113 69 51MB
German Pages 452 [459] Year 2004
Rolf Walter (Hg.)
Geschichte des Konsums
Erträge der 20. Arbeitstagung der Gesellschaft für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 23.-26. April 2003 in Greifswald
Geschichte Franz Steiner Verlag
VSWG-Beihefte 175
Geschichte des Konsums
VSWG Vierteljahrschrift für Sozial- undWirtschaftsgeschichte
Beihefte Nr.175 Herausgegeben von Günther Schulz, Christoph Buchheim, Gerhard Fouquet, Rainer Gömmel, Friedrich-Wilhelm Henning, Karl Heinrich Kaufhold,
Hans Pohl
Rolf Walter (Hg.)
Geschichte des
Konsums
Erträge der 20. Arbeitstagung der Gesellschaft für Sozial- undWirtschaftsgeschichte 26. April 2003 in Greifswald 23.–
Franz Steiner Verlag
2004
Bibliografische Information derDeutschen Bibliothek DieDeutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation inderDeutschen Nationalbibliografie; detaillierte
bibliografische Daten sind imInternet über abrufbar.
ISBN 3-515-08540-8
Jede Verwertung desWerkes außerhalb derGrenzen desUrheberrechtsgesetzes istunzulässig undstrafbar. Diesgilt insbesondere fürÜbersetzung, Nachdruck, Mikroverfilmung odervergleichbare Verfahren sowie für dieSpeicherung inDatenverarbeitungsanlagen. Gedruckt mitUnterstützung derDeutschen Forschungsgemeinschaft. Gedruckt aufsäurefreiem, alterungsbeständigem Papier. © 2004 byFranz Steiner Verlag Wiesbaden GmbH, Sitz Stuttgart. Druck: Printservice Decker &Bokor, München Printed inGermany
INHALTSVERZEICHNIS Rolf Walter Geschichte desKonsums
Michael North Kultur undKonsum
–Einführung
7
–Luxus undGeschmack um1800
Wilhelm Ruprecht Konsumtheorie bzw. Konsumverhalten
in evolutorischer
17 Perspektive
Karl Georg Zinn
47
Korreferat zurWilhelm Ruprecht
Karl Georg Zinn
Überkonsum undKonsumsättigung Volkswirtschaften
Rolf Walter Korreferat
als Probleme reifer
zuKarl Georg Zinn
Savoyische Kaufleute unddieDistribution 1840 Oberrheingebiet, ca. 1720–
vonKonsumgütern im
zuMark Häberlein
Hans-Jürgen Teuteberg Vom„Gesundbrunnen“in Kurbädern Mineralwasserproduktion
55
75
Mark Häberlein
Rainer Metz Korreferat
35
81 115
zurmodernen 123
Helmut Braun
DerSchmuckdiamant als Veblen-Leibenstein-Gut: vomSymbol der Reichen undMächtigen zumKonsumartikel mitWertillusion fürdas breite Bürgertum Norbert Reuter Korreferat zuHelmut Braun
159
193
Hartmut Berghoff
. Die Entstehung desmodernen Tourismus und All foryour delight“ „ derAufstieg derKonsumgesellschaft in Großbritannien
Franz Baltzarek Korreferat zuHartmut Berghoff
199 217
6
Inhaltsverzeichnis
Andreas Weigl VomVersorgungsfall zurZielgruppe. Konsumverhalten Wiener Kinder undJugendlicher zwischen Kinderausspeisung und Markenfetischismus
221
Oliver Volckart Korreferat zuAndreas Weigl
245
Reiner Flik
Nutzung vonKraftfahrzeugen Investitionsgut
Paul Thomes Korreferat
bis 1939 –Konsum- oder
271
zuReiner Flik
Hartmut Kiehling Einzelhandel undKonsum
249
23 inZeiten derInflation 1920–
Marcel Boldorf Korreferat zuHartmut Kiehling
275 313
HarmG. Schröter
ZurGeschichte derMarktforschung in Europa im 20. Jahrhundert
319
Susanne Hilger Korreferat zuHarm G. Schröter
337
Peter Skyba Konsumpolitik in derDDR 1971 bis 1989. Die Verbraucherpreise als Konfliktgegenstand
343
Dirk Schindelbeck
zuPeter Skyba
367
Roman Sandgruber DasGeschlecht derEsser
379
Hans-Jürgen Teuteberg Korreferat zuRoman Sandgruber
409
Korreferat
Margarethe Wagner-Braun Die Frau in derKonsumgüterwerbung
Rainer Gries Korreferat
im20. Jahrhundert
zuMargarethe Wagner-Braun
415
437
Rolf Walter Geschichte desKonsums –Einführung
WoMenschen sind, daist auch Konsum. Die Konsumgeschichte gehört zujenem Bereich der Kultur- undWirtschaftsgeschichte, der amwenigsten erforscht werden kann, ohne physiologische, anthropologische undkognitive Befunde zu be-
rücksichtigen. Die Komplexität konsumhistorischer Fragestellungen macht Interdisziplinarität zueiner conditio sine qua non. Die Entwicklungsgeschichte desKonsums reicht vonderDeckung individuellen Bedarfs durch Jagen undSammeln im Vorstadium marktlicher Formen bis in die Gegenwart, woderKonsum häufig seines materiellen Charakters enthoben ist undals Kompensation menschlicher Schwäche fungiert. Der imaginative Hedonismus hatsich imLauf derZeit gegenüber demmateriellen Konsum verstärkt. Die Stadien der Konsumgeschichte lassen sich als Stadien der Kulturgeschichte der Menschheit interpretieren, als Prozesse der allmählichen Durchsetzung bestimmter Wohlfahrtsmuster unter sich wandelnden Bedingungen der Kommunikation, desWissens unddamit der Grundlagen klassischer Konditionierung. Aspekte der Adaption undImitation spielen beim Konsum unddessen Diffusion eine besondere Rolle. Konsum ist das materielle oder immaterielle Abbild von Bedürfnissen. Die Konsumstruktur visualisiert insoweit die Bedürfnisstruktur. Es ist daher sinnvoll, bei derFestlegung desForschungsdesigns dieMaslow’sche Bedürfnispyramide zu Grunde zu legen, d.h. nach Grundbedürfnissen, Sicherheitsbedürfnissen, Statusbedürfnissen undSelbstverwirklichungsbedürfnissen zu differenzieren, wobei die einzelnen Ebenen unabhängig voneinander zu sehen sind, d.h. z.B. die Deckung des Selbstverwirklichungsbedürfnisses setzt die Deckung des physiologischen Bedürfnisses nicht voraus. DasMaslow’sche Schema kann verwendet werden, um die Konsumgeschichte strukturhistorisch zu erfassen. Historiker arbeiten in der Regel aber nicht nur strukturhistorisch, sondern chronologisch. Es fragt sich, welche Phasen derKonsumgeschichte identifizierbar sind. Hier spielen grundsätzliche Aspekte herein, nämlich die Dichotomie Überfluss undKnappheit, Angebot undNachfrage sowie Materialität undImmaterialität. Konsum setzt Produktion in einem sehr weiten Sinne voraus. Bei Blaubeeren, die sich pfundweise im Wald finden und die man genüsslich konsumiert, wird mansich schwer tun, deren Produktion undKosten genau zu spezifizieren. Niemandhatsie gesetzt. Sie sind ein freies Gut. Aber ihre Ernte verursacht Kosten. In derZeit der Sammler undJäger stand derKonsum aussolcher „Naturproduktion“ imVordergrund. Ihn gibt es auch heute noch, doch eher in der Form des Marginalkonsums vonNaturfreunden undohne große ökonomische Relevanz.
8
Rolf Walter
Mit der mittelalterlichen Marktwirtschaft undUrbanisierung kames zu einer wesentlichen Intensivierung und Beschleunigung des Aufeinandertreffens von Angebot undNachfrage. Durch die kostengünstigere Möglichkeit der Kommunikation kames zurverbesserten wechselseitigen Wahrnehmung derbeiden Marktseiten. Wahrnehmung ist –wie ausderMarktforschung bekannt –eine deressentiellen Voraussetzungen jeglichen Konsums. Ein anderer ist der Preis bzw. das zumKauf verfügbare Einkommen. Die materielle Kultur des Mittelalters wurde durch die Entdeckung derNeuen Welt erheblich bereichert underweitert. Man denke etwa an Konsumartikel, die im Lauf der Frühen Neuzeit selbstverständlicher Bestandteil des menschlichen Alltags wurden: Kartoffeln, Tomaten, Mais, Kakao, Tabak undviele Hundert weiterer Güter. Die Renaissance brachte eine säkulare Neuorientierung mit sich undbetonte das Individuelle. Das weltliche Dasein, das naturwissenschaftliche Interesse, der kritische Rationalismus unddie protestantische Ethik mit ihren liberalen undmaterialistischen Ausprägungen stellten neue Rahmenbedingungen imgeistigen und sozialen zeitgenössischen Umfeld dar. Es ist nicht zu übersehen, dass solcherlei gesamtgesellschaftlichen Grundströmungen nicht ohne Auswirkung auf die Konsumsphäre sind und spezifische Formen des Konsums, vielleicht Konsumstile, hervorbringen. Als Medium fungiert hier häufig die Kunst als gesellschaftlicher Bereich, in dem sich die Ästhetik ausbildet, die als stilprägendes bzw. -begründendes Element sich in der materiellen Kultur in vielfacher Abwandlung wieder findet. Man könnte den Prozess vielleicht mit „ Demokratisierung der Kunst“bezeichnen, denn sie wird im Laufe der Frühen Neuzeit mehr undmehr vonMassen konsumiert undfürdiese produziert. DieNiederlande bilden mitihrer relativ frühen „Kopierkultur“großer Meister wohl daseindrücklichste Beispiel für Kunstkonsum.1 Die Zeit der Aufklärung mit ihrer Betonung des autonomen Verstandes und der eigenen Identität bildete insofern eine wichtige Basis der Konsumkultur, als mitdemAufgeklärten auch die Suche nach Neuem undsomit diekreativen Kräfte erhebliche Förderung erfuhren. Hinzu kam, dass die zunehmende horizontale und vor allem vertikale soziale Mobilität der „Demokratisierung des Konsums“wesentlich Vorschub leistete.2 Manmuss sich mit Blick auf Mittelalter undFrühe Neuzeit jedoch stets der Tatsache bewusst sein, dass es (von Kultur zuKultur allerdings sehr unterschiedliche) Restriktionen gab. Formen des Konsumzwangs bzw. des Konsumverbots waren alltäglich. Ein Beispiel dafür sind die Kleiderordnungen, die es dem gemeinen Bürger versagten, bei Festen Seide zu tragen. Auch die Verbote im Be1
2
North, Michael: Kunst
undKommerz in der niederländischen Malerei des 17. Jahrhunderts,
Köln u.a. 2. Aufl. 2001; David Omrod/Michael North (Eds.): Art Markets in Europe, 1400– 1800, Aldershot 1999. Stihler, Ariane: Die Entstehung des modernen Konsums. Darstellung undErklärungsansätze (= Beiträge zurVerhaltensforschung 35), Berlin 1998, S. 236.
Geschichte desKonsums
–Einführung
9
reich der damals häufig als Luxus geltenden Kolonialprodukte gehören in diesen Zusammenhang. Raucher undKaffeetrinker wurden im friederizianischen Preussen zeitweise wieKriminelle verfolgt. Die engen zünftischen Verfassungen boten darüber hinaus wenig Möglichkeiten der Stimulierung des Konsums. Entsprechend geht mit der Liberalisierung in Deutschland gegen Ende des 18. Jahrhunderts (und in den anderen Ländern in der Regel schon viel früher) undmit dem demographischen und urbanen Fortschritt eine weitere Erhöhung der Mobilität und ein „natürliches“Anwachsen des Nachfragepotentials einher. In diese Entwicklung mischt sich mehr undmehr konsumrelevantes Status- undPrestigestreben, demonstrativer Konsum undMuße. Die prinzipielle gesellschaftliche Liberalisierung im Zuge der verschiedenen Revolutionen (politische, industrielle, konsumbezogene) erhöht die Möglichkeit des Durchsickerns von Konsumstilen, -formen, -mustern durch die gesellschaftliche Hierarchie hinzudensozial niedrigeren Schichten. Die Adaption undImitation derKonsumgewohnheiten derElite unterliegen nur noch geringen oder gar keinen Restriktionen mehr. Dieser „Trickledown-Prozess“( Durchsickerprozess)3 mag für die frühe Neuzeit gegolten haben. Er beschleunigte sich im Zuge der Reformen des 19. Jahrhunderts wesentlich, wozu diepolitische Demokratisierung sowie die Verkehrs- undKommunikationsrevolutionen wesentlich beitrugen, allerdings weniger von oben nach unten als vielmehr horizontal undoder gar von unten nach oben. Jedenfalls wurden in diesemZusammenhang dicke Fragezeichen gesetzt, so etwa vonHartmut Berghoff.4 Wie bekannt warder Prozess der Industrialisierung nicht nurmit einer Vielzahl vonInventionen undInnovationen verbunden, sondern hatte auch eine erhebliche Steigerung derRealeinkommen zurFolge. Neben demGrundkonsum wurde so für die Haushalte mehr und mehr Zusatzkonsum leistbar. Der solcherart sich
vollziehende Strukturwandel des Konsums brachte auch eine Umorientierung bei der Nutzenbewertung von Gütern mit sich. Neben den früher stärker vom Gebrauchsnutzen geprägten Konsum trat nun verstärkt ein Konsum, der sensual undemotional angeregt wurde. Der Einsatz von Psychotechniken undwerbepsychologischen Methoden trug zunehmend der Erkenntnis Rechnung, dass neben dem Grundnutzen ein Zusatznutzen existiert und der Konsument nicht nur die Befriedigung seiner unmittelbaren Grundbedürfnisse anstrebt, sondern auch ausgeprägte Genussbedürfnisse hat. Dieser hedonistische Grundzug des menschlichen Wesens wurde durch psychologische Professionalisierung der Werbung gezielt angesprochen undführte im20. Jahrhundert zu einem enormen Bedeutungszuwachs der Konsumsymbolik. Dem Produkt wurden nun Funktionen zugesprochen, die es kaum erfüllen konnte (etwa die Funktion der Kompensation von Frustration oder des Ausgleichs von Selbstwertschwächen) und so kam es, dass gegen Ende des 20. Jahrhunderts geradezu pathologische Befunde diagnostiziert Consumitis“undKaufsucht ist gegenwärtig häufig die Rede undes wurden. Von „
3 Für die Zeit nach dem 18. Jahrhundert wurde ein „trickle-across-Effekt“diagnostiziert (Stihler: Entstehung, S. 31, Fußnote 76; Vgl. S. 185 u. 238). 4 Siehe hierzu seine Ausführungen indiesem Buch.
10
Rolf Walter
fragt sich, wie die offensichtliche Unersättlichkeit deshomo consumens therapeutisch zu behandeln sei. Klar scheint zu sein, dass der Konsum als Therapieform für motivationale Defizite undSelbstwertschwächen ausscheidet, auch wenn Hedonisten sich schwer tun, sich das einzugestehen. Konsumträume blieben immer bis zu einem bestimmten Grad Träume undder nicht deckende Teil von Traum undWirklichkeit führt zuDesillusionierung.5 Ein weiterer Grundzug des20. Jahrhunderts ist in einer gewissen „Neomanie“ zu sehen, d.h. in einem Ethos, dasNeues grundsätzlich bevorzugt unddasbereits von Zeitgenossen der avantgardistischen Wende zum20. Jahrhundert wie Thorstein Veblen erkannt wurde.6 DerKonsum gehört zweifellos zudengeschichtsmächtigen undgesellschaftsprägenden Kräften, prägte Lebensstile und Kulturformen, Statussymbole und Massenbewegungen. In der Tat besteht auf diesem Gebiet erheblicher Forschungsbedarf. Bei der Konzipierung der Arbeitstagung wurde versucht, alle relevanten Aspekte zuerfassen undauch diebisher inderHistoriographie zurKonsumgeschichte eher vernachlässigten Bereiche zu berücksichtigen. Es wurden Referate zu sechs größeren Themenfeldern ausgeschrieben: – DerKonsum in dogmenhistorischer Perspektive – Demographie undKonsum – RaumundKonsum – Mensch undKonsum – Markt undKonsum undschließlich – Etappen derKonsumgeschichte.
Die Themenfelder konnten mit Ausnahme der Demographie „besetzt“werden. Die Themen repräsentierten auch den transdisziplinären Charakter des Tagungsthemas. Befunde ausderKonsumsoziologie, derPsychologie, Anthropologie sollten neben jenen aus den Geschichts- und Wirtschaftswissenschaften einfließen, wollte man sich nicht von vorneherein der möglichen Synergieerträge entsagen. Insoweit die Konsumgeschichte ausder Generierung vonNeuem resultiert, waren jene Disziplinen einzubeziehen, die sich mitdiesem Aspekt beschäftigen, etwa die Kreativitätspsychologie. Die Konsumwelt hat zu viel mit Lernprozessen, insbesondere wohl mit assoziativem Lernen zu tun, als dass darauf verzichtet werden konnte, die kognitionswissenschaftlichen Forschungserträge angemessen zu berücksichtigen. Insofern bietet dasTagungsthema auch die gute Möglichkeit, andere Disziplinen auf den Gegenstand der Wirtschafts- und Sozialgeschichte aufmerksam zumachen, sie fürderen Anliegen zuinteressieren. 5
6
Campbell, Colin: The romantic ethic and the spirit of modern consumerism, Oxford 1987,
86.
S.
Stihler: Entstehung, S. 198; Thorstein B. Veblen: Die Theorie der feinen Leute. Eine ökonomische Untersuchung derInstitutionen. Englische Originalausgabe: The theory of the leisure class: aneconomic study in theevolution of institutions (1899), NewYork 1986.
Geschichte des Konsums
–Einführung
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Die systematische Beschäftigung der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften und insonderheit der Wirtschafts- und Sozialgeschichte mit der Nachfrage und insbesondere mit demKonsum kam erst relativ spät in Gang, wenn maneinmal vonderHandelsgeschichte absieht, die diesen Aspekt schon immer besonders zu berücksichtigen hatte. Vielleicht darf daran erinnert werden, dass es vor über zwanzig Jahren, als Roman Sandgruber seine wegweisende Studie über die Anfänge der Konsumgesellschaft vorlegte, dies als geradezu avantgardistisch angesehen wurde.7 Dies lässt sich gegenwärtig nicht mehr behaupten, denn es liegen inzwischen eine Reihe vonvorzüglichen Monographien undzusammenfassenden Sammelwerken vor. Zu denken ist auf internationaler Ebene an Neil McKendricks, John Brewers undJack H. Plumbs gemeinsames Werk von 1983 TheBirth of a Consumer Society. The Commercialization of EighmitdemTitel „ , daszeigte, wiewichtig es ist, neben derIndustrial Revoteenth-century England“ lution die Consumer Revolution zu sehen.8 Dieses Werk steht auch stellvertretend für viele Studien zumThema Kommerzialisierung, die in den 1980er Jahren verfasst wurden. Weiter ist auf die Arbeiten von Roy Porter9 undMaxine Berg10 zu verweisen. Im deutschsprachigen Zusammenhang ist der von Hannes Siegrist, Hartmut Kaelble undJürgen Kocka 1997 herausgegebene Band mit Beiträgen zur Europäischen Konsumgeschichte“zu nennen, der das 18. bis 20. Jahrhundert „ Zur Gesellschafts- undKulturumfasste undden bezeichnenden Untertitel trug: „ geschichte des Konsums“ .11Was dort allerdings ebenso wie in den englischsprachigen Arbeiten zukurz kam, nämlich Beiträge zurKonsumtheorie, wurde in das Greifswalder Programm
zuintegrieren
versucht.
In diesen Zusammenhang
gehört
der Beitrag des Makroökonomen Karl Georg Zinn über mögliche Grenzen des 7
Sandgruber, Roman:
Die Anfänge der Konsumgesellschaft:
Konsumverbrauch, Lebensstan-
dardundAlltagskultur inÖsterreich im 18. und19. Jahrhundert, Wien 1982. 8 McKendrick, Neil/John Brewer/Jack H. Plumb (Hg.): The birth of a consumer society. The commercialization of eighteenth-century England, London 1982. (Drei Teile: I. McKendrick: Commercialization andthe Economy; II. Brewer: Commercialization andPolitics; III. Plumb: Commercialization andSociety). 9 Brewer, John/Roy Porter (Hg.): Consumption and the world of goods. (Consumption and culture in the 17thand18thcenturies, 1), London 1993. 10 Berg, Maxine/Helen Clifford: Consumers andluxury. Consumer culture in Europe 1650– 1850, Manchester/New York 1999. 11 Siegrist, Hannes/Hartmut Kaelble/Jürgen Kocka (Hg.): Europäische Konsumgeschichte. Zur Gesellschafts- und Kulturgeschichte des Konsums (18. bis 20. Jahrhundert), Frankfurt/New York 1997 (Beiträge von Siegrist, Brewer, McKendrick, de Grazia, Stearns, Kaelble, Merl, Tenfelde, Abrams, Nourrisson, Wildt, Schildt, Beltran/Carré, Triebel, Haupt, Budde, Ber-
nold/Ellmeier, Scholliers, Hilton, Obelkevich, Cleve, Ruppert, Tanner, Schröter, Wadle, Teich, Jaumain, Zamagni, Prinz, Wyrwa, Andersen: Wünderich zu 1. Konsumgesellschaften undKonsumkulturen. Typen, Strategien undDiskurse, 2. Klassenkulturen undDemokratisierung des Konsums in Europa, 3. Die Ungleichheit der Geschlechter vor demKonsum. Rolle, Praktiken, Bilder undKonflikte im Europa des 19. und20. Jahrhunderts, 4. Geschmack, Inszenierung undRationalisierung. Europa im 19. und20. Jahrhundert, 5. Kleinhandel, Warenhaus und Konsumgenossenschaft, 6. Traditionelle und moderne Kritik der Konsumgesellschaft)
12
Rolf Walter
Konsums, Überkonsum undKonsumsättigung. Damit folgte die Gesellschaft für Sozial- undWirtschaftsgeschichte demguten Brauch, Kollegen der Nachbardisziplinen zu ihren Arbeitstagungen einzuladen unddie Disziplin mitderen Positionen undBefunden zu konfrontieren. Solche kritischen Infragestellungen undImpulse erhielt manauch vondemVolkswirt Wilhelm Ruprecht, dessen Beitrag die Konsumtheorie undvor allem dasKonsumverhalten aus Sicht derEvolutorischen Ökonomik zum Gegenstand hatte.12 Deren neue Sicht einzubringen war schon deshalb naheliegend, daderKonsum in besonderer Weise etwas ist, dasderEvolutionsökonom Ulrich Witt als Aufgabe mit qualitativer Komplexität beschreibt undes erscheint in derTat kaum sinnvoll undmöglich, Konsumverhalten erklären zu wollen, ohne etwa die Sozialwissenschaften undinsbesondere die Kognitionswissenschaften angemessen zu berücksichtigen.13 Es ist wichtig, analog den Elementarbedürfnissen und kulturell erlernten Bedürfnissen primäre und sekundäre Verstärker zuunterscheiden. Darüber hinaus widmeten sich einige ReferentInnen eingehend demAspekt der Neuheit undmit Blick auf die Kommunikationswissenschaften ist zubeachten, dass demKonsum selektive Aufmerksamkeitsprozesse vorausgehen undnurdemKonsum unterliegt, wastatsächlich (und nicht unbedingt nur physisch) wahrgenommen wird. So galt es bei dieser Arbeitstagung, Antworten auf die neoklassische Theorie zu finden, die von der Invarianz von Präferenzen ausgeht undBefunde zu sammeln über die Entstehung von Bedürfnissen undKonsum in Abhängigkeit von kognitiven undsituativen Bedingungen, die immerwährend Neuigkeit schöpfen. Hierin liegt ein Argument für die Unbegrenztheit der Bedürfnisse, zumindest der sekundären oder sekundär konditionierten. Dass es sich hier nicht notwendigerweise umeine moderne Entwicklung handeln muss, zeigen historische Beispiele wie die Tulpenmanie des 18. Jahrhunderts oder der Kunstkonsum der Frühen Neuzeit. Wo mentale Stimuli immer wieder neuentstehen, sind Beschränkungen des Konsums schwer auszumachen. Beispiele sind hier die Bereiche Unterhaltung, Freizeitindustrie, Erlebniskonsum, Medien undMobilität.14 So relativ die mentale Stimulation ist, da sie sich durch Gewöhnung stark abnutzt, umso mehr treten an ihre Stelle neue undimmer stärkere Stimuli. Sportlicher Extremkonsum wie Bungee-Springen, Air-riding oder Paragliding mögen Beispiele dafür sein. Moden, Stile, Geschmacksbildungen waren immer Ergebnisse gruppen- undsubkulturspezifischer Kommunikations- undLernprozesse undMultiplikatoren desKonsumvolumens. DerKonsumgüterkosmos hat sich analog derAusdifferenzierung und-diversifizierung vervielfacht, wasVeranlassung bot, die gesellschaftliche Ganzheit als Konsumgesellschaft zu charakteri-
12 Vgl. Ruprecht, Wilhelm: The Historical Development of the Consumption of Sweeteners –A Learning Approach (Papers on Economics andEvolution, No. 0104, MPI) Jena 2001. 13 Witt, Ulrich: Learning to Consume –A Theory of Wants andGrowth of Demand, in: Journal 36. of Evolutionary Economics, Vol. 11, 2001, S. 23– 14 Witt, Ulrich: Beharrung undWandel –ist wirtschaftliche Evolution theoriefähig? (Erwägen, Wissen, Ethik (EWE)), Manuskript 2003, S. 11.
Geschichte desKonsums
–Einführung
13
sieren. Deren Entwicklung galt es genau zu betrachten undsie kritisch zuhinterfragen. Umso gewichtiger werden dann normative Fragen derLegitimation vonKonsum, insbesondere vonLuxuskonsum. Auch damit hatte sich die Arbeitstagung zu beschäftigen. Es waren gleichzeitig Fragen, die eminent denwirtschaftlichen und gesellschaftlichen Wandel betreffen undbeschreiben undinsofern handelt es sich umeinen Kernbereich derWirtschafts- undSozialgeschichte undumeinen strukturellen Veränderungsprozess, der ohne Rückgriff auf diese Disziplin, auf deren empirischen Befunde, garnicht nachvollziehbar ist. ImÜbrigen erwies die Tagung die Notwendigkeit derEinbeziehung derKonsumsoziologie. Viele Güter gewinnen ihre Funktion und Bedeutung wesentlich dadurch, dass sie auf die Gesellschaft bezogen sind, z.B. vondieser in ihrer Symbolik erkannt und wertgeschätzt werden. Ihre Ausdrucksform, kommunikative und identitätsbildende Funktion sind aus der modernen Konsumwelt nicht mehr wegzudenken. Voneinigen ReferentInnen wurde dies thematisiert. Braun hob die Snob-Funktion desDiamanten hervor. Auf derArbeitstagung wurden erstmals auch Korreferate gehalten, umschon vor derjeweils anschließenden Diskussion zwei unterschiedliche Befunde zu haben undauf diese dialektische Weise die Aussprache zuprofilieren. DenKorreferentInnen wurden die Manuskripte einige Wochen vorderArbeitstagung zurVerfügung gestellt und es wurde beschlossen, auch die Koreferate in diesen Sammelbandaufzunehmen. Die 20. Arbeitstagung derGesellschaft für Sozial- undWirtschaftsgeschichte, die vom 23. bis 25. April in Greifswald stattfand, war von Prof. Dr. Michael North undseinem Team perfekt organisiert, wofür an dieser Stelle nochmals herz-
lich gedankt sei. Mein Mitarbeiter Dipl.-Kfm. Andreas Länger war in die Vorbereitung involviert undbesorgte dieVorbereitung derDrucklegung desTagungsbandes. Ihmgilt mein Dank ebenso wie den Herausgebern unddem Franz Steiner Verlag für die Aufnahme desBandes in diebewährte Reihe derBeihefte.
Jena, imHerbst 2004
Rolf Walter
14
Rolf Walter
Literatur Braudel, Fernand: Sozialgeschichte
des 15.bis 18.Jahrhunderts, 3 Bde., München 1985.
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Brewer, John/Porter, Roy: Consumption andthe World träge
Weatherill, Fairchilds, Breen, Mintz, Vickery, Cressy, Cline Cohen, Money, Isaievych, Fer-
zu 1. Problemen, Methoden und 2. Güter undKonsum, 3. Produktion unddieBedeutung vonBesitztümern, 4. Liandnumeracy, Wort undZahl, 5. Kulturkonsum: Bücher undZeitungen, 6. Konsum,
dinand, Popkin, Mukerji, Stafford, Schama, Schaffer, Styles
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Happiness
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–Einführung
15
Teich, Jaumain, Zamagni, Prinz, Wyrwa, Andersen, Wünderich
zu 1. Konsumgesellschaften
Geschichte desKonsums
undKonsumkulturen. Typen, Strategien undDiskurse, 2. Klassenkulturen undDemokratisierung des Konsums in Europa, 3. Die Ungleichheit derGeschlechter vor demKonsum. Rolle, Praktiken, Bilder undKonflikte im Europa des 19. und20. Jahrhunderts, 4. Geschmack, Inszenierung undRationalisierung. Europa im 19. und20. Jahrhundert, 5. Kleinhandel, Warenhaus und Konsumgenossenschaft, 6. Traditionelle undmoderne Kritik der Konsumgesellschaft) (LBStgt48/7583)
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Witt, Ulrich: Beharrung undWandel
L.: Consumer Behavior 1996. (zit. bei Witt, 2003).
Wheatherill,
& Material
Culture
1760, 2nd ed., London in Britain 160–
Michael North
Kultur undKonsum –Luxus undGeschmack um 1800 Im achtzehnten
Jahrhundert erlebte Europa eine Kommerzialisierung der Kultur. wurde weniger höfisch und mehr städtisch und deren Vermarktung trennte sich allmählich von der Produktion. Neue Kulturunternehmer eroberten dasFeld: derImpresario bei Theater undOper, derVerleger, derBuchhändler, der Kunstauktionator, die Kunsthandlung oder die Leihbibliothek sind nureinige dieser Vermittlungsinstanzen, die imVerlaufe des 18. Jahrhunderts eigenes Gewicht erlangten, wenn sie nicht sogar zu Protagonisten eines neuen Dienstleistungszweiges wurden.1 Als Folge der Kommerzialisierung von Kultur entstand ein neues kulturelles Angebot, das den Konsum von Kultur erstmals in größerem Maße ermöglichte. Drei Dinge sind dabei hervorzuheben: 1. Die große Breite undVariation des Angebots: Kultur konnte mansowohl direkt auf der Bühne, im Konzert, in der Ausstellung, aber auch indirekt in der Presse, im Journal, im Buch oder im Druck wahrnehmen undsogar per Kata-
Die Kultur
log bestellen. Dabei verwischten sich die Unterschiede zwischen oben undunten allmählich. 2. Die relativ leichte Zugänglichkeit: Im Kaffeehaus konnte manZeitungen und Journale für denPreis eines Getränks lesen, der Besuch von Auktionshäusern und Kunsthandlungen war umsonst. Gemälde gab es für weniger als zehn Gulden. Musikgärten wie Vauxhall in London kosteten bis 1792 nur einen Schilling. Allein Oper undKonzert waren teurer.
3. Die Identitätsbildung durch Kulturkonsum: Kulturkonsum Identität. Besuche desTheaters, desKonzerts, derAuktion
vermittelte soziale dienten derSelbstdarstellung (zur Bewahrung sozialen Ranges, zur Begründung sozialer Unterschiede). Geschmack war eine gesellschaftliche Angelegenheit, und die Öffentlichkeit avancierte zumkulturellen Schiedsrichter in Sachen Geschmack bzw. wurde Teil einer kosmopolitischen Geschmackselite.
1
Ausführlich zudieser Problematik siehe North, Michael: Genuss undGlück des Lebens. Kulturkonsum im Zeitalter der Aufklärung, Köln-Weimar-Wien (Böhlau) 2003. Ders.: Konsum undkulturelle Identität, in: G.L. Fink undA. Klinger (Hg.): Identitäten –Erfahrungen und Fiktionen um 1800, Frankfurt u.a., S. 201– 219. Fürdeneuropäischen Kontext, siehe Brewer, John: „ Themostpolite ageandthe most vicious“ . Attitudes towards Culture as a Commodity, 1800, in: Ann Bermingham/John Brewer (Hg.): The Consumption of Culture 1600– 1660– 1800. Image, Object, Text, London/New York 1995, S. 348f.
