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German Pages 262 Year 2023
ETHIK UND BILDUNG
Matthias Ernst Bähr / Dennis Sölch (Hg.)
Geschichte und Gegenwart der Erziehungsphilosophie
Ethik und Bildung Reihe herausgegeben von René Torkler, Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt, Eichstätt, Deutschland
Die Ökonomisierung unserer Lebenswelt hat nicht nur zu tiefgreifenden Modifikationen unserer Bildungssysteme geführt, sondern auch unser Nachdenken über Erziehung und Bildung nachhaltig verändert. Eine philosophische Moderation dieser Prozesse scheint wichtig wie nie, da das Kernanliegen aller Bildungsbemühungen ja nicht nur dasselbe geblieben ist, sondern vor dem Hintergrund voranschreitender Veränderungen an Bedeutung sogar immer weiter zunimmt: Bildung gewinnt ihren Sinn aus der Herausbildung verantwortlicher und selbsttätig urteilender Personen. Dabei ergibt sich die paradoxe Situation, dass autonome Personen in einer komplexer werdenden Welt immer wichtiger werden, dem technischen Imperativ möglichst effizienter Produktivität aber selbst nicht unterworfen sein können, ohne ihren Status als solche einzubüßen. Bildungssysteme können nicht einfach in größerer Stückzahl und Effizienz Personen produzieren; vielmehr müssen die Kriterien der Beurteilung von Weltprozessen ja auf die Personen selbst zurückgehen. Dass die Ethik in diesem Zusammenhang eine unhintergehbare Rolle spielen muss, liegt also auf der Hand. Die Reihe „Ethik&Bildung“ versammelt Beiträge, welche durch das Ziel geeint werden, in einer philosophischen Reflexion zentraler Prozesse und Konzepte aus Didaktik und Pädagogik den ethischen Kern des Bildungsbegriffes sichtbar zu machen. Dabei kommt den Erziehungswissenschaften eine ebenso tragende Rolle zu wie auch den fachdidaktischen Diskussionen besonders der geisteswissenschaftlichen Fächer, sofern beide Bereiche mit Philosophie und Ethik in ein konstruktives Gespräch gebracht werden.
Matthias Ernst Bähr · Dennis Sölch (Hrsg.)
Geschichte und Gegenwart der Erziehungsphilosophie
Hrsg. Matthias Ernst Bähr Institut für Philosophie Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf Düsseldorf, Nordrhein-Westfalen Deutschland
Dennis Sölch Institut für Philosophie Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf Düsseldorf, Nordrhein-Westfalen Deutschland
ISSN 2569-331X ISSN 2569-3328 (electronic) Ethik und Bildung ISBN 978-3-662-67560-1 ISBN 978-3-662-67561-8 (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-662-67561-8 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Planung/Lektorat: Frank Schindler J.B. Metzler ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer-Verlag GmbH, DE und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Heidelberger Platz 3, 14197 Berlin, Germany
Inhaltsverzeichnis
Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Matthias Ernst Bähr und Dennis Sölch Zwischen Skeptizismus und Stoa: Antike Bildungskonzepte im Vergleich. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Peter Kuhlmann Zur Genese individueller Selbständigkeit bei John Locke. . . . . . . . . . . . . 31 Dirk Schuck Identität und Authentizität als Ziele der Erziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 Jörg Zirfas Der Blick in die Zukunft: Bildung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 Ursula Reitemeyer Kierkegaards ‚Schule der Angst‘. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 Dennis Sölch John Dewey: Lernen und Demokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 Jürgen Oelkers Geschlossene und offene Moral. Überlegungen zur moralischen Erziehung bei Henri Bergson . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 Matthias Ernst Bähr Erziehung und Selbsterziehung. Karl Jaspers’ Philosophie als Bildungsphilosophie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 Anton Hügli Übungen der Selbstsorge und Achtsamkeit. Überlegungen zu einer Theorie der Bildung als koexistenzielle Praxis und Übung im Anschluss an M. Foucault und E. Fink. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 Malte Brinkmann Grundlagen der Existenziellen Psychotherapie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 Alexander Noyon
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Philosophieren mit Kindern – keine Philosophie light . . . . . . . . . . . . . . . . 213 Christian Klager Pädagothic als Bildung in Endlichkeitskompetenz oder: Was wir von Horrorgeschichten über uns selbst lernen können . . . . . . . . 235 Eike Brock
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
Matthias Ernst Bähr studierte Philosophie und Germanistik an der HeinrichHeine-Universität Düsseldorf, wo er seit 2020 als Lehrbeauftragter am Institut für Philosophie beschäftigt ist. Seine Forschungs- und Interessengebiete liegen in der Lebensphilosophie, Existenzphilosophie und Phänomenologie, mit besonderem Schwerpunkt auf der Philosophie Henri Bergsons. Derzeit arbeitet er an einer vergleichenden Untersuchung der Zeitauffassungen von Bergson und Heidegger. Zuletzt erschien aus seiner Feder ein Beitrag zur Bergson-Rezeption in den Frühschriften von Albert Camus. Malte Brinkmann ist Professor für Allgemeine Erziehungswissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin, Direktor des Interdisziplinären Zentrums für Bildungsforschung sowie Sprecher der Kommission Bildungs- und Erziehungsphilosophie der DGfE. Nach dem Studium der Deutschen Philologie, Philosophie, Geschichte, Pädagogik und Musik in Köln promovierte er ebendort mit einer Arbeit zum Thema Das Verblassen des Subjekts bei Foucault. Anthropologische und bildungstheoretische Studien. Im Anschluss an das Referendariat und eine Tätigkeit als Studienrat an einem Homberger Gymnasium war Brinkmann als Akademischer Oberrat an der Pädagogischen Hochschule Freiburg und seit 2010 als W3 Professor für Allgemeine Pädagogik erst in Ludwigsburg und dann ab 2012 an der HumboldtUniversität zu Berlin tätig. