Wirtschaftswunder global: Die Geschichte der Überseemärkte in der frühen Bundesrepublik 3515123776, 9783515123778

Lässt sich das Wirtschaftswunder exportieren? Schon zu Beginn der 1950er Jahre interessierten sich die Außenhandelskreis

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German Pages 394 [398] Year 2019

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Table of contents :
INHALTSVERZEICHNIS
I. DIE ÜBERSEEMÄRKTE IM ZEITALTER DES DEUTSCHEN EXPORTWUNDERS
1. BESTANDSAUFNAHME
2. FORSCHUNGSDESIDERAT
3. FRAGESTELLUNG
4. UNTERSUCHUNGSZEITRAUM
5. VORGEHENSWEISE UND ZENTRALE BEGRIFFE
6. QUELLEN
7. STRUKTUR DER ARBEIT
II. ERSTE ERKUNDUNGEN
1. DEN VÖLKERN UNSEREN GUTEN WILLEN BEWEISEN – DIE GOODWILL-MISSIONEN DER 1950ER JAHRE
2. TEILNEHMERKREISE, REISEROUTEN, ANSPRECHPARTNER
3. ENTWICKLUNGSPROBLEME
4. WELTMARKTKONKURRENZ UND ANTIKOLONIALISMUS
5. EIN DEUTSCHES CARE-PAKET
6. ZWISCHENFAZIT
III. DIE ÜBERSEEISCHEN MÄRKTE – EIN ERKENNTNISOBJEKT TAUCHT AUF
1. DIE UNORDNUNG DER WELTWIRTSCHAFT
2. EXPORTLETHARGIE
3. EIN UNERWARTETER BOOM
4. FLUCH UND SEGEN DER AUSSENHANDELSZUWÄCHSE
5. DIE WELTWIRTSCHAFT ALS DYNAMISCHES SYSTEM
6. DIE SPEZIFIK DES ÜBERSEEHANDELS
7. ZWISCHENFAZIT
IV. INSTITUTIONEN DES ÜBERSEEWISSENS
1. PROLOG: REALISTISCHE ‚GOODWILL‘-PFLEGE GEHÖRT ZUM ALLTAG UND NICHT NUR ZUR AUFGABE BESONDERER MISSIONEN
2. GRUNDLAGEN EINER INSTITUTIONENGESCHICHTE DES ÜBERSEEHANDELS
3. REGIONALE WISSENSCLUSTER?
4. ZWISCHENFAZIT
V. NEUE CHANCEN UND NEUE PROBLEME
1. ÜBERSEEHANDEL ALS ENTWICKLUNGSGESCHÄFT
2. DIE ENTWICKLUNGSANLEIHE 1960
3. DIREKTINVESTITIONEN UND INVESTITIONSGÜTEREXPORTE
4. BANKEN UND RÜCKVERSICHERER
5. NACHWUCHSSORGEN
6. ZWISCHENFAZIT
VI. CLUSTER DES ENTWICKLUNGSWISSENS
1. VOM ÜBERSEEWISSEN ZUM ENTWICKLUNGSWISSEN
2. DIE HERAUSFORDERUNG
3. DIE REAKTION
4. ZWISCHENFAZIT
VII. PARADIGMEN DES ÜBERSEEWISSENS
1. GROSSRÄUME DER WELTWIRTSCHAFT
2. KULTUREN DER WELTWIRTSCHAFT
3. WIRTSCHAFTSGROSSRÄUME ALS KULTURRÄUME
VIII. ENTWICKLUNGSKONZEPTE FÜR ÜBERSEE
1. VON DER INDUSTRIALISIERUNG ZUR ENTWICKLUNG
2. DIE ORGANISCHE INDUSTRIALISIERUNG
3. DIE GESCHEITERTE IDEE EINER ALLGEMEINEN VOLKSERZIEHUNG
4. ERZIEHUNGSHILFE UND KULTURENTFREMDUNG
5. PIONIERGEIST UND STARKE HAND
6. ZWISCHENFAZIT
IX. DAS ERKENNTNISOBJEKT VERSCHWINDET
X. FAZIT
1. WIRTSCHAFT ALS KULTURELLES SYSTEM
2. DAS ERKENNTNISOBJEKT
3. DAS FELD DES WISSENS
4. ÖKONOMISCHES WISSEN
5. WEITERFÜHRENDE FORSCHUNGSFRAGEN
6. WIRTSCHAFTSWUNDER GLOBAL
XI. LITERATURVERZEICHNIS
1. UNVERÖFFENTLICHTES ARCHIVMATERIAL
2. GEDRUCKTE QUELLEN
3. SEKUNDÄRLITERATUR
XII. ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS
XIII. ABBILDUNGSVERZEICHNIS
XIV. ANHANG
DANKSAGUNG
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Wirtschaftswunder global: Die Geschichte der Überseemärkte in der frühen Bundesrepublik
 3515123776, 9783515123778

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Steffen Dörre

Wirtschaftswunder global Die Geschichte der Überseemärkte in der frühen Bundesrepublik Geschichte Franz Steiner Verlag

Beiträge zur Europäischen Überseegeschichte – 108

beiträge zur europäischen überseegeschichte vormals: Beiträge zur Kolonial- und Überseegeschichte Im Auftrag der Forschungsstiftung für vergleichende europäische Überseegeschichte begründet von Rudolf von Albertini, fortgeführt von Eberhard Schmitt, herausgegeben von Markus A. Denzel, Mark Häberlein und Hermann Joseph Hiery Band 108

Wirtschaftswunder global Die Geschichte der Überseemärkte in der frühen Bundesrepublik Steffen Dörre

Franz Steiner Verlag

Coverabbildung: Empfang bei Indiens Ministerpräsident Jawaharlal Nehru im Rahmen der BDI-Delegationsreise nach Ostasien vom 13.2. bis 20.3.1956. Im Bild u.a. Fritz Berg und Jawaharlal Nehru, daneben Bundesaußenminister Heinrich von Bretano. Fotograf: Herbert Wiesemann, BDI-Archiv, BDI SF 335, 1A. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2019 Druck: Offsetdruck Bokor, Bad Tölz Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISBN 978-3-515-12377-8 (Print) ISBN 978-3-515-12476-8 (E-Book)

INHALTSVERZEICHNIS I.

Die Überseemärkte im Zeitalter des deutschen Exportwunders ............. 1. Bestandsaufnahme............................................................................ 2. Forschungsdesiderat ......................................................................... 3. Fragestellung .................................................................................... 4. Untersuchungszeitraum .................................................................... 5. Vorgehensweise und zentrale Begriffe ............................................. 6. Quellen ............................................................................................. 7. Struktur der Arbeit............................................................................

9 15 18 21 22 24 32 34

II.

Erste Erkundungen.................................................................................. 1. Den Völkern unseren guten Willen beweisen – Die Goodwill-Missionen der 1950er Jahre ...................................... 2. Teilnehmerkreise, Reiserouten, Ansprechpartner............................. 3. Entwicklungsprobleme..................................................................... 4. Weltmarktkonkurrenz und Antikolonialismus ................................. 5. Ein deutsches Care-Paket ................................................................. 6. Zwischenfazit ...................................................................................

37 37 41 47 52 55 59

III.

Die überseeischen Märkte – ein Erkenntnisobjekt taucht auf................. 62 1. Die Unordnung der Weltwirtschaft .................................................. 63 2. Exportlethargie ................................................................................. 72 3. Ein unerwarteter Boom .................................................................... 78 4. Fluch und Segen der Außenhandelszuwächse.................................. 82 5. Die Weltwirtschaft als dynamisches System .................................... 93 6. Die Spezifik des Überseehandels ..................................................... 97 7. Zwischenfazit ................................................................................... 107

IV.

Institutionen des Überseewissens ........................................................... 110 1. Prolog: Realistische ‚Goodwill‘-Pflege gehört zum Alltag und nicht nur zur Aufgabe besonderer Missionen................................... 112 2. Grundlagen einer Institutionengeschichte des Überseehandels .......................................................................... 119

6

Inhaltsverzeichnis

3. Regionale Wissenscluster? ............................................................... 3.1 Der norddeutsche Wissenscluster .............................................. 3.2 Der westdeutsche Wissenscluster .............................................. 3.3 Ein süddeutscher Wissenscluster? ............................................. 3.4 Wissenscluster West-Berlin? ..................................................... 4. Zwischenfazit ...................................................................................

126 126 153 164 172 178

V.

Neue Chancen und neue Probleme ......................................................... 1. Überseehandel als Entwicklungsgeschäft ........................................ 2. Die Entwicklungsanleihe 1960 ........................................................ 3. Direktinvestitionen und Investitionsgüterexporte ............................ 4. Banken und Rückversicherer ........................................................... 5. Nachwuchssorgen............................................................................. 6. Zwischenfazit ...................................................................................

181 181 183 186 191 194 197

VI.

Cluster des Entwicklungswissens ........................................................... 1. Vom Überseewissen zum Entwicklungswissen................................ 2. Die Herausforderung ........................................................................ 3. Die Reaktion..................................................................................... 4. Zwischenfazit ...................................................................................

199 199 200 214 231

VII.

Paradigmen des Überseewissens ............................................................ 1. Großräume der Weltwirtschaft ......................................................... 1.1 Koloniale Denktraditionen ........................................................ 1.2 Großräumliche Verflechtungen als Wirtschaftsfaktor................ 1.3 Vier Großräume in Übersee ....................................................... 1.4 Binnendifferenzierungen ........................................................... 1.5 Das Großraumparadigma........................................................... 2. Kulturen der Weltwirtschaft ............................................................. 2.1 Koloniale Denktraditionen ........................................................ 2.2 Naturräume ................................................................................ 2.3 Historische Räume..................................................................... 2.4 Religiöse Räume........................................................................ 2.5 Ethnische Räume ....................................................................... 2.6 Mentalität und Arbeitswille ....................................................... 3. Wirtschaftsgroßräume als Kulturräume ...........................................

238 239 241 245 248 251 252 253 255 258 261 262 265 267 273

Inhaltsverzeichnis

VIII. Entwicklungskonzepte für Übersee ........................................................ 1. Von der Industrialisierung zur Entwicklung..................................... 2. Die organische Industrialisierung..................................................... 3. Die gescheiterte Idee einer allgemeinen Volkserziehung ................................................................................. 4. Erziehungshilfe und Kulturentfremdung.......................................... 5. Pioniergeist und starke Hand............................................................ 6. Zwischenfazit ...................................................................................

7 278 280 281 286 289 308 321

IX.

Das Erkenntnisobjekt verschwindet........................................................ 324

X.

Fazit ........................................................................................................ 1. Wirtschaft als kulturelles System ..................................................... 2. Das Erkenntnisobjekt ....................................................................... 3. Das Feld des Wissens ....................................................................... 4. Ökonomisches Wissen ..................................................................... 5. Weiterführende Forschungsfragen ................................................... 6. Wirtschaftswunder global ................................................................

335 335 336 337 341 343 345

XI.

Literaturverzeichnis ................................................................................ 1. Unveröffentlichtes Archivmaterial ................................................... 2. Gedruckte Quellen ........................................................................... 3. Sekundärliteratur ..............................................................................

347 347 349 359

XII.

Abkürzungsverzeichnis........................................................................... 386

XIII. Abbildungsverzeichnis............................................................................ 389 XIV. Anhang .................................................................................................... 390 Danksagung........................................................................................................ 393

I. DIE ÜBERSEEMÄRKTE IM ZEITALTER DES DEUTSCHEN EXPORTWUNDERS Dieses Buch handelt von „Übersee“, genauer gesagt von den Vorstellungsräumen „überseeischer Märkte“.1 Nachdem diese „überseeischen Märkte“ durch die kontinental ausgerichteten Autarkiepläne der Nationalsozialisten und die alliierte Blockade im Zweiten Weltkrieg aus dem Aufmerksamkeitsfokus der deutschen Außenhandelskreise geraten waren, war der Begriff „Übersee“ unmittelbar nach dem Krieg unter deutschen Unternehmern, Wirtschaftspolitikern und Ökonomen omnipräsent. Die „überseeischen Märkte“ versprachen den Wiederaufstieg der deutschen Wirtschaft auf den Weltmärkten und weckten schnell auch darüber hinaus weitreichende Hoffnungen auf ökonomische Gewinne. Die Zeit zwischen Kriegsende und der ersten Ölkrise war eine Hochkonjunkturphase des Redens über „Übersee“. In ihr gewann der Begriff erst eine neue Qualität und verschwand schließlich fast so plötzlich wieder, wie er aufgetaucht war. Warum war die Vorstellung homogener „überseeischer Märkte“, die ja de facto durch zahllose Unterschiede geprägt waren, damals so plausibel? An welchen Orten wurde entscheidungsrelevantes Wissen über die „überseeischen Märkte“ gesammelt und erworben und wie war dieses Wissen – in erster Linie ein Wissen über Mentalitäten, Räume und Kulturen – strukturiert? Bei der Beantwortung dieser Fragen wird deutlich werden, dass sich im Begriff der „überseeischen Märkte“ etwas spiegelt, was man „Wirtschaftswunder global“ nennen könnte. Die zentrale Frage der damaligen Zeit lautete nämlich: Wie lassen sich die (vermeintlichen) Grundkräfte des eigenen Wirtschaftswunders in anderen Kulturen implementieren? Nach „Übersee“ sollten nicht nur Waren made in Germany exportiert werden, sondern auch Tugenden und eine Arbeitsethik, die jeweils als spezifisch deutsch galten. 1988 betonte Alfred Herrhausen in seiner Funktion als Vorstandssprecher der Deutschen Bank, dass seine Kollegen aus Banken und Industrie bis in die 1970er Jahre hinein nicht die Welt, sondern nur einen kleinen Teil Europas im Fokus gehabt hätten. Man habe nur auf einer „reprovinzialisierten Europa-Ebene“ agiert. Erst danach seien aus deutschen Unternehmen „mit internationalem Geschäft (…) 1

Der Begriff „Übersee“ wird im Folgenden auch außerhalb von Zitaten verwendet. Das lässt sich nicht vermeiden, da erstens kein adäquater und zugleich wertneutraler Ersatzbegriff existiert und zweitens eine kulturwissenschaftliche Herangehensweise ohne die zeitgenössischen Begriffe gar nicht auskommt. Es liegt dem Autor fern, dadurch noch einmal eine angebliche Einheit „Übersee“ zu konstruieren. Stattdessen soll die Verwendung des Begriffs markieren, wie stark sich mit dem Begriff spezifische Problemwahrnehmungen, Wissenserzeugungs- und Plausibilisierungsweisen verbanden. Da die Arbeit rekonstruieren will, was die Zeitgenossen unter „Übersee“ verstanden, wird der Begriff dann verwendet, wenn die damit einhergehende homogenisierende Sicht gekennzeichnet werden soll. Dass der auf den ersten Blick neutrale und harmlose Begriff „Übersee“ zum „Haushalt der verschiedensten westlichen Entwicklungspolitiken“ gehörte, darauf verweist: Büschel, Entwicklungspolitik 2010, S. 12.

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I. Die Überseemärkte im Zeitalter des deutschen Exportwunders

multinationale Institut[e] mit deutscher Heimatbasis“ geworden.2 Diese Feststellung ist mittlerweile auch von der unternehmenshistorischen Forschung bestätigt worden. Insbesondere in den ersten Jahren nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges konnten die deutschen Industrieunternehmer von hohen Exportquoten und weltweit profitabel gestreuten Direktinvestitionen nur träumen. Nichtsdestotrotz richtete sich das Interesse der sogenannten Überseehandelshäuser sowie derjenigen größeren und mittleren Industrieunternehmen, die bereits vor der vom NS-Regime betriebenen Autarkiepolitik in den Welthandel eingebunden gewesen waren, nach 1945 schnell wieder auf ausländische Märkte, die es nun abermals zu erschließen galt. Frühzeitig sprachen die Unternehmer der Bundesrepublik in diesem Zusammenhang von den „Ländern der Zukunft“.3 Anders als es die damaligen Warenströme vermuten lassen, ging es dabei nicht so sehr um die USA oder Staaten in „Westeuropa“.4 Zukunftsmärkte waren vielmehr die Länder in den „entwicklungsfähigen“ Gebieten.5 Für diese fand man den Sammelbegriff der „Überseemärkte“.6 Deren relativ geringer Anteil am Außenhandel galt dabei beispielsweise 1956 dem Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) als nicht aussagekräftig, da er „kein zweckmäßiger Maßstab der künftigen Aufgaben und Chancen“ sei. Die anbrechende „Vergeistigung und Technisierung“ eröffne einen „neue[n] Abschnitt“ des deutschen „Überseegeschäfts“.7 Insbesondere, wenn sich diese Gegenden industrialisieren würden, sei Deutschland als zu-

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7

Herrhausen, Implikationen 1988, S. 179 und S. 187 f. Diese Zitate finden sich auch in: Löffler, Wirtschaftsdenken 2010, S. 146. So beispielsweise in: BDI, Ostasien 1956, S. 21. Jens Beckert hat überzeugend dargelegt, dass derartige erdachte Zukünfte ökonomische Entscheidungen beeinflussen und Dynamik erzeugen. Vgl. Beckert, Futures 2016. Die diversen Bezeichnungen für spezifische Wirtschaftsgroßräume – „Westeuropa“, „Ostasien“, „Schwarzafrika“, „Lateinamerika“, „Orient“ und viele mehr – werden im Laufe der Arbeit noch eingehender analysiert. Sie sind als zeitgenössische Konstruktionen zu werten und werden in dieser Arbeit ausschließlich als Quellenbegriffe verwendet. Sie werden daher im Folgenden durchgängig als solche gekennzeichnet. Nicht mit Anführungsstrichen versehen werden Namen von staatlichen oder innerstaatlichen Regionen, die gängige Verwaltungseinheiten bezeichneten. So wird beispielsweise Indien nicht in Anführungsstriche gesetzt, indes der „indische Subkontinent“. Dabei unterschieden die Zeitgenossen zwischen den sogenannten „unterentwickelten“ und den „entwicklungsfähigen“ Gebieten. Die Idee, innerhalb der Kategorie „Entwicklungsländer“ eine Kategorie „entwicklungsfähig“ zu schaffen, findet sich u. a. bei Kapferer, Bedeutung [1955]. Im Folgenden wird der zeitgenössische Begriff „Übersee“ dekonstruiert. Er wird aber nichtsdestotrotz in dieser Arbeit verwendet, weil er als damalige Beschreibungskategorie ernst zu nehmen ist. Dadurch besteht zwar die Gefahr, frühere Homogenitätsvorstellungen zu reproduzieren. Nur so lässt sich aber verdeutlichen, dass die „überseeischen Märkte“ trotz aller auch von den Zeitgenossen unternommenen Differenzierungen für sie ein zusammenhängendes Phänomen waren. Im Folgenden werden alle Wortzusammensetzungen mit „Übersee“ in Anführungsstriche gesetzt. Das Erkenntnisobjekt der vorliegenden Arbeit ist indes nicht „Übersee“, sondern das Denken über „Übersee“. Es liegt dem Autor fern, mit der Verwendung des Begriffs den zeitgenössischen Blick auf ein scheinbar homogenes Gebiet zu reproduzieren. BDI, Ostasien 1956, S. 21.

I. Die Überseemärkte im Zeitalter des deutschen Exportwunders

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künftiger Handelspartner ideal.8 Diese Einschätzung galt sowohl für die „Entwicklungsphase“ als auch für den Zielhorizont einer industriellen Gesellschaft in „Übersee“. Erstens, weil die Außenhandelskreise der Bundesrepublik die Expertise beim (Wieder-)Aufbau hochqualitativer, weltmarktfähiger Industriegüterproduktionen durch die eigene Wirtschaftswundererfahrung zunehmend bei sich selbst sahen.9 Und zweitens, weil Deutschland seit jeher mit hochentwickelten Industrieländern am stärksten verflochten gewesen war. Aus dieser Perspektive bot die Industrialisierung von „Übersee“ riesige Chancen für deutsche Unternehmer. Die „überseeischen“ Gebiete betrachtete man als bislang unerschlossene Märkte, die es ermöglichen sollten, die ehemalige Weltmarktstärke – der zentrale Vergleichshorizont der Nachkriegszeit – wiederzugewinnen. Die große Aufmerksamkeit, die „Übersee“ zuteilwurde, speiste sich auch aus der zeitgenössischen Einsicht, dass es „der Fortfall der osteuropäischen Länder als Bezugsquellen für Nahrungsmittel und Rohstoffe“ notwendig mache, die „Getreide- und anderen Nahrungsmitteleinfuhren aus Übersee zu steigern“.10 Ein intensivierter Handel mit „Übersee“ schien einige der drängendsten Probleme auf einen Schlag lösen zu können. Denn der Wiederaufstieg in der Weltwirtschaft würde mit neuer Exportstärke und der Lösung des Einfuhrproblems von Primärgütern einhergehen. „Übersee“ bezeichnete in diesem Zusammenhang kein klar umgrenztes geografisches Gebiet. Der renommierte Wirtschaftswissenschaftler Andreas Predöhl beschrieb es als die „agrarischen Randgebiete der menschengefüllten weltwirtschaftlichen Peripherie“.11 Daher galten nach 1945 die USA, Kanada, Australien sowie Japan nicht mehr als Teil von „Übersee“.12 Auch wenn nur selten genau bestimmt wurde, was „Übersee“ darüber hinaus eigentlich bedeuten sollte, war der Begriff in den Außenhandelskreisen allgegenwärtig und als Sammelbegriff plausibel. Die Geschichte der „überseeischen Zukunftsmärkte“ war von großen Hoffnungen und Plänen, aber auch erheblichen Herausforderungen geprägt. Als „rückständig“ stufte man nämlich nicht nur die Lage in „Übersee“, sondern auch die Situation im eigenen Land ein. Die am Außenhandel interessierten Kreise in den westlichen Besatzungszonen empfanden sich selbst als von der Weltwirtschaft in mehrfacher Hinsicht abgeschnitten: Es fehlte an notwendigem Kapital, an Mitarbeitern mit der passenden Auslandserfahrung und mit der für diese Aufgaben als notwendig angesehenen Charakterstärke sowie – und das war vorerst der wichtigste Punkt – an 8

9 10 11 12

In der vorliegenden Arbeit werden „deutsch“ und „Deutschland“ auch für die drei „westlichen“ Besatzungszonen verwendet. Sie werden gelegentlich auch als Synonyme für „bundesrepublikanisch“ bzw. „Bundesrepublik Deutschland“ benutzt. Grund hierfür ist, dass die bundesrepublikanischen Außenhandelskreise – im Einklang mit der damals gängigen Praxis – dies so taten. „Deutschland“ hieß bei ihnen immer das Gebiet der Bundesrepublik, ohne dass damit der Anspruch auf die ehemals zum Deutschen Reich gehörenden Gebiete im „Osten“ aufgegeben wurde. Im Weiteren wird darauf verzichtet, dies durch Anführungsstriche als Selbstbeschreibungskategorie der Zeitgenossen zu kennzeichnen. Vgl. BDI, Ostasien 1956, S. 21. Zotschew, Strukturwandlungen 1951, S. 309 f. Predöhl, Entwicklungsländer 1963, hier S. 317. Zur Historisierung des Begriffs „Übersee“ vgl. Büschel/Speich, Einleitung 2009, S. 21.

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I. Die Überseemärkte im Zeitalter des deutschen Exportwunders

unabhängigen und aussagekräftigen Informationen. Wie in den Außenhandelskreisen diesen Problemlagen begegnet wurde, wie sie versuchten, ihre diesbezüglichen Defizite gegenüber den Siegernationen des Zweiten Weltkrieges auszugleichen und wie sie sich so günstig wie möglich zu positionieren gedachten, ist eines der zentralen Themen des vorliegenden Buches. Zugleich soll es aber auch um die Probleme gehen, die man in „Übersee“ verortete, und um die Lösungswege, die die Unternehmer diskutierten und ausprobierten.13 Dabei konzentriere ich mich auf die exportorientierten (und im Laufe der Zeit immer stärker auf Direktinvestitionen setzenden) Unternehmer in den drei westlichen Besatzungszonen beziehungsweise in der Bundesrepublik. Mir geht es um die von diesem Personenkreis geführten Diskussionen und Debatten. Denn hier wurde nicht nur über Problemwahrnehmungen und über die unter den beschränkten Bedingungen praktikabelsten Lösungen gestritten, sondern zugleich ausgelotet, auf welchen geografischen Märkten die Chancen für deutsche Exporte und Industrieansiedlungen in Zukunft besonders groß sein würden. Oftmals, so meine Grundannahme, waren diese Debatten strukturbildend: Sie gingen den realen Finanz- und Warenströmen voraus. Dass sich die Außenhandelskreise der Bundesrepublik dabei nicht nur für ökonomische Kriterien wie Zollsätze, Rechtssicherheit und Infrastrukturbedingungen interessierten, ist hier von besonderem Belang. Bei der genaueren Quellenanalyse zeigt sich eine eindrucksvolle Wissbegierde der Unternehmer insbesondere in Bezug auf kulturelle Themen. Denn sie wollten in Erfahrung bringen, welche Kulturen ins Weltwirtschaftssystem integrierbar und den Anforderungen der industriellen Gesellschaft gewachsen waren. Daraus folgte eine intensive Beschäftigung mit 13

Die postkoloniale Geschichtsschreibung hat in den letzten zwei Jahrzehnten immer wieder auf die Bedeutung von Akteur_innen außerhalb des „Westens“ hingewiesen. Auch wenn man sich gelegentlich des Eindrucks nicht erwehren kann, dass die Handlungsmacht der ortsansässigen Bevölkerung häufiger behauptet als belegt wird, soll sie hier nicht negiert werden. Nichtsdestotrotz wird sie nur eine geringe Rolle spielen. Das liegt vor allem am leitenden Erkenntnisinteresse. Es richtet sich auf Denksysteme über „Übersee“, die von realen Erfahrungen mit „Übersee“ kaum beeinflusst wurden. Der Einfluss der „nichtwestlichen“ Akteur_innen mag zwar im Einzelfall vorhanden gewesen sein, in den Augen der hier im Fokus stehenden Protagonisten existierte er jedoch nicht. Da es mir in kulturwissenschaftlicher Perspektive jedoch darum geht, deren Weltsicht zu rekonstruieren, muss die sicherlich lohnenswerte postkoloniale Frage nach der Handlungsmacht („agency“) der „Indigenen“ hier ausgeklammert bleiben. Nicht eine komplexe Beziehungsgeschichte soll hier geschrieben werden – so reizvoll und erkenntnisreich sie auch sein mag –, sondern ein in sich relativ abgeschlossenes Wissenssystem analysiert werden. Folglich steht nicht die gegenseitige Wahrnehmung im Vordergrund des Interesses, sondern ein Diskurs über (!) fremde Regionen, bei dem nicht in transkulturellen Situationen Wissen erzeugt oder ausgehandelt wurde, sondern der auf einer Beobachterposition weit ab vom Wissensobjekt „Übersee“ basierte. Das bedeutet freilich nicht, dass hier im Folgenden der Eindruck erweckt werden soll, Wissen sei nur im „Westen“ entstanden und hätte sich von dort in alle Gegenden der Welt in imperialer Manier ausgebreitet. Dieses ältere Diffusionsmodell etwa bei Basalle, Spread 1967. Die Idee der wechselseitigen Rückwirkungen zwischen „Zentrum“ und „Peripherie“ als Forschungsagenda formuliert bei Cooper/Stoler, Metropole 1997. Die Chancen einer nicht-eurozentrischen Wissensgeschichte verdeutlicht in hervorragender Weise: Fischer-Tiné, Pidgin-Knowledge 2013.

I. Die Überseemärkte im Zeitalter des deutschen Exportwunders

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fremden Religionen, Sozialformationen, Lebensweisen und Mentalitäten. Zwischen ökonomischen Potenzialen und einheimischer Kultur wurden direkte Verbindungen gezogen. Diesen Verbindungen in ihrem Wandel nachzugehen und zu zeigen, wie dabei umfangreiches Wissen über „Übersee“ hervorgebracht wurde, ist mein hauptsächliches Forschungsanliegen. Damit ist die vorliegende Studie als Analyse von Wissensbeständen14 gedacht, in der gefragt wird: Welche Institutionen produzierten Wissen über „überseeische“ Märkte? Wie wurde dieses Wissen plausibilisiert? Wie veränderten sich die Informationsflüsse, die wissensgenerierenden Institutionen und die Gruppe derer, die auf dieses Wissen zurückgriffen? Wie lassen sich der Wandel, aber auch die Persistenz der den Marktanalysen zugrundeliegenden Paradigmen erklären? Und wie führte dieses Wissen über Kulturen zur Konstruktion von Märkten? Diese Fragen sind bislang kaum in historischer Tiefe beantwortet worden. Zwei miteinander korrespondierende Gründe sind hierfür ausschlaggebend: Erstens scheuen Kulturwissenschaftler_innen15 allzu oft den Untersuchungsgegenstand Wirtschaft.16 Dies findet zweitens nicht selten seine Entsprechung in der wirtschaftshistorischen Forschung, die im Gegenzug eine dezidiert wissensgeschichtliche oder kulturwissenschaftliche Perspektive vermeidet.17 Auch wenn sich mittlerweile selbst in wirtschafts- und unternehmenshistorischen Studien vermehrt kulturwissenschaftliche Anklänge finden, argumentieren die bisherigen wirtschaftshistorischen Forschungsarbeiten zum hier untersuchten Themengebiet grundsätzlich auf einer anderen Ebene: Entweder werden die politischen Rahmenbedingungen der Wiedereingliederung der westdeutschen Wirtschaft in die Weltwirtschaft untersucht oder die Transnationalisierung einzelner Unternehmen.18 Aus diesen Studien 14

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Der Begriff „Wissensbestand“ ist ein Alltagsbegriff. Er wird hier verwendet, ohne dass damit behauptet wird, dass es sich um zeitlich fixierbare Bestände handelte, die nach und nach erweitert wurden. Wissen ist etwas Fluides, das sich stets neu konstituiert und immer wieder aufs Neue plausibilisiert werden muss. Die folgende Arbeit ist nicht durchgängig einheitlich gegendert. Sie versucht aber die jeweils zeitgenössisch dominanten Geschlechterbilder kenntlich zu machen. Daher ist im Folgenden die Rede von damaligen Unternehmern, aber von heutigen Historiker_innen. Anscheinend haben es die Wirtschaftswissenschaften in den letzten Jahrzehnten erfolgreich geschafft, zur zentralen – scheinbar natürliche Prozesse nur abbildenden – Ressource gesellschaftlicher Selbstverständigung zu werden. Die in innerwirtschaftswissenschaftlichen Debatten gepflegten Zweifel an der Aussagekraft der eigenen Modelle und die offensichtliche Historizität ihrer Grundannahmen sind von Kulturwissenschaftler_innen bislang kaum zum Ausgangspunkt einer umfassenden Analyse des volkswirtschaftlichen Wissens und seiner Verbreitung geworden. Eine vergleichbare Argumentation in: Speich Chassé, Preis 2014, S. 132; Berghoff/Vogel, Wirtschaftsgeschichte 2004. Vgl. Landwehr, Kulturgeschichte 2009, S. 109–112; Dejung/Dommann/Speich Chassé, Einleitung 2014, S. 7. Auf die Bedeutung wirtschaftswissenschaftlichen Wissens für die „Globalsteuerung“ und deren Ende verweist Schanetzky, Ernüchterung 2007. Die wachsende Bedeutung ökonomischer Prognosen hebt hervor: Nützenadel, Vermessung 2010. Allgemein zum Wissen als Produktionsfaktor: Stehr, Wissen 2001. Meist erschöpfen sich selbst neuere Studien darin, darauf zu verweisen, dass zeitgenössische Wahrnehmungsweisen nicht unkritisch als Forschungsargumente übernommen wurden. Fragestellung, Methode, Aufbau der Arbeit etc. sind davon meist jedoch nicht betroffen. Der cultural

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I. Die Überseemärkte im Zeitalter des deutschen Exportwunders

lässt sich manches lernen und vieles davon wird in den nachfolgenden Buchkapiteln rezipiert werden. Nichtsdestotrotz verlangt meine Perspektive auf das scheinbar so wohlbekannte „Wirtschaftswunder“ und auf den ebenfalls offensichtlich gut erforschten „Weg zurück auf die Weltmärkte“19 eine grundsätzlich andere Herangehensweise. In diesem Buch ist daher nur selten die Rede von Zollsätzen, Handelsabkommen und Transaktionskosten. Stattdessen geht es um das von den Unternehmern selbst gestrickte Netz der Bedeutungen, das ihre Erzeuger gefangen hielt.20 Aufmerksamkeit wird jenen Vorstellungen gewidmet, die Wirklichkeit konstituierten. Im Zentrum des Interesses steht daher die Art und Weise des Blicks auf die Welt. Es geht um die zeitgenössischen Kategorisierungsweisen und Differenzbestimmungen, um die mentalen Karten von Entscheidungsträgern im ökonomischen Feld, deren Wertorientierungen, geteilte Normen, Vergleichsmaßstäbe und Orientierungspunkte in der historischen Forschung noch verhältnismäßig unbekannt sind.21 Ein Ergebnis der vorliegenden Studie wird daher auch eine genauere Bestimmung der positiven und negativen kulturellen Zuschreibungen dieser Gruppe sein. Zentrales Anliegen der Studie ist es somit, die Sichtweise einer im Globalisierungsprozess einflussreichen Gruppe auf fremde Märkte, auf Entwicklungschancen und – eng damit verbunden – auf fremde Kulturen zu rekonstruieren. Dabei richtet sich das Erkenntnisinteresse auf gruppenspezifische Zukunftsentwürfe, Hoffnungen und Bedrohungsszenarien. Im Kern geht es darum, bislang oftmals unberücksichtigte Äußerungen ernst zu nehmen, zeitgenössische Selbstverständlichkeiten zu historisieren und ihre damalige Plausibilität zu erklären. Auf der Basis bislang unbearbeiteten Quellenmaterials sollen neue Fragen an einen scheinbar wohlbekannten Prozess gestellt werden. Hilfreich sind dafür Ansätze der Wissens(chafts)geschichte. Denn es ging den bundesrepublikanischen Unternehmern bei ihren Debatten über „Übersee“ nie nur um eine Verständigung über Probleme und Problemlösungsstrategien. Es wird zu zeigen sein, wie sie ein spezifisches Wissen von „Übersee“ formten.

turn hatte hier zwar Einfluss auf die Sprech- und Argumentationsweisen, hat aber nicht zu einer grundlegend neuen Perspektive geführt. 19 So schon der programmatische Titel bei Erhard, Rückkehr 1953. 20 So die einflussreiche Kulturdefinition von Clifford Geertz. Vgl. Geertz, Beschreibung 1987, S. 9. 21 Im Vergleich zu den Jahrzehnten zuvor waren die wichtigsten Unternehmer und Manager nach dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr so sehr daran interessiert, im Rampenlicht zu stehen. Sie waren im Gegenteil äußerst zurückhaltend, was die Preisgabe privater Informationen, etwa über ihre Herkunft, anging. Vgl. Ziegler, Großbürgertum 2000, S. 133; Grunenberg, Wundertäter 2007, S. 17.

Bestandsaufnahme

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1. BESTANDSAUFNAHME Das sogenannte Wirtschaftswunder22, die ordnungspolitischen Grundsatzentscheidungen für die „Soziale Marktwirtschaft“ und auch die außenwirtschaftlichen Weichenstellungen sind gut erforscht.23 Auch die Durchsetzung des weltoffenen Handelsstaates in der Bundespolitik und im Unternehmerlager ist hinlänglich untersucht worden.24 Das liegt vor allem daran, dass das „Wirtschaftswunder“ schon von den Zeitgenossen als ein entscheidender Einschnitt wahrgenommen wurde. Es war für die Entstehung einer Massenkonsumgesellschaft, für den Erfolg der zweiten deutschen Demokratie und für die Erringung einer positiven nationalen Identität von so großer Bedeutung, dass diese Themen schon sehr frühzeitig Gegenstand der geschichtswissenschaftlichen Forschung geworden sind.25 Wirtschaftshistorische Arbeiten haben dabei vor allem nach ökonomischen und wirtschaftspolitischen Grundlagen des „Wirtschaftswunders“ und dessen vermeintlicher Einzigartigkeit gefragt. In vielerlei Hinsicht herrscht mittlerweile Einigkeit unter den Historiker_innen: Erstens ist hervorgehoben worden, dass die Wachstumsraten der Bundesrepublik zwar hoch, aber im internationalen Vergleich nicht außergewöhnlich waren. Zweitens ist die, trotz aller kriegsbedingten Zerstörungen, gute wirtschaftliche Ausgangslage der westlichen Besatzungszonen betont worden: Die Löhne waren niedrig, die Arbeitskräfte gut ausgebildet, die Produktionsanlagen weniger stark beschädigt als zunächst vermutet, und die Auslandsnachfrage hoch. Zudem führten die Investitionen in effizientere Produktionsmethoden und neue Maschinen schnell zu ansehnlichen Produktivitätssteigerungen.26 Drittens ist immer wieder darauf verwiesen worden, dass die hohen ökonomischen Wachstums- und Exportraten durch eine Weltwirtschaftsordnung ermöglicht wurden, die maßgeblich durch die USA und deren Liberalisierungspolitik in den Bereichen des Außenhandels und der Devisenkontrollen bestimmt war. Dies führte dazu, dass in allen „westlichen Industrieländern“ der Außenhandel stärker zunahm als das Bruttosozialprodukt und die Auslandsproduktion wiederum stärker als der Außenhandel.27 Die Bundesrepublik war hierbei keine Ausnahme. Dennoch hatten die Zeitgenossen nicht erwartet, dass deutsche Produkte 22

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Dass das „Wirtschaftswunder“ kein Wunder war, sondern das Wachstum ganz konkrete Ursachen hatte und auch nicht als Ausnahmeerfahrung gelten kann, darauf ist in vergleichender Perspektive schon oft hingewiesen worden. Als Einstieg in diese Debatte bietet sich an: Judt, Geschichte Europas 2006, S. 273–398. Maßgeblich auch: Lindlar, Wirtschaftswunder 1997. Vgl. u. a. Schulz, Marktwirtschaft 1997; Spicka, Miracle 2007. In diskursanalytischer Perspektive: Nonhoff, Projekt 2006. Herauszuheben ist: Neebe, Weichenstellung 2004. Zur Geschichte der deutschen Konsumgesellschaft vgl. Anderson, Traum 1997; Kleinschmidt, Konsumgesellschaft 2008, S. 131–152 sowie die Aufsätze in Haupt/Torp, Konsumgesellschaft 2009. Zur Bedeutung des „Wirtschaftswunders“ für die westdeutschen Identitätskonstruktionen vgl. Berger, Germany 2011, S. 181–187. Knapp zusammengefasst bei Judt, Geschichte Europas 2006, S. 393 f. Judt verweist sehr plastisch darauf, dass kaum etwas die sensationellen Wachstumsraten der Bundesrepublik so gut verdeutlicht wie der Vergleich mit Großbritannien. So überstieg bereits im Jahre 1958 die westdeutsche Wirtschaftskraft die britische. Vgl. ebd., S. 392 f. Vgl. Schröter, Außenwirtschaft 1992, S. 82.

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I. Die Überseemärkte im Zeitalter des deutschen Exportwunders

so zügig wieder weltmarktfähig werden würden. Dies wurde begünstigt durch die außenwirtschaftlichen Sonderbedingungen nach dem Koreakrieg, die staatlichen Exportfördermaßnahmen, eine lange Zeit unterbewertete Währung und durch positive Effekte von regionalen Verbundwirtschaften.28 Im Ergebnis war die Bundesrepublik, trotz eines erheblichen Rohstoff- und Eigenkapitalmangels am Ende des sogenannten „Booms“29 Mitte der 1970er Jahre, für die meisten am Welthandel beteiligten Länder außerhalb „Europas“ und des „Ostblocks“ der zweitwichtigste Handelspartner; bundesrepublikanische Unternehmen waren zusammengenommen nach den US-amerikanischen und britischen weltweit die drittgrößten Inhaber von Direktinvestitionen im Ausland.30 Der jährliche Export hatte sich zwischen 1955 und 1974 fast verzehnfacht. Die jährlich neu getätigten Direktinvestitionen, bis 1955 kaum nennenswert, erreichten im Jahr 1973 einen Betrag von 5,6 Milliarden DM und lagen auch 1974, als die erste Ölkrise schon deutlich zu spüren war, noch bei 4,5 Milliarden DM.31 Die deutsche Wirtschaft war damit nicht nur durch immer höhere Import- und Exportraten geprägt, sondern wurde sowohl zum Anziehungspunkt ausländischen Kapitals als auch selbst zum Kapitalexporteur. Die Außenwirtschaft war immer stärker mit den „Industrieländern“ und den „Entwicklungsländern“ verflochten. Auch zu diesem „Exportwunder“ lässt die Forschungslage nur wenig zu wünschen übrig. Da die Strategien der Bearbeitung und Sicherung von Exportmärkten, aber auch die Planung und Durchführung von Direktinvestitionen schon damals als entscheidende Parameter der Weltmarktverflechtung galten, rückten diese bereits in den 1960er Jahren in den Fokus der wirtschaftswissenschaftlichen Forschung.32 Weil sich auch die nachfolgende wirtschafts- und unternehmenshistorische Forschung vom Thema der Rückkehr auf die Weltmärkte fasziniert zeigte, wissen wir mittlerweile viel über außenhandelspolitische Vertragswerke und über betriebliche Weltmarktstrategien.33 28

Hierzu vgl. Delhaes-Guenther, Erfolgsfaktoren 2003. Mit einem Fokus auf die Automobilindustrie auch Borsdorf, Internationalisierung 2007. 29 Hierzu vgl. den einflussreichen Sammelband Kaelble, Boom 1992. 30 Dabei ist bemerkenswert, dass die Auslandsproduktion, gemessen an der Höhe der Exporte, mit 37,4 % (1971) vergleichsweise sehr niedrig war. Vgl. die Daten bei Schröter, Außenwirtschaft 1992, S. 83 und S. 102. 31 Die jährlichen Zuwachsraten sind aufgeführt in Tabelle 1 im Anhang. 32 Zentral waren dabei die Veröffentlichungen von Stephen Hymer und Alfred D. Chandler. Vgl. Hymer, International Operations 1960; Chandler, Strategy 1962. In der Bundesrepublik von großer Bedeutung, auch für die damalige Politikberatung, waren dabei die Publikationen des Instituts für Weltwirtschaft (Kiel) und des Hamburgischen Welt-Wirtschafts-Archivs. 33 Es ist auffällig, dass sich der hierzu existierende Forschungsstand auf den Raum „Süd-/Latein-/ Iberoamerika“ konzentriert. Von besonderer Bedeutung war dabei die Stadt São Paulo, da ein nicht unerheblicher Teil der deutschen Unternehmen in den 1950er und 1960er Jahren hier ihre erste und nicht selten auch ihre bedeutendste Auslandsgesellschaft gründeten. Nur beispielhaft sei verwiesen auf: Jerofke, Wiederaufbau 1993; Pohl, Exporte 1996; Nellißen, MannesmannEngagement 1997. Vgl. auch: Jolowicz, Erfahrungen 1970; Olbricht, Unternehmenspolitik 1974; Tuchnitz, Engagement 1979; Kayser u. a., Auslandsinvestitionen 1981; Steinmann/Kumar/Wasner, Aspekte 1981. Vgl. unveröffentlichte Magisterarbeit von Zeiß, Expansion 2013, S. 59. Die Arbeit bietet im Anhang auch eine Zusammenstellung zu den Direktinvestitionen

Bestandsaufnahme

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Dabei hat die Forschung bisher erstens verdeutlicht, dass die steigenden Raten von Export und Direktinvestitionen in einem wechselhaften außen- und wirtschaftspolitischen Umfeld zustande kamen. Zum einen veränderten sich die außenwirtschaftlichen Förderinstrumente der Bundesrepublik,34 zum anderen die für die deutsche Außenwirtschaft wichtigen wirtschaftspolitischen Zielsetzungen in den jeweiligen Exportländern.35 Dadurch wandelte sich auch der geografische Fokus der Zeitgenossen zum Teil erheblich. Anfänglich noch auf die Märkte, auf denen man bereits vor 1939 präsent war, und jene Länder mit einem größeren „Auslandsdeutschtum“ – etwa in „Südamerika“ – konzentriert, rückten zunehmend auch Märkte im „Nahen und Mittleren Osten“, in „Ostasien“ sowie in „Afrika“ in den Fokus. Dabei gab es freilich erhebliche Branchenunterschiede.36 Zweitens haben Studien zum going global einzelner mittelständischer und Großunternehmen gezeigt, wie sich Art, Form und Zielsetzung der Auslandspräsenz veränderten.37 Für die Zeit nach 1945 ist insbesondere hervorgehoben worden, dass die deutschen Unternehmen meist umfassende, auf langfristigen Erfolg angelegte, weltmarktstrategische Ziele verfolgten, für die sie zeitweilig sogar reale Verluste bzw. geringe Renditen in Kauf nahmen.38 So prägend diese Gemeinsamkeit auch gewesen ist, verweisen die vorliegenden unternehmenshistorischen Studien immer wieder auf zentrale Unterschiede von Unternehmen zu Unternehmen. So wird etwa die Vielfalt von Motiven für die konkrete Strategie- oder Standortwahl betont, auf die Relevanz konkreter Handlungssituationen und auf die Bedeutung von betrieblichen Pfadab-

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deutscher Unternehmen in einzelnen Städten Brasiliens und Mexikos von 1952–1982. Vgl. ebd., S. 160–162. Über die transnationalen Elitennetzwerke in diesen Städten ist bislang sehr wenig bekannt. Hier böten sich zahlreiche globalhistorisch ausgerichtete Lokalstudien an. Von besonderer Bedeutung waren dabei der Übergang von Einzelgenehmigungen zu allgemeinen Genehmigungen, die sich wandelnden Hermeskredit-Konditionen und die Aufhebung des Verbots von Direktinvestitionen. Vgl. Schreyger, Direktinvestitionen 1994, S. 53–58. 1952 wurden das erste Mal Direktinvestitionen durch Einzelgenehmigung zugelassen, wenn sich „die Anlage und Unterhaltung von Vermögenswerten in Unternehmen im Ausland alsbald und nachhaltig devisenbringend oder devisensparend auswirkt“. Bundesministerium für Wirtschaft, Runderlass Außenwirtschaft 65/62, abgedruckt in: Bundesanzeiger vom 29.5.1952. Schröter hat jedoch zu Recht darauf verwiesen, dass das Umfeld für Exporte und Direktinvestitionen sich im Boom zwar teilweise gravierend verändert hat, aber wirtschaftspolitische Entscheidungen und konjunkturelle Einflüsse sich kaum auf die realen Waren- und Kapitalflüsse auswirkten. Vgl. Schröter, Außenwirtschaft 1992, S. 105. So hatten beispielsweise die auf Importsubstitution beruhenden Wirtschaftsentwicklungsbemühungen zahlreicher „lateinamerikanischer“ Länder in den 1950er Jahren große Auswirkungen auf den bundesdeutschen Export. Kommunistische Umstürze, Enteignungen oder die Einführung der „51 %-Regel“ blieben ebenfalls nicht folgenlos. Informationen bieten die einschlägigen Publikationen der jeweiligen deutschen Industrieverbände. Diesbezüglich besonders aufschlussreich sind die Auseinandersetzungen mit den Chancen und Gefahren des Weltmarktes in der bundesrepublikanischen Textilindustrie. Hartmut Berghoff unterscheidet dabei vier Phasen. In der ersten dominiert die Belieferung von Auslandsmärkten bzw. Rohstoffimporte, in der zweiten die Zuhilfenahme von Repräsentanten in den jeweiligen Auslandsmärkten, in der dritten die Vergabe von Lizenzproduktionen und in der vierten die Errichtung von eigenen Produktionsanlagen im Ausland. Vgl. Berghoff, Unternehmensgeschichte 2004, S. 127. Vgl. Schröter, Außenwirtschaft 1992, S. 104 f.

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hängigkeiten verwiesen.39 Insgesamt zeigt sich, dass die Sicherung von Absatzmärkten, die Einsparung von Produktionskosten, die Abmilderung des Risikos von Wechselkursschwankungen, staatliche Investitionsanreize, die Höhe der Importzölle und das pure touristische Interesse der Entscheidungsträger eine Rolle spielen konnten.40 Im Zuge der wirtschafts- und unternehmenshistorischen Forschung sowie durch die jüngere Beschäftigung mit Fragen der Globalisierung haben Historiker und Historikerinnen mittlerweile ein recht umfassendes Bild vom Weg der deutschen Unternehmer zum Exportweltmeister und hin zu multi- bzw. transnationalen Unternehmen gewonnen. 2. FORSCHUNGSDESIDERAT Das Ziel meiner Studie besteht darin, die in Außenhandelskreisen vertretene Sicht auf „überseeische Märkte“ herauszuarbeiten und zu analysieren und somit die Forschung zum bundesrepublikanischen Außenhandel um eine kulturhistorische Perspektive zu erweitern. Hierfür ist es nötig, sich von einigen bisherigen Grundannahmen der wirtschaftshistorischen Forschung zum „Wirtschaftswunder“ zu distanzieren. Allein die akteurszentrierten Erklärungen der „Rückkehr auf die Weltmärkte“ laden zu einer Neuinterpretation ein. Insbesondere richte ich mich gegen die übliche Vorstellung, dass sich der Unternehmenserfolg auf den globalen Märkten nur durch Einbeziehung der Biografien der Entscheidungsträger erklären lasse. Damit steht ein Masternarrativ der unternehmensgeschichtlichen Studien zur Disposition. Manchmal unterschwellig, manchmal ganz dezidiert werden individueller Erfahrungsschatz, Wagemut und Charakterstärke zu maßgeblichen Faktoren für den Erfolg auf ausländischen Märkten erklärt.41 Aus kulturhistorischer Perspektive drängt sich jedoch die Frage auf, ob einzelbiografische Studien und Studien zu einzelnen Unternehmen nicht grundsätzlich die Entscheidungsspielräume von Unternehmern überschätzen und Selbstbilder vorschnell und unkritisch übernehmen. Wäre es nicht sinnvoller, danach zu fragen, welche Vorstellungen über die Weltwirtschaft, Zukunftsmärkte, Chancen und Risiken die am Außenhandel interessierten Unternehmer miteinander teilten? Welche Kategorien sie dabei anwendeten, welche Differenzkategorien sie entwickelten und wie sie in einem kommunikativen Prozess mit- und untereinander Wissen über „überseeische Märkte“ erzeugten? Die am Au39

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Schon frühzeitig in diese Richtung argumentierend: Wilkins, Emergence 1970 und dies., Maturing 1974. Kritik an der Vorstellung eines auf Pfadabhängigkeiten basierenden Ablaufschemas in Internationalisierungsprozessen bei Borsdorf, Internationalisierung 2007, S. 10. Hier auch Fallbeispiele aus den Firmen Volkswagen, Daimler-Benz, BMW, Henkel, Demag. Bis in die 1970er Jahre hinein spielte die Höhe der Lohnkosten nur eine untergeordnete Rolle. In diese Richtung argumentiert bspw. Dombois, Autoindustrie 1987, S. 65. Beispielsweise verweist Johannes Bähr anhand des Entscheidungsverhaltens von Paul Reusch und Friedrich Flick auf die Bedeutung individueller Dispositionen. Vgl. Bähr, Reusch 2010. Das gilt jedoch nicht nur für die bedeutenden „Industriekapitäne“. Auch wenn kleine Familienunternehmen teilweise binnen einer Generation zu Global Player aufsteigen, werden hinter derart explosiven Wachstumsunternehmen meist ganz besondere Unternehmerpersönlichkeiten vermutet.

Forschungsdesiderat

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ßenhandel interessierten Unternehmer lassen sich so als Deutungsgemeinschaft – als Denkkollektiv – fassen und als Kommunizierende analysieren.42 Eine solche Sichtweise entspricht auch der Wahrnehmung der Zeitgenossen. Dr. Beutler, Leiter eines Bremer Exporthandelsunternehmens, hielt etwa 1967 in sehr typischer Weise fest: „Wir sind alle Kollegen (…), verantwortliche Männer. (…) Die Richtung unseres Denkens ins Ausland ist die gleiche“.43 Die bisherige Forschung hält mindestens zwei Ansatzpunkte für eine derartige Neukonzeption bereit. Zum einen hat sie hinlänglich gezeigt, dass hoher Unsicherheit meist durch kollektive Strategien der Risikominimierung begegnet wird. Dieses Handlungsmuster lässt sich auch an den „überseeischen Märkten“ beobachten, die in den Augen der Zeitgenossen durch eine auffallend hohe Unsicherheit gekennzeichnet waren; in den Äußerungen der Außenhandelskreise ist ein Bedürfnis nach Sicherheit durch Vertrauensbildung und mentale kollektive Rückversicherung kaum zu übersehen.44 Zum anderen verweist die Forschung auf die grundsätzliche Einbettung wirtschaftlichen Handelns in soziale Kontexte.45 Die „Rückkehr auf den 42

Zur Bedeutung sozialer Netzwerke und zum Nutzen von Sozialkapital für Wirtschaftsbeziehungen vgl. Mikl-Horke, Historische Soziologie 1999, S. 665–676. Zu Unternehmern als „sozialer Formation“ vgl. Berghoff, Englische Unternehmer 1991, S. 25 f. Zum „industriellen Milieu“ der Bundesrepublik: Wiesen, Challenge 2001, S. 7–9; Zu Flecks Konzept des „Denkkollektivs“ vgl. Fleck, Entstehung 1980 und ders., Beobachtung 1983. 43 Beutler, in: Aussprache 25.10.1967, o. S., Archiv der IHK Mannheim MA 05 0302.0 #5. Beutler war Mitglied der Firma Joh. Achelis & Söhne Ex- und Import Bremen. Ähnlich auch fürs 19. Jahrhundert: Schramm, Überseekaufleute 1962, S. 95 f. Mitte der 1950er Jahre forderte der BDI Mäßigung im Wettbewerb um das „Entwicklungsgeschäft“. „Bei aller grundsätzlicher Anerkennung echten Leistungskampfes würde es zu einer Zersplitterung führen, wenn zur internationalen Konkurrenz (…) eine übermäßige interne deutsche Konkurrenz hinzuträte“. O. A., Partnerschaft 1956, o. S., BDI-Archiv PI 68/652/I. 44 Das Bedürfnis nach Sicherheit war dabei kein Spezifikum der Außenhandelskreise. Es prägte so unterschiedliche Gruppen in so erheblichem Ausmaß, dass man die Geschichte der gesamten Bundesrepublik unlängst über ihre „Suche nach Sicherheit“ zu erzählen versucht hat. Vgl. Conze, Suche 2009. Christopher Kopper hat allerdings kürzlich darauf verwiesen, dass es eine „Vollkasko-Mentalität“ bei den Bundesbürgern wohl nicht gegeben habe, sondern diese Beschreibung aus der neo-liberalen Rückprojektion der 1980er und 1990er Jahre entstand. Vgl. Kopper, Versicherungskonzerne 2016, S. 178. Die Bedeutung von Vertrauen als ökonomisch relevante Grundlage von Kooperation und Regelhaftigkeit hebt hervor: Berghoff: Vertrauen 2004. 45 Zur Geschichte der Vorstellung von der Einbettung wirtschaftlichen Handelns in soziale Zusammenhänge vgl. Dejung, Einbettung 2014. Vgl. hierzu auch die Beiträge in: Ziegler, Großbürger 2000 und Berghahn/Unger/Ziegler, Wirtschaftselite 2003. Die Unternehmensgeschichte hat den Unternehmer längst aus dem mikroökonomischen Korsett befreit, in das ihn Wirtschaftswissenschaftler recht erfolgreich gezwängt hatten. Das unternehmerisch tätige Individuum wird daher nicht mehr nur als reiner Anbieter, Innovator oder Informationsauswerter, sondern als „Schnittpunkt sozialer Kreise“ (Simmel) und zugleich als „Institution in einem Falle“ (Gehlen) verstanden. Die Unternehmensgeschichte hat sich in den letzten Jahren – etwa in der sehr erkenntnisreichen Erforschung von Familienunternehmen – der Komplexität von Personen, Entscheidungen und firmeninternen Abläufen gestellt. Im Zuge der Neuen Institutionenökonomik sind nicht nur die zweifellos relevanten Marktmechanismen, sondern „zudem wichtige realexistierende Faktoren wie Werte, Normen, Vertrauen oder Kommunikation“ mit einbezogen worden. Unternehmer werden heute folglich als nur noch „eingeschränkt rational“ beschrieben und Märkte als Ermöglichungsmechanismen, die allein noch nicht sicherstellen,

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Weltmarkt“ soll daher nicht als Erfolg mutiger Einzelentscheidungen, sondern als das Resultat eines kollektiven Unterfangens verstanden werden. Als Folge dieser grundsätzlichen Überlegungen wird in der vorliegenden Studie viel von „Außenhandelskreisen“ gesprochen. Das meint diejenigen Entscheidungsträger, die sich intensiv mit Fragen des Außenhandels beschäftigten, die an der Zirkulation des Wissens über „Übersee“ teilhatten und die sich mit aktuellen und zukünftigen Chancen und Risiken auf diesen speziellen Märkten auseinandersetzten.46 Konzentriert man sich auf diesen Akteurskreis und dessen Kommunikation über „überseeische Märkte“, dann geraten andere Themen in den Fokus als bei einer Recherche in einzelnen Unternehmensarchiven. So zeigt sich vor allem, dass die in Außenhandelskreisen kursierenden Informationen über „überseeische Märkte“ in hohem Maße durch eine Vermischung ökonomischer, sozialer und kultureller Fragen geprägt waren – ja, dass eine solche idealtypische Trennung der Bereiche im Grunde nicht dem zeitgenössischen Blick entsprach. Die Vorstellung, Wirtschaft sei einzig und allein auf der Grundlage mathematischer oder betriebswirtschaftlicher Modelle sinnvoll interpretierbar, war den Entscheidungsträgern in deutschen Export- und Handelsunternehmen anscheinend noch lange Zeit fremd. Sie orientierten sich viel stärker an Deutungsmodellen der „Historischen Schule“ innerhalb der deutschsprachigen Volkswirtschaftslehre, die ihr Augenmerk einerseits auf historische Analysen legte und sich andererseits intensiv mit der Bedeutung kultureller Phänomene für die Wirtschaftsentwicklung beschäftigte. In dieser Perspektive galt die Außenwirtschaft den am Außenhandel interessierten deutschen Unternehmern mehrheitlich auch weniger als abgeschottete Sphäre denn als gesamtgesellschaftliches Phänomen. Die Unternehmens- und Wirtschaftsgeschichte hat dies bislang kaum beachtet. Die Aufmerksamkeit der Forschung richtete sich zu wenig auf die zeitgenössischen

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dass tatsächlich alle Transaktionen realisiert werden, die für die beteiligten Akteure auch von potenziellem Nutzen wären. Der Gewinnmaximierer ist daher von Historiker_innen demaskiert und modifiziert worden. Vgl. u. a. Engel, Homo oeconomicus 2010. Zur Historisierung des homo oeconomicus vgl. auch Plumpe, Geburt 2007. Vgl. auch Lubinski, Familienerbe 2010; Borscheid, Unternehmen 2004, S. 157; Resch, Unternehmensgeschichte 2009, S. 45. Zur Ablösung des homo oeconomicus durch den homo reciprocans vgl. Priddat, Akteure 2005. Es ist hier darauf hinzuweisen, dass „Außenhandelskreise“ a) absichtlich ein Plural ist, b) hier die Grenzen zwischen Handel und Industrie einerseits, anderseits aber auch die Grenzen zwischen Wirtschaft, Außen(handels)politik, Lokalpolitik und Wissenschaft nicht zu scharf gezogen werden dürfen. Insbesondere die Überseekaufleute der Hansestädte Bremen und Hamburg spielten hier lange Zeit eine dominierende Rolle, zunehmend aber auch die deutsche Industrie. Noch 1973 wurden über 60 % aller deutschen Auslandsinvestitionen von nur 1 % der Investoren getätigt, wobei die Branchen Elektrotechnik, Chemie, Automobilindustrie, Textilindustrie sowie Eisen und Stahl besonders stark vertreten waren. Und in diesen Branchen vereinigten wiederum allein 30 Unternehmen insgesamt etwa 70 % der Direktinvestitionen. Von besonderer Bedeutung: Hoechst, Bayer, BASF in der chemischen Industrie, Siemens, Bosch, AEG in der Elektroindustrie, VW und Daimler-Benz in der Automobilindustrie, die Metallgesellschaft, Kugelfischer, Krupp sowie Klöckner-Humboldt-Deutz im Maschinenbau und Mannesmann und Thyssen in der Stahlindustrie. Vgl. Krebschull/Mayer, 1974, S. 9. Zum „deutschen Spezialfall“, dass multinationale Unternehmen (MNUs) nicht nur Großunternehmen, sondern auch viele Mittelständler sind, vgl. Berghoff, Unternehmensgeschichte 2004, S. 127.

Fragestellung

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Diskussionen um Kulturunterschiede und deren Bedeutung für die weltwirtschaftliche Arbeitsteilung. Die zahlreichen Quellen zum Themenfeld „Wirtschaftsmentalität“ wurden beispielsweise in der bisherigen Forschung nicht einmal erwähnt. Es ist sicherlich plausibel, anzunehmen, dass dies nicht daran lag, dass sie nicht auffielen, sondern dass sie in der vorherrschenden Forschungsperspektive als irrational und daher als vernachlässigbare Anomalien gelten mussten. Aus kultur- und wissensgeschichtlicher Perspektive bieten sie indes ein äußerst aufschlussreiches Material für die Analyse des zeitgenössischen Blicks auf „Übersee“. Zudem hatte die kulturelle Konzeption der „Überseemärkte“ auch Auswirkungen auf die Praxis. Denn es ging den bundesdeutschen Außenhandelskreisen nie nur darum, Wissen über fremde Kulturen zu erlangen. Vielmehr zeigte sich in den 1950er Jahren immer deutlicher der Anspruch, die „einheimische Mentalität“, die als zentrales Beharrungselement und Entwicklungshemmnis begriffenen wurde, aktiv zu verändern. Dabei stellten sich die Zeitgenossen die Frage, wie sich aus „traditionalen“ „moderne“ Individuen formen ließen – und das hieß vor allem, wie der „traditionale“ Mensch zu Leistung motiviert werden konnte. Es wird zu zeigen sein, dass sich die bundesdeutschen Unternehmer bei der Gründung und Finanzierung von Institutionen engagierten, in denen ausländische Praktikanten zur Arbeit erzogen werden sollten, um ihnen die Segnungen des deutschen Leistungsstrebens zugänglich zu machen. 3. FRAGESTELLUNG Offen ist, welchen spezifischen Blick die deutschen Außenhandelskreise auf „Übersee“ ausprägten, wie sie „Übersee“ erfuhren und interpretierten. Da sie sich hierfür immer wieder aufeinander bezogen und untereinander abstimmten, bleibt zugleich zu fragen, welche Netzwerkstrukturen sie ausbildeten. Eine Geschichte der „Überseemärkte“ in Zeiten des deutschen „Exportwunders“ wird sich somit mit Wissensbeständen und Kommunikationsstrukturen befassen müssen. Erstens ist auf der Ebene der Vernetzungsstrukturen konkret zu fragen: Wie veränderten sich diese und wodurch? Welche Reichweite hatten sie jeweils in geografischer und sozialer Hinsicht? Welches Ausmaß an Konkurrenz und Kooperation zeigt sich dabei? In welchem Mischungsverhältnis standen die jeweiligen Kommunikationswege regional, national und international? Damit ist unter anderem zu klären, ob und wenn ja, ab wann sich Unternehmer als Teil einer transnationalen Expertengruppe verstanden. Schließlich ist zu fragen, wie sich der Zusammenhalt der Netzwerke erklären lässt und was den Zugang zu Informationen und Wissen ermöglichte bzw. einschränkte. Bezüglich der von Außenhandelskreisen geteilten Wissensbestände ergeben sich zweitens folgende Fragen: Was waren die zentralen Organisationsprinzipien des „Überseewissens“? Welche Begriffe und Konzepte fanden Verwendung? Worauf gründete deren Plausibilität? Wie wurden mit diesem Wissen Märkte nach ökonomischen und kulturellen Gesichtspunkten konstruiert? Zu eruieren ist folglich, auf welchen zentralen Differenzkategorien die mentalen Landkarten aufbauten. Zu fragen ist auch, welche Hierarchien sich dabei herausbildeten, inwiefern sich die Vorstel-

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lungen von unterschiedlichen Wirtschaftsräumen wechselseitig plausibilisierten oder in Frage stellten.47 Hier werden Mentalitätsbarrieren, langanhaltende Denktraditionen und strukturelle Pfadabhängigkeiten ebenso berücksichtigt werden müssen wie Elemente des Wandels.48 Damit ist zugleich zu überlegen, wie sich die Stabilität und Instabilität von Denkgebäuden grundsätzlich erklären lässt, warum also einzelne Deutungsmodelle mit der Zeit an Plausibilität verloren, andere hingegen nicht. Explizit nicht Anliegen der vorliegenden Analyse ist es zu erklären, warum die deutschen Unternehmer auf den Weltmärkten so erfolgreich wurden, dass sie sich zwischenzeitlich mit dem inoffiziellen Titel des „Exportweltmeisters“ schmücken konnten.49 4. UNTERSUCHUNGSZEITRAUM In der vorliegenden Arbeit steht ein Zeitraum von ca. 30 Jahren im Mittelpunkt. Er reicht von der unmittelbaren Nachkriegszeit bis in die erste Hälfte der 1970er Jahre. Der Anfangszeitpunkt ist dabei leichter zu begründen als der Endpunkt. Denn es ist längst bekannt, dass in den bedeutenden Exportunternehmen, in Handelshäusern und in manchen Industrie- und Handelskammern bereits geraume Zeit vor der Gründung der Bundesrepublik „konzeptionelle Vorbereitungen für eine spätere Weltmarktoffensive getroffen“ wurden.50 So wurde von nicht wenigen Handelsunternehmern und Industriellen bereits in der direkten Wiederaufbauzeit ein zukünftiges Engagement außerhalb der (west-)deutschen Grenzen als wahrscheinlich erachtet. Mehr noch: Dies wurde geradezu zu einer „Frage auf Leben und Tod“.51 Es ist diese Frühphase, in der das nötige Rüstzeug erworben wurde, um auf anderen Märkten bestehen zu können, selbst wenn im damaligen Augenblick der dortige Bedarf noch gar nicht gedeckt werden konnte, weil die hierfür nötigen Produktionskapazitäten nicht vorhanden waren oder alliierte Exportbeschränkungen bestanden. Um das Jahr 1945 herum zu beginnen, lassen die skizzierten Ergebnisse der Forschungsliteratur sinnvoll erscheinen.52 Der Anfangspunkt der vorliegenden Unter47

Zahlreiche der genannten Fragen beziehen sich direkt auf die Vorschläge in: Pernau, Transnationale Geschichte 2011, S. 72 f. 48 U. a. Neebe geht davon aus, dass in der Bundesrepublik „die Denkkategorien der Vergangenheit“ bis weit in die 1950er Jahre hinein wirkmächtig blieben. Vgl. Neebe, Weichenstellung 2004, S. 507, Zitat ebd. 49 Heute ist Deutschland nicht mehr „Exportweltmeister“. Es hat diesen inoffiziellen Titel an China verloren. Die Bundesrepublik Deutschland hatte aber in den letzten Jahren von allen Ländern die höchsten Leistungsbilanzüberschüsse. Diese gingen vor allem auf den Warenhandel zurück. Mit Stand Sommer 2018 waren die größten Auslandsstandorte für Arbeitsplätze durch deutsche Investitionen China (ca. 1 Million Beschäftigte) und die USA (mehr als 850.000 Beschäftigte). 50 Neebe, Weichenstellung 2004, S. 506. 51 Ebd., S. 17. 52 Zugleich ist zu berücksichtigen, dass bereits Broszat u. a. darauf verwiesen haben, dass 1945 für viele Themen keine sinnvolle Epochenzäsur darstellt, sondern dass die Phase des Zusammenbruchs – zwischen Stalingrad und der Währungsreform – durch zahlreiche Gemeinsamkeiten geprägt gewesen ist. Vgl. Broszat/Henke/Woller, Stalingrad 1988.

Untersuchungszeitraum

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suchung lässt sich aber auch mit Blick auf die Vorstellungen von „Übersee“ rechtfertigen. Denn 1945 gab es kein spezifisches Erkenntnisobjekt „überseeische Märkte“.53 Erst allmählich wurde offensichtlich, dass diese Märkte durch andere Problemlagen geprägt waren als der Handel mit „westlichen Industriestaaten“ oder den „Staatshandelsländern“ im sogenannten „Ostblock“. „Übersee“ wurde erst in der Nachkriegszeit zu einem in sich relativ homogenen Raum „des Fremden, des Anderen (…), in de[m] (vermeintlich) mehr oder minder gleichermaßen Prinzipien der Rückständigkeit und Unterentwicklung“ walteten.54 Der gewählte Endpunkt der Untersuchung ist nur aus der quellenbasierten Analyse der Problemwahrnehmungen der Zeitgenossen, ihrer Netzwerkzusammenhänge und Problemlösungsstrategien nachzuvollziehen. Es wird zu zeigen sein, dass um 1970 die recht stabile Wissensordnung in Bezug auf „Übersee“ ins Wanken geriet, neue Begriffe und Konzepte auftauchten sowie bisherige Konzepte in Frage gestellt wurden. So wandelte sich auch die Konnotation von „Übersee“. Ergebnis dieser Entwicklung war letztlich das Verblassen des Begriffs. Schon Mitte der 1970er Jahre redete kaum noch jemand von „Übersee“. Die Bezeichnung wurde zu einem historischen Überbleibsel, auf das man zwar an traditionellen Festtagen wie dem ÜberseeTag in Hamburg weiterhin Bezug nahm – die erkenntnisleitenden Begriffe in den Außenhandelskreisen waren nun aber andere.55 Das Verschwinden des Begriffs „Übersee“ aus den Quellen markiert damit den Endpunkt der vorliegenden Studie. Der gewählte Untersuchungszeitraum ermöglicht es damit, die zweimalige Neukonstituierung eines Wissensfeldes zu analysieren. In der Regel interessieren sich Historiker_innen vor allem für den Wandel und versuchen, diesen zu erklären. Das wird auch hier der Fall sein. Doch sind auch Kontinuitäten und Stabilität erklärungsbedürftig. Daher wurde der Kernuntersuchungszeitraum so gewählt, dass er auch die Analyse einer in sich relativ stabilen Wissensordnung ermöglicht. Allerdings kann eine Wahrnehmungs- und Wissensgeschichte keinen definitiven Start- und Endpunkt aufweisen. Sie muss grundsätzlich weit zurückreichende historische Bögen spannen, da sich hier der Wandel nicht abrupt vollzieht und sich die Plausibilität von Deutungen auch aus einer langen Vertrautheit mit ihnen ergibt. Folglich ist die vorliegende Untersuchung nicht durch eindeutige Zäsuren begrenzt. Da ideengeschichtliche und institutionelle Pfadabhängigkeiten zu berücksichtigen sind, 53

54 55

Zuvor war der Begriff „Übersee“ eng mit den Debatten um das Auswanderungsland Deutschland verknüpft. In diesem Diskursfeld verband er sich bereits mit Vorstellungen von den Deutschen als Kulturbringer. „Übersee“ war dabei lange Zeit fast gleichbedeutend mit den USA. Vgl. Marschalck, Überseewanderung 1973. „Übersee“ als Auswanderungsgebiet wird auch in den frühen Publikationen nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges noch thematisiert. Sie richteten sich zugleich „an den Herrn Jedermann, d. h. an den Wissensdurstigen; an den Wirtschaftler und Kaufmann, der die veränderte Situation in Übersee prüfen möchte, (…); und an den Auswanderungslustigen“. Interessenverband Übersee, Indonesien 1949, S. 3. Eine Liste der Auswanderungs-Beratungsstellen in: Ebd., S. 95–98. Büschel/Speich, Einleitung 2009, S. 21; Büschel, Entwicklungspolitik 2010, S. 13. Insbesondere sprach man nun von „Entwicklungsländern“ und der „Dritten Welt“. Beide Begriffe dominierten dann auch in den Debatten über eine „neue Weltwirtschaftsordnung“ in den 1970er Jahren. Hierzu vgl. Kapitel IX. Zur Begriffsgeschichte vgl. Geiger/Mansilla, Unterentwicklung 1983, S. 31–41.

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die zum Teil bis in die Phase des Hochimperialismus zurückreichen und auch nach dem Jahr 1975 nicht einfach enden, ist der Untersuchungszeitraum nach beiden Seiten hin offen. 5. VORGEHENSWEISE UND ZENTRALE BEGRIFFE Die vorliegende Studie ist eine kulturhistorische. Das Untersuchungsziel, Wahrnehmungsmuster herauszuarbeiten und die Konzentration auf Akte der Kommunikation müssen eine Absage an volks- und betriebswirtschaftliche Deutungsmodelle und damit an Vorstellungen, die immer noch große Teile der aktuellen Unternehmensgeschichte prägen, nach sich ziehen. Fünf Begriffspaare sind für die folgende Analyse von entscheidender Bedeutung: „Denkkollektiv und Denkstil“, „Wissen und Diskurs“, „Netzwerke und Cluster“, „Stereotype und mental maps“, „Entwicklung und Modernisierung“. Jedes einzelne davon ließe Raum für umfangreiche theoretische Positionierungen und die ausgiebige Kommentierung der bisherigen Forschung. Stattdessen werde ich hier einleitend nur kurz und knapp Stellung beziehen, nicht, um einen Forschungsüberblick zu bieten, sondern um das eigene Erkenntnisinteresse offenzulegen. Dabei wird eine wissensgeschichtliche Perspektive ausgebreitet, die es ermöglichen soll, zwei Aspekte in einer Analyse miteinander zu verschränken: die Zirkulationswege und die Inhalte von Wissen über „überseeische Zukunftsmärkte“.56 Denkkollektiv und Denkstil Die in der deutschen Wirtschaft am Außenhandel mit „Übersee“ interessierten Kreise werden in der vorliegenden Arbeit als Denkkollektiv analysiert.57 Unter Denkkollektiv verstehe ich eine Gruppe, die eine Art der Problemwahrnehmung teilt und die Erklärungsvariablen auf sehr ähnliche Weise interpretiert. Damit ist im Folgenden nicht die innerbetriebliche Funktion von Unternehmern als Einzelentscheidern oder Innovatoren von Interesse. Stattdessen steht das „Kollektiv der Manager“ im Vordergrund, das – hier folge ich Paul Windolf – die „kognitiven, technischen und ökonomischen Ressourcen [kontrolliert], die für das Erkennen und Durchsetzen neuer Möglichkeiten erforderlich sind“.58

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Anregungen habe ich diesbezüglich vor allem aus der jüngeren Missionsgeschichte gezogen. Sie beschäftigt sich mit Räumen, Netzwerken, Akteuren und Medien des Wissenstransfers. Damit hält sie zahlreiche Anregungen für die Geschichte der Globalisierung des Wissens bereit. Zu nennen sind insbesondere: van der Heyden/Feldtkeller, Missionsgeschichte 2012; Conrad/Habermas, Mission 2010; Habermas/Hölzl, Mission global, 2014 sowie Habermas/Przyrembel, Von Käfern 2013. 57 Ich bediene mich dabei des Instrumentariums Ludwik Flecks, passe dieses aber auf die Spezifik des hier untersuchten Akteurskreises an. 58 Windolf, Manager 2003, S. 304.

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Der im Fokus stehende Personenkreis wurde in dieser Perspektive nicht nur durch gemeinsame Interessen zusammengehalten. Denn trotz erheblichen Konfliktpotenzials, etwa aufgrund unterschiedlicher Branchenzugehörigkeit, konnten sich die am Außenhandel mit „Übersee“ interessierten Kreise leicht darüber einigen, was diskussionswürdig war und wo die „Märkte der Zukunft“ lagen. Sie zeichneten sich durch einen ausgeprägten Willen zur Konsensfindung aus, sahen sich gegenseitig als Experten an und bewerteten die von ihnen stammenden Informationen aufgrund eines Gefühls der Zugehörigkeit als vertrauenswürdig. Sie strebten kollektive Problemlösungen an, boten sich Rückversicherung und bezogen sich in derartiger Häufigkeit aufeinander, dass man von einem selbstreferentiellen System sprechen kann.59 Dies bedeutet nicht, dass im Bereich des „Überseehandels“ das Konkurrenzprinzip der Marktwirtschaft durch Kooperation von Eliten außer Kraft gesetzt wurde. Es deutet aber darauf hin, dass die genannten Entscheidungsträger aufgrund gemeinsamer übergeordneter Ziele, gemeinsamer Annahmen und Deutungsweisen sowie aufgrund intensiver personeller Kommunikation sinnvoller als Diskussionsgemeinschaft denn als Einzelpersönlichkeiten zu untersuchen sind. Das Denkkollektiv war jedoch keineswegs homogen. Die Akteure waren vielmehr um ein Erkenntnisobjekt – die „überseeischen Märkte“ – herum gruppiert und prägten eine gemeinsame Weltsicht, ähnliche Problemlösungsstrategien und einen ähnlichen Erwartungshorizont aus. Das Denkkollektiv hatte einen spezifischen Denkstil. Das heißt, es existierte eine gemeinsame Form, bestimmte Phänomene und Probleme wahrzunehmen und bestimmte Erklärungen als plausibel zu bewerten. Ziel der folgenden Analyse ist es nicht, diese gemeinsame Weltsicht auf ihre Wahrheitsgehalte hin zu überprüfen oder gar als „falsch“ zu entlarven. Stattdessen wird die Argumentation verfochten, dass erst die Zugehörigkeit zu einem Denkkollektiv, die Teilhabe an einem gemeinsamen Denkstil und das „Gefühl der Denksolidarität“60 den deutschen Unternehmern diejenige Deutungssicherheit verliehen, die es ihnen nach dem Zweiten Weltkrieg ermöglichte, auf den Weltmärkten wieder Fuß zu fassen und sich auf das unsichere Geschäft mit „Übersee“ einzulassen. Wissen und Diskurs In den bundesrepublikanischen Außenhandelskreisen ist ein bemerkenswerter Aufwand betrieben worden, um sich über sogenannte „überseeische Märkte“ und die dortigen „Entwicklungsprozesse“ zu informieren. Unternehmer waren nicht selten Außenhandelsexperten, die auch als Wissensproduzenten ernst zu nehmen sind. Wissen wird hier im Folgenden vor allem als Ordnungs- und Strukturierungsmodus begriffen, also als etwas, das einerseits festlegt, welche Informationen und Daten 59 60

Auf die prägende Kraft von mental models als Wirklichkeitsfilter in der Ökonomie verweisen Denzau/North, Mental Models 1994. Fleck, Entstehung 1980, S. 140.

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überhaupt als relevant angesehen und folglich nachgefragt werden.61 Andererseits dient Wissen eben auch dazu, neue Informationen „in überschaubare Kontexte“ einzugliedern und zwar mit dem Ziel, „Akteure handlungsfähig zu machen“.62 Daher geht es im Folgenden nicht darum zu ergründen, ob die von Wissenschaftlern und Praktikern hervorgebrachten Vorstellungen in irgendeiner Weise „richtig“ gewesen sind. Es gilt, diesen Personenkreis als Wirklichkeitsproduzenten zu würdigen. Wissen wird also als ausschließlich historisches Phänomen betrachtet.63 Die Wissensgeschichte interessiert sich längst nicht mehr nur für wissenschaftliches Wissen. Auch wenn in den meisten wissensgeschichtlichen Arbeiten der letzten Jahre dem wissenschaftlich erzeugten Wissen weiterhin eine hohe Bedeutung zukommt – und auch in der vorliegenden Arbeit Wissenschaftler und deren Mechanismen der Wissenserzeugung nicht ohne Bedeutung sein werden –, so verstehen Wissenshistoriker_innen heute unter „Wissen“ im Grunde all das, was es Menschen ermöglicht, Sinn zu erzeugen. Achim Landwehr insistiert daher völlig zu Recht darauf, dass als „Wissen“ das gefasst werden müsse, „was Menschen der Vergangenheit als Wissen akzeptierten“.64 Wissen ist so gesehen vor allem „ein Ensemble von Diskursen (…), das mit Bedeutung gefüllt ist und in gewissen gesellschaftlichen Zusammenhängen als gültig und real anerkannt wird“.65 Folglich ist Wahrheit kein zentrales Thema der Wissensgeschichte mehr. In konstruktivistischer Manier wird gar davon ausgegangen, dass das, was wahr ist, wiederum nur die Übereinkunft darüber ist, was als wahr gilt. Im Vordergrund der Wissensgeschichte steht daher gerade nicht mehr die Frage, ob es sich um „richtiges“ oder „falsches“ Wissen gehandelt habe, oder ob man es damals eigentlich besser hätte wissen können. Was „tatsächlich wahr“ ist, ist zu einer im Prinzip nicht beantwortbaren Frage geworden, die man durch die Frage ersetzt hat, wie „Wahrheit“ jeweils hergestellt wurde. Damit verschwimmen die Grenzen zwischen Wissen und Glauben, zwischen Wissenschaft und Gesellschaft sowie zwischen wissenschaftlichem, pseudowissenschaftlichem und populärem Wissen.66 Folglich muss die Wissensgeschichte neue Akteure berücksichtigen, die zuvor in traditionellen wissenschaftshistorischen Studien „aus dem Untersuchungsraster einer akademischen, disziplinär organisierten Wissenschaft gefallen wären“.67 Quellen der Wissensgeschichte sind daher nicht nur wissenschaftliche Veröffentlichungen, „Höhenkammliteratur“ oder Lexikoneinträge. Zusätzlich wird den Vorstellungen, Begriffen und Ideen in profaneren Kontexten nachgegangen. Wissenschaft ist also eines von vielen Systemen der Hervorbringung von Wissen, dessen Bedeutung für jeden Untersuchungsgegenstand nicht a priori vorausgesetzt werden darf, sondern jeweils vermessen werden muss. 61 62 63 64 65 66 67

Klassisch ist die Unterscheidung von Daten, Informationen und Wissen. Wissen ist dabei durch die Herstellung von Sinnbezügen charakterisiert. Matthiesen, Eigenlogiken 2008, S. 98. Vgl. hierzu Sarasin, Wissensgeschichte 2011, S. 165. Landwehr, Das Sichtbare 2002, S. 67. Landwehr, Diskurs 2003, S. 110. Daher beschäftigten sich zentrale Arbeiten der Wissensgeschichte mit Themen des Glaubens und dem sogenannten „Jedermannwissen“. Zur Kritik an den Begriffen Pseudo-, Para- und Antiwissenschaft vgl. Rupnow u. a., Pseudowissenschaft 2008. Reinhardt, Wissenschaftsforschung 2010, S. 83.

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Das wiederum lenkt den Blick nicht mehr nur auf die Entstehung „neuen“ Wissens, sondern lässt auch Untersuchungen zu dessen Verbreitungswegen, zu den Bedingungen seiner Anerkennung, aber auch zur Nutzbarmachung und Indienstnahme, und damit immer auch zur Ein- und Anpassung in anderen Kontexten sinnvoll erscheinen.68 Bislang unberücksichtigte Wissensbestände, auch jene, die heute eher irritieren denn überzeugen, werden so für Historiker_innen zu relevanten Quellen. Wenn man Thomas S. Kuhns Aussage, dass die Untersuchung von historischen Wissensbeständen dort ansetzen sollte, wo die damaligen Argumentationsweisen dem heutigen Betrachter als irrational und unlogisch erscheinen, beim Wort nimmt, versprechen sie sogar einen privilegierten kulturwissenschaftlichen Zugang zu den Vorstellungen und Deutungshorizonten der Zeitgenossen.69 Die Chancen liegen dann in der konsequenten Rekonstruktion zeitgenössischer Sinnproduktion. Der Wissensgeschichte steht ein breites Instrumentarium aus Theorien und Methoden zur Verfügung. Sie lässt sich nicht auf ein Werkzeug des Verstehens reduzieren, sondern bietet zahlreiche Möglichkeiten, sich dem Untersuchungsgegenstand zu nähern. Der Blick auf neuere Arbeiten im Feld der Wissensgeschichte zeigt dann auch sehr unterschiedliche Zugangsweisen. Die jeweils ganz unterschiedlichen Erzeugungskontexte, Präsentationspraktiken und Zirkulationsweisen von Wissen haben ganz eigene Anforderungen an die jeweiligen Versuche, Wissensgeschichte zu betreiben, generiert. Es ist daher wichtig zu sehen, dass sich die Plausibilität der jeweiligen Forschungsansätze nicht allein aus den Ergebnissen grundsätzlicher methodischer Überlegungen ergibt. Wissensgeschichte muss sich, will sie nicht nur l’art pour l’art sein, auf den jeweiligen Untersuchungsgegenstand einlassen, seiner (damaligen) Logik folgen und zu verstehen versuchen, warum etwas zu bestimmter Zeit in einem bestimmten Rahmen und für eine bestimmte Gruppe „wahres Wissen“ (Foucault) wurde. Die Plausibilität des eigenen Zugriffs ist immer wieder aus dem Gegenstand der Untersuchung abzuleiten. Man kann dies als Nachteil sehen und die zerklüftete Forschungslandschaft beklagen. Im Folgenden wird indes versucht, sich die Vielfalt zu Nutze zu machen. Es ist ein zentrales Ziel der vorliegenden Studie, die Ordnungsprinzipien des Wissens über „überseeische Zukunftsmärkte“ herauszuarbeiten, die Reichweite dieses Wissens zu ermessen, die zeitgenössische Plausibilität der Ordnung dieses Wissens im ökonomischen Feld zu erklären und nach den Implikationen dieses Wissens für die kollektive Praxis zu fragen. Diesbezüglich hält die Wissensgeschichte vier wichtige Anregungen bereit. Sie hat erstens darauf verwiesen, dass Neues zu erkennen voraussetzungsreich ist und dass das Neue zugleich durch das bisher Erkannte geprägt wird. Zweitens hat sie gezeigt, dass die sozialen und kulturellen Bedingungen des Erkennens bei Analysen von Wissensbeständen mitberücksichtigt werden müssen. Wichtig ist drittens die grundsätzliche Erkenntnis, dass Wissen ständig plausibilisiert und stabilisiert werden muss. Es versteht sich nie einfach von alleine, sondern muss sich stets von Neuem bewähren. Viertens hat die

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Vgl. Reinhardt, Wissenschaftsforschung 2010, S. 83. Vgl. Kuhn, Vorwort 1977, S. 34 f.

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Wissensgeschichte gezeigt, dass Wissensbestände erhebliche Beharrungskräfte entfalten können. Weil diese sich jedoch nicht allein aus dem Kriterium der Wahrheit heraus erklären, müssen in Wissensgeschichten immer auch institutionelle und soziale Faktoren mitberücksichtigt werden. Die Analyse von Wissensbeständen ist dabei eng mit diskursanalytischen Vorgehensweisen verbunden. Das Instrumentarium der historischen Diskursanalyse bietet sich allein schon deshalb an, weil es verspricht, „sichtbar zu machen, wie Wahrheiten jeweils historisch ‚erfunden‘ und wie sie innerhalb gesellschaftlicher, ökonomischer und kultureller Hegemonie wirksam werden“.70 Allerdings gibt es Diskursanalysen mittlerweile in sehr unterschiedlicher Ausformung.71 Einerseits ist es die Stärke der Diskursanalyse, dass sie nicht nach einem einheitlichen Schema vorgehen muss, sondern sich je nach verfügbarem Quellenmaterial unterschiedlicher Methoden bedienen kann. Andererseits erschwert gerade dies die Vergleichbarkeit der Ergebnisse von Diskursanalysen und lässt Kritikern die Möglichkeit, die Inkonsistenz des Instrumentariums anzuprangern. Die Verfechter dieses Zugangs verweisen indes zu Recht immer wieder darauf, dass sich durch historische Diskursanalysen zeigen lässt, wie sich das wandelt, was in bestimmten Gruppen zur Debatte steht. Für den individuellen Einzelfall gilt allerdings, dass es zahlreiche Diskrepanzen zwischen persönlichen Äußerungen und individuellem Handeln einerseits und dem Diskurs andererseits geben kann. Es ist aber weder das Ziel von Diskursanalysen, die Handlungen individueller Akteure zu erklären, noch geht es ihr um die Korrelation zwischen individuellen Lebensläufen und persönlichen Ansichten. Netzwerke und Cluster Wissensbestände werden geteilt, sie zirkulieren und sind zugleich sozial und räumlich in ihrer Wirkung begrenzt. Daher sind bei ihrer Analyse neben sozialen Faktoren auch Orte und Räume von erheblichem Interesse. In der vorliegenden Arbeit geht es daher auch immer wieder um diejenigen Räume, in denen sich die Wissensproduzenten selbst verortet und vernetzt haben. Dabei soll die geografische Reichweite von Kommunikationskanälen und Kontakten sowie die Bildung von Wissensclustern analysiert werden. Ziel ist es zu ermessen, wie sich ein Kommunikationszusammenhang über „Übersee“ im ökonomischen Feld herausgebildet und verändert hat; wann und warum Vernetzung zunahm, wie weit der räumliche Rahmen dieser Netzwerke gespannt war sowie wann und warum es zur Gründung von wissensgenerierenden Organisationen kam.72 Dabei wird zu zeigen sein, wie sich in der unmittelbaren Nachkriegszeit erst ein lokaler Bezugsrahmen etablierte, der 70 71 72

Bublitz/Bührmann/Hanke/Seier, Diskursanalyse 1999, S. 14. Ein Überblick mit direktem Bezug auf ökonomisches Wissen in: Diaz-Bone/Krell, Einleitung 2009. Im Folgenden wird trotz all seiner Probleme der Netzwerkbegriff verwendet. Er soll aber nicht dazu verleiten, die Netzmetapher als Verweis auf die Gleichrangigkeit aller Kontakte und Knoten zu verstehen. Zum Problem der Netzwerkmetapher vgl. Weber, Pikante Verhältnisse 2008.

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dann nach und nach zu einem nationalen Bezugsrahmen wurde, innerhalb dessen sich die Praktiker des Außenhandels langsam auch internationaler Kontakte und neuer wissenschaftlicher Ressourcen bedienten. Zudem wird deutlich werden, wie sich die Zentren der Wissensproduktion und der ökonomischen Macht innerhalb der Bundesrepublik räumlich verschoben. Insbesondere die Versuche der Industrie an Rhein und Ruhr sowie der neuen Industriezentren in Süddeutschland, das Wissensmonopol von Institutionen in den Hansestädten Hamburg und Bremen zu brechen, werden dabei von besonderer Bedeutung sein. Die Netzwerkanalyse ist hier aber auch ein Zugang zu den Wissensbeständen. Indem die Clusterbildung untersucht wird, wird zugleich offengelegt, welche Institutionen für die Produktion und Zirkulation von „Überseewissen“ im ökonomischen Feld von besonderer Bedeutung waren. Wissenscluster sind dabei keine klar voneinander abgegrenzten Kommunikationssphären. Der Wissensaustausch zwischen Clustern ist der Normalfall. Nichtsdestotrotz zeigen sich deutlich Räume erheblicher Kommunikationsverdichtung, eben Cluster des Wissensaustauschs und der Wissensproduktion. Für die vorliegende Studie bedeuten die Anregungen der Netzwerk- und Wissensclusteranalyse, die Aufmerksamkeit auf geografische Unterschiede innerhalb Deutschlands, auf Institutionalisierungsphasen und auf die Frage nach der Relevanz lokaler, regionaler, nationaler und globaler Vernetzungen zu richten. Indes wird darauf verzichtet, die quantifizierenden Methoden der Sozialwissenschaften für die Netzwerkanalyse nutzbar zu machen. Sie bieten sich schon aufgrund des lückenhaften Quellenmaterials nicht an. Über ein qualitatives Vorgehen können im vorliegenden Fall die Relationen zwischen den Akteuren, die Intensität ihrer Beziehungen und die Gründe für den Netzwerkzusammenhalt besser verstanden werden. Stereotype und mental maps Der realen Konfrontation mit den „überseeischen“ Märkten ging die Interpretation des Fremden voraus. Diese bestimmte mit, was im Moment des Kontakts wahrgenommen wurde. Daher sind langlebige Selbst- und Fremdstereotypisierungen in der vorliegenden Arbeit von großer Bedeutung. Dabei ist es nicht meine Absicht, darüber aufzuklären, dass Vorurteile, Stereotype und Feindbilder den Realitätstest nicht bestehen.73 Stattdessen wird die praktische Funktion von Stereotypen betont, den Aufwand bei Entscheidungen zu verringern und Informationsmängel auszugleichen. Aufbauend auf dem Hinweis, dass nicht Einzelstereotype, sondern Stereotypenhaushalte die aufschlussreichsten Untersuchungseinheiten sind, werden im Folgenden zeitgenössische Annahmen über ganze Kulturen analysiert.74 Dabei ist 73 74

Darauf hat die Stereotypenforschung hinlänglich verwiesen, sich mittlerweile aber anderen Fragen zugewandt. Vgl. Hahn, Einführung 2002, S. 10. Es wird dabei nicht davon ausgegangen, dass diese Kulturen tatsächlich Container-Kulturen und damit sauber und eindeutig voneinander zu trennen sind. Wichtiger scheint aus kulturhistorischer Perspektive ohnehin zu sein, dass die Zeitgenossen von einer solchen Aufteilung der Welt in Kulturen ausgingen. Wie diese Differenz hergestellt wurde und welche Konsequenzen dies hatte, ist Thema der vorliegenden Arbeit.

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zu beachten, dass Stereotype in unterschiedlichen sozialen Gruppen verschieden ausgeprägt sind, weil sie die Bestätigung durch die peer group benötigen, also in Kommunikationsprozessen immer wieder aufs Neue hergestellt werden. Da die diskursanalytische Untersuchung der Wissensbestände zeigen wird, dass das Wissen zu „überseeischen Zukunftsmärkten“ in hohem Maße durch Raumkonzepte wie „Lateinamerika“, „Naher Osten“ oder „Schwarzafrika“ geprägt und strukturiert war, kommt ein weiterer Begriff ins Spiel, derjenige der mental maps. Er ist eng mit der Erforschung von Stereotypen verbunden und bezeichnet jene Raumvorstellungen, die geografische Grenzen ziehen und die entsprechenden Räume deuten und mit Bedeutung versehen. Raumvorstellungen haben sich in den letzten Jahren als vielversprechende Untersuchungsgegenstände für Historiker_innen erwiesen.75 Es hat sich gezeigt, wie sinnvoll es ist, die Raumbegriffe der jeweiligen Akteure zum Ausgangspunkt zu nehmen und eingehender zu analysieren. Dadurch geraten nämlich nicht nur verschiedene Lokalitäten und Lokalisierungen in den Blick, sondern auch Ordnungsvorstellungen, Selbstbilder und Kategorisierungsweisen.76 Gezeigt wurde aber auch, dass sich Raumbilder als Ergebnisse von gruppenspezifischen Zuschreibungs- und Etikettierungsprozessen untersuchen lassen, deren Plausibilität es zu ergründen gilt und nach deren Wirkmächtigkeit zu fragen ist. In der Forschung ist indes umstritten, wie diese Raumvorstellungen genau zu analysieren sind. Auch wenn hierzu bislang kein abschließendes Urteil gefällt wurde, ist die Forderung, historische Raumvorstellungen sozial differenziert zu untersuchen, kaum mehr zu überhören.77 Verstärkt wird darauf verwiesen, dass spezifische Gruppen ganz unterschiedliche „Vorstellungen von der räumlichen Strukturierung ihrer erfahrbaren und ihrer vorstellbaren Umwelt“ ausprägen.78 Insbesondere der Hinweis auf die sozioökonomischen Unterschiede bei der Interpretation dieser Entitäten führt dazu, dass hier nicht alles, was man in Deutschland von „Übersee“ zu wissen glaubte, relevant ist, sondern nur jenes, was eine spezifische Gruppe – eben die Außenhandelskreise – wusste. Entwicklung und Modernisierung Weil der Untersuchungszeitraum in die „rücksichtslos optimistische Frühphase der Entwicklungsarbeit“79 fällt, war „Überseewissen“ nicht selten auch „Entwicklungsund Modernisierungswissen“.80 Fragt man nach der Ordnung des Wissens über „Übersee“, dann ist beispielsweise schnell offensichtlich, dass die Zeitgenossen 75 76 77 78 79 80

Maßgeblicher Referenzpunkt ist dabei das Buch von Edward Said „Orientalism“ aus dem Jahr 1978. Das Erkenntnispotential der mental maps-Forschung dargestellt bei: Schröder/Höhler, Räume und Orte 2005. Vgl. Pernau, Transnationale Geschichte 2011, S. 71. Vgl. Paulmann, Regionen und Welten 2013, S. 667. Vgl. Schenk, Mental Maps 2002, S. 495, Zitat ebd. Büschel/Speich, Einleitung 2009, S. 13. Dass die Begriffe „Fortschritt“ und „Entwicklung“ nicht nur Leitvorstellungen der Aufklärung, sondern auch „Eckpfeiler des Gerüsts der Moderne“ waren, betont Speich Chassé, Fortschritt 2012, S. 2.

Vorgehensweise und zentrale Begriffe

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mehrheitlich von einem Entwicklungs- und Kulturgefälle ausgingen. Ebenso schnell wird deutlich, wie häufig die Beobachter dabei Kategorien verwendeten, die sie aus der Geschichte ihrer eigenen Gesellschaft und des Kolonialismus gewonnen hatten.81 Dies verband sich mit Raumvorstellungen, in denen sich wiederum nicht selten abwertende Vorstellungen und Klischees widerspiegelten. „Afrika“ oder „der Orient“ brachten schnell den Assoziationsapparat zum Klingen und riefen Bilder von Kulturunterschieden, von „Unterentwicklung“ und „Modernisierungsdefiziten“ hervor. Dies wurde bereits für zahlreiche Akteure in der „Entwicklungspolitik“ gezeigt.82 Obwohl Entwicklungs- und Modernisierungsvorstellungen in den letzten zwei Jahrzehnten intensiv erforscht worden sind, haben die bisherigen Untersuchungen Unternehmern dabei meist nur kürzere Anmerkungen gewidmet. Viel größere Aufmerksamkeit haben nationalstaatliche Politiken, internationale Organisationen, Nicht-Regierungs-Organisationen, US-amerikanische Stiftungen und die „Dritte-Welt-Bewegung“ auf sich gezogen. Das muss aus drei Gründen verwundern. Erstens ist eigentlich längst betont worden, dass zeitgleich sehr unterschiedliche Vorstellungen vom „richtigen“ Gang der „Entwicklung“ koexistierten, und dass „trotz des gemeinsamen weltpolitischen Rahmens (…) die entwicklungspolitischen Zielsetzungen und Methoden ebenso vielfältig [waren] wie die Länder, in denen sie praktiziert wurden, und die Initiatoren, die ihre Projekte anregten, vorbereiteten, durchführten und vor allem finanzierten“.83 Zweitens wurden Unternehmer und Manager im Zeitverlauf immer wichtigere Ansprechpartner für Entwicklungspolitiker. Und drittens war auch die wirtschaftliche Bedeutung der „Entwicklungsländer“ für den Außenhandel der Bundesrepublik zeitweilig erstaunlich hoch. 1956 machten die Direktinvestitionen in „Übersee“ immerhin ein Drittel der gesamten bundesdeutschen Direktinvestitionen aus, 1961 waren es sogar 38,3 %. Zwar sank die relative Bedeutung im darauffolgenden Jahrzehnt – 1965: 28,4 %, 1968: 25,6 % und 1972: 20,8 % –, doch aufgrund der hohen Steigerungsraten der Gesamtinvestitionen nahmen die Direktinvestitionen in absoluten Zahlen weiter zu. Waren 1956 erst 276 Millionen DM in den sogenannten „überseeischen Märkten“ investiert, waren es 1961 bereits 1,47 Milliarden DM, eine Summe, die sich 1965 auf 2,36 Milliarden DM erhöhte und bis zum Jahresende 1968 auf 3,67 Milliarden DM sowie bis zum Jahresende 1972 auf 5,53 Milliarden DM stieg.84 Vor diesem Hintergrund erstaunt es, dass die Debatten von Unternehmern über die Zukunftschancen in den „Entwicklungsländern“ bislang kaum historische Aufmerksamkeit erregt haben. Zwar existieren mittlerweile mehrere Arbeiten zum Entwicklungsdenken in den Wirtschaftswissenschaften. Nichtsdestotrotz ist jener Teil der ökonomischen Kommunikation, der sich außerhalb des Wissenschaftsbetriebs 81

82 83 84

Dipesh Chakrabarty nennt diese „europäischen Begriffe“, die zur Beschreibung kolonialer und postkolonialer Gesellschaften herangezogen werden, „silent referents“ und verweist darauf, dass erst durch ihre Verwendung die Vorstellung von der Rückständigkeit dieser Gesellschaften plausibel wird. Vgl. Chakrabarty, Provincializing Europe 2000, S. 28. Im deutschen Kontext ist insbesondere auf die Arbeiten von Hubertus Büschel zu verweisen. Vgl. u. a. Büschel, Selbsthilfe 2014. Von zur Mühlen, Entwicklungspolitische Paradigmenwechsel 2008, S. 411. Vgl. Schröter, Außenwirtschaft 1992, S. 99.

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und der internationalen Organisationen abspielte, unberücksichtigt geblieben.85 Dabei haben sich die deutschen Außenhandelskreise sehr intensiv mit „Entwicklungspolitik“ beschäftigt. Ihnen schienen die Zukunftsmärkte in „Übersee“ zumeist Märkte in „Entwicklungsländern“ zu sein. Auch wenn die realwirtschaftliche Bedeutung der „Industrieländer“ für die Weltmarktverflechtung im gesamten Untersuchungszeitraum besonders deutlich zunahm, war die diskursive Bedeutung der „Entwicklungsländer“ doch extrem hoch. Sie beeinflusste maßgeblich die Problemwahrnehmung der Zeitgenossen, die Deutung weltwirtschaftlicher Mechanismen und war zudem auch für die Selbstbeschreibung von Belang. Für die vorliegende Studie heißt das, danach zu fragen, was in Außenhandelskreisen überhaupt unter „Entwicklung“ verstanden wurde, was sie bezwecken sollte und wer als „unterentwickelt“ und wer als „entwicklungsfähig“ galt. Es wird zu zeigen sein, dass insbesondere in der Phase von 1961 bis 1965 die drastische Abnahme der ökonomischen Bedeutung der „Entwicklungsländer“ – gemessen an der prozentualen Verteilung der Direktinvestitionen – keine Entsprechung in den Diskursen fand. Die Untersuchung der Entwicklungskonzeptionen von ökonomischen Entscheidungsträgern erlaubt so nicht nur einen erweiterten Blick auf das „Außenwirtschaftswunder“, sondern kann zudem für die Forschungen zur Geschichte der Entwicklungspolitik/ -hilfe/-zusammenarbeit aufschlussreich sein.86 Die Analyse des Sprechens über „Entwicklung“ und „Modernisierung“ sowie über Wirtschafts- und Kulturräume läuft schnell Gefahr, die zeitgenössischen Deutungen und Differenzkategorien zu reproduzieren.87 Im Folgenden werden daher zahlreiche Begriffe – wie beispielsweise „Übersee“, „Entwicklungsland“, „Ostasien“, „Mentalität“, „unterentwickelt“ – immer in Anführungsstriche gesetzt. Dies soll markieren, dass es sich um zeitgenössische Begriffe handelt, die alles andere als wertneutral gemeint waren und verstanden wurden. 6. QUELLEN Im Fokus der Arbeit stehen weder einzelne Autoren noch Quellen nur einer Provenienz. Die Analyse von Wissensclustern und Denkkollektiven erfordert einen breiteren Zugang. Die Vielfalt der herangezogenen Quellen ist einerseits gerade der Vorteil einer Analyse, die die relevanten Querbezüge erst aufdecken und nicht aus der heutigen Perspektive heraus einfach nur an- und übernehmen will. Andererseits muss damit das, was als Quellenmaterial herangezogen wurde, immer erst plausibilisiert werden. Teile der Netzwerkanalyse der vorliegenden Studie kann man dann auch getrost in diese Richtung lesen. Denn hier wird erkennbar, welche Organisati85

86 87

Die zentrale Arbeit über ökonomische Entwicklungskommunikation konzentriert sich etwa auf die aus dem angloamerikanischen Sprachraum stammenden Wirtschaftswissenschaftler und auf internationale Expertengremien. Vgl. Speich Chassé, Erfindung des Bruttosozialprodukts 2013. Zu den Begriffen „Entwicklungspolitik“, „Entwicklungshilfe“ und „Entwicklungszusammenarbeit“ vgl. Büschel/Speich, Einleitung 2009, S. 15; Büschel, Entwicklungspolitik, S. 3. Vgl. Unger, Development 2010; Speich Chassé, Fortschritt 2012.

Quellen

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onen sich mit „überseeischen Zukunftsmärkten“ auf welche Weise befasst haben, welche also als Quellenproduzenten zu berücksichtigen sind. Dabei sollen die Variationsbreite unternehmerischer Kommunikation ebenso wie die zentralen Muster ihrer Deutungen erkennbar gemacht werden. Ausgangspunkt der Quellenrecherche war die Grundannahme, dass es Orte gegeben haben muss, an denen sich die Außenhandelskreise miteinander abstimmten und sich gegenseitig von ihren Erfahrungen mit und in „Übersee“ berichteten. Vor allem drei Arten dieser Kommunikationsorte sind hier zu nennen: erstens relativ exklusive wirtschaftsbürgerliche Vereine, zweitens Außenhandelsausschüsse in den Industrie- und Handelskammern und Verbänden sowie drittens wissenschaftliche Institutionen, die versprachen, praxisrelevantes Wissen speziell für diesen Rezipientenkreis bereitzustellen. Erfasst wurden damit u. a. der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI), die vier Ländervereine88 sowie die wichtigsten Export-, Industrieund Übersee-Clubs. In die Analyse eingeflossen sind zudem die wissenschaftlichen Veröffentlichungen des Hamburgischen Welt-Wirtschafts-Archivs (HWWA) und des Instituts für Weltwirtschaft an der Universität Kiel (IfW). Neben diesen bekannten Akteuren wurden auch bislang kaum von der Forschung berücksichtigte Institutionen in die Untersuchung einbezogen. Beispielsweise die Deutsche Weltwirtschaftliche Gesellschaft (DWG), die Carl Duisberg Gesellschaft für Nachwuchsförderung (CDG), der Bund Katholischer Unternehmer (BKU) sowie die C. RudolfPoensgen-Stiftung e. V. zur Förderung von Führungskräften in der Wirtschaft. Der Quellenzugriff erfolgte damit über diejenigen Institutionen, in denen Wissen besonders stark zirkulierte und in denen sich die Gruppe der am Außenhandel mit „Übersee“ interessierten Unternehmer immer wieder aufs Neue konstituierte. Ausgewählt wurden die Vereine, Clubs, Gremien und Institutionen dabei aufgrund ihrer Repräsentativität und ihrer Bedeutung. Räumlich wurde aufgrund derselben Auswahlkriterien auf die Städte Bremen, Hamburg, Köln, Düsseldorf, (West-)Berlin, Stuttgart und München fokussiert.89 Der doppelte Fokus der vorliegenden Arbeit – einerseits auf Wissenscluster, andererseits auf Inhalte und Struktur des in und zwischen diesen Clustern zirkulierenden Wissens – bedingt die Verknüpfung zweier unterschiedlicher Arten von Quellenbeständen. Die Analyse der Wissenscluster und Netzwerke stützt sich vor allem auf die Auswertung von Briefen, Rundschreiben, Teilnehmerlisten, Satzungen, Tätigkeitsberichten und Strategiepapieren. Sie speist sich folglich aus Quellen von Institutions- und Verbandsarchiven sowie staatlicher Provenienz. Um hingegen die Wissensbestände analysieren zu können, wurden vor allem Vorträge, Diskussi88

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Mit „Länderverein“ werden üblicherweise folgende zwischen Wissenschaft und Wirtschaft angesiedelten Institutionen zusammengefasst: Afrika-Verein e. V., Ibero-Amerika-Verein e. V., Nah- und Mittelost-Verein e. V., Ostasiatischer Verein e. V. Später kam noch der AustralienNeuseeland-Südpazifik-Verein e. V. hinzu. Die Ländervereine hatten ihren Sitz in Hamburg und in Bremen. Unter anderen Johannes Paulmann hat darauf verwiesen, dass Regionen „keinen Gegensatz zur Welt, sondern (…) eine Dimension von Weltbeziehungen“ darstellen. Vgl. Paulmann, Regionen und Welten 2013, S. 660, Zitat ebd. Zu den diversen Konzeptionen, die Region in die Global(isierungs)geschichte zu integrieren, vgl. ebd., S. 660–670. Zum Verhältnis des Lokalen, Nationalen und Globalen in der Globalgeschichte vgl. Epple, Lokalität 2013.

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onsmitschriften und eine Vielzahl an Publikationen gesichtet und ausgewertet. Sie stammen aus Bibliotheken oben genannter Institutionen oder fanden sich in deren Archiven. Folglich wurde kein zusammenhängender Quellenbestand untersucht. Vielmehr war es nötig, zahlreiche Teilüberlieferungen zusammenzuführen, Lücken in dem einen Archiv durch Bestände aus einem anderen zu ergänzen. Hinzugezogen wurden daher auch Akten aus dem Bundesarchiv, dem Rheinisch-Westfälischen Wirtschaftsarchiv (RWWA) sowie aus ausgewählten Landesarchiven. Einen wichtigen Quellenbestand boten zudem die Zeitschriften der Außenhandelskreise, insbesondere die „Übersee-Rundschau“ und die Zeitschrift „ORIENT“. Durch die Kombination dieser unterschiedlichen Quellenbestände lässt sich das gemeinsame Wissen fassen. Die nachfolgende Analyse wird zeigen, dass von den bundesrepublikanischen Außenhandelskreisen für die Probleme der „Überseemärkte“ meist kollektive Lösungen angestrebt wurden und dass man insofern von einer „kollektiven Praxis“ sprechen kann. Daher war es nicht sinnvoll, in einzelne Firmenarchive zu gehen. Stattdessen hat es sich als viel ertragreicher erwiesen, beispielsweise die Akten der Carl-Duisberg-Gesellschaft zur Praktikantenausbildung oder die Unterlagen der C. Rudolf-Poensgen-Stiftung e. V. zur Förderung von Führungskräften in der Wirtschaft auszuwerten, die einen Einblick in die Prinzipien, Probleme und Ergebnisse des gemeinsamen Handelns gewähren. Eine wichtige Warnung sei hier zu Beginn deutlich ausgesprochen: Die analysierten Vorträge, Diskussionsrunden und Publikationen gehorchten selten den Anforderungen der wissenschaftlichen Exaktheit. Es handelt sich mehr um erzählende Quellen als um analytisch strukturierte Stellungnahmen. Gerade deshalb ist es nicht sinnvoll, die von den Zeitgenossen bewusst oder unbewusst „offen gehaltenen Begriffe und Aussagen in feststehende analytische Raster pressen zu wollen“. Stattdessen folge ich Adelheid von Saldern und versuche gerade die Unschärfen und „(halb)leeren Projektionsschärfen“ offenzulegen und daraufhin erst zu analysieren.90 7. STRUKTUR DER ARBEIT Die vorliegende Studie bereist die „Übersee“ von ihrem Wiederauftauchen nach dem Zweiten Weltkrieg bis zu ihrem diskursiven Untergang in den 1970er Jahren. Sie überträgt dabei das ihr zugrunde liegende doppelte Erkenntnisinteresse auch auf die Struktur der Arbeit. Da sich die Aufmerksamkeit auf Netzwerke und Institutionen wie auf Diskurse und Wissensbestände richtet, geht es zum einen um die Nachfrage nach und die Institutionalisierung von Wissen sowie den Wandel von Vernetzungsstrukturen. Hier ist die Arbeit als translokale Studie konzipiert, die erst einmal zu erfassen versucht, welche Akteure im ökonomischen, politischen und wissenschaftlichen Feld an Diskussionen über wirtschaftliche Chancen auf „überseeischen Zukunftsmärkten“ überhaupt beteiligt waren und ob sich jene Debatten eher in re90

Von Saldern, Selbstbild 2006, S. 121.

Struktur der Arbeit

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gionalen, nationalen oder internationalen Arenen abspielten. Zum anderen werden die Problemwahrnehmungen der Zeitgenossen analysiert, die Ordnungsprinzipien des zeitgenössischen Wissens benannt und mit wissensgeschichtlichem Instrumentarium untersucht. Außerdem können der Verlauf der Debatten, der Wandel der Vernetzungsstrukturen und die unterschiedlichen Institutionalisierungsphasen rekonstruiert werden. Den Auftakt der Studie bilden jene „Goodwill-Missionen“, die in den 1950er Jahren von deutschen Außenhandelskreisen nach „Übersee“ unternommen wurden (Kapitel II). Sie dienen als erste Sonde in die Vorstellungen über „überseeische Zukunftsmärkte“. Sie zeigen, an welchen Themenkomplexen die Außenhandelskreise in den Anfangsjahren des westdeutschen Außenhandels interessiert waren sowie welches Vokabular und welche Erklärungsmodelle dabei Verwendung fanden. Im nächsten Untersuchungsschritt (Kapitel III) wird beschrieben, wie sich in der Nachkriegszeit ein spezifisches Erkenntnisobjekt „Übersee“ im ökonomischen Feld herausbildete. Dazu wird untersucht, mit welchen spezifischen Problemen sich die Zeitgenossen im Bereich des „Überseehandels“ anfänglich konfrontiert sahen. Dabei wird vor allem auf den Informationsmangel verwiesen, der die ersten zehn Nachkriegsjahre entscheidend prägte. Daraufhin ist in einem weiteren Untersuchungsschritt (Kapitel IV) zu fragen, welche Organisationen in den 1950er Jahren „Überseewissen“ für die Entscheidungsträger in den Unternehmen bereitstellten. In diesem Zusammenhang soll insbesondere die Reichweite der einzelnen konkurrierenden Netzwerke eruiert werden. Nach einem kurzen Exkurs zur strukturellen Veränderung des Außenhandels in den 1960er Jahren (Kapitel V) folgt ein analoger Untersuchungsschritt für die Institutionen und Netzwerke der 1960er und frühen 1970er Jahre (Kapitel VI). Zusammengenommen kann so ein genaues Bild der an der Produktion des Erkenntnisgegenstands „Übersee“ beteiligten Organisationen gewonnen werden. Anschließend werden die in diesen Netzwerken zirkulierenden Wissensbestände genauer analysiert. Ergebnis wird eine Beschreibung der wichtigsten Konzepte und Vorstellungen über „Übersee“ sein. Gefragt wird hier also nach dem spezifischen Blick der westdeutschen Außenhandelskreise. Dabei werde ich die These ausbreiten, dass Wirtschaftsräume als Kulturräume begriffen wurden (Kapitel VII). In Kapitel VIII konzentriere ich mich auf die in den bundesrepublikanischen Außenhandelskreisen kursierenden Vorstellungen von „Entwicklung“ und „Industrialisierung“ in „Übersee“. Diese setzten direkt an der Vorstellung von unter- und überlegenen Wirtschaftskulturen an. Zudem lege ich nun auch den Fokus auf die praktischen Konsequenzen dieses Wissens. Entsprechend dem Untersuchungsdesign werden dabei kollektive Problemlösungsstrategien im Vordergrund stehen. Nicht Investitionsentscheidungen einzelner Unternehmer, sondern die Ausund Fortbildung von Fachkräften aus „Übersee“ und des deutschen Nachwuchses für eine Tätigkeit in „Übersee“ werden genauer untersucht. Im abschließenden Kapitel IX wird ergründet, warum nach 1970 kaum noch von „Übersee“ die Rede war. Zwar beschäftigten sich die bundesrepublikanischen Außenhandelskreise weiterhin mit den gleichen Märkten. Sie machten dies nun aber in einer anderen Weise, unter Rückgriff auf andere Informationen und unter Verwendung anderer Begriffe. Ich werde argumentieren, dass es sich nicht nur um eine terminologische Verschiebung

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I. Die Überseemärkte im Zeitalter des deutschen Exportwunders

handelte, sondern um eine tiefgreifende epistemische Krise. An deren Ende stand die Neustrukturierung des Wissensfeldes. In den bis dahin etablierten Strukturen wurde nun anders über die Märkte gesprochen und ein anderes Wissen erzeugt. Das Fazit (Kapitel X) wird die Ergebnisse der Studie noch einmal zusammenfassen. Zudem werden weitere Möglichkeiten eines wissensgeschichtlichen Zugriffs auf die Globalisierungsgeschichte skizziert, der sich auf die Deutungsweisen der Zeitgenossen einlässt, statt in anachronistischer Weise von heutigen wirtschaftswissenschaftlichen Interpretationsansätzen auszugehen.

II. ERSTE ERKUNDUNGEN 1. DEN VÖLKERN UNSEREN GUTEN WILLEN BEWEISEN – DIE GOODWILL-MISSIONEN DER 1950ER JAHRE1 Die „überseeischen Gebiete“ schienen den Zeitgenossen um 1950 leichter erkundbar zu sein als zuvor. Der Ausbau der Kommunikations- und Eisenbahnnetze, schnellere Schiffsverbindungen sowie die zunehmende Anzahl von Fluglinien machten nicht nur die dortigen Hauptstädte, sondern auch bisher abgelegene Landesteile erreichbar. Der Direktor der Siemens-Reiniger-Werke AG in Erlangen, Theodor Sehmer, stellte fest: „Übersee ist uns (…) in unerhörter Weise nähergerückt“.2 Folglich reisten bereits im ersten Jahrzehnt nach dem Zweiten Weltkrieg Industrielle, Überseekaufleute, Bankiers und Verbandsvertreter in „überseeische“ Gegenden, um deren Potenzial als zukünftige Im- und Exportmärkte auszuloten und um sich an Ort und Stelle ein aktuelles Bild von den ökonomischen Möglichkeiten zu machen.3 Fünf dieser Reisen sollen hier nun einer genaueren Analyse unterzogen werden. Es handelt sich dabei nicht um Reisen von einzelnen Unternehmern, die ihre individuellen Chancen auf einem branchenspezifischen Markt durch eigene Anschauung abzuschätzen versuchten. Stattdessen stehen die „Goodwill-Missionen“ der bundesdeutschen Wirtschaft im Fokus, die die Möglichkeiten der gesamten deutschen Wirtschaft auf diesen Märkten ausloten wollten.4 Diese Reisen hatten einerseits ökonomische Motive, andererseits sollten sie den Ruf der Deutschen im Ausland „aufpolieren“ und Signale der Versöhnung und Völkerverständigung an ausländische Unternehmer und Regierungsvertreter senden.5 Man hatte sich zum Ziel gesetzt, die „durch den Krieg unterbrochenen und noch schwachen Kontakte durch persönliche Fühlungnahme mit prominenten Staatsmännern und Wirtschaftlern dieser Länder“ zu festigen und auszubauen.6 Wohin man in den ersten Jahren flog, war stark von Zufällen und historischen Traditionslinien abhängig. Erst später 1 2 3 4 5 6

Die Formulierung stammt aus einer Aktennotiz zur Goodwill-Mission nach Ostasien 1956 vom 15.2.1956, o. S., BDI-Archiv PI 68/652/I. Genauer war die Rede von der „Chance, diesen Völkern unseren ‚Guten Willen‘ zu beweisen“. Sehmer, Weltwirtschaftliche Lage [1950], S. 3. Theodor Sehmer (1885–1979), Industrieller. Zum Lebenslauf vgl. Feldenkirchen, Sehmer 2010; Kuintke, Röntgen 2009, S. 62. Aktennotiz zur Goodwill-Mission 1956 vom 15.2.1956, o. S., BDI-Archiv PI 68/652/I. Hierzu zählt nicht die Goodwill-Reise des Bundeswirtschaftsministers Ludwig Erhard nach Südamerika 1954, da diese überwiegend politisch motiviert war. Vgl. Jerofke, Wiederaufbau 1993, S. 358. BDI-Präsident Fritz Berg betonte 1959 in einem Rundfunkinterview rück- und ausblickend, die Reisen sollten „den guten Willen der deutschen Industrie zu einer noch intensiveren Zusammenarbeit (…) zum Ausdruck bringen“. BDI, Lateinamerika 1960, S. 12. O. A., Fernschreiben an Bundesverband Deutscher Arbeitgeber, Köln, Herrn Dr. Mühlbrandt, vom 10.2.1956 „Good Will-Mission nach Asien“, S. 2, BDI-Archiv PI 68/652/I.

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II. Erste Erkundungen

folgten die Reisen dezidiert dem unmittelbaren außenwirtschaftlichen und außenpolitischen Interesse. Dabei wählte man Länder und Regionen, die man als potentielle Handelspartner einstufte, weil die industriellen Bedürfnisse in diesen Wirtschaftsräumen „im ständigen Wachsen“ begriffen seien.7 Zwar war die Bedeutung dieser Wirtschaftsräume für den deutschen Export zahlenmäßig gesehen noch gering, aber jene Länder hätten, wie Dr. Duden vom BDI 1956 anlässlich einer Delegationsreise nach „Ostasien“ in einem Radiointerview bemerkte, „einen stetigen und krisenfesten Bedarf gerade an Kapitalgütern, die Konjunkturschwankungen wenig unterworfen sind, und niemand kann bezweifeln, dass es sich um grosse Märkte der Zukunft handelt“.8 In den 1950er Jahren führten die Reisen zunächst nach Indonesien (1951)9, dann nach „Ostasien“ (1956)10, „Mittelamerika“ (1956)11, Ghana und Nigeria (1957)12 sowie „Lateinamerika“ (1959).13 Die sorgfältig ausgewählten Delegationsmitglieder waren in der Regel einen Monat unterwegs, bereisten mehrere Länder, versuchten Kontakte zu knüpfen und an ökonomisch relevante Informationen zu gelangen, kamen aber auch ihren Pflichten als Repräsentanten der Bundesrepublik nach und nutzten ihren Aufenthalt nicht zuletzt zu Bildungszwecken. 7 8

Ebd. Kommentar von Dr. Wilhelm Duden (BDI) am 3.2.1956 im WDR (15.40 Uhr) zur Reise nach Asien, Abschrift, S. 3, BDI-Archiv PI 68/652/I. 9 Zwischen November 1951 und Februar 1952 besuchte eine zweiköpfige Delegation aus Emil Helfferich (Hamburg, 1878–1972) und Dietmar Petersen (Frankfurt am Main) Indonesien. Petersen hatte während des Krieges über Indonesien gearbeitet. Später beschäftigte er sich mit dem Nutzen von Bildungsinvestitionen. Vgl. Petersen, Insel-Indien 1942; Petersen, Bildungsinvestitionen 1969. 10 Vom 13.02. bis zum 20.03.1956 besuchten unter der Leitung von Fritz Berg Dr. Rolf Rodenstock (München, Vizepräsident des BDI und Präsident der Bayerischen Industrie, Inhaber der Firma Optische Werke G. Rodenstock), Dr. Hans Constantin Boden (Vorsitzender des Außenhandelsausschusses des BDI und zugleich Vorsitzender des Vorstandes der AEG), Otto Wolff von Amerongen (Vorsitzender des Ost-Ausschusses der Deutschen Wirtschaft und Mitinhaber der Firma Otto Wolff, Köln) und der Hauptgeschäftsführer des BDI, Wilhelm Beutler, sowie der Sekretär der Delegation und zugleich Ostasienbearbeiter des BDI Kirchner, die Länder Indien, Pakistan, Hongkong, Singapur, Indonesien, Thailand und Burma. Vgl. Zusammenstellung der Presseabteilung des BDI: Angaben zu Reisenden, [1956], BDI-Archiv PI 68/652/I. 11 Im Februar 1956 reiste eine insgesamt 17-köpfige Delegation aus Kaufleuten, Ingenieuren und Bankiers unter der Leitung von Peter von Siemens nach Mexiko, El Salvador, Honduras, Nicaragua, Costa Rica und in die Dominikanische Republik. Die genaue Zusammensetzung der Delegation ist nicht überliefert. Vgl. Hunck, Mittelamerika 1956, S. 7. 12 23.9.–17.10.1957 unter Leitung von Heinz Hansen. Weitere Teilnehmer waren der Vorsitzende des Vereins Deutscher Holzeinfuhrhäuser Hamburg, der Afrikanischen Fruchtkompanie Hamburg, der Direktor der Dresdner Bank Frankfurt, der Direktor der Woermann-Linie Hamburg (Kurt Lindenberg), der Direktor der Rheinischen Stahlwerke Essen, VDM Frankfurt, Geschäftsführer der Freudenberg & Co Bremen (H. Meinecke) sowie Vertreter der Bernhard E. Engelhardt Hamburg (B. E. Engelhardt) und der Firma F. Laeisz Hamburg (Willi Gansauge). Teil nahmen auch je ein Vertreter des Bundesernährungsministeriums und des Bundeswirtschaftsministeriums, Rüdiger von Tresckow und Dr. Erwin A. J. Miksch. Vgl. Angaben in BArch B 116/21459. 13 Die hier zitierten regionalen Sammelbegriffe „Ostasien“, „Latein“- und „Mittelamerika“ sind dabei die zeitgenössischen Begriffe, die sich auch in den Reiseberichten so finden lassen.

Den Völkern unseren guten Willen beweisen

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Die Delegationsteilnehmer bereiteten nach ihrer Rückkehr ihre Eindrücke und Erfahrungen in internen Sitzungen, aber auch in zahlreichen Vorträgen, Berichten und Publikationen für ein breiteres Publikum auf.14 Die erhaltenen Texte lesen sich oft wie landeskundliche Reise- und Investitionsführer.15 Sie lieferten nicht nur Informationen über die wirtschaftliche Situation, sondern auch über den sozialen und kulturellen Zustand der jeweiligen Gesellschaft und den Lebensalltag der Bevölkerung. Die Augenzeugenberichte der Delegierten schienen das Bedürfnis nach Kenntnissen aus erster Hand am besten zu befriedigen. Sie vermittelten einen unmittelbaren Eindruck und setzten die Beobachtungsmaßstäbe für die kommenden Jahre. Für ein wissens- und kulturgeschichtliches Vorgehen sind vor allem jene wiederkehrenden Passagen aufschlussreich, die erkennen lassen, mithilfe welcher Kategorien und Ordnungsmuster man auf „fremde“ Märkte und Kulturen schaute.16 Zu berücksichtigen ist, dass die überlieferten Reiseberichte nicht die gesamte Bandbreite der damaligen Deutungen widerspiegeln. Eingedenk der sorgfältigen Auswahl des Teilnehmerkreises kann man aber wohl davon ausgehen, dass hier die Meinung der einflussreichsten Außenhändler wiedergegeben wurde. Die Analyse der Reisen und Reiseberichte ist als erste, noch tastende Erkundungsbewegung gedacht. Allerdings hat sich in der weiteren Quellenarbeit gezeigt, 14

Welche Anstrengungen mitunter unternommen wurden, das erworbene Wissen in die interessierten Kreise zu ventilieren, lässt sich beispielsweise an der sehr umfangreichen Pressemappe über die Aktivitäten des BDI-Präsidenten Fritz Berg nach der Reise nach Ostasien 1956 erkennen. Vgl. BDI-Archiv PI 68/652/I. Berg baute seine Reiseerfahrungen auch in anderen Vorträgen an zentralen Stellen ein. Vgl. Berg, Wandlungen 1956, S. 8 f. 15 Die offiziellen Reiseberichte weisen dann auch zahlreiche Ähnlichkeiten zu zeitgenössischen und älteren touristischen Reiseführern auf. Zu deren inhaltlichem Aufbau und narrativen Traditionen vgl. Koshar, German Travel Cultures 2000; Pagenstecher, Tourismus 2012; Müller, Baedecker 2012. 16 Die Berichte stammen nicht aus der Feder von Ökonomen sondern von „Praktikern der Wirtschaft“. Einzig der Bericht über die „Mittelamerikareise“ ist keine Zusammenstellung der Einzelberichte der Mitreisenden, sondern eine Sammlung von Zeitungsartikeln. Deren Autor, Dr. J. M. Hunck, war als Teil der Chefredaktion des Handelsblattes Mitglied der Delegation und hatte seine Eindrücke bereits in mehreren Artikeln in dieser Zeitung dargelegt. Seine „Marktuntersuchungen“ waren dem eigenen Bekunden nach „an Ort und Stelle, also unter dem unmittelbaren Eindruck zahlreicher Gespräche mit Regierungsmitgliedern, Industriellen, Kaufleuten, Vertretern deutscher Firmen und den Herren der deutschen diplomatischen Vertretungen geschrieben“ worden. Auch wenn die Broschüre damit nicht von den Interessenvertretungen des „Überseehandels“ selbst verfasst und verlegt wurde, durchzog die Artikel des Wirtschaftsjournalisten doch die Wertschätzung und Hochachtung vor den Delegationsteilnehmern. Von einer kritischen Berichterstattung kann keine Rede sein. Vgl. Hunck, Mittelamerika 1956, Zitat S. 7. Wenige Monate nach Erscheinen war der Bericht von J. M. Hunck bereits von vielen wichtigen Forschungsinstitutionen erworben worden, etwa vom Institut für Weltwirtschaft. Die enge Zusammenarbeit zwischen BDI und Handelsblatt zeigt sich auch an anderen Stellen. Sie deckt sich mit den Beobachtungen Christina von Hodenbergs zum Konsensjournalismus bei politischen Themen. Vgl. von Hodenberg, Medienöffentlichkeit 2006. Das Handelsblatt hatte auch schon über vorherige Goodwill-Missionen berichtet und dies zum Teil auch publizistisch für Wirtschaftskreise in den Auslandsmärkten aufbereitet. Vgl. die seitenstarke englischsprachige Sondernummer „South Asia. Goodwill Furthered by German Industrial Mission“, Handelsblatt. Foreign Trade Edition 1956 [ohne genaueres Datum].

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II. Erste Erkundungen

dass dieser spezifische Quellenbestand in vielerlei Hinsicht Typisches zeigt. So sind etwa alle wichtigen Diskussionsthemen des „Überseehandels“ der damaligen Zeit präsent.17 Unter anderem sind dies Fragen des Niederlassungsrechts, Diskussionen über die Restitution des deutschen Eigentums und die Darlegung der deutschen Position in Zoll-, Schifffahrts- und Industrialisierungsfragen. Von viel größerer Bedeutung ist aber, dass hier bereits jene Deutungsmuster erkennbar werden, mit denen das ökonomische Potenzial von weithin unbekannten und weit entfernten Gebieten erfasst wurde. Hauptziel der nachfolgenden Seiten ist es deswegen, die für eine umfassendere Untersuchung dieses Blicks auf fremde Märkte maßgeblichen Themenkomplexe sowie die mit ihnen verbundenen zeitgenössischen Begrifflichkeiten und Konzepte zu eruieren. Da die Quellen auch Schlaglichter auf sich etablierende und sich wandelnde Institutionengeflechte im deutschen „Überseehandel“ werfen, können sie zudem erste Anhaltspunkte für die netzwerkgeschichtlichen Analysen der vorliegenden Arbeit liefern. Quellenkritisch ist anzumerken, dass die Reisen nicht nur dem Wissenserwerb der Teilnehmer, sondern auch repräsentativen und politischen Zwecken dienten. So fanden die abschließenden Reiseberichte nicht nur ihren Weg in die Bibliotheken von Industrie- und Handelskammern, von Wirtschaftsforschungsinstituten und Industrieverbänden. Sie wurden auch vom Auswärtigen Amt und von den betreffenden Auslandshandelskammern zur Kenntnis genommen – ja, waren immer auch für dieses Publikum geschrieben worden.18 Die Formulierung von Forderungen an die Politik war daher ebenso ein zentraler Bestandteil wie grundsätzliche Aussagen zur Geschichte der deutschen Außenwirtschaft, zur aktuellen sozioökonomischen Lage und zum Zustand der Weltwirtschaft. Und noch ein weiterer Leserkreis wurde bei den publizierten Texten anvisiert: Die Autoren waren sich durchaus dessen bewusst, dass nicht selten auch politische und ökonomische Eliten der besuchten Länder von ihren Berichten Kenntnis erlangten. Man wird daher insbesondere die positiven Äußerungen über Entwicklungstendenzen im Ausland nicht überbewerten dürfen. Sicherlich wurden gelegentlich auch Chancen bewusst übertrieben, Konsens übermäßig hervorgehoben und Risiken zwischen den Zeilen versteckt.19 Aber da der Hauptadressat die eigenen am „Überseehandel“ interessierten Kreise blieben und diese nach eindeutigen Informationen verlangten, waren die Autoren ungeachtet 17 Im vorliegenden Buch steht – wie für die Zeitgenossen auch – das Wissen über spezifische geografische Märkte im Fokus. Es geht daher nicht z. B. um das Wissen über den Markt beispielsweise für ein pharmazeutisches Produkt, der dann theoretisch eine globale Dimension hätte und durch Mitbewerber, staatliche preissetzende Instanzen, durch spezifische Zölle und Handelsbeschränkungen charakterisiert werden könnte. Analysiert werden Vorstellungen von Märkten, die einem geografischen Territorium zugeordnet werden können. 18 Beispielsweise traf sich die Wirtschaftsdelegation, die 1957 Ghana und Nigeria besucht hatte, eine Woche nach der Rückkehr im Auswärtigen Amt und fasste die gewonnenen Eindrücke noch einmal zusammen. Vgl. Protokoll über Sitzung der Goodwill-Wirtschaftsmission in Nigeria vom 1.–16.10.1957 mit dem Auswärtigen Amt am 26.10.1957, BArch B 116/21459. 19 Dies lässt sich auch mit Bezug auf Johannes Paulmanns These von der Haltung der Zurückhaltung, das heißt einer sehr dezenten, auf die Befindlichkeiten auswärtiger Mächte stark Rücksicht nehmenden Selbstdarstellung der deutschen politischen, aber auch ökonomischen Kreise, plausibilisieren. Vgl. Paulmann, Auswärtige Repräsentationen 2005.

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aller notwendigen außen- und innenpolitischen Rücksichtnahme auch darauf bedacht, aussagekräftige Marktanalysen für die eigene peer group zu liefern. 2. TEILNEHMERKREISE, REISEROUTEN, ANSPRECHPARTNER Blicken wir zuerst auf die Delegationsmitglieder und ihre Motive. Im Zeitverlauf zeigt sich eine deutliche Verschiebung des Teilnehmerkreises weg von den hanseatischen Handelshäusern hin zur am Außenhandel interessierten Großindustrie. Die letzte der hier zu behandelnden Reisen nach Brasilien, Argentinien, Chile, Venezuela und Mexiko (24.10.–28.11.1959) fand schließlich unter der Leitung des BDIPräsidenten Fritz Berg statt. Und auch die anderen Teilnehmer repräsentierten die verarbeitende Industrie: Dr. Wilhelm Beutler (Geschäftsführendes Präsidialmitglied des BDI), Dr. Ing. Heinrich Jakopp (Vorsitzender des Vorstandes der Klöckner-Humboldt-Deutz AG, Vorstandsmitglied des VDMA, Stellvertretender Präsident des Ibero-Amerika-Vereins), Dr. W. Alexander Menne (Vizepräsident des BDI und Mitglied des Vorstandes der Farbwerke Hoechst AG), Herbert Pavel (Präsident und Inhaber des Rheinnadel-Konzerns und Vorsitzender des Außenhandelsausschusses des Wirtschaftsverbandes Eisen, Blech und Metall verarbeitende Industrie), Dr. Ernst Schneider (Vorstandsvorsitzender der Kohlensäure-Industrie AG, Präsident der IHK Düsseldorf und Vorsitzender des Außenhandelsausschusses des Wirtschaftsverbandes Stahl- und Eisenbau).20 Dies war bei der ersten Reise noch anders gewesen.21 Als im Jahr 1951 die Generalversammlung des Ostasiatischen Vereins Hamburg-Bremen (OAV) die Vorbereitung einer dreimonatigen Goodwill-Mission nach Indonesien anregte, war der Teilnehmerkreis klein und rekrutierte sich allein aus dem Bereich des Außenhandels. Zum Leiter der zweiköpfigen Expedition wurde Dr. Emil Helfferich aus Hamburg ernannt, von dem auch die Idee einer solchen Reise stammte. Helfferich, Jahrgang 1878, hatte als ehemaliger Südostasienkaufmann fast 30 Jahre in Niederländisch-Indien gelebt und war anschließend zeitweise sowohl Vorsitzender des Aufsichtsrats der HAPAG sowie des renommierten Ostasiatischen Vereins gewesen.22 20

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Heinrich Jakopp war allerdings zudem auch Stellvertretender Präsident des Ibero-AmerikaVereins, Hamburg. Zur Delegation gehörten auch die Ehefrauen der Herren Menne, Berg und Jakopp. Zudem nahm Baronin v. Kulmitz (München) an der Reise teil. Vgl. Angaben in: BDI, Lateinamerika 1960, S. 12. Ausführlich mit genaueren Lebensläufen: Liste der Reiseteilnehmer vom 19.8.1959, BDI-Archiv A 113. Vgl. OAV, Indonesien 1952. Emil Helfferich war zum Reisezeitpunkt Aufsichtsratsvorsitzender der HAPAG. 1934 war er zum Vorsitzenden des Ostasiatischen Vereins gewählt worden. Er hatte von 1899–1928 in Indonesien, damals noch Niederländisch-Indien, gelebt und war wichtiges Mitglied der dortigen „Deutschen Kolonie“. Er galt als der herausragende Ostasienkenner in Deutschland. Unter anderem hat er seine Beobachtungen auch in Ratschläge für die deutsche „Kolonialpolitik“ während des Nationalsozialismus umgemünzt. Ihm galt das Beispiel der niederländischen Politik in Indien als Ideal des Umgangs mit der einheimischen Bevölkerung. Ziele der Kolonialpolitik waren für ihn die Stärkung der Wirtschaft und die „Höherentwicklung“ der „Eingeborenen“. Vgl. Helfferich, Tropische Wirtschaftsgestaltung 1940. Umfangreiche Informationen zur Per-

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II. Erste Erkundungen

Abb. 1: BDI-Delegation nach Südafrika 1969, BDI

Die Indonesienreise war stark von den Kaufmannskreisen der beiden wichtigen norddeutschen Handelsstädte geprägt und wäre ohne Helfferich gar nicht zustande gekommen. Die Delegation der sechswöchigen Reise nach „Ostasien“ Anfang 1956 – nur wenige Monate nach der Bandung-Konferenz23 – wurde demgegenüber vom 1949 gegründeten und als Gesamtvertretung der Industrie gedachten Bundesverband der Deutschen Industrie getragen.24 Sie war die erste, die von der bundesrepublikanischen „Gesamtindustrie“ entsandt wurde.25 Motiviert wurde die Reise vor allem durch die wachsende Bedeutung der „neuen wirtschaftlichen Kraftfelder

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son in: Eberstein, OAV 2000, S. 106–109. Zur Geschichte der HAPAG vgl. Wiborg/Wiborg, 150 Jahre Hapag-Lloyd 1997. Die Bandung-Konferenz 1955 gilt als Auftakt der Bewegung bündnisfreier Staaten. In Indonesien schlossen sich Ländervertreter aus Asien und Afrika zu einer losen Allianz zusammen und verabredeten die wirtschaftliche und kulturelle Zusammenarbeit außerhalb der beiden „Blöcke“ im „Kalten Krieg“. Sämtliche von der Goodwill-Kommission bereisten Länder – mit Ausnahme der Kronkolonien Hongkong und Singapur – hatten an der Konferenz teilgenommen. Zur Geschichte des BDI in den 1950er Jahren vgl. die diesbezüglichen Veröffentlichungen von Werner Bührer, insbesondere: Bührer, Spitzenverbände 2008; ders., Wirtschaftsdiplomatie 2005. Vgl. BDI, Ostasien 1956, Zitat S. 7. Über die Ergebnisse der Reise wurde von Fritz Berg auf mehreren Tagungen mit Industrievertretern berichtet. Ein Vortrag in Hagen fand sogar Eingang in die Wochenzeitung „Die Zeit“. Vgl. W.-O. R.: „Der Ferne Osten braucht die deutsche Ware“, in: Die Zeit vom 19.4.1956, online einsehbar unter: http://www.zeit.de/1956/16/der-ferne-ostenbraucht-die-deutsche-ware, [zuletzt eingesehen am 10.05.2014].

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am Indischen Ozean“, denn hier schien sich einer der zentralen „neuen wirtschaftlichen Großräume“ herauszubilden.26 Zudem spielte das neue Gewicht Indiens im Kalten Krieg eine entscheidende Rolle.27 Während es bei der Indonesien-Reise noch vor allem darum gegangen war, alte Kontakte der Überseekaufleute wieder persönlich aufzufrischen, so war es fünf Jahre später das Ziel der Industrievertreter, neuen Geschäftsbeziehungen den Boden zu bereiten und einen ersten Einblick in die dortigen Exportchancen zu erlangen. Die fast zeitgleich stattfindende GoodwillMission nach „Mittelamerika“ bestätigte den Trend zu Industriedelegationen. Unterstützt vom BDI kam eine 17-köpfige Delegation unter Leitung von Dr. Peter von Siemens28 zustande. Unter den Reiseteilnehmern befanden sich Unternehmer, Verbandsvertreter, Kaufleute, Ingenieure und Bankiers sowie ein Journalist, der von dieser Reise regelmäßig nach Deutschland berichtete.29 Die Zusammensetzung der Delegation zeigt dabei, dass es zu einfach wäre, von einer Ablösung der Überseekaufleute durch Entscheidungsträger aus der Industrie auszugehen. Die Reise nach „Mittelamerika“ ist vielmehr ein Hinweis darauf, dass Handel, Bankgewerbe und Industrie nun unter Führung der Industrie gemeinsam agierten. Die im September und Oktober 1957 stattfindende vierwöchige Goodwill-Mission nach Ghana und Nigeria indes verdeutlicht, wie diskontinuierlich diese Entwicklung verlief.30 Denn Kopf der Delegation war diesmal der Leiter des Hamburger Afrika-Vereins, Heinz Hansen31 – eine der prägenden Nachkriegsfiguren für „Afrikafragen“. An der Reise nahmen nun auch wieder vor allem Hamburger und Bremer Kaufleute und Reeder teil, aber auch Unternehmer aus Frankfurt am Main und den rheinisch-westfälischen Industriegebieten sowie Angehörige der Ministerialbürokratie. Der BDI war dieses Mal aber nur am Rande beteiligt. Das lag vor allem daran, dass es dem Industrieverband bis dato nicht als besonders sinnvoll erschien, eigene Expertise zu Märkten auf dem afrikanischen Kontinent aufzubauen. Angesichts begrenzter finanzieller und personeller Ressourcen konzentrierte sich der BDI lieber auf „La26 27

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BDI, Ostasien 1956, S. 7. Die damaligen deutsch-indischen Beziehungen sind dargestellt in: Gupta, deutsche Südasienpolitik 2004. Zu den Wirtschaftsbeziehungen vgl. ebd. S. 81–86. Zu diesen vgl. auch: Unger, Export und Entwicklung 2012. Insbesondere die Errichtung von Stahlwerken in Indien durch deutsche Unternehmen ist gut erforscht. Vgl. Unger, Rourkela 2008. Die „Rourkela-Deutschen“ wurden auch von der sozialwissenschaftlichen Forschung untersucht – und galten hier lange als Negativbeispiele für das Engagement in „Übersee“. Vgl. Sperling, Rourkela-Deutschen 1965. Peter von Siemens war auch deswegen für eine solche Delegationsleitung prädestiniert, weil er zwischen 1936 und 1948 die führende Vertriebsfunktion im Bereich Medizintechnik der Siemens-Reiniger-Werke an den Standorten Brasilien und Argentinien innegehabt hatte. Seit 1950 arbeitete er in den Siemens-Schuckert-Werken in Erlangen. Vgl. Hunck, Mittelamerika 1956. Auch bei den anderen Reisen wurde eng mit wichtigen Wirtschaftsjournalisten zusammengearbeitet. Sehr viel Wert wurde dabei auch auf Sendezeit im Radio gelegt. Vgl. BDI-Archiv PI 68/652/I. Vgl. Deutsche Goodwill-Reise einer Wirtschafts- und Studienkommission nach Ghana und Nigeria, BArch B 116/21459. Heinz Hansen war Inhaber der Jos. Hansen & Soehne Außenhandelsgesellschaft und Vorsitzender des Hamburger Afrika-Vereins. Zudem war er in den 1960er Jahren 2. Vorsitzender des Ausschusses Arabische Länder im Nah- und Mittelost-Verein.

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II. Erste Erkundungen

teinamerika“, den „Orient“ und „Ostasien“.32 Mitte der 1950er Jahre besaßen daher die Händler der Hansestädte in „Afrikafragen“ noch ein Wissensmonopol. Dies war nicht zuletzt auf die vormalige Rolle im Kolonialwarenhandel und den hieraus entstandenen Forschungsinstituten zurückzuführen.33 Für andere Weltgegenden und Märkte kann man von einem solchen Monopol aber nicht mehr ausgehen. So waren die Überseekaufleute bei der letzten hier interessierenden Goodwill-Mission 1959 nicht mehr von Bedeutung. Obwohl „Lateinamerika“ zu einem der Hauptinteressensschwerpunkte in den Hansestädten gehört hatte und auch immer noch gehörte, war die fünfwöchige Reise ausschließlich eine der bundesrepublikanischen Industrie unter Führung des BDI-Präsidenten Fritz Berg.34 Man sollte indes die in den Teilnehmerlisten gelegentlich deutlich werdende Trennung zwischen Überseehandel und Exportindustrie nicht überbewerten. Beispielsweise gehörten schon bei der Reise 1951 Besprechungen mit den deutschen Außenhandelskreisen in den Industrie- und Handelskammern von Hamburg, Bremen, Düsseldorf, Frankfurt, Stuttgart, Berlin und München zum Vorfeldprogramm. Hier machten die Delegationsteilnehmer das eigene Anliegen publik und sammelten Fragen und Anregungen.35 Diese vorbereitenden Treffen waren allein schon deswegen sinnvoll, weil Informationen über die zu bereisenden Länder anfänglich nur spärlich vorhanden oder veraltet waren. Nur selten war neuere oder fremdsprachige Literatur greifbar. Erst durch die vor Beginn der Goodwill-Mission stattfindenden Treffen ließ sich die verstreute Expertise abschöpfen. Vor allem der anfängliche Informationsmangel ermöglichte es den hanseatischen Institutionen, Einfluss auch auf jene Reisen zu gewinnen, die vom BDI organisiert wurden. Ohne das Fachwissen der Ländervereine und der Handelskammern 32

Vgl. Akten des Außenhandelsausschusses und der Außenhandelsabteilung des BDI. Man darf nicht vergessen, dass die Teilnahme an den Reisen für die beteiligten Firmen und Vereine mit erheblichen Kosten verbunden war. Die Gesamtkosten für die Reise nach Lateinamerika 1959 – die einzige, für die derartige Zahlen überliefert sind – überschritten immerhin 100.000,-DM. Vgl. Aufstellung vom 2.2.1960, BDI-Archiv A 113. Die finanzielle Ausstattung des BDI lässt sich anhand der betreffenden Passagen in den Vorstandsprotokollen und in den Jahresberichten nachvollziehen. 33 Vgl. Kapitel IV. 34 Fritz Berg reiste als Präsident des BDI in den 1950er Jahren auch häufiger in die USA. Dies lag auch an seiner eigenen Sozialisation. Bevor er 1928 das Familienunternehmen übernahm war er nicht nur im Textilgroßhandel einer Hamburger Exportfirma tätig gewesen, sondern hatte 1925 auch bei Ford in Detroit gearbeitet. Vor dem Zweiten Weltkrieg war er dann Leiter der Abteilung Fahrrad- und Motorradteile in der Reichsgruppe Industrie gewesen. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde er eine der prägenden Personen in der Deutschen Industrie. Er war unter anderem Vorstandsmitglied des DIHT, Mitglied des Präsidiums der Deutschen Gruppe der Internationalen Handelskammer sowie der offiziellen Deutsch-Französischen Handelskammer und Vorsitzender des europäischen Industriellenzusammenschlusses REI. Vgl. Zusammenstellung der Presseabteilung des BDI, 1956, BDI-Archiv PI 68/652/I. Vgl. zu den USA-Reisen die Präsidiumsprotokolle des BDI, in: BDI-Archiv HGF Pro 4/1, Karton 785; HGF Pro 1, Karton 786; HGF Pro 4/2, Karton 784; HGF Pro 1, Karton 786. Zur Person Fritz Berg und seinen guten Kontakten zu Bundeskanzler Konrad Adenauer vgl. Grunenberg, Wundertäter 2007, S. 124– 126. Hier auch der Verweis darauf, dass Berg und Erhard kein gutes Verhältnis zueinander pflegten. 35 Vgl. OAV, Indonesien 1952, S. 5.

Teilnehmerkreise, Reiserouten, Ansprechpartner

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in Hamburg und Bremen waren sie für den BDI anscheinend nicht durchzuführen. Es zeigt sich damit, dass Handel und Industrie im Bereich des „Überseegeschäfts“ noch lange Zeit aufeinander angewiesen waren, auch wenn eine gewisse Konkurrenz nicht zu verkennen ist. Für die nachfolgende Analyse müssen daher diesbezügliche Schwerpunktverschiebungen und Allianzen mitberücksichtigt werden. Wenn dezidiert auch nach der Verteilung von Expertise zu bestimmten geografischen Märkten gefragt und der Ausbau der Wissensinfrastruktur mit in die Analyse einbezogen wird, ist ein Seitenblick auf die damalige bundesrepublikanische Außenpolitik notwendig. Denn die Rückeroberung ehemaliger Positionen auf dem Weltmarkt war nicht nur ein ökonomisches, sondern auch ein zentrales außenpolitisches Ziel.36 Im „Überseegeschäft“ überschnitten sich Außenpolitik, Wirtschaftspolitik sowie die Interessen von Außenhandelshäusern und Industrieunternehmen erheblich. Auch wenn die staatlichen Behörden nur im Ausnahmefall eigene Delegationsteilnehmer entsandten, waren die Ministerien stets von Beginn an in die Planungen involviert. Gelegentlich konnten Reisen dann auch zu einem Politikum werden. Besonders deutlich wurde das bei der Goodwill-Mission 1957 nach Ghana und Nigeria, die von der deutschen Industrie mehrheitlich zunächst skeptisch beäugt bis ablehnend beurteilt wurde. Der Zeitpunkt war bereits mehrmals verschoben worden und blieb auch „bis zum letzten Augenblick stark umstritten“.37 Laut Delegationsleiter Hansen hätten die Außenhandelskreise die Goodwill-Mission eigentlich nur durchgeführt, „weil die Gespräche zwischen den deutschen amtlichen Vertretern und den afrikanischen Regierungen soweit vorangetrieben waren, dass eine Absage zu politischer Verstimmung haette fuehren koennen“.38 Dass eine Reise von Handels- und Industrievertretern eigentlich nur dazu diente, außenpolitische Verstimmungen zu vermeiden, war zwar eine Ausnahme, die Rücksicht auf die außenpolitischen Belange der jungen Bundesrepublik allerdings nicht. In Bonn stimmten sich die Delegationsleiter immer mit den zuständigen Ministerien – meist dem Bundeswirtschaftsministerium, dem Auswärtigen Amt und dem Bundesfinanzministerium – ab. Die Gründe für die enge Zusammenarbeit veränderten sich. Anfänglich war die Kooperation von staatlichen Stellen und Industrie- und Handelsvertretern allein schon deswegen nötig, um die noch geltenden Reisebeschränkungen für Deutsche zu überwinden. Zudem übernahmen die Unternehmer auf den ersten GoodwillReisen dezidiert staatliche Aufgaben, die von politischen Vertretern noch nicht erbracht werden konnten. Beispielsweise wurden auf den Reisen Handelsverträge vorbereitet bzw. abgeschlossen und Emil Helfferich stellte 1951 in Indonesien nicht nur erste Kontakte auf zwischenstaatlicher Ebene her, sondern sprach auch Fragen 36 37

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Zur Außenpolitik und Außenrepräsentation der jungen Bundesrepublik vgl. Paulmann, Auswärtige Repräsentationen 2005. Vgl. Hansen, Studien-Kommission 1957, S. 1, BArch B 116/21459. Vor allem in Bezug auf das erst kürzlich unabhängig gewordene Ghana scheint man ob der unklaren politischen Verhältnisse beunruhigt gewesen zu sein. Doch auch Nigeria, das als „in absoluter aussenpolitischer Abhaengigkeit von Gross-Britannien“ bezeichnet wurde, schien wegen der unklaren zukünftigen Entwicklung kein vordringliches Ziel einer Studienkommission zu sein. Vgl. ebd. Ebd.

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des kulturellen Austauschs an und hielt Lichtbildvorträge über den Wiederaufbau Deutschlands.39 Durch die „private Fühlungnahme mit den maßgebenden Persönlichkeiten und Behörden“ sollte der Umstand gemildert werden, dass es zu diesem Zeitpunkt noch keine amtliche Vertretung der Bundesrepublik in Indonesien gab. Dezidiert als „Freundschaftsbesuch“ apostrophiert, sollte die Reise nicht nur die ökonomischen Beziehungen fördern.40 Sie fungierte darüber hinaus als außenpolitischer Türöffner. Im weiteren Zeitverlauf, der eben auch den Ausbau der diplomatischen Vertretungen der Bundesrepublik in der Welt mit sich brachte, waren derartige Aufgaben immer seltener zu erfüllen. Nichtsdestotrotz blieben die reisenden deutschen Unternehmer wichtige Repräsentanten der Bundesrepublik im Ausland. Und sie verstanden sich auch als solche. Bei den Goodwill-Missionen zeigte sich ein gut funktionierendes Zusammenspiel von staatlichen Stellen und den verschiedenen ökonomischen Interessenvertretungen. Gerade im ersten Jahrzehnt der Bundesrepublik waren sich alle Beteiligten im Bereich der Außenwirtschaft klar darüber, dass sie aufeinander angewiesen waren. Die überlieferten Reiseberichte geben auch Auskunft über die Reiserouten, die Treffen vor Ort und deren groben Inhalt. Zumindest die offiziellen Reisepläne vermitteln nicht das Bild, dass den Teilnehmern viel Zeit für selbstständige Erkundungen blieb.41 Wichtiger war ohnehin der Austausch mit den wichtigsten Ministerialbeamten und mit Persönlichkeiten aus Wirtschaft, Politik, Kirche und Presse der besuchten Staaten.42 Betriebsbesichtigungen reihten sich an Besprechungen und diese wiederum an repräsentative Empfänge. Zentrale Anlaufstellen und oftmals Ausgangspunkt der Geschäftskontakte für deutsche Industrielle und Kaufleute waren die binationalen Handelskammern. Hier trat auch eine Gruppe in Erscheinung, die in den 1950er Jahren generell von großer Bedeutung war: Wenn es eine solche gab, bemühten sich die Delegationsteilnehmer intensiv um die „Fühlungnahme“ mit der ansässigen (meist eher überschaubaren) „deutschen Kolonie“, insbesondere mit den Vertretern großer deutscher Außenhandelsfirmen und Industrieunternehmen.43 In den Reiseberichten spiegelt sich auch das wachsende Ansehen der jungen Bundesrepublik wider. Die Liste der Empfänge wurde zunehmend länger, die ein39 Vgl. OAV, Indonesien 1952, S. 5. Unter „kulturellen Austausch“ fiel vor allem der Austausch von Wissenschaftlern, Studenten und Fachkräften. Vgl. ebd. 40 Ebd. 41 Allerdings dürften einige Termine nicht die volle Delegation erfordert haben. Zudem deutet die gelegentliche Mitreise der Ehefrauen darauf hin, dass hier auch Urlaubsinteressen eine Rolle gespielt haben. Besonders deutlich wird dies bei der Reise nach „Lateinamerika“ 1959. Der inoffizielle Reiseplan vom 13.8.1959 hält insgesamt 14 gemeinsame „Ruhetage“ fest. Vgl. Interner Vermerk, o. S., BDI-Archiv A 113. 42 Auch weil man damit zwischen den Zeilen auf die eigene Bedeutung hinweisen konnte, wurden die Treffen mit den jeweiligen Staatspräsidenten dabei besonders betont. Die Reiseberichte enthalten grundsätzlich immer wieder die gleichen Stellungnahmen: Man habe „viele Kontakte mit Staatsmännern und Wirtschaftlern“ hergestellt und zahlreiche „Gespräche mit Wirtschaftsorganisationen, ihren Leitern und Mitgliedern“ geführt. Hier entnommen aus: BDI, Lateinamerika 1960, S. 11. 43 OAV, Indonesien 1952, S. 6.

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heimischen Ansprechpartner immer renommierter.44 Das veränderte auch den Ton der Stellungnahmen. Während in den ersten Berichten noch Skepsis und Vorsicht vorherrschten, ja manchmal sogar Demut aufschien, durchzog den Reisebericht aus dem Jahr 1959 bereits ein unverhohlenes Selbstbewusstsein. Auch weil die Reiseteilnehmer jetzt die ersten neuen deutschen Industrieniederlassungen besichtigen konnten,45 betonten sie, dass man nun als einer der drei größten Welthandelspartner wieder in der Lage sei, „in stärkerem Maße zur Kapitalversorgung der überseeischen Länder beizutragen“.46 Es gebe bereits „zahlreiche Unternehmen“, die Beteiligungen oder Tochtergesellschaften erworben hätten. Nicht nur die Großunternehmen, sondern auch „mittlere Unternehmen“ trügen sich inzwischen mit dem Gedanken, Auslandsinvestitionen zu tätigen, da auch bei ihnen die Kapitalbildung mittlerweile ausreichend sei und eine „immer größere Aufgeschlossenheit“ für ein Auslandsengagement in „Übersee“ verzeichnet werden könne.47 Die Geschichte der Goodwill-Missionen ist somit offensichtlich auf unterschiedlichen Ebenen eine Geschichte des Wandels. Neue Akteure – wie beispielsweise mittelständische Industrieunternehmer – kamen hinzu, die Bedeutung von Institutionen und Personenkreisen änderte sich, das Verhältnis von Außenpolitik und Außenwirtschaftskreisen und das von Handel und Industrie verschob sich. Dies veränderte auch die auf Auslandsmärkten wahrgenommenen Chancen und Probleme. 3. ENTWICKLUNGSPROBLEME Schon frühzeitig war für die Argumentation in den vorliegenden Berichten und Vorträgen zentral, dass das Überseegeschäft immer auch als ein „Entwicklungsgeschäft“ dargestellt wurde.48 So hatte der bereits zu Beginn des Kapitels zitierte Theodor Sehmer schon 1950 bemerkt, dass das „verkehrspolitische Näherrücken“ nicht mit geistiger und wirtschaftlicher Nähe korrespondiere. Trotz drahtlosen Nachrichtenverkehrs und schneller Flugverbindungen schien sich der wirtschaftliche Abstand zu den bereisten Ländern vergrößert zu haben.49 Immer wieder wurde ein „Entwicklungsgefälle“ konstatiert. Zwei zeitgleich existierende Ansichten über „Entwicklung“ waren für die zeitgenössischen Akteure dabei prägend. Einerseits wurde „Entwicklung“ fast durchgängig mit Industrialisierung gleichgesetzt, worunter in den 1950er Jahren insbesondere der Aufbau einer eigenen Schwerindustrie 44

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Auf Probleme, mit den entscheidenden Gesprächspartnern in Kontakt zu treten, verweist indes: O. A.: Japanische Waren zu deutschen Preisen? Die erste Etappe der Weltreise der BDI-Mission brachte nur einen halben Erfolg, in: „Information“, Paris vom 3. April 1956, übersetzt und verschriftlicht in: BDI-Archiv PI 68/652/I. Die Delegation 1959 besichtigte beispielsweise die Autowerke von Daimler-Benz und das Volkswagenwerk. Diese gehörten zu den frühesten Direktinvestitionen überhaupt. Berg, Vorwort 1960, o. S. Ebd. So etwa Kapferer, Bedeutung [1955], S. 7. Kapferer war Direktor des Hamburgischen WeltWirtschafts-Archivs und Beiratsmitglied der Deutschen Weltwirtschaftlichen Gesellschaft (Berlin). Vgl. Sehmer, weltwirtschaftliche Lage [1950], S. 3, Zitat ebd.

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verstanden wurde.50 Die Dominanz dieser Vorstellung lag nicht nur daran, dass in Verbänden wie dem BDI lange die Montan- und Schwerindustrie dominierte.51 Die große Bedeutung, die in Deutschland dem Stahl zugesprochen wurde, lag auch in der eigenen Industrialisierungsgeschichte begründet.52 Darüber hinaus war dieses Verständnis von „Entwicklung“ damals im Grunde überall auf der Welt vorherrschend.53 Selbst die bundesrepublikanischen Handelskreise schlossen sich daher grosso modo dieser Interpretation an. Auch sie hatten bemerkt, dass die Vorstellungen vom Prestige einer eigenen Schwerindustrie und dem Messen von „Entwicklung“ in Tonnen produzierten Stahls bei den einheimischen Eliten weit verbreitet waren. „Industrialisierung“ – so bemerkten es einige Delegationsteilnehmer – habe unter ihnen den Status eines „Zauberworts“ erhalten. Sie versprach sämtliche Probleme schnell und mit einem Schlage zu lösen.54 Doch dieser auf die Schwerindustrialisierung verkürzten Vorstellung von „Entwicklung“ stand eine viel weiter gefasste zur Seite. Dass der Aufbau einer Schwerindustrie allein ausreiche, glaubten nämlich nur wenige der Missionsteilnehmer. „Entwicklung“ wurde in den Reiseberichten stattdessen durchweg als gigantische Aufgabe beschrieben, da zum einen riesige Räume, zum anderen ganze Gesellschaften tiefgreifend zu verändern waren. Allerdings herrschte Uneinigkeit darüber, worin die Hauptprobleme dieses Entwicklungsprozesses liegen würden. Insofern ist es typisch für die vorliegenden Reiseberichte, dass in ihnen eine große Anzahl an Problemen miteinander in eine enge Beziehung gesetzt wurde. So gelangten die Autoren von der Beschreibung eines relativ unspezifischen, aber wirtschaftlich interessanten Marktes mit vielfältigen Möglichkeiten schnell zu den „schweren Geburtswehen“ der „jungen“ Staaten, zu Kriegs- und Revolutionsfolgen, zum Zustand der Verwaltung und der Sicherheitskräfte sowie der Macht der Gewerkschaften und kamen von dort zu Fragen der politischen Konsolidierung. Damit vermischten sie Überlegungen zur hochgradig problematischen Abhängigkeit von einem einzigen Rohstoff und dessen Weltmarktpreis. Das wiederum führte schnell zur Forderung nach einem dieser Tatsache Rechnung tragenden staatlichen Finanzgebaren. Darauf basierend konnte dann die „Erweckung der Arbeitsfreudigkeit zur Stärkung der produktiven Kräfte“ eingefordert und vorgebracht werden, dass es notwendig sei, sich mit „vorhandenen Mängel[n] und depressiven Momente[n]“ zu beschäftigen,

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Selbst wenn zwischen Schwerindustrialisierung und dem Aufbau von Konsumgüterindustrien unterschieden wurde, zeigt sich, dass nicht die Konsumgüterindustrie für das industrielle Prestige eines Landes stand. Daher nehmen in den Reiseberichten auch die Passagen zu den existierenden und projektierten Stahlwerken vor Ort einen großen Raum ein. Vgl. Rhenisch, Integration 1999, S. 254. Während bis zum Ersten Weltkrieg beispielsweise im Bereich der Textilausfuhr nur ein Fünftel des britischen Textilwarenexports erreicht worden war, verzeichnete man im Bereich des Exports von Maschinen und Stahlprodukten gegenüber England bereits einen Vorsprung. Vgl. Baade, Dynamische Weltwirtschaft 1969, S. 35. Vgl. Unger, Rourkela 2008. Besonders den einheimischen Eliten in Afrika „spukte [das Wort Industrialisierung] in den Koepfen“, hielt beispielsweise Heinz Hansen fest. Hansen, Studien-Kommission 1957, S. 13, BArch B 116/21459.

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die die „Entwicklung“ behinderten.55 Wo man auch hinsah, überall gab es „technische Rückständigkeit und hohe Scheinbeschäftigung“, niedrigen Lebensstandard und ein zu geringes Bildungsniveau. Die Bevölkerung war zu alphabetisieren sowie die Gefahren hoher Fertilität und schneller Urbanisierung zu bannen. Insbesondere das „täglich anschwellende Proletariat in den Städten“ schien erhebliche soziale Spannungen hervorzurufen und die politische Stabilität zu bedrohen. Die bereisten Weltgegenden wurden als in sich gespalten, arm, hilfsbedürftig und agrarisch geprägt beschrieben. So forderten die Teilnehmer der Goodwill-Missionen seit Mitte der 1950er Jahre verstärkt die „Schulung in allen Stufen“, den Ausbau der Infrastruktur und die Professionalisierung der Verwaltung. Aufgrund der bilateralen Welthandelsordnung – innerhalb derer man einen Ausgleich von Im- und Exporten zwischen zwei Ländern als ideal ansah – seien Veränderungen nicht nur im sekundären Sektor, sondern auch im primären und tertiären Sektor nötig.56 Die deutschen Beobachter unterschieden in den Reiseberichten dabei zwischen Indikatoren der bisherigen „Unterentwicklung“ und Nebenwirkungen des „Entwicklungsprozesses“. In den ersten Komplex fielen die fehlende Infrastruktur, die Abhängigkeit ganzer Regionen von einzelnen Rohstoffen und deren Weltmarktpreisen sowie eine zu geringe Kapitalausstattung der einheimischen Betriebe.57 Die Abhängigkeit von einzelnen Rohstoffen galt dabei auch als politisches und ökonomisches Sicherheitsrisiko.58 Da sich Export- und Zolleinnahmen überwiegend aus Rohstoffen und aus agrarischen Produkten aus Monokulturen speisten, waren ganze Staatshaushalte von einem einzigen Weltmarktpreis oder wenigen Weltmarktpreisen abhängig: In den Augen der deutschen Unternehmer war dies ein Stabilitätsrisiko.59 So wichtig diese Themen in den Reiseberichten auch waren, bedeutsamer war der zweite Problemkomplex. Dieser überlagerte die Probleme des ersten Komplexes nicht einfach, sondern verstärkte sie. „Entwicklung“ war nämlich nicht nur eine Lösungsstrategie, sondern führte kurz- und mittelfristig auch zu neuen Schwierigkeiten. Drei Aspekte wurden dabei besonders betont: Erstens die Rolle des Staates im Industrialisierungsprozess, zweitens die Verschärfung der politischen Instabilität, drittens der offensichtliche Mangel an qualifiziertem Personal. Erstens wurde die Rolle des Staates in den betreffenden Ländern problematisiert. Dieser wurde als zentraler Akteur im Industrialisierungsprozess wahrgenommen, weil er in prestigeträchtigen Bereichen wie der Schwerindustrie maßgeblich mitzubestimmen gedachte.60 Zwar standen die deutschen Außenhandelskreise auf ihren Reisen staatlichen Investitionen häufig positiv gegenüber und sahen die staatlichen Planungsbüros als wichtige Ansprechpartner an, schon weil sie selbst von 55 56 57

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OAV, Indonesien 1952, S. 3 und S. 12 f. BDI, Ostasien 1956, S. 8 und S. 12. Zu den Agrarkonzepten in der „Entwicklungspolitik“ vgl. Unger, Agrarwissenschaftliche Expertise 2015. Die fehlende Verkehrsinfrastruktur thematisierten deutsche Unternehmer meist nur am Rande. Umfangreicher berücksichtigt nur bei Lindenberg, Studienkommission 1957, BArch B 116/21459 und im Reisebericht von Hunck, Mittelamerika 1956. Kurt Lindenberg arbeitet für die Deutsche Afrika-Linien, Hamburg-Altona. Vgl. BDI, Ostasien 1956, S. 11. Vgl. BDI, Lateinamerika 1960, S. 7 f. So beispielsweise: Miksch, Wirtschaftskommission 1957, S. 14, BArch B 116/21459.

