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German Pages 276 [278] Year 2016
Geschichte Franz Steiner Verlag
h i s to r i s ch e m it te i lu ng en – b e i h e f te 9 4
Jürgen Elvert (Hg.)
Geschichte jenseits der Universität Netzwerke und Organisationen in der frühen Bundesrepublik
Jürgen Elvert (Hg.) Geschichte jenseits der Universität
h i s to r i s c h e m it t e i lu n g e n – b e i h e f te Im Auftrage der Ranke-Gesellschaft. Vereinigung für Geschichte im öffentlichen Leben e.V. herausgegeben von Jürgen Elvert
Wissenschaftlicher Beirat: Winfried Baumgart, Michael Kißener, Ulrich Lappenküper, Ursula Lehmkuhl, Bea Lundt, Christoph Marx, Jutta Nowosadtko, Johannes Paulmann, Wolfram Pyta, Wolfgang Schmale, Reinhard Zöllner
Band 94
Jürgen Elvert (Hg.)
Geschichte jenseits der Universität Netzwerke und Organisationen in der frühen Bundesrepublik
Franz Steiner Verlag
Umschlagabbildung: connect background © tonefotografia Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2016 Druck: Laupp & Göbel, Nehren Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISBN 978-3-515-11350-2 (Print) ISBN 978-3-515-11352-6 (E-Book)
INHALTSVERZEICHNIS
Zur Einführung ....................................................................................................... 7 Morten Reitmayer Zur Bedeutung von Netzwerken in der deutschen Zeitgeschichte ....................... 11 Winfried Schulze Zur Neuausrichtung der Geschichtswissenschaften in der Bundesrepublik nach 1945 unter besonderer Berücksichtigung der außeruniversitären Forschung .............................................................................................................. 29 Udo Wengst Das Institut für Zeitgeschichte. Ein Beispiel für die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus in der Frühgeschichte der Bundesrepublik Deutschland .......................................................................................................... 41 Matthias Berg Institutionelle Erbschaften? Zur Wiedergründung des Deutschen Historikerverbandes nach 1945 ............................................................................................. 53 Olaf Blaschke Verlagsfeldforschung und datenbasierte Netzwerkanalyse. Das Beispiel der Kommission für Zeitgeschichte ............................................................................ 73 Matthias Krämer Vernetzung als Kapital einer Fachzeitschrift. Kontinuität im Neuanfang der Historischen Zeitschrift 1949 ................................................................................ 87 Jürgen Elvert Von alten Lasten und neuen Anfängen. Die Ranke-Gesellschaft, Vereinigung für Geschichte im öffentlichen Leben e. V., in den 1950er Jahren ........... 107 Hans-Christof Kraus Gründung und Anfänge des Max-Planck-Instituts für Geschichte in Göttingen ............................................................................................................ 121 Rolf Große Die Entstehungsgeschichte des DHI Paris .......................................................... 141
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Inhaltsverzeichnis
Ulrich Baumgärtner Die Neuausrichtung der Geschichtsdidaktik nach 1945 ..................................... 155 Steffen Sammler Die Institutionalisierung der internationalen Schulbucharbeit auf dem Gebiet der Geschichte: Das Internationale Schulbuchinstitut in Braunschweig (1951–1965) ........................................................................................................ 169 Axel Schildt Der Ursprung der westdeutschen Zeitgeschichte aus der Thematisierung der NS-Vergangenheit – Die „Forschungsstelle für die Geschichte Hamburgs 1933–1945“ in den 1950er Jahren ...................................................................... 187 Helmut Neuhaus Eine „Academie für deutsche Geschichte“. Die Historische Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften in den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik Deutschland .................................................................. 211 Hans Günter Hockerts Neuansätze im Stiftungswesen nach 1945: Das Beispiel der Fritz Thyssen Stiftung ................................................................................................................ 235 Christoph Nonn Netzwerke und der Historiker: Der Aufstieg Theodor Schieders in der Geschichtswissenschaft der 1950er Jahre ............................................................... 251 Personen- und Ortsregister .................................................................................. 267 Autorenverzeichnis ............................................................................................. 275
ZUR EINFÜHRUNG Jürgen Elvert
Am 08. Mai 1945 schwiegen die Waffen in Europa, Deutschland lag in Trümmern, physisch wie psychisch. Das Leben der Menschen war zunächst geprägt von Hunger und Ungewissheit über die eigene Zukunft oder die Vergangenheit und Gegenwart von Angehörigen. Erst langsam und mit Hilfe der Alliierten konnten sich wieder neue staatliche und gesellschaftliche Strukturen entwickeln. Das traf auch auf die Wissenschaftslandschaft in dem Land zu, das für den Zweiten Weltkrieg verantwortlich war. Erklärungen dafür zu finden, war auch und vor allem eine Aufgabe, die die Geschichtswissenschaften nach 1945 zu lösen hatten. Neben den Universitäten als den gleichsam traditionellen Forschungsstätten entwickelte sich, auch vor dem Hintergrund dieser großen Aufgabe, ein breites Spektrum an Institutionen und Einrichtungen, das in diesem Band unter dem Sammelbegriff „außeruniversitär“ zusammengefasst wird. Teilweise wurden alte Institutionen zu neuem Leben erweckt, teilweise entstanden neue Forschungseinrichtungen wie beispielsweise das Münchener Institut für Zeitgeschichte. Auf Einladung der Ranke-Gesellschaft, Vereinigung für Geschichte im öffentlichen Leben e. V. fanden 2011 und 2012 zwei Tagungen statt, die sich mit Netzwerken und Organisationen der geschichtswissenschaftlichen Forschung in der frühen Bundesrepublik beschäftigten. Die erste Tagung war ein Gemeinschaftsprojekt der Ranke-Gesellschaft mit dem Institut für Europäische Geschichte, Mainz, dem Institut für Zeitgeschichte München/Berlin und dem Georg Eckert-Institut für Internationale Schulbuchforschung Braunschweig und der Universität zu Köln. Die zweite Tagung wurde in Verbindung mit der Fritz-Thyssen Stiftung durchgeführt, die die Tagung nicht nur finanziell ermöglichte, sondern auch ihre neuen Räumlichkeiten am Apostelnkloster im Kölner Zentrum zur Verfügung stellte. Allen Mitveranstaltern sei hier ausdrücklich und herzlich gedankt! Eines der Hauptziele der Tagungen war es, die große Anzahl von außeruniversitären Organisationen in den Blick zu nehmen, die nach 1945 neu gegründet bzw. zu neuem Leben erweckt wurden. Seit dem Frankfurter Historikertag von 1998 sind Forschungspersönlichkeiten aus dem Bereich der Geschichtswissenschaften, ihre Sozialisation und ihre eigenen Aktionen in Netzwerken immer mehr zu einem wichtigen Thema der Historiographie geworden, während Institutionen und die mit ihnen verbundenen Akteure eher im Abseits des Interesses standen. Dabei kam und kommt ihnen eine entscheidende Bedeutung bei der Etablierung von Forschungsrichtungen (von der Geschichtsdidaktik bis zur Zeitgeschichte), bei der Aufarbeitung der NS-Vergangenheit, bei der Aussöhnung und Völkerverständigung, wenn
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Jürgen Elvert
auch zunächst eher auf den Westen beschränkt, und eine Rolle bei dem Systemkonflikt von Kapitalismus und Kommunismus des Kalten Krieges zu. Es entstand also in den 1950er Jahren eine thematisch und organisatorisch bunte und breite außeruniversitäre Forschungslandschaft mit Netzwerken unterschiedlicher Reichweite und Wirkung. Dabei sollte der Begriff „Netzwerk“ allerdings nicht nur als Metapher verstanden werden. Besonders in den Bereichen über die Einbettung von Akteuren in die Netzwerke, über das Erwerben und Verwenden von sozialem Kapital und über die Wechselwirkung von schwachen und starken Beziehungen innerhalb des Netzes, bildet die Netzwerkanalyse auch für die Geschichtswissenschaft eine Forschungsmethode von hohem Potenzial. Neben diesen konzeptionellen Überlegungen zur Lage der Geschichtswissenschaften nach 1945, die die Gründungswelle von Instituten hervorbrachte, und der Netzwerkanalyse als Methode stehen die Fallanalysen von drei spezifischen Institutionstypen der außeruniversitären Geschichtswissenschaft im Blickpunkt der Beiträge dieses Bandes. Es sind die Forschungsinstitute, Organisationen wie Vereine und Verbände und schließlich jene Einrichtungen, deren Forschungen explizit auch einen kulturpolitischen Auftrag enthalten. Den wesentlichen Kern der außeruniversitären Forschung bilden die zahlreichen nach dem Kriegsende und in den 50er Jahren neugegründeten Forschungsinstitute. Gemeinsam ist ihnen allen der Wunsch nach einem Neuanfang der deutschen Geschichtswissenschaft in thematischer Hinsicht und bereits auch sehr früh der Aufarbeitung der NS-Vergangenheit und den Jahren der Diktatur. Für ersteres steht das unter französischer Ägide gegründete Institut für Europäische Geschichte in Mainz, dessen Europafokus als „Zauberformel“ (Duchhardt) für die geistige Befreiung vom Dritten Reich und den raschen Anschluss an die internationale Wissenschaftsgemeinschaft gedient habe. Für die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit sind das im Mai 1949 gegründete Deutsche Institut für Geschichte der nationalsozialistischen Zeit, später umbenannt in Institut für Zeitgeschichte mit seinem umfangreichen Archiv und Spezialbibliothek, aber auch die Vorgängerinstitutionen der seit 1997 bestehenden Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg zu nennen. Dass dabei allerdings wohl auch gezielt eigene „Legenden“ gestrickt wurden, zeigt die Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte der Kommission für Zeitgeschichte. Neben diesen Neuanfängen stehen Wiedergeburten, wie die der Historische Kommission bei der Bayerischen Akademie, deren NDB und Quelleneditionen an sich noch der Tradition des 19. Jahrhunderts entsprangen, aber so in die neue Zeit transferiert wurden. Auch der Verband der Historiker Deutschlands war durch diese Dichotomie von Tradition und vorsichtiger Erneuerung geprägt. Keine Wissenschaft lebt nur vom Diskurs allein, sondern auch von der Öffentlichkeit, die sie zur Legitimierung ihrer Existenz zu erreichen versucht. Hinzu kommt die Notwendigkeit für jeden Forscher, sich soziales Kapital für die Karriere zu erwerben. Einerseits waren es Zeitschriften wie die Historische Zeitschrift, die für die notwendigen Debatten und Diskussionen wiederbelebt oder neu geschaffen wurden und so die Verteilung von symbolischem und sozialem Kapital steuerten. Andererseits war es die Einbindung von Verlagen und Geschichtsvereinen, die es gerade
Zur Einführung
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auch ehemaligen NS-Historikern ermöglichte, sich in den wissenschaftlichen Diskurs einzubringen und trotz der institutionalisierten Trennung dieser belasteten Generation von neuen und alten Forschungsinstituten in die wissenschaftliche Gemeinschaft und in die Öffentlichkeit hinein zu wirken. Für die finanzielle Unterstützung, gerade der außeruniversitären Geschichtswissenschaft waren seit 1945 besonders Stiftungen von entscheidender Bedeutung. Ohne diese Hilfe wären viele Erkenntnisse und Karrierewege von Historikern nicht möglich gewesen und so kam und kommt ihnen eine entscheidende Mittlerfunktion zu. Geschichtswissenschaft war und ist auch Bestandteil einer staatlichen Kultur- und Wissenschaftspolitik, die mit der Gründung und/oder Förderung von Individuen bzw. Organisationen versucht, Einfluss auf die öffentliche Wirkungsmacht der Geschichte zu nehmen. Dieser Bereich wurde auch nach 1945 erneuert und durch die Gründung neuer Institute ausgebaut. Wie das Beispiel des Deutschen Historischen Instituts in Paris zeigt, wurden dabei sogar Überlegungen, die noch vor dem Ersten Weltkrieg angestellt wurden, letztendlich im Zeichen der Westanbindung der BRD verwirklicht und dienten so auch einer auswärtigen Kulturpolitik. Eine wichtige Ergänzung ist dabei auch die politisch gewollte Gründung und die verschiedenen Formen, die Institutionen mit lokal-historischen Bezug bei der Aufarbeitung der NSVergangenheit und der Etablierung und Ausformung der Zeitgeschichte in Deutschland hatten und haben, hier am Fallbeispiel Hamburg gezeigt. Netzwerke und ihre Analyse stellen auch für die Geschichtswissenschaften einen Forschungsbereich vom hohen Erkenntnispotenzial dar. Allerdings müssen dabei die Forschungstätigkeit und der daraus zu erzielende wissenschaftliche Nutzen voneinander abgegrenzt werden. Nicht immer rechtfertigen die Ergebnisse den Zeitund Kostenaufwand der Analyse. Dennoch kann eine pragmatische Anwendung der Netzwerkanalyse, gerade im Bereich der Geschichte von Institutionen mit ihren rechtlichen Rahmen und dem individuellem Handeln ihrer Akteure, fruchtbare Erkenntnisfortschritte erbringen. Allerdings sind dazu immer auch methodologische Überlegungen und begriffliche bzw. inhaltliche Präzisierungen notwendig. Sicherlich ist dieser Tagungsband nur ein Zwischenschritt auf dem Weg der Historisierung der deutschen Nachkriegshistoriographie. Weitere zu erschließende und erforschende Gebiete wären besonders die außeruniversitäre Geschichtswissenschaft der DDR oder auch der Einfluss der Hochschulreformen seit dem Ende der 60er Jahre in der BRD auf die Verteilung der historischen Forschung innerhalb der universitären und außeruniversitären wissenschaftlichen Gemeinschaft. Abschließend sei all jenen herzlich gedankt, die durch ihren Einsatz die Tagungen damit auch diesen Band möglich gemacht haben. Für die konzeptionelle und finanzielle Unterstützung der Tagungen geht ein herzlicher Dank an das Institut für Zeitgeschichte, München/Berlin, insbesondere an Andreas Wirsching und Udo Wengst, an Heinz Duchhardt, ehemals Institut für Europäische Geschichte in Mainz, sowie an Simone Lässig vom Georg Eckert Institut, Leibniz-Institut für internationale Schulbuchforschung in Braunschweig. Ohne die Hilfe von Frank Sudern von der Fritz-Thysssen-Stiftung hätte die zweite Tagung nicht stattfinden können, dafür sei ihm und der Stiftung sehr herzlich gedankt. Für die Organisation und den wie immer reibungslosen Ablauf beider Tagungen danke ich Martina Elvert und ihrem
ZUR BEDEUTUNG VON NETZWERKEN IN DER DEUTSCHEN ZEITGESCHICHTE Morten Reitmayer
1 Die Bedeutung von Netzwerken für die Neuausrichtung der (west-) deutschen Geschichtswissenschaft nach 1945 zu erforschen ist zunächst mit einer ganzen Reihe von Hindernissen verbunden: Einerseits unterstellen – über die gängigen Netzwerktheorien hinaus – sämtliche neueren sozialwissenschaftlichen Handlungstheorien das grundlegende Axiom der sozialen Einbettung der handelnden Akteure. Eine Form derartiger Einbettungen wird als soziales Netzwerk bezeichnet. Die bloße Existenz von Netzwerken in einem Berufsfeld wie demjenigen der Geschichtswissenschaft ist demgemäß nicht nur keine Überraschung, sondern eine Selbstverständlichkeit, denn soziale Netzwerke sind in dieser Perspektive allgegenwärtig, und stellen eben keinen Spezialfall menschlichen Zusammenlebens – von der Familie über die Berufswelt bis hin zur Religiosität – dar. Andererseits ist der empirische Aufwand bei der Rekonstruktion von einem oder mehreren Netzwerken nicht zu unterschätzen, vor allem wenn auch valide Ergebnisse quantitativer Verfahren angestrebt werden. Gerade wegen dieser Allgegenwart sind distinkte Netzwerke schwer zu identifizieren und abzugrenzen, und müssen erst umständlich in ihrer Gestalt und Reichweite rekonstruiert werden statt bereits durch ihre manifeste Existenz zu überzeugen, ohne dass die Relevanz netzwerkförmiger Sozialbeziehungen a priori evident wäre. Dabei ist weniger der Nachweis der sozialen Einbettung der Akteure das empirische Problem, als vielmehr die Abgrenzung eines strategisches Handeln ermöglichendes Netzwerks von jener allgemeinen Einbettung in einen sozialen, z. B. beruflichen Kontext. Erst recht die Annahme konkurrierender Netzwerke stellt die empirische Arbeit dabei vor große Herausforderungen. Denn die Netzwerk-Theorie unterstellt nicht nur, dass sich alles soziale Handeln in Netzwerken vollzieht (was schon fast tautologisch ist), sondern – daraus folgend –, dass Netzwerke keineswegs immer nur instrumentell organisiert sind, ja dass sie nicht einmal immer funktional beziehungsweise anderen sozialen Organisationsformen überlegen sind. Die Frage lautet also: welcher mögliche Ertrag steht diesem Aufwand und diesen Problemen gegenüber? Diese methodisch-theoretische Vorsicht scheint mir angeraten angesichts der immer noch anhaltenden Netzwerk-Euphorie in der Geschichtswissenschaft, die m.E. dazu verführt, die Bedeutung netzwerkartiger Verflechtungen grundsätzlich zu überschätzen oder falsch einzuordnen. Obendrein stehen der Wissenschaftsgeschichte noch weitere, teils konkurrierende, teils
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Morten Reitmayer
komplementäre, Konzepte zur Verfügung, um Themenfelder der HISTORIOGRAzu bearbeiten: Neben dem Format der (intellektuellen) Biographie1 können auch Analysekategorien wie diejenige der „Schulen“ (man denke an die „Frankfurter Schule“,2 an die „Annales-Schule“3 oder an die „Marburger Schule der Politikwissenschaft“),4 der Generation,5 des Denkstils6 oder des Paradigmas7 angewendet werden. Nicht zuletzt verspricht das neue Konzept der „Wissensgeschichte“ neue Einsichten in die grundlegende Weltsicht, die fachliche Methodik und die bevorzugten Forschungsgegenstände sowie die inner- und außerfachliche Nachfrage nach historischem Wissen und dessen wandelnder gesellschaftlicher Funktion. Deshalb stellt die Untersuchung von Netzwerken nur eines von mehreren möglichen Untersuchungsverfahren dar, über deren Einsatz stets das jeweilige Erkenntnisinteresse entscheiden muss. Hier gilt es, das spezifische Verhältnis von Beharrung und Wandel in den Forschungsgegenständen und -methoden der westdeutschen Geschichtswissenschaft nach 1945 zu erklären, oder etwas bescheidener, einen Beitrag zu seiner Erklärung zu leisten. Mit dieser Fragestellung sind bereits einige Vorentscheidungen über die methodische Vorgehensweise gefallen, denn die Analyse eines einzigen Denkstils, einer Schule oder eines Ego-Netzwerks vermag über die fachliche Innovation in einem Berufsfeld keine Auskünfte zu geben, weil die gesuchte Innovation immer an einem anderen, nicht untersuchten Ort eingetreten sein kann. Sucht man also den Ausgangspunkt solcher Innovationen, müssen mehrere Netzwerke parallel verfolgt werden, und es muss nach Überschneidungen oder Kontakten zwischen diesen geforscht werden, die die Entstehung und Verbreitung des Neuen erklären können, indem sie plausibel machen, dass diese Akteure oder Orte dafür Sorge tragen, dass PHIEGESCHICHTE
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Exemplarisch Jan Eckel, Hans Rothfels. Eine intellektuelle Biographie im 20. Jahrhundert, Göttingen 2005. Rolf Wiggershaus, Die Frankfurter Schule. Geschichte, Theoretische Entwicklung, Politische Bedeutung, München 1986; Martin Jay, Dialektische Phantasie. Die Geschichte der Frankfurter Schule und des Instituts für Sozialforschung 1923–1950, Frankfurt 1981. Lutz Raphael, Die Erben von Bloch und Febvre. ,Annales‘-Geschichtsschreibung und ,nouvelle histoire‘ in Frankreich 1945–1980, Stuttgart 1994. Christoph Hüttig / Lutz Raphael, Die „Marburger Schule(n)“ im Umfeld der westdeutschen Politikwissenschaft 1951–1975, in: Wilhelm Bleek / Hans J. Lietzmann (Hgg.), Schulen in der deutschen Politikwissenschaft, Opladen 1999, 293–318. Jin-Sung Chun, Das Bild der Moderne in der Nachkriegszeit. Die westdeutsche „Strukturgeschichte“ im Spannungsfeld von Modernitätskritik und wissenschaftlicher Innovation 1948– 1962, München 2000; vergl. auch die Interviewreihe mit Historikern „Fragen, die nicht gestellt wurden, oder: Gab es ein Schweigegelübde der zweiten Generation?“ http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/BEITRAG/intervie/index.htm [04.03.2015]. Ludwik Fleck, Die Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv, Frankfurt 1980; Als Beispiel: Thomas Etzemüller, Sozialgeschichte als politische Geschichte. Werner Conze und die Neuorientierung der westdeutschen Geschichtswissenschaft nach 1934, München 2001. Thomas S. Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, Frankfurt 1976.
Zur Bedeutung von Netzwerken in der deutschen Zeitgeschichte
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Ideen unterschiedlicher Provenienz auf neuartige Weise verknüpft und in Netzwerke eingespeist werden, in denen sie bis dato nicht zirkulierten. Ich werde daher im Folgenden – gewissermaßen versuchsweise und auf beschränktem Raum – den Netzwerk-Ansatz einsetzen, um gemäß des bekannten Diktums von Ludwik Fleck, dass „Denken eine soziale Tätigkeit katexochen“8 ist, einen sozialhistorischen Beitrag zur Ausgangsfrage zu leisten, nämlich welche sozialen Voraussetzungen und welches soziale Kapital die Träger methodisch-fachlicher Innovation in die geschichtswissenschaftliche Arbeit der 1950er Jahre einbringen konnten. Zu diesem Zweck werde ich zunächst einige Kategorien des Netzwerk-Ansatzes erläutern, nämlich das Problem der Einbettung von Akteuren in Netzwerke, die Bedeutung von Sozialem Kapital, die Relevanz starker und schwacher Beziehungen, und schließlich die Figur des cutpoint-Akteurs. Daran anschließend sollen diese Kategorien auf zwei prominente und für die fachliche Weiterentwicklung der westdeutschen Historiographie besonders relevante Akteure angewendet werden, nämlich auf Werner Conze und Theodor Schieder, indem ihre spezifische Einbettung in das Historikerfeld ihrer Zeit untersucht wird. Abschließend soll vor dem Hintergrund der Ergebnisse der Wert des Netzwerkansatzes für die Geschichte der Geschichtswissenschaft und in weiterer Perspektive für die Produktion und Verbreitung von Wissensbeständen und Wissensformen evaluiert werden.
2 Soll der Versuch erfolgreich sein, Momente der Neuausrichtung der westdeutschen Geschichtswissenschaft nach 1945 mit Hilfe des Netzwerkansatzes zu entschlüsseln, indem genuin soziale Faktoren des Wandels identifiziert werden können, so muss das Bestehen stabiler, wenn auch nicht notwendigerweise institutionalisierter Beziehungen zwischen Akteuren beziehungsweise Akteursgruppen, aber auch zwischen Institutionen wie Zeitschriften, Forschungsinstitute usw. schlüssig nachgewiesen werden. Doch darüber hinaus müssen zunächst auch einige Kategorien der Netzwerkanalyse empirisch bestimmt werden, um einen Mehrwert an Erkenntnis gewinnen zu können. Andernfalls bleibt der Netzwerk-Begriff rein metaphorisch, und das Vorhaben begibt sich des heuristischen Wertes der Netzwerkforschnung. Die erste hier zu klärende Kategorie, die für die Sozialgeschichte des Historikerfeldes fruchtbar gemacht werden soll, ist diejenige der Einbettung von Akteuren in ein Netzwerk; sie ist grundlegend für den Netzwerkansatz. Der Begriff der Einbettung (in der Sprache der Netzwerkanalyse: die embeddedness) wurde von Mark Granovetter, einem Doyen der Netzwerk-Forschung, als handlungstheoretisches Konzept entwickelt, das den modelltheoretischen wie den empirischen Aporien sowohl des Strukturfunktionalismus als auch des rational choice-Ansatzes entgehen soll: Der Strukturfunktionalismus unterstellt faktisch „übersozialisierte“ Akteure,
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Fleck, Entstehung und Entwicklung, 129.
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die in sozialer Isoliertheit in ihrem Handeln von internalisierten sozialen Strukturen determiniert sind. Auch der rational choice-Ansatz geht von sozial isolierten Akteuren aus, deren Handeln sich eng an ihrem Eigeninteresse orientiert; soziale Beziehungen werden in diesem Modell hauptsächlich als Störfaktor betrachtet.9 Dagegen macht der Netzwerkansatz gerade die Kontextgebundenheit sozialen Handelns zum Thema. Um das Konzept der embeddedness für die sozialhistorische Analyse des Historikerfeldes fruchtbar zu machen, stellt sich daher zuerst die Frage, worauf die Einbettung der fraglichen Akteure (also hier: der Historiker) in das jeweilige Netzwerk beruhte. Bei den hier in Rede stehenden Historikern kann die Einbettung nicht allein auf ihrer Berufszugehörigkeit beruhen, die ja allen Akteuren im Historikerfeld gemein ist, und deshalb nicht als Abgrenzungskriterium taugt. Weitere Eingrenzungen sind also notwendig. Zu denken ist zunächst an Gemeinsamkeiten des Lebensschicksals, was für die Zeit nach 1945 zum Beispiel bedeuten konnte: Der Verlust der beruflich-sozialen Position in Folge einer zu starken Belastung durch Aktivitäten während der NS-Zeit – dies stellte den sozialen Hintergrund für die treibenden Kräfte bei der Gründung der Ranke-Gesellschaft „die führenden Mitglieder dieser Gesellschaft rekrutierten sich überwiegend aus Historikern, die während des Dritten Reiches in mehr oder weniger großer Nähe zum Nationalsozialismus gestanden hatten: Otto Becker, Erich Keyser, Karl Alexander v. Müller, Heinrich v. Sbrik, Harold Steinacker, Otto Brunner, Walter Peter Fuchs und Reinhard Wittram“10
dar, also bei Gustav Adolf Rein,11 und bei Hellmuth Rössler12 und Günter Franz13 zumindest vorübergehend.14 Sie bildeten gewissermaßen den – nach 1945 politisch ausgegrenzten – radikalen Kern dieses Netzwerkes völkisch-konservativer Historiker, für deren Mehrzahl das Jahr 1945 eine mehr oder weniger lange Unterbrechung ihrer Ordinarientätigkeit brachte. Selbstverständlich kommen als gemeinschaftsbildende Faktoren, die die Zugehörigkeit zu einem Netzwerk begründen können, auch diejenigen Momente in Frage, die oben als konkurrierende Konzepte diskutiert werden, also zum Beispiel die generationelle Zugehörigkeit. Auch die Zugehörigkeit zu einer „Schule“, also ein gemeinsamer akademischer Lehrer, ein teilweise zeitgleiches Doktorat, später das gemeinsame Auftreten auf Tagungen, gemeinsame Herausgeberschaften usw.,
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Mark Granovetter, Economic Action and Social Structure, The Problem of Embeddedness, in: American Journal of Sociology 3/1985, 481–510; Dorothea Jansen, Einführung in die Netzwerkanalyse, Opladen 2003, 20–21. Winfried Schulze, Deutsche Geschichtswissenschaft nach 1945, München 1993, 205. Gustav Adolf Rein (1885–1979) trat bereits vor 1933 in die NSDAP ein und war einer der Unterzeichner des „Bekenntnis[ses] der Professoren an den deutschen Universitäten zu Adolf Hitler und dem nationalsozialistischen Staat“. Von 1933 bis 1938 Rektor der Universität Hamburg, wurde er nach Abschluss des Entnazifizierungsverfahrens nicht wieder als Emeritus in die Fakultät aufgenommen. Hellmuth Rössler (1910–1968). Günther Franz (1902–1992); ebenfalls 1933 Unterzeichner des „Bekenntnisses der Professoren… zu Adolf Hitler“. Schulze, Deutsche Geschichtswissenschaft, 203–205.
Zur Bedeutung von Netzwerken in der deutschen Zeitgeschichte
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ohne dass sich dadurch auch zwingend die institutionellen Zusammenhänge und Zwänge, wie stabile Forschergruppen oder als Vorbild dienende Forschungsergebnisse, oder verbindliche theoretisch-methodische Bezüge hergestellt haben müssen, die „echte“ wissenschaftliche Schulen auszeichnen. Eine etwas allgemeinere und unschärfere, aber gegebenenfalls auch individuell begrenztere Gemeinsamkeit konnte ein gemeinsamer Erfahrungshintergrund darstellen, der das berufliche Handeln auf eine etwas weniger dramatische Weise beeinflussen und bestimmen konnte, etwa die Wahrnehmung des kollektiven, relationalen Bedeutungs- und Ansehensverlusts der traditionellen geisteswissenschaftlichen Fächer und ihrer etablierten Akteure, Verfahren, Grundannahmen, Wissensbestände und Erkenntnisinteressen, und darüber hinaus ganz allgemein der behauptete Niedergang der „Gebildeten“ in einer sich zunehmend „materialistische“ gebenden Welt (also im „Wirtschaftswunder“). Zweifellos kann die Einbettung von Akteuren in ein Netzwerk auch auf entgegengesetzten Erfahrungen beruhen; man denke an den Aufstieg der Soziologie in der Bundesrepublik und innerhalb dieser der Aufstieg der ehemals nationalsozialistisch belasteten Humanwissenschaftler um Arnold Gehlen und Helmut Schelsky zur konservativen Avantgarde der Bundesrepublik.15 Aus solchen Erfahrungen konnten sich gemeinsame Handlungszusammenhänge bei den etablierten peers der Zunft erwachsen, die beispielsweise auf die Rückgewinnung verlorener Deutungshoheit (und sei es „nur“ innerhalb der akademischen Fachdiskurse) abzielten und innerhalb derer deshalb versucht wurde, soziales Kapital zu mobilisieren, um die akademischen Ressourcen – also letztlich Geld und Stellen – des Faches zu vergrößern. Einschränkend ist allerdings zu bedenken, dass über die Möglichkeiten, derartige Ressourcen zu erlangen, erst in zweiter Linie die Stärke des Netzwerks entschied, sondern letztlich die Rahmenbedingungen, hier also in erster Linie die Hochschuletats. Andererseits konnten wissenschaftliche Netzwerke aber auch bis in die Kultusministerien und andere wissenschaftspolitisch relevante Institutionen reichen. Neben den skizzierten Gemeinsamkeiten des Lebensschicksals und den strukturähnlichen Erfahrungen von Statusgruppen konnten drittens – die Liste ist wohlgemerkt nicht abgeschlossen! – selbstverständlich auch gemeinsame Interessen, seien es wissenschaftliche Erkenntnisinteressen, politisch-ideelle Deutungsinteressen oder Karriere- und Machtinteressen Gemeinsamkeiten stiften, die in netzwerkförmige Verbindungen mündeten und damit die Einbettung der Akteure in die jeweils fraglichen Netzwerke begründeten.
15 Morten Reitmayer, Elite. Sozialgeschichte einer politisch-gesellschaftlichen Idee in der frühen Bundesrepublik, München 2009; Paul Nolte, Die Ordnung der deutschen Gesellschaft. Selbstentwurf und Selbstbeschreibung im 20. Jahrhundert, München 2000; Karl-Siegbert Rehberg, Hans Freyer, Arnold Gehlen, Helmut Schelsky, in: Dirk Kaesler (Hg.), Klassiker der Soziologie Bd. 2, München 2000, 72–104.
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Die zweite, hier zu klärende Kategorie des Netzwerk-Ansatzes ist diejenige des soziales Kapitals, und damit zusammenhängend, das Problem der Reziprozität. Bekanntlich wurde der Begriff des sozialen Kapitals von Pierre Bourdieu in die Soziologie eingeführt. Gemeint ist damit „die Gesamtheit der aktuellen und potenziellen Ressourcen, die mit dem Besitz eines dauerhaften Netzes [sic!] von mehr oder weniger institutionalisierten Beziehungen gegenseitigen Kennens oder Anerkennens verbunden sind; oder anders ausgedrückt, es handelt sich dabei um Ressourcen, die auf der Zugehörigkeit zu einer Gruppe beruhen.“16
Der Umfang des sozialen Kapitals, über das ein Akteur verfügt, hängt demnach sowohl von der Reichweite des Netzes derjenigen seiner Beziehungen ab, die er tatsächlich effektiv zu mobilisieren vermag, als auch vom Umfang des (ökonomischen, kulturellen und symbolischen) Kapitals, das diejenigen besitzen, mit denen jener Akteur mobilisierbare Beziehungen unterhält. Allerdings ist das in Netzwerken zirkulierende soziale Kapital ungleich verteilt und weist den Akteuren damit Position und Einfluss innerhalb eines Netzwerks zu, was umgekehrt nichts anderes bedeutet, als dass die Verteilung des sozialen Kapitals die Struktur des Gesamtnetzwerkes prägt. Dieser Umstand verweist auch auf die Kategorie der Macht. Die Untersuchung der ungleichen Machtverteilung innerhalb der und zwischen den verschiedenen Historikergruppen der 1950er Jahre ist gerade dann notwendig, wenn nicht nur ein Individuum, sondern ein Kollektiv, bzw. nicht allein ein (Ego-) Netzwerk, sondern verschiedene Netzwerke in den Blick genommen werden. Die Beziehungen, aus denen ein Netzwerk besteht, müssen jedoch aufgebaut und gepflegt werden, mit anderen Worten, es müssen materielle und immaterielle Investitionen getätigt werden, um dauerhafte Verpflichtungen zu errichten, auch wenn diese Investitionen häufig keineswegs intentional und kalkuliert getätigt werden. Dass und in welchem Ausmaß Akteure in Netzwerke eingebettet sind, dass sie diese Netzwerke pflegen, und dass „Beziehungsarbeit“ auch „Beziehungskapital“ hervorbringt, ist den Akteuren also keineswegs voll bewusst, und es lässt sich gut begründet vermuten, dass diese Beziehungsarbeit umso ertragreicher (im Verhältnis zum betriebenen Aufwand) erfolgt, je weniger kalkuliert sie auf ein bestimmtes Ziel hin geleistet wird, und je „ungezwungener“ die sozialen (Re-) Investitionen getätigt werden. Derartige Verpflichtungen gelten – in durchaus ungleicher Form – in jede Richtung, mit anderen Worten, sie sind reziprok. Das Problem der gegenseitigen Verpflichtung stellt übrigens seit Georg Simmel und Marcel Mauss einen der ältesten soziologischen Untersuchungsgegenstände dar,17 nicht zuletzt, weil die „Leistung“ und die „Gegenleistung“ zeitlich weit entkoppelt sein können. „Ver-
16 Pierre Bourdieu, Ökonomisches Kapital – Kulturelles Kapital – Soziales Kapital, in: ders., Die verborgenen Mechanismen der Macht, Hamburg 1992, 49–79, hier 63 (Hervorhebung im Original); auch für das Folgende. 17 Vgl. Christian Stegbauer, Reziprozität, in: ders. / Roger Häußling (Hgg.), Handbuch Netzwerkforschung, Wiesbaden 2010, 113–22.
Zur Bedeutung von Netzwerken in der deutschen Zeitgeschichte
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trauen“ ist deshalb eine essenzielle Voraussetzung und gleichermaßen Ergebnis gegenseitiger Verpflichtungen, und rückte deshalb auch zu einer Schlüsselkategorie der neueren Kulturgeschichte auf.18 Die Form dieser reziproken Beziehungen, die Inhalte der gegenseitigen Verpflichtungen, müssen dabei in jedem untersuchten Fall neu (historisch) identifiziert werden. Netzwerkanalytische Untersuchungen müssen daher auch der Frage nachgehen, welcher Art die gegenseitigen Verpflichtungen zwischen Professoren im Historikerfeld waren. An dieser Stelle lohnt es sich, die netzwerkanalytische Unterscheidung zwischen Kommunikations- und Einflussnetzwerken einerseits und Tausch- und Verhandlungsnetzwerken andererseits aufzugreifen: Während in ersteren der Einfluss eines Akteurs umso größer ist, je größer die Zahl seiner Außenbeziehungen ist und je mächtiger seine Kontaktakteure ihrerseits sind, hängt in letzteren der Einfluss eines Akteurs davon ab, dass seine Kontaktakteure verhältnismäßig machtlos sind, weil sie nur über ein geringes Repertoire an Alternativen verfügen.19 Für die Untersuchung von Einflussbeziehungen im Historikerfeld (und anderswo) erscheint deshalb der Sozialkapital-Ansatz besonders hilfreich und weiterführend, nicht zuletzt weil er durch die Möglichkeit zur Quantifizierung von Sozialbeziehungen valide Daten für deren Interpretation generiert und Veränderungen sichtbar machen kann. An dieser Stelle ist auch eine Kombination der Netzwerkanalyse mit dem Bourdieu’schen Feldansatz denkbar, um die Relevanz unterschiedlicher Kapitalsorten – etwa das spezifische wissenschaftliche Kapital eines oder mehrerer Historiker – von deren sozialem Kapital abgrenzen zu können. Auch die Bedeutung feldüberschreitender Netzwerke wird auf diese Weise erst wirklich sichtbar, etwa die nicht unbedeutenden Kontakte, die einige Historiker der Ranke-Gesellschaft in den 1950er Jahren zum Kreis der Evangelischen Akademie (z. B. zu Hans-Helmut Kuhnke und zu Axel Seeberg vom Deutschen Allgemeinen Sonntagsblatt) aufbauten und verwerteten.20 Die Bedeutung und Unterscheidung starker und schwacher Beziehungen ist die dritte hier kurz zu klärende netzwerkanalytische Kategorie. Sie wurde von dem bereits erwähnten Mark Granovetter als Ergebnis seiner Untersuchung eines Ausschnitts des amerikanischen Arbeitsmarkts entwickelt. Granovetter war von dem Befund ausgegangen, dass fast zwei Drittel aller Arbeitsstellen nicht über formale Kontakte wie Anzeigen in Zeitungen vergeben wurden, sondern durch informelle Kontakte, nämlich entlang persönlicher Beziehungen. Granovetter fand dabei heraus, dass diejenigen Jobwechsler, die die entscheidenden Informationen über einen arbeitsbezogenen, aber verhältnismäßig losen Kontakt (weak ties, bemessen nach
18 Exemplarisch Ute Frevert, Vertrauensfragen. Eine Obsession der Moderne, München 2013. 19 Jansen, Einführung in die Netzwerkanalyse, 169–187, hier 178. Die klassische Untersuchung eines Netzwerks, das beide Elemente für unterschiedliche Zwecke in Politik und Wirtschaft miteinander kombiniert ist: John F. Padgett / Christopher K. Ansell, Robust Action and the Rise of the Medici 1400–1434, in: American Journal of Sociology 98/1993, 1259–1319. 20 Ranke-Gesellschaft (Hg.), Führungsschicht und Eliteproblem. Konferenz der Ranke-Gesellschaft, Frankfurt 1957.
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der Häufigkeit des Zusammentreffens) erhielten, signifikant häufiger deutlich höhere Einkommen erzielen konnten als diejenigen Jobwechsler, bei denen die relevanten Informationen aus dem engen Familien- und Freundeskreis (strong ties) stammten.21 Die reine Dichte oder Diversität eines Ego-Netzwerks genügt also offensichtlich keineswegs zur Erklärung bestimmter sozialer Prozesse oder Interaktionen. Die Unterscheidung zwischen starken und schwachen Beziehungen führt schließlich zur vierten hier notwendigen Begriffsbestimmung: Schwache Beziehungen, bei denen Kontaktpersonen sich verhältnismäßig selten sehen, verbinden typischerweise cutpoints. Dies sind Schnittstellen, an denen Informationen zwischen Gruppen von relativ hoher Kohäsion und Binnenkommunikation, aber mit verhältnismäßig schwacher Außenkommunikation ausgetauscht werden. CutpoitAkteure ziehen ihren Vorteil gerade aus dem Umstand, dass jene verhältnismäßig engen Cluster nur über sie miteinander in Kontakt treten können. Cutpoit-Akteure verbinden diese Cluster über strukturelle „Löcher“ hinweg, ohne den Clustern selbst anzugehören, und ohne ihrer sozialen Kontrolle zu unterliegen: Strukturelle Autonomie ist deshalb die Basis ihres sozialen Kapitals. Ihre Gewinne ergeben sich aus ihrer strategisch günstigen Position im Informationsprozess. Cutpoit-Akteure sind deshalb auch geradezu prädestiniert für die Kombination unterschiedlicher Ideen zu neuen Ideengebilden, also zur Rolle als Innovatoren. Umgekehrt können sie nur in geringerem Maße auf die Solidaritäten aus den eng geknüpften Netzwerken vertrauen, die sie miteinander verbinden, ohne ihnen wirklich anzugehören.22
3 Die Neuausrichtung der (west-) deutschen Geschichtswissenschaft, die nach 1945 erfolgte, trug nicht die Züge eines jähen revolutionären Wandels, der in einem kurzen Zeitraum das gesamte Arbeitsfeld der Historiker verändert hätte, sondern er erstreckte sich über einen Zeitraum von mindestens zwei Jahrzehnten. Er betraf sowohl die bevorzugten Forschungsgegenstände, als auch die Ausrichtung der Leitfragen und die gewählten Untersuchungsmethoden. Hier sollen im Wesentlichen die sozialen Kontexte von zwei Strängen dieses Wandels rekonstruiert werden, nämlich erstens des Aufstiegs der Sozialgeschichte,23 und zweitens des Verlassens der ausgetretenen Pfade der Politik-zentrierten Nationalgeschichtsschreibung. Diese beiden Stränge waren zwar vielfach miteinander verflochten, und zwar sowohl personell als auch methodisch, dennoch ist es sinnvoll, diese analytisch zu trennen,24 nicht zuletzt weil sie zeitlich keineswegs parallel verliefen. 21 22 23 24
Vgl. Jansen, Einführung in die Netzwerkanalyse, 240–245. Jansen, Einführung in die Netzwerkanalyse, 29–30, 105–06, 244. Schulze, Deutsche Geschichtswissenschaft, 281–301. Eine Trennung, die nicht weniger willkürlich ist als diejenige, die in Gestalt biographischer Einzelstudien erfolgt.
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Im Folgenden wird der Versuch unternommen, aus der sozialen Einbettung zweier zentraler Akteure im Historikerfeld, nämlich Werner Conzes und Theodor Schieders, weitere Erkenntnisse zum Verständnis der besagten Neuorientierung der (west-) deutschen Geschichtswissenschaft zu gewinnen. Am Beginn unserer Untersuchung steht jedoch eine andere Zentralfigur, nämlich Hans Rothfels.25 Rothfels war nicht nur der Mentor Conzes und Schieders, er bildete gewissermaßen den Nucleus zur Entstehung der Netzwerke Conzes und Schieders. Rothfels stellte damit die wissenschaftlich-soziale Infrastruktur zur Verfügung, innerhalb derer Conze und Schieder dann agierten. Der 1891 geborene Hans Rothfels war 1926 als Ordinarius an die Universität Königsberg berufen worden. Unter dem Eindruck der territorialen Verluste Deutschlands durch den Versailler Vertrag nahm diese Universität die Rolle eines „Vorposten[s] des Reiches und des ‚Abendlandes‘“26 in einem ethnisch gemischten Gebiet ein, was die politische Atmosphäre an der Universität maßgeblich beeinflusste. Zusammen mit den besonderen Naturerlebnissen in der ostpreußischen Landschaft27 schufen diese Erfahrungen zumindest bei einem nennenswerten Teil der hier arbeitenden Geisteswissenschaftler (zunächst unabhängig von ihren generationellen Gemeinsamkeiten) die Voraussetzungen für einen intensiven Gruppenzusammenhalt. Bis zur Berufung nach Königsberg, das heißt während seiner gesamten wissenschaftlich prägenden Sozialisationsphase war Rothfels nicht besonders gut in der deutschen Geschichtswissenschaft „vernetzt“ gewesen. Sein Doktorvater Hermann Oncken beeinflusste ihn wissenschaftlich kaum; nur mit seinem Altersgenossen Siegfried Kähler und mit seinem Mentor Friedrich Meinecke pflegte er eine intensivere Kommunikation. In Berlin führte er eine „vereinzelte akademische Existenz“.28 Fachfremde oder irgendwie neuartige Ideen und Anregungen von den Rändern oder von jenseits der Grenzen des Historikerfeldes waren durch diese relativ schwache akademisch-soziale Einbettung nicht zu erlangen, und Rothfels‘ Qualifikationsarbeiten über Carl von Clausewitz und Bismarcks Außenpolitik waren hinsichtlich des Gegenstands, ihrer Fragestellungen und Methodik denn auch höchst konventionell. Erst in Königsberg erweiterte sich sein wissenschaftlich-soziales Umfeld deutlich. Nach 1945 verfügte Rothfels dann über eine außerordentlich einflussreiche Position im westdeutschen Historikerfeld, was ihn in die Lage versetzte, umfangreiche Forschungsressourcen zu lenken, etwa zu Gunsten von Theodor Schieders Editionsunternehmen der „Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa“.29
25 Zu Rothfels‘ Rolle in der deutschen Geschichtswissenschaft vgl. die Studie von Jan Eckel, Hans Rothfels. Eine intellektuelle Biographie im 20. Jahrhundert, Göttingen 2005. 26 Thomas Etzemüller, Die „Rothfelsianer“. Zur Homologie von Wissenschaft und Politik, in: Johannes Hürter / Hans Woller (Hgg.), Hans Rothfels und die deutsche Zeitgeschichte, München 2005, 121–144, hier 128. 27 Etzemüller, Sozialgeschichte als politische Geschichte, 23. 28 Eckel, Hans Rothfels, 103. 29 Eckel, Hans Rothfels, 275.
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Besonders zwei wesentliche Faktoren für diese starke Position von Rothfels müssen hier erwähnt werden: Zum einen reichte sein Kommunikationsnetzwerk mittlerweile in viele wichtige Institutionen hinein: Er war u.a. Mitglied der Wissenschaftlichen Kommission der „Dokumentation der Vertreibung“ sowie des Wissenschaftlichen Beirats des Instituts für Zeitgeschichte; hatte die Herausgeberschaft der Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte übernommen und war Hauptherausgeber der „Akten zur Deutschen Auswärtigen Politik“; 1958 wurde er mit großer Mehrheit zum Vorsitzenden des Historikerverbandes gewählt und gehörte zum Beirat des Max-Planck-Instituts für Geschichte.30 Und zum anderen verfügte Rothfels inzwischen über ein außerordentliches wissenschaftlich-symbolisches Renomee: Dieses beruhte vor allem auf zwei Interpretationsleistungen: Erstens war es ihm in seinen Bismarckstudien gelungen, die damals einflussreichen Zeitdiagnosen, welche eine „geistesgeschichtliche Ahnenreihe ‚von Bismarck [oder gar von Luther!, M.R.] bis Hitler‘“ zur Erklärung des Nationalsozialismus konstruiert hatten,31 zu widerlegen – jedenfalls in den Augen der damals politisch interessierten Historiker und der politischen Öffentlichkeit. Und zweitens hatten seine Arbeiten zum (konservativen) Widerstand gegen Hitler ein wirksames Schutzschild gegen die (ihrerseits nur wegen ihrer exkulpierenden Funktion heraufbeschworene) Kollektivschuldthese geboten.32 Mit diesen politisch-ideellen Interpretationsleistungen erlangte Rothfels für die akademische wie für die außerakademische Historiographie eine symbolische Bedeutung, die für die Wiederherstellung des verunsicherten westdeutschen Geschichtsbewusstseins von essentieller Bedeutung war. Inhaltlich oder methodisch innovative Impulse gingen von ihm dabei jedoch nicht aus. Im Grunde blieb Rothfels Zeit seines Lebens ein Staats-orientierter Politikhistoriker; „in seinen Texten ließ er … diejenigen Persönlichkeiten, die für ihn positiv besetzt waren … fast physisch mit dem Staat verschmelzen“.33 Das war bei Werner Conze und Theodor Schieder anders. Vor allem waren sie während ihrer prägenden wissenschaftlichen Sozialisationsphase in ganz andere soziale Kontexte eingebettet. Zunächst einmal bestand bei den Königsberger Nachwuchswissenschaftlern, etwa Erich Maschke, Schieder und Conze (und anderen), die alle zwischen 1900 und 1910 geboren und in bürgerlich-protestantischen Elternhäusern aufgewachsen waren und damit der „Kriegsjugendgeneration“34 angehörten, ein enger generationelle Zusammenhang. Sie hatten den Ersten Weltkrieg zwar mehr oder weniger bewusst erlebt, doch die Erfahrung des Soldat-Seins der Älteren blieb ihnen verwehrt. Als junge Männer beneideten sie diese Älteren um
30 Eckel, Hans Rothfels, 274–76. 31 Vgl. Barbro Eberan, Luther? Friedrich „der Große“? Wagner? Nietzsche? ...? …? Wer war an Hitler schuld? Die Debatte um die Schuldfrage 1945–1949, München 1983. 32 Eckel, Hans Rothfels, 277, auch für das Folgende. 33 Eckel, Hans Rothfels, 52. 34 Ulrich Herbert, „Generation der Sachlichkeit“. Die völkische Studentenbewegung der frühen zwanziger Jahre, in: ders., Arbeit, Volkstum, Weltanschauung, Frankfurt 1995, 31–58.
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deren „Fronterlebnis“, und erfuhren die nachfolgende Weimarer Republik individuell als sozialen Abstieg oder zumindest als große materielle Bedrohung ihrer Familie, und kollektiv als Infragestellung aller ihrer politisch-ideellen Überzeugungen, weshalb sie die neue republikanische Ordnung ablehnten. Ihre Arbeit als Historiker sahen sie als Beitrag zur Verteidigung des deutschen Volkes, nicht der Republik. Zusammen begründeten alle diese Erfahrungen den sozialen Kontext zumindest eines Teils der Königsberger Historiker. Doch obwohl Rothfels als akademischer Lehrer „Beichtvater, Vorbild, Schutzschild“ seiner Schüler war,35 spielte er für die methodische und inhaltliche Neuorientierung der Geschichtswissenschaft, die jene dann vorantrieben, nur eine untergeordnete Rolle. Zum „Idol der heranwachsenden jungkonservativen Historikergeneration“36 wurde er in Königsberg vielmehr aufgrund der politischen Stoßrichtung seiner Forschungen. Werner Conze war 1931 nach Königsberg gekommen;37 auf der Suche nach einem anregenden Lehrer, der ihm einen Weg aufzeigen könnte, wissenschaftliche Arbeit mit dem Drang zur politischen Aktion zu verbinden.38 Hier stieß er auf ähnlich gesonnene Geistes- und Sozialwissenschaftler wie Werner Markert, Herbert Grundmann, Kurt von Raumer, Theodor Oberländer und daneben die bereits erwähnten Hans Rothfels, Erich Maschke, Gunther Ipsen und Theodor Schieder.39 Drei Jahre später schloss er hier bei Rothfels seine Dissertation über die deutsche Sprachinsel Hirschenhof in Livland ab, dann ging er mit dem Soziologen Gunther Ipsen als Assistent nach Wien. Damit war die Überschreitung der Fächergrenze für Conze bereits institutionalisiert, wobei Ipsen seinerseits durchaus interdisziplinär arbeitete, indem er „mit seinen philosophischen Fähigkeiten und Interessen gründliche Kenntnisse in Geschichte, Vorgeschichte und systematischen Kulturwissenschaften, besonders Sprachwissenschaft“ verband (so aus der Begründung für einen Lehrauftrag Ipsens für Geschichtsphilosophie aus dem Jahr 1926).40 Conze blieb allerdings Historiker und habilitierte sich in Wien 1940 mit einer Arbeit über „Agrarverfassung und Bevölkerung in Litauen und Weißrussland“. Bemerkenswerterweise kam es über die Interdisziplinarität von Conzes Arbeit gleich zu einem Konflikt, weil die Lehrbefugnis nicht, wie von Conze angestrebt, für „Geschichte, insbesondere osteuropäische Geschichte“ erteilt wurde, sondern nur für das Fach „Volkslehre“ in Aussicht gestellt wurde.41 Nach bzw. während seiner Zeit als Wehrmachtsoffizier an der Ostfront, wo er schwer verwundet wurde, berief ihn die „Reichsuniversität“ Posen auf ein Extraordinariat. Es ist unbestritten, dass Conze
35 Etzemüller, Die „Rothfelsianer“, 129. 36 Etzemüller, Sozialgeschichte als politische Geschichte, 25. 37 Jan Eike Dunkhase, Werner Conze. Ein deutscher Historiker im 20. Jahrhundert, Göttingen 2010. 38 Etzemüller, Sozialgeschichte als politische Geschichte, 256. 39 Etzemüller, Die „Rothfelsianer“, 128. 40 Zitiert nach Willi Oberkrome, Volksgeschichte. Methodische Innovation und völkische Ideologisierung in der deutschen Geschichtswissenschaft 1918–1945, Göttingen 1993, 72. 41 Dunkhase, Werner Conze, 56–57.
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zu denjenigen Geistes- und Sozialwissenschaftlern gehörte, die sich an den Großraumplänen der Nationalsozialisten beteiligten und die sich von dieser Beteiligung auch einen Karriereschub erhofften. Das Ausmaß und die Relevanz seiner diesbezüglichen Aktivitäten kann hier nicht diskutiert werden. Fest steht, und das ist für den hier in Rede stehenden Fragehorizont von Bedeutung, dass Conze während seiner Zeit als Nachwuchswissenschaftler in Königsberg (und in Wien) durch die spezifische Art seiner sozialen Einbettung mit Gegenständen, Leitfragen und Methoden in Berührung kam, die die engen Grenzen der damals vorherrschenden Politikgeschichtsschreibung weit überschritten, und bereits mit seinen Qualifikationsarbeiten selbst dazu beitrug, dass die Erkenntnisinteressen und die Verfahren des Faches verschoben wurden. Soziologie, Statistik, Demographie und Sprachwissenschaften lieferten nun wichtige Anregungen und Ergebnisse. „Lebensraum“, „Verfassung“ und „Bevölkerung“ stellten die zentralen Erkenntniskategorien dar, mit denen nicht nur Conze, sondern der Kreis der genannten Königsberger Wissenschaftler operierte.42 Auch wenn die Bedeutung dieser „Volksgeschichte“43 (andere Historiker, etwa Otto Brunner, verwendeten auch andere Bezeichnungen, etwa „Strukturgeschichte“) für die Entwicklung der „Sozialgeschichte“ nach 1945 kontrovers diskutiert wird, so ist es doch unumstritten, dass dieser Ausbruch aus den eng gewordenen Grenzen der Staats-zentrierten Politikgeschichte durch die völkischen Ordnungsideen und Ambitionen der Zwischenkriegszeit und des Nationalsozialismus ganz wesentlich motiviert war. Die Einzelinteressen der Protagonisten mochten sich unterscheiden; die Richtung dieses Ausbruchs stimmte weitgehend überein. Das betraf zum einen die Integration von Erkenntnissen und teilweise auch von Methoden der oben genannten Nachbarwissenschaften. Zum anderen erweiterte sich das Spektrum der Untersuchungsgegenstände zumindest bei einem Teil der fraglichen Historiker über den engen sozialen Kreis der Eliten hinaus bis hin zu den (besitz-) bäuerlichen Schichten, was seinen Ansatz beispielsweise von demjenigen Otto Brunners unterschied. Nach 1945 war trotz aller epistemologischen Kontinuitäten diese Form der Volksgeschichte nicht mehr vermittelbar; gleichzeitig war es möglich, mit nur geringen Abwandlungen wichtige Elemente dieser Proto-Sozialgeschichte in die neue politische Ordnung hinüberzuretten, zumal die Regeln des Wissenschaftsbetriebs
42 Thomas Etzemüller hat sich in mehreren Studien bemüht, unter Bezugnahme auf die Analytik Ludwik Flecks den „Denkstil“ der Königsberger Gruppe bzw. der „Rothfelsianer“ zu rekonstruieren. Kritisiert wurde allerdings, dass die von Fleck übernommenen Kategorien des „Denkstils“ und des „Denkkollektivs“ zu unscharf geblieben seien, und dass sich Etzemüller in Wahrheit bemüht habe, das Netzwerk, das Werner Conze aufbaute und innerhalb dessen er agierte, sichtbar zu machen. Dazu ist allerdings zu bemerken, dass Etzemüller keinerlei netzwerkanalytische Begriffe oder Methoden zitiert oder anwendet; insofern geht dieser Vorwurf m.E. ein wenig an Etzemüllers Leitfragen und Verfahren vorbei. Manfred Hettling, Rezension zu Thomas Etzemüller, Sozialgeschichte als politische Geschichte. Werner Conze und die Neuorientierung der westdeutschen Geschichtswissenschaft nach 1945, München 2001, in: H-SozKult, 03.12.2002, http://www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-813 [10.03. 2015]. 43 Allgemein vgl. Oberkrome, Volksgeschichte.
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zumindest in Westdeutschland weitgehend unverändert blieben, während die politische Spitze, die nach 1918 den osteuropäischen „Lebensraum“ durch die Kulturleistungen der deutschen Bevölkerung „ordnen“ wollte, ihre Bedeutung verloren hatte und einfach fallengelassen werden konnte. Was blieb, war die Ausdehnung des Gegenstandsbereichs der neuen „Sozialgeschichte“ und auch die Lebensverhältnisse und die politische Bedeutung der Sozialgruppen unterhalb der Eliten, was nun aber nicht mehr auf die bäuerliche Bevölkerung beschränkt bleiben musste. Konsequent dehnte Werner Conze seine Interessen jetzt auf die Industrielle Gesellschaft aus. Von dem Soziologen Hans Freyer, der dem Königsberger Kreis zumindest sehr nahe gestanden hatte, und der mit seiner „Weltgeschichte Europas“ großen Einfluss auf die Neuzeithistoriker der späten 1940er und 50er Jahre ausübte (ablesbar an Freyers Auftritten auf mehreren Historikertagen in den 1950er Jahren) übernahm Conze auch die Denkfigur einer fundamentalen kulturgeschichtlichen Schwelle um 1800; eine Transformation, die nur mit der neolithischen Revolution 6000 Jahre zuvor zu vergleichen sei.44 Diese Denkfigur, angereichert mit neueren Erkenntnissen über die Industrielle Revolution, fand ihren Platz tief im Selbstverständnis der klassischen westdeutschen Sozialgeschichte.45 Diese Ideen versuchte Conze nach 1945 in die Historikerschaft zu tragen; durch seine Mitwirkung an Historikertagen, durch regelmäßigen Austausch mit Kollegen, durch Rezensionen, sowie durch mehrere einflussreiche Aufsätze (darunter der erstmals 1954 erschienene „Klassiker“ unter Conzes Texten „Vom Pöbel zum Proletariat“46), sowie durch seine Beiträge im (allerdings erst 1971/76 erschienenen) „Handbuch der deutschen Wirtschafts- und Sozialgeschichte“. Materiell standen ihm seit Mitte der 1950er Jahre dann erhebliche Ressourcen zur Verfügung: Zuallererst das großzügig ausgestattete Ordinariat für Neuere Geschichte in Heidelberg und das mit diesem verbundene „Institut für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte“ (zunächst „Institut für Sozialgeschichte der Gegenwart“), das als Klammer zwischen dem Historischen Seminar und den Sozial- und Wirtschaftswissenschaftlern des Alfred-Weber-Instituts dienen sollte.47 Dies waren personell sehr stark besetzte Forschungsinstitutionen, an denen sowohl interdisziplinär als auch interpersonell gearbeitet wurde. Conze agierte hier nicht als Theoretiker, sondern als Initiator, der neue Trends aufspürte und half, neue Themenfelder zu besetzen, wobei seine Mitarbeiter einen großen Freiraum genossen. Darüber hinaus war Conze Mitglied zahlreicher Wissenschaftsorganisationen. Und schließlich gründete er in den späten
44 Etzemüller, Sozialgeschichte als politische Geschichte, 50–54, 60–65. 45 Beispielhaft Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte Bd. 2. Von der Reformära bis zur industriellen und politischen Deutschen Doppelrevolution 1815–1845/49, München 1987. 46 Werner Conze, Vom „Pöbel“ zum „Proletariat“. Sozialgeschichtliche Voraussetzungen für den Sozialismus in Deutschland, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 4/1954, 333–364. Der Aufsatz fand weite Verbreitung v.a. durch seine Aufnahme in den 1966 von Hans-Ulrich Wehler herausgegebenen Sammelband „Moderne Deutsche Sozialgeschichte“. 47 Etzemüller, Sozialgeschichte als politische Geschichte, 149.
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1950er Jahren den aus Historikern und Sozialwissenschaftlern (darunter alte Königsberger Bekannte und Assoziierte wie Theodor Schieder, Gunther Ipsen und Otto Brunner) bestehenden „Arbeitskreis für moderne Sozialgeschichte“, der bald mit einem beachtlichen Etat arbeiten konnte und eng mit Conzes Lehrstuhl und dem „Institut für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte“ verzahnt war und der den Zweck hatte, sozialhistorische Forschungen zu initiieren. Dies waren die zentralen Knotenpunkte in Conzes Einflussnetzwerk. Conze hatte die Zeit seiner wissenschaftlichen Sozialisation in einem politisch motivierten und wissenschaftlich anregenden Kontext mit vielfältigen Anregungen aus unterschiedlichen Disziplinen verbracht und mobilisierte zur Umsetzung des damals entwickelten „Programms“ nach 1945 – politisch geläutert – die erheblichen materiellen Ressourcen seines Netzwerks. Bemerkenswerterweise blieb aber bei aller Interdisziplinarität und Teamarbeit die Nation Conzes zentraler Bezugspunkt.48 Theodor Schieders Rolle bei der Neuorientierung der westdeutschen Geschichtswissenschaft unterschied sich deutlich von derjenigen Conzes, war jedoch sicher nicht weniger bedeutsam. Schieder ging erst nach Vollendung seiner Doktorarbeit, mit der er in München bei dem nationalsozialistischen Historiker Karl Alexander von Müller promoviert wurde, Anfang 1934 nach Königsberg, und verzichtete damit auf die Nutzung von Müllers wissenschaftlichen, politischen und „gesellschaftlichen“ Kontakten, und ebenso auf die Möglichkeit, bereits bestehende Verbindungen zur Münchner SA und NSDAP auszubauen.49 Wie die anderen „Königsberger“ interessierte sich auch Schieder aus einer Gegenwartsperspektive für die (mittel-) osteuropäische Geschichte. In Osteuropa zeigte sich die Auflösung und Sinnlosigkeit der „westlichen“ Vorstellung des Zusammenhangs von Staat und Nation; hier wurde die Bedeutung der Kategorien „Volk“, „Raum“ und „Ordnung“ offenbar: „Hier im Osten hat der Nationalstaatsbegriff eine heillose Balkanisierung herbeigeführt, einheitlich organisierte Räume aufgelöst, politisch unreife Völker in den Besitz eines eigenen Staates gebracht“.50 Obwohl Schieder gerade Rothfels‘ wegen nach Königsberg gegangen war, weil er hoffte, von diesem habilitiert zu werden, und Rothfels für ihn „zu einer Art Vaterfigur wurde“,51 dauerte die gemeinsame Königsberger Zeit nicht einmal ein Jahr, denn Rothfels wurde bereits 1934 wegen seiner jüdischen Herkunft von seinem Lehrstuhl vertrieben. Über seinen „Bundesbruder“ aus der Deutschen Akademischen Gildenschaft, den Nationalökonomen Theodor Oberländer, erhielt er ein Habilitationsstipendium der Nordostdeutschen Forschungsgemeinschaft, einer Institution, die den deutschen „Volkstumskampf“ gegen Polen wissenschaftlich begleiten sollte.52 War das Dissertati-
48 Etzemüller, Sozialgeschichte als politische Geschichte, 121. 49 Christoph Nonn, Theodor Schieder. Ein bürgerlicher Historiker im 20. Jahrhundert, Düsseldorf 2013, 59. 50 Zitiert nach Nonn, Theodor Schieder, 60. 51 Etzemüller, Sozialgeschichte als politische Geschichte, 32. 52 Nonn, Theodor Schieder, 63–64.
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onsthema noch klassisch politikgeschichtlich gewählt und auf den Nationalstaat bezogen,53 so zeigte die Habilitationsschrift54 deutlich den Weg hin zur „Volksgeschichte“. Schieder schrieb sie mehr außerhalb als innerhalb der Königsberger Universität, weil er sein Stipendium mit der Leitung der neuen „Landesstelle Ostpreußen für Nachkriegsgeschichte“ vertauschte. Schieders berufliches Netzwerk war damit mindestens ebenso sehr politisch-administrativ wie wissenschaftlich ausgerichtet. Immerhin ermöglichte ihm dieser Rückhalt, sich in der „Landesstelle“ voll auf seine Habilitation und diverse Aufsatzprojekte zu konzentrieren und die politische Arbeit weitgehend zu vernachlässigen. Bis zu seiner Habilitation im Jahr 1940 musste er allerdings immer wieder erfahren, wie fragil seine Netzwerkbeziehungen und wie prekär damit auch seine wissenschaftliche Laufbahn durch ständige Einflussnahmen durch nationalsozialistische Stellen und Akteure geworden waren. Keinem dieser Cluster war Schieder derart eng verbunden, dass er auf uneingeschränkte Unterstützung hätte bauen dürfen. Schieder zog daraus die Konsequenz, diesen Pressionen inhaltlich möglichst keine Angriffsflächen zu bieten, und bezog in seinen Publikationen mehr und mehr systemkonforme Positionen. Im Jahr 1937 trat er auch der NSDAP bei.55 Bis 1942 hatte es sich dann bezahlt gemacht, dass Schieder sowohl zum nationalsozialistischen Gauleiter Erich Koch als auch zu verschiedenen Stellen in der Königsberger Universität enge Kontakte geknüpft hatte, denn er wurde – als Hausberufung! – zum Professor für Geschichte der Neuzeit berufen.56 In Schieders – und nur in Schieders! – Person berührten sich hier unterschiedliche soziale Kontexte mit jeweils ganz eigenen Interessen.57 Es ist unbestritten, dass Schieder in den folgenden Jahren in Königsberg versuchte, seine wissenschaftliche Arbeit mit dem Einsatz für nationalsozialistische Ziele zu verbinden. Doch nicht seine wissenschaftlich-politische Praxis im Nationalsozialismus steht hier im Vordergrund, sondern seine Rolle als fachlicher Innovator nach 1945. Im Historikerfeld nahm Schieder seit Ende der 1950er Jahre eine zentrale Position ein, ablesbar an seiner Herausgeberschaft der Historischen Zeitschrift, seinem Vorsitz des Historikerverbandes und seinem Rektorat der Universität zu Köln. Er initiierte die Gründung des Historischen Kollegs im Stifterverband für die deutsche Wissenschaft und wurde Mitglied der Rheinisch-Westfälischen Akademie der Wissenschaften sowie der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Sein Renommee im Fach verdankte er dabei mehreren forschungspolitischen Initiativen: Als einer der wenigen Historiker war Schieder in der Lage, eine ernsthafte Auseinandersetzung mit der marxistischen Geschichtstheorie zu
53 „Die kleindeutsche Partei in Bayern in den Kämpfen um die nationale Einheit 1863–1871“. 54 „Deutscher Geist und ständische Freiheit im Weichselland. Politische Ideen und politisches Schrifttum in Westpreußen von der Lubliner Union bis zu den polnischen Teilungen (1569– 1772/73)“. 55 Nonn, Theodor Schieder, 63–82. 56 Nonn, Theodor Schieder, 102. 57 Vgl. Nonn, Theodor Schieder, 101–103.
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führen und auf diese Weise Interpretationsvorstöße zur deutschen Geschichte sowohl aus der DDR als auch aus den Reihen der Neuen Linken abzuriegeln. Den jüngeren Sozialhistorikern empfahl Schieder die Werke Max Webers zur Lektüre, dessen Typenlehre einen nachhaltigen Einfluss auf die „klassische“ Sozialgeschichte, vor allem auf die Bielefelder Schule, ausübte. Und schließlich verließ Schieder die Pfade der Nationalgeschichtsschreibung, was sich schließlich in dem Großvorhaben des Handbuchs der Europäischen Geschichte, das er über Jahrzehnte hinweg verfolgte. Bei all dem blieb Schieder jedoch immer kontaktfähig gegenüber den Vertretern einer konventionellen, an den Werken historischer Einzelpersönlichkeiten orientierten Nationalgeschichtsschreibung, wie Gerhard Ritter.58 Schieder inspirierte seinen Nachwuchs und verband, von einem enormen wissenschaftlichen Apparat unterstützt, unterschiedliche Strömungen zu einem neuen Konzept, ohne sich mit den Vertretern der Tradition zu überwerfen.
4 Die Neuausrichtung der (west-) deutschen Geschichtswissenschaft geht zweifellos weder allein auf die Arbeiten der hier genannten Akteure zurück, noch ist die hier nur skizzenhaft vorgenommene Untersuchung ihrer sozialen Einbettung in der Lage, deren Relevanz und Handeln restlos zu erklären. Es sollte jedoch klar geworden sein, dass die Betrachtung isolierter Akteure (und ihrer Ego-Netzwerke) kaum in der Lage ist, hinreichenden Aufschluss über jene Neuorientierung zu geben, jedenfalls im Sinne einer explizit sozialhistorischen Herangehensweise. Ein Vergleich der spezifischen sozialen Einbettung von Hans Rothfels, Werner Conze und Theodor Schieder zeigt jedoch, dass diese Schlüsselakteure ganz unterschiedliche soziale Funktionen für den Prozess der Entstehung des Neuen ausübten; Funktionen, die erst aus dem Vergleich ihrer sozialen Einbettung ersichtlich werden. Nicht nur das soziale Kapital, die Anzahl und Reichweite ihrer Kontakte, sondern auch die Art ihrer Einbettung und ihre Fähigkeit der Vermittlung zwischen anderen Netzwerken versetzte sie in die Lage, diese Funktionen – als Mentor, „Schutzschild“ und durch das Zurverfügungstellen von materiellen und immateriellen Ressourcen, als Theoretiker wie als Empiriker, als Anreger und Verknüpfer unterschiedlicher Stränge des Wissenstransfers – auszufüllen. Der spezifische soziale Kontext während ihrer wissenschaftlichen Sozialisationsphase kann dabei als ein erster Schlüssel zur Untersuchung ihrer späteren Praxis dienen; sei es, dass sie hier die entscheidenden Anregungen aus einem vielfältigen wissenschaftlichen und politischen Umfeld erhielten und diese später mit starken Einflussnetzwerken umsetzen; sei es dass sie hier bereits in die Rolle des Vermittlers zwischen unterschiedlichen, jeweils starken und homogenen Clustern gedrängt wurden und aus der Not eine Tugend machten.
58 Nonn, Theodor Schieder, 283.
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In diesem Sinne sind die Möglichkeiten des Netzwerkansatzes zur Untersuchung der methodischen und inhaltlichen Entwicklung akademischer Disziplinen in ihrer Geschichte noch längst nicht ausgeschöpft.
ZUR NEUAUSRICHTUNG DER GESCHICHTSWISSENSCHAFTEN IN DER BUNDESREPUBLIK NACH 1945 UNTER BESONDERER BERÜCKSICHTIGUNG DER AUßERUNIVERSITÄREN FORSCHUNG Winfried Schulze
Das Thema der Neuausrichtung der deutschen Geschichtswissenschaft nach 1945 ist natürlich kein ganz neues Thema. Sie erlauben mir diese Bemerkung, weil ich ein wenig an der Entdeckung dieses Themas gegen Ende der 80er Jahre beteiligt war und auch Einiges dazu publiziert und organisiert habe.1 Den allermeisten Historikerinnen und Historikern dürfte der Frankfurter Historikertag von 1998 in Erinnerung geblieben sein, wo wir diese Frage vor einem großen Publikum und mit erheblicher Wirkung in der deutschen Öffentlichkeit diskutiert haben. Damit wurde auch deutlich gemacht, dass wir es als Historiker mit der kritischen Analyse unserer eigenen Fachgeschichte ernst meinten – wenn auch verspätet. Seitdem sind diese Fragen vor allem in Dissertationen, Tagungen und Sammelbänden weiter vorangetrieben worden, sodass wir heute über sehr viel bessere Kenntnisse dieser wichtigen Phase der Neuorientierung verfügen. Insbesondere sind heute die führenden Persönlichkeiten dieser Nachkriegsjahre sehr viel besser erforscht, Sie alle kennen die neueren biographischen Arbeiten über Gerhard Ritter, Hans Rothfels, Hermann Aubin, Werner Conze und zuletzt Theodor Schieder, um nur diese herausragenden Persönlichkeiten zu nennen.2 Das heißt aber auch, dass der erfreulicherweise eher auf Netzwerke und Organisationsformen zielende Ansatz dieser Konferenz bislang eher vernachlässigt wurde, wenn ich einmal von den Detailgeschichten einzelner Institute und Arbeitskreise absehe, über die wir inzwischen auch besser Bescheid 1
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Winfried Schulze, Geschichte der deutschen Geschichtswissenschaft nach 1945, München 1989 und ders. / Otto G. Oexle (Hg.), Deutsche Historiker im Nationalsozialismus, Frankfurt am Main 1999. Für einzelne Zitate verweise ich auf mein Buch von 1989. Ich nenne hier nur die wichtigsten Biographien und verzichte auf die vielen wichtigen Rezensionen, einschlägige Internetforen und Einzelbeiträge: Christoph Cornelißen, Gerhard Ritter. Geschichtswissenschaft und Politik im 20. Jahrhundert, Düsseldorf 2001; Jan Eckel, Hans Rothfels. Eine intellektuelle Biographie im 20. Jahrhundert, Göttingen 2005; Eduard Mühle, Für Volk und deutschen Osten. Der Historiker Hermann Aubin und die deutsche Ostforschung, Düsseldorf 2005; Thomas Etzemüller, Sozialgeschichte als politische Geschichte. Werner Conze und die Neuorientierung der westdeutschen Geschichtswissenschaft nach 1945. München 2001; Jan Eike Dunkhase, Werner Conze. Ein deutscher Historiker im 20. Jahrhundert, Göttingen 2010; Götz Aly, Macht, Geist, Wahn. Kontinuitäten deutschen Denkens, Berlin 1997; Christoph Nonn, Theodor Schieder. Ein bürgerlicher Historiker im 20. Jahrhundert, Düsseldorf 2013. Dort auch der Überblick über den Forschungsstand.
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wissen, als dies vor 20 Jahren der Fall war. Ich erinnere etwa an die Arbeiten über das Institut für Europäische Geschichte in Mainz, das Institut für Zeitgeschichte, die Kommission für die Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien oder das Herder-Institut in Marburg.3 Beginnen möchte ich mit einigen zusammenfassenden Bemerkungen zur Neuorientierung der bundesrepublikanischen Geschichtswissenschaft, in einem zweiten Teil möchte ich einige Beobachtungen zur außeruniversitären Geschichtswissenschaft formulieren. Am Ende des Dritten Reichs stand tiefe Betroffenheit: Im Mai 1945 sah sich der Göttinger Historiker Siegfried A. Kähler davon überzeugt, dass „außer der Freiheit auch jede Form staatlicher Existenz verloren (sei), ohne irgendwelche Aussicht auf Rückgewinn innerhalb der nächsten Generationen.“ Hitler habe den deutschen Namen zum „odium generis humani“ gemacht.4 Schon im November 1944 hatte er in einem Brief an Meinecke die Frage gestellt: „Wird es überhaupt noch 'Geschichte' geben in dem Sinne, wie wir sie gutgläubig betrieben haben?“ Angesichts der schwindenden Grundlagen für die herkömmliche Betrachtung der Geschichte war er sich der künftigen Auseinandersetzungen über die „55 Jahre deutscher Geschichte seit Bismarcks Sturz“ sicher. Ein anderer Historiker sprach davon, dass es ohne einen deutschen Staat keine deutsche Geschichte geben könne. Doch diese fundamentale Verzweiflung schlug schnell in neue Hoffnung um, als sich zeigte, dass das akademische Leben auch unter der alliierten Verantwortung für Deutschland weitergehen würde. Ich fasse meine Ergebnisse von 1989 ganz kurz zusammen: Nach einer kurzen Phase der Betäubung und radikalen Infragestellung organisierte sich die Geschichtswissenschaft auf dem Boden der späteren Bundesrepublik nach der erstaunlich schnellen Wiederaufnahme des Lehrbetriebs der Universitäten und der Weiterführung der Forschungsinstitute, Historischen Kommissionen und Zeitschriften unter dem Motto einer begrenzten Revision einerseits und der Devise „Retten, was zu retten ist“ andererseits. Die politische Geschichte blieb die „wissenschaftliche Muttersprache“ der deutschen Historiker (so formulierte es bildkräftig der Nachkriegsherausgeber der „Historischen Zeitschrift“ Ludwig Dehio), aber der Machtverlust Deutschlands wurde als endgültig und unwiderruflich angesehen. Die auf dem europäischen Markt angebotene Variante einer „Kulturgeschichte“ à la française galt zunächst als Flucht vor der politischen Ver-
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Winfried Schulze / Corine Defrance, Die Gründung des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, Mainz 1992; Horst Möller / Udo Wengst, 60 Jahre Institut für Zeitgeschichte, München 2009; Martin Schumacher, Gründung und Gründer der Kommission für Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, in: Karl Dietrich Bracher u.a. (Hgg.), Staat und Parteien. Festschrift für Rudolf Morsey zum 65. Geburtstag, Berlin 1992, 1029–1054; Thekla Kleindienst, Die Entwicklung der bundesdeutschen Osteuropaforschung im Spannungsfeld zwischen Wissenschaft und Politik, Marburg 2009; Corinna Unger, Ostforschung in Westdeutschland. Die Erforschung des europäischen Ostens und die Deutsche Forschungsgemeinschaft, 1945–1975, Stuttgart 2007. Walther Bußmann / Günther Grünthal (Hgg.), Siegfried A. Kähler. Briefe 1900–1963, Boppard 1993, hier 296, 299.
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antwortung der deutschen Historiker. Ernst Schulin hat für diese Geschichtswissenschaft das treffende Wort vom „politisch-moralisch gezähmten Historismus“ geprägt.5 Es kennzeichnet vorzüglich die eigentümliche Verbindung von fortdauernder methodisch-thematischer Grundorientierung und der Einsicht in die neue politische Lage Deutschlands, begleitet von einem erkennbaren Grundton des „mea culpa“, dessen Intensität und Ernsthaftigkeit freilich stark schwankte. Zu fragen ist, ob es in diesen ersten Jahren Alternativen zu der skizzierten Mischung aus Beharrung und Schuldbekenntnis gab? Schauen wir uns denkbare Alternativen an, dann ergeben sich Beweisprobleme: Die Schwierigkeiten eines Ludwig Dehio, aus dem Zusammenbruch des deutschen Hegemonialstrebens Lehren zu ziehen und zu einer konsistenten, methodisch abgesicherten Interpretation zu verarbeiten, belegen nur die weitgehende reale Alternativlosigkeit innerhalb der Fraktion der nationalstaatlich orientierten Historiker und das war die deutliche Mehrheit. Schließlich waren sich Bismarck-Bewunderer wie Hans Rothfels und Friedrich Meinecke mit dem Bismarck-Kritiker Franz Schnabel darüber einig, dass einige der Traditionen, die den Nationalsozialismus begünstigten, schon vor Bismarck existierten und dass eine verhängnisvolle Entwicklung Deutschlands auch nach einem Sieg der bürgerlichen Kräfte in der Revolution von 1848 möglich gewesen wäre.6 So begab man sich einer klaren Alternative und relativierte damit die kritische „Irrwegs“-Diskussion der ersten Nachkriegszeit, die relativ schnell beendet wurde. Es existierte jedoch mindestens eine, vom Mainstream der Geschichtswissenschaft abweichende Konzeption der deutschen Geschichte, wenn auch kaum akzeptabel für die eben genannten Historiker. Sie fand sich in der katholisch-süddeutsch-antiborussischen Geschichtsschreibung des späteren 19. Jahrhunderts, die nicht dem Glanz des zweiten deutschen Kaiserreiches erlegen war. Die Quintessenz, die aus dieser gewiss schwach entwickelten Linie nach 1945 gezogen wurde, hieß in der Sprache dieser Jahre: „Entpreußung“ der deutschen Geschichte. Dieser Begriff findet sich bei katholischen Historikern wie Alfred von Martin und Franz Herre, bei Publizisten wie Friedrich Wilhelm Naumann, Emil Franzel, Karl Buchheim, Walter Ferber und Otto B. Roegele. Emil Franzel sprach sogar von der notwendigen „Zerstörung des preußischen Mythos“, denn „wenn das neue Deutschland leben soll, muss es die Wiederholung der preußischen Irrgänge vermeiden“.7 Geradezu programmatisch klingt die Äußerung im „Neuen Abendland“ des Jahres 1946, wo es in einem zustimmenden Referat zu einem in England publizierten Artikel von Eric Hobsbawm („Entmachtung des Mythos“) hieß: „Diese unerbittlich-radikale [...] Geschichtsrevision ist eines der großen Anliegen der nun von ihren Fesseln befreiten neuen deutschen Geschichtsschreibung.“ Ferber, der Redakteur des „Neuen Abendlands“ in Augsburg, bot 1946 Franz Schnabel die Mitarbeit an seiner Zeitschrift mit der programmatischen Erklärung an: 5 6
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Ernst Schulin, Traditionskritik und Rekonstruktionsversuch. Studien zur Entwicklung von Geschichtswissenschaft und historischem Denken, Göttingen 1979, 139. Vgl. Franz Schnabel, Das Bismarck-Problem, in: Hochland 42/1949, 1–27, hier 3, und Friedrich Meinecke, Ausgewählter Briefwechsel, Stuttgart 1962, 283f. (Meinecke an Rothfels vom 17. August 1947). Neues Abendland 1/1946, 27f.
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Winfried Schulze „Vor allem ist uns sehr an einer Revision der seit Ranke, Treitschke, Droysen, Sybel verpreußten deutschen Geschichtsschreibung und an Pflege der föderalistisch-universalistisch geschichtsrevisionistischen Tradition der Hurter, Gförer, Böhmer, Ficker, des späten Gervinus, der Frantz, Klopp, Roesler, Weiss, Redlich, Kralik und Kaindl gelegen.“
Da Ferber durch Presseberichte wusste, dass Schnabel in Bad Godesberg einen Vortrag über die „Geschichtliche Katastrophe“ gehalten hatte, bat er ihn um den Abdruck dieses Vortrags, nicht ohne auf die gute finanzielle Fundierung seiner Zeitschrift hinzuweisen.8 Die Tatsache, dass sich Franz Schnabel, der einzig denkbare Gegenpol zum deutsch-nationalen Gerhard Ritter auf katholischer Seite, ganz offensichtlich dem Drängen dieser „abendländischen“ Fraktion in Augsburg und anderswo – etwa dem Arbeitskreis Christlicher Historiker um Wilhelm Wühr und Fritz Kern, den Gründervätern des Instituts für Europäische Geschichte in Mainz – entzog, scheint die Vermutung zu belegen, dass dieses scharf antipreußische Bild deutscher Geschichte kaum mehrheitsfähig war, auch nicht unter den Bedingungen des Zusammenbruchs des „preußischen“ Reiches, wie mancher Kritiker aus diesem Lager bedauernd feststellte. Zwar entwickelte Schnabel schon früh seine von Rothfels und Ritter deutlich abweichende Bismarckinterpretation,9 doch verweigerte er sich der ihm von verschiedener Seite immer wieder zugedachten Rolle eines Anführers der katholischantipreußischen Fraktion innerhalb der deutschen Geschichtswissenschaft, die dem Liberalen Schnabel wenig anziehend erscheinen mochte. Die Hoffnung katholischer Historiker, dass jetzt wieder Männer wie Onno Klopp und Johannes Janssen zu Ehren kommen würden, erfüllte sich letztlich nicht. Zwar kam es zu einer kurzen Welle föderalistischen Schrifttums (Constantin Frantz hatte Konjunktur), doch wirkte sich dieser mit der Gründung der Bundesrepublik abflachende Aufschwung kaum auf die allgemeine Interpretation der Geschichte aus. So blieb Schnabel trotz aller Anerkennung, die er in München erfuhr, in gewissem Sinne ein Außenseiter, mit dem die Zunft – wie Erich Angermann bemerkt hat – nicht viel anfangen konnte, und er führte dies auf den „restaurativen Charakter eines Teils der westdeutschen Geschichtswissenschaft“ zurück.10 Das oben charakterisierte Programm einer nur behutsamen „Revision der deutschen Geschichte“ könnte man gut durch die Bismarck-Diskussion dieser Jahre illustrieren, sie ist eine Art Nagelprobe für die Revisionsbereitschaft der politischen Historiker. Aber darauf will ich hier nicht näher eingehen. Generell muss man sehen, dass die intensive Bismarck-Diskussion dieser Jahre die Gelegenheit bot, die in abstrakter Form offensichtlich unmögliche Generaldebatte über den Verlauf der deutschen Geschichte in reduziert-symbolischer Form zu führen. Sie zeigte auch, 8 9
Bay. StB München, Schnabeliana, IIb (Augsburg vom 10.2.1946). Vgl. die Beiträge von Gerhard Ritter, Franz Schnabel und Hans Rothfels, in: Lothar Gall (Hg.), Das Bismarck-Problem in der Geschichtsschreibung nach 1945, Köln 1971. Schnabel griff auch die Außenpolitik Bismarcks an, vgl. seinen Vortrag: Bismarck und die Nationen, und die Kritik Wilhelm Schüsslers, ebd. 432–455. Beide Artikel sind in dieser Diskussion kaum zur Kenntnis genommen worden. 10 Vgl. dazu: Lothar Gall (Hg.), Das Bismarck-Problem in der Geschichtsschreibung nach 1945, Köln 1971.
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wie schwer sich die deutschen Historiker mit einer Abwendung von der bisher sanktionierten Konstruktion der nationalen Geschichte taten. Die Tendenz, den Nationalsozialismus gerade nicht als „Summe der deutschen Geschichte“ oder als deren notwendige Konsequenz zu interpretieren, führte auch zu anderen Verortungen des Nationalsozialismus, die man als seine „Historisierung“ in einem westeuropäischen Sinne bezeichnen kann. Seine Grundlegung erfuhr dieses Modell durch Gerhard Ritters gedankliche Verbindung zwischen dem Nationalsozialismus und der jakobinischen Phase der Französischen Revolution. Deren verabsolutierendes Menschenrechtsdenken und übersteigerter Nationalismus ganz allgemein an den Anfangspunkt einer Entwicklung gesetzt wurde, die letztlich zum Nationalsozialismus geführt habe.11 Diese Deutung blieb auch keineswegs auf Ritter beschränkt. Ludwig Dehio zog 1949 ebenfalls diese Verbindungslinie und fand damit den Beifall föderalistisch-katholischer Kritiker. Es sei ungeheuer wichtig, dass diese These „in die Geschichtsschreibung Eingang“ finde. „Sie hebt unser tragisches Schicksal aus der Isolierung und ordnet es in die größere europäische Tragödie ein“.12 Mit dieser Genealogie ergab sich natürlich eine wohltuende Relativierung des Nationalsozialismus, denn „das Hitlerregime variierte auf einer höheren Ebene der Zivilisation die Motive der Revolution und des Imperialismus, die in Frankreich zuerst erklungen waren“.13 Soviel ganz kurz zu einigen grundsätzlichen Problemen der Neuorientierung, die allerdings nur wenig von den tradierten Deutungen abwich. Wenn wir jetzt den Blick auf die Institutionen und Netzwerke werfen, die uns hier ja v.a. interessieren sollen, so sei ganz kurz hingewiesen auf die Organisation dieser eben skizzierten Richtungen. Zum einen den 1949 wiedergegründeten Historikerverband und die ihn tragende preußisch-protestantische Grundrichtung der Historiker, und zum anderen eine sich v.a. starker publizistischer Unterstützung erfreuende katholisch-föderalistisch gesinnte Richtung, die sich aber eher in und um einzelne Zeitschriftenredaktionen und Arbeitskreise sammelte. Institutionell lief dies alles noch im tradierten Rahmen ab, d.h. der Monumenta Germaniae Historica, der Historischen Landeskommissionen und der wiedergegründeten bzw. neugegründeten Fachzeitschriften, die aber erst relativ spät wieder die Bühne betraten. Ich habe ja die Probleme des Neuerscheinens der HZ in meinem Buch beschrieben und auf die Neugründungen von GWU und Saeculum hingewiesen. 11 Eberhard Weis, Einleitung, in: Franz Schnabel, Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert, Bd. 1, München 1987, XI–XXXII. 12 Vgl. Bernd Faulenbach, Ideologie des deutschen Weges. Die deutsche Geschichte in der Historiographie zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus, München 1980, 67ff., 213ff. 13 Ernst Franzel, Zur Revision des Geschichtsbildes, in: Neues Abendland 4/1949, 246f., in einer Rezension von Ludwig Dehio, Gleichgewicht oder Hegemonie. Der Rezensent, der von der sudentendeutschen Sozialdemokratie zum Nationalsozialismus gekommen war und nach dem Kriege als konservativer Publizist in Bayern sudentendeutsche Interessen vertrat, bezog sich auf das Buch von Robert Ingrim, After Hitler Stalin, Zürich 1946, dt. Von Talleyrand zu Molotoff. Zürich 1947, wo der Verfasser die „nationalsozialistischen Tyranneien“ als „gradlinige Nachkommenschaft des modernen, demokratischen Nationalismus“ bezeichnete. – Zum ganzen Komplex vgl. auch Jean Solchany, Vom Antimodernismus zum Antitotalitarismus. Konservative Interpretationen des Nationalsozialismus in Deutschland 1945–1949, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 44/1996, 373–394.
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Die wirklich erstaunliche Entwicklung in der Zeit nach 1949 aber ist in der Rückschau die Entstehung einer veritablen außeruniversitären Forschungslandschaft. Nach der Wiedererrichtung bzw. Verlagerung der tradierten Forschungsinstitutionen – hier ist v.a. die Verlagerung der Monumenta Germaniae Historica von Berlin nach München zu nennen – kam es ab 1949/50 in der BRD zu einer bemerkenswerten Welle von Neugründungen historischer Forschungsinstitute, die einen qualitativen und quantitativen Sprung in der Entwicklung historischer Forschung bedeuten und die Forschungslandschaft der Bundesrepublik entscheidend geprägt haben.14 Zu bedenken ist, dass mit Ausnahme der MGH und der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften nach dem Ende des Krieges in der Bundesrepublik keine überregionalen historischen Forschungsinstitutionen mehr bestanden. Vor diesem Hintergrund und angesichts der finanziellen Schwierigkeiten der frühen 50er Jahre ist es wirklich erstaunlich, dass zwischen 1949 und 1958 nicht nur das Institut für Zeitgeschichte, das Mainzer Institut für Europäische Geschichte, die Kommission für die Geschichte des Parlamentarismus und der Parteien, die Vereinigung für Neuere Geschichte, das Max-Planck-Institut für Geschichte, der Arbeitskreis für Moderne Sozialgeschichte, das Johann-GottfriedHerder-Institut in Marburg sowie schließlich das Deutsche Historische Institut in Paris neu entstanden, das Römische Historische Institut wurde wiedergegründet. Auch wenn bedauerlicherweise damals eine als Dachorganisation geplante Historische Bundeskommission nicht verwirklicht wurde, so war damit doch der Grundstein für eine beachtlich differenzierte außeruniversitäre historische Forschungslandschaft gelegt, deren Existenz gerade in einem Lande, das föderalistisch strukturiert ist und keine nationale Akademie kennt, eine große Lücke ausfüllen sollte. Es lohnt sich, gerade im Kontext unserer Tagung noch einige Worte über die angedachte Historische Bundeskommission zu verlieren, weil sie die Chance geboten hätte, eine frühzeitige Anbindung der historischen Grundlagenforschung an die Bundesregierung zu erreichen. Zwar hatten die Länder im Grundgesetz die Sorge für Wissenschaft und Universitäten erhalten, damals sprach man schon von der „Kulturhoheit“ der Länder, doch hatte sich der Bund seinerseits früh darum bemüht, Einfluss auf die Förderung der Wissenschaft zu erhalten. Der entscheidende Ansatzpunkt muss darin gesehen werden, dass schon in den Beratungen des Parlamentarischen Rates konkurrierende Rollen von Bund und Ländern in der Förderung der Wissenschaft angelegt wurden. Die „Förderung der wissenschaftlichen Forschung“ wurde dem Bereich der sog. „konkurrierenden Gesetzgebung“ zugewiesen. Dafür hatte u.a. der Physiker Werner Heisenberg gesorgt, der damals der führende Kopf des Deutschen Forschungsrates war.15 Dieser Rat war in
14 Dazu jetzt auch die Überblicke bei Jan Eckel, Hans Rothfels. Eine intellektuelle Biographie im 20. Jahrhundert, Göttingen 2004, 269ff. und Thomas Etzemüller, Sozialgeschichte als Politische Geschichte. Werner Conze und die Neuorientierung der westdeutschen Geschichtswissenschaft nach 1945, München 2001, 182ff. 15 Zur Rolle Werner Heisenbergs als Präsident des DFR vgl. jetzt auch David C. Cassidy, Werner Heisenberg. Leben und Werk, Heidelberg 1995, 648ff. Unklarheiten enthält Cassidys Bericht
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Göttingen am 10. März 1949 gegründet worden, er war aus einer von den Briten inaugurierten wissenschaftlichen Beratungsgruppe der Militärregierung in Forschungsangelegenheiten unter Leitung des Physikers Adolf Windaus heraus entstanden und von den drei westdeutschen Akademien und der Max-Planck-Gesellschaft ins Leben gerufen wurde.16 Als DFR nahm der Kreis von renommierten Wissenschaftlern, darunter übrigens auch Franz Schnabel, der durch ein kompliziertes Auswahlverfahren der Hochschulen und Akademien zusammengesetzt worden war, für sich die Kompetenz in Anspruch, repräsentatives Organ der deutschen Wissenschaft zu sein, das sich politisch eher zum Bund als zu den Ländern hin orientierte. Schon die Beratungen des Parlamentarischen Rates über den erwähnten Art. 74 (13) GG hatte der DFR im Sinne einer ausschließlichen Bundeskompetenz in Fragen der Wissenschaftsförderung zu beeinflussen versucht, ohne Erfolg. Nach Gründung der Bundesrepublik zielte der Forschungsrat mit Unterstützung Konrad Adenauers auf die Einrichtung einer Dienststelle für Forschung im Bundeskanzleramt, eines Ausschusses für Forschungsfragen beim Bundesrat und seine eigene Anerkennung als exklusives Beratungsorgan des Bundeskanzlers in Forschungsfragen. Dass diese Ideen bei der länderorientierten Notgemeinschaft nicht gerade auf Gegenliebe stießen, braucht kaum betont zu werden. In den Beratungen der Länderkultusminister zwischen 1947 und 1948 ist unverkennbares Misstrauen sowohl gegenüber der Max-Planck-Gesellschaft und ihrer zentralen Finanzierung als auch gegenüber einer „gewissen Hybris“ einiger Mitglieder des Forschungsrates zu erkennen. Die NRW-Kultusministerin Christine Teusch meinte einmal sogar vor der Gefahr warnen zu müssen, dass die MPG Atombomben bauen könne und deshalb schärfer zu kontrollieren sei. Im März 1951 schließlich schloss sich nach langen Verhandlungen die „Notgemeinschaft“ mit dem „Deutschen Forschungsrat“ zur „Deutschen Forschungsgemeinschaft“ zusammen, eine klare Niederlage Konrad Adenauers. Jetzt waren die wichtigsten Organe der Selbstverwaltung der Wissenschaft etabliert. Mit dieser Vereinigung wurde nicht nur eine tiefgehende Differenz zwischen zwei konkurrierenden Personengruppen und Institutionen beendet, sondern mit dem Zusammenschluss und dem damit letztlich dokumentierten Obsiegen der Notgemeinschaft hatte sich zunächst einmal eine Wissenschaftskonzeption durchgesetzt, die mehr länderorientiert als zentralistisch und weniger gouvernemental und stärker am Prinzip der Selbstverwaltung orientiert gelten musste. Der Forschungsrat hatte sich durch die engen Kontakte zu Bundeskanzler Adenauer den Anschein einer (bundes-)regierungsnahen Institution verschafft, zudem galt er in der Wirtschaft als zu stark an der Grundlagenforschung und weniger an Problemen der angewandten Forschung interessiert. Auch das Vertrauen der Geisteswissenschaftler hatte der DFR
über die Gründung der Notgemeinschaft. Zuletzt dazu Cathryn Carson, Heisenberg in the atomic age. Science and the public sphere, Cambridge 2010. 16 Hellmut Eickemeyer, Die Gründung des Deutschen Forschungsrates, in: Physikalische Blätter 5/1949, 197–200 und ders., Abschlussbericht des Deutschen Forschungsrates (DFR) über seine Tätigkeit von seiner Gründung am 9. März 1949 an bis zum 15. August 1951. Mit Vorwort von Werner Heisenberg, München 1953, 13f.
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trotz der formellen Mitgliedschaft Franz Schnabels insgesamt nicht erringen können: Hier galt der DFR als Hort der naturwissenschaftlichen Forschung und zudem wenig interessiert an den Universitäten.17 Damit ist deutlich geworden, dass von Beginn an eine Konkurrenz zwischen Bund und Ländern bestand, die ja heute noch eine große Rolle spielt. Für die Geschichtswissenschaft war diese Konkurrenz insofern von Bedeutung, als sich schon bei der Gründung des Instituts für Zeitgeschichte der Bund auch finanziell engagierte und dieses Engagement auch auszudehnen bestrebt war. Mitte der 50er Jahre teilten sich Bund und Länder die Kosten für die MGH in Höhe von 100.000 DM, an der Historischen Kommission war der Bund mit 22.000 beteiligt, beim Institut für Zeitgeschichte teilten sich Bund und Länder 300.000 DM und die Parlamentarismuskommission finanzierte der Bund alleine mit 100.000 DM. Die Bundesbeteiligung wurde in all diesen Fällen von der Kulturabteilung des Innenministeriums gelenkt und diese Abteilung entwickelte eine beachtliche Aktivität, zumal seitdem Paul-Egon Hübinger, Mediävist aus Münster, 1954 die Leitung dieser Abteilung übernommen hatte.18 Vor dem Hintergrund dieser zunehmenden Bundesbeteiligung konnte es nicht erstaunen, wenn Hübinger eine Idee aufgriff und weiterentwickelte, die schon 1950 von Gerhard Ritter auf einer Sitzung der Historischen Kommission formuliert worden war, als er zum ersten Mal von einer Historischen Bundeskommission sprach. Ritter griff dabei auf die Historische Reichskommission von 1928 zurück, die freilich zu Weimarer Zeiten keine große Bedeutung gehabt hatte und unter Kollegen als eine Art Stipendienkasse der Berliner Ordinarien galt. Sie war schon 1935 aufgelöst worden. Der erste Ansatz über eine Verbindung von IfZ und Parlamentarismuskommission nachzudenken, ging auf Dr. Erich Wende zurück, der vor Hübinger Leiter der Abt. des BMI gewesen war, und dem vor allem die Förderung der Kommission durch den Bund zu verdanken war. Neuen Schwung gewann die Idee der Historischen Bundeskommission aber erst wieder 1956, als der tatkräftige Hübinger die Idee aufgriff und einige Historiker (Braubach, Hartung, Conze und Rassow) zu einer entsprechenden Denkschrift aufforderte, die dann schließlich von Rassow endgültig formuliert wurde. Er bestimmte die Aufgaben einer neuen, vom Bund zu errichtenden Kommission für Geschichtsforschung, die in der Edition von Quellen und in der Koordination und in der internationalen Kooperation gesehen wurden. Inhaltlich sollten die großen Friedensschlüsse der Neuzeit vom 16. bis zum 20. Jahrhundert und die Sozialgeschichte des 19. Jahrhunderts erforscht werden, wobei 17 Die Auseinandersetzungen zwischen Notgemeinschaft und DFR detailliert bei Thomas Stamm, Zwischen Staat und Wirtschaft. Die deutsche Forschung im Wiederaufbau 1945–1965, Köln 1981, 126ff. und bei Maria Osietzki, Wissenschaftsorganisation und Restauration. Der Aufbau außeruniversitärer Forschungseinrichtungen und die Gründung des westdeutschen Staates 1945–1952, Köln/Wien 1984, 351ff. – Die Sicht des DFR dokumentiert Hellmut Eickemeyer, Abschlussbericht des Deutschen Forschungsrates (DFR). 18 Die Bedeutung dieses Mannes für die Rolle der Geisteswissenschaften in der frühen Bundesrepublik hat bislang keine angemessene Würdigung erfahren. Vgl. aber Ulrich Pfeil, Paul Egon Hübinger. Vom Umgang mit dem Anpassungsdruck, in: Das Deutsche Historische Institut Paris und seine Gründungsväter, München 2007, 235–271.
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unschwer zu erkennen ist, dass sich hier vor allem Pläne Braubachs und Conzes niederschlugen. Freilich bleib diese Denkschrift eine Formelkompromiss zwischen der „Editionsfraktion“ und Braubach und Rassow und der Gruppe um Conze, dem vor allem an einer theoretischen Fundierung der modernen Welt unter Heranziehung auch der Nachbardisziplinen gelegen war. Diese Idee konnte jedoch nicht realisiert werden, weil diesmal der Finanzminister angesichts der schon erbrachten Leistungen für die Geschichtswissenschaft nicht bereit war, dafür die notwendigen Mittel bereit zu stellen, so dass sich Hübinger mit einer Einzelförderung des Conzeschen Arbeitskreises für moderne Sozialgeschichte begnügen musste. Obwohl letztlich das kategorische Nein des Finanzministers entscheidend war, muss freilich auch darauf verwiesen werden, dass die Länder wiederum einem befürchteten „Bonner Zentralismus“ skeptisch bis ablehnend gegenüber standen, dass aber auch einige Historiker gegen diese Bundeskommission Front machten, Aubin fürchtete die zu große Belastung der Historiker durch eine solche Kommission und plädierte für die Beibehaltung der zerstreuten Einrichtungen. Obwohl das BMI in der Frage der Koordinierung der historischen Forschung durch den Bund nicht locker ließ und auf dem Trierer Historikertag 1958 erneut eine Art Geschäftsstelle der verschiedenen Kommissionen und Arbeitskreise mit einem großen Beirat anbot, war die Zunft nicht dafür zu gewinnen. Zum letzten Male wurde das Projekt auf einer Sitzung in Bonn Ende 1958 besprochen und damit beerdigt, die sich bietende Chance wurde nicht genutzt. Zwei eher systematische Aspekte sollen noch berührt werden: Zum einen die Frage der politisch bedingten Gründungen der Institute und zum anderen die Frage nach den wissenschaftsimmanenten Gründen der Gründungen. Zur ersten Frage: Es liegt auf der Hand – und kann gerade durch den Blick auf die letzten 60 Jahre vielfach bewiesen werden – dass Gründungen von Institutionen zur Erforschung der jüngeren deutschen Geschichte immer in politischen Kontexten entstanden sind. Dabei ist mit „politisch“ eine Gründung gemeint, die nicht aus Gründen der zweckfreien wissenschaftlichen Erforschung einer Sache initiiert wurde, sondern mit Absichten, die – abstrakt gesprochen – überwiegend außerhalb der Wissenschaft i. e. S. liegen. Für die Wissenschaft im klassischen Sinne war das eine neue Herausforderung, vor allem deshalb, weil alle diese Institute auch einer neuen Art von gesellschaftlich-politischem Druck ausgesetzt waren. Ihre Gründung wurde letztlich von der Politik beschlossen, die natürlich auch ihre Interessen durchzusetzen suchte. Es wäre ganz naiv anzunehmen, dass diese Institutsgründungen sich alleine einem interesselosen historischen Forschungstrieb verdankten, man muss sie letztlich als Teil einer intellektuellen Wiedergutmachungspolitik verstehen. Sie hat damit das Fundament einer spezifisch deutschen Art von Auseinandersetzung mit der Vergangenheit gelegt, mit der die Bundesrepublik sich durchaus Anerkennung in der Welt erworben hat. Wenn in München der deutsche Widerstand gegen den Nationalsozialismus erforscht wurde, sich die Edition der Akten des Westfälischen Friedenskongresses als Beitrag zur europäischen Friedensforschung verstand, die Dokumentation zur Vertreibung der Deutschen aus Ostmittelleuropa eine deutsche Opfergeschichte erzählte, oder in Mainz und später in Braunschweig die notwendige “Entgiftung“ der Schulbücher betrieben werden sollte,
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dann reagierte damit die Wissenschaft natürlich auch auf die politischen Interessenlagen der Bundesrepublik und ihrer Länder. Solche Aufgabenstellungen waren durchaus nicht unproblematisch, die Risiken wurden auch von einigen Wissenschaftlern, die diese Gründungen kritisch sahen, durchaus erkannt. Aber es geschah etwas Erstaunliches, und das war nicht unbedingt zu erwarten. Wissenschaft und Politik griffen in den 50er Jahren nämlich auf ein schon bewährtes Modell der Verwaltung wissenschaftlicher Institutionen zurück, wie es schon bei der Gründung der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft und bei der Notgemeinschaft für die deutsche Wissenschaft, der späteren Deutschen Forschungsgemeinschaft, entwickelt worden war. Eine starke Autonomie der Institute bei durchaus langfristiger Finanzierungszusage und eine eher lose Kontrolle durch Kuratorien und wissenschaftliche Beiräte schufen die Voraussetzungen für produktive wissenschaftliche Arbeit, die sich von politischen Vorgaben i.a. nicht behindert sah. Es konnte so eine differenzierte historische Forschungslandschaft entstehen, die in ihrer Dynamik die genannten Befürchtungen ad absurdum führte. Praktisch sehen die Kontexte solcher Institutsgründungen und der ihnen zugrundeliegenden institutionellen Regelungen durchaus vergleichbar aus. Der Blick über die Gründungen von 1950 (Institut für Zeitgeschichte München) bis zur Gründung des Leipziger Simon-Dubnow-Instituts) zeigt,19 dass Anstöße sowohl aus der Wissenschaft, aber auch aus der Politik selbst kommen können. In jedem Fall aber muss es zu einer Verbindung beider Elemente im Vorfeld und im Gründungsprozess selbst kommen, wissenschaftliche und politische Interessen bedürfen der Bündelung, um den Gründungsakt durchzusetzen. Damit aber stellt sich für die konkrete Arbeit das Problem der Entkoppelung von politischer Absicht und wissenschaftlicher Freiheit unmittelbar. Institutionell sind dafür in der Bundesrepublik Deutschland eine Reihe brauchbarer Regelungen entwickelt worden, die letztlich auf die Gründungen der KaiserWilhelm-Gesellschaft 1911 und die der Notgemeinschaft für die deutsche Wissenschaft im Jahre 1920 zurückgehen, als gegen den Widerstand der staatlichen Seite diese vom Staat unabhängige Einrichtung gegründet wurde. Das gelang übrigens durch den Hinweis auf die privaten Mittel des Stifterverbandes, die in den Haushalt der Notgemeinschaft eingingen, ein geschicktes Argument, mit dem Friedrich Schmitt-Ott damals die Etablierung eines an sich geplanten Staatskommissars verhinderte. Der Kern dieser Regelung besteht darin, dass solche Einrichtungen durch Gesetz geschaffen werden, damit auch der Parlamentskontrolle unterliegen. Zum anderen bedient man sich in der Steuerung solcher Institute eines doppelten Verfahrens: Man unterscheidet institutionell zwischen einem für die Finanz- und Verwaltungsfragen verantwortlichen Kuratorium oder Verwaltungsrat und einem Wissenschaftlichen Beirat. Ersterem obliegt die Regelung des Budgets und der Verfassung des Instituts, wobei hier die Staatsvertreter meist in der Überzahl sind. Daneben besteht ein Wissenschaftlicher Beirat, dem die Kontrolle der inhaltlichen Arbeit des Instituts unterliegt. Beide Gremien sind meist durch den Beiratsvorsitzenden 19 Dazu vorläufig Hans-Joachim Hahn, Eva Bormann, Nicolas Berg, Simon-Dubnow-Institut für Jüdische Geschichte und Kultur an der Universität Leipzig, Leipzig 2008.
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personell miteinander verkoppelt. Auf diese Weise entstehen normalerweise klar voreinander abgegrenzte Kompetenzbereiche, kluge Satzungen regeln auch mögliche Konflikte der Gremien. Dass Konflikte auch in diesem disziplinierenden Rahmen freilich noch möglich sind, beweist die Entwicklung des Dresdener HannahArendt-Instituts für Totalitarismusforschung. Zur zweiten Frage: Welche wissenschaftsimmanenten Gründe lassen sich für die Gründungswelle erkennen. Zwei Aspekte sind hier zu betonen: Zum einen ist auf die Vorbildfunktion der Institute der alten Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft zu verweisen, vielleicht aber noch stärker auf die Erfahrungen der historischen und der Volkstumsforschung im Dritten Reich, die ja eine spezifische Art von Großforschungssystem darstellten. Vor diesem Hintergrund fiel es auch Historikern, die sich davon ferngehalten hatten, nicht schwer, die Vorzüge der institutsmäßigen Forschung zu erkennen, wenn es um die systematisch betriebene Erforschung einzelner Themenbereiche von unmittelbarer gesellschaftlicher Relevanz ging, an denen Staat und Gesellschaft gelegen war. Vor allem der Kölner Historiker Peter Rassow war es, der die Notwendigkeit einer institutsförmigen Forschungsarbeit betonte. Er bezeichnete es im Januar 1956 als „Erfordernis der Stunde“, das neue Institut der MPG für Geschichte zu gründen. Die Natur historischer Forschung habe sich unter den Bedingungen zerstreuter Quellen und des universitären Massenbetriebs gewandelt, darauf könne man nur mit der institutsförmigen Forschungsarbeit reagieren, und darin traf er sich mit den Überlegungen Hermann Heimpels, der ähnliche Argumente für die Ausstattung seines zukünftigen Instituts verwendet hatte. Auch hier gab es natürlich Gegenstimmen: Es war natürlich Franz Schnabel, der sich diesem Trend entgegenstemmte, und er tat das sowohl in München, wo er sich einer Stellenvermehrung im Historischen Seminar lange entzog, als auch in allen anderen Fällen, wo es um Neugründungen von Instituten ging. Zusammenfassend lässt sich feststellen: Die späten 40er und die 50er Jahre wurden in der Bundesrepublik geradezu Gründerjahre historischer Forschungseinrichtungen außerhalb der Universitäten. Damit reagierten die Wissenschaftler auf den offensichtlichen Bedarf an historisch-politischer Neuorientierung und unterstützten den Prozess einer intellektuellen Wiedergutmachungspolitik. Sie konnten in der Etablierung der für notwendig errichteten Einrichtungen auf die institutionellen Erfahrungen der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft und des NS-Forschungs-systems zurückgreifen, verstärkten dies jedoch noch durch wissenschaftsimmanente Argumente. Angesichts der letztlich de facto, wenn auch nicht de jure offenen Kompetenzen von Bund und Ländern gelang es ein Organisationsmodell zu etablieren, das den Wissenschaftlern langfristige Finanzierung bei bemerkenswert geringer inhaltlicher Kontrolle garantierte und ein Modell darstellte, das inhaltliche Differenzierung und methodische Pluralisierung erlaubte. Wir können uns glücklich schätzen, dieses Erbe der frühen Bundesrepublik weiter nutzen zu können, und wir sollten alles tun, um es lebendig zu erhalten.
DAS INSTITUT FÜR ZEITGESCHICHTE Ein Beispiel für die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus in der Frühgeschichte der Bundesrepublik Deutschland Udo Wengst
Erste Ideen zur Gründung eines Instituts zur Erforschung des Nationalsozialismus wurden bereits 1945 in München von Dieter Sattler ventiliert, der damals Kulturreferent der Stadt München war und später Staatssekretär im Bayerischen Staatsministerium für Unterricht und Kultur wurde.1 Dieser Anlauf verlief jedoch im Sande. 1947 griff der Generalsekretär des Länderrats der US-Zone, Erich Roßmann, den Gedanken wieder auf. Er wollte ein „Amt für politische Dokumentation“ errichten, das – getragen von den Ländern der US-Zone – das Material der Nürnberger Prozesse archivieren und auswerten sollte. Dieser Initiative war ein gewisser Erfolg beschieden. Staatssekretär Dieter Sattler und Ministerialdirigent Friedrich Glum für Bayern sowie die Staatssekretäre Hermann Brill und Walther Strauß für Hessen arbeiteten eine Gründungsurkunde für ein „Institut zur Erforschung der nationalsozialistischen Politik“ aus, das am 7. Oktober 1947 von den Ministerpräsidenten der Länder der US-Zone unterzeichnet wurde. Hierbei handelte es sich jedoch um eine „Totgeburt“2, da die Amerikaner die Unterlagen der Nürnberger Prozesse nicht übergeben wollten und die beteiligten Länder die notwendigen Mittel für die Finanzierung nicht bereitstellten. Bereits bei diesem ersten Anlauf für eine Institutsgründung hatte es einen „Widerstreit volkspädagogischer Absichten“ einerseits, und „wissenschaftlicher Interessen“ andererseits gegeben.3 Die Vertreter der Politik und der Ministerialbürokratie votierten stets für die Dominanz des ersteren Aspekts, die beteiligten Wissen-
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Grundlegend zu den folgenden Ausführungen Hellmuth Auerbach, Die Gründung des Instituts für Zeitgeschichte, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 18/1970, 534–554; Horst Möller, Das Institut für Zeitgeschichte und die Entwicklung der Zeitgeschichtsschreibung in Deutschland, in: Horst Möller / Udo Wengst (Hgg.): 50 Jahre Institut für Zeitgeschichte. Eine Bilanz, München 1994, 1–68; knappe Zusammenfassung von Winfried Schulze, Deutsche Geschichtswissenschaft nach 1945, in: Historische Zeitschrift, Beiheft (Neue Folge) 10, München 1989, 229–242. So Wolfgang Benz, Wissenschaft oder Alibi? Die Etablierung der Zeitgeschichte, in: Walther A. Pehle / Peter Sillem (Hgg.), Wissenschaft im geteilten Deutschland, Frankfurt am Main 1992, 19. Schulze, Deutsche Geschichtswissenschaft, 229.