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Theorie der Bildung und Erziehung, der Theorie und Empirie des Lehrens, des Lernens und der Übung, in der Phänomenologischen Videographie und Unterrichtsforschung sowie der Phänomenologischen Erziehungswissenschaft. Er ist Herausgeber einer Reihe zur Phänomenologischen Erziehungswissenschaft (https://www. springer.com/series/13404). Zuletzt veröffentlichte er eine Monographie zum Thema Die Wiederkehr des Übens. Praxis und Theorie eines pädagogischen Grundphänomens (2021). Eike Brock ist regelmäßiger Lehrbeauftragter am Institut für Philosophie der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf sowie am Institut für Humanwissenschaften der Universität zu Köln. Außerdem ist er freier Autor. Nach der Promotion über Nietzsche und den Nihilismus war er 2014/15 Research-Fellow am Forschungsinstitut für Philosophie in Hannover und hat Ausbildungen zum Philosophischen Praktiker und zum systemisch-integrativen Coach absolviert. Sein philosophisches VII
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Interesse richtet sich vor allem auf das Werk Friedrich Nietzsches und grundsätzlich auf existenzielle Themen, wozu er insbesondere auch eine Philosophie des Horrors zählt. Ein weiterer Schwerpunkt seiner Arbeit ist eine moderne, kritische Philosophie der Lebenskunst. Zusammen mit Günter Gödde und Jörg Zirfas ist er Herausgeber der neuen Reihe „Kritische Lebenskunst“ beim Metzler Verlag, deren ersten Band Das Leuchten der Morgenröthe. Friedrich Nietzsche und die Kunst zu leben (2022) er ebenfalls mitherausgegeben hat. Zu seinen letzten Veröffentlichungen gehören unter anderem als Herausgeber zusammen mit Jutta Georg Friedrich Nietzsche. Menschliches, Allzumenschliches (2020) und, zusammen mit Thorsten Lerchner, Denken des Horrors, Horror des Denkens. Unheimliches, Erschreckendes und Monströses aus philosophischer Perspektive (2019). Anton Hügli ist Professor emeritus für Philosophie und Pädagogik an der Universität Basel. Nach dem Studium der Philosophie, der Psychologie, der Germanistik/Nordistik und der Mathematik war er Assistent am Philosophischen Seminar der Universität Basel, wo er 1970 mit einer Arbeit über Die Erkenntnis der Subjektivität und die Objektivität des Erkennens bei Søren Kierkegaard promoviert wurde. Er leitete unter anderem die Zentralredaktion des Historischen Wörterbuchs der Philosophie und war, nach erfolgter Habilitation, von 1981 bis 2001 Direktor des Pädagogischen Instituts Basel-Stadt sowie seit 1993 Professor an der Universität Basel. Durch seine langjährige Doppelfunktion als Philosophieprofessor und Direktor eines Instituts für Lehrpersonenbildung wurde ihm die Beziehung zwischen Bildung und Philosophie zur ideengeschichtlichen und systematischen Forschungsfrage, der er etwa in seinem Buch Philosophie und Pädagogik (1999) nachgeht. Viele seiner zahlreichen Beiträge zur Jaspersforschung untersuchen diese Beziehung auch im Werk von Karl Jaspers. Christian Klager ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Philosophie der Universität Rostock, wo er sich 2015 mit einer preisgekrönten Arbeit zum Thema Zu einer Philosophie des Spiels – Bedeutungsdimensionen des Spielens in methodischer Absicht promovierte. Seine Lehr- und Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Fachdidaktik und Methodologie der Philosophie, dem Philosophieren mit Kindern, der Erkenntnistheorie sowie der angewandten Ethik, insbesondere der Tier-, Medizin- und Umweltethik. 2021 wurde er mit dem Lehr-Förderpreis der Universität Rostock ausgezeichnet. Er ist Herausgeber zahlreicher Themenhefte im Bereich der Philosophie bzw. Ethik und ihrer Didaktik; zu seinen Publikationen als Autor und als Herausgeber gehören darüber hinaus Wirklich wahr? Philosophieren mit Kinderbüchern (mit S. Pfeiffer, 2011), Philosophisches Schatzkästchen (mit S. Pfeiffer, 2018) und Die Zukunft im Spiel. Wie Spielen unsere Welt verändert (2019). Peter Kuhlmann ist Professor für Lateinische Philologie und Fachdidaktik der Alten Sprachen an der Universität Göttingen. Nach dem 1. und 2. Staatsexamen in den Fächern Latein, Griechisch und Spanisch promovierte er sich 1993 mit einer Arbeit über die Gießener literarischen Papyri; 2001 folgte die Habilitation über die Religionspolitik Kaiser Hadrians. Von 2000 bis 2004 war er akademischer
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Rat am Seminar für Klassische Philologie der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Seit 2012 ist er ordentliches Mitglied der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. Seine Forschungsschwerpunkte umfassen die griechisch-römische Literatur (besonders der Kaiserzeit), die Rezeption und Tradition der Antike in der Neuzeit sowie die Fachdidaktik der Klassischen Philologie. Zu seinen jüngeren Publikationen zählen Cicero als Bildungsautor der Gegenwart (2020, gemeinsam mit V. Marchetti) und Cicero im Rahmen der römischen Bildungskultur (2020, gemeinsam mit V. Marchetti). Alexander Noyon studierte Psychologie an der Universität des Saarlandes und war von 1994 bis 1997 als Psychologe in verschiedenen Kliniken tätig. Es folgte bis 2007 eine Anstellung als wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Abteilung „Klinische Psychologie und Psychotherapie“ der Goethe-Universität Frankfurt, während der er sich mit einer Arbeit über Intrapsychische Konflikte in Partnerschaften promovierte. Seit 2007 ist Alexander Noyon Professor für Psychologie der Sozialen Arbeit an der Hochschule Mannheim mit Forschungsschwerpunkten im Bereich existenzieller Ansätze von Therapie und Coaching. Darüber hinaus ist er seit 2000 als niedergelassener Therapeut in eigener Praxis tätig und seit vielen Jahren Dozent und Supervisor für Verhaltenstherapie und Logotherapie an unterschiedlichen Instituten. Zu seinen Publikationen zählen Existenzielle Perspektiven in Psychotherapie und Beratung (2012, gemeinsam mit T. Heidenreich) sowie Ratgeber Lebensende, Sterben und Tod. Informationen für Betroffene und Angehörige (2016, gemeinsam mit M. Trachsel). Jürgen Oelkers studierte Erziehungswissenschaft, Germanistik und Geschichte in Hamburg, wo er sich mit einer ideengeschichtlichen Arbeit über Die Vermittlung zwischen Theorie und Praxis in der deutschen Pädagogik von Kant bis Nohl promovierte. Seit 1979 hatte er Professuren für Allgemeine Pädagogik an den Universitäten Lüneburg und Bern inne; bis zu seiner Emeritierung war er Professor an der Universität Zürich. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der Geschichte der Pädagogik, der Bildungspolitik und Bildungsentwicklung sowie im Verhältnis von Demokratie und Erziehung. Seine zahlreichen Publikationen umfassen John Dewey und die Pädagogik (2009), Eros und Herrschaft: Die dunklen Seiten der Reformpädagogik (2011) sowie Jean-Jacques Rousseau (2014). Ursula Reitemeyer war bis zu ihrer Emeritierung Professorin für Erziehungswissenschaft an der WWU Münster, wo sie auch die Leitung der Arbeitsstelle Internationale Feuerbachforschung (https://www.uni-muenster.de/EW/forschung/ forschungsstellen/feuerbach/arbeitsstelle/index.html) innehat. Zu ihren Forschungsinteressen zählen, neben der historischen und systematischen Erziehungswissenschaft, insbesondere die Philosophie der Aufklärung, Bildungstheorien des 19. und 20. Jahrhunderts sowie Ethik und Ästhetik. Ihre zahlreichen Publikationen umfassen Rousseau zur Einführung (2014, gemeinsam mit T. Zumhof) und Praktische Anthropologie oder die Wissenschaft vom Menschen zwischen Metaphysik, Ethik und Pädagogik: Wendepunkte (2019).
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Dirk Schuck studierte Philosophie, Soziologie und Politologie in Frankfurt am Main. Anschließend promovierte er in Leipzig zum Verhältnis von Freiheit und Einfühlung in der Sozialpsychologie des frühen Liberalismus. Derzeit ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Erfurt im Sonderforschungsbereich „Strukturwandel des Eigentums bei Martin Mulsow“. Seine Forschungsinteressen liegen auf den Feldern der Geschichte der Frühen Neuzeit, der Sozialgeschichte sowie Intellectual History des 18. Jahrhunderts, der Institutionensoziologie, der Politischen Ökonomie der Frühen Neuzeit, der Globalgeschichte des politischen Denkens sowie des frühneuzeitlichen Feminismus. Für die Philosophische Bibliothek von Felix Meiner hat er zuletzt John Lockes Gedanken über Erziehung (2020) neu herausgegeben. Dennis Sölch lehrt und forscht als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Philosophischen Institut der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Er ist regelmäßiger Lehrbeauftragter an der Universität Klagenfurt und seit 2010 Geschäftsführer der Deutschen Whitehead Gesellschaft. Aus seiner Forschung sind zahlreiche Publikationen zur Philosophie und ihrer Geschichte, insbesondere zu Prozessmetaphysik, Existenzphilosophie, Kulturphilosophie sowie den Strömungen des Transzendentalismus und des Pragmatismus, hervorgegangen. Zuletzt erschienen der gemeinsam mit Oliver Victor herausgegebene Band Albert Camus – ein Philosoph wider Willen? (2022) sowie, gemeinsam mit Birgit Capelle, Literarische Philosophie – Philosophische Literatur. Formen des Philosophierens von Platon bis Heidegger (2022). Jörg Zirfas ist Professor für Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Pädagogische Anthropologie an der Universität zu Köln sowie Vorsitzender der Kommission Pädagogische Anthropologie (DGfE) und der Gesellschaft für Historische Anthropologie (FU Berlin). Er ist außerdem Mitglied des Interdisziplinären Zentrums Ästhetische Bildung (FAU Erlangen-Nürnberg) und der Arbeitskreise Kritische Lebenskunst (Berlin) und Pädagogik und Vulnerabilität (Köln). Seine Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Pädagogische und Historische Anthropologie, Bildungsphilosophie und Psychoanalyse, Pädagogische Ethnographie und Kulturpädagogik. Zu seinen Publikationen gehören unter anderem Geschichte der Ästhetischen Bildung. Band 1–4 (2009–2021), das gemeinsam mit Ch. Wulf herausgegebene Handbuch Pädagogische Anthropologie (2014), die gemeinsam mit G. Gödde verfasste Arbeit Therapeutik und Lebenskunst. Eine psychologisch-philosophische Grundlegung (2016) sowie das mit G. Weiß herausgegebene Handbuch Bildungs- und Erziehungsphilosophie (2020).
Einleitung Matthias Ernst Bähr und Dennis Sölch
Wenn in philosophischen Kontexten von Erziehung die Rede ist, werden gegenwärtig zumeist Fragen philosophischer Teildisziplinen diskutiert. Die angewandte Ethik etwa widmet sich dem besonderen Abhängigkeitsverhältnis zwischen Lehrerinnen und Lehrern auf der einen sowie Schülerinnen und Schülern auf der anderen Seite, während die politische Philosophie sich beispielsweise damit befasst, welchen Stellenwert der verpflichtende Religionsunterricht in einem säkularen Staat haben kann und darf. Obwohl solche Fragen zweifellos wichtig sind, gerät dabei doch leicht aus dem Blick, dass Philosophie und Erziehung bereits auf eine sehr viel grundlegendere Weise miteinander verwoben sind, die der Aufteilung der Philosophie in verschiedene Disziplinen vorausgeht. Schon für Platon trifft Philosophie nicht primär dort auf Erziehung, wo es um spezifische Inhalte geht, die erst rational durchdrungen und dann vermittelt werden sollen, sondern ist in den Erziehungsprozess immer schon eingelassen. In diesem Sinne erwächst auch im Dialog Menon die ethische Frage nach dem Wesen der Tugend aus dem Bestreben, Tugendhaftigkeit zu lehren und auf diese Weise durch Erziehung zur Bildung der Seele und Formung des Charakters beizutragen.1 Der sich entspinnende Dialog zwischen Menon und Sokrates reagiert damit auf ein spezifisches Problem, das sich als solches erstmals im Verlauf des Erziehungsprozesses stellt. Das Problem existiert in diesem Kontext nicht
1 Vgl.
Platon, Menon, 70a–71a sowie weiterführend Ziegler 2022, S. 40–60.