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deren Großprojekten zu profitieren hofften. Gleichzeitig betonten sie jedoch auch die Gefahr, dass eine derartige Industrialisierungspolitik schnell in Sozialisierungsmaßnahmen und in die Errichtung von Staatsbetrieben münden könne.61 Aufgrund der Kapitalschwäche der einheimischen Unternehmen war der Staat „der einzige Kapitalist“ vor Ort. Dieses Problem wurde zu einem zentralen Thema des ökonomischen Entwicklungsdiskurses der späten 1950er und der 1960er Jahre.62 Zweitens lauerten Gefahren politischer Instabilität. Vor allem die Schnelligkeit des sozioökonomischen Wandels beim „Sprung“ von bisher überwiegend agrarisch geprägten Ländern ins „industrielle Zeitalter“ weckte die Angst vor künftigen sozialen Spannungen. Einerseits galten zu große „Entwicklungsunterschiede“ innerhalb einzelner Gebiete als erhebliches Bedrohungspotenzial. Andererseits schien vor allem das schnelle Ansteigen der städtischen Bevölkerung gefährlich zu sein, da es die Bildung eines Proletariats beschleunige, das für kommunistische Ideen anfällig sei. Inwiefern der Kommunismus vor Ort eine destabilisierende Kraft sei, wurde von den deutschen Beobachtern daher immer wieder eingehend thematisiert. Selbst dort nämlich, wo er aktuell keine akute Bedrohung darstelle, könne er „zu einer großen Gefahr werden, wenn die Regierungszügel schleifen“ und sich das wirtschaftliche Wachstum verlangsame.63 In den überlieferten Reiseberichten wurden die einheimischen Eliten daher immer wieder auch für ihre streng antikommunistische Einstellung gelobt64 und selbst „gewisse diktatorische Machtbestrebungen“, die sich durch den „Versuch einer Ausschaltung der Opposition mit undemokratischen Mitteln“ auszeichneten, als stabilisierend angesehen.65 Ein verbreiteter Antikommunismus in der Elite vor Ort und politische Stabilität – egal, wodurch sie sichergestellt wurde – waren damit entscheidende Standortvorteile.66 61 62 63

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So beispielsweise mit Bezug auf die Regierung Perón (in der Quelle: Perron): BDI, Lateinamerika 1960, S. 24. Leicht ließ sich mit diesem Argument auch eine generelle Kritik an der Planbarkeit von Wirtschaftssystemen verbinden. Vgl. BDI, Ostasien 1956, S. 9. Zitat aus: OAV, Indonesien 1952, S. 15. Mit Bezug auf Indonesien: OAV, Indonesien 1952, S. 16. Interessanterweise fanden sich aufgrund dieser Analyse unter den deutschen Unternehmern nicht wenige Verfechter maßvoller, aber durchaus sozialistisch geprägter Bodenreformen in diesen Ländern. Zur „Entwicklungspolitik“ als Element der Blockkonkurrenz im Kalten Krieg vgl. u. a. Frey, Vereinigten Staaten 2006; ders., Indoktrination 2005. Etwa im Falle Nigerias: Gansauge, „Goodwill“-Wirtschaftsdelegation 1957, S. 10, BArch B 116/21459. Kurt Lindenberg mahnte daher an, dass man hier „nicht den Stab zu früh brechen“ solle. Mit dem Verweis darauf, dass man selbst ja noch „in den demokratischen Kinderschuhen“ stecke, müsse man sich vor Augen halten, „dass die Länder letztlich seit Jahrhunderten nichts anderes gelernt haben als dass eine Opposition eingesperrt wird“. Er verwies auch darauf, dass eine Reihe der heutigen Minister einschließlich des Premiers Ghanas „aus dem Gefängnis auf ihre Ministersessel gekommen“ sei. Lindenberg, Studienkommission 1957, S. 8, Zitate ebd., BArch B 116/21459. Nicht nur Unternehmer, auch Politiker und Entwicklungsökonomen tolerierten autoritäre Regimes und Militärdiktaturen. Vgl. Stockmann/Menzel/Nuscheler, Entwicklungspolitik 22016, S. 96 und S. 99 f. Im Falle „Lateinamerikas“ gingen die Delegationsteilnehmer 1959/60 etwa davon aus, dass hier eine „Periode politischer Stabilität und wirtschaftlicher Aufbautätigkeit“ angebrochen sei. Zwar wurde auch hier die generelle Gefahr „einer Links-Regierung oder gar des Kommunismus“ betont, doch galt sie aufgrund der starken Stellung des Militärs – in den Quellen nicht

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Drittens sorgte man sich um geeignetes Personal. Die Industrialisierung machte zum einen den Mangel an Fachkräften erwartbar. Selbst wenn das Kapital für die Industrialisierung aufgebracht würde, fehlten den deutschen Unternehmern jene „Köpfe und Hände“, die das Kapital erst produktiv werden ließen.67 Der „Mangel an Fachkräften aller Art“ wurde so zu einer „Kernfrage“ des Entwicklungsgeschäfts.68 Das Personalproblem ging aber weit darüber hinaus. Zum anderen wurde nämlich festgestellt, dass es an „industrieller Tradition und echt industrieller Führungsschicht“ fehle. Bis jetzt sei die Privatwirtschaft „weitgehend von einer kurzfristig denkenden Händlerschicht getragen, die häufig den schnellen Verdienst in den Vordergrund stellte, ihr Kapital kurzfristig zu hohen Zinssätzen verlieh und keine Neigung zeigte, langfristig im industriellen Aufbau zu investieren“. Diese auf „schnellen Handelsgewinn bedachte Mentalität“ erfordere nicht nur ein stets „sorgfältiges Studium“ der Verträge und der Respektabilität des Vertragspartners. Auf lange Sicht sei es zudem nicht ausreichend, sich auf die indigenen Mentalitäten psychologisch einzustellen. Wolle man mit Gewinn vor Ort investieren, müssten diese vielmehr überwunden werden. Insbesondere müsse dort der für eine erfolgreiche Entwicklung notwendige „Typ des westlichen Industrieunternehmers […] erst noch geprägt werden“.69 Alles in allem, so die allgemeine Erwartung, werde die Industrialisierung nicht reibungslos ablaufen. Insbesondere in den gerade erst dekolonialisierten oder sich dekolonisierenden Staaten stünden die wahren Bewährungsproben noch aus. So gravierend diese Probleme auch schienen, so wurden doch die ökonomischen Chancen der bundesdeutschen Industrie auf diesen Märkten insgesamt äußerst positiv dargestellt. Die Erwartung eines „ungeheure[n] Nachhol- und Investitionsbedarf[s]“ überdeckte seit Mitte der 1950er Jahre die durchaus vorhandenen Befürchtungen.70 Um die erwarteten Probleme thematisieren und zugleich die eigenen Hoffnungen aufrechterhalten zu können, argumentierten die Delegationsteilnehmer, dass viele der beobachteten Schwierigkeiten vor allem „Folge des schnellen, vielleicht manchmal nicht organischen Wachstums“ seien. Es handele sich um „Wachstumsschmerzen“ die im „Leben eines jeden Organismus“ vorkämen und von diesem auch überwunden werden könnten.71 Auch deswegen wurden immer wieder die ungeheuren Kraftanstrengungen vor Ort gewürdigt.72 Die Schwierigkeiten erschienen als geradezu

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selten als „Wehrmacht“ bezeichnet – als unwahrscheinlich. Vgl. BDI, Lateinamerika 1960, S. 7 und S. 26, Zitate ebd. OAV, Indonesien 1952, S. 15. So wörtlich mit dem Bezug auf Burma und den Bau eines Stahlwerkes in der Nähe von Rangoon durch ein deutsches Unternehmen: BDI, Ostasien 1956, S. 14. BDI, Ostasien 1956, S. 14 und S. 18 f. Zitat mit Bezug auf die argentinische Maschineneinfuhr: BDI, Lateinamerika 1960, S. 25. Ebd., S. 21. So zeigten sich beispielsweise die Missionsteilnehmer in Brasilien 1959 fasziniert von großangelegten Projekten wie der Errichtung der neuen, im Landesinneren gelegenen Hauptstadt Brasilia. Sie sah man als sinnvolle und notwendige wirtschaftliche Erschließungsmaßnahme „Innenbrasiliens“ an. Staatspräsident Kubitschek „wolle die zukünftigen brasilianischen Regierungen durch die Verlegung des Hauptstadtsitzes ins Innere zwingen, nicht nur auf den (…) Streifen entwickelten Landes zu achten, sondern zunächst einen zweiten Streifen von gleicher

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typisch für Geschäfte auf Märkten, die durch rapides Wachstum gekennzeichnet waren.73 4. WELTMARKTKONKURRENZ UND ANTIKOLONIALISMUS Auf den vermeintlichen Wachstumsmärkten hatten die Weltmarktkonkurrenten der Bundesrepublik gegenüber allerdings einen erheblichen Vorsprung. Sie waren meist als Kolonialmächte direkt vor Ort etabliert und schienen den deutschen Beobachtern in ihren gefestigten und politisch abgesicherten Marktpositionen zunächst nur schwer angreifbar zu sein. Auffällig ist, wie sehr sich die Delegationsteilnehmer von der Politik der Kolonialmächte abgrenzten. Sie betonten immer wieder, dass sie selbst kein politisches, sondern nur ein wirtschaftliches Interesse hätten.74 Sie beschrieben sich selbst als betont politikfern75 und verwiesen darauf, dass das „deutsche Weltmarktstreben“ grundsätzlich unpolitischer Natur sei: Nicht „der Politik oder der Flagge“ solle deutscher Handel folgen, sondern „dem Ingenieur, dem Fachmann und Techniker, als de[m] Schrittmacher des neuen technischen Zeitalters in der ganzen Welt“.76 Offenbar bereitete es kaum Mühe, sich als Land zu präsentieren, das seit langer Zeit keine Kolonien mehr besaß.77 Immer wieder betonten die Wirtschaftsvertreter, dass sie „nicht mit dem Makel der Kolonialmacht belastet [seien] oder als etwaiger Verfechter eigensüchtiger politischer Zielsetzungen (…) mit Argwohn betrachtet“ werden müssten. Die deutsche Wirtschaft sei mit

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Breite bis zur Hauptstadt zu entwickeln und politisch zu integrieren, um in der dritten Phase die wirtschaftliche Erschließung der weiten unberührten Räume Amazoniens in Angriff zu nehmen.“ Ebd., S. 17. Vgl. BDI, Ostasien 1956, S. 9. Der Bundesrepublik als „einer kolonial nicht vorbelasteten Macht“ schienen sich besondere Möglichkeiten zu bieten: „Unsere Maschinen, Fachkräfte und Ingenieure, unsere Zweigfabriken, Beteiligungen und Finanzhilfen haben in den Ländern Ostasiens keinen politischen Beigeschmack. Sie werden als ehrliche Bausteine der eigenen Entfaltung geschätzt.“ Ebd., Zitate S. 13 und 25. Ähnlich war auch schon in der Zwischenkriegszeit argumentiert worden. Vgl. van Laak, Tropenfieber 2010, S. 95. Auch deswegen beschrieben sich die Delegationsteilnehmer oft in Ingenieursmetaphern. Dies korrespondierte mit der zeitgenössischen Vorstellung davon, dass „Entwicklung“ ein technisches Problem sei. Vgl. Schröder/Höhler, Räume und Orte 2005, S. 306. Speich vertritt die These, dass ökonomisches Wissen einen Handlungsraum für eine ingenieurstechnische Lösung des Entwicklungsproblems bot. Vgl. Speich, Entwicklungsautomatismus 2008. Politikferne ist nach Conze auch ein zentrales Charakteristikum der Bürgerlichkeit der 1950er Jahre. Vgl. Conze, bürgerliche Republik 2004. BDI, Ostasien 1956, S. 21. Im Artikel 119 des Versailler Vertrages war 1919 festgehalten worden, dass Deutschland „zugunsten der alliierten und assoziierten Hauptmächte auf alle Rechte und Ansprüche in bezug auf seine überseeischen Besitzungen“ verzichte. Das war mehr ein emotionales Problem als ein wirtschaftliches, denn der Anteil der Kolonien am deutschen Außenhandel hatte 1913 nur 0,6 Prozent betragen. Vgl. van Laak, Tropenfieber 2010, S. 88 und S. 90 f. Den jüngst zurückliegenden Eroberungskrieg unterschlug man dabei geflissentlich. In den Quellen wird nicht thematisiert, dass dies von den Gesprächspartnern bemerkt wurde.

Weltmarktkonkurrenz und Antikolonialismus

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derjenigen der Schweiz vergleichbar, die ähnliche Aufgaben als „offene Werkstatt der Welt“ erfülle.78 Die in den Berichten immer wieder hervorgehobenen „traditionellen Bande der Freundschaft“ mit den jeweiligen „Völkern“ waren dann auch nicht nur eine Floskel, sondern sollten auch die Differenz zu den Weltmarktkonkurrenten deutlich machen.79 Die antikolonialistischen Darlegungen waren vor allem Argumente im Kampf um Wettbewerbsvorteile gegen Unternehmer aus Holland, Frankreich, Großbritannien, Japan und den USA.80 Das geschäftsführende Vorstandsmitglied des Nah- und Mittelost-Vereins, Reinhard Hüber, sprach auf dem Nah- und Mittelost-Tag 1953 Klartext: „Unsere Schwäche, uns nicht kolonialpolitisch betätigen zu können, wird zu unserer Stärke“.81 Immer wieder war in den Reiseberichten zu lesen, die bisherigen Kolonialherren hätten zwar Grundlagen für eine zukünftige Entwicklung gelegt, dabei aber gravierende Fehler begangen. Ihre Politik sei insbesondere dafür verantwortlich, dass in „Übersee“ oft ein negatives Bild des „Westens“ vorherrsche und sich eine Abneigung „gegen den Weißen ganz allgemein“ zeige.82 Die handfesten Probleme der „Unterentwicklung“ ließen sich so direkt mit dem verfehlten Kolonialismus der Weltmarktkonkurrenten verknüpfen. Dieser wurde beispielsweise für das fehlende Unternehmertum im Lande verantwortlich gemacht, aber auch für die Gefahr, dass sich die einheimischen Eliten selbst dort dem „Osten“ zuwendeten, wo sie doch eigentlich auf die „Mitarbeit des Westens“ bei der Industrialisierung hofften.83 Zu78

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Aktennotiz vom 15.2.1956, S. 2, BDI-Archiv PI 68/652/I. Ähnlich zuvor bereits Ludwig Erhard in seiner einflussreichen wirtschaftspolitischen Programmschrift: „Die Bundesrepublik lebt mit 50 Mill. Menschen auf dem schmalen Streifen zwischen Elbe und Rhein. Dieser Streifen ist nur als Werkstatt der Welt, bei stärkstem Export von Maschinen und Konsumgütern, existenzfähig. […] Deutschland war stets eine Werkstatt Europas.“ Erhard, Rückkehr 1953, S. 7. Bspw. in Bezug auf Mexiko in: BDI, Lateinamerika 1960, S. 33. Im Reisebericht wird auch deutlich, dass das Kolonialargument für „Asien“ und „Afrika“ deutlich wichtiger war als für „Lateinamerika“, wo die Kolonialerfahrungen bereits deutlich länger zurücklagen. Der Verweis auf den eigenen Antikolonialismus steht stets im engen Zusammenhang mit der Thematisierung der Kolonialvergangenheit der Wettbewerber. Nur die „ausgezeichneten Vorarbeiten, die unter britischer Herrschaft geleistet wurden“ sind gelegentlich positiv gewürdigt worden. So etwa bei Hansen, Studien-Kommission 1957, S. 10, BArch B 116/21459. Zur Wahrnehmung der amerikanischen und japanischen Konkurrenz vgl. Kleinschmidt, Blick 2002. Reinhard Hüber zitiert nach: Die Welt vom 5. Dezember 1953 „Nah- und Mittelost-Tag in Hamburg“, o. S., Staatsarchiv Hamburg 131–1 II 4844. Dr. Reinhard Hüber war seit 1940 Präsident des Berliner Orient-Vereins gewesen und anschließend zentrale Figur im Nah- und Mittelost-Verein (NuMoV). Wie erfolgreich die deutsche Außen(wirtschafts)politik mit ihrer Argumentation war, betont: Unger, Export und Entwicklung 2012, S. 77. OAV, Indonesien 1952, S. 17. Hier ist bereits vermerkt – und das zeigt einen tiefgehenden Wandel in Helfferichs Denken an –, dass insbesondere das Auftreten der holländischen Kolonialherren, die ihm vorher immer als vorbildhaft gegolten hatten, mit ihren „Grausamkeiten und ihrem Gewinnstreben“ ein negatives Bild des „Westens“ abgegeben hätte. In der Abneigung sei die „Auflehnung eines erwachten Volkes“ zu erkennen, das sein „Lebensrecht gegen die weiße Hegemonie geltend“ mache. Ebd. Es sei hier nur zu hoffen, so der Bericht von 1952 weiter, dass allein schon aus „praktischen Erwägungen“ heraus diese Auffassungen nicht auch zur offiziellen Politik würden und sie sich durch „Gegenseitigkeit“ beheben ließen. Ebd.

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gleich, so ein weiterer Topos, hätte der Kolonialismus zu einer verbreiteten Skepsis gegenüber der freien Marktwirtschaft und zu einem übertriebenen Planungs- und Staatsglauben geführt, da die Eliten vor Ort aufgrund ihrer „geschichtliche[n] Erfahrungen“ im Kapitalismus nur „noch die bloße Kehrseite des Kolonialismus“ sehen würden.84 Darüber hinaus führe die „relativ starke Monopolisierung der wirtschaftlichen Tätigkeit durch wenige große ausländische Firmen“ zunehmend zu Ressentiments gegenüber dem „Westen“.85 Erst Ende der 1950er Jahre trat neben das Beklagen der Wettbewerbsverzerrungen in „Übersee“ ein größeres Selbstbewusstsein der Delegationsteilnehmer. Mit zunehmender Selbstsicherheit stellten die Delegationsteilnehmer nun die Frage, auf welchem Wege die Bundesrepublik mithelfen könne, „die Entwicklungsprobleme der wenig industrialisierten Gebiete zu lösen“.86 Das hatte auch Konsequenzen für die Beschreibung der Konkurrenzsituation. Zwar waren die Ausgangsbedingungen in „Lateinamerika“ grundsätzlich verschieden von denjenigen in „Ostasien“ und „Afrika“, waren hier doch schon seit langem die ehemaligen Kolonialmächte kein entscheidender politischer Faktor mehr.87 Doch auch gegenüber dem für den Kontinent zentralen Handelspartner – den USA – wurde nun eine viel selbstbewusstere Position bezogen; allerdings nicht ohne zu betonen, dass die starke Stellung der Vereinigten Staaten überhaupt erst durch die Unterbrechung der globalen Handelsbeziehungen während des Zweiten Weltkrieges möglich geworden sei.88 Zwar würden die USA auch langfristig die zentralen Handelspartner und Investoren bleiben, daneben sei aber „noch viel Raum für die Mitarbeit und die Anlagen anderer Nationen“. Denn die „Bedürfnisse und die Möglichkeiten Lateinamerikas“ seien so groß, dass sie von den USA allein ohnehin nicht befriedigt werden könnten.89 Vor 84 85

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So beispielsweise mit Bezug auf Indien: BDI, Ostasien 1956, S. 18. Diese Gefahr wurde beispielsweise im Falle Ghanas und Nigerias betont. Obwohl es „beeindruckend [sei], wie aufgeschlossen die Einstellung der Schwarzen gegenüber den Weißen, die im Lande tätig sind, ist“. Trotz nur geringer aktueller Diskriminierungen gegenüber „Weißen“ sei eine Stimmungsveränderung zum Schlechteren zu erwarten. Die Zitate aus: von Tresckow, Industrialisierung 1957, S. 4, BArch B 116/21459. Berg, Vorwort 1960, o. S. Verstärkt wurde dies dadurch, dass die ehemaligen Kolonialmächte Spanien und Portugal in den 1950er Jahren nicht als Musterbeispiele der Industrialisierung, sondern selbst als „Entwicklungsländer“ innerhalb Europas galten. Dies fügte sich nahtlos in die Opfererzählung ein, die deutsche Unternehmer im ersten Nachkriegsjahrzehnt über sich in Umlauf brachten. Sie hätten sich im Nationalsozialismus für das freie Unternehmertum und den freien Welthandel stark gemacht und seien so Opfer der nationalsozialistischen Autarkiepolitik und des Zweiten Weltkrieges geworden. Vgl. Wiesen, Challenge 2001. Vgl. BDI, Lateinamerika 1960, S. 7–9, Zitate S. 7 und S. 8. Der Handel mit den USA wurde mit dem Fünffachen des deutschen Anteils angegeben. Den 11 Milliarden US-$ an Auslandsinvestitionen, die amerikanische Investoren auf sich vereinigten – immerhin 75 % der gesamten ausländischen Kapitalanlagen in Lateinamerika –, stünden nur 750 Millionen DM aus Deutschland gegenüber. Zudem wurde betont, dass der deutsche Handel mit „Lateinamerika“ in den vergangenen Jahren nicht dem allgemeinen Trend entsprochen habe, so dass die prozentualen Anteile gefallen seien. Für statistische Angaben zum Handelsverkehr mit den einzelnen Staaten zwischen 1936 und 1961 siehe: Jerofke, Wiederaufbau 1993, S. 361–374.

Ein deutsches Care-Paket

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allem habe man den amerikanischen Investoren gegenüber den Vorteil, vor Ort äußerst positiv wahrgenommen zu werden. Im Schlusssatz des Reiseberichts zu Lateinamerika wurde dann auch noch einmal diese deutsche Besonderheit zusammengefasst: Ein nicht namentlich erwähnter Brasilianer wurde mit der Feststellung zitiert, dass die Deutschen, anders als viele andere Ausländer, die ihre Gewinne wieder mit zurück in ihr eigenes Land nähmen, „ihre Gewinne im Lande anlegen, es lieb gewinnen und zu ihrer neuen Heimat machen“.90 Gegenüber den Delegationsteilnehmern hätten die einheimischen Gesprächspartner daher ausdrücklich die Zusammenarbeit mit deutschen Institutionen, seien es nun Industriebetriebe, staatliche Stellen oder Forschungsinstitute, begrüßt. 5. EIN DEUTSCHES CARE-PAKET Offensichtlich ließ sich insbesondere auf dem „ausgeprägten Goodwill in allen Kreisen“ aufbauen, der der Bundesrepublik und ihren Unternehmern entgegengebracht wurde.91 Schon früh und im Zeitverlauf immer häufiger wurde in den Reiseberichten darauf verwiesen, dass von den ausländischen Regierungen „eine starke deutsche Beteiligung bei der Durchführung ihrer Industrialisierungspläne“ gewünscht würde.92 Bewundert würden insbesondere die „Leistungen des wiedererstarkten Deutschlands“. Der Wiederaufbau sei ein „weiteres Zeugnis [der] geistigen und technischen Leistungen“.93 Förderlich sei zudem, so die Argumentation in den Reiseberichten, dass Deutschland in den bereisten Gegenden „früher niemals koloniale oder machtpolitische Ziele“ verfolgt habe. Zudem sei die Erinnerung an die Qualität der deutschen Erzeugnisse, an die Maßarbeit und die hochwertigen technischen Leistungen dort immer noch wach und die wissenschaftlichen Forschungsleistungen sowie die deutsche Fachkräfteausbildung würden geschätzt. Insgesamt sei daher an vielen Orten der Welt „ein spezifisch deutsches Bild wirtschaftlicher und geistiger Partnerschaft lebendig“94, ein Bild, das „von Vertrauen in deutsche Leistung und deutschen 90 91 92

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Unbekannt, zitiert nach: ebd., S. 39. BDI, Ostasien 1956, S. 12, das Zitat mit Bezug auf Indonesien. BDI, Lateinamerika 1960, S. 33. Auch in den vorherigen Reiseberichten war es den Autoren sehr wichtig zu betonen, dass man mittels Außenhandel und Direktinvestitionen nicht nur die deutsche Weltgeltung wiederherstelle, sondern dass man damit den Wünschen der Einheimischen entspräche. Ebd., S. 25. Ähnlich argumentierte rückblickend auch Heinrich Kraft, der 1960 festhielt: Dass der Goodwill „gerade in Ostasien so häufig war, mag vielleicht auch damit zusammenhängen, daß dort immer eine Auslese fähiger und aktiver Menschen tätig war. Bei den besonders scharfen Anforderungen, die das Leben in fremder Umgebung stellt, zeigte sich meist bald, ob einer ein Kerl war. Wer diese Prüfung bestanden hatte, durfte Vertrauen erwarten und auf Anerkennung rechnen. Die zähe Energie, die Arbeitskraft und der Fleiß, womit die Deutschen, so bald es nur möglich war, an den Neuaufbau gingen, verfehlten vor allem bei den Angehörigen der südost- und ostasiatischen Völker ihren Eindruck nicht. Zugleich zeigten die deutschen Firmen ihre besondere Anpassungsfähigkeit an neue Entwicklungen und Situationen.“ Kraft, Deutschland-Ostasien, S. 132. Vgl. BDI, Ostasien 1956, S. 25. Werner Langenheder hat in seiner Untersuchung über die Einstellungen von Führungskräften und Nachwuchskräften der deutschen Wirtschaft zur Experten-

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II. Erste Erkundungen

Charakter geprägt“ sei. Dies, so der BDI 1956, ließe sich für engere Wirtschaftsverbindungen nutzen, verpflichte zugleich aber auch zur „Verstärkung [der] kulturellen Bindungen“. Seitens der Bundesrepublik habe man daher die Möglichkeit und die Pflicht, „in der partnerschaftlichen Verflechtung unserer Wirtschaft“ für die „Entfaltung“ der Entwicklungspotenziale „gerade unsere eigenen Leistungen“ anzubieten. Doch wie sah dieses Hilfsangebot mit „deutschem Charakter“ konkret aus?95 Das, was deutsche Unternehmer anfänglich als eigenes Hilfsangebot für die Industrialisierung in „Übersee“ hervorhoben, war stark vom eigenen Kapital- und Informationsmangel sowie dem kaum überwindbar scheinenden Vorsprung der Konkurrenten bestimmt: In den 1950er Jahren schienen nicht so sehr Direktinvestitionen als vielmehr Beratungsleistungen und Export der erfolgversprechendste Weg zu sein. Wie bereits gezeigt wurde, bezogen die Unternehmer dabei aus ganz pragmatischen Gründen eine antikoloniale Position.96 Erst im weiteren Verlauf ließ sich auch auf die relativ schnelle internationale Renommeesteigerung der jungen Bundesrepublik und die Vorbildwirkung des eigenen „Wirtschaftswunder“ verweisen. Nicht zuletzt durch die im weltweiten Vergleich doch recht imposanten Wachstumszahlen galt die deutsche Wirtschaft bereits Mitte der 1950er Jahre als Musterbeispiel für einen zügigen Wirtschaftsaufbau.97 Dieses Bild hatten die Außenhandelskreise zum Teil selbst in die Welt gesetzt. So hatte schon Emil Helfferich auf seiner Indonesienreise 1951 Lichtbildvorträge über den Wiederaufbau Deutschlands gehalten, um „gewissermaßen als Vorbild eine Darstellung des deutschen Wiederaufbaus und der deutschen Leistungsfähigkeit“ zu präsentieren.98 Schon frühzeitig stilisierten deutsche Außenhandelskreise das eigene Land auf diese Weise zum internationalen Musterbeispiel für Aufbau und „Entwicklung“, das ohne koloniale Ausbeutung auskomme.99 Diese argumentative Strategie wurde in den gesam-

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tätigkeit in „Entwicklungsländern“ von 1966 aber gezeigt, dass der Partnerschaftsbegriff unter Deutschen äußerst kompatibel mit dem Wunsch war, „abendländische Kultur in die Entwicklungsländer zu übertragen“. Langenheder, Einstellung [nach 1961], zusammengefasst in: CDG, Entwicklungsländer 1966, S. 164. BDI, Ostasien 1956, S. 25. Das änderte sich auch in den 1960er Jahren nicht. Nach dem Mauerbau 1961 verwies beispielsweise der Botschafter der Bundesrepublik Deutschland in Indien darauf, dass Deutschland jüngst „zum Objekt eines Kolonialismus besonders brutaler Prägung“ gemacht wurde. Duckwitz, Indien 1962, S. 6. Georg Ferdinand Duckwitz (*1904) war in den 1950er Jahren Konsul I. Klasse bei der Handelsvertretung der Bundesrepublik in Helsinki. Beispielsweise erklärte der pakistanische Finanzminister Syed Anmjad Ali im Januar 1956, „die Pakistaner sollten dem Beispiel der Deutschen folgen, die in so kurzer Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg ihre Wirtschaft durch harte Arbeit wieder aufgebaut hätten“. Vgl. „Deutsches Vorbild nachahmenswert“, in: Informationen aus Pakistan, hg. von der Presseabteilung der Botschaft von Pakistan, 15.1.1956, S. 2, BDI-Archiv PI 68/652/I. Vgl. OAV, Indonesien 1952, S. 6. Seine von den Filmen „Hessen baut auf“ und „Hamburg, Deutschlands Tor zur Welt“ unterstützten Ausführungen erreichten etwa 2.500 Personen direkt. Sein insgesamt sieben Mal gehaltener Vortrag über „Deutschland im Aufbau“ fand darüber hinaus den Weg sowohl in die einheimische Tagespresse als auch in die offizielle Regierungszeitschrift Indonesiens. Vgl. ebd., S. 6 f. Das deckte sich mit der bundesrepublikanischen Entwicklungspolitik. Vgl. Hein, Die Westdeutschen 2006.

Ein deutsches Care-Paket

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ten 1950er Jahren weiterverfolgt. So betonten auch die Autoren des Berichts von 1959, dass die deutschen Erfahrungen den bereisten Ländern zugutekommen könnten. Die Erfahrung mit dem Aufbau des eigenen „stark zerstörten Produktionsapparat[es] bei geringen eigenen Grundstoffen“ und die zeitgleich gelungene Integration von etwa 12 Millionen Flüchtlingen böten „manche Parallele und Anhaltspunkte für eine gemeinsame Arbeit“. Zwar sei in Westdeutschland manches auch mit amerikanischer Unterstützung geschehen, das meiste sei aber „aus eigener Kraft“ erfolgt und mit Hilfe einer „hundertjährige[n] Tradition methodischer Arbeit“ gelungen.100 Mit der eigenen Stärke zu argumentieren hatte aber auch seine Schattenseiten. Die internationale Bewunderung der deutschen Wiederaufbauleistung führte nämlich auch dazu, dass mit der Bundesrepublik seit Mitte der 1950er Jahre vor allem Handelsbilanzüberschüsse und Hochkonjunktur verbunden wurden. Dies beklagten Außenhandelskreise nicht selten, weil dadurch unberücksichtigt blieb, dass die Kapitalausstattung der deutschen Unternehmen immer noch vergleichsweise gering war.101 So sahen sich einzelne Industrie- und Handelsvertreter immer wieder gezwungen zu betonen, dass meist „sehr uebertriebene und hoechst verschwommene Begriffe ueber die unbegrenzten Reichtuemer der Bundesrepublik“ bestünden. Man müsse „in aller Haerte zu wiederholten Malen“ darlegen, „dass der deutsche Aufbau erst 1948 begonnen habe“ und dass Eigenkapital so knapp sei, dass es nicht für Kreditzwecke an ausländische Staaten zur Verfügung stehe.102 Mit Blick auf die Gespräche in Ghana und Nigeria mahnte der Delegationsleiter Heinz Hansen im Oktober 1957 daher an, „für spätere Reisen aehnlicher Art“ zu berücksichtigen, „dass offenbar eine tiefe Kluft besteht zwischen dem, was die unterentwickelten Laender von der Bundesrepublik erwarten und dem, was diese zu geben bereit und in der Lage ist“.103 Die erst seit wenigen Jahren anwachsenden Devisenbestände hätten zu „ueberspannte[n] Vorstellungen ueber die deutschen Moeglichkeiten“ geführt. Das Problem sei aber nicht nur auf der Seite der Botschaftsempfänger zu suchen. Auch deutsche Stellen, so Hansen, seien sich wohl sehr unklar darüber, „was man nun eigentlich kann und will“. Ein unmissverständliches, von allen zuständigen Regierungsstellen gemeinsam vertretenes Programm fehle jedenfalls noch.104 Allerdings hatten die Autoren des Reiseberichts zu „Ostasien“ bereits 1956 zum ersten Mal jenes deutsche „Entwicklungspaket“ genauer beschrieben: Um einen „eigenen Beitrag zur Entfaltung der neuen wirtschaftlichen Kraftfelder“ bemüht, war in Ermangelung eigenen Kapitals für Direktinvestitionen vor allem Beratungswissen anzubieten.105 Dieses sollte helfen, vor Ort eine Wirtschaftsstruktur 100 101 102 103

BDI, Lateinamerika 1960, S. 10 und S. 11. Vergleichsmaßstab waren dabei insbesondere die USA und Großbritannien. Hansen, Studien-Kommission 1957, S. 10, BArch B 116/21459. Hervorgerufen werde dieses Problem dadurch, „dass bei den Besuchen ueberseeischer Politiker zu einseitig die Freundschaft und der gute Wille der deutschen Stellen betont wird, ohne auf die eigenen Grenzen gleichzeitig genuegend hinzuweisen“. Ebd., S. 11. 104 Ebd. 105 Vgl. O. A.: Wirtschaftliche Partnerschaft zwischen Ostasien und der Bundesrepublik. Empfehlungen der „Goodwill“-Mission des BDI, Anlage zum Unternehmerbrief des Deutschen Indus-

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entstehen zu lassen, die diese Länder „für das vielfältige Sortiment und die technische Maßarbeit der deutschen Industrie erst aufnahmefähig macht“.106 Fritz Berg schlug in diesem Sinne, geprägt von seinen unmittelbaren Reiseeindrücken, 1956 ein Acht-Punkte-Programm zur Intensivierung der Wirtschaftsbeziehungen mit den „ostasiatischen Ländern“ vor.107 Er forderte eine Institution zur langfristigen Exportfinanzierung unter Beteiligung der öffentlichen Hand. Vor allem aber wollte er bessere Ausbildungsmöglichkeiten für ausländische Ingenieure und Facharbeiter schaffen.108 Dies sollte zum zentralen Ziel der kollektiven Anstrengungen werden. Auch in den Folgejahren sicherten Delegationsteilnehmer den jeweiligen Regierungsvertretern immer wieder bereitwillig zu, dem Interesse der Staaten an der Ausbildung von Fachkräften gerne zu entsprechen.109 Diese lag nämlich zugleich im ureigenen Interesse der Investitionsgüterindustrie. Denn für deren Exportgeschäfte reiche es nicht aus, so war man sich sicher, ein Netz aus geeigneten Vertreterfirmen aufzubauen. Vielmehr sei es notwendig, „sich gleichzeitig auch verantwortlich zu fühlen für die in technischer und kaufmännischer Hinsicht richtige Basis der Fertigung im Lande, für den ordnungsgemäßen Einsatz der Maschinen und ihre Betreuung und Wartung und ggfs. auch dafür, daß dem ausländischen Kunden die leitenden technischen Kräfte, die mit der Anlage arbeiten können, zur Verfügung stehen“.110

Die Ausbildung von einheimischen Fachkräften und eine „sehr weitgehende technische Beratung“ zielte dann auch darauf, den Bedarf an deutschem Personal bei der Lieferung und dem Aufbau kompletter Industrieanlagen zu reduzieren.111 Das Acht-Punkte-Programm aus dem Jahr 1956 hielt aber auch fest, dass es notwendig sei, den deutschen Nachwuchs besser auszubilden. Denn dieser sollte in Führungspositionen in „Übersee“ eingesetzt werden können.112 Was deutsche Unternehmer

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trieinstituts Nr. 28 vom 12. Juli 1956, o. S., BDI-Archiv PI 68/652/I. Vgl. auch Kapferer, Bedeutung [1955]. O. A.: Wirtschaftliche Partnerschaft zwischen Ostasien und der Bundesrepublik. Empfehlungen der „Goodwill“-Mission des BDI, Anlage zum Unternehmerbrief des Deutschen Industrieinstituts Nr. 28 vom 12. Juli 1956, o. S., BDI-Archiv PI 68/652/I. Das ganze 8-Punkte-Programm wurde sehr weit gestreut und auch von regionalen Informationsdiensten aufgegriffen. So beispielsweise in: o. A.: o. T., in: Der Berater. Wirtschaftspolitische Diskussionsbeiträge der Informationsstelle der Bayerischen Wirtschaft 26 (1956), enthalten in: BDI-Archiv 68/652/I. Es fand zudem Eingang in den Reisebericht der Goodwill-Mission. Vgl. BDI, Ostasien 1956, S. 19. Damit konnte auf einer Argumentation aufgebaut werden, die sich schon in den frühen 1950er Jahren in den Reiseberichten zeigt – bereits 1951/52 hatte Emil Helfferich den „kulturellen Austausch“ von Wissenschaftlern, Studenten und Fachkräften angesprochen. Vgl. Hansen, Studien-Kommission 1957, S. 10, BArch B 116/21459. Von Tresckow, Industrialisierung 1957, S. 23, BArch B 116/21459. Ebd. Darüber hinaus ließen sich mit deutschen „Spezialisten und Technikern aller Art“ auch Beraterpositionen in den neu entstehenden Forschungsstätten und Behörden der „jungen Entwicklungsländer“ und der vor Ort tätigen technischen Hilfsbehörden der UN besetzen. O. A.: Wirtschaftliche Partnerschaft zwischen Ostasien und der Bundesrepublik. Empfehlungen der „Goodwill“-Mission des BDI, Anlage zum Unternehmerbrief des Deutschen Industrieinstituts Nr. 28 vom 12. Juli 1956, o. S., BDI-Archiv PI 68/652/I.

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glaubten „in bewußt deutscher Prägung“ anbieten zu können, war ein „Paket, das auf vielseitiger kaufmännischer und technischer Verknüpfung von Firmen und Organisationen, Behörden und Ingenieuren“ aufbaue. Nicht Finanzinvestitionen, sondern Ausbildungs-, Beratungs- und Führungsleistungen standen im Vordergrund.113 6. ZWISCHENFAZIT Die von renommierten Vertretern der deutschen Außenhandelskreise in den 1950er Jahren verfassten Reiseberichte der sogenannten Goodwill-Missionen wurden hier als Quellen- und Anschauungsmaterial herausgegriffen, um sich den zeitgenössischen Vorstellungen von den „überseeischen Zukunftsmärkten“ zu nähern. Diese Reisen waren für die damaligen Zeitgenossen erste Erkundungen mittlerweile fremd gewordener Weltregionen. Auf mehreren Ebenen geben die bisherigen Analyseergebnisse die Marschrichtung für die folgende Untersuchung viel breiterer Quellenbestände vor. Die von den unterschiedlichen Teilnehmern nach Abschluss der Goodwill-Missionen verfassten Berichte geben erste Hinweise darauf, wie der deutsche Außenhandel im ersten Jahrzehnt nach der Staatsgründung von seinen Protagonisten eingeschätzt wurde. Ohne den Verweis auf immense Unsicherheiten, Zufälle und Informationsmängel wird eine Analyse der Strukturen des „Überseewissens“ folglich nicht auskommen können. Die Reiseberichte aus der Mitte der 1950er Jahre zeigen vor allem, dass das damals verfügbare Wissen meistens veraltet war und obendrein recht widersprüchlich interpretiert wurde. Fortwährend verwiesen die Delegationsteilnehmer auf beträchtlich erschwerte Bedingungen, betonten dann aber euphorisch die positiven Tendenzen und die großen Wachstumschancen. Unterschiedliche Märkte konkurrierten miteinander, wobei zwar klar zu sein schien, dass diese sich voneinander unterschieden, aber noch nicht eindeutig geklärt war, wodurch genau. Welche „Entwicklungsprobleme“ in welchem „Entwicklungsraum“ besonders gravierend waren, blieb vorerst unklar, und die Gemengelage der Probleme schien diffus zu sein. Dabei folgten die Texte meist nicht den Regeln wissenschaftlich stringenter Argumentation. Vielmehr sprangen die Autoren nicht selten assoziativ zwischen den Themen hin und her, bezogen sich dabei oftmals innerhalb weniger Absätze auf mehrere, für den heutigen Leser eigentlich inkompatible Deutungsansätze. Nichtsdestotrotz enthalten die Reiseberichte die maßgeblichen Grundgedanken des Redens über die „überseeischen Märkte“. Die Reiseerfahrungen führten nämlich gerade nicht zur Auflösung der Vorstellung von einem weithin homogenen Raum. In ihnen spiegelt sich der Blick auf die Gemeinsamkeiten der „unterentwickelten“ Weltregionen. Es kommen folglich bereits jene Probleme, Erklärungsmuster und Lösungsstrategien zur Sprache, die im Verlauf dieser Arbeit immer wieder auftauchen werden. Vor allem wird deutlich, welche Fragen die deutschen Außenhandelskreise dazumal umtrieben: Was war die richtige Form des Engagements vor Ort? Sollte man kapital- oder arbeitsintensive Produktionen in diesen Gebieten auf113 BDI, Ostasien 1956, S. 21.

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II. Erste Erkundungen

bauen? Sollten einheimische Kräfte geschult oder deutsche Kräfte entsendet werden? Sollten „industrielle Werte“ auf allen Ebenen implementiert werden oder würde es ausreichen, sie einer kleinen Elite zu vermitteln? Gab es einen spezifisch deutschen Weg? Und wie konnte man den Vorsprung der (ehemaligen) Kolonialmächte wettmachen? Zudem wird in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre eine neue Aufmerksamkeit für Themen der „Entwicklung“ deutlich. Zugleich zeigt die Analyse der Reiseberichte, dass die Auslandsaufenthalte nicht zu einer Fremdheitserfahrung im eigentlichen Sinne, das heißt zur Infragestellung und Veränderung des Eigenen, führten.114 Im Fokus stand vielmehr, was der deutsche Beitrag zur Industrialisierung und „Entwicklung“ der Welt sein könne. Daneben sind weitere Hinweise aus den Quellen der 1950er Jahre ernst zu nehmen. Drei sollen an dieser Stelle herausgegriffen werden, weil sie im weiteren Analyseverlauf einen nicht unerheblichen Platz einnehmen werden. Erstens muss die Veränderung der Problemwahrnehmungen auch auf der deutschen Seite berücksichtigt werden. Es ist offensichtlich, dass der Wandel des Blicks auf den eigenen Status, die eigenen Potenziale und die Weltmarktkonkurrenten der deutschen Wirtschaft auch die „Entwicklungskonzepte“ für „Übersee“ beeinflusst haben. Zweitens wurden veränderte Netzwerkstrukturen in den Außenhandelskreisen deutlich. Manche Akteure, wie der BDI, stiegen in der Hierarchie auf und dementsprechend hatte ihr Wort mehr Gewicht als zuvor. Zu fragen ist daher, wann welche Akteure an der Produktion und Zirkulation des „Überseewissens“ beteiligt waren. Am wichtigsten ist aber drittens der aus den Goodwill-Reiseberichten zu entnehmende Hinweis, dass die „Entwicklungsgebiete“ und ihr „Potenzial“ nicht nur nach ökonomischen Kriterien beurteilt wurden, sondern auch nach kulturellen. Insbesondere Vorstellungen von der „einheimischen Mentalität“ tauchten auch in anderen Quellen immer wieder an zentraler Stelle auf, denn sie waren das Bindeglied zwischen den Markt- und Kulturraumkonstruktionen. Von zentraler Bedeutung ist dabei, dass die „überseeischen Zukunftsmärkte“ als „unterentwickelt“ beschrieben wurden. „Entwicklung“ schien hier eine Antwort auf kulturelle wie ökonomische Probleme zu sein. Wichtige Teile der ökonomischen Eliten der Bundesrepublik interessierten sich mit Blick auf die „Überseemärkte“ anscheinend nicht nur für Zollsätze und Rechtssicherheit. Aus den Quellen sprechen Beobachtungsweisen fremder Märkte, die eher kulturelle Faktoren des gesellschaftlichen Wandlungsprozesses betonten. Daraus resultierte – das werden die folgenden Untersuchungsschritte zeigen – ein gleichermaßen großes Interesse für Landschafts-, Lebens-, Wirtschafts- und Kulturräume. Dabei wurden politische, ökonomische und kulturelle Phänomene als zusammenhängend behandelt und mit Verweisen auf die historische Entwicklung der aktuellen Gesellschaften in „Übersee“ erklärt. „Entwicklungsstrategien“ trafen für die Zeitgenossen damit nicht auf eine tabula rasa, wie oft unterstellt wird, sondern auf komplexe Beharrungsstrukturen. Die folgende Untersuchung wird aufgrund der bisherigen Erkenntnisse folgendermaßen vorgehen: Zuerst wird anhand eines breiten Spektrums an Quellen aus 114 In Bezug auf die Auslandsaufenthalte von Unternehmern so argumentiert von Epple, Stollwerck 2010, S. 415.

Zwischenfazit

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den 1940er und 1950er Jahren gezeigt, wie sich in den bundesrepublikanischen Außenhandelskreisen die Annahme herausbildete, dass der Handel mit „Übersee“ spezifisch sei. Es geht hier also zunächst darum zu zeigen, warum es für die Zeitgenossen plausibel war, von einem eigenen Erkenntnisobjekt der „überseeischen Märkte“ auszugehen. Dieses Erkenntnisobjekt regte die Errichtung einer umfangreichen Wissensinfrastruktur an. Daher gilt es anschließend zu klären, welche Institutionen ökonomisch relevantes „Überseewissen“ produzierten und welcher Personenkreis dieses rezipierte. Daraufhin sind die Inhalte des „Überseewissens“ mit Bezug auf Entwicklungs-, Raum- und Kulturvorstellungen genauer zu analysieren. Zudem ist auf deren Auswirkungen auf die (kollektive) Praxis einzugehen. In einem abschließenden Untersuchungsschritt ist zu ergründen, warum es für die Zeitgenossen um 1970 immer weniger plausibel schien, von einem ökonomischen Erkenntnisobjekt der Märkte in „Übersee“ auszugehen.

III. DIE ÜBERSEEISCHEN MÄRKTE – EIN ERKENNTNISOBJEKT TAUCHT AUF Im Fokus steht nun die Formierung des Erkenntnisobjekts „überseeische Märkte“. Bereits in der unmittelbaren Nachkriegszeit war die Rede von „Übersee“ in den Außenhandelskreisen allgegenwärtig. Das lag nicht zuletzt daran, dass die dortigen Märkte als Garanten für den Wiederaufstieg der deutschen Wirtschaft galten. Dabei wurde an die eingehende Beschäftigung mit den dortigen Gebieten und deren ökonomischen Chancen im Deutschen Kaiserreich und in der Weimarer Republik angeknüpft.1 Die „überseeischen Märkte“ waren ab 1914, verstärkt dann noch einmal durch die Weltwirtschaftskrise der späten 1920er und frühen 1930er Jahre sowie die auf den Raum „Osteuropa“ ausgerichtete nationalsozialistische Eroberungspolitik in den Hintergrund getreten.2 Entscheidender Unterschied zu früheren Vorstellungen war nun, dass die „überseeischen“ Gegenden nicht mehr allein als koloniale Ergänzungsräume, sondern als Märkte der Zukunft angesehen wurden.3 Allerdings unterschied sich das Reden über „Übersee“ in den ersten Nachkriegsjahren zunächst noch nicht grundlegend von den Debatten über Chancen und Risiken auf anderen Exportmärkten. Zentrales Argument dieses Kapitels ist es daher, dass sich im ökonomischen Feld ein spezifisches Erkenntnisobjekt „Übersee“ erst herausbildete. Ab Mitte der 1950er Jahre wurden die „überseeischen Märkte“ zunehmend als homogene Gruppe und als verschieden von anderen Im- und Exportmärkten wahrgenommen. Es handelte sich fortan um Märkte in sich industrialisierenden Ländern mit ganz spezifischen „Entwicklungsproblemen“. Zeigen lässt sich dies durch die Analyse der zeitgenössischen Problemwahrnehmungen im Außenhandel. In der bisherigen Forschung ist meist ein anderer Zugang zum „Exportwunder“ gewählt worden. Beschrieben wurden das quantitative Ausmaß von Im- und Exporten, der Wandel der Warengruppenstruktur im Außenhandel, die Verschiebungen von Ziel- und Empfängerländern von Waren und 1

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Dass die Länder „Asiens“, „Afrikas“ und „Lateinamerikas“ schon in der Kolonialzeit als ökonomisch unterentwickelt galten, darauf verweist Dinkel, Dritte Welt 2014, S. 11. Zu den ideengeschichtlichen und personellen Traditionslinien vgl. van Laak, Tropenfieber 2010. Zur bedeutendsten deutschen Direktinvestition vor 1919, der Deutsch-Ueberseeischen Elektricitäts-Gesellschaft vgl. Hertner, Elektrifizierung 2010. Das industrielle Exportvolumen von 1913 wurde erst 1927 wieder erreicht. In Deutschland sank allerdings der Anteil des Exports am Sozialprodukt von 22,1 Prozent 1913 auf 16,3 Prozent 1928. Zwischen 1913 und 1927 fiel der Anteil des Deutschen Reichs am Weltexport von 13,2 % auf knapp 9 %. Verlierer der „Krise der Weltwirtschaft“ in der Zwischenkriegszeit waren vor allem Länder in Südamerika und Asien. Vgl. Knortz, Wirtschaftsgeschichte 2010, S. 18; Petzina, Isolation 2001, S. 97–99. Zu den Problemen des Außenhandels in der Weimarer Republik vgl. Henning, Wirtschafts- und Sozialgeschichte 2003, S. 321–323, 386–390, 517 f. Die Anteile der USA, Großbritanniens, des Deutschen Reichs und Frankreichs zwischen 1900 und 1932 wiedergegeben in: Knortz, Wirtschaftsgeschichte 2010, S. 100. Zur Vorgeschichte: Conrad, Kolonialgeschichte 2008, S. 111 f.

Die Unordnung der Weltwirtschaft

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Dienstleistungen sowie der Ausbau des staatlichen Förderinstrumentariums.4 Dabei wurde auch eindrücklich gezeigt, wie die Wiederaufnahme des Außenhandels schon bald nach Ende des Zweiten Weltkrieges zu einem bedeutenden Thema in ökonomischen und politischen Kreisen wurde. Der Weg zurück auf den Weltmarkt versprach eben nicht nur die Lösung betrieblicher Probleme wie Devisenmangel und Kapitalknappheit, sondern auch die Rückkehr in die „Völkerfamilie“. Um dies zu zeigen, hat sich die wirtschaftshistorische Forschung indes nur selten des kulturwissenschaftlichen Instrumentariums bedient. So standen bisher vor allem die „realen“ förderlichen Weltmarktbedingungen und die politischen Schritte der Reintegration im Zentrum der Analyse.5 Die Bedrohungsszenarien und Hoffnungshorizonte der Unternehmer sind indes kaum untersucht worden. Deren Berücksichtigung ist aber notwendig, um zu verstehen, warum sich nach und nach ein spezifisches Erkenntnisobjekt „Übersee“ herauskristallisierte. Erst unter Einbeziehung der Erfahrungen und Wahrnehmungen der Außenhandelskreise wird ersichtlich, mit welchen spezifischen Herausforderungen sich die Entscheider im ökonomischen Feld konfrontiert sahen und wie sie diese zu bewältigen versuchten. Auskunft über die Ansichten zur Lage des Außenhandels geben in der direkten Nachkriegszeit unter anderem die Arbeitstagungen des bizonalen Außenwirtschaftsausschusses und des Ausschusses für Außenhandel der Industrie- und Handelskammern der Besatzungszonen. Für die zweite Hälfte des ersten Nachkriegsjahrzehnts sind die Jahresberichte des BDI6, aber auch Stellungnahmen des Deutschen Industrie- und Handelskammertags (DIHT) und der Ländervereine aufschlussreich. 1. DIE UNORDNUNG DER WELTWIRTSCHAFT In der Phase der Wiedereingliederung der bundesrepublikanischen Wirtschaft in die internationalen Warenströme waren „Überseefragen“ in hohem Ausmaß mit allgemeinen Überlegungen zum Stand und zur Entwicklung der Weltwirtschaft verbunden.7 Wenn es darum ging, wie sich die einstmals führende Stellung auf den Welt4 5 6

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Überblicksartig: Hardach, Rückkehr 1998. Das Exportförderinstrumentarium ist sehr übersichtlich dargelegt in: von Delhaes-Guenther, Erfolgsfaktoren 2003, insbesondere S. 87–211. Vgl. zudem, wenn auch mit Fokus auf die 1980er Jahre, Engelhard, Exportförderung 1992, S. 20–69. Zentrale Wegmarken waren dabei die Währungsreform 1948, die Gründung der Montanunion (EGKS) 1951/52 und die Erlangung der Souveränität 1955. Dieses Erzählmuster etwa bei Abelshauser, Deutsche Wirtschaftsgeschichte 2005. Der BDI war als wichtigster industrieller Interessenverband von Anfang an zentral an Außenhandelsfragen interessiert. Die Berichte des BDI waren zugleich auch ein Aggregat derjenigen Informationen, die an unterschiedlichen Stellen in der Bundesrepublik produziert wurden: in Handelskammern, wissenschaftlichen Forschungseinrichtungen, in Unternehmer- und Branchenverbänden. Die Bedeutung des BDI für den Außenhandel und die Außenpolitik ist von Werner Bührer immer wieder hervorgehoben worden. Er konzentriert sich hierbei aber meist auf die Bedeutung des BDI für die europäische Einigung. Vgl. Bührer, Wirtschaftsdiplomatie 2005. Vgl. auch RWWA 181-1996-1 und 181-1550-3. In den 1940er und 1950er Jahren war der Begriff „Globalisierung“ noch keine geläufige Leitvokabel. Er hatte auch noch keine überwiegend auf ökonomische Prozesse abhebende Bedeutung. Zur Begriffsgeschichte vgl. Bach, Erfindung der Globalisierung 2013. Jüngst das Plädo-

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III. Das Erkenntnisobjekt taucht auf

märkten wiedergewinnen ließ, so musste geklärt werden, wie die Weltwirtschaft funktionierte.8 Die Debatten über die Ordnung und Unordnung der Weltwirtschaft boten den Interpretationsrahmen für die Stellung der deutschen Wirtschaft und der „überseeischen Märkte“ in der Welt. Die Beschäftigung mit der Weltwirtschaft war dabei nie nur eine rein akademische Auseinandersetzung mit abstrakten oder statistischen Fragen. Im gesamten 19. und 20. Jahrhundert ging es zugleich immer auch um den angemessenen Platz Deutschlands in der Welt. Fortwährend wurden dabei die als besonders angesehene Abhängigkeit Deutschlands vom Weltmarkt und die Bedeutung der deutschen Wirtschaft für die Weltwirtschaft thematisiert.9 Dabei gab es grundsätzlich zwei alternative Deutungen: Während die eine Seite auf Freihandel setzte und eine starke Exportstellung in der Weltwirtschaft anstrebte, vertrat die andere Seite eine weltmarktskeptische Position, die den grenzüberschreitenden Austausch möglichst minimieren wollte, auch weil dieser als Sicherheits- und Stabilitätsrisiko angesehen wurde. Von Anfang an war daher für die Debatten um die Weltwirtschaft auch die Frage stilbildend, ob es überhaupt wünschenswert sei, dass sich Deutschland als Industriestaat und Exportnation entwickelte oder ob nicht eher eine starke landwirtschaftliche Basis und ein von Importen unabhängiger Wirtschaftsraum anzustreben seien.10 Vertreter der letztgenannten Position setzten auf ein autarkes Deutschland, wobei schnell die Frage aufgeworfen wurde, wie groß Deutschland zu sein habe, um zugleich einen hohen Lebensstandard und Unabhängigkeit gewährleisten zu können. Dietmar Petzina hat hervorgehoben, dass die Optionen „Industrie- oder Agrarstaat, Autarkie oder Öffnung, Neuordnung oder Blockbildung in der Weltwirtschaft“ wohl „in keinem anderen großen Industrieland derart vom Hang zum

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yer, den Diskurs über Globalisierung als zeithistorisches Phänomen zu begreifen, bei: Eckel, Historisierung 2018. Auch Reinhard Neebe verweist darauf, dass die Diskussionen über die Weltwirtschaft der Drehund Angelpunkt der frühen Debatten über die bundesrepublikanische Außenwirtschaft waren. Vgl. Neebe, Weichenstellung 2004, S. 12. Die Weltwirtschaft war ein abstrakter Ordnungsrahmen. Jürgen Osterhammel hat auf die Leistung solcher globalen Modelle und Strukturbegriffe für die Ordnungsstiftung verwiesen. Vgl. Osterhammel, Weltordnungskonzepte 2012, S. 414. Zur Idee der Weltwirtschaft vgl. Osterhammel/Petersson, Globalisierung 2004, S. 65, Abelshauser/Gilgen/Leutzsch, Kulturen der Weltwirtschaft 2012, S. 22. Zu den Dimensionen der Weltmarktvernetzung vgl. Torp, erste Welle 2004 sowie die Beiträge in: Rosenberg, Weltmärkte und Weltkriege, 2012. Zur Rolle der Nationalstaaten in der Weltwirtschaft vgl. Nützenadel, wirtschaftliche Dimension 2012, S. 22. Vor allem Wirtschaftswissenschaftler waren an der Produktion und Plausibilisierung von wirkmächtigen Vorstellungen über die Weltwirtschaft beteiligt. Für die Nachkriegszeit rücken insbesondere drei Institutionen in den Fokus: Das Hamburgische Weltwirtschafts-Archiv, das Institut für Weltwirtschaft in Kiel und die Deutsche Weltwirtschaftliche Gesellschaft in Berlin. Hier wurden Konzepte zur Weltwirtschaftsordnung erarbeitet und durch ihre hervorragenden Verbindungen zu den wichtigsten Industrie- und Export-Clubs die Wissensbestände und Argumente für die Praktiker in den Unternehmen bereitgestellt. Vgl. zur Wissensproduktion für den Praktiker: Spennrath, Geleit 1950, S. 6, Zitat ebd. Allgemein zur Wechselwirkung von Wissenschaft und Praxis: Oexle, Wissen 2002, S. 48. Vgl. Neebe, Weichenstellung 2004, S. 11 f. Zur über den eigentlichen Ernährungsaspekt hinausreichenden Bedeutung des agrarischen Sektors vgl. Oberkrome, Ordnung 2009. Dabei wurde eine agrarische Grundstruktur zugleich als wirksamste Immunisierung gegen die Bedrohungen der Moderne angesehen.

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Grundsätzlichen, zum Bekennertum, von der Zuspitzung des Entweder-Oder bestimmt“ waren wie in Deutschland.11 Dabei war trotz der erstaunlichen Aufstiegsgeschichte der deutschen Industrie die Weltmarkteuphorie unter Unternehmern nicht sehr weit verbreitet.12 Große Teile der deutschen Industriellen hegten ein tiefes Misstrauen gegenüber jenen, die auf grenzüberschreitenden Handel setzten. Entscheidend ist, dass die Weltwirtschaft lange Zeit als ein strukturell stabiles System gedacht wurde. Jedes Land hatte in ihr einen festen Platz als Produzent, Lieferant und Abnehmer. Nur wenn jedes Land die Güter für den Weltmarkt bereitstellte, die seiner Ausstattung mit Rohstoffen und der Arbeitsbefähigung seiner Bevölkerung entsprachen, war die produktivste Ausprägung der Weltwirtschaft erreicht. Von diesem Punkt aus war zwar Wachstum (für alle) möglich, aber keine grundsätzliche Verschiebung der ökonomischen Gewichte und Gravitationszentren. In diesem Modell blieben „Industrieländer“ „Industrieländer“ ebenso wie Rohstofflieferanten auf diese Rolle beschränkt blieben. Diese Vorstellung von der Funktionsweise der Weltwirtschaft herrschte auch noch nach dem Zweiten Weltkrieg in Unternehmerkreisen und unter Wirtschaftspolitikern vor. Zunächst sollte daher die „alte“ Ordnung der Weltwirtschaft wiederhergestellt werden. Auch wenn die Weltwirtschaft jetzt zuweilen als „Halbweltwirtschaft“ bezeichnet wurde,13 spannte sich mit dem Kriegsende insgesamt kein grundlegend neuer Deutungshorizont auf. Während der Adenauer-Ära waren im Unternehmerlager, insbesondere in den deutschen Industrieverbänden, die traditionellen Denk- und Handlungsmuster unübersehbar.14 Unter Rückgriff auf längst etablierte Paradigmen und bewährte Analyseweisen wurde ermittelt, was unter den veränderten Bedingungen die weltwirtschaftliche Position des neuen Landes „mit starker Bevölkerung auf engem Boden“ sein könne, wo also der Platz der Bundesrepublik – diesem „künstlich geschaffene[n] und künstlich überbevölkerte[n] Gebiet“ – in der Weltwirtschaft sei.15 Auffällig ist, wie oft nach 1945 in den Außenhandelskreisen Argumente vorgebracht wurden, die bereits nach der Niederlage im Ersten Weltkrieg zu vernehmen waren. Die deutschen Unternehmer bezogen Positionen, deren Argumentationskraft sie bereits Jahrzehnte zuvor zum ersten Mal ausgetestet hatten. Bereits den Ersten Weltkrieg hatten sie als Ringen unterschiedlicher Wirtschaftsmächte um die führende Position auf den Weltmärkten gedeutet, in dem sie selbst, ohne eigenes Verschulden, unterlegen gewesen seien. Exakt die gleiche Deutung traf ihrer Ansicht nach auf den Zweiten Weltkrieg zu.16 Beide Male beklagten sie das Fehlen 11 12

Petzina, Isolation und Öffnung 2001, S. 91. Zu den Debatten um Freihandel und Protektionismus im Deutschen Kaiserreich vgl. Torp, Herausforderung der Globalisierung 2005, S. 121–291. Zum Topos des „Ordnungsverlustes“ in der Ökonomie nach 1918 vgl. Köster, Nationalökonomie 2012, S. 56. 13 Bonn, Grenzverschiebungen 1951/52, S. 65. 14 Vgl. Löffler, Globales Wirtschaftsdenken 2010, S. 141. 15 Zitate aus: Eckert, Krise 1947, S. 14 und Baade, Ruhrrevier 1949, S. 17. 16 Zwar lehnten nach dem Zweiten Weltkrieg nicht alle Autoren die Verantwortung für die jüngste Vergangenheit ab, doch wurde diese eher darin gesehen, „daß wir jahrelang einer Clique von Narren und Verbrechern die Regierung überließen und der Anschein erweckt wurde, als ob wir mit ihren Untaten einverstanden gewesen seien. Aber eine unbefangene Prüfung der Eigenart und der Leistungsfähigkeit des deutschen Volkes gibt der Welt die Gewähr dafür, daß wir wie-

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III. Das Erkenntnisobjekt taucht auf

landwirtschaftlicher Überschussgebiete, die hohe Abhängigkeit Deutschlands vom Weltmarkt und die gestiegene Rolle der USA.17 Das Hauptproblem der Weltwirtschaft wurde im Ausfall der deutschen Produktion für den Welthandel gesehen. Der deutsche Außenhandel, vor allem der Export, stünde „im krassen Gegensatz zu den Erfordernissen (…) Europas“ und der Welt.18 Durch die Kriege sei die Weltwirtschaft aus dem organischen Gleichgewicht geraten und habe erheblich an Produktivität eingebüßt. Diese Argumentation ermöglichte es, die Wiedereinbindung des deutschen „Volkes“ in den Welthandel als Dienst an der „Gesundung“ der Weltwirtschaft und damit der Menschheit zu interpretieren. Es ging also nicht allein um „Deutschlands Schicksal“ und dessen wirtschaftliche Wiedergeburt, sondern auch um die Neuordnung Europas und der Weltwirtschaft.19 Unterstützt wurden die Unternehmer in ihrer Argumentation von Außenhandelspolitikern, Nationalökonomen, Wirtschaftspolitikern und Wirtschaftsgeografen.20 Insbesondere in der Deutschen Weltwirtschaftlichen Gesellschaft, aber auch im Übersee-Club in Hamburg, im dortigen Weltwirtschaftsarchiv und dem Institut für Weltwirtschaft wurde – wie auch schon in den 1920er Jahren – weithin hörbar das eigene Schicksal in einen globalen Kontext gerückt.21 In einer Studie für das Institut für Weltwirtschaft betonte beispielsweise der eigentlich auf „Südosteuropa“ spezialisierte Wirtschaftswissenschaftler Theodor Zotschew 1951 in ganz typischer Weise für die Position der Wirtschaftsforschungsinstitute und der Ländervereine, dass die „enge Verflechtung zwischen der deutschen Wirtschaft und der Wirtschaft aller europäischen und der meisten überseeischen Länder (…) einen wichtigen Bestandteil der wirtschaftlichen Integration Europas und der Welt dar[stellt]“.22 Nur mit einem starken Deutschland, so die gängige Argumentation, könne eine stabile und produktive Weltmarktordnung garantiert werden.

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der gutmachen können und wollen.“ Weber, neue Weltwirtschaft 1947, S. 404. Beispiele für die Deutung des Ersten Weltkrieges als Ringen von Wirtschaftsmächten: Helfferich, Weltwirtschaftliche Probleme 1938; Külz, Wiedereinordnung 1929 (Külz war Reichsinnenminister a. D. und stellvertretender Vorsitzender der DWG); Wiedenfeld, Weltwirtschaft 1939. Insbesondere die Vereinigten Staaten hätten sich, so Theodor Sehmer 1950, Direktor der Siemens-Reiniger-Werke AG, dabei übernommen, da es schlichtweg nicht möglich sei, „dass die Welt von ein und demselben Land landwirtschaftliche, industrielle Güter und Geld bezieht“. Von anderen Personen wurde insbesondere die durch die Weltkriege gestärkte Position Großbritanniens hervorgehoben. Zitat aus: Sehmer, weltwirtschaftliche Lage [1950], S. 6 f. Zotschew, Strukturwandlungen 1951, S. 320. Vgl. Berghahn, Industriegesellschaft 2010, S. 73–94. Berghahn spricht diesbezüglich von einem „breite[n] ideologische[n] Milieu, in dem außer der Wirtschaft auch die Wirtschaftswissenschaften und die Wirtschafts- und Unternehmenshistorie nach 1945 operierte“. Berghahn, Elitenforschung 2003, S. 14. Zur zeitgenössischen Verwendung der Termini „Volkswirtschaftslehre“ und „Nationalökonomie“ vgl. Hesse, Wirtschaft 2010, S. 256–270. Der Schriftführer der Deutschen Weltwirtschaftlichen Gesellschaft, Karl-Max Roscher, hatte beispielsweise 1929 betont, dass die: „Beseitigung jenes krankhaften Zustands“ der Weltwirtschaft auch im Interesse aller anderen Nationen sei. Roscher, o. T. 1929, S. 7. Nach dem Zweiten Weltkrieg war Roscher Geschäftsführer der DWG. Zotschew, Strukturwandlungen 1951, S. 293. Theodor W. Zotschew (*1916) war Mitarbeiter am Institut für Weltwirtschaft an der Universität Kiel.

Die Unordnung der Weltwirtschaft

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In den Jahren zuvor waren mit den gleichen Argumenten bereits die Demontagen der Alliierten angeprangert worden. So hatten etwa 1947 die Anwesenden auf der Außenhandelstagung der Verwaltung für Wirtschaft des Vereinigten Wirtschaftsgebietes gefordert, die Alliierten sollten auf weitere Demontagen verzichten, weil diese „rauer Hand in das komplizierte Räderwerk deutscher Wirtschaft eingreift und sie durch Fortnahme der wichtigsten Teile mehr oder weniger zum Stillstand bringt in einem Zeitpunkt, wo nicht nur das deutsche Interesse, sondern auch das der Siegermächte und der übrigen europäischen Staaten dringend eine Erhöhung der Produktion verlangt.“23 So verknüpften politische, wissenschaftliche und ökonomische Eliten in der Nachkriegszeit das Problem der wirtschaftlichen Umstrukturierung Deutschlands mit der Neuordnung der Weltwirtschaft. Den ökonomischen Wiederaufstieg Deutschlands betrachtete man als unabwendbar. Es war für kaum jemanden der bisher zitierten Personen und erwähnten Institutionen vorstellbar, dass die angestammte Rolle durch andere „Völker“ und Staaten übernommen werden könne. Insofern ging es lediglich um eine Wiederherstellung des status quo ante. Grundlage dieser Argumentation war die Vorstellung von der Weltwirtschaft als langsam gewachsenem Organismus. Das erste Ziel bestand dann darin, wieder den ursprünglichen Gleichgewichtszustand zu erreichen, das zweite Ziel darin, zukünftig ein organisches Wachstum und bei Störungen ein möglichst schnelles Zurückkehren zur natürlichen Ordnung der Weltwirtschaft sicherzustellen.24 Das erklärt auch, warum es in den damaligen Stellungnahmen üblich war, zunächst die frühere Position Deutschlands auf den Weltmärkten zu beschreiben. Indem der Vorkriegszustand zum Maßstab erhoben wurde, konnte die vormals zentrale Stellung im Güterkreislauf der Welt und die Rolle als „bedeutendster Lieferant an hochwertigen Maschinen, Chemikalien, Werkzeugen und anderen Investitionsgütern und als einer der größten Importeure an Rohstoffen und Nahrungsmitteln“ betont und zum Normalzustand (v)erklärt werden.25 Insbesondere der Status als vormals „wichtigster Lieferant der Welt an fertigen Industriewaren“ wurde dabei hervorgehoben.26 Das etablierte zugleich einen neuen zeitlichen Referenzpunkt. Orientierte man sich zuvor meist am Zustand vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges als Gleichgewichtspunkt der Weltwirtschaft, so gingen nach 1945 die meis23

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Protokoll der Aussenhandelstagung in Gelsenkirchen vom 28./29.10.1947, S. 6, BArch B 102/2263 1/2. Zu den alliierten Demontageplänen vgl. Greiner, Morgenthau-Legende 1995 und Mausbach, Morgenthau und Marshall 1996. Zum Verhältnis von Demontage und Exporthandel vgl. BArch B 102/2263 2/2. Dass Selbstviktimisierung und ein geringes Interesse am Nachdenken über die eigene NS-Vergangenheit unter deutschen Unternehmern weit verbreitet war, darauf verweisen: Lorentz, Industrieelite 2001, S. 349; Grunenberg, Wundertäter 2007. Dass die Wiederherstellung einer natürlichen ökonomischen Ordnung schon in der Zwischenkriegszeit eine große Rolle spielte, darauf verweist Köster, Nationalökonomie 2012, S. 54 f. Zotschew, Strukturwandlungen 1951, S. 293. Ebd., S. 312. Dabei wurden immer wieder Vergleiche mit Großbritannien bemüht. Auf diese Weise ließ sich nämlich darauf hinweisen, dass Großbritanniens Ausfuhr an Industriewaren auch schon zuvor zwar über der eigenen gelegen habe, da Großbritannien zugleich auch das größte Einfuhrland an Fertigwaren war, aber „der deutsche industrielle Ausfuhrüberschuß stets der größte der Welt“ gewesen sei. Zitat Ebd.

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III. Das Erkenntnisobjekt taucht auf

Abb. 2: Schaubild aus Theodor Zotschew: Die Strukturwandlungen im deutschen Außenhandel und deren Folgen für die westeuropäische Wirtschaft, Sonderdruck Hamburg 1951, S. 311.

ten Autoren davon aus, dass die Bedingungen des Jahres 1936 wiederherzustellen seien. Mit dem Jahr 1936 wählten sie eine für Deutschland besonders günstige Vergleichsposition. Denn ein „Normaljahr“ war das Jahr 1936 im Bereich des Außenhandels keineswegs gewesen. Vielmehr handelte es sich um dasjenige Vorkriegsjahr, in dem erstmals ein Exportüberschuss ausgewiesen worden war.27 27

Vgl. Predöhl, Deutschlands Stellung 1954, S. 23.

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Das Jahr 1936 bildete in der Nachkriegszeit den zentralen statistischen Bezugspunkt. Einige Autoren zogen aus der veränderten Größe und Bevölkerungszahl Deutschlands sogar noch weiterreichende Schlussfolgerungen. Unter den Bedingungen der deutschen Teilung reiche es nicht aus, dass die Bundesrepublik den Stand von 1936 wieder erreiche. Sie müsse ihn übertreffen. Theodor Zotschew betonte beispielsweise 1951, dass sowohl „die deutschen als auch die europäischen Belange“ die Ausweitung des westdeutschen Fertigwarenexports zwingend erforderten. „Westdeutschland [muss] noch viel stärker industrialisiert werden, als es in der Vorkriegszeit gewesen ist“. Das „stark überbevölkerte“ Land brauche eine Veredelungswirtschaft, die den vorherigen Intensitätsgrad „weit übertrifft“.28 Eine derartige Argumentation wies zwei Vorteile auf: Sie machte es zum einen möglich, über Deutschlands Stellung in der Welt zu debattieren, ohne auf den Zweiten Weltkrieg einzugehen. Zum anderen verknüpfte sie Deutschlands Schicksal aufs engste mit demjenigen seiner „westlichen“ Nachbarn. Damit gelang es den Unternehmern auch zu suggerieren, die eigenen betrieblichen Interessen, die nationalen Interessen und die Interessen der Alliierten, vor allem der USA, seien deckungsgleich.29 Es ist auffällig, wie sehr in dieser Zeit – nicht nur von Nationalökonomen, sondern auch von den Außenhandelskreisen und Wirtschaftspolitikern – die Weltwirtschaft in Begriffen des „Natürlichen“, „Normalen“, „Organischen“, „Gesunden“ und „Kranken“ gefasst wurde. Typisch sind beispielsweise die Äußerungen Fritz Baades30, zu diesem Zeitpunkt Direktor des Instituts für Weltwirtschaft, aus dem

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30

Zotschew, Strukturwandlungen 1951, S. 320. Eine ähnliche Argumentation bei Predöhl, Außenwirtschaft 1949, S. 132–136. So erfolgreich diese Argumentation in Deutschland selbst auch war, im Ausland stieß sie nicht immer auf offene Ohren. Da bei den Alliierten Sicherheitsbedenken und der Wunsch nach eigener Weltmarktstärke dominierten, musste – hier in den Worten des ehemaligen Leiters des Instituts für Weltwirtschaft, Andreas Predöhl, aus dem Jahr 1954 – feststellt werden: „Nach dem zweiten Weltkrieg gab es zunächst starke Widerstände gegen die Wiederherstellung dieser Normalstruktur. Ein Teil der Welt war ja sogar dem ökonomischen Irrtum erlegen, man könne den stärksten Teilkern des europäischen Gravitationsfeldes niederhalten und rundherum, ja sogar auf seine Kosten, blühendes wirtschaftliches Leben zur Entfaltung bringen.“ Predöhl, Deutschlands 1954, S. 22. Zum Zeitpunkt des Zitats war Predöhl Direktor des Instituts für Verkehrswissenschaft an der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster (Westfalen). Fritz Baade (1893–1974) war als Agrar- und Nationalökonom von 1948–1961 Direktor des Instituts für Weltwirtschaft in Kiel und ab 1961 Direktor des Forschungsinstituts für Wirtschaftsfragen der Entwicklungsländer (Bonn). Zudem war er Vorsitzender der Deutsch-Türkischen Gesellschaft, Kuratoriumsmitglied der Deutschen Ibero-Amerika-Stiftung und SPD-Politiker. 1948 hatte er bereits am Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee teilgenommen und war von 1949 bis 1965 durchgängig Mitglied des Deutschen Bundestages. Als MdB war er von 1949 bis 1953 stellvertretender Vorsitzender des Ausschusses für ERP-Fragen des Deutschen Bundestages und in der anschließenden Legislaturperiode stellvertretender Vorsitzender des Unterausschusses Kartellgesetz des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten. Baade war bereits nach dem Ersten Weltkrieg politisch aktiv gewesen, hatte aber 1933 alle seine Posten verloren und war 1935 in die Türkei emigriert. 1946 ging er für kurze Zeit in die USA. Er wurde 1948 als Ordentlicher Professor für Wirtschaftliche Staatswissenschaften an die ChristianAlbrechts-Universität zu Kiel berufen und damit auch Direktor des Instituts für Weltwirtschaft. Zum Lebenslauf vgl. Hagemann/Krohn, Biographisches Handbuch 1999, S. 16–19.

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III. Das Erkenntnisobjekt taucht auf

Jahr 1949. Baade analysierte die Ströme des „innereuropäischen“ Außenhandels vor und nach dem Zweiten Weltkrieg mittels einer organischen Metaphorik.

Abb. 3 „Der innereuropäische Außenhandel“ vor dem Zweiten Weltkrieg, aus: Fritz Baade: Das Ruhrrevier in der Weltwirtschaft, Essen 1949, S. 13.

Die erste Karte „zeigt das Bild eines gesunden und normalen Europa“ mit einem relativ geringfügigen Handel mit den USA, einem bedeutungslosen Handel mit „Sowjetrußland“ und einem breiten „innereuropäischen Güterstrom“. Letzterer sei „das Adersystem des europäischen Blutkreislaufs (…) und das Herz dieses europäischen Güterstroms war die Ruhr zusammen mit ihren nächsten Nachbarländern“. In diesem „System des innereuropäischen Blutstroms war Deutschland ein absolut nicht wegzudenkendes Stück“. Auf der zweiten Karte sehe man indes „das Bild der kranken europäischen Wirtschaft“, in der jedes Land westlich des „Eisernen Vorhangs“ an der „Dollar-Blutarmut“ leide.31 Die Hauptursache läge darin, „daß das Herz des europäischen Blutkreislaufs nicht mehr schlägt, daß insbesondere die Ruhr ihre normale Funktion innerhalb der europäischen Güterproduktion und des europäischen Blutkreislaufs verloren hat. Die Lieferungen Deutschlands an Europa und die Bezüge Deutschlands aus Europa sind auf winzige Rinnsale zusammengeschrumpft. Und das, was Deutschland seinen eigenen Nachbarländern liefert, ist nicht das, was Deutschland natürlicherweise liefern sollte: Maschinen, Stahl, Halbzeug und industrielle Ausrüstung, sondern es sind erzwungene Exporte, hauptsächlich von Kohle, Schrott und Holz, also Dingen, die wir in Deutschland sehr viel nötiger brauchen.“32 31 32

Baade, Ruhrrevier 1949, S. 12 und S. 14. Ebd. S. 14.

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Abb. 4: „Der innereuropäische Außenhandel“ nach dem Zweiten Weltkrieg, aus: Fritz Baade: Das Ruhrrevier in der Weltwirtschaft, Essen 1949, S. 13.

Deutlich wird hier, dass eine naturgemäße Stellung von Nationen in der Weltwirtschaft angenommen wurde. Die wichtigste Rolle dabei spielte das industrielle Potenzial. Dieses wurde im Normalfall nach den Kenngrößen der Förderung von Kohle und der Eisen- und Stahlproduktion beurteilt. Nicht nur der Direktor der Vereinigten Stahlwerke, Hans-Günther Sohl33, bezeichnete im Jahr 1950 Stahl als das zentrale „Barometer der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung“.34 Zugleich galt die Stahlindustrie auch in den Wirtschaftswissenschaften als die „entscheidende raumbildende (…) konjunkturtragende Industrie“.35 Die Interpretation, dass „Arbeitsamkeit und Intelligenz die Hauptartikel sind, mit denen man am Weltmarkte Geschäfte macht“, blieb demgegenüber zunächst eine Minderheitenposition unter Nationalökonomen und Industriellen.36 33

34 35 36

Hans-Günther Sohl (1906–1989) war zum Zeitpunkt des nachfolgenden Zitats Direktor der Vereinigten Stahlwerke (Düsseldorf) und Vorstandsmitglied der DWG. Zuvor war er in führender Position bei der Friedrich Krupp AG tätig gewesen. Seit 1941 saß er im Vorstand der Vereinigten Stahlwerke, ab 1943 als stellvertretender Vorstandsvorsitzender. Seit 1942 war er zudem Wehrwirtschaftsführer der Reichsvereinigung Eisen. Hans-Günther Sohl war nach dem Zweiten Weltkrieg Vorsitzender der Wirtschaftsvereinigung Eisen- und Stahlindustrie (1956– 1969) und Vorsitzender des Bundesverbands der Deutschen Industrie (1972–1976). Er galt als einer der in ökonomischen Fragen wichtigen Ratgeber Konrad Adenauers. Vgl. Ahrens, Kreditwirtschaft 2016, S. 129 f. Biographische Angaben in: Grunenberg, Wundertäter 2007, S. 306. Sohl, Stahl in der Weltwirtschaft 1950, S. 49 f. Predöhl, Probleme des Schumann-Plans 1951, S. 19. Als Beleg für die „Raumgestalt der Weltwirtschaft“ gab er dann auch die Zahlen der Rohstahlproduktion an. Ebd., S. 20 f. Diese Position war zunächst nicht selten von einem großen Optimismus geprägt. Denn die „tüchtigen Völker – allen voran Deutschland – [bräuchten sich] nicht zu fürchten, daß sie bei

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III. Das Erkenntnisobjekt taucht auf

Bis in die erste Hälfte der 1950er Jahre hinein diente die Beschreibung der Weltwirtschaft dazu, die überregionale Bedeutung von Deutschlands Industrie und Handel herauszustellen und einen breiten Konsens für die Wiedereingliederung der Bundesrepublik in den Welthandel zu schaffen. Für den Bereich des „Überseewissens“ hatte dies bedeutende Konsequenzen. Denn einerseits ging mit diesem Konzept einer „natürlichen“ Ordnung die Vorstellung einher, dass grundsätzlich allen Marktwirtschaften die Möglichkeit des „organischen“ Wachstum gegeben sei; auf der anderen Seite betonierte es den Status der „überseeischen Regionen“ als Agrarproduzenten und Rohstofflieferanten. Wirtschaftswachstum war also auch in „Übersee“ möglich – von einer langfristigen „Industrialisierung“ war aber nicht unbedingt auszugehen. Denn unter dem Paradigma der strukturell statischen Weltwirtschaft stand für die meisten Kommentatoren fest, dass diese Gebiete nicht vollständig zu industrialisieren seien. Theodor Sehmer beispielsweise vertrat Anfang der 1950er Jahre die Ansicht, dass die Industrien jener Länder, die während des Krieges Weltmarktanteile gewonnen hätten, wieder zugrunde gehen würden, sobald Deutschland wieder liefern könne. Denn sie hätten Produkte produziert, welche sich für sie eigentlich gar nicht lohnten.37 Die Industrie hätte in den „alten Industrieländern oder in grossen modernen Ländern, in denen der Heimatmarkt schon einen grossen Absatz sichert“, günstigere Bedingungen.38 Da sich im Allgemeinen – so Theoretiker und Praktiker einvernehmlich – solche Fehlinvestitionen korrigieren würden, käme die Weltwirtschaft zwar zwangsläufig wieder ins Gleichgewicht, doch in der Zwischenzeit würden Ressourcen verschwendet39 – Ressourcen, die die Weltgemeinschaft doch besser gleich in den Wiederaufbau der deutschen Industrie investieren solle. 2. EXPORTLETHARGIE Auf dem Gebiet des Außenhandels gab es keine „Stunde Null“.40 In der unmittelbaren Nachkriegszeit änderte sich im Vergleich mit der Kriegswirtschaft des Zweiten Weltkrieges vorerst wenig.41 Auf der „Realebene“ der Warenströme im Außenhandel ist kein gravierender Einschnitt auszumachen. Das Ausmaß der staatlichen Re-

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39 40 41

fortschreitender Entwicklung am internationalen Markt keinen Absatz mehr finden würden“. Zitate aus: Weber, Weltwirtschaft 41950, S. 348. Vgl. Sehmer, weltwirtschaftliche Lage [1950], S. 5. Zudem führe das Bestreben autark zu sein auch dazu, dass „diejenigen Länder, die ihnen bisher die industriellen Erzeugnisse lieferten, dann nicht mehr in der Lage sind, ihnen ihre Überproduktion an landwirtschaftlichen oder mineralischen Erzeugnissen abzunehmen“. Ebd., beide Zitate S. 4. Damit argumentierte Sehmer in Übereinstimmung mit dem damaligen wirtschaftswissenschaftlichen Mainstream. Vgl. Weber, neue Weltwirtschaft 1947, S. 387. Vgl. Sehmer, weltwirtschaftliche Lage [1950], S. 4. Die „Stunde Null“ wird mittlerweile allgemein in Frage gestellt. Zum Begriff und zur Kritik am Konzept vgl. Kleßmann 1945 [2015], o. S. Zum Kriegsende als Zäsur vgl. Berghahn, Industriegesellschaft 2010, S. 82. Dies war allerdings auch in den Nachbarländern nicht anders. Zu den Kontinuitäten zur Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg, insbesondere mit Blick auf die Strategien von Industrieunterneh-

Exportlethargie

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gulierung unterschied sich unter alliierter Wirtschaftskontrolle allenfalls graduell. Der Wiederaufbau und die Sicherung der Ernährungsbasis der deutschen Bevölkerung schienen unter den Bedingungen einer gelenkten Wirtschaft schneller erreichbar zu sein.42 Die überregionalen Markt- und Preismechanismen blieben weitgehend außer Kraft gesetzt. Mangelwirtschaft, Kontingentierungen, eine Währung, deren Gehalt deutlich niedriger war als ihr Nennwert,43 ein hohes Maß an staatlichen Regulierungen, das Fehlen eines eigenen Vertreternetzwerks auf den Exportmärkten: All dies war den deutschen Unternehmern bereits aus der unmittelbaren Vorkriegs- und der Kriegszeit bekannt.44 Die deutschen Unternehmer hatten vorerst auch andere Sorgen als die im internationalen Vergleich niedrigen Exportquoten. So schwebte nicht nur das Damoklesschwert alliierter Justiz – das zwar heutzutage zu Recht als ziemlich stumpf bewertet wird, jedoch den Zeitgenossen in den ersten Nachkriegsjahren als ernsthafte Bedrohung erschien – über ihren Köpfen.45 Darüber hinaus hatten die deutschen Industrieunternehmer mit Kriegszerstörungen, dem Mangel an Versorgungsgütern,

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44

45

men, vgl. Herbst, Unternehmensstrategie 1989. Hier auch zahlreiche Ausführungen zu den prägenden Erfahrungen der Unternehmen und Unternehmer im Ersten Weltkrieg. Dies war sowohl die Überzeugung der Besetzten als auch die der Besatzer. Denn auch die Sieger hatten den Krieg nur erfolgreich durchgestanden, weil sie ihre jeweiligen Wirtschaften konsequent auf den Krieg ausgerichtet und rigide Planungs- und Steuerungsregimes errichtet hatten. Eine Währungsreform wurde schon 1946 allgemein erwartet. Die möglichen Auswirkungen auf die Exportwirtschaft wurden ab diesen Zeitpunkt bereits intensiv diskutiert. 1948 wurde dann noch einmal die Festlegung der Umrechnungskurse der neuen Währung thematisiert, da hiervon das Ausmaß der Eingliederung in die Weltwirtschaft und die zukünftige Wirtschaftsstruktur des Landes abhingen. Vgl. zur Außenwirtschaftspolitik und zur Außenwirtschaftsentwicklung im „Dritten Reich“ – mit zahlreichen Tabellen und Graphiken – Ebi, Deutsche Exportförderung 2004; Volkmann, NS-Außenhandel 2003. Sowie die verstreuten Angaben in: Tooze, Ökonomie der Zerstörung 2007, insbesondere S. 93–126; Bettelheim, Wirtschaft unter dem Nationalsozialismus 1974; Fischer, Deutsche Wirtschaftspolitik 31968. Die wichtigsten Informationen zum JEIA-Ausfuhrverfahren in: Leistritz, Exportlexikon 1951. Vor allem in den ersten Nachkriegsmonaten wurden zahlreiche Industrielle aus der Rüstungswirtschaft inhaftiert und Betriebsgenehmigungen für ehemalige Angehörige der nun verbotenen NSDAP nicht erteilt. Im Fokus der Alliierten standen insbesondere jene Unternehmer der Branchen Stahl, Chemie, Maschinen- und Fahrzeugbau, die aktiv an der Rüstungsgüterproduktion beteiligt gewesen waren. Trotz einzelner Inhaftierungen, des anfänglich allgegenwärtigen Gefühls der Existenzgefährdung und zahlreicher Verunsicherungen ob der zum Teil recht willkürlich erscheinenden Bestrafung durch die als Besatzer wahrgenommen Alliierten kann aber insgesamt von einem hohen Maß der Elitenkontinuität im ökonomischen Feld ausgegangen werden. Zur Entnazifizierung in der Rüstungsindustrie – insbesondere bei MAN, Dornier, Messerschmidt und wichtigen Zulieferern dieser Unternehmen – vgl. Hetzer, Rüstungseinsatz 1988. Zu den Verhaftungswellen und zur Elitenkontinuität vgl. Schanetzky, Profiteure 2004; Ahrens, „Säuberung“ 2010; Großbölting/Schmidt, Unternehmerwirtschaft 2002, insbesondere S. 36 f. Zu den „Industriellenprozessen“, den Nachfolgeprozessen des Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozesse (im Einzelnen: Prozess Wirtschafts- und Verwaltungshauptamt der SS (13.1.–3.11.1947), Flick-Prozess (18.4.–22.12.1947), I. G.-Farben-Prozess (14.8.1947– 30.7.1948)) vgl. Gausmann, Großunternehmer vor Gericht 2005 sowie die diesbezüglichen Beiträge in: Ueberschär, Nationalsozialismus vor Gericht 1999; Wiesen, Challenge 2001, S. 52–93; kurz und prägnant bei Weinke, Nürnberger Prozesse 2006, S. 84–91.

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III. Das Erkenntnisobjekt taucht auf

Vorprodukten und Rohstoffen, Energieengpässen, einer sich erst im Neuaufbau befindlichen staatlichen Verwaltung mit unklaren Zuständigkeiten, zerstörten Transportwegen, der drohenden und später auch realen Enteignung ostdeutscher Zweigbetriebe sowie einer „aufgeblähten“ Währung und der vollständigen Bewirtschaftung des Devisenverkehrs zu kämpfen. Es fehlte an Kapital und an Informationen über Auslandsmärkte.46 Die unternehmerische Preisgestaltung blieb – auch das beruhte auf Überlegungen der Vorkriegs- und Kriegszeit – eingeschränkt, die realen Kostensteigerungen blieben weitgehend unberücksichtigt, Individualimporte blieben unzulässig und den Exporteuren war es verboten, die Waren selbst im Ausland anzubieten und abzusetzen. Der Aufmerksamkeitshorizont schrumpfte infolgedessen auf die kleinräumliche Sphäre der Ansiedlungsregion. Die Zusammenarbeit vor Ort und nicht der internationale Markt bestimmte das Denken und Handeln. Hier mag es deutliche Unterschiede zwischen Großunternehmern und Unternehmern der mittelständischen Industrie gegeben haben, doch insgesamt galt es zunächst für alle, den – nach dem Verlust der sogenannten Ostgebiete nun deutlich kleineren – heimischen Markt abzusichern. Für Exporte blieben die Produktionskapazitäten ohnehin noch einige Zeit zu gering und baldige Direktinvestitionen aufgrund des allseits beklagten Kapitalmangels unwahrscheinlich. Dieser Trend zur Konzentration auf die Heimatregion und auf die westlichen Besatzungszonen als Absatzmärkte wurde durch die Enteignung des Auslandsvermögens, komplizierte Exportverfahren,47 das Problem der Währungsrelationen48, die Festlegung der Exportpreise durch die Militärregierungen und den Mangel an Informationen über das Ausland noch einmal verstärkt.49 Hierbei handelte es sich um grundsätzliche Exportschwierigkeiten. Sie waren unabhängig von den Zielländern des Warentransports und erschwerten den gesamten Außenhandel. Die Unternehmer bewerteten die kurzfristigen Zukunftsaussichten des deutschen Außenhandels zunächst zurückhaltend.50 Ein baldiger Erfolg schien auch aus drei weiteren Gründen kaum erwartbar. Erstens war die Verstaatlichung des 46 47

Vgl. 1. Sitzung des Zonalen Außenhandelsausschusses am 1.7.1947, S. 3, RWWA 181-1550-3. Bis Mai 1948 musste jedes einzelne Ausfuhrgeschäft genehmigt werden. Mit dem neuen Außenhandelsverfahren kamen zwar erhebliche bürokratische Vereinfachungen, weiterhin problematisch blieben jedoch die Umrechnungskoeffizienten zwischen Weltmarktpreis und Reichsmarkstoppreis. 48 Das JEIA-Verfahren unter Anwendung von festen Währungskoeffizienten verhinderte, dass bei steigenden Weltmarktpreisen auch der Erlös des deutschen Exporteurs stieg. 49 Vgl. Protokoll der 2. Sitzung des Ausschusses für Aussenhandel der Industrie- und Handelskammern der Zonen am 20.9.1946, S. 2–4, RWWA 181-1550-3. Zitat von Dr. Krusius von der IHK Solingen, in: ebd., S. 2. Vorerst erhielten die deutschen Exporteure für ihre Ausfuhren den jeweils amtlich anerkannten Großhandels-Inlandspreis in Reichsmark, gleichgültig, welcher Dollar-Preis seitens der OMGUS bei der Ausfuhr erlöst wurde. Durch diese Regelung war es nicht möglich, dass deutsche Exporteure eigene Devisen einnahmen. Zudem waren Inlandspreise nicht frei, sondern wurden von der Preisbildungsstelle festgelegt. Das konnte bedeuten, dass Exportpreise unter den Selbstkosten erlöst wurden. Vgl. Niederschrift über die Tagung des Aussenwirtschaftsausschusses der Industrie- und Handelskammern der US-Zone am 22.11.1946, S. 6, RWWA 181-1550-3. 50 Schon Christoph Buchheim ging davon aus, dass bis 1948 nur ein geringes Interesse der Industrie am Export bestanden habe. Vgl. Buchheim, Wiedereingliederung 1990, S. 51–55.

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Exports zu Kriegszeiten kein ausschließlich deutsches, sondern ein internationales Phänomen gewesen. Die Außenhandelskreise rechneten dementsprechend damit, zukünftig auf Auslandsmärkten mit einer im hohen Maße staatlich gelenkten und kontrollierten Wirtschaft konfrontiert zu werden.51 Zweitens blieben die besatzungspolitischen Absichten der Alliierten vorerst unklar.52 So ließ sich nicht antizipieren, welchen Einfluss die alliierten Besatzer auf die Geschäfte im Außenhandel nehmen würden. Anfänglich war es alles andere als absehbar, dass die zentrale Außenhandelsbehörde der Alliierten – die 1946 gegründete Joint Export Import Agency (JEIA)53 – die deutsche Handelspolitik auf der Grundlage der „Aussenhandelszwangswirtschaft“ der 1930er Jahre wiederaufbauen würde. Drittens blieb auch die Rolle der Interessenvertretungen des Außenhandels im Nachkriegsdeutschland ungewiss. Zahlreiche Bundesverbände konnten sich erst 1948/49 wieder gründen, und auch die Industrie- und Handelskammern hatten bei den Besatzungsmächten für die Beibehaltung der Kammerstruktur zu kämpfen und mussten sich bei den neuen Regierungsstellen zunächst noch als Ansprechpartner etablieren.54 Auch dies erschwerte die langfristigen Planungen im Außenhandel. Die mit dem Außenhandel befassten staatlichen Stellen verwiesen daher darauf, dass die Steigerung der deutschen Ausfuhr sich nur dadurch erzielen lasse, dass der „Initiative des deutschen Fabrikanten und des deutschen Exportkaufmanns möglichst freier Spielraum gegeben wird“ und dass die „jetzigen bürokratischen Fesseln auf deutscher Seite und auf Seite der Militärregierung weitgehend beseitigt werden“ müssten.55 Das weit verbreitete Gefühl der Unsicherheit steigerte sich zu einer regelrechten „Lethargie“.56 In einer gemeinsamen Entschließung der Außenwirt51 52

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Vgl. Protokoll der 2. Sitzung des Ausschusses für Aussenhandel der Industrie- und Handelskammern der Zonen am 20.9.1946, S. 4, RWWA 181-1550-3. Die daraus resultierende Unsicherheit wurde dadurch befördert, dass auf Grundlage der Potsdamer Erklärung jede Besatzungsmacht in ihrer Zone die Im- und Exporte nach Belieben regulieren konnte. Die legale Grundlage für den Export bot der Artikel 13, Absatz 3. Die aktuelle Preisregulierung beruhte auf älteren deutschen Gesetzen und Verordnungen sowie auf neuen alliierten Regulierungen. Vgl. Formation of Inner German Export Prices, Report made by Dr. Erich Eiswaldt, of Munich at the Meeting of the Bizonal External Trade Committee in Frankfurt/Main on January 24th, 1947, RWWA 181-1550-3. Zu den unterschiedlichen wirtschaftspolitischen Zielen der Besatzungsmächte, die sich zum Teil aus ihrer unterschiedlichen ökonomischen Tradition, zum Teil aus den unterschiedlichen Erfahrungen während des Zweiten Weltkrieges ergaben, vgl. die knappe Zusammenstellung der wichtigsten Unterschiede bei Benz, Deutschland unter alliierter Besatzung 1999, S. 21–89. Die JEIA wurde 1946 mit dem Bevin-Byrnes-Abkommen zur Schaffung der Bizone ins Leben gerufen. Ihr oblag bis zum 28.11.1949 als zentrale Außenhandelsbehörde der westlichen Besatzungsmächte die handelspolitische Verantwortung. Sie hatte ihren Sitz in Frankfurt am Main. Grundsätzlich: Sowade, Wegbereiter 1992; Gehlen, Industrie- und Handelskammern 2016, insbesondere S. 53–61. Da in der unmittelbaren Nachkriegszeit im Bereich des Überseehandels vor allem die Handelskammern der Hansestädte von Bedeutung waren, hier nur der Verweis auf die Literatur zur HK Hamburg: Gramann, Von der Kriegs- zur Friedenswirtschaft 1982; Gelder, Märkte der Welt 1982. Zur Vorgeschichte vgl. Bahnsen, Hanseaten unter dem Hakenkreuz 2015. Neufassung des Referentenentwurfs der Hauptabteilung Aussenwirtschaft der Verwaltung für Wirtschaft vom 27.1.1948, S. 4 f., RWWA 181-1550-3. So argumentierten bereits die Zeitgenossen. Vgl. Friedensburg, Grenzen 1951/1952, S. 35; Dr. Krusius von der IHK Solingen, zitiert in: Protokoll der 2. Sitzung des Ausschusses für Aussen-

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III. Das Erkenntnisobjekt taucht auf

schaftsausschüsse der Industrie- und Handelskammern der US-Zone war im Jahr 1946 zu lesen, dass „in weiten Kreisen der deutschen Ausfuhrwirtschaft eine zunehmende Exportmüdigkeit unverkennbar“ sei.57 Diese „Exportmüdigkeit“ schien aus deutscher Perspektive durchaus im Interesse der Alliierten zu liegen. So interpretierten es zumindest diejenigen, die vermuteten, dass die Besatzungspolitik dazu diene, die Rückgewinnung alter Exportpositionen durch deutsche Unternehmen zu verhindern.58 Die Abschottung der Auslandsmärkte von deutschen Waren lag aus deutscher Sicht im britischen und im US-amerikanischen Interesse. Während den Briten grundsätzlich unterstellt wurde, dass „bei ihnen der Wille zur Ausschaltung der deutschen Konkurrenz den zur ausgeglichenen Zahlungsbilanz dominieren würde“, war man der Ansicht, dass die US-amerikanische Militärregierung der deutschen Ausfuhr nicht durchweg unfreundlich gesinnt sei.59 Letzteres führte der hier zitierte Außenwirtschaftsausschuss der Industrie- und Handelskammern der US-Zone 1946 darauf zurück, dass die US-amerikanische Industrie „am Weltmarkt nicht mehr so stark interessiert sei, da sie durch die Bedürfnisse des einheimischen Marktes grossenteils in Anspruch genommen werde“ – eine Annahme, die sich nicht bestätigen sollte, die aber zumindest Hoffnungen auf baldige gute Geschäftskontakte mit den „iberoamerikanischen“ Staaten nährte.60 Die französische Besatzungspolitik schien zwar vor allem sicherheitspolitisch motiviert zu sein, doch auch dies ließ sich mit dem Ziel in Verbindung bringen, unliebsame deutsche Konkurrenz von den Weltmärkten fern zu halten.61 Zu dieser Interpretation der Besatzungszeit als Phase der Konkurrenzausschaltung passt, dass selbst die Entflechtungsbemühungen der Alliierten in der chemischen und der eisenerzeugenden Industrie von den deutschen Unternehmern branchenübergreifend weniger als wettbewerbspolitischer Eingriff denn als gezielte Benachteiligung der deutschen Unternehmen auf dem Weltmarkt gedeutet wurden. Nicht die Bekämpfung des deutschen Militarismus oder die Auflösung von Monopolen sei das eigentliche Ziel der Alliierten, sondern die Schwächung der deutschen Exportindustrie. Die Entflechtung verursache bewusst Kostensteigerungen und verringere absichtlich die Exportchancen der betroffenen Branchen.62 Auch wenn derartige Klagen gezielt als Argumente gegen die Beschränkungen durch die Besatzungsmächte eingesetzt wurden, so treffen sie doch den Kern eines weit verbreite-

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handel der Industrie- und Handelskammern der Zonen am 20.9.1946, S. 2, RWWA 181-15503; Kapferer, Exportlethargie 1951. Entschließung der Aussenwirtschaftsausschüsse der Industrie- und Handelskammern der USZone vom 22.11.1946, S. 8, RWWA 181-1550-3. Vgl. u. a. BArch B 102/2263 2/2. Niederschrift über die Tagung des Aussenwirtschaftsausschusses der Industrie- und Handelskammern der US-Zone am 22.11.1946, S. 2, RWWA 181-1550-3. Ebd., S. 3. Allerdings fällt das große Desinteresse der deutschen Unternehmer an den damaligen französischsprachigen Gebieten außerhalb Europas auf. Auch heute noch sind deutsche MNUs/TNUs in diesen Ländern vergleichsweise inaktiv. Dieses Argument wurde bis in die 1950er Jahre hinein ständig wiederholt. Vgl. etwa Niederschrift der Arbeitstagung der Auslandshandelskammern am 9.5.1956 in Hannover, S. 5, RWWA 181-2078-2. Zur alliierten Entflechtungspolitik vgl. Gramer, Entflechtung 2001.

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ten Gefühls. Ein Auslandsengagement schien unter den geschilderten Bedingungen ein Verlustgeschäft zu werden, das man sich angesichts allseits knapper Ressourcenausstattung nicht leisten zu können glaubte.63 Zahlungsbilanzprobleme, die sogenannte Dollarlücke und die zunehmende Verfestigung der Demarkationslinie zwischen „Ost“ und „West“ ließen zwar auf Seiten der „westlichen“ Alliierten die Bedenken gegen die Wiederaufnahme des deutschen Außenhandels zurückgehen. Dennoch blieben zahlreiche Beschränkungen vorerst in Kraft. So war noch Ende der 1940er Jahre „eine persönliche Bereisung der Märkte, um sich aus unmittelbarer Anschauung eine Kenntnis der Verhältnisse zu verschaffen“ kaum möglich und ließen sich Marktlage und -bedingungen im Exportgeschäft meist nur durch Informationen „aus zweiter Hand“ einschätzen.64 Noch als die handelspolitische Verantwortung an die deutsche Bundesregierung überging, zeichneten die Außenwirtschaftsausschüsse des Handels und der Industrie daher ein düsteres Bild: Die Konkurrenten hätten sich mittlerweile der vormals angestammten Märkte bemächtigt. „Unsere Ausfuhrindustrie ist z. T. zerschlagen oder demontiert, die technische Ausrüstung überaltert. Die ganze Apparatur der Aussenwirtschaft existiert nicht mehr und der Wiederaufbau ist bis heute nur unvollkommen möglich gewesen. Der Ausreise deutscher Kaufleute stehen noch heute die grössten Schwierigkeiten entgegen, wenn auch der Fortschritt gegenüber dem Anfang keineswegs verkannt wird. Die Arbeit der deutschen Vertreter im Ausland ist nur unter nachteiligen Bedingungen möglich und amtliche Auslandsvertretungen sind Deutschland nur in kleinem Ausmass zugebilligt worden. Diese werden im Laufe des Jahres errichtet werden und damit zum ersten Mal wieder die Möglichkeit geben, Marktanalysen und Informationen aus erster Hand zu gewinnen. Der Neuerwerb der beschlagnahmten und enteigneten gewerblichen Schutzrechte war bis heute weitgehend unmöglich. Weitere grosse Behinderungen sind das Fehlen der Meistbegünstigung, Begrenzung des Schiffbaus, Verbot der Versicherungstätigkeit im Ausland u. a. Der deutsche Aussenhandel hat heute noch in keiner Weise die gleichen Startbedingungen wie unsere Konkurrenten.“65

Trotz aller geschilderten Schwierigkeiten galt nicht wenigen Unternehmern die Rückeroberung ihrer ausländischen Vorkriegsmärkte nicht nur unternehmenspolitisch geboten, sondern auch als notwendige Voraussetzung einer stabilen Weltwirt63

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Die Problemwahrnehmung unterschied sich jedoch erheblich in Bezug auf Branche und Unternehmensgröße. Die Einstellung gegenüber dem Export könne, so beispielsweise der Frankfurter Vertreter im Ausschuss für Aussenhandel der Industrie- und Handelskammern der Zonen am 20. September 1946, in drei Strömungen unterteilt werden: „Während die ausgesprochene Luxusindustrie grosses Exportinteresse zeigt, wollen andere Wirtschaftszweige nur unter der Bedingung der Substanzerhaltung, d. h. der Sicherung des Materialnachschubes exportieren. Die Markenartikelindustrie hegt grosse Befürchtungen wegen der Preisstellung, die für sie besonders entscheidend ist“. Dr. Brach (IHK Frankfurt), Protokoll der 2. Sitzung des Ausschusses für Aussenhandel der Industrie- und Handelskammern der Zonen am 20.9.1946, S. 4, RWWA 181-1550-3. So rückblickend in Bezug auf das Jahr 1948: Tätigkeitsbericht des Afrika-Vereins 1953, S. 1, Staatsarchiv Hamburg Z 314/0008. Die ersten von den alliierten Behörden erteilten Genehmigungen zu größeren Auslandsreisen gingen an herausgehobene Mitglieder der Ländervereine. So der Hinweis im Tätigkeitsbericht des Afrika-Vereins 1957, S. 1, Staatsarchiv Hamburg Z 314/0008. Bericht über die Tagung des Aussenwirtschaftsausschusses am 31.3.1950, S. 2, RWWA 1811550-3.

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schaftsordnung. Es kann konstatiert werden, dass sich der Rahmen des Betätigungsfeldes vorerst nur langsam über die nähere Umgebung der verbliebenen Produktionsstätte(n) ausweitete. Doch blieb davon das jeweilige mittel- und langfristige Außenhandelsziel unbeeinflusst, auch wenn sich der Fokus auf diejenigen Märkte jenseits des sowjetischen Einflussbereichs verschob, die bereits vor der Weltwirtschaftskrise 1929/30 wichtige Bestandteile der deutschen Außenhandelsbeziehungen gewesen waren – das heißt insbesondere auf die USA, die unmittelbaren Nachbarländer, „Iberoamerika“ und den „Nahen Osten“. Trotz der Vielzahl akuter Probleme setzten die Außenhandelskreise ihre langfristigen Hoffnungen nicht nur auf den Binnen-, sondern auch auf den Weltmarkt. 3. EIN UNERWARTETER BOOM Die skeptische und besorgte Stimmung, die im letzten Kapitel skizziert wurde und die sich nicht selten in Schuldzuweisungen Luft machte, verschwand auch nicht in den Jahren des Booms. In den Akten der exportorientierten Verbände finden sich zahlreiche Hinweise darauf, dass beim Exportgeschäft nach der Staatsgründung ob der „größeren Risiken und (…) geringeren Gewinne“ im Außenhandel weiterhin zahlreiche Bedenken bei deutschen Unternehmern zu überwinden waren.66 Zahlreiche Außenhandelshindernisse bestanden weiter und auch die in der deutschen Wirtschaftsstruktur selbst liegenden Ursachen für die Weltmarktabstinenz verschwanden nicht schlagartig. Erstens mussten sich die Anhänger des Freihandels im Unternehmerlager und in zahlreichen Gremien gegen die Verfechter von Abschottung und kontinentaler Großraumbildung durchsetzen.67 Zweitens mussten Produktionskapazitäten und Infrastruktur den Export überhaupt erst einmal zulassen. Drittens hemmte der Mangel an Eigen- und Fremdkapital.68 Viertens blieb es schwierig, jahrelang kaum beanspruchte Geschäftskontakte zu reaktivieren oder neue anzubahnen. Fünftens galt es, den Mangel an Informationen über ausländische Märkte zu beheben oder zumindest zu kompensieren. Die Beschreibungen der Problemlagen um 1950 glichen daher in mancherlei Hinsicht denen aus der Zeit vor der Staatsgründung. Als am 12. Oktober 1950 der Hamburger Oberbürgermeister Max Brauer vor den versammelten Kaufleuten der Hansestädte betonte, dass Westdeutschland „heute nichts anderes als ein größeres Belgien ohne den Kongo“ sei, brachte er zum Ausdruck, wie sich die Selbstwahrnehmung durch die Kriegsniederlage geändert hatte.69 Nicht mehr die Großraumwirtschaft USA oder das britische 66

So bereits: Zusammenfassung der Tagung des Außenhandelsbeirats vom 5.10. und 30.10.1949, S. 1, RWWA 181-1594-1. 67 Reinhard Neebe hat diesen Prozess als lang und konfliktreich beschrieben. Vgl. Neebe, Überseemärkte 1991. Hier zeigt sich noch einmal, warum die Adenauer-Ära zu Recht als Zeit der schmerzhaften Modernisierungsprozesse gilt. Vgl. Schildt/Sywottek, Modernisierung im Wiederaufbau 1993; Schildt/Siegfried/Lammers (Hg.), Dynamische Zeiten 2000. 68 Zum Kapitalmangel deutscher Unternehmen und zur damaligen staatlichen Kreditpolitik vgl. von Delhaes-Guenther, Erfolgsfaktoren 2003, S. 114–124. 69 Rede von Bürgermeister Max Brauer, gehalten anläßlich des Ibero-Amerika-Tages am 12.10.1950 in Hamburg, S. 1, Staatsarchiv Hamburg 135–1 VI 1849.

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Empire, sondern Belgien und noch dazu ein Belgien ohne Kolonialbesitz schien mittlerweile der passende Vergleichsmaßstab zu sein.70 Insbesondere in den offiziellen Berichten und Stellungnahmen der Industrievertreter wurden die schwierigen Bedingungen im Außenhandel und die schlechte Stimmung unter den Exporteuren auch weiterhin betont. Auf diese Weise ließ sich schließlich eine hohe staatliche Exportförderung begründen. Diese wurde als notwendig erachtet, um die beschriebene „Lethargie“ zu überwinden und das in baldiger Zukunft anstehende Auslaufen des Marshallplans zu kompensieren.71 Während schon frühzeitig ausländische Exportförderprogramme als Wettbewerbsverzerrung angeprangert wurden, wurden die eigenen Exportfördermaßnahmen allerdings als Instrumente zur Herstellung internationaler Chancengleichheit etikettiert.72 Die Vertreter der exportorientierten Industrie sprachen anstelle von Exportsubventionen lieber von „Maßnahmen zur Wiederherstellung der Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft“.73 Dabei wurde zunächst die Frage des Exporthandels in eine „Frage auf Leben und Tod“ umdefiniert.74 Denn in einem seines agrarischen Hinterlandes „beraubten“ Staat habe fortan der Exporthandel jenes Geld zu verdienen, das für Importe benötigt würde.75 Die deutsche Bevölkerung könne von ihrer Kaufmannschaft erwarten, „daß sie ihre Lebensbedingungen durch Öffnung deutscher Exportwege verbesser[e]“ und durch „kaufmännische Fähigkeit und kaufmännische Intelligenz“ dafür Sorge trage, „daß das deutsche Volk wieder Boden unter den Füßen gewinn[e]“.76 Der hier zitierte Hamburger Bürgermeister stand mit seiner Gegenwartsdiagnose keineswegs alleine da. Auch von Industriellen und Händlern wurde diese Position geteilt. Sie betonten stets, dass die junge Bundesrepublik auf ihr 70

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Das Interesse an Belgisch-Kongo war dabei in den Nachkriegsjahren unter Außenhandelskreisen erstaunlich groß. Diesem Gebiet ist auch die erste öffentlichkeitswirksame Wirtschaftsschau der Ländervereine im Jahre 1955 gewidmet. Nicht vergessen darf dabei aber werden, dass Belgien durchaus eine außerordentlich erfolgreiche Außenwirtschaft besaß. Vgl. von Delhaes-Guenther, Erfolgsfaktoren 2003, S. 95. Der Marshallplan (European Recovery Plan (ERP)) endete 1952. In der damaligen Zahlungsbilanzlogik war daher eine wesentliche Steigerung des Exports in die sogenannten Hartwährungsländer ratsam. Die Steigerung des Bruttoinlandsproduktes durch die ERP-Mittel war allerdings eher gering, das schnelle Wachstum ging insbesondere auf die Sonderbedingungen des Wiederaufbaus und auf eine Liberalisierung des Außenhandels zurück. Zum Verhältnis von Marshallplan und Export vgl. Bührer, Erzwungene oder freiwillige Liberalisierung 1990. Vgl. Memorandum des Bundesverbandes der Deutschen Industrie zur Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft vom 27.9.1955, BArch B 102/7096. Vgl. Protokoll des Aussenwirtschaftsausschusses der deutschen Wirtschaft vom 19.10.1955, S. 5, RWWA 181-1594-1, Zitat ebd. Ähnliche Argumentationen kamen auch aus dem Bundeswirtschaftsministerium. Vgl. Reinhardt, Gegenwartsprobleme 1954, S. 130 f. Rede von Bürgermeister Max Brauer, gehalten anläßlich des Ibero-Amerika-Tages am 12.10.1950 in Hamburg, S. 1, Staatsarchiv Hamburg 135–1 VI 1849. Zur Idee des für Hamburg verlorenen Hinterlandes vgl. Michalski, Hamburg 2010, S. 319. Zur Situation der nun auf ein Viertel der vor dem Krieg bewirtschafteten Nutzfläche geschrumpften Landwirtschaft vgl. Zürndorf, Preis der Marktwirtschaft 2006, S. 34. Rede von Bürgermeister Max Brauer, gehalten anläßlich des Ibero-Amerika-Tages am 12.10.1950 in Hamburg, S. 1, Staatsarchiv Hamburg 135–1 VI 1849.

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kaufmännisches Geschick und die Erfahrung ihrer Kaufleute angewiesen sei. Zudem gingen auch einflussreiche Bundespolitiker davon aus, dass für das geografisch verkleinerte und politisch einflusslose Deutschland der Export mehr denn je zu einer existenziellen Frage geworden sei. Die Bundesrepublik sei „in einem viel größere, Ausmaß auf Warenaustausch mit dem Ausland angewiesen als Gesamtdeutschland vor dem Kriege“.77 Außenhandel versprach nicht nur die Sicherung der Ernährungsbasis der eigenen Bevölkerung, sondern alsbald auch neue Weltgeltung und internationale Anerkennung. Die Verknüpfung von deutschem Kriegsschicksal, aktueller Notlage und eigener kaufmännischer Fähigkeit transformierte die Bedeutungslosigkeit der Exporteure in eine national überhöhte Aufgabe. Zeitgleich häuften sich aber bereits die zuversichtlichen Formulierungen. Auf einer Tagung des Außenhandelsbeirats im Oktober 1949 wurde zwar noch immer betont, die „Anregung des Willen (sic!) zum Export“ sei entscheidend, doch „nicht das pessimistische Motto ‚Export or expire‘, sondern das hoffnungsvollere Motto ‚Außenhandel bedeutet Leben‘“ solle nun gelten.78 Der Außenhandel war also nicht nur eine „Überlebensfrage“, sondern auch eine „Frage des guten Lebens“.79 Die Schnelligkeit des Exporterfolgs war für die Zeitgenossen dann aber doch verblüffend. Insbesondere die 1950 zu vermeldende Steigerung der Exportmenge und des Exportwertes wurde als „zunehmende Normalisierung der Verhältnisse“ gewertet, auch wenn im gleichen Atemzug noch betont wurde, „daß weitere erhebliche Anstrengungen unternommen werden müssen, um den Export zu steigern“.80 Der positivere Grundton in den Stellungnahmen zum Außenhandel hatte auch damit zu tun, dass mittlerweile zentrale Unwägbarkeiten der Zusammenbruchsgesellschaft überwunden waren. Nach 1950 war deutlich erkennbar, wie die deutsche Wirtschaftsordnung in Zukunft aussehen, welche Kompetenzen die Interessenvertretungen von Handel und Industrie haben und dass die Umstrukturierungen der Wirtschaft durch die Alliierten insgesamt beschränkt bleiben würden. Zudem relativierten sich die dringendsten Versorgungsprobleme und war die Industrieproduktion – für alle erstaunlich schnell – wieder angelaufen. Fortan überstiegen die Steigerungsraten der Ausfuhren den Anstieg der industriellen Produktion und des Sozialprodukts. Schon 1952 stand die Bundesrepublik hinter den Vereinigten Staaten, Großbritannien, Frankreich und Kanada wieder an fünfter Stelle der „Welthandels77

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Zotschew, Deutschland 1954, S. XI. Auch der Leiter der Außenhandelsabteilung im BDI, Edgar H. P. Meyer, betonte: „Die westdeutsche Wirtschaft ist nur lebensfähig, wenn es auf die Dauer gelingt, den großen Einfuhrbedarf Deutschlands sowohl auf dem Gebiete der industriellen Rohstoffe als auch zur Sicherung der Ernährung des deutschen Volkes aus den Erträgnissen des deutschen Industrieexportes zu finanzieren.“ Meyer, Aufgaben 1952, S. XIV. Vgl. auch Görtemaker, Kleine Geschichte 2004, S. 55–75. Zusammenfassung der Tagung des Außenhandelsbeirats vom 5.10. und 30.10.1949, S. 1, RWWA 181-1594-1. Der Verweis darauf, dass die Sicherung der Exportmärkte „für die Industriestaaten eine Lebensfrage“ sei, ist in den Folgejahren immer wieder zu finden. Bspw. in: Schreiben des Auswärtigen Amtes an die Auslandsvertretungen der Bundesrepublik Deutschland, vom 30.4.1951, BArch B 102/005950 Heft 2 und in: Bericht über die Vorstandssitzung der Arbeitsgemeinschaft Aussenhandel der Deutschen Wirtschaft am 14.2.1953, S. 9, RWWA 181-1555-2. Jahresbericht der IHK Mannheim 1950, S. 11.

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nationen“. Dabei ist zwischen Ein- und Ausfuhren sowie zwischen wert- und mengenmäßiger Erhebung zu unterscheiden. Dass diese je nach Veränderung des internationalen Preisgefüges erheblich auseinanderfallen konnten, zeigt sich einerseits beim Blick auf die Importe. Das Absinken der Weltrohstoffpreise gegenüber dem Preisniveau von Industrieerzeugnissen – ein Trend, der zunächst als vorübergehende Anomalie erschien, obwohl er von längerer Dauer sein sollte – führte dazu, dass die Importe 1953 zwar wertmäßig um rund ein Prozent zurückgingen, zugleich aber volumenmäßig um rund 13 Prozent gegenüber dem Vorjahr anstiegen.81 Dies ist auch auf der Exportseite zu bemerken: War schon die wertmäßige Steigerung der Ausfuhr um etwa neun Prozent auf 18,5 Mrd. DM von 1952 zu 1953 erstaunlich, so war die mengenmäßige Entsprechung noch beeindruckender. Um 17 Prozent stiegen die Exportmengen innerhalb eines Jahres, was allerdings auch einen erheblichen Preisrückgang auf den bundesrepublikanischen Exportmärkten bedeutete. Dennoch war man damit 1953 wie zuletzt im Jahre 1936 wieder der drittgrößte Exporteur der Welt.82 Allerdings verwies die im internationalen Vergleich niedrige Exportquote der deutschen Industrie in Höhe von 12,1 Prozent (1953) darauf, „daß hier noch ein erheblicher Wachstumsspielraum besteht“, wie in einem BDI-Bericht von 1954 festgehalten wurde.83 In diesem Jahr stiegen der Auslandsumsatz am industriellen Gesamtumsatz auf 13,1 Prozent und die Gesamtumsätze im Außenhandel (Ein- und Ausfuhren) um 19,7 Prozent auf 41,3 Mrd. DM. Obwohl die Durchschnittswerte der Ausfuhren leicht absanken, überschritt die Gesamtausfuhr 1954 erstmalig die 20 Mrd. DM-Grenze.84 Der wertmäßige Zuwachs des Exports betrug dabei – innerhalb eines Jahres – 19 Prozent. Zugleich führte der wachsende Bedarf an ausländischen Rohstoffen und Halbwaren auch zu einem drastischen Anstieg der Einfuhr. Auch hier fällt wieder die Differenz zwischen mengen- und wertmäßiger Entwicklung ins Auge: Während sich die Außenhandelsmenge im Vergleich zum Vorjahr um 24,5 Prozent erhöhte, nahm der Wert des gesamten Außenhandels nur um 4,2 Prozent zu.85 Folglich mussten vermehrt Preiszugeständnisse auf den Auslandsmärkten gemacht werden. Allerdings war man damit nun auch bei den Einfuhren die drittgrößte „Welthandelsnation“, wobei die Abstände zu Frankreich (4.) und Kanada (5.) jedoch gering blieben und sich der Abstand zu Großbritannien und den USA kaum verringerte. Letztere blieben mit einer fast doppelt beziehungsweise mehr als dreimal so hohen Einfuhr und ca. 50 Prozent beziehungsweise 236 Prozent höheren Exporten auf absehbare Zeit die beiden führenden „Handelsnationen“ der Welt.86 81 82 83 84 85 86

Vgl. Jahresbericht des BDI 1953/1954, S. 100. Nach den USA und Großbritannien. 1953 nahm die Bundesrepublik bei der Einfuhr den fünften Platz weltweit ein. Vgl. ebd., S. 15. Vgl. ebd., S. 16, Zitat ebd. Und zwar mit 22,0 Mrd. ziemlich deutlich. Vgl. Jahresbericht des BDI 1954/1955, S. 104 f. Vgl. ebd., S. 104. Dies die Zahlen für 1954. Ein ähnliches Bild zeigt der Vergleich der Exporte auf der Basis von Pro-Kopf-Werten. Zwischen der Pro-Kopf-Ausfuhr Großbritanniens (708 DM) und der Bundesrepublik (514 DM) bestanden noch drastische Unterschiede. Vgl. Jahresbericht des BDI 1955/1956, S. 96.

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III. Das Erkenntnisobjekt taucht auf

Es ist wichtig zu bemerken, wie unerwartet die Außenhandelserfolge kamen. Konrad Adenauer brachte die allgemeine Überraschung 1954 in einer Rede vor den versammelten Außenhandelskreisen der Hansestädte zum Ausdruck, als er betonte, dass „niemand von uns (…) 1949 einen Ausfuhrüberschuss von fast 2 ½ Milliarden DM, wie ihn das Jahr 1953 gebracht hat, für möglich gehalten [hätte]“.87 Manch ein Unternehmer konnte wie Hermann von Siemens anlässlich des 105-jährigen Firmenjubiläums bereits im Jahr 1952 darauf verweisen, dass man wieder auf allen Weltmärkten aktiv sei: „Wir sind heute auch technisch wieder gleichwertige Partner gegenüber den grössten Unternehmen des Auslandes. Die günstige Entwicklung des Exports (…) hat angehalten. In vielen Ländern, insbesondere auch in Übersee, haben wir unsere Stützpunkte aufgebaut. Wir sind in aller Welt wieder zu Hause, und Angehörige unserer Firmen erneuern im Ausland alte und stellen neue Verbindungen her.“88 Und die Industrie- und Handelskammer Mannheim sah bereits den Zeitpunkt gekommen, an dem sich auch „eine Reihe mittlerer und kleiner Firmen in das Auslandsgeschäft mit Erfolg neu einschalten“ könne.89 Als dann auch noch die Zahlungsbilanz solide Überschüsse auszuweisen begann, wurden erste Forderungen laut, die deutsche Wirtschaft müsse nun auch die Möglichkeit erhalten, „in stärkerem Masse als bisher ausländische Beteiligungen zu erwerben“.90 4. FLUCH UND SEGEN DER AUSSENHANDELSZUWÄCHSE 1955 stieg der Außenhandel nur noch im Rahmen der Steigerung der industriellen Produktion, so dass der Anteil der Exportumsätze am industriellen Umsatz (13,1 %) zum ersten Mal unverändert blieb.91 Zugleich verminderte sich der Ausfuhrüberschuss aufgrund der starken Zunahme der Einfuhr um 1,5 Mrd. DM auf 1,2 Mrd. DM.92 Da die Zunahme der deutschen Ein- und Ausfuhren ungeachtet dessen die Zuwachsrate des Welthandels dauerhaft überstieg, erhöhte sich der Weltmarktanteil Deutschlands weiter. Obwohl der wertmäßige Zuwachs von 16,8 Prozent gegenüber 18,8 Prozent im Jahre 1954 erstmalig unter der Steigerungsrate des Vorjahres 87 88 89

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Ansprache von Bundeskanzler Konrad Adenauer auf der Morgenveranstaltung des ÜberseeClubs am 7.5.1954, o. S., Staatsarchiv Hamburg 135–1 VI 1844. Von Siemens, Leistungsbericht 1952, S. 2. Jahresbericht der IHK Mannheim 1951, S. 16. Als traditionell wichtigste Kunden wurden die Schweiz, die Niederlande, Frankreich und Belgien genannt. Mit Abstand würden die übrigen Kontinente (in der Reihenfolge ihrer Bedeutung) folgen: Amerika, Asien, Afrika, Australien. Vgl. ebd. Dr. Reinhardt, zitiert in: Bericht über die Vorstandssitzung der Arbeitsgemeinschaft Aussenhandel der Deutschen Wirtschaft am 20.8.1953, S. 4, RWWA 181-1555-2. Grundsätzlich waren Direktinvestitionen bis zum Inkrafttreten des Außenwirtschaftsgesetzes (AWG) 1961 verboten, konnten aber seit 1952 in Ausnahmefällen genehmigt werden. Bereits 1951 erfolgte die Genehmigung der Alliierten Hohen Kommission, dass deutsche Firmen wieder Niederlassungen im Ausland errichten durften und sich auch wieder an ausländischen Firmen beteiligen konnten. Hierzu und zu den diesbezüglichen Schwierigkeiten vgl. Schröter, Außenwirtschaft 1992, S. 88 f. und Eberstein, OAV 2000, S. 153. Vgl. Jahresbericht des BDI 1955/1956, S. 13. Gegenüber 1954. Vgl. ebd., S. 96.

Fluch und Segen der Außenhandelszuwächse

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blieb, wuchsen die Gesamtumsätze des deutschen Außenhandels über die 50-Milliarden-DM-Marke hinaus.93 Diese Zahl – so der Jahresbericht des Bundesverbandes der Deutschen Industrie 1956 – sei noch beeindruckender, wenn man sich vergegenwärtige, dass nun über 30 Prozent des westdeutschen Bruttosozialprodukts im Außenhandel erzeugt würden.94 1956 betrugen die Exporte erstmals mehr als 30 Mrd. DM. Der Anteil der Auslandsumsätze am Gesamtumsatz der Industrie, der im Vorjahr noch stagnierte, stieg um einen Prozentpunkt auf 14,1 Prozent. Auch der Ausfuhrüberschuss von 2,9 Mrd. DM lag dabei wieder leicht über dem Niveau von 1954.95 Sowohl die Ausfuhrüberschüsse als auch der Anteil des Exports am Gesamtindustrieumsatz sollten sich in den folgenden Jahren noch erhöhen. Die Exporte stiegen zwischen 1953 und 1957 von 18,5 auf 36,0 Milliarden DM, das Außenhandelssaldo von 2,5 auf 4, 3 Milliarden DM.96 All diese Zahlen zeigen, dass die Wachstumsraten im Außenhandel spektakulär waren. Sie sind aber nicht nur als Beschreibung eines wert- und mengenmäßigen Trends interessant. Aus kulturwissenschaftlicher Perspektive kommt es auch darauf an, dass und wie sie wahrgenommen wurden. Die Zahlen waren den interessierten Zeitgenossen bekannt, da sie sich in den regelmäßig erscheinenden Berichten sämtlicher Fachverbände wiederfanden und auch im Politik- und Wirtschaftsteil von Tages- und Wochenzeitungen nachzulesen waren. In den Außenhandelskreisen galten sie als Ausweis davon, „daß die deutsche Exportindustrie hinsichtlich der Qualität wie auch der Preise ihre volle Wettbewerbsfähigkeit wiedererlangt“ habe, wie im Jahresbericht des BDI von 1954 freudig kundgetan wurde.97 Die Zuwachsraten vermittelten den Zeitgenossen, dass sich eine neue deutsche Weltgeltung ankündigte. Trotz aller Verweise auf Schwierigkeiten waren die Zahlen der statistische Beleg für das „Wir sind wieder wer“. Gerade deswegen spielten Ranglisten wie die der größten Exporteure der Welt eine so große Rolle. Dass man in ihnen rasch ehemalige Kriegsgegner hinter sich gelassen hatte, war mehr als ein Nebeneffekt. Vielmehr betonten die Zeitgenossen diesen Umstand häufig und führten ihn als Beweis für den aus eigener Stärke erreichten Erfolg an.98 Wirtschaftshistoriker haben dargelegt, dass der Aufstieg der deutschen Exportunternehmen erheblich durch die einmalige Weltkonjunktur nach dem Zweiten Weltkrieg begünstigt wurde.99 Es handelte sich beim „Wirtschaftswunder“ nicht um eine singuläre deutsche Erscheinung, sondern um ein „Welt-Wirtschaftswunder“.100 Die deutschen Zeitgenossen hatten eine andere, monokausale Erklärung parat: Für sie beruhten die Exporter93 Vgl. ebd., S. 94. 94 Diese Prozentzahl basiert darauf, die Höhe der Importe und der Exporte zu addieren und sie zum BSP in Beziehung zu setzen. Sie ist damit nicht ganz korrekt, weil die Importe nicht in das BSP eingehen. Vgl. ebd. 95 Vgl. Jahresbericht des BDI 1956/1957, S. 103. 96 Zahlen aus Hardach, Rückkehr 1998, S. 98. Grundlage dieser Erhebung waren Daten des Statistischen Bundesamts: Bevölkerung und Wirtschaft 1872–1972, Stuttgart 1972, S. 191. 97 Jahresbericht des BDI 1953/1954, S. 99. 98 Vgl. die Außenhandelsberichte von BDI, DIHT und den Branchenverbänden. 99 Vgl. Judt, Geschichte Europas 2006, S. 362–398; Abelshauser, Wirtschaftsgeschichte 2005, S. 275–301. 100 Knut Borchardt zitiert nach Wehler, Gesellschaftsgeschichte 2009, S. 48.

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folge „auf der Leistung der deutschen Unternehmer und Arbeiter, die in Wiederaufnahme alter Qualitätstradition und in methodischer Produktionsführung den früheren Ruf deutscher Erzeugnisse in der Welt erneuert“ hätten.101 Bei all diesen aggregierten Zahlen ist allerdings auch zu berücksichtigen, dass sie die Lage in den einzelnen Branchen nur unzureichend beschreiben und erst recht kein Bild von der Situation einzelner Unternehmen bieten können. Deutlich schlechter sah es etwa in der „Flüchtlingsindustrie“ und den „Verlagerungsbetrieben“ aus.102 Auch diejenigen Industriezweige, für die die massivsten alliierten Beschränkungen gegolten hatten (etwa im Bereich der Rüstungsindustrie), hatten anfänglich nur einen geringen Anteil am deutschen „Exportwunder“.103 Andere Industriezweige waren indes schon frühzeitig durch eine hohe Exportintensität geprägt. Beispielsweise waren Ausfuhranteile am Gesamtumsatz von 35 Prozent im Schiffbau sowie in den Bereichen Musikinstrumente/Spielwaren und Feinmechanik/Optik keine Seltenheit. Doch auch innerhalb der exportorientierten Branchen gab es erhebliche Unterschiede: So war etwa 1955 im Maschinenbau der Bereich der Druck- und Papiermaschinen mit einer Exportquote von 67,8 Prozent führend.104 Auch die Ausfuhr von Lokomotiven (56,9 %), Textilmaschinen (56,5 %), Nahrungsmittelmaschinen (56,4 %) und Prüfmaschinen (55,3 %) überstieg deutlich den für die Gesamtbranche angegebenen Satz von 32,8 Prozent.105 Insbesondere diese herausragend hohen Exportquoten wurden zunehmend als Risiko wahrgenommen, schienen diese Branchen doch äußerst verwundbar, falls es zu einem Einbruch der Weltkonjunktur kommen sollte.106 Mitte der 1950er Jahre wurden selbst die weiterhin bestehenden Probleme – insbesondere die Versorgung der Export-Industrie mit Kohle, Eisen und Stahl sowie die Notwendigkeit von Nahrungsmittelimporten – in den Außenhandelsausschüssen von Handel und Industrie nur noch nachrangig behandelt. Infolgedessen verengte sich die Wahrnehmung des zuvor als extrem vielfältig und komplex erachteten Problems des deutschen Außenhandels auf einige wenige Aspekte: erstens die Auswirkungen und politischen Regulierungsversuche des dauerhaften deutschen Zahlungsbilanzüberschusses, zweitens die Konsequenzen der Einbeziehung der Bundesrepublik in das westliche Militärbündnis für den Exporthandel, drittens die Probleme der mangelnden Konvertierbarkeit der Deutschen Mark und viertens die Sicherung deutscher Auslandsinvestitionen. Aus dem Zahlungsbilanzdefizitproblem wurde ein Problem des Zahlungsbilanzüberschusses. Hatte ein hohes Defizit gegenüber dem Ausland in den Jahren zuvor immer als Hauptproblem und als Grund für die Exportförderung gegolten, so 101 Jahresbericht des BDI 1954/1955, S. 15. 102 Gemeint waren damit jene Betriebe, deren Verwaltungssitze und Produktionsstätten zuvor nicht auf dem Gebiet der Bundesrepublik gelegen hatten. 103 Vgl. Jahresbericht des BDI 1955/1956, S. 98. 104 Die angegebenen Prozentzahlen sind auf den Wert, nicht auf die Menge der Produkte bezogen. 105 Vgl. Jahresbericht des BDI 1955/1956, S. 13. 106 Vgl. Jahresbericht des BDI 1957/1958, S. 101. Diesen Einbruch der Weltmarktkonjunktur erwartete man damals aufgrund der eigenen Erfahrungen mit den Konjunkturzyklen in der Weimarer Republik.

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wurden nun die Zahlungsbilanzüberschüsse als wichtiges Indiz für den ökonomischen Erfolg der jungen Republik gewertet.107 Dass die Exporte nun die Importe überstiegen, wurde zwar nicht nur in Außenhandelskreisen als Ausweis neuer Stärke gedeutet. Dietmar Petzina hat zudem mit Recht darauf hingewiesen, dass die steigenden Exportzahlen im öffentlichen Bewusstsein der fünfziger Jahre „ein Faszinosum eigener Art“ darstellten, „das seine Wirkung weit über die Fakten der Ökonomie hinaus entfaltete“.108 Dies darf allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass man, gestützt von den zeitgenössischen Wirtschaftswissenschaften, mehrheitlich die Ansicht vertrat, dass nur eine ausgeglichene Zahlungsbilanz als Ausdruck einer gesunden Wirtschaft zu gelten habe. Die wachsenden Aktivsalden, die den Zahlungsverkehr mit der Europäischen Zahlungsunion (EZU) und den Verrechnungsländern ebenso betrafen wie den Zahlungsverkehr mit „Übersee“, wurden daher als gravierendes Problem wahrgenommen.109 Schließlich waren zahlreiche ausländische Regierungen auf eine ausgeglichene Zahlungsbilanz gegenüber jedem Land bedacht. Sie versuchten, bei jedem einzelnen Handelspartner gleich hohe einund ausgehende Zahlungsströme zu erreichen. Somit drohte die Kontingentierung deutscher Exporte durch ausländische Regierungen, wenn die deutsche Ausfuhr in einzelne Länder drastisch anstieg, ohne zeitgleich ebenso hohe Importe aus diesen Ländern zu generieren.110 Lagen die bilateralen Zahlungsabkommen – die auf genau einen solchen Länderausgleich angelegt waren – wenige Jahre zuvor noch im deutschen Interesse, da diejenigen Länder, die in die Bundesrepublik exportieren wollten, ihre Grenzen auch für Importe aus der Bundesrepublik öffnen mussten, so wurden sie nun zu Exporthemmnissen für die bundesrepublikanischen Unternehmer. Dass der Ausstieg aus diesem bilateralen System kurzfristig kaum möglich 107 Statistiken zum Zahlungsbilanzdefizit/-überschuss von 1945–1958 bei Buchheim, Wiedereingliederung 1990, S. 184 f. Vgl. auch die Zahlen bei Hardach, Rückkehr 1998, S. 98. 108 Petzina, Isolation und Öffnung 2001, S. 108. 109 Während der Außenhandel mit den sogenannten „sonstigen Verrechnungsländern“ in den 1950er Jahren sich meist kaum auf die Zahlungsbilanz auswirkte – weil sich hier Aus- und Einfuhren fast die Waage hielten –, stammte der Großteil der Ausfuhrüberschüsse aus dem Handelsverkehr mit den EZU-Staaten, auf die immerhin ca. 70 % des westdeutschen Außenhandels entfielen. Verrechnungsländer waren Länder, mit denen ein Zahlungsabkommen abgeschlossen und mit denen der Zahlungsverkehr über Verrechnungskonten vorgenommen wurde. Durch die EZU wurde der Zwang zum bilateralen Ausgleich der Zahlungsbilanzen faktisch aufgehoben. Dabei war 1954 beispielsweise die Handelsbilanz gegenüber den Niederlanden in extremem Maße positiv (Einfuhren von 1052,2 Mio. DM standen Ausfuhren im Wert von 2330,2 Mio. DM gegenüber). Von den wichtigsten Handelspartnern wies man nur gegenüber Großbritannien (2291,8 : 1623,1 Mio. DM), den USA (2339,1 : 1270,9 Mio. DM), Brasilien (670,5 : 562,7 Mio. DM) und Argentinien (579,7 : 297,7 Mio. DM) eine passive Handlungsbilanz auf. Zwar war auch die Handelsbilanz gegenüber Frankreich passiv (1784,9 : 1620,9 Mio. DM), rechnet man jedoch das Saargebiet (507,6 : 257,5 Mio. DM) hinzu, so ergab sich hier der Sonderfall einer nahezu ausgeglichenen Handelsbilanz. Vgl. Jahresbericht des BDI 1954/1955, S. 105 f. Zum Ungleichgewicht der Zahlungsbilanz mit „Übersee“ vgl. den Bericht über die Vorstandssitzung der Arbeitsgemeinschaft Aussenhandel der Deutschen Wirtschaft am 20.8.1953, S. 1, RWWA 181-1555-2. 110 Vgl. Bericht über die Vorstandssitzung der Arbeitsgemeinschaft Aussenhandel am 28.05.1952, S. 1 f., RWWA 181-1555-2.

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war, führte zu einer starken Verknüpfung von Export- mit Importfragen.111 Anders als eine Dekade später, spielten Fragen der Einfuhrwirtschaft also auch in den Exportausschüssen eine bedeutende Rolle, wurden Reformen des Ein- und Ausfuhrverfahrens zumeist zusammen verhandelt. Der Exportüberschuss konfrontierte die Außenhandelskreise zudem erstmalig mit der Forderung, die Politik solle darauf hinwirken, statt des Exports die Konsumfähigkeit des deutschen Marktes zu stärken. Dies würde nicht nur dem Zahlungsbilanzausgleich dienen, sondern auch großen Teilen der deutschen Bevölkerung zugutekommen, die noch in „kärglichen Verhältnissen“ lebten und so teilweise als Konsumenten ausfielen. Nur eine Stärkung des Binnenmarktes und dessen Konsumkraft würde zu einem Anstieg der Importe führen, der dann wiederum Exporte ermögliche.112 Diesem Argument konnten sich auch die Außenhandelskreise nicht vollständig verschließen, denn zu lange schon hatten sie selbst mit dem Lebensstandard der deutschen Bevölkerung argumentiert. Da sie aber fürchteten, dass Lohnerhöhungen – und um diese ging es im Grunde bei der Forderung nach Steigerung der Konsumgüterimporte – die Wettbewerbsgrundlagen der Exportindustrie beeinträchtigen würden, forderten sie stattdessen den „unverzügliche[n] Abbau der überhöhten Steuerlasten“, womit vor allem die Steuern auf konsumnahe agrarische Produkte wie etwa Kaffee und Tee gemeint waren.113 Insgesamt konnten sich die Außenhandelskreise so wiederum als Vertreter der Interessen der gesamten Bevölkerung in Szene setzen und die Verbesserung der materiellen Versorgung breiter Bevölkerungsschichten in den Dienst der Sicherung der Exportmärkte stellen.114 Exportzuwächse wurden nur dann als ungetrübter Segen wahrgenommen, wenn die Einfuhren im gleichen Maße anstiegen. Da nur eine ausgeglichene Handelsbilanz als Ausweis einer gesunden Volkswirtschaft galt, versuchte die Bundesregierung, im Einklang mit der herrschenden Zahlungsbilanzlogik das Aktivsaldo gegenüber dem Ausland zu reduzieren. Drei Optionen standen dabei zur Wahl: das Auslaufen der bisherigen Exportförderung115, die Einführung einer Ausfuhrabgabe und die Steigerung der Importe. In der zweiten Hälfte der 1950er Jahre wurden insbesondere die ersten beiden Optionen von den Exporteuren als ernsthafte Bedrohung ihrer gerade erst wiedergewonnenen Weltmarktposition wahrgenommen.

111 Erst in den 1950er Jahren sollten sich die Diskussionen der Exportwirtschaft von denen der Importwirtschaft abkoppeln. 112 Vgl. Bericht über die Vorstandssitzung der Arbeitsgemeinschaft Aussenhandel der Deutschen Wirtschaft am 14.2.1953, S. 9, Zitat ebd., RWWA 181-1555-2. 113 Vgl. Jahresbericht des BDI 1953/54, S. 101, Zitat ebd. 114 Vgl. Bericht über die Vorstandssitzung der Arbeitsgemeinschaft Aussenhandel der Deutschen Wirtschaft am 14.2.1953, S. 9, RWWA 181-1555-2. 115 Die gesetzliche Grundlage der bisherigen Exportförderung war nur bis zum 31.12.1955 befristet worden, konnte also theoretisch einfach auslaufen, was den Wegfall zahlreicher Erleichterungen bedeutet hätte. Die steuerlichen Anreize des Ausfuhrförderungsgesetzes (AusFördG) von 1951 sind dargestellt bei von Delhaes-Guenther, Erfolgsfaktoren 2003, S. 108–114. Eine einflussreiche zeitgenössische Studie zu den Exportfördermaßnahmen wurde vom Bundeswirtschaftsministerium in Auftrag gegeben und stammt von Clodwig Kapferer (HWWA). Vgl. Kapferer, Überwindung 1955, BArch B 102/7091.

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Es ist aufschlussreich, sich hier die von den Außenhandelskreisen vorgebrachten Argumente genauer anzuschauen. Die Exporteure verwiesen 1956 etwa – nicht ganz zu Unrecht – auf den „zunehmenden Wettbewerbsdruck auf allen Auslandsmärkten“.116 Dieser zeige sich allein schon daran, dass die Ausfuhrmengen deutlicher als die Ausfuhrerlöse gestiegen seien. Bereits in den Vorjahren war immer wieder darüber geklagt worden, dass im Exportgeschäft die Gewinne niedriger seien als im deutlich risikoärmeren Binnenmarktgeschäft. Aufgrund dessen ließ sich damit argumentieren, dass selbst marginal einschränkende Maßnahmen die Bereitschaft zum Export stark beeinträchtigen könnten. Unter Exporteuren war es daher üblich zu behaupten, „daß die derzeitige Außenhandelslage noch viel zu labil ist, als dass irgendwelche Experimente verantwortet werden können“.117 Des Weiteren wurde auf eine Verzerrung der Statistik hingewiesen. Immer wieder hieß es, dass sich der Handelsbilanzüberschuss in einen Verlust verwandeln würde, wenn man die Terms of Trade von 1950 als reales Niveau unverzerrter Preisrelationen ansetze. Zwischen 1950 und 1954 hätten sich nämlich die Ausfuhrpreise gemessen an den Einfuhrpreisen von 100 auf 116 erhöht, womit die erheblichen Aktivsalden in Preisrelationen von 1950 eigentlich einem Fehlbetrag entsprächen.118 Zudem wurden die Vorschläge zur Importsteigerung kritisiert. Würde man diese über Lohnerhöhungen zu erreichen versuchen, sei die Exportindustrie vor gravierende Probleme gestellt. Denn in Zeiten der Vollbeschäftigung gefährde der absehbare Anstieg der Reallöhne die erreichten Weltmarktpositionen. Werte man die DM einseitig auf, wie die Bundesregierung und die Bank deutscher Länder 1955/56 überlegten, führe dies zu preiswerteren Importen, zu einer Reduzierung des ständigen Liquiditätszuflusses, zu inflationären Tendenzen im Inland und zu einer Erhöhung der Ausfuhrpreise. Die Exporteure verwiesen daher darauf, dass „eine einseitige deutsche Währungsmaßnahme das Problem der Wechselkursverzerrungen nicht lösen kann, solange die einzelnen Staaten nicht bereit sind, auf ihre währungspolitische Selbständigkeit zu verzichten“ und dass die einseitige Wechselkursänderung nur zu neuen Verzerrungen im Handel mit dem Dollar-Raum führen würden. Außerdem würde sich die hohe Passivität der deutschen Handelsbilanz im Dollar-Raum durch eine DMAufwertung nur noch weiter verstärken. Das Gespenst einer neuen „Dollar-Lücke“ ließ sich hier trefflich instrumentalisieren, weckte diese doch negative Erinnerungen an die unmittelbare Nachkriegszeit. Stattdessen empfahlen die Exporteure eine „Politik der kleinen Mittel“, die eher auf eine Öffnung des Binnenmarktes, also auf die weitere Vertiefung der wirtschaftlichen Zusammenarbeit in „Europa“, und auf die Abschaffung des festen Wechselkurssystems setzte und die die Rohstoffeinfuhr durch Gewährung von Kredit- und Steuererleichterungen fördern sollte.119 Ständig wurde 116 Jahresbericht des BDI 1955/1956, S. 94. 117 Ergebnisprotokoll über die Vorstandssitzung der Arbeitsgemeinschaft Außenhandel der deutschen Wirtschaft am 11.5.1954, S. 3, RWWA 181-1555-2. 118 Vgl. Jahresbericht des BDI 1954/1955, S. 16. Am eindrücklichsten hierzu allerdings die Zahlen zum Jahr 1957. Das Aktivsaldo von 4,4 Mrd. DM hätte bei den Preisrelationen von 1950 einen Fehlbetrag von 0,6 Mrd. DM ergeben. Vgl. Jahresbericht des BDI 1957/1958, S. 101. 119 Bei einem vergleichsweise hohen Liberalisierungssatz der deutschen Industrie zielte diese Politik auf eine weitere Zollsenkung bei den europäischen Partnern und damit auf niedrigere Im-

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auch auf die Fördermaßnahmen anderer Exportnationen verwiesen. Der Vorstand der Arbeitsgemeinschaft Außenhandel der deutschen Wirtschaft sah sich beispielsweise durch das mögliche Auslaufen der Exportförderung veranlasst, 1954 mit Bezug auf den Welthandelsanteil Deutschlands vor dem Zweiten Weltkrieg und die aktuellen Fördermaßnahmen anderer Exportnationen festzustellen, „daß die deutsche Exportförderung lediglich den Charakter von Ausgleichsmaßnahmen habe. Die Exportwirtschaft verlange keine Exportsubventionen. Sie müsse aber von der Regierung erwarten, daß Diskriminierungen gegen den deutschen Export unterbleiben.“120 Ähnlich reagierten die Spitzenverbände auf den Vorschlag einer Ausfuhrabgabe. Der BDI betonte beispielsweise im selben Jahr: „Wir können uns nicht einmal eine Aufhebung oder Schmälerung der bestehenden Ausfuhrfördermaßnahmen leisten, so lange hier nicht in allen wesentlichen Exportländern Startgleichheit geschaffen wird“.121 Zudem verwies der BDI darauf, dass angesichts der „vergleichsweise bescheidenen deutschen Nachkriegsinvestitionen im Ausland“ die deutschen Währungsbestände „praktisch das einzige Auslandsvermögen der Bundesrepublik darstellen“.122 Alles in allem wurde von den deutschen Exporteuren betont, dass die aktuell hohen Handelsbilanzüberschüsse eine Notwendigkeit darstellten. Sie deuteten damit die Vorstellung vom gesunden, ausgeglichenen Außenhandel um, indem sie den Aktivsaldo als grundsätzlich positiv oder als lediglich vorübergehende Erscheinung bewerteten. Dabei unterstrichen sie, dass der Anstieg des deutschen Exports der Wiedererrichtung einer stabilen Weltwirtschaftsordnung diene und dass sich die terms of trade nicht dauerhaft günstig verhalten würden. Zudem verwiesen sie darauf, dass zur Bedienung der deutschen Auslandsschulden ohnehin die Erzielung von Ausfuhrüberschüssen nötig sei und dass nur über den Aktivsaldo die im internationalen Vergleich niedrige Kapitalausstattung behoben werden könne. Außerdem würden die Handelsüberschüsse es ermöglichen, den Verlust in der Zahlungsbilanz auszugleichen, der der zunehmenden Reisefreudigkeit deutscher Arbeitnehmer – und damit dem Transfer von Geldern ins Ausland – geschuldet war.123 Zudem sei nur durch den Aktivsaldo eine sinnvolle Beteiligung am Projekt der „Entwicklung (…) entwicklungsfähiger Gebiete“ möglich. Ohne den Außenhandelsüberschuss würden diese Zukunftsmärkte den deutschen Exportunternehmen verschlossen bleiben. Vor diesem Hintergrund – so die Forderung des BDI aus dem Jahr 1958 – solle die Politik die „Überschussproblematik“ nicht so stark „dramatisieren“.124

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portpreise, die gemäß dieser Logik zwangsläufig zu einem Anstieg der Importe und somit zu einer Ausgleichstendenz der Zahlungsbilanz führten. Vgl. Jahresbericht des BDI 1956/1957, S. 106, Zitate ebd. Ergebnisprotokoll über die Vorstandssitzung der Arbeitsgemeinschaft Außenhandel der deutschen Wirtschaft am 11.5.1954, S. 1, RWWA 181-1555-2. Jahresbericht des BDI 1953/1954, S. 16. Jahresbericht des BDI 1957/1958, S. 104. Vgl. Jahresbericht des BDI 1953/1954, S. 16. Jahresbericht des BDI 1957/1958, S. 105. Trotz der vorgebrachten Argumente setzte die Politik Mitte der 1950er Jahre angesichts der hohen Ausfuhrüberschüsse auf den Abbau von Exportanreizen: Sie engte das Exporttrattensystem ein – eine Exporttratte ist ein Ausfuhrfinanzierungsinstrument, im Grunde ein ausgestellter, aber noch nicht akzeptierter Wechsel –, erhöhte die Selbstbeteiligung der Ausfuhrwirtschaft bei den Bundesbürgschaften und Bundesgarantien,

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Intensiv diskutierten die Unternehmer, was die absehbare Einbindung ins Militärbündnis der NATO für außenwirtschaftliche Konsequenzen haben werde. Grundsätzlich bekannten sie sich dabei immer wieder dazu, Teil des „Westens“ zu sein, auch wenn hier weniger eine positive Bestimmung des „Westens“ als liberal, offen und demokratisch zur Sprache kam, als vielmehr die Abgrenzung vom kommunistischen „Osten“.125 Zugleich waren jedoch ausschließlich positive Äußerungen zum geplanten NATO-Beitritt der Bundesrepublik Deutschland selten. Im Unternehmerlager erhoben sich zahlreiche Stimmen gegen einen „zu hohen Verteidigungsbeitrag“.126 Zugleich wehrten sich die Vertreter der Außenhandelsinteressen nun gegen den Vorwurf aus dem Ausland, dass sich die bisherigen Exporterfolge dem Umstand verdankten, dass die Bundesrepublik bisher keine Rüstungsaufwendungen bestritten habe.127 Auch in diesem Zusammenhang argumentierten kürzte die Refinanzierungslinie im Rahmen des B-Plafonds, wirkte auf einen Wegfall der „globalen“ Kreditlinien bei der Ausfuhrkredit-AG (AKA) hin und beseitigte die Wechselsteuerfreiheit für Prolongationswechsel. 125 In vielerlei Hinsicht erinnern die diesbezüglichen Äußerungen an die Abendlanddebatten, in denen unter Rückgriff auf das christliche Konzept des „Abendlandes“ eine historische Zusammengehörigkeit des „Westens“ gegen den „Osten“ konstruiert wurde. Diese Deutung hatte unter anderem den Vorteil, dass sich die Zeit des Nationalsozialismus als „Betriebsunfall“ ausklammern ließ. Zu den Abendlanddebatten vgl. Cassier, Der andere Weg 2010, S. 220–229; Weitz, Ever-Present Other 2001; Conze, Europa der Deutschen 2005 und Großmann, Internationale der Konservativen 2014. Zur Bedeutung des Antikommunismus in Unternehmerkreisen vgl. auch Danckwortt, Psychologie der Deutschen Entwicklungshilfe 1962, S. 50. 126 Schon die Stellungnahmen aus dem Unternehmerlager zum Korea-Krieg waren äußerst kritisch gewesen. Er galt unter exportorientierten Unternehmern nicht, wie es die heutige Rede vom Korea-Boom evoziert, als Startschuss für den neuerlichen Export deutscher Waren in alle Welt, sondern als Bedrohung für den in diesem Moment endlich wiedereinsetzenden Außenhandel. Große Teile des dringend benötigten Kapitals drohten durch ihn in die Rüstungswirtschaft abzufließen. In den Außenhandelskreisen war daher von der „Korea-Krise“ die Rede. Beklagt wurden zudem die wesentliche Verschlechterung der Austauschrelationen und die drohende konjunkturelle Überhitzung durch den kriegsbedingten Nachfrageboom. Tatsächlich veränderte sich im Zuge des Korea-Kriegs die Außenhandelsstruktur der wichtigsten Weltmarktkonkurrenten, die Konjunktur zog kriegsbedingt an und schaffte so „Platz“ für deutsche Produkte auf den Weltmärkten. Vgl. Fritz Berg: Ansprache bei der Mitgliederversammlung des BDI in München am 26.6.1951, in: BDI (Hg.): Kundgebung und Mitgliederversammlung des BDI in München am 25. und 26. Juni 1951, o. O., o. J. [1951], S. 17–25, hier S. 19, BDI-Archiv HGF Pro 1, Karton 786; Jahresbericht der IHK Mannheim 1951, S. 7 und S. 14. Zur klassischen Deutung des Koreabooms vgl. Abelshauser, Deutsche Wirtschaftsgeschichte 2005, S. 161 f. 127 Dieser Argumentation stimmte man mit Verweis auf die Bezahlung der Besatzungskosten nicht zu und verwies zugleich auf die zukünftigen Auswirkungen der Wiederbewaffnung, die über rein monetäre Kosten hinausgingen. Befürchtet wurde nämlich nicht nur die finanzielle Belastung, sondern auch der Entzug von Facharbeitern. Darüber hinaus gab man zu bedenken, dass Aufrüstungsaufträge die Rohstoffbasis dermaßen schmälern könnten, dass die Exportgeschäfte darunter leiden würden. So war nicht nur in der Vorstandssitzung der Arbeitsgemeinschaft Außenhandel am 19.1.1952 zu vernehmen, dass die deutsche Wirtschaft das Ausrüstungsmaterial für die geplanten zwölf deutschen Divisionen weitgehend selbst werde liefern müsse. Da eine wesentliche Steigerung der industriellen Produktion insbesondere der Basisindustrie jedoch erst in einigen Jahren möglich sei, „bestehe die ernste Gefahr, dass die vorhandenen Exportchancen nicht in dem notwendigen Ausmass ausgenutzt werden könnten“. Vgl. Jahresbe-

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die Außenhandelskreise immer wieder mit dem hohen Lebensstandard der deutschen Bevölkerung, der „die beste Waffe der westlichen Welt gegen den Kommunismus“ darstelle.128 Die Aufrüstung würde „diese Waffe stumpf machen und daher ein schwerwiegender Fehler sein“.129 Das Konsumniveau könne nur gesichert und gesteigert werden, wenn die Exportindustrie nicht durch eine „aufgezwungene Aufrüstung“ belastet werde.130 Außerdem wurde die mangelnde Konvertierbarkeit der deutschen Währung noch einmal deutlicher als Außenhandelshemmnis wahrgenommen. Mit der Währungsreform vom Juni 1948 war zwar die Grundlage dafür geschaffen, dass die Deutsche Mark im In- und Ausland als Währung akzeptiert wurde. Nichtsdestotrotz blieb ihre Konvertierbarkeit bis 1954 beschränkt.131 Devisen konnten nicht einfach umgetauscht werden, sondern wurden mittels Sperrmarkkonten und festen Wechselkursen bewirtschaftet. Im Grunde waren die Außenhandelskreise der Bundesrepublik diesbezüglich auf übernationale Regelungen angewiesen. Gegenüber der eigenen Bundesregierung und den betreffenden Ministerien konnten sie nur immer wieder darauf hinweisen, welche Probleme – insbesondere der Bedarf an sogenannten „Hartwährungen“ – eine nichtkonvertierbare Währung hervorrief. Die freie Konvertierbarkeit der Deutschen Mark wurde dementsprechend immer wieder gefordert.132 Eine erste Verbesserung hatte bereits das Europäische Zahlungsabkommen von 1950 gebracht. Es führte dazu, dass beim Warenhandel innerhalb der EZU Währungen de facto konvertierbar wurden.133 Das größte Problem, die fehlende Umtauschmöglichkeit der Deutschen Mark in US-Dollar, war damit allerdings noch nicht behoben. Einschneidende Verbesserungen brachte erst ein Runderlass des Bundeswirtschaftsministeriums vom 16. September 1954.134 Er bestimmte,

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richt des BDI 1954/1955, S. 15 f., Zitat S. 15; Dr. Mann, zitiert in: Bericht der Vorstandssitzung der Arbeitsgemeinschaft Aussenhandel am 19.1.1952, S. 15, RWWA 181-1555-2. Vgl. Jahresbericht des BDI 1953/1954, S. 19. Jahresbericht des BDI 1954/1955, S. 15. Vgl. Jahresbericht des BDI 1953/1954, S. 19. Dies galt auch für die übrigen „westeuropäischen“ Währungen. Vgl. Hardach, Rückkehr 1998, S. 81 f. Auch die eingeschränkte Konvertierbarkeit war für deutsche Unternehmer nicht neu, da viele der Beschränkungen auf der Devisenpolitik der 1930er Jahre fußten. Zur „Devisenpolitik“ in den besetzten Ländern nach 1939 vgl. Banken, Devisenschutzkommandos 2010. Das Thema lässt sich hier sehr knapp abhandeln, da die diesbezüglichen Argumente sich nicht von dem unterscheiden, was über die Anstrengungen und Argumente im politischen Feld der bereits vorhandenen Sekundärliteratur entnommen werden kann. Vgl. Hardach, Rückkehr 1998; Löffler, Globales Wirtschaftsdenken 2010, S. 128 f. Hierzu vgl. Hardach, Rückkehr 1998, S. 87. Die Bedeutung der EZU für die deutsche Wirtschaftsgeschichte der Nachkriegszeit hebt hervor: Hentschel, Zahlungsunion 1989. Hier auch umfangreiche Informationen zu ihrer politischen Durchsetzung und der Ausgestaltung der Regelungen. Zur Bedeutung des Liberalisierungskodex der OEEC vgl. Bührer, Erzwungene oder freiwillige Liberalisierung 1990. Bührer betont dabei, dass seit Anfang der 1950er Jahre die Handelsliberalisierung der Bundesrepublik nicht mehr als von außen aufgezwungen gelten kann. Vgl. ebd., S. 161 f. Die freie Konvertibilität der DM für Ausländer wurde am 29.12.1958 auf Grundlage der Statuten des Internationalen Währungsfonds (IWF) erreicht. Vgl. hierzu: Monatsberichte der Deutschen Bundesbank, Dezember 1958, S. 3–6. Vgl. Runderlass Nr. 77/54 des Bundeswirtschaftsministeriums vom 16.9.1954, BDI-Archiv HGF Pro 3, Karton 785.

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dass die Sperrmarkkonten aufgelöst und dafür frei und beschränkt konvertierbare DM-Konten eingeführt wurden.135 Dabei war das System der beschränkt konvertierbaren DM vorerst eine einseitige Maßnahme, die eine Konvertibilität außerhalb des Dollarraumes schaffte. Im internationalen Zahlungsverkehr erschien die DM damit wieder als „freie Devise“.136 Ergebnis waren günstigere Einkaufsbedingungen, die zunehmende Verwendung der DM im internationalen Handelsverkehr und damit auch der geringere Bedarf an Devisen. Die Wiederherstellung der Konvertierbarkeit der Währung führte aber auch dazu, dass sich das handelspolitische InZstrumentarium erheblich verengte. Zölle wurden wieder zum einzig legitimen Mittel der Handelspolitik und – zum Leidwesen der exportorientierten Industrie – auch zunehmend Mittel der Konjunktursteuerung im Inneren.137 Eine vollständige Konvertierbarkeit wurde erst Ende 1958 erreicht; Devisenprobleme, insbesondere der Mangel an US-Dollars, spielten daher – übrigens überall in „Westeuropa“ – noch länger eine Rolle.138 Schließlich führten die Exportüberschüsse zu steigenden Auslandsinvestitionen. Hier ist Mitte der 1950er Jahre im Vergleich zu 1950 ein Aufmerksamkeitsschub zu verzeichnen.139 Denn jetzt ging es nicht mehr nur um die während des Zweiten Weltkrieges enteigneten deutschen Auslandsvermögen, sondern auch um den Schutz zukünftiger Auslandsinvestitionen.140 Die Beschlagnahme des deutschen Auslandsvermögens im Zuge des Zweiten Weltkrieges war seit 1945 ein wichtiges Thema unter den betroffenen Unternehmern, stellte es doch in ihren Augen einen erheblichen Wettbewerbsnachteil dar.141 Aber erst Mitte der 1950er Jahre wurden diese Klagen in dem Sinne konkret, dass sie sich in Abkommen mit anderen Ländern niederschlugen. Fragen des Umgangs mit enteignetem deutschen Aus135 Das System der Sperrmark endete somit nach 23 Jahren (!) durch die Umwandlung der Währungsbestände in Kapitalguthaben. Zu Funktion und Nutzen der sogenannten BeKo-Mark vgl. Buchheim, Bundesrepublik Deutschland in der Weltwirtschaft 2010, S. 107. 136 Jahresbericht des BDI 1954/1955, S. 107 und 113. 137 Vgl. Jahresbericht des BDI 1956/1957, S. 108. 138 Zur Diskussion um die sogenannten Dollarlücke vgl. Buchheim, Wiedereingliederung 1990, S. 109–182. 139 Der Bedeutungszuwachs lässt sich dabei nicht nur an der zunehmenden Intensität der Debatten ablesen. Auch die am 27.3.1956 in Köln stattgefundene Gründung der Gesellschaft zur Förderung des Schutzes von Auslandsinvestitionen und die Unterzeichnung des europäischen Niederlassungsabkommens deuten in diese Richtung. Selbst die unter reger Beteiligung von deutschen Industrie- und Handelskreisen geführten Diskussionen zum Kriegsfolgengesetz – nach jahrelangen Debatten 1957 vom Bundestag verabschiedet – zeugen davon. Es ermöglichte nämlich die Darlehensvergabe für Wiederaufbaumaßnahmen an Firmen und Personen, die Vermögensverluste im Krieg hatten hinnehmen müssen. Dies betraf auch Auslandsvermögen. Vgl. Eberstein, OAV 2000, S. 150. 140 Zur Höhe der deutschen Auslandsinvestitionen im Vergleich zu den wichtigsten Industrieländern siehe die 1975 erschienene Studie des HWWA-Instituts für Wirtschaftsforschung: Krägenau, Direktinvestitionen 1975. 141 Zu den frühen Versuchen der Ländervereine, die deutschen Auslandsvermögen „zu retten“, vgl. Eberstein, OAV 2000, S. 150 f. Wie sehr sich einzelne Unternehmen für die Rückgabe des „deutschen Altvermögens“ einsetzten, zeigt ein Blick in die Geschichte der Bayer AG, die vor dem Zweiten Weltkrieg den größten Kapitalstock eines deutschen Unternehmens in „Lateinamerika“ besessen hatte. Vgl. Kleedehn, Rückkehr 2007, S. 226–231.

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landsvermögen waren nun in bilateralen Handelsvertragsverhandlungen nicht mehr an den Rand zu drängen. Dabei kamen der deutschen weltmarktorientierten Industrie dreierlei zugute: erstens die Entstehung neuer Freund- und Feindbilder vor dem Hintergrund des Kalten Krieges; zweitens die Abwicklung der deutschen Auslandsschulden im Sinne des Londoner Schuldenabkommens142 und drittens die wiedergewonnene Stärke der deutschen Industrie. Diese Entwicklungen wurden allerdings durch neue – zum Teil entschädigungslose – Enteignungen von Auslandswerten, zum Beispiel in Argentinien und Ägypten, konterkariert.143 Aus dieser doppelten Bewegung, dem Wunsch nach Rückerstattung und der Angst vor künftigen Enteignungen, entstand die Forderung nach der Schaffung einer „Magna Charta“ zur „Unverletzlichkeit des privaten Eigentums in der Welt“, wie sie der BDI 1956 stellte.144 Die noch im selben Jahr gegründete Gesellschaft zur Förderung des Schutzes von Auslandsinvestitionen sollte fortan als pressure group der deutschen Banken und der Industrie tätig werden.145 Der Nutzen von Direktinvestitionen war unter Zeitgenossen allerdings umstritten. Die immer noch geringe Kapitalkraft deutscher Unternehmen führte dazu, dass Auslandsinvestitionen staatlich reguliert blieben. Unter anderem mussten Einzelgenehmigungen zum Zwecke der Gründung von Niederlassungen oder des Erwerbs von Beteiligungen eingeholt werden.146 Auch stellte sich als Problem heraus, dass Auslandsniederlassungen – trotz des Abflusses von Kapital – von der Politik mehrheitlich gerade (noch) nicht als sinnvolle Möglichkeit erachtet wurden, die eigene Zahlungsbilanz auszugleichen. Zu verbreitet war noch die Annahme, dass Auslandsinvestitionen nur kurzfristig die Devisenbestände verringerten, aber schon mittelfristig zu einem weiteren Anwachsen der Devisenbestände führten. Denn aufgrund von erwartbaren Gewinntransfers in die Bundesrepublik würden sich die Probleme der Devisenbilanz zu denen der Handelsbilanz nur noch weiter addieren.147

142 Dieses wurde in Außenhandelskreisen überwiegend begrüßt. Es hatte nämlich nicht nur zur Folge, dass ein bis dahin kaum abschätzbares Risiko klar quantifiziert wurde. Gleichzeitig führte das Londoner Abkommen auch dazu, dass sich die deutschen Zahlungsbilanzüberschüsse verringerten. Hierzu vgl. Buchheim, Londoner Schuldenabkommen 1986; RombeckJaschinski, Londoner Schuldenabkommen 2005. Vgl. auch: Bericht über die Vorstandssitzung der Arbeitsgemeinschaft Aussenhandel der Deutschen Wirtschaft am 14.2.1953, S. 9, RWWA 181-1555-2. 143 Zudem wurden die Enteignung der United Fruits Company in Guatemala, die Enteignung britischer Erdölinvestitionen in „Persien“ und die Enteignung der Suez-Kanalgesellschaft intensiv diskutiert, schienen sie doch dem zeitgenössischen Beobachter die bedrohliche Tendenz zur zunehmenden „Zersetzung und Aufweichung des Eigentumsbegriffs“ zu versinnbildlichen. Vgl. Jahresbericht des BDI 1956/1957, S. 150, Zitat ebd. 144 Jahresbericht des BDI 1955/1956, S. 152. Eine Übersicht über die Investitionsschutzverträge mit ausländischen Staaten ist enthalten in: Arbeitsgemeinschaft Entwicklungsländer, Wagnis 1964, S. 49–52. 145 Mit ihr arbeiteten alle großen Industrieverbände zusammen. Insbesondere für den BDI galt sie in diesem Tätigkeitsfeld als enger Kooperationspartner. 146 Vgl. Jerofke, Wiederaufbau 1993, S. 19–24. 147 Vgl. Niederschrift der Arbeitstagung der Auslandshandelskammern am 9.5.1956 in Hannover, S. 5, RWWA 181-2078-2.

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Die bislang behandelten vier Problemkomplexe beschäftigten den gesamten Außenhandel. Nicht nur von den Außenhandelskammern der norddeutschen Hansestädte, das heißt den zentralen Interessenvertretern des „Überseehandels“, sondern auch von den Interessenverbänden der Industrie wurden die schmale Ertragsbasis, der zunehmende Wettbewerbsdruck und die im Vergleich zum Binnenhandel erhöhten Risiken beklagt. Die Abwehr von Lohnerhöhungen und der Kampf gegen die Reduktion der staatlichen Exportförderung verbanden alle im Außenhandel tätigen Unternehmen. Die Probleme mochten im Einzelfall als für den Außenhandel mit „Übersee“ besonders bedrohlich wahrgenommen werden, waren für ihn aber keineswegs spezifisch. Und auch die Forderungen nach der staatlichen Übernahme von Ausfallbürgschaften, nach einem allgemeinen multilateralen Kapitalschutzabkommen und nach umfangreichen Bundesgarantien für Kapitalanlagen wurden für sämtliche Auslandsmärkte erhoben. Zur gleichen Zeit bildete sich aber auch ein eigenes Erkenntnisobjekt „Übersee“ heraus. Das hatte auch damit zu tun, dass angesichts dauerhafter Exportüberschüsse neue Vorstellungen von der Weltwirtschaft plausibel wurden. 5. DIE WELTWIRTSCHAFT ALS DYNAMISCHES SYSTEM Kennzeichnend für die bundesrepublikanischen Weltwirtschaftsdebatten der unmittelbaren Nachkriegszeit war, dass den „jungen Völkern“ in „Übersee“ das industrielle Entwicklungspotenzial zunächst weitgehend abgesprochen wurde. Ihre Industrialisierung führe nur dazu, so die gängige Meinung, die natürliche Ordnung des Weltmarktes zu stören. Unter der Grundannahme einer geordneten Weltwirtschaft gab es im globalen ökonomischen Gleichgewicht gar keine Anreize zur Industrialisierung dieser Gebiete. Volkswirtschaften könnten zwar wachsen, auf Dauer aber keinen gänzlich anderen Platz in der Ordnung der globalen Ökonomie einnehmen. Noch bis tief in die 1950er Jahre hinein hielt sich diese Vorstellung von den naturgesetzlichen Funktionsmechanismen der Weltwirtschaft. Auch staatlichen Entwicklungsprogrammen und Industrialisierungsplänen wurde damit eine klare Absage erteilt.148 Mit Blick auf „Übersee“ konnten sich in den ersten Nachkriegsjahren folglich nur wenige Beobachter und Kommentatoren vorstellen, dass diese Regionen ihre angestammten Positionen in der Weltwirtschaft jemals verlassen würden. Sie blieben auf den Export von Rohstoffen und Nahrungsmitteln gegen Industriegüterlieferungen beschränkt. Schon frühzeitig hatte es allerdings alternative Deutungen gegeben: Einige Zeitgenossen bemerkten bereits kurz nach Kriegsende, dass die Strukturverände148 Staatliche Eingriffe beeinflussten, in der damaligen Logik, nur kurzfristig die Position eines Landes in der Weltwirtschaft. Am produktivsten sei die Weltwirtschaft, wenn sämtliche Außenhandelseingriffe entfielen. Dann, so Theodor Sehmer 1950, „würde sich die ganze Weltwirtschaft ausserordentlich schnell erholen. Die Länder könnten dann das wieder importieren, was die Natur und die Produktion ihres Landes nicht selbst hervorzubringen gestattet, und sie könnten das in erhöhtem Mass produzieren, was ihren natürlichen Verhältnissen entspricht“. Sehmer, weltwirtschaftliche Lage [1950], S. 6.

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rung der „neuen“ Weltwirtschaft im Vergleich zu der Weltwirtschaft vor dem Ersten Weltkrieg offensichtlich sei.149 Die „überseeischen Gebiete“ wurden im ersten Nachkriegsjahrzehnt in den Weltwirtschaftsdebatten daher dann thematisiert, wenn es zu zeigen galt, dass die Wiederherstellung der „alten“ Weltwirtschaft an Grenzen stoße. Argumentiert wurde in diesem Zusammenhang meist, dass der Zweite Weltkrieg auch die letztlich siegreichen Kolonialreiche in die Krise gestürzt habe und daher nun die „Völker Asiens, tausend Millionen, eine Milliarde Menschen, die Vormundschaft von sich [werfen] und (…) in die Weltgeschichte und die Weltwirtschaft ein[treten]“.150 Das war lange Zeit eine Minderheitenposition. Als sich Anfang der 1950er Jahre die Position Deutschlands auf den Auslandsmärkten veränderte, wurde sie jedoch mehrheitsfähig.151 Allmählich öffneten sich Ökonomen und wichtige Teile der vormals weltmarktskeptischen Unternehmer einer anderen Interpretation, die bald die Debatten dominierte: Deutschland könne sich nur als Industriestaat und Exportnation in einer dynamischen Weltwirtschaft behaupten. Parallel dazu wurde aus dem „unterentwickelten Raum“ in „Übersee“ ein „entwicklungsfähiger Raum“.152 1955 erwartete beispielsweise der mit weltwirtschaftlichen Fragen vertraute Clodwig Kapferer153, Direktor des HWWA, dass die „Emanzipation der wirtschaftlich und politisch noch unentwickelten Völker“ dramatische „Verschiebungen in

149 Vgl. Weber, neue Weltwirtschaft 1947, S. 387. 150 Eckert, Krise 1947, S. 14. Dass die Weltwirtschaft eine grundsätzlich neue Form angenommen haben könnte, lag für die Zeitgenossen anfänglich allerdings vor allem an der Machtposition der Sowjetunion und am „Neueintritt des großen chinesischen Gesamtreiches in die Weltwirtschaft“. Weber, neue Weltwirtschaft 1947, S. 387. 151 Die seit langem etablierten Wissensbestände und Ideen zur Weltwirtschaftsordnung hielten sich allerdings beharrlich. Die Veränderungen im Außenhandel der Bundesrepublik führten nicht sofort zu einer umfassenden epistemischen Krise. Erst auf längere Sicht ist ein drastischer Wandel zu erkennen. 152 Zur selben Zeit wurde auch in anderen Ländern die „Entwicklungsfähigkeit“ der ehemaligen Kolonialstaaten betont. Vgl. Dinkel, Dritte Welt 2014, S. 7 f. Die Betonung der „Entwicklungsfähigkeit“ unterscheidet den hier analysierten Diskurs vom Orientalismus, in dem von einer Unveränderbarkeit ausgegangen wurde. Vgl. Said, Krise 1998, S. 77. Das in der deutschsprachigen Völkerkunde bereits ab Mitte der 1920er Jahre die grundsätzliche Möglichkeit der „Entwicklung“ von „Naturvölkern“ zu „Kulturvölkern“ betont wurde, darauf verweist Seidler, Geburtshilfe 2010, S. 395. 153 Clodwig Kapferer (1901–1997) studierte Wirtschaftswissenschaften in Berlin, Würzburg und Erlangen. 1922 folgte die Promotion zum Dr. rer. pol. Vor allem mit Fragen der Exportförderung und der „Entwicklungshilfe“ befasst. 1948–1964 Direktor des HWWA. Er war zudem Mitbegründer der in Hamburg ansässigen Gesellschaft für Marktforschung mbH und der Gesellschaft für Wirtschaftsanalyse und Markterkundung. Zwischenzeitlich war er in der Zweigstelle für Außenhandel des Auswärtigen Amts in Nürnberg tätig. Vgl. Staatsarchiv Hamburg 135–1 VI 1234. Kapferer hatte bereits 1929 eine einflussreiche Anleitung für das Exportgeschäft herausgegeben und war selbst 1979 noch gern gesehener Tagungsgast und Moderator bei Themen der wirtschaftlichen Entwicklung. Zwischenzeitlich hatte er sich als Verfasser völkerpsychologischer Schriften hervorgetan. Vgl. Kapferer, Exportgeschäft 21933; ders., Völkerpsychologische Betrachtungen 1947; ders., Grundzüge 1979; ders., Leben für die Information 1983; Schaafhausen, Kapferer 1963.