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übergeben wollten und die beteiligten Länder die notwendigen Mittel für die Finanzierung nicht bereitstellten. Bereits bei diesem ersten Anlauf für eine Institutsgründung hatte es einen „Widerstreit volkspädagogischer Absichten“ einerseits, und „wissenschaftlicher Interessen“ andererseits gegeben.3 Die Vertreter der Politik und der Ministerialbürokratie votierten stets für die Dominanz des ersteren Aspekts, die beteiligten Wissenschaftler stellten dagegen die Forschungsaufgabe in den Vordergrund. Dieser Dissens hat auch den zweiten, erfolgreichen Anlauf einer Institutsgründung begleitet. Hellmuth Auerbach hat daher zu Recht festgestellt, dass sich in dem über Jahre hinziehenden Gründungsprozess des Instituts sein besonderer Charakter, „seine Stellung zwischen Politik und Wissenschaft“ widerspiegele.4 Die zweite Phase der Gründungsgeschichte begann im Dezember 1948 in Bonn. Hermann Brill, inzwischen Abgeordneter des Parlamentarischen Rats, schlug einigen Kollegen – darunter dem SPD-Abgeordneten Ludwig Bergsträsser aus Hessen und dem CSU-Abgeordneten Gerhard Kroll – erneut eine Institutsgründung vor. Die Bayerische Staatsregierung stellte bereits Anfang des Jahres 1949 bescheidene Räume zur Verfügung. Ende Februar tagte erstmals der Wissenschaftliche Rat, dem ein Kuratorium von Beamten gegenüberstand. Als erster Geschäftsführer wurde vom Kuratorium Gerhard Kroll bestellt, obwohl er kein Historiker war. An dieser Personalie entzündete sich im Folgenden der Streit über die Aufgaben des künftigen Instituts besonders heftig. Wie wenig einverstanden die Mehrheit der Geschichtsprofessoren mit der Institutsgründung war, zeigte sich im Verlauf des Münchener Historikertages im September 1949, als dieser die Einrichtung eines Instituts für zeitgeschichtliche Forschung verlangte und dabei die bereits erfolge Arbeitsaufnahme des Münchener Instituts äußerst kritisch kommentierte.5 Auch der Präsident der Historischen Kommission der Bayerischen Akademie der Wissenschaften ließ wenig später an dem in seiner Nachbarschaft entstandenen Institut kein gutes Haar.6 Insbesondere Probleme bei dessen Finanzierung veranlassten Gerhard Kroll, eine Beteiligung des Bundes anzustreben. In die Verhandlungen mit dem Bund ist auch Bundespräsident Theodor Heuss eingeschaltet worden. Im Dezember 1949 erklärte Bundesinnenminister Gustav Heinemann grundsätzlich die Bereitschaft des Bundes zu einer finanziellen Beteiligung. Die Verhandlungen mit dem Bund wurden im August 1950 damit abgeschlossen, dass im Zusammenwirken von Bayern
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Schulze, Deutsche Geschichtswissenschaft, 229. Auerbach, Gründung, 534. Ebd., 542. Dazu ausführlich Lothar Gall, Die Historische Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften und die Gründung des Instituts für Zeitgeschichte, in: Klaus Hildebrand / Udo Wengst / Andreas Wirsching (Hgg.), Geschichtswissenschaft und Zeiterkenntnis. Von der Aufklärung bis zur Gegenwart. Festschrift zum 65. Geburtstag von Horst Möller, München 2008, 559–567.
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und dem Bund die Einrichtung eines „Deutschen Instituts für Geschichte der nationalsozialistischen Zeit“ beschlossen wurde. Am 11. September fand unter Teilnahme des Bundespräsidenten die erste Sitzung des Wissenschaftlichen Beirats statt.7 Nach dieser Schilderung der Gründungsgeschichte im Schnelldurchlauf will ich nunmehr folgende Aspekte beleuchten. 1. Organisation und Finanzierung in den 1950er Jahren; 2. personelle Entscheidungen; 3. zentrale Aufgaben der Mitarbeiter und deren Auswirkungen auf die Institutsarbeit; 4. schließlich Kritik und Bilanz.
1 Die den Gründungsprozess des Instituts begleitende Debatte, ob es in erster Linie eine „volkspädagogische Aufgabe“ habe oder die wissenschaftliche Erforschung des Nationalsozialismus im Vordergrund stehen müsse, hat sich auch nach 1950 noch einige Zeit fortgesetzt. Sie kam zunächst einmal bei der Festschreibung der Kompetenzen von Wissenschaftlichem Beirat und Kuratorium in der Satzung zum Ausdruck. Der Wissenschaftliche Beirat besaß zwar hiernach das Vorschlagsrecht für die wissenschaftliche Arbeit und er musste bei Personalentscheidungen gehört werden. Die Entscheidung selbst traf aber das Kuratorium (später der Stiftungsrat), so dass der Beirat nur eine untergeordnete Rolle besaß. Mehrere Vorstöße des Freiburger Historikers Gerhard Ritter, der als Vorsitzender des Verbandes der Deutschen Historiker anfangs eine große Rolle spielte, hieran etwas zu ändern, fruchteten indessen nicht. Die stärkere Stellung des Kuratoriums war nicht zuletzt Ausfluss davon, dass seine Mitglieder die Vertreter der Finanzgeber des Instituts waren. Dabei gestaltete sich die Finanzierung über längere Zeit hinweg als einigermaßen schwierig. Das Scheitern des ersten Anlaufs war – worauf ich bereits hingewiesen habe – u. a. auf Grund der mangelnden Bereitschaft der Länder gescheitert, die notwendigen Gelder für die Arbeit des Instituts bereitzustellen. Aber auch beim zweiten Anlauf zur Institutsgründung hielten sich die Länder zurück, so dass Geschäftsführer Kroll zu Beginn die ersten Mitarbeiter aus den Diäten bezahlte, die er als Mitglied des Parlamentarischen Rats erhielt.8 Erst durch die Einbeziehung des Bundes gelang es, die Institutsgründung einigermaßen abzusichern. Allerdings beliefen sich die Zahlungen des Bundes und Bayerns, die anfangs das Institut finanziell allein trugen, auf so niedrigem Niveau, dass der von Kroll angestrebte Jahresetat von DM
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Auerbach, Gründung, 545f. und 549. Ebd., 539.
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150.000 kaum erreicht wurde.9 Erst ab April 1950 verfügte das Institut über einen festen Etat von monatlich DM 16.000.10 Die finanzielle Lage verbesserte sich im Lauf der folgenden Jahre, da weitere Länder ihre Bereitschaft zur Mitfinanzierung erklärten. Gleichwohl blieb die finanzielle Ausstattung des Instituts prekär. So erschien 1960 in der Zeitschrift „Der Monat“ ein Artikel unter der Überschrift „Ein Institut in Nöten“. Darin verwies Hans Schwab-Felisch auf die nach seinem Dafürhalten ungenügende finanzielle Ausstattung des Instituts, dessen Jahresetat sich zu diesem Zeitpunkt auf DM 455.000 belief. Schwab-Felisch regte die Bildung einer „Gesellschaft der Freunde des Instituts für Zeitgeschichte“ an, um Abhilfe zu schaffen.11 Zu dieser Gründung ist es bis heute nicht gekommen. Die finanzielle Stabilisierung des Instituts erfolgte 1962 durch ein Abkommen zwischen Bund und Ländern, demzufolge das Institut von einer von Bund und Ländern getragenen rechtsfähigen öffentlichen Stiftung des bürgerlichen Rechts betrieben wurde.
2 Trotz der satzungsmäßig festgelegten untergeordneten Rolle des Beirats gegenüber dem Kuratorium bestand bei der Gründung des Instituts Übereinstimmung, dass ersterem „politisches Gewicht“ zukommen werde.12 Dies zeigte sich, als im Gefolge einer heftigen, öffentlich ausgetragenen Kontroverse zwischen Gerhard Ritter und Gerhard Kroll letzterer seinen Rücktritt als Institutsleiter anbot und die Neuwahl des Generalsekretärs anstand. Bayern schickte als seinen Kandidaten Karl Buchheim ins Rennen. Buchheim, der im Sommer 1950 von Leipzig nach München übergesiedelt war, arbeitete seit dieser Zeit im Institut. An der Übernahme des Postens des Generalsekretärs zeigte er aber wenig Interesse, da er der Ernennung zum Professor an der TU München den Vorzug gab.13 Ritter versuchte Michael Freund durchzusetzen, der jedoch als ehemaliges Mitglied der NSDAP schlechte Karten besaß. Auf Vorschlag von Franz Schnabel kam schließlich Hermann Mau zum Zug.14 Mau war zuvor Privatdozent in Leipzig gewesen und war dort wie Karl Buchheim politischen Verfolgungsmaßnahmen der SED ausgesetzt gewesen. Wie Buchheim war auch Mau kein Zeithistoriker, sondern Mediävist. Winfried Schulze hat ihn als eine „bemerkenswerte Persönlichkeit“ bezeichnet, einen „Glücksfall für das Institut, der trotz der kurzen Dauer seines Wirkens“ – ein tödlicher Autounfall
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Ebd., 546. Ebd., 549. Hans Schwab-Felisch, Ein Institut in Nöten, in: Der Monat 13/1961, 84–90. Auerbach, Gründung, 549. Karl Buchheim, Eine sächsische Lebensgeschichte. Erinnerungen 1889–1972, bearb. und hgg. von Udo Wengst und Isabel F. Pantenburg, München 1996, 253–255. 14 Auerbach, Gründung, 553.
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riss ihn im Oktober 1952 aus dem Leben – eine „bemerkenswert erfolgreiche Tätigkeit“ für das Institut geleistet habe.15 Nach dessen Tod hat mit Helmut Krausnick zunächst ein von Hermann Mau an das Institut geholter Mitarbeiter das Institut kommissarisch geleitet. Die Ernennung zum Generalsekretär war nicht möglich, da Krausnick Mitglied der NSDAP gewesen war. Die Nachfolge von Mau trat Anfang Oktober 1953 der Privatdozent Paul Kluke an. Kluke war ein Opfer des Nationalsozialismus; er hatte 1950 mit einer zeitgeschichtlichen Arbeit bei Hans Herzfeld habilitiert. Als Generalsekretär bzw. als Direktor wirkte er von 1953 bis 1959, ehe ihn dann Helmut Krausnick doch noch beerbte. Als Wissenschaftler machte sich Krausnick als Gutachter in NS-Prozessen und als Co-Autor der bahnbrechenden Studie über die „Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des SD 1938–1942“ einen Namen. Horst Möller hat mit Recht die Zeit unter diesen beiden Direktoren als „Konsolidierungsphase“ bezeichnet, in der der „nationale und internationale Rang des Instituts für Zeitgeschichte“ begründet wurde.16 Neben den Generalsekretären bzw. Direktoren ist aber auch auf einige Wissenschaftler hinzuweisen, die das Erscheinungsbild des Instituts geprägt haben. Bereits seit 1949 wirkte Anton Hoch im Institut, zunächst als Leiter von Archiv und Bibliothek, dann ab 1951 nur als Leiter des Archivs. In dieser Funktion verblieb Hoch bis zu seinem Tod im Jahr 1978. Seiner Arbeit ist zu verdanken, dass das Archiv bereits zu diesem Zeitpunkt Anerkennung gefunden hatte. Ähnliche Verdienste erwarb sich Thilo Vogelsang, den Hermann Mau 1951 angeworben hatte. Vogelsang wurde später zum Honorarprofessor an die TU berufen und ist wissenschaftlich vor allem mit der mehrfach aufgelegten Pionierstudie „Das geteilte Deutschland“ hervorgetreten. 1953 übernahm Hans Buchheim, ein Sohn von Karl Buchheim, eine feste Stelle im Institut; 1954 folgte Helmut Heiber, 1956 Martin Broszat, der wiederum 1972 die Nachfolge von Helmut Krausnick als Direktor antrat. Bei den Genannten handelte es sich allesamt um Wissenschaftler, die im Folgenden mit viel beachteten Werken an die Öffentlichkeit traten und einen gewichtigen Beitrag für das Ansehen des Instituts leisteten.
3 In den Auseinandersetzungen in der Gründungsphase des Instituts, das seit 1950 bereits den Kurztitel „Institut für Zeitgeschichte“ führte – eine Bezeichnung, die ab 1952 offiziellen Status erlangte – blieb – darauf habe ich schon hingewiesen – zunächst umstritten, welche Funktion das Institut in erster Linie zu erfüllen hatte. Es war Hermann Mau, der durchsetzte, dass dessen Tätigkeit schließlich von „ausschließlich wissenschaftlichen Gesichtspunkten“ bestimmt wurde.17 Dabei legte die 15 Schulze, Deutsche Geschichtswissenschaft, 237–239. 16 Möller, Das Institut für Zeitgeschichte, 29f. 17 Auerbach, Gründung, 553.
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Satzung fest, dass „Quellen zur Geschichte und Vorgeschichte des Nationalsozialismus“ zu sammeln, „wissenschaftlich wie allgemeinverständlich auszuwerten und der Öffentlichkeit zugänglich zu machen“ und „wissenschaftliche Darstellungen der Geschichte dieser Zeit vorzubereiten und zu unterstützen“ seien.18 Dies erklärt die Bedeutung des Archivs des Instituts, das ab Mitte 1950 auf den Unterlagen der Nürnberger Prozessakten aufbauen konnte, die die Amerikaner kurz zuvor dem Institut zur Verfügung gestellt hatten. Daneben gingen die Mitarbeiter auf die Suche nach weiteren Dokumenten, und sie führten eine ganze Serie von Interviews mit Zeitzeugen, um zusätzliche Informationen zur NS-Zeit zu erlangen. Dieses Zeitzeugenschrifttum ist seit einiger Zeit digitalisiert und kann über die Homepage des IfZ eingesehen werden. Wenn man die Publikationstätigkeit von Institutsmitarbeitern in den 1950er Jahren überblickt, fällt auf, dass die Zahl der Veröffentlichungen nicht hoch war. Dies ist darauf zurückzuführen, dass das Institut seit Beginn der 1950er Jahre eine Aufgabe übernahm, die zunächst nicht vorgesehen war. Dabei handelte es sich um die Erstellung von Gutachten für Behörden und Gerichte, insbesondere über die Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts an den Verfolgten des Dritten Reichs bzw. über Ansprüche aus dem 131er-Gesetz von 1951 und dessen Novellierungen. Die Zahl dieser Gutachten und Auskünfte belief sich bis 1958 durchschnittlich auf 150 pro Jahr und stieg im folgenden Zeitraum bis 1966 auf ca. 600 pro Jahr an.19 Die Aufgabe der Gutachtenerstellung hatte Konsequenzen für den Umgang mit der Vergangenheit. Unter weitgehender Ausschaltung von Empathie für die Opfer des Nationalsozialismus sahen sich die Mitarbeiter – so Hermann Graml, der seit den 1950er Jahren als Hilfskraft im Institut arbeitete und bis über seinen 85. Geburtstag hinaus am Institut tätig war – „zu strengster Nüchternheit im Umgang mit der NS-Vergangenheit“ gezwungen.20 Ähnlich sieht das im Rückblick auch Hans Buchheim, der vom Zwang „einer besonderen Gründlichkeit der Nachforschungen und einer besonderen Gewissenhaftigkeit der Schlussfolgerungen aus den gefundenen Daten“ spricht, wobei er sich stets bewusst war, „auf welch unsicherem Boden häufig die Urteilsbildung“ stand21; und Hans-Dietrich Loock, der von 1959 bis 1962 im Institut arbeitete und in dieser Zeit ebenfalls Gutachten erstellte, bekannte sich rückblickend zur Wissenschaft als „Handwerk“, das im Institut betrieben werde. Zwar gebe diese Art von Wissenschaft „keine Antworten und keine Anweisungen.“
18 Ebd., 548. 19 Diese Angaben aus: Gutachten des Instituts für Zeitgeschichte, München 1958, 9; Gutachten des Instituts für Zeitgeschichte II, Stuttgart 1966, 9. 20 Hans Buchheim / Hermann Graml, Die fünfziger Jahre. Zwei Erfahrungsberichte, in: Horst Möller / Udo Wengst, 50 Jahre Institut für Zeitgeschichte, 80. 21 Ebd., 73f.
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Aber sie helfe „Distanzen zu erkennen und Kontinuitäten zu gewinnen“. Hierin erkannte Loock ihren „Mehrwert“, den „Überschuss wissenschaftlicher Arbeit“.22 Das war die ganz eigene Art, in der das Institut in den 1950er Jahren „Vergangenheitsbewältigung“ betrieb. Nach Hermann Graml ging es um das Gewinnen und Sichern von Erkenntnis: „Denn nur die Erkenntnis“ – so seine Feststellung – „vermag für die echte und dauerhafte Befreiung unserer Nation von Nationalsozialismus und ähnlichen Übeln zu sorgen.“23 Mit ähnlichen Überzeugungen hatte auch Hermann Mau seine Arbeit am Institut übernommen. Bereits bei seiner Vorstellung als Kandidat für das Amt des Generalsekretärs hatte er festgestellt, dass es in seiner Konzeption für die Institutsarbeit „weder um die Rehabilitierung des Nationalsozialismus noch um die Rechtfertigung der Kollektivschuldthese“ gehe. „Es geht vielmehr zunächst um die saubere Klärung der Sachverhalte“.24 Auf dieser Grundlage strebte Mau eine „geistige Bewältigung der nationalsozialistischen Vergangenheit nicht allein und nicht (…) stellvertretend für andere“ an25, wohl aber ging er davon aus, dass das Institut für Zeitgeschichte einen wichtigen Beitrag hierzu leisten könne. Aus einer „tiefempfundenen politischen Verantwortung“ für die wissenschaftliche Erforschung der nationalsozialistischen Zeit und der Einsicht in die Notwendigkeit, deren Ergebnisse einer breiten Öffentlichkeit zu vermitteln, entstand die Idee, eine spezielle Fachzeitschrift ins Leben zu rufen.26 Erschienen ist das erste Heft der „Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte“ jedoch erst nach Maus Tod im Januar 1953. Als Herausgeber fungierten lange Zeit Hans Rothfels und Theodor Eschenburg. Ersterer veröffentlichte im ersten Heft mit dem Eröffnungsaufsatz „Zeitgeschichte als Aufgabe“ einen Beitrag, der bis heute als Grundlegung des neuen Fachs gelten kann. Als Schöpfer dieser bis dato wichtigsten Publikation des Instituts für Zeitgeschichte muss jedoch unbestritten Hermann Mau gelten, auf dessen „rastloses Drängen“ die Gründung dieser Zeitschrift zurückzuführen ist.27
4 Bereits in den 1950er Jahren erschienen in der in Ostberlin publizierten „Zeitschrift für Geschichtswissenschaft“ zwei Beiträge, die sich mit der westdeutschen Institutsgründung und ihren Publikationen – dabei insbesondere mit den „Vierteljahrsheften für Zeitgeschichte“ – befassten. Der erste Beitrag von Günter Paulus aus dem
22 Hans-Dietrich Loock, War’s so? Erinnerungen und die Entstehung der Zeitgeschichte, in: 25 Jahre Institut für Zeitgeschichte. Statt einer Festschrift, Stuttgart 1975, 51. 23 Buchheim / Graml, Die fünfziger Jahre, 83. 24 Möller, Das Institut für Zeitgeschichte, 25. 25 Schulze, Deutsche Geschichtswissenschaft, 238. 26 Ebd., 239. 27 Paul Kluke, Das Institut für Zeitgeschichte in München, in: Schweizer Beiträge zur Allgemeinen Geschichte 12/1954, 241.
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Jahr 1955 stand unter der Überschrift „Wissenschaftliche Zeitgeschichte oder Apologie des deutschen Imperialismus?“ Der zweite Artikel von Joachim Höppner aus dem Jahr 1959 verzichtete in der Überschrift auf jedes Fragezeichen, sondern formulierte die These: „Das Institut für Zeitgeschichte in München und seine Arbeit im Dienste der militärisch-klerikalen Herrschaft des westdeutschen Imperialismus“. Paulus warf seinen Münchener Kollegen vor, mit „unauffälligen Methoden der Geschichtsfälschung“ zu arbeiten und bescheinigte den Vierteljahrsheften, eine „Apologie des Faschismus unter dem Mantel der Kritik“ zu betreiben.28 Höppners Vorwurf war noch schärfer formuliert, wenn er das Institut für Zeitgeschichte zu den Forschungsstätten in der Bundesrepublik zählte, „die mit beträchtlichem finanziellen Aufwand und umfangreichem wissenschaftlichen Apparat der psychologischen Kriegsführung der Bundesrepublik dienen“.29 Es lohnt nicht, auf diese grobschlächtigen, politisch motivierten Angriffe näher einzugehen, die jeder Grundlage entbehren. Im Unterschied zu den Stimmen aus der DDR fielen die Bewertungen über die Leistungen des Instituts in der Bundesrepublik und im westlichen Ausland – nach dem Überstehen einiger anfänglicher Krisen, die z. B. die Publikation der „Tischgespräche Hitlers“ auslösten – schon nach wenigen Jahren äußerst positiv aus. Hans Schwab-Felisch bescheinigte ihm 1960, eine „Stellung erarbeitet“ zu haben, „die nur der eines Instituts der Max-Planck-Gesellschaft vergleichbar“ sei.30 Der Amerikaner Robert Koehl schrieb im selben Jahr im „Journal of Central European History“, dass Nationalsozialismusexperten aus aller Welt die Exzellenz der Veröffentlichungen des Münchener Instituts anerkennen würden, und er bescheinigte dem Institut, ein Symbol für Zivilcourage im Nachkriegsdeutschland zu sein.31 Ähnliche Lobeshymnen erhielt das Institut anlässlich seines 25jährigen Bestehens im Jahr 1975. In einem vom Institut herausgegebenen Band mit z. T. auch kritischer Intension („statt einer Festschrift“) gab der Amerikaner Hans W. Gatzke seinem Respekt und seiner Bewunderung für die „Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte“ Ausdruck.32 Der Hamburger Historiker Werner Jochmann zitierte einen ausländischen Kollegen, der das Institut als „das Mekka der Zeitgeschichte“ bezeichnet habe. Jochmann selbst mahnte aber auch eine Reduzierung der „Diskussion und Betriebsamkeit“ und eine Hinwendung zu „Aktenstudium und Reflexion“ an, da nur dann das Institut bleiben könne, was es bisher gewesen sei: „Zentrum
28 Günter Paulus, Wissenschaftliche Zeitgeschichte oder Apologie des deutschen Imperialismus?, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 3/1955, 3–28, Zitate, 16 und 28. 29 Joachim Höppner, Das Institut für Zeitgeschichte in München und seine Arbeit im Dienste der militärisch-klerikalen Herrschaft des westdeutschen Imperialismus, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 7/1959, 346–367, Zitat 367. 30 Schwab-Felisch, Institut in Nöten, 84. 31 Robert Koehl, Zeitgeschichte and the new German Conservation, in: Journal of Central European Affairs 20/1960, 131–157, Zitat, 131. 32 Hans W. Gatzke, Zu selbstgenügsam?, in: 25 Jahre Institut für Zeitgeschichte, 89–91.
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grundlegender Forschung, neuer Impulse und Anstöße, der Information und Koordination.“33 Ganz frei von kritischen Anmerkungen war auch der Beitrag von Karl Ferdinand Werner nicht, den er aus Anlass des Institutsjubiläums in der Zeitschrift „Francia“ veröffentlichte. Gleichwohl bescheinigte er abschließend dem Institut, „Teil einer nüchternen Generation“ zu sein, „die in Deutschland eine demokratische Republik errichten und mit Leben zu erfüllen half, und dass in diesen 25 Jahren eine Schule herangewachsen ist, die reif ist, Deutschland und Europa bei der Gewinnung einer Orientation behilflich zu sein“.34
25 Jahre später legte das Institut für Zeitgeschichte aus Anlass seines 50jährigen Bestehens eine dickleibige Festschrift vor. Das Institut war bis zu diesem Zeitpunkt noch einmal stark angewachsen und hatte seine Forschungstätigkeit erweitert. Im Rahmen der historischen Wissenschaft war es ein „Großinstitut“ geworden. In seiner Einleitung zur Festschrift hält Hans-Peter Schwarz diese Entwicklung für positiv, da eine „methodensichere, zahlreiche Entscheidungsebenen und längere Zeiträume umfassende Behandlung historischer Zusammenhänge“ anders oft gar nicht möglich sei.35 Sein Urteil über die Leistung fiel insgesamt sehr positiv aus, und auch die Darstellung der Institutsgeschichte aus der Feder des Direktors Horst Möller zeichnete diese – einem Festschriftbeitrag gemäß – in hellen Farben.36 Im selben Jahr erschien aber eine Studie eines jungen Historikers über die „Geschichtsschreibung in Westdeutschland und Japan 1945–1960“, die das Institut für Zeitgeschichte wesentlich kritischer beurteilte.37 Sebastian Conrad legte darin sein Hauptaugenmerk auf die „integrativen Strategien“, die „Deutungsmuster und argumentativen Strukturen, die die Geschichtsschreibung der frühen Nachkriegszeit“ durchzogen hätten.38 Die Gründung des Instituts für Zeitgeschichte bewertete er ausgesprochen negativ. Zwar habe das Münchener Institut den „politischen Willen und auch die Bereitschaft der beteiligten Fachhistoriker“ dokumentiert, „sich mit den dunklen Kapiteln der deutschen Vergangenheit auseinanderzusetzen“. Zugleich interpretierte er „die Einrichtung eines separaten Forschungsinstituts“ aber auch als „Ausgliederung des Nationalsozialismus aus dem historischen Zusammenhang der deutschen Geschichte“. Damit seien in den Forschungen des Instituts die „Fragen nach langfristigen, strukturellen Ursachen gar nicht erst gestellt“ worden.39 Schließlich monierte Conrad, dass im Institut die „Interpretation der Geschichte des Dritten
33 Werner Jochmann, Gefahren des Managements – eine freundliche Warnung, in: ebd., 101–104, Zitate 101, 103 und 104. 34 Karl Ferdinand Werner, 25 Jahre Institut für Zeitgeschichte. Bemerkungen zu einem Jubiläum, in: Francia 4/1976, 785–802, Zitat 802. 35 Hans-Peter Schwarz, Warum eine Festschrift?, in: Möller / Wengst, 50 Jahre Institut für Zeitgeschichte, XV–XXV, Zitat XXI. 36 Möller, Das Institut für Zeitgeschichte, 1–68. 37 Sebastian Conrad, Auf der Suche nach der verlorenen Nation. Geschichtsschreibung in Westdeutschland und Japan 1945–1960, Göttingen 1999. 38 Ebd., 21. 39 Ebd., 231.
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Reiches (…) der Perspektive der Handelnden, ja vielfach der Täter verpflichtet“ geblieben sei.40 Er machte dies an der Veröffentlichung von Hermann Foertsch über die „Fritsch-Krise im Frühjahr 1938“ fest, der selbst Wehrmachtsgeneral gewesen war und von 1951–1952 als Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Institut gearbeitet hat.41 Eine ähnliche Kritik äußerte wenige Jahre später Nicolas Berg – ebenfalls ein junger Historiker – in seinem Werk „Der Holocaust und die westdeutschen Historiker“.42 Hierin lenkte er seinen Blick „auf die konkreten interpretatorischen Schwierigkeiten deutscher Historiker bei einem einzigen Thema, nämlich dem der Judenvernichtung“.43 Unter diesem Gesichtspunkt kommt die Arbeit des Instituts in den 1950er Jahren schlecht weg. Der Behandlung der Verfolgung der Juden habe man zu wenig Aufmerksamkeit zugewandt. Wenn das Thema dennoch aufgegriffen worden sei, dann sei es unter einer von deutschen Historikern ausgearbeiteten Definition geschehen, und war oft „im Widerspruch zum ‚Engagement‘, zur ‚Zeugenschaft‘ und zum ‚Pathos‘ von jüdischen Forschern und Historikern“. So habe das Institut in der Frühzeit „Forschung ohne Erinnerung betrieben (…), mitunter sogar in scharfer Wendung gegen sie“. Bergs Gesamturteil lautet, dass „durch die Konzeptualisierung des Dritten Reichs aus einer strikt deutschen Perspektive ein Bild des Nationalsozialismus etabliert“ worden sei, „das gerade nicht die historisch zentrale Bedeutung von Vernichtung und Genozid reflektierte, sondern eher die ‚Überwältigung‘ und ‚Verführung‘ Deutschlands aus der Perspektive der Mitläufer“.44 Sind diese Vorwürfe gerechtfertigt oder verfehlen sie die historische Wirklichkeit der 1950er Jahre? Conrads These von der „Ausgliederung des Nationalsozialsozialismus aus dem historischen Zusammenhang der deutschen Geschichte“ mag auf den ersten Anblick bestechen, erscheint aber beim zweiten Hinsehen wenig überzeugend. Angesichts der Lage an den Universitäten, wo die Professoren wenig Bereitschaft zeigten, sich mit der jüngsten deutschen Vergangenheit auseinanderzusetzen, war die Gründung eines außeruniversitären Instituts schon fast eine Notwendigkeit. Dies hat Hans Rothfels in seinem einführenden Aufsatz im ersten Heft der „Vierteljahrshefte“ über „Zeitgeschichte als Aufgabe“ mit dem klassischen Satz ausgedrückt, dass sich diese „an keinerlei heißen Eisen, weder internationalen noch nationalen, sich vorbeidrückt und nicht leere Räume offenlässt, in die Legenden sich einzunisten neigen“.45 Dies beinhaltete auch die Frage nach dem Platz des Nationalsozialismus in der deutschen Geschichte, wenngleich zuzugestehen ist, dass
40 Ebd., 248. 41 Ebd., 250–255. 42 Nicolas Berg, Der Holocaust und die westdeutschen Historiker. Erforschung und Erinnerung, Göttingen 2003. 43 Ebd., 17. 44 Ebd., 317–320. 45 Hans Rothfels, Zeitgeschichte als Aufgabe, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 1/1953, 1– 8, Zitat 8.
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angesichts der bestehenden Rahmenbedingungen andere Themen im Vordergrund standen. Wie sieht es mit der zweiten These Conrads aus, dass die „Interpretation der Geschichte des ‚Dritten Reiches‘ im Institut“ aus der „Perspektive der Handelnden, ja vielfach der Täter“ geschrieben worden sei. Dies mag in Einzelfällen vorgekommen sein. Aber im Wissenschaftlichen Beirat saßen anfangs drei Verfolgte des Naziregimes und mit Hans Rothfels gab ein zurückgekehrter Emigrant über lange Jahre die „Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte“ heraus. Rothfels bekannte sich zwar als Wissenschaftler zur Objektivität, zu „disziplinierter Wahrheitssuche“ und „Ausschaltung von Vorurteilen“, was für ihn aber nicht „Neutralität“ bedeutete.46 Der Herausgeber der neuen Zeitschrift fühlte sich durchaus als „Betroffener“. Dies hat er in seinem soeben erwähnten Aufsatz zum Ausdruck gebracht.47 Die Betroffenheit lässt sich auch aus der Einleitung entnehmen, die Rothfels im zweiten Heft der „Vierteljahrshefte“ zum „Augenzeugenbericht zu den Massenvergasungen“ von Kurt Gerstein geschrieben hat. Hier findet sich die Feststellung, dass die Vergasung der Juden in der NS-Zeit „nicht durch den Schleier des Vergessens oder des Bagatellisierens“ überdeckt werden dürfe, da dies „nicht nur Stumpfheit und Gewissenlosigkeit gegenüber den Opfern dieser bestimmten Zeit bedeuten“ würde, „sondern auch Einschläfern der Wachsamkeit und des Gewissens überhaupt“.48 Problematisch erscheint auch das Urteil Nicolas Bergs, wenn er dem Institut vorwirft, in den 1950er Jahren „nicht die historisch zentrale Bedeutung von Vernichtung und Genozid“ reflektiert zu haben. 49 Ein Blick in die beiden Bände mit den veröffentlichten Gutachten zeigt, in wie starkem Maße die Verfolgung von Juden im In- und Ausland Gegenstand der Gutachten war (Wiedergutmachungsfragen). Ebenso lässt die Einleitung Martin Broszats in dem von ihm erstmals 1958 herausgegebenen autobiographischen Aufzeichnungen des Kommandanten von Auschwitz, Rudolf Höß, eine Einschätzung des Holocaust erkennen, die im Widerspruch der Aussage von Nicolas Berg steht. So trifft Broszat die dezidierte Feststellung, „dass in Auschwitz die Dämonie des Nationalsozialismus in der Form einer ausgeklügelten, rationalisierten Massenvernichtungstechnik grauenhafteste, alles menschliche Vorstellungsvermögen übersteigende Realität geworden war“.50 Dabei war sich Broszat durchaus bewusst, dass er mit der Herausgabe der Aufzeichnungen die Täterperspektive dokumentierte. Aber auch hierdurch waren die Leiden der Opfer zu erfahren und zugleich dokumentierte das Extrembeispiel Höß der Ansicht Broszats zufolge „die ganze spukhafte und doch grausame – wirkliche Abgründigkeit der zwölf Jahre Nationalsozialismus in erregender Weise“.51
46 Ebd., 5. 47 Ebd., 6. 48 Augenzeugenbericht zu den Massenvergasungen, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 1/1953, 177–193, Zitat 178. 49 Berg, Holocaust, 319f. 50 Martin Broszat (Hg.), Kommandant in Auschwitz. Autobiographische Aufzeichnungen des Rudolf Höß, Stuttgart 1958, Zitat aus München 222002, 18. 51 Ebd., 30.
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Die kritischen Bewertungen von Sebastian Conrad und Nicolas Berg über die Arbeit des Instituts für Zeitgeschichte sind darauf zurückzuführen, dass sie sich mit dem Thema unter jeweils sehr eingeengter Fragestellung befassen. So entgeht Conrad, dass im zeitlichen Zusammenhang mit der Gründung des Instituts für Zeitgeschichte weitere historische außeruniversitäre Einrichtungen geschaffen wurden, die auch die Zeitgeschichte erforschten, aber durchaus ebenso Themen der deutschen Geschichte im 19. Jahrhundert behandelten. Hierbei verweise ich insbesondere auf die Kommission für Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, aber auch auf das Institut für Europäische Geschichte. Bei Berg stellt sich außerdem die Frage, ob wirklich allein unter Einbeziehung von jüdischen Forschern und Historikern der Opferperspektive in einem weitergehenden Maße hätte Rechnung getragen werden können. Dies ist eine These – mehr nicht! Ich halte es für problematisch, allein hieraus eine kritische Bewertung der Gesamtleistung des Instituts für Zeitgeschichte in den ersten zehn Jahren seiner Existenz abzuleiten. Vielmehr erscheint das Urteil angemessen, dass in dieser Zeit die Grundlagen geschaffen wurden, die zum weltweiten Renommee beigetragen haben, über die das Institut für Zeitgeschichte heute verfügt. Der seinerzeit eingeschlagene Kurs, zeitgeschichtliche Forschung mit dem „Pathos der Nüchternheit“ zu betreiben52, hat sich bewährt. Insbesondere mit der Durchführung zeithistorischer Großprojekte und der Herausgabe der bis heute führenden zeitgeschichtlichen Zeitschrift hat das Institut für Zeitgeschichte den Nachweis erbracht, dass die seinerzeitige Gründung eines außeruniversitären Spezialinstituts eine richtige Entscheidung war.
52 Klaus-Dietmar Henke, Mit dem Pathos der Nüchternheit. Martin Broszat, das Institut für Zeitgeschichte und die Erforschung des Nationalsozialismus, Frankfurt am Main/New York 1991.
INSTITUTIONELLE ERBSCHAFTEN? Zur Wiedergründung des deutschen Historikerverbandes nach 1945 Matthias Berg
Im August 1949, einen Monat vor dem ersten nach Kriegsende veranstalteten Historikertag in Deutschland, sah sich Herbert Grundmann genötigt, deutlich zu werden. Der Mediävist Grundmann amtierte seit dem vergangenen Jahr als Schatzmeister des in Gründung befindlichen deutschen Historikerverbandes. Sein Kollege Peter Rassow hatte die Initiativen zur Verbandsgründung kritisch kommentiert, ihm widersprach Grundmann mit Verweis auf die institutionellen Traditionen. Nicht nur bestehe der Verband bereits wieder und müsse nur noch formell neu konstituiert werden, er habe „seit Jahrzehnten bestanden, wie ebenso andere Fachverbände der Kunsthistoriker, Rechtshistoriker, Soziologen (...) bestehen.“ Der Verband sei „immer gewesen und wird wieder sein ein Glied des Internationalen Historikerverbandes“, die „Veranstaltung gemeinsamer Tagungen ist seine sichtbarste Funktion.“1 Die institutionelle Kontinuität der Fachvereinigung der deutschen Historiker schien für Grundmann in keiner Weise fraglich. Als Wissenschaftsgeschichte analysiert die Historiographiegeschichte „Institutionen des Faches sowie die politischen, sozialen und kulturellen Voraussetzungen der früheren Berufspraxis von Historikern“, sie legt „die unbewussten, d. h. verkannten Erbschaften bzw. nicht reflektierten Aspekte des eigenen wissenschaftlichen Tuns bzw. der eigenen beruflichen Position und Situation offen.“2 Während biographische „Erbschaften“ deutscher Historiker in den vergangenen Jahren vielfach Beachtung gefunden haben3, sind Institutionen bzw. Institutionalisierungen der geschichtswissenschaftlichen Forschung weitaus seltener in entsprechender Hinsicht untersucht worden. Der, trotz aller personellen und vorerst auch paradigmatischen Kontinuitäten, tiefe Einschnitt des Kriegsendes 1945 erfuhr durch die
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Akten des VHD (folgend: AVHD), AVHD, Korr. 1, Herbert Grundmann an Peter Rassow v. 6.8.1949. Lutz Raphael, Geschichtswissenschaft im Zeitalter der Extreme. Theorien, Methoden, Tendenzen von 1900 bis zur Gegenwart, München 2003, 14. Vgl. kürzlich Christoph Nonn, Theodor Schieder. Ein bürgerlicher Historiker im 20. Jahrhundert, Düsseldorf 2013 sowie aus der Fülle an vorgelegten Historikerbiographien: Christoph Cornelißen, Gerhard Ritter. Geschichtswissenschaft und Politik im 20. Jahrhundert, Düsseldorf 2001; Jan Eckel, Hans Rothfels. Eine intellektuelle Biographie im 20. Jahrhundert, Göttingen 2005.
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Matthias Berg
institutionelle Dauer und Verfestigung eine Einebnung, die rückblickend Kontinuität zumindest suggerierte. Die Historischen Seminare setzten nur wenige Monate nach Kriegsende mit Wiedereröffnung der Universitäten ihre Lehr- und Forschungstätigkeit fort, außeruniversitäre Forschungseinrichtungen wie die Akademiekommissionen entbehrten zwar einiger nun als „belastet“ geltender Mitglieder, die Historische Zeitschrift musste aus wirtschaftlichen Gründen für mehrere Jahre auf ein Erscheinen verzichten – die jeweilige institutionelle Kontinuität jedoch blieb gewahrt, auch die eingeführten Institutionsnamen fanden selbstverständlich weiterhin Verwendung.4 Der Fachvereinigung der deutschen Geschichtswissenschaft jedoch, dem Verband Deutscher Historiker, blieb eine solche Kontinuität verwehrt. Obwohl bereits seit 1895 bestehend und als Veranstalter der Historikertage wie als internationale Fachvertretung eine der wichtigen wie traditionsreichen Institutionalisierungen der Disziplin, wurde er 1949 erneut gegründet, zudem unter einem veränderten Namen: als Verband der Historiker Deutschlands. Der Historikerverband zählte und zählt zu den Organisationen, die es zu betrachten gilt, fragt man nach der Verfasstheit der deutschen Geschichtswissenschaft im 20. Jahrhundert. Entsprechend fand die Wiedergründung des Verbandes nach 1945 auch in der monographischen Darstellung der Disziplingeschichte eingehende Beachtung, allerdings unmissverständlich aufgefasst als „Neugründung“. 5 Fragen nach möglichen institutionellen Kontinuitäten respektive Diskontinuitäten standen nicht im Mittelpunkt. Folgend soll in einigen Überlegungen – die Teil einer entstehenden Geschichte des „alten“ Verbandes Deutscher Historiker (VDH) zwischen Kaiserreich und Nachkriegszeit sind6 – nach der „Vorgeschichte“ des „neuen“ Verbandes der Historiker Deutschlands (VHD) gefragt werden. Wie sind in der Verbandsgeschichte Wandel und Beharrung zu gewichten, erfolgte Grundmanns selbstverständliche Annahme einer Fortführung der Verbandstradition zu Recht? Wie „neu“ diese Neugründung war, welche – bewussten oder unbewussten – Erbschaften sie prägten, wird an einer Reihe von Kriterien zu prüfen sein: Welche
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Zur Universitätsgeschichte um 1945 sind, den Gedenk- und Aufarbeitungskonjunkturen folgend, eine Vielzahl von nicht aufzuführenden Darstellungen einzelner Seminare erschienen. Beispielhaft für Kommissionen vgl. Lothar Gall, 150 Jahre Historische Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, in: ders. (Hg.), „... für deutsche Geschichts- und Quellenforschung“. 150 Jahre Historische Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, München 2008, 7–57, hier 35–38; zur Historischen Zeitschrift: Lothar Gall, 150 Jahre Historische Zeitschrift, in: ders. (Hg.), 150 Jahre Geschichtsforschung im Spiegel der Historischen Zeitschrift, München 2009, 1–23, hier 5–8. Winfried Schulze, Deutsche Geschichtswissenschaft nach 1945, München 1993, 159–182, zu Rassows Kritik und Grundmanns Entgegnung 166f. Der Autor bearbeitet das von der Fritz Thyssen Stiftung geförderte Forschungsprojekt „Institutionalisierte Geschichte. Der Verband Deutscher Historiker und seine Historikertage 1890 bis 1950“, Teil einer Gesamtdarstellung der deutschen Historikerverbände zwischen Kaiserreich und wiedervereinigter Bundesrepublik, die neben VDH und VHD auch die Historikergesellschaft der DDR sowie den 1990 gegründeten Unabhängigen Historikerverband umfassen soll und gemeinsam mit Gabriele Lingelbach, Olaf Blaschke, Christoph Cornelißen und Martin Sabrow vorbereitet wird.
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Funktionen verbanden alte und neue Verband, wie wurden Satzungen und Verbandstrukturen gestaltet? Repräsentierte der Vereinigung die Disziplin in ihrer Gesamtheit, wer durfte sich beteiligen, schließlich: Wie – in Form wie Zielen – trat der Verband als Institution in Erscheinung? Zuvor soll, nach einem knappen Abriss der Geschichte des VDH, auch der Zeitraum des „Verschwindens“ des Verbandes seit den späten 1930er Jahren in den Blick genommen und gefragt werden, wo die deutschen Historiker hinsichtlich ihrer Fachvereinigung und deren Funktionen nach 1945 anknüpften. Nicht zuletzt erzählen die Ausgangsbedingungen, Diskussionen und Entscheidungen um die Verbandsgründung nach 1945 auch Wesentliches über den Historikerverband vor 1945, über seine Strukturen und etwaigen Mängel, aber auch über offenkundig als bewahrenswert erachtete Kontinuitäten. Im Verhältnis von Veränderung und Beharrung spiegelt sich deshalb die „zweite“ Institutionalisierung7 des deutschen Historikerverbandes ebenso wie die frühere Verbandsgeschichte. 1 DER „ALTE“ VERBAND DEUTSCHER HISTORIKER – AUFGABEN, STRUKTUREN UND PROBLEME Nüchtern wurde im ersten Berichtsheft über eine „Versammlung deutscher Historiker“ vermerkt: „Auf Anregung einiger im Herbste 1891 in München zufällig zusammengetroffener Freunde vereinigten sich im Sommer 1892 vierzig deutsche Historiker aus dem deutschen Reiche, Oesterreich und der Schweiz zu einem Aufruf, welcher die Fachgenossen (...) zu einer allgemeinen Versammlung nach München einlud“.8
Den Anlass hierfür habe die „von anderer Seite in Angriff genommene Neugestaltung“ auch des Geschichtsunterrichts geboten. Dies meinte Preußen bzw. Kaiser Wilhelm II., gegen dessen nationalpolitische Indienstnahme des Geschichtsunterrichts zumindest ein Teil der deutschen Historiker ihre fachliche Autonomie zu verteidigen gedachte. Dass weniger die preußisch-protestantisch orientierte Fachelite als vor allem süddeutsche Historiker, auch der mindestens umstrittene Ludwig Quidde, die ersten Historikertage prägten, sollte für die institutionelle Entwicklung des Verbandes als möglicher zentraler Vereinigung der deutschen Geschichtswissenschaft nicht folgenlos bleiben.9 Die Historikertage allerdings wurden als allgemein akzeptiertes und erstrangiges Forum rasch zu einem wichtigen Treffpunkt für die inner- wie außerfachliche 7
8 9
Einführend vgl. Matthias Middell / Gabriele Lingelbach / Frank Hadler, Institutionalisierung historischer Forschung und Lehre. Einführende Bemerkungen und Fragen, in: dies. (Hgg.), Historische Institute im internationalen Vergleich, Leipzig 2001, 9–37. Bericht über die 1. Versammlung deutscher Historiker in München, 5.–7. April 1893, München 1893, 1. Es waren „nicht die Koryphäen der Wissenschaft, wohl aber Männer von Geist und ausgeprägter Individualität, die den deutschen Historikertag ins Leben rufen“, vgl. Peter Schumann, Die deutschen Historikertage von 1893 bis 1937. Die Geschichte einer fachhistorischen Institution im Spiegel der Presse, Marburg 1974, 14.
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Kommunikation der historischen Disziplin. Auf den ersten Historikertag in München folgten mit Leipzig 1894 und Frankfurt 1895 umgehend zwei weitere Tagungen, auch die Teilnahmerzahlen traten, nach einem frühen Höhepunkt in Leipzig mit 340 (!) Besuchern, in ein gelegentlich unterbrochenes, auf längere Sicht aber kontinuierliches Wachstum.10 Angesichts der raschen und umfassenden Resonanz der Disziplin auf dieses Angebot kann am Erfolg der Historikertage als Veranstaltung kein Zweifel bestehen, aus diesen war zudem 1895 auch die Gründung des Verbandes Deutscher Historiker hervorgegangen, dessen vorerst einziger Zweck die Veranstaltung eben dieser Historikertage sein sollte.11 Das rege Interesse galt fraglos zuallererst dem wissenschaftlichen Austausch, der Präsentation, Diskussion sowie nicht zuletzt Verbreitung von Forschungsfragen und Forschungsergebnissen. Neben der Repräsentation der Geschichtswissenschaft in der nationalen und lokalen Öffentlichkeit wurde ein weiterer Grund für die erfolgreiche Institutionalisierung von Historikertagen wie folgend Historikerverband ausschlaggebend – eine neue und offenkundig stark nach gefragte Form von Öffentlichkeit innerhalb der Disziplin. Foren fachlichen Austausches existierten in der deutschen Geschichtswissenschaft durchaus bereits vor der Etablierung der Historikertage, vor allem die historischen Akademiekommissionen fungierten als Versammlungs- und Integrationsorte des Faches. Zugang zu diesen Diskussions- und Entscheidungsforen erlangte jedoch nur eine Minderheit der historisch Forschenden und Lehrenden, die zudem durch persönliche Zuwahl kooptiert wurde. Im Unterschied dazu waren die Historikertage per se allen fachlich Interessierten zugänglich, im Erfolg der Historikertage manifestierte sich die Nachfrage einer entstehenden, breiteren innerfachlichen Öffentlichkeit nach Austausch, Diskussion und Repräsentation. Über die Vortragenden auf den Historikertagen allerdings befand mit dem Verbandsausschuss ein bald durchaus exklusives Gremium. Der Wunsch der historiographischen Elite nach erweiterter fachlicher Öffentlichkeit ist ohnehin nicht zu überschätzen, der Verband wurde nach den heterogenen Anfängen im doppelten Sinne „diszipliniert“. Die Entscheidung über die methodischen und thematischen Standards des Faches mittels Einladung beziehungsweise Abwehr von Vorträgen auf den Historikertagen sollte dauerhaft nicht den Außenseitern überlassen bleiben. Mit dem Althistoriker Eduard Meyer, dem Mediävisten Georg von Below und dem Neuzeithistoriker Friedrich Meinecke traten um die Jahrhundertwende die in den folgenden Jahrzehnten einflussreichsten Fachvertreter in den Verbandsausschuss
10 Der letzte Historikertag vor dem Ersten Weltkrieg, 1913 in Wien tagend, verzeichnete 285 Teilnehmer. Vgl. die Teilnehmerlisten in den vorliegenden Berichtsheften, jeweils „Bericht über die (...) Versammlung deutscher Historiker“: Leipzig 1894, 48–55; Wien 1913, 41–49. 11 Eingehender zur frühen Verbandsgeschichte vgl. Matthias Berg, Zur Institutionalisierung der deutschen Geschichtswissenschaft. Der Verband Deutscher Historiker um 1900, in: Christine Ottner / Klaus Ries (Hgg.), Geschichtsforschung in Deutschland und Österreich im 19. Jahrhundert. Ideen – Akteure – Institutionen, Stuttgart 2014, 223–242.
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ein, und verließen diesen bis zum Ende der 1920er Jahre allenfalls durch Ableben.12 Zugleich aber reüssierten einige Historiker, die in der Disziplin zunehmend in randständige Positionen verwiesen worden waren, vor allem im Verband. So konnte Karl Lamprecht nicht nur den Leipziger Historikertag 1894 wesentlich prägen, sondern zudem bis zu seinem Tod im Mai 1915 Mitglied des Verbandsausschusses bleiben.13 Den zuvor mit aller Schärfe ausgetragenen Methodenstreit auch im Verband zu exekutieren, hätte die junge Institution wohl scheitern lassen.14 Die „fragile Eintracht“ sollte durch den „Austrag des Methodenstreits“ nicht belastet werden, der Historikertag hat „als Institution verhindert, daß der Methodenstreit in eine Spaltung der deutschen Historiographie mündete; die akademische Gemeinschaft gründete sich über alle grundsätzlichen Kontroversen hinweg.“15 Das Wechselspiel von Heterogenität und Disziplinierung, von herausragendem Fachforum und institutioneller Randständigkeit prägte die weitere Geschichte des Verbandes. Nach dem Historikertag 1913 gelang es erst elf Jahre darauf, 1924 in Frankfurt am Main, erneut eine Tagung zu veranstalten. Beschränkt auf die Veranstaltung der Historikertage, entbehrte der Historikerverband weiterer Funktionen und konnte deshalb nur begrenzt eine Führungsrolle innerhalb der Geschichtswissenschaft übernehmen. Was im bereits ausdifferenzierten, nationalen disziplinären Rahmen nicht möglich war, gelang dem Verband jedoch in der internationalen Vertretung des Faches. Zwar sah sich die deutsche Wissenschaft nach dem Ersten Weltkrieg weitgehend isoliert, zum Internationalen Historikertag in Brüssel 1923 wurde der deutsche Verband nicht eingeladen. Doch war bereits dieser Ausschluss in der internationalen Historikergemeinde umstritten gewesen. In den folgenden Jahren gelang es dem Verband, die Isolation zu überwinden und sowohl am 1926 begründeten „Comité International des Sciences Historiques“ zu partizipieren wie auch am Internationalen Historikertag in Oslo 1928 teilzunehmen.16 Die Bedeutung dieser internationalen Rolle des Verbandes für die Reintegration der deutschen Geschichtswissenschaft in den internationalen Wissenschaftsbetrieb kann kaum hoch genug eingeschätzt werden, sie sollte sich nach 1945 unter anderen Konstellationen, aber in erstaunlicher Parallelität wiederholen. Nicht zuletzt durch die Konfrontation
12 Vgl. zu den Wahlen die jeweiligen Berichtshefte zu den Historikertagen, Below (1927) und Meyer (1930) verstarben amtierend als Ausschussmitglieder, Meinecke gehörte dem Ausschuss bis zu dessen weitgehendem Ruhen nach 1933 an. 13 Zu den Wahlen Lamprechts in den Ausschuss, zuletzt in Wien im September 1913, vgl. die Berichtshefte. Zum Leipziger Historikertag vgl. Schumann, Historikertage (wie Anm. 9), 36f. 14 Zur Kontroverse um Lamprechts Versuch einer kulturgeschichtlichen Wende, von der Mehrheit der Disziplin strikt abgelehnt, vgl. Friedrich Jaeger / Jörn Rüsen, Geschichte des Historismus. Eine Einführung, München 1992, 141–146. 15 Matthias Middell, Die ersten Historikertage in Deutschland 1893–1913, in: Gerald Diesener / Matthias Middell (Hgg.), Historikertage im Vergleich, Leipzig 1996, 21–43, Zitat 29. 16 Vgl. umfassend Karl Dietrich Erdmann, Die Ökumene der Historiker. Geschichte der Internationalen Historikerkongresse und des Comité International des Sciences Historiques, Göttingen 1987, zur Zeit der Weimarer Republik v. a. 97–189.
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mit historiographischen „Gegnern“ wie der polnischen Geschichtswissenschaft17 konnte sich der Verband als disziplinärer Integrationsort weitaus erfolgreicher als im nationalen Rahmen profilieren, vor allem der Göttinger Historikertag 1932 tagte unverkennbar unter dem Zeichen aggressiv formulierter nationaler Ansprüche18, nicht zuletzt den Internationalen Historikertag in Warschau 1933 vorbereitend.19 Flankiert wurde die zunehmende politische Radikalisierung von Historikerschaft wie Historikertagen – zu der auch die allerdings gescheiterten Versuche der Abhaltung einer Tagung im besetzten Rheinland zählten – von einer gleichzeitigen institutionellen Erstarrung der Verbandstrukturen. Vor allem die teils jahrzehntelangen Mitgliedschaften im Verbandsausschuss führten auf dem Göttinger Historikertag zum wesentlich von Hans Rothfels angeführten Aufbegehren gegen eine lähmende Kontinuität, zuallererst wurde ein „Revirement“ des Ausschusses durch die erhöhte Zuwahl neuer Mitglieder eingefordert.20 Die schließlich erfolgte Aufnahme von unter anderem Fritz Hartung, Gerhard Ritter, Percy Ernst Schramm wie auch Rothfels leitete einen generationellen Wechsel in der Führung des Verbandes ein, dessen Fortführung jedoch kaum ein halbes Jahr darauf mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten zum Abbruch kam. Wenn auch der Historikertag, so resümierte Peter Schumann, es nicht vermocht habe, die „ganze Spannweite der deutschen historischen Forschung und Lehre, die Vielzahl ihrer Lehrmeinungen und Methoden angemessen und gerecht“ darzustellen, so könne er doch zugleich durchaus als „Repräsentation der deutschen Geschichtswissenschaft“ gelten.21 Unzweifelhaft zählen die Historikertage wie auch der diese ausrichtende Verband Deutscher Historiker bis 1933 zu den bedeutendsten Institutionalisierungen der historischen Disziplin in Deutschland.22
17 Zum „Wettbewerb“ deutscher und polnischer Historiographie vgl. Jan M. Piskorski (Hg.), Deutsche Ostforschung und polnische Westforschung im Spannungsfeld von Wissenschaft und Politik. Disziplinen im Vergleich, Osnabrück/Poznan 2002. 18 Arnd Reitemeier, Der 18. Deutsche Historikertag 1932 in Göttingen und die politische Radikalisierung der Geschichtswissenschaft, in: Göttinger Jahrbuch 59/2011, 105–136. 19 Der Warschauer Historikertag hat vor allem in der Diskussion um die Rolle deutscher Historiker in der NS-Zeit Aufmerksamkeit gefunden, vgl. Ingo Haar, Historiker im Nationalsozialismus. Deutsche Geschichtswissenschaft und der „Volkstumskampf“ im Osten, Göttingen 22002, 116–126, 135–139. 20 Bericht über die achtzehnte Versammlung Deutscher Historiker in Göttingen, 2. bis 4. August 1932. München/Leipzig 1933, 23. 21 Schumann, Historikertage (wie Anm. 9), 435. 22 Zur Verbandsentwicklung im Jahr der nationalsozialistischen Machtergreifung vgl. Matthias Berg, Der Verband Deutscher Historiker im Jahr 1933, in: VHD Journal 2/2014, 60–65.
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2 EINE „VERBANDSLOSE“ DEKADE? Die „Karenzzeit“ der deutschen Geschichtswissenschaft nach dem Zusammenbruch 1945 wird im Allgemeinen auf zwei bis drei Jahre bemessen, spätestens seit Sommer 1948 rotierte die sprichwörtliche „Mitläuferfabrik“23 auf Hochtouren. Die wegen ihres Engagements im Nationalsozialismus, zumeist abgelesen an formalen Kriterien wie der Mitgliedschaft in der NSDAP oder dem NS-Dozentenbund, von den Alliierten Besatzungsbehörden vorerst aus dem Staatsdienst entlassenen Historiker kehrten auf dem einen oder anderen Wege fast ausnahmslos in den Wissenschaftsbetrieb zurück. Der Historikerverband allerdings hatte weitaus länger pausiert, bereits der letzte Historikertag – 1937 in Erfurt – war vom Verband lediglich mit veranstaltet worden. Eingeladen hatten, neben dem Verband, das Reichsinstitut für ältere deutsche Geschichtskunde, die frühere Monumenta Germaniae Historica, sowie das Reichsinstitut für Geschichte des neuen Deutschlands, dessen Präsident Walter Frank die Tagung programmatisch dominierte. Auch für die deutsche Vertretung auf dem Internationalen Historikertag in Zürich im Jahr darauf zeichnete der Verband nicht mehr allein verantwortlich, Vortragende und Teilnehmer der deutschen Delegation mussten durch das Reichswissenschaftsministerium genehmigt werden. Nunmehr funktionslos, verschwand der Historikerverband nach 1938 aus der öffentlichen Wahrnehmung. Zwischen 1933 und 1937 hatte sich der amtierende Verbandsvorsitzende Karl Brandi noch keineswegs widerstandslos in die drohende Marginalisierung gefügt, alle Versuche zur Etablierung neuer und alter Funktionen, auch zur eigenständigen Veranstaltung eines Historikertages, waren jedoch letztlich gescheitert.24 „Erkennend kämpfen und kämpfend erkennen, und im Erkennen und Kämpfen die Seele der Nation zu formen – das ist Inhalt und Wesen dieser Geschichtsschreibung“. Noch bevor sein institutioneller Aufstieg begann, hatte Walter Frank im Herbst 1934 in militärischem Duktus, im „Gleichschritt“ von Kampf und Erkenntnis das Werk Heinrich von Treitschkes zu beschreiben gesucht und zugleich seine Vorstellung einer nationalsozialistischen Geschichtswissenschaft konturiert.25 Weniger historiographische Programmschrift als politischer Aufruf, wurde Franks „Kämpfende Wissenschaft“ zum Schlagwort einer Geschichtswissenschaft, die sich dem NS-Staat verschrieb. Nach ersten Erfolgen allerdings, vor allem der Umwandlung der Historischen Reichskommission in das Reichsinstitut für Geschichte des
23 So Lutz Niethammers Formulierung, zunächst entwickelt unter einem eher nüchternen Titel, vgl. Entnazifizierung in Bayern. Säuberung und Rehabilitierung unter amerikanischer Besatzung, Frankfurt am Main 1972. Zum Wissenschaftsbereich vgl. Mitchell G. Ash, Verordnete Umbrüche – Konstruierte Kontinuitäten. Zur Entnazifizierung von Wissenschaftlern und Wissenschaften nach 1945, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 43/1995, 903–924. 24 Vgl. Matthias Berg, „Eine grosse Fachvereinigung“? Überlegungen zu einer Geschichte des Verbandes Deutscher Historiker zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 64/2013, 153–163, hier 160–162. 25 Walter Frank, Kämpfende Wissenschaft. Mit einer Vorrede des Reichsjugendführers Baldur von Schirach, Hamburg 1934, 15.
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neuen Deutschlands, verstrickten sich Frank und seine Mitstreiter in zahllose Kontroversen und gerieten zudem mit ihrem Anspruch der selbst „Geschichtemachenden“ in Konflikte mit Vertretern und Behörden des NS-Staates. Der angebotene historiographische Nachhilfeunterricht in Sachen nationalsozialistischer Weltanschauung war nicht gefragt, vor allem dieses Missverständnis über seine Rolle als Historiker im Nationalsozialismus sollte auch Walter Frank noch während der NSHerrschaft sämtliche Ämter kosten.26 Durchaus aber waren die Protagonisten des Reichsinstituts bemüht, den Erfurter Historikertag nicht nur der Zählung nach – es war die neunzehnte Tagung – in die Tradition der „Versammlungen deutscher Historiker“ einzuschreiben. Insbesondere Frank versuchte, das Treffen als traditionsgebundene Amtsübergabe an die nationalsozialistische Geschichtswissenschaft zu inszenieren, bezeichnete den Historikertag in Analogie zur Politik als „Tag von Erfurt“.27 Dem Tagungsprogramm hatte der Kreis um Frank seinen Stempel aufgedrückt, nicht zuletzt mit einem Vortrag des „Judenforschers“ Wilhelm Grau zum „Haus Rothschild“. Hingegen löste der vom erwünschten Geschichtsbild abweichende Beitrag des Althistorikers Alexander von Stauffenberg heftige Diskussionen aus.28 Im Tagungsbericht Erich Botzenharts, Mitarbeiter des Frankschen Reichsinstituts, blieb die Kontroverse um Stauffenberg unerwähnt, gleichwohl suchte der Bericht im betont nüchternen Tonfall den wissenschaftlichen Gehalt des Historikertages zu betonen. Wo die Messlatte lag, hatte Botzenhart eingangs unmissverständlich ausgeführt. In Erfurt müsse sich erweisen, ob „die deutsche Geschichtswissenschaft in den verflossenen vier Jahren unter dem ‚Druck einer erzwungenen Gleichschaltung‘ der ‚geistigen Erstarrung‘ und dem ‚geistigen Verfall‘ zum Opfer gefallen“ sei, ob sich lediglich ein „aktions- und leistungsunfähiges Rumpfparlament versammeln“ würde.29 Wenig überraschend verneinte Botzenhart dies, im formulierten Anspruch ist jedoch, im Spiegel der achtzehn Historikertage zuvor, der Erfurter Historikertag einzuschätzen. Eine plurale, frei zugängliche, offen diskutierende, zudem öffentlich gegebenenfalls gelobte oder kritisierte Tagung konnte es unter den Bedingungen des NSStaates nicht geben. Eine solche war, angesichts der von Frank eingeforderten, „völkischen“ Standortgebundenheit des Historikers, wohl auch kaum beabsichtigt. Die im Jahr darauf auf dem Internationalen Historikertag in Zürich Aufsehen erre-
26 Zur Karriere Franks vgl. weiterhin: Helmut Heiber, Walter Frank und sein Reichsinstitut für Geschichte des neuen Deutschlands, Stuttgart 1966. 27 Walter Frank, Historie und Leben. Rede zur Eröffnung des Erfurter Historikertages am 5. Juli 1937, Hamburg 1937, 5; vgl. auch Steffen Raßloff, Zwischen „alter“ und „neuer“ Geschichtswissenschaft. Der 19. Deutsche Historikertag 1937 in Erfurt, in: Mitteilungen des Vereins für die Geschichte und Altertumskunde von Erfurt N. F. 15/2007, 107–114. 28 Stauffenberg hatte Theoderich den Großen als „letzten römischen Herrscher“ wie „ersten und einzigen Germanen als Gebieter des römischen Abendlandes“ gezeichnet, mit dieser „Akzentuierung“ die „Apologeten des rassisch fundierten, germanischen Faktors im nationalsozialistischen Geschichtsbild“ provoziert, vgl. Karl Christ, Der andere Stauffenberg. Der Historiker und Dichter Alexander von Stauffenberg, München 2008, 121. 29 Erich Botzenhart, Der 19. deutsche Historikertag in Erfurt 5. bis 7. Juli 1937, in: Historische Zeitschrift 156/1937, 659–667, Zitate 659.
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gende Kontroverse zwischen Gerhard Ritter und Otto Scheel markierte den Kontrapunkt30, weitere Historikertage, weder im nationalen noch im internationalen Rahmen, fanden bis 1945 nicht statt. Da der Historikerverband zunächst zur Untätigkeit sowie schließlich zum zumindest öffentlichen Verschwinden verurteilt blieb31, kann spätestens ab 1938 durchaus von einer „verbandslosen“ Dekade gesprochen werden – von einem „tagungslosen“ Zeitraum hingegen nicht. Gerhard Ritter, ab 1949 erster Vorsitzender des „neuen“ Verbandes der Historiker Deutschlands und prägende Figur der Geschichtswissenschaft der Nachkriegszeit, bettete in seiner, anlässlich des Bremer Historikertages 1953 erschienenen, Reflexion der Geschichte der Historikertage auch eine unter anderem Namen auftretende „Tagungsreihe“ ein. Nach dem gescheiterten Versuch von Erfurt sei die Disziplin, ohne Frank und das Reichsinstitut, nur „noch in kleinen, von Theodor Mayer und Walter Platzhoff organisierten, mehr oder weniger privaten Treffen (in Weimar und Nürnberg)“ zusammengekommen.32 Beiläufig hatte Ritter den „Kriegseinsatz der Geisteswissenschaften“ zu oppositionellen Gegentagungen umgewidmet und in die Geschichte der Historikertage eingeschrieben. Dies allerdings nicht völlig zu Unrecht, im Vergleich mit anderen Disziplinen „ragt“ der Einsatz der Historiker „in zweifacher Hinsicht über diese hinaus. Kein anderes Fach hat so oft getagt und fast alle namhaften Fachvertreter eingebunden, aber auch Außenseitern eine Chance gelassen.“33 Unter dem Rubrum der „Kriegswichtigkeit“ und ebenfalls nicht offen zugänglich – zur Teilnahme an den Tagungen wurde persönlich eingeladen – waren diese Treffen, im Gegensatz zum traditionellen Historikertag, eine dem nationalsozialistischen Wissenschaftsbetrieb konforme Versammlungsart und fanden deshalb in den folgenden Jahrzehnten bundesrepublikanischer Geschichtswissenschaft auch weitaus seltener derart offenherzig Erwähnung. Als Anknüpfungspunkt aber boten sie für Gerhard Ritter eine Chance, die in der Historikertagsgeschichte klaffende Lücke ein wenig zu schließen und eine institutionelle Kontinuität der Tagungen deutscher Historiker zumindest anzudeuten.
30 Vgl. Cornelißen, Gerhard Ritter (wie Anm. 3), 252–261. 31 Die Mitarbeit im Internationalen Komitee und seinen Kommissionen wurde fortgesetzt, nach Kriegsbeginn jedoch deutlich vermindert und zunehmend eingestellt. 32 Wenn auch „nicht ohne qualvolle Kompromisse einzelner Redner und starke innere Hemmungen in der Diskussion.“ Vgl. Gerhard Ritter, Die deutschen Historikertage. Zur 22. Versammlung deutscher Historiker in Bremen vom 17. – 20. September 1953, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 4/1953, 513–521, hier 517. 33 Zum „Kriegseinsatz“ der Historiker vgl. Frank-Rutger Hausmann, „Deutsche Geisteswissenschaft“ im Zweiten Weltkrieg. Die „Aktion Ritterbusch“ (1940–1945), Heidelberg 32007, 154– 198, Zitat 195. Dort auch zu Ritters Einsatz, vgl. zudem Christoph Cornelißen, Im Einsatz für die „wahre Volksgemeinschaft“. Der Historiker Gerhard Ritter im Nationalsozialismus, in: Gerhard Hirschfeld / Tobias Jersak (Hgg.), Karrieren im Nationalsozialismus. Funktionseliten zwischen Mitwirkung und Distanz, Frankfurt am Main/ New York 2004, 319–339.
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3 NEUANFANG ODER WIEDERBEGINN? DIE GRÜNDUNG DES VERBANDES DER HISTORIKER DEUTSCHLANDS Im November 1948 berichtete Gerhard Ritter an Ludwig Dehio, designierter neuer Herausgeber der Historischen Zeitschrift, dass in München anlässlich einer Tagung der dortigen Historischen Kommission und der Monumenta Germaniae Historica die „Neugründung eines deutschen Historikerverbandes beschlossen“ worden sei, der „die Aufgabe des alten Verbandes deutscher Historiker übernehmen“ solle. Er selbst sei zum ersten, Hermann Aubin zum zweiten Vorsitzenden, Hermann Heimpel zum Schriftführer und Herbert Grundmann zum Schatzmeister gewählt worden. Die Verbandsgründung sei „notwendig geworden, weil wir inzwischen vom internationalen Historikerverband zur Beteiligung (...) aufgefordert worden sind.“34 Sowohl die Vorbereitung dieser Initiative wie auch die näheren Umstände ihrer Umsetzung bis zur formalen Gründung des VHD auf dem Münchner Historikertag 1949 sind hinreichend erforscht worden und bedürfen keiner erneuten Darstellung.35 Ritters Hinweis – bezeichnenderweise im Singular – auf die auszufüllende „Aufgabe“ des alten Verbandes wie auch der Anlass des Engagements – die vakante internationale Stellung – verdeutlichen in zwei wesentlichen Punkten das unmittelbare Anknüpfen an die Verbandstradition. Zur Veranstaltung der Historikertage wie zur internationalen Vertretung bedurfte die Disziplin auch nach 1945 einer Fachvereinigung. Dieser unzweifelhaften Kontinuität sollte die deutsche Geschichtswissenschaft in inhaltlicher Hinsicht bei ihrem ersten öffentlichen Auftritt als Disziplin jedoch nur bedingt folgen, wünschte Gerhard Ritter in seiner Vortragseinladung an Rudolf Stadelmann. Die „Gesamtplanung“ für den Historikertag in München ziele darauf ab, öffentlich „zu dokumentieren, wie wir uns die Erneuerung deutscher Historie denken: keine Totalrevision im Sinne fremder Zumutungen, aber auch nicht einfach der alte Trott.“36 Die zeitgleich zu den Vortragseinladungen verlaufende Vorbereitung der Verbandsgründung folgte ähnlichen Prämissen, weder „Totalrevision“ noch „der alte Trott“. Auf jeden Fall aber, wandte sich Ritter an Hermann Heimpel, könne das „alte Statut des Verbandes deutscher Historiker nicht unverändert“ bleiben, es sei „viel zu umständlich“.37 Auch Hermann Aubin monierte frühere Strukturen wie den „Riesenausschuss“, er hielte einen kleineren Vorstand mit wenigen Beisitzern für empfehlenswert.38 Alle an der Verbandsgründung beteiligten Historiker wünschten dringend eine verbesserte Handlungsfähigkeit des Verbandes, die etablierte Differenzierung von Ausschuss und Vorstand sollte einen „Mangel“ des früheren Verbandes, seine heterogene und damit wenig effiziente Führungsstruktur, offenkundig beheben. Zu straff wiederum durfte diese Führung nicht erscheinen, der Vorstand solle, so Ritter, nicht identisch mit dem Vorsitzenden wirken, dies 34 35 36 37 38
AVHD, Korr. 1a, Gerhard Ritter an Ludwig Dehio v. 8.11.1948. Vgl. Schulze, Deutsche Geschichtswissenschaft (wie Anm. 5). AVHD, Korr. 1a, Gerhard Ritter an Rudolf Stadelmann v. 26.12.1948. AVHD, Korr. 1, Gerhard Ritter an Hermann Heimpel v. 8.11.1948. AVHD, Korr. 1, Hermann Aubin an Hermann Heimpel v. 8.12.1948.
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sehe „zu sehr nach Führerprinzip“ aus.39 Der sich über mehr als fünf Jahrzehnte erstreckende Erfahrungshorizont der Verbandsgeschichte bot ebenso lehrreiche Anschauung wie heikle Fallstricke. Bezüglich seiner Führungsstruktur brach der „neue“ Verband signifikant mit den Traditionen seiner Vorgängerorganisation, neben der Einrichtung eines die alltäglichen Geschäfte führenden Vorstandes erfuhr vor allem die Position des Verbandsvorsitzenden eine dezidierte Aufwertung. Bis 1945 war der Vorsitz des Verbandes stets direkt mit dem nächsten Tagungsort verknüpft worden, Verbandsvorsitzender wurde immer ein Historiker, der entweder am Ort oder zumindest nahegelegen des nächsten Historikertages tätig war. Dies führte von der Verbandsgründung 1895 bis zum Ersten Weltkrieg zu elf verschiedenen Vorsitzenden, nach der Unterbrechung durch den Krieg amtierten zwischen dem Beginn der 1920er Jahre und 1933 wiederum nicht weniger als sechs Vorsitzende. Für die Stellung des Verbandes innerhalb der Disziplin war dies fraglos nicht von Vorteil. Für den Verband der Historiker Deutschlands wurde diese Verknüpfung von Vorsitz und Tagungsort nicht wieder aufgegriffen.40 Die Namen der Verbandsvorsitzenden der 1950er und 1960er Jahre – Gerhard Ritter, Hermann Aubin, Hans Rothfels, KarlDietrich Erdmann und Theodor Schieder – belegen eindrücklich, wie nun der Verbandsvorsitz den Rang einer führenden Stellung in der deutschen Geschichtswissenschaft gewann. Vor allem am Beispiel Schieders wird dies deutlich, der Herausgabe der Historischen Zeitschrift seit 1957 und der Präsidentschaft der Münchner Historischen Kommission seit 1964 fügte Schieder schließlich 1967 auch den Verbandsvorsitz hinzu. Dieser zählte nun zum „Portfolio“ eines fachlich wie institutionell die Disziplin führenden Historikers, für die Stellung des Verbandes in der Disziplin ist diese personale Verbindung zu konkurrierenden Institutionen, die festere Einbindung in die Machtstrukturen des Faches, wohl nicht zu unterschätzen. Zugleich aber knüpfte der VHD mit seinen ersten drei Vorsitzenden auch an unterbrochene, nun gleichsam „restaurierte“ Traditionslinien des Verbandes an. Mit Gerhard Ritter und Hans Rothfels zählten zwei der 1932 auf dem Göttinger Historikertag auf eine Verjüngung im Ausschuss Drängenden zu den ersten Verbandsvorsitzenden (Ritter 1949 bis 1953, Rothfels 1958 bis 1962). Auch der zwischen beiden amtierende Hermann Aubin war bereits zwei Jahrzehnte zuvor als Vorsitzender in den Blick genommen worden. Der von seinen Bemühungen um eine Etablierung des Verbandes im nationalsozialistischen Wissenschaftssystem ermüdete Karl Brandi hatte Aubin im Mai 1935 den Vorsitz angetragen, dieser vereinige in seiner Person
39 AVHD, Korr. 1, Gerhard Ritter an Hermann Heimpel v. 9.12.1948. 40 Diese für die Entwicklung des VHD wesentliche Änderung scheint allerdings keineswegs frühzeitig festgelegt worden zu sein, noch im Mai 1949 begründete der amtierende Schatzmeister Herbert Grundmann seine vorläufige Einrichtung eines Kontos an seinem Wohnort Münster damit, dass der „Verbandssitz damals noch nicht festlag und möglicherweise mit dem Vorsitzenden wechseln wird.“ Vgl. AVHD, Box Verschiedenes (1948–54), Mappe VHD 1948–1953, Herbert Grundmann an Gerhard Ritter v. 26.5.1949.
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Matthias Berg „für den Historikerverband sehr wichtige Eigenschaften. Sie sind anerkannt als Gelehrter und Lehrer, Mitglied der Münchener Kommission, Deutscher Professor und Sudetendeutscher von Abstammung, zugleich im Rheinland und im Osten erfahren“.41
Aubin reagierte ausgesprochen zögerlich auf dieses Angebot, doch kam es bis 1945 ohnehin weder zu einer Mitgliederversammlung des Verbandes noch zur Wahl eines neuen Vorsitzenden.42 Doch, was um 1930 als innovativ und modern gegolten haben mag, sich gegen den Widerstand der Altvorderen durchsetzen musste, erschien nun rasch restaurativ, inhaltlich wie personell. Noch bevor Gerhard Ritter auf dem Münchner Historikertag von der ersten ordentlichen Mitgliederversammlung des VHD zum Verbandsvorsitzenden gewählt werden konnte, hatte er die nun nachdrängende, jüngere Generation einflussreicher Historiker gegen sich aufgebracht. Im Juni 1949 sah sich Ritter genötigt, zu betonen, dass er bemüht sei „die Geschäfte als Verbandsvorsitzender nicht selbstherrlich, sondern in steter Fühlungnahme mit dem Vorstand“ zu führen.43 Dies hielt seine Vorstandskollegen Herbert Grundmann und Hermann Heimpel nicht davon ab, Ritters Fähigkeiten in Zweifel zu ziehen. Nach Friedrich Baethgen, so berichtete Grundmann an Heimpel im Juli, habe Ritter „in der Handhabung der Geschäfte bisher keine sehr glückliche Hand bewiesen“. Grundmann selbst, soweit waren die Überlegungen bereits vorangeschritten, könne den Verbandsvorsitz wegen zahlloser Belastungen nicht übernehmen, zumal besser ein Neuzeithistoriker „an der Spitze des Verbandes“ stünde.44 Hingegen nahm Heimpel an, ein Mediävist könne sich als günstig erweisen, da dieser „den politischen Gegensätzen leichter zu entrücken ist als ein Neuzeitler.“ Seine Erwägungen gab Heimpel an Baethgen weiter, verbunden mit der Frage, ob dieser eventuell als Verbandsvorsitzender antreten würde. Die Frage sei, ob man Ritter „in einer geeigneten Form“ motivieren könnte, in München „auf seine Bestätigung zu verzichten.“45 Letztlich aber entfiel der „Aufstand“ gegen Ritter, der nicht zuletzt mit dem beharrlich gegen alle Widerstände vertretenen Wunsch, doch künftig als „Deutscher Historikerverband“ zu firmieren, die Nerven seiner Vorstandskollegen strapaziert hatte.46
41 Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, NL Karl Brandi 47, Nr. 296, Karl Brandi an Hermann Aubin v. 23.5.1935. 42 Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, NL Karl Brandi 1, Nr. 238, Hermann Aubin an Karl Brandi v. 23.8.1935. Vgl. auch Eduard Mühle, Für Volk und deutschen Osten. Der Historiker Hermann Aubin und die deutsche Ostforschung, Düsseldorf 2005. Brandis Nachfolger Walter Platzhoff war 1936, den Usancen des NS-Staates entsprechend, vom Reichswissenschaftsministerium zum Verbandsvertreter im Allgemeinen Deutschen Historikerausschuss berufen worden und hatte 1937 den Verbandsvorsitz ohne Wahl übernommen, vgl. Berg, „Eine grosse Fachvereinigung“? (wie Anm. 24), 161f. 43 AVHD, Korr. 1, Gerhard Ritter an Mitglieder des Verbandsvorstandes v. 16.6.1949. 44 AVHD, Korr. 1, Herbert Grundmann an Hermann Heimpel v. 29.7.1949. 45 AVHD, Korr. 1, Hermann Heimpel an Friedrich Baethgen v. 30.7.1949. 46 Auch in seinem Briefkopf verwendete Ritter zeitweise diesen Namen, vgl. eine Reihe von Schreiben sowie die Auseinandersetzung zwischen Ritter, Grundmann und Heimpel in: AVHD, Korr. 1. Zum Widerstand gegen Ritter vgl. auch Schulze, Deutsche Geschichtswissenschaft
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Die Folgen einer strukturell gestrafften, im Gegensatz zum früheren Verband weitaus weniger in einem Kollegium vereinten Verbandsführung waren an der konfliktfreudigen Person Ritters ablesbar, doch blieb auch in weniger individuell konturierten Fragen die Verbandsgeschichte respektive die sie prägenden Problemstellungen präsent. Bald nach Bekanntgabe der Gründungsinitiative musste sich Ritter an den vorläufigen Vorstand wenden: Ein Kollege habe ihn darauf aufmerksam gemacht habe, dass sich „unter uns kein Katholik befinde, was Empfindlichkeit erregen könne“. Für Ritter war die konfessionelle Zusammensetzung des Vorstandes „vollkommen zufällig und sachlich gleichgültig“47, für die Geschichte der Geschichtswissenschaft in Deutschland und fraglos auch für die Entwicklung ihrer Fachvereinigung jedoch war der Gegensatz zwischen einer tendenziell norddeutsch, vor allem aber protestantisch geprägten Fachelite und den süddeutsch-katholischen Außenseitern, die den Verband um die Jahrhundertwende ins Leben gerufen hatten, durchaus von Relevanz. Wohl ob ihres Wissens um die mögliche Sprengkraft eines konfessionell grundierten Konflikts waren Ritters Kollegen bemüht, die Existenz des Problems schlichtweg zu bestreiten.48 Da, angesichts des geplanten Historikertags in München, auch das Fehlen eines ortsansässigen Historikers im Vorstand bemängelt wurde, zugleich aber die Zielsetzung eines möglichst wenige Personen umfassenden Führungsgremiums nicht hintangestellt werden sollte, trug man in einer salomonischen Lösung dem Münchner und Katholiken Franz Schnabel den Tagungsvorsitz an. Auch in der Vorbereitung des Münchner Kongresses, in den geäußerten Wünschen zum Ablauf und Stil des ersten Historikertages nach 1945, spiegelten sich Erfahrungen mit den früheren Versammlungen. Einem pluralen, breitere historisch interessierte Kreise anziehenden Rahmen konnte Hermann Heimpel nichts abgewinnen: „Die Masse war bei bisherigen Tagungen immer ein Hindernis. Es kommt auf repräsentative Qualität an.“49 Mit diesem Wunsch nach elitärer Abschließung jedoch konkurrierte die Hoffnung auf eine, die frühere Verbandsgeschichte positiv aufgreifende Einbindung der Geschichtslehrer. Zumindest Gerhard Ritter verwarf nach ersten Sondierungen mit dem ebenfalls wieder entstehenden Geschichtslehrerverband seine Bedenken, „unsere Tagung durch wissenschaftlich unproduktive Oberlehrer zu überfluten“.50 Die Satzungsberatungen allerdings, dass lehrte Ritter offenbar unselige Erfahrung, solle man in eine Kommission auslagern, damit „nicht ein so endloses Gerede darüber entsteht, wie auf der Göttinger Plenarversammlung
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(wie Anm. 5), 164–166; zur prägenden Rolle Ritters, insbesondere zur Einbindung in die Reorganisation der internationalen Geschichtswissenschaft, zudem Cornelißen, Gerhard Ritter (wie Anm. 3), 437–457. AVHD, Korr. 1a, Gerhard Ritter an Hermann Aubin v. 24.11.1948. „Wenn man erst nachträglich merkte, daß es lauter Nicht-Katholiken sind, so spricht das doch in klarster Weise für die konfessionelle Unbefangenheit dieser Beschlüsse“. Vgl. AVHD, Box Verschiedenes (1948–54), Mappe VHD 1948–1953, Herbert Grundmann an Gerhard Ritter v. 29.11.1948. AVHD, Korr. 1, Hermann Heimpel an Gerhard Ritter v. 27.2.1949. AVHD, Box Verschiedenes (1948–54), Mappe VHD 1948–1953, Gerhard Ritter an Hermann Aubin u.a. v. 9.5.1949.
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1932.“51 Zuallererst jedoch, darin waren sich alle Protagonisten der Verbandgründung einig, müsse der Historikertag „wissenschaftlichen Charakter“ haben.52 Entsprechend klassifizierte Ritter die Vorschläge des Münchner Ortsausschuss zu gesellschaftlichen Treffen kurz und bündig, dies „gäbe also dann eine Vergnügungskeine Arbeitstagung.“53 Kritik an der zu geselligen, wenig arbeitsorientierten Form der Treffen hatte die Historikertage seit dem Kaiserreich begleitet. Nun, angesichts in vielfältiger Form unterbrochener Kontinuität, gewann das Bedürfnis nach vornehmlich fachlicher Präsentation zusätzlich an Rang. Entsprechend regte Hermann Heimpel bei Franz Schnabel für den Münchner Historikertag eine Buchausstellung an: „Es wäre doch schön, einmal sichtbar werden zu lassen, dass vor und nach der Katastrophe Gutes gearbeitet worden ist.“54 Jenseits der Ausstellung disziplinärer Leistungen „vor und nach der Katastrophe“ aber hatten sich Verband wie Historikertag auch der Zeit innerhalb der Rahmung Heimpels zu stellen. Zuallererst, da unterschied man sich nicht von anderen Institutionen, war zu klären, wer angesichts früheren Wirkens noch als zugehörig zählen durfte. Wenig überraschend angesichts der Entnazifizierungsverfahren, die der überwiegende Teil der Universitätshistoriker zu durchlaufen hatte, begleitete die Frage, welche „politischen Voraussetzungen wir an die Mitgliedschaft zu knüpfen haben“, die Gründungsberatungen von Beginn an.55 Wenige Wochen darauf stand eine präzise Antwort weiter aus, es sei aber nur die Mitgliedschaft von „politisch schwerer ‚Belasteten‘“ auszuschließen.56 Nachdem aber im Zuge der Anmeldung des Verbandes seitens der Besatzungsbehörden keinerlei „Vorschriften bezgl. der Aufnahme von Mitgliedern (politische Haltung usw.)“ gemacht wurden57, unterblieb eine ausdrückliche Regelung dieses fraglos heiklen Punktes gänzlich.58 Genügen konnte dieses, das allen Beteiligten wohlbekannte Wissen um das jeweilige Engagement im Nationalsozialismus schlicht aussparende Vorgehen, jedoch nur im engeren nationalen Rahmen. Wesentlicher Anlass für die Initiative zur Verbandsgründung war aber die mögliche deutsche Beteiligung am Pariser Internationalen Historikertag 1950. Entsprechend sah sich der Verbandsvorsitzende genötigt, eine vertrauliche Frage an den Schriftführer zu formulieren. Dieser, Hermann Heimpel, sei ebenso wie Percy Ernst Schramm als Mediävist in Paris „ganz unentbehrlich“, doch müsse man wegen letzterem „Befürchtungen“ hegen, sei 51 AVHD, Korr. 1, Gerhard Ritter an Hermann Heimpel u. a. v. 24.6.1949. 52 Deshalb verbiete sich auch eine Verlegung in die Frankfurter Paulskirche (vor der Festlegung für München war, auch Bezugnehmend auf den ersten Historikertag nach dem Ersten Weltkrieg, Frankfurt als Tagungsort in Erwägung gezogen worden). Vgl. AVHD, Box Verschiedenes (1948–54), Mappe VHD 1948–1953, Protokoll über die Sitzung des vorläufigen Ausschusses des Verbandes der Historiker Deutschlands in Frankfurt/Main am 5./6.2.1949. 53 AVHD, Korr. 1, Gerhard Ritter an Mitglieder des Vorstandes v. 16.6.1949. 54 AVHD, Korr. 1, Hermann Heimpel an Franz Schnabel v. 14.7.1949. 55 AVHD, Korr. 1, Gerhard Ritter an Hermann Heimpel v. 8.11.1948. 56 AVHD, Korr. 1, Gerhard Ritter an Hermann Heimpel v. 25.11.1948. 57 AVHD, Korr. 1a, Gerhard Ritter an Herbert Grundmann u.a. v. 9.12.1948. 58 Vgl. die auf dem Münchner Historikertag beschlossene Satzung, abgedruckt in: Bericht über die 21. Versammlung deutscher Historiker in Marburg/Lahn, 13. – 16. September 1951, Stuttgart o. J., 46–50, zu den Vorrausetzungen für eine Mitgliedschaft vgl. § 10.
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Schramm SA-Sturmführer gewesen? Oder würde Heimpel für Paris Reinhard Wittram vorschlagen?59 Dies würde er, eröffnete Heimpel seine Antwort, keinesfalls tun. Hingegen sei die Frage bei Schramm wie auch bei ihm selbst schwieriger zu beantworten, seine Lehrtätigkeit an der „Reichsuniversität Straßburg“ jedoch verteidigte Heimpel offensiv.60 Im Gegensatz dazu befand der ebenfalls von Ritter um Rat gebetene Friedrich Baethgen, ausdrücklich bezogen auf Schramm, dass „diejenigen, die nun einmal in der Partei waren, jetzt das kleine Opfer bringen sollten, sich einige Jahre im Hintergrund zu halten.“ Bei den Betreffenden finde man dafür selten Verständnis, doch sei man „im Ausland“ nicht geneigt „so schnell zu vergessen, wie wir es tun.“61 Im Handumdrehen befand sich der Verband, wenn auch vorerst nur bezogen auf die nach Paris zu entsendende Kollegen, in eben jener Diskussion, die in Universitäten, Kommissionen und Akademien tunlichst vermieden wurde. Welches Maß an „Belastung“ sei wie zu gewichten, noch zu tolerieren oder führe zum Ausschluss – jenseits der Urteile der Spruchkammerverfahren, die zum Zeitpunkt dieser Diskussion noch in größerem Umfang liefen. Folgerichtig unterblieb im nationalen Rahmen, den der Verband und seine Akteure eigenständig füllen konnten, eine Beantwortung der formulierten Frage nach den „politischen Voraussetzungen“ für eine Mitgliedschaft.62 Mehr noch, der Verband übernahm in dieser Hinsicht eine geradezu „integrative“ Funktion. Selbstredend unterschieden sich die deutschen Historiker in der Nachkriegszeit in ihrem beruflichen und rechtlichen Status, in ihren Zugangs- und Partizipationsrechten. Zwischen in ihrer Berufspraxis vollkommen Unbeschränkten und weitgehend „Ausgeschlossenen“ existierte ein breites Spektrum an Variationen. Beim Verband aber, auf den Historikertagen, durfte nahezu jeder partizipieren – ob Ernst Anrich, Günther Franz oder Reinhard Wittram.63 Auch Karl Alexander von Müller, der als einflussreichster wie prominentester Historiker im Nationalsozialismus in besonderem Maße zum nicht zuletzt symbolisch aufgeladenen Gradmesser für den Umgang von Institutionen mit ihrer NS-Vergangenheit geworden war. Während Müller publizistisch durchaus reüssieren konnte, erlangte er eine formale Emeritierung nur nach einem Jahrzehnt mühevollsten Engagements, in einst geleitete wissenschaftli-
59 AVHD, Korr. 1, Gerhard Ritter an Mitglieder des Vorstandes v. 9.5.1949, gesonderter Nachsatz im Schreiben an Hermann Heimpel. 60 AVHD, Korr. 1a, Hermann Heimpel an Gerhard Ritter v. 12.5.1949. 61 AVHD, Korr. 1a, Friedrich Baethgen an Gerhard Ritter v. 23.5.1949. 62 Zuvor hatte sich Ritter beim Nationalökonomen Gerhard Albrecht erkundigt, wie beim Verein für Sozialpolitik verfahren worden sei. Eine politische Überprüfung finde nicht statt, antwortete Albrecht, doch habe man nur Kollegen eingebunden, bei „denen nach unserer Kenntnis eine schwere politische Belastung nicht vorliegt.“ Die Vertreter des Faches, denen man die Aufnahme „ihrer politischen Vergangenheit wegen“ nicht gewähren könne, seien „uns so gut bekannt, dass kaum ein Versehen zu befürchten“ wäre. Vgl. AVHD, Korr. 1a, Gerhard Albrecht an Gerhard Ritter v. 15.1.1949. 63 Vgl. die für die Historikertage von Marburg 1951, Bremen 1953 und Ulm 1956 in den Berichtsheften öffentlich abgedruckten Mitgliederlisten.
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che Institutionen wie die Bayerische Akademie der Wissenschaften oder deren Historische Kommission durfte Müller nicht zurückkehren.64 Keineswegs war Müller, während er sich die Orte seiner Mitwirkung in der Disziplin noch hatte aussuchen können, als ein emsiger Besucher der Historikertage aufgefallen. In seiner mehr als fünfzig Jahre währenden Karriere nahm er an exakt zwei Historikertagen teil, 1913 in Wien als beflissener Nachwuchshistoriker, und 1949 in München als zumindest hier wieder geduldeter „Rekonvaleszent“.65
4 RÜCKBLICK UND AUSBLICK: DER 20. HISTORIKERTAG IN MÜNCHEN 1949 Im Verband der Historiker Deutschlands durfte Müller Mitglied sein. Die seltene Chance zur Rückkehr in die vermisste alte Rolle nutze er weidlich und formulierte in einer ganzen Reihe von Briefen seine Einschätzung der allgemeinen Lage der Geschichtswissenschaft wie auch seine Bewertung des Münchner Historikertages. Das „Ergebnis des Historikertages“ komme ihm, so Müller an seinen Schüler Kurt von Raumer, „im Rückblick nicht so gewichtig und vor allem nicht so lebendig vor, wie ich erhofft hatte. Beides gilt auch von Ritters Reformplänen: etwas kurzstilig und zünftlerisch, so als ob wir in einem festen Schiff mit friedlichen Winden führen. Ich fürchte, wir werden nicht so billig durchkommen.“66
Für die Geschichtswissenschaft der frühen Bundesrepublik übernahmen der Verband und die von ihm veranstalteten Historikertage, in dieser Hinsicht durchaus vergleichbar mit seiner frühen Geschichte um 1900, eine eminent wichtige, einbindende Rolle. Die Mitgliedschaft im Verband, ein Besuch auf dem Historikertag war von vergleichsweise niedrigem Rang, deshalb konnten auch schwierige „Fälle“ wie Müller oder Anrich toleriert werden, ohne jedoch damit eine vollständige Rehabilitation zu präjudizieren. Vor allem für die nicht, oder noch nicht, an die Universitäten zurückgekehrten Historiker nahm der Verband damit unter den außeruniversitären Organisationen der frühen bundesdeutschen Geschichtswissenschaft eine besondere Rolle ein. Notwendigerweise blickte Gerhard Ritter in seinem den Münchner Historikertag eröffnenden Vortrag vielfach zurück, lag doch der letzte eigenständig von einer Fachvereinigung der deutschen Geschichtswissenschaft veranstaltete Historikertag mittlerweile siebzehn Jahre zurück. Die „deutsche Historie“ habe die einstmalige „führende Rolle im öffentlichen Leben unserer Nation“ eingebüßt, man wünsche 64 Zur wissenschaftlichen Biographie Müllers vgl. Matthias Berg, Karl Alexander von Müller. Historiker für den Nationalsozialismus, Göttingen 2014. 65 Müller war dem Verband noch vor dem Historikertag beigetreten, vgl. AVHD, Korr. 1, Verzeichnis der Mitglieder des Verbandes der Historiker Deutschlands (Anmeldungen bis September 1949), 4, Nr. 140. 66 Universitäts- und Landesbibliothek Münster, NL Kurt von Raumer A 2,4, Karl Alexander von Müller an Kurt von Raumer v. 26.9.1949.
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sie sich, so Ritter, in der „ehemaligen Form“ auch nicht zurück: „Aber was wir wünschen müssen, ist nach wie vor, daß unsere Stimme überhaupt das Ohr der Nation erreicht“.67 Eine umfassende Revision vertrauter Grundsätze lehnte Ritter, abgesehen von kleineren Zugeständnissen, ab. Auf ihrem ersten Historikertag nach 1945 suchte die Disziplin die kontinuitätsversichernde Rückbindung an historiographische Traditionen, bis in die erste Hälfte der 1950er Jahre fand die deutsche Geschichtswissenschaft Halt am thematischen und methodischen Geländer des späten Kaiserreichs und der Weimarer Republik. Die Innovationsfreudigkeit des Faches blieb vorerst gebremst. Auf dem Münchner Historikertag fand dies seinen sinnfälligen Ausdruck im gefeierten Vortrag von Hans Rothfels über „Bismarck und das 19. Jahrhundert“. Nach 1933 wegen seiner jüdischen Herkunft stigmatisiert, aus dem Wissenschaftsbetrieb ausgeschlossen und schließlich in die Emigration gezwungen, bot Rothfels‘ Vortrag in verschiedener Hinsicht die Möglichkeit zur vermeintlichen „Versöhnung“. Biographisch und thematisch – mit dem Anknüpfen bei Bismarck wurde die Zeit der Weltkriege konsensual überbrückt und zudem ein fachlicher wie publikumswirksamer „Dauerbrenner“ präsentiert. Aber auch verbandshistorisch, denn Rothfels hatte bereits 1932 in Göttingen den wichtigsten, abschließenden Vortrag gehalten, über „Bismarck und den Osten“. Mit dieser mehrfachen „Wiederanknüpfung“, die Rothfels selbst hervorhob, war der „Anschluss an die Weimarer Jahre hergestellt und die zwischenzeitliche Fachentwicklung übersprungen.“68 Als eine der wichtigsten „Zukunftsaufgaben“ hatte Gerhard Ritter im Eröffnungsvortrag die „Vereinigung von Ost und West“ bezeichnet, niemand müsse „die Wiederherstellung eines ganzen Deutschland dringender wünschen (...) als der Stand der deutschen Historiker.“69 In disziplinärer Hinsicht allerdings hatte Ritter bereits Erfahrungen mit eben dieser Aufgabe sammeln dürfen, nicht zuletzt die Reorganisation des Verbandes offenbarte die Entstehung und Etablierung zweier, zunehmend getrennter deutscher Geschichtswissenschaften. Im Juli 1949 kündigte der marxistische Leipziger Historiker Walter Markov, den das Rundschreiben zur anstehenden Verbandsgründung erreicht hatte, seine Bereitschaft sowohl zum Beitritt wie auch zum Besuch des Münchner Historikertages an, sandte wenige Wochen zudem die ausgefüllte Mitgliedskarte.70 Die bloße Ankündigung versetzte die westdeutsche Verbandselite in Aufregung. Heimpel befürchtete, Markov werde „in den Vorstand drängen und diesen damit sprengen können“.71 Der Freiburger Historiker Manfred Hellmann, zuvor Assistent an der Leipziger Universität, warnte vor Mar-
67 Gerhard Ritter, Gegenwärtige Lage und Zukunftsaufgabe deutscher Geschichtswissenschaft. Eröffnungsvortrag des 20. Deutschen Historikertages in München am 12. September 1949, in: Historische Zeitschrift 170/1950, 1–23, Zitat 1. 68 Vgl. Eckel, Hans Rothfels (wie Anm. 3), 229–231, Zitat 230. 69 Ritter, Gegenwärtige Lage (wie Anm. 67), hier 10. 70 AVHD, Box Verschiedenes (1948–54), Mappe VHD 1948–1953, Walter Markov an Herbert Grundmann v. 22.7.1949 u. 15.8.1949. 71 AVHD, Box Verschiedenes (1948–54), Mappe VHD 1948–1953, Hermann Heimpel an Gerhard Ritter v. 25.8.1949.
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kov, es handele sich um einen durch keinerlei wissenschaftliche Arbeit ausgewiesenen, aber erbarmungslosen Feind deutscher Geschichtsforschung.“72 Während Herbert Grundmann die Gefährlichkeit Markovs für überschätzt hielt – eher lege dieser „Wert darauf, ‚dazuzugehören’“, vielleicht sei „ihm die wissenschaftliche Atmosphäre sogar heilsam“73 –, bemühte Gerhard Ritter die Verbandsgeschichte: „Er wird wohl ähnlich wie Walter Frank in Erfurt 1937 die Atmosphäre zu verschlechtern suchen, was ich aber zu verhindern mich bemühen muss.“74 Alle Befürchtungen aber – „Ist Ihnen bekannt, dass Herr Markov ein roter Terrorist ist, wissenschaftlich ohne jeden Ausweis?“75 – erwiesen sich als unbegründet. Markov trat in München auf, beteiligte sich auch an der Diskussion zum Eröffnungsvortrag Ritters, ohne einen Skandal auszulösen.76 Nicht zuletzt verbot es der erhobene Anspruch auf eine Repräsentation der gesamten deutschen Geschichtswissenschaft, Markov oder andere Vertreter der Geschichtswissenschaft der DDR kurzerhand auszuschließen. Der die Verbandsentwicklung in den 1950er und frühen 1960er Jahren prägende Konflikt aber war damit auf die Tagesordnung gesetzt. Theodor Schieder gab im April 1954 die Richtung vor, drohte mit Konsequenzen gegenüber dem Verband. Der vermeintlich zu nachsichtige Umgang mit der Geschichtswissenschaft der DDR erzürnte Schieder: „Vielleicht scheiden sich hier die Geister: aber ich persönlich kann mir die deutsche Einheit nur ohne kommunistische Hypothek vorstellen. Sie werden mir zubilligen, dass ich vom Kommunismus nicht etwa nur eine Kenntnis aus CDU-Zeitungen habe.“77
Die Teilnahme ostdeutscher Forscher an den Historikertagen, ihre Mitgliedschaft im Verband nahm nach 1949 eine zunehmend konfliktreiche Entwicklung, jedoch partizipierten, wenn auch mit rückläufiger Tendenz und in Marburg 1951 sogar mit Ausnahme von Fritz Hartung in vollständiger Absenz, weiterhin Historiker aus der DDR am Verband und an seinen Tagungen. Auf Fritz Hartung folgend waren 1956 in Ulm mit dem Weimarer Archivar Willy Flach und der Jenenser Professorin Irmgard Höß zwei Historiker aus der DDR in den Ausschuss des Verbandes gewählt worden, auch Karl Griewank war bis zu seinem Selbstmord im Oktober 1953 Mit-
72 AVHD, Box Verschiedenes (1948–54), Mappe VHD 1948–1953, Manfred Hellmann an Herbert Grundmann v. 24.8.1949. 73 AVHD, Box Verschiedenes (1948–54), Mappe VHD 1948–1953, Herbert Grundmann an Manfred Hellmann v. 26.8.1949; Herbert Grundmann an Hermann Heimpel v. 26.8.1949. 74 AVHD, Box Verschiedenes (1948–54), Mappe VHD 1948-1953, Gerhard Ritter an Herbert Grundmann v. 26.8.1949. 75 AVHD, Korr. 1a, Gerhard Ritter an Franz Schnabel v. 26.8.1949. 76 Vgl. das Protokoll der Diskussion über Ritters Eröffnungsvortrag am 12.9.1949, in: AVHD, Korr. 1. 77 Universitäts- und Landesbibliothek Münster, Nachlass Kurt von Raumer A 2,69, Theodor Schieder an Kurt von Raumer v. 7.4.1954.
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glied des Verbandsausschusses geblieben. Bis zum Historikertag in Trier 1958 allerdings eskalierten die Konflikte endgültig, die Gründung der Historiker-Gesellschaft der DDR markierte die institutionelle Scheidung.78 Allerdings barg die deutsch-deutsche Systemkonkurrenz auch für den westdeutschen Verband ein integratives Potential, in dieser Hinsicht durchaus an die innerfachliche Profilierung des Verbandes in der internationalen Wissenschaftskonfrontation der 1920er Jahre erinnernd. In den 1950er Jahren bot die Auseinandersetzung mit der marxistischen Geschichtswissenschaft der DDR einen Gemeinschaft erzeugenden Ausweg aus der zunehmend umstrittenen fachlichen Restauration. Die im Laufe des Jahrzehnts schwindende Einigkeit in der westdeutschen Geschichtswissenschaft fand in der Abgrenzung vom kommunistischen Osten ein einigendes Band der Empörung. Auf dem Internationalen Historikertag in Stockholm 1960 hätten sich, so gab Heinz Gollwitzer einen Bericht wieder, die „Leute aus der sowj. Besatzungszone (...) geradezu schändlich aufgeführt“, Leo Stern habe „den bürgerlichen Historikern Westdeutschlands sogar ziemlich deutlich gedroht. Die Russen sollen, verglichen mit unseren ‚Brüdern‘ aus dem Osten, noch nobel und korrekt gewirkt haben. Schieder u. Conze machten offenbar eine sehr gute Figur.“79 Im Laufe der 1960er Jahre verlor das ostdeutsche Pendant an Relevanz, die aufstrebende Sozialgeschichte, die thematische und methodische Öffnung der bundesdeutschen Geschichtswissenschaft fesselte Verband und Historikertage nun weitaus mehr.80, Politische und gesellschaftliche Initiativen wie zur Schulpolitik begannen den Verband zu beschäftigen, bereits das Wirken des „alten“ Verbandes begleitende interdisziplinäre Kooperationen respektive Konkurrenzen forderten Aufmerksamkeit.81 Wenige Tage vor der offiziellen Gründung des Verbandes der Historiker Deutschlands auf dem Münchner Historikertag musste der noch vorläufig amtierende Verbandsvorsitzende Gerhard Ritter einer offenkundig in Vergessenheit geratenen Erbschaft nachgehen. Er könne nicht klären, wann der Verband Deutscher Historiker gegründet worden sei, zu Hilfe bitte er deshalb das Gedächtnis des über achtzigjährigen Walter Goetz – „Vielleicht erinnern Sie sich aus Ihrer persönlichen Erfahrung“.82 Ansonsten aber erwies sich das institutionelle Gedächtnis der deutschen Historiker als zuverlässig, vielfach orientierte sich die Gründung des „neuen“
78 Vgl. Martin Sabrow, Ökumene als Bedrohung. Die Haltung der DDR-Historiographie gegenüber den deutschen Historikertagen von 1949 bis 1962, in: Gerald Diesener / Matthias Middell (Hgg.), Historikertage im Vergleich, Leipzig 1996, 178–202. 79 Universitäts- und Landesbibliothek Münster, Nachlass Kurt von Raumer A 3,92, Heinz Gollwitzer an Kurt von Raumer v. 5.9.1960. 80 Auch die Mitgliederzahlen des Verbandes stiegen kontinuierlich an, zwischen 1949 und 1967 um fast das Dreifache, vgl. Olaf Blaschke, Der Verband im Umbruch? Herausforderungen und Konflikte um 1970, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 64/2013, 164–173, hier 165. 81 Zum Verhältnis des Verbandes zu den Fachvereinigungen anderer Disziplinen, hier u. a. der Soziologie und der Germanistik, vgl. Matthias Berg / Martin Sabrow (Hgg.), Der deutsche Historikerverband im interdisziplinären Vergleich, Leipzig 2015. 82 AVHD, Korr. 1a, Gerhard Ritter an Walter Goetz v. 26.8.49.
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Verbandes an den Erfahrungen mit der Vorgängervereinigung. Der deutsche Historikerverband war vor wie nach 1945 in seinen Kerngeschäften – der Ausrichtung der Historikertage und der internationalen Vertretung der Disziplin – vom fachlichen und institutionellen Wandel der Disziplin besonders betroffen. Überdies gelang es erneut nicht, das bereits für den „alten“ Verband enge Korsett an beschränkten Tätigkeitsfeldern dauerhaft wesentlich zu weiten.83 Angesichts der Kontinuität in Funktionen und Formen, aber auch in Problemstellungen84, vollzogen Gerhard Ritter und seine Mitstreiter mit ihrer Initiative eine Wiedergründung des Historikerverbandes. Im Spiegel, in der Reflexion der früheren Verbandsentwicklung votierten sie für strukturelle Anpassungen wie institutionelle Kontinuitäten, trotz einer „verbandslosen“ Dekade wirkten die Erbschaften des „alten“ Verbandes auch in den späten 1940er Jahren nach.
83 Ein entsprechender Versuch Ritters, die Herausgabe einer Bibliographie im Auftrag des Verbandes der Historiker Deutschlands, fand keine Fortsetzung. Vgl. Walter Holtzmann / Gerhard Ritter (Hgg.), Die deutsche Geschichtswissenschaft im Zweiten Weltkrieg. Bibliographie des historischen Schrifttums deutscher Autoren 1939–1945, Marburg/Lahn 1951. 84 „Ein Verband, der es sich nicht leisten kann, wenigstens ein Mal im Jahr eine Ausschusstagung zu halten, ist praktisch nicht lebensfähig.“ Gerhard Ritter an Ausschussmitglieder v. 26.6.1950, nachdem Vorstandssitzungen mehrfach wegen der materiell notwendigen Verknüpfung mit anderen Terminen verschoben werden mussten, in: AVHD, Box Verschiedenes (1948–54), Mappe VHD 1948–1953.
VERLAGSFELDFORSCHUNG UND DATENBASIERTE NETZWERKANALYSE Das Beispiel der Kommission für Zeitgeschichte Olaf Blaschke Ausdrückliches Ziel der 2011 und 2012 stattfindenden Tagungen über “Netzwerke und Organisationen” war, nicht nur organisations- und institutionsgeschichtlich vorzugehen, sondern auch Netzwerke jenseits der Universität ausfindig zu machen. Tatsächlich aber lag der Schwerpunkt der meisten Beiträge doch wieder auf Organisationen. Wenn überhaupt von Netzwerken gesprochen wurde, dann eher mit “methodologischer Gelassenheit”.1 Dabei erlaubt die datenbankgestützte Netzwerkforschung, auch wenn sie aufwendig ist, Einblicke, die quer zu institutionsgeschichtlichen Ansätzen gehen. Anhand der katholischen Kommission für Zeitgeschichte, zuerst in München, später in Bonn angesiedelt, die im Jahre 2012 ihr fünfzigstes Jubiläum feierte, lassen sich vier Zusammenhänge aufzeigen, die für den vorliegenden Diskussionskontext zu Netzwerken und Organisationen in der frühen Bundesrepublik relevant sind: erstens der Mehrwert einer echten, datenbankgestützten Netzwerkanalyse, zweitens die Rolle von Verlagen in diesen Unterstützungsnetzwerken, drittens die konfessionelle Zerklüftung der Geschichtswissenschaft in der frühen BRD und viertens, wie die wissenschaftliche und buchhändlerische Lagerbildung Hand in Hand gingen. In Deutschland zerfiel Forschung seit dem 19. Jahrhundert in verschiedene Lager, die sich zugleich entlang verschiedener Verlage organisierten. Diese unterschiedlichen Lager, Schulen, Gesinnungsgemeinschaften publizierten bevorzugt bei je bestimmten Verlagen: Hegelianer und Junghegelianer, Germanisten, Historiker, ja sogar die Mathematiker teilten ihre Produkte ungleichmäßig in der weitläufigen Verlagslandschaft auf, so dass man am Verlag erkennen konnte, welche Richtung das zu beurteilende Buch vertrat. Diese verlegerische Horizontalfragmentierung verschärfte sich erneut in den 1960er Jahren und spiegelte sich in der “Suhrkampkultur”, in den alternativen Kleinverlagen, aber auch konkret in der Geschichtsbuchproduktion wider, als sich Sozialhistoriker bestimmter Verlage be-
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Jürgen Elvert auf der 2. Tagung am 4. Okt. 2012 über die 1. Tagung vom 8. bis 9. Dez. 2011.
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dienten. Solange “Weltanschauungen”, Richtungen, Tendenzen und geschichtswissenschaftliche Schulen Klang und Bedeutung hatten, fanden sie im deutschen Verlagswesen einen Resonanzraum.2 Besonders die Konfession war ein Spaltfaktor. Katholische Theologen und Kirchenhistoriker gingen zu katholischen Verlagen wie Herder, evangelische zu evangelischen wie Ch. Kaiser. Mehr noch: Auch Autoren, die nicht Erbauungs- Gebetoder Gesangbücher schrieben, sondern geschichtswissenschaftliche Werke, neigten dazu, ihre gleichwohl säkularen Titel Verlagen anzuvertrauen, die entweder in einer katholischen oder einer protestantischen Tradition standen, also entweder Schöningh oder Kohlhammer. Das betraf auch die Autoren der 1962 installierten Kommission für Zeitgeschichte. Freilich gab es auf protestantischer Seite ein Pendant, die Kommission für die Geschichte des Kirchenkampfes. Sie war schon 1955 eingerichtet worden, deshalb ist die sieben Jahre später gegründete Kommission für Zeitgeschichte keine unmittelbare Gegenreaktion auf die Kirchenkampfkommission. Aber die Symmetrien sind doch erstaunlich. Wurde diese durch den Rat der Evangelischen Kirche Deutschlands gegründet, wurde jene von der Fuldaer Bischofskonferenz auch finanziell unterstützt. Laut Satzung der “katholischen Kommission”, wie sie zuerst heißen sollte, gehören zu den sechs geborenen Mitgliedern: der Sekretär der Deutschen Bischofskonferenz, der Leiter des Katholischen Büros, der Generalsekretär des Zentralkomitees der deutschen Katholiken und der Präsident der im Kulturkampf entstandenen Görres-Gesellschaft.3 Gewisse Vernetzungsstrukturen mit stabilen kirchlichen und kirchennahen Institutionen sind auf den ersten Blick erkennbar, auch ohne Datenbankanalyse. Verfolgte die evangelische Kommission das doppelte Ziel, eine Brücke zwischen Mitgliedern der “radikalen” und “gemäßigten” Bekennenden Kirche zu bilden und zugleich den damals so genannten “Kirchenkampf” aufzuarbeiten,4 ging es 2
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Ausführlicher zur Analyse des Netzwerkes der Kommission für Zeitgeschichte (KfZg) und zu den Hintergründen: Olaf Blaschke, Geschichtsdeutung und Vergangenheitspolitik. Die Kommission für Zeitgeschichte und das Netzwerk kirchenloyaler Katholizismusforscher 1945– 2000, in: Thomas Pittrof / Walter Schmitz (Hgg.), Freie Anerkennung übergeschichtlicher Bindungen. Katholische Geschichtswahrnehmung im deutschsprachigen Raum des 20. Jahrhunderts, Freiburg 2009, 479–521. Wir danken dem Verlag für den Wiederabdruck der Grafiken und einiger Textpassagen. Zentral ist auch Rudolf Morsey, Gründung und Gründer der Kommission für Zeitgeschichte 1960–1962, in: Historisches Jahrbuch der Görres Gesellschaft, 115/1995, 453–85. Ausführlicher zu den Verlagen: Olaf Blaschke, Verleger machen Geschichte. Buchhandel und Historiker seit 1945 im deutsch-britischen Vergleich, Göttingen 2010. Vgl. www.kfzg.de/Organisation/satzung.html (28. 9. 2009). 1971 umbenannt in Evangelische Arbeitsgemeinschaft für Kirchliche Zeitgeschichte; vgl. http://www.ekd.de/zeitgeschichte/geschichte.html; vgl. Norbert Friedrich / Traugott Jähnichen (Hgg.), Gesellschaftspolitische Neuorientierungen des Protestantismus in der Nachkriegszeit, Münster 2002; Jochen-Christoph Kaiser, Wissenschaftspolitik in der Kirche. Zur Entstehung der "Kommission für die Geschichte des Kirchenkampfes in der nationalsozialistischen Zeit", in: Anselm Doering-Manteuffel / Kurt Nowak (Hgg.), Kirchliche Zeitgeschichte. Urteilsbildung und Methoden, Stuttgart u. a. 1996, 125–163.
