3707741. a. A.: Scheufen in: Leupold/Wiebe/Glossner, IT-Recht, 4. Aufl. 2021 Teil 9.6.2. Rn. 17.
Künstliche Intelligenz und Urheberrecht zwischen Gegenwart und Zukunft
IV.
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Die KI als Urheber de lege ferenda
De lege lata ist bei Werken, die durch partiell autonome KI-Systeme generiert werden, der Urheberrechtsschutz grundsätzlich wohl zu verneinen. Auch zur Erlangung von Rechtssicherheit und zur (vermeintlichen) Schließung von Regelungslücken wird u. a. die Etablierung einer KI-Rechtpersönlichkeit diskutiert. So erkennt das EP unter Bezugnahme auf den traditionell anthropozentrischen Urheberrechtsschutz an, dass KI-unterstütze Werke weiterhin dem Schutz für das geistige Eigentum unterfallen54 und statuiert, dass von der KI selbst geschaffene Werke aber wohl nicht urheberrechtlich geschützt werden können.55 Das EP empfiehlt aber dennoch für durch KI erzeugte Werke „einen bereichsübergreifenden, faktengestützten und technologieneutralen Ansatz für gemeinsame, einheitliche Urheberrechtsbestimmungen.“56 Mag dies auch denkbar sein, gerät das EP in Widerspruch, wenn es fordert, dass die Rechtsinhaberschaft nur der natürlichen oder juristischen Person zuzusprechen sei, die das Werk rechtmäßig erschaffen habe.57 Durch KI generierte Werke werden durch die KI selbst und gerade nicht durch eine natürliche oder juristische Person geschaffen. Unklar ist, ob das EP damit das traditionelle Urheberrecht so modifizieren möchte, dass das Kriterium der Originalität nicht mehr personengebunden ist. Zu Recht verweist Pereira darauf, dass dieser Widerspruch durch die Etablierung einer KI-Rechtspersönlichkeit aufgelöst werden könne.58 Dies wird in der EPEntschließung hinsichtlich Inhalten künstlerischer Art aber abgelehnt, da dies „nicht angebracht“ sei und nachteilige Auswirkungen auf die Motivation der menschlichen Schöpfer habe.59 Interessanterweise plädiert das EP in seiner Entschließung zu zivilrechtlichen Regelungen im Bereich Robotik aber dafür, langfristig „zumindest für die ausgeklügelten autonomen Roboter“60 einen speziellen rechtlichen Status als elektronische Person festzulegen und im Bereich des geistigen Eigentums „einen horizontalen und technologisch neutralen An-
54 Entschließung des Europäischen Parlaments vom 20. Oktober 2020 zu den Rechten des geistigen Eigentums bei der Entwicklung von KI-Technologien, 2020/2015(INI), Abs 14. 55 a. a. O., Abs 15. 56 ebd. 57 ebd. 58 Pereira GRUR Int. 2021, 323. 59 Entschließung des Europäischen Parlaments vom 20. Oktober 2020 zu den Rechten des geistigen Eigentums bei der Entwicklung von KI-Technologien (2020/2015 (INI)), Abs. 13. 60 Entschließung des Europäischen Parlaments vom 16. Februar 2017 mit Empfehlungen an die Kommission zu zivilrechtlichen Regelungen im Bereich Robotik (2015/2103 (INL)), Abs. 59 f); vgl. dazu kritisch: http://www.robotics-openletter.eu (letzter Zugriff: 05. 02. 2022); vgl. EUKommission, Schaffung von Vertrauen in eine auf den Menschen ausgerichtete künstliche Intelligenz, COM(2019) 168 final.
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satz“61 zu etablieren. Zu statuieren ist damit zumindest, dass die Etablierung einer elektronischen Person (mithin einer KI-Rechtspersönlichkeit) auch im politischen Diskurs nicht als abwegig angesehen wird. Die Etablierung einer KI-Rechtspersönlichkeit mit Rechten und Pflichten wird in der nationalen als auch internationalen Rechtswissenschaft kontrovers diskutiert.62 Ob dies de lege ferenda möglich oder wünschenswert ist, ist hoch umstritten.63 Mag die Diskussion vor allem im Bereich der Gefährdungshaftung verortet sein, wird die Etablierung einer KI-Rechtspersönlichkeit auch im Rahmen des Urheberrechts disputiert. So hat u. a. Kaminski das Konzept einer „algorithmischen Autorenschaft“ entwickelt, indem sie das Kriterium der „Originalität“, das ebenfalls im US-amerikanischen Urheberrecht als zentrales Tatbestandsmerkmal verankert ist, auch auf durch Algorithmen generierte Werke ausdehnt.64 Davies scheint die Etablierung einer KI-Rechtspersönlichkeit wohl abzulehnen, argumentiert aber unter Bezugnahme auf die (Teil-)Rechtsfähigkeit juristischer Personen, dass es sinnvoll sei, eine Maschinenpersönlichkeit zu fingieren, um die Rechteübertragung an Werken zu erleichtern.65 Fraser verweist im Rahmen seiner Ausführungen zum Patentrecht darauf, dass die Etablierung einer KI-Rechtspersönlichkeit zu befürworten, da diese auch zum vorsätzlichen Handeln in der Lage sei.66 Diese Ausführungen sind gerade im rechtsphilosophischen Kontext hoch interessant. Zu statuieren ist sicherlich auch, dass diese Fragen bei Existenz einer ‚starken KI‘, die sich ihrer selbst bewusst ist und auf dieser Grundlage Entscheidungen treffen kann, von äußerster Relevanz sind. Dennoch ist eine ‚starke KI‘ aber gegenwärtig nicht existent und zumindest mittelfristig ist die Entwicklung dieser auch nicht zu erwarten. Bei den gegenwärtig existenten Systemen der 61 Entschließung des Europäischen Parlaments vom 16. Februar 2017 mit Empfehlungen an die Kommission zu zivilrechtlichen Regelungen im Bereich Robotik (2015/2103 (INL)), Abs. 18. 62 Boyle vergleicht die potentielle ‚legal personhood‘ der KI mit der rechtlichen Emanzipation verschiedener Personengruppen: „…the electronic artificial intelligence are merely the next step along the way. Having fought to recognize a common personhood beneath differences of race and sex, we should do the same thing with the technologically created ‚persons‘ of the 21st century, looking beneath surface differences that may be far greater“ Boyle Future of the Constitution Series, 2011, 1, 7.; vgl. auch: Chopra/White A Legal Theory for Autonomous Artificial Agents, 1. Aufl. 2011, 157–158. 63 Vgl. dazu hinsichtlich des grundlegenden Argumentes des „carbon bias“ m. w. N.: Oster UFITA 2018, 1, 34ff., DOI: 10.5771/2568-9185-2018-1-14. 64 Kaminski UC Davis Law Review 2017, 589, 593ff.; Vgl. auch Bridy Stan. Tech. L. Rev. 5 2012, 1ff. Abbot hingegen konzediert, dass die Etablierung einer ‚legal personhood‘ unwahrscheinlich ist, scheint dies aber dogmatisch wohl nicht auszuschließen und spricht sich für die Anerkennung des Computers als ‚legal inventor‘ aus, Abbott 57 B.C. L. Rev. 2016, 1079, 1103. 65 Davies CLSR 2011, 601, 618. 66 Fraser scripted 2016, 305, 330.; vgl. Calverley AI & Society 2008 523, 531ff., DOI: 10.1007/ s00146-007-0092-7.
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‚schwachen KI‘ stellt sich aber grundsätzlich die Frage, warum der KI überhaupt eine Rechtspersönlichkeit zugesprochen werden sollte. Dies mag in bestimmten eng begrenzten Bereichen und Systemen (z. B. automatisierte Systeme im Kraftfahrzeugbereich, Smart Contracts) noch denkbar und sinnvoll sein,67 erscheint im Urheberrecht aber problematisch. Die Etablierung einer KI-Rechtspersönlichkeit im Urheberrecht wird vor allem unter Verweis auf die anthropozentrische Ausrichtung des Urheberrechts und den Schöpfergrundsatz abgelehnt.68 So verweist Scheufen richtigerweise darauf, dass die durch das Urheberrecht geschützte Schöpfung durch den Menschen eine „Erweiterung der persönlichen individuellen Entität…“ darstelle.69 Im Mittelpunkt des Urheberrechts steht der Mensch, der seiner Persönlichkeit im Wege der kreativen Schöpfung Ausdruck verleiht. Ist der Begriff der ‚Kreativität‘ nur schwerlich zu definieren und kann u. U. auch mit KI-Systemen in Verbindung gebracht werden, ist Legner zuzustimmen, dass (zumindest gegenwärtig) der kreative Prozess mit individuellen und genuin menschlichen Erlebnis- und Erfahrungsschätzen verknüpft ist.70 Die KI in der gegenwärtigen Form kann nicht i. S. d. Urheberrechts schöpfen.71 Zudem verfügt die KI auch über keine ideellen Interessen, die dem menschlichen Schöpfer nicht zwangsläufig, aber auch zugesprochen werden.72 Sollte die KI als Schöpfer angesehen werden, erscheint dies nur möglich, wenn das Urheberrecht das Werk in den Mittelpunkt stellt, das Kriterium der Originalität seines anthropozentrischen Kerns entkleidet und mit Kaminski konform geht, die die Kreativität auch bei der KI verortet: „Romanticizing creativity as some essential aspect of human identity is harder to do when a machine can produce the same creative works.“73 Die Etablierung einer KI-Rechtspersönlichkeit erscheint mittelfristig abwegig, da eine überzeugende Begründung für die Notwendigkeit der Einordnung einer KI als Schöpfer i. S. d. Urheberrechts fehlt. Sollte die KI dennoch als Urheber angesehen werden, ist dies nur unter Aufgabe des anthropozentrischen Schöpferansatzes und mithin nur durch einen grundlegend neue Konzeption des Urheberrechts möglich. Zu konkludieren ist, dass der menschliche Begründungsansatz des Urheberrechts weiterhin beibehalten werden sollte. 67 68 69 70 71
Vgl. u. a. Keßler MMR 2017, 589ff., Specht/Herold MMR 2018, 40, 42. Legner ZUM 2019, 807, 809f. Scheufen IW-Kurzbericht 2019, 1, 3. Legner ZUM 2019, 807, 809f.; m.w.N; vgl. auch Lauber-Rönsberg GRUR 2019, 244, 251f. „Eine geistlose Künstliche Intelligenz kann nicht etwas Geistiges kreieren bzw. schöpfen. Im Übrigen nähern sich die Begriffspaare ‚elektronische Person‘ und ‚algorithmische Autorenschaft‘ evident einer der Sprachlogik und -ästhetik Hohn sprechenden Konstruktion.“ Stollwerck in: BeckOK UrhR, 33. Ed. 15. 1. 2022, UrhG Europäisches Urheberrecht Rn. 150. 72 Die ökonomische Anreizfunktion des Urheberrechts kann ebenfalls nicht auf die KI übertragen werden, vgl. Scheufen IW-Kurzbericht 2019, 1, 3. 73 Kaminski UC Davis Law Review 2017, 589, 594.
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V.
Natalia Theissen
Fazit
Durch die Nutzung quasi-autonomer KI-Programme verselbstständigen sich kreative Prozesse in zunehmenden Maße. Die von der KI generierten Werke sind von menschlichen Schöpfungen kaum mehr zu unterscheiden. Es ist zu prognostizieren, dass KI-Systeme aufgrund technischer Innovationen zunehmend autonomer agieren und ihre Ergebnisse optimieren werden. Die Reduzierung des notwendigen menschlichen Beitrages gerade bei Werken, die durch KNN generiert werden, führt nicht nur im akademischen Diskurs zu Unsicherheiten, ob und wie diese Werke auch urheberrechtlich zu schützen sind. Da gegenwärtig keine vollautonomen KI-Programme existent sind, erfordern Programme der ‚schwachen KI‘ zwingend einen menschlichen Beitrag. Gerade bei der Nutzung hoch komplexer und quasi-autonomer KI-Programme erscheint die menschlich-gestalterische Tätigkeit aber nicht mehr vorhanden oder vernachlässigbar zu sein, so dass die Ergebnisse aufgrund des fehlenden menschlichen Schöpfungsbeitrages nicht dem urheberrechtlichen Schutz unterfallen können. Sicherlich ist zu konzedieren, dass die bloße Entscheidung, ein KIProgramm zu verwenden und dies zu initiieren, nicht als geistig-schöpferische Tätigkeit angesehen werden kann. Dies widerspräche der bisherigen Urheberrechtsdogmatik. Zu konkludieren ist daher zunächst, dass die Werke der quasiautonomen KI überwiegend wohl nicht dem urheberrechtlichen Schutz unterfallen. Dies gilt jedoch nicht ausnahmelos. Werden KI-Programme nur als Hilfsmittel eingesetzt und ist die geistig-schöpferische Tätigkeit des Menschen als die zentrale zu qualifizieren, kann ein urheberrechtlicher Schutz gegeben sein. Dies gilt ebenfalls, wenn man eine Auswahlentscheidung des Menschen aus verschiedenen durch KI generierten Werken genügen lässt. Entscheidend ist daher, ob der Mensch im Einzelfall in ausreichendem Maße noch geistigschöpferisch tätig ist und diese menschlich-gestalterische Tätigkeit dem durch KI generierten Werk zugeordnet werden kann. Durch die Etablierung einer KI-Rechtspersönlichkeit kann eine derartige Abgrenzungsproblematik sicherlich vermieden und Rechtssicherheit erlangt werden, indem die KI als Urheber angesehen wird. Dennoch überzeugt dies nicht, da es dem anthropozentrischen Fokus des Urheberrechts widerspricht. Mag eine Neuordnung des Urheberrechts, die eine KI-Rechtspersönlichkeit ebenfalls als Urheber gelten lässt, auch grundsätzlich denkbar sein, ist dies nur im Rahmen eines vollständigen urheberrechtlichen Paradigmenwechsel überhaupt möglich. Dies erscheint zumindest mittelfristig abwegig. Die urheberrechtliche Schöpfung ist und bleibt wohl auch in naher Zukunft ein Anthropinon.
Alexander Ihlefeldt
Regulierte Selbstregulierung im Urheberrecht durch Rechtsprechung. Eine Untersuchung am Beispiel der Internet-Intermediären und den Nutzern von Open Source Software
Selbstregulierung und Urheberrecht sind zwei Bereiche, deren Schnittmenge in der Wissenschaft bislang weitgehend unberücksichtigt geblieben sind. Der folgende Beitrag soll diese Lücke anhand einer Folgenuntersuchung ausgewählter Urteile aus der Rechtspraxis füllen.
I.
Zum Begriff der Selbstregulierung
Wenn von Selbstregulierung gesprochen wird, bedarf es zunächst einer Beschreibung des Begriffsverständnisses. Denn bis heute existiert keine abschließende Definition des Terminus Selbstregulierung.1 Verschiedene Definitionsversuche setzen einerseits am Begriff „Regulierung“ und andererseits am Begriff „selbst“ an. Als gemeinsamer Nenner lässt sich mindestens festhalten, dass Selbstregulierung spätestens dort beginnt, wo keine gesetzlichen Regelungen existieren oder diese so abstrakt generell gestaltet sind, dass der Anwender nur durch eigene Regelungsmaßnahme in die Lage versetzt wird, sich regelkonform zu verhalten.2 Abstrahierend wird unter Selbstregulierung „das Aufstellen, Anwenden und Durchsetzen von Regelordnungen“ verstanden, wobei diese Regeln nicht bzw. zumindest nicht ausschließlich durch staatliche Akteure aufgestellt werden.3
1 Siehe Buck-Heeb/Dieckmann, Selbstregulierung im Privatrecht, Tübingen 2010, S. 9–13. 2 Buck-Heeb/Dieckmann (Fn. 1), S. 24, die anführen, dass Selbstregulierung auch als „Gegenbegriff zu rein staatlicher Regulierung“ begriffen werden kann. Die Konnotationen, die mit der Selbstregulierung einhergehen, sind ambivalent. Teilweise wird Selbstregulierung pejorativ als Zeichen der „Erosion konventioneller Formen von Staatlichkeit“ gesehen, vgl. Collin, Privatisierung und Etatisierung als komplementäre Gestaltungsprozesse, JZ 2011, S. 274–282, 274. 3 Buck-Heeb/Dieckmann (Fn. 1), S. 24.
180
II.
Alexander Ihlefeldt
Selbstregulierung durch Rechtsprechung
In selbstregulativer Hinsicht ist bislang das Schnittfeld von Urheberrecht und privater Rechtsetzung nicht untersucht, soweit es um die Judikate zur Haftung von Internet-Intermediären und der Verwendung von Open Source Software geht. Die Rechtsprechung spricht in beiden Fällen von möglichen Nachforschungspflichten, deren Bestehen, inhaltliche Reichweite und Ausgestaltung weitgehend den Akteuren überlassen wird.4 Dies wird anhand zweier Beispiele illustriert werden. Den Kern der Betrachtung bildet die Frage, ob die Schlussfolgerungen, die die Praxis als Antworten auf die abstrakt formulierten vorgenannten Urteile zieht, bereits als Selbstregulierung angesehen werden können. Zu beleuchten wird außerdem sein, ob es sich hierbei um private Rechtsetzung im oben skizzierten Sinn handelt.
III.
Internet-Intermediäre
Als erstes Beispiel soll die Judikatur zur Haftung von Internet-Intermediären einer näheren Untersuchung unterzogen werden. Als Internet-Intermediäre gelten IT-Dienstleister, die technische Dienste wie beispielsweise das Hosting, den Zugang zum Internet oder Plattformen zum Austausch von Daten oder Waren anbieten.5 Die Rechtsprechung setzte sich mit dem Aufkommen von Online-Marktplätzen am Ende der 1990er und zum Beginn der 2000er Jahre zunächst mit Fragen des Störerbegriffs bei der Haftung von Intermediären für Rechtsverletzungen auseinander.6 Dies geschah vor dem Hintergrund, dass die Urheber von Inhalten und die Inhaber von Schutzrechten ihre Unterlassungsund Schadensersatzansprüche nicht gegen die unmittelbaren Rechtsverletzer durchzusetzen versuchten, sondern gegen die dahinter stehenden Betreiber von Suchmaschinen, Foren und Plattformen. Da mittlerweile eine Vielzahl von Entscheidungen auf diesem Gebiet existiert, soll hier nicht ein konkretes Urteil im Fokus stehen, sondern eine abstrahierte 4 Abstrakt gelten Prüfpflichten als besonders ausgeformte Verkehrspflichten, siehe Mantz, Rechtsfragen offener Netze, Karlsruhe 2008, S. 257. Verkehrspflichten setzen voraus, dass eine Gefahrenquelle eröffnet oder beherrscht wird. Internet-Intermediäre eröffnen insofern eine Gefahrenquelle, als dass sie durch Dritte verfasste Inhalte vermitteln oder öffentlich zugänglich machen. 5 Askani, Private Rechtsdurchsetzung, Baden-Baden 2021, S. 48. Insbesondere gehören soziale Netzwerke zu den Internet-Intermediären, zu deren Geschichte siehe Kassebohm, in: AuerReinsdorff/Conrad (Hg.), Handbuch IT- und Datenschutzrecht, 3. A., München 2019, Rn. 329– 330. 6 Näher dazu Härting, Allgegenwärtige Prüfungspflichten für Intermediäre, CR 2013, S. 443–446, 445–446.
Regulierte Selbstregulierung im Urheberrecht durch Rechtsprechung
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Betrachtung vorgenommen werden. Zusammenfassend betreffen sämtliche Entscheidungen jene Fälle, in denen der Nutzer einer Internet-Plattform eine Rechtsverletzung begangen hat. Dabei bildeten in der Vergangenheit die unterschiedlichsten Rechtsgebiete die Grundlage der Rechtsverletzung bildeten. Im Kern ging es in den Entscheidungen nun darum, ob der jeweilige Verletzte auch den Plattformbetreiber in Regress nehmen konnte. Dazu definierte der Bundesgerichtshof zunächst die Anforderungen an den Begriff des Plattform-Betreibers im Bereich der Internet-Intermediäre. In der weiteren Entwicklung der Rechtsprechung geht es seitdem um Fragen der Prüfungspflichten. Denn ein Internet-Intermediär kann nur haftbar gemacht werden, wenn ihn eine Prüfungspflicht für die von Dritten auf der Plattform veröffentlichten Beiträge. Es geht also um den Ausgleich von Schäden, die aus der Störertätigkeit Dritter resultieren. Ob und in welchem Umfang Nachforschungen betrieben werden müssen, wird mit jedem neuen Urteil auf diesem Gebiet weiter ausdifferenziert. Die Prüfungspflichten lassen unter anderem nach den drei verschiedenen einschlägigen Rechtsgebieten kategorisieren: Erstens sind im Wettbewerbsrecht die Verletzung von Prüfungspflichten die Grundlage für die Entscheidung, ob ein Plattformbetreiberhaftbar gemacht werden kann. Wenn der Kläger zweitens die Verletzung von Persönlichkeitsrechten geltend macht, kann die Verletzung von Prüfungspflichten den Vorwurf eines haftungsbegründenden Unterlassens des Plattformbetreibers begründen. Drittens steht und fällt die Haftung des Intermediärs aus Vorschriften des Immaterialgüterrechts und dabei mit dem Ergebnis der Prüfung von Nachforschungs- und Prüfungspflichten.7 Das letzte Rechtsgebiet soll im Fokus der folgenden Betrachtung stehen. In einer seiner ersten Entscheidungen, die sich mit den Prüfungspflichten der Intermediäre befasste, führt der Bundesgerichtshof aus: „Das Berufungsgericht ist zutreffend davon ausgegangen, dass eine Störerhaftung die Verletzung von Prüfungspflichten voraussetzt. […] Weil die Störerhaftung aber nicht über Gebühr auf Dritte erstreckt werden darf, die nicht selbst die rechtswidrige Beeinträchtigung vorgenommen haben, setzt die Haftung des Störers die Verletzung von Prüfungspflichten voraus. Deren Umfang bestimmt sich danach, ob und inwieweit dem als Störer Inanspruchgenommenen nach den Umständen eine Prüfung zuzumuten ist.“8
Aus der vorgenannten Rechtsprechung wird geschlossen, dass die Verletzung von Prüfpflichten über die Haftung des Plattformbetreibers entscheidet.9 Dabei 7 Härting (Fn. 6), S. 446. 8 BGH CR 2001, S. 850–855, 851. 9 Dies fußt zudem auf der Grundlage, dass die Haftung der Plattformbetreiber im Rahmen der Störerhaftung verschuldensunabhängig ist. Das Tatbestandsmerkmal der Verletzung einer
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Alexander Ihlefeldt
nähert sich der Bundesgerichtshof einer ansatzweisen inhaltlichen Ausgestaltung dieser Prüfungspflichten schrittweise an. Anfangs verlangte der Bundesgerichtshof die Verletzung einer Prüfungspflicht bei der Haftung von InternetIntermediären vor allem, um den ausufernden Störerbegriff einzugrenzen.10 Diese Judikatur fußt auf der Feststellung, dass die Haftung für Rechtsgutsverletzung im Internet nicht grenzenlos auf Dritte erstreckt werden könne, die nicht selbst die rechtswidrige Beeinträchtigung vorgenommen haben. Die Haftung setzt daher die Verletzung von Prüfungspflichten voraus. Deren Umfang bestimmt sich danach, ob und inwieweit dem als Störer in Anspruch Genommenen nach den Umständen eine Prüfung zuzumuten ist.11 Zum unbestimmten Rechtsbegriff der Zumutbarkeit leitet die Wissenschaft aus der Rechtsprechung im Einzelnen Folgendes ab: Es sei einem Intermediär nicht zuzumuten, „[…] jedes Angebot vor Veröffentlichung im Internet auf eine mögliche Rechtsverletzung hin zu untersuchen. Eine solche Obliegenheit würde das gesamte Geschäftsmodell in Frage stellen und entspräche auch nicht den Grundsätzen, nach denen Unternehmen sonst für Rechtsverletzungen haften, zu denen es auf einem von ihnen eröffneten
Überwachungs- und Prüfungspflicht bedeutet dogmatisch einerseits eine Ausprägung allgemeiner Sorgfaltspflichten und dient andererseits einer Einschränkung der möglichen Haftung, vgl. Mantz (Fn. 4), S. 255. Härting (Fn. 6), S. 446, führt aus: „Nach den Entscheidungen ‚Kinderhochstühle‘ und ‚Autocomplete‘ bleibt vom Störerbegriff nicht mehr viel übrig. […] Indem der BGH auf das Kriterium zumutbarer Prüfungspflichten setzt, bleibt es bei einer Zumutbarkeitsprüfung im Einzelfall, die – nach ‚Autocomplete‘ – für weitere Überraschungen sorgen wird.“ In den drei Kinderhochstühle im Internet – Entscheidungen ging es jeweils um den Verkauf von Kindersitzmöbeln auf einer Internetplattform. Die Klägerin hielt Markenrechte an den streitgegenständlichen Möbeln. Die Beklagte betrieb eine Verkaufsplattform im Internet, auf der Dritte einschlägige Möbel unter Verletzung der klägerseitigen Markenrechte verkauften. Die Klägerin beanspruchte von der Beklagten die Entfernung der entsprechenden Offerten und es zu unterlassen, künftig solche Anzeigen zu veröffentlichen. Der BGH bejahte die Zumutbarkeit von Kontrollmaßnahmen, worauf gleich noch zurückzukommen ist. In dem „Autocomplete“-Urteil, BGH CR 2013, S. 459–462, hatte eine Verkäuferin von Nahrungsergänzungsmittel und Kosmetika im Internet gegen eine Suchmaschinenbetreiberin auf Unterlassung und Schadensersatz wegen Sucheinträgen geklagt, die durch Algorithmen der Suchmaschinenbetreiberin automatisch mit aus Klägersicht negativ konnotierten Begriffen vervollständigt wurden. Auch hier bejahte das Gericht die Zumutbarkeit einer Prüfungspflicht dann, wenn die Betreiberin Kenntnis von der Rechtsverletzung erlangt. 10 Diesen Grundsatz formulierte der BGH in der sogenannten „ambiente“-Entscheidung, NJW 2001, S. 3265–3269, dazu Härting (Fn. 6), S. 444. In diesem Verfahren hatte eine Messeverantalterin auf Aufhebung der Vergabe einer Internet-Domain und Neuregistrierung derselben zu ihren Gunsten geklagt. Beklagt wurde die DENIC, die die auf „.de“ endenden Domain-Namen vergibt. Der BGH wies die Klage unter anderem mit dem Argument ab, dass es in erster Linie Aufgabe der Beklagten sei, ein effizientes Registrierungsverfahren anzubieten. 11 Härting (Fn. 6), S. 444 Fn. 16.
Regulierte Selbstregulierung im Urheberrecht durch Rechtsprechung
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Marktplatz – etwa in den Anzeigenrubriken einer Zeitung oder im Rahmen einer Verkaufsmesse – kommt.“12
Aus der urheberrechtlichen Perspektive erscheint es zumindest geboten, dass der Intermediär immer dann, wenn er Kenntnis von einer Rechtsgutsverletzung erlangt, nicht nur das konkrete Angebot bzw. den konkreten Beitrag unverzüglich sperren, sondern auch Vorsorge treffen muss, dass es möglichst nicht zu weiteren derartigen Rechtsverletzungen kommt. Eine solche Prüfungspflicht folgt zwar grundsätzlich bereits direkt aus dem Gesetz, und zwar aus § 10 Satz 1 Nr. 2 Telemediengesetz (TMG). Hierbei verdient Hervorhebung, dass das Gesetz zwar nach § 7 Abs. 2 Satz 1 TMG eine generelle und anlasslose Prüfung verbietet. Jedoch sagt das Gesetz nichts zur konkreten inhaltlichen Ausgestaltung der anlassbezogenen Prüfungspflichten. In den späteren Entscheidungen hat der Bundesgerichtshof diese Rechtsprechung daher weiter konkretisiert. So bejaht das Gericht nunmehr eine Haftung des Internet-Intermediärs, wenn die geförderte Rechtsverletzung des Dritten nicht erst nach eingehender rechtlicher oder tatsächlicher Prüfung festgestellt werden könne, sondern für den in Anspruch Genommenen „offenkundig und unschwer zu erkennen“ sei.13 Dies gelte insbesondere dann, wenn der Verletzte den Plattformbetreiber bereits konkret auf eine mögliche Rechtsverletzung hingewiesen habe.14 In diesem Fall müsse der Internet-Intermediär Nachforschungen anstellen und die Tätigkeit des vermeintlichen Störers prüfen,
12 Härting (Fn. 6), S. 445. 13 Zur Frage nach dem Erfordernis einer eingehenden rechtlichen Prüfung siehe BGH CR 2004, S. 613, Rz. 36–37; und nach einer tatsächlichen Prüfung siehe BGH CR 2011, S. 259–263, 261– 262 Rz. 39–43 (sogenannte „Kinderhochstühle im Internet I“-Entscheidung). Zwar seien Überwachungspflichten allgemeiner Art ausgeschlossen. Jedoch richte sich die Prüfpflicht nach dem Einzelfall. Insbesondere müssten Intermediäre jene von den Nutzern bereitgestellten Informationen speichern, „die nach vernünftigem Ermessen von ihnen zu erwartende und in innerstaatlichen Rechtsvorschriften niedergelegte Sorgfalt aufwenden, um bestimmte Arten rechtswidriger Tätigkeiten aufzudecken und zu verhindern“, so der BGH in seiner sogenannten „Kinderhochstühle im Internet II“-Entscheidung, vgl BGH CR 2014, S. 50–55, 52 Rz. 35. Dass eine Rechtsverletzung für den Intermediär „offenkundig und unschwer zu erkennen“ sein muss, hat der BGH in der „Kinderhochstühle im Internet III“-Entscheidung formuliert, vgl. BGH CR 2015, S. 386–389, 387–388 Rz. 50. 14 In dem in Rede stehenden Urteil, der sogenannten „Davidoff Hot Water IV“-Entscheidung, hatte eine Parfumgroßhändlerin gegen einen Online-Marktplatz geklagt, der für seine Drittanbieter unter anderem auch den Versand und die Lagerung der vertriebenen Waren anbot. Der Kaufvertrag kommt dabei zwischen Käufer und Drittanbieter zustande. Einer der Drittanbieter bot ein Produkt in markenverletzender Weise an, da die Klägerin die exklusiven Markenrechte dafür besaß. Im Übrigen hatte in dieser Entscheidung der BGH eine Haftung zunächst verneint und hinsichtlich der Prüfung der Einhaltung der Nachforschungspflichten den Fall an die Vorinstanz zurückverwiesen.
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beim Vertrieb geschützter Waren beispielsweise durch Einholung von Informationen über die Herkunft der Produkte.15 Alles in allem besteht der Kern der Rechtsprechung zu den Prüfungspflichten von Internet-Intermediären in Folgendem: Prüfungspflichten werden dann ausgelöst, wenn die Rechtsverletzung eines Dritten nicht erst nach eingehender rechtlicher oder tatsächlicher Prüfung festgestellt werden könne, sondern für den Plattformbetreiber offenkundig und unschwer zu erkennen sei oder wenn dieser auf die Rechtsgutsbeeinträchtigung aufmerksam gemacht wurde.16 Unscharf bleibt in den Entscheidungen, was mit „Prüfungspflicht“ inhaltlich gemeint wird. Dies gilt insbesondere für den Begriff der „Prüfung“. So kann unter „Prüfung“ entweder eine Untersuchung der Tatsachen oder auch eine rechtliche Prüfung verstanden werden. Tatsächliche Prüfungen meinen, dass der Betreiber verpflichtet ist seine Plattform zu durchsuchen. Davon getrennt behandelt wird die Frage, ob der Betreiber auch die Rechtmäßigkeit von Informationen prüfen muss, wenn Dritte durch diese Informationen möglicherweise in ihren Rechten verletzt werden.17 Durch die praktische Ausgestaltung dieser Prüfungspflichten konkretisieren die Akteure also in jeder Hinsicht die Anforderungen der Rechtsprechung und verallgemeinern diese dadurch. Insofern wird auch die inter-partes-Wirkung von Urteilen durchbrochen, da eine Art von Fern- oder Bindungswirkung durch diese Rechtsprechung erzielt wird. Die Intermediäre verfügen zwar nicht über Rechtsetzungsbefugnisse im Sinne staatlicher Gesetzgebungsbefugnis. Gleichwohl kommen den Umsetzungsmaßnahmen der Internet-Intermediäre Signalwirkung zu, da diese über eine signifikante Marktmacht verfügen. In der Praxis 15 Näher Rössel, Störerhaftung, ITRB 2021, S. 104–106, 105. 16 Rössel (Fn. 15), S. 105, mit Verweis auf BGH CR 2011, S. 259–263, 261–262 Rz. 39, und BGH CR 2015, S. 386–389, 387–388 Rz. 50. Dass die praktische Umsetzung solcher Prüfungspflichten so gesehen gar seinen Niederschlag in Kunst und Kultur gefunden hat, zeigt der Dokumentarfilm „The Cleaners (Im Schatten der Netzwelt)“ der deutschen Regisseure Hans Block und Moritz Riesewieck aus dem Jahr 2018. Zusammengefasst zeigt der Film die Arbeit sogenannter „Content Moderatoren“, die für das bekannte Online-Netzwerk Facebook die auf der Website veröffentlichten Beiträge auf ihre Rechtswidrigkeit hin untersuchen. 17 Härting, in: ders. (Hg.), Internetrecht, 6. A., München 2017, Rn. 2602. Zu den strafrechtlichen Implikationen dieser Prüfungspflichten siehe Beck/Nussbaum, Neue Formen regulativer Kompetenz, in: Beck/Meder (Hg.), Jenseits des Staates?, Göttingen 2021, S. 35–58, 39–41. Nicht untersucht ist bislang auch die Frage der Delegationsmöglichkeiten von Nachforschungen an nachgeordnete Dritte und dahingehende Sorgfaltspflichten bezüglich deren Überprüfung durch den Auftraggeber. Inwieweit dies beispielsweise bei Menschenrechtsverstößen im Zusammenhang mit dem geplanten Lieferkettengesetz eine Rolle spielt, zeigt Wilhelm, Compliance-Klauseln im unternehmerischen Geschäftsverkehr, AcP 221 (2021), S. 657–694, 659. Zu dem Spezialgebiet der Einhaltung der Menschenrechte in der Lieferkette siehe Habersack/Ehrl, Verantwortlichkeit inländischer Unternehmen für Menschenrechtsverletzungen durch ausländische Zulieferer, AcP 219 (2019), S. 155–210; und Rühl/Knauer, Zivilrechtlicher Menschenrechtsschutz?, JZ 2022, S. 105–114.
Regulierte Selbstregulierung im Urheberrecht durch Rechtsprechung
185
existieren dabei zwei Umsetzungsmodelle: Während nach dem Modell des „notice and take down“, der Internetdienstleister lediglich den Zugang zu rechtswidrigen Inhalten versperrt, geht das Konzept des „notice and stay down“ weiter. Danach verpflichtet sich der Intermediär Dienstleister dazu beizutragen, künftig ähnlich gelagerte gleichartige Verletzungen zu vermeiden.18 Im Kern geht es also auch bei dieser Diskussion um die Reichweite der Prüfpflichten.
IV.
Open Source Software
1.
Grundlagen von Open Source Software
Im Bereich der Verwendung von Open Source Software begegnet Selbstregulierung zugleich in mehrfacher Hinsicht.19 Schon die Abfassung der Open Source Lizenzen kann als Selbstregulierung angesehen werden.20 Denn insbesondere für 18 Holznagel, Melde- und Abhilfeverfahren zur Beanstandung rechtswidrig gehosteter Inhalte, GRUR Int. 2014, S. 105–113, 106–107; Härting, in: ders. (Hg.), Internetrecht (Fn. 17), Rn. 2602. Zum „notice and take down“-Verfahren siehe auch LG Leipzig GRUR-RR 2018, S. 140–142, 141–142.Auf dem 70. Deutschen Juristentag wurde zudem diskutiert, ob die Haftung der Intermediäre subsidiär gegenüber der Inanspruchnahme des eigentlichen Rechtsverletzers ausgestaltet wird. Erst wenn dies scheitere, könne sich der Verletzte an den Intermediär wenden. Dies wurde jedoch abgelehnt, näher dazu Wagner, Tagungsbericht der Abteilung Urheberrecht, JZ 2015, S. 615–616, 615. Inwieweit die Neufassung des § 127 StGB zu einer Ausweitung der Prüfpflichten führt, wird sich in der Praxis zeigen. Erste Analysen der Gesetzgebungsmaterialien deuten darauf hin, siehe näher dazu Vassilaki, § 127 StGB – Eine Herausforderung für die Betreiber von Handelsplattformen im Internet, CR 2022, S. 204–208, 206–207. 19 Als Open Source Software wird nach der Definition der Open Source Initiative (OSI) Software verstanden, die frei, öffentlich und kostenlos zugänglich ist, bei der der Source Code offenliegt und deren Nutzungsrechte über eine der einschlägigen Open Source Lizenzen eingeräumt werden, vgl. https://opensource.org/osd, zuletzt abgerufen am 7. 3. 2022. Die Kennzeichen von Open Source werden von Meder, ius non scriptum, Tübingen 2009, S. 40 bei Fn. 61, abstrakt und aus der gesellschafts-, sozial- und rechtswissenschaftlichen Perspektive mit den Schlagworten „horizontal“ anstelle von „vertikal“, „bottom-up“, „Netz“, „Pluralismus“ und „global“ beschrieben. Denn Open Source stehe insoweit mit Schlagworten wie „vertikal“, „Top Down“, „Pyramide“, „Monismus“ und „national“ beschriebenen Markprinzipien entgegen. Wie Schwemmer, Dezentrale (autonome) Organisationen, AcP 221 (2021), S. 555–595, 557, 576, anhand der Auswirkungen der Blockchain-Technologie auf das Gesellschaftsrecht nachweist, zeigen mittlerweile auch andere moderne Entwicklungen der Technik, dass die tradierten Leitlinien des Marktes zunehmend hinterfragt werden. 20 Siehe dazu Meder, ius non scriptum (Fn. 19), S. 109–112, und Köndgen, Privatisierung des Rechts, AcP 206 (2006), S. 477–525, 479–481. Weitere häufig genannte Beispiele sind die private Rechtsetzung im internationalen Handel, die sogenannte lex mercatoria, sowie die Regeln im internationalen Sport, die sogenannte lex sportiva, näher dazu Röthel, Lex mercatoria, lex technica, JZ 2007, S. 755–763, 755–758, und der Corporate Govenance Kodex, dazu Leyens, Corporate Governance, JZ 2007, S. 1061–1112, 1063. Dass im Bereich von Open Source
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die General Public License version 2 (GPL v2), eine bekannte Open Source Lizenz, wird diskutiert, dass Open Source Lizenzen nach deutschem Recht als Allgemeine Geschäftsbedingungen anzusehen sind.21 Der Selbstregulierungsaspekt rührt bei Allgemeinen Geschäftsbedingungen daher, dass sie als „selbstgeschaffenes Recht der Wirtschaft“22 beschrieben werden und somit als Element privater Rechtsetzung gelten.23 Dieser Betrachtungsweise von Open Source Software liegt das Verständnis zugrunde, dass es sich bei Open Source Lizenzen um vorformulierte Vertragsbedingungen handelt, die der jeweilige Entwickler dem von ihm entwickelten Source Code beifügt. Das Landgericht München zu der GPL v2 Folgendes ausgeführt: „Die Kammer hat zunächst keinerlei Bedenken, dass die Allgemeinen Geschäftsbedingungen nach § 305 Absatz 2 BGB wirksam in ein mögliches Vertragsverhältnis zwischen der Verfügungsbekl. und dem Verfügungskl. einbezogen worden sind. Auf der Internetseite ist auf die Bedingungen hingewiesen. Die Bedingungen sind weiter allgemein zugänglich. Auch wenn die deutsche Übersetzung nicht offiziell sein mag, bestehen angesichts des Umstands, dass Englisch in der Computerindustrie die gängige Fachsprache ist, keinerlei Bedenken, weil die offiziellen Bedingungen nur in englischer Sprache vorliegen. Dies gilt zumindest, wenn ein Vertragsverhältnis zwischen den Urhebern und einer gewerblichen Softwarefirma in Rede steht.“24
Das vorgenannte Urteil ist auf eine ambivalente Resonanz getroffen. Einhellig begrüßt wird in der Literatur, dass sich zumindest erstmalig ein Gericht mit der Wirksamkeit und der rechtlichen Charakterisierung einer Open Source Lizenz als AGB auseinandersetzte.25 Auf Kritik sind hingegen einige urheberrechts-
21
22 23 24 25
Software die Selbstregulierung auf Seiten des programmierenden Urhebers bereits bei der Wahl der Lizenz ansetzt, zeigt Angstwurm, Kreativität vs. Urheberrecht im digitalen Bereich, München 2019, 35–44, 82–86. LG München MMR 2004, S. 693–698, 694. Näher dazu siehe Jäger/Metzger, Open Source Software, München 2020, S. 180, Rz. 252 mit weiteren Nachweisen. In der Literatur werden Bedenken gegen die Einordnung der Open Source Lizenzen als Allgemeine Geschäftsbedingungen unter anderem mit dem Argument geäußert, dass gerade die weitverbreiteten Lizenzen ausschließlich auf Englisch verfügbar seien, siehe bspw. Metzger, Freie Software, Open Content, in: Hilty/Peukert, Interessenausgleich im Urheberrecht, Baden-Baden 2004, S. 253–263, 256. Bechtold, Optionsmodelle und private Rechtsetzung, GRUR 2010, S. 282–289, 287, der zudem darauf verweist, dass regelmäßig urheberrechtliche Institutionen durch private Parteien geschaffen werden. Bachmann, Private Ordnung, Tübingen 2006, S. 10, mit Verweis auf Eucken, Grundsätze der Wirtschaftspolitik, Köln u. a. 2004, S. 220, 295–296, 328–329; sowie Köndgen, Privatisierung des Rechts, AcP 206 (2006), S. 477–525, 479. Köndgen (Fn. 20), S. 479; Buck-Heeb/Dieckmann (Fn. 1), S. 50–54. LG München MMR 2004, S. 693–698, 694. Hoeren, Anmerkung 1 zu LG München I: Wirksamkeit einer GPL-Lizenz, CR 2004, S. 774– 780,776, sowie Metzger, Anmerkung 2 zu LG München I: Wirksamkeit einer GPL-Lizenz, CR 2004, S. 774–780, 778. Näher dazu, welche Auswirkung die Einordnung dieser Lizenzen als AGB auf einen möglichen urheberrechtlichen Schadensersatzanspruch des Urhebers und
Regulierte Selbstregulierung im Urheberrecht durch Rechtsprechung
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dogmatische Ausführungen gestoßen.26 Unberücksichtigt blieben bei diesen Anmerkungen bislang Fragen des selbstregulativen Charakters von Open Source Lizenzen. Im Folgenden wird zu untersuchen sein, inwieweit eine derartige private Rechtsetzung Einschränkungen in der richterlichen Überprüfung unterliegt.