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der Weltwirtschaft“ zur Folge haben werde.154 1959 war diese Möglichkeit bereits zur Gewissheit geworden: Es werde „in der Welt zu einer neuen Arbeitsteilung kommen“. Da die „entwicklungsfähigen Völker“ in zunehmendem Maße die einfachere industrielle Massenfertigung an sich zögen, müssten sich die „industrialisierten Staaten“ stärker der Entwicklung und Produktion von Spezialartikeln und hochund höherwertigen Waren zuwenden.155 Dabei blieben die Aufstiegsmöglichkeiten der Gebiete in „Übersee“ zunächst immer noch begrenzt. Erstens wurde von einem nicht einzuholenden Vorsprung der Industrieländer ausgegangen und zweitens schienen die sich „entwickelnden“ Gebiete der Weltwirtschaft vor allem den Faktor Arbeitskraft bieten zu können, da dieser dort „unbeschränkt und billig zur Verfügung“ stehe. Kapitalintensive Produktionen blieben den Industrieländern vorbehalten.156 In der zweiten Hälfte der 1950er Jahre lösten sich die Unternehmer der Bundesrepublik jedoch zunehmend von zwei Vorstellungen: Zum einen von der Vorstellung der natürlichen Ordnung der Weltwirtschaft, zum anderen von der Vorstellung der Weltwirtschaft als Nullsummenspiel. Beide Ideen erschienen vor dem Hintergrund der dauerhaften Handelsbilanzüberschüsse der Bundesrepublik nicht mehr plausibel. War die Ansicht, dass im Außenhandel die Gewinne des einen zwangsläufig zu Verlusten eines anderen führten, in den 1940er Jahren allgegenwärtig, so galt dies Ende der 1950er Jahre nicht mehr. Nun wurde auch unter deutschen Industriellen zunehmend davon ausgegangen, dass die Menge der exportierbaren Industrieprodukte nicht eine starre Größe sei, sondern elastisch. Damit war aber auch klar, dass sich die Wirtschaft stets verändern und anpassen müsse. Die Weltwirtschaft wurde dynamisch, zu einem offenen Wettbewerb um Weltmarktanteile. Die vormals eindeutige Festlegung von Zentren und Peripherien löste sich dabei insofern auf, als „Peripherien“ nun vermehrt das Potenzial zugeschrieben wurde, zu neuen Zentren werden zu können.157 Entscheidend ist, dass jetzt die daraus resultierenden Verschiebungen im Gefüge der Weltwirtschaft als positiv für die Industrieländer gewertet wurden. Andreas Predöhl158 hatte 1949 mit Blick auf die „Grenzen der Industrialisierung der 154 Kapferer, Bedeutung [1955], S. 2. 1958 sprach auch Lütgens nicht mehr von „unterentwickelten“, sondern von „unentwickelten“ Ländern. Vgl. Lütgens, Produktionsräume 1958, S. 35. 155 Seifriz, Leitbild 1959, S. 3, RWWA 128-12-1. Seifriz (1902–1990) war CDU-Politiker in Baden-Württemberg und unter anderem Präsident der Deutsch-Indischen Gesellschaft sowie später Vorsitzender des Instituts für Auslandsbeziehungen (1968–1978). 156 Ebd. So wurde auch in der frühen Entwicklungsökonomie argumentiert. Klassisch der Aufsatz des späteren Nobelpreisträgers Arthur W. Lewis, Economic Development 1954. Seine Arbeiten gelten als diskursprägend. Vgl. Speich Chassé, Fortschritt 2012, S. 8. 157 „Zentrum“ und „Peripherie“ waren in den hier im Fokus stehenden Kreisen allerdings bis weit in die 1960er Jahre hinein keine gebräuchlichen Termini. Dependenztheoretische Begriffe und Vorstellungen spielten erst später eine Rolle. Frühzeitig aufgegriffen in: Müller, Industrialisierung 1968. 158 Andreas Predöhl, Jahrgang 1893, war Sohn des Senators und späteren Regierenden Bürgermeisters Hamburgs Max Predöhl. Andreas Predöhl wurde im November 1945 durch die britische Besatzungsmacht als Leiter des Instituts für Weltwirtschaft abgesetzt, blieb aber noch über zwei Jahrzehnte ein wichtiger Experte in Weltwirtschaftsfragen. Zur Person Predöhls vgl. Hein/Kappel, Andreas Predöhl 2014; Omland, Institut für Weltwirtschaft 2009; Grüttner, Bio-

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Peripherie“ noch festgestellt, es seien keinerlei Tendenzen zu erkennen, dass einmal eine multikonzentrische Weltwirtschaft entstände und dies sei zudem auch nicht wünschenswert.159 1956 hob indes Fritz Baade in seiner Funktion als Direktor des IfW und als Vorstandsmitglied der Deutschen Weltwirtschaftlichen Gesellschaft hervor, dass die „alten Industrieländer“ ein Interesse „an der Industrialisierung der Entwicklungsländer“ hätten. Früher sei ein „Mann des praktischen Wirtschaftslebens“ stets darum bemüht gewesen, sich keine „Konkurrenten heranzuziehen“. Um zu erkennen, wie abwegig dies mittlerweile sei, brauche man nur einmal das „Problem der Industrie-Konkurrenz (…) aus der Sphäre der Weltwirtschaft (…) in die Sphäre einer großen nationalen Wirtschaft“ zu übertragen. In den Vereinigten Staaten von Amerika würde man keinen Industriellen finden, „dem man die Irrlehre verkaufen kann, er würde dadurch reicher werden, daß man die Industrie in einem anderen amerikanischen Staat (…) drosselt“. Jedem sei klar, „daß alle Beteiligten dadurch nicht reicher, sondern ärmer werden würden“. Dies führe zu einer „grundlegenden Erkenntnis“: „Es gibt keine tödliche Industriekonkurrenz“. Stattdessen gebe es ein gemeinsames Interesse daran, dass „arme Völker in ihrer Armut nicht festgehalten, sondern wohlhabender werden“. Die Industrialisierung „bisher einseitig agrarischer Länder“ mache nicht nur sie selber, sondern auch die „alten Industrieländer“ wohlhabender.160 Herbert Pavel, Unternehmer, Vorsitzender des Außenhandelsausschusses des Wirtschaftsverbandes Eisen, Blech und Metall verarbeitende Industrie sowie Teilnehmer an der Goodwill-Mission nach „Lateinamerika“ 1959, pflichtete dem bei. Er forderte auf einer Unternehmertagung 1961, dass man die neue Konkurrenz nicht scheuen solle. Stattdessen könne „den unterentwickelten Ländern die Möglichkeit der Industrialisierung (…) großzügig“ gewährt werden. Man möge doch einen Warenaustausch anstreben, „der sich nicht nur zwischen den alten Industrieländern vollzieht, sondern (…) auch zwischen der alten und der neu heraufziehenden Industriewelt“.161 Auch Andreas Predöhl – 1949 diesbezüglich noch skeptisch – sah 1963 die „Einbeziehung der un- und unterentwickelten Länder“ als „dringend geboten an“. Nicht nur, weil diese Länder Hilfe bräuchten, um das Bevölkerungswachstum zu bewältigen, sondern auch, weil dies den Industrieländern zugutekäme. Sie hätten stets „aus der Ausdehnung des weltwirtschaftlichen Kreislaufs große ökonomische Vorteile gezogen“. Daher sei die Einbeziehung der „Entwicklungsländer“ in den wirtschaftlichen Kreislauf zwar keine Bedingung des „Wachstums der Kernländer, aber ein wichtiger Faktor ihrer Förderung“.162 Kurze Zeit später wurde Predöhl zum Leiter des Übersee-Instituts ernannt, in dem sich die Kompetenzen und das praxisrelevante Wissen über die „Entwicklungsländer“ bündeln sollte.

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graphisches Lexikon 2004, S. 134; Klee, Personenlexikon 22005, S. 471. Predöhl hatte sich auch intensiv mit Fragen einer deutschen Großraumwirtschaft und der Bedeutung kolonialer Gebiete beschäftigt. Vgl. Predöhl, Großraum, 1941. Auf die Kontinuitäten in Predöhls Denken verweist Dieckmann, Wirtschaftsforschung 1992, S. 189, Fußnote 74. Vgl. Predöhl, Außenwirtschaft 1949, S. 126, Zitat S. 122. Baade, Interesse 1956, S. 3. Pavel, Überwindung 1961, S. 100 f. Predöhl, sogenannten Entwicklungsländer, 1963, S. 320.

Die Spezifik des Überseehandels

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Die Weltwirtschaft als einen flexiblen Anpassungsmechanismus zu begreifen, führte zu einer neuen Relevanz der „überseeischen Märkte“. Sie wurden in ihrer Bedeutung für die „Industrieländer“ aufgewertet. Zudem wurden nun vermehrt die Potenziale bislang als „unterentwickelt“ bzw. „primitiv“ angesehener Weltregionen betont.163 Die Industrialisierung von „Übersee“ galt nun als begrüßenswert und sollte die Weltmarktposition der deutschen Wirtschaft sichern und ausbauen helfen. Damit eröffnete sich spätestens jetzt ein klar erkennbares Wissensfeld zu den „überseeischen Märkten“. „Übersee“ wurde zu einem spezifischen Erkenntnisobjekt. Der „Überseehandel“ zeichnete sich fortan nicht mehr nur durch ein besonderes Maß an Risiko aus, sondern verknüpfte sich mit dem Entwicklungsdiskurs der damaligen Zeit. 6. DIE SPEZIFIK DES ÜBERSEEHANDELS Bislang ist argumentiert worden, dass im ersten Nachkriegsjahrzehnt allgemeine Exporthindernisse die Problemwahrnehmung der Außenhandelskreise dominierten. Dabei galt der Handel mit „Übersee“ zwar als vergleichsweise risikoreich, er wurde aber nicht als spezifisch wahrgenommen. Dass die Märkte in „Übersee“ zunehmend als etwas Besonderes angesehen wurden, lässt sich am leichtesten an den Diskussionen über den Informations- und Wissensmangel verdeutlichen. In ihnen ging es nun nicht mehr nur um die generelle Unsicherheit von Auslandsgeschäften, sondern um das Wissen über „Entwicklungsunterschiede“, „Entwicklungspotenziale“ und „Entwicklungsprobleme“. Man muss sich darüber im Klaren sein, dass über die „Überseemärkte“ in der unmittelbaren Nachkriegszeit kaum etwas in Erfahrung zu bringen war. Weder die Höhe und Ziele der dortigen Nachfrage waren leicht zu bestimmen noch verlässliche Kreditauskünfte über ausländische Firmen oder die Niederlassungskonditionen für deutsche Kaufleute zu erhalten.164 Denn zum einen waren bereits in der Kriegszeit nur wenig aktuelle Informationen zu erhalten gewesen. In den auf Handel spezialisierten Bibliotheken fand sich daher kaum verwertbares Material jüngeren Datums.165 Zum anderen wurden in den ersten Nachkriegsjahren die Möglichkeiten zur Außenhandelsinformation erheblich durch alliierte Maßnahmen eingeengt. So war beispielsweise der Bezug ausländischer Bücher und Zeitschriften genehmigungspflichtig. Geschäftskontakte mit dem Ausland und grenzüberschreitende Geschäftsreisen waren noch einige Zeit verboten bzw. kontingentiert. Auch die Einrei163 Studien aus den 1960er Jahren zeigen, dass in der deutschen Bevölkerung die Frage, „ob die Beschleunigung des wirtschaftlichen und sozialen Fortschrittes der Entwicklungsländer überhaupt wünschenswert sei“, mehrheitlich positiv beantwortet wurde. Langenheder, Einstellung [nach 1961], S. 171. 164 Diese Aufgabe hatte vorher die Reichsstelle für den Außenhandel unter Mitwirkung der Kammern und Außenhandelsstellen übernommen. 165 Zudem waren die älteren Bibliotheksbestände nicht selten im Krieg eingebunkert worden und waren aufgrund fehlender unzerstörter Bibliotheksräume noch nicht einsehbar. So etwa im Fall des HWWA in Hamburg.

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sesperren für ausländische Einkäufer und Interessenten erschwerten Kontaktaufnahme und Werbung.166 Die im Krieg von Seiten der Briten und US-Amerikaner erlassenen „Trading with the Enemy Acts“ verhinderten so auch noch in der Besatzungszeit die für das Exportgeschäft entscheidende Herstellung des direkten Kontaktes mit den ausländischen Kunden. Im Herbst 1946 klagten daher etwa die deutschen Vertreter im gemeinsamen Ausschuss der Industrie- und Handelskammern für Außenhandelsfragen darüber, dass der geschäftliche Briefverkehr mit dem Ausland immer noch nicht möglich und der Reiseverkehr „gleich Null“ sei.167 Das war vor allem deswegen höchst besorgniserregend, weil es sich bei den typischen Ausfuhrprodukten nicht um Stapelware – mit einheitlicher Qualität auf dem Weltmarkt gehandelte Güter wie viele agrarische Produkte, etwa Baumwolle168, – handelte. Damit war das Wissen über die besonderen Wünsche des jeweiligen Importeurs für den erfolgreichen Handelsabschluss entscheidend.169 Der Mangel an gesicherten und unabhängigen Außenhandelsinformationen betraf nicht ausschließlich die Märkte in „Übersee“, er wurde aber überwiegend mit Bezug auf diese beklagt. Dies zeigt sich erstens in den Diskussionen über die Besetzung und Ausstattung der deutschen Konsulate, zweitens im Bemühen um ein engmaschiges Netz binationaler Handelskammern sowie drittens in der Gründung deutschsprachiger Informationsblätter und -zeitungen für den Außenhandel. Erstens wurde von den Außenhandelskreisen die geringe personelle und finanzielle Ausstattung der diplomatischen Vertretungen in „Übersee“ kritisiert. Bereits im Sommer 1950 wurde öffentlich im Handelsblatt angemahnt, dass die Bundesrepublik das ihr von den Besatzungsmächten zugesprochene Recht, ihre eigenen Interessen im Ausland selbst wahrzunehmen, besser nutzen müsse. Verzögerungen seien nicht hinnehmbar. So sei etwa nicht verständlich, warum Konsulatsleiter zwar ernannt würden, diese aber Deutschland noch nicht verlassen könnten. Obwohl die Bundesrepublik bereits seit vielen Monaten das Recht auf eigene Konsulate habe, sei „noch kein deutscher Konsul draußen tätig“.170 Mitte Dezember 1950 schaltete sich auch der Deutsche Industrie- und Handelstag in diese Diskussion ein. In einem Schreiben an Bundeskanzler Konrad Adenauer forderte der DIHT, dass die Wirtschaftsvertretungen im Ausland auszubauen seien, da „kommerziell neutrale Berichte über die Verhältnisse im Ausland“ benötigt würden. Ein Interesse an Konsulatsabteilungen bestünde auch deswegen, da diese die im Ausland verbliebenen deutschen Kaufleute und Firmenvertreter unterstützen könnten. Als besonders dringlich wurden Wirtschaftsvertretungen in „Übersee“ angesehen. Insbesondere in Indien, Pakistan, Indonesien sowie in den „lateinamerikanischen“ Ländern sollten

166 Vgl. Entschließung der Aussenwirtschaftsausschüsse der Industrie- und Handelskammern der US-Zone vom 22.11.1946, S. 8, RWWA 181-1550-3. 167 Vgl. Protokoll der 2. Sitzung des Ausschusses für Aussenhandel der Industrie- und Handelskammern der Zonen am 20.9.1946, S. 2–4, Zitat S. 4, RWWA 181-1550-3. 168 Vgl. Beckert, King Cotton 2014. 169 Vgl. 1. Sitzung des Zonalen Außenhandelsausschusses am 1.7.1947, S. 3, RWWA 181-1550-3. 170 Mit Verweis auf einen Handelsblatt-Artikel vom 14.6.1950: Döscher, Verschworene Gesellschaft 1995, S. 147. Das Zitat aus dem genannten Handelsblatt-Artikel.

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diese so schnell wie möglich eingerichtet werden.171 Ähnliche Interventionen unternahmen 1951 auch die Bremer Handelskammer, der Verband deutscher Reeder und die mittelständische Industrie.172 Im März 1951 stellte die Arbeitsgemeinschaft württembergischer Gewerbe- und Handelsvereine gegenüber dem Bundeskanzleramt fest, dass zum Teil Stellen, die schon vor eineinhalb Jahren genehmigt wurden, immer noch nicht besetzt seien. Es sei aber notwendig, dass die Bundesrepublik im Ausland „durch tüchtige Männer vertreten ist“.173 Besonders nachdrücklich forderten in dieser Zeit die Ländervereine in Hamburg und Bremen den Ausbau der Konsulate. Es handelte sich schließlich bei ihnen um zentrale Wissensgeneratoren, die sich jeweils mit einem spezifischen Wirtschaftsgroßraum in „Übersee“ befassten und die schon in der Zwischenkriegszeit in die deutsche Außenhandelspolitik eingebunden gewesen waren. Auch nach der Gründung der Bundesrepublik blieben sie wichtige Informationsknotenpunkte. Hier bündelten sich die Kontakte zu kaufmännischen und politischen Kreisen im Ausland, weil der erst kürzlich gegründete Staat noch über kein weitverzweigtes Netz eigener diplomatischer Vertretungen verfügte. Dies hatte für die Ländervereine zwar Vorteile, jedoch waren die Nachteile angesichts der eigenen begrenzten Ressourcen ebenfalls unübersehbar. In den ersten Jahren der Bundesrepublik pochten sie daher vehement auf den Ausbau eines für „deutsche Wirtschaftsinteressen angemessenen Netzes von konsularischen Vertretungen“.174 Gefordert wurde nicht nur eine große Anzahl, sondern auch eine angemessene finanzielle Ausstattung der Vertretungen. Über Jahre hinweg klagte man über die „übertriebene Sparsamkeit“ der staatlichen Stellen, die die Arbeit vor Ort und insbesondere die Bereitstellung von Informationen behindere. Die schlechte Ausstattung der deutschen Auslandsvertretungen „schwäche die Arbeitskraft der z. T. noch unter recht schwierigen Wohnverhältnissen im Ausland tätigen deutschen Herren und schädige die Interessen der deutschen Außenwirtschaft“, wie 1953 auf der Vorstandssitzung der Arbeitsgemeinschaft Außenhandel der Deutschen Wirtschaft beklagt wurde.175 Insbesondere die Wirtschaftsabteilungen der konsularischen Vertretungen sollten dazu dienen, dass „die trotz des Krieges im Ausland verbliebenen staatsbürgerlich deutschen Kaufleute, Firmenvertreter und sonstigen Handelspartner einen amtlichen 171 Schreiben DIHT an Bundeskanzler Adenauer vom 14.12.1950, zitiert nach: ebd., S. 148. Innerhalb „Europas“ wurden neue Konsulate vor allem in Spanien, Finnland, Portugal, Schweden, Österreich gefordert. Bereits vorhanden waren Ende 1950 konsularische und wirtschaftliche Vertretungen in den USA, England, Frankreich, Holland, Dänemark, Belgien, Italien, Griechenland und der Türkei. Vgl. ebd., S. 149. 172 Vgl. Döscher, Verschworene Gesellschaft 1995, S. 149. 173 Vgl. ebd., S. 150, Zitat aus dem hier wiedergegebenen Brief der Arbeitsgemeinschaft an das Bundeskanzleramt vom 22.3.1951. 174 Das galt auch noch Mitte der 1950er Jahre, in denen etwa der Afrika-Verein mit einer Reise seines Geschäftsführers nach London „Verbindungen zu den Hohen- und Wirtschaftskommissionen afrikanischer Länder [herstellte], welche in der Bundesrepublik noch keine direkte diplomatische Vertretung unterhalten“. Beide Zitate in: Tätigkeitsbericht des Afrika-Vereins 1953, S. 3, Staatsarchiv Hamburg Z 314/0008. 175 Dr. Stephan, zitiert in: Bericht über die Vorstandssitzung der Arbeitsgemeinschaft Aussenhandel der Deutschen Wirtschaft am 14.2.1953, S. 5, RWWA 181-1555-2.

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Rückhalt im Ausland besitzen“; hier sollte aber auch die Auswahl und Zusammenstellung der für Außenhandelskreise in der Bundesrepublik relevanten ökonomischen und politischen Informationen erfolgen.176 Die Forderungen zielten stets darauf, die ausländischen Dienststellen sowie die mit dem Außenhandel beschäftigten Stellen in den bundesdeutschen Ministerien nicht nur ausreichend, sondern auch qualifiziert zu besetzen.177 Dabei versuchten die Ländervereine sich als zentrale Ansprechpartner der zu entsendenden Diplomaten zu etablieren und Einfluss auf deren Auswahl und die Qualifizierung zu nehmen. Sie waren damit letztlich so erfolgreich, dass Diplomaten in den nachfolgenden Jahrzehnten vor Reiseantritt den Umweg über Hamburg machten, um sich dort instruieren zu lassen.178 Sobald sich die Diplomaten an ihrem Bestimmungsort befanden, war es das ausdrückliche Bestreben der Ländervereine, „ein in vielfacher Beziehung enges, freundschaftliches Verhältnis“ zu pflegen und dieses auch durch Besuche „durch unsere auf Geschäftsreisen befindlichen Mitglieder“ zu vertiefen.179 Die gleichen Institutionen forderten zweitens den Ausbau des Netzes der binationalen Handelskammern. Viele der binationalen Handelskammern hatten im Laufe des Zweiten Weltkrieges ihre Tätigkeit einstellen müssen. Spätestens mit der Wiedergewinnung der deutschen Handelssouveränität im Jahr 1949 sollten sie aber wiederaufgebaut werden. Der Fokus lag dabei anfänglich vor allem auf den Kammern in „Iberoamerika“ und dabei insbesondere auf den Ländern, in denen auch schon zuvor Außenhandelskammern existiert hatten. In einigen Ländern wie Brasilien und Chile gelang dies sehr schnell, in anderen Ländern – darunter etwa Argentinien und Bolivien – erst Mitte der 1950er Jahre.180 Zum Aufgabenspektrum der Auslandshandelskammern gehörte es, den persönlichen und dienstlichen Kontakt zu den amtlichen bzw. konsularischen Vertretungen und den ausländischen Wirtschaftskreisen herzustellen und zu pflegen, die Wirtschaftsberichterstattung der deutschen staatlichen Vertretungen vor Ort zu ergänzen und mit mehrwöchigen Vortragsreisen in der Bundesrepublik Werbung für den eigenen „Übersee“-Standort sowie auf Reisen in „Übersee“ für Deutschland zu

176 DIHT, Eingabe an den Bundeskanzler, Dr. Konrad Adenauer, vom 12.12.1950, S. 1, RWWA 181-1550-3. 177 Die anfänglichen Diskussionen spiegelt unter anderem folgende Akte im Bundesarchiv Koblenz wider: BArch B 102/1863. 178 In den Tätigkeitsberichten der Ländervereine wurde jährlich aufgelistet, welche Botschafter und Botschaftsangestellten vor ihrer Ausreise zu den Ländervereinen Kontakt aufnahmen. 179 Die bilateralen Handelskammern in „Übersee“ dankten dann auch in ihren Tätigkeitsberichten stets dem jeweils zuständigen Länderverein dafür, dass sie von ihm über die deutsche Wirtschaft unterrichtet wurden. Die Mexikanisch-Deutsche Handelskammer betonte bspw. 1955, dass sie im IAV „einen Freund [habe], von dem wir wissen, dass er mehr ist als eine reine Korrespondenzstelle“. Tätigkeitsbericht über das zweite Geschäftsjahr der Mexikanisch-Deutschen Handelskammer 1955, S. 10, BArch B 102/57319. Das Zitat im Fließtext aus: Tätigkeitsbericht des Afrika-Vereins 1953, S. 3, Staatsarchiv Hamburg Z 314/0008. 180 Vgl. Karl Albrecht: Notiz zur Tätigkeit einzelner deutscher Handelskammern in Südamerika, Juni 1959, S. 1, RWWA 70-137-11. Eine Auflistung der Gründungen der deutschen Auslandshandelskammern im Anhang, Tabelle 4.

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betreiben.181 Darüber hinaus boten sie deutschen Gästen eine Anlaufstelle und vermittelten diesen wichtige Kontakte zu den jeweiligen örtlichen politischen und ökonomischen Kreisen. Die Geschäftsführung der Außenhandelskammern lag dabei meist in den Händen von Einheimischen deutscher Abstammung. An den binationalen Handelskammern waren aber sowohl Staatsbürger der Bundesrepublik als auch Staatsbürger des jeweils anderen Landes beteiligt. Das spiegelte sich auch in der Zusammensetzung der Vorstände wider und hatte den Vorteil, dass dadurch „nützliche Personalunionen mit den Vorständen nationaler Handelskammern“ möglich wurden, wie Karl Albrecht, Vorsitzender der IHK Düsseldorf, 1959 betonte.182 Abermals waren es die Ländervereine, die die Kontakte zu den sich (wieder) gründenden binationalen Handelskammern pflegten.183 Daraus speiste sich ihr Anspruch auf Beteiligung an staatlichen Verhandlungen. Sie wollten ihre Tätigkeit nicht darauf beschränkt wissen, Kontakte zu pflegen, sondern machten immer wieder deutlich, dass sie von der Ministerialbürokratie auch in die Gespräche über Handelsverträge und Doppelbesteuerungsabkommen mit eingebunden werden wollten. Die Ländervereine waren ihrem Selbstverständnis nach die zu Recht bevorzugten Berater der Handelspolitiker und Vermittler zwischen Außenhandelswirtschaft und Politik. Dabei beriefen sie sich nicht selten auf lange Traditionslinien. Der Afrika-Verein verwies 1957 nicht nur auf seine quasi-diplomatische Funktion im ersten Nachkriegsjahrzehnt, sondern auch darauf, dass er eine solche Aufgabe bereits als „Syndikat für Westafrika, im Jahre 1884 auf Wunsch Bismarcks“ übernommen hatte.184 Ein wichtiger Akteur war hier auch der DIHT. Er stellte seit Ende der 1950er Jahre erhebliche Mittel für die Finanzierung der binationalen Handelskammern zur Verfügung und engagierte sich für „die Gewinnung einer Anzahl deutscher Firmen als Mitglieder“ in den Auslandshandelskammern.185 Dies war schon allein deswegen notwendig, weil in den Außenhandelskammern im Gegensatz zu früheren Jahren die Zahl deutscher Mitglieder verschwindend gering war. Manchmal waren die Industrie- und Handelskammern die einzigen Mitglieder aus der Bundesrepublik. Die Handelskammer in Rio de Janeiro hatte noch Ende der 1950er Jahre nur zwei, die in La Paz 15 und in Buenos Aires 19 Mitglieder aus der Bundesrepublik. Bis in die 1960er Jahre hinein waren diese Kammern zwar wichtige Informationslieferanten und Anlaufstellen für deutsche Unternehmer auf Auslandsreisen, doch waren sie finanziell und personell schlecht ausgestattet. In den für 181 Hier ist absichtlich die Rede von einer Werbung für „Deutschland“, da auf diesen Reisen immer wieder auch die Wiedervereinigung angesprochen wurde. 182 Karl Albrecht: Notiz zur Tätigkeit einzelner deutscher Handelskammern in Südamerika, Juni 1959, S. 1 f., RWWA 70-137-11. 183 Dabei banden die Ländervereine immer wieder auch die Handelskammer Hamburg mit ein. 184 Tätigkeitsbericht des Afrika-Vereins 1957, S. 1, Staatsarchiv Hamburg Z 314/0008. 185 Der DIHT bemängelte, dass es nicht leicht sei, deutsche Firmen von der Notwendigkeit einer Förderung der Auslandshandelskammern zu überzeugen. Diejenigen Firmen, die diese Notwendigkeit einsahen, waren laut Zeitgenossen zum einen „nicht allzu zahlreich“ und hatten zum anderen „meist schon entsprechende Mitgliedschaften erworben“. Dies wiederum setzte die Frage nach der Gebührenerhebung für Nichtmitglieder dauerhaft auf die Tageordnung. Vgl. Döscher, Verschworene Gesellschaft 1995, S. 150, Zitat aus dem hier wiedergegebenen Brief der Arbeitsgemeinschaft an das Bundeskanzleramt vom 22.3.1951.

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den Außenhandel der 1950er Jahre wichtigen „iberoamerikanischen“ Auslandshandelskammern waren neben den eigentlichen Geschäftsführern meist nur Hilfskräfte und kaum die finanziellen Mittel vorhanden, um eine langfristige Personalpolitik vor Ort betreiben zu können. Der durchaus beeindruckende Ausbau des Auslandshandelskammernetzes darf daher nicht darüber hinwegtäuschen, dass deren Arbeit meist nur wenig professionalisiert war. Drittens wurde die Gründung von Blättern und Zeitschriften zur Außenhandelsinformation forciert. Dies soll hier exemplarisch an der Gründungs- und Etablierungsphase des Deutschen Wirtschaftsdienstes (DWD) dargestellt werden.186 Der DWD wurde bereits in der Besatzungszeit, genauer im Januar 1949, gegründet. Um die Selbstverwaltung der deutschen Wirtschaft zu stärken, wurde er privatwirtschaftlich finanziert. Am Gesellschaftskapital waren die Arbeitsgemeinschaft der Industrie- und Handelskammern, der Außenhandelsausschuss industrieller Verbände und die Verbände des Ein- und Ausfuhrhandels beteiligt. Als Eigner firmierte die Vereinigte Wirtschaftsdienste GmbH (VWD), an der die britische Nachrichtenagentur Reuters zu Beginn 75 Prozent der Anteile hielt, diese jedoch nach und nach verringerte. Der DWD orientierte sich an seinem Vorgänger, dem Weltwirtschaftlichen Informations- und Marktdienst (WIMD).187 Aufgabe des DWD war es, die eklatantesten Informationsmängel der deutschen Außenhandelskreise zu beheben. Der inhaltliche Schwerpunkt des DWD lag daher auf der Unterrichtung interessierter Unternehmer über Bezugsquellen, über Zolltarife und Niederlassungsbestimmungen in anderen Ländern.188 Im Herbst 1949 war es der VWD zwar bereits gelungen, „14 Herren im Ausland – in der Hauptsache nebenberuflich – zur Mitarbeit heranzuziehen“, die Abhängigkeit vom Weltdienst von Reuters war aber immer noch so groß, dass die Geschäftsführung weiterhin von der britischen Agentur gestellt wurde.189 Die deutschen Gesellschafter forderten das Ausscheiden des britischen Gesellschafters in den 1950er Jahren immer wieder, mussten aber auch anerkennen, dass Reuters mit seinem Netz an Auslandsberichterstattern, Kabelleitungen und Fernschreibern den Mangel an Wirtschaftsabteilungen in amtlichen deutschen Auslandsvertretungen teilweise hatte ausgleichen können. Darüber hinaus wurde das Nachrichtenmaterial von Reuters kostenlos zur Verfügung gestellt, was angesichts der geringen finanziellen Mittel der Kollektivorganisationen der deutschen Wirtschaft sowie des vorherrschenden Devisenmangels von unschätzbarem Vorteil 186 Zum DWD vgl. RWWA 181-2675-2. 187 Zuvor waren vor allem drei reichseigene Gesellschaften für Informationen über das Ausland zuständig gewesen: das Deutsche Nachrichtenbüro Berlin (DNB), zuständig für Politik und Kultur, die Eildienst GmbH Berlin mit einem Schwerpunkt auf außenwirtschaftlichen Nachrichten für Unternehmen und Organisationen sowie die Kursfunk GmbH Berlin als Kurs- und Nachrichtendienst. 188 Die Niederlassung deutscher Kaufleute war kriegsbedingt von zahlreichen Ländern stark reglementiert worden. Nicht selten bestanden diese Regelungen bis in die 1950er Jahre hinein fort. 189 Als Grund für die Bereitschaft zur Zusammenarbeit seitens Reuters wurde vermutet, dass das Kabelnetz zu großen Teilen durch Deutschland verlief und dessen Ausfall auch für Reuters finanzielle Einbußen bedeutet hätte. Vgl. Bericht über die Sitzung des Aussenwirtschaftsausschusses der Arbeitsgemeinschaft der Industrie- und Handelskammern am 8.9.1949, S. 14, RWWA 181-1550-3, Zitat ebd.

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war. Zwar wurde für den DWD/VWD bereits 1951 beschlossen, auf dem Gebiet des außenwirtschaftlichen Nachrichtenwesens eine Trennung zwischen legislativem und kommerziellem Dienst vorzunehmen. Die Auskunftserteilung sollte fortan den staatlichen Stellen, die reine Nachrichtenübermittlung den privatwirtschaftlichen obliegen.190 Doch erst Ende der 1950er Jahre hatte sich das Verhältnis zwischen staatlichen und privatwirtschaftlichen Informationsdiensten vollständig eingespielt. Dieser und ähnliche Kompromisse bei der Organisation der Außenhandelsinformation gelangen nicht ohne Reibungsverluste, denn die Nachkriegsjahre waren eine Zeit des Austarierens von Kompetenzen und Zuständigkeiten. Das betraf einerseits das Verhältnis der Wirtschaftsorganisationen untereinander, andererseits das Verhältnis von privatwirtschaftlichen zu staatlichen Institutionen. Gerade letztere befanden sich dabei selbst nicht selten noch in einem Prozess des Aufbaus und der inhaltlichen Ausrichtung. Auch auf Seiten des Staates mussten die Zuständigkeiten für den Export zwischen Außenministerium und Bundeswirtschaftsministerium erst langwierig und infolge von Ämterneubesetzungen fast stetig neu verhandelt werden. Folglich wurde immer wieder darum gerungen, wer welche Institutionen auf dem Gebiet des Außenhandels zu finanzieren habe, wem wie viel Einfluss zukommen sollte, wo Kompetenzen gebündelt werden mussten und welche Entscheidungsbefugnisse den jeweiligen Stellen zukamen. Dabei ist auffällig, wie groß anfänglich die Skepsis gegenüber den neuen staatlichen Institutionen der Bundesrepublik auf Seiten der Unternehmer und Unternehmervertretungen war. Sie befürchteten, dass jene zu viele Aufgaben im Bereich der Außenhandelsinformation übernehmen würden, weil sie bezweifelten, dass staatliche Stellen die für Unternehmer interessanten Informationen überhaupt herausfiltern könnten. Denn mit Recht unterstellte man dem Staat, die außenwirtschaftliche Verwertbarkeit der politischen Relevanz von Informationen unterzuordnen. Der Staat war daher vor allem als Financier, nicht als Träger von Institutionen gefragt und willkommen. In den 1950er Jahren wurde offenkundig, dass die bestehenden Informationsdienste mit unterschiedlichen Bedürfnissen der Abonnenten konfrontiert waren. Zusätzlich tauchte ein neues Bedürfnis auf. Anfänglich ging es im Bereich der Außenhandelsinformation vorwiegend um Auskünfte, nicht um Marktanalysen. Das primäre Ziel nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges war es zunächst, den Informationsmangel zu beheben. Mit der Verbindung von Außenhandels- und Entwicklungsdiskurs bestand aber nicht mehr ein Informationsdefizit, sondern ein Ordnungs- und Wissensproblem. Der Informationsmangel war zwar in Informations190 Vgl. Bericht über die Vorstandssitzung der Arbeitsgemeinschaft Aussenhandel der Deutschen Wirtschaft am 14.2.1953, S. 2 f., RWWA 181-1555-2. Im Bereich der Außenhandelsinformation lässt sich der Streit um staatliche und privatwirtschaftliche Kompetenzen auch an anderen Stellen leicht nachvollziehen, beispielsweise anhand der Gründungsgeschichte der Bundesstelle für Außenhandelsinformationen (BfA). 1951 als Bundesauskunftsstelle für den Außenhandel gegründet wurde sie 1953 in Bundesstelle für Außenhandelsinformation umbenannt. Die BfA war als staatliche Institution dafür zuständig, die deutsche Außenwirtschaft über die wirtschaftliche Lage und Entwicklung des Auslandes zu informieren. Ihr Sitz war Köln. Zur Gründungsgeschichte vgl. Kasulke, Bundesstelle 1971. Die Abstimmungsprobleme und Kompetenzstreitigkeiten im Bereich des Nachrichtenwesens lassen sich nachvollziehen anhand BArch B 102/005950.

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überfluss umgeschlagen. Nun mangelte es in den Augen der Zeitgenossen im Bereich des Außenhandels jedoch an Überblick, Struktur und einem aussagekräftigen Wissen über „Entwicklungsprozesse“. Dies ist zum einen als Erfolg der vorherigen Anstrengungen zu werten. Denn mittlerweile bestanden zahlreiche Informationsblätter und -zeitschriften. Der DWD publizierte bereits seit 1949 die „Aussenhandels-Erlasse“ und ab Mitte 1953 wurde in Zusammenarbeit von DWD und der Bundesstelle für Außenhandelsinformation (BfA) der täglich erscheinende Dienst „Nachrichten für den Außenhandel“ (NfA) herausgegeben.191 Im selben Jahr begann die BfA, kostenlose Informationen zu veröffentlichen.192 Daneben traten noch zahlreiche Bankberichte für den Außenhandel – 1954 gaben bereits circa 30 Banken eigene Außenhandelsnachrichten heraus. All diese Organe informierten aber nur über einzelne Ausschreibungen, die Veränderung von Wechselkursen, Zollsätzen und Handelsbeschränkungen oder über die zu personellen Umbesetzungen im Ausland. Ein Blick in die Veröffentlichungslisten der BfA und der zunehmende Umfang der täglichen Außenhandelsnachrichten belegen, dass schon Mitte der 1950er Jahre kein Mangel mehr an Informationen über das Niveau staatlicher Regulierungen auf den zentralen ausländischen Märkten bestand. Auch waren Bezugsquellen und Abnehmer bekannt. Das Problem bestand nun zum einen darin, dass „das Material in stark zersplitterter und unsystematischer Form verbreitet“ wurde.193 Wichtiger war aber zum anderen, dass die existierenden Informations191 Die Nachrichten für den Außenhandel wurden vor allem von den Spitzenverbänden, Industrieund Handelskammern sowie den Bundesministerien bezogen. Der Absatz blieb mit ca. 700 Exemplaren bis Mitte der 1950er Jahre so enttäuschend, dass mehrmals die Einstellung der Publikation erwogen wurde. Die Gesamtheit aller am Außenhandel interessierten Firmen wurde niemals erreicht, was von den Gesellschaftern auf die mangelnde Qualität der NfA und die Konkurrenz durch andere Veröffentlichungen der BfA sowie der Banken zurückgeführt wurde. Vgl. interner Vermerk Dr. Frenzl vom 26.9.1955, RWWA 181-2675-2; Vermerk über die Deutsche Wirtschaftsdienst GmbH, Besprechung am 1. März 1955, S. 2, RWWA 181-2675-2. Das damalige Aufgabengebiet der BfA dargestellt in: Ringel, Bundesauskunftsstelle 1952, S. IX–XI. 192 Vgl. Protokoll der 10. Verwaltungsratssitzung der DWD vom 1. Juli 1954, S. 5, RWWA 1812675-2. Hierfür griff die BfA insbesondere auf Informationen des HWWA und des IfW zurück. Vgl. Protokoll über die 31. Außenhandelstagung in Bad Kreuznach vom 27./28.9.1951, o. S., BArch B 5905b 1/2. 193 Bericht über die Vorstandssitzung der Arbeitsgemeinschaft Aussenhandel der Deutschen Wirtschaft am 14.2.1953, S. 3, RWWA 181-1555-2. Ähnliches galt für die „Wer liefert Was“-Nachschlagewerke zur deutschen Industrieproduktion. So listete die Abteilung Absatzförderung des BDI 1956 rund 500 Titel von Adressbüchern auf, die für die Ausfuhrwirtschaft von Belang zu sein schienen. Ein Blick in diese offenbart, welche Konkurrenzsituation bereits entstanden war: Neben vier Adressbüchern des Bundes und sechs einzelner Bundesländer gab es 35 von einzelnen Branchenverbänden herausgegebene und 57 von einzelnen Städten verlegte Adressbücher. Angesichts der Flut an Verzeichnissen sahen sich die Spitzenorganisationen der deutschen Wirtschaft veranlasst, einen Adressbuchausschuss der Deutschen Wirtschaft (ADRA) einzurichten, um „eine gewisse Ordnung und Rationalisierung im Adreßbuchwesen zu erreichen“. Der ADRA erkannte bis Ende 1955 114 Nachschlagewerke an, u. a. den Nachweis über Exportbezugsquellen des BDI, „Deutschland liefert“, der mit Registern in deutscher, englischer, französischer und spanischer Sprache versehen war. Im Bereich der reinen Information bestimmte Mitte der 1950er Jahre also weniger der Informationsmangel als die „Flut von Nachrichten“ die

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sammlungen keine Entscheidungshilfen für langfristige Strategien boten. Dieses Problem stellte sich insbesondere für die „überseeischen Märkte“. Hier schlug der Informationsmangel in ein grundlegendes und weitreichendes Wissensproblem um. Schon in dieser Frühphase zeigte sich, was zur zentralen Strategie bei der Wissensbeschaffung über „Übersee“ werden würde: Für das eigentlich individuelle unternehmerische Problem wurden kollektive Lösungen angestrebt. Selbst große Industrieunternehmen waren vorerst schlichtweg überfordert, wenn sie ein eigenes Netz von Informanten aufzubauen gedachten. Doch nicht allein der Mangel an Kapital und qualifiziertem Personal war für die Kollektivlösungen ausschlaggebend: Diese versprachen nicht nur Kosteneinsparungen durch die Bereitstellung von Abstimmungs-, Informationsverteilungs- und Kontrollmechanismen, sondern erleichterten auch das gemeinsame Auftreten der deutschen Außenhandelskreise im Ausland und den Zugang zu den dort ansässigen Ansprechpartnern in Politik und Wirtschaft. Kollektive Lösungen versprachen neben Einsparungseffekten auch politische Durchschlagskraft. Kollektive Lösungen für das neue Wissensproblem wurden daher auch angestrebt, als die spezifischen Probleme der „überseeischen“ Wirtschaftsgebiete immer deutlicher hervortraten. Problematisch war einerseits, dass die ab Anfang der 1950er Jahre sinkenden Weltmarktpreise für Agrargüter und Rohstoffe den Investitionsspielraum zahlreicher deutscher Handelspartner in „Übersee“ verringerten.194 Andererseits war das „Überseegeschäft“ vor allem ein Geschäft mit Staaten und nicht mit privaten Abnehmern.195 Beides wirkte sich auf das Informationsbedürfnis Wahrnehmung der Zeitgenossen. Somit erhob sich auch immer stärker die Forderung nach einer „Rationalisierung in der Berichterstattung“. Vgl. Jahresbericht des BDI 1955/1956, S. 118 f. und Jahresbericht des BDI 1954/1955, S. 129. Zitat aus: Bericht über die Vorstandssitzung der Arbeitsgemeinschaft Aussenhandel der Deutschen Wirtschaft am 14.2.1953, S. 3, RWWA 1811555-2, Zitate ebd. Ausführlich hierzu auch die Protokolle des Arbeitskreises Auslandswerbung der Arbeitsgemeinschaft Außenhandel der deutschen Wirtschaft, BArch B 102/005945. 194 Dass betraf diverse Importgüter. 1952 waren 32,2 % der Importe der Bundesrepublik Lebensmittel und 46,9 % der Importe Rohstoffe. Demgegenüber lag der Anteil der gewerblichen Produkte an den Exporten bei 83,4 %. Vgl. Buchheim, Bundesrepublik Deutschland in der Weltwirtschaft 2010, S. 109. 195 Aufgrund der geringen Kreditwürdigkeit der „überseeischen“ Regierungen wurde die Auftragsvergabe in den 1950er Jahren verstärkt anhand der Zahlungsfristen entschieden. Die daraus resultierenden langfristigen Lieferantenkredite belasteten die Bilanzen der ohnehin an Eigenkapital schwachen deutschen Unternehmen. Der Wandel vom Verkäufer- zum Käufermarkt hatte also Konsequenzen für die Bilanzen der exportstarken Unternehmen. Deren wachsende Verschuldung war einerseits investitionsbedingt, hatte andererseits aber ihre Ursache auch in der veränderten Exportstruktur. Denn in dem Maße, in dem sich der Export der bundesdeutschen Unternehmer immer stärker in den Investitionsgüterbereich verschob und dabei zunehmend Spezialfertigungen angeboten wurden, stellten sich neue Anforderungen an die Absatzfinanzierung. Nicht nur die längere betriebliche Vorfinanzierung bei der Erstellung von Investitionsgütern, sondern auch die tendenziell geringe Kreditwürdigkeit und mangelnde Kapitalkraft bei den Empfängern verschärften den Kapitalmangel deutscher Unternehmen. Infolgedessen verschob sich Mitte der 1950er Jahre der Wettbewerb vom Preis auf die Liefer- und Zahlungsbedingungen. Es war sogar von einem „Wettlauf der Industriestaaten in der Gestaltung der Zahlungsfristen“ die Rede. Die daraus resultierenden langfristigen Lieferantenkredite an ausländische Kunden beeinträchtigten die Finanzierung der laufenden Betriebsausgaben

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und die Risikowahrnehmung von Unternehmern in der Bundesrepublik aus, doch der Bedarf an Wissen wurde vor allem durch den neuen Entwicklungsdiskurs erhöht und verändert. Jetzt ging es nicht mehr nur um die Kenntnis von Ausfuhrrichtlinien und Kontakte zu Abnehmern, sondern um die Veränderungspotenziale ganzer Kulturen und Ökonomien. Der Export nach „Übersee“ wurde dadurch allmählich auch im Bereich der Informations- und Wissensgewinnung zu einem eigenen, in besonderem Maße wichtigen Handlungsfeld. Denn Mitte der 1950er Jahre war aufgrund der aktuellen Wachstumszahlen die Prognose verbreitet, dass sich der bundesrepublikanische Außenhandel vom „westeuropäischen Kernraum“ immer mehr auf die „überseeischen Regionen“ verlagern würde.196 Insofern verschoben sich die Themen erheblich. Es ging nicht mehr allein um reine Information, sondern um fehlendes Wissen. Orientierung und Handlungsrelevanz waren gefragt. Es fehlte an Länder- und Marktberichten, die einen fundierten Einblick in das Wirtschaftsgeschehen geben konnten. Überhaupt fehlte es an Wissen über die Grundlagen ökonomischen Wachstums. Und wie gingen eigentlich sich industrialisierende Gesellschaften mit den aus dem gesamtgesellschaftlichen Wandlungsprozess resultierenden sozialen Spannungen um? Welchen Gesellschaften war es zuzutrauen, diesen Prozess zu bewältigen? Welche Staaten würden möglicherweise daran zerbrechen? Waren nicht politische Umstürze wahrscheinlich? Drohten Sozialisierungen und Enteignungen und damit der Verlust von geschäftlichen Kontakten, Krediten und Direktinvestitionen? Wie ließ sich mit hoher Wahrscheinlichkeit aussagen, wo langfristig die größten Profite lockten, ohne dass dabei unvertretbare Risiken einzugehen seien? Diese weitreichenden Fragen waren nicht auf der Basis der verfügbaren Informationen aus Bankberichten oder von den privatwirtschaftlichen und staatlichen Auskunftsdiensten zu beantworten. Hierfür war ein umfassendes Wissen über fremde Kulturen unabdingbar. Das Spezifische am Diskurs über die „überseeischen Märkte“ war somit die Nachfrage nach einem Wissen besonderer Art, das sich daraus ergab, dass die „überseeischen“ Märkte von immer mehr Personen als „entwicklungsfähig“ angesehen wurden. und führten nicht selten zu einer als „ungesund“ aufgefassten Bilanzausweitung. Der BDI forderte schon 1954 das Eingreifen des Bundes. Denn die Kapitalbasis der deutschen Unternehmen sei immer noch zu gering, der Kapitalmarktzins in Deutschland aber vergleichsweise hoch, und vom deutschen Kapitalmarkt könne kaum eine Hilfe für die langfristige Exportfinanzierung ausgehen. Die bisherigen Ausfuhrkreditregeln, insbesondere die Hermes-Bürgschaften, seien den neuen Bedingungen anzugleichen und auf die neue Exportstruktur passgenau zuzuschneiden. Der Anteil der Investitionsgüter am Gesamtexport betrug 1954 bereits 49 % der Gesamtexporte. Dies ist besonders beeindruckend, wenn man bedenkt, dass dieser Anteil im Jahre 1936 nur 26,5 % betragen hatte. Der Anteil des Exports von Konsumgütern war im gleichen Zeitraum um zehn Prozentpunkte auf ca. 16 % zurückgegangen. Vgl. Jahresbericht des BDI 1954/1955, S. 106 und S. 115 sowie Jahresbericht des BDI 1955/1956, S. 13 und S. 102. Ähnlich argumentierte schon der Generaldirektor der DEMAG AG Hans Reuter 1953. Vgl. Reuter, Exportprobleme 1953. Die einzelnen Streitpunkte werden hier nicht genau beschrieben, da sie den politik- und wirtschaftsgeschichtlichen Arbeiten zum Thema zu entnehmen sind. Vgl. u. a. von Delhaes-Guenther, Erfolgsfaktoren 2003, S. 124–137. 196 Vgl. Eberstein, OAV 2000, S. 177, die verwendeten Begriffe ebd.

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7. ZWISCHENFAZIT Im Zentrum des vorliegenden Kapitels standen die Schwierigkeiten, mit denen sich die im bundesrepublikanischen Außenhandel aktiven Unternehmer und ihre Interessenvertreter in den ersten zehn Nachkriegsjahren konfrontiert sahen. Anfänglich waren die „Übersee-Probleme“ noch stark durch die allgemein schlechten Bedingungen für den Außenhandel gerastert. Allerorten mussten Zuständigkeiten zwischen staatlichen, teilstaatlichen und privatwirtschaftlichen Institutionen austariert werden. Es fehlte auch im Handel mit anderen Ländern und Regionen an verlässlichen Informationen, an etablierten Kontakten, an Kapital und Fremdwährungen. Egal, wohin man exportieren wollte: Die Unsicherheit war so groß, dass die Zeitgenossen von einer allgemeinen „Exportlethargie“ sprachen. Trotz der Schwierigkeiten galt in den Arbeitsgemeinschaften der Exporteure, den Industrie- und Handelskammern, bei den Spitzenverbänden der deutschen Wirtschaft und bei den Ländervereinen eine schnelle Rückkehr auf die Weltmärkte als zwingend erforderlich. In Übereinstimmung mit den wichtigsten (außen-)politischen Akteuren sollte mittels Außenhandel die deutsche Weltgeltung wiederhergestellt und der ramponierte internationale Ruf aufpoliert werden. Selbst jene Unternehmer, die vorerst keinen Spielraum für Exporte sahen, betonten den grundsätzlichen Wunsch nach außenwirtschaftlichem Engagement. Dies lag nicht nur an ihrem langfristigen Gewinninteresse: Der Außenhandel schien ihnen tatsächlich eine Überlebensfrage für das deutsche Volk zu sein. Zugleich konnte man mit dieser Argumentation vortrefflich die eigene Interessenpolitik in den Dienst der Allgemeinheit stellen. Die Außenhandelskreise inszenierten sich äußerst erfolgreich als überparteilicher Wohlstandsgenerator, als Verwalter der Interessen der Deutschen im In- und Ausland und als Verantwortliche für die ökonomische Wiedergeburt. Zusätzlich „adelten“ sie ihre Exportanstrengungen noch einmal dadurch, dass sie sie in einen engen Zusammenhang mit dem Kampf gegen den Kommunismus stellten. Dies erzeugte ein erhebliches Interesse für die „überseeischen Märkte“, aber noch kein eigenes Wissensfeld. Die anfänglich mehrheitlich eher zurückhaltende Einschätzung der außenwirtschaftlichen Lage veränderte sich in der ersten Hälfte der 1950er Jahre. Allerdings schlug die Lethargie nicht einfach in grenzenlose Zuversicht um. In den offiziellen und inoffiziellen Dokumenten ist vielmehr das beständige Schwanken zwischen dem Beklagen einer „weiteren Schmälerung der Ertragsbasis“ im Exportgeschäft und dem Verweis auf den „wiedergewonnenen Leistungsstand (…) der deutschen Industrie und ihrer Wettbewerbsfähigkeit auf den Auslandsmärkten“ typisch.197 Tatsächlich blieben viele Probleme der Nachkriegszeit noch für eine Weile virulent. Zwar konnten die Versorgungsschwierigkeiten mit Rohstoffen behoben werden, der Kapitalmangel der deutschen Unternehmen, die Enteignung früheren Auslandsvermögens und der Mangel an Informationen über das Ausland begleiteten die deut197 Jahresbericht des BDI 1955/1956, S. 94. Insbesondere in den Jahren 1954/55 lag es allerdings auch im Interesse der Außenhandelskreise, nicht allzu optimistisch und selbstbewusst zu klingen, da man sich mit zu viel Selbstbewusstsein die eigenen Argumente für die Neuaushandlung der Exportförderung zunichtegemacht hätte.

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III. Das Erkenntnisobjekt taucht auf

schen Unternehmer jedoch weiterhin. Im Zuge des steigenden Außenhandels wurden zudem Fragen der Konvertibilität der eigenen Währung und der Versicherbarkeit von Auslandsgeschäften wichtiger. Dies galt insbesondere für Produzenten von Qualitätsgütern und Spezialfertigungen, da ihre produktionsbedingt längeren Lieferzeiten bei gleichzeitig vereinbarten Festpreisen zu höheren finanziellen Risiken führten. Die bundesrepublikanischen Unternehmer blieben daher skeptisch gegenüber langfristigen Engagements im Ausland. Dass die wirtschaftshistorische Forschung darauf verweist, dass die Ausgangsbedingungen der deutschen Industrie realiter nicht so schlecht waren, wie es später in den Wirtschaftswunder- und Exportwundergeschichten immer wieder kolportiert wurde, darf daher nicht den Blick auf die „gefühlten Herausforderungen“ der Zeitgenossen verstellen.198 Die internen Berichte aus der Unternehmerschaft zeichneten noch bis tief in die sechziger Jahre hinein ein trübes Bild. Das Beklagen der Nachteile im Exporthandel war dabei mehr als nur eine unternehmerische Technik zur Durchsetzung eigener Interessen. Selbstverständlich diente sie auch dazu, politischen Einfluss zu generieren und Subventionen beziehungsweise Steuervergünstigungen zu erlangen. Dies bedeutet aber nicht, dass es sich nur um vorgeschobene Argumente handelte. Vielmehr ist in Anbetracht der internen Klagen davon auszugehen, dass die hier geschilderten Problemlagen den Zeitgenossen durchaus existentiell zu sein schienen. Unter den beschriebenen Bedingungen galten die „überseeischen Märkte“ zunächst als besonders risikoreich und für den Außenhandelskaufmann als besonders anspruchsvoll, nicht aber als grundsätzlich von anderen Auslandsmärkten verschieden. Es gab nur eine gesteigerte, noch keine generell andere Problemwahrnehmung. Dies änderte sich Mitte der 1950er Jahre. Schon die Analyse der Goodwill-Missionen hat gezeigt, in welchem Maße zu diesem Zeitpunkt der Wille zunahm, Informationen über die „überseeischen Märkte“ zu erlangen. Mehrheitlich wurde erwartet, dass die Wachstumsraten des Außenhandels mit „Übersee“ zukünftig diejenigen des Handels mit den Staatshandelsländern im „Ostblock“ und des Handels innerhalb „Westeuropas“ und mit „Nordamerika“ überschreiten würden. Das lag vor allem daran, dass die Märkte in „Übersee“ jetzt als zukünftige Industrieregionen galten. Der „Entwicklungsprozess“ und seine spezifischen Probleme rückten in den Vordergrund. Erst zu diesem Zeitpunkt formten sich ein deutlich erkennbares Erkenntnisobjekt und ein eigenes Wissensfeld der „überseeischen Märkte“. Dabei spielte eine veränderte Vorstellung von der Funktionsweise der Weltwirtschaft eine entscheidende Rolle. Im Zuge der Wiedereingliederung deutscher Importeure und Exporteure in die Weltwirtschaft veränderten sich nämlich auch deren Vorstellungen von den eigenen Möglichkeiten auf den „überseeischen“ Märkten. Zugleich zeigt der Wandel in der Art und Weise, wie von deutschen Ökonomen, Unternehmern und Interessenvertretern von Handel und Industrie über die Funktionsweise der Weltwirtschaft gedacht wurde, an, dass auch die wirtschaftlichen Potenziale der „überseeischen“ Gesellschaften nun positiver beurteilt wurden. War die 198 Die Diskussion über die Ursachen des „Wirtschaftswunders“ knapp dargestellt in: Wehler, Gesellschaftsgeschichte 2009, S. 48–60.

Zwischenfazit

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Weltwirtschaft anfänglich noch als ein strukturell stabiles System konzipiert, in der jedem Land ein fester Platz zustand, galt sie in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre zunehmend als grundsätzlich dynamisch. Nun war seltener von „organischen“ oder „natürlichen“ und damit auch von „kranken“ und „gesunden“ Zuständen der Weltwirtschaft die Rede. Dies eröffnete auch den bis dato peripheren Gebieten die theoretische Möglichkeit, zu Zentren der Weltwirtschaft aufzusteigen. Diese Vorstellung hatte vorerst weniger mit den „überseeischen Gebieten“ selbst als mit dem unmittelbaren Erfahrungshintergrund bundesrepublikanischer Unternehmer zu tun. Die Vorstellung von einer geordneten Weltwirtschaft korrespondierte in der unmittelbaren Nachkriegszeit mit dem Ziel, die überregionale Bedeutung der deutschen Industrie und des deutschen Handels hervorzuheben. Denn so ließ sich argumentieren, dass nur durch die Reintegration der deutschen Wirtschaft in die Weltwirtschaft „Europa“ ökonomisch stabilisiert und die gesamte globale Ökonomie zu ihrer produktivsten Entfaltung geführt werden könne. Angesichts dauerhafter Exportüberschüsse konnte diese Vorstellung ab Mitte der 1950er Jahre immer weniger überzeugen. Im Laufe des Jahrzehnts setzte sich eine neue Sicht auf die Funktionsweise der Weltwirtschaft durch, die die Wahrnehmung der „überseeischen Märkte“ als sich entwickelnde Märkte ermöglichte. Erst als die „überseeischen Märkte“ als Märkte in sich industrialisierenden Gesellschaften wahrgenommen wurden, wurde es notwendig, sie mit einem eigenen begrifflichen und theoretischen Instrumentarium zu untersuchen und zu bewerten. Sie teilten zwar weiterhin mit anderen entfernten Märkten wie den USA bestimmte Risiken – insbesondere bei der rechtlichen Absicherung von Handelsgeschäften und Direktinvestitionen –, ihre zukünftige Entwicklung schien aber besonders schwer abschätzbar und durch ein hohes Maß an Unsicherheit gekennzeichnet zu sein. Dies erklärt den Wunsch nach dem Ausbau einer umfangreichen Wissensinfrastruktur im In- und Ausland. Diese sollte nicht nur relevante Informationen über Zölle sowie juristische Ansiedlungsbeschränkungen und -hindernisse bereitstellen, sondern Aussagen über die langfristigen Chancen und Risiken ermöglichen. Aus diesem Grund interessierten sich – das bestätigt auch der Blick in die Berichte der Goodwill-Reisen – die bundesrepublikanischen Außenhandelskreise für die kulturellen Grundlagen der dortigen Gesellschaften. Nur das umfassende Verständnis der politischen, sozialen, kulturellen und ökonomischen Bedingungen ließ zuverlässige Prognosen zu. Insofern unterschied sich der „Überseehandel“ vom sonstigen Außenhandel durch eine spezifische Perspektive auf die dortigen Märkte und Gesellschaften, durch eine besondere Weise der Informationsnachfrage und der Wissensproduktion. Das Erkenntnisobjekt „Übersee“ hatte es freilich auch schon früher gegeben. Die Faszination für weit entfernte Kulturen und Märkte war keineswegs neu – weder unter Wissenschaftlern noch unter Unternehmern. Das Besondere war nun aber, dass erst ab Mitte der 1950er Jahre ein weitverzweigtes Netz an Institutionen entstand, in denen dezidiert Wissen über „überseeische Märkte“ für die sogenannten „Praktiker“ der Wirtschaft bereitgestellt wurde. Zum ersten Mal kam es im ökonomischen Feld zu einer umfassenden Produktion von Wissen über die „überseeischen Märkte“. Dies wird der nachfolgende Untersuchungsschritt zeigen.

IV. INSTITUTIONEN DES ÜBERSEEWISSENS Im vorangegangenen Kapitel wurden die Problemwahrnehmungen im bundesrepublikanischen Außenhandel analysiert. Dabei konnte gezeigt werden, wie stark anfänglich das Gefühl eines Mangels an Informationen aus und an Wissen über „Übersee“ in den Außenhandelskreisen war. Immer wieder wurde zeitgenössisch betont, wie wichtig es sei, diese Informations- und Wissenslücke zu füllen. Ferner hat das vorhergehende Kapitel deutlich gemacht, dass sich die „überseeischen Märkte“ als spezifisches Erkenntnisobjekt erst allmählich herausbildeten. Anfänglich schien der Außenhandel mit diesen Regionen durch die gleichen grundsätzlichen Problemlagen geprägt gewesen zu sein wie der Handel mit den „westlichen Industrieländern“. Dies änderte sich jedoch im Verlauf der zweiten Hälfte der 1950er Jahre: Immer spezifischer schien der Außenhandel mit den „überseeischen Regionen“ zu werden und dabei zugleich durch ganz eigene Problemlagen gekennzeichnet zu sein. Um das Feld des „Überseewissens“ weiter einzukreisen, wird das nun folgende Kapitel zeigen, welche Wissensinfrastruktur das Erkenntnisobjekt „überseeische Wirtschaftsgebiete“ hervorbrachte. Insbesondere wird deutlich werden, dass das Informations- und Wissensproblem der Zeitgenossen einen zweiphasigen Institutionalisierungsprozess anstieß. Nach einer anfänglichen Phase der Unsicherheit, in der auch strittige Zuständigkeiten geklärt werden mussten, waren im Bereich des „Überseewissens“ Mitte der 1950er Jahre wieder Handlungsroutinen erreicht, die Kommunikationswege hatten sich erneut eingespielt. Zwischen den über die Bundesrepublik verteilten Institutionen hatte sich eine stabile Aufgabenteilung ergeben, die Ansprechpartner waren untereinander bekannt und die Zuständigkeiten geklärt. Diese gut funktionierende Struktur geriet Ende der 1950er Jahre in Unruhe. Angesichts des Fokus auf „Entwicklungsprozesse“ richtete sie sich inhaltlich neu aus, vormals dominante Akteure büßten an Einfluss ein, während andere an Bedeutung gewannen und zahlreiche neue Organisationen hinzukamen. Die Kommunikation über die Chancen und Risiken auf den „überseeischen Märkten“ fand an konkreten Orten statt. Oft in eigens zu diesem Zweck gegründeten Organisationen.1 Zu unterscheiden sind dabei zum einen Institutionen der überwiegend wissenschaftlichen, aber auf die Praxis zielenden, Wissenserzeugung und Orte des Wissenstransfers und -austauschs. Zu unterscheiden sind auch Institutionen mit regionaler Prägekraft und überregionaler Ausstrahlung sowie Institutionen, die zwar dem Wissenserwerb und Wissensaustausch dienten, aber unter den am Außenhandel interessierten Unternehmern weniger bekannt waren. Gemäß dem gewählten Ansatz, die an „Übersee“ interessierten Unternehmer als Kollektiv zu 1

Nachfolgend wird auf eine genaue Analyse der Finanz- und Personalstrukturen dieser institutionellen Netzwerke verzichtet, da die Quellen hier meist nicht lückenlos Auskunft geben. Die interessierten Leser_innen finden aber Anhaltspunkte in den Finanzberichten der jeweiligen Vorstände, in den veröffentlichten Jahresberichten, zum Teil auch in Stellen- und Finanzplänen. Letzteres insbesondere bei von Bund und Ländern mitfinanzierten Institutionen.

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untersuchen, geht es im nachfolgenden Kapitel darum, herauszufinden, in welchen Institutionen – außerhalb ihrer eigenen Unternehmen – sich diese Akteursgruppe über die Chancen auf den „überseeischen Märkten“ austauschten. Diese Institutionen sind zu beschreiben und ihr jeweiliger Einfluss zu verschiedenen Zeiten aufzuzeigen. Aus drei Gründen bediene ich mich hierzu des Clustermodells der wissen(schafts)geschichtlichen Stadtforschung.2 Erstens, weil es ermöglicht, den Wissensaustausch und -erwerb als kollektives Unterfangen mit jeweils eigenen regionalen Pfadabhängigkeiten zu untersuchen. Zweitens, weil es mit dem qualitativen Ansatz der vorliegenden Arbeit kompatibel ist. Und drittens, weil es die Eindrücke aus den Quellen am besten widerspiegelt. Quantitative Verfahren der Quellenauswertung kommen dabei nicht zum Einsatz. Sie können die Dynamik des Wissensfeldes nur unzureichend abbilden und verdecken oftmals die unterschiedliche Qualität der damaligen Kontakte. Zudem lässt sich eine quantitative Auswertung im Grunde nur rechtfertigen, wenn lückenloses Quellenmaterial vorliegt oder zumindest noch die Historie des Verlustes von Akten rekonstruierbar ist. Mit Hilfe der Idee von Wissensclustern unterschiedlicher Bedeutung und Größe, d. h. von voneinander unterscheidbaren räumlichen Ballungen von Austauschprozessen, lässt sich die unterschiedliche Qualität der institutionellen Vernetzungen besser verdeutlichen.3 Mein Hauptargument ist: der konkrete geografische Ort, an dem sich Unternehmer mit „Übersee“ befassten, bestimmte mit, wie leicht Informationen zugänglich waren und auf welchen Wegen Partizipation am Wissen über „Übersee“ möglich war. Die Vorstellung von Wissensclustern beruht auf der Beobachtung, dass Wissensaustausch und Wissenstransfer im 20. Jahrhundert überwiegend im geografischen Nahraum geschah. Die wissenschaftsgeschichtlich interessierte Stadtforschung verweist auf die Bedeutung kommunikativer Verdichtungsräume. Dass Entfernungen in diesem Untersuchungszeitraum grundsätzlich leichter überwindbar wurden, wird dadurch keineswegs geleugnet. In den Diskussionen über die „Überseemärkte“ ging es aber nicht nur um Informationsdefizite, sondern um Wissen für risikoreiche Entscheidungen. Mögen Telegramm, Telefon, Telefax auch wichtige Medien des Informationsaustauschs geworden sein, mochte auch ein überregionaler Zeitungs- und Fachzeitschriftenmarkt entstanden sein, nahmen auch die Mobilität durch Auto, Zug und Flugzeug sowie die Wissenserzeugung durch internationale Organisationen wie der Weltbank zu: strategisch relevantes Wissen wurde in Unternehmerkreisen dennoch vor allem in vertrauensvolleren Atmosphären vermittelt und wechselseitig plausibilisiert.4 2 3

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Gemeint ist damit nicht nur ein industrielles Cluster aus Lieferbeziehungen. Im Bereich des „Überseewissens“ spielte der branchenübergreifende Wissensaustausch und auch der zwischen Konkurrenten auf dem gleichen Markt eine wichtige Rolle. Auch wenn daher im Folgenden von der Existenz unterschiedlicher Wissenscluster ausgegangen wird, wird damit nicht behauptet, dass diese Verdichtungsräume voneinander abgeschnitten waren. Das behauptet auch die sonstige Forschung zu Wissensclustern nicht. Sie verweist aber auf clusterbedingte Pfadabhängigkeiten und kann so die Bedeutung des Regionalen in Globalisierungsprozessen deutlich zeigen. Zur historischen Relevanz von Vertrauen als zentraler Handlungsressource vgl. Frevert, Vertrauen 2002.

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Mir geht es darum, Ballungspunkte des „Überseewissens“ zu benennen. Konkreter: Jene Einrichtungen herauszufiltern, die die Fähigkeit besaßen, Themen zu setzen, ihr führendes Personal auch in Beiräten anderer thematisch artverwandter Institutionen unterzubringen und die in ihnen gehaltenen Vorträge und Schriften überregional zu streuen. Kurz, denen es durch eine ausreichende monetäre und personelle Ausstattung gelang, die Nachfrage nach ihrer Expertise aktiv zu befriedigen.5 In den Fokus rücken damit Institutionen, die explizit dem Wissenserwerb von und dem Wissensaustausch unter Unternehmern dienten. Universitär erzeugtes Wissen war zwar keineswegs unbedeutend, wurde aber von den am Außenhandel interessierten Unternehmern meist nicht direkt nachgefragt.6 Einflussreicher waren jene Institutionen, die explizit versprachen, Wissen über „Übersee“ für Unternehmer aufzubereiten. Diese Institutionen haben bislang keine oder nur wenig Aufmerksamkeit der globalisierungsgeschichtlichen Forschung erregt. 1. PROLOG: REALISTISCHE ‚GOODWILL‘-PFLEGE GEHÖRT ZUM ALLTAG UND NICHT NUR ZUR AUFGABE BESONDERER MISSIONEN7 Zwei Wege und Medien des damaligen Wissenstransfers und der Wissensgenese sind in den vorangegangenen Kapiteln bereits aufgezeigt und zum Ausgangspunkt der Analyse gemacht worden: Zunächst wurden Reisen und Reiseberichte, anschließend die Jahresberichte der wichtigsten Interessenvertretungen von Industrie und Handel herausgegriffen und ausgewertet. Während die Reisen tatsächlich eher Erkundungscharakter hatten, sind die Jahresberichte und Sitzungsprotokolle als Sonden in grundsätzliche Problematisierungsweisen genutzt worden.8 Das vorliegende Unterkapitel zieht nun mit den zeitgenössisch ausgerichteten Ausstellungen eine weitere Quellengattung heran. Die Ausstellungen sind Zeugen der Bemühungen, Wissen über Weltregionen zu bündeln und zugleich einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Dies schien den am „Überseegeschäft“ interessierten Unternehmern allein schon deswegen sinnvoll, weil eine größere Öffentlichkeit auch den Zugang zu andernorts verstreuten Informationen und zu Kapital ver-

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Demgegenüber bezieht sich die Bewertung als eher unbedeutende Institution des „Überseewissens“ beispielsweise auf den Eindruck, dass deren Personal von Ministerien, Unternehmen oder anderen Institutionen des „Überseewissens“ nicht als Experten nachgefragt wurden, ihre Sitzungsprotokolle und Schriften sich nicht in den Überlieferungen der anderen Institutionen fanden und sie folglich andernorts nicht als regionale tonangebend oder überregional einflussreich angesehen wurden. Dies entsprach zumeist auch der Selbsteinschätzung. So galten etwa die Amerika- und Afrikainstitute der Universitäten unter Unternehmern nicht als wichtige direkte Wissenslieferanten. O. A., Besonderheiten im Nahostgeschäft 1956, S. 57. In den Quellen spiegelten sich zwar auch die interessenpolitischen Absichten der Industrie- und Handelsverbände wider, nichtsdestotrotz lassen sie sich nicht nur als Papiere von Lobbygruppen lesen.

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sprach, das für die Finanzierung von Netzwerkstrukturen notwendig war.9 Folglich waren die öffentlich zugänglichen Ausstellungen weit mehr als reine Produktmessen: Hier wurde umfangreiches Wissen über Märkte und Kulturen dargeboten und vermittelt. Nicht selten wurde dieses Wissen zu einzelnen Weltregionen in diesen Foren zum ersten Mal in der Nachkriegszeit systematisch aufbereitet. Die Ausstellungen waren des Öfteren Katalysatoren von Institutionalisierungsprozessen. Die Hamburger Ausstellung „Nah- und Mittelost – Einst und Heute“ soll nachfolgend herausgegriffen werden, um dies zu verdeutlichen.10 Die zweiwöchige Schau wurde Ende September 1956 eröffnet und fand parallel zum seit 1952 jährlich abgehaltenen „Nah- und Mittelost-Tag“ statt, dem zentralen Treffen der Wirtschaftskreise, die sich mit dem „Orient“ befassten.

Abb. 5: Karte Nah-und Mittelost aus: ORIENT 1 (1961), S. 19.

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Die Außenhandelskreise der Hansestädte bemühten sich intensiv um eine positive Berichterstattung in den regionalen und überregionalen Medien sowie um hohe Besucherzahlen. Während der Planungen zu einer Ausstellung im Jahre 1956 gingen sie aufgrund ihrer Erfahrung mit der Hamburger Ausstellung „Belgisch-Kongo im Jahre 1955“ von einem hohen Besucherinteresse aus. Von einer großen Anzahl von Besuchern – genauer von 5.500 – spricht dann auch: NuMoV, 70 Jahre 2004, S. 36 f. Zum generellen Verhältnis von Wissenschaft und Öffentlichkeit sowie zu den „Indienstnahmen“ der Öffentlichkeit in wissenschaftlichen Konkurrenzkämpfen vgl. Gieryn, Boundary-Work 1983. Ähnliche Ausstellungsprojekte kamen andernorts anfänglich oftmals aus Mangel an Expertise über den Planungsstatus nicht hinaus oder konnten nur unter großer Mithilfe aus den Hansestädten realisiert werden. Diese Erfahrung war nicht selten Anlass, den Institutionalisierungsprozess umso mehr voranzutreiben.

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Angestoßen worden war die Ausstellung – so halten es die Planungsunterlagen von 1955 fest – „von verschiedenen Orientrepräsentanten“, die den bundesrepublikanischen Außenhandelskreisen immer wieder signalisiert hätten, dass „die Orientalen gern auf deutschen Messen zum Lernen erscheinen, daß dagegen ihre eigenen Länder keine Möglichkeit hätten, den eigenen Leistungsstand einmal in Deutschland vorzuführen“.11 Ob diese Wünsche aus dem Ausland nun tatsächlich nur aufgriffen wurden, sei dahingestellt. Zumindest ließen sie sich anscheinend als Argument im Schriftverkehr mit den deutschen Behörden nutzen, um zu verdeutlichen, wie wichtig es sei, dass nun „erstmalig am deutschen ‚Tor zur Welt‘ unsere Aufgeschlossenheit gegenüber dem Orient auf deutschem Boden gezeigt werden“ könne – und das mit einem geringeren Mittelaufwand, als wenn man dasselbe im Ausland versuche.12 Getragen wurde die Ausstellung vom Nah- und Mittelost-Verein (NuMoV), einem der sogenannten Ländervereine, der sich jedoch – wie alle anderen Vereine seiner Art auch – mit einer ganzen Weltregion beschäftigte. Der NuMoV war eine vergleichsweise junge Institution, da er erst 1950 zu den damals bereits in Hamburg ansässigen Ländervereinen – Afrika-Verein, Iberoamerika-Verein und Ost-Asiatischer Verein – hinzutrat.13 Ähnlich wie die anderen drei Ländervereine hatte der NuMoV den Anspruch, ein Zusammenschluss all jener Personen und Institutionen zu sein, die an Handelsbeziehungen zwischen Deutschland und den Ländern des durch den Vereinsnamen bestimmten Wirtschaftsraums interessiert waren.14 Dass es gerade die Ländervereine waren, die derartige Ausstellungen konzipierten und durchführten, lag auch daran, dass sie sich ganz besonders um eine enge Verbindung von Politik, Wissenschaft, Wirtschaft und Kultur bemühten. Diplomatische, kulturelle und wirtschaftliche Fragen schienen den hier tätigen Experten aufs Engste miteinander verknüpft zu sein. Dass es sich bei den Ausstellungen nicht um reine Gewerbeschauen handelte, lag daher nicht allein daran, dass sich die Kuratoren Zuschüsse vom Bund und dem Land Hamburg erhofften.15 Vielmehr ver11 12 13

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Ausstellungsplan „Nah- und Mittelost – Einst und Heute“ vom 15.10.1955, o. S., BArch B 145/5356. Ebd. Er knüpfte aber an die ältere wissenschaftliche Beschäftigung mit dem „Orient“ an und verstand sich als Nachfolger des zuvor in Berlin ansässigen Deutschen Orient-Vereins. Der Deutsche Orient-Verein war 1934 in Berlin als Bindeglied zwischen Reichsbehörden und Exportindustrie gegründet worden. Der NuMoV – am 10.5.1950 im Hamburger Hotel Atlantic ins Leben gerufen – war damit ein Ergebnis der „Westdrift“ des „Überseewissens“ nach 1945 und konnte noch nicht auf eine lange eigenständige Tradition in der Hansestadt verweisen. Zur „Westdrift“ vgl. Brahm, Wissenschaft und Dekolonisation 2010, S. 220. Die Gründungsdokumente des Orientvereins sind festgehalten in: Deutscher Orient-Verein, Ziel und Zweck B 1934. Zum Verein vgl. auch Marchand, German Orientalism 2010, S. 214. Zur Verbindung von Deutschem Orient-Verein und dem Mitteleuropäischen Wirtschaftstag und damit dessen Rolle bei der „Südostorientierung“ der deutschen Wirtschaft vgl. Freytag, „Drang nach Südosten“ 2012, S. 110. Zur Gründung des NuMoV vgl. Staatsarchiv Hamburg 131–1 II 4844. Vgl. Arbeitsprogramm des Nah- und Mittelost-Vereins in Hamburg 1950, S. 1, Staatsarchiv Hamburg 131–1 VI 1847. Diese Zuschüsse wurden auch durch das Bundeswirtschaftsministerium und den Hamburger Senat genehmigt. Vgl. Toepfer, Nah- und Mittelost 1956, S. 4. Alfred C. Toepfer (1894–1993)

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sprach eine derartig konzipierte Schau, verstreutes praxisrelevantes Wissen zusammenzuführen und neu zu kombinieren. Zwar war auf der Ausstellung auch ein Büro für Wirtschaftsauskünfte permanent geöffnet – und wanderten Besucher und Besucherinnen durch ihre Räume, so konnten sie auch die typischen weltmarkttauglichen Erzeugnisse der Region wie Baumwolle, Trockenfrüchte, Erze, Zigaretten, Brokate, Textilien und Pharmazeutika begutachten. Es war aber mehr als nur schmückendes Beiwerk, wenn dank der Mitarbeit von Archäologen und der Hilfe des Auswärtigen Amtes kunsthandwerkliche Schätze aus Grabungen der letzten beiden Jahre gezeigt werden konnten und sich die neuesten Karten der Region und aktuelle Fotografien von Land und Leuten bestaunen ließen.16 Insbesondere die auch im Ausstellungskatalog abgedruckten Fotografien waren in den Augen der Ausstellungsmacher auch für die Außenhandelskreise relevant. Denn durch sie ließen sich anscheinend zahlreiche relativ unbekannte Besonderheiten im Nahostgeschäft verdeutlichen, vor allem das Neben- und Miteinander von „modernen“ und „traditionellen“ Lebenselementen.17 Im Grunde drehte sich die Schau weniger um ausländische Waren als um die „andere“ Kultur. Dass nicht nur die Qualität der Waren, sondern ein ganzer Kulturraum gezeigt werden sollte, stellte die Kuratoren vor erhebliche Probleme. Offenbar war es für sie alles andere als leicht, die notwendige Expertise zu versammeln, um eine umfassende Darstellung der ökonomischen, kulturellen und politischen Bedingungen zu erreichen und aussagekräftige Ausstellungsstücke zu organisieren. Mittlerweile – Mitte der 1950er Jahre – waren zwar die Auskunftsdienste soweit ausgebaut, dass eine aktuelle Zusammenstellung der Zollsätze in der Region oder ein Verzeichnis von Im- und Exporteuren vergleichsweise leicht verfügbar gewesen wären. Aber Gutachten und Forschungsarbeiten, die einer Gesamtschau des Marktes „Orient“ hätten dienen können, waren weiterhin Mangelware. So war man gezwungen, auf Jahrzehnte zuvor verschriftlichtes Wissen zurückzugreifen und dieses mit jüngsten, nicht selten stark persönlich geprägten, Reiseeindrücken zu kombinieren. Ähnlich wie bei den Goodwill-Missionen der gleichen Zeit, waren zahlreiche Personen und Institutionen in die Planung und Umsetzung der Ausstellung involviert. Zum größten Teil stammten diese aus dem Kreis der „Überseehändler“ selbst. Die Kuratoren griffen aber auch auf auswärtige und in anderen Feldern verstreute Expertise zurück.18 Für die Kontakte zur Nationalökonomie setzte der

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war Leiter eines internationalen Getreide- und Futtermittelunternehmens. Zu seiner Person, insbesondere zu seiner umstrittenen Rolle während des Nationalsozialismus vgl. Kreis, Alfred Toepfer 2000; Roth/Lesle, Völkische Netzwerke 2016. An den geographischen Karten ist bemerkenswert, wie niedrig die Ausstellungsmacher den Kenntnisstand der Besucher ansetzten, weil die geografischen Kenntnisse schon bei „mancher heimischen Firma offenbar nicht ausreichend“ seien, da der Iran mit dem Irak und Indien mit Pakistan verwechselt würden. O. A., Besonderheiten im Nahostgeschäft, 1956, S. 53. Vgl. die Abbildungen in: NuMoV, Nah- und Mittelost 1956. Beispielsweise war mit der Durchführung der technischen Arbeiten die „in Orient-Ausstellungen sehr erfahrene“ IMAG (München) betraut, die unter Zuhilfenahme einzelner vor Ort ansässiger Mitgliedsfirmen die Pläne realisierte. Ausstellungsplan „Nah- und Mittelost – Einst und Heute“ vom 15.10.1955, o. S., BArch B 145/5356. Da die Geschichte der staatlichen und industriellen Messepolitik in Westdeutschland hinlänglich bekannt ist, wird hier nur kurz verwiesen

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NuMoV auf die Hilfe des Kieler Instituts für Weltwirtschaft und des Hamburger Weltwirtschaftsarchivs. Zugleich waren der Hamburger Übersee-Club, der Hamburger Senat und die Handelskammern Hamburg und Bremen sowie die binationalen Handelskammern in „Nahost“ in die Planungen eingebunden. Bei der Beschaffung der Ausstellungsgegenstände profitierte man von den lokalen ethnologischen Sammlungen und den Privatsammlungen hanseatischer Kaufleute. Kontakt stellte man auch zu den amtlichen Stellen in Bonn, den einzelnen Vertretungen der „Nahund Mittelost-Länder“ in Deutschland und den „deutschen amtlichen Vertretungen im Orient“ her. Um die Ausstellung auf die Beine stellen zu können, musste sich das geografische Netz der Kontakte damit weit über den Hamburger Raum hinaus aufspannen. Dabei kam es dem NuMoV zugute, dass er ohnehin reichlich Kontakte zu „orientalischen Konsuln“, zu Wissenschaftlern und Künstlern, zu dortigen und hiesigen Unternehmerkreisen sowie zum Senat und der Handelskammer der Hansestadt pflegte.19 Zugleich waren nicht wenige der genannten Institutionen auch Mitglieder des NuMoV. Gleiches gilt für die Liste der Geldgeber. Auf ihr erschienen nicht nur zahlreiche Hamburger und Bremer Handelshäuser, sondern auch das Who is Who der deutschen Wirtschaft: Die AEG (Frankfurt am Main), die Allianz (München), die BASF (Ludwigshafen am Rhein) und Daimler-Benz (Stuttgart) – um nur einige wenige herauszugreifen.20 Selbige waren meist bereits Mitglieder im Hamburger ÜberseeClub oder in einem der Ländervereine. Die Ausstellung aus dem Jahr 1956 zeigte damit deutlich, wie sehr man sich in Hamburg trotz aller praktischen Umsetzungsschwierigkeiten und Wissensprobleme auf die ortsansässigen Experten und die bereits bestehenden überregionalen Kontakte verlassen konnte. Es wäre allerdings eine Fehldeutung, wenn man aus diesem Umstand ableiten würde, dass sich daraus ein ausschließlich auf Kooperation setzender Modus ergeben hätte. Richtig ist, dass in den Außenhandelskreisen der Informations- und Wissensmangel immer wieder betont und daraus auch eine Notwendigkeit zur Zusammenarbeit aller interessierten Kreise abgeleitet wurde. Nichtsdestotrotz erhoben mehrere Institutionen den Anspruch auf die Vorreiterrolle im Bereich des praxisrelevanten „Überseewissens“. Dies zeigte sich auch bei der Schau von 1956. Nicht wenige Passagen des Ausstellungskatalogs lassen sich getrost als Warnungen an die Außenhandelskreise in „Süd-“ und „Westdeutschland“ lesen. Die etablierten Handelshäuser in Hamburg und Bremen erinnerten daran, wie sehr die Industrie auf die kenntnisreichen Mittler in den Hansestädten angewiesen sei. So verwiesen die vom NuMoV beauftragten Autoren beispielsweise darauf, dass der „Export vom Schreibtisch aus (…), entgegen noch immer verbreiteter Annahmen, bei Nah- und Mittelost meist unmöglich [sei], auch deshalb, weil der Fachimporteur draußen unendlich auf: von Delhaes-Guenther, Erfolgsfaktoren 2003, S. 99–101 und die dortigen Literaturangaben sowie Fritsche, Schaufenster des „Wirtschaftswunders“ 2008. 19 Schreiben von Dr. Reinhard Hüber, Geschäftsführer des Nah- und Mittelost-Vereins, Hamburg an Herrn Senatssyndikus Dr. Kurt Sieveking, Hamburg vom 31.3.1950, o. S., Staatsarchiv Hamburg 131–1 II 4844. Sievekings Vorfahre war eine zentrale Figur des kolonialen Hamburgs gewesen. Vgl. Ruppenthal, Kolonialismus 2007, S. 72 f. 20 Die Auflistung der Geldspender im Anhang des Ausstellungskatalogs, o. S.

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viel seltener ist als der general importeur (sic!)“.21 Und sie insistierten, dass es riskant sei, „Geschäfte im Direktexport auf unbekannten Märkten mit unbekannten einheimischen Vertretern zu versuchen“.22 Das persönliche Studium der Marktverhältnisse sei dringend geboten, doch „Schnellbesuche in Luxushotels [ließen noch] keine Marktkenner entstehen“.23 Dementsprechend betonten die Autoren des Ausstellungskatalogs, dass die in ihm ausgebreiteten Ratschläge gerade „nicht am Schreibtisch erdacht, sondern in den Nahostländern selbst erarbeitet, in vielen Gesprächen mit Kaufleuten und Industriellen, Einheimischen und Deutschen, Beamten des ministeriellen, diplomatischen und konsularischen Dienstes erhärtet“ worden seien.24 Fachwissen allein sei im Kontakt mit den Einheimischen nicht ausreichend. Man müsse auch über Taktgefühl, die Kenntnis „orientalischer“ Sprachen und „Einfühlungsvermögen in Sitte und Kultur“ verfügen.25 Gerade in Märkten, die sich rasch veränderten, wo sich Marktanalysen und Statistiken schnell als veraltet oder unzuverlässig herausstellten, seien enge und dauerhafte Kontakte wichtig.26 Als Vertreter deutscher Interessen kämen also nur „mit der Mentalität und der Landeskultur vertraute“ Personen in Frage.27 Der Nahe und Mittlere Osten sei damit gerade „kein Gebiet für junge Leute, die sich ‚die Hörner ablaufen‘ sollen, und wo Draufgängertum und ‚smartness‘ die gute Kinderstube ersetzen können“.28 Dies waren deutliche Worte an die Kollegen aus der Industrie. Noch unverhohlener richteten sich die Ausstellungsmacher gegen deren Interessenvertretung, den BDI und seine Auslandsreisen, indem sie betonten: „Realistische ‚Goodwill‘-Pflege gehört zum Alltag und nicht nur zur Aufgabe besonderer Missionen“.29 Die Außenhandelskreise der Hansestädte pochten auf den eigenen Vorsprung im Bereich des „Überseewissens“ und der „Überseekontakte“. Sie empfahlen sich als Kenner der einheimischen Kultur und inszenierten sich mit Verweis auf ihre guten Kontakte zu den Wirtschaftsabteilungen der deutschen amtlichen Vertretungen, zu den Vertretern deutscher Großbanken und zu den Niederlassungen deutscher Speditionsfirmen und Handelshäuser als bestens vernetzte Repräsentanten der gesamten deutschen Wirtschaft.30 Die Ausstellung bot auch Möglichkeiten zur Pflege exklusiver Kontakte. Mit diesem Ziel veranstaltete der NuMoV repräsentative Empfänge, deren Teilnehmer zuvor peinlich genau ausgewählt worden waren. So gehörte zur Ausstellungseröffnung auch ein festlicher Ball für die „Orient-Diplomatie“. In den Planungen war sogar beabsichtigt, dass das Staatliche Schauspielhaus Hamburgs unter der Leitung des damaligen Generalintendanten Gustaf Gründgens während der Ausstellung ein 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30

O. A., Besonderheiten im Nahostgeschäft 1956, S. 55. Daher warnte der Katalog auch davor, „Geschäftskorrespondenz mit Nahost in deutscher Sprache und mit deutschen Prospekten zu führen“. Beide Zitate in: ebd. Ebd. Ebd., S. 53. Ebd., S. 56. Vgl. ebd., S. 60. Ebd., S. 56. Ebd., S. 57. Ebd. Vgl. ebd., S. 59 f.

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IV. Institutionen des Überseewissens

„Orientdrama“ aufführen sollte. Den Kaufleuten der Hansestadt bot die Ausstellung so die Möglichkeit, sich als im „Überseegeschäft“ erfahrene Wirtschaftler, als Bürger und als weltoffene Internationalisten zu präsentieren, die auch auf dem gesellschaftlichen Parkett zu glänzen verstanden. Zugleich konnten sie die erschlossenen Geldquellen dazu nutzen, den Anspruch auf Führung im Bereich des Auslandswissens zu untermauern und die Informationsnetze zu kontrollieren. Überdies gab ihnen die Ausstellung die Möglichkeit, Kontakte herzustellen und zu pflegen. Dabei waren sie äußerst erfolgreich, wie die Liste der wichtigen Entscheidungsträger zeigt, die der Einladung des NuMoV folgten.31 Der Blick auf den „Nah- und Mittelost-Tag“ 1956 und die zugehörige Ausstellung ist in vielerlei Hinsicht typisch für die Netzwerkstrukturen im Bereich des „Überseewissens“ in den 1950er Jahren. Dass die Ausstellung in Hamburg eröffnet wurde – und nicht etwa in Stuttgart, wo man Mitte der 1950er Jahre ebenfalls damit begann, „Nah- und Mittelost-Tage“ abzuhalten – ist kein Zufall.32 Dieser Tatbestand verweist darauf, dass sich die guten Kontakte der Ländervereine zum Auswärtigen Amt, zum Bundeswirtschaftsministerium und zum Bundespresseamt in der Hansestadt bündelten und hier überdies zentrale Institutionen der wirtschaftlichen Beschäftigung mit dem „Orient“ ansässig waren.33 Ein Großteil des Handels mit dieser Weltregion ging zudem über die Händler der Hansestadt. Die Geldspenden der deutschen Großindustrie zeigen, wie sehr auch diese auf die norddeutsche Expertise setzten und dass sie an guten Kontakten mit den Institutionen des dortigen „Überseewissens“ interessiert waren. Dass der DIHT, der BDI und das IfA bei der Ausstellung „Nah- und Mittelost – Einst und heute“ keine nennenswerte Rolle spielten, belegt, dass typischerweise nur auf „auswärtiges“ Wissen zurückgegriffen wurde, wenn man selbst dieses nicht durch Zusammenarbeit mit nahegelegenen Institutionen – am liebsten im eigenen Stadtraum – generieren konnte. Dies alles hier genau festzuhalten ist von Bedeutung. Denn es ist auch für die nachfolgende Geschichte der Vernetzungen und Institutionalisierungen im Bereich des „Überseewissens“ wegweisend. Es zeigt, wie wichtig es ist, genau zu untersuchen, wo sich bedeutsame Netzwerkknotenpunkte befanden, wer wann mit wem aus welchem Anlass kommunizierte, wer also in den Informationsaustausch eingebunden war und wer nicht sowie wer sich an der Finanzierung von Projekten und Netzwerkstrukturen beteiligte. Nur so lassen sich das genaue Ausmaß an Kooperation und Konkurrenz ergründen, Vernetzungsreichweiten abschätzen und Institutionalisierungsphasen ausmachen.

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Vgl. NuMoV, 70 Jahre 2004, S. 36 f. Zum Stuttgarter „Nah- und Mittelost-Tag“ vgl. Aktenvermerk Dr. Ritter (Bundespresseamt) zum Nah- und Mittelosttag 1955 vom 1.12.1955, o. S., BArch B 145/5356. Dokumentiert in: BArch B 145/5356.

Grundlagen

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2. GRUNDLAGEN EINER INSTITUTIONENGESCHICHTE DES ÜBERSEEHANDELS Im Folgenden wird es vor allem um nahräumliche Verdichtungen und Vernetzungen gehen. Diese wurden von der ökonomischen und wirtschaftshistorischen Forschung erst als Netzwerke, dann als Cluster analysiert.34 Neuerdings wird – mit Verweis auf die Bedeutung überregionaler, insbesondere nationaler und internationaler Vernetzung – davon ausgegangen, dass es sich hierbei um globale Knoten handele.35 Gemeint sind damit lokale Verdichtungen von Know-how, sozialen und ökonomischen Beziehungen und die große persönliche Kenntnis der beteiligten Personen untereinander, die jedoch in ein viel größeres – tendenziell globales – industrielles Umfeld eingebunden sind. Jedes der vorgenannten Konzepte hat seine Vorteile. Sie unterscheiden sich in der Bewertung von persönlichen Kontakten, finanziellen Verflechtungen und nahräumlichen Lieferbeziehungen, sie gewichten zudem den Einfluss externer Gruppen und die Bedeutung von Pfadabhängigkeiten jeweils anders. Entscheidend aber ist, dass alle Ansätze von einer räumlichen Konzentration von Produktionsanlagen, technischen Forschungseinrichtungen und Institutionen des Wissenstransfers ausgehen, in denen langfristige Beziehungen mit ihren Vertrauensvorteilen geringe Transaktionskosten ermöglichten.36 Eine produktive Dynamik entstand vor allem dort, wo Menschen miteinander agierten, die sich einerseits kontrollieren konnten, die andererseits aber auch durch dieselben Normen, Werte und Traditionen verbunden waren.37 Erst daraus resultierte ein hoher Kooperationswille, der es möglich machte, Institutionen zu schaffen und zu finanzieren, die kollektive Aufgaben übernehmen konnten. Diese Institutionen wirkten sich dabei zugleich wieder positiv auf den Netzwerkzusammenhalt aus: Sie banden die ansässigen Unternehmer noch fester in die lokalen Netzwerke ein. Da es zugleich in der institutionellen Landschaft der Wirtschaft der Bundesrepublik immer auch starke Akteure gegeben hat, die über den eigenen kleinen geografischen Raum hinaus tätig waren, ergab sich eine Netzwerkstruktur,

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Jörg Sydow hat in Auseinandersetzung mit den älteren wirtschaftswissenschaftlichen Arbeiten von Michael Porter darauf verwiesen, dass Netzwerke nur methodische Konstrukte der Forscher sind. Netzwerke sind also nicht einfach da, sie entstehen aus der Perspektive der Forscher_innen und deren Einschätzung der Intensität der Interaktionen. Es ist der Forscher, der Netzwerke definiert und voneinander abgrenzt. Vgl. Sydow, Strategische Netzwerke 1992, S. 75. Als „Cluster“ werden in der wirtschaftshistorischen Forschung meist langfristige und auf Vertrauen basierende Lieferverflechtungen bezeichnet. Hierin wurde lange Zeit ein Wettbewerbsvorteil der bundesrepublikanischen Wirtschaft gesehen. Vgl. Abelshauser, Wirtschaftsgeschichte 22011, S. 41 f. So etwa Kaiser, Regionales Cluster 2007. Dementsprechend beziehe ich mich auf die Idee regional vernetzter „Welt-Institutionen“, das heißt institutioneller Verfestigungen regionaler Weltbeziehungen, die sich dadurch auszeichnen, dass sie immer auch im „Spannungsfeld von auswärtigen Interaktionen und lokalen Verhältnissen“ standen, wie sie Johannes Paulmann für das 19. und 20. Jahrhundert für typisch erachtet. Vgl. Paulmann, Regionen und Welten 2013, S. 672 f., Zitat S. 673. Vgl. von Delhaes-Guenther, Erfolgsfaktoren 2003, S. 347.

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in der starke regionale Kooperationsverbünde wiederum grundsätzlich miteinander kooperierten.38 Im Kontext der vorliegenden Arbeit interessieren indes weniger die Zulieferbeziehungen, die Verflechtung von Aufsichtsratsmandaten und die gegenseitigen finanziellen Beteiligungen von Firmen oder die Frage, ob derartige räumliche Anordnungen innovationsfähiger sind als andere. Denn für eine Wissensgeschichte von „Übersee“ sind die zahlreichen Institutionen des Wissensaustauschs bedeutsamer. Mit Johannes Paulmann können sie als zentrale „Arenen regionaler Weltbeziehungen“ beschrieben werden.39 Daher liegt das Augenmerk im Folgenden auf Institutionen, die zur Wissensproduktion und zum Wissenstransfer im Bereich des „Überseewissens“ errichtet worden sind.40 Doch auch bei diesen wird sich zeigen, dass sich Cluster bildeten, in denen sich Expertise sammeln konnte und sich potenzierte. Zugleich wird offenkundig werden, dass sich dabei lokale Kooperationsstrukturen bildeten, die untereinander konkurrierten und sich nichtsdestotrotz miteinander vernetzten und untereinander abstimmten. Eine wissensgeschichtlich orientierte Institutionen- und Netzwerkgeschichte des bundesrepublikanischen „Überseehandels“ ist ein Desiderat.41 Das vorliegende Kapitel wird zeigen, welche Institutionen den bundesrepublikanischen Außenhandelskreisen Informationen und Denkmodelle über „Übersee“ bereitstellten. Auf diese Weise werden die Wissensproduzenten und jene Orte in den Blick geraten, an denen das „Überseewissen“ besonders stark zirkulierte. Konkret ist zu fragen: Welche Institutionen waren für Unternehmer zentrale Ansprechpartner, wenn es darum ging, Wissen über relativ unbekannte und weit entfernte Märkte zu erlangen? Welche waren von überregionaler Bedeutung und welche von eingeschränkter Relevanz?

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Dass eine Clusterbildung aber auch zu Lock-in-Effekten, das heißt zur Abschließung gegenüber (notwendigen) Neuerungen führen kann, ist einer der zentralen Kritikpunkte an Porters Modell. Am Beispiel des Ruhrgebiets hat dies gezeigt: Grabher, Weakness of Strong Ties 1994. Paulmann, Regionen und Welten 2013, S. 660. Insbesondere die unternehmenshistorische Forschung hat bislang einen anderen Weg beschritten und zeigt wenig Interesse an den kollektiven Wissensinstitutionen. Allerdings gibt es mittlerweile eine große Anzahl von Studien zu multinationalen und transnationalen Konzernen und ihrem jeweiligen „going global“. Unternehmensgeschichte als „Mikrogeschichte der Globalisierung“ zu schreiben und dabei lokale Aneignungen und Rückwirkungen in den Blick zu nehmen, dürfte sich auch in den folgenden Jahren als Königsweg der Unternehmensgeschichte erweisen. Aus der Fülle an Unternehmensgeschichten herausragend: Berghoff, Kleinstadt und Weltmarkt 1997; Epple, Stollwerck 2010; Kleedehn, Rückkehr auf den Weltmarkt 2007. Die bisherigen Geschichten des deutschen Außenhandels konzentrierten sich meist auf die quantitativ bedeutsamen Märkte in „Westeuropa“ und den USA. Das hat zwar eine aus der Handelsstatistik ablesbare unmittelbare Berechtigung, unterschätzt werden dadurch aber zum einen die Hoffnungen der Zeitgenossen, die sich eher in den quantitativ unbedeutenden Märkten widerspiegelten. Zum anderen sind diese Studien kaum an wissensgeschichtlichen Fragen interessiert. Eine Ausnahme ist von Delhaes-Guenther, Erfolgsfaktoren 2003. Erste Ansätze und Überlegungen auch bereits in der Arbeit von Neebe über die Ferrostahl AG: Neebe, Überseemärkte 1991.

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Abb. 6: Cluster des „Überseewissens“

Um diese Fragen beantworten zu können, greife ich auf das ursprünglich raumsoziologische Konzept der Wissenscluster zurück.42 Dieses hat sich in der seit zehn Jahren boomenden Forschung zur Stadt als Ort des Wissens bereits als ertragreiches heuristisches Mittel erwiesen.43 Wissenscluster meint dabei die regionale Zusammenballung von Institutionen mit einem gemeinsamen Betätigungsfeld und einem gemeinsamen Interesse.44 Diese Cluster lassen sich mittels eines erhöhten Informationsaustauschs, gegenseitigen Vortragseinladungen sowie Ämterüberschneidungen ganz konkret nachweisen.45 Dass es – auch wenn der Begriff noch nicht ge42

Die Clusteranalyse ist anschaulich erläutert bei: Bacher, Clusteranalyse 1994. Im Folgenden werden dabei nicht die quantitativen, sondern die qualitativen Clusteridentifizierungsmethoden genutzt. 43 Dies wird häufig unter dem Begriff „Knowledge Scapes“ abgehandelt. Die aktuelle Aufmerksamkeit für Wissenscluster speist sich insbesondere aus der Annahme einer regionalen und globalen Standortkonkurrenz von Städten in der „Wissensgesellschaft“ und dem sich daran anschließenden Stadt- und Regionalmarketing. Infolgedessen hat es auch eine intensive Debatte über die Existenz „städtischer Identitäten“ gegeben. Vgl. Matthiesen, Städtische Identitäten 2005. In der wirtschaftswissenschaftlichen Forschung wird meist mit Bezug auf den amerikanischen Wirtschaftswissenschaftler Porter von Clustern gesprochen. Vgl. Porter, Clusters 1998. 44 Im urbanen Raum konzentrierten sich wissenserzeugende und dieses Wissen zirkulierende Institutionen, die nicht mehr an universitären, disziplinären Grenzen Halt machen. Es geht folglich um die enge lokale und regionale Vernetzung von Forschungseinrichtungen, Bibliotheken, staatlichen Stellen und privat(wirtschaftlich)en Initiativen. 45 Der sich mit sogenannten „Wissensstädten“ beschäftigende Zweig der Stadtforschung hat diesen Weg längst ausgiebig erprobt. Diese Forschungen beziehen sich allerdings fast immer nur

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bräuchlich war – so etwas wie Wissenscluster im Bereich des „Überseehandels“ gegeben hat, fiel bereits den Zeitgenossen auf. Sie unterschieden meist zwischen mehreren geografischen Verdichtungen des „Überseewissens“. So wurde, wie das Eingangsbeispiel der Ausstellung 1956 zeigte, nicht selten eine Differenz zwischen dem sogenannten „norddeutschen“ Kreis (Region Hamburg, Bremen, Kiel), dem Kreis Rhein-Ruhr (Region Düsseldorf, Köln, Dortmund, Bonn) und dem „süddeutschen“ Kreis (Region München, Stuttgart, Mannheim/Ludwigshafen) wahrgenommen. Hinzu kamen Wissensinstitutionen in Berlin (West), die zwar recht eigenständige lokale Informationsnetzwerke herausbildeten, aber von den Zeitgenossen eher als nachrangige Orte des Wissensaustausches wahrgenommen wurden. In kulturwissenschaftlicher Perspektive sind diese zeitgenössischen Selbst- und Fremdbeschreibungen ernst zu nehmen. Das heißt, dass die im Folgenden zu analysierenden Wissenscluster sowohl als verdichtete Interaktion als auch als räumliches Ordnungsmuster der Zeitgenossen begriffen werden. Denn sie waren Imaginationen, die wiederum Praktiken, Repräsentationen und Symbole hervorbrachten und damit die Strukturebene beeinflussten. Wissenscluster sind also Realität und Vorstellung zugleich. Sie werden vor allem von jenen Akteuren hervorgebracht, die glauben, dass sie existieren.46 Dies soll knapp an den zeitgenössischen Vorstellungen über regionale Identitäten in den bundesrepublikanischen Außenhandelskreisen verdeutlicht werden: Grundsätzlich beschworen die deutschen Unternehmer zwar allerorten zähen Aufbauwillen, Weitblick und Tatkraft, doch waren Hinweise auf Charakteristika einzelner deutscher Regionen wichtiger Bestandteil der damaligen Selbstbeschreibungen.47 Die von den Außenhandelskreisen empfundenen Unterschiede speisten sich dabei aus viel älteren Vorstellungen grundsätzlicher verschiedenartiger regionaler Mentalitäten, beruhten aber auch auf unterschiedlichen historisch gewachsenen Wirtschaftsstrukturen.48 Letztere ergaben sich unter anderem aus regionalspezifischen Prägungen durch den Industrialisierungs- und Urbanisierungsprozess im 19. Jahrhundert, aber

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auf einen einzigen städtischen Raum. Mittlerweile gibt es zwar auch zahlreiche vergleichende Arbeiten, diese nehmen dann aber nur selten den Wissenstransfer zwischen den Räumen und Clustern in den Blick. Dabei hat die historische Forschung schon länger darauf verwiesen, dass Vergleich und Transfer sich gegenseitig keineswegs ausschließen. Vgl. etwa Bauerkämper, Wege zur europäischen Geschichte 2011. Diese Eigenschaft teilen sie mit allen Räumen. Vgl. Pernau, Transnationale Geschichte 2011, S. 68 Die aktuelle Stadtgeschichtsschreibung hat darauf verwiesen, dass der jeweils aktuelle „Konnex der Städte“, d. h. die zeitgenössischen Modi des Vergleichens und des sich „In-BeziehungStellens zu zeitgleichen, formgleichen Gebilden“ mitberücksichtigt werden muss. Löw, Eigenlogische Strukturen 2008, S. 46. Durch die bisherigen stadtgeschichtlichen Untersuchungen zur „Eigenlogik“, die sich jedoch vor allem mit den letzten 20 bis 30 Jahren beschäftigen, ist offensichtlich geworden, dass sich die historisch gewachsenen Netzwerke aus Politik, Wissenschaft und Ökonomie von Stadt zu Stadt stark unterscheiden und folglich unterschiedliche Gruppen an unterschiedlichen Orten die Entscheidungsprozesse dominieren konnten. Die Bedeutung föderaler Strukturen und kommunaler Selbstverwaltung, also der ganz unterschiedlichen regionalen institutionellen Rahmenbedingungen in diesem Prozess, wurden für den deutschen Fall immer wieder belegt. Vgl. die Beiträge in: Berking/Löw, Eigenlogik der Städte 2008.

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auch durch ungleiche Auswirkungen von Globalisierungsprozessen.49 Zusammengenommen erzeugten sie die Vorstellung unterschiedlicher regionaler Wirtschaftsund Handelsmentalitäten. Beispielsweise präsentierten sich die hanseatischen Unternehmer als nüchtern kalkulierende Kaufleute, die auf das Erbe einer bürgerlichstädtischen Demokratie, auf freiheitliche Traditionen und eine lange Zeit der Unabhängigkeit zurückblickten und sich durch Weltoffenheit auszeichneten.50 Zugleich sahen sie sich als ruhige, verlässliche und besonnene Akteure, die auf den stets unruhigen „Überseemärkten“ gerade durch ihre vorausblickende Art Handelsvorteile generierten. Sie selbst interpretierten diese Eigenschaften als in die eigene Lebensart eingesickertes Ergebnis generationenübergreifender Herausforderung: Es sei gerade die jahrhundertelange Ferne zu einer starken Macht gewesen, die die Kaufleute dazu gezwungen hätte, den Seehandel in eigener Regie zu sichern. Dadurch hätten sie Aufgaben selbst übernehmen müssen, die sonst ins Betätigungsfeld von Diplomaten, Politikern und Militärs gehörten. Die Bewältigung dieser Herausforderungen habe Werte und Orientierungen hervorgebracht, die vor allem in der Kaufmannschaft gepflegt und an nachfolgende Generationen weitergegeben worden seien.51 Derartige Selbstbeschreibungen sind nicht selten dann besonders wirkmächtig, wenn sie von anderen Gruppen anerkannt und übernommen werden. So gesehen ist es aufschlussreich, dass das „hanseatische“ Selbstverständnis durchaus mit denjenigen Zuschreibungen korrespondierte, die an anderen Orten der Bundesrepublik über die Kaufmannschaft der Hansestädte kursierten. So galten die zum „Hanseatentum“ geronnenen Charaktereigenschaften der „norddeutschen“ Kaufmannschaft auch in Dortmund, Berlin oder München meist als vorbildlich.52 In den Außenhandelskreisen des Rhein-Ruhr-Gebiets dominierte demgegenüber in den Selbstbeschreibungen die Vorstellung, Teil eines mächtigen Zentrums von Großindustriellen und Verwaltungseliten zu sein, die den „rheinischen Kapitalismus“ mit seiner Konzentration auf Industrieproduktion, technische Vervollkommnung und Güter gehobener Qualität sowie eine korporative Wirtschaftsorganisation maßgeblich mitgeprägt hatten.53 Diese Erzählung spielte in „Süddeutsch49

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Dass die Industrialisierung eher ein regionales Phänomen gewesen ist, ist mittlerweile gängige Forschungsmeinung. Sie geht zurück auf die Forschungen von Sidney Pollard. U. a. Pollard, Peaceful Conquest 1981. Vgl. auch die Beiträge in Pollard, Region und Industrialisierung 1980. Die Einsicht, dass sich Auswirkungen der Globalisierung vor Ort ganz unterschiedlich gestalten können und vor allem auf verschiedene Art und Weise interpretiert werden können, verdankt die historische Forschung den Arbeiten zur „Glokalisierung“. Das Konzept von seinem „Erfinder“ kurz dargestellt in: Robertson, Glokalisierung 1998. Zum Bild des „Hanseaten“ in der Nachkriegszeit vgl. Brahm, Overseas World 2013. Zum geringen Wahrheitsgehalt der Selbststilisierung als „liberale“ hanseatische Kaufmänner, die dem Nationalsozialismus die Stirn geboten hätten, vgl. Roth, Ökonomie und politische Macht 1997, S. 17 f. Vgl. Rodenstein, Eigenart der Städte 2008, S. 275. Weichlein verweist auf die generelle Regionalisierung der Identitäten in der Zusammenbruchsgesellschaft. Vgl. Weichlein, Spannungsfeld 1999. Auf weitere Ausführungen hierzu wird verzichtet, da zu dieser Gruppe bereits Studien vorliegen. Zum Selbstbild im 19. Jahrhundert vgl. Zunkel, Rheinisch-Westfälische Unternehmer 1962. Zum 20. Jahrhundert vgl. Berghahn, Unternehmer in der frühen Bundesrepublik 2002, S. 298 sowie die Ergebnisse des Forschergruppe der Uni Bochum (1998–2002) „Struktur und

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land“ wiederum keine zentrale Rolle. Im Raum Stuttgart war man eher stolz auf seine mittelständischen Wurzeln, auf die ingenieurstechnische Innovationskraft und auf die sprichwörtlich gewordene sparsame Haushaltsführung. Hier hatte der Nimbus des Technikers und Ingenieurs noch länger eine identitätsstiftende Bedeutung, wohingegen andernorts Betriebswirte und Juristen zunehmend stärkere Wertschätzung erfuhren. Auch blieb die pietistische Prägung spürbar. Darüber hinaus führte das bis in die Chefetagen verbreitete Sprechen von Dialekt zu einem starken regionalen Zusammenhalt.54 In München wiederum verwiesen die Selbstbeschreibungen vor allem auf den rasanten Aufstieg der Stadt von einem industriell eher nachrangigen Zentrum zu einem bedeutenden Ort der Güterproduktion, insbesondere in den damaligen Zukunftsbranchen.55 Der Stolz auf die eigene jüngste Erfolgsgeschichte verband sich aber immer wieder mit dem Bewusstsein eines Rückstands und geringeren Renommees gegenüber traditionellen Industrie- und Handelszentren. Zwar wurde auch auf die „Weiterpflege der Tradition des königlichen Kaufmanns“ verwiesen, doch bezog man sich noch viel häufiger auf die Vorbildwirkung des „weltoffenen Hanseatentums“.56 Die Berliner Außenhandelskreise, vormals wichtige Akteure der ersten Welle der ökonomischen Globalisierung, hatten nach 1945 wohl die größten Brüche in ihren Identitätskonstruktionen aufzuweisen.57 Das Berliner Unternehmertum erlitt einen erheblichen Statusverlust. Der immer schon geringere Industrialisierungsgrad des Westteils der Stadt wurde noch einmal durch die nach 1945 einsetzenden Veränderungen in der Industriestruktur und die Flucht der Firmensitze aus der „Frontstadt“ verringert. Die später einsetzende Subventionierung hielt diesen Trend zwar auf, begünstigte aber eine Güterproduktion, die nicht dem deutschen Weltmarktprofil entsprach.58 Die Neuausrichtung der Stadt auf ihre Funktionen als „Schaufenster der freien Welt“, als Kultur-

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Semantik der Wirtschaftselite des Ruhrgebiets 1930–1970“, insbesondere: Unger, Wirtschaftselite als Persönlichkeit 2003. Zur personellen Kontinuität nach 1945 vgl. ders., „Herren aus dem Westen“ 2003. Einblicke in die Vorstellung vom „deutschen Modell“ bieten die Sammelbände: Gilgen/Kopper/Leutzsch, Deutschland als Modell 2010; Berghahn/Vitols, Gibt es einen Deutschen Kapitalismus? 2006; Hockerts/Schulz, „Rheinische Kapitalismus in der Ära Adenauer“ 2016. Zur Auswirkung unterschiedlicher Karrierewege – in Hamburg dominierten Absolventen der Handelshochschulen bzw. klassische Ausbildungen im Familienbetrieb, im Ruhrgebiet war für eine Karriere in der Schwerindustrie der Abschluss an einer Bergakademie lange Zeit noch fast unerlässlich – vgl. Berghahn, Elitenforschung 1986, S. 62–69. Vgl. Kaiser, Regionales Cluster 2007, S. 181. Vgl. Röder, Export-Club 1968, S. 22. Demgegenüber betonte man im mittelfränkischen Industriegebiet die Fortsetzung einer stolzen Wirtschafts- und Exporttradition. Vgl. Offizieller Ausstellungskatalog der ständigen Muster-Ausstellung der Bayerischen Wirtschaft-Export-Union in Nürnberg 1951, S. 6, Bayerisches Wirtschaftsarchiv S015/30. Röder, Export-Club 1968, S. 22. Aufgrund der Rolle Berlins als Zentrum der Elektrotechnik, als Regierungssitz und als zentraler Wissenschaftsstandort waren Berliner Unternehmer zuvor maßgeblich am Kolonialismus und an der ersten Globalisierungswelle beteiligt gewesen. Vgl. Zeller, Berliner Kolonialwirtschaft 2002 Jens Ruppenthal, Kolonialismus 2007, S. 64–67. Zu West-Berlin fehlt immer noch eine umfassende Wirtschaftsgeschichte. Ansätze bietet Large, Berlin 2002, S. 438–454. Sehr lebhaft aus zeitgenössischer Perspektive: Pritzkoleit, Woge 1961, S. 427–456.

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stadt und als Begegnungsstätte zwischen „Ost“ und „West“ hatte auch dramatische Auswirkungen auf die Selbstbeschreibungskategorien der Berliner Unternehmer.59 Festzuhalten bleibt, dass in den unterschiedlichen deutschen Regionen voneinander abweichende Tugenden und Ansprüche betont wurden.60 Diese Auffassungen über sich, die eigene lokale peer group und die Charakteristika anderer Unternehmerkreise waren dabei – unabhängig davon, ob sie nun einen wahren Kern hatten oder nicht – stark identitätsstiftend. Sie erzeugten Solidarität und Zugehörigkeitsgefühl und wirkten sich folglich auch auf der sogenannten „Realebene“ aus. Die auf der Hand liegenden Vorteile nahräumlicher Wirtschaftsverflechtungen (kurze Kommunikationswege, leichtere Kontrolle etc.) wurden durch derartige Identitäten noch einmal abgestützt. Sie führten zu stabileren Sozial- und Geschäftsbeziehungen, wenngleich sich der geografische Rahmen von Kontakten, Verträgen etc. immer auch deutlich weiter aufspannte.61 Beim Blick auf die am Außenhandel beteiligten überbetrieblichen Institutionen wird man daher fragen müssen, wie stark der regionale Charakter der Netzwerke des „Überseewissens“ gewesen ist.62 Dabei kann es nicht um eine lückenlose Bestandsaufnahme gehen. In die Beschäftigung mit „überseeischen“ Märkten waren unzählige Forschungsinstitute, Vereine und Gesprächsrunden involviert. Diese gab es in fast jeder Stadt mit einer auch auf den Export ausgerichteten Industrie- oder Handelsstruktur. Man findet sie beispielsweise auch in Göttingen63 oder Lübeck64. 59

Hier wurden beispielsweise stärker als andernorts politische Kategorien zur Identitätskonstruktion herangezogen. Vgl. Dörre, Wirtschaftspolitik West-Berlins 2009. 60 Zum gegenwärtigen Trend, derartige Konstruktionen nicht zu dekonstruieren, sondern sie für das Stadtmarketing nutzbar zu machen, vgl. Mattissek, Diskursive Konstitution 2007. 61 Zugleich darf dabei nicht vergessen werden, dass diese lokalen Identitätskonstruktionen Teil einer gemeinsamen sozialen Konstruktion waren: Derjenigen eines spezifisch „deutschen“ Kapitalismus, der sich vor allem in Abgrenzung zum angeblichen Finanzkapitalismus britischer und amerikanischer Prägung verstand. Vgl. hierzu vor allem die Arbeiten von Abelshauser, insbesondere: Abelshauser, Kulturkampf 2003. Hierzu vgl. auch Tilly, „deutsches Modell“ 2006. 62 Auch Felix Brahm hat darauf hingewiesen, dass das Wissen über „außereuropäische“ Weltgegenden nicht allein durch die Analyse transnationaler Transfers erschlossen werden kann, sondern dass „lokale Gebundenheiten und Spezifika“ zu berücksichtigen seien. Vgl. Brahm, Wissenschaft und Wirtschaft 2014, S. 123, Zitat in der Fußnote ebd. 63 Von Einfluss war insbesondere das hier ansässige Ibero-Amerika Institut für Wirtschaftsforschung. 64 Die 1949 gegründete Deutsche Auslandsgesellschaft Lübeck beschäftigte sich zwar vor allem mit dem kulturellen Austausch mit dem Ausland, doch sah man diesen auch als Teil der wirtschaftlichen Öffnung. Im Geleitwort der ersten Ausgabe der Zeitschrift „Ausblick“ vom Dezember 1949 heißt es vom ersten Vorsitzenden der Deutschen Auslandsgesellschaft, Senator i. R. Dr. Georg Kalkbrenner, daher in sehr typischer Manier: „Mit den steigenden wirtschaftlichen Beziehungen wächst erfahrungsgemäß das Interesse am Partner auch in seinen geistigen Leistungen. Beide Seiten sind für das Verstehen notwendig und bedingen sich gegenseitig, keine von beiden darf man von vornherein an die erste Stelle setzen (…). Die aktive Wirtschaftspolitik (…) obliegt indessen dem Kaufmann, dem Politiker, der Regierung, aber die Vorbereitung liegt oft im Geistig-kulturellen (sic!), und die Vertiefung und Erweiterung wirtschaftlicher Beziehungen ist nicht zuletzt vom Verstehen und der wachsenden Sympathie abhängig.“ Kalkbrenner, Geleitwort 1949, S. 1.

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Allerdings waren vieler dieser Institutionen doch insgesamt unbedeutend, da es ihnen nicht gelang, Themen zu setzen oder eine einflussreiche Stellung innerhalb des Netzwerks zu erlangen. Ich konzentriere mich daher im Folgenden auf die einflussreichsten Institutionen des „Überseewissens“. Es geht darum, eine Struktur zu beschreiben, die durch konkrete Interaktionsbeziehungen zwischen Institutionen und Individuen entstand, die sich wandelte und die letztlich Möglichkeiten auf der Handlungsebene beschränkte oder ermöglichte.65 Die eingangs herausgegriffene Ausstellung hat es bereits angedeutet: Es ist dabei sinnvoll, mit dem „norddeutschen“ Cluster zu beginnen, da die hier geballte Kompetenz in „Überseefragen“ lange Zeit konkurrenzlos war. Auch weil sich die anderen Cluster an der in den Hansestädten konzentrierten Erfahrung und dem hier angesammelten Wissen über „überseeische Märkte“ maßen, wird der „norddeutsche“ Cluster besonders ausführlich behandelt. Anschließend werden die anderen Cluster vergleichsweise knapp in Bezug auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede gegenüber dem „norddeutschen“ Wissenscluster charakterisiert.66 3. REGIONALE WISSENSCLUSTER? 3.1 Der norddeutsche Wissenscluster Der Versuch, Hamburg den Titel „Kolonialstadt“ verleihen zu lassen, zeugt davon, dass auch im Nationalsozialismus das Interesse an „Übersee“ – trotz des damaligen Fokus’ auf die „Ostgebiete“, die eigentlich nicht zum traditionellen wissenschaftlichen Aufmerksamkeitsschwerpunkt der Hamburger Institutionen gehörten – nicht einfach abriss.67 Das Gegenteil war der Fall: Im Zuge des Ausbaus der Hansischen Universität als „Mittelpunkt kolonialer Forschung und Lehre“ wurden zahlreiche Institute mit kolonialwissenschaftlichem Schwerpunkt noch während des Krieges nach Hamburg verlegt.68 Zur gleichen Zeit hob der Hamburger Gauleiter und Reichsstatthalter Karl Kaufmann69 das koloniale Erbe der Stadt hervor und pries die daraus resultierende Wissensinfrastruktur über „das Fremde“:

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Zum Zusammenhang von Struktur und Interaktion vgl. Hennig/Kohl, Fundierung der Netzwerkperspektive 2012, insbesondere S. 13. Die folgende Analyse kommt zwar ohne ein für derartige Netzwerkanalysen typisches Übergewicht an deskriptiven Schilderungen nicht aus, strebt dabei aber weder quantitativ noch qualitativ nach Gleichrangigkeit. Hierzu Linne, „Kolonialstadt Hamburg“ 1997; ders., Deutschland 2008, S. 133–138. Zur Involvierung der Hamburger „Überseekaufhäuser“ in den nationalsozialistischen Eroberungskrieg und in die mit ihm verbundene Ausplünderungspolitik vgl. ders., „Osteinsatz“ 2001 und ders., Deutschland 2008, S. 70–72. Die Bedeutung der Stadt-Räume als Handlungsräume und für die sozialen Ordnungen im Nationalsozialismus heben hervor: Süss/Thiessen, Nationalsozialistische Städte 2017. Vgl. Brahm, Wissenschaft und Dekolonisation 2010, S. 54, Zitat ebd.; Linne, Wissenschaft 2016, S. 140–146. Zum Lebenslauf Kaufmanns (1900–1969) vgl. Bajohr, Gauleiter 1995.

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„Die außerordentliche Bedeutung des kolonialen Gedankens gerade in unserer Hansestadt ist offenkundig, da Hamburg als größte Überseehafenstadt, als Sitz der Afrika-Linien sowie als koloniale Bildungsstätte durch das Tropenhygienische Institut, durch das Kolonialinstitut an der Hansischen Universität, durch das Reichsinstitut für ausländische und koloniale Forstwirtschaft gerade nach dem Kriege besondere Aufgaben auf dem kolonialen Gebiet zu erfüllen hat.“70

Diese Aussage war 1940 angesichts von Siegeserwartungen getroffen worden. Sie verband sich mit der Hoffnung auf eine zentrale Rolle Hamburgs innerhalb eines von Deutschland dominierten „europäischen“ Wirtschaftsgroßraums.71 Man hätte dergleichen so aber auch nach 1945 noch aus vielen Mündern vernehmen können. Lediglich musste dazu der Begriff des „Kolonialen“ durch den des „Überseehandels“ ersetzt werden. Eine semantische Verschiebung, die den Zeitgenossen nach 1945 offensichtlich sehr leicht fiel, aber gerade keinen grundlegenden Interpretationswandel anstieß. Die geballte Kompetenz aus Handel und Wissenschaft blieb das Alleinstellungsmerkmal im „Überseegeschäft“. Indes war in der Zusammenbruchsgesellschaft für die Zeitgenossen vorerst alles andere als zu erwarten gewesen, dass Hamburger Außenhandelskreise im Bereich des „Überseewissens“ nach 1945 wieder ihre angestammte Position einnehmen würden. Da die Hansestadt im Zweiten Weltkrieg immense Zerstörungen in ihrer gesamten Infrastruktur erfuhr und Schiffbau sowie Schifffahrt nach 1945 zunächst verboten waren,72 schien „für keine der westdeutschen Großstädte die Zukunft trüber und hoffnungsloser als für Hamburg“ zu sein.73 Zudem war die Stadt nun von ihrem gesamten „östlichen und südöstlichen Hinterland“ abgeschnitten, so dass, wie ein ausländischer Beobachter bemerkte, die vormals zentrale Position „heute – ähnlich wie früher etwa Königsberg – nur noch eine Randposition“ sei.74 70 71 72 73 74

Kaufmann, o. T. 1940, S. 1. Zur Kolonial- und Überseepolitik in Hamburg zwischen 1933 und 1945 vgl. Linne, „Kolonialstadt Hamburg“ 1997; Moltmann, „Übersee- und Kolonialkunde“ 1991. Erst das Petersberger Abkommen von 1949 hatte die Freigabe des Exportschiffbaus zur Folge, wenn auch unter Beschränkung von Tonnage und Werftkapazitäten. O. A.: „Der Aufschwung Hamburgs“, in: NZZ vom 26.6.1951, o. S., BArch B 145/5354. Zur Lebenssituation in Hamburg vgl. Schildt, „Hamburg project“ 1999, S. 132–137. O. A.: „Hamburg – Deutschlands Tor zur Welt“, in: National-Zeitung (Basel) vom 26.6.1951, o. S., BArch B 145/5354. Zur zeitgenössisch gängigen Königsbergmetapher vgl. auch Bajohr, Hanseat und Grenzgänger 2010, S. 88. Zur demonstrativ zelebrierten Internationalität der Hamburger nach 1945 vgl. ebd., S. 84–103. Beispielhaft zur Bedeutung des Hamburger Hafens für den östlichen Wirtschaftsraum vor 1945: Lewandowski, Umbruch und Kontinuität 2000, S. 83–92. Zur verstärkten Ausrichtung auf den „Osthandel“ in der Ära Sieveking vgl. Brill, Hamburgische Ostpolitik [1984] 2014. Man hätte es sich in der Spätphase des Krieges und der direkten Nachkriegszeit wohl nicht träumen lassen, dass im Frühsommer 1951 ausländische Beobachter bereits wieder betonten, nun erinnere „kaum noch etwas an die Zerstörungen des Krieges“. Den Besuchern, die einer „Einladung des von echt hamburgisch-kosmopolitischem Geist inspirierten Uebersee-Clubs“ gefolgt waren, ist die Mischung aus Bewunderung und Skepsis deutlich anzumerken – wobei die Schweizer Besucher eher zu Bewunderung, die britischen eher zu einem neuerlichen Bedrohungsgefühl neigten. Vgl. die in BArch B 145/5354 überlieferten Zeitungsartikel. Zitate aus: National-Zeitung (Basel) vom 26.6.1951: „Hamburg – Deutschlands Tor zur Welt“, o. S. und NZZ vom 26.6.1951: „Der Aufschwung Hamburgs“, o. S., beide in BArch B 145/5354.

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Die in Hamburg ansässigen Institutionen glaubten trotz ihrer Tradition im Bereich des „Überseewissens“ anfänglich nicht daran, eine maßgebliche Rolle spielen zu können. Worin lag also der Grund für die letztlich auch in der Bundesrepublik zu konstatierende große Bedeutung der Hamburger „Überseeinstitutionen“? Diese Frage soll hier mit Blick auf die Institutionen der unternehmerischen Selbstverwaltung, die stadtstaatliche Wirtschaftspolitik und die privatwirtschaftlichen und universitären Institutionen des „Überseewissens“ beantwortet werden. Der sich an diese Ausführungen anschließende Vergleich der Hansestadt Hamburg mit der Hansestadt Bremen wird die Erfolgsbedingungen, aber auch die Vernetzungswege innerhalb des Wissensclusters noch einmal schärfer akzentuieren. Ein erster wichtiger Erfolgsfaktor war die enge und gute Zusammenarbeit der unterschiedlichen Instanzen der unternehmerischen Selbstverwaltung sowie deren Ausrichtung auf den Außenhandel im Allgemeinen und die „Überseewirtschaft“ im Speziellen. Mit dem in der unmittelbaren Nachkriegszeit gegründeten Ausschuss zur Förderung der Überseewirtschaft75 existierte zudem eine Koordinierungsstelle, über die alle einflussreichen Akteure des ökonomischen Feldes – u. a. der ÜberseeClub und die Handelskammer Hamburg – miteinander vernetzt waren. Auch wenn man nicht vergessen darf, dass die Hansestadt auch ein wichtiger Industriestandort gewesen ist,76 so waren sich letztlich alle Akteure in diesem Ausschuss in ihrer Konzentration auf Hafen und Außenhandel einig. Das lag auch daran, dass die Handelskammer viel weniger durch industrielle Interessen dominiert wurde als die Industrie- und Handelskammern in anderen deutschen Städten.77 Die Präsenz von Werften, Verkehrsunternehmen,78 einer Vielzahl von Handelsgesellschaften und auf den Außenhandel spezialisierter Banken79 prägte die unternehmerische Selbstverwaltung der Stadt. Das Ergebnis der kollektiven Anstrengungen ließ sich in den 75

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Der Ausschuss zur Förderung der Überseewirtschaft war eine Arbeitsgemeinschaft des Hafens Hamburg, der Handelskammer Hamburg und des Übersee-Clubs. Seine Vorgänger waren der Werbeausschuss und der Aufklärungsausschuss Hamburg-Bremen. Ursprünglich als Koordinierungsstelle für all diejenigen Werbemaßnahmen im In- und Ausland gedacht, die im Interesse des wirtschaftlichen Hamburg – also vor allem der Hafenwirtschaft und der Außenwirtschaft – schienen, gingen seine Zuständigkeiten schnell über den Bereich der Werbung weit hinaus. Der Ausschuss wurde 1952 durch die „Arbeitsgemeinschaft für Wirtschaftsförderung“ abgelöst, die eine breitere Basis (Ländervereine, HK Hamburg, Übersee-Club, Hamburger Hafen- und Lagerhaus-A. G., Fremdenverkehrsverein, Flughafenverwaltung) und ein umfangreicheres Aufgabenspektrum hatte. Vgl. Staatsarchiv Hamburg 131–1 II 1367 und 131–1 II 5271. Zur Industrie in Hamburg vgl. Flohr, Industriepolitik 1982, insbesondere S. 373–394. Zeitgenössisch: HK Hamburg, Hamburg als Industrieplatz 1952. Hierin wurde eine stärkere Industriepolitik gefordert, weil Hamburg 1952 noch nicht den Vorkriegsstand seiner industriellen Produktion erreicht hatte. Darauf weist nicht zuletzt bereits die unterschiedliche Namensgebung hin. Hervorzuheben sind: Deutsche Lufthansa, Deutsche Afrika-Linien, Deutsche Orient-Linie, Deutsche Levante-Linie. Zur Lufthansa vgl. Budrass, Adler und Kranich 2016. Hamburg war beispielsweise Sitz der Deutsch-Südamerikanischen Bank A. G. Sie gab u. a. auch zahlreiche Länderberichte heraus. 1906 war die Bank noch in Berlin gegründet worden. Vgl. die Bände aus den 1950er und 1960er Jahren von „Wirtschaftsbericht, Deutsch-Südamerikanische Bank (Hamburg)“. Zur Geschichte der Bank vgl. Deutsch-Südamerikanische Bank, 75 Jahre 1981.

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Augen internationaler Beobachter schon 1950 sehen: Obwohl durch den Krieg rund 80 % der Hafenanlagen zerstört worden waren und fast 3000 Wracks in den verschiedenen Hafenbecken lagen, hatte der Hamburger Hafen schon wieder mit rund 11 Millionen Tonnen Gesamtumschlag 43 % des Vorkriegsvolumens erreicht.80 Nahezu die Hälfte des bundesrepublikanischen Im- und Exportes nach „Übersee“ gingen nun wieder durch den Hamburger Hafen.81 Diese Interessenkompatibilität reichte, ein zweiter Erfolgsgarant, weit über den Kreis der einflussreichen Außenhandelskreise hinaus und fand ihre Entsprechung in den wirtschaftspolitischen Konzeptionen der kommunalen Akteure.82 Außenhandelskreise und städtische Politiker waren dabei auf mehreren Ebenen miteinander vernetzt. So waren zahlreiche Spitzenbeamte und -politiker Mitglieder von Vorständen und Beiräten in den mit Auslandsmärkten befassten Institutionen der Hansestadt Hamburg.83 Sie waren zudem als Redner gefragt, nicht nur, weil ihre Expertise gewünscht wurde, sondern auch, weil ihre Bedeutung im politischen Feld den Status der jeweils einladenden Institution noch einmal unterstrich. Des Weiteren war ohne staatliche Hilfe an die Finanzierung der diversen Vereine, Institute und Stiftungen gar nicht zu denken.84 Und schließlich war die Hamburger Bürgerschaft 80 81

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Vgl. o. A.: „Hamburg – Deutschlands Tor zur Welt“, in: National-Zeitung (Basel) vom 26.6.1951, o. S., BArch B 145/5354. Ebd. Allerdings war noch einige Zeit nicht von einer ungetrübten Erfolgsbilanz die Rede. Typisch hierfür: Ansprache von Bürgermeister Max Brauer anläßlich des Übersee-Tages in Hamburg am 7.5.1955, S. 4, Staatsarchiv Hamburg 135–1 VI 1844. Zur Geschichte des Hamburger Hafens in der Nachkriegszeit vgl. Lau, Verkehrspolitik 1982. Zeitgenössische Zahlen in: Heeckt/Stender, Wiederaufbau 1954. Dies zeigte sich u. a. auch bereits in der Weimarer Republik, als das sich in Hamburg sammelnde Engagement für das „Auslandsdeutschtum“ Lateinamerikas durch Handelskammer und Senat unterstützt wurden. Vgl. Rinke, Deutsche Lateinamerikapolitik 1996, S. 332 f. Um hier nur ein herausstechendes Beispiel zu nennen: Der 1. Oberbürgermeister Hamburgs nach dem Zweiten Weltkrieg (Rudolf Petersen) war von 1948–1954 Präsident des ÜberseeClubs. Aus den überlieferten Finanzberichten wird ersichtlich, dass die Behörde für Wirtschaft und Verkehr in Hamburg erheblich zur Grundfinanzierung der wirtschafts- und wissenschaftsnahen Institutionen beitrug. Die Finanzierung der Ländervereine von Hamburger Seite aus wurde aus Haushaltsmitteln für die Wirtschafts- und Verkehrswerbung beglichen. Denn diese Vereine seien zwar überregional tätig, verträten „jedoch schon dadurch, daß sie in Hamburg domizilieren, schwergewichtsmäßig Anliegen des Hamburger Im- und Exporthandels“. Die damit verbundenen Repräsentationspflichten dienten nicht nur der Erweiterung der Kenntnisse über die zentralen Exportzielregionen, sondern lägen auch im Interesse der Hansestadt Hamburg. Eine Reduzierung der Förderungssumme wurde zwar gelegentlich diskutiert, jedoch im Grunde immer wieder mit dem Argument abgeschmettert, die Ländervereine würden dann versuchen, „sich die fehlenden Mittel etwa durch Spenden der binnenländischen Industrie zu verschaffen“. Dies könne dazu führen, dass die Belange der Industrie „zum Nachteil der Belange des hamburgischen Exporthandels“ an Bedeutung gewönnen. Da die Ländervereine z. T. auch Bundesaufgaben – etwa die Betreuung ausländischer Gäste oder die Erstellung von Broschüren für richtiges Verhalten im Außenhandel – übernahmen, wurden sie zudem vom Bundespresse- und -informationsamt, vom BMWi sowie später vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit (BMZ) in erheblichem Maße teilfinanziert. Zitate aus: Notiz ohne weitere Angaben, Staatsarchiv Hamburg 131–1 II 5251. Zur versteckten Finanzierung des „Auslandswissens“ durch das Bundespresseamt vgl. Gißibl, Deutsch-deutsche Nachrichtenwelten 2016.

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auch eine wichtige gesetzgebende Instanz zur Erleichterung des Außenhandels und des Hafenauf- und -ausbaus.85 Diese enge Verquickung von ökonomischen und politischen Akteuren verdeutlichen insbesondere die Vortragsveranstaltungen und Festakte der städtischen „Überseekreise“. Diese fanden beispielweise wie selbstverständlich auch im Goldenen Saal des Hamburger Senats statt und wurden von der lokalen politischen Prominenz rege frequentiert. Zudem war es üblich, dass anlässlich des Besuches ausländischer Wirtschaftsmissionen im Übersee-Club – dem zentralen Ort der ökonomischen Elite in der Hansestadt – eine Einladung an den amtierenden Bürgermeister erging, einem gemeinsamen Frühstück beizuwohnen. Ebenso selbstverständlich war, dass diese Einladung angenommen wurde.86 Vor allem aber die breite Unterstützung der Institutionen des „Überseewissens“ durch die politisch und ökonomisch einflussreichen Kreise der Hansestadt gerann zum entscheidenden Vorteil. Auch hier waren Pfadabhängigkeiten von Bedeutung: Denn im innerdeutschen Vergleich hatten sich die einzelnen universitären Seminare und außeruniversitären Institute bereits zuvor besonders stark auf die Erforschung „überseeischer Gebiete“ konzentriert.87 Dies lag unter anderem daran, dass die Universität der Hansestadt 1918 aus dem zehn Jahre zuvor gegründeten Kolonialinstitut hervorgegangen war88 und damit bereits eine lange Tradition der wissenschaftlichen Beschäftigung mit ausländischen Kulturen vorwies, die sich zudem bereits von Anfang an stark an den Interessen der regionalen „Kolonial- und Überseewirtschaft“ ausrichtete.89 Auch die Tradition des Hamburgischen Welt-Wirtschafts-Archivs (HWWA)90 reichte bis ins Kaiserreich zurück. Eine Institution, die von Beginn an mit den Interessen der Kolonialwarenhändler und der Hafenindustrie eng verbunden war. Zudem wiesen die Ländervereine bereits längere Erfahrungen als Schnittstelle zwischen Wissenschaft und „Überseewirtschaft“ auf. Der von Hamburger und Bremer Kaufleuten gemeinsam gegründete Ostasiatische Verein91 war bereits am 13. März 1900 ins Leben gerufen worden, der Ibero-Amerika-Verein92

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Sie beschloss u. a. am 11.1.1956 das Gesetz zur Übernahme von Sicherheitsleistungen zur Förderung des Seeschiffbaues und griff damit in Bereiche ein, die ansonsten eher vom Bund als Aufgabengebiet beansprucht wurden. Zur Geschichte und den Aufgaben des Übersee-Clubs vgl. Gelder, Übersee-Club 1972, S. 5–58. Vgl. die Aufsätze zu den einzelnen Abteilungen in: Paul, Asien- und Afrikawissenschaften 2008 sowie Brahm, Wissenschaft und Wirtschaft 2014, S. 125. Dieses Kolonialinstitut konzentrierte sich vor allem auf die anwendungsbezogene Ausbildung von Kolonialbeamten. Es bündelte die „Kolonialwissenschaften“ Ethnologie, Geografie und (orientalistische) Sprachwissenschaften, um den Kolonialpraktikern anwendbares Grundlagenwissen zur Verfügung zu stellen. Zum Kolonialinstitut als Vorläufer der Hamburgischen Universität vgl. Ruppenthal, Kolonialismus 2007; Raßhofer, Hamburgische Kolonialinstitut 2008. Dies galt selbst für das Hamburger Tropeninstitut. Zur Geschichte des Tropeninstituts vgl. Weß, Tropenmedizin 1992. 1908 als „Wissenschaftliche Anstalt der Freien und Hansestadt Hamburg“ und als Zentralstelle des Hamburger Kolonialinstituts gegründet. Zum HWWA vgl. Brahm, Wissenschaft und Dekolonisation 2010, S. 50 und Leveknecht, HWWA 1998. Im Juli 1952 hatte er bereits wieder einen Mitgliedsbestand von 218 Personen und 739 Einzelmitgliedern. Vgl. Auflistung in: Staatsarchiv Hamburg 613–4/15 11. Heute: Lateinamerika Verein (LAV).

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folgte 1916, der Afrika-Verein93 1933/34.94 Jeder dieser Vereine fungierte als „unabhängiger Mittelpunkt für die Vertretung und Förderung deutscher Handels- und Industrieinteressen“.95 Schon bald nach ihrer Gründung erregten sie die Aufmerksamkeit weiter Kreise aus Industrie, Schifffahrt, Bank- und Versicherungswesen. Von Anfang an waren sie Bindeglied zwischen Forschung und Wirtschaft und dienten als Sammelbecken praktischer Erfahrungen, weswegen sie bereits vor dem Zweiten Weltkrieg zu anerkannten und renommierten Institutionen geworden waren.96 Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges waren allerdings, so Felix Brahm, sämtliche Bereiche der universitären Auslandskunde „aufgrund ihrer Nähe zum NS-Staat politisch diskreditiert“.97 Folge war die „Auslagerung politik- und wirtschaftsnaher Forschung aus dem akademischen Bereich“. Das stärkte die außeruniversitäre Beschäftigung mit „Übersee“.98 Dies lässt sich beispielhaft an der Auslandskundlichen Arbeitsgemeinschaft zeigen: Die von Wissenschaftlern der Hansischen Universität getragene Forschergruppe kooperierte nun eng mit der Handelskammer und dem Hamburgischen Welt-Wirtschafts-Archiv und orientierte sich zunehmend an deren Vorstellungen über praxisrelevantes Wissen.99 Für Felix Brahm, der sich intensiv mit den auf „Übersee“ konzentrierten universitären Forschungsinstitutionen in der Hansestadt Hamburg beschäftigt hat, ist diese Verlagerung kein Einzelfall. Vielmehr handele es sich um ein frühes Indiz für das Entstehen einer neuen Konstellation, in der die lokalen wirtschaftlichen Organisationen und Vereinigungen immer stärker auf die wissenschaftliche Expertise zurückgriffen und diese für ihr eigenes Projekt, den Aufbau eines umfangreichen anwendungsbezoge93

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Es hatte allerdings mit dem Syndikat für Westafrika und dem Verein westafrikanischer Kaufleute bereits zwei Vorläufer gegeben. Zum Syndikat für Westafrika vgl. Ruppenthal, Kolonialismus 2007, S. 78 f. Zur Geschichte des überwiegend von Hamburger und Bremer „Überseehandelshäusern“ und Pflanzungsgesellschaften gegründeten Afrikavereins vgl. Brahm, Wissenschaft und Wirtschaft 2014, insbesondere S. 131–143. Zur Bedeutung der Afrikawissenschaften während des Nationalsozialismus vgl. Stoecker, Afrika 2016. 1950 kam der Nah-und-Mittelost-Verein hinzu, (später im Verbund mit dem Australien-Neuseeland Verein (ANV)). Die Gründung des Vorgängers des Nah- und Mittel-Ost-Vereins datiert zwar auch bereits auf das Jahr 1935, damals war der Orient-Verein aber in Berlin ansässig. Erst 1950 gründete er sich in Hamburg neu. Als kleinster und jüngster Länderverein gilt der Australien-Neuseeland-Verein (ANV), der erst am 19.12.1952 ins Vereinsregister eingetragen wurde. Unter den Mitgliedern dominierten – stärker noch als in den anderen Ländervereinen – Vertreter der deutschen Großindustrie und großer deutscher Banken. Vgl. Staatsarchiv Hamburg 613–4/15 71 und 613–4/15 72. Interner Vermerk zum OAV, o. S., BArch B 122/11450. Die Quellenlage, und das trifft auch auf alle anderen nachfolgend noch genannten Institutionen zu, lässt keine qualifizierten Aussagen zu den Ausbildungswegen der Experten in den wissensproduzierenden Institutionen zu. Ihre Personalakten sind nicht mehr erhalten oder waren nicht einsehbar. Allgemeingültige Aussagen zu deren Ausbildungshintergründen und Auslandserfahrungen sind nicht möglich. Brahm, Wissenschaft und Wirtschaft 2014, S. 134. Ebd., S. 135. U. a. mit gemeinsamen Vortragsreihen. Vgl. Brahm, Wissenschaft und Dekolonisation 2010, S. 56.

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nen Wissens nutzbar machten.100 Als Ergebnis dieses Trends waren nach 1945 im Bereich des „Überseewissens“ die Ländervereine vorerst von größerer Bedeutung als die universitären Institute der Hansestadt.101 Die Tatsache, dass die Ländervereine in die NS-Außenpolitik integriert gewesen waren, stellte anscheinend keine schwerwiegende Belastung dar.102 Weil die Zeitgenossen nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges Parallelen zum Ende der Kolonialherrschaft 1914/18 zogen, und ihnen die Ausgangslagen nach den beiden verlorenen Weltkriegen sehr ähnlich zu sein schienen, galten die älteren Ländervereine – vor allem der Ostasiatische Verein und der Ibero-Amerika-Verein – als mit Zusammenbruchsituationen erfahrene Akteure, die schon einmal unter Beweis gestellt hatten, dass sie derartig schwierige Situationen meistern und dabei hanseatischen und deutschen Interessen dienen konnten.103 Zwar hatten sich ihre Aufgaben während des Krieges gemäß den außenpolitischen Zielen des NS-Regimes verändert, doch war dies nicht mit einer drastischen Verschiebung in der personellen Zusammensetzung oder einem völligen Bedeutungsverlust verbunden gewesen.104 Während des Krieges betreuten die Vereine – in enger Zusammenarbeit mit der Reichswirtschaftskammer, der Reichsgruppe Industrie und dem Auswärtigen Amt – die in „Übersee“ internierten Händler, Kaufleute und Matrosen und organisierten Unterstützungsaktionen für notleidende Firmen in „Übersee“.105 Sie waren Sprachrohr all derjenigen, die die Enteignung deutscher Vermögenswerte im Ausland beklagten, sie bemühten sich um Hafterleichterungen und organisierten Spenden der deutschen Unternehmen für die Internierten.106 Daher waren die Ländervereine auch während des Krieges viel mehr als lokale Organisationen: Sie blieben durch ihre neuen Funktionen wichtige Ansprechpartner aller zuvor im Ausland tätigen deutschen Firmen. Dies sicherte ihnen bleibende Kontakte und Einfluss in der Industrie. Zudem hatte dieses neue Aufgabengebiet noch einen weiteren Vorteil in der 100 Vgl. ebd., S. 220. 101 Insbesondere in einer Zeit, in der die „Überseeforschung“ durch ihre NS-Vergangenheit unter Legitimationsdruck geraten war, konnte sich der Verweis auf die lokale Wirtschaft allerdings auch für universitäre Wissenschaftler als „immaterielle Ressource in politischen Aushandlungsprozessen“ nutzen lassen. Vgl. Brahm, Wissenschaft und Wirtschaft 2014, S. 143, Zitat ebd. 102 Der OAV hielt so zum Beispiel noch am 9.2.1945 eine ganz normale ordentliche Mitgliederversammlung im Hotel Atlantic ab. Allerdings hatte man das traditionelle Ostasiatische Liebesmahl während des Krieges abgesagt. Zur Geschichte der „Verstrickungen“ der Hamburger Unternehmerschaft in den Nationalsozialismus vgl. vor allem Roth, „Firma Hamburg“ 1997. Zur Beschäftigung mit „Übersee“ im Nationalsozialismus vgl. Moltmann, „Übersee- und Kolonialkunde“ 1991, S. 149–173. 103 Die Ähnlichkeit der Ausgangsbedingungen und die Möglichkeit, aus den Erfahrungen von 1918/19 zu lernen, betont: Friedensburg, Weimarer Republik 1946, S. 7. Als Erfolgsbedingungen hebt Friedenburg hervor: „die Absage an jede Verzweiflung, der Entschluß zur Arbeit, der Daseinswille und die opferfreudige Liebe zum eigenen Volke“. Ebd. Das unerwartete „Wiederaufblühen des deutschen Ausfuhrhandels“ nach dem Ersten Weltkrieg beschreibt der 1. Vorsitzende des Vereins Hamburger Exporteure in: Simon: Ausfuhrhandel 1922, Zitat S. 27. 104 Vgl. Eberstein, OAV 2000, S. 105–136. 105 U. a. wurden internierte Seeleute und Kaufleute mit Büchersendungen und Taschengeldzahlungen versorgt. Vgl. Staatsarchiv Hamburg 613–4/15 7. 106 Vgl. Staatsarchiv Hamburg 613–4/15 31.

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unmittelbaren Nachkriegszeit: Während es durchaus Probleme bereitet hatte, Kontakte ins Ausland aufrechtzuerhalten, waren die Bindungen zu den deutschen Ministerien durch die veränderten Aufgaben während des Krieges eher noch verstärkt worden.107 Die institutionelle und personelle Kontinuität in den Ministerien sicherte den Ländervereinen auch in der Zeit nach 1945 die Rolle als „Sprachrohr der Wünsche der Wirtschaft“, als zentrale Netzwerkknotenpunkte, als Anlaufstellen und als einflussreiche Wissensproduzenten.108 Sie standen bereits im Wiederaufbauprozess den Bundesministerien und den Spitzenorganisationen der Wirtschaft zur Mitarbeit zur Verfügung und waren erste Wahl, wenn es um die Besetzung der zahlreichen, von den Ministerien und der Privatwirtschaft neu gebildeten Ausschüsse ging. Die Ländervereine genossen unumstrittene Anerkennung der Bundes- und Landesbehörden und dienten zugleich den Unternehmern der Stadt als Reservoir für wichtige Beraterpositionen. Während die Verquickung mit dem NS-Staat und seiner Ideologie für die universitären Institute eine Belastung darstellte, war sie für die Ländervereine geradezu ein Startvorteil. Zu Recht sahen sich die Ländervereine als wichtigstes Sammelbecken des Auslandswissens, als bedeutendste Dienstleister für Exportwirtschaft und staatliche Behörden sowie als einflussreiche Lobbyisten der Außenhandelskreise. Sie waren auf dem Gebiet der westlichen Besatzungszonen nach 1945 erst einmal konkurrenzlos, insbesondere als bedeutsame Knotenpunkte im Netzwerk zwischen Wissenschaftlern, Handelspolitikern, wirtschaftlichen Interessenverbänden und dem vielbeschworenen „Mann der Praxis“.109 Die Ländervereine waren zugleich in Personalunionen oder über Mitgliedschaften mit den zwischenstaatlichen Ländergesellschaften ihres jeweiligen Kulturraums verknüpft und folglich auch als Ansprechpartner für die späteren Auslandshandelskammern zentral.110 Zu ihrem Aufgabenspektrum gehörte es, Delegationen und ausländische Gäste zu betreuen und ihnen Zusammenkünfte mit Vertretern der deutschen Wirtschaft zu ermöglichen. Sie richteten zahlreiche Arbeitstagungen aus und stellten ein wichtiges Bindeglied zwischen Unternehmern, Diplomaten sowie Referenten der Bundesministerien und der Hamburger Bürgerschaft dar.111 Sichtbaren Ausdruck fand diese Vermittlerposition der Ländervereine in ihren jeweiligen repräsentativen Veranstaltungen: Dem traditionellen „Ostasiatischen 107 Zur Elitenkontinuität im Auswärtigen Amt und damit auch zur Aufrechterhaltung von Netzwerkstrukturen über den politischen Systembruch hinweg vgl. Conze, Auswärtige Amt 2010, S. 167. Philipp Rock verweist auf den Generationswechsel unter den deutschen Diplomaten um 1962 herum. Vgl. Rock, Macht 2010, S. 378. 108 Dieses Selbstverständnis vom „Sprachrohr der Wirtschaft“ findet sich in zahlreichen Tätigkeitsberichten der Ländervereine, u. a. auch im Tätigkeitsbericht des Afrika-Vereins 1957, Staatsarchiv Hamburg Z 314/0008. Die Ländervereine waren organisiert als eingetragene Vereine und privatwirtschaftliche Verbände. 109 So etwa deutlich ersichtlich in den Arbeitsprogrammen der 1950er Jahre. Vgl. Staatsarchiv Hamburg 131–1 VI 1847. 110 Die ersten Außenhandelskammern in „Übersee“ waren ohnehin vor allem aufgrund privaten Betreibens von Hamburger und Bremer Außenhandelskreisen entstanden. Zur Frühgeschichte der Deutschen Außenhandelskammern vgl. Höpfner, Aussenhandel 1993, S. 120–176. 111 Vgl. BArch B 122/11450.

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Liebesmahl“ des Ostasiatischen Vereins, dem Jahresball des Nah-und-MittelostVereins – „das Nah-Mittelöstliche Fest“ – und dem „dia dela rassa“112 des IberoAmerika-Vereins. An diesen Empfängen, die schon bald nach Kriegsende wieder abgehalten wurden, nahmen nicht nur die jeweiligen Kaufmannschaften teil, sondern auch Vertreter der Bremer und Hamburger Handelskammer sowie beider Bürgerschaften. Zudem zählten bereits in der unmittelbaren Nachkriegszeit nationale Honoratioren aus Staat, Wissenschaft und Wirtschaft wie selbstverständlich zu den Gästen. Unternehmer anderer Regionen der Bundesrepublik beneideten die Ländervereine um diese glamourösen und weithin beachteten Feste. Ähnliches galt für die jährlich durchgeführten „Diplomatentage“, auf denen von hanseatischen Außenhandelskreisen der auch ansonsten intensive Kontakt mit den diplomatischen Vertretungen in der Bundesrepublik Deutschland gepflegt und zugleich medienwirksam inszeniert wurde.113 Die Ländervereine präsentierten sich dabei als einzige Interessenvertreter der mit den wirtschaftlichen Beziehungen zu den „überseeischen“ Wirtschafts- und Kulturräumen beschäftigten Unternehmer – nicht nur der Hansestädte, sondern der gesamten Bundesrepublik. Dies war alles andere als eine reine Imagekampagne – auch wenn man sich durchaus der Wirkung der bloßen Behauptung bewusst gewesen sein mag. Weniger glamourös, aber nach 1945 ebenso einflussreich war eine weitere Hamburger Institution: Das 1908 gegründete Hamburgische Welt-Wirtschafts-Archiv (HWWA).114 Diese in Rufweite des Übersee-Clubs gelegene Institution war – zusammen mit dem 1914 ins Leben gerufenen Kieler Institut für Weltwirtschaft115 – derjenige Ort, an dem sich Deutschlands weltwirtschaftlicher Sachverstand traditionell konzentrierte.116 Dass beide Institutionen diese Funktion auch nach 1945 112 Eigentlich: „día de la raza“ (Tag der Rasse), der in Spanien sowie in einzelnen Ländern „Lateinamerikas“ begangene Festtag zur Erinnerung an die Entdeckung Amerikas durch Kolumbus am 12.10.1492. 113 Von Vorteil war dabei, dass Hamburg bereits vor dem Zweiten Weltkrieg Standort zahlreicher Konsulate gewesen ist. So waren etwa sämtliche „lateinamerikanischen“ Staaten in Hamburg offiziell vertreten gewesen. Und auch nach dem Zweiten Weltkrieg eröffneten insbesondere diese Staaten hier Konsulate. 114 Das HWWA war zwischen 1945 und 1948 von der britischen Besatzungsmacht geschlossen worden. Vgl. Staatsarchiv Hamburg 135–1 VI 1234. 115 Das Institut für Weltwirtschaft wurde am 18.11.1914 gegründet. Es hat das in Deutschland zirkulierende Wissen über die Funktionsweise der Weltwirtschaft und über einzelne „überseeische“ Gebiete mitgeprägt. Ab 1948 wurde es von Fritz Baade geleitet. Es hatte eine im Vergleich zu anderen Wirtschaftsforschungseinrichtungen eher akademische Prägung. In den 1950er Jahren bewegte es sich, laut Nützenadel, „an der Schnittstelle von internationaler Wirtschaftsbeobachtung, wissenschaftlicher Gutachtertätigkeit und volkswirtschaftlicher Grundlagenforschung“. Vgl. Nützenadel, Stunde 2005, S. 96 f., Zitat S. 97. 116 Außer einigen Festschriften existiert allerdings bisher keine fundierte historische Analyse dieser beiden für das Verständnis der deutschen Wirtschaftswissenschaften zentralen Institutionen. Die heutige Erforschung der Institutionen wird dadurch erschwert, dass sie sich mittlerweile – entgegen ihrer Tradition – sehr stark auf ahistorische Analysen konzentrieren und daher folgerichtig ihren eigenen historischen Beständen keine große Aufmerksamkeit mehr widmen. Ansätze bieten: Petersen, Expertisen 2009; Hagemann, Weltklasse 2008; Schneider, Institut für Weltwirtschaft 1966; Zottmann, Institut für Weltwirtschaft 1964. Anton Zottmann (*1908) war Abteilungsleiter am Institut für Weltwirtschaft sowie langjähriger Schriftleiter des „Weltwirt-

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wieder einnehmen konnten, lag u. a. daran, dass deren Rolle als Vordenker oder auch deren direkte Mitarbeit etwa beim „Generalplan Ost“ von den Zeitgenossen gar nicht direkt mit den nationalsozialistischen Verbrechen in Zusammenhang gebracht wurde.117 Auch das Selbstbild der hier beschäftigten Wissenschaftler entsprach diesem Muster. Sie hielten sich für Experten, die die Verantwortung für die politische Inanspruchnahme ihrer Gutachten von sich wiesen. Damit zeigten sich bei ihnen in Bezug auf die eigene Vergangenheit ähnliche Selbststilisierungen und Entschuldigungsstrategien wie bei den in Handelskammer und Übersee-Club vertretenen Unternehmern. Auch dies mag nach 1945 die Kommunikation untereinander erheblich erleichtert haben, konnten sich diese Gruppen so doch gegenseitig in ihren Interpretationen stützen.118 Jedenfalls wirkte das HWWA schon Anfang der 1950er Jahre wieder durch regelmäßige und in ganz Deutschland zur Kenntnis genommene Mitteilungsblätter „zur persönlichen Unterrichtung der leitenden Männer unserer Wirtschaft“ und durch die Herausgabe auslandskundlicher Werke, Bibliografien und Adressbücher für Praktiker weit in die am Außenhandel interessierten Kreise hinein.119 Es erstellte daneben auch breit angelegte sozialwissenschaftlich und historisch fundierte ökonomische Studien zu einzelnen Ländern und Regionen. Anders als der Name vermuten lässt, hatte das HWWA seine ursprüngliche Bedeutung als Archiv, d. h. als Sammel- und Dokumentationsstelle, längst erweitert und war zum aktiven Wissensproduzenten geworden.120 Auch galt es dem Bundeswirtschaftsministerium von Beginn an als wichtigster Kooperationspartner für die wissenschaftliche Erarbeitung von Gutachten zur Außenhandelspolitik.121 Insbesondere der Direktor des HWWA, Clodwig Kapferer, wurde immer wieder zur Begutachtung staatlicher Exportförderungsmaßnahmen herangezogen.122

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schaftlichen Archivs“. Die Arbeitsbedingungen in der Zusammenbruchsgesellschaft beschreibt: Herrmann, Institut für Weltwirtschaft [o. J.]. Zur Rolle und Wertschätzung der vorgenannten Wirtschaftsforschungsinstitute während des Nationalsozialismus vgl. Dieckmann, Wirtschaftsforschung 1992. Zu den strukturellen Ähnlichkeiten der Selbstbilder in Wirtschafts- und Bildungsbürgertum vgl. Vogel, Bildungspolitische Interessenpolitik 2005. Für die „Wirtschaftspraxis“ tätig zu sein, wurde von Vertretern des HWWA immer wieder betont. Zum besonderen Verhältnis von Wirtschaftspraxis und Wirtschaftsforschung vgl. Kapferer, Wirtschaftsforschung 1963, S. 37 und S. 50 f. Allerdings zog man erst 1970 daraus die Konsequenzen und benannte am 27.5.1970 das Institut um in „Hamburgisches Welt-Wirtschafts-Archiv – Institut für Wirtschaftsforschung“. Vgl. Staatsarchiv Hamburg 135–1 VI 1234. Die trotz allem bestehenden anfänglichen Personalprobleme des HWWA sind dargelegt in: Staatsarchiv Hamburg 135–1 VI 1234. Von herausragender Bedeutung im Bundeswirtschaftsministerium für die Kontakte und den Informationsfluss zu den Außenhandelskreisen war Dr. Vollrath Freiherr von Maltzan, der u. a. wichtiger Diplomat, Ministerialdirektor im BMWi (Leiter der für Außenwirtschaft zuständigen Abteilung V) und zugleich Vizepräsident der in Berlin ansässigen Deutschen Weltwirtschaftlichen Gesellschaft (DWG) war. Zur Person vgl. Müller, Kernfrage 2004, S. 74. Von zentraler Bedeutung für die Ausrichtung der Außenwirtschaftspolitik der BRD sollte sich etwa das folgende Gutachten herausstellen: HWWA (Kapferer): Untersuchung über klassische Exportförderungsmaßnahmen (Möglichkeiten der Exportförderung mittels nichtfinanzieller Maßnahmen) (1955), 1953–1955, überliefert in: BArch B 102/7091 Heft 1.

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Insgesamt zeigt sich bei den vorgenannten Beispielen die Bedeutung einer weit über zwei Weltkriege hinwegreichenden Kontinuität. Die politischen Institutionen der neu gegründeten Bundesrepublik stützten sich gleich zu Beginn stark auf diese etablierten Akteure.123 Wenn also kaum eine Redewendung der Nachkriegszeit in der Hansestadt Hamburg so für die Verbindung von Tradition und Zukunft stand wie die allerorts emphatisch gelobte Funktion als „Tor zur Welt“, dann beruhte dies auch auf einer langen Erfahrung in der Beschäftigung mit „überseeischen Märkten“, die die Bildung eines Wissensclusters nach 1945 erheblich erleichterte. Die Abhängigkeit der Stadt vom Wirtschaftsfaktor Hafen und der Verlust der vormals nicht unerheblichen wirtschaftlichen Beziehungen zum schnell weithin abgeschotteten „Ostblock“ machten dabei die ohnehin schon ausgeprägte Ausrichtung auf den Seehandel für alle Beteiligten nur noch einmal einleuchtender. Letztlich war ein Großteil der in Deutschland mit „Überseemärkten“ befassten Institutionen in Hamburg konzentriert. Dabei folgte der Institutionalisierungsgrad einer einfachen Regel: Je länger die Beschäftigung mit bestimmten Weltregionen bereits andauerte und je stärker diese die aktuellen Hoffnungen der Unternehmer weckten, desto mehr Institutionen existierten für den jeweiligen Kultur- und Wirtschaftsraum. Diese auf zahlreichen Gebieten eng vernetzte Ansammlung von Institutionen produzierte nach 1950 neue Pfadabhängigkeiten, die im Zeitverlauf zu weiteren Ansiedlungen in der Hansestadt führten. Zu nennen ist etwa das Haus Rissen (Institut für Wirtschafts- und Sozialpolitik), das sehr frühzeitig begann, Entwicklungsländerseminare für „Experten, Kaufleute, Ingenieure, Wissenschaftler, Lehrer, Ärzte und Regierungsberater, die sich auf eine Tätigkeit in Übersee vorbereiten wollen“, auszurichten.124 Besonders in der zweiten Hälfte der 1950er Jahren kam es zu einer Gründungswelle von neuen Instituten in Hamburg, die nicht zuletzt auf Anregungen des Auswärtigen Amts und des Deutschen Bundestags zurückgingen.125 Exemplarisch ist das Institut für Asienkunde, das Mitte der 1950er Jahre ins Leben gerufen wurde.126 Die zeitgenössische Begründung der Standortwahl verdeutlicht noch einmal die einschlägigen Argumente für Hamburg als Zentrum des 123 Dies wurde den staatlichen Stellen dadurch erleichtert, dass alle hier genannten Institutionen anfänglich von selbst darauf achteten, keine deutlich sichtbar Belasteten in den Führungsgremien zu haben. Ganz typisch ist die Aussage der Anfangsjahre – also in der Zeit, als man von den Alliierten noch die Zulassung als Verein beantragen musste –, dass ein Großteil des Vorstands keine NSDAP-Mitglieder gewesen waren und dass die verbleibenden ehemaligen NSDAP-Mitglieder erst nach dem 30.1.1933 der Partei beigetreten seien. 124 Das Haus Rissen wurde bereits 1954 gegründet. Im März 1963 – für einen früheren Zeitpunkt liegen bedauerlicherweise keine Zahlen vor – hatte man bereits das 62. EntwicklungsländerSeminar abgehalten. Blickt man in die Teilnehmer- und Referentenlisten, wird auch hier noch einmal die enge Zusammenarbeit mit Vertretern des Auswärtigen Amtes, des Bundeswirtschafts- und Arbeitsministeriums, des Bundestages, der Ländervereine mit den Ausländer-Betreuungsorganisationen und nicht zuletzt mit Konsulaten und Angehörigen der betreffenden Entwicklungsländer deutlich. Vgl. BArch B 122/5314 und http://www.zeit.de/1963/11/zeittermine [zuletzt eingesehen am 21.12.2016]. 125 Vgl. o. A., Vorwort, 1977, S. 1. 126 Das Institut für Asienkunde ist 1956 als Stiftung bürgerlichen Rechts gegründet worden. Zu dessen Geschichte vgl. Schütte, Institut für Asienkunde 2006 und Brahm, Wissenschaft und Wirtschaft 2014, S. 137.

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wichtigsten Wissensclusters für „überseeische“ Märkte und Kulturen. Betont wurde dabei nun auch wieder die Bedeutung der Universität Hamburg mit ihren sehr gut ausgestatteten Forschungseinrichtungen. Genauso wichtig war aber, dass Hamburg „durch seine vielfältigen Überseebeziehungen, insbesondere zusammengefaßt im Ostasiatischen Verein, eine Fülle praktischer Verbindungen ermöglicht und damit eine starke Realitätsbezogenheit der Arbeiten selbstverständlich werden läßt“.127 Zugleich bedingte die „Erfordernis des ständigen Meinungs- und Materialaustausches“ zahlreiche Verbindungen zu ausländischen Forschungseinrichtungen und Materialsammelstellen, für die sich Hamburger Netzwerke nutzen ließen. In Hamburg selbst war vor allem die enge Zusammenarbeit mit dem Länderverein und der Deutschen Gesellschaft für Ostasienkunde, der Gesellschaft für Natur- und Völkerkunde Ostasiens sowie dem Arbeitskreis für gegenwartsbezogene Forschung und Dokumentation über den süd- und ostasiatischen Raum (AGDA) von Bedeutung.128 Diese Institutionenvielfalt trifft für alle anderen „überseeischen“ Wirtschaftsgroßräume ebenfalls zu; ähnliche Ausführungen zur Vernetzung ließen sich dementsprechend auch für die ab 1960 gegründeten Institute – Institut für IberoamerikaKunde,129 das Deutsche Institut für Afrika-Kunde,130 das Deutsche Orient-Institut131 und das Institut für Allgemeine Überseeforschung132 – machen. Um überregionale Wirkung entfalten zu können, war die hanseatische „Überseewirtschaft“ auf Medien mit hoher Reichweite angewiesen. Schließlich war die Position im Wissenstransfer nicht nur eine Frage des persönlichen Austauschs oder gesicherter finanzieller Grundlagen. Ausstellungen und repräsentative Empfänge allein reichten nicht aus. Daher war es für Hamburgs Stellung als Netzwerkknoten wichtig, zugleich Sitz renommierter Verlage und Publikationsorgane zu sein.133 Dies betraf zum einen die allgemeine Zeitungslandschaft, weil hier deutschland127 O. A., Vorwort 1977, S. 1. 128 Vgl. ebd., S. 4, hier auch das Zitat. 129 Das Institut für Iberoamerika-Kunde wurde 1962 als interdisziplinäres Institut gegründet, um „durch wissenschaftlich fundierte Untersuchungen die Unterrichtung der deutschen Wirtschaftspraxis sowie der Außenpolitik über Gegenwartsfragen Lateinamerikas zu verbessern und (…) der wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Forschung und Lehre Anregungen für eine intensivere Beschäftigung mit dieser Region zu geben“. G. (sic!), Institut für Iberoamerika-Kunde 1968, S. 384. 130 1963 gegründet. 131 Das Deutsche Orient-Institut wurde 1960 gegründet und gab seitdem die Fachzeitschrift „ORIENT – Deutsche Zeitschrift für Politik, Wirtschaft und Kultur des Orients“ heraus. Dabei bestand eine Personal-Union zwischen Deutschem Orient-Institut, dem NuMoV und (später) der Deutschen Orientstiftung. Dieser engen Verbindung lag wiederum der Gedanke zugrunde, dass „zur Pflege und Vertiefung unserer gesamten Beziehungen zu den Ländern und Völkern des Orients (…) der Erfolg der wirtschaftlichen Betätigung im Sinne der Entwicklungsförderung wie überall, so auch im Orient von der sehr überlegten Verwertung der in wissenschaftlicher Erforschung und Beobachtung der Gegenwartsgeschichte der Entwicklungsvölker erarbeiteten Erkenntnisse entscheidend abhängt“. Darstellung des Deutschen Orient-Instituts, in: Der Orient [ohne weitere Angaben], S. 23, BArch B 145/7588. 132 1964 gegründet. 133 Zur Geschichte der Zeitungslandschaft in Hamburg vgl. Führer, Medienmetropole 2006 sowie die kurze Forschungsskizze von Führer, Medienmetropole 2002.