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Michael North
Der Kulturkonsum konzentrierte sich in den großen europäischen Zentren wie London, Paris, Neapel, Amsterdam, Rom, Madrid, Lissabon, Wien undHamburg, in denen es Theater, Konzerthäuser, Verleger undKunsthändler und ein ausreichend wohlhabendes Publikum gab. Aber auch Städte mit weniger als 100.000 Einwohnern wie Edinburgh, Dublin, Stockholm, Kopenhagen, Dresden, Bordeaux, Barcelona, Cadiz, Sevilla, Frankfurt undLeipzig genossen ein blühendes kulturelles Leben. Im Laufe des 18. Jahrhunderts verbreitete sich der Kulturkonsumaber viel tiefer, in Deutschland z.B. in diezahlreichen Residenz- undUniversitätsstädte, wo sich die wachsende Zahl der Funktionseliten undBildungsbürger in Kaffeehäusern undLesegesellschaften traf, die Aufführungen derTheater- und Opernkompanien besuchte und gemeinsam in Liebhaberorchestern musizierte. Darüber hinaus konstituierten Journale, Romane undBriefe eine Konsumkultur in der Provinz, aber nicht nurdort. Auf diese Weise gelangte die materielle Realität in London undParis vorallem als literarische (Re)Konstruktion nach Deutschland underreichte dasdeutsche Bildungsbürgertum.2 So entstand eine europäische kulturelle Identität, in derStand undNationalität zurücktraten. Zentral war der Wunsch sowohl der aufgeklärten Aristokraten als auch der bürgerlicher Eliten, an den neuen kulturellen Entwicklungen zu partizipieren: „ Geschmack wurde eines der Attribute dieser neuen Gruppe von Kulturkonsumenten, des ‘sociable man’bei Addison und Steele im ‘Spectator’, des ‘honnête homme’ bei Voltaire im ‘Le Mondain’ und des Kosmopoliten wie ihn Wieland im ‘Teutschen Merkur’ beschrieb“ .3Der Kulturkonsument war gebildet, warKenner undLiebhaber vonLiteratur, Musik undKunst, undstellte diese KenIn völliger Einsamnerschaft in Gesellschaft unter Beweis. So heißt es bei Kant: „ keit wird niemand sich sein Haus schmücken oder ausputzen; er wird es auch nicht gegen die Seinigen (Weib undKinder), sondern nurgegen Fremde tun; um 4 sich vorteilhaft zuzeigen.“ Vor diesem Hintergrund werde ich mich in meinem Beitrag am Beispiel Deutschlands auf drei Aspekte desneuen Marktsystems derKultur konzentrieren: – auf Kunstsammeln undGeschmack, – auf Musikkultur im 18. Jahrhundert – sowie auf die materielle Kultur undihre Vermarktung. Dabei soll exemplarisch untersucht werden, konsum zur Identitätsbildung beitrug.
2 3
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ob undin welchem Maße derKultur-
L. Purdy: TheTyranny of Elegance. Consumer Cosmopolitanism in the Eraof Goethe, Baltimore 1998, S. XIV. John Brewer: The Pleasures of the Imagination: English Culture in the eighteenth Century, Daniel
NewYork 1997, S. XVIII.
Immanuel Kant: Anthropologie
in pragmatischer Hinsicht (Werkausgabe, hg. von W. Weischedel, Bd. 12), Frankfurt 71988, S. 565. Weiter unten auf dieser Seite folgert Kant dann: Geschmack [...] ist also ein Vermögen der gesellschaftlichen Beurteilung äußerer Gegen„ stände in der Einbildungskraft.“
Kultur
undKonsum –Luxus undGeschmack um1800
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Kunstsammeln undGeschmack
Das 18. Jahrhundert erlebte –wie schon einmal zuvor das Goldene Zeitalter der Niederlande –eine Kommerzialisierung derKunst.5 Deranonyme Kunstmarkt mit seinem neuen Vertriebssystem (Auktionen) verdrängte Auftraggeber- undMäzenatentum undbewirkte eine Ausweitung der Rezipienten. Damit einher ging eine Erosion der traditionellen Gattungshierarchien; neue Gattungspräferenzen und künstlerische Maßstäbe zeichneten sich ab, wobei „ Geschmack“und „ Kennerschaft“zuLeitbegriffen wurden.6 Diese Entwicklung ist gleichermaßen für Frankreich, England undDeutschland zu konstatieren, wo die traditionell am höchsten bewerteten Historien von Landschafts- und Genremalerei verdrängt wurden. Dabei kam dem Handel mit niederländischen Gemälden sowie der Verbreitung der niederländischen Mode (Schaffung eines einheimischen Bildangebots im niederländischen Stil) durch einheimische Maler in London, Paris, Frankfurt oder Hamburg eine zentrale Rolle zu.
Die in der Sammlerwelt vorherrschenden Geschmackstrends sind schwierig zuerfassen. Geschmacksbildend undeinflussreich waren jedenfalls Händler, Ma-
ler, Connaisseurs und Publizisten, insbesondere wenn Maler als Kunsthändler wirkten oder Connaisseurs das Sammeln mit publizistischer Tätigkeit undKunsthandel verbanden. Wie in denNiederlanden des 17. Jahrhunderts schuf der expandierende deutsche Kunstmarkt im 18. Jahrhundert die neue Profession des Kunsthändlers, als sich Kaufleute undMaler auf diesen Handel spezialisierten. Schnell erfolgte eine weitere Spezialisierung, als sich internationale Händler auf die Versorgung der Höfe undpotenter Privatsammler verlegten sowie lokale Kunsthändler in Frankfurt undHamburg die städtischen Sammlungen, aber auch die benachbarten Höfe versorgten. Hierbei wurden Auktionen immer wichtiger fürdenKunstumschlag. Der zeitliche Schwerpunkt derAuktionstätigkeit lag zwischen 1770 und1800. Vor dieser Zeit fanden Gemäldeauktionen –mit Ausnahme Hamburgs –nurvereinzelt statt. In derHansestadt hatte die Auktionstradition bereits im ausgehenden 17. Jahrhundert begonnen, obwohl meistens Bücher versteigert wurden. Insgesamt war Hamburg mit 140 Auktionen der führende Kunstmarkt des Reiches, dem Frankfurt, Leipzig undKöln folgten. Da die durchschnittliche Zahl der pro Auktionversteigerten Bilder in Frankfurt aber höher als in Hamburg lag, kamen im 18. Jahrhundert nach Aussage der Kataloge insgesamt 17.895 Gemälde in Hamburg sowie 10.153 Gemälde in Frankfurt unter denHammer.7 5 6
7
Michael North: Das Goldene Zeitalter. Kunst undKommerz in derniederländischen Malerei des 17. Jahrhunderts, Köln/Weimar/Wien 2001. Carsten Zelle: Kunstmarkt, Kennerschaft undGeschmack. ZuTheorie undPraxis in derZeit zwischen Barthold Heinrich Brockes undChristian Ludwig vonHagedorn, in: Michael North (Hg.): Kunstsammeln undGeschmack im 18.Jahrhundert, Berlin 2002, S. 217– 238. Tilmann von Stockhausen: Kunstauktionen im 18. Jahrhundert. Ein Überblick über das Verzeichnis der verkauften Gemälde im deutschsprachigen Raum vor 1800“ , in: Das acht„
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Michael North
Tab. 1: Auktionskataloge in Deutschland bis 18008 Gesamt Gesamt
bis 1750 1760 1751– 1770 1761– 1780 1771– 1790 1781– 1800 1791–
298 27
Berlin
12
Frank-
Ham-
furt
burg
40 2
140 11
9 32 61 82 87
4 3 2 3
10
7 14
7
Köln
Leipzig
Sonstige
9
27
6 9 37
4
2 1
34 43
1 3
11 12
70 12 1 4 14 20 19
Hamburgs günstige Lage für den Transithandel zog neben fremden Kaufleuten auch prominente Kunsthändler wie Gerhard Morell an. Dieser vermittelte den genannten Sammlungen in Hessen-Kassel und Mecklenburg-Schwerin Gemälde ausniederländischen Auktionen, bot sie aber auch privaten Sammlern an. Später wurde er Galerieinspektor der dänischen Kunstsammlung in Kopenhagen, für die er mehr als 200 Meisterwerke erwarb. Bei seinen Angeboten ordnete er die Gemälde „ kunsthistorisch“ein undleistete damit einen wichtigen Beitrag zur Kennerschaft, so z. B. in einem Brief andenMecklenburger Hof: Ich mußgestehen der Weenix ist gut allein ich ruhfe Ehrw. Hochfürstl. Durchl. erfahrene „ Augen zu Zeugen wie weit mein v. Alst dieses so wohl als den v: Alst welchen Ehrw. Hochfürstl. Durchl. schon besitzen, in Fleiß, Schönheit, Composition Verstand und guter Conservirung übertrifft, dieses Stück hatdasGlück gehabt, nie in denKunst Händen solcher Leute zu gerathen, die durch putzen, reiben, corrigiren undretouchiren den Meister in den Meistern selbst unkentlich machen, dieses stück ist kein Zweifels=Knoten, es bedeutet nicht, sondern ist von dem berühmtesten Stilleben Mahler v Alst, und zwar seine beste Geburth [...].
“
9
DemHamburger Kunstmarkt kamdie liberale Auktionsgesetzgebung zugute, die nach demVorbild der Warenauktionen denMaklern eine besondere Stellung einräumte. Entsprechend trugen Makler wie Packischefsky, Bostelmann undTexier zumUmschlag importierter Gemälde in Hamburg bei. Auch Hamburger Privatsammlungen wurden mit Hilfe von Auktionen recycelt, wobei die Französische Revolution (1789) das Bilderangebot aus französischen Sammlungen stark vermehrte. Frankfurt profitierte dagegen von der Messe und dem kontinuierlichen Zufluss von auswärtigen Erzeugnissen. Es überrascht daher nicht, dass hier der Maler Justus Juncker zusammen mitdemHändler Johann Christian Kaller eine Serie vonAuktionen, in denen importierte Gemälde unter denHammer kamen, organi-
8 9
zehnte Jahrhundert. Zeitschrift derDeutschen Gesellschaft fürdie Erforschung desAchtzehn78. tenJahrhunderts 26 (2002), S. 63– Thomas Ketelsen und Tilmann von Stockhausen: Verzeichnis der verkauften Gemälde im deutschsprachigen Raumvor 1800, Bd. 1: A-Hi, München 2002, S. 21. Staatsarchiv Schwerin: Hofstaatssachen –Kunstsammlungen –Angebote undErwerbungen: 15. 101, Gemäldehändler Morell 1745, f. 14v–
Kultur
undKonsum –Luxus undGeschmack um1800
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sierte. Ein weiteres Beispiel ist der Sammler undHändler Johann Baptist Ehrenreich, der z. B. Karoline Luise von Baden über die bevorstehenden Auktionen informierte, ihr den Auktionskatalog zuschickte und die in Frage kommenden Gemälde je nach Qualität mit ein bis drei Sternen markierte. Leider ist nurnoch der Brief Ehrenreichs, aber nicht mehr der beigelegte Katalog in Karlsruhe vorhanden. Auf einer anderen Auktion kaufte Ehrenreich für Karoline Luise vonBaden Gemälde von Brouwer, Saftleven undBrekelenkamp (für 375 Reichstaler 8 Kreuzer). Ebenfalls Beziehungen zum Badischen Hof unterhielt der Frankfurter Wachsbossierer undHändler Christian Benjamin Rauschner, der 1765 demKarlsruher HofGemälde anbot sowie eine große Auktion aus Holland importierter Bil-
derveranstaltete.10 Auktionen undAuktionskataloge beförderten die Kunstkennerschaft. So beschrieb Christian Benjamin Rauschner in seinem Auktionskatalog 1765 nicht nur diezumVerkauf kommenden Gemälde, sondern versuchte auch, jedes Bild in das Œ uvre des Malers, manchmal sogar in die Kunstgeschichte, einzuordnen. Als Beispiel sei die Nummer 22, eine Landschaft vonPaul Brill, angeführt, zu deres heißt: Die Colorit des Meisters Landschaften sind bekannt, daß sie viel ins Grüne fallen; diese „ Manier stehet seinem Pinsel wohl an, undverbindet sich gut mit einander. Tennier hat die Estavage gemacht und wohl plaisirt; man wird wohl von Paul Brill wenig fleißigere 11 Landschaften finden, als gegenwärtige ist.“ Ähnliches gilt fürdieNummer 102, ein Stilleben vonJan Weenix: Ein Hase an einem Hacken hangend, ein Feld=Hun auch hangend, ein marmorner Tisch, „ worauf ein Haasen=Garn, eine grün=sammetene Jagd=Tasche, undzwei Blau-Specht liegen; Ferner hanget oben eine Falcken=Haube, eine Wachtel=Pfeiffe undeinhörnern Jagd=Horn an einer seidenen Schnur mit Quasten. Ich will keinen alten, noch neuen Mahler zunahe treten, danach bin ich so frey, undfrage, bey Ansicht dieses Bildes, einen jeden Kenner, ob von diesem Fleiß, Natur, undalles vomGeist des Menschen, seiner Hand undPinzel dependiret, noch ein dergleichen Gemählde zufinden seye. Hamilton will viel sagen, aber diesem Weninx darf er nicht zunahe hangen, sonsten übergehet ihndasAuge eines Kenners.“12
Es gibt zahlreiche derartige Beiträge zurKunstkennerschaft. Dabei wurde imLaufe der Zeit in denKatalogen immer stärker differenziert. Beispielsweise heißt es über die„Rembrandts“in der 1782 versteigerten Sammlung Thielcke:
Ohnfehlbar Rembrand. Ein alter Greis, welcher eine Stunden=Uhr in beyden Händen hält, „ undmit aufhabender Brille eine bedachtsame Mine verräth, exellent gemahlt, auf Leinwand“ [318], „ Im Gusto von Rembrand. Ein historisches Manns=Portrait, auf Leinwand“[156], Aus der Schule von Rembrand. Ein sitzender Gelehrter, der in einem Buch lieset, auf „ Leinw.“[147], „ So schön wie Rembrand. Eines Gelehrten Portrait mit zwey Händen, geistreich gemahlt, auf Holz“[52] oder L. Bramer: „ Ein vortrefliches Gemälhde, die Verehrung Christi vorstellend, so schön wieRembrand, aufHolz“[86].13
10 11 12 13
Ketelsen: Art Auctions, S. 145ff. Catalogue d’unrecueil d’ungrand Seigneur, S. 15. Catalogue d’unrecueil d’ungrand Seigneur, S. 35. Catalogus einer vortrefflichen Sammlung Cabinet=Mahlereyen, welche vor funfzig undmehreren Jahren mitvielem Gusto undKenntniß gesammelt worden undsich unter demNachlaß des seel. Herrn Joachim Hinrich Thielcke befinden, in dessen Sterbehause auf den großen
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Michael North
Kein Rembrandt wirdals Original bezeichnet, unddievorgenommenen Differenzierungen sprechen einerseits für eine sich allmählich entwickelnde Kunstkennerschaft; andererseits sind jene auch als Marketingstrategien zu interpretieren, indem der Auktionator oder der Katalogverfasser mit einem Angebot möglichst vieler „Rembrandts“die Sammlernachfrage nach seinem Stil zubefriedigen suchte. Die Auktionskataloge zirkulierten unter Sammlern, Kennern undHändlern und wurden bald selbst zuSammlungsobjekten. Mit Hilfe der überlieferten Auktionskataloge können wir heute die Zusammensetzung bestimmter Sammlungen undden Geschmack ihrer Sammler im 18. Jahrhundert erschließen.14 1820 (in %)15 Tab. 2: Gemälde in Frankfurter Sammlungen, 1762– Gattung
Historien
Landschaften Stilleben
Genre Porträts Tiere Andere
64 1762–
Bernus 81 1780–
14 23 9 26 15 9 4
25 35 12 11 13 3 1
Häckel
Berberich
Kaller
1784
1790
13 26 13 28 10
7 3
19 42 6 17 7 7 2
Prehn
Morgen-
stern
20 44 2 9 17 6 2
22 35 1 22 17 1
2
Bereits in der Sammlung des Barons Jacob von Häckel, der nicht nur selbst eine bedeutende Kunstsammlung aufbaute, sondern als Connaisseur auch Wilhelm VIII. von Hessen-Kassel sowie Karoline Luise von Baden beim Aufbau ihrer Kunstsammlungen beriet, dominierten Landschaften und vor allem Genrebilder vor Historien, Porträts und Stilleben. Die nächsten Jahre sahen dann eine deutliche Zunahme der Landschaften in Frankfurter Sammlungen, z.B. in den Sammlungen des Bankiers Bernus, des Reichshofrats Berberich oder der Sammler und Händler Kaller undMichael, die zwischen 1781 und 1790 versteigert wurden. Es bildete sich auf diese Weise ein europäischer Geschmacks-Diskurs, dergleichsam Bleichen selbige auch den 18 Merz, 1782, undfolgende Tage durch Mackler Peter Texier an denMeistbiethenden, gegen baare Bezahlung, grob Courant, öffentlich verkauft werden sollen. Acht Tage vorher können solche inbeliebigen Augenschein genommen werden. 14 Ich folge hier meinem Aufsatz „Kunstsammlungen und Geschmack im ausgehenden 18. Jahrhundert: Frankfurt undHamburg im Vergleich“ , in: North (Hg.): Kunstsammeln, S. 85– 103. Siehe ebenso Rudolf Schlögl: Geschmack undInteresse. Private Kunstsammlungen zwi68; Ulrich Schmidt: schen ästhetischen Idealen undsozialer Repräsentation, in: ebd., S. 55– Die privaten Kunstsammlungen in Frankfurt am Main von ihren Anfangen bis zur Ausbildung der reinen Kunstsammlung, Diss. phil. Göttingen 1960; Viktoria Schmidt-
1830, Frankfurt 1988; Linsenhoff/Kurt Wettengl: Bürgerliche Sammlungen in Frankfurt 1700– Thomas Ketelsen: Art Auctions in Germany during the Eighteenth Century, in: North/Ormrod 52. (Hg.): ArtMarkets, S. 143– 15 Schmidt-Linsenhoff/Wettengl: Sammlungen, S. 45– 107.
Kultur
undKonsum –Luxus undGeschmack um1800
die Zirkulation derKunstwerke zentren begleitete.
23
vonAmsterdam bis in die deutschen Sammlungs-
Musikkultur
im 18. Jahrhundert
Auch die Musik entwickelte sich im 18. Jahrhundert zu einem Wachstumsmarkt. In London schossen nach dem Erfolg von Vauxhall Musikgärten wie Pilze aus demBoden, die Orchester undMusiker anheuerten, Orgeln errichteten undihre Einrichtungen und Dekorationen künstlerisch gestalteten. Ein Organist oder ein
Orchester spielte, während die Besucher promenierten. Prominente Musiker wie Mozart 1764 in Ranelagh in Chelsea gaben Gastkonzerte. Für denKonzertbetrieb vermutlich wichtiger waren die Konzertreihen, die Johann Christian Bach und Carl Friedrich Abel seit den 1760er Jahren in London organisierten. Konzertunternehmer kämpften umKünstler undPublikum. Hierbei stach in den 1790er Jahren vor allem der Musikverleger und Impresario Johann Peter Salomon seine Konkurrenz aus, indem er Joseph Haydn, dessen Partituren und Musik bereits lange in London bekannt waren, zuKonzerten andieThemse holte.16 Verglichen mit London fand in Deutschland die Kommerzialisierung derMusik auf einem deutlich niedrigeren Niveau statt. Zwar gründete ein Frankfurter Gastwirt ein kurzlebiges „ Vauxhall“in Zeiten der Messe, undauch andere Großund Mittelstädte entwickelten einen lebhaften Konzertbetrieb. Der wichtigste Markt wurde aber der für gedruckte Musikalien undandere Publikationen. Was das Konzertleben betrifft, gab es durchaus profitable Konzertgesellschaften wie die Gewandhauskonzerte zu Leipzig mit mehr als 200 Abonnenten in der Saison, aber ebenfalls zahlreiche exklusivere Liebhaber-Konzerte in den deutschen Provinzen. In Hamburg und Berlin und auch in einer kleineren Stadt wie Bremen wurden Konzerte anvier bis fünf Tagen in derWoche angeboten.17 Es hat manchmal denAnschein, dass die Marktproduktion vonKomponisten und Musikern (Solisten) die Konzertnachfrage überstieg. Dabei übersieht man aber diewachsende Nachfrage nach gedruckter Musik (Noten) speziell fürTasteninstrumente und Kammermusik im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts. Darüber hinaus nehmen wir einen zunehmenden Diskurs über Musik, insbesondere ein umfangreiches Rezensionswesen, wahr. Dieses suchte sich zunächst die wissenschaftlichen Zeitschriften als Medium, bis dann spezielle Musikzeitschriften auf den Markt kamen. Am Ende des Jahrhunderts wurden die Musikinteressierten zusätzlich über Modejournale undIntelligenzblätter mit denEreignissen des Musiklebens sowie den musikalischen Neuerscheinungen vertraut gemacht. Die Re16 J. Brewer: Pleasures of Imagination, S. 62ff. bzw. 398f. 17 Alfred Dörffel: Geschichte der Gewandhausconcerte zu Leipzig vom25. November 1781 bis 18; Peter Schleuning: Der Bürger erhebt sich. Ge25. November 1881, Leipzig 1884, S. 15– schichte der deutschen Musik im 18. Jahrhundert, Stuttgart 2000, S. 98– 100; Klaus Blum: Musikfreunde undMusici. Musikleben in Bremen seit derAufklärung, Tutzing 1975, S. 44.
24
Michael North
zensionen prägten denGeschmack der Musikausübenden unddamit ihre musikalische Identität. Beginnen wir bei den gelehrten und politischen Zeitschriften. Hierbei fällt auf, dass –wie in derZeitschriftenproduktion allgemein –auch musikalische Rezensionen allein in Nord- undMitteldeutschland publiziert wurden. In bezug auf die Gattungen standen Solosonaten für Klavier bzw. Tasteninstrumente noch vor Sonaten mit Klavierbegleitung undKlavierkonzerten an der Spitze, während Sinfonien undStreichquartette nur selten besprochen wurden. Auch wenn wir heute beim ausgehenden 18. Jahrhundert an Streichquartett undSinfonie denken, sahen dasdieZeitgenossen anders.18 Hier wurden in denRezensionen dieZielgruppe derLiebhaber undihre musikalische Betätigung angesprochen. Darüber hinaus wurden ästhetische Kriterien auf alle Gattungen gleichermaßen angewendet. Bei der Lektüre der Rezensionen fallen bestimmte Schwerpunkte auf. Ein erster bezieht sich auf die verschiedenen nationalen Musikstile undversucht, in deren Charakterisierung eine deutsche musikalisch-ästhetische Identität zu stiften. Nurlangsam emanzipierte sich die deutsche Musik sozusagen als Stiefkind von den italienischen undfranzösischen Vorbildern, unddazu trug das Rezensionswesen deutlich bei. Da die Popularität und die Verbreitung italienischer Instrumentalmusik undOpern umdie Mitte des 18. Jahrhunderts ihren Höhepunkt erreichte, fragte ein Rezensent in der Besprechung der Klavierausgabe der Sinfonien Baldassare Galuppi’s, „warum liefert uns doch Herr Breitkopf nicht lauter solche Werke rechtschaffner geschickter Deutschen, . Der und will der Welt lieber die Mißgeburten seichter Italiäner aufdringen“ Hamburgische Korrespondent“dagegen sah durchaus die Möglichkeit des Ler„ nens im Bereich des Melodischen, als er Johann Friedrich Reichardt 1773 riet: wenn er den Italienern den guten Gesang ablernet, ohne den alle Musik nichts „ werth ist undwelchen wir noch in einigen seiner Ausarbeitungen vermissen [...] so wird seine Reise für ihnunddie Musik vortheilhaft seyn“.19 Allein Luigi Boccherini gefiel: „sehr wenige Italiäner wird manfinden, die so reich an ernsthaften, edlen Gedanken wären, undihre Stücke so gutbearbeiten“.20 In Abgrenzung vondenItalienern formte sich eine deutsche musikalische Identität, vonderzunächst nurzu sagen war, dass sie anders als die italienische Musik war. So werden die Sonaten für Violine undVioloncello 1767/1768 des „bedeutenden“Johann Schwanberger, denheute niemand mehr kennt, wie folgt besprochen: Auch itzo, da er nunItalien gesehen hat, erkennen wir immer noch an ihm einen von den „ Deutschen, die sich zwar in alle musikalischen Trachten, wie man sie nur verlangt, Sie sind einkleiden, aber doch nicht alles Gründliche in ihrem Wissen verleugnen können“–„
18 Mary Sue Morrow: German Music Criticism in the late eighteenth Century. Aesthetic Issues 35. in instrumental Music, Cambridge 1997, S. 31– 19 Ebd., S. 177– 178. 20 Ebd., S. 179.
Kultur
undKonsum –Luxus undGeschmack um1800
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nicht so gebunden und fugenartig, wie die vortrefflichen Trios des seel. Kapellmeister Grauns; sie sind aber auch nicht so einfach undleer wie die meisten italiänischen Trios“ .21
Allmählich wuchs der Stolz auf die musikalische Tradition in Deutschland, dem , auf Orgeln, Kirchenmusik unddamit auf Johann SebasVaterland derClaviere“ „ tian Bach. Von den zeitgenössischen Komponisten nahmen die Rezensenten nebendem„Heros“Carl Philipp Emanuel Bach auch Joseph Haydn in denmusikalischen Olymp auf. So bemerkte Reichardt 1782 in einer Besprechung von den sechs Haydn-Sinfonien Opus 18 sowie den sechs Streichquartetten Opus 19: Wennwirauch nureinen Haydn undeinen C. Ph. E. Bach hätten, so könnten wir „ Deutsche schon kühn behaupten, daßwir eine eigne Manier haben undunsre In.22Dabei wurden Haydn undvor strumentalmusik die interessanteste von allen ist“ allem Bach den Kennern undLiebhabern auch zur Geschmacksbildung empfohlen, wobei durchaus schon das edle Vergnügen unddie angenehme Unterhaltung beim Musikhören bzw. Ausüben in Betracht gezogen wurden. So hieß es bei einer Kurz, es ist nichts an dieBesprechung derBachschen Cembalo-Konzerte 1773: „ sen Concerten vergessen, was Kennern so wohl als Liebhabern zu einem edlen Vergnügen, undeiner angenehmen Unterhaltung gereichen, unddabey ihren Geschmack bey anständiger Richtigkeit erhalten, vor Fallen in die Sümpfe dermusikalischen Trivialität bewahren, im Gegentheile vielmehr ihn noch verfeinern
.23 kann“
Dennoch blieb die Diskrepanz zwischen Kennern und Liebhabern bestehen,
denn den Imitatoren des Hamburger Bach, die „Stücke allerley Art für Kenner
und Liebhaber des Claviers und Gesanges“auf den Markt brachten, gelang die Brücke zwischen beiden Zielgruppen nicht. Dem weiblichen Geschlecht wurde die Kennerschaft ohnehin nicht zugetraut. Statt dessen berücksichtigte mandessen Wünsche in derVerlagsproduktion wie in denBesprechungen unter denStichwor, „Frauenzimmer“und „Liebhaber“im besonderen Maße. Dass ten „Anfänger“ hier der Markt derZukunft lag, sollte sowohl in denmusikalischen Zeitungen als auch in allgemeinen Journalen und Intelligenzblättern während der 1780er und 1790er Jahre verstärkt zumAusdruck kommen. Als Folge der wachsenden musikalischen Marktproduktion ist am Ende des Jahrhunderts ein deutlicher Rückgang der Rezensionen in den wissenschaftlichen Journalen zu bemerken. Die zunehmende Veröffentlichung populärer Gattungen machte diese auch immer weniger notwendig. So wurden in den neuen Werken Hans Adolf Freiherr vonEschstruths „Musikalischen Bibliothek“oder Carl Friedrich Cramers „Magazin der Musik“in der Regel nur noch in wenigen Besprechungen unddafür vermehrt in kurzen Anzeigen denMusikkonsumenten nahegebracht und geschickt mit einem musikalischem Almanach, Biographien sowie
21 Ebd., S. 181. 22 Ebd., S. 187. 23 Ebd., S. 182.
26
Michael North
Anekdoten undEinfällen gemischt.24 In ähnlicher Weise verfuhr von 1798 an die „ Allgemeine musikalische Zeitung“ , die sich mitausführlichen Besprechungen an dieKenner undmitkurzen Annotationen andieLiebhaber wandte. In den 1780er Jahren wurden dann auch die Modejournale wie das „Journal desLuxus undderModen“auf die Musikliebhaber aufmerksam. Neben allgemeinenBetrachtungen, z. B. „Ueber Mode in Musik unddie neuesten Favorit-Stücke in einzelnen teutschen Provinzen“oder „Ueber die neueste Favorit-Musik in großen Concerten, sonderlich in Rücksicht auf Damen-Gunst, in Clavier25brachte das Journal regelmäßig Berichte von den deutschen BühLiebhaberey“ nen. Korrespondenten lieferten Nachrichten aus Hamburg, Mannheim, Kassel, Zweibrücken, Berlin, Schwerin, Dresden sowie aus Wien undParis. Dabei standenaber Schauspiel undvorallem die Oper imMittelpunkt. In denneunziger Jahren wurde dann zunehmend auch über das Konzertleben berichtet, beispielsweise über Klavierkonzerte der Gebrüder Pixis in Kassel (später in Weimar und Leipzig), über denblinden Flötisten Friedrich Ludwig Dulon sowie über das Konzert des Wiener Kapellmeisters Joseph Wölfls in Leipzig. Die Gewandhauskonzerte waren natürlich präsent, aber auch die deutsche Provinz kam mit Betrachtungen über die Wintersaison in Würzburg oder Oldenburg in denBlick. Besonders gern lasen die Abonnenten desJournals etwas über die Konzerte derberühmten Sängerin Gertrud Elisabeth Mara, z. B. 1803 über ihre Auftritte in Weimar, Dresden und Bad Lauchstädt. Ihre noch im gleichen Jahr stattfindenden Konzerte in Ostpreußen wurden dann von der Leipziger „Zeitung für die elegante Welt“gemeldet.26 Für ein breiteres Publikum mindestens ebenso wichtig waren die 1795 zumersten Mal imJournal angebotenen „neuerschienene(n) Musikalien“ , die direkt über den Verleger des Journals bezogen und–was der Vorteil war –gleichzeitig mit der Lieferung des Journals portofrei bis Leipzig, Frankfurt am Main oder Nürnberg verschickt werden konnten: Für den Verkaufserfolg eines Werkes maßgeblich war das Renommee eines Komponisten, das sich natürlich deutlich von der heutigen Wahrnehmung unterschied bzw. unterscheiden konnte. Eine Serenade von Leonhard von Call oder Klaviervariationen vonJoseph Gelinek undvorallem die Klaviermusik vonKozeluch undPleyel konnten sich einer größeren Liebhaberschar besonders unter den Damen erfreuen als z. B. eine vergleichbare Ausgabe Beethovens.27 Auch lokale Vorlieben sind spürbar, wenn der Regensburger Johann Franz Xaver Sterkel 24 Hans Adolf Freiherr von Eschstruth: Musikalische Bibliothek, 2 Stücke, 1784/1785, Nachdruck, Hildesheim/New York 1977. 25 Friedrich Justin Bertuch: Journal des Luxus und der Moden, Juni 1788, S. 230– 235, Nach341. druck, Leipzig 1967, Bd. 1, S. 333– 26 Axel Beer: Musik zwischen Komponist, Verlag undPublikum. Die Rahmenbedingungen des Musikschaffens in Deutschland im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts, Tutzing 2000, S. 126– 129. 27 Siehe „Ueber die neueste Favorit=Musik in großen Concerten, sonderlich in Rücksicht auf Damen=Gunst, in Clavier=Liebhaberey, in: Journal des Luxus undder Moden, Juni 1788, S. 235, Nachdruck, Bd. 1, S. 336– 341. 230–
Kultur
undKonsum –Luxus undGeschmack um1800
27
nicht alles, was im südlichen Deutschland gefällt, [...] auch zugeben muss, dass „ imNördlichen zu gefallen“.28Die Norddeutschen hatten schon das Glück“hatte, „ immer etwas gegen die„süddeutsche Klimperei“ . Legt mandie Verlagsproduktion zugrunde, lässt sich mit Axel Beer folgende Rangfolge derKomponisten in Deutschland um1800 rekonstruieren, die nurnoch
anihrer Spitze einem Kanon folgte: Wolfgang Amadeus Mozart Ludwig v. Beethoven Joseph Haydn Daniel Gottlieb Steibelts Ignaz Pleyel Franz Krommer Leonhard vonCall Franz Anton Hoffmeister Adalbert Gyrowetz Johann Baptist Vanhal.29
Spätestens im zweiten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts änderten sich die Präferenzen grundlegend. Während das „Journal für Literatur, Kunst, Luxus undMode“ (wie esjetzt hieß) 1823 resignierend feststellen musste, dass die „Leipziger musicalische Zeitung schon seit einer langen Reihe von Jahren die Beurtheilung, ja selbst die Anzeigung derBeethoven’schen Werke versäumt“ ,30zeigt ein Brief der Wiener Firma Artaria 1824 denneuen Trend in Wien auf: „ So hatdieNeigung für Spohr, Weber, Onslow, Ries, Field sogar für Beethoven abgenommen undRossini, Hummel, Mayseder, Moscheles, C. Czerny sindjetzt die Tonhelden des Tages in Wien“.31Dieser Tatsache hatten dieVerlage Rechnung zutragen, diedamit „für Musik-Liebhaber immer mehr undmehr“sorgten.32
Materielle Kultur
Kaum überschätzt werden als Faktor zurFormierung des Kulturkonsums kann die materielle Kultur undderen Vermarktung, wobei dieÜbergänge vonden„arts“ zu den „decorative arts“ohnehin fließend sind. Bei der Konstruktion kultureller Identität(en) spielten die Journale eine wichtige Rolle, die hier am Beispiel des Journals des Luxus undder Moden“des Weimarer Kulturunbereits erwähnten „ ternehmers Friedrich Justin Bertuch beleuchtet werden sollen.33 Wie auf demGe28 29 30 31
A. Beer: Musik, S. 259. Ebd., S. 262f.
Journal für Literatur, Kunst, Luxus undMode (Weimar),
A. Beer: Musik, S. 268.
32 Ebd., S. 272.
28. August 1823, S. 635.
33 Allgemein zudieser Thematik siehe denBeitrag vonAstrid Ackermann: Eine nationale Aufgabe –ModeundKommerz, in: Identitäten (2004), S. 323– 337. ZuBertuch siehe alsjüngste Veröffentlichung Uta Kühn-Stillmark/Walter Steiner: Friedrich Justin Bertuch. Ein Leben im klassischen Weimar zwischen Kultur undKommerz, Köln/Weimar/Wien 2001; Gerhard R.