Verlagsfeldforschung und datenbasierte Netzwerkanalyse
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der katholischen Kommission um die Abwehr von Angriffen auf die Kirche durch linkskatholische Kreise und die DDR. Im Hintergrund der evangelischen Öffentlichkeitsarbeit standen je eigene Buchgemeinschaften und Verlagswelten, teilweise in der Vereinigung Evangelischer Buchhändler organisiert oder, auf der Gegenseite, im Verband katholischer Verleger und Buchhändler. Der katholische Verband mit seinen 375 Mitgliedern bat 1956 das Episkopat, es “möge die Tätigkeit der katholischen Buchhändler ... als Dienst an der Kirche öffentlich und ausdrücklich anerkennen” und die Gläubigen auffordern, ihre Bücher in einer katholischen Buchhandlung zu kaufen.5 Protestantische Autoren publizierten bei Mohr-Siebeck, Dietrich Reimer, Vandenhoeck & Ruprecht, auch bei C. Bertelsmann oder ganz kleinen Verlagen. Dass auch nicht dezidiert theologische Verlage wie Kohlhammer, Oldenbourg und C. H. Beck protestantische Traditionsbestände pflegten, weiß heute kaum noch jemand. Katholische Autoren, auch Historiker, hingegen blieben Herder, Bachem, Schöningh etc. verbunden, die weniger Erfolgreichen fanden bei kleineren Häusern wie dem Don Bosco Verlag Unterschlupf.6 Wie soll man diese Kreise bezeichnen? Als Milieu, als Feld, als Erinnerungslobby, als Netzwerk? Der Milieubegriff wäre zu hoch gegriffen und konfligiert mit dem umfassenderen Milieubegriff von M. Rainer Lepsius. Eher wäre vom akademischen Teilmilieu innerhalb des katholischen Milieus zu sprechen. Auch Pierre Bourdieus Feldbegriff müsste auf das größere Feld der Geschichtswissenschaft bezogen werden. Mit dem Begriff Erinnerungslobby beschreibt Thomas Noetzel im Anschluss an Norbert Freis “professionell auftretende vergangenheitspolitische Pressure groups“ Kreise, denen es in der frühen Bundesrepublik gelang, ihre Vergangenheitsdeutung durchzusetzen. Diese Erinnerungslobby konnte erfolgreich operieren, weil ihre Akteure untereinander vernetzt waren, aber auch mit Verlagen, kirchlichen Geldgebern und Amtsträgern sowie wissenschaftlicher Institutionen.7 Beide Kommissionen geben je zwei Hauptreihen heraus, Reihe A: Quellen und Reihe B Forschungen.8 Das katholische, intentional tendenziell apologetische Unterstützungsnetzwerk mobilisierte sich in den späten 1950er Jahren und mündete 5 6
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Wilhelm Spael, Der katholische Buchhandel Deutschlands. Seine Geschichte bis zum Jahre 1967, Frankfurt a. M. 1967, 153. Vgl. Olaf Blaschke, Verlage als Katalysatoren von Schulbildungen? in: Thomas Kroll / Tilman Reitz (Hgg.), Intellektuelle in der Bundesrepublik Deutschland. Verschiebungen im politischen Feld der 1960er und 1970er Jahre, Göttingen 2013, 138–150; ders. / Wiebke Wiede, Konfessionelles Verlagswesen, in: Stefan Füssel (Hg.), Geschichte des deutschen Buchhandels im 19. und 20. Jahrhundert. Die Weimarer Republik 1918–1933, Bd. 2.2., München 2012, 139–182. Thomas Noetzel, Erinnerungsmanagement. Von der Vorgeschichte zur Geschichte, in: Joachim Landkammer u. a. (Hgg.), Erinnerungsmanagement. Systemtransformation und Vergangenheitspolitik im internationalen Vergleich, München 2006, 15–28, 17. Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte: Reihe A: Quellen, hg. von Konrad Repgen u. a., Bd. 1–58, Mainz (seit 1996 Paderborn) 1966–2012, Reihe B: Forschungen, hg. von Konrad Repgen u. a., Bd. 1–121, Mainz (ab 1996 Paderborn) 1966–2012; Arbeiten zur Kirchlichen Zeitgeschichte: Reihe A: Quellen (i. A. der EvAKiZ), Bd. 1–13, Göttingen 1984– 2007, Reihe B: Darstellungen (i. A. der EvAKiZ), Bd. 1–55, hg. von Georg Kretschmar u. a., Göttingen 1975–2012.
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bald in der Kommission für Zeitgeschichte. Angefangen hat diese Vergangenheitsbewirtschaftung mit Direktiven von Bischöfen, nach verfolgten Priestern und Belegen von widerständigem Verhalten im Nationalsozialismus zu suchen, ferner mit Büchern wie dem von Pfarrer Johannes Neuhäusler, “Kreuz und Hakenkreuz” 1946. Das dualistische Narrativ vom “Kampf des Nationalsozialismus gegen die katholische Kirche und den kirchlichen Widerstand”, so der Untertitel, dominierte in der Adenauerzeit. Die katholische Kirche war die “Siegerin in Trümmern”. Aber gegen Ende der 1950er Jahre wuchs der Problemdruck von drei Seiten: Gläubige verlangten eine kritische Vergangenheitsbewältigung auch in der Kirche, stellvertretend seien Ernst-Wolfgang Böckenfördes Aufsätze seit 1957 erwähnt, die von der Affinität des Katholizismus zum Faschismus sprachen. Die zweite Herausforderung war der Relevanzverlust kirchlicher Religion in der Gesellschaft, und die dritte Problemsituation die marginale Position katholischer Historiker im Feld der Geschichtswissenschaft. Kirchenloyale Katholizismusforscher reagierten um 1958, indem sie sich untereinander und mit anderen Akteuren vernetzten, um vermeintlich ungerechtfertigten Vorwürfen wissenschaftlich fundiert begegnen zu können. Eine herkömmliche Untersuchung der KfZg würde die Satzung ausleuchten, die Aufgaben- und Kompetenzverteilung zwischen Trägerverein, Vorsitz und Vorstand, Wissenschaftlicher Kommission, Geschäfts- und Forschungsstelle in Bonn, Mitgliedern und Organen klären und Aussagen über mehr oder minder wichtige Personen treffen. Unter den rund einhundert Mitgliedern seit seiner Gründung befanden sich ein Viertel Kleriker und bis 2004 mit Dorothee Wilms eine einzige Frau.9 Netzwerkanalysen erhellen, wer jenseits gewählter Posten zentrale Positionen inne hatte und mit welchen Personen jenseits formaler Mitgliedschaft Verbindungen gepflegt wurden. Netzwerke verlaufen eher horizontal als formal vertikal. Das unterscheidet Netzwerke von klaren Hierarchien und Organisationen, die üblicherweise untersucht werden, auch wenn es innerhalb von Netzwerken selber hierarchische Strukturen und Organisationen geben kann.10 Das kirchenloyale Unterstützungsnetzwerk bestand aus Priestern und CDU/CSU-Politikern, Theologen, Kirchenhistorikern, Profanhistorikern und Soziologen an verschiedenen Universitäten, dazu kamen katholische Akademien und Verlage. Wichtige Akteure waren auch ehemalige Zentrumspolitiker, die sich von dem Vorwurf reinwaschen wollten, das Konkordat sei durch die Zustimmung zum Ermächtigungsgesetz am 23. März 1933 erkauft worden.11 Eine solche katholische Kommission sollte die “Wahrheit” aufzeigen. Zentralfiguren waren der Bonner
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Vgl. die Tabelle in Karl-Joseph Hummel (Hg.), Zeitgeschichtliche Katholizismusforschung. Tatsachen, Deutungen, Fragen. Eine Zwischenbilanz, Paderborn 2004, 261–63. 10 Vgl. Dorothea Jansen, Einführung in die Netzwerkanalyse. Grundlagen, Methoden, Forschungsbeispiele, Opladen 22003, 12f. Das Folgende ausführlicher und belegreicher bei Blaschke, Geschichtsdeutung. 11 Eine analytisch scharfe, aber rein textexegetische Sicht auf diese Debatte jetzt durch Hubert Wolf, Reichskonkordat für Ermächtigungsgesetz? Zur Historisierung der Scholder-RepgenKontroverse über das Verhältnis des Vatikans zum Nationalsozialismus, in: VfZG 60/2012, 169–200.
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Historiker Konrad Repgen (geb. 1923), “der Haushistoriker der deutschen Bischöfe”12, und Rudolf Morsey (geb. 1927)13 in Würzburg, später Speyer. Morsey kooperierte um 1958 mit dem Leiter der Katholischen Akademie in München, mit anderen Forschern sowie mit ehemaligen Zentrumspolitikern, aber auch mit dem Inhaber des Matthias-Grünewald Verlages Dr. Jakob Laubach. Der Mainzer Verlag reklamiert eine eigene kreative Rolle bei der Entstehung des Projekts. Im Unterschied zu manchen CDU-frommen Kirchenverlagen öffnete sich der Matthias-Grünewald-Verlag unter Laubach den Reformbestrebungen des Zweiten Vatikanums. Laubach, seit Juli 1958 bei Grünewald, gehörte mit 41 Jahren wie Morsey einer “jüngeren” Generation an als die ehemaligen Zentrumsabgeordneten, unter denen manche eine umfassende Aufklärung blockierten. Laubach plante “schon seit langem” eine Publikation “Deutsche Katholiken und Nationalsozialismus”, was den Überlegungen über eine mehrbändige Geschichte des Katholizismus sehr entgegenkam, die Morsey mit anderen im Sommer 1960 anstellte. Die Veröffentlichungen der KfZg wurden nach Laubachs Schilderung durch eine kurze Nachricht Anfang der 1960er Jahre angeregt: “Ich las in einem Zeitungsbericht, bei dem katholischen Studententag in Bamberg sei von den jüngeren Teilnehmern immer drängender die Frage gestellt worden, wie sich die katholische Kirche in der Nazi-Zeit verhalten habe. Ein paar Monate später konnte ich mit den Historikern Clemens Bauer, E. W. Zeeden, Rudolf Morsey und Konrad Repgen in Baden-Baden ein Gespräch führen. Was konnte man tun, war meine Frage an die Fachleute, um die Frage der Studenten in Bamberg wissenschaftlich verlässlich zu beantworten.” 14
Weitere Gespräche führten dann zu der bekannten “blauen” Reihe. Zwei Beobachtungen sind bemerkenswert. Erstens die aktive Rolle Laubachs. Ende der 1950er Jahre lag es quasi in der Luft, sich endlich ausführlicher mit der NS-Vergangenheit zu beschäftigen, auch im katholischen Milieu. Hier konvergierten die Interessen verschiedener Seiten. Zweitens beruhte die Interessenkoalition zur Gründung einer katholischen Kommission für Zeitgeschichte nicht nur auf rein wissenschaftsinternen Gründen. Spätestens seit dem durch den Ulmer Einsatzgruppenprozess erwachten öffentlichen Interesse ließ sich der vergangenheitspolitische Druck nicht weiter ignorieren. In diesem Meinungsklima fand 1959 der katholische Studententag in
12 Gernot Facius, Konrad Repgen 80. Glückwunsch, in: Die Welt online (www.welt.de/printwelt/article69161/Konrad_Repgen_80.html), 5. 5. 2003. Repgen (Habilitation 1958 in Bonn) wurde 1962 nach Saarbrücken und 1967 als Professor für Mittelalterliche und Neuere Geschichte an die Universität Bonn berufen. 13 Habilitation 1965 in Bonn, 1966–1970 Ordinarius für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Würzburg, 1970–1996 Professor für Neuere Geschichte in Speyer; 1968–1998 Vorsitzender der Kommission für Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien in Bonn. 14 Jakob Laubach, Soviel Glück im Leben. Streiflichter 1917–1997, Mainz 1997, 102; vgl. ders., 75 Jahre Grünewald Bücher. Ein Almanach, Mainz 1993, 19.
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Bamberg statt.15 Teilnehmer werteten ihn als “Anfang” der “Bewältigung der Vergangenheit.”16 Der Grünewald-Verlag wurde für über drei Jahrzehnte zum Hausverlag der KfZg, bis er 1995 vom Schöningh Verlag abgelöst wurde. Auf der Basis aller Forschungsbände (Reihe B) – erst deren Lektüre gibt einen Eindruck von ihrem alle selbstkritischen Textpassagen überwiegenden “Apologiekoeffizienten” – ist für den vorliegenden Fragezusammenhang nur interessant, wie sich das Netzwerk gestaltet und verändert hat, Netzwerk nicht im metaphorischen Sinne, nicht als bloße Worthülse, sondern als wirklich datenbankgestützte Analyse. Die sozialwissenschaftliche Netzwerkanalyse ist ein empirisches und theorieneutrales Instrumentarium zur Erstellung von Beziehungen zwischen Elementen. Doch im Unterschied zu Soziologen, die bei der Erstellung von Netzwerken eben mal eine Umfrage (wer kennt wen?) machen können, ist für Historiker, die Daten über einen historischen Zeitraum von mehreren Jahrzehnten erheben wollen, ein konsistenter Datenstrang notwendig. Dafür eignen sich die Vorworte der Bände der KfZg. Solche Paratexte unterliegen sozialen Regeln, die hilfreiche Beziehungen mit Dankesbezeugungen vergelten. Für die vorliegende Datenerhebung wurden alle Bände der Reihe B von 1965 bis 2000 (B1–B91) berücksichtigt. Die Relationen werden aus den Dankreferenzen erschlossen. Wer fühlt sich wem wofür zu Dank verpflichtet? Wer kennt wen? Der Nachteil dieser Methode ist, dass sie nur einen Ausschnitt aus dem Netzwerk zeigt, da sie Beziehungen außerhalb der Arbeit am jeweiligen Buch nicht erfasst und nicht erkennen kann, wer etwa auf Konferenzen die Alpha-Rolle eingenommen hat oder wer mit wem welche telephonischen Verabredungen traf. Kritiker haben diesen Nachteil bislang nur nochmals in eigenen Worten formuliert, statt die längst vorgelegte Anregung zu einer gründlicheren Netzwerkanalyse einmal selber durchzuführen. Der Vorteil dieser Erhebungsmethode liegt hingegen darin, dass die Daten aus einem klar benennbaren, abgegrenzten seriellen Datensatz stammen. Die Ergebnisse sind jederzeit von anderen replizierbar. Ferner werden Vorworte ernst genommen. Danksagungen sind ein Tauschgeschäft. Dem Netzwerkbeobachter sagt der Dank von Ego gegenüber Alter, dass er ihm für die Anregung zur Bearbeitung des Themas, für die Betreuung oder für wichtige Zeitzeugeninformationen eine Referenz erweist und damit eine Beziehung konstituiert. Diese “gerichtete Beziehung” wird in den Grafiken als Pfeil dargestellt. Die nachweisbaren Relationen lassen darauf schließen, dass eine umgekehrt gerichtete Handlung (Einfluss, Rat, Informationsfluss) stattgefunden hat. Die Grundgesamtheit aller Danksagungen von 1965 bis 2000 beträgt 1391. Sie ließe sich grafisch nicht mehr nachvollziehbar darstellen und würde in einer statischen
15 Vgl. Christian Schmidtmann, Katholische Studierende 1945–1973. Ein Beitrag zur Kultur- und Sozialgeschichte der Bundesrepublik Deutschland (KfZg, Reihe B, Bd. 102), Paderborn 2006, 221–224. 16 Hans Schlömer, Bamberg war ein Anfang, in: Katholischen Deutschen Studentenvereinigung (Hg.), Einigung. Katholische Studentenzeitung, Bonn, Juli/August 1959, 1, zit. n. Schmidtmann, Studierende, 223.
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Abb. 1: Dankreferenz der KfZg-Autoren (Reihe B) 1965-1976 (Vollerhebung)
Grafik den Tatbestand des Wandels von 1965 bis 2000 verzerren. Deshalb geschieht die Auswertung in drei Zeitschichten zu je 12 Jahren: ab 1965, ab 1977 und ab 1989. Abbildung 1 zeigt die Vollerhebung für die Jahre 1965 bis 1976, also nur für die ersten 12 Jahre. Hier sind sämtliche Referenzen sichtbar. Der Zentralitätsgrad von Morsey und Repgen – den das Programm UCINET errechnet – ist keine Überraschung. Als empirisches Instrumentarium macht die Netzwerkanalyse manchmal bloß sichtbar, was man vorher sowieso schon vermutet hätte. Aber sie offenbart auch Zusammenhänge, die vorwissenschaftliche Verdachtsmomente übersteigen. Unvermutet ist etwa die bereits starke Position des Jesuiten Ludwig Volk. Er verfügte schon im ersten Zeitfenster bei höchstem Outdegree17 über eine Vielzahl von Akteuren, die ihm nicht-redundante Informationen liefern konnten, die er als “Netzwerkunternehmer” und broker in wissenschaftliche Informationen überführen und kommunizieren konnte, darunter von Zeitzeugen und Priestern, vom Direktor der katholischen Akademie in Bayern, Karl Forster, auch von Weihbischof Neuhäusler und Kardinal Döpfner. Überhaupt ist die Anzahl von Klerikern und Ordensleuten (hellgraue Punkte) beachtenswert – zehn von 17 Autoren danken ihnen – sowie ihre Zentralität: Ludwig Volk, Bernhard Stasiewski, Walter Adolph und der Kölner Generalvikar Joseph Teusch stehen nicht am Rande. Linkskatholiken dagegen fehlen im Netzwerk. Auch Franz Schnabel war wohl nur formal Mitglied der KfZg und nicht konstituti-
17 Ausgehende Referenzen. Volk legte in diesem Zeitfenster 1965 und 1972 zwei Titel vor, dankte aber nicht, wie andere, denselben Akteuren.
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Abb. 2: Dankreferenzen der KfZg-Autoren (Reihe b) 1965-1976 (Teilerhebung: ohne Einmalnennungen)
ver Teil dieses schwarzen Geflechts. Das Netzwerk glänzte damals mit Persönlichkeiten aus dem Who is Who des deutschen religiösen und politischen Katholizismus, neben dem Vorsitzenden der Freisinger Bischofkonferenz Döpfner etwa die Bischöfe Heinrich Tenhumberg (Münster) und Franz Hengsbach (Essen, auch Militärbischof), einige Generalvikare sowie führende Persönlichkeiten aus Bundesministerien wie Heinrich Krone (CDU, früher: Zentrumspartei) und Ernst Wirmer, manche mit einer Vorgeschichte des Widerstandes im Dritten Reich (Wirmers Bruder Josef wurde nach dem Attentat vom 20. Juli 1944 zum Tode verurteilt). Aufschlussreicher ist die Grafik für die Jahre 1965–1976, wenn man alle Personen heraus nimmt, die nur einmal vorkamen (Abb.2). Das dient der Übersicht und hilft vor allem, den diachronen Vergleich zu den folgenden Zeitfenstern zu gewährleisten. Zwischen 1977 und 1988 (Abb. 3) mehren sich die Titel und die Danksagungen. Trotzdem offenbart Teilerhebung zwei (1977–1988) eine starke Kontinuität. Der Zentralitätsgrad von Repgen, Rudolf Morsey, Dieter Albrecht, Klaus Gotto und Ludwig Volk erweist sich als stabil. Pater Volk bleibt mit hohem Indegree – der Grad, zu dem eine Grafik auf bestimmte Personen hin zentralisiert ist –, also mit hohem Prestige und wichtigen Verbindungen an zentraler Stelle postiert, und dies, obwohl er nie Inhaber eines Lehrstuhls und nie Reihenherausgeber wurde und obwohl er 1984 bereits starb. Ihm muss im KfZg-Netzwerk eine zentrale Funktion zugekommen sein. Ohne Netzwerkanalyse wäre sie nicht sichtbar geworden. Der Jesuit vermochte dank seines Kontaktreichtums als besonderer Mittelsmann zu agieren. Nicht jedem unabhängigen Katholizismusforscher gewährte man
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Abb. 3: Dankreferenzen der KfZg-Autoren (Reihe B) 1977-1988 (Teilerhebung ohne Einmalnennung)
in den Diözesanarchiven Einblick in die gewünschten Akten, zumal es mit dem deutsch-amerikanischen Politikwissenschaftler Guenter Lewy 1964 einen Fall gab, den man als schlechte Erfahrung verbuchte. Lewys kirchenkritische – oder aus katholischer Sicht “nicht objektive” – Ergebnisse stimmten höchst vorsichtig. Die nunmehr “eingeschränkten Nutzungsbedingungen” kirchlicher Archive wurden aus “forschungsstrategischen wie archivpraktischen Gründen” für notwendig ausgegeben. Mit Ludwig Volk jedoch präsentierte die KfZg den Bischöfen einen “seriösen und vertrauenswürdigen Historiker”. Ihm öffneten sich nun “sämtliche Archivtüren”.18 Weitere Forschungen mögen erst den Grad der “Quellenzugangsbewirtschaftung” vermessen, mit der die kirchennahe Katholizismusforschung dafür sorgte, die Vergangenheitsaufarbeitung in der eigenen Hand zu behalten. Volk jedenfalls konnte Türen öffnen und Türen verschlossen halten. Das zumindest ergeben Hinweise aus dem Nachlass des Paters.19 Neben die zentralen Personen hat sich in den 1970er Jahren ein neuer Leistungsträger gesellt: Ulrich von Hehl. Er publizierte 1977 seine bei Repgen angefertigte Dissertation über Katholische Kirche und Nationalsozialismus im Erzbistum 18 Christoph Kösters / Petra von der Osten, Ludwig Volk. Ein katholischer Zeithistoriker, in: Roland Lambrecht / Ulf Morgenstern (Hgg.), “Kräftig vorangetriebene Detailforschungen”. Aufsätze für Ulrich von Hehl zum 65. Geburtstag, Leipzig, Berlin 2012, 27–56. 19 Antonia Leugers, Forschen und forschen lassen. Katholische Kontroversen und Debatten zum Verhältnis Kirche und Nationalsozialismus, in: Andreas Henkelmann / Nicole Priesching (Hgg.), Widerstand? Forschungsperspektiven auf das Verhältnis von Katholizismus und Nationalsozialismus, Saarbrücken 2010, 89–109, 97.
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Köln und nimmt bereits nahe an der Mitte des Netzwerkes einen Platz ein, obwohl er noch keinen Lehrstuhl hatte (erst 1992) und noch kein Reihenherausgeber war. Von 1977 bis 1992 war er Geschäftsführer der KfZg. Diese mittlere Phase von 1977 bis 1988 erweist sich als Hochphase des Erfolges und der Verdichtung dieses Netzwerkes. Der insgesamt errechnete Indegree beträgt 1977 bis 1988 14,2, höher als vorher und nachher, und der entsprechende Outdegree ist mit 30,6 ebenfalls deutlich höher als vorher (22) oder nachher (17,8). Die Verdichtung in den 1970er/1980er Jahren lässt sich auch anhand der Orte erkennen, an denen die Dissertationen und Habilitationen entstanden. Qualifikationsorte der in Reihe B der KfZg erschienenen Qualifikationsarbeiten 196519771989Summe 1976 1988 2000 Bonn 3 6 5 14 München 3 2 3 8 Freiburg 2 2 3 7 FU Berlin 2 2 4 Regensburg 2 2 1 5 Saarbrücken 2 2 Erlangen-Nürnberg 1 1 2 Münster 2 6 8 Köln 2 2 4 Frankfurt 1 3 4 Tübingen 3 3 Eichstätt 2 2 3 1 7 11 Andere Orte (je 1 Arbeit) 18 20 36 72 Summe Arbeiten 10 9 17 Summe Orte 30% 13% Von den Arbeiten stammen aus Bonn 16% 40% 30% Von 2 Universitäten stammen 33% 60% 47% Von 4 Universitäten stammen 55% 80% 63% Von 6 Universitäten stammen 77% Im zweiten Jahrdutzend stammt ein Drittel aller KfZg-Qualifikationsarbeiten aus Bonn, mehr als vorher und nachher. Die mittlere Phase war die Hochphase des kirchenloyalen Katholizismusnetzwerkes. Hier konnten wenige (wie Morsey) die Kontrolle über viele ausüben und den Informationsfluss steuern. Damals lief die Konfrontation zwischen kirchenloyalen und unabhängigen Katholizismusforschern auf ihren Höhepunkt zu, nicht nur in der Reichskonkordatsdebatte. Im letzten Zeitfenster (1989–2000) (Abb. 4) konkurriert von Hehl im Indegree nur noch mit Morsey und ist als Lehrstuhlinhaber, seit 1994 Reihenherausgeber und schließlich als Vorsitzender der Wissenschaftlichen Kommission der KfZg an zentrale Stelle gerückt.
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Abb. 4: Dankreferenzen der KfZg-Autoren (Reihe B) 1989-2000 (Teilerhebung: ohne Einmalnennungen)
Die überwältigende Mehrzahl aller im Netzwerk Beteiligten bestand aus Männern. Katholizismusforschung bedeutete: Von Männlichkeitsforschung unbelastete Männer erforschten andere Männer, das heißt, ohne sich der Aspekte der Geschichte von Männlichkeit, Weiblichkeit, Frauen- und Geschlechtergeschichte auch nur im Ansatz bewusst zu sein, wie es ja für die gesamte Historikerschaft bis in die 1990er Jahre hinein üblich war.20 Auch in die hier untersuchten Bände der KfZg fanden Autorinnen nur allmählich Einzug. Der Übersichtlichkeit halber kann bei der Datenpräsentation auf die schon ausgewerteten Zwölfjahresblöcke zurückgegriffen werden. Von 1965 bis 1976 findet sich unter 22 Autoren und Herausgebern mit Barbara Schellenberger nur eine einzige Autorin, seit 2001 sind es wenigstens acht von 45 (Anteil: 17,7%). Die Blauen Bände und die KfZg haben die Frauenemanzipation nicht gerade forciert. Während hier, auch im Unterschied zu anderen Tendenzbuchreihen, noch heute weniger als jeder fünfte Autor oder Herausgeber eine Frau ist, beträgt der Frauenanteil etwa bei den für den Vergleich geeigneten “Kritischen Studien zur Geschichtswissenschaft” mehr als ein Drittel, obwohl auch diese
20 Vgl. zur proklamatorisch anerkannten, aber de facto wenig integrierten Geschlechtergeschichte Karin Hausen, Geschlechtergeschichte als Gesellschaftsgeschichte, Göttingen 2012. Vgl. als Umsetzung für den Katholizismus zuletzt: Yvonne-Maria Werner (Hg.), Christian Masculinity. Men and Religion in Northern Europe in the 19th and 20th Centuries, London 2011.
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Abb. 5: Autorinnen und Autoren der Reihe B der Veröffentlichungen der KfZg 1965-2013
Tendenzreihe der „Bielefelder Schule“ vor 40 Jahren als reines Männerprojekt startete. 21 Als Fazit können fünf Gesamttendenzen herausgestellt werden: 1. Seit den 1960er Jahren wuchs das Netzwerk deutlich an. Im letzten netzwerkanalytisch untersuchten Zeitfenster (1989–2000) finden sich mehr Akteure als in den beiden vorangegangenen zusammen, obwohl “nur” doppelt so viele Werke erschienen wie im ersten Zeitabschnitt. 2. Dank der Netzwerkanalyse ist eine Hochphase der Verdichtung identifizierbar. Sie lag in den späten 1970er und frühen 1980er Jahren, wie Indegree und Outdegree ergeben, wie sich aber auch anhand der Qualifikationsorte erkennen lässt. 3. Das Netzwerk um die KfZg ist vielfältiger und pluralistischer geworden. Erblickte man im ersten Zeitfenster das Wer ist Wer des deutschen Katholizismus und ließen sich kaum Links- oder Nichtkatholiken entdecken, gaben die Vorworte in den letzten Jahrzehnten einige Kontakte zu Akteuren an, die auch dem Sozialhistorikerfeld verbunden waren, darunter Wilfried Loth, Werner K. Blessing, Hans-Ulrich Thamer und Dieter Langewiesche. Die Referenzen bleiben jedoch selten und stammen nicht von den im Netzwerk zentralen Figuren. 4. Von 1965 bis 2000, also über die gesamte Zeitspanne, fand eine gewisse Entklerikalisierung statt. Lag der Anteil von Bischöfen, Generalvikaren, Priestern und Ordensmitgliedern 1965 bis 1977 noch bei 20 Prozent, fiel er nach 1977 21 Detaillierte Datentabelle bei Olaf Blaschke, Thesen zur Katholizismusforschung – Ein Kommentar, in: Wilhelm Damberg / Karl-Joseph Hummel (Hgg.), Katholizismus in Deutschland. Zeitgeschichte und Gegenwart, Paderborn 2014, 149–157, 152.
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auf weniger als 10% und bis 2000 weiter auf 7,4%. Ein zweites Indiz für die Abkoppelung von der Amtskirche und für die stärkere Schließung des Systems Wissenschaft ist die Tatsache, dass Priester zu Beginn im Zentrum des Netzwerkes standen, während die verbliebenen zuletzt eher an der Peripherie auftauchten. 5. Unter die männerbündische Katholizismusforschung mischten sich seit 1975 zunehmend auch Frauen. Ihr Anteil, bis dahin 0 Prozent, stieg von 5 Prozent auf heute knapp 18 Prozent. Der öffentliche und wissenschaftliche Einfluss dieses Netzwerkes ist nicht zu unterschätzen. Wer aufmerksam die Fernsehdokumentationen und die Artikel in der Presse verfolgt, die sich der Zeitgeschichte des Katholizismus widmen, dem fällt auf, dass dort häufig dieselben Personen auftreten, viele aus der Bonner Kommission für Zeitgeschichte e.V. und ihrer Wissenschaftlichen Kommission bzw. aus ihrem Umfeld. Journalisten, die rasch einen Gesprächspartner über vatikanische Angelegenheiten, die Päpste während des Nationalsozialismus oder andere pikante zeithistorische Themen suchen, rufen in der Bonner Kommission an. Auch in der Fachliteratur und den Handbüchern erscheinen oft dieselben Namen. Sie prägen die Wahrnehmung der Geschichte und ein bestimmtes Bild von dem umstrittenen Themenfeld, das auf diese Weise in Schule und Universität Eingang findet. In den klassischen, von der Bundeszentrale für politische Bildung vertriebenen Sammelbänden konnten sie die Artikel über die katholische Kirche in der Weimarer Republik und im NS-Regime schreiben. Das sind höchst prominente Publikationsplätze.22 Jahrzehntelang kamen Äußerungen zu Pius XII. oder zum katholischen “Widerstand” vor allem von Repgen, Morsey, von Hehl oder ihren Schülern und Schülersschülern. Jeder Erstsemester des Faches Geschichte begegnet gleich in der ersten Woche Winfried Baumgarts “Bücherverzeichnis zur deutschen Geschichte” aus dem dtvVerlag, das 1969 als “Bibliographie zum Studium der Neueren Geschichte” mit einem Vorwort von Konrad Repgen23 begann und seit Generationen zu Recht empfohlen wird. Heute liegt es in der 18. Auflage vor, mittlerweile bei Steiner. Es 22 Die Aufsätze stammen aus Standardwerken der “Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung”, sie waren jahrelang lieferbar und werden immer wieder zitiert: Konrad Repgen, Reichskonkordats-Kontroversen und historische Logik, in: Manfred Funke u. a. (Hgg.), Demokratie und Diktatur, Bonn 1987, 158–77; Klaus Gotto / Hans Günter Hockerts / Konrad Repgen, Nationalsozialistische Herausforderung und kirchliche Antwort. Eine Bilanz, in: Karl Dietrich Bracher u. a. (Hgg.), Nationalsozialistische Diktatur 1933–1945. Eine Bilanz, Bonn 1983, 655–68; Ulrich von Hehl, Staatsverständnis und Strategie des politischen Katholizismus in der Weimarer Republik, in: Karl Dietrich Bracher (Hg.), Die Weimarer Republik 1918–1933. Politik, Wirtschaft, Gesellschaft, Bonn 1987, 238–53; ders., Die Kirchen in der NS-Diktatur. Zwischen Anpassung, Selbstbehauptung und Widerstand, in: Karl Dietrich Bracher u. a. (Hgg.), Deutschland 1933–1945. Neue Studien zur Nationalsozialistischen Herrschaft, Bonn 2 1993, 153–81. 23 Winfried Baumgart, Bibliographie zum Studium der Neueren Geschichte. Mit einem Vorwort von Konrad Repgen, Bonn 1969; danach u. d. Titel: Bücherverzeichnis zur deutschen Geschichte. Hilfsmittel, Handbücher, Quellen, Frankfurt [u. a.] 1971.
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wurde von Baumgart, damals Repgens Assistent in Bonn, stets verbessert und erweitert. Geblieben ist aber, dass sämtliche Titel der Reihe A der KfZg aufgeführt wurden und (zusammen mit den einzeln bezeichneten “Actes et documents du Saint-Siège relatifs à la Seconde Guerre mondiale”) mehrere Seiten füllen, während das protestantische Schwesterunternehmen, die “Arbeiten zur Kirchlichen Zeitgeschichte”, Reihe A: Quellen, nur in einer fünfzeiligen summarischen Notiz angehängt ist. Sucht der Studierende unter der Kapitelüberschrift: “Quellen und Darstellungen zur Geschichte der Kirche 1933–45” – und unter der Seitenkopfzeile “Kirchenkampf” –, wird er an die KfZg verwiesen. Im Abschnitt Kirchen- und Kirchenrechtsgeschichte lernt er etwa das von Hubert Jedin und Konrad Repgen herausgegebene Handbuch der Kirchengeschichte kennen. Repgen ist im Bücherverzeichnis ein halbes Dutzend Mal vertreten, sein Gegner Klaus Scholder kein einziges Mal.24 Bis in die Gegenwart bestätigt die KfZg, wie sie ihre Netzwerkressourcen ausschöpft, um die Vergangenheitsbewirtschaftung in der eigenen Hand zu behalten. Im Paderborner Verlag Schöningh, wo seit 1995 auch die beiden Reihen der KfZg erscheinen, legte die Kommission 2009 einen Sammelband über “Die Katholiken und das Dritte Reich. Kontroversen und Debatten” vor. Zehn Streitdiskussionen werden behandelt. “Das Verhalten der katholischen Kirche (...) in den Jahren von 1933 bis 1945 ist nach wie vor eines der umstrittensten Themen der Zeitgeschichte. Anpassung oder Widerstand, Kollaboration oder Distanz – das sind bis auf den heutigen Tag die Pole der Kontroversen. Besonders heftig ist der Streit um Papst Pius XII. und den Holocaust. Namhafte Historiker führen jetzt durch das kaum noch überschaubare Gemenge von gesicherten Fakten und hartnäckigen Geschichtsklischees.”
Ein genauer Blick offenbart, dass sich hinter den namhaften Historikern ausschließlich katholische und kirchenloyale Historikern verbergen, die der Kommission für Zeitgeschichte verbunden sind. Andere Stimmen kommen gar nicht erst zu Wort, was dem Leser aber nicht transparent gemacht wird. Die Debatten werden schlicht durch Teilnehmer der einen Position entschieden.25 Andererseits ist das katholische Unterstützungsnetzwerk in den letzten Jahren auch dank des Generationswechsels gegenüber abweichenden Positionen offener geworden. Davon zeugten die weiträumige Einladungspolitik und die Diskussionen auf der in der Katholischen Akademie in Bayern abgehaltenen Tagung (mit 18 Referenten und einer Referentin) im Oktober 2012 anlässlich des 50jährigen Jubiläums der KfZg: “Katholizismus in Deutschland. Zeitgeschichte und Gegenwart”.
24 Baumgart, München 61983, 90, 193–196; ders., München 71988, 100, 212–215; ders. Stuttgart 18 2014, 88f., 185f. Die erneute Prüfung des Baumgarts verdanke ich dem Anstoß durch Christof Dipper, Rezension zu: Baumgart, Bücherverzeichnis, München 131999, in: H-Soz-u-Kult, 7.4.2001, http://hsozkult. geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/id=1093. 25 Karl-Joseph Hummel / Michael Kißener (Hgg.), Die Katholiken und das Dritte Reich. Kontroversen und Debatten, Paderborn 2009, Klappentext; ausführlich dazu: Olaf Blaschke, Die Kirchen und der Nationalsozialismus, Stuttgart 2014.
VERNETZUNG ALS KAPITAL EINER FACHZEITSCHRIFT Kontinuität im Neuanfang der Historischen Zeitschrift 1949 Matthias Krämer
1 FACHZEITSCHRIFTEN, KAPITALSORTEN UND KONTINUITÄTEN Fachzeitschriften stehen im Zentrum der wissenschaftsinternen Kommunikation. Der Nimbus etablierter Fachzeitschriften entspringt ihrer Fähigkeit, den Autoren eine institutionalisierte Sprecherposition zuzuweisen, die deren Kompetenz und Legitimität verbürgt.1 Diese Fähigkeit besitzen Zeitschriften aufgrund ihres Prestiges, ihres geballten symbolischen Kapitals. Dessen Verleihung an Autoren funktioniert bei Fachzeitschriften ähnlich wie es Olaf Blaschke für Fachverlage beschrieben hat.2 Doch Zeitschriften können noch größeres – oder in speziellen Bereichen konzentrierteres – symbolisches Kapital ansammeln und Autoren damit ausstatten. Ich befasse mich im Folgenden am Beispiel der Historischen Zeitschrift (HZ) mit den Fragen, wie Fachzeitschriften produziert werden und wie im Produktionsprozess das symbolische Kapital entsteht. Dazu stelle ich verschiedene Netzwerke vor, die Einfluss auf die HZ-Produktion der Nachkriegszeit hatten und auf diese Weise die deutschsprachige Geschichtswissenschaft prägten. Zuerst muss ich aber erläutern, was ich mit symbolischem Kapital meine. Ich lehne mich an Pierre Bourdieu an, der in einer wissenschaftssoziologischen Arbeit symbolisches Kapital die Anerkennung der „Gesamtheit der gleichgesinnten Wettbewerber innerhalb des wissenschaftlichen Feldes“ nennt.3 Anderswo sagt Bourdieu allgemeiner, dass symbolisches Kapital gar keine eigene Kapitalsorte neben 1
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Vgl. Michel Foucault, Archäologie des Wissens, in: Michel Foucault, Die Hauptwerke, Frankfurt am Main 2008, 471–699, hier 525–531 (Abschnitt „Die Formation der Äußerungsmodalitäten“). Zum symbolischen Kapital von Verlagen vgl. Olaf Blaschke / Lutz Raphael, Im Kampf um Positionen; Änderungen im Feld der französischen und deutschen Geschichtswissenschaft nach 1945, in: Jan Eckel / Thomas Etzemüller (Hgg.), Neue Zugänge zur Geschichte der Geschichtswissenschaft, Göttingen 2007, 69–109; Olaf Blaschke, Die „Hand am Puls der Forschung“. Konjunkturen der Zeitgeschichtsschreibung und ihre Verleger seit 1945, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 56/2009, 99–115, hier 101, beschreibt das Verlagssignet als Träger symbolischen Kapitals, als Gütesigel für das Prestige der bei diesem Verlag beheimateten Autoren; vgl. insgesamt Olaf Blaschke, Verleger machen Geschichte. Buchhandel und Historiker seit 1945 im deutsch-britischen Vergleich, Göttingen 2010. Pierre Bourdieu, Vom Gebrauch der Wissenschaft. Für eine klinische Soziologie des wissenschaftlichen Feldes, Konstanz 1998, 23. Zum symbolischen Kapital vgl. grundlegend Pierre Bourdieu, Outline of a Theory of Practice, Cambridge 2013, 171–183. Ein Überblick über die
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ökonomischem, sozialem und kulturellem Kapital ist, sondern der Modus „jeder Art von Kapital“, die „als legitim anerkannt wird“.4 In der Wissenschaft ist es nach herkömmlicher Auffassung Wissen, das als legitim anerkannt wird. Mit Bourdieu ließe sich Wissen als kulturelles Kapital einordnen. Da es hier aber um Netzwerke gehen soll, betrachte ich im Folgenden vor allem das soziale Kapital und seine Anerkennung im wissenschaftlichen Feld. Ein von Bourdieus Feldtheorie beeinflusster Ansatz und die wissenssoziologische Frage nach der sozialen Bedingtheit von Wissen und Wissenschaft erfordern eine kritische Perspektive auf Netzwerke. Zwar wäre es auch denkbar, den Netzwerkbegriff wie in der Unternehmensgeschichte häufig als begeisterten Verweis auf die Gewinnmöglichkeiten von joint ventures zu benutzen.5 Doch da Wissenschaftsforschung auch zur Selbstreflexion von Wissenschaft beiträgt, ist eine wissenschaftshistorische Untersuchung von Netzwerken zur Beachtung von Ansatzpunkten für Wissenschaftskritik genötigt. Einschlägig sind hier vor allem aus den Sozialbeziehungen möglicherweise erwachsende Rationalitätsmängel. Die Anhäufung von Sozialkapital stellt in dieser Hinsicht zwar eine Stärkung der Akteure und Netzwerke, in denen dieses Kapital erzeugt wird, dar. Als Gewinn für die Wissenschaft lässt sich dies jedoch nicht so einfach qualifizieren. Diese Spannung basiert auf den disparaten Ausgangspunkten der Bourdieuschen Feldtheorie und der Netzwerkanalyse trotz gemeinsamer Verwendung des Sozialkapitalbegriffs.6 Als Untersuchungsgegenstand dient mir die HZ, die einmal die sicherste Bank für symbolisches Kapital in der deutschsprachigen Geschichtswissenschaft war, vielleicht auch noch immer ist. In die Nachkriegszeit bringt die HZ zuerst einmal ihr älteres symbolisches Kapital mit. Träger des Kapitals ist nicht einfach der Markenname HZ, sondern vor allem die personelle Kontinuität.7 Doch auf den ersten
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anderen Kapitalsorten in Bourdieus Feldtheorie ist: Pierre Bourdieu, Ökonomisches Kapital – Kulturelles Kapital – Soziales Kapital, in: Pierre Bourdieu, Die verborgenen Mechanismen der Macht, hg. von Margareta Steinrücke, Hamburg 2005, 49–79. Pierre Bourdieu, Meditationen. Zur Kritik der scholastischen Vernunft, Frankfurt am Main 2001, 311; vgl. Werner Fuchs-Heinritz / Alexandra König, Pierre Bourdieu. Eine Einführung, Konstanz / München 2011, 171f.; Bourdieu, Theory of Practice, 183. Vgl. Morten Reitmayer / Christian Marx, Netzwerkansätze in der Geschichtswissenschaft, in: Christian Stegbauer / Roger Häußling (Hgg.), Handbuch Netzwerkforschung, Wiesbaden 2010, 869–880, hier v. a. 876. Stefan Bernhard hat eine Verknüpfung beider Ansätze vorgeschlagen, um die Theorieferne der Netzwerkanalyse ebenso wie die fehlende Operationalisierung von Bourdieus Feldtheorie zu beheben: Stefan Bernhard, Netzwerkanalyse und Feldtheorie. Grundriss einer Integration im Rahmen von Bourdieus Sozialtheorie, in: Christian Stegbauer (Hg.), Netzwerkanalyse und Netzwerktheorie. Ein neues Paradigma in den Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2010, 121– 130. Wäre der Oldenbourg-Verlag 1945 liquidiert und die Marke HZ andernorts wiederverwendet worden, ohne eine personelle Kontinuität herzustellen, wäre ein Erfolg der Zeitschrift wenig wahrscheinlich gewesen. Außer symbolischem Kapital garantierte die personelle Kontinuität auch soziales und kulturelles Kapital. Der Oldenbourg-Verlag als Unternehmen garantierte darüber hinaus das ökonomische Kapital, das von allen Kapitalsorten am leichtesten durch einen anderen Investor ersetzbar gewesen wäre. Zur Rolle des Oldenbourg-Verlags und zu seinem
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Blick erscheint das Kriegsende als „Stunde Null“: Der Oldenbourg-Verlag musste auf eine Lizenz von der Besatzungsbehörde warten und erhielt sie nur unter der Bedingung, dass die alte Verlagsleitung abgelöst wurde durch den Verlagslektor Manfred Schröter und den Familiennachwuchs Rudolf Oldenbourg.8 HZ-Herausgeber Karl Alexander von Müller trat zurück, und mit Ludwig Dehio wurde ein weitgehend unbekannter Außenseiter der Historikerzunft sein Nachfolger. Ich werde zu zeigen versuchen, wie stark die Kontinuitäten dennoch waren und wie sehr sie sich aus den persönlichen Netzwerken der Beteiligten speisten. Auch die Nachkriegs-HZ berief sich auf ihre direkte Abstammung von der deutschen Historikertradition bis zu Sybel und Ranke. Indem sie als legitime Erbin der Gründerväter auftrat, verlieh die HZ ihren Inhalten besondere Beglaubigung.
2 KONTINUITÄTEN UND DIE VERNETZUNG AKADEMISCHER SCHULEN 1) Kontinuitätsarten der Herausgeber Für die Kontinuität der HZ über das Kriegsende hinweg steht besonders bezeichnend Walther Kienast.9 Er hatte 1927 unter der Herausgeberschaft Friedrich Meineckes die Redaktion des Rezensionsteils übernommen10 und nach Meineckes Rückzug 1935 auch unter Karl Alexander von Müller fortgeführt.11 Kienast erledigte wahrscheinlich die meiste Arbeit an der HZ,12 die er von Graz aus auch dann noch fortsetzte, als die Zeitschrift 1944 kriegsbedingt nicht mehr erschien. Er war
Einfluss auf die Wissenschaft in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts vgl. Tilmann Wesolowski, Verleger und Verlagspolitik. Der Wissenschaftsverlag R. Oldenbourg zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus, München 2010. 8 Schröter wurde Lizenzträger, Rudolf Oldenbourg Geschäftsführer. Wilhelm Oldenbourg musste aufgrund der Verantwortlichkeit für die nationalsozialistische Buchproduktion des Verlags, darunter Schulbücher, zurückstecken. Der Name musste in Leibniz-Verlag geändert werden. BWA F5/1208, Brief Wilhelm Oldenbourg an Ludwig Dehio, München 05.09.1946. Das im Bayerischen Wirtschaftsarchiv (BWA), München, liegende Verlagsarchiv des R. Oldenbourg Verlags trägt die Signatur F5 und ist in nummerierte Mappen untergliedert, von denen für die HZ nach 1945 besonders die Nummern im 1200er- und im 1600er-Bereich einschlägig sind. 9 Biographisch grundlegend: Peter Herde, Walther Kienast (31. Dezember 1896–17. Mai 1985), in: Walther Kienast, Die fränkische Vasallität von den Hausmeiern bis zu Ludwig dem Kind und Karl dem Einfältigen, hg. von Peter Herde, Frankfurt am Main 1990, XI–XLIV; Theodor Schieder, Walther Kienast zum 70. Geburtstag, in: HZ 203/1966, 528–531, besonders 529, stilisiert Kienast zum Kontinuitätsgaranten der HZ, betont seine „Stetigkeit“, die „über allen Wandel der Zeiten hinweg“ die „wissenschaftliche Kontinuität“ gewahrt habe. 10 BWA F5/1644, Brief Walther Kienast an [Wilhelm Oldenbourg], Marburg 15.08.1948. 11 Wesolowski, Verleger und Verlagspolitik, 278–280. Wesolowski skizziert Kienast ebd., 292– 294, als illoyal gegenüber Meinecke und mit deutlicher Nähe zu Walter Frank. 12 Vgl. ebd., 285, 292 und öfter.
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der Zeitschrift und dem Verlag eng verbunden.13 In der Nachkriegszeit tauschte er sich rege mit Wilhelm Oldenbourg, dem Senior-Chef, der bald wieder die Zügel im historischen Verlagsbereich in der Hand hielt, über die weiteren Entwicklungen in Sachen HZ aus, obwohl Kienast wegen seiner NSDAP-Mitgliedschaft als Mitarbeiter zunächst nicht mehr in Frage kam.14 Er besaß nicht nur die materiellen Bestände der HZ-Redaktion – zum Beispiel die Rezensentenkartei – die er in mehreren Kisten bei seiner Flucht von Graz nach Marburg mitgebracht hatte,15 sondern auch persönliche Kontakte zu früheren Mitarbeitern und das Know-How über die etablierten Verfahren zur Produktion der Zeitschrift. Beispielsweise erläuterte Kienast dem Verleger Anfang 1948 auf Anfrage die früheren Honorarsätze, etwa dass Rezensionen – Zitat – „seit der Brüningkrise honorarfrei [waren] (was damals als vorübergehende Maßnahme gedacht war).“16 Der Verlag war auf Kienasts Know-How angewiesen, da er im Bombenkrieg viele Geschäftsunterlagen verloren hatte. So nutzte Oldenbourg die erste Gelegenheit nach Kienasts Entnazifizierung, um im August 1948 den zwischenzeitlichen Mitarbeiter Anton Ritthaler auszubooten und Kienast in seine alte Position einzusetzen.17 Unter der Oberfläche erscheint die angebliche Stunde Null 1945 auch hier als Mittagspause inmitten personeller Kontinuitäten.18 Dass Kienast 1945 in Marburg landete, kann wenigstens zum Teil der Tatsache zugeschrieben werden, dass es bei Kriegsende auch seinen Freund19 Ludwig Dehio dorthin verschlagen hatte. Der Staatsarchivrat hatte die Evakuierung preußischer 13 Seine enge Verbundenheit zur Zeitschrift und ihrem Verlag zeigte sich exemplarisch, als Kienast noch vor Kriegsende, Mitte April 1945, an die Verlagsmitarbeiterin „Fräulein Schweitzer“ schrieb, dass er aus Graz evakuiert sei und sich nach Kräften um die Sicherung der Manuskripte der HZ bemüht habe. BWA F5/1644, Postkarte Walther Kienast an Verlag Richard Oldenbourg, Pruggern bei Gröbming 15.04.1945. In Untergangsstimmung formulierte er weiter: „Vor uns die Sintflut. Ob und wie werden wir sie überleben? Von Frau und Kind (in Berlin oder Havelberg) bin ich seit Ende März ohne Nachricht und in großer Sorge. Am liebsten möchte ich versuchen mich noch nach Bln. [Berlin] durchzuschlagen. Sicher nehme ich Nordkurs, wenn die Russen die Donau auf[wärts] marschieren; vielleicht heischt dann bei Ihnen ein armer Flüchtling vorübergehend Obdach.“ Hervorhebung im Original unterstrichen. 14 BWA F5/1644, Postkarte Walther Kienast an [Wilhelm Oldenbourg], Marburg 04.10.1945; BWA F5/1208, Brief Wilhelm Oldenbourg an Ludwig Dehio, München 16.01.1946; BWA F5/1644, Brief Wilhelm Oldenbourg an Walther Kienast, [München] 03.04.1947. 15 BWA F5/1644, Brief Walther Kienast an [Wilhelm Oldenbourg], Marburg 09.04.1947. Kienast hatte die Kisten auf dem Dachboden der Marburger Universität gelagert. 16 BWA F5/1644, Brief Walther Kienast an [Wilhelm Oldenbourg], Berlin 19.01.1948. 17 BWA F5/1644, Brief Walther Kienast an [Wilhelm Oldenbourg], Marburg 15.08.1948. Von „Ausbotung“[sic] spricht BWA F5/1644, Brief Wilhelm Oldenbourg an Walther Kienast, [München] 25.08.1948. Vgl. Briefe vom selben Datum: BWA F5/1644, Brief Walther Kienast an Wilhelm Oldenbourg, Marburg 30.08.1948; BWA F5/1644, Brief Walther Kienast an den Verlag Oldenbourg, Marburg 30.08.1948; BWA F5/1644, Brief Walther Kienast an das Sekretariat des Leibniz Verlages (Fräulein Homann), Marburg 30.08.1948. 18 Vgl. Blaschke, Die „Hand am Puls der Forschung“, 109. 19 BWA F5/1208, Brief Ludwig Dehio an Wilhelm Oldenbourg, Marburg 28.02.1946; BWA F5/1644, Brief Wilhelm Oldenbourg an die Deutsche Bank, Filiale München, München 05.07.1946.
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Archivbestände aus Berlin ins beschauliche Marburg betreut und war dort geblieben.20 Als Anfang 1946 seine „dienstliche Position im großhessischen Archivwesen definitiv geregelt“21 wurde, stieg Dehio zum Direktor des Staatsarchivs Marburg auf.22 Dehio war in NS-Terminologie „Vierteljude“ und hatte in der Zeit des Nationalsozialismus mit Protektion Albert Brackmanns im Brandenburg-Preußischen Hausarchiv „überwintert“. Weil in dieser Zeit „nur sehr Wenige ohne Schuld und Fehle bewahrt die kindlich reine Seele“,23 wie es Dehio mit Schiller ausdrückte, trug der Oldenbourg-Verlag ihm 1946 die Herausgeberschaft der HZ an.24 Dass damit ein unbekannter Archivar statt eines angesehenen Geschichtsprofessors eine zentrale Machtposition der deutschen Geschichtswissenschaft einnehmen sollte, erstaunt zunächst. In die Feldtheorie passt es auch nicht so recht, da ihr zufolge eine „reziproke Reputationsspirale“ zu erwarten wäre,25 das heißt das Zusammenfinden von Akteuren mit gleichermaßen hoher Reputation zum wechselseitigen Vorteil. Auch Dehio selbst empfand sich eigentlich nicht als den richtigen Mann in dieser Position. Er schrieb in seiner üblichen Bescheidenheit: „Auch stelle ich mir vor, daß Ihr Angebot an mich den zeitbedingten Ausfall anderer Persönlichkeiten zur Voraussetzung hat, an die Sie sich sonst vielleicht zuerst gewandt haben würden. Aber wie auch immer: ich halte es für meine Pflicht, an der Stelle mein Bestes zu tun, an die mich die Umstände rufen. Auch ist es mir Ehrensache, das Vertrauen nicht zu enttäuschen, das der Meister unserer Wissenschaft – denn das ist Meinecke – in mich setzt.“26
2) Legitimation durch Vernetzung Friedrich Meineckes Empfehlung hatte Dehio also das Herausgeberamt verschafft. Weil das eine überraschende verlegerische Entscheidung war, fühlte sich der Verlag mehrfach zu näheren Begründungen genötigt. Aus deren Analyse ergibt sich, dass die Übertragung von Meineckes 1945 nochmal aufgewertetem symbolischem Kapital auf Dehio ausgleichen konnte, was diesem an persönlichem Renommee fehlte. Und das war eine ganze Menge, jedenfalls im Vergleich mit Gerhard Ritter, den
20 Zu Dehio: Thomas Beckers, Abkehr von Preußen. Ludwig Dehio und die deutsche Geschichtswissenschaft nach 1945, Aichach 2001; Volker R. Berghahn, Ludwig Dehio, in: Hans-Ulrich Wehler (Hg.), Deutsche Historiker, Bd. 4, Göttingen 1972, 97–116; Theodor Schieder, Ludwig Dehio zum Gedächtnis 1888–1963, in: HZ 201/1965, 1–12; Winfried Schulze, Deutsche Geschichtswissenschaft nach 1945, München 1989, besonders 87–109. 21 BWA F5/1208, Brief Ludwig Dehio an Wilhelm Oldenbourg, Marburg 22.01.1946. 22 Zudem vertrat er die neuere Geschichte an der Universität. BWA F5/1208, Brief Ludwig Dehio an Wilhelm Oldenbourg, Marburg 28.02.1946. Er lehnte aber das Ordinariat des suspendierten Wilhelm Mommsen ab, um nicht als „nichtarischer Konjunkturritter“ zu gelten. Lothar Gall, 150 Jahre Historische Zeitschrift, in: HZ 289/2009, 1–23, hier 6. 23 BWA F5/1208, Brief Ludwig Dehio an [Wilhelm Oldenbourg], Marburg 03.04.1946. 24 BWA F5/1208, Brief Wilhelm Oldenbourg an Ludwig Dehio, München 16.01.1946. 25 „Die Reputation von Autor und Verlag, das Kapital beider Seiten mehrte sich gegenseitig.“ Blaschke, Die „Hand am Puls der Forschung“, 101. 26 BWA F5/1208, Brief Ludwig Dehio an Wilhelm Oldenbourg, Marburg 28.02.1946.
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damals wohl die meisten Historiker für den kommenden HZ-Herausgeber hielten, zumindest Ritter selbst, Dehio und Meinecke.27 Nach außen hin betonte man stets, dass der altehrwürdige HZ-Herausgeber Meinecke seinen Nachfolger erwählt habe – und überging dabei flugs das dunkle Jahrzehnt der Herausgeberschaft Karl Alexander von Müllers. Im Vertrauen gab es freilich noch einen weiteren Grund für den Verlag, lieber Dehio als Ritter zum Herausgeber zu ernennen. Gegenüber dem bescheidenen Dehio durfte man hoffen, die Verlagsinteressen leichter durchsetzen zu können. Gerhard Ritter hingegen galt als sehr selbstbewusst, eigensinnig und leicht beleidigt.28 Ritter fehle wohl die „Konzilianz im Umgang mit Menschen“, und man befürchte, dass er „stark autokratisch gesinnt ist und niemand neben sich duldet“.29 Oldenbourg, der auch Meinecke einst als „autokratisch“ bezeichnet hatte,30 schreckte das stark ab, da er mit Meinecke die Erfahrung gemacht hatte, dass „mit den ‚großen Namen‘ nicht automatisch ‚große Verlagspolitik‘ gemacht werden konnte.“31 Der Oldenbourg-Verlag hätte es bei Konflikten mit einem Herausgeber Ritter sicher schwer gehabt, seine Interessen zu wahren. Aber ein respektvoller Umgang mit Menschen ist für einen Zeitschriftenherausgeber auch deshalb wichtig, weil die Netzwerke um eine Zeitschrift herum für deren Qualität und Ansehen essentiell sind. Ludwig Dehio besaß die benötigten Fähigkeiten zum gelingenden Umgang mit Historikern. Sie gehörten zum kulturellen Kapital, das er im bildungsbürgerlichen Elternhaus erworben hatte. Als Sohn von Georg Dehio, dem Namensgeber des berühmten „Handbuchs der deutschen Kunstdenkmäler“, war er in den angesehensten bürgerlich-nationalkonservativen Kreisen aufgewachsen.32 Sein dort erlernter Habitus überzeugte auch den gleichermaßen bürgerlich-nationalkonservativen Verleger Wilhelm Oldenbourg.33 Der langjährige Verlagslektor Manfred Schröter, der als Träger der Verlagslizenz Leitungsverantwortung übernahm, schrieb nach dem ersten Treffen mit Dehio sogar enthusiastisch: „Es war mir eine grosse und besondere Freude, Sie haben ken-
27 BWA F5/1208, Brief Ludwig Dehio an Wilhelm Oldenbourg, Marburg 28.02.1946; BWA F5/1208, Brief Wilhelm Oldenbourg an Ludwig Dehio, [München] 06.03.1946; BWA F5/1208, Brief Ludwig Dehio an [Wilhelm Oldenbourg], Marburg 03.04.1946. 28 Er sei „ein hervoragender Historiker, aber ein schwieriger Charakter“ lautete das Urteil, das Oldenbourg „von verschiedenen Seiten über Herrn Prof. Ritter“ erhalten hatte. BWA F5/1208, Brief Wilhelm Oldenbourg an Ludwig Dehio, [München] 06.03.1946. 29 BWA F5/1208, Brief Wilhelm Oldenbourg an Ludwig Dehio, [München] 23.04.1946. 30 Wesolowski, Verleger und Verlagspolitik, 290. 31 Ebd., 369; vgl. Reinhard Wittmann, Wissen für die Zukunft. 150 Jahre Oldenbourg Verlag, München 2008, 63. 32 Karl Hammer beschrieb dies weniger prosaisch: „An der angeborenen, ungesuchten Feinheit des Auftretens erkannte man den Sproß einer alten Familie. Von seinem Wesen ging etwas von einer universalen Geisteskultur aus.“ Karl Hammer, Ludwig Dehio (1888–1963), in: Ingeborg Schnack (Hg.), Marburger Gelehrte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Marburg 1977, 48–63, hier 61. 33 In Deutschland galt es als selbstverständlich, dass Verleger und Autoren „in ihren Ansichten miteinander übereinstimmen“ müssten. Blaschke, Die „Hand am Puls der Forschung“, 102.
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nen lernen zu dürfen und mit Ihnen in allen Fragen so überzeugend übereinzustimmen.“34 Zwischen Dehio und Schröter, der als Schwager von Otto und Hedwig Hintze 1937 als „jüdisch versippt“ seinen Lehrauftrag verloren hatte35 und daher auch prägende NS-Erfahrungen mit Dehio teilte, entspann sich daraufhin ein intensiver und persönlicher Briefwechsel, in dem immer wieder starke ideelle Übereinstimmungen deutlich werden. Die Ähnlichkeit der Weltsicht, die darin zum Ausdruck kommt, schuf eine enge Sozialbeziehung zwischen Dehio und Schröter. Dehios soziales Kapital unter Historikern entstammte aber weniger seinem Elternhaus als dem Meinecke-Kreis, zu dem er seit der Weimarer Zeit in Berlin gehörte. Ohne im strengen Sinne, also qua Betreuung der Doktorarbeit, zu Meineckes Schülern zu zählen,36 und ohne Ambitionen auf eine Karriere als Ordinarius, vernetzte er sich im Umfeld Meineckes in den 1920er Jahren ausgezeichnet, so dass Dehio später „Anschluß an die Berliner Historikerschule“ attestiert werden konnte.37 Dieser „Anschluß“ bedeutete die Herstellung persönlicher Beziehungen zum Zentrum der deutschsprachigen Historikerzunft. Dank dieser Beziehungen konnte Dehio seine spätere Zentralstellung als HZ-Herausgeber erst richtig ausfüllen. Die Mitarbeit vieler wichtiger Historiker schon am ersten Heft der Nachkriegs-HZ und die rasch demonstrierte enge Verbindung der HZ zum Verband der Historiker Deutschlands garantierten die Anerkennung der HZ als wichtigste geschichtswissenschaftliche Fachzeitschrift auch unter Dehio. Beides ist auf Dehios soziales Kapital und auf das symbolische Kapital der HZ zurückzuführen.38
34 BWA F5/1208, Brief [Manfred Schröter] an Ludwig Dehio, 04.10.1946 [Durchschlag ohne Ort und Unterschrift]. 35 Wesolowski, Verleger und Verlagspolitik, 164–166; Wittmann, Wissen für die Zukunft, 94: Schröter war „verheiratet mit Hildegard Guggenheimer, Tochter des Bankers Moritz Guggenheimer und Schwester der Historikerin Hedwig Hintze“. 36 Eine akademische Lehrer-Schüler-Beziehung kann für den Schüler den Erwerb von ökonomischem, kulturellem, sozialem und symbolischem Kapital bedeuten, die alle zur Erlangung von Geschichtsprofessuren (dem wichtigsten Ausweis einer erfolgreichen Platzierung im Feld) wichtig sind. 37 Theodor Schieder, Ludwig Dehio zum Gedächtnis, 2; er bezeichnete Dehio auch als „Jünger Rankes und Burckhardts“. 38 Anfangs befürchteten der Verlag und Dehio selbst, dass die Reputation der HZ unter einem weitgehend unbekannten Herausgeber leiden würde. Zuerst war ein „Redaktionskollegium“ mit vielen bekannten Historikern vorgesehen, das Dehio mit symbolischem Kapital ausstatten sollte, so wie es fünfzig Jahre vorher dem Jungherausgeber Meinecke nach dem Tod Sybels und Treitschkes den Rücken gestärkt hatte. Vgl. HZ 77/1896, I: „Unter Mitwirkung von Paul Bailleu, L. Erhardt, Otto Hintze, Otto Krauske, Max Lenz, Moriz Ritter, Konrad Varrentrapp, Karl Zeumer herausgegeben von Friedrich Meinecke.“ Beim Erscheinen des ersten Nachkriegsheftes wurde das nicht mehr als erforderlich angesehen. Stattdessen bemühte man sich, das symbolische Kapital der HZ durch Traditionsbetonung auf Dehio zu übertragen. So nannte Gall, 150 Jahre HZ, 6, Dehio noch 2009 den „eigentlichen späten Nachfolger Friedrich Meineckes“ und unterschied sich ebd., 7f., auch nicht deutlich von Dehios Praxis, die „große Tradition“ der HZ zu beschwören, „zumal aus der letzten Blütezeit dieser Zeitschrift unter Friedrich Meinecke“: Ludwig Dehio, Geleitwort zum Wiedererscheinen der Historischen Zeitschrift, in: HZ 169/1949, [V]–[VII], hier [VI].
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3) Vernetzte Autoren und ihre Aufsätze Ausgehend von der Überlegung, dass der erste Nachkriegsband der HZ 1949 den Zustand der deutschen Geschichtswissenschaft in den Nachkriegsjahren einigermaßen repräsentiert, möchte ich in diesem Abschnitt die Aufsätze dieses Bandes 169 und ihre Autoren näher betrachten, um die Umsetzung von Dehios Programm zum Neuanfang der HZ zu überprüfen und die Vernetzung Dehios innerhalb der Zunft als Voraussetzung seiner Neuorientierungsbemühungen zu untersuchen. Dehio betonte immer wieder, der erste Nachkriegsband der HZ solle zur Neubesinnung der deutschsprachigen Geschichtswissenschaft beitragen. Dieses Vorhaben spiegelt sich in den erschienenen Aufsätzen wieder, da diese sich inhaltlich auf für die Gegenwart wichtige Fragen und auf die Historiographiegeschichte (als Vorbild einer künftigen Historiographie) beziehen: Mediävistische Untersuchungen finden sich gar nicht. Der althistorische Aufsatz von Alfred Heuß behandelt mit Krieg und Imperialismus zwei in der Nachkriegsgegenwart sehr virulente Themen, die Heuß als „Kriegsschuldfrage“39 eng an die Gegenwart bindet. Politisch tendiert sein Aufsatz in eine ähnliche Richtung wie die Studie Otto Beckers über Bismarcks Verständigungsabsicht vor 1866: Becker will daraus, dass Bismarck nicht auf einen Krieg hingearbeitet habe, schlussfolgern, dass das Deutsche Reich nicht im Kern kriegerisch war. Dabei stellt Becker die Gegenwartsbedeutung seines Aufsatzes auch explizit dar: „Schwerwiegende politische Entscheidungen der Gegenwart werden mit geschichtlichen Argumenten gerechtfertigt, wobei auf die Eigenart des Deutschen Reiches und seine kriegerische Entstehung hingewiesen wird. Um so größer ist deshalb die Pflicht der deutschen Geschichtsforschung, ihre neuesten Ergebnisse zu diesen Fragen der Weltöffentlichkeit bekannt zu machen.“40
Wenn die Aufsätze von Hans Haussherr und Willy Andreas überhaupt einen Gegenwartsbezug aufweisen, dann den, mit Arbeiten über den Patron der Weimarer Klassik Karl August von Sachsen-Weimar-Eisenach – und seinen Minister Goethe – Deutschland als Land der Dichter und Denker zu repräsentieren statt als kriegslüsterne Großmacht und Gefahr für den Weltfrieden.41 Gerhard Ritters Aufsatz über Ursprung und Wesen der Menschenrechte hingegen ist typische politische Geschichtsschreibung, in der aus historischen Tatsachenbehauptungen politische Schlussfolgerungen für die Gegenwart gezogen werden. Ritter schlussfolgert, dass Gleichheit und Demokratie für Nationalsozialismus und Sowjetkommunismus verantwortlich seien und deshalb ein autoritärer, antiwestlicher, christlicher Staat die 39 Alfred Heuß, Der erste Punische Krieg und das Problem des römischen Imperialismus. (Zur politischen Beurteilung des Krieges), in: HZ 169/1949, 457–513, hier 459. 40 Otto Becker, Der Sinn der dualistischen Verständigungsversuche Bismarcks vor dem Kriege 1866, in: HZ 169/1949, 264–298, hier 264. Die schwerwiegenden politischen Entscheidungen der Gegenwart dürften etwa die deutsche Teilung und das Besatzungsstatut umfassen. 41 Hans Haussherr, Der Minister Goethe und die Äußere Politik Carl Augusts, in: HZ 169/1949, 299–336; Willy Andreas, Kämpfe und Intrigen um den Regierungsantritt Carl Augusts von Weimar. Eine Archivalische Studie zur Thüringischen Landesgeschichte, in: HZ 169/1949, 514–558.
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vor allem wünschenswerten negativen Freiheitsrechte am besten verwirklichen könne.42 Die vier Aufsätze mit Historiographiebezug, die Dehio im ersten Heft des Bandes von 1949 versammelte, thematisieren Jacob Burckhardt, Friedrich Meinecke und Johan Huizinga sowie die Historiographie zu Ludwig XIV.43 Diese Themenstellungen reichen bereits aus, um sie als Versuche zu charakterisieren, zu einer demokratietauglichen Umorientierung der Geschichtswissenschaft beizutragen. In gewisser Weise knüpfen die Aufsätze über Meinecke und Huizinga auch unmittelbar an das Ende der Herausgeberschaft Meineckes an, das durch den Abdruck eines Huizinga-Aufsatzes eingeleitet worden war: Auf der Konferenz des internationalen Studentenwerks 1933 an der Universität Leiden hatte Huizinga als Rektor den Antisemitismus des NS-Historikers Johann von Leers angegriffen, diesen aufgefordert, die Universität zu verlassen, und einen Eklat hervorgerufen. „Und ausgerechnet von jenem Huizinga hatte Meinecke einen Aufsatz für das nächste Heft der HZ aufgenommen.“44 Was nun die Autoren angeht, so lassen sie sich als gut verbunden im damaligen Netzwerk der deutschsprachigen Geschichtswissenschaft beschreiben. Durchweg entstammen sie den wichtigsten Schultraditionen, wie sie Wolfgang Weber herausgearbeitet hat.45 Eine Untersuchung der Lehrer-Schüler-Bindung als wichtigster Art der Vernetzung für deutsche Historiker ergibt für die HZ-Autoren 1949 folgendes Bild: Der Althistoriker Alfred Heuß als akademischer Urenkel Theodor Mommsens und der Neuhistoriker Gisbert Beyerhaus als Urenkel Leopold von Rankes sind noch die – wohlgemerkt – am schlechtesten platzierten Autoren hier. Die übrigen sechs Historiker vereinen nämlich in ihrer akademischen Herkunft allesamt Wurzeln, die zu Ranke, zu Johann Gustav Droysen und in die Historische Schule der Nationalökonomie reichen. Sie integrieren also diese wichtigen Traditionen in der Reihe ihrer akademischen Lehrer. Hermann Oncken, Erich Marcks, Otto Hintze und Friedrich Meinecke stehen alle mehrfach in diesen Ahnenreihen. Sie bildeten zusammen so etwas wie das Gravitationszentrum der deutschen Geschichtswissenschaft im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts. 42 Gerhard Ritter, Ursprung und Wesen der Menschenrechte, in: HZ 169/1949, 233–263. Den antiwestlichen deutschen Sonderweg verteidigt Ritter auf S. 259 mit der Behauptung, angemessene Grundrechte seien im Bismarckreich „bereits gesichert“ gewesen, auch wenn oder gerade weil die „Reichsverfassung kein Wort mehr über ‚Grundrechte der Deutschen‘ enthielt“. 43 Fritz Hartung: L’Etat c’est moi, in: HZ 169/1949, 1–30; Rudolf Stadelmann, Jacob Burckhardts Weltgeschichtliche Betrachtungen, in: HZ 169/1949, 31–72; Gisbert Beyerhaus, Notwendigkeit und Freiheit in der deutschen Katastrophe. Gedanken zu Friedrich Meineckes jüngstem Buch, in: HZ 169/1949, 73–87; Willy Andreas, Johan Huizinga (7. Dezember 1872 – 1. Februar 1945). Ein Nachruf, in: HZ 169/1949, 88–104. 44 Wesolowski, Verleger und Verlagspolitik, 279f. 45 Wolfgang Weber, Priester der Klio. Historisch-sozialwissenschaftliche Studien zur Herkunft und Karriere deutscher Historiker und zur Geschichte der Geschichtswissenschaft 1800–1970, Frankfurt am Main u. a. 1984, 189–318. Weber erläutert dort methodische Fragen zur Feststellung von Schultraditionen, zeichnet die Traditionslinien aller Geschichtsordinarien an deutschsprachigen Universitäten nach und legt so in mehrerlei Hinsicht die Grundlagen für das Folgende. Angaben über die akademische Abstammung sind stets Weber entnommen.
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Nach Ende des Zweiten Weltkrieges konnten die mit diesem Zentrum verbundenen Historiker sich darauf berufen, dass Meinecke und die verstorbenen Hintze und Oncken nicht NS-kompromittiert waren, sondern als bekannte Symbolfiguren für eine nicht-nationalsozialistische Historiographie standen. Während etwa Meinecke bei Durchsetzung des Nationalsozialismus alles andere als en vogue in der deutschen Geschichtswissenschaft war, was auch zu seiner Ersetzung als HZ-Herausgeber beitrug,46 erschien offenbar auch dem Oldenbourg-Verlag 1945 eine Rückbesinnung auf Meinecke und sein Umfeld geboten. So war es folgerichtig, dass Dehio die Aufsätze von Schülern dieser Symbolfiguren druckte, die teilweise auch selbst als gemäßigt demokratisch oder als konservative Nazigegner galten. Diese Auswahl stand jedoch weniger für einen demokratisch-liberalen Neuanfang, als für eine Rückbesinnung auf die Weimarer Zeit. Auch mit der Auswahl der Aufsatzautoren signalisierte die HZ also die Anknüpfung an die Herausgeberschaft Meineckes und ihren Anspruch, weiter im Gravitationszentrum der deutschen Geschichtswissenschaft zu stehen. Auffällig ist auch, dass bis auf Heuß alle Aufsatzautoren der HZ 1949 auch in der HZ 1943 Aufsätze publiziert hatten. Und zwar handelte es sich dabei bezeichnenderweise allesamt um Aufsätze, die Meinecke zum 80. Geburtstag gewidmet waren.47 Mehr Kontinuität über 1945 hinweg geht nicht. Nun ist das Wort „Gravitationszentrum“ hier eine Metapher, die personelle Verflechtungen und inhaltliche Prägungen lediglich anreißt. Ich gehe aber davon aus, dass sich durch eine umfangreiche formale Netzwerkanalyse der deutschen Geschichtswissenschaft ein solches Gravitationszentrum nachweisen lassen würde, und zwar durch die Zentralität und die Dichte des Netzwerks in diesem Bereich. Besonders zu beachten wäre dabei die diachrone Vernetzung, die durch die gemeinsame Abstammung aus Schultraditionen entsteht. Das ist nicht der Prototyp einer Austauschbeziehung, wie Netzwerkanalysen sie üblicherweise betrachten. Aber ihre Bedeutung für ideelle Übereinstimmungen wie für die Karrierechancen der so Vernetzten konnte Wolfgang Weber plausibel machen. Dessen Ansatz, der Kategorien wie Schulmilieus, Sozialmilieus und Berufungsumstände einsetzt, ließe sich in eine formale Netzwerkanalyse übertragen und ergänzen um andere Vernetzungsfaktoren: Verbindungen zu Verlagen, Veröffentlichungen in Zeitschriften und gemeinsame Arbeit an Universitäten wären beispielhafte Aspekte, die für ein umfassendes Modell der Sozialbeziehungen von Historikern wichtig wären. Mit solch einem Modell und dem daraus erarbeiteten Netzwerk müssten sich dann die Stellungen einzelner Historiker in der Sozialstruktur des Faches so beschreiben lassen, dass damit
46 Vgl. Wesolowski, Verleger und Verlagspolitik, 278, der mit der Durchsetzung des Nationalsozialismus 1933 diese Entwicklung konstatiert: „Das symbolische Kapital der ‚Schule‘ Meineckes sank dadurch erheblich und ein Wechsel an der Spitze der Historischen Zeitschrift als dem Organ der ‚Zunft‘ rückte nun in greifbare Nähe.“ 47 Vgl. HZ 167/1943 und HZ 168/1943, sowie vor allem Karl Alexander von Müller, An Friedrich Meinecke, in: HZ 167/1943, 1f.
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einzelne Ereignisse oder größere Entwicklungstendenzen erklärt werden können.48 Das wäre aber ein ziemliches Großprojekt, so dass das Gravitationszentrum der deutschen Geschichtswissenschaft sich vorerst nicht umfassend nachmessen lässt.
3 BRIEFNETZWERKE ZWISCHEN REDAKTION UND VERLAG 1) Herausgeber-Verleger-Beziehungen Die bisher genannten Vernetzungsfaktoren sind weitgehend in gedruckten Quellen nachvollziehbar, was sehr sinnvoll für eine möglichst flächendeckende Auswertung ist. Anders verhält es sich mit Briefnetzwerken. Zwar lassen sich mit Hilfe von Nachlässen und anderen Archivbeständen briefliche Verbindungen auswerten. Doch dass die damit erstellten Briefnetzwerke einigermaßen vollständig sind, kann man nicht voraussetzen. Bei der Korrespondenz zwischen Verlag und Zeitschriftenherausgebern handelt es sich formal um Geschäftsvorgänge, die in den jeweiligen Handakten der zuständigen Verlagsmitarbeiter abgelegt und nicht bei vermeintlicher Unwichtigkeit aussortiert wurden, so dass weitgehende Vollständigkeit anzunehmen ist. Dazu trägt auch die darin übliche Dokumentation abgehender Post mit Durchschlägen bei. Ich beziehe mich hier auf die Akten des Oldenbourg-Verlags zur Historischen Zeitschrift, die im Bayerischen Wirtschaftsarchiv in München liegen.49 Zunächst stelle ich nun die Hauptkorrespondenten vor: Auf der einen Seite sind die HZ-Herausgeber unter Historikern weithin bekannt. Ludwig Dehio begann 1949 als Alleinherausgeber, Walther Kienast trat im Jahr darauf offiziell an seine Seite. Als Argument für seine Ernennung und die Abkehr von dem Modell der Alleinherausgeberschaft wurde die Befürchtung angeführt, „daß eine bestimmte Clique in der Zunft versuchen wird, den 2. Herausgeberposten mit einem der Ihren zu besetzen, um damit Einfluß auf die Auswahl der Referenten für die Besprechungen zu bekommen“.50 Als Dehios Sehkraft nachließ, wurde 1957 Theodor Schieder sein Nachfolger. Dessen Kölner Kollege Theodor Schieffer löste 1968 Kienast ab und 48 Beispielsweise dürfte sich zeigen lassen, dass die kritische Gesellschaftsgeschichte als inhaltlich oppositionelle Strömung sich deshalb durchsetzen konnte, weil sie aus dem sozialen Kernbereich des Faches stammte. 49 Vgl. oben, Anm. 8. Diese Akten enthalten vor allem den Schriftverkehr zwischen Verlagsleitung und HZ-Herausgebern, sowie Materialien, die dem Schriftverkehr beilagen. Demnach können wir recht genau wissen, welche Themen zwischen Verlag und Herausgebern verhandelt wurden. Wir sehen einen wichtigen Teil der Zeitschriftenproduktion dokumentiert und werden vor allem darauf hingewiesen, wo sich Probleme oder Konflikte ergeben haben. Im Hinblick auf die Personennetzwerke im Umfeld von Zeitschriftenherausgebern sehen wir auch, wer für die Korrespondenten erwähnenswert war. 50 BWA F5/1644, Brief Walther Kienast an Wilhelm Oldenbourg, Marburg 29.12.1949. Bis 1950 war Kienast auch vollständig entnazifiziert, indem der Verleger bis dahin Kienasts Spruchkammerverfahren und seine wohlbekannte NSDAP-Mitgliedschaft vergessen hatte, wie er beteuerte: „wenn Sie überhaupt PG [Parteigenosse] waren, was ich nicht weiß“. BWA F5/1644, Brief Wilhelm Oldenbourg an Walther Kienast, [München] 04.01.1950.
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verantwortete bis 1975 den Besprechungsteil. Dann übernahm Lothar Gall die Redaktion der Rezensionen. Bei Schieders Tod 1984 übernahm Gall auch dessen Aufgabe und war damit für die ganze HZ zuständig.51 Die Überlieferung im Bayerischen Wirtschaftsarchiv zur HZ reicht jedoch im Wesentlichen nur bis Mitte der 1970er Jahre. Auf der anderen Seite der HZ-Korrespondenz steht fast immer die Verlagsleitung des Oldenbourg-Verlags. Denn die HZ galt dort stets als Chefsache. Altverleger Wilhelm Oldenbourg, meist adressiert als der „Herr Kommerzienrat“, kümmerte sich persönlich um seine Herzensangelegenheit HZ52 und führte die meiste Korrespondenz mit Kienast. Dehio wandte sich wie erwähnt lieber an Lektor und Lizenzträger Manfred Schröter.53 Horst Kliemann, als Prokurist „Oldenbourgsches Urgestein“54 und 1946 wie Wilhelm Oldenbourg wegen nationalsozialistischer Verstrickungen von den Besatzungsbehörden abgelehnt, korrespondierte in seiner neuen Funktion als Gesellschafter ab 1956 regelmäßig mit Theodor Schieder, während er zuvor nur gelegentlich in technischen Belangen an die Herausgeber geschrieben hatte. Nach Wilhelm Oldenbourgs Tod 1960 gab auch Kliemann 1964 seine Zuständigkeit für die HZ auf. Zuerst übernahm dies Karl von Cornides, ab 1971 federführend dessen Sohn Thomas aus dem österreichischen Zweig der Verlegerfamilie.55 Thomas von Cornides korrespondierte bereits in den 1960er Jahren regelmäßig von München aus mit Theodor Schieffer, während Karl von Cornides von Wien aus noch die Verantwortung für die HZ inne hatte und auch die wichtigen Entscheidungen traf. In den 1970er Jahren versuchten die Verleger dann die Korrespondenz auf München zu konzentrieren, aber in wichtigen Belangen wandten sich die Herausgeber auch zuweilen noch direkt an den Senior, Karl von Cornides.56
51 Gall hatte als Schieder-Schüler schon seit 1967 am Rezensionsteil mitgewirkt. Erst 2009 erschienen mit Jürgen Müller und Eckhardt Treichel wieder eigene Herausgeber für den Rezensionsteil auf dem HZ-Titelblatt, und Anfang 2012 erhielt Lothar Gall mit Andreas Fahrmeir zudem einen Co-Herausgeber für den Aufsatzteil. 52 BWA F5/1208, Brief Wilhelm Oldenbourg an Ludwig Dehio, [München] 16.11.1956; vgl. Wesolowski, Verleger und Verlagspolitik, 368–371. 53 Rudolf C. Oldenbourg, formal der Hauptverleger, widmete sich dagegen vor allem dem technischen Verlagszweig, ebenso der in die Verlegerfamilie eingeheiratete Wilhelm von Cornides; vgl. Wittmann, Wissen für die Zukunft, 118 und Wesolowski, Verleger und Verlagspolitik, 371. 54 Wittmann, Wissen für die Zukunft, 115. 55 Ebd., 119. 56 Dass Karl von Cornides vor allem von Wien aus agierte, während Thomas von Cornides in München wirkte und dort auch in den 1960er Jahren das Tagesgeschäft der HZ abwickelte, schlägt sich in den Verlagsakten dadurch nieder, dass in dieser Phase wieder verlagsinterne Debatten in Form von Hausmitteilungen sichtbar werden. Dieser Quellentyp, der auch bis 1937 durch die Kommunikation mit der Zweigniederlassung in Berlin entstanden war – und wichtige Einblicke etwa in die Ablösung Meineckes als HZ-Herausgeber gewährte – fehlt in den 1940er und 1950er Jahren fast völlig, weil Probleme verlagsintern stärker mündlich diskutiert werden konnten. Wenn auch Verlegergespräche über die Herausgeber in den Akten stehen, statt nur Korrespondenz mit den Herausgebern, dann kann sich daraus natürlich ein anderes Bild ergeben.
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Das Verhältnis zwischen Verlegern und HZ-Herausgebern war nach den Korrespondenz-Partnerschaften Dehios mit Schröter und Kienasts mit Wilhelm Oldenbourg nicht mehr so persönlich, sondern eher geschäftlich. Die älteren Herausgeber-Verleger-Verhältnisse waren geprägt von gemeinsamer Weltsicht und gemeinsamen Lebenserfahrungen. Zudem war bei Oldenbourg und Schröter noch das Selbstverständnis als creative publishers mit der Ambition vorhanden, durch politisch engagierte Wissenschaft zu nationaler Selbstvergewisserung und nationaler Größe beizutragen.57 Dennoch drückt sich in der deutlichen Zuordnung jedes Herausgebers zu einem einzelnen Mitglied der Verlagsleitung eine enge Verbindung aus. Diese wurde nicht ohne Not aufgelöst und durch eine neue Korrespondenz-Partnerschaft ersetzt. Nur das Ausscheiden aus dem Herausgeberamt oder der Verlagsleitung machte den Ersatz eines Hauptkorrespondenten erforderlich. Nicht nur wegen dieser Stabilität kommt der Verleger-Herausgeber-Beziehung eine zentrale Stellung für die Produktion der HZ zu, sondern auch deshalb, weil beide Seiten die Arbeit von eigenen Mitarbeitergruppen weitgehend autonom beaufsichtigten und auf diese Weise die oberste Steuerungsebene für die Produktion der HZ bildeten.
2) Organisation von Mitarbeiterzirkeln Unterhalb der Verleger-Herausgeber-Beziehung waren auf beiden Seiten Mitarbeitergruppen mit der Produktion der HZ befasst, die in der Wissenschaftsgeschichte kaum einmal vorkommen: Assistenten und Drucker, Sekretariate und Vertriebsmitarbeiter. Die Mitarbeiterzahl des Oldenbourg-Verlags hat sich zwischen 1945 und 2008 nur geringfügig erhöht.58 Von den rund 200 Mitarbeitern kommen in der Korrespondenz insbesondere verschiedene Sekretariate vor, die die Post erledigten, aber zuweilen auch als Korrespondenten fungierten, etwa bei Spesenabrechnungen oder statistischen Aufstellungen. Außerdem dokumentieren Hausmitteilungen in den HZ-Akten, wenn es zu Problemen im Herstellungsprozess kam, wenn die Verlagsleitung sich durch eine Kalkulation den Überblick über die wirtschaftliche Lage der HZ verschaffen wollte, oder wenn sich Abrechnungsmodalitäten änderten. Diese Verlagsmitarbeiter vermittelten vor allem die materielle, technische Produktion der HZ und handelten teilweise eigenständig die Grenzen des realistisch Machbaren sowie technische und organisatorische Veränderungen mit den HZ-Herausgebern aus.
57 Dies hat für die Zwischenkriegszeit herausgearbeitet: Wesolowski, Verleger und Verlagspolitik, 369f. Allerdings war die Klage über weniger persönliche Autor-Verleger-Beziehungen bereits dem jungen Wilhelm Oldenbourg geläufig, vgl. ebd., 79f. 58 Wittmann, Wissen für die Zukunft, 362–365, listet für das Jahr 2008 insgesamt 217 Mitarbeiter des Oldenbourg-Verlages vom Verleger über Lektorinnen und Redaktionsassistentinnen bis zum Facility Manager auf. Das sind nicht wesentlich mehr als die 180 Mitarbeiter Ende 1945, die ebd., 115, erwähnt werden.
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Auf Herausgeberseite beschäftigte Walther Kienast stets Hilfskräfte, die Schreibarbeiten, Registererstellung oder die Verwaltung der verschiedenen Karteien übernahmen. Vor dem Zweiten Weltkrieg stand ihm dafür eine ordentliche Sekretärin zur Verfügung, bei Neubeginn der HZ halfen zuerst seine Frau und sporadisch eingesetzte Studenten mit,59 bis Kienast 1954 seinen Doktoranden Günter Gattermann anwarb. Seinen „Adlatus“60 bezahlte Kienast selbst von seinem Herausgeberhonorar mit, so auch später die Sekretärin, Frau Allers. Den Rezensionsteil erstellten demnach in den 1950er und frühen 1960er Jahren zwei Personen ungefähr in Halbtagsarbeit.61 Doch das Arbeitspensum stieg an, und so wurde bereits 1967 Lothar Gall, damals Assistent Schieders, damit beauftragt, Kienast beim Besprechungsteil zu unterstützen, indem er das „Besprechungswesen für die neue und neueste Geschichte neu“62 organisiere. Die Aufteilung der Arbeit zwischen einem Professor und dem Assistenten eines anderen Professors funktionierte jedoch nicht reibungslos,63 schließlich hatte ansonsten jeder Herausgeber in seinem Zeitschriftenteil das letzte Wort und war seinen Mitarbeitern direkt vorgesetzt. Mit den deutlich größeren Ressourcen, aktivierbaren Mitarbeitern und für die Zwecke der HZ abstellbaren Hilfskräften gelang es Theodor Schieder, nach und nach mehr Elemente des HZ-Produktionsprozesses in Köln anzusiedeln. Mit Kienasts Demission holte er die Zeitschrift ganz nach Köln und verankerte sie dann durch Verstärkung der Mitarbeit fest in seiner eigenen Schule. Entscheidend war dabei, dass Schieder konsequent seine Ressourcen für den Besprechungsteil bereitstellte,64 der das eigentliche Gravitationszentrum der HZ in organisatorischer, finanzieller und netzwerkanalytischer Hinsicht ist. Der Herausgeber des Aufsatzteils hat zwar mehr symbolisches Kapital; im Rezensionswesen steckt aber das soziale Kapital des Wissenschaftsbetriebs. Das Besprechungswesen der HZ zu organisieren, das bedeutete vor dem Computerzeitalter vor allem: zu besprechende Bücher erheben, auswählen, jeweils Rezensenten finden und sie zur Abgabe eines Manuskripts drängen, das dann redaktionell weiterverarbeitet werden konnte. Schon 1948 schätzte Kienast die Kartei der Mitarbeiter auf „wohl gegen 1000“ Karten, „die am Kopf den Namen des Mitarbeiters und darunter die von ihm übernommenen Bücher zeigen“.65 Dass es sich dabei wohl nicht um tausend potentielle Rezensenten und andere aktive Mitarbeiter han-
59 BWA F5/1614, Brief Walther Kienast an Karl von Cornides, Frankfurt 19.12.1964. 60 BWA F5/1644, Brief Walther Kienast an Wilhelm Oldenbourg, Frankfurt 22.11.1955. 61 1955 berichtete Kienast, dass „er [Gattermann] täglich über 4, ich [Kienast] annähernd 3 Stunden durch die HZ beansprucht werden. Das ist die Grenze des für eine Nebentätigkeit Möglichen.“ BWA F5/1644, Brief Walther Kienast an Wilhelm Oldenbourg, Frankfurt 04.12.1955. 62 BWA F5/1625, [Hausmitteilung von Karl von Cornides an Frau Wolf und Thomas Cornides], Wien 04.04.1967. 63 BWA F5/1614, [Hausmitteilung von Karl von Cornides an Thomas Cornides], Wien 15.03.1968. 64 BWA F5/1625, [Hausmitteilung von Karl von Cornides an Frau Wolf und Thomas Cornides], Wien 04.04.1967. 65 BWA F5/1644, Brief Walther Kienast an den Verlag Oldenbourg, Marburg 30.08.1948.
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delte, ergibt sich daraus, dass die Kartei seit fünf Jahren nicht mehr intensiv eingesetzt worden war, in den Nekrologen der ersten Nachkriegshefte fast 200 verstorbener Historiker gedacht wurde, und mehrere hundert Rezensionen seit mehr als zehn Jahren nicht eingereicht waren.66 Man kann netzwerktheoretisch davon ausgehen, dass die gleichzeitige Zugehörigkeit zum Mitarbeiternetz einer Zeitschrift wechselseitige Anerkennung ausdrückt, die durch die von den Herausgebern vorgenommene Auswahl als möglicher Mitarbeiter vermittelt wird und auf diese Weise sowohl der Zeitschrift als auch ihren Mitarbeitern symbolisches Kapital bereitstellt. Daher ließen sich mit Hilfe solcher Mitarbeiterkarteien aufschlussreiche formale Netzwerkanalysen erstellen: Grundsätzlich muss man davon ausgehen, dass es um den kleinen Kreis der Redaktionsmitarbeiter einen mittleren Umkreis von Rezensenten gibt und einen größeren Umkreis von Rezensierten. Das Verhältnis dieser beiden Umkreise zueinander ist etwa aussagekräftig zu der Frage, wie repräsentativ eine Zeitschrift für das von ihr behandelte Forschungsfeld ist, also wie breit die Gruppe der in der Zeitschrift Sprechenden im Verhältnis zur Gruppe der Besprochenen ist. Leider habe ich keine derartigen Karteien im Verlagsarchiv gefunden. In der HZ-Redaktion gibt es jedoch eine von Lothar Gall in den 1970er Jahren begonnene Rezensentenkartei, die in den 1990er Jahren von einer Datenbank abgelöst wurde. Letztere dürfte sehr viel leichter auswertbar sein, ist aber nicht öffentlich zugänglich.67 Denn das detaillierte Wissen um die Rezensentennetzwerke einer Fachzeitschrift kann man durchaus als Geschäftsgeheimnis betrachten – ebenso wie die Verlagsinformationen über den wohl größten Personenkreis im Netzwerk einer Fachzeitschrift, den Kreis der Abonnenten.
3) Netzwerk des Zeitschriftentauschs Ein weiteres Netzwerk, in das die HZ wie andere Fachzeitschriften eingebunden war, spielte ebenfalls eine wichtige Rolle für die Produktion der Zeitschrift. Dieses Tauschnetzwerk zwischen Zeitschriftenverlagen und -redaktionen bildete die Grundlage für die Erstellung eines wichtigen Bestandteils der HZ bis in die 1990er Jahre: In diesem zuweilen als Zeitschriftenbericht bezeichneten Abschnitt wurden knapp Zeitschriften- und Sammelbandaufsätze sowie kleinere oder weniger wichtige Monographien vorgestellt, so dass er ein lange unverzichtbares bibliographisches Hilfsmittel darstellte. An dieser 1893 als „Notizen und Nachrichten“ eingeführten Rubrik, die unter Karl Alexander von Müller mit „Hinweise und Nachrichten“, in der Nachkriegszeit mit „Anzeigen und Nachrichten“ überschrieben war und in den 1950er-Jahren 150 66 Vgl. v. a. Nekrolog, in: HZ 169/1949, 222–224 und 446–452; Dritte Totenliste, in: HZ 170/1950, 227. Für die lange ausstehenden Rezensionen siehe BWA F5/1644, Brief Walther Kienast an den Verlag Oldenbourg, Marburg 30.08.1948. 67 Ich danke Professor Gall für seine Auskünfte über die Rezensentenkarteien der HZ. Er schätzt, dass die Gesamtzahl der Rezensentinnen und Rezensenten gegenwärtig etwa 1000 beträgt, die Zahl der regelmäßig Mitarbeitenden jedoch deutlich niedriger liegt. Brief Lothar Gall an Matthias Krämer, Frankfurt am Main 27.03.2013.
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bis 200 Seiten umfasste, arbeitete stets eine ganze Reihe mehr oder weniger regelmäßiger Mitarbeiter. Dieser Teil der HZ wurde, anders als Rezensionen, auch mit mehr als nur dem Rezensionsexemplar vergütet. Der Zeitschriftenbericht repräsentierte den Anspruch der HZ, alles abzubilden, was für die Zunft relevant war. Historiker sollten keine weitere geschichtswissenschaftliche Zeitschrift abonnieren müssen, sondern durch die HZ rundum informiert sein. Dazu wäre es notwendig gewesen, alle Neuerscheinungen abzudecken. Seit Mitte der 1960er Jahre war das wegen des zunehmenden Materials jedoch nicht mehr möglich, weshalb Kienast 1968 zurücktrat.68 Der Bericht wurde von Theodor Schieffer auf ein Fünftel verkürzt und hieß dann „Aus Zeitschriften und Sammelbänden“.69 Doch unter der Leitung von Lothar Gall wuchs der Umfang des Zeitschriftenberichts wieder stark an. Daher wurde er 1994 nach hundertjährigem Bestehen ganz abgeschafft.70 Diese Rubrik gehörte zu den organisatorisch aufwändigsten und auch teuersten Teilen der HZ. Der Herausgeber des Rezensionsteils erhielt stets ein deutlich höheres Honorar als der Herausgeber des Aufsatzteils. Und während die Rezensionen selbst unbezahlt blieben, nicht als Rezensionsexemplare kostenlos zur Verfügung gestellte Werke auch normalerweise nicht besprochen wurden, mussten für den Zeitschriftenbericht Mitarbeiter gewonnen und erhalten werden, die bereit waren, alle Neuerscheinungen zu einer Epoche zumindest zur Kenntnis zu nehmen. Neben den Mitarbeiterhonoraren muss man auch die Kosten berücksichtigen, die gewissermaßen in Form von Naturalien anfielen: Ein weit ausgreifendes Netzwerk von Tauschbeziehungen war Grundlage des Zeitschriftenberichts. Ein nicht zu vernachlässigender Teil der HZ-Auflage wurde zu dem Zweck produziert, laufend gegen andere geschichtswissenschaftliche Fachzeitschriften ausgetauscht zu werden. Um günstig und regelmäßig die benötigten Fachzeitschriften zu erhalten, nahm die HZ nach dem Krieg so rasch wie möglich
68 Wiederholte Konflikte zwischen Walther Kienast und dem Verlag über den Besprechungsteil führten 1968 zu Kienasts Rücktritt: Karl von Cornides dachte schon länger über „eine grundsätzliche Neuregelung“ nach. BWA F5/1625, Brief Karl von Cornides an Theodor Schieder, Wien 11.07.1967. Kienast wollte sich auf die bibliographische Auflistung von Aufsätzen beschränken, um die Vollständigkeit nicht aufgeben zu müssen und mehr Raum zur Besprechung von Monographien zu gewinnen; der Verlag wollte die knappen Referate der Aufsätze aber erhalten, um den Wert der HZ für den Leser nicht zu schmälern. Kienast konnte daher „angesichts der anschwellenden Bücherflut (…) die Verantwortung für den Rezensionsteil der HZ nicht länger tragen“ und kündigte mit Wirkung zum 30. Juni 1968: BWA F5/1625, Brief Walther Kienast an Karl von Cornides, Frankfurt 23.11.1967; vgl. die Rücktrittserklärung ohne Angabe von Gründen: Walther Kienast, Mitteilung über den Rücktritt des zweiten Herausgebers, in: HZ 206/1968, 792. 69 Die Überschrift „Anzeigen und Nachrichten“ war bis HZ 207/1968 üblich, dem ersten Band mit nicht mehr von Kienast herausgegebenem Rezensionsteil. In seinem zweiten Band änderte Schieffer die Überschrift zu „Aus Zeitschriften und Sammelbänden“: HZ 208/1969. 70 Die Aufgabe wurde an die Historische Bibliographie der Arbeitsgemeinschaft außeruniversitärer historischer Forschungseinrichtungen in der Bundesrepublik Deutschland e. V. (AHF) übergeben. Vgl. die Redaktionsmitteilung: Aus Zeitschriften und Sammelbänden, in: HZ 258/1994, 286.
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die alte Institution des Zeitschriftentauschs wieder auf.71 Daher sind die Verzeichnisse der Fachzeitschriften, mit denen die HZ einen Tausch unterhielt, eine interessante serielle Quelle zur Vernetzung der Zunft und ihrer Entwicklung. Für einen Tausch entschied man sich nur, wenn die ertauschte Zeitschrift tatsächlich benötigt wurde. Daher bedeutete ein Tausch mit der HZ zugleich, dass die HZ eine andere Zeitschrift als wichtig anerkannte, und dass es im Umfeld der HZ-Redaktion jemanden gab, der die Zeitschrift regelmäßig auszuwerten bereit war (und umgekehrt).72 Es ist daher keine Selbstverständlichkeit, dass bereits die erste NachkriegsTauschliste im laufenden Betrieb 1950 zu unter einem Drittel Periodika aus Deutschland, vor allem aus der BRD, auswies.73 Daneben sind je eine Zeitschrift aus Österreich und der Schweiz, 24 fremdsprachige europäische Zeitschriften, vier Zeitschriften aus den USA und eine aus Argentinien verzeichnet. Offenbar waren Kontaktleute in den entsprechenden Ländern dafür mitverantwortlich, dass bereits vor dem Wiedererscheinen der HZ Vereinbarungen über einen Zeitschriftentausch getroffen werden konnten: Bei „The Review of Politics“ ist etwa anzunehmen, dass deren Herausgeber, der Emigrant Waldemar Gurian, einen Tausch mit der HZ befördert hat.74 Die fünf spanischsprachigen Zeitschriften (einschließlich einer argentinischen) dürften auf die Vermittlung Richard Konetzkes zurückzuführen sein.75 Und die mit vier Zeitschriften verhältnismäßig stark vertretene belgische Geschichtswissenschaft hatte beispielsweise durch Hans Van Werveke gute Kontakte zur HZ-Redaktion. Van Werveke wurde daher als für ein HZ-Abonnement zum Mitarbeiterpreis in Frage kommend aufgeführt, obwohl er in der HZ nie publiziert hat.76 Dass er für die HZ Kontakte nach Belgien repräsentierte, würde das Entgegenkommen erklären. Mit ähnlicher Begründung erhielt auch Heinrich von Srbik Sonderkonditionen beim HZ-Bezug: „Herr v. Srbik ist für unsere Beziehungen nach Österreich noch immer
71 Diese Tradition dürfte noch auf die Zeit zurückgehen, als die Verlagsbuchhandlungen untereinander ihre Bücher tauschten, um ihren Kunden auch Produkte anderer Verlage anbieten zu können. Der Vorteil des Tauschs bestand darin, dass die fremden Zeitschriften in etwa zum Selbstkostenpreis der eigenen Zeitschrift erworben werden konnten, zudem Steuern, Zölle und Wechselkurse vernachlässigt werden konnten. Jenseits der Zeitschriftenproduktion gibt es – bis heute – solche Tauschbeziehungen: So rühmt sich das Marburger Herder-Institut einer der vollständigsten Bibliotheksbestände zur Geschichte Ostmitteleuropas, weil man dort die hauseigene Verlagsproduktion systematisch zum Austausch mit ostmitteleuropäischen Verlagen und Bibliotheken benutzt. Herder-Institut Marburg, Jahresbericht 2011, [Marburg 2012], 7f. 72 Vgl. zum Zeitschriftentausch allgemein vor allem die Akten BWA F5/1607 und BWA F5/1608, aber auch die Korrespondenzakten mit Kienast, der als Herausgeber des Rezensionsteils hauptzuständig für Zeitschriftentausch war: BWA F5/1613 und BWA F5/1614. 73 BWA F5/1613, Brief Horst Kliemann an Walther Kienast, [München] 03.05.1950. 74 Ebd. 75 Vgl. BWA F5/1644, Brief Walther Kienast an den Verlag R. Oldenbourg, Marburg 20.04.1949. 76 BWA F5/1613, Brief Walther Kienast an den Leibniz-Verlag, Marburg 21.07.1949.
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sehr wichtig.“77 Auch das Zeitschriftentauschnetzwerk basierte also öfter auf personellen Verbindungen, ließ sich aber von diesen lösen und unabhängig vom Personal weiterbetreiben. Insgesamt sandte die HZ im Jahr 1950 Tauschstücke an 46 Zeitschriften.78 Im Zeitschriftentausch zeigte sich also von Anfang an eine internationale Orientierung der Nachkriegs-HZ, Tendenz steigend: 1955 waren es fast hundert, 1962 fast 150 Tauschzeitschriften.79
4 ZUSAMMENFASSUNG UND AUSBLICK Ich habe verschiedene Gruppen vorgestellt, die an der Produktion von symbolischem Kapital in der Geschichtswissenschaft mitwirkten. Eine Zeitschrift wie die HZ ist sozusagen die Großindustrie für die Produktion symbolischen Kapitals im wissenschaftlichen Feld. Unter Netzwerkgesichtspunkten spielt in diesem Produktionsprozess vor allem soziales Kapital eine Rolle. Kulturelles und ökonomisches Kapital habe ich hier kaum beachtet, sie würden eigene Untersuchungen benötigen. Ich habe erstens darauf hingewiesen, dass symbolisches Kapital durch Kontinuität erhalten oder nachproduziert werden kann, besonders in Feldern, die stark traditionsorientiert sind. Zweitens bin ich auf symbolisches Kapital aus der Einbettung in ein Wissenschaftlernetz eingegangen, das seinen Ursprung in der gemeinsamen Herkunft aus bestimmten Schultraditionen hat. Drittens habe ich die Verleger-Herausgeber-Verbindung geschildert, die einen ständigen Austausch des symbolischen Kapitals zum wechselseitigen Vorteil darstellt und durch intensive persönliche Beziehungen besonders stabilisiert wurde. Und schließlich habe ich kurze Blicke auf zwei weiter gespannte Netzwerke geworfen, nämlich das Mitarbeiternetzwerk der HZ und ihr Tauschnetzwerk mit anderen Fachzeitschriften. Beide Netze beruhen auf wechselseitiger Anerkennung und gewähren ihren Mitgliedern auf diese Weise symbolisches Kapital. Ein wichtiges Thema, das sich daran anschließt, sind die transnationalen Netzwerke80 der HZ und der deutschsprachigen Geschichtswissenschaft insgesamt sowie ihr Einfluss auf die Nachkriegsentwicklung. Die Metapher vom „Kampf um Positionen“81 im wissenschaftlichen Feld erscheint innerhalb der deutschen Ge-
77 BWA F5/1644, Brief Walther Kienast an den Leibniz-Verlag, Marburg 08.08.1949. 78 BWA F5/1613, Brief Horst Kliemann an Walther Kienast, [München] 03.05.1950. 79 Die Auflösung der Abkürzungen, die den HZ-Bänden in der Regel unpaginiert beiliegt, also vorne oder hinten in die Bände eingefügt werden kann, ist kein genaues Maß über den HZBlick auf die internationale Forschung. So werden 1949 noch 59 Zeitschriftenabkürzungen aufgeführt, obwohl nur 46 Zeitschriften mit der HZ getauscht wurden. Aber es ist ein systematisch veröffentlichtes Maß: 1955 waren es bereits 95 abgekürzte Zeitschriften in dem Verzeichnis, 1962 schon 146 Zeitschriften. Vgl. die Verzeichnisse in HZ 169/1949, HZ 180/1955 und HZ 195/1962. 80 Vgl. Reitmayer/Marx, Netzwerkansätze in der Geschichtswissenschaft, 876. 81 Blaschke/Raphael, Im Kampf um Positionen.
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schichtswissenschaft – gerade der ersten Nachkriegsjahrzehnte – zu scharf. Es handelte sich eher um eine Konkurrenz um Positionen, und Kooperation war das zentrale Werkzeug in dieser Konkurrenz. Ein „Kampf“ wurde aber – beispielsweise im Rezensionsteil der HZ – gegen jene geführt, die nicht als der Zunft zugehörig anerkannt wurden. Das betraf vor allem Nichthistoriker, Nichtwissenschaftler und Nichtdeutsche, oder einfach Autoren, denen die Rezensenten jene Etiketten aufprägten.82
82 Matthias Krämer, Emigrierte Historiker und die Historische Zeitschrift ab 1949. Rezensionen als Quellen der Wissenschaftsgeschichte, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 21/2010, 174–211.
VON ALTEN LASTEN UND NEUEN ANFÄNGEN Die Ranke-Gesellschaft, Vereinigung für Geschichte im öffentlichen Leben e. V., in den 1950er Jahren Jürgen Elvert, Aarhus/Köln
Die Gründungsgeschichte der Ranke-Gesellschaft, Vereinigung für Geschichte im öffentlichen Leben e. V. ist vergleichsweise gut erforscht, nicht zuletzt auch deshalb, weil ihre Gründung auf Historiker zurückgeht, die aufgrund ihrer nationalsozialistischen Vergangenheit nach 1945 aus dem Universitätsdienst entfernt worden waren.1 Viele von ihnen gelangten im Laufe der Jahre wieder in den Universitäts-
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Zur Geschichte der Ranke-Gesellschaft (RG) siehe u. a.: Manfred Asendorf, Was weiter wirkt. Die Ranke-Gesellschaft – Vereinigung Geschichte im öffentlichen Leben, in: 1999. Zeitschrift für Sozialgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts 4/1989, 29–61; Rainer Buuck, Zur Rolle und Funktion der Ranke-Gesellschaft in der Geschichtsschreibung der BRD, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 28/1980, 223–232; Sebastian Conrad, Auf der Suche nach der verlorenen Nation. Geschichtsschreibung in Westdeutschland und Japan 1945–1960, Göttingen 1999. RG Erwähnung 146, 157, 351. Online unter: http://digi20.digitale-sammlungen.de/de/fontsize.1/object/display/bsb00044321_00001.html?prox=true&phone=true&ngram=true&hl=scan&fulltext=sebastian+conrad&mode=simple&context=sebastian%20conrad; Carola Dietze, Nachgeholtes Leben. Helmuth Plessner 1892–1985, Göttingen 2006, 499–500; Heinz Duchhardt / Gerhard May (Hgg.), Geschichtswissenschaft um 1950, Mainz 2002; Jaana Eichhorn, Geschichtswissenschaft zwischen Tradition und Innovation. Diskurse, Institutionen und Machtstrukturen der bundesdeutschen Frühneuzeitforschung, Göttingen 2006, 132–142; Astrid M. Eckert, Kampf um die Akten. Die Westalliierten und die Rückgabe von deutschem Archivgut nach dem Zweiten Weltkrieg, Stuttgart 2003, 356; Arnt Goede, Adolf Rein und die „Idee der Politischen Universität“, Berlin 2008, bes. 231–251; Klaus Große Kracht, Die zankende Zunft. Historische Kontroversen in Deutschland nach 1945, Göttingen 22011; Bernhard R. Kroener, Generationserfahrung und Elitenwandel. Strukturveränderungen im deutschen Offizierskorps 1933–1945, in: Rainer Hudemann / Georges-Henri Soutou (Hgg.), Eliten in Deutschland und Frankreich im 19. und 20. Jahrhundert. Strukturen und Beziehungen Band 1, München 1994, 219; Anne Chr. Nagel, Im Schatten des Dritten Reichs. Mittelalterforschung in der Bundesrepublik Deutschland 1945–1970, Göttingen 2005, 157; Armand van Nimmen, Robert van Roosbroeck. Ein flämischer Historiker und seine Beziehungen zu Deutschland, in: Michael Fahlbusch (Hg.), Völkische Wissenschaft und Politikberatung im 20. Jahrhundert. Expertise und „Neuordnung“ Europas, Paderborn u. a. 2010, 293–312, bes. 305. Online unter: http://digi20.digitale-sammlungen.de/de/fs1/object/display/bsb00093557_00001.html?prox=tr ue&phone=true&ngram=true&hl=scan&fulltext=michael+fahlbusch&mode=simple&context =michael%20fahlbusch; Ulrich Pfeil (Hg.), Die Rückkehr der deutschen Geschichtswissenschaft in die „Ökumene der Historiker“. Ein wissenschaftsgeschichtlicher Ansatz, München
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dienst zurück, einer der letzten dieser Gruppe dürfte Günther Franz 2 gewesen sein, der erst 1957 auf einen Lehrstuhl, den für Agrargeschichte an der Landwirtschaftlichen Hochschule Hohenheim, berufen wurde. Andere, wie der ehemalige Rektor
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2008, 68–69, 246, 263, Online unter: http://www.perspectivia.net/publikationen/phs/pfeil_geschichtswissenschaft; Michael Salewski, Die Ranke-Gesellschaft und ein halbes Jahrhundert, in: Jürgen Elvert / Susanne Krauß (Hgg.): Historische Debatten und Kontroversen im 19. Jahrhundert und 20. Jahrhundert. Jubiläumstagung der Ranke-Gesellschaft in Essen 2001, Stuttgart 2003, 124–142; Peter Schöttler, Deutsche Historiker auf vermintem Terrain, in: Ulrich Pfeil (Hg.): Das Deutsche Historische Institut Paris und seine Gründungsväter, München 2007, 15–35. Online unter: http://www.perspectivia.net/publikationen/phs/pfeil_gruendungsvaeter/schoettler_historiker; Ernst Schulin (Hg.): Deutsche Geschichtswissenschaft nach dem Zweiten Weltkrieg (1945–1965), München 1989; Winfried Schulze, Deutsche Geschichtswissenschaft nach 1945, München 1989, bes. 203–205; Barbara Stambolis, Einleitung, in: dies. (Hg.): Jugendbewegt geprägt. Essays zu autobiographischen Texten von Werner Heisenberg, Robert Jungk und vielen anderen, Göttingen 2013, 13–42, 29–30. Zu Günter Franz siehe: Wolfgang Behringer, Bauern-Franz und Rassen-Günther. Die politische Geschichte des Agrarhistorikers Günther Franz (1902–1992), in: Winfried Schulze / Otto Gerhard Oexle (Hgg.): Deutsche Historiker im Nationalsozialismus, Frankfurt a. M. 1999, 114–141; ders., Von Krieg zu Krieg. Neue Perspektiven auf das Buch von Günther Franz „Der Dreißigjährige Krieg und das deutsche Volk“ (1940), in: Benigna v. Krusenstjern / Hans Medick (Hgg.): Zwischen Alltag und Katastrophe. Der Dreißigjährige Krieg aus der Nähe, Göttingen 1999, 543–591; ders., Der Abwickler der Hexenforschung im Reichssicherheitshauptamt (RSHA). Günther Franz, in: Sönke Lorenz / Dieter R. Bauer / Wolfgang Behringer / Jürgen Michael Schmidt (Hgg.): Himmlers Hexenkartothek. Das Interesse des Nationalsozialismus an der Hexenverfolgung, Bielefeld 1999, 109–134; Julien Demade, The Medieval Countryside in German-Language Historiography since the 1930s, in: Isabel Alfonso (Hg.): The Rural History of Medieval European Societies. Trends and Perspectives, Turnhout 2007, 173–252; Herbert Gottwald, Die Jenaer Geschichtswissenschaft in der Zeit des Nationalsozialismus, in: Uwe Hoßfeld / Jürgen John / Oliver Lemuth, / Rüdiger Stutz (Hgg.): „Kämpferische Wissenschaft“. Studien zur Universität Jena im Nationalsozialismus, Köln 2003, 913–941, bes. 920–924; ders., Ein Landesgeschichtliches Institut für Thüringen. Günther Franz, die Gründung der „Anstalt für geschichtliche Landeskunde“ und die thüringische Landesgeschichtsschreibung 1937– 1941, in: Matthias Werner (Hg.): Im Spannungsfeld von Wissenschaft und Politik. 150 Jahre Landesforschung in Thüringen, Köln 2005, 163–190; Helmut Heiber, Walter Frank und sein Reichsinstitut für Geschichte des neuen Deutschlands, Stuttgart 1966; Jahrbuch für Agrargeschichte und Agrarsoziologie Bd. 53/1/2005: Agrarforschung im Nationalsozialismus; Joachim Lerchenmüller, Die Geschichtswissenschaft in den Planungen des Sicherheitsdienstes der SS. Der SD-Historiker Hermann Löffler und seine Denkschrift „Entwicklung und Aufgaben der Geschichtswissenschaft in Deutschland“, Bonn 2001; Jürgen Miethke, Die Mediävistik in Heidelberg seit 1933, in: ders. (Hg.): Geschichte in Heidelberg. 100 Jahre Historisches Seminar. 50 Jahre Institut für Fränkisch-Pfälzische Geschichte und Landeskunde, Berlin u. a. 1992, 93– 126; Laurenz Müller, Diktatur und Revolution. Reformation und Bauernkrieg in der Geschichtsschreibung des „Dritten Reiches“ und der DDR, Stuttgart 2004, 288–320; Werner Rösener, Landwirtschaft im Mittelalter, in: Günther Schulz / Christoph Buchheim, / Gerhard Fouquet / Rainer Gömmel / Friedrich-Wilhelm Henning, / Karl Heinrich Kaufhold, / Hans Pohl (Hgg.): Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. Arbeitsgebiete – Probleme – Perspektiven, Stuttgart 2005, 19–40, bes. 22–23; Georg Schmidt, Der Dreißigjährige Krieg, München 82010, 119– 120; John Theibault, The Demography of the Thirty Years War revisited. Günther Franz and his critics, in: German History Bd. 15/1/1997; Wolf V. Weigand, Walter Wilhelm Goetz 1867–
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der Universität Hamburg, (Gustav) Adolf Rein, oder der Begründer der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft Ernst Anrich, waren aufgrund ihrer zu tiefen Verstrickungen in das NS-System untragbar für Positionen im Universitätsdienst der Bundesrepublik Deutschland und mussten, wenn sie die Altersgrenze noch nicht erreicht hatten, nach anderen Beschäftigungsmöglichkeiten suchen. Davon gab es für Historiker in den Jahren des Wiederaufbaus nicht viele. Günther Franz beispielsweise musste sich und seine Familie mit Auftragsarbeiten für Behörden und dem Edieren von Quelleneditionen solange finanziell über Wasser halten, bis ihm nach der Währungsreform als Inhaber des Flüchtlingsausweises B ein monatliches Grundeinkommen in Höhe von DM 300 zugestanden wurde.3 Dennoch war er bis zu seinem Ruf an die Landwirtschaftliche Hochschule Hohenheim weiter gezwungen, durch Auftragsarbeiten ein zusätzliches Einkommen zu erwirtschaften. Ein anderes Problem, mit dem nationalsozialistisch vorbelastete Historiker in der jungen Bundesrepublik zu kämpfen hatten, war das der wissenschaftlichen Marginalisierung. Zu den Stichwortgebern der Zunft zählten nunmehr zumeist solche Kollegen, die sich nicht dem System angedient, teilweise sogar dem Widerstand angehört hatten, oder aber Rückkehrer aus dem Exil, in das sie vom NS-Staat aus politischen und / oder rasseideologischen Gründen gezwungen worden waren. Eine weitere, in universitären Ämtern und Würden verbliebene oder zurückgekehrte Gruppe von Kollegen hatte sich entweder nur in vergleichsweise geringem Maße auf das NS-System eingelassen oder erfolgreich ihre jeweilige individuelle Verstrickung in das NS-System verschleiern können – in beiden Fällen erschien es insbesondere in der Besatzungszeit und den Gründungsjahren der Bundesrepublik wenig opportun, sich zu stark für jene Kollegen zu engagieren, die sich öffentlich zum Nationalsozialismus bekannt oder das System mit Wort und / oder Tat unterstützt hatten.4 Die Bereitschaft jener, die trotz eigener Parteizugehörigkeit durch Spruchkammerverfahren entlastet wurden und infolge dessen weiter oder wieder an Universitäten forschen und lehren durften, für Kollegen einzutreten, die sich diesem Verfahren noch unterziehen mussten bzw. als mehr oder minder belastet eingestuft worden waren, war jedenfalls nicht sonderlich ausgeprägt und fiel oftmals weniger
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1958. Eine biographische Studie über den Historiker, Politiker und Publizisten, Boppard a. Rh. 1992, 328–330; Harald Winkel, Nachruf auf Günther Franz, in: Zeitschrift für Agrargeschichte und Agrarsoziologie 40/1992, 259–260; Eike Wolgast, Mittlere und Neuere Geschichte, in: Wolfgang Uwe Eckart / Volker Sellin / Eike Wolgast (Hgg.): Die Universität Heidelberg im Nationalsozialismus, Heidelberg 2006, 491–516, bes. 496–507, auch 138–140. Nach eigener Aussage in seinen im Manuskript vorliegenden autobiographischen Erinnerungen, die unter anderem im Bestand des Instituts für Personengeschichte in Bensheim (IfP) vorliegen. Dort: Bestand Bio / 20F / Franz, Günther Franz, Mein Leben, o. O. 1982, hier 204. Zum Beispiel durch ihre Mitarbeit in verschiedenen Partei-Institutionen oder durch ihre Beteiligung an der sog. „Aktion Ritterbusch“, dem Kriegseinsatz der Geisteswissenschaften. Dazu siehe: Frank-Rutger Hausmann, „Deutsche Geisteswissenschaft“ im Zweiten Weltkrieg. Die „Aktion Ritterbusch“ (1940–1945), Heidelberg 32007. Zur Rolle der Historiker im Nationalsozialismus siehe: Jürgen Elvert, Geschichtswissenschaften, in: Frank-Rutger Hausmann (Hg.), Die Rolle der Geisteswissenschaften im Dritten Reich 1933–1945, München 2002, 87–136.