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weit Werbung für den „Überseestandort“ Hamburg betrieben werden konnte.134 Dass der Presse für die Arbeit der Hamburger Institutionen eine hohe Bedeutung zukam, zeigt sich etwa daran, dass im Übersee-Club schon frühzeitig Abendessen und Frühstücke mit in- und ausländischen Pressevertretern abgehalten wurden. So wurden bereits im September 1950 Vertreter der bayerischen Presse nach Hamburg eingeladen. Ab 1951 gab es Pläne, regelmäßig auch wichtige Vertreter ausländischer Zeitungen zu bewirten und ihnen den Hafen und Hamburger Wirtschaftsbetriebe zu zeigen. Dabei dachte man vor allem an die in Bonn tätigen ausländischen Journalisten, vor allem diejenigen aus „Iberoamerika, Nordamerika, England, Frankreich und den nordischen Staaten“.135 Dabei legten die mit der Pressearbeit befassten Institutionen in der Hansestadt Wert darauf, den Kontrast zwischen einem wichtigen Handels- und Wirtschaftszentrum und „der Bonner Atmosphäre“ zu betonen.136 Zum anderen war Hamburg aber auch wichtiger Verlagsort für die „Übersee“-Fachpresse. Ohne diese wäre eine überregionale Wirkung der Hamburger Institutionen kaum möglich gewesen. Von besonderer Bedeutung waren kleine, spezialisierte Verlage wie der Übersee-Verlag und der Verlag Weltarchiv137. Sie veröffentlichten weniger Lehrbücher für den Außenhandel als die für Außenhandelskreise besonders interessanten Reise- und Erfahrungsberichte. Hinzu kamen Verlage mit Schwerpunkten auf einzelne Weltregionen, etwa der Roeper-Verlag als Herausgeber der Zeitschrift „ORIENT“. Zudem wurden in Hamburg der „Dienst aus Deutschland“ und die ebenfalls überregional zur Kenntnis genommenen „Hamburger Hafennachrichten“ verlegt. Zentrales Publikationsorgan der Ländervereine war jedoch die in ganz Deutschland gelesene und in Hamburg verlegte ÜberseeRundschau.138 Sie war das wohl wichtigste deutschsprachige Periodikum einer „Wissenspopularisierung (…), die sich an ein wirtschaftlich interessiertes Publikum richtete“.139 Sie versuchte, zwischen „Praxis und Wissenschaft eine Brücke zu schlagen“ und sie band zugleich große Kreise der aus „Übersee“ heimkehrenden Deutschen als Leser an sich.140 134 Zu den Journalisten der Hansestadt in der unmittelbaren Nachkriegszeit vgl. Sonntag, Medienkarrieren 2006. Zur Zeitungslandschaft allgemein vgl. Schildt, Großstadt 1997, S. 91–93. 135 Dr. Lindemann (Übersee-Club Hamburg) an Generalkonsul a. D. Dr. Fritz von Twardowski (Bundespresseamt) vom 19.1.1951, o. S., BArch B 145/5354, Zitate ebd. In derartige Zusammentreffen waren nicht nur hochrangige Mitglieder des Übersee-Clubs, sondern auch des Senats mit eingebunden. Fritz von Twardowski (*1890) war zuvor Botschafter bzw. Generalkonsul in Mexiko Stadt, Moskau und Istanbul sowie Leiter der Kulturpolitischen Abteilung des Auswärtigen Amts gewesen. 136 Ebd. 137 1949 gegründet. Kurze Angaben zum Verlagsprogramm der ersten 20 Jahre in: HWWA, HWWA 1970. 138 Die Übersee-Rundschau war als gemeinsame Nachfolgezeitschrift zu den zuvor herausgegebenen Regionalzeitschriften der unterschiedlichen Ländervereine (Ostasiatische Rundschau, Afrika-Rundschau, Ibero-Amerikanische Rundschau) konzipiert worden. Sie erschien seit 1949 im Übersee-Verlag. Zur Vorgeschichte der Übersee-Rundschau vgl. Brahm, Wissenschaft und Wirtschaft 2014, S. 132 f. und ders., Overseas World 2013, S. 106–110. 139 Brahm, Wissenschaft und Wirtschaft 2014, S. 133. 140 Schreiben des Vorsitzenden des Afrika-Vereins Hamburg-Bremen, R. Brettschneider, an Otto Meissner Verlag, Hamburg, den 19.11.1948, Staatsarchiv Hamburg 135–4 39 Band 115.

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Mehrere Punkte sind bislang am Beispiel Hamburg als Erfolgsbedingungen für eine zentrale Position im Wissensnetzwerk zu „Übersee“ hervorgehoben worden: Das gut funktionierende Zusammenspiel unterschiedlicher Kräfte innerhalb des Stadtraums, die Kontrolle der über diesen Stadtraum hinausreichenden Kommunikationswege, die für Diplomaten und Politiker ansprechenden repräsentativen Empfänge und die positiven Effekte von institutionellen Vorläufern und Traditionen. Dabei sind bislang Institutionen vor allem aufgezählt und deren satzungsgemäße Zwecke aufgelistet worden. Eine Institutionengeschichte sollte sich aber auch in die Institutionen hinein begeben. Nur so lässt sich schließlich beantworten, wie sich die stadtinternen Kontakte überhaupt zu Netzwerken stabilisierten.141 Schließlich reichen gemeinsame Interessen allein nicht aus, um kollektive Handlungsfähigkeit zu erzeugen. Die historische Netzwerkforschung hat dies immer wieder betont und – darauf aufbauend – auf die hohe Bedeutung eines ähnlichen Habitus als zentrales Element der Vertrauenssicherung in Netzwerken und als Zutrittskriterium, d. h. als zentralen Regulierungsmechanismus der Inklusion und Exklusion, verwiesen.142 Auch qualitative soziologische Elitestudien weisen in diese Richtung.143 Netzwerkstrukturen sind aus dieser Perspektive vor allem „Muster sozialer Praktiken (…), denen tiefer liegende Strukturen zu Grunde liegen, die durch den Habitus der Akteure entstehen und verändert werden“.144 Stabile Netzwerke basieren dann vor allem auf der als Homophilie bezeichneten Tendenz von Menschen, sich mit Personen zu umgeben, von denen sie annehmen, dass sie ihnen selbst in einer oder mehreren zentralen Dimensionen gleichen.145 Der Habitus ist dabei von den Akteuren letztlich so stark verinnerlicht, dass er zu einem erheblichen Teil als vorbewusst angesehen werden muss.146 Gerade deswegen ist er von Bedeutung da141 Insbesondere Harrison White hat darauf hingewiesen, dass die Stabilität von Netzwerken nur aus den kulturellen Übereinkünften der jeweiligen sozialen Beziehungen heraus erklärt werden kann. Sein Vorschlag, Kultur und Struktur gemeinsam zu analysieren, dargelegt in: White, Identity and Control 1992. 142 Etwa für die deutsche Umweltbewegung herausgearbeitet von Jens Ivo Engels. Vgl. Engels, Personale Netzwerke 2006. 143 Hervorzuheben sind die zahlreichen Veröffentlichungen von Michael Hartmann. Vgl. insbesondere dessen Ausführungen zu den ökonomischen Eliten in Deutschland in: Hartmann, Rekrutierungswege 2004; ders., Mythos 2002; ders., Topmanager 1996; ders., Kultur der deutschen Wirtschaftselite 2012; ders., Klassische Hochkultur 2012; ders., Soziale Homogenität 2003. 144 Hennig/Kohl: Fundierung der Netzwerkperspektive 2012, S. 15. 145 Zur Homophilie grundlegend die Arbeit von Lazarsfeld/Merton, die zwischen Homophilie aufgrund von Status und aufgrund von Werten unterscheiden. Vgl. Lazarsfeld/Merton, Friendship 1954. Zu diesem Themenkomplex und zur Bedeutung der sozialen Homophilie für Netzwerke vgl. Hennig u. a., Social Networks 2012, S. 37 f. 146 Habitus meint keine vollständige Übereinstimmung, sondern nur eine reale oder angenommene Ähnlichkeit, der von den Akteuren eine ordnende Kraft zugesprochen wird. Man kann sich Habitus als unbewusst erlernte Gewohnheit vorstellen, die das soziale Handeln ebenso bestimmt wie die bewusst gewählten persönlichen Strategien. Das bedeutet nicht, dass ein Habitus grundsätzlich unveränderbar ist. Er wandelt sich jedoch eher langsam – etwa durch die Integration neuer Erfahrungen –, kann aber auf keinen Fall bewusst oder völlig willkürlich verändert werden. Bourdieu, von dem das Konzept stammt, wurde immer wieder dafür kritisiert, dass bei ihm das Individuum nur eine relativ geringe Handlungsfreiheit besitzt. Vgl. Hennig/Kohl, Fundie-

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für, wem Expertise zugestanden wird.147 Denn der Habitus als dauerhafte Handlungsdisposition und verinnerlichtes Muster wirkt sich auf Auswahlprozesse und auf die Bewertung von Leistungen aus. Jener, den Akteuren im Netzwerk des „Überseewissens“ gemeinsame, Habitus lässt sich nicht zuletzt an Orten wie dem Hamburger Übersee-Club feststellen, an dem er immer wieder neu geschaffen und gepflegt wurde. Hier versicherten sich die Mitglieder des Netzwerkes ihrer geteilten Werte und Verhaltensstile. Es ist daher sinnvoll, sich die besondere Atmosphäre an diesem Ort etwas genauer anzuschauen. Grundsätzlich ist es einleuchtend, Netzwerke und Habitus nicht unabhängig voneinander zu untersuchen. Dies ist aber für Historiker_innen nicht ohne weiteres umzusetzen. Ein spezifischer Habitus ist zwar leicht intuitiv erfahrbar, zugleich aber nur schwer analytisch aus dem überlieferten Quellenmaterial heraus abzuleiten. Das Problem liegt vor allem darin, dass der Habitus für die damaligen Beobachter so leicht zu erfahren war, dass nur selten zeitgenössische Reflektionen über ihn angestellt wurden. Da er von denen, die ihn teilten, zudem oft als natürlich angesehen wurde – und damit nicht umstritten war –, hinterließ er nur wenig konkrete Belege im Quellenmaterial. Ein Arrangement aus zeitgenössischen Zitaten als Beweisführung ist somit nur in seltenen Fällen möglich. Freilich lassen sich ähnliche Sozialisationswege prosopografisch nachzeichnen und politische Einstellungen eruieren etc., doch daraus entstehen nur Anhaltspunkte für eine Habitusanalyse. Eine solche hätte auch andere Aspekte zu berücksichtigen: Die Bilderauswahl an den Wänden, das Angebot an Speisen und Getränken, Umgangsformen, die Vorstellungen über angemessene Kleidung und angemessene Unterhaltungsthemen, über richtige Körperhaltung und angemessenen Sprachduktus. Diese Liste ist grundsätzlich unbegrenzt erweiterbar, da es keinerlei Anhaltspunkte dafür gibt, dass irgendetwas nicht zu einem mit Bedeutung und erheblicher Distinktionskraft versehenen „feinen Unterschied“ werden kann. Trotz all dieser Probleme der historischen Habitusanalyse lassen sich exklusive Orte wie der Übersee-Club als durch eine spezifische berufsweltliche Prägung gekennzeichnet begreifen. Zentraler Akteur in den Netzwerken des „Überseewissens“ rung der Netzwerkperspektive 2012, S. 16; Rehbein/Saalmann, Habitus 2009, S. 111–114. Zur Veränderbarkeit von Habitus vgl. Goltermann, Identität und Habitus 2001, S. 85. 147 Mit dem Konzept eines gruppenspezifischen Habitus versuchen Historiker_innen und Soziolog_innen zu erklären, aus welchen Gründen Akteure gegenseitig zu Referenzpunkten füreinander werden. Habitus meint dann eine Ähnlichkeit der sozialen Position, die mit ähnlichen Umgangsformen, Sitten und Gewohnheiten einhergeht. Er äußert sich zugleich als eine spezifische Denk-, Wahrnehmungs- und Beurteilungsweise über die soziale Ordnung und zwar in so gleichförmiger Art, dass daraus ähnliche Handlungsweisen resultieren. Dies führt zu Regelmäßigkeiten und ist für die Angemessenheit des Handelns konstitutiv. Dabei verstärken sich diese Ähnlichkeiten wechselseitig. Die stark verinnerlichten Vorstellungen über die Adäquanz von bestimmten Verhaltensweisen und Kommunikationsformen wirken sich wiederum auf die soziale Position der Akteure aus. Und umgekehrt: Derartige Ähnlichkeiten erleichtern die Kommunikation, die Herstellung von Vertrauen und können ein Gefühl der Sicherheit geben, weswegen sie für Gruppenbildungsprozesse, aber auch Netzwerke von zentraler Bedeutung sind. Vgl. Rehbein/Saalmann, Habitus 2009, S. 111 und S. 113 sowie Hennig/Kohl, Fundierung der Netzwerkperspektive 2012, S. 15 f.

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war der in jeglicher Hinsicht arrivierte und respektable Mann.148 Arriviert und respektabel zu sein, waren zwar wiederum keine klar definierten, eindeutigen Konzepte, aber dennoch in den jeweiligen Bürgerschaften ein recht stabiles Deutungsmuster. Es betraf so unterschiedliche Bereiche wie die Ehe, die als Zeichen der Verantwortungsübernahme für eine eigene Familie und zugleich als Zeichen der Akzeptanz einer bürgerlichen Kernnorm angesehen wurde. Es betraf aber auch den Bereich der lokalen politischen Teilhabe. Nicht zuletzt umfasste es auch eine gemeinsame Auffassung über Bildung. Als zentrales Distinktionsmerkmal und als zentrales Versprechen des deutschen Bürgertums gehörte sie zum Status des arrivierten bürgerlichen Mannes so selbstverständlich dazu wie der ökonomische Erfolg. Dies korrespondierte zudem mit einer skeptischen Haltung gegenüber der Jugend, auch dem eigenen Unternehmernachwuchs, und sozialen Aufsteigern und damit auch gegen Wertewandel und Demokratisierung im Inneren der Clubs. Der Übersee-Club in Hamburg war vor allem zweierlei: ein Ort von Stadtbürgern149 und ein Ort von Männern.150 Hier dominierten – davon war bereits die Rede – männlich konnotierte Selbstbeschreibungen als „Macher“, als „Pragmatiker“, als „Leistungsträger“ und eben als „handelnde Stadtelite“.151 Erfolgs- und Selbständigkeitsmetaphern spielten eine große Rolle.152 Gerade weil Clubs auch 148 Auf die hohe Relevanz von bürgerlichen Benimmregeln als äußeren Ausdruck einer inneren Haltung in der Nachkriegszeit verweist: Jureit, Höflichkeit 2004, S. 221. 149 Bedauerlicherweise gibt es kaum Arbeiten, die sich mit dem Wirtschaftsbürgertum in der Zeit nach 1918 beschäftigen. In der Forschung ist es zwar Konsens, dass das deutsche Bürgertum im 20. Jahrhundert in einer Art Dauerkrise steckte bzw. sich selbst zumindest ständig vom Niedergang bedroht sah, doch trifft dies für das Bildungsbürgertum stärker zu als für das gehobene Wirtschaftsbürgertum, da sich hier die ökonomischen Krisen in längerer Perspektive als weit weniger existenziell herausstellten. Auch wenn sich die historische Forschung dabei uneins darüber ist, ob das Bürgertum nach 1945 in Deutschland überhaupt noch existiert habe, so scheint es schlüssig, davon auszugehen, dass bürgerliche Tugenden und Repräsentationsformen in der frühen Bundesrepublik weiterhin mit erheblicher Distinktionskraft versehen waren. Zwar hat es eine zunehmende Tendenz zur Verallgemeinerung von Bürgerlichkeit gegeben, doch verschwand dadurch die Idee eines exklusiven Bürgertums nicht, sie blieb insbesondere unter Eliten ein wichtiges soziales Leitbild. Vgl. Ziegler, wirtschaftliche Großbürgertum 2000, S. 113; Schäfer, Geschichte des Bürgertums 2009, S. 403; Hardtwig, Bürgertum 1994, S. 215– 218; Lenger, Bürgertum 2005; Conze, bürgerliche Republik 2004, insbesondere S. 530; Berghahn, Recasting Bourgeois Germany 2001; Siegrist, Ende der Bürgerlichkeit 1994, insbesondere S. 583; Großbölting, Exklusives Bürgertum 2003 sowie die Beiträge in den Sammelbänden: Budde/Conze/Rauh, Bürgertum nach dem bürgerlichen Zeitalter 2010 und Hettling/Ulrich, Bürgertum nach 1945 2005. 150 Zur Spezifik von Orten „männlicher Selbstvergewisserung“ vgl. Martschukat/Stieglitz, Geschichte der Männlichkeiten 2005, S. 145. Zur Wiederherstellung der dichotomen Geschlechterordnung („Remaskulinisierung“) in der Nachkriegszeit vgl. Poiger, Remaskulinisierung 2001, insbesondere S. 227–231. Zum Ausschluss von Unternehmerinnen, zu ihrer geringen öffentlichen Sichtbarkeit und zu ihren eigenen Netzwerken vgl. Eifert, Teilhabe und Ausgrenzung 2012. Hinzu kommt, dass die Konzepte von Leistung und Expertise in den männlich dominierten Clubs hochgradig vergeschlechtlicht waren. 151 Zum Elitebegriff in der Unternehmerschaft der Bundesrepublik vgl. Reitmayer, Elite 2009. 152 Stefan Unger hat mit Blick auf das rheinisch-westfälische Wirtschaftsbürgertum zwischen 1930 und 1970 festgestellt, wie stark hier bis in die ersten beiden Nachkriegsjahrzehnte hinein Vorstellungen von Unternehmerpersönlichkeiten gepflegt und gegenüber anderen inner- und

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Möglichkeiten zur Selbstinszenierung boten, wurden Entscheidungsfreude, selbstbewusstes Auftreten, Eloquenz und Sicherheit in den Umgangsformen als wichtige Erfolgshinweise gedeutet. Hier zeigte sich ein spezifisch bürgerlicher Habitus, der Umgangsformen ebenso betraf wie Stilfragen in Bezug auf Kleidung, Architektur und Kunst.153 Besonders offensichtlich wurde dies bei Festakten und Jubiläen. Hier wurde auch deutlich, dass Frauen nur in ihrer Rolle als Ehegattinnen existierten.154 Sie waren zwar bei den Festessen gelegentlich gern gesehen, doch liegt die Vermutung nahe, dass ihre Präsenz bei diesen Anlässen vor allem dazu diente, die Ehe in ihrer öffentlichen Inszenierung als Ausweis der eigenen männlichen Respektabilität und des eigenen männlichen Verantwortungsbewusstseins zu nutzen. Die Präsentation der (Ehe-)Frau war damit Teil der Darbietung von Tugenden, die als „männlich“ angesehen wurden. So sind beispielsweise vom „Ostasiatischen Liebesmahl“155, das seit 1901 jedes Jahr an repräsentativen Orten der Stadt Hamburg begangen wurde und das zu einer der zentralen Festveranstaltungen der am Außenhandel beteiligten Unternehmerschaft Deutschlands zählte, zwar zahlreiche Fotografien von Ehepaaren in Abendgarderobe überliefert. Dennoch handelte es sich – in geradezu typischer Weise – um einen „Herrenabend“ mit paralleler Frauenverköstigung.156 außerbetrieblichen Gruppen vertreten wurden, die im Kern nicht auf Leistung, sondern auf Persönlichkeit basierten. Die im Grunde einheitlichen Strategien, die spezifischen Redeweisen und Argumente hätten eine recht standardisierte Selbstdarstellung ergeben, die aus dem gefestigten Charakter eine quasi natürliche Führungsrolle ableiteten. Insbesondere seien dabei klassische bürgerliche Normen – insbesondere Arbeitsethos und Fleiß – reproduziert worden. Im Kern des Wirtschaftsgeschehens habe nicht der Unternehmensleiter, sondern eine „sittlich fundierte Persönlichkeit“ gestanden. Nur aufgrund dieser Persönlichkeit habe der Unternehmer seine Leistungen vollbringen können. Vgl. Unger, Wirtschaftselite als Persönlichkeit 2003, Zitat S. 305. Stefan Unger hat seine Aussagen anhand von Unternehmerportraits in Werkszeitungen gewonnen. Dass hier der Adressat gerade nicht die eigene peer group war, sondern die Arbeitnehmer im eigenen Betrieb, erklärt möglicherweise die im Vergleich zum eigenen Quellenmaterial auf einen recht frühen Zeitpunkt festgesetzte Verschiebung der Semantiken und Rhetoriken. Die Hochschätzung der „Persönlichkeit“ ist zumindest in den von mir untersuchten Clubs und Vereinen noch über die 1960er Jahre hinaus festzustellen, während Unger bereits Mitte der 1960er Jahre eine Verschiebung hin zum Leistungsargument und zur Betonung eigener ökonomischer Erfolge feststellt. 153 Dass sich die Inneneinrichtung der Clubs typischerweise am Status der finanziell stärksten Kreise dieser Clubs orientierte, darauf hat Volker Ackermann am Beispiel des Industrie-Clubs Düsseldorf vor dem Ersten Weltkrieg verwiesen. Auch noch nach 1945 orientierten sich die Clubs am großbürgerlichen Lebensstil. Vgl. Ackermann, Treffpunkt der Eliten 2006, S. 73–77. Zur bürgerlichen Wohnkultur vgl. von Saldern, Bürgerliche Repräsentationskultur 2007. 154 Thomas Kühne hat darauf verwiesen, dass es sehr aufschlussreich sein kann, sich als Forscher_in weniger mit dem konkreten Ausschluss von Frauen als mit ihrer Repräsentation innerhalb dieser Institutionen zu befassen. Vgl. Kühne, Männergeschichte als Geschlechtergeschichte 1996, S. 11. Zum Heiratsverhalten von Wirtschaftsbürgern gibt es für die Zeit nach 1945 keine umfassenden quantitativen Erhebungen. Für die Zeit vor 1918 ist eine „rigorose Abschließung gegenüber klein- und unterbürgerlichen Schichten“ und eine schwache Verbindung mit dem Adel festgehalten worden. Vgl. Ziegler, wirtschaftliche Großbürgertum 2000, S. 118, Zitat ebd. 155 Veranstalter war zwar der OAV, jedoch war dieser aufs Engste mit dem Übersee-Club verbunden. 156 Vgl. den Bildbestand in Staatsarchiv Hamburg 613–4/15 70.

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Auf diese Funktion verweist bereits der Begriff des Liebesmahls, der aus der preußischen Militärtradition stammte und ursprünglich die gemeinsamen Mahlzeiten des Offizierskorps zu feierlichen Anlässen bezeichnete, zu denen als Festredner meist Minister oder deutsche Botschafter geladen wurden. Vor diesem Hintergrund verwundert es kaum, dass auch die Clubräume und Konferenzzimmer des ÜberseeClubs wie selbstverständlich eine Männerdomäne waren. So gewährte man(n) den „Damen“ noch Mitte der 1970er Jahre nur in Begleitung der ausschließlich männlichen Clubmitglieder Einlass.157 Will man sich der spezifischen Atmosphäre der elitären Clubs nähern, so sind die Vergleichshorizonte der Zeitgenossen aufschlussreich. In den Quellen wird schnell offensichtlich, dass sich die deutschen Unternehmer im Kontext der Clubs und Vereine vor allem in An- und Ablehnung an englische und amerikanische Clubs beschrieben.158 Ein guter Kenner der bundesrepublikanischen Eliteinstitutionen hielt beispielweise nach seiner Amerikareise im Jahre 1959 bewundernd und erstaunt fest, dass dort anders als in Deutschland „Ungezwungenheit Trumpf“ sei. Nicht einmal im vornehmsten Klub Washingtons komme „irgendwelche Vorstellerei in Frage: Wenn ein Mitglied einen anderen mitgebracht hat, dann ist das o. k., darüber braucht man nicht mehr zu reden. Dann essen Sie nicht etwa, was die anderen bestellen, sondern was Sie wollen, und wenn Sie mitten im Essen sagen: Ich habe noch eine Verabredung, dann sagen die andern o. k., und Sie sagen bye-bye und gehen hinaus, und alles ist in schönster Ordnung. Wenn ich mir die Gequältheit manchmal bei uns vorstelle, dieses Anbinden an die Tischordnung, dann muß ich doch sagen, daß es dort sehr viel angenehmer ist.“159

So sehr hier eine negative Bewertung der „deutschen“ Clubs mitschwang, so darf man doch nicht vergessen, dass in Fragen von bürgerlichem Anstand, Sitte und Moral US-amerikanische Eliten keinesfalls das allgemein geteilte Vorbild abgaben. Die 1954 mit Bezug auf den Düsseldorfer Industrie-Club getroffene Feststellung, man entspräche den „allergrößten Anforderungen, wie beste englische Clubs“ bezog sich daher nicht nur auf die hohe Qualität von „Einrichtung, Küche, Weinkeller und Umgangsgewohnheiten“, sondern auch auf die sittlichen Anforderungen an die eigenen Clubmitglieder.160 Wenn in diesen Institutionen also immer wieder die Rede davon war, dass es sich um Orte des „ungezwungenen Beisammenseins“ handele, dann bezog sich dies eher auf die Gesprächsinhalte als auf die hier herrschen157 Vgl. Der Übersee-Club, Wissenswertes für neue Mitglieder, ca. 1975, o. S., Staatsarchiv Hamburg 131–1 II 5271. Zur Rolle der Frauen im Wirtschaftsbürgertum vgl. Hausen, Wirtschaften mit der Geschlechterordnung 1993; Boehnisch, Gruppenbild ohne Dame 2003; dies., Gattinnen 1999. 158 Großbritannien und die USA waren bereits in der ersten Welle der Globalisierung die zentralen Reiseziele für deutsche Geschäftsleute gewesen, die versuchten, hier technische Erfahrungen zu sammeln und dortige Geschäftspraktiken zu erlernen. Vgl. zu England: Berghoff, Englische Unternehmer 1991, S. 119. Zu Auslandsreisen von Unternehmern in die USA vgl. Kleinschmidt, Lernprozesse 2009. Hierzu von Interesse ist auch der Archivbestand der CDG im RWWA. 159 Vortrag Prof. Dr. Fritz Burgbacher (MdB) über seine USA-Reise am 14.12.1959 vor dem Bund Katholischer Unternehmer, o. S., RWWA 128-12-1. 160 Zitiert bei Ackermann, Treffpunkt der Eliten 2006, S. 71.

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den Verhaltensnormen.161 Während die Clubmitglieder den Gedankenaustausch fernab von öffentlicher Beobachtung führen konnten, waren die Anforderungen an Kleidung, Tischsitten, Auftreten und Kommunikationsstil dessen ungeachtet hoch. Und diese Normen waren eben noch deutlich durch jene Vorstellungen geprägt, die bereits in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg – der sogenannten „Renaissancezeit des Elitevereins“162 – als vorbildlich gegolten hatten, wenngleich sie sich stark am britischen Vorbild dieser Zeit orientierten. Wenn diese Clubs zentrale Orte der Wissenszirkulation über „Übersee“ waren, dann wurden Vorträge und Diskussionen offensichtlich in einer spezifischen Atmosphäre abgehalten. Unbeobachtet von einer breiteren Öffentlichkeit ließ sich hier offen über die Probleme und Chancen in „Übersee“ debattieren. Der Begriff der Debatte ist jedoch an dieser Stelle nicht ganz passend. Denn Kontroversen lassen sich im Quellenmaterial kaum finden. Vielmehr lässt sich im „Übersee-Club“ ein Abstimmungs- und Selbstvergewisserungsprozess in vertraulicher Atmosphäre beobachten.163 Nur wer sich an die Konventionen und die ungeschriebenen Regeln vor Ort hielt, hatte Zutritt zu diesen informellen Zirkeln der Selbstvergewisserung. Der an diesen Orten gepflegte Habitus strukturierte dabei die Netzwerke vor, bestimmte nicht selten, wer an den Informationsflüssen beteiligt war und an welcher Stelle. Er diente nicht nur der Distinktion und Selbstaufwertung, sondern auch als Zutritts- und Ausschlusskriterium und hatte damit eine strukturkonservierende Wirkung. Es ist kein Wunder, dass derartige Institutionen in der Verunsicherung der Nachkriegsjahre im Zentrum der Netzwerke standen. Sie versprachen Halt, Tradition und zukünftige kollektive Handlungsfähigkeit. Sie verstärkten aber auch die regionale Ausrichtung der Institutionen und Netzwerke.164 Die Hamburger Institutionen sind zugleich deswegen von übergeordneter Bedeutung, weil sie der ausgeprägte Willen einte, für die gesamten Außenhandelskreise zu sprechen. Der Geschäftsführer der Arbeitsgemeinschaft der deutschen Exporteurvereine, Rudolf Stephan, leitete 1952 die hohe Bedeutung der „Überseehäuser“ zunächst aus deren Kenntnis der „fremdartigen Gepflogenheiten“ und „andersartigen Mentalität“ ab. Ihre Tätigkeit als Wissensgeneratoren im Sinne einer umfassenden Marktforschung mache sie zu unverzichtbaren Beratern der heimischen Industrie.165 Ihr Wissensvorsprung im „Überseehandel“ machte auch die wissenschaftlichen Ins161 Hier dominierte weniger eine auf Kontroversen angelegte und auf das „bessere Argument“ ausgerichtete Debattenkultur als eine gepflegte und gediegene Unterhaltungs- und Vortragskultur. Zu Diskussionstechniken und Diskussionspraktiken in der Nachkriegszeit vgl. Verheyen, Diskussionslust 2010. 162 Roth, Verein und bürgerliche Gesellschaft 2009, S. 132. 163 Zwar gibt es keine Quellen über die vertraulichen Gespräche am Kamin, doch sind die nach den regelmäßigen Vorträgen stattfindenden Diskussionen protokolliert worden. Die obengenannte Einschätzung bezieht sich auf diese. 164 Das überlieferte Quellenmaterial der genannten Institutionen bietet kaum Belege für ein Interesse dieser Institutionen am intensiven internationalen Wissensaustausch. In deren Jahresberichten zeigt sich deutlich, dass derartige Kontakte die Ausnahme waren. Zudem waren auch die internationalen Unternehmerzusammenschlüsse –etwa die Internationale Handelskammer – in dieser Phase hierfür noch unbedeutend. 165 Vgl. Stephan, Exporteur 1952, S. XVII, Zitate ebd.

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titutionen zu zentralen Vermittlern zwischen Außenhandel, Industrie und Politik. Das zeigt sich etwa daran, dass die neu geschaffenen Bundesministerien bei Personalfragen, die das Ausland betrafen, zuerst auf die dort versammelte Expertise und die dort herrschende persönliche Kenntnis der einschlägigen Kandidaten zurückgriffen. Dies zeigt aber auch ein Blick darauf, wer im ersten Nachkriegsjahrzehnt von Forschungsaufträgen der Bundes- und Landesministerien profitierte: das HWWA in Hamburg und das Institut für Weltwirtschaft in Kiel. Staatliche Institutionen hatten zudem – waren sie mit dem „Überseehandel“ beschäftigt – fast zwangsläufig Hamburg als Sitz oder zumindest als Zweigstelle in Betracht zu ziehen.166 Sowohl die Hansestädte als auch der Bund konnten daraus auf mehreren Ebenen Gewinn schlagen. Denn unter Berufung auf die internationale Handelstradition und unter Ausblendung der jüngeren NS-Vergangenheit boten sich die hanseatischen Kaufleute als Mittler in die internationale „Völkerfamilie“ an. Bislang lag der Fokus auf den Institutionen des „Überseewissens“ in Hamburg und der Frage, warum die Institutionen der Hansestadt im Nachkriegsdeutschland so schnell wieder zu den bedeutendsten Wissensgeneratoren und -vermittlern werden konnten. Zu Beginn des Unterkapitels ist aber bewusst nicht nur von Institutionen des „Überseewissens“ in Hamburg, sondern von einem „norddeutschen“ Wissenscluster die Rede gewesen. Zentrales Argument der bisherigen Erläuterungen war zwar die überregionale Bedeutung Hamburger Institutionen. Dies darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich deren Wirkung anfänglich vor allem im geografischen Nahraum entfaltete. Insbesondere die Vernetzungen mit ähnlichen Institutionen in der Hansestadt Bremen und mit dem Kieler Institut für Weltwirtschaft waren besonders eng. Wenn auch Kiel selbst, trotz des Nord-Ostsee-Kanals und der dortigen Werften, als Wirtschafts- oder Handelsstandort keine entscheidende Rolle im Außenhandel nach 1945 spielte167, kam doch dem hier beheimateten, 1914 gegründeten Institut für Weltwirtschaft eine wichtige Funktion zu.168 Ins166 So war in der Hansestadt etwa die Hermes Kreditversicherungs-AG, die eine wichtige Mittlerposition zwischen Außenhandelspolitik, Bankwirtschaft und Überseewirtschaft einnahm, ansässig. Aus dieser Mittlerposition folgte die Teilung der Niederlassung: In Hamburg befand sich die Hermes Kreditversicherungs-AG, während sich die Deutsche Revisions- und Treuhand AG in Frankfurt am Main niedergelassen hatte. Zugleich unterhielt letztere aber auch eine Zweigstelle in Hamburg. Vgl. BArch B 308/52. Ähnliches gilt für die BfA, die ihren Hauptsitz in Köln, aber eine Zweigstelle in Hamburg hatte. 167 Ausnahmen im späteren Zeitverlauf sind vor allem die maritimen Rüstungsexporte, die allerdings zentral von staatlichen Vorgaben und Entscheidungen abhingen und folglich deutlich anders funktionierten als der „gewöhnliche“ Außenhandel. Zur Geschichte des Kieler Werft-, Industrie- und Handelsstandortes vgl. Grieser, Wiederaufstieg 1991, S. 421–436. 168 Das heutige Institut für Weltwirtschaft ist 1914 als „Königliches Institut für Seeverkehr und Weltwirtschaft“ gegründet worden, war damals aber bereits der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel angegliedert, ohne jedoch direkt ein Teil von ihr zu sein. Ist es heute fest in der Hand von quantitativ arbeitenden Makroökonomen, so war es lange Zeit wichtiger Kristallisationspunkt der deutschen Historischen Schule der Volkswirtschaftslehre mit ihrem ausgeprägten Interesse an dem Wechselverhältnis von Kultur und Wirtschaft. Zur Geschichte des IfW vgl. Omland, Institut für Weltwirtschaft 2011, S. 158; Petersen, Expertisen 2009; Zottman, Institut für Weltwirtschaft 1964; Harms, Königliche Institut 41918. Zur Bibliothek des IfW und seinen Beständen vgl. o. A., Bibliothek des IfW 1987, S. 16.

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besondere dessen Direktor Prof. Dr. Fritz Baade war von Anfang an um deutschlandweite und internationale Kontakte bemüht und in politischen wie ökonomischen Kreisen als Weltwirtschaftsexperte gefragt. Die Kieler Handelsinteressen erreichten allerdings ein mit Hamburg nicht einmal annähernd vergleichbares Niveau an institutioneller Dichte. Dies lag sicherlich auch daran, dass Kiel als Landeshauptstadt Schleswig-Holsteins zu einem Interessenausgleich mit sehr ländlich geprägten Regionen gezwungen und zudem eher Werft- als Hafenstandort war. Betrachtet man den „norddeutschen“ Wissenscluster, so muss sich der Blick neben Hamburg daher vor allem auf die Hansestadt Bremen richten. Dies wird nun in zwei Schritten geschehen. Zunächst soll die strukturelle Ähnlichkeit der beiden Hansestädte aufgezeigt werden, um danach die entscheidenden Unterschiede zu beleuchten. Ziel ist es zu ermessen, warum die mit der „Überseewirtschaft“ befassten Institutionen der Hansestadt Bremen in der Bundesrepublik deutlich an Einfluss und an überregionaler Sichtbarkeit verloren, während die Hamburger Institutionen diese in den 1950er Jahren steigern konnten. Auffällig sind zunächst die Gemeinsamkeiten. Dies betrifft, trotz der Städteund Hafenkonkurrenz, die Selbstbeschreibungen als „Hanseaten“. Auch wenn es Vorstellungen von städtischen Besonderheiten gab – gegenüber Besuchern aus dem „Süden“ verwiesen die Außenhandelskreise beider Hansestädte immer wieder auf die gemeinsamen spezifischen Traditionen des Hanseatentums und die Prägung der Stadtgesellschaft durch die Überseekaufleute.169 In beiden Städten kursierten so auch Erzählungen von einer sehr ähnlichen Geschichte an Herausforderungen und Verdiensten.170 Verweise auf die lange Handelsgeschichte und die diesbezüglichen Verdienste für das „gesamte deutsche Volk“ waren dabei allgegenwärtig.171 Zudem sind auch auf der Strukturebene Ähnlichkeiten feststellbar: Die Fernkaufleute und Reeder hatten, anders als die wenigen und relativ spät seit den 1880er Jahren hinzukommenden Industriellen, ein beträchtliches Gewicht in der Stadt, nicht nur in 169 Zu Alltagsleben und Arbeiten von Überseekaufleuten und deren Familien, insbesondere mit Fokus auf die Geschlechterbeziehungen vgl. Hoffmann, Auswandern 2009. 170 Zur Frühgeschichte des „Überseegeschäfts“ vgl. Schwebel, Bremer Kaufleute 1995. Hier auch Angaben zu regionalen Handelsschwerpunkten und zum damaligen „Warenkorb“ des Im- und Exporthandels. 171 So verwies man beispielsweise immer wieder darauf, dass die binationalen Auslandshandelskammern um 1900 nicht selten auf die Geschäftskontakte einzelner Hamburger und Bremer Firmen zurückzuführen waren. Zudem war Bremen wie Hamburg schon frühzeitig im Handel mit sogenannten Kolonialwaren wichtiger Anlaufhafen und zugleich Sitz zahlreicher Handelshäuser mit überregionaler Bedeutung. Bremens Bedeutung gründete sich vor allem auf dessen Bedeutung im Nordamerikahandel. Dieser war im gesamten 19. Jahrhundert, aber auch noch im 20. Jahrhundert „das Rückgrat der bremischen Wirtschaft“. Sie lag begründet im Engagement Bremer Kaufleute im Tabak-, Baumwoll- und Kaffeehandel. Dieses hatte auch zu zahlreichen Niederlassungen an der Ostküste der USA geführt. Zudem wurde Bremen wichtiger Auswandererhafen und damit auch ein zentraler Standort für die Linienreedereien. Insgesamt hatte sich zur Mitte des 19. Jahrhunderts eine Spezialisierung der vorher sehr breit aufgestellten Bremer Handelshäuser und Reedereien ergeben. Bremen war aber vor allem bedeutender Import-, nicht Exporthafen. Der Anteil an der Gesamteinfuhr Deutschlands von Tabak und Baumwolle betrug zur Jahrhundertmitte etwa zwei Drittel. Vgl. Buse, Urban and National Identity 1993, S. 525 und Ruppenthal, Kolonialismus 2007, S. 68.

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den ökonomischen, sondern auch in den politischen Gremien.172 Auch als Bankenplatz war die Stadt in den „Überseehandel“ eingebunden.173 Ebenso wie in Hamburg lagen die wichtigsten Institutionen und Akteure in der Stadt zentral beieinander, wenn auch die Entfernung zum 60 Kilometer entfernt liegenden Bremer Hafen eine räumliche Trennung bedeutete.174 Beide Städte wiesen als „Handelsstadt mit Überseebeziehungen“ zahlreiche Merkmale einer „imperial city“ auf.175 Nicht wenige Lebensläufe waren durch den Kolonialismus geprägt und auch in Bremen fanden sich Vereine, Museen und Bibliotheken mit einem „Überseeschwerpunkt“.176 Unter anderem waren Bremer Kaufleute Mitbegründer und die Stadt – wenn auch eher nachrangiger – Sitz der drei vor dem Zweiten Weltkrieg existierenden Ländervereine gewesen, was sich auch an den Vereinsnamenszusätzen ablesen ließ.177 Damit waren sowohl Hamburg als auch Bremen „regionale Kolonialmetropolen“, die im Deutschen Kaiserreich im Bereich des Handels viel enger mit „überseeischen Regionen“ verflochten waren als etwa die Kolonialmetropole Berlin.178 Auch in der jüngeren Geschichte fallen die Gemeinsamkeiten zu Hamburg auf. So hatten sich die „Überseehandelsfirmen“ hier wie dort im Zweiten Weltkrieg auf neue Handelswege umstellen müssen.179 Und auch nach 1945 gab es zahlreiche Ähnlichkeiten in den Identitätskonstruktionen und Herausforderungen.180 Bremen hatte durch den Status als eigenes Bundes172 Mit Verweis auf Herms, Anfänge 1952, S. 143: Buse, Urban and National Identity 1993, S. 521–523. 173 So hatte sich etwa die Ibero-Amerika Bank A. G. etwa für Bremen als Sitz entschieden, wo auch ihre Vorläuferin (Antioquia-Bank) beheimatet gewesen war. In Hamburg residierten demgegenüber die Deutsch-Asiatische Bank, die Deutsch-Südamerikanische Bank und die Deutsche Überseeische Bank. Eine historische Aufarbeitung der Geschichte dieser „Überseebanken“ steht bislang noch aus. 174 Bremerhaven war als „Ableger“ an der Wesermündung nötig geworden, weil die immer größer werdenden Schiffe Bremen bei Niedrigwasser nicht mehr erreichen konnten. Vgl. Buse, Urban and National Identity 1993, S. 525. 175 Zum Konzept der „imperial city“ vgl. Ruppenthal, Kolonialismus 2007, S. 63. 176 Vgl. ebd., S. 68, hier auch der verwendete Begriff. Die ethnografischen Sammlungsreisen des ersten Direktors des heutigen Übersee-Museums – vormals Museum für Natur-, Völker- und Handelskunde – in Bremen, Hugo Hermann Schauinsland, nach „Ostasien“ sind aufbereitet in: Übersee-Museum Bremen, Unterwegs 1999. 177 Ein nicht ganz ungewöhnlicher Vorgang, da auch andere Vereine diesen Weg gingen – etwa die Deutsche Bolivar-Gesellschaft Hamburg-Bremen – und wichtige Hamburger Vereine und Institute zudem bestrebt waren, in Bremen zumindest eine kleine Zweigstelle zu unterhalten. Dies entsprach durchaus dem Gebaren der Handelsfirmen, weil Bremer Handelsfirmen nicht selten Außenstellen in Hamburg besaßen und umgekehrt. 178 Vgl. Ruppenthal, Kolonialismus 2007, S. 67 und 70. 179 Die Bremer „Überseehandelsfirmen“ schalteten sich während des Zweiten Weltkrieges stärker in den Handel mit „Skandinavien“, den „Balkanländern“, Spanien, Portugal, Italien, Griechenland, der Türkei sowie dem innerdeutschen Großhandel ein. Sie waren aber auch an der Ausplünderung der neuen deutschen Ostgebiete beteiligt. Vgl. Pfer, Handelszentrum 1986, S. 347– 367; Prüser/Contag, Verein Bremer Exporteure [ca. 1959–1961], S. 29. 180 Auch in Bremen bekräftigte man nach 1945 weiterhin die Einheit der Hansestädte. Ähnlich wie in Hamburg spielte die Betonung der internationalen Geschichte der Stadt bei der Wiederherstellung alter Rechtsvorteile eine wichtige Rolle. Zudem konnte man sich so auch als eigentli-

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land181 und Hansestadt die gleichen Vorteile bei der Vernetzung von Außenhandelsinteressen mit der ansässigen Handelskammer und dem Senat. Und auch die Kontakte des Vereins Bremer Exporteure182 mit der Handelskammer waren ähnlich stabil.183 So gesehen hatte Bremen als traditionsreiche Hafenstadt, als Mitbegründerin der Ländervereine sowie als Stadtstaat und Hansestadt mit Hamburg vergleichbare Ausgangsbedingungen dafür, auch nach 1945 wichtiger Ort des „Überseewissens“ zu sein. An fehlender Tradition als Ressource zur Durchsetzung aktueller und zukünftiger Ansprüche fehlte es jedenfalls nicht. Allerdings ist die abnehmende Bedeutung Bremens nach 1945 in den gemeinsamen Institutionen offensichtlich. Dies spiegelt sich etwa deutlich in der Ende der 1950er Jahre zu vernehmenden Diskussion wider, den jeweiligen Zusatz „Hamburg-Bremen e. V.“ im Namen der Ländervereine zu streichen. Dieser Schritt wurde zwar vordergründig damit begründet, dass man auf diese Weise Konkurrenzgründungen im „Süden“ der Republik prophylaktisch entgegentreten und den überregionalen Anspruch auch im Vereinsnamen deutlich kenntlich machen wolle. Dennoch korrespondierte er mit der Bedeutungsverschiebung zwischen Bremer und Hamburger Kaufleuten, die nun keine gleichberechtigten Partner mehr waren.184 Auch als die Ländervereine in den 1950er Jahren Stiftungen gründeten, die „auf allen Gebieten der Kultur, insbesondere der Kunst und Wissenschaft“ die Beziehungen zwischen den Ländern des bearbeiteten Wirtschaftsraums und Deutschlands vertiefen sollten,185 war der Sitz dieser Stiftungen Hamburg und nicht Bremen. Selbst deren Vorstände setzten sich aus Mitgliedern des jeweiligen Ländervereins und einigen Wissenschaftlern zusammen, die meist aus den betreffenden Forschungsinstituten der Universität Hamburg rekrutiert wurden.186

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chen Urkern des demokratischen Deutschlands präsentieren. Bernd Ulrich hat gezeigt, wie die Berufung auf „liberal-demokratische Kontinuität“ dazu geführt hat, einen „liberalen Sonderweg“ der Stadt während der NS-Zeit zu postulieren. Sie sei – ein zeitgenössisches Zitat aufgreifend – „in ihrer selbstbewußten Eigenart weit mehr Gegenspieler als Partner des Nationalsozialismus“ gewesen. So im November 1950 der Historiker Heinrich Heffter. Diese Sicht auf die eigene Geschichte galt aber ebenso für die Bremer Außenhandelskreise. Vgl. Ulrich, Bremer Spätbürger 2005, S. 245. Zur Mischung aus lokalen, nationalen und durch die Handelsbeziehungen nach Großbritannien und Nordamerika internationalen Einstellungen vgl. Weichlein, Spannungsfeld 1999, S. 249. Zu Heffter vgl. Bajohr, Hamburg 1998, das Zitat auf S. 334. Im Januar 1947 gewann Bremen seinen 1934 im Zuge der „Gleichschaltung der Länder mit dem Reich“ verlorenen Status als Stadtstaat unter Einbeziehung Bremerhavens wieder. Dabei konnte man nicht nur auf Unterstützung der amerikanischen Alliierten, sondern auch auf eine breite Übereinkunft zwischen Handelskammer und politischen Gremien der Stadt bauen. Insbesondere die „Stellung der Stadt für den Seehandel“ war so zum Argument für die Errichtung eines Stadtstaates geworden. Vgl. Ulrich, Bremer Spätbürger 2005, S. 239–241. Zu dessen Geschichte vgl. Prüser/Contag, Verein Bremer Exporteure Bremen [ca. 1959–1961]. Wilhelm Contag (*1890) war Geschäftsführer der Außenhandelsabteilung der HK Bremen und des Vereins Bremer Exporteure. Sichtbar u. a. daran, dass zum Geschäftsführer des Vereins jeweils ein Syndikus der Handelskammer Bremen bestellt wurde. Vgl. ebd., S. 15. Vgl. Staatsarchiv Hamburg 371–16 II 295. So der Wortlaut zum Stiftungszweck in der Satzung der Ibero-Amerika-Stiftung in der Fassung von 1961, § 2, Abs. 1, siehe Satzung in: Staatsarchiv Hamburg 363–6 1761. Vgl. Staatsarchiv Hamburg 363–6 1761.

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Dieser Bedeutungsverlust der Bremer Außenhandelskreise hatte mehrere Ursachen. Zum einen war die Stadt an der Weser in „Überseefragen“ auch zuvor bereits nur eine „verkleinerte Ausgabe der ‚großen Schwester‘ an der Elbe“ gewesen.187 Beispielsweise waren die in die deutsche Kolonialwirtschaft investierten Summen im Vergleich zu jenen der Hamburger Kaufleute eher gering und die Kolonialskepsis deutlich verbreiteter gewesen: Der Hauptsitz des ersten Ländervereins, des OAV, lag nicht ohne Grund im Gebäude der HAPAG am Ballindamm in Hamburg.188 Zum anderen waren auch Gründe aus der Zeit nach 1945 ausschlaggebend. Dass die bis dahin immer noch vergleichbaren Ausgangsbedingungen nicht genutzt werden konnten, lag vor allem an der Veränderung der Außenhandelsstruktur, die in Bremen nicht mit der Spezialisierung der ortsansässigen Handelshäuser korrespondierte, der Veränderung der Außenhandelsschifffahrt, die den Bremer Hafen in seiner Bedeutung beschnitt und der Schwäche der hier ansässigen wissenschaftlichen Institutionen.189 Insbesondere der letzte Punkt soll hier hervorgehoben werden. Blickt man genauer auf die Vernetzung der Bremer Institutionen mit der Wissenschaftslandschaft, dann zeigt sich ein zentraler Nachteil gegenüber Hamburger Institutionen. War diese in Hamburg bereits seit dem frühen 20. Jahrhundert eingespielt und hatte sie sich dort auch während der Weltkriege aufrechterhalten, so wurde in Bremen erst 1971 eine Universität gegründet.190 Als sich nach 1945 die universitäre Auslandswissenschaft in außeruniversitäre Institute verlagerte, stärkte dies die Institutionen in der Hansestadt Hamburg und nicht die Position Bremens. Und auch die aus Berlin abwandernden Erfahrungen und Kompetenzen bündelten sich eher in Hamburg als an der Weser. Zusammengenommen resultierte daraus ein nicht zu unterschätzender Bedeutungsverlust der Bremer Institutionen. Dies darf aber nicht darüber hinweg täuschen, dass Vorstandsmitglieder der Ländervereine auch nach dem Zweiten Weltkrieg immer noch auch aus Bremen kamen, dass deren Jahresveranstaltungen wahlweise in Hamburg oder Bremen abgehalten wurden, dass Ausschusssitzungen auch in Bremen stattfanden und die Vereine gleichfalls vom Bremer Senat finanziert worden sind.191 Darüber hinaus gab es in Bremen auch nach dem Zweiten Weltkrieg noch zahlreiche für eine Wahrnehmungs- und Wissensgeschichte des Außenhandels wichtige Institutionen. Die lange „Überseehandelstradition“ wirkte sich dabei insofern positiv aus, als das bestehende institutionelle Netz Neugründungen zunächst wahrscheinlicher machte als außerhalb der Hansestädte. Für die hier interessierende Globalisierungsphase sind 187 Ruppenthal, Kolonialismus 2007, S. 67. 188 Vgl. ebd., S. 67 f. Der OAV trug anfänglich keine Ortsbezeichnung, erst nach dem Beitritt zahlreicher Bremer Unternehmen wurde ab 1923 – offiziell ab 1927 – der Zusatz HamburgBremen verwendet. Vgl. Eberstein, OAV 2000, S. 192. Neben dem Hamburger OAV gab es seit 1901 aber auch den Ostasiatischen Verein Bremen. Vgl. ebd. 189 Eine sehr kenntnisreiche zeitgenössische Schilderung des Bremer Überseehandels von 1815– 1933 bietet: Beutin, Bremen und Amerika 1953. Hier finden sich auch zahlreiche Angaben zur Warenstruktur der Bremer Außenhändler. 190 Zur Bremer Universität und ihrer Vorgeschichte vgl. Gräfing, Bildungspolitik in Bremen 2012. 191 Dass Bremen zu dem unter amerikanischer Militärverwaltung stehenden „süddeutschen“ Besatzungsgebiet gehörte, während Hamburg zur britischen Besatzungszone zählte, hatte dabei anscheinend keine großen Auswirkungen auf die Kommunikationsnetze.

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das insbesondere der Bremer Ausschuss für Wirtschaftsforschung, die Arbeitsgemeinschaft der Deutschen Exportvereine,192 die Studiengesellschaft für privatrechtliche Auslandsinteressen193 und die Heimatauskunftsstelle Übersee194. Trotz der Verschiebungen im „norddeutschen“ Machtgefüge darf also nicht vergessen werden, dass Bremen für den „Überseehandel“ immer noch von Bedeutung war. Den Vergleich mit anderen deutschen Städten brauchte man vorerst nicht zu scheuen, was jedoch vor allem am Bedeutungsverlust der ehemaligen kolonialen Institute in Berlin lag – die Westberliner Institutionen jedenfalls konnten die Bedeutung Bremens fortan nie erreichen. So sehr man also eine interne Verschiebung in „Norddeutschland“ nach 1945 festhalten muss, so wichtig ist zu betonen, dass die Kommunikationsflüsse nun – dem allgemeinen Trend folgend – eher noch intensiviert wurden.195 Zwischen den hier ansässigen „Weltarenen“196 – also den mit bi- oder internationalen Fragen beschäftigten Institutionen – spielte sich in den 1950er Jahren auch sehr schnell eine stabile Aufgabenverteilung ein, in der auch Bremer Institutionen und Einzelpersonen ihren Einfluss geltend machen konnten.197 Aufgrund des vorangegangenen Vergleichs kann nun eine Antwort auf die Frage nach den entscheidenden Erfolgsfaktoren der Institutionen des „Überseewissens“ in Hamburg gegeben werden. Es hat sich gezeigt, dass der Wiederaufstieg der Hansestadt Hamburg als Zentrum des deutschen Außenhandels und als Ort des „Überseewissens“ nicht alleinige Auswirkung veränderter alliierter Politik (Zulassung von Schifffahrt und Schiffbau198) oder des Willens zur Kompensation der verlorenen „lokalen Ostgebiete“ und zur Wiederherstellung des Status als Stadtstaat 192 Schon frühzeitig hat die Arbeitsgemeinschaft der Deutschen Exportvereine über die Herausgabe von Prospekten, durch Werbeaktionen und durch Vortragsreihen gezielt versucht, die bundesdeutsche Industrie von den Vorteilen einer engeren Zusammenarbeit mit dem Exporthandel zu überzeugen. Dabei ging es immer auch darum, die große hanseatische Expertise beim Umgang mit Exportrisiken zu verdeutlichen. Vgl. Wilitzki, Entwicklungstendenzen 1967, S. 349. 193 Diese kümmerte sich vor allem um die Rückgabe der Vorkriegsvermögen im Ausland und wurde immer dann aktiv, wenn bilaterale Wirtschaftsverhandlungen anstanden. Vgl. BArch N 1146/34. 194 Vgl. zur Heimatauskunftstelle Übersee für die gesamten außereuropäischen und Übersee-Gebiete: BArch ZLA 7–34. 195 Bremen gehört somit eindeutig weiterhin zum regionalen Cluster des „norddeutschen Überseewissens“ dazu. Man sollte somit die Konkurrenzsituation zwischen Bremen und Hamburg nicht übertreiben. Die kleineren innerhanseatischen Streitigkeiten und das bei dieser Institutionenfülle kaum ausbleibende Kompetenzgerangel konnten durch die vielfach bestehende Personalunion meist schnell beigelegt werden. 196 Johannes Paulmann spricht von „Weltakteuren“ und „Weltarenen“, die das Lokale und das Globale miteinander verbinden. Als Weltarenen sind dabei jene Institutionen zu verstehen, an denen „Weltwissen“ zirkuliert oder bewahrt wird. Vgl. Paulmann, Regionen und Welten 2013. 197 Beispielsweise verbanden sich in der Person des Bremer Senators Weinhold Fachkenntnis, überregionale Bedeutung und Vernetzungswille. Er war u. a. auch Leiter der Außenwirtschaftsabteilung des DIHT und bereits vor dessen Gründung wichtiges Mitglied der Außenhandelsausschüsse gewesen. 198 Anfang Juli 1949 wurden die Beschränkungen der deutschen Seeschifffahrt (ursprünglich JEIA-Anweisung Nr. 17) aufgehoben. Zur Reaktion auf die ursprünglichen Beschränkungen siehe Staatsarchiv Bremen 4,35/1–3490.

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gewesen ist. Wichtiger war, dass alle maßgeblichen Akteure „an einem Strang“ zogen und sich im Übersee-Club sowie in zahlreichen gemischten Ausschüssen koordinierten. Ausschlaggebend war dabei die räumliche Nähe aller Akteure im Umkreis der Hamburger Binnenalster. Hier lagen fußläufig zum Übersee-Club die Verwaltungssitze der großen Reedereien199, die auf Auslandsmärkte spezialisierten Banken, wissenschaftliche Zentren zur Erforschung fremder Kultur- und Wirtschaftsräume – insbesondere das Hamburger Weltwirtschaftsarchiv (HWWA) und die sogenannten Ländervereine – sowie alliierte, stadtstaatliche bzw. private Verwaltungsapparate, wie die Handelskammer oder der Senat für Wirtschaft und Außenhandel. Hier war auch der beliebteste Tagungsort der Stadt – das renommierte Hotel Atlantic200 – beheimatet, später ebenso das Congresszentrum.201 Auch die ethnologischen Sammlungen, über Jahrhunderte unter reger Mithilfe hanseatischer Kaufleute aus aller Welt zusammengetragen, lagen nicht fern.202 Das war ein solides, breit gefächertes und traditionsreiches institutionelles Arrangement. Insbesondere in Hamburgs Stadtmitte konzentrierten sich so nach 1945 Außenhandelserfahrung und der Wille zum baldigen Wiedereinstieg ins „Überseegeschäft“. Selbst anfänglich noch andernorts untergebrachte Institutionen strebten schon bald an diesen auch vormals schon besonders repräsentativen Platz, der den Anliegern die Aura von Relevanz, Erfolg, Tradition und Weltläufigkeit verlieh. Hier gelang es den beteiligten Personen, durch Vertrauen und gegenseitige Abhängigkeit immer wieder sicherzustellen, dass widerstreitende ökonomische, politische oder wissenschaftliche Interessen eine sehr große Chance hatten, zum Ausgleich gebracht zu werden. Von zentraler Bedeutung waren dabei die sogenannten Ländervereine, deren Mitgliedschaften sich stark mit denen der Handelskammer und dem Übersee-Club überschnitten.203 Sie waren geprägt davon, dass sie ein dezidiert anwendungsbezogenes Wissen verfügbar machten.204 Auch stammten zahlreiche auf Clubveranstaltungen Vortragende aus den Ländervereinen oder wurden von diesen als Experten vermittelt.205 Die Vorsitzenden der Ländervereine saßen im Beirat der 199 Die „Übersee“-Schifffahrtslinien nahmen ihren Betrieb 1949/50 wieder auf. U. a.: Deutsche Levante-Linie, Deutsche Orient-Linie, Deutsche Afrika-Linien, Hamburg-Amerika-Linie. Zur Geschichte der einzelnen Reedereien vgl. die fast 50 Bände umfassende Darstellung von Detlefsen, Deutsche Reedereien 1994–2014. 200 Eher anschaulich: Lüth, Atlantic-Hotel 1984. 201 Das Congresszentrum wurde am 14.4.1973 als erstes seiner Art in Deutschland eröffnet. 202 Zu nennen ist das Museum für Völkerkunde in Hamburg als Sammlungsstätte kultureller Artefakte aus „Übersee“. Diese waren im 19. Jahrhundert nicht nur durch Forscher, sondern auch durch ethnologisch interessierte Kaufleute in die Hansestadt gelangt. Vgl. Ruppenthal, Kolonialismus 2007, S. 97. Dies war freilich kein deutscher Sonderfall: Vgl. Zangger, Koloniale Schweiz 2011, S. 375–380. Zur Bedeutung von Völkerkundemuseen für die Wissensproduktion vgl. Laukötter, Völkerkundemuseen 2009. 203 Diese Überschneidungen basierten auf einer bereits engen Zusammenarbeit mit den Kammern und Clubs in Hamburg und Bremen in der Vorkriegszeit. 204 Vgl. Brahm, Wissenschaft und Wirtschaft 2014, S. 132. 205 Der Sammelbegriff „Ländervereine“ soll hier nicht dazu dienen, die unter den Ländervereinen durchaus existierenden Konfliktpotentiale, Hierarchien und nicht zuletzt den Streit um Finanzmittel zu verdecken. Beispielsweise konnte der Ibero-Amerika-Verein immer wieder auf die herausragende Bedeutung der von ihm betreuten Länder für den deutschen Außenhandel ver-

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Handelskammer Hamburg, und der Vertreter der Handelskammer Hamburg in Bonn war zudem seit 1951 zugleich auch als Interessenvertreter der Ländervereine tätig.206 Es ist daher auch kein Zufall, dass die Mitgliederversammlungen der Ländervereine nicht selten im Plenarsaal der Handelskammer abgehalten wurden, wenn die Clubräume des Übersee-Clubs dafür zu klein waren. Die anfänglich drei, dann vier, später fünf Ländervereine und das HWWA prägten den Übersee-Club.207 In ihren Tätigkeitsberichten verwiesen dann alle Institutionen auch immer wieder auf „regen Meinungsaustausch“ mit allen anderen Hamburger Behörden, Kammern und Vereinen.208 Es ist diese enge Einbindung der Institutionen des „Überseewissens“ in das ökonomische und politische Gefüge der Stadt, das für die Bundesrepublik einzigartig war. An dieser Stelle wird auch ersichtlich, wie sehr eine idealtypisch gedachte Trennung in Politiker, Unternehmer und Wissenschaftler den Blick auf die Institutionen des „Überseewissens“ blockieren kann. In Wirklichkeit waren sie nicht selten Partner und ständig miteinander Kommunizierende.209 Die in der Stadtmitte Hamburgs angesiedelte extreme Ansammlung von Wissen, gleichlaufenden sozialen und ökonomischen Interessen sowie ökonomischer Potenz war das Zentrum eines geografisch weitreichenden Netzes. Weil aber die Kommunikationsstränge insbesondere zu Bremer Institutionen des „Überseewissens“ besonders dicht und auch jene zum Institut für Weltwirtschaft in Kiel eng und dauerhaft waren, kann von einem „norddeutschen“ Wissenscluster gesprochen wer-

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weisen, der Ostasiatische Verein auf seine Exklusivität und Tradition. So grenzte sich der Nahund Mittelost-Verein Anfang der 1950er Jahre z. T. auch bewusst von beiden ab bzw. schielte ein wenig neidisch auf deren Möglichkeiten. Zum Beispiel wollte der Geschäftsführer des Nahund Mittelost-Vereins seinen Nah- und Mittelost-Tag dezidiert als Gegenentwurf zum erst kürzlich zuvor gehaltenen „Ibero-Tag“ verstanden wissen. Man wolle „die Leistungen deutscher kultureller und wirtschaftlicher Berührungen mit dem Orient in Geschichte und Gegenwart“ hervorheben und sie nicht wie der Ibero-Amerika-Verein „mit aktuellen Tagesfragen vermeng[en]“. Zugleich befürchtete Hüber, Geschäftsführer des NuMoV, dass man bei den eigenen Veranstaltungen „Teilnehmer haben könnte, die hinterher ihr Verwundern ausdrücken, dass wir nicht so erstklassig seien wie z. B. der Ostasiatische Verein, der gerade sein Liebesmahl im Atlantic feierte. Sollte solche Taktlosigkeit eintreten, so würden wir weder dem Ansehen Hamburgs noch dem unseres Vereins nützen und bei unseren z. T. orientalischen Gästen etwas eigenartig wirken.“ Zitate aus: Geschäftsführung des Nah- und Mittelost-Verein an Senatskanzlei Hamburg, 14.11.1952, o. S., Staatsarchiv Hamburg 131–1 II 4844 und Schreiben von Dr. Reinhard Hüber, Geschäftsführer des Nah- und Mittelost-Vereins, Hamburg an Herrn Regierungsdirektor Dr. Jess, Hamburg vom 14.4.1950, o. S., Staatsarchiv Hamburg 131–1 II 4844. Von 1951 bis 1970 war dies der Syndikus der HK Hamburg, zugleich deren Vertreter in Bonn, Ernst Swoboda. Vgl. Eberstein, OAV 2000, S. 177. In den Übersee-Club ragte das HWWA dabei so stark hinein, dass es an diesem Ort regelmäßig sogenannte „Mittwochsgespräche“ organisierte, in denen Experten nicht zuletzt auch über überseeische Märkte referierten. Diese sind protokolliert und dann einem weiten Kreis deutscher Unternehmer zugestellt worden. Die Protokolle befinden sich in der Bibliothek des HWWA. Vgl. u. a. Jahresbericht des Afrika-Vereins 1949, S. 3, „Archiv“ des Afrika-Vereins der deutschen Wirtschaft, ohne Signatur. Die lokale Zusammenarbeit sowie die Abstimmungen mit den alliierten Besatzungsbehörden sowie dem Auswärtigen Amt sind dargestellt in: Gelder, Märkte der Welt 1982.

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den. Die Institutionen sahen sich in diesem Raum gegenseitig als Experten mit einem Interesse an gemeinsamen Fragestellungen an. Sie korrespondierten regelmäßig miteinander und waren auch als Institutionen in den Beiräten und Vorständen artverwandter Institutionen vertreten. Das in ihnen tätige Personal unterstützte sich gegenseitig beim Wissenserwerb und Wissensaustausch. Demgegenüber gab es vorerst zwar qualitativ wichtige, aber quantitativ eben doch vergleichsweise geringe Kontakte in andere Regionen der Bundesrepublik.210 3.2 Der westdeutsche Wissenscluster Die hier vorgenommene Einteilung in regionale Wissenscluster ist, wie gesehen, nicht nur eine nachträgliche Zuschreibung von Ähnlichkeiten, sondern spiegelt die Wahrnehmung der Zeitgenossen wider. So wurde, immer wenn es um eigene Vorund Nachteile oder um den eigenen Nachholbedarf im Bereich der Information über und des Wissens von „überseeischen“ Märkten ging, von am Außenhandel interessierten Unternehmern in der Rhein-Ruhr-Region wie selbstverständlich der Vergleich zu „Norddeutschlands“ Hafenstädten bemüht. Zwar hatte es auch an Rhein und Ruhr bereits in der ersten Welle der Globalisierung zahlreiche Unternehmen mit weitverzweigten internationalen Kontakten und Lieferbeziehungen, teilweise auch mit Auslandsniederlassungen, gegeben. Dennoch war es in der durch Stahl, Kohle und Verwaltung geprägten Region bis 1945 nicht zu einem nennenswerten Ausbau der überbetrieblichen Beschäftigung mit „überseeischen“ Absatzmärkten gekommen. Darüber hinaus existierte keine nennenswerte Tradition der universitären und außeruniversitären Auslandskunde. Das verwundert einerseits, weil der Anteil der hier ansässigen Unternehmen am Außenhandel traditionell hoch war. Andererseits sagt es viel über die Außenhandelsstruktur der Vorkriegsjahrzehnte aus: Erstens, dass in dieser Wirtschaftsregion eine eher nahräumliche, wenn auch grenzüberschreitende Vernetzung entscheidend war und „überseeische“ Exportmärkte nur eine vergleichsweise geringe Rolle spielten,211 zweitens, dass hier der Import den Export traditionell deutlich überstieg, und drittens, dass die Handelsnetze nach „Übersee“ über die Hansestädte liefen.212 Die ab 1950 fast kontinuierlich zunehmende Bedeutung des „westdeutschen“ Wissensclusters hatte vor allem zwei Ursachen: Erstens die geografische Nähe zu den maßgeblichen Bundesministerien in Bonn und zweitens die wichtige Rolle der Bereiche Kohle und Stahl in der zeitgenössischen Entwicklungslogik. Man sollte 210 Zu den deutschlandweiten persönlichen Netzwerken vgl. ebd., S. 130 f. 211 An diesem grundsätzlichen Befund ändert auch der Verweis auf die nicht zu unterschätzenden deutschen Direktinvestitionen in der ersten Welle der Globalisierung, insbesondere denen in „Lateinamerika“, nichts. Hierzu vgl. Nellißen, Mannesmann-Engagement 1997, insbesondere S. 38–57. Für die Zeit nach 1949 lässt sich die unterschiedliche Außenhandelsstruktur der Bundesländer nach Warengruppen in den Statistischen Jahrbüchern, Abschnitt Außenhandel, nachvollziehen. Marianne Dessauer hat diesbezüglich zu Recht eine Trennung in industriellen Außenhandel und hanseatischen Außenhandel vollzogen. Vgl. Dessauer, Entwicklungstendenzen 1982, S. 173–193. 212 Vgl. Dessauer, Entwicklungstendenzen 1982, S. 198.

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nicht unterschätzen – die Analyse der Goodwill-Missionsberichte hat darauf bereits hingewiesen –, wie stark sich überall in der Welt in den 1950er Jahren der Entwicklungsdiskurs mit den Vorstellungen einer schnellen Schwerindustrialisierung verband. Die Produktions- und Förderziffern in diesen Bereichen galten als wichtigster Ausweis des Industrialisierungs- und Entwicklungsniveaus und hatten auch bei politischen Akteuren eine beträchtliche Überzeugungskraft. Daraus resultierte auch die Hochschätzung und diskursive Bedeutung des Ruhrgebiets in politischen Kreisen.213 Für den „norddeutschen“ Wissenscluster wurde die Deutung nahegelegt, dass Ähnlichkeiten in der Struktur und die Annahme einer gemeinsamen Mentalität die Vernetzungen im Bereich des „Überseewissens“ stabilisiert hätten. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage: Warum werden „Rheinland“ und „Ruhrgebiet“ hier zusammen als Cluster abgehandelt? Viel zu deutlich scheint doch der diesbezügliche Kontrast beider Gebiete zu sein. Hier die Verwaltungssitze von Firmen und öffentlichen Verwaltungen, dort die Grund- und Rohstoffindustrie. Hier – um auch noch die zeitgenössischen Stereotype zu bemühen – die sauberen Geschäftsleute, Juristen und Beamten, dort der Ruß der Industriearbeiterschaft und des Kohlebergbaus. Hier der fröhliche, meist katholische Rheinländer, dort der überwiegend preußisch-evangelisch geprägte Bewohner des Ruhrgebiets. Wenn, wie Rolf Lindner betont, es unmittelbar einleuchtet, dass eine Stadt der regionalen Konzernverwaltungen wie Düsseldorf ein von Industriestädten wie Dortmund leicht unterscheidbares Profil der „Ästhetisierung und Stilisierung der Lebensführung“ herausbildet, dann müsste dies zu einer klaren Trennung der Regionen im Bundesland Nordrhein-Westfalen beigetragen haben.214 Eine derartige Trennscheide wird auch von den zeitgenössischen Bewohnern der Region zwischen ehemaliger Rheinprovinz und Ruhrgebiet angenommen. Sowohl die Wirtschaftsstruktur als auch die Mentalität der einheimischen Bevölkerung schienen den damaligen Beobachtern stark verschieden zu sein. Sie sahen Unterschiede, die auch in den Außenrepräsentationen der Städte gepflegt wurden.215 Weder die zeitgenössischen Vorstellungen lokaler Mentalität noch die religiöse Prägung oder Gemeinsamkeiten in der Art, wie vor Ort Geld verdient wurde, scheinen Anlass dazu zu geben, von einem gemeinsamen Cluster auszugehen. Nichtsdestotrotz fällt bei der Lektüre der Quellen doch sehr schnell auf, dass dieser Gegensatz in Bezug auf die Beschäftigung mit „überseeischen Märkten“ zu relativieren ist. Die Diskrepanz in den Selbststilisierungen hat hier zwar die Vernetzungen nicht unbedingt erleichtert, sie aber anscheinend auch nicht nachhaltig verhindert. Dies hatte mehrere Gründe: Erstens die geografische Nähe zueinander, zweitens das regionalpolitische Gefüge des gemeinsamen Bundeslands, drittens die Konkurrenz und der Rückstand zu den hanseatischen Wissensspeichern und viertens die bereits bestehenden traditionellen Vernetzungen in anderen Wissensfel213 Die daraus resultierende Nähe zu politischen Entscheidungsträgern wurde noch einmal durch die Bedeutung beider Sektoren in den Anfängen der Europäischen Einigung (EGKS) verstärkt. 214 Lindner, Schlüsselbegriffe 2008, S. 87 f. 215 Hierzu grundlegend die Ausführungen in: Guckes, Städtische Selbstbilder 2011, insbesondere S. 11–64.

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dern. Insbesondere das Gefühl, einen gigantischen Rückstand aufholen zu müssen, veranlasste die Überwindung unterschiedlicher Interessenlagen und führte zu einer Zunahme der Kommunikationsdichte in den Außenhandelskreisen an Rhein und Ruhr. So beschäftigte sich in der Gesamtregion industriestrukturübergreifend ein, wenn auch zunächst sehr überschaubares, Personennetzwerk mit Fragen von „Überseemärkten“ und Entwicklungskonzepten. Entscheidend ist dabei, dass der Wissenscluster in Düsseldorf und Köln sein Zentrum hatte und nicht in den eigentlich industriell starken Regionen NordrheinWestfalens.216 Hauptsächliches Bindeglied der in diesem Industrieraum ansässigen Unternehmer waren – ähnlich der institutionellen Basis des „Überseewissens“ in der Hansestadt Hamburg – der Industrie-Club Düsseldorf und die dortige Industrieund Handelskammer. Insbesondere im Industrie-Club trafen sich die „Führer“217 aus der Wirtschaft, aber auch Spitzenbeamte von Bund und Land, Wissenschaftler und Kulturschaffende.218 Hier bündelten sich in exklusiver Umgebung und unter handverlesenen Mitgliedern die Fäden der Informationsnetze. Und hier wurden zudem zahlreiche Vorträge vor der Unternehmerschaft der Region gehalten. Ursprünglich an ganz anderen Themengebieten interessiert, wurden dabei nach 1950 auch vermehrt „Überseefragen“ behandelt. Dass so schließlich gerade Düsseldorf zu einem zentralen Standort für Institutionen des „Überseewissens“ wurde, erklärt sich dabei eher aus historischen Gründen. Denn der Industrie-Club war 1912 in Düsseldorf gegründet worden, weil die Stadt bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Schnittpunkt dreier Industriegebiete gewesen war. Im Umkreis von etwa 80 km lagen die Textil- und Maschinenbauindustrie am linken Niederrhein, die Kleineisenindustrie im Bergischen Land und die Kohle- und Stahlfabrikanten 216 Auch außerhalb dieser Städte gab es mit Globalisierungsfragen und „überseeischen“ Märkten beschäftigte Institutionen. Zu nennen ist etwa die Rheinisch-Westfälische Auslandsgesellschaft (RWAG) in Dortmund (1948 als Deutsch-Französisches Institut gegründet, 1949 erweitert zum Auslandsinstitut, 1957 Umbenennung). Wie beschränkt deren Ressourcen und Einfluss jedoch waren, wird bei einem Blick in die Quellenbestände sehr schnell deutlich. Das gleiche gilt, wenn auch mit Abstufung, für den Westfälischen Industrieklub in Dortmund. Beide Institutionen blieben im Vergleich zu jenen in Düsseldorf, Bonn und Köln unbedeutend. So waren sie noch lange auf Informationsmaterialien aus Hamburg angewiesen. Beispielsweise, als es darum ging, dem Kreis der „afrikanischen“ Studenten und Praktikanten Material in englischer, französischer und arabischer Sprache über Deutschland an die Hand geben zu können. Vgl. Schreiben von Manfred von Keitz (Leiter des Afrika-Kreises der Rheinisch-Westfälischen Auslandsgesellschaft, Dortmund) an das Presse- und Informationsamt der Bundesregierung vom 5.5.1959, o. S., BArch B 145/9947. 217 Zum Begriff des „Wirtschaftsführers“ im Nationalsozialismus und in der Nachkriegszeit vgl. Erker, Industrie-Eliten 1999. Die These von der ungebrochenen Hochschätzung des autoritären und antigewerkschaftlichen „Betriebsführers“ u. a. bei Berghahn, Unternehmer und Politik 1985, S. 228–257. Zum langsamen Verschwinden der konservativen und autoritär geprägten sogenannten „Industriekapitäne“ vgl. Ders., Unternehmer in der frühen Bundesrepublik 2002, S. 296–299. 218 Während es – in für die bisherige wirtschaftshistorische Forschung sowie die Forschung zu Eliten in der Bundesrepublik durchaus bezeichnender Weise – für die meisten dieser renommierten und einflussreichen Clubs keine eingehenden Studien gibt, existiert eine vortreffliche Arbeit zum Industrie-Club Düsseldorf. Vgl. Ackermann, Treffpunkt der Eliten 2006.

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im Ruhrgebiet.219 Der Industrie-Club Düsseldorf war somit auch für Unternehmer aus dem Ruhrgebiet und dem Bergischen Land – die ohnehin privat nicht selten eher in Köln und Düsseldorf residierten – ein zentraler Ort. Dass das Credo des Clubs, „Sammelpunkt der rheinisch-westfälischen Wirtschaft“220 zu sein, nicht nur bloßer Anspruch war, wird schon in der geringen Bedeutung von Konkurrenzgründungen im Ruhrgebiet deutlich.221 Insgesamt zeigen sich dabei grundsätzlich ähnliche Vernetzungsstrukturen wie sie für Hamburg konstatiert wurden. Beispielhaft kann dies an der engen Verbindung des Clubs mit der örtlichen Industrie- und Handelskammer Düsseldorf verdeutlicht werden. Diese betraf nämlich nicht nur den Informationsfluss über Vorträge, Memos oder den Austausch von Literatur und Berichten. Vielmehr waren zahlreiche Vorsitzende des Industrie-Clubs zugleich Präsidenten der örtlichen Industrie- und Handelskammer beziehungsweise in deren Präsidium vertreten.222 Die IHK Düsseldorf war dabei nicht eine IHK unter vielen in der Region, sondern die für Außenhandel zuständige Kammer und dem eigenen Vernehmen nach bei „Fragen des Aussenhandels federführend für alle 20 Kammern des Landes NordrheinWestfalen“.223 Eine auch für die gesamte Bundesrepublik nicht ganz unerhebliche Position, betrug doch der Anteil Nordrhein-Westfalens an deren Außenhandel anfänglich mehr als 40 %.224 Die Bedeutung von Pfadabhängigkeiten ist schon in Bezug auf den „norddeutschen“ Wissenscluster hervorgehoben worden. Und auch in Düsseldorf ist diese festzustellen. Aufgrund der bereits konzentrierten Außenhandelskompetenzen gründeten sich hier mit höherer Wahrscheinlichkeit als andernorts einflussreiche neue Institutionen. Etwa der Verein der Außenhandelsfirmen Nordrhein-Westfalen, die Gemeinschaft Deutscher Wirtschafts- und Industrie-Experten225 und der Industriekreis für Auslandsbeziehungen. Der Blick auf die Mitgliederstrukturen der vor219 Vgl. ebd., S. 57. Vgl. auch: Petzina, Gewerberegion 1992. 220 Ackermann, Treffpunkt der Eliten 2006, S. 65. 221 Etwa der des 1918 gegründeten und 1948 zum ersten Mal nach dem Zweiten Weltkrieg wieder zusammengekommenen Westfälischen Industrieklubs in Dortmund. Vgl. die Festschrift: Westfälischer Industrieklub, 90 Jahre 2008. Zur Spezifik des Dortmunder Milieus der Deutungseliten vgl. Guckes, Städtische Selbstbilder 2011, S. 305–488. 222 Vgl. Ackermann, Treffpunkt der Eliten 2006, S. 65. 223 Karl Albrecht: o. T., o. S., RWWA 70-132-5. Vgl. auch: Anteil am Außenhandel nach Bundesländern 1952–1954, Statistisches Jahrbuch für die Bundesrepublik Deutschland für das Jahr 1955, Zeitschriftenband (1956), S. 307. 224 Vgl. Anhang Tabelle 4. 225 Gegründet Anfang 1951, Vereinsregistereintrag Düsseldorf Nr. 1641 (eingetragen am 1.2.1951) Satzung: „Die Gemeinschaft deutscher Wirtschafts- und Industrie-Experten ist gegründet, um eine aktionsfähige Organisation zu schaffen, deren Ziel es sein soll, durch eine intensive Werbung das Ansehen und die Geltung des deutschen Fachwissens im Ausland wieder aufleben zu lassen. Um diesen Zweck zu erreichen, richtet die Gemeinschaft ihre Tätigkeit und ihre Wirksamkeit insbesondere auf: Ausbau und Festigung der Beziehungen zu ausländischen Finanz-, Wirtschafts- und Industrieunternehmungen; Bildung von Auslandsvertretungen; Bildung von schnell einsatzfähigen Arbeitsgruppen um alle Aufgaben, die der Gemeinschaft übertragen werden, jederzeit ohne Verzögerung lösen zu können.“ Die Satzung ist überliefert in: BArch B 102/1772.

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genannten Institutionen zeigt, wie regional begrenzt diese in den gesamten 1950er Jahren gewesen sind: Die Mitglieder stammten fast ausschließlich aus dem Gebiet des Bundeslandes, nur selten finden sich etwa Mitgliedsadressen aus Frankfurt am Main und München; noch seltener Hamburger oder Bremer Unternehmer oder Institutionenvorstände.226 Dies kann als erstes Indiz dafür gelten, dass trotz des clusterübergreifenden Austausches, den es zwischen Einzelpersonen und Institutionen immer gegeben hat, die nahräumlichen Vernetzungen anfänglich auch hier von entscheidender Bedeutung waren.227 Am langjährigen Hauptgeschäftsführer der IHK Düsseldorf, Karl Albrecht (1902–1976)228, kann man auf personeller Ebene die regionalen Verflechtungen im Bereich des „Überseewissens“ an Rhein und Ruhr nachvollziehen. Dass hier – anders als bei der Beschreibung des Clusters in Hamburg – eine einzelne Person herausgegriffen wird, ist dabei inhaltlich begründet. Es trägt nämlich der Tatsache Rechnung, dass dieser Wissenscluster anfänglich in viel höherem Maße von Einzelpersonen abhängig war als von Institution. Die Informationsweitergabe war daher tendenziell restriktiver. Da Karl Albrecht als zentrale Person in diesem personellen Netzwerk wirkte, lassen sich über seine Person auch die Struktur und der Ausbau der wissensgenerierenden Institutionen in der Region beschreiben. Karl Albrecht machte die IHK Düsseldorf in enger Kooperation mit dem Industrie-Club Düsseldorf zum zentralen Anlaufpunkt für am Außenhandel interessierte Unternehmer in Nordrhein-Westfalen. Er ist zudem allein schon deswegen eine für die Geschichte des Wissens über Auslandsmärkte interessante Person, weil er seit 226 Für die Rudolf C. Poensgen-Stiftung – die noch am stärksten einen gesamtbundesrepublikanischen Anspruch hatte – gilt dies beispielsweise selbst noch für die Mitglieder und Lehrgangsteilnehmer am Ende der 1960er Jahre. Siehe Auflistung in: Mitgliederverzeichnis des Rudolf C. Poensgen-Kreis, Stand Januar 1969, RWWA 70-145-2. Auch die monatlichen Stammtische der Stiftung fanden ausschließlich in der Region statt. Sie fanden bspw. 1969 in Dortmund, Düsseldorf, Hagen und Siegen statt, aber eben gerade nicht außerhalb Nordrhein-Westfalens. Auflistung mit Stand 1969 in: RWWA 70-145-2. 227 So sehr dies festzuhalten ist, man darf indes nicht übersehen: Von Anfang an war der Anspruch dieser Institutionen nicht selten ein überregionaler. Ein Anspruch, den man in den ersten 15 Jahren nach Ende des Zweiten Weltkrieges nur noch nicht einlösen konnte. 228 Aus seinem 1964 selbstverfassten Lebenslauf gehen die Gründe für seine herausragende Vernetzung in die Politik hervor. So war er von 1924–1934 an verantwortlicher Stelle in einem bedeutenden Industrieunternehmen und später als Hauptgeschäftsführer wichtiger industrieller Verbände tätig. Seit 1935 war er mit Ludwig Erhard befreundet, unter dem er nach dem Krieg im Wirtschaftsministerium in Bayern arbeitete. Danach folgten Stationen im Wirtschaftsministerium für Südwürttemberg und Hohenzollern und bis zu seinem Wechsel an die Spitze der IHK Düsseldorf im Bundesinnenministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit (dem früheren Marshallplan-Ministerium) unter dem damaligen Vizekanzler Franz Blücher im Range eines Ministerialdirektors in Bonn. Aus dieser Zeit stammten seine guten Kontakte zu „Ministern, Staatssekretären und höchsten Beamten zahlreicher Bonner Ministerien und zu vielen Bundestagsabgeordneten“ sowie zu den „Regierungsmitgliedern von Nordrhein-Westfalen, zum Deutschen Industrie- und Handelstag und zu wichtigsten Persönlichkeiten des deutschen Wirtschaftslebens“. Nach 1945 galt er als weithin unbelastet und wurde zum Hauptgeschäftsführer der IHK zu Düsseldorf ernannt. Karl Albrecht war zudem Direktor und Mitinhaber der Firma Ozalid South Africa (Pty.) Ltd., einem Hersteller von fotografischen Papieren, Zeichengeräten, Kartenmaterial. Vgl. RWWA 70-132-3, RWWA 70-132-10, RWWA 70-132-9.

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den frühen 1950er Jahren fast jedes Jahr mehrere Monate lang ausländische Märkte bereiste und über diese in Gremien, halböffentlichen Vorträgen, in Zeitungsinterviews, eigenen Artikeln und Berichten umfangreich referierte. Weil seine Zuhörer in Deutschland das Ausland meist nur aus zweiter Hand kannten, galt ihnen Albrecht als Quelle des authentischen Erlebens und der realen Erfahrung. Sein Expertenstatus in Außenhandelsfragen war daher nahezu unumstritten. Interessanterweise unternahm wohl kaum jemand in „Norddeutschland“ eine derartige Vielzahl an Reisen nach „Übersee“ wie Karl Albrecht. Dies hat sicherlich auch etwas mit dessen persönlichen Reise- und Urlaubsinteressen zu tun, kann aber eben auch als Versuch des Ausgleichs einer noch nicht etablierten, institutionell gefestigten Wissenserzeugung gesehen werden.229 Die Reiseprogramme Albrechts waren dabei nicht grundverschieden von denen der bereits beschriebenen Goodwill-Reisen oder den Kontakten, die hanseatische Kaufleute und Wissenschaftler in „Übersee“ suchten. So unterhielt er auf seinen Auslandsreisen intensive Kontakte zu den jeweiligen Botschaftern der Bundesrepublik und deren Wirtschaftsreferenten. Zudem besuchte er die dortigen binationalen Handelskammern und die „deutschen“ Industrieanlagen sowie die „deutschen Kolonien“, insbesondere zahlreiche „deutsche Schulen“.230 Allein die Aufzählung seiner Funktionen und Mitgliedschaften ist Indiz für seine zentrale Position innerhalb des Netzwerkes. Karl Albrecht war nicht nur Präsident der Düsseldorfer Industrie- und Handelskammer, sondern auch Mitglied im Industrie-Club Düsseldorf, im ortsansässigen Rotary-Club und im Ausschuss des Kunstvereins für die Rheinlande und Westfalen (ebenfalls Düsseldorf). Zudem konnte Albrecht in den 1950er Jahren unter anderem auf folgende Mitgliedschaften verweisen:231 Er war stellvertretender Vorsitzender im Vorstand des Rationalisierungskuratoriums der Deutschen Wirtschaft – Bezirksgruppe Nordrhein-Westfalen –, Ehrenmitglied der Geschäftsführung der Nordrhein-Westfälischen Börse zu Düsseldorf, Geschäftsführer der Börsenhaus GmbH (Düsseldorf)232, Vorstandsmitglied und Mitglied des Verwaltungsrates des Landesverbandes Rheinland e. V. (Bad Godesberg), Mitglied des erweiterten Vorstandes des Landesverbandes NordrheinWestfalen der Europa-Union, Mitglied des Verwaltungsrates der Gesellschaft zur Förderung des Instituts für Handelsforschung an der Universität zu Köln e. V., Mitglied des Verwaltungsrates der Volks- und Betriebswirtschaftlichen Vereinigung im rheinisch-westfälischen Industriegebiet (Duisburg) und Mitglied des Verwaltungs229 So interpretiert, verdeutlicht dessen Reisetätigkeit geradezu den geringen Institutionalisierungsgrad und den kleinen aktiven Personenkreis im „westdeutschen“ Wissenscluster. Albrechts Hauptreiseinteressen lagen dabei vor allem in „Südamerika“, später auch in „Afrika“. 230 Dabei überreichte er den deutschen Schulen im Ausland die in Deutschland eingesammelten Spendengelder. Meistens handelte es sich dabei um Schulen in „Lateinamerika“. Vgl. Die Kammer fördert deutsche Auslandsschulen, Juni 1964, RWWA 70-132-3, S. 1. Zur Geschichte der Förderung der „deutschen Schulen“ in Lateinamerika vor 1945 vgl. Barbian, Auswärtige Kulturpolitik 2014, S. 62. 231 Vgl. die Auflistung in: RWWA 70-132-10, Stand 1959. 232 Die IHK zu Düsseldorf war und ist an der Düsseldorfer Börsenhaus GmbH und an der Gesellschaft Rheinisch-Westfälische Börse beteiligt. Die Ämter waren folglich Resultat der Position von Albrecht in der IHK.

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rates des Rheinisch-Westfälischen Instituts für Wirtschaftsforschung (Essen).233 Für unseren Zusammenhang besonders zentral sind Albrechts Funktion als geschäftsführendes Präsidialmitglied der in Düsseldorf residierenden C. Rudolf-Poensgen-Stiftung e. V. zur Förderung von Führungskräften in der Wirtschaft234 sowie dessen gute Kontakte zu deutschen Schulen und deutschen Vereinen im Ausland, für die er – nicht selten mit Verweis auf deren Bedeutung bei der Vorbildung zukünftigen Personals für deutsche Auslandsniederlassungen – Geld in Unternehmerkreisen sammelte.235 Wie wichtig ihm diese Aufgabe war, zeigt sein Engagement im Arbeitskreis Spendenwesen, dem die Spitzenverbände der deutschen Wirtschaft angehörten und dessen Federführung er seit 1952 innehatte. Er war zudem Mitbegründer des Freundeskreises deutscher Auslandsschulen und Vorstand dessen Verwaltungsrates. So hielt er auch zahlreiche Kontakte zu Institutionen wie dem Arbeitsring Ausland, der sich der Förderung deutscher kultureller Arbeit im Ausland verschrieben hatte.236 Später stand er in engem Kontakt mit dem beim DIHT in Köln eingerichteten Arbeitskreis zur Förderung der Zusammenarbeit zwischen Industrie- und Handelskammern und deutschen Auslandsschulen.237 Mitte der 1960er Jahre unternahm er zudem erhebliche Anstrengungen, um die deutschen Auslandsschulen zu Handels- und Wirtschaftsschulen auszubauen. Schließlich soll hier Albrechts Verbindung zur Carl Duisberg Gesellschaft für Nachwuchsförderung (CDG) genannt werden.238 Die bereits 1949 – damals noch unter anderem Namen – gegründete und im Januar 1956 von Stuttgart nach Köln umgezogene CDG richtete sich anfänglich an deutsche Nachwuchsführungskräfte, später auch auf die personelle Entwicklungszusammenarbeit, also auf die Fortbildung von „Gästen aus Übersee“.239 Sie war aus dem Geist heraus gegründet worden, dass die „personalpolitische[n] Anforderungen“ so hoch seien, dass sie über die bloße Nachwuchs-Schu233 Erst später war er auch Kuratoriumsmitglied des ifo-Instituts (München). Vgl. RWWA 70-1321. Das Rheinisch-Westfälische Institut für Wirtschaftsforschung (RWI) gehörte bis 1943 als „Abteilung Westen“ zum DIW. Es konzentrierte sich als selbständiges Institut auf regionale Probleme des Bergbaus und der Schwerindustrie. Vgl. Nützenadel, Stunde 2005, S. 97. 234 Sie wurde 1956 von der IHK Düsseldorf und von Repräsentanten der nordrhein-westfälischen Industrie gegründet. 235 Vgl. Karl Albrecht: Die Kammer fördert deutsche Auslandsschulen, 1964, RWWA 70-132-3. 236 Vgl. Schriftverkehr in: RWWA 70-132-10. 237 Vgl. Vortragsmanuskript: Karl Albrecht: Bericht über Deutsche Auslandsschulen in Lateinamerika, Düsseldorf Juli/August 1967, o. S., RWWA 70-136-14. 238 1949 gegründet, führte die Carl Duisberg Gesellschaft ihren Namen auf den Chemiker und Unternehmer (Generaldirektor der Farbenfabrik Bayer) Carl Duisberg (1861–1935) zurück, der durch die 1925 erfolgte Gründung des „Amerika-Werkstudentendienstes“ die praxisorientierte berufliche Weiterbildung deutscher Studenten in den USA förderte. Dieser scheiterte aber bereits in der Weltwirtschaftskrise 1930. Heute ist die Carl Duisberg Gesellschaft der größte deutsche Anbieter von Programmen zur beruflichen Qualifizierung im Ausland. Zu Carl Duisberg und dessen Engagement vgl. Füssl, Deutsch-amerikanischer Kulturaustausch 2004, S. 74; Funke, Entwicklung der CDG 1965, S. 1 f., RWWA 352-15-5 und CDG, Zehn Jahre 21960. 239 Ideeller Vorläufer war das 1921 gegründete Deutsche Studentenwerk. In ihm war der damalige Bayer-Direktor Carl Duisberg die prägende Figur. Auch nach dem Zweiten Weltkrieg wurde der Vorsitz der CDG meist durch ein Vorstandsmitglied der Bayer AG besetzt. Zur Frühgeschichte der CDG vgl. CDG, Zehn Jahre 21960.

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lung einzelner Industriefirmen, die sich in „Übersee“ betätigen wollten, weit hinaus gingen.240 Sie konzentrierte sich dabei vor allem auf die Vermittlung der deutschen Sprache – insbesondere in der von ihr mitgetragenen „Gesellschaft für praktisches Auslandswissen“ (Gepra), hatte aber auch immer das Ziel, deutsche Kultur zu vermitteln.241 In den 1950er Jahren übernahm sie die Koordinierung der Praktikantenprogramme der deutschen Industrie. Diese etwas ermüdende Aufzählung zeigt, wie über Mitgliedschaftsüberschneidungen – und Albrecht nahm diese Mitgliedschaften, wie seiner Vortragstätigkeit zu entnehmen ist, durchaus ernst – zahlreiche Querverbindungen hergestellt und der Informationsaustausch in der Stadt und der Region gesichert werden konnte.242 Hier sollte der Blick auf seine Person allerdings vor allem versinnbildlichen, welche Institutionen in Düsseldorf und Umgebung mit diesem Wissensgebiet beschäftigt waren und wie stark der Informationsfluss zwischen ihnen die gesamten 1950er Jahre hindurch von wenigen, dafür aber extrem gut vernetzten Personen abhing. Die regionale Vernetzung im Bereich des „Überseewissens“ war an Rhein und Ruhr auch deswegen bereits in den 1950er Jahren gut eingespielt, da es ausreichte, einige wenige zentrale Personen zu kennen. Zugleich war dieser Vorteil nur im Nahraum möglich und begrenzte die Reichweite des Netzwerks erheblich. Damit einher ging zudem, dass die Verfügbarkeit von Informationen über bestimmte Weltregionen hier noch viel stärker als in Hamburg, Bremen oder Kiel von den persönlichen Geschäfts- und Reiseinteressen dieser Akteure geprägt war.243 Während in „Norddeutschland“ Institutionennetzwerke sichtbar wurden, zeigen sich im „westdeutschen“ Wissenscluster zunächst vor allem Personennetzwerke. Bereits der Blick auf Karl Albrecht hat gezeigt, dass dessen Ansprechpartner nicht nur in Düsseldorf, sondern auch in anderen Städten Nordrhein-Westfalens saßen. Wenn hier bislang Düsseldorf als ein Zentrum der Beschäftigung mit „Übersee“ ausgemacht wurde, dann ist dieser Stadt zumindest ein weiteres urbanes Zentrum an die Seite zu stellen: Denn auch in Köln existierten zahlreiche Institutionen, die innerstädtisch sowie mit den Düsseldorfer Institutionen gut vernetzt waren. Zu nennen sind vor allem die hier ansässigen zentralen Interessenvertretungen der deutschen Wirtschaft, insbesondere der BDI und der DIHT.244 Von erheblicher Be240 BDI, Ostasien 1956, S. 13. Das Zitat hier nicht mit direktem Bezug zur CDG. 241 1958 beauftragte die Bundesregierung die CDG zum ersten Mal mit der Planung und Durchführung von Ausbildungsprogrammen für Stipendiaten aus Entwicklungsländern. Durch die Trägerschaft des Bundes war dieses Programm von Anfang an überregional. Vgl. RWWA 35222-17. 242 Es würde sich ohne Zweifel lohnen, eine umfangreichere biografisch angelegte Studie zu Karl Albrecht zu verfassen, da man an seiner Person den Ausbau der Beschäftigung mit „Übersee“ in der Region verdeutlichen könnte. 243 Ein genauerer Blick in die einzelnen Institutionen, der hier unterbleiben soll, würde zudem verdeutlichen, dass eine deutlich geringere Kapital- und Personalausstattung der Wissensinstitutionen als in den Hansestädten zu konstatieren ist. 244 Während sich die beiden genannten Institutionen intensiv mit Fragen des deutschen Außenhandels beschäftigten, war das in Köln ansässige Institut der Deutschen Wirtschaft (Deutsches Industrieinstitut) kaum an diesen interessiert. Das 1951 gegründete Institut ist eher als Lobbyist der sozialen Marktwirtschaft anzusehen, in dessen Fokus die Auseinandersetzung mit Gewerk-

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deutung waren daneben die Bundesstelle für Außenhandelsinformation (BfA245) und die bereits genannte CDG. Während die in Düsseldorf ansässigen Institutionen fast ausschließlich Institutionen der unternehmerischen Selbstverwaltung waren, die sich vor allem mit der Lokalpolitik auseinandersetzten, waren die Institutionen in Köln durch eine stärkere Nähe zur Administration der Bundesrepublik geprägt oder waren – wie die BfA – gänzlich staatliche Organisationen. Zudem waren die Düsseldorfer Institutionen vor allem Institutionen der lokalen Unternehmerschaft, während die Kölner Institutionen für die Industriekreise der gesamten Bundesrepublik zu sprechen beanspruchten. DIHT und BDI beschäftigten sich bereits kurz nach ihrer Gründung mit „überseeischen“ Auslandsmärkten.246 Sie gründeten eigene Abteilungen für den Außenhandel, waren Bindeglied für andere am Außenhandel beteiligte Institutionen, Sammelstelle für Informationen und zudem als Interessenvertretung von Bedeutung.247 Zwar waren beide Institutionen stärker auf den „europäischen“ Markt und die USA fokussiert als auf den „Überseehandel“, doch nahmen auch die diesbezüglich aufgewandten Ressourcen im Zeitverlauf zu.248 Dabei spielte sich zwischen beiden schnell eine klare Aufgabenteilung ein: Während der BDI für die Entsendung von Wirtschaftsdelegationen zuständig war und die Treffen der Leiter der Wirtschaftsabteilungen in den ausländischen Missionen der Bundesrepublik koordinierte, betreute der DIHT die deutschen Industrie- und Handelskammern im Ausland. Bei der Beeinflussung der Gesetzgebung im Bereich des Außenhandels arbeiteten beide Institutionen zudem eng zusammen und stimmten sich immer wieder untereinander ab.249 Zugleich versuchten sie, Einfluss auf die auswärtige Kulturpolitik zu gewin-

schaften und SPD sowie die Themen Sozialismus, Kommunismus, Sozialisierung und Enteignung lagen. Hintergrundinformationen bieten: Neumann, Arbeit des Deutschen Industrieinstituts 1957; Institut der Deutschen Wirtschaft, Roter Faden 1973; Institut der deutschen Wirtschaft, 25 Jahre 1976; Institut der deutschen Wirtschaft Köln, Ordnungspolitik für das 21. Jahrhundert 2002. 245 Die BfA gab neben Mitteilungen und Marktinformationen auch Sonderpublikationen heraus. Hierzu gehörten Länderstudien sowie Reihen die sich mit dem wirtschaftlichen Aufbau in Afrika, Tendenzen der Internationalen Wirtschaft und Beiträgen zur Frage fremder Verhaltensweisen, so die Reihentitel, befassten. 246 Zur Auslandsarbeit des DIHT vgl. Junge/Jäkel, IHK und DIHT 21978, S. 75–80. 247 Zur Einflussnahme der Industrie und ihrer Verbände auf die deutsche Außenwirtschaftspolitik vgl. Bührer, BDI und Außenpolitik 1992, insbesondere S. 257 und 261. 248 Das lässt sich an den diesbezüglichen Ausführungen in den Jahresberichten beider Institutionen in den 1950er Jahren leicht nachvollziehen. Zur europäischen Ausrichtung des BDI vgl. Kaiser, Europäisch und pragmatisch 2000. Bernhard Löffler verweist aber zu Recht darauf, dass die Positionen des BDI diesen nicht als „besonders liberal oder globalistisch und (wie Erhard) an einem weltweiten, multilateral organisierten Freihandelssystem interessiert“ ausweisen, sondern dass sich die Vertreter des Unternehmerverbands „aus primär interessen- und handfest nationalen industriepolitischen Gründen viel lieber dem lockeren GATT-Verbund oder der unverbindlichen OEEC gegenüber sahen und mit bilateralen Vertragssystemen operierten, als sich an die festen Vorgaben supranationaler Institutionen von EWG oder Euratom binden zu müssen“. Löffler, Globales Wirtschaftsdenken 2010, S. 140. 249 Vgl. Bührer, Wirtschaftsdiplomatie 2005, S. 123 f.

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nen.250 Kontakte zwischen Außenwirtschaftspolitik und Industrie gingen jedoch nicht nur von der Industrie selbst aus. Denn für die Politik war, wie bereits mehrfach betont worden ist, der Außenhandel wichtiger Bestandteil der Außenpolitik.251 Zudem war die eigene wirtschaftliche Stärke ein wichtiges Argument bei der Durchsetzung des Alleinvertretungsanspruchs. Somit war die Bundespolitik durchaus bestrebt, der deutschen Industrie Informationen über Märkte außerhalb der eigenen nationalen Grenzen bereitzustellen. Eine Schlüsselstellung kam dabei der Bundesstelle für Außenhandelsinformationen in Köln zu, die als ein wichtiges Bindeglied zwischen Wirtschaft und Politik – vor allem dem Bundeswirtschaftsministerium – fungierte.252 Aufgabe der BfA war es, das Nachrichtenbedürfnis der in der Außenwirtschaft tätigen deutschen Einzelfirmen zu befriedigen. Sie gab aber auch Benimmregeln und Verhaltenscodizes für deutsche Unternehmer im Ausland heraus. Wie eng die Institutionen vor Ort miteinander verknüpft waren, zeigt sich dabei auch in Köln. Beispielsweise war die BfA anfänglich in den Räumlichkeiten der IHK Köln untergebracht. Besonderes Merkmal der genannten Kölner Institutionen war ihr überregionaler Anspruch. DIHT und BDI waren als Gesamtinteressenvertretungen der deutschen Wirtschaft konzipiert worden und hatten ein dementsprechendes Gewicht bei den politischen Akteuren. Auch wenn hier die Expertise in Bezug auf „Übersee“ vorerst noch im Aufbau begriffen war, so waren die diesbezüglichen Stellungnahmen dennoch einflussreich und wurden weit über das eigene Bundesland hinaus gehört. Zudem waren DIHT und BDI auch für die hanseatischen Handelskammern sowie für die dortigen in den 1950er Jahren mit „Übersee“ befassten Institutionen wichtige Partner, weil sie diejenige Vernetzung mit der Bundespolitik ermöglichten, die die hanseatischen Kräfte allein nicht erreichen konnten.253 Auch die BfA war alles andere als eine regionale Behörde. Sie stellte Informationen für die gesamten Außenhandelskreise bereit und war mit diesen auch aufs engste personell 250 Barbian geht davon aus, dass die Spitzenverbände der deutschen Wirtschaft eine auswärtige Kulturpolitik begrüßten, „die frei wäre von allem politischen Anschein und äußerlich rein kulturelle Ziele verfolge“ sowie von Institutionen, die im Zuge einer „stille[n] und unauffällige[n] Tätigkeit kultureller Mittler und keine lauten Massenorganisationen“ seien. Barbian, Auswärtige Kulturpolitik 2014, S. 155. 251 Zum „Anerkennungswettlauf“ in Ländern der „Dritten Welt“ und zum „Alleinvertretungsanspruch“ (Hallstein-Doktrin) der Bundesrepublik vgl. Gray, Germany’s Cold War 2003; Kilian Hallstein-Doktrin 2001; Schulz, Zwei deutschen Staaten 2010. 252 Das zeigt sich u. a. in der Zusammensetzung des Verwaltungsrates der BfA, der 1955 aus drei Vertretern einzelner Bundesländer zur Vertretung der regionalen Exportinteressen, sieben Vertretern von Bundesministerien (AA, BWM, BMZ, BML, BMV), sechs Verbandsvertretern (BDI, DIHT, Groß- und Außenhandel, Spedition und Lagerei, Dt. Handwerk) und drei Gewerkschaftsvertretern (DAG, DGB) bestand. Vgl. Bericht über Organisation, Arbeitsweise und Erfolg der Tätigkeit der Bundesstelle für Aussenhandelsinformation in Köln, März 1955, o. S., BArch B 102/56555. Zur Bedeutung der BfA im bundesrepublikanischen System der Exportfördermaßnahmen vgl. von Delhaes-Guenther, Erfolgsfaktoren 2003, S. 97 f. 253 In ihren Tätigkeitsberichten betonen die Hamburger und Bremer Institutionen zwar immer wieder, dass man an der Kooperation mit den Bundesbehörden nichts zu bemängeln habe, zur wirksamen Interessenvertretung in Bonn war man allerdings doch auf die Mithilfe von BDI und DIHT angewiesen.

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verknüpft. Dass dabei wiederum die „norddeutschen“ Außenhandelskreise von besonderer Bedeutung waren, zeigt sich nicht zuletzt daran, dass die BfA eine Nebenstelle in Hamburg unterhielt und dass der Hamburger Vertreter im Verwaltungsrat – in den ersten Jahren Clodwig Kapferer vom HWWA – eine ihrer prägendsten Persönlichkeiten war.254 Welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede gab es zwischen dem „westdeutschen“ und dem „norddeutschen“ Wissenscluster? Insgesamt zeigt sich, dass die Institutionen an Rhein und Ruhr sowohl stärker auf die Industrie als auch auf den Bund als wichtige Akteure konzentriert waren, während sich die norddeutschen Akteure auf den Handel fokussierten und sich mit der Landespolitik verbanden. Gemeinsam war ihnen vor allem, dass sie auf einer engen persönlichen und nahräumlichen Vernetzung basierten. Das „Überseewissen“ konzentrierte sich dabei auch an Rhein und Ruhr in zwei urbanen Zentren. Dabei blieben die Unternehmer und Manager des Außenhandels in dieser Region auf Orte fixiert, die gerade nicht im Ruhrgebiet lagen. Daher wundert es nicht, dass Wirtschaftstagungen, die sich in der Region mit „Übersee“ befassten, vor allem in Düsseldorf und Köln stattfanden. Nicht zuletzt auch deshalb, weil sie sich so mit repräsentativen Abendveranstaltungen im Industrie-Club verbinden ließen. Die Dominanz der nahräumlichen Vernetzung sowohl in den Hansestädten als auch in Nordrhein-Westfalen lässt es sinnvoll erscheinen, von zwei verschiedenen, zugleich konkurrierenden und kooperierenden Wissensclustern auszugehen. Zwei Clustern, in denen es durchaus den Anspruch gab, für die gesamten Außenhandelskreise zu sprechen, die aber keineswegs so scharf voneinander getrennt waren, dass ein Informationsaustausch deswegen gar nicht stattfand.255 Der wichtigste Unterschied bestand zunächst aber darin, dass man an Rhein und Ruhr nur auf eine vergleichsweise geringe Tradition der Beschäftigung mit „Übersee“ zurückblicken konnte. Es gab zuvor weder überregional bedeutsame Institutionen der Auslandskunde noch von der Privatwirtschaft getragene Institutionen des „Überseewissens“. Als Kristallisationspunkte für die nun anhebende Institutionalisierung der Beschäftigung mit „Überseemärkten“ dienten daher auch der Industrie-Club Düsseldorf, die IHK Düsseldorf sowie die neu gegründeten Interessenvertretungen der Industrie in Köln, die mit diesen Themen vorher nur am Rande in Kontakt geraten waren.256 Entsprechend der Industrie- und Außenhandelsstruktur, aber auch durch die enge Verbindung mit der Bundespolitik lag das Augenmerk hier anfänglich stärker auf dem Binnenmarkt bzw. auf dem „westeuropäischen“ und „US-amerikanischen“ Markt. Zudem befanden sich hier zahlreiche Institutionen mit einer Spezialisierung auf die Fortbildung von Ausländern und Führungskräften aus der Industrie – ein Aufgabengebiet, das die Institutionen in Hamburg, Bremen und Kiel nur am Rande bearbeiteten.

254 Vgl. Bericht über Organisation, Arbeitsweise und Erfolg der Tätigkeit der Bundesstelle für Aussenhandelsinformation in Köln, März 1955, BArch B 102/56555. 255 Eine derartige scharfe Trennung behauptet allerdings die Clusterforschung ohnehin nicht. Sie geht nur von auffällig hohen nahräumlichen Vernetzungsgraden aus. 256 Auch wenn diese Institutionen z. T. schon zuvor mit dem Außenhandel beschäftigt waren.

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3.3 Ein süddeutscher Wissenscluster? Als letzten großräumigen, nicht nur auf eine Stadt beschränkten Wissenscluster richtet sich der Bick nun auf „Süddeutschland“. Verfolgt man die bislang aufgenommene Analysespur weiter, so wird ersichtlich, dass die Dichte der Vernetzung von Nord nach Süd allmählich abnahm. Die meisten Institutionen in „Süddeutschland“ galten in den 1950er Jahren weder in Hamburg und Bremen noch in Düsseldorf und Köln als gewichtige Gegenspieler oder als Kooperationspartner. Zu mittelständisch geprägt und traditionell zu wenig auf den Außenhandel ausgerichtet schien die dortige Wirtschaft zu sein und als viel zu vereinzelt und zerstreut galten die mit „Übersee“ befassten Institutionen. Die nachfolgende Bestandsaufnahme des institutionellen Netzes der 1950er Jahre hat zur Kenntnis zu nehmen, dass die industrielle Entwicklung in „Süddeutschland“ regional sehr unterschiedlich verlief und es aus diesem Grund kein zusammenhängendes Industriecluster mit gleichgerichteten Außenhandelsinteressen gab. Im Vergleich zur Bedeutung der Hansestädte als Seehäfen und zu Nordrhein-Westfalen als zentralem Ort der Industrie- und Exportgüterproduktion war die Bedeutung der südlichen Bundesländer im „Überseehandel“ anfänglich gering.257 Diese Position im Außenhandel der frühen Bundesrepublik hatte ihre Wurzeln in der wirtschaftlichen Entwicklung des 19. Jahrhundert, denn in „Südwestdeutschland“ erfolgte die Industrialisierung verhältnismäßig spät und uneinheitlich. Die dabei besonders zentralen Industriebereiche Elektrotechnik und Chemie waren zwar schon in der ersten Globalisierungswelle wichtig, erwiesen sich aber erst zusammen mit Maschinenbau und Automobilindustrie nach dem Zweiten Weltkrieg für diese Region als Antriebskräfte des exportgetriebenen Wachstums.258 So erhielt die Industrieentwicklung in Bayern ihren entscheidenden Schub erst nach 1945.259 Gleichwohl hatten in den traditionellen Industriestandorten Nürnberg, Erlangen Augsburg, Schweinfurt und München bereits in den 1920er Jahren wichtige Großunternehmen in den Bereichen Elektrotechnik, Maschinen- und Flugzeugbau existiert, so dass diese als kriegswichtig eingestuften Branchen auch von den Rüstungsanstrengungen des nationalsozialistischen Regimes in erheblichem Maße profitierten.260 Der daraus resultierende 257 Statistiken auf Bundesländerebene sind nur zu den Gesamtausfuhren vorhanden. Für 1952 hält das Statistische Jahrbuch für Rheinland-Pfalz einen Anteil an den Gesamtausfuhren von 4,4 %, für Baden-Württemberg von 13,5 % und für Bayern von 9,9 % fest. Im Bereich des „Überseehandels“ ist eher von geringen Anteilen auszugehen. Vgl. Statistisches Jahrbuch für die Bundesrepublik Deutschland für das Jahr 1955, Zeitschriftenband (1956), S. 307. 258 Als Ausnahme muss die Region Ludwigshafen/Mannheim gelten. Sie lag nah genug am „westdeutschen“ Wissenscluster, um an diesem teilzuhaben und stand so eher zwischen den beiden Clustern, konnte damit zugleich aber auch als Verbindungspunkt dienen. Insbesondere für die chemische Industrie in Ludwigshafen bot sich die Kooperation mit den Chemieunternehmen am nördlicheren Rhein an. 259 Die wichtigsten bayerischen Industriestandorte nach 1945 kurz charakterisiert in: Götschmann, Wirtschaftsgeschichte Bayerns 2010, S. 518–529. 260 Insbesondere die Industrie in der Region Nürnberg/Erlangen hatte als wichtiges Zentrum der Spielwarenindustrie schon vorher zum Teil recht erstaunliche Exportquoten aufzuweisen. Daher gründeten sich hier auch regional wichtige Institutionen im Bereich des Außenhandels. Zu

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Ausbau, der durch die luftkriegsbedingte Verlagerung von Produktionsstätten von Nord nach Süd noch einmal verstärkt wurde, führte nach 1945 zu einer hohen Attraktivität bayerischer Standorte für die Zuwanderung zahlreicher gut ausgebildeter Flüchtlinge aus der nun sowjetischen Einflusssphäre.261 Insbesondere die Stadt München und deren direkte Umgebung profitierten vom Zuzug zahlreicher Industriebetriebe aus Berlin und Sachsen.262 Insgesamt ergab sich dadurch eine erhebliche Verschiebung in der bayerischen Wirtschaftsstruktur zugunsten der Industrie. Zugleich wandelte sich auch die industrielle Struktur des Bundeslandes, die sich nun zugunsten der Gewerbegruppen Maschinen-, Stahl- und Fahrzeugbau, Elektrotechnik, Feinmechanik und Optik sowie der chemischen Industrie entwickelte.263 Dies hatte ebenso Auswirkungen auf den Außenhandel des Bundeslandes: Allein zwischen 1950 und 1951 verdoppelte sich die bayerische Ausfuhr auf einen Warenwert von 1,4 Milliarden Mark.264 Der Großteil der Steigerung der Ausfuhren war dabei aber bis in die 1960er Jahre hinein durch Exporte in die EWG-Länder bedingt.265 Zugleich blieb die mittelständische Struktur der Unternehmen bestimmend. Dieser Umstand offenbarte zwar Ähnlichkeiten zu den Handelsunternehmen in „Norddeutschland“, implizierte jedoch zugleich eine erhebliche Kluft gegenüber der nähergelegenen Großindustrie im Ruhrgebiet.266 Trotz der sich in den steigenden Exportziffern spiegelnden Erfolge gab es in „Süddeutschland“ nur wenige Institutionen, die sich in enger Kooperation mit der einheimischen Industrie mit „überseeischen Märkten“ befassten. Dies war der vorherigen Exportschwäche dieser Regionen geschuldet, hatte aber auch mit den vormaligen Wegen des Außenhandels über die Hansestädte zu tun. Bei der Suche nach möglichen institutionellen Kristallisationspunkten des steigenden Interesses für

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nennen sind die Bayerische Wirtschaft-Export-Union in Nürnberg und die Außenhandelsausschüsse der Industrie-und Handelskammern in der Region Mittelfranken. Maßgeblich für deren Bedeutung war eine überregional verschickte Zeitschrift zu „Überseefragen“, die in Nürnberg verlegte „Übersee-Post“, die jedoch keinen vergleichbaren Abonnentenkreis wie die Hamburger Zeitschriften erreichen konnten. Zur Übersee-Post vgl. Bestand Bayerisches Wirtschaftsarchiv S 003. Alfons Frey hat demgegenüber argumentiert, dass die Grundlage für den Aufstieg der bayerischen Industrie nach 1945 bereits in den frühen 1920er Jahren gelegt wurde. Erst aufgrund dieser Entwicklungen seien während des Nationalsozialismus weitere Investitionen erfolgt. Seiner Ansicht nach können die Übersiedlungen nach Kriegsende nicht der alleinige erklärende Faktor für die schnelle „nachholende“ Industrialisierung sein. Vgl. Frey, industrielle Entwicklung Bayerns 2003, S. 215 f. Zu nennen wären u. a. Siemens, Audi, Autobau BMW und Loewe. Vgl. ebd., S. 217 und Götschmann, Wirtschaftsgeschichte Bayerns 2010, S. 518. Vgl. Frey, industrielle Entwicklung Bayerns 2003, S. 212. Hohe Exportquoten prägten vor allem die Elektroindustrie (1955 deutlich über 25 %) und den Maschinenbau, wo die Exportquote bei rund der Hälfte der Produktion lag. Vgl. Götschmann, Wirtschaftsgeschichte Bayerns 2010, S. 518–520. Vgl. ebd., S. 518. Fertigwaren, Maschinen und elektrotechnische Erzeugnisse wurden in den 1950er-Jahren vor allem nach Italien, in die „Beneluxländer“, die Schweiz und die USA exportiert. Vgl. Kramer, Wirtschaftswunder in Bayern 2009, S. 124. Zur geringfügigen Veränderungen des Anteils an den Gesamtausfuhren vgl. Statistisches Jahrbuch für die Bundesrepublik Deutschland für das Jahr 1959, S. 278. Vgl. Paulmann, Regionen und Welten 2013, S. 671.

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„Übersee“ wird man indes trotzdem fündig: Völkerkundemuseen, ehemalige Kolonialvereine und Institutionen zur Pflege des Deutschtums im Ausland hatte es nämlich auch hier schon zuvor gegeben.267 Hinzu kamen neu gegründete Institutionen. Deren Auflistung ist hier jedoch nicht sinnvoll, weil der Großteil von ihnen zwischen 1945 und 1960 unbedeutend blieb. Sie waren Teile deutlich loserer Netzwerke aus Personen und Institutionen und zudem nicht so stark wie in den anderen beiden Clustern über die Stadtgrenzen hinweg miteinander verflochten. In den überlieferten Quellenbeständen, d. h. in den Vorstandsprotokollen, Vortragslisten und im institutionellen Schriftverkehr zeigt sich deutlich: Nicht selten unterhielten sie anfänglich sogar deutlich intensivere Kontakte zu zentralen Institutionen in Hamburg als zu Institutionen in anderen bayerischen, baden-württembergischen und rheinland-pfälzischen Städten. Auffällig ist: Erstens waren in „Süddeutschland“ die Traditionen der deutschen Auslandskunde wichtigere Kristallisationspunkte einer Beschäftigung mit „überseeischen Zukunftsmärkten“, als dies für den „westdeutschen“ Wissenscluster festgestellt wurde. Und zweitens hatten hier Institutionen der Kulturpolitik der Bundesrepublik eine erstaunliche Bedeutung. Somit ergab sich ein von den vorgenannten Clustern unterschiedliches Profil der Beschäftigung mit „Übersee“. Zwei Institutionen sollen hier herausgegriffen werden, um dies zu verdeutlichen: Zum einen das Institut für Auslandsbeziehungen in Stuttgart (IfA268), zum anderen das GoetheInstitut in München. Das Institut für Auslandsbeziehungen war ein wichtiger Kristallisationspunkt des „Überseewissens“ im Raum Stuttgart.269 Insbesondere die Forschungsstelle für deutsch-ausländische Beziehungen, eine Unterabteilung des Instituts, richtete sich sowohl an die Fachwissenschaft als auch an eine breite Öffentlichkeit.270 In engem Kontakt mit dem Auswärtigen Amt umfasste ihr Aufgabengebiet den „bisher wenig beachteten, jedoch sehr umfangreichen und differenzierten Bereich der deutsch-ausländischen Beziehungen in allen seinen geschichtlichen, kulturellen, wirtschaftlichen, sozialen und politischen Äußerungen“.271 Involviert waren daher Forschungsinstitute bzw. einzelne Forscher aus unterschiedlichen Disziplinen, namentlich der Geschichtswissenschaften, der Geografie, des Staats- und Verfassungsrechts, des Völkerrechts, der Religionswissenschaften, der Völkerkunde und Völkerpsychologie, der Literaturwissenschaften, der Wirtschaftswissenschaften und der Soziologie.272 267 Johannes Paulmann hat für den „deutschen Südwesten“ die langen Pfadabhängigkeiten im Bereich des „Weltwissens“ sichtbar gemacht und dabei auf die große Bedeutung ethnologischer Sammlungen als frühere Kristallisationskerne verwiesen. Als Anfangspunkt setzt er den 1882 gegründeten Württembergischen Verein für Handelsgeographie und Förderung Deutscher Interessen im Ausland. Vgl. ebd., S. 672 f. Zur Geschichte der Völkerkundemuseen vgl. Penny, Welt im Museum 2005. 268 Vormals Deutsches Institut für Auslandsbeziehungen, 1917 in Stuttgart gegründet. 269 Zu Stuttgart als wichtiger Globalisierungsregion vgl. Kaiser, Regionales Cluster 2007. 270 Der in Stuttgart ansässige Horst Erdmann Verlag sollte als Spezialverlag für internationalen Kulturaustausch die sachgemäße Verbreitung der Forschungsergebnisse der Forschungsstelle auf nationaler und internationaler Ebene übernehmen. 271 Auswärtiges Amt an Bundespräsidialamt, Schreiben vom 7.9.1972, o. S., BArch B 122/11452. 272 Vgl. ebd.

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Nicht der Ansatz, kulturelle, politische und ökonomische Fragen als zusammenhängend zu betrachten, war für „Süddeutschland“ besonders. Das IfA konnte in diesem geografischen Raum vielmehr deswegen als exzeptionell gelten, da es auf eine vergleichsweise lange Tradition zurückblickte. Bereits 1917 unter der Schirmherrschaft von König Wilhelm II. von Württemberg und von einflussreichen Persönlichkeiten des kulturellen und wirtschaftlichen Lebens in Deutschland gegründet, kann es als ältestes deutsches Institut für den internationalen Kulturaustausch gelten.273 Vor 1945 mit Themen der Volkstumspolitik beschäftigt,274 wurde es mit einem neuen Programm versehen 1951 durch Bundespräsident Theodor Heuss wiedereröffnet.275 So setzte es fortan auf eine eindeutige Abkehr von der traditionellen Auslandsdeutschtumspolitik, die nach 1945 politisch nicht mehr goutiert wurde.276 Für die Außenhandelskreise der Region war das IfA dabei vor allem deshalb interessant, weil zu dessen Zielen nicht nur die „zeitgemäße Selbstdarstellung Deutschlands, deutschen Lebens und deutscher Kultur im Ausland“ gehörte, sondern auch, weil es danach trachtete, „aktuelle auslandskundliche Informationen in Deutschland zu verbreiten und die Kenntnisse über andere Länder und Völker und ihre Kulturen im eigenen Lande zu vertiefen“.277 Zudem gehörte es weiterhin zu den Zielen des IfA, Kontakte zu Deutschen im Ausland und zu deutschstämmigen Staatsbürgern anderer Länder zu pflegen, „wo immer eine kulturelle Verbindung zu Deutschland gewünscht wird“.278 Aufgrund der langen Tradition des IfA war es für andere an fremden Kulturen und Märkten interessierten Institutionen des „südwest273 Vgl. o. A., Institut für Auslandsbeziehungen [ca. 1970], BArch B 122/11452. 274 Vgl. Ernst Ritter: Das deutsche Ausland-Institut in Stuttgart 1917–1945. Ein Beispiel deutscher Volkstumsarbeit zwischen den Weltkriegen, Wiesbaden 1976. Kurz zur Verbindung zu Hamburg während des Nationalsozialismus: ebd., S. 145. Vgl. auch Gesche, Kultur als Instrument 2006. Allgemein zur Auslandsdeutschtumspolitik vor 1945 vgl. Barbian, Auswärtige Kulturpolitik 2014, S. 43–105, zum DAI vgl. ebd., S. 70–72. Zur Wissenschaft vom „Grenz- und Auslandsdeutschtum“ zwischen 1918 und 1945 vgl. Oberkrome, Volksgeschichte 1993. Eine kleine Länderfallstudie bietet: Brüstle, DAI und die Deutschen in Argentinien 2007. 275 Vgl. o. A., Institut für Auslandsbeziehungen [ca. 1970], BArch B 122/11452. Zur Gründungsgeschichte des IfA vgl. Barbian, Auswärtige Kulturpolitik 2014, S. 114–118. 276 Zur Deutschtumspolitik im Ausland nach 1945 vgl. Nikolaus Barbian: Auswärtige Kulturpolitik und „Auslandsdeutsche“ in Lateinamerika 1949–1973, Wiesbaden 2014. Das Führungspersonal der Anfangsjahre stammte allerdings zum Teil noch aus der Deutschen Akademie. So hatte Franz Thierfelder (1896–1963), seit 1952 Generalsekretär des Stuttgarter Instituts, von 1929–1937 in einer ähnlichen Position die Geschicke der Deutschen Akademie geleitet. Folgt man Eckard Michels, dann hatte sich das IfA auch deswegen für Thierfelder als Führungspersönlichkeit entschieden, weil dieser stark für eine Abkehr von der Förderung des Auslandsdeutschtums stand. Mit der Wahl eines Kandidaten, der für Kulturaustausch stand, versuchte man sich deutlich gegenüber der eigenen Geschichte abzugrenzen und sich positiv gegenüber der amerikanischen Besatzungsmacht zu positionieren. Allerdings hatte sich Thierfelder während des Zweiten Weltkrieges sehr für eine kulturelle Hegemonie der Deutschen auf dem Balkan stark gemacht. Vgl. Michels, Goethe-Institut 2005, S. 220; Kirk, Kulturpolitik 2010, S. 200. Zur Person Thierfelders vor 1945 vgl. Michels, Deutsch als Weltsprache 2004, S. 206– 228. 277 O. A., Institut für Auslandsbeziehungen [ca. 1970], BArch B 122/11452. 278 Ebd.

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deutschen“ Raums interessant, sich in späteren Jahren ebenfalls Stuttgart als Sitz auszusuchen. So das Außenhandelskontor Württemberg-Baden279, die Deutsch-Indische Gesellschaft280, das Friedensbüro Stuttgart281, die Deutsche Gesellschaft für Osteuropakunde, die Forschungsstelle für deutsch-ausländische Beziehungen und der Nah- und Mittelost-Verein. Allein, diese Auflistung ist dazu angetan, einen falschen Eindruck zu vermitteln. Die personelle und finanzielle Ausstattung war meist gering und auch die überregionale Aufmerksamkeit blieb niedrig. Es ist kein Zufall, dass auch jene Veranstaltungen, die sich ganz eindeutig an den Hamburger Vorbildern orientierten, nur geringe Ausstrahlungskraft hatten. So kamen etwa zum am 24. und 25. November 1955 vom Nah- und Mittelost-Verein in Stuttgart veranstalteten „Nah- und Mittelost-Tag“ – bei dem „der Rahmen vom Reisebericht mit Lichtbildern über das Kulturelle und Wirtschaftliche bis zum Politischen gespannt war“282 – nur etwa 200 Besucher, überwiegend aus den örtlichen Wirtschaftskreisen. Zwar nahmen auch Generalkonsul Dr. Voigt (Auswärtiges Amt) und Dr. Eichhorn (Bundesministerium für Wirtschaft) an den Veranstaltungen teil. Allerdings habe man feststellen können, so der ebenfalls anwesende Dr. Ritter vom Bundespresseamt, „daß der Nah- und Mittelost-Verein trotz einiger bedeutender Persönlichkeiten nicht das Ansehen und die Wirkung hat wie ähnliche Institutionen, z. B. der Ibero-Amerikanische Club oder der Ostasiatische Verein in Hamburg“.283 Nicht anders erging es ähnlichen Veranstaltungen wie dem ebenfalls in Stuttgart abgehaltenen Afrika-Wirtschaftstag 1957. Als man diesen zusammen mit der ortsansässigen IHK durchführte, war es der Vorsitzende des Hamburger Afrika-Vereins, Heinz Hansen, der die Ergebnisse der Studienkommission der deutschen Wirtschaft in Ghana und Nigeria vorstellte, weil aus Kreisen der „südwestdeutschen“ Industrie niemand an dieser teilgenommen hatte.284 Insgesamt ist es bezeichnend, dass für die Region Stuttgart mit Ausnahme des IfA weniger die genannten Institutionen des „Überseewissens“ von Bedeutung waren, als vielmehr zwei Firmen: Bosch und Daimler-Benz. Insbesondere die Firma Bosch zeichnete sich dadurch aus, dass sie schon frühzeitig gute Kontakte zu Vertretern der „nord-“ und „westdeutschen“ Institutionen des „Überseewissens“ hergestellt hatte, diesen nicht selten als Mitglied 279 Vgl. den Bestand zum Außenhandelskontor Württemberg-Baden GmbH im Landesarchiv Baden-Württemberg, Abt. Hauptstaatsarchiv Stuttgart, EA 5/001 Bü 1169. Außenhandelskontore hat es auch in anderen Bundesländern gegeben. So etwa in Nordrhein-Westfalen. 280 1953 Gründung der Deutsch-Indischen Gesellschaft (DIG), die sich mit religiösen, kulturellen, politischen und wirtschaftlichen Fragen beschäftigte und die so in sichtbare Konkurrenz zum Hamburger Ostasiatischen Verein trat. Hierzu vgl. Eberstein, OAV 2000, S. 216. OAV und DIG trafen bereits in den 1950er Jahren Abmachungen, dass sich die DIG zwar um die indischen Praktikanten in der Bundesrepublik kümmern solle, dass der OAV aber die handelspolitischen Fragen bearbeiten würde. Eberstein verweist aber darauf, dass sich die DIG 1958 von dieser Abmachung distanzierte und einen eigenen Wirtschaftsbeirat schuf. Vgl. ebd. 281 Das Friedensbüro Stuttgart war in der Nachkriegszeit in die Frage der Restitution von deutschem Auslandsvermögen involviert. 282 Aktenvermerk Dr. Ritter (Bundespresseamt) zum Nah- und Mittelosttag 1955 vom 1.12.1955, o. S., BArch B 145/5356, Zitate ebd. 283 Ebd. 284 Vgl. Tätigkeitsbericht des Afrika-Vereins 1957, S. 2.

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angehörte oder sogar in deren Vorstand vertreten war.285 Der Informationsfluss im „süddeutschen“ Raum ging daher stärker über einzelne Großunternehmen als über wissenschaftliche Institutionen. Auch in München gab es ein Netz aus einigen wenigen mit „Überseefragen“ beschäftigten Institutionen. Zu nennen sind der Export-Club München286, das Seminar für ostasiatische Kultur- und Sprachwissenschaft der Universität München, das Ifo-Institut für Wirtschaftsforschung287 sowie dessen Studienseminar, der Verein für das Deutschtum im Ausland288 und das Goethe-Institut. Auch hier ist es nicht sinnvoll, eine Geschichte all dieser Institutionen zu schreiben. Ich konzentriere mich hier auf das Goethe-Institut, weil sich an diesem Beispiel noch einmal zeigen lässt, wie eng die auswärtige Kulturpolitik der jungen Bundesrepublik an die Exportinteressen der deutschen Industrie gekoppelt war. Das Goethe-Institut galt so zum einen bei Unternehmern zunächst als wichtiger Ansprechpartner und Informationslieferant, definierte zum anderen aber auch Unternehmer als Zielgruppe der eigenen Informationspolitik. Das Goethe-Institut wurde 1951/52 vor allem deswegen in München gegründet, weil hier bereits zuvor die Deutsche Akademie ansässig gewesen war.289 Eckard Michels, der eine historische Arbeit zum Goethe-Institut vorgelegt hat, hat den Balanceakt zwischen Traditionswahrung und dem notwendigen Kontinuitätsbruch mit der Deutschtumspolitik im Ausland in der Gründungsphase herausgearbeitet. Er 285 Einen knappen Überblick zum Auslandsgeschäft von Bosch nach dem Zweiten Weltkrieg in: Bähr/Erker, Bosch. 2013, S. 332–341. Hier ist allerdings das Engagement in den Institutionen des „Überseewissens“ nicht erwähnt. 286 Zu diesem vgl. Bayerisches Wirtschaftsarchiv S004/037 und S004/038. 287 Das Ifo-Institut für Wirtschaftsforschung ging im Januar 1949 aus der Fusion des Süddeutschen Instituts für Wirtschaftsforschung und der Informations- und Forschungsstelle hervor. Vgl. Nützenadel, Stunde 2005, S. 94–96. 288 Der Verein für das Deutschtum im Ausland (VDA) war bereits 1881 in München gegründet worden und hatte sich in einer Zeit, in der Deutschland noch ein wichtiges Auswanderungsland gewesen war, die Förderung deutscher Schulen und Kultureinrichtungen sowie die Unterstützung deutschsprachiger Büchereien im Ausland als Ziel gesetzt. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Satzung vom völkischen Vokabular bereinigt. Es ging zwar weiterhin darum, „die ausstrahlende Kraft der deutschen Sprache, die seelenbewegende Ursprünglichkeit der deutschen Volkskultur sowie die Leistungen deutscher Arbeit, Wissenschaft und Kunst“ zu zeigen, nur wollte man den Verein nun vor allem „in den Dienst des Friedens und der Wohlfahrt der Menschheit“ stellen. Unter den Bedingungen des Kalten Krieges sollte von „den Lebensinteressen eines geteilten Vaterlandes und einer friedvollen Welt ausgehend“ zur „Völkerversöhnung“, Wiedervereinigung und einem Europa in Frieden beigetragen werden. Ja, mehr noch, gerade durch die „Pflege der natürlichen Bindungen von Sprache und Volkszugehörigkeit und mit der Bejahung des gegenseitigen Ergänzungsbedürfnisses der Völker“ wollte der VDA „den weltweiten Gefahren des Völkerhasses und des Rassismus begegnen“. Insbesondere das Wissen um die „friedlichen Beiträge deutscher Auswanderer zum Aufblühen ihrer neuen Heimatländer“ versuchte man daher wachzuhalten: „Die Verbundenheit der Auslandsdeutschen und der deutschstämmigen Freunde Deutschlands mit der alten Heimat will der VDA als Kraftquelle für die Sache der Wiedervereinigung und des europäischen Friedens nutzbar machen“. Zitate aus: Präambel des VDA vom 5.7.1965, o. S., BArch B 432/72. 289 Zur 1925 gegründeten „Akademie zur wissenschaftlichen Erforschung und zur Pflege des Deutschtums – Deutsche Akademie“ vgl. Barbian, Auswärtige Kulturpolitik 2014, S. 72 f.

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beschreibt eindrücklich, wie das Feld der auswärtigen Kulturpolitik ebenso wie die Auslands- und Überseekunde nach dem Zweiten Weltkrieg desavouiert waren und sich die neue Institution daher deutlich von den eigenen historisch vorbelasteten Vorgängern abwenden musste.290 Nichtsdestotrotz ließ sich an ältere Interpretationslinien anknüpfen, wie an folgendem Zitat aus einer Denkschrift über die Aufgaben und das Arbeitsprogramm des Goethe-Instituts von 1951 deutlich wird, das ebenso aus den 1920er Jahren hätte stammen können: „Die Pflege und Förderung der deutschen Sprache im Ausland ist Kernstück deutscher Kultur- und Exportpolitik. Unsere geistige und wirtschaftliche Stellung in Europa hat in der Vergangenheit ganz wesentlich darauf beruht, daß Deutsch die meistgesprochene Sprache des Kontinents war. Die Entwicklung des Überseehandels folgte oder ging der Sprachausbreitung in anderen Erdteilen voraus […] Deutschland in seiner politischen Machtlosigkeit und inneren Spaltung besitzt in der Sprache das stärkste Instrument zu einer allgemeinen Besserung seiner Lage in der Welt.“291

Dass man in der Selbstdarstellung auf eine enge Verbindung von Sprachverbreitung und Exportchancen hinwies, war nicht nur „als Köder für potentielle Förderer aus der Wirtschaft gedacht“.292 Insbesondere bei der Eröffnung deutscher Sprachschulen in „Übersee“ arbeitete das Goethe-Institut in den 1950er Jahren eng mit den Hamburger und Bremer Ländervereinen zusammen. So wichtig das Goethe-Institut in den 1960er Jahren auch werden sollte, so unbedeutend war es insgesamt gesehen noch in den 1950er Jahren für die bundesrepublikanischen Außenhandelskreise. Überhaupt fällt beim Blick auf die bayerische Landeshauptstadt auf, dass die hier beheimateten Institutionen des „Auslandswissens“ vergleichsweise stark nach „Osteuropa“ und „Südosteuropa“ blickten und „Übersee“ nur selten eine große Aufmerksamkeit zollten.293 Man stilisierte sich in München zwar gern zur „Außenhandelszentrale Süddeutschlands“, hatte seinen Schwerpunkt aber eher im OstWest-Handel sowie im Handel mit „Südosteuropa“, da man im Bereich des „Überseehandels“ mit der übermächtig erscheinenden Konkurrenz aus den Hansestädten nicht glaubte mithalten zu können.294 290 Vgl. Michels, Goethe-Institut 2005, S. 224. 291 Das Goethe-Institut zur Förderung ausländischer Deutschlehrer: Aufgaben und Arbeitsprogramm, Aufzeichnungen Thierfelders vom 20.8.1951, o. S., BAK B307/110, zitiert nach: Ebd., S. 225. 292 Dies nimmt jedoch Michels an. Vgl. Michels, Goethe-Institut 2005, S. 226. Hier finden sich auch Aussagen zum Wunsch des Goethe-Instituts, sich wie sein Vorläufer aus Privatspenden zu finanzieren. Ein Versuch, der aber scheiterte. Allgemeine Aussagen zur Verwaltungsorganisation, zu Haushaltsplanungen und zur Personalpolitik des Goethe-Instituts bietet: Kathe, Kulturpolitik 2005. 293 Dies mündete Anfang der 1960er Jahre in der Gründung einer „Südosteuropa-Gesellschaft“, die eng mit dem ehemaligen Südost-Institut verbunden war. Zu dieser vgl. die Akte „Südosteuropa-Gesellschaft, München 1961–1973“, BArch B 145/9963. Vgl. zur Institution auch die zu Ehren ihrer herausragenden Mitglieder herausgegebenen Festschriften. Interessant in Bezug auf die Entwicklungsdebatten der 1960er und 1970er Jahre insbesondere: Althammer, Südosteuropa 1979. Die Kontinuität der „Kulturbodenforschung“ im Münchner Südost-Institut zwischen 1930 und 1960 hebt hervor: Seewann, Südost-Institut 2004. 294 Vgl. Röder, 20 Jahre Export-Club 1968, S. 22, Zitat ebd.

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Dass die hier herausgegriffenen Institutionen für „Süddeutschland“ heute als staatliche Einrichtungen des internationalen Kulturaustauschs und nicht als Wissensressourcen für Unternehmer gelten, ist dabei kein Zufall. Es versinnbildlicht erstens das Fehlen von Institutionen für ökonomisches Praktikerwissen in „Süddeutschland“ und zweitens, dass die Trennung zwischen Wirtschaft und Kultur in den 1950er Jahren nicht zu scharf gezogen werden darf. Insbesondere, wenn man den Blick auf die anderen genannten Institutionen des „Überseewissens“ in „Süddeutschland“ ausweiten würde, ließen sich zudem der niedrige Grad der personellen und institutionellen Ausstattung und die überwiegend regionale Vernetzung zeigen. Auch an ihnen würde sich aber die Verquickung kultureller, ökonomischer und zum Teil außenpolitischer Themensetzungen festmachen lassen. Dass Industrie- und Handelskammer-Ausschüsse bei der Informationsvermittlung in „Süddeutschland“ wichtiger waren als beispielsweise in „Norddeutschland“, zeigt deutlich den Mangel an einschlägigen Institutionen des „Überseewissens“. Man darf nicht vergessen, dass diese IHK-Ausschüsse erstens vor allem von Informationen aus dem „Norden“ der Republik profitierten und dass sie zweitens zwar regelmäßige Treffen abhielten, es sich aber nicht um mit festem Personal ausgestattete Institutionen handelte. Eigene Forschungsaufträge oder die Erstellung von überregional beachteten Handbüchern, die über reine Adressverzeichnisse hinausgingen, waren so gerade nicht möglich. Insgesamt muss man einen drastischen Rückstand gegenüber den anderen Wissensclustern konstatieren. Nichtsdestotrotz haben sich mit den oben genannten Institutionen nach und nach auch hier Kristallisationspunkte mit dem Potenzial überregionaler Bedeutung gebildet. Im Grunde ließe sich trefflich darüber streiten, ob in „Süddeutschland“ tatsächlich ein Wissenscluster bestand. Insbesondere die geografische Entfernung zwischen den Institutionen spricht dagegen. Auf persönlicher Ebene lassen sich Verbindungen allerdings vor allem dort nachweisen, wo das Personal der Institutionen sich ihre kulturpolitischen Sporen noch in der Deutschen Akademie vor 1945 verdient hatte295 oder wo Firmen wie Bosch mehrere Fertigungsanlagen unterhielten. Gemeinsam ist den „süddeutschen“ Institutionen des „Überseewissens“ vor allem das Bewusstsein ihres Rückstands. Selbst der erst 1950 ins Leben gerufene Hamburger Nah- und Mittelost-Verein konnte sich bereits 1952 leicht damit brüsten, dass das Interesse an den eigenen Veranstaltungen „bei den amtlichen Vertretern umso größer [sei], als ihnen die oft reichlich bedeutungslosen Kleinveranstaltungen mit föderalistischem Akzent (München, Stuttgart usw.) bereits auf die Nerven gehen“.296

295 Diese Generation blieb bis in die späten 1960er und frühen 1970er Jahre in wichtigen Ämtern vertreten. Aufgezeigt an der Person Thierfelders – der zwischen 1951 und Ende der 1960er Jahre zugleich Generalsekretär des Stuttgarter Instituts für Auslandsbeziehungen (IfA) als auch in der Leitung des Goethe-Instituts war – bei Michels, Goethe-Institut 2005, S. 3. 296 Geschäftsführung des Nah- und Mittelost-Verein an Senatskanzlei Hamburg, Schreiben vom 14.11.1952, o. S., Staatsarchiv Hamburg 131–1 II 4844.

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3.4 Wissenscluster West-Berlin? West-Berlin wird hier als letzter Ort des „Überseewissens“ herausgegriffen, obwohl die hier ansässigen Institutionen in der Nachkriegszeit ihren Einfluss weitgehend verloren. Es gilt aber zu ergründen, warum dies so war und wohin die vormals in Berlin ansässige Expertise abwanderte. Noch Ende 1943 hatte es ja in den Hamburger Institutionen berechtigte Befürchtungen gegeben, in Fragen der Auslandswissenschaften von Berlin an den Rand gedrängt zu werden.297 Insbesondere die „sehr stark betriebene Entfaltung der Auslandswissenschaftlichen Fakultät in Berlin“ wurde als Gefahr gesehen.298 Berlins Vorteil der geografischen Nähe zu den dortigen Reichministerien schien Hamburg nicht ausgleichen zu können. Hinzu kam, dass die Hauptstadt in der Beschäftigung mit kolonialen Gebieten und „überseeischen“ Kulturen eine lange Tradition vorzuweisen hatte.299 Bereits seit dem Kaiserreich waren in Berlin wichtige Institutionen der „Kolonial- und Auslandskunde“ ansässig gewesen.300 Insbesondere das mit der Universität in engem Kontakt stehende Seminar für Orientalische Sprachen, das sich mit allen deutschen Kolonialgebieten, darüber hinaus aber auch mit anderen Weltge297 Die Konkurrenz zwischen Berliner und Hamburger Standorten lässt sich also auch für die NSZeit leicht belegen. Eine aufschlussreiche Anekdote, die Brahm bietet, soll hier wiedergegeben werden: Kurz nach der Eroberung von Paris durch deutsche Truppen reiste der damals gerade erst zum Professor für Überseegeschichte und Kolonialpolitik ernannte Professor der Berliner Auslandswissenschaftlichen Fakultät, Egmont Zechlin, in die französische Metropole, um dort mehrere Tausend Bücher beschlagnahmen zu lassen, die dem Aufbau einer eigenen wissenschaftlichen Bibliothek des DAWI dienen sollten. Dass man sich diesen Wissensschatz aneignen wollte, ist bezeichnend für die Qualität der eigenen Buchbestände. Dennoch ist viel wichtiger hervorzuheben, dass der Berliner Professor bei seiner Akquirierungsaktion auf deutsche Konkurrenz aus Hamburg stieß. Denn auch der dortige Professor für Koloniale Bodenkunde, Paul Vageler, hielt sich genau zu diesem Zweck in Paris auf und beanspruchte das Material für sich. In letzter Konsequenz, so Brahm, verblieb das Material trotz dieser Begehrlichkeiten in Paris. Vgl. Brahm, Wissenschaft und Dekolonisation 2010, S. 45 f. Zu Berlin und Hamburg als Konkurrenten bei Standortfragen vgl. auch die Ausführungen zum Kolonialinstitut bei Ruppenthal, Kolonialismus 2007, S. 116–121. 298 Gerade deswegen wurde in Hamburg umso emphatischer die Unterstützung der „Kolonial- und Überseeforschung durch die Errichtung der Hohen Schule der N. S. D. A. P. in Hamburg“ begrüßt. Zu diesem Vorhaben vgl. Staatsarchiv Hamburg 361–5 II Gd 20/1. Alle Zitate aus: Aktennotiz über die Beziehungen zwischen Universität und Aussenstelle Hamburg der Hohen Schule vom 30.1.1943, o. S., in: ebd. Zum ambivalenten Verhältnis der Nationalsozialisten zu Berlin vgl. Thomas Schaarschmidt, Höhle des Löwen 2017. 299 Hier war u. a. seit 1896 das Kolonialwirtschaftliche Komitee beheimatet. Die Gründung des Seminars für Orientalische Sprachen datiert bereits auf das Jahr 1887, die der in Berlin ansässigen Deutsch-Japanischen Gesellschaft auf das Jahr 1888. Die Deutsch-Asiatische Gesellschaft wurde 1901 nach französischem Vorbild gegründet, um die deutschen Wirtschafts- und Kolonialinteressen zu fördern. Hinzu trat der Deutsch-Chinesische Verband, 1914 gegründet und mit der Deutsch-Asiatischen Gesellschaft 1920 zum Verband für den Fernen Osten vereint. Vgl. Zeller, Berliner Kolonialwirtschaft 2002, S. 81; Brahm, Wissenschaft und Dekolonisation 2010, S. 28–35 sowie Eberstein, OAV 2000, S. 209–212. Zeitgenössisch zur Lage des „Überseehandels“ in Berlin vgl. Reinhart, Berlins Stellung in der Weltwirtschaft 1939. 300 Sie waren allerdings weniger Orte des direkten Kontakts mit dem „Kolonialen“, als Orte des Blicks auf „Übersee“. Vgl. Ruppenthal, Kolonialismus 2007, S. 70.

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genden, befasste, ist hier zu nennen.301 Es war nicht allein Wissensproduzent, sondern auch deswegen von Bedeutung, weil es Übersetzer für das Auswärtige Amt und all diejenigen schulte, die eine Tätigkeit im Ausland aufnahmen: Missionare, Beamte, Offiziere, aber ebenso Privatpersonen, die nicht selten geschäftliche Interessen verfolgten. Auch der Berliner Centralverein für Handelsgeographie und Förderung Deutscher Interessen im Ausland spielte eine bedeutende Rolle.302 Zudem ist Berlin um die Jahrhundertwende die größte Industriestadt, die wichtigste Wissenschaftsmetropole und nicht zuletzt als Hauptstadt auch das politische Zentrum Deutschlands gewesen.303 Behörden der Kolonialverwaltung und Forschungsinstitute machten die „überseeischen Gebiete“ in der Stadt ebenso präsent wie Museen und Ausstellungen, Völkerschauen, Kongresse und Kulturveranstaltungen.304 Felix Brahm hat darauf hingewiesen, dass sich die Institutionen in Berlin dabei allerdings deutlich stärker auf die deutschen Kolonien konzentrierten als dies etwa in den Hafenstädten der Fall war, wo man sich gerade auch mit all denjenigen Regionen beschäftigte, „für die ein wirtschaftliches Interesse der lokalen ‚Überseewirtschaft‘ wahrgenommen wurde, unabhängig davon, ob es sich um Kolonien handelte oder nicht“.305 In Berlin war somit eher die „Kolonialkunde“, in Hamburg die „Auslands- und Überseekunde“ beheimatet. Zugleich mangelte es allerdings in der Reichshauptstadt nicht an Industrie- und Handelsunternehmen, die sich mit den „überseeischen Regionen“, nicht nur mit den deutschen Kolonien beschäftigten.306 So gesehen war Berlin in der Zeit des Hochimperialismus wichtige Kolonialmetropole im breiteren Sinn.307 Gewissermaßen war damit der Höhepunkt Berlins als Ort des „Überseewissens“ auch bereits erreicht. Denn schon der Erste Weltkrieg hatte die „Weltgeltung“ deutscher Wissenschaft und damit eben auch besonders den Wissenschaftsstandort Berlin infrage gestellt. Zwar hatten sich nicht nur hier renommierte Wissenschaftler in den Dienst der Kriegsführung gestellt, doch hatte dies in Berlin – wie Rüdiger vom Bruch feststellt – eine „verheerende Isolation“ zur Folge.308 Der Ruf der Hauptstadt als Ort der Wissenschaft von internationalem Rang reichte zwar noch bis in die 1930er Jahre hinein, war jedoch immer weniger durch die Geisteswissenschaften begründet. Vielmehr war er auf die Naturwissenschaften – versammelt am

301 Hierzu und zu dem Folgenden vgl. Brahm, Wissenschaft und Dekolonisation 2010, S. 28–35 und S. 43–46. Hier auch zahlreiche Verweise auf weitere Literatur. 302 An ihm beteiligten sich auch zahlreiche Nationalökonomen. Vgl. Paulmann, Regionen und Welten 2013, S. 673. 303 Zum umstrittenen Status Berlins und zur innerdeutschen Städtekonkurrenz im 20. Jahrhundert vgl. Schulze, Berlin in Europa 1993. 304 Vgl. Ruppenthal, Kolonialismus 2007, S. 64 f. Zu den Völkerschauen vgl. Dreesbach, Gezähmte Wilde 2005. Zur Präsenz von Werbung mit exotisierenden Kolonialmotiven vgl. Wolter, Vermarktung des Fremden 2005. 305 Brahm, Wissenschaft und Wirtschaft 2014, S. 125. 306 Vgl. Ruppenthal, Kolonialismus 2007, S. 67. 307 Vgl. Fischer, Berlin und die Weltwirtschaft 1989; van der Heyden/Zeller, Kolonialmetropole Berlin 2002. 308 Vom Bruch, Berliner Wissenschaftsgeschichte 2010, S. 30.

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Wissenschaftsstandort Dahlem309 mit den hier beheimateten Kaiser-Wilhelm-Instituten – zurückzuführen.310 Damit stand ein weiterhin hohes Prestige von Naturwissenschaften und Medizin dem Statusverlust der zum Teil bis dato „weltweit tonangebenden Geisteswissenschaften“ gegenüber, der auf „provinzielle Abgrenzung“ und innere Indienstnahme durch Volkstumsforschung zurückzuführen war. Mit diesem Abstieg war auch ein erster Niedergang von Institutionen verbunden, die sich mit „überseeischen“ Regionen und deren Exportmärkten beschäftigt hatten.311 Die Auswirkungen von Inflationszeit, Weltwirtschaftskrise und nationalsozialistischer „Machtergreifung“ auf die Wissenschaftslandschaft in Berlin ist hinlänglich bekannt.312 Wichtig für den vorliegenden Zusammenhang ist, dass bedeutende Wissenschaftseinrichtungen mit dem Forschungsgegenstand „Übersee“ in Berlin konzentriert blieben. Wenn von staatlicher Seite aus versucht wurde, der Zersplitterung des auslandskundlichen Wissens durch Zentralisierung abzuhelfen, dann richteten sich die Bemühungen stets auch auf Institutionen in der Hauptstadt. Zu einem gemeinsamen Zentrum für Auslandswissen kam es zwar auch im NS-Staat nicht. Dennoch wurde im Bereich der Auslandswissenschaften das Deutsche Auslandswissenschaftliche Institut (DAWI) u. a. deswegen in Berlin gegründet, weil es sich hier eng an Staats- und Parteiorganisationen, etwa die SS, den SD und das Auswärtige Amt, angliedern ließ.313 Felix Brahm hat gezeigt, wie sehr sich hier die lange erhobene Forderung nach einer „zentralen Kompetenzstelle für das Wissen von der Welt“ mit der völkischen Ideologie, mit expansiven geopolitischen Konzepten und rassistischen Deutungstraditionen verband.314 Dass das DAWI nach dem Kriegsende 1945 aufgelöst und die Mitarbeiter fristlos entlassen wurden, war nicht unbedingt eine Berliner Besonderheit. Jedoch gelang es hier in der Folgezeit weniger als an anderen Orten, an die eigenen Traditionen des „Überseewissens“ wieder anzuknüpfen. Das lag zum einen daran, dass die Stadt nach 1945 ihre politische und wirtschaftliche Bedeutung für Deutschland verlor. Berlin stand zwar noch immer im Fokus der deutschen und internationalen Öffentlichkeit, jedoch in erster Linie als symbolischer Mittelpunkt des Ost-West-Konflikts. Insbesondere der Westteil der Stadt büßte seine Bedeutung als industrielles und politisches Zentrum ein. Auch den wissenschaftlichen Institutionen der Stadt ging ihr Weltruf verloren, da der Zweite Weltkrieg nicht nur massive Zerstörungen der Infrastruktur, sondern auch den Wegzug zahlreicher Forscher und Forscherinnen zum Kriegsende zur Folge gehabt hatte.315 Zudem verstärkte die Teilung der Stadt die seit langem bestehende 309 310 311 312

Ein Ortsteil Zehlendorfs und damit später in der amerikanischen Besatzungszone liegend. Matthiesen, Eigenlogiken 2008, S. 128. Vgl. vom Bruch, Berliner Wissenschaftsgeschichte 2010, S. 30 f., Zitat ebd. Vgl. Grüttner, Berliner Universität 2012; Fischer, Preußische Akademie der Wissenschaften 2000; Rürup, Wissenschaft und Gesellschaft 1979. 313 Zwar war das Institut als „Auslandswissenschaftliche Fakultät“ Teil der Universität, jedoch fast jedwedem Einfluss der Universitätsgremien entzogen. Vgl. Brahm, Wissenschaft und Dekolonisation 2010, S. 30 f. Angaben auch in: Botsch, „Politische Wissenschaft“ 2006, S. 74 f. 314 Vgl. Brahm, Wissenschaft und Dekolonisation 2010, S. 30, Zitat ebd. 315 Zur Abwanderung von Wissenschaftlern aus Berlin in der Zusammenbruchsgesellschaft vgl. Hubenstorf/Walther, Politische Bedingungen 1994, S. 62 f.; Nolte: Bescheidener Neuaufbau 2010, S. 188.

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räumliche Trennung der Berliner Wissenschaftsinstitutionen.316 In letzter Konsequenz resultierte daraus eine erhebliche Zersplitterung der Forschung und durch den „Frontstadt“-Status auch eine „ideologische Polarisierung“ der vor Ort ansässigen Wissenschaften.317 Große Teile der Geisteswissenschaften – vor allem an der Humboldt-Universität – wurden schnell den sozialistischen Forschungsanforderungen unterworfen.318 Aber auch im Westteil der Stadt ordneten sich die Institutionen „gemäß den sektoralen politischen Magnetfeldern“ neu.319 Insgesamt, so Paul Nolte, vollzogen Wissenschaft und Forschung einen ähnlichen Strukturwandel wie die Industrie im Westteil der Stadt: Sie wanderten in die Bundesrepublik ab und bildeten dort neue „Gravitationszentren fernab von Berlin“.320 So zogen etwa die in Trümmern liegenden Forschungsinstitute der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft in die westlichen Besatzungszonen jenseits der Elbe: die Zentrale der Max-Planck-Gesellschaft – gewissermaßen die Nachfolgeorganisation der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft – siedelte nach München über, die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG), der Wissenschaftsrat und die Humboldt-Stiftung wurden nach Bonn verlegt.321 Im Bereich des „Überseewissens“ wurde insbesondere Hamburg Zielort dieser „Westdrift“ von Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen, vor allem jener, die zuvor am DAWI tätig gewesen waren.322 Es passt ins Bild, dass auch der 1934 in Berlin gegründete Orient-Verein sich 1950 als Nah- und Mittelost-Verein mit Sitz in Hamburg wiedergründete.323 Die daraus resultierende Strukturschwäche in der Berliner Wissenschaftslandschaft wurde auch zur Forschungsschwäche. Sie betraf nicht nur die Universitäten, sondern auch die Industrieforschung.324 So spielte auch die Zusammenarbeit von Universitäten und Unternehmen – anders als an anderen Standorten – nur noch eine Nebenrolle.325 Wichtige exportorientierte Firmen verlegten

316 Die Geisteswissenschaften waren überwiegend im historischen Stadtkern, die wichtigsten naturwissenschaftlichen Forschungsinstitute in den Randbereichen des urbanen Raums angesiedelt. Vgl. vom Bruch, Berliner Wissenschaftsgeschichte 2010, S. 29. 317 Ebd., S. 32. 318 Überhaupt lag der Großteil der wissenschaftlichen Institutionen Berlins nun im sowjetischen Sektor. Vgl. ebd. 319 Ebd., S. 31. Der französische Sektor verfügte dabei über die geringsten Ressourcen, im britischen Sektor wurden sie – durchaus mit Anleihen aus dem britischen Universitätssystem – als Technische Universität gebündelt, im US-amerikanischen Sektor bildeten die ehemaligen Institute der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft den Kern, aus dem schließlich die Freie Universität entstand. Die 1948 gegründete Freie Universität Berlin war zwar in der Nähe dieser älteren Wissensinfrastrukturen entstanden, konnte aber nicht nahtlos an diese anknüpfen. Vgl. ebd., S. 32; Matthiesen, Eigenlogiken 2008, S. 129; vgl. auch Jarausch, Gebrochene Traditionen 1999, S. 121–135. 320 Vgl. Nolte, Bescheidener Neuaufbau 2010, S. 189. 321 Vgl. ebd. 322 Vgl. Brahm, Wissenschaft und Dekolonisation 2010, S. 220, hier auch der Begriff der „Westdrift“. 323 Vgl. NuMoV, 70 Jahre 2004, S. 33 f. 324 Diese war schon lange vor der flächendeckenden De-Industrialisierung in den 1990er Jahren stark zurückgegangen. Vgl. Matthiesen, Eigenlogiken 2008, S. 131. 325 Vgl. Nolte, Bescheidener Neuaufbau 2010, S. 189.

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ihren Hauptsitz aus der „Frontstadt“ heraus.326 Von den Großunternehmen blieb nur die Firma Schering in der Stadt.327 Die Verschiebung in der Industrie- und Exportstruktur schwächte auch traditionelle wirtschaftsbürgerliche und wissenschaftsnahe Institutionen, die sich mit „Übersee“ beschäftigt hatten. Folgerichtig wurde etwa im Dezember 1952 die Deutsch-Iranische Handelskammer in Hamburg errichtet, obwohl diese vor dem Krieg noch in Berlin ansässig gewesen war.328 Durch die 1951 einsetzende Berlinförderung329, die arbeitsintensive Produkte bevorzugte und damit die industrielle Struktur hin zu auf lange Frist nur bedingt exportfähigen Produkten beeinflusste, kam es in – ohnehin im Vergleich mit dem Ostteil der Stadt unterindustrialisierten – West-Berlin noch einmal zu einem Bedeutungsverlust von Institutionen, die sich auf „überseeische Märkte“ konzentriert hatten.330 Ihr zentrales Merkmal ist der Statusverlust nach 1945. Nichtsdestotrotz existierten anfänglich noch kleinere innerstädtische Agglomerationen von „Übersee“-Institutionen. Diese waren vor allem in Berlin-Charlottenburg konzentriert: So lagen etwa die Deutsche Weltwirtschaftliche Gesellschaft, die Berliner-Absatz-Organisation (BAO), der Verein Berliner Kaufleute und Industrieller331 und der Deutsche Klub von Berlin nur wenige Straßen voneinander entfernt. Als wichtige Institution ist darüber hinaus die Vereinigung Berliner Im- und Exporte e. V. zu nennen, die allerdings nur bis Anfang 1951 bestand.332 Von Bedeutung 326 Vgl. hierzu die knappen Bemerkungen zur Wirtschaftsgeschichte West-Berlins bei Large, Berlin 2002, S. 443–454. 327 Einen Überblick über das Exportgeschäft von Schering bietet die Firmenfestschrift: o. A., Schering AG 1998, S. 169–216. 328 In Hamburg berief man sich dabei darauf, dass deren Gründung „einem ausgesprochenen Wunsch der iranischen amtlichen Vertretung und der staatlichen iranischen Kolonie Hamburgs“ entsprochen hätte und sich auch „Bundeswirtschaftsministerium, Spitzenverbände der Wirtschaft und Handelskammer“ der Standortwahl nicht verschlossen hätten. Interner Vermerk ohne weitere Angaben, o. S., Staatsarchiv Hamburg 131–1 II 4844. Vgl. auch Staatsarchiv Hamburg 613–4/15 11. Die Deutsch-Iranische Handelskammer hatte ihre Geschäftsstelle bis 1998 als Personal- und Bürogemeinschaft im Nah- und Mittelost-Verein. Vgl. NuMoV, 70 Jahre 2004, S. 35. 329 Die sogenannte „Berlinförderung“ war eine mehrfach modifizierte staatliche Maßnahme zum Ausgleich der wirtschaftlichen Standortnachteile West-Berlins. Sie setzte sich aus steuerlichen Vergünstigungen für Unternehmen und einer Bundeshilfe zur Deckung des West-Berliner Haushalts zusammen. Zur Anreizwirkung der Berlinförderung vgl. Schubert, Einfluß 1990; Müller, Forschung 1990. Vgl. auch die zahlreichen zeitgenössischen Studien des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW). Die quantitativen Auswirkungen auf den Export lassen sich entnehmen aus: Statistisches Jahrbuch für die Bundesrepublik Deutschland für das Jahr 1959, S. 278. 330 Zum Strukturwandel der West-Berliner Exporte vgl. Fischer, Berlin und die Weltwirtschaft 1989, S. 41–43 und S. 50–57. Berlin war in den Folgejahren zudem auch kein wichtiger Bankenplatz mehr. Zu Berlin als Bankenplatz vgl. Reitmayer, Bankiers 2000, S. 33 f. 331 Ursprünglich 1879 gegründet, geprägt von den Firmen Siemens, AEG, Borsig und Schering. 1933 gleichgeschaltet und arisiert. Seit 1948 wieder von den Alliierten zugelassen. Vgl. zur Zeit nach 1945 die abschließenden Bemerkungen bei: Biggeleben, „Bollwerk des Bürgertums“ 2006, S. 405–416. Vgl. auch Kniehahn/Schmitt, Verein Berliner Kaufleute und Industrieller 1958; o. A., Verein Berliner Kaufleute und Industrieller 1972. 332 Vgl. Geschäftsbericht über die Auflösung am 31.1.1951, BArch B 102/1772.

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waren ferner die universitären Institute der Stadt, insbesondere das Institut für ausländische Landwirtschaft.333 Zudem ist das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) zu nennen, das ähnlich wie das Ifo-Institut (München), das HWWA (Hamburg) und das IfW (Kiel) Gutachten für staatliche Stellen und Wirtschaftsverbände erstellte, und dabei auch Außenhandelsfragen bearbeitete.334 Es ist daher festzuhalten, dass West-Berlin zwar immer noch einige Institutionen aufwies, die sich mit Themen beschäftigten, die uns hier berühren. Zugleich muss aber auch festgehalten werden, wie sehr man sich in Berlin auf die Förderung des innerdeutschen Handels und auf internationale Institutionen des Kulturaustauschs konzentrierte.335 Diese Tendenz war sowohl Folge als auch Ursache von Firmenabwanderungen und der Etablierung einer vergleichsweise exportschwachen Industrie. Das zeigt auch ein Blick auf die BAO, die 1950 aufgrund der Absatzverluste der Berliner Wirtschaft infolge von Insellage und Blockade gegründet wurde. Diese Organisation bemühte sich zwar intensiv um international sichtbare Messeveranstaltungen in Berlin, in ihren Aktenbeständen ist aber kaum ein eingehendes Interesse an „Überseemärkten“ nachzuweisen.336 Am offensichtlichsten wurde die abnehmende Bedeutung Berlins bei der Beschäftigung mit „überseeischen Märkten“ allerdings in der Deutschen Weltwirtschaftlichen Gesellschaft e. V. (DWG).337 Sie war 1914 gegründet worden und hatte sich lange Zeit durch eine deutschlandweite Ausstrahlung und durch ein eng vernetztes Präsidium aus überregional bedeutenden Industriegrößen, Industrielobbyisten, Politikern, Universitätsangehörigen ausgezeichnet.338 Nach dem Zweiten Weltkrieg hatte die DWG gestützt auf diese einflussreichen Kontakte zwar noch einmal versucht, ein Vor333 Letzteres ist hier mit aufgeführt, weil von der Forschung die Bedeutung der Agrarmodernisierung und Agrarreform in den damaligen Entwicklungsdebatten hervorgehoben wurde. Vgl. mit Blick auf Indien: Unger, Industrialization or Agrarian Reform 2010, S. 47–65. 334 Eine kurze Geschichte der deutschen Wirtschaftsforschungsinstitute nach 1945 bietet Nützenadel, Stunde 2005, S. 92–99. 335 Zum innerdeutschen Handel vgl. u. a. Nakath, deutsch-deutsche Handelsbeziehungen 1993. 336 Die BAO betrieb vor allem Standortwerbung für Berlin und versprach Beratungs- und Serviceangebote für mittlere und kleinere Betriebe zur Erschließung neuer in- und ausländischer Märkte. Sie fungierte dadurch quasi als Außenwirtschaftsabteilung der IHK Berlin. Vgl. auch o. A., Berliner Absatzorganisation 1990; Wilitzki, Berliner Absatz-Organisation 1981, S. 856. 337 Zur Geschichte der DWG vgl. Leibrock, 50 Jahre 1964, die Nachkriegsgeschichte S. 10 f. Vgl. auch: ders., Deutschland und die Weltwirtschaft 1954. Es sind nur sehr wenige Archivbestände der DWG überliefert. Vgl. Berlin-Brandenburgisches Wirtschaftsarchiv V2/1. Im Besitz des Berlin-Brandenburgischen Wirtschaftsarchivs befinden sich allerdings die Bibliotheksbestände der DWG, die Auskunft über die zeitgenössischen Sammlungsschwerpunkte geben. Die DWG gab die Monatsschrift „Weltwirtschaft“ heraus. Zur DWG und ihrem Vorstand vgl. auch BArch B 102/005950 Heft 1. 338 Blickt man auf die Präsidenten und Vizepräsidenten sowie auf Vorstand und Beirat, so findet man hier Professoren neben Ministern, Leitern von Wirtschaftsforschungsinstituten, Vorsitzenden der Industrieinteressenvertretungsverbände, Vorständen wichtiger deutscher Unternehmen, IHK-Präsidenten und Chefredakteuren. Noch 1950 hatte das Präsidium aus Fritz Berg (Präsident BDI), Ferdinand Friedensburg (Präsident DIW), Friedrich Spennrath (Präsident der IHK zu Berlin, Vorstandsvorsitzender AEG, Berlin), Walter Pflaum (Rektor der TU Berlin), Ernst Reuter (Oberbürgermeister Groß-Berlin), Hans Böckler (Vorsitzender des DGB), Alfred Petersen (Vorsitzender DIHK, Bonn), Edwin Redslob (Rektor FU Berlin), Max Roscher und Otto

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tragsprogramm zu „Überseefragen“ – vor allem unter Rückgriff auf Fachexperten aus den Hansestädten – aufzubauen, war damit aber letztlich gescheitert. Für die 1950er Jahre muss sie noch als wichtige und anerkannte Institution gelten, die aber über die Stadtgrenzen hinweg mehr Einfluss hatte als innerhalb der Berliner Unternehmerschaft. In den 1960er Jahren büßte sie schließlich auch diesen ein.339 Ihre – immer seltener werdenden – Schriften wurden kaum noch zitiert, sie diente nicht mehr als Expertenpool oder als wichtiger Tagungsort. Fortan gab es in West-Berlin kein Zentrum mehr, in dem das praxisrelevante „Überseewissen“ in Außenhandelskreisen zirkulierte. Berlin war zu diesem Zeitpunkt längst auch kein wichtiger Verlagsort für Publikationen in diesem Bereich mehr.340 Insgesamt ist für die 1950er Jahre somit festzuhalten, dass die bis dato so wichtige Konkurrenz der „Überseeinstitutionen“ zwischen Berlin und Hamburg zugunsten der Hansestadt entschieden war. Die Berliner Kompetenzen und Experten gingen teilweise nach Bonn, führten aber auch zu einer Aufwertung der Landeshauptstädte und somit der regionalen politischen Metropolen. Während die exportstarken Unternehmen insbesondere in den Raum München abwanderten, bündelte sich die wissenschaftliche Expertise in „Überseefragen“ in Hamburg. Zudem ging auch die Nachfrage nach ökonomisch verwertbarem Wissen über „Übersee“ in Berlin (West) aufgrund der Verschiebungen in der Industriestruktur und des neuen Status als „Frontstadt“ zurück. 4. ZWISCHENFAZIT Mitte der 1950er Jahre hatte sich im bundesrepublikanischen Außenhandel die Vorstellungen etabliert, die „überseeischen Märkte“ wären so spezifisch, dass man für sie eine eigene Wissensinfrastruktur benötige. Bei deren Aufbau griff man auf Institutionen zurück, in denen schon Jahrzehnte zuvor Wissenschaftler, Händler und Gewerbetreibende damit begonnen hatten, ökonomisch relevantes Wissen über die verschiedenen Weltregionen zu sammeln. Dabei lösten sich diese teilweise aus ihren eigenen kolonialistischen Denktraditionen, als die „überseeischen Regionen“ als Märkte in sich entwickelnden Gebieten wahrgenommen wurden. Ziel der vorangegangenen Unterkapitel war es, das institutionelle Feld der zwischen 1945 und 1959 in der Bundesrepublik mit den „überseeischen Märkten“ beschäftigten und für die Außenhandelskreise relevanten Institutionen abzustecken und unterschiedlich bedeutsame Orte des Sprechens auszumachen. Dabei wurde Suhr (Stadtverordnetenvorsteher von Groß-Berlin) bestanden. Vgl. Berlin-Brandenburgisches Wirtschaftsarchiv V2/1. 339 Eine Ausnahme war die Feier zum 50jährigen Bestehen 1964, die noch einmal politische und ökonomische Prominenz zu einem Festakt in Berlin vereinigte. Vgl. DWG, Weltwirtschaft 1964. Die Gesellschaft bestand jedoch noch weiter, konnte aber auch von renommierten Vorstandsmitgliedern wie dem späteren Präsidenten des BDI, Rolf Rodenstock, nicht wiederbelebt werden. 340 Bspw. zog der Verlag Franz Vahlen nach Frankfurt am Main um. Zwar gab es thematisch relevante Bibliotheksbestände an den Universitäten und in der DWG, doch hatten diese nur eine geringe Ausstrahlungskraft in andere Regionen.