2.
Rechtsprechung zu Open Source Software
Auch in Fällen privater Rechtsetzung findet eine Kontrolle durch staatliche Gerichte statt. Es sei die Aufgabe des Gesetzgebers, „durch Zuweisung starker oder unklarer Verfügungsrechte die Verhandlungen zwischen den Parteien zu erleichtern“.27 Demnach unterliegen Allgemeine Geschäftsbedingungen grundsätzlich der vollen gerichtlichen Überprüfbarkeit. Diese Annahme wird im sogenannten b2b-Bereich (business-to-business-Bereich), also dem Handels- und Wirtschaftsverkehr zwischen Unternehmen, durchbrochen. Denn hier besteht nicht in gleichem Maße das sonst zwischen AGB-Verwender und Kunde (Verbraucher) angenommene „Machtungleichgewicht“.28 Hier gilt zumindest der Grundsatz, dass die AGB „nach objektiven Maßstäben, losgelöst von der zufälligen Gestaltung des Einzelfalls und den individuellen Vorstellungen der Vertragsparteien, unter Beachtung ihres wirtschaftlichen Zwecks und der gewählten
Lizenzgebers hat, siehe Dietrich, Schadensberechnung nach Lizenzanalogie, CR 2020, S. 429– 435, 433. 26 Zu erwähnen ist insbesondere der Umgang mit dem Begriff „Lizenz“ in der vorgenannten Entscheidung, der dem deutschen Urheberrecht gemäß Hoeren (Fn. 25), S. 777, fremd sei. 27 Bechthold, Optionsmodelle und private Rechtsetzung, GRUR 2010, S. 282–289, 287, ders., Zur rechtsökonomischen Analyse im Immaterialgüterrecht, GRUR Int 2008, S. 484–488, 486. 28 Zu den Hintergründen der Unterschiede bei der Inhaltskontrolle von zwischen Unternehmen vereinbarten AGB einerseits und von AGB im Verbrauchschutzbereich andererseits siehe Wendland, Vertragsfreiheit und Vertragsgerechtigkeit, Tübingen 2019, S. 692–790, Die richterliche Überprüfung von AGB dient im Verbraucherschutzrecht dazu, „gemeinwohlwidrige Regelungen“ zu identifizieren und für unwirksam zu erklären, vgl. Meder, Doppelte Körper, Tübingen 2015, S. 239 sowie Becker, Die Reichweite der AGB-Inhaltskontrolle im unternehmerischen Verkehr aus teleologischer Sicht, JZ 2010, S. 1098–1106, 1100 und Wilhelm (Fn. 17), S. 657–694. Dies gilt vor allem für Verbraucher, die aufgrund der zwischen ihnen und dem Unternehmer als Verwender der AGB bestehenden Informationsasymmetrie einer besonderen Schutzbedürftigkeit unterliegen. Die richterliche Überprüfung von AGB ist auch vor dem rechtstheoretischen Hintergrund interessant, dass die gesetzliche Grundlage dieser Kontrolle, § 310 Abs. 1 S. 1, 2 in Verbindung mit § 307 BGB, ähnlich einer Generalklausel gefasst ist. Somit steht der Richter bei der Anwendung dieser Normen vor einer ähnlichen Herausforderung wie bei der Auslegung von Gesetzeslücken, siehe Kruse, Das Richterrecht als Rechtsquelle des innerstaatlichen Rechts, Tübingen 1971, S. 6.
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Ausdrucksweise“ auszulegen sind.29 Neben der eingangs beleuchteten Entscheidung des Landgerichts München verdient aus der selbstregulativen Perspektive ein Urteil des Landgerichts Hamburg aus dem Jahr 2013 in diesem Zusammenhang eine nähere Betrachtung. Dieser Entscheidung lag folgender zusammengefasster Sachverhalt zugrunde: Geklagt hatte ein Programmierer eines Teils des bekannten „GNU/Linux“, der Inhaber der ausschließlichen Nutzungsrechte dieser Teilsoftware ist. Die Software wurde unter der General Public License, Version 2 „GPLv2“ lizenziert. Die Beklagte ist ein Unternehmen, welches mit Computerhardware und Unterhaltungselektronik, unter anderem auch mit Mediaplayern handelt. Die Beklagte vertrieb unter anderem den FANTEC Media Player, weshalb das Urteil als FantecEntscheidung bezeichnet wird. Die auf dem Fantec verwendete Firmware umfasste unter anderem die von dem Kläger entwickelte Open Source Software. Der Kläger machte geltend, dass die Beklagte den Pflichten aus der GPL v2 nicht nachgekommen sei, insbesondere würde die Beklagte entgegen den Lizenzbestimmungen nicht den Quellcode der Software mit der Auslieferung ihres Produkts zur Verfügung stellen. Dagegen wandte die Beklagte ein, dass ihr Zulieferer ihr die Vollständigkeit des veröffentlichten Codes zugesichert habe. Das Gericht bejahte den klägerseitig geltend gemachten Anspruch. Es führt zur Nutzung30 von Open Source Software aus: „Die Beklagte handelte jedenfalls fahrlässig schuldhaft. Sie hätte sicherstellen müssen, dass die Software ‚netfilter/iptables‘ nur unter Einhaltung der Lizenzbedingungen der GPLv2 öffentlich zugänglich gemacht wird. Sie durfte sich dabei nicht auf die Zusicherung ihrer Lieferanten verlassen, dass die gelieferte Ware keine Rechte Dritter verletzt. Jedenfalls hätte die Beklagte durch eigene Begutachtung oder unter Zuhilfenahme von sachkundigen Dritten eine Überprüfung der von ihr angebotenen und bereitge29 BGH NJW 1956, S. 1915–1918, 1915. Auf Interesse stoßen muss hierbei zudem das Verfahren, wie Open Source Lizenzen entstehen. Beispielsweise wurde die General Public License Version 3 im Rahmen eines nach Jäger/Metzger (Fn. 21), S. 51, Rn. 75, fast schon gesetzgebungsähnlichen Prozesses verfasst. So fand ein durch die Free Software Foundation initiierter öffentlicher Konsultationsprozess statt, in dessen Verlauf unter anderem verschiedene Discussion Committees beteiligt wurden. Andererseits lag das Letztentscheidungsrecht über den Text der Lizenz allein bei dem Gründer und Präsidenten der Free Software Foundation, Richard Stallmann. 30 Als Nutzer im Rahmen des Einsatzes von Open Source Software gilt für die Zusammenhänge dieses Beitrags derjenige, der unter einer Open Source Lizenz veröffentlichten ProgrammCode für eigene Zwecke nutzt. Ob er als Unternehmer oder Verbraucher rechtlich qualifiziert wird, ist ungeklärt und abhängig von den Umständen des Einzelfalls. Genauso ist offen, ob der Software-Entwickler, der seinen Code unter einer Open Source Lizenz zur Verfügung stellt, rechtlich als Unternehmer oder Verbraucher charakterisiert wird. Die Entscheidungen LG München CR 2004, S. 774–780; LG Berlin ZUM-RD 2012, S. 153–160; LG Hamburg CR 2013, S. 498–499; LG Köln MMR 2014, S. 448–482; LG Hannover CR 2016, S. 430; LG Hamburg MMR 2016, S. 740–743; LG Hamburg CR 2017, S. 364–367; OLG Hamburg CR 2019, S. 634–640 und LG Hamburg CR 2019, S. 774–781 lassen dies offen.
Regulierte Selbstregulierung im Urheberrecht durch Rechtsprechung
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haltenen Software in geeigneter Weise durchführen oder veranlassen müssen, auch wenn das mit zusätzlichen Kosten verbunden ist.“31
Abschließend führt das Gericht weder aus, ob allgemein Prüfungspflichten bestehen, noch wie mögliche Pflichten zu Nachforschungen dogmatisch herzuleiten sind oder wie weit diese eventuell reichen würden.32 Aufgrund der verschiedenen gesetzlichen Anforderungen und der einschlägigen Rechtsprechung, auf deren Bindungswirkung noch zurückzukommen ist, bleibt es ein Desiderat, ob und in welchem Umfang zur Einführung eines Open Source Compliance Systems geraten wird.33 Dies verdient aus verschiedenen Blickrichtungen einer näheren Untersuchung.
3.
Compliance – Begriff und Rechtsnatur
Der Begriff „Open Source Compliance“ ist auf den ersten Blick etwas unscharf. Denn in der Literatur wird „Compliance“ zunächst als „Einhaltung, Befolgung, Übereinstimmung, Einhaltung bestimmter Gebote“ verstanden.34 Als Compliance wird damit insbesondere die Einhaltung von gesetzlichen Vorschriften und unternehmensinterner Richtlinien definiert.35 Da dazu in der Regel die Formulierung und praktische Implementierung von Organisationsmaßnahmen erforderlich sind, handelt es sich bei Compliance insofern auch um eine Form von Selbstregulierung.36 Offen ist indes, ob der herkömmliche Compliance Begriff auch die Einhaltung und Befolgung von Vorgaben aus der Rechtsprechung vorsieht. Dazu lohnt ein Blick auf die Rechtsquellenqualität von Gerichtsurteilen. 31 LG Hamburg CR 2013, S. 498–499, 499. 32 Dass Software urheberrechtlich zu bewerten ist, ist das Ergebnis langer dogmatischer und judikativer Diskussionen. Näher dazu und mit einer Darstellung der historischen Entwicklung siehe Wandtke/Bulllinger/Grützmacher, Praxiskommentar Urheberrecht, 4. A., München 2014, Vor § 69a ff, Rn. 1–2. 33 Zum Beispiel Jäger/Metzger (Fn. 21), S. 19, Rn. 27 und Burke/Heinze, Open Source Compliance, CCR 2017, S. 56–62, 59–60, sowie Weinkraut Softwareentwicklung 2017, DSRITB 2017, S. 453–463; S. 460, und Meeker, Open Source for Business, 3. A., Seattle 2020, S. 39–116. 34 Burke/Heinze (Fn. 35), S. 59–60. 35 Z. B. Burke/Heinze (Fn. 34), S. 59–60. Eine funktionierende Compliance soll dabei durch organisatorische Maßnahmen wie Prozesse und ähnliche Methoden sichergestellt werden. Aufgrund der Vielfalt gegebenenfalls einschlägiger Vorschriften wird häufig nicht von der „Compliance“, sondern je nach Rechtsgebiet beispielsweise von „Kartellrechts-Compliance“, „Datenschutz-Compliance“ oder „Kapitalmarkt-Compliance“ gesprochen. Nach Wilhelm (Fn. 17), S. 658, sollen nicht nur die Einhaltung des Rechts an sich, sondern auch die dahinführenden Prozesse Bestandteil der Compliance sein. 36 Näher dazu Beck/Nussbaum (Fn. 17), S. 39–41; Parker/Gilad, Internal Corporate Compliance Management Systems, in: Parker/Nielsen (Hg.), Explaining Compliance, Cheltenham 2011, S. 170–198, 178–182.
190 4.
Alexander Ihlefeldt
Zur Legitimation und Bindungswirkung von Gerichtsurteilen, insbesondere von Instanzrechtsprechung
Die Frage, ob Richterrecht die Definition von Recht erfüllt, ist bis heute nicht abschließend geklärt worden.37 In der Argumentation dazu wird das auf Montesquieu zurückgehende Gewaltenteilungsprinzip in Ansatz gebracht und Recht als ein Befehl des Staates definiert. Unter dieser Annahme könnten alle drei Gewalten Recht setzen.38 Dem steht jedoch die funktionale Idee der Gewaltenteilung entgegen, wonach die Aufgabe der Judikative in der Rechtsanwendung liegt. Dagegen lässt sich jedoch wiederum anführen, dass Rechtsanwendung und Rechtsetzung nicht im Gegensatz zueinanderstehen, sondern sich gegenseitig bedingen. Denn Rechtsetzung im Sinne staatlicher Gesetzgebung dient dazu, eine „generalisierende, vorwegnehmende Regelung einer Vielzahl von gleichgelagerten Fällen eine Programmierung künftigen Geschehens“39 zu schaffen. Rechtsanwendung ist situationsbezogen. Bei der Rechtsanwendung wird eine Entscheidung im Einzelfall getroffen.40 Wenn aber Rechtsanwendung nur diese Funktion erfüllt, stellt sich die Frage nach der Bindungswirkung von Rechtsprechung über den entschiedenen Einzelfall hinaus, mithin nach der sogenannten Präjudizierung. Als kleinster gemeinsamer Nenner lässt sich dazu zumindest festhalten, dass grundsätzlich jeder Gerichtsentscheidung präjudizielle Wirkung insofern zukommt als dass „aus Gründen der Rechtsgleichheit in gleichen oder ähnlichen Fällen die Norm gleich oder ähnlich auszulegen sei“.41 Andererseits wird in der Literatur auch auf die grundsätzlichen Unterschiede zwischen Gesetzesrecht und Rechtsanwendung hingewiesen. Bei der richterlichen Entscheidungsfindung spielt das Richteramt die zentrale Rolle, während Gesetzgebung in der Regel als Ergebnis eines demokratischen und pluralistischen Entscheidungsprozesses entsteht. Es lässt sich also fragen, ob der Richter zu einer Fortbildung des Rechts überhaupt legimitiert ist. Gegner dieser Position behaupten, dass es auf diesem Weg zu einer „Emanzipation der Justiz aus dem Gesamt der staatlichen Funktionen“42 kommen würde und sehen in Rechtspre37 Zur Frage, was Recht ist, siehe Meder, ius non scriptum (Fn. 19), S. 1–12; Pfordten, Was ist Recht?, JZ 2008, S. 641–652, 643. 38 Meder, Doppelte Körper im Recht (Fn. 28), S. 221–222. 39 Meder, Doppelte Körper im Recht (Fn. 28), S. 221. 40 Meder, Doppelte Körper im Recht (Fn. 28), S. 221 mit Verweis auf Müller, Elemente einer Rechtssetzungslehre, 2. A., Zürich u. a. 2006, S. 20–24. Zum Zusammenspiel der gesellschaftlichen Kräfte bei der Entstehung nichtstaatlichen Rechts siehe Collin (Fn. 2), S. 277–278; 280– 281. 41 Näher dazu Meder, Doppelte Körper im Recht (Fn. 28), S. 221 mit Verweis auf Müller, Elemente einer Rechtssetzungslehre, 2. A., Zürich u. a. 2016, S. 20–24. 42 Meder, Doppelte Körper im Recht (Fn. 28), S. 239 mit Verweis auf Forsthoff, Die Rechtsprechung, in: ders., Der Staat der Industriegesellschaft, München 1971, S. 126–146, 127.
Regulierte Selbstregulierung im Urheberrecht durch Rechtsprechung
191
chung eine Quelle nichtstaatlichen Rechts. Argumentiert wird, dass der Richter, wenn er selbst Recht setzt, dieses nicht mehr als Ergebnis hoheitlichen Willens anzusehen sei, da diesem Recht die demokratische Grundlage fehlen würde.43 Inwieweit die Legitimation des Richterrechts mit dem Prozess der Besetzung von Gerichten korreliert, bedürfte einer eigenen Untersuchung.44 Für die Annahme von richterlicher Rechtsetzungskompetenz spricht jedoch, dass das Gewaltenteilungskonzept gerade dazu dient, Machtkonzentration bei einer der Gewalten zu vermeiden.45 In einem pluralistisch verfassten Gesellschafts- und Rechtssystem soll die Rechtsetzungskompetenz verschiedener Stellen anerkannt werden. Voraussetzung dafür sei ein System von Kontrollmechanismen. Gerichtsentscheidungen würden dies erfüllen, da die Legislative sie durch Gesetzgebung jederzeit bestätigen oder außer Kraft setzen kann. Hinzu kommt, dass die Ausfüllung von Gesetzeslücken46 und die rechtspraktische Umsetzung von Generalklauseln als Rechtsfortbildung gesehen werden.47 Als Zwischenergebnis kann festgehalten werden, dass Rechtsprechung ebenfalls als Rechtsetzung zu charakterisieren ist, da es sich um eine eigenständige Konkretisierung oder Bewertung durch denjenigen handelt, der einen bestimmten Konflikt entscheiden will. Ausgehend von dieser Prämisse soll die Frage nach der
43 Hirsch, Auf dem Weg zum Richterstaat?, JZ 2007, S. 853–904, 854. Zu den Parallelen und Unterschieden bei der richterlichen Entscheidungsfindung und jener in der Verwaltung, siehe Schütz, Der ökonomisierte Richter, Berlin 2005, S. 278–301. Meder, Doppelte Körper im Recht (Fn. 28), S. 249–250, zeigt anhand des Coporate Governance Kodex wie durch das Zusammenspiel staatlicher und privater Akteure demokratische Elemente auch bei dem Entwurf nichtstaatlichen Rechts wirken können. Ähnliches gilt für die Entstehung der bekannten Open Source Lizenz „General Public License version 3“. Deren Entstehungsgeschichte wirft ein Licht auf das Zusammenspiel verschiedener privater Elemente, näher dazu siehe Fn. 29. 44 Hingewiesen sei zum Beispiel auf die Unterschiede bei der Besetzung des Bundesgerichtshofs und derjenigen von Landgerichtskammern oder Amtsgerichten, siehe näher Ipsen, Richterrecht und Verfassung, Berlin 1975, S. 210–214. 45 Näher dazu Meder, Doppelte Körper im Recht (Fn. 28), S. 239. 46 Siehe hierzu Hergenröder, Zivilprozessuale Grundlagen richterlicher Rechtsfortbildung, Tübingen 1995, S. 125–186, sowie Röthel, Normkonkretisierung im Privatrecht, Tübingen 2004, S. 54–60. 47 Zur Auslegung von Generalklauseln siehe Kruse, Das Richterrecht als Rechtsquelle des innerstaatlichen Rechts, Tübingen 1971, S. 6, der Generalklauseln mit Verweis auf Hedemann, Die Flucht in die Generalklauseln, Tübingen 1933, S. 58, als „Stücke offengelassener Gesetzgebung“ definiert. Auch Entscheidungen aus Billigkeitsgesichtspunkten lassen sich auf die richterliche Interpretation von Generalklauseln zurückführen. Dies zeigen Mecke/Huck, Billigkeit im Recht Billigkeit versus Recht, AcP 220 (2020), S. 861–892, 885–889. Zu den ökonomischen Konsequenzen richterlicher Rechtsfortbildung siehe Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip, Tübingen 1998, S. 458. Eher kritisch sieht Foerste, Verdeckte Rechtsfortbildung in der Zivilgerichtsbarkeit, JZ 2007, S. 122–135, 123, die richterliche Rechtsfortbildung.
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Bindungswirkung von Instanzrechtsprechung einer näheren Untersuchung unterzogen werden. a)
Präjudizwirkung von Instanzrechtsprechung
Wie gesehen, lassen sich die eventuellen Prüfpflichten von Open Source Software möglicherweise auch auf eine landgerichtliche Entscheidung zurückführen. Damit geht die Spezialfrage einher, ob nur höchstrichterliche Entscheidungen als Rechtsetzung zu charakterisieren sind oder auch den Urteilen der Instanzrechtsprechung diese Qualität beizumessen sind. Für Letzteres spricht, dass schon qua zivilprozessualer Vorgaben nicht jeder Fall bis zum Oberlandesgericht oder zum Bundesgerichtshof durchgetragen werden kann. Dies zeigen schon die §§ 511ff. und 534 ZPO, wonach eine Berufung beziehungsweise eine Revision nur in den gesetzlich vorgesehenen Fällen eingelegt werden kann.48 Wenn also die Möglichkeit zur höchstrichterlichen Entscheidung von vornherein begrenzt ist, kann der Instanzrechtsprechung die Rechtsquellenqualität und damit die Präjudizwirkung nicht per se abgesprochen werden.49 Unter anderem dort, wo die Berufungs- oder Revisionsinstanz das Urteil der Vorinstanz ausdrücklich aufgehoben hat, werden dieser Annahme Grenzen gesetzt. b)
Zwischenergebnis
Dies führt im Ergebnis dazu, dass auf dem Gebiet der Open Source Software Anforderungen des Richterrechts je nach den Umständen des Einzelfalls Einfluss auf den Gegenstand der Compliance haben könnten.50 Dies fußt auf der Prä48 Hinzu kommt noch, dass gerade auf der Ebene der Instanzrechtsprechung verschiedene Verfahrensarten existieren. Gedacht sei dabei beispielsweise an das Hauptsache- und das Verfügungsverfahren. So merkt Hoeren (Fn. 25), S. 776, zum eingangs zitierten Urteil des LG Münchens, wonach die GPL v2 als AGB zu charakterisieren ist, an, dass es nicht um eine Entscheidung in der Hauptsache, sondern um ein Verfügungsurteil handelt. Inwieweit sich daraus weitere Implikationen für die Rechtsquellenqualität von Instanzrechtsprechung ableiten, kann hier jedoch dahinstehen. 49 Selbst der BGH rekurriert auf die „Mehrzahl der Instanzgerichte“, vgl. BGH NJW 1952, S. 931– 933, 931 sowie BGH NJW 1992, S. 692–695, 693.Außerdem nimmt der BGH an, dass es zum Beispiel Gegenstand der anwaltlichen Sorgfaltspflicht ist, sich über die einheitliche Rechtsprechung einen Überblick zu verschaffen, vgl. BGH NVwZ 1988, S. 472–474, 474. Hamann, Der blinde Fleck der deutschen Rechtswissenschaft, JZ 2021, S. 656–665, 659, kritisiert vor diesem Hintergrund, dass Instanzrechtsprechung zum Teil nur schwer zugänglich ist. Dies führt er auf die Veröffentlichungspraxis der Landgerichte zurück, die sich vorrangig am Kriterium der „Veröffentlichungswürdigkeit“ orientiere. Diese solle laut Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts, abgedruckt in NJW 1997, S. 2694–2696, 2694, dann vorliegen, sofern die „Öffentlichkeit ein Interesse [an der Veröffentlichung] hat oder haben kann“. 50 Dass die Ausweitung von Begriffen nicht zu einem Verlust von Trennschärfe führen muss, wenn die Termini nicht beliebig verwendet, sondern in einen klaren Kontext gesetzt werden,
Regulierte Selbstregulierung im Urheberrecht durch Rechtsprechung
193
misse, dass Argumente dafürsprechen, Richterrecht als Teil der staatlichen Rechtsetzung anzusehen. Alles in allem kann Compliance somit auch als Antwort auf Annahmen der Rechtsprechung dienen.
V.
Zu den vorgenannten Beispielen: Das Verbindende und das Trennende
Die vorgenannten Beispiele haben auf den ersten Blick wenig gemeinsam. Das verbindende Element besteht darin, dass aus der Perspektive des Betroffenen der Rechtsprechung, also aus Sicht der Intermediären-Plattform bzw. beim Umgang mit Open Source Software die inhaltliche Konkretisierung, ob und wie mögliche Nachforschungen erfolgen sollten, bislang nicht durch Gerichte geklärt wurde. Aus rechtstheoretischer Sicht stößt vor allem auf Interesse, dass es gerade im Bereich von Open Source Software zu einem interessanten Dreiklang von Selbstregulierung und staatlichem Recht kommt: Sofern Open Source Lizenzen, wie insbesondere die GPL v2, als Allgemeine Geschäftsbedingungen begriffen werden, stellen diese private Rechtsetzung dar. Diese wird im Einzefall durch staatliche Gerichte überprüft, im Ergebnis entsteht je nach Sichtweise staatliches Recht. Diese führt zu neuen Formen privater Rechtsetzung, da im Rahmen der unternehmensseitigen Selbstregulierung Compliance-Systeme als Antwort auf die Anforderungen der Rechtsprechung definiert werden könnten. Je nach Einzelfall und Umsetzung derselben, führen diese in ihrer praktischen Konkretisierung also zu neuer Selbstregulierung.
VI.
Fazit
Staatliche und private Rechtsetzung bilden keine Gegensätze. Sie schließen sich auch nicht gegenseitig aus, sondern bedingen sich gegenseitig oder stehen in einem direkten Abhängigkeitsverhältnis. Dies zeigt sich am Beispiel der regulierten Selbstregulierung auf den Gebieten der Haftung von Internet-Intermediären und der Nutzung von Open Source Software. So kann staatliche Rechthat Meder anhand der Begriffe „Geistiges Eigentum“ und „Immaterialgüterrechte“ nachgewiesen. Andererseits plädiert Meder auch dafür, konkrete, den Sachverhalt erfassende Begriffe zu finden, anstatt auf allgemeine Formulierungen zurückzugreifen, um inhaltliche Klarheit und Übereinstimmung zwischen Sprache und Wissenschaft zu schaffen. Nichtsdestoweniger ist es gerechtfertigt, einen bereits bestehenden Begriff auszuweiten, um Entwicklungen aus Rechtsprechung und Technik aufzunehmen, wenn dieser Begriff inhaltlich zumindest eine Deckungsmenge aufweist, siehe dazu Meder, Gottlieb Plancks Vorlesungen über „Immaterialgüterrecht“ und das „Geistige Eigentum“, UFITA 2010, S. 171–196, 190.
194
Alexander Ihlefeldt
setzung, sofern Rechtsprechung als solche begriffen wird, den Anlass beziehungsweise die Motivation zur Setzung privaten Rechts geben. Die Besonderheit der untersuchten Rechtsprechung besteht darin, dass richterliche Interpretation hier zu einer Selbstregulierung führt. Denn für die Betreiber von Online-Plattformen liegt die Herausforderung genauso wie beim Umgang mit Open Source Software darin, Konkretisierungen, ob und gegebenenfalls welche Nachforschungen durchgeführt werden, auf der praktischen Anwenderebene selbst vornehmen zu müssen. Insofern kann man durchaus von einer regulierten Selbstregulierung sprechen. Diese Annahme fußt auf der Prämisse, dass Richterrecht als Form der staatlichen Regulierung angenommen wird. Zwar wirkt Richterrecht grundsätzlich nur „inter partes“, also zwischen den Parteien eines Rechtsstreits. Trotzdem sind die Anforderungen der Rechtsprechung dann verallgemeinerungsfähig, wenn es an Gesetzesrecht fehlt oder das Richterrecht eine echte inhaltliche Konkretisierung staatlicher Normen darstellt.
Kostas N. Christodoulou
Zur Interrelation zwischen Urheber- und Datenschutzrecht
I.
Einleitung: Problemstellung und Forschungsziel
Viele Diskussion gibt es über das Verhältnis zwischen Geistigem Eigentum und (dem gesamten) Datenrecht. Öfter wird dabei das praktische Ziel fokussiert, den Datenverkehr zu erleichtern und den rechtlichen Status des sogenannten Datennehmers sicherzustellen. Im Allgemeinen muss man Daten als Rechtsgegenstand des Geistigen Eigentums einordnen: Obwohl es im Grunde genommen nicht um intellektuelle Leistungen geht und es viele spezifische Unterschiede gibt, spricht man jedenfalls von immateriellen Gütern, von absoluten Rechten, nicht aber von Sachrechten1. Letzten Endes stammen alle immateriellen Güter von dem aPR (allgemeinen Persönlichkeitsrecht) als Rahmenrecht ab2. Das Thema dieses Beitrags beschränkt sich ausschliesslich auf den Vergleich zwischen dem personenbezogenen Datenschutzrecht und dem Urheberrecht. Das Interesse einer solchen Forschung liegt hauptsächlich auf zwei Schwerpunkten: 1. Beide Rechte werden durch die Schutzwürdigkeit des primären Rechtsträgers, nämlich des Betroffenen und des Urhebers, geprägt. Diese Schutzwürdigkeit widerspricht als vorwiegende Ratio anderen Zielen (z. B. der Kommerzialisierung des ‚Contents‘ als zu schützenden Gegenstand, der breiten Teilnahme an der Informationsgesellschaft usw.). 2. Die Urheberschaft und das Werk selbst stellen schon relevante personenbezogene Daten des Urhebers dar (s. ausführlicher III.3, IV). Daraus ergeben sich Konkurrenzen des Urheber- und des Datenschutzrechtes. Da folglich beide Institutionen (personenbezogenes Datenschutz- und Urheberrecht) ein dichtes Regelungsgefüge aufweisen, bezweckt dieser Beitrag die Überschneidungen (Overlappings) zu untersuchen, die Interrelationen zu bestimmen und – schließlich – die Kohärenz der Rechtsordnung aufzuzeigen.
1 Ahrens, Geistiges Eigentum und Wettbewerb2 (2014), S. 1. 2 MünchKomm/ Schwerdtner BGB § 12, Rndnr. 199.
196
Kostas N. Christodoulou
II.
Allgemeine Grenzen des Anwendungsbereichs
1.
Wahrnehmbare konkrete Form
Beide Schutzinstitutionen, Datenschutz- und Urheberrecht, sollen Schranken unterworfen sein. Der Grund hierfür liegt bei beiden in der Gewährleistung des freien Ideenverkehrs: Personenbezogene Daten und statistisch einmalige Überlegungen sind allgegenwärtig und dem zwischenmenschlichen Verkehr immanent, sodass ohne sie niemand denken und handeln könnte. Deshalb muss eine ‚rote Linie‘ für die Meinungsfreiheit gezogen und im Gesetz klargestellt werden: Der Begriff ‚Werk‘ impliziert daher notwendigerweise eine Ausdrucksform des urheberrechtlichen Schutzobjekts, um es mit hinreichender Genauigkeit und Objektivität identifizieren zu können3. Um also zumindest die inneren Überlegungen freizuhalten, soll sich der Schutz nur auf die geäusserten Gedanken beschränken. Neben diesen, nicht in die Außenwelt getretenen menschlichen Leistungen bleiben auch bloße Ideen von Seiten des Urheberrecht ungeschützt und daher frei. Wie schon erwähnt ist die Grundlage der Differenzierung zwischen Idee und wahrnehmbarer Form mehr teleologisch-verfassungrechtlich verankert (d. h. sie liegt in der gesetzgeberischen Gewährleistung der Meinungsfreiheit) und weniger dogmatisch-philosophisch begründbar (d. h. mit dem platonischen Unterschied zwischen Ideen und Sachen).4 Demselben Sinn und Zweck dienen die Anwendungsbedingungen der Datei (für den Datenschutz) und der wahrnehmbaren konkreten Form (für das Urheberrecht). Sie unterscheiden sich zwar voneinander dergestalt, dass die Datei etwa auf einem dauerhaften Datenträger gespeichert wird, während das zu schützende Werk keine ‚Fixation‘ benötigt. Jedoch wird dieser Unterschied dadurch gemindert, dass anstelle der Speicherung in einem Dateisystem die Tatsache genügt, dass „die Daten gespeichert werden sollen“ (DSGVO 2 § 1). Ferner lassen sich ähnlich wie beim Urheberrecht auch im Datenschutzrecht keine allgemeinen Werturteile schützen, die keine Angaben über persönliche Verhältnisse anderer Personen enthalten5 und somit keine objektiv nachprüfbare Information darstellen.
3 EuGH C-310/ 2017 [Levola] Rndnr. 40. 4 Nach Kotsiris, UrhR7, Rndnr. 82, ist J. Kohler (der Begründer der Lehre des geistigen Eigentums), dagegen vom deutschen Idealismus – insbesondere von Fichte – beeinflußt. Vgl. Kohler, Fichtes Naturrecht, Archiv für Rechtsphilosophie, 3, 1909. 5 Gola/ Gola DS-GVO Art. 4, Rndnr. 13; Kühling-Buchner/ Klar-Kühling DS-GVO Kommentar, Art. 4.1, Rndnr. 10.
Zur Interrelation zwischen Urheber- und Datenschutzrecht
2.
197
Wendung ans Publikum
Die mögliche Einmischung des Publikums ist ein allgemeines Kennzeichen beider Rechtsgebiete, der Datenverarbeitung (DSGVO 2 § 2c e contrario) und der Nutzung des Werkes6 bzw. irgendeiner schutzfähigen Leistung. Obwohl der Gebrauch von datenschutzrechtlichen oder urheberrechtlichen Gegenständen im Kreis von persönlich zum Nutzer stehenden Addressaten gesetzlich reguliert ist, liegen sie überwiegend außerhalb des Anwendungsfeldes des Datenschutzund des Urheber- bzw. des Leistungsschutzrechts, zumindest soweit es sich um unkörperliche Nutzung handelt. Selbst die Vervielfältigung für den Privatgebrauch unterliegt dem Urheberrecht nur deshalb, weil sie die übliche Nutzung des Werkes (ans Publikum) gefährdet. Diese Anmerkung rechtfertigt die Schlussfolgerung, dass beide, Datenschutzund Urheberrecht, zum sogenannten ‚Marktrecht‘ (Verkehrsrecht) gehören. Daraus ergeben sich prinzipielle Abgrenzungsprobleme, z. B. ob die Übertragung des zu schützenden ‚Contents‘ (nämich Daten, Werke, Aufnahmen, Interpretationen usw.) durch soziale Netzwerke (Facebook, Twitter etc.) als ans Publikum gerichtet betrachtet werden sollen. Insbesondere bei sozialen Netzwerken gibt es noch viele Desiderate, die eine fruchtbare interdiziplinäre Forschung versprechen. Von Seiten der einschlägigen Urheberrechtslehre, die auf einem tieferen, breiteren und historisch gewachsenen Fundament steht, können dabei für das Datenschutzrecht wichtige Impulse ausgehen. Wird im Folgenden unter einem urheberrechtlichen Blickwinkel auch das Datenschutzrecht betrachtet, müssen die Addressaten des Angebots zwei Bedingungen erfüllen, um unter den Begriff des ‚Publikums‘ zu fallen7: a) Nicht nur, dass es – in qualitativer Hinsicht – keinen persönlichen (familiären, freundschaftlichen oder sogar arbeitsrechtlichen) Bund zwischen Addressat und Nutzer geben darf, sondern auch, b) dass – in quantitativer Hinsicht – die Zahl der Addressaten nicht feststehen darf und theoretisch unbegrenzt groß sein muss8. Letztlich ergibt sich das quantitative Kriterium gerade aus dem qualitativen, d. h. aus dem Gebot, dass es keinen persönlichen Bund zwischen Nutzer und Addressaten geben darf: In der Tat, wenn es eine universelle Freundschaft geben würde, bei der man jeden Menschen für einen Freund bzw. für einen ‚Bruder‘ halten würde, dann gäbe es keinen Raum für nicht persönliche Verarbeitungen, d. h. in der Praxis kein Anwendungsfeld für die DSGVO. 6 M. Walter/ v. Lewinski-Walter, European Copyright Law (2010), S. 989. 7 S. Ohly, GRUR 2016, 1152; GRUR 2018, 997. 8 Dafür im Rahmen der Urheberrechts EuGH C-527/15, Rndnr. 28; BGH GRUR 2018, 608, Rndnr. 36; im Rahmen des DSGVO 2 § 2c Kühling-Buchner/ Kühling-Raab DSGVO 2, Rndnr. 25 und im Rahmen der Richtlinie 95/ 46 der EuGH C-101/ 2001 [Linquist]; C-73/ 2007 [Satamedia].
198
Kostas N. Christodoulou
Die Berücksichtigung von urheberrechtlichen Kriterien im Datenschutzrecht erscheint desto mehr gerechtfertigt je unklarer und widersprüchlicher sich der entsprechende Erwägungsgrund 18 der DSGVO-Präambel ausnimmt9: „Als persönliche oder familiäre Tätigkeiten könnten auch […] die Nutzung sozialer Netze und Online-Tätigkeiten im Rahmen solcher Tätigkeiten gelten“. Aber welche Verbindlichkeit und welche konkrete Bedeutung hat das Wort ‚könnten‘?
III.
Lizenzierbarkeit
Die sogenannten Big Data werden oft als ‚vierter Produktionsfaktor‘ (neben Kapital, Arbeitskraft und Rohstoffen)10 bzw. als das ‚Petroleum des 21. Jahrhunderts‘ angesehen. Unübertragbare wirtschaftliche Güter sind in der aktuellen liberalen ökonomischen Theorie nicht existent. Gegenwärtig verlangt man immer häufiger, dass die Übertragung von Daten ähnlich rechtssicher wie im Urheberrecht ausgestaltet werden soll.11 Freilich ist die Datenschutzbefugnis dem Betroffenen zugeordnet, als sein eigenes Recht; als solches obliegt es seinem Willen, der entweder durch Einwilligung, oder durch die Übernahme vertraglicher Pflichten geltend gemacht werden kann (DSGVO 6 §1a-b, 9 §2a). In welchem Maß diese Verarbeitungserlaubnistatbestände – d. h. die Einwilligung und der Vertrag – als Lizenzersatz dienen könnten, hängt meines Erachtens davon ab, inwieweit sie die Interessen beider Parteien – des Betroffenen als Lizenzgeber (unten III.1) und seines Gegners, d. h. des Verarbeitungsverantwortlichen als Lizenznehmer (unten III.2) – gewährleisten.
1.
Zweckbindung
Über die die Notwendigkeit, den Betroffenen als schwächere Partei zu schützen (s. oben I.1), herrscht in der DSGVO nicht immer Klarheit. Im Gegensatz zum BDSG, wo die Einwilligung des Betroffenen explizit gefordert bzw. eng zu seinen Gunsten ausgelegt wird, sodass eine stillschweigende Einwilligung kaum wirksam angenommen werden kann12, bezweckt die DSGVO 1 § 1, sowohl den Datenschutz als auch den Datenverkehr zu gewährleisten13: „Diese Verordnung enthält Vorschriften zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung 9 10 11 12
Ebenso Kühling-Raab aaO. BITKOM Leitfaden ‚Big Data im Praxiseinsatz‘, S. 7. Vgl. Schur GRUR 2020, 1142ff. Vgl. Simitis, BDSG. § 4a, Rndnr. 75; Auernhammer BDSG § 4, Rndnr. 14; aA Schaffland/ Wiltfang BDSG § 4, Rndnr. 8, Bermann/ Moehrle/ Herb BDSG § 4a, Rndnr. 87. 13 Vgl. Gola2/ Poetters DSGVO 1, Rndnr. 5–6: ‚Gleichrangigkeit der Ziele‘.
Zur Interrelation zwischen Urheber- und Datenschutzrecht
199
personenbezogener Daten und zum freien Verkehr solcher Daten“. Die einschlägige Vorschrift des Art. 4 Nr. 11 erscheint nicht weniger unklar, da sie wahrscheinlich das Ergebnis eines schwer errungenen Kompromisses14 war: „‚Einwilligung‘ der betroffenen Person ist jede Willensbekundung in Form einer Erklärung oder einer sonstigen eindeutigen bestätigenden Handlung, mit der die betroffene Person zu verstehen gibt, dass sie mit der Verarbeitung der sie betreffenden personenbezogenen Daten einverstanden ist“. In diesem Rahmen verbleibt nur das Zweckbindungsprinzip (DSGVO 5 §1b) als ultimum refugium des Betroffenen. Kann man die stillschweigende Einwilligung zwar nicht als unwirksam betrachten, so ist sie dennoch gem. DSGVO 5 §1b zweckkonform auszulegen. Dazu bietet die Urheberrechtslehre zwei in der Praxis schon gut erprobte Mitteln, um das Zweckbindungsprinzip weiter zu konkretisieren: die interpretatorische Übertragungszweckslehre (§ 31 Abs. 5 UrhG)15 und das (mandatorische) Verbot von Abreden, bei denen unbekannte Verarbeitungen bzw. Verarbeitungszwecke vereinbart werden16. Unter einer solchen Perspektive ist Folgendes anzumerken: a) Nach der Übertragungszwecklehre soll die Einwilligung nur diejenigen Verarbeitungen decken, die durch den Zweck des Verhältnisses der Parteien (Betroffene, Verantwortliche) gerechtfertigt sind, wenn auch dem klaren Wort der Parteierklärungen eine große Bedeutung beigemessen wird. Aus rechtsmethodischen Gründen kann man diese Lehre auch im Datenschutzbereich nicht über eine Rechtsanalogie herleiten, sondern nur dadurch annehmen, dass man die Zweckbindung nicht als bloßes Auslegungskriterium, sondern als zusätzliches regulatorisches, heteronomes Gebot (gemäß DSGVO 5 §1b) berücksichtigt. Umgekehrt, wenn die Einwilligung enger als sein Zweck erscheint, läßt sich der engeren (wortlautgetreuen) Auffassung folgen. Es geht dabei um die sogenannte Spezifizierungslast des Nutzungsrechtsinhabers17. Als Sonderfall kommen hier diejenigen Verträge in Betracht, die eine breite Reihe von Verarbeitungen und Verarbeitungszwecken ausführlich und explizit vorsehen, was bei den sogenannten ‚buy-out contracts‘ der Fall ist. Angesichts dessen, dass solche Verträge in der Regel als gültig betrachtet werden18, verbleibt dem Betroffenen kein anderes Verteigungsmittel als die mögliche AGB-Kon-
14 Albrecht/ Jotzo, Das neue Datenschutzrecht der EU (2016), Teil 3, Rndnr. 46. 15 Diese hat W. Goldbaum, Urheberrecht und Urhebervertragsrecht2 (1927), S. 75, begründet. S. auch Schack, Urheber- und Urhebervertragsrecht8 (2017), Rndnr. 615; Schweyer, Die Zweckübertragungstheorie im Urheberrecht, 1982, S. 1 ua. 16 Vgl. Wandtke/ Wandtke UrhR Kap.4, Rndnr. 76–84 mwN; BGH GRUR Int 2009, 616, 618; BGH ZUM-RD 2012, 192; BGH Z 163, 109, 116 ua. 17 Wille, UFITA 2008/ II, 337, 340 mwN. 18 Vgl. Bisges/ Imhof UrhR, S. 353, Rndnr. 42; Bisges/ Freys, S. 540ff.