M. E. Bähr (*) · D. Sölch Institut für Philosophie, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, Düsseldorf, Deutschland E-Mail: [email protected] D. Sölch E-Mail: [email protected] © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 M. E. Bähr und D. Sölch (Hrsg.), Geschichte und Gegenwart der Erziehungsphilosophie, Ethik und Bildung, https://doi.org/10.1007/978-3-662-67561-8_1
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schon als ein ‚genuin‘ philosophisches, das nur kontingenterweise im Rahmen pädagogischen Handelns thematisch würde, sondern die philosophische Tätigkeit besteht hier gerade in dem Versuch, systematisch eine begriffliche Klärung des ins Stocken geratenen Erziehungsprozesses herbeizuführen. Folgt man Sokrates in dieser Herangehensweise, so verweist philosophische Reflexion weder auf eine epistemisch privilegierte Form des Nachdenkens über die Welt noch auf eine durch besondere Themen und Fragestellungen ausgezeichnete Wissenschaft; sie besteht vielmehr in dem Versuch des Menschen, sich im Verlaufe von Entwicklungsprozessen lebensweltliche, moralische, ästhetische, religiöse oder andere Fragen verständlich zu machen und einer vorläufigen Lösung zuzuführen, die sich auf individueller und gesellschaftlicher Ebene weiter zu bewähren hat. Das philosophische Geschäft geht aus Erziehungs- und Bildungsprozessen hervor, in denen eine neue Weise entsteht, die Welt zu betrachten und zu beschreiben, und mündet zugleich wieder in ebensolche Prozesse. Vor diesem Hintergrund scheint es wenig verwunderlich, dass die Themen der Erziehung und der Bildung deutlich später als andere Gegenstandsbereiche dem bekannten ‚Objektverlust der Philosophie‘ zum Opfer gefallen sind. Während sich im Fall der Physik mit Roger Bacons Betonung des empirischen Forschungsansatzes schon im 13. Jahrhundert erste Tendenzen einer Ablösung von der Philosophie erkennen lassen, die sich spätestens im 19. Jahrhundert als endgültige Abgrenzung der Physik von der philosophia naturalis finalisiert, und wir auch in der Biologie, Psychologie und Sozialforschung zeitgleich eine Verselbstständigung zu naturwissenschaftlichen Einzeldisziplinen beobachten können, bleiben Philosophie und Pädagogik bis weit ins 20. Jahrhundert akademisch miteinander verwoben. Im Anschluss an die kantische Feststellung, der Mensch sei das einzige Geschöpf, das erzogen werden müsse,2 entwickelt sich in der Neuzeit zwar die Pädagogik zu einer eigenen, begrifflich bestimmten und inhaltlich wie methodisch reflektierten Disziplin, doch bleibt diese in wesentlichen Hinsichten eng mit der Philosophie verbunden. Mit der Anthropologie teilt sie die Frage nach dem Menschen als einem erziehungsfähigen und erziehungsbedürftigen Wesen, mit der Moralphilosophie das Bemühen um die Einsicht in das sittlich Gute, mit der politischen Philosophie die Frage nach der Bedeutsamkeit von Erziehung für den Fortbestand oder die Gefährdung eines institutionalisierten Gemeinwesens und mit der Epistemologie das Bestreben, Voraussetzungen von Erkenntnisgewinnung und -weitergabe zu klären. Entsprechend galt die Pädagogik noch lange Zeit nach Kant, auch „im Selbstverständnis ihrer maßgeblichen Vertreter, als philosophische Disziplin, die mit den Denkmitteln der Philosophie theoretische und praktische Bildungsprobleme reflektiert.“3 Diese philosophische Dimension resultiert nicht zuletzt aus der Ambivalenz der Pädagogik, den Menschen praktisch zu einem mündigen Umgang mit den Herausforderungen seines immer auch gesellschaft-
2 Vgl.
Kant, Über Pädagogik, A1.
3 Hügli
1999, S. 1.