Zwischenfazit

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davon ausgegangen, dass nahräumliche Vernetzungen eine große Rolle spielten. Argumentiert wurde, dass die über Globalisierungsprozesse und Zukunftsmärkte hervorgebrachten Wahrnehmungsweisen maßgeblich durch Institutionen geformt, verwaltet und verbreitet wurden, die regional stark vernetzt und in den jeweiligen städtischen Bürgergesellschaften fest verankert waren. Aufgrund längerer historischer und industriestruktureller Pfadabhängigkeiten bildeten sich mehrere regionale Wissenscluster heraus, die untereinander in Konkurrenz standen. Sie unterschieden sich nicht zuletzt auch im Betroffenheitsgrad von der Globalisierung. Denn die jeweilige Industrie- und Handelsstruktur hatte Auswirkungen darauf, welche Produkte in „Übersee“ abgesetzt wurden, welche konkreten Außenhandelsprobleme sich auftaten und wie sinnvoll es schien, sich mit staatlichen Institutionen und Entscheidungsträgern im In- und Ausland zu vernetzen. Zudem wurde auf die Bindekraft zeitgenössischer regionaler Identitätskonstruktionen verwiesen, die sich durchaus als clusterfördernd verstehen lassen. Hoffnungshorizont der damaligen Zeit blieb sicherlich eine wieder erstarkte deutsche Nation, eine positive Identität stiften konnte diese vorerst jedoch kaum. Diese Bedeutung städtischer und regionaler Identitäten korrespondierte mit den zeitgenössischen Vernetzungsreichweiten. In sämtlichen Institutionen galten die „regionalen Wirtschaftskreise“ als vorrangiger Adressat, Träger und Expertenpool. Aus den Vorstellungen über regionale Wirtschaftseinheiten formten sich Wissenscluster, die für Unterschiede in den Industriestrukturen, den Außenhandelsinteressen, der Ausstattung mit Expertise und Informationen über Auslandsmärkte sowie dem Zugang zu politischen Entscheidungsgremien standen. Erhebliche Unterschiede zwischen den Clustern in Bezug auf die personelle und finanzielle Ausstattung sowie die Vernetzungsintensität wurden festgestellt. Nichts lässt darauf schließen, dass sich im Bereich des „Überseewissens“ bereits eine Kommunikationsstruktur etabliert hatte, die gleichmäßig über Handels- und Industriezentren verteilt gewesen sei, in der Informationen frei von räumlichen Begrenzungen zirkulierten. Noch weniger ist davon auszugehen, dass direkte persönliche internationale Kontakte – die im Einzelfall durchaus nachweisbar sind – eine derartige Bedeutung hatten, dass sie zum Ausgangspunkt der Analyse gemacht werden sollten. Auch wenn nicht ganz falsch ist, was man dazumal betonte, dass „oft noch die Verbindung mit Dakar oder Windhoek leichter herzustellen [sei] als etwa zwischen München und Hamburg“, so war das Ausmaß internationaler Kontakte insgesamt doch zu gering und zudem meist auf das „Auslandsdeutschtum“ in „Übersee“ beschränkt.341 Die Netzwerke waren regionale Netzwerke. Ein wirklich dichtes nationales Informationsnetz – zusammengehalten etwa durch ausgiebige Briefkontakte und regelmäßig abgehaltene überregional besetzte Ausschusssitzungen – sollte sich erst in den 1960er Jahren etablieren. Die bisherige Analyse hat gezeigt, wo im Bereich des „Überseewissens“ Verdichtungsräume existierten. Der methodische Zugriff über die Erforschung von Wissensclustern hatte dabei mehrere Vorteile: Die entscheidenden Wissensproduzenten konnten so benannt sowie deren Strategien des Wissenserwerbs und der Si341 Vgl. Brahm, Wissenschaft und Dekolonisation 2010, S. 222. Zitat aus: Splett, Nachwort 1957, S. 210.

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IV. Institutionen des Überseewissens

cherung einer einflussreichen Position in dem Wissensfeld gezeigt werden. So ließ sich die reale Interaktionsdichte zum Ausgangspunkt der Analyse und der Beschreibung des institutionellen Netzes machen. Zugleich konnte nach lokalen Unterschieden in der institutionellen Ausgestaltung gefragt werden. Der hier gewählte Zugriff führt zu einem fehlerhaften Eindruck, wenn er so interpretiert wird, als habe es innerhalb der einzelnen Wissenscluster keine Unterschiede gegeben. Dass hier von Clustern und von kollektiven institutionellen Lösungen die Rede war, bedeutet nicht, dass innerhalb der Cluster völlige Einhelligkeit in der Problemwahrnehmung herrschte oder dass sämtlichen Personen in dem regionalen geografischen Gebiet die gleichen Informationen zur Verfügung standen. Wissenscluster sind keine homogene Räume mit klaren Grenzen. Von Clustern zu sprechen, war erst einmal nur die Feststellung, dass sich themenspezifische Kommunikationsnetze räumlich ballten, d. h. dass in Clustern der Informationsaustausch größer war als zwischen ihnen. Von Wissensclustern zu reden und nach ihrer Existenz zu fragen, heißt dementsprechend erstens nicht, dass innerhalb der Cluster die Meinungsbildung völlig homogen erfolgte. Zweitens wird auch nicht behauptet, dass in den Clustern die Mechanismen der modernen Mediengesellschaft, mit bedeutsamen überregionalen Informationskanälen, außer Kraft gesetzt wurden. Der hohe Stellenwert des nahräumlichen Austauschs für die Wissenserzeugung und -plausibilisierung verweist aber darauf, dass das Globale auch in diesem Fall lokal eingebettet war. Anfang der 1960er Jahre geriet das bis dato eingespielte institutionelle Ensemble in erhebliche Unruhe. Warum dies so war und wie sich dies auf die Institutionen im Bereich des „Überseewissens“ auswirkte, zeigen die beiden nachfolgenden Kapitel.

V. NEUE CHANCEN UND NEUE PROBLEME 1. ÜBERSEEHANDEL ALS ENTWICKLUNGSGESCHÄFT Die gesamten 1960er Jahre waren davon geprägt, dass der Handel mit „Übersee“ als lohnenswertes „Entwicklungsgeschäft“ mit spezifischen Problemen wahrgenommen wurde. War der Grundtenor im zweiten Drittel der 1950er Jahre noch skeptisch gewesen, so nahmen bereits im ausgehenden Jahrzehnt hoffnungsvollere Töne vernehmbar zu. Diese Zuversicht resultierte zunächst aus dem Gefühl einer zurückgewonnenen Stärke und hatte relativ wenig mit den veränderten Bedingungen in den Exportregionen selbst zu tun. Das „Überseegeschäft“ sollte es Deutschland ermöglichen, seinen angestammten Platz als wichtigster Ausrüster mit industriellen Qualitätserzeugnissen in der Weltwirtschaft wieder einzunehmen. Zugleich war die Skepsis gegenüber einer auf Export basierenden deutschen Wirtschaft in Unternehmerkreisen noch deutlich zu spüren. Selbst in den Außenhandelskreisen blieb ein „gesunder“ deutscher Außenhandel lange Zeit gleichbedeutend mit einer intensiven Verflechtung der deutschen Wirtschaft im „europäischen“ Wirtschaftsraum. Dies spiegelten die Direktinvestitionen und Exportzuwächse auch in den 1960er Jahren wider.1 Am höchsten waren die privaten Direktinvestitionen in „Europa“. Erst danach und teilweise mit großem Abstand folgten die USA sowie „Mittel-“ und „Südamerika“, wobei – folgt man den Auflistungen des Diskussionskreises Entwicklungshilfe – Investoren vor allem aus den Branchen „Chemie, Elektro, Großeisen, Landwirtschaft und Forsten, Kfz/Fahrräder, Maschinen und Apparate, Oel/Benzin, Versicherungen, Banken“ kamen.2 Auch im Export3 war die ökonomische Verflechtung mit dem „europäischen Wirtschaftsraum“ am intensivsten. 85 Prozent des Gesamthandels der sechziger Jahre wickelte die Bundesrepublik durchschnittlich mit den „westlichen Industrieländern“ ab.4 So stellte der BDI Mitte der 1960er Jahre zu Recht fest: „Europa gewinnt als wichtigster Markt im Außenhandel der Bundesrepublik immer größeres Gewicht“.5 Parallel zu diesem Haupttrend der realwirtschaftlichen Verflechtung nährten um 1960 der Übergang ehemaliger Kolonialgebiete zur politischen und ökonomi-

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Vgl. Anhang, Tabelle 2 und 3. Der Gesamtbestand an Direktinvestitionen lag dabei jedoch 1961 mit 4,1 Mrd. DM noch weit hinter dem Stand des Auslandsvermögens vor dem Ersten (ca. 30 Mrd. DM) und vor dem Zweiten Weltkrieg (ca. 20 Mrd. DM). Vor allem verglichen mit den Direktinvestitionen der USA (1961 = 120 Mrd. DM) erschien dies als zu niedrig. Diese Zahlen zitiert nach: Diskussionskreis Entwicklungshilfe, Förderung 1962, S. 1, RWWA 181-450-1. Zitiert nach: ebd., S. 3. Auflistung in absteigender Bedeutung. Vgl. Anhang, Tabelle 1. Vgl. Abelshauser, Wirtschaftsgeschichte 2005, S. 261. Jahresbericht des BDI 1963/1964, S. 64. Gemeint waren damit nie Teile des sogenannten „Ostblocks“. „Europa“ endete am „Eisernen Vorhang“.

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V. Neue Chancen und neue Probleme

schen Unabhängigkeit und die von diesen neuen Staaten erstellten Entwicklungspläne die Hoffnung der bundesrepublikanischen Außenhandelskreise. Typischerweise beschrieben deutsche Außenhandelskreise das Geschäft mit „Übersee“ nun als „aussichtsreich, wenn auch nicht risikofrei“, wie der BDI 1960 betonte.6 Zum einen hatten hemmende Faktoren in der Bundesrepublik selbst an Bedeutung verloren. Zum anderen waren aber auch die Hoffnungen auf eine baldige „Entwicklung“ in „Übersee“ gestiegen. Insbesondere in „Südamerika“, Indien und im „Nahen und Mittleren Osten“ schienen mittlerweile die Grundlagen für einen „deutschen Beitrag“ zur Industrialisierung dieser Regionen gelegt zu sein. Die neue Aufmerksamkeitskonjunktur war aber vor allem mit „Afrika“ verknüpft. Der in den Jahren zuvor für die Außenhandelskreise überwiegend uninteressante Markt, weckte nun Hoffnungen. Deutsche Unternehmer gingen davon aus, dass sie sich als erfahrene Ausrüster und technischer Berater hochentwickelter Industrieländer nun auch mit den Wirtschaften vormals kolonialen Gepräges stärker verflechten würden. Vier zentrale Veränderungen prägten die frühen 1960er Jahre: Erstens schalteten sich neue Gruppen innerhalb der deutschen Industrie in das „Überseegeschäft“ mit ein. Zweitens kam es zu einem erhöhten Interesse an Themen der „Entwicklung“. Dadurch verschoben sich drittens die Themenschwerpunkte auf den Investitionsgüterexport und die Förderung und Absicherung von Direktinvestitionen. Viertens setzte der Staat darauf, die Industrie für die Aufgaben der „Entwicklungshilfe“ und für eine veränderte Handelspolitik zu gewinnen.7 Hintergrund war – so nahm es zumindest der Vorstand des BDI im Herbst 1960 wahr –, dass „aus allen Pressemeldungen, aus Besucherberichten und aus den Botschaftermeldungen aus den USA (…) ganz klar hervor [gehe], daß man der Bundesrepublik nicht weiter gestatten werde, sich als einziges unter den kapitalkräftigen Ländern aus der Entwicklungshilfe herauszuhalten. Hierbei dürfe nicht übersehen werden, daß sie innerhalb der NATO vergleichsweise nur die Hälfte des englischen Beitrages leiste. Es sei auch zu betonen, daß die Deutschen gewisse Verpflichtungen gegenüber jenen Staaten und Ländern haben.“8

Der Wirtschaftsminister und die mit diesem Themenkomplex befassten Staatssekretäre sprachen immer wieder bei den Industrievertretern vor, um diese für die neue Aufgabe zu gewinnen. Mit Verweis auf die große Verantwortung, die die Bun6 7

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BDI, Lateinamerika 1960, S. 37. Dies galt in abgeschwächter Form auch für die anderen Großräume. Die 1960er Jahre als formative Phase der deutschen „Entwicklungshilfekonzepte“ dargestellt bei: Schmidt, German Foreign Assistance Policy 2008. Hier sind auch die „Entwicklungspolitik“, die innerpolitischen Debatten und Entscheidungsprozesse, die Inszenierungsstrategien der „Entwicklungspolitiker“ sowie die Zahlungsströme kenntnisreich dargestellt. Vgl. ebd., S. 97– 143. Niederschrift über die Vorstandssitzung des BDI vom 23.9.1960, S. 7, BDI-Archiv HGF Pro 7/1, Karton 781. Diese Diskussion wurde mit Blick auf die Marshallplanhilfe geführt. Wilhelm Beutler (1897–1966) verwies beispielweise auf der Geschäftsführerkonferenz des BDI am 18.11.1960 – im direkten Rückgriff auf die deutschen Erfahrungen mit ausländischer Kapitalhilfe – auf die „berechtigten Wünsche des Auslandes nach verstärkter deutscher Mithilfe für die Entwicklungsländer“. Vgl. Niederschrift über die Geschäftsführerkonferenz vom 18.11.1960, S. 11, Zitate ebd., BDI-Archiv HGF Pro 7/1, Karton 781. Zu den US-amerikanischen Forderungen vgl. Schmidt, German Foreign Assistance Policy 2008, S. 94.

Die Entwicklungsanleihe 1960

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desrepublik „aufgrund ihrer Wirtschaftskraft gegenüber anderen Ländern der freien Welt“ habe, forderte beispielsweise Staatssekretär Dr. Westrick am 26. Januar 1962 vor dem Außenhandels-Ausschuss des BDI, „dass wir ihre Produkte abnehmen und ihnen den Zugang zu unseren Märkten öffnen“.9 Ziel müsse die Senkung der Zölle und Abgaben auf „tropische Erzeugnisse“ sein.10 Auch die deutsche Industrie müsse sich, so sein unmittelbarer Eindruck aus der letzten Ministerkonferenz beim GATT, darüber klar sein, dass die Forderungen der „afrikanischen Völker (…) auf die Dauer nicht in den Wind zu schlagen sein, wenn ernste, vielleicht irreparable politische Konsequenzen verhütet werden sollen“. Langfristig werde man versuchen müssen, in den „Entwicklungsländern“ die „einseitigen und labilen Produktionsstrukturen zu modifizieren und eine organische und vielfältige Wirtschaft aufzubauen“.11 Hierfür würden die Kompetenzen, aber auch das Geld der deutschen Industrie benötigt. Bundeskanzleramt und Wirtschaftsministerium erhofften sich von einem stärkeren Engagement der deutschen Industrie, das Ansehen der Bundesrepublik in der Welt zu steigern und die hohen Außenhandelsüberschüsse zu verringern. Das „Entwicklungsgeschäft“ wurde sogar erstmalig zum Angelpunkt einer größeren wirtschaftspolitischen Debatte, als 1960 eine Entwicklungsanleihe diskutiert wurde. 2. DIE ENTWICKLUNGSANLEIHE 1960 Der historische Hintergrund der Anleihe ist schnell skizziert: Weil drastische Einschnitte in der Exportförderung befürchtet wurden, regte der Direktor der Firma Voith in Heidenheim, Rupf, 1960 an, die Industrie solle aus dem Export stammendes überschüssiges Kapital dadurch aus der Bundesrepublik abziehen, dass es in die „Entwicklungshilfe“ flösse. In „voller Freiwilligkeit“ solle eine Anleihe von 1 Milliarde DM aufgebracht werden, um liquide Mittel in dieser Höhe „aus dem Verkehr zu ziehen“. Mit dem Geld sollte dann die Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) ungebundene Investitionskredite an „unterentwickelte Länder“ vergeben. Vorrangiges Ziel der Anleihe war es also, drastischere politische Einschnitte in die Exportförderung zu verhindern.12 Schnell stieß dieser Vorschlag auf prominente Unterstützung. Neben Rupf luden der Vorstandssprecher der Deutschen Bank, Hermann Josef Abs13, der Vor9 10 11

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Staatssekretär Dr. Westrick, Referat über „Die Aufgaben der Handelspolitik“ vor dem Aussenhandels-Ausschuss des BDI am 26.1.1962, S. 8, BDI-Archiv AH 56, Karton 415. Vgl. Ebd., S. 9, dort auch der verwendete Begriff. Mit den „labilen Produktionsstrukturen“ war die Abhängigkeit von Monokulturen gemeint. Da eine solche Umstrukturierung der „überseeischen Wirtschaften“ jedoch längere Zeit in Anspruch nehmen werde, seien aktuell Übergangsmaßnahmen, z. B. Rohstoffpreisabkommen, nötig. Vgl. ebd., S. 10, Zitat S. 9 f. Vgl. Niederschrift über die Vorstandssitzung des BDI vom 23.9.1960, S. 7, Zitat ebd., BDIArchiv HGF Pro 7/1, Karton 781. Zum „Zwangscharakter“ der Anleihe vgl. Reiter, Bundesanleihenkonsortium 1967, S. 168 f. Hermann Josef Abs (1901–1994), 1948 bis 1952 Vorstandsvorsitzender der KfW, 1957 bis 1967 Vorstandssprecher der Deutschen Bank AG, Inhaber zahlreicher Aufsichtsratsposten,

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V. Neue Chancen und neue Probleme

standsvorsitzende der AEG Hans Constantin Boden14 und der Bankier Robert Pferdmenges15 1960 befreundete Unternehmer zu einer Besprechung ein, um für die Entwicklungsanleihe zu werben.16 In einem Kreis von 60 Industriellen, Bankiers und Kaufleuten präsentierten sie sich als weitblickende und nüchterne Pragmatiker, die einen Ausgleich der politischen und ökonomischen Interessen anstrebten und zudem die Industrie vor größeren Zumutungen bewahren wollten.17 Auch der BDI unterstützte diesen Plan. Er verband damit ebenfalls die Hoffnung, dass die Entwicklungsanleihe, wenn ihre Aufbringung gelänge, „so durchschlagende Wirkung haben [werde], daß sie andere Maßnahmen überflüssig mache“.18 Geplant war zunächst, circa 250 führende Industrie- und Handelsunternehmen aller Branchen anzusprechen und auch die Banken und Versicherungen daran zu beteiligen.19 Sie sollten je 1 % ihres Umsatzes (!) für die Entwicklungsanleihe aufbringen. Aufgrund der Erhöhung der ursprünglich geplanten 1 Milliarde DM auf 1,5 Milliarden DM sahen sich die Industrievertreter indes bald dazu genötigt, den Kreis der beteiligten Firmen von den zunächst ins Auge gefassten Großunternehmen auf mittlere und kleinere Betriebe auszudehnen.20 In den folgenden Monaten ging es in den Industrie- und Branchenverbänden vor allem darum, die eigenen Mitglieder dazu zu bewegen, sich an der Anleihe zu beteiligen. Ganz allgemein stieß der BDI bei den Industriebranchenverbänden zwar auf Zustimmung. Die Entwicklungsanleihe schien „aus wirtschaftlichen und politischen Gründen unumgänglich notwendig“. Doch manche Branchen sahen sich zu

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enge Zusammenarbeit mit Konrad Adenauer. Zu den Kontakten zwischen Industrie – hier namentlich von Abs und Pferdmenges – und Bundeskanzler vgl. Berghahn, Unternehmer in der frühen Bundesrepublik. 2002, S. 288 und Ahrens, Kreditwirtschaft 2016, S. 129 f. Vgl. auch: Gall, Hermann Josef Abs 2004, S. 229–232; Grunenberg, Wundertäter 2007, S. 290. Hans Constantin Boden (1893–1970), Vorsitzender des Außenhandels-Ausschusses des BDI, Vorstandsvorsitzender der AEG, Inhaber zahlreicher Aufsichtsratsmandate, 1961–1965 Präsident der Internationalen Handelskammer in Paris, enge Kontakte zur Politik und darüber in internationale Verhandlungen der Bundesrepublik mit eingebunden. Zu dessen BDI-Tätigkeit vgl. Entwurf der Dankansprache von Herrn Präsident Berg für den scheidenden Vorsitzenden Herrn Dr. Boden in der Sitzung des Aussenhandels-Ausschusses am 10.7.1964, BDI-Archiv AH 56, Karton 415. Inhaltlich aufschlussreich: Boden, Weltwirtschaft 1962. Robert Pferdmenges (1880–1962), Bankier, Mitbegründer der CDU in NRW (genauer: im Rheinland), Bundestagsabgeordneter, 1946 zum Präsidenten der IHK Köln gewählt, Präsident des Bundesverbandes deutscher Banken (BdB) (1951–1960). Vgl. Niederschrift über die Präsidialsitzung des BDI vom 28.11.1960, S. 1 f., BDI-Archiv HGF Pro 7/2, Karton 781. Vgl. Niederschrift über die Geschäftsführerkonferenz vom 18.11.1960, S. 11, BDI-Archiv HGF Pro 7/1, Karton 781. Ebd., S. 11 f. Vgl. Niederschrift über die Vorstandssitzung des BDI vom 23.9.1960, S. 7, BDI-Archiv HGF Pro 7/1, Karton 781. Vgl. Niederschrift über die Geschäftsführerkonferenz vom 18.11.1960, S. 12, BDI-Archiv HGF Pro 7/1, Karton 781. Zur Bedeutung kleiner und mittelständischer (Familien-)Unternehmen für den Wirtschaftsstandort Deutschland vgl. Berghoff, Moderne Unternehmensgeschichte 2004, S. 103–126.

Die Entwicklungsanleihe 1960

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einer Zahlung aufgrund ökonomischer Probleme nicht im Stande.21 Obendrein gab es Gegenwehr aus grundsätzlichen Überlegungen: Die einen waren nicht davon überzeugt, dass mittlerweile tatsächlich „Überliquidität“ vorhanden sei.22 Sie betonten, dass es eine „innenpolitische Notwendigkeit“ sei, das „Konjunkturüberhitzungsgerede endlich abzustellen“ – dass also gar kein wirtschaftspolitisch zwingender Grund für eine derartige Intervention existiere.23 Andere verwiesen darauf, dass die umfangreichen Investitionen deutscher Industrieunternehmen in den „unterentwickelten Ländern, die ohne Bundesgarantien und finanzielle Hilfe vorgenommen worden seien“, auch künftig der bessere Weg wären. Denn anders als über Kredite der KfW würde auf diese Weise „nicht nur verlorenes Kapital exportiert, sondern gleichzeitig die deutsche Arbeitskraft und Intelligenz diesen Ländern zur Verfügung gestellt“.24 Überhaupt – und das betraf nicht nur die Entwicklungsanleihe, sondern auch zahlreiche andere Anliegen – wurde betont, etwaige einmalige Spenden zu karitativen Zwecken seien nicht Aufgabe der Wirtschaft. Derartiges, so das Präsidium des BDI im Juni 1960 einmütig, sollte den Kirchen überlassen bleiben.25 Letztlich setzte sich aber die Option der Entwicklungsanleihe durch, weil sie als politisches Signal genutzt werden konnte. Sie war für die Wirtschaft „eine Art Visitenkarte“, mit der ihre Sprecher beim Bundeskanzler und im Kabinett drastischeren Maßnahmen die innere Berechtigung nehmen wollten.26 In Gremien und Vorträgen vor Unternehmern verwies BDI-Präsident Fritz Berg dann auch stets darauf, dass die Anleihe immer noch besser sei als eine Zwangsanleihe, die „mit einschneidenden Eingriffen (2,5 Mill. DM Anleihebetrag mit niedrigem Zins, aufzubringen von allen Einkommen über DM 50.000,-)“ einhergehen würde.27 Versehen mit dieser Drohkulisse und unter Werben einflussreicher Industrievertreter konnte bereits Ende November 1960 verkündet werden, dass bereits Zusagen in Höhe eines Gesamtaufkommens von etwa 1,2 Milliarden DM aus der gewerblichen Wirtschaft vorlägen.28 Nur wenige Wochen später gelang es dem BDI, in Abstimmung mit Konrad Adenauer und Ludwig Erhard zu erreichen, dass es bei 21 22 23 24 25 26 27 28

Vgl. Niederschrift über die Diskussion auf der Zusammenkunft vom 3.11.1960 über die Entwicklungsanleihe der deutschen Wirtschaft, S. 2, Zitat ebd., BDI-Archiv HGF Pro 7/1, Karton 781. Vgl. Niederschrift über die Geschäftsführerkonferenz vom 18.11.1960, S. 12, BDI-Archiv HGF Pro 7/1, Karton 781, Zitat ebd. Ebd., S. 11. Vgl. Niederschrift über die Diskussion auf der Zusammenkunft vom 3.11.1960 über die Entwicklungsanleihe der deutschen Wirtschaft, S. 4, Zitat ebd., BDI-Archiv HGF Pro 7/1, Karton 781. Vgl. Niederschrift über die Präsidialsitzung vom 7.6.1960, S. 5 f., Zitat ebd., BDI-Archiv HGF Pro 7/1, Karton 781. Vgl. Niederschrift über die Diskussion auf der Zusammenkunft vom 3.11.1960 über die Entwicklungsanleihe der deutschen Wirtschaft, S. 11, Zitat ebd., BDI-Archiv HGF Pro 7/1, Karton 781. Vgl. Niederschrift über die Präsidialsitzung des BDI vom 28.11.1960, S. 2, BDI-Archiv HGF Pro 7/2, Karton 781. Vgl. ebd., S. 3. Dass kurz vor Weihnachten 1960 immer noch 300 Millionen DM fehlten, veranlasste Fritz Berg und Robert Pferdmenges dazu, in einem gemeinsamen Schreiben an die 150

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V. Neue Chancen und neue Probleme

einer erfolgreichen freiwilligen Anleihe in der aktuellen Legislaturperiode keine zusätzlichen Maßnahmen wie Zwangsanleihen und Ausgleichssteuern geben werde.29 Die Entwicklungsanleihe eröffnete dadurch sogar neue Handlungsspielräume: So verband der Vorstand des BDI, in Person von Fritz Berg, die Entwicklungsanleihe schnell damit, Forderungen gegenüber dem Bundeswirtschaftsminister, dem Bundesfinanzminister und dem Bundeskanzler zu formulieren. Er beabsichtigte, künftig „alle Anlagen, die deutsche Firmen in unterentwickelten Ländern machen, als echte Kapitalanlagen abschreibungsmäßig vor den Anlagen im Inland zu bevorzugen“.30 Mit Verweis auf die historische Globalisierungserfahrung der Engländer, „die hundert und mehr Jahre lang eine passive Handelsbilanz, aber eine aktive Zahlungsbilanz“ dazu genutzt hätten, Anlagen in ihren eigenen Kolonien steuerlich stark zu unterstützen, forderte er hohe Abschreibungsraten auf Direktinvestitionen.31 3. DIREKTINVESTITIONEN UND INVESTITIONSGÜTEREXPORTE Auch in den Folgejahren sahen sich die Vertreter der Investitionsgüterindustrie veranlasst, die steuerliche Begünstigung von Auslandsanlagen einzufordern und Eingriffen in das bestehende Förderinstrumentarium entgegenzutreten.32 Denn ihrer Meinung nach waren „Privatinvestitionen in besonderem Maße geeignet, zu einem gesunden Aufbau der wirtschaftlich noch weniger entwickelten Länder beizutragen“.33 Eine Äußerung, die in den kommenden Jahren zum Standardrepertoire gehören sollte und sich auch durch statistisches Material untermauern ließ. So war neben einer Auflistung der Zahlen über die öffentlichen und privaten Leistungen der Bundesrepublik Deutschland an die „Entwicklungsländer“ im BDI-Jahresbericht von 1966 zu lesen:

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größten deutschen Firmen zu appellieren, diesen Restbetrag aufzubringen. Das Schreiben vom 16.12.1960 ist enthalten in: BDI-Archiv HGF Pro 7/2, Karton 781. Vgl. Niederschrift über die Präsidial- und Vorstandssitzung des BDI vom 15.12.1960, S. 2, BDI-Archiv HGF Pro 7/2, Karton 781. Die Bedrohung des Exporthandels durch politische Maßnahmen zur Dämpfung der Exportkonjunktur alarmierte den BDI dann auch erst wieder 1964. Mit Blick auf die zuletzt niedrigeren Zuwächse des Außenhandels warnte er davor, „welche Gefahr etwaige Maßnahmen zur Dämpfung der Exportkonjunktur gerade für Lieferungen in die überseeischen Märkte mit sich bringen müßten, die schon heute rückläufig sind und zudem im Bezug auf Preise und Kreditbedingungen besonders scharfer Konkurrenz begegnen“. Jahresbericht des BDI 1963/1964, S. 64. Zu den Wirtschaftskonzeptionen Adenauers und Erhards vgl., Berghahn, Rheinischer Kapitalismus 2010; Hockerts, Adenauer 2016. Niederschrift über die Vorstandssitzung des BDI vom 23.9.1960, S. 7, BDI-Archiv HGF Pro 7/1, Karton 781. Gedacht war dabei an Abschreibungsraten von bis zu 50 % im ersten Jahr. Vgl. ebd. Zur Ausgestaltung des Entwicklungshilfe-Steuergesetzes und des § 6 ESTG vgl. Arbeitsgemeinschaft Entwicklungsländer, unternehmerisches Wagnis 1964, S. 15–20. Über die unterschiedlichen Positionen bei der Neujustierung der Steuern bieten die Jahresberichte des BDI aus den 1960er Jahren einen guten Überblick. Hier zitiert aus: Arbeitsgemeinschaft Entwicklungsländer, unternehmerisches Wagnis 1964, S. 3. Ähnliche Zitate ließen sich aber auch leicht für den Beginn der 1960er Jahre finden.

Direktinvestitionen und Investitionsgüterexporte

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„Die Erfahrung hat in der Vergangenheit immer wieder bestätigt, in welch wirkungsvoller Weise die privaten Direktinvestitionen zum wirtschaftlichen Aufbau der Entwicklungsländer beitragen. Bei denjenigen überseeischen Staaten, die auf der Schwelle vom Entwicklungsland zum Industriestaat stehen, war es primär die privatwirtschaftliche Initiative, die den Aufbauprozeß so nachhaltig vorangetrieben hat.“34

Damit wurde nun jene Auffassung auch von den bundesrepublikanischen Außenhandelskreisen vertreten, die seit Ende der 1950er Jahre schon einhellig von IWF, Weltbank und OEEC formuliert worden war.35 Dabei waren die Zukunftsaussichten Mitte der 1960er Jahren bei weitem nicht ungetrübt. Trotz der bisherigen Anstrengungen hatte sich weder eine günstige Position der „Entwicklungsländer“ im Welthandel ergeben, noch hatte sich deren durchschnittliches Pro-Kopf-Einkommen wie ursprünglich erwartet erhöht. Beispielsweise hatte sich ihr Anteil am Weltexport zwischen 1953 und 1964 von 27 Prozent auf 20 Prozent verringert. Zudem prognostizierten die Interessenvertretungen von Handel und Industrie einen dramatischen Anstieg des Defizits in den Handelsbilanzen dieser Länder und beklagten das Problem der Importlizenzen, die immer höheren Zollmauern zum Schutz der einheimischen Produktion und die zunehmende „Politisierung und Radikalisierung“ der Debatten auf den Welthandelskonferenzen.36 Hinzu kamen neue Unsicherheiten in den „Industrieländern“ selbst: Insbesondere die Pfundabwertung vom November 1967 und die zum Teil drastischen Maßnahmen der USA zur Sanierung ihrer Zahlungsbilanz, die sich im Herbst 1968 und im Frühjahr 1969 zu zwei Währungskrisen zuspitzten, wurden als Bedrohung der eigenen Weltmarktpositionen wahrgenommen.37 Direktinvestitionen versprachen, die damit verbundenen Auswirkungen zu lindern.38 34

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Jahresbericht des BDI 1965/1966, S. 70. Zu den Inszenierungsstrategien der „Entwicklungshilfe“ mit einem starken Hang, Belehrungen, Missionierung, Zivilisierung und Modernisierung hervorzuheben und auf die Dankbarkeit der „Entwicklungsobjekte“ zu verweisen, vgl. Büschel, Afrika helfen 2008, S. 350–353. Vgl. die Jahresberichte dieser Institutionen. Vgl. Jahresbericht des BDI 1965/1966, S. 68–73, Zitat S. 68. Zur deutschen Position auf der Welthandelskonferenz 1964 in Genf vgl. Bundesstelle für Außenhandelsinformation, Welthandelskonferenz 1964, S. 23–29. Dass bis in die erste Hälfte der 1960er Jahre hinein, politische Risiken kaum Einfluss auf Investitionsentscheidungen deutscher Unternehmer hatten, wird betont in: Schreiben der Arbeitsgemeinschaft der IHKs in Baden-Württemberg an die Mitglieder der Aussprachekreise Auslandsniederlassungen und Lizenzvergabe nach dem Ausland, an die Industrie- und Handelskammern in Baden-Württemberg und an den DIHT vom 3.9.1962, S. 5, RWWA 181-450-1. Auch die Währungsabwertungen in anderen europäischen Ländern, etwa Dänemark und Finnland wurden problematisiert. Vgl. Jahresbericht des BDI 1967/68, S. 70. Obwohl das Sozialprodukt in der Bundesrepublik 1967 nur minimal schrumpfte, waren die ökonomischen Krisenängste in der Öffentlichkeit und im Unternehmerlager groß. Vgl. Plumpe, Wirtschaftskrisen 2012, S. 94 f. Einzelne Industrieunternehmen hatten bereits Mitte der 1950er Jahre erste Direktinvestitionen getätigt: in Brasilien beispielsweise: Mannesmann 1952, Daimler-Benz 1953, Bosch, Krupp und Bayer 1954, BASF und Henkel 1955, Schering, Varta, VW und Boehringer Ingelheim 1956. Vgl. die Zusammenstellung in: Zeiß, Expansion 2013, S. 160–162. Die selbst Ende der 1960er Jahre noch weit verbreitete Skepsis gegenüber Direktinvestitionen lässt sich indes

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V. Neue Chancen und neue Probleme

Die deutsche Wirtschaft von Direktinvestitionen zu überzeugen, war jedoch nicht so einfach. Eine Wirtschaftskommission, die 1965 Indien besuchte, stellte die realen und mentalen Barrieren heraus: Insbesondere die schlechten Erfahrungen mit der Sicherheit von Auslandsanlagen, die nach wie vor verhältnismäßig schmale Eigenkapitalbasis und die Vollbeschäftigung in Deutschland wurden dabei problematisiert.39 So sehr die Steigerungsraten der Direktinvestitionen auch das Selbstbewusstsein in den Außenhandelskreisen stärkten, war nicht vergessen worden, dass man zuvor mit Kapitalanlagen im Ausland zwiespältige Erfahrungen gemacht hatte. Selbst 20 Jahre nach Kriegsende und nach zahlreichen Rückerstattungen und Entschädigungen des im Krieg enteigneten deutschen Besitzes sei daher, so die von der Industrie geführte Arbeitsgemeinschaft Entwicklungsländer, immer noch „eine gewisse psychologisch bedingte Zurückhaltung des deutschen Investors“ zu bemerken, die auf die „bittere Erfahrung, das Auslandsvermögen zweimal im Laufe einer Generation verloren zu haben“ zurückzuführen sei. Diese Erfahrung habe „zu einer gewissen Scheu vor dem Eingehen neuer Risiken geführt“. Man müsse, so die Forderung an inländische und ausländische Regierungen, also „dem deutschen Investor schon erheblich unter die Arme greifen, wenn man ihn trotz dieser Handicaps über die Risikoschwelle heben und zu einem neuen Engagement veranlassen will“.40 Insbesondere, da es „in der Regel einfacher und risikoloser“ sei, „in der Bundesrepublik oder der EWG, im EFTA-Raum, in den nordamerikanischen Industriestaaten oder in den europäischen Entwicklungsländern zu investieren als in den überseeischen Entwicklungsgebieten“.41 Diese Hinweise auf gewünschte steuerliche Anreize und die im Vergleich zu anderen Auslandsmärkten schwierigen Investitionsbedingungen waren Standardargumente. Selten fehlte auch der Verweis auf die schmale Eigenkapitalbasis deutscher Unternehmen. Gleichwohl der Wiederaufbau, „der alle Kraftquellen der deutschen Wirtschaft bis zum letzten beanspruchte“, im Wesentlichen abgeschlossen sei, stellten Investitionen zur Erhaltung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit, zur Rationalisierung des Produktionsapparates und zur ständigen Qualitätssteigerung der Erzeugnisse „weiterhin hohe Anforderungen an die Finanzkraft der Unternehmen“.42 Das waren recht allgemein gehaltene Aussagen über diffus höhere Risiken und die Begrenztheit finanzieller Mittel. Der Problemhorizont der Einzelunternehmer war demgegenüber durchaus konkreter. Insbesondere die Ratgeber, die für die zwar an „Entwicklungsgebieten“ interessierten, aber noch nicht dort vor Ort tätigen Firmen aufgelegt wurden, griffen diese Alltagsprobleme auf.43 Aus deren bereits vor Ort gesammelten „vielseitigen Erfahrungen“ sollten auch die Neulinge Nutzen zie-

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nachvollziehen in: HK Hamburg, Deutsche Direktinvestitionen 1969. Die Dokumentation beinhaltet auch zahlreiche Presseartikel zum Thema. Arbeitsgemeinschaft Entwicklungsländer, Investieren in Indien 1965, S. 11. Vgl. Ebd., S. 11 f. Ebd., S. 12. Ebd., S. 11. Diese Ratgeber sind durchaus zahlreich, weil mittelständische Unternehmer verstärkt für die Teilhabe an diesen Märkten gewonnen werden sollten. Der Jahresbericht des BDI von 1966 hielt beispielsweise fest, dass es dringend geboten sei, den „Kreis der in Entwicklungsländern investierenden Unternehmen allmählich zu erweitern und insbesondere auch mittlere Firmen zu sol-

Direktinvestitionen und Investitionsgüterexporte

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hen.44 Ein zusammen von AGE, BDI, DIHT, dem Bundesverband des Privaten Bankgewerbes, dem Gesamtverband des Deutschen Gross- und Aussenhandels und der Arbeitsgemeinschaft der Deutschen Exporteurvereine – das heißt von allen namhaften Institutionen des Außenhandels mit Ausnahme der Ländervereine – 1964 herausgegebener Leitfaden für Direktinvestitionen in „Entwicklungsländern“ listet die konkreten Schwierigkeiten des going oversea auf.45 „Bedenken Sie: nicht in jedem Entwicklungsland sind jederzeit Devisen für betriebswichtige Beschaffungen vorhanden; erhalten Sie immer rechtzeitig Aufenthalts- und Arbeitsbewilligungen; arbeitet das Elektrizitätswerk ohne Unterbrechung; haben Sie stets Wasser oder Gas, wenn Sie den Hahn aufdrehen; liegen Ersatzteile auf Abruf bereit; können Sie immer und nach jedem Ort telefonieren; dürfen Sie mit der Pünktlichkeit des Briefträgers rechnen.“46

Der Leitfaden, der für alle Firmen gedacht war, die sich mit dem Gedanken trugen, „den Sprung nach draußen zu wagen oder eine dort schon vorhandene Investition zu erweitern“, versammelte zugleich aber auch jene Gründe, die deutsche Unternehmen bis dato veranlasst hatten, sich in „Entwicklungsländern“ niederzulassen. Erstens ließen sich Importbeschränkungen umgehen, zweitens käme man bei einem frühzeitigen Investment den Konkurrenten möglicherweise zuvor, drittens würden viele Saaten solche Investitionen subventionieren, viertens wäre man bei Steuerbefreiungen und Zöllen der Begünstigte und fünftens sei es für die Zulieferer essentiell, den eigenen Abnehmern „in deren Kielwasser“ zu folgen.47 Obendrein könne es sechstens in manchen Wirtschaftszweigen sinnvoll sein, durch Direktinvestitionen die Versorgung mit Rohstoffen langfristig zu sichern oder siebtens der wachsenden Knappheit an Arbeitskräften in der Bundesrepublik zu begegnen.48 Durch den Bedeutungsgewinn der Direktinvestitionen wurden an zentralerer Stelle als zuvor bi- und internationale Abkommen zum Schutz der privaten Auslandsinvestitionen und zum freien Transfer von Unternehmensgewinnen diskutiert.49 Diese Themenbereiche waren auch im Handel mit den USA, Kanada oder Japan von Bedeutung. Nichtsdestotrotz wurden die Forderungen seitens Industrie und Handel vor allem mit Verweis auf die „Entwicklungsgebiete“ unterlegt, plausibilisiert und mit Handlungsaufforderungen versehen. In all diesen Diskussionen schlug sich ab Mitte der 1960er Jahre eine deutliche Skepsis gegenüber den Chancen in „Übersee“ nieder. Das führte aber nicht zu einem Rückgang der Direktinvestitionen. Der BDI hielt 1968 sowohl verwundert als auch stolz fest: „Das private

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chen Kapitalanlagen zu ermutigen“. Bislang seien über 71 Prozent aller deutschen Auslandsinvestitionen von nur 82 Firmen vorgenommen worden. Jahresbericht des BDI 1965/1966, S. 70. Ebd., S. 4. Vgl. Arbeitsgemeinschaft Entwicklungsländer, unternehmerisches Wagnis 1964, S. 10 f. Betont wurden zudem die vergleichsweise höheren Risiken und die daher umso wichtigere Kenntnis der Gefahren und der notwendige Mut für derartige Investitionen. Ebd., S. 11. Vgl. ebd., S. 9 f. Vgl. ebd., S. 10. Sämtliche unternehmerischen Interessenvertretungen waren an diesen Diskussionen beteiligt. Vgl. die diesbezüglichen Angaben in: Verein Hamburger Exporteure, 100 Jahre 2003, S. 38. Vgl. auch die Zusammenstellung der Risiken in: Arbeitsgemeinschaft Entwicklungsländer, unternehmerisches Wagnis. 1964, S. 9–12.

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V. Neue Chancen und neue Probleme

Kapital ist zwar so scheu wie eh und je, aber die Investoren haben offensichtlich gute Nerven bewiesen“ – was vor allem daran abgelesen wurde, dass die „afrikanischen Entwicklungsgebiete“ die höchsten Zuwachsraten bei den Direktinvestitionen aufwiesen.50 Das lag auch daran, dass sich gerade im Bereich der Direktinvestitionen die Informationslage zum Positiven veränderte. Zahlreiche Länder gaben nun eigene Prospekte für interessierte Investorenkreise heraus, betrieben also ein eigenes Standortmarketing und sorgten so für eine neue Informationsbasis. Vielerorts wurden Entwicklungsbanken gegründet, das heißt staatliche Investitionsbanken zur Förderung der Gründung von Industrieunternehmen durch Kreditgewährung und eventuell vorübergehende Kapitalbeteiligung. Diese erstellten mehrsprachige Übersichten über Möglichkeiten der Industrieansiedlung, boten Informationsmaterialien an und fungierten als Berater bei Modernisierungs-, Vergrößerungs- und Rationalisierungsinvestitionen. Deutsche Industrie- und Handelsvertreter wurden durch diese Stellen von neuen wirtschaftlichen Vorhaben informiert und über deren Gang unterrichtet.51 Auch die ausländischen Honorarkonsuln in Deutschland waren nun stärker als Informationslieferanten präsent und stießen nicht selten selbst Projekte wie Messen und Reisen von deutschen Industrievertretern an. Zudem erzeugten auch immer mehr internationale Organisationen, insbesondere die UN und die Weltbank, Wissen über „Entwicklungsprozesse“ und über industrielle „Entwicklungspotenziale“ einzelner Regionen.52 Weil neben den Direktinvestitionen der Investitionsgüterexport im Fokus des „Überseegeschäfts“ stand, drängten auch dessen Finanzierung und Absicherung in den Vordergrund. Beispielsweise betonte der BDI 1964, dass sich auf dem Gebiet der langfristigen Exportfinanzierung weiterhin „Wettbewerbsnachteile der deutschen Ausfuhrindustrie gegenüber der ausländischen Konkurrenz besonders nachteilig“ auswirkten. Während in anderen Staaten die Industrie „von den Finanzierungsaufgaben großzügig oder vollständig entlastet und dadurch in die Lage versetzt [werde], gegenüber den Kreditwünschen der Abnehmerländer sich sehr elastisch zu verhalten“, sei in der Bundesrepublik eine langfristige Ausfuhrfinanzierung weiterhin „nur bei Mithaftung des Exporteurs an den Finanzierungsrisiken möglich“.53 Die deutsche Industrie würde daher im Wettbewerb auf dem Weltmarkt künftig nur dann bestehen können, „wenn sie stärker als bisher von den langfristigen Exportrisiken entlastet wird“.54 Die Forderungen mündeten 1966 in einem 50 Jahresbericht des BDI 1967/68, S. 79, der verwendete Begriff ebd. 51 Diesbezügliche Informationen finden sich beispielsweise in den Protokollen der wichtigsten Außenhandelsgremien des BDI. Sie erreichten aber auch die Ländervereine. Vgl. u. a. die Protokolle in: BDI-Archiv AH 12, Karton 408. 52 Die Vorstellung, überstaatliche Institutionen könnten die wirtschaftliche Entwicklung fördern, war nach 1945 weit verbreitet. Gut belegt sind mittlerweile die diesbezüglichen Bemühungen einzelner internationaler Organisationen. Die Reichweite und Akzeptanz des von ihnen erzeugten Wissens wird in der historischen Forschung aber für die ersten Nachkriegsjahrzehnte weitgehend überschätzt. 53 Jahresbericht des BDI 1963/1964, S. 65. 54 Ebd. Eine Liste mit den 39 (!) wichtigsten Risiken bietet: Arbeitsgemeinschaft der Deutschen Exportvereine, Risiken im Übersee-Export 1965, o. S.

Banken und Rückversicherer

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Memorandum, in dem die Investitionsgüterindustrie „Sofortmaßnahmen zur Angleichung der deutschen Wettbewerbsbedingungen an die ausländische Konkurrenz“ forderte. Zwar könne man auf die günstige Entwicklung der Gesamtausfuhr verweisen, doch verschärften sich die Probleme bei den Investitionsgüterexporten. Insbesondere bei der Gewährung langfristiger Zahlungsziele habe sich der Vorsprung der anderen großen Industriestaaten „in der letzten Zeit noch vergrößert“, während man selbst unter Liquiditätsverknappung und dem hohen Zinsniveau in der Bundesrepublik leide.55 Gerade aber die Investitionsgüterindustrie sei zum Ausgleich des inländischen Nachfrageausfalls auf „verstärkten Export angewiesen, damit die Kapazitäten im Interesse einer wirtschaftlichen Fertigung ausgelastet und die Arbeitsplätze erhalten bleiben“. Angesichts der gegenwärtigen Kostensituation käme alles andere einem Substanzverlust gleich – und das, obwohl die deutschen Unternehmen ja ohnehin schon im Allgemeinen über eine weit geringere Eigenkapitalausstattung verfügten als ihre ausländischen Konkurrenten.56 Weil der langfristige Investitionsgüterexport ein wichtiger Indikator der technischen Leistungsfähigkeit der gesamten Industrie sei, müsse die Investitionsgüterindustrie in die Lage versetzt werden, sich an den großen Prestigeprojekten im Ausland zu beteiligen – insbesondere durch eine nochmalige Ausweitung der Refinanzierungsmöglichkeiten für den Export und höhere Bundesgarantien und -bürgschaften.57 Auf lange Sicht sollte das deutsche System der Exportfinanzierung grundsätzlich reformiert werden. Vor allem wurde die „Freistellung der Produktionsbetriebe von der ihnen wesensfremden Aufgabe der Finanzierung“ gefordert. Wege müssten gefunden werden, „durch die der Exporteur von seinem Finanzierungsobligo nach Ablauf der technischen Gewährleistungsfrist voll entlastet wird“. Dies sei, so das bereits bekannte Argument, keineswegs eine Besserstellung gegenüber der ausländischen Konkurrenz, sondern nur der Ausgleich für bisherige Wettbewerbsverzerrungen zu Lasten der deutschen Investitionsgüterindustrie.58 4. BANKEN UND RÜCKVERSICHERER Neue Themen rufen neue Akteure auf den Plan oder erhöhen die Relevanz vormals eher randständiger Personen und Institutionen. Insbesondere die Beschäftigung mit der Rechtssicherheit und der Absicherung von Auslandsinvestitionen führten so im Laufe der 1960er Jahre auch zu einem (wenn auch vorerst bescheidenen) Bedeutungsgewinn deutscher Banken und Rückversicherer im „Überseegeschäft“. Über beide Branchen beim going global deutscher Industrieunternehmen ist allerdings bislang wenig bekannt. Meist wird von der Forschungsliteratur nur auf die generell enge Verquickung von Banken und Großindustrie verwiesen.59 Diese Forschungs55 56 57 58 59

Vgl. Memorandum des BDI 1966, S. 1, Zitat ebd., BDI-Archiv AH 13, Karton 407. Ebd., S. 2, Zitate ebd. Vgl. ebd., S. 3 f. Vgl. ebd., S. 4, Zitate ebd. Prägend für die Nachkriegszeit war dabei die Vorstellung fast allmächtiger Kreditinstitute in den Aufsichtsräten und einer übergroßen „Macht der Banken“. Ausgehend von: Shonfield, Ge-

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V. Neue Chancen und neue Probleme

lücke kann und soll hier nicht geschlossen werden. Denn die Außenhandelskreise selbst nahmen ein höheres Gewicht beider Branchen erst ab Mitte der 1970er Jahre zur Kenntnis. Es ist dessen ungeachtet aufschlussreich, sich kurz deren Bedeutung in den 1960er Jahren zu vergegenwärtigen. Gleichsam typisch wie informativ sind die Diskussionen und Vorträge einer Sitzung des Beirats der AGE, d. h. dem Zusammenschluss der industriellen Spitzenverbände und des Außenhandels in „Entwicklungsfragen“, 1969. Die zu dieser Zusammenkunft eingeladenen Vertreter der Banken- und Versicherungsbranche hoben nämlich hervor, wie neu die Herausforderung „Übersee“ für sie sei.60 So sehr sie auch schon zuvor in Werbeannoncen ihre Weltläufigkeit betont hatten, es gab kaum deutsche Auslandsniederlassungen.61 Da in den Kolonien der Aufbau eines eigenen Bankensystems vor Ort und eines funktionierenden Kapitalmarkts nicht nötig beziehungsweise nicht möglich gewesen waren, so U. Siebel von der Deutschen Bank, habe erst die jüngste Unabhängigkeitswelle dazu geführt, dass es auch für deutsche Banken interessant wurde, dort eigene Dependancen zu errichten, um der „vermehrt in die Entwicklungsländer gehenden deutschen Industrie behilflich zu sein“. Doch noch waren die Bankfilialnetze in den „Entwicklungsländern“ fest in der Hand der „früheren Mutterländer“. Zudem, so der Vertreter der Deutschen Bank weiter, habe es den Banken bisher an geeigneten Mitarbeitern und an ausreichender Kapitalstärke gefehlt. Auch seien die Probleme bei der Beschaffung von Einlagen in den jeweiligen Landeswährungen kaum zu lösen gewesen. Hinzu käme, dass in den anfänglich dominierenden Exportgeschäften staatliche Sicherungen und nicht privatwirtschaftliche Finanzierungen entscheidend gewesen seien und folglich die großen deutschen Banken überhaupt erst spät in den deutschen Außenhandel integriert worden waren.62 Aufgrund dieser Probleme habe man versucht, sich an bereits bestehenden Bankinstituten zu beteiligen und kein eigenes Filialnetz aufzubauen. So seien mittlerweile „etwa 10 deutsche Banken an etwa 50 Banken in Entwicklungsländern, und zwar Geschäfts- wie Entwicklungsbanken, beteiligt“. Auch hätten die deutschen Geschäftsbanken ein Netz von Auslandsvertretungen aufgebaut. Jedoch erst kürzlich sei man dazu übergegangen, eigene Mitarbeiter an diese Beteiligungsbanken zu entsenden, um einen fortlaufenden Kontakt zwischen den entsprechenden Ländern und der interessierten deutschen Industrie gewährleisten zu können. Die beiden hanseatischen Spezialbanken Deutsch-Asiatische Bank und

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planter Kapitalismus 1968, S. 292–296. Insbesondere in den Debatten um ein „deutsches“ Kapitalismusmodell wird die zentrale Stellung der Banken immer wieder betont. Zur Vorstellung der alliierten Besatzungsmächte, die deutschen Großbanken hätten nicht nur bei der Arisierungs-, sondern auch bei der Expansions- und Rüstungspolitik eine wichtige Rolle gespielt, vgl. Ahrens, Kreditwirtschaft 2016, S. 126 f. Vgl. Siebel, Geschäftsbanken in Entwicklungsländern 1969, o. S., BArch B 102/313313. Siebel war Vertreter der Deutschen Bank. Nachfolgende Ausführungen beziehen sich auf diese Quellenangabe. Da die Quelle keine Seitenzählung enthält, wird darauf verzichtet, die Literaturangabe bei jedem weiteren Zitat zu wiederholen. Vgl. etwa die Werbeanzeige der Dresdner Bank in: ORIENT 4 (1963), o. S. Die Probleme der Außenhandelsbanken in den frühen 1950er Jahren beschreibt: Stitz-Ulrici, Außenhandelsförderung 1952, S. XX–XXIV. Von besonderer Bedeutung war dabei die KfW (Frankfurt am Main).

Banken und Rückversicherer

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Deutsche Überseeische Bank seien Sonderfälle, da nur diese über ein eigenes – wenn auch bescheidenes und regional spezialisiertes – Filialnetz verfügten.63 Im Zuge zunehmender Direktinvestitionen und des Vertriebs von kompletten Großanlagen wuchs auch die Bedeutung der Rückversicherer, insbesondere der Münchener Rück.64 Prinzipiell waren hier sehr ähnliche Gründe für deren späte Einschaltung in den Außenhandel wie bei den deutschen Banken ausschlaggebend65: Dass auf die Bürgschaften und Garantien des Bundes ohnehin nicht zu verzichten war, begrenzte den Markt auch für private Versicherungsunternehmen. Hinzu kam ein beträchtlicher Vorsprung der Versicherungen der früheren Kolonialmächte bei diesen Absicherungsgeschäften. Die Möglichkeiten blieben oftmals auch deswegen beschränkt, weil die Behörden vor Ort vermehrt forderten, dass sich ausländische Firmen bei den jeweiligen nationalen Gesellschaften zu versichern hätten. Da wiederum deren Bonität in deutschen Versicherungskreisen bezweifelt wurde und zudem erhebliche politische Abhängigkeiten dieser Institutionen befürchtet wurden, warnte der Vertreter der Münchener Rück die Außenhandelskreise davor, sich auf diese zu verlassen.66 Diese Versicherungen seien „aufgrund ihrer technischen Unkenntnis und des geringen Kapitals“ kaum in der Lage, die notwendigen Aufgaben zu übernehmen. Folglich empfahl er, Zusatzversicherungen in Deutschland abzuschließen. Auch wenn das „Entwicklungsgeschäft“ so trotz zahlreicher Beschränkungen für Rückversicherer ein lohnender Zukunftsmarkt sein konnte, beklagten selbst die großen deutschen Versicherer noch Ende der 1960er Jahre, dass sie bei den für sie meist ganz neuen Märkten nur über sehr wenig Statistiken verfügten und daher auch keine Basis zur Kalkulation der Risiken hätten.67 63

Die Deutsch-Asiatische Bank wurde 1953 in Hamburg wiedergegründet. Die DAB verfügte 1969 über eigene Niederlassungen in Hong Kong, Kuala Lumpur, Djakarta und Karachi, die DUB über eigene Niederlassungen in Buenos Aires und Rosario sowie Sao Paulo. Die DUB war vor dem Krieg in Berlin ansässig gewesen, zog dann aber nach Hamburg um. Sie konzentrierte sich vor allem auf ihr Filialnetz in Südamerika, das sie bereits in den 1950er Jahren ausbaute. Mitte der 1970er Jahre wurden DUB und DAB in die Deutsche Bank integriert. Vgl. Pohl, Deutsche Bank Buenos Aires 1987. Zur Vorgeschichte der DAB vgl. Müller-Jabusch, Fünfzig Jahre 1940. Zur Bank vgl. auch Staatsarchiv Hamburg 613–4/15 24. Zur Beteiligung der deutschen Großbanken am going global deutscher Industrieunternehmen vgl. Blomeyer, Präsenz 1969; Münchmeyer, Banks as Pioneers 1969, S. 23; o. A., Deutsche Banken entdecken Fernost 1972. 64 Als zweiter großer Rückversicherer der damaligen Zeit ist der Gerling-Konzern zu nennen. Dessen Bedeutung ist in historischer Perspektive aber bislang nicht hinreichend systematisch erforscht worden. Vgl. Kopper, Versicherungskonzerne 2016, S. 169. 65 Vgl. Burchard, Versicherungsmöglichkeiten 1969, o. S., BArch B 102/313313. SKH Burchard Prinz von Preussen gehörte zur Münchener Rückversicherungsgesellschaft. Auf der angegebenen Quelle basieren auch die nachfolgenden Überlegungen. Wegen der fehlenden Seitennummerierung der Originalquelle wird darauf verzichtet, die Zitate jeweils einzeln mit Fußnoten zu versehen. 66 Konkret genannt wurden: „Regierungseingriffe, vom Staat beeinflußte Gerichte, schleppende Abwicklung von Schäden etc.“. Ebd. 67 Auch die Allianz war anfänglich kaum in den Versicherungsschutz für international tätige deutsche Unternehmen eingeschaltet. Darauf verweisen: Eggenkämper/Modert/Pretzlik, Allianz 2015, S. 258 f.

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V. Neue Chancen und neue Probleme

All dies waren Gründe dafür, dass selbst Ende der 1960er Jahre die deutschen Versicherungsunternehmen und die deutschen Großbanken in den „Entwicklungsländern“ kaum vertreten waren. Folglich blieb die Absicherung des Investitionsgüterexports und der in den Zielregionen getätigten Direktinvestitionen vor allem Aufgabe des deutschen Staates. Die Klagen der Industrieverbände richteten sich so auch direkt an diesen. Sie kritisierten die Praxis der Exportkreditversicherung und forderten steuerliche und Abschreibungsanreize für Direktinvestitionen. 5. NACHWUCHSSORGEN Die Direktinvestitionen verschärften das Führungs- und Fachkräfteproblem. In den Industriebetrieben fiel auf, dass es an in Auslandstätigkeiten erfahrenen und kulturell anpassungsfähigen Mitarbeitern mangelte.68 Die internationale Verflechtung der deutschen Wirtschaft brachte einen steigenden Bedarf an Arbeitskräften mit sich, „die sich auf den Auslandsmärkten fremdsprachlich versiert und solide auf ihr Wirkungsfeld vorbereitet bewegen konnten“.69 In Zeiten der Vollbeschäftigung fehlte es aber zum einen an der Qualifikation, zum anderen an der Bereitschaft des deutschen Personals, wie H. Lorenz-Meyer von der Hamburger Firma Theodor Wille, auf dem vom Verein deutscher Maschinenbauanstalten (VDMA) veranstalteten „Aussenwirtschaftstag Maschinenbau“ am 29. Oktober 1964 in Wiesbaden unterstrich:70 „Immer schwerer wird es, unsere Jugend für eine Auslandstätigkeit zu interessieren, weil das bequeme Sicherheitsdenken fortschreitend Raum gewinnt. Es ist eine gemeinsame Pflicht der Aussenwirtschaft, solchen Tendenzen entgegenzutreten und dafür zu sorgen, dass Wagemut und Pioniergeist erhalten bleiben.“71

In zahlreichen Quellen aus den 1960er Jahren ist zu lesen, dass die in den ausländischen Produktionsstandorten von deutschen Firmen benötigten Fachkräfte kaum dazu zu bewegen seien, Deutschland zu verlassen, da sie aufgrund von Hochkonjunktur und Vollbeschäftigung – und dem damit einhergehenden hohen Lohnniveau in der Bundesrepublik – nur wenig Bereitschaft zeigten, „für einige Jahre ins Ausland zu gehen“. Die aktuelle Arbeitsmarktsituation in Deutschland verschärfte so das Kapitalproblem vieler Firmen, da sie diese zu einer kapitalintensiven Produktion in Deutschland und in „Übersee“ zwangen.72 68 69 70

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Hierzu vgl. Kapferer, German Private Investment 1966, S. 13 f.; Deutsche Gesellschaft für Personalführung, Fortbildung 1973, RWWA 352-21-15. Rückblickend so O. A., 25 Jahre CDC 1987, S. 4, RWWA 352-22-17. Beklagt wurde selbst Ende der 1970er noch der „Immobilismus der jungen deutschen Generation“. Aufstellung über den bisher geförderten Personenkreis (Stand 1979), S. 9, RWWA 35215-5. Zum Thema der „Auslandsmüdigkeit“ deutscher Studierender in den 1970er Jahren vgl. Granzow, bildungspolitische Ziele 1978, RWWA 352-22-17. Lorenz-Meyer, Bedeutung des Exporthandels 1964, S. 11, Archiv der IHK Mannheim MA 05 0302.0 # 4. H. Lorenz-Meyer gehörte zur Hamburger Firma Theodor Wille. Der Vortrag wurde auf dem vom Verein deutscher Maschinenbauanstalten (VDMA) veranstalteten „Aussenwirtschaftstag Maschinenbau“ in Wiesbaden gehalten. Vgl. Arbeitsgemeinschaft Entwicklungsländer, Investieren in Indien 1965, S. 11, Zitat ebd.

Nachwuchssorgen

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Das Nachwuchsproblem stellte sich aber nicht nur in den Industriebetrieben, sondern auch bei den als Informationsquellen und Ansprechpartnern so wichtigen Auslandskammern und im Auswärtigen Dienst des Auswärtigen Amts. So klagte die Arbeitsgruppe Auslandshandelskammern 1964 darüber, dass ein großer Teil der Geschäftsführer vor Ort überaltert sei und aufgrund der verhältnismäßig niedrigen Gehälter bei gleichzeitig hohen Inflationsraten ein Mangel an jungen und fähigen Personen herrsche.73 So seien beispielsweise die Kammern in Asunción, La Paz, Porto Alegre oder Caracas „reine Einmann-Betriebe, bei denen die durchschnittlich 70-jährigen Geschäftsführer bis vor kurzem nicht mehr als 300,- bis 600,- DM im Monat verdienten“. Diese idealistischen Kämpfer für „die deutsche Sache“ hätten vieles mit bescheidenden Mitteln versucht, doch erwarte man mittlerweile mehr von einer Auslandshandelskammer.74 So verdienstvoll ihre Tätigkeit auch gewesen sei, nun, Mitte des Jahrzehnts, sei die Zeit gekommen, die Professionalisierung voranzutreiben, hauptberufliche Geschäftsführer einzusetzen sowie in den Inlandskammern und im Ausland ausgebildete Nachwuchskräfte zu rekrutieren.75 Wieder verwies man hierzu auf die viel bessere Ausstattung insbesondere der US-amerikanischen und britischen Institutionen. Dass man zeitgenössisch den Eindruck hatte, dass andere Länder auf dem Gebiet der Außenhandelsinformation über einen Vorsprung verfügten, war sicherlich nicht ganz unberechtigt. Der Rückstand schien so evident, dass angesichts der begrenzten Finanzmittel gefordert wurde, „daß das Schwergewicht der finanziellen Förderungsmaßnahmen des Bundes (…) bei den überseeischen Kammern“ liegen solle. Da zahlreiche Großunternehmen mittlerweile ein Netz eigener Firmenniederlassungen unterhielten und damit auf die Auslandshandelskammern kaum noch angewiesen seien, müsse aber überprüft werden, „auf welchen Gebieten die Hauptaufgaben einer modernen Kammer“ fortan zu liegen hätten. Zudem könne die Großindustrie ihre Auslandsinteressen mittlerweile in unmittelbarem Kontakt mit den Organisationen der Partnerländer vertreten, etwa in den vom BDI angestoßenen gemischten Länderausschüssen.76 Die Auslandshandelskammern blieben zwar auch für die größeren Firmen als Organ der Meinungsbildung und zur Klärung von Einzelfragen nützlich, doch konzentrierten sich diese fortan stärker auf den Kreis der mittelständischen Unternehmen. Nach Meinung der bundesrepublikanischen Außenhandelskreise sah es auch in den staatlichen Informationsbehörden der Bundesrepublik in „Übersee“ nicht deut73

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Hier mit Bezug auf Südamerika: Vgl. Dr. Hipp, zitiert in: Sitzungsprotokoll der Arbeitsgruppe Auslandshandelskammern vom 10.01.1964, S. 1 f., RWWA 181-2074-3. Ähnlich auch: Auszüge aus den Ansprachen des Präsidenten des DIHT, Dr. Ernst Schneider, am 27. und 28. April 1965 im DIHT-Haus in Bonn anlässlich der Tagung der Deutschen Außenhandelskammern, „Weltweite Aktivität im Dienste der Wirtschaft“, RWWA 312–4. Das Problem war aber auch schon vorher virulent. Beispielsweise war 1959 der Geschäftsführer in La Paz bereits 70 Jahre alt. Vgl. Karl Albrecht: Notiz zur Tätigkeit einzelner deutscher Handelskammern in Südamerika, Juni 1959, S. 2, RWWA 70-137-11. Schreiben von Dr. Hipp an Hr. Ansperger (Präsident der IHK für die Pfalz) vom 3.9.1965, S. 4, RWWA 181-2074-3. Vgl. Schreiben Dr. Hipp an Dr. Schneider vom 3.11.1965, o. S., RWWA 181-2074-3. Vgl. Bericht über die Sitzung des Vorstandes des BDI-Aussenhandels-Ausschusses am 15.1.1969, S. 4, BDI-Archiv AH 19, Karton 411, Zitat ebd.

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V. Neue Chancen und neue Probleme

lich besser aus. Mit großem Interesse verfolgten sie daher die Ende der 1960er Jahre einsetzenden Bemühungen des Auswärtigen Amts, den Auswärtigen Dienst zu reformieren. Die Forderung aus dem Vorstand des BDI war dabei eindeutig: Der Wirtschaftsdienst der Konsulate und Botschaften „müsse attraktiver gestaltet werden, zumal es zahlreiche Länder gibt, in denen die wirtschaftlichen Probleme von größerer Bedeutung sind als die politischen“.77 Insbesondere sollten die Angehörigen des Auswärtigen Dienstes bei der Ausbildung und während ihrer Tätigkeit im Ausland engere Kontakte zur deutschen Wirtschaft pflegen. Um kompetente und landeskundliche Vertreter zu haben, forderten die Industrievertreter zudem die Verlängerung der Aufenthaltsdauer der Beamten in den einzelnen Ländern.78 Noch 1969 wurde im Industriekurier geklagt, dass die Botschaften „mit ihrer wirtschaftlichen Standardbesetzung von oft nur einem Fachmann und einer ausländischen Hilfskraft nicht im entferntesten in der Lage“ seien, „den Vorschriften zu folgen“. Sie legten kaum einmal eigene Analysen wirtschaftlicher Vorgänge vor, sondern beschränkten sich darauf, amtliche Statistiken oder Berichte des Internationalen Währungsfonds ins Deutsche zu übersetzen.79 Hinderlich sei zudem „der vielzitierte Geist des Auswärtigen Amtes“, insbesondere der „Korpsgeist der Beamtendiplomatie älterer Jahrgänge“, der selbst nach dem Geschmack mancher Diplomaten „noch zuviel Metternich-Prinzipien“ in sich trage.80 Dass es Ende der 1960er Jahre Schwierigkeiten bereitete, Nachwuchskräfte zu rekrutieren, hatte neben der guten Konjunkturlage in der Bundesrepublik auch mit einer veränderten öffentlichen Stimmung zu tun. Je stärker sich die deutsche Industrie mit Direktinvestitionen im Ausland engagierte, desto mehr Kritik zog dies auf sich. In den Ländern, die danach strebten „ihre neu entstehende Industrie vor Fremdbestimmung zu schützen und ausländische Investitionen den nationalen Zielen und Prioritäten nutzbar zu machen“, entstehe, so der BDI, zum Teil eine dem Investitionsklima nicht sehr freundliche Stimmung.81 So sah sich die deutsche Industrie verstärkt mit den Ängsten der Menschen und Regierungen in den Zielländern ihrer Direktinvestitionen konfrontiert. Immer häufiger bekamen ihre Repräsentanten auf ihren Reisen den Wunsch zu hören, durch ausländische Anlagen nicht überfremdet zu werden. Diese Vorwürfe wurden nicht nur im Ausland erhoben. Alarmierend war auch die veränderte Tonlage in der bundesrepublikanischen Öffentlichkeit. Die entwicklungspolitische Diskussion schien hier – aus Sicht der Interessenvertreter der Exportindustrie – durch eine „zunehmende Ideologisierung“ geprägt zu sein, die auch als Bedrohung für die steuerlichen Begünstigungen bei Direktinvestitionen wahrgenommen wurde. Zwar hatte es auch schon zuvor die Notwendigkeit gegeben, den Trend zu immer größer werdenden und Grenzen zu-

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Ebd. Vgl. ebd. Prüden, Hase und Igel 1969, S. 3. Ebd. Mit dem Bezug auf Metternich wurden vor allem ein Liberalisierungsrückstand sowie restaurative Tendenzen beklagt. Zur Positionierung der deutschen Diplomaten zum Nationalsozialismus und dessen Expansionspolitik vgl. Krüger, Diplomaten 1989. Vgl. Jahresbericht des BDI 1969/70, S. 165.

Zwischenfazit

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nehmend transzendendierenden Unternehmen zu begründen. Doch war dies mit kurzen Erklärungen folgender Art meist ohne großes Aufsehen erledigt worden: „Die Entwicklung zum Großunternehmen und Größtunternehmen ist im übrigen auch deshalb keine Gefahr für das Gleichgewicht in unserer Lebensordnung, weil wir ja in immer größere Märkte, in immer größere Zusammenhänge hineinwachsen; in diesen größeren Zusammenhängen gibt es heute schon, und wird es auch in Zukunft geben, [Unternehmen] die für das nötige Gegengewicht mehr als ausreichend sorgen. Sie wissen alle, daß all das, was wir in unserem Lande als Großunternehmen bezeichnen, gemessen an den Giganten insbesondere der amerikanischen Wirtschaft eigentlich nur mittelständische Unternehmen darstellen.“82

Damit ließ sich aber die Kritik an einem „Neokolonialismus“, der „die wirtschaftliche und politische Abhängigkeit dieser Länder perpetuiert und ihre Verarmung, nicht zuletzt durch den Retransfer angeblich hoher Gewinne, beschleunigt“, nicht mehr entkräften.83 Insbesondere der BDI versuchte durch eine bessere Öffentlichkeitsarbeit die deutschen Investitionsprojekte positiver darzustellen. Um aus dem „moralische[n] Engagement mit weitgehender Unkenntnis wirtschaftlicher Sachverhalte“ eine Wertschätzung des unternehmerischen Einsatzes als „Impuls zum wirtschaftlichen Aufbau und zur Verbesserung der sozialen Strukturen“ zu machen, erstellte der BDI mit Hilfe des Deutschen Industrie-Instituts Dokumentationen über die Rolle der deutschen Wirtschaft beim Aufbau der Entwicklungsländer und hielt Einzelfirmen dazu an, der Berichterstattung über ihre Investitionsprojekte „größere Aufmerksamkeit zu schenken“.84 6. ZWISCHENFAZIT Die Bundesrepublik Deutschland stand seit Mitte der 1960er Jahre an zweiter Stelle der „Welthandelsnationen“.85 Real stieg der Handel mit allen großen Weltregionen an. Zahlreiche Unternehmer konnten vom Dekolonisierungsprozess und den dadurch allerorten spürbaren Bemühungen um Wirtschaftswachstum profitieren. War die Industrie der Bundesrepublik zuerst nur ein Lieferant unter vielen, wurde sie 82 83

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Heintzeler, Freie Gesellschaft 1966, S. 37, Archiv der evangelischen Akademie Bad Boll BB 047. Wolfgang Heintzeler war Mitglied des Vorstandes der BASF und richtete sich in seinem Vortrag vor allem an protestantische Unternehmer. Jahresbericht des BDI 1969/70, S. 167. Zur „Dritten Welt“ als Politisierungsfaktor in der studentischen Protestbewegung vgl. Weitbrecht, Aufbruch 2012; Slobodian, Front 2012. Dinkel verweist darauf, dass in der Studentenbewegung die Kritik am amerikanischen Imperialismus die Kritik am europäischen Kolonialismus ablöste. Vgl. Dinkel, Dritte Welt 2014, S. 10. Das Scheitern moralischer Argumente in den Debatten um eine „Neue Weltwirtschaftsordnung“ bescheinigt: Eckel, Ambivalenz 2014, S. 790 f. Ebd.; Jahresbericht des BDI 1972/73, S. 158. Ralf Ahrens verweist darauf, dass zeitgleich auch das erste Mal in der Bundesrepublik grundsätzliche und öffentlichkeitswirksame Großbankenkritik laut wurde. Vgl. Ahrens, Kreditwirtschaft 2016, S. 132. Im Zuge der Kritik an den Direktinvestitionen gab es dann auch Sachverständigenausschüsse und eine neue Flut von Stellungnahmen und Thesenpapieren aus dem Unternehmerlager. Vgl. Archiv des Instituts für Zeitgeschichte München ED 708 A II 4/2.4. Arbeitsgemeinschaft Entwicklungsländer, unternehmerisches Wagnis 1964, S. 9.

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V. Neue Chancen und neue Probleme

zunehmend auch als Berater tätig; zudem war sie seit den 1960er Jahren auch als Kapitalgeber und Investor gefragt.86 Trotz einer schwierigen internationalen Konkurrenzsituation profitierte sie vom weltweit steigenden Bedarf an Investitionsgütern. Ein Erfolg, nicht zuletzt dank der „Entwicklungshilfepolitik der Bundesrepublik, die die ökonomischen und unternehmerischen Interessen stets im Blick hatte und aktiv zu fördern suchte“.87 Die 1960er Jahre brachten allerdings im Bereich des „Überseehandels“ auch zahlreiche Veränderungen mit sich. Dies lag erstens an Wandlungsprozessen in den Zielgebieten – zunehmende Verstaatlichungstendenzen, Anstieg der Staatsverschuldung, Enteignungen einerseits, die Unabhängigkeit zahlreicher Staaten und deren forcierte Industrialisierungsbestrebungen andererseits –, zweitens an den strukturellen Veränderungen im Welthandel und drittens an Veränderungen in der bundesrepublikanischen Exportindustrie und im Überseehandel selbst. Dies hatte drei Konsequenzen. Erstens wurde vehementer um ein zur Zeit passendes Exportförderinstrumentarium gekämpft, insbesondere um im internationalen Vergleich konkurrenzfähige langfristige Zahlungsbedingungen im Investitionsgüterexport. Zweitens wurden die Anstrengungen zu Direktinvestitionen intensiviert. Dies hatte vielfältige Konsequenzen. Hauptsächlich rückte das Fach- und Führungskräfteproblem mit unvermittelter Härte auf die zeitgenössische Agenda. Drittens wurde durch die sogenannte „erste Entwicklungsdekade“ das Thema „Entwicklung“ zum zentralen Fokus der Beschäftigung mit „Übersee“, und mit dem „Afrikajahr 1960“ ergab sich ein neuer regionaler Aufmerksamkeitsschwerpunkt. Dies führte um 1960 herum zu erheblicher Unruhe im institutionellen Netz im Bereich des praxisrelevanten „Überseewissens“. Sämtliche Institutionen bauten ihre Kompetenzbereiche aus und neue Institutionen schossen buchstäblich aus dem Boden. Das gesamte Netzwerk organisierte sich um und musste erneut eine stabile Form finden. Verstärkt durch den Wandel von Außenhandelsstruktur und Außenhandelsformen verschoben sich dabei die Machtverhältnisse zwischen den Wissensclustern. Dieser Umbruchphase gilt im Folgenden meine Aufmerksamkeit. Als erstes werde ich darstellen, wie die Beschäftigung mit „Übersee“ in Köln, Bonn, Düsseldorf, München, Stuttgart und Berlin ausgebaut wurde. In einem zweiten Schritt werde ich schildern, wie die Hamburger Antwort auf diese Herausforderung ausfiel, wie also die im Bereich des „Überseewissens“ maßgeblichen Institutionen der 1950er Jahre reagierten.

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Zu den diesbezüglichen Branchenunterschieden geben die Jahresberichte der nach Branchen gegliederten Interessenvertretungen Auskunft. Vgl. Unger, Export und Entwicklung 2012, Zitat S. 69.

VI. CLUSTER DES ENTWICKLUNGSWISSENS 1. VOM ÜBERSEEWISSEN ZUM ENTWICKLUNGSWISSEN In den 1960er Jahren beschäftigten sich die Außenhandelskreise intensiv mit der Realisierung von Direktinvestitionen. Das hatte zur Folge, dass sie sich nicht mehr nur um Kontakte zu Abnehmern und Vertretern in fremden Ländern bemühten, sondern sich auch mit den dortigen Arbeitskräften und ihrer Eignung für industrielle Produktionsprozesse, für das mittlere Management und für die Entscheidungspositionen vor Ort beschäftigten. Zugleich waren die 1960er Jahre die Hochphase der internationalen Entwicklungseuphorie. Die steigenden Direktinvestitionen, die internationale Aufmerksamkeit für die 1960 einsetzende „Entwicklungsdekade“1 und die parallel verlaufende Dekolonisierung in „Afrika“ führten in den bundesrepublikanischen Außenhandelskreisen zu einem beträchtlichen Aufmerksamkeitsschub für sogenannte „entwicklungsfähige Gebiete“.2 Resultierte die Zuversicht in den Außenhandelskreisen zuvor fast ausschließlich aus dem Gefühl einer zurückgewonnenen Stärke, so hatte sie nun zunehmend auch mit den veränderten Bedingungen in „Übersee“ selbst zu tun. Die 1960er Jahre waren erstens durch die verstärkte Wahrnehmung von Chancen in „Übersee“ und zweitens durch die Thematisierung neuer Risiken geprägt. Drittens interessierten sich nun auch neue Kreise der deutschen Industrie und dabei insbesondere mittelständische Unternehmer, die zuvor auf keine Firmengeschichte der Direktinvestitionen zurückblicken konnten, für „überseeische Märkte“. Diese Gruppe erhielt nun verstärkt Zugang zur vorhandenen Wissensinfrastruktur. Ihr gelang dies, weil einige der vormals die Institutionen prägenden Großunternehmen nun selbst genügend Ressourcen für den eigenständigen Erwerb des als nötig erachteten Wissens über „Übersee“ hatten und sich für zahlreiche Institutionen des „Überseewissens“ damit der Adressatenkreis änderte.3 1

2 3

Diese Bezeichnung wird hier so übernommen, weil sie in den Quellen immer wieder als Einschnitt wahrgenommen wurde. Das Konzept bezieht sich auf Kennedys Rede vor der UNVollversammlung und seiner Forderung nach einer „decade of development“. Allerdings wurde in den bundesrepublikanischen Außenhandelskreisen kaum einmal direkt Bezug auf die USamerikanische „Modernisierungspolitik“ genommen. Die „Entwicklungsdekade“ galt eher als Aufgabe des „Westens“, in der die bundesrepublikanischen Unternehmer einen wichtigen Beitrag leisten konnten. Der allgemeine Aufmerksamkeitsschub für „Afrika“ und die daraus hervorgehenden Veränderungen für die Wissenschaftslandschaft sind bereits von den Zeitgenossen bemerkt worden. Vgl. Ansprenger, African Studies 1967. Auch deswegen konzentrierten sich viele Institutionen des „Überseewissens“ nun verstärkt auf mittelständische Unternehmen. Wie stark die Institutionalisierung der Auslandsbeobachtung auf Unternehmensebene in den frühen 1960er Jahren vorangeschritten war und wie sich zugleich der Kreis der exportinteressierten Unternehmer erweiterte, davon zeugen die Bemerkungen von Auslandshandelskammern sowie Industrie- und Handelskammern: Da die Großunternehmen nun langsam eigene Abteilungen für das Auslandsgeschäft aufgestellt hätten, würden

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VI. Cluster des Entwicklungswissens

Nichtsdestotrotz blieben die Vertreter der Großunternehmen, nicht selten als Vorstands- oder Beiratsmitglieder, prägender Teil der Netzwerke. Die erste „Entwicklungsdekade“ hatte zwei weitere Folgen für das Wissensfeld „Übersee“: Zum einen verschob sich der Aufmerksamkeitsfokus der Außenhandelskreise stark auf „Afrika“; zum anderen wurden durch die Etablierung des Politikfelds „Entwicklungspolitik“ staatliche Akteure aufgewertet.4 Dadurch veränderte sich auch die Institutionenlandschaft des „Überseewissens“. Zahlreiche neue Institutionen – mit einem Fokus auf „Entwicklung“ – entstanden. Aber auch die traditionsreichen Organisationen veränderten ihre Schwerpunktsetzungen, erhöhten ihre personellen und finanziellen Ressourcen. Diese Anstrengungen stehen nachfolgend im Mittelpunkt. Denn sie zeigen, wie sich auf der institutionellen Ebene auswirkte, dass das „Überseewissen“ immer mehr zum „Entwicklungswissen“ wurde. Um dies zu zeigen, werde ich an die in Kapitel IV ausgebreitete These anknüpfen, es habe verschiedene Verdichtungsräume, Cluster, des „Überseewissens“ gegeben. Denn es stellt sich zugleich die Frage, ob sich, durch die neuen Möglichkeiten und andere inhaltliche Schwerpunkte, die Cluster auflösten oder sich ihre interne Hierarchie veränderte. 2. DIE HERAUSFORDERUNG Der Beginn der ersten „Entwicklungsdekade“ fiel für die bundesrepublikanischen Außenhandelskreise mit dem Afrikajahr (1960) zusammen.5 „Entwicklung“ schien ihnen in den frühen 1960er Jahren vor allem die „Entwicklung“ des sich dekoloni-

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sie sich nicht mehr so oft an die Auslandshandelskammern wenden. Stattdessen sei man jetzt mit zahlreichen Anfragen kleiner Betriebe konfrontiert. „Großunternehmen werden durch die Entwicklung des Exportgeschäftes, vornehmlich in Großanlagen, bis an die Grenze ihrer finanziellen Leistungsfähigkeit beansprucht, sind aber im allgemeinen in der Lage, ihre Probleme selbst zu lösen. Die reichlich zur Verfügung stehenden allgemeinen Informationen der IHK’s, der Verbände, der Auslandshandelskammern, der BfA usw. werden dort meist vernachlässigt.“ Vgl. Niederschrift über die Vormittags-Sitzung der Arbeitsgruppe Auslandshandelskammern im Deutschen Industrie- und Handelskammertag am 8.5.1962, S. 1–3, RWWA 181-2066-1; Zitat aus: Margot Cornely, Exposé über die Probleme des Aussenhandels mittlerer Unternehmen (11/1967), S. 3, Archiv der IHK Mannheim MA 05 0302.0 #5. Margot Cornely (*1916) war als Referentin für Außenwirtschaft bei der IHK Mannheim die einzige Frau, die in den Quellen immer wieder als anerkannte Expertin auftaucht. Zwar wurden bereits 1956 erstmals Mittel für die „Entwicklungshilfe“ bereitgestellt, von entscheidender Bedeutung war aber erst die Gründung des BMZ 1961 und die Errichtung der DEG 1962. Zur Frühgeschichte der „Entwicklungspolitik“ in der Bundesrepublik vgl. Hein, Entwicklungspolitik 2005, S. 11–36. Zur „postkolonialen Aufbruchsstimmung“ bezüglich „Afrika“ in den politischen Gremien der Bundesrepublik vgl. Engel, Afrikapolitik 2000, insbesondere S. 39–56 und S. 117–145. Zusätzlich mit Aussagen über die Kirchen, Gewerkschaften und Industrieverbände: Stiers, Perzeptionen 1983. Zur debattenreichen Reformphase der bundesrepublikanischen „Entwicklungspolitik“ vgl. Hein, Entwicklungspolitik 2005. Einen Überblick über die in der Bundesrepublik Deutschland mit „Afrika“ befassten Institutionen und den von ihnen verfolgten Ansätzen bietet: Kapferer, Wirtschaftswissenschaften 1962. Zu den „Entwicklungsdekaden“ und deren wechselnden Zielen vgl. Büschel, Entwicklungspolitik 2010.

Die Herausforderung

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sierenden „Afrikas“ zu meinen.6 Dies hatte wenige Jahre zuvor noch anders ausgesehen. Erinnert sei hier noch einmal an die Goodwill-Mission nach Ghana und Nigeria im Jahre 1957, die ausschließlich aufgrund diplomatischer Verpflichtungen tatsächlich durchgeführt wurde und nur sehr wenig Aufmerksamkeit, geschweige denn Euphorie, in der deutschen Industrie ausgelöst hatte. Zu diesem Zeitpunkt wurde noch festgehalten, dass beide Länder als (frühere7) englische Kolonien „dem Interessengebiet des deutschen Unternehmers bisher ziemlich fern“ lägen und „die Kenntnis der Struktur dieser Länder, der Möglichkeiten und der Aussichten für Anlagen (…) – ausser bei den traditionellen Afrika-Firmen – wenig verbreitet“ ist.8 Dies wurde zwar auch bedauert, es waren in den Reiseberichten aber keine Forderungen nach einem vordringlichen Ausbau der Kontakte mit und des Informationswesens über „Afrika“ zu vernehmen. Nun, ab 1960, drehten sich – fast schon plötzlich – zahlreiche Debatten, die zuvor anhand von „Ibero-Amerika“, dem „Nahen und Mittleren Osten“ sowie dem „indischen Subkontinent“ geführt worden waren, um den afrikanischen Wirtschafts- und Kulturraum.9 Man darf diese Verschiebung des Aufmerksamkeitshorizonts nicht falsch interpretieren: „Afrika“ ersetzte nicht die Beschäftigung mit anderen Weltregionen, es setzte aber ein neuerlicher Institutionalisierungsschub ein. Selbst der in der vorherigen Dekade zentrale Ibero-Amerika-Verein hielt in einem allgemeinen Rundschreiben 1960 fest, man habe zu befürchten, dass im Zusammenhang mit Fragen der Entwicklungshilfe „Iberoamerika“ plötzlich kein Schwerpunkt für die Maßnahmen der Bundesrepublik Deutschland mehr sei. In zahlreichen Reden und Erklärungen „von verschiedenen massgebenden Leuten“ sei „direkt oder indirekt eine Diskriminierung Iberoamerikas in der Entwicklungshilfe“ zugunsten „Afrikas“ gefordert worden. Hierbei sei der Eindruck erweckt worden, dass „wir den Vereinigten Staaten das Schwergewicht der Entwicklungshilfe in Iberoamerika überlassen und dafür eine umso stärkere Hilfe afrikanischen sowie Nahund Mittelost-Staaten zukommen lassen sollten“. Diese Auffassung schien bereits so verbreitet zu sein, dass der Vorstand des IAV meinte, beim Bundeskanzler, dem Außenminister, dem Bundeswirtschaftsminister und dem Bundesfinanzminister vehement intervenieren zu müssen.10 Dieser Personenkreis war auch deswegen der richtige Ansprechpartner, weil sich in den 1960er Jahren die Bedeutung des Staates als „Geber“ von „Entwicklungshilfe“, als Gesetzgeber sowie als Ansprechpartner und Wissensproduzenten erhöhte. Die Beschäftigung mit „Übersee“ wurde damit zum einen verstärkt politisiert, zum anderen wurden jene Institutionen aufgewertet, die sich in direkter räumlicher Nähe zum politischen Zentrum der Bundesrepublik befanden. Und dies wa6 7 8 9 10

In der US-amerikanischen „Entwicklungspolitik“ liegt dabei vergleichsweise ein stärkerer Fokus auf Vietnam und „Lateinamerika“. Ghana erklärte am 6.3.1957 seine Unabhängigkeit, Nigeria wurde 1960 unabhängig. Brands, Wirtschaftskommission 1957, S. 6, BArch B 116/21459. Die bedeutende Rolle Indiens im „Entwicklungsdiskurs“ und dessen Schwerindustrialisierung zeigt: Unger, Rourkela 2008. Allgemeines Rundschreiben Ibero-Amerika-Verein Nr. 19/60 vom 15.12.1960, o. S., BArch B 145/3364, vorangegangene Zitate ebd.

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VI. Cluster des Entwicklungswissens

ren eben nicht die bisher in „Überseefragen“ tonangebende Institutionen. Gerade weil der Staat nun verstärkt in die „Entwicklungshilfe“ und damit auch ins „Entwicklungsgeschäft“ drängte, versuchten die mit dem Thema beschäftigten Ministerien einen Überblick über die zentralen Institutionen des „Überseewissens“ zu gewinnen. So kam 1960 auch folgende Liste des Auswärtigen Amts zustande, die die außerhalb von Bonn befindlichen, als wichtige Partner anerkannten deutschen Institutionen aufzählte, die sich zu Beginn der „Entwicklungsdekade“ mit „Entwicklungshilfe“ beschäftigten:11 In Hamburg der Afrika-Verein, der Nah- und Mittelostverein, der Ibero-Amerika-Verein, der Ostasiatische Verein, das Institut für Asienkunde, das Ibero-Amerikanisches Forschungsinstitut, die Deutsche OrientStiftung, das Bernhard-Nocht-Institut für Schiffs- und Tropenkrankheiten und das Hamburgische Welt-Wirtschafts-Archiv. In Bremen der Bremer Ausschuss für Wirtschaftsforschung und in Kiel das Institut für Weltwirtschaft. In Köln die Arbeitsgemeinschaft „Entwicklungsländer“ beim BDI12, die Carl Duisberg Gesellschaft, das Deutsche Industrie-Institut, das Institut für Selbsthilfe e. V., das Forschungsinstitut für Sozial- und Verwaltungswissenschaften an der Universität Köln, das Institut für Wirtschaftspolitik an der Universität zu Köln, das Wirtschaftswissenschaftliche Institut der Gewerkschaften GmbH, das UNESCO-Institut für soziale Wissenschaften und das Seminar für Genossenschaftswesen der Universität Köln. In Frankfurt am Main das Rationalisierungs-Kuratorium der Deutschen Wirtschaft e. V., das Institut für Sozialforschung und das Institut für Sozialarbeit und Erziehungshilfe. In Berlin das Institut für Ausländische Landwirtschaft, das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung und das Institut für politische Wissenschaft e. V. In München das Deutsche Wirtschaftswissenschaftliche Institut, das Ifo-Institut für Wirtschaftsforschung e. V. und das Institut für Sozialpolitik. Diese Liste macht zum einen noch einmal die regionale Streuung der relevanten Institutionen deutlich. Sie zeigt zum anderen, dass auch die Zeitgenossen von einer geografischen Ballung in Clustern ausgingen: Sie stellt eine Hierarchisierung her, bei der nicht ohne Grund die Orte nicht alphabetisch, sondern regional geordnet waren und dabei die Städte Hamburg, Bremen und Kiel an der Spitze der Auflistung standen. Auffällig ist zudem, dass das IfA in Stuttgart offensichtlich nicht als wichtiger Akteur erachtet wurde, dafür aber Frankfurter Institutionen und universitäre Institute, die kaum Niederschlag in den Quellen der Außenhandelskreise hinterließen, mit aufgelistet wurden.13 11 12

Vgl. zum Folgenden: Politisches Archiv des Auswärtigen Amts B 58-IIIB1 218. In der Quelle war „Entwicklungsländer“ bereits in Anführungszeichen gesetzt, der Titel der Arbeitsgemeinschaft kam aber ohne diese Distanzierung vom Begriff aus. Allerdings hielten auch schon in den 1950er Jahren einige Unternehmer und Wirtschaftswissenschaftler den Begriff – sowie den Begriff der „unterentwickelten Länder“ – für unpassend. Diese Gruppe sprach dann meist von „entwicklungsfähigen Gebieten“ oder „Zukunftsmärkten“. 13 Zudem wurden in der genannten Quelle noch folgende –geografisch verstreute – Institutionen aufgeführt: Institut Sinicum (China-Institut) (Königstein/Taunus), Ausschuss Entwicklungsländer des Arbeitskreises der Wirtschaftswissenschaftlichen Institute, Ausschuss Entwicklungsländer des Vereins für Sozialpolitik, Forschungsstelle der Internationalen Konferenz für Agrarwissenschaften (Freiburg im Breisgau), Institut für Internationale Technische Zusammenarbeit (Aachen), Seminar für Wissenschaftliche Politik (Freiburg im Breisgau), Soziale

Die Herausforderung

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Eine entsprechende Liste für das Jahr 1969, d. h. vom Ende der ersten „Entwicklungsdekade“, ist leider nicht überliefert. Sie wäre aber erheblich länger ausgefallen.14 Insbesondere in der Bundeshauptstadt Bonn erfolgte der Ausbau im Bereich der „Entwicklungshilfe“.15 Die wachsende Bedeutung der Bundeshauptstadt zeigt sich u. a. auch daran, dass hier 1966 die Gründungsversammlung der Deutschen Gesellschaft für Ostasienkunde stattfand, obwohl deren Sitz in der Hansestadt Hamburg lag.16 Ebenso wurde Bonn auch als Sitz der parteipolitischen Stiftungen wichtig, die sich in den 1960er Jahren gleichfalls intensiv mit Themen der „Entwicklungshilfe“ zu beschäftigen begannen.17 Ein wichtiger Kristallisationspunkt war die bereits in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre in Bonn gegründete Deutsche Afrika-Gesellschaft (DAG).18 Sie steht für den Beginn der außerministeriellen Beschäftigung mit „Übersee“ in der Bundeshauptstadt. Die DAG ist unter anderem deswegen ein für die in Bonn neu geschaffenen Institutionen typischer Fall, weil sie sich nicht vorwiegend an Unternehmer richtete, aber nichtsdestotrotz Wissen über das Ausland bereitstellte, das auch in Unternehmerkreise Eingang fand.19

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Forschungsstelle an der Universität Münster (Dortmund), Rheinisch-Westfälisches Institut für Wirtschaftsforschung (Essen), Forschungsinstitut für Wirtschaftspolitik an der Universität Mainz, Institut für Angewandte Wirtschaftsforschung (Tübingen), Seminar für soziale Wissenschaften (Heidelberg), Katholisch-Soziales Institut (Bad Honnef), Gesellschaft für Berufsförderung (Bielefeld). Insbesondere wären nun die universitären mit „Entwicklungshilfe“ befassten Abteilungen mit aufgeführt worden. Diese stellten aber kaum „Praktikerwissen“ für die Außenhandelskreise bereit, auch wenn sie gelegentlich mit deren einflussreicheren Institutionen zusammenarbeiteten. Von den Außenhandelskreisen wurden sie selbst zumindest nicht als wichtige Ansprechpartner wahrgenommen. Da sie in den Quellen aus den Außenhandelskreisen nicht erwähnt werden, werden sie hier nicht eingehender behandelt. Dass dabei wiederum die Ländervereine in Hamburg Pate standen, sieht man an den räumlichen Schwerpunkten dieser Neugründungen: etwa der am 6.3.1967 in Bonn gegründeten Deutschen Gesellschaft für Ostasienkunde (heute: Deutsche Gesellschaft für Asienkunde), dem Ibero-Club in Bonn oder der dortigen Deutschen Afrika-Gesellschaft, die sich der Ausbildung von „Afrikanern“ in Deutschland verschrieben hatte. Vgl. Informationsblatt und Mitgliederwerbung der Deutschen Gesellschaft für Ostasienkunde, April 1967, BArch B 145/5358. Von Bedeutung waren dabei insbesondere die Friedrich-Ebert-Stiftung (FES), die KonradAdenauer-Stiftung (KAS) und die Friedrich-Naumann-Stiftung (FNSt), da sie einerseits im Bereich der Erwachsenenbildung tätig waren, andererseits in die Beschäftigung mit den „Entwicklungsländern“ einstiegen. Zur Geschichte der Stiftungen und zum Wandel ihrer Beschäftigung mit dem Thema „Entwicklung“ vgl. von zur Mühlen, Entwicklungspolitische Paradigmenwechsel 2008. Zu den Arbeitsschwerpunkten der Stiftungen vgl. auch Hesse, Entwicklungshilfen 1969, S. 343–348. Genauer: 1956. Ziel der Deutschen Afrika-Gesellschaft war anfänglich jedoch weniger das Wirken in Unternehmerkreise als in Journalistenkreise hinein. Vgl. Schriftverkehr in: BArch B 213/6722. Für die handeltreibende und industrielle Wirtschaft wurde so ein durchaus breites Aufgabenspektrum übernommen: „Erörterung und Bearbeitung von Fragen der allgemeinen Außenwirtschaftspolitik; Beratung bei Investitionen mit politischem Einschlag; laufende Unterrichtung über die politischen und sozialen Verhältnisse in Afrika; Informationstagungen (bisher: Der gemeinsame Markt und Afrika, Investitionen – Infrastruktur und Kapitalbedarf im Schwarzen

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VI. Cluster des Entwicklungswissens

Die Gründung der DAG wurde durch politische Akteure angestoßen, insbesondere dem Bundestagspräsidenten und früheren Vorsitzenden des Auswärtigen Ausschusses Eugen Gerstenmaier20. Nicht nur er verfolgte in Zeiten der HallsteinDoktrin mit der DAG das Ziel, der „sowjetischen Propaganda in Afrika entgegenzuwirken“ und hierfür „die Beziehungen der Bundesrepublik zu den ‚Ländern und Gebieten‘ des afrikanischen Kontinents zu pflegen und sie durch Maßnahmen auf wissenschaftlichem, kulturellem und wirtschaftlichem Gebiet auszubauen“.21 Zu diesem Zweck richtete die DAG einmal jährlich in Bonn die „deutsch-afrikanische Woche“ aus, veranstaltete Tagungen22, Wanderausstellungen, afrikanische Filmtage, Seminare für „Afrikaner“, die an deutschen Hochschulen studierten und gab mehrere Schriftenreihen23 heraus. In einer Werbebroschüre vom Juli 1961 hieß es, dass die Aufgabe der Deutschen Afrika-Gesellschaft auf zwei Arbeitsfeldern läge: „auf der einen Seite bringt sie den Deutschen die Probleme und Erlebnisse Afrikas nahe, auf der anderen Seite ist sie um die unbefangene Begegnung von Afrikanern und Deutschen auf allen Lebensgebieten, aus und in allen afrikanischen Ländern bemüht. Hinzu tritt die Aufgabe, eine europäische und über die engen Grenzen Westeuropas hinausstrebende weitreichende internationale Zusammenarbeit durch eigene Bemühungen zu ermöglichen. In diese Arbeit kann die in Europa eingebürgerte Aufteilung des Daseins in die voneinander ziemlich isolierten Lebensbereiche der Politik, der Wirtschaft, der sozialen Entwicklung und der kulturellen Bemühungen nicht übernommen werden; vielmehr muß sowohl beim Ansatz der Informationsarbeit als auch im eigenen Eindringen in die afrikanischen Probleme von der unteilbaren Ganzheit des fremden Lebens ausgegangen werden. Daraus erklärt sich, daß alle Lebensgebiete gleichmäßig berücksichtigt und bearbeitet werden. Auch sonst prägt Afrika von vornherein den Stil unserer Arbeit, etwa dadurch, daß diese nicht auf das Aktuelle ausgerichtet ist, sondern weit in die Vergangenheit zurückgreift und sich auf die allmähliche Wirkung ihrer Vorhaben in kommenden Jahrzehnten einstellt.“24

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Erdteil, Entwicklungsplanung in Afrika, Bergbau und Lagerstätten in Afrika); Herstellung internationaler Kontakte (Mitarbeit an ‚Afrikatagen der Industriemesse Hannover‘; Mitarbeit bei der Vorbereitung deutscher Auslandsmessen in Afrika).“ Werbebroschüre der Deutschen Afrika-Gesellschaft 1961, S. 3, BArch B 213/6722. Den kombinierten Ansatz spiegelte auch die Zusammensetzung des Präsidiums wider, in dem, Stand 1961, u. a. Dr. Herbert Abel (Überseemuseum Bremen), Dietrich Wilhelm von Menges (Ferrostahl AG, Essen), Gesandter a. D. Dr. Günther Altenburg (Deutsche Gruppe der Internationalen Handelskammer, Köln) sowie ein Vorstandsmitglied der Deutschen Bank zu den Mitgliedern zählten. Hinzu kamen die mit „Afrika“ beschäftigten Personen und Institutionen aus Hamburg. Eugen Karl Albrecht Gerstenmaier (1906–1986), evangelischer Theologe, von 1954–1969 Bundestagspräsident. Als Initiator des Evangelischen Hilfswerks entwarf er schon frühzeitig ein Hilfsprogramm, das Auslandshilfe und Selbsthilfe eng miteinander verkoppelte. Zu seiner Tätigkeit als Präsident der DAG vgl. Büschel, Akteure 2009, S. 345 f. Zu seinem Lebenslauf vgl. ebd., S. 349. Brahm, Wissenschaft und Dekolonisation 2010, S. 221. Vgl. auch o. A., Deutsche Afrika-Gesellschaft 1957. Dabei griff die DAG bei der Auswahl ihrer Referenten vor allem auf Experten der Hansestadt Hamburg zurück. U. a. die Buchreihen: „Die Länder Afrikas“, „Afrika-Informationsdienst“, „Das Jahrbuch der Deutschen Afrika-Gesellschaft“. Werbebroschüre der Deutschen Afrika-Gesellschaft 1961, S. 3, BArch B 213/6722.

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Damit war auch die DAG durch die enge thematische Verknüpfung von Politik, Wirtschaft und Kultur geprägt.25 Insgesamt dominierte aber in den Bonner Institutionen der politische Aspekt den ökonomischen. Da jedoch beide Bereiche auch hier nicht als getrennte Sphären wahrgenommen wurden, blieben sie für die etablierten Netzwerke der Außenhandelskreise anschlussfähig.26 In den Ausführungen zu den 1950er Jahren sind bereits die wichtigsten Clustereffekte genannt worden. Innerhalb der Cluster gab es sowohl eine erhebliche Konkurrenz zwischen den einzelnen Institutionen als auch regionale Verbundeffekte. Letztgenannte führten zu Beginn der 1960er Jahren zum Ausbau der Beschäftigung mit „Übersee“ in Köln und Düsseldorf. Düsseldorf war in den 1960er Jahren vor allem ein wichtiger Tagungsort. Während beispielsweise die eher politisch orientierten Veranstaltungen der DAG meist in Bonn residierten, fanden die von ihr organisierten Wirtschaftstagungen mehrheitlich in Düsseldorf statt.27 Zudem erhöhte sich auch der Einfluss der IHK Düsseldorf – sowohl in der Region als auch in der gesamten Bundesrepublik. In Köln schlug sich zudem die Förderung der universitären Erforschung von „Übersee“ nieder. Etwa, als die Afrikanistik Anfang der 1960er Jahre erheblich ausgebaut wurde.28 Der in Köln ansässige Bund Katholischer Unternehmer (BKU)29 befasste sich ebenfalls mit dem Thema „Entwicklungshilfe“.30 Vor allem aber bauten der BDI31 und der DIHT ihre Beschäftigung mit „überseeischen“

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Dass sie für ihre Arbeit vom Auswärtigen Amt sowie vom Bundespresseamt bezuschusst wurde, ist daher auch kaum verwunderlich, speisten sich aus diesen Töpfen doch größtenteils schon die Zuschüsse zu den anderen Institutionen des „Überseewissen“. Siehe Einzelplan des AA 1959, Titel 05 02–607, BArch B 213/6722. In der Bundeshauptstadt waren zudem von Bedeutung: Forschungsstelle für Entwicklungsländer, EMNID-Institut, Institut für Gesellschafts- und Wirtschaftswissenschaften der Universität Bonn und das Forschungsinstitut für Wirtschaftsfragen der Entwicklungsländer. Dass Fritz Baade – von 1948–1961 Direktor des Instituts für Weltwirtschaft in Kiel – 1961 die Position des ersten Direktors des letztgenannten Forschungsinstituts übernahm, verweist noch einmal auf die Hochschätzung für die Experten aus den „norddeutschen“ Wissensclustern. Vgl. Tätigkeitsbericht des Afrika-Vereins Hamburg 1955, S. 6, „Archiv“ des Afrika-Vereins der Deutschen Wirtschaft, ohne Signatur. Vgl. die genaueren Angaben in: Brahm, Wissenschaft und Dekolonisation 2010, S. 231. Der BKU widmete sich vor allem der Verbreitung der christlichen Soziallehre unter Unternehmern und leitenden Angestellten, engagierte sich seit 1960 aber auch zunehmend in Fragen der „Entwicklungshilfe“. Zur Frühgeschichte des BKU vgl. RWWA 128-12-1 sowie Schmidt, Bund Katholischer Unternehmer 1994. Wichtige Fach- und Hilfsdienste waren zudem die katholische Arbeitsgemeinschaft für Entwicklungshilfe und die evangelische Arbeitsgemeinschaft für Dienste in Übersee. Zu diesen vgl. Büschel, Afrika helfen 2008, S. 342; ders.: Hilfe zur Selbsthilfe 2014. Wichtig auch der Arbeitskreis „Entwicklungspolitik“ der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Unternehmer (ACU). Zur kirchlichen „Missionsarbeit“ aus zeitgenössischer Perspektive: Hesse, Entwicklungshilfen 1969, S. 405–422. Vgl. auch den auf die kirchlichen Spendenmittel ausgerichteten Beitrag von Heinl/Lingelbach, Spendenfinanzierte private Entwicklungshilfe 2009. Der BDI-Arbeitskreis Entwicklungsländer und dessen Arbeitsgruppen, die rein industrielle Gremien waren, richteten ihre Tätigkeit auf die besonders industrienahen Probleme.

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Märkten beträchtlich aus.32 Die hier ansässigen Industriebrancheninstitutionen zogen nach. Verstärkt wurde dieser aus eigenem Antrieb erwachsene Trend dadurch, dass auch die „Entwicklungspolitik“ Anfang der 1960er Jahre zunehmend auf die Mitarbeit der Unternehmer setzte.33 Denn in einer Regierungserklärung hatte Vizekanzler Erhard am 29.11.1961 betont, dass man sich fortan stärker bemühen müsse, „die Initiative der Wirtschaft [zu] fördern“ und man von privatwirtschaftlichen Investitionen „auf dem Gebiet der Entwicklungshilfe eine besondere Wirkung“ erwarte.34 Zudem kam es zu Neugründungen. An erster Stelle müssen hier die Arbeitsgemeinschaft für die Zusammenarbeit mit den Entwicklungsländern – meist kurz nur als Arbeitsgemeinschaft Entwicklungsländer bezeichnet – und die Deutsche Entwicklungsgesellschaft (DEG) genannt werden. Erstere wurde auf Anregung des BDI geschaffen.35 An ihr waren die wichtigsten Spitzenorganisationen der gewerblichen Wirtschaft beteiligt,36 denen diese „zur besseren industrieinternen Abstimmung und zur Beratung der Bundesregierung“ dienen sollte.37 Von Anfang an, seit Mai 1961, hatte sie sich dabei mit besonderem Nachdruck der Förderung deutscher Privatinvestitionen in den Entwicklungsländern durch steuerliche Erleichterungen angenommen, da ihrer Meinung nach „die privaten Kapitalanlagen eine besonders wirksame und dauerhafte Form der Entwicklungshilfe darstellen“.38 In relativ typischer Manier beschrieb die AGE 1964 ihre Tätigkeit im abgelaufen Geschäftsjahr daher so: „Mit Nachdruck hat sich die Arbeitsgemeinschaft bemüht, die Bedingungen für die Tätigkeit der Privatwirtschaft in den Entwicklungsländern zu verbessern. Besonders hervorzuheben sind ihre Vorschläge, die steuerliche Behandlung der Direktinvestitionen den außerordentlichen Risiken in den Entwicklungsländern anzupassen, günstige Kreditfazilitäten bereitzustellen sowie 32

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Zur Beschäftigung des DIHT mit den „Entwicklungsländern“ vgl. RWWA 181-450-1. Zur Zusammenarbeit von DIHT und den Außenhandelskammern vgl. RWWA 181-2074-3 und RWWA 181-1846-2. Dies betraf nicht nur „Übersee“, sondern auch den Ost-Ausschuss der Deutschen Wirtschaft unter Leitung von Otto Wolf von Amerongen. Zum Ostausschuss vgl. Jüngerkes, Diplomaten der Wirtschaft 2012. Bastian Hein hat darauf verwiesen, wie weit die Kooperation zwischen Wirtschaft und Staat beim Thema „Entwicklungshilfe“ ging und wie sehr vor allem die staatliche Informationspolitik auf die Wirtschaft abzielte. Mehrfach hätten so auch die entscheidenden staatlichen Vergabegremien mit der Arbeitsgemeinschaft Entwicklungsländer zusammen getagt. Vgl. Hein, Die Westdeutschen 2006, S. 112. Zitiert nach: Diskussionskreis Entwicklungshilfe, Förderung 1962, S. 1, RWWA 181-450-1. Bereits im Februar 1957 war vom BDI die Initiative für eine Arbeitsgemeinschaft zur Zusammenarbeit mit den Entwicklungsländern ausgegangen. In der AGE übte der BDI die Geschäftsführung aus. Prägende Figur der AGE war in den Anfangsjahren Dr. Hermann Jannsen. Zu den Gründungsmitgliedern gehörten: BDI, DIHT, BdB, Bundesverband des Deutschen Groß- und Außenhandels (BGA) und die Arbeitsgemeinschaft der Deutschen Exporteurvereine. Bührer, Wirtschaftsdiplomatie 2005, S. 133. Vgl. Arbeitsgemeinschaft Entwicklungsländer, Investieren in Indien 1965, S. 3, Zitat ebd. Vgl. auch Arbeitsgemeinschaft Entwicklungsländer, Kredithilfen [1962], RWWA 181-450-1. Der größte Erfolg der Industrie war dabei das am 31.12.1963 in Kraft getretene EntwicklungshilfeSteuergesetz, welches es ermöglichte, die besonderen Risiken von Investitionen in den Entwicklungsländern in Form einer einmaligen Wertberichtigung automatisch zu berücksichtigen.

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diese Investitionen besser gegen die politischen Risiken abzusichern. Der Beirat hat sich ferner mit dem Aktionsprogramm des GATT zugunsten der Entwicklungsländer und den durch die Welthandelskonferenz aufgeworfenen Fragen auseinandergesetzt. In besonderen Arbeitsgruppen hat die Arbeitsgemeinschaft darüber hinaus Vorschläge zur Förderung von ManagementLeistungen erarbeitet und Wege für die Stärkung der Investitionsbereitschaft deutscher Unternehmen in den Entwicklungsländern erörtert. Entsprechend ihrer Zielsetzung gab die Arbeitsgemeinschaft Entwicklungsländer auch zu einzelnen Entwicklungsvorhaben, die aus Mitteln der deutschen Kapitalhilfe finanziert werden sollen, gutachtliche Äußerungen ab, um dadurch die Meinungsbildung der Regierung zu erleichtern.“39

Die AG Entwicklungsländer versuchte zudem, die Erfahrungen deutscher Unternehmen mit „Übersee“ zu sammeln und auszuwerten sowie diesbezügliche Ratschläge zu erteilen. Auch die 1962 in Köln gegründete Deutsche Entwicklungsgesellschaft nahm sich des für die Industrie so bedeutsamen Themas der Direktinvestitionen an.40 Sie war von der Bundesregierung mit einem Stammkapital von 75 Mill. DM ausgestattet worden sei, um „die private Initiative in Entwicklungsländern durch Investitionen in Privatunternehmen anzuregen und zu unterstützen“.41 Das Ziel der DEG bestand darin, mittelständische deutsche Unternehmen bei der Planung und Durchführung von Direktinvestitionen zu unterstützen. Dabei sollte sie als Spezialfinanzierungsbank wirken, die Wagnis- und Beteiligungskapital bereitstellte. Es handelte sich also um einen nach privatwirtschaftlichen Grundsätzen arbeitenden Kreditgeber, der bei Erfolg der Investition seine Mittel wieder abzog, um mit diesen neue Projekte zu unterstützen.42 Die DEG hielt enge Verbindungen zu den staatlichen „Entwicklungsgesellschaften“ in „Übersee“. Ihre Gründung wurde dabei auch von den Zeitgenossen als Signal der Verschiebung der staatlichen Entwicklungshilfe hin zu einer verstärkten Einschaltung der Privatwirtschaft gedeutet. Insbesondere der BDI setzte daher auf eine enge Zusammenarbeit und empfahl seinen Mitgliedern, dass sie bei Investitionsabsichten im Ausland „besondere Aufmerksamkeit den Möglichkeiten einer Zusammenarbeit“ mit der DEG widmen.43 Wichtige Institutionen im Bereich der Beschäftigung mit „Afrika“ sowie mit den Themen „Entwicklung“ und Direktinvestitionen siedelten sich so um 1960 nicht mehr in Hamburg oder im Bankenzentrum Frankfurt am Main, sondern Nahe Bonn an.44 Ähnliche Verschiebungen sehen wir bei dem anderen zentralen The39 Jahresbericht des BDI 1963/1964, S. 74. 40 Die DEG firmierte auch als Deutsche Gesellschaft für wirtschaftliche Zusammenarbeit mbH. Das Angebot der DEG beschrieben in: Schwarting, Deutsche Gesellschaft für wirtschaftliche Zusammenarbeit 1981; Sohn, Auslandsinvestitionen 1977. Vgl. zur DEG auch die kurzen Angaben in: Hesse, Entwicklungshilfen 1969, S. 305. 41 BDI, Ostafrika und Madagaskar 1963, S. 25. 42 Vgl. Bellers/Haase, Entwicklungspolitik, 2002, S. 10. 43 BDI, Ostafrika und Madagaskar 1963, S. 25. 44 Im gleichen Atemzug war der BDI bereit, darauf zu verweisen, dass auch die Ländervereine in Hamburg und insbesondere der Technische Dienst des Afrika Vereins (TWD) weiterhin wichtige Partner der deutschen Industrie seien, weil diese durch „eigene Experten an Ort und Stelle“ Untersuchungen über Investitionsmöglichkeiten durchführen und ihre aus unmittelbarer Anschauung gewonnenen Erkenntnisse „der deutschen Wirtschaft als Arbeitsunterlage zur Verfügung“ stellen könnten. ebd.

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VI. Cluster des Entwicklungswissens

menkomplex der 1960er Jahre. Es ist bereits betont worden, dass in den 1960er Jahren zahlreiche Institutionen begannen, sich mit dem dringlich erscheinenden Problem der Förderung deutscher Nachwuchsführungskräfte für „Übersee“ und der Fachkräfteausbildung von ausländischen Praktikanten zu beschäftigten. Dabei richteten sich die Außenhandelskreise – so sehr sie selbst auch an besseren Finanzierungsbedingungen interessiert waren – vor allem gegen die „ganz überragende Rolle“ der Kapitalhilfe in den staatlichen Entwicklungshilfeprogrammen. Der BDI hob beispielsweise hervor: „Angesichts der psychologischen Überschätzung des Kapitals und seines wirklichen Anteils am Aufbau einer leistungsfähigen Volkswirtschaft wird es von den Entwicklungsländern meist falsch verstanden, wenn man versucht, die Dinge wieder in den richtigen Verhältnissen zueinander darzustellen. Aufklärung ist hier ebenso nötig wie der Abbau des Mißtrauens. Wenn eine breitere Ausbildung von Angehörigen der Entwicklungsländer für die mittlere Betriebsebene in den Industriestaaten überhaupt einen Sinn hat, dann nicht zuletzt den, daß die Praktikanten sehen und später auch begreifen, wie wichtig in einem Unternehmen diejenigen Fähigkeiten und Leistungen sind, die man nur unvollkommen mit „Management“ umschreiben kann. Entwicklungshilfe kann eigentlich erst richtig gegeben und eingesetzt werden, wenn sich auch in den überseeischen Ländern die Erkenntnis durchgesetzt hat, daß ihr Lebensstand letztlich nur durch die Verbindung von Kapital mit Fachwissen und -können gehoben werden kann und daß Kapital allein keine Werte schafft. Es erscheint an der Zeit, anhand der Erfahrungen der letzten Jahre auf diese Binsenwahrheit erneut mit Nachdruck hinzuweisen.“45

Im Bereich der Praktikantenausbildung kam es im „westdeutschen“ Wissenscluster zu einflussreichen Neugründungen und zum Ausbau bestehender Institutionen beziehungsweise ihrer inhaltlichen Neuausrichtung. Unter anderem führte in Köln die gemeinnützige Gesellschaft für praktisches Auslandswissen (Gepra) Sprachkurse für Deutsche im Ausland und für ausländische Sprachkursteilnehmer in der Bundesrepublik durch, wobei die jährliche Teilnehmerzahl mehrere Tausend Personen betrug. Besonders hervorzuheben ist die Tätigkeit der Carl Duisberg Gesellschaft (CDG) in Köln.46 Während sie in den 1950er Jahren im Grunde kaum Aufmerksamkeit der „Überseehandelskreise“ auf sich gezogen hatte,47 wurde sie nun wichtigster Anbieter von Sprachkursen, Informationsseminaren, Fachstudienreisen und Trai45 46

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Jahresbericht des BDI 1963/1964, S. 72 f. Ähnlich auch Jelonek, Entwicklungsländer 1961, S. 97 f. Sie war bereits 1949 gegründet worden und sollte damals die „Isolierung Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg (…) durchbrechen“ und zur „Wiederaufnahme unseres Landes in die Völkerfamilie“ beitragen. So zumindest die nachträgliche Deutung bei: Beitrag zu einer Partnerschaft der Nationen, Ansprache des Bundespräsidenten Walter Scheel zum 30. Geburtstag der Carl Duisberg Gesellschaft am 4.5.1979, o. S., RWWA 352-15-5. Von ähnlicher Bedeutung war die Carl Rudolf Poensgen Stiftung in Düsseldorf. Sie war 1956 auf Initiative des bereits als zentral hervorgehobenen Karl Albrecht von der Düsseldorfer Industrie- und Handelskammer sowie von wichtigen Repräsentanten der nordrhein-westfälischen Industrie gegründet worden. Sie konzentrierte sich aber ausschließlich darauf, Seminare und Weiterbildungsveranstaltungen für deutsche Führungskräfte anzubieten. Die Stiftung gab auch eine eigene Schriftenreihe heraus. Der Blick auf die Carl Rudolf Poensgen Stiftung zeigt aber selbst Ende der 1960er noch die hohe Bedeutung nahräumlicher Vernetzung. Der Großteil der Mitglieder kam weiterhin aus Nordrhein-Westfalen. Sie befasste sich anfänglich vor allem mit dem Austausch mit den USA und Frankreich.

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ning-on-the-job-Programmen für junge deutsche Fach- und Führungskräfte im Inund Ausland.48 Zudem vergab sie Stipendien, vermittelte Kontakte, informierte interessierte Kreise und versuchte, enge Verbindungen zwischen Wirtschaft und Wissenschaft zu etablieren.49 Dabei bemühte sich die CDG insbesondere darum, die beruflichen Auslandsfortbildungsmöglichkeiten für Angehörige mittlerer und kleiner auslandsorientierter deutscher Unternehmen zu erschließen, „da solche Firmen in der Regel nicht über eigene Auslandsniederlassungen und damit über Gelegenheiten zur Auslandsschulung des eigenen Personals verfügen“.50 Beide Themen – Nachwuchsausbildung und Finanzierung der Direktinvestitionen – waren vor allem für die nun stärker an „Übersee“ interessierten mittelständischen Unternehmer von Bedeutung.51 Für sie hatte schon der Goodwill-MissionsBericht zu „Lateinamerika“ festgehalten, dass „nicht jede Direktinvestition (…) notwendigerweise mit der Aufbringung größerer Kapitalsummen verbunden“ sein müsse und sich „die personelle Belastung (…) durch Schulung geeigneter einheimischer Fachkräfte in Grenzen halten“ lasse.52 Nun stellten Organisationen wie die CDG Plattformen für den Austausch von Klein-, Mittel- und Großunternehmern zur Verfügung.53 In den Ausbildungsprogrammen für Stipendiaten aus „Entwicklungsländern“ verpflichteten sich deutsche Firmen dazu, im Zusammenhang mit der Lieferung von Anlagen „einheimisches Personal für den Aufbau und den Betrieb solcher Anlagen in der Bundesrepublik zu trainieren“.54 Zwei Zwecke waren damit beabsichtigt. Zum einen sollten die Stipendiaten ihre „vielfältige[n] Erfahrungen in deutschen Firmen“ für die „Entwicklung ihrer Heimatländer“ einsetzen, zum anderen sollten sie der deutschen Wirtschaft „zu geschäftlichen Kontaktanbahnungen und Imagepflege nützen“.55 Diese Angebote stießen auf große Resonanz. Zahlreiche Staaten entsandten Führungskräfte zur Weiterbildung in die Bundesre48

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Bis Anfang der achtziger Jahre nahmen fast 2.500 Personen an diesen Programmen für „Übersee“ teil. Vgl. CDG, Carl Duisberg Arbeitskreise 1984, S. 1 f., RWWA 352-23-8. Höher war die Zahl derjenigen, die in anderen „Industrieländern“, insbesondere in den USA, an Fortbildungsprogrammen teilnahmen. Bis 1970 waren es allein schon fast 10.000. Vgl. CDG, Erfahrungsberichte 1979, RWWA 252-20-22. Vgl. Schriftverkehr in: RWWA 352-1-19. Schwerpunktländer waren hierbei die USA, Mexiko, Brasilien, Indonesien, Nigeria. Vgl. Aufstellung über den bisher geförderten Personenkreis (Stand 1979), S. 7, RWWA 352-15-5, hier auch das Zitat. Wie weit im „Mittelstand“ die Beschäftigung mit den „überseeischen Exporten“ verbreitet war, zeigt beispielsweise die Arbeitstagung der „Internationalen Föderation des Handwerks“ in München 1962. Die dort gehaltenen Vorträge sind enthalten in: HWWA 1963 B 10. BDI, Lateinamerika 1960, S. 37. Für statistische Angaben zu den Direktinvestitionen zwischen 1955 und 1961 siehe: Jerofke, Wiederaufbau 1993, S. 375 f. In den Carl Duisberg Arbeitskreisen schlossen sich mehrere hundert Klein-, Mittel- und Großunternehmen, Verbände, Kammern sowie Persönlichkeiten aus Wirtschaft wie öffentlichem Leben lokal zusammen. Vgl. o. A., 25 Jahre CDC 1987, S. 4, RWWA 352-22-17. Ebd., S. 4. Die CDG wurde 1958 zum ersten Mal direkt von der Bundesregierung beauftragt, derartige Programme zu planen und durchzuführen. Vgl. ebd., S. 3. CDG, Carl Duisberg Arbeitskreise, S. 2, RWWA 352-23-8. Eine Auswertung der Erfahrungen der Stipendiaten sowie ihrer Zusammensetzung in: CDG, Erfahrungsberichte 1979, RWWA 252-20-22.

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VI. Cluster des Entwicklungswissens

publik und entschieden sich so auch für „den know-how-Transfer auf eigene Rechnung“.56 Bis 1984 partizipierten an diesen und ähnlichen Programmen insgesamt mehr als 100.000 Personen.57 Da die Tendenz bestand, die Weiterbildungen verstärkt in engerer Zusammenarbeit mit dem Auswärtigen Amt und dem Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit (BMZ) abzuhalten,58 versuchte die CDG zunehmend, ihre Eigenständigkeit zu wahren. So machte sie sich seit Anfang der 1970er Jahre dafür stark, ihr Fortbildungsangebot wieder insbesondere „an den Bedürfnissen der Wirtschaft“ zu orientieren und bot vermehrt „speziell auf die beruflichen Bedürfnisse von Mitarbeitern in der Wirtschaft abgestellte Fremdsprachkurse und Programme der Auslandsinformation und Auslandsvorbereitung“ an.59 Das Aufgabenspektrum der CDG beinhaltete Deutschkurse, komplette berufliche Fortbildungsprogramme für Ausländer im Auftrag deutscher Firmen und ausländischer Regierungen sowie Informations- und Trainingsmaßnahmen zur Vorbereitung deutscher Führungskräfte auf Auslandsaufgaben.60 Die Vielzahl neuer Institutionen, die diesbezüglichen Planungsabsichten und die aufgrund der Vermischung von Außenhandelspolitik und Entwicklungspolitik notwendige Neujustierung des Verhältnisses von Wirtschaft und Staat führte zunächst zu erheblichen Abstimmungsschwierigkeiten und zu Versuchen der politischen Einflussnahme auf Institutionen des „interkulturellen Lernens“. Die 1959 gegründete Arbeitsgemeinschaft für internationalen Kulturaustausch sollte die Kompetenzstreitigkeiten lösen und den Erfahrungsaustausch anregen.61 Die Arbeitsgemeinschaft wurde so zum Bindeglied zwischen der CDG, dem IfA sowie dem Goethe-Institut und damit auch ein wichtiger Vernetzungspunkt zwischen dem „westdeutschen“ und dem „süddeutschen“ Wissenscluster.

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O. A., 25 Jahre CDC 1987, S. 4, RWWA 352-22-17. Vgl. CDG, Carl Duisberg Arbeitskreise 1984, Umschlagseite, RWWA 352-23-8. Zum Inhalt der Programme vgl. RWWA 352-21-14. Da nicht klar war, wo die hohe Zahl ausländischer „Fortbildungsgäste“ unterzubringen sei, baute die CDG eigene Wohnheime. Dieses Programm war von Anfang an überregional, was sich auch an den Standorten der durch die Carl Duisberg Wohnheimgesellschaft mbH (CDW) gebauten Wohnheime zeigt. Die ersten entstanden 1965/66 in Saarbrücken, Dortmund, München und Würzburg; weitere Häuser kamen in Essen, Lüneburg, Schmieden und Ludwigshafen hinzu. Zudem wurde in Hannover ein Gebäude für die Landesstelle und den Internationalen Kreis der CDG erworben. Vgl. o. A., 25 Jahre CDC 1987, S. 3, RWWA 352-22-17. Zum Wohnheimbau vgl. auch RWWA 352-21-14. Die Zuständigkeit ging 1963/64 vom AA auf das BMZ über. Zur Zusammenarbeit der CDG mit den Ministerien sowie zu deren Zuständigkeit vgl. RWWA 352-18-23. Vgl. RWWA 352-20-8, Zitate aus: o. A.: o. T., in: CDG intern 5 (1973), S. 1, RWWA 352-19-14 und o. A., 25 Jahre CDC 1987, S. 4, RWWA 352-22-17. Vgl. O. A., 25 Jahre CDC 1987, S. 2, RWWA 352-22-17. Im letzten Drittel der 1970er Jahre schließlich entwickelte die CDC spezielle Fortbildungsprogramme für „überseeische“ Regierungen und deutsche Firmen. Vgl. ebd., S. 4. An ihr waren die CDG, der Deutsche Akademische Austauschdienst, das Goethe-Institut, der Internationale Arbeitskreis Sonnenberg, der Deutsche Kunstrat, der Verband Deutscher Studentenschaften und der Deutsche Volkshochschulverband beteiligt. Vgl. Kathe, Kulturpolitik 2005, S. 372–374. Vgl. auch Funke, Entwicklung 1965, S. 19, RWWA 352-15-5 sowie BArch B 145/3148 und CDG, Zehn Jahre 21960, S. 10.

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Blicken wir kurz nach „Süddeutschland“, so zeigt sich, dass auch hier die zu diesem Zeitpunkt bereits etablierten Institutionen am offensichtlichsten vom Ausbau der Infrastruktur im Bereich des „Entwicklungswissens“ profitierten.62 Dabei veränderten sie ihr Gesicht zum Teil erheblich. Ganz offensichtlich orientierten sich die „süddeutschen“ Außenhandelskreise nun verstärkt auf die Zusammenarbeit mit dem „westdeutschen“ Cluster und den dortigen Industriellen. Bedeutsam war ein Beschluss vom Sommer 1959, das in München beheimatete Goethe-Institut nicht mehr nur mit der Sprachförderung im Ausland zu beauftragen, sondern es zum „Synonym für ein deutsches Kulturinstitut im Ausland“ auszubauen.63 Ab 1960 wurden daher nach und nach alle deutschen Kulturinstitute im Ausland vom Goethe-Institut übernommen.64 Ein für die Außenhandelskreise nicht ganz unwichtiger Schritt – waren doch die Kulturinstitute schon zuvor neben den Konsulaten und den binationalen Handelskammern wichtige Informationslieferanten und Kontaktbörsen gewesen. Auch das IfA in Stuttgart baute in den 1960er Jahren sein Personal und seine Referatsstruktur immer weiter aus.65 Dabei arbeitete es überregional eng mit der CDG in Köln, der Deutschen Stiftung für Entwicklungsländer (Berlin), der FES (Bonn) und dem Goethe-Institut (München) zusammen, vernetzte sich also ebenfalls stark mit Institutionen, die nicht in den Hansestädten ansässig waren. Insgesamt bleibt aber festzuhalten, dass außerhalb des Bereichs der ehemaligen Auslandskunde und der Pflege deutscher Kultur im Ausland in „Süddeutschland“ auch in den 1960er Jahren vergleichsweise nur wenige Institutionen des „Überseewissens“ überregionale Bedeutung erlangten. Da für die 1950er Jahre der Bedeutungsverlust der West-Berliner Institutionen gezeigt wurde, soll auch hier noch kurz auf die Geschichte dieses ehemals so zent62

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Es kam allerdings auch andernorts zu vereinzelten Ausbaubestrebungen, insbesondere an den „süddeutschen“ Universitäten. Weil diese Bestrebungen 1960 auch in den Hansestädten als Bedrohung wahrgenommen wurden, ist hier auf die Versuche „süddeutscher“ Universitäten wie Heidelberg, ein Institut für Entwicklungsländer zu gründen, zu verweisen. Dieses sollte auch ein Institut zur Einführung und Ausbildung deutscher Studierender beherbergen, das diesen die notwendigen Kenntnisse über Sprache und Kultur beibringen sollte. Es finden sich in den Quellen allerdings keine Anzeichen dafür, dass die universitären Institute tatsächlich schon in den 1960er Jahren zu wichtigen Wissenslieferanten für die bundesrepublikanischen Außenhandelskreise wurden. Michels, Goethe-Institut 2005, S. 237. Zum dabei langsam vollzogenen Wandel aller Mittlerorganisationen hin zu kulturellem Austausch und partnerschaftlicher Zusammenarbeit vgl. Greve, Außenpolitik 1985, S. 309 f. Vgl. Michels, Goethe-Institut 2005, S. 231. 1959 gab es 18 mit Sprachunterricht befasste Auslandsdozenturen des Goethe-Instituts sowie 65 deutsche Kulturinstitute im Ausland. Letztere waren meist schon Anfang der fünfziger Jahre gegründet worden, insbesondere „in den traditionell deutschfreundlichen Ländern Südamerikas“. Hinzu kamen 35 bundeseigene Kulturinstitute. Diese unterstanden direkt dem Auswärtigen Amt. 1960 gingen diese dann sukzessive an das Goethe-Institut über, was sich 1961 auch in der Namensgebung, die nun „Goethe-Institut e. V. zur Pflege der deutschen Sprache und Kultur im Ausland“ lautete, niederschlug. Ebd., S. 234–237, Zitate S. 234. Das IfA hatte 1970 57 Mitarbeiter in 14 Referaten, u. a.: Amerika-Referat, Südosteuropa-Referat, Südamerika-Referat, Referat „Völker, Länder, Kontinente“, Referat für Entwicklungsfragen, Beratungsstelle für Auslandstätige und Auswanderer. Vgl. o. A., Das Institut für Auslandsbeziehungen in Stuttgart – Ziele und Aufgaben“, ca. 1970, BArch B 122/11452.

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VI. Cluster des Entwicklungswissens

ralen Wissensclusters für die 1960er und 1970er Jahre eingegangen werden. Es wurde bereits gezeigt, dass die Berliner Nachkriegsneugründungen wie die DeutschOstasiatische Gesellschaft nie eine breite Resonanz in der deutschen Wirtschaft erreichten. Auch zuvor zentrale Wissensspeicher wie die DWG gaben nach anfänglichen Bemühungen letztlich den Versuch auf, sich als wichtige Informationsknotenpunkte für die bundesrepublikanischen Außenhandelskreise etablieren zu wollen. Zwar gab es in Berlin (West) Ende der 1950er Jahre zahlreiche mit internationalen Fragen befasste Institutionen. Ihr bestimmendes Merkmal war jedoch, dass sie fast ausschließlich auf kulturpolitischem Gebiet tätig waren und dass dieses – anders als beispielsweise beim IfA und beim Goethe-Institut – als nichtökonomisch angesehen wurde. Personell und thematisch wurden also die Verbindungen zur Berliner Unternehmerschaft gekappt. 1959/60 kam es indes noch einmal zu einer spektakulären staatlich finanzierten Neugründung: Die Deutsche Stiftung für Entwicklungsländer (DSE)66 schlug ihre Zelte in Berlin auf, was von vielen damaligen Beobachtern in den Außenhandelskreisen verwundert zur Kenntnis genommen wurde. Da die Stiftung sowohl die Vorbereitung von deutschen Fachkräften auf ihre Tätigkeit in „Übersee“ übernehmen als auch Seminare mit führenden Persönlichkeiten aus „Entwicklungsländern“ abhalten sollte, war diese Institution auch für ökonomische Kreise von immensem Interesse.67 Diese konnten allerdings bereits 1959 dem geplanten Sitz nicht allzu viel Positives abgewinnen. Es sind entsprechend zahlreiche Versuche insbesondere aus „Süddeutschland“ überliefert, einen anderen Ort als Standort durchzusetzen. Dabei wurde vornehmlich argumentiert, dass die Vertreter von „Entwicklungsländern“ bei einem anderen Stiftungssitz „ihren ‚Anfälligkeiten‘ gegenüber Ostberlin nicht so ausgeliefert“ seien. Dass die Stiftung ihren Sitz dann doch in Berlin bezog, war in erster Linie eine politische Entscheidung und wurde nicht mit der Existenz von Expertise vor Ort begründet.68 Dieses Muster zeigt sich auch bei der Gründung des Deutschen Instituts für Entwicklungspolitik 1964, das in Berlin (West) auf dem Gebiet der Ausbildung deutscher Führungskräfte und ausländischer Facharbeiter tätig werden sollte.69 Auf66

Die DSE wurde vom Westberliner Senat und dem Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit getragen. 1973 wurde sie in Deutsche Stiftung für Internationale Entwicklung umbenannt. Sie gab ab 1966 umfangreiche und verschlagwortete „Bibliographien zur deutschen Entwicklungsländer-Forschung“ heraus, die die deutschsprachige und internationale Literatur seit 1959 auflisten. Vgl. DSE, Bibliographie 1968. 67 Geplant war für die DSE 1959 folgender Zweck: „die Pflege wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Beziehungen der Bundesrepublik Deutschland zu anderen Ländern auf der Grundlage gegenseitigen Erfahrungsaustausches. Insbesondere sollen a) berufenen Persönlichkeiten aus den Entwicklungsländern im Rahmen von Seminaren und Exkursionen Kenntnisse auf dem Gebiet der Verwaltung und Wirtschaft vermittelt werden, b) Wissenschaftlern und Fachleuten aus Entwicklungsländern und der Bundesrepublik sowie der übrigen Welt im Rahmen von Tagungen und Begegnungen Gelegenheit zum Gedankenaustausch über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Fragen gegeben werden, c) deutschen Fachkräften Kenntnisse für einen beabsichtigten Aufenthalt in Entwicklungsländern vermittelt werden.“ o. A., o. T., o. S., BArch B 136/2913. 68 Vgl. ebd., Zitat ebd. 69 Vgl. Hesse, Entwicklungshilfen 1969, S. 305. Bis 1969 nahmen 87 junge Akademiker aus den „Entwicklungsländern“ an jeweils neunmonatigen Programmen teil. Vgl. ebd.

Die Herausforderung

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grund ihrer politischen Ausrichtung wurden beide Institutionen von den Außenhandelskreisen der Bundesrepublik in der Folgezeit jedoch nur selten als wichtige Akteure und mögliche Kooperationspartner zur Kenntnis genommen. Es gibt keine Anzeichen dafür, dass deren Schriften von Unternehmern breit rezipiert oder dass die von ihnen angebotenen Kurse von Unternehmern frequentiert wurden. Zugleich hatte das politische Argument, dass der Bund in West-Berlin Präsenz zeigen müsse, auch seine Grenzen. So bewarb sich Berlin 1962 um die Errichtung des Ibero-Instituts, das dann aber in Hamburg angesiedelt wurde. Für die ehemalige Hauptstadt sprach zwar die Existenz einer Deutsch-Ibero-Amerikanischen Vereinigung sowie das universitäre Ibero-Amerikanische Institut und die Iberoamerikanische Bibliothek in Berlin-Lankwitz. Gegen den Hamburger Länderverein kam man mit diesen Argumenten jedoch nicht an. Insbesondere der letzte Versuch, das Institut doch noch für die Stadt zu gewinnen, ist dabei aufschlussreich. So kam aus Berlin der Vorschlag, die geplanten Zuständigkeiten des Instituts zu trennen und die Beschäftigung mit den wirtschaftlichen Beziehungen in der Hansestadt verankert zu lassen und in der ehemaligen Hauptstadt all jene Aufgaben zu konzentrieren, die sich mit dem Kulturaustausch beschäftigten.70 Insgesamt wandten sich die Berliner Institutionen also fast vollständig den kulturpolitischen Aspekten zu und überließen die Bearbeitung von Wirtschaftsfragen den Hamburger Ländervereinen und den großen Industrieverbänden.71 Damit war eine Trennung vollzogen, die sich bereits zuvor angekündigt hatte und nach dem Mauerbau 1961 noch einmal verstärkt worden war: Die ehemalige Hauptstadt wurde nun als internationale Kulturbegegnungsstätte ausgebaut. Ökonomische Probleme und Strategien blieben dabei meist unberücksichtigt. Hier löste sich die bisher typische Vermischung kultureller und ökonomischer Fragen im Bereich des „Übersee-“ und „Entwicklungswissens“ institutionell auf,72 was auch daran lag, dass es in West-Berlin nunmehr nur noch wenige Firmen gab, die an Direktinvestitionen in „Übersee“ interessiert waren. So unterschiedlich der institutionelle Ausbau in der Bundesrepublik regional auch verlief, er wurde immer mit Blick auf die vorhandene Infrastruktur in Hamburg geführt, die aufgrund ihres Vorsprungs in den 1950er Jahren weiterhin der zentrale Referenzpunkt blieb. Dabei schwand aber zumindest im Dreieck Bonn, Köln, Düsseldorf langsam das Gefühl, dass dieser Vorsprung nicht aufzuholen sei. Zumindest pochten die hier angesiedelten Institutionen aufgrund der Nähe zur Industrie und zu den politischen Entscheidungsträgern nun verstärkt auf Gleichberechtigung gegenüber den Außenhandelskreisen Hamburgs. Insgesamt ist festzuhalten, dass sich der Ausbau der Wissensinfrastruktur im Bereich des als ökonomisch praxisrelevant eingestuften „Überseewissens“ insbesondere aus zwei parallel zueinander ablaufenden Prozessen speiste, die die Wissenscluster auf ganz unterschiedliche Weise beeinflussten. Zum einen führten das absehbare Ende der Kapitalknappheit in deutschen exportorientierten Unternehmen und die Dekolonisie70 71 72

Vgl. den Aktenbestand BArch B 122/5310. Vgl. Eberstein, OAV, S. 214. Ein weiteres Beispiel wäre das heute in Bonn beheimate Deutsche Institut für Entwicklungspolitik (DIE), das sich 1964 in Berlin gründete und mit „entwicklungspolitischer“ Forschung, Politikberatung und Ausbildung beschäftigt war.

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VI. Cluster des Entwicklungswissens

rung in „Asien“ und „Afrika“ zum Ausbau der Wissensinfrastruktur vor allem in „West-“ und „Süddeutschland“.73 Zum anderen führte die enge Verknüpfung von „Übersee“ und „Entwicklung“ zur Aufwertung des politischen Standorts Bonn. Beide Prozesse überlagerten und verstärkten sich vor allem in den Städten Köln und Düsseldorf. „Überseewissen“ wurde dabei immer mehr zu Wissen über „Entwicklung“. Insbesondere Bundesinstitutionen für die Beschäftigung mit fremden Märkten und Kulturen gingen anscheinend nicht mehr von Hamburg als idealem Ort für eine Ansiedlung aus.74 Damit war der Anspruch der Ländervereine in Frage gestellt, für Wirtschaft und Wirtschaftspolitik zentraler Ansprechpartner in „Überseefragen“ zu sein.75 Wie reagierten die bis dato so einflussreichen Institutionen in den norddeutschen Hansestädten auf diese für sie ungewohnte und bedrohliche Situation? 3. DIE REAKTION Durch die Zunahme des Eigenkapitals deutscher exportorientierter Unternehmen setzten sich die Entscheidungsträger in der deutschen Industrie in den 1960er Jahren nicht mehr nur eingehend mit Exportfragen, sondern immer häufiger auch konkret mit den Möglichkeiten von Direktinvestitionen auseinander. Zugleich konzentrierten sich die Debatten über die Chancen auf „überseeischen Märkten“ nun verstärkt auf „Afrika“, was die Beschäftigung mit Themen der „Entwicklung“ intensivierte. Nicht zuletzt zeigten sich zunehmend auch mittelständische Industrieunternehmer an „Übersee“ interessiert. Diese drei Prozesse stellten für die Hamburger Institutionen erhebliche Probleme dar. Denn erstens hatten sich die hanseatischen Wissensinstitutionen, die in erster Linie durch Handelsinteressen geprägt waren, in den 1950er Jahren nur am Rande mit dem Thema Direktinvestitionen beschäftigt. Zweitens hatte „Afrika“ in der Nachkriegszeit auch in Hamburg und Bremen nicht im Fokus gestanden.76 Zwar gab es Mitte der 1950er Jahre außerhalb der Hansestädte noch weniger Expertise zu „Afrika“, denn den wichtigen Industrieverbänden galt der Kontinent noch nicht als in naher Zukunft lohnender Handelspartner und

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Auffällig ist, dass in den Quellen dieser Institutionen universitäre Institute – die ebenfalls in den 1960er Jahren erheblich ausgebaut wurden – als Kooperationspartner nicht erkennbar werden. Zwar befassten sich universitäre Abteilungen ebenfalls mit „Entwicklungshilfefragen“, es kann aber nicht belegt werden, dass diese von Unternehmern als wichtige Wissensproduzenten angesehen wurden. Sie wurden wahrscheinlich eher als Wissensressourcen für die Politik eingestuft. Daher sind sie im vorliegenden Unterkapitel auch nicht berücksichtigt worden. Vgl. Eberstein, OAV 2000, S. 217. Einige neugegründete Institutionen galten als regelrechte Existenzbedrohung. Laut Eberstein zählten dazu u. a. die Deutsche Gesellschaft für wirtschaftliche Zusammenarbeit und die mit ihr geplante volkswirtschaftliche Abteilung. Vgl. ebd. Auch in den Jahrzehnten zuvor hatte ja die realwirtschaftliche Bedeutung der Kolonien niemals die ursprünglichen Annahmen und Werbeversprechen bestätigt. Sie waren eher „Kinder des Gefühls und der Phantasie“ als bedeutende Export- und Importmärkte. Vgl. Kundrus, „Kinder des Gefühls und der Phantasie“ 2003; van Laak, Tropenfieber 2010, S. 98.

Die Reaktion

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Niederlassungsort.77 Gleichwohl ist ein kaum mehr aufzuholender Informationsund Vernetzungsvorsprung der Hansestädte in der Beschäftigung mit „Afrika“ auch nicht auszumachen. Drittens waren die mittelständischen exportstarken Unternehmen meist in deutlicher Entfernung zu den Hansestädten angesiedelt und waren damit nur schwer direkt für die Ländervereine erreichbar. An den andernorts neu gegründeten Institutionen waren die hanseatischen Außenhandelskreise zwar zumeist auch beteiligt, spielten aber in ihnen keine dominierende Rolle. Sie blieben in die Informationsflüsse eingebunden und sicherten sich schließlich auch innerhalb der Arbeitsgemeinschaft Entwicklungsländer eine wichtige Stellung durch die Erarbeitung von Gutachten und Länderberichten, erlitten aber nichtsdestotrotz einen erheblichen Statusverlust. Beispielsweise waren die Hamburger Ländervereine zwar Gründungsmitglieder der für die Großindustrie so bedeutsamen Arbeitsgemeinschaft Entwicklungsländer, den ersten Vorsitz übernahm jedoch der Industriemanager Dietrich Wilhelm von Menges78 und nicht ein Vertreter des Außenhandels.79 Das wog schwer, da die Arbeitsgemeinschaft Entwicklungsländer insbesondere für das BMWi schnell zum zentralen Ansprechpartner und Kommunikationsknotenpunkt zur Wirtschaft wurde.80 Den Bedeutungsverlust der Hamburger Institutionen verdeutlichen auch die von der Arbeitsgemeinschaft organisierten Reisen. Als typisches Beispiel kann eine dreiwöchige Reise nach Indien im Jahre 1965 gelten. Von den immerhin 33 Teilnehmern kam keiner aus den Ländervereinen! Der Blick auf den Teilnehmerkreis zeigt, dass nun sowohl vermehrt mittelständische Unternehmer sowie Mitarbeiter von Banken und von bereits in Indien ansässigen deutschen Firmen an der Reise teilnahmen. Die Reise kam auch nicht mehr auf Initiative der deutschen Außenhandelskreise zustande, sondern wurde vom Indian Investment Centre angeregt und damit einer staatlichen – mit dem indischen Finanzministerium verbundenen – Institution, die versuchte, „privates Investitionskapital für Indien zu interessieren und Partnerschaftsgründungen nach Kräften zu erleichtern“.81 77

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Sie konzentrierten ihre begrenzten Ressourcen folgerichtig vorerst auf andere Weltregionen. Wichtige Ausnahmen waren Ägypten, das aber als Teil des „Nahen und Mittleren Ostens“ galt und Südafrika, das aufgrund seiner „weißen“ Führungsschicht meist gar nicht unter die Rubrik „Übersee“ fiel. Von Menges (1909–1994) hatte als wichtiger Industriemanager der Stahlbranche auch einen Sitz im Präsidium der Deutschen Afrikagesellschaft inne, das allerdings sonst eher aus Gesandten, Konsuln und Universitätsprofessoren bestand. Von Menges war lange Jahre bei Ferrostahl tätig und war ab 1961 im Vorstand des Mutterkonzerns (Gutehoffnungshütte) vertreten, ab 1966 dessen Vorstandsvorsitzender. Er verfügte über zahlreiche Aufsichtsratsmandate und war Präsident der IHK Essen (1969–1977). Zur Bedeutung der Arbeitsgemeinschaft Entwicklungsländer für die Industrie vgl. Eberstein, OAV 2000, S. 186 f. Das BMWi richtete die Bekanntgabe von Ausschreibungen für Großprojekte beispielsweise nun direkt an die Industriekreise und ging nicht mehr über die Institutionen der Hansestädte. Vgl. BArch B 102/313313. Wichtige Firmen im Handel mit den „Entwicklungsländern“ waren: Carl Freudenberg KG, C. F. Boehringer & Söhne, Friedrich Krupp GmbH, E. Merck AG, Klöckner-Humboldt-Deutz AG. Vgl. BArch B 102/313313. Das Programm unterschied sich allerdings nur wenig von den Goodwill-Missionen der 1950er Jahre. Neben der Besichtigung von Sehenswürdigkeiten und Treffen mit dem deutschen Bot-

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VI. Cluster des Entwicklungswissens

Insbesondere die neu gegründeten Institutionen, die sich auf das Thema „Entwicklungspolitik“ konzentrierten, wurden in den Hansestädten argwöhnisch beäugt und deren Ansiedlung außerhalb der eigenen Region durchaus mit Vehemenz beklagt. Klaus Hansen – Sohn des bereits mehrfach zitierten Heinz Hansen und somit zugleich Juniorchef eines führenden Hamburger Außenhandelshauses – machte im Handelsblatt 1962 deutlich, was er von den Konkurrenzgründungen hielt. Besonders erzürnte ihn hierbei die bundespolitisch motivierte Entscheidung, Köln zum Sitz der Deutschen Gesellschaft für wirtschaftliche Zusammenarbeit zu machen. Dies sei eine „Fehlentscheidung ersten Grades“. Seiner Meinung nach hätte man besser die „überseeischen Erfahrungen der Hansestädte“ genutzt, da nur in Hamburg und Bremen „konzentrierte Übersee-Erfahrung in weitem Umfange vor[liegt]“. Zumindest sei doch eine Außenstelle in Hamburg einzurichten. Da man sich, so Hansen, nun darauf geeinigt hätte, die Entwicklungsgesellschaft als „Mittel zur Förderung der privatwirtschaftlichen Initiative in Entwicklungsländern“ zu konzipieren, sei es für „ein Land, wie die Bundesrepublik, das im Gegensatz zu allen seinen EWG-Partnern und zu England nicht über einen großen Stamm an in Übersee erfahrenen Kaufleuten und Technikern verfügt“ notwendig, sich zu „überlegen, wie es die wenigen vorhandenen Kräfte besser koordinieren kann“. Problematisch schafter und mit deutschen Geschäftsleuten vor Ort, Treffen mit hochrangigen Politikern Indiens und mit Vertretern der Deutsch-Indischen HK standen nun aber vermehrt auch Zweigstellen von deutschen Unternehmen (Siemens, Boehringer, Hoechst, Merck) auf dem Programm. Vgl. Arbeitsgemeinschaft Entwicklungsländer, Investieren in Indien 1965, S. 9, Zitat ebd. Teilnehmer waren: Dr. Hans Kuntze: Geschäftsführer der Klein Pumpen GmbH (Pfalz), Camilo Adamus: Geschäftsführer der Maschinenfabrik Lorenz GmbH & Co (Baden), Mortimer G. von Belling: Direktor der Dresdner Bank AG, Günther Bernt: Prokurist der Frankfurter Bank, Diplom-Betriebswirt Richard Bluck und Dipl. Ing. Wolfgang Dannemann: Vorstandsmitglieder der Badischen Maschinenfabrik AG, Dr. Max W. Clauss: Leiter der Auslandsabteilung der Deutschen Messe- und Ausstellungs-AG, Karl-Bernhard Grautoff: Vorsitzender des Vorstandes der Werkzeugmaschinenfabrik Gildemeister & Com. AG (Bielefeld), Dr. Hans Henckel: Ministerialdirektor im Bundesministerium für Wirtschaft, Walter Hunger: Walther Hunger International (Lohr), Klas Peter Jacobs: Direktor der Commerzbank AG, Heinrich Koesling: DaimlerBenz AG, Dr. Paul Krebs: Generalbevollmächtigter der Deutschen Bank, Dr. Wolf Dieter Lindner: Geschäftsführer der Arbeitsgemeinschaft Entwicklungsländer, Dr. Manfred Lohmann: Stellvertretender Geschäftsführer der Deutschen Gesellschaft für wirtschaftliche Zusammenarbeit mbh, Rolf Loretan: Precima GmbH (Frankfurt), Dr. Herbert O. Mittendorf: Abteilungsleiter der Kreditanstalt für Wiederaufbau, Dipl.-Ing. H. Müller: Mitinhaber der Firma Otto Müller Maschinenfabrik und Vertriebsgesellschaft mbh (Plochingen/Neckar), Dipl.-Volkswirt Tyll Necler: Geschäftsführer der HAKO-Werke (Bad Oldesloe), Günther Reichheim: Mitglied des Vorstandes der CALOR EMAG, Elektrizitäts-AG (Ratingen), Günther Seidel: Deutsche Bank AG (Frankfurt), Gerd Seidensticker: Seidensticker Herrenwäschefabriken GmbH (Bielefeld), Dr. Karl Schreiber: Geschäftsführer der Robert Bosch GmbH, Dr. Heinz-Peter Teltz: Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie, Hans Trützschler: Mitinhaber der Textilmaschinenfabrik Trützschler & Co (Rheydt-Odenkirchen), Helmut Vollrat: Verein Deutscher Maschinenbau-Anstalten, Oberingenieur Friedrich Weiler: Inh. der Firma Werkzeugmaschinenfabrik Weiler KG (Herzogenaurach), Herbert E. Wenzel: Direktor der Brown, Boveri und Cie. AG (Mannheim), Walter Zorn: Mitinhaber der Firma Wälztechnik Saacke – Zorn KG (PforzheimEutingen), F. K. Heller: Buckau Wolf New India Engineering Works Ltd. (Bombay), Georg Roesch: FAG India, (Kalkutta), Dietrich F. Witzel: Bundesstelle für Außenhandelsinformation (New Delhi).

Die Reaktion

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sei vor allem der Einfluss des BDI auf die politischen Entscheidungen. Dessen Argument, „daß die mittelständischen Unternehmer, die hauptsächlich mit der Entwicklungsgesellschaft zusammenarbeiten müssten, Köln leichter erreichen könnten als Hamburg“ konterkarierte er durch die Frage: „Warum hat der BDI dann nicht für Stuttgart als Sitz plädiert? Zweifellos ist im württembergischen Raum sehr viel mehr mittelständisches Unternehmertum konzentriert als an der Ruhr.“82 Auch mochte ihm die Nähe zum Regierungssitz nicht als Vorteil erscheinen: „Die Gruppen der Wirtschaft, die mit der Entwicklungsgesellschaft (…) in bezug auf ihre zukünftige wirtschaftliche Existenz zusammenarbeiten müssen sind in Hamburg und Bremen ansässig und nicht, wie der BDI annimmt, in Köln oder Wuppertal. Die Entwicklungsgesellschaft gehört daher in die nüchterne Atmosphäre der Hansestädte und nicht in die Peripherie der Lobby in Bonn.“83

Von der gemeinsamen Interessenartikulation von Wirtschaftskreisen und Politikern in der Hansestadt war bereits die Rede gewesen. Es kann daher nicht verwundern, dass auch der damalige Hamburger Bürgermeister Nevermann84 bei seiner 1962 gehaltenen Eröffnungsrede zum „Nah- und Mittelost-Tag“ in die gleiche Kerbe wie Hansen schlug.85 So sei Hamburg „stets ein Forum des internationalen Gesprächs“ gewesen und hätte „auf Grund seiner überseeischen Beziehungen oft genug andere Akzente als Bonn oder als die süddeutschen Landeshauptstädte“ gesetzt. Auch wenn er seinen Einwand mit Blick auf die anwesenden „250 Diplomaten, Politiker, Vertreter der Ministerien und Kaufleute aus der Bundesrepublik und dem Nahen und Mittleren Osten“ nicht als „Opposition“, sondern als „pflichtgemäße[n] Beitrag“ verstanden wissen wollte, „den wir als Küstenländer zur Klärung der Sachverhalte liefern müssen, damit es zu keinen einseitigen Entscheidungen“ komme, bezweifelte er, dass Bonn ein geeigneter Standort für Institutionen sei, die sich mit dem Thema der „Entwicklungshilfe“ beschäftigten.86 Diese Klagen und Mahnungen hatten auf die Bundespolitik keinen nennenswerten Effekt. Sie machen in ihrer Wortwahl jedoch deutlich, wie ernst die Situation den Außenhandelskreisen der Hansestadt schien. Dieser Konkurrenzdruck veranlasste die Hamburger Institutionen dazu, über ihre bisherigen Konzeptionen nachzudenken und sich personellen sowie inhaltlichen Erneuerungsbestrebungen zu öffnen.87 82 83 84 85 86

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Alle vorherigen Zitate aus: Hansen, Entwicklungsgesellschaft 1962, o. S. Ebd. Zur Person Nevermanns und dessen politischer Karriere vgl. Schildt, Rücktritt Paul Nevermanns 2007. Der Nah- und Mittelost-Tag wurde zusammen von der Deutschen Orient-Stiftung, dem Deutschen Orient-Institut und dem Nah- und Mittelost-Verein ausgerichtet. Eröffnungsrede des Hamburger Bürgermeisters Dr. Nevermann zum Nah- und Mittelost-Tag 1962 am 30.11.1962, hier zitiert aus: Die Welt vom 1.12.1962, o. S., Staatsarchiv Hamburg 131–1 VI 1847. Ähnliche Argumente waren auch schon in den 1950er Jahren immer wieder gegen die Bundeshauptstadt vorgebracht worden. So war, als es um die Gründung des GoetheInstituts ging, aus München zu vernehmen, dass die zukünftig wichtigste Mittlerorganisation in einer deutschen Stadt angesiedelt sein solle, „die eine gewisse Ausstrahlungskraft auf das Ausland habe“, was Bonn als Standort ausschlösse. Michels, Goethe-Institut 2005, S. 236 f. 15 Jahre nach Kriegsende war es nicht mehr möglich, auf frühere Mitarbeiter zurückzugreifen, da diese meist andere Positionen gefunden hatten oder mittlerweile zu alt waren. Die mit der

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VI. Cluster des Entwicklungswissens

Um ihren Platz im Zentrum des Diskurses zu verteidigen, strichen die Ländervereine schon Ende der 1950er Jahre die Namensbestandteile, die bislang ihre hanseatische Prägung hervorhoben.88 Beispielsweise verzichtete der Afrika-Verein ab 1959 auf den offiziellen Zusatz „Hamburg-Bremen e. V.“ und firmierte fortan als Afrika-Verein der deutschen Wirtschaft.89 Daneben sind vor allem vier Strategien zu nennen: Erstens sicherte sich die Hamburger Kaufmannschaft ihren Einfluss in der Industrie durch neue Formen der Außenhandelsbetreuung (nicht mehr nur Export, sondern auch technische Dienste). Zweitens öffneten sich die Institutionen des „Überseewissens“ verstärkt der Teilhabe aus den Industrieregionen. Drittens intensivierten sie die Mitarbeit in Institutionen außerhalb der Hansestädte und versuchten viertens, innerhalb des eigenen Stadtraums die Kompetenzen zu bündeln und auszubauen. Der erste Punkt ist von erheblicher Bedeutung, kann jedoch mit Blick auf die vorhandene Sekundärliteratur relativ knapp abgehandelt werden. Wie in den 1960er Jahren das Verhältnis zwischen Industrie und Exporthandelsunternehmen neu bestimmt wurde,90 wird u. a. an einem Vortrag von dem Exporthandelsunternehmer Lorenz-Meyer vor dem Außenhandels-Ausschuss des BDI im Jahre 1966 nachvollzogen werden. Der Vortragende begann mit Ausführungen, die so auch schon fast 20 Jahre zuvor zu hören gewesen waren. Er betonte, dass das „Überseegeschäft“ immer noch besonders risikoreich und dass die Bedeutung des Exporthandels im Geschäft mit „Übersee“ immer noch von großer Bedeutung sei.91 Die Wichtigkeit der Ausfuhren in „sogenannte Überseeländer“ rühre unter anderen daher, dass die „Entwicklungsländer“ in ihrer Gesamtheit zwar „zweifellos ein wichtiges Absatzgebiet“ darstellten, als einzelne Märkte aber meist zu klein „für eine rationelle Bearbeitung durch den einzelnen Fabrikanten“ seien. Hinzu kämen die besonders Ausweitung des Themenspektrums verbundene personelle Expansion hatte dementsprechend für zahlreiche Institutionen zur Folge, dass diejenigen Mitarbeiter, die in den 1940er und 1950er Jahren die Kontinuität über den Systemwechsel hinweg gesichert hatten, nun allmählich zur Minderheit wurden. Der Stellenausbau ging daher mit einer neuen Generationenvielfalt in den Institutionen einher. Da diese aber vorerst nicht die Leitungsebene betraf, sollte er nicht als Generationswechsel interpretiert werden. 88 Vgl. Eberstein, OAV 2000, S. 193. 89 1940 hatte man sich noch in „Afrika-Verein“ umbenannt, nach dem Krieg aber den alten Namenszusatz wieder angenommen. Vgl. Afrika-Verein der Deutschen Wirtschaft, Vision Afrika 2010, S. 7. 1960 gründete der Afrika-Verein aber zugleich eine neue Geschäftsstelle in Bremen. Vgl. Tätigkeitsbericht des Afrika-Vereins 1960, „Archiv“ des Afrika-Vereins der Deutschen Wirtschaft, ohne Signatur. 90 Vgl. hierzu auch: HWWA, Exporthandel heute 1965, Archiv der IHK Mannheim MA 05 0302.0 # 4. 91 „Allein die Hamburger Exporthandelsfirmen haben an den Gesamtausfuhren der Bundesrepublik nach Lateinamerika, Asien und Afrika einen Anteil von 12 bis 15 %. Rechnet man die in Bremen und im Westen sowie in Nürnberg ansässigen Exporthändler hinzu, wird ein Durchschnittsvolumen von 20 % sicherlich nicht zu hoch gegriffen sein. Die Bundesregierung schätzt, daß unter Einschluß der EWG-Länder insgesamt 30 % der deutschen Ausfuhr über den Exporthandel gehen.“ Referat von Herrn Lorenz-Meyer vor dem Außenhandels-Ausschuss des BDI in Köln am 6.12.1966 über die Möglichkeiten einer verstärkten Zusammenarbeit zwischen Exporthandel und Industrie, S. 1, BDI-Archiv AH 56, Karton 415.

Die Reaktion

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komplizierten Verhältnisse in den „überseeischen Gebieten“: Ständig wechselnde Import- und Zollvorschriften, der Mangel an politischer und wirtschaftlicher Stabilität, Devisenknappheit, Währungsverschlechterungen und Inflation, die Probleme bei eventuellen Rechtsstreitigkeiten.92 Dies habe jüngst erst wieder – unter Zugrundelegung einer Sammlung praktischer Vorkommnisse der letzten Jahre – eine von der Arbeitsgemeinschaft der Deutschen Exporteurvereine erstellte Übersicht über die möglichen politischen Risiken auf „Überseemärkten“ ergeben. Aus dieser gehe nämlich hervor, dass 1963 und 1964 nicht weniger als 34 „Entwicklungsländer“ ihre Einfuhrgeschäfte durch Eingriffe regulierten, „die nicht zu den üblichen handelspolitischen Mitteln gehörten. Man findet alles, was sich Protektionisten an künstlichen Schwierigkeiten, in einzelnen Fällen sogar Schikanen auszudenken vermögen.“93 Vor diesem Hintergrund sei es offensichtlich: „Je kleiner, schwieriger und risikoreicher der Markt ist, desto unrationeller kann selbst für den großen Industriebetrieb die Einrichtung einer eigenen Niederlassung sein.“ Hier käme der Exporthandel ins Spiel, der „in überseeischen Gebieten ein nahezu lückenloses Netz der Absatzorganisation“ bieten und dem deutschen Industrieunternehmer mit seinen „Kenntnisse[n] der Sprache und der Mentalität“ helfen könne.94 Dabei, und dies macht den Wandel deutlich, sehe man in den Kreisen des Exporthandels auch, dass man sich selbst verändern und noch stärker ins „technische Geschäft“, das heißt ins Geschäft mit industriellen Großanlagen inklusive ihrer Errichtung und teilweise auch ihres Betriebs einsteigen müsse. Mittlerweile sei diesbezüglich auch eine „bemerkenswerte Aufgeschlossenheit vieler Industriefirmen für den Exporthandel festzustellen“.95 Weil es manchmal den Exporteuren auch an technischem Fachwissen fehle, sei die engere Zusammenarbeit in beiderlei Interesse. Man solle daher auch gegenüber den Ministerialbehörden mit einer Stimme sprechen, damit diese „in Anbetracht der anhaltenden Unsicherheit in den meisten überseeischen Absatzgebieten, der dort üblichen politischen, wirtschaftlichen und sozialen Spannungen (…) unsere (…) Arbeit an der Front würdigen und fördern“.96 In den hanseatischen Exporthäusern vollzog sich also eine Umorientierung, bei der vormals ausgegliederte Aufgabenbereiche wieder selbst übernommen und insbesondere die Service- und Beratungsleistungen ausgeweitet wurden. Zudem wurden die Sortimente so umstrukturiert, dass sie sich immer stärker vom Konsumgüter- in den Investitionsgüterbereich verlagerten.97 Im Investitionsgüterexport wurden fortan seltener Exportgeschäfte mit einzelnen Maschinen getätigt. An deren Stelle traten komplexe Anlagengeschäfte, d. h. „Problemlösungen für einzelne Projekte einschließlich Finanzierungsmöglichkeiten, ferner die Inbetriebnahme und Erklärung der Anlage, und die Service- und Reparaturleistungen“. Weil die Zeitgenossen annahmen, dass die Absatzchancen eines Exportgutes vom ergänzenden Dienstleistungsangebot 92 93 94 95 96 97

Vgl. ebd., S. 2, Zitat ebd. Ebd., S. 6. Ebd., S. 2. Ebd., S. 1. Ebd., S. 5. Dies spiegelt die Veränderungen in der Warenstruktur des Exports der Bundesrepublik wider. Vgl. Dessauer, Entwicklungstendenzen 1982, S. 185.

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abhängig seien, machte der hanseatische Exporthandel die Interessenwahrungs- und Beratungsfunktion zum wesentlichen Wettbewerbsfaktor. Er übernahm so nicht mehr nur die Auslieferung, sondern auch Montage, Wartung und Reparatur. Die Exporthandelshäuser passten sich durch die Einschaltung in das „technische Geschäft“ und den „Übergang zum Verkauf mit Service“ den neuen Außenhandelsbedingungen an und kamen so auch den Wünschen und den Erfordernissen der Industrie nach. Sie wurden nun vermehrt Teil der Direktexporte der Industrie und bildeten immer weniger ein selbständiges hanseatisches Ausfuhrgeschäft. Allerdings führte die stärkere Spezialisierung der Häuser auf einzelne Warengruppen nicht dazu, dass die traditionelle Orientierung auf den Handel mit einer Weltregion vollständig aufgehoben wurde. Die hanseatischen Außenhändler blieben Regionalspezialisten.98 Diese Anpassungen auf der Ebene der Außenhandelshäuser sind von großer Bedeutung, weil sich dadurch die Unterschiede von Handel und Produktion langsam aufzulösen begannen. Die Institutionen des „Überseewissens“ in den Hansestädten hatten, wollten sie weiterhin praxisrelevantes Wissen für die Außenhandelskreise bereitstellen, auf die veränderte Praxis zu reagieren. Die größten Herausforderungen im Bereich des „Überseewissen“ lagen im Grunde aber auf einer anderen Ebene. Am einfachsten lässt sich die Hamburger Antwort auf die Herausforderungen mit Blick auf den Afrika-Verein und die Planungen eines Überseeinstituts verdeutlichen. Einerseits richtet sich der Fokus damit auf den für die bundesrepublikanischen Außenhandelskreise zentralen „Entwicklungsraum“ der 1960er Jahre, andererseits auf die Bemühungen, sämtliche Bereiche des „Überseewissens“ in der Hansestadt zu bündeln und damit den wichtigsten Vorteil des „norddeutschen“ Clusters auszuspielen: Die Beschäftigung mit allen (!) „überseeischen“ Märkten in einem Stadtraum. Am Afrika-Verein lässt sich eine auch für die anderen Ländervereine typische Strategie ablesen: Die verstärkte Einbeziehung der Industrie bei gleichzeitigem Ausbau der eigenen Forschungsaktivitäten. Bis 1960 und der Gründung des Technisch-Wirtschaftlichen Dienstes (TWD) hatte der Afrika-Verein nur eine untergeordnete Rolle in Hamburg gespielt,99 obwohl er zu diesem Zeitpunkt bereits auf ein fast 30-jähriges Bestehen zurückblicken konnte.100 Nur wenige Personen waren 98 Vgl. ebd., S. 180 f. und S. 185 f., Zitate S. 185 f. und S. 186. 99 Der TWD wurde als Abteilung des Ländervereins gegründet und war hauptsächlich auf „afrikanische Länder“ spezialisiert. Dabei war er eng mit dem BMZ verbunden. Zum TWD vgl. Afrika-Verein der Deutschen Wirtschaft, Vision Afrika 2010, S. 9. Der TWD erstellte vor allem Studien zur Machbarkeit von Exporten und Industrieansiedlungen ganz spezifischer Branchen in einzelnen Ländern. Vgl. Hauser, Auffinden absatzfähiger Produktionen in Entwicklungsländern 1964. Hubertus Büschel verweist darauf, dass das Personal des Afrika-Vereins, mit seinen „alt gediente[n] Afrika-Veteranen“ zentraler „Personalpool“ auch für kirchliche und politische Institutionen der „Entwicklungshilfe war. Vgl. Büschel, Afrika helfen 2008, S. 341 f. Vgl. auch Krämer, Chronik des Afrika-Vereins 1984. 100 Der Afrika-Verein war nach längeren Vorverhandlungen und Besprechungen bereits 1934 gegründet worden. Dem Gründerkreis gehörten namhafte Persönlichkeiten aus Hamburger Handels- und Schifffahrtskreisen an. Zweck des Afrika-Vereins war seit der Gründung die Förderung der allgemeinen deutschen Beziehungen zu den „afrikanischen Ländern“, insbesondere auf dem Gebiet der Wirtschaft. Seine Gründung ist aber vor allem darauf zurückzuführen, dass die Ende der 1920er Jahre einsetzende Entwicklung des Preisverfalls bei „afrikanischen“ Produkten und die Aufhebung des Goldstandards für Pfund Sterling, die zentrale Währung im

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in der Hansestadt im ersten Nachkriegsjahrzehnt davon überzeugt gewesen, dass gerade in „Afrika“ die zukunftsträchtigen Märkte lägen. In den 1950er Jahren hatte der Afrika-Verein nichtsdestotrotz ein den anderen Ländervereinen vergleichbares Aufgabenspektrum: Er betreute ausländische Besucher, arbeitete eng mit dem Deutschen Institut für Afrika-Forschung zusammen, pflegte die Beziehungen zu politischen und ökonomischen Kreisen in „Afrika“, half dabei, Kontakte zwischen deutschen Politikern und Politikern aus „Afrika“ anzubahnen und erarbeitete regionale Marktanalysen für die deutsche Wirtschaft.101 Zudem war er zentraler Informationsknotenpunkt für ausreisende, heimkehrende oder auf Heimaturlaub befindliche Diplomaten.102 Er hatte aber weder das Renommee noch verstrahlte er den Glanz des Ostasiatischen Vereins oder des Ibero-Amerika-Vereins. Doch ab Ende der 1950er Jahre zeigte sich am Afrika-Verein deutlich das zunehmende Interesse von Politik und Wirtschaft an diesem Kontinent.103 Die Mitgliederzahl stieg an.104 Zudem wurden nun immer mehr Besucher betreut.105 Paral-

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Afrikahandel, eine zu scharfe Konkurrenz unter den deutschen Afrika-Händlern auslöste. Zugleich war er aber auch wichtige Kommunikationsplattform und Vermittlungsinstanz von Expertise. Schon kurz nach seiner Gründung, nämlich seit 1938, wurde der Verein stark politisiert. Einerseits durch den Ausschluss mehrerer jüdischer Vereinsmitglieder, andererseits durch seinen Umbau zum Instrument der nationalsozialistischen Kolonialpolitik. Dabei richtete man ein eigenes „Kolonialreferat“ ein und arbeitete auch mit den betreffenden Stellen der Hamburger Universität, insbesondere dem dort errichteten Kolonial-Institut, zusammen. Während man sich auch hier während des Krieges vor allem um Internierte kümmerte, versuchte man nach 1945, schnell wieder das ursprüngliche Betätigungsfeld zu besetzen und den Verein als Wirtschaftsverband aufzubauen. Bremer Kaufleute waren zwar ebenfalls beteiligt, Bremen war aber in den Afrikahandel nicht so stark eingebunden wie Hamburg. Zum ersten Vorsitzenden des Afrika-Vereins ist der Geschäftsführer der in Hamburg ansässigen Woermann-Linien gewählt worden. Bei der Gründung des Vereins orientierte man sich an den bereits bestehenden Ländervereinen, zog aber bewusst auch Kontinuitäten zum ehemaligen Hamburger „Verein Westafrikanischer Kaufleute“ und zum „Syndikat für Westafrika“, zwei vom Hochimperialismus des Kaiserreichs geprägten Institutionen. Hier kristallisierte sich daher auch nicht von ungefähr die Forderung nach deutschen Kolonien in „Afrika“. So die Selbstdarstellung in: Afrika-Verein an Senatskanzlei Hamburg vom 20.12.1949, o. S., Staatsarchiv Hamburg 131–1 II 5251. Mit dem Ostasiatischen Verein Hamburg-Bremen bestand seit der Gründung ein enges Verhältnis, desgleichen mit dem später hinzugekommenen Latein-Amerikanischen, dann Ibero-Amerikanischen Verein. Vgl. Afrika-Verein der deutschen Wirtschaft, Vision Afrika 2010, S. 4–7. Zum Afrikaverein nach 1945 vgl. auch Brahm, Wissenschaft und Wirtschaft 2014, S. 136–139. Dabei waren Vortragstätigkeit und Publikationen vor allem auf die Außenhandelskreise der Hansestädte ausgerichtet. Vgl. Tätigkeitsbericht des Afrika-Vereins von 1969, S. 11, „Archiv“ des Afrika-Vereins [ohne Signatur]. Vgl. Staatsarchiv Hamburg 731–8-A507. Vgl. Statistiken in: Afrika-Verein der deutschen Wirtschaft, Vision Afrika 2010, S. 6 und S. 10. Als man 1948 die erste Mitgliederversammlung nach dem Krieg abhielt, hatte man nur noch 20 Prozent des Mitgliederhöchststands von 1943. Dieser konnte aber bereits im Jahre 1952 wieder übertroffen werden, steigerte sich dann kontinuierlich in den 1950er Jahren und erhöhte sich um 1960 weiter. Allein im sogenannten Afrika-Jahr 1960 waren es rund 130 Politiker, Wirtschaftsvertreter und Journalisten aus über 25 afrikanischen Staaten. Vgl. Ebd., S. 8. Das Afrikajahr 1960 ist nicht zu verwechseln mit dem internationalen Afrikajahr 1966.