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biet derbildenden Kunst bestand auch hier in dendeutschen Territorien einNachholbedarf in bezug auf Westeuropa. Gleichzeitig warmanzwischen neuen englischen Trends undalten französischen Prägungen hin- undhergerissen. Während sich im (norddeutschen) Bildungsbürgertum eine Sehnsucht nach englischem Lifestyle entwickelte, prägte Paris weiterhin die aristokratische Eleganz. Selbst der neue „englische Stil“wurde über Paris aufdemKontinent verbreitet undvermarktet.
Die Frankfurter undLeipziger Meßwaren sind jetzt wieder allenthalben in den Magazinen „ derMode vertheilt, undgewähren eine Uebersicht desneuErfundenen undAngekommenen indiesem Gebiete. Frankreich reicht unsdieLinke über denRhein undMain. Sein Stapelplatz des eleganten Absatzes ist Frankfurt, Mainz u.s.w. Leipzig hingegen undandere nördliche Städte, wie Hamburg und Bremen, bereichern Mittel-Teutschland mit den englischen Produkten. Daher man auch sicher darauf rechnen kann, daß jener Theil Teutschlands geschmackvoller, eleganter, frivoler undanmutiger, dieser hingegen feiner, zierlicher, solider, 34 aber auch nicht selten steifer undgezierter in seinen Modeartikeln besorgt ist.“
Journal Dabei ging der kulturelle Riss sogar durch die Familien. So heißt es im „ desLuxus undderModen“ : Die Meklenborger sind, den übrigen Teutschen gleich, Nachahmer der Engländer und „ Franzosen; doch mit dem Unterschiede, daß die Männer ihre Tracht, ihren Hausrath, ihre Equipagen undGärten nach englischem Geschmack anordnen, hingegen die geputzte Dame sich noch nach demEigensinn einer Pariser Modehändlerin richtet, die ihre verlegene Waare 35 nach Norden schickt.“
In den Journalen wurde dieser anglo-französische umdieLeser anzusprechen:
Dualismus geschickt ausge-
nutzt,
Jedoch Frankreich ist es nicht allein, dessen Zauberstab wirzufürchten haben. England und „ der vervollkommnete Kunstfleiß seiner Fabriken wird und muß uns nothwendig ebenso
gefährlich werden ...“ .36
Es warnämlich die neue englische Waren- bzw. Konsumkultur, die auch auf dem Kontinent immer attraktiver wurde: Diegeschmackvolle Simplicität undSolidität, welche England allen seinen Fabrikwaaren zu „ geben gewußt hat, ist für uns Teutsche so ausserordentlich empfehlend undanlockend, daß dasWort Englisch, englische Waare, schon dermalen einen unwiderstehlichen Zauberreiz für uns hat, und beynahe ein Synonym der Vollkommenheit und Schönheit bey Werken des 37 Kunstfleißes worden ist.“ Entsprechend sah das Programm des neuen Bertuchschen „ Lifestyle-Journals“ monatliche Nachrichten vor vonjeder neuen Mode undErfindung, so wie sie in Frankreich, England, Teutschland und „ Italien erscheint, in welchem Zweige von Luxus es auch sey, ... Unsere Gegenstände darinnen sind also 1) weibliche undmännliche Kleidung; 2) Putz; 3) Schmuck; 4) Nippes; 5) Ammeublement, 6) alle Arten vonTisch- undTrinckgeschirre, als Silber, Porcellain, Gläser 1822). Verleger, Schriftsteller Kaiser/Siegfried Seifert (Hg.): Friedrich Justin Bertuch (1747– undUnternehmer imklassischen Weimar, Tübingen 2000. 34 Journal desLuxus undderModen, Juni 1802, S. 353. 35 Journal desLuxus undderModen, September 1787, S. 301. 36 Journal desLuxus undderModen, August 1793, S. 410. 37 Journal desLuxus undderModen, August 1793, S. 410.
Kultur
undKonsum –Luxus undGeschmack um1800
usw.; 7) Equipage, sowohl Wagen als Pferdezeug, undLivreen; richtung undVerzierung, 9) Gärten undLandhäuser“ .38
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8) Häuser- undZimmerein-
Hinzu kamen Beiträge „ ausdemgesellschaftlichen Leben“sowie über Kunst und Literatur, die wir als Feuilleton bezeichnen können. Bertuch verband die Moden mit dem „Luxus“ , dessen Begriff ebenfalls im 18. Jahrhundert eine Ausweitung erfuhr. So war Luxus im 18. Jahrhundert nicht mehr allein als Verschwendung, Prunksucht oder Aufwand negativ besetzt, sondern verschiedene Wissenschaftsdisziplinen behandelten ihn aus unterschiedlichen Perspektiven. Diese Widersprüchlichkeit hat kaum jemand besser formuliert als Friedrich Justin Bertuch Journal desLuxus undderModen“ selbst in derEinleitung zuseinem „ : Luxus sagt der Anhänger des physiokratischen Systems, ist die Pest der Staaten! Er „ verschwendet den reichen Ertrag zu unfruchtbaren Ausgaben; hindert die Reproduction; entnervt die physiokratischen Kräfte der Nation; lößt alles Gefühl für Moralität undEhre auf; zerrüttet denWohlstand derFamilien, undliefert demStaate Schaaren Bettler!
Luxus, sagt der Finanzier und der Technolog, ist die reichste Quelle für den Staat; der allmächtige Hebel der Industrie, unddas kräftigste Triebwerk der Circulation. Er verwischt alle Spuren derBarbarey in denSitten; schafft Künste, Wissenschaften, Handel undGewerbe; vermehrt die Population und die Kräfte des Staates, und bewürkt Genuß und Glück des Lebens! –WervonBeyden hatUnrecht? –Beyde, däucht uns, wennsie unbedingt über diese wichtige Materie deklamieren. Der ganze Streit ruht auf einem unrichtigen oder wenigstens 39 nicht rein genug bestimmten Begriffe vomLuxus.“
An das Journal schloss sich als selbständige Werbebeilage das sog. Intelligenzblatt an, in demVerleger, gewerbliche Produzenten undKaufleute ihre Erzeugnisse annoncierten. Die Spannbreite reichte von englischen Teemaschinen undGurkenschneidern über Editionen der Rostschen Kunsthandlung, neuen Musikalien (Noten) bis hinzuTapeten, Flötenuhren undBallonöfen. Das Luxussortiment ist durchaus mit demenglischen vergleichbar. Hier hatten die Luxusgewerbe im Bereich der Silberschmiede, Keramik, Glas, Uhren und Möbel so lange eine Führungsposition, bis im 18. Jahrhundert durch neue technische Möglichkeiten preiswertere standardisierte Imitate auf demMarkt gebracht wurden. Teedosen aus Silberblech oder Messing statt aus massiven Silber, Wedgwoods Steingut statt Porzellan, die sich im Modezyklus schnell durchsetzten.40
Ähnliches kann man für Bertuchs Angebot konstatieren, der sowohl „ die schönen Wedgwoodschen sogenannten Cameo Buttons, finished in the Stile of 41anbot als auch preiswertere Imitationen ausdemLande Sachsenantique Gems“ Weimar. Diese Luxusprodukte konnten über Bertuchs Landes-Industriekontor,
38 Journal des Luxus undder Moden, in der Einbandinnenseite eines jeden Heftes, Nachdruck, Leipzig 1967, S. 29– 30. 39 Journal des Luxus undder Moden, ausdemeinleitenden Text zu Heft 1, Jg. 1, Januar 1786, S.4f. 40 Maxime Berg: French Fancy andCool Britannia. The Fashion Markets of Early Modern Europe, in: Simonetta Cavaciocchi (Hg.): Fiere e mercati nella integrazione delle economie Europe secc. XIII-XVIII, Prato 2001, S. 519– 546. 556, hier S. 540– 41 Journal desLuxus undderModen, August 1786, S. 295f.
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einem Verlagssystem mit Mustermesse, bezogen werden. Mit demStudium des Journals und der Bestellung bei Bertuch partizipierte man an der europäischen Warenwelt undKonsumkultur. Dennoch sind Ansätze zu einer einheimischen oder nationalen Geschmacksbildung nicht zuverkennen. Dabei ging es aber nicht so sehr umdie Stiftung eines nationalen Konsums oder nationaler Kulturidentität, sondern um die Förderung der einheimischen Gewerbe, des Kunstfleißes unddamit auch umdie Ankurbelung desKonsums dereinheimischen Eliten, insbesondere derFunktionseliten. So ließ Bertuch bereits im ersten Jahrgang des Journals 1786 den VersuchsIst eine teutsche Natioballon einer Nationaltracht steigen undstellte die Frage: „ nalbekleidung einzuführen nützlich undmöglich?“ . Er machte sich dabei ältere Stereotypen undmerkantilistische Auffassungen zu eigen, wonach das sklavische Nachahmen derFranzosen Moral, Finanzen undHandelsbilanz abträglich sei, und hält dabei bestimmte Eigenschaften derNationalkleidung notwendig: Eskämealso nuraufzweyPuncte an: „ 1)Aufdie Wahl derKleidung, und 2) aufdieArt, überdieselbe einig zuwerden undsie einzuführen. Wasdenersten Punct betrift, soglaube ich folgende Grundsätze annehmen zudürfen: Die Kleidung mußseyn: a) wohlfeil; b) vonFarben, dienicht leicht Schmutz annehmen, dauerhaft, leicht zuwaschen, undvon demEigensinne derMode, weder erfunden, nochvondemselben abhängig sind; c) fürjedes Alter passend; d)vomVornehmen wievomGeringern, vomReichen wievomArmen, leicht anzuschaffen zu tragen; e) unserm Klima angemessen; f) nicht phantastisch; g) unseren Körper nicht entstellend; h)dasGepräge vonTeutschheit tragend; i) inallen Jahreszeiten brauchbar [...]
Es giebt
.
leider! Leute, welche alle Dinge in das Lächerliche ziehen; es giebt Andre, die in allem etwas Gefährliches oder Hinterlistiges sehen; Es giebt endlich noch Andre, welche nicht gut finden, als was sie, oder irgend eine von den Partheyen, zu welchen sie gehören, gefunden oder vorgeschlagen haben –Das ist traurig, und von Diesen muß ich freylich erwarten, daß sie meinem Vorschlage, von irgend einer Seite, keine Gerechtigkeit werden wiederfahren lassen; Allein das beunruhigt mich nicht. Ich bin mir bewußt, aus guter, ehrlicher, patriotischteutscher Absicht, diesen Vorschlag zu thun; Ich gehöre zu keiner Parthey, habe mirdasDing selbst so ausgedacht, undwürde michherzlich freuen, ohneweiter Ehre davon zuhaben, auch je meinem Namen nennen zuwollen, wenn die Sache gelingen sollte [...]“ .42
Alsjedoch eine Leserin daraufhin eine „Weiber-Rebellion“ankündigte, wurde die Idee –mit Bertuchs Zustimmung –fallengelassen. Auch wenn die folgende Zuschrift möglicherweise fingiert oder bestellt wurde, umdie weibliche Leserschaft für das „Journal“zu erwärmen bzw. mit ihr in einen Dialog zu treten, sind die Argumente der„ fleißigen Leserin Friederike S*.“ durchaus ernstzunehmen: 42 Journal desLuxus undderModen,
Februar 1786,
S. 72ff.
Kultur
undKonsum –Luxus undGeschmack um1800
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„ [...] Ich glaube also beyeiner einzuführenden teutschen National-Tracht würde nicht nurder vernünftige Hauptzweck, die Unterdrückung des schädlichen Kleider Luxus (denn die National-Originalität und das Teutsche Gepräge sind doch wohl nur Nebenzwecke des Hrn. Verfassers) nicht erreicht werden, sondern auch sogar viel Nachtheil für Teutschland daraus erwachsen. Ein großer Theil teutscher Fabriken, deren Arbeiter jetzt alle ihr Brod durch die Mannigfaltigkeit der Fabrikate, Wahl undGeschmack der Käufer haben, würden auf einmal durch eine National-Kleidung, dienureinige wenige bestimmte Zeuche undFarben zuließen, außer Nahrung gesezt, undviele Tausend Fabrikanten würden mit einem Feder-Striche zu Bettlern gemacht, oder müßten sogleich ausihrem Vaterlande auswandern; denn derSammt-, Taft- oder Cotton-Weber kann keinTuchmacher oder Wollen-Zeuch-Weber mehr werden. [...]
Undendlich rechnet unsdennderfeine Herr, derTeutschland eine ewige Uniform geben will, für garkeinen Theil derNation, daßer unsarme Weiber so ganz unbefugt, vielleicht wieder in die Wülste undKöllerchen unserer Urälter-Mütter aus demXVIten Jahrhunderte stecken, in ein ewiges schwarz, weiß undgrau, wiedie Kloster-Schwestern einkleidern, undunsalles Heyl undTrost rauben will. Bedenken Sie doch umsHimmelswillen, meine Herren, wosollen wirdenn noch Stoff zuPlaudern bey einer drey bis vierstündigen Kaffee-Visite, beym TheeTische, oder auf einer Promenade hernehmen, wenn’s keine neuen Bänder, Hauben, Hüthe, Roben, und Fourreaux mehr giebt? Zweyerley risquiren Staat und unsere Männer sicher dabey; entweder wir werden gelehrt unddisputiren über neue Werke undSeelen-Fakultäten unserer undanderer Männer, oder wir mischen uns in politische Händel, undkannegiesern; welches dochbeydes bisher nochungestöhrte Vorrechte derMänner waren. Also thun Sie was Sie können jenen Herren, derunsso despotisch an denKragen will, vonseinem schlimmen Vorhaben abzumahen, sonst prophezeyhe ich ihm sicher eine Weiber-Rebellion in 43 Teutschland. Wasichdabey thunwerde, können Sie rathen.“
Bertuch fand sich aber mit seinen Bemühungen umeine deutsche Nationaltracht in guter Gesellschaft. Bereits Justus Möser forderte die Einführung eines nationalen –nach Rängen –abgestuften Kleidungscodes, der das Bestreben der Zeitgenossen, Status durch Kleidung zurepräsentieren, unddamit denumsichgreifenden Kleiderluxus, konterkarieren sollte. Die Idee fiel aber nuraußerhalb Deutschlands auf fruchtbaren Boden. So schrieb 1791 die Dänische Akademie derWissenschaften eine Preisaufgabe aus, in der es umdie Einführung einer Nationaltracht ging. Die Einsender beriefen sich dabei auf ein entsprechendes schwedisches Gesetz sowie Kleidercodes in St. Petersburg undin denbaltischen Provinzen Russlands.44 Dennoch wurde offen und verdeckt deutsche Kleidermode propagiert, was im Bereich derMännemode durchaus nicht ohne Wirkung geblieben ist. So wirdbeispielsweise ebenfalls im ersten Journaljahrgang der Abbildung eines französiCabinet des Modes“das Ideal eines deutschen Reiters gegenschen Reiters im „ übergestellt, wennauch dabei einige englische Züge nicht zuverkennen sind.45 Bei dieser Stilisierung konnte das „Journal“nahtlos an eine vorhergehende Werther“ Modewelle anknüpfen, nämlich die Werther-Mode. Die Lektüre des „ veränderte Manieren, Freizeitverhalten, Lesegewohnheiten undKleidung derjüngeren Generation des Bildungsbürgertums. Entsprechend war die Werther-Mode (blauer Frack, gelbe Weste undKniehosen) dererste Trend der deutschen Kultur
43
Journal desLuxus undderModen, Februar 1786, S. 79ff. 44 D. L. Purdy: Tyranny of Elegance, S. 180– 185. 45 Vergleiche Martha Bringemeier: Wandel der Mode im Zeitalter der Aufklärung, in: Rheinisch-Westfälische Zeitschrift für Volkskunde 13 (1966), S. 5– 59, hier S. 24.
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des 18. Jahrhunderts, dervoneinem Diskurs ausgelöst wurde undnicht voneinem Hof, auch wenn Carl August von Sachsen-Weimar den„Werther-Anzug“an seinem Hof populär machte. Begünstigt hat den Erfolg des Werther-Outfits aber nicht allein die Lektüre, auch die positiven Assoziationen zumenglischen Landadel (Gentry) undzumpreußischen Militär haben ihre Wirkung nicht verfehlt:
Derjunge Berliner nach derMode vonderfeinen, undbeyweiten dergrößeren Klasse, trägt „ vomMorgen bis zumAbend Stiefeln, runden Hut, blauen Rock mit rothen Kragen, in sehr militärischem Geschmacke, und sehr oft schmutzige Wäsche. So gekleidet geht er in die Kollegien, unter die Linden, aufs Koffeehaus, zu Tische, wieder unter die Linden, ins Schauspiel, undsehr oft in Gesellschaften, denn er geht nurin Gesellschaften, wenn Eltern, Liebschaften oder andere Konvenienzen ihn hinbringen, und kann sich doch darum unmöglich umkleiden [...]“ .46
Die Propagierung eines nationalen Geschmacks war ein gängiges Charakteristikumvieler europäischer Modejournale, die oftmals klischeehaft auf andere europäische Nationen, insbesondere England undFrankreich, Bezug nahmen. Indem sie neue Trends aufspürten undgeschmacksbildend wirkten, versuchten die Journale, eine Marktlücke zwischen Verkäufern, Produzenten und Händlern zu fülJournals des Luxus undderModen“ len.47 Durch die Lektüre beispielsweise des „ partizipierten die Leser in allen deutschen Territorien an der neuen europäischen Journal“befriedigte solche Wünsche, in demes denKonsumgüGüterwelt. Das „ tern eine kulturelle Bedeutung verlieh.48 Dabei sprach es einerseits den Leser als Mitglied einer modemäßig vermeintlich verspäteten deutschen Nation an, andererseits maßes die deutschen Trends aufdemGebiet derMode aneiner westeuropäischen (Mode)-Identität undwürdigte so die Fortschritte der Deutschen. Englische und französische Entwicklungen wurden mit Hamburger, Mecklenburger, Berliner, Wiener Trends verglichen und damit adligen Funktionseliten und Bildungsbürgern verschiedene Identitätsangebote unterbreitet. Auf diese Weise schuf das„Journal des Luxus undderModen“wie auch andere Journale einen virtuellen Marktplatz für denKulturkonsum. Schlussbetrachtung Unsere Fallstudie hat gezeigt, dass Deutschland im Laufe des 18. Jahrhunderts in den europäischen Prozess kultureller Kommerzialisierung einbezogen wurde. Obwohl Deutschland von den großen Zentren des kulturellen Austausches LondonundParis einige Tagesreisen entfernt war, wurden Modetrends, künstlerische 46 Journal des Luxus und der Moden, April 1791, S. 178. Vgl. D. L. Purdy, Tyranny, S. 147– 179. Zum Werther-Diskurs siehe Walter Erhart: Beziehungsexperimente: Goethes Werther undWielands Musarion, in: Deutsche Vierteljahrschrift für Literaturwissenschaft undGeis360. tesgeschichte 66 (1992), S. 333– 47 Gutbeobachtet von Astrid Ackermann (siehe Anm. 33). 48 Grant McCracken: Culture andConsumption. NewApproaches to the Symbolic Character of 77. Consumer Goods andActivities, Bloomington 1988, S. 71–
Kultur
undKonsum –Luxus undGeschmack um1800
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Objekte undGegenstände der Alltagskultur real undvirtuell durch Kaufleute und Journale einer wachsenden Zahl vonKulturkonsumenten vermittelt. Auktionshäuser undKunsthändler stimulierten internationalen Kunstgeschmack, indem sie das Sammeln niederländischer Gemälde propagierten. Gelehrte und musikalische Journale bereiteten denMarkt fürdeutsche Komponisten, diedie italienischen und französischen Traditionen nicht nur in Deutschland sondern auch in Westeuropa ablösten. Darüber hinaus rivalisierten französische und englische Moden in den Luxusjournalen umdas Heim derdeutschen Bildungsbürger undFunktionseliten. Daher konstituierten die Vermarktung undder Konsum von Kultur verschiedene Identitäten: manfühlte sich als Kunstkenner; manhörte die Musik derKomponisin“waren und/oder die man spielen konnte; man kleidete sich wie in ten, die „ Paris oder London; manwarebenso stolz auf die deutschen Komponisten, wieauf seine aus London stammenden Knöpfe. Nationale Elemente spielten eine Rolle, ohne aber zu dominieren. Entsprechend empfahl auch Friedrich Schiller dem sich nicht in die engen Dresdner Galerieinspektor Wilhelm Gottlieb Becker „ Grenzen einer einzigen Nation ein[zu]schließen sondern die ganze gebildete Welt zuihrem Sprengel [zu] haben“.49
49 Friedrich Schiller andenInspektor derDresdner Antikengalerie Wilhelm Gottlieb Becker, 10. Oktober 1802, in: Stefan Ormanns (Hg.): Schillers Werke. Nationalausgabe, Bd. 31, Weimar 1985, S. 164f., hier S. 165.
Wilhelm Ruprecht1 Konsumverhalten in evolutionsökonomischer Perspektive2
1. Problemstellung Die wirtschaftliche Entwicklung ist von einem
permanenten Wandel von Konsummustern begleitet. Dieser Wandel wirdnicht nurdurch dieVeränderungen der Gewichte einzelner Ausgabekategorien wie z.B. „ Nahrungs- und Genussmittel“ oder „Unterhaltung“imHaushaltsbudget, also unterschiedliche Einkommenselastizitäten der Nachfrage für diese Konsumkategorien, dokumentiert. Auch innerhalb dieser Kategorien vollzieht sich ein steter Qualitätswandel, der sich u.a. in der ständigen Angleichung des Warenkorbs zur Ermittlung des Preisniveaus an die aktuellen Konsummuster spiegelt: neue Güter kommen hinzu, alte Güter fallen heraus. Welche nachfrageseitigen Kräfte treiben diese Evolution von Konsummustern auf individueller sowie auf gesamtwirtschaftlicher Ebene? Im vorliegenden Aufsatz wird ein theoretischer Rahmen vorgestellt, der sich zur Untersuchung dieser Frage eignet. Dabei werden die Grenzen der Standardökonomik überschritten, undes wird auf Erkenntnisse anderer Disziplinen, insbesondere der Biologie undder Psychologie, zurückgegriffen. Notwendige Voraussetzung für einen fruchtbaren interdisziplinären Austausch ist dabei die Entwicklung von konzeptionellen Schnittflächen zwischen der Ökonomik und ihren Nachbardisziplinen. Der Gedankengang ist dabei wie folgt aufgebaut: In einem Rückgriff auf die vor-marginalistische Wirtschaftstheorie wird zunächst Carl Mengers Theorie der Güter dargestellt unddiskutiert (Abschnitt 2). Diese Theorie aus dem 19. Jahrhundert wird anschließend mit psychologischen Modellen aus dem 20. Jahrhundert verknüpft undzu einer evolutorischen Konsumtheorie weiterentwickelt (Abschnitt 3). Dieser Theorie wird zumVergleich das von Kelvin Lancaster entwickelte Characteristics-Modell gegenübergestellt (Abschnitt 4), dasimRahmen der Rationalwahltheorie eine Antwort auf die eingangs gestellten Fragen zu geben versucht. Eine kurze Zusammenfassung (Abschnitt 5) schließt denAufsatz ab.
1 Herthaplatz 3, 13156 Berlin, E-Mail: [email protected] 2 Diesem Beitrag liegt ein Dissertationsprojekt zugrunde, dasderAutor in derAbteilung Evolutionsökonomik am Max-Planck-Institut zur Erforschung von Wirtschaftssystemen unter Betreuung
vonProf. Dr.Ulrich Witt durchgeführt hat.
36
Wilhelm Ruprecht
2. Carl Mengers Theorie derGüter Ausgangspunkt für die Entwicklung einer evolutorischen Konsumtheorie ist Carl Theorie der Güter“ Mengers „ , die in den Anfangskapiteln der „Grundsätze der Volkswirtschaftslehre“dargestellt wird.3 Wertvoll für die hier untersuchte Fragestellung ist vor allem Mengers Güterdefinition, weil sie die Existenz von Gütern nicht als gegeben annimmt, sondern an Voraussetzungen knüpft. Ein Ding wird zumGut, wenn diefolgenden vier notwendigen Bedingungen erfüllt sind: 1. DasVorliegen eines Bedürfnisses; 2. Das Vorliegen einer objektiven Ursache-Wirkungsbeziehung zwischen Gut undBedürfnisbefriedigung; 3. Wissen umdiese Ursache-Wirkungsbeziehung; 4. Die Verfügung über dasDing, so dass es zurBedürfnisbefriedigung herangezogen werden kann.
In seiner Theorie derGüter untersucht
Menger dieFrage nach demNutzwert eines Gutes undden Determinanten seiner Entwicklung (noch) gleichberechtigt zu der Frage nach demTauschwert undden Determinanten seiner Entwicklung. In der Folgezeit fokussierte die Theorieentwicklung dann hauptsächlich auf die Preistheorie, während die Frage nach demNutzwert undseiner Veränderung in Vergessenheit geriet. Eine kritische Überprüfung der vier Bedingungen Mengers zeigt, dass lediglich im Falle des Vorliegens eines Bedürfnisses (Bedingung 1) sowie des Wissens umeine Ursache-Wirkungs-Beziehung zwischen Ding undBedürfnisbefriedigung (Bedingung 3) vonnotwendigen Bedingungen die Rede sein kann. Keine notwendige Bedingung ist hingegen die Verfügung des Konsumenten über ein Ding (Bedingung 4). Auch ohne dass ein Konsument über eine Sache verfügt, kann diese zumGutwerden, wenn nämlich soziales Lernen eigene Konsumerfahrungen überflüssig macht. Die zweite Bedingung, die objektive Eignung eines Dings zur Bedürfnisbefriedigung, erscheint ebenfalls als nicht notwendig –nicht nur, weil sie eine problematische Unterscheidung zwischen „wahren Gütern“und„eingebildeten Gütern“(Placebos) nach sich zieht. Poppers kritischem Rationalismus zufolge ist lediglich eine Falsifikation von Ursache-Wirkungsbeziehungen möglich, nicht aber eine Verifikation einer Ursache-Wirkungs-Beziehung wie sie in der zweiten Bedingung impliziert ist.4 Die v. a. auch für die empirische Wirtschaftsforschung bedeutsame Frage, wann undinwiefern sich die in Mengers Definition subjektive Eigenschaft eines Dinges, ein Gut zu sein, auf die Wahrnehmung vieler Konsumenten übertragen lässt undsich somit beobachtbar auf dasKonsumverhalten im Aggregat auswirkt,
3 Vgl. die englischsprachige
4
Ausgabe: Carl Menger: Principles of Economics, Glencoe (Illinois) 1950. Für eine ausführliche Diskussion der Menger’schen Bedingungen vgl. Wilhelm Ruprecht: Towards anEvolutionary Theory of Consumption, Dissertation Jena 2002, Kap. 2.
Konsumverhalten
inevolutionsökonomischer
Perspektive
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löst Mengers Theorie nicht. Schließlich haben Konsumenten ihre jeweils individuelle Lerngeschichte undErkenntnisgewinn bzw. Lernen ist ein subjektiver Vorgang. Insofern hat Mengers Theorie der Güter zwar evolutorischen Charakter, weil sie nach denEntstehungsbedingungen der Gütereigenschaft fragt, kann aber indieser Form nurals Vorstufe füreine evolutorische Konsumtheorie gelten.