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eindeutig aus, als es sich diese gewünscht hätten. Das musste beispielsweise auch Günther Franz erfahren, als er sich im Herbst 1948 mit der Bitte um ein Entlastungsgutachten an seinen alten Kommilitonen und ehemaligen Heidelberger Kollegen Kurt von Raumer wandte, der trotz Parteimitgliedschaft auf seinem Lehrstuhl in Münster verbleiben durfte.5 Der Münchener Südosteuropahistoriker Fritz Valjavec empfand dies im August 1951 als eine „völlig vergiftete Situation“.6 Konkret bezog er sich dabei auf die Absage, die Ludwig Dehio der Marburger Universität erteilt hatte, als ihn diese zum Nachfolger Wilhelm Mommsens bestellen wollte, der seinerseits im Entnazifizierungsverfahren als „belastet“ eingestuft worden war. Dehio hatte diesen Ruf mit dem Hinweis abgelehnt, nicht als „nichtarischer Konjunkturritter“7 gelten zu wollen. Valjavec wusste, worüber er schrieb, schließlich war er aufgrund seiner Tätigkeit in der NS-Zeit, insbesondere als „Gegnerforscher des SD“ am Deutschen Auslandswissenschaftlichen Institut unter Franz Alfred Six, aber auch als Dolmetscher für das Sonderkommando 10b der Einsatzgruppe D im rumänisch-ukrainischen Grenzgebiet 1945, aus dem Universitätsdienst entlassen worden. Auf der Suche nach einer wissenschaftlichen Beschäftigung hatte er sich längere Zeit darum bemüht, das Münchener Südost-Institut, das 1940 in die SS integriert worden war, als eigenständiges Forschungsinstitut wiederzubeleben. Diese Bemühungen wurden 1951 tatsächlich von Erfolg gekrönt, Valjavec selber wurde allerdings erst vier Jahre später zum Direktor des Instituts ernannt. Es ging Ende der 1940er, Anfang der 1950er Jahre also auch um die Frage, ob und wie NS-belastete Historiker am geschichtswissenschaftlichen Diskurs der jungen Bundesrepublik teilhaben sollten bzw. durften. Gustav Adolf Rein wollte das über ein „Programm der Versöhnung von Gestern und Heute im Dienst am Morgen“ erreichen,8 die Frage war nur, ob und inwieweit das „Heute“ in den 1950er Jahren bereit war, sich mit dem „Gestern“ zu versöhnen, um gemeinsam am „Morgen“ zu arbeiten. Die NS-belasteten Historiker, die Rein bei seinen Überlegungen im Blick hatte, konnten jedenfalls nicht davon ausgehen, dass die in Amt und Würden stehenden Kollegen ein Interesse daran hatten, sie aktiv bei der Reintegration in die junge bundesdeutsche Universitätslandschaft zu unterstützen. Im Gegenteil: Widerstand gegen eine Wiedereinsetzung besonders exponierter ehemaliger Kollegen formierte sich in den einzelnen Disziplinen, aber auch in Wissenschaftsverbänden und -fördereinrichtungen.9 Den Erinnerungen Günther Franz‘ zufolge hatte 5
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Universitätsarchiv Hohenheim (UAH), H, N 6 (Nachlass Günther Franz), 1/7/14, Prof. Dr. Kurt v. Raumer (1900–1982) 1948–1950, hier: Wissenschaftliches Gutachten über die Schriften von Günther Franz vom 24.11.1948 und handschriftliche Begleitnotiz Kurt von Raumers vom 12.12.1948. UAH, N 6, 1/8/7, Brief Prof. Dr. Fritz Valjavec an Günther Franz vom 21. August 1951. Als Engel des Altphilologen und Kulturhistorikers Ludwig Friedlaender war Dehio im NSDeutschland als Vierteljude eingestuft worden. Er durfte zwar seine Arbeitsstelle im Brandenburgisch-preußischen Hausarchiv behalten, aber nicht mehr publizieren. UAH, N 6, 1/4/3, Brief G. A. Rein an Günther Franz vom 20. November 1956. UAH, N 6, 4/24 (2) PuG, Rein, 1956; Schreiben Franz an G. A. Rein vom 19.11.1956.
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Hermann Heimpel anlässlich eines Sondierungsgesprächs über einen möglichen Ruf als Agrarhistoriker an die Landwirtschaftliche Fakultät der Universität Göttingen ihm gegenüber geäußert, dass seiner Meinung nach ehemals aktive Nationalsozialisten zwar weiterhin wissenschaftlich arbeiten, aber niemals mehr lehren dürften.10 Über die Sinnhaftigkeit dieser Aussage mag man streiten, sie zeigt jedoch, dass es gerade unter den einflussreichen Historikern (Frauen waren noch keine darunter) der frühen 1950er Jahre erhebliche Bedenken gab, nationalsozialistisch vorbelastete Kollegen dabei zu unterstützen, in der bundesdeutschen Hochschullandschaft wieder Fuß zu fassen. Das betraf in der Regel nicht die ehemaligen einfachen Parteimitglieder. Freilich war die Grenzziehung zwischen „einfacher Parteimitgliedschaft“ und „aktiver Mitarbeit“ in der Regel schwierig, wie sich am Beispiel Kurt von Raumers zeigen lässt. Raumer hatte 1938 öffentlich erklärt, dass sich in den Geschichtswissenschaften die Wende von der Staatsgeschichte zur Volksgeschichte vollzogen habe, auch hatte er von der Vertreibung Hans Rothfels‘ profitiert, da er 1939 auf dessen Lehrstuhl nach Königsberg berufen wurde. Dennoch verblieb von Raumer, wie einige andere Kollegen auch, nach 1945 im Universitätsdienst. Andere konnten nach einer vergleichsweise kurzen Zwangspause wieder in den Hochschuldienst zurückkehren. Die Entscheidung darüber, wer im Universitätsdienst verbleiben bzw. wieder zurückkehren durfte, war mangels klarer Richtlinien und der vergleichsweise geringen Zuverlässigkeit des Entnazifizierungsverfahrens stets abhängig von der Trag- und Leistungsfähigkeit der jeweils eigenen individuellen Netzwerke, sowohl im Hinblick auf den Kollegenkreis als auch im gesellschaftlichen und politischen Raum. Im Falle Gustav Adolf Reins stand vergleichsweise früh fest, dass eine Rückkehr in den Universitätsdienst ausgeschlossen war. Er war im August 1945 von der britischen Militärverwaltung aus dem Hochschuldienst entlassen worden, nicht zuletzt auch deshalb, weil er als Rektor der Universität Hamburg zwischen 1934 und 1938 für die Entlassung zahlreicher aus politischen oder rasseideologischen unliebsamer Professoren verantwortlich gewesen war. Darüber hinaus hatte er maßgeblichen Anteil an der Gleichschaltung der Universität und dafür gesorgt, dass die Universität Hamburg im November 1933 zu den vergleichsweise wenigen institutionellen Unterzeichnern des „Bekenntnisses der Professoren an den deutschen Universitäten und Hochschulen zu Adolf Hitler und dem nationalsozialistischen Staat“ zählte. Und auch wenn er 1938 vom NS-Dozentenbund aus dem Amt des Rektors gedrängt worden11 und es ihm vielleicht deswegen gelungen war, im Rahmen des Spruchkammerverfahrens zunächst lediglich als „Mitläufer“, nach einer Revision sogar als „entlastet“ eingestuft zu werden, blieb ihm eine Rückkehr in den Universitätsdienst verwehrt. Zum einen hing das wohl auch zusammen mit seinem Lebensalter (Jg. 1885), zum anderen war in Hochschullehrerkreisen Reins Anteil an der sog. „Säuberung“ und „Gleichschaltung“ der 10 Günter Franz, Mein Leben, 206. 11 Siehe dazu: Michael Salewski, Die Ranke-Gesellschaft und ein halbes Jahrhundert, in: Jürgen Elvert / Susanne Krauß (Hgg.), Historische Debatten und Kontroversen im 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart 2002, 124–142, hier 124.
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Hamburger Universität nicht vergessen worden, so dass er als Hochschullehrer untragbar war. Unabhängig davon verfügte Rein in Hamburg, nicht zuletzt auch aufgrund seiner Tätigkeit als Ordinarius für Kolonial- und Überseegeschichte und Geschichte des Deutschtums im Ausland sowie als Rektor über ein dichtes persönliches Netzwerk, das weit in das Hamburger Bürgertum hineinreichte. Besonders seine Beziehungen zum Reeder John T. Essberger und zum Getreidekaufmann Alfred C. Toepfer sollten sich für Reins Pläne als bedeutsam herausstellen. Nachdem sich am 13. April 1950 „7 Historiker in einem Haus an der Elbe zur Besprechung verschiedener historisch-politischer Probleme [getroffen hatten, kamen sie] zu dem Entschluss, eine Historisch-Politische Zeitschrift ins Leben zu rufen; im Mai 1950 wurde durch Unterschriften und Beitrittserklärungen dafür eine Vereinigung gegründet; Ende September 1950 wurde der Beschluss gefasst, dieser Vereinigung für Geschichte im öffentlichen Leben den Namen Ranke-Gesellschaft zu geben“.12
Unter den 24 Unterzeichnern des Gründungs- und Beitrittsaufrufs befanden sich die Historiker Otto Becker und Alexander Scharff aus Kiel, Walter Hubatsch aus Göttingen, Wilhelm Schüßler aus Hemer, Gotthold Rohde, Heinrich Noack und Gustav Adolf Rein aus Hamburg.13 Weitere Historiker hatten ihr Interesse an einer Mitgliedschaft bekundet, darunter fanden sich so prominente Namen wie Hermann Aubin, Otto Brunner, Erich Keyser, Karl Alexander von Müller, Leo von Muralt, Harold Steinacker oder Reinhard Wittram. Allerdings stellten Historiker von vornherein nur einen Teil der Mitgliedschaft der Ranke-Gesellschaft, das war auch so beabsichtigt. Unter den Gründungsmitgliedern befanden sich ebenfalls prominente Vertreter anderer Disziplinen, so zum Beispiel der Ökonom Andreas Predöhl (Jg. 1893), der bis 1945 Präsident des Kieler Weltwirtschaftsinstituts gewesen war und zwischen 1942–44 das Amt des Rektors der Universität Kiel ausgeübt hatte. 1953 sollte er zum Direktor des Instituts für Verkehrswissenschaft an die Westfälische Wilhelms-Universität in Münster berufen werden, wo er 1961/62 ebenfalls das Rektorenamt innehaben würde. Der Soziologe Helmut Schelsky (Jg. 1912) zählte zu den jüngeren Gründungsmitgliedern der Ranke-Gesellschaft. Auch er blickte auf eine NS-Vergangenheit zurück (1932 Eintritt in die SA, 1937 Eintritt in die NSDAP, Lektorentätigkeit für das Amt Rosenberg), war jedoch zum Zeitpunkt des Treffens bereits zum ordentlichen Professor an die Hamburger Akademie für Gemeinwirtschaft berufen worden und gab außerdem die sozialdemokratische Zeitschrift „Volk und Zeit“ heraus. Anlässlich des zehnjährigen Bestehens der Ranke-Gesellschaft hatte Rein eine Übersicht über die berufliche Herkunft der Mitglieder der Ranke-Gesellschaft aufgestellt: Unter den 236 Mitgliedern war die Gruppe der “Forscher und Hochschullehrer“ mit 68 Personen am größten, gefolgt von 36 im Lehr- und Erziehungswesen
12 So Rein in der Beilage zu den Mitteilungen Nr. 30 der Ranke-Gesellschaft, zitiert nach: ebd., 124. 13 Ebd.
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tätigen Personen, 35 Mitglieder waren Offiziere, 31 Mitglieder kamen aus dem Kreis der Wirtschaft und 20 Personen hatten einen juristischen Berufshintergrund. Die restlichen Mitglieder waren in Berufen tätig, die sich keiner der Gruppen zuordnen ließen, sie repräsentierten damit in gewisser Weise die weitere Öffentlichkeit, genauso wie es Rein sich gewünscht hatte, wollte er die im Kreise der der Ranke-Gesellschaft nahestehenden Fachwissenschaftler doch möglichst tief in die Gesellschaft hineintragen und damit öffentliche Wirkung erzielen.14 Es war bei dem Treffen in dem „Haus an der Elbe“ also primär darum gegangen, eine „Historisch-Politische Zeitschrift“ ins Leben zu rufen. Dafür hatte man sich darauf verständigt, eine Gesellschaft zu gründen, in der Historiker und historisch interessierte Vertreter anderer Disziplinen zusammen mit historisch interessierten Laien ins Gespräch kommen sollten – es sollte eine „Gesellschaft für Geschichte im öffentlichen Leben“ sein, um so dem selbstgestellten Anspruch gerecht zu werden, dem in erster Linie von den Siegermächten vermittelten Geschichtsbild eine wissenschaftlich fundierte Alternative gegenüberstellen zu können, so jedenfalls lautete der erste von vier Grundsätzen der Arbeit der Ranke-Gesellschaft:15 „1. Reinigung der deutschen Geschichte von den vielfältigen propagandistischen Verfälschungen, 2. Erforschung des historisch Gemeinsamen in der europäischen Völkergemeinschaft gegenüber jeder Art von engem Nationalismus, 3. Behandlung der Geschichte der Weltpolitik, da unser aller Existenz in einen planetarischen Zusammenhang gerückt ist, und 4. Aufgeschlossenheit für die geschichts-philosophischen und geschichts-theologischen Fragen der Gegenwart in den verschiedenen weltanschaulichen Lagern Deutschlands und Europas.“
Ein Blick auf die Zusammensetzung der Gründungsmitglieder, insbesondere der Historiker unter ihnen zeigt, dass einige von ihnen an durchaus exponierter Stelle in der nationalsozialistischen Wissenschafts- und Kultur- und/oder Raumpolitik tätig gewesen waren, andere als Mitläufer eingestuft worden waren und damit das Kapitel „Nationalsozialismus“ in ihren jeweiligen Lebensläufen als abgeschlossen betrachteten, und wieder andere, ähnlich wie Reinhard Wittram, sich auch öffentlich selbstkritisch mit ihrem Engagement im und für den Nationalsozialismus auseinandersetzten. Gemeinsam war allen Gründungsmitgliedern eine konservative Grundhaltung, die insbesondere in der Zwischenkriegszeit bei vielen mit völkischen Elementen aufgeladen worden war. Diese völkische Dimension wiederum hatte in vielen Fällen die Brücke zum Nationalsozialismus gebildet. So hatte zum Beispiel Günther Franz seine Affinität zum Nationalsozialismus Anfang der 1950er Jahre wie folgt begründet: „Ich bin unter den Historikern einer der wenigen, die seit je nicht oder doch nicht vorwiegend politische Geschichte getrieben haben, sondern die sich früh aus der Überzeugung, dass der wahre Held der deutschen Geschichte das deutsche Volk sei, der Sozialgeschichte, d. h. vor
14 Ebd., 126. 15 Zitiert nach: ebd., 125.
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Jürgen Elvert allem der Geschichte des deutschen Bauern zugewandt haben. Obgleich mein ,Bauernkrieg‘, der erstmals 1933 erschien, vom Reichsnährstand nicht sonderlich geschätzt wurde, wurde ich Nationalsozialist, weil ich im Nationalsozialismus erstmals seit 1517 wieder eine Bewegung sah, die das ganze Volk ergriff und den Arbeiter ebenso wie den Bauern (der ja seit 1525 abseits gestanden hatte) in die Volksgemeinschaft hineinzog. Und zum anderen sah ich im Nationalsozialismus den Versuch, das Jahr 1917 (das mit dem Eingreifen Amerikas und der russischen Revolution für mich das eigentliche Schicksalsjahr der neuesten Geschichte ist) zu überwinden, indem Europa zwischen Ost und West aus seinen eigenen Kräften heraus sich eine reichische Organisation zu geben versuchte, die nach Herder und deutscher Überlieferung nicht nur auf den Volkstümern gegründet sein konnte. Aus dieser Überzeugung heraus sah und sehe ich in der Besetzung Prags nicht nur eine Abweichung von der Trift, sondern erst recht im Ostimperialismus, der doch nicht nur von den wildgewordenen Gauleitern wie Koch vertreten wurde. Meine letzte Kriegsaufgabe war es, zusammen mit einigen gleichgesinnten Professoren und einigen Westeuropäern, die sich auch damals noch zu uns bekannten, gleichsam als Vermächtnis dessen, was Hitler, was wir gewollt haben, aus Hitlers Reden ein Europaprogramm zusammenzustellen, das den Zusammenbruch überdauern sollte. Wir waren überrascht, wie wenig Hitler sich in dieser Linie festgelegt hatte, wie sehr auch er (um das Bild zu wiederholen) von dem ursprünglichen Ansatz abgetrieben worden ist.“16
Auch wenn Günther Franz erst vergleichsweise spät, nämlich im Frühjahr 1951, zur Ranke-Gesellschaft gestoßen war17 – Rein und Franz hatten vor 1945 kaum inhaltliche Anknüpfungspunkte und hatten sich persönlich nicht gekannt – weist er alle Merkmale eines „typischen“ Mitglieds der „ersten Stunde“ der Ranke-Gesellschaft auf: ein infolge des Zusammenbruchs des NS-Systems zutiefst verunsicherter Historiker mittleren Alters, dessen gesamtes persönliches Wertesystem, an das er zuvor geglaubt und das er vertreten hatte, plötzlich in Frage gestellt wurde und der deshalb einen Kreis von Kollegen suchte, die ähnliche Erfahrungen gemacht hatten und auf der Suche nach einem festen Ort in einem sich dramatisch geänderten beruflichkulturellen Umfeld waren. Aufgrund zahlreicher Parallelen in ihren jeweiligen beruflichen Karrieren bestand in diesem gemeinschaftlichen Rahmen keine Notwendigkeit zur öffentlichen Selbstkritik. Ohnehin war die Bereitschaft dazu unterschiedlich ausgeprägt. Während Reinhard Wittram öffentlich erklärt hatte, in der NS-Zeit einen Irrweg gegangen zu sein, zeigte Gustav Adolf Rein jedenfalls nach außen hin keine Selbstzweifel: „Ich verstehe nicht, wie man Hochschullehrer sein kann und genau so wie gewisse Stellen der NSDAP jemanden, der z. B. in einer Loge gewesen ist, solange anschwärzt, bis man ihn zu Fall bringt. Fühlen diese Herren denn gar nicht, wie unsittlich ihr Verhalten ist? Aber so sind sie alle, diese Entnazifizierer nach 11 Jahren, zumal die auf den Lehrstühlen! (...) was die Entnazifizierer von heute betreiben, ist Verfälschung der Wissenschaft aus politischen Gründen. Das ist Terror, nichts anderes (...) aus den Kritiken an der RG [Ranke-Gesellschaft, Anm. d. Verf.]
16 UAH, N 6, 1/4/10, Franz an Hans Grimm vom 1.9.1954. 17 UAH, N 6, 1/8/3, Franz an F. A. Six vom 24.6.52: „In Hamburg treffen Sie gewiss viele alte Freunde. Mit Pfeffer stehe ich stets in Verbindung und arbeite gelegentlich auch an der Zeitschrift für Geopolitik mit. Höhn und Scheel habe ich gelegentlich in Hamburg gesehen, da ich diesen wie vorigen April zur Tagung der Ranke-Gesellschaft, die Rein leitet, in Hamburg war.“
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spricht das schlechte Gewissen der Zunft, die versäumt hat, was ihre Pflicht gewesen wäre ... überhaupt die Zunft!! Also gehen wir ruhig unseren Weg weiter.“18
Rückschauend ist freilich festzustellen, dass Rein eigentlich keinen Grund zur Klage hatte. Die oben zitierten Zeilen hatte Rein als Reaktion auf eine Kritik des Göttinger Historikers Wilhelm Treue verfasst, der 1956 einige Rezensionen im Historisch-Politischen Buch als „nazistisch“ bzw. „nationalistisch“ kritisiert hatte – er nahm seine Kritik später zurück und blieb der Zeitschrift bis zu seinem Lebensende als Rezensent verbunden. Auch Treues Bruder Wolfgang stand als Referent der Deutschen Forschungsgemeinschaft der Zusammensetzung der Ranke-Gesellschaft kritisch gegenüber, der Schweizer Historiker Werner Hofer äußerte öffentlich scharfe Kritik an der nationalsozialistischen Prägung einer Reihe von Mitgliedern der Ranke-Gesellschaft und an der Vereinnahmung des Namens „Ranke“ durch die Gesellschaft. Darüber hinaus bezeichnete der junge Berliner Dozent Karl-Dietrich Bracher in einer Berliner Hochschulzeitung den Musterschmidt-Verlag, in dem das Historisch-Politische Buch erschien, (zu Unrecht übrigens) als ein rechtsradikales Verlagshaus. 19 Ansonsten fielen die Reaktionen „der Zunft“ auf die Gründung und die ersten Jahre des Wirkens der Ranke-Gesellschaft vergleichsweise zurückhaltend aus. Hier und da mag es Unbehagen gegeben haben, doch eine breite Widerstandsfront gegen die Gesellschaft bildete sich nicht, trotz gelegentlicher Rückfälle einzelner Referenten auf Tagungen in nationalsozialistische Argumentationsmuster. Um 1960 war die Zusammensetzung der Gesellschaft bereits so heterogen, dass die Kritik an solchen Vorkommnissen eher aus der Ranke-Gesellschaft selber kam. So beklagte sich beispielsweise im Januar 1959 der Münsteraner Historiker Manfred Hellmann (Jg. 1912), dem keine Verstrickung mit dem Nationalsozialismus vorgeworfen werden konnte, in einem Schreiben an den Vorsitzenden Gustav Adolf Rein bitter über den Auftritt eines finnischen Referenten auf einer Tagung der Ranke-Gesellschaft. Dieser habe sich bereits in den Kriegsjahren öffentlich und in mehreren Büchern als Anhänger der nationalsozialistischen Ideologie, insbesondere aber der rasseideologisch geprägten europäischen Raumordnungspolitik gezeigt. Er, Hellmann, könne nicht begreifen, wie ein solcher Mensch nicht nur Mitglied der Ranke-Gesellschaft werden konnte, sondern von dieser auch noch die Gelegenheit erhalten habe, sich auf einer Tagung der Öffentlichkeit zu präsentieren, denn „dass dieser Mann nicht nur gar nichts von Geschichte versteht, sondern zu wissenschaftlichem Denken auch nicht fähig ist (...) steht doch wohl eindeutig fest. Wir sollten uns bemühen, nicht noch ausländische Nazis zu uns einzuladen, wir haben mit den eigenen übergenug zu tun.“20
Die Mitgliederstruktur der Ranke-Gesellschaft hatte sich somit in den ersten zehn Jahren ihrer Existenz erheblich gewandelt. Neben die ehemaligen Vertreter eines völkisch-konservativen Geschichtsverständnisses auf der Suche nach einer neuen Orientierung waren im Laufe der Jahre jüngere und unvorbelastete getreten, die sich 18 UAH, N 6, 1/4/3, Schreiben G.A. Rein an Günther Franz vom 20.11.56. 19 Salewski, 130f. 20 UAH, N 6, 1/4/3, Schreiben Hellmann an Rein vom 16.1.1959.
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mit der Gründungsgeschichte der Gesellschaft kritisch befassten und so dazu beitrugen, das Profil der Gesellschaft nicht nur zu verändern, sondern diese auch vom Rande des fachwissenschaftlichen Spektrums in Richtung Mitte zu führen. Dazu beigetragen hatte zweifellos auch die vergleichsweise erfolgreiche Umsetzung des ursprünglichen Vorhabens Reins, die Gründung einer „Historisch-politischen Zeitschrift“ mit einem Profil, das den Grundsätzen der Ranke-Gesellschaft entsprechen sollte. Erste Überlegungen dazu waren, wie wir bereits sahen, schon auf dem ersten Treffen der „sieben“ Historiker im April 1950 angestellt worden. In den nächsten Monaten wurde weiter an dem Konzept gearbeitet, insbesondere von Rein, ohne dass sich daraus bereits unmittelbar greifbare Konsequenzen ergeben hätten. Allerdings wurde das Profil des Projekts klarer herausgearbeitet, das letztlich tatsächlich dieser Zeitschrift ein Alleinstellungsmerkmal verleihen sollte. Rein hatte sich bei seinen Überlegungen über die künftige Form der Zeitschrift auch von Ratschlägen Hamburger Buchhändler leiten lassen. Weiteren Schub erhielten die Überlegungen durch die Nachricht, dass Hans Rothfels und das Institut für Zeitgeschichte in absehbarer Zeit mit einer eigenen Zeitschrift an die Öffentlichkeit treten würden: „Wir stehen wieder vor der Frage, unser historisch-politisches Buchbesprechungsorgan zu schaffen auf der Grundlage der Schnelligkeit der Besprechungen und der Wendung an das historisch interessierte Publikum“.21 Die Frage der Herausgeberschaft stand im Sommer 1952 noch nicht fest. Rein fragte daher bei dem, wie er wusste, ebenso erfahrenen Herausgeber wie ausgezeichnetem Wissenschaftler und ebenso gutem Wissenschaftsorganisator Günther Franz an, ob sich dieser vorstellen könnte, die Herausgabe der Zeitschrift in die Hand zu nehmen, eventuell zusammen mit dem seinerzeit in Erlangen lehrenden Hellmuth Rössler. Hamburger Buchhändler hätten das Vorhaben als lebensfähig und erfolgversprechend eingeschätzt, insofern bestünde die Möglichkeit, dass die Schriftleitung der Zeitschrift auch honoriert werden könne.22 Als Verlag käme möglicherweise der Musterschmidt-Verlag in Frage, der den Druck und den Versand übernehmen könne, ohne notwendigerweise das verlegerische Risiko übernehmen zu müssen. Zuvor sei allerdings das Verhältnis des Verlags zur Ranke-Gesellschaft zu klären, die als gemeinnützige Vereinigung kein Erwerbsunternehmen unterhalten dürfe.23 Die Frage nach der Herausgeberschaft blieb längere Zeit ungeklärt. Rein schwebte offensichtlich ein Herausgebergremium vor, in dem nicht nur Historiker, sondern auch prominente Fachvertreter anderer Disziplinen vertreten sein sollten. So dachte er beispielsweise an Andreas Predöhl, der ihm jedoch mit dem Hinweis darauf absagte, bereits in zu viele andere Unternehmen eingebunden zu sein.24 Allerdings sagte er seine Mitarbeit an dem Unternehmen zu, wenn es sich denn kon-
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UAH, N 6, 1/4/3, Schreiben Rein an Franz vom 9.6.1952. Ebd. Ebd. Ebd., Postkarte von Rein an Franz vom 9.11.52.
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kretisieren solle. Als schwierig stellte sich auch die Besetzung des Herausgebergremiums mit einem Juristen oder Staatswissenschaftler heraus. Ulrich Scheuner oder Wilhelm Grewe wären für Rein ausgezeichnete Kandidaten gewesen, während Carl Schmitt „natürlich nicht“ in Frage kam.25 Dagegen hatten sich andere Probleme gelöst. Im Hinblick auf die finanzielle Grundausstattung hatten sich „zwei Hamburger Kaufleute“ – und zwar die bereits erwähnten John T. Essberger und Alfred C. Toepfer – bereit erklärt, einen Betrag in Höhe von DM 3.000 zu garantieren – „natürlich in der Erwartung, dass der Betrag nicht voll beansprucht werden“ würde.26 Auch die Ausrichtung der Zeitschrift stand im Oktober 1952 bereits fest: es sollte sich um ein Besprechungsorgan der Neuerscheinungen auf dem Gebiet der Geschichte handeln, die Nachbardisziplinen mit einbeziehen würde, um einen ebenso zuverlässigen wie kritischen „Wegweiser“ durch das in- und ausländische Schrifttum zu schaffen. Als Titel der Zeitschrift hatten die Initiatoren „Das historisch-politische Buch“ ins Auge gefasst, das unter Mitwirkung einer Reihe von renommierten Wissenschaftlern von Günther Franz herausgegeben werden sollte. Der Göttinger Musterschmidt-Verlag hatte sich zwischenzeitlich, vermutlich aufgrund der Garantieerklärung der beiden Hamburger Kaufleute, dazu bereit erklärt, die Zeitschrift verlegerisch zu betreuen und sechs Hefte im Jahr à zwei Bogen pro Jahr zu drucken. Dafür wollte der Verlag die Werbe- und Versandkosten übernehmen und die ersten drei Hefte mit jeweils DM 250 bezuschussen. Die Ranke-Gesellschaft sollte dafür im Gegenzug einen Zuschuss von DM 250 pro Heft leisten oder 300 Exemplare abnehmen. Ab einer Verkaufsauflage von 600 Exemplaren würden die Zuschüsse entfallen, ab einer Verkaufsauflage von 1000 könnten die Schriftleiterkosten, die mit DM 1200/Jahr berechnet worden waren, vom Verlag übernommen werden. Abgesetzt werden sollte die Zeitschrift zu einem Halbjahresabonnement von DM 4,50 im gehobenen Buchhandel, in Bibliotheken, wissenschaftlichen Instituten und höheren Schulen, bei Zeitungen und Zeitschriften, unter Historikern und historisch interessierten Vertretern anderer Disziplinen, unter Geschichtslehrern und Studenten sowie bei Bücherfreunden und anderen Privatpersonen. Mitglieder der Ranke-Gesellschaft sollten die Zeitschrift zu vergünstigten Bedingungen beziehen können.27 Während sich die Zusammensetzung des Herausgebergremiums weiter hinzog, wurden im Hinblick auf die Zeitschrift im November und Dezember 1952 weitere Fortschritte gemacht. Zur Mitwirkung in dem Gremium bereit erklärt hatten sich zwischenzeitlich „die Historiker Prof. Dr. O. Becker – Kiel, Prof. Dr. G. A. Rein – Hamburg, Prof. Dr. W. Schüssler – Hemer, Prof. Dr. R. Wittram – Göttingen“, weiterhin hoffte Rein darauf, dass noch einige Staatswissenschaftler dem Herausgeberkreis beitreten würden.28 Die endgültige Zusammensetzung des Gremiums sah wie folgt aus: Otto Becker, Historiker (Kiel), Otto Brunner, Historiker (Hamburg), Ernst Forsthoff, Staatsrechtler (Frankfurt/Main), Günther Franz, Historiker (Bad 25 26 27 28
Ebd. Ebd., Schreiben Reins an Franz vom 1.10.1952. Ebd., Anlage zum Schreiben. Ebd., Rein an Pfeil, Musterschmidt-Verlag vom 1.11.52.
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Sooden-Allendorf), Gustav Adolf Rein, Historiker (Hamburg), Helmut Schelsky, Soziologe (Hamburg), Wilhelm Schüßler, Historiker (Hemer), Bertold Spuler, Orientalist (Hamburg) und Reinhard Wittram, Historiker (Göttingen). Damit war Reins Plan einer möglichst interdisziplinären Zusammensetzung des Herausgebergremiums letztlich doch noch aufgegangen. Der Verlagsvertrag zwischen der Ranke-Gesellschaft und dem MusterschmidtVerlag lag im Januar 1953 unterschriftsreif vor. Für die Tätigkeit als Schriftleiter war für Günther Franz ein Honorar von DM 1.200 pro Jahrgang vorgesehen, dieses Honorar würde jedoch erst bei einer Verkaufsauflage von 1.500 erwirtschaftet werden können. Im schlimmsten Fall, bei weniger als 500 Beziehern der Zeitschrift, hätte die Ranke-Gesellschaft (bzw. die ihr nahestehenden bereits genannten Hamburger Kaufleute) am Ende des ersten Jahrgangs DM 1.700 Zuschuss zu dem Vorhaben leisten müssen, das allerdings bei nunmehr 8 Heften pro Jahrgang, wie es der Vertragsentwurf vorsah. Da das für Franz eine zusätzliche Arbeitsbelastung bedeutete, bat Rein diesen um eine Stellungnahme, da eine weitere Erhöhung des Schriftleiterhonorars derzeit nicht in Frage kam. Darüber nachdenken könne man erst ab einer Auflage von 2.000 Stück, denn dann würde man „wirklich gut schwimmen können“.29 Franz erklärte sich mit dem Verfahren einverstanden, so dass der erste vollständige Jahrgang des HPB in acht Heftlieferungen erschien. Diese Erscheinungsfrequenz wurde einige Jahre später sogar noch weiter erhöht, denn bis weit in die 1990er Jahre sollte das HPB monatlich erscheinen, um seither wieder, wie ursprünglich geplant, zweimonatlich ausgeliefert zu werden, allerdings mit nunmehr sieben Bögen pro Ausgabe. Die Zweifel Reins, Franz‘ und der anderen Beteiligten am Projekt „Das Historisch-Politische Buch“ sollten sich bald als unbegründet herausstellen. Das „Format“, also die Konzeption der Zeitschrift erwies sich als höchst attraktiv und trug entscheidend dazu bei, dass die Ranke-Gesellschaft innerhalb vergleichsweise kurzer Zeit innerhalb und außerhalb „der Zunft“ ernst genommen wurde. In der Tat könnte man rückschauend die Grundidee, gewissermaßen flächendeckend das Neuerscheinungssegment aus dem Feld der historischen und thematisch verwandten Bücher in kurzen, aber aussagekräftigen Rezensionen von ausgewiesenen Fachleuten besprechen zu lassen, als eine Art „Geniestreich“ bezeichnen. Denn etwas Vergleichbares hatte es bislang auf dem Gebiet der geschichtswissenschaftlichen Fachliteratur nicht gegeben und sorgte daher für die Aufmerksamkeit in der Fachwelt und darüber hinaus, die sich die Initiatoren erhofft hatten. Überdies wuchs mit der Anzahl der Besprechungen nicht nur der Umfang der Zeitschrift, auch der Bedarf an kompetenten Rezensentinnen und Rezensenten wuchs ständig. Damit hatte sich insbesondere auch dem wissenschaftlichen Nachwuchs eine Publikationsplattform gebildet, die sich vergleichsweise leicht bedienen ließ. Ein Blick auf die Verzeichnisse der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter an den einzelnen Jahrgängen bereits der zweiten Hälfte der 1950er Jahre, mehr noch seit den 1960er Jahren zeigt, dass neben einer wachsenden Zahl ausländischer Rezensentinnen und Rezensenten ein großer
29 Ebd., Rein an Franz vom 3.1.1953.
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Teil der deutschen Historikerzunft im HPB ihre oder seine ersten publizistischen Gehversuche unternommen hatten. Damit war das Historisch-Politische Buch deutlich breitenwirksamer als ein anderes, Mitte der 1950er Jahre von Rein und Franz angedachtes Projekt, in dem es um knappe, aber trotzdem wissenschaftlich fundierte Biographien bedeutender Persönlichkeiten ging. Zwar konnte sich die auch im Musterschmidt-Verlag verlegte Reihe „Persönlichkeit und Geschichte“, wie sie später heißen sollte, auch am Markt durchsetzen und bis heute behaupten, allerdings niemals so eine Breitenwirkung wie das HPB entfalten. Nicht ohne Genugtuung konnte Rein im November 1956 konstatieren, dass die Anerkennung der Ranke-Gesellschaft im öffentlichen Raum Fortschritte mache. So habe man für die Marburger Tagung der Ranke-Gesellschaft erstmals persönliche Schreiben mit guten Wünschen von zwei Bundesministern erhalten (den Ministern Schröder und von Merkatz). Auch habe die überregionale Presse erstmals in drei Artikeln über die Konferenz berichtet, was wiederum zahlreiche Zuschriften an die Gesellschaft und den Beitritt von 14 neuen Mitgliedern zur Folge gehabt hätte, darunter auch den des amtierenden Rektors der Universität Marburg. Insofern sei davon auszugehen, dass die Ranke-Gesellschaft – trotz weiterhin bestehender Gegnerschaft in Fachkreisen – nicht mehr als „eine Art Getto“ innerhalb der Zunft angesehen werde oder man sie einfach „ironisieren“ könne.30 Ende 1956 konnte Gustav Adolf Rein also im Hinblick auf die Ranke-Gesellschaft mit verhaltender Zuversicht in die Zukunft blicken: Die Mitgliederzahl wuchs und sie wurde von der Fachwelt wie von der Öffentlichkeit zunehmend als eine ernstzunehmende Größe im Bereich der bundesdeutschen Geschichtswissenschaftslandschaft wahrgenommen. Gelegentlich geäußerte Kritik an der „braunen“ Herkunft vieler Gründungsmitglieder konnte immer leichter mit dem Hinweis auf die große und weiter wachsende Zahl von Mitgliedern mit unverdächtiger Herkunft abgewehrt werden. Wenn sie aus dem Bereich der Geschichtswissenschaften kamen, waren diese Neumitglieder überdies in anderen fachwissenschaftlichen Institutionen und Vereinigungen vertreten, so dass davon ausgegangen werden kann, dass die Ranke-Gesellschaft bereits Ende der 1950er / Anfang der 1960er Jahre, also etwa zehn Jahre nach ihrer Gründung und trotz ihrer zweifellos problematischen Gründungsgeschichte zu den etablierten fachwissenschaftlichen Vereinigungen der Bundesrepublik Deutschland gezählt werden musste.
30 Ebd., Schreiben Reins an Erwin Hölzle vom 3.11.1956.
GRÜNDUNG UND ANFÄNGE DES MAX-PLANCK-INSTITUTS FÜR GESCHICHTE IN GÖTTINGEN* Hans-Christof Kraus
Im Band 189 der Historischen Zeitschrift, erschienen Ende 1959 als Jubiläumsgabe zum einhundertjährigen Bestehen des führenden historischen Fachorgans in Deutschland, publizierte der Göttinger Mediävist Hermann Heimpel eine umfängliche Abhandlung mit dem Titel „Über Organisationsformen historischer Forschung in Deutschland“. Hier gab er einen ausführlichen und faktengesättigten Überblick über die Geschichte der bisher bestehenden historischen Forschungsinstitutionen, worunter er etwa die Akademien, Archive, Forschungsbibliotheken, auch die historischen Kommissionen, die diversen landesgeschichtlichen Vereinigungen und endlich ebenfalls die eigentlichen Forschungsinstitute jüngeren Datums begriff1. Was nun die letzteren anbetraf, so begnügte sich Heimpel2 keineswegs mit einer bloßen Aufzählung oder kritischen Würdigung dieser Einrichtungen, sondern er beschrieb die Entstehung geistes- und geschichtswissenschaftlicher Forschungsinstitute als Resultat einer spezifischen Ausdifferenzierung im zunehmend komplexer werdenden modernen Wissenschaftsbetrieb. Die Gegenwart fordere geradezu das Institut – stellte Heimpel in indirekter Anlehnung an frühere Äußerungen von Adolf Harnack und Max Weber fest –, „weil es die Forschung als Beruf fordert: die Anerkennung der Tatsache, daß nicht jeder tüchtige Spezialgelehrte die sogenannte akademische Laufbahn betreten kann und soll, zumal auch die Universität nicht mehr die alte Muße wissenschaftlicher Arbeit gewährt“. Das Institut sei daher, so Heimpel weiter, gerade „auch für jene Spezialbegabungen notwendig, welche in *
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Die nachfolgenden Ausführungen enthalten den überarbeiteten und inhaltlich erweiterten Text meines am 5. Oktober 2012 in Köln gehaltenen Vortrags, der vornehmlich auf einer Auswertung ungedruckter einschlägiger Quellenbestände des Archivs der Max-Planck-Gesellschaft, Berlin-Dahlem (AMPG) beruhte. Die erst später erschienene Darstellung von Werner Rösener, Das Max-Planck-Institut für Geschichte (1956–2006), Göttingen 2014, wurde für die Druckfassung jedoch berücksichtigt. Hermann Heimpel, Über Organisationsformen historischer Forschung in Deutschland, in: Historische Zeitschrift 189/1959, 139–222. Eine ausführliche wissenschaftliche Biographie fehlt bisher und wird, da der Nachlass weiterhin gesperrt ist, wohl erst in größerem Zeitabstand erarbeitet werden können. Einen ausführlichen und kenntnisreichen Überblick über Leben und Werk liefert jedoch Heimpels Schüler Hartmut Boockmann, Der Historiker Hermann Heimpel, Göttingen 1990; aufschlussreich ebenfalls Ernst Schulin, Hermann Heimpel und die deutsche Nationalgeschichtsschreibung (Schriften der Philosophisch-historischen Klasse der Heidelberger Akademie der Wissenschaften 9/1998), Heidelberg 1998.
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Hans-Christof Kraus früheren und für immer vergangenen Zeiten in der Form des Privatgelehrten zur Geltung kamen“3.
Als diese Worte publiziert wurden, amtierte ihr Verfasser bereits seit drei Jahren als Gründungsdirektor des im Jahr 1956 neu eröffneten Max-Planck-Instituts für Geschichte in Göttingen, – eines Instituts, das heute bereits wieder der Vergangenheit angehört, damals aber mit vielen Hoffnungen ins Leben gerufen worden war4. Tatsächlich nahm dieses Institut innerhalb des geisteswissenschaftlichen, speziell des historischen Wissenschaftsbetriebes der frühen Bundesrepublik eine etwas eigentümliche Zwischenstellung ein, denn es gehörte einerseits nicht zu den alten, nach 1945 rasch zu neuem Leben erweckten und durchaus auf Kontinuität bedachten traditionellen Einrichtungen wie etwa die schon kurz nach dem Krieg von Berlin nach München gewanderten „Monumenta Germaniae Historica“ oder die Historische Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, – aber es gehörte andererseits eben auch nicht zu den meist aus politischen Gründen vorgenommenen reinen Neugründungen wie etwa das Institut für Zeitgeschichte in München, das Institut für Europäische Geschichte in Mainz oder die Kommission für die Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien in Bonn5. Denn das Göttinger Institut hatte in der Tat eine Vorgeschichte, an die man nach dem Krieg allerdings nur bedingt anknüpfen wollte. Gemeint ist das frühere Kaiser-Wilhelm-Institut für Deutsche Geschichte, das 1917 als erstes und lange Zeit einziges geisteswissenschaftliches Institut der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft vor allem auf Betreiben Adolf Harnacks gegründet und anschließend mehr als ein halbes Jahrhundert von dem Ende 1944 verstorbenen Mediävisten Paul Fridolin Kehr geleitet worden war6. Drei Arbeitsschwerpunkte hatte das damalige, stets sehr kleine, unterfinanzierte und dazu personell äußerst dürftig ausgestattete Institut aufzuweisen: Erstens die „Germania Sacra“, zweitens die Sammlung der Urkunden zur Geschichte Kaiser Karls V. und drittens endlich die Edition der politischen Korrespondenz Kaiser Wilhelms I. Das Kaiser-Wilhelm-Institut für Deutsche Geschichte
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Heimpel, Über Organisationsformen, 221. Vgl. Rösener, Das Max-Planck-Institut für Geschichte, 37ff.; Anne Christine Nagel, Im Schatten des Dritten Reichs. Mittelalterforschung in der Bundesrepublik Deutschland 1945–1970 (Formen der Erinnerung, 24), Göttingen 2005, 187ff. Ausführlich hierzu: Winfried Schulze, Deutsche Geschichtswissenschaft nach 1945, München 1989, 145ff., 228ff. u. passim; zu den „Monumenta“ nach 1945 siehe auch Nagel, Im Schatten des Dritten Reichs, 209ff. Grundlegend zur kurzen Institutsgeschichte: Wolfgang Neugebauer, Das Kaiser-WilhelmInstitut für Deutsche Geschichte im Zeitalter der Weltkriege, in: Historisches Jahrbuch 113/1993, 60–97; siehe ebenfalls Lothar Burchardt, Die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Ersten Weltkrieg (1914–1918), in: Rudolf Vierhaus / Bernhard vom Brocke (Hgg.), Forschung im Spannungsfeld von Staat und Gesellschaft. Geschichte und Struktur der Kaiser Wilhelm-/ MaxPlanck-Gesellschaft, Stuttgart 1990, 163–196, hier 178–180; Rösener, Das Max-Planck-Institut für Geschichte, 13–24; zu Kehr siehe neuerdings Rudolf Schieffer, Paul Fridolin Kehr, in: Hans-Christof Kraus (Hg.), Geisteswissenschaftler II (Berlinische Lebensbilder, 10), Berlin 2012, 127–146.
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erlosch faktisch im Frühjahr 19457, nachdem es bereits einige Zeit zuvor aufgrund der Kriegslage seine Arbeit hatte einstellen müssen. Schon 1946 wurde in der damaligen britischen Besatzungszone die frühere Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften – bald unter neuem Namen als Max-Planck-Gesellschaft – neu begründet8, und bereits wenige Jahre später, noch in den Anfängen der Bundesrepublik Deutschland, wurde bereits eine Wiedergründung auch des alten Instituts für Geschichte ins Gespräch gebracht 9, zuerst, im Mai 1949, von dem damaligen ersten Nachkriegspräsidenten der Monumenta Germaniae Historica, Friedrich Baethgen, sowie fast zeitgleich von Hermann Heimpel, wobei von beiden hauptsächlich an die Weiterführung der Germania Sacra gedacht war, die aus Mitteln der Gesellschaft finanziert werden sollte10. Der Senat der Max-Planck-Gesellschaft, dem dieser erste Vorschlag zwei Monate später unterbreitet wurde, lehnte dieses Ansinnen jedoch auf seiner 5. Sitzung am 22. Juli 1949 klar ab, wie es hieß „mit Rücksicht auf die Gesamtlage, die eine Erweiterung der Max-Planck-Gesellschaft durch Neuaufnahme von Instituten im gegenwärtigen Augenblick nicht zulässt“11. Als zwei Jahre später der Kölner Historiker Peter Rassow die Wiederaufnahme der Edition der Korrespondenzen Karls V. im Rahmen eines neuen historischen Instituts der MPG anregte, nahm sich vor allem eine Persönlichkeit mit großer Tatkraft dieser Angelegenheit an, die bereits während der Zwischenkriegszeit dem alten Kehrschen Institut aus mehreren Gründen eng verbunden gewesen war: Es handelte sich um den Prälaten Georg Schreiber, Kirchenhistoriker in Münster und zwischen 1920 und 1933 Reichstagsabgeordneter des Zentrums. Schreiber, einer der einflussreichsten deutschen Wissenschaftspolitiker der Weimarer Zeit, war zwischen 1926 und 1933 Mitglied des Senats der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft gewesen12. Nach dem Zweiten Weltkrieg gehörte er wiederum dem Senat der neuen 7 8
Vgl. Neugebauer, Das Kaiser-Wilhelm-Institut, 94f. Dazu Manfred Heinemann, Der Wiederaufbau der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft und die Neugründungen der Max-Planck-Gesellschaft (1945–1949), in: Vierhaus / Brocke (Hgg.), Forschung im Spannungsfeld, 407–470; Otto Gerhard Oexle, Wie in Göttingen die Max-PlanckGesellschaft entstand, in: Jahrbuch der Max-Planck.-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften 1994, 43–59. 9 Neuerdings hierzu: Rösener, Das Max-Planck-Institut für Geschichte, 24ff. 10 Vgl. Archiv der Max-Planck-Gesellschaft, Berlin-Dahlem (künftig zitiert: AMPG), II. Abt., 1A-IB, Gesch. 01, Hermann Heimpel an Otto Hahn, 28. 5. 1949; in diesem Brief heißt es u. a.: „Ich könnte mir denken, daß es das Einfachste sein würde, den Präsidenten der Monumenta Germaniae Historica mit der Leitung der Germania sacra zu betrauen bzw. überhaupt ihm ein Max-Planck-Institut für Geschichte zu übergeben. Dasselbe würde ebenso (…) seinen Sitz in München haben. – Wie ich höre, ist es ein Anliegen des Ministers Hundhammer, Institute der Max-Planck-Gesellschaft nach Bayern zu bekommen. Dieser Wunsch könnte in unserem Falle leicht befriedigt werden“. 11 AMPG, II. Abt., 1A, 5. Senatsprotokoll, 22. 7. 1949, 15. 12 Vgl. Rudolf Morsey, Georg Schreiber, der Wissenschaftler, Kulturpolitiker und Wissenschaftsorganisator, in: Westfälische Zeitschrift 131/132/1981/82, 121–155; ders., Georg Schreiber, in: Wolfgang Treue / Karlfried Gründer (Hgg.), Berlinische Lebensbilder – Wissenschaftspolitik in Berlin. Minister, Beamte, Ratgeber (Einzelveröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin, 60), Berlin 1987, 269–284, zuletzt noch (mit ausführlicher Bibliographie) ders.,
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Max-Planck-Gesellschaft an und leitete deren Senatskommission für geisteswissenschaftliche Angelegenheiten. Die schon im Jahr 1989 von Winfried Schulze in seiner Studie über die „Deutsche Geschichtswissenschaft nach 1945“ geäußerte Vermutung, die konkrete Initiative zur Neugründung sei von Schreiber ausgegangen13, wird durch die (für Schulze seinerzeit noch nicht zugänglichen) Unterlagen im Archiv der Max-PlanckGesellschaft bestätigt. Schon im Rahmen der 13. Senatssitzung im Januar 1952 stellte Schreiber, ausgehend von Rassows Vorschlag, den erfolgreichen Antrag, die Angelegenheit der Wieder- oder Neubegründung eines Instituts für Geschichte in der geisteswissenschaftlichen Sektion der Gesellschaft beraten zu lassen14. Auch in einem noch im selben Jahr gehaltenen programmatischen Vortrag zur Geschichte und Gegenwart der neueren deutschen Wissenschaftspolitik vor der „Arbeitsgemeinschaft für Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen“ plädierte Schreiber im September 1952 noch einmal für eine solche Gründung – erstens, um neben der Fortführung bestimmter älterer Aufgaben wie der Germania Sacra auch „andere Forschungsgebiete aufzuschließen“, und zweitens, um wenigstens „ein bescheidenes Gleichgewicht [sic] zu den anderen Arbeitsgebieten der Gesellschaft“15 herzustellen. Bereits am 9. Juni 1954 hatte Schreiber in einer in Wiesbaden abgehaltenen Sitzung der von ihm geleiteten Senatskommission für geisteswissenschaftliche Angelegenheiten seinen Plan für eine Institutsneugründung bekannt gemacht16: Das von ihm hier vorgeschlagene Konzept sah vor, von den drei einstigen Arbeitsgebieten des früheren Kehrschen Instituts nur eines, nämlich die Germania Sacra – also die, wie Schreiber hier vor einem überwiegend fachhistorisch nicht informierten Publikum ausführte, „historisch-statistische Darstellung der deutschen Bistümer, Domkapitel, Klöster und sonstigen kirchlichen Institute“ – weiterzuführen, mit dem Ziel einer umfassenden „Darstellung der Organisation und Geschichte der deut-
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Georg Schreiber, in: Friedrich Gerhard Hohmann (Hg.), Westfälische Lebensbilder, Bd. 18, Münster 2009, 111–125. – Zu Schreibers Mitarbeit im Senat der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft vor 1933 vgl. Bernhard vom Brocke, Die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft in der Weimarer Republik. Ausbau zu einer gesamtdeutschen Forschungsorganisation (1918–1933), in: Vierhaus / vom Brocke (Hgg.), Forschung im Spannungsfeld, 197–355, hier 288ff. u. a.; siehe hierzu ebenfalls Schreibers persönlichen Rückblick: Georg Schreiber, Zwischen Demokratie und Diktatur. Persönliche Erinnerungen an die Politik und Kultur des Reiches (1919–1944), Münster/Regensburg 1949, 49ff. u. passim. Schulze, Deutsche Geschichtswissenschaft, 244. AMPG, II. Abt., 1A, 13. Senatsprotokoll, 18. 1. 1952, S. 24. Georg Schreiber, Deutsche Wissenschaftspolitik von Bismarck bis zum Atomwissenschaftler Otto Hahn (Arbeitsgemeinschaft für Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen, 6), Köln/Opladen 1954, 54. AMPG, II. Abt., 1A-IB, Gesch. 01, Protokoll der Sitzung der Senatskommission für geisteswissenschaftliche Angelegenheiten, 9. 6. 1954; vgl. jetzt auch Rösener, Das Max-Planck-Institut für Geschichte, 27f.
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schen Kirche im Mittelalter (…), beruhend auf Heranziehung des gesamten archivalischen, handschriftlichen und gedruckten Materials“17. Letztlich verwundert es nicht, dass dem promovierten Kirchenhistoriker und hochgebildeten Theologen Schreiber gerade die Wiederaufnahme dieses Großprojekts ganz besonders am Herzen lag18. Sogar eine aktuell-politische, 1954 vielfach wohl nicht ungern gehörte Wendung verstand Schreiber dieser Empfehlung zu geben: Man solle, bemerkte er laut Protokoll weiter, im Rahmen der Germania Sacra gerade „auch im Interesse der Wiedervereinigung Deutschlands daran gehen, ernsthaft und nachdrücklich den deutschen Osten zu bearbeiten“19. Im Weiteren empfahl Schreiber, die beiden anderen Forschungsvorhaben des einstigen Kehrschen Instituts – also die Edition der Dokumente zur Geschichte Karls V. und der Briefe Kaiser Wilhelms I. – aus verschiedenen Gründen aufzugeben. Stattdessen regte Schreiber eine Beschäftigung mit dem Humanismus an, etwa im Rahmen einer neuen Ausgabe der Schriften des Desiderius Erasmus, sowie die Erstellung einer Geschichte der modernen sozialen Ideen, die „in Gesamteuropa und in der interessierten übrigen Welt Anklang finden“ würde. Am Ende seines Berichts stellte Schreiber fest, „daß Voraussetzung für die Gründung eines solchen Instituts die Sicherstellung eines ausreichenden Etats sei und vor allem die Gewinnung einer geeigneten Persönlichkeit, die hauptamtlich gewonnen werden müßte“20. Auch einen Personalvorschlag für einen künftigen Institutsleiter hatte Schreiber bereits parat: Hermann Heimpel21. Warum nun aber gerade Heimpel? Hierüber kann nur spekuliert werden, doch es gibt wenigstens einen Hinweis – und zwar in Heimpels fragmentarischen Erinnerungen an seinen akademischen Lehrer Heinrich Finke (1855–1938)22. Der angesehene Freiburger Historiker, prominenter katholischer Akademiker und einer der führenden Spätmittelalterforscher seiner Generation, hatte seinen (übrigens protestantischen) jungen Schüler und Doktoranden Heimpel in den 1920er Jahren in sein Haus aufgenommen und ihn gewissermaßen als eine Art „Ersatzsohn“ für die im Ersten Weltkrieg gefallenen eigenen Söhne „adoptiert“. Seit 1924 Präsident der Görres-Gesellschaft, arbeitete Heinrich Finke in dieser Eigenschaft mit Schreiber
17 AMPG, II. Abt., 1A-IB, Gesch. 01, Protokoll der Sitzung der Senatskommission für geisteswissenschaftliche Angelegenheiten, 9.6.1954, 3. 18 Georg Schreiber hatte 1909 in Berlin mit der umfangreichen kirchengeschichtlichen Untersuchung promoviert: Kurie und Kloster im 12. Jahrhundert. Studien zur Privilegierung, Verfassung und besonders zum Eigenkirchenwesen der vorfranziskanischen Orden, vornehmlich aufgrund der Papsturkunden von Paschalis II. bis auf Lucius III. (1099–1181) (Kirchenrechtliche Abhandlungen, 65/68), Stuttgart 1910; vgl. hierzu auch die Bemerkungen bei Morsey, Georg Schreiber (1987), 273. 19 AMPG, II. Abt., 1A-IB, Gesch. 01, Protokoll der Sitzung der Senatskommission für geisteswissenschaftliche Angelegenheiten, 9.6.1954, 3. 20 Die Zitate: ebd., 4. 21 Vgl. ebd., 5. 22 Hermann Heimpel, Heinrich Finke in der Erinnerung (Fragment), in: ders., Aspekte. Alte und neue Texte, hg. v. Sabine Krüger, Göttingen 1995, 186–201.
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als dem führenden Kulturpolitiker des Zentrums besonders eng zusammen23, und deshalb sind sich Schreiber und Heimpel bereits in dieser Zeit im Hause Finke in Freiburg begegnet: Dort sei er nämlich, erinnerte sich Heimpel später, bei den vom Hausherrn veranstalteten Zusammenkünften immer „der Mundschenk“ gewesen – so auch „wenn der ‚führende‘ Katholizismus mittlerer oder älterer Altersklassen um den lang rechteckigen Tisch saß zu görresianischen Tagungen. Die einflußreichen von Finke wohl auch ein wenig gefürchteten Herren tranken dann aus meiner Flasche; der Prälat Schreiber etwa, oder der Haupt-Redakteur der Kölnischen ‚Volkszeitung‘, Hohmann“24.
– Ob diese jahrzehntelange Bekanntschaft wenigstens mit ausschlaggebend war für Schreibers Vorschlag von 1954, Heimpel zum Direktor des neu zu gründenden Instituts zu machen, ist nicht mit Sicherheit zu sagen25; die Vermutung liegt allerdings nahe. Doch zurück zur Sitzung der Senatskommission für geisteswissenschaftliche Angelegenheiten vom 9. Juni 1954: Die vom Vorsitzenden Schreiber hier vorgegebene Argumentationslinie für eine Institutsneugründung wurde recht heftig diskutiert; keineswegs alle der Anwesenden – darunter Carlo Schmid, Werner Heisenberg und Carl Friedrich von Weizsäcker – waren mit Schreibers Personalvorschlag sofort einverstanden; andere Namen wurden genannt: etwa der seinerzeit prominente und auch in Deutschland angesehene Carl Jacob Burckhardt, aber auch Franz Schnabel, Hans Rothfels, Gerd Tellenbach und sogar Alfred Weber (im Protokoll ist tatsächlich „Max Weber“ zu lesen, es kann aber nur Alfred gemeint sein). Schließlich einigte man sich darauf – und dieser Beschluss wurde einen Tag später vom Senat der MPG bestätigt –, eine Reihe von Gutachten prominenter Historiker zu den Fragen einer Neugründung einzuholen, wobei zuerst nur fünf Namen genannt wurden: eben Heimpel, Burckhardt, Rothfels, Schnabel und Tellenbach26. Schreiber wurde noch im Sommer 1954 aktiv und schrieb neben den von der Senatskommission genannten noch eine Reihe weitere Historiker an mit der Bitte um eine gutachterliche Äußerung; er tat dies vermutlich in weiser Voraussicht, denn keineswegs alle der angeforderten Gutachten wurden auch geschrieben. Am Ende wurden der Senatskommission für geisteswissenschaftliche Angelegenheiten von Schreiber insgesamt zehn Gutachten vorgelegt, hinzu kam noch eine die wesentlichen Hauptergebnisse zusammenfassende Stellungnahme von ihm selbst. Neben den bereits genannten Heimpel, Rothfels, Schnabel und Tellenbach hatte Schreiber zuvor noch weitere schriftliche Äußerungen angefordert und erhalten von Friedrich 23 Siehe hierzu die Hinweise bei Rudolf Morsey, Die Görres-Gesellschaft zur Pflege der Wissenschaft. Streiflichter ihrer Geschichte, Paderborn/München/Wien/Zürich 2009, 15–31. 24 Heimpel, Heinrich Finke in der Erinnerung, 200. 25 Nagel, Im Schatten des Dritten Reichs, 190, vertritt die Auffassung, neben der unbestreitbaren fachlichen Qualifikation und den wissenschaftsorganisatorischen Fähigkeiten Heimpels habe vor allem „seine für einen Mediävisten ganz ungewöhnliche Popularität im Bildungsbürgertum dafür gesorgt, daß die übrigen Konkurrenten um ein Max-Planck-Institut für Geschichte letztlich chancenlos blieben“. 26 Vgl. AMPG, II. Abt., 1A-IB, Gesch. 01, Protokoll der Sitzung der Senatskommission für geisteswissenschaftliche Angelegenheiten, 9.6.1954, 4–7.
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Baethgen, Ludwig Dehio, dem Marburger Mediävisten Heinrich Büttner, dem Direktor des Deutschen Historischen Instituts in Rom, Walther Holtzmann, dem Düsseldorfer Staatsarchivdirektor Friedrich Wilhelm Oediger sowie (mit Blick auf die Bedeutung der Technikgeschichte) ebenfalls von dem Rektor der Technischen Hochschule in Wien, Ludwig Richter27. Keine Gutachten geliefert hatten (aus unbekannten Gründen) Carl Jacob Burckhardt und Max Braubach. In wenigstens zwei Aspekten waren sich fast alle Gutachter – so unterschiedlich ihre Perspektiven und Interessen auch sein möchten – jedenfalls einig: An eine direkte Fortsetzung der Tradition des alten Kaiser-Wilhelm-Instituts für Deutsche Geschichte sollte nicht gedacht werden; von den früheren Vorhaben wurde vor allem, was nicht weiter verwundert, die Edition der Briefe Kaiser Wilhelms als obsolet angesehen. Auch die Fortsetzung der Edition der Korrespondenzen und Dokumente zur Geschichte Karls V. wurde nicht als vorrangig notwendig betrachtet; Heimpel plädierte dafür, diese Aufgabe erst einmal zurückzustellen, sie jedoch noch nicht grundsätzlich aufzugeben. Ebenso wenig kann es verwundern, dass vor allem die mediävistischen Gutachter, inklusive (wie bereits bemerkt) Schreiber selbst, mit größtem Nachdruck für eine Fortsetzung der bereits kurz vor dem Ersten Weltkrieg von Paul Kehr und seinem Schüler Albert Brackmann initiierten Germania Sacra28 plädierten. Ansonsten fielen die Vorschläge im Einzelnen, wie zu erwarten war, recht unterschiedlich aus: so plädierte Rothfels entschieden gegen Quelleneditionen als Arbeitsvorhaben, sondern meinte, ein neues Institut müsse vor allem historische Grundlagenforschung betreiben, etwa besonderen Nachdruck legen „auf eine erneuerte Methodenlehre, auf wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Gegenwartstendenzen in der Geschichtswissenschaft und den Sozialwissenschaften“ sowie auf vergleichende Untersuchungen zur Institutionengeschichte29. Ganz anders wiederum Ludwig Dehio, der empfahl, vor allem die in der NSZeit aus politischen Gründen abgebrochenen Unternehmungen der früheren Historischen Reichskommission erneut aufzunehmen30, darunter vor allem die Vollendung der Edition der Akten zur auswärtigen Politik Preußens 1858–1871, sodann die Wiederaufnahmen der vom seinerzeitigen Bearbeiter Hans Rothfels nicht fertiggestellten Edition von Quellen zur deutschen Sozialpolitik sowie des von Hans
27 Die gesammelten zehn Gutachten finden sich nicht im Original, sondern in jeweils von Schreiber etwas gekürzten Fassungen in: AMPG, II. Abt., 1A-IB, Gesch. 01. Schreiber hatte in seinen Anschreiben ausdrücklich darum gebeten, Personalvorschläge fortzulassen, daher entfernte er diese, wo sie in den einlaufenden Gutachten dann doch vorhanden waren, in seinen für die Max-Planck-Gesellschaft bestimmten Abschriften. Siehe zu den Gutachten jetzt auch die Bemerkungen bei Rösener, Das Max-Planck-Institut für Geschichte, 28–35. 28 Vgl. Albert Brackmann, Über den Plan einer Germania Sacra, in: Historische Zeitschrift 102/1909, 325–334. 29 AMPG, II. Abt., 1A-IB, Gesch. 01, Gutachten Hans Rothfels, Tübingen, 2. 30 Zu dieser Kommission und deren Projekte siehe Walter Goetz, Die Historische Reichskommission von 1928, in: ders., Historiker in meiner Zeit – Gesammelte Aufsätze, Köln/Graz 1957, 405–414.
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Rosenberg Anfang der 1930er Jahre begonnenen Repertoriums zur nationalpolitischen Publizistik der Reichsgründungszeit. Zudem empfahl Dehio die Erforschung zeitgeschichtlicher Themen – allerdings in Absprache mit dem Institut für Zeigeschichte – für die Jahre 1900 bis 1933. Besonders im Blick hatte er dabei die Zeit der Jahrhundertwende von 1900, und zwar im Spiegel der deutschen Publizistik im Spannungsfeld damaliger „Weltpolitik“31. Wieder andere Ideen kamen von den Mediävisten: Friedrich Baethgen etwa regte die Erarbeitung einer umfassenden Kulturgeschichte des deutschen Volkes im späteren Mittelalter sowie eine Geschichte des deutschen Humanismus an, dazu ebenfalls die Erarbeitung einer umfassenden Biographie Leopold Rankes: „Das Ziel müßte sein, eine Biographie des grössten deutschen Historikers zu schaffen, die den Vergleich mit dem grossen Werke W. Kaegis über Jakob [sic] Burckhardt nicht zu scheuen hätte“; außerdem sollte, so Baethgen weiter, „vor allem die von der ehemaligen Deutschen Akademie begonnene kritische Ranke-Ausgabe (…) wenigstens für die Hauptwerke fortgesetzt werden“32.
Gerd Tellenbach wiederum schlug eine europäisch vergleichende Verfassungs- und Sozialgeschichte des Mittelalters sowie Forschungen zur osteuropäischen Geschichte vor, Heinrich Büttner eine vergleichende deutsche Territorialgeschichte, während Ludwig Richter und Friedrich Wilhelm Oediger nachdrücklich auf eine – nach ihrer Auffassung besonders nötige – Bearbeitung der bisher vernachlässigten Technikgeschichte hinwiesen. Zwei der Gutachten fielen jedoch deutlich aus der Reihe: Zum einen die Äußerung des damals in München lehrenden Franz Schnabel, der in mehr oder weniger verklausulierter Form die Gründung eines Max-Planck-Instituts für Geschichte überhaupt ablehnte, dafür aber – in der „Hoffnung, daß es der Max-Planck-Gesellschaft nach ihren Statuten möglich ist, die Wissenschaft auch in anderer Weise als durch ein ihr eingegliedertes Institut zu fördern“ – die Anregung formulierte, die Hälfte der hierfür zur Verfügung stehenden Geldmittel der (damals von ihm selbst als Präsident geleiteten!) Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften zur Verfügung zu stellen – denn tatsächlich fürchtete er starke Überschneidungen der Arbeitsprogramme der Münchner Kommission und eines
31 Vgl. AMPG, II. Abt., 1A-IB, Gesch. 01, Gutachten Ludwig Dehio, Gedanken über die Aufgaben eines historischen Institutes der Max Planck Gesellschaft, 3–4: „Natürlich wird eine Analyse des Jahrhundertbeginns nicht auskommen ohne Rückblicke. Sie wird sich etwa als eine wichtige Komponente die preussische Geschichte neu vergegenwärtigen wollen, ohne dabei dem Getöse von Anklage und Verteidigung, das uns heute betäubt, zum Opfer zu fallen. Gelehrte wie Hartung, Hinrichs, Kaehler könnten Rat geben, wie weit das Institut trotz der Unzugänglichkeit so vieler Quellen sich einschalten soll“. 32 Ebd., Friedrich Baethgen, Gutachten für die Wiedererrichtung des ehemaligen Kaiser-Wilhelm-Instituts für Deutsche Geschichte, 6–7; weiterhin empfahl der Münchner Mediävist „neben einer gründlichen Durchforschung des Nachlasses eine systematische Suche nach unbekannten handschriftlichen Materialien an Briefen, Kollegnachschriften, Erinnerungen und sonstigen Aufzeichnungen“ Rankes (ebd., 7). Baethgen spielt hier an auf die ersten Bände von: Werner Kaegi, Jacob Burckhardt. Eine Biographie, Bde. 1 und 2, Basel 1947–1950.
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neuen Instituts33 –, und weiterhin machte er den Vorschlag, die Max-Planck-Gesellschaft möge herausragende individuelle Arbeitsvorhaben ausgewiesener Gelehrter finanziell fördern. Das umfangreichste und inhaltlich ohne Frage bemerkenswerteste Gutachten (nicht weniger als 14 Seiten umfassend) aber legte der – vermutlich intern bereits als künftiger Direktor gehandelte – Hermann Heimpel vor, der hierbei überaus geschickt vorging. Von vornherein war er nämlich bestrebt, zwei mögliche Kritikpunkte am geplanten Vorhaben von Anfang an auszuräumen: Zuerst wandte er sich entschieden gegen die (wenigstens zu vermutende) Befürchtung mancher Kollegen, das neu zu gründende Max-Planck-Institut könne eventuell den Anspruch erheben, so etwas wie ein deutsches Zentralinstitut für Geschichtswissenschaften zu werden, und zweitens betonte er mit besonderem Nachdruck, dass es keinerlei Überschneidungen der Arbeiten des künftigen Instituts mit den bereits laufenden Vorhaben und Unternehmungen der anderen historischen Forschungseinrichtungen in der Bundesrepublik Deutschland geben sollte34. In überaus geschickter Weise verband Heimpel das von ihm formulierte Programm eines neuen Instituts mit dessen Vorgängerinstitution, indem er herausstellte, dass zwar die Arbeitsschwerpunkte (mit Ausnahme der Gemania Sacra) neu bestimmt, dass jedoch die seinerzeit vom Kehrschen Institut bereits bearbeiteten historischen Epochen beibehalten werden sollten, d. h. das neue Institut sollte sich Forschungen zum Mittelalter ebenso widmen wie dem 16. und dem 19. Jahrhundert. Fragen der Kulturgeschichte des Mittelalters, etwa zur Herrscherikonographie, sollten aufgegriffen werden, sodann aber auch (jedenfalls nach einer Übergangszeit) Arbeiten zur Epoche Karls V. Für das 19. Jahrhundert war vor allem die Erarbeitung
33 AMPG, II. Abt., 1A-IB, Gesch. 01, Gutachten Franz Schnabel, 1–3; der Verfasser bemerkt dort ebenfalls, wohl ein wenig zu sehr pro domo argumentierend: „(…) es sollte gerade von den Historikern Deutschlands, denen die Ehrfurcht vor der Tradition aufgegeben ist, beachtet werden, daß das ältere Institut sich ein Anrecht auf Förderung erworben hat, wenn nunmehr Mittel zur Verfügung stehen, die den gleichen Aufgaben dienen, wie sie die Historische Kommission seit vielen Jahrzehnten pflegt. Ich würde es sehr bedauern, wenn ein so reich ausgestattetes Institut gegründet würde, wie dies vorgesehen ist, und dabei München, das durch die Historische Kommission bisher Vorort der Geschichtsforschung in Deutschland gewesen ist, gar kein Äquivalent geboten würde“; dazu auch Rösener, Das Max-Planck-Institut für Geschichte, 32, bei dem fälschlicherweise von „Ernst Schnabel“ die Rede ist. – Zum Neuanfang der Münchener Historischen Kommission nach dem Zweiten Weltkrieg siehe auch Lothar Gall, 150 Jahre Historische Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, in: ders. (Hg.), „… für deutsche Geschichts- und Quellenforschung“. 150 Jahre Historische Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, München 2008, 7–57, hier 35ff. 34 Vgl. AMPG, II. Abt., 1A-IB, Gesch. 01, Hermann Heimpel, Vorläufiges Gutachten über die Aufgaben eines neu zu errichtenden Historischen Instituts der Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften, 6–7. Zu diesem Gutachten siehe auch die Bemerkungen bei Schulze, Deutsche Geschichtswissenschaft, 246f., und Boockmann, Der Historiker Hermann Heimpel, 34ff.
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einer neuen „Preußischen Geschichte“ – jenseits von „Verdammung oder … reaktionärer Apologie“35, wie Heimpel formulierte – vorgesehen, ebenfalls neue Forschungen zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, zur deutschen Innenpolitik und zur Geschichte der neueren deutschen Kultur- und Wissenschaftspolitik. In sachlicher Hinsicht sollte sich das Institut nicht zuletzt „mit der Arbeit an der Überlieferung selbst, also mit Editionen beschäftigen“, und es sollte sich „zunächst auf Deutsche Geschichte konzentrieren, internationale Aufgaben, da wo sie sich anbieten, ergreifen“36. Schreiber selbst wiederum fasste die in seiner Sicht wesentlichen Resultate aller zehn bei ihm eingetroffenen Gutachten in einer eigenen – elften – gutachterlichen Stellungnahme noch einmal zusammen, wobei er sich in einer Reihe von Teilaspekten gerade den von Heimpel vorgetragenen Anregungen anschloss. Außerdem hob er drei Punkte besonders hervor: erstens die Notwendigkeit der Weiterführung der „früheren Forschungsthemen“ der einstigen Historischen Reichskommission37, zweitens die Empfehlung einer möglichst engen und fruchtbaren Zusammenarbeit des neuen Instituts mit Archiven und mit weiteren historischen Forschungsinstitutionen, und drittens vor allem die strikte Befolgung des nach seiner Auffassung in der alten Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft höchst bewährten Harnack-Prinzips, also die Berufung einer bekannten, vielfach ausgewiesenen Forscherpersönlichkeit, die das Arbeitsprogramm des Instituts letztlich selbst bestimmen sollte38. Es müsse, so formulierte Schreiber hier, „ein weitblickender Ordinarius genommen“ werden, „der mehr als eine historische Epoche“ zu umgreifen imstande sei; ihm sollten in jedem Fall „mehrere Abteilungsleiter (…) beigegeben werden“, die natürlich „mehr als gehobene Assistenten sein“ müssten, „zumal wenn sie ein besonderes historisches Forschungsgebiet“ zu verwalten hätten. Nachdrücklich betonte er noch einmal (wie vor ihm bereits Heimpel), dass durch eine Neugründung keine der bereits
35 AMPG, II. Abt., 1A-IB, Gesch. 01, Heimpel, Vorläufiges Gutachten, 12. Das hier bereits knapp angerissene Preußen-Vorhaben ging, wie man heute weiß, auf die Anregung des seinerzeit schon emeritierten Göttinger Neuzeithistorikers Siegfried A. Kaehler zurück, doch der Versuch einer Etablierung dieses Forschungsvorhabens am neu gegründeten Max-Planck-Institut für Geschichte scheiterte einige Jahre später; siehe hierzu Hans-Christof Kraus, Epilog und Requiem. Siegfried A. Kaehlers Projekt einer neuen ‚Preußischen Geschichte‘ nach dem Ende Preußens, in: ders. (Hg.), Das Thema „Preußen“ in Wissenschaft und Wissenschaftspolitik vor und nach 1945 (Forschungen zur brandenburgischen und preußischen Geschichte N.F., Beiheft 12), Berlin 2013, 241–261. 36 AMPG, II. Abt., 1A-IB, Gesch. 01, Hermann Heimpel, Vorläufiges Gutachten, 5. 37 Ebd.: Georg Schreiber, Zu den Gutachten, 4; in einem Nebensatz fügte Schreiber noch an, dass durch eine solche Wiederaufnahme auch „die Wiedererrichtung der Historischen Reichskommission gefördert werden könnte“ (ebd.). 38 Zum „Harnack-Prinzip“ siehe, frühere Deutungen etwas relativierend, Rudolf Vierhaus, Bemerkungen zum sogenannten Harnack-Prinzip. Mythos und Realität, in: ders., Vergangenheit als Geschichte. Studien zum 19. und 20. Jahrhundert (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, 183), hg. v. Hans Erich Bödecker / Benigna von Krusenstjern / Michael Matthiesen, Göttingen 2003, 446–459.
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bestehenden Institutionen benachteiligt oder geschädigt werde: dafür habe, so Schreiber, „ein solches Institut einen eigenen charakteristischen Zuschnitt“39. Als jahrzehntelang erfahrener Wissenschaftspolitiker war Schreiber jedoch klug genug, um sich nicht nur auf die von ihm angeforderten Gutachten zu verlassen. Als sich die Senatskommission der Max-Planck-Gesellschaft für geisteswissenschaftliche Angelegenheiten im Dezember 1954 erneut traf, um über das weitere Vorgehen zu beraten, referierte Schreiber nicht nur über die bisherigen Vorarbeiten und die aus den Gutachten entnommenen Anregungen, sondern er regte weiterhin an, „zu einer bald anzuberaumenden Sitzung der Senatskommission für geisteswissenschaftliche Angelegenheiten eine Reihe von weiteren Fachhistorikern einzuladen, wobei durch gegenseitigen Gedankenaustausch versucht werden soll, den Mitgliedern der Senatskommission einen tieferen Einblick zu vermitteln, und um festzustellen, welche Aufgaben vordringlich zur Bearbeitung in ein solches Institut hereinzunehmen seien“40.
Aus diesem Grund wurden zur nächsten Sitzung der geisteswissenschaftlichen Senatskommission noch eine Reihe weiterer Historiker als Berater und zur Klärung eventuell aufkommender Fragen und Probleme geladen, darunter neben den wichtigsten Gutachtern Heimpel, Dehio, Schnabel und Holtzmann auch Hermann Aubin und der Münchner Mediävist Johannes Spörl. An der entscheidenden Sitzung, die am 21. Januar 1955 in Frankfurt a. M. stattfand, nahmen jedoch nur drei der Eingeladenen teil: Aubin, Baethgen und Dehio – Heimpel war erkrankt, Schnabel, Holtzmann und Spörl fehlten aus unbekannten Gründen41. Während Baethgen und Dehio in ihren mündlichen Empfehlungen, wie das Protokoll zeigt42, inhaltlich nicht über die in ihren Gutachten bereits ausgesprochenen Stellungnahmen hinausgingen, sprach sich Aubin, die Vorschläge von Büttner und Tellenbach unterstützend, für die Bearbeitung einer vergleichenden deutschen Territorialgeschichte und für „nach modernen Gesichtspunkten bearbeitete Darstellungen historischer Landeskunde mit den entsprechenden Siedlungs-, Verfassungs-, Volkskunde- und Sprachgrundlagen“43 aus sowie ebenfalls für Forschungen zur Wirtschaftsgeschichte als künftige Institutsaufgaben. 39 Die Zitate: AMPG, II. Abt., 1A-IB, Gesch. 01, Schreiber, Zu den Gutachten, 3. 40 Ebd., Protokoll der Sitzung der Senatskommission der Max-Planck-Gesellschaft für geisteswissenschaftliche Angelegenheiten, Frankfurt a. M., 15.12.1954, 2. – Übrigens teilte das Kommissionsmitglied Staatsminister a. D. Adolf Grimme bei dieser Gelegenheit mit, „daß eine Reihe von Professoren der Universität Hamburg bereits Überlegungen wegen der Errichtung eines Instituts für Geschichte angestellt hat, und daß es empfehlenswert sei, Herrn Professor Snell als federführende Persönlichkeit dieses Kreises zur Aussprache mit den Fachexperten einzuladen“ (ebd.). 41 In einem Schreiben an die Generalverwaltung der Max-Planck-Gesellschaft vom 20.12.1954 hatte Schreiber die Berücksichtigung des – fachfremden – Klassischen Philologen Bruno Snell abgelehnt, dafür aber die Hinzuziehung des Bonner Ministerialdirektors Paul-Egon Hübinger empfohlen, vgl. AMPG, II. Abt., 1A-IB, Gesch. 01. Keiner der beiden nahm jedoch an der nächsten Sitzung teil. 42 AMPG, II. Abt., 1A-IB, Gesch. 02, Protokoll der Sitzung der Senatskommission für geisteswissenschaftliche Angelegenheiten, Frankfurt a. M., 21.1.1955. 43 Ebd., 4.
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Im Ganzen jedoch dominierte Schreiber diese – von ihm augenscheinlich vorzüglich vorbereitete – Sitzung. Er berichtete u. a., „daß sich die Gutachter zu dem Gedanken der Errichtung eines historischen Instituts positiv ausgesprochen haben. Darüberhinaus“, so das Protokoll weiter, „sei bei zahlreichen mündlichen Aussprachen mit Sachverständigen immer wieder zum Ausdruck gekommen, daß das Wiederaufleben eines historischen Instituts eine wertvolle Ergänzung zu den bereits vorhandenen Wissenschaftsorganisationen bedeuten würde“. Anschließend verlas Schreiber „auf allseitigen Wunsch“, wie es heißt, „das Gutachten des durch Krankheit verhinderten Professor Heimpel und machte dazu einige ergänzende Ausführungen“44.
Dieses Gutachten machte offenbar einen derartigen Eindruck, dass nun der weitere Gang der Verhandlungen mehr oder weniger vorgezeichnet schien: Alle der drei anwesenden prominenten Fachvertreter, Friedrich Baethgen, Hermann Aubin und Ludwig Dehio, sprachen sich jetzt ausdrücklich nicht nur für eine baldige Institutsgründung aus, sondern auch dafür, Hermann Heimpel als Direktor hierfür zu gewinnen. Ebenfalls war man sich darin einig, „daß das Institut an einem Ort errichtet werden müsse, in dem eine gute Bibliothek vorhanden sei“45 – das klang bereits wie eine Vorentscheidung für den Standort Göttingen mit seiner berühmten und reichhaltigen, dazu von Kriegsverlusten weitgehend verschonten Staats- und Universitätsbibliothek. Jedenfalls brachte diese Sitzung am Ende tatsächlich den Durchbruch: Die geisteswissenschaftliche Senatskommission beschloss, wie das Protokoll vermerkt: einstimmig, dem Senat der Gesellschaft vorzuschlagen, 1. ein neues Max-Planck-Institut für Geschichte zu gründen, und 2. Hermann Heimpel in Göttingen zum hauptamtlichen Leiter und damit zum Gründungsdirektor des neuen Instituts zu berufen. Damit hatte Schreiber seine ursprünglichen Vorstellungen weitgehend durchsetzen können. Vor allem aber war sein Personalvorschlag akzeptiert worden. Die sehr wohlwollende Zustimmung des Senats, der am 25. März 1955 tagte, war anschließend eigentlich nur noch eine Formalität46. Hermann Heimpel erhielt den Ruf – mit der Bitte, im Falle einer Annahme möglichst bald im Rahmen der nächsten Senatssitzung „seinen Plan für die Aufgaben des Instituts vorzutragen“47. In einer zwei Tage später herauskommenden Pressemeldung kündigte die Generalverwaltung der Max-Planck-Gesellschaft die Neugründung des Instituts an und teilte der Öffentlichkeit bereits ebenfalls mit, dass Heimpel „den Ruf grundsätzlich angenommen“ habe. Anschließend hieß es allerdings weiter, die Gesellschaft werde
44 Ebd., 2. 45 Ebd., 6. 46 AMPG, II. Abt., 1A, 20. Senatsprotokoll, 25.3.1955, 20f.; aufschlussreich ist, dass mehrere Senatsmitglieder sich besonders nachdrücklich für die Anwendung des Harnack-Prinzips aussprachen, d. h. dafür, „daß entsprechend der Tradition der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft/MaxPlanck-Gesellschaft dem zu berufenden Direktor selbst die Initiative und Verantwortung über die Arbeitsrichtung des Instituts überlassen wird“ (ebd., 21). Siehe auch die Ankündigung in: Jahrbuch der Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften 1955, 12. 47 AMPG, II. Abt., 1A, 20. Senatsprotokoll, 25.3.1955, 21.
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„nunmehr mit den Länderregierungen … wegen der laufenden Zuschüsse für dieses Institut verhandeln, da die Institute der Gesellschaft zu etwa 80 v. H. von den Ländern finanziert werden. Über die Stellung des Direktors als Hochschullehrer und über den Sitz des Instituts sind noch keine Entscheidungen getroffen“48.
Hermann Heimpel legte, wie gewünscht, im Juni 1955 zu den künftigen Vorhaben des von ihm zu leitenden Instituts noch einmal eine ausführliche „Vorläufige Denkschrift“ vor, die von Winfried Schulze treffend als „eines der wenigen Beispiele einer reflektierten Forschungspolitik auf dem Gebiet der Geschichtswissenschaft in den fünfziger Jahren“49 bezeichnet worden ist. Es fällt zuerst auf, dass Heimpel das alte Harnack-Prinzip zwar nicht aufgeben, aber variieren, damit im Grunde weiterentwickeln wollte, wenn er gleich zu Beginn feststellte, das neu zu gründende Institut müsse „einerseits zwar einige schon jetzt klar formulierte Aufgaben und eine straffe Leitung haben, (…) auf der anderen Seite in einen elastischen Rahmen gestellt werden“ 50 – also auch für Neues offen sein. Das Institut werde einerseits „seinen Direktor und die an dem Institut selbst arbeitenden Gelehrten in den Stand setzen, sich Arbeiten von langem Atem zuzumuten und sich unter weitgehender Entlastung von lehrmässigen Verpflichtungen ganz der Forschung zu widmen“51,
andererseits aber auch für weitere, von außen angebotene Projekte empfänglich sein52. Ein traditionelles und zugleich ein modernes Gesicht sollte das Institut auch in anderer Hinsicht haben: zum einen sollte es bewusst an die Grundsätze und partiell auch an die Projekte Paul Kehrs und des alten Kaiser-Wilhelm-Instituts anknüpfen. Ebenfalls sollten, wie Heimpel sich ausdrückte, „Formen gefunden werden, welche ein gesundes Atmen zwischen dem Institut und den übrigen Stätten historischer Forschung (…) garantieren“; dabei war nicht nur an die Universitätsinstitute und -seminare gedacht, sondern auch an „engste Zusammenarbeit“ mit den Monumenta Germaniae Historica, dem Deutschen Historischen Institut in Rom und ebenfalls mit der Historischen Kommission in München53.
48 AMPG, II. Abt., 1A-IB, Gesch. 02, „Pressenotiz“ der Generalverwaltung der Max-Planck-Gesellschaft, 27.5.1955. 49 Schulze, Deutsche Geschichtswissenschaft, 248. 50 AMPG, II. Abt., 1A-IB, Gesch. 02, Hermann Heimpel, Vorläufige Denkschrift über die Aufgaben eines Max-Planck-Instituts für Geschichte, 1. 51 Ebd., 2. – Das von ihm in den Jahren als Institutsleiter erarbeitete Projekt „von langem Atem“ konnte Heimpel indes erst nach seiner Emeritierung fertig stellen: Hermann Heimpel, Die Vener von Gmünd und Straßburg 1162–1447. Studien und Texte zur Geschichte einer Familie sowie des gelehrten Beamtentums in der Zeit der abendländischen Kirchenspaltung und der Konzilien von Pisa, Konstanz und Basel, Bde. 1–3 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, 52), Göttingen 1982. 52 Vgl. AMPG, II. Abt., 1A-IB, Gesch. 02, Heimpel, Vorläufige Denkschrift, 3: „Das Institut wird seine Aufgabe lebendig erfüllen, wenn es einen Teil seines Etats für Stipendiaten und für die Förderung solcher Arbeiten einsetzt, welche von zukunftsreichen Begabungen angeboten werden“. 53 Ebd., 2–3.
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Aber dies war eben nur die eine Seite: Eingedenk der von ihm selbst formulierten Maxime, die notwendige Fortführung alter Arbeiten sei nur dann „möglich und glaubwürdig, wenn sich das neue Institut die Inangriffnahme neuer Aufgaben und die Anwendung neuer Methoden zutraut“54, erkannte Heimpel selbst in den wiederaufzunehmenden älteren Projekten, wie vor allem der Germania Sacra, Möglichkeiten für methodische und inhaltliche Innovationen. So begriff er die Germania Sacra – hierbei die Anregungen Aubins aufnehmend – ebenfalls als einen möglichen „Kristallisationskern für die Bearbeitung einer vergleichenden deutschen Territorialgeschichte und deren Grundlagen, nämlich nach modernen Gesichtspunkten bearbeitete Darstellungen historischer Landeskunde“55. Zu den weiteren Vorhaben, die gewissermaßen das Rückgrat der künftigen Institutsarbeit darstellen sollten, zählte Heimpel hier auch die Erarbeitung einer neuen, der zehnten Auflage der Quellenkunde der deutschen Geschichte von Dahlmann-Waitz56. Dem Harnack-Prinzip entsprach es, dass der künftige Institutsdirektor natürlich ebenfalls sein eigenes Hauptforschungsgebiet in die Institutsarbeit einzubringen gedachte, wenn auch wiederum in methodischer Erweiterung: Die neue Forschungseinrichtung solle sich also, heißt es in Heimpels Denkschrift weiter, „auf breitester Grundlage mit der Erforschung der deutschen Geschichte im späteren Mittelalter nicht nur in politischer, sondern auch in volkskundlicher, rechtlicher, sozialer und religiöser Beziehung beschäftigen“57. Beim zweiten der zu behandelnden Zeiträume, dem 16. Jahrhundert, sollte man das frühere von Kehr angeregte Aktenprojekt zu Karl V. zwar nicht fortsetzen, dafür sich aber „bald einer monographischen Erforschung des deutschen Humanismus“ zuwenden. In Bezug auf das 19. und frühe 20. Jahrhundert, also den dritten Zeitraum einer künftigen Institutsarbeit, merkte er an, man werde sich die Aufgabe vornehmen, zum einen „aus dem Erbe der früheren Historischen Reichskommission die fehlenden Bände zur auswärtigen
54 Ebd., 2. 55 Ebd., 5. 56 Ebd., 5–6; mit seiner Anmerkung, hierbei werde es sich um „ein verhältnismässig rasch herzustellendes Produkt des neuen Instituts“ (ebd., 5) handeln, irrte er sich freilich gründlich; die Arbeit an der 10. Auflage des Dahlmann-Waitz sollte mehr als vier Jahrzehnte in Anspruch nehmen! 57 Ebd., 6; Heimpel versprach sich hier ausdrücklich auch Synergieeffekte durch seine Leitung der Abteilung der Deutschen Reichstagsakten des 15. Jahrhunderts im Rahmen der Historischen Kommission zu München. Siehe zum mediävistischen Forschungsprogramm des Instituts und seiner Umsetzung auch Nagel, Im Schatten des Dritten Reichs, 200ff.
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Politik Preußens“ zu edieren58 und sich anschließend der noch immer „unerlässliche[n] Klärung des umstrittenen Problems ‚Preußen‘“59 widmen. Etwas gänzlich Neues aber – und dies vor allem war die andere Seite – sollte es in diesem Forschungsbereich ebenfalls geben: Insbesondere müssten, so Heimpel, ebenfalls „die Erscheinungen und Bewegungen erforscht werden, welche das moderne Deutschland formiert und deformiert haben. Ich denke dabei vor allem an die Spiegelung der Geschichte in der Publizistik, an die großen unsere Welt entscheidend umformenden Bewegungen wie die Geschichte der Frauenbewegung, der Jugendbewegung, der künstlerischen Aufschwünge und Wandlungen vor 1914, kurz an all das, was den Wandel des deutschen Selbstbewußtseins herbeigeführt hat“.
Er wagte sich sogar an ein explizit brisantes politisches Projekt, indem er hinzufügte, man sollte sich nicht scheuen, „das ostzonale Unternehmen zur Geschichte der Arbeiterbewegung zum Gegenstand wissenschaftlicher Diskussion zu machen“60. – Endlich sollte zur Vertiefung der Institutsarbeit und um „bei aller festen Lenkung eine starre Einseitigkeit zu vermeiden, (…) in späterer Zeit vielleicht in Form eines festen Beirates von solchen Fachleuten, die den Arbeiten des Instituts innerlich nahe stehen, in regelmäßigen Arbeitssitzungen der Austausch von Gedanken und Erfahrungen wach gehalten werden“;
Themen für vier erste Arbeitstagungen hatte Heimpel bereits ebenfalls parat61.
58 Die Zitate: AMPG, II. Abt., 1A-IB, Gesch. 02, Heimpel, Vorläufige Denkschrift, 7. – Die (übrigens bis heute nicht endgültig abgeschlossene) Aktenedition zur preußischen Außenpolitik der Reichsgründungszeit wurde vom Institut später nicht übernommen; zur überaus wechselvollen Geschichte dieses Editionsprojekts siehe jetzt Winfried Baumgart, Die „auswärtige Politik Preußens“. Zur Geschichte einer Edition, in: Hans-Christof Kraus (Hg.), Das Thema „Preußen“ in Wissenschaft und Wissenschaftspolitik vor und nach 1945 (Forschungen zur brandenburgischen und preußischen Geschichte N.F., Beiheft 12), Berlin 2013, 19–30. 59 AMPG, II. Abt., 1A-IB, Gesch. 02, Heimpel, Vorläufige Denkschrift, 7; vgl. Boockmann, Der Historiker Hermann Heimpel, 34; zum Preußen-Projekt siehe auch den Hinweis oben in Anm. 33. 60 Die Zitate ebd., 7–8. Zur Leitung der Vorhaben aus der neuesten Geschichte sollte nach Heimpels Vorstellungen „ein erfahrener Gelehrter, möglichst mit dem Sitz in Göttingen, als Abteilungsleiter gewonnen werden“ (ebd., 8). Hiermit war der damals an der Göttinger Universität lehrende Neuzeithistoriker Richard Nürnberger gemeint, der jedoch nur bis 1961 die Neuere Abteilung des Instituts leiten sollte, bis er von Dietrich Gerhard abgelöst wurde; vgl. hierzu Rösener, Das Max-Planck-Institut für Geschichte, 52, und Nagel, Im Schatten des Dritten Reichs, 199; zu Nürnberger siehe Eike Wolgast, Nachruf auf Richard Nürnberger, in: Forschungen zur brandenburgischen und preußischen Geschichte, N.F. 10/2000, 277–282. 61 AMPG, II. Abt., 1A-IB, Gesch. 02, Heimpel, Vorläufige Denkschrift, 3, 8; interessant erscheint hier besonders das erste von Heimpel genannte mögliche Tagungsthema: „Methodologie der Geschichte, im Sinne von moderne Soziologie und Geschichte [sic], ein in Deutschland noch nicht durchgedachtes Problem. Die amerikanischen Erfahrungen insbesondere von Hans Rothfels u. a. wären dabei zu verwerten“ (ebd., 8); vgl. auch Schulze, Deutsche Geschichtswissenschaft, 247f., und Rösener, Das Max-Planck-Institut für Geschichte, 43.
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Trotz dieser mittlerweile sehr präzisen Vorschläge sollte es noch etwas länger als ein weiteres Jahr dauern, bis das neue Institut unter der Leitung Hermann Heimpels die Arbeit in Göttingen endlich aufnehmen konnte. Denn ein nicht unwesentliches Problem musste noch gelöst werden: eben die Finanzierung durch die Länder62. Während man in Nordrhein-Westfalen und Baden-Württemberg das neue Institut gerne im eigenen Land gehabt hätte und hierfür auch einige Anstrengungen unternahm, verweigerten sich Bayern und Rheinland-Pfalz zuerst einer gemeinsamen Finanzierung: In München brachte man die hohen eigenen Aufwendungen als Sitzland für nicht weniger als drei kostenintensive historische Institute in Anschlag: die Monumenta Germaniae Historica, die Historische Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften und das noch junge Institut für Zeitgeschichte. Zudem befürchtete der im Münchner Kultusministerium zuständige Ministerialrat Johannes von Elmenau wenigstens zeitweilig, das neue Institut könnte „eine diktatorische Stellung gegenüber den Universitätsseminaren erhalten“, doch er zeigte sich nach genauer Lektüre der „Vorläufigen Denkschrift“ Heimpels hierüber am Ende „wesentlich beruhigt“63. Und in Mainz wiederum fühlte man sich als kleines, dazu auch nicht sonderlich wohlhabendes Bundesland bereits ausgelastet mit den hohen Kosten für das Institut für Europäische Geschichte. Jedenfalls war die Max-Planck-Gesellschaft, als sie Ende 1955 mit der Ländergemeinschaft über die Finanzierung des neuen Instituts verhandelte, anfangs nicht sehr erfolgreich, denn die notwendige Zweidrittelmehrheit, mit der eine Neuzuweisung von Mitteln beschlossen werden musste, kam nicht zustande. Allerdings wurde auf Antrag der Mehrheit der Länder eine Kommission eingesetzt, die noch einmal über eine endgültige Festsetzung des Stammetats für das neue Institut verhandelte64, einige Kürzungen vornahm, sich dann allerdings einstimmig dafür entschied, der Konferenz der Kultus- und Finanzminister ein neues Finanzierungsmodell vorzulegen, das – laut Feststellung in der 23. Senatssitzung der MPG am 24. Februar 195665 – „weitgehend den von Herrn Professor Heimpel selbst geäußerten Wünschen“ entsprach; der „Stammetat“ des neuen Instituts sollte 230.000 DM betragen. Bezüglich des Forschungsprogramms wurde, wie es im Protokoll weiter heißt, „den Wünschen von Herrn Professor Heimpel und dem Prinzip unserer Gesellschaft, den Institutsdirektoren die Auswahl der wissenschaftlichen Themen zu überlassen, Rechnung getragen“. Immerhin wurde aus dem Kreis der Senatoren 62 Hierzu einige Hinweise in den Akten: AMPG, II. Abt., 1A-IB, Gesch. 02, passim, und (nach anderer Archivüberlieferung) bei Schulze, Deutsche Geschichtswissenschaft, 249–252. 63 AMPG, II. Abt., 1A-IB, Gesch. 02, Aktennotiz von Dr. Otto Beneke (Verwaltungsrat der MPG) über ein Telefonat mit Ministerialrat von Elmenau, 12.8.1955. Nicht zuletzt schwelte zur gleichen Zeit der niedersächsisch-bayerische Konflikt über die bevorstehende Verlegung des (von Werner Heisenberg geleiteten) Max-Planck-Instituts für Physik von Göttingen nach München, und insofern konnte Beneke auch hier recht geschickt den Hebel ansetzen, indem er Elmenau ausdrücklich darauf aufmerksam machte, „daß bei einem Widerstand der Länder gegen die Errichtung des Instituts für Geschichte in Göttingen die Niedersächsische Landesregierung heftig gegen die Verlegung des Instituts für Physik nach München auftreten würde“ (ebd.). 64 Vgl. Schulze, Deutsche Geschichtswissenschaft, 250f. 65 AMPG, II. Abt., 1A, 23. Senatsprotokoll, 24.2.1956.
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nochmals ausdrücklich bemerkt, „es sei sehr erwünscht, dass sich das Institut vor allem mit der Geschichte des 19. Jahrhunderts befassen möge“; zudem solle Heimpel besonders enge Fühlung zur Münchner Historischen Kommission halten (deren ordentliches Mitglied er selbst seit bereits zwei Jahrzehnten war)66. Damit also stand der Gründung nichts mehr im Wege. Bereits am 1. April 1956 nahm das neue Max-Planck-Institut für Geschichte in einigen provisorisch angemieteten Räumen in Göttingen seine Arbeit auf67; begonnen wurde zuerst mit der Wiederaufnahme der Arbeiten an der Germania Sacra. Daneben war, wie Heimpel am 24. Mai 1956 der Generalverwaltung der Max-Planck-Gesellschaft berichtete, der vorgesehene Leiter der Neueren Abteilung, Richard Nürnberger, damit beschäftigt, ein eigenes Forschungsprogramm zu entwerfen, um „in diejenigen Bereiche der neueren und neuesten Geschichte einzudringen, welche das Schicksal von Gegenwart und Zukunft bestimmen, und welche die Bauelemente für die moderne Welt bedeuten“68. Zum ersten Höhepunkt der Institutsgeschichte wurde die Einweihung des neuerrichteten (zur Hälfte vom Sitzland Niedersachsen finanzierten) Institutsneubaus am damaligen Hohen Weg in Göttingen, die am 13. Juli 1957 in Gegenwart des mit Heimpel befreundeten Bundespräsidenten Theodor Heuss und des niedersächsischen Kultusministers Richard Langeheine stattfand69. Heimpel selbst hielt zuerst einen Fachvortrag über „Friedrich Christoph Dahlmann und die moderne Geschichtswissenschaft“70. Im Weiteren konnte Heimpel bei dieser Gelegenheit ebenfalls bereits einen recht ansehnlichen vorläufigen Rechenschaftsbericht über die Anfänge der Institutsarbeit und über die Vorhaben und Zukunftsprojekte präsentieren71 – nicht ohne sogleich zu bemerken: Wem „die (…) Liste allzu bunt erscheint, möge bedenken, daß das Institut nicht ein für andere planendes deutsches Zentralinstitut sein darf und daß die Buntheit unser Glaubensbekenntnis ist“72. – In der Rückschau ist freilich zu sagen, dass so manches von dem, was er damals etwas vollmundig ankündigte, später nicht verwirklicht worden ist; so kam u. a. weder die auch bei dieser Gelegenheit nochmals erwähnte neue Preußische Geschichte unter Federführung Siegfried Kaehlers73 noch die Geschichte der deutschen Wissenschafts- und Bildungspolitik der „Ära Althoff“ – die übrigens vom ersten Institutsassistenten
66 Die Zitate ebd., 15–17. 67 Vgl. AMPG, II. Abt., 1A-IB, Gesch. 02, Hermann Heimpel an Ernst Telschow, 7.6.1956; Rösener, Das Max-Planck-Institut für Geschichte, 45. 68 AMPG, II. Abt., 1A-IB, Gesch. 02, Hermann Heimpel an die Generalverwaltung der MPG, 24.5.1956. 69 Vgl. hierzu vor allem die ausschließlich der Eröffnung des neuen Institutsgebäudes gewidmeten Mitteilungen aus der Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften 1/1958, sowie auch Rösener, Das Max-Planck-Institut für Geschichte, 45-48. 70 Gedruckt in: Jahrbuch der Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften 1957, 60–92. 71 Hermann Heimpel, Vorläufige Rechenschaftsbericht des Direktors, in: Mitteilungen aus der Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften 1/1957, 10–13. 72 Ebd., 10. 73 Siehe dazu oben, Anm. 33.
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Thomas Nipperdey bearbeitet werden sollte74 – zustande. Auch das Vorhaben, in nur wenigen Jahren die 10. Auflage des Dahlmann-Waitz fertigzustellen, hat Heimpel bekanntlich nicht umsetzen können. Begleitet wurden die Arbeiten des neuen Instituts durch einen nach Schreibers und Heimpels Vorstellungen zusammengesetzten wissenschaftlichen Beirat, in dem sich zuerst einige der Gutachter für die Errichtung des Instituts zusammenfanden75: Kraft Amtes gehörten hierzu die Präsidenten der Monumenta Germaniae Historica sowie der Münchner Historischen Kommission, im Jahr 1957 waren dies also Friedrich Baethgen und Franz Schnabel (später, ab 1959, dessen Nachfolger Hermann Aubin), sodann Georg Schreiber selbst; hinzu kamen (in alphabetischer Reihenfolge): Werner Conze (Münster), Herbert Grundmann (Münster), Hans Herzfeld (Berlin), Walther Holtzmann (Rom), Gerhard Ritter (Freiburg i. Br.), Hans Rothfels (Tübingen), Theodor Schieder (Köln), Percy Ernst Schramm (Göttingen) und Reinhard Wittram (Göttingen). Zur weiteren Entwicklung des Instituts, das recht genau ein halbes Jahrhundert lang bestanden hat, kann und soll in diesem Zusammenhang nichts mehr gesagt werden76, doch es sind am Schluss noch einmal vier Hauptgründe zu nennen, welche die Einrichtung des neuen Max-Planck-Instituts für Geschichte so bald nach dem Zweiten Weltkrieg – vor allem auch in Konkurrenz ebenso wie in Ergänzung zu einer Reihe anderer schon bestehender historischer Forschungsinstitutionen – möglich gemacht haben: 1. ist zu nennen der bedeutende Einfluss und das überaus geschickte Agieren Georg Schreibers, der als besonders erfahrener und auch in Politik und Verwaltung offenkundig exzellent vernetzter Wissenschaftspolitiker der frühen Bundesrepublik diese Gründung angeregt, projektiert und über Jahre hinweg unermüdlich, auch mit bedeutendem Einsatz eigener Arbeitskraft, vorangetrieben hat. 2. muss man ebenfalls in Rechnung stellen, dass der überwiegend naturwissenschaftlich-technisch und wirtschaftlich dominierte Senat der Max-Planck-Gesellschaft die damalige kaum zu leugnende Unterrepräsentanz der Geisteswissenschaften in der Gesellschaft deutlich erkannte und ernsthaft bestrebt war (wohl auch mit Blick auf die Geldgeber der MPG in der Politik), diese zu korrigieren. 3. ist an die – nur vermeintlich banale – Tatsache zu erinnern, dass sich Bund und Länder schließlich auf eine gemeinsame Finanzierung des neu zu gründenden Instituts überhaupt einigen konnten; man darf in diesem Zusammenhang nicht vergessen, dass in der frühen Nachkriegszeit die zur Verfügung stehenden Mittel knapp und die finanziellen Ressourcen beschränkt waren. Insofern hätte, gerade mit Blick auf die schon vorhandenen und durchaus kostspieligen anderen
74 Vgl. Heimpel, Vorläufige Rechenschaftsbericht, 12. 75 Siehe das Verzeichnis in: Mitteilungen aus der Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften 1/1958, 52f.; vgl. auch Rösener, Das Max-Planck-Institut für Geschichte, 49. 76 Hierzu neuerdings ausführlich: Rösener, Das Max-Planck-Institut für Geschichte, passim.
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historischen Forschungsinstitutionen, diese Neugründung eben auch scheitern können. 4. und letztens muss aber ebenfalls das überaus geschickte Agieren Hermann Heimpels berücksichtigt werden, der bereits früh als möglicher Gründungsdirektor eines neuen Instituts ins Auge gefasst worden war: Seine klugen Denkschriften und Vorschläge umgingen alle Fallstricke; sie hielten die Waage zwischen Anknüpfung an die frühere Forschungstradition des Kehrschen Instituts einerseits und völlig neuen, zeitgemäßen Projekten andererseits, und vor allem konnten sie erfolgreich alle ernsthaft gehegten Befürchtungen ausräumen, mit dem neuen Max-Planck-Institut werde so etwas Ähnliches angestrebt wie ein bundesdeutsches „Zentralinstitut“ für Geschichte. Die Entwicklung und das Ende dieses Instituts sollte heute zugleich als ein Lehrstück und auch ein wenig als Warnung angesehen werden: Denn keine historische Forschungsinstitution kann sich darauf verlassen, von den Verantwortlichen in Politik, Gesellschaft und Wissenschaftsorganisation unbegrenzt, gewissermaßen bis in alle Ewigkeit finanziert und unterhalten zu werden. Vielleicht hat man in Göttingen geglaubt, diese einfache Wahrheit ignorieren zu können. Gleichwohl bleibt die Auflösung dieses Instituts, im Ganzen gesehen, immer noch ein bedauerlicher und trauriger Verlust für die deutsche Geschichtswissenschaft, und es bleibt nur zu hoffen, dass die Max-Planck-Gesellschaft diese Maßnahme künftig einmal korrigieren wird.
DIE ENTSTEHUNGSGESCHICHTE DES DHI PARIS Rolf Große
Das Deutsche Historische Institut Paris (DHIP), an dem ich als Mediävist tätig bin, blickt auf eine mehr als 50-jährige Geschichte zurück. Nach dem römischen Institut, das bereits seit 1888 besteht, ist es das zweitälteste historische Auslandsinstitut, das die Bundesrepublik unterhält1. Als sein Gründungsdatum gilt das Jahr 1958, konkrete Pläne zu seiner Einrichtung sind allerdings bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts belegt und wurden im Dritten Reich wieder aufgegriffen. Fassen wir im Folgenden seine Entstehung ins Auge, so beschränken wir uns nicht auf die Anfangszeit der Bundesrepublik, sondern greifen zurück in die Jahre vor dem Ersten Weltkrieg und in die Zeit der Besatzung von Paris durch die Wehrmacht. Es lohnt sich umso mehr, auch die frühen Anläufe zu einer Institutsgründung zu betrachten, als die handelnden Personen in enger Beziehung zu den Historikern standen, denen 1958 mehr Erfolg beschieden sein sollte. Die 50-Jahr-Feier des Instituts 2008 bot Anlass zu einer Reihe von Tagungen und Publikationen, die auch nach den Gründungsvätern fragte2. Auf die Ergebnisse der in diesem Zusammenhang angestellten
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Zum DHI Rom siehe Reinhard Elze, Das Deutsche Historische Institut in Rom 1888–1988, in: Reinhard Elze / Arnold Esch (Hgg.), Das Deutsche Historische Institut in Rom, Tübingen 1990 (Bibliothek des Deutschen Historischen Instituts in Rom, 70), 1–31. Grundlegend zum Folgenden ist die Arbeit von Ulrich Pfeil, Vorgeschichte und Gründung des Deutschen Historischen Instituts Paris. Darstellung und Dokumentation, Ostfildern 2007 (Instrumenta, 17), die 241–473 einen umfangreichen Quellenanhang bietet; siehe ferner ders. (Hg.), Das Deutsche Historische Institut Paris und seine Gründungsväter. Ein personengeschichtlicher Ansatz, München 2007 (Pariser Historische Studien, 86); ders., Das Deutsche Historische Institut Paris. Eine Neugründung „sur base universitaire“, in: ders. (Hg.), Deutschfranzösische Kultur- und Wissenschaftsbeziehungen im 20. Jahrhundert. Ein institutionengeschichtlicher Ansatz, München 2007 (Pariser Historische Studien, 81), 281–308 sowie Rainer Babel / Rolf Große (Hgg.), Das Deutsche Historische Institut Paris / L’Institut historique allemand, 1958–2008, Ostfildern 2008, hier vor allem den Beitrag von Ulrich Pfeil, Gründung und Aufbau des Instituts (1958–1968), 1–84; vgl. auch Werner Paravicini, Das Deutsche Historische Institut Paris / L’Institut Historique Allemand, in: ders. (Hg.), Das Deutsche Historische Institut Paris. Festgabe aus Anlaß der Eröffnung seines neuen Gebäudes, des Hôtel Duret de Chevry, Sigmaringen 1994, 71–105; sowie Rolf Große, Frankreichforschung am Deutschen Historischen Institut Paris, in: Jahrbuch der historischen Forschung in der Bundesrepublik Deutschland, Berichtsjahr 2012, München 2013, 21–27. Einen Überblick über die Veröffentlichungen zum Institutsjubiläum bietet jetzt Matthias Werner, Die Anfänge des Deutschen Historischen Instituts in Paris und die Rückkehr der deutschen Geschichtswissenschaft in die ,Ökumene der Historiker‘. Die Publikationen zum 50-jährigen Gründungsjubiläum des DHIP als
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Untersuchungen, vor allem aus der Feder von Ulrich Pfeil, darf ich mich stützen, um biografisch angelegte Analysen und personale Netzwerke vorzustellen. Schon jetzt sei bemerkt, dass fast alle Gründungsväter über einen rheinischen Hintergrund verfügten.