200
Kostas N. Christodoulou
trolle19 und das Accountability-Prinzip (DSGVO 5 §2). Gemäß dem letzteren trägt der Verantwortliche immer die Last, überzeugend zu erklären, warum der entsprechende Wortlaut für die vorgesehene Verarbeitung im Verhältnis der Parteien erforderlich gewesen ist. Die nicht von dem Zweck gedeckten Verarbeitungen werden als widerrechtlich gewertet, sogar entgegen einer klaren Vertragsformulierung. Zu ähnlichen Ergebnissen könnte auch die Prüfung eines solchen (detaillierten, an Verarbeitungsarten und -ziele ausgerichteten) ‚buyout‘-Vertrags mit den Kriterien des Scheingeschäfts führen (§ 116 BGB). Zwei Unterschiede dürfen dabei jedoch nicht übersehen werden: (aa) Das maßgebliche Kriterium der Simulation (der wahre Wille des Erklärenden) ist deutlich subjektiver als dasjenige der (hier fraglichen objektiven) Zweckbindungslosigkeit. (bb) Die Beweislast der Simulation trägt der sie Behauptende; die Beweislast der Zweckbindung der bewilligten Verarbeitung trägt dagegen der ‚accountable‘ Verantwortliche (gemäß DSGVO 5 §2). b) In unbekannte Verarbeitungsformen darf man nicht einwilligen. Diese (parallel zum Urheberrecht laufende) Schlussfolgerung wird jedoch gerade aus dem Gebot der ‚informierten Einwilligung‘ gezogen: DSGVO 4, Nr. 11 sieht vor, dass die „Einwilligung […] freiwillig für den bestimmten Fall, in informierter Weise und unmissverständlich abgegeben werden“ soll. Demnach kann niemand in unbekannte Verarbeitung seiner Daten einwilligen, weil es keine Information über eine solche Verarbeitung ex ea ipsa gibt. Jedoch könnte es hier Raum für die von der Rechtsprechung des BGH aufgestellte, im Urheberrecht indes umstrittene20 ‚Substituierungstheorie‘ geben, wonach es keine neue Verarbeitungsform sei, wenn eine gebräuchliche Verarbeitungsform bloß substituiert wird.21 Zu ähnlichen Ergebnissen könnte man auch über das Irrtumsrecht gelangen, da die Prüfung einer solchen (in unbekannte Verarbeitungsformen einwilligenden) Erklärung zu einem Inhaltsirrtum (§ 119 BGB) führen könnte. Auch hier sind jedoch zwei Unterschiede zu bemerken, die nicht übersehen werden dürfen:
19 Über die Besonderheiten der AGB-Kontrolle im Datenschutzrecht siehe s.a. Gola/ Schulz DSGVO 6, Rndnr. 37 mwN., aber schon früher OLG Karlsruhe RDV 1988, 146; OLG Schleswig DSB 2/ 98, LGBonn RDV 1995, 246; Simitis BDSG § 4a, Rndnr. 81; Bergmann, L./ Moehrle, R./ Herb, A. BDSG-Handkommentar § 4a, Rndnr. 36; Gola/ Schomerus BDSG7 § 4a, Rndnr. 8; Heidemann-Peuser, DuD 2002, 389ff. 20 Dagegen s. Wandtke/ Wandtke UrhR Kap.4, Rndnr. 82–83. In Griechenland wird die Substituierungstheorie mit Recht abgelehnt. S. auch die nächste Fn. 21 BGH ZUM-RD 2012, 192, Rndnr. 51. Meines Erachtens unterscheiden sich der Nutzen und die Gefahren im jeglichen Fall, und zwar unabhängig davon, ob die bekannte Nutzungs- oder Verarbeitungsart wegen der später erschienenen Art unterlassen ist. Vor diesem Hintergrund bedarf jede Nutzungs- oder Verarbeitungsform eine Sondereinwilligung des Urhebers oder des Betroffenen.
Zur Interrelation zwischen Urheber- und Datenschutzrecht
201
(aa) Ein Irrtum eröffnet die Möglichkeit der Anfechtung der Einwilligung, aber spätestens innerhalb einer 10-jährigen Frist nach § 121 Abs. 2 BGB. Im Gegensatz dazu bleibt die nicht informierte Einwilligung immer ungültig. (bb) Wenn man in unbekannte Verarbeitungsarten bewusst einwilligt, d. h. obwohl man um die Unbekanntheit weiss, dann handelt es sich um keinen Irrtum im Sinne von § 119 BGB. Denn der zivilrechtliche Irrtum besteht in einer nicht bewussten Unrichtigkeit der Vorstellung22: Wer das Unbekannte bewusst regelt, mag das Risiko übernehmen.23 Im Gegenteil dazu wird der Betroffene bzw. der Urheber als schützbedürftig (als minor) betrachtet (s. oben I.1); deshalb fehlt es ihm an der Fähigkeit, solche Risikolagen zu übernehmen.
2.
Mangelnder Schutz des Lizenznehmers?
Es ist strittig, ob durch die Einwilligung der Verarbeitungsverantwortliche sekundäres Eigentum an den Daten erwirbt. Tatsächlich kann das Recht an eigenen personenbezogenen Daten als Ausfluss des Persönlichkeitsrechts24 nicht übertragen werden. Um also die rechtliche Position und die Befugnisse des Verantwortlichen zu gewährleisten, ist Folgendes zu unterscheiden: a)
Gegenüber dem Betroffenen
Um die Möglichkeiten zu untersuchen, wie man den Einwilligungsadressaten als potzenziellen Lizenznehmer gegenüber dem Einwilligenden schützen könnte, ist entsprechend zu differenzieren, ob es um sensible oder um einfache Daten geht. Die Verarbeitung von sensiblen Daten darf nicht kraft Vertrags gerechtfertigt werden (DSGVO 6 §1b e contrario), sondern nur durch die Einwilligung selbst (DSGVO 9 §2a), die aber immer vom Betroffenen frei wiederrufen werden kann (DSGVO 7 §3). b)
Gegenüber Dritten
Wie bei jeder einfachen Lizenz ergibt sich auch beim Datenschutzrecht das dogmatische Problem, ob die Einwilligung Drittwirkung entfaltet, d. h. ob der Verarbeitungsverantwortliche nicht nur ein positives und relatives Verarbeitungs-Nutzungsrecht gegenüber den Betroffenen hat, sondern auch ein negatives 22 Staudinger/ Dilcher BGB § 119, Rndnr. 1; Bamberger/ Roth-Wethland BGB § 119, Rndnr. 21ff. u. a. 23 Vgl. Canaris, Die Vertrauenshaftung im deutschen Privatrecht (1971), S. 295ff. 24 Gola/ Poetters DSGVO 1, Rndnr.7; Kühling-Buchner/ Kühling-Raab DSGVO, Einl., Rndnr. 1.
202
Kostas N. Christodoulou
und absolutes Verbotsrecht gegenüber jeden Dritten. Auf solche strittigen Fragen werden beide, sowohl die ablehnende25 als auch die zustimmende26 Antwort vertreten. Für den Addressaten der Datenverarbeitungseinwilligung findet man oft die Ansicht, ihn als Käufer nach § 453 BGB zu behandeln.27 Dagegen wird aber mit Recht eingewandt, dass es hier an einem übertragbaren Recht fehlt, da das Recht an personenbezogenen Daten unveräußerlich ist (s. oben II.2). Weil jede Einwilligung eine Art von Ermächtigung ist, könnte man ferner annehmen, dass der Einwilligende dem (verarbeitungsverantwortlichen) Addressaten die materielle Befugnis zur Prozessführung in eigenem Namen gewährt28, sodass der Verarbeitungsverantwortliche seinen ‚Besitz‘ über Daten gegen Dritte verteidigen kann. Diese Meinung herrscht aber weder bezüglich der Abtretung von Forderungen29 noch im Datenschutzrecht (a fortiori). Meines Erachtens ist die praktische Relevanz der obigen Diskussion beschränkt: Entweder offenbart der Datenlizenznehmer die Daten ans Publikum (angesichts des Schutzes der Datenbanken Richtl. 96/9) oder er offenbart sie nicht (angesichts des Geschäftsgeheimnisschutzes Richtl. 2016/ 943). Darüber hinaus würde die Anerkennung eines allgemeinen einheitlichen rechtlichen Schutzes für jeden Datenlizenznehmer gegen die Sonderbedingungen des Datenbank- oder Geschäftsgeheimnisschutzes verstoßen.30 (aa) Tatsächlich wird die Befugnis des Unternehmers über die von ihm dem Publikum zugänglich gemachten Daten unter der Bedingung geschützt, dass die Daten im Rahmen einer Datenbank angeboten werden, d. h. nur wenn für „die Beschaffung, die Überprüfung oder die Darstellung [der Daten] eine in qualitativer oder quantitativer Hinsicht wesentliche Investition erforderlich ist“ (Art. 7 §1 Richtl. 96/9). (bb) Andererseits, soweit Informationen betroffen sind, die der Lizenznehmer nicht offenbart, werden sie als seine eigenen kommerziellen Geheimnisse von der Richtl. 2016/ 943 anerkannt und geschützt. Diese Regelung gewährt dem Unternehmen eine Art von geistigem Eigentum an seinen eigenen Daten, d. h. absolute negative Verbotsrechte gegen jeden Dritten, der die Unternehmensgeheimdaten verarbeiten möchte. Deshalb wird das Recht auf kommerzielle Geheimnisse mit einer ‚auf Unternehmen zugeschnittenen Variante des Datenschutzes‘ um25 Pahlow ZUM 2005, 865–874; Hauck AcP 2011, 626, 634f. 26 Wandtke-Bullinger4/ Grunert § 31, Rndnr. 31; Rehbinder/ Peukert, UrhR, Rndnr. 820; Schack9, Rndnr. 604. 27 Behling, Wie steht es um Dateneigentum? C.II.1, S. 19–20; Schur GRUR 2020, 1152. 28 Vgl. Stathopoulos, Die Einziehungsermächtigung (1968), S. 130. 29 Vgl. schon Hellwig, Lehrbuch des deutschen Zivilprozessrechtes I § 49.IV, S. 323; Siber, JherJahrB, 70, 292–294; Nikisch, Zivilprozessrecht2 § 31.III.5. 30 S. u.a. Specht/Kerber, Datenrechte – Eine rechts- und sozialwissenschaftliche Analyse im Vergleich Deutschland-USA, 2017 (ABiDa = Assessing Big Data) I.3.1–3.3, S. 17–33 mwN.
Zur Interrelation zwischen Urheber- und Datenschutzrecht
203
schrieben.31 Gemäß dem Art. 2 §1c Richtl. 2016/ 943 muss das Unternehmen die Informationen in „rechtmäßigen Besitz“ genommen haben, d. h. nicht ohne die Einwilligung des Betroffenen oder ohne irgendeinen anderen Erlaubnistatbestand (nach DSGVO 6 oder 9). In diesem Sinne erscheint der Erwerb des Geheimdatenrechts vom Unternehmen teils sekundär und teils primär. Soweit er sekundär ist, wird die Rechtsposition des Datenlizenznehmers sowohl gegenüber dem Betroffenen als auch gegenüber Dritten gewährleistet.
3.
Kraft urheberrechtlicher Lizenz
Wie schon gezeigt (I.2) bilden die Urheberschaft und das Werk selbst personenbezogene Daten des Urhebers. In diesem Rahmen kann eine urheberrechtliche Nutzungslizenz auch eine Datenverarbeitung mit sich bringen. Beispiel 1: Tenessee Williams’ „Glasmenagerie“ enthält – unter anderem – eine Reihe von eigenen sensiblen Daten, d. h. seiner Gefühle über seine histrionische Mutter und geisteskranke Schwester. Beispiel 2: Viele Maler benutzen Pseudonyme, weil sie wegen rechtswidrigen Graffitis von den Behörden verfolgt werden.
Daraus ergibt sich die Frage, in welchem Maß der betroffene Urheber einer Verarbeitung-Nutzung ex post widersprechen könnte, z. B. indem er seine Einwilligung-Lizenz gemäß DSGVO 7 §2 widerruft. Das Problem kann durch die Subsidiarität des Datenschutzrechts32 nicht überzeugend überwunden bzw. umgegangen werden. DSGVO 1 §3 bestimmt zwar, dass „der freie Verkehr personenbezogener Daten in der Union aus Gründen des Schutzes natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten weder eingeschränkt noch verboten werden darf“; aber es gibt eigentlich keine EU-urheberrechtsvertragliche Regelungen, hinter die die Datenschutzrechte des betroffenen Urhebers gemäß DSGVO 1 §3 zurücktreten müssten. Allgemein führt die ganze Diskussion zu einer europarechtlichen Untersuchung des persönlichkeitsrechtlichen Aspekts des Urheberrechts, nämlich des Urheberpersönlichkeitsrechts (UPRs), wie nachfolgend zu zeigen ist.
31 MünchKomm/ Wendehorst EGBGB8 Art. 43 Rndnr. 292. 32 Vgl. darüber schon Gola/ Schomerus BDSG (2012) §1, Rndnr. 23ff., Scheja/ Haag, Einführung in das Datenschutzrecht, 2006, S. 12ff., Taeger, Datenschutzrecht – Einführung, ΙΙΙ, Rndnr. 10.
204
Kostas N. Christodoulou
IV.
UPRechte als Datenschutzbefugnisse
1.
EU-Garantien für das UPR
Tatsächlich hat das Datenschutzrecht als Teil des allgemeinen Persönlichkeitsrechts (aPRs)33 dieselbe ‚Reserve-Funktion‘ für das Urheberspersönlichkeitsrecht (UPR)34 wie im allgemeinen Privatrecht. Trotz des Fehlens eines rein urheberrechtlichen aquis communautaire für das UPR gewährt also das EU-Datenrecht dem UPR einen höherrangigen Schutz als die UPR-Vorschriften des nationalen Rechts. In diesem Sinne ist nur der Urheber als Betroffener legitimiert, in die Veröffentlichung seines eigenen Werks einzuwilligen (DSGVO 6 §1a, 9 §2a ~ UrhG §12). Nur er kann „alle angemessene Maßnahmen […] treffen“, damit „jede Entstellung“ bzw. „unrichtige“ Fassung seiner eigenen Daten [hier: seines Werkes] unverzüglich gelöscht oder berichtigt wird (DSGVO 5 §1d = 16 ~ UrhG § 14). Nur er kann in Hinsicht auf sein Werk entweder die Pseudonymisierung oder die Anonymisierung verlangen, und zwar durch Einschränkung seiner Verarbeitung oder Distanzierung davon (UrhG § 13 ~ DSGVO 32 §1a ~ 18 §1, DSGVO 17 §1c, 18 §1d). Es ist anzumerken, dass auch das Rückrufsrecht der DSGVO teilweise geschützt ist. Danach könnte der Urheber auch seine Einwilligung, nicht aber eine vertragliche Abrede widerrufen; daher gewährt ihm eine solche Befugnis das Datenschutzrecht (DSGVO 7 §3 ~ UrhG § 42), aber nur wenn das Werk sensible Daten enthält (DSGVO 6 §1b e contrario, s. oben III.2a) und der Widerruf spätestens bis zum Zeitpunkt der ‚offensichtlichen Veröffentlichung‘ des Werkes erfolgt (DSGVO 9 §2e). Das vom EGMR rechtskräftig ausgeurteilte Recht auf Privatheit innerhalb der Öffentlichkeit35 zweifelt jedoch diese letztere Grenze an und verstärkt in noch größerem Maße die Rechtsposition des betroffenen Urhebers.
2.
Rechtsfolgen, insbesondere mit Blick auf die Datenlizenzierbarkeit
Weil das sogenannte ‚vertikale Verhältnis‘ zwischen Datenschutz- und Urhebervertragsrechts, d. h. die Hierarchie der Rechtsquellen36, unklar ist und es deshalb nicht genügt, allein ex ea ipsa überzeugende Lösungen zu begründen (wie schon gezeigt, s. III.3), sollte man darüber hinaus die Datenlizenzierbarkeit 33 34 35 36
S. oben III.2. Ahrens, GRUR 2013, 24 mwN. EGMR 3. 4. 2007 [Copland vs. UK] 62617/00, Rndnr. 39–49. Über die ‚vertikale Dimension‘ der Rechtsgebilde im Sinne einer Rechtsquellenhierarchie s. Reimer, JurMethL2, Rndnr. 182ff.
Zur Interrelation zwischen Urheber- und Datenschutzrecht
205
kraft urheberrechtlicher Lizenzen an der schon angesprochenen Reserve-Funktion des Datenschutzrechts messen. Bei diesem Lösungsweg muss man sich die dogmatische Bedeutung des UPR für die Nutzung des Werkes vor Augen führen und der herrschenden Urheberrechtslehre auch bei der Behandlung von Datenverarbeitungslizenzen folgen. In diesem Rahmen ist nach herrschender Lehre37 zwischen Kerngehalt und Randbereich des UPRs zu differenzieren: Die Nutzungs- bzw. Verarbeitungslizenzen sind unwirksam oder widerlegbar, wenn sie den Kern des UPR und des einschlägigen Datenschutzrechtes berühren. Gegen solche Eingriffe soll der Betroffene geschützt sein. Der mögliche Schutz kann jedoch intensiver (d. h. als Verbotsrecht) oder schwächer (z. B. als Kündigungsrecht) in den Rechtsfolgen ausgeprägt sein.38
V.
Schranken
1.
Restriktive Auslegung?
Wie im Datenschutzrecht, herrscht auch im Urheberrecht nahezu derselbe Streit über die Interpretationsregel: Die ältere noch herrschende Meinung, die den primären Rechtsträger schützt und eine enge Auslegung bevorzugt,39 wird auch im Rahmen der Urheberrechtsschranken angezweifelt40. Letzten Endes verbleibt das Zweckbindungsprinzip (Übertragungs-Zweckslehre bzw. Verhältnismaßigkeitsprinzip) auch dem Urheber als ultimum refugium.
2.
Schranke zugunsten der Meinungs- bzw. Unterrichtsfreiheit
Soweit Rechtsschranken in Rede stehen, gibt es eigentlich keine Kohärenz zwischen Urheber- und Datenschutzrecht, obwohl das Werk meistens personenbezogene Daten des Urhebers und von Dritten beinhalten kann. Damit kann derselbe Datenverarbeitungs- bzw. Werknutzungsakt urheberrechtlich rechtmäßig, datenschutzrechtlich aber rechtswidrig sein. Dieses Ergebnis ist zwar theoretisch möglich, bringt indes praktische Schwierigkeiten mit sich. Folgende Fälle sind dabei am häufigsten anzutreffen:
37 Schricker-Loewenheim5/ Dietz-Peukert, Vor §§12ff., Rndnr. 12, 17; Ohly, Volenti non fit injuria; die Einwilligung im Privatrecht (2002), S. 18; Clément, Urheberrecht und Erbrecht, S. 25ff. mwN; Fromm-Nordemann/ Hertin § 14, Rndnr. 3 u. a. 38 S. Dietz-Peukert aaO mwN. 39 S. ua. M. Walter, UrhR, S. 65. 40 S. ua. Hugenholtz/ Senftleben, Fair Use in Europe, In Search of Flexibilities, S. 10ff. mwN.
206
Kostas N. Christodoulou
Beispiel 1: Der Schriftsteller A zitiert einen kleinen Teil des Gedichts des Dichters B. Es geht zwar um ein rechtmässiges Zitat (UrhG § 51), aber es erscheint fraglich, ob es von DSGVO 9 §2 f (Erforderlichkeit zur Geltendmachung des Zitatrechts) immer gedeckt sein kann. Kraft DSGVO 1 §3 wird der Datenschutz zwar von dem Zitatrecht als Datenverkehrsinstrument verdrängt; aber dürfen die perosenbezogenen Daten von jedem Dritten durch ein Zitat dem Publikum mitgeteilt werden? Beispiel 2: Dasselbe Phänomen ergibt sich, wenn der zu schützende ‚Content‘ „für den Zweck der Veranschaulichung des Unterrichts digital benutzt wird“. Dürfen wohl die personenbezogenen Daten jedes Dritten im Rahmen eines Unterrichts dem Publikum mitgeteilt werden? Beispiel 3 (umgekehrt): Das sogenannte ‚Presseprivileg‘ hat eine größere Wirkung im im Dateschutzrecht41 als im Urheberrecht (nur unter den Bedingungen des UrhG §§ 48–50 gehalten. Also wird man gegenüber dem photographierten Politiker, aber nicht gegenüber dem Photograph legitimiert, die nicht ‚im Verlauf eines Ereignisses wahrnehmbaren‘ Fotos in Zeitungen zu veröffentlichen. In diesem Rahmen aber erweist sich das datenschutzrechtliche Presseprivileg als praktisch nutzlos.
Im Gegenteil dazu stellt die Rechtssprechung des EGMR einheitliche Kriterien für die Rechtmässigkeit einer Reportage. Danach42 „ist allein die Frage von Bedeutung, ob die Reportage geeignet war, zu einer Debatte von allgemeinem Interesse beizutragen“, ohne weitere Erwägung („und nicht, ob sie dieses Ziel völlig erreichte“). Die Einheitlichkeit dieses Kriteriums stützt sich offenbar auf die Beseitigung der nationalen Sondervorschriften, z. B. Datenschutz und urheberrechtliche Normen, beruht eigentlich aber auf der unmittelbaren Drittwirkung der EMRK 10 zugunsten der Presse. Der EuGH hat jedoch gegen die Unmittelbarkeit der Pressefreiheit geurteilt43, obwohl der Generalanwalt Szpunar44 sie befürwortete.
3.
Der Sonderfall Text and Data Mining (TDM)
Um mit den aktuellen technologischen Entwicklungen Schritt zu halten45, erlaubt der EU-Gesetzgeber (Art 3, 4 DSMD Richtl. 2019/ 790) das Mining von rechtmäßig zugänglichen Texten und Daten (TDM) ohne Erlaubnis und ohne Vergütung des Rechteinhabers. Es geht um digitale Text- und Datenverarbeitung mit 41 S. u.a. Gola2/ Pötters DSGVO 85, Rndnr. 3ff., 19ff. 42 EGMR, Kammer II, Beschwerdesache Haldimann u. a. gg. die Schweiz, Urteil v. 24. 2. 2015, Bsw. 21830/09, ErwGr. 57. 43 EuGH Große Kammer, Urteil v. 29. 7. 2019, C-469/17 [Funke Medien NRW GmbH gegen Bundesrepublik Deutschland]. 44 Schlussantrag v. 25. 10. 2018. 45 Vgl. schon die US-Rechtsprechung Authors Guild vs Google Inc 954 F Supp. 2d 282, 291 (SDNY 2013).
Zur Interrelation zwischen Urheber- und Datenschutzrecht
207
dem Zweck, Informationen über Muster, Trends und Korrelationen zu gewinnen (DSMD 2, Rndnr.2). Nach DSMD Präambel 8 wird die Einführung eines solchen Algorithmen-Verarbeitungsrechts, des sogenannten ‚right to mine‘, als Ausnahme vom Vervielfältigungsrecht angesehen46. Diese Ansicht ist jedoch umstritten.47 In jedem Fall, unabhängig von der urheberrechtlichen Relevanz dieser Regelung, ist seine Bedeutung für das Datenschutzrecht offensichtlich; denn es legitimiert zumindest die (teilweise unbefristete) Datenspeicherung, sodass der TDMiner als rechtmäßiger Verarbeitungsverantwortlicher betrachtet werden soll. Diesbezüglich verstößt DSMD 3, 4 häufig gegen die folgenden Vorschriften der DSGVO. a)
Nicht kohärente rechtliche Bedingungen
Gemäß DSGVO 9 §2j wird die Datenverarbeitung nur „für wissenschaftliche, historische Forschungszwecke oder für statistische Zwecke“ rechtmäßig. Im Gegensatz dazu erlaubt DSMD 4 das TDM für jeden anderen Zweck, da sie hierfür keine Bedingungen stellt. b)
Fortsetzung der Datenspeicherung nach der Vollendung des TDMs?
Im Gegensatz zu DSMD 4 §2 („Datenvervielfältigungen und -entnahmen dürfen“ nur „so lange aufbewahrt werden, wie es für die Zwecke des TDM notwendig ist“), bestimmt der DSMD 3 §2, dass „Vervielfältigungen und Entnahmen von Werken oder sonstigen Schutzgegenständen, die angefertigt wurden, […] mit angemessenen Sicherheitsvorkehrungen zu speichern [sind] und […] zum Zwecke der wissenschaftlichen Forschung, auch zur Überprüfung wissenschaftlicher Erkenntnisse, aufbewahrt werden [dürfen].“ Allerdings verstößt die Datenspeicherung für unbestimmte „Zwecke der wissenschaftlichen Forschung, auch zur Überprüfung wissenschaftlicher Erkenntnisse“, nach der Vollendung des Verarbeitungszwecks gegen das Zweckbindungsprinzip (DSGVO 5 §1b)48. Daher ist zu differenzieren: (aa) Die Forschungsorganisationen und Kulturerbeeinrichtungen als Verarbeitungsverantwortliche sollen nach der Vollendung des Minings, die Daten46 Vgl. auch Hugenholz, The New Copyright Directive: Text and Data Mining (Articles 3 and 4), Kluwer Copyright Blog, http://copyrightblog.kluweriplaw.com/2019/07/24/the-new-copyrigh t-directive-text-and-data-mining-articles-3-and-4. 47 S. Dreier/ Schulze UrhG6 § 60d, Rndnr. 1; Raue ZUM 2019, 686; Stieper ZUM 2019, 210; Schack UrhR8, Rndnr. 577. 48 In Deutschland dürfen Forschungsorganisationen und Einrichtungen des Kulturerbes die Daten mit 10 Jahren am längsten halten. Vgl. u. a. Wirth ZUM 2020, 590–591; Raue ZUM 2019, 688.
208
Kostas N. Christodoulou
speicherung zwar nicht von Amts wegen beenden, aber zumindest ab dem Zeitpunkt, ab dem der Betroffene sein Widerspruchs- bzw. Löschungsrecht gemäß DSGVO 17 §1, 21 §6 (: gegen „Verarbeitung zu wissenschaftlichen Zwecken“) ausgeübt hat. In diesem Sinne soll das Recht auf Vergessenwerden als ‚ultimum refugium‘ dem Betroffenen erhalten bleiben. Über den negativen Konflikt zwischen DSGVO 1 §3 (Vorrang [der EU-Regeln] des freien Datenverkehrs) und DSMD 28 (Datenschutzrechtsvorbehalt) s. VII.2. (bb) Im Gegensatz dazu, soweit das Mining nicht von Forschungsorganisationen und Kulturerbeeinrichtungen durchgeführt wird, soll der Verarbeitungsverantwortliche die Datenspeicherung von Amts wegen sofort nach der Vollendung des Minings beenden.
VI.
Durchsetzung
Die Integrierung des Rechts auf eigene (oder fremde) Daten in den Begriff des geistigen Eigentums eröffnet die Möglichkeit, dass man den Inhalt des nach DSGVO 79 gewährten gerichtlichen Schutzes des Betroffenen um die Durchsetzungsbehelfe der Richtlinie 04/48 anreichert. Zur Erfüllung des inhaltlich leerlaufenden Gebots zu einer wirksamen gerichtlichen Hilfe nach DSGVO 79 bietet die Richtl. 04/48 dem Betroffenen eine Reihe von Rechtsmitteln die zumindest in ‚analoger‘ Anwendung genutzt werden könnten. Beispiel: In Bezug auf Waren, Materialien und Geräte, die das Eigentum auf seine Daten verletzen (z. B. Fotokopien), hat der Betroffene das Recht zu verlangen, unbeschadet der Grenzen seiner Befugnisse gemäß DSGVO 17–22, dass Abhilfemaßnahmen getroffen werden, wie etwa den Rückruf dieses Stoffes oder sein endgültiges Entfernen aus dem Vertriebsweg, oder – schlimmstenfalls – seine Vernichtung (Richtl 04/48, Art. 10 §1a-c).
VII.
Ergebnisse: ‚Data Protection Approach‘ oder ‚Copyright Approach‘?
1.
Konkurenzen
Wie bei jeder Konkurenz im Bereich des geistigen Eigentums könnte der zu schützende ‚Content‘ als Gegenstand vielleicht mehrerer Eigentumsarten betrachtet werden, nämlich hier entweder mit einem Copyright Approach oder mit einem Data Protection Approach. Letzten Endes geht es immer um das Phänomen von Kipps Doppelwirkungen im Recht49. Theoretisch-dogmatisch könnte 49 Th. Kipp, Über Doppelwirkungen im Recht, insbesondere über die Konkurrenz von Nich-
Zur Interrelation zwischen Urheber- und Datenschutzrecht
209
man vertreten, dass die rechtlichen Doppelwirkungen unabhängig voneinander seien. Aus teleologischer Sicht kann das aber kaum immer und überall gelten, weil sich die Zwecke der verschiedenen Ansätze unterscheiden und in praktischer Hinsicht durchkreuzen können. Beispiel: Die DSMD bezweckt das TDM zu erleichtern, aber die DSGVO bezweckt auch, den Betroffenen zu schützen.
Der Rechtsanwender soll dann zuerst die Möglichkeiten einer praktischen Konkordanz50 zwischen den Normtexten prüfen und nur wenn sich ein Ausgleich als unmöglich erweist, dann soll er das [‚horizontale‘51] logische Verhältnis zwischen beiden untersuchen, um herauszufinden, welche Rechtsgrundlage das überwiegende Gewicht besitzt.
2.
Konflikte
In diesem Rahmen bestimmt einerseits DSGVO 1 §3, dass „der freie Verkehr personenbezogener Daten in der Union […] aus Gründen des Schutzes natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten weder eingeschränkt noch verboten werden [darf]“. Andererseits behalten sich zahlreiche urheberrechtliche Richtlinien die Anwendung der DSGVO vor bzw. verzichten darauf. So bestimmt etwa DSMD, Art. 28, dass „die Verarbeitung personenbezogener Daten nach Maßgabe der Richtlinie 2002/58/EG und der Verordnung (EU) 2016/679 erfolgen muss“. Bei diesem negativen Konflikt überwiegt die spezifische Regelung, d. h. die ausschließlich urheberrechtliche Richtlinie, weil sie nur spezifische Aspekte-Verarbeitungen betrifft, während der Anwendungsbereich der DSGVO jede mögliche Verarbeitung deckt. Vor diesem Hintergrund sollte man in der Regel den betroffenen Urheber möglichst weitgehend begünstigen, ohne freilich die Besonderheiten jedes Falles zu übersehen.
tigkeit und Anfechtbarkeit, in FS der Berliner Juristischen Fakultät für Ferdinand von Martitz (Berlin, 1911), S. 211–233. 50 Vgl. K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland20 (1999), Rndnr. 72; vgl. BVerfG 77, 240; BVerfG 83, 130, 143. 51 Über die ‚horizontale Dimension‘ der Rechtsgeflechte im Sinne der Rechtsquellenhierarchie s. Reimer, JurMethL2, Rndnr. 196ff.
Stephan Meder
Provenienzforschung als Disziplin der Rechtsgeschichte: Zentralismus und Pluralismus innerhalb der kolonialrechtlichen Debatten um 1900
Provenienzforschung fragt: Wo kommen die Dinge her? Sie zielt auf die Herkunft von Kulturgütern und wird vornehmlich als Teildisziplin der Geschichte oder Kunstgeschichte betrachtet. Die Erforschung der Herkunft umfasst aber nicht nur ein tatsächliches, sondern auch ein normatives Geschehen, das unter den Prämissen der aktuellen Restitutionsdebatten zunehmend in den Vordergrund rückt. Es interessieren also auch die rechtlichen Umstände eines Erwerbs von Kulturgütern, weil über Fragen der Legitimation – über das Behaltendürfen, die Rückgabe, Entschädigung oder eine andere Form der Kompensation – entschieden werden muss. So macht es z. B. einen Unterschied, ob ein Kulturgut „freiwillig“ oder „unter Druck“ übergeben, ob es geschenkt, getauscht, gekauft, einfach mitgenommen, gestohlen, geplündert, geraubt oder als Kriegsbeute in das Empfängerland gebracht wurde. Verkürzt ließe sich sagen: Je schwerer das Unrecht wiegt, desto schwächer die Legitimation und desto höher die Wahrscheinlichkeit, dass restituiert werden muss.
I.
Zur Methodologie juristischer Provenienzforschung
Juristische Provenienzforschung besteht aus zwei Elementen, welche die Methodik der Rechtswissenschaften als „Fall“ und „Norm“ zu bezeichnen pflegt. In einem ersten Schritt muss der Sachverhalt, der sogenannte „Tatbestand“, ermittelt werden: Hier geht es um die konkrete Herkunft, um die tatsächlichen Verhältnisse, unter denen der Besitzwechsel stattfand. Davon ist das zweite, das normative Element, zu unterscheiden, das die Feststellung des Rechts betrifft. Juristen sind dazu da, dieses Recht auf den konkreten Sachverhalt zu beziehen, um am Ende ein praktisches Ergebnis in Form einer „Entscheidung“ oder eines „Urteils“ zu präsentieren. Während nun das erste, das tatsächliche Element, vornehmlich auf Basis einer historischen Annäherung erforscht werden kann, wirft das normative Element besondere methodologische Schwierigkeiten auf,
212
Stephan Meder
die unter Stichworten wie „zeitlicher Abstand“ und „normative Vielfalt“ zu charakterisieren wären.
1.
Zeitlicher Abstand und normative Vielfalt
Ein zeitlicher Abstand besteht zwischen der Epoche, in welcher der Erwerb stattfand, und unserer heutigen postkolonialen Sichtweise. Da ein rechtliches Geschehen an den im Zeitpunkt der Tat geltenden Maßstäben gemessen werden muss, wäre zunächst zu fragen: Wie ist der Besitzwechsel nach historischem Recht zu beurteilen? Wurde der Gegenstand z. B. „freiwillig“ übergeben, so könnte dies als Indiz für die Legitimität und für ein Behaltendürfen bewertet werden. Wie aber ist der Fall zu beurteilen, in dem ein nach damaligen Vorstellungen unveräußerlicher Gegenstand, etwa ein der religiösen Praxis gewidmetes Kultobjekt, in den Besitz des Empfängerlandes gelangte? Würde es auch hier genügen, die Legitimität des Besitzwechsels auf die „Freiwilligkeit“ zu stützen? Und welche Bedeutung haben strukturelle Asymmetrie, Machtungleichgewichte oder Abhängigkeitsverhältnisse zwischen Einheimischen und Kolonisten? Ein weiteres Problem bilden die Verjährungsregeln: Kann die Verjährung von Restitutionsansprüchen ausgeschlossen werden? Derartige Fragen mögen deutlich machen, dass der Erwerb eines Kulturguts über den rechtshistorischen Kontext hinaus immer auch aus postkolonialer Perspektive gewürdigt werden muss. Daher ist es durchaus möglich, dass eine nach historischem Recht gerechtfertigte Veräußerung nachträglich für unrechtmäßig erklärt oder ein eigentlich verjährter Anspruch trotzdem noch geltend gemacht wird. Vergangenheit und Gegenwart lassen sich also nicht trennen. Dieser Befund führt zu einer Grundsatzfrage, die mutatis mutandis in anderen Zusammenhängen schon häufiger erörtert wurde: dem Verhältnis von Rechtsgeschichte und geltendem Recht.1 Zum „zeitlichen Abstand“ tritt die „normative Vielfalt“ als weiteres Merkmal juristischer Provenienzforschung hinzu: Welches Recht war im Zeitpunkt des Erwerbs eigentlich anzuwenden? Das Recht des Herkunftslandes? Das Recht des Empfängerlandes? Oder eine Mischung aus verschiedenen Rechtsordnungen?2 An diesem Punkt zeigen sich weitere Unterschiede zur herkömmlichen Arbeit des Juristen. Wer juristische Provenienzforschung betreibt, steht vor der Frage, 1 Dazu zuletzt Meder, Philipp Lotmar und die Methode der Pandektisten. Zugleich ein Beitrag zum Verhältnis von Rechtsgeschichte und Privatrechtsdogmatik, in: Iole Fargnoli, Urs Fasel (Hg.), Das römische Recht vom Error – Philipp Lotmars opus magnum, Bern 2020, S. 65–86. 2 Die zeitgenössische Doktrin pflegt zwischen Farbigenrecht, Weißenrecht und Mischrecht zu unterscheiden, vgl. nur Heinrich Wick, Das Privatrecht der Farbigen in den deutschen Schutzgebieten, Münster 1913, S. 23 (dazu näher unten IV 7).
Provenienzforschung als Disziplin der Rechtsgeschichte
213
ob und inwieweit der Inhalt vergangener Rechtsordnungen, etwa indigenen Rechts, heute überhaupt noch ermittelt werden kann. Zudem wirft die normative Vielfalt ein Licht auf die verschiedenen Interessenlagen der Akteure. So sind Kolonisten oft bestrebt, sich auf das Recht ihres Mutterlandes zu berufen, weil dessen Schuld-, Sachen- oder Kreditsicherungsrecht Möglichkeiten eröffnet, die unkundige einheimische Bevölkerung zu übervorteilen. Liegen Erwerbsvorgänge im Schnittfeld unterschiedlicher normativer Ordnungen, kommen bei einer rechtlichen Beurteilung mit der Vergangenheit also ebenfalls heutige, postkoloniale Vorstellungen mit ins Spiel. Wer pauschal die Restitution sämtlicher Gegenstände fordert, die im kolonialen Kontext nach Europa gelangt sind, wird Fragen der rechtlichen Legitimation weitgehend außer Betracht lassen können. Hierzulande überwiegt (m. E. zu Recht) die Auffassung, dass über das Behaltendürfen nach juristischen Kriterien zu entscheiden ist: „Alle Objekte sind auf rechtmäßigen Erwerb zu prüfen“.3 Gegen diese Aussage ist der Einwand mangelnder „kritischer Reflexion“ erhoben worden: Kauf, Tausch und dergleichen reichen für eine Legitimation nicht aus. Es müssen auch die Abhängigkeitsverhältnisse und Machtungleichgewichte im Zeitpunkt des Besitzwechsels berücksichtigt werden.4
3 Hermann Parzinger, Wir wollen maximale Transparenz, in: Neues Deutschland, 19. Januar 2019. 4 Matthias Goldmann, Beatriz von Loebenstein, Alles nur geklaut? Zur Rolle juristischer Provenienzforschung bei der Restitution kolonialer Kulturgüter, in: MPIL Research Paper Series 2020–19, S. 1–26, 2. Dass diese Kritik zu Recht geübt wird, zeigt die Position der Stiftung Preußischer Kulturbesitz (SPK) im NS-Raubkunstfall „Welfenschatz“: Die SPK behauptet, das NS-Regime habe den Schatz rechtmäßig durch „Kaufvertrag“ erworben. Den „Vertrag“ hatten jüdische Kunsthändler 1934 mit einem Strohmann von Hermann Göring geschlossen, der den Welfenschatz Hitler zum Geburtstag schenken wollte. Ein Kaufinteresse hatte auch die Stadt Hannover bekundet, die einen höheren Preis hätte bieten und Göring zuvorkommen können. Göring drohte dem Bürgermeister der Stadt denn auch für den Fall, dass er sein Interesse an einem Erwerb aufrechterhält. Ein solches Gebaren hätte schon nach der damaligen Rechtsprechung des Reichsgerichts den Tatbestand der „Sittenwidrigkeit“ erfüllt (und würde heute erst recht so bewertet werden). Kaufvertrag ist also nicht gleich Kaufvertrag. Auf kritische Reflexion kann auch dann nicht verzichtet werden, wenn irgendein Kaufpreis bezahlt wurde. Auf Grund einer (mangels Begründung) völlig unzulänglichen Entscheidung der sogenannten Limbach-Kommission wurde der Welfenschatz-Fall in den USA anhängig gemacht. Inzwischen hat der Supreme Court entschieden, dass sich die USA aus globalen Rechtsfragen heraushalten. Zu Recht wird daher gefordert, Deutschland müsse „endlich selbst Verantwortung übernehmen“, vgl. nur Hannes Hartung, Amerika fühlt sich nicht mehr zuständig, in: Die Welt, 5. Februar 2021, S. 21.