3. VonderTheorie derGüter zueiner evolutorischen Theorie desKonsums Das Problem mangelnder Objektivierbarkeit der Betrachtung von Wahrnehmungs- undLernprozessen kann –das ist die zentrale These des hier vertretenen Ansatzes –durch eine biologische (undpsychologische) Fundierung vonMengers Theorie überwunden werden.5 Ausgangspunkt ist dabei die Überlegung, –anstelle von Technologien oder Individuen –Verhaltensdispositionen bzw. Präferenzen als Einheit der Selektion zu wählen. In einer solchen Perspektive werden Entstehung undAusprägung von Präferenzen zum Gegenstand der wissenschaftlichen Analyse,6 man könnte auch von einem Präferenz-Essentialismus sprechen.7 In 5
6
Evolutorische Ansätze in der Ökonomik werden häufig mit einer Übertragung evolutionsbiologischer Modelle und Konzepte auf ökonomische Fragestellungen assoziiert. Auch in der wirtschafts- (und sozial-) wissenschaftlichen Konsumtheorie finden sich Beispiele für solche Übertragungen. Methodisch lassen sich dabei zunächst zwei Arten des Konzept-Transfers voneinander unterscheiden: die metaphorische Übertragung biologischer Konzepte und die analoge Übertragung biologischer Modelle. Allerdings unterscheiden sich biologische und kulturelle Evolution hinsichtlich der zugrunde liegenden Systeme zu stark voneinander, als dass die beiden Varianten des konzeptionellen Transfers einen wirklichen Beitrag zur Erklärung des Wandels der Konsummuster leisten könnten. Unterschiede bestehen zwischen den beiden Systemen insbesondere hinsichtlich derEntstehung, Übertragung undSpeicherung von Informationen. Die Sonderrolle des menschlichen Geistes in kulturellen Systemen verhindert eine einfache Übertragung derKonzepte vonVariation undSelektion vonOrganismen aufArtefakte. Zusätzlich zur metaphorischen undzur analogen Übertragung biologischer Konzepte besteht mitderSoziobiologie eine dritte Transfermöglichkeit. Bei dieser direkten Übertragung werden Variation undSelektion wörtlich interpretiert: derKonsument wird als Einheit derSelektion betrachtet, sein Verhalten ist genetisch determiniert. Die Evolution desKonsums ist in dieser Betrachtungsweise gleichbedeutend mit der Evolution der Konsumenten. Gegen diese soziobiologische Variante derÜbertragung biologischer Konzepte aufdieKonsumtheorie lässt sich v.a. einwenden, dass dieAnnahme einer anhaltenden natürlichen oder sexuellen Selektion in entwickelten Gesellschaften problematisch ist (für eine ausführliche Diskussion verschiedener Varianten zur Übertragung biologischer Konzepte auf die Konsumtheorie vgl. Ruprecht, Theory, Kapitel 1). Nachdem die analoge, diemetaphorische sowie die soziobiologische Variante zurÜbertragung biologischer Konzepte auf eine Theorie des Konsumverhaltens verworfen wurde, bleibt noch ein vierter Weg, biologische Konzepte in die Konsumtheorie zuintegrieren, derobenbeschrieben ist. Vgl. Jack Hirshleifer: Economics from a Biological Viewpoint, in: Journal of Law andEconomics 20 (1977), S. 1– 52. Dieser Ansatz ist in den letzten Jahren u. a. in der sog. evolutorischen Psychologie aufgegriffen worden. Die Grundidee für die wissenschaftliche Analyse menschlicher Verhaltensdispositionen undder Architektur des menschlichen Geistes besteht darin, aus dem Charakter vergangener Selektionsumgebungen auf Anpassungserfordernisse für den frühzeitlichen Mensch zu schließen undentsprechende phylogenetische „Lösungen“
38
Wilhelm Ruprecht
einer solchen Betrachtung kann eine Erklärung kultureller Evolution demnach von Präferenzen ausgehen, die imZuge dermenschlichen Phylogenese als Anpassung an frühere Selektionsumgebungen entstanden sind.8 So wird z. B. davon ausgegangen, dass die (biologische) Evolution des kognitiven Apparates des Homo Sapiens vor etwa 100.000 Jahren während des Pleistozäns beendet war.9 Daswürde bedeuten, dass andere, primitivere Verhaltensdispositionen bereits zu einem früheren Zeitpunkt im Zuge einer selektiven Anpassung an die Umgebung evolviert sind. So erscheint es sehr plausibel, davon auszugehen, dass das Säugetier Mensch eine Reihe von Verhaltensdispositionen mit anderen (Säuge-)Tieren gemeinsam hat, die in zahlreichen Laborexperimenten mit Tieren als grundlegend undvermutlich angeboren bestätigt wurden. Zu den gemeinsamen Verhaltensstimuli, die ausAnpassungsforderungen heraus evolviert undweitergegeben worden sind, zählen z. B. Luft, Wasser, Schlaf, Wärme, Nahrung, sexuelle Aktivität oder Mutterliebe.10 Diese Liste lässt sich für die einzelnen Teilbereiche verfeinern, etwaimBereich derNahrung durch die vielen Tieren gemeinsame Vorliebe für die süße Geschmacksrichtung, deren adaptiver Vorteil in derschnellen Identifizierung solcher Nahrungsstoffe besteht, die nährstoffreiche Kohlenhydrate enthalten.11 ImUnterschied zumsoziobiologischen Ansatz lässt eine Betrachtung vonPräferenzen als Einheit der Selektion Raum für die Möglichkeit vonLernvorgängen. Entscheidend hierbei ist, dass zwar Struktur undAblauf von Lernvorgängen biologisch bestimmt sind, nicht aber ihr Ergebnis.12 Im Lichte psychologischer Lernfür diese Anpassungserfordernisse zu rekonstruieren (vgl. für eine Einführung in die Forschungsstrategie der evolutorischen Psychologie James Tooby undLea Cosmides: The Psychological Foundations of Culture, in: J. Barkow, Lea Cosmides andJames Tooby (eds.): The 136; füreine kritische Auseinandersetzung mitdieser Adapted Mind, NewYork (1992), S. 19– Forschungsrichtung vgl. Ruprecht, Theory, Kap. 1). 7 Der Begriff „Präferenz“ist dabei nicht als relationales Konzept zu verstehen, sondern wird hier imSinne von„Verhaltensdisposition“verwendet. 8 Schlicht weist darauf hin, dass die Möglichkeit, bei der Erklärung kultureller Evolution von
biologischen Gegebenheiten auszugehen, einen entscheidenden Unterschied zu Erklärungen derbiologischen Evolution ausmacht (vgl. Eckehard Schlicht: Patterned Variation: The Role of Psychological Dispositions in Social andInstitutional Evolution, in: Journal of Institutional 736, hier 731). andTheoretical Economics 153 (1997), S. 722– 9 Vgl. dazu G. Miller und Peter Todd: A Bottom-up Approach with a Clear View of the Top: HowHuman Evolutionary Psychology can Inform Adaptive Behavior Research, in: Adaptive 95. Behavior 3 (1994). S. 83– 10 Vgl. für eine entsprechende Liste J. Millenson: Principles of Behavioral Analysis, NewYork 1979. 11 Vgl. Paul Rozin: The Role of Learning in the Acquisition of Food Preferences by Humans, in: R. Shepherd (ed.): Handbook of the Psychophysiology of Human Eating, London (1989), S. 227. 205–
12 Wenn also z. B. die angeborene Präferenz für Süßes durch Lernprozesse kulturell überformt werden kann, stellt sich die spannende Frage, ob undinwieweit angeborene Präferenzen im Verlauf derwirtschaftlichen Entwicklung sichtbar werden (vgl. dazu Ulrich Witt: Evolutionary Economics andEvolutionary Biology, in: Peter Koslowski (ed.): Sociobiology andBioeco298, hier 291). Eine empirische nomics, Berlin, Heidelberg and New York 1999, S. 279–
Konsumverhalten
in evolutionsökonomischer
Perspektive
39
theorien, die zuMengers Zeiten noch unbekannt waren, lässt sich die Theorie der Güter neuinterpretieren. Die einfache Überlegung, die bereits oben bei der Erörterung von Mengers notwendigen Bedingungen zugrunde gelegt wurde, ist, dass Dinge durch Lernprozesse zuGütern werden. Zudiesem Zweck werden zwei aus derPsychologie bekannte Lernhypothesen vorgestellt: einfaches Verstärkungslernenundsozial-kognitives Lernen. – Einfaches Verstärkungslernen findet aufderGrundlage angeborener Präferenzen statt. Wird ein solcher positiv oder negativ besetzter Stimulus regelmäßig mit einem neutralen Stimulus gepaart, so gewinnt dieser Stimulus nach einiger Zeit ebenfalls eine positive oder negative Konnotation undkann bei entsprechender Paarung mit weiteren Stimuli seinerseits als ein Verstärker „ zweiter Ordnung“wirken. Auf diese Weise bildet sich eine individuelle Hierarchie derVerstärker bzw. eine Präferenzordnung heraus.13 – Anders als einfaches Verstärkungslernen setzt sozial-kognitives Lernen lediglich die Information über ein bestimmtes Gutvoraus, nicht aber eine sinnliche Erfahrung. Wichtig dabei ist nicht nur, dass diese Information z. B. über bislang unbekannte positive Nebenwirkungen eines Medikaments z. B. auf dem Wege der Laborforschung entdeckt worden ist undan einer Stelle verfügbar ist. Sie muss auch weitergegeben werden, da sie andernfalls keinen Einfluss aufmenschliches (Konsum-) Verhalten hat. Eine fürdieAusbreitung konsumrelevanter Information entscheidende Frage ist, wie ein Wirtschaftssubjekt entscheidet, welcher Information über vermeintliche Gütereigenschaften es Vertrauen schenken soll. Ein und dieselbe Hypothese über UrsacheWirkungsbeziehungen kann unter bestimmten Bedingungen diffundieren und sich dann in tatsächlichem Konsumverhalten niederschlagen, unter anderen Bedingungen hingegen nicht. Damit stellt sich die Frage, wann Konsumenten Hypothesen über Ursache-Wirkungsbeziehungen als wahr akzeptieren. Ein in diesem Zusammenhang wichtiges Kriterium ist die Kompatibilität dieser Hypothesen mit herrschenden sozialen Konventionen. Der amerikanische Wirtschaftshistoriker Joel Mokyr hat zur Beschreibung dieses Sachverhaltes das Konzept „tightness“14eingeführt. Ist die entsprechende Kompatibilität ei-
13
14
Fallstudie zudieser Frage hatRuprecht vorgelegt (vgl. Wilhelm Ruprecht: The Historical Development of the Consumption of Sweeteners –A Learning Approach, Papers on Economics andEvolution No.0104, Max-Planck-Institut Jena 2001). Füreine Darstellung desVerstärkungslernens vgl. z.B. P. Zimbardo: Psychologie. 5. Auflage,
Berlin, Heidelberg andNewYork (1992). ZurBedeutung desVerstärkungslernens fürdie ökonomische Präferenztheorie vgl. Ulrich Witt: Economics, Sociobiology, andBehavioral Psychology onPreferences, in: Journal of Economic Psychology 12 (1991), S. 557– 573, sowie Ulrich Witt: Learning to Consume –A Theory of Wants andthe Growth of Demand, Papers on Economics andEvolution # 9806, Max Planck Institut Jena 1998. Dabei definiert Mokyr „ Tightness“als „... the degree of confidence that individuals have in the truth
of this knowledge andtheir willingness to act upon it...“(vgl. Joel Mokyr: Demand as a in the Industrial Revolution, Northwestern University Evanston 1999, mimeo, hier S.
Factor
4).
40
Wilhelm Ruprecht
ner Hypothese mit den herrschenden Konventionen gegeben, wird das entsprechende Wissen verhaltensrelevant und findet gegebenenfalls sogar Eingang in eine Konsumroutine.15 Die gleiche Erkenntnis lässt sich auch auspsychologischen Konsistenztheorien ableiten.16 Schließlich lassen sich in der Wirtschaftsgeschichte zahlreiche Beispiele dafür finden, dass der richtige Zeitpunkt bzw. die richtige räumliche Umgebung für die Durchsetzung einer Innovation entscheidend ist.17
Die Re-Interpretation von Mengers Theorie im Lichte psychologischer Lerntheo-
rien eröffnet eine Möglichkeit, an sich individuelle Lernprozesse zu aggregieren. In den Lerntheorien sind Bedingungen, unter denen Lernen stattfindet, jeweils spezifiziert. Im Falle des Verstärkungslernens ist dies einfach die hinreichende Verfügbarkeit von Stimuli, ohne die eine regelmäßige Paarung der Stimuli nicht gewährleistet ist.18 ImFalle des sozial-kognitiven Lernens sind dies entsprechende soziale Konventionen, die über Dissonanz oder Konsonanz von UrsacheWirkungshypothesen unddamit auch über ihre Umsetzung in tatsächliches Handeln entscheiden. Dadie Struktur vonLernprozessen genetisch gegeben ist, gilt – unddies ist gewissermaßen der Schlüssel zur Aggregation von individuellen zu , dass identische Bedingungen in der sozialen oder kollektiven Lernprozessen –
physischen Umwelt zuidentischen Lernprozessen führen. In Anlehnung an (und im Vergleich zu) Mengers notwendigen Bedingungen können damit die Elemente einer evolutorischen Konsumtheorie benannt werden. Die Elemente „Bedürfnis“und „Wissen um eine Ursache-Wirkungsbeziehung“ tightness“undVerfügbarkeit kennzeichnen das, was gelernt wird. Die Elemente „ hingegen kennzeichnen Bedingungen, unter denen Lernen imKonsum stattfindet. Anders als in derPsychologie, wosie durch die experimentelle Anordnung vorgegeben sind, sind diese Bedingungen, also die Verfügbarkeit von Stimuli undsoziale Normen, im Laufe der Geschichte systematischen Veränderungen unterworfen. Erstere kann sich infolge vontechnologischem Wandel imZeitablauf drama-
15 Vgl. Joel Mokyr: Technological Selection, Information, and Changing Household Behavior, 1914, in: Joel Mokyr: Neither Chance nor Necessity: Evolutionary Models and Eco1850– nomic History, Princeton imDruck, hier S. 2. 16 So stellt sich z.B. dasgleiche Problem in derSprache vonAjzens Theorie dergeplanten Handlung wie folgt: Unter welchen Bedingungen wird eine geplante Aktion, die bislang dissonant war, konsonant undwird in dieTatumgesetzt? In dieser Theorie entscheiden ebenfalls soziale Normen maßgeblich über die Umsetzung einer geplanten Handlung (vgl. dazu Itzhak Ajzen: Attitudes, Personality, and Behavior, Chicago (1988), sowie Itzhak Ajzen: The Theory of Planned Behavior, in: Organizational Behavior andHuman Decision Processes 50 (1991), S. 211). 179– 17 Vgl. z. B. Everett Rogers: Diffusion of Innovations, NewYork (1995). 18DerVorgang desVerstärkungslernen ist andrei Bedingungen geknüpft: 1. Eine zeitliche Nähe inderAbfolge derStimuli; 2. Eine räumliche Nähe derStimuli; 3. Eine hohe Regelmäßigkeit, mitderneutral undpositiv besetzte Stimuli gepaart werden (vgl. A. Baker et al.: Associative andNormative Models of Causal Induction: Reacting to versus Understanding Causes, in: The Psychology of Learning and Motivation 34 (1996), S. 1–45, hier S. 5).
Konsumverhalten
in evolutionsökonomischer
41
Perspektive
tisch verändern, die Veränderung vonNormen hingegen folgt denProzessen institutionellen Wandels.19 Aufgrund der Veränderlichkeit der Bedingungen erhalten Lernprozesse einen historischen Charakter. In Tabelle 1 werden die Elemente einer evolutorischen Konsumtheorie im Vergleich zu denElementen von Mengers Theorie derGüter dargestellt sowie ihrejeweilige Dynamik beschrieben. Tab. 1: Vergleich zwischen Mengers Güterbedingungen unddenElementen einer evolutorischen Konsumtheorie sowie ihrer Dynamik
Mengers Bedingungen für
die Gütereigenschaft
Elemente einer evolutorischen Konsumtheorie undihre Dynamik Elemente
Bedürfnisse
Bedürfnis(se) bzw. Verstärker
Dynamik der Elemente Durch Verstärkungslernen entstehen neue Verstärker
Objektive Ursache-Wirkungs-
Tightness“(Konsistenz einer „
Wandel
Beziehung
Ursache-Wirkungs-Vermutung
Normen verändert „ Tightness“
vonInstitutionen und
mitdenherrschenden sozialen Institutionen undKonventionen)
umUrsache-
Wissen umUrsache-
Entstehung
Wirkungs-Beziehung
Wirkungs-Beziehung
neuem Wissen
Persönliche Verfügung eines
Physische Verfügbarkeit des
Prozessinnovationen bzw.
Konsumenten über dasDing
Dings
technischer Fortschritt beein-
Wissen
undDiffusion von
flussen Verfügbarkeit eines
Dings
Diese Theorie, die sich psychologischer Lernhypothesen bedient, gleichzeitig aber auch die systematische Veränderung der Bedingungen betrachtet, unter denen Lernen stattfindet, ist keine psychologische Theorie des Konsums, sondern eine ökonomische Theorie der Neuheit und des Wandels im Konsum, allerdings mit den Einsichten aus der Psychologie kompatibel ist.20 Die Erklärung, wie Bedürfnisse sich wandeln undunter welchen Bedingungen neues Wissen als wahr akzeptiert wird, macht dabei den Kern der Erklärung aus, wie Neues Eingang in Konsummuster findet.
19 Füreine evolutorische Theorie desinstitutionellen Wandels vgl. Ulrich Witt: The Evolution of Economic Institutions as a Propagation Process, in: Public Choice 62 (1989), S. 155– 172. 20 In diesem Zusammenhang sei auf methodisch ähnliche evolutionsökonomische Ansätze im Bereich derTheorie derFirma hingewiesen, die die ontogenetische Entwicklung vonFirmen ebenfalls aufderGrundlage psychologischer Lernmodelle erklären (vgl. Klaus Rathe undUlrich Witt: TheNature of theFirm –Static versus Developmental Interpretations, in: Journal of Management and Governance 5 (2001), S. 331– 351, und Ulrich Witt: The Development of Firms andthe Evolution of Markets –the Entrepreneurial Role Reconsidered, Paper prepared for theDRUID Nelson andWinter Conference (2001), mimeo).
42
Wilhelm Ruprecht
4. DieAdoption vonNeuheit in derRationalwahltheorie: DasLancaster-Modell In der standardökonomischen Mikrotheorie macht das Vollständigkeitsaxiom der Präferenztheorie die Beantwortung der Frage nach der Adoption von Neuem schwierig. Dieses Problem lässt sich jedoch mit Hilfe des sogenannten „indirekten Nutzenansatzes“umgehen, den Kelvin Lancaster in seinem bekannten Characteristics-Modell verwendet.21 Mit demim letzten Abschnitt vorgestellten evolutorischen Ansatz hat dieser Ansatz gemeinsam, dass Güter als multidimensionale Einheiten verstanden werden. Darüber hinaus werden sie als (mehr oder weniger) effiziente „ Konsumtechnologien“betrachtet, die eine gegebene Anzahl sogenannter „Characteristics“produzieren. Die Idee des indirekten Nutzenansatzes besteht darin, dass nicht Güter, sondern Charakteristics letztlich derGegenstand vonindividuell unterschiedlichen Präferenzen sind. Dabei sind sowohl die Produktionstechnologien als auch die Characteristics selbst objektiver Natur, d.h. für alle Konsumenten gleich. VonderWahrnehmungsproblematik wird somit abstrahiert. Abb. 1: Die Entscheidungssituation eines Konsumenten im Characteristics-Modell
Quelle: Lancaster (1971)
Abbildung 1 stellt die Entscheidungssituation eines Konsumenten im LancasterModell graphisch dar. Dabei wird der Fall abgebildet, dass es zwei Güter bzw. Konsumtechnologien X undY gibt, diejeweils zwei Charakteristika C1 undC2
21 Für eine Darstellung dieses Ansatzes vgl. Kelvin Lancaster: Change and Innovation in the Technology of Consumption, in: American Economic Review 56 (1966), S. 14– 23, Kelvin Lancaster, K. (1966): A NewApproach to Consumer Theory, in: Journal of Political Economy 157 sowie Kelvin Lancaster: Consumer Demand, NewYork undLondon 74 (1966), S. 132– (1971).
Konsumverhalten
in evolutionsökonomischer
Perspektive
43
produzieren. Ein rationaler Konsument wird bei gegebenem Budget entsprechend seinen Präferenzen ein Güterbündel wählen, das auf der sogenannten Effizienzlinie XY liegt. Das individuelle Optimum ist beim Tangentialpunkt derEffizienzlinie mit derjenigen Indifferenzkurve erreicht, die das höchste Nutzenniveau markiert. Die Einführung eines neuen Gutes Z entspricht in dieser Modellwelt der Einführung einer überlegenen Konsumtechnologie, die die Effizienzlinie weiter nach außen verschiebt (s. Abb. 2). Abb. 2: Die Einführung vonneuen Gütern verschiebt dieEffizienzlinie nach außen.
Quelle: Lancaster (1971)
Die Adoption neuer Konsumgüter funktioniert also analog zudereiner Prozessinnovation, die implementiert wird, weil sie die Kosten für einen gegebenen Output senkt bzw. einen höheren Output bei konstantem Mitteleinsatz ermöglicht. Da in Lancasters Modell die Verbindung zwischen Charakteristika undGütern technologischer Natur ist undnicht durch die (weiterhin als subjektiv angenommenen) Präferenzen bestimmt ist, kann die Entstehung neuer Charakteristika in Lancasters Modellrahmen ebenso wenig betrachtet werden wie eine Veränderung derBedeutung bzw. des Gewichts der verschiedenen Dimensionen in der Bewertung eines multidimensionalen Gutes.22 Lancasters Modell unddie in Abschnitt 3 vorgestellte evolutorische Konsumtheorie enthalten in Gestalt der Characteristics bzw. der Verstärker Elemente, die einander zwar ähnlich, jedoch in ihrer spezifischen Konzeption jeweils von der 22 Vgl. Thomas Warke: Mathematical Fitness in the Evolution of the Utility Concept from Bentham to Jevons to Marshall, in: Journal of the History of Economic Thought 22 (2000), S. 5– 27, hier S. 18.
44
Wilhelm Ruprecht
ihnen zugrunde liegenden Theorie geprägt sind. Die methodologische Struktur der Rationalwahltheorie, die als „Situationsanalyse“bekannt ist, lässt dabei keinerlei Spielraum für eine andere, d.h. subjektive Konzeption von Characteristics. In der Situationsanalyse besteht eine Erklärung menschlichen Verhaltens immer aus zwei Elementen: denrelevanten Antezedensbedingungen undeinem Universalgesetz, Rationalität. Ein rationales Individuum wählt eine Handlungsalternative entsprechend denAxiomen der Präferenztheorie aus. Diese Modellstruktur verlangt, dass Bedürfnisse oder Wahrnehmung in der Situationsanalyse als Teile der Antezedensbedingungen dargestellt werden. Da sie somit nicht die eigentliche Erklärungslast tragen, bedürfen sie keiner weitergehenden theoretischen Analyse. Ein Mensch mitbestimmten Wünschen wird zueinem Menschen, zudessen Situation es gehört, dass er bestimmte objektive Ziele hat. Die Frage, wie sich diese Ziele herausgebildet haben, wird nicht gestellt. Voraussetzung für diese Methodologie ist eine formale Präferenztheorie, in dermaterielle Hypothesen darüber, wasMenschen wollen und warum sie es wollen, nicht angelegt sind. Dies ist auch der Grund dafür, dass sich die in Lancasters Modell betrachtete Neuheit auf eine technologische Effizienzsteigerung bei der Produktion bekannter Charakteristika beschränkt. Diesem Lancasterschen Neuheitsbegriff kann der Begriff der rekombinatorischen Neuheit gegenübergestellt werden, der sowohl durch eine Offenheit des Charakteristika-Raumes als auch durch die Verschiebung der Gewichte für einzelne Charakteristika bzw. Verstärker gekennzeichnet ist. Im Rahmen der in Abschnitt 3 skizzierten Grundlinien einer evolutorischen Konsumtheorie impliziert der Begriff der rekombinatorischen Neuheit die Möglichkeit von Interaktionen zwischen unterschiedlichen Stimuli bzw. Characteristics, die in der Modellstruktur des Lancaster-Ansatzes nicht angelegt sind unddaher auch nicht betrachtet werden können. Lancastersche Neuheit und rekombinatorische Neuheit haben das Potential, einander bei derErklärung sich wandelnder Konsummuster zu ergänzen. Letztlich bedeutet das Hinausschieben der Effizienzlinie im Lancaster-Modell nichts anderes als den Anstieg der Verfügbarkeit bestimmter Stimuli aufgrund von technischem Fortschritt, der in der skizzierten evolutorischen Konsumtheorie die Voraussetzung fürVerstärkungslernen ist. Diese Behauptung der Komplementarität beider Konzepte bei der Erklärung derhistorischen Entwicklung vonKonsummustern soll abschließend kurz anhand eines Beispiels illustriert werden. So lässt sich in Europa der allmähliche Übergang vom importierten Rohrzucker zumselbst produzierten Rübenzucker im 18. und19. Jahrhundert sowie anschließend v. a. die Entdeckung undWeiterentwicklung hochintensiver künstlicher Süßstoffe im 19. undim 20. Jahrhundert als Prozessinnovation bzw. als Anstieg der Verfügbarkeit von Süßstoffen interpretieren (Lancastersche Neuheit). In derPerspektive derevolutorischen Konsumtheorie ist hingegen die Verfügbarkeit von Süßstoffen, gemessen in Zuckeräquivalenten,23
23 Dass z. B. Saccharin einZuckeräquivalent von300 zugeordnet charin hinsichtlich seiner Süßkraft 300 KgZucker entspricht.
wird, bedeutet, dass 1 Kg Sac-
Konsumverhalten
inevolutionsökonomischer
Perspektive
45
aufgrund verschiedener technischer undorganisatorischer Innovationen in diesem Zeitraum enorm gestiegen undhat dadurch denBoden für eine Reihe vonrekombinatorischen Neuheiten bereitet.
Tab. 2:
Süßkraft ausgewählter künstlicher Süßstoffe
Künstliche Süßstoffe
Süßkraft
in„Zuckeräquivalenten“
Saccharin (1879)
550 300–
Zyklamat (1937)
30 200 200 130–
Aspertam (1965)
Acesulfam Super-Aspertam (Patentiert)
55.000
So ist parallel zum Anstieg der Verfügbarkeit des genetischen Verstärkers Süßstoff der Erfolg verschiedener neuartiger Produkte wie Tee, Schokolade, Konfitüre, Limonade etc. zu beobachten, denen die massenhafte Zusetzung von Zucker bzw. Süßstoffen gemeinsam ist.24 Vor diesem Hintergrund kann angenommen werden, dass die reichliche Verfügbarkeit von Süßstoffen beim Übergang der Lebensmittelproduktion von einem Regime weitgehend regional geprägter SubKüchen“undGeschmacksmustern sistenzwirtschaften mitregional ausgeprägten „ zueinem industriell geprägten Regime derLebensmittelproduktion eine entscheidende Rolle gespielt hat. Denn damit die Produzenten Skalenerträge erzielen konnten, waren sie auf einen hinreichenden Konsens der im Lebensmittelbereich sehr konservativen Nachfrager angewiesen.25 Die massenhafte Beigabe eines genetischen Verstärkers warein probates Mittel, diesen Konsens herzustellen. Kollektives Verstärkungslernen der Konsumenten führte zunächst zur Akzeptanz, anschließend zur Entwicklung einer nachhaltigen Präferenz für die neuartigen Lebensmittel undArten derZubereitung. ImUnterschied zuLancasters komparativ-statischem Modell kann die evolutorische Lerntheorie auch erklären, dass es – aufgrund der historischen Unterschiede in derVerfügbarkeit von Süßstoffen z. B. zwischen Großbritannien undItalien –zubis heute bestehenden nationalen Unterschieden in derAusprägung derSüßepräferenz gekommen ist.26
24 Vgl. u.a. C. M. Merki: Zucker gegen Saccharin. Zur Geschichte der künstlichen Süßstoffe, Frankfurt/M. (1993): H. Teuteberg: Der Beitrag des Rübenzuckers zur „Ernährungsrevolution“ des 19. Jahrhunderts, in: H. Teuteberg undG. Wiegelmann (Hg.): Unsere tägliche Kost, Münster (1986), S. 153– 162, sowie G. Wiegelmann: Zucker undSüßwaren im Zivilisationsprozess derNeuzeit, in: H.Teuteberg undG. Wiegelmann (Hg.): Unsere tägliche Kost, Müns152. ter (1986), S. 135– 25 Zum genetisch bedingten Konservativismus des Omnivoren Mensch bei der Nahrungsaufnahme vgl. Ruprecht: Historical Development (wie Anm. 12). 26 Vgl. D. Grigg: Spatial Variations in the Consumption of Sweeteners, in: Tijdschrift voor Economische en Sociale Geografie 89 (1998), S. 178– 192.
46
Wilhelm Ruprecht
5. Schluss
In demvorliegenden Aufsatz wurde im Zusammenhang mit einer Erklärung des Wandels von Konsummustern eine biologische Fundierung von Verhaltenshypothesen als alternatives Theorie-Angebot zurAxiomatik derstandardökonomischen Präferenztheorie vorgestellt. Eine biologische Fundierung erlaubt objektive Aussagen über die Entstehung, die Weiterentwicklung unddenmateriellen Gehalt von Konsumentenwünschen, die in der subjektivistischen Präferenztheorie, die auch den Rationalwahlmodellen von Lancaster zugrunde liegt, nicht getroffen werden können. Der in Abschnitt 3 dargestellte Modellrahmen einer evolutorischen Konsumtheorie erlaubt die Betrachtung und Analyse eines –verglichen mit dem Lancaster-Modell –breiteren Bereichs von Neuheit im Konsum. Anhand des Beispiels des Konsums von Süßstoffen wurde gezeigt, dass sich rekombinatorische Neuheit undLancastersche Neuheit bei einer Erklärung deshistorischen Wandels von Konsummustern sinnvoll ergänzen unddamit als komplementäre Konzepte betrachtet werden können.
Karl Georg Zinn Korreferat zuWilhelm Ruprecht „Konsumtheorie bzw. Konsumverhalten
in evolutorischer Perspektive“
Die beiden Autoren, Menger undLancaster, an die der Referent anknüpft, seien nicht weiter kommentiert. Die folgenden Überlegungen konzentrieren sich vielmehr aufdie evolutorische Konsumanalyse desReferenten. Die Fragestellung der Untersuchung von Wilhelm Ruprecht zielt auf eine neue Erklärung der „Evolution von Konsummustern auf individueller sowie auf gesamtwirtschaftlicher Ebene“ . Hierbei wird der übliche Rahmen ökonomischer Theorie überschritten, undes werden Erkenntnisse der Biologie undder Psychologie mit verarbeitet. Ruprecht hebt ausdrücklich hervor, dass die –seit den 1970er Jahren fast modisch gewordenen Versuche der evolutionsbiologischen Begründung sozialökonomischer Entwicklungen –insofern nur recht begrenzten Erklärungswert haben, als zwischen biologischer undkultureller Evolution prinzipielle Unterschiede bestehen. Dies liegt –da ist Ruprecht vollständig zuzustimmen–an der evolutionsbiologisch bzw. phylogenetisch erklärbaren Besonderheit jenes Primaten, der über Vernunft verfügt. Insbesondere ist für den Menschen , charakteristisch –um mit dem Anthropologen Norbert Bischof zu sprechen – dass er Vergangenheit undZukunft in seinem gegenwärtigen Bewusstsein repräsentieren kann. Mit Hilfe dieser „ Zeitrepräsentation“sind Zukunftsplanungen und damit vernünftige –wieauch unvernünftige –Zukunftsentwürfe undZukunftsgestaltungen möglich. Der Mensch gestaltet die kulturelle Evolution, bringt sie –in welchem Maße auch immer –aktiv planend hervor undist hierbei kein passives Objekt eines quasi blinden Evolutionsgeschehens. Diese Fähigkeit kann Zukunftsunsicherheit reduzieren. Doch die Fähigkeit zur Zukunftsgestaltung verstärkt u. U. auch die anthropogenen Momente der Zukunftsunsicherheit, beispielsweise weil und wenn konfligierende Zukunftsmodelle der Menschen zu Kämpfen bis hin zu Kriegen führen. Es bedarf keiner weiteren Erläuterung, dass Zukunftsorientierung in stärkstem Maße auch, ja vorwiegend, auf die dauerhafte Sicherung unddie Verbesserung der materiellen Existenzbedingungen gerichtet ist undsomit gerade die„Zukunft desKonsums“insAuge zufassen hat. Der(biologische) Evolutionsgedanke wirdvonRuprecht mitdemHinweis auf die umweltabhängige Selektion von „Präferenzen“im Verlauf der Phylogenese des Menschen eingebracht. Dabei wird derUnklarheit des Präferenz-Begriffs dadurch begegnet, dass es sich um Verhaltensdispositionen handele. Sie seien –so kognitiven Apparat“des Menschen angelegt lässt sich derAutor verstehen –im „
48
Karl Georg Zinn
und sollten von „primitiveren Verhaltensdispositionen“aus frühen bzw. Vorstadien dermenschlichen Phylogenese unterschieden werden. Abb. 1: Zusammenhang zwischen Phylogenese undOntogenese
Phylogenese biologische Evolution/Selektion nach Umweltbedingungen
Arten unterscheidbar nach Verhaltensdispositionen (Bedürfnisse u. Befriedigungsweisen)
Dominanz
vonInstinkt
bzw. genetischer
Dominanz von(Verhaltens-)
Lernen
Vorprogrammierung Verhaltens
des
Primaten Homosapiens sapiens
Tierprimaten
Phylogenetisch fixierte Bedürfnisse (z.B. Hunger) undBefriedigungsweisen (z.B. Essen, Kauen, Verdauen)
Ontogenetisch erworbene, plastische Bedürfnisse (z.B. Musizieren) und gelernte Befriedigungstechniken (z.B. Orgel spielen oder fundamentaler: Jagen undSammeln, Ackerbau etc.)
reversibel gelernte Bedürfnisse
Prägung
Kulturelle Evolution mittels kognitiver Fähigkeiten (vor allem: Vernunft, Phantasie, Zeitrepräsentation)
* Lernen, welche Befriedigungsmittel Bestimmung
dienlich sind =
vonbereits vorhandenen
Gütern
(historisch Bekanntes)
* Entwerfen/Erfinden neuer Befriedigungsmittel/ Güter = (Produkt-)Innovation (historisch Unbekanntes
= Emergenzen)
Korreferat
zuWilhelm Ruprecht
49
Um die Gedankengänge des Referenten möglichst klar anzueignen, sei versucht, diewesentlich erscheinenden Aspekte inzwei Schemata abzubilden (Abb. 1 u. 2). Daserste Schema betrifft denZusammenhang vonPhylogenese dermenschli-
chen Spezies, Ontogenese des menschlichen Individuums unddie Differenz zwischen genetisch fixierten undontogenetisch erworbenen bzw. ausgebildeten Verhaltensdispositionen. Unter Verhaltensdispositionen werden –damit denReferenten eventuell falsch deutend –sowohl Bedürfnisse als auch die Befriedigungs-
techniken zusammen gefasst. Das zweite Schema dient der Gegenüberstellung der herkömmlichen Situationsanalyse des Konsumverhaltens und der evolutorischen Deutung durch Ruprecht. Abb. 2: Situationsanalyse desKonsums vs. evolutorische Deutung
Situationsanalyse des Konsumverhaltens
Vollständige Präferenzskala (gegebene Indifferenzkurvenschar)
Ruprechts evolutorische Perspektive des Konsumverhaltens Phylogenese
Ontogenese Konsumoption
* gegebenem
bei
Konsumgüter-
bzw. Characteristics-Katalog
* gegebenen Produktionstechnologien
* Rationaslverhaltenshypothese
Lernen vonPräferenzen und Veränderung vonPräferenzen (Bedürfnissen und Befriedigungstechniken)
Neue Güter/Characteristics
Kulturelle (Konsum-)Dynamik infolge „kombinatorischer Neuheit“
Rückwirkungen aufPräferenzen (Bedürfnisse undBefriedigungsweisen)
Exogene Entstehung (nur) von neuen Produktionstechnologien, die zu neuen Konsumwarenkörben führen, aber weder Präferenzen noch den Güter-/ Characteristics-Katalog verändern
50
Karl Georg Zinn
Wie gesagt, wird der Begriff „Verhaltensdisposition“umfassend interpretiert, d. h. er umgreift Bedürfnisse undBefriedigungstechniken. Doch es wäre vom Referenten zu beantworten, ob er diese Interpretation akzeptiert. Daran schließt sich die Frage, warum überhaupt von „Präferenzen“gesprochen wird, wenn damit Verhaltensdispositionen gemeint sind. Wenn „Verhaltensdisposition“sowohl Bedürfnisse als auch Befriedigungsweisen meint, müsste bei der dynamischen Analyse auch zwischen derEvolution von Bedürfnissen und der von Befriedigungsweisen getrennt werden. Bei den Bedürfnissen dürften wohl keine oder nurgeringe kulturell bedingte EntwicklungenundVariationen möglich sein. Vielmehr liegen wohl „Universalien“im Sinn von Eibl-Eibesfeld vor (z. B. Lachen), also genetisch fixierte Verhaltensmerkmale. Kulturell bzw. historisch evoluierend sind hingegen die Befriedigungsweisen, also Güter, Characteristics und die Produktionstechniken; sie werden erfunden undhergestellt. Ruprecht führt aus, dass Präferenzen/Verhaltensdispositionen nicht fest angeboren, sondern vomMenschen „ gelernt“werden, also erst während derOntogenese sichtbar werden oder auch nicht –je nach den kulturellen Milieus (Ruprecht sieht darin den Unterschied zwischen der Soziobiologie undseiner Auffassung). Wie gerade bemerkt wurde, gilt diese kulturelle Plastizität aber wohl nur für die Befriedigungsweisen, nicht für die Bedürfnisse selbst, auch wenn diese auf ontogenetische Faktoren angewiesen sind, umsich „ normal“ausbilden zu können. Es sollte beim ontogenetischen Virulentwerden bzw. Virulentmachen von Dispositionen zudem zwischen den irreversiblen Prägungen und den mehr oder weniger reversiblen bzw. möglichem Vergessen ausgesetzten gelernten Präferenzen unterschieden werden, wie dies in Abbildung 1 bereits vorgenommen wurde. Ruprecht nennt diesen Vorgang des Virulentwerdens von Präferenzen kulturelle Überformung. Daran knüpft sich die Frage: Welche Präferenzen sind genetisch unverrückbar, welche sind nurdurch Prägung auszubilden undwelche sind quasi offen, d.h. können oder können nicht kulturell geschaffen werden? ZurBeschreibung vonneuen Konsumweisen wird vomReferenten derBegriff der „rekombinatorischen Neuheit“eingeführt. Handelt es sich hierbei umeinen Rückkoppelungsprozess zwischen neuen Gütern/Characteristics undneuen Ideen zur Bedürfnisbefriedigung, die zuerst erdacht, also nur in der kognitiven Vorstellung existieren, ehe sie auch in konkreten Artefakten sichtbar werden? Oder geht es darum, dass sowohl mit der wachsenden Zahl von Gütern/Characteristics und neuen technischen Herstellungsverfahren sozusagen auch eine Vervielfältigung vonKombinationsmöglichkeiten eintritt undes deshalb zurkulturellen (Konsum-) Evolution kommt bzw. kommen kann? Dieser Gedanke findet sich bei demame1972). Er beschreibt den rikanischen Institutionalisten Clarence E. Ayres (1891– technischen Fortschritt als Zunahme von technisch verwertbaren Elementen bzw.