1 Das Rheinland prägte vor allem den Bonner Mediävisten Eugen Ewig, auf den ich gleich zu Beginn eingehe3. Ewig kam bei der Gründung eine Schlüsselrolle zu. Ohne den Titel eines Direktors zu tragen, war er in der Aufbauphase die bestimmende Persönlichkeit. 1913 in Bonn geboren, lehrte er als Ordinarius in Mainz und Bonn und starb dort 2006 im Alter von fast 93 Jahren. Während des Kriegs hatte er im Staatsarchiv Metz gearbeitet, es eine Zeitlang sogar kommissarisch geleitet und in dieser Funktion dem späteren französischen Ministerpräsidenten Robert Schuman, der von der Gestapo verhaftet worden war, nützliche Dienste erweisen können. Nach der Einnahme von Metz wurde Ewig zwar von den Amerikanern interniert, aufgrund der Fürsprache französischer Freunde aber bald wieder entlassen. Sein Ruf galt als so untadelig, dass er zunächst in Frankreich bleiben und sich dort ungehindert bewegen konnte. 1946 erhielt er sogar eine Lektorenstelle an der Universität Nancy4. Nicht nur in Frankreich verfügte er über ausgezeichnete Kontakte, auch in Deutschland reichten seine Drähte bis zur politischen Spitze, denn sein künftiger Schwiegervater, Paul Martini, war Ordinarius für Innere Medizin an der Universität Bonn und zugleich der Leibarzt von Konrad Adenauer. Er stellte für Eugen Ewig den Kontakt zum Bundeskanzler her. Dies ermöglichte ihm, in der Folgezeit als Verbindungsmann zwischen Schuman und Adenauer zu fungieren. Adenauer bot sogar an, ihn für vertrauliche Missionen in Paris einzusetzen5. Ewig nutzte die Gunst der Stunde, um Adenauer 1950 ein Forschungsprojekt vorzustellen, das zu einem besseren „Verständnis der europäischen Vergangenheit“ beitragen sollte: „Ziel wäre ein vom Rhein her geprägtes neues deutsches und europäisches Bewußtsein. Diese Arbeit müßte ihren Ausgang vom Mittelalter nehmen, weil hier einerseits die Anfänge des
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Beitrag zur Wissenschafts- und Zeitgeschichte und ihre rheinischen Bezüge, in: Rheinische Vierteljahresblätter 79/2015, 212–245. Zu Ewig siehe Reinhold Kaiser, Eugen Ewig. Vom Rheinland zum Abendland, in: Pfeil, Gründungsväter (wie Anm. 2), 200–220; Ulrich Pfeil, Eugen Ewig. „Créer un ordre transnational“. Von einem Mittler zwischen Deutschland und Frankreich, in: ibid., 294–322; sowie die Beiträge von Reinhold Kaiser, Eugen Ewig (1913–2006), in: Francia 34/1/2007, 223–227; Werner Paravicini, Eugen Ewig. Der Gründer, in: ibid., 228–236 und Theo Kölzer / Ulrich Nonn, Schriftenverzeichnis Eugen Ewig, in: ibid., 237–244. Pfeil, Eugen Ewig (wie Anm. 3), 299–303; Paravicini, Eugen Ewig (wie Anm. 3), 233–235. Pfeil, Vorgeschichte (wie Anm. 2), 96f., zu Martini 226; ders., Eugen Ewig (wie Anm. 3), 314– 316.
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Abendlandes liegen und andererseits der zeitliche Abstand einer ruhigen Betrachtung besonders förderlich ist. (…) Frankreich ist für diesen Zweck der wichtigste Ansatzpunkt, weil die deutsch-französischen Kulturbeziehungen für die Werde- und erste Blütezeit des Abendlandes weitaus am bedeutsamsten waren6.“
Vielleicht reifte in Ewig bereits damals die Idee, eine deutsche historische Forschungsstelle in Paris zu gründen. Jedenfalls wandte er sich zwei Jahre später, als das deutsch-französische Kulturabkommen vor der Unterzeichnung stand, erneut an den Kanzler und schlug ihm vor, in dem Abkommen die Einrichtung einer Forschungsstation vorzusehen, die den Kontakt zu den französischen Mediävisten herstellen und pflegen solle. „Als Endziel“, so lesen wir, „wäre an die Errichtung eines deutschen historischen Instituts in Paris zu denken, wie es ähnlich in Rom längst besteht“. Und weiter heißt es: „Die hier kurz skizzierten Aufgaben wären ein dankbares Betätigungsfeld gerade für den rheinisch-westdeutschen Historiker, dem der Zugang zu den Problemen und Menschen besonders leicht wäre. Es besteht die Möglichkeit, mit bescheidenen Mitteln in kurzer Zeit wissenschaftliche Ergebnisse vorzulegen, die die Fachwelt aufhorchen ließen, und zugleich eine Schule junger Historiker zu gründen, die schon durch ihre Ausbildung zum europäischen Denken erzogen würden. Denn die Kernfrage der europäischen Zukunft ist das deutsch-französische Verständnis, das hier von den Grundlagen, dem politisch völlig neutralen Boden der mittelalterlichen Geschichtsforschung her, revidiert und zugleich vertieft werden könnte 7.“
In den beiden Denkschriften Ewigs von 1950 und 1952 werden bereits die Punkte hervorgehoben, die maßgeblich für die Pariser Institutsgründung werden sollten: Ein vom Rhein her geprägtes Geschichtsbewusstsein; die Vorstellung eines christlichen Abendlands; der europäische Einigungsgedanke und damit verbunden der Wunsch nach einer Aussöhnung mit Frankreich. Die Konjunktur war günstig für Ewig, denn die Ziele, die er als Wissenschaftler vertrat, entsprachen denen des Politikers Adenauer, der die junge Bundesrepublik fest in den Westen einbinden wollte8. Ewigs Wunsch, ein Forschungsinstitut zu gründen, ging jedoch zunächst nicht in Erfüllung, da das Kulturabkommen nur eine Rahmenvereinbarung bildete, in die konkrete Projekte nicht aufgenommen wurden. Es sollte noch zwei Jahre dauern, bis der Plan erneut auf die Tagesordnung gelangte. Da das Bundeskanzleramt Anfang 1954 Mittel für historische Forschungsvorhaben bereitstellte, reichten neben Hermann Heimpel, damals Präsident der Westdeutschen Rektorenkonferenz, dem Mainzer Ordinarius Leo Just und Max Braubach, Lehrstuhlinhaber in Bonn, auch Eugen Ewig und der mit ihm befreundete Marburger Ordinarius Heinrich Büttner Vorschläge ein9. Ende des Jahres wurde eine kleine Gruppe von Historikern, bestehend aus Tellenbach, Braubach, Heimpel und Hübinger, ins Kanzleramt eingeladen, um über die eingereichten Anträge zu beraten. Gerd Tellenbach, damals Ordinarius in Freiburg, erklärte jedoch
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Zitiert nach Pfeil, Vorgeschichte (wie Anm. 2), 97f. Ibid., 98, 285f. Nr. 29. Ibid., 99–104, 162. Zum Folgenden ibid., 99–107, 291–313 Nr. 35–55, ders., Eugen Ewig (wie Anm. 3), 318f. sowie ders., Gründung und Aufbau (wie Anm. 2), 4–6.
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bereits im Vorfeld der Sitzung, die Finanzierung der Forschungsvorhaben sei nicht Aufgabe des Kanzleramts, sondern der DFG. Stattdessen schlug er vor, die Mittel, die Adenauer in Aussicht stellte, zum Aufbau einer historischen Forschungsstelle in Paris zu verwenden. So kam es, dass bei dem Treffen im Kanzleramt mit dem zuständigen Referatsleiter nicht mehr über die einzelnen Projekte, sondern nur über den Plan einer Institutsgründung gesprochen wurde. Im Jahr zuvor, 1953, war das römische Institut wiedereröffnet worden, sodass die deutsche Geschichtswissenschaft auch international wieder Fuß fassen konnte10. Der Vorstoß Tellenbachs kam also zum rechten Zeitpunkt und stieß seitens des Kanzleramts auf ein positives Echo. Im Anschluss an die Besprechung legte Tellenbach sein Vorhaben nochmals schriftlich dar. Dabei erwähnte er ältere Pläne, die bereits Paul Kehr gehegt habe, und äußerte auch, dass ihm die Idee zur Gründung des Pariser Instituts im Gespräch mit Heinrich Büttner gekommen sei. Die beiden Namen, Kehr und Büttner, verweisen auf die früheren, letztlich gescheiterten Versuche einer Institutsgründung. Auf sie sollten wir deshalb kurz einen Blick werfen.
2 Zunächst zu Paul Kehr11. 1860 geboren und 1944 verstorben, galt er lange als mächtigster Mediävist in Deutschland und herausragender Wissenschaftsorganisator. Er war nicht nur Ordinarius in Göttingen, sondern bekleidete auch, zum Teil gleichzeitig, das Amt des Präsidenten der Monumenta Germaniae Historica, des Direktors des Preußischen Historischen Instituts in Rom, des Direktors des Kaiser-WilhelmInstituts für Deutsche Geschichte in Berlin sowie des Generaldirektors der Preußischen Staatsarchive. Mit Friedrich Althoff, dem als Ministerialdirektor im preußischen Kultusministerium u.a. die Universitäten und nichtuniversitären Forschungseinrichtungen unterstanden, war er eng befreundet und konnte vor dem Ersten Weltkrieg die Berufungspolitik auf die historischen Lehrstühle in Preußen maßgeblich beeinflussen12. Kehr gehörte auch der Göttinger Gelehrten Gesellschaft an, der heutigen Akademie, und stellte diesem Gremium 1896 seinen Plan vor, alle Papstur-
10 Michael Matheus, Die Wiedereröffnung des Deutschen Historischen Instituts 1953 in Rom, in: Ulrich Pfeil (Hg.), Die Rückkehr der deutschen Geschichtswissenschaft in die „Ökumene der Historiker“. Ein wissenschaftsgeschichtlicher Ansatz, München 2008 (Pariser Historische Studien, 89), 91–113. 11 Aus der umfangreichen Literatur zu ihm seien genannt: Stefan Weiß, Paul Kehr. Delegierte Großforschung: Die „Papsturkunden in Frankreich“ und die Vorgeschichte des Deutschen Historischen Instituts in Paris, in: Pfeil, Gründungsväter (wie Anm. 2), 36–57 sowie Rudolf Schieffer, Paul Fridolin Kehr, in: Hans-Christof Kraus (Hg.), Geisteswissenschaftler II, Berlin 2012 (Berlinische Lebensbilder, 10), 127–146. 12 Zum Einfluss Kehrs zuletzt Herbert Zielinski, Ein Brief Harry Bresslaus an Paul Fridolin Kehr im Apparat der „Gallia Pontificia“, in: Francia 40/2013, 207–231, zu Althoff 208 Anm. 10.
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kunden bis zum Ausgang des 12. Jahrhunderts nach dem Vorbild der Diplomatareihe der MGH kritisch zu edieren13. Es war ein wissenschaftliches Großprojekt, das die Göttinger Gesellschaft dankbar in ihr Arbeitsprogramm aufnahm, um in Konkurrenz zur preußischen Akademie in Berlin treten zu können14. Glaubte Kehr damals, das Unternehmen innerhalb weniger Jahre abschließen zu können, so hatte er sich verschätzt. 1996 feierte das Göttinger Papsturkundenwerk sein 100-jähriges Bestehen, ohne dass ein Abschluss der Edition auch nur in Sicht war. Kehr begann seine Suche nach Papsturkunden in den italienischen Archiven und Bibliotheken und nutzte dafür seine Stellung als Direktor des römischen Instituts, die er seit 1903 innehatte. Etwa zu dieser Zeit reifte in ihm die Idee, auch in Paris eine Forschungsstelle einzurichten, um die in Frankreich überlieferten Papsturkunden zu erschließen, die unter dem Titel Gallia Pontificia veröffentlicht werden sollten15. Als Bearbeiter war Johannes Haller vorgesehen, der auch heute noch vor allem als Autor einer fünfbändigen „Geschichte des Papsttums“ bekannt ist. Kehrs Plan sah vor, dass Haller an einer preußischen Universität zum Extraordinarius ernannt und dann sofort beurlaubt werde, um in Paris an der Gallia Pontificia arbeiten zu können. Gedacht war allerdings nicht an eine selbständige Forschungseinrichtung, sondern an einen Ableger des römischen Instituts oder des Göttinger Papsturkundenwerks. Der Plan, der sich auf die Jahre 1902/03 datieren lässt, zerschlug sich, da Friedrich Althoff nicht bereit war, ein Institut in Paris zu finanzieren, und Johannes Haller das Interesse an dem Editionsprojekt verlor. Auch Hermann Bloch, ein Straßburger Schüler von Harry Bresslau, spielte in Kehrs Überlegungen eine Rolle als Mitarbeiter des Pariser Instituts, doch zog dieser, wie Haller, eine Karriere als Hochschullehrer vor und war 1920/21 sogar Ministerpräsident von Mecklenburg-Schwerin16. Nach den Absagen von Haller und Bloch war Kehrs Plan allerdings noch nicht vom Tisch, denn als 1914 die Gründung des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Geschichte beschlossen wurde, war auch eine Zweigstelle in Paris vorgesehen. Der Ausbruch des Weltkriegs vereitelte dies jedoch.
13 Paul Kehr, Über den Plan einer kritischen Ausgabe der Papsturkunden bis Innocenz III., in: Nachrichten der Königlichen Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen. Geschäftliche Mitteilungen (1896), 72–86; ND in: ders., Ausgewählte Schriften, hg. von Rudolf Hiestand, Bd. 1, Göttingen 2005 (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. Philologisch-Historische Klasse, 3. Folge, 250), 3–17. Vgl. zu diesem Projekt Theodor Schieffer, Der Stand des Göttinger Papsturkunden-Werkes, in: Jahrbuch der Akademie der Wissenschaften in Göttingen für das Jahr 1971 (1972), 68–79. 14 Weiß, Großforschung (wie Anm. 11), 40f. 15 Zu Kehrs Plänen siehe ibid., 46–50 sowie Pfeil, Vorgeschichte (wie Anm. 2), 36–41; zur Gallia Pontificia: Rolf Große, Die Gallia pontificia. Ein Editionsprojekt des Deutschen Historischen Instituts Paris, in: Jahrbuch der historischen Forschung in der Bundesrepublik Deutschland. Berichtsjahr 1990, München 1991, 19–21. 16 Zielinski, Brief (wie Anm. 12), 209–212, 221f.
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3 Der Rückblick in die ersten Jahre des letzten Jahrhunderts erschien notwendig, da die von Gerd Tellenbach 1954 betriebene Initiative zur Gründung eines Pariser Instituts ausdrücklich an das Projekt von Paul Kehr anknüpfte. Tellenbach hatte von 1928 bis 1933 am römischen Institut gearbeitet, sodass ihm die Pläne seines damaligen Direktors, Paul Kehr, bekannt gewesen sein dürften17. Der zweite Name, den Tellenbach anlässlich des Gesprächs im Kanzleramt erwähnte, war Heinrich Büttner, seit 1949 Ordinarius für mittelalterliche Geschichte in Marburg18. Dass Tellenbach sich gerade mit ihm besprach, war kein Zufall, denn Büttner hatte man als Leiter eines historischen Forschungsinstituts vorgesehen, das während der Besatzungszeit in Paris gegründet werden sollte19. Büttner, 1908 in Mainz geboren, war ein Schüler von Theodor Mayer, der nach dem Krieg die Präsidentschaft der Monumenta verlor und seinen Marburger Lehrstuhl nicht wiedererhielt; stattdessen fand er im Konstanzer Institut für geschichtliche Landesforschung des Bodenseegebiets, aus dem der Konstanzer Arbeitskreis für mittelalterliche Geschichte hervorging, eine neue Wirkungsstätte20. In das NS-Regime war er tief verstrickt. Im Rahmen des sogenannten „Kriegseinsatzes der Geisteswissenschaften“, der zu einem deutschen Sieg und der anschließenden Neuordnung Europas beitragen wollte, zeichnete Theodor Mayer für die mittelalterliche Geschichte verantwortlich. In der Besetzung Frankreichs durch die Wehrmacht sah er die Möglichkeit, die französischen Archive und Bibliotheken ohne Einschränkungen auswerten zu können. Die damit verbundenen Forschungen sollten die Kriegsführung propagandistisch unterstützen und den deutschen Hegemonieanspruch legitimieren. So wandte er sich 1941 an den Chef der Zivilverwaltung beim Militärbefehlshaber in Frankreich, Werner Best, und erläuterte ihm seinen Plan, ein Deutsches Historisches Institut in Paris zu gründen21. In diesem Zusammenhang erscheint es nicht unwichtig zu erwähnen, dass die französischen Archive und Bibliotheken damals bereits ohne Anbindung an ein 17 Zu Tellenbach siehe Anne Christine Nagel, Im Schatten des Dritten Reichs. Mittelalterforschung in der Bundesrepublik Deutschland 1945–1970, Göttingen 2005 (Formen der Erinnerung, 24), 145–155 sowie dies., Gerd Tellenbach. Wissenschaft und Politik im 20. Jahrhundert, in: Pfeil, Gründungsväter (wie Anm. 2), 80–99. 18 Zu Büttner siehe Wolfgang Freund, Heinrich Büttner. Zwischen Nischenstrategie und Hochschulkarriere, in: Pfeil, Gründungsväter (wie Anm. 2), 274–292. 19 Siehe zum Folgenden ibid., 286–289, Conrad Grau, Planungen für ein Deutsches Historisches Institut in Paris während des Zweiten Weltkrieges, in: Francia 19/3/1992, 109–128 und vor allem Pfeil, Vorgeschichte (wie Anm. 2), 47–76, 258–285 Nr. 1–28. 20 Zu Mayer siehe Reto Heinzel, Theodor Mayer. Ein Wissenschaftsorganisator mit „großen Möglichkeiten“, in: Pfeil, Gründungsväter (wie Anm. 2), 60–77; zum Konstanzer Arbeitskreis Traute Endemann, Geschichte des Konstanzer Arbeitskreises. Entwicklung und Strukturen 1951–2001, Stuttgart 2001; Nagel, Im Schatten (wie Anm. 17), 156–187 sowie dies., „Gipfeltreffen der Mediävisten“. Der Konstanzer Arbeitskreis für mittelalterliche Geschichte, in: Pfeil, Rückkehr (wie Anm. 10), 73–89. 21 Pfeil, Vorgeschichte (wie Anm. 2), 258–263 Nr. 2f.
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Forschungsinstitut durchforstet wurden, und zwar von der Archivschutzkommission. Bei ihr handelte es sich um eine Einheit der Wehrmacht, die es für Frankreich, Belgien, die Niederlande und Dänemark gab22. Ihre Aufgabe bestand darin, die Archive der besetzten Länder vor militärischen Übergriffen zu schützen, ferner deutsche Archivalienansprüche aufzulisten, um sie bei späteren Friedensverhandlungen geltend zu machen, sowie ein Inventar aller Quellen zur deutschen Geschichte anzufertigen. Der in Paris tätigen Archivschutzkommission gehörte neben Heinrich Büttner auch der spätere Kölner Ordinarius Theodor Schieffer an23. Schieffer nutzte diese Tätigkeit zur Arbeit an einer Urkundenedition, mit der er sich 1942 in Berlin habilitieren konnte. Im Abschlussbericht der Archivschutzkommission lesen wir: „Während die Auswertung der Inventare und Fotokopien im Grossen erst nach dem Kriege erfolgen wird, konnten die französischen Archive in zahlreichen Einzelfällen schon jetzt für besondere Anliegen der deutschen Forschung und Verwaltung erschlossen werden. Die Reichsinstitute für ältere deutsche Geschichtskunde und für Geschichte des neuen Deutschlands bedienten sich der Gruppe Archivwesen in starkem Masse zu Forschungen, Feststellungen und Fotokopierungen (11.410 bzw. 15.536 Aufnahmen) 24.“
Ich habe dieses Zitat hier eingeflochten, um zu zeigen, dass der Plan von Theodor Mayer zur Gründung eines Forschungsinstituts nicht nur politisch motiviert war, sondern durchaus auch den möglichen wissenschaftlichen Ertrag im Blick hatte. Sein Vorschlag stieß bei den Machthabern auf ein positives Echo. Im selben Maße, wie Mayer die Occupation für seine Forschungsprojekte nutzen wollte, war das Regime bereit, wissenschaftliche Unternehmen zu fördern, wenn sie politisch nützlich erschienen25. Im Februar 1941 verfasste Mayer eine ausführliche Denkschrift und erhielt ein Jahr später im Zuge seiner Berufungsverhandlungen auf den Posten des MGH-Präsidenten, mit dem seit 1935 die Direktion des DHI Rom verbunden war, die Zusage des Ministeriums, die Gründung eines Deutschen Historischen Instituts in Paris zu unterstützen26. Als Leiter sah Mayer seinen Schüler Heinrich Büttner vor27. Die Realisierung des Unternehmens zog sich jedoch hin. Das Auswärtige 22 Zur Archivschutzkommission siehe Wolfgang Hans Stein, Die Inventarisierung von Quellen zur deutschen Geschichte. Eine Aufgabe der deutschen Archivverwaltung in den besetzten westeuropäischen Ländern im Zweiten Weltkrieg, in: ders. (Hg.), Inventar von Quellen zur deutschen Geschichte in Pariser Archiven und Bibliotheken, bearbeitet von einer Arbeitsgruppe unter Leitung von Georg Schnath, Koblenz 1986, XXVII–LXVII sowie Anja Heuss, Die Gruppe „Archivwesen“ im Spannungsfeld von Archivschutz und Archivraub, in: Pfeil, Kulturund Wissenschaftsbeziehungen (wie Anm. 2), 155–166. 23 Zu Schieffer siehe Rolf Große, Theodor Schieffer. Ein rheinischer Historiker und seine „Begegnung mit der romanisch-französischen Welt“, in: Pfeil, Gründungsväter (wie Anm. 2), 120– 137. 24 Der Bericht wurde veröffentlicht von Karl Heinz Roth, Eine höhere Form des Plünderns. Der Abschlußbericht der „Gruppe Archivwesen“ der deutschen Militärverwaltung in Frankreich 1940–1944, in: 1999. Zeitschrift für Sozialgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts 4/1989, 104. 25 Pfeil, Vorgeschichte (wie Anm. 2), 72f. 26 Ibid., 68, 260–263 Nr. 3, 279f. Nr. 22. 27 Freund, Heinrich Büttner (wie Anm. 18), 288.
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Amt und das Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung stritten um die Zuständigkeit, unklar war auch das Verhältnis der künftigen Forschungsstelle zum Deutschen Institut in Paris, das 1940 bis 1944 bestand und kulturpolitische Aufgaben wahrnahm. Es galt als „die wichtigste Schaltstelle der intellektuellen Kollaboration in Frankreich“ 28. Die Zwistigkeiten führten dazu, dass die Angelegenheit im Sand verlief und angesichts der Kriegswende seit 1943 nicht mehr weiterverfolgt wurde.
4 Tellenbach, der 1954 einen erneuten Anlauf unternahm, war mit Theodor Mayer bekannt und hatte an den von ihm organisierten Tagungen des „Kriegseinsatzes der Geisteswissenschaften“ teilgenommen29. Da er seinen Vorschlag mit Heinrich Büttner absprach, werden personelle Kontinuitäten zwischen den beiden Initiativen, während des Krieges und nach ihm, deutlich. Offenbar stammte die Idee gar nicht von Tellenbach, sondern von Büttner30. Wenn dieser in den folgenden Etappen, die zur Institutsgründung führten, keine Rolle mehr spielte, so lässt sich das wahrscheinlich auf seine Nähe zu Theodor Mayer zurückführen31. Es schien wenig opportun, mit dem neuen Projekt an das alte anzuknüpfen. Tellenbachs Vorschlag fiel im Kanzleramt auf fruchtbaren Boden, sodass er schon bald konkret die Organisation und Struktur des künftigen Instituts darlegen konnte: Es sollte wenig repräsentativ sein; vorgesehen waren Stellen für zwei wissenschaftliche Mitarbeiter, die unter der Leitung eines sogenannten Protektors arbeiten würden; dieser Protektor sollte ein deutscher Ordinarius sein, der nur hin und wieder nach Paris zu reisen hätte. Als Kandidaten für diese Position einigte man sich recht bald auf Eugen Ewig32. Die entscheidenden Weichen wurden also bereits 1954 gestellt. Trotz der Rückendeckung durch das Kanzleramt dauerte es noch vier Jahre bis zur Gründung
28 Eckard Michels, Das Deutsche Institut in Paris 1940–1944. Ein Beitrag zu den deutsch-französischen Kulturbeziehungen und zur auswärtigen Kulturpolitik des Dritten Reiches, Stuttgart 1993 (Studien zur modernen Geschichte, 46); sowie Frank-Rutger Hausmann, Das Deutsche Institut in Paris (1940–1944), in: Pfeil, Kultur- und Wissenschaftsbeziehungen (wie Anm. 2), 123–136, das Zitat 126f. 29 Nagel, Gerd Tellenbach (wie Anm. 17), 89f. 30 Pfeil, Vorgeschichte (wie Anm. 2), 104f. Gegenüber Büttner sprach Tellenbach von „Ihre(m) Plan eines französischen Stützpunktes“. An Friedrich Baethgen schrieb er, sein Vorschlag gehe auf „Unterhaltungen mit Büttner und anderen“ zurück; in einem Brief an Büttner heißt es: „Ihrer Anregung entsprechend konnte ich am letzten Freitag im Bundeskanzleramt den Plan einer deutschen historischen Station in Paris vortragen.“ Die drei Dokumente ibid., 297 Nr. 39, 304f. Nr. 45f. 31 Ibid., 111 sowie Freund, Heinrich Büttner (wie Anm. 18), 292. 32 Pfeil, Vorgeschichte (wie Anm. 2), 111f., 309f. Nr. 52.
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der Forschungsstelle33. Dies lag daran, dass auf deutscher Seite unklar war, welches Ministerium für die künftige Einrichtung zuständig sein sollte. Zudem blieb in Gesprächen mit französischen Historikern zu sondieren, ob eine deutsche historische Forschungsstelle in Paris überhaupt gewünscht war und wie sie beschaffen sein sollte. Dass sich das Projekt schließlich realisieren ließ, ist zwei Personen zu verdanken: Eugen Ewig und Paul Egon Hübinger34. Beide hatten in Bonn Geschichte und Romanistik studiert und waren Schüler des dortigen Mediävisten Wilhelm Levison35. Wegen seiner jüdischen Herkunft hatte Levison 1935 seinen Lehrstuhl verloren, konnte aber 1939 noch kurz vor Kriegsausbruch Deutschland verlassen und in das englische Durham emigrieren, wo er 1947 starb. Ewig und der aus Düsseldorf stammende Hübinger strebten eine akademische Karriere an, machten sich aber wenig Hoffnung, da sie dem NS-Regime ablehnend gegenüberstanden, und entschieden sich für die Laufbahn des Archivars. Wir hörten bereits, dass Ewig während des Kriegs am Staatsarchiv in Metz tätig war und von 1946 bis 1949 an der Universität Nancy als Lektor Deutsch unterrichtete. Gleichzeitig war er Oberassistent an der Universität Mainz, die auf Betreiben der französischen Besatzungsbehörden gegründet wurde. Dort konnte er sich 1952 habilitieren und erhielt zwei Jahre später den Lehrstuhl für mittelalterliche Geschichte; 1964 wechselte er nach Bonn36. Den zwei Jahre älteren Hübinger verschlug es nach dem Archivlehrgang in Berlin nach Koblenz. 1943 habilitierte er sich in Bonn, doch wurde ihm aus politischen Gründen die Venia verweigert. Erst 1950 wurde er außerordentlicher Professor in Bonn und 1951 Ordinarius an der Universität Münster. Dort blieb er nur drei Jahre, denn 1954 übertrug ihm sein Studienfreund, der damalige Bundesinnenminister Gerhard Schröder, die Leitung der Kulturabteilung seines Ministeriums. 1959 kehrte er als Bonner Ordinarius wieder zurück in die Wissenschaft37. An der eingangs erwähnten Besprechung im Bundeskanzleramt 1954, bei der erstmals über eine Institutsgründung gesprochen wurde, hatte er bereits in seiner neuen Funktion als Ministerialdirektor teilgenommen. Unter Hinweis darauf, dass er auch Historiker sei, bot er an, das Projekt gemeinsam mit Eugen Ewig vorzubereiten38. Während das Kanzleramt die Initiative begrüßte, um das mit Frankreich
33 Zum Folgenden siehe ibid., 116–149. 34 Zu Hübinger siehe Theodor Schieffer, Paul Egon Hübinger †, in: Der Archivar 40/1987, Sp. 637–639 sowie Ulrich Pfeil, Paul Egon Hübinger. Vom Umgang mit dem Anpassungsdruck, in: Pfeil, Gründungsväter (wie Anm. 2), 236–271. 35 Zu Levison siehe Theodor Schieffer, Wilhelm Levison, in: Rheinische Vierteljahrsblätter 40/1976, 225–242 sowie Matthias Becher / Yitzhak Hen (Hgg.), Wilhelm Levison (1876–1947). Ein jüdisches Forscherleben zwischen wissenschaftlicher Anerkennung und politischem Exil, Siegburg 2010 (Bonner Historische Forschungen, 63). 36 Pfeil, Eugen Ewig (wie Anm. 3), 311f. sowie Kaiser, Eugen Ewig (1913–2006) (wie Anm. 3), 223–225. 37 Pfeil, Paul Egon Hübinger (wie Anm. 34), 240, 243–254, 268–270. 38 Pfeil, Vorgeschichte (wie Anm. 2), 112.
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geschlossene Kulturabkommen mit Leben zu erfüllen, äußerten sich das Auswärtige Amt und die Pariser Botschaft skeptisch. Sie rechneten mit Vorbehalten französischer Historiker und empfahlen, sich zunächst mit Paris über die noch offene Frage der Wiedereröffnung eines Kulturinstituts, des Goethe-Instituts, zu einigen. Sollte eine historische Forschungsstelle gegründet werden, so solle man sie in das Goethe-Institut integrieren39. In dieser Situation war es besonders wichtig, dass der Kreis um Tellenbach und Ewig mit Hübinger einen hochrangigen Befürworter nicht nur in der eigenen Zunft, sondern zugleich in der Bundesverwaltung hinter sich wusste. Auch in Paris war der Boden zu bereiten. Aufgrund seiner exzellenten Beziehungen war Eugen Ewig dafür prädestiniert und reiste Anfang 1956 nach Frankreich40. Sowohl der ehemalige französische Hohe Kommissar und Botschafter in Bonn, André François Poncet, als auch Robert Schuman äußerten sich Ewig gegenüber sehr positiv, und auch im Kreis der Historiker wurden keine Bedenken erhoben. Selbst der an der Sorbonne lehrende Mediävist Robert Fawtier, der ins KZ Mauthausen deportiert worden war und 1950 verhinderte, dass Deutschland wieder in den Internationalen Historikerverband aufgenommen wurde, favorisierte das Projekt, empfahl aber, sich zunächst auf das Mittelalter zu beschränken, da diese Themen politisch nicht belastet seien41. Widerstand richtete sich unter den Pariser Kollegen allerdings gegen die Pläne des Auswärtigen Amts, die Forschungsstelle dem Goethe-Institut anzugliedern. Allzu stark war die Erinnerung an das Deutsche Institut der Besatzungszeit. Stattdessen empfahlen sie eine strikte Trennung zwischen Kultur- und Forschungsinstitut. Letzteres solle „sur base universitaire“, „auf universitärer Grundlage“, errichtet werden und kein Organ der bundesdeutschen Kulturpolitik sein. Dieses Argument sprach gegen das Bemühen des Auswärtigen Amts, das Projekt für sich zu reklamieren und zu verzögern. Hinzu kam, dass kurz nach der Parisreise von Eugen Ewig in der dortigen Botschaft die Leitung des Kulturreferats wechselte. An ihre Spitze trat nun Josef Jansen, 1933 in Bonn von Max Braubach promoviert und mit Ewig eng befreundet. Er unterstützte die Gründung eines Forschungsinstituts, und so gab auch das Auswärtige Amt seine Vorbehalte auf. Hübinger nutzte die Gelegenheit, um das Projekt unter die Fittiche seines Ressorts zu nehmen42. Unter den Beteiligten herrschte Einigkeit darüber, dem künftigen Institut einen möglichst inoffiziellen Anstrich zu geben, um zu betonen, dass es keine politische, sondern ausschließlich wissenschaftliche Funktion besaß. Deshalb steht das DHIP
39 Zur Gründung des Pariser Goethe-Instituts siehe Eckard Michels, Vom Deutschen Institut zum Goethe-Institut, in: Pfeil, Kultur- und Wissenschaftsbeziehungen (wie Anm. 2), 181–195. 40 Pfeil, Vorgeschichte (wie Anm. 2), 124–128, 353–356 Nr. 92. 41 Zur Frage der Aufnahme in den Internationalen Historikerverband siehe Winfried Schulze, Deutsche Geschichtswissenschaft nach 1945, München 1989 (Historische Zeitschrift. Beihefte, Neue Folge 10), 178–181. 42 Pfeil, Vorgeschichte (wie Anm. 2), 129–132.
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heute nicht in der Tradition des Deutschen Instituts der Besatzungszeit. Die Finanzierung der Forschungsstelle sollte zwar aus Mitteln des Bundes erfolgen, das Innenministerium aber keinesfalls als ihr Träger in Erscheinung treten. Um ein institutionelles Fundament zu schaffen, gründeten Tellenbach, Braubach und Ewig im April 1957 eine Gesellschaft bürgerlichen Rechts mit dem Namen „Wissenschaftliche Kommission zur Erforschung der Geschichte der deutsch-französischen Beziehungen“43. Ihr Sitz war Mainz, als Geschäftsführer fungierte Ewig. Beim Bundesinnenministerium beantragte die Kommission 200.000,- DM, um ein Stockwerk in Paris zu kaufen, zwei Stipendiaten dorthin zu senden und eine Handbibliothek aufzubauen. Die beiden Stipendiaten waren schnell gefunden. Es handelte sich um Schüler von Max Braubach und Gerd Tellenbach: den Frühneuzeitler Hermann Weber, der später Ordinarius in Mainz werden sollte, und den Mediävisten Rolf Sprandel, später Ordinarius in Würzburg. Weber, der sich bereits Anfang der 50er Jahre zur Vorbereitung seiner Dissertation in Paris aufgehalten hatte, war mit den Verhältnissen bestens vertraut und verfügte über gute Kontakte, sodass man ihn als geschäftsführenden Leiter der künftigen Forschungsstelle vorsah und mit ihrem Aufbau betraute. Ihm kam in jenen Jahren eine entscheidende Rolle zu: Zunächst bemühte er sich um den Erwerb einer Etage, in der er mit seiner Familie wohnen sollte, die aber zugleich als Sitz der Forschungsstelle gedacht war. Im August 1957 konnte er den Vertrag über den Kauf einer Wohnung in der rue du Havre nahe der Gare Saint-Lazare unterzeichnen. Das Geld kam vom Bund, aber aus haushaltsrechtlichen Gründen erfolgte der Erwerb auf den Namen von Eugen Ewig, der Weber mit einer Vollmacht ausgestattet hatte44. Die nächsten Schritte bestanden darin, die Wohnung auf den Bund zu übertragen und die Forschungsstelle auf französischer wie deutscher Seite zu offizialisieren. Man gründete in Frankreich einen Verein, eine Association étrangère, mit dem Namen „Centre allemand de recherches historiques – Deutsche Historische Forschungsstelle“ und beantragte dessen Zulassung beim französischen Innenministerium, die allerdings erst 1959 erfolgte. Auch auf deutscher Seite war es zunächst nicht einfach, den Status der Forschungsstelle zu klären45. Auf Bitten von Eugen Ewig wandte sich Robert Schuman an Konrad Adenauer, der zusicherte, sich um die Angelegenheit zu kümmern. Es war aber letztendlich das Verdienst von Alois Mertes, dem späteren Staatsminister im Auswärtigen Amt, dass die Dinge vorangingen. Mertes war ein Studienfreund von Hermann Weber und wie dieser Schüler von Max Braubach. 1952 trat er in den diplomatischen Dienst ein und war seit 1958 als Legationsrat an der Pariser Botschaft tätig. Seiner Intervention ist es zu verdanken, dass die Wohnung in der rue du Havre auf den Bund übertragen wurde, der damit die finanzielle Verpflichtung einging, für den Fortbestand der Forschungsstelle zu sorgen. Der 21. November
43 Zum Folgenden siehe ibid., 132–144; zu Hermann Weber, der 2014 verstarb, vgl. Bernard Vogler, Hermann Weber (1922–2014), in: Francia 42/2015, S. 401f. 44 In diesem Zusammenhang spricht Schulze, Geschichtswissenschaft (wie Anm. 41), 263 von der „Anwendung bemerkenswert unbürokratischer Methoden“. 45 Zum Folgenden siehe Pfeil, Vorgeschichte (wie Anm. 2), 144–149.
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1958, an dem die Deutsche Historische Forschungsstelle in Paris (Centre allemand de recherches historiques) eingeweiht wurde, gilt als das offizielle Gründungsdatum des DHI Paris. Im Anschluss an die Feier traf man sich nahe der Opéra Garnier zum Mittagessen im vornehmen Restaurant Drouant, in dessen erstem Stock die Académie Goncourt alljährlich über die Vergabe ihres Literaturpreises berät. Die Gäste verewigten sich auf der Rückseite der Speisekarte46. Fortan standen der bundesdeutschen Geschichtswissenschaft zwei Auslandsinstitute zur Verfügung.
5 Fest in den Bundesetat aufgenommen wurde das Institut hingegen erst 196447. Anlass war die Umwandlung der Forschungsstelle in ein Bundesinstitut unter dem Dach des damals noch jungen Bundesministeriums für wissenschaftliche Forschung. Damit einher ging auch die Umbenennung der Forschungsstelle in DHI Paris. Eugen Ewig wurde Vorsitzender des neugegründeten wissenschaftlichen Beirats, der als erste Amtshandlung Paul Egon Hübinger als Direktor vorschlug. Zuvor hatte Ewig von Mainz aus das Institut geleitet, während Hermann Weber vor Ort die Geschäftsführung versah. Da Hübinger die neue Aufgabe aus familiären Gründen ablehnte und auch andere Kandidaten ausschieden, einigte sich der Beirat schließlich auf Alois Wachtel, dessen Name heute nur noch wenigen ein Begriff ist48. Wachtel hatte in Bonn studiert, wurde dort 1937 von dem Mediävisten Walther Holtzmann promoviert und war Ewig noch aus der Studienzeit bekannt. Bei seiner Wahl zum ersten Direktor des DHI Paris arbeitete er in Euskirchen als Gymnasiallehrer für Geschichte und Französisch und lehrte als Honorarprofessor an der Universität Bonn. Auch er gehörte zum Bonner Zirkel. Die Ernennung von Alois Wachtel, der bereits 1968 starb, führt uns weit über die Gründungsgeschichte des Pariser Instituts hinaus. Bevor ich zum Schluss komme, möchte ich allerdings noch einen weiteren Mediävisten erwähnen, der aus der Bonner Schule stammte, und zwar Theodor Schieffer49. Er war mit Hübinger und Ewig eng befreundet und lehrte bis 1975 mittelalterliche Geschichte in Köln. Nach seiner Promotion bei Wilhelm Levison wurde er Mitarbeiter von Paul Kehr bei den MGH in Berlin und trat 1963 als Leiter des Göttinger Papsturkundenwerks in dessen Fußstapfen. Schieffer wurde 1966 in den wissenschaftlichen Beirat des Pariser Instituts gewählt. Zwar zählt er nicht zu dessen Gründungsvätern, aber er sorgte dafür, dass die Bearbeitung der französischen Papsturkunden, die sogenannte Gallia Pontificia, im DHI Paris verankert wurde50. Damit übernahm das Institut
46 Ibid., 156–161, 432–441 Nr. 191–194b; Abbildung der Speisekarte in Paravicini, Das Deutsche Historische Institut Paris (wie Anm. 2), 75 Abb. 54. 47 Zum Folgenden siehe Pfeil, Gründung und Aufbau (wie Anm. 2), 55–58. 48 Ein Foto von Alois Wachtel ibid., 57 Abb. 3. 49 Siehe oben bei Anm. 23. 50 Große, Theodor Schieffer (wie Anm. 23), 136.
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genau die Aufgabe, die Paul Kehr ihm zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts zugedacht hatte. Mit Theodor Schieffer schließt sich der Kreis. Hinter der Gründung des Pariser Instituts stand ein Netzwerk von Historikern, die sich in ihrer Mehrheit aus gemeinsamen Studientagen in Bonn kannten. Mit Josef Jansen und Alois Mertes waren zwei ehemalige Kommilitonen als Diplomaten an der Pariser Botschaft tätig, und Paul Egon Hübinger saß auf einem einflussreichen Posten im Bundesinnenministerium. Mittelpunkt des Kreises und treibende Kraft war Eugen Ewig, der über seinen Schwiegervater einen direkten Draht zu Konrad Adenauer besaß und seine wissenschaftlichen Ziele im Einklang mit der Politik des Bundeskanzlers wusste. Zudem konnte er sich auf mächtige Fürsprecher in Frankreich stützen. Aber die Vorgeschichte der Institutsgründung begann nicht erst in der Nachkriegszeit. Tellenbach und Büttner nahmen vielmehr einen Faden auf, den bereits Theodor Mayer während der Occupation geknüpft hatte. Die Tatsache, dass Büttner, den Mayer seinerzeit als Leiter vorgesehen hatte, an den Planungen nicht beteiligt wurde, zeigt, dass man jegliche Verbindung zu den früheren Plänen ablehnte. Dies gilt hingegen nicht für die Idee Paul Kehrs, die Pariser Forschungsstelle mit der Bearbeitung der französischen Papsturkunden zu betrauen. Es ist das Verdienst von Theodor Schieffer, dies in die Tat umgesetzt zu haben. So reicht das Netzwerk zurück bis in die ersten Jahre des 20. Jahrhunderts.
DIE NEUAUSRICHTUNG DER GESCHICHTSDIDAKTIK NACH 1945 Ulrich Baumgärtner
„Kann man ein Volk zu einer bestimmten Staatsauffassung erziehen?“ Mit dieser Frage beginnt Theodor Heuss, der damalige Kultminister – so der offizielle Titel – von Württemberg am 3. Oktober 1945 eine Rundfunkansprache mit dem Titel „Erziehung zur Demokratie“. Und er fährt nach dem Verweis auf die totalitäre Vergewaltigung zurzeit des Nationalsozialismus fort: „Das ist die sonderlich tragische Situation, wenn man in Deutschland von der Erziehung zur Demokratie redet. Die bleibt eine immerwährende Auseinandersetzung mit der Geschichte und mit dem Geschichtsbild, das den Deutschen überkommen, und dessen Formung eine immer neue Aufgabe ist.“1
Diese Ansprache des späteren Bundespräsidenten führt ins Zentrum der damaligen geschichtsdidaktischen Diskussion. Angesichts der moralisch-politischen Katastrophe des Nationalsozialismus formuliert er zum einen die alles bewegende Frage, ob und wie es möglich sei, eine demokratische Gesinnung entstehen zu lassen, und weist zum anderen darauf hin, dass dabei die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit Deutschlands eine entscheidende Rolle spiele. Die Beschäftigung mit der „Schuldfrage“ – wie es in der moralisch aufgeladenen zeitgenössischen Diskussion hieß – führte weit über das Jahr 1933 hinaus in die Tiefen der deutschen Geschichte und erforderte daher eine ins Grundsätzliche gehende Revision des Geschichtsbilds.2 Insofern berühren diese Äußerungen, da sie gleichermaßen auf das historischpolitische Lernen – Stichwort: „Erziehung zur Demokratie“ – wie das Geschichtsbewusstsein in der Gesellschaft – Stichwort: „Geschichtsbild“ – abzielen, zentrale Fragen der Geschichtsdidaktik. Doch will man sich über die „Neuausrichtung der Geschichtsdidaktik nach 1945“ einen Überblick verschaffen, ist zunächst zu klären, was im Hinblick auf die damalige Situation unter „Geschichtsdidaktik“ überhaupt 1
2
Theodor Heuss, Erziehung zur Demokratie, in: Theodor Heuss / Reinhold Maier, Schicksal und Aufgabe. Reden von Ministerpräsident für Nordwürttemberg und Nordbade. Dr. Reinhold Maier und Kultminister Dr. Theodor Heuss, Stuttgart o. J. [1945], 19–21. Vgl. den zeitgenössischen Text von Karl Jaspers, Die Schuldfrage, in: ders., Erneuerung der Universität. Reden und Schriften 1945/46, Heidelberg 1985, 113–214 sowie die Darstellungen von Barbro Eberan, Luther? Friedrich „der Große”? Wagner? Nietzsche? ...? ...? Wer war an Hitler schuld? Die Debatte um die Schuldfrage 1945–1949, München 21985 und Thomas Koebner, Die Schuldfrage. Vergangenheitsverweigerung und Lebenslügen in der Diskussion 1945–1949, in: ders. / Gert Sautermeister / Sigrid Schneider (Hgg.), Deutschland nach Hitler. Zukunftspläne im Exil und aus der Besatzungszeit 1939–1949, Opladen 1987, 301–329.
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zu verstehen ist, als es noch keine Lehrstühle oder Abteilungen für Didaktik der Geschichte an den Universitäten gab, um dann zu untersuchen, in welche Richtung – vielleicht sogar in welche Richtungen – die geschichtsdidaktischen Zeiger der Zeit wiesen. Der Schwerpunkt der folgenden Ausführungen liegt zeitlich im ersten Nachkriegsjahrzehnt; sie konzentrieren sich dabei – wohl wissend, dass dabei einiges unberücksichtigt bleibt – auf folgende Aspekte: 1. Das geschichtsdidaktische Diskursfeld nach 1945 2. Die „didaktische“ Selbstbesinnung der Historiker 3. Diskussionen über einen „neuen“ Geschichtsunterricht und 4. Die Reorganisation des Unterrichtsfaches Geschichte.
1 DAS GESCHICHTSDIDAKTISCHE DISKURSFELD NACH 1945 Auf dem Historikertag in Mannheim 1976 präsentierte Karl-Ernst Jeismann grundsätzliche Überlegungen zum „Geschichtsbewusstsein in der Gesellschaft“ und lieferte damit gleichsam die Gründungsurkunde der neuen Teildisziplin3, die sich dann, zumal nach der Integration der der Lehrerbildung dienenden Akademien bzw. Hochschulen, institutionell an den Universitäten, insbesondere den historischen Seminaren und Instituten etablieren konnte, mithin den Rock des Schulmeisters mit dem Talar des Professors vertauschte. Doch bildet dieser akademische Diskurs nur die universitäre Spitze der breiten gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit Fragen der öffentlichen Nutzung von Historie und des historischen Lernens in der Schule. Die hier verwendete Bezeichnung „Diskursfeld“ verdeutlicht, dass es sich um höchst disparate gesellschaftliche Verständigungsprozesse handelt, die oft institutionell verfestigt, aber mitunter nur lose miteinander verbunden, wenn nicht voneinander isoliert oder gar konfliktreich ineinander verwoben sind. Diese „Netzwerke und Organisationen“ reichen von der universitären Geschichtswissenschaft bis zur Tagespublizistik, von der Schulverwaltung bis zu Berufsverbänden, von der Bildungspolitik bis zu außerschulischen Bildungseinrichtungen. Aufschlussreich ist, dass die Bezeichnung Geschichtsdidaktik nach 1945 in diesem Zusammenhang nicht gebräuchlich war. Man sprach vielmehr von „Geschichtspädagogik“ oder „Didaktik“ bzw. „Methodik des Geschichtsunterrichts“.4 Daran wird zum einen erkennbar, dass sich die entsprechenden Diskussionen auf das historische Lernen in der Schule fokussierten und dass zum anderen entweder der erzieherische Auftrag mit Hilfe von Geschichte – Geschichtspädagogik! – erfüllt werden sollte oder die Erkenntnisse der Geschichtswissenschaft im Sinne einer Abbilddidaktik auf das Niveau der Schülerinnen und Schüler „herunter gebrochen“ 3
4
Die Beiträge sind dokumentiert in: Erich Kosthorst (Hg.), Geschichtswissenschaft. Didaktik – Forschung – Theorie, Göttingen 1977. Viele Überschneidungen gibt es dabei zur „Public History“; vgl. z. B. Frank Bösch (Hg.), Public History. Öffentliche Darstellungen des Nationalsozialismus jenseits der Geschichtswissenschaft, Frankfurt (M) u. a. 2009. Ulrich Mayer, Neubeginn oder Wiederanfang? Geschichtsdidaktik im Westen Deutschlands, in: Wolfgang Hasberg / Manfred Seidenfuß (Hgg.), Modernisierung im Umbruch. Geschichtsdidaktik und Geschichtsunterricht nach 1945, Berlin 2008, 99–113, hier 103f.
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werden sollten. Insofern ging es hier weniger um genuine wissenschaftliche Forschungsleistungen zum historischen Lernen als vielmehr um einen gesellschaftlichen Verständigungsprozess über – oder schärfer: um den geschichtspolitischen Kampf um den Einfluss auf den Geschichtsunterricht im Besonderen und die Deutungshoheit über die historische Tradition im Allgemeinen.5 Dieses Diskursfeld ist grundsätzlich so ausgedehnt und war in den ersten Jahren nach Kriegsende zudem so unübersichtlich, dass im Folgenden schlaglichtartig – gleichsam wie mit einem Spot – nur einige bedeutsame Regionen ausgeleuchtet werden können.6 Die damalige Diskussion reichte damals weit in die Öffentlichkeit hinein – so weit, wie lange Zeit danach nicht mehr. Dies spiegelt sich auch darin wider, dass die Diskutanten ihre Meinungen nicht nur in abgeschlossenen Zirkeln, wissenschaftlichen Tagungen oder ministeriellen Arbeitsgruppen austauschten, sondern in den in den Nachkriegsjahren ebenso vielfältigen wie kurzlebigen Zeitschriften.7 So beteiligten sich an dieser Diskussion gleichermaßen Wissenschaftler und Journalisten, Politiker und Lehrer. Allerdings war die deutsche Öffentlichkeit disparat; es gab verschiedene Teil-Öffentlichkeiten, die mitunter regional begrenzt waren, an Länder oder Zonengrenzen Halt machten und erst nach und nach bundesweit zusammenwuchsen, ohne – im Zeichen des grundgesetzlich garantierten Kulturföderalismus – ihre Eigenständigkeit zu verlieren, und sich schnell von der Entwicklung in der SBZ bzw. DDR abgrenzten. Mit dem Niedergang des Zeitschriftenmarktes Ende der 1940er Jahre verebbte und spezialisierte sich diese Diskussion und erreichte erst wieder in den Jahren 1959/60 eine breitere Öffentlichkeit.
5
6
7
Zum Begriff „Geschichtspolitik“: Edgar Wolfrum, Geschichtspolitik in der Bundesrepublik Deutschland. Der Weg zur bundesrepublikanischen Erinnerung 1948–1990, Darmstadt 1999, 25–32. An einschlägigen Arbeiten liegen insbesondere die Arbeiten von Ulrich Mayer vor: Ulrich Mayer, Der Neuaufbau des Geschichtsunterrichts in den Ländern der Bundesrepublik Deutschland (1945–1953), in: Paul Leidinger (Hg.), Geschichtsunterricht und Geschichtsdidaktik vom Kaiserreich bis zur Gegenwart. Festschrift des Verbandes der Geschichtslehrer Deutschlands zum 75jährigen Bestehen, Stuttgart 1988, 142–153; ders., Geschichtsdidaktik und Geschichtsunterricht in der Nachkriegszeit (1945–1953), in: Bergmann, Klaus / Schneider, Gerhard (Hgg.), Gesellschaft – Staat – Geschichte. Beiträge zu einer Geschichte der Geschichtsdidaktik und des Geschichtsunterrichts von 1500–1980, 349–380; ders., Neue Wege im Geschichtsunterricht? Studien zur Entwicklung der Geschichtsdidaktik und des Geschichtsunterrichts in den westlichen Besatzungszonen und in der Bundesrepublik Deutschland 1945–1953, Köln/Wien 1986. Eine aktuelle Zusammenschau unternimmt der verdienstvolle Sammelband Wolfgang Hasberg / Manfred Seidenfuß (Hgg.), Modernisierung im Umbruch. Geschichtsdidaktik und Geschichtsunterricht nach 1945, Berlin 2008. Vgl. Ingrid Laurien, Die Verarbeitung von Nationalsozialismus und Krieg in politisch-kulturellen Zeitschriften der Westzonen, in: GWU 39/1988, 220–237; dies., Politisch-kulturelle Zeitschriften den Westzonen 1945–1949. Ein Beitrag zur politischen Kultur der Nachkriegszeit, Frankfurt (M) u. a. 1991.
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2 DIE „DIDAKTISCHE“ SELBSTBESINNUNG DER HISTORIKER Am Anfang stand jedoch die „didaktische“ Selbstbesinnung der Historiker. Wie tief die Verunsicherung der professionellen Historiker reichte, zeigen eine Reihe von Schriften, die die Rolle der Geschichtswissenschaften grundsätzlich reflektierten und sich an eine breitere Öffentlichkeit wandten. So setzte sich Friedrich Meinecke, der Doyen der deutschen Geschichtswissenschaft, in der unmittelbaren Nachkriegszeit grundsätzlich mit der „deutschen Katastrophe“ auseinander, und Gerhard Ritter versuchte, „Geschichte als Bildungsmacht“ wieder zu etablieren. Noch in den 1950er Jahren befürchtete Hermann Heimpel eine „Kapitulation vor der Geschichte“ und Alfred Heuß gar deren „Verlust“.8 Daran zeigt sich, dass die Geschichtswissenschaftler in der damaligen Situation sich einerseits mit grundlegenden Fragen auseinanderzusetzen hatten, konnten sie angesichts der Verstrickung in den Nationalsozialismus ihr bisheriges Forschungsgeschäft mit den zugrunde liegenden historistischen Paradigmata nicht unreflektiert weiter betreiben. Andererseits sahen sie sich mit der Herausforderung konfrontiert, in und vor der Öffentlichkeit die Katastrophe des Nationalsozialismus historisch zu deuten und der Gesellschaft Orientierungshilfen anzubieten. Wenn es mit den Worten Johann Gustav Droysens bei der „didaktischen Darstellung“ darum geht, „das Erforschte in den Gedanken der großen geschichtlichen Kontinuität, nach seiner für die Gegenwart lehrhaften Bedeutung“ darzustellen,9 agierten die Historiker unmittelbar nach 1945 als Didaktiker und scheuten sich auch nicht zu Fragen des Geschichtsunterrichts Stellung zu nehmen. So legte Gerhard Ritter 1947 in der Zeitschrift „Die Sammlung“ unter dem Titel „Der neue Geschichtsunterricht“ einen „Entwurf von Richtlinien für die Neugestaltung der Geschichtsunterrichts an höheren Schulen“ vor, die er zusammen mit seinen Kollegen Clemens Bauer, Hans Herzfeld, Gerd Tellenbach, Joseph Vogt sowie dem Schulleiter Max Breithaupt erarbeitet hatte.10 Zwar wird zugestanden, dass „die neue Zeit eine gründliche Revision des in Deutschland herkömmlichen Geschichtsbildes erfordert“, jedoch gleichzeitig behauptet: „Der Geschichtsstoff als solcher ist zum größten Teil, jedenfalls für die antike und mittelalterliche Geschichte, festes Traditionsgut europäischer Bildung geworden.“11 Insofern knüpft
8
Vgl. Friedrich Meinecke, Die deutsche Katastrophe. Betrachtungen und Erinnerungen, Wiesbaden 1946; Gerhard Ritter, Geschichte als Bildungsmacht. Ein Beitrag zur historisch-politischen Neubesinnung, Stuttgart 21947; Alfred Heuß, Verlust der Geschichte, Göttingen 1959; Hermann Heimpel, Kapitulation vor der Geschichte? Gedanken zur Zeit, Göttingen 1956; grundlegende Darstellungen: Ernst Schulin, Traditionskritik und Rekonstruktionsversuch. Studien zur Entwicklung von Geschichtswissenschaft und historischen Denken, Göttingen 1979; Winfried Schulze, Deutsche Geschichtswissenschaft nach 1945, München 1989. 9 Johann Gustav Droysen, Grundriss der Historik, in: Wolfgang Hardtwig (Hg.), Über das Studium der Geschichte, München 1990, 83–117, hier 114. 10 Vgl. Gerhard Ritter, Der neue Geschichtsunterricht. Entwurf von Richtlinien für die Neugestaltung der Geschichtsunterrichts an höheren Schulen, in: Die Sammlung 2/1947, 442–462. 11 Ebd. 443.
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der Entwurf explizit an die „vor 1933 geltenden Traditionen“12 an und sieht im Folgenden einen zweimaligen chronologischen Durchgang durch die Geschichte von der Antike bis 1939 vor – mit einem abschließenden Ausblick in die Gegenwart.13 Die Leitlinien der Neu- oder besser: Re-Interpretation der deutschen Geschichte sind dabei die Entlarvung der ideologischen Umdeutungen des Nationalsozialismus, etwa im Hinblick auf den Rasse-Begriff, die Besinnung auf gemeineuropäische Traditionen des Abendlands, insbesondere im Mittelalter, das Bemühen um konfessionellen Ausgleich bei der Thematisierung von Reformation und katholischer Reform, der Verzicht auf eine ausufernde Darstellung der Kriegsgeschichte, eine Entzauberung Preußens, eine Distanzierung vom übersteigerten Nationalismus des 19. und 20. Jahrhunderts sowie eine Betonung der Herausbildung des modernen – zusehends demokratisch verfassten – Staates. Unter der Perspektive einer möglichen Neuausrichtung der Geschichtsdidaktik nach 1945 zeigt dieser Entwurf ein zwar von nationalistischen Übersteigerungen gereinigtes und auf das aufpolierte Erbe des europäischen Abendlandes fokussiertes Curriculum, das jedoch bewusst die Traditionen sowohl der deutschen Geschichtswissenschaft als auch der Schullehrpläne fortschreibt.
3 DISKUSSIONEN ÜBER EINEN „NEUEN“ GESCHICHTSUNTERRICHT An dieser Initiative namhafter Historiker wird erkennbar, dass es nach 1945 intensive Diskussionen über einen „neuen“ Geschichtsunterricht gab, der, wie sich eben zeigte, so neu auch nicht sein sollte. Allerdings wurden auch von genuin didaktischer Seite Fragen nach der Legitimation, den Zielen und Inhalten, weniger nach den Methoden und Medien des Geschichtsunterrichts gestellt. Dabei ist besonders aufschlussreich, dass sich insbesondere Pädagogen auf dem geschichtsdidaktischen Diskursfeld positionierten. Dies spiegelt sich in der intensiven und breiten Diskussion aller möglichen pädagogischer, schulischer und unterrichtlicher Fragen wider. Vor der empirischen Wende der 1960er Jahre bedeutete Pädagogik allerdings nicht Pädagogische Psychologie, sondern geisteswissenschaftliche Pädagogik, die sich im Anschluss an Diltheys Lebensphilosophie scharf von den Naturwissenschaften abgrenzte. Die Orientierung erfolgte demnach sowohl im Hinblick auf die Forschungsansätze als auch im Hinblick auf die Relevanz der Forschungsleistungen an der Lebenspraxis, die selbst als durchgängig historisch geprägt angesehen wurde.14
12 Ebd. 13 „Den Ausklang des Geschichtsunterrichts sollte ein Ausblick auf das neu zu schaffende Deutschland und das Wesen einer neu zu begründen Volksgemeinschaft, aber auch einer neu zu begründenden höheren Völkergemeinschaft und dauerhaft Friedensordnung bilden.“ (462). 14 Eva Matthes, Geisteswissenschaftliche Pädagogik. Ein Lehrbuch, München 2011, 33; hier auch der Verweis auf die Formulierungen von Wolfgang Klafki: „Ursprung aus dem Leben“, „Rückwirkung auf das Leben“, „Weltlichkeitsprinzip“ und „Geschichtlichkeit“.
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Der für das geschichtsdidaktische Diskursfeld bedeutsamste Vertreter dieser Forschungsrichtung war Erich Weniger,15 das zentrale Forum die Zeitschrift „Die Sammlung“. In seiner zuerst 1945 in eben diesem Organ publizierten und mehrfach wieder aufgelegten Schrift mit dem programmatischen Titel „Neue Wege im Geschichtsunterrichts“ knüpfte er an seine Habilitationsschrift „Die Grundlagen des Geschichtsunterrichts“ von 1926 an.16 Aus der Entwicklung der geschichtlichen Unterweisung hatte er gefolgert, dass diese immer nur für diejenigen sozialen Gruppen vorgesehen war, die Verantwortung im Staat übernehmen sollten: „Einen selbständigen Geschichtsunterricht gibt es erst mit der Entstehung des modernen Staates.“17 Im Zuge der Verbreitung der Demokratie seien aber alle Bürger aufgefordert, politische Fragen mit zu entscheiden, wozu sie durch den Geschichtsunterricht befähigt werden könnten. Deshalb erschien es Weniger nach 1945 umso nötiger, die politische Geschichte in der Schule zu unterrichten. Allerdings wandte er sich gegen eine Thematisierung der aktuellen Tagespolitik und wollte vielmehr grundlegende historische Entscheidungssituationen in den Mittelpunkt des Geschichtsunterrichts stellen, in denen die Schülerinnen und Schüler politisch-moralisch „probe-handeln“ könnten und an denen sie ihr staatsbürgerliches Bewusstsein entwickeln sollten. Daher forderte er: „Die Grundkategorie des Geschichtsunterrichts ist die Verantwortung des handelnden Menschen vor der Geschichte.“18 Damit löste er sich von den im Sinne Droysens didaktisch gewendeten Geschichtserzählungen der Historiker und unterlegte dem Geschichtsunterricht eine politisch-moralische Erziehungsaufgabe, die von der Eigenlogik des Faches abstrahierte. Gleichwohl griff er damit ein zentrales Anliegen der geisteswissenschaftlichen Pädagogen auf, nämlich das der politischen Bildung, mithin die von Heuss apostrophierte „Erziehung zur Demokratie“. Sie sollte nun im Medium des historischen Lernens erfolgen.
15 1894 geboren, studierte Weniger seit 1913 in Tübingen, stand der Jugendbewegung nahe und promovierte nach seinem Lehramtsexamen zum Thema „Rehberg und Stein“ bei Karl Brandi. Als Assistent bei Hermann Nohl habilitierte er sich 1926 über „Die Grundlagen des Geschichtsunterrichts“ und war seit 1929 Professor für Pädagogik und Philosophie in Kiel. Waren seine militärpädagogischen Schriften nicht frei von Anleihen bei der NS-Ideologie, wurde er 1946 zunächst Direktor der Pädagogischen Hochschule in Göttingen und folgte dann seinem Lehrer Nohl auf dem Lehrstuhl für Pädagogik in Göttingen nach. Bedeutsam ist seine Beteiligung an der Entwicklung des Konzepts der Inneren Führung und seine Tätigkeit im Deutschen Ausschuss für das Erziehungs- und Bildungswesen. Weniger starb 1961. 16 Erich Weniger, Grundlagen des Geschichtsunterricht, Leipzig 1926; ders., Neue Wege im Geschichtsunterricht, Frankfurt (M) 1949 [zuerst in: Die Sammlung 1/1945, 339–343, 404–411, 500–511]. Zu Weniger aus der reichhaltigen Literatur neuerdings: Horst Kuss, Neue Wege – alte Ziele? Geisteswissenschaftliche Didaktik auf dem Weg zu politischer Bildung, in: Wolfgang Hasberg / Manfred Seidenfuß (Hgg.), Modernisierung im Umbruch. Geschichtsdidaktik und Geschichtsunterricht nach 1945, Berlin 2008, 291–316. 17 Weniger, Wege, 27. 18 Ebd.
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Dies blieb jedoch nicht unwidersprochen. So gab es 1950 im ersten Jahrgang der GWU eine Debatte über Wenigers Position. Ernst Wilmanns, ein führender Vertreter des Geschichtslehrerverbands vor 1933 und nach 1945,19 distanzierte sich deutlich von seiner Argumentation. Er wandte ein: „Das Gewicht des politischen Erlebens unserer Gegenwartsgeschichte überwiegt die kritisch-wissenschaftliche Wahrheitssuche.“20 Diese sei für das Unterrichtsfach entscheidend, da sie, so Willmanns, „objektive und zeitlos gültige Sätze“ anstrebe.21 Er sprach sich allerdings nicht gegen eine Thematisierung politischer Geschichte aus, sondern strebte vielmehr eine ethisch-religiöse Durchdringung an: Daher kam es ihm darauf an, dass der Geschichtslehrer „hinter den äußeren Ereignissen, den vordergründigen Zusammenhängen im Ethischen, im Religiösen den innersten Kern auch des politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lebens erkennt, dass er seine politische Verantwortung vor Staat, Volk und Völkergemeinschaft gerade darin sucht, den Schüler vor die geistigen Aufgaben der Zukunft zu stellen, indem er ihn in die geistige Wirklichkeitszusammenhänge hineinbildet, und dass er zu dem Zweck alles daran setzt, durch sein wissenschaftliche Arbeit ihn zur wahrhaften Anschauung dieser Wirklichkeit in ihrer historischen Existenzform zu führen.“22
Die Forschung ist dabei das Werkzeug um einen vorgegebenen überzeitlichen Sinn der Geschichte zu erschließen, der im schulischen Unterricht als lebenspraktisch wirksame Orientierung dienen kann. Eine vermittelnde Position in diesem Disput nahm Felix Messerschmid ein, der auf dem geschichtsdidaktischen Diskursfeld der 1950er und 1960er Jahre in verschiedenen Positionen eine führende Rolle spielte, etwa als Direktor der neu gegründeten Akademie für politische Bildung in Tutzing, als Mitglied im Deutschen Ausschuss für das Erziehungs- und Unterrichtswesen oder als langjähriger Vorsitzender des Geschichtslehrerverbandes (1955–1967).23 In Auseinandersetzung mit
19 1882 geboren, studierte Wilmanns nach der Jahrhundertwende in Freiburg und promovierte 1904 über den Lübecker Frieden von 1629. In der Weimarer Zeit und während des Nationalsozialismus als Schuldirektor tätig, wurde er 1944 pensioniert. Bereits in den 1920er Jahren als Schulbuchautor hervorgetreten, veröffentliche er 1949 sein Werk „Geschichtsunterricht. Grundlegung seiner Methodik“. Wilmanns starb 1960. 20 Vgl. Ernst Wilmanns, Politische Entscheidung und Geschichtsunterricht, in: GWU 1/1950, 489; ähnlich auf 186: „Möglich, weil sittlich gerechtfertigt, ist er [der Geschichtsunterricht] nur dann, wenn er der Wahrheit dient.“ 21 Ebd., 494. 22 Ebd. 23 Vgl. Karin Herbst, Didaktik des Geschichtsunterrichts zwischen Traditionalismus und Reformismus (1946–1970), Diss. Göttingen 1975, 179–204; Doris Knab, Felix Messerschmid – Verbandsvorsitzender 1955–1967. Historisch-politische Bildung als Aufgabe und Beruf, in: Paul Leidinger (Hg.), Geschichtsunterricht und Geschichtsdidaktik vom Kaiserreich bis zur Gegenwart. Festschrift des Verbandes der Geschichtslehrer Deutschlands zum 75jährigen Bestehen, Stuttgart 1988, 304–311; Charlotte Bühl-Gramer, Felix F. Messerschmid – Politische und historische Bildung: Neuanfang durch Kooperation?, in: Wolfgang Hasberg / Manfred Seidenfuß (Hgg.), Modernisierung im Umbruch. Geschichtsdidaktik und Geschichtsunterricht nach 1945, Berlin 2008, 245–260.
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den Ansätzen von Weniger und Wilmanns entwickelte er einen eigenen geschichtsdidaktischen Ansatz. Gegenüber Weniger, dem er in vielen Fragen zustimmte, betonte er die Aufgabe der Traditionswahrung: Der Geschichtsunterrichts habe – so wörtlich – „für unsere gedächtnislose, an die bloße Gegenwart sich verlierende ‚feuilletonistische’ Epoche (...) auch das Unzeitgemäße“ zu bewahren, „und sei es nur, damit es überwintern könne, bis seine Zeit da ist“. Und weiter: „Gebildet ist ein Mensch in dem Maße, wie er einen zeitüberlegenen Standort zu beziehen weiß; der zeitverfallene Mensch ist der eigentlich Ungebildete.“24 Gegenüber Wilmanns wies er aber gleichzeitig auf die Notwendigkeit hin, sich den Gegenwartsfragen zu stellen, da diese Ergebnis der geschichtlichen Entwicklung selbst seien, und warnte vor dem, so wörtlich, „Versuch der Flucht in eine vorgestellte, angeblich gesicherte Außergeschichtlichkeit“.25 Dass Messerschmid die Struktur des Faches besonders ernst nahm, ist auch daran erkennbar, dass er eine eigene Fachdidaktik forderte. Eine bloße Übertragung der wissenschaftlichen Ergebnisse im Sinne einer Abbilddidaktik war ebenso wenig in seinem Sinn wie eine pädagogisch-didaktische Profilierung des historischen Lernens, da so den Facherfordernissen nicht Rechnung getragen werden könne.26 Im Spannungsfeld von historischem Lernen und politischer Bildung versuchte Messerschmid die jeweiligen Aufgaben zu bestimmen und plädierte für die Trennung beider Fächer. Das Unterrichtsfach Geschichte sollte demnach vergangenheitsbezogen die Tradition wahren und weitergeben, die Vorgeschichte der Gegenwart erschließen, dabei die politische Geschichte behandeln und sich insbesondere der Zeitgeschichte widmen; ein eigenes Unterrichtsfach Politische Bildung hatte in Messerschmids Augen zukunftsbezogen die aktuellen Erfordernisse der staatsbürgerlichen Bildung zu erfüllen.27 Diese Debatte des Jahres 1950 bündelt wie in einem Brennglas die Diskussionen über einen „neuen“ Geschichtsunterricht und ermöglicht es die nach 1945 virulenten Konzepte historischen Lernens noch einmal zusammenfassend zu charakterisieren.28 Dabei nahm diese Diskussion immer wieder auf einige Fragen Bezug, die sich, ohne sie im Einzelnen vertiefen zu können, antithetisch zuspitzen lassen: – Sollen im Geschichtsunterricht die traditionellen Inhalte, also die vornehmlich politischen Entwicklungen in der deutsche Geschichte dominieren oder neue Inhalte wie die europäische oder gar die Weltgeschichte hinzukommen? 24 Felix Messerschmid, Neue Wege im Geschichtsunterricht, in: GWU 1/1950, 36–46, hier 45. 25 Ernst Bayer / Felix Messerschmid, Zur Problematik des Geschichtsunterrichts. Erwägungen zu Ernst Wilmanns: Geschichtsunterricht, in: GWU 2/1951, 547–561, hier 558. 26 Vgl. Karin Herbst, Didaktik des Geschichtsunterrichts zwischen Traditionalismus und Reformismus (1946–1970), Diss. Göttingen 1975, 182–185. 27 Programmatisch: Felix Messerschmid, Die Aufgabe der politischen Bildungsarbeit der Schule und der Geschichtsunterricht, in: GWU 6/1955, 463–476. 28 Wichtige Hinweise finden sich bei Ulrich Mayer, Neue Wege im Geschichtsunterricht? Studien zur Entwicklung der Geschichtsdidaktik und des Geschichtsunterrichts in den westlichen Besatzungszonen und in der Bundesrepublik Deutschland 1945–1953, Köln/Wien 1986, der auf S. 12ff. die zwei Strömungen „Kultur- und Menschenkunde“ sowie „Politischer Geschichtsunterricht“ unterscheidet. Auch wenn diese Inhaltsfrage durchaus intensiv diskutiert wurde, war sie normativ nicht entscheidend. Ich greife manche seiner Unterscheidungen auf, gruppiere sie aber neu.
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Soll die politische Ereignisgeschichte im Mittelpunkt stehen oder kulturgeschichtlich und anthropologisch profilierte Themen? – Ist Wissensvermittlung bzw. Wissenschaftsorientierung bis hin zu einer bloßen Abbilddidaktik maßgeblich für das Unterrichtfach oder eine dezidiert pädagogische Profilierung? – Soll Geschichtsunterricht vornehmlich historisches Lernen sein oder der politischen Bildung dienen, also Wissensvermittlung sein oder Erziehung zur Demokratie? – Und: Wie soll man es mit der quellenmäßig schwer erschließbaren und vom Dampf der geschichtspolitischen Auseinandersetzungen vernebelten Zeitgeschichte halten? Wichtig ist festzuhalten, dass dabei Fragen der normativen Ausrichtung, dann Fragen der Lerninhalte im Mittelpunkt standen. Heute oft dominierende und mit dem Schlagwort „Kompetenzen“ versehene Überlegungen zur Medieneinsatz und zur Methodik, traten damals in den Hintergrund.29 – Das Konzept einer christlichen Besinnung, in der Geschichte als Spiegel der Heilsgeschichte erscheint und zur religiösen Einkehr mahnt, das unmittelbar nach 1945 wiederholt begegnet, verliert schnell an Bedeutung, ohne den durchaus vorhandenen Einfluss unterschätzen zu wollen.30 – Großen Zuspruch findet in verschiedenen Varianten das Konzept einer ethischphilosophischen Selbstvergewisserung qua Historie, wie sie etwa bei Wilmanns begegnet. – Ungebrochen, aber eher untergründig wirksam ist, ohne dass es zunächst zu einer intensiven Diskussion käme, das Konzept einer volkstümlichen Bildung, das ohne großen theoretischen Anspruch die Ziele und Inhalte des in der Volksschule Gelehrten zusammenfasst und dabei entsprechende Bildungsbedürfnisse und intellektuelle Begabungen des als „einfach“ titulierten Volkes unterstellt.31 – Fortgeschrieben wird das Konzept eines i. w. S. wissenschaftsorientierten historischen Lernens, das sich mehr an den Ergebnissen, weniger an den Methoden der Forschung orientiert und eine moderate Revision des so vermittelten Geschichtsbilds anmahnt, wie sich insbesondere am Lehrplanentwurf Ritters, aber auch bei Messerschmid zeigt. –
29 Auf dieses Defizit wies damals schon hin: Renate Riemeck, Zum Problem der Methode im Geschichtsunterricht, in: Die pädagogische Provinz 6/1952, 561–567. 30 Vgl. z. B. Hans Keitz, Der neue Geist im Geschichtsunterricht. Vorträge aus der Arbeit der Katholischen Aktion, Würzburg 1949; zusammenfassend Ulrich Mayer, Neue Wege, 36–40, der die Kennzeichnung „Der christlich-normative Ansatz“ verwendet. 31 Herbert Freudenthal, Volkstümliche Bildung. Begriff und Gestalt, München 1957; Hans Glöckel, Volkstümliche Bildung? Versuch einer Klärung. Ein Beitrag zum Selbstverständnis der Volksschule, Weinheim 1964; Sabine Engelhardt, Von der Volkstümlichen Bildung zum Wissenschaftsorientierten Lernen. Untersuchungen zum Wandle des Bildungsbegriffs, Diss. phil. Göttingen 1988; Bettina Alavi, Geschichte „light“ in der Volksschule? Volkstümliche Bildung in der Nachkriegszeit, in: Wolfgang Hasberg / Manfred Seidenfuß (Hgg.), Modernisierung im Umbruch. Geschichtsdidaktik und Geschichtsunterricht nach 1945, Berlin 2008, 317–332.
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Eng verknüpft ist dies damit oft ein Konzept, das auf Traditionswahrung und Traditionsvermittlung und auf diese Weise zur Identitätsbildung der Kinder und Jugendlichen beitragen will. Dies ist bei Messerschmid deutlich erkennbar und scheint auch bei Ritter durch. Schließlich gewinnen Konzepte eines politisch bildenden Geschichtsunterrichts nach 1945 an Bedeutung, die das historische Lernen in den Dienst der politischen Bildung stellen. Weniger ist dafür ein Beispiel; Georg Eckert ein anderes. Der Gründer des später nach ihm benannten Schulbuchinstituts war maßgeblich an einer Arbeitsgruppe beteiligt, die der neu gegründeten GEW nahe stand, dezidiert einen friedenspädagogisch und demokratisch ausgerichteten Geschichtsunterricht forderte und versuchte, die Lehrplanentwicklung in den Ländern und in der entstehenden Bundesrepublik zu beeinflussen.32
4 DIE REORGANISATION DES UNTERRICHTSFACHES GESCHICHTE Der letzte Aspekt betrifft die Reorganisation des Unterrichtsfaches Geschichte. Dieses wurde nach 1945 zunächst nicht mehr unterrichtet, da es die Nationalsozialisten als Leitfach ebenso privilegiert wie missbraucht hatten. Angesichts dieser Hypothek war der vorläufige Verzicht durchaus verständlich, löste jedoch nicht das grundsätzliche Problem, das Profil des Faches bei der Wiedereinführung neu zu bestimmen, zumal im Zeichen einer „Erziehung zur Demokratie“ die politische Bildung als Ergänzung, wenn nicht sogar als Ersatz nachdrücklich gefordert wurde. Diese Fragen waren jedoch nur Teil einer umfassenden Auseinandersetzung über eine grundlegende Schulreform, die vor allem von den Besatzungsmächten nachdrücklich gefordert und der die deutschen Stellen mit Aufgeschlossenheit, mit Vorbehalten, ja auch mit Widerstand begegneten. In Bayern, um dieses Beispiel kurz zu erwähnen, etwa konzentrierte sich der Konflikt darauf, ob das gegliederte Schulwesen und das humanistische Gymnasium weiter bestehen oder einer differenzierten Einheitsschule Platz machen sollten. Das Unterrichtsfach Geschichte durch die von der amerikanischen Besatzungsmacht wiederholt angemahnte Einführung von social studies unter Druck gesetzt. Umgekehrt entstand unter dem Dach der 1948 gegründeten und 1953 aufgelösten Wallenburg-Stiftung ein staatlich initiierter und moderierter Diskussionsprozess über Fragen der Schulreform im Allgemeinen und zur Ausrichtung der künftigen historisch-politischen Bildung im Besonderen.33 Ohne diesen komplexen Prozess hier detailliert nachzeichnen zu können, ist festzuhalten, dass es in den einzelnen Ländern nach und nach zur Wiedereinführung des Geschichtsunterrichts – und zwar in Anknüpfung an die Regelungen aus der
32 Vgl. Arbeitsgemeinschaft Deutscher Lehrerverbände (ADL) (Hg.), Geschichtsunterricht in unserer Zeit. Grundfragen und Methoden, Braunschweig 1951. 33 Vgl. dazu Winfried Müller, Schulpolitik in Bayern im Spannungsfeld von Kultusbürokratie und Besatzungsmacht 1945–1949, München 1995.
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Zeit vor 1933.34 Aus pragmatischen Gründen lag es für die Schulverwaltungen in der Notsituation nach 1945 nahe, auf Bestehendes und Erprobtes zurückzugreifen. Eine Untersuchung der Nachkriegslehrpläne zeigt, dass z. B. in Bayern in den Volksschulen die Lehrordnung von 1926 zunächst wieder in Kraft gesetzt und dann 1950 bzw. 1955 moderat fortgeschrieben wurde. Für die höheren Schulen wurde nach längeren, durchaus ins Grundsätzliche gehenden Beratungen 1952 letztlich ein torsoartiger Übergangslehrplan erlassen, der bis 1959 in Kraft blieb. Er listete lediglich den zu behandelnden Stoff auf und sah ganz traditionell einen doppelten nationalgeschichtlich ausgerichteten und auf politische Ereignisgeschichte konzentrierten Durchgang von der Antike bis zur neuesten Zeit vor.35 Ohne auf die spezifischen Unterschiede zwischen den einzelnen Schularten eingehen zu können, spiegelt sich hier wider, dass die institutionelle und inhaltliche Regeneration der universitären Geschichtswissenschaft, die bürokratische Logik der kontinuierlichen Fortschreibung bestehender Regelungen sowie die Fortwirkung traditioneller geschichtsdidaktischer Konzepte es ermöglichten, dass die normativen Vorgaben für das wieder eingeführte Unterrichtsfach sich an der Zeit vor 1933 orientierten. Verstärkt wurde diese Tendenz durch den Mangel an neuen Schulbüchern, was – trotz verschiedener Initiativen – einen Rückgriff auf Lehrwerke aus der Weimarer Zeit erforderlich machte. Diese fungierten in den Zeiten fehlender bzw. provisorischer staatlicher Regelungen gewissermaßen als Lehrplanersatz. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass nicht nur auf Länderebene in den Schulverwaltungen über den Geschichtsunterricht diskutiert wurde, sondern auch auf Bundesebene in der seit 1948 bestehenden Ständigen Konferenz der Kultusminister (KMK). Diese sah sich nach einer Kritik des Hohen Kommissars McCloy am Geschichtsunterricht in deutschen Schulen veranlasst initiativ zu werden und richtete einen Ausschuss ein, der „Grundsätze zum Geschichtsunterricht“ erarbeitete, die 1953 verabschiedet wurden. Sie sahen ein eher traditionell ausgerichtete Curriculum vor und blieben im Hinblick auf die Zielbestimmungen sehr allgemein. Insofern sanktionierten sie eher die zwischenzeitlich in den Ländern erlassenen Regelungen.36 Jedoch kann von einer schlichten Restauration keine Rede sein. In den Lehrplänen finden sich neue Elemente wie die Einbeziehung der Zeitgeschichte und die wohl bedeutsamste Neuerung war die Etablierung des sozialkundlichen Prinzips, das die Einführung eines eigenen Faches Sozialkunde entbehrlich machte bzw. auf wenige Jahrgangsstufen beschränkte. So hielten die im Jahr 1950 von der KMK verabschiedeten Grundsätze zur politischen Bildung fest: 34 Eine zeitgenössische Übersicht bietet Karl Krüger, Die Lehrpläne für den Geschichtsunterricht an den Höheren Schulen der westdeutschen Länder, in: GWU 2/1951, 745–750, bes. 748f. 35 Vgl. hierzu im Einzelnen Ulrich Baumgärtner, Transformationen des Unterrichtsfaches Geschichte. Staatliche Geschichtspolitik und Geschichtsunterricht in Bayern im 20. Jahrhundert, Idstein 2007, 321–435. 36 Vgl. Hans-Jochen Markmann (Hg.), Beschlüsse, Erklärungen, Empfehlungen der Kultusministerkonferenz, Berlin 1982, 5–21. Zuvor, im Jahr 1950, hatte sich die KMK bereits auf „Grundsätze zur politischen Bildung“ geeinigt. Danach, 1956, folgten noch „Empfehlungen zur Ostkunde“.
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Ulrich Baumgärtner „In diesem Sinn ist politische Bildung ein Unterrichtsprinzip für alle Fächer und für alle Schularten. Jedes Fach und jede Schulart haben darum nach ihrer Eigenart und Möglichkeit zur politischen Bildung beizutragen. Eine besondere Verantwortung trägt der Geschichtsunterricht, der geschichtliches Denken und Werten mit Verständnis für die Gegenwart verbinden muss.“37
Auf diese Weise gewann das Unterrichtsfach Geschichte das Profil historisch-politischer Bildung. Hier fanden die intensiv diskutierten geschichtsdidaktischen Konzepte eines politisch bildenden historischen Lernens Eingang in die offiziellen Vorgaben. Bei der Betrachtung des Entstehungsprozesses der „Grundsätze zum Geschichtsunterricht“ wird allerdings deutlich, dass sich das Entscheidungsgefüge mit der Gründung der Bundesrepublik deutlich verändert hatte. Flossen zunächst Vorschläge von ganz verschiedenen Seiten ein, etwa die Vorstellungen einer ministeriellen Arbeitsgruppe in Bremen, die Ergebnisse von Geschichtslehrertagungen in Calw oder die im Umkreis der neu gegründeten Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft angesiedelten Initiativen, konnte sich in den Beratungen letztlich der Geschichtslehrerverband weitgehend durchsetzen. Die auf dem Historikertag 1949 in München wieder gegründete Vereinigung organisierte vornehmlich die Lehrerschaft der höheren Schulen und orientierte sich an der inzwischen re-etablierten Geschichtswissenschaft. Die seit 1950 herausgegebene eigene Zeitschrift, GWU, signalisiert dies in ihrem bis heute erkennbaren Doppelcharakter als wissenschaftliches Publikationsforum und didaktisch-methodisches Diskussionsplattform.38 Dies zeigt exemplarisch, dass das nach 1945 zunächst unübersichtliche geschichtsdidaktische Diskursfeld sich nun neu modelliert. Nach dem Wegfall der unmittelbaren Besatzungsherrschaft gewinnen im Zeichen des grundgesetzlich garantierten Kulturföderalismus die Schulverwaltungen der Länder an Gestaltungsfreiraum. Damit orientiert sich die auf den Geschichtsunterricht bezogene Diskussion zusehends an den staatlichen Vorgaben und organisiert sich – zumal nach dem Wegfall des bunten Zeitschriftenmarktes der unmittelbaren Nachkriegszeit – in geeigneten Interessenverbänden wie dem Geschichtslehrerverband. Gleichwohl bleibt es komplex genug, da eine Vielzahl von Akteuren an der öffentlichen Diskussion sowie an der politischen Entscheidungsfindung sowie an der bürokratischen Umsetzung beteiligt sind. Angesichts der Komplexität des geschichtsdidaktischen Diskursfeldes fällt die Beantwortung der Frage nach einer Neuausrichtung der Geschichtsdidaktik zwiespältig aus. Einerseits wird nach 1945 breit, intensiv und kontrovers über eine Revision des Geschichtsbilds bzw. über neue Wege im Geschichtsunterricht diskutiert, ohne dass es zu einem Konsens käme. Dabei sind zum einen die Entwicklungen in 37 Vgl. Hans-Jochen Markmann (Hg.), Beschlüsse, Erklärungen, Empfehlungen der Kultusministerkonferenz, Berlin 1982, 31f., hier 31. 38 Vgl. Paul Leidinger (Hg.), Geschichtsunterricht und Geschichtsdidaktik vom Kaiserreich bis zur Gegenwart. Festschrift des Verbandes der Geschichtslehrer Deutschlands zum 75jähri-gen Bestehen, Stuttgart 1988; Tobias Arand, „Nach wie vor steht die deutsche Geschichte im Mittelpunkt“ – Die inhaltliche und organisatorische Neuorientierung des Geschichtslehrerverbands ab 1949, in: Wolfgang Hasberg / Manfred Seidenfuß (Hgg.), Modernisierung im Umbruch. Geschichtsdidaktik und Geschichtsunterricht nach 1945, Berlin 2008, 217–241.
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der Geschichtswissenschaft von Bedeutung, die zumal im höheren Schulwesen über die Lehrerbildung prägende Auswirkungen hat und die nach 1945 für didaktische Fragen empfänglich war, zum anderen pädagogische Überlegungen, die insbesondere die Notwendigkeit politischer Bildung betonen. Schließlich spielen im Hintergrund Fragen einer grundsätzlichen Schulreform eine nicht zu unterschätzende Rolle. Andererseits wahren trotz nachhaltiger Interventionen der Besatzungsmächte bürokratische Beharrungskräfte in den Schulverwaltungen, die durch die Notsituation nach 1945 indizierten Rückgriffe auf Regelungen vor 1933, Zäsuren überdauernde Routinebildungen in der Geschichtslehrerschaft sowie die nachlassende Revisionsbereitschaft in den Geschichtswissenschaften die Kontinuität. Die Reorganisation des Unterrichtsfaches Geschichte knüpft letztlich an die Verhältnisse aus der Zeit vor 1933 an, ohne diese allerdings zu restaurieren. Der Schwerpunkt der Regelungen liegt dabei auf der Festlegung der Inhalte, die einem traditionellen chronologischen Durchgang folgen, der nun bis an die Gegenwart herangeführt und durch das sozialkundlichen Prinzip grundiert wird. Allerdings entfaltet insbesondere die Diskussion über die Notwendigkeit politischer Bildung in den 1950er Jahren eine Eigendynamik. Diese wird befördert durch staatliche Beratungsorgane wie z. B. den prominent besetzten Deutschen Ausschuss für Erziehungs- und Bildungswesen, der von 1953 bis 1965 existierte und eine nicht zu unterschätzende Rolle bei den einsetzenden Bemühungen um eine Bildungs- und Schulreform spielte. Auch sind hier Institutionen wie die Bundeszentrale für Heimatdienst – heute für politische Bildung – entsprechende Einrichtungen in den Ländern sowie die Akademien für politische Bildung, wie etwa die 1957 in Bayern gegründete, zu nennen. Nach der Synagogenschändung an Weihnachten 1959 kommt es dann zu einer zu einer heftigen öffentlichen Diskussion über den Geschichtsunterricht, die das geschichtsdidaktische Diskursfeld wiederum neu modelliert und das historische Lernen zusehends auf die Zeitgeschichte sowie auf die politische Bildung ausrichtet, mithin auf Erziehung zur Demokratie. Die eingangs zitierte Frage von Theodor Heuss wurde dann so beantwortet: Der Geschichtsunterricht muss das Volk zu einer bestimmten Staatsauffassung erziehen.
DIE INSTITUTIONALISIERUNG DER INTERNATIONALEN SCHULBUCHARBEIT AUF DEM GEBIET DER GESCHICHTE Das Internationale Schulbuchinstitut in Braunschweig (1951–1965) Steffen Sammler
1. EINLEITUNG Die historische Forschung hat seit den 1980er Jahren ein verstärktes Interesse an den Folgen gesellschaftlicher Umbruchsituationen für die Geschichtswissenschaft gezeigt und sich intensiv mit der Zäsur von 1945 beschäftigt.1 Dabei standen die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und die Debatten, die um die Interpretationen und das Verhältnis von nationaler und/oder europäischer Geschichte oder die Zeitgeschichte geführt wurden, im Mittelpunkt des Interesses. In den letzten Jahren sind dann Fragen der Institutionalisierung der geschichtswissenschaftlichen Forschung stärker in den Blickpunkt des Interesses geraten. Sie haben in den professionellen und gesellschaftlichen Netzwerken und den Formen der Institutionalisierung Erklärungen für die fachlichen und interpretatorischen Schwerpunktsetzungen gesucht, die die Entwicklung der Geschichtswissenschaft nach 1945 bestimmt haben und in diesem Zusammenhang den Blick für den Wettbewerb zwischen universitären und außeruniversitären Forschungsinstituten und Arbeitskreisen geschärft.2 Letztere haben, etwa in Gestalt des Max-PlanckInstituts für Geschichte, des Instituts für Zeitgeschichte in München, des Instituts für europäische Geschichte in Mainz oder der deutschen Historischen Institute Aufmerksamkeit gefunden.3 Die Anregungen von Winfried Schulze, die “Grün-
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Vgl. Dieter Hein, Geschichtswissenschaft in den Westzonen und der Bundesrepublik 1945– 1950, in: Christoph Cobet (Hg.), Handbuch der Geistesgeschichte in Deutschland nach Hitler 1945–1950, Frankfurt a. M. 1986, 30–40; Ernst Schulin (Hg.), Deutsche Geschichtswissenschaft nach dem Zweiten Weltkrieg (1945–1965), München 1989; Eckert, Rainer, Krise – Umbruch – Neubeginn: eine kritische und selbstkritische Dokumentation der DDR-Geschichtswissenschaft 1989/90, Stuttgart 1992; Winfried Schulze, Deutsche Geschichtswissenschaft nach 1945, München 1989. Vgl. Winfried Schulze, Deutsche Geschichtswissenschaft nach 1945; Matthias Middell / Gabriele Lingelbach / Frank Hadler, (Hgg.), Historische Institute im internationalen Vergleich, Leipzig 2001. Vgl. Winfried Schulze, Deutsche Geschichtswissenschaft; Ulrich Pfeil (Hg.), Vorgeschichte und Gründung des Deutschen Historischen Instituts Paris. Darstellung und Dokumentation, Ostfildern 2007; ders. (Hg.), Das Deutsche Historische Institut Paris und seine Gründungsvä-
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derzeit“ der außeruniversitären Forschungsinstitute und Arbeitskreise in den 1950er und 1960er Jahren intensiver in den Blick zu nehmen4, sind inzwischen von Horst Möller, Udo Wengst, Corine Defrance und ihm selbst aufgegriffen und in Darstellungen zur Geschichte des Instituts für Zeitgeschichte in München und des Instituts für europäische Geschichte in Mainz umgesetzt worden.5 Im Unterschied zu außeruniversitären Forschungseinrichtungen wie dem IEG, die für die Überlegungen der Alliierten zur Überwindung der nationalistischen Geschichtsschreibung und die Entwicklung einer europäischen Perspektive, eine zentrale Rolle gespielt haben6, haben die Initiativen, die zur Institutionalisierung der internationalen Schulbucharbeit in Braunschweig geführt haben, bisher vergleichsweise geringe Beachtung gefunden. Sie verdienen jedoch gerade im Kontext der Frage nach der Bedeutung internationaler Netzwerke für die Neukonstituierung der Geschichtswissenschaft und die Neugestaltung des Geschichtsunterrichts in den westlichen Besatzungszonen und der Bundesrepublik Deutschland besondere Beachtung. Die Schulbucharbeit entwickelte sich von Beginn an in einem internationalen Kontext, in dem maßgeblich gefördert von den Bildungsabteilungen der alliierten Militärbehörden, bereits vor der Gründung der Bundesrepublik Deutschland Historiker und Geschichtslehrer aus Deutschland, Frankreich und Großbritannien zusammentrafen, die sich für eine Neuorientierung der historischen Forschung und eine inhaltliche und konzeptionelle Neugestaltung des Geschichtsunterrichts einsetzten. Die Schulbucharbeit führte Fachwissenschaftler und Geschichtslehrer aus Europa und den USA in bi- und multilateralen Konferenzen zusammen und leistete damit, wie Rainer Riemenschneider zu Recht hervorgehoben hat, auch einen wichtigen Beitrag zur Rückkehr deutscher Geschichtswissenschaftler in die „Ökumene der Historiker“.7 Sie führte schließlich durch das Wechselverhältnis von fachhistorischer und Schulbuchanalyse in der Praxis der Schulbucharbeit im internationalen Vergleich zu einer gegenseitigen Befruchtung, da von der Schulbuchrevision wichtige Anregungen für die fachhistorische Forschung ausgingen. Die Forschungen zur Geschichte der internationalen Schulbucharbeit in Braunschweig haben sich bisher vor allem auf die Persönlichkeit Georg Eckerts
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ter. Ein personengeschichtlicher Ansatz, München 2007; ders., (Hg.), Die Rückkehr der deutschen Geschichtswissenschaft in die „Ökumene der Historiker“. Ein wissenschaftsgeschichtlicher Ansatz, München 2008. Vgl. Winfried Schulze, Deutsche Geschichtswissenschaft, 228–265. Vgl. Horst Möller, Udo Wengst, 60 Jahre Institut für Zeitgeschichte München – Berlin. Geschichte – Veröffentlichungen – Personalien, München 2009; Winfried Schulze / Corine Defrance, Die Gründung des Instituts für europäische Geschichte Mainz, Mainz 1992. Vgl. ebd. Vgl. Rainer Riemenschneider, Georg Eckert und das Internationale Schulbuchinstitut in Braunschweig, in: Ulrich Pfeil (Hg.), Rückkehr, 115–131.
Die Institutionalisierung der internationalen Schulbucharbeit
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konzentriert8 und sein Wirken als Reformer auf dem Gebiet des Geschichtsunterrichts in das Zentrum ihrer Untersuchungen gestellt.9 Eine Ausnahme bildet die Skizze seiner langjährigen wissenschaftlichen Weggefährtin Rosemarie Rümenapf-Sievers.10 Helmut Hirsch hat vor allem das Engagement der Arbeitsgemeinschaft deutscher Lehrerverbände (GEW und Bayerischer Lehrerinnen- und Lehrerverband) in der internationalen Schulbucharbeit gewürdigt, und Ernst Hinrichs, Falk Pingel und Rainer Riemenschneider11, haben versucht, den Zugang über die Biografie von Georg Eckert mit der Geschichte der Schulbucharbeit auf der regionalen, nationalen und europäischen Ebene zu verknüpfen. Vor allem aber hat Roman Faure in seinem Forschungsvorhaben zur Geschichte der internationalen Schulbuchrevision in Europa im 20. Jahrhundert die Verflechtungen der unterschiedlichen staatlichen und nichtstaatlichen Netzwerke von Akteuren der internationalen Schulbuchrevision untersucht und das Internationale Schulbuchinstitut in diesen Netzwerken verortet.12 Diese Perspektive soll in der folgenden Darstellung der Institutionalisierung der internationalen Schulbucharbeit in Braunschweig zwischen 1946 und 1965 aufgegriffen werden. Sie gestattet es, die Beziehungen der Akteure der Schulbucharbeit auf der wissenschaftspolitischen, fachwissenschaftlichen und pädagogischen Ebene zu rekonstruieren und die Verflechtungen dieser Netzwerke der
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Vgl. Heike Mätzing, Wissenschaftler und Botschafter der Völkerverständigung. Georg Eckert (1912–1974) zum 100. Geburtstag, Bonn 2013. 9 Vgl. Hans-Peter Harstick, Geschichte und ihre Didaktik, in: Gerhard Himmelmann (Hg.), Fünfzig Jahre wissenschaftliche Lehrerbildung in Braunschweig, Braunschweig 1995, 273– 291; ders., Georg Eckert (1912–1974). Wegbereiter einer neuen Konzeption von Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, in: Ursula A. Becher / Rainer Riemenschneider (Hgg.), Internationale Verständigung. 25 Jahre Georg-Eckert-Institut für internationale Schulbuchforschung in Braunschweig, Hannover 2000, 105–116; Horst Gies, Neuanfang und Kontinuitäten. Geschichtsdidaktik und Geschichtsunterricht in Niedersachsen nach 1945, in: Horst Kuss / Bernd Mütter (Hgg.), Geschichte Niedersachsens neu entdeckt, Braunschweig 1996, 98–111; Michele Barricelli, Didaktische Räusche und die Verständigung der Einzelwesen. Georg Eckerts Beitrag zur Erneuerung des Geschichtsunterrichts nach 1945, in: Wolfgang Hasberg / Manfred Seidenfuß (Hgg.), Modernisierung im Umbruch. Geschichtsdidaktik und Geschichtsunterricht nach 1945, Berlin u. a. 2008, 261–290. 10 Rosemarie Rümenapf-Sievers, Georg Eckert und die Anfänge des Internationalen Schulbuchinstituts, in: Ursula A. Becher / Rainer Riemenschneider (Hgg.), Internationale Verständigung, 116–122. 11 Vgl. Helmut Hirsch, Lehrer machen Geschichte. Das Institut für Erziehungswissenschaften und das Internationale Schulbuchinstitut, Ratingen, Wuppertal, Kastellaun 1971; Rainer Riemenschneider, Georg Eckert, 115–131; Ernst Hinrichs, Falk Pingel, Georg Eckert (1912– 1974) und die internationale Schulbuchforschung, in: Verband der Geschichtslehrer Deutschlands (Hg.), Geschichtsunterricht und Geschichtsdidaktik vom Kaiserreich bis zur Gegenwart. Festschrift des Verbandes der Geschichtslehrer Deutschlands zum 75-jährigen Bestehen, Stuttgart 1988, 339–340; Rainer Riemenschneider, Georg Eckert. 12 Romain Faure, Connections in the History of Textbook Revision, 1947–1952, in: Education Inquiry 2/2011, 21–35, ders. Netzwerke der Kulturdiplomatie. Die internationale Schulbuchrevision in Europa 1945–1989, Berlin, Boston 2015.
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internationalen Gewerkschaftsbewegung, der Fachverbände der Lehrerschaft, der Fachwissenschaft und der Förderer der Schulbucharbeit in der re-education branch der britischen Militärverwaltung, der UNESCO und dem Europarat nachzuzeichnen. Es soll danach gefragt werden, welche fachlichen Qualifikationen und Vorstellungen über die Gestaltung einer zukunftsfähigen Gesellschaft die Schulbucharbeit bestimmen, nach welchen Prinzipien und Regeln sie organisiert werden sollte und welche finanziellen und organisatorischen Formen ihren Erfolg sichern sollten. Der Beitrag rekonstruiert die Netzwerke staatlicher und zivilgesellschaftlicher Akteure, die die Institutionalisierung der internationalen Schulbucharbeit ermöglichten, fragt nach der Rolle, die diese Netzwerke, gerade in ihrer gegenseitigen Verknüpfung, für die Organisation und die Praxis der Schulbucharbeit des Instituts zwischen 1951 und 1965 gespielt haben. Er blickt abschließend auf die Veränderungen, die mit der Ernennung des Instituts zum Schulbuchzentrum des Europarates im Jahr 1965 verbunden waren.
2. VON DER „GESCHICHTSARBEITSGEMEINSCHAFT BRAUNSCHWEIG“ ZUM „INTERNATIONALEN SCHULBUCHINSTITUT“ Die Institutionalisierung der Schulbucharbeit auf dem Gebiet des Geschichtsunterrichts Die Institutionalisierung der internationalen Schulbucharbeit ist auf das Engste mit der Persönlichkeit von Georg Eckert verbunden, der sich, vor dem Hintergrund seiner eigenen Erfahrungen in seiner persönlichen und politischen Sozialisatin vor 1933, seinen Entscheidungen im Spannungsfeld von persönlichen und beruflichen Überlebensstrategien und Widerstand in der Zeit des Nationalsozialismus und seinen Erfahrungen als Wehrmachtsbeamter in Griechenland, die ihn 1944 schließlich zur Fahnenflucht und zum Anschluss an die griechische Widerstandsbewegung bewegten, nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges entschieden für eine Neugestaltung des Geschichtsunterrichts im Dienste der Völkerverständigung und der Friedensidee einsetzte.13 Eckert stellt damit ein aussagekräftiges
13 Georg Eckert wurde 1912 in Berlin geboren. Er wuchs in einer sozialdemokratischen Familie auf und engagierte sich seit 1931 zunächst in den Sozialistischen Schülergemeinschaften und später in der sozialistischen Studentenschaft an der Berliner Universität, an der er die Fächer Geschichte, Geographie, Germanistik und Völkerkunde studierte. Nach der nationalsozialistischen Machtergreifung entzog er sich der Verfolgung durch einen Studienwechsel an die Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität in Bonn, an der er sein Studium mit dem Hauptfach Völkerkunde und den Nebenfächern Geschichte und Geographie fortsetzte und 1935 bei Hermann Trimborn in Völkerkunde promovierte. Nach der Ablegung der Prüfung für das Lehramt an höheren Schulen in Bonn kehrte er nach Berlin zurück, wo er das Referendariat für den höheren Schuldienst am Schiller Gymnasium absolvierte. Während seines Referendariats entschied er sich, nachdem er Rat bei befreundeten SPD Genossinnen und Genossen gesucht hatte, der Initiative seines Schulleiters, alle neuen Referendare zum Eintritt in die
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Beispiel für diejenigen Intellektuellen dar, für die die unmittelbare persönliche Erfahrung politischer Brüche und Konflikte zu einer konsequenten Neudefinition von Forschungsperspektiven und Unterricht auf dem Gebiet der Geschichtswissenschaften geführt hat.14 Georg Eckert nahm nach seiner Rückkehr aus britischer Kriegsgefangenschaft den Kontakt zu seinen ehemaligen politischen Weggefährtinnen und Weggefährten aus den Reihen der SPD wieder auf, die ihm 1946 die Chance boten, gemeinsam mit gleichgesinnten Kollegen, wie Heinrich Rodenstein, eine grundlegende Reform der Organisation des Geschichtsunterricht in Angriff zu nehmen. Diese sollte sich gerade nicht auf das höhere Schulwesen beschränken, sondern Volksschullehrerinnen und -lehrer einschließen. Eckert erhielt nach dem Abschluss des Entnazifizierungsverfahrens des Landesentnazifizierungsausschusses für Lehrer des Landes Braunschweig am 1. November 1946 eine Dozentur an der Hochschule für Lehrerbildung (Kant-Hochschule) in Braunschweig. Unmittelbar nach seiner Berufung an die Kant-Hochschule gründete er im Dezember 1946 im Einvernehmen mit der Abteilung Wissenschaft und Volksbildung der Regierung des Freistaates Braunschweig und der britischen Militärregierung gemeinsam mit gleichgesinnten Lehrern und Vertretern der Schulverwaltung wie Hans Ebeling, Karl Mielcke oder Karl Turn eine „Geschichtsarbeitsgemeinschaft“, die sich in ihrem Selbstverständnis wenige Jahre später zu einem „geschichtspädagogischen Forschungskreis“ entwickelte. Zu diesem Kreis zählte auch der Historiker Helmut Krausnick, der wenige Jahre später als Mitarbeiter des Instituts für Zeitgeschichte in München zu den aktivsten Mitgestaltern der von Georg Eckert organisierten bilateralen Schulbuchgesprächen gehören sollte.15 Der
NSDAP zu bewegen, nicht zu widersprechen, und trat 1937 der NSDAP bei. Prägend für seine spätere Tätigkeit wurden dann die Erfahrungen, die er während seines Dienstes als Wehrmachtsbeamter in Griechenland sammelte. Er knüpfte, auch im Rahmen seiner ethnologischen Studien, die er in seiner Freizeit durchführte, enge Kontakte zu griechischen Wissenschaftlern und zur Zivilbevölkerung und versuchte, diese vor geplanten Deportationen und Erschießungen zu warnen, von denen er in seiner Stabstätigkeit Kenntnis erhielt. Diese Erfahrungen bestimmten seine Entscheidung, mit den Angehörigen seiner Dienstelle fahnenflüchtig zu werden und sich der griechischen Widerstandsbewegung ELAS anzuschließen, die er während des Bürgerkrieges dann wieder verließ, um sich in britische Kriegsgefangenschaft zu begeben. Die Prägungen, die Eckert durch die Erfahrung materieller Not, die politische Arbeit in der SPD, die Auseinandersetzung mit seinem NSDAP Eintritt 1937 und die Erfahrungen als Wehrmachtsbeamter in Griechenland erfuhr und deren Bedeutung für sein Engagement in der demokratischen Lehrerausbildung nach 1945 und in der internationalen Schulbucharbeit haben Heike Mätzing, Hans-Peter Harstick und Rainer Riemenschneider in ihren Arbeiten hervorgehoben. Vgl. auch die kritischen Überlegungen zur biografischen Selbstdarstellung Eckerts bei Barricelli, Didaktische Räusche. 14 Vgl. Christoph Corneliessen, Die Gründungsväter des Deutschen Historischen Instituts Paris. Erkenntnisse und offene Fragen, in: Ulrich Pfeil (Hg.), Das Deutsche Historische Institut, 336. 15 Vgl. Ulrich Mayer, Neue Wege im Geschichtsunterricht? Studien zur Entwicklung der Geschichtsdidaktik und des Geschichtsunterrichts in den westlichen Besatzungszonen und in der Bundesrepublik Deutschland 1945–1953, Köln, Wien 1986, 179–182.
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Forschungskreis verfolgte das Ziel „Lehrmaterialien für den Schulunterricht aller Schularten“ zu erstellen. Er sollte aber auch „historische und pädagogische Forschungsarbeiten, die für die Weiterentwicklung des Geschichtsunterrichts notwendig sind“, durchführen und finanziell fördern.16 Georg Eckert und seine Mitstreiter planten u. a. ein von amerikanischen Stiftungen zu finanzierendes Stipendienprogramm, über das die von den Mitgliedern des Forschungskreises selbst oder einzuladenden Gastwissenschaftlern durchzuführenden Forschungsarbeiten finanziert werden sollten.17 Mit der Förderung historischer und pädagogischer Forschung sowie des geplanten Stipendiatenprogramms formulierten die Mitglieder des „geschichtspädagogischen Forschungskreises“ zwei Zielstellungen, die die internationale Schulbucharbeit auch in den folgenden Jahren bestimmen sollten. In Übereinstimmung mit den Zielstellungen der education branch der britischen Militärverwaltung räumten sie aber der Produktion von neuen Lehr- und Lernmitteln klare Priorität ein.18 Dazu veröffentlichten sie ab 1947 die Reihe „Beiträge zum Geschichtsunterricht – Quellen und Unterlagen für die Hand des Lehrers“, die auf der Grundlage der Forschungen demokratischer und sozialistischer Historiker zentrale Fragen- und Weichenstellungen der deutschen Geschichte in einer international vergleichenden Perspektive behandelten und die Diskussion der Chancen und dem Scheitern einer demokratischen Entwicklung konsequent mit wirtschafts- und sozialgeschichtlichen Fragestellungen verknüpften.19 Die „Beiträge zum Geschichtsunterricht“ entsprachen genau den Vorstellungen der education branch, die deutsche Bevölkerung selbst aktiv am Prozess der re-education zu beteiligen.20 Für die Schulbucharbeit spielte die im Juli 1945 gebildete textbook section der education branch dafür die zentrale Rolle. Sie wurde nach dem Schulbuchverleger Ian Carlisle und dem Lehrer H. W. Davies seit 1948 von dem sowohl in der Schulbuchrevision als auch in der internationalen Konfliktmediation erfahrenen Terence J. Leonard geleitet, der der textbook section bereits seit ihrer Grünung angehört hatte.21 Ihre Aufgabe bestand nicht nur in der Überprüfung der vorhandenen Schulbücher, sondern sie suchten in den textbook committees früh16 Ebd. 17 Georg Eckert zeigte sich optimistisch, von der Rockefeller und der Carnegie Stiftung umfangreiche finanzielle Zuwendungen einwerben zu können. Es gelang ihm allerdings nur im Jahr 1952 eine finanzielle Zuwendung der Rockefeller Stiftung aus dem Grant-in-aid Program der Humanities zu erhalten, seine Hoffnungen in ein mittelfristiges Förderprogramm aufgenommen zu werden und damit Planungssicherheit für seinen Forschungskreis zu erhalten, erfüllten sich jedoch nicht. NLA. Staatsarchiv Wolfenbüttel 143 N, Zg. 2009/069, Nr. 259. 18 Vgl. Ulrich Mayer, Neue Wege, 207–211. 19 Bericht über die bisherige Tätigkeit der Geschichtsarbeitsgemeinschaft Braunschweig, o. J. NLA. Staatsarchiv Wolfenbüttel 143 N, Zg. 2009/069, Nr. 259. Die ersten Bände der Reihe, die von Georg Eckert und Karl Mielcke verfasst wurden, behandelten den „Bauernkrieg“, die „Revolution von 1848/49“, den „Vormärz“, und das „Arbeiterleben in der Frühzeit des Industriekapitalismus“. 20 Vgl. Ulrich Mayer, Neue Wege, 146–171. 21 Vgl. ebd, 146–171; E. H. Dance / T. J. Leonard, A pioneer of textbook-revision, in: Internationales Jahrbuch für Geschichtsunterricht 8/1961/62, 280–281.
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zeitig den Kontakt zu Schulbuchverlegern und potentiellen Autoren, die die Schulbücher im Geist der Überwindung von Nationalismus und Rassismus und der Erziehung zu religiöser Toleranz, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit verfassen sollten.22 Die education branch organisierte gemeinsam mit dem geschichtspädagogischen Forschungskreis im Juli 1949 eine Konferenz in Braunschweig, die britische und deutsche Geschichtslehrerinnen und Geschichtslehrer zusammenführte und in der Folge zu einem Abkommen zwischen der Historical Association und der Arbeitsgemeinschaft deutscher Lehrerverbände (ADGL) über die Revision der Geschichtslehrbücher führte. Die britisch-deutsche Geschichtslehrerkonferenz steht damit am Beginn der bilateralen Schulbuchgespräche, die die Arbeit des Instituts bis in die 1960er Jahre prägen sollte.23 Terence J. Leonard förderte die Arbeit Georg Eckerts für die Neugestaltung des Geschichtsunterrichts jedoch nicht nur innerhalb der britischen Besatzungszone, sondern führte ihn auch mit den Akteuren der deutsch-französischen Verständigung, im Centre d’action culturelle et pédagogique und der Direction de l’éducation publique der französischen Militärregierung zusammen, die seit 1948 in Speyer und in Mainz internationale Historikerkonferenzen organisierten, zusammen.24 Vor allem das in der Gründungsphase befindliche „Institut für europäische Geschichte“ in Mainz sollte in den Augen der französischen Besatzungsbehörden und seines designierten Direktors Fritz Kern ein Ort der internationalen Schulbucharbeit werden. Kern selbst brachte für diese Aufgabe besonders gute Voraussetzungen mit, da er zu denjenigen deutschen Historikern gehörte, die sich bereits in der Spätphase der Weimarer Republik für die Verständigung und Zusammenarbeit zwischen deutschen und französischen Lehrern eingesetzt hatte.25 Die unter Leitung der Historiker Pierre Renouvin und Gerhard Ritter 1951 in Paris und Mainz unter Beteiligung Eckerts ausgearbeiteten Thesen der „Deutschfranzösischen Vereinbarung über strittige Fragen europäischer Geschichte“ schufen die Voraussetzungen für die Wiederaufnahme der deutsch-französischen Historiker- und Geschichtslehrertagungen, die durch den Zweiten Weltkrieg unterbrochen worden waren.26 Kerns früher Tod und die Berufung Martin Göhrings,
22 Vgl. ebd, 146–171. 23 Vgl. Rosemarie Rümenapf-Sievers, Georg Eckert, 117. 24 Vgl. Corine Defrance, Die internationalen Historikertreffen von Speyer. Erste Kontaktaufnahme zwischen deutschen und französischen Historikern nach dem Zweiten Weltkrieg, in: Ulrich Pfeil (Hg.), Rückkehr, 213–237. 25 Winfried Schulze, Das Mainzer Paradoxon. Die deutsche Geschichtswissenschaft der Nachkriegszeit und die Gründung des Instituts für Europäische Geschichte, in: ders. / Corine Defrance, Institut für europäische Geschichte, 26. 26 Vgl. Rainer Riemenschneider, Ein halbes Jahrhundert deutsch-französischer Schulbuchgespräche, in: Hans-Jürgen Pandel (Hg.), Verstehen und Verständigen, Pfaffenweiler, 1991, 137–148; Rainer Bendick, Irrwege und Wege aus der Feindschaft: deutsch-französische Schulbuchgespräche im 20. Jahrhundert, in: Kurt Hochstuhl (Hg.), Deutsche und Franzosen im 20. Jahrhundert im zusammenwachsenden Europa 1945–2000, Stuttgart 2003, 73–103.