214 2.
Stephan Meder
Auf der Suche nach Kriterien zur Beurteilung der Legitimation
Mit seiner Rede 2017 in Burkina Faso hat der französische Präsident Emmanuel Macron eine kulturpolitische Kehrtwende eingeleitet. Bis zu diesem Zeitpunkt wurden Restitutionsfragen aus Afrika mit dem Hinweis auf die Unveräußerlichkeit nationalen Kulturguts zurückgewiesen.5 Seit 2017 können auch deutsche Museen Forderungen mancher Herkunftsländer oder ethnischer Gruppen der Rückgabe von Kulturgütern nicht länger ignorieren: Es muss nach der Rechtmäßigkeit und Unrechtmäßigkeit des Erwerbs gefragt werden, um zu entscheiden, ob und inwieweit Gegenstände ehemals abhängiger Territorien zu restituieren sind. Die Aufgabe juristischer Provenienzforschung besteht also darin, Kriterien zu formulieren, die eine Entscheidung über die Legitimation eines Erwerbs und über das künftige Schicksal eines in Kolonialzeiten erworbenen Kulturguts liefern können. In den Brennpunkt rückt damit die sogenannte „koloniale Jurisprudenz“, und zwar nicht nur mit ihren Fehlvorstellungen, sondern auch mit ihren emanzipatorischen und zukunftsweisenden Ansätzen. Zu den Fehlvorstellungen gehört etwa die Charakterisierung einer Völkerschaft als „unzivilisiert“, die durch „Willkür“ beherrscht werde und ohne „Recht“ auskomme. In die Gegenrichtung weisen Ansätze, welche das Recht dieser Völkerschaften anerkennen, die es näher zu erforschen und nach wissenschaftlichen Maßstäben aufzuzeichnen suchen, um den Interessen des Herkunftslandes und dem Wohl seiner Einwohner zumindest innerhalb eines gewissen Rahmens Rechnung tragen zu können. Dass Historiker, Ethnologen, Missionare, Sprachwissenschaftler und Juristen über diese Fragen in Deutschland um 1900 lebhaft diskutiert haben, ist heute weitgehend in Vergessenheit geraten. Die genauere Untersuchung dieser Debatten verspricht Aufschluss über die Maßstäbe, die damals für die Beurteilung von Recht und Unrecht in den deutschen Kolonialgebieten entwickelt wurden. Natürlich stehen auch die Argumente, die aus heutiger Sicht zukunftsweisend erscheinen, in einem speziellen wirtschaftspolitischen und durch nationales Machtstreben gekennzeichneten Kontext, der kritisch zu hinterfragen ist. Gleichwohl vermögen sie einige Anhaltspunkte zur Formulierung von Kriterien bieten, woran eine Entscheidung über Behaltendürfen oder Restitution anknüpfen könnte.
5 Macron, Discours de Ouagadougou (2017), kommentiert von Clemens Wildt, in: Translocations. Anthologie: Eine Sammlung kommentierter Quellentexte zu Kulturgutverlagerungen seit der Antike (https://translanth.hypotheses.org/ueber/macron, veröffentlicht am 20. 12. 2017).
Provenienzforschung als Disziplin der Rechtsgeschichte
II.
215
Staatsphilosophische Grundlagen kolonialer Jurisprudenz um 1900
Zu den Grundlagen ‚moderner‘ Staatlichkeit gehört das Narrativ vom Naturzustand und vom Gesellschaftsvertrag, worauf so verschiedene Naturrechtslehrer wie Thomas Hobbes, Samuel Pufendorf, Christian Thomasius, Jean-Jacques Rousseau oder Immanuel Kant ihre Rechts- und Staatsphilosophie gegründet haben. Thomas Hobbes zufolge schließt am Anfang der Geschichte ein „Jeder mit Jedem“ einen Vertrag, um die ungeteilte Souveränität auf einen personalen Herrscher dauerhaft zu übertragen.6 Der Gesellschaftsvertrag bedeutet eine Zäsur, weil er den sogenannten „Naturzustand“ beendet und eine Art von Staatlichkeit begründet, die bis heute als „Souveränität“ bezeichnet wird. Den für die Begriffsgeschichte der „Naturvölker“ so wichtigen „Naturzustand“ schildert Hobbes bekanntlich als eine Art Kriegszustand – als einen Zustand ohne Recht und ohne Geschichte, wo der Mensch dem Menschen ein Wolf gewesen sei. Zu seiner Beendigung habe es des Abschlusses eines Gesellschaftsvertrags bedurft, dessen Zweck darin bestehe, durch die einvernehmliche Übertragung der ungeteilten Macht auf einen Souverän den Frieden zu sichern und das private Eigentum zu schützen.7 Mit dieser Erzählung gehen einige Konsequenzen einher, die hier nur angedeutet werden können: Der Staat, das Gemeinwesen oder die Rechtsordnung sind nicht von Anfang an vorhanden, sondern werden durch eine übereinstimmende Willenserklärung, den Gesellschaftsvertrag, künstlich erst geschaffen. Die Folge ist eine Liquidation jeder Normbildung, die außerhalb des Staates bestehen könnte, etwa durch Gewohnheitsrecht, Verbände oder Sitte. Alles in allem dient das Narrativ vom Naturzustand der Legitimation einer starken, ungeteilten Souveränität, wobei hier dahinstehen kann, ob es sich um die Souveränität eines absoluten Monarchen oder um die Volkssouveränität handelt.8 Auf diese Art des Naturzustands rekurriert auch Georg Friedrich Hegel, wenn er meint, in Afrika gebe es keine Staaten, kein Recht, keine Religion und keine Geschichte: Es ist die Lehre, „welche wir aus der Idee kennen, dass der Naturzustand selbst der Zustand absoluten und durchgängigen Unrechts ist.“9 Im 6 „Covenant of every man with every man“, vgl. Leviathan (1651), edited by Michael Oakeshott, Oxford 1957, II, XVII (S. 109–113, 112). In diese Richtung bereits Jean Bodin, der Begründer des modernen Souveränitätsbegriffs, Sechs Bücher über den Staat (1576), hg. v. Peter Cornelius Mayer-Tasch, München 1981, III 7 (S. 523). 7 Siehe die Nachweise bei Meder, Doppelte Körper im Recht, Tübingen 2015, S. 25–27 und S. 89– 91. 8 Meder, Doppelte Körper im Recht (Fn. 7), S. 86–94, 119–120, 127–128. 9 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, Einleitung, in: Werke in zwanzig Bänden (1832–1845), Bd. 12, Frankfurt am Main 1986, S. 11–141, 129.
216
Stephan Meder
Zeichen dieser Lehre hat Hegel eine Theorie des „natürlichen Menschen in seiner ganzen Wildheit und Unbändigkeit“, eine Philosophie der ‚unzivilisierten‘ Völker entworfen, deren Gemeinsamkeit darin bestehen soll, dass es ihnen an der „Kategorie der Allgemeinheit“ mangele, weil sie nur das Besondere kennen würden.10 Diese hier nur grob skizzierte Staats-, Rechts-, Religions- und Geschichtsphilosophie stieß auf den Widerstand einer Richtung, die in der Jurisprudenz nach der Wende zum 19. Jahrhundert herrschend wurde. Gustav Hugo, Friedrich Carl von Savigny und andere Protagonisten der Historischen Rechtsschule lehnen die Lehren vom Naturzustand und vom Gesellschaftsvertrag als bloße Fiktionen ab. Namentlich Savigny will nicht glauben, dass es „in dem Leben der Völker“ eine „Zeit vor Erfindung des Staates“ gegeben habe: „Vielmehr wird jedes Volk, sobald es als solches erscheint, zugleich als Staat erscheinen, wie auch dieser gestaltet seyn möge.“ Die „höchst verbreitete Ansicht“, dass der Staat durch „Willkühr der Einzelnen, also durch Vertrag, entstanden“ sei, habe „in ihrer Entwicklung auf ebenso verderbliche als verkehrte Folgen geführt“.11 Savigny denkt hier vor allem an die Übertragung ungeteilter Macht auf einen Souverän und die verbreitete Annahme, der Begriff des Rechts sei staatlicher Normsetzung vorbehalten. Seiner Ansicht nach wird das Recht nicht durch den Willen eines personalen Herrschers, sondern vornehmlich durch die in der Gesellschaft lebenden Kräfte, den später sogenannten „Volksgeist“ geschaffen. Danach hätte also jedes Volk eine Geschichte, einen Staat, eine Religion und selbstverständlich auch ein Recht. Recht und Staat sind aus dieser Sicht freilich nicht identisch, das Recht geht über das promulgierte ius scriptum hinaus. Normbildungen außerhalb von Gesetz und Staat, etwa durch Gewohnheitsrecht, rücken damit als ius non scriptum in den Fokus der Wissenschaft.12 Dies verdient Hervorhebung, weil das Recht jener Völker, deren Kulturgüter im Wege von Siehe auch, a. a. O., S. 117 („kein Rechtsverhältnis“), 128 („keine Entwicklung“ und „keine Bildung“), 129 („was wir eigentlich unter Afrika verstehen, das ist das Geschichtslose und Unaufgeschlossene, das noch ganz im natürlichen Geiste befangen ist und das hier bloß an der Schwelle der Weltgeschichte vorgeführt werden mußte“); ders., Vorlesungen über die Philosophie der Religion, Die Naturreligion, in: Werke, a. a. O., Bd. 16, S. 259–302, 284 (kann „noch nicht eigentlich Religion genannt werden“). 10 Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte (Fn. 9), S. 122. Zur Charakterisierung der Nichteuropäer „as natural, ahistorical, and lacking culture“ in Geschichtswissenschaft und Anthropologie des 19. Jahrhunderts siehe Andrew Zimmermann, German Anthropology and the „Natural Peoples“: The Global Context of Colonial Discourse, in: The European Studies Journal 16 (1999), S. 95–112, 97. 11 Savigny, System des heutigen römischen Rechts, Bd. I, Berlin 1840, S. 23, 28. 12 Siehe in diesem Zusammenhang die Kritik von Hegel an Savignys Rechtsquellenlehre in den Grundlinien der Philosophie des Rechts (1820), § 211 a.E. (insbesondere gegen Savignys Argument, mit Gewohnheitsrecht könne die Jurisprudenz auf gesellschaftlichen Wandel rascher und flexibler als staatliche Gesetzgebung reagieren).
Provenienzforschung als Disziplin der Rechtsgeschichte
217
Kolonisierung nach Europa gelangt sind, ebenfalls ius non scriptum ist. In den um 1900 geführten kolonialrechtlichen Debatten spielen beide Positionen – sowohl die zentralistische als auch die plurale – eine Rolle, wobei der zuletzt geschilderten, zumindest in der rechtsethnologisch informierten Wissenschaft, das größere Gewicht zukommt.
III.
Zwischenergebnis
Gegen Hegel und die Protagonisten der Lehre vom Naturzustand verwirft Savigny die Behauptung einer Differenz von ‚zivilisiert‘ und ‚unzivilisiert‘. Stattdessen lobt er die Vorzüge oraler Rechtskulturen. Ja, er attestiert ihnen sogar ein „klares Bewußtsein ihrer Zustände und Verhältnisse […], während wir, in unsrem künstlich verwickelten Dasein, von unserm eigenen Reichtum überwältigt sind, anstatt ihn zu genießen und zu beherrschen“.13 Darüber hinaus verabscheut er die Arroganz, mit welcher die vermeintlich zivilisierten Staaten auf die normativen Ordnungen oraler Rechtskulturen blicken: „Wir in neueren Zeiten haben sie [die förmlichen Handlungen oraler Rechtskulturen] häufig als Barbarei und Aberglauben verachtet, und uns sehr groß damit gedünkt, daß wir sie nicht haben, ohne zu bedenken, daß auch wir überall mit juristischen Formen versorgt sind, denen nur gerade die Hauptvorteile der alten Formen abgehen, die Anschaulichkeit nämlich und der allgemeine Volksglaube, während die unsrigen von jedem als etwas willkürliches und darum als eine Last empfunden werden“.14
13 Savigny, Vom Beruf unsrer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft, Heidelberg, 1814, S. 9. Savignys Jugendfreund, der Heidelberger Philologe und Mythenforscher Friedrich Creuzer geht sogar so weit zu behaupten, die Religion, Symbolik und Mythologie alter Völker lasse erkennen, dass sie zu den tiefsten philosophischen Einsichten fähig gewesen seien, Symbolik und Mythologie der alten Völker, Bd. I, Leipzig, Darmstadt, 1810, S. IX f., 210–212 passim („Erziehung durch Religion“). 14 Savigny, Vom Beruf unsrer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft (Fn. 13), S. 10f. (zu den Funktionen förmlicher Handlungen in oralen Rechtskulturen vgl. Meder, Rechtsgeschichte, Köln u. a., 7. Auflage 2020, S. 132). Die rechtsethnologisch informierte koloniale Jurisprudenz würde Anfang des 20. Jahrhunderts zwar nicht so weit gehen, die Vorzüge oraler Rechtskulturen zu loben. Eine Gemeinsamkeit mit der durch Savigny begründeten Sichtweise besteht aber darin, dass sie deren normative Ordnungen als ‚Recht‘ ernst nimmt und versucht, diese in ihren Eigenarten – möglichst unter den Prämissen wissenschaftlicher ‚Objektivität‘ – zu erforschen, vgl. die Zusammenfassung dieser Position bei Felix Meyer, Das Eingeborenenrecht und seine Kodifikation, in: Vossische Zeitung vom 8. September 1907 (Beilage zur Nr. 421). Darauf ist noch zurückzukommen (IV 2).
218
IV.
Stephan Meder
Koloniale Jurisprudenz zwischen Zentralismus und Pluralismus
Die deutsche Kolonialgeschichte begann 1884 mit der „Schutzherrschaft“ über einige Territorien in Afrika und fand nach gut 30 Jahren im Ersten Weltkrieg ein jähes Ende. Sie ist einerseits also Episode geblieben, andererseits aber noch immer präsent, soweit Fragen des kollektiven Gedächtnisses und der Traditionslinien deutscher Geschichte aufgeworfen werden. In den Rechtswissenschaften wurde das koloniale Zivil-, Straf- und Verfassungsrecht bislang eher stiefmütterlich behandelt. Dies muss als Defizit betrachtet werden, da die in den zeitgenössischen Debatten über koloniale Jurisprudenz erörterten Themen nicht nur von allgemeinem rechtshistorischen oder staatsphilosophischen Interesse, sondern auch für die provenienzrechtliche Frage nach dem Behaltendürfen kultureller Güter von großer Wichtigkeit sind.
1.
Das Erwerbsgeschehen im Kontext: Zum Erkenntnisinteresse der kolonialen Jurisprudenz
Bei der Untersuchung der überwiegend nach der Wende zum 20. Jahrhundert verfassten Texte zur kolonialen Jurisprudenz kommt der Faktor Zeit unter einem doppelten Gesichtspunkt ins Spiel: Einmal, weil ein rechtliches Verhalten prinzipiell nur nach den im Zeitpunkt des Geschehens geltenden Normen beurteilt werden kann.15 Für die juristische Provenienzforschung folgt daraus, dass Vorgänge aus der Kolonialzeit an den rechtlichen Maßstäben der Kolonialzeit zu messen sind. Hinzu kommt, und das ist der zweite Punkt, dass die Schriften kolonialer Jurisprudenz ebenfalls im Kontext jener Zeit betrachtet werden müssen, in der sie verfasst wurden. Dazu gehört die Annahme einer selten relativierten Differenz, wonach „Weiße“ kultiviert und „Eingeborene“ nicht nur unkultiviert sind, sondern durch das europäische Recht sogar erzogen werden müssen: „Die Ein-
15 Das sogenannte Rückwirkungsverbot hat eine lange Tradition und darf als einer der Grundpfeiler moderner Rechtsstaatlichkeit bezeichnet werden, vgl. C.1.14.7; Adolph Dietrich Weber, Die Rückanwendung positiver Gesetze, mit besonderer Hinsicht auf neuere Gesetzveränderungen deutscher Staaten, Hannover 1811; Savigny, System des heutigen römischen Rechts, Bd. VIII, Berlin 1849, S. 381–391; Motive zu dem Entwurfe eines Bürgerlichen Gesetzbuches für das Deutsche Reich, Bd. I (Allgemeiner Teil), Berlin, Leipzig 1888, S. 19–24 (H. Jatzow); Gerardo Broggini, Retroactivity of Laws in the Roman Perspective, in: Irish Jurist 1 (1966), S. 151–170; Kyrill-A. Schwarz, Vertrauensschutz als Verfassungsprinzip, Baden-Baden 2020, S. 61–80.
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geborenen sind Kinder, sie müssen erzogen werden durch Verbote und Strafen“.16 Das Ziel der Erziehung besteht zunächst darin, den „Eingeborenen“ Achtung vor „fremdem Eigentum“ beizubringen und sie an die Befolgung der Regeln „eines ihnen bisher unbekannten Staatswillens zu gewöhnen“.17 Hintergrund ist die Erwartung, dass die Kolonien einst zu einem „wesentlichen Faktor im wirtschaftlichen Leben des Reiches“ werden. Da dieses Ziel ohne die „Eingeborenen“, das „wertvollste Vermögensobjekt“ der Kolonien, nicht zu realisieren sei,18 müsse Erziehung „vor allem Erziehung zur Arbeit, zum stetigen selbstlosen Fleiß, zum Arbeiten um des Arbeitens willen [sein]. Das ist das erste, zunächst notwendigste Mittel zur Hebung der Eingeborenenkultur“.19 16 Paul Bauer, Die Strafrechtspflege über die Eingeborenen der deutschen Schutzgebiete, Archiv für öffentliches Recht 19 (1905), S. 32–86, 34f., 82 („das schon vorgeschlagene Mittel, die Farbigen als Minderjährige unter 18 Jahren zu behandeln“, erscheine freilich „stark gekünstelt“). Siehe auch: Felix Meyer, Wirtschaft und Recht der Herero, Berlin 1905, S. 5 (mit Hinweis auf Rousseau: „jede Erziehung müsse von der Anschauung des Zöglings ausgehen“); Johann Karl Julius Friedrich, Strafrechtsgewohnheiten der Eingeborenen in deutschen Schutzgebieten, in: Zeitschrift für Kolonialpolitik, Kolonialwirtschaft und Kolonialrecht (ZKKK) XIII (1911), S. 283–300, 299 (Eingeborene „ähneln Kulturkindern, deren Motive ebenso leicht zu ermitteln sind. Ja, man kann sagen: Kinder und Wilde sind geradezu Experimentierobjekte für die beobachtende Psychoanalytik“); Oskar Karstedt, Beiträge zur Praxis der Eingeborenenrechtsprechung in Deutsch-Ostafrika, Daressalam 1912, S. 49 („wenn der Neger auch im Grossen nicht als Kind angesprochen werden kann, so ist er es doch in seinem Verständnis für Schuld und Sühne“); Sören Utermark, „Schwarzer Untertan versus schwarzer Bruder“. Bernhard Dernburgs Reformen in den Kolonien Deutsch-Ostafrika, Deutsch-Südwestafrika, Togo und Kamerun, unv. Diss. Kassel (2012), S. 85–99, 285–303 (zum Erziehungsgedanken in der „Farbigenstrafrechtspflege“ aus heutiger Sicht). 17 Bauer, Die Strafrechtspflege über die Eingeborenen der deutschen Schutzgebiete (Fn. 16), S. 35. 18 Felix Meyer, Die Erforschung und Kodifikation des Eingeborenenrechts, in: Zeitschrift für Kolonialpolitik, Kolonialwirtschaft und Kolonialrecht (ZKKK) IX (1907), S. 847–869, 847 („daß die Eingeborenen das wertvollste Vermögensobjekt in unseren, für europäische Einwanderung nur in geringem Maße zugänglichen Kolonien bilden, und wirtschaftliche Erfolge im Wesentlichen nur mit ihnen und durch sie zu erzielen sind, ist allmählich zu einer Binsenwahrheit geworden“). Zu den Zusammenhängen zwischen Eingeborenenpolitik und Wirtschaft siehe Utermark, „Schwarzer Untertan versus schwarzer Bruder“ (Fn. 16), S. 99– 113. 19 Johann Karl Julius Friedrich, Eingeborenenrecht und Eingeborenenpolitik, in: Zeitschrift für Kolonialpolitik, Kolonialwirtschaft und Kolonialrecht (ZKKK) XI (1908) S. 466–489, 478 (Hervorhebung im Original). Die Erziehung soll freilich nicht um ihrer selbst willen geschehen, sondern einem gewissen Zweck dienen, „nämlich der Entfaltung der wirtschaftlichen Kräfte der Eingeborenen“; Voraussetzung hierfür bilde eine gesicherte Rechtspflege mit dem allgemeinen Ziel einer Verwirklichung von Gerechtigkeit, Meyer, Das Eingeborenenrecht und seine Kodifikation (Fn. 14). Dass in den Ausführungen von Friedrich, Meyer und vielen anderen zeitgenössischen Autoren ein „Geist des Kapitalismus“ waltet, den Max Weber in der protestantischen Ethik wurzeln sah, bedarf hier keiner näheren Ausführung. Protes-
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Die im Folgenden zu betrachtenden Schriften stehen im Zeichen eines Eintritts der deutschen Wirtschaft in den Welthandel und ihrer Ausbreitung nach Übersee in Form eines ungebremsten Handelsexpansionismus. Es gibt aber auch noch eine andere Seite der zeitgenössischen Debatten, die sowohl aus provenienzrechtlicher als auch aus postkolonialer Perspektive Hervorhebung verdient: Die Mehrzahl der Beiträge wird von einem „reinen“ Erkenntnisinteresse getragen, das, nicht ohne hermeneutisches Gespür, auf die Erforschung des einheimischen Rechts und die Verankerung der Rechtsethnologie in Wissenschaft und Studium gerichtet ist. Die Beiträge stehen fast ausnahmslos unter der Prämisse, dass das Recht der Einheimischen respektiert werden müsse. Insbesondere dürfe seine Erkenntnis nicht dadurch getrübt werden, dass Vorverständnisse europäischen Rechtsdenkens herangetragen werden: „Die Feststellung des Eingeborenenrechts hat sich, soweit es irgend angängig ist, von unserem Kulturrecht entfernt zu halten“.20
2.
„Ein herrliches Völkerrecht“: Eher Zivilrecht als Öffentliches Recht
Dieser Ansatz ist nicht zuletzt auch deshalb von Interesse, weil der Akzent der bisherigen Untersuchungen zur juristischen Provenienzforschung eher im Öffentlichen Recht und im Völkerrecht liegt.21 Diese Rechtsgebiete können zur Erkenntnis des Einheimischenrechts aber kaum etwas beitragen. Dafür gibt es mindestens zwei Gründe, die eng miteinander verwoben sind. Erstens gilt sowohl für das Öffentliche Recht als für das Völkerrecht: Es ist ganz überwiegend das Recht „des sogenannten globalen Nordens“, d. h. „in weiten Teilen ein Recht der Kolonisatoren“.22 Hinzu kommt noch ein zweiter Punkt, nämlich, dass die Wegnahme als solche kein Unrecht war: Den zeitgenössischen völkerrechtlichen Vorstellungen zufolge stellten die kolonisierten Gebiete keine Staaten dar. Ihnen mangelte es an „Souveränität“ und damit an einem wesentlichen Merkmal der im tantische Ethik und calvinistische Gnadenlehre bilden Weber zufolge bekanntlich die ideale Grundlage für eine moderne Arbeitsmoral, weil sie weniger auf das ewige Leben als auf den täglichen Dienst zu Ehren Gottes im Hier und Jetzt ausgerichtet sind. Das Postulat einer „Erziehung zur Arbeit“ wäre danach im Kontext jener Rationalisierungsbestrebungen zu begreifen, die Max Weber in etwa zeitgleich als Merkmal der Moderne so trefflich beschrieben hat. Zu den rassistischen Konnotationen der „Erziehung zur Arbeit“ siehe Utermark, „Schwarzer Untertan versus schwarzer Bruder“ (Fn. 16), S. 91–93 passim. 20 Friedrich, Eingeborenenrecht und Eingeborenenpolitik (Fn. 19), S. 300 (Hervorhebung im Original). Zum Terminus „Kulturrecht“ siehe auch unten V 2. 21 Siehe z. B. Philipp Dann, Felix Hanschmann, Postkoloniale Theorie, Recht und Rechtswissenschaft, in: Kritische Justiz 45 (2012), S. 127–162; Sophie Schönberger, Die Säule von Cape Cross und das Völkerrecht, in: Historische Urteilskraft 1 (2019), S. 28–31; Goldmann, von Loebenstein, Alles nur geklaut? (Fn. 4), S. 1–26. 22 Zutreffend Schönberger, Die Säule von Cape Cross und das Völkerrecht (Fn. 21), S. 29.
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Anschluss an Jean Bodin, Thomas Hobbes, Samuel Pufendorf und Immanuel Kant propagierten „modernen“ Staatsphilosophie. Die Gebiete wurden als „herrenlos“ eingestuft, so dass es den „Staaten“ jederzeit gestattet war, sie zu okkupieren und sich einzuverleiben.23 „Ein herrliches Völkerrecht“ bemerkte der Dichter, Übersetzer und Herausgeber Christoph Martin Wieland bereits 1778 in seinen „Auszügen aus Jacob Forsters Reise um die Welt“.24 Wieland schildert darin den Diebstahl eines zinnernen Löffels durch einen „O-Tahitischen Jungen“, dessen Tat europäische Seeleute nach Maßgabe ihres „positiven bürgerlichen Gesetzes“ zu ahnden suchten. Wieland meint, es sei den Europäern „würdig, und ganz aus einem Stücke mit der Unverschämtheit, womit diese Herren, im Namen ihrer allergnädigsten Könige, von jeder Insel und Halbinsel der Südsee, auf die sie Wind und Wetter oder Bedürfnis sich zu erfrischen verschlägt, feierlich Besitz nehmen, ohne daß es ihnen einfällt, die uralten Einwohner derselben zu fragen, was sie zu dieser Besitznehmung zu sagen haben. Ein herrliches Völkerrecht! Und das sind die aufgeklärten, philosophischen, rechtshochgelahrten Herren, die einen weggemausten zinnernen Löffel mit Vierpfündern rächen“.25
Es gab also auch hierzulande Stimmen, die nicht nur das Streben nach „Erziehung“, sondern jede Art von Okkupation oder Wegnahme für völkerrechtswidrig hielten. Derartige Positionen sind aber in der absoluten Minderheit geblieben und, soweit ersichtlich, von zeitgenössischen Juristen überhaupt nicht aufgegriffen worden. Mitunter begegnen in den um 1900 geführten kolonialrechtlichen Debatten freilich Zweifel, ob es denn richtig sei, in den europäischen Vorstellungen eine „absolut massgebende Norm“ zu sehen, der „der ganze Erdkreis unterworfen werden müsse“.26 Auch die „Eingeborenen“ würden Ordnung kennen. Einige Autoren wollen ihnen sogar ein „entwickeltes Rechtsbewusstsein und Rechtsempfinden“ attestieren. Ansonsten würde, frei nach Hobbes, „ständig 23 Zur zeitgenössischen Diskussion über die völkerrechtliche Legitimation kolonialer Herrschaft siehe Goldmann, von Loebenstein, Alles nur geklaut? (Fn. 4), S. 21. Allerdings gab es auch um 1900 schon Autoren, die es „für einen groben Irrtum“ hielten, dieses „Land als herrenlos“ zu bezeichnen, vgl. Meyer, Wirtschaft und Recht der Herero (Fn. 16), S. 66 (im Hintergrund stand wiederum die vom aufgeklärten Absolutismus eines Hobbes, Pufendorf oder Kant abweichende Staatsphilosophie der Historischen Rechtsschule). 24 Christoph Martin Wieland, Auszüge aus Jacob Forsters Reise um die Welt (1778), in: ders., Sämmtliche Werke XIV (1798), Hamburg 1984, S. 175–246. Nur am Rande sei bemerkt, dass Savigny Wieland kannte (ihn auf seinem Landgut Osmannstedt sogar aufsuchte) und auch an den Schriften von Johann Georg Forster großes Interesse zeigte. 25 Wieland, Auszüge aus Jacob Forsters Reise um die Welt (Fn. 24), S. 241 (Hervorhebungen im Original). 26 Weickhmann, Über die Frage der Schaffung eines selbständigen kolonialen Strafrechts, in: Verhandlungen des Deutschen Kolonialkongresses, Berlin 1910, S. 470–492, 474 (und ob diese Norm denn wirklich den in Afrika „seit Jahrtausenden vorhandenen Verhältnissen“ einfach „aufgepfropft“ werden dürfe).
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ein Krieg aller gegen alle im Kampfe um das Dasein bestehen“.27 Bisweilen ist sogar von einem „intelligenten Negervolk“ die Rede.28 Darauf, dass führende Autoren der kolonialrechtlichen Jurisprudenz mit dem Naturzustand auch den politischen Voluntarismus zugunsten einer rechtsethnologischen Perspektive hinter sich gelassen haben, wird noch zurückzukommen sein. Von der in aktuellen Debatten geforderten „Gleichberechtigung aller Kulturen“, oder mehr noch, ihrer „Gleichwertigkeit“, war die koloniale Jurisprudenz gleichwohl meilenweit entfernt. Selbst ihre emanzipatorischen Ansätze können nicht darüber hinwegtäuschen, dass es ein „herrliches Völkerrecht“ war, auf dessen Grundlage sie eine Okkupation für zulässig hielt. Es bleibt also dabei: Nach dem Völkerrecht der Kolonisten galt die Wegnahme von Kulturgütern als solche nicht als Unrecht. Auch sonst hat das Völkerrecht zu einem historischen Ereignis wie dem konkreten Erwerb oder der tatsächlichen „Besitznahme“ eines Gegenstandes kaum etwas zu sagen. Insbesondere vermag es keine Antwort auf die Frage zu erteilen, welche Art von Besitzwechsel überhaupt zu Restitutionsansprüchen führen könnte. Dagegen kann das Zivilrecht und namentlich das Sachenrecht durchaus Aufschluss über den Zusammenhang zwischen dem Erwerb eines Kulturgutes und den Rechtsverhältnissen geben, unter denen er erfolgte. Vor diesem Hintergrund muss interessieren, dass die koloniale Jurisprudenz in ihren rechtsethnologisch informierten Debatten, wenn auch nur ansatzweise, auf die zivilistische Rechtslage bisweilen zu sprechen kommt. Die Provenienzforschung ist auf solche Hinweise angewiesen, weil, wie bereits angedeutet, das Erwerbs- bzw. Aneignungsgeschehen auch an den Maßstäben zu messen ist, die im Zeitpunkt des jeweiligen Besitzwechsels galten.
3.
Koloniale Rechtswahl als prudentia iuris
Den Ausgangspunkt der nach der Wende zum 20. Jahrhundert geführten kolonialrechtlichen Diskussionen bildete die Annahme, das Deutsche Kaiserreich dürfe in den „Schutzgebieten“ uneingeschränkte Souveränität in Anspruch nehmen.29 Unter den Prämissen des juristischen Zentralismus und des Territo27 Schreiber, Rechtsgebräuche der Eingeborenen der deutschen Schutzgebiete in Afrika, in: Beiträge zur Kolonialpolitik und Kolonialwirtschaft 5 (1903/04), S. 237–256, 237; Wilke, in: Weickhmann, Über die Frage der Schaffung eines selbständigen kolonialen Strafrechts (Fn. 26), S. 489. Siehe auch Friedrich (Strafrechtsgewohnheiten der Eingeborenen, Fn. 16, S. 299f.), der zwar immer wieder von „Kulturrecht“ spricht, dabei aber nicht müde wird zu betonen, dass der moderne Europäer von dem Recht der „Eingeborenen“ auch „lernen“ könne. 28 Schreiber, Zur Kodifikation des Eingeborenen-Rechts, in: Zeitschrift für Kolonialpolitik, Kolonialwirtschaft und Kolonialrecht (ZKKK) XI (1908), S. 477–487, 484. 29 Paul Laband, Deutsches Reichsstaatsrecht, Tübingen, 7. Auflage 1919, § 22 (S. 182–215) – mit einem Überblick über die sogenannten „Schutzgebiete“ (S. 196–200) und einer Erklärung des
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rialitätsprinzips waren auch die in diesem Gebieten lebenden Menschen, die sogenannten „Eingeborenen“, der deutschen Staatsgewalt unterworfen. Daraus folge „zweifellos das Recht“, die Gesetzgebung, Rechtsprechung und Verwaltung des Deutschen Reichs „in vollem Umfange auch auf die Eingeborenen auszudehnen“.30 Allerdings entspreche es der „Klugheit“, der einheimischen Bevölkerung das deutsche Recht nicht einfach aufzuzwingen, sondern ihr eine gewisse „Selbständigkeit zu lassen“. Die Vorschriften des Gesetzes über die „Rechtsverhältnisse der Deutschen Schutzgebiete“ stünden diesem Gebot der Vernunft keineswegs entgegen.31 § 3 dieses Gesetzes habe den Kaiser zwar ermächtigt, „auch die Eingeborenen dem deutschen Recht“ zu unterstellen. Doch müsse die Bestimmung dahingehend ausgelegt werden, dass sie den Kaiser nicht verpflichte, deutsches Recht in die Kolonien zu exportieren. Vielmehr habe er in Bezug auf eine Regelung der Rechtsverhältnisse in den eroberten Gebieten „völlig freie Hand“.32 „Klugheit“ (prudentia, phronesis) hat die deutsche Kolonialverwaltung bekanntlich oft vermissen lassen. So kam es zu einem Aufstand der Herero, der 1904 in der Schlacht am Waterberg auf Basis des sogenannten „Vernichtungsbefehls“ brutal niedergeschlagen wurde.33 Als 1905/06 beim „Maji-Maji-Auf-
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Begriffs „Schutzgewalt“ als „souveräne“ und „inhaltlich volle“ Staatsgewalt (S. 200–202, 201: „Schutz der eigenen Angehörigen und der Angehörigen anderer zivilisierter Nationen“); Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte (969), Bd. IV, Stuttgart u. a., 2. Auflage 1982, §§ 35–37 (S. 604–634) – mit Ausführungen zum Kolonialenthusiasmus Ende des 19. Jahrhunderts, den „Rechtsformen“ des Erwerbs der Kolonialgebiete, den Aufständen von Einheimischen; Hans-Ulrich Wehler, Bismarck und der Imperialismus (1969), Köln, 3. Auflage 1972 (Reprint 2017), S. 258–411, 265–270 (zur Gewährung von „Schutz“ beim „Kauf“ und der Gründung von Kolonien am Beispiel der Unternehmungen des Bremer Kaufmanns Lüderitz in Afrika); Wolfgang Naucke, Deutsches Kolonialstrafrecht 1886–1918, in: Rechtshistorisches Journal 7 (1988), S. 297–315; Claudia Lederer, Die rechtliche Stellung der Muslime innerhalb des Kolonialrechtssystems im ehemaligen Schutzgebiet Deutsch-Ostafrika, Würzburg 1994; Hans-Jörg Fischer, Die deutschen Kolonien. Die koloniale Rechtsordnung und ihre Entwicklung nach dem ersten Weltkrieg, Berlin 2001 (mit einem Abschnitt über die Rechtsbeziehungen zwischen deutschen Siedlern und Einheimischen); Winfried Speitkamp, Deutsche Kolonialgeschichte (2005), Stuttgart 2014, S. 60–72 (Recht und Justiz in den Kolonialgebieten). Carl Freiherr von Stengel, Die deutschen Schutzgebiete, ihre rechtliche Stellung, Verfassung und Verwaltung, München, Leipzig 1895, S. 278, 281. Gesetz betreffend die Rechtsverhältnisse der Deutschen Schutzgebiete. Vom 17. April 1886, in: Reichs-Gesetzbl. 1886, Nr. 1647, S. 75f. Stengel, Die deutschen Schutzgebiete (Fn. 30), S. 281. Das Ansinnen eines Völkermordes formulierte der berüchtigte Leutnant Lothar von Trotha mit den oft zitierten Worten: „Innerhalb der Deutschen Grenze wird jeder Herero mit oder ohne Gewehr, mit oder ohne Vieh erschossen, ich nehme keine Weiber und keine Kinder mehr auf, treibe sie zu ihrem Volke zurück und lasse auch auf sie schießen“, BArch R 1001/ 2089 (S. 1).
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stand“ geschätzte 100.000 Einheimische umkamen, wurde eine Wende in der Kolonialpolitik für notwendig erachtet.34 Einen Ausdruck fand die neue Politik in der Forderung nach einer mehr wissenschaftlichen Herangehensweise, die zu einer spürbaren Verbesserung der Lebensbedingungen der Bevölkerung in den Kolonien führen sollte.
4.
Staatsphilosophische Prämissen in den kolonialrechtlichen Debatten
Derartige Ziele verfolgten insbesondere Autoren, die sich nach 1905 an der Diskussion über koloniale Jurisprudenz beteiligten. Den Ausgangspunkt bildete die Zurückhaltung gegenüber zentralistischen Bestrebungen. Auf Grundlage des Territorialprinzips sei es zwar möglich, die einheimische Bevölkerung deutschem Recht zu unterstellen. Eine solche etatistische Lösung ließe sich aber nicht praktizieren, wenn die Kolonien gedeihen sollen: „‚Grau ist alle Theorie‘, und der Wirklichkeit in den Kolonien gegenüber ist dieses […] Prinzip nicht durchzuführen“.35 Wer annehme, die Normen einem Volk „von oben aufzwingen“ zu können, verkenne die „Natur eines jeden Rechtes“. ‚Recht‘ würde nicht durch eine über der Gesellschaft stehende Autorität erzeugt werden, sondern, gleichsam spontan, von unten herauf, aus der Gesellschaft wachsen: Stets müsse das Recht als „Ausdruck der im Volke bestehenden wirtschaftlichen, kulturellen und politischen Verhältnisse betrachtet werden“. Und stets würde es aus der Notwendigkeit heraus entstehen, „die bei jedem Volke verschiedenen Verhältnisse zu regeln“.36 Wer solchen Überlegungen keinen Glauben schenke, würde „Willkür an Stelle der seitherigen Ordnung“ setzen.37 Hintergrund ist abermals die Kritik einer 34 Lederer, Die rechtliche Stellung der Muslime innerhalb des Kolonialrechtssystems (Fn. 29), S. 71–77; Utermark, „Schwarzer Untertan versus schwarzer Bruder“ (Fn. 16), S. 299. 35 Schreiber, Zur Kodifikation des Eingeborenen-Rechts (Fn. 28), S. 479. Wie prominent diese, vorstehend (statt aller) mit dem Namen ‚Hegel‘ in Zusammenhang gebrachte „Theorie“ Anfang des 20. Jahrhunderts noch gewesen sein muss, veranschaulichen die Savignys Rechtsentstehungslehre nahestehenden Ausführungen von Felix Meyer in seinem Artikel in der Vossischen Zeitung (Fn. 14): „So war von der Wissenschaft das selbst bei Gebildeten noch heute vielfach herrschende Vorurteil längst überwunden, als wenn jene ‚sogenannten Wilden‘ überhaupt kein Recht besäßen, obwohl doch das Recht die Grundlage jedes sozial geordneten Zusammenlebens bildet und bald mehr bald weniger entwickelt überall vorhanden ist, wo sich eine Menschengemeinschaft zu sozialen Verbänden organisiert hat“. 36 Schreiber, Rechtsgebräuche der Eingeborenen der deutschen Schutzgebiete in Afrika (Fn. 27), S. 238. 37 Schreiber, Rechtsgebräuche der Eingeborenen der deutschen Schutzgebiete in Afrika (Fn. 27), S. 238 („und die größte Erbitterung gegen die Zerstörer der gewohnten, oft heilig gehaltenen Ordnung erzeugen“). Nur am Rande sei bemerkt, dass die Ablehnung von „Willkür“ zu den wichtigsten Merkmalen von Savignys politischer Theorie gehört. Die Willkürabwehr ist
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Staatsphilosophie, die auf den Lehren von Naturzustand und Unterwerfungsvertrag fußt. Danach würde der über der Gesellschaft stehende Souverän die auf einer tabula rasa zur Regelung des sozialen Lebens erdachten Normen von oben her ausbreiten, indem er den Gesetzesbefehl für verbindlich erklärt. Gegen diese Lehre hatte in der Jurisprudenz, wie schon angedeutet, erstmals Savigny opponiert, der, wie Hegel, an der von Wilhelm von Humboldt neu gegründeten Berliner Universität lehrte. Recht habe, so Savigny, immer schon existiert und bedürfe zu seiner Entstehung keines besonderen Willensaktes. Daher würde es auch für die Gesetzgebung „unmöglich auch nur einen einzigen Augenblick eine ‚tabula rasa‘“ geben.38 „Recht“ entstehe mit der menschlichen Gemeinschaft und existiere daher unabhängig von der Fiktion eines Unterwerfungs- oder Gesellschaftsvertrags. Die Folgen dieser Denkrichtung für die um 1900 geführten Diskussionen können gar nicht hoch genug veranschlagt werden. Denn die Anerkennung afrikanischen Rechts setzt voraus, was Hegel noch bestritten hatte, nämlich, dass die „Eingeborenen“ überhaupt schon normative Ordnungen besitzen. Nur unter dieser Prämisse darf angenommen werden, äußere Eingriffe laufen der „Natur eines jeden Rechtes“ zuwider. Von hier aus wäre es dann nur ein kleiner Schritt zu der Behauptung, juristischer Voluntarismus verletze die afrikanischen Völker in ihren Rechten.39 Dagegen neigten die Kolonialregierungen dazu, die „Schutzgebiete“ als terra nullius anzusehen, um sie in rechtlicher Hinsicht auf Basis einer tabula rasa gestalten zu können.40 Es lohnt sich daher, die BegrünAusdruck einer fundamentalen Opposition gegen jede Art des politischen (und juristischen) Voluntarismus, was im Folgenden nur kurz angedeutet werden kann (siehe nur das Zitat aus dem „Beruf“ oben IV). 38 So Eugen Huber, Recht und Rechtsverwirklichung. Probleme der Gesetzgebung und der Rechtsphilosophie (1921), Basel, 2. Auflage 1925, S. 232, im Anschluss an die Lehren der Historischen Rechtsschule. Zu den rechtsquellentheoretischen Hintergründen siehe Meder, Eugen Huber und die Historische Rechtsschule: Die Differenz von Gesetz und Gesamtrechtsordnung als Grundlage von Artikel 1 Abs. 2 ZGB (in Vorbereitung). Dass es einen Zusammenhang zwischen dem Streben nach „kluger“ Kolonialpolitik und Historischer Rechtsschule gibt, ist in der Wissenschaft bereits erkannt worden, vgl. Ulrike Schaper, Koloniale Verhandlungen. Gerichtsbarkeit, Verwaltung und Herrschaft in Kamerun 1884–1916, Frankfurt am Main 2012, S. 86–89. 39 Siehe nur die Formulierungen von Schreiber, Rechtsgebräuche der Eingeborenen der deutschen Schutzgebiete in Afrika (Fn. 27), S. 238. 40 Vgl. z. B. Winfried Speitkamp, Deutsche Kolonialgeschichte (Fn. 29), S. 60 (dessen Aussage „Juristen entdeckten die Kolonien quasi als Tabula rasa“ in dieser Allgemeinheit freilich nicht zutrifft). Die höflichen, wohl auch diplomatischen und strategischen Aussagen von Schreiber widersprechen dem nur scheinbar: Schreiber behauptet 1903, die Kolonialbeamten seien vom Grundsatz ausgegangen, „zerstörende Eingriffe in die Rechtsnormen“ von „Eingeborenen“ möglichst zu vermeiden: „Wenn das Auftreten dieser Beamten und anderer in den Kolonien mit den Eingeborenen in Verbindung gekommenen Reichsangehörigen diesem Grundsatze nicht immer entsprochen hat, so ist das zwar bedauerlich, aber oft mit der Unkenntnis dieser
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dungen und Argumente der kolonialen Jurisprudenz zur Wahrung einheimischer Rechte einer genaueren Betrachtung zu unterziehen.