Korreferat
zuWilhelm Ruprecht
51
Instrumenten (tools) undderüberproportional wachsenden Anzahl vonKombinationsmöglichkeiten (combinations) dieser Elemente: tool-combination-principle.1 Die große Anpassungsfähigkeit des Menschen undseine genetische Mitgift, das lernfähigste aller Lebewesen zu sein, implizieren den von Arnold Gehlen konstatierten „Instinktmangel“des Menschen. Ob es wirklich ein Mangel oder nicht vielmehr notwendige Bedingung des Humanum ist, bleibe hier offen. Doch wenn das menschliche Verhalten genetisch eng vorprogrammiert wäre, gäbe es denweiten Spielraum für das Lernen von Verhaltens- bzw. Befriedigungsweisen garnicht. Dass dasLernen-Können imSinn vonDispositionen desVerhaltens genetisch bedingt ist, hat Ruprecht zu Recht hervorgehoben. Aus der Lernfähigkeit folgt die enorme Vielfalt menschlicher Verhaltens- undEntwicklungsmöglichkeiten. Damit ist auch demKonsumverhalten ein extrem weiter Spielraum gewährt. Allerdings gilt dies keineswegs in gleicher Weise für alle Konsumbereiche und die ihnen zugrunde liegenden Bedürfnisse. Vielmehr gibt es Bedürfnisse, undzwar gerade die lebenswichtigsten bzw. phylogenetisch „primitiveren“ , die auf einen relativ schmalen Katalog von Befriedigungsmitteln beschränkt bleiben und zudem der (relativen) Sättigung, d. h. dem Ersten Gossenschen Gesetz (Sättigungsgesetz) unterworfen sind. Als nächstliegendes Beispiel seien Hunger undNahrungsgüter genannt. Hunger ist ein unveränderliches Bedürfnis, also nicht kulturell veränderbar. Kulturell bzw. historisch variieren können hierbei nur die Befriedigungsmittel, aber auch dasnurin engen Grenzen. Die große Masse derheutigen Nahrungsgüter war grundsätzlich auch schon vor 1000 oder 3000 Jahren bekannt. Ganz anders steht es dagegen mit den schier endlos variierbaren Befriedigungsmitteln des Prestigebedürfnisses (unterstellt es gibt es) und des Machtstrebens, die von der menschlichen Phantasie, Kreativität und Innovationsfähigkeit schon immer in besonderem Maße profitierten. Die Differenzierung zwischen Bedürfnisarten nach der für die Konsumevolution relevanten Spannweite der Befriedigungsmittel erscheint mit Keynes’ Unterscheidung von absoluten und relativen Bedürfnissen kompatibel2. Der/die kulturelle Einfluss/Überformung ist bei den relativen, den Geltungs-Bedürfnissen, unvergleichlich viel größer als bei denabsoluten Bedürfnissen. Fürdie menschlichen Bedürfnisse liegen verschiedene Typenlehren vor. Maslows Bedürfnispyramide ist wohl die bekannteste, aber für die Betrachtung von evolutionären Konsumprozessen erscheint auch die erwähnte Einteilung in absolute undrelative Bedürfnisse i. S. Keynes’recht fruchtbar zu sein. Evolutionsbio-
1
2
Clarence
E. Ayres: The Theory of Economic Progress, NewYork 1944; Norbert Reuter: Der Institutionalismus. Geschichte undTheorie der evolutorischen Ökonomik, 2. Aufl., Marburg 1996, S. 235f.; Karl Georg Zinn: Konjunktur undWachstum, 5. Aufl., Aachen 2002, S. 271 ff. John Maynard Keynes: Economic Possibilities for our Grandchildren (1930), in: Derselbe,
Collected Writings, Bd. 9, London-Basingstoke 1972, S. 321– 332 (deutsch: Wirtschaftliche Möglichkeiten unserer Enkelkinder, in: Norbert Reuter: Wachstumseuphorie undVerteilungsrealität, Marburg 1998, S. 115– 127; vgl. hierzu auchmeinen Beitrag indiesem Band.
52
Karl Georg Zinn
logisch betrachtet könnte zwischen artübergreifenden Fundamentalbedürfnissen
und art- bzw. umweltspezifischen (abgeleiteten) Hilfsbedürfnissen unterschieden werden3. Die beiden artübergreifenden Fundamentalbedürfnisse sind Stoffwechsel undReproduktion (Hunger-Durst und Sexualität), und als drittes Fundamentalbedürfnis käme eventuell noch die Regeneration (Ruhe, Schlaf) infrage. Wie diese Bedürfnisse befriedigt werden, ist vonArtzuArtverschieden. Die Entstehung der Arten unter demSelektionsdruck derUmwelt liefert eine Erklärung hierzu. Abschließend noch eine Bemerkung zum Zusammenhang von Konsum und Produktionsverhältnissen. Der Mensch vermag sich alternative Welten vorzustellen, sie unter Berücksichtigung von Erfahrung, technischem Wissen im weiten Sinn zu planen und gegebenenfalls auch zu realisieren. Dies betrifft selbstverständlich auch denKonsum unddenhier relevanten speziellen Konsumaspekt, die
Entstehung neuer Güter. Gefragt ist hierbei das kreative Erdenken neuer Lösungsmöglichkeiten, der sogenannten Produktinnovationen. Es erscheint mir nun notwendig, zwei Entwurfsperspektiven zuunterscheiden: Die selbstbestimmten Konsumentwürfe des Individuums, das seine Lebensqualität verbessern möchte unddie eigenständige Suche nach solchen Verbesserungen. In einer Artkonkreten Utopie wurde jüngst vondemInformatiker Ludger Wirtschaftsinformatik der l angen Frist’ die MögEversmann unter der Formel „ ‘ lichkeit erwogen, ob die Konsumenten künftig gar nicht mehr fertige Konsumgü“ ter, sondern lediglich Produktionskapazität für Konsumgüter erwerben/mieten, um sich dann maßgeschneiderte Produkte gemäß ihres Bedarfs selbst herzustellen4. Naturgemäß ist auch die „ selbstbestimmte“Konsumwahl von der Vielzahl der Sozialisationseinflüsse determiniert, undletztlich stellt sich auch hier die philosophische Frage, wie weit der Wille des Konsumenten „ frei“ist. Doch wir benutzen ja den freien, souveränen, autonom entscheidenden Konsumenten üblicherweise als Referenzmodell undnormatives Ideal. Daher erscheint die Abgrenzung zwischen selbst- und fremdbestimmter Konsumweise bzw. Konsumevolution sinn-
voll.
Die fremdbestimmten Konsumkanalisierungen haben zwar historisch undinterkulturell betrachtet verschiedene Ursachen, aber in unseren Verhältnissen dominiert die kapitalistische Profitorientierung den Wirtschaftsprozess. Abgeleitet davon wird der Großteil der kulturellen Beziehungen vomKapitalverhältnis bestimmt. Konsum und Konsumevolution sind in dieser sozialökonomischen und 3 Vgl. Karl Georg
Zinn: Bedürfnisse als Basis des Wirtschaftens –Entwicklung im sozialökonomischen Denken und Bedeutung für eine neue ökonomische Wissenschaft, in: A. Bellebaum/H. Schaaff/K. G. Zinn unter Mitarbeit von Hella Hoppe (Hg.): Ökonomie undGlück. 156; Beiträge zu einer Wirtschaftslehre des guten Lebens, Opladen/Wiesbaden 1999, S. 124– Karl Georg Zinn: Wie umweltverträglich sind unsere Bedürfnisse? Zudenanthropologischen Grundlagen von Wirtschaftswachstum undUmweltzerstörung, in: S. M. Daecke (Hg.): Ökonomie contra Ökologie? Wirtschaftsethische Beiträge zu Umweltfragen, Stuttgart/Weimar
4
62. 1995, S.31–
Ludger Eversmann: Wirtschaftsinformatik der „ langen Frist“ . Perspektiven für Menschen, Automaten undArbeit in einer lebensdienlichen Ökonomie, Wiesbaden 2003, S. 319ff.
Korreferat
zuWilhelm Ruprecht
53
kulturellen Hegemonialstruktur des Kapitalismus eingebettet. Eine evolutorische Konsumtheorie, die den kulturellen, somit historischen Einflussfaktoren auf die Präferenzen nachspürt, sollte daher vondenspezifischen Produktionsverhältnissen nicht abstrahieren.
Literatur Ayres, Clarence E.: The Theory of Economic Progress, NewYork 1944.
Bischof, Norbert: Das Rätsel Ödipus. Die biologischen Wurzeln des Urkonflikts von Intimität und Autonomie, 3.Aufl., München 1991. Eversmann, Ludger: Wirtschaftsinformatik der „langen Frist“ . Perspektiven für Menschen, Automaten
undArbeit ineiner lebensdienlichen Ökonomie, Wiesbaden 2003.
Keynes, John Maynard (1930): Economic Possibilities for our Grandchildren (1928/30), in: The Collected Writings of ~,Bd. 9: Essays in Persuasion, London/Basingstoke 1972, S. 321– 332. Reuter, Norbert: Der Institutionalismus. Geschichte und Theorie der evolutorischen Ökonomie,
2.Aufl., Marburg 1996.
. Zur Evolution der Wachsstumsgrundlagen Langen Frist“ Reuter, Norbert: Ökonomik der „
in
Industriegesellschaften, Marburg 2000.
Wie umweltverträglich sind unsere Bedürfnisse? Zu den anthropologischen von Wirtschaftswachstum undUmweltzerstörung, in: Daecke, S. M., (Hg.), Ökonomie contra Ökologie? Wirtschaftsethische Beiträge zu Umweltfragen, Stuttgart/Weimar 1995, S.31– 62.
Zinn, Karl Georg: Grundlagen
Entwicklung imsozialökonomischen Zinn, Karl Georg: Bedürfnisse als Basis des Wirtschaftens – Denken und Bedeutung für eine neue ökonomische Wissenschaft, in: A. Bellebaum/H. Schaaff/K. G. Zinn unter Mitarbeit von Hella Hoppe (Hg.), Ökonomie undGlück. Beiträge
zueiner Wirtschaftslehre desguten Lebens, Opladen/Wiesbaden 1999, S. 124– 156. 5. Aufl., Aachen 2002.
Zinn, Karl Georg: Konjunktur undWachstum,
Karl Georg Zinn Überkonsum undKonsumsättigung als Probleme reifer Volkswirtschaften Die Bezeichnung „reife“Volkswirtschaften (mature economies) geht auf den amerikanischen Keynesianer Alvin H. Hansen1 zurück. Sie versteht sich als Charakterisierung von hoch entwickelten Ökonomien, deren Wachstumsmöglichkeiten primär nachfrageseitig begrenzt werden, also nicht mehr durch unzureichende Kapitalausstattung, niedriges technologisches Niveau oder andere „ angebotsseitige“Defizite. Es stellt sich vielmehr dasProblem, die imZuge destechnischen Fortschritts steigende Produktionsfähigkeit auch durch kontinuierliches Nachfragewachstum in Anspruch zunehmen. Als Terminus technicus führte Walt W. Rostow denAusdruck „Reifestadium“zurBezeichnung dervierten Stufe seiner fünfstufigen Entwicklungstheorie ein2. Das Reifestadium geht dem Stadium des Massenkonsums voraus.3 Nachfragewachstum bedeutet vor allem Wachstum dermonetären Konsumnachfrage. Damit soll Konsum imumfassenden Sinn4 zwar nicht auf die Nachfragedimension verengt werden, aber die Konsumnachfrage bildet eine unabdingbare Voraussetzung für Beschäftigung, Erwerbseinkommen undWachstum5. Es steht außer Zweifel, dass realisierte, aber auch erwartete Einkommensverluste zu mehr oder weniger starken Konsumeinschränkungen und verändertem Konsumverhalten führen, wie in dergegenwärtigen Konjunktursituation wieder deutlich zu beobachten ist, d. h. das ausgabefähige Einkommen determiniert weitestgehend die Konsumnachfrage6. 1 Alvin H.Hansen: Full Recovery or Stagnation?, NewYork 1938. 2 Walt Whitman Rostow: The Process of Economic Growth, 2. Aufl., Oxford 1960 (deutsch: Stadien wirtschaftlichen Wachstums –eine Alternative zur Marxistischen Entwicklungstheo3
4
rie, Göttingen 1960). Die fünf Stadien umfassen 1) die traditionelle Gesellschaft, 2) dasAnlaufstadium, 3) denAufstieg, 4) das Reifestadium, 5) Zeit des Massenkonsums bzw. als andere Optionen denWohlfahrtsstaat oder die imperialistische Expansion. Vgl. Rostow, Stadien (wie Anm.2). Ulrich Wyrwa: Consumption, Konsum, Konsumgesellschaft. Ein Beitrag zur Begriffsgeschichte, in: Hannes Siegrist/Hartmut Kaelble/Jürgen Kocka (Hg.): Europäische Konsumgeschichte. Zur Gesellschafts- und Kulturgeschichte des Konsums (18. bis 20. Jahrhundert), Frankfurt a. M./New York 1997, S. 747– 762.
5 Vgl. Jochen 6
Dehio: Gesamtwirtschaftliche Bedeutung von Veränderungen der Konsumstruktur, in: RWI-Mitteilungen, 52 (2001), S. 211– 230 (hier: S. 214f.); Wolfgang König: Geschichte derKonsumgesellschaft, (VSWG Beiheft 154), Stuttgart 2000, S. 125passim. Dehio, Konsumstruktur (wie Anm. 5), S. 227 passim.
56
Karl Georg Zinn
Hansen lieferte eine breitere, teils auch erweiterte Darstellung von Keynes’ Stagnationstheorem7. Neben anderen die Nachfragedynamik abschwächenden Faktoren stehen vor allem die relative Sättigung und das „ fundamentale psychologische Gesetz“einer überproportional zumEinkommen steigenden Ersparnis im Blickpunkt. Weltumspannend betrachtet stellen Überkonsum und Konsumsättigung sowohl wirtschaftsgeografisch als auch wirtschaftsgeschichtlich „Minderheitsprobleme“dar, doch dieweltwirtschaftliche Entwicklung bzw. dieGlobalisierung wird ganz entscheidend von Überkonsum undKonsumsättigung in den „Minderheitsökonomien“beeinflusst. Dies sei etwas genauer umrissen (Abschnitt 1), ehe die zwiefache Problematik des Konsums in reifen Volkswirtschaften erörtert wird (Abschnitt 2).
1. Geografische undhistorische
Eingrenzung
1.1. Arme undreiche Hemisphäre
Wie angedeutet, betreffen die folgenden Überlegungen nurjenen Teil der Weltwirtschaft, der die „ reifen“Volkswirtschaften umfasst, also –mit wenigen Ausnahmen –die in der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklung (OECD) zusammen geschlossenen Länder. In den „ reifen“Ökonomien leben knapp 15 % der Weltbevölkerung, aber diese Minderheit verfügt über etwa drei Viertel des globalen Bruttoinlandsprodukts (BIP). Entsprechend hoch ist ihr Anteil an der globalen Marktnachfrage nach Konsumgütern.9 Auch der Großteil 7 Die erste Andeutung
einer langfristig zuerwartenden Stagnation kann bei Keynes bereits 1930 registriert werden. Ganz deutlich wird diese Prognose dann 1937 underneut 1943 formuliert. Vgl. John Maynard Keynes: Economic Possibilities for our Grandchildren (1930), in: dersel332 (deutsch: Wirtschaftliche be, Collected Writings, Bd.9, London-Basingstoke 1972, S. 321– Möglichkeiten unserer Enkelkinder, in: Norbert Reuter: Wachstumseuphorie undVerteilungs127); John Maynard Keynes: Some Economic Consequences of realität, Marburg 1998, S. 115– a Declining Population (1937), in: derselbe, Collected Writings, Bd. 14, London-Basingstoke 133; Josef Steindl: stagnation, in: John Eatwell/Murray Milgate/Peter Newman 1979, S. 123– (Hg.): The New Palgrave. A Dictionary of Economics, Bd.4, London-Basingstoke 1987, S.
474. 472–
8 Relative
9
Sättigung bedeutet, dass entsprechend demZweiten Gossenschen Gesetz die Nachfrage nach einem bestimmten Gut(Gütergruppe) nicht bis zumabsoluten Sättigungspunkt (= Schnittpunkt derGrenznutzenfunktion mitderAbszisse) zunimmt, sondern bereits vorher auf andere Güter und/oder aufdieVermögens- bzw. Ersparnisbildung verlagert wird, weil dort ein höherer Grenznutzen realisiert werden kann, als wenn der Konsum auf die bisher schon verbrauchten Güterarten beschränkt bliebe. Marktgängige bzw. kaufkräftige Konsumnachfrage bildet zwar nur eine Komponente des Gesamtphänomens “ Konsum” , aber es dürfte sich nicht nurumdie mit Abstand größte, sondern vor allem auch umdie für Wirtschaftswachstum und -entwicklung entscheidende han-
Überkonsum
undKonsumsättigung als Probleme reifer Volkswirtschaften
57
des internationalen Handels, der zwischenstaatlichen Direktinvestitionen undder grenzüberschreitenden spekulativen Kapitaltransaktionen entfällt auf die Gruppe hoch entwickelter Länder. Das globale Übergewicht der OECD steht in klarem Missverhältnis zu ihrem Anteil an der Weltbevölkerung. Wegen dieser extremen Diskrepanz hängt aber das gesamte weltwirtschaftliche Geschehen in stärkstem Maße vom Wirtschaftswachstum der Gruppe der OECD-Länder ab. Vergegenwärtigt man sich, dass –wegen der Ungleichverteilung des globalen BIP von 75 zu25 auf Reich undArm–ein Prozent Wirtschaftswachstum derOECD denabsolut gleichen Zuwachs wie ein dreiprozentiges Wachstum der nicht zur OECD gehörenden Volkswirtschaften hervorbringt, so wird deutlich, dass das globale Wirtschaftswachstum vom Wachstum der OECD-Wirtschaften dominiert wird – unddass selbst so extrem hohe Wachstumsraten, wie sie die VR China während der vergangenen beiden Jahrzehnte realisierte, den Abstand der Pro-KopfEinkommen bzw. desBIP proKopf zwischen reichen undarmen Volkswirtschaftennicht wesentlich reduzieren können, solange dasWachstum derreichen Hemisphäre nicht dauerhaft absinkt oder gar ganz ausläuft, zumal die Bevölkerung in den reichen Ökonomien kaum noch wächst, während in den armen Ländern das starke Bevölkerungswachstum noch anhält10.
1.2. Die drei wirtschaftsgeschichtlichen Phasen des 20. Jahrhunderts Wirtschaftsgeschichtlich betrachtet erreichten Überkonsum und Sättigung einen makroökonomisch bedeutsamen Umfang nicht vor dem 20. Jh. Erst von dieser Zeit an wurde relative Sättigung auch als mögliche Ursache für nachlassendes Wirtschaftswachstum undBeschäftigungsverluste eingeschätzt. Als Objekt wirtschaftstheoretischer und ethischer Deutung fanden Überkonsum und Sättigung jedoch schon weit früher Aufmerksamkeit; etwa die Entdeckung der psychischen Grundlagen relativer Sättigung im 18. Jahrhundert von Buffon11, und im 19. Jh. wurde Sättigung imSinn dessinkenden Grenznutzens (Erstes Gossensches Gesetz = Sättigungsgesetz) zumGrundstein der wertsubjektivistischen Theorie. Auch der Spätklassiker und frühe Wachstumsskeptiker John Stuart Mill meinte, dass fortlaufendes (Konsum-)Wachstum per Saldo keinen Wohlstandsgewinn mehr bräch-
te.
deln. Im Rahmen unseres Themas wird daher Konsum, soweit nicht anders vermerkt, in diesemengen Sinn dermarktgängigen Nachfrage verstanden. 10 Jürgen Leibinger: Die Linke und das Wirtschaftswachstum. Versuch einer Positionsbestim-
11
mung, Hamburg (Supplement der Zeitschrift Sozialismus 4/2003), S. 28ff.; Franz Josef Radermacher: Balance oderZerstörung. Ökosoziales Forum Europa, Wien 2002. Karl Georg Zinn: Buffons Beitrag zur Sozialwissenschaft. Die Entdeckung der messbaren
Psyche im 18. Jahrhundert unddiewertsubjektivistische Konsequenz, onalökonomie undStatistik, 181(1968), S. 343– 357.
in: Jahrbücher fürNati-
58
Karl Georg Zinn
Als geschichtliche Periode, deren zeitliche Grenzen nicht durch „runde“kalendarische Daten, sondern durch politische, wirtschaftliche, soziale undkulturelle Prozesse undderen Interdependenzen bestimmt werden, beginnt das 20. Jh. mitdemErsten Weltkrieg, undes erstreckt sich weit über dasJahr 2000, also noch über die Gegenwart hinaus. Drei Phasen lassen sich in diesem Zeitraum seit 1914 deutlich unterscheiden. Erstens die drei Katastrophenjahrzehnte von 1914 bis 1945. Zweitens die Nachkriegszeit des Wiederaufbaus, der Regeneration der internationalen Wirtschaftsbeziehungen und des bisher unübertroffenen Wirtschaftswachstums über fast drei Jahrzehnte hinweg von 1945/50 bis 1973/74. Drittens die bis heute anhaltende Abflachung des Wachstumstrends seit Mitte der 1970er Jahre mit einer über die Konjunkturzyklen anhaltenden Divergenz zwischen dem Wachstum des gesamtwirtschaftlichen (bzw. weltwirtschaftlichen) Produktionspotentials unddem dahinter zurück bleibenden Nachfragewachstum. Die heutige Unterauslastung des globalen Produktionspotentials zeigt sich nicht nuran der Unterbeschäftigung, die weltweit eine Größenordnung von 800 Millionenbis zu einer Milliarde Menschen aufweisen dürfte, sondern auch in den seit fast zwei Jahrzehnten sichtbaren hohen industriellen Überkapazitäten12. Im Vergleich zu denhohen Wachstumsraten derzweiten Phase des 20. Jahrhunderts zwischen 1945 und 1973/74 bewegt sich die OECD seit Mitte der 1970er Jahre auf einem langen Pfad niedrigen Wachstums13. Im Verlauf dieser Entwicklung haben auch die Wachstumsraten des Pro-Kopf-Konsums deutlich abgenommen. In der Europäischen Union (15 Mitglieder) fiel das jährliche Pro-KopfWachstum des Konsums von 4,8 Prozent in der Zeit 1961– 70 auf 3,3 Prozent 90 und2,1 Prozent 1991– 80 undsank weiter auf 2,4 Prozent 1981– 200014. 1971– 1945, Unterbrechung der „ normalen“Entwicklung des Kapitalismus 1914– Rückkehr zurFriedenswirtschaft undÜbergang zurStagnation Die beiden Weltkriege unddie dazwischen liegende Große Depression stellen für den historischen Wirtschaftsaufstieg seit der Industriellen Revolution nicht nur , sondern eine tiefe Krise dar–schwere Krisen hatte es auch im 19. Jh. gegeben – die drei Katastrophenjahrzehnte bedeuten eine längere Unterbrechung des „Normalverlaufs“derkapitalistischen Dynamik; eine Unterbrechung, wie es sie zuvor noch nicht gegeben hatte unddie auch bis heute (2003) nicht erneut eingetreten ist. Dies gilt für Europa in weit stärkerem Maße als für die geografisch gesehen weltkriegsfernen USA, die jedoch während der Großen Depression der 1930er Jahre für ein Jahrzehnt lang ebenfalls weit unter ihrem Produktionspotential verharrten. Die drei Katastrophenjahrzehnte brachten aber keine bloße Unterbrechung der Normalentwicklung, sondern Europa undAsien erfuhren verheerende
a)
12 James Crotty: Why There Is Chronic Excess Capacity?, in: Challenge, 45– 6 (November44. Dezember 2002), S. 21– 13 Angus Maddison: The World Economy: A Millenial Perspective, (OECD), Paris 2001. 14 European Commission (Hg.): European Economy, 2002/6 (The EU Economy: 2002 Report),
S. 301.
Überkonsum
undKonsumsättigung als Probleme reifer Volkswirtschaften
59
Zerstörungen ihres Sach- und Humankapitals, die Zerrüttung von Ordnungen, Organisationen und Institutionen. Insbesondere wurde die bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs weit fortgeschrittene internationale Arbeitsteilung in extremem Maße undfür mehrere Jahrzehnte deformiert. Dies warnicht ein bloßer Rückfall auf ein historisch früheres Niveau, sondern ein abrupter, äußerst verlustreicher Einschlag eines Meteors in die historisch gewachsene Landschaft der Weltwirtschaft, der eine extreme Abweichung vom säkularen Entwicklungskorridor des Industriekapitalismus hervorrief. Normalität und Kontinuität der kapitalistischen Entwicklung wurden sozusagen für eine ganze Generation lang durch ein anderes Verlaufsmuster ersetzt. Die demEnde desZweiten Weltkriegs folgenden Prosperitätsjahrzehnte der Regeneration kapitalistischer Normalität mit den außergewöhnlich hohen Wachstumsraten verdankten sich daher zu erheblichem Teil der Beseitigung der zuvor eingetretenen Zerstörungen, der Wiederherstellung geordneter Wirtschaftsverhältnisse auf nationaler undinternationaler Ebene, derBefriedigung des Nachholbedarfs undder zivilen Nutzung der seit den 1920er Jahren angesammelten neuen Technologien. Die beiden ersten Phasen des 20. Jahrhun1945 und die Regenerationsphase derts –die drei Katastrophenjahrzehnte 1914– 1973/74 –bilden somit einen spezifischen Zusammenhang undkönnen als 1945– Abweichungen vonbzw. Rückkehr auf einen fiktiven Referenzpfad deslangfristigen kapitalistischen Entwicklungstrends interpretiert werden. Die jüngste Phase anhaltender (relativer) Wachstumsschwäche seit Mitte der 1970er Jahre erscheint aus dieser Perspektive als Wiederaufnahme des Normalverlaufs, als die Anknüpfung andie 1914 unterbrochene Entwicklung, wobei jedoch derlangfristige Trend nicht durch exponentielles Wachstum, sondern durch abnehmende Wachstumsraten charakterisiert ist. In der langfristigen Wachstumsabschwächung erblickt die Stagnationstheorie aber gerade den normalen Gang der Wirtschaftsgeschichte reifer Volkswirtschaften.
b) Drei Konsummuster des20. Jahrhunderts? Für eine Geschichte des Konsums der entwickelten Volkswirtschaften im 20. Jahrhundert bietet die vorstehend umrissene Drei-Phasenteilung ein grobes Gliederungsschema derart, dass sich drei unterscheidbare Konsummuster bzw. Konstellationen abgrenzen lassen: 1. Konsumentzug zugunsten von Kriegführung undKonsumverluste infolge der 1945) –Massenarmut im Großen Depression der Zwischenkriegszeit (1914– technisch-wirtschaftlich fortgeschrittenen Kapitalismus. In Deutschland beispielsweise lag derKonsumstandard derbreiten Mehrheit bis weit in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg nicht weit über dem Existenzminimum15. Der Konsum in denUSAwarzwar, wie erwähnt, vondenWeltkriegen in weit geringerem Maße betroffen als der der anderen Kriegsteilnehmer, undwährend des Zweiten Weltkriegs stieg der Pro-Kopf-Konsum in Nordamerika in einer 15 Vgl. König, Konsumgesellschaft (wie Anm. 5), S. 125.
60
2.
3.
Karl Georg Zinn
Größenordnung von zehn bis 15 Prozent an16, aber die Große Depression drückte auch das amerikanische Wohlstandsniveau für ein Jahrzehnt weit unter dasLeistungspotential derUS-Wirtschaft undbeendete denkurzen Wachstumsaufschwung der 1920er Jahre. Nachholkonsum und Übergang vom lebensnotwendigen (necessities) zum gehobenen Konsumgüterbedarf (decencies) zwischen 1945/50 und 1973/74. In Westeuropa wurde der Wohlfahrtsstaat durchgesetzt; die USA erreichten dasStadium desMassenkonsums. In dieser Phase entfaltete sich verstärkt und nicht zufällig eine teils affirmative, teils kritische Betrachtung der „ Konsumgesellschaft“17,und gleich einem Donnerschlag erschütterte die Studie des Club of Rome über die Grenzen des Wachstums18 die unbefangene Konsumfreude in denreifen Volkswirtschaften. Konsum als Problem, nämlich einerseits als wachstumshemmende Konsumschwäche (Konsumsättigung) und andererseits als umwelt- und ressourcenverzehrender Konsum (Überkonsum) der reichen Länder undwohlhabenden Schichten zuLasten derArmen undderkommenden Generationen. Seit Mitte der 1970er Jahre befinden sich die „reifen“Volkswirtschaften in der Stagnation, d. h. ihr Wachstum bleibt hinter der Zunahme des Produktionspotentials zurück. Hierbei ist noch zubeachten, dass gemäß demVerdoornschen Gesetz die permanente Wachstumsschwäche auch einen verminderten Zuwachs des Produktionspotentials bzw. der Produktivität nach sich zieht19. Stagnation wird von Politikern und Öffentlichkeit jedoch nicht als Erfolg des Wirtschafts- undWohlstandswachstums der Vergangenheit positiv beurteilt, sondern im Gegenteil bemühen sich Regierungen und Unternehmen hartnäckig um die Wiederbelebung der Wachstumsdynamik. Kein unbedeutender Teil der Anstrengungen gilt dabei neuen Konsumanreizen. Die relativ gesättigten Konsumenten werden sozusagen zum„ freiwilligen“Überkonsum angehalten,
16 Her Majesty’s Stationary Office (HMSO) (Hg.): The Impact of the War on Civilian Consumption in the United Kingdom, in the United States andin Canada. A Report to the Combined Production and Resources Board from a Special Combined Committee on Non-food Consumption Levels, London 1945, S. 5 passim; Karl Georg Zinn: Preissystem undStaatsinter-
17
ventionismus. Geschichte undTheorie derprivaten Preisadministration undderPreiskontrolle in Großbritannien unddenUSA, Köln 1978, S. 41f. Wyrwa, Consumption, 1997 (wie Anm. 4), S. 756 ff; Michael Wildt: Die Kunst derWahl. Zur Entwicklung des Konsums in Westdeutschland in den 1950er Jahren, in: Hannes Siegrist/Hartmut Kaelble/Jürgen Kocka (Hg.): Europäische Konsumgeschichte. ZurGesellschaftsundKulturgeschichte desKonsums (18. bis 20. Jahrhundert), Frankfurt a. M./New York 1997, 326 (hier: 321 ff.); König, Konsumgesellschaft (wie Anm. 5), S. 439ff. S. 207–
18 Donella und Dennis L. Meadows/Jørgen Randers/ William W. Behrens III: The Limits to Growth. A Report for the Club of Rome’s Project on the Predicament of Mankind, NewYork 1972.