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lel dazu erhöhte sich auch die Präsenz des Ländervereins und seiner Mitglieder in den „afrikanischen“ Staaten selbst. Aufgrund der weiterhin großen Bedeutung der ehemaligen Kolonialmächte Frankreich und Großbritannien nahm auch der Informationsaustausch zwischen Institutionen dieser Länder und dem Hamburger Länderverein zu.106 Im Zuge des EWG-Assoziierungsabkommens mit „afrikanischen“ Staaten gründete der Afrika-Verein zudem eine Geschäftsstelle in Brüssel.107 1973 nahm der Afrika-Verein dann auch in Paris an der Gründungsversammlung des Kreises der europäischen Afrika-Organisationen teil.108 Zumindest auf internationaler Ebene war die traditionsreiche Hamburger Institution so auch deutlich sichtbarer als Neugründungen wie die DAG in Bonn. 1961 – also im Gründungsboom von Institutionen, die sich in der „Entwicklungsdekade“ mit den nun selbstständig werdenden „afrikanischen“ Staaten beschäftigten – hielt das UNESCO Library Bulletin fest, dass 10 der 14 deutschen Institutionen zur Erforschung Afrikas in Hamburg ansässig seien.109 Die internationalen Kontakte waren gegenüber der Intensivierung der Vernetzung mit den anderen Ländervereinen, den zahlreichen mit „Afrika“ befassten Forschungsinstituten, der Universität110 und der Handelskam106 Darauf verweisen die Rechenschaftsberichte aus diesen Jahren. Der Afrika-Verein war in der Bundesrepublik insofern außergewöhnlich, als er intern nach Sprachen organisiert war, d. h. dass sich Mitarbeiter des Vereins auf die ehemaligen britischen Kolonien oder auf die ehemaligen französischen Kolonien spezialisierten. 107 Vgl. Afrika-Verein der Deutschen Wirtschaft, Vision Afrika 2010, S. 8. Eine erste wichtige Reise des Afrika-Vereins führte beispielsweise 1956 nach London, wo der Geschäftsführer des Afrika-Vereins, Herr G. Bock, den Zweck verfolgte, „Kontakt mit denjenigen Vertretungen der afrikanischen Commonwealth-Länder aufzunehmen, welche in der Bundesrepublik lediglich durch die britische Botschaft vertreten werden. Darüber hinaus sollte der Besuch dazu dienen, bereits bestehende Beziehungen zu vertiefen sowie Informationen über die in London ansässigen britischen und internationalen Organisationen einzuholen, welche sich mit Afrika befassen. In diesem Zusammenhang wurden auch die Royal Africa Society und das International African Institut besucht, mit welchen der Afrika-Verein schon seit den dreissiger Jahren in Kontakt und im Schriftenaustausch steht.“ Tätigkeitsbericht des Afrika-Vereins 1956, S. 3, Staatsarchiv Hamburg Z 314/0008. 108 Vgl. Tätigkeitsbericht des Afrika-Vereins 1973, S. 12 f., „Archiv“ des Afrika-Vereins [ohne Signatur]. Die (wenigen) internationalen Kontakte der Ländervereine sind in den Tätigkeitsberichten voller Stolz genau aufgelistet. 109 Vgl. UNESCO Library Bulletin, Paris 1961, Art. 356, S. 3. Eine interne Auflistung der Senatskanzlei II Hamburgs aus dem Jahr 1969 nennt als mit dem „afrikanischen Kontinent“ befasste Institutionen in Hamburg: den Afrika-Verein, das Deutsche Institut für Afrika-Forschung, die Afrika-Bibliothek, das Bernhard-Nocht-Institut für Schiffs- und Tropenkrankheiten, das Institut für Geographie und Wirtschaftsgeographie, das Seminar für Afrikanische Sprachen und Kulturen, das Seminar für Völkerkunde, den Botanischen Garten und das Zoologische Staatsinstitut – letztere wegen der Verknüpfung von Fragen des Verhältnisses zwischen Agrarökonomie und sekundärem Sektor auch für die deutschen Wirtschaftskreise durchaus von Interesse. Vgl. Senatskanzlei II der Freien und Hansestadt Hamburg: Interne Auflistung, 1969, Staatsarchiv Hamburg 131–1 II 5251. 110 Insbesondere durch die Gründung des Deutschen Instituts für Afrika-Forschung (DIAF) 1963. Brahm verweist aber auf die Schwierigkeiten des Ausbaus der universitären Forschungsinstitute. Vgl. Brahm, Wissenschaft und Dekolonisation 2010, S. 226. Zum DIAF vgl. Brahm, Wissenschaft und Wirtschaft 2014, S. 138–143. Zur Gründungsgeschichte der vom DIAF herausgegebenen Zeitschrift Afrika Spectrum vgl. Eckert, Africa Spectrum 2016.

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mer in Hamburg zwar eher unbedeutend.111 Es zeigt sich aber, dass die Informations- und Kommunikationsnetze auf allen Ebenen dichter wurden. Alle Ländervereine öffneten sich immer deutlicher gegenüber den Interessen der „westdeutschen“ und „süddeutschen“ Industrie. Die Mitgliederversammlung des OAV wurden so beispielsweise 1964 zum ersten Mal außerhalb der Hansestädte abgehalten. Wo genau, verdeutlicht wiederum die Bedeutung anderer Städte im Wissenscluster: sie fand eben gerade nicht in Hannover, Essen oder Frankfurt am Main, sondern erst in Düsseldorf, ein Jahr später dann in Stuttgart statt.112 In den 1970er Jahren wurde dann sogar angeregt, dass der Vorsitzende des Vereins nicht mehr aus Hamburg oder Bremen komme müsse, auch wenn an die Verlegung der Geschäftsstelle weiterhin nicht zu denken war.113 Darüber hinaus kam es zu einer engeren Zusammenarbeit – zum Teil auch zur Personalunion – mit den zahlreichen zwischenstaatlichen Ländergesellschaften.114 Auch gründeten die Ländervereine nun Ableger und Vertretungen in anderen Städten.115 Die zunehmende Vernetzung ging aber nicht nur von den Hamburger Institutionen aus. Auch die andernorts ansässigen Institutionen errichteten nun Zweigstellen, wobei Hamburg als Sitz immer in Betracht gezogen wurde.116 So wie auch deutsche Industrieunternehmen, Versicherungen und Banken immer mehr Niederlassungen innerhalb Deutschlands aufbauten und sich diese mit den dort beheimateten Institutionen des „Überseewissens“ verbanden, so „nationalisierten“ sich auch andere Institutionen des „Überseewissens“, u. a. wichtige Verlage.117 Wenn in den 1950er Jahren die übliche Formulierung noch der Dank für die „Übermittlung einer Fülle interessanter Berichte“ und der „ständige Kontakt“ mit Institutionen aus anderen Clustern bei gleichzeitiger Betonung einer engen Zusammenarbeit mit Insti111 Vgl. Tätigkeitsbericht des Afrika-Vereins von 1969, S. 21, „Archiv“ des Afrikavereins [ohne Signatur]. 112 Vgl. Eberstein, OAV 2000, S. 193. 113 1973 wurde dann ein gebürtiger Hamburger zum Vorsitzenden ernannt, der aber mittlerweile als Mitglied des Vorstands der Deutschen Bank in Frankfurt am Main tätig war. Vgl. ebd., S. 194. 114 Im Falle des OAV beispielsweise mit der Deutsch-Ostasiatischen Gesellschaft (Berlin), den Deutsch-Indischen Gesellschaften (Stuttgart und Bremen), der Deutsch-Indonesischen Gesellschaft (Köln), der Deutsch-Koreanischen Gesellschaft (Bonn) oder der Deutsch-Vietnamesischen Gesellschaft (Düsseldorf) und den zahlreichen Deutsch-Japanischen Gesellschaften. Mit diesen traf man im ersten Drittel der 1960er Jahre aber Abmachungen, dass sie sich als korporative Mitglieder der Länderverbände zu bezeichnen haben und dass sie eng miteinander zusammenarbeiten sollten. Vgl. ebd., S. 216 sowie der interne Vermerk zum OAV, BArch B 122/11450. 115 Auch in diesem Fall verweisen die hierfür gewählten Standorte darauf, mit welchen anderen Institutionen man beabsichtigte, enger zusammenzuarbeiten und welche Akteure man ansprechen wollte. So gründeten die Hamburger Ländervereine ihre Büros nicht irgendwo, sondern – wie beispielsweise der OAV – in Berlin, Bonn, Bremen, Düsseldorf und Stuttgart. Ähnliches gilt für den Ibero-Amerika-Verein, der Anfang der 1960er Jahre Verbindungsstellen in Bremen, Düsseldorf, München, Bonn unterhielt. 116 Beispielsweise gründete die CDG nach und nach Arbeitskreise im gesamten Bundesgebiet. Vgl. RWWA 352-16-19, RWWA 352-16-22, RWWA 352-16-24. 117 Der ursprünglich ausschließlich Hamburger Übersee-Verlag zeichnete später mit den Verlagsorten Hamburg und Bonn.

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tutionen aus der eigenen Stadt war, so war ab den 1960er Jahren auch clusterübergreifend von Zusammenarbeit, gemeinsamen Planungen und Durchführungen die Rede.118 Ein Blick auf die Mitgliederzahlen und Zweigstellen sowie auf die Vorstandsmitglieder des Afrika-Vereins bestätigt diesen Trend.119 So führte die Bedeutungszunahme der in „Afrika“ stattfindenden Industrie- und Handelsmessen nicht nur zu einer Intensivierung des Kontakts mit der beobachteten Wirtschaftsregion, sondern auch innerhalb der Bundesrepublik mit der deutschen Industrie und den Industrieverbänden.120 1949 wurde der Vorstand des Afrika-Vereins von nur 6 Hamburger und 2 Bremer Firmenvertretern geführt, wobei man sich auf 80 Firmen- und 40 Personenmitglieder stützen konnte, die überwiegend aus den beiden genannten Hansestädten kamen.121 Bereits 1953 saßen aber schon im 15-köpfigen Vorstand neben zwei Personen aus Bremen und neun Personen aus Hamburg bereits je zwei aus Düsseldorf122 und Westfalen123. Zudem war in Düsseldorf mit Dr. Treichel vom Verein der Außenhandelsfirmen Nordrhein-Westfalen ein Vertreter der Interessen des Afrika-Vereins für den dortigen Raum gewonnen worden, der allen Mitgliedern zur Verfügung stand, so dass es „eine Art Zweigstelle des Vereins in Westdeutschland“ gab.124 Der Vorstand des Jahres 1960 umfasste dann schon 21 Personen, zu denen neben Bremer und Hamburger Kaufleuten bereits Vertreter der MannesmannExport GmbH (Düsseldorf), der Heinrich Habig AG (Herdecke/Ruhr), der Siemens-Schuckertwerke AG (Erlangen), der Ohrenstein-Koppel und Lübecker Maschinenbau GmbH (Lübeck), der Robert Bosch GmbH (Stuttgart) und der Deutschen Messe- und Ausstellungs-AG (Hannover) gehörten. Insgesamt kamen nun 7 von 21 Personen nicht aus Hamburg oder Bremen; im Beirat waren es 4 von 10.125 Mitte der 1960er Jahre waren bereits mehr als 50 % der Mitglieder außerhalb von Hamburg und Bremen wohnhaft.126 Auch hatte man nun schon fünf Geschäftsstellen in Hamburg, Bremen, Düsseldorf, München und Stuttgart sowie eine Vertretung in Bonn.127 Darüber hinaus hatte sich auch die Zusammensetzung des nun 24-köpfigen Vorstands verändert: 9 von 24 Personen stammten dabei nicht mehr aus den beiden Hansestädten. Vor allem im Beirat nahm im darauffolgenden Jahrzehnt die Präsenz wichtiger Industriebetriebe, Banken und Entwicklungsgesellschaften zu. 1973 waren über dieses Gremium die Daimler-Benz AG (Stuttgart), die Commerz118 119 120 121

Zitate aus: Tätigkeitsbericht des Afrika-Vereins 1953, S. 4, Staatsarchiv Hamburg Z 314/0008. Ein Blick auf die Vortragenden würde dies im Übrigen bestätigen. Vgl. Afrika-Verein der Deutschen Wirtschaft, Vision Afrika 2010, S. 8. Vgl. Afrika-Verein an Senatskanzlei Hamburg vom 20.12.1949, o. S., Staatsarchiv Hamburg 131–1 II 5251. 122 Dr. Eisenbraun (Mannesmann Export AG) sowie H. Wohlthat (ohne Angabe der Firma oder Funktion). 123 H. Kneer (Göcke & Sohn AG Hohenlimburg) und Dietrich Willuhn (Gust. Wirth OHG, Milspe). 124 Tätigkeitsbericht des Afrika-Vereins 1953, S. 8, „Archiv“ des Afrika-Vereins [ohne Signatur]. 125 Vgl. Staatsarchiv Hamburg 371–16 II 295. 126 Dabei waren nur noch 40 % der Mitglieder Kaufleute, 60 % kamen aus Industrie, Banken und Schifffahrt. Vgl. Auflistung aus dem Jahr 1966, Staatsarchiv Hamburg 731–8-A507. 127 Vgl. Tätigkeitsbericht des Afrika-Vereins 1964, S. 15, „Archiv“ des Afrika-Vereins [ohne Signatur].

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bank (Frankfurt am Main), die Kabel- und Metallwerke Gutehoffnungshütte AG (Hannover), die Bergische Achsenfabrik Fr. Kotz & Söhne (Wiehl), die Deutsche Bank AG (Frankfurt am Main), die Deutsche Gesellschaft für wirtschaftliche Zusammenarbeit (Köln), die Siemens AG (München) sowie die Firma Schröder & Leidenberg (Mosambik) mit dem Afrika-Verein vernetzt.128 Schon ein kursorischer Blick in die Mitgliederlisten bestätigt diesen Trend, der im Übrigen auf alle Ländervereine zutrifft. Führende Vertreter des Afrika-Vereins waren zugleich Mitglieder in anderen mit „Afrika“ befassten Institutionen. Beispielsweise saß Heinz Hansen als Vorsitzender des Afrika-Vereins auch im Aufsichtsrat der DEG, im Beirat des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit, im Beirat der Bundesregierung für entwicklungspolitische Fragen und in der von der Industrie getragenen AG Entwicklungsländer.129 Die Tätigkeitsberichte des Afrika-Vereins berichteten entsprechend auch in den 1960er Jahren immer über eine enge Zusammenarbeit mit diesen Institutionen, von Wirtschaftsdelegationen und Studienmissionen, die gemeinsam mit dem BDI vorbereitet und durchgeführt wurden, sowie von der gemeinsam mit anderen Institutionen übernommenen Betreuung ausländischer Delegationen und Besucher.130 Ähnliches galt für Fortbildungsseminare, Fachtagungen und Einzelvorträge. Die Ländervereine betonten beispielsweise immer wieder, dass sie die Arbeitsgemeinschaft Entwicklungsländer, das Institut für Auslandsbeziehungen, die Deutsche Stiftung für Entwicklungsländer und die Stiftungen der politischen Parteien unterstützten, indem Mitglieder der Vorstände und der Geschäftsführung hier Vorträge hielten.131 Die außerordentlich starke bundesweite Vernetzung im Bereich des „Afrikawissens“ kann damit erklärt werden, dass es in diesem Bereich zuvor keine Dominanz Hamburgs gab und der Bund besonders stark eingriff.132 So sieht man am Afrika-Verein, wie stark sich die Außenhandelskreise der Hansestädte den Anliegen der Industrie und den Interessen der Entwicklungspolitiker gegenüber öffneten, zugleich aber auch den Ausbau der eigenen Wissensinfrastruktur betrieben.133 Der 128 Vgl. Tätigkeitsbericht des Afrika-Vereins 1973, S. 7–9, „Archiv“ des Afrika-Vereins [ohne Signatur]. 129 Vgl. Afrika-Verein der Deutschen Wirtschaft, Vision Afrika 2010, S. 9. 130 Vgl. etwa den Tätigkeitsbericht des Afrika-Vereins 1969, S. 8–11, „Archiv“ des Afrika-Vereins [ohne Signatur]. Immer wieder wird nun auch von den anderen Ländervereinen von enger „vertrauensvoller Zusammenarbeit mit der Deutschen Entwicklungsgesellschaft, Köln, sowie anderen deutschen Institutionen und Verbänden“ berichtet. Beispielsweise in: Jahresbericht des Ostasiatischen Vereins 1966, S. 2. 131 Vgl. etwa Tätigkeitsbericht des Afrika-Vereins 1970, S. 14, „Archiv“ des Afrika-Vereins [ohne Signatur]. 132 Der Bund als zentraler Akteur in der Entwicklungshilfe/-zusammenarbeit begünstigte national einheitliche Akteure als Ansprechpartner. Allerdings verhinderte die föderalistische Ausrichtung der Bundesrepublik die vollständige Zentralisierung, insbesondere weil „Kultur“ weiterhin Hoheit der Bundesländer blieb. 133 Dies zeigt sich u. a. an der Erhöhung der Mitarbeiterzahl und dem Ausbau der Bibliotheksbestände. In den 1960er Jahren stieg die Zahl der Mitglieder des Afrika-Vereins dann auch von 304 auf 402. Vgl. Afrika-Verein, Vision Afrika 2010, S. 8–10. Vorläufer des Trends einer bundesweiten Vernetzung war der Australien-Neuseeland-Verein. Er zeigt bereits 1952 die Domi-

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Blick auf den Afrika-Verein in den 1960er Jahren zeigt also den Ausbau der Vernetzung mit Institutionen des „Überseewissens“ auf regionaler, nationaler und internationaler Ebene, wobei vor allem die ersten beiden von Bedeutung für die Zeitgenossen waren. Das zentrale Erneuerungsprojekt war der Aufbau eines Übersee-Instituts in Hamburg. Es sollte die „Entwicklung in Übersee durch die Wissenschaft für die Wirtschaft“ erforschen, die „Sammlung und Aufbereitung von wissenschaftlichem Material für die Verwertung in der Praxis“ übernehmen und dabei „einen möglichst umfassenden Überblick über die in den außereuropäischen Ländern herrschenden Verhältnisse anstreben“, wie der Rahmenplan aus dem Jahr 1962 festhielt.134 Ziel war es, „unabhängig von der Universität ein Übersee-Institut für Forschung und Lehre“ zu schaffen, das „mit exakter wissenschaftlicher Methode die heutigen vielseitigen und vielschichtigen Überseeprobleme ergründet und durch das die Resultate dieser Forschung auch den Praktikern der Wirtschaft zur Erleichterung ihrer Aufgaben in Überseegebieten vermittelt werden.“135 Die Anregung zur Gründung des Deutschen Übersee-Instituts ging von Bundespräsident Heinrich Lübke aus, der diese Option – angestoßen durch die Entscheidung, den Sitz der Entwicklungsgesellschaft nicht nach Hamburg, sondern nach Köln zu verlegen – auf dem Ibero-Amerika-Tag 1961 zur Diskussion stellte, damit aber im Grunde nur ältere Überlegungen aus der Hansestadt selbst aktualisierte.136 Schon der Name des neu zu gründenden Instituts sollte dabei verdeutlichen, dass dieses „nicht aus der Hochkonjunktur der Debatte über Entwicklungshilfeproblematik bezw. einer Gründungslust für neue Organisationen (…) entstanden“ sei, sondern diesen Boom dezidiert an ältere Traditionen binden wollte.137

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nanz großer deutscher Konzerne wie Mannesmann, BASF, der Deutschen Bank und der Commerzbank. Vgl. Auflistungen in Staatsarchiv Hamburg 613–4/15 72. Die älteren Ländervereine sind durch gleichlaufende Entwicklungen erst in den 1960er Jahren geprägt. Im Vorstand des NuMoV saßen 1966 neben Hamburgern und Bremern Vertreter der Siemens-Schuckertwerke (Erlangen), der Dresdner Bank (Düsseldorf), von Bayer (Leverkusen), Ferrostaal (Essen), Fried. Krupp (Essen), Eisenwerk Weserhütte (Bad Oeynhausen), Kraus-Maffei (München), Hoechst (Frankfurt), DEMAG (Duisburg), Phoenix Reinrohr AG (Beirut), Deutsche Bank (Düsseldorf), Brown, Boveri & Cie. (Mannheim), Commerzbank (Düsseldorf). Von den 46 Vorstandsmitgliedern (incl. der Vorsitzenden der Ausschüsse) waren 26 nicht aus Bremen oder Hamburg! Zwei kamen nicht einmal mehr aus Deutschland, sondern aus Beirut und Zürich. Vgl. Auflistung des NuMoV, Stand 12.4.1966, Staatsarchiv Hamburg 131–1 II 4844. Hier auch Liste der ordentlichen Mitglieder (u. a. Allianz, Boehringer, Borsig, Daimler-Benz, Degussa, Carl Freudenberg, Gutehoffnungshütte, Gerling, Hochtief, Volkswagen, Otto Wolf, zahlreiche Werften und Banken und Versicherungen). Zitate in dieser Reihenfolge aus: Rahmenplan Übersee-Institut 1962, S. 3, Staatsarchiv Hamburg 131–1 II 2449 Bd. 1.; Ansprache von Bürgermeister Dr. Nevermann anlässlich der Unterzeichnung der Gründungsurkunde am 16.12.1964, o. S., Staatsarchiv Hamburg 135–1 VI 1240. Rahmenplan Übersee-Institut 1962, S. 2, Staatsarchiv Hamburg 131–1 II 2449 Bd. 1. Ein Übersee-Institut – intern Rosenberg-Institut genannt – hatte es in Hamburg auch schon vor 1945 gegeben. Es beschäftigte sich vor allem mit der Volks- und Rassenforschung in „Übersee“. Vgl. hierzu Staatsarchiv Hamburg 361–5 II Gd 20/1. Die Satzung abgedruckt in: Paliakov/Wulf, Dritte Reich und seine Denker 1978, S. 135 f. Rahmenplan Übersee-Institut 1962, S. 1, Staatsarchiv Hamburg 131–1 II 2449 Bd. 1.

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Vor allem das HWWA machte sich diesen Vorschlag in der Nachfolgezeit zu eigen. Ihm galt das Übersee-Institut als willkommene Gelegenheit, die eigenen Raumprobleme zu lösen und sich als zentrales Bindeglied aller kaufmännischen und wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Ausland zu positionieren.138 Das HWWA wollte Kern eines internationalen Zentrums, „für das es in anderen Weltstädten bereits Vorbilder gibt“, ein Anziehungspunkt für den Fremdenverkehr und eine für Schifffahrt und Kaufmannschaft gleichermaßen dienliche Institution werden.139 Es argumentierte, dass sich durch Zusammenfassung aller bestehenden Institutionen für Hamburg ein bedeutender Prestigegewinn erzielen und neue Geldquellen im In- und Ausland erschließen ließen. Der Hamburger Senat könne dadurch, so das HWWA, weithin sichtbar dokumentieren, „daß Hamburg – entgegen aller mit steigenden Direktexporten geäußerten Befürchtungen – nach wie vor nicht nur waren- und schiffahrtsmäßig, sondern auch geistig das bestimmende Zentrum der deutschen Außenwirtschaft geblieben ist“.140 Die Ideen und Planungen des HWWA stießen aber auf erhebliche Gegenwehr. Zwar waren sich alle maßgeblichen Entscheidungsträger in der Hansestadt grundsätzlich darüber einig, dass es wünschenswert sei, „in Hamburg einen finanziell starken und personell gut ausgestatteten und hochqualifizierten Stützpunkt zur Erforschung von Übersee zu errichten“, doch konnten sie sich nicht darauf einigen, welche institutionelle Form dieses Institut bekommen sollte. Vor allem seitens der Stadt wurde bezweifelt, dass es gelänge, einen ausreichend großen, zentral gelegenen Gebäudekomplex zu finden, das zusätzlich benötigte qualifizierte Personal zu rekrutieren und die Finanzierung zu bewältigen. Das Organisationsamt der Stadt befürchtete sogar, dass „nichts weiter als ein Kolonialinstitut“ entstehe.141 Stattdessen sollte das neue Aufgabenfeld „Entwicklungshilfe“ in die vorhandenen Institute (Deutsches Orient-Institut, Ibero-Amerika-Institut, Institut für Afrika-Forschung, Institut für Asienkunde, Institut für allgemeine Überseeforschung142) integriert werden. Die Stadt befürwortete damit einen „Aufbau von unten“ über die räumliche Konzentration der Ländervereine, kombiniert mit der Errichtung eines Instituts für Entwicklungshilfe.143 Auch die Hamburger Universität kritisierte das Vorhaben und 138 Immer wieder waren aus dem HHWA in den Vorjahren Klagen darüber zu hören gewesen, dass noch immer große Teile der eigenen Bibliothek in den Hochbunkern ausgelagert seien und damit wichtiges Wissen der Kaufmannschaft nur begrenzt zur Verfügung stünde. Vgl. Staatsarchiv Hamburg 131–1 II 2449 Bd. 1, insbesondere: HWWA, räumliche Zusammenlegung 1958. Dass die Bibliotheksbestände so lange noch nicht nutzbar waren, ist eher ungewöhnlich. Andere Institutionen – wie das IfW – hatten sehr schnell darauf wieder Zugriff. Vgl. Herrmann, 100 Jahre Institut für Weltwirtschaft [o. J.]. 139 Vgl. Rahmenplan Übersee-Institut 1962, S. 1, Staatsarchiv Hamburg 131–1 II 2449 Bd. 1. 140 Ebd. 141 Organisationsamt: Stichworte zu dem Rahmenplan der Handelskammer für die Gründung eines Überseeinstituts in Hamburg, Hamburg, den 19.1.1962, S. 2, Staatsarchiv Hamburg 131– 13 689. 142 Zu Tätigkeitsschwerpunkten, zur innerstädtischen Zusammenarbeit, zur Personalausstattung und zur Finanzierungsgrundlage vgl. die veröffentlichten jährlichen Tätigkeitsberichte der genannten Organisationen. 143 Interne Aktennotiz, o. S., Staatsarchiv Hamburg 135–1 VI 1240.

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beklagte die zu erwartenden Kompetenzüberschneidungen.144 Gewichtiger war jedoch, dass auch die Ländervereine von den Plänen des HWWA nicht vollkommen überzeugt waren. Zwar plädierten der Afrika-Verein und der Ostasiatische Verein für die Errichtung eines Übersee-Instituts, doch vertraten die Geschäftsführungen von Ibero-Amerika-Verein und Nah- und Mittelost-Verein den Standpunkt, „daß man nicht mit einem großen, einheitlichen Institut, sondern weiterhin mit einzelnen selbständigen Regionalinstituten arbeiten“ solle. Es waren also gerade die beiden Ländervereine, in deren geografischem Fokus die zentralen Zukunftsmärkte der 1950er Jahre gelegen hatten, die sich nun gegen eine Zentralisierung aussprachen. Zur Begründung wurden vorwiegend technisch-organisatorische Schwierigkeiten des Zusammenschlusses angeführt; angedeutet wurde aber auch die Befürchtung der Vereine, darunter vor allem des Ibero-Amerika-Vereins, den personellen und sachlichen Einfluss auf „ihre“ Regionalinstitute im Rahmen des Gesamtinstituts zu verlieren.145 Zugleich kamen Einsprüche aus Bremen, da die hiesige Kaufmannschaft und auch der Bremer Senator für Außenhandel aus ureigenem Interesse bezweifelten, „daß es wünschenswert ist, das Überseeinstitut ausschließlich als hamburgische Institution zu gründen“ und somit die immer noch engen Beziehungen der Ländervereine mit Bremen zu kappen.146 Der Versuch eines „großen Wurfes“ scheiterte an so viel Gegenwehr. Im September 1963 beschloss der Hamburger Senat daher „nur“ die Gründung einer Stiftung, die als Dachorganisation für die Hamburger Dokumentationsleitstellen und Institute gedacht war.147 Die bisherigen Einrichtungen sollten für die „Stiftung 144 Vgl. ebd. 145 Vgl. interne Aktennotiz, o. S., Zitat ebd., Staatsarchiv Hamburg 132–5/11 A 358. 146 Schreiben von Dr. Fahning an Staatsrat Pfeiffer, Behörde für Wirtschaft und Verkehr Hamburg, 20. Mai 1964, o. S., Staatsarchiv Hamburg 135–1 VI 1240: „… daß es wünschenswert ist, das Überseeinstitut nicht ausschließlich als hamburgische Institution zu gründen, und zwar aus folgender Überlegung: Die Ländervereine sind, auch wenn sie heute bundesweite Aufgaben wahrnehmen, im Grunde genommen nach wie vor sehr stark auf Hamburg und Bremen orientiert. Das ergibt sich daraus, daß Vorstandsmitglieder der Ländervereine in starkem Umfange aus Bremen kommen, daß Jahresveranstaltungen alternativ in Hamburg oder Bremen abgehalten werden, daß Länderausschußsitzungen auch in Bremen stattfinden und daß schließlich bedeutende Außenstellen der Ländervereine in Bremen vorhanden sind. Überdies werden auch die Ländervereine von Bremen finanziell unterstützt. Es bestehen somit auf Seiten der Ländervereine recht enge Beziehungen zwischen Hamburg und Bremen. Diese engen Kontakte sollten meiner Ansicht nach auch im Überseeinstitut gewahrt bleiben.“ 147 Alle Ländervereine gründeten zuvor sogenannte Dokumentationsleitstellen. So gründete etwa das Institut für Asienkunde Hamburg eine Koordinierungsstelle für gegenwartsbezogene Ostasienforschung/Dokumentationsleitstelle Asien, welche die relevanten aktuellen Forschungsvorhaben in der Ostasienforschung erfassen und begutachten sollte. Ähnliches gelang in Hamburg auch für die anderen Weltregionen. Zwischen diesen Dokumentationsleitstellen und den Ländervereinen bestand ein intensiver und stetiger Informationsaustausch. Vgl. Tätigkeitsberichte des Afrika-Vereins und des Nah- und Mittelost-Vereins sowie DIAF, Kurzdarstellung 1972. Die vier regionalen Hamburger Dokumentationsleitstellen wurden dabei in der Folgezeit in der „Arbeitsgruppe Dokumentation“ in der Stiftung „Deutsches Übersee-Institut“ Hamburg zusammengeschlossen, einer Arbeitsgruppe, deren Finanzierung durch das BMZ und den Senat der Freien und Hansestadt Hamburg getragen und durch einen nicht unerheblichen Verwaltungszuschuss des Auswärtigen Amtes ergänzt wurde. Vgl. Politisches Archiv des Auswärtigen

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Deutsches Übersee-Institut“ tätig und dafür auch mit finanziellen Mitteln ausgestattet werden, zugleich aber selbst auch weiterhin Forschungsaufträge von dritter Seite ausführen.148 So blieb auch Bremens Einbindung möglich. Das Gesamtkonzept sah vor, die bereits bestehenden oder geplanten Regionalinstitute inhaltlich so auszurichten, dass sie sich nicht mit der Forschungstätigkeit der universitären Einrichtungen überschnitten. Sie sollten sich in „verstärktem Maße der wirtschaftsnahen wissenschaftlichen Arbeit auf dem Gebiet der Überseeforschung annehmen, und zwar insbesondere zur Erkenntnis und Deutung des Gegenwartsgeschehens“.149 Das neue Aufgabenfeld „Entwicklungshilfe“ wurde damit in die vorhandenen Institute und Vereine integriert, statt ein eigenes Institut für „Entwicklungshilfe“ zu gründen. Somit blieb auch für die 1960er Jahre die räumliche Bearbeitungsweise von „Entwicklungsfragen“ institutionell fest verankert.150 Dabei dominierte wiederum ein kombinatorischer Ansatz: auch die Stiftung Deutsches Übersee-Institut sah als Zweck der Stiftung die „Beobachtung und Untersuchung besonders der ökonomischen, soziologischen und zeitgeschichtlichen Verhältnisse und Entwicklungen in überseeischen Ländern“ vor.151 Dies erleichterte es den Länderinstituten, mit der neuen Stiftung zusammenzuarbeiten. Diese inhaltliche Kontinuität wurde auch durch personelle Kontinuitäten gesichert. Erster Präsident der Stiftung wurde Prof. Dr. Dr. h. c. Andreas Predöhl, der ehemalige Leiter des Instituts für Weltwirtschaft (1934–1945), der als prominentester Vertreter des Raumkonzepts in der Ökonomie und den Außenhandelskreisen gelten muss und hier ja auch schon als wichtiger Stichwortgeber in den Debatten nach 1945 bekannt ist.152 Die Gründung der Stiftung Deutsches Übersee-Institut hatte neben einer Aufwertung der Ländervereine, die die Forschungsaufträge ausführten, auch eine Verbesserung ihrer personellen und finanziellen Ausstattung zur Folge.153 Denn das Übersee-Institut erschloss neue Geldquellen. Erhebliche Mittel und Forschungsaufträge kamen nun nicht mehr nur aus Bundes- und Landesbehörden,154 sondern auch von der Stiftung Volkswagenwerk (Hannover)155 sowie erstmals auch von der Ford

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Amts B 46/110.770 sowie Verwaltungsabkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland, vertreten durch den Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit, und der Freien und Hansestadt Hamburg, vertreten durch den Senat, vom 11.5./15.5.1970. Zur Organisation der Stiftung vgl. Brahm, Wissenschaft und Wirtschaft 2014, S. 140–142. Vgl. Staatsarchiv Hamburg 135–1 VI 1240. Pressemitteilung in: ebd. Hierzu vgl. Vermerk Dr. Nevermann vom 10.9.1962, o. S., Staatsarchiv Hamburg 135–1 VI 1240. Staatliche Pressestelle Hamburg, 27.10.1964: „Stiftung Deutsches Übersee-Institut“, S. 1, Staatsarchiv Hamburg 135–1 VI 1240. Vgl. Darstellung in Staatsarchiv Hamburg 135–1 VI 1240. Vgl. Staatsarchiv Hamburg 131–13 690. Der personelle Ausbau war aber auch ein genereller Trend dieser Jahre, wie Nützenadel mit Blick auf die außeruniversitären wirtschaftswissenschaftlichen Forschungsinstitute feststellt. Vgl. Nützenadel, Stunde 2005, S. 98 f. Vgl. Institut für Asienkunde, Institut für Asienkunde 1977, S. 3. Insbesondere im Rahmen des Forschungsförderungsschwerpunktes „Gegenwartsbezogene Ostasienkunde“ der Deutschen Forschungsgemeinschaft, aber später auch im Rahmen des Förderprogrammes für die „gegenwartsbezogene Forschung zu der Region Vorderer und Mittlerer Orient“. Vgl. die Bekanntmachung des Förderungsprogrammes in: ORIENT 3 (1972), S. 123 f.

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VI. Cluster des Entwicklungswissens

Foundation156 und anderen großen international tätigen Stiftungen.157 Da Finanzierung aber immer auch Kontrolle bedeutet, führten die neuen Finanzierungswege langfristig auch zu anderen Kommunikationsflüssen, Forschungsschwerpunkten und Stellenbesetzungen. Das große, auf Konzentration und einheitliche Außenwirkung angelegte Erneuerungsziel wurde indes verfehlt. „Ein repräsentatives hamburgisches Überseeinstitut zu entwickeln“, das das Weltwirtschaftsarchiv und andere hamburgische Einrichtungen, die sich mit „Überseefragen“ befassten, mit einschloss, blieb eine „Zukunftsaufgabe“.158 Auch in den Jahren nach der Stiftungsgründung war somit weiterhin strittig, wie man zu effektiveren Organisationsformen, insbesondere durch „Harmonisierung der Politik der Ländervereine, ihrer Satzungen und Abstimmungsverfahren“ gelangen konnte.159 Das Scheitern einer gemeinsamen Institution des „Überseewissens“ ist dabei durchaus aufschlussreich. Selbst wenn das Übersee-Institut vordergründig nicht an inhaltlichen Argumenten scheiterte, so ist doch sichtbar, dass sich eine Beschäftigung mit allen Weltregionen zusammen in der Bundesrepublik der 1960er Jahre nicht etablierte. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die hamburgischen Institutionen die Neugründungen im Bereich der „Entwicklungspolitik“ zu Beginn des Jahrzehnts als erhebliche Bedrohung wahrnahmen. Sie reagierten auf diese Herausforderung vor allem mit dem personellen und finanziellen Ausbau der bestehenden Strukturen. Zusätzlich verfolgten sie drei Strategien: Erstens arbeiteten die Institutionen in der Hansestadt noch enger miteinander zusammen als dies zuvor bereits der Fall gewesen war. Zentrales Bindeglied wurde dabei die neue Stiftung Deutsches Übersee-Institut.160 Zweitens intensivierten sie ihre Kooperationen mit den Bundesministerien insbesondere durch die Erstellung einflussreicher Studien zur gesamtwirtschaftlichen Situation in „Entwicklungsländern“, zum Stand einzelner Projekte und zum Verhältnis einzelner Staaten zu ihren ehemaligen Kolonialmächten.161 Drittens verstärkten sie auch die Zusammenarbeit mit der Industrie. Dies gilt zum einen für die Firmenebene, d. h. durch die Umstellung der Handelshäuser162; zum anderen für die Ebene des „Überseewissens“, d. h. durch die vermehrte Auf156 Zur Bedeutung der großen amerikanischen Stiftungen in der „Entwicklungshilfe“ vgl. Unger, Investieren in die Moderne 2009. 157 Vgl. Verwendungsnachweise Politisches Archiv des Auswärtigen Amts B 46/110.770–110.777. 158 Interne Aktennotiz, ca. 1963, Staatsarchiv Hamburg 131–13 691. 159 Ebd. Auch die finanziellen Strukturen wurden vereinheitlicht. So war etwa das Institut für Asienkunde bis dato voll vom Auswärtigen Amt finanziert worden, nun beteiligte sich – wie an den anderen Instituten – auch die Freie und Hansestadt Hamburg an der Unterhaltung des Instituts. 160 Das schmälerte aber nicht die Bedeutung des „Übersee-Clubs“ als Bindeglied der Beschäftigung mit den unterschiedlichen Weltregionen. 161 Das BMZ unterstützte die Ländervereine, um „Länderbeobachtungen zu betreiben“. Der hierfür vorgesehene besondere Haushalt wurde jahrelang aus Mitteln des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und der Behörde für Wirtschaft und Verkehr in Hamburg bestritten. Vgl. u. a. Tätigkeitsbericht des Afrika-Vereins 1970, S. 13, Zitat ebd., Staatsarchiv Hamburg Z 314/0008. 162 Zu Recht verwies der Verein Hamburger Exporteure (VHE) in seiner Festschrift darauf, dass selbst 2003 Hamburger Exporthandelsunternehmen in manchen „Schwellen- und Entwicklungsländern (…) noch heute (…) die einzigen deutschen Firmen mit eigenen Niederlassungen

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nahme auswärtiger Industrievertreter auch in die Leitungsgremien der Ländervereine. Auf diese Weise sollten weitere Konkurrenzgründungen unnötig erscheinen. Die Ländervereine blieben damit bis weit in die 1960er Jahre hinein Ansprechpartner für Staat, Wissenschaft, Diplomatenkorps und exportorientierte Industrie, weil es ihnen gelang, sich deren Bedürfnissen gegenüber zu öffnen. Im Grunde wurde auch in den 1960er Jahren vor allem die nahräumliche Vernetzung intensiviert. Allerdings nahm auch der Kontakt und Wissenstransfer zwischen den Regionen in der Bundesrepublik erheblich zu. Es gab zwar noch immer deutlich erkennbare Cluster, nun aber sehr enge – nicht mehr nur persönliche, sondern auch institutionalisierte – Verbindungen der Cluster untereinander. Aus der eher zerklüfteten regionalen Wissenslandschaft formte sich folglich ein gemeinsamer nationaler Kommunikationszusammenhang. Erleichtert wurde dies dadurch, dass auch die neu gegründeten Institutionen erhebliche strukturelle Ähnlichkeiten mit den traditionelleren Institutionen aufwiesen, sich an diesen orientierten und damit ein ähnliches Profil ausbildeten. Verstärkt wurde dies durch einen Generationswechsel in den Institutionen des „Überseewissens“. Auch wenn aufgrund der schwierigen Quellenlage hierzu keine belastbaren Aussagen getroffen werden können, so gibt es doch deutliche Anzeichen dafür, das sich seit Mitte der 1960er Jahre ein Generationswechsel zumindest anbahnt.163 Dies ermöglichte in den 1960er Jahren die Entstehung eines über die ganze Bundesrepublik verteilten Netzes von miteinander verbundenen Institutionen, deren Hauptaugenmerk auf den „überseeischen Gebiete“ lagen. 4. ZWISCHENFAZIT Nun liegt eine Bestandsaufnahme der Institutionen des „Überseewissens“ vor. Ausgehend von jenen Institutionen, die unter am Außenhandel mit „Übersee“ interessierten Unternehmern als wichtige Wissensressourcen galten, wurde die Bedeutung eines breiten Spektrums an Institutionen genauer bestimmt und nach den Gründen für deren jeweiligen Erfolg gefragt. Insbesondere Verbundeffekten wurde dabei große Aufmerksamkeit gewidmet. Im Laufe der Untersuchung ist immer wieder deutlich geworden, dass der wichtigste Cluster des „Überseewissens“ die Institutionen der Hansestädte Hamburg und Bremen und das Institut für Weltwirtschaft in Kiel miteinander verband. Sie waren in den ersten Nachkriegsjahren in Fragen der „überseeischen Märkte“ die wichtigsten Wissenslieferanten und verfügten am schnellsten wieder über gute Auslandskontakte. Das lag zum einen an der herausragenden Bedeutung Hamburgs im „Überseehandel“,164 die die Stadt auch immer

und Repräsentanzen“ seien. Für die wichtigsten Märkte galt dies freilich längst nicht mehr. Verein Hamburger Exporteure, 100 Jahre 2003, S. 43. 163 Dies korrespondiert mit den personellen Veränderungen der maßgeblichen stichwortgebenden universitär organisierten Wissenschaften. 164 Während Mitte der 1950er Jahre im Bundesdurchschnitt „nur“ 30 % des Exports mit „überseeischen Märkten“ abgeschlossen wurden, so waren es in Hamburg 60 Prozent der getätigten

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VI. Cluster des Entwicklungswissens

wieder, z. B. auf den jährlichen „Übersee-Tagen“, in Szene setzte.165 In den Augen der Zeitgenossen war das „Übersee-Geschäft“ nur in Hamburg die „eigentliche Domäne [des] Exporthandels“ und ausschließlich die hiesigen Kaufleute galten als „besondere Experten“.166 Dabei konnte diese Gruppe anfänglich ihren Einfluss dadurch sichern, dass sie diplomatische Aufgaben übernahm und so zeigte, dass sie ihre Bekanntheit, ihr internationales Renommee und ihre Expertise im Interesse und zum Wohle des „deutschen Volkes“ einsetzte. Als weiterer Grund für die Bedeutung der „norddeutschen“ Institutionen ist Hamburgs vormalige Stellung in der „Übersee- und Auslandskunde“ herausgehoben worden. In der Zusammenbruchsgesellschaft und der frühen Bundesrepublik hatte der Verweis auf eine lange, das heißt vor 1933 einsetzende, Tradition einen eigenen Wert. Jene Institutionen, die bereits in der Weimarer Republik oder zuvor bestanden hatten und während des Nationalsozialismus nicht zu offensichtlich desavouiert worden waren, konnten sich so unter den Unsicherheitsbedingungen der direkten Nachkriegszeit als wichtige Ressourcengeneratoren in Stellung bringen.167 Dabei spielte es offensichtlich keine Rolle, dass sie nicht selten eine deutliche koloniale Prägung aufwiesen. Ihre um ein bestimmtes „verseuchtes“ Vokabular bereinigten Wissensbestände versprachen für die Zeitgenossen offenkundig auch weiterhin Orientierung und Vertrautheit. Gerade diese Hochschätzung der Tradition führte zu Pfadabhängigkeiten über alle Kontinuitätsbrüche hinweg. Die Vorkriegsstrukturen reichten so bis in die Bundesrepublik hinein und strukturierten deren ökonomische Netzwerke. Hinzu kam, dass Hamburg vom Wegfall Berlins als zentralem Konkurrenzstandort bei der wissenschaftlichen Beschäftigung mit „überseeischen Regionen“ profitierte. Vormals zentrale Institutionen büßten aufgrund der deutschen Teilung und des Frontstadtstatus der ehemaligen Wissenschaftsmetropole mittelfristig fast vollständig an Bedeutung ein. Waren zuvor die Berliner Institutionen Hauptkonkurrenten der „norddeutschen“ Institutionen gewesen, so gingen deren Kompetenz und Expertise nach Hamburg über. So wichtig historische Pfadabhängigkeiten auch waren, das Netzwerk des „Überseewissens“ wurde doch auch durch die zeitgenössischen Verschiebungen im weltpolitischen Machtgefüge beeinflusst. Mit dem Jahr 1945 änderte sich die Städtekonkurrenz im Bereich des „Überseewissens“ also nachhaltig. Die Bedeutung der vorwiegend in Hamburg ansässigen Institutionen des „Überseewissens“ spiegelt sich auch darin, dass sich die Institutionen der „west-“ und „süddeutAusfuhrgeschäfte. Vgl. Ansprache von Bürgermeister Max Brauer anläßlich des Übersee-Tages in Hamburg am 7.5.1955, S. 3, Staatsarchiv Hamburg 135–1 VI 1844. 165 Wie gezeigt werden konnte, spielten nicht nur die ökonomischen Kreise, sondern auch die auf „Überseehandel“ und Hafen ausgerichtete Landespolitik eine große Rolle. Für Hamburger Politiker waren die Übersee-Tage immer auch eine Möglichkeit, sich als Landespolitiker national und international zu profilieren. Und auch die enge Kooperation mit den Ländervereinen bot die Möglichkeit, sich oft mit Bundesprominenz oder ausländischen Staatsoberhäuptern abbilden zu lassen. 166 Vorangegangene Zitate aus: Ansprache von Bürgermeister Max Brauer anläßlich des ÜberseeTages in Hamburg am 7.5.1955, S. 3, Staatsarchiv Hamburg 135–1 VI 1844. 167 Institutionen, die zu eng mit dem Nationalsozialismus verstrickt waren, mussten zwar einige Jahre in die „Quarantäne“, konnten dann aber Anfang der 1950er Jahre wieder, nicht selten mit dem alten Personal, neu gegründet werden.

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schen“ Industrie an ihnen maßen und orientierten. Auch wenn die dortigen Exportkreise effiziente Orientierungshilfe ebenfalls zuallererst auf lokaler und regionaler Ebene suchten, kamen sie um Informationsquellen aus dem „norddeutschen“ Wissenscluster selten herum.168 Das Wissen und die Kontakte der Handelshäuser wurden so in die Institutionen der Industrievertretungen eingespeist. Umgekehrt boten sich für die Gruppe der hanseatischen Überseekaufleute die in der Nähe zu Bonn ansässigen Organisationen als Interessenvertretungen bei den Bundesministerien an. Auch in den Bundesministerien war die Wertschätzung der Expertise der „norddeutschen“ Außenhandelskreise groß. Hamburger und Bremer Kaufleute waren so beispielsweise überproportional an den ersten Exportausschüssen beteiligt. Ihre herausragende Stellung wird auch dadurch deutlich, dass die Hamburger Institutionen im Ausland bekannt waren und so auch regelmäßig von ausländischen Wirtschaftsdelegationen frequentiert wurden. Vergleichbares – das heißt, in Bundesministerien und im Ausland als „natürliche“ Ansprechpartner und Anlaufpunkte zu gelten – gelang den Institutionen in Düsseldorf und Köln sowie den weiter südlich angesiedelten Einrichtungen erst viel später. Hamburg hatte damit überregionale Bedeutung und war auch in dieser Perspektive für einen Großteil der am Außenhandel interessierten deutschen Unternehmer und Politiker „Tor zur Welt“.169 Die Vertreter des Hamburger Weltwirtschaftsarchivs hatten daher 1958 völlig Recht, wenn sie betonten, dass Hamburg dank seiner weitreichenden personellen Infrastruktur „entgegen aller mit steigenden Direktexporten geäußerten Befürchtungen nicht nur warenund schiffahrtsmäßig, sondern auch geistig das bestimmende Zentrum der deutschen Außenwirtschaft“ war.170 Denn nur hier war „eine sonst sehr seltene Kombination gegeben (…), nämlich diejenige von akademischer Tradition und überseeischer Wirtschaftserfahrung“.171 Auch wenn an Rhein und Ruhr zahlreiche Unternehmen ansässig waren, die bereits im Kaiserreich und der Zwischenkriegszeit hohe Exportquoten und Auslandsniederlassungen aufweisen konnten, verfügte die dortige Industrie im Bereich der institutionalisierten Formen der Beschäftigung mit „überseeischen“ Märkten nicht über ähnlich günstige Ausgangsbedingungen. In „Süddeutschland“ gab es diese ebenfalls nur ansatzweise in den ehemaligen Institutionen der sogenannten Auslandskunde und der Deutschtumsforschung. Für die Hamburger Institutionen des „Überseewissens“ blieb es aber weiterhin von Nachteil, dass der Regierungssitz auch nach 1945 nicht in unmittelbarer Nähe lag.172 Die zukünftige Konkurrenz vermuteten die hanseatischen Kaufleute daher auch zu Recht in erster Linie in der geografischen Nähe Bonns. Zwar fokussierten die dortigen Kommunal- und Bun168 Dies sollte aber nicht als intensive Verflechtung und enge Kommunikationsbeziehung auf institutioneller Ebene missverstanden werden. 169 In Hamburg waren die Topoi „Tor zur Welt“, „Tor nach Übersee“ und die Idee von Hamburg als „Welthandelsstadt“ in starkem Maße miteinander verknüpft. 170 HWWA, räumliche Zusammenlegung 1958, S. 2, Staatsarchiv Hamburg 131–1 II 2449 Bd. 1. 171 Rahmenplan Übersee-Institut 1962, S. 2, Staatsarchiv Hamburg 131–1 II 2449 Bd. 1. 172 Von Vorteil waren hingegen die starke Stellung der Bundesländer in der Bundesrepublik und die Vorstellung von Bonn als „Übergangsregierungssitz“ bis zur Deutschen Einheit. Andererseits hat sich nach 1989/90 auch gezeigt, wie sehr der Regierungsumzug nach Berlin selbst die altehrwürdigen Hamburger Ländervereine unter Zugzwang brachte.

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VI. Cluster des Entwicklungswissens

despolitiker nicht so stark auf den „Überseehandel“, auch waren die hier ansässigen Industrieverbände stärker auf „Westeuropa“ und die USA als auf die Märkte in „Übersee“ ausgerichtet. Nichtsdestotrotz zeichnete sich früh ab, dass insbesondere der DIHT und der BDI gewillt waren, auch in „Überseefragen“ ein deutliches Wort mitzureden. Netzwerkknotenpunkte waren aber hier vorerst weniger Institutionen als Einzelpersonen. Die Unterschiede, Pfadabhängigkeiten und Eigenlogiken der vorgenannten KnowledgeScapes173, also der regionalen Wissenslandschaften, standen damit im Fokus. Es wurde aber auch gezeigt, wie sich über diese Unterschiede und Abgrenzungen hinweg Kontakte und Kommunikationsstrukturen einspielten und verfestigten. In den zentralen Institutionen des „Überseewissens“ sind daher spätestens Mitte der 1950er Jahre die relevanten Experten und Ansprechpartner bekannt, egal, wo in der Republik sie sich aufhielten. Zumindest in den jeweiligen Institutionen existierte ein Wissen über zentrale Informationsknotenpunkte und Kompetenzkonkurrenzen. Erleichtert wurde die Kommunikation zwischen den Wissensclustern dabei durch deren strukturelle Ähnlichkeit. Diese betraf unterschiedliche Ebenen: Die typische Mischfinanzierung, die enge Kopplung von Außenpolitik, Kulturpolitik und Außenwirtschaftspolitik, die vorwiegend regionale Vernetzung, aber auch die Nachfrage nach einem bestimmten Typus des Experten174. Zwar waren die „strukturellen Löcher“ in den Netzwerken groß und die Wissenscluster anfänglich recht unabhängig voneinander. Dennoch bildeten die Institutionen durch ihre strukturellen Ähnlichkeiten und die Orientierung an Hamburger Institutionen eben doch ein ähnliches Profil aus. In der zweiten Hälfte der 1950er Jahre wurde (erneut) ein eigenes Erkenntnisobjekt „Übersee“ sichtbar. War zuvor die Problemwahrnehmung im Außenhandel relativ unabhängig von der Zielregion des Exports gewesen, so wurde immer deutlicher, dass „überseeische Märkte“ anders funktionierten und durch ganz eigene Probleme oder Problemintensitäten geprägt waren. Dies lag vor allem am „Entwicklungsbedarf“ der unter dem Begriff „Übersee“ zusammengefassten Weltregionen. Auch der Blick auf die Netzwerkstrukturen hat gezeigt, wie wichtig der damalige „Entwicklungshilfediskurs“ war. Durch die Möglichkeit zu Direktinvestitionen in den „überseeischen Märkten“, dem Aufmerksamkeitsfokus auf „Afrika“ sowie durch den Einflussgewinn neuer politischer Akteure auf der Bundesebene brachte er das institutionelle Netz des „Überseewissens“ in erhebliche Unruhe. Zwar war auch in den bundesrepublikanischen Außenhandelskreisen weiterhin viel von „Übersee“ die Rede, doch wurde „Übersee“ von einem „weitentfernten Ort“ zu einem zu „entwickelnden Raum“. Infolgedessen zeigte sich insbesondere zu Beginn der 1960er Jahre ein institutioneller Ausbau in bis dato unvorstellbarem Ausmaß. Dies betraf mit Ausnahme West-Berlins alle hier vorgestellten regionalen Wissenscluster. Neue Institutionen kamen in großer Anzahl hinzu, in bereits bestehenden 173 Lokale KnowledgeScapes sind als hybride Mischung verschiedener Interaktionstypen (z. B. Milieus, Netzwerke, Institutionen) und den daraus resultierenden Wissenskombinationen zu verstehen. Vgl. Zimmermann, Eigenlogik 2008, S. 224. 174 Dieser war „weiß“, männlich, deutlich vor dem Nationalsozialismus sozialisiert und mit Auslandserfahrung in der Zeit der Weimarer Republik versehen.

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kam es zu einer Vervielfachung von Personal und finanziellen Mitteln.175 In nur wenigen Jahren verdoppelte sich die Zahl der mit „Übersee“ beschäftigten Institutionen. Ein Ausbau der Wissensinfrastruktur war dabei vor allem für jene Gebiete zu vermerken, in denen „Zukunftsmärkte“ vermutet wurden und die als Schwerpunkt der „Entwicklungspolitik“ galten. Insbesondere im „süd-“ und im „westdeutschen“ Wissenscluster war ein zügiger Ausbau des Netzes an Institutionen feststellbar. Grund hierfür war vor allem der Fokus auf die Themen „Direktinvestitionen“ und „Entwicklung“. Neue Institutionen kamen vor allem in Bonn hinzu, weil dieser Standort nun aufgrund der großen Bedeutung des Staates im Bereich der „Entwicklungshilfe“ enorme Vorteile bot. Dadurch wurden zugleich jene Einrichtungen aufgewertet, die in Köln und Düsseldorf residierten. Jene Städte bemühten sich zudem verstärkt um die Ansiedlung dieser Institutionen, weil sie Teil einer bewussten Standortpolitik wurden. Die verstärkte staatliche „Entwicklungspolitik“ und der Bedeutungszuwachs der Spitzenverbände der bundesrepublikanischen Industrie und der Branchenverbände führten so zur Aufwertung des „westdeutschen“ Wissensclusters. Als Konsequenz auf diese Herausforderung orientierten sich auch die in den 1950er Jahren tonangebenden Institutionen im „norddeutschen“ Wissenscluster verstärkt an der Industrie und intensivierten ihre Zusammenarbeit mit den Bundesbehörden. Als Ergebnis der Entstehung neuer Institutionen in „West-“ und „Süddeutschland“ sowie der Öffnung der Hamburger Institutionen gegenüber den Interessen der Industrie ist also eine erhebliche Verdichtung des Netzwerks des „Überseewissens“ festzuhalten. An zahlreichen Orten in der Bundesrepublik wurde damit nun in einem zusammenhängenden Diskurs Wissen über „Übersee“ und den Prozess der „Entwicklung“ produziert. Einerseits zeigte sich in den 1960er Jahren, dass die bestehenden Institutionen ein großes Interesse daran hatten, ihre bisherigen regionalen Netze auszubauen und dies auch taten. Andererseits nahm die Vernetzung zwischen den Clustern erheblich zu.176 Jetzt löste sich durch die Neuausrichtung der „Überseehandelshäuser“ die Trennung von Industrie und Handel zunehmend auf und es nahmen die Dichte des 175 Eingebettet war dieser Prozess in einen grundlegenden Wandel des deutschen Wissenschaftssystems, einem Ausbau des Bildungswesens, einer Politisierung der Wissenschaften und einer „Ausweitung wissenschaftlicher Wirkungsradien“. Dies hat Sönke Kunkel so für die USA bereits für die 1950er Jahre festgehalten. Vgl. Kunkel, Systeme des Wissens 2008, S. 182, hier auch das Zitat. 176 Ein solcher „deutscher Rahmen“ der Beschäftigung mit „Übersee“ war keineswegs völlig neu. Schon zuvor hatten sich zwischen Kooperation und Konkurrenz viele Möglichkeiten der Zusammenarbeit und Abgrenzung geboten. Insbesondere in der Ära des Hochimperialismus war die Beschäftigung mit „überseeischen Märkten“ eine dezidiert nationale Angelegenheit gewesen, da sie in engem Zusammenhang mit der „Kolonialfrage“ stand. Die Vielzahl von Kolonialvereinen, die sich über das gesamte Territorium des Deutschen Reichen erstreckten und an denen auch Unternehmer beteiligt waren, zeugen davon. In den 1920er Jahren hatten dann beispielsweise die Ländervereine und der Reichsverband der deutschen Industrie zusammen Kommissionen nach „Übersee“ entsandt. Auch die Goodwill-Missionen der 1950er Jahre waren teilweise durch clusterübergreifende Abstimmung und Kooperation geprägt gewesen, da auch hier das nationale Interesse im Vordergrund gestanden hatte.

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VI. Cluster des Entwicklungswissens

Institutionennetzes und die Anzahl der an „Übersee“ interessierten Einzelpersonen und Firmen in einem bis dato unbekannten Maße zu.177 Zwar hatten die Ländervereine schon in den 1950er Jahren darauf gepocht, Vereine für ganz Deutschland zu sein,178 viele Vereine und Institutionen erfüllten aber erst in den 1960er Jahren ihren ursprünglichen Zweck, nämlich eine „deutsche“ Institution zu sein.179 Stadtspezifische Interaktionsdynamiken und Institutionenarrangements verloren in diesem Prozess zunehmend an Bedeutung. Der Blick auf Globalisierungsprozesse kann leicht zu einer Überbetonung transnationaler Kontakte und transnationaler Biografien führen. Die Analyse der Institutionen des „Überseewissens“ in den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik zeigt indes, wie gering das Ausmaß an internationalen Vernetzungen und Zirkulation in der Realität war. Fokussiert man nicht einzelne grenzüberschreitende Kontakte, sondern jene Institutionen, die unter Unternehmern in der Bundesrepublik als zentrale Wissensressourcen in „Überseefragen“ galten, dann zeigen sich kaum Anzeichen dafür, dass in den 1960er Jahren für diese Kreise ein alles andere überstrahlender transnationaler Kommunikationsrahmen existierte. Sie beschäftigten sich zwar mit „Übersee“, forcierten hierfür aber nur in geringem Maße den internationalen Wissensaustausch. Überhaupt nahm die Anzahl internationaler Kontakte nur sehr langsam zu.180 Der aus allen Berichten sprechende Stolz auf die wenigen Kontakte zeigt, dass selbst Ende der 1960er Jahre noch nicht von intensiven internationalen Vernetzungen im Bereich des Wissensaustauschs die Rede sein konnte.181 Wissenschaftlicher Mehrwert des vorliegenden Kapitels ist, gezeigt zu haben, welche Institutionen im Bereich des „Überseewissens“ für Akteure im ökonomischen Feld praxisrelevantes und erfahrungsgesättigtes Wissen zur Verfügung stellten. Diese Einrichtungen sind bislang mehrheitlich noch nicht Gegenstand historischer Untersuchungen gewesen. Es war aber nicht nur Ziel des Kapitels, hier institutionengeschichtliche Forschungslücken für die Globalisierungsgeschichte Deutschlands aufzuzeigen. Vielmehr sollte damit auch der diskursanalytische Zugriff vorbereitet werden. Es ging darum, unterschiedlich bedeutsame Orte des Spre177 Es muss aber betont werden, dass dabei von Bedeutung war, wie stark das Interesse an den jeweiligen Weltregionen bereits in den 1950er Jahren gewesen war. Je umfangreicher hier schon eine Infrastruktur bestand, umso eher verzögerte sich die Entstehung eines deutschen Kommunikationsraums. Für diejenigen Weltregionen, die in den 1950er Jahren nicht im Fokus von Industrie und Handel gestanden hatten, wurde er daher auch zuerst hergestellt. Dies betraf neben „Afrika“ vor allem Australien und Neuseeland. 178 Dabei konnte man immer wieder auf einzelne Mitglieder aus Kreisen der „west- und mitteldeutschen [sowie] der süddeutschen Industrie“ verweisen. Arbeitsprogramm des Nah- und Mittelost-Vereins in Hamburg 1950, o. S., Staatsarchiv Hamburg 131–1 VI 1847. 179 So etwa für den OAV Max Predöhl 1911: „Der Ostasiatische Verein hat zwar in Hamburg den Sitz; doch er ist ein deutscher Verein, zu dem jedem Deutschen der Eintritt frei steht.“ Zitiert nach Eberstein, OAV 2000, S. 192. 180 Zu diesen internationalen Kontakten vgl. Wilitzki, Entwicklungstendenzen 1967, S. 349. 181 Von Bedeutung war aber die besondere internationale Sichtbarkeit Hamburgs. Das langlebige Bild vom „Welthandelsplatz“ Hamburg zeigt sich beispielsweise auch noch später bei der Einrichtung des Internationalen Seegerichtshofs.

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chens über „Übersee“ auszumachen bzw. die Verteilung der damaligen „Überseeexpertise“ zu ermessen. Im Folgenden widme ich mich dem Inhalt dieses Wissens und seiner praktischen Auswirkung.

VII. PARADIGMEN DES ÜBERSEEWISSENS Im Fokus der vorliegenden Studie stehen diejenigen Personen und Institutionen, die sich in den ersten Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg mit den ökonomischen Chancen auf „überseeischen Märkten“ befasst haben. Nachdem in den vorangegangenen Kapiteln die Problemwahrnehmungen sowie die Informations- und Vernetzungswege dieser Personengruppe analysiert worden sind, soll nun das von ihnen produzierte und angewandte Wissen analysiert werden. Gefragt wird zugleich, warum dieses Wissen, das auch der Entscheidungsfindung diente, in Unternehmerkreisen plausibel war. Bislang sind durch die Analyse der Netzwerke des „Überseewissens“ die zeitgenössischen Möglichkeiten und Grenzen der Informationszirkulation verdeutlicht und unterschiedliche wie auch unterschiedlich wertgeschätzte Orte des Sprechens ausgemacht worden. Welche Institutionen als Quellenproduzenten für eine Geschichte des Wissens über „überseeische Märkte“ zu analysieren sind, ist damit geklärt: Für die 1950er Jahre ist es sinnvoll, sich überwiegend auf die Institutionen der Hansestädte, die DWG und auf die Industrieverbände zu konzentrieren. Andere Institutionen sind eher im Bedarfsfall heranzuziehen, um Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu verdeutlichen oder um Überlieferungslücken zu schließen. Die Analyse der Cluster und Netzwerkstrukturen der 1960er Jahre hat ergeben, dass für diesen Zeitraum ein breiteres Quellenspektrum zu berücksichtigen ist. Folglich ist ein größerer Kreis ökonomischer Deutungseliten in den Blick zu nehmen und sind Institutionen in den Mittelpunkt der Untersuchung zu rücken, die bislang von der Forschung nur wenig beachtet worden sind.1 Die Aufmerksamkeit richtet sich auf zwei zentrale Grundannahmen im „Überseewissen“. In einem ersten Schritt wird gezeigt, dass die Wissensordnung weitgehend durch eine räumliche Herangehensweise, das heißt durch die Aufgliederung nach Weltregionen geprägt war. Dieses Großraumparadigma strukturierte nicht nur die Netzwerke, sondern auch die Wissensbestände.2 Anschließend blicke ich auf das zweite zentrale Paradigma des „Überseewissens“: die Vorstellung von der untrennbaren Verwobenheit von Ökonomie und Kultur. Dabei wird gezeigt, wie stark 1

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Büschel erwähnt diese Akteure beispielsweise nicht einmal. Vgl. Büschel, Afrika helfen, 2008. Auch bei Rehner, der sich dezidiert mit ökonomischen Entscheidungsträgern befasst, finden sie keine Berücksichtigung. Vgl. Rehner, Netzwerke 2004. Ulrich Prehn, von dem ich den Begriff der „Deutungselite“ entlehnt habe, benutzt diesen vor allem für öffentlich sichtbare Intellektuelle. Es hat aber auch in fach- und feldspezifischen Teilöffentlichkeiten solche einflussreichen Personen gegeben. Vgl. Prehn, Deutungseliten 2004. Besonders deutlich wird dies an den Ländervereinen. An anderen Orten verband sich dieses Wissen über einzelne großräumliche Wirtschaftsregionen allerdings auch immer wieder zu einem „Überseewissen“: Wichtig waren hierbei jener Personenkreis, der an allen Ländervereinen partizipierte, der Übersee-Club und die Stiftung Übersee-Institut, die eine Verbindung zwischen den Ländervereinen herstellten, sowie das IfW, das HWWA und die Spitzenverbände der Industrie.

Großräume der Weltwirtschaft

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das Konzept der „einheimischen Mentalität“ die Vorstellung von „Wirtschaftskulturen“ und von „Entwicklungsmöglichkeiten“ prägte.3 Quellennah wird belegt, wie tief verankert die jeweiligen Argumente im Denken der Zeitgenossen waren. Die meisten der im Folgenden zitierten Wortmeldungen erreichten einen großen Rezipientenkreis. Die Bücher und Broschüren von Wissenschaftlern waren Bestandteil der Bibliotheken, etwa der Industrie- und Handelskammern, des HWWA und des IfW. Artikel wurden nicht nur in den einschlägigen Zeitschriften für die Praktiker veröffentlicht, sondern auch zusätzlich als Sonderdruck verschickt. Gleiches gilt für Referate, die meist verschriftlicht und vervielfältigt wurden. Zudem wurden diese Vorträge meist mehrmals an verschiedenen Orten gehalten. Sie entfalteten damit eine viel größere Wirkung als es der jeweilige Quellenverweis vermuten lässt. Mit den Vorträgen rückt auch eine ganz eigene Quellengattung in den Fokus, die sich stark von den wissenschaftlichen Stellungnahmen unterscheidet. Am deutlichsten wurde dieser Unterschied 1967 von Dr. Harms in einer Sitzung des BDI-Außenhandels-Ausschusses auf den Punkt gebracht: Bei seinen Ausführungen zum Thema „Lateinamerika als Partner für Handel und Investitionen“ merkte er an, dass die Zuhörer nicht erwarten sollten, dass er „ein wissenschaftliches Referat über Lateinamerika halte, das sich auf viele Zahlen und wirtschaftspolitische Fakten stützt“. Vielmehr wolle er bewusst seine „Ausführungen in das Gewand einer Erzählung, einer Plauderei kleiden“, um seine in jahrelanger Arbeit vor Ort gesammelten Erfahrungen zu vermitteln.4 Diese „Plaudereien“ entsprachen dem zeitgenössischen Bedürfnis nach Authentizität. Wie im Folgenden gezeigt werden kann, handelte es sich bei ihnen jedoch keineswegs um nebensächliche Anekdoten. 1. GROSSRÄUME DER WELTWIRTSCHAFT Üblicherweise orientieren sich aktuelle Darstellungen der Weltwirtschaft und des ökonomischen Globalisierungsprozesses nach dem Zweiten Weltkrieg an internationalen Konferenzen und multinationalen Organisationen, an Währungsordnungen wie dem Goldstandard und an den bi- und multilateralen Verträgen zum Abbau von Zollschranken und nichttarifären Handelshemmnissen.5 Unternehmer und Wirtschaftswissenschaftler sahen dies jedoch in ihrer Zeit meist anders: Die Weltwirtschaft war ihnen Anordnung und Kampfplatz von Wirtschaftsgroßräumen.6 Dieses 3

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Ich vertrete im Folgenden nicht die Ansicht, dass es diese homogenen Kulturen und typischen Mentalitäten in Wirtschaftsgroßräumen tatsächlich gegeben hat. Wenn die Begriffe benutzt werden, soll damit die Quellensprache wiedergegeben werden. Die Begriffe werden als zeitgenössisch wirkmächtige Vorstellungen und nicht als Analysewerkzeuge verwendet. Ausführungen von Herrn Dr. Harms auf der Sitzung des Außenhandels-Ausschusses am 24.10.1967 in Köln, S. 1, BDI-Archiv AH 15, Karton 406. Beispielsweise Müller, Globalisierung 2002, S. 86–129. Das gilt aber auch für Osterhammel/ Petersson, Globalisierung 42007, S. 93–100. Das ist auch in den frühen Weltbankberichten zu den „Entwicklungschancen“ einzelner Länder nicht anders. Die Vorstellung von Wirtschaftsräumen und Kulturkreisen war keineswegs nur für die bundesrepublikanischen Außenhandelskreise typisch. Aufgrund des bei allen mit „Entwicklungsprozessen“ befassten Institutionen feststellbaren Informationsmangels waren derar-

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VII. Paradigmen des Überseewissens

Raumdenken schlug sich auch in den Namen der Institutionen des „Überseewissens“ nieder, beispielsweise im Afrika-Verein, in der Ibero-Amerika-Bibliothek oder im Ostasiatischen Verein. Es gab nicht jeweils getrennte Institutionen für Politik, Kultur und Ökonomie, sondern auf eine Weltregion spezialisierte Institutionen, die sich mit allen Lebenssphären zugleich befassten.

Abb. 7: Ägyptische Regierungsdelegation auf Deutschlandbesuch 1963, BDI-Archiv SF 519 3A.

Von Räumen ist in der Geschichtswissenschaft in den letzten Jahren viel die Rede gewesen.7 In diesem Zusammenhang wurden insbesondere sogenannte mental maps als wichtige kultur- und globalgeschichtliche Untersuchungsgegenstände hervorgehoben.8 Vorstellungen von räumlich verdichteten Ordnungen rückten so in den Fokus der geschichtswissenschaftlichen Forschung.9 Unter Rückgriff auf die neuere Nationalismusforschung haben entsprechende Studien gezeigt, dass und in welchem Maße Vorstellungen von geografisch und historisch zusammengehören-

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tige Argumentationsweisen auch andernorts plausibel. Diese internationalen Berichte und Stellungnahmen wurden in den bundesrepublikanischen Außenhandelskreisen und in den Institutionen des „Überseewissens“ aber kaum wahrgenommen. Die deutschen Akteure stützten sich mehrheitlich ausschließlich auf deutschsprachige Quellen und Informanten. Hierzu und zum Raum als historischer Grundkategorie vgl. Osterhammel, Verwandlung 2009, S. 129–180. Vgl. Bachmann-Medick, Cultural Turns 32009. Dabei ist gefordert worden, diese historischen Raumvorstellungen, Bewusstseinsräume und das um sie herum angeordnete Wissen sozial differenziert zu analysieren. Vgl. Paulmann, Regionen und Welten 2013, S. 667. Vgl. Pernau, Transnationale Geschichte 2011, S. 10.

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den Räumen diese erst erschufen, obwohl die Zeitgenossen sie doch eigentlich nur zu entdecken glaubten. Erst der Glaube an diese geteilten Eigenschaften, ganz unabhängig von der realen Vielfalt menschlicher Existenz, führte zu jener „Homogenisierung nach innen und (…) Differenzbildung nach außen“, welche die ursprüngliche Annahme zu bestätigen schienen.10 Nicht nur die Nation, auch der „Osten“, der „Wilde Westen“, „Mitteleuropa“, der „Orient“ und der „Balkan“ sind unter diesem Blickwinkel untersucht worden.11 In diesen Arbeiten konnte gezeigt werden, dass diese schillernden räumlichen Kategorien wertbeladene Assoziationen hervorrufen, Differenzen schaffen und Wirklichkeit konstituieren.12 Das gleiche, so wird hier nun argumentiert, gilt auch für Vorstellungen von „Übersee“, vom „Nahen und Mittleren Osten“, von „Ostasien“, „Iberoamerika“ und „Afrika“.13 1.1 Koloniale Denktraditionen Aus den Analysen Edward Saids lässt sich lernen, dass unsere Vorstellungen vom „Orient“ nur wenig mit der Wirklichkeit und vor allem etwas mit dem Selbstbild von „Europa“ zu tun haben. Daher werden nun in einem ersten Schritt die Vorstellungen vom Wirtschaftsraum „Europa“ in den Fokus gerückt. Es ist zentrale These der folgenden Seiten, dass die Überzeugungskraft der diversen Konzepte eines „europäischen“ Großwirtschaftsraums auch die Annahme von ökonomischen Großräumen in „Übersee“ plausibilisierte. Bereits vor 1914 gingen einflussreiche deutsche Unternehmer davon aus, dass die Kolonialreiche zu protektionistischen Blöcken werden würden. Daraus leiteten sie ab, dass Deutschlands Stellung in der Weltwirtschaft die einer Hegemonialmacht innerhalb eines großräumigen Wirtschaftsverbundes sein müsse.14 Zwei Fraktionen standen sich gegenüber. Sie werden meist als „Mittelafrika“- und als „Mitteleuropa“-Fraktion bezeichnet.15 Die erste orientierte sich am britischen Empire und beabsichtigte, einen eigenen Block mit „überseeischen“ Besitzungen zu schaffen. Die andere, die von den Konservativen in der Schwerindustrie und den sogenannten „Agrariern“ geprägt war, strebte einen kontinentalen Block in „Mitteleuropa“ an.16 Nicht erst mit der Niederlage von 1918 und dem endgültigen Verlust deutscher Kolonien, sondern bereits ab 1906 verlor dabei die Idee eines „über10 11 12 13 14

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Pernau, Transnationale Geschichte 2011, S. 11. Insbesondere Himmelsrichtungen wurden bislang als wirkmächtige mentale Kategorien hervorgehoben. Vgl. Wietschorke, Hemisphärisches Denken 2015. Vgl. zudem Todorova, Balkan als Analysekategorie 2002; Dies., Erfindung des Balkans 1999. Vgl. Henningsen, Norden 1993; Richter, Süden 2009; Weissmann, Westen 1993. Für die „Dritte Welt“ hat dies bereits argumentiert: Dinkel, Dritte Welt 2014, S. 2 f. Vgl. Berghahn, Industriegesellschaft 2010, S. 77. Einige, wie beispielsweise der Generaldirektor der Reederei Hamburg-Amerika-Paket-Aktiengesellschaft (HAPAG), Albert Ballin, kritisierten allerdings diesen Trend zum nationalistischen Protektionismus und zur Blockbildung schon frühzeitig. Vgl. ebd., S. 78. Vgl. Neitzel, Mittelafrika 2003. Vgl. ebd., S. 78 f. Zu den diversen Konjunkturen des Redens von „Mitteleuropa“ vgl. Schultz, Raumkonstrukte 2002, S. 352–361 und Rudolph, Stellvertreter 1988.

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seeischen“ Kolonialreiches unter deutschen Industriellen immer mehr an Unterstützung. Daher war in den Debatten über Deutschlands Stellung in der Weltwirtschaft die zentrale Frage fortan nicht mehr, ob, sondern wie „Mitteleuropa“ als Imperium zu konstituieren sei.17 Infolgedessen beteiligten sich maßgebliche Teile der Unternehmer und Manager der deutschen Industrie an Plänen zur Errichtung eines formal empire, „eines Imperiums, das durch militärische Eroberung erworben und durch eine direkte Präsenz von deutschen Truppen und Bürokraten verwaltet werden sollte“.18 Vor dem Hintergrund der zunehmenden Regionalisierung des Welthandels infolge der Weltwirtschaftskrise erhielt das Konzept einer geografisch zusammenhängenden Großraumwirtschaft selbst in den zuvor eher skeptischen hanseatischen Außenhandelskreisen Zuspruch.19 Es versprach, die als negativ empfundenen Auswirkungen der weltwirtschaftlichen Interdependenzen abzufedern und einen stabilen ökonomischen Zustand herzustellen. So erstarkten jene Kräfte, die einen autarken Großwirtschaftsraum als Garant dafür betrachteten, nicht weiter in den Abwärtssog der Weltwirtschaftskrise hinab gezogen zu werden. Die Idee einer von Deutschland dominierten europäischen Großraumwirtschaft wurde zu einer Krisenbekämpfungsstrategie, die zugleich auf die umfangreiche Neuordnung des europäischen Kontinents und auf den Wiederaufstieg Deutschlands zur Weltmacht abzielte.20 In den frühen 1930er Jahren war es schließlich unter Unternehmern mehrheitlich zur Gewissheit geworden, dass es für Deutschland notwendig sei, ein „mitteleuropäisches“ Imperium zu errichten.21 Insbesondere die nationalsozialistisch gesinnten Unternehmer plädierten für die Schaffung eines formellen Imperiums, das nicht nur die deutschbesiedelten Gebiete in „Osteuropa“ umfassen, sondern sich bis zum Ural erstrecken sollte.22 Die Vorstellungen von der Gestalt dieser Großraumwirtschaft waren jedoch noch ziemlich vage. Mehrere Konzeptionen existierten nebeneinander. Es handelte sich damit, wie Holger Kahrs zu Recht feststellt, um „keine geschlossene Ideologie und kein ausgearbeitetes Programm, sondern eine strategische Orientierung, deren Formen und Methoden sich erst im Zuge ihrer Realisierung herausbilden würden“.23 Die ökonomischen Großraumkonzepte versprachen aber – und das machte sie zu einer in weiten Kreisen konsensfähigen Vision –, verschiedene Probleme zu lösen und gleichzeitig Interessenkonflikte aufzulösen. Der Bedarf an Rohstoffen und agrarischen Produkten würde durch ihre Verwirklichung gedeckt werden und sich die Exportabhängigkeit Deutschlands überwinden lassen. Verlorene 17 18 19 20 21 22 23

Vgl. Berghahn, Industriegesellschaft 2010, S. 79–82. Zu den außenwirtschaftlichen Kriegszielen der deutschen Industriellen vgl. ebd., S. 82–85. Ebd., S. 73. Vgl. Elvert, Mitteleuropa 1999; Kahrs, Großraumwirtschaft 1992, S. 9. Vgl. Kahrs, Großraumwirtschaft 1992, S. 9 f. Vgl. auch Freytag, Drang nach Südosten 2012, S. 54–56. Von einigen Autoren wurde allerdings ein „Ergänzungsraum“ im „tropischen Afrika“ angedacht. Zur Geschichte der „Mitteleuropa“-Idee vgl. Freytag, Drang nach Südosten 2012, S. 22–29. Vgl. Berghahn, Industriegesellschaft 2010, S. 88 f. Dieser Prozess spiegelt sich auch in den damaligen Vorträgen im Hamburger Übersee-Club wider. Kahrs, Großraumwirtschaft 1992, S. 14.

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Exportmärkte und verschlechterte Konkurrenzbedingungen auf dem Weltmarkt könnten auf diese Weise kompensiert werden.24 Umstritten war allerdings, wie groß und wie homogen ein solcher Wirtschaftsgroßraum sein sollte. Es bestand nur Einigkeit darin, dass er über eine „hinlängliche Mindestgröße [mit] angemessener Verteilung seiner Gebiete über die klimatischen Zonen“, eine ausreichende Nahrungsgrundlage und eine breite Rohstoffbasis verfügen müsse.25 Im Nationalsozialismus gingen die verschiedenen Autoren meist vom Ideal einer Weltwirtschaft aus drei autarken, hierarchisch gegliederten Großwirtschaftsräumen kontinentalen Ausmaßes aus.26 Neben „Großeuropa“ sollten „Großostasien“ inklusive „Indien“ und „Großamerika“, das sich über den gesamten amerikanischen Doppelkontinent erstrecken würde, autarke Verbünde bilden. Für jeden dieser Großräume solle es eine „Führungsmacht“ geben, auf die das gesamte Gebiet so vollständig wie möglich auszurichten sei. „Großeuropa“ solle im Wesentlichen für den deutschen Markt produzieren.27 Ziel war es, „dem Großdeutschen Reich ein Maximum an Sicherheit und dem deutschen Volk ein Maximum an Güterverbrauch zur Erhöhung der Volkswohlfahrt“ zu garantieren.28 Die Weltwirtschaft wurde nicht mehr als interdependentes System nationaler Volkswirtschaften gedacht; der globale Handel war allenfalls dafür eingeplant, im Kriegsfall entbehrliche Güter zwischen den einzelnen Großwirtschaftsräumen auszutauschen.29 Dies versprach den Zeitgenossen eine Stabilität, die sie mit der „alten Weltwirtschaft“ nicht verbanden und die sich, nach den Krisenerfahrungen der Zwischenkriegszeit, nicht nur die deutschen Unternehmer herbeisehnten.30 Insbesondere während des Krieges taten sich einige Forschungsinstitute mit Studien zur Großraumwirtschaftsplanung hervor, die im vorherigen Kapitel als wichtige Wissensproduzenten für die Zeit nach 1945 ausgemacht wurden.31 Hier 24 25 26 27

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Vgl. ebd., S. 17. Bay, Großraumwirtschaft 1962, S. 53. Achim Bays Darstellung der Großraumwirtschaft ist zwar nicht allerneuesten Datums; sie ist aber im ersten Teil eine äußerst kenntnisreiche Darstellung der konkurrierenden Großraumkonzeptionen. Vgl. Bay, Großraumwirtschaft 1962, S. 6. Vgl. ebd., S. 29, S. 51 f. und S. 74–76. Laut den Zeitgenossen hätten sich die Deutschen aufgrund überlegener physischer Stärke und moralischer Größe als das mächtigste Volk herausgestellt. So gesehen war der Großraum kein imperiales System der Zwangsherrschaft, sondern schien „sittlich gerechtfertigt“ zu sein. Vgl. ebd., S. 22 f., Zitat S. 23. Zum Wandel der Wirtschaftspraxis in den besetzten Gebieten im Kriegsverlauf vgl. die Veröffentlichungen von Richard J. Overy. Kurz zusammengefasst in: Overy, New Order 1997. Zum Wirtschaftsgroßraum „Afrika“ vgl. auch van Laak, Imperiale Infrastruktur 2004, S. 301–323; Linne, NS-Kolonialplanung 2008. Bay, Großraumwirtschaft 1962, S. 28. Vgl. ebd., S. 75–79 und S. 158. Zu den teilweise heftigen Debatten über die Ausgestaltung der Großraumwirtschaft zwischen der „Nazi-Bürokratie“ und den Wirtschaftseliten vgl. Berghahn, Industriegesellschaft 2010, S. 88 f. An dieser Stelle ist anzumerken, dass derartige Großraumkonzepte in ganz „Europa“ in der Folge der Weltwirtschaftskrise diskutiert wurden. Vgl. auch Dieckmann, Wirtschaftsforschung 1992. Von größter Wichtigkeit im Unternehmerlager vor 1945 war allerdings der danach nicht mehr weiter fortbestehende Mitteleuropäische Wirtschaftstag (MWT). Zu diesem vgl. Freytag, Drang nach Südosten 2012; Seckendorf, Mit-

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ist vor allem das Kieler Institut für Weltwirtschaft zu nennen.32 Zahlreiche Wirtschaftswissenschaftler, die meist auch vor 1933 bereits „politisch-ideologisch (…) im nationalkonservativen Lager gestanden und anschließend einen mehr opportunistischen Frieden mit dem Hitler-Regime geschlossen hatten“, brachten ihre eigenen Forschungsinteressen relativ problemlos mit der Ideologie des Regimes in Übereinstimmung. Viele engagierten sich, so Volker Berghahn, in der „Erstellung von Denkschriften, in denen über die Errichtung einer von Deutschland dominierten europäischen Großraumwirtschaft fabuliert wurde“.33 Die Kriegserfolge beschleunigten die konkreten Planungen und Maßnahmen zunächst und brachten ab 1940/41 für kurze Zeit einen Grundkonsens unter den „Praktikern in den Ministerien, der SS und Teilen der deutschen Industrie und der Banken“ hervor.34 Skeptischer zeigten sich die Handelshäuser in den Hansestädten. Sie sahen ihr angestammtes Geschäft bedroht, verstanden es aber nichtsdestotrotz, die ökonomischen Chancen der kriegerischen Osterweiterung zu nutzen.35 Der weitere Kriegsverlauf bereitete all diesen Plänen und Träumen von einem von Deutschland dominierten europäischen Großreich ein jähes Ende. Nach der Niederlage von Stalingrad konnte man sie allenfalls in die Idee einer „westeuropäische[n], antibolschewistische[n] Allianz als dem Kern eines ‚Neuen Europa‘“ überführen.36 Die Vertreter der wichtigsten Industriegruppen und der Finanzwirtschaft behielten dabei wichtige Elemente des Großraumdenkens bei, gaben aber die eigenen Hegemonie-Ansprüche auf. Man ging schließlich dazu über, „sich als anti-

teleuropäische Wirtschaftstag 2001; Sohn-Rethel, Industrie und Nationalsozialismus 1992; Krüger, Wirtschaftliche Mitteleuropapläne 1995; Zur unterschiedlichen Bewertung des MWT vgl. Drews, Nazi-Bohne 2004, S. 203–225. 32 Allen voran dessen Leiter Andreas Predöhl. Dieser war in der Nachkriegszeit wahrscheinlich der neben Fritz Baade am häufigsten in Reden aus dem Kreis der Außenhändler erwähnte Wissenschaftler. Zu den Großraumwirtschafts-Konzeptionen Predöhls, des Instituts für Weltwirtschaft und des Hamburger Welt-Wirtschafts-Archivs vgl. Dieckmann, Wirtschaftsforschung 1992. Zur Person Predöhls vgl. Hein/Kappel, Andreas Predöhl 2014. 33 Berghahn, Elitenforschung 2003, S. 14. Der Großteil von ihnen plädierte dabei für eine starke und autarke Großraumwirtschaft, die dennoch offen gegenüber der Welt bleiben müsse. Das korrespondierte mit den Vorstellungen vieler Industrieller, die, so Berghahn, ebenfalls lange Zeit einen offeneren Großraum andachten und damit eine andere Position bezogen als die „dogmatischen Autarkisten“, die es insbesondere im agrarischen Flügel der NSDAP gab. Dies sollte man allerdings nicht als generelle Gegnerschaft interpretieren, beide Fraktionen planten meist nur einen sehr eingeschränkten, die Großraumgrenzen überschreitenden Warenaustausch. Vgl. Berghahn, Industriegesellschaft 2010, S. 89–93. Zu den intellektuellen Affinitäten und generationsspezifischen Faktoren, die in den Humanwissenschaften zur breiten Akzeptanz der – allerdings auch recht diffusen – NS-Ideologie führte, vgl. Raphael, Radikales Ordnungsdenken 2001. 34 Vgl. Kahrs, Großraumwirtschaft 1992, S. 9. Zitat bei Berghahn, Elitenforschung 2003, S. 14. Siehe auch: Berghahn, Economic Empire 1996. Wobei allerdings diejenigen Industriezweige, die für ihre Produktionen auf Bodenschätze angewiesen waren, für eine Annexion der besetzten Gebiete plädierten, während Unternehmen anderer Sektoren sich für die „Verbesserung der Rahmenbedingungen für ihre Geschäfte“ einsetzten. Vgl. Puchert, ökonomische Expansion 2001, S. 364, Zitat ebd. 35 Vgl. Linne, Deutsche Afrikafirmen 2001; Weinhauer, Handelskrise 2005, S. 222 f. 36 Kahrs, Großraumwirtschaft 1992, S. 9.

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kommunistischer Vorposten in die Atlantik- und Welthandelscharta einzubringen und dabei so zu tun, als sei zuvor gar nichts geschehen“.37 1.2 Großräumliche Verflechtungen als Wirtschaftsfaktor Damit spannte sich mit der Kriegsniederlage 1945 kein völlig neuer Deutungsrahmen auf. Nach wie vor wurden beispielsweise große Wirtschaftsräume kleineren Einheiten gegenüber als grundsätzlich überlegen angesehen. So hielt der renommierte Wirtschaftswissenschaftler Adolf Weber in seinem mehrfach aufgelegten Buch über die Weltwirtschaft 1950 fest: „Unter allen Umständen ist endlich aber auch die Größe des inneren Marktes für den internationalen Güteraustausch von besonderer Wichtigkeit. Es ist für das heimische Gewerbe von sehr erheblichem Nutzen, wenn ihm in nächster Nähe eine zuverlässige, leicht übersehbare und leicht kontrollierbare Absatzmöglichkeit zur Verfügung steht. Die Gemeinsamkeit der Sitte, der Sprache, des Rechts sichert Warenerzeugern und Warenabnehmern innerhalb der Landesgrenzen eine innere Verbundenheit, die jenseits dieser Grenzen fehlt. (…) Ein Land, das sich auf einen starken inneren Markt stützen kann, hat (…) im Wettkampf am Weltmarkt anderen gegenüber, die darauf verzichten müssen, einen sehr erheblichen Vorsprung.“38

Nicht zuletzt zeigten sich die Vorteile der Großraumwirtschaft an den USA, die durch ihren Sieg im Zweiten Weltkrieg den Zeitgenossen ihre militärische und ökonomische Überlegenheit bewiesen hatten. Die Vereinigten Staaten galten fortan als Führungsmacht der neu zu gestaltenden Weltwirtschaft. Angesichts der eigenen kleinräumigen Zerklüftung sahen Wissenschaftler und Wirtschaftler ab etwa 1950 aber auf Grund seiner geographischen Größe auch den sowjetischen Wirtschaftsraum als überlegen an.39 Im Vergleich mit den Supermächten wurde dann auch die Wettbewerbs- und Lebensfähigkeit „(West-)Europas“ diskutiert. Auf einer 1951 abgehaltenen Tagung der Deutschen Weltwirtschaftlichen Gesellschaft in Berlin war der wahrgenommene Bedeutungsverlust „Europas“ gegenüber den USA und der Sowjetunion Ausgangspunkt sämtlicher Stellungnahmen.40 Friedrich Spennrath, AEG-Vorstandsvorsitzender, Präsident der Industrie- und Handelskammer zu Berlin und zugleich Präsident der DWG, brachte die Stimmung auf den Punkt: „Europa ist einmal das Herz der alten Weltwirtschaft gewesen. Heute ist Europa zum Grenzland der westlichen Weltwirtschaft geworden“.41 Dieses „Herabsinken Europas von seiner frühe-

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Ebd., S. 24–26, Zitate S. 25 und S. 26. Weber, Weltwirtschaft 41950, S. 347. Vgl. Friedensburg, Grenzen 1951/1952, S. 39. Friedensburg (1886–1972) war Geo- und Wirtschaftswissenschaftler, CDU-Politiker, stellvertretender Oberbürgermeister Großberlins (1946–1951), Präsident des DIW (1945–1968). Die DWG richtete die Tagung als „Deutschen Weltwirtschaftstag“ zusammen mit der Industrieund Handelskammer zu Berlin und dem Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung am 8. und 9. Oktober 1951 im Rahmen der Deutschen Industrie-Ausstellung aus. Spennrath, Eröffnung 1951/1952, S. 12 f., Zitat ebd. Spennrath (1888–1959) war von 1947– 1955 Vorstandsvorsitzender der AEG, von 1950–1957 Präsident der IHK Berlin und zudem

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ren Weltstellung“ sei, so Ferdinand Friedensburg42, u. a. Vizepräsident der DWG und Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, das „schmerzlichste, ja vielleicht auch das sensationellste Ereignis unseres Lebens“.43 An seinem weltgeschichtlichen Abstieg trage vor allem, so Friedensburg weiter, die kleinräumige Zerklüftung „Europas“ Schuld. „In dem Zeitalter des Kraftwagens, des Flugzeuges und des drahtlosen Verkehrs schleppen wir uns mit Grenzen herum, die in den Zeiten des Rollwagens und der Postkutsche entstanden sind, seinerzeit vielleicht einen gewissen Sinn gehabt haben, die aber heute in keiner Weise mehr mit den Erfordernissen der ungeheuer vorwärtsdrängenden Technik und namentlich mit der so unaufhaltsam vorwärtsdrängenden Verkehrstechnik vereinbart werden können. Wenn wir die wirtschaftliche, finanzielle und politische Abhängigkeit von den beiden großen Weltmächten betrachten, so wollen wir uns einmal erinnern, wieviel günstiger diese beiden Mächte in räumlicher, in gebietsmäßiger Hinsicht aufgebaut sind.“44

Die Vorteile von Wirtschaftsgroßräumen lagen auf der Hand: In ihnen gäbe es keine Zölle, keine Verkehrsschwierigkeiten, wäre Spezialisierung sinnvoller und auch die vertikale und horizontale Konzentration von Firmen leichter.45 Von einem solchen „paradiesischen Zustand“ sei jedoch nichts zu spüren. Niemand dürfe sich daher „über das Zurückbleiben der europäischen Länder in wirtschaftlicher und politischer Hinsicht gegenüber den großen Räumen wundern“.46 Die Vorstellung von der grundsätzlichen Überlegenheit großer Wirtschaftsräume hielt sich auch in den Folgejahren. 1954 betonte beispielsweise Andreas Predöhl in einer im Institut für Weltwirtschaft ausgetragenen Diskussion mit Staatssekretär Walter Hallstein und dem IfW-Direktor Fritz Baade, dass die „eigentliche Misere“ der Weltwirtschaft darin begründet läge, „daß eine ausgeprägte Raumökonomie auf dem amerikanischen Kontinent einer ausgesprochen unökonomischen Raumordnung in Europa gegenübersteht“.47 Walter Hallstein, der mittlerweile Prä-

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Vorsitzender des Gemeinschaftsausschusses der Deutschen Gewerblichen Wirtschaft, Präsident der DWG und Präsidialmitglied des BDI. Ferdinand Friedensburg, zunächst in der Weimarer Republik preußischer Beamte, 1933 als Regierungspräsident in Kassel abgesetzt. Ab 1939 auswärtiger Mitarbeiter des Berliner Instituts für Konjunkturforschung, dessen Leitung er nach Kriegsende bis 1968 übernahm. Unter seiner Leitung entwickelte sich das DIW zu einem der führenden außeruniversitären Wirtschaftsforschungsinstitute. In Berlin war er zudem zwischen Dezember 1946 und Februar 1951 stellvertretender Oberbürgermeister. Er lehrte darüber hinaus als Honorarprofessor an der TU Berlin. Von 1952 bis 1965 saß er als CDU-Abgeordneter im Deutschen Bundestages, von 1958 bis 1965 war er zudem Mitglied des Europäischen Parlaments. Vgl. Nützenadel, Stunde 2005, S. 64 f. und S. 93. Vgl. Friedensburg, Grenzen 1951/1952, insbesondere S. 34–39, Zitat S. 39. Ebd., S. 39. Friedensburg nahm an, dass die Weltwirtschaft zwischen 1880 und 1939 von den genannten Vorteilen profitiert und von ihnen „ungeheure Impulse“ erfahren habe. Ebd., S. 37. Ebd., S. 34 und S. 39. Predöhl, Probleme des Schumann-Plans 1951, S. 19. Es ist bereits argumentiert worden, dass wichtige Wissensressourcen aus der Zeit vor 1945 nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges nicht entwertet wurden. Das lag allein schon in dem Umstand begründet, dass es trotz der bereits mehrfach erwähnten Rolle der Wirtschaftsforschungsinstitute im Nationalsozialismus eine nicht unerhebliche institutionelle und personelle Kontinuität gab. Und selbst wenn, wie im

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sident der Kommission der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft geworden war, konnte noch 1967 auf dem Überseetag in Hamburg auf die Zustimmung der versammelten Außenhandelskreise hoffen, als er erklärte, dass das „Zusammenwachsen der Räume“ durch das Schrumpfen der Entfernungen infolge moderner Kommunikationsmittel dazu nötige, „von der Nationalökonomie zur Großraumökonomie überzugehen“. Angesichts der ungeheuren Wirtschaftskraft der Vereinigten Staaten brauche man „ebenfalls einen Wirtschaftsraum in Kontinentformat“: „Nur in einem Wirtschaftsgroßraum ohne innere Grenzen und Diskriminierungen können die Kräfte zusammengefasst werden. Nur so wird unsere wirtschaftliche Präsenz auch in der Welt von morgen gesichert sein. Andernfalls werden unser Handel, unsere Landwirtschaft, unsere Industrie, zum Zwergwuchs verurteilt, einen Wettbewerbskampf nach dem anderen verlieren.“48

In all diesen Stellungnahmen galten Grenzen zwischen Besatzungszonen und Nationen als hinderlich für die wirtschaftliche Expansion. Man müsse sie – so schon die zentrale Forderung auf dem Deutschen Weltwirtschaftstag 1951 – überwinden, weil sie nicht „natürlichen, organischen Gebilden“ entsprächen.49 Häufig argumentierten die Zeitgenossen in diesem Zusammenhang mit Verweisen auf die eigene Industrialisierungsgeschichte. Da in „Europa“ schon im 19. Jahrhundert, wie Andreas Predöhl 1949 unterstrich, „gewaltige Industriekomplexe zu einem einheitlichen Wirtschaftsraum“ zusammengewachsen seien, sei auch heute „kein Teil dieses Raumes ohne die übrigen Teile existenzfähig (…), vielmehr jeder Teil mit allen übrigen verbunden“.50 Wirtschaftspolitisch sei es folglich, so auch Adolf Weber 1950, das Gebot der Stunde, „aus dem engherzigen Denken der einzelnen Staaten“ auszubrechen und ein „Denken für den und in dem das gesamte neuzeitliche Wirtschaftsleben umfassenden ‚Großraum‘“ zu schaffen.51 In zahlreichen Reden und Publikationen der Nachkriegszeit wurde so ein ökonomisch zusammengehöriger Raum „Europa“ konstruiert. Aus diesem Kontinent ein „einheitliches Gebilde“ zu machen, so noch einmal Weber 1950, sei ein „Heilmittel, das alles wie durch ein Wunder verändern und in wenigen Jahren ganz Europa oder den größten Teil Europas (…) frei und glücklich machen würde“.52 Nach 1945 zeigt sich in den Außenhandelskreisen somit erst einmal die ungebrochene Reproduktion älterer Raumdifferenzen.53 Für die meisten der an der Diskussion beteiligten Zeitgenossen in der Bundesrepublik war um 1950 klar, dass

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Falle Andreas Predöhls, der 1945 seine Position als Leiter des Instituts für Weltwirtschaft verlor, keine personelle Kontinuität zu konstatieren ist, büßten die betreffenden Personen nicht unbedingt ihren intellektuellen Einfluss ein. Predöhl etwa wurde 1953 nicht nur Leiter des Instituts für Verkehrswissenschaft an der Universität Münster, sondern blieb wichtiger Autor, Vortragsgast und Stichwortgeber für die Außenhandelskreise und für Regierungsvertreter. Eine langfristige personelle Kontinuität ergab sich zudem daraus, dass Predöhl 1964 der Gründungsdirektor des Deutschen Übersee-Instituts (heute GIGA) in Hamburg wurde. Hallstein, Dynamik 1967, S. 1, Staatsarchiv Hamburg 135–1 VI 1845. Friedensburg, Grenzen 1951/1952, S. 34. Predöhl, Außenwirtschaft 1949, S. 51. Weber, Weltwirtschaft 41950, S. 318. Ebd., S. 317. Dies ist auch für andere Gruppen schon gezeigt worden, etwa für die „Ostforscher“. Vgl. Unger, Ostforschung 2007.

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„Europa“ mit einem (schwer-)industriellen Kern an Rhein und Ruhr „in eine ökonomische Raumordnung gebracht“ werden müsse. Ausgehend von einer Neuordnung der Eisen- und Stahlindustrie sei auch die ganze übrige Wirtschaft auf ihre räumlichen Gegebenheiten auszurichten.54 Die deutsche Wirtschaft sollte sich aufs Neue in zentraler Position in das räumliche Gefüge „Europas“ und der Weltwirtschaft einfügen. Mehr noch: die Bundesrepublik, so die Hoffnung, würde zu deren eigentlichem Gravitationsfeld. Die Großraum-Konzeptionen der Vorjahrzehnte revitalisierten sich angesichts der „europäischen Einigung“ und der Blockkonfrontation im Kalten Krieg. Das Großraumparadigma durchzog so fast alle weltwirtschaftlichen Stellungnahmen im ersten Nachkriegsjahrzehnt. 1.3 Vier Großräume in Übersee „Übersee“ nahm in den Debatten über Deutschlands räumliche Stellung in der Weltwirtschaft keinesfalls eine zentrale Stellung ein. Die üblichen Vergleichsmaßstäbe und Bezugspunkte waren das „alte Europa“ und die „neuen Weltmächte“. Die Überzeugung, dass Großräume kleineren wirtschaftlichen Einheiten gegenüber überlegen seien, schrieb sich allerdings auch in die Vorstellungen von „Übersee“ ein. Vorstellungen von Wirtschaftsgroßräumen schlugen sich bereits in den frühen Berichten der Goodwill-Missionen nieder. Die Teilnehmer der Fahrt nach „Ostasien“55 bemerkten beispielsweise 1956, dass sie die Reise auch deswegen als sinnvoll erachteten, weil sich hier einer der „neuen wirtschaftlichen Großräume“ abzuzeichnen beginne.56 Auch im Reisebericht von 1959 wurden die besuchten Länder als Gruppe zusammengefasst und im Vergleich zu anderen Weltregionen als relativ einheitlich beschrieben. Es sei offensichtlich, dass die Wirtschaften der einzelnen Länder nun „allmählich zu einem organischen Gebilde zusammenwachsen“.57 Repräsentativ für die Beschreibung aller „überseeischen“ Gebiete waren dabei die Verweise darauf, dass die materiellen Grundlagen „vielseitig, weit und üppig“ seien, der starke Geburtenzuwachs ein zentrales Problem darstelle und die eigene 54

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Predöhl, Probleme des Schumann-Plans 1951, S. 19. Zur eisenproduzierenden Industrie als Grundlage der räumlichen Ordnung der Weltwirtschaft vgl. auch Predöhl, Außenwirtschaft 1949, S. 52–58. Das Argument, dass das Ruhrgebiet als „standortmäßig günstigste[r] Teil des europäischen Kohle- und Stahlgebiets“ der Kristallisationskern des „neuen Europas“ sei, findet sich bereits in den 1940er Jahren. Infolge des Schuman-Plans – d. h. dem Vorhaben, die deutsche und französische Kohle- und Stahlproduktion zusammenzulegen – und der 1951 erfolgten Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS), die Kohle und Stahl für die Mitgliedsstaaten zollfrei machte, verstärkte sich die Überzeugungskraft des Arguments noch einmal. Vgl. auch Baade, Probleme des Schumann-Plans 1951, S. 22. Der „ostasiatische Raum“ umfasste das Gebiet zwischen China und Japan, über Korea, die Philippinen, Indonesien, Burma, Indochina, Malaya, Indien, Ceylon und Pakistan. Vgl. BDI, Ostasien 1956, S. 7. Ebd. „Asien“ galt den europäischen Beobachtern des 19. Jahrhunderts als nicht entwicklungsfähig und seit jeher stagnierend. Vgl. Osterhammel, Entzauberung 1998. BDI, Lateinamerika 1960, S. 9.

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Kapitalbildung schwach sei. Dass der Export sich überwiegend aus Rohstoffen und Agrargütern speise und nicht selten Monokulturen vorherrschend seien, gehört ebenfalls in dieses übergeordnete Beschreibungsmuster und entsprach ja auch den realwirtschaftlichen Gegebenheiten.58 Andererseits betonten die Delegationsteilnehmer aber auch, dass es sich bei den „iberoamerikanischen Staaten“ nicht mehr nur „um zurückgebliebene Gebiete“ handele, die sich erst anschickten, „von primitiven Stufen des Wirtschaftens zu modernen Formen aufzusteigen“. Bereits in den Weltkriegen habe „Iberoamerika“ einen „großen Schritt von der reinen Agrar- und Bergbauwirtschaft zu einer modernen Kombination von Industrie-, Agrar- und zeitgemäßer Bergbauwirtschaft“ gemacht.59 Auch seien mittlerweile politisch stabile Verhältnisse eingekehrt, nachdem die Region ihre „unruhige Sturm- und Drangperiode der zwanziger und dreißiger Jahre“ überwunden habe.60 Verglichen etwa mit den „asiatischen Entwicklungsgebieten“ hätten die iberoamerikanischen Länder damit „ein größeres Maß an Entwicklungsstabilität erreicht“.61 Dennoch betonten die bundesdeutschen Industriellen, dass diese Region ihre Probleme nur bewältigen könne, wenn durch großräumliche wirtschaftliche Zusammenarbeit die Ressourcen sinnvoll „zu voller Ergiebigkeit und Fruchtbarkeit“ eingesetzt würden.62 Durch Zollunionen einen Großraum fast kontinentalen Ausmaßes zu schaffen, war auch die Grundidee bei der Planung einer „Wirtschaftsunion im Vorderen Orient“.63 Und auch in Afrika sollte ein wirtschaftlicher Großraum entstehen, der den natürlichen Bedingungen des Kontinents entspräche.64 In zahllosen Vorträgen und Schriften wurden Großräume als zusammenhängende ökonomische Märkte entworfen. „Übersee“ setzte sich dabei aus vier geographisch voneinander getrennten Märkten zusammen: „Iberoamerika“, „Afrika“, der „Nahe und Mittlere Osten“ sowie „Ostasien“.65 Diese waren weniger bewusste Abstraktionen als quasinatürliche Entitäten. Sie schienen real zu sein, geeint durch gemeinsame natürliche und historische Bedingungen sowie geteilte Problemlagen. 58 Vgl. ebd., S. 7 f., Zitat S. 7. Derartige Äußerungen finden sich im Übrigen auch in den Äußerungen der Weltbank und in Studien von Wirtschaftsforschungsinstituten anderer Länder, da es sich hierbei um die Beschreibungsmuster für „unterentwickelte“ Volkswirtschaften in der damaligen Wachstumstheorie handelt. 59 Ebd., S. 8. 60 Ebd., S. 36. Die „lateinamerikanischen“ Länder würden nach „Konsolidierung und Stabilisierung“ streben und mittlerweile ihre Wirtschaftspolitik konsequent so führen, dass „sie ihre Anziehungskraft auf das Auslandskapital nicht verfehlen“ könnte. Ebd. 61 Ebd., S. 15. 62 Ebd., S. 7. 63 Für Weber war 1950 für den „Vorderen Orient“ „eine wichtige Vorbedingung auf handelspolitischem Gebiete schon geleistet (…), weil die Währungen aller Nahost-Staaten durch die Kopplung an das Pfund Sterling“ bereits untereinander in klaren Relationen stünden. Auch sei die unterschiedliche „verkehrsgeographische Orientierung“ der einzelnen Länder „bei gutem Willen überwindbar“. Weber, Weltwirtschaft 41950, S. 381 f. und S. 382. 64 Vgl. BDI, Ghana 1957. 65 Die Grenzen der Räume waren dabei aber alles andere als klar gezogen und allgemeinverbindlich anerkannt. Hier bestätigt sich, was Ricardo Bavaj über Räume im Allgemeinen festhält: Sie sind kulturell konstruiert, in sozialen Interaktionen plausibilisiert und relational konstituiert, d. h. aufeinander bezogen. Vgl. Bavaj, Spatial turn 2006.

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So orientierte man sich bei der Informationsbeschaffung, beim Marketing und beim Vertrieb nicht an Ländergrenzen, Branchen oder unterschiedlichen gesellschaftlichen Teilbereichen, sondern an den vier Großwirtschaftsräumen.66 Drei Bedingungen verstärkten diesen Fokus: erstens die Ausrichtung des Exporthandels, zweitens die Schwäche der Branchenverbände und drittens die geringe Verfügbarkeit statistischer Länderdaten. Denn der in den frühen, strukturprägenden Jahren der Bundesrepublik dominante Akteurskreis der „Überseewirtschaft“ – das hanseatische Handelshaus – war nicht auf Branchen, sondern auf Regionen spezialisiert. Typisch war eine sehr breite Produktpalette, um deren Absatz bzw. Einkauf man sich in einer bestimmten Weltregion kümmerte. Zudem dominierte die Einteilung in Wirtschaftsgroßräume auch deswegen weiterhin, weil die neu gegründeten Branchenverbände anfänglich selbst oft nur geringe Ressourcen zur Verfügung hatten und sich vorerst noch nicht – in einer Branchenperspektive – intensiv mit diesen Märkten auseinandersetzten.67 Hinzu kam der Mangel an Statistiken zu einzelnen Ländern.68 Ergebnis war, dass es vorerst kaum Länder- oder Branchenstudien gab, sondern oftmals Länder als Teile von Wirtschaftsgroßräumen oder als repräsentativ für diese beschrieben wurden. Das Denken in Wirtschaftsgroßräumen war also auch deshalb von so auffälliger Bedeutung, weil die sogenannten „überseeischen Gebiete“ aus eigener Anschauung kaum bekannt waren, weil an verwertbare Informationen über kleinräumigere Einheiten nur schwer heranzukommen war, weil es bereits eine lange Tradition dieses Denkens in Großräumen gegeben hatte und die Experten daher vorwiegend Experten für großflächige Regionen oder gar Kontinente waren. Aus Beobachtungen in einzelnen Städten und Ländern schloss man daher oft auf die Gesamtheit des Wirtschaftsgroßraums. Auch bei der Reise einer BDI-Delegation nach „Ost-Afrika“ im Jahre 196369 sah man die wenigen bereisten Länder als charakteristisch für den gesamten Kontinent an: Die Beobachtungen schienen der Reisegruppe „für eine Reihe der jungen Staaten Afrikas symptomatisch zu sein.“ „Das heutige Afrika“, so die Schlussfolgerung aus dem Besuch zweier Länder, biete das Bild eines „typischen Entwicklungskontinents“.70

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Die Einteilung nach Wirtschaftsgroßräumen wurde auch beim Auf- und Ausbau der Länderreferate beim Bundeswirtschaftsministerium und beim Auswärtigen Amt übernommen. Vgl. Jerofke, Wiederaufbau 1993, S. 12 f. 67 Die Hochphase der branchenspezifischen Studien beginnt daher auch erst in den frühen 1980er Jahren. 68 Es ist aber auffällig, dass dort, wo genaue Länderstatistiken der jeweiligen nationalen Statistikbehörden vorlagen, auch auf diese zurückgegriffen wurde. 69 Unter Leitung des Präsidenten des BDI, Fritz Berg, nahmen an ihr teil: Prof. Dr. Rolf Rodenstock (Vizepräsident des BDI), Otto Wolf von Amerongen (Vorsitzender des Ost-Ausschusses der Deutschen Wirtschaft), Dr. h. c. Kurt Lotz (Vorsitzender des Vorstandes der Brown, Boveri & Cie. AG), Hermann H. Kulla (Delegationssekretär). 70 BDI, Ostafrika und Madagaskar 1963, S. 7. Dass einzelne Länder und Regionen stets das Bild vom gesamten Raum bestätigten, hat Jürgen Dinkel auch für die „Dritte Welt“ hervorgehoben. Vgl. Dinkel, Dritte Welt 2014, S. 9.

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1.4 Binnendifferenzierungen Weder die Unternehmer noch die Experten in den Ländervereinen waren blind gegenüber jeglichen regionalen Binnendifferenzierungen.71 Neben der Weltregion interessierte sie immer auch der Nationalstaat und die kleinräumige Region. Die Frage, in welchen räumlichen Einheiten man eigentlich denken und handeln sollte, wurde zwar in den 1950er Jahren noch nicht explizit gestellt, sie schwang aber bereits zu diesem Zeitpunkt mit. Ab ca. 1960 wurde wieder intensiv darüber diskutiert, wie die sich verändernde Welt sinnvoll in Wirtschaftsräume aufzuteilen sei. Die vier Wirtschaftsgroßräume wurden fortan immer häufiger mit Binnendifferenzierungen versehen. Aus „Afrika“ wurden „Ostafrika“, „Nordafrika“ und „Schwarzafrika“. In „Iberoamerika“ unterschied man verschiedene Inseln regionaler Industrieansiedlungen.72 Basis der Kommunikation in den Außenhandelskreisen wurde eine neue räumliche Rasterung der Welt. Je nach Wirtschaftsgroßraum war die Betonung der nationalen und lokalen Besonderheiten aber unterschiedlich stark ausgeprägt. Die Großraumthese schien für manche Kontinente einleuchtender zu sein als für andere. Im Verlauf der 1960er Jahre hob man vor allem in Bezug auf „Iberoamerika“ die regionalen Unterschiede hervor.73 Da hier nun von deutschen Unternehmern tatsächlich Investitionen realisiert wurden, spielten die lokalen Ansiedlungsbedingungen und die einzelstaatlichen Investitionsförderprogramme eine größere Rolle als zuvor.74 Auch für die anderen Wirtschaftsgroßräume gab es nun immer mehr Personen, die auf lokale Unterschiede verwiesen und so etwas wie relativ homogene und recht klar abgrenzbare Großräume nur schwer erkennen konnten. Selbst in Bezug auf „Afrika“, dem in den 1960er Jahren immer noch eine einheitliche „afrikanische Mentalität“ attestiert wurde, differenzierte man nun nach inneren Kulturraumgrenzen. Prominent wurde insbesondere die räumliche Kategorie „Schwarzafrika“. So wollte beispielsweise die Deutsche Afrika-Gesellschaft zunächst Publikationen für den gesamten Konti71 72

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Dass unterschiedliche Raumkonzepte stets neben-, mit- und ineinander bestehen, und gerade daraus ihre Dynamik zu erklären ist, darauf verweisen: Epple, Lokalität 2013, S. 7; Weichlein, Spannungsfeld 1999, S. 244. Interessanterweise lässt sich für die Selbstverortungen der deutschen Unternehmer eine gegenläufige Tendenz feststellen. Hier lässt sich eine lange Dominanz lokaler Raumbezüge zeigen, die sich regional und national ausweiteten und zudem durch internationale Kontakte bereichert wurden. Zunehmend ist eine Dominanz größerer Raumbezüge feststellbar, ohne dass dies bedeutet hätte, dass die lokalen Raumbezüge in ihrer Bedeutung dadurch an strukturbildender Kraft eingebüßt hätten. Vgl. Wehrhan, Lateinamerika 1961, S. 3, RWWA 128-12-1. Peter H. Wehrhan war Präsident der UNIAPAC. Es ist auffällig, dass die konkrete Standortwahl der ersten MNUs Pfadabhängigkeiten produzierte. Unternehmen aus den gleichen Branchen, Zulieferer, aber auch Unternehmen ganz anderer Produktionssparten siedelten sich mit größerer Wahrscheinlichkeit dort an, wo bereits Niederlassungen anderer deutscher Firmen vorhanden waren. Auch die Ansiedlung war damit ein kollektiver Prozess. Insofern ist es beispielsweise irreführend, über deutsche Direktinvestitionen in Brasilien zu sprechen, da diese de facto fast ausschließlich im Ballungsraum São Paulo und in Belo Horizonte sowie in Mexiko in der Großregion Puebla und in Mexiko-Stadt getätigt wurden. Vgl. Zeiß, Expansion 2013, S. 79.

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nent herausgeben, ab 1959 „im Hinblick auf die verschiedenen Mentalitäten für Weiß-Afrika und Schwarz-Afrika“ aber auch getrennte Publikationen für die Maghreb-Staaten und das subsaharische Afrika erstellen.75 Nach Kriterien der Hautfarbe wurden neue Großräume entworfen. Diese waren jetzt zwar kleiner, sie schienen aber immer noch erklärendes Potenzial zu haben. Doch Großraumfantasien und die Betonung lokaler Besonderheiten waren durchaus miteinander kompatibel. Ging es bei der Beschreibung der Großräume vor allem um die grundsätzlichen Investitionsbedingungen sowie die Frage nach der Machbarkeit von „Entwicklung“ und damit um die Realisierbarkeit ganz allgemeiner Marktchancen, so war der Hinweis auf die lokal unterschiedlichen Bedingungen ein Verweis auf die trotzdem hohe Bedeutung der konkreten Standortwahl.76 Ständig war auch in den 1960er Jahren der Wille zur großräumlichen Synthese erkennbar.77 1.5 Das Großraumparadigma Untersucht man das „Überseewissen“ als ein „Ensemble von Ideen (…), das Objekte mit bestimmten Eigenschaften versieht und von einer sozialen Gruppe als gültig und real anerkannt wird“, dann waren bis Ende der 1960er Jahre Wirtschaftsgroßräume zentrale Bestandteile des „Überseewissens“.78 Die am Außenhandel interessierten Kreise sowohl in Industrie und Handel als auch in den Institutionen des „Überseewissens“, interessierten sich mehr für die ökonomischen Chancen in großen Wirtschaftsräumen als in Nationalstaaten.79 Diese „raumideologische[n] Ordnungen“80, so diffus und flexibel sie auch waren, dienten den bundesrepublikanischen Außenhandelskreisen als Orientierungspunkte und Identifikationsmuster und strukturierten ihr Wissen und ihre Netzwerke.

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Deutsche Afrika-Gesellschaft an Dr. Krause-Brewer (Presse- und Informationsamt der Bundesregierung), vom 24.6.1959, BArch B 145/3364. Die Industrie- und Branchenverbände begannen daher auch als erste, die inneren Differenzen der großräumlichen Gebiete zu betonen, während in den Publikationen der Ländervereine und der Wirtschaftsforschungsinstitute noch stärker von einer Wesenseinheit dieser Gebiete ausgegangen wurde. Heutige Ideen von der „räumlichen Außenwirtschaft“ unterscheiden sich davon. Sie setzen meist auf der Ebene der einzelnen Firma an und argumentieren auf der Ebene der Konkurrenz von einzelnen Produktionsstandorten. Vgl. bspw. Heiduk, Außenwirtschaft 2005, S. 8 f. Allerdings versucht die „Neue Ökonomische Geographie“ die Entstehung von Agglomerationen zu erklären. Vgl. Krugman, Economic Geography 1991. Landwehr, Das Sichtbare 2002, S. 71. Die Nation diente dabei nicht als zentraler Ordnungsrahmen. Stattdessen wurde mittels großräumigerer Kategorien festgeschrieben, welche Länder zusammen zu bearbeiten und zu erforschen waren. Beide Raumkategorien existierten aber nebeneinander. Es ist aus zahlreichen historischen Arbeiten zu mental maps hinlänglich bekannt, dass im Normalfall unterschiedliche konkurrierende Raumkonstruktionen nebeneinander bestehen. Das macht sie nicht zuletzt generell offen für Wandel. Nichtsdestotrotz sind meist einzelne Raumkonstruktionen in Handlungsfeldern hegemonial und für eine bestimmte Phase des Denkens konstitutiv. Mausbach, Erdachte Welten 2004, S. 424.

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Dass Raumkonzepte in der deutschen Wissenschaftslandschaft im 19. und 20. Jahrhundert an unterschiedlichen Orten eine bedeutende Rolle gespielt haben, ist durch den spatial turn vermehrt ins Bewusstsein gerückt. Namen wie Carl Ritter, Friedrich Ratzel und Karl Haushofer sind uns heute wieder vertraut. Die mit der nationalsozialistischen Geo- und Rassenpolitik verbundenen Raumkonzepte gelten aber in der Forschung als nach 1945 lange Zeit desavouiert. Tenor der bisherigen Forschung zu den Raumbildern der Nachkriegszeit ist daher, dass der Nationalsozialismus „auf längere Zeit das Raumdenken und die Verknüpfung von Geschichte mit Geographie einschneidend unterbrochen“ habe. Die Sozialwissenschaften hätten daher in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg die Raumkategorie weitgehend aufgegeben.81 Dies ist für die Geschichtswissenschaft und die Soziologie sicherlich zutreffend. In der Wirtschaftsgeografie und der Ökonomie haben sich derartige Raumkonzeptionen jedoch noch länger als plausibel erwiesen.82 2. KULTUREN DER WELTWIRTSCHAFT Die Weltwirtschaft wurde räumlich unterteilt. Wirtschaftsgroßräume waren dabei aber nie nur geografisch voneinander unterscheidbare Gebiete mit einer jeweils unterschiedlichen Ausstattung an Bodenschätzen, an fruchtbarem Boden und unterschiedlichen klimatischen Bedingungen. Sie schienen sich auch kulturell voneinander zu unterscheiden. Beide Aspekte korrespondierten dabei miteinander, waren doch in der Perspektive der Zeitgenossen die Wirtschaftskulturen durch Boden und Klima determiniert. Immer wieder wurden die Kategorien Klima, Raum, Volk und Wirtschaft miteinander verwoben. Auf der Basis der natürlich-geografischen Bedingungen formten ethnisch-kulturelle Gemeinsamkeiten die Wirtschaftsräume. In den bislang zitierten Schriften und Vorträgen war daher auch stets von „Wirtschaftskultur“, „Wirtschaftsmentalität“ und „Arbeitsgesinnung“ die Rede. Doch was verstanden die Zeitgenossen darunter? Die Antwort darauf ist kompliziert und erfordert den Blick auf eine diffuse Gemengelage unterschiedlicher Argumentationsweisen und Schwerpunktsetzungen. Zunächst ist aber festzuhalten, dass die Vorstellung, ökonomische Räume seien auch kulturell homogen, so prägend war, dass sie sich auch in den Satzungen fast aller wichtigen Institutionen des „Übersee- und Entwicklungswissens“ niederschlug. Ein paar Zitate sollen dies noch einmal in Erinnerung rufen: In der unmittelbaren Nachkriegszeit gab sich der OAV bei seiner Wiedergründung, ebenso wie die anderen Ländervereine, den satzungsgemäßen Auftrag, „die politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Verhältnisse der Gegenwart in einem Raum zu

81 Bachmann-Medick, Cultural Turns 32009, S. 286. 82 In der Wirtschaftsgeografie waren dabei allerdings Vorstellungen von klimatisch zusammenhängenden Räumen deutlich wirkmächtiger als in den Außenhandelskreisen. Hier unterteilten Wissenschaftler die Wirtschaftsräume meist in Tropen, Subtropen, Mittelbreiten etc. Vgl. Lütgens, Produktionsräume 1952.

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erforschen“.83 Dies war kein reines Lippenbekenntnis, auch Kuratorium und Vorstand waren mit Unternehmern, Politikern und Kulturschaffenden besetzt. Ähnlich wie die Vorträge im Hamburger Übersee-Club beschäftigten sich auch die von der Auslandskundlichen Arbeitsgemeinschaft der Hansestadt in Zusammenarbeit mit der Handelskammer und dem Hamburgischen Welt-Wirtschafts-Archiv veranstalteten Vortragsreihen „hauptsächlich mit wirtschaftlichen Themen, aber auch mit politischen, historischen, religiösen und völkischen Fragestellungen“.84 In der Übersee-Rundschau, der damals bedeutendsten Zeitschrift der Außenhandelskreise, sollten „nicht nur die politischen oder wirtschaftlichen Momente, sondern auch die vielseitigen kulturellen Fragen Berücksichtigung finden“.85 In der viel gelesenen Zeitschrift „ORIENT“ gab es Artikel zur „arabische[n] Völkerfamilie“, „Zur Problematik eines unterentwickelten Landes alter Kultur“, zu archäologischen Funden und über den „Islam zwischen Vergangenheit und Zukunft“.86 Es ging also nicht darum, Märkte im Sinne des Austarierens von Angebot und Nachfrage zu untersuchen, sondern die Wirtschaft in einer gesamtgesellschaftlichen Perspektive zu analysieren.87 Diese thematische Verknüpfung galt auch noch für die Neugründungen der späten 1950er und frühen 1960er Jahre. Beispielsweise wurde in einer Werbebroschüre der DAG von 1961 betont, dass die „in Europa eingebürgerte Aufteilung des Daseins in die voneinander ziemlich isolierten Lebensbereiche der Politik, der Wirtschaft, der sozialen Entwicklung und der kulturellen Bemühungen“ für andere Weltregionen nicht einfach übernommen werden könne. Es sei von der „unteilbaren Ganzheit des fremden Lebens“ auszugehen. „Alle Lebensgebiete [müssten] gleichmäßig berücksichtigt und bearbeitet werden.“88 Statt sich auf ökonomische Basisdaten zu beschränken, wurden Wirtschaftsgroßräume als historisch gewachsene Kulturgroßräume analysiert. Die bundesrepublikanischen Außenhandelskreise verfolgten damit insbesondere in den ersten zwei Nachkriegsjahrzehnten fast ausnahmslos einen kombinierten Ansatz aus ökonomischer, wirtschaftsgeografischer und völkerkundlicher Analyse. Von einer „Amerikanisierung“ oder „Mathematisierung“ des ökonomischen Denkens kann keine Rede sein.89 Denktraditionen aus der Historischen Schule der 83 84 85 86 87

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O. A.: Das Institut für Asienkunde Hamburg und seine Publikationen 1956–1976, Hamburg 1977, S. 1. Brahm, Wissenschaft und Dekolonisation 2010, S. 56. Schreiben des Vorsitzenden des Afrika-Vereins Hamburg-Bremen, R. Brettschneider, an den Otto Meissner Verlag vom 19.11.1948, Staatsarchiv Hamburg 135–4 39 Band 115. Zitiert sind die Titel einzelner Artikel aus den Jahrgängen 1961–1965 der Zeitschrift ORIENT. Dies betraf, wie in Kapitel 3 gesehen, nicht nur die Institutionen, die sich direkt als Wissensproduzenten für die Wirtschaftspraktiker verstanden, sondern auch jene vorwiegend am Kulturaustausch interessierten Einrichtungen, die sich zugleich mit den wirtschaftlichen Beziehungen zu den jeweiligen „Völkern“ befassten. Bspw. das Goethe-Institut. O. A.: Deutsche Afrikagesellschaft, Bonn 1961, S. 3. Unter anderem sei man deswegen nicht nur „auf das Aktuelle ausgerichtet“, sondern würde der historischen Genese der aktuellen Probleme große Aufmerksamkeit zuteilwerden lassen. Ebd. Zur Mathematisierung der Volkswirtschaftslehre vgl. Hesse, Wirtschaft 2010. Zur Resistenz der deutschen Unternehmer gegenüber der „Amerikanisierung“ vgl. Wehler, Gesellschaftsgeschichte 2009, S. 67–70.

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Nationalökonomie blieben prägend.90 Diese hatte sich schon im 19. Jahrhundert für die Entstehung der „modernen“ Wirtschaft interessiert und dabei ein historisches Vorgehen gewählt. Für heutige Globalhistoriker_innen klingt ihre zentrale Frage hochgradig aktuell: Warum waren manche Wirtschaftsräume erfolgreicher als andere?91 Eine Frage, die man schon damals mit Blick auf die ganze Gesellschaft zu beantworten versuchte. Denn „Wirtschaft“ war für die Vertreter der Historischen Schule der Nationalökonomie kein von anderen gesellschaftlichen Bereichen zu trennender Teilbereich und „Wachstum“ nicht allein aus der Veränderung von ökonomischen Variablen zu erklären. Das Projekt der Nationalökonomen hätte ambitionierter kaum sein können: eine umfassende historische Analyse der Wirtschaftskulturen der Welt. 2.1 Koloniale Denktraditionen Bereits in der Hochphase von Imperialismus und Nationalismus verknüpften Wissenschaftler und Außenhändler ihre grundsätzlichen Überlegungen zur Weltwirtschaft mit Betrachtungen der Kulturen der „Völker der Welt“. Dabei schrieben sich die Kategorien „Zivilisation“ und „Barbarei“ sowie „Fortschritt“ und „Rückständigkeit“ in die Weltwirtschaftsordnungskonzeptionen ein. Schnell wurden Gedanken zur kolonialen Ökonomie so zu Reflektionen über die Wurzeln der einheimischen Wirtschaftskultur und Arbeitseinstellung.92 Die Ländervereine und die DWG hatten diesen Ansatz bereits seit dem Deutschen Kaiserreich verfolgt. Der Vizepräsident der DWG, Kurt Wiedenfeld, verband – in dieser Tradition stehend – 1939 mit Blick auf die letzten Jahrzehnte die Ordnung der Weltwirtschaft mit der Existenz unterschiedlicher Produktivitätsniveaus: „Ganz deutlich und unverkennbar hat sich bis zum Zweiten Weltkrieg eine internationale Produktionsteilung im Gesamtbereich der Industrie mehr und mehr durchgesetzt; aufgebaut z. T. auf den Sachelementen der Verkehrslage, der Rohstoffnähe und des Klimas – zum größeren Teil jedoch auf den Unterschiedlichkeiten der menschlichen Arbeitsbefähigung, die sich ebenso bei den Handarbeitern wie bei den technischen und kaufmännischen Angestellten, nicht zuletzt auch bei den Unternehmern entscheidend geltend gemacht haben.“93

Das war insbesondere für den Nationalsozialismus kein außergewöhnliches Statement, da in dieser Zeit die Idee eines Großwirtschaftsraums aufs engste mit dem Konzept eines rassisch und kulturell homogenen „Lebensraums“ verbunden war.94 90

Zum Programm der „jüngeren“ und der „älteren“ Historischen Schule vgl. Hodgson, How Economics 2001, S. 56–64 und S. 113–134. Zur problematischen Einteilung der Historischen Schule in Generationen vgl. Düe, Entwicklungstheorien 2001, S. 5 f. 91 Das ist eine Frage, die auch in der aktuellen Globalgeschichte intensiv diskutiert wird, insbesondere mit Blick auf China. Vgl. Pomeranz, Great Divergence 2000. 92 Vgl. Sippel, Ideologie der Arbeitserziehung 1996. International formte sich im Spätkolonialismus der 1930er Jahre das Entwicklungsdenken der Nachkriegszeit. Vgl. Büschel, Entwicklungspolitik 2010, S. 3 f. 93 Wiedenfeld, Weltwirtschaft 1939, S. 51. 94 Beide Begriffe bezogen sich geografisch auf denselben Raum und ethnisch auf dieselbe Bevölkerung. Zum Konzept „Lebensraum“ und der Utopie einer rassisch homogenen Gesellschaft

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Doch auch nach 1945 konstruierten deutsche Außenhandelskreise Wirtschaftsräume als Kulturräume. Die Deckungsgleichheit von Lebensraum und Großraumwirtschaft war im Bereich des „Überseewissens“ nicht unmittelbar mit dem nationalsozialistischen Eroberungskrieg verknüpft, sondern speiste sich aus den kolonialen Wissensbeständen des Hochimperialismus, an die sich in der Nachkriegszeit weiterhin anknüpfen ließ. Unter Rückgriff auf Wissensbestände von Ökonomen und Wirtschaftsgeografen analysierten Unternehmer die Bedingungen vor Ort in Hinblick auf Natur, Klima, Bevölkerungszusammensetzung und religiöse Einflüsse und bestimmten so den Platz eines jeden „Volkes“ in der Weltwirtschaft.95 Ein wichtiges Bindeglied zwischen der völkerkundlich interessierten Ökonomie der Zeit vor 1945 und danach, ist eine Veröffentlichung von Clodwig Kapferer. Er ist uns bereits als in Politik und Wirtschaft weithin anerkannter wissenschaftlicher Experte bekannt. Sein Buch „Psyche der Umwelt“ von 1947 ist einen genaueren Blick wert. In ihm fragte Kapferer nach den „Gemeinsamkeitsmerkmalen der Seelenhaltung“ innerhalb und zwischen den „Völkern“.96 Für seinen Argumentationsgang griff er auf ökonomische Klassiker ebenso zurück wie auf ethnografische Beschreibungen und klimatheoretische Erklärungsmodelle. Er bezog sich dabei immer wieder auf Friedrich Ratzels Anthropogeografie, Wilhelm Wundts Völkerpsychologie und Willy Hellpachs Idee der Geopsyche.97 In einer vielfältigen Suchbewegung versuchte er die weltweit verschiedene Ausprägung der Wirtschaftshaltung zu ergründen. An zentralen Stellen machte er dabei einen psychologischen Nord-Süd-Gegensatz auf. Groß sei nämlich in jenen Breitengraden, in denen sich die Industrieländer entwickelt hätten, die Seelenverschiedenheit der Völker. Die stete Auseinandersetzung mit der Natur habe „vom Menschen im lichtarmen, rauhen Klima eine härtere Arbeit und höhere technische Leistung“ verlangt, die „seinen Körper stähl[t]e und seine Verstandes- und Willensseite stärker entwickel[t]e“. Der Mensch im rauhen Klima sei „ein Pläneschmieder, der seine auf Vernunft gegründeten Entschlüsse mit Ausdauer verfolgt, die die Begeisterung der Bewohner wärmerer Gebiete in den meisten Fällen überdauer[e]“.98 Der unter günstigeren klimatischen Bedingungen lebende Mensch arbeite hingegen nur so viel, wie für seine Lebenserhaltung notwendig sei.99 „Im weichen Klima machen Licht und Wärme das menschliche Leben erträglicher, ermöglichen den Aufenthalt im Freien und zwingen zu geringeren Aufwendungen für die Lebenshaltung. Dieses Klima fördert die Triebe und, bei üppigen Erträgnissen der Natur, die fehlerhafte, schwächliche menschliche Konstitution. Auf Gemüt und Phantasie wirkt das Klima anregend, vgl. Jureit, Ordnen von Räumen 2012, S. 287–385. 95 Zum zeitgenössischen Programm der Wirtschaftsgeografie vgl. Lütgens, Erde und Weltwirtschaft 1950, S. 11–17. 96 Kapferer, Psyche 1947, S. 7. 97 Egbert Klautke hat belegt, dass die Völkerpsychologie nach 1945 unter einem herben Renommeeverlust litt. Das ohnehin universitär nicht verankerte Fach überlebte allerdings als Inspirationsquelle in anderen sozialwissenschaftlichen Fächern. Abgelehnt wurde fortan die Anwendung der Völkerpsychologie auf die eigene Nation, nicht aber auf die „Entwicklungsgebiete“. Vgl. Klautke, Völkerpsychologie 2013, S. 147–158. 98 Kapferer, Psyche 1947, S. 51. 99 Vgl. ebd., S. 135.

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begünstigt aber auch die negativen Seiten dieser Gemütslage, wie Müßiggang, Willensschwäche und Leidenschaft.“100

Lufttemperatur, Luftfeuchtigkeit und Luftbewegung würden die Leistungsfähigkeit und den Arbeitsdrang des Menschen beeinflussen: „Von der feucht-milden Witterung geht eine ermattende Wirkung, von der kühlen und trockenen dagegen eine anregende (…) aus“. Die kühlere Wetterlage befördere die geistige Leistung und verleihe der „Willensbildung menschlicher Wunschvorstellung die größte Verwirklichung“. Hierauf beruhe die „Leistungsüberlegenheit, insbesondere der gemäßigten Zone“.101 Die „Rassen“ würde dazu neigen, sich in die ihnen zusagenden klimatischen Gebiete zurückzuziehen, und Religionen würden dies in ihrem Erlösungsziel widerspiegeln.102 Daher sei bei den verschiedenen Rassen und Religionen die Arbeitsbereitschaft ganz unterschiedlich ausgeprägt. Sie sei am stärksten bei der weißen Rasse, gefolgt von der gelben Rasse – „unter denen die Japaner die stärkste Hinneigung zur weißen Rasseform zeigen“. Die Arbeitsgesinnung sei „nicht vorhanden bei Negern, Indianern, Malaien und auch nicht bei den Bewohnern der Polarklimate“. Für sie sei Arbeit nur ein Mittel zum Geldverdienen, sie gewönnen aus ihrer Arbeit zumeist keinen inneren Antrieb, eine sittliche Beziehung zur Arbeit und eine asketische Arbeitsgesinnung seien ihnen fremd. In Fabriken zu arbeiten, widerspräche „ihren natürlichen Neigungen“, so dass der Antrieb von außen kommen müsse, „unter anderem in Form von Leitung und Aufsicht“.103 Am seltensten sei der Drang zur Arbeit „als rassische Eigenschaft verbreitet“. Sie zeige sich in besonderer Ausprägung im deutschen Volk. Hier herrsche ein Arbeitsdrang und der Wunsch, „sich durch die Arbeit in seiner Art zu verewigen“.104 Das waren Äußerungen, die in ähnlicher Weise bereits in den Jahrzehnten zuvor zu hören waren. Schon während der ersten Welle der Globalisierung stilisierte sich Deutschland zum „Land der Arbeit“ und betonte die hohe Qualität nicht nur seiner Produkte, sondern der deutschen Arbeit. Der Arbeitsbegriff war dabei kulturell aufgeladen; „Arbeit“ repräsentierte nicht nur „das meßbare Produkt von Arbeitsleistung, [sondern] den kulturellen und sittlichen Kern von Volk und Nation“. Pflichterfüllung und Arbeitsfreude galten als spezifisch deutsche Tugenden, deutsche Arbeit als höherwertig als die Arbeit anderer Völker. Diese Annahmen wurden auch zur Begründung des Anspruchs auf Weltgeltung herangezogen. Insbesondere für koloniale Gebiete wurde das Fehlen einer fest verankerten Arbeitsethik festge-

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Ebd., S. 51. Ebd., S. 53 und S. 54. Ebd., S. 55. Ebd., S. 135, S. 136 und S. 138. Ebd., S. 139. Auch laut Adolf Weber überträfe den deutschen Facharbeiter „an Wendigkeit und Arbeitsfreude niemand auf der Welt“. Zudem verstände es auch kein Unternehmer „so wie der deutsche Unternehmer, aus wenig viel zu machen“. Weber, neue Weltwirtschaft 1947, S. 403. Laut Bänziger war das identitätsstiftende Potential von „Arbeit“ in der Jahrhundertmitte sogar noch deutlich größer als zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Vgl. Bänziger, Kritik eines Leitmotivs 2015, S. 18.

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stellt. Zunehmend wurden Vorstellungen von Arbeitsethik „biologistisch fundiert und mit rassistischen Ressentiments angereichert“.105 Dies endete nicht schlagartig mit der Kriegsniederlage 1945. Kapferer ging beispielsweise in sehr typischer Weise weiter davon aus, dass Zeugung, Klima, Landschaft, Religion und soziale Umgebung den Menschen formten und weltweit zu unterschiedlichen Ausprägungen der Wirtschaftsgesinnung führten. Darin wurde er auch in den 1950er Jahren noch von Wirtschaftsgeografen bestärkt.106 Auch in späteren Veröffentlichungen zu den psychologischen Grundlagen der Arbeitsgesinnung und der Wirtschaftsleistung zeigt sich daher dieses Gemisch aus Natur, Religion, Rasse und Kultur. Diese einzelnen Faktoren sind einen genaueren Blick wert. 2.2 Naturräume Unter Rückgriff auf klimageografische Beobachtungen betonte Emil Helfferich in seinen Betrachtungen zur „tropischen Wirtschaftsgestaltung“ 1940, dass die „Wesensart der Menschen der umgebenen Natur angeglichen“ sei.107 Die Natur war verantwortlich für die Eigenschaften des Indigenen, insbesondere für sein geringes Streben nach Eigentum, „seine Genügsamkeit, seine – infolge fehlender Widerstände – geringe Energie und damit auch die geringe geistige Entwicklung und schließlich, weil er die Not des Winters nicht kennt, das Fehlen der Vorsorge“. Das „Beharrungsvermögen des Eingeborenen“ galt ihm als „tief verankert in seiner Wesensart, in seiner ihm selbst unbewußten kultischen Lebensanschauung“. Die Indigenen seien „naturnah, beschaulich und statisch, während der Europäer naturfern, kritisch und dynamisch ist“. Die Veranlagung der Indigenen sei daher „unwirtschaftlich“. Vor Ort sichtbare „wirtschaftlich bewußt gestaltende Element[e]“ seien allein Ergebnis der europäischen Zivilisierungsmission. Insofern sei es die „europäische“ Exportwirtschaft gewesen, die „den Emporstieg (…) über das reine Naturalniveau“ ermöglicht habe.108 Eine solche Stellungnahme war für die ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts nicht ungewöhnlich. Der hier zitierte Emil Helfferich, Jahrgang 1878, – wir kennen ihn bereits als Leiter der ersten Nachkriegs-GoodwillMission und als Vorsitzenden des Ostasiatischen Vereins – hatte von 1899 bis 1927 selbst in den sogenannten „Tropen“ gelebt und gehörte damit zu einer Gruppe, deren kolonialistisches Denken von der Forschung oft hervorgehoben worden ist.109 105 Dieser Arbeitsbegriff bezog sich auf ein Ideal von Arbeitsethik, das von den urbanen protestantischen Mittelschichten getragen wurde und vor allem im nationalkonservativen Milieu auf Zustimmung stieß. Vgl. Conrad, Globalisierung und Nation 22006, S. 280–284. Zitate ebd. und S. 298 f. Eindrucksvoll für den Nationalsozialismus in der von der Siemens-Studien-Gesellschaft für praktische Psychologie herausgegebenen Schrift: Fritzsche, Arbeitsethos 1935. 106 Vgl. Fels, Gestalter 1954, S. 198 f. 107 Hier und im Folgenden stellvertretend für viel andere: Helfferich, tropische Wirtschaftsgestaltung 1940, S. 5. 108 Alle Zitate Ebd., S. 6, S. 20 und S. 23. 109 Auch von zeitgenössischen sozialwissenschaftlichen Forschungen ist noch für die 1960er Jahre hervorgehoben worden, dass unter Führungs- und Nachwuchskräften der deutschen Wirtschaft

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Auch der Ökonom Adolf Weber hatte in den Jahren vor 1945 immer wieder darauf verwiesen, dass die geografischen, klimatischen und „menschlichen Vorbedingungen“ für die industrielle Entwicklung auf der Welt ungleich verteilt seien: Diese „Verschiedenartigkeit“ führte er auch noch 1950 überwiegend auf die Natur zurück.110 Allgemein bekannt sei etwa die Tatsache, „daß da, wo die durchschnittlichen Temperaturen ein gewisses Maß überschreiten, mit brauchbaren menschlichen Arbeitskräften für die industrielle Arbeit nicht zu rechnen ist. Weitere Unterschiede schaffen die von Geburt aus gegebene natürliche Veranlagung und die durch die Gewöhnung von Generationen vermittelte Übung.“111 Plausibel war eine solche Deutung auch in der Wirtschaftsgeografie der Nachkriegszeit. Für den renommierten Wirtschaftsgeografen Rudolf Lütgens112 schien „der Einfluss des Klimas (…) auf den Menschen und seine Wirtschaft (…) besonders augenfällig“ zu sein und sich nachweisbar auf die „Leistungsfähigkeit des arbeitenden Menschen“ auszuwirken.113 Die Temperatur lege „den Einzelmenschen und den Einzelrassen (…) Schranken auf“: „Das gleichmäßig feuchtheiße Klima erschlafft den Körper und beeinträchtig schließlich auch die Regsamkeit“. Extreme Klimate führten zur „Kulturverkümmerung“.114 Für Lütgens waren Wirtschaftsräume „geographisch ähnliche oder sich ergänzende und voneinander abhängige Gebiete mit verschiedenen Erzeugungs- und Verbrauchsverhältnissen, durch die sich die Völker und Staaten verbunden fühlten“. In ihnen herrsche „eine bezeichnende und einheitliche wirtschaftliche Willensrichtung und -äußerung, auch wenn ursprünglich volkliche oder kulturelle Bindungen allein maßgebend waren“.115 Lütgens legte, wie die damalige Wirtschaftsgeografie überhaupt, seinen Fokus auf die Wechselbeziehung zwischen dem wirtschaftenden Menschen und der Natur. Es war nur folgerichtig, auf dieser Basis auch verschiedene Wirtschafts- und Kulturstufen zu unterscheiden, die „den mehr oder weniger großen Abstand des wirtschaftenden Menschen vom Naturzwang bezeichnen“.116 Auf der untersten Sprosse der Stufenleiter der Entwicklung standen die „primitiven“ oder „Naturvölker“ der feuchtheißen Tropen, gefolgt von den „Halbkulturvölkern in „Südasien“ und „Mittelamerika“. Auf der obersten Sprosse stand der Europäer, der diese Position spätestens durch die erfolgreiche „Europäisierung der Tropenwirtschaft“ errungen hatte.117 Je eigenwilliger der Mensch der Natur gegenüberstehe, so der Direktor des Geographischen Instituts

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„Reste typisch kolonialen Denkens“ nachzuweisen waren. Langenheder, Einstellung [nach 1961], S. 158. Weber, Weltwirtschaft 41950, S. 346. Ebd., S. 346 f. Andere Autoren fassten den Ursachenkatalog weiter. Sie bezogen sich beispielsweise auch auf Bodenbeschaffenheit, Wasservorkommen und die vorherrschende Pflanzen- und Tierwelt. Vgl. Lütgens, Erde und Weltwirtschaft 1950, S. 48. Rudolf Lütgens (1881–1972), von 1924 bis 1948 Professor für Wirtschaftsgeographie in Hamburg, ab 1942 Leiter des Kolonial- und Wirtschaftsgeographischen Instituts der Universität Hamburg. Er prägte 1922 den Begriff der „Wirtschaftslandschaft“. Lütgens, Erde und Weltwirtschaft 1950, S. 48. Ebd., S. 48 und S. 49. Ebd., S. 242. Ebd., S. 48 f. Ebd., S. 39–46.

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der Freien Universität Berlin, Edwin Fels, desto höher sei auch seine Kulturstufe.118 Die Idee, dass in einem Wirtschaftsraum Natur, Abstammung, Kultur, Produktionsund Verteilungsregimes unauflöslich miteinander verschränkt seien, war so wirkmächtig, dass sie sich auch dort niederschlug, wo die Geschichte der Weltwirtschaft skizziert wurde. So schien die ökonomische Menschheitsgeschichte seit dem „Altertum“ von Großwirtschaftsreichen geprägt gewesen zu sein.119 Diese Grundannahmen über die Basis einer jeden Ökonomie überzeugten auch im Unternehmerlager. Die im ersten Nachkriegsjahrzehnt unter ihnen verbreitete Idee der strukturell statischen Weltwirtschaft basierte größtenteils auf der Annahme klima- und naturgeografischer Grundlagen der Wirtschaft. Der Platz eines „Volkes“, einer „Rasse“, einer „Nation“ in der Weltwirtschaftsordnung blieb damit von vornherein festgelegt.120 Insofern lag auch Theodor Sehmer, Direktor der SiemensReiniger-Werke AG, im Trend seiner Zeit, als er 1950 bei einem Vortrag über „Südamerika“ die Bedeutung der natürlichen Raumbedingungen hervorhob. Aus diesen, so Sehmer, ließe sich die Stellung von Ländern und Kontinenten in der Weltwirtschaft ableiten.121 Fast in allen damaligen Stellungnahmen zu den vier Wirtschaftsgroßräumen in „Übersee“ wurden zuerst ausführlich die „natürlichen Bedingungen“ beschrieben. Am Anfang der Analyse standen stets Klima, Bodenbeschaffenheit und Landschaftsform. Meist folgten der Schilderung der physisch-geografischen Grundlagen des Wirtschaftens Aussagen zur biologisch-geografischen Verfasstheit und daraufhin Überlegungen zum Menschen als Träger der Wirtschaft in raumgebundener Beziehung. Erst daraufhin bezogen die Redner zu den ökonomischen Potenzialen einzelner Regionen Stellung. Wurde in der Nachkriegszeit über die weltwirtschaftliche Stellung der „überseeischen“ Regionen gesprochen, so ging es zunächst weniger um Wirtschaft als um Natur.

118 Fels, Gestalter 1954, S. 216. 119 Die Geschichte der Weltwirtschaft als Geschichte von Großräumen zu erzählen, war dabei keine neue Interpretation der Zeitgenossen nach 1945. Schon beim Aufkommen der Idee einer Weltwirtschaft war die Aufmerksamkeit auf (zum Teil imperiale) Wirtschaftsgroßräume und deren Geschichte gelenkt worden. 120 Wirtschaftswissenschaftler, Unternehmer und Unternehmervertreter, wie hier Karl Albrecht, entlehnten damit Herder ihr grundsätzliches Credo: „Jedes Volk hat besondere Anlagen, die es ihm ermöglichen, besondere Werte zu verwirklichen, besondere Leistungen hervorzubringen. Und wenn nun jedes Volk auf seine Weise und mit seinen geistigen Möglichkeiten als Glied der Menschheitsfamilie schafft, dann wirken sie alle zusammen als ein reich gegliedertes Gefüge, in dem jedes Glied Leistungen vollbringt, die nur ihm gemäß seiner Art möglich sind, und mit denen es der Menschheit als Ganzes hilft.“ Diese Bezugnahme auf Herder stammt aus dem Jahr 1964, wäre aber auch in den beiden Jahrzehnten zuvor auf viel Zustimmung gestoßen. Karl Albrecht: Die Kammer fördert deutsche Auslandsschulen, o. O. Juni 1964, RWWA 70-132-3. 121 Vgl. Sehmer, weltwirtschaftliche Lage [1950].

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2.3 Historische Räume Neben der Natur spielte in diesen Schriften und Vorträgen die genaue Schilderung der historischen und kulturellen Entwicklung eine große Rolle. Man versuchte zu erklären, warum zu unterschiedlichen Zeiten bestimmte „Hochkulturen“ ganze Wirtschaftsgroßräume dominieren konnten und wie „Hochkultur“ und Wirtschaftsleistung zusammenhingen. Die Prominenz dieser Erklärungsvariable erklärt sich im Nachkriegsdeutschland sicherlich auch dadurch, dass sich mit ihrer Hilfe an die Hochschätzung deutscher Kultur anschließen ließ. Reinhard Hüber122, geschäftsführendes Vorstandsmitglied des NuMoV und sowohl wichtiger wie auch typischer Vertreter der Informationslieferanten für die Außenhandelskreise, hob in seinen Ausführungen zu „Nahost“ beispielsweise nicht nur die wirtschaftliche, sondern auch die historisch-kulturelle Einheit der Region hervor. Dabei stellte er die Region als „Kulturwiege der Menschheit“ dar, weil hier zwischen Euphrat und Tigris der „wahre Aufstieg der Menschheit“ begonnen habe.123 Im Folgenden skizzierte er die kulturelle Entwicklung des Gebietes – die Oasenwirtschaft, die Durchsetzung des Ackerbaus, die Bedeutung der Religion für den Kultur- und Staatsaufbau, die Errungenschaften in Kunst, Mathematik und Astronomie.124 Dies war nicht nur einem bildungsbürgerlichen Habitus geschuldet.125 Es war auch deswegen so wichtig, weil er wie viele seiner Zeitgenossen davon ausging, dass wirtschaftliche „Entwicklung“ in ehemaligen „Hochkulturen“ leichter anzustoßen sei. Die dortigen Gesellschaften, so die Argumentation, hätten ja bereits einmal gezeigt, dass sie zu großen kulturellen, wissenschaftlichen und ökonomischen Leistungen fähig seien.126 Auch im Reisebericht über „Ostasien“ – dem Wirtschaftsraum in „Übersee“, dem in deutschen Außenhandelskreisen in den 1950er Jahren am ehesten zugetraut wurde, in absehbarer Zeit zu einer eigenen Wirtschaftsmacht aufzusteigen – standen historische Gemeinsamkeiten als prägende Faktoren im Vordergrund. Damit waren nicht nur die Kolonialvergangenheit und die gemeinsame Erfahrung der japanischen Eroberung gemeint.127 Charakterisiert wurde das Gebiet auch durch seine „jahrhunderte-, ja jahrtausendealte[n] Kulturen“ und deren „Leistungen des Geistes und der Seele“. „Ostasien“ sei die „Wiege der Weltreligionen und eine Wur122 Reinhard Hüber, Jahrgang 1905, hatte den Posten des geschäftsführenden Vorstandsmitglieds des Berliner Orient-Vereins bereits 1940 übernommen und behielt diese Position auch im NuMoV bis weit in die 1950er Jahre hinein. Er sicherte damit personell eine starke Kontinuität über die Kriegsniederlage hinweg. Hüber hatte schon vor 1945 zahlreiche Schriften und Bildbände zum „Orient“ verfasst. Nach 1945 war er wichtiger Fürsprecher eines ökonomischen Engagements im „Nahen Osten“. Vgl. Hüber, Wirtschaftsaufbau 1938, ders., Arabisches Wirtschaftsleben 1943, ders., Arabisches Erbe 1943, ders., Nahost ruft 1954; ders., Orient im Bild 1955. Er verfasste zudem u. a. das Vorwort zu: Gross, Nah- und Mittelost 1953. 123 Hüber, Nahost 1956, S. 5. 124 Vgl. Ebd., S. 5 f. und S. 17. 125 Insbesondere die Vorträge waren beispielsweise oft mit Goethe-Zitaten versehen. 126 Vgl. von Müller, Ägypten 1955; Hüber, Nahost 1956; Duckwitz, Indien 1962, S. 10; Göbel, Arbeitsethos 1964, S. 87–90. Kapferer nennt 1955 als ehemalige Hochkulturen: China, Indien, Ägypten und den südamerikanischen Kontinent. Vgl. Kapferer, Bedeutung 1955, S. 2. 127 Vgl. BDI, Ostasien 1956, S. 11.

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zel der europäischen Kultur“, in die nun allmählich die „Technik des Abendlandes“ eindringe und vor Ort „gemeistert werden“ müsse.128 Dieser Raum brauche zwar durch die allerorten sichtbaren „Wunden“ der Dekolonisierung einen Prozess der „Gesundung“.129 Dann aber sei „bei der vielseitigen natürlichen Ausstattung und der arbeitsfähigen und arbeitsamen Bevölkerung (…) für die Zukunft nicht nur mit dem höchst bedeutsamen Wirtschaftsgebiet selbst, sondern auch mit der in Größe und Volkszahl verkörperten o s t a s i a t i s c h e n W i r t s c h a f t s m a c h t zu rechnen.“130 Unter dem Paradigma der vier Wirtschaftsgroßräume in „Übersee“ wurde Wirtschaftskultur nur selten als Nationalkultur verstanden.131 Nichtsdestotrotz finden sich auch diesbezügliche Äußerungen in Vorträgen von Unternehmern. Auch wenn damit die grundsätzliche Zugehörigkeit eines Landes zu einem Großwirtschaftsraum nicht in Frage gestellt wurde, verwiesen zahlreiche Beobachter ebenso auf nationale Besonderheiten. Auch diese wurden historisch hergeleitet und kulturell gefüllt. In den Quellen zeigt sich dann eine Bezugnahme auf angebliche „Volkscharaktere“ und spezifische nationale Begabungen.132 Der Abteilungsleiter Public Relations der Esso AG, Sven von Müller, betonte beispielsweise 1955, dass „der Ägypter (…) im Gegensatz zum Araber heiter [und] weltaufgeschlossen [sei] und nicht an Morgen [denke]“.133 Doch auch seine Ausführungen kamen ohne einen größeren Rahmen nicht aus: Die Gemeinsamkeit aller „Orientalen“ bestünde, so von Müller, darin, dass sie „für rationale Argumente wenig [a]ufnahmefähig“ seien. Daher verstünde man als Deutscher „diese orientalische Welt so schwer“. Man verstehe „wohl die Worte, aber die Orientalen denken anders“.134 2.4 Religiöse Räume Neben den klimatischen Bedingungen wurden vor allem mythisch-religiöse Gründe dafür verantwortlich gemacht, dass die Menschen in „duldender Passivität verharrten“. Das Streben nach religiöser Erfüllung führe dazu, so Kapferer 1955, dass sie nach innerem Gleichgewicht, nach materieller Bedeutungslosigkeit und nach einem Leben im Einklang mit dem Kosmos strebten. Das daraus resultierende Denken und

128 OAV, Indonesien 1952, S. 3. Eine Gleichsetzung von „Technik“ und „Abendland“ auch bei: Bense, Bewusstsein 1953. 129 Lütgens, Erde und Weltwirtschaft 1950, S. 251 und S. 252. 130 Ebd., S. 252 [Sperrung im Original]. 131 Innerhalb „Europas“ unterschied man indes meist zwischen den „Nationalkulturen“. 132 Diese waren meist durch typische Zuschreibungen wie „jung“, „weibisch“, „exotisch“, „primitiv“, „bedürfnislos“, „nicht zielstrebig“, „irrational“ etc. geprägt. Beispielsweise in: OAV, Indonesien 1952, S. 9 und S. 16. 133 Von Müller, Ägypten 1955, S. 4. Sven von Müller (1893–1964) war von 1926 bis 1932 Schriftleiter und Journalist der Vossischen Zeitung. 1937 Beitritt zur NSDAP. Ab 1948 war er bei der Esso AG tätig und reiste in deren Auftrag rund um die Welt. Er gilt als Nestor der PR in Deutschland. Vgl. Sonntag, Medienkarrieren 2006, S. 259 f. 134 Von Müller, Ägypten 1955, S. 4.

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Handeln laufe dem „okzidentale[n] Produktivitätsdenken und andere[n] Rationalitäten“ zuwider.135 Religion war im damaligen Entwicklungsdiskurs ein grundlegender hemmender Faktor. Sie bot sich aber auch an, wenn nach der einenden kulturellen Basis der Wirtschaftsräume gesucht wurde. Beispielsweise ging Hüber davon aus, die Religion habe überhaupt erst die Einheit „Nahost“ geschaffen, weil der islamische Glaube „den ganzen Menschen forder[e] und dadurch in Sitte und Brauchtum einen einheitlichen Stil über alle rassischen, nationalen und bodenständigen Eigenheiten hinweg erzwing[e]“. Aus der Religion sei „eine allgemeine geistige Ausrichtung und kulturelle Bindung“ entstanden.136 Prägend, so Hüber weiter, sei die Religion auch für die Wirtschaftskultur gewesen. Seine Argumentation ist einen genaueren Blick wert. Auf der Suche nach den prägenden Elementen der Wirtschaftskultur begab er sich nämlich in ganz typischer Weise nicht auf Märkte, um die dortigen Handelspraktiken in den Blick zu nehmen. Er richtete seine Aufmerksamkeit stattdessen auf die Errichtung sakraler Bauten im Islam. Aufschlussreich sei nämlich, so Hüber, dass Moscheebauten stets so geplant worden seien, dass der jeweilige Bauherr die Beendigung des Baues noch erlebte. Daraus schloss er, dass der „gegenwartsbezogene, realistische Zug der arabischen Kultur“ und der „nüchterne Sinn des Wüstensohnes“ sich auch im aktuellen und konkreten ökonomischen Denken, Planen und Handeln zeigen.137 Dies mag wie eine absurde Gedankenführung anmuten, die mit einer hanebüchenen Schlussfolgerung aufwartet. Zeitgenössisch waren solche Argumentationsgänge jedoch so weit verbreitet, dass man getrost davon ausgehen kann, dass sie Erklärungspotenzial besaßen. Dafür war nicht allein der Informationsmangel verantwortlich. Es war auch dem Kulturverständnis der Zeitgenossen geschuldet. Da sie davon ausgingen, dass die Gesellschaften in „Übersee“ durch eine geringe soziale Differenzierung gekennzeichnet waren und es sich um vergleichsweise unterkomplexe Kulturen handelte, war es ihrer Ansicht nach zulässig, aus der Analyse der Planung sakraler Bauten auf die Grundmuster der Handelskultur und auf die Wirtschaftsmentalität zu schließen. Hüber schätzte im Gegensatz zu vielen seiner Zeitgenossen die „nahöstliche“ Kultur und schloss von der Geschichte dieser vergangenen Hochkultur und ihrer Religion auf große „Entwicklungschancen“. Andere Personen waren diesbezüglich skeptischer. Sie teilten grundsätzlich zwar seinen Analysestil, kamen aber zu anderen Schlüssen. Beispielsweise machte Rudolf Lütgens gerade die Religion im „Nahen- und Mittleren Osten“ für Beharrungstendenzen gegenüber der industriellen „Moderne“ verantwortlich: „Bei den Mohammedanern ist der Fatalismus, nach dem Allahs Wille alles bestimmt, zweifellos eine der Ursachen für den wirtschaftlichen Stillstand oder Rückgang der betreffenden Länder.“138 Doch auch wenn sich Hüber und Lütgens in ihrer Einschätzung der „Entwicklungspotenziale“ nicht einig waren, 135 136 137 138

Kapferer, Bedeutung 1955, S. 3 f. Hüber, Nahost 1956, S. 11. Ebd., S. 14. Lütgens, Erde und Weltwirtschaft 1950, S. 194 [Sperrung im Original]. Wolfgang Knöbl hat darauf verwiesen, wie stark auch die damalige „Modernisierungstheorie“ an säkularisierungstheoretische Thesen geknüpft war. Vgl. hierzu Knöbl, Modernisierungstheorie 2013, S. 90–96.

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so gingen sie doch von der gleichen Grundannahme aus. Für beide war die Verbreitung der Religionen ein Spiegelbild der kulturellen Gliederung der Menschheit und der Form des Wirtschaftsleben.139 Sie gingen dann, wie auch der Ökonom Adolf Weber, davon aus, dass sich Religionen auf die Arbeitsethik und damit auf den jeweiligen „Entwicklungsstand“ auswirkten. So wies Weber 1950 darauf hin, dass „Hindus und Moslems als Arbeitskräfte sehr verschiedene Neigungen und Fähigkeiten aufweisen“.140 Peter H. Werhahn, Familienunternehmer und zu dieser Zeit Präsident der Internationalen Vereinigung christlicher Unternehmer (UNIAPAC), beschrieb noch 1961 „Lateinamerika“ vor Mitgliedern des Bundes Katholischer Unternehmer als katholischen Raum. Zwar gebe es dort eine große Verbreitung von „Aberglauben, Unglauben, Spiritismus“, doch sei die „Bevölkerung dieses Erdteils fast ausschließlich katholisch“. Darin könne man, so Werhahn, seine Hoffnung setzen, wolle man „diesen großen Kontinent in die westliche Welt“ integrieren.141 Wirtschaftsgroßräume schienen durch einzelne Religionen geprägt zu sein, die sich auf die Einstellung zum „Fortschritt“ und auf die Arbeitsleistung auswirkten. Weil Wirtschaftsgroßräume damit auch als religiöse Einheiten beschrieben wurden, war es kein weiter Schritt dahin zu fragen, welche Weltreligion denn für die „Entwicklung“ besonders förderlich sei. Da das Christentum zum Ursprung von Fortschritt und Entwicklung erhoben wurde, bestimmte man die jeweilige Nähe zum Christentum, um zu eruieren, wo sich die „Entwicklungsbemühungen“ schnell auszahlen würden.142 Je näher eine Religion dem Christentum zu sein schien, umso eher galt der dortige Raum als „entwicklungsfähig“.143 Insbesondere in den ersten 15 Jahren nach Kriegsende wurde dabei in den Außenhandelskreisen die Nähe von 139 Vgl. Lütgens, Erde und Weltwirtschaft 1950, S. 193. 140 Weber, Weltwirtschaft 41950, S. 247. 141 Wehrhan, Lateinamerika 1961, alle Zitate S. 1, RWWA 128-12-1. Werhahn (1913–1996) war 1949 einer der Mitbegründer des Bundes Katholischer Unternehmer und über Jahrzehnte im Familienunternehmen in leitender Position tätig. Auffällig sei, so Werhahn, dass „Lateinamerika“ von einer „spanischen Art des Glaubens, eines spirituellen Katholizismus, der sich auf die Entwicklung der persönlichen inneren Frömmigkeit beschränkt“, geprägt sei. Dies wiederum sprach angesichts des „Entwicklungsstands“ Spaniens dann auch nicht für eine allzu zügige „Entwicklung“. Spanien wurde meist als „unterentwickeltes“ oder „Entwicklungsland“ bezeichnet. Selten wurde für die „europäischen Entwicklungsländer“ eine eigene Kategorie gebildet. Pfeffer spricht in seiner für das Übersee-Institut angefertigten Studie beispielsweise von der Klasse der „ambivalenten Länder“. Vgl. Pfeffer, Entwicklungsländer 1967, S. 115. 142 Eine Unterscheidung zwischen Protestantismus und Katholizismus war dabei nicht üblich. Nicht die „protestantische Arbeitsethik“, sondern eine „christliche Arbeitsethik“ wurde angenommen. De facto wurde dieses Konzept aber mit ähnlichen Grundaussagen wie von Max Weber gefüllt. Direkte Bezüge zu Weber waren indes selten. Nur in sozialwissenschaftlichen Analysen der 1960er Jahre zu Fragen der Praktikantenausbildung taucht er auf. So etwa bei Sproho, 1967, der betonte, dass man den Praktikanten nicht nur „unsere Erfahrungen und Arbeitsmethoden weitergeben, sondern ihnen auch die den arbeitsteiligen Gesellschaften inhärente „rationale Lebensmethodik“ (Max Weber) vermitteln“ solle. Sproho, Arbeits- und Lebensverhältnisse 1967, S. 54. 143 Dabei wurde im Normalfall weder auf die unterschiedlichen Auslegungen des Christentums noch auf verschiedene Interpretationen anderer Religionen eingegangen. Eine solche Differenzierung wäre auch kaum kompatibel mit der Vorstellung von den homogenen Großräumen gewesen. Auf die zeitgenössische Prominenz des Gedankens, dass die wirtschaftlich-technische

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Christentum und Islam betont. So führte Paul Leverkuehn, Präsident des Instituts für Asienkunde in Hamburg und Vorsitzender der Studiengesellschaft für privatrechtliche Auslandsinteressen, in seinem Vortrag über die Gemeinsamkeiten und Unterschiede im „Nahen Osten“ 1959 vor dem Übersee-Club aus: „Die islamische Mystik (…) steht uns zweifellos nahe. Und da die Wurzeln des Islams im Christentum und Judentum liegen, so sind uns im Grunde die Mohammedaner geistig näher als sehr viele andere Völker.“ In „Nah-Ost“ würden daher langfristig sehr große Möglichkeiten auf die deutschen Unternehmer warten.144 Demgegenüber seien buddhistisch geprägte Regionen tiefgreifend wachstumsfeindlich. Aus dem buddhistischen Erlösungsglauben gingen Verhaltensnormen hervor, die allen Bestrebungen nach Erwerb, Sparen, letztlich sogar jedweder wirtschaftlichen Tätigkeit, zuwiderliefen.145 Und auch im Hinduismus sei die religiöse Tradition dafür verantwortlich, dass sich der Stil des Denkens und Handelns selbst der intelligentesten und angesehensten Personen jeder „rationalistischen Zweckbetrachtung“ widersetze. Hier müssten sich erst, „neue, den wirtschaftlichen Belangen des Lebens offenere Ideen“ gegen die vor Ort herrschende pessimistische Lebenshaltung durchsetzen.146 2.5 Ethnische Räume Wirtschaftsgroßräume galten zudem auch als ethnisch relativ homogen. Der Glaube an die Existenz von Rassen (später Ethnien), ihrer Minder- oder Höherwertigkeit und ihrer unterschiedlichen Entwicklungsfähigkeit hielt sich auch nach 1945.147 Er findet sich in zahlreichen Länderberichten148, jedoch insbesondere im Großraum-

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Entwicklung generell mit der Verbreitung christlicher Werte korrespondiere verweist: Evers, Kulturwandel 1964, S. 82. Leverkuehn, Politik und Wirtschaft 1959, S. 18. Paul Leverkuehn (1893–1960) war CDU-Politiker, von 1957–1960 Präsident des Instituts für Asienkunde in Hamburg und von 1949–1960 Vorsitzender der Studiengesellschaft für privatrechtliche Auslandsinteressen. Wie stark sich die Debatte über das Verhältnis von „Moderne“ und Islam in den letzten 30 Jahre verschoben hat, zeigt Krause, Religion 2012, S. 112–179. Vgl. Evers, Kulturwandel 1964, S. 42 f. Evers verweist am Beispiel Ceylons darauf, dass die positive Umwertung wirtschaftlicher Tätigkeiten notwendige Voraussetzung für den ökonomischen Wachstumsprozess gewesen sei. Vgl. Ebd., S. 135. Jelonek, Entwicklungsländer 1961, S. 39; Duckwitz, Indien 1962, S. 4. Ein diesbezüglich gut erforschter Vertreter aus der Wirtschaftswissenschaft ist Wilhelm Röpke. Vgl. Slobodian, Wilhelm Röpke 2014. Zur Deutung im Deutschen Kaiserreich vgl. Sippel, Ideologie der Arbeitserziehung 1996. Grundlegend zur Interpretation des Rassismus vgl. Geiss, Rassismus 1988; zum Rassismus in der Bundesrepublik nach 1945 vgl. Delacampagne, Rassismus 2005, S. 235–248. Zum Verhältnis von Rasse und Ethnie vgl. Müller, Ethnicity 2000; Altermatt/Skenderovic, Rassismus 2005; Sökefeld, Begriffe 2007. Dass Rassifizierungen auch in der Entwicklungszusammenarbeit nach 1945 eine bedeutende Rolle spielten, darauf verweist: Ziai, Rassismus 2008, S. 210. Zur Bedeutung der Faktoren „Rasse“ und „Volk“ in den Entwicklungstheorien der Historischen Schule vgl. Düe, Entwicklungstheorien 2001, S. 62 f. Beispielsweise in: Interessenverband Übersee, Indonesien 1949, S. 16–18. Viele ökomische Länderstudien warteten selbst Anfang der 1960er Jahre noch an zentralen Stellen mit Aussagen zur rassischen Gliederung der Bevölkerung auf. Beispielsweise in: BfA, Beiträge 1963, S. 5.

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und im Entwicklungsdenken lebten die mit diesen Konzepten verbundenen Vorstellungswelten weiter fort. Die Prominenz rassischer und ethnischer Kategorien fiel auch zeitgenössischen Beobachtern auf. Eine 1962 veröffentlichen Studie zur „Psychologie der deutschen Entwicklungshilfe“ attestierte, dass „das traditionelle hierarchische Ordnungsbild der Völker und Rassen, das Europa und hier wieder besonders Deutschland einen bevorzugten Platz zuweist“, „noch stark ausgeprägt“ sei.149 Ein Vorstandsmitglied der BASF, Dr. Wolfgang Heintzeler, betonte selbst 1966 noch die „Gegensätze zwischen weißen, schwarzen, gelben, braunen Menschen“ so stark, dass er davon ausging, dass seine Generation „und unsere Kinder und Kindeskinder (…) noch lange Zeit in einem Zustand der Spannung zwischen den Blöcken, Kontinenten und Rassen weiterleben [werden], verbunden mit einem unerhört harten Wettbewerb der Menschen“.150 Die Idee von der rassischen Grundlage der weltwirtschaftlichen Arbeitsteilung hatte also auch nach dem Scheitern der Erb- und Rassenpolitik der Nationalsozialisten längst nicht ausgedient. Weiterhin wurden aufgrund körperlicher Unterschiede drei „Hauptrassen – am besten nach Körperfarbe als weiße, gelbe, schwarze Rasse zu bezeichnen –, nebst einigen älteren und neueren Mischrassen“ unterschieden.151 Denn sie korrespondierten zu dieser Zeit auch in den Wissenschaften noch mit einem „Wirtschaftsgeist“ bzw. einer „Wirtschaftspsychologie“. Rudolf Lütgens forderte daher 1950, dass eingehender erforscht werden müsse, „ob die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Rasse wirtschaftliche Fähigkeiten oder Eignung für höhere Entwicklung in sich schließt oder ausschließt, und wie dann weiter infolge der geographischen Verbreitung der betreffenden Rassen auch deren Eigenschaften verbreitet sind.“ Lütgens ging davon aus, dass „alle rassischen, völkischen und kulturellen Eigenarten der Menschheit (…) örtlich verschiedene innere Strukturen der Bevölkerung größerer und kleinerer Räume“ ergäben. Diese „beeinflussen jeweilig das Wirtschaftsleben nicht nur mittelbar und unmittelbar sondern b e s t i m m e n es vielfach überhaupt“.152 „Rassen“ und Wirtschaftsräume waren voneinander abhängige Größen, weil Erbvorgänge schwerwiegende Unterschiede in der psychischen Disposition hervorriefen. In den bundesrepublikanischen Außenhandelskreisen waren diese Überlegungen zwar nicht so systematisch aufgebaut wie in den Lehrbüchern der hier zitierten Wirtschaftsgeografie. Dennoch waren die Argumente deckungsgleich. Immer wieder wurden mit den Kategorien Volk und Rasse die abstrakt entworfenen Wirtschafts- und Naturräume mit Leben gefüllt. Dabei standen sich wie so oft Autoren mit einem unterschiedlichen Hang zur Verallgemeinerung gegenüber. Neben denjenigen, die beispielsweise die unternehmerische Neigung direkt an die Idee der Großrassen knüpften, standen jene, die betonten, dass es auch 149 Danckwortt, Psychologie der Deutschen Entwicklungshilfe [1962] 1966, S. 129. 150 Heintzeler, Bild der Freien Gesellschaft 1966, Zitate S. 26 und S. 27, Archiv der evangelischen Akademie Bad Boll BB 047. 151 Lütgens, Erde und Weltwirtschaft 1950, S. 189. 152 Ebd., S. 196 und S. 197 [Sperrung im Original]. Im Folgenden erläutert Lütgens dies an den „Nordamerikanern“, „Russen“ und „Chinesen“. Ebd., S. 197 f. 1958 war sich Lütgens sicher, dass die Weltwirtschaft „die ureigenste Schöpfung der germanisch-romanischen Völker Europas“ sei. Lütgens Produktionsräume 1958, S. 175.