5.
Kodifikation afrikanischen Rechts?
Es gab also durchaus ein Bewusstsein dafür, dass kolonialrechtliche Normen nicht in einem rechtsfreien Raum produziert werden, sondern mit vorhandenem Recht kollidieren: „Aber der Gesetzgeber, der neues Recht schafft, findet bereits altes Recht vor; er beschreibt kein unbeschriebenes Blatt“.41 Im Hintergrund steht wieder der Gedanke, organisch gewachsenes Recht sei Ausdruck gesellschaftlichen Lebens und dürfe durch den Gesetzgeber nicht willkürlich geändert werden. So konnten die Protagonisten des kolonialpolitischen Diskurses das afrikanische Recht als Struktur begreifen, die bewahrt werden müsse, weil sie „mit den sozialen, wirtschaftlichen, moralischen und religiösen Anschauungen der Eingeborenen eng verwachsen“ sei.42 Fast einhellig plädierten sie für den Erhalt afrikanischer Rechtsordnungen. Zum Kreis dieser Autoren gehört auch der in seiner Zeit führende Kolonialrechtler Otto Köbner, der sich noch vor den Aufständen auf dem Berliner Kolonialkongress von 1902 wie folgt äußerte: „Gegenüber der modernen Rechtskultur der Europäer kommt es darauf an, gerade die uralt eingewurzelten einfachen Rechtsanschauungen der Eingeborenen nach Möglichkeit wenig zu stören. Denn nichts erleichtert eine fruchtbare und friedliche Kolonisation mehr, als die Beibehaltung der altgewohnten Sitten und Rechtsanschauungen der Bevölkerung.“43 Personen von den Rechtsgebräuchen der Eingeborenen zu entschuldigen“, Rechtsgebräuche der Eingeborenen der deutschen Schutzgebiete in Afrika (Fn. 27), S. 238. Angesichts der von „diesen Personen“ und anderen „Reichsangehörigen“ kurz darauf verübten Gräueltaten dürfte sich jede weitere Kommentierung erübrigen. Als abschreckendes Beispiel sei hier nur auf die Ausführungen von W. von Hanneken hingewiesen, Gesetzgebung in unsern Kolonien, in: Koloniale Zeitschrift 5 (1904), S. 440. 41 Friedrich, Eingeborenenrecht und Eingeborenenpolitik (Fn. 19), S. 467. Ähnlich Carl Meinhof, Die Bedeutung des Studiums der Eingeborenensprachen für die Kolonialverwaltungen, in: Verhandlungen des Deutschen Kolonialkongresses, Berlin 1905, S. 343–364. Als Orientalist legt Meinhof den Akzent auf die Notwendigkeit eines Erlernens der „Eingeborenensprachen“: „Gewiss, wir haben auch mit einer Richtung unserer Kolonialpolitiker zu rechnen, die Sitte, Recht, Religion der Eingeborenen am liebsten ganz ignorieren möchten und einfach befehlen, wie das sollte gehalten werden. Die Erfahrung lehrt uns aber, wie schon gesagt, dass dergleichen Zwangsmassregeln mit Sicherheit zu Explosionen führen, die besser vermieden werden“ (a. a. O., S. 348). 42 Wick, Das Privatrecht der Farbigen in den deutschen Schutzgebieten (Fn. 2), S. 3. 43 Otto Köbner, Die Organisation der Rechtspflege in den Kolonien, in: Verhandlungen des Deutschen Kolonialkongresses, Berlin 1902, S. 331–376, 336. Ähnlich fordert Paul Bauer: Es muss auf eingewurzelte, gewohnheitsrechtliche Normen Rücksicht genommen und auf „schonendste Weise“ vorgegangen werden, Die Strafrechtspflege über die Eingeborenen der
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Ein Topos, worauf die koloniale Jurisprudenz in diesem Zusammenhang immer wieder zurückkam, war der Niedergang des weströmischen Imperiums und dessen Eroberung durch die Germanen im fünften Jahrhundert nach Chr. Wer als Eroberer und Kolonialherr auftrete, müsse sich in der Fremde den dort herrschenden Anschauungen anpassen. Diesen Grundsatz hätten auch die Germanen anerkannt, als sie „über die Alpen gingen und in Italien Kolonialpolitik trieben“. „Ich bin im Zweifel“, ob sie sich „nicht zweckmässiger verhielten und ob sie nicht darum auch beliebter bei den unterworfenen Romanen waren, als wir bei unseren Negern“.44 Die Germanen hätten allerdings ein hochentwickeltes Recht vorgefunden, das sie den Römern ließen, während sie selbst weiterhin nach ungeschriebenen Regeln lebten. So gesehen sei das Verhältnis der Rechtsordnungen im Vergleich zu heute gerade „umgekehrt“. Denn gegenwärtig stünden die „leges barbarorum“ der Einheimischen einem hochkomplexen und ausgefeilten geschriebenen Recht der Kolonialherren gegenüber. Dies ändere aber nichts daran, dass die Kolonisten das einheimische Recht respektieren müssen.45
6.
Wege zur Erkenntnis afrikanischen Rechts
Kluge Kolonialpolitik bedeutet zunächst also: Bewahrung afrikanischer Rechtsordnungen! Aber wie können Juristen das afrikanische Recht überhaupt kennenlernen? Den Schlüssel zur Lösung sollten Fragebögen bieten, worauf bereits der Mitbegründer der modernen Rechtsethnologie, Valtasar Bogisic, zurückgegriffen hat.46 Doch wer konnte befragt werden? Einheimische Rechtskundige deutschen Schutzgebiete (Fn. 16), S. 34. Wie sehr die Realität diesen Positionen widersprach, schildert Utermark, „Schwarzer Untertan versus schwarzer Bruder“ (Fn. 16), S. 85–99. 44 Weickhmann, Über die Frage der Schaffung eines selbständigen kolonialen Strafrechts (Fn. 26), S. 475. 45 Schreiber, Rechtsgebräuche der Eingeborenen der deutschen Schutzgebiete in Afrika (Fn. 27), S. 240f. 46 Dazu näher Meder, Valtazar Bogisic und die Historische Schule. Rechtssoziologische und rechtsethnologische Folgerungen aus Savignys Rechtsquellenlehre, in: Spomenica Valtazara Bogisica o stogodisnjici njegove smrti, Knjiga 1, Belgrad 2011, S. 517–537. Von hier aus führt eine Linie zu Albert Hermann Post und Josef Kohler, die ebenfalls Fragebögen entworfen und im Anschluss die Rechtsethnologie als Forschungsdisziplin in Deutschland begründet haben: Albert Hermann Post, Afrikanische Jurisprudenz. Ethnologisch-juristische Beiträge zur Kenntnis der einheimischen Rechte Afrikas, 2 Bde., Leipzig 1887 (das monumentale Werk ist in acht Teile gegliedert; behandelt u. a. Rechtsquellen, Verfassungs-, Personen-, Familien-, Erb-, Straf- und Prozessrecht sowie das im vorliegenden Zusammenhang besonders wichtige Vermögensrecht, siehe unten IV 8); Josef Kohler, Eine Untersuchung zum Recht der Herero, in: Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft, Bd. XIV (1900), S. 294–319. Der Fragebogen von Kohler (mit seinen 100 Fragen) ist abgedruckt in: Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft, Bd. XII (1897), S. 127–140 (speziell zur Rolle von Post vgl. Meyer, Das
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(„Wali“), Dorfälteste oder Stammeshäuptlinge? Kolonialbeamte, Missionare oder andere Reichsbürger, die in den Kolonien lebten? Oder sollten „besondere Beauftragte“ aus der Heimat entsandt werden, deren Aufgabe dann darin bestand, „an Ort und Stelle das Recht zu erkunden“?47 Die Zuverlässigkeit der Interpretationen dieser Auskunftspersonen wurde freilich schon frühzeitig angezweifelt. Hinzu kam der Verdacht einer Interessengebundenheit. Außerdem schien es kaum möglich, Fragen zur Erkundung einer Materie zu stellen, die noch völlig unbekannt war. Ferner wurde der Einwand erhoben, dass über die zumeist sehr knapp formulierten Fragen nur „Bruchstücke, systemlose Fragmente des Rechts“ in Erfahrung gebracht werden können: Es werde übersehen, „daß in einem guten Fragebogen der Befragte nicht als Automat behandelt werden darf, ihm vielmehr dadurch Anregung zu weiterer Forschung gegeben und er auf eine Höhe gestellt werden soll, von der aus er den Zusammenhang der einzelnen Rechtsphänomene zu erkennen vermag“.48 Ein solch anspruchsvoller Fragebogen hätte die Befragten wohl tatsächlich überfordert, zumal er ihnen einen Überblick über das Rechtsganze und letztlich eigene Forschung abverlangte. So wurde eine Aufzeichnung des Gewohnheitsrechts mit der Erwartung bevorzugt, das einheimische Recht nach dem Vorbild der noch jungen Gesetzgebungen – Zivilprozessordnung (ZPO), Strafgesetzbuch (StGB) oder Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) – zu kodifizieren.49 Andererseits wurde auch auf neue Arbeiten zur ethnologischen Jurisprudenz aufmerksam gemacht und davor gewarnt, sich unter solchen Kodifikationen ein „modernes europäisches Gesetzbuch“ vorzustellen: Es würde „anachronistisch“ anmuten, wenn wir darin „technisch römisch-rechtliche Begriffe, ja das ganze moderne Eingeborenenrecht und seine Kodifikation, Fn. 14). Eine erste ausführlichere Würdigung und Auswertung fanden die kolonialrechtlichen Fragebögen in der von Sebald Rudolf Steinmetz 1903 publizierten Monographie „Rechtsverhältnisse von eingeborenen Völkern in Afrika und Ozeanien“. Auf Basis dieser Vorarbeiten formulierte die Internationale Vereinigung für vergleichende Rechtswissenschaft 1906 dann eine ethnologische Fragensammlung, die in zwanzig Abschnitten die Rechtsverhältnisse in Völkern des außereuropäischen Kulturkreises zu erfassen suchte. Siehe Meyer, Die Erforschung und Kodifikation des Eingeborenenrechts (Fn. 18), S. 853–857; Schreiber, Rechtsgebräuche der Eingeborenen der deutschen Schutzgebiete in Afrika (Fn. 27), S. 241–243 (sowie unten bei Note 51). 47 Meyer, Die Erforschung und Kodifikation des Eingeborenenrechts (Fn. 18), S. 857; ders., Wirtschaft und Recht der Herero (Fn. 16), S. 10 (zu den besonderen Leistungen der Missionare). 48 Meyer, Die Erforschung und Kodifikation des Eingeborenenrechts (Fn. 18), S. 855. 49 Schreiber, Rechtsgebräuche der Eingeborenen der deutschen Schutzgebiete in Afrika (Fn. 27), S. 241. Dabei ist vorausgesetzt, eine solche ‚Kodifikation‘ „von innen nach aussen zu entwickeln“, sie „auf afrikanischem Boden heranreifen zu lassen“, statt sie „von aussen nach innen, sozusagen per Postpaket nach Afrika zu schicken“. Die Erkenntnis der einheimischen Normen darf also nicht durch fremde, d. h. durch von Europa aus herangetragene Vorstellungen getrübt werden, Weickhmann, Über die Frage der Schaffung eines selbständigen kolonialen Strafrechts (Fn. 26), S. 486.
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Rechtssystem“ wiederfinden würden.50 Von hier aus war es dann nur ein kleiner Schritt zur Forderung, die „Rechte der Naturvölker“ im universitären Unterricht zu behandeln, um dort anzusetzen, „wo uns die bisherige Rechtsgeschichte im Stiche lässt“: „Kein Geringerer als der berühmte Heidelberger Pandektist und Vorkämpfer eines einheitlichen deutschen Rechts, Thibaut, [hatte] schon im Anfang des vorigen Jahrhunderts ausgesprochen, dass 10 geistvolle Vorlesungen aus den Rechten der Perser, Inder, Chinesen, den juristischen Sinn unserer Jugend mehr zu erwecken vermöchten, als hundert über die jämmerlichen Pfuschereien, denen das römische Intestaterbrecht von Augustus bis Justinian unterlegen wären“.51
Die Kodifikationspläne stießen am Ende auf ähnliche Hindernisse wie die Fragebögen: Sind die Gewährsleute, die über das einheimische Recht Auskunft geben, wirklich zuverlässig? Welchen Kriterien folgt eigentlich ihre Auswahl? Ist das in den Sammlungen dokumentierte Recht überhaupt noch traditionales Recht? Oder erzeugt die neue Form auch Rückwirkungen auf den Inhalt, weil „kulturwidrige Institute“ durch Juristen ausgeblendet werden, die „römisch-rechtliche Schulvorstellungen in die Rechtssysteme der Eingeborenen hineintragen“?52 All diese Fragen mussten offen bleiben, weil der Erste Weltkrieg der kolonialen Jurisprudenz ein unerwartetes Ende bereitete.
50 Meyer, Die Erforschung und Kodifikation des Eingeborenenrechts (Fn. 18), S. 865 (mit Hinweisen auf abschreckende Beispiele älterer französischer Arbeiten). Probleme bereitete auch die Vielzahl der in den Kolonien lebenden Völker: So weist Schreiber darauf hin, „daß hier über 100 verschiedene Sprachen gesprochen werden, die, nach Angabe eines der ersten Kenner der afrikanischen Sprachen, zum Teil so stark von einander abweichen, wie das Deutsche vom Türkischen, und daß parallel mit der Sprachverschiedenheit auch die Verschiedenheit des Rechtes läuft“, Zur Kodifikation des Eingeborenen-Rechts (Fn. 28), S. 483. 51 Meyer, Die Bedeutung des Eingeborenenrechts, in: Verhandlungen des Deutschen Kolonialkongresses, Berlin 1902, S. 377–389, 378 (angesiedelt werden sollte die neue Disziplin folgerichtig nicht in der Rechtsgeschichte, sondern in der Rechtsvergleichung, a. a. O., S. 378). Die Verdienste der Internationalen Vereinigung für vergleichende Rechtswissenschaft und Volkswirtschaftslehre um eine rechtsethnologisch fundierte Erforschung des Einheimischenrechts würdigt Meyer in dem Beitrag, Das Eingeborenenrecht und seine Kodifikation (Fn. 14). Die 1884 in Berlin ins Leben gerufene Vereinigung stellte ihre Tätigkeit nach 1933 ein und wurde als Gesellschaft für Rechtsvergleichung 1950 mit Sitz in Freiburg im Breisgau neu gegründet (dazu auch oben bei Note 46). 52 Meyer, Die Erforschung und Kodifikation des Eingeborenenrechts (Fn. 18), S. 856 (mit der Vermutung, nicht Juristen, sondern Missionare seien die besten „Ethnographen“).
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Kollisionen verschiedener Rechtsordnungen in den „Schutzgebieten“
Welches Recht soll in den Kolonien nun zur Anwendung kommen? Afrikanisches Recht? Deutsches Recht? Oder eine Mischung verschiedener Rechtsordnungen? Für Rechtsstreitigkeiten unter Weißen war diese Frage leicht zu beantworten: Sie hatten die vollen Rechte, die aus der deutschen Staatsbürgerschaft hervorgingen.53 Auf Einheimische, die, soweit nicht ausnahmsweise eine Einbürgerung stattgefunden hat, keine Staatsbürger waren, durften die deutschen Gesetze nur unter besonderen Voraussetzungen angewendet werden. In Zivilstreitigkeiten waren sie meist „Eingeborenengerichten“ unterworfen, die auch einheimisches Recht zur Anwendung brachten.54 Die Rechtspflege wurde für Weiße und Einheimische also mehr oder weniger getrennt gehandhabt. Mit diesem Befund ist aber noch keine Antwort auf die Frage nach dem Recht gegeben, das bei Streitigkeiten zwischen Angehörigen verschiedener Rechtsordnungen zur Anwendung kommen soll.55 Angesichts des „gesteigerten Verkehrs zwischen Deutschen und Eingeborenen“ sind solche „gemischten Angelegenheiten“ in der kolonialrechtlichen Literatur wiederholt erörtert worden. Dabei wurde vorgeschlagen, in Anlehnung an das frühmittelalterliche Recht Rechtsgeschäfte „nach dem Rechte des Handelnden, Veräußerungen nach dem des Veräußerers, Ersitzung von Grundstücken […] nach dem Recht des bisherigen Herrn, Erbrecht nach dem Recht des Erblassers, Bußen nach dem Recht des Verletzten, Wergeld nach dem des Getöteten“ zu regeln.56
Zu diesem Ergebnis wäre wohl auch schon Savigny, und zwar auf Basis der von ihm begründeten und international noch heute herrschenden multilateralen 53 Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte (Fn. 29), S. 634. Angesichts der besonderen Verhältnisse in den Kolonialgebieten war auch von einer lediglich „analogen Anwendung des im Mutterlande geltenden Rechts“ die Rede, vgl. die Nachweise bei Bauer, Die Strafrechtspflege über die Eingeborenen der deutschen Schutzgebiete (Fn. 16), S. 34. 54 Vgl. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte (Fn. 29), S. 633f. (wobei auch die „Eingeborenengerichte“ unter der Kontrolle der „Schutzverwaltung“ standen). Deutlicher Meyer, Das Eingeborenenrecht und seine Kodifikation (Fn. 14): „Der Rechtsprechung über die Eingeborenen kann […] nur ihr eigenes Recht zu Grunde gelegt werden“; ders., Die Bedeutung des Eingeborenenrechts (Fn. 51), S. 386f. (es gelte der Grundsatz, „dass die Eingeborenen nach ihrem eigenen Recht behandelt werden“). Zu den Vorteilen eines „Eingeborenenrichters“ siehe Wick, Das Privatrecht der Farbigen in den deutschen Schutzgebieten (Fn. 2), S. 2f. 55 In der jüngeren Literatur finden sich kaum Ausführungen zum Thema. So bleibt es bei Huber (Fn. 29) völlig ausgeklammert, während sich Fischer auf Fragen der Gerichtsbarkeit beschränkt, Die koloniale Rechtsordnung (Fn. 29), S. 82–84. Wenig hilfreich ist zudem der Überblick über die „normative Regelung dieser Angelegenheit“ bei Lederer, Die rechtliche Stellung der Muslime innerhalb des Kolonialrechtssystems (Fn. 29), S. 111–115. Ähnliches gilt für die Ausführungen bei Utermark, „Schwarzer Untertan versus schwarzer Bruder“ (Fn. 16), S. 290–292. 56 Schreiber, Zur Kodifikation des Eingeborenen-Rechts (Fn. 28), S. 486, 484.
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Methode gekommen: Bei Konflikten verschiedener Rechtsordnungen bildet, unter den Prämissen „vollständiger Rechtsgleichheit zwischen Einheimischen und Fremden“, der konkrete Lebenssachverhalt, in dem das Rechtsverhältnis seinen Sitz hat, den kollisionsrechtlichen Ausgangspunkt.57 ‚Sitz‘ ist dabei nicht im wörtlichen Sinne, sondern als Metapher zu verstehen, die den Ort oder Punkt anzeigen soll, an dem das rechtliche Geschehen seinen Ausgang nimmt. Demgemäß erklärt das moderne europäische Kollisionsrecht bei Veräußerungen nach wie vor das Recht des Veräußerers für maßgeblich.58 Das Primat des Einheimischenrechts unterliegt aus kolonialrechtlicher Perspektive aber einigen Einschränkungen. So soll es eher im Zivilrecht als im Strafrecht zur Geltung kommen, weil hier Angriffe gegen allgemein anerkannte Rechtsgüter wie Leib, Leben und Eigentum abzuwehren seien.59 Besondere Probleme wirft die rechtliche Bewertung von Kulthandlungen auf, soweit sie, wie Giftproben und ähnliche Ordale, Menschenopfer oder Zauberei ebenfalls das Leben und die Gesundheit von Menschen gefährden können.60 Hier habe die Kolonialherrschaft Rücksicht walten zu lassen, weil sie ein „sehr wesentliches wirtschaftliches Moment im Auge“ behalten müsse: „wenn unsere Strafbestimmungen allzusehr von den in benachbarten Schutzgebieten geltenden abweichen, so wird nicht nur der Zuzug von Arbeitern von dort erschwert, sondern es kann geradezu ein Abzug von eingeborenen Arbeitskräften aus dem Schutzgebiete stattfinden“.61
Gerade im Ehe- und Familienrecht habe die Kolonialherrschaft viele Abstriche zu machen, und zwar auch dann, wenn das Verhalten der Einheimischen von der christlichen Moral und den im Mutterland herrschenden sittlichen Vorstellungen erheblich abweiche.62 Die Anwendung von Einheimischenrecht sollte dar57 Savigny, System VIII (Fn. 15), S. 25, 28, 108. 58 Vgl. nur Art. 4 Abs. 1 (a) der Rom I-Verordnung in der Fassung vom 17. Juni 2008: „Kaufverträge über bewegliche Sachen unterliegen dem Recht des Staates, in dem der Verkäufer seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat“. 59 Bauer, Die Strafrechtspflege über die Eingeborenen der deutschen Schutzgebiete (Fn. 16), S. 35. 60 Beispiele bei Bauer, Die Strafrechtspflege über die Eingeborenen der deutschen Schutzgebiete (Fn. 16), S. 80–86, 84; dazu auch: Meyer, Die Bedeutung des Eingeborenenrechts (Fn. 51), S. 380 (Kindstötung, Blutrache oder Richterkauf); Schreiber, in: Meyer, Die Bedeutung des Eingeborenenrechts (Fn. 51), S. 388 (Begraben überlebender Frauen mit dem gestorbenen Häuptling; Abschlachten von Sklaven; Hinrichtung als Strafe von Ehebruch; Bezichtigung der Hexerei, um Nebenbuhler auszuschalten); Schreiber, Zur Kodifikation des EingeborenenRechts (Fn. 28), S. 485 (Elternmord, Aussetzen von Kranken). 61 Bauer, Die Strafrechtspflege über die Eingeborenen der deutschen Schutzgebiete (Fn. 16), S. 84. Zu den Bemühungen um eine Lösung der sogenannten „Arbeiterfrage“ siehe Utermark, „Schwarzer Untertan versus schwarzer Bruder“ (Fn. 16), 60–62 passim. 62 Denn in diesem Gebiet, und das ist ein weiterer Gesichtspunkt, werde (neben dem Sachenrecht) die „Mißachtung“ ihres Rechts von den Einheimischen „am bittersten empfunden und
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über hinaus dort eine Einschränkung erfahren, wo Übervorteilungen zu befürchten waren. „Als die wirtschaftlich Schwächeren“ seien die „Eingeborenen“ vor einer „Ausbeutung durch Weiße zu schützen“.63 Dementsprechend wurden eine ganze Reihe von Schutzmaßnahmen in Betracht gezogen, worauf noch zurückzukommen ist. Dazu gehören auch die Versuche, dem Interesse der Weißen an einer Anwendung des BGB einen Riegel vorzuschieben.64 Mit Blick auf das Provenienzrecht verdienen diese Zusammenhänge besondere Beachtung. Denn hier geht es, wie schon angedeutet, um die Entscheidung, ob ein in Kolonialgebieten erworbenes Kulturgut im Empfängerland verbleiben darf oder zurückgegeben werden muss. Und da sich Rechtsunterworfene darauf verlassen können müssen, dass ihr Verhalten an Maßstäben gemessen wird, die schon im Zeitpunkt ihres Handels bekannt waren, rücken mit der Frage, nach welchem Recht das Veräußerungsgeschehen ursprünglich zu beurteilen war, das einheimische Recht und seine Modifikationen in den Mittelpunkt des Interesses.
8.
Das Mobiliarsachenrecht als eines der Hauptgebiete im Rechtsverkehr zwischen Einheimischen und Kolonisten
In der zeitgenössischen kolonialrechtlichen Literatur finden sich häufig Hinweise zum einheimischen Recht, seinen Funktionen und Eigenarten im Vergleich mit den europäischen Rechtsordnungen. Dabei wird, wie schon angedeutet, auch die Frage nach den „gemischten Rechtsverhältnissen“, also jener Fälle aufgeworfen, „in denen Weiße und Farbige konkurrieren“: Hier komme es darauf an, „die durch eine große Kluft geschiedenen Kulturen zu versöhnen und eine Brücke von der einen nach der anderen hinüberzuschlagen“.65 In den afrikanischen Rechtsordnungen bilde, wie in allen segmentären Gesellschaften, das Familienrecht den eigentlichen Angelpunkt. Um die Differenzen mit modernen Rechtsordnungen zu erklären, wird gerne an die „zweifellose Universalität in der Entwicklung aller Völker“ erinnert und eine Parallele mit dem altrömischen und germanischen Recht gezogen.66 Beispiele wären: Manusehe, Brautkauf, schwache Rechtsstellung der Frauen, Viehgeld, Erfolgshaftung, Talion, mangelnde Unterscheidung von Schuld und Zufall, Gottesurteil, Wergeld, Selbstverpfändung bei Kreditgeschäften etc. Hinzu komme der – für orale
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zu Mißstimmung unter ihnen Anlaß geben“, Schreiber, Zur Kodifikation des EingeborenenRechts (Fn. 28), S. 483. Wick, Das Privatrecht der Farbigen in den deutschen Schutzgebieten (Fn. 2), S. 4. Wick, Das Privatrecht der Farbigen in den deutschen Schutzgebieten (Fn. 2), S. 21f. Meyer, Die Erforschung und Kodifikation des Eingeborenenrechts (Fn. 18), S. 868. Meyer, Die Bedeutung des Eingeborenenrechts (Fn. 51), S. 378; ders., Wirtschaft und Recht der Herero (Fn. 16), S. 3, 12, 80 („jugendliche Völker“).
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Rechtskulturen typische – hohe Stellenwert von Förmlichkeiten und Solennitäten.67 Angesichts der fundamentalen Unterschiede zwischen einheimischem und europäischem Recht müssten insbesondere für „gemischte Ehen“ und die „Rechte der aus solchen hervorgegangenen Kinder“ spezielle Regeln geschaffen werden. Neben dem Familienrecht und seinen Verbindungen mit dem Erbrecht sei das Sachenrecht das zweite Hauptgebiet, welches im Rechtsverkehr zwischen Einheimischen und Weißen Bedeutung erlange.68 Hier müsse zunächst geklärt werden, was die „Eingeborenen unter beweglichen Sachen verstehen“ würden.69 Dabei wäre auch die Frage aufzuwerfen, ob „Gegenstände infolge besonderer Bestimmungen wie etwa Kultusvorschriften als unveräußerlich gelten“ müssten.70 Aufmerksamkeit verdiene zudem ein Gebiet, das wir heute als Kreditsicherungsrecht zu bezeichnen pflegen. Kredit oder Schulden würden sich in Afrika nämlich oftmals „zu der Befugnis des Gläubigers“ steigern, „dem Schulder sein gesamtes Gut fortzunehmen“.71 Die „Kreditfrage“ bedürfe für den Fall, dass Einheimische mit Weißen in Rechtsbeziehung treten, daher einer besonders sorgfältigen Prüfung. In Südwestafrika hätten „die Auswüchse des unbeschränkten auf den Leichtsinn der Eingeborenen fußenden Kreditgebens“ schon zu „schweren Nachteilen“ geführt.72 Es müsse sogar ein generelles Verbot erwogen werden, „Waren an die Eingeborenen auf Kredit abzulassen“.73 Auf jeden Fall müssten „die Geschäfte mit Eingeborenen so viel wie möglich gegen bar geschlossen 67 Schreiber, Rechtsgebräuche der Eingeborenen der deutschen Schutzgebiete in Afrika (Fn. 27), S. 242–255. Siehe bereits oben III und IV 7 sowie den Beitrag eines unbekannten Verfassers (wahrscheinlich des Herausgebers R. Meinecke), Eingeborenen-Strafrecht, in: Koloniale Zeitschrift 6 (1905), S. 136–138. 68 Schreiber, Zur Kodifikation des Eingeborenen-Rechts (Fn. 28), S. 483; Meyer, Die Erforschung und Kodifikation des Eingeborenenrechts (Fn. 18), S. 867; ders., Wirtschaft und Recht der Herero (Fn. 16), S. 66–80; Kohler, Rechte der deutschen Schutzgebiete: Das Recht der Papuas, in: Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft, Bd. XIV (1900), S. 321–394, 367–379. Siehe auch Post, Afrikanische Jurisprudenz 2 (Fn. 46), S. 160–188 (wo schwerpunktmäßig Immobiliar- und Mobiliarsachenrecht erörtert werden). 69 Meyer, Die Erforschung und Kodifikation des Eingeborenenrechts (Fn. 18), S. 867. Auch Kauf oder Tausch finden Erwähnung – und die Besonderheiten einer Schenkung, die nach einheimischen Rechtsvorstellungen oftmals auf Reziprozität bzw. dem Erfordernis einer Gegenschenkung beruhe (a. a. O.). Zu den Besonderheiten der Schenkung eingehender ders., Wirtschaft und Recht der Herero (Fn. 16), S. 76–78; Post, Afrikanische Jurisprudenz 2 (Fn. 46), S. 186. 70 Meyer, Die Erforschung und Kodifikation des Eingeborenenrechts (Fn. 18), S. 867; dazu näher ders., Das Eingeborenenrecht und seine Kodifikation (Fn. 14); ders., Wirtschaft und Recht der Herero (Fn. 16), S. 74f. 71 Meyer, Die Erforschung und Kodifikation des Eingeborenenrechts (Fn. 18), S. 867; Post, Afrikanische Jurisprudenz 2 (Fn. 46), S. 185f., 187. 72 Meyer, Die Erforschung und Kodifikation des Eingeborenenrechts (Fn. 18), S. 868. 73 Meyer, Die Erforschung und Kodifikation des Eingeborenenrechts (Fn. 18), S. 868.
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werden“. Darüber hinaus sollten allgemeine Vorschriften erlassen werden, „welche die Eingeborenen vor Bewucherung und Ausbeutung schützen und gewisse Geschäfte als unsittlich kennzeichnen“.74
VI.
Bilanz und Ausblick
Während die zentralistische Staatsphilosophie annimmt, die Kolonien seien ein rechtsfreier Raum und könnten schlicht deutschem Recht unterstellt werden, kommt es nach dem pluralistischen Ansatz zu einem Zusammenspiel verschiedener Rechtsquellen. Drei Hauptquellen wären zu unterscheiden: Einheimisches Recht, modifiziertes einheimisches Recht und fremdes Recht. Wie Einheimische vor einer Übervorteilung und Ausbeutung zu schützen seien, wurde vornehmlich in den Gebieten des Sachenrechts und des Kreditsicherungsrechts erörtert. Die diesbezüglichen Überlegungen sind für die Beurteilung provenienzrechtlicher Sachverhalte deshalb von so großer Wichtigkeit, weil sie dem zeitgenössischen Rechtsdenken entsprungen sind. Aber was heißt „Recht“? Es wurde gesagt, dass rechtliches Verhalten nur an den Maßstäben gemessen werden kann, die im Zeitpunkt des Geschehens schon bekannt waren. Hat es in der Kolonialzeit einen Schutz der Schwächeren – einen Schutz der „Eingeborenen“ vor Übervorteilung und Ausbeutung schon gegeben? Wurde die Veräußerung von Kultgegenständen bereits unterbunden? Und ist den „schweren“, auf ein ausuferndes „Kreditgeben“ zurückzuführenden „Nachteilen“ bereits zur Zeit der kolonialrechtlichen Debatten abgeholfen worden? Oder handelt es sich nur um Vorschläge, welche die Wissenschaft zur Ausgestaltung eines künftigen kolonialen Sachen- und Kreditsicherungsrechts unterbreitetet hat? Können solche Vorschläge überhaupt als „Recht“ qualifiziert werden? Unter den Prämissen einer zentralistischen Staatsphilosophie wäre die Frage eindeutig zu verneinen – schon, weil es an einer demokratischen Legitimation, also der Zustimmung der Wähler und des Parlaments mangelt.75 Danach 74 Meyer, Die Erforschung und Kodifikation des Eingeborenenrechts (Fn. 18), S. 868. Den wohl ausführlichsten Überblick über die erwogenen Maßnahmen bietet Wick, Das Privatrecht der Farbigen in den deutschen Schutzgebieten (Fn. 2), S. 16–23 (Vorschläge zur Untersagung eines jeden Vermögensverkehrs oder das Erfordernis einer Genehmigung seien verworfen worden; ernsthaft in Betracht gezogen worden seien aber die Beschränkung auf Zug-um-ZugGeschäfte, der generelle Ausschluss von Vorleistungsrisiken, das Verbot von Bürgschaften etc.). Letztlich sei es aber unmöglich, „alle die unzähligen kleinen und kleinsten Tausch- und Kaufgeschäfte zu kontrollieren“, die sich täglich „zwischen Farbigen und Weißen abwickeln“ (a. a. O., S. 16). 75 Siehe die Ausführungen zur Differenz von Recht und Nicht-Recht in meiner Monographie: Doppelte Körper im Recht (Fn. 7), S. 262–270.
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könnten im Grundsatz nur Gesetze und bestenfalls einige Arten des Gewohnheitsrechts als „Recht“ qualifiziert werden. Die Rechtswirklichkeit kennt aber noch eine Vielzahl von Erscheinungen, die mit diesem Konzept nicht oder nur unzureichend zu erfassen sind. Beispiele wären Phänomene, die bereits im 19. Jahrhundert unter Stichworten wie richterliche Rechtsfortbildung, Juristenrecht, Dogmatik, herrschende Meinung oder wissenschaftliches Recht erörtert wurden. Von ihren fundamentalen Unterschieden einmal abgesehen, haben das zentralistische und das plurale Rechtsmodell freilich auch eine wichtige Gemeinsamkeit: Beide sind auf Konsens, auf Zustimmung angewiesen. Im ersten Fall handelt es sich um die Zustimmung der Wähler und des Parlaments, im zweiten um die der Juristen, der Wissenschaft oder – etwa bei einer „privaten“ Rechtsetzung in Form von Corporate Governance – um die der Betroffenen, Adressaten im Sinne von „Kreisen“. Nach der für das zentralistische Modell charakteristischen „Alles-oder-nichtsDifferenz“ müssen alle Normen, selbst, wenn sie befolgt werden, aus dem Rechtsbegriff ausgeschieden werden, soweit sie mit dem Prinzip der Gewaltenteilung nicht in Einklang stehen. Da aber weder eine rigide Trennung der Gewalten noch die sogenannte „Volkssouveränität“ die Rechtswirklichkeit adäquat zu beschreiben vermag, empfiehlt es sich, die Rechtsentstehung anhand einer Skala zu veranschaulichen. Der Begriff des Rechts wäre dann an der Art des Konsenses zu messen, der ihm zugrunde liegt. Die Skala reicht von ersten Entwürfen, Vorschlägen oder Zwischenergebnissen über vorläufige Zustimmung und Beinahe-Einstimmigkeit im kleinen Kreis bis zur Empfehlung einer allgemeinen Übernahme von Ergebnissen, Gewohnheitsrecht, staatlichem Gesetz und weltweiter Akzeptanz. Auf dieser Rang- oder Größenordnung haben die vorstehend skizzierten kolonialrechtlichen Postulate der Wissenschaft bereits Werte erreicht, die eine Qualifizierung als „Recht“ rechtfertigen können. Die wichtigsten Merkmale des zeitgenössischen Konsenses seien daher noch einmal zusammengefasst: In der kolonialrechtlichen Literatur besteht weitgehende Einigkeit darüber, dass den Einheimischen europäisches Recht nicht einfach aufgezwungen werden darf, sondern den normativen Ordnungen der „Eingeborenen“ ein Primat zukommen muss. Dies gelte, vom Ehe- und Familienrecht einmal abgesehen, vor allem im Sachenrecht. Bis heute wird anerkannt, dass für die rechtliche Beurteilung einer Veräußerung das Recht des Veräußernden maßgeblich ist. Die Nachfolger der Kolonisten können sich also nicht einfach darauf berufen, dass ein „herrliches Völkerrecht“ jede Aneignung oder Wegnahme der Zeitgenossen zu legitimieren vermochte. Hinzu kommen die Überlegungen zum Schutz vor Ausbeutung. Auch hier besteht in der kolonialrechtlichen Literatur weitgehender Konsens. Außerdem darf angenommen werden, dass derartige Vorschläge dem hypothetischen (oder tatsächlichen) Willen der Einheimischen entsprechen
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würden (oder entsprochen haben). Schließlich fanden die Forderungen der kolonialen Jurisprudenz nach den Aufständen von 1904 und 1905/06 sogar bei der Reichsregierung Gehör: „Ein vollgiltiger Beweis hierfür ist die Annahme der Resolution Ablaß im deutschen Reichstage, sowie die infolge dessen seitens des Kolonialamtes bewirkte Einsetzung einer Kommission für die Erforschung dieser Rechtsmaterie“.76
Gewiss haben die Juristen um 1900 wesentliche Beiträge zur Legitimation des Kolonialismus und des Völkermords geleistet. Es lassen sich aber auch Strukturen innerhalb ihrer Diskurse erkennen, die mit Blick auf die zunehmende Bedeutung postkolonialen Bewusstseins für die heutige Erfahrung eine Rolle spielen. Weil eine strikte Trennung zwischen dem Objekt historischer Forschung und dem Standort heutiger Forschung nicht möglich ist und weil die Wahl dieses Standorts nicht durch die Vergangenheit diktiert werden kann, erscheint es zulässig, über das zeitgenössische Völkerrecht hinaus an die – aus heutiger Sicht – zukunftsweisenden und rechtsethnologisch informierten Vorschläge der kolonialen Jurisprudenz über das Sachen- und Kreditsicherungsrecht anzuknüpfen. Angesichts der mangelhaften Kenntnisse über das wirkliche Recht der afrikanischen Völker um 1900 und die Unklarheiten in Bezug auf die tatsächliche Ausgestaltung der kolonialen Rechtspflege in der kurzen Zeit ihres Bestehens dürfen diese Vorschläge ein Maß an Rechtsqualität in Anspruch nehmen, woran die Beurteilung eines konkreten Erwerbsgeschehens heute anknüpfen kann. Die Beurteilung eines solchen Geschehens könnte sich danach an folgenden Kriterien orientieren: Die freiwillige Veräußerung im Rahmen eines Kaufes oder Tausches bietet ein Indiz dafür, dass das Empfängerland den Gegenstand behalten darf. Diese Vermutung kann aber widerlegt werden, etwa durch den Hinweis, dass es sich um ein unveräußerliches Kultobjekt handelte. Ähnliches 76 Meyer, Die Erforschung und Kodifikation des Eingeborenenrechts (Fn. 18), S. 847. Dass die Bestrebungen der rechtsethnologisch orientierten Jurisprudenz nicht unwidersprochen geblieben und auf zum Teil erheblichen Widerstand gestoßen sind, zeigt der Beitrag eines unbekannten Verfassers (wahrscheinlich des Herausgebers A. Herfurth), Das Studium des Eingebornenrechts, in: Koloniale Zeitschrift 8 (1907), S. 303–306, wo die „Wertlosigkeit“ aller Versuche zur Erforschung des afrikanischen Rechts hervorgehoben wird. Dem Autor widerstrebt es, „für rein wissenschaftliche und Amateurliebhabereien auf lange Jahre hin Geldsummen unfruchtbar anzulegen“ (S. 304). Es genüge eine „Sammlung von Rechtsgrundsätzen“, wofür die „Kenntnis der Bezirksamtssekretäre vollkommen“ ausreiche: „Dazu bedarf es keiner gelehrten Kenner des römischen Rechts, sondern allein des gesunden Menschenverstandes und einer eingehenden Beschäftigung mit dem Charakter der Eingebornen, wie ihn Juristen in Europa nie erlangen können“ (S. 305). Im Übrigen befinde sich das Eingebornenrecht „dauernd im Fluß“ und müsse ständig neu bearbeitet werden, „was natürlich allen zünftigen Juristen das Wasser im Munde zusammenlaufen läßt. Da gibt es schöne behagliche Stellungen auf Kosten der Kolonien […]“. Siehe auch die Erwiderungen in der Kolonialen Zeitschrift, a. a. O., S. 340f. und S. 383f.