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lich verfassten Lebens zu befähigen, und zugleich solche Begriffe wie Mündigkeit, Identität oder Autonomie einer theoretischen Klärung zuzuführen. Ohne eine philosophische Grundlagenreflexion verlieren die pädagogischen Handlungsvorschläge ihr Sinnfundament. Eine ausschließlich theoretische Reflexion der pädagogischen Grundbegriffe wiederum, die auf Praxisvorschläge verzichtet, verarmt in ihrer Funktion, zu sinnvoller erzieherischer Praxis anzuleiten. Erst seit den 1960er Jahren zeichnet sich ein zunehmendes Bestreben ab, Pädagogik als empirisch orientierte Erziehungswissenschaft und Bildungsforschung von der Philosophie abzusetzen, ein markanter Umschwung, der sich symbolisch an der Gründung der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft im Jahre 1964 festmachen lässt. Ungeachtet der eigenständigen Entwicklung der Pädagogik ist jedoch auch innerhalb der Philosophie das Interesse an Fragen der Erziehung und Bildung keineswegs erloschen. Zahlreiche Klassiker von der Aufklärung über Neukantianismus und Lebensphilosophie bis zu den verschiedenen Strömungen des Pragmatismus, der Kritischen Theorie und der Existenzphilosophie messen pädagogischen Reflexionen durchaus erhebliches Gewicht bei, ohne sie freilich immer als solche zu bezeichnen. Im Zuge der fortschreitenden Differenzierung der akademischen Teildisziplinen wird es mehr und mehr vermieden, für eigene Forschungsanliegen und Publikationen eine Nomenklatur zu verwenden, die einem anderen Fachbereich zugeordnet ist. Die daraus erwachsene terminologische Lücke füllt der Begriff der Erziehungsphilosophie, der in der Regel anzeigt, dass man sich seitens der Philosophie ausdrücklich solchen Themen zuwendet, die noch bei Kant, Schleiermacher oder Natorp als Pädagogik charakterisiert wurden. Vor dem Hintergrund dieser aus einer gewissen Verlegenheit erfolgten Begriffsprägung dürfte es wenig verwundern, dass Pädagogik und Erziehungsphilosophie sich grundsätzlich an einer gemeinsamen Geschichte orientieren. Sowohl Albert Rebles klassische Geschichte der Pädagogik als auch Reichenbachs Philosophie der Bildung und Erziehung rekonstruieren die Genealogie ihrer Disziplin(en) entlang der Tradition von Sokrates und Platon, von Rousseau und Kant bis zu Dewey und einer sich immer weiter verästelnden Gegenwart.4 Auch Alfred Schäfer, für den der Problemhorizont des Pädagogischen „nur im Rahmen eines spezifischen menschlichen Selbstverständnisses“5 zu verstehen ist, sieht die Phänomene der Erziehung, der Bildung und der Sozialisation konstitutiv auf die neuzeitliche Vorstellung des Subjekts bezogen, die bei den einschlägigen Klassikern entfaltet wird. Hinsichtlich ihres eigenen, jeweils über die Geschichte der Disziplin gewonnenen Selbstbildes, scheinen Pädagogik und Erziehungsphilosophie damit weiterhin aufs Engste verwandt zu sein. Diese weitgehende Deckungsgleichheit mag auch der Grund dafür sein, dass das Historische Wörterbuch der Philosophie zwar der Pädagogik einen Eintrag widmet, während Erziehungsphilosophie als eigenständiger Topos keine Erwähnung findet.
4 Vgl.
Reble 1964 und Reichenbach 2007.
5 Schäfer
2005, S. 26.
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Der vorliegende Band setzt sich vor diesem Hintergrund vor allem drei Ziele. So soll erstens über den Rückbezug auf einschlägige Klassiker des Nachdenkens über Erziehung und Bildung die sowohl historische als auch systematische Kontinuität pädagogischer und erziehungsphilosophischer Forschung deutlich gemacht werden. Ein besonderes Augenmerk gilt dabei zweitens den spezifischen Herausforderungen einer Disziplin, die eine prekäre Existenz führt zwischen einer nicht zu suspendierenden Einbettung in praktische und dynamische Lebensvollzüge einerseits und deren theoretischer Klärung andererseits. Darüber hinaus soll drittens aufgezeigt werden, dass eine philosophische Beschäftigung mit Erziehung früher oder später zwangsläufig interdisziplinären Charakter annimmt. Dies gilt nicht nur für die Verflechtungen innerhalb der philosophischen Teildisziplinen, auf die bereits hingewiesen wurde, sondern für eine Vielzahl von Wissenschaften, die sich in unterschiedlicher Form mit den Zielen, den Mitteln oder den Effekten erzieherischer Theorie und Praxis befassen, etwa Psychologie, Soziologie, Politologie und Literatur- oder Geschichtswissenschaft. Zur besseren Orientierung für die Leserinnen und Leser werden die einzelnen Beiträge im Folgenden jeweils kurz vorgestellt. Einen Blick auf die antike Erziehungsphilosophie wirft Peter Kuhlmann, der sich in seinem Beitrag exemplarisch mit den Bildungskonzeptionen von Cicero und Seneca auseinandersetzt. Das klassische antike Bildungsideal der paideia, das bereits bei den Sophisten in dem Bestreben zum Ausdruck komme, den Menschen durch rhetorische und argumentative Ausbildung zu einem mündigen Bürger der attischen Polis zu formen, sei für Cicero und Seneca zwar noch maßgeblich, doch würden beide im Hinblick auf didaktische Fragen nahezu entgegengesetzte Wege einschlagen. Vor diesem Hintergrund konzipiere Cicero die humanitas als ein erzieherisches Ideal, nach dem der Mensch durch das Erlernen rhetorischer und argumentativer Kompetenzen sowie der Auseinandersetzung mit kanonischen griechischen Philosophen zu einem gebildeten Menschen heranwachsen und zu einer autoritätskritischen Persönlichkeit reifen solle. Im Fokus von Senecas Lehrbriefen, den Epistulae morales, stehen die gewinnbringende Nutzung der eigenen Zeit, die philosophische Lektüre und die Freundschaft. Seneca agiere in ihnen als Lehrerfigur, die Wissen nicht theoretisch vermittle, sondern praktisch vorlebe, wobei die Briefform des Textes das Identifikationspotenzial der Philosophie Senecas als Medium persönlicher Ansprache fördere, gleichzeitig jedoch stark auf die Vermittlung der autoritativ verstandenen stoischen Lehre abziele. Dirk Schuck richtet sein Augenmerk auf das pädagogische Idealbild des jungen Gentleman, das sich in John Lockes Some Thoughts Concerning Education entwickelt findet und erst vor dem Hintergrund seiner empiristischen Grundposition in vollem Umfang verständlich werde: Dass der Verstand als tabula rasa erst durch die sinnliche Erfahrung geprägt werde, bedeute analog für das zu erziehende Individuum seine völlige Formbarkeit durch den Erzieher, wobei vor allem die Formung der libidinösen Bedürfnisse im Vordergrund stehe. Den Menschen kennzeichne eine natürliche love of dominion, die es erzieherisch zu regulieren gelte. Das Erlernen von Selbstdisziplin, die Akzeptanz der sozialen