19 P. J. Verdoorn: Fattori che regolano lo sviluppo della produttività del lavoro, in: L’Industria, 1 53; derselbe: 1980, Verdoorn’s Law in retrospect: a comment, in: Economic (1949), S. 45– Journal, Bd. 90, S. 382– 385.; J. S. L. McCombie: Verdoorn’s Law, in: Eatwell, Palgrave, Bd.4 806. (wie Anm. 5), S. 804–
Überkonsum
undKonsumsättigung als Probleme reifer Volkswirtschaften
61
um Wachstum zu stimulieren. Diese jüngste Phase der Stagnation bot eine provozierende empirische Vorlage für die Diskussion des Sättigungsproblems vor allem in den 1980er Jahren20. Doch diese Debatte vermochte nicht, die Stagnationstheorie aus ihrem Schattendasein zu holen, so dass dieser erklärungstüchtige Ansatz sowohl bei der Krisendiagnose als auch in der wirtschaftspolitischen Therapie bisher weitgehend ignoriert wird. Letztlich dürften hierfür ideologische Gründe ausschlaggebend sein, dadas Stagnationstheorem das Selbstverständnis der kapitalistischen Marktwirtschaft prinzipiell in Frage stellt, nämlich unbegrenztes Wachstum hervorbringen zu können. Vordergründig mögen die Darstellungsform des Stagnationstheorems als „ anschauliche“Theorie und ihre Unvereinbarkeit mit dem herrschenden Paradigma der ökonomischen Theorie, dem Arrow-Debreu’schen Gleichgewichtsmodell, erklären, warum es gerade bei der Mehrheit der heute lehrenden und forschenden Ökonomen auf vehemente Ablehnung stößt und auf Ressentiments trifft.21
20 Rigmar
21
Osterkamp: Marktsättigung oder Ideenlosigkeit? Zu einer Tagung in Basel, in: IfoSchnelldienst, 36 (Nr. 32/83 vom 17. Nov. 1983), S.3f.; Roland Döhrn: Sättigungsgrenzen beim Privaten Verbrauch? –Versuch einer empirischen Bestimmung, in: RWI-Mitteilungen, 3 (1985), S. 125– 36/2– 145; Karl Georg Zinn: “Sättigung”im gesamtwirtschaftlichen Zusam357; Hans Möller: „Wirtmenhang, in: Jahrbuch für Sozialwissenschaft, 35/1 (1984), S. 343– schaftliche Sättigung“im Lichte der ökonomischen Theorie, in: Ifo-Studien, 30/3 (1984), S. 192; Josef Falkinger: Sättigung. Moralische undpsychologische Grenzen desWachstums, 170– Tübingen 1985; Wolfgang Schöll: Konsumentenverhalten in derBundesrepublik Deutschland 1982. Eine empirische Untersuchung der Sättigungshypothese, Thun/Frankfurt a. 1958– M.1985; Rudolf vonBenningsen-Foerder (Interview): „Viele wichtige Märkte sind gesättigt“ . Veba-Vorstandsvorsitzender Rudolf v. Bennigsen-Foerder über Wachstum, Beschäftigung und 65; Otfried Hatzold: Bevölkerungsrückgang Konjunktur, in: Der Spiegel, Nr. 1/1985, S. 61– und Sättigungstendenzen auf den Konsumgütermärkten, in: Marketing, 9 (1987), S. 51– 59; Kurt W. Rothschild: „ Das größte Glück der größten Zahl“oder Warum sind wir nicht glücklicher?, in: B. Gahlen u. a. (Hg.): Wirtschaftswachstum, Strukturwandel und dynamischer Wettbewerb. Ernst Helmstädter zum 65. Geburtstag, Berlin 1989, S. 359– 369; Herbert Schaaff: Sättigung und Stagnation aus betriebs- und volkswirtschaftlicher Sicht, in: Wirtschaftswissenschaftliches Studium (WiSt), 19 (1990), S. 123– 128. Vgl. zu einer scharfen Kritik an der herrschenden gleichgewichtstheoretischen „Formaltheorie“ die Polemik desamerikanischen Theoriehistorikers Mark Blaug. Mark Blaug: Disturbing Currents in Modern Economies, in: Challenge, 41– 34. ZumUnbeha3 (Mai/Juni 1998), S. 11– gen über „weltfremde“Formalisierung vgl. auch Wassily Leontief: Theoretical Assumptions andNonobserved Facts, in: American Economic Review, 61– 7. 1 (März 1971), S. 1–
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Karl Georg Zinn
2. Daszweifache Konsumproblem 2.1. Ohne Konsumwachstum kein Wirtschaftswachstum inFriedenszeiten Ohne Wirtschaftswachstum gerät das kapitalistische Wirtschaftssystem in eine mehr oder weniger tiefe Krise. Die herausragenden Krisenerscheinungen sind
(Massen-)Arbeitslosigkeit, Investitionsverfall, Insolvenzen, schwindende Gewinne, sinkende Einnahme deröffentlichen Hände undParafisci mitentsprechendennegativen Folgen für die Sozialausgaben unddie öffentlichen Leistungen einschließlich dermateriellen undimmateriellen Infrastrukturinvestitionen. Die Krise provoziert jene als „ Konsolidierung“deklarierte Spar- und Verlagerungspolitik deröffentlichen Hände: Einsparen vonöffentlichen Gütern undPrivatisierung vor allem meritorischer Güter, also deren Rückverwandlung in private Güter. Dass dieser seit etwa zwei Jahrzehnten in denmeisten OECD-Ländern zuregistrierende Trend sehr weitreichende Folgen für den Konsum im umfassenden Sinn haben muss, liegt auf der Hand. Nicht zuletzt sind zwei äußerst bedenkliche Entwicklungen mit der forcierten Entstaatlichung bzw. Privatisierung verbunden: erstens zunehmende Ungleichheiten, da die Umverteilung durch öffentliche/meritorische Güter reduziert wird; zweitens bewirkt die Privatisierung häufig Qualitätsverschlechterungen, insbesondere kulturelle Güter werden zunehmend trivialisiert und banalisiert (Beispiel: Zwang zur Niveausenkung öffentlicher Medien unter dem Konkurrenzdruck der privaten Anbieter und der Übernahme des Evaluierungskriteriums „ Einschaltquoten“durch die politischen/parlamentarischen Gremien)22.
Wie immer die Entstehung vonKrisen erklärt wird–bekanntlich gibt es eine Fülle einschlägiger Theorien, von denen sich einige widersprechen –so lässt sich an einem sehr simplen, grundsätzlichen Sachverhalt nicht zweifeln: In einer Wirtschaftskrise fehlt dieNachfrage, umVollbeschäftigung bzw. volle Auslastung des Produktionspotentials zu gewährleisten. Konjunkturelle Nachfrageschwäche beschränkt sich auf die Abschwungsphase bzw. Rezession, wird aber im folgenden Aufschwung wieder überwunden. Es handelt sich also umeine vorübergehende Erscheinung. Bleibt die Nachfrage hingegen im langfristigen Trend hinter dem Wachstum des Produktionspotentials (Produktion auf Vollbeschäftigungsniveau) zurück, so handelt es sich um stagnationsbedingten Nachfragemangel23. Dieser Typus von Nachfrageschwäche bewirkt unvermeidlich eine entsprechende Abschwächung des langfristigen gesamtwirtschaftlichen Wachstums. In der Folge 22 Vor über einem viertel Jahrhundert hat Tibor Scitovsky auf die „Banalisierung derKünste“in dermodernen Konsumgesellschaft hingewiesen, dieervorallem aufdiekonkurrenzgetriebene Sucht nach demImmer-Neuen zurückführt. Vgl. Tibor Scitovsky: AnInquiry into Human Satisfaction andConsumer Dissatisfaction, Oxford/Toronto 1976, S. 258ff. 23 Hermann Bartmann: Konjunkturelle und langfristige Nachfrageschwäche aus keynesscher 44. Sicht, in: Jahrbuch für Sozialwissenschaft, 40 (1989), S. 28–
Überkonsum
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63
wird dasNachfragewachstum dann mehr undmehr nicht mehr durch relative Sättigung, sondern durch die Kaufkraftverluste infolge steigender Arbeitslosigkeit beeinträchtigt, so dass retrospektiv Sättigung nurnoch als Initialzündung des sich selbst verstärkenden Wachstumsverlustes erscheint.
2.2. Gibt es langfristigen, sättigungsbedingten Nachfragemangel?
Die empirischen Befunde zumlangfristigen Wachstum in den OECD-Ländern – undabhängig vonihnen auch in derübrigen Welt –zeigen für dashalbe Jahrhundert nach Ende des Zweiten Weltkrieges im Trend sinkende Wachstumsraten24. Dies gilt sowohl für dasWachstum des BIP als auch des BIP pro Kopf. Empirische Analysen legen zudem die Hypothese nahe, dass die Wachstumsrate einer Volkswirtschaft im langfristigen Mehrjahresdurchschnitt seit 1945/50 um so höher (niedriger) ausfiel, je niedriger (höher) das Ausgangsniveau (gemessen mit dem BIP pro Kopf der betreffenden Volkswirtschaft) zu Beginn der Untersuchungsperiode war25. Abbildung (1) verdeutlicht dies schematisch. Abb. 1: Wachstumsraten inAbhängigkeit vomAusgangsniveau einer (fortgeschrittenen) Volkswirtschaft
Die unterschiedlichen Ausgangsniveaus können zwar die Wachstumsunterschiede zwischen verschiedenen (industrialisierten) Ländern im Sinn der These von der nachholenden Entwicklung erklären, d. h. die Nachzügler treten als Nachahmer der Pioniernationen auf, undnach Ende des Aufholprozesses gleichen sich die 24 25
Maddison, World Economy (wie Anm. 11); A. G. Kenwood/A. L. Lougheed: The growth of the international economy 1820– 2000. An introductory text, 4. Aufl., London/New York, 1999, S. 308 passim. Andrea Bassanini/Stefano Scarpetta: The Driving Forces of Economic Growth: Panel Data
[xxx] Evidence for the OECD Countries, OECD Economic Studies, No. 33, (Paris) 2001/II, S. 12.
64
Karl Georg Zinn
Wachstumsraten (auf einem niedrigeren Niveau) an, aber damit ist noch keine Erklärung dafür gegeben, warum es überhaupt zu rückläufigen Wachstumsraten kommt, warum also auch die „ Pioniere“abnehmende Wachstumsraten aufweisen. Eine häufig angebotene Erklärung unterstellt eine vermeintliche Innovationsschwäche. Es wirdvermutet oder auch suggeriert, es gäbe zuwenige Prozess- und insbesondere zu wenige Produktinnovationen in der jüngeren Vergangenheit, womit die Zeit seit den 1970er Jahren gemeint ist. Insbesondere in Europa geisEurosklerose“durch Medien undwissenschaftterte zeitweilig dasGespenst der „ liche Konferenzen26. Doch gerade in diese Jahrzehnte anhaltender Wachstumsabschwächung fallt die sogenannte „ mikroelektronische Revolution“ . Es handelt sich umeine Schlüsseltechnologie, der sich die Qualifizierung als „Basisinnovation“wohl kaum absprechen lässt. Registriert mandie vielen neuen Produkte und Rationalisierungsmöglichkeiten, diejener neuen Technologie zu verdanken sind, so fehlen plausible Belege –vonwissenschaftlich überzeugenden ganz zuschwei, dass die Innovationsfähigkeit in derjüngeren Vergangenheit gegenüber den gen– ersten Jahrzehnten nach demZweiten Weltkrieg erheblich zurückgefallen ist. Der Augenschein spricht eher für das Gegenteil. Die Vermutung, ein Mangel an Produkt- undProzessinnovationen sei für die Wachstumsabflachung während der vergangenen zwei bis drei Jahrzehnte ursächlich, vermag nicht zu überzeugen. Besonders klar wird etwa ammakroökonomischen Krankheitsfall Japan, dass die tiefe Krise einer der technologisch höchstentwickelten Volkswirtschaften, die inzwischen über zehn Jahre währt, überhaupt nichts mit Innovationsdefiziten undMangel an internationaler Wettbewerbsfähigkeit zu tun hat. Eine ganz andere Frage betrifft jedoch die eventuell verminderte Konsumattraktivität der jüngeren Produktinnovationen in „ reifen“Volkswirtschaften. Es fragt sich, ob Produkt- undProzessinnovationen bzw. neue und/oder preiswertere Güter gegenwärtig gegen höhere Hürden auf den Märkten ankämpfen müssen als in den ersten Nachkriegsjahrzehnten, ob also sättigungsbedingte Wachstumshemmnisse bestehen, die es nach demZweiten Weltkrieg kaum und zuvor ohnehin nicht gegeben hatte. Sinkende Preis- undEinkommenselastizitäten derNachfrage sindjedenfalls charakteristisch für reife Märkte. Auch die seit längerem zu beobachtende Verschiebung vomWachstums- zumVerdrängungswettbewerb sowie die vermehrt aus absatzpolitischen Gründen vollzogenen Fusionen zeugen von der tiefgehenden Veränderung der globalen Angebots-NachfrageKonstellation. Diese nachfrageseitige Argumentationslinie in der Diskussion über die Ursachen des Wachstumsrückgangs reifer Volkswirtschaften wird amentschiedensten und auf historisch fundierter theoretischer Grundlage von der Keynes-Hansenschen Stagnationstheorie verfochten. Im Unterschied zu ex-post-Erklärungen hat sie dennicht zu überschätzenden wissenschaftstheoretischen Vorteil, die spätere
26 Ifo-Institut: Innovationsschwäche in der Bundesrepublik Deutschland? (Bericht über die 35. Jahresversammlung des Ifo-Instituts am28. Juni 1984), in: Ifo-Schnelldienst, Nr. 24/84, vom 20. 27. August 1984, S. 3–
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Wachstumsabschwächung derreifen Volkswirtschaften Jahrzehnte im voraus theoretisch analysiert und auf dieser Grundlage eine entsprechende Langfristprognose abgegeben zuhaben27. Dadie Stagnationsprognose von der empirischen Entwicklung bestätigt wurde, bedeutet diese Bestätigung zugleich eine (wenn auch stets nur vorläufige) Bewährung der der Prognose zugrunde liegenden Theorie, also des Keynesschen Theoriegebäudes. Es würde hier zu weit führen, die Theorieelemente detaillierter darzustellen28. Wesentlich ist Keynes’ spätestens seit 1930 nachweisbare Grundüberlegung, dass imZusammenwirken vontechnischem Fortschritt undallmählicher Sättigung der „absoluten Bedürfnisse“29die Konsumdynamik nachlassen wird, sofern nicht starkes Bevölkerungswachstum und/oder große Kriege diesen Entwicklungsverlauf unterbrächen30. In der auch heute noch wenig bekannten Langfristprognose von 194331 fasste Keynes seine theoretischen Einsichten dahingehend zusammen, dass nach Kriegsende eine Entwicklung in drei Phasen einträte: In der ersten Phase bewirke eine inflationäre Übernachfrage rasche Produktions- und Beschäftigungszunahmen; die folgende zweite Phase brächte ein relativ stabiles Vollbeschäftigungsgleichgewicht, das lediglich gewisse antizyklische Konjunkturpolitik erfordere; mit der dritten Phase begänne aber die (anhaltende) Stagnation infolge abnehmender Nachfragedynamik. Diese Stagnationsprognose wurde unabhängig von Keynes’theoretischer Vorgabe 1949 von Jean Fourastié im Rahmen seiner Theorie des langfristigen Strukturwandels reproduziert32. Auch Fourastié gründete seine Stagnationsprognose auf das Zusammenwirken von (produktivitätssteigerndem) technischem Fortschritt undrelativer Konsumsättigung. Ohne relative Sättigung würde der Absatz einer Branche bzw. eines ganzen Sektors wie der Landwirtschaft oder der Industrie mit steigenden Durchschnittseinkommen auch kontinuierlich wachsen, so dass es zu kei27 Keynes, Declining Population (wie Anm. 5); Roy F. Harrod: The Possibility of Economic Satiety. Use of Economic Growth for Improving the Quality of Education and Leisure, in: Committee for Economic Development (Hg.): Problems of United States Development, Bd. I, NewYork 1958, S. 207– 216. 28 Bartmann, Nachfrageschwäche aus keynesscher Sicht (wie Anm. 21); Karl Georg Zinn: Die Langfristperspektive der Keynesschen Wirtschaftstheorie, in: Das Wirtschaftsstudium 9 (1998), S. 926– (WISU), 27/8– 935. 29 Keynes unterscheidet „absolute“und„relative“Bedürfnisse. Erstere sind unabhängig vonder Beurteilung des Individuums durch Dritte undgenügen dem Sättigungsgesetz. Relative Bedürfnisse zielen darauf, sich von seinen Mitmenschen abzuheben, sich herauszustellen, Distinktion zu gewinnen unddergleichen Prestige- undDemonstrationsneigungen zu folgen. Relative Bedürfnisse sind somit definitionsgemäß nicht sättigungsfähig, sofern alle Mitglieder einer Gesellschaft steigende Einkommen erfahren („ ). Fahrstuhleffekt“
(Keynes, Possibilities; wieAnm. 5). Jedoch lassen sich relative Bedürfnisse auch auf anderen Wegen denn des nachfragewirksamen Konsums befriedigen (u. a. durch Vermögensbildung, also Ersparnis). 30 Keynes, Possibilities (wie Anm. 5).
31 John Maynard Keynes: The Long-Term Problem of Full Employment (1943), in: Derselbe, 325. Collected Writings, Bd. 27, London-Basingstoke 1980, S. 320– 32 Jean Fourastié: Die große Hoffnung des 20. Jahrhunderts (1949), 1. Aufl., Köln-Deutz 1954.
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nemStrukturwandel käme. Nursoweit –daswarFourastiés „Große Hoffnung des 20. Jahrhunderts“–bestimmte Produktionen, nämlich Dienstleistungen, keine Produktivitätssteigerung erführen, würden (hier) die Sättigungsgrenzen nicht erreicht, undes wäre schier unbegrenztes Beschäftigungswachstum möglich. Abb. 2: Produktivitätsentwicklung, Nachfrage undBeschäftigung
Gegen die makroökonomische Anwendung des Sättigungsgesetzes durch die Stagnationstheorie wurde immer wieder die bereits vondenklassischen Nationalökonomen gesetzte Prämisse derUnbegrenztheit derBedürfnisse ins Feld geführt. Doch selbst wenn diese Annahme zutreffen sollte, so heißt das keineswegs, dass auch die nachfragewirksamen Konsumbedürfnisse unbegrenzt sind, wie u. a. von Reuter ausführlich dargelegt wurde33. Empirisch ist zudem festzustellen, dass es trotz einer Fülle vonInnovationen undintensiven Marketingaktivitäten derIndustrie bzw. des sekundären Sektors (i. S. der Fourastiéschen Strukturtheorie) nicht gelungen ist, die Anteile an der gesamtwirtschaftlichen Beschäftigung und am BIP zu halten, sondern die Konsumnachfrage verschob sich –prognosegemäß – auf Dienstleistungen. In demMaße, in demauch Dienstleistungen der Rationalisierung ausgesetzt sind, dürfte sich auch hier das Schicksal der beiden anderen Sektoren –Landwirtschaft und Industrie –wiederholen: Nach einer mehr oder weniger langen Nachfrage- und Beschäftigungsexpansion in der ersten Phase,
33
Norbert Reuter: Ökonomik der „ Langen Frist“ . Zur Evolution Industriegesellschaften, Marburg 2000.
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der Wachstumsgrundlagen in
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folgen relative Sättigung undStagnation34. Bei anhaltendem Produktivitätswachstum sinkt dann zwangsläufig die Beschäftigung in der betreffenden Produktion (Abb. 2), und es treten entsprechende Einkommensverluste ein. Damit ergeben sich weitere Nachfragesenkungen nunmehr infolge derEinkommensrestriktionen,
so dass eine Abwärtsspirale inGang gesetzt wird.
2.3. Bedürfnisbefriedigung durch Nichtkonsum vonEinkommen Zukunftsvorsorge gehört zu den anthropologischen Grundmerkmalen, undSorge stellt ein Bedürfnis dar, wenn die üblichen Definitionskriterien für ein Bedürfnis herangezogen werden: Innere Spannung durch Mangelempfindung und das Bestreben, diesen unbehaglichen Zustand zu beseitigen. Die Sorge umdie künftige Lebenslage führt zumVorsorgeverhalten, das sich u.a. in Ersparnis bzw. der Vermögensbildung niederschlägt. Ersparnisbildung befriedigt also ein originäres Bedürfnis, das zu allen Konsumbedürfnissen im landläufigen Sinn konkurriert. Daher bedarf es auch gar keines besonderen (Zins-)Anreizes, um Einkommensempfänger zumSparen zu bewegen. Auch die Deutung des Sparens als Konsumverzicht ist daher unzulänglich. Umgekehrt könnte Konsum, insbesondere Überkonsum, auch als Verzicht aufZukunftsvorsorge interpretiert werden. Keynes lieferte in der „ Allgemeinen Theorie“eine eingehende Analyse der Sparmotive35. Er sah in diesem anthropologisch so bedeutsamen Sachverhalt der zukunftsbezogenen Einkommensverwendung, also des Sparens, ein „ fundamentales psychologisches Gesetz“wirksam. Keynes hatte hierin allerdings einen bedeutenden Vorläufer, dendeutschen Ökonomen Lujo Brentano, so dass jenes Gesetz dogmengeschichtlich korrekt auch als „Brentano-Keynessches Gesetz“bezeichnet werden könnte36. Ersparnisbildung befriedigt ein eigenständiges Bedürfnis, steht wie gesagt in Konkurrenz zu den Konsumbedürfnissen im üblichen Sinn. Relative Sättigung undsteigende Ersparnisse treten synchron als Folge von Einkommens- bzw. Wohlstandszunahmen ein. Damit ergibt sich aber ausKeynesscher Sichtweise –undimUnterschied zurklassisch-neoklassischen Auffassung – , dass freiwillige Ersparnis undfreiwillige Investition immer stärker divergieren, da gerade die relative Sättigung die Investoren zur Vorsicht bei Erweiterungsinvestitionen anhält, wodurch die Wahrscheinlichkeit weiter abnimmt, dass freiwillige Ersparnis und freiwillige Investition auf Vollbeschäftigungsniveau überein-
34 Karl 35
Georg Zinn: Jenseits der Markt-Mythen. Wirtschaftskrisen: Ursachen und Auswege, Hamburg 1997, S. 98ff. John Maynard Keynes: The General Theory of Employment, Interest andMoney (1936), Lon-
don 1964.
36 Lujo Brentano: Versuch einer Theorie der Bedürfnisse, Sitzungsberichte der KöniglichBayerischen Akademie derWissenschaften, Philos.-philol. und. hist. Klasse, Nr. 10, München 1908; Karl Georg Zinn: Keynes’ “fundamentales psychologisches Gesetz”und dessen Vorwegnahme von Lujo Brentano, in: Zeitschrift für Wirtschafts- undSozialwissenschaften, 113 (1993), S. 447– 459.
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stimmen. Der sättigungsbedingte Nachfragemangel wird also beim Wirksamwerden des Brentano-Keynesschen Gesetzes noch erhöht. Der historische Prozess intensiven Wirtschafts- undWohlstandswachstums verändert eben die Voraussetzungen weiteren Wachstums auf der Nachfrageseite derart, dass sich Stagnation einstellt. Hierzu korrespondiert dieAusweitung undVerfeinerung desMarketings. Die augenfällige Veränderung im Tenor der Werbebotschaften führt von der konservativen“Hervorhebung handfester Gebrauchswerte derWaren fort hinzur „ Stimulierung von Demonstrationsneigung, Spieltrieb, Neugier und Interesse am Ausgefallenen, dassich als „neu“ präsentiert. Die tatsächliche Kombination vontraditionellem Profitsystem undwachsen„ demWohlstand mußte sich daher auf andere Weise vollziehen. Statt das Produktionsgeschehen an der Nutzenfunktion auszurichten, stellte man sich darauf ein, dieNutzenfunktion denErfordernissen derProduktionsdynamik anzupassen, d. h. denSättigungserscheinungen entgegenzuwirken. Waren imalten System dieNutzenfunktionen im wesentlichen vorgegeben, an denen sich eine absatzhungrige Produktion profitabel orientieren konnte, so mußten nunimmer mehr die Nutzenfunktionen zu Variablen gemacht werden, um eine profitable Produktion zu ermöglichen. Um es kraß auszudrücken: Im Unternehmenssektor verschoben sich die Gewichte radikal vonder>Produktion< zum>Marketing< undsehr vereinfachend könnte mansagen, daß die Produktionsabteilung Güter undDienstleistungen produziert, die Marketingabteilung hingegen neue Bedürfnisstrukturen und Nutzenfunktionen.“37 Die empirischen Belege für das Brentano-Keynessche Gesetz sind zwar – auch abgesehen vom Sonderfall der USA während derjüngsten Vergangenheit – nicht durchgehend eindeutig, aber über den längerfristigen Zeitraum seit dem Zweiten Weltkrieg zeigte sich imTrend ein Anstieg der Sparquote. Zudem unterstellt jenes Gesetz Vollbeschäftigung, die seit über zwei Jahrzehnten nicht mehr besteht. Es lässt sich daher auch nicht empirisch feststellen, wie hoch die Sparquote unter Vollbeschäftigungsverhältnissen ausfallen würde. Das Gesetz bildet jedoch gerade einen Teil der Erklärung, warum „ reife“Volkswirtschaften das
Vollbeschäftigungsziel verfehlen.
2.4. Kann sättigungsbedingte Konsumschwäche kompensiert werden?
Die Vieldimensionalität des Konsums und seine Aufladung mit Sinn undWeltdeutungspotential38, die vor allem vonderkonsumgeschichtlichen undkonsumsoziologischen Forschung aufgedeckt wurden, verbietet es selbstverständlich, wie 37 Rothschild: Glück der großen Zahl (wie Anm. 15).
38 John Brewer: Was können wir aus der Geschichte der frühen Neuzeit für die moderne Konsumgeschichte lernen?, in: Hannes Siegrist/Hartmut Kaelble/Jürgen Kocka (Hg.): Europäische Konsumgeschichte. Zur Gesellschafts- undKulturgeschichte des Konsums (18. bis 20. Jahr74. hundert), Frankfurt a. M./New York 1997, S. 51–
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schon eingangs bemerkt, Konsum „nur“ als Nachfragegröße oder noch enger: als private kaufkräftige Nachfrage zu verstehen.39 Jedoch ist der Nachfrageaspekt der ökonomisch entscheidende. Er dominiert insofern die anderen Funktionen des Konsums, als diese weitgehend vomkonsumierbaren Einkommen abhängen, und dies wiederum wird eben nurproduziert, wenn entsprechende Nachfrage auftritt. Alle individualpsychologischen, sozialen, kulturellen, weltanschaulichen, ideologischen unddergleichen Reproduktionsfunktionen desKonsums verlieren weitgehend ihre materielle Grundlage, wenn die Funktion des Konsums als Nachfrage im gesamtwirtschaftlichen Kreislauf ausfällt. Nachfrageschwäche bedeutet Krise, Wachstumseinbuße, Beschäftigungsrückgang undEinkommensverlust. Die gesamtwirtschaftliche Nachfrage wird im allgemeinen in vier Aggregate unterteilt: privater Konsum (C), private und öffentliche Investition (I), Staatsverbrauch (A) undAußenbeitrag (Export –Import = X –M). In der elementaren Definitionsgleichung für das Bruttoinlandsprodukt (Y) stellt sich das wie folgt dar
M) Y = C + I + A + (X –
Der private Konsum bildet das größte Aggregat in allen Volkswirtschaften. Beispielsweise betrug der Konsumanteil am BIP zu Beginn des 21. Jahrhunderts in Deutschland etwa 57 %, in den USA etwa 66 % undim OECD-Durchschnitt 62 %40. Der Konsumanteil ist in der OECD seit mehr als einem Jahrzehnt recht stabil.41 Eine langfristige Abschwächung des Konsumwachstums kann zwar (modelltheoretisch) durch Ausweitung der drei anderen Nachfragekomponenten kompensiert werden, aber aus folgenden Gründen ist dasauf längere Sicht keine sehr realistische Möglichkeit: • Zwischen Konsum- undInvestitionsentwicklung besteht eine langfristige Abhängigkeit gemäß der Akzeleratorbeziehung: I = f(Δ C). Hierin kommt die plausible Prämisse zumAusdruck, dass Investitionen (jedenfalls zumgrößten Teil) auf künftigen Konsum gerichtet sind. Wenn nachlassendes Konsum39 Die sogenannte
private Marktentnahme betrifft nur die „ . Konsum im weiten privaten Güter“ Sinn umfasst aber auch die Inanspruchnahme von öffentlichen undmeritorischen undselbstverständlich freien Gütern. Weiterhin wären in einweit gefasstes Konsumverständnis auch der Nutzen sowie Schaden durch externe Effekte einzubeziehen, ob sie nunvon der Produktion oder demKonsum Dritter ausgehen. Die Blumen in Nachbars Garten oder die erzieherischen Wirkungen von Primärgruppen, des öffentlichen Bildungswesens undanderer Sozialisationsagenturen –etwa durch die Erziehung zu Freundlichkeit, Gelassenheit, Toleranz etc. –kommenmitihren externen Effekten Dritten zugute undgehören zumKonsum i. w. S. 40 Weltbank (Hg.): Weltentwicklungsbericht 2001/2002. Bekämpfung derArmut, Bonn 2001, S. 351 (Veröffentlichung für die Weltbank). 41 Leicht rückläufig in der OECD sind die BIP-Anteile des Staatsverbrauchs (1990: 16 %; 1999: 15%) undder Bruttoinlandsinvestitionen (1990: 23 %; 1999: 21 %), während Ausfuhr bzw.
Außenbeitrag entsprechend steigende Werte aufweisen (Weltbank, Weltentwicklungsbericht
2001 (wie Anm. 31), S. 351).
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wachstum erwartet wird, werden die Investoren auf Kapazitätserweiterungen verzichten. Selbst wenn verstärkt Rationalisierungsinvestitionen vorgenommenwerden, dürfte dies kaum genügen, umdasInvestitionsvolumen auch nur stabil zu halten, geschweige denn anhaltendes Investitionswachstum zu gewährleisten, zumal auch Rationalisierungsinvestitionen in vielen Fällen kapazitätserweiternde Effekte aufweisen. • Eine Kompensation abnehmenden Konsumwachstums durch einen Anstieg des Außenbeitrags bedeutet, die Schwäche der Binnenmarktnachfrage durch Exportüberschüsse auszugleichen. Auch demsind Grenzen gezogen. Ein positiver Außenbeitrag setzt voraus, dass andere Länder entsprechende Importüberschüsse, also i. d. R. Leistungsbilanzdefizite, realisieren undhierfür eine Kumulation ihrer Außenverschuldung hinnehmen (wollen undkönnen). Nur eine Hegemonialmacht wie die USA kann es sich erlauben, zum größten Schuldner derWelt zuwerden, ohne eine inflatorische Entwertung ihrer Währung zu riskieren. Es mag der Hinweis auf die Empirie genügen, umdiesen Weg als Irrweg zu erkennen: Weder Japan noch Deutschland vermochten, durch ihre hohen positiven Außenbeiträge die binnenwirtschaftlichen Nachfrageprobleme zulösen. • Schließlich käme –im Sinn der antizyklischen Politik à la Keynes –eine unbeachtet der exstaatliche Nachfragesteigerung in Frage. Auch hier sind – tremen politischen undideologischen Widerstände gegen eine höhere Staatsquote in Friedenszeiten – insofern Grenzen gezogen, als die Finanzierung steigender Staatsausgaben wegen der steigenden Zinsbelastung auf Dauer nicht über Kreditaufnahme verlaufen kann. Eine aus Steuererhöhungen finanzierte Ausgabensteigerung des Staates vermag zwar –demHaavelmo-Theorem (balanced budget multiplier) gemäß –positive Wachstumswirkungen auszulösen, aber in einer offenen Volkswirtschaft undbei internationalem „Standortwettbewerb“mittels Steuervorteilen werden Steuererhöhungen Kapitalabflüsse ins Ausland und abnehmende Binnenmarktinvestitionen provozieren, und heute genügt oft schon die bloße Drohung mit einer Produktionsverlagerung ins Ausland, um Regierungen selbst von leistungsgerechter Besteuerung abzudrängen. • Gegen (relative) Sättigung lässt sich selbstverständlich stets ein deus ex machina, die „attraktive Produktinnovation“ , ins Feld führen. Dies warauch immerwieder derFall, wenn –wie etwa beim Aufleben derSättigungsdebatte in den 1980er Jahren –die Kritiker der Sättigungshypothese Zuflucht bei neuen Produkten, der Innovationsfähigkeit undden „ findigen“Unternehmern suchten undSättigung einem Mangel angebotsseitigen Einfallsreichtums zuschrieben42. Doch kann angesichts der mikroelektronischen Revolution wirklich ein Mangel“an Innovationsfähigkeit konstatiert werden? Die einleuchtendere „ undempirisch fundiertere Erklärung der Konsumabschwächung liefert dann doch dasStagnationstheorem bzw. die Sättigungsthese.
42Döhrn:
Sättigungstendenzen; Möller: Wirtschaftliche Sättigung (beide
wieAnm. 15).
Überkonsum
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Zusammenfassend ist festzuhalten, dass sich die aus einer langfristigen Konsumschwäche ergebenden Wachstumshindernisse nicht durch irgendwelche Kompensationsmanöver beheben lassen. Nur eine Kriegsökonomie wäre dazu in der Lage. Die Unternehmer (Anbieter) werden zwar weiterhin alle Möglichkeiten ausschöpfen (müssen), um den Konsum zu beleben, aber ihre Chancen stehen insgesamt schlecht. Intensivierung des Marketings, verstärkte Anstrengungen, neue Produkte zu kreieren, Ausweitung von Konsumkrediten undKonsumgüterleasing, aber auch Maßnahmen zurBeschleunigung des Ersatzbedarfs mittels modischer, technologischer oder anderer Methoden der „ künstlichen“Veralterung von Produkten werden gegen „widerspenstige“Konsumenten ins Feld geführt, aber das vermag den langfristigen Trend nachlassender Konsumdynamik allem Anschein nach nicht zubrechen. Als Gegenreaktion zujenen Praktiken der Konsumstimulation entstand inzwischen auch noch die kaum mehr überschaubare konsumkritische Literatur43, und jüngst wurde der Überkonsum sogar als „ Affluenza“ , als eine ArtKonsumkrankheit, diagnostiziert44.