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dürfte für eine Schenkung gelten, wobei hier zu prüfen wäre, ob und inwieweit die Erwartung einer Gegenschenkung enttäuscht wurde.77 Die Entscheidung über ein durch Kreditgeschäfte bestimmtes Erwerbsgeschehen wird von Fall zu Fall zu treffen sein. Eine wesentliche Rolle dürfte hier spielen, wofür und unter welchen Umständen der Kredit in Anspruch genommen wurde. Im Übrigen wird anzunehmen sein, dass gerade bei Kreditgeschäften angesichts der in der kolonialrechtlichen Literatur skizzierten kulturellen Differenzen ein strukturelles Machtungleichgewicht zwischen Kreditnehmer und Kreditgeber vorliegt. Weniger Probleme dürften dagegen Objekte bereiten, die gestohlen, geplündert oder geraubt wurden. Hier wird Ansprüchen auf Restitution oder zumindest auf Entschädigung entsprochen werden müssen.
77 Vgl. Meder, „Etwas aus Nichts“? Reziprozität als Forschungsheuristik in der Rechtsgeschichte und im geltenden Recht, in: Manfred Rehbinder (Hg.), Vom homo oeconomicus zum homo reciprocans? Auf der Suche nach einem neuen Menschenbild als Erklärungsmuster für Recht, Wirtschaft und Kultur, Bern 2012, S. 117–143.
Christoph-Eric Mecke
Kulturgüter kolonialer Provenienz in Deutschland: Rechte auf Restitution?1
I.
Das Problem
Nur eine Folge von vielen, aber eine auch heute noch für alle sichtbare Langzeitfolge des historischen Unrechts jahrzehntelanger kolonialer Unterwerfung und Ausbeutung der Kolonialgebiete in Afrika und im pazifischen Südseeraum sind von dort stammende Kulturgüter in europäischen Museen und Sammlungen, darunter auch in Deutschland. Das Deutsche Reich besaß bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs „das an Fläche drittgrößte Kolonialreich nach dem britischen und französischen“ mit vier afrikanischen Kolonien in Afrika („Deutsch-Südwestafrika“, „Deutsch-Ostafrika“, Togo, Kamerun) sowie weiteren Kolonien in Nordostchina und in der Südsee.2 Die Geschichte der Diskussionen um eine Rückgabe der Kulturgüter beginnt schon kurz nach dem Ende der deutschen Kolonialzeit im Jahre 1919.3 Ein Bewusstsein für das auch danach andauernde koloniale Unrecht, das sich in unfreiwillig verlorenem und nicht zurückgegebenem Kulturgut manifestiert, gab es damals in Deutschland aber nicht einmal im Ansatz.4 Dass es bei den andauernden Folgen des kolonialen Unrechts nicht nur um juristische Eigentumsfragen geht, hat auch noch ein halbes Jahrhundert später keinesfalls ein offizieller Vertreter der Nachkommen der einstigen Kolonialherren in Europa, sondern der aus dem Senegal gebürtige Generaldirektor der UNESCO Amadou-Mahtar M’Bow im Jahre 1978 öffentlich artikuliert: 1 Eine leicht gekürzte englischsprachige Fassung dieses Beitrags erscheint in Claudia Andratschke / Lars Müller / Katja Lembke (Hrsg.), Provenance Research on Collections from Colonial Contexts. Principles, Approaches, Challenges, 2022 (Veröffentlichungen des Netzwerks Provenienzforschung in Niedersachsen Bd. 2). 2 https://www.bundesregierung.de/breg-de/bundesregierung/bundeskanzleramt/staatsministe rin-fuer-kultur-und-medien/sammlungsgut-aus-kolonialen-kontexten-1851438, zuletzt abgerufen am 18. Mai 2022. 3 Sheila Heidt, Koloniales Unrecht, Rückgabeforderungen, in: Thomas Sandkühler, Angelika Epple, Jürgen Zimmerer (Hrsg.), Geschichtskultur durch Restitution? Ein Kunst-Historikerstreit, Köln 2021, S. 321–345 (334ff.). 4 S.Heidt, Koloniales Unrecht (2021), S. 334.
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„The peoples who were victims of this plunder, sometimes for hundreds of years, have not only been despoiled of irreplaceable masterpieces but also robbed of a memory which would doubtless have helped them to greater self-knowledge and would certainly have enabled others to understand them better.“5
In Sinne des Appells von M’Bow aus dem Jahre 1978 verfassten vierzig Jahre später im Jahre 2018 der senegalische Sozial- und Wirtschaftswissenschaftler Felwine Sarr und Bénédicte Savoy, französische Kunsthistorikerin und bis zu ihrem Austritt im Jahre 2017 auch Mitglied des Expertenbeirats des Humboldt Forums in Berlin, ihren inzwischen international diskutierten „Rapport sur la restitution du patrimoine culturel africain. Vers une nouvelle éthique relationnelle“6 oder – wie es in der deutschen Übersetzung des Titels knapp und unmissverständlich über die Stoßrichtung des Gutachtens heißt – „Zurückgeben. Über die Restitution afrikanischer Kulturgüter“7. Offiziell in Auftrag gegeben vom französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron als Gutachten zur Frage nach dem künftigen Verbleib der auf dem Gebiet der französischen Republik und insbesondere in Pariser Museen aufbewahrten Kulturgegenstände kolonialer Provenienz haben der „Rapport“ von Sarr und Savoy sowie auch dessen Verfasser selbst in kürzester Zeit eine internationale Beachtung gefunden, die ihresgleichen sucht. So wurden Sarr und Savoy 2020 vom renommierten internationalen Londoner Kunstmagazin ArtReview im jährlichen Ranking der hundert einflussreichsten Persönlichkeiten in der Kunstwelt auf Platz 3 gewählt8 und vom Time Magazin zu den hundert einflussreichsten Persönlichkeiten des Jahres 2021 gezählt.9 Vor allem aber war es der „Rapport“ selbst, der bei den Nachkommen der Kolonialherren Westeuropas, darunter auch Deutschlands, wie eine Initialzündung gewirkt hat für Diskussionen zur Rückgabe von Kulturgütern kolonialer Provenienz aus europäischen Museen und Sammlungen. Hinzu kommen befeuert durch entsprechende regierungsamtliche, aber auch zivilgesellschaftliche Forderungen von Nachkommen der unmittelbaren Opfer des Kolonialismus grundsätzliche Diskussionen um die Wiedergutmachung für
5 Amadou-Mahtar M’Bow, A plea for the return of an irreplaceable cultural heritage to those who created it (1978), kommentiert von Clemens Wildt, in: Translocations. Anthologie: Eine Sammlung kommentierter Quellentexte zu Kulturgutverlagerungen seit der Antike, https:// translanth.hypotheses.org/ueber/mbow, zuletzt abgerufen am 23. März 2022. 6 https://www.vie-publique.fr/rapport/38563-la-restitution-du-patrimoine-culturel-africain, zuletzt abgerufen am 18. Mai 2022. 7 Felwine Sarr / Bénédicte Savoy, Zurückgeben. Über die Restitution afrikanischer Kulturgüter. Aus dem Französischen von Daniel Faster, Berlin 2019. 8 https://artreview.com/power-100/?year=2020, zuletzt abgerufen am 18. Mai 2022. 9 https://time.com/collection/100-most-influential-people-2021/6095958/felwine-sarr-benedict e-savoy/, zuletzt abgerufen am 18. Mai 2022.
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koloniales Unrecht durch dessen offizielle Anerkennung und durch Reparationszahlungen.10 Die für ein Fachgutachten im Regierungsauftrag erstaunliche internationale Wirkung innerhalb kürzester Zeit hängt offenbar auch damit zusammen, dass die Zeit gut hundert Jahre nach dem Ende des – deutschen – Kolonialismus endlich reif geworden zu sein scheint zu einer – vergleichbar den Diskussionen um den NS-Kunstraub – ernsthaften Auseinandersetzung mit den andauernden Folgen des deutschen Kolonialismus. Frühere Forderungen gegen Frankreich, die nach Savoy bis in die 1960er Jahre zurückgehen,11 sind dagegen ein halbes Jahrhundert ungehört geblieben. Sicherlich hat aber auch die – in Westeuropa neue – Kompromisslosigkeit von Sarr und Savoy für die notwendige öffentliche Aufmerksamkeit gesorgt und nicht nur Museumsdirektoren, sondern auch die Politik und Zivilgesellschaften zu einer unmissverständlichen Positionierung in diesen Fragen genötigt. So plädiert der „Rapport“ von 2018 für eine „schnelle Rückgabe ohne weitere Untersuchungen der Provenienz“ aller Gegenstände, die „in Afrika gewaltsam entwendet oder vermutlich unter unfairen Bedingungen erworben wurden“.12 Im Einzelnen soll diese bedingungslose Rückgabepflicht gelten für alle Objekte, die „bei militärischen Auseinandersetzungen (Beute, Trophäen)“ erbeutet wurden, „unabhängig davon, ob diese Stücke direkt nach Frankreich kamen oder über den internationalen Kunstmarkt in die Sammlungen gelangten“, ferner für Objekte, die entweder direkt „durch Militär- oder Verwaltungspersonal, das während der Kolonialzeit (1885–1960) auf dem [afrikanischen] Kontinent tätig war, oder durch deren Nachkommen“ erlangt wurden, und
10 Vgl. nur https://www.deutschlandfunk.de/versoehnungsabkommen-mit-namibia-deutschland -erkennt-100.html , zuletzt abgerufen am 18. Mai 2022, zu dem 2021 vereinbarten in Namibia hochumstrittenen Versöhnungsabkommen mit Deutschland, in dem Deutschland – unter Ausschluss von rückwirkenden Rechtsforderungen – den an den Herero und Nama begangenen Völkermord anerkennt, um Entschuldigung bittet und – unter Vermeidung des Wortes Reparationen – nur freiwillige Entschädigungszahlungen verspricht. 11 Bénédicte Savoy, Afrikas Kampf um seine Kunst. Geschichte einer postkolonialen Niederlage, 2. Auflage, München 2021, S. 7f., 14, 27–51. 12 Felwine Sarr / Bénédicte Savoy, Rapport sur la restitution du patrimoine culturel africain. Vers une nouvelle éthique relationnelle (2018), S. 53 (https://www.vie-publique.fr/rapport/38563 -la-restitution-du-patrimoine-culturel-africain, zuletzt abgerufen am 18. Mai 2022): „Critères de restituabilité […] Restitution rapide, et sans recherches supplémentaires de provenance, des objets prélevés en Afrique par la force ou présumées acquis dans des conditions inéquitables: a. lors d’affrontements militaires (butins, trophées), que ces pièces soient venues directement en France ou qu’elles aient transité sur le marché de l’art international avant d’intégrer les collections b. par des personnels militaires ou administratifs actifs sur le continent pendant la période coloniale (1885–1960) ou par leurs descendants c. lors de missions scientifiques antérieures à 1960.“
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schließlich auch für sämtliche Objekte, die „bei wissenschaftlichen Missionen vor 1960“ aus den – französischen – Kolonien verbracht wurden.13 Ein Jahr vor Veröffentlichung des reports hatte dessen Auftraggeber, der französische Staatspräsident Emmanuel Macron, im November 2017 in einer international viel beachteten Rede in Ouagadougou, der Hauptstadt von Burkina Faso bekannt: „Je suis d’une génération de Français pour qui les crimes de la colonisation européenne sont incontestables et font partie de notre histoire.“14
Zwar ist es seit Veröffentlichung des – auch in Deutschland – kontrovers diskutierten „Rapport“ von Sarr und Savoy noch nicht zu systematischen Restitutionen gekommen. Einen ersten Schritt in diese Richtung bildete aber Ende 2020 die Verabschiedung eines Gesetzes durch die französische Nationalversammlung, das die rechtlichen Voraussetzungen für die Rückgabe von kostbaren Kulturgütern an die Republiken Benin und Senegal schafft.15 In Deutschland hingegen konnte im letzten Jahr erst im letzten Moment ein Skandal abgewendet werden, als der nigerianische Botschafter offiziell die Rückgabe der kostbaren Benin-Bronzen forderte, Kulturgüter von Weltrang, die bei der Planung des Humboldt Forums in Berlin ursprünglich dazu bestimmt gewesen waren, dessen Herzstück zu bilden.16 Als englische Beutekunst war eine große Anzahl der Benin-Bronzen zu Beginn des 20. Jahrhunderts auch nach Deutschland gelangt und drohte nun als öffentlich so bezeichnete „Hehlerware im Museum“17 des Humboldt Forum dessen erhofftes internationales Renommee noch vor seiner Gründung im Keim zu ersticken. Fast scheint es, als würden die Verantwortlichen in den für die Kulturgüter zuständigen Institutionen zurzeit geradezu überrollt zu sein durch ein nicht zuletzt durch den „Rapport“ von Sarr und Savoy innerhalb kürzester Zeit entfachtes Problembewusstsein, nachdem dieses über hundert Jahre auf sich hatte warten lassen. Auch wenn in diesem spektakulären Fall inzwischen eilig im April 2021 eine „Benin Dialogue Group“ eingerichtet und 13 Felwine Sarr / Bénédicte Savoy, Rapport sur la restitution du patrimoine culturel africain. Vers une nouvelle éthique relationnelle (2018), S. 53 (https://www.vie-publique.fr/rapport/38563 -la-restitution-du-patrimoine-culturel-africain, zuletzt abgerufen am 18. Mai 2022). 14 https://www.elysee.fr/emmanuel-macron/2017/11/28/discours-demmanuel-macron-a-luni versite-de-ouagadougou, zuletzt abgerufen am 23. März 2022. 15 Am 24. Dezember 2020 hat der französische Staatspräsident das Gesetz Nr. 2020–1673 „relative à la restitution de biens culturels à la République du Bénin et à la République du Sénégal“ verkündet. 16 https://www.tagesspiegel.de/politik/nigeria-will-benin-bronzen-zurueck-raubkunst-streit-ue berschattet-eroeffnung-des-humboldt-forums/26707296.html, zuletzt abgerufen am 18. Mai 2022. 17 https://www.tagesspiegel.de/politik/nigeria-will-benin-bronzen-zurueck-raubkunst-streit-ue berschattet-eroeffnung-des-humboldt-forums/26707296.html, zuletzt abgerufen am 18. Mai 2022.
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eine gemeinsame Erklärung von Politik, Museumsleitungen und Trägern von deutschen Einrichtungen mit Benin-Bronzen verabschiedet wurde, in der alle Beteiligten zumindest „ihre grundsätzliche [sic!] Bereitschaft zu substantiellen Rückgaben von Benin-Bronzen“ erklären,18 so bleiben doch die entscheidenden grundsätzlichen Fragen für den künftigen Umgang mit den vielen – auch weniger spektakulären – Fällen von Kulturgütern kolonialer Provenienz unbeantwortet. Einigkeit scheint in Deutschland – und auch dies erst seit jüngster Zeit – nur zu bestehen im Hinblick auf den künftigen „Umgang mit menschlichen Überresten“ „aus kolonialen Kontexten“, darunter auch zahlreiche Schädel von Menschen, die durch die deutsche Kolonialmacht im Kampf oder bei Hinrichtungen getötet worden waren. Noch vor wenigen Jahren „beherbergte“ sogar die Charité in Berlin „größere anthropologische Schädel- und Skelettsammlungen, die zum Teil in der Kolonialzeit zusammengetragen wurden. Daraus ergaben sich Restitutionsforderungen, die inzwischen größtenteils erfüllt wurden.“19 Human remains gehören nach heutiger Überzeugung von Bund, Ländern und kommunalen Spitzenverbänden „nicht in unsere Museen und Sammlungen […], sondern [sind] an die Herkunftsgesellschaften zurückzuführen“, und zwar mit „höchste[r] Priorität“.20 Eine vergleichbar klare Zielvorgabe fehlt hingegen bis heute bei Gegenständen, insbesondere bei Kunstgegenständen kolonialer Provenienz. Eine der wenigen bereits umgesetzten Rückgaben aus einem deutschen Museum betrafen bezeichnenderweise noch keine Gegenstände außereuropäischer Kunst aus den ehemaligen Kolonialgebieten, sondern persönliche Gegenstände, eine Familienbibel und eine Peitsche, aus dem Besitz von Hendrik Witbooi, eines heutigen namibischen Nationalhelden, der als Anführer seines Volkes im Jahre 1905 von den deutschen Kolonialherren getötet worden war.21 Wie hingegen mit Gegenständen kolonialer Provenienz umzugehen ist, deren kultureller und künstlerischer Wert unabhängig von ihrer Besitzergeschichte besteht, bleibt über den Einzelfall hinausgehend rechtlich ungeklärt. Im Unterschied zur Rückgabe von Gegenständen aus dem NS-Kunstraub wird im Falle der Kulturgüter kolonialer 18 „Erklärung zum Umgang mit den in deutschen Museen und Einrichtungen befindlichen Benin-Bronzen“ vom 29. April 2021, S. 1, https://www.bundesregierung.de/breg-de/bundesre gierung/bundeskanzleramt/staatsministerin-fuer-kultur-und-medien/sammlungsgut-auskolonialen-kontexten-1851438, zuletzt abgerufen am 18. Mai 2022. 19 https://anatomie.charite.de/ueber_den_faecherverbund/human_remains_projekt/, zuletzt abgerufen am 18. Mai 2022. 20 https://www.bundesregierung.de/breg-de/bundesregierung/bundeskanzleramt/staatsminis terin-fuer-kultur-und-medien/sammlungsgut-aus-kolonialen-kontexten-1851438, zuletzt abgerufen am 18. Mai 2022. 21 https://www.bundesregierung.de/breg-de/bundesregierung/bundeskanzleramt/staatsminis terin-fuer-kultur-und-medien/sammlungsgut-aus-kolonialen-kontexten-1851438, zuletzt abgerufen am 23. März 2022.
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Provenienz die Rückgabe noch immer isoliert auf den Einzelfall vor allem von der Politik gesteuert und nicht einzelfallübergreifend vom Recht geregelt. Dabei stellen sich viele grundsätzliche Fragen, die durch politische Einzelfallentscheidungen zur Restitution nicht beantwortet werden können, nämlich: Ist es für die heutigen Nachgeborenen ehemaliger europäischer Kolonialmächte überhaupt noch zu verantworten, Kulturgüter kolonialer Provenienz in europäischen Museen aufzubewahren? Besteht nicht vielmehr eine moralische oder sogar rechtliche Pflicht zumindest zum Angebot einer Rückgabe? Und wenn diese Pflicht besteht, an wen genau und unter welchen Voraussetzungen soll die Rückgabe erfolgen? Oder steht das geltende Recht vielleicht sogar einer moralischen Pflicht zur Rückgabe entgegen, weil es über hundert Jahre nach dem Ende der deutschen Kolonialzeit an gerichtlich durchsetzbaren Rückgabeansprüchen fehlt und an gesetzlichen Ermächtigungen der Museen zur Herausgabe der Kulturgüter oder an der nationalen Genehmigung der Ausfuhr der Kulturgüter oder weil sich Adressaten möglicher Rückgaben nicht in einer den deutschen Zivilprozessordnungen hinreichenden Weise „gerichtsfest“ als Berechtigte legitimieren können? Recht versus Gerechtigkeit, das ist zumindest aus der Perspektive vieler Nachkommen der kolonisierten Völker eine direkte Fortsetzung von geschichtlichem Unrecht versus Gerechtigkeit.
II.
Widersprüche im früheren und heutigen Recht
Der Widerspruch zwischen Recht und Gerechtigkeit aus der Perspektive der Nachkommen der Opfer des Kolonialismus von außen auf das Recht findet seine Entsprechung in Widersprüchen innerhalb des früher und des heute geltenden Rechts. So wurde einerseits noch bis in das 20. Jahrhundert hinein als „Völkerrecht“ bezeichnet, was in Wahrheit eine Widerspiegelung der Interessen der europäischen Staaten in der Neuzeit war.22 Einerseits wurden europäische Okkupationen außerhalb Europas nach dem geltenden Völkergewohnheitsrecht damit legitimiert, dass das okkupierte Land indigener Bevölkerungen angeblich „herrenlos“ gewesen sei. Dabei wurden die Kriterien für die angebliche Herrenlosigkeit mit den Kategorien des zeitgenössischen europäischen Staatsrechts einseitig festgelegt.23 Andererseits wurde bewusst oder aus Verblendung igno-
22 Wolfgang Kaleck, Das Recht der Mächtigen. Die kolonialen Wurzeln des Völkerrechts, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 8 (2018), S. 115–120. 23 Matthias Goldmann / Beatriz von Loebenstein, Alles nur geklaut? Zur Rolle juristischer Provenienzforschung bei der Restitution kolonialer Kulturgüter (13. Mai 2020), in: Max-PlanckInstitut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht, Research Paper No. 2020–19,
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riert, dass selbst nach denjenigen Kriterien, die ausschließlich an europäischen Verhältnissen, Denkkategorien und politischen Interessen orientiert waren, die Voraussetzung für nach – damaligem – Völkerrecht rechtmäßige Okkupationen, nämlich die Herrenlosigkeit der kolonisierten Gebiete im Sinne europäischer Staatstheorien in der Regel gar nicht vorlegen hatten, die Okkupationen mithin schon nach damals geltendem Recht völkerrechtswidrig waren.24 Ferner gab es einerseits ungeachtet des traditionellen Beuterechts, das in kriegerischen Auseinandersetzungen geraubtes feindliches Beutegut als „herrenlose Sache“ („res nullius“) deklarierte und so dessen dauerhafte Aneignung rechtlich legitimierte,25 auch im Völkergewohnheitsrecht schon früh erste Ansätze zum Schutz sakraler Artefakte. Auf dem Wiener Kongress von 1815 wurde sogar erstmals von der siegreichen Allianz europäischen Staaten die Restitution sämtlicher durch Napoleon geraubten Kulturgüter verfügt.26 Das IV. Haager Abkommen betreffend die Gesetze und Gebräuche des Landkriegs mit der 1907 leicht modifizierten Haager Landkriegsordnung von 1899 markiert in Europa endgültig das Ende der – völkergewohnheitsrechtlich – schon vorher nicht mehr bestehenden Legitimation traditionellen Beuterechts während eines Landkriegs.27 Andererseits wurden aber selbst diese zeitgenössischen völkerrechtlichen Beschränkungen des Beuterechts niemals auf die afrikanischen Kolonien angewendet. Der tiefere Grund dafür lag darin, dass zu Zeiten des Kolonialismus in den europäischen Gesellschaften praktisch einhellig, selbst in zeitgenössischen Emanzipationsbewegungen wie der frühen europäischen Frauenrechtsbewegung, genau unterschieden wurde zwischen „zivilisierten“ Völkern und „Kulturstaaten“28 auf der einen Seite und Völkern außerhalb der christlich-abendländisch geprägten Zivilisation und Kultur auf der anderen.29 Letztere sollten auf Schutz und Anerkennung des „zivilisierten“ (Völker-)Rechts der europäischen Völker keinen
24 25 26
27 28 29
S. 10, 21, abrufbar unter https://ssrn.com/abstract=3600069 oder unter http://dx.doi.org/10.21 39/ssrn.3600069 , zuletzt abgerufen am 23. März 2022. Auf diesen auch in der postkolonialen Rechtstheorie bisher nicht beleuchteten Aspekt weisen hin M.Goldmann / B. v.Loebenstein, Alles nur geklaut?, MPIL Research Paper No. 2020–19, S. 3–6, http://dx.doi.org/10.2139/ssrn.3600069, zuletzt abgerufen am 23. März 2022. Alper Tas¸delen, Das völkerrechtliche Regime der Kulturgüterrückführung, in: Stefan Groth, Regina F. Bendix, Achim Spiller (Hrsg.), Kultur als Eigentum. Instrumente, Querschnitte und Fallstudien (Göttinger Studien zu Cultural Property 9 (2015), Göttingen, S. 225–243 (225). Evelien Campfens, The Bangwa Queen: Artifact or Heritage?, in: Matthias Weller / Nicolai B. Kemle / Thomas Dreier / Karolina Kuprecht (Hrsg.), Raubkunst und Restitution – Zwischen Kolonialzeit und Washington Principles, Baden-Baden 2020, S. 167–209 (181–189); A.Tas¸delen, Kulturgüterrückführung (2015), S. 225f. A.Tas¸delen, Kulturgüterrückführung (2015), S. 226. Internationaler Frauenbund (Hrsg.), Die Stellung der Frau im Recht der Kulturstaaten. Eine Sammlung von Gesetzen verschiedener Länder bearbeitet durch die ständige Kommission des Internationalen Frauenbundes die Rechtsstellung der Frau betreffend, Karlsruhe 1912. E.Campfens, Bangwa Queen (2020), S. 182.
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Anspruch machen können und damit faktisch dem europäischen Unrecht ausgeliefert werden. Das gilt nicht nur für Akte staatlicher Okkupation von Land und für die Konfiskation von beweglichen Gegenständen, sondern auch für das weite Feld der sogenannten „Verträge“, die zu Beginn der deutschen Kolonisierung sogar die Grundlage für den Erwerb des Eigentums am Land und von Konzessionstiteln durch private Organisationen aus Deutschland wie etwa der „Deutschen Gesellschaft für Südwestafrika“ bildeten. Jeder Vorstellung von neuzeitlich-europäischer Vertragsgerechtigkeit Hohn spotteten bereits nach damaligen Maßstäben allein aufgrund des Missverhältnisses der wechselseitig vereinbarten „Vertragsleistungen“ die zwischen Stammesführern und privaten deutschen Kolonialgesellschaften abgeschlossenen Verträge zur Übertragung riesiger Ländereien. Bei konsequenter Anwendung des damals in Deutschland geltenden Privatrechts30 hätten solche „Verträge“ als sittenwidrig und damit als unwirksam beurteilt werden müssen, was sich übrigens auch der eine oder andere Zeitgenosse in Deutschland bereits damals eingestehen musste.31 Ferner galt auf der einen Seite den Kolonisten und ihren geistigen Wegbereitern und Verteidigern in Deutschland die eigene Rechtskultur als zivilisatorisch so überlegen, „daß es deshalb zu unserer Kulturaufgabe gehört im Hottentottenland unsere Rechtsbegriffe einzubürgern“.32 Gleichzeitig wurden der kolonisierten Bevölkerung gerade diejenigen Wirkungen dieser „Rechtsbegriffe“, die auch zu ihrem Schutz und zu ihrer rechtlichen Anerkennung und nicht nur zur besseren Verfolgung der Interessen ihrer Beherrscher hätten wirken können, gezielt vorenthalten. Ebenso galten einerseits die Vorgänge in den sog. Schutzgebieten als innerdeutsche Angelegenheiten33 und standen die Schutzgebieten in keinem völkerrechtlichen Verhältnis zum Deutschen Reich, sondern wurden faktisch vollständig der Herrschaft des Reichs unterstellt.34 Andererseits 30 Vgl. heute § 138 BGB. 31 So sah sich der Anfang des 20. Jahrhunderts in Rechtswissenschaft und Philosophie promovierte Rechtsreferendar Herbert Jäckel bemüßigt, zeitgenössische Zweifel an der Rechtmäßigkeit des vertraglichen Landerwerbs durch die Deutsche Kolonialgesellschaft in Südwestafrika in einer juristisch verbrämten kolonialpolitischen Verteidigungsschrift zu widerlegen. Verbleibende Zweifel an der rechtlichen Gültigkeit der Verträge mit Vertragspartnern, die weder die deutsche Sprache noch die deutschen Kategorien des Privatrechts kannten, wischte Jäckel mit der bemerkenswerten Feststellung weg: „Es hat zum mindesten heute keinen Zweck mehr, auf diese Frage immer und immer wieder [sic!] zurückzukommen, da sich korrekte Beweise nach 25 Jahren weder pro noch contra erbringen lassen“ [Herbert Jäckel, Die Landgesellschaften in den deutschen Schutzgebieten. Denkschrift zur Kolonialen Landfrage, Jena 1909, S. 31]. 32 H.Jäckel, Die Landgesellschaften in den deutschen Schutzgebieten. Denkschrift zur Kolonialen Landfrage, Jena 1909, S. 36. 33 M.Goldmann / B. v.Loebenstein, Alles nur geklaut?, MPIL Research Paper No. 2020–19, S. 20f. http://dx.doi.org/10.2139/ssrn.3600069, zuletzt abgerufen am 23. März 2022. 34 Georg Meyer, Die staatsrechtliche Stellung der deutschen Schutzgebiete, Leipzig 1888, S. 41, 49f.
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bildeten sie rechtlich aber keinen Bestandteil des Reichsgebiets, um zu vermeiden, dass die deutsche Reichsverfassung in den deutschen Kolonien gilt.35 Während das 1871 neu gegründete Deutsche Reich auf der Grundlage der Verfassung einen wichtigen Schritt auf dem Weg zum sogenannten formalen Rechtsstaat36 machte, überließ man gleichzeitig die deutschen Kolonien der Willkür deutscher Beamter und häufig auch der nackten Gewalt deutscher Soldaten und deutscher Kolonisten. Die innerrechtlichen Widersprüchlichkeiten beschränken sich aber nicht auf die Kolonialzeit selbst, sondern betreffen auch die heutigen politischen und rechtlichen Versuche einer Reflexion des historischen Unrechts, das im Namen des deutschen Staates verübt wurde. Während nämlich einerseits im Falle des NS-Unrechts die „Washington Conference Principles on Nazi-Confiscated Art“ von 199837 zu einer Selbstverpflichtung der deutschen „Bundesregierung, der Länder und der kommunalen Spitzenverbände zur Auffindung und zur Rückgabe NS-verfolgungsbedingt entzogenen Kulturgutes“38 geführt haben, fehlt auf internationaler und nationaler Ebene Vergleichbares für kolonial-bedingt entzogenes Kulturgut. Ein kaum noch erträglicher Widerspruch besteht im Übrigen zwischen Rückgabeverlangen der einst ihres kulturelles Erbe beraubten Völker in den ehemaligen Kolonialgebieten und der noch vor zwanzig Jahren erfolgten Ablehnung einer Rückgabe durch deutsche Behörden mit dem Hinweis auf die staatliche Pflicht zur dauerhaften Bewahrung des – weltweiten, mithin auch afrikanischen – kulturellen Erbes in – deutschen – Museen.39 In diesem Geist 35 Horst Hammen, Kolonialrecht und Kolonialgerichtsbarkeit in den ehemaligen deutschen Schutzgebieten – Ein Überblick, in: Verfassung und Recht in Übersee 32 (1999), S. 191–209 (195–197). 36 Christoph-Eric Mecke, The ‚Rule of Law‘ and the ‚Rechtsstaat‘: A Historical and Theoretical Approach from a German Perspective, in: Studia Iuridica 79 (2019), S. 29–47 (34f.), in: https:// www.wuw.pl/data/include/cms/Studia_Iuridica_79_2019.pdf, zuletzt abgerufen am 23. März 2022. 37 Washington Conference Principles on Nazi-Confiscated Art, December 3, 1998, https://web.ar chive.org/web/20170426113213/https://www.state.gov/p/eur/rt/hlcst/270431.htm, zuletzt abgerufen am 23. März 2022. 38 Sekretariat der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland (Hrsg.), „Erklärung der Bundesregierung, der Länder und der kommunalen Spitzenverbände zur Auffindung und zur Rückgabe NS-verfolgungsbedingt entzogenen Kulturgutes insbesondere aus jüdischem Besitz“ vom 9. Dezember 1999, https://www.kmk. org/fileadmin/veroeffentlichungen_beschluesse/1999/1999_12_09-Auffindung-RueckgabeKulturgutes.pdf, zuletzt abgerufen am 23. März 2022. 39 So lautet noch 1999 die Argumentation bei der Ablehnung eines an das Völkerkundemuseum in München gerichteten Rückgabeersuchens (Anne Splettstößer, Ein Kameruner Kulturerbe? 130 Jahre geteilte Agency: Das Netzwerk Tange/Schiffschnabel, in: Stefan Groth, Regina F. Bendix, Achim Spiller (Hrsg.), Kultur als Eigentum. Instrumente, Querschnitte und Fallstudien (Göttinger Studien zu Cultural Property. Band 9), Göttingen 2015, S. 199–223 (215, 217).
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wurde noch im Jahre 2004 die „Declaration on the importance and value of universal museums“ abgefasst, die von achtzehn Direktoren weltweit bekannter Museen unterzeichnet und publiziert wurde. Hier wurde nicht nur historisches Unrecht aufgrund eines kulturell-zivilisatorischen Überlegenheitsanspruchs europäischer Nationen relativiert. Darüber hinaus haben die Leiter der Museen dem Hinweis der indigenen Anspruchsteller auf ihr geraubtes kulturelles Erbe sogar noch einen angeblich inzwischen entstandenen eigenen Gegenanspruch auf ein nationales oder europäisches kulturelles Erbe an den Gegenständen kolonialer Provenienz entgegengestellt, da viele dieser kulturellen Artefakte inzwischen „have become part of the museums that have cared for them, and by extension part of the heritage of the nations which house them.“40 Können von einem Recht und einer Rechtspraxis in diesem europäischen Geist noch universaler Schutz und Gerechtigkeit erwartet werden? Das Kernproblem bestand und besteht bis heute darin, dass insbesondere im Verhältnis zwischen Europa und Afrika mit zweierlei Maß gemessen wird und zudem bis heute häufig noch der politische Wille fehlt, praktische Konsequenzen aus der jahrhundertelang diskriminierenden Ungleichbehandlung zwischen der Rechtskultur in den europäischen Staaten der Neuzeit und der Rechtskultur in Afrika zu ziehen. In Preußen waren staatlichen Enteignungen schon nach dem Preußischen Allgemeinen Landrecht von 1794 nur in Ausnahmefällen zulässig und dann auch entschädigungspflichtig,41 was in Deutschland noch heute als ein wichtiger Schritt auf dem Weg zum Schutz des Privateigentums gefeiert wird. In Afrika zählten hingegen indigene Formen von Rechtsverband und Verfügungsberechtigung42 aus Sicht der Kolonisatoren nichts. Zwar atmet inzwischen der heutige deutsche und internationale rechtliche Kulturgüterschutz einen ganz anderen Geist.43 Hier wird nicht mehr unterschieden zwischen europäischen und afrikanischen Artefakten, sie sind alle gleichermaßen schutzbedürftig, und ihre legitimen Besitzer werden in gleicher 40 Declaration on the importance and value of universal museums, published by eighteen museums in the Western World and Russia, https://www.hermitagemuseum.org/wps/portal/her mitage/news/news-item/news/1999_2013/hm11_1_93/, zuletzt abgerufen am 23. März 2022. Gefordert wird in der Erklärung, auch bei der Frage nach dem künftigen Umgang mit den Objekten, to „recognize that objects acquired in earlier times must be viewed in the light of different sensitivities and values, reflective of that earlier era.“ 41 §§ 74, 75 der Einleitung zum Allgemeinen Landrecht für die Preußischen Staaten (1794). 42 Vgl. Brigitte Hauser-Schäublin, Ethnologische Provenienzforschung – warum heute?, in: Larissa Förster / Iris Edenheiser / Sarah Fründt / Heike Hartmann (Hrsg.): Provenienzforschung zu ethnografischen Sammlungen der Kolonialzeit. Positionen in der aktuellen Debatte, Berlin 2018, S. 327–333 (331). 43 Vgl. dazu nur Anne Spettstößer / Alper Tas¸delen, Der Schutz beweglicher materieller Kulturgüter auf internationaler und nationaler Ebene, in: Stefan Groth / Regina F. Bendix / Achim Spiller (Hrsg.), Kultur als Eigentum. Instrumente, Querschnitte und Fallstudien (Göttinger Studien zu Cultural Property. Band 9), Göttingen 2015, S. 83–96.
Kulturgüter kolonialer Provenienz in Deutschland: Rechte auf Restitution?
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Weise rechtlich anerkannt. Das bedeutet aber noch nicht, dass dieser Kulturgüterschutz auch auf Kulturgüter angewendet werden könnte, deren Provenienz in kolonialer Zeit liegt. Ist das Recht mithin nur ein Teil des Problems oder könnte es auch ein Schlüssel zu dessen Lösung werden? Im Folgenden sollen bestehende rechtliche Optionen sowie aktuelle rechtspolitische Entwicklungen dargestellt und im Anschluss ein Vorschlag für eine stärker normenbasierte Lösung des Problems gemacht werden. Auch bei einer normenbasierten Lösung zählt zwar – wie immer im Recht – am Ende die umfassende Beurteilung des konkreten Einzelfalls. Aber Normen machen für alle Beteiligten die Prämissen transparent, auf deren gleich bleibender Grundlage jeder Einzelfall beurteilt werden muss. Transparenz bildet wiederum gleichermaßen die Voraussetzung für die Vorhersehbarkeit von Entscheidungen und für grundsätzliche Kritik, und gleiche Entscheidungsprämissen sind die strukturelle Voraussetzung für mehr Gerechtigkeit und soziale Akzeptanz.
III.
Mögliche Rechtsgrundlagen für die Rückführung von Kulturgütern kolonialer Provenienz
Die Rückführung von Kulturgütern kolonialer Provenienz aus europäischen Museen an ihren Entstehungsort ist zwar nicht die einzige Option für den künftigen Umgang mit diesen Kulturgütern. Andere Optionen wie zum Beispiel die Vereinbarung von Dauerleihgaben und andere Formen musealer Kooperationen setzen aber Einigungsprozesse voraus, also aus der Perspektive der Nachgeborenen der Kolonisierten die konsequente Anwendung des Prinzips „Nichts ohne uns über uns“ anstelle des kolonialen Prinzips „Alles über uns ohne uns“44. Recht kommt hingegen vor allem dort ins Spiel, wo Rückgabeersuchen negativ beschieden werden. Damit stellt sich die Frage, ob das heute geltende nationale und internationale Recht eine Rechtsgrundlage für gerichtlich durchsetzbare Rückgabeersuchen bilden kann. Grundsätzlich lassen sich vier unterschiedliche Rechtsregime unterscheiden, die im Umgang mit kolonialen Kulturgütern Anwendung finden können: a) Privatrechtsnormen, b) nationale und internationale Normen des Kulturgüterschutzrechts, c) kollektive internationale Menschenrechte zum Schutz der kulturellen Identität sowie d) Selbstregulierungen durch kollektive öffentliche Selbstverpflichtungen (Soft law). 44 Claus Melter, ‚Nichts über uns ohne uns!‘ – Herero und Nama im Streit um Selbst- und Mitbestimmung gegenüber dem von Deutschen verübten Völkermord, in: PoliTeknik 2017 (www.politeknik.de/p7762/), zuletzt abgerufen am 23. März 2022.