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Anerkennung als höchstes Gut und die Setzung der weltmännischen Souveränität als Charakterziel bezeichnen die drei Stufen der lockeschen Erziehung zur Selbständigkeit. Ziel bleibe dabei stets, dem zu Erziehenden die regulative Selbstkontrolle anzuerziehen und seinen Willen in der Weise formbar zu machen, dass er den alltäglichen gesellschaftlichen Herausforderungen anpassungsfähig und flexibel begegne und seine Interessen geschickt umsetze. Ebenjene von Locke als oberstes Erziehungsziel formulierte Fähigkeit, sich in sozialen Kontexten immer gerade so konform zu verhalten, dass die eigenen Interessen gewahrt werden, und situativ so formbar und disziplinierbar sein zu wollen, wie es das soziale Umfeld erfordere, lasse die lockesche Erziehungsphilosophie letztlich, mit Einschränkungen, als protoliberale Theorie erscheinen. Zielen Lockes pädagogische Reflexionen primär darauf ab, Souveränität durch die willentliche Anpassung an das soziale Umfeld herzustellen, wird die Gesellschaft für Rousseau wesentlich zur Bedrohung für die individuelle Authentizität. Jörg Zirfas macht in seinem Beitrag deutlich, dass Pädagogik und Anthropologie in Rousseaus oftmals widersprüchlichem Denken nicht zuletzt als Reaktion auf die Gefahr des Selbstverlusts und der Entfremdung zu verstehen sind. Ausgehend vom hypothetischen Naturzustand eines mit sich selbst übereinstimmenden Menschen, orientiere sich das pädagogische Projekt Rousseaus an der regulativen Idee einer widerspruchsfreien Selbstbeziehung. Da Authentizität als transparente Unmittelbarkeit und Identität als Gleichgewicht von Wollen und Können sich weder konsistent formulieren noch legitimieren ließen, oszilliere sein Bildungsprogramm zwischen den Gegensätzen von Individualität und Öffentlichkeit, Offenheit und Geschlossenheit oder Natürlichkeit und Künstlichkeit. Damit würden zugleich jene Problemkomplexe an die Oberfläche getragen, die Erziehung per se inhärent sind, und vor allem darauf hingewiesen, dass das Gefühl unmittelbarer Selbstidentität ebenso wenig pädagogisch herstellbar ist wie das menschliche Glück. In der kantischen Tradition stehend und im Dialog mit der Geschichte der Pädagogik von Rousseau bis Buber nimmt Ursula Reitemeyer die Unmöglichkeit, ein zweifelsfrei zukunftstaugliches Bildungsprogramm zu entwerfen, zum Anlass, um das Projekt institutionalisierter Erziehung einer grundsätzlichen pädagogisch-ethischen Reflexion zu unterziehen. Lehrinhalte, Lehrmethoden, administrative Vorgaben, gelebtes pädagogisches Ethos sowie nicht zuletzt die Legitimation von Erziehungs- und Bildungszielen gelte es im Rahmen der pädagogischen Ethik auf ihre Verträglichkeit mit moralischen und anerkennungstheoretischen Grundsätzen hin zu prüfen, die der Unverfügbarkeit des einzelnen Menschen und seiner Würde gerecht werden. Damit rückt zugleich die Zukunftsdimension von Erziehung und Bildung in einem umfassenderen Sinne in den Blick: Das Langzeitprojekt der Bildung sei stets auf eine bessere Zukunft gerichtet, die alle Menschen umfassen soll, und unterstelle sämtliche pädagogischen Praxiszusammenhänge einer Fluchtperspektive, in der die würdevolle und kooperative Existenzweise aller Generationen eine gelebte Praxis darstellt. Dennis Sölch nimmt in seinem Beitrag eine existenzphilosophische Perspektive auf pädagogische Zusammenhänge ein, indem er ausgehend von
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Søren Kierkegaards These, der Mensch sei ein Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält, die besondere Rolle der Angst für die individuelle Erziehung aufzeigt. Kierkegaard verstehe Angst weniger als den kontingenten psychologischen Zustand der Furcht vor etwas Bestimmtem als vielmehr im Sinne einer anthropologischen Grundkonstante, in der sich die Freiheit des Individuums ausdrückt, sich zu den eigenen existenziellen Handlungsmöglichkeiten zu verhalten. Vor diesem Hintergrund sei die Angst nicht als zu vermeidendes Übel, sondern vielmehr als Voraussetzung eines jeden menschlichen Lern- und Wachstumsprozesses zu begreifen, die die Möglichkeit einer authentischen Annäherung an sich selbst mit in sich begreift. Das Bewusstsein der eigenen Angst, die im Laufe des Lebens immer wieder in Form qualitativer Sprünge überwunden werden müsse, führe wiederum zu einem Bewusstsein für die Gestaltungsmöglichkeiten des eigenen Lebens, sodass sich im Anschluss an Kierkegaard Erziehung letztlich als Besuch der ‚Schule der Angst‘ im Sinne eines gelingenden, authentischen Umgangs mit der eigenen Angst verstehen lasse. Jürgen Oelkers untersucht in seinem Beitrag die Genese und Bedeutung von John Deweys Motiv des Lernens als Problemlösen. Im Ausgang von Karl Poppers berühmter Wendung, alles Leben sei Problemlösen, lasse sich zeigen, dass das Lösen von Problemen in Deweys Werk keineswegs nur für rein systematische Kontexte gelte, in denen mit einem festgelegten Methodenbestand bestimmte abgeschlossene Ergebnisse herbeigeführt werden können. Vielmehr werden Lösungsprozesse als konstitutives Moment der