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„orientierte das Institut“ dann aber, wie Winfried Schulze hervorgehoben hat, „eindeutig auf seine europäische und zeitgeschichtliche Arbeit hin, während die ursprüngliche Aufgabe der ,Schulbuchrevision‘ zunehmend vom Braunschweiger Institut Georg Eckerts übernommen wurde.“27 Auch dafür schuf Leonard die Voraussetzungen, in dem er Eckert ab 1950 in die die internationalen Netzwerke der Schulbucharbeit der UNESCO einführte.28 Leonard stellte 1950 den Kontakt zum Vorsitzenden der Société des Professeurs d’Histoire et de Géographie, Édouard Bruley, her und machte Eckert mit den Vertretern der internationalen Schulbucharbeit in der UNESCO bekannt.29 Dabei erwies sich die Begegnung mit dem amerikanischen Historiker und Geschichtslehrer Richard Perdew, der seit 1948 die Schulbucharbeit der UNESCO koordinierte, als besonders wirkungsvoll, da Perdew Eckert 1950 die Teilnahme an der Sommerschule der UNESCO in Brüssel ermöglichte, auf der dieser die entscheidenden Kontakte knüpfen konnte, die ein Jahr später zur Gründung des Internationalen Instituts für Schulbuchverbesserung führen sollten. Die Konferenz, die im April 1951 in Braunschweig stattfand, führte Geschichtslehrerinnen und Geschichtslehrer aus Belgien, Dänemark, Deutschland, Frankreich, den Niederlanden, Norwegen, Schweden, der Schweiz und den USA zusammen. Auf der Tagung erfolgte die Gründung des „Internationalen Instituts für Schulbuchverbesserung“, das Eckert als „Seminar“, definierte, in dem auf der Grundlage einer europäischen Schulbuchsammlung und einer internationalen Bibliographie der Schulbuchforschung, Schulbücher analysiert und revidiert werden sollten.30 Nach der erfolgreichen Gründungskonferenz versuchte Eckert zunächst, den Geschichtspädagogischen Forschungskreis in eine Stiftung des öffentlichen Rechts umzuwandeln, um die Arbeit der Reform des Geschichtsunterrichts im Land Niedersachsen in einem Rahmen fortsetzen zu können, der ihm ein hohes Maß an Unabhängigkeit sichern sollte. Der Antrag auf die Einrichtung dieser Stif-
27 Winfried Schulze, Mainzer Paradoxon, 33. 28 Vgl. Romain Faure, Connections, 21–35; Christina Lembrecht, Bücher für alle. Die UNESCO und die weltweite Förderung des Buches 1946–1982, Berlin, Boston 2013, 105–115. 29 „My first real break was, of course, ‚the discovery‘ of Dr. Eckert, early in 1946 when I invited him to a meeting of Textbook Section, Bünde, and the German Central Textbook Committee. For I had been struck at new objective approach in German history writing in Eckert’s pamphlets Ns. 1 & 2 of the subsequent series, ‘The Peasants’ War’ and ‘The Revolution of 1948/49’. It was from then onwards I did all in my power to make his work known and cooperate with him….My second break (I hope I’m not being immodest?) was the bringing together of Eckert with Professor Bruley, President of the Société des Professeurs d’Histoire et de Géographie in March 1950. Operating from my flat Eckert was able to see some of the top French educationalists including Professor Renouvin, and as always he made an excellent impression on them all. The result was that from then on Eckert was received by the French Educational authorities in Germany. In addition through my close contacts with the American textbook experts at UNESCO I brought him into contact with this body.” T. J. Leonard an E. H. Dance vom 6. Januar 1963. NLA. Staatsarchiv Wolfenbüttel 143 N, Zg. 2009/069, Nr. 211/2. 30 NLA. Staatsarchiv Wolfenbüttel 143 N, Zg. 2009/060, Nr. 128.
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tung wurde jedoch im Dezember 1951 abschlägig beschieden. Das Regierungspräsidium Braunschweig schlug dem geschichtspädagogischen Forschungskreis dagegen vor, entweder eine Stiftung privaten Rechts, eine Körperschaft des privaten Rechts in der Rechtsform eines eingetragenen Vereins oder eine unselbstständige Stiftung an der Kant-Hochschule zu bilden.31 Die Institutionalisierung der internationalen Schulbucharbeit erfolgte dann tatsächlich in enger Anbindung an die Kanthochschule, wenn auch nicht in der von Eckert präferierten juristischen Form. Der Rektor der Kant-Hochschule, Heinrich Rodenstein, der mit Eckert eng in der ADGL zusammenarbeitete, setzte sich gegenüber dem niedersächsischen Kultusministerium entschieden dafür ein, für das Institut für Schulbuchverbesserung an der Kanthochschule eine institutionelle Grundlage zu schaffen. Er begründete dies damit, dass „das von Prof. Eckert errichtete Institut ein starker Aktivposten nicht nur Deutschlands, sondern auch für unsere niedersächsische Arbeit im Ausland“ sei.32 Die erfolgreiche Arbeit des Instituts als Beratungsstelle für Schulbuchautoren und Geschichtslehrer aller Schulgattungen, die die deutschen Verlage mit den methodischen und wissenschaftlichen Fortschritten des Auslandes vertraut mache und mit zahlreichen ausländischen Schulbuchverlagen eine vertrauensvolle Zusammenarbeit angebahnt hätte, dürfe nicht dadurch infrage gestellt werden, dass auf Honorarbasis tätige Wissenschaftler, wie Otto-Ernst Schüddekopf von außeruniversitären Forschungsinstituten, wie dem Institut für Zeitgeschichte, mit attraktiven Angeboten abgeworben würden, wie das Beispiel von Herman Krausnick deutlich gezeigt hätte. Die niedersächsische Regierung ließ sich von dieser Argumentation überzeugen. Sie errichtete mit dem Haushaltsjahr 1953 das „Internationale Schulbuchinstitut“ als ein der Pädagogischen Hochschule (Kant-Hochschule) in Braunschweig angeschlossenes Forschungsinstitut mit der Aufgabenstellung: „Durchführung von Forschungsarbeiten auf dem Gebiete der Lehrmittelgestaltung und der Unterrichtsmethoden“. Ein besonderes Gewicht sollte dabei auf den Geschichtsunterricht und verwandte Fächer gelegt werde, die ausdrücklich im Rahmen der internationalen Zusammenarbeit untersucht werden sollten.33 Mit dem Haushaltsjahr 1953 erhielt das Institut zwei aus dem niedersächsischen Landeshaushalt finanzierte Etatstellen, die eines Dozenten für „vergleichende Schulbuchkunde“ und die einer Sekretärin. Besetzt wurden die Stellen mit Otto-Ernst Schüddekopf, der seit 1950 auf Honorarbasis mit Georg Eckert zu-
31 Der Präsident des niedersächsischen Verwaltungsbezirks Braunschweig. Abteilung für Volksbildung an den Geschichtspädagogischen Forschungskreis Braunschweig vom 3. Dezember 1951. NLA. 143 N, Zg. 2009/069, Nr. 263. 32 Vorlage des niedersächsischen Kultusministeriums vom 6. Februar 1953. NLA. Hauptstaatsarchiv Hannover, Nds. 400 Acc. 121/81, Nr. 556. 33 NLA. Hauptstaatsarchiv Hannover, Nds. 400 Acc. 121/81, Nr. 556.
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sammengearbeitet hatte, und Dorothea Feige.34 Schüddekopf und Feige bildeten gemeinsam mit Eckert bis zum Beginn der 1960er Jahre das institutionell finanzierte „Rückgrat“ der internationalen Schulbucharbeit in Braunschweig.
3. DIE PRAXIS DER SCHULBUCHARBEIT Schulbuchrevision als „pragmatische Kunst“ Wie wir gesehen haben, war die Gründung des Internationalen Schulbuchinstituts im Jahr 1953 das Ergebnis einer engen Zusammenarbeit zwischen der education branch der britischen Militärverwaltung, der ADGL, der Braunschweiger und niedersächsischen Bildungspolitik und der im Rahmen der UNESCO geknüpften Kontakte zu nationalen Lehrerverbänden. Die Vielschichtigkeit der Netzwerke, die die Gründung des Internationalen Schulbuchinstituts möglich gemacht hatten, bestimmte in den Anfangsjahren auch die praktische Arbeit des Instituts auf dem Gebiet der Schulbuchrevision. Im Rahmen der internationalen Zusammenarbeit der ADGL bildete die Kooperation mit der Fédération de l’Éducation Nationale (F.E.N.), der Dachorganisation der französischen Gewerkschaften auf dem Bildungssektor, einen Schwerpunkt der Arbeit. Einer ihrer führenden Repräsentanten, der Physiklehrer Emile Hombourger, hatte im Auftrag der Fédération Syndicale Mondiale, ebenso wie Terence J. Leonard im Auftrag der britischen Behörden, mit der Perspektive der re-education eine umfangreiche Untersuchung deutschen Schulbücher vorge-
34 Otto-Ernst Schüddekopf (1912–1984) gehörte zu einer Reihe von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, deren Rückkehr in den Wissenschaftsbetrieb nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges von Georg Eckert maßgeblich gefördert wurde. Schüddekopf hatte an der Friedrich-Wilhelms-Universität Berlin Geschichte, Geographie, Psychologie, Philosophie und deutsche Literatur studiert und wurde 1938 mit einer Arbeit zur britischen Marinepolitik promoviert. Nach seiner Promotion arbeitete er in kriegswissenschaftlichen Abteilungen der Luftwaffe und des Oberkommandos der Wehrmacht und seit 1942 als Referent für England in der Abteilung „Westen“ des Sicherheitsdienstes der SS im Reichssicherheitshauptamt. Er gehörte seit den 1930er Jahren dem philosophischen Kreis um Friedrich Hielscher an, der ihn, nach den Aussagen Schüddekopfs und von Vertretern des Hielscher Kreises, auf die von ihm eingenommene Stelle im RSHA platzierte, um durch die Beschaffung von Informationen, gefälschten Papieren und die Herstellung von Kontakten mit dem Ausland die Widerstandstätigkeit des Kreises zu fördern und Perspektiven für die Nachkriegsentwicklung Deutschlands in einer europäischen Perspektive zu entwickeln. Ausmaß und Erfolg der Widerstandstätigkeit des Hielscher Kreises sind sowohl bei den Zeitgenossen, als auch in der Forschung nicht unumstritten geblieben. Hielscher selbst und weitere Mitglieder seines Kreises hoben die Widerstandstätigkeit Schüddekopfs jedoch in dem von den britischen Behörden eingeleiteten Ermittlungsverfahren und in dem folgenden Entnazifizierungsverfahren besonders hervor, was maßgeblich zur Entlastung Schüddekopfs beitrug. Vgl. Ina Schmidt, Der Herr des Feuers. Friedrich Hielscher und sein Kreis zwischen Heidentum, neuem Nationalismus und Widerstand gegen den Nationalsozialismus, Köln 2004, 255–258.
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nommen und angeregt, diese Arbeit gemeinsam mit deutschen Kollegen fortzusetzen.35 Georg Eckert griff dieses Angebot in seiner Eigenschaft als Vorsitzender des Ausschusses für Geschichte der ADGL bereitwillig auf und organisierte nach der Unterzeichnung eines gemeinsamen Abkommens im Jahr 1951 mit den Vertreterinnen und Vertretern der F.E.N., Marie-Louise Cavallier und Emile Hombourger, 1952 in Braunschweig und 1953 in Paris zwei Schulbuchkonferenzen. Die auf diesen beiden Tagungen durchgeführten Schulbuchanalysen blieben, ganz im Sinne der ursprünglichen Intentionen des Schulbuchausschusses der deutschen UNESCO-Kommission und dem statutenmäßigen Auftrag des Internationalen Schulbuchinstituts nicht auf die Revision der Geschichtsschulbücher beschränkt, sondern schlossen die Analyse von Lehrbüchern für Französisch, Deutsch, Geographie, Mathematik und die naturwissenschaftlichen Fächer ein. Das ambitionierte Vorhaben blieb jedoch, wie Romain Faure gezeigt hat, auf die zwei Tagungen in Braunschweig und Paris beschränkt, da die personelle Situation des Instituts eine Konzentration auf den Geschichtsunterricht notwendig machte, und die Zusammenarbeit im Rahmen der internationalen Gewerkschaftsbewegung durch den Kalten Krieg in zunehmendem Maße beeinträchtigt wurde.36 Die persönlichen Kontakte zwischen Eckert und einzelnen Mitgliedern der französischen Lehrergewerkschaft F.E.N. blieben jedoch eng, besonders zu dem Pariser Geschichtslehrer Michel Martin, der mit seinen Schülerinnen und Schülern auf seinen jährlichen Deutschlandexkursionen regelmäßig mit Georg Eckert zusammentraf. Neben der Zusammenarbeit mit der F.E.N. schloss die ADGL 1950 eine Vereinbarung mit dem National Council for the Social Studies in den USA, der ein Jahr später Vereinbarungen mit der jugoslawischen Lehrergewerkschaft und der japanischen Lehrergewerkschaft Nipon-Kyon-Kumia folgten. Die Mehrzahl der bilateralen Vereinbarungen über die Revision der Geschichtslehrbücher, die die Voraussetzung für die Arbeit des Instituts bildeten, wurde allerdings mit den nationalen Geschichtslehrerverbänden abgeschlossen. Auf die Vereinbarung von 1949 mit der Historical Association folgten Vereinbarungen mit dem französischen, dem belgischen, dem norwegischen und dem dänischen Geschichtslehrerverband. Die Aufnahme der deutsch-italienischen Historiker- und Geschichtslehrertagungen im April 1953 ging dagegen vor allem auf die Initiative des Intendanten des Süddeutschen Rundfunks, Fritz Eberhard, zurück. Aber auch diese Initiative ordnet sich ein in die Philosophie der ersten „Generation“ der bilateralen Konferenzen, die neben Schulbüchern auch Lehrfilme für die Schule analysierten und an denen neben Universitätshistorikern und Geschichtslehrern immer auch Vertreter von Schulbuchverlagen und Medienanstalten teilnahmen. Verleger wie Georg Mackensen förderten sogar Forschungsarbeiten ihrer leitenden Mitarbeiter zur internationalen Schulbucharbeit, die, wie im Falle des
35 Vgl. Romain Faure, Connections, 25. 36 Vgl. Georg Eckert / Wilhelm Puhlmann / Marie-Louise Cavalier / Émile Hombourger, Die weiteren Arbeitsergebnisse des deutsch-französischen Schulbuchkomitees, in: Internationales Jahrbuch für Geschichtsunterricht 3/1954, 214–216.
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Georg Westermann Verlages, besonders gute Voraussetzung für eine qualifizierte Zusammenarbeit mit dem Internationalen Schulbuchinstitut schufen.37 Die Organisation der internationalen Schulbucharbeit selbst folgte einem Modell, das bereits in der Zwischenkriegszeit entwickelt worden war. Auf ein bilaterales Abkommen folgten der Austausch der Schulbücher und deren gegenseitige Begutachtung. Historiker und Geschichtslehrer des einen Landes untersuchten die Schulbücher des anderen Landes und umgekehrt. Die Gutachter trafen sich auf Schulbuchkonferenzen, auf denen Thesen ausgearbeitet wurden, die im Unterschied zur Praxis der deutsch-französischen Schulbuchgespräche in der Zwischenkriegszeit in der Regel auf einem Konsens beruhten und die gegenteiligen Auffassungen nicht explizit formulierten. Dieses Vorgehen stieß vor allem in den Reihen der Historical Association auf Kritik, die sich 1951 als Institution aus der internationalen Schulbucharbeit zurückzog und die künftigen Schulbuchgespräche der privaten Initiative britischer Geschichtslehrer und –professoren überlies.38 Die Thesen wurden anschließend in den Fachpublikationen der betroffenen Länder bekannt und damit den Geschichtslehrern und Schulbuchautoren zur Kenntnis gebracht. Der Veröffentlichung der Empfehlungen schloss sich ein „follow up“ an, in dem die neu erschienenen Schulbücher in regelmäßigen Zeitabständen daraufhin überprüft wurden, ob die Empfehlungen der bilateralen Schulbuchgespräche von den Autorinnen und Autoren berücksichtigt wurden. Die erfolgreiche Lösung dieser komplexen organisatorischen und fachlichen Aufgabe ist von OttoErnst Schüddekopf 1966 in seiner Bilanz der internationalen Schulbuchrevision in Westeuropa als „pragmatische Kunst“ bezeichnet worden.39 Der Blick auf die personelle Ausstattung des Instituts macht deutlich, dass die erfolgreiche Organisation der bi- und multilateralen Schulbuchkonferenzen und die Publikation ihrer Ergebnisse ohne die Zusammenarbeit mit zahlreichen Historikern, und Geschichtslehrern, die im Honorarauftrag die Schulbuchgutachten erstellten, die Schulbuchgespräche mitorganisierten und die Publikationen redigierten, unmöglich gewesen wäre. Die konkrete Arbeit der Schulbuchrevision konnte nur durch die Zusammenarbeit zwischen Akteuren aus unterschiedlichen wissenschaftlichen und wissenschaftspolitischen Kontexten verwirklicht werden. Dazu gehörten einflussreiche Historiker, wie der Vorsitzende des Historikerverbandes Gerhard Ritter, oder der Direktor des Instituts für europäische Geschichte, Martin Göhring, ebenso, wie Hans Herzfeld oder die jüngeren Kollegen Fritz Fi37 Vgl. Carl August Schröder, Die Schulbuchverbesserung durch internationale Zusammenarbeit. Geschichte – Arbeitsformen – Rechtsprobleme, Braunschweig 1961; ders., Lebensansichten eines Verlegers. Eine Biographie. Aufgezeichnet von Hans Joachim Schröder, Köln, Weimar, Wien 2005. 38 Vgl. Otto-Ernst Schüddekopf, Das deutsch-englische Historikergespräch Ostern in Braunschweig, in: Pädagogische Blätter 5/1954, 193–195; E. H. Dance, Anglo-German Textbook Exchange. The first five years, in: Internationales Jahrbuch für Geschichtsunterricht 4/1955, 258–259. 39 Vgl. Otto-Ernst Schüddekopf, Zwanzig Jahre westeuropäischer Schulgeschichtsbuchrevision 1945–1965. Tatsachen und Probleme, Braunschweig 1966, 42.
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scher und Helmut Krausnick. Neben den Spezialisten der jeweiligen Fragestellungen, Epochen und Länder nahmen auf deutscher Seite auch an Pädagogischen Hochschulen lehrende Kollegen wie Rolf-Joachim Sattler oder Ernst Weymar und zahlreiche Geschichtslehrer als Gutachter und Referenten an den Schulbuchkonferenzen teil. Für die Auswahl der Historiker bildeten die Fachkompetenz, die Autorität innerhalb der deutschen Fachcommunity, und die sprachlichen und kulturellen Fähigkeiten zum Dialog mit den ausländischen Kollegen die entscheidende Rolle. Bei der Auswahl der Geschichtslehrer kam es vor allem in den Anfangsjahren der Arbeit des Instituts nicht selten zu Spannungen zwischen der ADGL und dem Verband der Geschichtslehrer Deutschlands e.V., der das Recht der Auswahl der einzuladenden Geschichtslehrer für die Schulbuchkonferenzen, die mit europäischen Partnerverbänden durchgeführt wurden, für sich reklamierte. Die Spannungen zwischen der ADGL und dem Verband der Geschichtslehrer lassen sich jedoch nicht allein mit Kompetenzstreitigkeiten auf der organisatorischen Ebene erklären, zumal Georg Ecket selbst zu den Gründungsmitgliedern des Verbandes der Geschichtslehrer gehörte und von 1949 bis 1964 als Schatzmeister sogar dem Vorstand angehörte. Sie erklären sich vor allem aus dem Versuch der in der ADGL engagierten Kolleginnen und Kollegen die neuen Vorstellungen über den Geschichtsunterricht, wie sie etwa in der Programmschrift „Geschichtsunterricht in unserer Zeit“ 1951 formuliert worden sind40, gegenüber den von der Mehrheit der Mitglieder des Verbandes der Geschichtslehrer vertretenen Auffassungen durchzusetzen und das neue Verständnis von Geschichtsunterricht im Rahmen der internationalen Zusammenarbeit zu stärken.41 Die Verbreitung und die öffentliche Diskussion der Ergebnisse der bilateralen Schulbuchkonferenzen und der Rezensionen der neu erschienenen Schulbücher bildeten eine wichtige Voraussetzung für den Erfolg der internationalen Schulbucharbeit. Dafür schuf das Institut mit der 1956 begründeten „Schriftenreihe des Internationalen Schulbuchinstituts“, in der bis 1974 21 Bände erschienen, vor allem aber mit dem 1951 gegründeten „Internationalen Jahrbuchs für Geschichtsunterricht“ die Voraussetzungen. Das Jahrbuch veröffentlichte wissenschaftliche Artikel zu Fach- und Methodenfragen des Geschichtsunterrichts im internationalen Vergleich und machte seine Leserinnen und Leser mit den Schulsystemen, Lehrplänen und den benutzten Lehrwerken in zahlreichen europäischen und außereuropäischen Ländern vertraut. Seine wichtigste Funktion bestand jedoch darin, die Schulbuchanalysen zu veröffentlichen, die den jeweiligen bilateralen Schulbuchkonferenzen vorausgingen, die Diskussion auf den Konferenzen selbst zusammenzufassen und die Empfehlungen zu veröffentlichen. Dies geschah jeweils in der Sprache des ausländischen Partners und in deutscher Sprache. Ein umfangreicher Rezensionsteil informierte darüber, ob die Empfehlungen Eingang in die neu erschienen Schulbücher gefunden hatten. 40 Vgl. Arbeitsgemeinschaft Deutscher Lehrerverbände (Hg.), Geschichtsunterricht in unserer Zeit. Grundfragen und Methoden, Braunschweig 1951. 41 Vgl. Ernst Hinrichs / Falk Pingel, Georg Eckert, 339–340.
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Neben dem beschriebenen Netzwerk in- und ausländischer Historiker, Methodiker und Geschichtslehrer trug vor allem der Braunschweiger Verleger Hans Eckensberger wesentlich zu diesem Erfolg bei. Eckensberger, der von 1946 bis 1966 die „Braunschweiger Zeitung“ herausgab, hatte bereits 1947 durch sein persönliches Engagement und Organisationstalent dazu beigetragen, dass der „Geschichtspädagogische Forschungskreis“ Braunschweig mit der Herausgabe seiner Lehrerhandreichungen “Beiträge zum Geschichtsunterricht. Quellen und Unterlagen für die Hand des Lehrers“ beginnen konnte.42 Der von Eckensberger geleitete Verlag Albert Limbach sicherte ab 1951 die Publikation des von der ADGL finanzierten Jahrbuches des Internationalen Schulbuchinstituts, das unter dem Titel „Internationales Jahrbuch für Geschichtsunterricht“ (seit 1965 Internationales Jahrbuch für Geschichts- und Geographie-Unterricht) bis 1978 in achtzehn Bänden erschien und der Schriftenreihe des „Internationalen Schulbuchinstituts“. Georg Eckert hatte sich bewusst für den Verlag Albert Limbach entschieden, zum einen wie er 1971 rückblickend formulierte, „weil es sich bei ihm um einen technisch leistungsfähigen Verlag handelte, vor allem aber, weil Limbach nicht im Schulbuchgeschäft tätig ist.“ Er war davon überzeugt, „ein Jahrbuch, das eine Art Schiedsrichterfunktion ausüben soll, nicht bei dem einen oder anderen großen Schulbuchverlag veröffentlichen“ zu können.43
4. VON DER BILATERALEN SCHULBUCHREVISION ZUR GESTALTUNG EINES GEMEINSAMEN EUROPÄISCHEN GESCHICHTSUNTERRICHTS Parallel zur Organisation der bilateralen Schulbuchkonferenzen engagierten sich Georg Eckert und Otto-Ernst Schüddekopf auch bei der Organisation der Schulbuchkonferenzen des Europarates, der nach einer 1949 angenommenen Resolution zur Revision der Geschichts- und Geographielehrbücher seine Mitglieder im März 1952 noch einmal nachdrücklich dazu aufforderte, staatliche und private Initiativen der Schulbuchrevision zu fördern.44 Im Rahmen der vom Europarat zwischen 1953 und 1958 organisierten Konferenzen über die Revision der Geschichtsbücher der westeuropäischen Staaten und der Türkei in Calw, Oslo, Rom, Royaumont, Scheweningen, Istanbul und Ankara fanden diejenigen Vertreter der nationalen Geschichtslehrerverbände, die sich bereits auf den UNESCO Konferenzen von 1950 und 1951 in Brüssel und Sèvres kennengelernt und danach auf den ersten bilateralen Schulbuchkonferenzen zusammengetroffen waren, erneut zusammen. Die Vertreter der Historical Association, E. H. Dance, der Société des Profeseurs d’Histoire et de Géographie, Edouard Bruley und des norwegischen
42 Vgl. Rosemarie Rümenapf-Sievers, Georg Eckert, 117. 43 NLA. Staatsarchiv Wolfenbüttel 143 N, Zg. 2009/069, Nr. 335. 44 Vgl. Maitland Stobart, Fifty years of European co-operation on history textbooks. The role and contribution of the Council of Europe, in: Internationale Schulbuchforschung 21/1999, 147–161.
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Lehrerverbandes Haakon Vigander konstituierten gemeinsam mit Georg Eckert 1954 auf der zweiten Konferenz des Europarates in Oslo ein Komitee, das die Schulbucharbeit des Europarates auf dem Gebiet des Geschichtsunterricht koordinieren sollte. Sie publizierten die Ergebnisse der Konferenzen der 1950er Jahre und eine Synthese der bilateralen Schulbuchgespräche auf der europäischen Ebene, die die fachlichen und methodischen Voraussetzungen für die Umsetzung im Geschichtsunterricht schaffen sollten.45 Diese wurde im Sommer 1965 auf der Konferenz des Europarates in Elsinor diskutiert, die nicht nur zeitgleich mit der Ernennung des Internationalen Schulbuchinstituts zum Schulbuchzentrum des Europarates für die Fächer Geschichte und Geographie zusammenfällt, sondern einen Perspektivenwechsel in der Arbeit des Europarates von der Revision der Geschichtslehrbücher zur Diskussion eines gemeinsamen europäischen Curriculums und dessen konkreter Umsetzung in der Unterrichtspraxi selbst markiert.46 Neben der Veröffentlichung der Ergebnisse der Schulbuchkonferenzen des Europarates bildete seit 1956 die Arbeit an der gemeinsamen Definition zentraler Konzepte und Begriffe der europäischen Geschichte, die nach dem Vorbild der Synthesen von Bruley, Dance, Cottaz, Eckert und de Launay in Form eines Lexikons in mehreren Sprachen erscheinen sollte, eine zentrale Aufgabe der Arbeit des 1954 in Oslo konstituieren Komitees. Die wissenschaftliche Leitung des Vorhabens übernahm der belgische Historiker Émile Lousse, die Redaktion der Beiträge und ihre Übersetzung in die englische bzw. französische Sprache wurde am Internationalen Schulbuchinstitut von Rolf-Joachim Sattler durchgeführt bzw. koordiniert. Ungeachtet der Schwierigkeiten, die mit diesem Vorhaben verbunden waren, das am Ende nicht in dem vom Europarat gewünschten mehrsprachigen Ausgaben erscheinen konnte 47, bildete die Erfahrung in der Redaktion von internationalen Publikationen neben dem organisatorischen Geschick bei der Durchführung der bilateralen Schulbuchkonferenzen, dem Aufbau der Schulbuchsammlung und der internationalen Schulbuchbibliografie ein wichtiges Argument dafür, dass der Council for Cultural Co-operation des Europarats das Internationale Schulbuchinstitut im Juni 1965 bat, als europäisches information and documentation centre for the improvement of history and geography textbooks zu fungieren.48 Ernst Hin-
45 Vgl. Edouard Bruley / E. H. Dance, A History of Europe? Leyden 1960; Y. Cottaz / G. Eckert / J. de Launay, (Hgg.), World History Teachers in conference, Oxford 1964. 46 Council of Europe. Committee for General and Technical Education. Course on History Teaching in Secondary Education held under the auspices of the Council of Europe organized by the Danish Government Elsinor, 21st August – 1st September 1965. Final Report, Strasbourg 1966; vgl. auch Falk Pingel, History as a project of the future – the European history textbook debate, in: Karina V. Korostelina / Simone Lässig (Hgg.), History Education and Post-Conflict Reconciliation. Reconsidering joint textbook projects, London, New York 2013, 155–176. 47 Die deutschsprachige Ausgabe erschien 1964 unter dem Titel Grundbegriffe der Geschichte. 50 Beiträge zum europäischen Geschichtsbild. Herausgegeben in Zusammenarbeit mit dem Europarat und dem Internationalen Schulbuchinstitut im Bertelsmann Verlag in Gütersloh. 48 NLA. Staatsarchiv Wolfenbüttel 143 N, Zg. 2009/069, Nr. 371/1.
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richs und Falk Pingel haben die Gründung des Schulbuchzentrums des Europarates in ihrer Studie von 1988 als wichtige Zäsur für die Institutionalisierung der internationalen Schulbucharbeit in Braunschweig interpretiert, da sie die Chance bot, die organisatorischen und finanziellen Grenzen zu überwinden, die durch die enge Anbindung an die Pädagogische Hochschule Braunschweig gesetzt worden waren.49 Die institutionelle Absicherung des Instituts durch die Verbindung mit dem Europarat bildete die Voraussetzung für die Ausweitung seiner Forschungsperspektiven, die fachlich über den Geschichtsunterricht hinausreichten und in zunehmendem Maße, den Wünschen des Europarates entsprechend, Schulbücher des Geographie- und Politikunterrichts in die Arbeit einschloss und gleichzeitig den Veränderungen in der Methodik des Unterrichts Rechnung trug. Mit der Gründung des Schulbuchzentrums des Europarates war gleichzeitig auch die Hoffnung verbunden, „das pädagogische Gespräch zwischen den östlichen und westlichen Ländern Europas“ wieder aufzunehmen, das durch den Kalten Krieg unterbrochen worden war.50 Die im Zusammenhang mit der Einrichtung des Schulbuchzentrums des Europarates erfolgten finanziellen Zuwendungen des Landes Niedersachsen und der Stiftung Volkswagenwerk schufen die baulichen und, wenn auch in begrenztem Maße, personellen, Voraussetzungen für die weitere institutionelle Entwicklung. Sie sicherten aber vor allem den erfolgreichen Aufbau der Schulbuchsammlung der europäischen Länder, die vom Europarat als Voraussetzung für die Einrichtung des europäischen Schulbuchzentrums formuliert worden war.
5. FAZIT Die Institutionalisierung der internationalen Schulbucharbeit auf dem Gebiet des Geschichtsunterrichts in Braunschweig erwies sich, im Vergleich zu andren Feldern der historischen Forschung, wie der europäischen oder der Zeitgeschichte, als ein besonders schwieriger Prozess. Vor allem die Schwierigkeit, zu einer exakten Definition von Gegenstand und Methode der Schulbucharbeit zu gelangen, führte dazu, dass sowohl ausländische Stiftungen als auch die deutsche Bildungspolitik auf der nationalen wie auf der Länderebene einer Institutionalisierung skeptisch gegenüberstanden und ihr eine nachhaltige finanzielle Förderung verweigerten. Eine zentrale Rolle für die Schwierigkeiten bei der Institutionalisierung spielte auch das ambivalente, in der wissenschaftlichen und politischen Biografie Eckerts selbst deutlich zum Ausdruck kommende, Konkurrenz- und Kooperationsverhältnis zwischen der ADGL und dem Verband der Geschichtslehrer Deutschlands. Das Konkurrenzverhältnis stand nicht nur für die bildungspolitischen, fachlichen und methodischen Auseinandersetzungen, die in den westlichen 49 Ernst Hinrichs / Falk Pingel, Georg Eckert, 341. 50 Otto-Ernst Schüddekopf, Schulgeschichtsbuchrevision, 62.
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Besatzungszonen und der Bundesrepublik Deutschland in den ersten Jahren nach 1945 geführt wurden, sondern auch für die unterschiedlichen Auffassungen über die Organisation und Finanzierung der internationalen Schulbucharbeit. Dabei standen die Fragen nach dem Gewicht, das der Staat im Verhältnis zu zivilgesellschaftlichen Institutionen, und nationale im Verhältnis zu internationalen Organisationen erhalten sollten, im Zentrum der Auseinandersetzungen. Die Institutionalisierung gelang schließlich dank der engen Verbindungen zwischen den Vertretern unterschiedlicher Netzwerke auf der nationalen und internationalen Ebene in Gestalt der ADGL, der Zusammenarbeit der nationalen Geschichtslehrerverbände, der UNESCO und des Europarates, die zwischen den unterschiedlichen Positionen vermitteln konnten. Ungeachtet der vielversprechenden neuen inhaltlichen und organisatorischen Perspektiven, die mit der Ernennung des Internationalen Schulbuchinstituts zum Schulbuchzentrum des Europarates verbunden waren und eine Lösung der genannten Probleme versprachen, gelang es Georg Eckert allerdings, im Unterschied zum Institut für europäische Geschichte in Mainz, das im Oktober 1957 in das Königsteiner Abkommen zur gemeinsamen Finanzierung von Forschungsinstituten durch die Länder der Bundesrepublik Deutschland aufgenommen wurde, oder zum Institut für Zeitgeschichte das in einer gemeinsamen Trägerschaft von Bund und Ländern errichtet wurde, bis zu seinem Tod nicht, das Internationale Schulbuchinstitut auf eine vergleichbare sichere institutionelle Grundlage zu stellen. Diese wurde erst nach seinem Tod durch das gemeinsame Engagement niedersächsischer Wissenschaftler und Politiker unter Führung des Ministerpräsidenten Alfred Kubel, erreicht, die dem Institut mit dem Gründungsgesetz vom 26. Juni 1975 den Status einer rechtsfähigen Anstalt des öffentlichen Rechtes verliehen.51
51 Vgl. Rolf Wernstedt, Die Gründung des Georg-Eckert-Instituts für internationale Schulbuchforschung aus politischer und parlamentarischer Sicht, in: Ursula A. Becher / Rainer Riemenschneider (Hgg.), Internationale Verständigung, 124–128.
DER URSPRUNG DER WESTDEUTSCHEN ZEITGESCHICHTE AUS DER THEMATISIERUNG DER NS-VERGANGENHEIT Die „Forschungsstelle für die Geschichte Hamburgs 1933–1945“ in den 1950er Jahren* Axel Schildt
Im August 1949 beschloss der Hamburger Senat die Gründung einer „Forschungsstelle für die Geschichte Hamburgs 1933-1945“ und gab ihr den Auftrag, die lokale Geschichte des NS-Regimes aufzuklären. Die heute weitgehend vergessene Einrichtung bestand von 1949 bis 1956, wurde dann 1960 unter dem Namen „Forschungsstelle für die Geschichte des Nationalsozialismus in Hamburg“ neu gegründet und 1997 in „Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg“ (FZH) umbenannt. Als außeruniversitäres zeitgeschichtliches Institut1 war die erste Hamburger Forschungsstelle zu klein, um sie etwa mit der Münchner Gründung vergleichen zu können, wo ebenfalls, allerdings bereits 1952, ein Institut für Zeitgeschichte aus einem Institut für Geschichte des Nationalsozialismus hervorging. Zudem war die Aufgabenstellung der Hamburger Forschungsstelle, die sich auf die lokale NS-Vergangenheit bezog und ein „wissenschaftliches Stadtgedächtnis“2 begründen sollte, in der frühen Bundesrepublik singulär. Eine Einrichtung mit diesem Auftrag gab es in den ersten beiden Nachkriegsjahrzehnten in keiner anderen westdeutschen Großstadt. Der folgende Beitrag soll am Beispiel der Gründung und Tätigkeit der Forschungsstelle in Hamburg einige allgemeine Grundzüge und Spezifika des primär außerwissenschaftlichen bzw. politischen Ursprungs der Bemühungen um die Dar-
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Der Beitrag gibt den Text der Tagung von 2012 wieder. Die seither erschienene Literatur konnte nicht berücksichtigt werden. Zu einer „wissenschaftlichen Einrichtung an der Universität Hamburg“ wurde die FZH erst durch einen Kooperationsvertrag 2000; mein Dank für eine kritische Durchsicht gilt Knud Andresen, Frank Bajohr, Alexandra Jaeger, Christoph Strupp und Joachim Szodrzynski. Arnold Sywottek, Das wissenschaftliche „Stadtgedächtnis“. Forschungen über die Zeit nationalsozialistischer Herrschaft in Hamburg zwischen Tabus und Aufarbeitungserwartungen, in: Peter Reichel (Hg.), Das Gedächtnis der Stadt. Hamburg im Umgang mit seiner nationalsozialistischen Vergangenheit, Hamburg 1997, 218–235; Peter Reichel / Harald Schmid, Von der Katastrophe zum Stolperstein. Hamburg und der Nationalsozialismus nach 1945, München/Hamburg 2005, 37.
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stellung der jüngsten Zeitgeschichte beleuchten (1); dabei enthüllt sich eine Dialektik von vorgängigen Sichtweisen auf den Nationalsozialismus und der Organisation von dessen Erforschung (2), für den zwei weitgehend unabhängig voneinander bestehende Kommunikationskreisläufe typisch waren: Kontakte zu den Opfern des Nationalsozialismus auf der einen und zu den lokalen politischen Akteuren des NSRegimes, die als honorige Zeitzeugen galten, auf der anderen Seite (3). Mit diesem Ansatz gelang der Forschungsstelle die Verankerung in der sich herausbildenden zeitgeschichtlichen Fachwelt, sehr gut gestalteten sich vor allem die Beziehungen zum Münchner Institut für Zeitgeschichte (4). Der letzte Abschnitt schildert die Gründe für das Ende der Forschungsstelle 1956 und den Neuanfang 1960 – auch hier waren politische Anlässe ausschlaggebend (5).
1 DIE GRÜNDUNG DER FORSCHUNGSSTELLE FÜR DIE GESCHICHTE HAMBURGS 1933–1945 Ein Jahr nach Kriegsende, inmitten materieller Not und moralischer Depression, empfanden die Abgeordneten des hamburgischen Parlaments die Notwendigkeit, einer neuerlichen Popularität des „Dritten Reiches“ und seiner lokalen Satrapen in Teilen der Bevölkerung entgegenzutreten. In der ersten, noch von der britischen Besatzungsmacht „ernannten Bürgerschaft“ war Ende April 1946 von der liberalen Fraktion ein Antrag eingebracht worden, der den Senat ersuchte, eine lückenlose Chronologie der Ereignisse verfassen zu lassen, die zur kampflosen Kapitulation der Stadt am 3. Mai 1945 geführt hatten, um so einer Glorifizierung der nationalsozialistischen Führung, die angeblich die Hansestadt gerettet habe, entgegen zu wirken. Die Einsicht, keinen sinnlosen Endkampf zu führen, so führte der Sprecher der FDP, Willy Max Rademacher, aus, sei kein Verdienst der führenden NS-Funktionäre gewesen, sondern nur bewirkt worden vom „Geist dieser Stadt, den wir den hanseatischen nennen.“3 Diese These, dies merkten in der Bürgerschaft einige Abgeordnete der linken Seite des Hauses an, die konkrete Verantwortung eher verdunkelte, sollte seit den frühen 1950er Jahren die offiziöse Sicht auf die lokale NSHerrschaft bestimmen. Doch zunächst sorgte die zur Klärung der Geschehnisse vom Senat in Auftrag gegebene Veröffentlichung, die Ende 1947 unter dem Titel „Das letzte Kapitel. Geschichte der Kapitulation Hamburgs“ präsentiert wurde, für
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Stenographische Berichte über die Sitzungen der Bürgerschaft zu Hamburg (St. B.) im Jahre 1946, 5. Sitzung vom 26.4.1946, 74; fortgesetzt wurde diese Debatte ein Jahr später; St. B. 1947, 11. Sitzung vom 11.6.1947, 267–269; hier brachte die FDP ihren Antrag erneut ein, und erneut erklärten Sprecher von SPD und KPD, der Rahmen des Untersuchungsauftrags müsse ausgeweitet werden.
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einen Eklat.4 Das sozialdemokratische „Hamburger Echo“ betitelte einen Leitartikel „Protest gegen ein Buch“.5 Der Autor und Archivar des Staatsarchivs Dr. Kurt Detlev Möller hatte, schon wegen des eingeschränkten Blickwinkels allein auf das Kriegsende, einen sanften Hauch von Apologie um den ehemaligen Reichsstatthalter Karl Kaufmann6 als Retter der Stadt vor einem sinnlosen Endkampf verbreitet und insofern der Intention jener liberalen Kreise widersprochen, die den „hanseatischen Geist“ zum Helden erklären wollten. Das Buch von Möller, das vom sozialdemokratischen Bürgermeister Max Brauer ursprünglich positiv aufgenommen worden war, stieß in der Bürgerschaft auf vehemente Ablehnung, zumal es etliche Abgeordnete gab, die sehr konkret über Regime-Verbrechen während der gesamten Zeit des „Dritten Reichs“ in Hamburg berichten konnten. In der sozialdemokratischen Fraktion wandte sich der zum linken Parteiflügel zählende Hellmut Kalbitzer gegen den Verfasser des Buches, dem er unverändert nationalsozialistische Auffassungen und antisemitische Schriften während der NS-Zeit anlastete7, aber auch gegen die Haltung des sozialdemokratisch geführten Senats; dieser sah sich zum Rückzug veranlasst und bezeichnete das Buch, das er an alle Abgeordneten hatte verteilen lassen, nun – nach einer Anfrage der kommunistischen Abgeordneten Magda Langhans – als Privatangelegenheit. Die Auseinandersetzung um die Darstellung Möllers bot den Anlass, der Forderung nach einer gründlichen Rekonstruktion nicht nur der letzten Monate, sondern der gesamten Zeit des „Dritten Reiches“ in Hamburg Nachdruck zu verleihen. Es dauerte allerdings noch zwei Jahre, bis der Senat in Ausführung des Beschlusses der Bürgerschaft am 15. August 1949 die Einrichtung der „Forschungsstelle für die Geschichte Hamburgs 1933-1945“ vornahm, die der Schulbehörde angegliedert war. Soweit sich ihre Gründung aus den Akten rekonstruieren lässt, spielte der sozialdemokratische Oberschulrat Heinz Schröder (Jg. 1889) die entscheidende Rolle.8
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Kurt Detlev Möller, Das letzte Kapitel. Geschichte der Kapitulation Hamburgs. Von der Hamburger Katastrophe des Jahres 1943 bis zur Übergabe der Stadt am 3. Mai 1945, Hamburg 1947; vgl. detailliert Joist Grolle, Schwierigkeiten mit der Vergangenheit. Anfänge der zeitgeschichtlichen Forschung im Hamburg der Nachkriegszeit, in: Zeitschrift des Vereins für Hamburgische Geschichte, 78/1992, 1–65, hier 4–47; Axel Schildt, Historisches Gedächtnis der Stadt. Der lange Weg zur Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg, in: Auskunft. Mitteilungsblatt Hamburger Bibliotheken, 22/2002, 253–271, hier 254–259. Hamburger Echo, 27.1.1948. Karl Kaufmann, Gauleiter von 1929–1945, hatte sehr persönliche opportunistische Beweggründe, den sinnlosen Endkampf nicht zu führen; bis zur Entlassung aus gesundheitlichen Gründen 1948 interniert, betätigte er sich zunächst im Netzwerk der „Bruderschaft“ und in den frühen 1950er Jahren im sogenannten „Naumann-Kreis“ ehemaliger NS- und SS-Funktionäre; vgl. Frank Bajohr, Hamburgs „Führer“. Zur Person und Tätigkeit des Hamburger NSDAPGauleiters Karl Kaufmann (1900–1969), in: ders. / Joachim Szodrzynski (Hgg.), Hamburg in der NS-Zeit. Ergebnisse neuerer Forschungen, Hamburg 1995, 59–91, hier 82–84. Hellmut Kalbitzer, Führerträume, in: Der Sozialist, 2/1948. Vgl. zu Schröder den Nekrolog im Hamburger Abendblatt, 4.1.1951: Pastorensohn, Abitur in Schulpforta, Studium alter Sprachen und der Geschichte, als Gymnasiallehrer im Humanistischen Gymnasium Christianeum im preußischen Altona. „Im Dritten Reich zog er sich mit
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Schröder war es auch, der dem zuständigen Senator Heinrich Landahl im April den Leiter der zukünftigen Einrichtung vorschlug.9 Zu diesem Zeitpunkt gab es zwei Kandidaten, zum einen den jüdischen Sozialdemokraten Peter Blachstein, der aus dem schwedischen Exil 1947 nach Hamburg zurückgekehrt war.10 Aus zwei Gründen, so Schröder, komme er nicht in Frage: „Er hat also während der Jahre der Nazizeit (…) nicht in Deutschland gelebt. In dieser Tatsache sehe ich gerade für die geplante Arbeit einen gewissen Mangel.“11 Zudem habe er bisher lediglich journalistisch gearbeitet, ihm fehle die „wissenschaftliche Ausbildung als Historiker“, auf die „kaum verzichtet“ werden könne. Inwiefern auch innerparteiliche Differenzen, Blachstein galt als Vertreter des linken Flügels in der mehrheitlich eher rechts angesiedelten Hamburger Sozialdemokratie, der Argumentation von Schröder zugrunde lagen, bleibt unklar. Für die Leitung der Forschungsstelle komme „in erster Linie ein Historiker in Frage“, allerdings ein Historiker, „der nicht nur Fachwissenschaftler ist, sondern der auch politischen Instinkt und politisches Fingerspitzengefühl hat“; dies treffe auf den Privatdozenten Dr. Heinrich Heffter zu, mit dem er vor einigen Tagen ein eingehendes Gespräch geführt habe und über den sich auch Professor Fritz Fischer von der Hamburger Universität „sehr positiv“ geäußert habe. Dass Heffter nicht aus Hamburg kam, spielte demgegenüber in seinem Fall keine Rolle. Heinrich Heffter (1903–1975), der am 23. August 1949 seinen Dienst antreten konnte, stammte aus der Familie eines pommerschen Amtsgerichtsrats, hatte nach
einer Gruppe von gleichdenkenden Berufsgenossen in die innere Emigration zurück. Diese Gruppe hob ihn bei Kriegsende in den Oberschulratssessel.“ Vgl. Zusammenfassender Bericht, 22.2.1956, in: Archiv der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg (FZH), 023/30 (Berichte). 9 Die folgenden Zitate aus einem Bericht von Oberschulrat Schröder: Herrn Senator Landahl. Betrifft: Darstellung der Geschichte Hamburgs von 1933–1945, 26.4.1949, in: Archiv FZH, 376–21 (Personalangelegenheiten). 10 Peter Blachstein (1911–1977), war nach Buchhändlerlehre, Studium der Germanistik und Wirtschaftswissenschaften und Schauspielerausbildung als Journalist und Regieassistent in Dresden tätig. Von der SPD, in die er 1929 eingetreten war, ging er 1931 zur linkssozialistischen Abspaltung SAP. Nach aktivem Widerstand, 15 Monaten Gefängnis und KZ, war er nach Norwegen emigriert, ging von dort aus als Journalist nach Spanien, wo er 1937/38 in Haft in einem kommunistischen Gefängnis saß; während des Zweiten Weltkriegs setzte er sein Studium in Schweden fort und arbeitete als Lektor und Archivmitarbeiter in Upsala. Seit 1947 in Hamburg, wurde Blachstein Redakteur des Hamburger Echos und saß als direkt gewählter Abgeordneter für die SPD von 1949–1968 im Deutschen Bundestag; 1968 war er Botschafter in Jugoslawien; vgl. Walter Tormin, Die Geschichte der SPD in Hamburg 1945 bis 1950, Hamburg 1994, 372. 11 In einem Vermerk führte Schröder dies noch weiter aus: „denn für die Darstellung der politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Entwicklung Hamburgs von 1933 bis 1945 dürfte ein Beobachter, der in diesen Jahren in Deutschland weilte, der das Naziregime am eigenen Leibe verspürte und der die ganze Atmosphäre des Dritten Reiches sowie die innerpolitische Entwicklung aus eigener Anschauung und persönlichem Erleben kennen lernte, geeigneter sein als jemand, der in dieser Zeit im Ausland war und der nicht selbst erleben, sondern nur aus der Ferne beobachten konnte, was in Deutschland vorging.“ Vermerk für Senatssyndikus Mestern, 28.4.1949, in: Archiv FZH, 376–21 (Korrespondenz L–M).
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dem Besuch eines humanistischen Gymnasiums in den letzten Monaten des Ersten Weltkriegs im landwirtschaftlichen Hilfsdienst gearbeitet und von 1921 bis 1926 an den Universitäten in Göttingen, Tübingen und Leipzig studiert, Geschichte im Hauptfach, daneben Völkerkunde, Soziologie und Philosophie. Den Abschluss des Studiums bildete eine Dissertation über die „Kreuzzeitungspartei und die Kartellpolitik Bismarcks“.12 Sein beruflicher Weg führte ihn als Fachredakteur für Geschichte in den Verlag F.A. Brockhaus. Für die 15. Auflage des „Großen Brockhaus“ (20 Bände, begonnen 1928) und für den „Neuen Brockhaus“ (4 Bände, seit 1936) redigierte er nicht nur den größten Teil der historischen Artikel, sondern verfasste auch selbst einige der lexikalischen Einträge. Daneben hatte er Zeit für etliche Archivaufenthalte gefunden, für wissenschaftliche Studien und Editionen über das 19. Jahrhundert13, aber auch für Texte über deutsche Kolonien in einem der zeitgenössisch sehr populären Sammelalben.14 Der Zweite Weltkrieg, Heffter wurde 1942 als Soldat eingezogen, war zunächst in Paris, dann in Südfrankreich stationiert und geriet als Baupionier in Oberschlesien im Mai 1945 in sowjetische Gefangenschaft, unterbrach seine wissenschaftliche Tätigkeit für drei Monate. Im August 1945 konnte er seine Arbeit beim ausgebombten und stark verkleinerten Brockhaus-Verlag in Leipzig als „freier Schriftsteller“ wieder aufnehmen. Zwei Jahre später geriet er hier allerdings in Schwierigkeiten, erste Texte wurden wegen mangelnder „volksdemokratischer“ Gesinnung abgelehnt. In dieser Zeit arbeitete Heffter hauptsächlich an seinem umfänglichen Werk über die Geschichte der Selbstverwaltung im 19. Jahrhundert, von dem er im November 1948 einen Teil an der Universität Hamburg als Habilitationsschrift einreichte.15 Im April 1949 siedelte er mit seiner Frau und einem zehnjährigen Sohn in die Britische Zone über. Durch die Habilitationsschrift – die venia legendi erhielt er im Juli 1949, seine Antrittsvorlesung hielt er ein Jahr später16 – geriet Heffter wieder in das Blickfeld der Professoren Fritz Fischer und Egmont Zechlin, die ihn zumindest namentlich schon vor 1945 gekannt hatten und nun als geeigneten Leiter der geplanten Forschungsstelle ansahen.17
12 Heinrich Heffter, Die Kreuzzeitungspartei und die Kartellpolitik Bismarcks, Leipzig 1927. 13 Heinrich von Treitschke, Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Zusammengefasst von Heinrich Heffter, Leipzig (Kröners Taschenbuchausgabe 115/116) 1934; Heinrich von Treitschke (Hg. von Heinrich Heffter), Deutsche Kämpfe. Die schönsten kleineren Schriften, Leipzig 1935 (Stuttgart 21943). 14 Cigaretten-Bilderdienst Dresden (Hg.), Deutsche Kolonien, o.O. 1936. 15 Heinrich Heffter, Die deutsche Selbstverwaltung im 19. Jahrhundert. Geschichte der Ideen und Institutionen, Stuttgart 1950; das nahezu 800-seitige Werk erlebte 1969 eine zweite Auflage. 16 Heinrich Heffter, Vom Primat der Außenpolitik, in: Historische Zeitschrift (HZ) 171/1951, 1– 22. 17 Bei diesem Absatz handelt es sich um einen leicht geänderten Auszug aus Axel Schildt, Von der Kaufmann-Legende zur Hamburg-Legende. Heinrich Heffters Vortrag „Hamburg und der Nationalsozialismus“ in der Hamburger Universität am 9. November 1950, in: Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg (Hg.), Zeitgeschichte in Hamburg. 2003, Hamburg 2004, 13f.
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Zur wissenschaftlichen Unterstützung war Heffter, „gewissermaßen als ihr Privatsekretär“18, der sozialdemokratische Schriftsteller John Basté zugewiesen worden, der sich in der Hamburger Bibliotheks- und Archivlandschaft gut auskannte. Allerdings wurde Basté, der seine Ausbildung im Staatsarchiv genossen hatte, nach einem „planmäßigen (…) moralischen Kesseltreiben“19 mit Vorwürfen, er sei wegen Bücherdiebstahls 1926 verurteilt worden, schon nach wenigen Wochen entlassen. Diese Vorwürfe kamen aus dem Kreis der Gegner der neuen Forschungsstelle im Staatsarchiv, namentlich ihres vormaligen nationalsozialistischen Direktors Heinrich Reincke (1881–1960)20, die sich dem Autor des inkriminierten Buches „Das letzte Kapitel“ verbunden fühlten. Als Ersatz für Basté wurden dann Ende 1949 zwei „wissenschaftliche Hilfsarbeiter“ eingestellt, Berthold Biermann, ein aus dem USA-Exil zurückgekehrter Journalist, und Hermann Hassbargen, der zwar 1933 in die NSDAP eingetreten war, aber als „sauber“ galt.21 Das Dreierteam fand offenbar zu einer guten Zusammenarbeit. So schwärmte Schröder in einem Vermerk für Landahl ein halbes Jahr nach Beginn der Arbeit, dass die „Zusammenarbeit der drei Herren (…) außerordentlich erfreulich“ sei. „Ich bin überzeugt, daß in keiner Stadt Deutschlands eine so planmäßige und daher auch so ergebnisreiche wissenschaftliche Arbeit zur Erforschung der Nazizeit geleistet wird.“22 Als Biermann nach zwei Jahren eine Stellung in der Bonner „sogenannten politischen Abteilung des Referats für UNO-Angelegenheiten“23 erhalten hatte, wurde er durch Dr. Herbert Schottelius ersetzt, der als Assistent im Historischen Seminar der Universität gearbeitet hatte.24 Das Dreierteam wurde unterstützt durch
18 Oberschulrat Schröder an Heinrich Heffter, 29.7.1949, in: Archiv FZH, 376–21 (Personalangelegenheiten). 19 Oberschulrat Schröder: Herrn Senator Landahl. Betrifft Forschungsstelle und Staatsarchiv, 24.10.1949, in: Archiv FZH, 376–21 (Korrespondenz Sch). 20 Vgl. Joist Grolle, Von der Verfügbarkeit des Historikers. Heinrich Reincke und die HamburgGeschichtsschreibung in der NS-Zeit, in: Bajohr / Szodrzynski, Hamburg (wie Anm. 6), 25– 57. 21 Oberschulrat Schröder: Herrn Senator Landahl. Betr.: Vorschlag für die Senatssitzung 819 vom 4.11.1949, in: Archiv FZH, 376–21 (Berichte und Vorträge). 22 Vermerk von Schröder für Lahndahl, 11.3.1950, in: Archiv FZH, 376–21 (Korrespondenz Sch). 23 Berthold Biermann an Heinrich Heffter, 21.10.1951, in: Archiv FZH, 376–21 (Personalangelegenheiten). 24 Der Hamburger Herbert Schottelius (1913–1974), hatte von 1933–1938 Geschichte, Erdkunde, Ethnologie und Romanische Sprachen an den Universitäten Hamburg und Königsberg studiert. 1938 wurde er in Hamburg mit einer Arbeit über „Mittelamerika als Schauplatz deutscher Kolonisationsversuche 1840–1865“ promoviert. Im Sommer 1939 zum freiwilligen wissenschaftlichen Hilfsarbeiter am Historischen Seminar ernannt, ging Schottelius als Gastforscher an das Deutsch-Dominikanische Tropeninstitut in Cindad Trujillo. Von 1940 bis 1945 befand er sich im Wehrmachtsdienst und war nach seiner Entlassung als Dolmetscher für die britischen Behörden in Hamburg tätig. 1948 legte er das Lehrerexamen ab, wurde wissenschaftlicher Assistent am Historischen Seminar und im Oktober 1952 als Wissenschaftlicher Angestellter von der Schulbehörde übernommen, die ihn an die Forschungsstelle abordnete; in späteren Jahren war er am Militärgeschichtlichen Forschungsamt in Freiburg tätig.
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Zulieferungen von Schriftstellern, die ihr Wissen gegen Geld anboten. So erhielt ein Journalist für einen „Sonderbericht über das Thema: Die Verteidigungsmaßnahmen im nordwestdeutschen Küstengebiet während des 2. Weltkriegs unter besonderer Berücksichtigung der Rolle des Gauleiters Kaufmann in der Zeit vom 1.2.1944–1.5.1945“ Ende 1951 ein für damalige Verhältnisse stattliches Honorar von 150 DM.25 Die Unterbringung der Forschungsstelle erfolgte zunächst unter völlig unzulänglichen Rahmenbedingungen im sogenannten „Trümmerzimmer“, einem fensterlosen Raum im Rathaus, in dem sich der öffentlichen Benutzung zugängliche Bücher und Archivalien befanden, so dass ein ungestörtes Arbeiten nicht möglich war.26 Erst nach einigen Monaten erhielt die Forschungsstelle Unterkunft in der Finanzbehörde am Gänsemarkt, 1952 erfolgte der Umzug in einen nahegelegenen Bau der Schulbehörde in der ABC-Straße.27
2 DER AUFTRAG DER FORSCHUNGSSTELLE: MATERIALSAMMLUNG FÜR EINE SPÄTERE DARSTELLUNG Angesichts der desolaten schriftlichen Überlieferung – durch alliierte Bombenangriffe und systematische Aktenvernichtungen der Nationalsozialisten vor Kriegsende – wurde als Aufgabe der Forschungsstelle vorgegeben, noch vorhandene Unterlagen aufzuspüren und ergänzend Zeitzeugen zu befragen, von diesen aufbewahrte Dokumente zu erbitten und zu schriftlichen Erinnerungen – nach dem Muster des Zeugenschrifttums des Münchener Instituts für Zeitgeschichte – zu ermuntern. Die mündliche Überlieferung galt als Ergänzung für „das Fehlende“28; den „Weg der Befragung zu beschreiten“, wurde deshalb als dringend notwendig angesehen: „Diese wenn auch umständlichere Methode war umso mehr angezeigt, als mit vorschreitender Zeit das Gedächtnis der Miterlebenden nachläßt und ihre Zahl sich zusehends verringert.“29 Die Bedeutung der Einbeziehung von Zeitzeugen erhöhte sich noch durch die anfängliche Obstruktionspolitik des Staatsarchivs, war doch die Forschungsstelle eingerichtet worden, um die sogenannte Kaufmann-Legende Kurt Möllers zu widerlegen. Dieser war Anfang 1948 zum Direktor des Staatsarchivs ernannt, aber bald darauf entlassen worden, nachdem antisemitische Veröffentlichungen aus der Zeit des „Dritten Reiches“ bekannt geworden waren. Viele mutmaßten allerdings, sein Buch „Das letzte Kapitel“ sei der wahre Grund
25 Heffter an Wolfgang Baader, 9.12.1951, in: Archiv FZH, 376–21 (Korrespondenz A–G). 26 Oberschulrat Schröder: Herrn Senator Landahl. Betrifft Forschungsstelle und Staatsarchiv, 24.10.1949, in: Archiv FZH, 376–21 (Korrespondenz Sch). 27 7. Bericht über vorläufige Forschungsergebnisse, 5.12.1952, in: Archiv FZH, 023/30 (Berichte). 28 Arbeitsplan, o. D. (1949), in: Archiv FZH, 376–21 (Berichte und Vorträge). 29 Zusammenfassender Bericht, 22.2.1956, in: Archiv FZH, 023/30 (Berichte).
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für die Entlassung gewesen. Möller, der von den meisten Mitarbeitern des Staatsarchivs unterstützt wurde, klagte gegen seine Entlassung und wurde Anfang der 1950er Jahre voll rehabilitiert. In den sieben Jahren ihres Bestehens lieferte die Forschungsstelle insgesamt 15 als „vertraulich“ oder sogar „streng vertraulich“ bezeichnete „Berichte über vorläufige Forschungsergebnisse“ im Umfang von durchschnittlich drei Seiten sowie einige kaum umfangreichere Sonderberichte über einzelne Themen an die Behördenspitze. Überwiegend dokumentierten sie die Recherchen, inhaltliche Aussagen waren dürftig, häufig banal. Es war nicht beabsichtigt, die Öffentlichkeit über die Ergebnisse der Recherchen zu informieren. Vielmehr wurde Diskretion als notwendige Voraussetzung für eine vertrauensvolle Kooperation mit den zu befragenden Zeitzeugen erachtet. Der damit verbundene Widerspruch wurde in der Presse, die erst nach einigen Wochen über die Gründung der Forschungsstelle berichtete, zwar wahrgenommen, aber nicht kommentiert: einerseits „in aller Stille“ arbeiten zu wollen und andererseits auf die Mitarbeit vieler Zeitzeugen angewiesen zu sein.30 Heffter selbst befand: „Am günstigsten für die Forschungsarbeit ist ja eine Atmosphäre, in der die Schärfe der bisherigen politischen Gegensätze allmählich nachläßt, eine ruhige Betrachtung der jüngsten Vergangenheit allgemeiner wird.“31 Zunächst fragten Heffter und seine Kollegen bei Behörden und Privatpersonen in der Hansestadt, etwa der Justizbehörde oder des Statistischen Landesamtes, bei Bankdirektoren, Architekten, Schulleitern und Professoren, aber auch an anderen Orten und bei britischen Stellen, wo „der Hauptteil des entfremdeten Materials zur hamburgischen Geschichte“32 vermutet wurde, nach Unterlagen zu markanten lokalen Geschehnissen oder baten um ein Gespräch. Von vornherein erachtete die Forschungsstelle es als „die einzige erfolgreiche Methode (…) möglichst den Wünschen der befragten Zeitgenossen weit entgegenzukommen.“33 An den Kapitän der Cap Arcona, die nach einem alliierten Bombentreffer mit Hunderten von KZ-Insassen in der Lübecker Bucht gesunken war, schrieb Heffter zur Begründung seines Gesprächswunsches: „Die Forschungsstelle hat die Aufgabe, die historischen Ereignisse und Zusammenhänge der jüngsten Vergangenheit zu klären. Insbesondere die großen Lücken der historischen Kenntnis auszufüllen, die durch die Vernichtung sehr vieler amtlicher Akten entstanden sind. Zunächst geht es nur darum, zuverlässiges Material zu sammeln; dies allein wird schon eine ziemlich
30 1933–1945, in: Hamburger Echo, 7.9.1949; Zeitgenossen sollen Geschichte schreiben, in: Hamburger Abendblatt, 8.9.1949; Geschichte des Dritten Reiches in Hamburg, in: Hamburger Freie Presse, 22.12.1949 (das Zitat entstammt diesem Artikel). 31 3. Bericht über vorläufige Forschungsergebnisse (o. D., Ende 1950), in: Archiv FZH, 023/30 (Berichte). 32 7. Bericht über vorläufige Forschungsergebnisse, 5.12.1952, in: Archiv FZH, 023/30 (Berichte). 33 Schröder: Herrn Senator Landahl. Betr.: Vorschlag für die Senatssitzung Nr. 819 am 4.11.1949, in: Archiv FZH, 376–21 (Berichte und Vorträge); dort wurde auch festgelegt, dass die Forschungsstelle „selber ein Protokoll des Gesprächs anfertigt und zur förmlichen Genehmigung vorlegt.“
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langfristige Aufgabe sein. Die Aufgabe der Forschungsstelle ist rein wissenschaftlich, hat nichts mit Parteipolitik oder politischer Justiz zu tun (…).“34
An das Amtsgericht Wiesbaden, wo ein Prozess gegen den Hamburger SAObergruppenführer Herbert Fust anhängig war, in dem es auch um die „Reichskristallnacht“ ging, wandte er sich in gleichem Sinne: „Zuvor muss ich betonen, dass die Forschungsstelle vom Senat der Hansestadt beauftragt ist, das geschichtlich wichtige Material der fraglichen Zeit in möglichster Vollständigkeit zu sammeln, damit eine breite Grundlage für die spätere Geschichtsschreibung gewonnen wird.“35
In Korrespondenz- und Gesprächsbeziehungen stand man etwa mit dem Oberbrandrat Hans Brunswig, um die Auswirkungen der alliierten Bombardierungen zu rekonstruieren, und immer wieder ging es um die „Klärung der Frage der Befehlsbefugnisse des Kampfkommandanten in Hamburg einerseits und des Reichsverteidigungskommissars andererseits“.36 Die Sammlungstätigkeit schien zuweilen der Vision einer histoire totale zu folgen, wenn Heffter vermerkte: „Das Sammeln von Material muss sich auf alle Lebensbereiche erstrecken, die sich ja gemäß dem Charakter des totalitären Regimes und auch gemäß der Natur des hamburgischen Stadtstaates aufs engste durchdringen.“37
Damit zusammenhängend erweiterte sich auch die zeitliche Perspektive der Forschungsstelle, die in der Behörde wie auch von Heffter zunächst als zeitlich begrenzt und relativ überschaubar angesehen worden war. Je länger man dann aber sammelte, desto ferner rückte der Abschluss der Arbeiten. Allerdings wäre es verfehlt, das Vorgehen der Forschungsstelle mit voraussetzungsloser Recherche zu verwechseln; Heffter trat an mit jener grundlegenden Hypothese, die der liberale Bürgerschaftsabgeordnete Rademacher bereits 1946 vorgetragen hatte, dass nämlich nicht die am Ende einsichtigen führenden Nationalsozialisten, sondern der liberale „hanseatische Geist“ als historischer Held anzusehen sei, unter dessen Einfluss überhaupt erst die NS-Funktionäre zur Vernunft gekommen seien. In einem Vortrag in einem Hörsaal der Universität entfaltete er seine Konzeption ein Jahr nach Aufnahme der Tätigkeit.38 Auch dieser Vortrag war nicht
34 Heffter an Kapitän Heinrich Bertram, 24.4.1950, in: Archiv FZH, 376–21 (Korrespondenz A– G). 35 H. Hassbargen an Amtsgericht Wiesbaden, 2.3.1955, in: ebd.; in den Akten finden sich auch etliche Briefe von Rechtsanwälten u. a., die sich mit der Bitte um Auskünfte an die Forschungsstelle wandten. 36 H. Hassbargen an Oberst a. D. Ebeling, 15.1.1950, in: Archiv FZH, 376–21 (Korrespondenz A-G) 37 Kurzbericht über die bisherige und künftige Arbeit der Forschungsstelle, 4.9.1953, in: Archiv FZH, 023/30 (Berichte). 38 Vollständig abgedruckt und ausführlicher als an dieser Stelle kommentiert: Axel Schildt, Von der Kaufmann-Legende zur Hamburg-Legende. Heinrich Heffters Vortrag „Hamburg und der Nationalsozialismus“ in der Hamburger Universität am 9. November 1950, in: Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg (Hg.), Zeitgeschichte in Hamburg. 2003, Hamburg 2004, 10–46 (alle Zitate s. dort); vgl. auch Grolle, Schwierigkeiten (wie Anm. 4), 48–53.
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für die städtische Öffentlichkeit bestimmt, Adressat war vielmehr ein sorgfältig ausgesuchtes Publikum der städtischen Eliten.39 Im ersten Drittel seines Vortrag umriss Heffter sein Wissenschaftsverständnis, erörterte Quellenprobleme und Forschungsstrategien; das zweite Drittel war der Widerlegung der sogenannten Kaufmann-Legende gewidmet, das letzte der Präsentation der eigenen Sicht auf den Nationalsozialismus unter besonderer Berücksichtigung der Rolle Hamburgs im „Dritten Reich“. Sein Wissenschaftsverständnis legte er mit aller Deutlichkeit dar: Eine „voraussetzungslose Wissenschaft“ halte er für eine „Illusion“, der Standpunkt der Forschungsstelle sei „bezeichnet durch die innere Verpflichtung an die Werte des Rechts, der Freiheit, der Humanität, an das große christliche und humanistische Geisteserbe des Abendlandes“, das wiederum in der Hanse-Tradition Hamburgs besonders stark und lebendig wirke. Hinsichtlich der Quellen sprach Heffter bereits die Erfahrungen des ersten Jahres seiner Tätigkeit an. Die Auseinandersetzung mit der sogenannten Kaufmann-Legende ging Heffter im Ton sehr moderat an. Er betonte, seine Ergebnisse seien denjenigen von Möller „nicht völlig entgegengesetzt“. Dass er „die entscheidenden Akzente doch erheblich anders“ verteile, liege auch darin begründet, dass die Forschungsstelle nunmehr über mehr Material verfüge „als damals“, also 1947. Er vermute, dass Möller „heute selbst nicht mehr seine damalige These würde festhalten wollen.“ Die KaufmannLegende sei durch diesen selbst geschaffen worden, Möller hingegen ihr lediglich, wie „viele andere Hamburger“, verfallen. Hamburg sei, argumentierte Heffter schlüssig mit dem Frontverlauf im Frühjahr 1945, lediglich seiner geographischen Lage wegen nicht in verlustreiche Kämpfe verwickelt worden. Im letzten Drittel des Vortrags wurde Kaufmann als „zentrale Figur des Hamburger Nationalsozialismus“ charakterisiert. Lange vor dem Erscheinen einschlägiger Veröffentlichungen wies Heffter auf die Bedeutung der Gauleiter als „kleine Führerclique von skrupellosen Machtmenschen“ hin. Zugleich isolierte er diese allerdings nicht nur vom Volk, sondern auch von der „Masse der kleineren Parteigenossen“, hierin dem interpretatorischen Mainstream folgend, der einen scharfen Dualismus von totalitärem „SS-Staat“ mit seinen „Ur-Nazis“40 und einer verführten oder verängstigten Bevölkerung behauptete. In einem weiteren Argumentationsschritt seiner Argumentation setzte Heffter dann wiederum Kaufmann vom „übelsten Schlage der Hitlervasallen“ wie etwa Julius Streicher, Fritz Sauckel oder Erich Koch ab. Er sei „intelligenter, vorsichtiger, maßvoller“ gewesen, sein „wahrer Charakter“ sei deshalb den meisten „Kollaborateuren“ der „hamburgischen Beamtenund Wirtschaftskreise nicht recht sichtbar geworden.“ Durchaus in Übereinstim-
39 Die Liste der eingeladenen Gäste umfasst 142 Personen, darunter die Mitglieder des Senats, Vertreter der Bürgerschaft und des Bundestags, der Schulbehörde, die Ordinarien für Geschichtswissenschaft der Hamburger Universität und einige weitere Hochschullehrer sowie führende Persönlichkeiten aus Wirtschaft, Kirche, Gesellschaft und Kultur, in: Archiv FZH, 376–21 (Korrespondenz Sch). 40 2. Bericht über vorläufige Forschungsergebnisse, 8.3.1950, in: Archiv FZH, 023/30 (Berichte).
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mung mit der heutigen Forschung betonte Heffter den Charakter des „engsten Zirkels Kaufmanns“, die „trübe Atmosphäre von Vettern- und Günstlingswirtschaft“ sowie von „brutaler Willkür und Rechtsbeugung“; gleichwohl habe „in Hamburg während der Hitlerzeit ein erheblich milderes politisches Klima geherrscht (…) als sonst“, und dies sei auf die „trotz aller äußeren ‚Gleichschaltung‘ fortwirkende freiheitliche Tradition“ zurückzuführen, der sich Kaufmann im Amt häufig angepasst habe. Hamburg aber sei „weit mehr Gegenspieler als Partner des Nationalsozialismus“ gewesen, nach der napoleonischen könne die Hitlerzeit „durchaus als die zweite Fremdherrschaft für Hamburg“ bezeichnet werden. Auch wenn Heffter am Schluss seines Vortrags einschränkend bemerkte, dass Hamburg trotz des „milderen politischen Klimas (…) keineswegs eine Oase“ gewesen sei und in diesem Zusammenhang die Konzentrationslager Fuhlsbüttel und Neuengamme erwähnte, war seine Botschaft doch deutlich: Die Hamburger Tradition wurde zum „historischen Held“41 gekürt, der dem Nationalsozialismus widerstanden habe.42 Diese Sichtweise sollte auch die weiteren Recherchen der Forschungsstelle bestimmen.
3 DIE JÜDISCHEN OPFER – DER WIDERSTAND – DIE EHEMALIGEN NATIONALSOZIALISTEN Die Geschichte der jüdischen Opfer bildete von Anfang an einen Schwerpunkt der Sammlungstätigkeit, vor allem Schottelius beschäftigte sich damit durchgehend.43 Es dürfte außerhalb Hamburgs keine deutsche Einrichtung in den frühen 1950er Jahren gegeben haben, die derart intensiv über die Judenverfolgung im „Dritten Reich“ recherchierte. Das reichte von der Frage nach dem Schicksal der jüdischen Partner in Mischehen44, dem Schicksal der jüdischen Anwälte45 und der Ermittlung der jüdischen Ärzte, denen 1938 die Approbation entzogen wurde46, bis zur Erkundung des Deportationsgeschehens nach Theresienstadt47 und „Litzmannstadt“ 41 1. Bericht über vorläufige Forschungsergebnisse, 3.1.1950, in: Archiv FZH, 023/30 (Berichte). 42 Der nächste Auftritt der Forschungsstelle, Heffter und Schottelius, vor einer wiederum ausgesuchten Öffentlichkeit, Hamburger Geschichtslehrern, fand dann erst ein Jahr später statt. Der Titel von Heffters Vortrag lautete: „Forschungsprobleme der Geschichte des Nationalsozialismus“, 5. Bericht über vorläufige Forschungsergebnisse, 7.11.1951, in: FZH-Archiv, 023/30 (Berichte). 43 Dr. Herbert Schottelius: Zur Endlösung der Judenfrage. Anlage zum 10. Bericht über vorläufige Forschungsergebnisse, 30.12.1953, in: Archiv FZH, 376–21 (Berichte und Vorträge); ders.: Die rassische Verfolgung in Hamburg. Grenzen und Möglichkeiten ihrer Erforschung, o. D. (1954/55), in: Archiv FZH, 023/30 (Berichte). 44 Heffter an Arnet/Kriminalabt. II/D, 16.8.1950, in: Archiv FZH, 376–21 (Korrespondenz A–G). 45 Schottelius an Werner Neuhäuser, Präsident der Hanseatischen Rechtsanwaltskammer, 18.1.1956, in: Archiv FZH, 376–21 (Korrespondenz L–S). 46 Dr. Ahrens/Ärztekammer Hamburg an Schottelius, 27.12.1955, in: Archiv FZH, 376–21 (Korrespondenz A–G). 47 11. Bericht über vorläufige Forschungsergebnisse, 3.5.1954, in: Archiv FZH, 023/30 (Berichte).
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(Lodz)48. Die Überlebenden der Deportationen nach Riga, Minsk und Lodz, deren Adressen die Jüdische Gemeinde mitteilte49, wurden „systematisch“ angeschrieben und um Berichte gebeten.50 Bei diesem Thema überschritt Heffter ausnahmsweise die Grenze der puren Sammlung und der lokalen Geschichte. Für ein Hörspiel beim NWDR über das Schicksal der Jüdischen Gemeinde stellte Heffter Material zur Verfügung51, zudem veröffentlichte er Zahlen über die ermordeten europäischen Juden, die sich gegen viel zu niedrige Schätzungen richteten, als „nützlichen und zugleich wissenschaftlichen Beitrag zur gesamtdeutschen NS-Forschung“52 in den „Frankfurter Heften“53; die Zahlen stammten vom New Yorker Institute of Jewish Affairs und er hatte sie über die Wiener Library in London erhalten. Seinen Beitritt zur gerade gegründeten „Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit“ sah Heffter als „die beste Möglichkeit [an], die historische Erkenntnis der Judenverfolgung im Dritten Reich weiter zu fördern“.54 Und Schottelius stellte 1954, quasi im Auftrag der Jüdischen Gemeinde, die das nicht selbst vortragen mochte, beim Hamburger Senat den Antrag auf „Benennung einer Straße nach Dr. Josef Carlebach“, dem letzten Rabbiner in der Hansestadt vor 1945.55 Dass die Betrachtung des Widerstands einen Schwerpunkt der Forschung bilden sollte, ergab sich aus den konzeptionellen Ausführungen Heffters ebenso wie die Möglichkeit, ehemalige Nationalsozialisten als subjektiv ehrliche Zeitzeugen zu gewinnen. Der Widerstand konnte letztlich als Ausdruck des „hanseatischen Geistes“ angesehen werden. Positiv zu erwähnen bleibt, dass sich der Blick der Forschungsstelle dabei über den politischen Widerstand hinaus auf klandestine bürgerliche Formen der Resistenz in der Universität56, aber auch auf Phänomene wie den sich habituell ausdrückenden Protest der anglophilen „Swing-Jugend“ richtete. Allerdings weigerten sich die kommunistischen Angehörigen des Widerstands, die Forschungsstelle zu unterstützen. Heffter hatte in seinem Vortrag im November 1950 konstatiert:
48 Schottelius an Erwin Baehr/Miami, 22.6.1954, in: Archiv FZH, 376–21 (Korrespondenz A–G). 49 Vgl. dazu auch den Briefwechsel von Schottelius mit dem letzten Rabbiner vor 1945, Joseph Carlebach, aus dem Jahr 1954, in: ebd. 50 12. Bericht über vorläufige Forschungsergebnisse, 3.5.1954, in: Archiv FZH, 023/30 (Berichte). 51 5. Bericht über vorläufige Forschungsergebnisse, 7.11.1951, in: ebd. 52 6. Bericht über vorläufige Forschungsergebnisse, 25.4.1952, in: ebd. 53 Institute of Jewish Affairs, New York, Die Opfer, in: Frankfurter Hefte 7/1952, 161–163; Heffter war verärgert, weil ohne Rücksprache ein Absatz verändert wurde, so dass die Zahl der Ermordeten zu niedrig angesetzt schien, weil lediglich „Glaubensjuden“ berücksichtigt waren, Heffter an Redaktion FH, 14.3.1952, in Archiv FZH, 376–21 (Korrespondenz A–G); vgl. auch die Korrespondenz mit Erich Lüth, in: Archiv FZH, 376–21 (Korrespondenz L–S). 54 7. Bericht über vorläufige Forschungsergebnisse, 5.12.1952, in: Archiv FZH, 023/30 (Berichte). 55 Schottelius an Senat der Hansestadt Hamburg, 10.12.1954, in: Archiv FZH, 376–21 (Korrespondenz H-K). 56 Heffter an Wilhelm Flitner, 7.10.1952, in: Archiv FZH, 376–21 (Korrespondenz der Forschungsstelle A–G).
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„Nur der Versuch einer Verständigung mit der VVN ist fehlgeschlagen. Der rein sachlich begründete Wunsch, ihr offenbar reiches Material über die Widerstandsbewegung auch für die Forschungsstelle zu verwerten, ist mit kaum verhüllten politischen Bedingungen beantwortet worden, die für die Forschungsstelle unannehmbar sind. Ich hoffe aber, dass sich dieser Fehlschlag ausgleichen lässt, vor allem durch direkte Fühlungnahme mit den einzelnen Gruppen der ehemaligen Widerstandskämpfer.“57
Diese Hoffnung erfüllte sich nicht. Abgesehen davon hatte Heffter die Argumente der anderen Seite nur unvollständig vorgetragen. Zwischen der kommunistisch dominierten Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN) und dem Senat war seit 1948, mit offenem Ausbruch des Kalten Krieges, das Tischtuch zerschnitten, und der Umgang mit den kommunistischen NS-Opfern erfolgte auch in Hamburg nicht immer nach rechtsstaatlichen Prinzipien.58 Heffter wiederum hatte, wie er an Bürgermeister Brauer schrieb, angesichts seiner mehrjährigen „Osterfahrungen“ die VVN im Verdacht, eine „Verlagerung“ ihres umfangreichen Archivs in die „Ostzone“ vorzunehmen.59 Zum Vortrag von Heffter waren weder Vertreter der KPD noch der VVN eingeladen worden, dagegen etliche des Bundes der Verfolgten des Naziregimes (BVN), einer kaum repräsentativen Abspaltung der VVN, und von den „ehemaligen Nationalsozialisten Herr Eiffe“.60 Ein ausführlicher Briefwechsel Heffters mit dem vormaligen kommunistischen Senator für Wiedergutmachung, Franz Heitgres, der der VVN vorstand, vermittelt den Eindruck eines von beiden Seiten geführten diplomatischen Eiertanzes. Auf die Bitte nach Material zum kommunistischen Widerstand antwortete Heitgres mit „Misstrauen gegenüber allen diesbezüglichen Unternehmungen amtlicher Dienststellen“; der Senat habe mit der Beauftragung Möllers für ein „Loblied der Rassisten“ bereits sein wahres Gesicht gezeigt, und der für die Forschungsstelle verantwortliche Senator Heinrich Landahl habe eben erst die VVN als rein kommunistische Organisation bezeichnet. Dagegen vertrete man alle Widerstandskämpfer und habe deshalb auch Material „aller Gruppen“ gesammelt.61 Solange man die VVN als kommunistische Organisation ansprach, konnte man keine Kooperationsbeziehung aufbauen. Gegenüber seinem direkten Vorgesetzten, dem Oberschulrat Schröder, erklärte Heffter offen: „Die Absicht dabei war nicht eigentlich mehr die Hoffnung, doch noch eine Zusammenarbeit herbeizuführen, sondern wesentlich der taktische Zweck, die VVN auf ihrer negativen Haltung festzunageln, damit die Forschungsstelle jederzeit in der Lage ist, mit schriftlichen Zeugnissen
57 Zit. nach Schildt, Von der Kaufmann-Legende (wie Anm. 37). 58 Vgl. Wolf-Dietrich Schmidt, „Wir sind die Verfolgten geblieben“. Zur Geschichte der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN) in Hamburg 1945–1951, in: Jörg Berlin (Hg.), Das andere Hamburg. Freiheitliche Bestrebungen in der Hansestadt seit dem Spätmittelalter, Köln 1981, 329–356. 59 Heffter an Brauer, 17.5.1950, in: Archiv FZH, 376–21 (Korrespondenz A–G). 60 Schröder: Vermerk für Herrn Senator Landahl, 16.11.1950, in: Archiv FZH, 376–21 (Korrespondenz Sch); der nationalsozialistische Unternehmer Peter Ernst Eiffe hatte den Kontakt zu Krogmann vermittelt. 61 Franz Heitgres an Heffter, 25.8.1950, in: Archiv FZH, 376–21 (Korrespondenz H).
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Axel Schildt den etwaigen Vorwurf zu widerlegen, dass sie sich um den kommunistischen Anteil an der Widerstandsbewegung zu wenig oder gar nicht gekümmert habe.“62
Erst nach Zustimmung des Senators Landahl63 beantwortete Heffter dann den Brief von Heitgres dahingehend, dass die Forschungsstelle „niemals daran gedacht [habe], ihre politische Freiheit durch einseitige politische Direktiven beeinträchtigen zu lassen; solche Direktiven nimmt sie von keiner Seite entgegen, also auch nicht von der VVN. (…) Die an Sie gerichtete Bitte hatte nur den Sinn, auch dem historischen Anteil der kommunistischen Widerstandeskämpfer die angemessene Berücksichtigung zu sichern“64;
die Antwort war vorauszusehen: „Ihre Darstellung, dass wir nunmehr Ihre Arbeit erschweren oder verhindern, ist eine ungeheure Verdrehung des wirklichen Tatbestandes. Ich betone erneut, dass die VVN es niemals abgelehnt hat, mit der Forschungsstelle zusammen zu arbeiten. Sie muss es aber eindeutig ablehnen, sich nur etwa mit einem Ressort, z. B. der des kommunistischen Widerstandes, zu beschäftigen. Vielleicht erkennen Sie aus diesen Zeilen, wie sehr durch die allgemeine Propaganda und Hetze auch in Ihnen der Eindruck erweckt wurde, die VVN sei eine kommunistische Organisation.“65
Wenn er ausschließlich an Material über den kommunistischen Widerstand interessiert sei, solle er sich an die KPD wenden. Erst im Laufe der folgenden Jahre entkrampfte sich die Beziehung zwischen der Forschungsstelle und der VVN; 1956 – im Jahr des KPD-Verbots – übermittelte auch diese Organisation Zahlen der während der NS-Zeit in Hamburg „aus Gründen der Gesinnung oder der rassischen Zugehörigkeit Inhaftierten und ums Leben Gekommenen“, die in einen Bericht für den Senat eingingen.66 Unterstützung bei ihren Recherchen zum Widerstand erhielt die Forschungsstelle seit ihrer Gründung lediglich von sozialdemokratischer Seite; in der Presse der Hamburger SPD wurde dafür geworben, Unterlagen zur Verfügung zu stellen, Bürgermeister Max Brauer67, aus dem Exil zurückgekehrt, Gustav Dahrendorf68, nach Kriegsende zunächst im sozialdemokratischen Parteivorstand in der SBZ, der Schriftsteller Walter Hammer69 und besonders der Senator Walter Schmedemann70,
62 Heffter an Schröder, 1.9.1950, in: ebd. 63 Schröder: Herrn Senator Landahl, 1.9.1950 mit handschriftlichem Vermerk von diesem am gleichen Tag: „Ja ich halte die Antwort für zweckmäßig.“, in: ebd. 64 Heffter an Heitgres, 4.9.1950, in: ebd. 65 Heitgres an Heffter, 5.9.1950, in: ebd. 66 Ausarbeitung der Forschungsstelle, 1.2.1956, in: ebd. 67 Heffter an Brauer, 29.9.1951; Brauer an Heffter, 11.5.1954; Brauer an Heffter, 18.8.1964, in: Archiv FZH, 376–21 (Korrespondenz der Forschungsstelle A–G). 68 Dahrendorf an Biermann, 5.5.1951, in: ebd. 69 Hammer an Heffter, 25.7.1951, 27.7.1951, 29.7.1951, in: Archiv FZH, 376–21 (Korrespondenz der Forschungsstelle H–K); Hammer übermittelte ca. 100 Adressen ehemaliger Angehöriger des Widerstands in Hamburg. 70 Heffter an Schmedemann, 14.7.1950 und 5.11.1951; Schmedemann an Heffter, 10.11.1951 und 16.11.1951, in: Archiv FZH, 376–21 (Korrespondenz der Forschungsstelle Sch).
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der in der NS-Zeit im Zuchthaus und im KZ inhaftiert gewesen war, gaben Auskunft und vermittelten Kontakte zu weiteren Zeitzeugen. Allerdings ließ sich auf dieser Basis der Widerstand in der Hansestadt nur ausschnitthaft erfassen, zumal etwa zum Reichsbanner schriftliches Material kaum noch vorhanden war. Hinzu kam das Misstrauen, das auch einige linke Sozialdemokraten der Forschungsstelle gegenüber zu entwickeln schienen.71 Über den Grund dafür lassen sich nur Vermutungen anstellen. Bei aller Diskretion ließ es sich offenbar nicht restlos geheim halten, dass neben der Befragung ehemaliger Widerstandskämpfer auch das Gespräch mit ehemaligen Nationalsozialisten gesucht wurde. Diese wiederum waren gegenüber der Forschungsstelle anfangs sehr misstrauisch, schon angesichts eventuell drohender justizieller Konsequenzen aufgrund ihrer Auskünfte, und mussten besonders sensibel umhegt werden. Eben für diese Aufgabe, das betonte Schulsenator Heinrich Landahl in einem Schreiben an das Organisationsamt des Senats vom 25. März 1952, sei Heffter sehr wichtig: „Mit feinem Takt hat er es u. a. verstanden, das Vertrauen ehemaliger Nationalsozialisten zu gewinnen und sie zur Hergabe wertvollen Materials zu veranlassen.“ Der „feine Takt“ bestand vor allem darin, immer wieder, hier gegenüber dem ehemaligen Altonaer NS-Oberbürgermeister Emil Brix, zu betonen, dass die Forschungsstelle „nichts mit politischer Entnazifizierung“ zu tun habe und „nur die Wahrheit ermitteln“ wolle.72 Vor allem auf zwei ehemalige Hamburger NS-Funktionäre konzentrierten sich erfolgreich solche Bemühungen, auf den nationalsozialistischen Bürgermeister Carl Vincent Krogmann (1889–1978) und den Gauleiter (1926–1928) und Hauptschriftleiter der Parteizeitung „Hamburger Tageblatt“ Albert Krebs (1899–1974), der im Mai 1932 wegen eines kritischen Artikels über General Kurt von Schleicher aus der NSDAP ausgeschlossen worden war. Dabei irritieren vor allem die offenbar herzlichen Beziehungen von Heffter zu Krogmann, der ausweislich seiner später im rechtsextremen Druffel-Verlag erschienenen Teil-Memoiren wenig dazu gelernt hatte.73 Die Forschungsstelle hingegen betrachtete sein Tagebuch als eine sehr „wertvolle Quelle“ und attestierte dem Verfasser, dass er „subjektiv sehr ehrlich“ sei.74 Mehr als 50 Briefe richteten Heffter und seine Kollegen an Krogmann, mehrfach traf sich der Leiter der Forschungsstelle mit dem ehemaligen NS-Bürgermeister im privaten Rahmen. Nach einem Besuch schrieb Heffter: „Darf ich Ihrer Frau
71 Vgl. 7. Bericht über vorläufige Zwischenergebnisse, 5.12.1952, in: Archiv FZH, 023/30 (Berichte). 72 Heffter an Brix, 20.6.1950, in: Archiv FZH, 376–21 (Korrespondenz der Forschungsstelle A– G). 73 Carl Vincent Krogmann, Es ging um Deutschlands Zukunft 1932–1939. Erlebtes täglich diktiert von dem früheren regierenden Bürgermeister von Hamburg, Leoni am Starnberger See 1976. 74 3. Bericht über vorläufige Forschungsergebnisse, o. D. (1950/51), in: Archiv FZH, 023/30 (Berichte).
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Gemahlin und Ihnen noch einmal meinen verbindlichsten Dank für die liebenswürdige Gastlichkeit in Ihrem schönen Heim sagen?“75 Die Erinnerungen von Krebs an die Frühzeit der NSDAP wurden von der Forschungsstelle bzw. der Schulbehörde mit 6.000 DM vergütet und erschienen in einer Reihe des Münchner Instituts für Zeitgeschichte.76 Offenbar diente es auch der Legitimation dieses sehr großzügig dotierten Werkvertrags, 1951 etwa das Zwanzigfache eines monatlichen Facharbeiterverdienstes, dass Heffter den ehemaligen Gauleiter als „entschiedenen Gegner Hitlers und seines Systems“ und „zum Kreis der Männer des 20. Juli“ gehörig auszeichnete.77 Es gab noch einige weitere ehemalige Nationalsozialisten, die ein Honorar für ihre autobiographischen Berichte erhielten, so etwa Max Baumann, Nachfolger von Hermann Okrass als Chefredakteur der NS-Postille „Hamburger Tageblatt“, dem für jeweils 100 Seiten über seine Tätigkeit 500 DM erstattet wurden78, oder der ehemalige SA-Führer Alfred Conn, der für ein Manuskript ebenso von der Schulbehörde entlohnt wurde.79 Ein besonderer Fall waren die Aufzeichnungen der vor 1933 mit dem Nationalsozialismus sympathisierenden Lehrerin Luise Solmitz, die mit einem jüdischen Mann verheiratet war. Für die Abfassung ihres Tagebuchs erhielt sie von der Schulbehörde 1951 eine Freistellung. Da eine Vergütung von Krogmann durch die Schulbehörde aus politischen Gründen nun doch nicht ratsam schien, versuchte Heffter für den ehemaligen NSBürgermeister bei Hamburger Wirtschaftskreisen eine Bezahlung anzuregen. An den Geschäftsführer des Afrika-Vereins Hamburg-Bremen, Günter Jantzen, schrieb er: „Da Herr Krogmann die Arbeit der Forschungsstelle freiwillig und sehr grosszügig unterstützt hat, ohne irgendwelche direkten Ansprüche zu stellen, fühle ich mich aus menschlicher Loyalität verpflichtet, seine (freilich wohl recht unbestimmten) finanziellen Wünsche nicht einfach zu überhören: deshalb bin ich als Gast in seinem Hause diesem Thema nicht völlig ausgewichen, und deshalb habe ich auch geglaubt, bei der jetzt fälligen Vorlegung von Abschriften usw. wieder nicht ausweichen zu sollen. (…) Ich wäre ein Narr, wenn ich glaubte, in meiner bescheidenen Stellung und als Nichthamburger eine solche Angelegenheit in Hamburg voranbringen zu können. Die Finanzierung viel kleinerer Forschungsobjekte ist schon recht schwierig; ich glaube, die Finanzbehörde wird immer sich gegenüber einer grösseren Anforderung
75 Heffter an Krogmann, 20.6.1953, in: Archiv FZH, 376–21 (Korrespondenz der Forschungsstelle H–K). 76 Albert Krebs, Tendenzen und Gestalten der NSDAP. Erinnerungen an die Frühzeit der Partei, Stuttgart 1959. 77 Bericht von Heffter, 12.6.1951, in: Archiv FZH, 376–1 (Personalangelegenheiten). 78 Heffter an Baumann, 11.2.1954; Baumann an Heffter, 13.8.1954, in: Archiv FZH, 376–21 (Korrespondenz A–G). 79 11. Bericht über vorläufige Forschungsergebnisse, 3.5.1954, in: Archiv FZH, 023/30 (Berichte).
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unzugänglich zeigen. Deshalb habe ich an das doch sehr starke Geschichtsinteresse und Traditionsgefühl der Althamburger gedacht, zumal der Kreise, zu denen ja Herr Krogmann selbst gehört.“80
Jantzen stimmte Heffter zu und versprach, „einige mir nahestehende Herrn aus der Kaufmannschaft“81 auf die Sache anzusprechen, allerdings waren seine Bemühungen offenbar nicht von Erfolg gekrönt. Legitimiert wurde die enge Zusammenarbeit mit Krogmann durch eine strikte Unterscheidung der „Ur-Nazis“ von den „Kollaborateuren“ aus den Reihen des Hamburger Bürgertums, deren Typus sich am sichtbarsten „in der Person Krogmanns verkörpert“; zwischen diesen „möchte ich doch einen sehr starken Trennungsstrich ziehen.“82 Die „Kollaborateure“, so Heffter, fühlten sich „von der kriminellen Schuld des nationalsozialistischen Gangstertums frei“ und hätten „ein gutes Gewissen“; daher würden sie, im Unterschied zu den „Ur-Nazis“, bereitwillig Auskunft geben.83 Zudem sei es besonders wichtig, so wurde in den Berichten an die Behörde immer wieder betont, die Frühgeschichte der NSDAP vor 1933 zu erkunden, um das spätere Herrschaftssystem zu begreifen.84 Diese Schwerpunktsetzung sollte die Forschung auch der zweiten Forschungsstelle seit 1960 grundlegend bestimmen.
4 VERNETZUNG IN DER ZUNFT Ein Feld mit anerkannten wissenschaftlichen Standards für die zeitgeschichtliche Erforschung der jüngsten Zeitgeschichte gab es zu Beginn der 1950er Jahre nicht. Dass Historiker mit thematischen Interessen im 19. Jahrhundert oder aber Journalisten und Vertreter sozialwissenschaftlicher Fächer als Leiter eines neuen zeitgeschichtlichen Instituts in Frage kamen, weil es für die neuen Aufgaben keine qualifizierten Kandidaten gab, zeigt dies deutlich. Die Verankerung der Hamburger Forschungsstelle in der Zunft erfolgte zunächst auf lokaler Ebene mit der Bestellung eines wissenschaftlichen Beirats im November 1952. Zur Begründung hatte Heffter angeführt, ein solcher Beirat helfe schon durch seine Existenz, „die wissenschaftliche NS-Forschung sichtbarer aus der allzu politischen Atmosphäre herauszuheben“85; das Gremium bestand aus zwei Ordinarien der Hamburger Universität, Fritz Fischer und Egmont Zechlin, dem sozialdemokratischen Ökonomen und Soziologen Heinz-Dietrich Ortlieb, dem Heffter nur zu gut bekannten Vertreter des Staats-
80 Heffter an Dr. G. Jantzen/Geschäftsführer des Afrika-Vereins Hamburg-Bremen e.V., 22.6. 1953, in: Archiv FZH, 376–21 (Korrespondenz Forschungsstelle A–G). 81 Jantzen an Heffter, 23.6,1953, in: ebd. 82 2. Bericht über vorläufige Forschungsergebnisse, 8.3.1950, in: Archiv FZH, 023–30 (Berichte). 83 Ebd. 84 10. Bericht über vorläufige Forschungsergebnisse, 30.12.1953, in: Archiv FZH, 023/30 (Berichte). 85 6. Bericht über vorläufige Forschungsergebnisse, 25.4.1952, in: ebd.
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archivs, Kurt Detlef Möller, und einem Vertreter der Schulbehörde als Vorsitzendem. Der Beirat, der in der Regel halbjährlich tagte, war ein wichtiger Schritt zur Vernetzung in der Stadt, denn mochte die außeruniversitäre Zeitgeschichtsforschung auch ein Novum darstellen, an der hamburgischen Universität gab es vielfältige empirische und theoretische, wenn auch partiell kompromittierte Traditionen der Zeitgeschichte in Lehre und Forschung.86 Nicht zuletzt der ehemalige nationalsozialistische Rektor, Gustav Adolf Rein, verstand sich auch als Zeithistoriker. Seine Gründung der Ranke-Gesellschaft mit dem Zweck, zeitgeschichtliche Sichtweisen jenseits alliierter re-education zu befördern, fand einflussreiche und finanzkräftige Gönner in der Hansestadt. Die Ranke-Gesellschaft sammelte nicht nur „amtsverdrängte“ ehemalige NS-Historiker; auch fast alle Professoren des Historischen Seminars gehörten ihr an. Mit Fritz Fischer, der allerdings nur an der vorbereitenden Sitzung teilgenommen hatte und sich danach abseits hielt87, und Egmont Zechlin kamen damit gleich zwei Mitglieder des Beirats aus diesem Umkreis. Werner Jochmann, seit 1960 erster Direktor der Forschungsstelle für die Geschichte des Nationalsozialismus in Hamburg, saß als Vertreter des akademischen Nachwuchses im Vorstand der Ranke-Gesellschaft.88 Demgegenüber fällt auf, dass Heffter, obwohl als Privatdozent dem Historischen Seminar zugehörig und als Zeithistoriker eigentlich besonders angesprochen, auf eine Mitgliedschaft offenbar keinen Wert legte. Die Einbeziehung von Kurt Detlef Möller in den Beirat verbesserte die zuvor angespannten Beziehungen zwischen Forschungsstelle und Staatsarchiv, zumal Heffter, der die Existenz der Forschungsstelle geradezu in der Widerlegung der „Kaufmann-Legende“ begründet gesehen hatte und noch Ende 1951 triumphierte, dass sich seine anfangs „in althamburgischen Historikerkreisen“ heftig kritisierte Position weithin durchgesetzt habe89, nun plötzlich Möller weitgehend Recht gab. Dieser freute sich, dass endlich auch Heffter in Kaufmann „einen der intelligentesten und maßvollsten Gauleiter“90 sehe, der bereits im Mai 1944 „nicht mehr auf dem Boden der Hitlerschen Kriegspolitik“ gestanden habe; er gab seiner Genugtuung Ausdruck, dass man gemeinsam davon ausgehe, dass Kaufmann „dem ausbrechenden Cäsarenwahnsinn der Berliner Clique widerstanden“ habe. Heffter wiede-
86 Vgl. Axel Schildt, Vom akademischen Randdasein ins Zentrum der Geschichtswissenschaft. Zeitgeschichte in Hamburg, in: Rainer Nicolaysen / Axel Schildt (Hgg.), 100 Jahre Geschichtswissenschaft in Hamburg, Berlin/Hamburg 2011, 271–294. 87 Vgl. Rainer Nicolaysen, Rebell wider Willen? Fritz Fischer und die Geschichte eines nationalen Tabubruchs, in: ders. / Schildt, 100 Jahre, 197–236, hier 217. 88 Vgl. zu den Gründerjahren der Ranke-Gesellschaft in Hamburg die informative Studie von Arnd Goede, Adolf Rein und die „Idee der politischen Universität“, Berlin/Hamburg 2008, 230–273. 89 5. Bericht über vorläufige Forschungsergebnisse, 7.11.1951, in: Archiv FZH, 023/30 (Berichte). 90 Heffter an Möller, 15.4.1953; Möller an Heffter, 28.4.1953; Heffter an Möller, 25.1.1954; Möller an Heffter, 1.2.1954, in: Archiv FZH, 376–21 (Korrespondenz L–M).
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rum erklärte zwar, es ginge ihm gar nicht um Kaufmann, sondern um das „terroristische System“, aber es war deutlich, dass er nachgegeben und eine freundliche Sicht des Hamburger Gauleiters in seine Legende vom hanseatischen Geist integriert hatte. Auf nationaler Ebene gab es zu Beginn der 1950er Jahre nur einen wichtigen Bezugspunkt: das Münchner Deutsche Institut zur Erforschung des Nationalsozialismus, seit 1952 als Institut für Zeitgeschichte firmierend. Heffter, der in seinem Vortrag vom November 1950 daneben noch das Nürnberger Staatsarchiv und das Göttinger Institut für Völkerrecht erwähnte91, anerkannte vorbehaltlos dessen führende Position. Die eigene Stärke sah man im lokal- bzw. regionalhistorischen Ansatz: „Im Übrigen aber ist die Hamburger Forschungsstelle anscheinend die einzige, die sich auf landesgeschichtlicher Basis in wirklich wissenschaftlicher Weise diesen Forschungsproblemen widmet, und eben weil sie sich von vornherein auf einen Teil des Ganzen beschränkt, könnte sie wohl am ehesten zu einem Ergebnis größeren Stils kommen.“92
Die Beziehungen zum Münchner Institut gestalteten sich geradezu herzlich, auch weil sich Heffter in den erbitterten Linienkämpfen zwischen nationalkonservativborussischer und abendländisch-katholischer Fraktion im Gründungsprozess93 auf die Seite der siegreichen Fraktion um Gerhard Ritter gestellt hatte. Heffter erklärte, „von Prof. Ritter habe ich eine sehr positive Ansicht“ 94 und unterhielt mit diesem eine freundschaftliche Korrespondenz95; den kurzzeitigen Generalsekretär Hermann Mau, Freyer-Schüler aus Leipzig, hatte er bereits vor dem Zweiten Weltkrieg
91 Kontakt bestand auch zu Prof. Wolfgang Abendroth, 1951 noch in der Akademie Wilhelmshaven-Rüstersiel; Heffter an Abendroth, 19.2.1951, in: Archiv FZH, 376–21 (Korrespondenz Forschungsstelle A–G); zudem gab es zwei Institute im Ausland, zu denen sporadische Kontakte bestanden, die Wiener Library in London und das niederländische Rijksinstitut voor Oorlogsdocumentatie; 10. Bericht über vorläufige Forschungsergebnisse, 30.12.1953, in: Archiv FZH, 023/30 (Berichte). 92 3. Bericht über vorläufige Forschungsergebnisse, o .D. (1951), in: Archiv FZH, 023/30 (Berichte); vgl. Kurzbericht über die bisherige und künftige Arbeit der Forschungsstelle, 4.9.1953, in: ebd. 93 Vgl. Winfried Schulze, Deutsche Geschichtswissenschaft nach 1945, München 1993, 229ff.; Axel Schildt, Zwischen Abendland und Amerika. Studien zur westdeutschen Ideenlandschaft der 50er Jahre, München 1999, 45ff.; ders., Zur Hochkonjunktur des „christlichen Abendlandes“ in der westdeutschen Geschichtsschreibung, in: Ulrich Pfeil (Hg.), Die Rückkehr der deutschen Geschichtswissenschaft in die „Ökumene der Historiker“. Ein wissenschaftsgeschichtlicher Ansatz, München 2008, 49–70, hier 64–70. 94 Heffter an Wolfgang Baader, 6.6.1951 (hier die Charakterisierung von Ritter), 12.6.1951, in: Archiv FZH, 376–21 (Korrespondenz Forschungsstelle A–G). 95 Vgl. Heffter an Ritter, 12.2.1952; Ritter an Heffter, 18.2.1952; Heffter an Ritter, 3.3.1952; Ritter sandte Heffter auch seine ausführliche Stellungnahme an den Beirat des Deutschen Instituts für Geschichte der Nationalsozialistischen Zeit vom 22.10.1951, in: Archiv FZH, 376–1 (Korrespondenz I–K); zur Affäre um „Hitlers Tischgespräche“; vgl. dazu Christoph Cornelißen, Gerhard Ritter. Geschichtswissenschaft und Politik im 20. Jahrhundert, Düsseldorf 2001, 539ff.
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gekannt. Mit Helmut Krausnick und Paul Kluke gab es einen freundlichen Austausch über diverse Fragen der Forschung; auch mit Hans Buchheim, dem „Leiter der historisch-politischen Abteilung“, der zunächst eher zur unterlegenen abendländisch-katholischen Fraktion gezählt hatte, ergab sich ein freundschaftlicher Kontakt, den vor allem Schottelius hielt. Aber auch Heffter kannte Buchheim gut aus Leipziger Tagen.96 In die zweite Nummer der neuen „Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte“ wurde eine kurze Selbstdarstellung der Hamburger Forschungsstelle aufgenommen.97 Einer der Herausgeber, Theodor Eschenburg, besuchte Heffter in der Hansestadt und bat ihn um eine regelmäßige Mitarbeit an der Zeitschrift. Nach dem Unfall-Tod von Mau im Oktober 1952 sprach Heffter in München mit den „Herren des Kuratoriums“, die ihm die Nachfolge als Generalsekretär des Instituts für Zeitgeschichte antrugen. Er zog es allerdings vor, in Hamburg zu bleiben, zumal man in München „mit den gleichen Schwierigkeiten zu kämpfen“ habe, nämlich, „erst einmal die nötige feste und breite Quellengrundlage zu schaffen, um dann mit zusammengefaßten Forschungsergebnissen hervortreten zu können.“98 Seit 1952/53 etwa empfand das kleine Hamburger Institut die reine Sammeltätigkeit nicht mehr als ausreichend. Mit einem Aufsatz über „Probleme der Geschichte des Nationalsozialismus“ in der Zeitschrift des Geschichtslehrerverbandes „Geschichte in Wissenschaft und Unterricht“ suchte Heffter die allgemeine Fachöffentlichkeit anzusprechen.99 Auch größere Publikationspläne wurden nun geschmiedet, wobei nicht nur der Beirat zur Vorsicht riet. Heffter selbst hatte die Münchner Blamage mit der Edition von „Hitlers Tischgesprächen“100 vor Augen, wenn er meinte, „als Auftakt einer Schriftenreihe einen Stoff zu wählen, der einen öffentlichen Streit vermeidet“101; als Titel der eigenen Schriftenreihe nannte er be-
96 3. Bericht über vorläufige Forschungsergebnisse, o. D. (1951), in: Archiv FZH, 023/30 (Berichte); der Briefwechsel Forschungsstelle-Institut für Zeitgeschichte in: Archiv FZH, 376–21 (Korrespondenz I–K). 97 Forschungsstelle für die Geschichte Hamburgs von 1933 bis 1945, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 2/1953, 194. 98 8. Bericht über vorläufige Forschungsergebnisse, 14.4.1953, in: Archiv FZH, 023/30 (Berichte). 99 Heinrich Heffter, Forschungsprobleme der Geschichte des Nationalsozialismus, in: GWU 4/1952, 197–215; tatsächlich fand der Aufsatz, der vor allem geistesgeschichtlich argumentierte, einige Beachtung; so wurde etwa der in den USA lehrende Historiker Fritz T. Epstein von der Wiener Library darauf aufmerksam gemacht; Epstein an Heffter, 3.3.1952, in: Archiv FZH, 376–21 (Korrespondenz A–G). 100 Henry Picker, Hitlers Tischgespräche im Führerhauptquartier 1941–42, Bonn 1951 (und zahlreiche weitere Ausgaben in verschiedenen Verlagen); die Herausgabe des als Quelle höchst zweifelhaften und von Banalitäten geprägten Textes war gegen viele Bedenken von Gerhard Ritter beim Institut für Zeitgeschichte durchgesetzt worden. Noch vor Erscheinen des Buches war bereits ein Vorabdruck in der Illustrierten Quick erschienen. 101 8. Bericht über vorläufige Forschungsergebnisse, 14.4.1953, in: Archiv FZH, 023/30 (Berichte).
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reits jenen, unter dem sie zehn Jahre später tatsächlich gegründet wurde: „Hamburger Beiträge zur Zeitgeschichte“.102 Als erste Titel wurden erwogen die Veröffentlichung der politischen Erinnerungen von Albert Krebs, die ja bereits großzügig subventioniert worden waren, der Bericht eines Hamburger Lehrers über Gaskriegsvorbereitungen, Auszüge aus Krogmanns Tagebuch, Hitlers Rede vor dem Hamburger Nationalclub am 28. Februar 1926103 und die „Rügener Denkschrift“ von Eiffe, einem einflussreichen Unternehmer, der die Nationalsozialisten unterstützt hatte. Man entschied sich schließlich für das Manuskript von Krebs; allerdings kam die Reihe nicht zustande, vor allem, weil der Verlag Hoffmann & Campe eine staatliche Absatzgarantie verlangte.104
5 ENDE UND NEUBEGINN DER FORSCHUNGSSTELLE Als sich auf der Basis der Sammlungstätigkeit 1953/54 die ersten Publikationspläne abzeichneten und drei Schwerpunkte künftiger Forschung – „Vor- und Frühgeschichte des NS“, die „Struktur des Herrschaftssystems“ und „Rassische Verfolgung“105 – konzipiert wurden, kam das Ende der Forschungsstelle. Nachdem Heffters Vertrag als Angestellter der Schulbehörde zweimal verlängert worden war, schied er zum 30. September 1954 auf eigenen Wunsch aus, um einem Ruf an die TH Braunschweig zu folgen. Als ein Jahr später Hassbargen starb, verblieb nur Schottelius in der Forschungsstelle, der jedoch nach einem weiteren Jahr ebenfalls ausschied. Der Senat, zu dieser Zeit regierte ein „Bürgerblock“ aus CDU, FDP und Deutscher Partei, ließ die Arbeit 1956 auslaufen. Die Interimszeit 1956 bis 1960, der Gründung der neuen Forschungsstelle, ist bisher noch wenig aufgehellt. Die abwartende und zögerliche Haltung des Senats ging sicherlich auch auf einen 24-seitigen Bericht des Rechnungshofs zurück, den dieser im Sommer 1956 dem Senat übersandte. Dieser Bericht gelangte zur Aussage: „Die durchgeführte Prüfung hat ergeben, dass die Forschungsstelle die ihr von Bürgerschaft und Senat gestellte Aufgabe – Untersuchung und Darstellung aller politisch und wirtschaftlich interessierenden Vorgänge der Zeit von 1933 bis 1945 – bisher in fast 7-jähriger Tätigkeit nicht erfüllt hat.“
102 9. Bericht über vorläufige Forschungsergebnisse, 5.9.1953, in: Archiv FZH, 023/30 (Berichte); der Titel der noch heute von der Forschungsstelle für Zeitgeschichte herausgegebenen Reihe wurde ab Bd. 10 erweitert in „Hamburger Beiträge zur Sozial- und Zeitgeschichte“. 103 Die Edition erfolgte später ebenfalls – als erste Veröffentlichung der Forschungsstelle für die Geschichte des Nationalsozialismus in Hamburg: Werner Jochmann, Im Kampf um die Macht. Hitlers Rede vor dem Hamburger Nationalklub von 1919, Frankfurt a. M. 1960. 104 Zusammenfassender Bericht, 22.2.1956, in: Archiv FZH, 023/30 (Berichte). 105 Ebd.; 1954/55 wurden daneben noch die Schwerpunkte „Luftkrieg und Luftschutz“ sowie „Kapitulation“ genannt.