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Privatrechtsnormen
Auf der Grundlage des auch grenzüberschreitend geltenden Privatrechts kommen für eine gerichtliche Erzwingung der Rückgabe von Kulturgütern insbesondere Ansprüche des Eigentümers gegen diejenige natürliche oder juristische Person in Betracht, die aktuell zwar die faktische Herrschaft über den Gegenstand hat, aber nach dem Privatrecht dem Eigentümer gegenüber dazu nicht berechtigt ist. Auf den ersten Blick scheinen gerade europäische Eigentumsherausgabeklagen aus postkolonialer Perspektive das am wenigsten passende Rechtsregime für den Kampf gegen bis heute andauernde Folgen kolonialen Unrechts zu sein. Aber soweit es speziell um den hier in Rede stehenden kleinen Ausschnitt aus dem kolonialen Unrecht geht, nämlich um in der Kolonialzeit rechtswidrig nach Europa verbrachte Kulturgüter, zeichnen sich Eigentumsherausgabeklagen dadurch aus, dass sie direkt auf das am Ort des Erwerbsvorganges geltende Recht (lex rei sitae) verweisen, soweit es um die Frage nach der Rechtmäßigkeit des einstigen Erwerbsvorgangs geht.45 Die Frage der Rechtmäßigkeit des Erwerbsvorgangs bestimmte sich aber auch nach der rassistischdualistischen Rechtsordnung in Kolonialzeiten mit getrennten Rechten für die Kolonialherren und für die indigene Bevölkerung nach dem indigenen Gewohnheitsrecht der damaligen Zeit.46 Das im Deutschen Reich geltende Recht war nur dann auf die indigene Bevölkerung in den sogenannten Schutzgebieten anwendbar, wenn der Kaiser dies durch eine Rechtsverordnung verfügte. Dies ist aber nur punktuell geschehen, so dass selbst nach den gesetzlichen Vorschriften der deutschen Kolonialmacht für die Einheimischen mit Ausnahmen vor allem auf dem Gebiet des öffentlichen 45 Kurt Siehr, Internationaler Rechtsschutz von Kulturgütern: Schutz der bildenden Kunst in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, in: Revue suisse de droit international et droit européen 15 (2005), S. 53–77. 46 Nach § 2 des „Gesetzes betreffend die Rechtsverhältnisse der deutschen Schutzgebiete“ vom 17. April 1886, Deutsches Reichsgesetzblatt, Band 1886, Nr. 10, S. 75f. sollte das deutsche Privatrecht nur nach Maßgabe der Vorschriften des Gesetzes über die Konsulargerichtsbarkeit vom 10. Juli 1879 Anwendung finden. Letzteres bestimmte, dass in „Betreff des bürgerlichen Rechts […] das preußische Allgemeine Landrecht [von 1794] und die das bürgerliche Recht betreffenden allgemeinen Gesetze derjenigen preußischen Landestheile, in welchen das Allgemeine Landrecht [in Deutschland] Gesetzeskraft hat“ (§ 3) Anwendung finden auf die deutschen „Reichsangehörigen und Schutzgenossen“ (§ 1 Abs. 2) „anderer civilisirter Staaten“ [G.Meyer, Die staatsrechtliche Stellung (1888), S. 107]. Eine Ausweitung der deutschen Gerichtsbarkeit auf die indigene Bevölkerung wäre nach § 3 Nr. 1 des Gesetzes betreffend die Rechtsverhältnisse der deutschen Schutzgebiete von 1886 zwar durch kaiserliche Verordnung möglich gewesen, ist aber nie erfolgt. §§ 3 und 4 des neuen „Schutzgebietsgesetzes“ vom 10. September 1900 (Deutsches Reichsgesetzblatt 1900, Nr. 40, S. 812–817) in Verbindung mit § 19 des „Gesetzes über die Konsulargerichtsbarkeit“ vom 7. April 1900 (Deutsches Reichsgesetzblatt 1900, Nr. 15, S. 213–228) haben diesen Rechtszustand für bewegliche Sachen nur noch einmal ausdrücklich bekräftigt.
Kulturgüter kolonialer Provenienz in Deutschland: Rechte auf Restitution?
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Rechts grundsätzlich ihr eigenes Recht in Kraft blieb.47 Ausdrücklich stellte ein zeitgenössischer juristischer Kommentar zum deutschen Kolonialrecht fest, dass damit insoweit „die deutschen Gesetze nicht nur für den Rechtsverkehr der Eingeborenen unter sich, sondern auch für Rechtsbeziehungen zu Weißen […] außer Anwendung bleiben müssen.“48 Damit kamen insoweit selbst aus kolonialer Sicht die weitgehend nicht verschriftlichten indigenen Rechtsordnungen zur Anwendung.49 Die einheimischen Rechtsordnungen enthielten – wie die Kolonisatoren wussten50 – bei allen Unterschieden im Einzelnen stammesübergreifend Rechte zum Schutz von Gegenständen, wobei die Inhaber der Rechte in der Regel die Familie oder die gesamte Gemeinschaft waren, seltener der Einzelne.51 Zwar sind sämtliche aus kolonialer Zeit überlieferten privaten, amtlichen und rechtsethnologischen52 Aufzeichnungen der damals geltenden nicht ver47 Carola Thielecke / Michael Geißdorf, Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten. Rechtliche Aspekte, in: Deutscher Museumsbund (Hrsg.): Leitfaden. Umgang mit Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten, Dritte Fassung, Berlin 2021, S. 159–170 (162). Auch in den britischen Kolonien fand in den seltensten Fällen eine vollständige Ersetzung des indigenen Rechts durch englisches Recht statt (S. 111). 48 Johannes Gerstmeyer, Das Schutzgebietsgesetz nebst der Verordnung betr. die Rechtsverhältnisse in den Schutzgebieten und dem Gesetz über die Konsulargerichtsbarkeit in Anwendung auf die Schutzgebiete sowie den Ausführungsbestimmungen und ergänzenden Vorschriften, Berlin 1910, S. 26. 49 Karolina Kuprecht, Kulturgüter aus der Kolonialzeit und Restitution: Änderungen ohne Änderungen, in: Matthias Weller / Nicolai B. Kemle / Thomas Dreier / Karolina Kuprecht (Hrsg.), Raubkunst und Restitution – Zwischen Kolonialzeit und Washington Principles, Baden-Baden 2020, S. 153–165 (154). 50 Erich Schultz-Ewerth / Adam Leonhard, Das Eingeborenenrecht. Sitten und Gewohnheitsrechte der Eingeborenen der ehemaligen deutschen Kolonien in Afrika und der in der Südsee, Band 1, Stuttgart 1929, S. V–IX zu zahlreichen zunächst privaten Initiativen seit 1893 das Recht der einheimischen Bevölkerung festzustellen und in Übersichten darzustellen. Die Dokumentierung der unterschiedlichen indigenen Rechtsordnungen wurde spätestens 1907 durch einen Beschluss des Deutschen Reichstags auch eine amtliche Aufgabe. Hier mischten sich handfeste Interessen der deutschen Kolonisatoren „für die wirtschaftlich erfolgreichste Verwendung der Kolonien“ (aaO, S. VII) mit auch wissenschaftlichen Interessen des in der Entstehung begriffenen akademischen Fachs der Rechtsethnologie durch die Arbeiten der Professoren der Rechtswissenschaften Albert Hermann Post (1839–1895) als Wegbereiter und Joseph Kohler (1849–1919) als Begründer der neuen Fachdisziplin. Vgl. zum Ganzen auch Harald Sippel, Der Deutsche Reichstag und das ‚Eingeborenenrecht‘. Die Erforschung der Rechtsverhältnisse der autochthonen Völker in den deutschen Kolonien, in: Rabels Zeitschrift für ausländisches und internationales Privatrecht 61 (2001), S. 714–738. 51 E.Schultz-Ewerth / A.Leonhard, Das Eingeborenenrecht. Sitten und Gewohnheitsrechte der Eingeborenen der ehemaligen deutschen Kolonien in Afrika und der in der Südsee. Band 1 Stuttgart 1929, S. 241, 236, 320–324 (Ostafrika); dies., Das Eingeborenenrecht. Band 2 (1930), S. 192–195 (Kamerun), 259–263, 356f. (Südwestafrika). 52 So beruhte die in vorstehender Fußnote genannte Darstellung der „Sitten und Gewohnheitsrechte“ unter anderem auf einer im Jahre 1893 im Auftrag der „Internationalen Vereinigung für vergleichende Rechtswissenschaft und Volkswirtschaftslehre“ erfolgten Studie auf der Grundlage von Fragebögen, die Kolonialbeamte und Missionare vor Ort anleiten sollten
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schriftlichten indigenen Stammesrechte mit großer Vorsicht zu behandeln, da sie – gewollt oder ungewollt – regelmäßig auch zeitgenössisches koloniales Denken, mindestens aber die nicht immer sachgemäße Suche nach analogen Strukturen im europäischen Rechtsdenken widerspiegeln.53 Wenn damit auch eine detaillierte rechtshistorisch authentische Rekonstruktion der damals mündlich überlieferten unterschiedlichen Stammesrechte nicht mehr möglich sein wird, so lässt sich doch feststellen, dass nach indigenen Stammesrechten beispielsweise ein privat verübter Diebstahl ebenso wenig wie nach europäischem Recht zu einem wirksamen Rechtserwerb geführt hat.54 Dasselbe gilt für die Unwirksamkeit der Übertragung von Verfügungsrechten an kultischen Gegenständen, die auch nach den europäischen Rechtsordnungen als „res sacrae“ (heilige Sachen) unter besonderem Schutz stehen.55 Da sich Ansprüche auf Rückgabe von Kulturgegenständen kolonialer Provenienz auf Sachen beziehen würden, die sich zum Zeitpunkt der Klageerhebung noch in Deutschland befinden, richten sich die weiteren Voraussetzungen für den Herausgabeanspruch nach deutschem Recht.56 Nach deutschem Recht können zumindest in den Fällen des Diebstahls, darüber hinausgehend auch in Fällen, in denen der oder die ursprünglich Berechtigten ihre Sache unter sogenannter massiver unwiderstehlicher Drohung nicht freiwillig herausgegeben haben, spätere Besitzer in einer folgenden Erwerbskette nicht gutgläubig Eigentum erwerben.57 Auch die Ersitzung einer beweglichen Sache setzt nach deutschem Recht Gutgläubigkeit des neuen Besitzers voraus, ist also ausgeschlossen, wenn er weiß oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht weiß, dass er nicht Eigentümer ist.58 Dennoch stände der gerichtlichen Erzwingung einer Rückgabe selbst im seltenen Fall der Klärung aller Beweisfragen regelmäßig der Ablauf der Verjährungsfrist entgegen. Deren Ablauf bedeutet zwar nicht, dass der Anspruch auf Rückgabe erloschen wäre, wohl aber, dass er nur noch freiwillig erfüllt werden könnte, die Herausgabe also nicht mehr erzwungen werden kann.59 Ein gesetzlicher Ausschluss der Verjährung für kolonialer Kulturgüter wäre zwar theore-
53 54 55 56 57 58 59
zur Sammlung rechtsethnologischen Materials [E.Schultz-Ewerth / A.Leonhard, Eingeborenenrecht (1930) S. Vf.] Jakob Zollmann, Koloniale Herrschaft und ihre Grenzen. Die Kolonialpolizei in DeutschSüdwestafrika 1894–1915, Göttingen 2020, S. 26f. C.Thielecke / M.Geißdorf, Sammlungsgut (2021), S. 159f. C.Thielecke / M.Geißdorf, Sammlungsgut (2021), S. 162f. Art. 43 Abs. 1 EBGB, §§ 985ff. BGB. §§ 929 Satz 1, 932, 935 Abs. 1 Satz 1 BGB, wonach gutgläubiger Erwerb ausgeschlossen ist, wenn die Sache gestohlen, verloren gegangen oder ohne den Willen eines oder mehrerer Berechtigter sonst abhanden gekommen war. § 937 Abs. 1 BGB. C.Thielecke / M.Geißdorf, Sammlungsgut (2021), S. 166.
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tisch möglich, allerdings fehlt dazu bis heute der politische Wille. Parlamentarische Versuche, im Hinblick auf Kulturgüter kolonialer Provenienz die Erhebung der Einrede der Verjährung durch deutsche Museen und andere Einrichtungen gesetzlich auszuschließen, sind erst jüngst im Jahre 2021 im Deutschen Bundestag gescheitert.60 Der privatrechtliche Herausgabeanspruch versagt außerdem von vornherein in allen Fällen hoheitlicher Aneignung bzw. Konfiskation durch staatliche Stellen, die durch das damals geltende Kolonialrecht regelmäßig als rechtmäßig sanktioniert wurden.61 Damit stellt sich hier ebenso wie bei den nachfolgend behandelten Ansprüchen auf völkerrechtlicher Grundlage zur Rückgabe von Kulturgütern kolonialer Provenienz die Frage nach der ausnahmslosen Geltung des Grundsatzes der Intertemporalität. Nach diesem im kontinentaleuropäischen Recht bis auf das römische Recht zurückgehenden Grundsatz, der seit dem 20. Jahrhundert auch im internationalen Recht anerkannt ist,62 darf ein Sachverhalt nur auf Grundlage des zu der jeweiligen Zeit gültigen Rechts juristisch beurteilt werden und nicht aufgrund des zum Zeitpunkt eines späteren Rechtsstreits geltenden Rechts,63 selbst wenn die früheren Gesetze aus heutiger Sicht Ausdruck moralischen und historischen Unrechts sind.64 Dies hat zwar schon zu gelegentlichen Zweifeln an der ausnahmslosen Anwendung des intertemporalen Prinzips geführt, obwohl das Prinzip eigentlich selbst einen Grundsatz der Gerechtigkeit verwirklicht. Die Unzulässigkeit der rückwirkenden Änderung rechtlicher Maßstäbe soll verhindern, dass die Veränderlichkeit von Recht sich zum Nachteil derjenigen auswirkt, die das Recht befolgen. Nach Kamerdeen ist aber in den Fällen kolonialen Unrechts „difficult to reconcile these two views as there appears to be a conflict“65. Aus diesem Grund wurden in Deutschland in den letzten Jahren auch Rechtspositionen von aus heutiger Sicht als ungerecht beurteilten Vermögensverschiebungen zu DDR-Zeiten zumindest mit Wirkung für die Zukunft eingeschränkt oder sogar wieder entzogen. Bei der rechtlichen Beurteilung von Sachverhalten aus der deutschen Kolonialgeschichte hat dies aber noch nicht zu praktischen Konsequenzen geführt.66 60 https://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2019/kw14-pa-kultur-medien-631622, zuletzt abgerufen am 23. März 2022 sowie unten Fn. 112. 61 C.Thielecke / M.Geißdorf, Sammlungsgut (2021), S. 163. 62 C.Thielecke / M.Geißdorf, Sammlungsgut (2021), S. 165, 167. 63 Naazima Kamardeen, The Protection of Cultural Property: Post-Colonial and Post-Conflict Perspectives from Sri Lanka, in: International Journal of Cultural Property 24 (2017), S. 429– 450 (436f.). 64 European Center for Constitutional and Human Rights, Glossar, Eintrag „Prinzip der Intertemporalität“, https://www.ecchr.eu/glossar/prinzip-der-intertemporalitaet/, zuletzt abgerufen am 23. März 2022. 65 N.Kamardeen, Protection (2017), S. 437. 66 C.Thielecke / M.Geißdorf, Sammlungsgut (2021), S. 165.
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Viel gewonnen im Sinne eines „emanzipatorischen Gewinn[s]“ wäre daher nach Goldmann und von Loebenstein schon, wenn unter Anwendung des Grundsatzes der Intertemporalität auch eine wirklich „kritische Prüfung des Rechts der Vergangenheit an den rechtlichen und faktischen Maßstäben der Vergangenheit“ erfolgen würde, „die Rekonstruktion des vergangenen Rechts“ also auf der Grundlage derjenigen „konkrete[n] Maßstäbe [erfolgte], die bereits für die Vergangenheit Wirkung entfalten konnten.“67 Auf dieser Grundlage haben in jüngster Zeit Goldmann und von Loebenstein allein schon die koloniale „deutsche Präsenz [im Südwestafrika]“ nach den Maßstäben des damaligen Völkerrechts als „wahrscheinlich völkerrechtswidrig“68 bezeichnet, womit dann auch die Rechtmäßigkeit aller hoheitlichen Folgeakte selbst unter Anwendung des Prinzips der Intertemporalität infrage gestellt wäre.
2.
Nationale und internationale Normen des Kulturgüterschutzrechts
Die bisherige deutsche Praxis vereinzelter Rückgaben von kolonialem Kulturgut69 ist dadurch gekennzeichnet, dass weder nationale noch internationale Rechtsnormen zum Kulturgüterschutz noch Gerichte eine maßgebliche Rolle gespielt haben70 und auch „bisher keine allgemeinen anerkannten Verfahren“ existieren.71 Das in Deutschland bisher spektakulärste Gerichtsverfahren im Zusammenhang mit der Rückgabe von Kulturgut kolonialer Provenienz zielte paradoxerweise gerade nicht auf die schnellstmögliche Rückgabe, sondern vielmehr umgekehrt auf deren gerichtliche Verhinderung. 2019 hatte die Landesregierung von Baden-Württemberg nach sechsjähriger Prüfung in Anerkennung des kolonialen Unrechts die bereits eingangs erwähnten persönlichen Gegenstände, eine Familienbibel und eine Peitsche, des von den deutschen Kolonialtruppen in Kämpfen getöteten Stammesführers („Kaptein“) und heutigen namibischen Nationalhelden Hendrik Witbooi (ca. 1830–1905) an die namibische
67 M.Goldmann / B. v.Loebenstein, Alles nur geklaut?, MPIL Research Paper No. 2020–19, S. 4 http://dx.doi.org/10.2139/ssrn.3600069, zuletzt abgerufen am 23. März 2022. 68 M.Goldmann / B. v.Loebenstein, Alles nur geklaut?, MPIL Research Paper No. 2020–19, S. 22, http://dx.doi.org/10.2139/ssrn.3600069, zuletzt abgerufen am 23. März 2022. 69 Vgl. die Angaben der deutschen Bundesregierung zu aktuellen Rückgabevorhaben (BeninBronzen, Wappensäule von Cape Cross) und bereits erfolgten Rückgaben (Familienbibel und Peitsche von Hendrik Witbooi) https://www.bundesregierung.de/breg-de/bundesregierung /bundeskanzleramt/staatsministerin-fuer-kultur-und-medien/sammlungsgut-aus-koloniale n-kontexten-1851438 , zuletzt abgerufen am 23. März 2022. 70 C.Thielecke / M.Geißdorf, Sammlungsgut (2021), S. 167. 71 S.Heidt, Koloniales Unrecht (2021), S. 337.
Kulturgüter kolonialer Provenienz in Deutschland: Rechte auf Restitution?
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Regierung übergeben wollen.72 Eine Vereinigung der Nama-Stammesältesten hatte die Rückgabe an den namibischen Staat aber gerichtlich zu verhindern versucht, um eine Rückgabe an die Familie Witbooi statt an den Staat zu erreichen.73 Das durch die „Nama Traditional Leaders Association“ kurz vor der Rückgabe angerufene Landesverfassungsgericht von Baden-Württemberg hat sich jedoch für unzuständig erklärt, da der Streit über die Rückgabe „keine Berührung mit dem Landesverfassungsrecht aufweist, sondern innerhalb Namibias zu klären sein dürfte.“74 Dieser Fall wirft ein grelles Licht auf die sich zusätzlich zur eigentlichen Frage der Rückgabe stellende weitergehende Frage nach dem heute berechtigten Empfänger im Herkunftsland, wenn Nachkommen der einstigen Opfer des Kolonialismus sich durch ihre heutigen Regierungen nicht vertreten fühlen75 oder auch Opfergruppen miteinander rivalisieren. Auf beides ist der heutige Kulturgüterschutz nicht vorbereitet, da sowohl das nationale Kulturgüterrecht als auch das traditionelle Völkerrecht auf Staaten als den maßgeblichen Rechtssubjekten und legitimen Vertretern der Herkunftsgesellschaften fokussiert sind.76 Hinzu kommen weitere rechtliche Hindernisse, durch die das deutsche und internationale Recht zum Kulturgüterschutz in seiner geltenden Form nicht nur nichts zur Lösung des Problems andauernder Folgen kolonialen Unrechts beiträgt, sondern vielmehr umgekehrt selbst zu einem Teil des Problems wird. Verursacht wird dies erstens durch das Prinzip der Intertemporalität bei der Feststellung der Illegalität des einstigen Erwerbs und der Ausfuhr der Kulturgüter77, zweitens durch den ausdrücklichen Ausschluss der Anwendung von völkerrechtlichen Verträgen über die Rückführung illegal eingeführter Kulturgütern auf solche Kulturgüter, die bereits in der Kolonialzeit
72 Im Jahre 2013 hatte die namibische Regierung das Bundesland Baden-Württemberg, in dem die persönliche Bibel und Peitsche von Witbooi seit 1902 im Linden-Museum in Stuttgart aufbewahrt wurden, offiziell um deren Rückgabe ersucht. 73 M.Goldmann / B. v.Loebenstein, Alles nur geklaut?, MPIL Research Paper No. 2020–19, S. 25, http://dx.doi.org/10.2139/ssrn.3600069, zuletzt abgerufen am 23. März 2022 behaupten, dass die Regierung von Baden-Württemberg „nicht lediglich einer moralischen, sondern mit hoher Wahrscheinlichkeit auch einer rechtlichen Pflicht“ entsprochen habe ungeachtet der Tatsache, dass die Haager Landkriegsordnung, die das nach europäischen Maßstäben gewohnheitsrechtlich seit Jahrhunderten geltende völkerrechtliche Beuterecht in Kriegszeiten ausdrücklich aufhob, erst im Jahre 1910 in Kraft trat. 74 Beschluss des Verfassungsgerichtshofs für das Land Baden-Württemberg vom 21. Februar 2019, Az. 1 VB 14/19, https://verfgh.baden-wuerttemberg.de/fileadmin/redaktion/m-verfgh /dateien/190221_1VB14-19_Beschluss.pdf , zuletzt abgerufen am 23. März 2022. 75 Im Falle Namibias wird die Regierung des Landes aus Sicht von Vertretern der Herero und Nama, die nur gut 12 % der Bevölkerung darstellen, durch das Mehrheitsvolk der Ovambo dominiert. 76 Markus Krajewski, Völkerrecht, Zweite Auflage, Baden-Baden 2020, § 1, S. 21. 77 C.Thielecke / M.Geißdorf, Sammlungsgut (2021), S. 167.
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aus den Herkunftsgesellschaften verbracht wurden,78 drittens durch die fehlende Ratifikation einschlägiger völkerrechtliche Verträge durch Deutschland79 und viertens durch die Beschränkung des Völkerrechts auf die Verschleppung von Kulturgütern während bewaffneten Konflikten80 verbunden mit der Rechtsauffassung, dass man „die Zeit kolonialer Besetzung insgesamt“ nicht „als eine Art bewaffneten Dauerkonflikt[s]“ sehen könne.81 Zudem zielen bis heute nationale und internationale Regelungen zum Kulturgüterschutz nicht auf den Schutz der Schöpfer kolonialen Kulturguts und deren Nachkommen, sondern vielmehr genau umgekehrt auf den Schutz heutiger Bestände in Museen, eingeschlossen deren heutige Bestände kolonialer Provenienz.82 Manche Regelungen würden für den Falle ihrer Anwendung auf Kulturgut kolonialer Provenienz das mit dem Kolonialismus verbundene historische Unrecht heute sogar noch vertiefen statt es zu mildern.83 Auf nationaler Ebene hat es in der Bundesrepublik Deutschland noch fast vierzig Jahre bis zum Jahre 2007 gebraucht, um die UNESCO-Convention vom 14. November 1970 überhaupt zu ratifizieren und dann in nationales Recht zu transformieren. Für koloniale Raubkunst haben aber auch das deutsche Transformationsgesetz von 2007 sowie sein Nachfolgegesetz, das deutsche Kultur78 Vgl. Art. 7 b) i) UNESCO-Übereinkommen von 1970 über Maßnahmen zum Verbot und zur Verhütung der unzulässigen Einfuhr, Ausfuhr und Übereignung von Kulturgut zur Beschränkung auf „Kulturgut, das nach Inkrafttreten dieses Übereinkommens für die betreffenden Staaten aus einem Museum oder […] einer ähnlichen Einrichtung in einem anderen Vertragsstaat gestohlen worden ist […].“ 79 Die UNIDROIT-Konvention von 1995 zu gestohlenen und illegal exportierten Kulturgütern verleiht zwar erstmals auch Privatpersonen und nicht nur Staaten einklagbare Rechte und statuiert „bei rechtswidrig ausgeführtem Kulturgut“ im „traditionellen und rituellen Gebrauch durch Ureinwohner oder Stammesgesellschaften“ ein „für die Rückführung zu beachtendes Interesse“ (Art. 5 Abs. 3 lit. d). Abgesehen davon, dass auch hier eine Rückwirkung auf die Zeit vor 1995 ausgeschlossen ist, hat die UNIDROIT-Konvention in Deutschland nicht einmal rechtliche Geltung, da sie von der Bundesrepublik Deutschland bis heute nicht ratifiziert wurde. 80 Vgl. A.Tas¸delen, Kulturgüterrückführung (2015), S. 227–229 zum Kriegsvölkerrecht im 20. Jahrhundert, bei dem aus der Ächtung der Plünderung von Kulturgütern noch lange Zeit kein Anspruch auf die Rückgabe von Kulturgütern folgte, um nicht unter den Staaten die generelle Akzeptanz der Haager Konventionen von 1899, 1907 und 1954 zu gefährden. 81 So 2018 die Rechtsauffassung des Wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestages, „Ausarbeitung von Kulturgütern aus Kolonialgebieten. Rechtsgrundlagen für Ansprüche auf Restitution“, WD 10-3000-023/18, https://www.bundestag.de/resource/blob/561162/d41c5c7c 2312cbd82286e01677c187e8/wd-10-023-18-pdf-data.pdf (zuletzt abgerufen am 23. März 2022). 82 Vgl. Art. 7 b i) des UNESCO-Übereinkommens von 1970 über Maßnahmen zum Verbot und zur Verhütung der unzulässigen Einfuhr, Ausfuhr und Übereignung von Kulturgut. 83 Vgl. Art. 7 b ii) UNESCO-Übereinkommen von 1970 über Maßnahmen zum Verbot und zur Verhütung der unzulässigen Einfuhr, Ausfuhr und Übereignung von Kulturgut Art. 7 b ii), wonach „der ersuchende [sic!] Staat einem gutgläubigen Erwerber oder einer Person mit einem gültigen Rechtsanspruch an dem Gut eine angemesssene Entschädigung zahlt.“
Kulturgüter kolonialer Provenienz in Deutschland: Rechte auf Restitution?
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gutschutzgesetz von 201684, schon aufgrund fehlender Rückwirkung keine Relevanz. Spezialgesetze über die Rückführung von kolonialen Kulturgütern oder humain remains kolonialer Provenienz zur gesetzlichen Ermächtigung von Museen oder kolonialen Sammlungen zur Rückgabe gibt es – anders als in Frankreich oder England – in Deutschland bis heute nicht.85 Diese Fragen verbleiben in der politischen Entscheidungsgewalt von Landesregierungen und Kommunen als Rechtsträger der Einrichtungen. Noch 2018 teilte die deutsche Bundesregierung zur Frage der Rückgabe von Kulturgut kolonialer Provenienz offiziell mit: „Die ganz überwiegender Zahl von Kulturgut bewahrenden Einrichtungen steht in Trägerschaft und Zuständigkeit der [Bundes-]Länder und Kommunen. Die Voraussetzungen für eine etwaige Rückgabe richten sich für die jeweiligen Einrichtungen nach dem entsprechenden Bundes-, Landes- und Organisationsrecht, insbesondere den Haushaltsordnungen [sic!] des Bundes, der Länder und der Kommunen.“86
Budgetvorschriften zum Schutz deutschen öffentlichen Vermögens als Rahmenvorgabe für die Restitution von Kulturgut kolonialer Provenienz – das ist leider noch immer die traurige Wahrheit der aktuellen Rechts- und politisch vorherrschenden Gemütslage in Deutschland!
3.
Internationale Menschenrechte zum Schutz kultureller Identitäten
Angesichts der Defizite des nationalen und internationalen Rechts zum Schutz der kulturellen Rechte der Herkunftsgesellschaften an Kulturgut kolonialer Provenienz sind in den letzten Jahren immer stärker internationale Menschenrechte zum Schutz kultureller Identitäten in den Fokus der Diskussionen zum Umgang mit Kulturgut kolonialer Provenienz gerückt. Der human rights approach zeichnet sich durch einen kategorial anderen Ansatz aus im Vergleich zu den nationalen und internationalen Rechtsregelungen, die allein auf den staatlichen und zwischenstaatlichen Schutz von Kulturgut zielen. Im human rights approach wechselt nach Evelien Campfens der das Recht zum Kulturgüterschutz bisher beherrschende „focus on the unlawfulness of the acquisition at the time“ in kolonialer Vergangenheit in eine Gegenwartsperspektive of „continuing human rights violation of remaining separated from certain objects (and the84 Gesetz zum Schutz von Kulturgut vom 31. Juli 2016, BGBl. I, S. 1914 (Nr. 39). 85 K.Kuprecht, in: M.Weller u. a. (Hrsg.), Raubkunst und Restitution (2020), S. 157. 86 Deutscher Bundestag, 19. Wahlperiode, Drucksache 19/5130, Antwort der Bundesregierung vom 18. 10. 2018 auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Dr. Kirsten Kappert-Gonther, Erhard Grundl, Margit Stumpp, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Drucksache 19/4177, S. 19, https://dserver.bundestag.de/btd/19/051/1905130.pdf, zuletzt abgerufen am 23. März 2022.
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refore being denied access to participate in own’s cultural life)“ heute.87 Die Anerkennung der immateriellen „heritage interests of communities“ relating „cultural objects taken without the ‚free, prior and informed consent‘ of Indigenous peoples“ verdrängt die rechtliche Bedeutung der Frage nach einer „proven illegality of the acquisition at the [colonial] time.“88 Die rein binäre Option nach Rückgabe oder deren Ablehnung wird außerdem erweitert um weitere rechtliche Optionen, die „may vary from a right to ‚access and control‘“89 with „varying degrees of access“90 „to a straightforward right to repatriation.“91 An die Stelle der Frage nach Recht oder Unrecht in der Vergangenheit tritt ein auf die Gegenwart bezogenes „weighing of interests that different right holders may have in the same object.“92 In diesem pragmatischen Ansatz liegt zwar durchaus Potential für künftige Rechtsentwicklungen,93 aber noch keinesfalls auch die Garantie für eine aus Sicht der ehemals kolonisierten Völker akzeptable Lösung. Das historische Unrecht kann nicht durch pragmatische Lösungen für die Zukunft, sondern nur durch eine davon unabhängige auf die Vergangenheit fokussierte moralische Bewertung und rechtliche Anerkennung des vergangenen Unrechts in Gestalt von Restitutionen, Entschädigungen und offiziellen Benennungen von Opfern und Tätern dieses Unrechts eine angemessene Würdigung finden. Im international human rights approach treten erstmals indigene Personen oder Gemeinschaften als gleichberechtigte Rechtssubjekte neben die Staaten. Allerdings bleiben sie bei der Durchsetzung ihrer Rechte als Individuen und indigene Gemeinschaften weiterhin von der politischen und rechtlichen Unterstützung durch ihre eigenen Heimatstaaten abhängig. Die heute geltenden kulturellen Rechte indigener Völker verpflichten in erster Linie die Heimatstaaten der Herkunftsgesellschaften und nicht Drittstaaten wie die ehemaligen Kolonialmächte.94 Umgekehrt gilt im Übrigen auch für die europäischen Einrichtungen mit Kulturgegenständen kolonialer Provenienz, dass sie von rechtlichen Handlungsermächtigungen und Ausfuhrerlaubnissen durch die staatlichen Entscheidungsträger ihrer jeweiligen Heimstaaten abhängig bleiben. Abgesehen von weiteren keinesfalls nur den humain rights approach betreffenden Problemen nach der rechtlichen Verbindlichkeit von Menschenrechts87 88 89 90 91 92 93 94
E.Campfens, Bangwa Queen (2020), S. 208. E.Campfens, Bangwa Queen (2020), S. 207f. E.Campfens, Bangwa Queen (2020), S. 208. Human Rights Council, „Report of the independent expert in the field of cultural rights, Farida Shaheed“, Document A/HRC/17/38 (2010), S. 16 (§ 62), S. 19 (§ 76). E.Campfens, Bangwa Queen (2020), S. 208. E.Campfens, Bangwa Queen (2020), S. 199. K.Kuprecht, in: M.Weller u. a. (Hrsg.), Raubkunst und Restitution (2020), S. 161; E.Campfens, Bangwa Queen (2020), S. 199. K.Kuprecht, in: M.Weller u. a. (Hrsg.), Raubkunst und Restitution (2020), S. 158f.
Kulturgüter kolonialer Provenienz in Deutschland: Rechte auf Restitution?
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konventionen und -erklärungen95 sowie Problemen bei der präzisen Bestimmung der Berechtigten im Falle des Streits mehrerer Anspruchssteller untereinander bleibt speziell beim humain rights approach aber ein grundsätzliches Problem. A „weighing of interests that different right holders may have in the same object“96 entspricht zwar genau dem heutigen pragmatischen Verständnis der Funktion von Recht in westlichen Gesellschaften, aber es verspricht keineswegs die seit über hundert Jahren ausstehende rechtliche Anerkennung historischer Ungerechtigkeit. Im Gegenteil fordert der humain right approach unter Umständen sogar die Bereitschaft der Nachkommen der Kolonisierten zur dauerhaften Anerkennung der Rechte von „different right holders“, die Nachkommen der europäischen Kolonisatoren eingeschlossen. Insofern kann der humain rights approach da, wo er nicht zur sofortigen Rückgabe von Kulturgut kolonialer Provenienz führt, auch nur dann ein gangbarer Weg in die Zukunft sein, wenn und soweit eine Bereitschaft auf der Seite der Nachkommen der Kolonisierten zu differenzierten Lösungen jenseits der Alternative von Rückgabe oder deren Ablehnung auch tatsächlich vorhanden ist. Erzwungen werden kann diese Bereitschaft nicht – weder rechtlich noch moralisch.
4.
Selbstregulierungen durch kollektive Selbstverpflichtungen (soft law)
Die fehlende Möglichkeit zur gerichtlichen Erzwingung ist per definitionem auch sämtlichen kollektiven Selbstverpflichtungen von kulturellen Einrichtungen und Verbänden inhärent. Richtlinien, die sich Museumsverbände für die Museumspraxis selbst geben wie etwa auf internationaler Ebene der „ICOM Code of Ethics for Museums“ des International Council of Museums97 oder in Deutschland der
95 Keine rechtliche Verbindlichkeit entfaltet beispielsweise die „Declaration on the Rights of Indigenous Peoples“ (UNDRIP), die am 13. September 2007 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen angenommen wurde (61/295). Sie verleiht indigenen Völkern „the right to maintain, control, protect and develop their cultural heritage […]“ (§ 31). Die ebenfalls nicht verbindliche und von Deutschland auch nicht ratifizierte „Council of Europe Framework Convention on the Value of Cultural Heritage for Society“, kurz „Faro Convention“ (2005), die ausdrücklich das „cultural heritage […] independently of ownership“ auffasst, bleibt auf den Schutz des europäischen kulturellen Erbes beschränkt (Art. 2 Faro Convention), ohne dies im Hinblick auf das in Europa befindliche Kulturgut außereuropäischer kolonialer Provenienz zu problematisieren. 96 E.Campfens, Bangwa Queen (2020), S. 199. 97 International Council of Museums, ICOM Code of Ethics for Museums, Paris 2017, https:// icom.museum/wp-content/uploads/2018/07/ICOM-code-En-web.pdf (zuletzt abgerufen am 23. März 2022).
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Leitfaden des Deutschen Museumsbunds e.V.98, werden in der Rechtstheorie wie alle Selbstregulierungen auch als „soft law“ bezeichnet. Das ist aber wenigstens aus der Sicht juristischer Laien irreführend. Der Ausdruck „soft“ sagt nämlich nichts über die soziale Wirksamkeit von Selbstverpflichtungen aus, die unter Umständen – immer in Abhängigkeit von der jeweiligen kolonialgeschichtlichen Sensibilisierung der Öffentlichkeit – sogar höher sein kann als im Falle von staatlichem Recht. Ein beeindruckendes Beispiel für die Wirksamkeit von soft law auf dem Gebiet des Kulturgüterschutzes sind die – ungeachtet längst eingetretener Verjährung – erfolgten Restitutionen aufgrund der von vielen Staaten und nichtstaatlichen Organisationen am 3. Dezember 1998 beschlossenen „Washington Conference Principles on Nazi-Confiscated Art“. Sie wurden unter den wachen Augen der für das Nazi-Unrecht sensibilisierten Weltöffentlichkeit von Deutschland umgesetzt.99 Im Falle der Kulturgüter kolonialer Provenienz sind also der Inhalt der aktuellen Selbstverpflichtungen sowie der Grad öffentlicher Sensibilisierung für das Kolonialunrecht in der europäischen Öffentlichkeit maßgeblich. Hier bietet sich zurzeit aber ein uneinheitliches Bild. Während der „ICOM Code of Ethics for Museums“ orientiert am UNESCO-Übereinkommen von 1970 im Grunde nur die gegenwärtige Rechtslage spiegelt und bekräftigt,100 verfolgt der „Leitfaden des Deutschen Museumsbunds“ eine Linie, die einerseits zwar mit „zwei ethische[n] oder restitutionspolitischen[n] Ansätze[n]“101 über die gegenwärtige Rechtslage hinausweist, aber andererseits im Falle der Kulturgüter ungeachtet aller Aufforderungen zum Dialog die letzte Entscheidungsfreiheit einer Seite belässt, nämlich der Seite der gegenwärtigen Verwahrer des Kulturguts in Deutschland. Damit bleibt die noch aus kolonialer Zeit herrührende strukturelle Ungleichheit bei heutigen Verhandlungen zwischen außereuropäischen Anspruchstellern und europäischen Anspruchsgegnern bestehen. So gibt der „Leitfaden“ sogar noch in den wenigen Fällen, in denen die gerichtliche Durchsetzbarkeit eines Rechtsanspruchs ausschließlich an der Verjährung scheitern würde, den deutschen 98 Deutscher Museumsbund e.V. (Hrsg.), Leitfaden Umgang mit Sammlungsgut aus kolonialen Kontexte, Dritte Fassung 2021, https://www.museumsbund.de/wp-content/uploads/2021/0 3/mb-leitfanden-web-210228-02.pdf (zuletzt abgerufen am 23. März 2022). 99 Vgl. unten Fußnote 103. 100 Erforderlich für eine „restitution of cultural property“ ist der vom Anspruchsteller zu führende Nachweis, dass Kulturgüter „in violation of the principles of international and national conventions“ nach Europa gelangt sind, womit also eine rückwirkende Anwendung heutiger Konventionen ausgeschlossen bleibt. Zusätzlich muss auch das zur Rückgabe bereite Museum nach dem staatlichen Recht „legally free to do so“ sein. Vgl. Sektion 6.3 des ICOM Code of Ethics for Museums, Paris 2017, https://icom.museum/wp-content/upload s/2018/07/ICOM-code-En-web.pdf (zuletzt abgerufen am 23. März 2022). 101 Deutscher Museumsbund e.V. (Hrsg.), Leitfaden Umgang mit Sammlungsgut aus kolonialen Kontexte, Dritte Fassung 2021, S. 82, https://www.museumsbund.de/wp-content/uploads/ 2021/03/mb-leitfanden-web-210228-02.pdf (zuletzt abgerufen am 23. März 2022).