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innerhalb derselben Rasse erhebliche Unterschiede gebe.153 Damit bestätigt sich zugleich die Beobachtung von Melber, dass Stellungnahmen zur Entwicklungszusammenarbeit nach 1945 durch Rassendünkel geprägt blieben, auch wenn der damit verbundene Eurozentrismus nicht mit dem offenen Rassismus gleichgesetzt werden darf, der die koloniale Ausbeutung im Hochimperialismus prägte. In den Entwicklungskonzepten waren sie „eher subkutan in abgemilderte Formen des Eurozentrismus eingelagert“.154 2.6 Mentalität und Arbeitswille Dass die „überseeischen Wirtschaftsräume“ als Kulturräume entworfen wurden, wird in jenen Passagen am offensichtlichsten, die sich um die „einheimische Mentalität“ drehten.155 Man kann so weit gehen zu behaupten, dass sie der damalige Konvergenzpunkt des Denkens in den Außenhandelskreisen und zugleich der semantische Aufhänger der ganzen Diskussion über Risiken und Chancen in „Übersee“ gewesen ist. Um die zeitgenössischen Vorstellungen von einer Ähnlichkeit im Wesen spannten sich zahlreiche Topoi und Aussagefelder auf. Hier konvergierten die Überlegungen zu Naturraum, historischer Entwicklung, Religion und „Rasse“. An der „einheimischen Mentalität“ wurden die Grenzen der Wirtschaftsräume festgemacht und die „Entwicklungsprobleme“ diskutiert.156 Wir haben bereits gesehen, dass die deutschen Außenhandelskreise davon ausgingen, dass sich selbst innerhalb Deutschlands unterscheidbare „Mentalitäten“ ausgeprägt hätten. Und auch für manch andere Länder gingen sie von der Existenz regionaler Mentalitäten aus – etwa die des „Süditalieners“.157 Für „Übersee“ wurden aber viel großräumigere „Mentalitäten“ entworfen. „Mentalität“ war anscheinend ein passendes Kriterium, mit dem sich sowohl Homogenität als auch Hetero153 Bezeichnenderweise verschwammen diese Unterschiede aber in „Übersee“ und wurden vor allem für die „weiße Rasse“ hervorgehoben. Der Ökonom Adolf Weber hielt so in typischer Weise fest: „Wie groß ist beispielsweise der Unterschied in den unternehmerischen Fähigkeiten der Deutschen, der Nordamerikaner, der Engländer, der Franzosen! Der deutsche Unternehmer zeichnet sich aus durch Findigkeit und Wendigkeit, durch unermüdlichen Fleiß, durch methodisches Vorgehen, er bemüht sich, Handel und Gewerbe mehr auf Wissenschaft als auf Routine zu stützen. Der Amerikaner fühlt sich als Nachfolger der wagemutigen Kolonisatoren (…). Der Engländer liebte – bisher wenigstens – auch als Geschäftsmann die splendid isolation; bis vor kurzem jedenfalls war er stolz darauf, daß seine Insel das Land der Individualisten war (…) Er war weit mehr Routinier als der deutsche Industrielle und Großhändler. Der Franzose endlich ist mehr Rentier als Unternehmer.“ Weber, Weltwirtschaft 41950, S. 34. 154 Melber, Rassismus 2016, S. 306. 155 Auch wenn auf den folgenden Seiten oft von „Mentalität“ die Rede sein wird, ist damit nicht gemeint, dass es diese – so wie es sich die Zeitgenossen vorstellten – tatsächlich gegeben hat. Mit dem Begriff wird nur markiert, dass er sich in den Quellen findet. Daher wird er im Folgenden in Anführungsstriche gesetzt. 156 Auf sie bezogen sich daher auch die Modernisierungskonzepte. Vgl. Kapitel VIII.4. In internationaler Perspektive: Dörre, Leistungsstreben 2017. Für die USA: Unger, Education 2011. Zur Vorgeschichte vgl. Düe, Entwicklungstheorien 2001, S. 60–69. 157 Bspw. in: Predöhl, sogenannten Entwicklungsländer 1963, S. 325.

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genität bestimmen und sich eine zivilisatorische Ordnung herstellen ließ. Dabei war das Kriterium so unscharf gehalten, dass es letztlich zum flexibel verwendbaren Argument wurde. So fehlt in den Quellen nicht zufällig der Versuch, „Mentalität“ als Konzept genauer zu bestimmen. Auffällig ist, dass sich die Außenhandelskreise immer dann am intensivsten mit der einheimischen „Mentalität“ auseinandersetzten, wenn sie die Zukunftschancen einzelner Weltregionen diskutierten. Anfang der 1950er Jahre finden sich zahlreiche Äußerungen zur „Mentalität“ in „Iberoamerika“ und im „Nahen und Mittleren Osten“, ab Mitte der 1950er Jahre vermehrt zur „Mentalität“ auf dem „indischen Subkontinent“ und in „Ostasien“, um 1960 auch zur „Mentalität“ in „Afrika“. Die Prominenz des Konzepts zeigt auch Aufmerksamkeitsverschiebungen in den bundesrepublikanischen Außenhandelskreisen an. „Mentalität“ – begriffen als sehr umfassendes Konzept kultureller und sozialer Einbettung – kam immer dann argumentativ zum Tragen, wenn die Frage im Raum stand, welche Regionen der Welt in absehbarer Zukunft „entwicklungsfähig“ seien. Die jeweilige „Mentalität“ galt dann als entscheidender Hemmschuh oder – deutlich seltener – als Vorteil für ein erfolgreiches Investment. Schon in den Reiseberichten der Goodwill-Missionen war an mehreren Stellen von der einheimischen „Mentalität“ die Rede gewesen. Beispielsweise drehte sich Helfferichs Bericht 1952 auch um die Kenntnis der „indonesischen Psyche“158 und deren „innere Hemmungen“.159 In Bezug auf Ghana und Nigeria war von einem Delegationsteilnehmer betont worden, dass die „örtliche Mentalität“ mitzuberücksichtigen sei, was wiederum ein „entsprechendes Einstellungsvermögen“ der dort geschäftlich tätigen Deutschen notwendig mache.160 Und auch für Ostasien hatte die Goodwillmission 1956 festgehalten, dass „eine psychologische Einstellung auf die (…) Mentalität“ nötig wäre.161 Doch nicht nur Reiseberichte kreisten an zentralen Stellen um die einheimische „Mentalität“, sondern auch Vorträge, Berichte, Informationsbroschüren, die nicht angesichts direkter Kontakte verfasst worden waren.162 Die „Mentalität“ schrieb sich in die Debatten über den Informationsmangel der Außenhandelskreise ein und war in Empfehlungen für den direkten Kontakt omnipräsent, sei es bei der Kundenwerbung

158 Diese sprach er, glaubt man dem Bericht, sogar in seinem Gespräch mit Staatspräsident Sukarno an. Vgl. OAV, Indonesien 1952, S. 7. 159 So die Unterkapitelüberschrift auf S. 16, in: ebd. 160 Gansauge, „Goodwill“-Wirtschaftsdelegation 1957, S. 8, BArch B 116/21459. 161 Vgl. BDI, Ostasien 1956, S. 19, Zitat ebd. 162 Beispielsweise stellte ein Gutachten des Bundesbeauftragten für Wirtschaftlichkeit in der Verwaltung über die Bundesstelle für Aussenhandelsinformation im Juni 1956 fest: „Erfolgreicher Außenhandel setzt in der modernen Wirtschaft eine Fülle von Einzelkenntnissen über die politischen, geographischen und marktmäßigen Gegebenheiten, über die Rechtsverhältnisse und die Mentalität der Bevölkerung sowie über das Vorhandensein und die Zahlungsfähigkeit von Handelspartnern in den für den Export in Betracht kommenden Ländern voraus.“ Vgl. Gutachten über die Bundesstelle für Aussenhandelsinformation vom Bundesbeauftragten für Wirtschaftlichkeit in der Verwaltung, Juni 1956, BArch B 102/56555.

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oder beim Geschäftsabschluss.163 So gab es beispielsweise zahlreiche Mentalitätsbezüge im Bereich der Werbeplanung. Oft war in der Nachkriegszeit in Außenhandelskreisen und im Arbeitskreis Auslandswerbung die Rede davon, dass die textliche und bildliche Gestaltung der Prospekte „häufig ohne viel Sachkunde und Einfühlungsvermögen in [die] jeweilige ausländische Mentalität geschehe“.164 Auch bei Vertragsabschlüssen spielten Überlegungen zur „Mentalität“ der Handelspartner eine wichtige Rolle. Gerade in diesem entscheidenden Moment sei es nämlich nötig, sich in diese einzufühlen. Insgesamt sei, wo eine auf „schnellen Handelsgewinn bedachte Mentalität“ vorherrsche, das sorgfältige Studium der Verträge und der Respektabilität des Vertragspartners vor jeder endgültigen Abmachung unabdingbar.165 Die vorhandenen Chancen könnten nur genutzt werden, wenn die „Fähigkeit zu geschickter psychologischer Einfügung in die Mentalität“ der jeweiligen Länder vorhanden sei.166 Angesichts der Prominenz des Konzepts kann es auch nicht verwundern, dass auch bei Besuchen und Besichtigungen „überseeischer“ Gäste in Deutschland „Mentalität“ als zentral erachtet wurde. Da angesichts des steigenden internationalen Renommees und der ansehnlichen Wirtschaftswachstumszahlen in den 1950er Jahren der Besucherstrom deutlich zunahm und damit zu rechnen war, dass er noch weiter zunehmen würde, wurde darüber diskutiert, wie sich die Besuchsprogramme auf die „Mentalität“ der Gäste zuschneiden ließen.167 Beispielsweise stellte die DAG 1959 fest, dass hier bisher zahlreiche Fehler gemacht worden seien, weil „die Programme so aufgebaut wurden, als ob unsere Gäste aus den asiatischen und afrikanischen Entwicklungsländern dieselbe Mentalität und Lebensart hätten wie Nordamerikaner, Japaner oder Südafrikaner“.168 Man müsse sich darauf einstellen, dass das Interesse der Besucher „im allgemeinen nur durch die Anschauung und nicht durch abstrakte Darlegungen (…) befriedigt werden“ könne.169 Bisherige Besuchsprogramme seien „in der Regel zu dicht und zu umfassend und zu regelmäßig eingeteilt“ gewesen. Statt Deutschland „nach einem Stundenplan, also unserer Lebensart entsprechend“, zu zeigen, solle dies „im Promenieren“ geschehen, da die Deutschen „im Takt“ lebten, die afrikanischen Gäste aber „rhythmisch“.170 Daher sei es notwendig, den Be163 Christof Dejung hat anhand der Handelsfirma Gebrüder Volkart darauf verwiesen, dass diese Art „Wissen“ über Geschäftspartner bereits im 19. Jahrhundert nachgefragt wurde und sich auch dazumal bereits mit ethnografischen und naturkundlichen Überlegungen verband. Vgl. Dejung, Globale Märkte 2013. 164 Protokoll der Arbeitsgruppensitzung des Arbeitskreises Auslandswerbung der Arbeitsgemeinschaft Außenhandel der deutschen Wirtschaft vom 26.10.1956, o. S., BArch B 102/005946. 165 BDI, Ostasien 1956, S. 19. 166 Ebd., S. 12, hier mit direktem Bezug zu Indonesien. 167 Deutsche Afrika-Gesellschaft: Gedanken zu den Reisen afrikanischer Besucher durch die Bundesrepublik (Europa), 8.4.1959 (verfasst von Dr. Splett), o. S., BArch B 145/3364. 168 Vgl. ebd., Zitat ebd. Die Besonderheit Südafrikas als „einzige[r] weiße[r] Staat in Afrika“ wird schon betont in: Interessenverband Übersee, Südafrika 1949, Zitat S. 79. Die hohe Bedeutung von Besichtigungen deutscher Unternehmen aus den Branchen Bergbau, Stahl und Maschinenbau bei repräsentativen Besuchen ausländischer Amtsträger hebt hervor: Derix, Staatsbesuche 2009, S. 61–88. 169 Deutsche Afrika-Gesellschaft: Gedanken zu den Reisen afrikanischer Besucher durch die Bundesrepublik (Europa), 8.4.1959 (verfasst von Dr. Splett), o. S., BArch B 145/3364. 170 Ebd.

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suchern einen ständigen Begleiter „von Ankunft bis Abfahrt“ zur Seite zu stellen, der deren „Mentalität und heimatliche Situation“ kenne.171 Noch wichtiger waren die Mentalitätsbezüge in den Institutionen, die Informationen über die deutsche Wirtschaft in der Welt verbreiten wollten. Wenn für die Bundesrepublik als Handelspartner geworben wurde und Vertrauen und Verständnis für die Belange der Bundesrepublik geweckt werden sollten, plädierten die Leiter der binationalen Handelskammern dafür, „mit Fingerspitzengefühl und psychologischem Einfühlungsvermögen (…) der Mentalität (…) Rechnung tragend“ vorzugehen.172 Clodwig Kapferer empfahl 1950, in den spanischen Sprachgebieten „nicht nur auf wertvollen Inhalt“ der Werbebroschüren und Nachrichtenblätter zu achten, sondern mit nach „Umfang und Aufmachung gewichtige[n] Schriften (…) der Mentalität der dortigen Bevölkerung entgegen“ zu kommen.173 Die DAG suchte nach Verfassern für ihre Publikationsreihen, die „Afrika-Kenntnisse“ besaßen und deren „Sprachstil und Gedankengang der Beiträge möglichst von vornherein zu dem afrikanischen Publikum, das das Buch empfängt, passen“.174 Alle hier aufgeführten Themenbereiche und alle angeführten Zitate verdeutlichen zweierlei: Erstens waren die Vorstellungen einer zu berücksichtigenden „einheimischen Mentalität“ allgegenwärtig und in ganz unterschiedlichen Kontexten relevant. Und zweitens wurde denjenigen, die mit der einheimischen „Mentalität“ vertraut waren, eine besondere Kompetenz zugeschrieben. Immer wieder findet sich daher die Charakterisierung einer Person als „besonderer Kenner afrikanischer [oder wahlweise anderer] Mentalität“.175 „Mentalität“ wurde als Eigenschaft ganzer Kulturen und als „natürlich“ verstanden. Sie war zugleich ein ethnisches wie auch ein psychologisches Konzept. „Mentalität“ ermöglichte die Beschreibung des Typischen oftmals sehr großräumiger Märkte – wie „Südostasien“, „Schwarz171 Ebd. 172 Hier mit Bezug auf die „Orient-Völker“: Memorandum der Deutsch-Ägyptischen Handelskammer vom 31.3.1955, o. S., BArch B 145/3360. 173 Clodwig Kapferer an Bundesminister Blücher, ERP-Ministerium, Schreiben vom 3.3.1950, o. S., BArch B 102/005950 Heft 1. 174 Deutsche Afrika-Gesellschaft: Betreffend: Deutschland-Handbuch für Afrika, Auflistung der beteiligten Berater, ca. 1960, o. S., BArch B 145/3364. Diesbezüglich kritischer beäugt wurde von den bundesrepublikanischen Außenhandelskreisen das diplomatische Corps. Auf einer Tagung über „Die Entwicklungsländer Afrikas“ kam beispielsweise 1962 die Personalpolitik des Auswärtigen Amtes zur Sprache, „die mitunter als sehr ungeschickt zu bezeichnen sei, da im Zuge von Routine-Revirements Botschafter, Botschaftsräte usw. von einer Stelle zur anderen versetzt würden, ohne daß dabei berücksichtigt würde, ob die Versetzten der Mentalität der Bevölkerung auch nur in etwa entsprechen.“ Deutsche Afrika-Gesellschaft: ChefredakteureTagung auf Schloß Auel 1960–1966, Aufzeichnung über das 4. Informationsgespräch der Deutschen Afrika-Gesellschaft für deutsche Redakteure in Schloß Auel (vom 3. bis 5.10.1962) Thema: „Die Entwicklungsländer Afrikas“, o. S., BArch B 145/3365. Hier auch das Zitat im Fließtext. Zu den Teilnehmern gehörten ca. 50 Chefredakteure und Ressortleiter, unter anderem auch Peter Scholl-Latour als ständiger Korrespondent der Arbeitsgemeinschaft der Deutschen Rundfunkanstalten für West-Afrika. 175 Deutsche Afrika-Gesellschaft: Betreffend: Deutschland-Handbuch für Afrika, Auflistung der beteiligten Berater, ca. 1960, o. S., BArch B 145/3364. Diesen Personenkreis verortete man vor allem in den Institutionen des „Überseewissens“.

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afrika“ oder „Iberoamerika“ – und die Beschreibung von kurzfristigen Veränderungspotenzialen und Gewinnchancen. Das Konzept war weithin offen, eher vage und wurde niemals theoretisch reflektiert. Alles in allem galt die einheimische Mentalität als zentrales Hindernis für die „Entwicklung“ in „Übersee“. Exemplarisch zeigt dies eine Rede von Clodwig Kapferer, Direktor des Hamburgischen Welt-Wirtschafts-Archivs, Beiratsmitglied der DWG und bei Unternehmern gern gesehener Vortragsgast. Er schloss eine Rede zu den Wachstumspotenzialen in den „Entwicklungsländern“ im Jahre 1955 mit den programmatischen Worten: „Der Ursprung der Schwierigkeit liegt zum allergrößten Teil in der Psyche und Mentalität der Bevölkerung dieser Gebiete begründet.“176 Vorher hatte er umrissen, wie man die seiner Meinung nach „entwicklungsfähigen“ Regionen der Welt verändern könne und woran bisherige – meist staatliche – Bestrebungen krankten. Es lohnt sich, diesen Vortrag genauer zu untersuchen. Nicht nur, weil er von einem angesehenen Experten an einem zentralen Zirkulationsort des „Überseewissens“ gehalten wurde, sondern auch, weil er letztlich alle für die nachfolgenden eineinhalb Jahrzehnte wichtigen Argumente in Reinform enthält. Das eigentliche Dilemma in „Übersee“ sei – so Kapferer – „die Eigenart mythisch-religiöser Bindungen innerhalb [der] Wirtschaft“. Insbesondere die „Länder mit alten Hochkulturen“ – namentlich genannt werden China, Indien, Ägypten und der „südamerikanische Kontinent“ – seien nicht aufgrund einer technischen Unterentwicklung, sondern wegen „ihrer nach innen gerichteten Überentwicklung (…) in ihre bekannt prekäre Situation geraten“. Diese Länder seien durch verbesserte Hygienestandards einem hohen Bevölkerungsdruck ausgesetzt, da das Bevölkerungswachstum nicht mit einem gleichermaßen gestiegenem „Nahrungsspielraum“ korrespondiere. Durch die Sozialstruktur sei dies noch verstärkt worden. Denn hier sei „eine zahlenmäßig geringe Oberschicht (…) traditionelle Besitzerin eines Großteils der Produktionsfaktoren“. Trotz einer „traditional-religiös begründete[n] Fremdheit gegenüber der westlichen Denkweise und Einstellung zur Entwicklung“ sei die „Masse des Volkes“ – durch die „sich in letzter Zeit verdichtenden Einflüsse westlicher Zivilisation und politischer Propaganda“ – geweckt worden. Der seit Kurzem zu bemerkende „Übergang vom ständischen Agrarproletariat zum bindungslosen Arbeiterproletariat der Städte“ habe sie nun „empfänglich für die Sirenenklänge revolutionärer Theorien“ gemacht. Vor dem Hintergrund des Kalten Krieges habe dies zu zahlreichen „überstürzten Hilfsprogramme[n] der westlichen Industrienationen“ geführt. Diese seien zwar nicht frei von jeglicher wirtschaftlichen Intention, hätten aber nur zur „Inszenierung (…) riesige[r] Investitionsprojekte“ geführt.177 Zwar gebe es auch andere Faktoren, wie etwa die oftmals hohe Bedeutung eines einzelnen Rohstoffs, der für den Weltmarkt produziert und damit von dessen Preisschwankungen abhängig sei. Doch die wirtschaftliche Situation sei nicht nur darauf oder auf einen zu geringen Kapitaleinsatz in der Produktion und erhebliche Transportkosten zurückzuführen. Vielmehr müsse man die im Vergleich niedrige Arbeitsproduktivität, den „Mangel an Initiative und Risikobereitschaft seitens der 176 Kapferer, Bedeutung [1955], S. 12. 177 Alle Zitate ebd., S. 2–4.

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einheimischen Kapitalbesitzer sowie das Fehlen gelernter Arbeitskräfte“ konstatieren. Zusammengefasst sei die „Materie (…) nicht nur sehr vielschichtig, sondern genauso delikat“. Insbesondere in „Asien“ und „Afrika“ sei der Mensch erst noch „reif“ für die Industrialisierung zu machen. Seine Passivität, seine Duldsamkeit, seine Bedürfnislosigkeit, seine Suche nach ausschließlich religiöser Erfüllung und seine „verspielte Einstellung“ seien zu durchbrechen: „Die für die Menschheit beste Lösung (…) wäre sicherlich die Aufschließung dieser Menschen für die moderne Zivilisation, ohne daß sie ihr kulturelles Erbe (…) völlig aufgeben. Aber beides wird sich kaum miteinander vereinbaren lassen“.178 „Mentalität“ war bei Kapferer ein nahezu allumfassendes Konzept. Es bezog sich auf die politischen Eliten vor Ort ebenso wie auf die ökonomische Führungsschicht und die „Masse“ des „einfachen Volkes“. „Mentalität“ war verantwortlich für die „Unterentwicklung“ und für die Fehlschläge bisheriger „Entwicklungspolitik“. Sie bezog sich auf die Ausprägung menschlicher Bedürfnisse, auf Handlungsimpulse, auf die Sozialstruktur und auf die jenseitige Heilsausrichtung. „Mentalität“ war für die deutschen Unternehmer ein so wichtiger Bezugspunkt, dass sie es für nötig erachteten, Bundespräsident Lübke anlässlich seines Staatsbesuchs in Indien 1960 einiges über die „indische Mentalität“ mit auf den Weg zu geben. So teilte ihm etwa Werner Eckart, Gründer und Geschäftsleiter der Pfanni GmbH, mit, er habe sich dazu entschlossen, seine geplante Fabrik nicht in Indien zu errichten. Er komme – so die einzige Begründung – „mit der Mentalität der indischen Arbeiter doch nicht zurecht“.179 Und als die Bundesstelle für Außenhandelsinformationen 1962 mit der Reihe „Beiträge zur Frage fremder Verhaltensweisen“ das Wissensbedürfnis der Unternehmer stillen wollte, betonte sie im Vorwort des ersten Heftes: „Die Beschäftigung mit den Problemen der Entwicklungsländer hat die Erkenntnis gefördert, daß es in fremden Ländern nicht genügt, allein über statistisch und rechenhaft erfaßbare Daten zu informieren, daß es vielmehr darauf ankommt, in die Information auch die unberechenbaren irrationalen Erscheinungen einzubeziehen. Es ist dringend erforderlich, zutreffende Vorstellungen über den fremden Lebensstil, die andersartige Mentalität, die besonderen Verhaltensweisen und deren Motivationen zu vermitteln. Wer mit einem fremden Lande zusammenarbeiten will, für den ist die Kenntnis der Mentalität dessen Bewohner unerläßlich. Aus ihr entspringen die Wirtschaftsgesinnung, der Wirtschaftsstil, das Verhältnis zur Arbeit, zur Technik, zum Eigentum, zum Wertbewußtsein, zur Spartätigkeit, den Investitions- und Konsumgewohnheiten und ähnlichem mehr.“180

Ähnliche, oft wörtlich übereinstimmende Aussagen finden sich auch im folgenden Jahrzehnt. Das große Interesse an anderen Wirtschaftskulturen erfuhr durch die Zunahme der Direktinvestitionen und den zeitgenössischen Entwicklungsdiskurs nochmal eine Steigerung. Im bereits zitierten Leitfaden für Unternehmensentscheidungen bei Investitionen in „Entwicklungsländern“ aus dem Jahr 1964 hieß es, dass in die Überlegungen unbedingt einzubeziehen sei: „Der Mensch im Entwicklungs178 Vgl. Ebd., S. 3–5. Zitate ebd. und S. 12. 179 Werner Eckart, Geschäftsleitung der Pfanni-Werke (München) an Bundespräsident Heinrich Lübke, 20.10.1960, S. 1, BArch B 122/5315. 180 BfA, Beiträge 1962, o. S.

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land und seine andere Denk- und Lebensweise; Andere Religionen oder Kulturen, die den Menschen gerade in diesen Ländern stark beeinflussen; Das Klima, das dort einen anderen Arbeitsrhythmus bedingt“.181 Insgesamt kann festgehalten werden: Die Wirtschaftsgroßräume schienen von ähnlicher Natur und Kultur geprägt zu sein. Sie wurden durch klimatische Bedingungen, Bodenbeschaffenheit, Religion, „Rasse“ und einer gemeinsamen Geschichte zusammengehalten. Die Unterscheidungsmerkmale, die dazu dienten, eine Abgrenzung unterschiedlicher Räume vorzunehmen, waren gerade nicht primär ökonomischer Natur.182 3. WIRTSCHAFTSGROSSRÄUME ALS KULTURRÄUME Für Industrielle und Exporthändler in der Bundesrepublik war es schwierig, an umfangreiche Informationen über konkrete Orte in „Übersee“ zu gelangen. Aufgrund des Informationsmangels und der noch für einige Jahre rudimentären Wissensinfrastruktur wurden nach 1945 die zuvor etablierten Deutungsmuster und Kategorisierungsweisen vorerst ohne grundlegende Überprüfung der ursprünglichen Prämissen weiter tradiert.183 Idealisierungen und Stereotype wurden aus der Zeit des eigenen Kolonialbesitzes und der Eroberungskriege in das postkoloniale Zeitalter überführt.184 Die Metageografie, das heißt die Einteilung und Hierarchisierung der Welt in große Regionen, war ein Erbe des Kolonialismus, und ihre Begrifflichkeiten stammten nicht selten, wie Jürgen Osterhammel betont hat, aus dem „Wörterbuch der Imperialisten“.185 Die jeweilige Kohäsion der Großräume „Iberoamerika“, der „Nahe und Mittlere Osten“, „Ostasien“ und „Afrika“ erschien den Zeitgenossen auch deswegen so plausibel, weil dies genau jene Weltregionen waren, die von den tonangebenden Ländervereinen bereits in der Phase des Hochimperialismus und des Kolonialrevisionismus als zusammenhängend betrachtet worden waren.186 181 Arbeitsgemeinschaft Entwicklungsländer, unternehmerisches Wagnis 1964, S. 11. 182 Nicht wenige der analysierten Berichte ähneln dem Aufbau von damaligen Reiseführern. Die tatsächlichen Reiseführer, die sich in großer Zahl auch in den Bibliotheksbeständen der Industrie- und Handelskammern finden, wären auch eine für die Außenhandelskreise interessante Quelle. Gelegentlich überstieg ihre Anzahl sogar diejenige der „ökonomischen“ Marktanalysen. Der Grund war dabei nicht nur das touristische Interesse der Reisenden in den IHKs, sondern auch die ähnlichen Kausalitätskonstruktionen. Die Reiseführer galten eben auch als Quellen authentischen Erlebens fremder Kulturen. Zur Geschichte der Reiseführer und dem Wandel ihrer Narrative vgl. Müller, Baedecker 2012. Zum Medium vgl. Schlögel, Im Raume 2003, S. 371–378. Ähnliches gilt für die ersten Auflagen des berühmten Fischer Weltalmanachs. 183 Die später einsetzende Rezeption der amerikanischen Area Studies hat diese Deutungsmuster noch einmal bestätigt. Zur Geschichte der Area Studies vgl. Kwaschick, Weltwissen 2018. 184 Vgl. Dinkel, Dritte Welt 2014, S. 2 f. und S. 8 f. 185 Vgl. Osterhammel, Verwandlung 2009, S. 138 f., Zitat S. 139. Die Geschichte der Erfindung von Kontinenten – vom Mittelalter bis in die heutige Zeit – zeigt für den französischen Fall unter Rückgriff auf reichhaltiges Kartenmaterial: Grataloup, L’Invention des Continents 2009. Eine Dekonstruktion dieses Denkens bei: Lewis/Wigen, Myth of Continents 1997. 186 Vgl. Rogowski, Kolonialrevisionismus 2003.

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Die damaligen Kategorien waren allerdings, um mit Ulrike Jureit zu sprechen, „eine Art Bewältigungsstrategie“. Mit ihnen konnte man „Komplexität reduzieren, Unsicherheiten einebnen, […] stabile Ordnungen suggerieren“ und an Traditionen anknüpfen.187 Auch wenn verschiedene Vorstellungen von den Wirtschaftsgroßräumen nebeneinander existierten und je nach Sprecher eine besondere Gemengelage aus Merkmalen bemüht wurde, um die Einheit des Wirtschaftsgroßraums zu belegen, so gingen mit dem beschriebenen Modus der Komplexitätsreduktion auch immer der Hang zur Homogenisierung und die Markierung von Differenzen einher. Vorstellungen von Wirtschaftsgroßräumen und Kulturen dienten der Strukturierung der Weltwirtschaft und boten Orientierung in einer Zeit der Verunsicherung und des Informationsmangels. Die Quellen aus den ersten zwei Nachkriegsjahrzehnten zeigen, wie bruchlos bestimmte Differenzkategorien die Kriegsniederlage überdauerten.188 Diese Kontinuität darf nicht über einen entscheidenden Wandel hinwegtäuschen. Ähnlich wie die Ordnung der Weltwirtschaft war auch die Wirtschaftskultur in „Übersee“ zunächst als äußerst starr konzipiert worden, galt als weithin unveränderlich. Wandel sei, so beispielsweise Emil Helfferich 1952 mit Blick auf Indonesien, dem hiesigen „tropische[n] Volk (…) in Technik und Tempo (…) fremd“.189 Es gebe einen „im Grunde statischen Volkscharakter“.190 Diese Überzeugung korrespondierte mit Vorstellungen einer strukturell statischen Weltwirtschaft, aber auch mit dem zur Verfügung stehenden Informationsmaterial, das fast vollständig noch aus kolonialistischer oder kolonialrevisionistischer Feder stammte. Im Laufe der 1950er und 1960er Jahre – und dieser Wandel vollzog sich sehr langsam und uneinheitlich – wurden Kulturen jedoch verstärkt als grundsätzlich veränderbar interpretiert. Dadurch löste sich aber keineswegs die enge Verbindung von Ökonomie, Natur und Kultur. Sie verfestigte sich, da die Wachstumspotenziale nun noch einmal verstärkt von Kulturveränderungen abzuhängen schienen. Wichtige Ideengeber waren nicht nur Personen aus den Außenhandelskreisen selbst, sondern auch Wissenschaftler, die praxisorientiert arbeiteten. Wissen diffundierte hier anscheinend relativ leicht: Wissenschaftliches Wissen bewährte sich in nicht-akademischen Kontexten, und das von den Außenhandelskreisen hervorgebrachte Wissen stieß auch bei Wissenschaftlern auf Interesse und Zustimmung.191 Einflussreich war dabei die deutschsprachige Wirtschaftsgeografie, die sich vor al187 Jureit, Ordnen von Räumen 2012, S. 13 und S. 14. 188 Dies kann im Grunde kaum verwundern, waren sie doch schon seit dem Hochimperialismus etabliert und damit nicht so direkt mit dem Nationalsozialismus verbunden, dass sie durch dessen Ende mit desavouiert worden wären. 189 OAV, Indonesien 1952, S. 16. 190 Ebd. Das Bewusstsein, dass ihre Mentalität problematisch sei, wird auch den Einheimischen unterstellt. Zum Glück, so Helfferich, sei sich der Indonesier der „vorhandenen Mängel bewußt“ und bereit zu ihrer Überwindung. Ebd. Ebd., S. 7. 191 Das wird auch von herausragenden Vertretern der wissenschaftlichen Tätigkeit für die „Wirtschafts-Praxis“ hervorgehoben. Sie verwiesen darauf, dass die Wirtschaftstheorie an der Realität der Unternehmenspraxis vorbei gehe und daher die Unternehmer ihre eigene Wirtschaftsforschung institutionalisieren müssten. Vgl. rückblickend: Kapferer, Leben 1983, S. 88–116.

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lem mit den „natürlichen Wirtschaftslandschaften“ und darauf aufbauenden völkerpsychologischen Überlegungen beschäftigte. Ihre grundlegenden Argumente tauchten immer wieder in den Vorstellungen von den „überseeischen Märkten“ auf. Sie korrespondierte offensichtlich ganz hervorragend mit den grundsätzlichen Überzeugungen der ebenfalls räumlich orientierten Wirtschaftswissenschaft und den Anforderungen der Praktiker nach ordnenden Kategorien. Zentrale Stichwortgeber und Plausibilitätsgeneratoren aus dem wissenschaftlichen Feld teilten die Annahmen der am Außenhandel interessierten Unternehmer, dass Wirtschaftsräume Kulturräume seien und dass die Wirtschaftskultur in „Übersee“ problematisch und defizitär sei. Zwar bemühten sich Unternehmer auch um den Aufbau von Informationsnetzen, die ökonomische Statistiken und für den Außenhandel relevante juristische Informationen boten. Ebenso fragten sie Informationen über die politische Lage, Probleme der Monokulturwirtschaften, Verstaatlichungen, Infrastrukturprojekte und Beschränkungen von Auslandsinvestitionen nach. Dies hatte – das ist aus den zahlreichen unternehmensgeschichtlichen Studien zum going global zu entnehmen – zweifelsohne einen Effekt auf Investitionsentscheidungen. Doch waren diese Informationen für die Zeitgenossen kaum aussagekräftig, sollten die langfristigen ökonomischen Chancen und Risiken abgeschätzt werden. Es ist zentral für das Verständnis des Diskurses in den bundesrepublikanischen Außenhandelskreisen, dass es den Akteuren nicht nur um kurzfristig erzielbare Profite, sondern um langfristige Investitionen ging. Sie diskutierten weniger über aktuelle Möglichkeiten als über zukünftige Potenziale. Erst in Jahrzehnten würde sich herausstellen, ob die Investition sinnvoll gewesen sei. Zudem waren sich die deutschen Unternehmer aufgrund jüngst zurückliegender eigener Erfahrungen bewusst, dass sich Außenhandelsregimes und Währungsparitäten schnell ändern konnten, insbesondere in Phasen politischer Umbrüche. Diese Änderungen waren aber kaum abschätzbar. Erschwerend kam hinzu, dass sie für deutsche Unternehmer auch kaum beeinflussbar waren. Folglich richtete sich ihr Interesse auf den ihrer Meinung nach für die ferne Zukunft aussagekräftigeren Indikator: Sie beschäftigten sich intensiv mit den einheimischen Mentalitäten. Das im „Überseewissen“ zentrale Paradigma der Einheit von Kultur, Natur und Ökonomie stellt bisherige Interpretationen der Geschichte des ökonomischen Denkens im 20. Jahrhundert infrage. Die ideengeschichtliche Forschung geht davon aus, dass Wirtschaftskultur insbesondere für Wirtschaftswissenschaftler in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts keine wichtige Rolle mehr spielte.192 Hervorgehoben wird vielmehr, dass sich die Wirtschaftswissenschaft, insbesondere die Volkswirtschaftslehre nach 1945 durch die Übernahme angelsächsischer Modelle neu erfand.193 Die meisten Autoren verweisen sogar darauf, dass die Historische Schule bereits viel früher ihre Erklärungskraft eingebüßt habe.194 Zwar kam 192 Vgl. Hoelscher, Transnationale Wirtschaftskulturen 2012, S. 182. 193 Vgl. Heese, Wirtschaft als Wissenschaft 2010. 194 Laut Alexander Nützenadel hatte das Paradigma der Historischen Schule der Nationalökonomie bereits 1917 – mit dem Tode Gustav Schmollers – seinen Zenit überschritten, auch wenn seine Wirkung noch Jahrzehnte später deutlich spürbar gewesen sei. Vgl. Nützenadel, Stunde

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es nach 1945 zu Wiederbelebungsversuchen dieser Denkrichtung, wurden zahlreiche volkswirtschaftliche Lehrstühle zu Beginn der 1950er Jahre mit Ökonomen besetzt, „die selbst aus dieser Tradition stammten oder zumindest mit ihr sympathisierten“. Auch waren bedeutsame Wirtschaftspolitiker der Bundesrepublik und deren wirtschaftspolitische Berater dieser Tradition verpflichtet.195 Dennoch hätten, so Alexander Nützenadel, diejenigen Ansätze, die die Disziplinen Soziologie, Geografie, Ethnologie sowie Wirtschafts- und Geschichtswissenschaften universitär zusammen bringen wollten, bald an Bedeutung und Einfluss verloren und unter dem wachsenden Einfluss der amerikanischen Wirtschaftswissenschaften in der wissenschaftlichen Forschungspraxis keine große Rolle mehr gespielt. Bereits Mitte der 1950er Jahre habe „die Historische Schule mit ihren Nebenlinien nur noch ein Schattendasein“ gefristet.196 Zwar ist es völlig richtig, dass für diese Zeit in den führenden wirtschaftswissenschaftlichen Fachorganen endgültig eine Trennung der Nationalökonomie von den Sozial- und Geisteswissenschaften festzustellen ist.197 Mit Blick auf die hier untersuchten Akteure und die Hochphase des Entwicklungsdiskurses muss diese Interpretation jedoch modifiziert werden. Anscheinend gab es auch nach 1945 noch zahlreiche Wissenschaftler und Praktiker, die die Wirtschaft als kulturelle Sphäre begriffen. Dabei wurde Wirtschaftskultur meist als sehr umfassendes und offenes Konzept gedacht und war als erklärende Variable von übergeordneter Bedeutung. Das verweist darauf, dass es hier auch um eine Auseinandersetzung zwischen abweichenden Deutungsangeboten, Modellen und Grundannahmen der Volkswirtschaftslehre ging. Die universitäre wirtschaftswissenschaftliche Forschung konnte offenbar das theoretische Bedürfnis der Praktiker nicht befriedigen. Clodwig Kapferer hat die damit verbundene Kritik immer wieder in die Wirtschaftsforschungsinstitute getragen: „Mancher verheißungsvolle Versuch, zu gültigen volkswirtschaftlichen und betriebswirtschaftlichen Lösungen zu gelangen“, sei daran gescheitert, „daß das Wirtschaftsleben vom Problemkreis Persönlichkeit gelöst betrachtet wurde“. Kapferer sah sich dabei in der Tradition von Friedrich List, Werner Sombart und Joseph Schumpeter, wenn er den „naturwissenschaftlichen Forschungsweg für nicht anwendbar“ hielt.198 Stattdessen, und das war im Falle der „Entwicklungsgebiete“ offensichtlich, sei der Wirtschaftswissenschaft die Psychologie als Hilfsdisziplin an die Seite zu stellen. Denn „irrationale Motive wie Religion, Bindungen an die Scholle, Trägheit, Zug zur Stadt oder in eine andere Landschaft, Selbständigkeitsdrang lassen den wirtschaftenden Menschen gegen seine

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der Ökonomen 2005, S. 27. Zur Geschichte der Nationalökonomie als universitärem Fach vgl. Krohn, Wirtschaftstheorien 1981; Köster, Wissenschaft der Außenseiter 2011; Janssen, Nationalökonomie und Nationalsozialismus 22001. Vgl. Nützenadel, Stunde der Ökonomen 2005, S. 27–30, Zitat S. 30. Ebd., S. 31. Köster geht sogar davon aus, dass die Historische Schule „mit dem Ersten Weltkrieg unterging, nachdem sie bereits seit der Jahrhundertwende ihre Dominanz zunehmend verloren hatte“. Vgl. Köster, Nationalökonomie 2012, S. 44. Mit Blick auf die „Amerikanisierung“ der volkswirtschaftlichen Lehrbücher auch: Hesse, Wirtschaft 2010, S. 321. Vgl. Nützenadel, Stunde der Ökonomen 2005, S. 32. Kapferer, Psyche 1947, S. 163.

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rationale Erkenntnisse handeln“.199 Die für sich selbst in Anspruch genommene Praxisrelevanz wurde von den Außenhandelskreisen der Bundesrepublik offenkundig anerkannt. Bislang lag der Fokus in der Analyse der Wissensbestände auf deren grundsätzlichen Ordnungsprinzipien. Da die vorangegangenen Kapitel gezeigt haben, wie stark die Vorstellung von der Spezifik der „überseeischen Märkte“ mit der Auffassung zusammenhing, dass diese als Märkte in sich industrialisierenden Regionen zu untersuchen seien, widme ich mich im Folgenden den Entwicklungskonzepten, die sich aus den Äußerungen der bundesrepublikanischen Außenhandelskreise herausfiltern lassen. Vorstellungen von Wirtschaftsgroßräumen, Wirtschaftskulturen und Mentalitäten spielten auch in ihnen eine wichtige Rolle. Zu zeigen ist, wie stark sich das Kulturraumparadigma in die Entwicklungsstrategien der bundesrepublikanischen Außenhandelskreise einschrieb. Für die Forschung zur Geschichte von „Modernisierung“ und „Entwicklung“ ist dies von übergreifender Bedeutung. Denn unser Verständnis der „Entwicklungspolitik“ der 1950er und 1960er Jahre wird bislang stark durch die Auseinandersetzung mit der Modernisierungstheorie insbesondere in ihrer Rostow’schen Ausformung geprägt. Die auf den vorangegangenen Seiten neu erschlossenen Quellen lassen dies als unzulängliche thematische Verengung erscheinen. Anscheinend waren wichtige Akteure der „Globalisierung“ und der „Entwicklungspolitik“ alles andere als davon überzeugt, dass überall auf der Welt selbsttragendes Wachstum durch eine ausreichend große Sparquote und einen starken Kapitalimpuls angestoßen werden könne.200 Auf der Basis einer dynamisierten Vorstellung von den Funktionsweisen der Weltwirtschaft und aufgrund einer Ablehnung allzu starrer Kulturkonzepte setzten sich zumindest die bundesrepublikanischen Außenhandelskreise für eine individual- und sozialpsychologische Entwicklungsvariante ein. Sobald sie davon ausgingen, dass die „Entwicklung“ bislang „unterentwickelter“ Gegenden möglich sei, wollten sie ganze Kulturen radikal verändern, dortige „Mentalitäten“ und Sozialstrukturen durchbrechen und den vor Ort lebenden Menschen „reif“ für die Industrialisierung machen.

199 Ebd., S. 164. 200 Stockmann u. a. haben Rostows Theorie als „krude Synopse von Elementen, die sich bei prominenten Zeitgenossen finden lassen“, bezeichnet. Unter anderem spielte auch Schumpeters Konzept des innovativen Unternehmers bei Rostow eine Rolle. Vgl. Stockmann/Menzel/Nuscheler, Entwicklungspolitik 22016, S. 8, hier auch das Zitat.

VIII. ENTWICKLUNGSKONZEPTE FÜR ÜBERSEE Im vorherigen Kapitel wurde das Kernargument der mit „Entwicklung“ beschäftigten Personen und Institutionen in den bundesrepublikanischen Außenhandelskreisen bereits sichtbar: Nicht die Produktionsbedingungen an sich oder die Ausstattung mit Rohstoffen und Kapital wurden als die zentralen Probleme der „unterentwickelten“ Länder angesehen, sondern die dort lebenden Menschen und ihre „Mentalität“. Auf „Übersee“ übertragen wurde damit auch die Vorstellung davon, was das eigene Wirtschaftswunder ermöglicht hatte. Denn nicht Kapital oder eine üppige Ausstattung mit Bodenschätzen wurden hierfür verantwortlich gemacht. Ein hoher Ausbildungsstand und ein ausgeprägter Leistungswille galten bei den bundesrepublikanischen Unternehmern als Schlüsselfaktoren des ökonomischen Wachstums.1 Weil die Analyse der Problemwahrnehmungen und Netzwerkstrukturen gezeigt hat, dass das „Überseewissen“ seit Mitte der 1950er Jahre zu einem „Entwicklungswissen“ wurde, werden nun die zeitgenössischen Entwicklungs- und Modernisierungsvorstellungen analysiert. Ein besonderes Augenmerk wird dabei auf jenen Konzeptionen liegen, die bei der einheimischen Kultur ansetzten. Ganz allgemein kann festgehalten werden, dass es den deutschen Unternehmern weitestgehend evident schien, dass bei Eliten und Arbeitern vor Ort erst einmal eine neue Einstellung zum Leben zu schaffen und eine Abkehr von jenseitigen Heilsvorstellungen zu erreichen sei sowie der Leistungswille der Einheimischen angeregt werden müsse, bevor in den entsprechenden Gebieten erfolgreich investiert werden könne. Die vor Ort vermeintlich allgegenwärtige Passivität, die Duldsamkeit, Bedürfnislosigkeit und Infantilität der Indigenen sollten durchbrochen, die einheimische Kultur radikal verändert werden. In den Augen der Zeitgenossen musste der Mensch in „Übersee“ reif für die Industrialisierung gemacht werden.2 Der BDI hob beispielsweise Mitte der 1950er Jahre hervor, dass es nicht sinnvoll sei, wenn diese Länder sofort mit der neuesten Technik starteten und sich damit „Aufwand aller Art“ sparten. Hieße dies doch, dass die einheimische „Mentalität“ intakt bliebe und damit auf Dauer nicht den erforderlichen Bedingungen einer modernen Industriegesellschaft entsprechen könne. Es genüge daher auch nicht, so der BDI weiter, „wenn nur eine geschulte Elite die Automation“ beherrsche. Stattdessen sei für eine erfolgreiche Industrialisierung die mentale Transformation der gesamten Gesellschaft nötig.3 Eine solche „Entwicklung“ benötigte in den Augen der maßgeblichen Repräsentanten der bundesrepublikanischen Außenhandelskreise viel Zeit. Sie bevorzugten einen langsamen, aber ihrer Meinung nach langfristig wirkungsvollen Weg, den sie „natürliche“ 1 2 3

Vgl. Kraft, Deutschland-Ostasien 1960, S. 132. Vgl. Pfeffer, Entwicklungsländer 1967, S. 57–59. Hier in Bezug auf „Ostasien“, so aber auch für andere „überseeische“ Räume nachweisbar. Vgl. BDI, Ostasien 1956, S. 10 und S. 19, Zitat ebd.

VIII. Entwicklungskonzepte für Übersee

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oder „organische Industrialisierung“ nannten.4 Die „organische Industrialisierung“ von „Übersee“ basierte auf dem Grundgedanken, dass sich Kultur und Wirtschaft parallel zueinander entwickeln müssten. Die Unternehmer fragten: Wie können wir fremde Kulturen so verändern, dass es möglich wird, langfristig erfolgreich mit ihnen Handel zu treiben oder dort als Investor tätig zu werden? Diese Frage hatte vor allem Auswirkungen auf die Fach- und Führungskräfteausbildung. Mein Blick richtet sich nachfolgend also wiederum nicht auf die Leitungs- und Entscheidungsgremien einzelner Unternehmen oder einzelne Investitionsentscheidungen,5 sondern auf die kollektiven und institutionalisierten Problemlösungsstrategien, die es den bundesrepublikanischen Unternehmern ermöglichen sollten, vom Handel mit den Ländern der Zukunft zu profitieren. In den Fokus rücken damit jene Einrichtungen, die auf Basis ihres (kulturellen) Wissens über „Übersee“ und „Entwicklung“ am Individuum ansetzende Maßnahmen verfolgten.

Abb. 8: Vorstellung der äthiopischen Lehrlinge der Firma Krupp, 11.11.1954, Historisches Archiv Krupp.

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Hier stand somit keine Stufentheorie der Entwicklung, sondern eine Evolutionstheorie im Vordergrund. Der Bedarf an unternehmensgeschichtlichen Studien, die die Auswirkungen des in dieser Arbeit hervorgehobenen Ansatzes der Marktanalyse auf einzelne Investitionsentscheidungen in den Blick nehmen, wird im Fazit der vorliegenden Arbeit noch betont. Sie sind im Rahmen des hier verfolgten Ansatzes aber nicht integrierbar. Im Fokus stehen daher weiterhin die am „Überseehandel“ interessierten Unternehmer als Gruppe, nicht Einzelunternehmer als Entscheider in ihren Betriebsstätten. Fraglich ist ohnehin, welche Repräsentativität Einzelbeispiele solcher Investitionsentscheidungen hätten.

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VIII. Entwicklungskonzepte für Übersee

1. VON DER INDUSTRIALISIERUNG ZUR ENTWICKLUNG In der unmittelbaren Nachkriegszeit spielten weitreichende „Entwicklungsmodelle“ für die bundesrepublikanischen Außenhandelskreise keine bedeutende Rolle. Ihre Debatten über ökonomische Chancen außerhalb der eigenen Grenzen wurden von jenen Problemlagen dominiert, die durch die Weltwirtschaftskrise, den Zweiten Weltkrieg und die Kriegsniederlage bedingt waren. Erst als die Mehrzahl dieser Probleme, die den gesamten Außenhandel betroffen hatten, gelöst waren, wurde „Übersee“ als besonderer Raum der „Unterentwicklung“ mit ganz spezifischen „Entwicklungsproblemen“ markiert.6 Diejenigen, die Ende der 1940er Jahre und in den frühen 1950er Jahren nach den Chancen der „Länder der Zukunft“ fragten, sprachen noch nicht von „Entwicklung“. Sie interessierten sich dafür, wie sich dieser Raum „industrialisieren“ ließ. Noch war ein sehr begrenzter Prozess gemeint.7 Bereits die Analyse der GoodwillMissionsberichte hat gezeigt, dass die frühen Entwicklungskonzeptionen durch einen Fokus auf die Industrialisierung der Grundstoffindustrie geprägt waren. „Entwicklung“ wurde in Gewichtseinheiten, vorwiegend von erzeugtem Stahl, gemessen.8 So ging es dann auch beinahe ausschließlich um die Errichtung von Stahlwerken in „Übersee“.9 Schnell waren so auch Bezüge zur eigenen Industrialisierungsgeschichte zur Hand. Deutschlands Industrialisierung, oder präziser gesagt: die Vorstellung davon, wurde für die Unternehmer der Bundesrepublik zum Modell, weil hier ein Land relativ schnell zu einer Weltmacht aufgestiegen war. Der Fokus auf die Industrialisierung der Schwerindustrie verschwand auch in den Folgejahrzehnten nie vollständig. „Entwicklung“ wurde aber zunehmend als Prozess definiert, der die gesamte Gesellschaft in „Übersee“ umfasste. Erst als man 6

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Müller lehnte deswegen beispielswiese 1968 noch den Begriff der „Entwicklungsländer“ ab, weil auch die Industrieländer nicht an einem industriellen Endzustand angekommen seien, sich also auch noch entwickelten, und der Begriff „unterentwickelte Länder“ präziser beschrieb, dass „jene Gebiete (…) sich noch in einem wesentlich niedrigeren Stadium der wirtschaftlichen Entwicklung befinden und erst allmählich auf dem von den Industrieländern bereits beschrittenen Weg zur Höherentwicklung vorwärtskommen.“ Müller, Industrialisierung 1968, S. 11. Dies trifft auch auf die gesamte frühe Entwicklungsökonomie zu, in der „Entwicklung“ mit Wirtschaftswachstum gleichgesetzt wurde. Dabei war das BSP pro Kopf wiederum der zentrale Indikator. Aus diesem Ansatz folgte, dass Interventionsmöglichkeiten vor allem in drei Variationen auftauchten: der Erhöhung der Investitionsquote, der Senkung des Kapitalkoeffizienten und der Verringerung des Bevölkerungswachstums. Vgl. Stockmann/Menzel/Nuscheler, Entwicklungspolitik 22016, S. 92. Zum klassischen Entwicklungsparadigma vgl. die hervorragende Zusammenfassung in: Ziai, Entwicklung als Ideologie 2004, S. 84–167. Mehrere Ursachen sind dafür verantwortlich: die Industrialisierungsgeschichte Deutschlands, die Stellung der Montanindustrie im Prozess der „europäischen“ Einigung sowie deren dominierende Position in wichtigen Industrieverbänden. Es lag aber auch daran, dass „Industrialisierung“ von den einheimischen Eliten in „Übersee“ als Weg in die „Moderne“ betrachtet wurde. Die „Tonnenideologie der Entwicklung“ und der Fokus auf „industrielles Wachstum“ waren indes keine deutsche Besonderheit, sie waren weit verbreitet: im „Osten“, im „Westen“ und in „Übersee“ selbst. Man kann dies sehr schön dort sehen, wo Akteure aus ganz unterschiedlichen Ländern in einem Gebiet um die schnelleren Entwicklungserfolge wetteiferten. Vgl. für Indien: Unger, Entwicklungspfade 2015.

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sich in den bundesrepublikanischen Außenhandelskreisen vorstellen konnte, in naher Zukunft komplexere Produktionsprozesse zu verlagern, und glaubte, tatsächlich einen ausschlaggebenden Einfluss auf die „Entwicklung“ vor Ort nehmen zu können, kam die Bedeutung der Wirtschaftskultur voll zur Geltung. Immer seltener war von „Industrialisierung“, immer häufiger von „Entwicklung“ die Rede.10 So war für Heinz Hansen „Industrialisierung“ 1957 zu einem „Zauberwort“ verkommen, das zwar eine Zukunftsvision einfangen könne, aber den Blick auf die Realitäten verstelle.11 Die Ansicht der Einheimischen, dass die Industrialisierung der Schwerindustrie sämtliche Probleme im Handstreich lösen würde, schien ihm höchst problematisch und äußerst fragwürdig zu sein. Er interpretierte „Entwicklung“ anders: Nicht Industrialisierung sei die Voraussetzung „für ein modernes Gesellschaftssystem“ und für „politische, soziale und wirtschaftliche Integration“. Kulturveränderung müsse den Entwicklungsprozess begleiten, ja, ihm sogar meist erst die Basis bereiten.12 Die Frage nach den zukünftigen Chancen für Industrie und Handel war fortan mit einer anderen Frage aufs Engste verknüpft: Wie ließen sich die einheimischen Kulturen, die dortigen Sozialbeziehungen, Einstellungen und Normen so verändern, dass sie dem Idealbild einer deutschen Industriegesellschaft entsprachen? 2. DIE ORGANISCHE INDUSTRIALISIERUNG Bevor der Begriff „Entwicklung“ den der „Industrialisierung“ ablöste, war zeitweise verstärkt von „organischer Industrialisierung“ die Rede. Hans-Günther Sohl, Vorstandsvorsitzender der August Thyssen-Hütte AG, forderte beispielsweise 1957 vor der DWG eine „organisch richtig durchgeführte“ Industrialisierung.13 Mit ihrer Hilfe sollten sämtliche gesellschaftlichen Strukturen umfassend transformiert werden. „Organisch“ bedeutete dabei vor allem, dass keine kurzfristigen Projekte im Vordergrund standen. „Organische Industrialisierung“ brauchte Zeit und konnte nur in engen Grenzen beschleunigt werden. Denn auch auf dem „europäischen“ Kontinent, so der hier stellvertretend für viele andere zitierte Andreas Predöhl 1963, sei die „traditionale Gesellschaftsordnung (…) nur nach einem langwierigen und vielschichtigen Auflösungsprozeß (…) reif für die industrielle 10 11 12

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Demgegenüber ist der Modernisierungsbegriff in den Quellen nur selten nachzuweisen. Besonders den einheimischen Eliten in Afrika „spukte [das Wort Industrialisierung] in den Koepfen“. Hansen, Studien-Kommission 1957, S. 13, BArch B 116/21459. Von Tresckow, Industrialisierung 1957, S. 1, BArch B 116/21459. Dies war auch eine bedeutsame Kontroverse in den Entwicklungstheorien der 1950er Jahren. Hier liegt auch der zentrale Streitpunkt, der der Kontroverse um „balanced“ und „unbalanced growth“ zugrunde lag. Diese Debatten wurden aber in den bundesrepublikanischen Außenhandelskreisen nicht rezipiert. Zu den frühen Entwicklungsdebatten, vor allem zwischen Anhängern eines „balanced“ und eines „unbalanced growth“ und mit einem Schwerpunkt auf die Weltbank vgl. Alacevich, Early Development Economic Debates Revisited 2007 sowie dies., Visualizing Uncertainties 2014, S. 137–168. Sohl, Weltwirtschaftliche Fragen 1957, S. 5. Schon die Weltwirtschaft wurde gern mit dem Attribut des „Organischen“ versehen.

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Revolution“ geworden.14 Da Wirtschaftswissenschaftlern, Außenhändlern und Unternehmern die lange Dauer des „Entwicklungsprozesses“ so wichtig war, wird in den Quellen immer wieder betont, wie tief das Beharrungsvermögen in der Wesensart der Einheimischen verankert sei. Unter dieser Prämisse waren industrielle Vorzeigeprojekte und schnelle Erfolge sogar kontraproduktiv, da sie eine kleine privilegierte Gruppe der indigenen Gesellschaft von der „Masse“ entfremdeten und die politischen Spannungen erhöhten.15 Nur sehr wenige Debattenteilnehmer im ökonomischen Feld gingen davon aus, dass die „Industrialisierung in den entwicklungsfähigen Ländern (…) rascher erfolgen [wird] als wir glauben“. Einer von ihnen war BKU-Präsident Adalbert Seifriz16. Er betonte 1959, dass das „Wesen des Farbigen“ gar nicht mehr so wichtig sei, da es sich durch die zunehmende Automation zwangsläufig anpassen würde. „Die Industrialisierung in den entwicklungsfähigen Ländern ist möglich. Der Farbige wird sich nach Überwindung der Übergangsschwierigkeiten dem modernen industriellen Arbeitsrhythmus anpassen, da in Zukunft nicht so sehr der Wille des Menschen, sondern die Maschine das Arbeitstempo bestimmen wird. Der Farbige ist in weiten Bereichen durch die Schuld des Weissen zurückgeblieben. Seine geistigen Fähigkeiten und seine technische Begabung können weiter entwickelt werden. Die Schwierigkeit des Klimas, die in gewissen Jahreszeiten ein kontinuierliches Arbeiten im Büro und in der Fabrik erschweren, können durch die modernen Mittel der Kälteindustrie weitgehend abgebaut werden.“17

Die meisten zeitgenössischen Äußerungen waren indes von einer anderen Vorstellung geprägt. In ihnen wurde die lange Dauer der Arbeit und Aufgabe betont. Typischer als das obige Zitat ist die Stellungnahme von Heinrich Kraft. Er hob 1960 in seiner Festrede für den Ostasiatischen Verein hervor, dass „auf absehbare Zeit“ insbesondere die „neu entstandenen Staaten nicht imstande [seien], auf eigenen Füßen zu stehen“.18 Und auch die DAG stellte sich darauf ein, wie ein Konzeptpapier aus dem Jahr 1961 bezeugt, dass sich „die allmähliche Wirkung ihrer Vorhaben“ erst in einigen Jahrzehnten einstellen würde.19 Denn die „rein menschliche Seite des Eingeborenen mit seiner tiefen Verwurzelung im Stammes- und Sippenleben, im Glauben und Unglauben unter Berücksichtigung der besonderen Verhältnisse,

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Predöhl, sogenannten Entwicklungsländer 1963, S. 317. Vgl. Petersson, Zeitkonzepte 2009, S. 89. Nichtsdestotrotz beteiligten sich deutsche Industrieunternehmen an derartigen Projekten. Schon allein deshalb, weil sich mit ihnen Geld verdienen ließ. Ihre Wirkung auf den „Entwicklungsprozess“ sahen sie aber durchaus skeptisch. Zur zeitgenössischen Diskussion über den Nutzen dieser Großinvestitionen in den Wirtschaftswissenschaften vgl. die Debatten über „balanced“ und „unbalanced growth“. Dargestellt in: Gupta, Economics of Development and Planning 42009, S. 374–398. Adalbert Seifriz (1902–1990), 1960–1963 Mitglied der CDU-Fraktion des Baden-Württembergischen Landtags (CDU), 1963–1966 Staatssekretär und Bevollmächtigter des Landes BadenWürttemberg beim Bund, 1966–1972 Minister für Bundesangelegenheiten, 1968–1978 Vorsitzender des Instituts für Auslandsbeziehungen, langjähriger Präsident der Deutsch-Indischen Gesellschaft. Seifriz, Leitbild des Unternehmers 1959, S. 2, RWWA 128-12-1. Kraft, Deutschland-Ostasien 1960, S. 163. O. A.: Deutsche Afrikagesellschaft, Bonn 1961, S. 3.

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wie Klima, Ernährungs- und Lebensformen, muß gewandelt und das logische, weitreichende (…) Denken und aktive Lebenselemente [müssen] geweckt werden.“20

In den bundesrepublikanischen Außenhandelskreisen und den Institutionen des „Überseewissens“ ging die Mehrheit davon aus, dass die indigenen Kulturen die Charaktere und Mentalitäten so nachhaltig prägten, dass die „Entwicklungshemmnisse“ nicht einfach innerhalb einer kurzen Zeitspanne überwunden werden könnten. Wenig ließ auf einen „Großen Sprung nach vorne“ hoffen.21 Dies brachte einflussreiche Personen wie den Leiter des HWWA, Clodwig Kapferer, schon zu Beginn der 1960er Jahre dazu, die bisherige „Entwicklungshilfe“ zu kritisieren. Die bisherigen Erfahrungen würden zeigen, wie leicht Ratschläge und materielle Hilfen zu Fehlschlägen und Misserfolgen führten. Die Kapitalhilfe beseitige nicht, sie erzeuge Probleme.22 Bevor Hilfen gewährt würden, sollte „die Problematik der wirtschaftlichen Entwicklungsfähigkeit“ durchdrungen werden.23 Man müsse in erster Linie darauf achten, „daß das Organische des Entwicklungsplans gewahrt wird“.24 Das stärkste wirtschaftliche Potenzial läge in den Arbeitskraftreserven. Dieses könne „mit unzusammenhängenden Spenden nicht aktiviert werden“.25 In die gleiche Kerbe hieb A. Jelonek, als er die Gleichsetzung von „Unterentwicklung und Kapitalmangel“ kritisierte: „Die vorherrschende Rolle spielt immer der Mensch, der Mensch war der Schlüssel zum Fortschritt. (…) Am Mangel an Kapital ist die Entwicklung nie gescheitert.“26 Mit derartigen Äußerungen fallen die bundesrepublikanischen Außenhandelskreise und ihre Plausibilitätsgaranten aus der Wissenschaft scheinbar aus ihrer Zeit. Denn ihr Ansatz führte dazu, dass sie von einer langen Dauer von Entwicklungsprozessen ausgingen. Das war untypisch für die 1960er Jahre. Im Kampf der Entwicklungsmodelle im „Kalten Krieg“ wurden ja gerade deren Steuerbarkeit und Schnelligkeit hervorgehoben. Niels P. Petersson, der sich mit den Zeitvorstellungen dieser Konzepte eingehender beschäftigt hat, betont, dass angesichts der Systemkonkurrenz die Entwicklungsperspektiven nicht mehr auf eine unbestimmte ferne Zukunft verschoben werden konnten, sie mussten sich schnell realisieren lassen.27 Das erklärt auch den damaligen Erfolg der Modernisierungstheorie Rostows in der USamerikanischen Administration und der Weltbank. Denn sie setzte der historischen Erfahrung der raschen Industrialisierung in der Sowjetunion in den 1930er Jahren

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Hautmann, Grundlagen und Ziele 1962, S. 14. Der „Große Sprung nach vorn“ ist eigentlich mit Maos „Modernisierungskonzept“ für China verbunden. 22 Vgl. Kapferer, Beitrag 1962, S. 10. 23 Kapferer, Wirtschaftswissenschaften 1962, S. 125. 24 Kapferer, Verpflichtung 1955, S. 44. 25 Kapferer, Wirtschaft 1961, S. 338. 26 Jelonek, Entwicklungsländer 1961, S. 98. 27 Vgl. Petersson, Zeitkonzepte 2009, S. 96. Er hat diesbezüglich hervorgehoben, dass die hohen Kosten des „Colonial Development“ und der Kolonialherrschaftssicherung dazu geführt hätten, dass für die Kolonialmächte das Argument, man müsse „die kolonialen Völker erst allmählich auf die Selbstverwaltung vorbereiten“, an Bedeutung verloren habe. Ebd., S. 95.

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eine eigene „Abkürzung in die Moderne“ entgegen.28 Es ist bemerkenswert und zugleich bezeichnend, dass es in den bundesrepublikanischen Außenhandelskreisen keine intensive Beschäftigung mit den damals prägenden US-amerikanischen Modernisierungstheorien gab. Insbesondere die Rostow’sche Modernisierungstheorie – im Kalten Krieg die außenpolitisch einflussreichste Variante – wurde nicht rezipiert. Die Namen der Protagonisten fallen äußerst selten und auch das begriffliche Instrumentarium der Theorien wird kaum aufgegriffen. So ist etwa nicht vom take-off die Rede und es wird kaum über kapitalinduziertes Wachstum gesprochen.29 Dieser Ansatz war anscheinend nicht kompatibel mit der Perspektive der Praktiker in den deutschen Unternehmen und mit den Realitäten des betrieblichen Eigenkapitalmangels.30 Die Ziele der „organischen Industrialisierung“ waren indes nicht minder radikal. Sie waren auf die vollständige Veränderung der Gesellschaft ausgerichtet und strebten einen umfassenden Strukturwandel an. Nur wenigen Kulturen wurde dabei das Vermögen zugeschrieben, sich aus sich selbst heraus zu verändern. Das schien meist einzig durch Eingriffe von außen möglich zu sein. Bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein hielt sich daher auch die Beschreibung der einheimischen Akteure als „unreif“. Man könne ihnen, so der mit dieser Bezeichnung implizit verbundene Rat, die „Entwicklung“ nicht selbst überlassen. Diese würde sich nicht einfach von allein einstellen, sie müsse vielmehr aktiv von außen initiiert werden. Ab Ende der 1950er waren sich die bundesrepublikanischen Außenhandelskreise zunehmend sicher, dass sie selbst das Potenzial hätten, „Entwicklung“ nicht mehr nur im eigenen Land voranzutreiben. Sie forderten daher von den „Entwicklungsländern“, nicht auf den Staat, sondern auf die Erfahrung der deutschen Wirtschaft zu setzen.31 Der Fokus der bundesrepublikanischen Außenhandelskreise lag auf Beratung, Ausbildung, Anleitung und dem Erlernen „moderner“ Kulturtechniken. Mit diesem Programm ließ sich beim Individuum in seiner mentalen Verfassung und in seinen sozialen Bezügen ansetzen. Im ökonomischen Feld war klar: Nicht durch die sogenannte Kapitalhilfe, sondern durch Erziehungsleistung war „Entwicklung“ möglich.32 Der Ökonom und Sozialphilosoph Wilhelm Röpke, der als einer der geisti28 29

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Ebd., S. 96. Petersson verweist aber zurecht darauf, dass dies vor allem eine geschickte Marketingstrategie war. Vgl. ebd. Die Vorstellung, dass zahlreiche Gesellschaften an einer Schwelle zum take-off stünden, der dann zu einem sich selbst tragenden Wachstum führen würde, prägt insbesondere die Modernisierungstheorie Rostows. Er beschreibt diese Phase als in vielerlei Hinsicht kritisch, argumentiert aber auch, dass es ausreiche, mittels Anschubfinanzierung und technologischer Unterstützung die Geschwindigkeit des Wachstums und des sozialen Wandels zu erhöhen. Vgl. Dörre, Entwicklung durch Leistungsstreben 2017. Zum Staat als zentralem Entwicklungsakteur vgl. Petersson, Zeitkonzepte 2009, S. 89. Dass parallel dazu auch in der Bundesrepublik der Staat in den Wirtschaftswissenschaften in seiner Bedeutung für die gesamtwirtschaftliche Steuerung und als ökonomischer Akteur hervorgehoben wurde, zeigt: Nützenadel, Stunde 2005, S. 88. Zur Vorgeschichte des Erziehungsgedankens in der „Aufklärung“ vgl. Lepenies, Besserwisser 2009, S. 49–54. Im Hochimperialismus wurde die Vorstellung von der Erziehung zur Arbeit und der Erziehung durch Arbeit von Deutschland auf die Kolonien übertragen. Der Gedanke

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gen Väter der Sozialen Marktwirtschaft gilt, hielt dies in seinen grundsätzlichen Überlegungen zu den „unterentwickelten Ländern“ schon 1953 fest: „Ein fundamentaler Irrtum, von dem das Entwicklungsprogramm radikal befreit werden muß, ist die Vorstellung, als ob es sozusagen nur des ‚Kunstdüngers‘ des Kapitals und des technischen-organisatorischen Wissens bedürfe, um die schlummernden Wirtschaftskräfte jener Länder zum Sprießen zu bringen (…) Die unterentwickelten Länder müssen lernen, daß das letzte Geheimnis der reichen Länder nicht in Kapital, Maschinenmodellen, technisch-organisatorischen Rezepten, Naturreserven zu suchen ist, sondern in einem Geiste des Ordnens, Versorgens, Kombinierens, Unternehmens, menschlichen Führens, freien Gestaltens, kurzum in einem Geiste, den man weder aus dem Boden stampft noch importieren kann.“33

Auch Ludwig Erhard bezeichnete auf seiner Asien-Reise 1958 die sowjetischen Hilfsmaßnahmen als „Tropfen auf den heißen Stein“ und die US-amerikanischen Kapitalhilfen als „verschwenderisch und ineffektiv“.34 Insgesamt waren also nicht nur die deutschen Industrieunternehmer und Wirtschaftswissenschaftler, sondern auch wichtige Regierungsstellen skeptisch, was den Nutzen von Geldtransfers anging.35 Die bundesrepublikanischen Außenhandelskreise konnten daher mit der Unterstützung aus Wissenschaft und Politik rechnen, wenn sie alternative „Entwicklungskonzepte“ vorschlugen. Ein Großteil der staatlichen „Entwicklungshilfe“ floss daher nur innerhalb der Bundesrepublik und kam so der deutschen Wirtschaft zugute.36

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der Arbeitserziehung prägte fortan die Gesinnung der Hauptakteure der deutschen Kolonisation und auch das Schrifttum über die Kolonien. Er bezog sich aber nicht auf Industriearbeiter, sondern auf die Plantagen-Arbeit. Ihm lag ein Blick auf die Einheimischen als „arbeitsscheu, faul und indolent“ zugrunde. Sie wurden als „große Kinder“ gesehen, die von väterlicher Hand erzogen werden müssten. Im Gewand eines „Zivilisierungs“-Projekts wurde daraus eine ganze Ideologie, basierend auf der Trias von „Beschäftigungsförderung, Arbeitsgewöhnung und Disziplinierung“. In Deutsch-Ostafrika war es dabei vor allem um die Durchsetzung des Konzepts einer unselbständigen und auf Regelmäßigkeit angelegten „Lohnarbeit“ und um das Problem der „relative[n] Bedürfnislosigkeit“ der indigenen Bevölkerung gegangen. Die Kolonialakteure konnten sich zwar auf das Ziel der Arbeitserziehung einigen, je nach spezifischer Interessenlage hatten sie aber unterschiedliche Auffassungen über die Methoden zur Zielerreichung. Vgl. Sippel, Ideologie der Arbeitserziehung 1996, S. 312–318, Zitate S. 312, S. 314, S. 318 und S. 326. Zur „Erziehung zur Arbeit“ in den Kolonien des Deutschen Kaiserreichs, unter Einbeziehung ihrer damaligen wissenschaftlichen Grundlagen, vgl. auch Gründer, nützliche Menschen 1999. Osterhammel verweist darauf, dass sich Elemente der imperialen Zivilisierungsmissionen noch in der „Entwicklungshilfe“ der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts finden lassen, dass hier aber sehr viel pragmatischere und insgesamt bescheidenere Ziele verfolgt wurden. Vgl. Osterhammel, Zivilisierungsmission 2005, S. 422. Zur Erziehung zur Arbeit in den deutschen Direktinvestitionen in Indien vgl. Unger, Rourkela 2008, S. 378. Röpke, Unterentwickelte Länder 1953, S. 77. Dieses Zitat wurde auch von anderen Personen genutzt. Es ist beispielsweise zitiert in: Stemmler, Lateinamerika 1964, S. 2, RWWA 128-17-3. Röpke selbst ist als Befürworter der Apartheid in Erscheinung getreten. Er ging bis zu seinem Lebensende davon aus, dass der „Neger“ eine harte Hand und zivilisatorische Anleitung benötige. Zu seiner Haltung zur Apartheid und zu seinen herausragenden Kontakten zur Elite der US-amerikanischen New Right vgl. Slobodian, Wilhelm Röpke 2014. Ludwig Erhard zitiert bei Schmidt, German Foreign Assistance Policy 2008, S. 95. Vgl. ebd., S. 115. Vgl. ebd., S. 122 f.

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VIII. Entwicklungskonzepte für Übersee

Ganz offensichtlich basierte die Überzeugungskraft des Konzepts der „organischen Industrialisierung“ auch auf der geringen Ressourcenausstattung in den deutschen Industriebetrieben. Hätte man die Hoffnung auf einen öffentlich oder privat finanzierten Kapitalimpuls für die „Entwicklung“ in „Übersee“ gesetzt, dann hätten die bundesrepublikanischen Außenhandelskreise auf diesen Märkten keine bedeutende Rolle gespielt. Da die deutschen Unternehmer keine großen Kapitalinvestitionen zu bieten hatten, argumentierten sie mit kulturellen Leistungen.37 Man sollte dies aber nicht als bewusste und reflektierte Strategie missverstehen: Das Modell der „organischen Industrialisierung“ basierte auch auf innerer Überzeugung und eigener historischer Erfahrung. Im Folgenden werde ich daher auch zeigen, dass sich hier schon lange zuvor etablierte Vorstellungen vom kulturbringenden Wert „deutscher Arbeit“ und den Deutschen als „Erziehern“ ebenso niederschlugen wie die von einer „europäischen“ Superiorität. Im Fokus steht aber nun, welche praktischen Versuche in den bundesrepublikanischen Außenhandelskreisen diskutiert und erprobt wurden, um das empfundene kulturelle Defizit der psychischen Beharrungskraft in „Übersee“ zu überwinden. Drei Ansätzen gilt dabei meine besondere Aufmerksamkeit, die „allgemeine Volkserziehung“, die Heranbildung einer indigenen Elite und die Qualifizierung von deutschen Führungskräften für ihre Aufgabe als Kulturträger in „Übersee“. 3. DIE GESCHEITERTE IDEE EINER ALLGEMEINEN VOLKSERZIEHUNG Vergleicht man die Idee der „organischen Industrialisierung“ mit den Entwicklungskonzepten, die in den Berichten zu den ersten Goodwill-Missionen aufschienen, verschärft sich der Eindruck, dass ab Mitte der 1950er Jahre nicht mehr die Industrialisierung der Grundstoffindustrie im Vordergrund des Hilfsangebots mit „deutschem Charakter“ stand.38 Es ging stattdessen um die grundsätzliche Umgestaltung der Sozialstrukturen und Wertausrichtungen vor Ort. Um ihr umfassendes Programm von „Entwicklung“ zu verwirklichen, setzten die bundesrepublikanischen Außenhandelskreise anfänglich auf breit angelegte allgemeine „Volkserziehungsversuche“. Der Direktor des HWWA, Clodwig Kapferer, hatte schon 1955 betont, dass die Lieferung „moderner“ Kraftanlagen und Fabriken sowie die Übertragung der neuesten Anwendungsmöglichkeiten wirtschafts- und naturwissenschaftlicher Erkenntnisse zwar wichtige „Beiträge der abendländischen Gesellschaft zur Fortentwicklung der rückgebliebenen Länder“ seien. Dennoch würden diese „auf Dauer steril bleiben, wenn sie nicht von einer Bevölkerung aufgenommen und gepflegt werden, die ein inniges, vertrautes Verhältnis zur Welt der Ratio und zum technischen Fortschritt hat“.39 Der BDI ist mit seiner Stellungnahme 37 38 39

Verstärkt wurde diese Tendenz dadurch, dass die Außenpolitik der Bundesrepublik die Relevanz des auswärtigen Kulturprestiges für die ökonomische und außenpolitische Stellung der Bundesrepublik immer wieder betonte. Zitat aus: BDI, Ostasien 1956, S. 25. Kapferer, Bedeutung [1955], S. 7 f.

Allgemeine Volkserziehung

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von 1956 schon zitiert worden: Die Schulung allein der Eliten sei nicht erfolgsversprechend, vielmehr sei für eine erfolgreiche Industrialisierung die mentale Umstellung der gesamten Bevölkerung nötig.40 Solche Ideen hielten sich bis in die frühen 1960er Jahre hinein. Kurt Hautmann, der 1962 über die Rolle des Unternehmers in der „Entwicklungshilfe“ räsonierte, forderte beispielsweise, dass wirtschaftliche Maßnahmen als Teil einer umfassenden „allgemeinen Volkserziehung (…) zum industriellen Denken“ konzipiert werden müssten.41 Immer wieder verbanden sich derartige Appelle mit der Forderung nach der Einführung einer Arbeitspflicht. Werner Eckart von der Pfanni GmbH argumentierte beispielsweise in diese Richtung, als er 1960 betonte, er habe auf seiner Reise durch Indien das Gefühl bekommen, dass hier „raschestens eine Arbeitsdienstpflicht eingeführt“ werden müsse, um die „jungen Inder zu einer regulären Arbeit“ zu erziehen.42 Unter deutschen Unternehmern war dies eine Äußerung ohne Seltenheitswert. So oft die Forderung nach einer allgemeinen Volkserziehung zur Steigerung des Arbeitswillens in den Quellen auch auftaucht, sie ließ sich nicht so einfach in praktische Politik umsetzen. Dafür wären die bundesrepublikanischen Außenhandelskreise im hohen Maße auf die Mithilfe der Eliten vor Ort angewiesen gewesen.43 Anfänglich schien diese durchaus im Bereich des Möglichen zu liegen. Hatten die Teilnehmer der ersten Goodwill-Missionen nicht den Eindruck gewonnen, jegliche Hilfe sei erwünscht, ja, würde sogar eingefordert? So setzten in den bundesrepublikanischen Außenhandelskreisen nicht wenige Vertreter bis in die Mitte der 1950er Jahre noch große Hoffnungen auf die politischen Eliten vor Ort. Während die große Mehrheit der Bevölkerung in Passivität verharre, schien bei diesen durchaus ein Wille zur „Entwicklung“ erkennbar zu sein. Die hoffnungsvollen Töne verstummten aber zusehends. Vor allem mit Blick auf den „afrikanischen“ Kontinent wurden immer häufiger die Jugend und die Verführbarkeit der politischen Akteure bemängelt. Für die bundesrepublikanischen Beobachter waren die indigenen Eliten nun vor allem durch Geltungsdrang und ein kindliches Imponiergehabe geprägt, was sie mit dem Verweis auf entwicklungspolitische Großprojekte aus Stahl und Beton belegten. Clodwig Kapferer konstatierte bereits 1955, dass man es nicht selten mit „eine[r] Kaste reicher Feudalaristokratie“ zu tun habe, die nur ihre „auch für unsere Begriffe luxuriöse Lebenshaltung“ sichern wolle. Zudem stütze sich diese „auf eine mitunter korrupte Beamtenschaft“.44 Auch die politischen Führungskräfte, die ihre zweite Sozialisation in den europäischen Kolonialmetropolen durchlaufen hatten, wurden als defizitär wahrgenommen. Zu gering schien ihr wirtschaftlicher Sachverstand, zu eng ihre Nähe zur Ministerialbürokratie und zu ausgeprägt ihre Staatsgläubigkeit. Heinrich Kraft stellte daher 1960 mit Blick auf „Ostasien“ fest, dass sich immer deutlicher die Ausrichtung der Ökono40 41 42 43 44

Vgl. BDI, Ostasien 1956, S. 10. Hautmann, Grundlagen und Ziele 1962, S. 14. Werner Eckart an Bundespräsident Heinrich Lübke am 20.10.1960, o. S., BArch B 122/5315. Schon in den 1960er Jahren zeigten erste sozialwissenschaftliche Untersuchungen, dass die neuen politischen Eliten in den „Entwicklungsländern“ mehrheitlich im Ausland, vor allem aber in den ehemaligen Kolonialmächten studiert hatten. Vgl. Hauck, Herkunft 1968, S. 135. Kapferer, Bedeutung [1955], S. 3–5.

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mie auf „radikal (…) außerwirtschaftliche Zielsetzungen“ abzeichne; dieser Befund sei nicht zuletzt in der verbreiteten Auffassung greifbar, „Entwicklung“ ließe sich planen und durch staatliche Investitionsprogramme vorantreiben.45 Diese grundsätzliche Idee kritisierte 1963 auch Irma Schaafhausen in einer Studie für die Schriftenreihe „Entwicklungsgebiete“ des HWWA. Man müsse bereit sein, wolle man „sich in die Industriewirtschaft aktiv eingliedern (…), dafür zu zahlen“. Liebgewonnene, selbst geheiligte Gewohnheiten müssten aufgeben werden.46 Entscheidender Faktor sei die Bevölkerung: „Mangelt es ihr am Wollen zur wirtschaftlichen Entwicklung, ist die Stagnation nicht zu überwinden. Ist das Wollen in großen Teilen der Bevölkerung vorhanden, so sind wirtschaftlicher Fortschritt und steigendes Sozialprodukt zu erreichen, sind Schwierigkeiten – gleich welcher Art – zu überwinden. (…) Der vorhandene Wille weiter Kreise der Bevölkerung, die eigene Wirtschaft zu entwickeln, ist somit eine Voraussetzung der Entwicklung. Entsteht er in einem Land, das noch unterentwickelt ist, so ist dieser Zustand mit großer Wahrscheinlichkeit zeitlich begrenzt.“47

Es sei aber, so Schaafhausen weiter, gänzlich ausgeschlossen, die gesamte Bevölkerung für den „wirtschaftlichen Aufbau“ zu interessieren. Die Eliten vor Ort müssten daher dafür Sorge tragen, dass alle Kräfte mobilisiert würden. Dies könne durch ein System erreicht werden, „das von Mentalität der Bevölkerung und Ausgangssituation abhäng[ig], aus leichter Lenkung, kräftiger Beeinflussung und Zwang besteht“.48 Insbesondere der Vertrauensverlust in die politischen Eliten vor Ort ließ die Forderungen nach einer „allgemeinen Volkserziehung“ verstummen. Diese schien zwar weiterhin nötig zu sein, doch waren die Möglichkeiten für einen direkten Einfluss trotz steigenden außenpolitischen Renommees schlichtweg nicht gegeben. Nur noch gelegentlich wurde die ursprüngliche Forderung im Rahmen der Förderung von Alphabetisierungskampagnen und Erwachsenenbildungsprogrammen erhoben. Erst Mitte der 1970er Jahre war sie wieder häufiger zu vernehmen. So hielten beispielsweise auf der Jahrestagung der Carl Duisberg Gesellschaft im Juni 1974 in Bonn die Teilnehmer der Arbeitsgruppe „Der entwicklungspolitische Auftrag der CDG“ selbstkritisch fest, dass die deutsche „Entwicklungshilfe“ und die CDG-Programme zu einer Zunahme der Ungleichheit in den „Entwicklungsländern“ beigetragen habe, da sich die „Programme zumeist an bereits privilegierte Schichten“ richteten. Das neue – und zugleich alte – Ziel müsse daher die „Massenbildung für die ländlichen Gebiete“ sein.49 Die Idee einer „allgemeinen Volkserziehung“ verschwand in den 1960er Jahren also nicht vollständig, sie führte aber im Untersuchungszeitraum nicht zu relevanten praktischen Durchsetzungsversuchen. Stattdessen begann im letzten Drittel der 1950er Jahre die praktische Erprobung einer anderen zuvor schon diskutierten Lösungsstrategie. Die Projekte wurden konkreter und setzten am einzelnen, vorausgewählten Individuum an. Maßnahmen „der 45 46 47 48 49

Vgl. Kraft, Deutschland-Ostasien, 1960, S. 162, Zitat ebd. Schaafhausen, Entwicklung 1963, S. 10. Ebd., S. 15. Ebd., S. 11. Thesen der Arbeitsgruppe A: „Der entwicklungspolitische Auftrag der CDG“ auf der Jahrestagung der Carl Duisberg Gesellschaft 1974, S. 1, RWWA 352-21-18.

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Ausbildungshilfe im weitesten Sinne und damit der Export deutschen Fleißes, deutscher Disziplin und Ordnungsliebe“ rückten, so eine Studie zur „Entwicklungshilfe“ 1962, in den Vordergrund.50 Aufgabe war es in den Folgejahren, so das Vorstandsmitglied der Phoenix Gummiwerke A. G., Dr. Georg Weber, auf einer Veranstaltung des Übersee-Clubs am 30. Januar 1963, „den Entwicklungsländern zu helfen, den richtigen Menschen an den richtigen Platz zu stellen“.51 4. ERZIEHUNGSHILFE UND KULTURENTFREMDUNG52 Bereits im ersten Drittel der 1950er Jahre, also zu einer Zeit, als gesetzliche Beschränkungen und der innerbetriebliche Kapitalmangel Unternehmen in der Bundesrepublik Direktinvestitionen noch gar nicht ermöglichten, richtete sich der Fokus der Außenhandelskreise auf die Gruppe der ausländischen Fachkräfte.53 Sehr früh beschäftigte sich beispielsweise der Internationale Rat für Jugendselbsthilfe mit diesem Thema. Auf einem seiner Plakate aus dem Jahr 1952 sehen wir zwei Typisierungen, die einen deutlichen Hinweis auf die Vorstellungen über die Fachkräfte enthalten. Links steht ein deutscher Facharbeiter mit hochgekrempelten Ärmeln an einer Maschine, rechts sehen wir einen stilisierten Fremden, dessen Herkunft nicht eindeutig festzustellen ist. Im „westlichen“ Anzug mit Krawatte, dafür aber mit Turban versehen, wird er gerade nicht bei einer Tätigkeit gezeigt.54 Diese exotisierende und orientalistische Darstellung spielt mit einer Fülle an Bedeutungen. Denn offenkundig wird hier gerade nicht Armut ins Szene gesetzt. Der Prototyp des jungen Ausländers, der nach Deutschland käme, um hier zu lernen, ist Teil der herrschenden Elite seinen Landes und steht zwischen den Kulturen, zwischen „Tradition“ und „Moderne“. Er ist Wohlstand, aber nicht Industriearbeit gewöhnt. Auch die erste Goodwill-Mission hatte bereits darüber berichtet, dass es in der bereisten Region nicht nur an ausländischem Kapital, sondern vor allem auch an jenen „Köpfe[n] und Hände[n]“ fehle, die dieses Kapital produktiv werden ließen. Die Zahl derjenigen vor Ort, „die geschäftlich versiert und zuverlässig“ wären, sei viel zu klein. Man werde kaum geeignete Personen für die leitenden Posten finden, 50 51 52

53 54

Danckwortt Psychologie der Deutschen Entwicklungshilfe [1962] 1966, S. 147 f. Georg Weber, zitiert in: Funke, Frage des Einsatzes 1963, S. 1. Der Begriff „Erziehungshilfe“ stammt aus dem Vertraulichen Zwischenbericht über Feststellungen und Ergebnisse von Beratungen des Unterausschusses Nr. 7 des Ausschusses für auswärtige Angelegenheiten zum Problem der Förderungsmaßnahmen in wirtschaftlichen Entwicklungsländern, S. 3, BArch NL 005/000332 fol. 1–41. Von „Erziehungsarbeit“ spricht hingegen: von Pufendorf, Konsequenzen 1962, S. 30. Zur gesetzlichen Regelung der Direktinvestitionen vgl. Berghoff, Moderne Unternehmensgeschichte 22016, S. 143. Die stärkere Berücksichtigung von Arbeit und Arbeitswelten in Globalund Globalisierungsgeschichten fordert: Petersson, Globalisierung und Arbeit 2014, S. 261. Die Abbildung korrespondiert damit mit dem sehr allgemeinen Wissen über „Übersee“ und die dortige Bevölkerung. Sie zeigt aber zugleich, dass als Ansprechpartner diejenigen Gruppen gesehen wurden, die scheinbar zwischen ihrer eigenen und der „westlichen“ Kultur zu stehen schienen.

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VIII. Entwicklungskonzepte für Übersee

Abb. 9: Werbebroschüre des Internationalen Rats für Jugendselbsthilfe, o. O., o. J. [ca. 1952], S. 1 und S. 8, RWWA 352-14-18.55

doch ohne diese seien die ambitionierten Industrialisierungspläne kaum zu realisieren.56 Die Ansicht, dass nicht der Mangel an Investitionskapital, sondern „der Mangel an Fachleuten, an Ingenieuren und Landwirtschaftsberatern das Knappheitsprodukt Nr. 1“ sei, teilten auch Clodwig Kapferer und Fritz Baade.57 Baade forderte beispielsweise, dass die „Hilfe, die die alten Industrieländer den Entwicklungsländern zuteil werden lassen, (…) fast ebenso sehr auf geistigem wie auf materiellem Gebiet liegen“ müsse. Angesichts der Erfolge der Sowjetunion und der DDR in der „Entwicklungspolitik“ sei es „eine Lebensfrage für die Länder der westlichen Welt, daß sie endlich darangehen, ihre allzu sehr vernachlässigten geistigen Investitionen in ein angemessenes Verhältnis zu ihren materiellen Investitionen und zu den Möglichkeiten zu bringen, welche die wirtschaftliche Expansion ihnen bietet.“58 Clodwig Kapferer hatte bereits kurz zuvor betont, dass nun insbesondere die deutsche 55

56 57 58

Zu sehen ist eine Graphik aus einer Werbebroschüre des Internationalen Rats für Jugendselbsthilfe, der 1949 in Stuttgart gegründet wurde. Er unterhielt zudem ein Büro in Frankfurt am Main. Geschäftsführer in den Anfangsjahren war Johannes W. Funke, der auch ansonsten in Nachwuchsbildungsgremien wichtige Positionen übernahm. Der Internationale Rat für Jugendselbsthilfe war vor allem an dem Austausch mit den USA interessiert. Zur Geschichte der Institution vgl. das Manuskript Johannes W. Funke, Die Entwicklung der Carl Duisberg Gesellschaft, Juli 1965, S. 4 f., RWWA 352-15-5. Vgl. OAV, Indonesien 1952, Zitate S. 15 und S. 23. Dass diese Analyse eine Vorgeschichte hat, bei der sich Männlichkeitskonstruktionen und Fortschrittsvorstellungen eng mit einander verbanden, zeigt Paulitz, Mann und Maschine 2012, insbesondere S. 187–220. Zitate aus: Baade, Interesse 1956, S. 13 f.

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Privatwirtschaft die Chancen ergreifen solle, die in einer potentiellen Absatzausweitung durch eine professionalisierte Fachkräfteausbildung lägen. Kurz und knapp hielt er fest: Der „Student aus dem unterentwickelten Land von heute wird der Ingenieur und damit der Auftraggeber von morgen sein“.59 Ähnliches war zeitgleich aus den großen Industrieverbänden zu vernehmen. So stellte der BDI 1956 fest, dass der „Mangel an Fachkräften aller Art“, der sich „auf alle Bereiche und auf alle Betriebe“ erstrecke, die „Kernfrage“ des „Entwicklungsgeschäfts“ sei. Er beträfe „die mittleren Ränge und Facharbeiter“ genauso wie „qualifiziertes Top Management“. Vor allem aber würden kaum Ingenieure „praxistauglich“ ausgebildet. Dieser Umstand wurde deswegen als so problematisch wahrgenommen, weil industrielle Produktionsabläufe besondere Anforderungen an das Personal stellten. Gerade im „tropisch feuchtheißen Klima“, so der BDI, müssten „Qualitätsbewußtsein und Werkstattpflege“ besonders ausgeprägt sein. Somit seien in der gesamten Region „Ostasien“ die „personalpolitische[n] Anforderungen“ hoch.60 Zwar schien der Goodwill-Kommission von 1959 die Notwendigkeit der industriellen Nachwuchsförderung in „Lateinamerika“ nicht ganz so dringlich zu sein wie in anderen Wirtschaftsgroßräumen. Doch auch sie betonte, dass es „vor allem an Vorarbeitern und Meistern“ fehle. Diejenigen deutschen Industriebetriebe, die vor Ort bereits aktiv seien, hätten zwar bereits „beachtliche Leistungen zur Überbrückung dieses Notstandes erzielt“, nichtsdestotrotz bleibe noch vieles zu tun. So seien etwa die in Deutschland bereits ausgebildeten Fachleute in ihrem Heimatland als Anleiter einzusetzen.61 Dass die Fachkräfteausbildung im Bericht zu „Lateinamerika“ Ende der 1950er Jahre nur noch von untergeordneter Bedeutung war, zeigt allerdings keine allgemeine Trendwende an. In den 1960er Jahren nahmen die diesbezüglichen Klagen nämlich eher noch zu. Das lag zum einen daran, dass die Direktinvestitionen anstiegen und damit auch der Bedarf an Fachkräften im Ausland. Zum anderen war dafür aber auch die Aufmerksamkeitskonjunktur für „Afrika“ verantwortlich. Die Klagen betrafen weiterhin die gesamten „überseeischen“ Gebiete, doch waren diejenigen mit Bezug auf „Afrika“ besonders deutlich zu vernehmen. Markus Timmler forderte beispielsweise in seinem Vortrag über die „Lehren und Aufgaben des Afrika-Jahres 1960“ vor dem Übersee-Club, dass die deutsche Industrie mehr Stipendien für „afrikanische“ Studenten bereitstellen und die Ausbildungskosten für „afrikanische“ Praktikanten übernehmen müsse. Das koste zwar Geld und verlange „auch manchen Verzicht unmittelbar im Betrieb“, da die Betreuer der Praktikanten für diese Aufgabe freigestellt werden müssten und damit „nicht unmittelbar produktiv“ sein könnten. Dieses Geld sei aber gut angelegt, weil man damit zukünftig Geschäfte machen und zugleich der Bevölkerung helfen könne.62 Stellvertretend für viele andere stellte auch der Ingenieur Walter 1963 bei einem Gespräch mit Ministerialdirigent Jaentsch vom Bundeswirtschaftsministerium fest, dass in „Afrika“ „geeignete Fachkräfte aus den eigenen Reihen noch nicht vorhanden waren“. Auch in absehbarer Zeit werde sich, so die Annahme, 59 60 61 62

Kapferer, Bedeutung [1955], S. 8. BDI, Ostasien 1956, S. 13 und S. 14. Vgl. BDI, Lateinamerika 1960, S. 25. Vgl. Timmler, Lehren und Aufgaben 1961, S. 9, Zitat ebd.

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an diesem Zustand nichts ändern, „da die Schaffung einer geistigen Elite nicht eine Angelegenheit von wenigen Jahren ist. Es muß daher nicht nur von den afrikanischen Staaten, sondern auch von Europa alles unternommen werden, um den afrikanischen Staaten bei der Schaffung einer eigenen technischen Elite behilflich zu sein.“63 Sowohl in den 1950er als auch in den 1960er Jahren war der Mangel an Fachkräften ein Haupttopos, wenn es um die „Entwicklungsprobleme“ in „Übersee“ ging. Als Problem wurde dabei meist die geringe Arbeitsproduktivität angesehen. Diese galt als von Kulturraum zu Kulturraum unterschiedlich: In „Lateinamerika“ und „Ostasien“ war sie höher als im „Nahen und Mittleren Osten“ und in „Afrika“. Allerdings schien sie überall weit unter der deutschen oder europäischen Arbeitsproduktivität zu liegen. A. Brands von der Ruhrstahl AG betonte daher, dass man sich nicht von den niedrigen Lohnkosten täuschen lassen dürfe. Für das Jahr 1957 sei beispielsweise in „Afrika [ein] Verhältnis von 7 bis 10 Einheimischen gegenüber der Leistung eines Europäers an[zu]setzen“.64 Auch Walter Scheel, damals Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit, sah die „Verbesserung der Produktivität“ 1965 als wichtigste Voraussetzung für die Verbesserung der materiellen Lebenslagen an und bemerkte, dass dafür die „Leistungsfähigkeit und der Leistungswille der Menschen und die Zweckmäßigkeit ihrer gesellschaftlichen Organisation“ entscheidend seien.65 Am liebsten hätten deutsche Unternehmer deutsche Fachkräfte nach „Übersee“ entsandt. Doch durch die ansetzende Hochkonjunktur war es für diese, so sah es zumindest der BDI 1956, nicht sehr interessant, mehrere Jahre in ein meist „tropisches Land“ zu gehen. Es sei ein erhebliches Problem, dass das „Wachstumsgeschäft“ in einer Zeit locke, „in der auch die alten Industrieländer voll angespannt arbeiten“. Mittlerweile lägen auch in „Europa [und] Amerika (…) gute und charakterfeste Fachleute nicht auf der Straße“.66 Die Strategie, ausländische Fachkräfte auszubilden, war, vor dem Hintergrund des eigenen Kapital- und Personalmangels, einerseits aus der Not heraus geboren, andererseits schien es unter den gegebenen Bedingungen auch der richtige Weg zu sein, langfristig profitable Kontakte anzubahnen. Es war dabei von großem Vorteil, dass diejenigen, die Kontakte nach „Übersee“ unterhielten, immer wieder darauf verweisen konnten, dass dort ein Interesse an Schulungen von Technikern und Vorarbeitern in Deutschland bestehe. Schon auf den Goodwill-Reisen sicherten die Delegationsteilnehmer den Repräsentanten der besuchten Staaten bereitwillig zu, dass man ihrem Interesse an der Ausbildung von Fachkräften gerne nachkomme, „sei es in Deutschland, sei es durch Schaffung von Lehrwerkstaetten im Lande“.67 Auch die Deutsch-Ägyptische Handelskammer be63 64 65 66 67

Interne Aktennotiz über ein Gespräch von Dr.-Ing. Walter (Ingenieurberatung) beim Bundeswirtschaftsministerium am 14.3.1963 auf Veranlassung von Herrn Ministerialdirigent Jaentsch, S. 4, BArch B 102/65988. Brands, Wirtschaftskommission 1957, S. 6, BArch B 116/21459. Walter Scheel, zitiert nach: Sproho, Arbeits- und Lebensverhältnisse 1967, S. 52. BDI Ostasien 1956, S. 9 f. und S. 15. So beispielsweise in Bezug auf Ghana und Nigeria: Hansen, Studien-Kommission 1957, S. 10, BArch B 116/21459.

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tonte in einem Memorandum vom März 1955 den „arabischen Wunsch“ nach einer Facharbeiterausbildung durch Deutsche: „Wenn es auch unmöglich erscheint, heute gegenüber der mit Dollars geführten Propaganda der verschiedenen USA- und UNO-Organisationen auf wirtschaftlichem und kulturellem Gebiet zu konkurrieren, so ist für uns Deutsche die Grundeinstellung der arabischen Völker, die immer noch dieselbe geblieben ist wie vor dem Kriege, ein wertvolles Kapital: der deutsche Facharbeiter, der deutsche Wissenschaftler und die deutsche Qualitätsarbeit, die nach wie vor in den Orientländern den besten Ruf genießen.“68

Clodwig Kapferer verwies 1955 ebenfalls darauf, dass eine „Ausbildung der jungen Techniker und Ingenieurstudenten“ mit einer „nicht zu unterschätzende[n], unaufdringliche[n] Werbung für die eigenen Erzeugnisse“ verknüpft wäre.69 Und auch die Teilnehmer der Goodwill-Mission von 1956 betonten, dass „Ingenieure, Facharbeiter und Organisatoren (…) Botschafter eigener Art“ mit hohem Prestige seien. Ein besonderer Fokus lag auf der Ausbildung von Ingenieuren. An dieser Schwerpunktsetzung hatte der BDI erheblichen Anteil, da nach der Meinung seiner wichtigsten Gremien im Welthandel künftig das Motto gelten werde: „Der Handel folgt dem Ingenieur“.70 Die Strategie stand damit fest. Ein Konsens darüber, wie Grundlagen- und Fachwissen entsprechend den geistigen Fähigkeiten der Menschen vor Ort zu vermitteln sei, war indes noch zu finden. Clodwig Kapferer empfahl beispielsweise 1955 eine intensivere Vortrags- und Ausstellungstätigkeit, die Einrichtung von Informationszentralen, die Beeinflussung der einheimischen Medien und den Austausch von Lehrern und Schülern der Fach- und Hochschulen. Er forderte aber auch mehr „Ferienund Freiplätze“ für die Ausbildung von Fachkräften aus anderen Ländern in deutschen Industriebetrieben.71 In Kapferers Beitrag werden bereits die zentralen zwei Varianten der Fachkräfteausbildung sichtbar: die Errichtung von Schulungszentren in „Übersee“ oder längere Praktika in deutschen Industriebetrieben. In der Bundesrepublik setzte sich vor allem die Carl Duisberg Gesellschaft (CDG) mit diesen beiden Optionen auseinander.72 Sie war die zentrale Koordinationsstelle für jene Großunternehmer und mittelständischen Betriebsleiter, die sich mit der Frage befassten, wie man zum eigenen Nutzen und zum Nutzen der „entwicklungsfähigen“ Gebiete tätig werden konnte. Fokussiert man die aus dem zeitgenössischen Entwicklungsdenken geronnenen kollektiven Praktiken im ökonomischen Feld, dann ist die Bedeutung der Praktikantenprogramme der CDG kaum zu überschätzen. Für die Vertreter der CDG war eine Ausbildung im „Mutterland“ mit 68 69 70 71

72

Memorandum der Deutsch-Ägyptischen Handelskammer vom 31.3.1955, o. S., BArch B 145/3360. Kapferer, Bedeutung [1955], S. 9. BDI, Ostasien 1956, S. 9. Vgl. Kapferer, Bedeutung [1955], S. 8. Corinna R. Unger hat darauf verwiesen, dass man diese Art der „Entwicklungshilfe“ nicht als „Selbstzweck oder gar als philanthropisches Unternehmen“ deuten sollte. Sie waren Hilfsmaßnahmen für die deutsche Exportindustrie. Vgl. Unger, Export und Entwicklung 2012, S. 75. Der Vorgänger der CDG war 1949 gemeinsam vom Bund, von den Bundesländern und der deutschen Industrie gegründet worden. Vgl. Schmidt, German Foreign Assistance Policy 2008, S. 120.

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vielen Vorteilen verbunden. So war 1963 auf einer gemeinsamen Veranstaltung von HWWA und Übersee-Club vom Leiter der CDG, Johannes W. Funke73, zu vernehmen, dass die Ausbildung in der Heimat zu geringeren Kosten möglich sei, dass der Bau von Ausbildungsstätten vor Ort dem Wunsch der einheimischen Eliten nach Prestigeprojekten entgegenkäme und nur geringe Anpassungsschwierigkeiten zu erwarten seien.74 Zudem, so Funke in einem weiteren Vortrag 1964, gäbe es keine Schwierigkeiten beim „Wiedereinleben“ und keine Trennung von der eigenen Familie.75 Diese Argumente wurden häufig vorgebracht und es kam folgerichtig auch zur Errichtung und Unterstützung solcher Ausbildungszentren in anderen Ländern.76 Dennoch überwogen die Vorteile der Schulung in Deutschland. 1961 befanden sich in den von der Bundesrepublik Deutschland in den „Entwicklungsländern“ neu errichteten Gewerbeschulen etwa 3500 junge Nachwuchskräfte in Ausbildung, als Praktikanten in der Bundesrepublik aber bereits rund 6000.77 Woraus speiste sich die Überzeugungskraft der kostspieligeren Option? Zum einen aus der Idee, dass „das unternehmerische Denken nur durch das unmittelbare Erlebnis in einem Industrieland vermittelt werden kann“.78 Zum anderen konnten nur so die jungen Fachkräfte für längere Zeit aus ihren angestammten sozialen Verhältnissen herausgeholt werden. Und das war notwendig, wollte man sie ihrer als leistungsfeindlich etikettierten „Mentalität“ entfremden. Die CDG hob folglich hervor, dass in der Bundesrepublik stattfindende langfristige Programme von ein bis zwei Jahren Dauer den Vorzug verdienen.79 Erst dadurch werde es Praktikanten ermöglicht, 73 74 75 76

77

78 79

Johannes W. Funke, Dipl. Ing., Geschäftsführer des Internationalen Rates für Jugendselbsthilfe e. V., später Leiter der CDG. Vgl. Funke, Frage des Einsatzes 1963, S. 4. Gemeint waren damit klimatische und ernährungstechnische Anpassungsschwierigkeiten. Vgl. Funke, Hier und dort 1965, S. 1 f., RWWA 352-18-23. Berichte über diese halten vor allem die „Übersee-Rundschau“ und der „ORIENT“ bereit. Die Schulgründungen wurden oft auch durch internationale Konkurrenzsituationen begünstigt. Die deutschen Stellen, insbesondere die für die Finanzierung zuständigen, reagierten auf die Gründung von Schulwerkstätten anderer „Industriestaaten“. Am Beispiel Indiens: Unger, Export und Entwicklung 2012, S. 74. Vgl. Dr. Krug, zitiert in: Deutsche Stiftung für Entwicklungsländer, Probleme der Ausbildung und Betreuung 1962, S. 3. Die Tagung richtete sich an Betriebsleiter, Prokuristen, Personalchefs, Ausbildungsleiter und Betriebspsychologen, die für die Praktikantenausbildung in den Unternehmen verantwortlich waren. Dr. Krug war geschäftsführendes Vorstandsmitglied der CDG. Die Zahlen beziehen sich auf ein Jahr. 1960 befanden sich nach Schätzungen der Zentralstelle für Arbeitsvermittlung zwischen 7000 und 8000 ausländische Praktikanten in der Bundesrepublik, wovon etwa die Hälfte aus den „Entwicklungsländern“ kam. Bei dieser Angabe ist allerdings unklar, was alles unter „Entwicklungsländer“ gezählt wurde. Vgl. Breitenbach/ Danckwortt, Ausbildung und Anpassung [1960] 1966, S. 180. Funke, Frage des Einsatzes 1963, S. 3. Vgl. CDG, Zehn Jahre 21960, S. 14. Noch 1972 wurde auf einer Beiratssitzung der CDG betont, dass mit zunehmender Dauer des Aufenthalts außerhalb der eigenen Kultur die „Wahrscheinlichkeit sozialer Wandlungsprozesse in dieser Kultur“ steige. Oswald, Tradition und Wandel 1972, S. 5, RWWA 352-19-18. Die CDC, die Betreiberin der Wohnheime für „Fortbildungsgäste aus Übersee“, hielt noch 1987 fest, dass die „Horizonterweiterung“ im Ausland sich nicht durch „kurzatmige Aktivitäten herbeireden“ ließe. Das Ziel sei das „Eintauchen in die fremde Kultur“. O. A., Jubiläumsheft 25 Jahre CDC, o. O. 1987, S. 4 f., RWWA 352-22-17.

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„die Freiheit kennen zu lernen, den Umgang mit der eigenen Freiheit. Sie sind in Deutschland, damit sie mit sich allein fertig werden, damit sie alleine fremde, ungewohnte, häufig unbequeme Verhältnisse bewältigen. Das soll sie befähigen, für sich einzustehen, und den Lebenskampf so tüchtig und erfolgreich zu bestehen, daß sie als bessere Diener ihres Landes und Volkes zurückkehren.“80

Durch den Dienst in der Bundesrepublik, so die CDG weiter, wüchse der Praktikant „über sein eigenes Volk und seinen eigenen Beruf hinaus“. Er „bekommt Vertrauen und wird mit sich und seiner Kraft bekannt“.81 Johannes W. Funke ging 1964 davon aus, dass nur die Ausbildung in Deutschland die Praktikanten mit „den speziellen Eigenarten der Industriegesellschaft“ vertraut machen könne. Hier würden sie lernen, dass Arbeit nicht „schändet“. Sie könnten sich Arbeitsmoral aneignen, insbesondere die „Hochachtung der Arbeit“, „Arbeitsdisziplin“, „Sauberkeit“, „Unterordnung“ und „Arbeit in der Gruppe“. Sie müssten sich dem Arbeitsrhythmus unterwerfen, Pünktlichkeit einüben und den Unterschied zwischen Arbeit und Freizeit lernen. Sie sollten die Fähigkeiten erlangen, langfristig zu denken, Arbeitsschritte zu planen und „nicht von der Hand in den Mund [zu] leben“.82 Funke fand dafür eingängige Formulierungen, die er in zahlreichen Vorträgen vor Unternehmern wiederholte: „Jede Industrialisierung, jedes Hineinwachsen aus der Steinzeit oder der Bronzezeit in das hochindustrialisierte Zeitalter ist ein Schock, der Weg von ‚Camel to Cadillac‘ vollzieht sich nicht ohne Erschütterung. Daher: Lieber ein gelenkter und kontrollierter Schock bei uns, den wir lenken und beaufsichtigen können, als ein ungelenkter Schock draußen“.83

Funke betonte in diesem Zusammenhang, dass eine Ausbildung in Deutschland für die deutsche Industrie mit vielen Vorteilen verbunden sei. Die Praktikanten würden die deutsche Sprache erlernen, mit deutschen Produktionsnormen und deutschen Maschinen vertraut, sie würden zudem nach ihrer Rückkehr für Deutschland und dessen hochwertige Industriegüter werben und als Exportverbindung fungieren können. Außerdem verfüge die deutsche Industrie mittlerweile über die benötigte Ausbildungskapazität im eigenen Land. Während man in den „Entwicklungsländern“ augenblicklich nur 10.000 bis 20.000 Menschen pro Jahr ausbilden könne, seien es „in der freien Welt“ schätzungsweise zehnmal so viele. Auch habe man genügend Lehrkräfte, während man die Schwierigkeit kenne, „für ein nordafrikanisches Land einen unverheirateten, französischsprechenden Ausbildungsleiter (…) zu finden“. Von Vorteil sei auch, dass man in Deutschland kontinuierlich arbeiten könne, während die „Ausbildungswerkstätten, die wir den jungen Völkern übergeben“, oft wieder „zerfallen“ würden.84 80 81

82 83 84

CDG, Ein Jahr Nachkontaktarbeit 1961, S. 18, RWWA 352-19-9. Ebd., S. 18 und S. 20. Erst Mitte der 1960er Jahre sprach die CDG nicht mehr von „Praktikanten“, sondern von „Fach- und Führungskräften aus Entwicklungsländern“. Dann war das Betriebspraktikum auch nur noch ein Teil der Ausbildung, da bereits bei der Bewerberauswahl darauf geachtet wurde, dass diese bereits ihre Grundausbildung im eigenen Land abgeschlossen hatten und sich „in festen beruflichen Positionen befinden“. Vgl. Funke, Entwicklung der CDG 1965, S. 12, Zitat ebd., RWWA 352-15-5. Funke, Hier und dort 1965, S. 2, RWWA 352-18-23. Ebd., S. 5. Vgl. ebd., S. 4, Zitate ebd.

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VIII. Entwicklungskonzepte für Übersee

Von Anfang an zielten die Praktikantenprogramme nicht nur auf den Aspekt Berufsausbildung. Sie sollten auch nicht nur „schockieren“ und den Praktikanten dadurch für neue Eindrücke öffnen. In ihnen sollte der Praktikant zu einem neuen Menschen erzogen werden. Im Jahr 1960 spitzte einer der Gewinner eines hochdotierten Preisausschreibens der Beratungsstelle für Stahlverwendung zum Thema „Entwicklungshilfe“ seine Vorschläge auf folgenden Gedanken zu: „Erziehungsmethoden [sind] oft wertvoller als große Kapitalanlagen“.85 Im Nachhinein erscheint es daher als geradezu programmatisch, dass Emil Helfferich auf der ersten Goodwill-Mission insistierte, dass „Partnerschaft“ sich mit einem „erzieherische[n] Moment“ verbinden müsse.86 Gemeint war damit meist eine Erziehung zu einem „deutschen“ Arbeitsethos und zu „Werte[n] der abendländischen Kultur“.87 Weil nach dem Scheitern der Bemühungen um eine allgemeine Volkserziehung der Glaube nachließ, die gesamte Kultur könne auf breiter Basis verändert werden, setzte man nun am einzelnen vorausgewählten Individuum an. Auf einer Tagung der nordrhein-westfälischen BKU-Mitglieder im Jahr 1963 wurde die Hoffnung geäußert, den aus dem heimischen Umfeld gerissenen Praktikanten ihre „orientalische Arbeitsauffassung“, die aus der „kontemplative[n] Gesinnung der orientalischen Kulturen“ rühre, abzugewöhnen und sie mit der „faustischen Dynamik und dem sich bisweilen zur Arbeitsbesessenheit steigernden Tätigkeitsdrang des Abendlandes“ vertraut zu machen.88 Die meisten deutschen Industrieunternehmer gingen ab der zweiten Hälfte der 1950er Jahre davon aus, dass das notwendige „erzieherische Moment“ vor allem durch eine Ausbildung in Deutschland gewährleistet werden könne. Unter dem Vorsitz von Dr. Fritz Jacobi, Vorstandsmitglied der Bayer AG, richtete sich die CDG dementsprechend neu aus. Hauptziel der Institution wurde nun die „fachliche, soziale und kulturelle Förderung von Praktikanten aus Entwicklungsländern im Rahmen der Bildungshilfe“.89 Rückblickend hielt J. W. Funke 1965 die Beweggründe hierfür fest: „Es war nicht allein der Wunsch des Bundes, im Zuge der Technischen Hilfe neben der Errichtung von Gewerbeschulen draußen in immer stärkerem Maße Fach- und Führungskräfte aus Afrika, dem Nahen und Fernen Osten und aus Lateinamerika hereinzuholen. Es war vor allem auch der Wunsch der deutschen Wirtschaft, daß man ihr bei den immer schwieriger werdenden Ausbildungs- und Betreuungsmaßnahmen helfen solle. Und letzten Endes war es die politische Überlegung, daß eines Tages die Entscheidung über die Zukunft der Industrieländer in den Entwicklungsländern fallen wird.“90

Die CDG bzw. ihr Vorläufer, hatte bereits 1955 mit ihrem Praktikantenprogramm begonnen.91 Am 17.10.1955 traf eine erste „geschlossene Gruppe von jungen Aus85 86 87 88 89 90 91

Stahl-Revue, November 1960. o. S. Zum Preisschreiben vgl. Langenheder, Einstellung [nach 1961] 1966, S. 149–172. Vgl. OAV, Indonesien 1952, S. 23 f., Zitat S. 24. So die Ergebnisse der Auswertung von Langenheder, Einstellung [nach 1961] 1966, S. 156. Wallraff, Arbeitsethos 1963, S. 3, RWWA 128-12-2. Funke, Entwicklung der CDG 1965, S. 11, RWWA 352-15-5. Ebd. Schon 1952 war die Forderung laut geworden, die Gesellschaft solle sich der in der Bundesrepublik tätigen ausländischen Praktikanten aus den „Entwicklungsländern“ annehmen. Vgl. CDG, Zehn Jahre 21960, S. 5. Hier auch Informationen zur Gründungsphase.

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ländern“, 33 an der Zahl und alle aus dem griechischen Dorf Kalavryta stammend, in Deutschland ein. Sie waren vom BDI vermittelt worden und wurden auf insgesamt 12 „namhafte“ Firmen verteilt.92 Diese ersten Praktikanten führten offenbar zu „grossen Schwierigkeiten“. Erstmalig mussten Fragen des Deutschunterrichts, der Grundausbildung, der Sozialversicherung und der Unterbringung geklärt werden. Als jedoch ein Jahr später eine neue Gruppe, diesmal 88 junge Ägypter, anreiste, funktionierte das Zusammenspiel der verschiedenen beteiligten Stellen – Bund, Arbeitsverwaltung, Industrie, Goethe-Institut und Internationaler Rat – offenbar bereits „wesentlich besser“.93 Diese und spätere Praktikantenprogramme der CDG, so Funke 1964, sollten der „Persönlichkeitsbildung“ dienen und eine „Distanz zum eigenen Land“ ermöglichen. Dies war nicht nur als individuelle Maßnahme gedacht, sondern diente einem höheren Zweck. Da die Praktikanten, so die CDG, mit einem höheren Sozialprestige in ihre Länder zurückkehrten, könnten sie zu „Multiplikator[en]“ werden. Jeder einzelne von ihnen, so Funke, würde bei sich zu Hause der „Mann [sein], der mit den Weißen lebte“, und könne damit als Vorbild agieren.94 Die CDG formulierte die Ziele der Praktikantenprogramme immer wieder eindeutig: Die „jungen Leute aus den Entwicklungsländern“ sollten mit der deutschen Arbeitsdisziplin vertraut gemacht werden, also „Arbeitsmoral, (…) Pünktlichkeit und (…) Verantwortungsbewußtsein unmittelbar“ erleben. Das Erlernen von Sauberkeit, Anpassungsund Unterordnungsbereitschaft, die Pflicht zu regelmäßiger Arbeit und langfristigem Denken sollten ebenfalls vermittelt werden. Praktikanten sollten die eigene Leistungsfähigkeit spüren und Selbstvertrauen gewinnen. Für die zukünftigen Facharbeiter sollte die Auslandserfahrung in einem Industrieland ein wichtiger „Schock, der leistungssteigernd wirkt“ sein.95 Es ging in der Praktikantenausbildung also nicht nur um die Vermittlung von Kenntnissen und Fertigkeiten. Ziel der Ausbildung in Deutschland war vielmehr eine umfassende Erziehung im Dienste der „Persönlichkeitsbildung“ und Charakterformung.96 Die CDG, in deren Förderkreis zahlreiche Vertreter wichtiger Großunternehmen und Interessenverbände saßen, hielt 1961 programmatisch fest: „Der Praktikant, – das ist der Sinn unserer

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Vgl. ebd., S. 23, Zitat ebd. Kurz zuvor hatten zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Griechenland erste Verhandlungen über ein Gastarbeiterabkommen begonnen. Vgl. Knortz, Tauschgeschäfte 2008, S. 92–101. Funke, Entwicklung der CDG 1965, S. 9 und S. 10, RWWA 352-15-5. Die dritte Praktikantengruppe der CDG kam aus Italien. Diese Gruppe war nun auch aufgrund von „Auswahlverfahren nach sprachlichen, gesundheitlichen, handwerklichen, psychologischen und geistigen Gesichtspunkten“ zusammengesetzt. Vgl. Angaben in: CDG, „Ägypter-Ausbildung“ o. J. [1957/58], S. 50 und 42, Zitat S. 42, RWWA 352-14-9. Funke, Hier und dort 1965, S. 2 f., RWWA 352-18-23. Funke, Frage des Einsatzes 1963, S. 3 f. Die Mehrzahl der CDG-Mitarbeiter waren jüngere Erwachsene, die nicht selten eine akademische Ausbildung, etwa der Kulturanthropologie und der Soziologie, absolviert hatten. Eine Studie von 1962 bezeichnet sie als belesen und in Bezug auf die Probleme der Praktikantenausbildung als differenzierter urteilend als andere Gruppen. Vgl. Danckwortt, Psychologie der Deutschen Entwicklungshilfe [1962] 1966, S. 138. Funke, Hier und dort 1965, S. 2, RWWA 352-18-23.

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Entwicklungshilfe –, soll seinem Land helfen“.97 Entsprechend waren die Rollen klar verteilt: „Die Praktikanten, alte und junge, gelernte und ungelernte, Techniker oder nicht, kommen zu uns, um etwas zu werden. Nach diesem Werden verlangt es besonders die Menschen neuer Staaten. Alle kommen sie uns als Nehmende nahe, und sie wissen, daß wir die Gebenden sind. Das bezieht sich auf das Handwerk ihrer Ausbildung, mehr jedoch auf die geistige Anleitung, auf die innere Kräftigung.“98

Das Programm der CDG war insofern besonders einflussreich, als sie nicht ausschließlich Praktikanten aus dem industriellen Sektor betreute. Da Bund und Länder die Kosten für bestimmte Gruppen von Fach- und Führungskräften aus den sich „entwickelnden Ländern“ übernahmen, war die CDG zunehmend für sogenannte „Regierungspraktikanten“ verantwortlich, d. h. Fachschullehrer und Verwaltungsreferenten – insbesondere aus „Afrika“, Indien und „Lateinamerika“. Während im ersten Geschäftsjahr 1956/57 121 und in den Jahren darauf 364, 660 und 952 Regierungspraktikanten betreut wurden, waren es im Jahr 1965 bereits ungefähr 2.000.99 Da 1962 auch mit der EWG-Kommission in Brüssel ein Abkommen über die Betreuung von Praktikanten, Fachschülern, Ingenieuren und Hochschülern aus den assoziierten Staaten geschlossen wurde, erhöhte sich die Zahl der von der CDG betreuten Personen in den 1960er Jahren erheblich.100 Die Ausweitung der Programme hatte für die CDG aber offensichtlich keine großen Auswirkungen auf den verfolgten Ansatz. Auch noch 1972 hieß es in den Thesen zu ihrem Selbstverständnis, dass es ihr nicht nur um die Vermittlung einer formellen fachlichen Bildung gehe, sondern „um außerfachliche ‚kulturelle‘ Lernvorgänge, die zu Änderungen der kulturell determinierten Persönlichkeit, also zu Einstellungs-, Motivations- und Verhaltensveränderungen führen“.101 Die zentrale Organisation der Praktikantenbetreuung in der Bundesrepublik richtete sich daher auch gegen die seit Ende der 1960er Jahre wieder lauter werdenden Rufe nach einem stärkeren Ausbau der Ausbildungsinstitute in den „Entwicklungsländern“ selbst. Stattdessen müssten die Möglichkeit des „unmittelbaren Erlebens der unter-

97 CDG, Ein Jahr Nachkontaktarbeit 1961, S. 20, RWWA 352-19-9. 98 Ebd., S. 17. 99 Die letzte Zahl bezog sich auf die Praktikanten, die sich zum gleichen Zeitpunkt in der Bundesrepublik aufhielten. Vgl. Funke, Entwicklung der CDG 1965, S. 14, RWWA 352-15-5. Zu den ersten Jahren des Programms vgl. auch Jahresbericht der CDG 1965, S. 1, RWWA 352-18-23. Die frühen Zahlen aus: CDG, Zehn Jahre 21960, S. 26. 100 Vgl. Funke, Entwicklung der CDG 1965, S. 14, RWWA 352-15-5. Zur Bedeutung der Abkommen für die CDG vgl. auch CDG, Aus- und Fortbildungsprogramm 1969, RWWA 352-20-18. Ab 1970 führte die CDG auch für das BMZ Fortbildungsprogramme sowohl für Fach- als auch für Führungskräfte aus Entwicklungsländern durch. Zum EWG-Praktikantenprogramm, die dortigen Klagen über die „mäßige Qualität der Praktikanten“ und die in diesem Rahmen unternommenen Studienreisen und „entwicklungspolitischen Seminare“ vgl. Rempe, Crashkurs 2009, Zitat S. 213. 101 Thesen zum Selbstverständnis der CDG 1972, S. 6, RWWA 352-19-18.

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nehmerischen und betrieblichen Praxis in der Bundesrepublik“ und damit das eigentliche Motiv für das Angebot der Auslandsfortbildung erhalten bleiben.102 Wie erlebten die Praktikanten diese Programme? Bedauerlicherweise existieren von ihnen keine ungefilterten Erfahrungsberichte. Die wenigen Aussagen stammen von Wissenschaftlern, vor allem Psychologen, die die Ausbildungsprogramme zum Zweck der Erfolgskontrolle begleiteten.103 Schon für die Gruppe von Ägyptern, die 1956/57 an dem Praktikantenprogramm der CDG teilnahmen, existiert eine dieser wissenschaftlichen Studien. Dieser ist zu entnehmen, dass die Praktikanten aufgrund von Absprachen der Kultur-Abteilung der Deutschen Botschaft in Kairo und des ägyptischen Unterrichtsministeriums ihr zweites Studienjahr am ägyptischen High Technical Institute for Teacher Training in der Bundesrepublik verbrachten. Sie absolvierten in einem Industrieunternehmen ein zehnmonatiges Betriebspraktikum, da das ägyptische Institut nur theoretische Unterrichtsinhalte anbot.104 Der offizielle Bericht zum ersten Jahr der „Ägypter-Ausbildung“ zeigt, dass von Anfang an wichtige deutsche Industrieunternehmen Praktikumsplätze zur Verfügung stellten. Die Praktikanten wurden auf insgesamt 49 Firmen aus der Automobilindustrie, dem Baugewerbe, der Elektro-Industrie und dem Maschinenbau verteilt – u. a. wurden sie bei Daimler-Benz, VW, Krupp, Siemens, Robert Bosch, Brown, Boveri & Cie., der AEG, Krauss-Maffei, Kugelfischer und Miele eingesetzt. Dies schien aus deutscher Sicht für beide Seiten von Nutzen zu sein, da man davon ausging, dass „gerade eine kontinuierliche Ausbildung zukünftiger Gewerbelehrer, die dann wiederum junge Facharbeiter, nicht nur in Ägypten, sondern auch in anderen arabischen Ländern, unterrichten werden, einen nachhaltigen und weitreichenden Kontakt mit der deutschen Industrie und der deutschen Kultur entstehen lässt, ganz besonders auch, weil ausserdem der Plan erwogen wird, deutsche Lehrkräfte an das Institut in Heliopolis zu entsenden, um den Erfolg des praktischen Jahres in Deutschland in den weiteren beiden Studienjahren zu festigen und zu vertiefen.“105

Der Bericht enthält auch indirekt wiedergegebene Aussagen der Praktikanten über die Lebensverhältnisse in Deutschland und diverse Alltagsschwierigkeiten. Der Kontakt mit den deutschen Arbeitskollegen wurde dabei „im Durchschnitt als gut und kameradschaftlich beurteilt“. Als beispielgebend und nachahmenswert hätten die ägyptischen Praktikanten „den Fleiss des deutschen Arbeiters, seine Kameradschaftlichkeit und überhaupt die Zielstrebigkeit und Aufbauleistung der Deutschen“ empfunden. Zudem hätten auch „Volksfeste, Karneval und Kirmes usw. und religiöse Feiern, Advent und Weihnachten, (…) einen nachhaltigen Eindruck hinterlas102 Ebd., S. 8. Die Akten der CDG sind nicht sehr aussagekräftig, wenn es um das Sozialprofil der Praktikanten geht. Um sich dem zu nähern, ist man auf spätere Daten angewiesen. Einigermaßen repräsentativ könnte die Umfrage unter 394 ehemaligen CDG-Stipendiaten aus den Jahren 1977/78 sein. Von ihnen waren fast 90 % männlich. Laut des Berichts handelte es sich vor allem um Personen mit hoher Schulbildung und einer Tätigkeit in einem Unternehmen zwischen 26 und 500 Arbeitskräften. Vgl. CDG, Erfahrungsberichte 1979, S. 65 f. 103 Die Studien sind zusammengefasst in: SSIP/CDG, Ausbildungshilfe 1966 (SSIP = Sozialwissenschaftlicher Studienkreis für Internationale Probleme). Zur Geschichte der Arbeitspsychologie vgl. Gebhardt, Jahrhundert der Psychologie 2002, S. 44–62. 104 Vgl. CDG, „Ägypter-Ausbildung“ o. J. [1957/58], S. 41, RWWA 352-14-9. 105 Ebd.

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sen“. Die Anpassung „an Betriebsbedingungen, an den deutschen Lebensrhythmus, an Kontinuität und Tempo der Arbeitsverrichtung“ erwies sich, so die Wissenschaftler, nach Aussagen der Praktikanten indes als „besonders schwierig“. Hier sei eine Umstellung vonnöten gewesen, und das, obwohl ihnen eine betriebliche Organisation und auch praktische Arbeit schon zuvor nicht fremd gewesen seien. Probleme bereitete insbesondere „die kontinuierliche, nur von kurzfristigen Pausen unterbrochene Arbeitszeit von acht bis neun Stunden“. Aufgrund der klimatischen Umstellung und gänzlich andersartiger Ernährung sei es zudem zu physischen Beschwerden gekommen. Bei einer großen Anzahl habe der betreffende Betriebsarzt einen stark herabgesetzten Blutdruck festgestellt. Dieser sei für „heftige Ermüdungserscheinungen“ ursächlich, habe den Praktikanten aber vor allem „etwas geringschätzigen Spott ihrer deutschen Arbeitskollegen“ eingetragen. Insbesondere seien dabei „Ausdrücke wie Faulheit, Drückebergerei, zweierlei Hände haben“ gefallen. Aufgrund der schwierigen Umstellung sei, so die Verfasser des Berichts, nur äußerst schwer zu unterscheiden gewesen, „wer von den Praktikanten eine Neigung zum Müssiggang zeigte und deshalb berechtigterweise etwas härter angefasst werden musste, was auf Simulieren und was auf echte Beschwerden bei der Anpassung an veränderte Lebensordnung und ungewohnte Betriebsbedingungen zurückzuführen ist“.106 In dem ausführlichen Bericht nahmen die Erfahrungen der ägyptischen Praktikanten mit deutscher Natur und Kultur viel Raum ein. Berichtet wurde über „das kalte Klima, die ungewohnte Ernährungsweise, den reichlichen Alkoholgenuss der Deutschen (‚sie erklären, Wasser sei nur für die Fisch (sic!), Alkohol für die Menschen‘)“. Befremdet habe auch der mangelnde Gemeinschaftssinn. Dies sei eine neue Erfahrung, die mehrheitlich aber nicht abgelehnt, sondern als „andersartige Einstellung der Europäer zum Mitmenschen bewertet wurde“. Überrascht, so die Autoren der Studie, waren die Praktikanten von „Auflösungstendenzen der deutschen Familien, von der stark materialistischen Lebenshaltung und der oberflächlichen Haltung gewisser jugendlicher Kreise, nach ihrer Meinung hervorgerufen durch Schundliteratur und ungünstig beeinflussende amerikanische und französische Filme“. Kritisiert wurde zudem, dass manche Zimmervermieterin den Praktikanten das „unbehagliche Gefühl einer ständigen Überwachung ihres Privatlebens“ vermittelt habe. Darüber hinaus hätten fast alle Praktikanten beklagt, dass die Menschen in Deutschland „nur geringe Kenntnisse von Ägypten und seinen Menschen haben“. Diese seien geprägt „von veralteten Vorstellungen (z. B. barfüssige Fellachen, Krokodile auf den Strassen Kairos, jeder trägt ein Messer bei sich usw.)“. Derartige Vorurteile hätten den spontanen Kontakt zwischen Deutschen und Ägyptern erheblich erschwert. Zudem hätten die Deutschen oftmals „eine Tendenz zur Überheblichkeit gegenüber Angehörigen fremder Völker, Religionen usw.“ gezeigt. Außerdem beschwerten sich die Praktikanten darüber, dass man ihnen vor ihrem Aufenthalt hätte mitteilen müssen, dass für die Einhaltung religiöser Vorschriften keine besonderen Zugeständnisse gemacht würden.107 Zwar muss man, wie auch 106 Die Zitate ebd., S. 21, S. 28 und S. 29. 107 Ebd., S. 13, 18, 20 f. Zugleich wurde aber auch von deutscher Seite gewünscht, die CDG möge den Firmen mitteilen, an welchen Orten Deutschlands „ausser dem ägyptischen Praktikanten

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bei den zuvor zitierten Äußerungen, berücksichtigen, dass diese von deutscher Seite verfasst wurden und somit möglicherweise nicht alle Angaben ungeschönt wiedergegeben wurden. Sie bestätigen um so eindrücklicher den Fokus auf Tugenden und kulturelle Errungenschaften. Für die Evaluation des Praktikumsprogramms wurden nicht nur die Praktikanten, sondern auch die deutschen Firmen befragt. Von den 49 Ausbildungsfirmen machten dabei 41 Aussagen zu Verhalten und Leistungsfähigkeit. Als Beurteilungskategorien hatte der Fragebogen vorgegeben: charakterliche Eignung, Voraussetzungen, Leistung, Disziplin, Konzentration, Anpassung und Kontakt. 14 Firmen zeigten sich davon überzeugt, dass die Ägypter in ihren Leistungen deutschen Praktikanten „ebenbürtig“ gewesen seien; eine Firma fand sie sogar besser. Vier Firmen beurteilten die Leistung der Praktikanten als durchschnittlich, fünf Unternehmen schätzten sie negativ ein. Jeweils ein Betrieb stellte fest, dass „ihre Ausdauer bei der Arbeit zu wünschen übrig liesse“ und dass es Probleme bei der betrieblichen Einordnung gegeben habe. Andere Firmen erklärten, „die Praktikanten wären zu langsam bei der Arbeit und zurückhaltend im Wesen“, sie gäben sich große Mühe, „um gleichwertig zu sein“ oder enthielten sich der Beurteilung mit der Begründung, „da sie Ausländer sind, ist alles individuell verschieden“.108 Insgesamt seien, so das abschließende Urteil, von den 88 Praktikanten „zehn bis fünfzehn ständig durch besondere Probleme so belastet [gewesen], dass das Ausbildungsjahr in Deutschland für sie sicher kein Erfolg war“. Rechne man noch diejenigen hinzu, die durch nicht sachgemäße Vermittlung und unzweckmäßige Beschäftigung den erstrebten Ausbildungseffekt nicht erreicht hätten, so sei von einem Fünftel bis einem Viertel der Praktikanten auszugehen, die mit einem „unzulängliche[n] oder negative[n] Ergebnis“ in ihre Heimat zurückkehrten. Dies hielten die Autoren der Studie aufgrund der erheblichen finanziellen Aufwendungen und der Erwartungen der Praktikanten für „eine kaum tragbare Quote“.109 Die CDG hielt trotzdem an einem positiven Gesamteindruck fest: „Die Praktikanten blickten bei ihrer Abreise mit Freude und Dankbarkeit auf ihren Deutschland-Aufenthalt zurück. Fast keiner, der nicht erwähnte, wieviel Neues er kennen gelernt hätte, wie viele Erlebnisse er als bleibende Erinnerung mit nach Hause nähme; fast keiner, der nicht beteuerte, dass er uns und seine deutschen Freunde nie vergessen würde, dass er seine Dankbarkeit nicht nur durch Worte beweisen, sondern in die Tat umsetzen werde, indem er die Vernoch andere Glaubensbrüder leben und in welchen Städten Moscheen vorhanden sind“. Ebd., S. 22. 108 Ebd., S. 28 f. Geringe Erfolge der erhofften Kulturvermittlung attestierte bei einer anderen Gruppe von Studenten und Praktikanten auch: Pfeffer, Deutschlandaufenthalt 1965, S. 55–58. 109 CDG, „Ägypter-Ausbildung“ o. J. [1957/58], S. 50, RWWA 352-14-9. Im Vergleich war diese Quote allerdings wahrscheinlich eher niedrig. Wilhelm Kulp von der Kampnagel AG in Hamburg berichtete aus der Praxis, „daß die Ausbildung von Ausländern häufig mit sehr vielen Schwierigkeiten verbunden ist. Er habe die Erfahrung gemacht, daß von etwa 160 Praktikanten nur 60 mit Erfolg ausgebildet werden könnten. Die Ausländer hätten häufig eine falsche Auffassung von der Arbeit.“ Wilhelm Kulp zitiert in: Funke, Frage des Einsatzes 1963, S. 19. Ende der 1960er Jahre wurde zudem das Problem der Betriebsspionage durch Praktikanten thematisiert. Vgl. Rundschreiben an die Mitgliedsverbände des BDI vom 28.2.1968, BDI-Archiv AH 16, Karton 406.

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VIII. Entwicklungskonzepte für Übersee bindung zu Deutschland aufrecht erhalten möchte und seiner Familie, seinen Bekannten und späterhin seinen Schülern von Deutschland erzählen werde.“110

Trotz dieser zufriedenen Bewertung formulierte die CDG aufgrund der Erfahrungen mit den ersten Praktikanten konkrete Reformvorschläge und setzte diese in den nächsten Jahren sukzessive um. Ein Auswahlverfahren wurde eingeführt. Denn im Falle der „Ägypter-Ausbildung“ war ja im Grunde ein gesamter Ausbildungsjahrgang übernommen worden, ohne dass zuvor deutsche Akteure auf die Auswahl hätten Einfluss nehmen können.111 Zudem wurden die ein- bis zweimonatigen Sprachkurse im Goethe-Institut verlängert.112 Fortan sollten die Praktikanten nach ihrer Ankunft in der Bundesrepublik erst einmal für drei Monate „einen kombinierten sprach- und handwerklichen Grundlehrgang“ durchlaufen. Hierzu wurden geeignete Einrichtungen „für eine internatsmäßige Unterbringung mit angegliederten Werkstätten für die praktische Einführung“ errichtet.113 In diesen ging es auch darum, die Kandidaten auf deutsche Lebensverhältnisse vorzubereiten. Denn nach der Ankunft in der Bundesrepublik würden „konkrete Informationen in Form einer praktischen Einführung“ benötigt, damit „die Anpassung an das deutsche Alltagsleben, an deutsche Gewohnheiten und Eigenarten reibungsloser und ohne Missverständnisse und Zwischenfälle erfolgen kann“.114 Diese Maßnahmen sollten die Wirkung der Programme erhöhen. Doch woran wurde Erfolg eigentlich gemessen? Die vorangegangenen Zitate beinhalten bereits die Antwort auf diese Frage: Die Praktikantenprogramme galten dann als gelungen, wenn das bundesrepublikanische Modell einer Industriegesellschaft von den Praktikanten – in einer Haltung der Dankbarkeit – als nachahmenswert empfunden wurde und zu erwarten war, dass die „Wesensveränderung“ der Praktikanten nach der Rückkehr in die Heimat weiter Bestand haben würde.115 Da Kulturentfremdung als ein zentraler Erfolgsfaktor für die Vermittlung deutscher „industrieller“ Werte galt, beschäftigte sich die CDG auch mit generellen Fragen der Anpassung an eine fremde Kultur. Dabei griff die mit der Praktikantenausbildung beschäftigte Institution auf neue Experten und darunter insbesondere Soziologen und Psychologen zurück. Deren Studien sollen nun ausführlicher dargestellt werden, da sie typisch für die Neuausrichtung und Verwissenschaftlichung in den 1960er Jahren waren. Zwar wurde schon von den ersten Studien die Frage aufgeworfen, welchen Einfluss die „Auslandsausbildung auf die Einstellung der neuen Führungsschichten in Afrika und Asien hat“, doch galt das Interesse vorerst vor allem der Frage, wie 110 CDG, „Ägypter-Ausbildung“ o. J. [1957/58], S. 33, RWWA 352-14-9. Zum Topos der Dankbarkeit vgl. Büschel, Akteure 2008, S. 353. 111 Vgl. CDG, „Ägypter-Ausbildung“ o. J. [1957/58], S. 33, RWWA 352-14-9, S. 50. 112 Vgl. ebd., S. 14. 113 Ebd., S. 38. 114 Ebd., S. 23. 115 Auch in Zeitungsartikeln wurde in ähnlicher Weise über die ersten ausländischen Praktikanten berichtet. O. A.: Keine Krokodile in den Straßen Kairos, und O. A.: Marokkaner bewundern und kritisieren Deutschland, in: Schwäbische Landeszeitung vom 23.8.1958, o. S., enthalten in: RWWA 352-20-29.

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sich die Praktikanten während ihres Auslandsaufenthalts veränderten. Dieter Danckwortt ging in einer 1959 erschienen Studie davon aus, dass die Anpassung an eine fremde Kultur in der Aufgabe eigener, der Übernahme fremder und der Schaffung neuer Kulturgüter bestehe. Das einzelne Individuum müsse dabei „Barrieren“, „Hindernisse“ und „Spannungen“ überwinden – es habe „eine Umstrukturierung seines Wahrnehmens und Denkens“ vorzunehmen. Das Ergebnis könne „von der totalen Fehlanpassung und dem Scheitern bis zur völligen Bewältigung der Probleme“ reichen, also zu negativen und positiven Auswirkungen auf die Persönlichkeitsstruktur des Individuums führen. Wenn aber Akkulturation, Dekulturation und Neokulturation ganz unterschiedliche Ausmaße annehmen konnten, was waren dann die entscheidenden Faktoren für eine gelungene Praktikantenausbildung? Zwar ging Danckwortt von einer „Fülle von Wirkfaktoren“ aus, als entscheidend betrachtete er aber die „Persönlichkeitsstruktur des Gastes“.116 Danckwortt war auch an der 1960 erschienenen Studie zu „Probleme[n] der Ausbildung und Anpassung von Praktikanten aus Entwicklungsländern, die in der deutschen Wirtschaft tätig sind“ beteiligt. Zusammen mit Diether Breitenbach hatte er im Jahr zuvor mit einer Langzeitinterviewstudie begonnen. Die Studie wurde vor allem deswegen in Auftrag gegeben, weil die CDG annahm, dass sich die Zahl der Praktikanten in den nächsten Jahren noch weiter erhöhen werde. Zudem schien angesichts der von Betrieben und sogar der Lokalpresse immer wieder benannten Schwierigkeiten eine genaue Ursachenanalyse notwendig zu sein.117 Die CDG erteilte daher dem Psychologischen Institut der Universität Hamburg unter Leitung von Prof. Dr. Curt Bondy den Auftrag für eine Verlaufsstudie zur sozio-kulturellen Anpassung. Interviewt wurden 20 männliche Praktikanten u. a. aus Ägypten, Indien, Pakistan und „einigen westafrikanischen Ländern“. Sie waren zu Beginn der Untersuchung durchschnittlich bereits seit sechs Monaten in der Bundesrepublik.118 Anfänglich gingen die Bearbeiter davon aus, dass die Ursachen für Anpassungsschwierigkeiten vor allem in der sozialen Umwelt der Praktikanten in Deutschland zu suchen seien, doch die Untersuchung kam zu dem Ergebnis, dass „Art und Ausmaß der Anpassungsschwierigkeiten vor allem von den individuellen Anpassungsdispositionen der Praktikanten selbst bestimmt werden“.119

116 Danckwortt, Probleme der Anpassung [1959] 1966, S. 43, S. 45 und S. 47. Dieter Danckwortt (1925–2006) war u. a. Mitbegründer der Deutschen Stiftung für internationale Entwicklung (DSE). 117 Vgl. Breitenbach/Danckwortt, Ausbildung und Anpassung [1960] 1966, S. 180. 118 Vgl. ebd., S. 182, Zitat ebd. Dass sich Psychologen und Psychiater mit Themen der „Entwicklungshilfe“ beschäftigten, war nicht ungewöhnlich. Hubertus Büschel verweist auf die langen Traditionen der psychologischen „Laboratorien der Moderne“ in „Afrika“. Nach 1945 engagierten sich Ethnologen, Wirtschaftswissenschaftler und Psychiater zusammen in der World Federation for Mental Health, um sich mit dem Zusammenhang von „Moderne“ und psychischen Neurosen zu befassen. Die von ihnen thematisierte Erhöhung der psychischen Krankheiten durch den „Entwicklungsprozess“ wurde allerdings in den bundesrepublikanischen Außenhandelskreisen nicht als Problem wahrgenommen. Vgl. Büschel, Primitivismus-Zuschreibung 2005, S. 714 f. 119 Ebd., S. 184.

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Zeitgleich hatte die CDG zusammen mit dem Institut für Selbsthilfe und Sozialforschung Rolf E. Vente die Aufgabe erteilt, einen Überblick über die weltweiten Angebote der Praktikantenausbildung zusammenzustellen und ganz allgemein die „Möglichkeiten und Grenzen“ der Praktikantenausbildung auszuloten. Dabei kam Vente zu dem Schluss, dass „zwar erhebliche Mittel in die Auslandsausbildung von Angehörigen der Entwicklungsländer investiert wurden, andererseits aber die Zielvorstellungen der Programmplaner häufig recht vage und unrealistisch sind“.120 Zugleich gelang es ihm zu zeigen, wie stark die Programme durch ein Festhalten an traditionellen Bildungsvorstellungen geprägt waren und „eine mehr oder weniger untergründige kolonialistische Ausbildungspolitik auch heute noch teilweise den Blick auf die tatsächlichen Ausbildungsbedürfnisse der Entwicklungsländer versperren“. Innovativ war an der Studie von Vente vor allem, dass er zwei Personengruppen voneinander unterschied: die „Change Agents“ und die „Techniker“. Seiner Meinung nach war es nicht sinnvoll, die Aufgabe des „Change Agent“ mit der des „Technikers“ zu vermischen. Denn während ersterer durch seinen Auslandsaufenthalt befähigt werden sollte, „gesellschaftliche und soziale Veränderungen in seinem Heimatland herbeizuführen“, sei der zweite für die „Lösung bestimmter abgrenzbarer ‚technischer Probleme‘“ zuständig. Der „Techniker“ dürfe sich daher weiterhin mit seiner heimatlichen Kultur identifizieren. Der „Neuerer“ hingegen müsse sich an die industrielle Kultur assimilieren. Er dürfe daher „weder intellektuell noch gefühlsmäßig der ‚fertige‘ Mann sein“ und sich „nicht mit der herrschenden Gesellschaftsordnung [seines Heimatlandes] identifizieren“. Dieser Personengruppe könne man in der in der Bundesrepublik die Möglichkeit geben, sich intensiv mit „der Entwicklungsgeschichte und de[n] sozio-kulturellen Voraussetzungen einer Industriegesellschaft“ auseinanderzusetzen und so den „Wechsel von der status- zur leistungsorientierten Gesellschaft“ zu vollziehen.121 Ventes Vorschlag, zwei Typen voneinander zu unterscheiden, setzte sich unter Unternehmern nicht durch. Für sie war es mehrheitlich die gesamte technische und kaufmännische Elite, die als „Gärstoff des Entwicklungsprozesses“ dienen sollte.122 Einflussreich wurden aber die Schlussfolgerungen, die Vente aus der Beschäftigung mit den „Change Agents“ zog. Er lehnte nämlich jegliche Bemühungen ab, die einen möglichst raschen und reibungslosen Anpassungsprozess bei dieser Personengruppe anvisierten. Seiner Ansicht nach waren die Anpassungsschwierig120 Vente, Technische Hilfe [1962] 1966, S. 71. 121 Alle Zitate ebd., S. 72–74 und S. 76. Büschel verweist darauf, dass es nach 1945 „womöglich nur sehr wenige entwicklungspolitische Annahmen, Konzepte und Praktiken gab, die nicht schon im Kolonialismus etabliert waren“. Büschel, Entwicklungspolitik 2010, S. 11. 122 Das Zitat in Bezug auf den „Change Agent“ in: ebd., S. 71. Corinna R. Unger hat darauf verwiesen, dass Bildungsprogramme für Eliten auch in der privaten und staatlichen US-amerikanischen Entwicklungspolitik eine wichtige Rolle gespielt haben. Sie zeigt an den Programmen der Carnegie Corporation, der Rockefeller Foundation und der Ford Foundation, dass dieser Fokus in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre in den USA öffentlich stark kritisiert wurde und daher eine Abkehr von diesem Ansatz einsetzte. Ähnliches ist für die 1970er Jahre in der Bundesrepublik indes nicht zu verzeichnen. Vgl. Unger, Education 2011. Zur Förderung modernisierungstheoretischer Arbeiten durch die US-amerikanischen Stiftungen vgl. Gilman, Mandarins 2003.

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keiten im Ausland notwendig. Der Typ des „Neuerers“ gewinne „gerade aus der intensiven Auseinandersetzung mit dem Gastland seine eigentliche Form“ und könne nur durch die „Überwindung von Anpassungsschwierigkeiten aus eigener Kraft“ seine „Persönlichkeit“ entwickeln. Folglich solle sich die Praktikantenbetreuung einzig auf die Vermittlung von Gesprächspartnern beschränken, die für eine kritische Reflexion zur Verfügung stünden. Die Möglichkeit zur Bewährung sei höher einzustufen als die Unterstützung bei der Bewältigung von Anpassungsschwierigkeiten.123 Die Persönlichkeitsentwicklung, so hatte man mittlerweile an den eigenen Praktikanten festgestellt, war offenbar nicht unumkehrbar.124 Damit der Lernerfolg im angestammten Heimatmilieu nicht gleich wieder verfliege, nahm die CDG 1960 die sogenannte Nachkontaktarbeit auf. Denn Danckwortt hatte 1959 darauf verwiesen, es könne nötig sein, dass der Zurückgekehrte „Ballast abzuwerfen hat, will er wieder von seiner Gruppe aufgenommen werden“.125 Damit war ein neues Thema gesetzt: Denn zuvor war es weder in der deutschsprachigen sozialwissenschaftlichen Forschung noch bei den Gestaltern der Ausbildungsprogramme zu einer eingehenden Beschäftigung mit dem Prozess der Rückanpassung gekommen.126 Mittlerweile wurden jedoch in den Industrieunternehmen vermehrt Klagen darüber laut, dass völlig unklar sei, welchen langfristigen Nutzen die Praktikantenausbildung überhaupt habe.127 Vor diesem Hintergrund hatte die Nachkontaktarbeit zwei Ziele. Erstens sollte sie eine Evaluation ermöglichen und zweitens die Wirkung der Heimkehrer erhöhen. Mit Verweis auf damals gängige US-amerikanische Akkulturationstheorien wurde vermutet, dass nicht nur die Anpassung, sondern auch die Rückanpassung U-förmig verlaufe: „Nach einer gewissen Hochstimmung am Anfang (…) der Rückkehr in das Heimatland kommt das Individuum zu einer schwierigen Phase der Auseinandersetzung, die an den Grundfesten der Einstellungen, Verhaltensweisen und Überzeugungen des Individuums rüttelt. Die Gesamtsituation des Individuums sinkt auf einen individuellen Tiefpunkt ab, von dem aus dann die Bewältigung der Probleme gelingt (oder nicht gelingt).“128 123 Vente, Technische Hilfe [1962] 1966, S. 74 und S. 78. 124 Schon 1947 hatte Kapferer auf die Prägung durch die soziale Umwelt verwiesen: „Mag der Fremde mit mir fühlen, lieben oder hassen wie ich, zurückgekehrt zu seinesgleichen (…) nimmt er doch wieder Züge an, die das Gruppenverhalten seiner Umwelt prägen“. Kapferer, Psyche 1947, S. 123. 125 Danckwortt, Anpassung an eine fremde Kultur [1959] 1966, S. 54. 126 Weitere Aspekte kamen hinzu: Da die ehemaligen Praktikanten Empfehlungen aussprechen und den zukünftigen Praktikanten helfen konnten, ihre „oft unzulänglichen und verworrenen Vorstellungen“ zu klären, versprach die Nachkontaktarbeit, auch die Auswahl und Vorbereitung zukünftiger Praktikanten zu erleichtern. Zudem konnten sich nun die ehemaligen Praktikanten auch in im Ausland angemieteten Räumlichkeiten regelmäßig treffen und ihre Deutschkenntnisse auffrischen. In der Nachkontaktpflege arbeitete die CDG eng mit den deutschen Botschaften und dem Goethe-Institut vor Ort zusammen. Zitat Ebd., S. 19. 127 Beispielsweise senkte Mercedes-Benz Anfang der 1960er Jahre die Anzahl der Praktikantenplätze von jährlich 300–400 auf maximal 250. Vgl. Dipl.-Ing. Fischer (Mercedes-Benz), zitiert in: Deutsche Stiftung für Entwicklungsländer, Probleme der Ausbildung und Betreuung 1962, S. 4. 128 Danckwortt, Anpassung an eine fremde Kultur [1959] 1966, S. 46.

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Von zentraler Bedeutung für den langfristigen Erfolg der Programme sei, so Danckwortt, daher die „Umgebung des Zurückgekehrten“. Diese entscheide darüber, welche „Bestandteile der fremden Kultur, die der Zurückgekehrte mitgebracht hat, akzeptiert werden“. Folglich stelle sich die Frage, ob die soziale Gruppe des Rückkehrers „reif zu Reformen oder in starkem Maße konservativ und reaktionär geprägt ist“.129 Erst Anfang der 1970er Jahre veränderten sich die daraus abgeleiteten Schlussfolgerungen. Zwar wurde immer noch betont, dass der Praktikant Gefahr laufe, „Randpersönlichkeit, Marginal Man, zu werden, der von der Herkunftsgesellschaft nicht mehr akzeptiert wird, (…) weil er sich zu lange und zu intensiv davon entfernt hat“.130 Klaus Dieter Oswald betonte allerdings auf einer Beiratssitzung der CDG, dass der Rückkehrer aufgrund seiner Situation als „Marginal Man“ nicht zwangsläufig „neurotisch“ werden müsse. Schlössen sich die Rückkehrer zu „marginalen Gruppen“ zusammen, könnten sie Ausgangspunkte gesellschaftlicher Innovation werden. Daher müsse „neben technischem know-how, neben kritischer Distanz und neben Stabilisierung der Persönlichkeit“ auch die Vermittlung von „Sozialtechniken zur Bildung marginaler Gruppen“ zur Ausbildung gehören. Diese Sozialtechniken sollten die für den „Entwicklungsprozeß retardierende individuelle Marginalität“ reduzieren und die „innovationsfördernde Gruppenmarginalität zum Regelfall“ machen.131 „Die Ausbildung sollte erreichen, daß nicht bei ersten Schwierigkeiten nach der Rückkehr individuelle Marginalität entsteht, die Chance, als Innovator, Change Agent, Multiplikator zu wirken, vertan oder vermindert wird, sondern daß vom Rückkehrer die Koalitionspartner seiner Zielerreichung definiert werden können, Trägergruppen politischer, ökonomischer und sozialer Entwicklung. Diese Gruppen müssen im schnellen sozialen Wandlungsprozeß immer marginal sein, sie müssen aber echte Bezugsgruppen für den Rückkehrer sein, die ihm Statussicherheit und Identifikationsmöglichkeiten bieten. Diese Gruppen müssen stark genug sein, die Dolmetscherfunktion zwischen exogenem Entwicklungszwang und endogenen Entwicklungshemmnissen zu übernehmen.“132

Zur gleichen Zeit tauchte ein zweiter Gedanke neu auf. Zaghaft öffnete sich beispielsweise 1973 die CDG dem Gedanken eines Erfahrungstransfers zwischen den sogenannten „Gastarbeitern“ im eigenen Land und den „Entwicklungsländern“. Das beschränkte sich aber darauf, die Erfahrungen aus den eigenen Sprach- und Einführungskursen auch für die ausländischen Arbeitnehmer in Deutschland nutzbar zu machen.133 1974, kurz nach dem Anwerbestopp, gewann diese Diskussion an Fahrt. In zahlreichen Thesenpapieren zum Nutzen von Auslandsinvestitionen wurden die beiden Optionen „Gastarbeiter oder Auslandsinvestitionen“ gegeneinander abgewogen.134 Der Sachverständigenausschuss für Auslandsinvestitionen argu129 130 131 132 133 134

Ebd., S. 54 f. Oswald, Tradition und Wandel 1972, S. 8, RWWA 352-19-18. Ebd., S. 13. Ebd. Vgl. Geschäftsbericht der Carl Duisberg-Centren zum Jahr 1973, S. 3, RWWA 352-21-14. Eine beeindruckende Sammlung enthält der Bestand der Internationalen Handelskammer (ICC) im Institut für Zeitgeschichte München ED 708 A II 4/2.4. Die Praxis der „Gastarbeiter-

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mentierte, dass durch Auslandsinvestitionen die hohen Kosten für die Anwerbung, Ausbildung und Unterbringung von „Gastarbeitern“ entfallen würden.135 Der Sachverständigenrat nahm zudem an, dass der höhere Krankenstand und die hohe Unfallhäufigkeit der Gruppe der „Gastarbeiter“ zurückgingen, wenn die Arbeiter in ihren Heimatländern die gleiche Arbeit verrichteten.136 Und auch die Abteilung Volkswirtschaft der Mannesmann AG ging davon aus, dass die erwartete Aufwertung der D-Mark und die „Grenzen der Aufnahmefähigkeit der deutschen Gesellschaft“ dazu führen würden, dass es zukünftig günstiger wäre, „die Maschinen zu den Menschen zu bringen und nicht umgekehrt“.137 In den 1950er und 1960er Jahren wurde in den bundesrepublikanischen Außenhandelskreisen nicht darüber diskutiert, ob man die „Gastarbeiter“ nicht für das deutsche going oversea einspannen könne. In keinem der durchgesehenen Archivbestände gibt es einen Hinweis darauf, dass von bundesrepublikanischen Unternehmern überlegt wurde, ob die im eigenen Unternehmen beschäftigten ausländischen Arbeiter zu Fachkräften für „Übersee“ ausgebildet werden könnten.138 Dies lag vor allem daran, dass die „Gastarbeiter“ in der Bundesrepublik vor allem angelernte Tätigkeiten übernahmen, d. h. nur sehr selten und sehr spät Facharbeiterpositionen besetzten. Zudem stammten sie mehrheitlich aus den sogenannten „europäischen Entwicklungsländern“, nicht aus „Übersee“. Erst ab Anfang der 1970er Jahre ließ sich aus der Fachkräfteausbildung für die „Entwicklungsländer“ Nutzen für die Weiterbildung der „Gastarbeiter“ ziehen. Umgekehrt schienen die Erfahrungen der Unternehmer mit den „Gastarbeitern“ nicht hilf- und aufschlussreich für die Lösung des Fach- und Führungskräfteproblems in den „Entwicklungsländern“ zu sein.

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anwerbung“ war zu diesem Zeitpunkt schon beendet worden. Vgl. Herbert, Ausländerpolitik 2001, S. 223–229. Vgl. Thesenpapier des Sachverständigenausschusses für Auslandsinvestitionen: „Gastarbeiter oder Auslandsinvestitionen“ 1974, S. 1, Institut für Zeitgeschichte München ED 708 A II 4/2.4. Dabei wurde angenommen, dass die Kosten für „Gastarbeiter“ viel höher seien als weithin vermutet wurde. Eigentlich seien Gastarbeiter insgesamt teurer als einheimische Arbeiter. Vgl. Stellungnahme der Abteilung Volkswirtschaft der Mannesmann AG Düsseldorf vom 18.2.1974 zum Thesenpapier des Sachverständigenausschusses für Auslandsinvestitionen: „Gastarbeiter oder Auslandsinvestitionen“, S. 4, Institut für Zeitgeschichte München ED 708 A II 4/2.4. Thesenpapier des Sachverständigenausschusses für Auslandsinvestitionen: „Gastarbeiter oder Auslandsinvestitionen“, 1974, S. 2, Institut für Zeitgeschichte München ED 708 A II 4/2.4. Stellungnahme der Abteilung Volkswirtschaft der Mannesmann AG Düsseldorf vom 18.2.1974 zum Thesenpapier des Sachverständigenausschusses für Auslandsinvestitionen: „Gastarbeiter oder Auslandsinvestitionen“, S. 7 und S. 8, Institut für Zeitgeschichte München ED 708 AII 4/2.4. 1966 erschien ein vierseitiger Artikel in der Zeitschrift ORIENT über „Türkische Arbeiter in Deutschland“. Auch hier wird eine solche Möglichkeit nicht erwähnt. Vgl. Habermeier, Türkische Arbeiter 1966.

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5. PIONIERGEIST UND STARKE HAND Wie gezeigt werden konnte, war die Ansicht, dass die „Überseeregionen“ die „Entwicklung“ nicht „aus eigener Kraft“ schaffen könnten, in den bundesrepublikanischen Außenhandelskreisen weit verbreitet.139 Schon auf den ersten Goodwill-Missionen war in der ersten Hälfte der 1950er Jahre zu hören, man bräuchte hierfür deutsche Kräfte, „Persönlichkeiten (…), die Land und Leute aus jahrelanger Erfahrung kennen“ und die mit den Einheimischen umgehen könnten. Nur wenige Persönlichkeiten in Deutschland seien in der Lage, die „ihnen sympathischen und für die Gemeinschaftsarbeit geeigneten (…) Mitarbeiter“ auszuwählen und diese „praktisch kaufmännisch zu schulen“.140 Abschließend, so der Bericht von 1952, sei „nur dort eine volle Gewähr für die Beherzigung der deutschen Einfuhrinteressen gegeben (…), wo Deutsche an Ort und Stelle in direktem Kontakt mit den Abnehmern stehen und die Marktbeobachtung sowie die Information der heimischen Firmen und Werke bis ins einzelne durchführen“.141 Das war noch in der Tradition der alten Überseeniederlassungen geschrieben.142 Doch auch noch 1961 zeigte sich beispielsweise Herbert Pavel, Inhaber des Rheinnadel-Konzerns, von der schnellen und aus „eigener Kraft“ bewerkstelligten „Entwicklung“ in Hongkong beeindruckt, ging aber zugleich nicht davon aus, dass die Länder „Ostasiens“ und „Südamerikas“ – geschweige denn jene „Afrikas“ – Ähnliches vollbringen würden. Die dortigen Länder bräuchten für einen solchen Prozess Hilfe, „so daß schließlich eine industrielle Erziehung und Durchblutung einsetzt, die zu einer Industrialisierung dieser Länder in unserem Sinne führen mag“.143 In der Regel misstrauten die bundesrepublikanischen Außenhandelskreise den einheimischen politischen Eliten. Die Führung bei „Industrialisierung“ und „Entwicklung“ der „überseeischen“ Staaten sollten aus ihrer Sicht private Unternehmer übernehmen. Clodwig Kapferer hatte schon 1947 darauf verwiesen, dass die schöpferischen Leistungen von willensstarken und phantasiebegabten Unternehmerpersönlichkeiten zentral für eine dynamische Wirtschaft seien. Wo es die Kräfte nicht gebe, nehme „die Wirtschaft statische Formen an, bei denen Tradition und Verwaltung das wirtschaftliche Prinzip bilden.144 Bei den Diskussionen über die politische Rolle der Privatwirtschaft in „Übersee“ zeigte sich aber, dass Privatunternehmer, wie sie die Deutschen im Sinn hatten, vor Ort meist gar nicht existierten. Ein paar Jahre später ging Clodwig Kapferer davon aus, dass der „Zwang zur vorausschauenden Planung“ und „das unerlässliche kaufmännische Denken“ in den „entwicklungsfähigen Ländern“ erst noch zu vermitteln seien, und war beileibe nicht 139 Etwa explizit bei Hautmann, Grundlagen und Ziele 1962, S. 21. 140 OAV, Indonesien 1952, S. 23. 141 Ebd., S. 24. 142 Zum Arbeitsalltag der Überseekaufleute im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts vgl. Hoffmann, Auswandern 2009. 143 Die „meist zu hektische Industrialisierung“ sei dort geprägt von „Stockungen und Stauungen“. Pavel, Überwindung 1961, S. 99 und S. 100. Ein überschwängliches Lob der Kultur- und Zivilisationsleistung deutscher Überseekaufleute zur gleichen Zeit bei Schramm, Überseekaufleute 1962. 144 Kapferer, Psyche 1947, S. 166.

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der einzige, der die Gruppe der einheimischen Unternehmer als durch einen „Mangel an Initiative und Risikobereitschaft“ geprägt beschrieb.145 Ähnlich argumentierte etwa der Goodwill-Reisebericht aus dem Jahre 1956: Es fehle in den bereisten Ländern an „industrieller Tradition und echt industrieller Führungsschicht“. Vor Ort vorgefunden habe man nur eine „kurzfristig denkende Händlerschicht (…), die häufig den schnellen Verdienst in den Vordergrund stellte, ihr Kapital kurzfristig zu hohen Zinssätzen verlieh und keine Neigung zeigte, langfristig im industriellen Aufbau zu investieren“. Der einheimische Unternehmer zeichne sich durch eine ausschließlich auf „schnellen Handelsgewinn bedachte Mentalität“ aus. Diese sei durch eine „industrielle Denkweise“ zu ersetzen, der „Typ des westlichen Industrieunternehmers“ erst noch zu schaffen. Zwar bestünden je nach Region graduelle Unterschiede, doch sei überall „eine vielseitige Mitarbeit [deutscher Kräfte] in technischer, geistiger und kaufmännischer Hinsicht“ unerlässlich.146 Auch Heinz Hansen betonte 1960 in einer Diskussion im Übersee-Club, dass in den Ländern „im Übergang (…) durchweg noch viel zu wenig ausgebildete Leute für den Aufbau einer differenzierten Privatwirtschaft zur Verfügung“ stünden.147 1961 hob Hans Bobek in zwei Heften der Zeitschrift ORIENT hervor: „Was in der Regel fehlt, ist nicht so sehr das technische Wissen um und das Verständnis für die Produktionsvorgänge – hierfür können gegebenenfalls ausländische Fachleute herangezogen werden –, sondern die Einsicht in das Wesen der industriellen Unternehmung sowohl in ihrer produktionsmäßigen wie kaufmännischen Besonderheit.“ Das „rentenkapitalistische Denken“ und der ihm entsprechende „Wirtschaftsgeist“ müsse den neuen Anforderungen angepasst und der „Rentenkapitalismus allmählich in einen gesunden Produktionskapitalismus umgewandelt“ werden. Das zeige schon der Blick auf die eigene Industrialisierungsgeschichte. Denn Spekulation, ein überwiegend schnell abzuwickelndes Handelsgeschäft mit hohen Gewinnen, die Geldverleihung zu Wucherzinsen, Korruption und Kapitalflucht habe es auch in Europa vor 100 Jahren noch gegeben. Diese Formen des Wirtschaftens seien Auswirkungen einer frühkapitalistischen Denkweise, die den Anforderungen der modernen Weltwirtschaft nicht mehr genüge.148 Im gleichen Jahr machte A. Jelonek im ersten Heft der neuen Schriftenreihe zum Handbuch der Entwicklungshilfe die 145 Kapferer, Bedeutung [1955], S. 3. Hierbei sind allerdings regionale Unterschiede zu vermerken. Am meisten vertraute man noch den politischen Eliten in „Iberoamerika“, deutlich weniger denen in „Ostasien“ und „Afrika“. Diese Einschätzung war aber auch nicht unabhängig von der politischen Situation in den einzelnen Staaten. Das Vertrauen konnte durch Verstaatlichungsmaßnahmen sowie durch eine praktische oder rhetorische Hinwendung zum „Ostblock“ schnell in Mitleidenschaft gezogen werden. 146 BDI, Ostasien 1956, S. 13 und S. 18 f. Ähnlich auch Brands, Wirtschaftskommission 1957, S. 6, BArch B 116/21459. 147 Heinz Hansen im Anschluss an den Vortrag von Markus Timmler zu den Lehren und Aufgaben des Afrika-Jahres 1960, Protokoll des 41. Mittwochsgesprächs des Hamburgischen Welt-Wirtschafts-Archivs im Überseeclub am 15.3.1961, S. 11. 148 Vgl. Hans Bobek, zitiert in: Croon, Organische Entwicklungshilfe 1961, S. 212. Zur Vorstellung vom Rentenkapitalismus vgl. Pfeffer, Entwicklungsländer 1967, S. 39–41. Das Buch erschien in der von Andreas Predöhl herausgegebenen Reihe des Deutschen Übersee-Instituts „Probleme der Weltwirtschaft“.

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fehlenden unternehmerischen Antriebskräfte für die ausbleibende „Entwicklung“ verantwortlich. Es fehle den „Entwicklungsländern“ an einer breiten Schicht von unternehmerischen Führungskräften, die sich durch „unermüdliches Bemühen“ stets bereit zeigten, „neue Wege zu erproben und erfolgversprechende Möglichkeiten zu verwirklichen“.149 Der Diplomkaufmann Kurt Hautmann sah 1962 die Suche nach „unternehmerische[r] Initiative“ oder einem „gesunden Handwerker- und Kaufmannsstand“ sogar als vollkommen vergeblich an. Privateigentum sei oftmals nicht weit verbreitet und jene persönlichen Freiheiten, die erst eine „unternehmerisch tätige Schicht (…) ermöglicht[en]“, noch nicht errungen.150 Folglich glaubten die deutschen Industrieunternehmer und die Repräsentanten wichtiger Institutionen des „Übersee-“ und „Entwicklungswissens“ in ihrer Mehrzahl nicht daran, vor Ort geeignete Personen für den „Entwicklungsprozess“ und für leitende Posten in den eigenen Zweigstellen finden zu können. Da man zudem annahm, dass es sehr lange dauern würde, bis sich dies ändere, gingen deutsche Industrieunternehmer bei der Planung ihrer Direktinvestitionen davon aus, auf Führungskräfte aus dem eigenen Unternehmen zurückgreifen zu müssen. In den Augen von deutschen Ökonomen, Wirtschaftsgeografen und Unternehmern schien gerade „der Deutsche“ dafür prädestiniert zu sein, nicht nur in den eigenen Zweigstellen, sondern überhaupt in „Entwicklungsprozessen“ eine Führungsrolle zu übernehmen.151 Er habe, so die gängige Argumentationstrias, die hierfür notwendigen Charaktereigenschaften, sei kolonial nicht vorbelastet und habe seine Eignung bereits während der Auswande-

149 Jelonek, Entwicklungsländer 1961, S. 29 f. 150 Vgl. Hautmann, Grundlagen und Ziele 1962, S. 14. Ab Mitte der 1960er Jahre wurden daher in der Bundesrepublik auch Seminare für Unternehmer aus „Übersee“ angeboten, unter anderem vom Institut für Internationale Studien der Konrad-Adenauer-Stiftung (IIS) in Kooperation mit dem Bund Katholischer Unternehmer. Sie richteten sich vor allem an Unternehmer aus „Lateinamerika“ und reihten sich so in die Bildungs- und Beratungsmaßnahmen von Unternehmerverbänden des Lateinamerikanischen Verbandes des Christlichen Weltverbandes der Unternehmer (UNIAPAC) ein. Zwischen 1965 und 1970 wurden immerhin fünf dieser Seminare veranstaltet, an denen rund 100 Unternehmer und Führungskräfte teilnahmen, die dabei auch ein mehrwöchiges Praktikum in einem deutschen Unternehmen absolvierten. Dabei ging es aber im Grunde um den Export eines Wirtschaftsmodells, weniger um die Vermittlung von Werten und praktischen Arbeitserfahrungen. Mitte der 1970er Jahre plante das IIS daher auch, das Betriebspraktikum zu streichen. KAS und BKU waren der Ansicht, dass „gerade lateinamerikanische Unternehmer noch weitgehend in der frühkapitalistischen Mentalität des ‚homo oeconomicus‘ (Gewinnmaximierung um jeden Preis!) befangen zu sein scheinen und die gesellschaftlichen Dimensionen ihres Wirkens noch nicht genügend erkennen“. Insgesamt wollte man nun den ausländischen Unternehmer davon überzeugen, dass er im Entwicklungsprozess im Rahmen einer freiheitlichen Gesellschaftsordnung nicht nur eine wichtige ökonomische Funktion habe, sondern dass er auch „eine große Verantwortung für den sozialen Fortschritt trägt.“ Vgl. O. A., Deutschland-Seminar für Unternehmer in Lateinamerika [1974/75], S. 1, Zitate ebd., RWWA 128-59-4. 151 Anfänglich kamen auch andere „Europäer“ dafür in Frage. Dieses Thema wurde selten eingehender behandelt, es finden sich gelegentlich aber Hinweise darauf, dass man etwa in „Ostasien“ auf technische und kaufmännische Leiter für die neuen Industriebetriebe vor Ort zurückgreifen konnte, „auch wenn es sich dabei oft um Ausländer und nur selten bereits um einheimische Fachleute des jeweiligen Landes“ handelte. BDI, Ostasien 1956, S. 23.