Bewältigung von Lebensherausforderungen dargestellt. Für Dewey vollziehe sich der Lernprozess als Problembearbeitung in fünf Schritten: dem Aufkommen einer gefühlten Schwierigkeit, ihrer Lokalisierung als ‚Problem‘, dem Entwurf möglicher Lösungen, der Überprüfung der Untersuchung auf ihren denkbaren Ertrag hin und dem Anstellen weiterer Experimente, an dessen Ende eine Lösung stehen müsse, die wiederum neue Probleme aufwerfen könne. Lernen bedeute in diesem Zusammenhang, eine Atmosphäre zu schaffen, die das Durchlaufen des kreativen Problemlösungsprozesses gewährleistet. Gleichzeitig scheine in Deweys Lerntheorie auch seine Demokratietheorie auf, in der die Selbstentwicklung des Individuums zur Mündigkeit und Selbsttätigkeit betont, gleichzeitig aber das Moment des Kompromisses und der Lösungsfindung in den Vordergrund gerückt werde. Während andere prominente Hauptvertreter der Lebensphilosophie wie Nietzsche oder Ortega y Gasset sich in kultur- und moralphilosophischen Kontexten ausführlich zu Erziehung und Bildung geäußert haben, scheint Henri Bergson vergleichbaren sozialen und existenziellen Themen im Allgemeinen sowie pädagogischen Fragestellungen im Besonderen eher fern zu stehen. Matthias Ernst Bähr macht in seinem Beitrag mit Blick auf das in der Forschung weitgehend vernachlässigte Spätwerk Bergsons gleichwohl darauf aufmerksam, dass erziehungsphilosophische Perspektiven nicht nur als konsistente Weiterführung seiner phänomenologischen Abstraktionskritik zu verstehen sind, sondern auch systematische Relevanz haben. So diene die Unterscheidung zwischen einer geschlossenen, statischen Moral einerseits und einer offenen, dynamischen Moral andererseits als Heuristik, um die konkrete gesellschaftliche Wirklichkeit
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praktischer Verpflichtungen zu untersuchen. Dabei werde insbesondere die Gefahr deutlich, moralische Normen analog zu Naturnotwendigkeiten zu verstehen und sie damit der veränderbaren sozialen Praxis zu entheben. Moralischer Erziehung komme für Bergson daher eine zentrale Bedeutung zu, um Entfremdungstendenzen vorzubeugen und individuelle Gestaltungsfreiheit sowie soziale Verantwortung ausbalancieren zu können. Für Anton Hügli lässt sich die Erziehungsbedürftigkeit in das Bestreben übersetzen, ein besserer Mensch zu werden, und zwar nicht im Sinne eines allgemeinen Ideals, sondern hinsichtlich des je eigenen Menschseins. Erziehung sei demnach immer schon Selbsterziehung. Im Zuge der Selbstprüfung und der Frage nach Ziel und Weg der eigenen Lebensführung würden wir uns jedoch unweigerlich in philosophische Fragen verstricken. Hiermit lasse sich der Bogen zu Jaspers schlagen, der in Fortführung des pädagogischen Erbes von Sokrates die prinzipiellen Grenzen des eigenen Wissens betone, die in der Perspektivität, der Subjekt-Objekt-Dichotomie und der Situiertheit der Existenz wurzeln. Gleichzeitig führe uns die Erfahrung dieser Grenzen und das Bewusstsein eines darüber hinausreichenden Umgreifenden wieder zu unserem Sein zurück, indem sie den Menschen auf das verweise, was er eigentlich sein will und welche Forderungen sich ihm unbedingt aufdrängen. Die existenzielle Kommunikation fungiere dabei sowohl als Korrektiv möglicher Selbsttäuschung wie auch als Erziehung, die unsere Aufmerksamkeit auf das jeweils wirklich und wesentlich Gewollte, mithin das eigene Sein, lenke. Einem so verstandenen existenziellen Bemühen wohne insofern ein demokratisches Moment inne, als es die Menschen dazu auffordere, sich im offenen und vernunftgeleiteten Austausch wechselseitig zu einer Selbsterziehung anzuleiten, in der Philosophie, Pädagogik und Politik zur Deckung kommen. Im Anschluss an Foucaults differenzierte Analysen unterschiedlicher Formen der Übung unternimmt Malte Brinkmann den Versuch, Bildung als existenzielle Praxis der übenden Selbstsorge in grundlegender Weise neu zu bestimmen. Zeige bereits die disziplinierende Übung als Praxis der Verkörperung von Normen und Zwecken, dass Autonomie und Emanzipation nur sehr bedingt als Bildungsziele gelten können, würden im Zusammenspiel mit asketischer und pastoraler Übung wesentliche Bestimmungsstücke deutlich, die Übungen der Selbstsorge als solche kennzeichnen. Die sich darin abzeichnende Performativität unterlaufe dichotome Vorstellungen von Übung als Unterwerfung oder Befreiung und eröffne zugleich Spielräume für eine umfassende Perspektive auf gezielte Transformationen des Selbst, die mit Blick auf rituelle und spirituelle Praxen der Achtsamkeit an Kontur gewinnen. Werde Bildung in diesem Sinne als Praxis verstanden, in der Menschen sich existenziell zu Sinndimensionen ihrer kulturellen Gemeinschaft verhalten, lasse sich der oft vorausgesetzte Gegensatz von profaner Übung und höherwertiger Bildung als haltlos erweisen. Auch wiederholende körperliche und affektive Übungen seien als Formen der Bildung anzusehen, die an eine lange abendländische Tradition anknüpfen. Mit der Existenziellen Psychotherapie macht Alexander Noyon auf eine schulübergreifende Strömung innerhalb der psychotherapeutischen Forschung und