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Museen und deren Rechtsträgern lediglich eine persönliche Empfehlung der „Autoren*innen“ des „Leitfadens“ , von dieser Möglichkeit der Erhebung der Einrede der Verjährung nicht Gebrauch zu machen. Gleichzeitig wird aber ausdrücklich die formalrechtlich bestehende Freiheit der Museen hervorgehoben, sich als letzte Verteidigungslinie vor einer „in den seltensten Fälle“ gerichtlich erzwingbaren Rückgabe notfalls immer auch noch für die Berufung auf die Verjährung eines im Übrigen „gerichtlich durchsetzbaren“ Rechtsanspruchs entscheiden zu können, um eine Rückgabe für immer zu blockieren.102 In allen übrigen Fällen, in denen abgesehen von der Verjährung auch im Hinblick auf die übrigen Voraussetzungen ein rechtlicher Anspruch vom Anspruchsteller heute nicht mehr hinreichend belegt werden könnte, verzichten die „Guidelines“ auf die entscheidende freiwillige „Beweislastumkehr“ zugunsten der Anspruchsteller. Dagegen wurde im Fall eines anderen deutschen historischen Unrechtskontexts, nämlich bei „NS-verfolgungsbedingten Vermögensverlusten“ eine derartige Beweislastumkehr ausdrücklich vorgesehen, weil nach den „Washington Principles“ von 1998 berücksichtigt werden muss, „dass aufgrund der verstrichenen Zeit und der besonderen Umstände des Holocaust Lücken und Unklarheiten in der Frage der Herkunft unvermeidlich sind.“103 Eine Umkehr der Beweislast, die dem Anspruchsgegner die Last auferlegte, gerichtsfest zu beweisen, dass der Erwerb von Kulturgütern rechtmäßig war, wäre aber auch im Falle des kolonialen Unrechts angezeigt gewesen.104 Es liegt zeitlich noch 102 Deutscher Museumsbund e.V. (Hrsg.), Leitfaden Umgang mit Sammlungsgut aus kolonialen Kontexte, Dritte Fassung 2021, S. 82, https://www.museumsbund.de/wp-content/uploads/ 2021/03/mb-leitfanden-web-210228-02.pdf (zuletzt abgerufen am 23. März 2022). 103 Washington Conference Principles on Nazi-Confiscated Art, released in connection with The Washington Conference on Holocaust Era Assets, Washington, DC, December 3, 1998, https://www.state.gov/p/eur/rt/hlcst/270431.htm (zuletzt abgerufen am 23. März 2022), No. 4: „consideration should be given to unavoidable gaps or ambiguities in the provenance in light of the passage of time and the circumstances of the Holocaust era.“ Dies wird in Deutschland durch Veränderungen der Beweislast berücksichtigt: Beauftragter der Bundesregierung für Kultur und Medien (Hrsg.), Handreichung zur Umsetzung der „Erklärung der Bundesregierung, der Länder und der kommunalen Spitzenverbände zur Auffindung und zur Rückgabe NS-verfolgungsbedingt entzogenen Kulturgutes, insbesondere aus jüdischem Besitz“ vom Dezember 1999, Neufassung 2019, S. 35. 104 Anderer Auffassung ist Benno Nietzel, Kulturgutschutz in Europa seit dem 19. Jahrhundert zwischen Verrechtlichung und Kolonialpraxis. Historische Bemerkungen zur aktuellen Debatte, in: Thomas Sandkühler, Angelika Epple, Jürgen Zimmerer (Hrsg.), Geschichtskultur durch Restitution? Ein Kunst-Historikerstreit, Köln 2021, S. 147–162 (160–162), der eine Beweislastumkehr, die „einfach das gesamte Phänomen des europäischen Kolonialismus zu einem Unrechtskomplex“ erklärt und den Beweis des Gegenteils im konkreten geschichtlichen Einzelfall fordert, als „Maximalforderung“ betrachtet, die nicht „durchsetzbar und praktikabel“ sei. Stattdessen empfiehlt er anstelle „von umfangreicher Provenienzforschung […] Forschungsprojekte zur Geschichte der Vorstellungen von Kulturgutschutz“ aus „nicht nur westlich-europäischer Perspektive“ und möchte künftig „weniger das Materielle [sc. der Artefakte mit kolonialer Provenienz] in den Vordergrund“ stellen als
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viel weiter als das NS-Unrecht zurück, wodurch sich die Schwierigkeiten gerichtsfester Beweise deutlich erhöhen. Stattdessen verfolgen die deutschen „Guidelines“ für Museen „zwei ethische oder restitutionspolitische Ansätze“, nach denen entweder die heutige „besondere Bedeutung“ des Kulturgegenstandes oder aber die Feststellung solcher damaliger Erwerbungsumstände maßgeblich sein soll, die ein für „uns [sic!] heute […] nicht hinnehmbares ‚Unrecht‘“ darstellen.105 Wo genau die „Definitionsmacht“ für die Feststellung der heutigen „besondere[n] Bedeutung“ oder des heute für „uns“ nicht mehr hinnehmbaren „Unrechts“ liegt, bleibt aber offen, wie die „Guidelines“ selbst einräumen.106 Dadurch wird aber bewusst oder mindestens unbewusst eurozentristischen Deutungen weiterhin ein großes Einfallstor im Prozess der Aushandlung von Rückgaben eingeräumt. Doch selbst noch dann, wenn die Anwendung der restitutionspolitischen „Guidelines“ im Einzelfall eine Rückgabe nahelegt, bedarf es vor der Rückgabe noch des zusätzlichen Nachweises einer gesonderten „gesetzliche[n] Berechtigung des Museumsträgers, Eigentum ohne rechtliche Verpflichtung aufgrund ethischer oder moralischer Erwägungen aufzugeben.“107 Zwar haben in Deutschland der Bundesstaat und die Bundesländer im Jahre 2019 ihrem gemeinsamen politischen Willen Ausdruck verliehen, dort, wo „rechtlicher Handlungsbedarf besteht […] die Rückführung von Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten zu ermöglichen“ durch Schaffung solcher gesetzlicher Ermächtigungen. Diejenigen Einrichtungen, die Kulturgüter kolonialer Herkunft zurückgeben wollen, sollen daran wenigstens nicht mehr rechtlich gehindert den „offenen Dialog“ sowie „eine Lösung auf der Basis ethisch-moralischer Erwägungen, nicht formal-juristischer Prinzipien“. Nietzel übersieht aber drei Dinge: Erstens schließen sich offener Dialog mit den Nachkommen der Kolonisierten und Provenienzforschung nicht aus, vielmehr bedingen sie sogar einander. Zweitens müssen ethisch-moralische Erwägungen und „formal-juristische“ Prinzipien keine Gegensätze sein. Gerade darauf zielt die Forderung nach einer Beweislastumkehr in denjenigen Fällen, in denen den Nachkommen der Kolonisierten allein der Dialog nicht ausreicht. Darüber haben aber nicht die Nachkommen der Kolonialherrn zu entscheiden. Drittens hängen die Durchsetzbarkeit und Praktikabilität einer Beweislastumkehr in der Tat davon ab, inwieweit ein Bewusstsein bei den heutigen Nachkommen der Kolonialherren darüber entsteht, dass das gesamte „Phänomen des europäischen Kolonialismus zu einem Unrechtskomplex“ historischen Ausmaßes gehört. 105 Deutscher Museumsbund e.V. (Hrsg.), Leitfaden Umgang mit Sammlungsgut aus kolonialen Kontexte, Dritte Fassung 2021, S. 83, https://www.museumsbund.de/wp-content/uploads/ 2021/03/mb-leitfanden-web-210228-02.pdf (zuletzt abgerufen am 23. März 2022). 106 Deutscher Museumsbund e.V. (Hrsg.), Leitfaden Umgang mit Sammlungsgut aus kolonialen Kontexte, Dritte Fassung 2021, S. 83f., https://www.museumsbund.de/wp-content/upload s/2021/03/mb-leitfanden-web-210228-02.pdf (zuletzt abgerufen am 23. März 2022). 107 Deutscher Museumsbund e.V. (Hrsg.), Leitfaden Umgang mit Sammlungsgut aus kolonialen Kontexte, Dritte Fassung 2021, S. 86, https://www.museumsbund.de/wp-content/uploads/ 2021/03/mb-leitfanden-web-210228-02.pdf (zuletzt abgerufen am 23. März 2022).
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werden.108 Dennoch ist seit 2019 auf rechtspolitischem Weg nur wenig geschehen. Abgelehnt wurde 2021 ein Antrag im deutschen Parlament, der zumindest Museen in Trägerschaft des Bundes nicht nur berechtigen, sondern auch rechtlich dazu verpflichten wollte, dass sie „in Fällen, in denen die Provenienzrecherche ergibt, dass ein Objekt, welches aus heutiger Sicht nicht rechtmäßig erworben wurde, zusammen mit den Anspruchsberechtigten gemeinsame Lösungen auf Augenhöhe, analog zum Geiste der Washingtoner Erklärung, […] finden.“109 Ein weiterer Antrag, für Streitfälle im Zusammenhang mit der Rückgabe von Kulturgut kolonialer Provenienz eine „Ethikkommission mit Vertretern aus Herkunftsgesellschaften, Museen und Wissenschaft“ einzusetzen,110 wurde im Februar 2021 ebenso vom Parlament abgelehnt111 wie weitere Anträge zum Ausschluss der Einrede der Verjährung gegenüber Herausgabeansprüchen auf Kulturgut kolonialer Herkunft112 sowie zur Beweislastumkehr im Falle von „Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten, dessen rechtmäßiger Erwerb nicht nachgewiesen werden kann […].“113 Zwar ist in den letzten Jahren eine deutliche Hinwendung zu einem „gegenwartsbezogene[n] und zukunftsgerichtete[n] Ansatz“ beim heutigen Umgang mit Kulturgütern indigener Provenienz zu verzeichnen.114 Das betrifft nicht nur das Gebiet der internationalen Menschenrechte auf kulturelle Identität, sondern reicht auch weiter über die kollektiven Selbstverpflichtungen zum Umgang mit dem kolonialen Unrecht (soft law) in Deutschland und noch stärker in den Niederlanden115 bis hin zu jüngsten Gesetzesinitiativen in Deutschland, die immerhin die Vorstufe zum hard law, also zur gesetzlichen Regelung der Rückgabe 108 Erste Eckpunkte zum Umgang mit Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten der Staatsministerin des Bundes für Kultur und Medien, der Staatsministerin im Auswärtigen Amt für internationale Kulturpolitik, der Kulturministerinnen und Kulturminister der Länder und der kommunalen Spitzenverbände (13. 03. 2019), S. 7, https://www.auswaertiges-amt.de/bl ob/2210142/b4e7b4f2249f51cf9d60cb31ef9888bb/190412-stm-m-sammlungsgut-kolonialkontext-data.pdf (zuletzt abgerufen am 23. März 2022). 109 Deutscher Bundestag Drucksache 19/8545 (19. 03. 2019), Antrag von Einzelabgeordneten und der Fraktion der Freien Demokratischen Partei (FDP), S. 2. 110 Deutscher Bundestag Drucksache 19/8545 (19. 03. 2019), Antrag von Einzelabgeordneten und der Fraktion der Freien Demokratischen Partei (FDP), S. 2f. 111 Deutscher Bundestag, Dokumente, Textarchiv, 2019, 2./3. Lesung, https://www.bundestag. de/dokumente/textarchiv/2019/kw14-pa-kultur-medien-631622, zuletzt abgerufen am 23. März 2022. 112 Deutscher Bundestag Drucksache 19/9340 (11. 04. 2019), Antrag von Einzelabgeordneten und der Fraktion DIE LINKE, S. 2. 113 Deutscher Bundestag Drucksache 19/7735 (13. 02. 2019), Antrag von Einzelabgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, S. 3; Deutscher Bundestag Drucksache 19/ 9340 (11. 04. 2019), Antrag von Einzelabgeordneten und der Fraktion DIE LINKE, S. 2. 114 K.Kuprecht, in: M.Weller u. a. (Hrsg.), Raubkunst und Restitution (2020), S. 163. 115 National Museum of World Cultures, Return of Cultural Objects: Principles and Process (2019), S. 6 (Criteria for Claims for Return).
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von Kulturgütern bilden. Ein Vorbild für diesen gegenwartsorientierten Ansatz existiert in der staatlichen Gesetzgebung schon seit gut dreißig Jahren in den USA mit dem „Native American Graves Protection and Repatriation Act 1990 (NAGPRA)“, der bereits damals „die Museen mit Bundesfinanzierung verpflichtete, indianische Kulturgüter auch ohne Rechtsanspruch zu restituieren, wenn eine ‚cultural affiliation‘, also eine kulturelle Verbindung zu einem indianischen oder hawaiianischen Stamm oder Stammesangehörigen besteht.“116 Davon ist Deutschland im Hinblick auf Kulturgüter kolonialer Herkunft heute allerdings noch weit entfernt. Im Übrigen stand Anfang 2021 im deutschen Parlament der Entwurf für ein Restitutionsgesetz zur Abstimmung, das noch eine weitere Facette der Problematik von Kulturgütern kolonialer Provenienz in deutschen Sammlungen beleuchtet. Nicht alle hier in Rede stehenden Sammlungen sind in bundesstaatlicher, landesstaatlicher oder kommunaler Trägerschaft. Vielmehr gehören auch private Personen und private Einrichtungen in Deutschland zum Kreis möglicher Anspruchsgegner von Rückgabeersuchen. Private Einrichtungen sind aber selbst im Falle des Besitzes von Kulturgut, dass aus konkreten kolonialen Gewaltkontexten stammt, nicht durch Gesetze oder Guidelines zur Rückgabe zu bewegen. Daher sah der Entwurf zum Restitutionsgesetz vor, die „Rückerstattung von Kulturraubgut aus kolonialen Kontexten auch durch Private“ vorzubereiten durch die Errichtung eines Fonds für die nach der deutschen Verfassung gebotene materielle Entschädigung privater Einrichtungen, die Kulturgut notfalls über den Weg staatlicher Enteignung an die Herkunftsgesellschaften zurückgeben müssen.117 Auch dieser Gesetzesentwurf ist vom deutschen Parlament abgelehnt worden.118
IV.
Wie geht es weiter?
Im Umgang mit dem Kulturgut kolonialer Provenienz bedarf es – wie im Fall der Rückgabe des NS-Raubguts – eines parteiübergreifenden politischen Willens, sich angesichts der historischen Dimension des kolonialen Unrechts nicht hinter Vorschriften des Rechts zu verstecken, die nicht für die juristische Vergangenheitsbewältigung geschaffen wurden, sondern für den Schutz von Eigentum und Kulturgütern im Rechtsstaat. In den Kolonialgebieten hat es aber nie einen 116 K.Kuprecht, in: M.Weller u. a. (Hrsg.), Raubkunst und Restitution (2020), S. 163. 117 Deutscher Bundestag Drucksache 19/9340 (11. 04. 2019), Antrag von Einzelabgeordneten und der Fraktion DIE LINKE, S. 2. 118 Deutscher Bundestag, Dokumente, Textarchiv, 2019, 2./3. Lesung, https://www.bundestag. de/dokumente/textarchiv/2019/kw14-pa-kultur-medien-631622, zuletzt abgerufen am 23. März 2022.
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Rechtsstaat gegeben. Ob der parteiübergreifende politische Wille, auch – für die Nachkommen der Kolonialherren schmerzhafte – Konsequenzen aus dem historischen Kolonialunrecht zu ziehen, in Deutschland schon heute hinreichend vorhanden ist, mag bezweifelt werden. Zumindest wurden noch in der vergangenen Legislaturperiode im Jahre 2021 Anträge im deutschen Bundestag abgelehnt, die darauf zielten, „den deutschen Kolonialismus unmissverständlich als Verbrechen“119 zu bezeichnen, sowie analog zum Holocaust-Mahnmal in Berlin auch für die Opfer des Kolonialismus eine zentrale Erinnerungsstätte in der deutschen Hauptstadt einzurichten.120 Gesetzespolitische Initiativen auf Länderebene, die in Deutschland für das Bildungswesen zuständig sind, sehen die Versäumnisse der letzten Jahrzehnte daher auch in fehlender Aufklärungsarbeit über den Kolonialismus, die schon in den Schulen beginnen müsse,121 um künftige Generationen innerhalb und außerhalb des deutschen Parlaments mehr für das koloniale Unrecht zu sensibilisieren als die bisherigen. Neu ist seit kurzer Zeit, dass sich die in Deutschland seit Dezember 2021 amtierende Regierungskoalition ausdrücklich dazu bekennt, im „Dialog mit den Herkunftsgesellschaften […] Rückgaben“ anzustreben und zu unterstützen sowie „ein Konzept für einen Lern- und Erinnerungsort Kolonialismus“ zu entwickeln.122 Alle künftigen Lösungen für die Frage nach dem Verbleib von Kulturgut kolonialen Ursprungs in staatlichen, kommunalen und privaten Einrichtungen sollten in Zukunft konsequent von zwei Maximen geleitet sein. Erstens muss endgültig jede offene oder versteckte Form einseitiger europäischer Deutungsund Bestimmungshoheit aufgegeben werden.123 Zweitens muss auch die Praxis ein Ende finden, nicht mehr vollständig aufklärbare Provenienzen und Erwerbsumstände als Argument für die Ablehnung von Rückgaben zu verwenden, 119 Deutscher Bundestag Drucksache 19/20546 (30. 06. 2020), Antrag von Einzelabgeordneten und der Fraktion DIE LINKE, S. 4. 120 Deutscher Bundestag Drucksache 19/7735 (13. 02. 2019), Antrag von Einzelabgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, S. 2. 121 Niedersächsischer Landtag Drucksache 18/9921, Entschließung des Landtags vom 14. 09. 2021, S. 1. 122 Koalitionsvertrag 2021–2025 zwischen der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD), BÜNDNIS 90/Die Grünen und den Freien Demokraten (FDP), Mehr Fortschritt wagen. Bündnis für Freiheit, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit, S. 100. Im vorangegangenen Koalitionsvertrag der 19. Legislaturperiode (2017–2021) war lediglich konkret von der „Rückgabe NS-verfolgungsbedingt entzogener Kulturgüter“ die Rede gewesen, hingegen im Hinblick auf „Kulturgut aus kolonialem Erbe in Museen und Sammlungen“ nur allgemein von einer „Aufarbeitung der Provenienzen“ (Ein neuer Aufbruch für Europa. Eine neue Dynamik für Deutschland. Ein neuer Zusammenhalt für unser Land, Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD, 19. Legislaturperiode, S. 169). 123 In diesem Sinne jüngst auch der Historiker Jürgen Zimmerer, Zeigen, dass Deutschland die Deutungshoheit abgibt, https://www.deutschlandfunkkultur.de/juergen-zimmerer-ueberdie-benin-bronzen-zeigen-dass-100.html , zuletzt abgerufen am 18. Mai 2022.
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die von Vertretern der Herkunftsgesellschaften gefordert werden. In dem hier geforderten neuen Geist will beispielsweise das Städtische Museum Braunschweig, das am von der VolkswagenStiftung geförderten Forschungsverbund „Provenienzforschung in außereuropäischen Sammlungen und der Ethnologie in Niedersachsen“, kurz PAESE124, beteiligt ist, einen Patronengurt an Namibia zurückgeben, der zwar mit hoher Wahrscheinlichkeit, aber eben nicht endgültig nachweisbar vom namibischen Nationalhelden Kahimemua Nguvauva, dem Anführer des Volkes der Ovambanderu, stammt.125 An erster Stelle steht aber die Notwendigkeit der Herstellung von weltweiter Transparenz der Bestände in Deutschland. Darin wird in Deutschland zurzeit auch schon aktiv gearbeitet nach Einrichtung eines zentralen „German Contact Point for Collections from Colonial Contexts“126 im Jahre 2019 und dem Beschluss der Konferenz aller deutschen Kultusminister im März 2021 zu einer „3Wege-Strategie für die Erfassung und digitale Veröffentlichung von Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten in Deutschland“, in die auch die fünf Museen und Einrichtungen des niedersächsischen PAESE-Verbundprojekts in einer Pilotgruppe einbezogen werden.127 Im November 2021 ging in Umsetzung der von Bund, Ländern und kommunalen Spitzenverbänden ein Jahr zuvor beschlossenen Digitalisierungsstrategie der Prototyp eines Online-Portals für Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten bei der Deutschen Digitalen Bibliothek in Betrieb.128 In Niedersachsen wurde bereits die PAESE-Datenbank zur transparenten Onlinestellung von Kulturgütern in niedersächsischen Museen und Sammlungen aufgebaut.129 In diesem Sinne sollten (1.) alle Kulturgüter kolonialer Provenienz so schnell wie möglich in digitalen Verzeichnissen weltweit recherchierbar gemacht werden, (2.) alle Kulturgüter, die nach heutiger Beurteilung nachweisbar aus einem konkreten Unrechtszusammenhang stammen, „especially acquired without the consent of owners or under conditions of duress that can be understood as forced sale or aquired from a possesor who was not culturally authorised 124 https://www.postcolonial-provenance-research.com/ , zuletzt abgerufen am 18. Mai 2022. 125 https://www.provenienzforschung-niedersachsen.de/patronengurt-gehoerte-legendaeremanfuehrer-der-ovambanderu/, zuletzt abgerufen am 23. März 2022. 126 https://www.kmk.org/fileadmin/Dateien/pdf/PresseUndAktuelles/2019/2019-10-16_Kon zept_Sammlungsgut_aus_kolonialen_Kontexten_oeffentlich.pdf, zuletzt abgerufen am 23. März 2022. 127 Niedersächsischer Landtag Drucksache 18/9921, Entschließung des Landtags vom 14. 09. 2021, S. 1f. 128 https://www.bundesregierung.de/breg-de/bundesregierung/bundeskanzleramt/staatsminis terin-fuer-kultur-und-medien/sammlungsgut-aus-kolonialen-kontexten-1851438, zuletzt abgerufen am 18. Mai 2022. 129 https://www.postcolonial-provenance-research.com/datenbank/, zuletzt abgerufen am 23. März 2022.
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to dispose of the particular cultural objects“130 proaktiv den Nachkommen der Opfer des kolonialen Unrechts zur Rückgabe angeboten und im Falle der Annahme dieses Angebots zurückgegeben werden, (3.) alle übrigen Kulturgüter kolonialer Provenienz, auf die Herkunftsstaaten oder Herkunftsgesellschaften – nicht miteinander konkurrierende131 – Ansprüche unter Glaubhaftmachung ihrer kulturellen Affiliation zu den Gegenständen erheben, ebenfalls zurückgegeben werden, es sei denn, dass a. die heutigen Besitzer nachweisen können, dass der erste Erwerb rechtmäßig war wie zum Beispiel im Falle des Verkaufs von Gegenständen, die speziell für die Kolonisatoren produziert worden sind oder Gegenstand nachweisbar freier und fairer Tauschgeschäfte waren, b. die Anspruchsteller sich mit anderen Lösungen als der physischen Rückgabe wie zum Beispiel mit einer Dauerleihgabe oder einer nur digitalen Rückgabe ausdrücklich einverstanden erklären.
130 Bei diesen beispielhaft und nicht abschließend genannten Fallgruppen orientiert sich der Vorschlag wörtlich an den Criteria 4.3 der Guidelines des niederländischen Nationaal Museum van Wereldculturen [National Museum of World Cultures (2019), Return of Cultural Objects: Principles and Process, S. 6]. 131 Wenn und solange unterschiedliche Anspruchsteller, die ihre kulturelle Affilation zu Kulturgütern kolonialer Provenienz glaubhaft machen können, im Hinblick auf sich wechselseitig widerstreitende Rückgabeansprüche miteinander im Streit liegen, bleibt die Rückgabe an einen der Anspruchsteller problematisch. Mit einer verfrühten Rückgabe ist eine faktische und in der Regel nicht mehr rückgängig zu machenden Entscheidung über den Streit durch den bisherigen europäischen Besitzer verbunden, die ihm rechtlich, moralisch und kulturell nicht zusteht. Solche Differenzen müssen unter neutraler Moderation in einer Ethikkommission allein unter den Anspruchstellern geklärt werden.
Albrecht Götz von Olenhusen
A Fellow of Infinite Jest, of Most Excellent Fancy… – Nachruf auf Rechtsanwalt Dr. Klaus Neuenfeld, Weimar 17. 12. 1935–19. 5. 2021
Klaus Neuenfeld, der nach längerer schwerer Krankheit am 19. 5. 2021 in Weimar verstarb, zählte schon früh zu den Juristen mit einem weit über das engere Berufsfeld hinausreichenden Horizont und Interessenkreis. Bei ihm verknüpften sich neben den allgemeinen Gebieten des praktischen Anwalts die Spezialisierung aufs Bau- und Architektenrecht mit Feldern der Literatur, der Geistes- und Rechtsgeschichte, zumal des Architekten- und Urheberrechts und der regionalen und überregionalen Landesgeschichte Thüringens und Sachsens. Als ich ihn – wir beide Novizen im von Manfred Rehbinder begründeten und souverän geleiteten Arbeitskreis für Geschichte des Urheberrechts, heute Arbeitskreis für Geschichte und Zukunft des Urheberrechts – Ende der 1990er Jahre kennen lernte, fielen seine fundierten urheberhistorischen Beiträge, stets mit rhetorisch-pointierter Brillanz vorgetragen, als funkelnde Glanzstücke auf. Aus ihnen sprach zudem stets ein gehöriger Sinn für die praktischen Anwendungslehren aller theoretischen Glanzleistungen. Im sächsischen Annaberg 1935 geboren, in Berlin aufgewachsen und nach dem Studium an der FU Berlin, folgte für den jungen Anwalt eine deutliche Spezialisierung im Architektenrecht nicht zuletzt 1966 verbunden mit der langjährigen erfolgreichen Geschäftsführung des Bundes der Architekten (BDA), alsbald zugleich Landesgeschäftsführer des BDA in Nordrhein-Westfalen. Durch die eigene Bonner Kanzlei, seit 1984 in Sozietät mit seiner Ehefrau Inge Gräfin Dohna, weiterhin als Vertrauensanwalt des BDA bis 2014, und durch Seminare und Gastvorlesungen an Universitäten vermochte er sich auf seinen Spezialgebieten schnell eine überregionale und bundesweite Anerkennung zu erwerben. Kurz nach der Wiedervereinigung zog es ihn nach Weimar. Neben dem Auf- und Ausbau der spezialisierten Kanzlei traten eine Fülle weiterer Aufgaben wie der Vorsitz im Strukturreformausschuss beim Bundesverband der freien Berufe, im Förderkreis für Bauwerkserhaltung, in der Deutschen Gesellschaft für Baurecht sowie seit 1997 als Mitglied des Thüringer Anwaltsgerichtshofs, dann als Vorsitzender von dessen 2.Senat und von 2004 bis 2014 als dessen Präsident. Als Berater und Vertreter in rechtlichen Konflikten von oftmals überregionaler oder
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grundsätzlicher Bedeutung trug er zur Fortentwicklung seiner Rechtsgebiete wesentlich bei. Dass die Vielzahl der Publikationen zum Architekten- und Urheberrecht dann auch in die Dissertation über die „Grundlagen des Urheberrechts der freiberuflichen Architekten“ (Universität Bremen) einmündete, war nach alldem nur folgerichtig.1 In seinen zahlreichen Standardwerken zum Bau- und Architektenrecht wie zum Vertragsrecht dieser Berufszweige hat das einschlägige Urheberrecht nebst den geschichtlichen Grundlagen und Herleitungen stets eine gewichtige Rolle eingenommen. Mehr als 160 Beiträge zu theoretischen und vor allem höchst praktischen Fragen der komplexen Beziehungen der an Bauten aller Art Beteiligten zwischen Kunst, Technik, Ökonomie, Denkmalschutz und Ingenieurwesen, in der Trias von Bauherren, Bauleitern und Sachverständigen in ihren widersprüchlichen oder widerstreitenden Rollen und Funktionen bildeten, zusammen mit der laufenden kritischen Chronologie der Rechtsprechung zum Architekten- und Ingenieurvertragsrechts aktuelle höchst sachkundige Begleiter eines Gebiets, auf welchem Klaus Neuenfeld seinen Ruf als hochrangiger Sachkenner und vertrauenswürdiger Berater oder Gutachter begründete.2 Fundierte Überlegungen zur Sozialgeschichte des Architekten3, eine beachtliche Reihe von Beiträgen zur Geschichte des Urheberrechts, vor allem im Arbeitskreis für Geschichte des Urheberrechts vorgetragen und in der von Manfred Rehbinder edierten UFITA veröffentlicht, bewiesen, dass ihm die einschlägige Geschichte der künstlerischen Berufe, des Denkmalschutzes, der Urheber zumal mehr als zwei Jahrzehnte lang auch hier am Herzen lag. Die Teilnehmer der urheberhistorischen Tagungen erinnern sich gerne etwa der maßgeblichen Studie über den bekannten Verleger Carl Joseph Meyer im Kontext des Urheberrechts im 19. Jahrhundert4 oder zuletzt an die Neuauflage der jahrzehntelangen Kontroverse um den Urheberrechtsgeist in der Frühen Neuzeit, welche die in den 1960er Jahren begonnene, bekannte Pohlmann-Bappert-Kontroverse so kritisch wie innovativ ins Licht stellte. Hier konnte sich seine eindringliche, quellengestützte Erfassung rechtshistorischer Problemstellungen mit plastischen Präsentationen ebenso bewähren wie bei lebhaften Diskussionen des Arbeitskreises. Dass dessen Tagungen etwa in Weimar oder in Gotha sich 1 Klaus Neuenfeld, Grundlagen des Urheberrechts der freiberuflichen Architekten. Bremen 2008. 2 S. das Schriftenverzeichnis von Klaus Neuenfeld bis 2016 in: Inge Gräfin Dohna, Albrecht Götz von Olenhusen (Hrsg.), Im Dienste des Architekten-, Bau- und Urheberrechts. Festschrift für Klaus Neuenfeld zum 80. Geburtstag, Hamburg 2016, S. 313–321. 3 Klaus Neuenfeld, Überlegungen zu einer Sozialgeschichte des Architekten. In: Festschrift für Hermann Korbion, 1986, S. 315ff. 4 Klaus Neuenfeld, Der Verleger Carl Joseph Meyer und das Urheberrecht. In: UFITA 2012, I, S. 119ff.
A Fellow of Infinite Jest, of Most Excellent Fancy…
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seiner tatkräftigen engagierten Organisationsfähigkeit mit verdankten, wurde allen Teilnehmern ebenso offenkundig wie seine Fähigkeit zu kunstvollen Vorträgen, geselligen Beiprogrammen und sonstigen allseits begrüßten Begleiterscheinungen wie geschichtsträchtige oder bau- und kunsthistorische Führungen durch nähere und weitere anmutige Umgebungen in Thüringen und Sachsen. Wann und wo auch immer der stets gut aufgelegte, allseits gebildete Klaus Neuenfeld einem mit seinem liebenswerten herzlichem Naturell begegnete, vermochte er zudem durch seine phänomenale Begabung zur bühnenreifen Rede und heiteren Gegenrede, durch schlagfertigen Witz und spontanen Sinn für Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung so permanent wie freundschaftlich für sich einzunehmen – so ganz nach dem bekannten Dichter Wort – als ein „Bursche von unendlichem Humor, voll von den herrlichsten Einfällen“. Die gleichermaßen kaum überschaubare, diversifizierte Phalanx seiner Verehrer und Freunde hat nicht nur erfreut begrüßt, dass ihm das Bundesverdienstkreuz am Bande verliehen wurde. Und jede und jeder empfand es als sehr berechtigt, dass die ihm und seinem Wirken zu Ehren anlässlich seines 80. Geburtstag in Weimar von Wegbegleitern aus Wissenschaft und Praxis gewidmete Festschrift den sein gesamtes Lebenswerk in nuce treffend zusammenfassenden Titel trägt: „Im Dienste des Architekten-, Bau- und Urheberrechts“..
Autorenverzeichnis
Kostas N. Christodoulou, Dr. iur, Dr. phil., Professor für Zivilrecht an der Nationalen und Kapodistrias-Universität Athen (Griechenland) Renate Frohne, Dr. phil., Kantonsschulprofessorin i. R., Trogen (Schweiz) Thomas Gergen, Dr. iur. Dr. phil., Maître en droit, Professor für Internationales und vergleichendes Zivil- und Wirtschaftsrecht mit Immaterialgüterrecht und Direktor des Forschungsbereiches „Geistiges Eigentum: Grundlagen und Anwendungen“ der ISEC Université Luxembourg (Luxemburg) Albrecht Götz von Olenhusen, Dr. iur., Professor, lehrt Urheber- und Medienrecht an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf Alexander Ihlefeldt, LL.M. (Oslo/Hannover), Dr. iur., Syndikusrechtsanwalt bei der Volkswagen AG Christoph-Eric Mecke, Dr. iur., ao. Professor für Rechtsvergleichung, Rechtsgeschichte und Rechtsphilosophie an der Universität Zielona Góra (Polen) Stephan Meder, Dr. iur., Professor für Zivilrecht und Rechtsgeschichte an der Leibniz Universität Hannover Rainer Nomine, Dr. iur., Richter am Sozialgericht Thomas Rüfner, Dr. iur., M.A., Professor für Bürgerliches Recht, Römisches Recht, Neuere Privatrechtsgeschichte sowie Deutsches und Internationales Zivilverfahrensrecht an der Universität Trier
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Autorenverzeichnis
Christoph Sorge, Dr. iur., Habilitand und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Zivilrecht und Rechtsgeschichte an der Leibniz Universität Hannover Natalia Theissen, Ass. iur., Geschäftsführerin des vom BMWi geförderten Verbundprojekts GAIA-X 4 KI im Schwerpunktbereich Recht am Institut für rechtswissenschaftliche Grundlagenforschung der Leibniz Universität Hannover, Lehrbeauftragte ebd. sowie an der TU Braunschweig Bastiaan van der Velden, Dr. iur., Lehrbeauftragter für Privatrecht an der Open Universiteit Nederland (Niederlande)
Personenregister
A.G. für Verkehrspatente 110f., 113, 118 Adames, Nicolas 64, 74–77, 79 Association Littéraire et Artistique Internationale (ALAI) 125, 137, 148, 155f. Audi 109, 111 Aurispa, Giovanni 11f., 24, 29 Bergmann, Oskar 110f., 113, 200 Berner Union 126, 129, 137, 149f., 162 Bogisˇic´, Valtazar 227 Bolla, Plinio 145 Brandweiner, Heinrich 85–92, 95, 99 Bruni, Leonardo 11f., 22, 24, 29, 32 Buijtelaar, Laurens 172, 174 Bureau International de l’Edition Mecanique (BIEM) 148 Campfens, Evelien 245, 257–259 Chrysler Corporation 120, 122 Confédération Internationale des Sociétés d’Auteurs et Compositeurs (CISAC) 137, 148, 156 de Haas, Walter 113, 117 Dixi Cars 109 Dornis, Tim W. 161, 168, 171, 174 Ehrhardt, Paul
108, 114–116
Fishleigh, Walter T. 121f. Ford, Henry 106, 121f. Franckh’sche Verlagshandlung
113
Goldmann, Matthias 213, 220f., 244–246, 254f. Grégoire, Ernest 64–66, 68–71, 73, 78 Hauptmann, Gerhart 150, 153 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 215–217, 224f. Herberger, Maximilian 166 Hitzig, Julius Eduard 37, 46f. Hoffmann, Heinrich 30, 86, 135f., 140, 153, 155 Hofmann, Willy 85f., 88, 91, 153 Hofmannsthal, Hugo von 150f., 153 Hubmann, Heinrich 91, 106–108, 126, 128, 145, 147, 155–157 Internationale Arbeitsorganisation (ILO) 135–137, 141, 148 Jacoby, Gerhard 131, 157 Jaray, Paul 101–124 Kaminski, Margot E. 176f. Kohler, Josef 132, 138f., 141, 196, 227, 233, 251 Körner, Theodor 7, 35f., 38–43, 45–52, 54–57 Lauber-Rönsberg, Anne 173f., 177 Laurent, Johannes Theodor 64, 66, 72– 75, 78
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Personenregister
Macron, Emmanuel 214, 240, 242 Martial 10, 14, 16, 21, 25f. Metz, Auguste 63f., 66–79 Metz, Charles 63–65, 67, 70, 75 Metz, Norbert 63f., 66, 69f., 73, 75 Neuenfeld, Klaus 8, 42, 269–271 Nicolaische Buchhandlung Berlin 35, 38, 51, 56f. Parthey, Gustav 35–39, 42f., 45–49, 51–57 Priscian 12, 25, 28–30 Rumpler, Edmund
106–109, 113f.
Sarr, Felwine 240–242 Savigny, Friedrich Carl von 14, 17, 20f., 23, 32, 134, 146, 158f., 216–218, 221, 224f., 227, 230f.
Savoy, Bénédicte 240–242 Schargorodsky, Lazar 118 Schellwitz, Hartmann 52, 54 Schulze, Erich 128f., 134, 138, 151, 157, 161, 164, 170, 173f., 207 Senftleben, Martin 172, 174, 205 Società Italiana degli Autori ed Editori (SIAE) 163 Thibaut, Anton Friedrich Justus 229 Troller, Alois 128, 147, 155–157 Tucholsky, Kurt 143f. UNESCO 137, 148f., 239, 256, 260 UNIDROIT 135f., 256 Verband Deutscher Bühnenschriftsteller und Bühnenkomponisten 142
Sachregister
actio iniuriarum aestimatoria 81f., 93f., 98 aerodynamic 101, 103–108, 110f., 114f., 118f., 121 Als Ob-Philosophie 158 Ausübende Künstler 126f., 133–137, 139– 142, 146–149, 155–157 Bau- und Architektenrecht 269f. Bearbeiterurheberrecht 138, 159 Berliner Automobilausstellung 107 Blockchain 128, 162f., 185 Courrier du Grand-Duché de Luxembourg 61, 63–70, 73–77 DDR 86, 89f., 253 Diebstahl 9f., 13–15, 19, 22, 24f., 221, 252 Diensterfindung 104f. Distributed-Ledger-Technologie 162 Duell 93f., 96–98 Ehrverletzungen 82, 92–94, 96–99 Eingeborene 218f., 221–235, 251 Ethnologen 214 Feilhalten der Ehre 92–94, 96, 98 Freundschaft 19, 21, 27, 197 Geisteskinder 23f., 26 Geldentschädigung 81f., 84, 92–99 Gelehrtenehre 91, 99 General Public License 186, 188, 191
Gewohnheitsrecht 215f., 228, 235, 250f. Großherzogtum Luxemburg 61–63 Herrenreiter-Urteil des BGH
81f., 97, 99
Infopaq/DDF-Entscheidung 161 Intertemporalität 253–255 ius non scriptum 185, 190, 216f. Juristische Nothlüge
158
KI-Rechtspersönlichkeit 175–178 Kollisionen 230 Konkordanz, praktische 209 Korea 83, 88f., 91f. Kulturgüter 141, 162, 211, 213f., 216, 222, 239f., 242–245, 248–253, 255–257, 260– 267 Künstliche Intelligenz 7, 165f., 175, 177 Künstliche Neuronale Netze 167 Kunstwerke 20 Lauterkeitsrecht 163f. leges barbarorum 227 Leistungsschutz 125–127, 129, 131, 133, 135f., 138–141, 143f., 146–148, 150, 154f., 157–160, 164 libellus 14f., 17 Literarisches Eigenthum 52, 81 Lizenzierbarkeit 198 Lizenzplakette 118f. Luxemburger Zeitung 64–66, 68–71
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Sachregister
Magnettonband-Urteil 142 Marktrecht 197 Meinungsfreiheit 196 Missionare 214, 228f., 251 Nachbarrechte 126f., 137, 141, 155, 160 Nachdruck 7, 36f., 39f., 42–59, 61 Naturzustand 215–217, 222, 225 Non-Fungible-Tokens 162f. Normative Vielfalt 212f. NSDAP 85, 87, 91 Open Source Software 192–194
179f., 185–188,
Patent 101–124, 132 Patent laws 102, 104, 116f. plagiaria lex 10, 16f., 25 Plagiator 10f., 13f., 16, 18, 20, 27, 29f. Pohlmann-Bappert-Kontroverse 270 Preßgesetz 61 Pressefreiheit 61, 65, 67f., 71f., 77, 206 Preußisches Allgemeines Landrecht 42, 52, 94, 248, 250 Preußisches Urheberrechtsgesetz von 1837 52f., 55, 57–59 Programmierer 167, 174, 188 Provenienz, koloniale 239–241, 243f., 248f., 252–254, 256–261, 263–267 Prüfungspflicht 180–184, 189 Restitution 213f., 237, 239–242, 244f., 251, 256–258, 260f., 263f. Rom-Abkommen 136 Rundfunkurteile 150, 155 Schöpfung 22, 125f., 128, 130, 133, 137, 139, 141–149, 155–159, 161, 163f., 168– 170, 172f., 177f.
Schranken 53, 196, 205 Schutzgebiete 212, 219, 222–228, 230–234, 246f., 250f. Selbstregulierung 7, 179f., 185f., 189, 193f., 249, 259f. Silberpfeile 101 Soziale Marktwirtschaft 141, 146 Störertätigkeit 181 Streaming- und Cloud-Dienste 160 Stromlinienkarosserien 103, 110, 114, 116 Studium des Vogelfluges 115 technical knowledge 103 Text and Data Mining 206f. Theaterbühnen 134, 140 Tonträgerhersteller 134, 138f. Tropfenwagen 107 Übertragungszwecklehre 131, 146, 199 Unterwerfungs- und Gesellschaftsvertrag 215–217, 225 US patent authority 122 Velo-Torpille 114 Verbreitungstheorie 153f. Verlagsrecht, ewiges 37, 39, 42–45, 47, 52, 54, 56–58, 126f., 139f., 153, 155f. Verwandte Schutzrechte 134, 160 Völkerrecht der Kolonisten 222 Vorlesungen 13, 25, 193, 215f., 229 Web 3.0 162 Wirtschaftswunder
126, 140, 142
Zeitlicher Abstand 212 Zentralismus 211, 218, 222 Zitatrecht 206 Zweckbindungsprinzip 199, 205, 207
Beiträge zu Grundfragen des Rechts Herausgegeben von Stephan Meder Die drei Grundfragen des Rechts, die vor gut zweihundert Jahren der Rechtsgelehrte Gustav Hugo formulierte – »Was ist Rechtens?«, »Wie ist es Rechtens geworden?« und »Ist es vernünftig, daß es so sey?« – stellen sich bis heute. Die Frage nach dem geltenden Recht zielt heute nicht nur auf dessen Prinzipien und Regeln, sondern auch auf das Verhältnis von Gesetz und Recht, juristischer Geltung und sozialer Wirklichkeit. Die Frage nach der Geschichte des Rechts betrifft auch das sich wandelnde Verhältnis zwischen den Rechtsquellen sowie das Verhältnis von Tradition und Gegenwartsbezug der Rechtsinhalte. Die Frage nach den richtigen Inhalten des Rechts bezieht sich heute vor allem auf das rechtliche Verhältnis zwischen der größtmöglichen Freiheit des Einzelnen und dem notwendigen Mindestmaß sozialer Gleichheit und Gemeinwohlbindung des Rechts. So sind die Grundfragen des Rechts niemals von lediglich theoretischer Bedeutung, sondern haben einen unmittelbar praktischen Bezug zur Rechtsentstehung, Rechtsauslegung und Rechtsanwendung. Antworten auf diese Fragen versuchen aus unterschiedlichen Perspektiven die Beiträge dieser Reihe zu geben. Weitere Bände dieser Reihe: Band 39: Susanne Beck / Stephan Meder (Hg.) Jenseits des Staates? Über das Zusammenwirken von staatlichem und nicht-staatlichem Recht 2021, 230 Seiten, gebunden, ISBN 978-3-8471-1367-6 Band 38: Christian Holzmann Die »Fehleridentität« bei der Anfechtung wegen Eigenschaftsirrtums unter besonderer Berücksichtigung des Insolvenzverfahrens 2022, 211 Seiten, gebunden, ISBN 978-3-8471-1359-1 Band 37: Janina Schaffert Der familienrechtliche Ausgleichsanspruch Die Geschichte einer Fehlkonstruktion 2021, 200 Seiten, gebunden, ISBN 978-3-8471-1257-0 Band 36: Christoph Sorge Abhängige Autoren Rechtsdiskurse um angestellte und arbeitnehmerähnliche Urheber in der Weimarer Republik – ein Blick zurück nach vorn 2020, 161 Seiten, gebunden, ISBN 978-3-8471-1213-6 Band 34: Stephan Meder (Hg.) Geschichte und Zukunft des Urheberrechts II 2020, 262 Seiten, gebunden, ISBN 978-3-8471-1176-4 Band 33: Alexander Ihlefeldt Carl Bulling (1822–1909) Pandektist und Vordenker der Gleichberechtigung 2020, 319 Seiten, gebunden, ISBN 978-3-8471-1100-9
Leseproben und weitere Informationen unter www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com E-Mail: [email protected] | Tel.: +49 (0)551 / 50 84-308 | Fax: +49 (0)551 / 50 84-333