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rungswellen im 19. Jahrhundert unter Beweis gestellt. „Der Deutsche“ sei seinem Wesen nach der Pionier, den „Übersee“ so dringend benötige. Immer wieder tauchen in diesen Überlegungen nationalkulturelle Stereotype und Vorstellungen vom deutschen Volkscharakter sowie vom Nutzen der Verbreitung deutscher Sprache und deutschen Kulturgutes auf.152 Und es zeigt sich, dass dieser bis in die 1970er Jahre hinein als weithin überlegen angesehen wurde. Folgerichtig galt es, ihn zum Nutzen der Weltwirtschaft zu erhalten und zu pflegen. Bezeichnenderweise richtete man sich daher im gleichen Atemzug gegen eine transnationale Unternehmerelite. Bereits 1950 hatte der Nationalökonom Adolf Weber konstatiert, dass jedes Volk besondere Fehler und besondere Vorzüge habe. Die Fehler seien zwar zu bekämpfen, „doch nicht so, daß an die Stelle der Verschiedenartigkeit, der wir immer wieder neue Kraft und Anregung verdanken, eine neue Einheit, etwa der ‚Weltwirtschaftsmensch‘ anzustreben ist. Solch ‚supranationale‘ Individuen, die sich gemäß eines ubi bene, ibi patria in Paris und London ebenso ‚zu Hause‘ fühlen wie in Berlin, Newyork (sic!) und Buenos Aires, und die auch mit einem echten Weltbürger nichts zu tun haben, sind gewiß nicht Bahnbrecher des kulturellen und wirtschaftlichen Fortschrittes, sondern Anzeichen einer Unkultur, die den Abstieg, nicht den Aufstieg begleiten.“153

Selbst in den hanseatischen Außenhandelskreisen, in denen man sich nicht selten die eigene Internationalität und Weltoffenheit zugutehielt, war die Skepsis gegenüber einer transnationalen Unternehmerelite weit verbreitet und wurde keineswegs als wünschenswert erachtet. Der „echte Weltbürger“ sollte stolz auf seine regionalen und nationalen Wurzeln sein und auch in der Fremde eine eindeutige Heimatverbundenheit erkennen lassen.154 Wenn es um die Rolle des Deutschen in den „Entwicklungsprozessen“ ging, war immer wieder vom „deutschen Pioniergeist“ die Rede.155 In den ersten Nachkriegsjahren kam der Begriff im Zusammenhang mit Überlegungen zur Auswande152 Wichtiger Akteur war hierbei der Arbeitsring Ausland für kulturelle Aufgaben e. V., der in engem Kontakt mit der Kulturabteilung des Auswärtigen Amtes die „kulturellen und sozialen Leistungen der deutschen Wirtschaft (…) stärker zur Geltungen (…) bringen“ wollte. Vgl. BDIJahresbericht 1967/68, S. 46. Dass schon der Kolonialdiskurs im 19. Jahrhundert dazu gedient hatte, zu definieren, was „deutsch“ sei, darauf verweist Krobb, Defining Germanness 2014. 153 Weber, Weltwirtschaft 41950, S. 35. 154 Das zeigt sich vor allem in den Mitteilungen des Übersee-Clubs Hamburg. 155 Es wurde stets behauptet, dass die etwas stärker industrialisierten Gegenden außerhalb „Europas“ vor allem dort lagen, wo sich zuvor deutsche Auswanderer niedergelassen hatten. Nicht zuletzt die Industrialisierungserfolge der USA wurden im ersten Nachkriegsjahrzehnt auf die große Zahl deutscher Auswanderer im 19. Jahrhundert zurückgeführt. Die wirtschaftlichen Erfolge Japans, des zeitgenössischen Paradebeispiels für einen „überseeischen“ Industriestaat, erklärte man wiederum über die japanische Arbeitsethik und den Volkscharakter, die deutschen Werten und Normen angeblich entsprächen. Dies hatte damit zu tun, dass nach der Kriegsniederlage beider Länder die Ausgangslagen der deutschen und japanischen Gesellschaft ähnlich schienen. Vgl. Lütgens, Erde und Weltwirtschaft 1950, S. 233 und Lütgens, Produktionsräume 1958, S. 156. Immer wieder wird die Wesensgleichheit der japanischen und der deutschen Kultur betont. Die Japaner galten vielen als „Deutsche Ostasiens“. Diese Argumentation hält sich bis in die 1970er Jahre hinein. Vgl. die im Auftrag der Stiftung Deutsches Übersee-Institut erstellte Studie: Lemper, Japan 1974.

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rung von Deutschen zur Sprache. Unter anderem beschäftigten sich der Ostasiatische Verein, der Afrika-Verein und der Ibero-Amerika-Verein mit diesem Thema und beteiligten sich daher auch an der Gemeinnützigen Studiengesellschaft für Siedlung im Ausland.156 H. Gross argumentierte 1951 vor der Deutschen Weltwirtschaftlichen Gesellschaft, dass die ganze Welt auf den letztlich nur in Deutschland vorzufindenden Pioniergeist angewiesen sei. Insbesondere in Australien, Kanada, Brasilien und Afrika müssten die Deutschen eine Pionierrolle übernehmen.157 Auch wenn sich die Deutschen in den kommenden Jahren nicht als Pioniere vor Ort bewähren konnten, weil eine signifikante deutsche Auswanderung infolge steigenden Wohlstands in der Bundesrepublik überhaupt nicht stattfand, galt in Unternehmerkreisen weiterhin „Pioniergeist“ als notwendige Grundtugend bei einem Investment im weit entfernten Ausland.158 Die Arbeitsgemeinschaft Entwicklungsländer betonte etwa 1964 in ihrem in hoher Auflage publizierten Leitfaden: „Zur Investition in einem Entwicklungsland gehört stets ein gutes Stück Pioniergeist“.159 In der Theorie schienen die Deutschen für die Mammutaufgabe der „Entwicklung“ von „Übersee“ prädestiniert zu sein. In der Praxis war es aber schwierig, ihr Potenzial auszuschöpfen. Es ist bereits gezeigt worden, welche Schwierigkeiten deutsche Unternehmer hatten, genügend und ihrer Meinung nach passendes deutsches Personal von einer Tätigkeit in „Übersee“ zu überzeugen. Allerorten wurde betont, dass die von Industrieunternehmen entsandten Mitarbeiter meist nicht ausreichend geeignet waren. Offensichtlich waren erfahrene Arbeitskräfte, die den betreffenden Kulturkreis bereits seit Jahren oder Jahrzehnten kannten, Anfang der 1950er Jahre kaum verfügbar. Insbesondere die Ländervereine wiesen darauf hin, dass solche „Persönlichkeiten“ nur „im Kreise der früheren deutschen Überseehäuser“ zu finden und daher selten seien. Nur diese aber, so der OAV, seien in der Lage, die geeigneten Mitarbeiter auszuwählen, diese „praktisch kaufmännisch zu schulen“ und auch das „erzieherische Moment“ zu beherzigen.160 Große Hoffnungen wurden daher auf die vor Ort ansässigen „Auslandsdeutschen“ gesetzt. Allerdings meldeten bereits die ersten Reisenden Zweifel an deren fachlicher Eignung an. Nach einer Reise nach „Südamerika“ hielt beispielsweise Theodor Sehmer 1950 fest, dass die „alten deutschen Fachleute“ mittlerweile nicht jünger geworden seien und sich „mitunter auch den deutschen Werken entfremdet“ 156 Diese war am 28.4.1950 gegründet und 1952 in Deutsche Gesellschaft für Siedlung im Ausland umbenannt worden. Vgl. Sternberg, Auswanderungsland Bundesrepublik 2012, S. 111. Sternberg behandelt in seiner Monographie auch die zentralen Denkmuster des Redens über Auswanderung, u. a. auch die Furcht vor dem Facharbeitermangel. Vgl. ebd., S. 85–141. 157 Vgl. Gross, Australien als Absatzmarkt und Einwanderungsgebiet 1951, S. 8, die zitierten Begriffe ebd., BArch B 102/005950 Heft 1. Dabei fühlte er sich als Deutscher auch der Bevölkerung anderer „Industrieländer“ überlegen. Gross argumentiert nämlich weiter, man müsse darauf achten, dass „nicht andere Industrieländer deutsche Arbeitskräfte dazu benutzen, um große Entwicklungsverträge dort durchzuführen, die sie ohne deutsche Menschen vertraglich niemals hätten übernehmen können“. Ebd., S. 8 f. 158 „Die Schaffung von neuen Stützpunkten in den afrikanischen Märkten der Zukunft“, so Brands 1957, erfordere „Pioniergeist“. Brands, Wirtschaftskommission 1957, S. 7, BArch B 116/21459. 159 Arbeitsgemeinschaft Entwicklungsländer, unternehmerisches Wagnis 1964, S. 12. 160 OAV, Indonesien 1952, S. 23 f.

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hätten. Daher sei es „unbedingt nötig, dass wieder deutsche Fachleute, und zwar nicht nur alte, sondern gerade junge, die den Geist der Heimat mitbringen, hinausgehen“. Die deutsche Industrie solle möglichst darauf drängen, eigene Kräfte bei ihren dortigen Vertretern unterzubringen. Diese seien „drüben“ äußerst willkommen, „sehr begehrt (…) und stellen eine dringend notwendige Blutsauffrischung dar“.161 Zudem sollten die deutschen Auslandschulen neue Eliten ausbilden. Insbesondere der Geschäftsführer der IHK Düsseldorf, Karl Albrecht, machte sich dafür stark. Er forderte vehement eine „Umstellung der ‚Propagandaschule‘ in wirkliche ‚Leistungsschulen‘ und die Heranbildung einer wirksamen Lehrerschaft, die ihren didaktischen Aufgaben unter solch schwierigen und variablen Verhältnissen gewachsen ist“.162 Dabei verfolgte er das Ziel der „vollen Zweisprachigkeit“, weil nur so die Schulen Vermittler zwischen fremder und deutscher Kultur und Wirtschaft sein könnten.163 Während im Auswärtigen Amt in den 1960er Jahren eine kulturpolitische Förderung des „Auslandsdeutschtums“ weitgehend abgelehnt wurde, galt der Nachwuchs der „Auslandsdeutschen“ im Unternehmerlager als weithin unverzichtbares Reservoir an Arbeitskräften für die Errichtung eigener Produktionsanlagen.164 In den Unternehmen mangelte es dann in der Phase forcierter Direktinvestitionen noch einmal mehr an qualifiziertem Personal, das sich auf ein Abenteuer in „Übersee“ einlassen wollte. Schon 1956 mahnte beispielsweise der BDI mehr „psychologisches und kaufmännisches Geschick“ bei der „Förderung des betrieblichen Nachwuchses“ an.165 1961 verwies Hans Croon darauf, dass die Expertise in den deutschen Unternehmen sehr ungleich verteilt sei. Die „besten Kenner der Entwicklungsländer“ ließen sich vorwiegend in jenen Konzernen finden, „die seit langer Zeit an Großaufträgen drüben arbeiten und die auch bei den neu zu erörternden Infrastrukturprojekten ganz automatisch selbst zum Zuge kommen“. Dagegen sei es fast unmöglich, „deutsche mittlere Unternehmer mit solchen Landeskenntnissen zu finden“.166 Und das Bundeswirtschaftsministerium klagte 1963 darüber, dass die Mitarbeiter, die von an „Afrika“ interessierten deutschen Firmen herausgeschickt würden, „noch keine oder nur wenig Erfahrung in Bezug auf das Arbeiten im afrikanischen Raum besitzen“.167 Doch worin genau bestanden eigentlich die spezifischen Anforderungen an die deutschen Führungskräfte in „Übersee“, so dass nicht einfach jeder aus dem Nach161 Sehmer, Möglichkeiten 1950, alle Zitate S. 3 der Zusammenfassung. 162 Hier mit Bezug auf die „lateinamerikanischen“ Auslandsschulen. Karl Albrecht: Manuskript ohne Titel und ohne Seitenangabe [ca. 1960], RWWA 70-136-9. 163 Ebd. Zu den Auslandschulen im Rahmen des Gemeindelebens vor Ort vgl. auch Barbian, Auswärtige Kulturpolitik 2014, S. 216–223. 164 Zum Auswärtigen Amt vgl. Ebd., S. 303. 165 BDI, Ostasien 1956, S. 13. 166 Croon, Organische Entwicklungshilfe 1961, S. 212. Hans Croon (1896–1977) war ein deutscher Textilfabrikant, der während des Zweiten Weltkrieges an den wirtschafts- und kulturpolitischen Planungen für „Mitteleuropa“ und „Südosteuropa“ beteiligt gewesen war, u. a. als Präsident der Südosteuropa-Gesellschaft und als Kuratoriumsmitglied des Mitteleuropäischen Wirtschaftstages. Vgl. Freytag, Südosteuropa-Konzepte 2010, S. 164. 167 Interne Aktennotiz über ein Gespräch beim Bundeswirtschaftsministerium am 14.3.1963, BArch B 102/65988.

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wuchs für einen Auslandseinsatz in Frage kam?168 Beim Blick in die Quellen wird schnell klar: Der Fokus lag nicht auf Wissen und Informiertheit, sondern auf dem Charakter der Kandidaten. Schon im Goodwill-Missionsbericht von 1952 hatte man sich über die besonderen Anforderungen an die Führungskräfte vor Ort Gedanken gemacht. In Bezug auf die politischen Eliten in Indonesien entwarf Emil Helfferich das folgende Charakterprofil: „Es gehört eine starke Hand dazu, um die Dinge in Indonesien richtig zu steuern. Wir haben vorzügliche Männer im Amt getroffen, an deren Fähigkeiten ebenso wenig zu zweifeln ist wie an ihrem Idealismus und ihrer Lauterkeit. Aber gegenüber dem im Grunde statischen Volkscharakter können sich die dynamischen Kräfte nur durchsetzen, wenn ihnen die entsprechende Macht eingeräumt wird.“169

Bald wurde diese auf die einheimischen Führungsgruppen gemünzte Argumentation auf die möglichen Betriebsleiter von Dependancen deutscher Unternehmen ausgedehnt. Sven von Müller, Mitglied der Direktion der Esso-AG, betonte 1952 in einem Vortrag zum Thema „Arabien heute“, dass ein „gewisses pädagogisches Talent dazu [gehöre], um ein kontinuierliches Verantwortungsgefühl“ bei den Arbeitskräften zu wecken.170 Insbesondere die Ländervereine forderten, nur solche „Persönlichkeiten“ einzusetzen, die mit „Land und Leute[n] (…) umgehen können“.171 Für A. Brands von der Ruhrstahl AG musste in „Afrika“ der perfekte Betriebsleiter eine „langjährige Kenntnis des Landes und der Psychologie des Arbeiters haben“. Zudem solle er „improvisieren können und die Härte besitzen, die bei den primitiven Lebensverhältnissen, dem Klima und den täglichen Schwierigkeiten und Schikanen erforderlich ist“.172 Zentrale Anforderung war, so der BDI 1956, dabei wiederum die „Fähigkeit zu geschickter psychologischer Einfügung in die Mentalität“ der jeweiligen Länder sowie die Fähigkeit, sich auf die herrschenden Sozialformen, wie Großfamilien und Clans, einzustellen.173 Auch der Hamburger Willi Gansauge, im Nationalsozialismus kolonialer Wirtschaftsplaner und Teilnehmer der GoodwillMission nach Ghana und Nigeria, betonte 1957, dass „in personeller Hinsicht Erfahrungen und Veranlagungen“ notwendig seien, um dieses „Einstellungsvermögen“, das auch ihm als Basis des erfolgreichen Arbeitens galt, sicherzustellen.174 168 Allgemein zur Rekrutierung industrieller Führungskräfte in der Bundesrepublik: Reuber, Weg 2012, S. 167–324. Reuber zeigt hier die zunehmende Systematisierung der Führungskräfterekrutierung und -entwicklung seit den 1950er Jahren anhand von Siemens, Bayer und Volkswagen. 169 OAV, Indonesien 1952, S. 16. 170 Von Müller, Arabien heute 1952, o. S. 171 Hier bezogen auf Indonesien, aber grundsätzlich typisch. OAV, Indonesien 1952, S. 23. 172 Brands, Wirtschaftskommission 1957, S. 6, BArch B 116/21459. 173 Vgl. BDI, Ostasien 1956, S. 12 und S. 19, Zitat S. 19. 174 Gansauge, „Goodwill“-Wirtschaftsdelegation 1957, S. 8, BArch B 116/21459. Willi Gansauge (1901–1992) zunächst Außenhandelskaufmann und Prokurist der Reederei F. Laeisz, später Geschäftsführer der Tochtergesellschaft Afrikanische Frucht-Compagnie, Plenumsmitglied der HK Hamburg 1938–1944 und von 1937–1940 Vorsitzender des Afrika-Vereins. Er gehörte zudem zum Gründerkonsortium des HWWA, war Gründer der Kolonialen Arbeitsgemeinschaft der Gesellschaft der Kaufleute im Hansischen Hochschulring, Beiratsmitglied des Hamburger Kolonialinstituts sowie eifriger Propagandist einer engen Verbindung von Wissenschaft und

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Der bereits zitierte Leitfaden „Ein unternehmerisches Wagnis“ aus dem Jahr 1964 verdeutlicht sehr eindrücklich die Bedeutung, die den Personalentscheidungen zugesprochen wurde. Die Mahnung war eindeutig: „Erst mit der richtigen Auswahl Ihrer Mitarbeiter entscheiden Sie weitgehend über Erfolg oder Mißerfolg Ihrer Investitionen. Ihre Leute müssen einen Schuß Phantasie besitzen, sie sollen improvisieren können, es muß ihnen in jeder noch so verzwickten Lage immer der Ausweg einfallen. Kenntnis der Landesverhältnisse ist unerläßlich. Geben Sie deshalb Ihren Mitarbeitern vor der Ausreise die Möglichkeit, einen Vorbereitungskurs zu besuchen. (…) Vergessen Sie nicht, daß Ihre Mitarbeiter für längere Zeit draußen bleiben müssen; denn nur dann besteht Aussicht, daß Ihr Betrieb vom Kaufmännischen und Technischen her so geführt wird, daß sich Ihre Investition lohnt.“175

Es ist bereits mehrfach darauf verwiesen worden, dass die deutschen Unternehmer für viele „Überseeprobleme“ kollektive Lösungen anstrebten. Die gigantische Aufgabe, Deutschland zurück auf die Weltmärkte zu führen und dabei zugleich „Übersee“ zu „entwickeln“, war in ihren Augen mit betrieblichen Lösungsstrategien allein kaum zu bewältigen. Auch im Bereich der Führungskräfteschulung für „Übersee“ kamen Kollektivlösungen zum Einsatz. Das Vorzeigeprojekt sollte eine Musterschule werden: Sie sollte den deutschen Industrieunternehmen und allen „Entwicklungsländern“ gleichermaßen zugutekommen und sich an der alten „Kolonialschule Witzenhausen“ orientieren.176 Der BDI-Arbeitskreis „Entwicklungsländer“ erwog 1960 anlässlich der geplanten Errichtung einer Ausbildungsstätte für Fachkräfte, die zur „Entsendung in die Entwicklungsländer vorgesehen“ waren, die Wirtschaft zu einer einmaligen Spende aufzurufen.177 Derartige Überlegungen waren nicht neu. Schon 1952 stand die Förderung des industriellen Nachwuchses auf dem Programm des BDI-Präsidiums. Es berief im Dezember 1952 unter Vorsitz von Wolf-Dietrich von Witzleben einen diesbezüglichen Arbeitskreis ein, der ergründen sollte, wie sich „Charaktere und Begabungen für leitende Tätigkeit frühzeitig (…) erkennen und durch Hochschule und Praxis (…) fördern“ ließen. Dabei wurde davon ausgegangen, „daß der Unternehmer geboren werde und nicht durch Erziehung geschaffen werden könne“. Diese geborenen Unternehmer galt es zu erkennen und zu fördern, etwa durch einen Wirtschaft. Auch nach 1945 saß er im Vorstand des Afrika-Vereins und baute das „Überseegeschäft“ von Laeisz wieder auf. Vgl. Linne, Deutschland 2008, S. 59 und S. 163 f. 175 Arbeitsgemeinschaft Entwicklungsländer, unternehmerisches Wagnis 1964, S. 12. 176 Vgl. Niederschrift über die Präsidialsitzung vom 7.6.1960, S. 6, BDI-Archiv HGF Pro 7/1, Karton 781. Die Deutsche Kolonialschule für Landwirtschaft, Handel und Gewerbe war 1898/1901 gegründet und 1944 geschlossen worden. Sie bildete vor allem „Kolonialbauern“ und „Tropenlandlandwirte“ aus. Zum Lehrprogramm und zur Geschichte der Institution vgl. Böhlke, Kolonialschule 1995; Wolff, Tropenlandwirtschaftliche Ausbildungsstätten 1990; Linne, Deutschland 2008, S. 33–37; Kundrus, Moderne Imperialisten 2003, S. 69; Sandler, Education 2016. 177 Hierfür wäre nach Schätzung des Arbeitskreises eine einmalige Summe von allerhöchstens 5 Millionen DM nötig gewesen, mit der auch die laufenden Unkosten für die ersten zwei Jahre gedeckt gewesen wären. Anschließend sollte sich die Modellschule selbst tragen. Vgl. Niederschrift über die Präsidialsitzung vom 7.6.1960, S. 6, BDI-Archiv HGF Pro 7/1, Karton 781, Zitat ebd.

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großzügigen und weitblickenden Austausch qualifizierter Kräfte unter den Großunternehmen. Dadurch könne am besten „Betriebsblindheit überwunden und der für die Leitung notwendige allround-man herangebildet werden“.178 Auf die auf 4–6 Wochen projektierten Lehrgänge sollten „vor allem jüngere, geborene Unternehmer“ geschickt werden, ohne Rücksicht auf Vorbildung oder Dienstjahre.179 Weil es um Persönlichkeitsbildung ging, kam es auf den Charakter des Leiters dieser Institution an. Dieser müsse nach einhelliger Meinung ein Mann sein, „der die Leute elektrisiert, ein Magnet, ein brillanter Geist mit unternehmerischen Fähigkeiten“.180 In diesem Sinn wurde auch gegen eine zu „starke Stoffbelastung des Lehrgangs“ argumentiert, denn „er soll Persönlichkeiten formen, nicht Wissensstoffe vermitteln“.181 Zugleich müssten in Deutschland die Beziehungen zwischen Industrie und Hochschulen verändert werden. Insbesondere der Blick „auf die enge Verbindung und wechselseitige Befruchtung“ zwischen Hochschule und Industriepraxis in den USA, „wo die Universitäten auf privaten Stiftungen der Wirtschaft beruhen und ihre Kuratorien entsprechend zusammengesetzt sind“, mache den entsprechenden Mangel in Deutschland deutlich. Daher seien vermehrt Lehraufträge an Industrielle zu vergeben.182 Zu einer Modellschule kam es nicht. Es entstanden aber seit den späten 1940er Jahren erste Institutionen, die dann um 1960 erheblich ausgebaut wurden. Dabei ließ sich nicht zuletzt der „Kalte Krieg“ als Argument nutzen. 1960 hielt der Vorsitzende des Dozentenkollegiums der Akademie für Welthandel, die eng mit der IHK Frankfurt kooperierte, fest, dass er mit Blick auf „Übersee“ die Sorge habe, „es könnte in zehn Jahren uns der Ostblock soweit weggelaufen sein, daß wir nicht mehr Schritt halten. Und so bedarf es denn eines starken Appells, hier innerhalb der Bundesrepublik, darüber hinaus im westlichen Europa und wahrscheinlich in der ganzen westlichen Welt, daß größere Anstrengungen unternommen werden, unsere Jugend vorzubereiten auf die Aufgabe, 178 Vgl. Niederschrift über die Sitzung des Präsidiums des BDI vom 17.12.1953, S. 2, BDI-Archiv HGF Pro 3, Karton 785, alle Zitate ebd. Zur Tätigkeit von Witzlebens in der Nachwuchs- und Führungskräfteschulung für die Firma Siemens vgl. Reuber, Weg 2012, S. 250–256. 179 Vgl. Niederschrift über die Sitzung des Präsidiums des BDI vom 17.12.1953, S. 3, BDI-Archiv HGF Pro 3, Karton 785, Zitat ebd. 180 Vgl. ebd., S. 4, Zitat ebd. 181 Ebd. Noch in den 1960er Jahren wurde über eine „Modellschule“ diskutiert. Auch wenn den Zeitgenossen eine bessere Ausbildung des Unternehmensnachwuchses an einer elitären Einrichtung wichtig erschien, blieb dennoch unklar, ob es gelingen werde, die Mittel für eine solche „Modellschule“ aufzubringen. Insbesondere „angesichts der Unzulänglichkeit der Spenden der Wirtschaft an den Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft, an die Carl Duisberg Gesellschaft, an die Goethe-Gesellschaft und zahlreiche andere gute Einrichtungen“ – die auf diesem Gebiet tätig waren – sei, so das BDI-Präsidium skeptisch, dies doch „sehr zweifelhaft“. Als Alternative wurde erwogen, die unternehmerischen Investitionen durch Steuerfreiheit von Rückstellungen – wenn auch mit dem Vorbehalt nachträglicher Wertberichtigung – zu fördern. Dies werde die investierenden Firmen ganz zwangsläufig zur Errichtung von Schulen veranlassen. Vgl. Niederschrift über die Präsidialsitzung vom 7.6.1960, S. 6, BDI-Archiv HGF Pro 7/1, Karton 781. 182 Verwiesen wurde in diesem Zusammenhang auch auf die hohe Anzahl der betriebswirtschaftlichen Lehrstühle in den USA, immerhin bereits 80 an der Zahl, während in der Bundesrepublik kein einziger existierte. Vgl. ebd. S. 2 f., Zitat ebd.

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in fremden Ländern für unsere Sache zu wirken, daß diese Aufgabe stärker und gemeinsamer in Angriff genommen wird. Es darf nicht gewartet werden. Die Zeit eilt!“183

Und er führte weiter aus: „Was bedeutet schließlich alles Wissen, wenn nicht gleichzeitig hinter dem Wissen eine Persönlichkeit steht“. Wenn man ins Ausland gehe oder mit Menschen anderer Länder zu tun habe, dann frage man dort weit weniger, „was Sie können und wissen“, sondern man wolle sehen, „was Sie sind als deutscher Außenhandelskaufmann“. Bei der Führungskräfteausbildung gehe es „um die Persönlichkeit, um die Entwicklung eines deutschen Menschen bestimmter Prägung“.184 Karl Albrecht brachte 1968 rück- und ausblickend den zentralen Ansatz auf den Punkt: „Nicht weniger als Wissen und Können werden persönliche Haltung und Charakter dafür entscheidend sein, ob wir diesen Zukunftsaufgaben gerecht werden“.185 Von immenser Bedeutung für die Internationalisierung des deutschen Führungskräftenachwuchses war die in Düsseldorf ansässige Rudolf C. Poensgen Stiftung e. V. zur Förderung des Führungsnachwuchses in der Wirtschaft.186 Ausgangspunkt ihrer Gründung waren mehrere, 1954 vom damaligen Präsidenten der Düsseldorfer Industrie- und Handelskammer Dr. Ernst Schneider gehaltene Vorträge. In ihnen forderte er, man müsse „Begabungen, die im Keim vorhanden sind, ans Licht […] ziehen, damit sie sich entwickeln können“. Damit der Geist des Unternehmers sich „entfalten“ könne, müsse man diesen fördern, statt es „dem Walten des Schicksals und dem Zufall zu überlassen“, ob jemand Unternehmer werde oder nicht.187 Dies war ein durchaus neuer Gedanke. Die „geborenen Unternehmer“ sollten unterstützt werden, damit mehr von ihnen ihre Potenziale ausschöpften. Aus diesem Geist heraus wurde anlässlich der Wiederkehr des 125. Gründungstages der IHK zu Düsseldorf die Rudolf C. Poensgen Stiftung gegründet.188 In ihr konnten Kursteilnehmer in meist vierwöchigen Lehrgängen „Sinn und Inhalt der unternehmerischen Führungsaufgabe“ erlernen, indem sie in Kontakt mit erfahrenen Unternehmensleitern und namhaften Vertretern der Wissenschaft und des öffentlichen Lebens kamen.189 Denn es genüge im „qualifizierten Führungsbereich“ 183 O. A., Abschließende Worte 1960, S. 15. 184 Ebd., S. 15 und S. 16. 185 Albrecht, Förderung des Führungsnachwuchses 1968, S. 11, RWWA 70-145-2. Zum kulturellen Führungsanspruch der Unternehmer in der frühen Bundesrepublik vgl. Berghahn, Unternehmer 2002. 186 Namensgeber war der langjährige Präsident der IHK zu Düsseldorf Carl Rudolf Poensgen (1863–1946). Die Schreibweise der Stiftung variiert zwischen C. Rudolf Poensgen-Stiftung und Rudolf C. Poensgen-Stiftung. Letztere Nennung ist im Quellenmaterial häufiger und wird daher hier verwendet. Allgemein zu den bundesdeutschen Auslandsorganisationen und deren Zielregionen: Weitbrecht, Aufbruch 2012, S. 299–309. 187 Ernst Schneider, zitiert nach: Albrecht, Förderung des Führungsnachwuchses 1968, S. 8, RWWA 70-145-2. 188 Der Präsident der Kammer war zugleich Vorsitzender der Stiftung. 189 Albrecht, Förderung des Führungsnachwuchses 1968, S. 13, RWWA 70-145-2. Bis April 1976 wurden insgesamt 55 Lehrgänge von der Rudolf C. Poensgen Stiftung veranstaltet. U. a. wurden auch Planspiele durchgeführt. Vgl. Unterlagen in RWWA 70-145-2. Zum Transfer der Unternehmensplanspiele aus der US-amerikanischen Management-Praxis vgl. Nohr/Rühle, Unternehmensplanspiele 2016.

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nicht mehr, den künftigen Nachfolger oder Vertreter sich nur am Arbeitsplatz selbst bewähren zu lassen. Auch der Fachspezialist müsse beim Aufstieg in höhere Führungsaufgaben „sein Blickfeld so erweitern, (…) daß man nahezu von einem Berufswechsel sprechen könnte. Er muß zu einer Persönlichkeit werden, die vielseitigen neuen Anforderungen entsprechen kann.“190 Die Rudolf C. Poensgen-Stiftung gab eine eigene Schriftenreihe heraus und veranstaltete zahlreiche prominent besetzte Tagungen.191 Im Laufe der 1960er Jahre widmeten sich aber immer mehr Organisationen der Heranbildung von Führungspersönlichkeiten. An zahlreichen Orten fanden Seminare und Tagungen für Fach- und Führungskräfte statt, so etwa in der Rheinisch-Westfälischen Auslandsgesellschaft, in den evangelischen Akademien und in der Deutschen Afrika-Gesellschaft.192 Auch die CDG engagierte sich noch einmal stärker bei der Weiterbildung der „mittleren Führungsschicht“ deutscher Unternehmen „für Aufgaben der Entwicklungshilfe“. Dabei wurden nicht nur Sprachkurse angeboten, sondern auch Kurse zur Ergänzung „auslandskundlicher“ Informationen abgehalten.193 Verstärkt Fahrt nahm diese Entwicklung in den 1970er Jahren auf, da die zunehmende internationale Verflechtung der deutschen Wirtschaft den Bedarf an Fach- und Führungskräften im Ausland noch einmal erheblich erhöhte. Es sei nun Aufgabe höchster Priorität, so die CDG 1976, geeignete Nachwuchskräfte ausfindig zu machen und sie für das Ausland fortzubilden.194

190 Albrecht, Förderung des Führungsnachwuchses 1968, S. 13, RWWA 70-145-2. Albrecht betonte dabei auch, dass eine solche Aufgabe nur lösbar sei, „wenn zusätzlich zur innerbetrieblichen Ausbildung eine überbetriebliche tritt“. 191 Die Mitglieder stammten 1969 noch fast ausschließlich aus Nordrhein-Westfalen und Frankfurt am Main. Nur ganz selten steht in den Mitgliederlisten auch München als Wohnort. Hamburger oder Bremer Unternehmer oder Institutionsleiter tauchen in den Mitgliederlisten kaum auf. Die monatlichen Stammtische fanden vor allem in Dortmund, Düsseldorf, Hagen und Siegen statt. Mitglieder und Lehrgangsteilnehmer sind aufgelistet in: Mitgliederverzeichnis des C. Rudolf Poensgen-Kreises, Stand Januar 1969, RWWA 70-145-2. 192 Oskar Splett von der DAG betonte dabei, dass „bei kurzen Wochenend-Tagungen oder auch Wochenendseminaren Aufwand und Belastung nicht im richtigen Verhältnis zum Ertrag stehen und der Dauernutzen ausbleibt. Eine gründliche Fortbildung von Mitarbeitern, die für leitende Positionen vorgesehen werden, dauert deshalb heute in sehr verschiedenen Berufssparten zwischen zehn Wochen und einem Jahr.“ Meist waren die Kurse aber deutlich kürzer. Die „Führungskräfte-in-Übersee-Seminare“ der Evangelischen Akademie Bad Boll, die seit Anfang der 1960er Jahre organisiert und in Zusammenarbeit mit dem Institut für Auslandsbeziehungen abgehalten wurden, dauerten meist nur vier bis fünf Tage. Sie wurden vor allem von den Führungskräften der Firmen Bosch, BASF und VW frequentiert. Das Alleinstellungsmerkmal dieser Kurse war es, dass auch die Ehefrauen an ihnen teilnehmen konnten. In ihnen ging es nicht nur um Wissensvermittlung, sondern auch um die Selbstreflektion über die eigenen Beweggründe, ins Ausland zu gehen, und um persönliche Befürchtungen. Oskar Splett an Ministerialdirigent Dr. Ahrens im Bundespresse- und Informationsamt der Bundesregierung, Schreiben vom 1.9.1970, o. S., BArch B 145/9944. Vgl. Evangelische Akademie Bad Boll BB 001. 193 Funke, Die Entwicklung der Carl Duisberg Gesellschaft 1965, S. 17, RWWA 352-15-5. 194 Vgl. o. A.: Der Carl Duisberg-Arbeitskreis Hamburg stellt sich vor 1976, o. S., Zitat ebd., RWWA 352-16-22. In den 1970er Jahren wurden nun auch Rückkehrerseminare abgehalten, um die Wiedereingliederung in die Firmenstrukturen und -abläufe in Deutschland zu erleich-

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In all diesen Kursen trafen Führungskräfte aus Kultur, Wirtschaft und Verwaltung aufeinander. Dementsprechend war auch das Informationsprogramm umfangreich und vielfältig. Wieder einmal verschränkten sich Politik, Kultur und Ökonomie thematisch aufs Engste. Dies lag einerseits in der Logik der Wirtschaftsräume als Kulturräume begründet. Man muss aber auch berücksichtigen, dass es damals nicht allzu viele Personen gab, für die es überhaupt sinnvoll war, einen solchen Kurs zu besuchen. Die Nachfrage nach auf Berufsgruppen spezialisierten Kursen war noch nicht groß genug – allein mit Führungskräften aus der Wirtschaft hätte man viele von ihnen nicht füllen können.195 Will man diese Kurse genauer untersuchen, dann zeigt sich ein erhebliches Quellenproblem. Über vieles lässt sich nur mutmaßen: über die Motive der Führungskräfte, über die Teilnehmer und bedauerlicherweise auch über die Schulungsinhalte. Annäherungen sind nichtsdestotrotz möglich: Eine von der CDG geförderte Studie aus den frühen 1960er Jahren hält zumindest fest, dass bei Führungskräften aus der Wirtschaft auffalle, „daß die Betonung der politischen und ethischen Motive ein wenig unter dem Durchschnitt liegt“. Dafür seien die wirtschaftlichen und die „egozentrischen“ Motive – genannt wurden der Reiz fremder Länder, berufliche Fortbildung, Sinngebung für das eigene Leben, Pionierarbeit, Unzufriedenheit in Deutschland – stärker. Ausgeprägt sei zudem der Wunsch, durch eine „Tätigkeit in einem Entwicklungsland freier und schöpferischer arbeiten zu können“.196 Vor allem Großunternehmen mit einer langfristigen Personalentwicklungsplanung entsandten ihre Nachwuchs- und Führungskräfte sowie zunehmend auch Entscheidungsträger der mittleren Hierarchieebene zu diesen Seminaren. Aus kleinen Firmen wurden nur Führungskräfte entsandt, von mittelgroßen Firmen zu gleichen Teilen Nachwuchs- und Führungskräfte.197 Über den Inhalt und Ablauf dieser Kurse ist wenig bekannt. Die wenigen Anhaltspunkte deuten aber darauf hin, dass in ihnen der bislang beschriebene Blick auf die Welt reproduziert wurde. Die „Führungskräfte-in-Übersee“-Kurse der evangelischen Akademie Bad Boll fassten beispielsweise immer wieder kulturell scheinbar gleiche Länder in einem Kurs zusammen. Und die DAG betonte, dass Industrieunternehmen auf „Mitarbeiter mit besonderen Kenntnissen über Gesamtafrika“ ange-

tern. Bosch hatte beispielsweise jahrelang die Regelung, dass niemand länger als 5 Jahre ins Ausland gehen dürfe. Zudem waren zwischenzeitliche Schulungen in Deutschland vorgesehen. 195 Umfangreichere Aktenbestände existieren aber erst für die 1980er Jahre. In diesem Zeitraum gründeten sich dann auch zahlreiche Consulting-Firmen, die sich auf Schulungen für den Auslandseinsatz spezialisierten. 196 Langenheder, Einstellung [nach 1961] 1966, S. 162. 197 Darauf weist zumindest ein Revisionsbericht der CDG über die Deutsche Gesellschaft für Personalführung aus dem Jahr 1973 hin. Diese Gesellschaft war zwar auch mit der Fortbildung von Führungskräften für das Ausland beschäftigt, sie war allerdings insbesondere in den Führungskräfteaustausch mit Frankreich, den USA, Japan und Großbritannien involviert. Als Grund für das oben beschriebene Muster wurde von den Verfassern des Berichts die höhere multinationale Verflechtung der Großunternehmen angenommen. Vgl. Deutsche Gesellschaft für Personalführung, Fortbildung 1973, S. 18, S. 25 und S. 28, RWWA 352-21-15.

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wiesen seien.198 Letztlich deuten die spärlich überlieferten Quellen darauf hin, dass auch in den Fortbildungskursen Kultur und einheimische „Mentalität“ im Fokus standen. Auch ging es in ihnen um die Arbeitsethik vor Ort und die Führungstalente deutscher Kräfte. Aufgrund der schlechten Quellenlage verbietet sich aber eine allzu steile These. In den allgemeinen Äußerungen von Unternehmern und in den Strategiepapieren der mit der Führungskräfteschulung betrauten Personen wird deutlich: Die deutschen Führungskräfte in „Übersee“ hatten nie nur eine betriebliche Aufgabe. Vielmehr galten sie im Idealfall als Kulturträger im Ausland. Um den damit verbundenen „Auftrag“ erfüllen zu können, sollten sie wirkliche „Führungspersönlichkeiten“ sein. Allein Unternehmer zu sein, reichte offensichtlich nicht aus, um erfolgreich am industriellen Aufbau in „Übersee“ teilzuhaben. Nur der traditionsbewussten, umfassend gebildeten und somit gefestigten „Unternehmerpersönlichkeit“ traute man dies zu. Im Grunde wurde hier meist ein Gegenbild zu den indigenen Eliten entworfen. Was man an diesen vermisste, schrieb man sich selbst zu: Ordnung, Fleiß, Pünktlichkeit, Rationalität, Pflichterfüllung, Tatendrang und Tatkraft, Unternehmergeist, Einsatz- und Opferbereitschaft, geistige Regsamkeit und souveräne Weltoffenheit. Nur am Rande wurde über Fachwissen oder bereits erbrachte Leistungen gesprochen; es ging vorwiegend um „charakterliche Eignung“.199 Dies korrespondierte mit einer Idee von „Entwicklung“, die auf harte und ehrliche Arbeit, auf Willensanstrengung, persönliche Effizienz und Qualität fokussiert war. Eine derartig konzeptualisierte „Hilfe“ hatte den Vorteil den Eindruck zu vermeiden, es handele sich um ideologische oder politische Eingriffe.200 Die Auslandstätigkeit wurde im „Entwicklungsgeschäft“ aufgewertet, indem sie in ein weitreichendes Zukunfts- und Menschheitsprojekt eingebettet wurde. Deutsche Unternehmer wurden zur gesellschaftlichen Elite – im eigenen Land und in fremden Ländern – erhoben. Die oft drastischen Schilderungen der herausfordernden Lebensbedingungen in „Übersee“ sollten also gerade keine abschreckende Wirkung entfalten. Im Gegenteil: Die Größe der Aufgabe sollte motivieren. Ein Aufenthalt in „Übersee“ wurde zum Charaktertest. Nicht selten war daher auch das Argument zu hören, ein Engagement im Ausland sei „anders als die Bildungsreise oder ein touristischer Auslandsaufenthalt mit einer reinen Konsumentenhaltung“. Vielmehr müsse er als Möglichkeit zur „Erprobung der eigenen Fähigkeiten“ und der Persönlichkeit gesehen werden und führe zur „Festigung des Selbstvertrauens und Bewährung der Entscheidungsfähigkeit“.201 Damit einher ging auch eine Aufwertung des Unternehmers in der deutschen Gesellschaft, da sich aus dessen Befähigung als wahrer „Pionier“ der „Entwick198 Oskar Splett an Ministerialdirigent Dr. Ahrens im Bundespresse- und Informationsamt der Bundesregierung, Schreiben vom 1.9.1970, o. S., BArch B 145/9944. 199 Arbeitsgemeinschaft Entwicklungsländer, Investieren in Indien 1965, S. 32 f. 200 Indem dabei, darauf hat Timothy Mitchell verwiesen, die „Entwicklungsprobleme“ als natürlich und nicht als politisch definiert wurden, konnten diese auch durch scheinbar unpolitische sozialtechnische Lösungsansätze angegangen werden. Dies hatte den Vorteil, dass dadurch die Auseinandersetzung mit Phänomenen der sozialen Ungleichheit und mit Machtasymmetrien obsolet wurde. Vgl. Mitchell, Objekt der Entwicklung 2009, S. 179 f. 201 Thesen zum Selbstverständnis der CDG, 1972, RWWA 352-19-18.

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lung“ ein gesamtgesellschaftlicher Führungsanspruch ableiten ließ. In einer industriellen Gesellschaft, so war 1959 zu vernehmen, wachse den Unternehmern „die grosse Aufgabe und Verantwortung zu, über den Betrieb hinaus hinein in die Gesellschaft Ordnungs- und Führungsfaktor zu werden. Früher waren Adel, Militär, Beamtentum usw. starke Ordnungs- und Führungsfaktoren. Sie sind heute zum Teil vollkommen weggefallen, zum anderen Teil in ihrer Wirkungskraft stark reduziert. In diese Lücke müssen – im Blick auf die industrielle Gesellschaft – die Unternehmer stärker eintreten. Der Unternehmer muss sich zu dieser Aufgabe bekennen, er muss diese seine Aufgabe in der breiten Öffentlichkeit deutlich und klar werden lassen. (…) Nur das Opfer der Führenden bewirkt das Weitergeben von ‚heute auf morgen‘; und: ‚Könige müssen mehr leiden‘.“202

Auch R. W. Stöhr, Leiter des Hochschulinstituts für Wirtschaftskunde in Berlin, gab 1962 auf einer internationalen Tagung für das „Top Management“ in Kronberg der Auffassung Ausdruck: „Durch Vorbildung und Erziehung müsse sich ein neues Elite-Bewußtsein entwickeln, das aristokratische Züge trägt mit allen Attributen eines solchen. Unternehmensführung ist heute weniger denn je eine Rechenaufgabe, wenn uns dies auch angesichts der mathematischen Methoden der katalektischen Wissenschaftsrichtung mitunter so erscheinen mag. Lineares Programmieren, Operations- und Marktanalyse werden immer nur Hilfsmittel sein können.“203

Auch in anderen Stellungnahmen ging es um die Vorbildfunktion deutscher Unternehmer. Gern erzählt wurden daher Anekdoten wie diese: Ein junger Inder, der nur zufällig an einem arbeitsfreien Sonntag auf dem Firmengelände gewesen sei, habe sich tief und nachhaltig davon beeindruckt gezeigt, den Juniorchef beim Entladen eines eben herangefahrenen LKW angetroffen zu haben.204 Ganz offensichtlich waren die Konzepte der Fach- und Führungskräfteausbildung nicht unabhängig voneinander. Die Betonung des deutschen Vorbilds, deutschen Pioniergeistes und der deutschen Kultur waren Teil der Führungskräfteschulung des eigenen Nachwuchses und zudem wichtige Elemente der Ausbildung von Fachkräften aus den „Entwicklungsländern“. Den Menschen reif für die Industrialisierung zu machen bedeutete vor allem, ihn deutschen Idealen anzunähern, ihn mit deutscher Kultur vertraut zu machen und die bundesrepublikanische Variante einer Industriegesellschaft zum allgemeingültigen Maßstab zu erheben. 6. ZWISCHENFAZIT Vorrangiges Ziel des Kapitels war es zu klären, was in Unternehmerkreisen unter „Entwicklung“ verstanden wurde und welche Maßnahmen zur „Entwicklung“ von „Übersee“ diskutiert und welche ergriffen wurden. Dabei hat sich gezeigt, dass die relevantesten modernisierungstheoretischen Konzepte auf sozialpsychologischen Ansätzen basierten. In den letzten beiden Kapiteln standen die Fragen im Vordergrund, wie in Bezug auf die interpretationsbedürftige Vielfalt der Erscheinungen in „Übersee“ von 202 Seifriz, Leitbild des Unternehmers 1959, S. 6, RWWA 128-12-1. 203 Stöhr, zitiert in: Andrea, Zählen Unternehmer 1964, S. 7 f. 204 Funke, Frage des Einsatzes 1963, S. 3.

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den bundesrepublikanischen Außenhandelskreisen und den Institutionen des „Überseewissens“ Sinn erzeugt wurde, auf welche Deutungsmodelle die Zeitgenossen zurückgriffen, um die ihnen zur Verfügung stehenden Informationen zu strukturieren und wie dieses Wissen in kollektive Praktiken überführt wurde.205 Dabei ist hervorgehoben worden, dass der im Laufe der 1950er Jahre etablierte und sich gegen Ende der Dekade durchsetzende Interpretationsrahmen einer grundsätzlich dynamischen Weltwirtschaft auch die Vorstellungen von der räumlichen Struktur der Weltwirtschaft und der „Entwicklungsfähigkeit“ „überseeischer“ Kulturen allmählich veränderte. Die Wirtschaftsgroßräume in „Übersee“ wurden damit zum einen ab Ende der 1950er Jahre uneinheitlicher gedacht als zuvor, zum anderen wandelten sich die Grundannahmen über die in diesen Räumen existierende Wirtschaftskultur, weil Kulturen nun ebenfalls als veränderlich galten. Dass die Bewohner von „Übersee“, oder zumindest ein Teil von ihnen, grundsätzlich dazu befähigt werden konnten, „wirtschaftlich“ zu denken und zu handeln, wurde nun immer seltener bezweifelt. Dennoch gingen die meisten Interpreten aus den Außenhandelskreisen davon aus, dass „Entwicklung“ von außen angestoßen, unterstützt und verstärkt werden müsse. Die Berechtigung zum Eingriff in die Wirtschaftsgestaltung anderer Länder sahen sie zunehmend bei sich selbst. Wenn hier die zentralen Ordnungsprinzipien des „Überseewissens“ in den Fokus gerückt wurden, dann ist dabei auch immer nach den Gründen für deren Plausibilität gefragt worden. Es hat sich gezeigt, dass die Überzeugungskraft der Vorstellung einer stabilen, strukturell statischen Weltwirtschaftsordnung mit den ökonomischen Bedingungen zu tun hatte, denen sich die deutschen Außenhandelskreise in der Nachkriegszeit ausgesetzt sahen. Sie speiste sich aber zugleich aus der längeren Geschichte der deutschen Welthandelsverflechtungen. Auch in anderen Bereichen wurden bis in die 1960er Jahre hinein Interpretationen und Kategorien als sinnvoll erachtet, die seit dem Hochimperialismus existierten. Ungebrochen war nicht nur die Vorstellung der grundsätzlichen Überlegenheit großer Wirtschaftsräume, sondern auch die von vier unterscheidbaren Wirtschaftsgroßräumen in „Übersee“. Dabei fügten die deutschen Beobachter die Einzelinformationen aus verschiedenen (kleinräumigen) Regionen zum Bild relativ homogener Weltregionen zusammen. Ein Landstrich innerhalb Indonesiens stand insofern immer auch für das gesamte „Südostasien“. Die entsprechenden imaginären Großraumgeografien verloren dabei schnell den Charakter bewusster und in diesem Sinn reflektierter Konstruktionen: Sie entwickelten eine Plausibilität aus sich selbst heraus. Auch die Vorstellungen von Wirtschaftsgroßräumen als Kulturräumen und von der unterschiedlichen „Entwicklungsfähigkeit“ der Kulturen der Welt hatten eine lange Tradition. Auf diese konnte zurückgegriffen werden, als der Kapitalmangel deutscher Industrieunternehmen es nahelegte, das eigene Hilfsangebot für die „überseeischen Regionen“ als deutsche Kulturleistung zu konzipieren. Dies stellte Kontinuität her und diente der Identitätsversicherung. Somit blieben auch unter neuen „realwirtschaftlichen“ und außenpolitischen Bedingungen ältere Deutungsmuster 205 Ziel des Kapitels war es weder zu zeigen, wie defizitär das Wissen der Außenhandelskreise in der Nachkriegszeit verglichen mit unserem heutigen Wissensstand zum selben Thema war, noch die einzelbetrieblichen Investitionsentscheidungen nachzuvollziehen.

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plausibel. Die noch zu Zeiten des Deutschen Kaiserreichs geformten Denkmuster reichten also noch bis in die ersten Jahrzehnte der Bundesrepublik hinein. Da das „Überseewissen“ lange Zeit äußerst unsicheres Wissen war, ermöglichten diese seit langem etablierten Ordnungsprinzipien den Außenhandelskreisen ein Gefühl von gesichertem Wissen, von Kontrollierbarkeit und kollektiver Handlungsfähigkeit. Damit hatte das „Überseewissen“ eine Funktion, die bereits von Frederick Cooper und Randall Packard hervorgehoben worden ist. Ihrer Meinung nach resultierte die zeitgenössische Prominenz von Entwicklungstheorien nicht aus deren Vermögen, die tatsächlich ablaufenden Prozesse zu beschreiben. Sie waren vielmehr attraktiv, weil sie eine bessere Zukunft versprachen und einen Weg aufzuzeigen schienen, wie diese erreicht werden könne. Sie weckten Zuversicht, schufen handlungsleitende Erwartungen und den Glauben an die Machbarkeit von „Entwicklung“.206 Die Vorstellung von den Kulturen der Weltwirtschaft beeinflusste nicht nur die Entwicklungsrhetoriken, sondern auch die konkrete „Entwicklungsarbeit“ – eine Arbeit, die auch im eigenen ökonomischen Interesse lag, da sie zukünftige Direktinvestitionen vorbereitete. Auf dieser Ebene war es für die bundesrepublikanischen Außenhandelskreise von zentraler Bedeutung, die „Mentalität“ der einheimischen Facharbeiter und Eliten zu verändern. Maßgeblich waren dabei die Idealbilder von der eigenen Wirtschaftskultur und der eigenen Industrialisierungsgeschichte. Die hohe diskursive und praktische Bedeutung dieser Konzeptionen verwundert vor der Folie der aktuellen Forschungsliteratur zum Thema „Modernisierung“ in den 1950er und 1960er Jahren. Denn diese bezieht sich vor allem auf die in der Außenpolitik des Kalten Kriegs so wichtige Wachstumstheorie, die „Unterentwicklung“ hauptsächlich aus einem Mangel an Investitionskapital erklärte. Die mittlerweile jahrzehntelange historische und soziologische Kritik an dieser Theorie ist inzwischen so elaboriert und allgegenwärtig, dass hinter ihr andere damalige Denkweisen über „Entwicklung“ fast völlig verschwunden sind. Nimmt man einen bislang wenig beachteten Akteurskreis in den Blick, bestätigt sich die Hypothese, dass wirtschaftliche „Entwicklung“ und geistige oder kulturelle „Entwicklung“ in den Augen der Zeitgenossen einander bedingten. Wirtschaftliche Chancen schienen sich vor allem dort zu bieten, wo bestimmte kulturelle Eigenschaften vorherrschten oder wo diese veränderbar schienen. Die Psychologie der einheimischen Arbeiter und die „Mentalität“ der fremden „Völker“ sollten im allgemeinen Interesse von Wohlstand und „Fortschritt“ durch charakterliche Vorbildwirkung, Pioniergeist und Erziehung verändert werden. Durch schockartige Eingriffe sollten die kulturellen Defizite der Individuen behoben werden. Nicht ein großer Kapitalimpuls und die Erhöhung von Spar- und Investitionsquoten reichten aus, um ein sich selbst tragendes Wachstum anzustoßen. Folgerichtig war damit auch von einer langen Dauer der gesamtgesellschaftlichen „Entwicklungsprozesse“ auf den „überseeischen Märkten“ auszugehen. Dabei bestand das mittelfristige Ziel ganz offensichtlich nicht in einer demokratischen oder einer sozioökonomisch nivellierten Gesellschaft in „Übersee“; das Leitbild war eine klar geschichtete, von Führungspersönlichkeiten aus der Privatwirtschaft geleitete Gesellschaft, in der durch Expertise von außen ökonomisches Wachstum angestoßen wurde. 206 Vgl. Cooper/Packard, Introduction 1997, S. 31.

IX. DAS ERKENNTNISOBJEKT VERSCHWINDET Man kann die Aussagen von Wolfgang Schmale zu „Europa“ auch auf „Übersee“ ummünzen: „Übersee“ ist da, wo Menschen von „Übersee“ reden und sprechen (…), wo Menschen „Übersee“ imaginieren und visualisieren, wo Menschen in Verbindung mit dem Namen und dem Begriff „Übersee“ Sinn und Bedeutung konstituieren.1 So gesehen, verschwindet „Übersee“ um 1970. Seitdem ist „Übersee“ nämlich nahezu vollständig aus dem Sprachgebrauch getilgt worden. Der Begriff war noch Teil der Alltagssprache, etwa als Herkunftsbezeichnung in der Weinabteilung von Supermärkten, doch als Beschreibung eines ökonomischen Imaginationsraums oder als Analysekategorie wurde er nur noch selten genutzt. Er fiel dem Bedürfnis der Zeitgenossen nach neuen Ordnungskategorien der Welt zum Opfer.2 Heutzutage wäre die Vorstellung von einem Erkenntnisobjekt „Übersee“ zudem schnell dem postkolonialen Vorwurf ausgesetzt, es werde in eurozentrischer Denktradition ein riesiges homogenes Territorium voller Entwicklungsdefizite konstruiert und ein Gebiet zusammengefasst, das in der Realität durch immense Unterschiede gekennzeichnet ist und sich selbst nicht als zusammengehörig begreift.3 Ausgangspunkt der vorliegenden Arbeit war jedoch die Beobachtung, dass die „überseeischen Märkte“ von den bundesrepublikanischen Außenhandelskreisen, aber auch in der Wirtschaftspolitik und unter Wirtschaftswissenschaftlern bereits unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg als „Märkte der Zukunft“ beschrieben wurden. Die Analyse der zeitgenössischen Diskussionen hat dabei gezeigt, wie zunächst eine Problemwahrnehmung dominierte, die für den gesamten Außenhandel typisch war. Dies änderte sich Mitte der 1950er Jahre: In dieser Zeit bildete sich eine Auffassung von den „überseeischen Märkten“ bei den Zeitgenossen heraus, die jene als ganz spezifischen Raum konstruierten, der sich von anderen Exportmärkten unterschied. Dies ist vor allem darauf zurückzuführen, dass die unter diesem Begriff zusammengefassten Territorien in Gebieten lagen, die vor dem Hintergrund der zeitgenössischen „Entwicklungseuphorie“ und einer veränderten Wahrnehmung der Weltwirtschaft fortan als „entwicklungsfähig“ beschrieben wurden.4 In den Außenhandelskreisen der Bundesrepublik galten sie zunehmend als durch er1 2

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Schmale, Geschichte Europas 2001, S. 13. Dass die Verunsicherung der „Wirtschaftswunder-Unternehmer“ in der ersten Hälfte der 1970er Jahre in einer Identitäts- und Legitimitätskrise kumulierte, die auch eine neue Nachfrage nach Wissen besiegelte, darauf verweist: Köhler, Havarie 2012. Die 1970er Jahre werden ohnehin als Zeit struktureller Umbrüche und veränderter Wahrnehmungshorizonte interpretiert. Diese internationale Phänomene werden in der historischen Forschung als „Shock of the Global“ verhandelt. Ein besonderer Fokus liegt dabei auf dem Bedeutungsgewinn internationaler Akteure und der Entstehung neuer internationaler Politikfelder. Vgl. Ferguson u. a., Shock 2010. Vgl. Jansen/Osterhammel, Dekolonisation 2013. Schubert hat darauf verwiesen, dass dieser Bedeutungswandel nicht unumkehrbar war und stellt für die 1990er Jahre fest, dass im damaligen entwicklungspolitischen Pessimismus wieder unveränderliche statische Kulturen suggeriert wurden. Vgl. Schubert, Fremde 2003, S. 377.

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höhte und spezifische – aus dem „Entwicklungsprozess“ resultierende – Risiken geprägt. Auch wenn bereits in den Jahrzehnten zuvor von „überseeischen Märkten“ die Rede gewesen war, entstand erst Mitte der 1950er Jahre eine nennenswerte, auf das Erkenntnisobjekt „Übersee“ zugeschnittene Wissensinfrastruktur, die über kleine Zirkel in den Hansestädten und einzelne Kolonialinstitute oder Institutionen des „Auslandsdeutschtums“ hinausreichte. Dies lag zum einen an einem gesteigerten Willen zum Wissenserwerb über die dortigen Märkte. Zum anderen ermöglichten erst neue finanzielle Spielräume den Ausbau einer spezialisierten Wissensinfrastruktur. Die Wissensinfrastruktur zu den „überseeischen Märkten“ wurde im Laufe der 1960er Jahre immer stärker ausgebaut. Diejenigen Institutionen, die sich mit den ökonomischen Problemen und Chancen in „Übersee“ befassten, waren seit dem ersten Drittel der 1960er Jahre personell und finanziell gut ausgestattet und untereinander auf vielfältige Weise vernetzt. Hinzu kam, dass sich nun auch die Bundespolitik in diesem Bereich engagierte, insbesondere, nachdem sie im neu geschaffenen Politikfeld „Entwicklungshilfe“ verstärkt auf die Zusammenarbeit mit den bundesrepublikanischen Unternehmen setzte.5 Entscheidend ist, dass die „überseeischen Märkte“ in den Institutionen des praxisrelevanten „Überseewissens“ als Märkte von sich industrialisierenden Ländern analysiert wurden. Das „Überseewissen“ war damit vor allem ein Wissen über Entwicklungsdefizite und -chancen. Vor diesem Hintergrund schufen zahlreiche Institutionen, insbesondere in den Städten der bedeutenden Außenhandelshäuser und in bzw. nahe den großen Industriegebieten, ein umfangreiches Wissen über die Kulturen in „Übersee“. Denn Wirtschaftsräume waren unter dem Entwicklungsparadigma Kulturräume. Der Begriff „Übersee“ wurde dabei, so ist argumentiert worden, vor allem deswegen verwendet, weil er Komplexität sinnvoll reduzierte und das allgemeine Informationsdefizit zu diesen Räumen auszugleichen versprach. Da von einer Wesensähnlichkeit der sich entwickelnden Gebiete ausgegangen wurde, konnten nicht nur Informationslücken geschlossen werden. Darüber hinaus war es mit Hilfe des Konstrukts „Übersee“ möglich, zahlreiche Bezüge zwischen unterschiedlichen Märkten und Gesellschaften herzustellen. In den Außenhandelskreisen und unter den Wissenschaftlern in jenen Institutionen, die praxisrelevantes Wissen für diesen Personenkreis bereitstellten, war man sich zwar durchaus bewusst, dass es lokale, regionale und nationale Unterschiede gab. Insbesondere die Großräume „Iberoamerika“, „Afrika“, „Nah- und Mittelost“ und „Ostasien“ wurden in kultureller Hinsicht voneinander unterschieden. Folglich wurden für diese Räume jeweils eigene, spezialisierte Institutionen gegründet. Nichtsdestotrotz wurden die Gebiete immer wieder mit Hilfe der omnipräsenten Begriffe „Übersee“ bzw. „überseeische Märkte“ zusammengefasst, da angenommen wurde, sie seien von den gleichen Problemen und Risiken geprägt. Dies änderte sich erst gegen Ende der 1960er Jahre. Innerhalb weniger Jahre verschwanden beide Begriffe aus den Stellungnahmen der Unternehmer. Das war 5

Folgenschwer war der seit 1969 eingeschlagene Reformkurs des BMZ unter Erhard Eppler. Dieser sah vor allem die Umschichtung von der Kapitalhilfe zur „Technischen Hilfe“ vor. Vgl. Hein, Entwicklungspolitik 2006, S. 193.

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nicht lediglich ein terminologischer Wandel – das Erkenntnisobjekt „Übersee“ löste sich auf. In seinem Jahresbericht 1968/69 hielt der BDI fest, dass dank der bislang geleisteten Hilfe „eine ganze Reihe“ von Ländern „den Sprung zu einem weitgehend sich selbst tragenden Wirtschaftskreislauf geschafft“ hätten.6 In der ersten Hälfte der 1970er Jahre konnten zudem zahlreiche „Entwicklungsländer“ von einem Preisanstieg auf den internationalen Rohstoffmärkten profitieren.7 Infolgedessen stiegen die Ausfuhrerlöse der „Entwicklungsländer“ so stark an, dass deren Anteil am Welthandel erstmals seit den 1950er Jahren wieder wuchs.8 Dies entfachte noch einmal weitgespannte Hoffnungen auf eine starke Rolle deutscher Wirtschaftsunternehmen als Handelspartner und als vor Ort ansässige Produzenten. Zeitgleich äußerten sich die zentralen Institutionen des „Überseewissens“ aber immer skeptischer zur volkswirtschaftlichen Lage zahlreicher „Entwicklungsländer“. So verwies der BDI in seinem bereits zitierten Bericht darauf, „daß die wirtschaftliche Lage mancher volkreicher Entwicklungsländer in Asien, aber auch zahlreicher Staaten in Schwarzafrika kaum merklich besser geworden“ sei.9 Dieser Umstand führte zu kritischen Äußerungen in Bezug auf die bisherigen Erfolge im „Entwicklungsgeschäft“. Immer häufiger wurde in den Berichten der Außenhandelskreise daher auf die zum Teil sehr großen Unterschiede innerhalb der Gruppe der „Entwicklungsländer“ verwiesen. Otto Wolff von Amerongen10, zu diesem Zeitpunkt u. a. Präsident der Deutschen Gruppe der Internationalen Handelskammer (ICC), betonte beispielsweise 1968: „Die Entwicklungsländer lassen sich nicht alle in einen Topf werfen.“11 Und der BDI hob 1969 hervor: „Die Probleme der Entwicklungspolitik werden leichter und schwerer zugleich. Diese paradox erscheinende Feststellung wird verständlich, wenn man sich bemüht, die sog. Dritte Welt differenzierter zu sehen. Rasche Fortschritte einer gar nicht so kleinen Gruppe wirtschaftlich erfolgreicher Länder stehen Stagnation und sogar rückläufige Entwicklungen in zahlreichen anderen Ländern gegenüber. Im Grunde gibt es eben keine Gruppe der Entwicklungsländer, die als Einheit behandelt werden kann. Globale Rezepte für den Wirtschaftsaufbau in den Entwicklungsländern sind schlechte Rezepte, weil sie für die Mehrzahl der Betroffenen falsch sind.“12 6 7 8 9 10

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Jahresbericht des BDI 1968/69, S. 75. Vgl. Donges, Anpassungsvorgänge 1975, S. 16 f. Vgl. Ebd., S. 15. Jahresbericht des BDI 1968/69, S. 75. Zum Begriff „Schwarzafrika“, der die Gebiete südlich der Sahara bezeichnete, und zu anderen typischen zeitgenössischen Bezeichnungen vgl. Attikpoe, Folgenschwere Konstrukte 2003. Otto Wolff von Amerongen (1918–2007), Unternehmer (Fa. Otto Wolff), Inhaber zahlreicher Aufsichtsratsmandate, prägende Figur im DIHT (Präsident 1969–1988) und im Ostausschuss der deutschen Wirtschaft (1955–2000). Vgl. Rudolph, Wirtschaftsdiplomatie 2004, S. 231– 241. Wolff von Amerongen, Internationalisierung 1968, S. 30, Archiv des Instituts für Zeitgeschichte München ED 708 IV 3.5. Zitiert ist damit auch eine der wenigen Äußerungen, in denen mit dem take-off-Begriff aus der Rostow’schen Modernisierungstheorie hantiert wurde. Jahresbericht des BDI 1968/69, S. 75. Der im vorliegenden Zitat verwendete Begriff „Dritte Welt“ wurde trotz seiner zeitgenössischen Prominenz in den Stellungnahmen der bundesrepublikanischen Außenhandelskreise und der Institutionen des „Überseewissens“ kaum verwendet. Anscheinend hatte er hier, anders als etwa in der US-amerikanischen Entwicklungsökonomie, nicht die Kraft, eine neue Wahrnehmung von Differenz zu markieren. Vgl. hierzu: Speich

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Das waren durchaus neue Töne. Zwar waren die Unterschiede zwischen den einzelnen Ländern auch zuvor schon thematisiert worden. Nun stand jedoch die Wesenseinheit der „überseeischen Märkte“ an sich zur Disposition und es wurde angezweifelt, ob die Kategorie „Märkte mit Zukunft“ überhaupt noch auf sie anzuwenden sei.13 Es ist dabei kein Zufall, dass in den angeführten Quellenzitaten der Begriff „Übersee“ nicht mehr auftauchte und stattdessen von „Entwicklungsländern“ die Rede war. Ursprünglich war dieser Begriff vor allem als Synonym für „Übersee“ gebraucht worden und sollte seit Mitte der 1950er Jahre die generelle Entwicklungsfähigkeit einer Region betonen. Nun, Ende der 1960er Jahre, stand er für die große Vielfalt an Entwicklungsstadien in der Welt. „Unterentwicklung“ war fortan viel genauer nach Ursachen, Ausprägungen und Folgen zu spezifizieren und nicht mehr einfach durch den Verweis auf eine allgemeine Rückständigkeit gegenüber den Industrieländern zu begründen.14 Dies schlug sich in den Jahren 1969 und 1970 in der international geführten Debatte über die Evaluation der ersten und die Ziele der zweiten „Entwicklungsdekade“ nieder.15 Die bisherige Konzentration der „Entwicklungshilfe“ auf „gigantische Staudämme, Kraftwerke und Stahlwerke“ wurde nun weltweit immer häufiger als ein Fehlschlag bezeichnet: Weil es kein „angemessenes Potential an einheimischen Fach- und Führungskräften“ gebe, würden diese Einrichtungen „zu nutzlosen, wenn nicht lästigen Monumenten einer verfehlten Entwicklungspolitik degradiert werden“.16 Nicht nur der BDI forderte daher eine „nüchterne Betrachtung“ des Bestehenden, bezeichnete die bisherige Politik als „naiv“ und mahnte eine Schwerpunktverlagerung an.17 Andere Industrievertreter sprachen davon, dass „viele deutsche Unternehmer“ mit ihren Investitionen und Niederlassungen in „Entwicklungsländern schlechte Erfahrungen gemacht“ hätten. Es bestehe dort

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Chassé, Theorieeffekt 2015. Zur Begriffsgeschichte vgl. Dinkel, „Dritte Welt“ 2014. Zur erst nach dem Zweiten Weltkrieg feststellbaren Prominenz des Attributs „unterentwickelt“ vgl. Iriye, Entstehung einer transnationalen Welt 2013, S. 707. Neue Kategorien wurden kurz darauf auch in den internationalen Statistiken eingeführt. Seit 1971 unterschied die UN Less Developed Countries und Least Developed Countries. Vgl. Büschel, Entwicklungspolitik 2010, S. 2. Der Begriff der „Entwicklungsländer“ hatte schon Ende der 1950er Jahre den Begriff der „unterentwickelten Länder“ mehrheitlich abgelöst. Damit war, folgt man einer Einstellungsanalyse von 1962, allerdings kein Konzeptwechsel einhergegangen. Die Länder wurden „nach wie vor vom Negativen her beschrieben: arm, rückständig und hilfsbedürftig“. Danckwortt, Psychologie der Deutschen Entwicklungshilfe [1962] 1966, S. 144. Zum zentralen Topos „Rückständigkeit“ in den Beschreibungen ungleicher regionaler „Entwicklung“ vgl. Komlosy, Globalgeschichte 2011, S. 67–70. Die Einteilung der globalen „Entwicklungspolitik“ in „Entwicklungsdekaden“ geht auf die „Entwicklungsziele“ der UN zurück. In der ersten „Entwicklungsdekade“ dominierte dort die Hoffnung auf einen Trickle-Down-Effekt. Gefördert wurden überwiegend industrielle Großprojekte, in der Hoffnung, dass von diesen Impulse für ein industrielles Wachstum ausgingen, das nach und nach der gesamten Bevölkerung zugutekäme. Das Zitat, das aus dem Jahr 1967 stammt, zeigt, dass sich diese Auffassung schon vorher formierte. Die Häufigkeit der gleichlautenden Kritik nahm aber 1969/70 drastisch zu. Zitate aus Sproho, Arbeits- und Lebensverhältnisse 1967, S. 52. Jahresbericht des BDI 1968/69, S. 81.

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nicht nur ein größeres politisches, sondern auch ein schwerer abzuwägendes kommerzielles Risiko als in Industrieländern.18 Die allgemeine Euphorie und der Optimismus der frühen 1960er Jahre waren mittlerweile verflogen. Zwar sah man auch Erfolge, dass es auf der gesamten Welt aber in absehbarer Zeit zu einem Wirtschaftswunder kommen würde, galt nun als unwahrscheinlich. Mit Bezug auf den Bericht des Pearson-Kommission19 stellten die bundesdeutschen Industrievertreter sogar die bewusst provokant gemeinte Frage, ob die bisherige Entwicklungspolitik „am toten Punkt“ angekommen sei. Zumindest sei eine „gewisse Resignation gegenüber den wachsenden Sorgen der Entwicklungsländer“ festzustellen. Deren Probleme wurden nicht mehr als nur vorübergehende, sondern als wahrscheinlich dauerhafte Erscheinungen angesehen.20 Die Wahrnehmung lokaler und sozialer Unterschiede verstärkte sich im Zuge der ersten Ölkrise von 1973/74.21 Erstens, weil nun auch die Industrieländer an die zeitgenössisch viel diskutierten „Grenzen des Wachstums“ zu stoßen schienen, Inflations- und Arbeitslosenraten anstiegen, das Staatsdefizit immer größer wurde und Schuldenschnitte auch für Industrieländer zumindest in den Bereich der zu diskutierenden Optionen rückten. In gewisser Weise näherten sich die Grundprobleme der „westlichen“ Ökonomien damit denjenigen der „Entwicklungsländer“ an. Zweitens zeigte die Ölkrise mit einer bis dato ungeahnten Deutlichkeit, wie unterschiedlich die vormals homogen gedachten Weltregionen mittlerweile geworden waren. Zwar wurden durch die Erhöhung des Ölpreises fast überall die Importkapazitäten eingeschränkt, doch in ganz unterschiedlichem Ausmaß. In Ländern wie Kolumbien, Mexiko, Bolivien, Malaysia, Marokko, Tunesien oder Zaire war entweder der Selbstversorgungsgrad mit Erdöl sehr hoch oder sie profitierten von der Preishausse bei ihren Hauptexportrohstoffen. Andere „Entwicklungsländer“, so ein Diskussionsbeitrag aus dem IfW 1975, die „industriell schon weiter fortgeschritten“ gewesen seien und in den vergangenen zehn Jahren ihr Exportsortiment zunehmend um Halb- und Fertigwaren erweitert hätten – namentlich genannt wurden Brasilien, die Philippinen, Südkorea und Taiwan –, seien zwar mit leicht verschlechterten terms of trade konfrontiert, hätten aber das industrielle Potenzial, um 18 19

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Wolff von Amerongen, Internationalisierung 1968, S. 30, Archiv des Instituts für Zeitgeschichte München ED 708 IV 3.5. Der Pearson-Bericht war eine 1969 von der Commission on International Development vorgelegte Evaluation der letzten 20 Jahre „Entwicklungspolitik“, insbesondere der Jahre seit 1960. Er war vom Weltbank-Präsidenten Robert McNamara in Auftrag gegeben worden. In ihm wurden die vorherrschende Modernisierungstheorie und die darauf fußende Gleichsetzung von ökonomischem Wachstum und „Entwicklung“ kritisiert. Der Bericht sollte die „Entwicklungspolitik“ der 1970er Jahre stark beeinflussen. Vgl. Pearson, Pearson-Bericht 1969. Die maßgebliche Beteiligung der bundesrepublikanischen Delegation am endgültigen Report der Kommission und die Konsequenzen für die bundesrepublikanische Entwicklungspolitik sind dargestellt bei: Schmidt, German Foreign Assistance Policy 2008, S. 133 f. und S. 140 f. Jahresbericht des BDI 1968/69, S. 163. Zunehmender Pessimismus und Skepsis bezüglich der baldigen Erfolge der „Entwicklungspolitik“ prägten auch das politische Feld. Vgl. Ebd., S. 121 f. Knapp zur Ölkrise und zu ihrer zeitgenössischen Interpretation: Plumpe, Wirtschaftskrisen 2012, S. 92–101.

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ohne große Wachstumseinbußen durch die Ölkrise zu kommen. Dass der Redner im gleichen Atemzug auch Staaten wie Israel, Jugoslawien und Spanien nannte, die zuvor nicht als Teil von „Übersee“ begriffen wurden, zeigt, wie sehr sich die Vorstellung dieses Raumes auflöste. Anderen Ländern, besonders jenen in „Südasien“, der „Sahel-Zone“ und in „Mittelamerika“, bescheinigte der Redner, dass die Ölkrise sie mit ungleich größerer Härte getroffen habe.22 Die Erkenntnis von der grundsätzlichen Unterschiedlichkeit der „Entwicklungsländer“ veränderte die Wahrnehmung der Zukunftsmärkte. Fortan sprach kaum noch jemand in den ökonomischen Kreisen von „überseeischen Märkten“ als Märkten mit den gleichen, für sie typischen Problemen. Der Begriff „Übersee“ wurde zu einer Reminiszenz an vergangene Zeiten ohne großes Erkenntnispotenzial und ohne die Kraft, praxisrelevante Ordnungs- und Entscheidungskategorien zur Verfügung zu stellen. Es geht also um mehr als um eine terminologische Verschiebung. Denn mit ihr ging eine Nachfrage nach neuem wissenschaftlichen Wissen einher. Zum einen wurde nun auf andere Weise auf wirtschaftswissenschaftlichen Sachverstand zurückgegriffen: Immer häufiger fanden in den Räumen der industriellen Interessenvertretungen, in den Ländervereinen, dem HWWA und dem IfW „rein wissenschaftliche“ Tagungen statt. Thematisch waren diese nun eindeutig als auch im heutigen Sinne „volkswirtschaftlich“ zu erkennen: Sie drehten sich überwiegend um das Ungleichgewicht der Zahlungsbilanzen, um Funktionsstörungen am internationalen Rohstoff- und Kapitalmarkt, um Produktionsstrukturen im Umbruch sowie um Maßnahmen zur Bekämpfung der Inflation und um Arbeitslosigkeit.23 Diese Tagungen, an denen neuerdings auch ausländische Wissenschaftler teilnahmen, wurden vonseiten der Unternehmer unterstützt und rezipiert. Ganz offensichtlich boten sie aber nur noch selten Wissen für die Praktiker in den Unternehmen. Fortan bildeten branchenspezifische Länderstudien das zentrale Informationsreservoir für die bundesrepublikanischen Unternehmer. Damit war Mitte der 1970er Jahre auch kaum noch von den vormals zentralen Wirtschaftsgroßräumen die Rede. Zwar verschwanden „Afrika“, „Iberoamerika“, „Nah- und Mittelost“ und „Südostasien“ nicht gänzlich aus dem begrifflichen Repertoire, doch waren sie immer seltener Ausgangspunkt von Marktanalysen.24 Auffällig ist, dass diese Kategorien auch in anderen Zusammenhängen ihre Bedeutung verloren. Das gilt für die Politikwissenschaften, die Sozialwissenschaften, die Geografie und die Ethnologie. In den 1970er Jahren wurde die Annahme der „Entwicklungsländer“ als eine Entität revidiert. Im Zuge des Jahrzehnts wurde immer deutlicher, „dass die älteren Ansätze sich nicht mit den empirischen Untersuchungsergebnissen und neueren theoretischen Annahmen vereinbaren ließen“.25 22 Vgl. Donges, Anpassungsvorgänge 1975, S. 16 f., Zitate und Begrifflichkeiten S. 17. Zum Modernisierungsdiskurs zu „Südeuropa“ vgl. Knöbl, Southern Europe 2015. 23 Das zeigt sich insbesondere im IfW und dem HWWA. Dies betrifft aber auch die Ländervereine. Allgemein zum Zusammenhang von ökonomischen Krisen und sich wandelnden Weisen der Wissenserzeugung: Plumpe, Wirtschaftskrisen 2012, S. 14–26. 24 Ein weiterer Grund dafür war, dass die Außenhändler nicht mehr ausschließlich Regionalspezialisten waren. 25 Dinkel, Dritte Welt 2014, S. 14.

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Exemplarisch genügt ein kurzer Blick auf die Wirtschaftsgeografie.26 Auch dort verabschiedete man sich von der Untersuchung von Großräumen.27 Bis dato zentrale Deutungen und Beschreibungsweisen verloren ihre Aussagekraft, Untersuchungsobjekte wurden auf grundsätzliche neue Art festgelegt. Die alte „Länderkunde“ wurde abgelöst durch die „Neue Geografie“.28 Analytische Ansatzpunkte waren nun nicht mehr die räumlich segregierte Weltgesellschaft und die Beschreibung der Einheit von Natur und Kultur im Raum. In den geografischen Fachzeitschriften dominierten plötzlich quantitative mathematische Verfahren.29 War die Wirtschaftsgeografie bis in die 1960er Jahre hinein anekdotenhaft, bildorientiert und im strengen Sinn methodenfern gewesen, womit sie stark dem erzählerischen Ansatz des „Überseewissens“ der Außenhandelskreise ähnelte, strotzten die geografischen Zeitungen und Zeitschriften seit Ende des Jahrzehnts von Formeln, Graphen und Berechnungen. Auf diese Weise veränderte sich die Praxis des wissenschaftlichen Arbeitens.30 Es ist an dieser Stelle nicht nötig, tiefer in die Fachgeschichte der Geografie einzutauchen. Entscheidend ist: Im Zuge des Paradigmenwechsels in der (Wirtschafts-)Geografie fielen auch im Hintergrund wichtige Stichwortgeber und Plausibilisierer für die bundesrepublikanischen Außenhandelskreise weg. Sie hielten nun ebenfalls nicht weiter an den bislang verwendeten Kategorien fest. Zwar gab es gegenüber dem wissenschaftlichen Bedeutungsverlust des Raumes „Übersee“ eine gewisse Zeitverzögerung. Zudem trifft diese Aussage auch nicht auf alle Unternehmer zu. Doch diejenigen, die die Existenz von Wirtschaftsgroßräumen in Frage stellten, konnten nun in neuer Art und Weise auf die Res26

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Eine Phase des tiefgreifenden Umbruchs stellt Dieter Haller aber beispielsweise auch für die Völkerkunde/Ethnologie fest. Vgl. Haller, Suche 2012, S. 181–240. Das Verschwinden des Raumes aus der Ethnologie und das Nachlassen des Interesses für das Wechselverhältnis von Raum und Kultur stellt fest: Schmoll, Vermessung 2010, S. 389. Es gab allerdings auch Gegentendenzen. Insbesondere durch die Rezeption der fächerübergreifenden area studies aus den USA versprach der Großraumansatz neue Fördergelder. In den Vereinigten Staaten waren die area studies seit dem Zweiten Weltkrieg erheblich ausgebaut worden. Hierzu vgl. Brahm, Wissenschaft und Wirtschaft 2014, S. 138 f.; Engerman, Enemy 2009. Die area studies sind heutzutage wichtige Informationslieferanten für die Globalgeschichte. Auch diese läuft damit Gefahr, Raumbilder zu übernehmen und zu reproduzieren. Zur Geschichte der area studies vgl. Kwaschik, Griff nach dem Weltwissen 2018. Zur Absage an das Programm der alten Länderkunde vgl. Wardenga, Erde im Buch 2005, S. 120. Dass die Mathematisierung im Kalten Krieg ein allgemeiner Trend der Sozial- und Wirtschaftswissenschaften war, darauf verweist Link, Sozialwissenschaften 2018. Dies zeigt schon der kursorische Blick in folgende Zeitschriften: Die Erde, Erdkunde, Geographica Helvetica, Berichte zur deutschen Landeskunde, Geographische Rundschau, Geographische Zeitschrift. Folge war die Trennung der naturwissenschaftlich ausgerichteten Physiogeografie und der sozialwissenschaftlich ausgerichteten Humangeografie. Als Kristallisationspunkte dieses Umbruchs werden die 1968 erschienene Habilitationsschrift Dietrich Bartels und insbesondere der Kieler Geografentag 1969 hervorgehoben. Diese „Neue Geographie“ setzte sich auch deswegen durch, weil die etablierte Geografie nicht mehr gesellschaftsrelevant zu sein schien und sich ein Generationswechsel innerhalb des Fachs anbahnte. Im Zuge dessen wurden immer häufiger auch Impulse aus den USA aufgegriffen. Dies ist im Grunde sehr typisch für die 1960er und 1970er Jahre: Generationskonflikte in einzelnen Wissenschaften wurden auch andernorts mit Verweis auf bereits etablierte US-amerikanische Forschungsansätze geführt.

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source Wissenschaft Bezug nehmen.31 Begünstigt wurde dies durch einen Generationswechsel in den zentralen Institutionen des Überseewissens und in den Führungsetagen der deutschen Wirtschaft. Bedeutende Unternehmer und Wissenschaftler, die die Debatten der 1950er und 1960er Jahre geprägt hatten, kamen in der ersten Hälfte der 1970er Jahre nicht mehr zu Wort. Bei der Besetzung wichtiger Posten in den relevanten Institutionen wurde noch in den 1960er Jahren auf Personal zurückgegriffen, das noch im Kaiserreich sozialisiert worden war und bereits lange vor dem Zweiten Weltkrieg Erfahrungen auf den „Überseemärkten“ gesammelt hatte. Das war schon aus biologischen Gründen in den Nachfolgejahren im Grunde nicht mehr möglich. Und auch aus den Entscheidungspositionen der deutschen exportorientierten Unternehmen schied nun jene Generation aus, die die ersten Nachkriegsjahrzehnte und die „Wirtschaftswunderzeit“ geprägt hatte. Diese „Wachablösung“ begann bereits in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre, kam aber erst in den 1970er Jahren zum Abschluss. Die Forschungsergebnisse zu diesem Generationswechsel sind alles andere als eindeutig, dennoch lässt sich bei einem Blick in die Quellen der 1970er Jahre feststellen, dass in den untersuchten Institutionen nun andere Personen aus der nachfolgenden Generationskohorte miteinander kommunizierten.32 Zeitgleich veränderte sich die staatliche „Entwicklungspolitik“ unter dem neuerdings zuständigen Minister Erhard Eppler. Handelsinteressen waren weiterhin wichtig, „eine allzu prägnante Förderung der Außenwirtschaftsinteressen der Bundesrepublik mit Mitteln der Entwicklungshilfe schien jedoch nicht mehr geboten“. Dies unterhöhlte die enge Verkopplung kultureller und ökonomischer Fragen zusätzlich.33 Wenn hier das Verschwinden des Erkenntnisobjekts der „überseeischen Märkte“ und damit einer spezifischen Weise der Marktanalyse in den frühen 1970er Jahren betont wird, dann heißt dies freilich nicht, dass damit das Interesse an den ökonomischen Chancen derselben Weltregionen endete. Im Gegenteil: Die Phase der spektakulären Ausweitung der Direktinvestitionen stand noch bevor. Auch folgte daraus keine Auflösung der in dieser Arbeit analysierten Institutionen. Die Wissensinfrastruktur blieb erhalten, das in ihr erzeugte Wissen veränderte sich aber. Fragen nach der „Entwicklungsfähigkeit“ von Kulturen spielten fortan eine untergeordnete Rolle. In typischer Weise wurden durch neuerliche Globalisierungsschübe die etablierten Institutionen nicht abgeschafft, sondern umgeformt.34 31

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Institutionelle Pfadabhängigkeiten waren hier aber noch lange Zeit wirksam und sind es zum Teil bis heute. Die Ländervereine änderten beispielsweise ihre räumliche Herangehensweise nicht. Ihre praktische Arbeit sah nichtsdestotrotz spätestens in den 1980er Jahren ganz anders aus als in den 1950er Jahren. Hartmann betont, dass von den Spitzenmanagern der 400 größten deutschen Firmen 1969 noch 85 % im Deutschen Kaiserreich geboren waren. Innerhalb eines Jahrzehnts hatte sich dieser Anteil auf knapp 10 % reduziert. Berghahn geht davon aus, dass sich in den 1960er Jahren ein neuer „moderner“ Unternehmertyp durchsetzte. Dem widerspricht von Plato. Er geht schon für die 1950er Jahre von zwei zeitgleich existierenden Typen aus. Köhler spricht vom „Scheitern der Patriarchen“ in den 1970er Jahren. Vgl. Hartmann, Topmanager 1996, S. 58–65; von Plato, „Wirtschaftskapitäne“ 1993; Köhler, Havarie 2012, S. 277. Vgl. Unger, Export 2012, S. 84 f., Zitat S. 85. Vgl. Osterhammel/Petersson, Globalisierung 2004, S. 14.

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IX. Das Erkenntnisobjekt verschwindet

Während sich in den Institutionen des „Überseewissens“ dieser Wandel sehr schnell bemerkbar machte, kann davon auf der Ebene der kollektiven Praktiken keine Rede sein. Zum Beispiel blieben in der Praktikantenausbildung das paternalistische Programm der psychischen Transformation einheimischer Eliten und die Idee einer besonderen Verantwortung deutscher Führungskräfte in den „Entwicklungsländern“ weiterhin bestehen.35 Zwar begründeten die mit diesem Aufgabengebiet befassten Institutionen ihre Tätigkeit ab Ende der 1970er Jahre mit einem anderen Vokabular, verwiesen etwa stärker als zuvor auf Effekte gegenseitigen Lernens, doch blieben das Entfremdungs-, Erziehungs- und das Charakterbildungsziel bestehen. Ungebrochen blieb auch die Vorstellung, die Leistung der „kulturellen Deutschen“ könne das Gelingen von Entwicklungsprojekten und staatlichen Entwicklungsstrategien sichern.36 Dies lag vor allem daran, dass die deutschen Unternehmer mit ihrer Ausbildungspraxis seit Ende der 1960er Jahre international als vorbildlich galten. Als die internationale „Entwicklungseuphorie“ verpuffte, hoben die Wissensproduzenten im internationalen „Entwicklungsdiskurs“ Positionen und Bewertungen hervor, die den deutschen Vorstellungen und Zielen entsprachen.37 Beispielsweise verwiesen sie verstärkt auf die Bedeutung der „Technischen Hilfe“.38 Die deutschen Unternehmer fühlten sich dadurch bestätigt. Aus dem mehr aus der Not der eigenen Unterversorgung an Eigenkapital als aus Überzeugung geborenen Entwicklungsprogramm „mit deutschem Antlitz“ wurde ein Vorzeigemodell. Auch deswegen endete die bisherige Ausbildungspolitik nicht einfach mit dem Verschwinden des Erkenntnisobjekts „Übersee“. Länderspezifisch ausgerichtet, der neuen Konzeption „Entwicklungsländer“ angepasst und dabei in der Folgezeit noch einmal stärker als zuvor von der Bundesregierung und der bundesrepublikanischen Administration unterstützt, verfolgten die Praktikantenprogramme noch in den 1970er und 1980er Jahren die gleichen Ziele.39 Auch für die 35

Dies im Gegensatz zum Wandel der innerbetrieblichen Herrschaftsformen an den Unternehmensstandorten in Deutschland gegenüber deutschen Arbeitnehmern. Zum Zerfall des Unternehmenspaternalismus vgl. Deutschmann, Postindustrielle Industriesoziologie 2002, S. 132 f. 36 Vgl. Casper, Internationale Zusammenarbeit muß gelernt werden. Jedes Gemeinwesen braucht den Austausch mit anderen Völkern, in: FAZ vom 25.4.1979, S. 9, RWWA 352-15-5. Vgl. auch: Redemanuskript Walther Casper anläßlich der Gründung der CDA-Hessen, März 1979, S. 5, RWWA 352-15-5. Walter Casper war Vorstandsmitglied der CDG und der Metallgesellschaft. Die fortwährende Überzeugungskraft lag auch daran, dass der zunehmende Einfluss neoliberaler Gedanken in der Entwicklungsökonomie den Staat als zentralen Entwicklungsmotor in Frage stellte. Vgl. Akude, Theorien der Entwicklungspolitik 2011, S. 84. 37 Vgl. den einflussreichen Bericht: Pearson, Pearson-Bericht 1969. Hierzu vgl. Büschel, Entwicklungspolitik 2010, S. 5 f. Vgl. auch in Bezug auf die USA: Gilman, Mandarins 2003 sowie in globalgeschichtlicherer Perspektive den Sammelband: Engerman, Staging Growth 2003. 38 Vgl. Schmidt, German Foreign Assistance Policy 2008, S. 133–135. 39 Die 1970er Jahre waren keine Phase der Neuorientierung, sondern des quantitativen Ausbaus der bisherigen Ausbildungsinstitutionen. So schätzte auch die CDG im Jahre 1979, dass die deutsche Wirtschaft mittlerweile für die Ausbildung von „Angehörigen aus Entwicklungsländern“ jährlich über 500 Millionen DM ausgebe. Allein die CDG hatte zu diesem Zeitpunkt bereits 30.000 Stipendiaten aus den „Entwicklungsländern“ gefördert. Vgl. Interne Aufstellung über den bisher geförderten Personenkreis, Stand 1979, S. 3, RWWA 352-15-5. Mittlerweile führte man Nachwuchskräfteprogramme für die deutsche Industrie, für Bund und Bundeslän-

IX. Das Erkenntnisobjekt verschwindet

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bundesrepublikanischen Außenhandelskreise bestätigt sich so die These von HeideIrene Schmidt, dass die 1960er Jahre die formativen Jahre waren, in denen die für die nächsten Jahrzehnte wirkmächtigen Grundkonzepte der bundesrepublikanischen „Entwicklungspolitik“ entworfen, diskutiert und erprobt wurden.40 Vor dem Hintergrund der Forschungsliteratur zum Themenkomplex „Modernisierung“ und „Entwicklung“ erscheinen die „Entwicklungskonzepte“ der bundesrepublikanischen Außenhandelskreise als Ausnahme. Es gab allerdings kein spezifisch bundesrepublikanisches „Entwicklungskonzept“.41 Denn es war auch in anderen „westlichen Ländern“ durchaus typisch, über „Kulturen“ und „Mentalitäten“ und deren Auswirkungen auf den „Entwicklungsprozess“ zu debattieren.42 Die diesbezüglichen internationalen Stimmen, etwa aus der Weltbank oder von USamerikanischen Sozialwissenschaftlern und Ökonomen, haben in dieser Arbeit keine Rolle gespielt. Sie blieben unerwähnt, weil sich aus der Quellenanalyse zu den „überseeischen Märkten“ keine Anhaltspunkte für deren Kenntnisnahme in den bundesrepublikanischen Außenhandelskreisen und den Institutionen des „Überseewissens“ ergaben. Die Arbeit internationaler Institutionen wurde bis in die frühen 1970er Jahre schlichtweg kaum rezipiert. Es ist eine wichtige Erkenntnis der vorliegenden Arbeit, dass es keinen direkten Ideentransfer der US-amerikanischen Modernisierungs- und Entwicklungstheorien gegeben hat. Das hier gezeichnete Bild bliebe aber unvollständig, wenn nicht darauf verwiesen würde, dass die zeitgenössischen wissenschaftlichen Entwicklungstheorien viel differenzierter argumentierten als dies das Politikangebot der Rostow’schen Modernisierungstheorie tat. So ist es keineswegs eine Besonderheit der bundesrepublikanischen Außenhandelskreise, die lange Dauer von Entwicklungsprozessen zu betonen, Mentalitätsveränderungen anzustreben und politische Stabilität als höherwertig zu erachten als Demokratie.43 Auch in den tonangebenden internationalen Institutionen wurde immer wieder für einen Rückbau der staatlichen Eingriffe plädiert und die Förderung einer „modernen“, konkurrenzorientierten Privatwirtschaft und Unternehmerinitiative angemahnt.44 Ende der 1960er Jahre verlor der Staat in den internationalen Debatten seine „Zentralität als Fortschrittsagentur“.45 Die bisherigen Instrumente der Machbarkeit von „Entwicklung“ schienen stumpf zu sein.46 Als sich die in der vorliegenden Arbeit im Zentrum stehenden Institutionen in der Bundesrepublik den internationalen Debatten gegenüber öffneten, trafen sie somit in den 1970er Jahren auf ein Diskursfeld, das mit ihren eigenen Deutungstraditionen kompatibel war.

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der, für UNESCO, UNIDO, OECD und die UN durch. Zukünftig wollte man sich noch stärker der beruflichen Auslandsfortbildung für Angehörige mittlerer und kleinerer auslandsorientierter deutscher Unternehmen widmen. „Schwerpunktländer“ sollten dabei zunächst Mexiko, Brasilien, Indonesien und Nigeria werden. Ebd., S. 5 und S. 7. Vgl. Schmidt, German Foreign Assistance Policy 2008, S. 93. Vgl. Unger, Industrialization vs. Agrarian Reform 2010, S. 62. Zum Zivilisationsvergleich in der Modernisierungstheorie vgl. Knöbl, Kontingenz 2007. Zu den methodischen Problemen eines solchen Vergleichs vgl. ebd., S. 169–207. Vgl. Dörre, Leistungsstreben 2017. Dies zeigt ein Blick in die damaligen Länderberichte von Weltbank und OECD. Speich Chassé, Fortschritt 2012, S. 5. Vgl. Büschel, Entwicklungspolitik 2010, S. 5 f.

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IX. Das Erkenntnisobjekt verschwindet

Das Verschwinden des Erkenntnisobjekts der „überseeischen Märkte“ bedeutet nicht, dass man sich nicht mehr für fremde Kulturen und Märkte in „Entwicklungsländern“ interessierte.47 Allerdings veränderte sich in diesem Zuge der Blick auf Globalisierungsprozesse. Lokale Standortbedingungen sowie Branchenunterschiede standen nun im Fokus. Dies war gerade angesichts der steigenden Direktinvestitionen – die ja immer Investitionen an konkreten Orten waren –, neuen Informationsquellen und der jeweils unterschiedlichen Auswirkung der Globalisierung auf einzelne Industriebranchen folgerichtig. Es endete – wenn auch nicht abrupt – die durch einen bestimmten Blick auf fremde Kulturen geprägte Phase des Wissenserwerbs über „überseeische Märkte“. Mit dem Abtritt einer den „Überseehandel“ in der „Wirtschaftswunderzeit“ prägenden Generation und unter veränderten weltwirtschaftlichen Rahmenbedingungen waren die zuvor gültigen Annahmen für die neuen Entscheidungsträger in den Unternehmen nicht mehr plausibel. Geprägt durch einen anderen Erfahrungs- und Ausbildungshintergrund versuchten sie auf andere Weise, ihre deutsche Identität mit dem Prozess der Globalisierung zu verbinden. Die Hochkonjunktur des Redens über „Übersee“ war damit im ökonomischen Feld vorbei. Unter Unternehmern, in der Wissenschaftssprache und auch als Kategorie der Marktkonstruktion wurde der Begriff nicht mehr genutzt.48

47 48

Zur Rückkehr kulturanthropologischer Deutungen im Entwicklungsdiskurs seit 1990 vgl. Hüsken, Stamm der Experten, S. 1–7. Er wird als Sammelbegriff noch in der Migrations- und Kolonialgeschichte verwendet, allerdings auch dort nicht als Analysekategorie.

X. FAZIT 1. WIRTSCHAFT ALS KULTURELLES SYSTEM Die bisherige Forschung zur Reintegration der deutschen Industrie in die Weltwirtschaft hat argumentiert, dass die Mehrzahl der Unternehmer nach 1945 der Ansicht war, dass sich die deutsche Wirtschaft zunächst in „Europa“ einfügen müsse, um wieder auf den Weltmärkten Fuß fassen zu können. Die Folge sei ein „mentaler Eurozentrismus“ und eine „unterentwickelte Internationalität“ in deutschen Unternehmen und Industrieverbänden gewesen.1 Das Unternehmerlager in der AdenauerÄra wurde daher nicht nur als traditionsverhaftet beschrieben. Darüber hinaus ist dessen mentale und habituelle Disposition dafür verantwortlich gemacht worden, dass es sich „nur äußerst zögerlich auf die Handlungsmuster eines wirklich transnational-wettbewerblichen Weltwirtschaftssystems“ einstellte und stattdessen „weitgehend den Maßgaben nationaler ‚Binnenorientierung‘ verhaftet“ blieb.2 Insbesondere Bernhard Löffler hat mit Bezug auf Günter Gaus argumentiert, dass die ökonomische Welt der Westdeutschen, „zumal diejenige jenseits der euro-atlantischen Sphäre, (…) insgesamt eher eng vermessen“ gewesen und dass die Wiedereingliederung in die Weltwirtschaft vor allem als eine Wiedereingliederung in „Westeuropa“ zu verstehen sei. Die „Wirtschaftsverflechtung und mehr noch [das] Wirtschaftsdenken“ seien kaum global geprägt gewesen. Erst in den ausgehenden 1970er und in den 1980er Jahren habe sich dies verändert.3 Die vorliegende Studie hat jedoch unter Rückgriff auf ein reichhaltiges und bislang unerschlossenes Quellenmaterial deutlich gezeigt, dass sich maßgebliche Kreise in Industrie und Handel bereits kurze Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg intensiv mit Gegenden außerhalb „Europas“ und „Nordamerikas“ beschäftigten. Denn die „überseeischen Märkte“ entfachten schon frühzeitig eine gewaltige Faszination, da die Unternehmer gerade dort die zukunftsträchtigsten Märkte verorteten. Wie die zahlreichen in dieser Arbeit behandelten Vorträge, Memoranden und Sitzungsprotokolle belegen, war der Begriff „Übersee“ in den bundesrepublikanischen Außenhandelskreisen seit den 1950er Jahren omnipräsent. Als wichtiges Ergebnis der Studie ist folglich festzuhalten: Deutsche Unternehmer diskutierten zwischen 1945 und 1975 zentrale wirtschaftspolitische Probleme am Beispiel der „überseeischen Märkte“, gründeten zahlreiche Institutionen der Wissensgenese und -zirkulation zu einzelnen „überseeischen“ Regionen und erzeugten in der Epoche der „Entwicklungseuphorie“ ab der zweiten Hälfte der 1950er Jahre eine spezifische und einflussreiche Form des „Entwicklungswissens“. Sie beschäftigten sich damit

1 2 3

Kaiser, Europäisch und pragmatisch 2000, Zitate S. 121 und S. 122. Löffler, Globales Wirtschaftsdenken 2010, S. 141. Vgl. ebd., S. 144, Zitate S. 142 und S. 144.

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X. Fazit

erstens früher als bisher erwartet mit diesen Regionen und waren zweitens viel stärker als bislang bekannt an der Inventarisierung fremder Kulturen beteiligt. In Teilen der Wirtschaftswissenschaften wird Wirtschaft längst als ein kulturelles System verstanden. Insbesondere in der Verhaltensökonomik haben psychologische und neurowissenschaftliche Forschungsergebnisse zu einer Abkehr von früheren Paradigmen geführt. Mittlerweile wird mit einem erweiterten Rationalitätsbegriff hantiert; die Vorstellungen von der Effizienz von Märkten haben sich verändert und Unternehmenskulturen werden als wichtige Untersuchungsgegenstände betrachtet. Es mangelt auch nicht an programmatischen Forderungen, die die Abkehr von einer mathematisch orientierten Analyseweise fordern und die Vorteile eines soziologisch orientierten Wirtschaftsverständnisses beschwören. Insgesamt hat sich die Perspektive der Ökonomik auf ihre Untersuchungsgegenstände in den letzten Jahrzehnten dramatisch gewandelt.4 Wirtschaft als kulturelles System zu begreifen, ist in den Wirtschaftswissenschaften und auch in weiten Teilen der Wirtschafts- und Unternehmensgeschichte aber weiterhin eine Minderheitenposition.5 Gerade kulturhistorische Analysen könnten wichtige Impulse geben. Denn dass wirtschaftliches Denken und Handeln sozial und kulturell eingebettet ist, können Historiker_innen auf mehreren Ebenen zeigen: Wirtschaft ist als sozial konstruierte Sphäre mit sich verschiebenden Grenzen zu begreifen, unternehmerisch Handelnde sind immer eine in die Kultur ihres Milieus und ihres Landes eingebettete soziale Gruppe und das Denken in kulturellen Kategorien ist ein elementarer Bestandteil von Marktkonstruktionen und Risikobewertungen. Unternehmer sammeln nicht nur Informationen, sie erzeugen und interpretieren auch stets vor ihrem gesellschaftlichen und lebensgeschichtlichen Hintergrund ein Wissen, das nie eindeutig ist.6 Die in der vorliegenden Untersuchung analysierte Akteursgruppe war beispielsweise davon überzeugt, dass Wirtschaft und Kultur keine getrennten Sphären seien, sondern dass eigenes und fremdes wirtschaftliches Handeln und Denken überhaupt nur auf Basis von Kulturanalysen verständlich sei. Sie waren obendrein eine kollektiv denkende und handelnde Gruppe, die sich spezielle Orte schuf, an denen sie sich gegenseitig der Plausibilität ihrer Weltsicht versicherten. Das machte sie handlungsfähig und auch erfolgreich. 2. DAS ERKENNTNISOBJEKT Die beiden Jahrzehnte zwischen 1950 und 1970 waren eine Phase der Hochkonjunktur des Redens über „Übersee“. In dieser Zeit wurden unter „Übersee“ all jene Länder zusammengefasst, die in den vier Regionen „Iberoamerika“, „Ostasien“, „Nah- und Mittelost“ und „Afrika“ lagen. Kein Teil von „Übersee“ waren damit die Staatshandelsländer im sogenannten Ostblock. Anders als in den Jahrzehnten zuvor 4 5 6

Vgl. Kahneman/Tversky, Choices 2000. Das ruft immer wieder öffentliche Kritik und die Forderung nach einer Öffnung der Wirtschaftswissenschaften gegenüber den Sozial- und Kulturwissenschaften hervor. Jüngst: Beschorner, Wirtschaft ist Kultur 2017; Iselin/Frey, Ökonomen 2017. Vgl. Wischermann, Natur 2004, S. 30.

X. Fazit

337

wurden auch die USA, Kanada, Australien, Neuseeland und Japan nicht mehr unter diesem Begriff gefasst. In den bundesrepublikanischen Außenhandelskreisen war damit „Übersee“ der zentrale Sammelbegriff für all jene Gebiete und Staaten, in denen der Industrialisierungsgrad (noch) vergleichsweise niedrig war. Die Bezeichnung „Übersee“ fand Verwendung für ein riesiges Gebiet, das mit Begriffen wie „Unterentwicklung“ und „Entwicklungshemmnissen“ gedeutet, definiert und eingegrenzt wurde. Mit dem ständigen Reden von „Übersee“ verbanden sich Strategien der Komplexitätsreduktion und des Umgangs mit dem allgegenwärtigen Informations- und Wissensmangel im Außenhandel. Denn die „überseeischen Märkte“ wurden als weitgehend unbekannt und „unsicher“ wahrgenommen. Das Bedürfnis nach und das Interesse an eindeutig interpretierbaren Informationen über die ökonomischen Möglichkeiten, die in diesen Gebieten warteten, war hingegen groß, zumal den „unterentwickelten Ländern“ seit Mitte der 1950er Jahre zunehmend das Potenzial zur „Entwicklung“ zugeschrieben wurde. Die außenwirtschaftlichen Chancen und Risiken auf den „überseeischen Märkten“ wurden nun als so spezifisch wahrgenommen, dass sie eine eigene Wissensinfrastruktur notwendig machten. Unternehmer und ihre Interessenvertreter brachten ökonomisches und soziales Kapital auf, um Institutionen des „Überseewissens“ aufzubauen und fortlaufend zu finanzieren. In diesen wurden fortan umfangreiche Wissensbestände über das Erkenntnisobjekt „Übersee“, die „Entwicklungsfähigkeit“ der dortigen Märkte und Gesellschaften produziert, die von ihren Erzeugern und Rezipienten als praxisrelevant wahrgenommen wurden. Dies blieb so bis zum Beginn der 1970er Jahre. Doch dann verschwand das Konzept „Übersee“. Fortan dominierte der Begriff der „Entwicklungsländer“ die zeitgenössischen Diskurse. Dieser war zwar bereits zuvor synonym verwendet worden, um einen weitgehend homogenen Raum zu bezeichnen. Doch diese Vorstellung von Homogenität wich der Einsicht, dass erstens die bezeichneten Regionen untereinander durchaus verschieden waren, und dass zweitens auch in ihnen gravierende Unterschiede zu beobachten waren. Das unterkomplexe Konzept „Übersee“ war nicht mehr plausibel und wurde von den komplexeren „Entwicklungsländern“ abgelöst. Das Verschwinden von „Übersee“ war damit nicht einfach nur ein Begriffswechsel, sondern Ergebnis einer tiefgreifenden epistemischen Krise. Mit ihr einher gingen Veränderungen der bis dato gängigen Muster der Komplexitätsreduktion. Informationen wurden nun anders kombiniert und zugleich wurden nun auch andere Informationen nachgefragt. Die gesamte in den Vorjahren aufgebaute Wissensinfrastruktur richtete sich inhaltlich neu aus. 3. DAS FELD DES WISSENS Ziel der Analyse war es, aus einer wissensgeschichtlichen Perspektive heraus folgende Fragen zu beantworten: Welche Institutionen erzeugten Wissen über die „überseeischen“ Märkte? Wie veränderten sich die Landschaften der wissensgenerierenden Institutionen und die Gruppe derer, die auf dieses Wissen zurückgriffen? Durch welche inhaltlichen Schwerpunkte zeichnete sich dieses Wissen aus? Wie

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X. Fazit

lassen sich der Wandel, aber auch die Persistenz der den Marktanalysen zugrunde liegenden Paradigmen erklären? Und wie und mit welchen Konsequenzen wurde dieses Wissens in praktische Programme überführt? Schon Ludwik Fleck hat darauf verwiesen, dass man sich dem Wissen vergangener Zeiten tastend nähern und dem Argumentationsgang Zeit und Platz einräumen muss.7 Wissensgeschichte muss ihre Untersuchungsgegenstände einkreisen, ohne sie einzusperren! Die vorliegende Arbeit handelte daher von Zukunftsvisionen sowie von Befürchtungen und Ängsten der Entscheidungsträger, es ging um Informationsbedürfnisse und die Etablierung und den Ausbau von wissensgenerierenden Institutionen, um Differenzkategorien sowie um Entwicklungskonzepte und deren praktische Umsetzung. Durch diese Themenvielfalt konnten unterschiedliche Seiten des Phänomens „überseeische Märkte“ beleuchtet werden: Es wurde gezeigt, wie sich ein Erkenntnisobjekt herausbildete und warum es verschwand bzw. in ein neues Erkenntnisobjekt transformiert wurde. Der Ausbau der Netzwerkstrukturen und deren institutionelle Verfestigungen wurden beschrieben. Die Überzeugungskraft und der Plausibilitätsverlust der kategorialen Ordnung des „Überseewissens“ wurden analysiert. Eingebettet in eine Beschreibung der sich wandelnden wirtschaftlichen Bedingungen und der sozialen Praktiken einer Elite konnten die Wahrnehmungen und das Wissen der Zeitgenossen über die „überseeischen Märkte“ so zum Ausgangspunkt einer kultur- und wissenshistorisch perspektivierten Wirtschaftsgeschichte werden. Dadurch sind nun das Ausmaß und die Struktur der institutionellen Netzwerke bekannt, die sich in der Bundesrepublik mit „überseeischen Märkten“ und mit deren „Entwicklung“ beschäftigten. Insbesondere konnten diejenigen Organisationen ins Licht der Aufmerksamkeit gerückt werden, die das Bedürfnis der bundesrepublikanischen Außenhandelskreise nach praxisrelevantem Wissen befriedigten. Durch eine Analyse der Wissenscluster konnte der bislang eingeschränkte wirtschaftshistorische Fokus auf Wissensproduzenten im ökonomischen Feld über die universitären Forschungsinstitute und die internationalen Organisationen hinaus erweitert werden. So wurden die konkreten Orte des Sprechens über „Übersee“ ausgemacht, die dortige Atmosphäre und die Reichweite der Wissenszirkulation zu unterschiedlichen Zeiten beschrieben. Dabei wurde deutlich, dass „Überseewissen“ von zahlreichen Akteuren hervorgebracht wurde, die bislang keinerlei Aufmerksamkeit in der wirtschaftshistorischen oder der wissensgeschichtlichen Forschung auf sich gezogen haben. Gezeigt wurde, dass es anfänglich vor allem die traditionellen Institutionen des „Überseehandels“ – insbesondere die Ländervereine und der Übersee-Club Hamburg – waren, die die Informationsströme kontrollierten und die daher auch an anderen Orten in der Bundesrepublik als maßgeblich und nachahmenswert empfunden wurden. Erst in der Phase des schnellen institutionellen Ausbaus der Wissensinfrastruktur in den Jahren um 1960 wurden Institutionen im Raum Köln-Düsseldorf-Bonn wichtiger. Hintergrund waren vor allem drei sich wechselseitig verstärkende Prozesse: der ökonomische Bedeutungsgewinn der dort angesiedelten Industriekreise gegenüber dem klassischen hanseatischen „Übersee7

Vgl. Fleck, Entstehung 1980, S. 23.

X. Fazit

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handel“, das neue Interesse für Märkte in „Afrika“ – ein Tätigkeitsfeld, in dem der bis dahin tonangebende hanseatische „Überseehandel“ nur einen vergleichsweise geringen Wissens- und Vernetzungsvorsprung hatte – und die gestiegene Bedeutung von Organisationen im Bereich der „Entwicklungspolitik“, die in der Nähe des Regierungssitzes ansässig waren. Dabei konnte gezeigt werden, wie um 1960 allerorten die Wissensinfrastrukturen neu ausgerichtet und ausgebaut wurden und dass die Anzahl der an der Wissensproduktion beteiligten Akteure stetig zunahm. Das geschah vor dem Hintergrund der erhöhten Aufmerksamkeit für die dritte Welle der Dekolonisierung. Im Zuge dessen wurden die Organisationen des „Überseewissens“ zu Organisationen des „Entwicklungswissens“. Das Ausmaß des internationalen Wissenstransfers blieb davon zunächst unberührt. Zwar wurden die wichtigsten Weltmarktkonkurrenten genau beobachtet, doch kam es nur selten zu einem Erfahrungsaustausch. Obwohl eklatante Informationsdefizite bestanden, verzichtete man weitgehend auf internationale Expertise. Es ist fraglich, ob man daher bereits von einer transnationalen Unternehmerelite sprechen sollte. Die bedeutsamsten Informationsquellen waren in der Bundesrepublik lebende Experten, die die „überseeischen Regionen“ bereits aus der Zwischenkriegszeit kannten, sowie Deutsche im Ausland. Nur diesen Gruppen, die die „fremde“ und die „eigene“ Kultur aus eigener Anschauung kannten, wurde Glaubwürdigkeit zugestanden und Expertenstatus zugeschrieben. So ging es bei den Debatten um „Übersee“ nicht nur um das Ausnutzen ökonomischer Gewinnchancen. Immer stand auch die Frage nach der „deutschen Identität“ unter den Bedingungen der Globalisierung im Raum. So liefert die vorliegende Studie auch einen Beitrag zur Geschichte des ökonomischen Denkens in Deutschland. Denn sie lässt sich auch als eine Rezeptionsgeschichte verschiedener Wissenschaften, insbesondere der Wirtschaftswissenschaften, der Wirtschaftsgeografie, der Völkerkunde und der Sozialpsychologie lesen. Indem gefragt wurde, welche zentralen Deutungsmodelle das Wissen der bundesrepublikanischen Außenhandelskreise über die „überseeischen Märkte“ strukturierte, ging es mithin nicht um eine Schilderung des gesamten Wissensbestandes und seiner Veränderung, sondern um die Ordnungsmuster des Denkens und die Gründe für ihre Überzeugungskraft. Dabei spielten wissenschaftliche Ressourcen eine bedeutende Rolle. Zugleich wurde aber auch deutlich, dass von Wissenschaftlern Wissen über die „überseeischen Märkte“ erzeugt wurde, das sich nicht an andere Wissenschaftler, sondern an den Kreis der Entscheidungsträger in den Unternehmen richtete. Eine Erkenntnis der Arbeit ist daher auch, dass in der zeitgenössischen Wahrnehmung keine strikte Trennung zwischen Theorie und Praxis auszumachen ist. Vielmehr ist ein weiter Überschneidungsbereich erkennbar, in dem sich Theoretiker und Praktiker gegenseitig immer wieder bestätigten und Relevanz zusprachen. Ständig diffundierten Praxiswissen und wissenschaftliches Wissen. Zwei zentrale Ordnungsprinzipien des Wissens über die „überseeischen Märkte“ sind hier näher untersucht worden: Räume und Kulturen. Sie sind ausgewählt worden, da sie von den Zeitgenossen selbst im gesamten Quellenkorpus des „Überseewissens“ am häufigsten thematisiert wurden. Das diskursanalytisch inspirierte Vorgehen hat gezeigt, wie sehr die grundlegenden Ordnungskategorien miteinander verwoben waren, inwiefern sie aber zugleich auch ihrer jeweils eigenen

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X. Fazit

Logik folgten. Ferner konnte demonstriert werden, wie „widerspenstig“ Wissensbestände zuweilen sein können: Denn das veränderten Informationsangebot und der Ausbau der Wissensinfrastrukturen schrieben sich nur langsam und nie vollständig in die Wissensbestände ein. Die eingehende Analyse der genannten Ordnungskategorien hat offenbart, dass es notwendig ist, unsere Vorstellung von den damaligen Referenzgesellschaften deutscher Unternehmer zu erweitern. Denn es konnte gezeigt werden, dass ein Großteil der Aufmerksamkeit von vier Großwirtschaftsräumen in „Übersee“ – „Iberoamerika“, „Naher und Mittlerer Osten“, „Ostasien“, „Afrika“ – absorbiert wurde. Diese Räume wurden dabei über einen langen Zeitraum hinweg unter Gesichtspunkten konstruiert, die unser heutiges Verständnis vom Ablauf von Globalisierungsprozessen in Frage stellt. Klimageografische Annahmen und Vorstellungen von kulturprägenden Rassen und Religionen machten aus Wirtschaftsräumen Kulturräume. Jeder dieser Räume wurde als kulturell mehr oder weniger defizitär betrachtet. Da sie vor der Folie eines Idealbilds der deutschen Wirtschaftskultur entworfen wurden, schrieben sich in die damaligen Raumkonzeptionen Vorstellungen von der deutschen Stellung in der Weltwirtschaft und Interpretationen der deutschen Industrialisierungsgeschichte ein. Die Vermessung der Weltwirtschaft war so auch immer eine Vermessung von Kulturunterschieden – und „Übersee“ war der Inbegriff für diese Kulturunterschiede. Für die Geschichte des ökonomischen Denkens in der Bundesrepublik muss daher berücksichtigt werden, dass das Wissen über die Funktionsweise der globalen Wirtschaft auf Grundannahmen über die deutsche Gesellschaft fußte. Diese Denkweise beeinflusste im hohen Maße die „Entwicklungskonzepte“, da „Unterentwicklung“ überwiegend als Ergebnis einer mentalen Disposition der Bevölkerung gedacht und „kulturelle Entwicklung“ als langandauernder Prozess konzipiert wurde. Das zeitigte Auswirkungen auf die konkreten Problemlösungsversuche im Bereich der „Technischen Hilfe“. Die Analyse der kollektiven Problemlösungsstrategien hat gezeigt, wie wichtig in diesem Zusammenhang die Hochschätzung deutscher Arbeit und Leistungsbereitschaft sowie vermeintlich deutscher Werte wie Ordnung, Fleiß, Sauberkeit, Disziplin, Zuverlässigkeit und Gehorsam war. Da etwa die Bevölkerung der „überseeischen Gebiete“ in der Auffassung der Zeitgenossen zu einem überwiegenden Teil in „traditionalen“ Verhältnissen verharrte, konnten sich die bundesrepublikanischen Unternehmer selbst als besonders „modern“ und dynamisch beschreiben. Dieses Selbstbild beeinflusste insbesondere den Kontakt mit den ausländischen Fach- und Führungskräften. So muss man schließlich die Kehrseite des so gerasterten Interesses an den ausländischen Märkten festhalten: In den Äußerungen zu „Übersee“ enthüllen sich noch bis tief in die 1970er Jahre hinein undemokratische und zum Teil offensichtlich chauvinistische Einstellungen. Dies betrifft den gesamtgesellschaftlichen Führungsanspruch, den ökonomische Eliten für sich erhoben, die Hochschätzung autoritärer Entwicklungsdiktaturen sowie den patriarchalen Blick auf die Arbeitskräfte vor Ort. Deutlich zeigt sich in den Stellungnahmen zu „Übersee“ der Wunsch nach weitgehend homogenen Kulturen und nach der Bewahrung und Expansion vermeintlich deutscher Werte. Der Blick auf „Übersee“ war nicht selten geprägt durch

X. Fazit

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die unübersehbare Neigung zu kultureller Überheblichkeit. Erstrebenswert schien nur der kulturelle Export zu sein, nicht aber kulturelle Anleihen aus anderen Ländern. Begreift man die Beschäftigung mit „Übersee“ als eine Sonde zur Erschließung des Werte- und Normenkanons der bundesrepublikanischen Unternehmer, dann spricht wenig für eine tiefgreifende Liberalisierung dieses Akteurskreises. Zentrale Prozesse, mit denen Gesamtdarstellungen zur bundesrepublikanischen Geschichte hantieren – Liberalisierung, Westernisierung, Wertewandel –, vollzogen sich, verallgemeinert man die anhand der Beschäftigung mit den „überseeischen Märkten“ gemachten Befunde, im ökonomischen Feld später, zögerlicher und weniger grundlegend, als es der Gesamttrend vermuten lässt.8 Die bundesrepublikanischen Außenhandelskreise sind einem kulturkonservativen Milieu zuzuordnen, das nach einer größtmöglichen Überschneidungsmenge zwischen „deutschen“ Werten und Globalisierungsanforderungen strebte. Blickt man auf die damaligen Globalisierer und ihre Handlungsgrundlagen, dann zeigt sich einmal mehr, dass der Prozess der Globalisierung von vergleichsweise provinzialistischen, „un-kosmopolitischen“ Akteuren gesteuert und gestaltet wurde.9 4. ÖKONOMISCHES WISSEN Ökonomisches Wissen hat erst verhältnismäßig spät die Aufmerksamkeit von Kulturwissenschaftler_innen geweckt.10 Mittlerweile sind aber vielversprechende Ansätze für eine Wissensgeschichte der Ökonomie vorhanden. Möglicherweise – darauf deutet die Vielzahl neuerer Publikationen und Tagungen in diesem Bereich hin – wird in Kürze die Ökonomie sogar eines der boomenden Felder der Wissensgeschichte sein. Schon jetzt ist ein erstes Hauptnarrativ zu erkennen: die zunehmende statistische Erfassung der Volkswirtschaften und der ökonomischen Prozesse.11 Denn insbesondere in den internationalen Organisationen und den angloamerikanischen Wirtschaftswissenschaften wurde zunehmend gezählt und gerechnet. Es stimmt, dass nach dem Zweiten Weltkrieg neue makroökonomische Modelle die Kategorien „unterentwickelt“ und „entwickelt“ „wissenschaftlich absicherten und als objektive Beschreibungen der Welt erscheinen ließen“.12 Mit einem solchen Fokus geraten allerdings wichtige Informationslieferanten und Wissensgeneratoren, die nicht ausschließlich statistisch arbeiteten, aus dem Blick. Richtig ist auch, dass der Wunsch nach einer eindeutigen, zahlenmäßigen Erfassung ökonomischer Basisdaten und Prozesse ein bedeutendes Signum der zweiten Hälfte des 20. Jahrhun8

Das Konzept der Liberalisierung in der Bundesrepublik ist bezeichnenderweise auch nicht anhand dieser Gruppe entworfen worden. Unternehmer kommen in ihm nicht vor. Vgl. Herbert, Wandlungsprozesse 2002. 9 Vgl. Osterhammel/Petersson, Globalisierung 2004, S. 113. 10 So auch die Kritik bei: Wehler, Historisches Denken 2001, S. 72–74. Zwar gibt es eine volkswirtschaftliche Dogmengeschichte schon sehr lange, doch wurde diese eher an den wirtschaftswissenschaftlichen Lehrstühlen betrieben als von Historiker_innen. 11 Vgl. Speich Chassé, Erfindung des Bruttosozialprodukts 2013. 12 Dinkel, Dritte Welt 2014, S. 11.

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derts gewesen ist. Fokussiert man indes nicht nur auf die universitäre Wirtschaftswissenschaft und große internationale Organisationen wie die UNO oder den IWF, sondern berücksichtigt auch andere Orte der Wissensproduktion und der Wissenszirkulation, dann wird deutlich, dass Wissen über Märkte auch anders erzeugt und plausibilisiert werden konnte. Dies gilt insbesondere für jene Institutionen, in denen ökonomische Akteure sich um ein umfangreiches und umfassendes Wissen über Kulturen bemüht haben. Kulturelle Ordnungsmuster wurden viel länger als entscheidungsrelevant begriffen, als es die These von der Mathematisierung des ökonomischen Wissens vermuten lässt. Die vorliegende Studie gibt folglich einen Hinweis darauf, dass die Geschichte der ökonomischen Globalisierung auch eine Geschichte des Wissens von kulturellen Unterschieden und Gemeinsamkeiten ist. Und dies trifft nicht nur auf den hier untersuchten Zeitraum zu: Wirtschaftskulturen waren schon um 1900 ein wichtiges Untersuchungsfeld – insbesondere für Soziologen und Nationalökonomen, die sich der „Historischen Schule“ verbunden fühlten. Selbst in den 1990er Jahren, die als Phase „neoliberaler“ Deutungshoheit gelten, erlebte Kultur in den Wirtschaftswissenschaften eine regelrechte Renaissance.13 Und auch in jüngster Zeit ist von Ökonomen verstärkt darauf hingewiesen worden, dass der ökonomische Raum in einen soziokulturellen Kontext eingebettet ist. Nicht zuletzt geht es in der aktuellen betriebswirtschaftlichen Literatur zu transnationalen Unternehmen und zu transnationalen Unternehmenskooperationen sowie in zahlreichen Managementratgebern für Kulturkompetenz auch heute wieder verstärkt um „Wirtschaftsmentalitäten“. In diesen Schriften feiert die alte Völker- und Länderkunde – nicht nur in Deutschland – ein fröhliches Fest. Immer wieder haben in den vergangenen rund 150 Jahren Theoretiker und Praktiker im ökonomischen Feld Kulturunterschiede thematisiert und sie als entscheidungsrelevant eingestuft. Erst die „neoliberale“ Deutung von Globalisierungsprozessen hat unseren Blick auf diese Wahrnehmungsweisen verstellt. Mit ihrem alleinigen Fokus auf Zölle, Subventionen, Infrastrukturbedingungen und Rechtssicherheit ist sie aber nur für einen kurzen Zeitraum des Denkens über internationale Austauschprozesse typisch. Sie sollte daher nicht auf den gesamten Prozess der Globalisierung übertragen werden. Bei der weiteren Erforschung der Geschichte des ökonomischen Denkens und der Geschichte der Globalisierung darf dies nicht vergessen werden. Insbesondere auch deswegen, weil man sich sonst die Möglichkeit nimmt, die üblicherweise vorgenommene Trennung zwischen Prozessen der „kulturellen Globalisierung“ und Prozessen der „ökonomischen Globalisierung“ zu überwinden.14 Denn es wäre ja 13

14

Michael Hoelscher macht dafür drei Entwicklungen verantwortlich: erstens das Interesse an interkulturellen Kommunikationssituationen im Zuge der Transnationalisierung der Ökonomie, zweitens den ökonomischen Erfolg Japans und der „Tigerstaaten“ – der auf die dortige Wirtschaftskultur und Arbeitsethik zurückgeführt wurde – und drittens den gesellschaftlichen und zugleich ökonomischen Umbruch 1989/90. Vgl. Hoelscher, Transnationale Wirtschaftskulturen 2012, S. 183. Diese Entwicklungen haben in den letzten zwanzig Jahren zu zahlreichen ökonomischen Studien zur interkulturellen Kommunikation und zum Management von transnationalen Unternehmen geführt. Vgl. u. a. Proff, Internationales Management 2004. So etwa bei Brock, Globalisierung 2008.

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auch eine Globalisierungsgeschichte der Relationen denkbar, die „Ökonomie“ kulturalistisch denkt und „Kultur“ als ökonomischen Erklärungsansatz begreift. Mit Iris Schröder und Sabine Höhler lässt sich argumentieren, dass sich Globalisierung als Praxis des Zerteilens und Ordnens von Raum untersuchen lässt.15 Für die Globalisierungsgeschichte würde dies heißen, stärker als bisher zu erforschen, anhand welcher Kriterien Grenzen zwischen den Räumen und Märkten der Weltwirtschaft gezogen wurden und wie sich diese veränderten. Statt sie als natürliche Tatsachen zu reproduzieren, ließen sich so im Globalisierungsdiskurs dominante Denkfiguren und vertraute Kategorien historisieren und damit als Erkenntniswerkzeuge der Zeitgenossen kenntlich machen. Dann wäre nicht nur ein anderes Denken über Globalisierung möglich, sondern auch eine andere Globalisierung denkbar. Wissensgeschichte zeichnet sich gemeinhin durch eine bemerkenswerte Skepsis gegenüber den eigenen Untersuchungsergebnissen und daraus resultierend durch eine hohe Toleranz gegenüber konkurrierenden Deutungsmodellen und Denktraditionen aus. Diese generelle Bescheidenheit entspringt dem Ansatz, dass jedes Wissensgebiet seiner eigenen Logik entsprechend analysiert werden muss und folglich die Untersuchungsergebnisse nicht einfach auf andere Phänomene und Erkenntnisobjekte übertragen werden können. Nichtsdestotrotz basiert die vorliegende Arbeit nicht umsonst auf einem Ansatz, der sich dezidiert gegen eine Unternehmens- und Wirtschaftsgeschichte stellt, die das volks- und betriebswirtschaftliche Instrumentarium als Analysezugriff versteht, statt es zu ihrem Untersuchungsgegenstand zu machen. Teile der Unternehmens- und Wirtschaftsgeschichte haben lange Zeit betriebs- und volkswirtschaftliche Erklärungsmodelle – insbesondere zur Globalisierung – einfach nur übernommen. Sie haben sich zur historischen Legitimationsinstanz für Unternehmer und Wirtschaftspolitiker gemacht und sich damit von der übrigen Geschichtswissenschaft und deren vielfältigen, oftmals ideologiekritischen Analyseperspektiven entfernt. Es ist notwendig, sich nicht nur in programmatischen Aufsätzen vom homo oeconomicus zu trennen. Stattdessen sind auch in der wirtschaftshistorischen Globalisierungsgeschichte Unternehmer als sozial eingebettete, mit Werturteilen versehene und gegen ideologische Vereinnahmungen nicht immune Wissens- und Sinnerzeuger ernst zu nehmen. 5. WEITERFÜHRENDE FORSCHUNGSFRAGEN Aus der vorliegenden Analyse der Wissensinfrastrukturen und der Wissensbestände im bundesrepublikanischen Überseehandel ergeben sich übergreifende Fragen. Wie haben mental maps, die in der vorliegenden Arbeit als ein wichtiger Teil des Wissens über die Welt und nicht minder des Wissens über Märkte und Globalisierung begriffen wurden, stereotype und auch stigmatisierende Marktkonstruktionen erzeugt? Handelte es sich bei ihnen nur um reine Gedankenspiele oder führten sie zu räumlichen Mustern von ökonomischem Handeln? Wie wirkten sich die Wahrnehmung kultureller Nähe und Gefühle der Zugehörigkeit zu einem Kulturkreis auf die 15

Schröder/Höhler, Räume und Orte 2005, S. 308.

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X. Fazit

Risikowahrnehmung und damit auch auf die Investitionsentscheidungen maßgeblicher Akteure der Globalisierung aus? Wurden Investitionsströme tatsächlich vor allem dorthin gelenkt, wo sich mit ihnen positive Wertungen über Arbeitsfreude, Leistungsmotivation, Gehorsamkeit und Verlässlichkeit verbanden? Verfestigten sich diese Vorstellungen – dadurch, dass sie Handlungen hervorriefen – zu tatsächlich existierenden Strukturmerkmerkmalen der Globalisierung? Waren also geografische Märkte – vorgestellt als ökonomisch und kulturell homogene Räume – wirkmächtige Imaginationen, die eine Eigenlogik jenseits simpler unternehmerischer Gewinninteressen entwickeln konnten? Nötig wären international vergleichende Studien, die einen längeren Zeitraum in den Blick nehmen. Darüber hinaus scheint es lohnenswert, die Reaktionen unterschiedlicher einheimischer Gruppen auf die von außen herangetragenen Identitätszumutungen zu untersuchen. Wissensproduktion in Bezug auf Globalisierung war sicherlich nicht immer wie im hier dargelegten Fall ein fast ausschließlich selbstbezogener Prozess. Wissen entstand gerade auch in Kontaktsituationen, auf die alle Teilnehmer Einfluss hatten.16 Insbesondere in Bezug auf Unternehmer, die Direktinvestitionen tätigten, wäre zu fragen, wie die Erfahrungen vor Ort das Denken über die als ökonomisch relevant erachteten kulturellen Unterschiede beeinflusst haben. Dass diese Fragen in der vorliegenden Arbeit nur ansatzweise beantwortet werden konnten, war aufgrund der gewählten Untersuchungsperspektive zu erwarten. Denn es ist eine der allgemeinen Grenzen der kulturwissenschaftlichen – und zum Teil auch der wissensgeschichtlichen – Herangehensweise, dass zwar die Meinungsbildung und Wissensproduktion untersucht werden können, der Stellenwert der dabei analysierten Diskussionen und Wissensbestände für konkrete Handlungsentscheidungen aber meist nebulös bleibt. Mit der vorliegenden Analyse konnte lediglich gezeigt werden, dass Entscheidungsträger an den Diskussionen über „Übersee“ teilnahmen und sie das „Überseewissen“ für so bedeutsam hielten, dass sie sich für dessen Institutionalisierung einsetzten. Es war aufgrund des gewählten Ansatzes, die Unternehmer als Kollektiv zu analysieren, folgerichtig, ausschließlich kollektive Praktiken zu untersuchen und daher auf Ausbildungsprogramme für ausländische Praktikanten und für den eigenen Unternehmernachwuchs zu fokussieren. Nichtsdestotrotz könnten sich die dabei gemachten Beobachtungen auch für unternehmensgeschichtliche Studien als fruchtbar erweisen. Es fehlt bislang an Forschungsergebnissen aus Einzelunternehmungen, die das Entscheidungsverhalten von Unternehmern auf Auslandsmärkten mit ihrem Denkkollektiv in Verbindung setzen. Hierzu wäre zu fragen, welchen Einfluss das „Übersee-“ und „Entwicklungswissen“ auf konkrete Investitionsentscheidungen einzelner Unternehmen hatte und auf welchen Wegen dieses Wissen in die privaten Firmen transferiert und hier wiederum institutionalisiert wurde. Unter Berücksichtigung unternehmensgeschichtlicher Quellen ließe sich dann auch danach fragen, ob sich die Geschichte der ökonomischen Globalisierung im 20. Jahrhundert nicht auch als Geschichte von Identitäts- und Alteritätskonstruktionen schreiben ließe. Hier scheint die Möglich16

Vgl. insbesondere Fischer-Tiné, Pidgin Knowledge 2013.

X. Fazit

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keit auf, ökonomische und politische Einzelinteressen, innerbetriebliche Ausrichtungskämpfe und die übergeordneten kulturellen Weltbilder, auf die ich mich in der vorliegenden Arbeit bewusst konzentriert habe, eingehender in ihren Wechselwirkungen am konkreten Ort des Industrieunternehmens zu untersuchen. 6. WIRTSCHAFTSWUNDER GLOBAL Zahlreiche unternehmensgeschichtliche Studien zeigen, dass die Mehrheit der deutschen Unternehmer nach 1945 die Strategie verfolgte, in jene Länder zurückzukehren, in denen sie bereits Erfahrungen mit Direktinvestitionen gesammelt hatten. Diese Strategie ergab nicht nur deshalb Sinn, weil man glaubte, sich auf diesen Märkten auszukennen. Die Rückeroberung der alten Märkte konnte auch Stärke symbolisieren und Selbstsicherheit bieten. Schon manchem Zeitgenossen ist aber aufgefallen, dass es dabei auch darum ging, „abendländische Kultur in die Entwicklungsländer zu übertragen“.17 Da die Unternehmer der Bundesrepublik die eigene Kultur und Arbeitsethik als ursächlich für das deutsche „Wirtschaftswunder“ begriffen, war ihrer Ansicht nach auch in „Übersee“ erst einmal die kulturelle Basis für Wirtschaftswachstum zu schaffen. Die Grundlagen für dieses Denkmodell wurden in den 1950er Jahren gelegt, als der überraschend schnelle ökonomische Wiederaufstieg bei Unternehmern zu einem deutlich spürbaren Stolz auf die eigenen kulturellen Stärken führte. Denn an den realen ökonomischen Bedingungen konnte die neuerliche Weltmarktstärke nicht gelegen haben. Waren doch die zerstörten Infrastrukturen und die zertrümmerten Städte immer noch bei jeder Autofahrt und jedem Spaziergang augenscheinlich und offenbarte der Blick in die eigenen Lagerhallen und Bilanzen die mangelnde Versorgung mit Roh- und Hilfsstoffen und die schlechte Eigenkapitallage. Auch der Marshallplan konnte den Zeitgenossen die Phase der ökonomischen Prosperität nicht erklären. In ihren Augen entfaltete er wenig Wirkung, war zu stark auf Lebensmittellieferungen ausgerichtet und konnte den gleichzeitig wirksamen alliierten Beschränkungen des freien Warentransfers und der Produktion nur wenig entgegensetzen. Die damalige Überzeugungskraft der Vorstellung vom „Wirtschaftswunder“ ist leicht nachvollziehbar. Heute ist dieses „Wunder“ längst als wirkmächtiges, aber im Kern falsches Narrativ dekonstruiert worden. Dies sollte nicht den Blick darauf verstellen, dass die ökonomischen Entscheidungsträger daran glaubten, dass das ökonomische Nachkriegswachstum vor allem auf harter Arbeit, guter Ausbildung, rationaler Weltdurchdringung, unermüdlichem Fleiß und einem eisernen Aufbauwillen fußte. Offenkundig war der unternehmerische Blick auf das „Wirtschaftswunder“ damit immer auch ein Blick auf eine idealisierte Arbeitsethik und ihre Segnungen. Der Beschäftigung mit der „Mentalität“ der „Entwicklungsländer“ ging also eine Beschäftigung mit der Arbeitsethik der „Industrieländer“ voraus. Das 17

Langenheder, Einstellung [nach 1961], zusammengefasst in: CDG, Entwicklungsländer 1966, S. 164.

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X. Fazit

vielbeschworene Angebot, das die bundesrepublikanischen Unternehmer den Eliten in den „Entwicklungsländern“ ab Mitte der 1950er Jahre verstärkt machten, beinhaltete dann auch keinen Transfer von Kapital oder technischem Wissen, sondern von „Kultur“. Schon lange zuvor etablierte Vorstellungen vom kulturbringenden Wert „deutscher Arbeit“ und den Deutschen als „Erziehern“ wurden neu belebt. Der Wiederaufbau Deutschlands und damit insbesondere die Charakterstärke des deutschen „Volkes“ wurden zum Vorbild für die ganze Welt erklärt. Die Erfahrung des eigenen Wirtschaftswunders beeinflusste so die Wahrnehmung ausländischer Märkte. Sie erhöhte das Selbstvertrauen in die eigene Handlungsfähigkeit und verschärfte den Fokus auf die eigenen Stärken im Außenhandel. In den bundesrepublikanischen Außenhandelskreisen war man sich ab Ende der 1950er Jahre zunehmend sicher, dass man selbst das Potenzial habe, „Entwicklung“ nicht mehr nur im eigenen Land voranzutreiben, sondern auch in „Übersee“. Es musste nur anders geschehen als dies die politischen Eliten, die den Staat als zentralen Akteur von „Entwicklung“ ansahen, fast überall auf der Welt anstrebten. Stattdessen wurden die (scheinbaren) Ursachen des eigenen ökonomischen Wachstums auch als goldener Pfad für eine langfristig erfolgreiche „Entwicklung“ in „Übersee“ angesehen. Die Unternehmer in der Bundesrepublik machten sich selbst zu Vorbildern für ein weltweites Wirtschaftswunder. Ihre Art zu wirtschaften, so das aus der unmittelbaren Erfahrung der Zusammenbruchsgesellschaft gewonnene und auch für ausländische Beobachter plausible Bild, basierte weniger auf Kapital und Technik als auf kulturellen Errungenschaften. Der Fokus des entwicklungspolitischen Ansatzes lag so auf der Weckung des individuellen Leistungsstrebens. Den Unternehmern in der Bundesrepublik schien evident, dass die etwas stärker industrialisierten Gegenden außerhalb „Europas“ vor allem dort lagen, wo sich zuvor deutsche Auswanderer niedergelassen und deutsche Firmen betätigt hatten. Aus dieser Perspektive war ökonomisches Wachstum schon immer ein internationaler Exportschlager der Deutschen gewesen. Im Nachkriegskontext der Dekolonisierung konnten die Unternehmer glaubhaft machen, mit ihrem Engagement keine politischen Interessen zu verfolgen, da Deutschland keine Kolonien (mehr) besaß. Sie erhoben damit den Export deutschen Fleißes, deutscher Disziplin und Ordnungsliebe zum zentralen Ziel der „Entwicklungshilfe“. Die „unterentwickelten“ Bewohner sollten umerzogen werden: Unter deutscher Anleitung sollten sie den Willen zur Leistung in sich entdecken. Dann, so der weitverbreitete Glaube, war ein globales Wirtschaftswunder möglich.

XI. LITERATURVERZEICHNIS 1. UNVERÖFFENTLICHTES ARCHIVMATERIAL Archiv des Afrika-Vereins der Deutschen Wirtschaft Tätigkeitsberichte des Afrika-Vereins 1951–1974 [ohne Signaturen]. Archiv des Bundesverbandes der Deutschen Industrie e. V. (BDI-Archiv) BDI-Archiv A 113; BDI-Archiv AH 12, Karton 408; BDI-Archiv AH 13, Karton 407; BDI-Archiv AH 15, Karton 406; BDI-Archiv AH 16, Karton 406; BDI-Archiv AH 19, Karton 411; BDI-Archiv AH 56, Karton 415; BDI-Archiv HGF Pro 1, Karton 786; BDI-Archiv HGF Pro 3, Karton 785; BDIArchiv HGF Pro 4/1, Karton 785; BDI-Archiv HGF Pro 4/2, Karton 784; BDI-Archiv HGF Pro 7/1, Karton 781; BDI-Archiv HGF Pro 7/2, Karton 781; BDI-Archiv PI 68/652/I; BDI-Archiv SF 516, 8 A; BDI-Archiv SF 522, 1A. Archiv der evangelischen Akademie Bad Boll BB 001; BB 047. Archiv der Industrie- und Handelskammer Mannheim MA 05 0302.0 # 4; MA 05 0302.0 #5. Archiv des Instituts für Zeitgeschichte München ED 708 A II 4/2.4; ED 708 IV 3.5. Bayerisches Wirtschaftsarchiv BWA S 003; BWA S004/037; BWA S004/038, BWA S015/30. Berlin-Brandenburgisches Wirtschaftsarchiv V2/1 [Bestand ohne Einzelsignaturen]. Bundesarchiv Koblenz BArch B 102/005945; BArch B 102/005946; BArch B 102/005950 Heft 1; BArch B 102/005950 Heft 2; BArch B 1772; BArch B 102/1863; BArch B 102/2263 1/2; BArch B 102/2263 2/2; BArch B 102/2263 2/2; BArch B 102/7091; BArch B 102/7096; BArch B 102/56555; BArch B 102/57319; BArch B 102/65988; BArch B 102/313313; BArch B 116/21459; BArch B 122/11442; BArch B 122/5310; BArch B 122/5314; BArch B 122/5315; BArch B 122/11450; BArch B 122/11452; BArch B 136/2913; BArch B 145/3148; BArch B 145/3360; BArch B 145/3364; BArch B 145/3365, Akte 4; BArch B 145/5356; B 145/5358; BArch B 145/7588; BArch B 145/9944; BArch B 145/9947; BArch B 145/9963; BArch B 213/6722; BArch B 308/52; BArch B 432/72; BArch B 5354; BArch B 5905b 1/2; BArch N 1146/34; BArch NL 005/000332 fol. 1–41; BArch, ZLA 7–34. Hamburgisches Welt-Wirtschafts-Archiv HWWA 1962 A 524; HWWA 1962 K 388; HWWA 1962 K 389; HWWA 1963 B 10. Landesarchiv Baden-Württemberg, Abt. Hauptstaatsarchiv Stuttgart EA 5/001 Bü 1169.

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XI. Literaturverzeichnis

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Gedruckte Quellen

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1

Nachfolgend sind auch all jene Vorträge und Protokolle aufgelistet, die in gebundener Form in Bibliotheken entleihbar sind. Diese Exemplare haben meist keinen Verlagsort und nicht immer ein Erscheinungsjahr. Diese sind – ähnlich wie die meisten unveröffentlichten Quellen – auf Schreibmaschinen geschrieben worden. Die daraus resultierende Schreibweise, u. a. ohne „ß“, wurden beibehalten. Aufgelistet sind nachfolgend auch jene nur noch in Archiven auffindbaren Vorträge und Programmschriften, die in der vorliegenden Arbeit mit Kurztitel zitiert wurden. In diesen Fällen wird jeweils die Archivsignatur mit angegeben.

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XI. Literaturverzeichnis

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Hier aufgelistet auch die Veröffentlichungen, die zwar aus dem Untersuchungszeitraum stammen, aber als Sekundärliteratur verwendet wurden. Zudem wurde darauf verzichtet, die nur im www veröffentlichte Literatur gesondert aufzulisten. Sie ist hier alphabetisch mit eingeordnet.

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XII. ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS AA ACU ADRA AEG AG AGE AKA AusFördG AWG BArch BAO BASF BdB BDI BeKo-Mark BfA BGA BKU BML BMV BMW BMZ BP BWM BMWi CDC CDG CDU CDW CSU DAB DAG DAG DAWI DDR DEG Demag DFG DGB

Auswärtiges Amt Arbeitsgemeinschaft Christlicher Unternehmer Adressbuchausschuss der Deutschen Wirtschaft Allgemeine Elektricitäts-Gesellschaft Aktiengesellschaft Arbeitsgemeinschaft Entwicklungsländer Ausfuhrkredit-AG Ausfuhrförderungsgesetz Außenwirtschaftsgesetz Bundesarchiv Berliner-Absatz-Organisation Badische Anilin- & Soda-Fabrik Bundesverband deutscher Banken Bundesverband der Deutschen Industrie beschränkt konvertierbare Mark Bundesstelle für Außenhandelsinformation bis 1951: Bundesauskunftstelle für den Außenhandel Bundesverband des Deutschen Groß- und Außenhandels Bund Katholischer Unternehmer Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Bundesministerium für Verkehr Bayerische Motorenwerke AG Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit British Petroleum Bundeswirtschaftsministerium Bundesministerium für Wirtschaft Carl Duisberg Centrum Carl Duisberg Gesellschaft für Nachwuchsförderung Christlich Demokratische Union Deutschlands Carl Duisberg Wohnheimgesellschaft Christlich-Soziale Union Deutsch-Asiatische Bank Deutsche Angestellten-Gewerkschaft Deutsche Afrika-Gesellschaft Deutsches Auslandswissenschaftliches Institut Deutsche Demokratische Republik Deutsche Entwicklungsgesellschaft Deutsche Maschinenbau-Aktiengesellschaft Deutsche Forschungsgemeinschaft Deutscher Gewerkschaftsbund

XII. Abkürzungsverzeichnis

DIAF DIE DIG DIHT DIW DM DNB dpa DSE DUB DWD DWG EFTA EGKS EHStG ERP Euratom EZU FES FNSt FU GATT Gepra GIGA GmbH HAPAG HK HU HWWA IAV ICC IfA Ifo IfW IHK IIS IWF JEIA KAS KfW KG LAV NATO NfA

Deutsches Institut für Afrikaforschung Deutsches Institut für Entwicklungspolitik Deutsch Indische Gesellschaft Deutscher Industrie- und Handelskammertag Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung Deutsche Mark Deutsches Nachrichtenbüro Berlin Deutsche Presse Agentur Deutsche Stiftung für Entwicklungsländer Ab 1973: Deutsche Stiftung für Internationale Entwicklung Deutsche Überseeische Bank Deutscher Wirtschaftsdienst Deutsche Weltwirtschaftliche Gesellschaft European Free Trade Association Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl Entwicklungshilfe-Steuergesetz European Recovery Plan Europäische Atomgemeinschaft Europäische Zahlungsunion Friedrich-Ebert-Stiftung Friedrich-Naumann-Stiftung Freie Universität General Agreement on Tariffs and Trade Gesellschaft für praktisches Auslandswissen German Institute of Global and Area Studies Gesellschaft mit beschränkter Haftung Hamburg-Amerikanische Packetfahrt-Actien-Gesellschaft Handelskammer Humboldt Universität Hamburgisches Welt-Wirtschafts-Archiv Ibero-Amerika-Verein International Chamber of Commerce Institut für Auslandsbeziehungen Informations- und Forschungsstelle für Wirtschftsbeobachtung Institut für Weltwirtschaft an der Universität zu Kiel Industrie-und Handelskammer Institut für Internationale Studien der Konrad Adenauer Stiftung Internationaler Währungsfonds Joint Export Import Agency Konrad-Adenauer-Stiftung Kreditanstalt für Wiederaufbau Kommandit-Gesellschaft Lateinamerika Verein North Atlantic Treaty Organization Nachrichten für den Außenhandel

387

388 NuMoV NSDAP MAN Mio. Mill. MNU MPI MWT NRW OAV OMGUS OPEC REI RWAG RWWA SD SKH SPD SS SSIP TNU TU TWD UN UNESCO UNIAPAC UNO USA VDA VDM VDMA VHE VW VWD WDR WIMD

XII. Abkürzungsverzeichnis

Nah-und Mittelost Verein Nationalsozialistische Arbeiterpartei Deutschlands Maschinenfabrik Augsburg-Nürnberg Millionen Milliarden Multinationale Unternehmen Max-Planck-Institut Mitteleuropäischer Wirtschaftstag Nordrhein-Westfalen Ostasiatischer Verein Office of Military Government for Germany Organization of the Petroleum Exporting Countries Rat der Europäischen Industrieverbände Rheinisch-Westfälische Auslandsgesellschaft Rheinisch-Westfälisches Wirtschaftsarchiv Sicherheitsdienst des Reichsführers SS Seine Königliche Hoheit Sozialdemokratische Partei Deutschlands Schutzstaffel Sozialwissenschaftlicher Studienkreis für Internationale Probleme Transnationale Unternehmen Technische Universität Technischer Dienst des Afrika Vereins / Technisch-Wirtschaftlicher Dienst United Nations United Nations Educational, Scientific and Cultural Organization Internationale Vereinigung christlicher Unternehmer United Nations Organization Vereinigte Staaten von Amerika Verein für das Deutschtum im Ausland Verband Deutscher Metallhändler Verband Deutscher Maschinen- und Anlagenbauer Verein Hamburger Exporteure Volkswagen AG Vereinigte Wirtschaftsdienste Westdeutscher Rundfunk Weltwirtschaftlicher Informations- und Marktdienst

XIII. ABBILDUNGSVERZEICHNIS ABBILDUNGEN Abb. Cover BDI-Archiv SF 335 1A (retuschiert). Abb. 1 BDI-Delegation nach Südafrika 1969, BDI-Archiv SF 522, 1A. Abb. 2 Schaubild 8 aus Theodor Zotschew: Die Strukturwandlungen im deutschen Außenhandel und deren Folgen für die westeuropäische Wirtschaft, Sonderdruck Hamburg 1951, S. 311. Abb. 3 Fritz Baade: Das Ruhrrevier in der Weltwirtschaft, Essen 1949, S. 13. Abb. 4 Fritz Baade: Das Ruhrrevier in der Weltwirtschaft, Essen 1949, S. 13. Abb. 5 Karte Nah-und Mittelost aus: ORIENT 1 (1961), S. 19. Abb. 6 Cluster des „Überseewissens“, eigene Graphik. Abb. 7 BDI-Archiv SF 519 3A. Abb. 8 Fotoalbum zur Erinnerung an den Besuch Seiner Kaiserlichen Majestät Haile Selassie I. Kaiser von Äthiopien am 11. November 1954 bei der Firma Fried. Krupp im Rahmen des vom Auswärtigen Amt in Zusammenarbeit mit dem BDI erstellten Programms für den ersten Deutschland-Besuch, Historisches Archiv Krupp. Abb. 9 Werbebroschüre des Internationalen Rats für Jugendselbsthilfe, o. O., o. J. [ca. 1952], S. 1 und S. 8, RWWA 352-14-18.

XIV. ANHANG Tab. 1: Wachstum des Exportes und der Direktinvestitionen der Bundesrepublik Deutschland. Hardach, Rückkehr 1998, S. 101. Zur Datenbasis vgl. ebd. S. 90 und 101. Umfangreiches Zahlenmaterial bietet zudem: Krägenau, Direktinvestitionen 1975; Schreyger, Direktinvestitionen 1994, S. 60–70. Schröter, Außenwirtschaft 1992.

Wachstum des Exports und der Direktinvestitionen der Bundesrepublik Deutschland Wachstumsrate des Exports

Jährliche neue Direktinvestitionen in Mio. DM

30,9

20,2

409,9

36,0

16,5

518,2

26,4

1958

37,0

2,8

509,4

-1,7

1959

41,2

11,4

563,6

10,6

1960

47,9

16,3

739,6

31,2

1961

51,0

6,5

680,7

-8,0

1962

53,0

3,9

1113,2

63,5

1963

58,3

10,0

1115,1

0,2

1964

64,9

11,3

1134,3

1,7

1965

71,7

10,5

1112,0

-2,0

1966

80,6

12,4

1678,2

50,9

1967

87,0

7,9

2061,5

22,8

1968

99,6

14,8

2292,2

11,2

1969

113,6

14,1

3269,3

42,6

1970

125,3

10,3

3494,2

6,9

1971

136,0

8,5

2667,5

-23,7

1972

149,0

9,6

2816,2

5,6

1973

178,4

19,7

5638,1

93,7

1974

230,6

29,3

4529,2

-19,7

Jahr

Export in Mrd. DM

1955

25,7

1956 1957

Wachstumsrate der Zunahme der Direktinv.

391

XIV. Anhang

Tab. 2: Direktinvestitionen in Industrieländern und Entwicklungsländern in Prozent der investierten Summen, nach Harm G. Schröter: Außenwirtschaft im Boom. Direktinvestitionen bundesdeutscher Unternehmen im Ausland 1950–1975, in: Hartmut Kaelble (Hg.): Der Boom 1948–1973. Gesellschaftliche und wirtschaftliche Folgen in der Bundesrepublik Deutschland und in Europa, Opladen 1992, S. 82–106, hier S. 99.1

Verteilung der Direktinvestitionen der Bundesrepublik Deutschland in Prozent 1956

1961

1965

1968

1972

„Industrieländer“2

66,8

61,7

71,6

74,4

79,2

„Entwicklungsländer“

33,2

38,3

28,4

25,6

20,8

Tab. 3: Direktinvestitionen in Industrieländern und Entwicklungsländern in Millionen DM, berechnet nach Harm G. Schröter: Außenwirtschaft im Boom. Direktinvestitionen bundesdeutscher Unternehmen im Ausland 1950–1975, in: Hartmut Kaelble (Hg.): Der Boom 1948–1973. Gesellschaftliche und wirtschaftliche Folgen in der Bundesrepublik Deutschland und in Europa, Opladen 1992, S. 82–106, hier S. 90 und 99.

Verteilung der Direktinvestitionen der Bundesrepublik Deutschland in Millionen DM

1

2

1956

1961

1965

1968

1972

Gesamtbestand

831,0

3.842,5

8.317,1

14.349,0

26.596,9

„Industrieländer“

555,1

2.370,8

5.955,0

10.675,7

21.064,7

„Entwicklungsländer“

275,9

1.471,7

2.362,1

3.673,3

5.532,2

Zahlen nach ebd. Zwar ist festzustellen, dass die „Entwicklungsländer“ bis 1961 einen großen Anteil am Boom der deutschen Wirtschaft hatten, sich aber im Bereich der Direktinvestitionen ab 1962 eine Verflechtungsformation herausbildete, die auch heute noch Bestand hat und eben auf einer viel stärkeren Verflechtung mit den „Industrieländern“ basiert. Vgl. ebd., S. 105. Zeitgenössische Zahlen für die Jahre 1953–1965 in: Müller, Industrialisierung 1968, S. 136 „Industrieländer“ meint hier „Europa“, „Nordamerika“, Japan, Australien, Neuseeland, Südafrika; zu den Entwicklungsländern gehört der „Rest“, also auch die OPEC-Mitglieder. Vgl. Schröter, Außenwirtschaft 1992, S. 82–106, hier S. 99.

392

XIV. Anhang

Tab. 4: eigene Zusammenstellung aus: Anteil am Außenhandel nach Bundesländern 1952–1954, aus: Statistisches Jahrbuch für die Bundesrepublik Deutschland für das Jahr 1955, Zeitschriftenband (1956), S. 307.

Anteil der Länder des Bundesgebietes und West-Berlins an der Ausfuhr 1952 Bundesland

Ernährungswirtschaft in Mill. DM

Gewerbliche Wirtschaft in Mill. DM

Insgesamt in Mill. DM

Insgesamt in Prozent

Schleswig-Holstein

31,2

283,0

314,2

1,9

Hamburg

58,6

723,5

782,1

4,6

Niedersachsen

38,8

1.272,9

1.311,7

7,8

Bremen

31,4

181,8

213,2

1,3

Nordrhein-Westfalen

54,5

7.693,7

7.748,3

45,8

Hessen

11,9

1.445,6

1.457,4

8,6

Rheinland-Pfalz

23,8

722,5

746,3

4,4

Baden-Württemberg

27,9

2.257,4

2.285,3

13,5

Bayern

91,1

1.585,2

1.676,3

9,9

5,2

330,4

335,6

2,0

379,4

1.6529,4

16.908,8

100

West-Berlin Gesamt

DANKSAGUNG Meine akademischen Lehrer_innen, insbesondere Cornelia Brink, Svenja Goltermann, Ulrich Herbert und Wolfgang Eßbach, haben meinen Blick auf historische und soziologische Phänomene geprägt und meine Arbeitsweise beeinflusst. Ihnen gilt mein erster Dank für die von ihnen vermittelte und vorgelebte Lust am Denken. Andere Wissenschaftler_innen haben die vorliegende Arbeit kritisch begleitet und mir an unterschiedlichen Universitäten immer wieder ein intellektuelles Zuhause gegeben: Der Arbeitskreis Wirtschaftsgeschichte an der Universität Bamberg mit Heiner Lang, Christof Jeggle und Sven Schmidt, das Institut für Europäische Geschichte in Mainz sowie das Gendersoziologie-Kolloquium von Uta Klein an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Danken möchte ich auch denen, die mir die Möglichkeit boten, meine Zwischenergebnisse in Kolloquien und auf Tagungen zu diskutieren. Hier konnte ich meine Argumente schärfen, meine eigene Perspektive auf historische Phänomene klären und nicht zuletzt in regen Austausch treten. Ohne Cosima Götz hätte ich das Unternehmen Dissertation nie gewagt. Sie war von Anfang an, und blieb es all die Jahre, die zentrale implizite Leserin. Das Manuskript zu unterschiedlichen Zeitpunkten kommentiert haben Christa Walzer, Jan Stoll, Onur Erdur, Robert Bernsee und Anna Catharina Hofmann. Für ihre Interventionen sowie ihre konstruktiven und motivierenden Kommentare bin ich ihnen sehr dankbar. Die vorgenannten Personen haben gestrafft, wenn ich mich im Quellenmaterial verloren hatte und auf die handelnden Personen gepocht, wenn der Soziologe in mir die historischen Akteure vernachlässigte. Nur dank ihnen sind schließlich Empirie und Theorie in ein produktives Verhältnis getreten. Außerdem haben sie mir das Gefühl gegeben, dass die eigene Arbeit spannend ist, selbst in jenen Momenten, in denen sie mich schon zu langweilen begann. Insbesondere in den letzten Monaten vor der Abgabe waren Anna Catharina Hofmann und Anna Kroll als Unterstützerinnen und kritische Begleiterinnen unentbehrlich. In diesem Zusammenhang gilt ein besonderer Dank auch Heiner Fangerau und den Mitgliedern der Historischen Kommission zur Erforschung der Geschichte der psychiatrischen Fachgesellschaften in Deutschland. Denn erst die Aussicht darauf, bald ein neues Buchprojekt beginnen zu können, hat den zügigen Abschluss des Manuskripts ermöglicht. Ohne die Mithilfe der wissenschaftlichen Hilfskräfte an der Professur für Globalgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts in Bamberg und an der Professur für Geschichte der Neuzeit in Kiel wäre ich oft zwischen Bürokratie, Lehre und Forschung verloren gegangen. Mein Dank gilt daher zunächst Sebastian Ullmann, Raphael Rössel und Jonathan Holst. Sie haben mir mit ihren exzellenten Recherchen sehr geholfen. Claudi Kuhn und Sanya Romeike haben das Projekt jeweils über mehrere Jahre hinweg unterstützt, in dem sie mich mit Literatur versorgten. In Erinnerung bleiben aber nicht nur ihre oft mahnenden Blicke nach der Überprüfung meiner Bibliothekskonten. Vielen Dank! Ein Dank gilt aber auch all jenen Studierenden, mit denen ich in meinen Lehrveranstaltungen diskutieren und Argumenta-

394

Danksagung

tionswege austesten durfte. Von und mit ihnen habe ich viel gelernt. Nicht vergessen will ich auch alle jene Mitarbeiter_innen, die mich in Archiven und Bibliotheken bei der konkreten Arbeit mit dem Quellenmaterial unterstützt haben. Sie haben mein Interesse für das Thema geteilt und mich auf Bestände aufmerksam gemacht, die sonst unberücksichtigt geblieben wären. Ein besonderer Dank gilt Frau Witschaß-Beyer vom Archiv des Bundesverbandes der Deutschen Industrie für Ihre wertvolle Unterstützung bei der Bildrecherche. Ein Teil der Arbeit begann erst nach der Abgabe des Manuskripts im Promotionsprüfungsamt der Philosophischen Fakultät der Kieler Universität. Dass sich das Buch anschließend noch einmal verändert hat, ist nicht nur auf den Abstand zum eigenen Text zurückzuführen, sondern auch auf hilfreiche Kommentare von außen. Für die Übernahme der Promotionsgutachten danke ich Axel Schildt und Gabriele Lingelbach. Ihre Anmerkungen haben den Argumentationsgang an vielen Stellen noch einmal präziser gemacht. Für die große Linie zuständig war Bernhard Gissibl. Ihm kann ich gar nicht genug danken. Denn er hat die vorliegende Arbeit nicht nur im Rahmen eines sechsmonatigen Schreibstipendiums am Institut für Europäische Geschichte begleitet, wo in klösterlicher Zurückgezogenheit ein großer Teil des Manuskripts entstand. Er hat auch nach der Abgabe die fertige Arbeit geprüft, die Grundstruktur hinterfragt und die These zugespitzt. Für das herausragende Lektorat danke ich Niklas Weber, die Erstellung der Graphiken und die Bildbearbeitung hat Janine Dähler übernommen. Danken möchte ich auch Mark Häberlein als Vorsitzenden der Gesellschaft für Überseegeschichte. Durch die Verleihung des MartinBehaim-Preises konnte die vorliegende Arbeit im Franz Steiner Verlag erscheinen. Viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben ihren Anteil an Form und Inhalt des vorliegenden Buches. So manche von ihnen waren es schon vorher oder sind es während des Schreibens dieses Buches geworden: Freunde, Begleiter, Komplizen. Nichtsdestotrotz hätte ich den emotionalen und intellektuellen Kraftakt des Schreibens des ersten Buches ohne meine Familie und meine langjährigen Freunde nicht vollbringen können. Ihrer Geduld, Nachsicht, Unterstützung und Lebensfreude ist es zu verdanken, dass ich dies geschafft habe, ohne den Humor und die Lust am Leben und am Schreiben zu verlieren. Dafür stehe ich tief in ihrer Schuld. Insbesondere Cosima, Inga, Marc, Marco, Dani, Britta, Annika und Dorothea haben mir immer wieder ein Gefühl für die Normalität außerhalb der universitären Geisteswissenschaften vermittelt. Obendrein haben sie mehr als einmal meine Panik beruhigt, mich an meine Stärken erinnert und mich darauf hingewiesen, dass man sich auch als Schriftsteller am Glück des Moments laben kann. Das war bestimmt nicht immer einfach. Christa hat mit mir schon immer die kleinen und großen Tiefs durchlebt. Ihr unerschütterlicher Glaube an mich hat mich schließlich auch diesmal durch jede noch so große Krise gebracht. Nora und Marlene haben mich gebremst, wenn ich mich in der wissenschaftlichen Arbeit zu verlieren drohte, und haben mich an die wirklich wichtigen Dinge im Leben erinnert. Marlene, geboren zu Beginn der Promotionszeit und mittlerweile in der Grundschule, hat mich gelehrt, dass das Schreiben nicht trotz einer Außenwelt, sondern in der Welt geschehen muss und kann. Ihr oft lautes Lachen und ihre manchmal skeptischen Blicke waren am Ende vieler langer Tage die größte Belohnung. Danke!

b e i t r äg e z u r e u ro pä i s c h e n ü b e r s e e g e s c h i c h t e bis Band 88: Beiträge zur Kolonial- und Überseegeschichte

Im Auftrag der Forschungsstiftung für vergleichende europäische Überseegeschichte begründet von Rudolf von Albertini, fortgeführt von Eberhard Schmitt, herausgegeben von Markus A. Denzel, Mark Häberlein und Hermann Joseph Hiery.

Franz Steiner Verlag

ISSN 0522–6848

76. Hendrik L. Wesseling Teile und herrsche Die Aufteilung Afrikas 1880–1914. Autorisierte Übersetzung aus dem Niederländischen von A. Pistorius 1999. 386 S. mit 136 Abb. und 11 Ktn., kt. ISBN 978-3-515-07543-5 77. Rolf Peter Tschapek Bausteine eines zukünftigen deutschen Mittelafrika Deutscher Imperialismus und die portugiesischen Kolonien. Deutsches Interesse an den südafrikanischen Kolonien Portugals vom ausgehenden 19. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg 2000. 475 S., kt. ISBN 978-3-515-07592-3 78. Michael Mann Bengalen im Umbruch Die Herausbildung des britischen Kolonialstaates 1754–1793 2000. 469 S., kt. ISBN 978-3-515-07603-6 79. Urs Olbrecht Bengalens Fluch und Segen Die indische Juteindustrie in spätund nachkolonialer Zeit 2000. 288 S., kt. ISBN 978-3-515-07732-3 80. Horst Pietschmann Mexiko zwischen Reform und Revolution Vom bourbonischen Zeitalter zur Unabhängigkeit 2000. XII, 304 S., kt. ISBN 978-3-515-07796-5 81. Silvia Brennwald Die Kirche und der Maya-Katholizismus Die katholische Kirche und die indianischen Dorfgemeinschaften in Guatemala 1750–1821 und 1945–1970 2001. 289 S., kt. ISBN 978-3-515-07705-7

82. Christian Koller ,Von Wilden aller Rassen niedergemetzelt‘ Die Diskussion um die Verwendung von Kolonialtruppen in Europa zwischen Rassismus, Kolonial- und Militärpolitik (1914–1930) 2001. 476 S., geb. ISBN 978-3-515-07765-1 83. Martin Stäheli Die syrische Aussenpolitik unter Präsident Hafez Assad Balanceakte im globalen Umbruch 2001. 574 S. mit 7 Ktn., geb. ISBN 978-3-515-07867-2 84. Cornelia Pohlmann Die Auswanderung aus dem Herzogtum Braunschweig im Kräftespiel staatlicher Einflußnahme und öffentlicher Resonanz 1720–1897 2002. 373 S., kt. ISBN 978-3-515-08054-5 85. Carl Jung Kaross und Kimono „Hottentotten“ und Japaner im Spiegel des Reiseberichts von Carl Peter Thunberg (1743–1828) 2002. 323 S. mit 5 Abb. und 2 Faltktn., kt. ISBN 978-3-515-08120-7 86. Michael Schubert Der schwarze Fremde Das Bild des Schwarzafrikaners in der parlamentarischen und publizistischen Kolonialdiskussion in Deutschland von den 1870er bis in die 1930er Jahre 2003. 446 S., kt. ISBN 978-3-515-08267-9 87. Dawid Danilo Bartelt Nation gegen Hinterland Der Krieg von Canudos in Brasilien: ein diskursives Ereignis (1874–1903) 2003. 408 S. und 6 Taf., kt. ISBN 978-3-515-08255-6 88. Christian Rödel

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Krieger, Denker, Amateure Alfred von Tirpitz und das Seekriegsbild vor dem Ersten Weltkrieg 2003. XI, 234 S., kt. ISBN 978-3-515-08360-7 Teresa Pinheiro Aneignung und Erstarrung Die Konstruktion Brasiliens und seiner Bewohner in portugiesischen Augenzeugenberichten 1500–1595 2004. 355 S., kt. ISBN 978-3-515-08326-3 Frank Becker (Hg.) Rassenmischehen – Mischlinge – Rassentrennung Zur Politik der Rasse im deutschen Kolonialreich 2004. 378 S., kt. ISBN 978-3-515-08565-6 in Vorbereitung Markus A. Denzel (Hg.) Vom Welthandel des 18. Jahrhunderts zur Globalisierung des 21. Jahrhunderts Leipziger Überseetagung 2005 2. Auflage 2009. 147 S., kt. ISBN 978-3-515-09378-1 Alexander Keese Living with Ambiguity Integrating an African Elite in French and Portuguese Africa, 1930–1961 2007. 344 S. mit 3 Abb., kt. ISBN 978-3-515-09032-2 Nikolaus Böttcher Monopol und Freihandel Britische Kaufleute in Buenos Aires am Vorabend der Unabhängigkeit (1806–1825) 2008. 198 S. mit 3 Ktn. und 5 Tab., kt. ISBN 978-3-515-09185-5 Eva Maria Stolberg Sibirien: Russlands „Wilder Osten“ Mythos und soziale Realität im 19. und 20. Jahrhundert 2009. 392 S., kt. ISBN 978-3-515-09248-7 Christian Haußer Auf dem Weg der Zivilisation Geschichte und Konzepte gesellschaftlicher Entwicklung in Brasilien (1808–1871) 2009. 349 S., kt. ISBN 978-3-515-09312-5 Mark Häberlein / Alexander Keese (Hg.) Sprachgrenzen – Sprachkontakte – kulturelle Vermittler Kommunikation zwischen Europäern und

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Außereuropäern (16.–20. Jahrhundert) 2010. 421 S. mit 4 s/w Abb., 6 farb. Abb. und 10 Tab., kt. ISBN 978-3-515-09779-6 Thomas Fischer Die Souveränität der Schwachen Lateinamerika und der Völkerbund, 1920–1936 2012. 459 S. mit 39 Abb. und 2 Tab., kt. ISBN 978-3-515-10077-9 Niels Wiecker Der iberische Atlantikhandel Schiffsverkehr zwischen Spanien, Portugal und Iberoamerika, 1700–1800 2012. 286 S. mit 14 Abb. und 16 Diagr. ISBN 978-3-515-10201-8 in Vorbereitung Matthias Schönhofer Letters from an American Botanist The Correspondences of Gotthilf Heinrich Ernst Mühlenberg (1753–1815) 2014. 604 S. mit 29 Abb., kt. ISBN 978-3-515-10796-9 Bernhard Olpen Johann Karl Vietor (1861–1934) Ein deutscher Unternehmer zwischen Kolonialismus, sozialer Frage und Christentum 2015. 624 S. mit 21 Abb. und 12 Tab., kt. ISBN 978-3-515-10837-9 Heinrich Christ Zwischen Religion und Geschäft Die Basler Missions-Handlungs-Gesellschaft und ihre Unternehmensethik, 1859–1917 2015. 273 S. mit 15 Abb., kt. ISBN 978-3-515-11083-9 Sarah Reimann Die Entstehung des wissenschaftlichen Rassismus im 18. Jahrhundert 2017. 345 S. mit 5 Abb., kt. ISBN 978-3-515-11756-2 Oliver Krause Die Variabilität frühneuzeitlicher Staatlichkeit Die niederländische „Staats“-Formierung der Statthalterlosen Epoche (1650–1672) als interkontinentales Regiment 2018. 529 S. , kt. ISBN 978-3-515-11984-9 Sönke Bauck Nüchterne Staatsbürger für junge Nationen Die Temperenzbewegung am Rio de la Plata (1876–1933) 2018. 345 S. mit 25 s/w Abb., kt. ISBN 978-3-515-11932-0 in Vorbereitung

Lässt sich das Wirtschaftswunder exportieren? Schon zu Beginn der 1950er Jahre interessierten sich die Außenhandelskreise der Bundesrepublik für die sogenannten Überseemärkte, die schnell als zukunftsträchtige Absatzgebiete angesehen wurden. Erstaunlicherweise beschäftigten sie sich weniger mit ökonomischen Faktoren als mit den Menschen vor Ort, ihrer Arbeitsethik und ihrem Leistungswillen. Export-

orientierte Unternehmer, Handels- und Industrievertreter fragten sich dabei, ob ein dem Nachkriegsboom vergleichbares ökonomisches Wachstum auch in anderen, bislang kaum industrialisierten Gegenden der Welt möglich sein würde. Mit der Analyse dieser Debatten eröffnet der Autor eine neue Perspektive auf die Kulturgeschichte des deutschen Wirtschaftswunders und die Entwicklungspolitik.

www.steiner-verlag.de Franz Steiner Verlag

ISBN 978-3-515-12377-8

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7835 1 5 1 23 7 78