2.5. Überkonsum –konsumethisches Konstrukt oder Folge vonFehlinformationen über die Wohlstandseffekte des Wirtschaftswachstums?
Diein derThemenformulierung angedeutete Paradoxie dessynchronen Auftretens eines Zuviel undeines Zuwenig stellt ein charakteristisches Merkmal reifer, kapitalistischer Ökonomien dar. Das Zuviel erklärt sich gerade aus demZuwenig, aus der relativen Sättigung. Denn das kapitalistische Wirtschaftssystem –und darin liegt wohl sein herausragendes historisches Charaktermerkmal –erzeugt Wachstum nicht als verzichtbaren Nebeneffekt, sondern es ist prinzipiell auf Wachstum gerichtet. Das auf Gewinn zielende Wirtschaften erfordert unter Konkurrenzbedingungen die Reinvestition von Profit. Der Verzicht auf Investition bedeutet letztlich denUntergang eines Unternehmens. Dieser Sachverhalt ist hinreichend bekannt undbedarf deshalb hier keiner weiteren Erläuterung. Wachstum, d. h. quantitative undgegebenenfalls auch qualitative Erweiterung der Produktion, ist ohne entsprechende Ausweitung der Konsumnachfrage allenfalls kurzfristig, aber nicht über einen mittelfristigen oder garlängerfristigen Zeitraum möglich, wiedargelegt wurde. Vor diesem Hintergrund kommt demBegriff „ Überkonsum“keine kapitalismuskonforme Aufgabe zu, denn jeder Konsum ist erwünscht, undeine systemaffirmative Theorie des kapitalistischen Systems wird „ Überkonsum“als ein nicht existentes (Untersuchungs-) Objekt betrachten. Überkonsum kann somit nurals kritischer Begriff konstruiert werden. Es geht im Sinn
43 Wyrwa: Consumption (wie Anm.4). 44 John de Graaf/David Wann/Thomas H. Naylor: Affluenza. 2002.
Zeitkrankheit Konsum, München
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vonKants bekanntem Diktum45 darum, derAnschauung denBegriff zuliefern, um sie sehend zu machen. Nicht ausnahmslos, aber doch überwiegend verbindet sich Konsum-Kritik mit einer wachstumsskeptischen Sicht. Die Keynessche Stagnationstheorie lässt diese Verbindung von Wachstumsskepsis undKonsumkritik besonders deutlich hervortreten. Keynes sieht inderStagnation, also derfreiwilligen undden individuellen Nutzenvorstellungen folgenden Konsumabschwächung, zu Recht den entscheidenden Erfolg des modernen Kapitalismus. Er habe –für die reichen Ökonomien –das alte Knappheitsproblem im Prinzip beseitigt, aber nur im Prinzip. In der Praxis drängt der Systemmechanismus hingegen auf weiteres Konsumwachstum, obgleich damit kaum noch ein Wohlstandsgewinn zu erreichen sei und die Alternativen –beispielsweise längere Freizeit –weit höheren Nutzen brächten46. In diesem Sinn sei hier Überkonsum definiert als Konsum, zu demmindestens eine Alternative existiert, die einen höheren Nutzen als dieweitere Konsumsteigerung abwirft. Überkonsum wird somit von denOpportunitätskosten der Konsumsteigerung her bestimmt. Überkonsum liegt dann vor, wenn der entgangene Wohlstand/Wohlstandsverlust bzw. die Nichtbefriedigung von Bedürfnissen stärker zu Buche schlägt als die Wohlstandszunahme durch den Konsum. Warum dennoch mehr konsumiert wird bzw. werden soll, ist gerade das Problem. Selbstverständlich bleibt die vorstehende Definition solange eine Leerformel, als die Opportunitätskosten nicht konkret bestimmt werden. Überkonsum wird als solcher somit erst durch eine Operationalisierung derOpportunitätskosten qualifiziert, und wie bei jeder Wohlstandsbestimmung bzw. -messung fließen dabei Werturteile mit ein, –undsei es nurdurch die Auswahl derVerfahrensrationalität (z. B. Wohlstandsbestimmung durch demokratische Mehrheitsentscheidung). Wemkommt die Aufgabe zu, die Opportunitätskosten zu ermitteln undwelche Legitimation kann für diese Bestimmung geltend gemacht werden? Überkonsum als Begriff der (möglichen) Konsum-Kritik soll darüber aufklären, was besser wäre undwie gegebenenfalls dasBessere realisiert werden kann. Wersich wann, unter welchen Bedingungen undmitwelchen Konsequenzen „ aufklären“lässt und gegebenenfalls sein Konsumverhalten ändert, gehört nicht mehr zuunserem Thema, sondern hier soll nur die empirische –historisch analysierbare –Tatsache, dass Konsum-Kritik nicht nur existiert, sondern zunehmende Aufmerksamkeit gewinnt, hervorgehoben werden.
45 „Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind. Daher ist es ebenso notwendig, seine Begriffe sinnlich zumachen, (d. i. ihnen dieGegenstände inderAnschauung beizufügen,) als seine Anschauungen sich verständlich zumachen (d. i. sie unter Begriffe zu bringen). Beide Vermögen, oder Fähigkeiten, können auch ihre Funktionen nicht vertauschen. Der Verstand vermag nicht anzuschauen, unddie Sinne nichts zudenken.“Immanuel Kant: Kritik derreinen Vernunft, Hamburg 1956, S. 95. 46 Keynes: Possibilities (wie Anm. 5).
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Mit der vomBrundtland-Bericht
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198747 intensivierten Nachhaltigkeitsdiskus-
sion haben die wachstums- undkonsumkritischen Strömungen sichtlich mehr Einfluss auf die öffentliche Meinung unddamit indirekt auch auf die Politik gewonnen. Letztlich geht es umkonfligierende Interessen undWerthaltungen zwischen Status-quo-Anhängern undihren Gegnern. Eine provisorische Klassifizierung der verschiedenen Ansatzpunkte der Konsum-Kritik soll dazu dienen, die wichtigsten Positionen zu sortieren unddie Beurteilung derjeweiligen Triftigkeit der Kritik zu erleichtern. 1. Verteilungsethische Kritik: Überkonsum der Wohlhabenderen entzieht den Armen lebenswichtige Ressourcen. 2. Entfremdungstheoretische Kritik: Überkonsum infolge manipulativer Außenlenkung (Beispiel: Frankfurter Schule i. w. S.48) bedeutet Freiheitsverlust und motiviert dazu, mehr zu arbeiten, als für eine „optimale“Lebensgestaltung sinnvoll ist. 3. Ökologische Kritik: Überkonsum zerstört die Umwelt, verbraucht nicht erneuerbare Ressourcen, ohne dass dringender, lebenswichtiger Bedarf dadurch gedeckt wird (Beispiel: Club of Rome, Grenzen desWachstums) 4. Philosophische Kritik: Überkonsum widerspricht dem „guten Leben“und vermindert dasLebensglück. 5. Wohlstandstheoretische Kritik: Überkonsum bringt weniger Nutzen, als er Schäden hervorruft. Letztere sind dem Konsumenten jedoch unbekannt bzw. werden ignoriert49; sei es, dass sie ihmbewusst verborgen werden, sei es, dass er gelernt hat, sie zuverdrängen oder zu ignorieren, oder sei es, dass er wider sein besseres Wissen und Wollen (i. d. R. sozialpsychologisch) gezwungen wird, das eigentlich unerwünschte Konsumverhalten zu praktizieren. Die wohlstandstheoretische Kritik richtet sich nicht zuletzt gegen die eindimensionale, unzulängliche, gar falsche Wohlstandsmessung durch das BIP pro
Kopf.
Die Sozialindikatoren-Forschung, die Definition von Lebensqualität durch den Human Development Index des Entwicklungsprogramms der Vereinten NatiGenuine Progress Indicator“der in Oakland/USA ansässigen onen50 oder der „ 47 The World Commission on Environment and Development (Hg.): Our Common
48
49
50
(Brundtland-Report), Oxford 1987. Die kritische Theorie hat eine Vielzahl
Future
vonkonsumkritischen Arbeiten vorgelegt, aber der in diesem Punkt einflussreichste Autor dürfte Herbert Marcuse gewesen sein. Vgl. Herbert Marcuse: Der eindimensionale Mensch. Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft (1964), Frankfurt a. M. 1970. Vgl. hierzu die anregende Kritik Tibor Scitovskys. Scitovsky, Joyless Economy (wie Anm. 22); derselbe: Human Desire andEconomic Satisfaction, Brighton/New York 1986. Deutsche Gesellschaft der Vereinten Nationen (Hg.): Bericht über die menschliche Entwicklung 2002. Stärkung der Demokratie in einer fragmentierten Welt, Bonn 2002 (Veröffentlichung fürdasEntwicklungsprogramm derVereinten Nationen = UNDP).
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Karl Georg Zinn
51zeigen, wie sich die faktische VieldiRedefining Progress“ Forschungsgruppe „ mensionalität von Wohlstand weit sachgerechter erfassen lässt, als dies mit dem BIP pro Kopf möglich ist. Es ist nicht unsere Aufgabe, dieverschiedenen konsumkritischen Schulen moralisch zu beurteilen, aber die Chancen, Öffentlichkeit undPolitik von derjeweiligen Sichtweise zu überzeugen, sind umso größer, je höher die Risiken einzuschätzen sind, die sich aus Überkonsum für die heute lebende unddie künftigen Generationen ergeben. Deshalb dürfte der ökologischen Kritik wie schon bisher auch in Zukunft dasstärkste Gewicht bzw. die größte Überzeugungskraft zukommen. Sie wird noch überzeugender, wenn sie sich nicht auf denopportunistischen Versuch versteift, nachzuweisen, dass ökologisches Wirtschaften zugleich ein Heilmittel gegen Arbeitslosigkeit und Wachstumsschwäche ist. Vielmehr liegt es nahe, die ökologische Konsum-Kritik stagnationstheoretisch zu fundieren. Denn wenn die reichen Volkswirtschaften ohnehin keine merklichen Wohlstandsgewinne mehr ausweiterem Wachstum ziehen, so wäre eine bewusste Ausrichtung der Wirtschaftspolitik auf Stagnation und Umweltschonung durch weniger Wachstum der direkte/effizientere Weg, dasProblem vonÜberkonsum undSättigung anzugehen. Damit münden die vorstehenden Überlegungen in die Frage, ob die kapitalistische Ökonomie auch ohne Wachstum überdauern wird undwie sie sich ändern müsste, umStagnation zu bewältigen, oder ob Stagnation ein neues Wirtschaftssystem hervorrufen wird.
51 Graaf/Wann/Naylor, Affluenza (wie Anm. 35), S. 380 ff.; www.rprogress.org; Cobb, Clifford gprogress. W.: 2000, Measurement Tools andthe Quality of Life, Download: prg/publications/glance.html.
www.redefinin
Rolf Walter Korreferat zu Karl Georg Zinn „ Überkonsum undKonsumsättigung
als Probleme reifer Volkswirtschaften“
Die generelle Frage, die sich imZusammenhang mitdemReferat vonKarl Georg Zinn erhebt, ist die, inwieweit keynesianische Konzeptionen oder auch das von ihm zitierte „Brentano-Keynessche Gesetz“in der Lage sind, die angesprochene
Thematik erschöpfend zuerfassen undzuerklären. Keynes warja derAuffassung, ein Ausweg ausder„Wohlstandsfalle“sei möglich durch die Stärkung desprivaten Konsums. Diese Stärkung werde erreicht durch eine Umverteilung zugunsten der unteren Einkommen unddurch staatliche Nachfragepolitik, mithin durch das bekannte deficit spending. Wachstum kann –darüber dürfte Konsens bestehen –vor allem durch eine Belebung derNachfrageseite erfolgen, d.h. durch Anreize in Produktionsgüter zu investieren und/oder den Verbrauch von Konsumgütern zu erhöhen. Letzteres kann geschehen durch ein Bündel von Maßnahmen: fiskal-, ordnungs- undgeldpolitische, private undstaatliche et cetera. An die Wirtschaftsgeschichte richtet sich die Frage: Hatte Keynes wirklich recht? Welche empirischen Befunde gibt es zur Frage der Wirkung von Einkommens-Umverteilung undstaatlich finanzierter Nachfrage? –Darauf wird zurückzukommen sein. Zunächst zueinigen Kategorisierungen desReferenten, die ich nicht teile. Die Charakterisierung der gesamten Zwischenkriegszeit als „ Große Depression“oder drei Krisenjahrzehnte“erscheint historisch zu undifferenziert. Unbestritten gab „ es einige Jahre, etwa die Inflationsjahre 1922/23 und die Jahre der Weltwirt1932, die man der begründet pessimistischen Erwartungen schaftskrise 1928/29– undder realen makro- undmikroökonomischen Kennziffern wegen als Jahre der Depression“bezeichnen kann. Doch eine Kategorisierung der Jahre 1914 bis „ 1945 mit diesem Begriff erscheint mir nicht zulässig. Differenzierungsangebote bietet die wirtschaftshistorische Literatur reichlich. Eine weitere Frage wäre, auf welches Land sie bezogen sein soll. Auf die USA, Deutschland oder gar auf alle Industriestaaten? Kritikwürdig erscheint ferner die Aussage: „ Seit Mitte der 1970er Jahre befinden sich die reifen Volkswirtschaften in der Stagnation“ , es sei denn, manbezeichne das (nicht zu bestreitende) Abflachen der Wachstumskurve (Wachstumsverlangsamung) bereits mit dem Begriff „Stagnation“ , was wohl kaum zulässig sein dürfte. Stagnation undRückentwicklung des Lebensstandards lassen sich hingegen für die DDR-Wirtschaft im fraglichen Zeitraum behaupten
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Rolf Walter
unddiese waren nicht zuletzt für deren Untergang verantwortlich. Zu den angeschnittenen Fragekomplexen (Periodisierung, Charakterisierung, Interpretation) möchte ich andieser Stelle einfach auf die wirtschaftshistorische undkonjunkturtheoretische Literatur verweisen1, da ich mich auf die im Referatstitel genannten zentralen Punkte konzentrieren will. Die von Karl Georg Zinn aufgeworfene Kernproblematik betrifft die Sättigung und den Überkonsum. Im Titel seines Vortrags werden Konsumsättigung undÜberkonsum als Probleme reifer Volkswirtschaften dargestellt. Es stellt sich jedoch die Frage: kann manohne weiteres von Sättigung ausgehen? Theoretisch kann Sättigung nur dort auftreten, wo es keine neuen Bedürfnisse undso keine neue Nachfrage gibt. In derRealität gibt es dasjedoch nicht. Selbst wenn derBedarf in quantitativer Hinsicht gedeckt ist, kommt noch ein qualitativer hinzu. NebenPrimärbedürfnisse treten sekundäre. Letztere sind aber häufig kulturell erlernte Bedürfnisse undnicht wirklich sättigbar. „Lediglich abhängig von der Intensität derassoziierten Primärverstärker bestehen sie unabhängig vomGradihrer eigenen 2Es ist insofern unbedingt erforderlich, wenigstens diese DifferenBefriedigung.“ zierung zutreffen, die letztlich in die Frage quantitativen undqualitativen Wachstums einmündet. Eine solche Unterscheidung kommt bei Neoklassikern undKeynesianern deutlich zu kurz. Es magsein, dass z.B. seit einiger Zeit die Märkte für den Grundbedarf weitgehend gedeckt scheinen undjeder Haushalt mit Kühlschränken, Staubsaugern undFernsehgeräten ausgestattet ist, kurzum mit allem, was vermeintlich zu einem modernen Leben gehört. Gleichwohl gibt es weiter Massennachfrage nach solchen Gütern, die freilich den zunehmenden Lebensstandard entsprechend qualitativ verbessert, leichter bedienbar, komfortabler und meist teurer sind. Gesättigt sind diese Märkte nicht –von neuen innovativen Märkten einmal ganz abgesehen. Vor kurzem wurde die Digitalkamera anstelle des Diaprojektors in den Warenkorb des Statistischen Bundesamtes aufgenommen. Ein Blick auf diesen sich alle fünf Jahre ändernden Warenkorb zeigt, wie wenig von Sättigung die Rede sein kann. Alte Produkte werden in neuer Form konsumiert, andere kommen als völlig neue hinzu. Sättigungsgrenzen lassen sich
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Metz, Rainer: Trend, Zyklus undZufall. Bestimmungsgründe undVerlaufsformen langfristigerWachstumsschwankungen (VSWG-Beih. 165), Stuttgart 2002, bes. S. 34 ff. u. passim mit derbislang differenziertesten analytischen Darstellung; Ritschl, Albrecht/Spoerer, Mark: Das Bruttosozialprodukt in Deutschland nach den amtlichen Volkseinkommens- und Sozialpro54; Klump, 1995, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 2 (1997), S. 27– duktstatistiken 1901– Rainer: Wirtschaftsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland. Zur Kritik neuerer wirtschaftshistorischer Interpretationen aus ordnungspolitischer Sicht, Wiesbaden 1985; Ders.: Wachstum undWandel: Die „ neue“Wachstumstheorie als Theorie wirtschaftlicher Entwicklung, in: ORDO, Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft, 47 (1996), S. 120; Schohl, Frank: Die markttheoretische Erklärung der Konjunktur (Schriften zur an101– gewandten Wirtschaftsforschung 83), Tübingen 1999, mitderbislang besten Mikrofundierung (zum Zeitabschnitt 1961– 1993 bes. S. 158 ff.). Ergänzend Tichy, Gunther: Konjunktur. Stilisierte Fakten, Theorie, Prognose, 2., völlig neubearb. Aufl., Berlin 1994. Witt, Ulrich: Beharrung und Wandel –ist wirtschaftliche Evolution theoriefähig? (Erwägen, Wissen, Ethik (EWE)), Manuskript 2003, S. 10.
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hinausschieben, etwa durch die Veränderung derProdukteigenschaften oder durch die Absenkung des durchschnittlichen Nutzungsgrades der Produkte. Vonjeder Basisinnovation ausgehend kommt es zu Prozessen der Differenzierung undDiversifizierung, die an eine Sättigung nicht denken lassen. Das Beispiel Telekommunikationstechnologie mag hier stellvertretend für eine Vielzahl analoger Entwicklungen gelten. Zur Komplexität des Konsums und der Konsumsättigung gehören Aspekte wie selektive Aufmerksamkeit bzw. Wahrnehmung, geteiltes Wissen, pfadabhängige Grundpräferenzen, adaptive Beziehungsstrukturen zwischen Individuum und Umwelt undähnliches mehr. Der Nachweis von Neurologen, dass das Unterbewusstsein stärker das Bewusstsein prägt als umgekehrt wirft die Frage der Steuerung vonPräferenzen undKonsum bzw. dieFrage genetisch bedingten oder kulturell gelernten Konsums auf. Solange das komplizierte Wechselverhältnis zwischen komplexen kognitiven Strukturen und Konsumpräferenzen nicht weiter Sättigung“mitVorsicht genießen müssen. aufgeklärt ist, wird mandenBegriff „ Eine andere wesentliche Frage ist die nach derEinkommensabhängigkeit von Konsum. Es ist bekannt, dass die Maslowsche Bedürfnispyramide nicht in einer strengen Vertikalität gilt, wonach die Befriedigung und Sättigung der untersten Ebene die Voraussetzung für die nächst höhere wäre. Vielmehr werden die Bedürfnisse der fünf Stufen völlig unabhängig voneinander befriedigt. Nicht bekannt ist, wie sich das Einkommen auf die verschiedenen Ebenen verteilt. Es lässt sich allenfalls ungefähr annehmen, wie hoch die Konsumausgaben sein können. Das setzt aber voraus, dass mandasRealeinkommen derHaushalte kennt. Dies ist eine Problematik fürsich, auf die hier nuramRande hingewiesen sei. Eine Betrachtung derKonsumniveaus undderHaushalte bzw. Haushaltstypen z.B. im Statistischen Jahrbuch der Bundesrepublik Deutschland führt zu der Erkenntnis, dass der Konsum nahezu proportional zum Einkommen steigt, wobei wohl das Engelsche „Gesetz“gilt, dass mit steigendem Einkommen der relative Anteil des Grundbedarfs (Essen, Kleidung, Wohnen etc.) abnimmt. Eine Sättigungsgrenze ist aber in jenen Einkommensbereichen, die vom Statistischen Bundesamt erfasst werden, nicht zuerkennen. Es deutet alles darauf hin, dass mitsteigendem Einkommen der Bedarf weiter zunehmen wird. Auch (oder vielleicht sogar: gerade) oberhalb des Haushaltstyps 3 (hohe Einkommen, 1996 über 8880 DM) bestehen noch Bedarfsreserven. Daran ändern auch Hinweise auf eine allmählich steigende (oder die Erwartung in eine steigende) Sparquote nichts. Im Übrigen nimmt die Sparquote zuLasten desKonsums nicht zu, sondern ab. In der Bundesrepublik lag die Sparquote (also die Ersparnis der privaten Haushalte in Prozent desverfügbaren Einkommens) 1991 noch bei 13,2%, 1999 aber nurnoch Das ist ein Hinweis darauf, dass generelle Sättigungsgrenzen des bei 9,3%.3 „
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Deutsche Bundesbank: Saisonbereinigte Wirtschaftszahlen Januar 2000, Statistisches Beiheft zumMonatsbericht 4, S. 22.
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4 Selbst wenn manunter Sättigung denAusVerbrauchs nicht festzustellen sind.“ stattungsgrad5 und nicht den Ausstattungsbestand6 verstehen wollte, zeugt ein Blick in die Statistik davon, dass etwa bei technischen Haushaltsgeräten, bei Informations- undKommunikationstechniken sowie bei Empfangs-, Aufnahme- und Wiedergabegeräten von Bild undTon längst nicht alle Haushalte auch nur annähernd ausgestattet sind.7 Die durchschnittlichen Haushaltsausgaben für Freizeit undKulturdienstleistungen stiegen von 32 Euro (1993) auf 57 Euro (1998), die für Pauschalreisen von 28 auf 63 Euro.8 Ein Blick in die Wirtschaftsgeschichte erweist klar, dass Menschen immer mehr konsumieren wollten undder Wunsch nach mehr Kaufkraft nichts mitgrenzenlosem Konsumdrang oder garKonsumterrorzutunhat, sondern vielleicht schlicht mitNeophobie. Die menschliche Psyche ist –wenn nicht alles täuscht –so beschaffen, dass sich Bedürfnisse ständig wandeln undwirtschaftliche Dynamik generieren. Es wäre deshalb sehr wünschenswert, solche Befunde der empirischen Sozialwissenschaften undinsbesondere der Kognitionswissenschaften in die Wirtschaftstheorie zu integrieren, um nicht zu sehr außerhalb der Realität zubleiben. Über die Zeit undüber Kulturen hinweg gesehen ist derPro-Kopf-Konsum in derRegel gestiegen undMehrkonsum scheint allenthalben erwünscht zusein. Die (evolutorische) Frage ist, ob diese Unersättlichkeit eine anthropologische Konstante ist?9 Zusammenfassend ist folgendes festzuhalten: 1. Beim Konsum handelt es sich um eine Größe, die einem ständigen inneren Wandel unterliegt undhochkomplexer Natur ist. Es ist ein dynamischer Begriff, in den schwer zu erfassende Faktoren wie Bedürfnisse undAspekte der Wahrnehmung einfließen. Da mehrdimensionale Güter rekombinatorischer Neuheit unterliegen, kann es dafür, wann Konsum als Überkonsum zu gelten hat bzw. wann Konsumsättigung eintritt, keine exakte Grenzbestimmung geben. Dies wäre allenfalls denkbar, wenn man Güter als unveränderlich an-
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Werner Allemeyer: Skript zurVolkswirtschaftlichen Gesamtrechnung, Univ. Münster, (Internet), S. 6. Anzahl der Haushalte, in denen entsprechende langlebige Gebrauchsgüter vorhanden sind (meist je 100 Haushalte gerechnet) Anzahl derin denHaushalten vorhandenen langlebigen Gebrauchsgüter
6 7 Im Jahr 2000 lag der Ausstattungsgrad je 100 Haushalten bei Fernsehgeräten bei 95,9, bei
8 9
Videorecordern bei 65,9, bei Videokameras/Camrecordern bei 18,0 undbei Hi-Fi-Anlagen bei 62,9. Der Ausstattungsgrad mit Kühlschränken lag bei 99,2, vonGeschirrspülmaschinen bei 48,3, vonMikrowellengeräten bei 56,1. Stationäre Telefone stehen in 96,4 von 100 Haushalten, Mobiltelefone 29,8, Faxgeräte 14,9, PC’s 47,3 undInternetanschlüsse 16,4. (Zahlen nach 132). GESIS-Datenreport 2002, S. 114– GESIS-Datenreport 2002, S. 126.
Witt, Ulrich: Beharrung undWandel –ist wirtschaftliche Evolution theoriefähig? (Erwägen, Wissen, Ethik (EWE), Manuskript 2003, S. 8.
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nehmen würde. Solcherlei Annahmen erscheinen jedoch mit Blick auf die Veränderungen, dieGüter in ihrer Entwicklung zeigen, unrealistisch. Nach genauer Beobachtung der Nachfrage am Markt (als einziger Möglichkeit, die Realisierung vonBedürfnissen festzustellen) magsich die Sättigung einzelner Güterkategorien vorübergehend feststellen lassen, doch sind weite Kreise der Bevölkerung davon noch weit entfernt. Es gibt keine Gesellschaft (außer bei Utopisten undEsoterikern) bei der nicht eine mehr oder weniger deutliche Abstufung des individuellen Wohlstands beobachtbar wäre, d.h. es bleibt bei den Ärmeren immer der Wunsch, den Lebensstil der Reicheren nachzuahmen. Einen Zustand der Sättigung zubehaupten hieße insofern, den permanenten Fortgang des gesellschaftlichen Prozesses von Differenzierung bzw. Diversifizierung undAngleichung zu übersehen, der durch das Mittel des wirtschaftlichen Wachstums erfolgt. Die Sättigungsthese ist daher einer dynamisch-komplexen Modellierung nicht angemessen, auch wenn sie zur Beschreibung statischer Tatbestände hilfreich sein mag. Ob überhaupt und wann eine Volkswirtschaft als „reif“gelten kann, muss vorerst offen bleiben. Der Begriff mag einen ungefähren Maßstab andeuten undein Synonym für „entwickelt“sein. Wann aber haben Volkswirtschaften als solche als „reif“bzw.„entwickelt“zugelten, wenn doch wesentliche Elemente, die sie konstituieren (Humankapitalbestand unddamit innovatorische Entwicklungsfähigkeit, Zukunftsfähigkeit durch schöpferischen Reformwillen, institutionelles Design undFortschrittsträchtigkeit usw.) ständigem Wandel unterliegen? –Wie ist angesichts der angedeuteten begrifflichen Unsicherheiten die Operationalisierung eines Untersuchungskonzepts möglich, das die Grenzen desKonsums eindeutig bestimmen lässt?
Mark Häberlein1 Savoyische Kaufleute unddie Distribution vonKonsumgütern 1840 Oberrheingebiet, ca. 1720–
im
1. Forschungsstand undFragestellungen Seit Neil McKendrick, John Brewer undJ.H. Plumb vor gutzwei Jahrzehnten die Geburt der modernen Konsumgesellschaft im England des 18. Jahrhunderts postulierten,2 sind die westeuropäischen Gesellschaften der frühen Neuzeit sowie dienordamerikanische Kolonialgesellschaft unter demGesichtspunkt derVerbreitung undAneignung materieller Güter intensiv erforscht worden.3 In denNieder1
Dieser Beitrag entstand unter Mitarbeit vonChristof Jeggle, Irmgard Schwanke undEvaWiebel undes liegt dieAuswertung derGeschäftsbücher dreier savoyischer Händler undHandelsfirmen zugrunde, die im Rahmen eines von der Deutschen Forschungsgemeinschaft aus dem Gerhard-Hess-Programm geförderten Projekts über „ Reichweite undGrenzen der Integration ethnischer undreligiöser Minderheiten in derFrühen Neuzeit“unter Leitung vonMark Häberlein anderUniversität Freiburg durchgeführt wird. Die Daten ausdemHandelsbuch des Krämers Maurice Montfort aus Riegel wurden von Martin Zürn undEva Wiebel aufgenommen undvon Eva Wiebel ausgewertet. Datenerhebung und -auswertung aus dem Geschäftsbuch der Gebrüder Castell aus Elzach lagen bei Mark Häberlein undIrmgard Schwanke; die Geschäftsbücher der Laufenburger Firma Perrollaz-Cartier werden von Christof Jeggle bearbeitet. Nähere Angaben zudeneinzelnen Büchern undFirmen finden sich unten imText. 2 Neil McKendrick/John Brewer/J.H. Plumb: The Birth of a Consumer Society. The Commercialization of Eighteenth-Century England. London 1982. 3 Wichtige Titel in Auswahl: Lorna Weatherill: Consumer Behaviour and Material Culture in Britain, 1660– 1760. London 1988; Carole S. Shammas: The Pre-industrial Consumer in England andAmerica. Oxford 1990; John Brewer/Roy Porter (Hg.): Consumption andthe World of Goods. Cambridge u.a. 1993; Cary Carson u.a. (Hg.): Of Consuming Interests. The Style of Life in the Eighteenth Century. Charlottesville/Virginia 1994; James Walvin: Fruits of Empire. Exotic Produce and British Taste, 1660– 1800. Basingstoke/London 1997; Maxine Berg/Helen Clifford (Hg.): Consumers andLuxury. Consumer Culture in Europe, 1650– 1850. Manchester u.a. 1999; Maxine Berg/Elizabeth Eger (Hg.): Luxury in the Eighteenth Century. Debates, Desires and Delectable Goods. Houndmills/Basingstoke 2003.Vgl. auch Margrit Schulte Beerbühl: Die Konsummöglichkeiten undKonsumbedürfnisse der englischen Unterschichten im 18. Jahrhundert, in: Vierteljahrschrift für Sozial- undWirtschaftsgeschichte 82 (1995), S. 1– 28 sowie neuerdings: Rainer Beck: Luxus oder Decencies? ZurKonsumgeschichte derFrühneuzeit als Beginn der Moderne, in: Reinhold Reith/Torsten Meyer (Hg.): „Luxus undKonsum“–eine historische Annäherung (Cottbuser Studien zurGeschichte vonTechnik, Arbeit undUmwelt 21), Münster u.a. 2003, s. 29– 46; Michael Prinz, Aufbruch in den Überfluss? Die englische „Konsumrevolution“des 18. Jahrhunderts im Lichte der neueren For-
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landen, England, Frankreich undBritisch-Nordamerika scheint, wie John Brewer der Besitz zusammenfassend feststellt, im Verlauf des 17. und 18. Jahrhunderts „ vonkommerziell vertriebenen Manufakturwaren außerordentlich zugenommen zu haben. Dazu gehörten Uhren, Spiegel, Kunstdrucke, Vorhänge, Möbel, Teppiche, Keramik, Porzellan, Silber undZinn, modische Kleidung wie Strümpfe, Seidenkleider, Taschentücher, Schirme, Fächer undeine Vielzahl von Stoffen undGeweben. [...] Etwa zur selben Zeit vollzog sich ein deutlicher Wandel bei der Ernährung undden Genussmitteln; mehr als 25 Prozent der Bevölkerung genossen 4 Als wesentliches nun regelmäßig Tabak, Zucker und koffeinhaltige Getränke“ BereitKennzeichen derentstehenden Konsumgesellschaft hatdie Forschung die„ stellung eines reichhaltigen Warensortiments für Verbraucher der meisten, wenn auch nicht aller sozialer Kategorien“herausgestellt. Kennzeichnend für die niederländische, englische undnordamerikanische Entwicklung im 17. und18. Jahrhundert wardemnach eine starke Zunahme desAngebots anWaren, dieweder als absolut lebensnotwendige Alltagsgüter noch als Luxusartikel für den Gebrauch einer kleinen sozialen Elite kategorisiert werden können. In Anlehnung an Adam decencies“(AnnehmSmith hat die angelsächsische Forschung diese Güter als „ Annehmlichkeiten“waren lichkeiten) bezeichnet. Typische Konsumenten dieser „ die Angehörigen der Mittelschichten.5 Ermöglicht wurde die zunehmende Verbreitung von Konsumartikeln wie importierten Genussmitteln (Kaffee, Zucker, Tabak), bedruckten Stoffen, Glas- und Keramikwaren offenbar vor allem durch fallende Preise und die Substitution teurer durch billigere Waren.6 Die Standardisierung von Produkten, neue Formen derVermarktung undProduktwerbung sowie ein immer dichteres Netz von teilweise spezialisierten Einzelhandelsgeschäften sorgten für die Distribution derWaren anbreite Kundenkreise.7 Während die westeuropäische und nordamerikanische Forschung intensiv über denWandel vonKonsumgewohnheiten unddie Aneignung neuer materieller Güter in der Frühen Neuzeit diskutiert, liegt der Schwerpunkt konsumgeschichtli-
schung, in: Ders. (Hg.), Der lange Weg in denÜberfluss. Anfänge undEntwicklung 217. sumgesellschaft seit derVormoderne, Paderborn u.a. 2003, S. 191–
derKon-
4 John Brewer: Was können wir aus der Geschichte der frühen
5 6 7
Neuzeit für die moderne Konsumgeschichte lernen?, in: Hannes Siegrist/Hartmut Kaelble/Jürgen Kocka (Hg.): Europäische 20. JahrhunKonsumgeschichte. Zur Gesellschafts- undKulturgeschichte des Konsums (18.– 74, bes. S. 52f., S. 61. dert). Frankfurt/Main 1997, S. 51– Brewer: Waskönnen wir(wie Anm.4), S. 62. Carole Shammas: Changes in English andAnglo-American Consumption from 1550 to 1800,
205, bes. in: Brewer/Porter (Hg.): Consumption andtheWorld of Goods (wie Anm. 3), S. 177– S. 199f. Brewer: Was können wir (wie Anm. 4), S. 65– 67; Shammas: Pre-industrial Consumer (wie 290; Peter Kriedte: VomGroßhändler zumDetaillisten. ZumHandel mit ‚KoAnm. 3), S. 225– lonialwaren‘im 17. und18. Jahrhundert, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 1994/I, S. 11– 36.