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Die Forschungsstelle habe die sachlichen Probleme, zumal durch eine nicht sachgemäße geographische und zeitliche Ausweitung der Untersuchung, vor allem die aufwendige Generierung privater Quellen, nicht lösen können. Ein großer Teil der gesammelten Unterlagen sei von nicht sehr hohem Wert. Der Rechnungshof riet dazu, „die Erledigung der gestellten Forschungsaufgaben der Universität zu überlassen.“106 In den Verhandlungen der Jahre 1957 bis 1959, die seitens des Historischen Seminars vor allem von Fritz Fischer geführt wurden, brachte dieser von Anfang an seinen Assistenten Werner Jochmann als Leiter einer neuen Forschungsstelle ins Gespräch, der dann auch von der Philosophischen Fakultät offiziell vorgeschlagen wurde. Die neue Forschungsstelle, anzusiedeln am Historischen Seminar, sollte nicht mehr in erster Linie sammeln, sondern publizieren; der Untersuchungszeitraum solle auf die Zeit seit dem Ende des Ersten Weltkriegs ausgedehnt werden (was bei der alten Forschungsstelle praktisch bereits geschehen war), die Dienstaufsicht würden die Ordinarien Fischer und Zechlin wahrnehmen. Das Historische Seminar sollte auch das Vorschlagsrecht für die Besetzung der Stelle des Direktors der Forschungsstelle haben.107 Die Verteilung einer Senatsdrucksache dazu wurde allerdings von einem Senatssyndikus (Staatsrat) der Schulbehörde zunächst mit dem Argument gestoppt, dass die Schaffung von dauerhaften Planstellen für eine vermutlich nur zeitweilige Aufgabe nicht angängig sei.108 Als Ergebnis einer ausführlichen Besprechung beim Präses der Schulbehörde, nach der Bürgerschaftswahl vom 10. November 1957 war dies erneut der Sozialdemokrat Heinrich Landahl, wurde dennoch die Integration in die Universität bzw. eine „Abteilung Zeitgeschichte“ im Historischen Seminar und die Abgabe aller gesammelten Unterlagen an das Staatsarchiv bestätigt.109 Bis in den Sommer 1958 hinein war in allen behördlichen Unterlagen stets vom „Ausbau der zeitgeschichtlichen Abteilung“ des Historischen Seminars der Universität die Rede, wobei auffällt, dass weder von Fischer noch von Zechlin wirklich neue Gedanken für die Tätigkeit der künftigen Stelle eingebracht wurden. Ihre jeweiligen Arbeitspläne reproduzierten im Kern die bereits bekannten Schwerpunkte der alten Forschungsstelle. Der Plan einer Eingliederung in die Universität wurde im zweiten Halbjahr aber einvernehmlich wieder aufgegeben. Stattdessen setzte die Schulbehörde Anfang 1959 einen Arbeitsausschuss mit dem Auftrag ein, „geeignete Vorschläge für die baldige Wiederaufnahme der Arbeiten zu machen.“ Dem Ausschuss gehörten an: Werner Jochmann, Erich Lüth, Hans Robinsohn, Walter Tormin, Curt Zahn. Damit war eine Gruppe von engagierten Geschichtspolitikern aus dem liberalen und sozi-
106 Bericht des Rechnungshofs an den Senat gem. § 109 RHO über die Forschungsstelle für die Geschichte Hamburgs 1933 bis 1945, 21.7.1956; in: Archiv FZH, 376–21 (Abwicklung und Neugründung 1956–1977). 107 Vermerk über Besprechung in der Hochschulabteilung, 6.2.1957; Vermerk, 20.2.1957; Vermerk, 25.2.1957, in: ebd. 108 H. von Heppe an Senator Prof. Hans Wenke, 18.4.1957, in: ebd. 109 Besprechung bei Präses der Schulbehörde am 3.7.1957, in: ebd.
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aldemokratischen Spektrum bestimmt worden, die die Weichen für einen Neuanfang der NS-Forschung stellte. Erich Lüth, der langjährige Senatspressesprecher, kann als energischer Streiter gegen Antisemitismus und unermüdlicher Protagonist einer Aussöhnung mit Israel gelten.110 Walter Tormin, sozialdemokratischer Experte für Hochschulpolitik in der Bürgerschaft und bald darauf Leiter der Landeszentrale für politische Bildung, hatte selbst geschichtswissenschaftliche Ambitionen und förderte die neue Forschungsstelle später nach Kräften. Oberschulrat Curt Zahn repräsentierte jene Kräfte der Schulbehörde, die mit Überzeugung für die Aufklärung über die NS-Zeit eintraten; Hans Robinsohn hatte einer liberalen Widerstandsgruppe angehört; er sollte die neue Forschungsstelle gemeinsam mit Werner Jochmann leiten, der sich mittlerweile – an der Seite seines Lehrers Fritz Fischer – mit dem Wechsel von der mittelalterlichen zur Zeitgeschichte von konservativen Auffassungen immer weiter entfernt hatte.111 Bei der Gründung der neuen Forschungsstelle spielten wiederum außerwissenschaftliche Anstöße eine große Rolle. Vor dem Hintergrund einer ohnehin zu verzeichnenden zunehmenden Thematisierung der NS-Vergangenheit seit dem letzten Drittel der 1950er Jahre war es die Schändung der gerade eingeweihten Kölner Synagoge um die Jahreswende 1959/60, die auch in Hamburg ein enormes Medienecho zeitigte.112 Das Hamburger Abendblatt berichtete im Januar 1960 nahezu täglich über einzelne Ereignisse, den Fortgang von Ermittlungen, spekulierte über Täter, Hintermänner und einzelne Prozesse. Immerhin hatte ein Weißbuch der Bundesregierung von den insgesamt bis zum 28. Januar 1960 aufgelaufenen 685 Fällen antisemitischer Delikte 50 in Hamburg verortet. Der sozialdemokratische Bürgermeister Max Brauer wurde mit den Worten zitiert: „Eines haben die Vorgänge der letzten Zeit wohl mit geradezu erschreckender Deutlichkeit gezeigt: Wieviel Aufklärungsarbeit noch zu leisten ist.“ Bei den Beratungen in der Bürgerschaft über den Etat der Schulbehörde, der unter anderem die Gründung einer „Forschungsstelle für die Geschichte des Nationalsozialismus in Hamburg“ vorsah, spielte vor allem dieses Argument eine zentrale Rolle. Es hieße zwar die Reaktionen auf die antisemitische Schmierwelle zu überschätzen, wenn die Gründung der Forschungsstelle ausschließlich auf die aktuellen Vorkommnisse zurückgeführt würde, aber das Meinungsklima im Frühjahr
110 Eine umfassende Studie zu Erich Lüth wird von Kirsten Heinsohn vorbereitet. 111 Vgl. Fritz Fischer, Erinnerung an die Zeit der Zusammenarbeit mit Werner Jochmann, in: Ursula Büttner (Hg.), Das Unrechtsregime. Internationale Forschung über den Nationalsozialismus. Festschrift für Werner Jochmann zum 65. Geburtstag, Bd. I, Hamburg 1986, XI–XIV; Ursula Büttner, Werner Jochmanns Wirken als Leiter der Forschungsstelle für die Geschichte des Nationalsozialismus in Hamburg, in: ebd., XV–XXVII; ders., Werner Jochmann – ein Rückblick zum zehnten Todestag, in: FZH (Hg.), Zeitgeschichte in Hamburg 2004, Hamburg 2005, 11–13; Stefanie Schüler-Springorum, Werner Jochmann und die deutsch-jüdische Geschichte, in: ebd., 14–20. 112 Vgl. zum Folgenden mit Nachweis der Zitate Axel Schildt, „Schlafende Höllenhunde“. Reaktionen auf die antisemitische Schmierwelle 1959/60, in: Andreas Brämer / Stefanie SchülerSpringorum / Michael Studemund-Halévy (Hgg.), Aus den Quellen. Beiträge zur deutsch-jüdischen Geschichte. Festschrift für Ina Lorenz zum 65. Geburtstag, Hamburg 2005, 313–321.
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1960 unterstrich die Wichtigkeit des Vorhabens und sorgte für einen breiten Konsens in der Bürgerschaft. Die Wieder-Gründung der Forschungsstelle bedeutete zweifellos eine wichtige institutionelle Zäsur der außeruniversitären Zeitgeschichte, aber die Faktoren der Kontinuität hinsichtlich des Forschungsprogramms in den 1960er Jahren, einschließlich der Einbeziehung konservativer und nationalsozialistischer Angehöriger des Bürgertums als besonders honorigen Zeitzeugen, sind gleichwohl auffällig; auch die personelle Ausstattung des Instituts, Zeichen der Bedeutung wissenschaftlicher Erforschung der NS-Zeit in ihrem weiteren Kontext für die politische Kultur der Hansestadt, wurde erst im folgenden Jahrzehnt allmählich erweitert. Das Neue bestand zunächst vor allem in einer Hinwendung zur Öffentlichkeit, in der Realisierung jener publizistischen Pläne, vor allem der Gründung einer Buchreihe, die bereits 1953/54 erörtert worden waren.
FAZIT Die Institutionalisierung der außeruniversitären Zeitgeschichte in der frühen Bundesrepublik bezog ihre Legitimation aus der Erforschung des Nationalsozialismus. Dessen Untersuchung wiederum erfolgte – wie hier am lokalen Beispiel zu zeigen versucht wurde – in einem spannungsreichen Dreieck von historiographischer Aufklärung des verbrecherischen Charakters des NS-Regimes, weitgehender Entlastung der verantwortlichen politischen Eliten und der Konstruktion tröstlicher Legenden für den weltanschaulichen Komfort der – großstädtischen – Bürgerschaft in den Gründerjahren der Bundesrepublik. Im Laufe dieses Selbstverständigungsprozesses, für dessen Dynamik eher außerwissenschaftliche Gründe als fachinterne Diskurse maßgeblich waren, erweiterte sich allmählich der Untersuchungshorizont im Sinne des Postulats einer Einordnung der NS-Zeit in den Kontext zunächst der Zwischenkriegszeit und bald in die Geschichte seit dem späten Kaiserreich mit der Pointe, dass darüber die Untersuchung der NS-Zeit selbst nach 1960 sogar in den Hintergrund rücken sollte.
EINE „ACADEMIE FÜR DEUTSCHE GESCHICHTE“ Die Historische Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften in den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik Deutschland* Helmut Neuhaus
1 Zu den meisten Akademien der Wissenschaften, wie sie von der Mitte des 17. bis zum Anfang des 21. Jahrhunderts in Territorien des Heiligen Römischen Reiches, Staaten des Deutschen Bundes und des Deutschen Reiches sowie Ländern der Bundesrepublik Deutschland entstanden sind, gehörte und gehört die Pflege der Geschichtswissenschaft in ihren vielfältigen Teildisziplinen. In diesen Gelehrtengesellschaften wurde und wird zu einem großen Teil geisteswissenschaftliche Grundlagenforschung betrieben, die vor allem von der Antike bis in die Zeitgeschichte reichende Editionen, Lexika, Wörterbücher und Bibliographien hervorbringt. Die einzelnen Forschungsprojekte sind in unterschiedlicher Weise in den Akademien verankert1, etwa als Fachgebiete, Forschungsvorhaben oder Zentren der Akademien, innerhalb der geisteswissenschaftlichen Klassen in Arbeitsgruppen verschiedener Art oder in speziellen Forschungskommissionen oder als den Klassen zugeordnete Historische Kommissionen der Akademien wie zum Beispiel bei der 1846 gegründeten Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig2 und der ein
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Es kommt der nur geringfügig erweiterte Vortrag zum Abdruck, den ich am 4. Oktober 2012 in Köln gehalten habe, ergänzt um notwendige Quellenangaben und Literaturhinweise. Die Karten in den Abb. 1 und 2 hat nach meinen Entwürfen Rudolf Rössler, Institut für Geographie der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg gezeichnet. Vgl. zum Beispiel Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften (vormals Preußische Akademie der Wissenschaften), Jahrbuch 2010, Berlin 2011; Jahrbuch der Heidelberger Akademie der Wissenschaften für 2011, Heidelberg 2012; Jahrbuch der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen 2011, Berlin, New York 2012. Heiner Kaden (Hg.), Sächsische Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, Jahrbuch 20092010, Stuttgart, Leipzig 2011. So ist die Historische Kommission bei der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig zum Beispiel Herausgeberin der Edition Politische Korrespondenz des Herzogs und Kurfürsten Moritz von Sachsen, 5 Bde., Leipzig 1900, 1904, Berlin 1978, 1992, 1998.
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Jahr später ihre Arbeit aufnehmenden Österreichischen Akademie der Wissenschaften3. Die Philosophisch-historische Klasse der jetzt zweieinhalb Jahrhunderte bestehenden Bayerischen Akademie der Wissenschaften hat derzeit 25 Kommissionen, darunter die 1927 gegründete „Kommission für bayerische Landesgeschichte mit Institut für Volkskunde“ und die seit 1962 bestehende „Kommission für Sozialund Wirtschaftsgeschichte“4, aber keine Historische Kommission, denn diese ist seit ihrer Gründung „bei“ ihr angesiedelt. Und das hat historische Gründe5. Am Anfang stand des Historikers Leopold von Ranke dem Bayerischen König Maximilian II. Joseph (1811–1864), seinem Berliner Hörer, nahegebrachter „Plan“ zur „Gründung einer ‘Maximilians-Academie für deutsche Geschichte’“ unter dem Protektorat des Monarchen, der mit der Konstituierung der „Commission für deutsche Geschichte und Quellenforschung bei der K[öniglichen] Academie der Wissenschaften“ vom 29. September bis 1. Oktober 1858 in den Diensträumen des Akademiepräsidenten Friedrich von Thiersch Realität wurde. Heinrich von Sybel, der damalige Münchener Lehrstuhlinhaber für Geschichte6, unterstützte Rankes Plan – „die hohe Bedeutung einer solchen Academie für die Wissenschaft“ hervorhebend – und wirkte an seiner Umsetzung vor Ort tatkräftig mit. „Die historischen Classen der bestehenden Academien sind“ – wie er im Vorfeld der Gründung am 9. Mai 1858 in einem Brief an das königliche Kabinett schrieb –, „eine jede durch besondere Verhältnisse, entweder unthätig, oder fast ausschließlich der Localgeschichte ihres besonderen Staates zugewandt. Es fehlt durchaus an einem äußeren Mittelpunkte“ – fuhr er noch ganz unter dem Eindruck des Ausbleibens der deutschen Einheit in den Ereignissen der Jahre 1848/49 fort –, „um den sich die wissenschaftlichen Arbeiten der allgemeinen deutschen Geschichte gruppieren könnten.“7 Noch deutlicher gab er zu bedenken, „daß Deutschland entfernt noch kein Quellenwerk besitzt, welches sich den französischen ‘Document inédit’ zur Seite stellen könnte“,
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Hedwig Kopetz, Die Österreichische Akademie der Wissenschaften. Aufgaben, Rechtsstellung, Organisation (= Studien zu Politik und Verwaltung, Bd. 88), Wien 2006. Bayerische Akademie der Wissenschaften, Jahrbuch 2011, München 2012, 71–80. Vgl. Lothar Gall (Hg.), „… für deutsche Geschichts- und Quellenforschung“. 150 Jahre Historische Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, München 2008; Helmut Neuhaus, 150 Jahre Historische Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Eine Chronik, München 2008; Helmut Neuhaus, Die Historische Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, in: Helmut Neuhaus (Hg.), Erlanger Editionen. Grundlagenforschung durch Quelleneditionen: Berichte und Studien (= Erlanger Studien zur Geschichte, Bd. 8), Erlangen, Jena 2009, 29–45. – Vor allem auf diese Arbeiten stütze ich mich im Folgenden bei Namen, Daten und Fakten, ohne sie jeweils gesondert auszuweisen. Siehe jetzt: Hans-Michael Körner, Heinrich von Sybel (1817–1895), in: Katharina Weigand (Hg.), Münchner Historiker zwischen Politik und Wissenschaft. 150 Jahre Historisches Seminar der Ludwig-Maximilians-Universität (= Beiträge zur Geschichte der Ludwig-MaximiliansUniversität München, Bd. 5), München 2010, 79–94. Schreiben Heinrichs von Sybel vom 9. Mai 1858: Bayerisches Hauptstaatsarchiv, München, Abt. III, Geheimes Hausarchiv, Kabinettsakten König Maximilians II., 96b, Nr. 24.9.1, fol. 1r3v (Original), hier fol. 1r.
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und er gab sich überzeugt, daß „die Stiftung der Academie [für deutsche Geschichte] (…) mit einem Schlage ein ganz neues Leben auf einem bisher fast brach liegenden Gebiete hervorbringen [würde].“8 So ist es gekommen und bis heute geblieben: Das Aufgabenfeld der Historischen Kommission ist die ganze deutsche Geschichte vom Spätmittelalter bis zum 20. Jahrhundert. Allgemein stellte sich Sybel die „Bildung und Beschäftigung einer historischen Schule am hiesigen Orte“ vor, also in München, machte ganz konkret Vorschläge für Editionsprojekte etwa zur Verwaltungsgeschichte oder zur Korrespondenz des bayerischen Kurfürsten Maximilian I. (1573–1651) mit dem Feldherren Johann Tserclaes Graf von Tilly (1559–1632) und war überzeugt, dass sich „die Herausgabe der Reichstagsacten (…) von selbst den Arbeiten der Academie [für deutsche Geschichte] einordnen“ würde9, denn deren Edition ging auf Planungen seit den 1830er Jahren zurück, und der Münchner, dann Bonner Ordinarius wurde deren erster (Ober-)Leiter bis in sein Todesjahr 189510. Das „wichtige historische Fach“ wäre seiner optimistischen Ansicht nach in einer solchen Akademie der Geschichtswissenschaft ohne „zusätzliche Belastung (…) sofort auf das Trefflichste organisiert“11. Für ein zu errichtendes Statut, das König Maximilian II. am 26. November 1858 nicht für eine „Maximilians-Academie für deutsche Geschichte“, sondern nach dem Vorbild der 1852 von ihm gegründeten „naturwissenschaftlich-technischen Commission“12 für die „historische Commission bei der Königlichen Akademie der Wissenschaften“ als deren „integrirenden Theil“ erließ13 – weil in München nicht zwei Akademien nebeneinander bestehen sollten –, machte Sybel Vorschläge, die dann während der unter seiner Leitung stattfindenden konstituierenden Sitzung diskutiert und in ihrer Grundstruktur und Aufgabenstellung rechtskräftig wurden und bis heute blieben.
8 Ebd., fol. 1r,v. 9 Ebd., fol. 1v. 10 Eike Wolgast, Deutsche Reichstagsakten, in: Gall (Hg.), „… für deutsche Geschichts- und Quellenforschung“ (wie Anm. 5), 79–120. 11 Schreiben Heinrichs von Sybel vom 9. Mai 1858 (wie Anm. 7), fol. 2r. 12 Siehe zu ihr, die König Ludwig II. wieder aufhob, Sylvia Krauss, Die Naturwissenschaftlichtechnische Kommission bei der Königlich Bayerischen Akademie der Wissenschaften, in: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 72, 2009, 537–570; ebd., 562–569: „Die Naturwissenschaftlich-technische Kommission als Modell für die Historische Kommission“. Siehe ferner: Sylvia Krauss, „Wissenschaftlicher Charakter, praktische Tendenz.“ Die Gründung der naturwissenschaftlich-technischen Kommission, in: Ulrike Leutheusser / Heinrich Nöth (Hgg.), „Dem Geist alle Tore öffnen.“ König Maximilian II. von Bayern und die Wissenschaft, München 2009, 32–43. 13 Archiv der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften München: Generalakten, 1. Die Gründung der Historischen Kommission, Band 1; 2. Statuten, Band 2 (nicht foliiert). Das Statut findet sich zuletzt abgedruckt in: [Georg Kalmer (Bearb.)], Historische Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 1858–1983, München 1984, 47–50.
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2 An der Grundstruktur einer sich in der Regel einmal jährlich in einer Plenarversammlung zusammenfindenden Gelehrtengesellschaft von 15 bis 20 Mitgliedern14 „aus den wissenschaftlichen Nobilitäten Deutschlands und den deutschen Provinzen der Nachbarstaaten“ mit einem Vorstand und einem Sekretär an der Spitze hielt man nach dem auch in der Geschichte der Historischen Kommission tiefsten Einschnitt des Zweiten Weltkrieges ebenso fest wie an den Aufgabenstellungen der „Auffindung und Herausgabe werthvollen Quellenmaterials für die deutsche Geschichte in deren ganzen Umfange“, der Anregung und Drucklegung „hervorragende[r] wissenschaftliche[r] Arbeiten dieses Gebietes“15 sowie – von Ranke schon in der konstituierenden Sitzung vorgeschlagen – der Erarbeitung eines Werkes „in lexikalischer Form“ mit „allgemeine[n] Lebensbeschreibung[en] der namhaftesten Deutschen“16. In dem an den Vorgänger von 1858 ausdrücklich anknüpfenden neuen Statut vom 29. September 1953 wurde als Aufgabe „die Veröffentlichung von Quellen und Darstellungen zur deutschen Geschichte“ formuliert, aus dem „Vorstand“ wurde der „Präsident“, die Zahl der ordentlichen Mitglieder mit dem Zusatz „höchstens 25“ festgelegt, allerdings auch, dass „die über 70 Jahre alten Mitglieder (…) in die Zahl der ordentlichen Mitglieder nicht eingerechnet [werden]“17, was angesichts der allgemein eingetretenen höheren Lebenserwartung der Menschen dazu geführt hat, dass die Kommission im Jahr 2012 über 40 ordentliche Mitglieder mit gleichen Rechten und Pflichten hatte, darunter neun über 70jährige und zehn über 80jährige18. Der Neubeginn der Historischen Kommission nach dem Ende von nationalsozialistischer Diktatur und Zweitem Weltkrieg wird am deutlichsten an ihrer perso-
14 Siehe Abb. 1 (S. 213): Wirkungsstätten der ordentlichen Mitglieder 1858. Zu den einzelnen Personen erste Informationen bei Karl-Ulrich Gelberg, Die ordentlichen Mitglieder der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften (Stand Mai 2007), in: Gall (Hg.), „… für deutsche Geschichts- und Quellenforschung“ (wie Anm. 5), 271–303; siehe auch: http://www.historischekommission-muenchen.de/typo3/organisation/leitung/ aktuellemitglieder/mitglieder-seit-1858/a.html. 15 Vgl. den Text des Statuts bei [Kalmer (Bearb.)], Historische Kommission (wie Anm. 13), 47 f. 16 Leopold Ranke, Denkschrift, in: Historische Zeitschrift 1 (1859), 28–35, hier 35. Siehe auch Hans Günter Hockerts, Vom nationalen Denkmal zum biographischen Portal. Die Geschichte von ADB und NDB 1858–2008, in: Gall (Hg.), „… für deutsche Geschichts- und Quellenforschung“ (wie Anm. 5), 229–269. 17 Der Text des bis heute gültigen Statuts vom 29. September 1953 ebenfalls bei [Kalmer (Bearb.)], Historische Kommission (wie Anm. 13), 51–53, hier 53; in der Fassung vom 2. März 2010 unter: http://www.historischekommission-muenchen.de/typo3/organisation/historischekommission/statut.html. 18 Vgl. zuletzt: Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften (Hg.), Jahresbericht 2011, München 2012, 32 (auch: http://www.historischekommissionmuenchen.de/fileadmin/user_upload/pdf/jahresberichte/jahresbericht2011.pdf); Jahrbuch 2011 der Bayerischen Akademie der Wissenschaften (wie Anm. 4), 90.
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Ordentliche Mitglieder 1858 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14. 15. 16. 17. 18.
Leopold Ranke, Berlin Georg Heinrich Pertz, Berlin Jacob Grimm, Berlin Joseph Chmel, Wien Christoph Friedrich Stälin, Stuttgart Georg Waitz, Göttingen Johann Gustav Droysen, Jena Ludwig Häusser, Heidelberg Johann Martin Lappenberg, Hamburg Wilhelm Giesebrecht, Königsberg Carl Adolf Cornelius, München Franz Löher, München Karl Hegel, Erlangen Franz Xaver Wegele, Würzburg Heinrich Föringer, München Georg Thomas von Rudhart, München Heinrich von Sybel, München Karl Spruner von Mertz, München
Abb. 1: Wirkungsstätten der ordentlichen Mitglieder 1858
nellen Zusammensetzung19. Nachdem es die letzten Zuwahlen vor dem Krieg, im Jahre 1934 und dann erst wieder 1943 eine Jahresversammlung mit nur einer Zuwahl, der des Direktors des Wiener Haus-, Hof- und Staatsarchivs Ludwig Bittner, gegeben hatte, gehörten dem nächsten Plenum am 28. September 1946, dem ersten nach dem Krieg nur noch neun ordentliche Mitglieder an, die mit ihrer Wahl von 13 neuen Kollegen – so viele wie nie zuvor und auch später nicht mehr20 – „faktisch eine Neugründung“21 der Kommission vornahmen. Seit 1934 waren 16 ordentliche Mitglieder durch Tod ausgeschieden, darunter der 1940 aus dem Deutschen Reich
19 Zum Grundproblem: Winfried Schulze, Deutsche Geschichtswissenschaft nach 1945 (= Historische Zeitschrift, Beihefte [Neue Folge], Bd. 10), München 1989; Ernst Schulin (Hg. unter Mitarbeit von Elisabeth Müller-Luckner), Deutsche Geschichtswissenschaft nach dem Zweiten Weltkrieg (1945–1965) (= Schriften des Historischen Kollegs, Kolloquien, Bd. 14), München 1989; Winfried Schulze/Otto Gerhard Oexle (hgg. unter Mitarbeit von Gerd Helm und Thomas Ott), Deutsche Historiker im Nationalsozialismus (= Fischer Taschenbuch, Die Zeit des Nationalsozialismus, Bd. 14606), Frankfurt am Main 1999; Ulrich Pfeil (Hg.), Die Rückkehr der deutschen Geschichtswissenschaft in die „Ökumene der Historiker“. Ein wissenschaftsgeschichtlicher Ansatz (= Pariser Historische Studien, Bd. 89), München 2008; Winfried Schulze, Doppelte Entnazifizierung. Geisteswissenschaften nach 1945, in: Helmut König / Wolfgang Kuhlmann / Klaus Schwabe (Hgg.), Vertuschte Vergangenheit. Der Fall Schwerte und die NSVergangenheit der deutschen Hochschulen (= Beck’sche Reihe, Bd. 1204), München 1997, 257–286, 342–348. 20 Vgl. die Übersicht bei Neuhaus, 150 Jahre (wie Anm. 5), 175–180 (Falttafel). 21 Lothar Gall, 150 Jahre Historische Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, in: ders. (Hg.), „… für deutsche Geschichts- und Quellenforschung“ (wie Anm. 5), 7–57, hier 36.
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ausgebürgerte Friedensnobelpreisträger Ludwig Quidde am 5. März 1941 in Genf22, der Kölner Stadtarchivar Joseph Hansen am 29. Juni 1943 bei einem Luftangriff auf die Stadt, der Wiener Ludwig Bittner, ein überzeugter Nationalsozialist, zusammen mit seiner Frau am 3. April 1945 durch Freitod23 und zuletzt am 22. Januar 1946 in Leipzig Erich Brandenburg sowie am 9. März 1946 in Göttingen Karl Brandi, der Biograph Kaiser Karls V.24 Zwei Mitglieder – und das war neu, denn die Mitgliedschaft in der Historischen Kommission war auf lebenslängliche Dauer angelegt25 – verloren ihre Zugehörigkeit aufgrund von Entscheidungen der amerikanischen Militärregierung26: Das war zum einen Karl Alexander von Müller, Präsident der Bayerischen Akademie der Wissenschaften von 1936 bis 1944, aus der er am 23. September 1945 freiwillig ausgetreten war, ehemaliger Sekretär (1928–1945) und nach dem Tod von Erich Marcks von 1938 bis 1942 Verwalter des Vorstandsamtes der Historischen Kommission, der schon seit Mai 1933 Mitglied der NSDAP gewesen war27. Nach seinem Ausschluss aus der Kommission versuchte er bis in die 1950/1960er Jahre hinein mehrfach erfolglos, wieder ihr Mitglied oder zumindest in ihren Listen geführt zu werden28. Das andere ausgeschlossene Mitglied war Heinrich Ritter von Srbik, Präsident der Österreichischen Akademie der Wissenschaften von 1938 bis 1945, seit dem „Anschluß“ Österreichs an das Deutsche Reich 1938 Mitglied der NSDAP und
22 Zu ihm hier lediglich Karl Holl, Quidde, Ludwig, in: NDB 21 (2003), 45–47. 23 Thomas Just, Ludwig Bittner (1877–1945). Ein politischer Archivar, in: Karel Hruza (Hg.), Österreichische Historiker 1900–1945. Lebensläufe und Karrieren in Österreich, Deutschland und der Tschechoslowakei in wissenschaftsgeschichtlichen Porträts, Wien 2008, 283–305. 24 Siehe zu allen Mitgliedern Gelberg, Die ordentlichen Mitglieder (wie Anm. 14), sowie http://www.historischekommission-muenchen.de/typo3/organisation/leitung/aktuelle-mitglieder/mitglieder-seit-1858/a.html. – Die übrigen Todesfälle ab 1934: Hermann Bächtold (1934), Jakob Strieder (1936), Erich Marcks (1938), Heinrich Finke (1938), Aloys Schulte (1941), Oswald Redlich (1944), Paul Fridolin Kehr (1944), Arnold Oskar Meyer (1944), Richard Fester (1945), Georg Leidinger (1945), Hermann Oncken (1945). 25 Bis 1945 – und dann bis zum Ende des 20. Jahrhunderts – hatte es lediglich zwei freiwillige Austritte gegeben: 1871 Johann Gustav Droysen (1808–1884) und 1910 Lujo Brentano (1844– 1931). Das Statut enthält bis heute keine Bestimmungen über die Beendigung der Mitgliedschaft. 26 Karl Alexander von Müllers Dienstenthebung datiert vom 12. Dezember 1945: Bayerisches Hauptstaatsarchiv, München: NL Müller 2. 27 Zu ihm Matthias Berg, „Morgen beginnen die ersten Detonationen“. Karl Alexander von Müller und die Bayerische Akademie der Wissenschaften, in: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte, Bd. 72, 2009, 643–681; Winfried Schulze, Karl Alexander von Müller (1882–1964), in: Weigand (Hg.), Münchner Historiker zwischen Politik und Wissenschaft (wie Anm. 6), 205– 231; Matthias Berg, Der Historiker Karl Alexander von Müller und die deutsche Geschichtswissenschaft zwischen spätem Kaiserreich und Bundesrepublik (= Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 87), Göttingen 2013. 28 Umfangreiche Korrespondenz Karl Alexanders von Müller, insbesondere mit Walter Goetz: Bayerisches Hauptstaatsarchiv, München: NL Müller 2 und 4.
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bis 1945 Mitglied des Großdeutschen Reichstages29. Er war am 13. März 1942 von einer von von Müller als „Sekretär [und] Vorsitzende[m]“ geleiteten „erweiterten Abteilungsleitersitzung“ – da kriegsbedingt keine ordnungsgemäße Jahresversammlung stattfinden konnte –, zum Vorstand der Historischen Kommission gewählt und vom Reichsminister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung ernannt worden; für die in München nicht anwesenden Mitglieder war zur Stimmabgabe ein schriftliches Verfahren vorgesehen. Der von Karl Brandi vorgetragenen Bitte, Srbik möge „sich angesichts des gesamtdeutschen Charakters der Kommission einer Wahl zum Präsidenten nicht (…) entziehen“, entsprach der österreichische Historiker30. In der einzigen von ihm geleiteten, nur von der Hälfte der Mitglieder besuchten Plenarversammlung am 31. März 1943 wurde die Umbenennung der Kommission in „Gesamtdeutsche Historische Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften“ beschlossen und am 25. Juni 1943 in einem von von Srbik und von Müller unterzeichneten Schreiben dem Münchener Staatsministerium für Unterricht und Kultus mitgeteilt31. Von den 1946 verbliebenen neun Kommissionsmitgliedern kamen Walter Goetz und Heinrich Günter aus München, Friedrich Meinecke und Albert Brackmann aus Berlin, Alfons Dopsch aus Wien, Hans Nabholz aus Zürich, Willy Andreas aus Heidelberg, Hermann Aubin aus Göttingen und Hermann Heimpel aus Leipzig. Dabei ist als Besonderheit festzuhalten, dass Heimpel, damals das mit 44 Jahren jüngste Mitglied, zwar seit 1938 als ordentliches Mitglied der Historischen Kommission geführt wurde, aber nie gewählt worden war. Er war schon – obwohl nicht dazu gehörend – am 30. September 1935 aus aktenmäßig nicht nachzuvollziehenden Gründen in einer Münchener Abteilungsleiter-Sitzung zum Nachfolger Ludwig Quiddes als Leiter der Abteilung „Deutsche Reichstagsakten, Ältere Reihe“ bestellt worden32. Von allen neun Mitgliedern war der 83jährige Meinecke das älteste. Bis auf Heimpel, Aubin und Andreas waren alle anderen älter als 70 Jahre, was insgesamt einen Durchschnitt von etwas über 69 Jahren ergibt, ohne Heimpel etwas über 72. In seinem Schreiben vom 3. Dezember 1945 aus München „An die Herren ordentlichen Mitglieder der Historischen Kommission“ hatte Goetz
29 Zu ihm Fritz Fellner, Heinrich von Srbik, „Urenkelschüler Rankes“, in: Fritz Fellner, Geschichtsschreibung und nationale Identität. Probleme und Leistungen der österreichischen Geschichtswissenschaft, Wien 2002, 330–345; siehe auch Fritz Fellner, Doris A. Corradini, Österreichische Geschichtswissenschaft im 20. Jahrhundert. Ein biographisch-bibliographisches Lexikon, Wien, Köln Weimar 2006, 385f. 30 Archiv der Historischen Kommission, München: Band 122: „Niederschrift über die erweiterte Abteilungsleitersitzung der Historischen Kommission am 13. März 1942 im Präsidialzimmer der Akademie der Wissenschaften zu München“, hier 17. 31 Archiv der Historischen Kommission, München: Band 122: „Niederschrift über die Vollversammlung der gesamtdeutschen Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, München 31. März 1943“ und Schreiben von Srbiks und von Müllers vom 25. Juni 1943. 32 Archiv der Historischen Kommission, München: Band 122: Protokoll der Abteilungsleiter-Sitzung vom 30. September 1935, 3.
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mit Blick auf die in Aussicht genommenen Zuwahlen betont: „es muß eine jüngere Generation rechtzeitig herangezogen werden.“33 Die dreizehn am 28. September 1946 hinzugewählten Mitglieder34, deren Biographien – wie die der neun bisherigen, aber auch der später neugewählten – auf unterschiedliche Nähe oder Distanz zum Nationalsozialismus verweisen35, waren zwischen 52 (Max Spindler) und 71 Jahren (Martin Grabmann) alt, im Durchschnitt 58 ½ Jahre und bis auf Grabmann unterhalb der Emeritierungsgrenze, was für die gesamte Kommission einen Durchschnitt von nicht ganz 63 Jahren bedeutete. Drei von ihnen kamen aus München (Grabmann, Rudolf von Heckel und Spindler), zwei aus Berlin (Friedrich Baethgen und Fritz Hartung36), ferner Ludwig Dehio aus Marburg, Karl Griewank aus Jena, Herbert Grundmann aus Münster, Walther Holtzmann aus Bonn, Johannes Kühn aus Dresden, Peter Rassow aus Köln, Gerhard Ritter aus Freiburg im Breisgau und Rudolf Stadelmann aus Tübingen37. Nimmt man die zwischen 1947 und 1962, also in den langen 1950er Jahren hinzugewählten und an die Stelle Verstorbener tretenden 16 Mitglieder hinzu – u. a. Franz Schnabel, Max Braubach, Percy Ernst Schramm, Otto Brunner, Hans Rothfels, Theodor Schieder, Theodor Schieffer, Gerd Tellenbach, Werner Conze, Karl Dietrich Erdmann, Karl Bosl –, dann setzte sich die Historische Kommission in den Jahren der frühen Bundesrepublik Deutschland maßgeblich aus den Historikern zusammen, die in Forschung und Lehre in ihren mehr und mehr gepflegten Teilfächern, aber auch weit darüber hinaus für lange Zeit national tonangebend und einflussreich waren und es zum Teil international wurden. Erster Vorstand in der Phase des Neuanfangs wurde der bereits 78jährige Walter Goetz, der – seit 1913 Mitglied der Kommission, 1933 als Leipziger Lehrstuhlinhaber von den Nationalsozialisten abgesetzt und 1935 emeritiert – im Einvernehmen zwischen dem Bayerischen Staatsministerium für Unterricht und Kultus und dem Präsidenten der Bayerischen Akademie der Wissenschaften in dieses Amt eingesetzt und darin von der amerikanische Militärregierung bestätigt worden war38.
33 Archiv der Historischen Kommission, München: Band 124: Schreiben von Walter Goetz an die ordentlichen Mitglieder vom 3. Dezember 1945 (ohne Nennung Max Spindlers), 1–5, hier 1. 34 Archiv der Historischen Kommission, München: Band 124: „Niederschrift über die Sitzung der Historischen Kommission am 28. Sept. 1946“; Bayerisches Hauptstaatsarchiv, München: MK 71106: Briefliche Mitteilung von Walter Goetz als „kommissarischer Leiter der Historischen Kommission“ über die Wahl der neuen Mitglieder an das Ministerium für Unterricht und Kultus in München vom 3. Oktober 1946 mit der Bitte um Bestätigung (ohne Nennung Martin Grabmanns und Johannes Kühns). 35 Eine zusammenfassende, über Einzelbeobachtungen hinausgehende Untersuchung hierzu fehlt. 36 Zu ihm neuerdings: Hans-Christof Kraus, Fritz Hartung, in: ders. (Hg.), Geisteswissenschaftler II (= Berliner Lebensbilder, Bd. 10), Berlin 2012, 307–327. 37 Siehe Abb. 2 (S. 217): Wirkungsstätten der ordentlichen Mitglieder Ende 1946. 38 Archiv der Historischen Kommission, München: Band 124; zu Goetz siehe Wolf Volker Weigand, Walter Wilhelm Goetz 1867–1958. Eine biographische Studie über den Historiker, Politiker und Publizisten (= Schriften des Bundesarchivs, Bd. 40), Boppard am Rhein 1992.
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Ihm folgten 1951 Franz Schnabel39 und 1959 Hermann Aubin40, bis dann 1964 die zwei Jahrzehnte währende Epoche Theodor Schieders41 begann. Ordentliche Mitglieder Ende 1946
Abb. 2: Wirkungsstätten der ordentlichen Mitglieder Ende 1946
1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14. 15. 16. 17. 18. 19. 20. 21. 22.
Walter Goetz, München (seit 1913) Friedrich Meinecke, Berlin (seit 1916) Alfons Dopsch, Wien (seit 1920) Albert Brackmann, Berlin (seit 1928) Hans Nabholz, Zürich (seit 1928) Willy Andreas, Heidelberg (seit 1930) Heinrich Günter, München (seit 1930) Hermann Aubin, Göttingen (seit 1932) Hermann Heimpel, Göttingen (seit 1938) Friedrich Baethgen, Berlin (seit 1946) Ludwig Dehio, Marburg (seit 1946) Martin Grabmann, München (seit 1946) Karl Griewank, Jena (seit 1946) Herbert Grundmann, Münster (seit 1946) Fritz Hartung, Berlin (seit 1946) Rudolf von Heckel, München (seit 1946) Walther Holtzmann, Bonn (seit 1946) Johannes Kühn, Dresden (seit 1946) Peter Rassow, Köln (seit 1946) Gerhard Ritter, Freiburg i. Br. (seit 1946) Max Spindler, München (seit 1946) Rudolf Stadelmann, Tübingen (seit 1946)
Die Zusammensetzung der Historischen Kommission änderte sich mit Blick auf die Wirkungsstätten aller Mitglieder ab 1946 im Prinzip nicht, denn sie kamen von 22 Universitäten, die in allen Besatzungszonen Deutschlands und in Berlin lagen, sowie je eines aus Wien und Zürich. Mit dem Wechsel Aubins von Göttingen nach Hamburg und der Wahl des Kielers Erdmann 1961 waren auch die beiden norddeutschen Universitäten berücksichtigt, mit dem aus Prag geflohenen Anton Ernstberger und Götz Freiherr von Pölnitz kamen 1958 zwei Erlanger hinzu. Von Anfang an waren – entsprechend dem Forschungsauftrag – ganz Deutschland (1858 einschließlich des preußischen Königsbergs), Österreich und die Schweiz die Hauptrekrutierungsgebiete, was sich nur in der Zeit der Existenz der Deutschen Demo-
39 Zu ihm zuletzt Thomas Hertfelder, Franz Schnabel (1887–1966), in: Weigand (Hg.), Münchner Historiker zwischen Politik und Wissenschaft (wie Anm. 6), 233–258; siehe auch: Historische Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften (Hg.), Franz Schnabel. Zu Leben und Werk (1887–1966). Vorträge zur Feier seines 100. Geburtstages, München 1988. 40 Zu ihm Eduard Mühle, Für Volk und deutschen Osten. Der Historiker Hermann Aubin und die deutsche Ostforschung (= Schriften des Bundesarchivs, Bd. 65), Düsseldorf 2005. 41 Zu ihm zuletzt Lothar Gall, Schieder, Theodor, in: NDB 22/2005, 732–734.
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kratischen Republik (DDR) nach dem Selbstmord des Mecklenburgers Karl Griewank 1953 in Jena42 nicht mehr realisieren ließ. Aber gleich nach der Vereinigung der Bundesrepublik Deutschland mit der DDR wurde 1990 der Sachse Karlheinz Blaschke von der Technischen Universität Dresden als ordentliches Mitglied zugewählt43. Überlegungen Karl Alexanders von Müller im Vorfeld der erweiterten Abteilungsleiter-Sitzung vom 13. März 1942, neben einem „neue[n] Schweizer Mitglied“ – gedacht war an Hektor Ammann (1894–1967) – einen „Holländer oder Flame[n]“ – gedacht war an den belgischen Historiker François Louis Ganshof (1895–1980) – in die Historische Kommission aufzunehmen, wurden nie weiter verfolgt, ein „Skandinavier“ kam für ihn „kaum“ in Frage, „weil nie Deutsch“44.
3 Wie im Fall des 1946 zugewählten Friedrich Baethgen gehörten – von vier Ausnahmen in den Jahren 1914 bis 1919 und 1936 bis 1945 abgesehen45 – die jeweiligen Leiter beziehungsweise Präsidenten der Monumenta Germaniae Historica (MGH) seit 1858 zu den Mitgliedern der Historischen Kommission, was schon wegen der fachlichen Nähe geradezu geboten war, zumal das Statut mit Blick auf diese bereits 1819 gegründete Institution festgeschrieben hatte, dass die Kommission sich solchem Quellenmaterial zuwenden sollte, „soweit dasselbe nicht in den Bereich bereits bestehender Unternehmungen fällt.“46 Dies bedeutete nicht, dass sich die Historische Kommission nicht auch dem Mittelalter zuwandte47, aber sie wurde zunächst primär für die Epoche zuständig, die bald allgemein „Frühe Neuzeit“ genannte werden sollte48.
42 Zu ihm Tobias Kaiser, Karl Griewank (1900–1953). Ein deutscher Historiker im „Zeitalter der Extreme“ (= Pallas Athene. Beiträge zur Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte, Bd. 23), Stuttgart 2007; zur Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften speziell ebd., 378–386. 43 Registratur der Historischen Kommission, München: Protokoll der Jahresversammlung vom 8. und 9. März 1990. 44 Archiv der Historischen Kommission, München: Band 122: maschinenschriftliche Notiz von Müllers vom 19. November 1941. 45 Michael Tangl (1861–1921, amtierte 1914–1919), Wilhelm Engel (1905–1964, amtierte 1936– 1937), Edmund Ernst Stengel (1879–1968, amtierte 1937–1942), Theodor Mayer (1883–1972, amtierte 1942–1945). 46 Vgl. den Text des Statuts bei [Kalmer (Bearb.)], Historische Kommission (wie Anm. 13), 48. 47 Siehe dazu Rudolf Schieffer, Mittelalterliche Geschichte, in: Gall (Hg.), „… für deutsche Geschichts- und Quellenforschung“ (wie Anm. 5), 59–78. 48 Vgl. zuletzt Thomas Maissen, Seit wann und zu welchem Zweck gibt es die Frühe Neuzeit? in: Stefan Weinfurter (Hg.), Neue Wege der Forschung. Antrittsvorlesungen am Historischen Seminar Heidelberg 2000–2006 (= Heidelberger Historische Beiträge, Bd. 3), Heidelberg 2009, 129–153; Helmut Neuhaus (Hg.), Die Frühe Neuzeit als Epoche (= Historische Zeitschrift, Beihefte, Bd. 49), München 2009.
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Ebenso wie die MGH sind wichtige andere außeruniversitäre geschichtswissenschaftliche Institutionen, die in den 1950er Jahren in der Bundesrepublik Deutschland gegründet wurden, von Anfang an oder inzwischen seit Jahrzehnten eng mit der Historischen Kommission verbunden, stets über Personen, denn die Kommission kennt als traditionelle Gelehrtengemeinschaft keine institutionellen Mitgliedschaften, sondern nur persönliche Mitglieder, die individuell zugewählt werden müssen. So gehören mit Karl Otmar Freiherr von Aretin seit 1980, Heinz Duchhardt seit 1995 und Johannes Paulmann seit 2013 zwei ehemalige Chefs und der gegenwärtige Direktor des 1950 in Mainz eingerichteten Instituts für Europäische Geschichte der Historischen Kommission an49, mit Horst Möller seit 1991 und Andreas Wirsching seit 2008 ein ehemaliger und der derzeitige Direktor sowie zahlreiche Beiratsmitglieder des ab 1949 gegründeten Instituts für Zeitgeschichte München – Berlin50, zahlreiche Vorsitzende, Mitglieder und Korrespondierende Mitglieder der 1952 gebildeten Kommission für Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien zunächst in Bonn, dann in Berlin51, sowie mit dem verstorbenen Max Braubach, dann Konrad Repgen und Maximilian Lanzinner alle drei Vorsitzenden und die Mehrzahl der Mitglieder der von 1957 bis 2011 in Bonn bestehenden Vereinigung zur Erforschung der Neueren Geschichte e. V. Mit ihrer Aufgabe, die „Acta Pacis Westphalicae“ (APW) zu edieren, bestand eine besonders große Nähe zur Historischen Kommission, denn das Editionsunternehmen war thematisch engstens mit ihren Projekten zur Geschichte des frühneuzeitlichen Heiligen Römischen Reiches verknüpft52. Die Gründung des APW-Unternehmens bestätigte zugleich – wie es Hermann Aubin bei der Jahresversammlung der Kommission 1960 ausgedrückt hatte –, „daß sich in der Lage der Nachkriegszeit und unter den Bedingungen von 1949 eine gewisse Zersplitterung der Forschungs- und Editionsorganisation ergeben habe“, mit der auch „die Erschließung neuer Geldquellen, vor allem durch den Bund“, verbunden gewesen sei53. Und Max Braubach verwies denn
49 Siehe: Winfried Schulze, Corine Defrance, Die Gründung des Instituts für Europäische Geschichte Mainz (= Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, Abteilung Abendländische Religionsgeschichte, Abteilung Universalgeschichte, Beiheft 36), Mainz 1992; Institut für Europäische Geschichte (Hg.), Das Institut für Europäische Geschichte Mainz 1950–2000. Eine Dokumentation, Mainz 2000; Winfried Schulze, Zwischen Abendland und Westeuropa. Die Gründung des Instituts für Europäische Geschichte in Mainz im Jahre 1950, in: Pfeil (Hg.), Die Rückkehr (wie Anm. 19), 239–254. 50 Vgl. Horst Möller, Udo Wengst, 60 Jahre Institut für Zeitgeschichte München – Berlin. Geschichte – Veröffentlichungen – Personalien, München 2009; Schulze, Deutsche Geschichtswissenschaft nach 1945 (wie Anm. 19), 229–242. 51 Martin Schumacher, Gründung und Gründer der Kommission für Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, in: Karl Dietrich Bracher / Paul Mikat [u. a.] (Hgg.), Staat und Parteien. Festschrift für Rudolf Morsey zum 65. Geburtstag, Berlin 1992, 1029–1054; Schulze, Deutsche Geschichtswissenschaft nach 1945 (wie Anm. 19), 252–254. 52 Vgl. zuletzt Helmut Neuhaus, Die „Acta Pacis Westphalicae“ (APW), in: ders. (Hg.), Erlanger Editionen (wie Anm. 5), 47–67. 53 Registratur der Historischen Kommission, München: Protokoll der Jahresversammlung vom 6. und 7. Oktober 1960.
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Helmut Neuhaus
auch darauf, dass „eine Realisierung [seines Editionsvorhabens] mit den Mitteln der Kommission nicht möglich gewesen sei, sodaß er eine günstige Gelegenheit ergriffen habe, die das Bundesministerium des Innern bot.“54 Aus der Historischen Kommission heraus sind zudem 1972 mit der Arbeitsgemeinschaft außeruniversitärer historischer Forschungseinrichtungen in der Bundesrepublik Deutschland (AHF) – sie wurde 2006 in „Arbeitsgemeinschaft historischer Forschungseinrichtungen in der Bundesrepublik Deutschland e. V.“ umbenannt – und 1980 mit dem Historischen Kolleg in München zwei bis heute bestehende Institutionen gegründet worden. Mit diesen – unscharf formuliert – „Ausgründungen“ wurde auf unterschiedliche Weise angestrebt, die deutsche Geschichtswissenschaft in einem veränderten gesellschaftlichen Umfeld besser und sichtbarer zu positionieren. Die AHF, deren Leitung in den ersten Jahrzehnten von Mitgliedern der Historischen Kommission gestellt wurde (Fritz Wagner und Rudolf Morsey als Vorsitzende, ihr Geschäftsführer Georg Kalmer auch als Geschäftsführer der AHF55), gibt seit 1974 das Jahrbuch der Historischen Forschung und seit 1986 die Historische Bibliographie heraus56. Das von Theodor Schieder, dem Präsidenten der Historischen Kommission, Horst Niemeyer (1929–2005), dem Generalsekretär des Stifterverbandes für die Deutsche Wissenschaft, und Dr. Alfred Herrhausen (1930– 1989), dem Sprecher des Vorstands der Deutschen Bank, ins Leben gerufene Historische Kolleg steht im Rahmen der Elitenförderung Vertretern der Geschichtswissenschaft in ihrer ganzen Breite offen. Es ist über sein Kuratorium durch die satzungsmäßig vorgeschriebene Mitgliedschaft von Präsident und Sekretär der Historischen Kommission eng mit dieser verbunden, zudem über den gemeinsamen Geschäftsführer; die bisherigen Vorsitzenden des Kuratoriums des Historischen Kollegs – Theodor Schieder, 1978–1984, Horst Fuhrmann, 1984–1997, Lothar Gall, 1997–2012, und Andreas Wirsching, seit 2012 – waren und sind alle auch Mitglieder der Historischen Kommission. In der seit 2000 bestehenden gemeinsamen „Stiftung zur Förderung der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften und des Historischen Kollegs“ sind beide Institutionen eng miteinander verbunden57. Über die Entwicklungen von AHF und Historischem Kolleg wird in den Jahresversammlungen der Historischen Kommission bis in die Gegenwart regelmäßig berichtet. Schließlich bleiben im Kontext der personellen Vernetzung der Historischen Kommission zwei Tatbestände zu erwähnen: Erstens, dass zu ihren Mitgliedern 54 Ebd; siehe auch Neuhaus, 150 Jahre (wie Anm. 5), 99f. 55 Georg Kalmer, Jahrgang 1940, war von 1972 bis 1982 Geschäftsführer der AHF, von 1973 bis 2005 Geschäftsführer der Historischen Kommission und von 1979 bis 2007 Geschäftsführer des Historischen Kollegs. 56 Vgl. das kumulierte Angebot aus der Historischen Bibliographie seit 1990 und dem Jahrbuch der Historischen Forschung mit rund 350.000 bibliographischen Einträgen unter http://www. oldenbourg.de/verlag/ahf/. 57 Lothar Gall (Hg.), 25 Jahre Historisches Kolleg. Rückblick – Bilanz – Perspektiven, München 2006. Die Satzung der gemeinsamen Stiftung unter: http://www.historischekommission-muenchen.de/typo3/organisation/stiftung/satzung-der-stiftung.html?F=0.
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Eine „Academie für deutsche Geschichte“
mehrere Direktoren des 1888 gegründeten Deutschen Historischen Instituts in Rom (1953–1961 Walther Holtzmann, 1962–1972 Gerd Tellenbach, 1988–2001 Arnold Esch) und des seit 1964 bestehenden Deutschen Historischen Instituts in Paris (1989–1992 Horst Möller, 1993–2007 Werner Paravicini) sowie Mitglieder der Beiräte gehören. Zweitens, dass von 1949 bis 1980 mit Gerhard Ritter, Hermann Aubin, Hans Rothfels, Karl Erdmann, Theodor Schieder, Werner Conze und Gerhard A. Ritter stets Mitglieder der Historischen Kommission Vorsitzende des Verbandes der Historiker (und Historikerinnen) Deutschlands waren, denen von 1992 bis 2000 noch Lothar Gall und Johannes Fried und von 2008 bis 2012 Werner Plumpe folgten58.
4 Mit der „Neugründung“ der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften im Jahre 1946 blieb ihre damals 88 Jahre alte Aufgabenstellung bestehen. Zu den Quelleneditionen war schon seit 1875 die bis 1912 in 56 Bänden abgeschlossene Erarbeitung einer deutschen Nationalbiographie hinzugekommen: die Allgemeine Deutsche Biographie (ADB). Leopold von Ranke hatte ein solches biographisches Lexikon – wenngleich nicht an erster Stelle – schon in der Gründungsversammlung der Kommission zu ihren Aufgaben gezählt59. Seit den 1930er Jahren war die Einsicht gewachsen, dass sie erneuerungsbedürftig wäre. Einer derjenigen, die drängten, ein neues nationalbiographisches Unternehmen auf den Weg zu bringen, war Walter Goetz, auf den auch der Name „Neue Deutsche Biographie“ (NDB) Mitte 1943 zurückging, und der bereits begann, Autoren zu rekrutieren, so zum Beispiel in einem Brief vom 24. September 1944 an seinen Freund Theodor Heuss (1884–1963), den späteren ersten Bundespräsidenten der Bundesrepublik Deutschland, der dann in den ersten vier Bänden aus den Jahren 1953 bis 1959 u. a. mit Artikeln über Ernst Abbe, August Bebel oder Robert Bosch vertreten war60. Auf Heuss und seinen Einsatz bei der Kulturabteilung des Bundesministeriums des Innern ist auch ein anfänglich wesentlicher Anteil des Bundes an der Finanzierung der NDB zurückzuführen. An der Spitze der kommissionseigenen Redaktion stand bis 1968 Otto Graf zu Stolberg-Wernigerode, dem nach zweijähriger Tätigkeit Walter Bußmanns für 17 Jahre Fritz Wagner und dann für ein Jahrzehnt Karl Otmar Freiherr von Aretin folgten61. Seit wenigen Jahren wird die NDB 58 Vgl. die Berichtsbände der Versammlungen deutscher Historiker bzw. der Deutschen Historikertage von Marburg/Lahn 1951 bis Berlin 2010; zu den Anfängen: Schulze, Deutsche Geschichtswissenschaft nach 1945 (wie Anm. 19), 159–182. 59 Vgl. Hockerts, Vom nationalen Denkmal (wie Anm. 16). 60 Theodor Heuss, Abbe, Ernst Carl, in: NDB 1/1953, 2–4; Bebel, August, in: NDB 1/1953, 683– 685; Bosch, Robert, in: NDB 2/1955, 479–481; siehe auch Hockerts, Vom nationalen Denkmal (wie Anm. 16), 251. 61 Vgl. die Übersicht „Abteilungsleiter der Historischen Kommission“, in: Gall (Hg.), „… für deutsche Geschichts- und Quellenforschung“ (wie Anm. 5), 309–317, hier 316.
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Helmut Neuhaus
von Hans Günter Hockerts – parallel zur Fertigstellung der letzten drei Bände62 – in einer langfristig angelegten strategischen Kooperation mit der Bayerischen Staatsbibliothek unter dem Label „Deutsche Biographie“ zu einem historisch-biographischen Informationssystem für den deutschsprachigen Raum entwickelt63, seit Beginn des Jahres 2013 in seiner Nachfolge von Maximilian Lanzinner fortgesetzt. Walter Goetz als Kommissionsmitglied und die Abteilung der NDB sind Beispiele für den Übergang von der Vergangenheit der Historischen Kommission in ihre Zukunft in der frühen Bundesrepublik. Abgesehen von den fortbestehenden Editionsprojekten, den „Deutschen Reichstagsakten“ (seit 1858), den „Chroniken der deutschen Städte vom 14. bis in‘s 16. Jahrhundert“ (seit 1858), der Neuen Folge der „Briefe und Akten zur Geschichte des Dreißigjährigen Krieges“ aus der Zeit Maximilians I. von Bayern (seit 1907) oder der „Deutschen Handelsakten des Mittelalters und der Neuzeit“ (seit 1913)64 wurde das Arbeitsprogramm der Historischen Kommission seit Beginn der 1950er Jahre – finanziell bedingt – erst allmählich erweitert. So wurde zum Beispiel die seit langem angestrebte, aber nicht zustande gekommene Neubearbeitung der zwischen 1881 und 1913 von renommierten Fachvertretern verfassten und in 24 Bänden erschienenen „Geschichte der Wissenschaften in Deutschland. Neuere Zeit“ im Jahr 1952 aufgegeben65. Andererseits wurde gleichzeitig unter maßgeblicher Förderung Franz Schnabels die „Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften“ ins Leben gerufen, die dem Auftrag der Veröffentlichung „hervorragende[r] wissenschaftliche[r] Arbeiten“66 entsprach und in der von 1957 bis 2012 insgesamt 86 Bände erschienen sind67, seit Beginn der 1970er Jahre überwiegend aus
62 Zuletzt ist Band 25 der NDB, Berlin 2013, erschienen, von „Stadion“ bis „Tecklenborg“ reichend. 63 Vgl. http://www.deutsche-biographie.de. Seit 2009 entsteht außerdem in Zusammenarbeit der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften mit der Bayerischen Staatsbibliothek, der Österreichischen Akademie der Wissenschaften und der Stiftung Historisches Lexikon der Schweiz die biographische Datenbank: http://www. biographie-portal.eu. 64 Vgl. die Übersicht „Die Veröffentlichungen der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 1858–2007“, in: Gall (Hg.), „… für deutsche Geschichts- und Quellenforschung“ (wie Anm. 5), 319–365, hier 323–327, 327–329, 334–335, 330–332. 65 Ebd., 337–339. 66 Vgl. den Text des Statuts von 1858 bei [Kalmer (Bearb.)], Historische Kommission (wie Anm. 13), 48. 67 Vgl. für die Zeit bis 2007 die Übersicht „Die Veröffentlichungen der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 1858–2007“ (wie Anm. 57), 359–364, insgesamt: http://www.historischekommission-muenchen.de/typo3/publikationen.html?F =0#undefined. Siehe auch Helmut Neuhaus, 50 Jahre Schriftenreihe der Historischen Kommission, in: Historische Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Jahresbericht 2006, München 2007, 33–45 (http://www.historischekommission-muenchen.de/typo3/fileadm/ user_upload/pdf/jahresberichte/jahresbericht2006.pdf).
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den Erträgen der Franz-Schnabel-Stiftung der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften finanziert68. Die Buchproduktion war bei erst langsam wieder funktionierendem Verlagswesen und angesichts leerer Kassen noch spärlich, aber es mussten auch erst wieder Manuskripte erarbeitet werden, zum Teil noch einmal von vorne, wie im Fall eines bei einem Bombenangriff auf München verbrannten, fast abgeschlossenen Bandes der Deutschen Reichstagsakten69. Nach dem ersten Band der NDB 1953 erschienen 1954 ein Band im Rahmen der auch seit 1858 bestehenden „Jahrbücher der Deutschen Geschichte“70 und zwei Bände der Reihe „Deutsche Geschichtsquellen des 19. und 20. Jahrhunderts“, von denen der eine dem ersten Teil des „Politischen Briefwechsels des Herzogs und Großherzogs Carl August von Weimar“ gewidmet war71, der andere dem „Geheimen Kriegstagebuch 1870–1871 von Paul Bronsart von Schellendorf“72. Erst vor dem Hintergrund der sich aufhellenden wirtschaftlichen Lage in der Bundesrepublik Deutschland zu Beginn der 1960er Jahre und im Zuge der Errichtung der „Stiftung zur Förderung der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften (vormals Wittelsbacher Stiftung für Wissenschaft und Kunst)“ im Jahre 1960 konnten neue Editionsprojekte in Angriff genommen werden. Während die Historische Kommission 1958 über Einnahmen in Höhe von DM 232.800 vom Bundesinnenministerium, vom bayerischen Kultusministerium und der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) verfügte73, waren es 1961 insgesamt DM 318.000, also eine Steigerung um etwa 36 %, von den gleichen Geldgebern74. Seit 1964/65 ist die Thyssen Stiftung eine besonders wichtige DrittmittelGeberin und trägt seit Jahren mit dazu bei, dass sich die Historische Kommission insgesamt zu etwa 25 % aus Drittmitteln finanziert. Aufgrund der Rahmenvereinbarung zwischen Bund und Ländern über die gemeinsame Förderung der wissenschaftlichen Forschung gemäß Art. 91b GG ging die Historische Kommission 1977 in die alleinige Förderung durch den Freistaat Bayern über, da ihr Zuwendungsbe-
68 Siehe: http://www.historischekommission-muenchen.de/organisation/historische-kommission/ franz-schnabel-stiftung.html. 69 Wolgast, Deutsche Reichstagsakten (wie Anm. 10), 110. 70 Mathilde Uhlirz, Otto III. 983–1002 (= Karl und Mathilde Uhlirz, Jahrbücher des Deutschen Reiches unter Otto II. und Otto III., Bd. 2), Berlin 1954. 71 Willy Andreas (Hg.), Hans Tümmler (Bearb.), Politischer Briefwechsel des Herzogs und Großherzogs Carl August von Weimar, Bd. 1: Von den Anfängen der Regierung bis zum Ende des Fürstenbundes 1778–1790 (= Deutsche Geschichtsquellen des 19. und 20. Jahrhunderts, Bd. 37), Stuttgart 1954. 72 Peter Rassow (hg. unter Mitwirkung von Theodor Michaux), Geheimes Kriegstagebuch 1870– 1871 von Paul Bronsart von Schellendorf, Chef der Operationsabteilung im Großen Generalstab (= Deutsche Geschichtsquellen des 19. und 20. Jahrhunderts, Bd. 40), Bonn 1954. 73 Bundesministerium des Innern: DM 98.000, Bayerisches Staatsministerium für Kultus und Unterricht: DM 85.800 und DFG: 49.000. 74 Bundesministerium des Innern: DM 94.700, Bayerisches Staatsministerium für Kultus und Unterricht: DM 132.800 und DFG: 91.000.
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darf damals weniger als DM 1,5 Millionen betrug und – mit Blick auf eine Bundesförderung – unter die Bagatellgrenze fiel. Im Jahre 2001 betrugen die Zuwendungen des Freistaates Bayern beinahe drei Millionen DM75. Bei den neuen Editionsprojekten der Historischen Kommission ab dem Jahre 1960 stand zunächst das 20. Jahrhundert im Vordergrund. Die die Zeit bewegende Frage, wie es zum sogenannten „Dritten Reich“ hatte kommen können, die schon die Gründung des Instituts für Zeitgeschichte in München veranlasst hatte, führte 1962 zur Bildung einer Abteilung „Akten der Reichskanzlei. Weimarer Republik“ unter der Leitung von Karl Dietrich Erdmann, die dann von 1968 bis 1990 für die Reichskabinette von 1919 bis 1933 insgesamt 23, in Zusammenarbeit mit dem Bundesarchiv entstandene, Bände vorlegte und gleichzeitig in dessen Namen publizierte76. Diese Fondsedition wurde von 2005 bis 2007, erneut im Zusammenwirken mit dem Bundesarchiv, auch digital erfasst und steht online zur Verfügung77. Im Jahre 1976 erfuhr diese Abteilung mit der Gründung der „Akten der Reichskanzlei. Regierung Hitler 1933–1945“ wieder in Kooperation mit dem Bundesarchiv eine Ergänzung, deren Bände seit 1983 vorgelegt werden78. Vergleichbare strukturelle Kooperationen wie mit dem Bundesarchiv existieren seit Beginn der 1990er Jahre auch in zwei Fällen mit der Generaldirektion der Staatlichen Archive Bayerns bei der Herausgabe der „Protokolle des Bayerischen Ministerrats 1945–1954“ sowie seit 2000 ebenso bei der Herausgabe der „Protokolle des Bayerischen Staatsrats 1799–1817“79. Die Edition „Deutsche und ostmitteleuropäische Europa-Pläne des 19. und 20. Jahrhunderts“ konnte in den Jahren 2000 bis 2005 im Zusammenwirken mit dem Mainzer Institut für Europäische Geschichte verwirklicht werden80. Vom selben Jahr 1962 an wandte sich die Historische Kommission mit der Sozialgeschichte zudem diesem aktuell gewordenen, allumfassenden historischen Teilgebiet zu, das mit seiner Fokussierung auf Theorie und Methodik seit der Wende von den 1950er zu den 1960er Jahren ein immer bevorzugterer Forschungsgegenstand zu werden begann, aber noch keine Editionen im Blick hatte. Die un-
75 Vgl. zu den Zuwendungen des Freistaates Bayern von 1976 bis 2001 die Aufstellungen bei Neuhaus, 150 Jahre (wie Anm. 5), 134 und 150. 76 Vgl. die Übersicht der Veröffentlichungen, in: Gall (Hg.), „… für deutsche Geschichts- und Quellenforschung“ (wie Anm. 5), 353–355. Zu dieser Edition siehe auch Klaus Hildebrand, Editionen zum 19. und 20. Jahrhundert. Deutsche Geschichtsquellen – Akten der Reichskanzlei – Bayerische Ministerratsprotokolle, in: ebd., 199–227, hier 216–218. 77 http://www.bundesarchiv.de/aktenreichskanzlei/1919-1933/0000/index.html. 78 Vgl. die Übersicht der Veröffentlichungen, in: Gall (Hg.), „… für deutsche Geschichts- und Quellenforschung“ (wie Anm. 5), 355; zuletzt sind erschienen: Friedrich Hartmannsgruber (Bearb.), Die Regierung Hitler, Bd. 5: 1938, München 2008, und Friedrich Hartmannsgruber (Bearb.), Die Regierung Hitler, Bd. 6: 1939, München 2012. 79 Vgl. die Übersicht der Veröffentlichungen, in: Gall (Hg.), „… für deutsche Geschichts- und Quellenforschung“ (wie Anm. 5), 355f., 351 (aktuell: http://www.bayerischer-staats-rat.de). 80 Vgl. die Übersicht der Veröffentlichungen, in: Gall (Hg.), „… für deutsche Geschichts- und Quellenforschung“ (wie Anm. 5), 356.
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spezifisch „Forschungen zur Deutschen Sozialgeschichte“ genannte eigene Abteilung wurde für zwei Jahrzehnte von Werner Conze geleitet, der 1957 in Heidelberg zusammen mit Otto Brunner den weit ausgreifenden „Arbeitskreis für moderne Sozialgeschichte“ gegründet hatte, den sie „für die deutsche Sozialgeschichte zu ‚dem‘ interdisziplinären und richtungsübergreifenden Ort [machten], an dem theoretische Debatten geführt und Forschungen angeregt wurden“.81 Schon allein die Tatsache, dass von 1977 bis 1991 mehrteilige Bände zur „Bauernbefreiung im Königreich Württemberg“, herausgegeben von Wolfgang von Hippel, ferner von Wolfgang Köllmann herausgebrachte „Quellen zur Bevölkerungs-, Sozial- und Wirtschaftsstatistik Deutschlands 1815–1875“ und neun Bände „Säkularisation und Mediatisierung“ publiziert wurden, lässt erkennen, dass die Abteilung der Kommission kein geschlossenes Arbeitsprogramm verfolgte, und sie verdeckt, dass sie nie über etatisierte Stellen wissenschaftlicher Mitarbeiter verfügte, die ein solches hätten umsetzen können, wie dann später nur noch drittmittelfinanzierte Einzelstudien mit sehr unterschiedlichen Themen erschienen82. Allgemein ist festzustellen, dass die Historische Kommission im 19. Jahrhundert keine hauptamtlichen wissenschaftlichen Mitarbeiter hatte. Erst seit der Mitte des 20. Jahrhunderts gibt es feste, vom Freistaat Bayern finanzierte Beschäftigungsverhältnisse, allerdings überwiegend in den Bereichen der Editionen der „Deutschen Reichstagsakten“ und in der Redaktion der NDB – aktuell jeweils fünf. Hinzu kommen fünf weitere festangestellte wissenschaftliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in verschiedenen Abteilungen sowie erst seit wenigen Jahren ein bei der Geschäftsführung der Historischen Kommission ressortierender wissenschaftlicher Mitarbeiter für Digitalisierung. Alle übrigen wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter werden über Drittmittel oder Werkverträge finanziert83.
81 Dieter Langewiesche, Auf dem Weg in die Moderne: Deutschland im 19. Jahrhundert. Sozialgeschichtliche Editionsprogramme und die Widrigkeiten ihrer Realisierung, in: Gall (Hg.), „… für deutsche Geschichts- und Quellenforschung“ (wie Anm. 5), 171–197, hier 174; Schulze, Deutsche Geschichtswissenschaft nach 1945 (wie Anm. 19), 254–265; Wolfgang Zorn, Erfolge und Verzichte der Forschung. Wirtschafts- und Sozialgeschichte in der Arbeit der Münchner Historischen Kommission, in: Wilfried Feldenkirchen / Frauke Schönert-Röhlk / Günther Schulz (Hgg.), Wirtschaft, Gesellschaft, Unternehmen. Festschrift für Hans Pohl zum 60. Geburtstag, 2. Teilbd. (= Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Beihefte, Bd. 120 b), Stuttgart 1995, 801–814, hier vor allem 807–811. 82 Vgl. das Verzeichnis „Forschungen zur deutschen Sozialgeschichte“ in: Gall (Hg.), „… für deutsche Geschichts- und Quellenforschung“ (wie Anm. 5), 349–351. 83 Siehe Abb. 3 (S. 226f): Organigramm „Historische Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften“, Stand: 17. September 2012; es wurde vom Geschäftsführer der Historischen Kommission, Dr. Karl-Ulrich Gelberg, erstellt und für den Druck eingerichtet von Othmar Wiesenegger, Erlangen.
Deutsche Reichstagsakten Mittlere Reihe Prof. Dr. Eike Wolgast Dr. Dietmar Heil Dr. Reinhard Seyboth (beide Regensburg) Prof. Dr. Peter Schmid
Deutsche Reichstagsakten Ältere Reihe Prof. Dr. Heribert Müller Dr. Gabriele Annas (Frankfurt) Prof. Dr. Johannes Helmrath
Allgemeine Mittel (22 Mitarbeiter auf 20 Stellen) Drittmittel bzw. Werkverträge (unterstrichen)
Stand: 17. September 2012
Dr. Silvia Schweinzer (Wien) Dr. Rosemarie Aulinger Dr. Martina Fuchs Prof. Dr. Alfred Kohler Prof. Dr. Albrecht Luttenberger
Deutsche Reichstagsakten Jüngere Reihe Prof. Dr. Eike Wolgast
Dr. Josef Leeb (Oberpöring) Prof. Dr. Helmut Neuhaus
Deutsche Reichstagsakten Reichsversammlungen 1556 –1662 Prof. Dr. Maximilian Lanzinner
Sekretär Prof. Dr. Helmut Neuhaus
Präsident Prof. Dr. Gerrit Walther
Prof. Dr. Mark Häberlein Dr. Peter Geffcken
Deutsche Handelsakten des Mittelalters und der Neuzeit Prof. Dr. Dietmar Willoweit (kommissarisch)
Dipl.-Ing. Dr. Suse Andresen Lic. Phil. Raphael Racine-Gherasimov (beide Bern) Dr. Wolfram Kändler Dr. Frank Wagner (beide Gießen)
Repertorium Aca demicum Germanicum (1250 –1550) Prof. Dr. Rainer C. Schwinges
Ursula Huber, Gisela Klepaczko Ingrid Wenzel–Stengel (alle München)
Geschäftsführer Dr. Karl-Ulrich Gelberg Digitalisierung: Matthias Reinert
Historische Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften
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Dr. Friedrich Hartmannsgruber (Koblenz)
Akten der Reichskanzlei Regierung Hitler 1933–1945 Prof. Dr. Hans Günter Hockerts
PD Dr. Wolfgang Burgdorf
Die Wahlkapitulationen der römischdeutschen Könige 1519–1792 Prof. Dr. Heinz Durchhardt
Dr. Oliver Braun (München)
Die Protokolle des Bayerischen Ministerrats 1945–1954 Prof. Dr. Andreas Wirsching
Dr. Kathrin Bierther
Briefe und Akten zur Geschichte des Dreißigjährigen Krieges Neue Folge: 1618–1651 Prof. Dr. Helmut Neuhaus (kommissarisch)
Dr. Friederike Sattler
Rheinischer Kapitalismus: Staat, Wirtschaft und Gesellschaft in der Bonner Republik 1949–1990 Prof. Dr. Hans Günter Hockerts Prof. Dr. Werner Plumpe
Dr. Uwe Dathe Prof. Dr. Dietmar Grypa Benjamin Hasselhorn Prof. Dr. Thomas Kroll Prof. Dr. Friedrich Lenger Sabrina Stahl Prof. Dr. Matthias Steinbach PD Dr. Rolf Straubel Prof. Dr. Arno Strohmeyer
Deutsche Geschichtsquellen des 19. und 20. Jahrhunderts. Prof. Dr. Gerrit Walther Prof. Dr. Hans-Christof Kraus
Gabriele Mühlenhoff Marianne Wolf (alle München)
Dr. Bernhard Ebneth Dr. Stefan Jordan Dr. Maria Schimke Dr. Regine Sonntag Dr. Susan Splinter
Neue Deutsche Biographie Prof. Dr. Hans Günter Hockerts
Dr. Esteban Mauerer (München)
Die Protokolle des Bayerischen Staatsrats 1799–1817 Prof. Dr. Reinhard Stauber
Schriftenreihe der Historischen Kommission Prof. Dr. Helmut Neuhaus
Dr. Gerhard Müller Dr. Maria Schimke
Quellen zu den Reformen in den Rheinbundstaaten Prof. Dr. Karl Otmar von Aretin Prof. Dr. Eberhard Weis
Dr. Marko Kreutzmann
Quellen zur Geschichte des Deutschen Zollvereins (Projekt) Prof. Dr. Hans-Werner Hahn
Prof. Dr. Jürgen Müller Dr. Eckhardt Treichel (beide Frankfurt)
Quellen zur Geschichte des Deutschen Bundes Prof. Dr. Lothar Gall
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Abb. 3: Organigramm „Historische Kommission bei der Bayrischen Akademie der Wissenschaften“
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5 Wie an Beispielen gesehen blieb auch in der Frühzeit der Bundesrepublik Deutschland die Arbeit der Historischen Kommission an ihren größeren und kleineren Projekten in von einzelnen Mitgliedern geleiteten Abteilungen organisiert, wie sie von Anfang an zum Beispiel für die „Deutschen Reichstagsakten“ unter Heinrich von Sybel oder die „Chroniken der deutschen Städte vom Mittelalter bis in‘s 16. Jahrhundert“ unter Karl Hegel bestanden. Zu neun im Jahre 1946 bestehenden Abteilungen, von denen einige in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ihre Arbeit beendeten, kamen nach und nach zahlreiche neue mit unterschiedlicher Laufzeit hinzu, ältere wie die der „Geschichte der Wissenschaften in Deutschland“ 1952 oder der „Chroniken der deutschen Städte“ 1968 wurden mangels Zukunftsperspektive geschlossen, was auch im 19. Jahrhundert wiederholt der Fall gewesen war. Zu den „Deutschen Reichstagsakten“ ist zu bemerken, dass aus der ursprünglichen Abteilung 1886 und 1928 drei – „Ältere Reihe“, „Mittlere Reihe“ (Reichstage der Zeit Maximilians I.) und „Jüngere Reihe“ (Reichstage der Zeit Karls V.) – geworden waren, mit dem wiederholt formulierten Ziel, den Abschluss der Editionen zu beschleunigen, was bis heute nicht gelungen ist. Zu diesen drei Abteilungen kam 1986 im Sinne des ursprünglichen, auf die gesamte Epoche des nicht-permanenten Reichstages zielenden Gesamtprogramms eine vierte für die Edition der Akten der Reichstage und Reichsversammlungen der Jahre 1556 bis 1662 hinzu. Zur Zeit bestehen – einschließlich der NDB – 17 Abteilungen84. Sämtliche Abteilungsleiter sind – wie Präsident und Sekretär – ehrenamtlich tätig, einige leiten auch mehrere Abteilungen. Anders als zum Beispiel die MGH mit festem Sitz zunächst in Berlin und seit 1946/49 in München sowie mit Arbeitsstellen an einzelnen Wissenschaftsakademien im deutschsprachigen Raum wie in Berlin und in Wien, anders auch als das Institut für Zeitgeschichte mit seinen Hauptsitzen in München und Berlin sind von der Historischen Kommission allein die Geschäftsstelle und die Redaktion der NDB in München ansässig, während die unterschiedlichen Projekte dezentral in Deutschland, in Österreich und in der Schweiz bearbeitet werden, seit längerem in Bern, Wien, Bonn, Koblenz, Gießen, Frankfurt am Main, Regensburg und auch in München. Seit 1968 finden in unregelmäßigen Abständen im zeitlichen Kontext mit den jährlichen Plenarversammlungen der Kommission Arbeitstagungen der wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aller Abteilungen statt, bei denen jeweils die Forschungen einer Abteilung oder methodisch und inhaltlich übergreifende Themen im Mittelpunkt stehen. Die nach 1946 immer größer gewordenen administrativen Anforderungen an die zentrale Leitung der Kommission sowie die kontinuierliche inhaltliche Verbreiterung ihres Arbeitsprogramms seit den 1960er Jahren mit den Konsequenzen um-
84 Vgl. neben dem Organigramm die Übersicht der Abteilungen, in: Gall (Hg.), „… für deutsche Geschichts- und Quellenforschung“ (wie Anm. 5), 309–317.
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fangreicherer Antragstellung, intensiverer Suche nach Finanzierungsmöglichkeiten, verstärkter Mitarbeiter-Betreuung und Begleitung vermehrter Buchproduktionen waren von einem lediglich ehrenamtlich fungierenden Sekretär alleine nicht mehr zu leisten, der nach dem Statut von 1858 „das Protokoll [führt] und (…) die Correspondenzen [besorgt]“ sowie „ein in München residirendes ordentliches Mitglied der Akademie“ sein muß85. Nach der 1953 begonnenen Einrichtung einer Geschäftsstelle der Historischen Kommission sowie einer jahrelang praktizierten Zwischenlösung, mit der dem Sekretär ein Assistent zur Seite gestellt wurde, konnte erstmals – und erst – 1973 die neu geschaffene Stelle eines hauptamtlichen Geschäftsführers der Historischen Kommission besetzt werden, was ein erster Schritt zur Professionalisierung der organisatorischen Arbeit dieser Wissenschaftsinstitution war86. Sofern die Abteilungsleiter nicht selber Editionen erarbeiteten, hatten sie in geringem Umfang Mitarbeiter in sehr unterschiedlichen beruflichen Stellungen. Die Arbeit an den „Chroniken der deutschen Städte“ im 19. Jahrhundert ist dafür ein erst neuerdings erforschtes symptomatisches frühes Beispiel, denn der Erlanger Ordinarius Karl Hegel, der selber Bearbeiter einiger der von ihm zu verantwortenden 27 Bände war, suchte als Abteilungsleiter – er verstand sich als „Hauptmitarbeiter“ – seine Mitarbeiter von seinem Erlanger Lehrstuhl aus an ihren Wirkungsstätten zur Gewinnung für das Editionsunternehmen und dann zu Arbeitsbesprechungen überall in Deutschland auf, so wie er selber zur Auffindung der Quellen in Archive und Bibliotheken reiste und zu deren Leitungen persönlichen Kontakt hielt87. Vom Beginn der Übernahme des ersten Editionsprojektes der Historischen Kommission an entfaltete er – begünstigt durch den Ausbau des Eisenbahnnetzes unter Einbindung Erlangens und mit dem nahe gelegenen Nürnberg als wichtigem Verkehrsknotenpunkt – bis ans Ende des Jahrhunderts eine bemerkenswert umfangreiche Reisetätigkeit88.
85 Vgl. den Text des Statuts bei [Kalmer (Bearb.)], Historische Kommission (wie Anm. 13), 47. Die behutsame Neufassung des Statuts von 1953 hielt an der Tätigkeitsbeschreibung von 1858 fest, ließ hinsichtlich der Zugehörigkeit zur Bayerischen Akademie der Wissenschaften ein Ausnahme zu und erwähnte die Residenzpflicht in München nicht mehr, was in der Praxis darauf hinauslief, dass bei Wahlen für den Sekretär der Wohnsitz im Freistaat Bayern vorausgesetzt wurde. 86 Einen weiteren Schritt zur Professionalisierung ihrer Arbeit hat die Kommission mit der (Wieder-)Einführung der Abteilungsleiter-Sitzungen beschritten, die einmal jährlich im Oktober in München stattfinden, ein halbes Jahre nach den statutenmäßig vorgeschriebenen Jahresversammlungen im März. 87 Marion Kreis, Karl Hegel. Geschichtswissenschaftliche Bedeutung und wissenschaftsgeschichtlicher Standort (= Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 84), Göttingen 2012, 189–262. 88 In seiner „Gedenkbuch“ genannten Lebenschronik führte er diese Reisen auf; vgl. Helmut Neuhaus, Karl Hegels Gedenkbuch. Die Lebenschronik eines Historikers des 19. Jahrhunderts, Köln, Weimar, Wien 2013, 75–87, Übersicht, 313–335.
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Helmut Neuhaus
An dieser Situation und diesem Verfahren hat sich auch nach 1946 im Prinzip nichts geändert, da sie durch die dezentrale Organisation der Historischen Kommission vorgegeben sind. Lediglich in der 1886 eingerichteten Abteilung „Deutsche Reichstagsakten, Jüngere Reihe“ hat es unter seinem Leiter Heinrich Lutz eine kleinere Konzentration gegeben, indem 1975 an der Universität Wien eine fünfköpfige Arbeitsstelle mit dem Ziel eingerichtet wurde, den Abschluss der Edition der Reichstagsakten der Zeit Kaiser Karls V. zu beschleunigen89. Auch nach dem plötzlichen Tod des Wiener Lehrstuhlinhabers im Jahre 1986 wurde unter der Leitung des Heidelberger Ordinarius‘ Eike Wolgast an der Wiener Arbeitsstelle festgehalten, um die Synergien mehrerer Bearbeiter von Akten einer Institution im überschaubaren Zeitraum von 1530 bis 1555 erfolgreich zu nutzen, auch wenn sich die ursprünglichen Zeitpläne immer noch nicht realisieren ließen.
6 Die 1858 gegründete Historische Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften hat sich bei aller institutionellen und räumlichen Nähe zu dieser Akademie als rechtlich, organisatorisch und finanziell selbstständige und auch insofern vergleichbare Gelehrtengesellschaft behaupten können, seit 1999 getragen von einer für Historische Kommission und Historisches Kolleg gemeinsam zuständigen öffentlichen Stiftung des bürgerlichen Rechts, zuvor von der Wittelsbacher Stiftung (seit 1880) und ab 1960 von einer nur sie betreffenden Stiftung. Diese war die Konsequenz aus der Verweigerung der Aufnahme der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften in die Liste der zu fördernden wissenschaftlichen Forschungseinrichtungen gemäß dem „Königsteiner Abkommen“ von 1949 in ihrem Jubiläumsjahr 1958. Dabei war diese weitreichende Entscheidung das Ergebnis eines Missverständnisses, wenn einerseits grundsätzlich die Förderungswürdigkeit der Historischen Kommission, andererseits ihre „gegenwärtige Finanzierung (…) als nicht ausreichend“ anerkannt wurden, sie aber aufgrund „ihrer inneren und äußeren Verbindung“ als Kommission der Bayerischen Akademie der Wissenschaften eingeordnet wurde, für die die „Verantwortung und Finanzierung dem Sitzland obliegt“, also dem Freistaat Bayern90. Das Ende des Zweiten Weltkrieges markierte in personeller Hinsicht eine tiefe Zäsur in der Geschichte der Historischen Kommission, während ihre Verfasstheit ausweislich des neuen Statuts vom 29. September 1953 – dem ersten nach dem Gründungsstatut überhaupt – von großer Kontinuität gekennzeichnet ist. Das gilt auch für die Arbeitsweise und das Arbeitsprogramm, für das schon die schlechte
89 Wolgast, Deutsche Reichstagsakten, in: Gall (Hg.), „… für deutsche Geschichts- und Quellenforschung“ (wie Anm. 5), 112f. 90 Neuhaus, 150 Jahre (wie Anm. 5), 93. Vgl. zu den Akten: Archiv der Historischen Kommission, München: Bände 42, 194, 195.
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finanzielle Ausstattung kaum Möglichkeiten zu zeitgemäßen thematischen Erweiterungen ließ. Eine Ausnahme bildete nur die seit 1953 erscheinende NDB, die zunächst auch aus Bundesmitteln mitfinanziert wurde. Erst mit Beginn der 1960er Jahre, als die frühe Zeit der Bundesrepublik Deutschland zu Ende gegangen war, wurden neue Editionsvorhaben auf den Weg gebracht, nachdem die langen 1950er Jahre als Zeit des Bewahrens weitgehend durch Stagnation gekennzeichnet gewesen waren. Während der zwanzigjährigen Präsidentschaft Theodor Schieders ab 1964 erschienen vier Bände der Reihe „Leopold von Ranke. Aus Werk und Nachlaß“ – aber mit Editionen zu ihrem ersten Vorsitzenden hat die Kommission bisher wenig reüssieren können –, und in Schieders Zeit gewann die Historische Kommission wohl auch eine größere Präsenz in der Fachöffentlichkeit, aber alle Bemühungen um eine energischere Weiterentwicklung stießen – zumal in den keineswegs mehr „wirtschafts-wunderlichen“ 1970er Jahren – immer wieder an finanzielle Grenzen, als so wünschenswert auch der Beginn von Editionsprojekten zur Geschichte des 19. und des 20. Jahrhundert angesehen wurde, die sich erst später realisieren ließen: „Akten der Reichskanzlei. Regierung Hitler 1933–1945“ ab 1983, „Quellen zu den Reformen in den Rheinbundstaaten“ ab 1992, „Die Protokolle des Bayerischen Ministerrats 1945–1954“ ab 1995, „Quellen zur Geschichte des Deutschen Bundes“ ab 1996, die „Dokumentation der deutschfranzösischen Beziehungen 1949–1963“ ab 1997, um nur diese vom Ende des 20. Jahrhunderts noch zu nennen91. Seit Beginn des 21. Jahrhunderts hat die Historische Kommission sowohl bei den Quelleneditionen als insbesondere auch bei ihren lexikalischen historisch-biographischen Angeboten auf die digitalen Entwicklungen reagiert und ihre Aktivitäten immer mehr verstärkt bis hin zur Veranstaltung von Workshops zu „Digitalen Editionen“, die das Gespräch mit Partnern und Interessierten weit über die eigene Institution hinaus suchen. Wie die Historische Kommission – zusammen mit den MGH – seit ihrer Gründung über mehr als ein Jahrhundert hinweg bei der Erarbeitung von Editionen schriftlicher Quellen Maßstäbe setzte und Standards entwickelte, so strebt sie dieses auch im Zeitalter der Digitalisierung an, in dem an Editionen neue Anforderungen gestellt werden, sich aber auch ganz neue Möglichkeiten der Präsentation und Kommentierung historischer Quellen ergeben. Sie bleiben das Fundament jeder ernstzunehmenden historischen Forschung.
91 Vgl. die Übersicht der Veröffentlichungen, in: Gall (Hg.), „… für deutsche Geschichts- und Quellenforschung“ (wie Anm. 5), 355, 351f., 355f., 352f., 356.
NEUANSÄTZE IM STIFTUNGSWESEN NACH 1945 Das Beispiel der Fritz Thyssen Stiftung Hans Günter Hockerts
Die im Juli 1959 gegründete Fritz Thyssen Stiftung war die erste große private Stiftung, die in der Bundesrepublik Deutschland zur Förderung der Wissenschaften errichtet wurde. Im Folgenden wird zunächst ihre Gründungsgeschichte ins Auge gefasst (1). Dabei wird erkennbar, dass Wissenschaftsförderung nicht das Anfangsmotiv, sondern das Endergebnis eines Gründungsprozesses war, in dem unterschiedliche, auch dezidiert unternehmensstrategische Motive zusammenwirkten. Sodann richtet sich das Augenmerk auf die Anfänge der Fördertätigkeit der neuen Stiftung, soweit sie die Geschichtswissenschaft betraf (2). Damit kommt bei weitem nicht das ganze Förderspektrum in den Blick. Dieses reichte – um nur einige Beispiele aus dem ersten Jahrzehnt zu nennen – vom Ankauf eines attraktiven Domizils für das Deutsche Studienzentrum in Venedig und dem Aufbau einer Forschungsstelle für die Vereinheitlichung des Europäischen Rechts über die Förderung von Feldforschungen in Ostafrika bis zur Unterstützung des DFG-Schwerpunktprogramms „Cancerologie“. Die Geschichtswissenschaft zählte jedoch zu den Förderbereichen, denen die Stiftung schon früh ihre besondere Aufmerksamkeit widmete.
1 Die Akteurskonstellation der Gründungsgeschichte gleicht einem Gruppenbild mit zwei Damen. Bei diesen handelt es sich um die Witwe und die Tochter Fritz Thyssens: Amélie Thyssen und Anita Gräfin Zichy-Thyssen.1 Als Fritz Thyssen im Februar 1951 starb, erbten Mutter und Tochter sein Vermögen je zur Hälfte. Sie brachten ihre Erbschaft jeweils in eine eigene Vermögensverwaltungsgesellschaft ein, die im Folgenden etwas vereinfachend Amélie-Holding und Anita-Holding genannt werden.2 Die beiden Holdings besaßen Aktienpakete diverser Nachfolgegesellschaften der Vereinigten Stahlwerke; sie waren jedoch strikt dem alliierten Ent-
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Thomas Kielinger, Amélie Thyssen, in: Joachim Fest (Hg.), Die großen Stifter: Lebensbilder – Zeitbilder, Berlin 1997, 381–406; Elisabeth Kraus, Amélie Thyssen, in: Theresia Bauer u. a. (Hgg.), Gesichter der Zeitgeschichte. Deutsche Lebensläufe im 20. Jahrhundert, München 2009, 195–209. Statt der offiziellen Bezeichnungen: Fritz Thyssen Vermögensverwaltung AG bzw. Thyssen AG für Beteiligungen.
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flechtungsgebot unterworfen, das verhindern sollte, dass noch einmal solcher Riesentrust entstand wie es die Vereinigten Stahlwerke seit 1926 gewesen waren. Die beiden Großaktionärinnen waren zwar Eigentümerinnen, aber keine Unternehmerinnen. Dazu fehlte es ihnen an Neigung und Eignung. Umso mehr waren sie auf Berater angewiesen, auf Spitzenmanager und strategische Köpfe. So tritt nun eine Gruppe von vier Herren ins Bild. Robert Ellscheid, ein brillanter Kölner Jurist, hatte Fritz Thyssen im Spruchkammerverfahren (1947/1948) verteidigt und nach dessen Tod das Testament vollstreckt. Er zählte zu den engsten Vertrauten Amélies und gelangte als Aufsichtsratsvorsitzender an die Spitze der in Köln ansässigen Amélie-Holding. Kurt Birrenbach war Ellscheids Pendant auf der Seite der Tochter, also Vorsitzender des Aufsichtsrats der in Düsseldorf residierenden Anita-Holding. Einer breiteren Öffentlichkeit wurde er in den 1960er Jahren als Außenpolitiker der CDU mit Sondermission in Israel bekannt.3 Hans-Günther Sohl war vor 1945 im Vorstand der Vereinigten Stahlwerke tätig und mit dem Apparat Albert Speers eng verbunden gewesen. Er übernahm 1953 den Vorstandsvorsitz der August-Thyssen-Hütte AG in Duisburg-Hamborn (ATH). Den Auf- und Ausbau dieses nach dem Krieg weitgehend demontierten Werks trieb er mit größter Energie voran.4 Als primus inter pares galt der Kölner Bankier Robert Pferdmenges, Vorsitzender im Aufsichtsrat der ATH. Pferdmenges war mit der Familie Thyssen seit langem freundschaftlich verbunden, ebenso mit Konrad Adenauer, zu dessen wenigen Duzfreunden er zählte.5 Dieser Kreis, der sich seit 1957/58 „Thyssen-Komitee“ nannte, zuweilen auch „Viererclub“ oder „Gipfelkonferenz“, bereitete die großen, strategischen Entscheidungen vor, denen die Erbinnen in der Regel vertrauensvoll zustimmten. Im Sommer 1957 unterbreitete Sohl dem Komitee einen Plan mit einer besonders weitreichenden Perspektive. Es ging um die Verflechtung des industriellen Vermögens der Erbinnen unter Führung der ATH.6 Mit diesem Plan begann zugleich die Gründungsgeschichte der Stiftung. Sohls Plan sah vor, zwei Großunternehmen zusammenzuschließen, um daraus die Nummer Eins in der Stahlproduktion des Gemeinsamen Marktes zu machen: die ATH, bei der die Anita-Holding maßgeblich beteiligt war, sowie die PhönixRheinrohr AG, deren Aktienmehrheit die Amélie-Holding besaß. Sohl war sich darüber im Klaren, dass eine solche Elefantenhochzeit mit zwei Schwierigkeiten zu 3 4
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Hans-Peter Hinrichsen, Der Ratgeber. Kurt Birrenbach und die Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland, Berlin 2002. Toni Pierenkemper, Hans-Günther Sohl. Funktionale Effizienz und autoritäre Harmonie in der Eisen- und Stahlindustrie, in: Paul Erker / Toni Pierenkemper (Hgg.), Deutsche Unternehmer zwischen Kriegswirtschaft und Wiederaufbau. Studien zur Erfahrungsbildung von IndustrieEliten, München 1999, 53–107. Gabriele Teichmann, Robert Pferdmenges (1880–1962), in Hans Pohl (Hg.), Deutsche Bankiers des 20. Jahrhunderts, Stuttgart 2008, 311–327. Vgl. die von Sohl am 19.6.1957 unterzeichneten „Gedanken zur Neuordnung des industriellen Vermögens der Erben Fritz Thyssens“, in: ThyssenKrupp Konzernarchiv, Duisburg (TKA), A/32263 – Zur Unternehmensgeschichte vgl. jetzt auch Johannes Bähr, Thyssen in der Adenauerzeit. Konzernbildung und Familienkapitalismus, Paderborn 2015.
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rechnen hatte. Die eine lag im Artikel 66 des Montanunion-Vertrags.7 Demnach musste die Hohe Behörde in Luxemburg prüfen, ob der beabsichtigte Zusammenschluss den Wettbewerb behindere: wenn ja, musste sie die Genehmigung verweigern. Dass die Luxemburger Behörde sich quer legen würde, war keineswegs auszuschließen. Daher riet Sohl, die Sache nicht zu überstürzen, sondern noch ein bis zwei Jahre abzuwarten. Der Stahlbedarf werde weiter kräftig steigen, so argumentierte er, mithin werde eine Unternehmensgröße der angestrebten Art bald nicht mehr so außerordentlich sein. Als zweites Hindernis war ein Aufschrei in Teilen der deutschen Öffentlichkeit zu erwarten. Denn die Konzentration des privaten Produktivvermögens verlief in den 1950er Jahren so atemberaubend schnell, dass daraus inzwischen ein Reizthema geworden war – nicht nur in der gewerkschaftlichsozialdemokratischen Öffentlichkeit, sondern auch in den Reihen des Sozialkatholizismus. Hier kam nun erstmals der Stiftungsgedanke ins Spiel. Sohl gab zu bedenken, dass im Zuge der geplanten Transaktion „das ganze Vermögen oder wenigstens der Erbteil Amelie Thyssen in eine Stiftung eingebracht“ werden könnte. Als Hauptargument hob er hervor, dass damit „der Zusammenschluss in seiner Wirkung der Öffentlichkeit gegenüber erleichtert werden“ könnte: Die Gegenstimmen würden „stark entkräftet, wenn wenigstens ein Teil des so stark im Lichte der Öffentlichkeit stehenden Thyssen-Vermögens in eine Stiftung eingebracht würde.“ Unter Umständen könnte somit auch „die Gefahr einer Sozialisierung erheblich herabgemindert werden“.8 Wahrscheinlich griff Sohl nur – oder primär – aus taktischen Gründen zu diesem Nebenargument. Denn in einem anderen Zusammenhang hatte er notiert, es sei in absehbarer Zukunft nicht mit einer Sozialisierung der Eisen- und Stahlindustrie in der Bundesrepublik zu rechnen.9 Der Ursprung der Stiftungsidee lag also in der Absicht, der Kritik an der Konzentration des privaten Produktivvermögens die Spitze abzubrechen. In Sohls Überlegungen spielten wohl auch weitere Motive eine Rolle, darunter eines, das er nie offen aussprach. Man erkennt es, wenn man vom Ende her denkt: Am Ende hatten die vier Herren des Thyssen-Komitees Sitz und Stimme im Kuratorium der Fritz Thyssen Stiftung. Somit gingen die Stimmrechte aus dem Stiftungskapital aus der Hand der Familie in die Hand der Konzernstrategen über. Man kann diesen Vorgang mit unterschiedlichen Akzenten kommentieren. Mit spitzer Zunge könnte man sagen: Sohl, ein Mann mit den robusten Zügen eines Machtmenschen, wollte die Familie ein Stück weit aus der Konzernherrschaft hinausdrängen und die Position des Managements (vor allem die eigene Position) aufwerten. Man kann den Sachverhalt aber auch so formulieren: Die Konstruktion einer Stiftung schuf für den Fall
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Tobias Witschke, Gefahr für den Wettbewerb? Die Fusionskontrolle der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl und die „Rekonzentration“ der Ruhrstahlindustrie 1950–1963, Berlin 2009. Sohl an Pferdmenges, 19.6.1957, TKA, A/32263. Vgl. seine Ausarbeitung „Gedanken zur gegenwärtigen Situation der August Thyssen-Hütte AG“, undatiert, wahrscheinlich Oktober 1956, Hausarchiv Sal. Oppenheim jr. & Cie., Büro P, R/17.
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des Ablebens der hochbetagten Amélie Thyssen ein Stück Unternehmenskontinuität und -stabilität. Darin lag ein zweckrationaler Gedanke, denn die erbende Tochter Anita war argentinische Staatsbürgerin; sie lebte mit ihren beiden Söhnen in der Nähe von Buenos Aires, und diese Konstellation konnte im Erbfall zu mancherlei Unwägbarkeiten führen. Auf der Suche nach den Motiven findet man auch eine Beimischung, die in der Terminologie unserer Zeit als stakeholder-Orientierung bezeichnet werden kann – im Kontrast zum shareholder-value-Denken in Zeiten des Finanzmarktkapitalismus. So hob Sohl gelegentlich hervor, dass die Führung großer Unternehmen nicht nur den Aktionären, sondern auch den Belegschaften und „letztlich der gesamten Öffentlichkeit“ verantwortlich sei. Die Errichtung von Stiftungen könne in diesem Relationsgefüge zum „sozialen Ausgleich“ beitragen.10 In solchen Hinweisen macht sich eine Orientierung an Kooperation, Konsens und Langfristigkeit bemerkbar, die in der Debatte über varieties of capitalism dem Typ des „Rheinischen Kapitalismus“ zugerechnet wird.11 Das Thyssen-Komitee einigte sich ziemlich rasch auf den Sohl-Plan – kein Wunder, denn er war zugleich ein Pferdmenges-Plan. Die beiden Herren hatten sich zuvor bilateral abgestimmt. Im Herbst 1958 war es dann so weit: Sohl reichte den Fusionsantrag bei der Hohen Behörde der Montanunion ein. Von der Stiftung war darin nicht die Rede. Denn für das Prüfungsverfahren, das allein der Wettbewerbskontrolle diente, war dieser Akt nicht erheblich. Außerdem wollte das Komitee die Stiftungsidee bis zum Zeitpunkt der Berufung der Stiftungsgremien geheim halten. Erst dann, so war geplant, sollte eine überraschend angesetzte Pressekonferenz möglichst große mediale Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Um in Luxemburg Druck zu machen, rief das Thyssen-Komitee die Bundesregierung zu Hilfe. Tatsächlich engagierte sich der Bundeskanzler persönlich sehr stark – erst recht, als das Verfahren ins Stocken geriet. Denn der Antrag weckte prompt – vor allem in Frankreich – das Misstrauen gegenüber der „Eisenfaust der deutschen Industriemacht“, wie es in einem Bericht der „Times“ hieß.12 Aus der Hohen Behörde kamen Signale, die auf eine „Ruhr-Psychose“ der europäischen Öffentlichkeit aufmerksam machten.13 Vor allem die französische Öffentlichkeit nahm das Ruhr-Revier nach wie vor als Inbegriff deutscher Vormachtambitionen
10 Sohl an Otto A. Friedrich, 2.11.1960, TKA, A/30912. 11 Vgl. Friederike Sattler, Rheinischer Kapitalismus. Staat, Wirtschaft und Gesellschaft in der Bonner Republik, in: Archiv für Sozialgeschichte 52/2012, 687–724. 12 Vgl. den Artikel „Restoration of Germany´s Steel Giant?“, in: The Times, 12.2.1960. Die Times unterschied zwischen dem in der Öffentlichkeit erweckten Eindruck, “that the iron-clad fist of German industrial power is being raised again to rule the markets of Europe“ und dem „real motive“ des französischen Gegendrucks; dieses liege in „a realistic appraisal of German industrial efficiency and competition“. 13 Vermerk Sohls über eine Besprechung mit dem Präsidenten der Hohen Behörde, Piero Malvestiti, 22.1.1960, Bundesarchiv Koblenz (BAK), B 136/8364.
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wahr. Auch im Europäischen Parlament provozierte der Antrag eine Woge des Misstrauens gegenüber der Macht am Rhein.14 Dass Adenauer sich energisch engagierte, hatte mehrere Gründe, und einer führt wieder zur Stiftungsidee. Diese machte er sich zu Eigen, denn er sah darin einen erwünschten Gegenakzent zu einer Entwicklung, die ihm „außerordentliche Sorge“ machte. Damit meinte er die „außerordentlich starke Konzentration von wirtschaftlicher Macht sowie die Anhäufung von Reichtum, sei es in der Hand von Einzelpersonen oder von wirtschaftlichen Gesellschaften“. Durchaus selbstkritisch räumte er ein: „Ich meine, an unserer ganzen Arbeit muss etwas nicht in Ordnung sein, wenn solche Erscheinungen sich zeigen“.15 In seinen Regierungserklärungen zeichnete der Bundeskanzler unablässig das Idealbild einer Mittelstandsgesellschaft; die Regierungspraxis ging jedoch mit einer rasanten Vermögenskonzentration einher. Daher sah er in der Idee, ein großes Aktienpaket demonstrativ für gemeinnützige Zwecke abzuzweigen, eine hoch willkommene Geste – ein leuchtendes Beispiel im Sinne des Grundgesetzes, Artikel 14: „Eigentum verpflichtet“. In Gesprächen und Briefen warb Adenauer auch persönlich bei Amélie Thyssen für die Stiftungsidee, und da er nicht nur mit der Autorität des Bundeskanzlers auftrat, sondern auch ein alter Freund der Familie war, blieb sein Rat nicht wirkungslos. Amélie Thyssen dachte eine Weile sogar daran, die Stiftung am 5. Januar 1960, dem 84. Geburtstag Adenauers, bekanntgeben zu lassen, um sie ihm sozusagen als Geburtstagsgeschenk darzubringen. Obwohl in dem Fusionsantrag von der Stiftung gar nicht die Rede war, hatte Adenauer auch nicht die geringste Scheu, die Stiftungsidee bei seinen politischen Interventionen wie eine Trumpfkarte auszuspielen. So ließ er den Präsidenten der Hohen Behörde, Piero Malvestiti, wissen, dass die Hauptaktionärin nach dem Zusammenschluss eine große Stiftung einrichten werde, die „insbesondere sozialen Zwecken zugedacht“ sei; und als die Sache zu scheitern drohte, sagte er ihm in einer Unterredung unumwunden, er „sei sehr verstimmt, dass man reiche Leute daran hindere“, einen großen Teil ihres Vermögens „für soziale und wissenschaftliche Zwecke herzugeben“.16 In einem Gespräch mit dem französischen Botschafter François Seydoux hob Adenauer sogar hervor, „sein Interesse liege lediglich darin, dass die Familie Thyssen die Stiftung für soziale und wissenschaftliche Zwecke in Höhe von 300 Mio. DM mache. Diese Möglichkeit sollte man nicht ungenutzt lassen“.17 Im Sommer 1959 war noch nicht abzusehen, wann und wie das Verfahren in Luxemburg enden würde. Aber das Thyssen-Komitee entschied sich im Einverständnis mit Amélie, schon einmal den ersten Schritt zu tun und eine rechtsfähige
14 Vgl. z. B. den Artikel „Schüsse gegen Ruhr-Hochzeit. Europa-Parlamentarier opponieren gegen die Thyssen-Pläne“, in: Die Zeit, 18.12.1959. 15 Adenauer an Bundesfinanzminister Franz Etzel, 30.12.1959, in: Adenauer. Briefe 1959–1961. Bearb. v. Hans Peter Mensing, Paderborn u. a. 2004, 44–45. 16 Adenauer an Malvestiti, 19.12. 1959, BAK, B 136/8364 bzw. von Adenauer diktierter Vermerk „Unterhaltung mit Präsident Malvestiti am 8.4.1960“, BAK B 136/8358. 17 Aufzeichnung über ein Gespräch Adenauers mit Seydoux, 4.2. 1960, in: Archiv der Stiftung Bundeskanzler-Adenauer-Haus, III/26.
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Stiftung des bürgerlichen Rechts ins Leben zu rufen. Bei dieser offiziellen Gründung der Fritz Thyssen Stiftung, die am 7. Juli 1959 unter Ausschluss der Öffentlichkeit erfolgte, ging es zunächst nur darum, das juristische Gerüst unter Dach und Fach zu bringen. Die Ausstattung mit einem großen Stiftungskapital sollte dann später kommen – im Zuge eines Aktientauschs beim Zusammenschluss von ATH und Phoenix-Rheinrohr. Zum juristischen Gerüst gehörte die Satzung mitsamt der Definition des Stiftungszwecks. Bisher war immer nur allgemein von „gemeinnützigen“ oder „ethischen Zwecken“ die Rede gewesen; dies musste nun präzisiert werden. Dabei trat Kurt Birrenbach besonders hervor. Etwas zugespitzt kann man von einer projektgebundenen Rollenkombination sprechen, wobei Sohl sich vor allem um das Verfahren in Luxemburg kümmerte, Pferdmenges um den Kontakt zum Kanzler, Ellscheid um die juristische Architektur der Stiftung und Birrenbach um die Klärung des Stiftungszwecks. Dabei setzte er sich mit Nachdruck für eine wissenschaftsfördernde Stiftung ein. Amélie Thyssen scheint anfangs eher an soziale Zwecke gedacht zu haben. Sie ließ sich jedoch überzeugen und hielt im Juni 1959 in einer Notiz fest: „Zweck: Forschungen für die Nachwuchsjugend in Studien aller Arten: wie Kinderlähmung, Krebs etc., Technik, Wissenschaft etc. etc.“18 Die Hervorhebung der Kinderlähmung hatte einen familienbiographischen Hintergrund: Amélies Tochter Anita hatte diese Krankheit als Kind erlitten und blieb zeitlebens gehbehindert. In diesem Kontext lohnt es sich, einen näheren Blick auf Kurt Birrenbach zu werfen. Er war sechs Jahre lang für ein US-amerikanisches Unternehmen tätig gewesen und blieb der angelsächsischen Welt mit vielfältigen persönlichen Kontakten wie auch mit Elementen seines Denkstils dauerhaft verbunden. Daher war er auch mit der amerikanischen Stiftungspraxis gut vertraut. Vielleicht war er sogar der erste, der im Thyssen-Kreis die Stiftungsidee aufbrachte. Jedenfalls hat er viel später einmal im privaten Kreis berichtet, er habe in der ersten Sitzung des Aufsichtsrats der Amélie-Holding 1954 gesagt: Nach amerikanischen Vorstellungen über den „sogenannten Witwenkapitalismus“ müsse sich ein Unternehmen von solcher Größe durch einen Stiftungsakt legitimieren, wenn es sich nicht mehr in der Hand des Unternehmers selbst befände, sondern in der Hand der Witwe oder der Tochter.19 Fragt man, warum Birrenbach die Stiftungsidee mit dem Postulat der Wissenschaftsförderung verknüpfte, dann stößt man auf eine Reihe zeittypischer Tendenzen, insbesondere die Vorstellung, dass die Ressource Wissenschaft eine „Lebensfrage der freien Welt“ geworden sei.20 Es drohe die Gefahr, dass die Bundesrepublik „auf allen Gebieten den Anschluss an die Wissenschaft der angelsächsischen 18 Diese Notiz wird zitiert in Ellscheid an Pferdmenges, 27.6.1960, Hausarchiv Sal. Oppenheim jr. & Cie., Büro P, R/18. 19 Rede Birrenbachs zu seinem 65. Geburtstag, 2.7.1972, Archiv für Christlich-Demokratische Politik (ACDP), I 433: 207/1. 20 Undatierte (Anfang 1960), ungezeichnete Ausarbeitung „Wissenschaftsfinanzierung unter besonderer Berücksichtigung eines Beitrags nichtöffentlicher Stellen durch Stiftungen“, TKA, A/40248.
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Länder und der Sowjetunion“ verliere, wenn die Forschungsförderung nicht einen kräftigen Rangschub nach oben erfahre und „zu den ersten Prioritäten“ des öffentlichen Lebens aufsteige.21 Eine Defizit-Bilanz dieser Art hatte bereits den Ausschlag dafür gegeben, dass Bund und Länder 1957 den Wissenschaftsrat gründeten – mit der Aufgabe, einen Gesamtplan zur Förderung der Wissenschaften zu erarbeiten.22 Als Birrenbach sich nach Vorbildern für die Satzung einer großen privaten wissenschaftsfördernden Stiftung umsah, bemerkte er mit Erstaunen, dass es in der Bundesrepublik dafür kein einziges passendes Beispiel gab. Die große Blütezeit des deutschen Stiftungswesens hatte mit dem Ersten Weltkrieg und der folgenden Hyperinflation ein Ende gefunden, und in der NS-Zeit waren zahlreiche beschränkende und konfiskatorische Würgegriffe hinzugekommen. Daher stand das deutsche Stiftungswesen nach 1945 in einem sehr wörtlichen Sinn im Zeichen eines Neubeginns.23 Den Auftakt machte 1949 die Gründung des Stifterverbands für die deutsche Wissenschaft.24 Ihm fehlte jedoch das für Stiftungen charakteristische Element der unwiderruflichen Ausstattung mit eigenem Kapital; es handelte sich vielmehr um eine spendeneinwerbende Gemeinschaftsaktion der Wirtschaft. Auch die Volkswagenstiftung, deren Gründung sich von 1959 bis 1961 hinzog, konnte nicht als Muster dienen, denn sie war ein Geschöpf staatlicher Organisationsgewalt, und staatliche Instanzen behielten sich vor, die Stiftungstätigkeit durch die Auswahl und Entsendung der Mitglieder des Kuratoriums zu beeinflussen und zu kontrollieren.25 Die Vorstellung, mit der Fritz Thyssen Stiftung eine Pioniertat eigener Art vollbringen zu können, war somit ein zusätzlicher Ansporn des Gründerkreises. Und so legte die am 7. Juli 1959 beurkundete Satzung fest: „Ausschließlicher Zweck der Stiftung ist die unmittelbare Förderung der Wissenschaft an den deutschen wissenschaftlichen Hochschulen und Forschungsstätten unter besonderer Berücksichtigung des wissenschaftlichen Nachwuchses“. Mitunter kann man lesen, die Ford Foundation habe die Gründung der Fritz Thyssen Stiftung beeinflusst.26 Diese US-amerikanische Stiftung, damals die größte Stiftung der Welt, stieg in den 1950er Jahren massiv in die Finanzierung kulturpolitischer Aktivitäten ein, um die Bundesrepublik Deutschland zu ‚westernisieren’.27 Der Direktor der Europa-Abteilung der Ford-Foundation, Shepard Stone, zählte zu
21 Birrenbach an Fritz Steinhoff, 6.2.1958, ACDP, I 433: 170/1. 22 Gabriele Metzler, Konzeptionen politischen Handelns von Adenauer bis Brandt. Politische Planung in der pluralistischen Gesellschaft, Paderborn 2005, 164–170. 23 Rolf Möller, Die Rolle der Stiftungen bei der Wissenschaftsförderung, in: Robert Gerwin (Hg.), Wie die Zukunft Wurzen schlug. Aus der Forschung der Bundesrepublik Deutschland, Berlin u. a. 1989, 322–327. 24 Winfried Schulze, Der Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft 1920–1995, Berlin 1995. 25 Rainer Nicolaysen, Der lange Weg zur VolkswagenStiftung. Eine Gründungsgeschichte im Spannungsfeld von Politik, Wirtschaft und Wissenschaft, Göttingen 2002. 26 Rupert Graf Strachwitz, Die Stiftung – ein Paradox? Zur Legitimität von Stiftungen in einer politischen Ordnung, Stuttgart 2010, 166. 27 Volker Berghahn, Transatlantische Kulturkriege. Shepard Stone, die Ford-Stiftung und der europäische Antiamerikanismus, Stuttgart 2004.
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Birrenbachs Bekanntenkreis. Im Vorfeld der Stiftungsgründung lässt sich jedoch nur ein sehr indirekter Einfluss feststellen: Der Blick auf die Ford Foundation spornte den Gründerkreis dazu an, nicht alles den Amerikanern zu überlassen, sondern auch selbst etwas zu tun. Ein direkter Einfluss ist erst für das Jahr 1961 nachweisbar. Erst dann erfuhr Shepard Stone etwas Genaueres über den Zweck der Fritz Thyssen Stiftung, und als er hörte, dass in der Satzung nur von „der deutschen Wissenschaft“ die Rede war, gab er Birrenbach den dringenden Rat, die Förderarbeit international zu öffnen. Sonst könnten sich amerikanische Stiftungen veranlasst sehen, ihrerseits „die Bundesrepublik als Nutznießerland auszulassen“, da „keine Reziprozität“ gegeben sei. Außerdem sei die Ford Foundation an Gemeinschaftsprojekten interessiert, die durch die derzeitige Fassung des Statuts nicht gedeckt würden.28 Daraufhin änderte das Kuratorium die Satzung. Der Stiftungszweck liegt seither in der Förderung der Wissenschaft „vornehmlich in Deutschland“. Die Stiftung wurde also im Juli 1959 formaliter gegründet – unter Ausschluss der Öffentlichkeit und mit einer zunächst noch sehr geringen Kapitalausstattung. Im April 1960 kam es dann jedoch zum Eklat: Die Hohe Behörde verband die Erlaubnis der beantragten Fusion mit derart drückenden Auflagen, dass Sohl den Antrag enttäuscht und voller Zorn zurückzog. Für das Stiftungsprojekt hatte diese Entscheidung gravierende Folgen. Denn das Gesamtkonzept beruhte auf einem Junktim von Fusion und Stiftung: Amélie Thyssen sollte die der Stiftung zugedachten ATH-Aktien durch den Tausch ihrer Mehrheitsbeteiligung an der Phoenix-Rheinrohr AG gegen neue („junge“) Aktien der ATH erwerben. Im Ganzen waren ATHAktien im Nominalwert von 100 Millionen DM als Stiftungskapital vorgesehen. Davon sollte die Amélie-Holding drei Viertel, die Anita-Holding ein Viertel aufbringen. Dieser Plan war nunmehr gescheitert. In dieser misslichen Situation suchte der Gründerkreis nach einer geeigneten Hilfskonstruktion. Darauf drängte auch Amélie Thyssen, die inzwischen geradezu Feuer gefangen hatte. „Glücklich bin ich“, schrieb sie im Mai 1960 an Pferdmenges, „dass unsere ‚Fritz Thyssen Stiftung’ trotzdem ins Leben gerufen wird, wenn auch nicht so, wie wir das hofften“.29 Was war ihr Hauptmotiv? Es ging ihr um einen memorialpolitischen Akt – um eine institutionell gesicherte, auf Dauer gestellte Ehrung des Namens ihres verstorbenen Mannes. Die ehrende Memoria sollte seinen Namen zugleich abheben vom Makel der Erinnerung an „I paid Hitler“.30 Sie tauschte also – frei nach Bourdieu – ökonomisches Kapital in symbolisches Kapital. Dabei erwarb sie auch selbst symbolisches Kapital: Sie trat ein in die Ehrenhalle der großen Stifterpersönlichkeiten.