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Praxis aufmerksam, die sich der Auseinandersetzung mit existenziellen Grunderfahrungen widmet. Das besonders mit dem Namen Irvin D. Yalom verbundene existenzielle Paradigma konzentriere sich, in lockerer Anknüpfung an Martin Heidegger, auf jene Strukturmerkmale der Existenz, die grundsätzlich keiner abschließenden Problemlösung zugänglich sind, sondern die Entwicklung oder Einübung einer Haltung ihnen gegenüber erfordern. Unter Berücksichtigung des philosophiegeschichtlichen Hintergrundes sowie der phänomenologischen Orientierung der Existenziellen Psychotherapie werde deutlich, wie in Fragen der Authentizität, der Sterblichkeit oder des Sinnbedürfnisses die Grenze zwischen Therapie, Beratung, Lebenskunst und Bildung unweigerlich verschwimmt. So kann Noyon schließlich aus Sicht einer ‚existenziellen Pädagogik‘ für die stärkere Einbindung von Aspekten der Lebenskunst in Schule und Unterricht plädieren, die auf eine reflektierte Existenz abzielen und präventiv dazu beitragen können, individuelles Leid und die Notwendigkeit therapeutischer Hilfe zu vermeiden. Christian Klager wendet sich in seinem Beitrag dem Philosophieunterricht für Kinder unter der Prämisse zu, dass dort nicht das Vermitteln von Wissen über Philosophie und ihre Geschichte, sondern die eigene Kompetenz zu philosophieren im Mittelpunkt stehen sollte. Da Kinder jedoch weder über das sprachliche Repertoire noch über die Abstraktionsfähigkeit oder die Sach- und Methodenkenntnisse erwachsener Philosophierender verfügen, bedürfe es anderer Mittel und Vorgehensweisen, um das eigenständige und kritische Denken zu fördern. Paradigmatische Formen konkreten, kindgerechten Philosophierens bieten etwa der Umgang mit präsentativ-symbolischen Zeichen sowie die sogenannte Inquiry, die das pädagogisch-didaktische Konzept des sokratischen Gesprächs gezielt auf das Philosophieren mit Kindern hin weiterentwickelt. Nehme man das von Kindern und ihren Fähigkeiten ausgehende Philosophieren ernst, werde deutlich, dass es sich beim Philosophieren mit Kindern keineswegs um eine defizitäre Form von Philosophie handelt; die bildzentrierten wie diskursiven Methoden eröffnen eine lediglich andere, keineswegs mangelhafte Rationalität, die zwar auf ‚erwachsenes‘ Philosophieren vorbereite, ohne aber auf diesen propädeutischen Charakter begrenzt zu sein. Dem pädagogischen Wert des Horrogenres als möglichem Wegstück für den Erwerb von Endlichkeitskompetenz widmet sich abschließend Eike Brock, der unter dem Begriff der ‚Pädagothic‘ Horrorgeschichten und existenzielle Bildung zusammenbringt. Horror, verstanden als ein Genre, das auf das Hervorrufen von Gefühlen des Schreckens und der Verstörung durch unterschiedliche Formen der Transgression abzielt und Lust durch eine kathartische Abfuhr dieser Affekte bewirkt, lasse sich pädagogisch fruchtbar machen, um eine tugendhafte Haltung des Anerkennens menschlicher Endlichkeit zu kultivieren. Die Herausforderungen der Endlichkeit umfassen, wie mit einem Seitenblick auf Existenzphilosophie und Existenzielle Psychotherapie deutlich wird, etwa den eigenen Tod oder die fundamentale Getrenntheit von anderen; sie seien nicht allein durch Einsicht in den Sachverhalt zu bewältigen, sondern verlangten eine zeitintensive, wenn nicht gar lebenslange Einübung, die analog zur aristotelischen Ausbildung von Charaktertugenden konzipiert werden könne. Zwar vermöchten auch andere
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narrative Genre ähnliche pädagogische Effekte zeitigen, der Horror stelle gleichwohl den direktesten Weg in existenzielle Abgründe dar, sodass Pädagothic als eine éducation philosophique ein ethisches Korrektiv gegen die Verdrängung solcher Ängste bilden könne, deren bewusste Akzeptanz unabdingbar für ein gelingendes Leben sei.
Literatur Hügli, Anton. 1999. Philosophie und Pädagogik. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Kant, Immanuel. 1968. Werke, Hrsg. Wilhelm Weischedel. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Platon. 1971. Werke, Hrsg. Gunther Eigler. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Reble, Albert. 1964. Geschichte der Pädagogik. Stuttgart: Ernst. Reichenbach, Roland. 2007. Philosophie der Erziehung und Bildung. Eine Einführung. Stuttgart: Kohlhammer. Schäfer, Alfred. 2005. Einführung in die Erziehungsphilosophie. Weinheim: Beltz. Ziegler, Ursula. 2022. Die Bildung der Seele. Platons Konzeption eines lebendigen Wissens. Baden-Baden: Alber/Nomos.
Zwischen Skeptizismus und Stoa: Antike Bildungskonzepte im Vergleich Peter Kuhlmann
1 Einleitendes Im folgenden Beitrag geht es um einen Überblick über unterschiedliche Bildungs- und Vermittlungskonzepte in der antiken Philosophie. Von Anfang an war die antike Philosophie eng mit Fragen von Bildung, Erziehung und Wissensvermittlung verbunden. Schon einige vorsokratische Philosophen wie z. B. Parmenides oder Xenophanes gossen ihre Inhalte im Sinne einer Didaktisierungsstrategie bewusst in episch-poetische Form, um so den zu vermittelnden Stoff gefälliger zu gestalten. Hier stehen neben einem kurzen Überblick über die klassisch- und hellenistisch-griechischen Bildungskonzepte vor allem Cicero und Seneca im Mittelpunkt: Beide Philosophen stellen in vieler Hinsicht Antipoden bei der Frage dar, wie die richtige Bildung und Erziehung aussehen soll.
2 Griechische paideía Für die griechische Bildungs- und Erziehungsgeschichte ist der Terminus der paideía zentral: Der altgriechische Begriff paideía deckt semantisch sowohl die deutschen Konzepte Erziehung als auch Bildung ab, was in etwa dem englischen education oder dem französischen éducation entspricht. Abgeleitet ist der griechische Terminus von paîs („Kind“, „Junge“), von dem wiederum das Verb paideúein („erziehen“, „bilden“) als Derivat stammt. Damit besaß dieses ganze
P. Kuhlmann (*) Universität Göttingen, Göttingen, Deutschland E-Mail: [email protected] © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 M. E. Bähr und D. Sölch (Hrsg.), Geschichte und Gegenwart der Erziehungsphilosophie, Ethik und Bildung, https://doi.org/10.1007/978-3-662-67561-8_2
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Wortfeld für die altgriechischen Muttersprachler die Konnotation ‚Jugend‘ oder ‚Kindheit‘ – also ganz anders als die neusprachlichen Begriffe. Die erste politische und gesellschaftliche Bildungsdebatte im antikgriechischen Kulturraum entzündete sich im 5. Jahrhundert v.Chr. an der Bewegung der sogenannten Sophisten. Damals traten ‚Sophisten‘ (griech. sophistés