28 Birrenbach an Pferdmenges, 7.3.1961, TKA, A/33065. 29 Amélie Thyssen an Pferdmenges, 6.5.1960, Hausarchiv Sal. Oppenheim jr. & Cie., Büro P, R/18. 30 Der Ghostwriter Emery Reves veröffentlichte 1941 Teilmemoiren Fritz Thyssens unter dem Titel „I Paid Hitler“. Diese griffige Formel verankerte im internationalen Gedächtnis die Erinnerung daran, dass Fritz Thyssen zu den frühen Förderern Hitlers gehört hatte. Amélie Thyssen war bereits zwei Jahre vor ihrem Mann am 1.3.1931 der NSDAP beigetreten; sie unterstützte 1939 jedoch auch seinen Bruch mit dem NS-Regime.
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Die erwähnte Hilfskonstruktion bestand darin, dass die Stiftung einstweilen nur den Nießbrauch eines Aktienpakets von nominal 100 Millionen DM erhielt, während die Eigentumstitel bis auf weiteres in der Hand der beiden Holdings blieben. Beide Stifterinnen verpflichteten sich jedoch, die Stiftung mit ATH-Aktien im Nominalwert von 100 Millionen DM auszustatten, sobald der angestrebte Aktientausch in Zukunft möglich werde. Auf dieser Basis verkündete Robert Pferdmenges im Juli 1960 die Gründung der Fritz Thyssen Stiftung – nun im vollen Rampenlicht der medialen Öffentlichkeit. Dabei ist zu bedenken, dass der Nominalwert von 100 Millionen einem aktuellen Kurswert von 350 bis 400 Millionen entsprach. Noch nie hatte ein deutsches Privatunternehmen mit einem so großen Einsatz gemeinnützige Wissenschaftsförderung betrieben. Zwar gab es eine lange Tradition der industrienahen Zweckforschung. Aber genau davon hob sich die Fritz Thyssen Stiftung demonstrativ ab: Die Satzung schloss eine solche Zweckforschung kategorisch aus. Daher kommentierte die „Süddeutsche Zeitung“ treffend: „Das Bedeutsame an dieser Fritz Thyssen Stiftung ist nicht allein die Höhe des Betrages. Wichtiger scheint die Klausel zu sein, dass der Ertrag allen Zweigen der Wissenschaft und Forschung sowie der Heranbildung des wissenschaftlichen Nachwuchses zugute kommen soll und in keiner Weise zweckgebunden ist.“31
Es bleibt hinzuzufügen, dass die ursprünglich geplante Konstruktion einige Jahre später dann doch noch in Reinform realisiert werden konnte. Die Hohe Behörde stimmte 1963 einem erneuten Antrag auf den Zusammenschluss von ATH und Phönix-Rheinrohr zu – mit der Folge, dass die Stiftung im folgenden Jahr die Eigentumsrechte an einem ATH-Aktienpaket mit dem Nominalbetrag von 100 Millionen DM erhielt. Nun muss noch von einer für die Satzung der Stiftung relevanten Intervention des Bundeskanzlers die Rede sein. Er erfuhr erst im Vorfeld der Gründungspressekonferenz vom Juli 1960, dass die Satzung schon vor einem Jahr den Stiftungszweck festgeschrieben hatte. Daraufhin reagierte er sehr verärgert: „Hätte man mich doch früher einmal um meine Meinung gefragt, statt mich nur um Hilfe in Luxemburg zu bitten“, bekam Pferdmenges zu hören. Und weiter: Er habe August und Fritz Thyssen persönlich gut genug gekannt, um sagen zu können, dass die „ausschließliche Verwendung für wissenschaftliche Zwecke“ nicht in ihrem Sinne liege. Die meisten Wissenschaftler seien aus Snobismus oder Ignoranz „Gegner der christlich-konservativen Weltanschauung“. Daher könne er nicht verstehen, dass ihnen ein so großer Teil eines von einem überzeugten Christen begründeten Vermögens zugewendet werde.32 Da Adenauer kurz vor der Einberufung der Pressekonferenz auf eine Änderung drängte, entstand eine heikle Situation. In helle Aufregung versetzt, dachte der Gründerkreis zunächst an eine rein administrative Lösung: Das Kuratorium solle sich intern darauf festlegen, die Mittel in einem „christlich-humanistischen Geist zu verwalten“. Das genügte dem Rhöndorfer Patriarchen aber keineswegs. Er 31 Süddeutsche Zeitung, 20.7.1960 32 Adenauer an Pferdmenges, 26.6.1960, Stiftung Bundesskanzler-Adenauer-Haus, Bad HonnefRhöndorf, I/10.09.
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drängte vielmehr auf eine Satzungsänderung, die einen bestimmten Prozentsatz der Mittel „der Pflege der christlich-konservativen Weltanschauung“ widmen sollte.33 Dies wehrte der Gründerkreis jedoch mit plausiblen Argumenten ab: Erstens sei eine prozentuale Festschreibung ganz unpraktisch, und zweitens bringe eine solche Satzungsänderung die gemeinnützige Steuerbefreiung der Stiftung in Gefahr. Am Ende einigte man sich darauf, die Satzung um einen Zusatz zu erweitern. Seither umfasst der Stiftungszweck „insbesondere auch“ die Förderung wissenschaftlicher Einrichtungen, „die sich der Staats- und Gesellschaftslehre sowie der Geschichtswissenschaft auf christlich-humanistischer Grundlage widmen“.
2 Für die Herausbildung des Stiftungsprofils kam nun viel auf die Komposition des Wissenschaftlichen Beirats an. Das Kuratorium, in dem Kurt Birrenbach besonders rege und einflussreich agierte, berief die Beiratsmitglieder im Herbst 1960 nach eingehenden (auch mit dem Bundeskanzleramt abgestimmten) Beratungen. Dabei lassen sich vier Bauprinzipien ausmachen. Erstens ging es dem Kuratorium darum, die Geistes- und Naturwissenschaften in einer großen disziplinären Breite abzubilden. Das Spektrum reichte von Klassischer Philologie, Philosophie, Geschichtswissenschaft, Theologie, Jura und Nationalökonomie bis zur Ingenieurwissenschaft und zur Medizin. Zweitens wirkte sich die von Adenauer in die Satzung hineingebrachte christlich-humanistische Klausel deutlich aus, auf katholischer Seite bei der Berufung des Philosophen Alois Dempf, des Soziologen Götz Briefs und des Verfassungsrechtlers Hans Peters, auf protestantischer Seite bei dem Theologen Helmut Thielicke und wohl auch bei dem Politikwissenschaftler Arnold Bergstraesser. Wie die Reihe dieser Namen andeutet, hatte das Kuratorium – drittens – eine konfessionelle Balance im Auge. Besonders folgenreich war auf lange Sicht das vierte Merkmal: Das Kuratorium legte Wert darauf, auch die Spitzen der großen Wissenschaftsorganisationen einzubeziehen, so den Vorsitzenden des Wissenschaftsrates (Helmut Coing) und die Präsidenten der DFG (Gerhard Hess), der Max-PlanckGesellschaft (Adolf Butenandt) sowie der Westdeutschen Rektorenkonferenz (Hermann Jahrreiß). Grosso modo kann man sagen, dass die qua Amt in den Beirat gelangten Persönlichkeiten einen stärker liberalen Akzent in das Gremium hineinbrachten. Dies gilt nicht zuletzt für Helmut Coing, den bedeutenden Frankfurter Rechtshistoriker und Wissenschaftsorganisator, einen Mann von hugenottischer Herkunft.34 Er übernahm im Beirat den Vorsitz und blieb über zwei Jahrzehnte hinweg eine führende Gestalt der Stiftungsarbeit. Coing war ein Netzwerker par excellence – gerade auch im außeruniversitären Wissenschaftsbetrieb. So übernahm er auch bei zwei weite-
33 Adenauer an Pferdmenges, 27.6.1960, Hausarchiv Sal. Oppenheim jr. & Cie., Büro P, R/18. 34 Helmut Coing, Für Wissenschaften und Künste. Lebensbericht eines europäischen Rechtsgelehrten, hg. von Michael F. Feldkamp, Berlin 2014.
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ren wissenschaftsfördernden Stiftungen eine leitende Funktion: bei der 1963 gegründeten Werner Reimers Stiftung in Bad Homburg und der 1976 ins Leben gerufenen Gerda Henkel Stiftung in Düsseldorf. Als Lisa Maskell die Gerda Henkel Stiftung gründete, gehörte er zusammen mit Birrenbach zu ihren Beratern.35 Obendrein war Coing der führende Kopf bei der Gründung des Max-Planck-Instituts für europäische Rechtsgeschichte, dessen erster Direktor er 1964 wurde. Der in der Netzwerktheorie verbreitete Begriff des „cutpoint-Akteurs“ dürfte auf ihn in einem hohen Maße zutreffen. In der Konfiguration seines Gesamtnetzwerks bildete die kontinuierliche Tätigkeit für die Fritz Thyssen Stiftung ein wichtiges Verbindungsstück. Hans Rothfels repräsentierte die Historikerzunft im Gründungsbeirat der Stiftung. Er hatte von 1926 bis 1934 an der Universität Königsberg gelehrt, wo Theodor Schieder und Werner Conze zu seinen Schülern zählten. Obgleich damals der nationalistischen Rechten zugehörig, war er wegen seiner jüdischen Herkunft in die Emigration getrieben worden. Von 1939 bis 1951 lehrte er in den USA, dann folgte er einem Ruf nach Tübingen. Der Rückkehrer gewann eine höchst einflussreiche Position in der deutschen Geschichtswissenschaft und spielte insbesondere bei der Etablierung der Zeitgeschichtsforschung eine maßgebliche Rolle. 36 Dass der Blick des Kuratoriums auf ihn fiel, hing noch mit einem weiteren Umstand zusammen: Seit Mitte der 1920er Jahre verband ihn eine persönliche Bekanntschaft mit Birrenbach, „wenn diese auch durch die Kriegs- und unmittelbaren Nachkriegsjahre unterbrochen gewesen ist“, wie Birrenbach an Rothfels schrieb.37 Im Beirat setzte sich Rothfels mit Erfolg dafür ein, dass das Münchner Institut für Zeitgeschichte eine finanzielle Hilfe zur Erschließung des von der US-Militärregierung beschlagnahmten und in die USA überführten deutschen Archivguts erhielt. Besonders viel lag ihm an einer Starthilfe für das 1956/57 gegründete MaxPlanck-Institut für Geschichte in Göttingen. Als Dietrich Gerhard 1961 dort die Leitung der Abteilung Neuzeit übernahm, stellte er bei der Fritz Thyssen Stiftung einen Förderantrag zur Erforschung der Verfassungs- und Sozialgeschichte im Europa des 17. und 18. Jahrhunderts. Rothfels setzte sich im Beirat sehr für diesen Antrag ein, wobei er eine enge persönliche Verbindung nicht verschwieg. Rothfels und Gerhard waren die beiden ältesten Meinecke-Schüler; sie kannten und schätzten sich seit langem.38 Zudem verband sie eine gemeinsame Emigrationserfahrung. Rothfels würdigte den an Otto Hintzes Forschungen anknüpfenden methodischen Ansatz und die originelle, auf die Kontinuität ständischer Verhältnisse in „Alteuropa“ gerichtete Fragestellung des Projekts. Außerdem lobte er die organisatorischen Fähigkeiten, die Gerhard beim Aufbau des Amerika-Instituts an der Universität Köln bewiesen habe. Das Vorhaben verspreche „reiche Frucht“, er könne es
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Vgl. Lisa Maskell an Birrenbach, 15.7.76, ACDP, 433–44/2. Jan Eckel, Hans Rothfels, Eine intellektuelle Biographie im 20 Jahrhundert, Göttingen 2005. Birrenbach an Rothfels, 30.6.1965, Registratur der Fritz Thyssen Stiftung (R/FTS), Köln. Gerhard A. Ritter (eingel. u. bearb.), Friedrich Meinecke. Akademischer Lehrer und emigrierte Schüler. Briefe und Aufzeichnungen 1910–1977, München 2006, 32–43.
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„warm befürworten“.39 Daraufhin bewilligte die Fritz Thyssen Stiftung die stattliche Summe von 100.000 DM. Als Rothfels 1964 aus Alters- und Gesundheitsgründen aus dem Beirat ausschied, folgte ihm Theodor Schieder. Er war 1948 auf den Kölner Lehrstuhl für Geschichte der Neuzeit berufen worden und gewann bald den Rang einer Schlüsselfigur des historischen Wissenschaftsbetriebs. Dabei verband er aufsehenerregende Forschungsleistungen und das Interesse an Theorie und Methode mit wissenschaftsorganisatorischem Geschick und einer ausgeprägten Fähigkeit zur Netzwerkbildung.40 Zur Fülle seiner Mitgliedschaften in Gremien und Institutionen zählte von 1964 bis 1983 auch der Sitz im Beirat der Fritz Thyssen Stiftung. Dass das Kuratorium ihm diesen Sitz anbot, ergab sich aus seiner hohen Reputation, aber auch aus dem Passungsmerkmal, dass er „seiner wissenschaftlichen Richtung nach Herrn Rothfels verwandt ist“.41 Hinzu kam, dass er zuvor schon beim Aufbau eines Förderprogramms mitgewirkt hatte, mit dem die Fritz Thyssen Stiftung der Erforschung der Geschichte des 19. Jahrhunderts auf die Sprünge helfen wollte. Von diesem Stiftungsprojekt „19. Jahrhundert“ soll nun etwas genauer die Rede sein. Zu den ersten Beschlüssen des Beirats zählte die Entscheidung, nicht nur eine reaktive, sondern auch eine aktive Förderpolitik zu betreiben. Demnach sollte die neue Stiftung nicht lediglich darauf warten, welche Förderanträge eingingen, sondern auch eigene Impulse setzen – sozusagen durch Fördern fordern. Coing hatte diesen Beschluss angeregt und sogleich auch einen konkreten Vorschlag unterbreitet. Ihm schwebte vor, verschiedene Disziplinen in einem Förderbereich „19. Jahrhundert“ zusammenzuführen. Denn dieses Jahrhundert habe eine „Fülle von neuen Gesichtspunkten auf allen Gebieten des Wissens entwickelt“ und in geistiger, sozialer und politischer Hinsicht „die Probleme geschaffen, mit denen wir es heute zu tun haben“. Andererseits sei der Abstand zu dieser Zeit „generationsmäßig gesehen“ groß genug, um zu wissenschaftlich fundierten, da historisch distanzierten, Erkenntnissen zu gelangen.42 Die Frage liegt nahe, ob eine so dezidierte Hinwendung zum 19. Jahrhundert als eine Gegenbewegung zu der sich neu etablierenden Zeitgeschichtsforschung gedacht war. Diese rückte die „Epoche der Mitlebenden“ (H. Rothfels) in den Blick, besonders auch die NS-Zeit, zu der die um 1960 führenden Wissenschaftler „generationsmäßig gesehen“ gerade keinen Abstand hatten, im Gegenteil: Viele hatten sich mehr oder minder stark kompromittiert. Da Coings eigenes Verhalten in der NS-Zeit achtbar war, sollte man ihm – anders als anderen – wohl kein persönliches Ausweichmotiv unterstellen. Vielmehr scheint die Skepsis eine Rolle gespielt haben, ob man über eine so nahe, belastende, auch emotional aufwühlende Geschichte schon hinreichend „objektiv“ schreiben könne – vielleicht auch die Überlegung,
39 Gutachterliche Stellungnahme von Hans Rothfels, 27.1.1961, R/FTS. 40 Christoph Nonn, Theodor Schieder. Ein bürgerlicher Historiker im 20. Jahrhundert, Düsseldorf 2013. 41 Coing an den Vorstand der Fritz Thyssen Stiftung, 30.6.1964, R/FTS. 42 Ausführungen von Coing am 2.11.1962 anlässlich des ersten Tätigkeitsberichts der Stiftung, R/FTS.
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dass die Zeitgeschichte im „Gründungsfieber“43 der 1950er Jahre ohnehin schon stark genug gefördert worden sei. Man denke an die Gründung des Instituts für Zeitgeschichte in München und der Kommission für Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien in Bonn sowie die forcierte Einrichtung zeitgeschichtlicher Lehrstühle nach den Hakenkreuzschmierereien an der Kölner Synagoge 1959. Maßgeblich dürfte jedoch ein Gesichtspunkt gewesen sein, den Coing selbst kontinuierlich hervorhob: Er sah im 19. Jahrhundert – verstanden als die Epoche von der Französischen Revolution bis zum Ersten Weltkrieg – eine „entscheidende Änderung der Lebensbedingungen und auch der geistigen Grundlagen“ Europas, womit „die Probleme verursacht“ worden seien, „die auch unsere Zeit beschäftigen“.44 Aus einem ähnlichen Interesse an langfristigen Zusammenhängen haben sich die Protagonisten der „Historischen Sozialwissenschaft“, die in den 1970er Jahren die Zeitschrift „Geschichte und Gesellschaft“ gründeten, ebenfalls auf die Geschichte des „langen“ 19. Jahrhunderts konzentriert. Um die Resonanz auf seinen Vorschlag zu testen, versammelte Coing im Mai 1962 einen Kreis von 21 Vertretern verschiedener Disziplinen. Die Förderidee fand großen Beifall, wobei die Teilnehmer betonten, dass „gerade die interdisziplinäre Zusammenarbeit besonders erwünscht“ sei.45 Im nächsten Halbjahr brachte die Stiftung für zehn Forschungsbereiche „jeweils einen Kreis von befreundeten Gelehrten“ zusammen, die darüber beraten sollten, „was zu tun sei“. Zu diesen Kreisen zählten Joachim Ritter und Hermann Lübbe (Philosophie), Hans Rothfels und Theodor Schieder (Allgemeine Geschichte), Alwin Diemer (Wissenschaftsgeschichte), Walter Artelt (Geschichte der Medizin), Walter Rüegg (Erziehungswesen) und nicht zuletzt Coing selbst (Rechtswissenschaft). Diese Initiative führte in den nächsten Jahren zur Bildung von 15 Arbeitskreisen, darunter auch für Geschichte der Naturwissenschaften und Technik, Industrielle Gesellschaft, Altertumswissenschaften, Literaturwissenschaft, Kunstgeschichte und Musikwissenschaft.46 Die Arbeitskreise waren eher locker gefügt und wiesen Fluktuationen auf. Daher lässt sich die Gesamtzahl der Mitglieder nicht ohne weiteres bestimmen; sie lag jedoch mindestens bei 75. Den interdisziplinären Ansatz erprobten einige Arbeitskreise, indem sie gemeinsam tagten. So trafen sich z. B. die Arbeitskreise Philosophie und Rechtswissenschaft, um die Beziehungen ihrer Fächer im 19. Jahrhundert gemeinsam zu untersuchen (mit Einführungen von Helmut Coing und Joachim Ritter). Die Arbeitskreise Deutsche Literaturwissenschaft, Kunstgeschichte und Musikwissenschaft kooperierten unter dem Generalthema „Kunsttheorie im 19. Jahrhundert“. Der bildungsgeschichtliche und der industriegesellschaftliche Arbeitskreis arbeiteten unter dem Vorsitz von Walter Rüegg und Otto Neuloh zusammen, um dem „Wandel von Gesellschaft und Bildung im 19. Jahrhundert“ auf die Spur zu kommen. 43 44 45 46
Winfried Schulze, Deutsche Geschichtswissenschaft nach 1945, München 1989, 252. Undatierte (Anfang 1963) Notiz Coings, R/FTS. Bericht des Vorstands der Fritz Thyssen Stiftung über ihre Tätigkeit im Jahre 1962, R/FTS. Überblick über die geförderten Forschungsvorhaben der Arbeitskreise in: Lebensbild einer Stiftung für Wissenschaft und Forschung: Die Fritz Thyssen Stiftung 1960–1970, Tübingen 1971, 31–57.
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Fast zwei Jahrzehnte lang zählte das „19. Jahrhundert“ zu den Förderschwerpunkten. Eine Zeitlang hoffte die Stiftung, dass die Fülle der geförderten Arbeiten in eine große Synthese einmünden werde. Die Vorsitzenden der Arbeitskreise, die sich bisweilen zu koordinierenden Sitzungen trafen, gaben das Ziel einer zusammenfassenden Gesamtdarstellung jedoch in der Mitte der 1970er Jahre auf. Ein solches Ziel erschien ihnen überambitioniert und unrealistisch. Einige argumentierten, eine Gesamtschau könne „nur das Lebenswerk eines überragenden Gelehrten“ sein.47 Andere hielten den „Aggregatzustand“ der Ergebnisse für zu unterschiedlich – so Theodor Schieder in einer Zwischenbilanz 1973. Er erinnerte daran, dass sich das Unternehmen „von einzelnen punktuellen Ausgangspunkten her entwickelt“ habe, „da wo jeweils verfügbare Kräfte vorhanden waren“. Daraus hätten sich „unvermeidliche Lücken“ und „Zufälligkeiten“ ergeben.48 Mit der Auflösung der Arbeitskreise um das Jahr 1977 herum entfiel dann auch die Möglichkeit einer stärkeren Steuerung. Mit anderen Worten: Der Förderbereich beruhte nicht auf einem systematischen Gesamtplan, sondern ließ viel Raum für Einzelinitiativen und Eigendynamik. Wie wirkungsvoll die Impulse waren, die davon ausgingen, welche Themen und Sichtweisen neu etabliert wurden, welche Bedeutung die geförderten Arbeiten für den Gang der Forschung in den einzelnen Disziplinen und für das interdisziplinäre Zusammenwirken hatten – dies alles ließe sich erst ermessen, wenn das Forschungsunternehmen „19. Jahrhundert“ selbst einmal zum Gegenstand wissenschaftsgeschichtlicher Analyse gemacht würde. Einstweilen müssen wir uns mit einem quantitativen Resümee begnügen: Aus den Tagungen und Initiativen der Arbeitskreise gingen rund 250 Buchpublikationen hervor, die überwiegend in einer eigens von der Stiftung eingerichteten Schriftenreihe („Studien zur Geschichte des neunzehnten Jahrhunderts“) erschienen sind. Etwas mehr lässt sich indes über den Arbeitskreis „Allgemeine Geschichte“ sagen. Theodor Schieder nutzte ihn als Ressource für seine Nationalismus-Forschungen. Er richtete an seinem Kölner Historischen Seminar 1964 eine Forschungsabteilung ein, die den organisatorischen und personellen Kern des Arbeitskreises bildete. Den Mitarbeiterstab der Abteilung ergänzte er durch fünf Stipendiaten der Fritz Thyssen Stiftung; weitere Wissenschaftler erhielten von ihr Sach- und Reisekostenbeihilfen. Alle diese Aktivitäten bündelte Schieder mit dem Rahmenthema einer „vergleichenden Organisations- und Sozialgeschichte europäischer nationaler Bewegungen“. Die an der Forschungsabteilung entstandenen Monographien und Sammelbände erschienen von 1969 bis 1986 in der vorhin genannten Schriftenreihe der Stiftung. Man darf annehmen, dass die von der Stiftung geleisteten Hilfen auch dem Band „Europa im Zeitalter der Nationalstaaten“ zugute kamen, mit dem Schieder das von ihm herausgegebene „Handbuch der europäischen Geschichte“ 1968 eröffnete. 47 So der klassische Philologe Wolfgang Schadewaldt in einer Sitzung des wissenschaftlichen Beirats am 30.10.1971, R/FTS. 48 Stellungnahme Schieders zur Koordination und Zusammenfassung des Forschungsunternehmens „19. Jahrhundert“, 16.4.1973, R/FTS.
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In der politischen Ideengeschichte der Bundesrepublik gab es, wie Jens Hacke herausgearbeitet hat, eine einflussreiche liberalkonservative Denkströmung, zu deren Impulsgebern der Münsteraner Philosoph Joachim Ritter zählte.49 Hacke sieht in Ritter und seinem Schülerkreis das Zentrum einer Gegenbewegung zur Frankfurter Schule der „Kritischen Theorie“ und einen Hort der „Neomarxismusresistenz“. Im Gegensatz zur Fundamentalkritik der Frankfurter Schule sei es den Ritterianern um eine pragmatische Wertschätzung der bundesrepublikanischen Institutionen gegangen, um stabilisierende Elemente der Bürgerlichkeit, auch um einen pfleglichen Umgang mit Traditionen, verbunden mit einer Absage an demokratiefeindliche Überhänge des alten Nationalkonservatismus. Eine Verbindungslinie zur Fritz Thyssen Stiftung zog Hacke nicht, doch kann man sie in zweifacher Hinsicht zeichnen. Zum einen: Joachim Ritter war Gründungsmitglied (und jahrelang auch Vorsitzender) des Arbeitskreises Philosophie im Stiftungsprojekt „19. Jahrhundert“. Dabei bewies er – wie Coing 1964 vermerkte – „besonderes Interesse für die Stiftung“50, so dass er 1967 auch im Wissenschaftlichen Beirat Sitz und Stimme erhielt. Dort folgte ihm 1973 Hermann Lübbe nach, einer seiner bekanntesten Schüler, auch er ein Gründungsmitglied des Arbeitskreises Philosophie. Zum anderen fällt auf, dass auch weitere maßgebliche Persönlichkeiten der Stiftungsarbeit – bezogen auf die 1960er, 1970er und frühen 1980er Jahre – dem von Hacke definierten liberalkonservativen Denkstil zurechnen sind. Dies gilt für den Kuratoriumsvorsitzenden Kurt Birrenbach ebenso wie für den Spiritus Rector des Beirats, Helmut Coing, und den renommierten Vorsitzenden des Arbeitskreises Erziehungs- und Bildungswesen, Walter Rüegg. Theodor Schieder, der sich nach 1945 zum „liberalen Tory“51 wandelte, wird man ebenfalls dort einordnen können, auch eine Reihe weiterer Beiratsmitglieder wie den Juristen Hermann Jahrreiß. Gewiss kann man das Stiftungsprofil jener Jahre nicht gänzlich auf den Nenner des Liberalkonservatismus bringen. Dafür war das Gesamtspektrum der Tätigkeit der Fritz Thyssen Stiftung zu vielfältig und umfasste – um wenigstens ein Gegenbeispiel zu bringen – auch die Unterstützung der Herausgabe des Werkes von Walter Benjamin. Aber sie setzte doch etliche markante Akzente in dem vorhin bezeichneten Sinn. Dies sei mit drei Beispielen erläutert. Zum einen: Mitarbeiter des von Carl Friedrich von Weizsäcker und Jürgen Habermas geleiteten Max-Planck-Instituts zur Erforschung der Lebensbedingungen der wissenschaftlich-technischen Welt traten 1972/73 mit einer Theorie der „Finalisierung der Wissenschaft“ hervor und lösten damit einen Streit aus, dessen Heftigkeit an den „Positivismusstreit“ der frühen 1960er Jahre erinnerte.52 Der
49 Jens Hacke, Philosophie der Bürgerlichkeit. Die liberalkonservative Begründung der Bundesrepublik, Göttingen 2006. 50 Coing an den Vorstand der Fritz Thyssen Stiftung, 30.6.1964, R/FTS. 51 Hans-Ulrich Wehler, Historiker im Jahre Null, in: FAZ, 11.4.2008. 52 Ariane Leendertz, „Finalisierung der Wissenschaft“. Wissenschaftstheorie in den politischen Deutungskämpfen der Bonner Republik, in: Mittelweg 36/2013, 93–121.
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schärfste Widerspruch kam aus dem von der Stiftung geförderten Arbeitskreis Wissenschaftsforschung, in dem neben Hermann Lübbe auch Friedrich Tenbruck und Ernst Topitsch mitwirkten.53 Zum zweiten: Ende der 1970er Jahre regte die Stiftung eine Historikerkonferenz zum Thema „Weimar. Selbstpreisgabe einer Demokratie“ an.54 Der mit ihrer Hilfe weit verbreitete Tagungsband war von den Initiatoren als eine geschichtspolitische Warnung für die Gegenwart gedacht. Den Hintergrund bildete eine aktuelle Krisendiagnose, die unter dem Stichwort „Unregierbarkeit“ besorgte Stimmen aus dem liberalkonservativen Lager auf den Plan rief. Zum dritten: Birrenbach und Schieder riefen nach dem Vorbild angelsächsischer „lectures“ mit Mitteln der Stiftung eine Vortragsreihe ins Leben, die sich 1980/84 am prominenten Ort der Preußischen Staatsbibliothek den Wirkungen Preußens auf die deutsche Geschichte widmete. Das Ziel dieser Initiative, die in eine auflagenstarke Buchpublikation mündete55, lag nicht nur darin, der vom SEDStaat damals betriebenen „Preußen-Renaissance“ etwas entgegen zu setzen. Sie diente auch dem Zweck, der Bundesrepublik „Anstöße für ihre zukünftige Entwicklung zu geben, die sich auf längere Frist als staatstragend erweisen könnte“.56 Dieses Interesse an staatstragenden Aspekten der Befassung mit preußischer Geschichte lässt etwas von jenem „traditionsfreundlichen Historismus“ erkennen, von jenem schonenden Umgang mit dem traditionell Überlieferten, den Hacke in den Merkmalskatalog des Liberalkonservatismus aufgenommen hat.57 Fasst man die Hinweise auf das Profil maßgeblicher Persönlichkeiten und einige charakteristische Züge im Bereich der Fördertätigkeit zusammen, dann kann man die These wagen, dass die Fritz Thyssen Stiftung von den 1960er bis zu den frühen 1980er Jahren einen Stützpunkt, vielleicht sogar ein intellektuelles Basislager für die liberalkonservative Begründung der Bundesrepublik gebildet hat.
53 Kurt Hübner / Nikolaus Lobkowicz / Hermann Lübbe / Gerard Radnitzky (Hgg.), Die politische Herausforderung der Wissenschaft. Gegen eine ideologisch verplante Forschung, Hamburg 1976. 54 Karl-Dietrich Erdmann / Hagen Schulze (Hgg.), Weimar. Selbstpreisgabe einer Demokratie. Eine Bilanz heute, Düsseldorf 1984. 55 Preußen. Seine Wirkung auf die deutsche Geschichte, Stuttgart 1982, erweiterte Ausgabe Stuttgart 1985. Zu den Beiträgern zählten u. a. Karl Dietrich Bracher, Walter Bußmann, Karl Dietrich Erdmann, Wolfram Fischer, Lothar Gall, Thomas Nipperdey, Theodor Schieder, Hagen Schulze. 56 So formulierte Birrenbach die ursprüngliche Intention der Vortragsreihe in einer Rede zum 75. Geburtstag Theodor Schieders im April 1983, R/FTS. 57 Hacke, Philosophie, 92.
NETZWERKE UND DER HISTORIKER Der Aufstieg Theodor Schieders in der Geschichtswissenschaft der 1950er Jahre1 Christoph Nonn
Woran lässt sich Erfolg im „Feld“ eines akademischen Faches messen? Pierre Bourdieu hat dafür weithin akzeptierte Kriterien formuliert. Ein Lehrstuhl ist die Grundvoraussetzung. Relativ zu anderen Lehrstuhlinhabern ergibt sich die Stellung eines Wissenschaftlers dann aus wissenschaftlicher Macht – in Form der Präsenz in Gremien und Institutionen. Und sie resultiert aus intellektueller Prominenz – etwa durch die Herausgeberschaft von Zeitschriften, die für das Fach von Bedeutung sind.2 Gemessen an diesen Kriterien war Theodor Schieder vor den 1950er Jahren in der deutschen Geschichtswissenschaft eher ein kleines Licht. Zwar hatte er 1942 einen Lehrstuhl an der Königsberger Universität erhalten. Schon seit den 1930er Jahren war er zudem Teil des Netzwerks um die Nordostdeutsche Forschungsgemeinschaft gewesen. Dort gehörte er allerdings nicht zu den führenden Figuren.3 Sonst war seine institutionelle Verankerung ausgesprochen dürftig: Abgesehen von einer Mitgliedschaft im Historikerverband erschöpfte sie sich in der Herausgeberschaft der „Altpreußischen Forschungen“, einer in Königsberg herausgegebenen landeshistorischen Zeitschrift. Selbst diesen Herausgeberposten verlor Schieder mitsamt seinem Lehrstuhl 1945 zudem wieder. 1948 wurde er dann erneut auf einen Lehrstuhl in Köln berufen. Doch erst nach 1950 wurde Schieder zu einem – gemessen an Bourdieus Kriterien – ausgesprochen erfolgreichen Historiker. Seit 1957 gab er mit der Historischen Zeitschrift das einflussreichste, weil auflagenstärkste Fachorgan heraus. Während sich seine Mitgliedschaften in Gremien und Institutionen in den frühen 1950er Jahren noch an den Fingern einer Hand abzählen ließen, nahm ihre Zahl seit
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Dieser Beitrag entstand im Zusammenhang mit einer ausführlichen biographischen Arbeit über Schieder: Christoph Nonn, Theodor Schieder. Ein bürgerlicher Historiker im 20. Jahrhundert, Düsseldorf 2013. Ich widme ihn Edgar Büttner als ein kleines und unzureichendes Dankeschön für seine exzellente Arbeit bei der Drucklegung dieses Buchs in der Reihe des Bundesarchivs. Pierre Bourdieu, Homo academicus, Frankfurt 1988, 135. Zur Nordostdeutschen Forschungsgemeinschaft vgl. Ingo Haar, Historiker im Nationalsozialismus. Deutsche Geschichtswissenschaft und der „Volkstumskampf“ im Osten, Göttingen 2 2002. Haar verzeichnet Schieders Rolle in der Forschungsgemeinschaft allerdings beträchtlich. Siehe dazu Nonn, Theodor Schieder.
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dem Ende des Jahrzehnts steil zu. In den 1960ern explodierte sie schließlich geradezu. So wurde er nach frühen Mitgliedschaften in der Kommission für die Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften und im Herder-Institut nun unter anderem Mitglied des Arbeitskreises Moderne Sozialgeschichte, der Mainzer und der Düsseldorfer Akademien der Wissenschaften, der Stiftung Wissenschaft und Politik, der Beiräte des Instituts für Zeitgeschichte, des Instituts für Europäische Geschichte in Mainz und des Deutschen Historischen Instituts in Rom, Gutachter für VW- und Thyssen-Stiftung, Senator und Fachgutachter bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft, Präsident der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Vorsitzender des Deutschen Historikerverbands – ohne dass mit dieser Auflistung auch nur annähernd bereits alle fachrelevanten Gremienfunktionen erfasst wären. Doch wie kam Schieder an diese Machtpositionen? Was erklärt seinen Aufstieg? Ein möglicher Erklärungsansatz besteht darin, Schieders Verbindung mit bestimmten methodischen Innovationen hervorzuheben. Sein Erfolg erscheint dann als Begleiterscheinung eines rationalen Diskurses innerhalb des Fachs, durch den sich diese Innovationen durchsetzten.4 Ein anderer Erklärungsansatz betont stattdessen die Bedeutung von personellen Netzwerken und strategischem Handeln. Die Karriere eines Historikers hängt demnach vor allem davon ab, dass er an den richtigen Orten präsent ist und zu den richtigen Leuten Kontakte hat. Durch gemeinsame Denkstile verbundene Gruppen von Kollegen, in Schieders Fall etwa die während der 1930er Jahre in Königsberg gemeinsam akademisch sozialisierte „Rothfels-Gruppe“, bilden nach dieser Interpretation das Fundament des Erfolgs auf dem Feld der Geschichtswissenschaft.5 Das Beispiel Theodor Schieders illustriert, dass strategisches Handeln für den Aufstieg in der Zunft während der 1950er Jahre ebenso von Bedeutung war wie das Eintreten für methodische Innovationen. Das Beispiel zeigt allerdings auch, dass beides schwerlich getrennt werden kann von der Wahl der Themen. Relevant war nicht nur wie und mit wem, sondern mindestens so sehr über was man redete. Persönliche Verbindungen ergaben sich meist erst aus gemeinsamen fachlichen und politischen Interessen. Für Schieders Aufstieg waren seine bereits bestehenden
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Charles Maier hat dieses Modell ironisch als „Whig history of history“ bezeichnet (Ders, Comment. Theodor Schieder, in: Hartmut Lehmann / James van Horn Melton (Hgg.), Paths of Continuity. Central European Historiography from the 1930s to the 1950s, Cambridge 1994, 389– 396). An ihm orientieren sich mehr oder weniger Winfried Schulze, Deutsche Geschichtswissenschaft nach 1945, München 1989; Jörn Rüsen, Kontinuität, Innovation und Reflexion im späten Historismus. Theodor Schieder, in: ders., Konfigurationen des Historismus. Studien zur deutschen Wissenschaftskultur, Frankfurt 1993, 357–397; Jin-Sung Chun, Das Bild der Moderne in der Nachkriegszeit. Die westdeutsche „Strukturgeschichte“ im Spannungsfeld von Modernisierungskritik und wissenschaftlicher Innovation 1948–1962, München 2000. So vor allem Thomas Etzemüller, Sozialgeschichte als politische Geschichte. Werner Conze und die Neuorientierung der westdeutschen Geschichtswissenschaft nach 1945, München 2001.
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Netzwerke zudem weniger wichtig als diejenigen, die er erst im Lauf der 1950er Jahre über solche gemeinsamen Interessen neu knüpfen konnte. Sieht man von Lehrstuhl und Historikerverband ab, war die Mitgliedschaft im Forschungsrat des Marburger Herder-Instituts Schieders erste institutionelle Verankerung nach dem Zweiten Weltkrieg. Der 1950 gegründete Herder-Forschungsrat gab den alten Netzwerken der ‚Ostforschung‘ aus Vorkriegs- und Kriegsjahren einen neuen organisatorischen Rahmen.6 Auf Bitten von dessen Vorsitzenden Hermann Aubin, den Schieder seit 1936 kannte und der ihn bei der Berufung nach Köln unterstützt hatte, ließ der frischgebackene Kölner Ordinarius sich zwar 1951 auch in den Vorstand des Forschungsrats wählen. Das geschah freilich nur widerwillig. Schieder hatte gleichermaßen Vorbehalte gegen Personal wie inhaltliche Ausrichtung des Herder-Instituts.7 Nach nur einem Jahr legte er den Sitz im Vorstand 1952 wieder nieder. In den nächsten Jahren entfernte er sich von den alten Netzwerken der Ostforschung immer mehr.8 Auch im Verhältnis zu Aubin kriselte es. Gerade Mitte der 1950er Jahre, als Schieders Karriere in großen Sprüngen vorankam, war die Kommunikation zwischen beiden gestört.9 Eine andere von Schieder in den frühen 1950er Jahren übernommene Funktion, die Leitung der Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa, trug hingegen einiges zu seinem Aufstieg in der Zunft bei. Anders als es zunächst den Anschein haben mag, spielten dafür allerdings alte Netzwerke ebenfalls keine ausschlaggebende Rolle. Die Leitung der Dokumentation war vom Geldgeber, dem Bonner Bundesministerium für Vertriebene, 1951 zunächst Hans Rothfels angeboten worden. Doch Rothfels, der gerade aus den USA nach Deutschland zurückgekehrt war, um einen Lehrstuhl in Tübingen zu übernehmen, lehnte ab. Er verwies das Ministerium stattdessen an Schieder in Köln. Das war weniger die Folge einer engen Beziehung zu diesem, die noch aus Königsberger Tagen herrührte. Tatsächlich waren die Kontakte zwischen dem NSOpfer Rothfels und Schieder 1934/35 nur recht flüchtig gewesen. Schieder war primär aus privaten Gründen in den preußischen Osten gegangen. Erst im Februar 1934 suchte er den Kontakt zu dem ihm bis dahin persönlich unbekannten Rothfels, dem einzigen Lehrstuhlinhaber für die Geschichte der Neuzeit an der Königsberger
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Zu den vielfältigen Kontinuitäten zwischen Herder-Forschungsrat und insbesondere der Nordostdeutschen Forschungsgemeinschaft vgl. Eduard Mühle, Für Volk und deutschen Osten. Der Historiker Hermann Aubin und die deutsche Ostforschung, Düsseldorf 2005, 391–417; Corinna Unger, Ostforschung in Westdeutschland. Die Erforschung des europäischen Ostens und die Deutsche Forschungsgemeinschaft 1945–1975, Stuttgart 2007, 132–138. Schieder an Carl Jantke 30.4.1951, Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz (GStAPK) Nachlass Jantke; Schieder an Hermann Aubin 2.4.1951, 18.6., 22.7. und 27.8.1952, HerderInstitut Marburg (DSHI) 200 HFR/HI 12, Bl. 1471, 1482–1486, 1489. Vgl. dazu ausführlich Nonn, Theodor Schieder, Kapitel 4.2. Schieder an Peter Rassow 23.4. und 28.8.1954 sowie 10.5.1956, Bundesarchiv (BArch) N 1228/190 und 115; an Gerhard Ritter 26.4.1954, BArch N 1166/342; an Aubin 29.5. und 8.7.1954 sowie 19.9.1957, Aubin an Schieder 25.10.1957, BArch N 1188/455; Schieder an Karl Dietrich Erdmann 17.9.1956, BArch N 1393/104.
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Universität, weil er sich habilitieren wollte. Wenige Monate später wurde Rothfels jedoch wegen seiner jüdischen Herkunft bereits entlassen. Nach dessen Umzug nach Berlin 1935 brach Schieder den Kontakt zu Rothfels wieder ab und nahm ihn erst 1946, erneut aus Karrieregründen, wieder auf. Die zunächst recht oberflächliche Beziehung zwischen beiden wurde von Schieder erstmals zweckgebunden bei seinem Entnazifizierungsverfahren 1946 zu einem innigen Lehrer-Schüler-Verhältnis verklärt.10 Diese Verklärung hat seitdem durch beständige Wiederholung den Status eines vermeintlichen Faktums erhalten. In Wirklichkeit entstand das enge Verhältnis zwischen Schieder und Rothfels erst während der 1950er Jahre, nicht zuletzt durch die gemeinsame Arbeit an der Vertreibungsdokumentation.11 Dass Rothfels Schieder für die Leitung der Vertreibungsdokumentation vorschlug, hatte deutlich mehr mit Kontingenzen zu tun als mit dem gezielten Wirken von Netzwerken. Rothfels lehnte es deshalb ab, die Aufgabe selbst zu übernehmen, weil er von seinem Tübinger Lehrstuhl aus nicht ständig zu Besprechungen mit dem Ministerium in Bonn fahren wollte.12 Es lag nahe, stattdessen einen Historiker mit der Leitung der Dokumentation zu betrauen, der in der Bundeshauptstadt oder nicht allzu weit weg davon tätig war. An der Bonner Universität war der Lehrstuhl für Geschichte der Neuzeit mit Max Braubach besetzt. Braubach war freilich ganz überwiegend auf frühe Neuzeit spezialisiert, war kein Vertriebener, und Rothfels hatte gar keinen Kontakt zu ihm. Der nächste Kandidat war Schieder in Köln. Der aber hatte nicht nur Forschungsschwerpunkte im 19. und 20. Jahrhundert, sondern war zudem selbst vertrieben worden. Und Rothfels kannte ihn immerhin, wenn auch
10 Im Rahmen der bei solchen Verfahren üblichen Rekonstruktion des eigenen Lebenslaufes hob Schieder seine vermeintlich enge Bindung an den wegen seiner jüdischen Herkunft aus Deutschland vertriebenen Rothfels besonders hervor. Gegenüber den Besatzungsbehörden versuchte er damals auch schon glaubhaft zu machen, er sei wegen der Verbindung zu Rothfels selbst von den Nationalsozialisten diskriminiert worden – eine fragwürdige Behauptung, die jedoch ihren Zweck erfüllte, ihn in den Augen der Besatzungsmacht weißzuwaschen. Vgl. im Einzelnen Nonn, Theodor Schieder. 11 Vgl.: Theodor Schieder berichtet über die Albertus-Universität in Königsberg, an der er von 1934 bis 1945 tätig war, in: Institut für den wissenschaftlichen Film (Hg.), Filmdokumente zur Zeitgeschichte, Göttingen 1979, 16; Werner Conze, Die Königsberger Jahre, in: Andreas Hillgruber (Hg.), Vom Beruf des Historikers in einer Zeit beschleunigten Wandels. Gedenkschrift für Theodor Schieder, München 1985, 27; Mathias Beer, Im Spannungsfeld von Politik und Zeitgeschichte. Das Großforschungsprojekt „Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa“, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 46/1998, 365; Etzemüller, Sozialgeschichte, 32; Lothar Gall, Schieder Theodor, in: Neue Deutsche Biographie, Bd. 22, Berlin 2005, 732–734; Hans-Ulrich Wehler, in: Rüdiger Hohls / Konrad H. Jarausch (Hgg.), Versäumte Fragen. Deutsche Historiker im Schatten des Nationalsozialismus, Frankfurt 2000, 249; ders., Historiker im Jahre Null, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung 11.4.2008, 38. Als Belege werden dazu bezeichnenderweise nur Quellen seit etwa Mitte der 1950er Jahre herangezogen. 12 Rothfels an Schieder 28.9. und Schieder an Rothfels 26.9. und 2.10.1951, BArch N 1188/3005.
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noch nicht besonders gut. In die Historische Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften wurde Schieder dann „vor allem aufgrund der Dokumentation der Vertreibung zum Mitglied gewählt“.13 Schieders Kooptation in die Kommission für Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien war die Folge ganz ähnlicher Kontingenzen. Die Initiative zur Gründung ging hier vom Bundesministerium des Innern aus. Erster Vorsitzender wurde 1951 der Berliner Historiker Alfred Herrmann. Auch die anderen Gründungsmitglieder arbeiteten nicht am Sitz der Kommission in Bonn, abgesehen von Ludwig Bergsträsser. Der wollte sich als Bundestagsabgeordneter allerdings vor allem seinem Parlamentsmandat widmen. Deshalb wurde bei den Inhabern der nächstgelegenen Lehrstühle für die Geschichte der Neuzeit angefragt, ob sie Interesse an einer Mitarbeit hätten: bei Max Braubach in Bonn und Theodor Schieder in Köln.14 Dass neben Braubach auch und sogar zuerst der jüngere und in der weiteren Fachöffentlichkeit noch ziemlich unbekannte Schieder gefragt wurde, hing möglicherweise ebenfalls damit zusammen, dass dieser durch seinen ersten angekündigten Auftritt auf einem Historikertag 1951 einen Namen zu gewinnen begann. Schieders Präsenz als Kommentator, Referent und Sektionsleiter auf den Historikertagen, der wichtigsten Institution im Fach, trug entscheidend zu seinem Aufstieg bei. Bezeichnenderweise wurde er 1956 hauptsächlich als jemand wahrgenommen, der „auf dem Gebiet der Parteiengeschichte einen festen Namen besitzt“ – und damit als ein Experte für das Thema, mit dem er seit 1951 auf drei nationalen und internationalen Historikertagen aufgetreten war. Seine wesentlich zahlreicheren Veröffentlichungen zur Nationalismusforschung spielten dagegen für die Wahrnehmung durch Kollegen nur eine untergeordnete Rolle.15 Wie kam Schieder dazu, auf den Historikertagen aufzutreten? Die Auswahl und Ansprache von Referenten erfolgte in den 1950er Jahren durch den Ausschuss des Historikerverbands. Entsprechend wichtig waren Kontakte zu dessen führenden Mitgliedern. Der erste Vorsitzende des Verbands und einflussreichste Historiker der Nachkriegs- und 1950er Jahre war der Freiburger Ordinarius Gerhard Ritter. An Ritter hatte Schieder sich schon Ende 1945 gewandt, als er selbst noch stellenlos in der bayerischen Provinz festsaß, und um Hilfe bei der Erlangung eines Forschungsauftrags gebeten: Er wolle über die „politische Ethik des Luthertums und
13 Schieder an Kurt von Raumer 8.1.1954, Universitäts- und Landesbibliothek Münster (ULBMs) Nachlass Raumer A2; vgl. dazu auch Schieder an Gerhard Ritter 21.10. und Hermann Aubin an Schieder 23.10.1953, BArch N 1188/372 und 176. 14 Staatssekretär Erich Wende an Schieder 12.6., Fritz Fischer an Schieder 14.6., Alfred Herrmann an Schieder 25.9.1951, BArch N 1188/225. Es war jeweils die erste schriftliche Kontaktaufnahme. 15 Hans Herzfeld an Schieder 26.7.1956, BArch N 1188/177, und vgl. ähnliche Anfragen für Gutachten ebd. sowie Gutachten Herbert Grundmanns und Gerhard Ritters über Schieder 1957, Universitätsarchiv Leipzig (UAL) Nachlass Grundmann 101/6 und BArch N 1166/308.
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die revolutionäre Ideologie vor und nach 1789 in Deutschland“ arbeiten.16 Mit solchen Themen hatte Ritter, der Biograph von Luther, Friedrichs „des Großen“ und des Freiherrn von Stein, Autor einer vielbeachteten Studie über die Wirkung der politischen Ethik von Machiavelli und Thomas Morus, sich vor 1945 einen Namen gemacht.17 In Königsberg hatte der Freiburger Ordinarius noch 1943 einen Vortrag zum „Verhältnis von Politik und Ethik seit Renaissance und Reformation“ gehalten.18 Dennoch holte Schieder sich nun mit seiner Bitte um Unterstützung bei Ritter eine Abfuhr. Daran konnte auch nichts ändern, dass er dem Älteren gegenüber nachfassend schmeichlerisch betonte, wie sehr ihn doch dessen „gerechte Abwägung des Urteils über die Hochschulfragen der letzten 12 Jahre“ erfreut habe.19 Denn Ritter beschäftigte, ohne dass Schieder davon wusste, spätestens seit Kriegsende primär etwas ganz anderes als die politische Ethik der frühen Neuzeit – nämlich die Bewältigung des Nationalsozialismus durch dessen historische Interpretation. Seit 1946 trat er mit diesem Thema in mehreren Publikationen an die Öffentlichkeit. Der Nationalsozialismus war demnach nicht zuletzt durch das Aufkommen der säkularen modernen „Massengesellschaft“ ermöglicht worden. Der Faschismus, so Ritter, sei ein Ausdruck der „Vermassung“ europäischer Politik seit 1789 gewesen. Die überwundene Gefährdung der bürgerlichen Elite durch die Verbindung von Nationalismus und Sozialismus setzte er auch in Beziehung zur aktuellen Gefahr durch den internationalistischen Sozialismus und Kommunismus. Mit dieser historischen Unterfütterung der Totalitarismustheorie lieferte der Freiburger Ordinarius Ritter eine unter den mehrheitlich bürgerlich-konservativen westdeutschen Historikern zunächst weithin akzeptierte Diagnose.20
16 Schieder an Ritter 16.12.1945, BArch N 1166/490. 17 Gerhard Ritter, Luther. Gestalt und Symbol, München 1925; ders., Friedrich der Große. Ein historisches Profil, Leipzig 1936; ders., Stein. Eine politische Biographie, 2 Bände, Stuttgart 1931; ders., Machtstaat und Utopie. Vom Streit um die Dämonie der Macht seit Machiavelli und Morus, München 1940; vgl. Christoph Cornelißen, Gerhard Ritter. Geschichtswissenschaft und Politik im 20. Jahrhundert, Düsseldorf 2001, 193–226 und 316–327. 18 Gerhard Ritter, Das Verhältnis von Politik und Ethik seit Renaissance und Reformation. Vortrag vom 31. Mai in der Kantgesellschaft Königsberg, Freiburg 1943; vgl. dazu einen Briefwechsel von 1943 zwischen Ritter und Schieder, der den Vortrag wegen Krankheit verpasst hatte, in BArch N 1188/372. 19 Ritter an Schieder 28.1.1946, Schieder an Ritter 8.2.1946 (daraus das Zitat, das sich bezog auf Gerhard Ritter, Der deutsche Professor im „Dritten Reich“, in: Die Gegenwart 1/1945, 23–26), Ritter an Schieder 20. und Antwort 25.2.1946: BArch N 1188/372 und 1166/490. 20 Gerhard Ritter, Geschichte als Bildungsmacht. Ein Beitrag zur historisch-politischen Neubesinnung, Stuttgart 1946; ders., Europa und die deutsche Frage. Betrachtungen über die geschichtliche Eigenart des deutschen Staatsdenkens, München 1948; vgl. Cornelißen, Ritter, 522–533; Nicolas Berg, Der Holocaust und die westdeutschen Historiker. Erforschung und Erinnerung, Göttingen 2003, 47–142; Sebastian Conrad, Auf der Suche nach der verlorenen Nation. Geschichtsschreibung in Westdeutschland und Japan 1945–1960, Göttingen 1999, 171–174; Schulze, Geschichtswissenschaft, 46–64, 77–81.
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Auch Theodor Schieder teilte diese Diagnose.21 Und er grübelte darüber nach, wie aus der Geschichte ein Rezept zur Bewältigung der aktuellen Gefahr zu gewinnen sei. Im Frühjahr 1946 schrieb er im Kontext einer mit Herbert Grundmann brieflich geführten Diskussion über die zukünftige innen- und außenpolitische Rolle der SPD: „Die Grundfrage scheint mir die: Können wir einen zweiten Plebejeraufstand verhindern, ohne bourgeois-reaktionär befangen und illusionär zu sein?“22 Nach dem Ruf auf die Kölner Professur machte er sich schließlich an die Ausarbeitung eines historisch fundierten Rezepts dafür: Im Juni 1949 hielt er seine Antrittsvorlesung über „Das Problem der Revolution im 19. Jahrhundert“. Ein Jahr später erschien eine überarbeitete Fassung des Vortrags in der Historischen Zeitschrift.23 Vielleicht wäre Theodor Schieders Karriere im Sande verlaufen, wenn er in diesem zentralen Organ der Zunft 1950 stattdessen einen Aufsatz über Shakespeare und Machiavelli veröffentlicht hätte, wie es ursprünglich mit dem HZ-Herausgeber Ludwig Dehio vereinbart gewesen war. Dehio hatte dieses erste Manuskript 1949 zur Publikation angenommen, das Drängen des Autors auf baldige Veröffentlichung allerdings nur ausweichend beantwortet.24 Denn der Herausgeber hatte „noch Vorrat für drei Hefte“, den er erst abarbeiten wollte. „Vorfahrt“ wollte er deshalb nur besonders wünschenswerten neuen Texten geben.25 Dazu aber gehörte die Untersuchung über „Shakespeare und Machiavelli“, die noch in der Tradition der Vorkriegsgeschichtsschreibung eines Gerhard Ritter stand, offensichtlich nicht. Dagegen sah Dehio in Schieders Antrittsvorlesung, die dieser im Austausch dann anbot, eine „höchst anregende Lektüre“ und druckte sie sofort.26 Auf den ersten Blick war Schieders Kölner Antrittsvorlesung eine ideengeschichtliche Analyse des Denkens über Revolution im 19. Jahrhundert. Davon handelte zumindest der empirische Hauptteil. Schon mit dem ersten Satz seiner Einleitung machte der Autor aber deutlich, dass es auch und gerade um die Gegenwart ging: Er zitierte eine Äußerung Jacob Burckhardts aus dem Jahr 1871, nach dem „eigentlich alles bis auf unsere Tage im Grunde Revolutionszeitalter ist“, und kommentierte, dass solche Aussagen „heute noch viel erregender klingen mögen als damals“. Eigentlich sei das 19. Jahrhundert doch „das Jahrhundert der elastischen Anpassung an sich sprunghaft verändernde Gegebenheiten, der Evolution also und
21 Vgl. etwa Theodor Schieder, Die Idee der Persönlichkeit und ihr geschichtliches Schicksal in den letzten anderthalb Jahrhunderten, in: GWU 2/1951, 193–211. Auch hier findet sich die These der „Vermassung“, die Diktaturen produziere und die „schöpferische Individualität“ der „bürgerlichen Elite“ bedrohe. 22 24.3.1946, UAL Nachlass Grundmann 101/6. 23 Theodor Schieder, Das Problem der Revolution im 19. Jahrhundert, in: HZ 170/1950, 233–271. 24 Schieder an Dehio 10.12. und Antwort 21.12.1949, BArch N 1188/1248 und Staatsarchiv Marburg (StAMa) Nachlass Dehio C 15. 25 Dehio an Ritter 31.5.1950, StAMa Nachlass Dehio C 15. 26 Dehio an Schieder 24.1.1950, BArch N 1188/1248, und vgl. Dehios Briefwechsel mit Fritz Fischer 1950, StAMa Nachlass Dehio C 13. Schieders Aufsatz zu Machiavelli erschien schließlich ohne größeres Echo im Archiv für Kulturgeschichte 33/1951, 131–173.
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nicht der Revolution“ gewesen. Am Ende identifizierte Schieder dann das frühe 20. Jahrhundert als die eigentlich revolutionäre Epoche, und damit wie Gerhard Ritter Sozialismus, Nationalsozialismus und Kommunismus als die eigentlich revolutionären Kräfte: „Auf den Trümmern einer zerbrochenen Welt stehend und auf eine schreckliche Weise ins Bild gesetzt über das Rasen der Dämonen revolutionärer Leidenschaften wie die Zeitgenossen des Terreur von 1793, fragen wir mit größerem Ernste als früher nach dem sittlichen Recht der Revolution, (…) nach der Möglichkeit ihrer Vermeidung durch das Vorauserkennen kommender Krisen und das rechtzeitige Zuführen von Heilungskräften vor ihrer Entladung. So ist nach den ungeheuren revolutionären Erschütterungen des letzten Menschenalters seit 1917 das Problem der Revolution, das das ganze 19. Jahrhundert in Atem hielt, in einem ganz anderen Sinne für uns neu gestellt.“27
Im Hauptteil von Schieders Text versteckte sich die historische Lektion darüber, worin in der Gegenwart das „rechtzeitige Zuführen von Heilungskräften“ vor einer neuen revolutionären Entladung bestehen sollte. Der Autor machte kein Hehl daraus, dass er mit der Sicht der Revolution als „Krankheitsherd“ sympathisierte, wie sie im 19. Jahrhundert von Repräsentanten konservativer „Restauration“ wie Metternich und Bismarck vertreten worden sei. „Das eigentliche Verhängnis“ aber sah er in der „politischen Ausnahmegesetzgebung“ von Bismarcks Sozialistengesetz. Das Sozialistengesetz habe die sozialistischen „Massen“ erst auf den Weg der Revolution getrieben. Dagegen war Schieder voll des Lobes über Bismarcks Werk „einer großartigen und bahnbrechenden staatlichen Sozialreform – im Übrigen neben den Rechtskodifikationen die einzige heute noch in vielfach gewandelter Form gültige gesetzgeberische Hinterlassenschaft des Bismarckischen Reiches!“28 Er griff damit den Tenor der Geschichtsschreibung der Weimarer Zeit über Bismarcks Sozialversicherung erneut auf und speiste ihn in die aktuellen Historikerdiskussionen ein, die seit 1945 über den ersten Reichskanzler geführt wurden. Doch über die dort vor allem verhandelte Frage nach Kontinuität oder Diskontinuität zwischen Kaiserreich und ‚Drittem Reich‘29 ging er hinaus und deutete auch aktuelle Bezüge dazu an, wie bürgerliche Gesellschaft und Politik des jungen westdeutschen Staates mit einer Arbeiterbewegung umgehen sollten, die sich nach wie vor zum Marxismus bekannte. Die politische Aussage, man müsse den Sozialismus mit Sozialreform zähmen, wurde von den Zeitgenossen ohne weiteres erkannt. Herbert Grundmann, der der SPD nahestand, kommentierte den Aufsatz mit einer ironischen Bemerkung über die konservative Weltsicht des Autors.30 Der HZ-Herausgeber Ludwig Dehio, der Schieders paternalistische Einstellung gegenüber Sozialisten im Allgemeinen und
27 Schieder, Problem der Revolution, 233 und 271. 28 Schieder Problem der Revolution, 244, 252f, 265. 29 Vgl. Conrad, Suche, 62–88; Jan Eckel, Hans Rothfels. Eine intellektuelle Biographie im 20. Jahrhundert, Göttingen 2005, 145–153, 291–293, 308–312. 30 Grundmann an Schieder 1.11.1950, BArch N 1188/369.
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der SPD im Besonderen teilte, lobte dagegen die „kühnen Andeutungen“.31 Als Schieder einem Verleger vorschlug, den Aufsatz zu einem Buch zu erweitern, lehnte dieser aus politischen Gründen ab.32 Vor allem aber wurde aus denselben Gründen nun der Vorsitzende des Historikerverbands Gerhard Ritter auf Schieder aufmerksam. Im Ausschuss des Verbands war für den nächsten Historikertag schon seit längerem eine Sektion über „Geschichte und Soziologie“ geplant gewesen. Dahinter verbarg sich der Plan einer auch politischen Auseinandersetzung mit dem Marxismus: Vorgesehen waren für die Sektion ursprünglich ein Referat von Alexander Rüstow, einem der Chefideologen von Ludwig Erhards ‚Sozialer Marktwirtschaft‘, und eines von Walter Markov, kommunistischer Historiker und im Gründungsjahr der DDR zum Lehrstuhlinhaber in Leipzig berufen. Doch nach dem Erscheinen von Schieders Aufsatz über „Das Problem der Revolution“ lud Ritter stattdessen den Kölner Historiker ein. Denn in Schieder sah der Vorsitzende des Historikerverbands nun den Experten für Fragen des Marxismus und Sozialismus unter Historikern schlechthin.33 Schieder übernahm in der Sektion „Geschichte und Soziologie“ des Marburger Historikertags 1951 schließlich einen Kommentar zu Referaten der beiden Soziologen Hans Freyer und Siegfried Landshut. Obwohl es seinem Ehrgeiz einen Stich versetzte, nicht selbst als Referent auftreten zu dürfen,34 machte er aus der Not eine Tugend. Die Beiträge der beiden Soziologen spitzte er auf die These zu, dass Marx vielleicht etwas anderes im Sinn gehabt hätte als den real existierenden Sozialismus in Sowjetunion und DDR. Ja, eigentlich sei zumindest der junge Marx wohl sogar eher ein Reformist gewesen. Und er deutete an, wie die westdeutschen Historiker sich für eine Auseinandersetzung mit den neuen marxistisch orientierten Lehrstuhlinhabern im Osten, aber auch den ebenfalls in sozialistischem Fahrwasser segelnden Annales-Historikern in Frankreich wappnen könnten – nämlich indem sie sich mehr für sozialwissenschaftliche Methoden öffneten.35 31 Dehio an Schieder 29.5.1951, BArch N 1188/1248; vgl. Ludwig Dehio an Werner Conze 5.4.1954, StAMa Nachlass Dehio C 13. 32 Schieder an Alfred Heuß 13.6.1951, BArch N 1188/177: „Entweder hält er mich für einen verkappten Kommunisten oder er hat Bedenken östlich des sogenannten Eisernen Vorhangs Anstoß zu erregen.“ 33 Ritter an Schieder 22.3. und 18.5.1951, Verband der Historiker Deutschlands (VHD) Korrespondenz 4. Vgl. auch Schulze, Geschichtswissenschaft, 282f; Etzemüller, Sozialgeschichte, 92f; Gutachten Ritter über Schieder 1957, BArch N 1166/308; und Schieder an Herbert Grundmann 12.1.1951 (UAL Nachlass Grundmann 101/6): „Besser wäre es mir erschienen, man hätte Herrn Markoff [sic] Gelegenheit gegeben sich zu entblättern, damit wir über ihn herfallen können (oder auch nicht) anstatt umgekehrt. (…) Jedenfalls verspricht dies ganz spannend zu werden.“ 34 „So ganz zur Spezies der unbeschriebenen Blätter, bei denen so etwas vielleicht anginge, glaube ich an sich nicht mehr zu gehören“: An Herbert Grundmann 29.6.1951, BArch N 1188/369. 35 Theodor Schieder, Zum gegenwärtigen Verhältnis von Geschichte und Soziologie, in: GWU 3/1952, 27–32; siehe auch die vorhergehenden Referate von Freyer und Landshut ebd., 14–27
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Das Echo darauf war gespalten. Für die kommunistischen Historiker in der DDR war Theodor Schieder fortan ein rotes Tuch. Manche traditioneller orientierte Kollegen im Westen beäugten ihn ebenfalls kritisch, aber aus anderem Grund: Ihnen ging sein Plädoyer für eine methodische Neuorientierung zu weit.36 Andere waren dagegen sehr angetan. Im Ausschuss des Historikerverbandes gewann Schieder jetzt einen guten Namen. Bei dem Verbandsvorsitzenden Ritter, den die Wahrnehmung „einer Verseuchung der französischen Historie durch materialistische Anschauungen“ zu einem regelrechten „Feldzug“ gegen die ‚Annales‘ trieb, hatte er nun erst recht einen Stein im Brett. Für den nächsten Historikertag in Bremen 1953 wurde er mit einem eigenen Referat bedacht.37 In Bremen sprach Schieder über „Die Krise des bürgerlichen Liberalismus“. Einleitend stellte er die marxistische Ideologie des 19. Jahrhunderts „der bürgerlichen Welt“ gegenüber. Er wiederholte seine antimarxistische Polemik: Der „geschichtliche Weg vom liberalen bürgerlichen Verfassungsstaat zur modernen Massendemokratie“ des 20. Jahrhunderts sei „ein wesentlich weiterer und komplizierterer Weg, als er in das Denkschema des sozialistischen Marxismus“ passe. Aber er sei „doch mitbestimmt von den Kräften, denen die sozialistischen Theoretiker zum Selbstbewusstsein verholfen hatten.“ Noch einmal plädierte Schieder deshalb für eine Beschäftigung der westdeutschen Historiker mit der „Macht, die jetzt heraufkommt: der Gesellschaft.“ Die Entwicklung zur „massendemokratischen Wirklichkeit“ analysierte er dann mit Kategorien von Tocqueville, John Stuart Mill und insbesondere von Max Weber. Am Ende skizzierte er unter Berufung auf Gerhard Ritter die Gefahr einer Selbstzerfleischung der „Massendemokratie“ durch das „reine Gruppeninteresse“ der sie repräsentierenden Parteien und Verbände, und ihres Übergangs zur „Diktatur des Machtstaats“, der „totalitären Diktatur“. Und er betonte, dass die Beschäftigung mit Geschichte „heute, wo die Macht des Sozialen so riesengroß geworden ist“, dieser Gefahr entgegenwirken könne – „durch Enträtselung und Entzauberung ihrer unheimlichen Züge, aber auch durch die Aufspürung von hemmenden, den Zug zum Massentümlichen auflockernden Gegenkräften.“38 Diesmal war die Reaktion in der Zunft geradezu enthusiastisch. Schieder hatte offenbar durch die Verbindung seiner früheren Argumentation mit der weitverbreiteten Skepsis gegenüber der „Masse“ und dem „Parteienstaat“ bei den Zuhörern
und Schieder, Der Typus in der Geschichtswissenschaft, in: Studium Generale 5/1952, 228– 234; vgl. Conrad, Suche, 272f; Etzemüller, Sozialgeschichte, 93–95; Schulze, Geschichtswissenschaft, 283–287. 36 Friedrich Meinecke 7.6. und Peter Scheibert an Schieder 19.7.1952, BArch N 1188/381 und 90; Bericht über die 21. Versammlung deutscher Historiker in Marburg, 13. bis 16. September 1951, Stuttgart o.J., 27f. 37 Kurt von Raumer 26.5.1952 und Herbert Grundmann 28.9.1953 an Schieder, BArch N 1188/1250 und 369; Bericht über die 21. Versammlung deutscher Historiker, 27f; Zitat aus Gerhard Ritter an Werner Conze 1.12.1953 nach Cornelißen, Ritter, 476. 38 Theodor Schieder, Das Verhältnis von politischer und gesellschaftlicher Verfassung und die Krise des bürgerlichen Liberalismus, in: Historische Zeitschrift 177/1954, 49–74, Zitate: 58– 60 und 83–85.
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einen Nerv getroffen. In der auf seinen Vortrag folgenden Diskussion forderte einer der Redner die Ersetzung der Parteien durch Berufsorganisationen. Alle westdeutschen Historiker waren voll des Lobes über Schieders Vortrag.39 Der Eindruck war ein bleibender. „Mannigfaches Echo des Historikertags in Bremen hat mir Ihren Namen zugetragen“, schrieb Hermann Aubin dem Referenten noch mehrere Wochen später: „Man genoss allgemein Ihren Vortrag“. Siegfried Kaehler, der ihn verpasst hatte, wollte von Schieder unbedingt das Manuskript haben, weil dessen Referat „so allgemeine Anerkennung gefunden hat“. Er musste sich gedulden, weil Schieder alle seine Kopien schon an andere Interessenten vergeben hatte.40 Darunter war auch Ludwig Dehio, der den Vortrag unbedingt in der Historischen Zeitschrift drucken wollte und den sich zierenden Autor in kurzen Abständen deswegen wiederholt bedrängte.41 Das Interesse rührte daher, dass nach weitverbreitetem Urteil Theodor Schieder wie sonst nur Gerhard Ritter, der im Vorfeld der Wiederbewaffnung über den Militarismus gesprochen hatte, „die Bedeutung der Geschichtswissenschaft für die drängenden Fragen der Gegenwart besonders anschaulich werden“ ließ.42 Und die „drängende Frage der Gegenwart“, die Schieder angesprochen hatte, war die Auseinandersetzung der bürgerlichen Kräfte in der Bundesrepublik mit dem Marxismus. Wie sehr dies des Pudels Kern war, hatte schon in der Diskussion auf dem Historikertag ein Redner von der Ost-Berliner Humboldt-Universität deutlich gemacht, der Schieders Ausführungen mit dem Argument kritisierte, dass die „bürgerliche Weltanschauung nicht fähig war, die arbeitende Klasse aufzunehmen“.43 Auf der anderen Seite lobte Karl Dietrich Erdmann seinen Kölner Kollegen und Freund dafür, „längst schwelende grundsätzliche Fragen nun einfach unumgänglich aufgebrochen“ zu haben: „Wie lange will man denn – als Historiker! – den treuherzigen Biedermann markieren und so tun, als ob man nicht in einem Zeitalter der Religionskriege lebe? Gott sei’s geklagt, dass es so ist, aber
39 Bericht über die 22. Versammlung deutscher Historiker in Bremen, 17. bis 19. September 1953, Stuttgart 1954, 8–10. 40 Aubin 23.10. und Kaehler 31.10.1953 an Schieder, BArch N 1188/176 und 88; Schieder an Kaehler 2.11.1953, Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Handschriftenabteilung (SUBG) Kaehler 1,151. 41 Dehio an Schieder 23.9. (mit Bezug auf Dehios Bitte wenige Tage zuvor auf dem Historikertag) und 28.9.1953, Schieder an Dehio 30.10.1953, StAMa Nachlass Dehio C15 und BArch N 1188/ 1248. 42 Walter Bußmann in der Deutschen Universitätszeitung 9.11.1953, 19f, zitiert nach Franz Worschech, Der Weg der deutschen Geschichtswissenschaft in die institutionelle Spaltung (1945– 1965), Diss. Erlangen-Nürnberg 1990, 73. Vgl. das Lob Schieders durch einen unbekannten Korrespondenzpartner aus Göttingen vom 17.6.1954, seine Bremer Rede sei „weit mehr“ gewesen „als ein Dokument ausgezeichneter Gelehrsamkeit, sondern sie stellt ein so tiefgreifendes Instrument für die heutige politische Diskussion dar (...) Sie wägen die Dinge so besonnen ab, das politische Element zum gesellschaftlichen“ (BArch N 1188/374). Sogar Herbert Grundmann lobte am 28.9.1953 Schieder gegenüber dessen „Zivilcourage“, die er in anderen Vorträgen vermisste (ebd. 369). 43 Gerhard Schilfert im Bericht über die 22. Versammlung deutscher Historiker, 9.
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die geheimrätliche Pose, in der sich manche unserer Kollegen gefallen, ist eben jene Trägheit des Geistes, gegen die Du in den Schlussworten Deines Bremer Vortrags zu Felde ziehst.“44
Schieder selbst bezeichnete es gegenüber Gerhard Ritter im Nachhinein als sein Ziel auf dem Bremer Historikertag, die Historiker aus der DDR als „Aktionsträger bestimmter Pläne“ zu entlarven, weil diese ihre eigentlichen Absichten gezielt vernebelten: „Solcher Taktik gegenüber glaubte ich Fraktur sprechen zu müssen.“45 Ritter stimmte mit ihm überein, man müsse „die Auseinandersetzung mit den roten Gesellen“ führen – „was freilich nicht in der Form geschehen kann, dass man sich auf irgendeine der vielen Albernheiten einlässt, welche diese Leute vorbringen, wohl aber so, dass man grundsätzlich die marxistische Verzerrung der historischen Wirklichkeit bekämpft.“
Schieder sei fast der einzige, der sich „für eine solche Aufgabe gerüstet“ gezeigt habe.46 Das war bezeichnend für die Mechanismen, die bei Theodors Schieders Aufstieg in der Zunft wirkten. Für diesen Aufstieg gab nicht den Ausschlag, dass der Kölner Historiker für methodische Innovationen plädierte. Solange er vor allem das tat, war das Echo gespalten und verhalten. Ebenso wenig war ausschlaggebend, dass Schieder sich um persönliche Kontakte zu einflussreichen Größen des Fachs wie Gerhard Ritter bemühte. Denn das hatte er 1945 schon einmal getan – ohne Erfolg. Wichtig war nicht nur mit wem, sondern über was er sprach. Erst als Schieder seit Anfang der 1950er Jahre ein Thema wählte, das Ritter und andere relevant und aktuell fanden, hatte er Erfolg. Entscheidend war schließlich auch nicht, dass Schieder die Gelegenheit bekam, auf Historikertagen zu sprechen. Denn das taten viele seiner Kollegen ebenfalls, doch ohne ein vergleichbares Echo. Entscheidend war das Thema, das er wählte. Auf dieses Thema blieb er nun gebucht, ob es ihm passte oder nicht. Kurz nach dem Vortrag in Bremen wurde Schieder vom Ausschuss des Historikerverbands gebeten, auch 1955 auf dem Internationalen Historikertag in Rom aufzutreten – mit demselben Thema.47 Eigentlich hatte er davon längst genug: Er habe „in letzter Zeit fast ausschließlich“ darüber gearbeitet, klagte er. Man habe ihm das Thema „aufgebrummt“; seit Bremen verfolge es ihn geradezu.48 Aber natürlich übernahm er es ein weiteres Mal, zumal ihm auf dem internationalen Kongress in Rom zusätzlich noch eine stellvertretende Sektionsleitung übertragen wurde. Das konnte er, auch wenn er sich gern zierte, im Interesse seiner Karriere nicht ablehnen.49 Außerdem 44 7.4.1954, BArch N 1188/1247. 45 26.4.1954, BArch N 1166/342. 46 Ritter an Schieder 21.4.1954, BArch N 1188/273, nur teilweise zitiert bei Klaus Schwabe, Gerhard Ritter. Ein politischer Historiker in seinen Briefen, Boppard 1984, 506f. 47 Schieder an Gerhard Ritter 21.10.1953 und Hermann Aubin an Schieder 10.12.1953, BArch N 1188/372 und 448. 48 An Hellmuth Rößler 28.2. und an Hans Rothfels 22.12.1955, BArch N 1188/89 und 158. 49 Hermann Aubin an Schieder und Schieder an Werner Conze 8.8.1955, BArch N 1188/448 und 3004.
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genoss er es, einmal mehr die marxistische Ideologie zu demontieren,50 deren Vertreter „meist deprimierend primitiv“ seien.51 Nach dem Auftritt in Rom war Schieder für die nächsten deutschen Historikertage wie selbstverständlich gesetzt. Für den von 1956 wurde ihm vom Verbandsausschuss im Vorfeld angetragen, einen großen öffentlichen Vortrag zu halten. Und was wünschte der Ausschuss sich als Thema? Praktisch wieder dasselbe. Herbert Grundmann gegenüber klagte Schieder sein Leid, er solle reden über „das etwas abgegriffene Thema über den Einzelnen im Staat oder wie es genau heißt (eigentlich habe ich darüber ja schon in Bremen gesprochen).“ Man könnte hinzufügen: Auch in Marburg davor und in Rom danach. „Ich hätte in der Tat eine Beschäftigung mit den weltpolitischen Problemen (Übersee, Kolonialismus, Antikolonialismus etc.) für wichtiger gehalten, da wir hier geradezu provinziell sind. Das war mein Eindruck in Rom vor allem. Aber es scheint, dass im Ausschuss das ideologische Thema gesiegt hat.“52
Erst über dieses ideologische Thema fand sich ein Netzwerk zusammen, das nun Theodor Schieders Aufstieg bewirkte. Einflussreiche Größen der Zunft suchten seine Nähe, wollten ihn als Kollegen oder Nachfolger gewinnen. Hermann Heimpel intensivierte den Kontakt und warb schon 1954 darum, dass Schieder zu ihm nach Göttingen auf den Lehrstuhl des emeritierten Siegfried Kaehler wechselte.53 Gerhard Ritter empfahl Schieder 1957 nachdrücklich für seine Nachfolge in Freiburg: „Seine Vorträge auf dem Historikertreffen in Bremen 1953 und 1956, aber auch in Rom 1955 wurden allgemein zu den Glanzpunkten der betreffenden Tagung gezählt. Unter den engeren Fachgenossen gilt er seit langem als derjenige Vertreter der mittleren Generation, auf den man die größten Hoffnungen setzen darf.“ Schieder habe „ein lebhaftes Interesse für ostdeutsche Probleme, aber auch für die Probleme der bolschewistischen Politik (…). Es erscheint mir als ein sehr hoch einzuschätzender Vorzug für einen modernen Historiker, wenn er mit diesen Problemen in Fühlung bleibt und seine Studenten darüber sachkundig informieren kann.“54
Hans Rothfels rekrutierte ihn als Mitherausgeber der Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte und wollte ihm schließlich auch seine Nachfolge als Beiratsvorsitzender
50 Das geschah in dem Vortragsmanuskript für Rom wesentlich schärfer als in der geglätteten Druckfassung: vgl. BArch N 1188/448 und Theodor Schieder, Der Liberalismus und die Strukturwandlungen der modernen Gesellschaft vom 19. zum 20. Jahrhundert, in: Relazioni del X Congresso Internazionale di Scienze Storiche. Bd. 5. Storia Contemporanea, Florenz 1955, 143–172. 51 Schieder an Hans Rothfels 22.12.1955, BArch N 1188/1246. 52 10.12.1955, UAL Nachlass Grundmann 101/6. Da Schieder sich sträubte, übernahm den Vortrag schließlich Hans Freyer. 53 Schieder an Peter Rassow 22.9.1954, BArch N 1228/190. 54 BArch N 1166/308. In der Fassung von Ritters Empfehlung, die Clemens Bauer der Fakultät vorlegte, blieben die Ausführungen über Schieders „Fühlung“ mit politischen Fragen dann weg: Auch wenn das ein ausschlaggebender Grund war, für die offizielle Begründung von Berufungen taugte es nicht.
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des Münchner Instituts übergeben.55 Schieder wurde jetzt immer mehr als Gutachter nachgefragt.56 Die Leitung der Kommission für die Geschichte des Parlamentarismus wurde ihm angetragen.57 Er lehnte das ab, genauso wie die Nachfolge von Ritter in Freiburg und von Kaehler in Göttingen. Stattdessen verhandelte er in Köln und stärkte dort seine Position.58 Und er nahm das Angebot an, ab 1957 die Herausgeberschaft der Historischen Zeitschrift zu übernehmen – die wohl wichtigste Position im Fach. Das Angebot kam von Ludwig Dehio, der die Zeitschrift nach 1945 von vornherein mit gemischten Gefühlen übernommen hatte und sie nun aus gesundheitlichen Gründen loswerden wollte. In „Aussprache mit einigen hervorragenden Mitgliedern der Zunft“ hatte Dehio vorher mögliche Kandidaten Revue passieren lassen. Wie er dem Verleger mitteilte, war die Wahl auf Schieder gefallen, weil dieser nicht nur „auf der Höhe seiner Leistungsfähigkeit und seines Ansehens im In- und Ausland“ stehe und „über lebendigste Beziehungen zu Kollegen und Fachgenossen“ verfüge: Schieder sei auch „selbst produktiv mit wichtigen Problemen befasst.“ Dazu zählte vor allem die Verteidigung der bürgerlichen Welt gegen den Marxismus und die „Resonanz“, die der Kölner Historiker auf dem Internationalen Historikerkongress in Rom und den vorangegangenen deutschen Historikertagen damit gefunden hatte.59 Netzwerke spielten also durchaus eine Rolle für den Aufstieg Theodor Schieders in der westdeutschen Historikerzunft während der 1950er Jahre. Auch strategisches Handeln war für diesen Aufstieg von Bedeutung. Schieder suchte nach 1945 systematisch den Kontakt zu einflussreichen älteren Historikern wie Gerhard Ritter, Hans Rothfels oder Ludwig Dehio, die er zunächst gar nicht oder nur flüchtig kannte. Beim Knüpfen von sozialen Beziehungen zu diesen kam es ihm sicherlich auch zugute, dass er ein geselliger Mensch war. Das waren freilich viele andere junge Historiker ebenso, die nicht weniger nach einer Karriere hungerten. Schieders Aufstieg in der Zunft ist keineswegs allein aus seiner Fähigkeit zum Knüpfen von Kontakten erklärbar. Tatsächlich gibt es sogar einige Anhaltspunkte dafür, dass er im Grunde von einer elementaren Schüchternheit war, die er allerdings sehr gut
55 56 57 58
Rothfels an Schieder 20.2.1957 und 20.5.1958, BArch N 1188/1246 und N 1213/1. Vgl. BArch N 1188/177. Alfred Herrmann an Schieder 1.3.1956, BArch N 1188/520. In Göttingen und Freiburg waren die Konditionen auch nicht allzu rosig gewesen – die niedersächsische Landesregierung knauserte, und in Freiburg blockierte Gerd Tellenbach, der einen Mann von Schieders Prestige nicht wollte, nachdem er lange genug unter Ritters Dominanz gelitten hatte: Schieder an Rothfels 17.12.1954 und an Carl Hinrichs 28.5.1957, BArch N 1213/158 und N 1188/371. 59 Dehio an Schieder 9.1.1956, BArch N 1188/1246, und an Wilhelm Oldenbourg 11. und 28.4.1956, StAMa Nachlass Dehio C6. Dehio hatte vorher die Meinung von Rothfels und Aubin eingeholt. Auch Kaehler meinte im Nachhinein (an Dehio 7.8.1956, SUBG Kaehler 1,29): „Eine bessere Wahl als die von Schieder für die Nachfolge in der Leitung der HZ konnten Sie wohl kaum treffen.“
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verbarg.60 Und seine ersten Versuche, Gerhard Ritters und Ludwig Dehios Gunst zu gewinnen, gingen gründlich daneben. Das gelang ihm erst, als er ein historisches Thema fand, das Ritter, Dehio und viele andere auch aus politischen Gründen interessierte. Das von Schieder mit diesem Thema verbundene, vorsichtige Plädoyer für methodische Neuorientierung schadete dabei nicht. Allein hätte es allerdings nicht ausgereicht, um Aufmerksamkeit zu gewinnen, und Ludwig Dehio blieb der Sozialgeschichte gegenüber eher skeptisch.61 Erst aus der Verteidigung der bürgerlichen Welt gegen die sozialistische ‚Bedrohung‘ entstanden Kontakte, die dann für Schieders Aufstieg in der Zunft von Bedeutung wurden. Entscheidend war für seine Karriere letzten Endes, dass andere nicht oder jedenfalls nicht so geschickt die Themen ansprachen, die er in den 1950er Jahren aufbrachte. Fachliches und Politisches waren dabei nicht zu trennen.62
60 Gespräche mit Peter Alter 5.4.2011 und mit Klaus Pabst 9.9.2009; Wolfgang Mommsen und Hans-Ulrich Wehler in: Versäumte Fragen, 204 und 250. 61 Vgl. seinen Briefwechsel mit Werner Conze 1950/51 und Notizen für Erich Keyser dazu, StAMA Nachlass Dehio C 13. 62 Das zeigt auch das Beispiel von Werner Conze: Solange er nur methodische Innovationen einklagte, hatte er lediglich das alte Königsberger Netzwerk hinter sich (Raumer äußerte sich gegenüber Schieder am 25.4.1951 zufrieden darüber, „dass wir Conzes Vertretertätigkeit in Münster bewirken konnten“, BArch N 1188/1250). Erst als er dann Mitte der 1950er Jahre sozialhistorische Methodik auf ganz ähnliche Weise wie Schieder mit politikrelevanten Inhalten zu verbinden begann, gewann er ein Ordinariat und größeres Prestige: Werner Conze, Die Krise des Parteienstaats in Deutschland 1929/30, in: HZ 178/1954, 47-83; ders., Vom Pöbel zum Proletariat. Sozialgeschichtliche Voraussetzungen für den Sozialismus in Deutschland (1954), in: ders., Gesellschaft-Staat-Nation. Gesammelte Aufsätze, Stuttgart 1992, 220-246; ders., Das Ende des Proletariats, in: VfZ 4/1956, 62-66; und vgl. Etzemüller, Sozialgeschichte, besonders 116–120 und 129–144 (bei dem allerdings der gesellschaftliche „Resonanzboden“ hinter der vermeintlichen Bedeutung von strategischem Handeln und alten Netzwerken zurücktritt). Vergleichende Untersuchungen etwa zum Aufstieg von Karl Dietrich Erdmann, Hermann Heimpel, Herbert Grundmann, Gerd Tellenbach und anderen wären wünschenswert.
REGISTER PERSONENREGISTER Abbe, Ernst 223 Adenauer, Konrad 35, 142, 143, 144, 151,236, 239, 243, 244 Adolph, Walter 79 Albrecht, Dieter 80 Allers, (Frau) 100 Althoff, Friedrich 144, 145 Ammann, Hektor 220 Andreas, Willy 94, 217, 219 Angermann, Erich 32 Anita Thyssen 238, 240 Anrich, Ernst 67, 68, 109 Aretin, Karl Ottmar Freiherr von 221, 223 Artelt, Walter 247 Aubin, Hermann 29, 37, 62, 63, 64, 112, 131, 132, 134, 217, 219, 221, 223, 253, 261 Auerbach, Hellmuth 42 Baethgen, Friedrich 64, 67, 123, 126, 127, 128, 131, 132, 138, 218, 219, 220 Basté, John 192 Bauer, Clemens 77, 158 Baumann, Max 202 Baumgarts, Winfried 85, 86 Bebel, August 223 Becker, Otto 14, 94, 112, 117 Below, Georg von 56 Benjamin, Walter 249 Berg, Nicolas 49, 50, 51 Bergstraesser, Arnold 244 Bergsträsser, Ludwig 42, 255 Best, Werner 146 Beyerhaus, Gisbert 95 Biermann, Berthold 192 Birrenbach, Kurt 236, 240, 241, 242, 244, 245, 249, 250 Bismarck, Otto von 94, 258 Bittner, Ludwig 215, 216 Blachstein, Peter 190 Blaschke, Karlheinz 220 Blaschke, Olaf 87
Blessing, Werner K. 84 Bloch, Hermann 145 Böckenförde, Ernst-Wolfgang 76 Böhmer 32 Bosch, Robert 223 Bosl, Karl 218 Botzenhart, Erich 60 Bourdieu, Pierre 16, 75, 87, 88, 242, 251 Bracher, Karl-Dietrich 115 Brackmann, Albert 91, 127, 217, 219 Brandenburg, Erich 216 Brandi, Karl 59, 63, 216, 217 Braubach, Max 36, 37, 127, 143, 150, 151, 218, 221, 254, 255 Brauer, Max 189, 199, 200, 209 Breithaupt, Max 158 Bresslau, Harry 145 Briefs, Götz 244 Brill, Hermann 41, 42 Brix, Emil 201 Broszat, Martin 45, 51 Bruley, Édouard 176, 183 Brunner, Otto 14, 22, 24, 112, 117, 218, 227 Brunswig, Hans 195 Buchheim, Hans 45, 46, 206 Buchheim, Karl 31, 44, 45 Burckhardt, Carl Jacob 95,126, 127, 128 Bußmann, Walter 223 Butenandt, Adolf 244 Büttner, Heinrich 127, 128, 131, 143, 144, 146, 147, 148, 153 Carlebach, Josef 198 Carlisle, Ian 174 Cavallier, Marie-Louise 179 Chmel, Joseph 215 Coing, Helmut 244, 245, 246, 247, 249 Conn, Alfred 202 Conrad, Sebastian 49, 50, 51 Conze, Werner 13, 21, 22, 23, 26, 29, 36, 37, 71 138, 218, 223, 227, 245 Cornelius, Carl Adolf 215
268 Cornides, Karl von 98 Cornides, Thomas von 98 Cottaz 183 Dahlmann, Friedrich Christoph 137 Dahrendorf, Gustav 200 Dance, E.H. 183 Davies, H.W. 174 Defrance, Corine 170 Dehio, Georg 92 Dehio, Ludwig 30, 31, 33, 61, 89, 90, 91, 92, 93, 94, 95, 96, 97, 98, 99, 110, 127, 128, 131, 132, 218, 219, 257, 258, 261, 264, 265 Dempf, Alois 244 Diemer, Alwin 247 Döpfner, Julius August 79, 80 Dopsch, Alfons 217, 219 Droysen, Johann Gustav 32, 95, 158, 160, 215 Durchhardt, Heinz 221 Ebeling, Hans 173 Eberhard, Fritz 179 Eckensberger, Hans 182 Eckert, Georg 164, 170, 171, 172, 173, 174, 175, 176, 177, 178, 179, 181, 182, 183, 184, 185 Eiffe, Peter Ernst 199, 207 Ellscheid, Robert 236, 240 Elmenau, Johannes von 136 Erasmus, Desiderius 125 Erdmann, Karl-Dietrich 63, 218, 223, 226, 261 Erhards, Ludwig 259 Ernstberger, Anton, 219 Esch, Arnold 223 Eschenburg, Theodor 47, 206 Essberger, John T. 112, 117 Ewing, Eugen 142,143, 148, 149, 150, 151, 152 Faure, Roman 171, 179 Fawtier, Robert 150 Feige, Dorothea 178 Ferber, Walter 31, 32 Ficker, Julius 32 Finke, Heinrich 125, 126 Fischer, Fritz 181, 190, 191, 203, 204, 208, 209 Flach, Willy 70 Fleck, Ludwik 13
Register Foertsch, Hermann 49 Föringer, Heinrich 215 Forster, Karl 79 Forsthoff, Ernst 117 Frank, Walter 59, 60, 61, 70 Frantz, Constantin 32 Franz, Günter 14, 67, 108, 109, 110, 113, 114, 116, 117, 118, 119 Franzel, Emil 31 Freis, Norbert 75 Freund, Michael 44 Freyer, Hans 23, 259 Fried, Johannes 223 Friedrich der Große 256 Fuchs, Walter Peter 14 Fuhrmann, Horst 222 Fust, Herbert 195 Gall, Lothar 98, 100, 101, 102, 222, 223 Ganshof, François Louis 220 Gattermann, Günter 100 Gatzke, Hans W. 48 Gehlen, Arnold 15 Gerhard, Dietrich 245 Gerstein, Kurt 51 Gervinus, Georg Gottfried 32 Gförer, August Friedrich 32 Giesebrecht, Wilhelm 215 Glum, Friedrich 41 Goethe, Johann Wolfgang von 94 Goetz, Walter 71, 217, 218, 219, 223, 224 Göhrings, Martin 175, 181 Gollwitzer, Heinz 71 Gotto, Klaus 80 Grabmann, Martin 218, 219 Graml, Hermann 46 Granovetter, Mark 13, 16 Grau, Wilhelm 60 Grewe, Wilhelm 117 Griewank, Karl 70, 218, 219, 220 Grimm, Jacob 215 Grundmann, Herbert 21, 53, 62, 64, 70, 138, 218, 219, 257, 258, 263 Günter, Heinrich 217, 219 Gurian, Waldemar 103 Habermas, Jürgen 249 Hacke, Jens 249, 250 Haller, Johannes 145 Hammer, Walter 200 Hansen, Joseph 216 Harnack, Adolf 121, 122
269
Register Hartung, Fritz 36, 58, 70, 218, 219 Hassbargen, Hermann 192, 207 Häusser, Ludwig, 215 Heckel, Rudolf von 218, 219 Heffter, Heinrich 190, 191, 192, 194, 195, 196, 197, 200, 201, 202, 203, 204, 205, 206 Hegel, Karl 215, 230, 231 Hehl, Ulrich von 81, 82, 85 Heiber, Helmut 45 Heimpel, Herman 39, 62, 64, 65, 66, 67, 69, 111, 121, 123, 125, 126, 127, 129, 130, 131, 132, 133, 134, 135, 136, 137, 138, 139, 143, 158, 217, 219, 263 Heinemann, Gustav 42 Heisenberg, Werner 34, 126 Heitges, Franz 199, 200 Hellmann, Manfred 69, 115 Hengsbach, Franz 80 Herder, Johann Gottfried 114 Herre, Franz 31 Herrhausen, Alfred 222 Herrmann, Alfred 255 Herzfeld, Hans 44, 138, 158, 181 Hess, Gerhard 244 Heuß, Alfred 94, 95, 96, 158 Heuss, Theodor 42, 223, 137, 155, 167 Hinrichs, Ernst 171, 184 Hintze, Hedwig 93 Hintze, Otto 93, 95, 96, 245 Hippel, Wolfgang von 227 Hirsch, Helmut 171 Hitler, Adolf 30, 111, 114, 242 Hobsbawn, Eric 31 Hoch, Anton 45 Hockerts, Hans Günter 224 Hofer, Werner 115 Hofmann, Josef 126 Holtzmann, Walther 127, 131, 138, 152, 218, 219, 223 Hombourger, Emile 178 Höppner, Joachim 47 Höß, Irmgard 70 Höß, Rudolf 51 Hubatsch, Walter 112 Hübinger, Paul-Egon 36, 37, 143, 149, 150, 152, 153 Huizinga, Johan 95 Hurter, Friedrich Emanuel von 32 Ipsen, Gunther 21, 24
Jahrreiß, Hermann 244, 249 Jansen, Josef 150, 153 Janssen, Johannes 32 Jantzen, Günter 202 Jedin, Hubert 86 Jeismann, Karl-Ernst 156 Jochmann, Werner 48, 204, 208, 209 Just, Leo 143 Kaegi, Werner 128 Kaehler, Siegfried 137, 261, 263, 264 Kähler, Siegfried A. 29, 30 Kaindl 32 Kalbitzer, Hellmut 189 Karl August von Sachsen-Weimar-Eisenach 94 Karl V., 216, 230, 232, 122, 123, 125, 127, 129, 134 Kaufmann, Karl 189, 193, 196, 197, 198, 199, 204, 205 Kehr, Paul Fridolin 122, 127, 133, 144, 145, 146, 152, 153 Kern, Fritz 32, 175 Keyser, Erich 14, 112 Kienast, Walther 89, 90, 97, 98, 99, 100, 102 Kliemann, Horst 98 Klopp, Onno 32 Kluke, Paul 44, 206 Koch, Erich 25, 114, 196 Koehl, Robert 48 Köllmann, Wolfgang 227 Konetzkes, Richard 103 Kralik 32 Krausnick, Helmut 44, 45, 173, 177, 181, 206 Krebs, Albert 201, 202, 207 Krogmann, Carl Vincent 201, 203 Kroll, Gerhard 42, 43, 44 Krone, Heinrich 80 Kubel, Alfred 185 Kühn, Johannes 218, 219 Kuhnke, Hans-Helmut 17 Lamprecht, Karl 57 Landahl, Heinrich 190, 199, 200, 201, 208 Landshut, Siegfried 259 Langeheine, Richard 137 Langewiesche, Dieter 84 Langhans, Magda 189 Lanzinner, Maximilian 221, 224 Lappenberg, Johann Martin 215 Laubach, Jakob 77
270 Launay, de 183 Leers, Johann von 95 Leonard, Terence J. 174, 175, 176, 178 Lepsius, M. Rainer 75 Levison, Wilhelm 149, 152 Lewy, Guenter 81 Löher, Franz 215 Loock, Hans-Dietrich 46 Loth, Wilfried 84 Lousse, Émile 183 Lübbe, Hermann 247, 249, 250 Ludwig XIV. 95 Lüth, Erich 208, 209 Luther, Martin 256 Lutz, Heinrich 232 Mackensen, Georg 179 Malvestiti, Piero 239 Marcks, Erich 95, 216 Markert, Werner 21 Markov, Walter 69, 70, 259 Martin, Alfred von 31 Martin, Michel 179 Martini, Paul 142 Marx, Karl 259 Maschke, Erich 21 Maskell, Lisa 245 Mau, Hermann 44, 45, 46, 47, 205 Mauss, Marcel 16 Maximilian I., 213, 224, 230 Maximilian II. Joseph, 212, 213 Mayer, Theodor 61, 146, 147, 148, 153 Meinecke, Friedrich 30, 31, 56, 89, 91, 92, 93, 95, 96, 158, 217, 219 Merkatz, Hans-Joachim von 119 Mertes, Alois 151, 153 Mertz, Karl Sprunner 215 Messerschmid, Felix 161,162, 163, 164 Metternich, Fürst von 258 Meyer, Eduard 56 Mielcke, Karl 173 Mill, John Stuart 260 Möller, Horst 45, 49, 170, 221, 223 Möller, Kurt Detlev 189, 193, 194, 196, 199, 204 Mommsen, Theodor 95 Mommsen, Wolfgang 110 Morsey, Rudolf 77, 79, 80, 82, 85, 222 Müller, Karl Alexander von 14, 24, 67, 68, 89, 92, 101, 112, 216, 217, 220 Muralt, Leo von 112
Register Nabholz, Hans 217, 219 Naumann, Friedrich Wilhelm 31 Neuhäusler, Johannes 76, 79 Neuloh, Otto 247 Niemeyer, Horst 222 Nipperdey, Thomas 138 Noack, Heinrich 112 Noetzel, Thomas 75 Nürnberger, Richard 137 Oberländer, Theodor 21, 24 Oedinger, Friedrich Wilhelm 127, 128 Okrass, Hermann 202 Oldenbourg, Rudolf 89 Oldenbourg, Wilhelm 90, 92, 98, 99 Oncken, Hermann 95, 96 Ortlieb, Heinz-Dietrich 203 Paravicini, Gerd 223 Paulmann, Johannes 221 Paulus, Günter 47 Perdew, Richard 176 Pertz, Georg Heinrich 215 Peters, Hans 244 Pfeil, Ulrich 142 Pferdemenges, Robert 236, 240, 242, 243 Pingel, Falk 171, 184 Pius XII. 85, 86 Platzhoff, Walter 61 Plumpe, Werner 223 Pölnitz, Götz Freiherr von 219 Poncet, André François 150 Predöhl, Andreas 112, 116 Quidde, Ludwig 55, 216, 217 Rademacher, Willy Max 188, 195 Ranke, Leopold von 32, 89, 95 128, 212, 214, 215, 223, 233 Rassow, Peter 36, 37, 39, 53, 123, 124, 218, 219 Raumer, Kurt von 21, 68, 110, 111 Redlich 32 Rein, Gustav Adolf 14, 109, 110, 111, 112, 113, 114, 115, 117, 118, 119, 204 Reincke, Heinrich 192 Renouvin, Pierre 175 Repgen, Konrad 77, 79, 80, 81, 85, 86, 221 Richter, Ludwig 127, 128 Riemenschneider, Rainer 171 Ritter, Gerhard 26, 29, 32, 33, 36, 43, 44, 58, 60, 61, 63, 65, 66, 67, 68, 69, 70,
Register 71, 72, 91, 92, 94, 138, 158, 163, 164, 175, 180, 205, 218, 219, 223, 255, 256, 257, 258, 259, 260, 261, 262, 263, 264, 265 Ritter, Joachim 247, 249 Ritthaler, Anton 90 Robinsohn, Hans 208, 209 Rodenstein, Heinrich 173, 177 Roegele, Otto B. 31 Roesler, Robert 32 Rohde, Gottholde 112 Rosenberg, Hans 128 Rössler, Helmuth 14, 116 Roßmann, Erich 41 Rothfels, Hans 21, 24, 26, 29, 31, 32, 47, 50, 51, 58, 63, 69, 111, 116, 126, 127, 138, 218, 223, 245, 246, 247, 253, 254, 263, 264 Rudhart, Georg Thomas von 215 Rüegg, Walter 247, 249 Rümenapf-Sievers, Rosemarie 171 Rüstow, Alexander 259 Sattler, Dieter 41 Sattler, Rolf-Joachim 181, 183 Sauckel, Fritz 196 Scharff, Alexander 112 Scheel, Otto 60 Schellenberger, Barbara 83 Schellendorf, Paul Bronsart von 225 Schelsky, Helmut 15, 112, 118 Scheuner, Ulrich 117 Schieder, Theodor 13, 21, 24, 25, 26, 29, 63, 70, 71, 97, 98, 100 138, 218, 219, 222, 223, 233, 245, 246, 247, 248, 249, 250, 251, 252, 253, 254, 255, 256, 257, 258, 259, 260, 261, 262, 263, 264, 265 Schieffer, Theodor 98, 102, 147, 152, 153, 218 Schiller, Friedrich 91 Schleicher, Kurt von 201 Schmedemann, Walter 200 Schmid, Carlo 126 Schmitt, Carl 117 Schmitt-Ott, Friedrich 38 Schnabel, Franz 31, 32, 35, 36, 39, 44, 65, 66, 79, 126, 128, 131, 138, 218, 219, 224 Scholder, Klaus 86 Schottelius, Herbert 192, 198, 206, 207 Schramm, Percy Ernst 58, 66, 67, 138, 218
271 Schreiber, Georg 123, 124, 125, 126, 127, 130, 131, 132, 138 Schröder, Gerhard 119, 149 Schröder 199 Schröder, Heinz 189, 190, 192 Schröter, Manfred 89, 92, 93, 98, 99 Schüddekopf, Otto-Ernst 177, 180, 182 Schulin, Ernst 31 Schulze, Winfried 44, 124, 133, 169 Schumann, Peter 58 Schumann, Robert 142, 150, 151 Schüßler, Wilhelm 112, 117, 118 Schwab-Felisch, Hans 43, 48 Schwarz, Hans-Peter 49 Seeberg, Axel 16 Seydoux, François 239 Simmel, Georg 16 Six, Franz Alfred 110 Sohl, Hans-Günther 236, 237, 238, 240, 242 Solmitz, Luise 202 Speer, Albert 236 Spindler, Max 218, 219 Spörl, Johannes 131 Sprandel, Rolf 151 Spuler, Bertold 118 Srbik, Heinrich von 14, 103, 216, 217 Stadelmann, Rudolf 62, 218, 219 Stälin, Christoph Friedrich 215 Stasiewski, Bernhard 79 Stauffenberg, Alexander von 60 Stein, Freiherr von 256 Steinacker, Harold 14, 112 Stern, Leo 71 Stolberg-Wernigerode, Otto Graf zu 223 Stone, Shepard 241, 242 Strauß, Walther 41 Streicher, Julius 196 Sybel, Heinrich von 32, 89, 212, 213, 215, 230 Tellenbach, Gerd 126, 128, 131, 143, 144, 146, 148, 150, 151, 153, 158, 218, 223 Tenbruck, Friedrich 250 Tenhumberg, Heinrich 80 Teusch, Christine 35 Teusch, Joseph 79 Thamer, Hans-Ulrich 84 Thielicke, Helmut 244 Thiersch, Friedrich von 212 Thyssen, Amélie 235, 237, 238, 239, 240, 242 Thyssen, August 243
272
Register
Thyssen, Fritz 235, 236, 243 Tilly, Johann Tserclaes Graf von 213 Tocqueville, Alexis de 260 Topefer, Alfred C. 112, 117 Topitsch, Ernst 250 Tormin, Walter 208, 209 Treitschke, Heinrich von 32, 59 Treue, Wilhelm 115 Treue, Wolfgang 115 Turn, Karl 173
Weimar, Carl August von 225 Weiss 32 Weizäcker, Carl Friedrich von 126, 249 Wende, Erich 36 Wengst, Udo 170 Weniger, Erich 160, 161, 162, 164 Werner, Karl Ferdinand 48 Weymar, Ernst 181 Wilhelm I. 122, 125, 127 Wilmanns, Ernst 161, 162, 163 Wilms, Dorothee 76 Windaus, Adolf, 35 Wirmer, Ernst 80 Wirmer, Joseph 80 Wirsching, Andreas 221, 222 Wittram, Reinhard 14, 67, 112, 113, 114, 117, 118, 138 Wolgast, Eike 232 Wühr, Wilhelm 32
Valjavec, Fritz 110 Vogelsang, Thilo 45 Vogt, Joseph 158 Volk, Ludwig 79, 80 Wachtel, Alois 152 Wagner, Fritz 222, 223 Waitz, Georg 215 Weber, Alfred 126 Weber, Hermann 151, 152 Weber, Max 26, 121, 126, 260 Weber, Wolfgang 95, 96 Wegele, Franz Xaver 215
Zahn, Curt 208, 209 Zechlin, Egmont 191, 203, 204, 208 Zeeden, Ernst Walter 77 Zichy-Thyssen, Anita Gräfin 235
ORTSREGISTER Ankara 182 Augsburg 31, 32
Buenos Aires 238 Calw 166, 182
Bad Godesberg 32 Bad Homburg 245 Bad Soden-Allendorf 117, 118 Baden-Baden 77 Baden-Württemberg 136 Bamberg 77, 78 Bayern 136, 164, 165, 167, 225, 226, 227, 232 Belgien 147, 176 Berlin 34, 47, 82, 91, 93, 122, 138, 144, 145, 147, 149, 152, 215, 217, 218, 219, 221, 230, 254 Bern 230 Bonn 37, 42, 82, 122, 142, 143, 149, 150, 152, 153, 218, 219, 221, 230, 254, 255 Braunschweig 37, 170, 171, 173, 175, 176, 177, 179, 182, 184 Bremen 166, 260, 261, 262, 263 Brüssel 57, 177, 182
Dänemark 147, 176 Deutschland (Bundesrepublik/DDR) 121, 122, 123, 125, 129, 135, 142, 147, 149, 150, 155, 157, 164, 166, 171, 176, 177, 185, 211, 212, 218, 219, 220, 221, 224, 225, 223, 230, 231, 233, 235, 240, 241, 242, 249, 250, 253, 256, 261 Dresden 218, 219 Düsseldorf 149, 236, 245 Eichstätt 82 Elsinor 183 Erfurt 60, 70, Erlangen 82, 116, 215 Essen 80 Europa 170, 247, 248 Euskirchen 152
273
Register Frankfurt a. M. 56, 57, 82, 117, 131, 230 Frankreich 142, 143, 145, 146, 147, 148, 149, 150, 170, 176, 238, 259 Freiburg im Breisgau 82,126, 138, 143, 218, 219, 263, 264 Genf 216 Gießen 230 Göttingen 35, 69, 112, 117, 118, 122, 132, 136, 137,138, 139, 144, 215, 217, 219, 245, 263, 264 Graz 89, 90 Griechenland 172 Großbritannien (England) 170 Hamburg 112, 117, 118, 187, 189, 190, 195, 196, 197, 199, 202, 209, 219 Heidelberg 23, 215, 217, 219, 227 Hemer 112, 117, 118 Hirschenhof 21 Israel 209, 236 Istanbul 182 Jena 215, 218, 219 Kiel 112, 117 Koblenz 149, 230 Köln 25, 82, 100, 138, 152, 218, 219, 236, 251, 253, 254, 255, 264 Königsberg 21, 22, 24, 25, 111, 215, 252, 256 Leipzig 44, 56, 191, 205, 216, 217, 259 Lodz 198 London 198 Luxemburg 237, 238, 240, 243 Mainz 30, 32, 37, 122, 136, 142, 146, 149, 151, 152, 169,170, 175, 185, 221, 252 Mannheim 156 Marburg 30, 70, 90, 91, 146, 218, 219, 263 Mauthausen 150 Mecklenburg-Schwerin 145 Metz 142, 149 Minsk 198 München 24, 32, 34, 37, 39, 41, 43, 55, 56, 61, 62, 64, 65, 68, 70, 82, 97, 98, 122, 128, 133, 136, 166, 169, 170, 173, 206, 213, 215, 217, 218, 219, 225, 226, 230, 231, 247
Münster 36, 80, 82, 110, 112, 123, 138, 149, 218, 219 Nancy 142, 149 Niederlande (Holland) 147, 176 Niedersachsen 137, 176, 184 Nordrhein-Westfalen 136 Norwegen 176 Nürnberg 61, 82 Oberschlesien 191 Oslo 57, 182, 183 Ostafrika 235 Österreich 219, 230 Paris 34, 66, 67, 141, 142, 143, 144, 145, 146, 147, 148, 149, 150, 151, 152, 175, 179, 191, 223 Posen 21 Prag 114, 219 Preußen 127, 135, 144, 159 Regensburg 82, 230 Rheinland 142 Rheinland-Pfalz 136 Riga 198 Rom 133, 138, 143, 144, 182, 223, 247, 252, 262, 263, 264 Royaumont 182 Saarbrücken 82 Scheweningen 182 Schweden 176 Schweiz 176 219, 230 Sévres 182 Speyer 175 Stockholm 71 Straßburg 67 Stuttgart 215 Trier 71 Tübingen 82, 138, 218, 219, 245, 253 Türkei 182 Tutzing 161 Ulm 70 Vereinigte Staaten von Amerika (USA) 170, 176, 245, 253 Weimar 61 Wien 21, 22, 68, 98, 127, 215, 217, 219, 230
274 Wiesbaden 124 Württemberg 155 Würzburg 151, 215 Zürich 59, 60, 217, 219
Register
AUTORENVERZEICHNIS Prof. Dr. Ulrich Baumgärtner ist Privatdozent an der Ludwigs-Maximilian Universität zu München, Historisches Seminar der LMU, Didaktik der Geschichte. Dr. Matthias Berg ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Geschichtswissenschaften der Humboldt Universität zu Berlin, Lehrstuhl für Neueste und Zeitgeschichte. Prof. Dr. Olaf Blaschke ist Professor für Neuere und Neueste Geschichte am Historischen Seminar der Westfälischen-Wilhelms Universität Münster. Prof. Dr. Jürgen Elvert ist Inhaber des Jean-Monnet Lehrstuhl für Europäische Geschichte, Professur für Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts unter besonderer Berücksichtigung der Europäischen Integration an der Universität zu Köln, Historisches Seminar. Prof. Dr. Rolf Große ist Abteilungsleiter Mittelalter am DHI Paris. Prof. i. R. Dr. Hans-Günther Hockerts war bis 2009 Inhaber des Lehrstuhls für Neueste Geschichte und Zeitgeschichte am Historischen Seminar der Ludwigs-Maximilian Universität zu München. M.A. Matthias Krämer ist Doktorrand an der Universität Augsburg. Prof. Dr. Hans-Christof Kraus ist Lehrstuhlinhaber für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Passau. Prof. em. Dr. Helmut Neuhaus war Inhaber des Lehrstuhls für Neuere Geschichte I an der Universität Erlangen-Nürnberg. Prof. Dr. Christoph Nonn ist Inhaber des Lehrstuhls für Neueste Geschichte an der Heinrich Heine Universität Düsseldorf. PD Dr. Morten Reitmeyer ist Vertreter des Lehrstuhls für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Trier. Dr. Steffen Sammler ist Mitarbeiter am Georg Eckert Institut. Leibniz Institut für Schulbuchforschung, Abteilung Schulbuch und Gesellschaft.
276
Autorenverzeichnis
Prof. Dr. Axel Schildt ist Direktor der Forschungsstelle für Zeitgeschichte und Prof. für Neuere Geschichte an der Universität Hamburg. Prof. em. Dr. Winfried Schulze war Professor für Frühe Neuzeit an der an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Er ist seit 2009 Direktor des Mercator Research Center Ruhr. Prof. Dr. Udo Wengst war von 1992 bis 2012 stellvertretender Direktor des Instituts für Zeitgeschichte, München/Berlin und ist Honorarprofessor für Zeitgeschichte an der Universität Regensburg.
Neben den Universitäten als den traditionellen Forschungsstätten entwickelte sich im Bereich der Geschichtswissenschaften nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs ein breites Spektrum an Institutionen und Einrichtungen, das hier unter dem Sammelbegriff „außeruniversitär“ zusammengefasst wird. Teilweise wurden alte Institutionen zu neuem Leben erweckt, daneben entstanden aber auch neue Forschungseinrichtungen wie beispielsweise das Münchener Institut für Zeitgeschichte. In diesem Band wird anhand einiger ausgewählter Beispiele die große Anzahl von außeruniversitären Organisationen in den Blick genommen, die nach 1945 neu gegründet bzw. zu neuem Leben erweckt wurden, denn die Rolle geschichtswissenschaftlicher Institutionen und die mit ihnen verbundenen Akteure beim Aufbau der bundesdeutschen Wissenschaftslandschaft ist bislang vergleichsweise wenig erforscht. Dabei kam diesen Einrichtungen eine entscheidende Bedeutung bei der Neuausrichtung der Geschichtswissenschaften insgesamt, bei der Aufarbeitung der NS-Vergangenheit, aber auch bei der Aussöhnung und Völkerverständigung zu.
www.steiner-verlag.de Franz Steiner Verlag
ISBN 978-3-515-11350-2