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imOberrheingebiet
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cher Forschungen im deutschsprachigen Raum –mit wenigen Ausnahmen8 –im späten 19. und20. Jahrhundert. „ Eine überzeugende Antwort auf die Frage nach
derAusprägung konsumgesellschaftlicher Strukturen in dendeutschen Staaten bis zu diesem späten Zeitpunkt,“resümiert Michael Prinz in einem neueren For9 Dabei legen die bisher vorschungsüberblick, sei bislang „ noch nicht gegeben.“ liegenden Einzelbefunde nahe, dass sich die Konsumgewohnheiten breiterer Bevölkerungsschichten insbesondere seit der Mitte des 18. Jahrhunderts deutlich wandelten. Dies gilt beispielsweise für Textilien und„ Kolonialwaren“ . Für Österreich wurde eine deutliche Steigerung und Differenzierung der Nachfrage nach
Textilien seit etwa 1750 konstatiert. Seidenstoffe etwa entwickelten sich Roman Sandgruber zufolge im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts „ von einem reinen Oberschichtengut zueinem in derNachfrage breit gefächerten Produkt.“Seidene Tücher, Bänder undFutter erfreuten sich bei der ländlichen Bevölkerung wachsender Beliebtheit, während in der Kleidung von Arbeitern und Landbewohnern Leinen zunehmend durch Woll- undBaumwollstoffe, besonders durch leichte, auf demJacquardwebstuhl hergestellte Ware undbedruckte Kattune, verdrängt wurde.10 Bernward Deneke konstatierte in einer Studie zumWandel der Kleidung im fränkischen Raum seit etwa 1770 eine deutliche „ Abkehr vom Überkommenen“ undeine zunehmende „Orientierung an Neuerungen“ , für die vor allem die massenhafte Verbreitung vonBaumwollwaren undAccessoires (Halstüchern, Strümpfen, Kopfbedeckungen) aus Seide oder Damast in den Mittel- undUnterschichten steht.11 Für das württembergische Weberdorf Laichingen schließlich stellte Hans Medick eine „ starke Steigerung des durchschnittlichen Gesamtwerts derKleidung von Männern und Frauen“zwischen 1750 und 1820 fest, wobei „ vor allem schmückende Accessoires der weiblichen Oberbekleidung am stärksten zunahmen.“Seit den70er Jahren des 18. Jahrhunderts fanden Luxustextilien wie Samt, Seide und Kattun hier immer stärker Eingang in die Kleiderausstattung. „ Auch wenn diese Luxustextilien den Gesamtwert der Kleider nur relativ wenig bestimmten,“so Medick, „hatten sie doch als schmückendes Beiwerk an hervorgehobenen Stellen des Körpers, etwa in Form von Halstüchern, Kappen undHau-
8 Hier ist vorallem die Pionierstudie von Roman
Sandgruber: Die Anfange derKonsumgesellschaft. Konsumgüterverbrauch, Lebensstandard undAlltagskultur in Österreich im 18. und19. Jahrhundert (Sozial- undwirtschaftshistorische Studien 15). München 1982 zunennen.
9 Michael
Prinz: Konsum undKonsumgesellschaft seit dem 18. Jahrhundert. Neuere deutsche, englische undamerikanische Literatur, in: Archiv für Sozialgeschichte 41 (2001), S. 450– 514, hier 508. In demauseiner Tagung der Schweizerischen Gesellschaft für Wirtschafts- undSozialgeschichte hervorgegangenen Sammelband Jakob Tanner u.a. (Hg.): Geschichte der Konsumgesellschaft. Märkte, Kultur undIdentität (15.– 20. Jahrhundert). Zürich 1998 ist die Frühe Neuzeit ebenfalls sehr schwach vertreten. 10 Sandgruber: Anfänge (wie Anm. 8), S. 285– 290; Zitate S. 285.
11Bernward Deneke: Aspekte derModernisierung städtischer undländlicher Kleidung zwischen 1770 und1830, in: Günter Wiegelmann (Hg.): Wandel derAlltagskultur seit demMittelalter. Phasen –Epochen –Zäsuren Beiträge zurVolkskultur in Nordwestdeutschland 55). Münster 177, Zitat 166. 1987, S. 161–
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Mark Häberlein
ben, einen erheblichen Signal- und Symbolwert.“Selbst Tagelöhner erwarben gegen Ende des 18. Jahrhunderts solche Modeartikel.12 Im Bereich der Genussmittel blieb der Konsum von Kaffee, Tee, Kakao und
Zucker bis ins 18. Jahrhundert zumindest in Österreich weitgehend auf die städtischen Oberschichten beschränkt, während Tabakkonsum sich seit dem späteren 17. Jahrhundert auch unter den städtischen und ländlichen Mittel- und Unterschichten ausbreitete und„durch die entsprechende Besteuerung zueinem wichtigen Posten im bäuerlichen Ausgabenrahmen unddamit auch zu einem herausragenden Kommerzialisierungsanreiz“wurde.13 In Sachsen undder Schweiz deuten steigende Zahlen vonKaffeehäusern undKolonialwarenhandlungen –1765 zählte die Stadt Dresden bereits 128 Kolonialwarenhändler –sowie die wachsende Bedeutung von Kolonialprodukten als Handelsgüter auf Messen undinnerhalb des Warensortiments vonHandelshäusern auf einen steigenden Verbrauch dieser Waren seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts hin, wobei sich quantitative Schätzungen als schwierig erweisen. Jörg Ludwig hat denjährlichen Pro-KopfVerbrauch in Sachsen im ausgehenden 18. Jahrhundert vorsichtig auf ein halbes Pfund Kaffee und ein Pfund Zucker beziffert.14 In Handwerkerinventaren der württembergischen Stadt Nürtingen schließlich werden Kaffee- und Teegeschirr zunächst vereinzelt in den 1770er Jahren genannt und finden sich in den 1830er Jahren recht zahlreich, waren aber auch zu diesem späten Zeitpunkt „ noch keine Selbstverständlichkeit“.15 Während diese Befunde einerseits darauf hinweisen, dass sich in vielen Regionen des deutschsprachigen Raums seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts allmählich eine „ Konsumgesellschaft“entwickelte, scheint sich diese Entwick12 Hans Medick: Weben undÜberleben in Laichingen 1650– 1900. Lokalgeschichte als allgemeine Geschichte (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 126). Göttingen 446, Zitate S. 403, 405f., 431. Medicks Befunde decken sich weitgehend mit 1994, S. 379– denjenigen der volkskundlichen Untersuchungen von Angelika Bischoff-Luithlen: Der 100, undAnja R. Benscheidt: KleinbürgerSchwabe undsein Häs. Stuttgart 1982, S. 87f., 98– licher Besitz. Nürtinger Handwerkerinventare von 1660 bis 1840 (Volkskunde 1). Münster 230. Vgl. auch Andreas Maisch: Notdürftiger Unterhalt undgehörige Schranken. 1985, S. 224– Lebensbedingungen undLebensstile in württembergischen Dörfern derFrühen Neuzeit (QuellenundForschungen zurAgrargeschichte 37). Stuttgart/Jena/New York 1992, S. 367: „Investitionen in mehr undbessere Kleidung deuten aufjeden Fall auf einen steigenden Lebensstandard imLaufe des 18. Jahrhunderts hin.“ 13 Sandgruber: Anfänge (wie Anm. 8), S. 210– 217, Zitat S. 210f. 14 Jörg Ludwig: Amerikanische Kolonialwaren in Sachsen 1700– 1860. Leipzig 1994 (Zahlenangaben S. 26f., S. 40); Roman Rossfeld (Hg.): Genuss undNüchternheit. Geschichte des Kaffees in derSchweiz vom 18. Jahrhundert bis zurGegenwart. Baden/CH 2002. Vgl. auch Hans J. Teuteberg/Günter Wiegelmann: Unsere tägliche Kost. Geschichte undregionale Prägung (Studien zurGeschichte desAlltags 6). Münster 1986. 15 Benscheidt: Kleinbürgerlicher Besitz (wie Anm. 12), S. 168, 209, 237. Ein Beispiel für den Kaffeekonsum einer Vagantenfamilie am Beginn des 19. Jahrhunderts findet sich bei Sabine Kienitz: Unterwegs –Frauen zwischen NotundNormen. Lebensweise undMentalität vagierender Frauen um 1800 in Württemberg (Studien und Materialien des Ludwig-UhlandInstituts derUniversität Tübingen 3). Tübingen 1989, S. 62.
Savoyische Kaufleute unddie Distribution vonKonsumgütern
imOberrheingebiet
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lung offenbar deutlich später unduneinheitlicher vollzogen zuhaben als in Westeuropa. Dies lag zumeinen daran, dass vor allem in wirtschaftlich stagnierenden Gebieten diemateriellen Verhältnisse noch um1800 mehr vonDürftigkeit als von zunehmenden Konsummöglichkeiten geprägt waren. So lässt Martin Burkhardts Auswertung von über 1100 Nachlassinventaren und Sterbeprotokollen, die zwischen 1786 und 1805 in der vorderösterreichischen Landstadt Konstanz aufgenommen wurden, eine „ Konsumgesellschaft“noch nicht einmal imAnsatz erkennen. Vielmehr erscheint in diesen Inventaren „ die ungeheure Armut dervorindustriellen Gesellschaft in ihrem materiellen Mangel [...] abgebildet.“Während die Hälfte aller Ende des 18. Jahrhunderts verstorbenen Konstanzer außer den Kleidern amLeib praktisch nichts hinterließ, bestand derBesitz derübrigen vor allem ausAktiva wie Kapitalbriefen, Schuld- undZinsforderungen (43,2 %) sowie Häusern undlandwirtschaftlichen Nutzflächen (zusammen 32,5 %). Die fahrende Habe, die gut ein Fünftel derzwischen 1786 und 1805 in Konstanz nachgelassenen Werte ausmachte, setzte sich primär aus Produktionsmitteln wie Warenlagern, Werkzeugen undRohstoffen (35,3 %) sowie Wein undFässern (32,3 %) zusammen. Konstanzer Häuser waren insgesamt recht dürftig ausgestattet: nur jeder neunte Verstorbene hinterließ Glas, nurjeder elfte Fayence, und andere „Hauszierden“waren ausgesprochen rar. 11 % der Nachlässe enthielten Uhren, 13 % Bilder, 8 % Spiegel, ganze 2,3 % Bücher und 4 % „Gebrauchsgegenstände des bescheidenen Luxus“wie Musikinstrumente, Kaffeemühlen, Tabakspfeifen oder Vogelkäfige. „ Der materielle Besitz der weltlichen nichteximierten Konstanzer Bevölkerung,“so Burkhardt, „ zeigt ein krasses Übergewicht von Gütern, die auf Handel und Produktion gerichtet waren, [...] gegenüber Gütern, die Konsum-, Reproduktions-, Schmuck-, Bildungs- undUnterhaltungszwecke erfüllten.“Nicht einmal für die wohlhabendsten Konstanzerinnen undKonstanzer schienen Repräsentation und Konsum eine besondere Rolle zu spielen: „ Die KleidungsPrachtentfaltung der bürgerlichen Oberschicht hielt sich [...] stark in Grenzen. In Form vonFässern voller Wein sowie wertvollen ungenähten Stoffen lag dermobile Sachbesitz Wohlhabender recht unspektakulär im Keller undin Truhen vergraben.“ 16
Zum anderen ist zu beachten, dass die Bevölkerung frühneuzeitlicher deutscher Territorien in der Aneignung materieller Güter nicht frei war, sondern ständischen Normen und Geboten unterlag. In Württemberg beispielsweise machte eine im 16. Jahrhundert entworfene undbis 1712 wiederholt aktualisierte Kleiderordnung der Bevölkerung, abgestuft nach Rängen, detaillierte Vorschriften hinsichtlich der Kleiderstoffe. „ Gemeinen Bürgern“der Landstädte war es demnach untersagt, aus „ Cotton und Indienne“hergestellte Kleidung zu tragen, und einfachen Landbewohnern war überhaupt nur das Tragen im Land gefertigter Leinenstoffe gestattet. Medicks Untersuchung des Laichinger Kleiderbesitzes zeigt, 16 Martin Burkhardt: Konstanz im 18. Jahrhundert. Materielle Lebensbedingungen einer landstädtischen Bevölkerung am Ende der vorindustriellen Gesellschaft (Konstanzer GeschichtsundRechtsquellen 36). Sigmaringen 1997, S. 191– 261, Zitate S. 261.
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dass diese obrigkeitlichen Normen im Verlauf des 18. Jahrhunderts zwar zunehmendweniger beachtet wurden, derständische Charakter desKleidungsverhaltens im Kern aber lange erhalten blieb. Kleidung hatte für die Laichingerinnen und Laichinger zwar einen hohen Stellenwert, der „Selbstdarstellung undRepräsentation durch Kleidung und deren Farben kam eine zentrale Bedeutung zu“ , doch
spricht Medick trotz zunehmenden Kleideraufwands der Laichinger Bevölkerung aufgrund der Persistenz ständischer Normen nicht von veränderten KonsumgeKultur desAnsehens“ wohnheiten, sondern voneiner „ .17Die „Liberalisierung des Konsums“im späten 18. Jahrhundert wurde zwar von einer zunehmend positiveren Bewertung des „Luxus“in der kameralistischen Diskussion begleitet,18 doch die Abkehr von ständischen Luxusverboten war ein langwieriger undgradueller
Prozess.
In der Literatur gibt es einige Hinweise darauf, dass die allmähliche HerausKonsumgesellschaft“in Mitteleuropa mit einer Intensivierung unbildung einer „ terschiedlicher Formen des Detailhandels einherging. Die große Zahl der Kolonialwarenhändler in sächsischen Städten in derzweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wurde bereits erwähnt, und um 1800 bildete sich in dieser Region auch eine Schicht ländlicher Kolonialwarenkrämer.19 Für das spätere 19. Jahrhundert hat Uwe Spiekermann in einer sehr materialreichen Studie eine große Vielfalt an Formen des Detailhandels herausgearbeitet und diesen Kleinhandel programmatisch als „ Basis der Konsumgesellschaft“charakterisiert.20 Für den Zeitraum zwischen dem 17. und dem 19. Jahrhundert sind Studien über die Distribution von Konsumgütern hingegen bis heute relativ rar. Bernward Denekes 1987 getroffene Feststellung, dass die „ Frage, wie die Waren ihre Kunden erreichten,“nur unzureichend erforscht sei, trifft ungeachtet einiger neuerer Arbeiten über den Wanderhandel noch immer zu. Über das Warenangebot auf dengroßen mitteleuropäischen Messeplätzen sind wir zwar schon seit längerem recht gut informiert, doch schon weitgehend ungeklärt, was aus dembreiten Spektbleibt Deneke zufolge „ rumder Frühjahrs- undHerbstmessen zu Frankfurt amMain undLeipzig auf die
17 Medick: Weben undÜberleben (wie Anm. 12), S. 379– 397, Zitat S. 380. Zu den württembergischen Kleiderordnungen vgl. auch Bischoff-Luithlen: Schwabe (wie Anm. 12), S. 19– 22, 155; Benscheidt: Kleinbürgerlicher Besitz (wie Anm. 12), S. 34– 89f., 151– 36. 18 Deneke: Aspekte derModernisierung (wie Anm. 11), S. 167f. Vgl. auch Torsten Meyer: Zwischen sozialer Restriktion und ökonomischer Notwendigkeit. „ Konsum“in ökonomischen Luxus undKonsum“(wie Anm. 3), S. 61– Texten derFrühen Neuzeit, in: Reith/Meyer (Hg.): „
82. 19 Ludwig: Kolonialwaren (wie Anm. 14), S. 48f. Für Schleswig-Holstein vgl. Brigitta Seidel/Doris Tillmann: Landhökerei. Dörflicher Warenhandel im 18. und 19. Jahrhundert (Kataloge des Museen in Schleswig-Holstein 57). Tetenbüll 2000, bes. S. 26– 35. 20 UweSpiekermann: Basis derKonsumgesellschaft. Entstehung undEntwicklung desmodernen 1914 (Schriftenreihe zur Zeitschrift für UnternehmensgeKleinhandels in Deutschland 1850– schichte 3). München 1999.
Savoyische Kaufleute unddie Distribution vonKonsumgütern
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kleineren Märkte, also in die Provinz, abgeleitet worden ist undwie es dort weiterverarbeitet wurde.“ 21 Andieser Stelle setzt dervorliegende Beitrag an.AufderGrundlage derHandelsbücher savoyischer Krämer und Kaufleute des 18. und frühen 19. Jahrhunderts aus demsüdwestdeutschen Raum, die im Rahmen eines von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Projekts zur Integration ethnischer undreligiöser Minderheiten in der Frühen Neuzeit22 von einer Freiburger Forschergruppe ausgewertet wurden, soll die Distribution von Konsumgütern im Oberrheingebiet zwischen etwa 1720 und1840 näher untersucht werden. Es handelt sich dabei um Bücher des Krämers Maurice Montfort aus dem Marktort Riegel im nördlichen Breisgau, der Familie Castell aus dem Schwarzwaldstädtchen Elzach sowie der Firma Perrollaz-Cartier aus Laufenburg am Hochrhein. Damit sind alle uns bislang bekannten savoyischen Personen undFirmen amOberrhein, von denen sich Geschäftsbücher aus dem 18. undfrühen 19. Jahrhundert erhalten haben, erfasst.23 MitHändlern ausSavoyen kommt eine soziale Gruppe in denBlick, dieinder Wirtschaft des Oberrheingebiets in der Frühen Neuzeit eine große Rolle spielte. Traten sie zunächst vor allem als Hausierer undJahrmarktbeschicker in Erscheinung, finden sie sich im 17. und 18. Jahrhundert zunehmend auch als Ladenbesitzer in kleinen Städten undMarktorten sowie als Großkaufleute in Reichs-, Resi-
21 Deneke: Aspekte der Modernisierung (wie Anm. 11), S. 170. ZumWanderhandel vgl. Ulrich Lange: Krämer, Höker und Hausierer. Die Anfange des Massenkonsums in SchleswigHolstein, in: Werner Paravicini (Hg.): Mare Balticum. Beiträge zur Geschichte des Ostseeraums in Mittelalter undFrüher Neuzeit. Festschrift zum65. Geburtstag vonErich Hoffmann (Kieler Historische Studien 36). Sigmaringen 1992, S. 315– 327; Wilfried Reininghaus (Hg.): Wanderhandel in Europa. Beiträge zur wissenschaftlichen Tagung in Ibbenbüren, Mettingen, 11. Oktober 1992 (Untersuchungen zur Wirtschafts-, Sozial- und Recke undHopsten vom9.– Technikgeschichte 11). Hagen 1993; Hannelore Oberpenning: Migration undFernhandel im . Wanderhändler aus demnördlichen Münsterland im mittleren undnördliTödden-System“ „ chen Europa (Studien zur Historischen Migrationsforschung 4). Osnabrück 1996; Laurence Fontaine: History of Pedlars in Europe. Cambridge 1996; Anne Radeff: De Gênes à Amsterdam. Voyage et consommation à l’époque de la République helvétique, in: Tanner u.a. (Hg.): Geschichte derKonsumgesellschaft (wie Anm. 9), S. 85– 100; Dies., Ducafé dans le chaudron. Economie globale d’Ancien Régime (Suisse occidentale, Franche-Comté et Savoie) (Mémoires et documents de la Société d’histoire de la Suisse romande, Quatrième série). Lausanne 1996.
22 Über Zielsetzungen und Teilergebnisse des Projekts informieren: Mark Häberlein/Martin Zürn: Minderheiten als Problem der historischen Forschung. Einleitende Überlegungen, in: Dies. (Hg.): Minderheiten, Obrigkeit und Gesellschaft in der Frühen Neuzeit. Integrations39; Mark HäberundAbgrenzungsprozesse imsüddeutschen Raum. St. Katharinen 2001, S. 9– lein/Irmgard Schwanke/Eva Wiebel/Martin Zürn: Fremde in der frühneuzeitlichen Stadt. Integration undAbgrenzung in Südwestdeutschland undPennsylvania, in: Mitteilungen des Instituts für Europäische Kulturgeschichte der Universität Augsburg 10 (2002), S. 9– 42. 23 Das im Staatsarchiv Augsburg aufbewahrte Hauptbuch des in Immenstadt im Allgäu ansässigen Savoyers Pierre Marquerat aus dem frühen 18. Jahrhundert (Staatsarchiv Augsburg, Adel/Königsegg-Rothenfels, Nr. 398) bleibt unberücksichtigt, daMarquerats Wohnsitz außerhalb des hier betrachteten geographischen Raums liegt undsein Geschäftsbuch kaum Waren nennt. Eine Auswertung dieses Buchs wirdDr. Martin Zürn ananderer Stelle vorlegen.
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denz- und Festungsstädten.24 Sowohl Zeitgenossen als auch spätere Historiker zeichneten ein ambivalentes Bild dieser „ welschen Krämer“ : galten sie einerseits für die Versorgung der Bevölkerung mit Gütern des täglichen Bedarfs wie des gehobenen Konsums als unverzichtbar, wurden andererseits ihre Geschäftspraktiken undihr angeblich schädlicher Einfluss auf die Konsumgewohnheiten undfinanziellen Verhältnisse ihrer Kunden immer wieder angeprangert. Die Ende des 19. Jahrhunderts erschienene Wirtschaftsgeschichte des Schwarzwalds von Eberhard Gothein spiegelt beide Auffassungen beispielhaft wider. Seit dem Dreißigjährigen Krieg, so Gothein, sei Deutschland „ mitsavoyardischen unditalienischen Krämern erfüllt“und insbesondere der südliche Schwarzwald „ganz von ihnen abhängig“gewesen. Aneiner Stelle spricht er sogar davon, dass die „ italienischen Hausierer [...] grosse Gebiete in eine Art von Schuldknechtschaft gebracht“hätten. Exemplarisch führte Gothein diese Einschätzung am Beispiel der seit dem späten 17. Jahrhundert am Hochrhein etablierten Familie Perrollaz aus, wobei er sich vor allem auf Berichte der vorderösterreichischen Behörden stützte. Schon um 1715 hätten die Perrollaz und andere eingewanderte Familien in Waldshut „ die angesehenen Bürgergeschlechter nahezu verdrängt undeinneues fremdländisches Patriziat“gebildet. Von ihren Niederlassungen in Laufenburg, Freiburg, Säckingen undanderen Orten aus hätten sie das Rheinviertel, den Schwarzwald so dass unddie Grafschaft Hauenstein mit allen erdenklichen Waren versorgt, „ die Jahrmärkte zu völliger Bedeutungslosigkeit herabgedrückt“wurden. Durch großzügige Kreditvergabe war einem Laufenburger Oberamtsbericht von 1784 zufolge angeblich „ der Compagnie ein grosser Teil dieser Gegend mit Schulden verhaftet, wozu derLeichtsinn des Landvolkes zu seinem grössten Verderben vieles beiträgt.“25 Diese Darstellung, diesowohl inderlokalgeschichtlichen Literatur alsauch in Franziska Raynauds Buch Savoyische Einwanderungen in Deutschland weitgehend übernommen wurde,26 scheint die Hypothese nahe zu legen, dass mit dem Auftreten savoyischer Handelsfirmen amOberrhein eine qualitative Veränderung
24 Der Forschungsstand zu dieser Gruppe ist bislang recht unbefriedigend. Die ältere, überwiegend heimat- undfamiliengeschichtlich orientierte Literatur fasst Franziska Raynaud: Savoyische Einwanderungen in Deutschland (15.– 19. Jahrhundert). Neustadt anderAisch 2001 zusammen. Martin Zürn nähert sich demThema in einer noch laufenden Untersuchung zu Savoyern in den Städten Augsburg, Freiburg und Konstanz erstmals mit modernen sozialgeschichtlichen Methoden. Vgl. bislang Martin Zürn: Savoyarden in Oberdeutschland. Zur Integration einer ethnischen Minderheit in Augsburg, Freiburg undKonstanz, in: Carl A. Hoffmann/Rolf Kießling (Hg.): Kommunikation undRegion (Forum Suevicum 4). Konstanz 2001, 419; Ders., „Damit mandesunnützen Volks abkomme“ S. 381– . Savoyer undandere Welsche in Süddeutschland zwischen Sesshaftigkeit undVagantentum, in: Häberlein/Zürn (Hg.), Min181. derheiten, Obrigkeit undGesellschaft (wie Anm. 22), S. 141– 25 Eberhard Gothein: Wirtschaftsgeschichte desSchwarzwalds undderangrenzenden Landschaften. Bd. 1: Städte- undGewerbegeschichte (mehr nicht erschienen). Straßburg 1892, S. 49, S. 740f., S. 847. 26 Raynaud, Einwanderungen (wie Anm. 24), S. 72– 75 (vgl. ebd., S. 74 dasZitat des Waldshuter Lokalhistorikers J. Ruch).
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der Distribution vonKonsumwaren einher ging. Andie Stelle älterer, dezentraler Distributionsformen wie derJahrmärkte wären demnach straff organisierte savoyische Handelsfirmen getreten, die in großem Umfang Waren auf Kredit verkauften und die Landbewohner regelrecht in die Verschuldung trieben. Gegenüber einer so weit reichenden These erscheint aber aus mehreren Gründen Skepsis angebracht. Wenn dievorderösterreichische Regierung denPerrollaz unterstellte, die Bewohner des Schwarzwalds in eine ArtAbhängigkeit zudrängen, so manifestiert sich darin zunächst ein grundsätzliches, in der frühen Neuzeit weit verbreitetes Misstrauen der Obrigkeiten gegenüber „ ungebührlichem“Konsum der Untertanen, verbunden mit offenkundigen ethnischen Ressentiments undUnbehagen gegenüber Handelspraktiken, die sich obrigkeitlicher Kontrolle zumindest teilweise entzogen. Zweitens sind Gotheins Hypothesen bislang noch nie empirisch verifiziert worden, undeine systematische Überprüfung ist aufgrund desAufwands, der mit der Erhebung undVerknüpfung quantitativer Daten aus so unterschiedlichen Quellen wie Geschäftsbüchern, Inventaren undUnterpfandprotokollen verbunden ist, praktisch auch nicht zu leisten. Drittens schließlich ist z.B. ausdemprotestantischen Württemberg, in demsich kaum Händler aus demkatholischen Savoyen niederließen, bekannt, dass die Distribution vonKonsumwaren im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert dort in erster Linie von einheimischen Hausierern und Landkrämern getragen wurde.27 Daher verbietet es sich eigentlich vonvornherein, den Topos von den „welschen“Krämern, die durch ihr Warenangebot undihre Geschäftspraktiken die Landbevölkerung aussaugten, weiter zutradieren. Ziel dieses Beitrags, der die Verbreitung vonKonsumgütern im Oberrheingebiet durch Vertreter einer ethnischen Minderheit untersucht, kann es daher nicht sein, zu allgemeinen Erkenntnissen über die Rolle savoyischer Händler im Prozess der Genese einer Konsumgesellschaft in Südwestdeutschland zu gelangen. Sehr wohl erlauben die untersuchten Geschäftsbücher hingegen Aussagen darüber, welches Angebot an Gütern Händler wie die Montfort, Castell undPerrollaz-Cartier führten, auf welchen Wegen sie diese Güter beschafften und in welcher Form sie sie vertrieben. AufderMikroebene einzelner Handelsunternehmungen werden so differenzierte Praktiken der Distribution von Konsumwaren in einem ländlich bzw. kleinstädtisch geprägten Raum deutlich, sowohl hinsichtlich derHandelstechniken von Savoyern als auch derVeränderungen des Warenangebots zwischen demfrühen 18. undderMitte des 19. Jahrhunderts.28 In denbeiden folgenden Abschnitten werden zunächst die behandelten Krämer bzw. Kaufleute und ihre Handelsbücher näher vorgestellt und anschließend die Ergebnisse der 27 Bischoff-Luithlen: Schwabe (wie Anm. 12), S. 75– 82; Rolf Walter: Träger undFormen des südwestdeutschen Wanderhandels in historischer Perspektive, in: Reininghaus (Hg.), Wander115. handel (wie Anm. 21), S. 101– 28 DasErkenntnispotential einer mikrohistorisch ausgerichteten Untersuchung vonHandelspraktiken aufderGrundlage vonGeschäftsbüchern des 18.Jahrhunderts hatMarkus A. Denzel vor kurzem beispielhaft vorgeführt. Vgl. Markus A. Denzel: Die Geschäftsbeziehungen des Schaffhauser Handels- undBankhauses Amman 1748– 1779. Ein mikroökonomisches Fallbeispiel, in: Vierteljahrschrift für Sozial- undWirtschaftsgeschichte 89 (2002), S. 1– 40.
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Auswertung dieser Bücher im Hinblick auf die Distribution bestimmter Konsumgüter präsentiert. Dieser letztere Teil konzentriert sich auf drei Warengruppen, die inbisherigen Untersuchungen zurEntstehung der„Konsumgesellschaft“eine große Rolle gespielt haben: erstens wertvolle oder ‚exotische‘ Stoffe wie Damast, Seide undBaumwolle; zweitens demWandel derModen besonders unterliegende Accessoires wie Hals- und Taschentücher, Knöpfe und Kopfbedeckungen; drittens schließlich Genussmittel wieTabak, Zucker undKaffee.
2. Charakterisierung dersavoyischen
Handelsbücher
Der bisherigen Forschung zufolge unterschieden sich savoyische Handelsfirmen in Süddeutschland sowohl hinsichtlich ihrer Größe als auch hinsichtlich ihres Warensortiments ganz erheblich,29 unddie hier untersuchten Handelsbücher bestätigendiesen Befund. Dasälteste ausgewertete Geschäftsbuch entstand in denzwanziger und dreißiger Jahren des 18. Jahrhunderts.30 Es stammt von dem am 24.5.1680 im savoyischen Sallanches geborenen Maurice Montfort, der 1707 im Marktort Riegel amKaiserstuhl Bürger wurde, dort einige Jahre später die TochterdesSonnenwirts undKirchenschaffners Johannes Knöbel heiratete undAnfang 1744 starb.31 Maurice Montfort wurde Pate aller Kinder seines savoyischen Weggefährten Humbert Deville, der sich ebenfalls in Riegel niedergelassen und eine Verwandte von Montforts Schwiegermutter geheiratet hatte. Paten seiner eigenen elf Kinder fand Montfort in den Vogt- und Schreiberfamilien der Herrschaften Lichteneck undSchauenburg. Mindestens zwei seiner Kinder schlugen eine geistliche Laufbahn ein. Zwei Töchter verheiratete er mit Kaufleuten –demFreiburger Dominik Gäss und dem Endinger Wilhelm Litschgi, Nachkomme der ebenfalls aus Savoyen stammenden Unternehmerfamilie Litschgi. Montfort betrieb in Riegel ein Ladengeschäft, in demseine Frau undmindestens eine Tochter mitarbeiteten; sie begleiteten wiederholt Transporte, tätigten Zahlungen oder nahmen Geld in Empfang.32 Außerdem beschäftigte die Familie eine Magd und einen Knecht. Daneben lernten jeweils für einige Jahre Söhne von Geschäftspartnern bei den Montforts denKaufmannsberuf.33 29 Vgl. Raynaud: Einwanderungen (wie Anm. 24), S. 67– 85. 30 Stadtarchiv Freiburg, E 1 B III 8, Geschäftsbuch Moritz Montfort 1724– 1740 (nachfolgend zitiert als Geschäftsbuch Montfort). 31 Katholische Kirchenbücher Riegel, Heiratsbuch 1677– 1784, 14.5.1714 (hon. iuv. mercator et 1790, 29.1.1744. Die folgenden Angaben nach: Taufbuch civis in Riegel); Totenbuch 1677– 1785, 29.8.1707, 30.5.1709, 19.3.1711, 26.1.1713, 16.4.1715, 5.6.1715, 23.12.1716, 1650– 9.10.1717, 14.3.1719, 3.2.1720, 14.3.1721, 15.9.1723, 19.1.1724, 21.4.1725, 14.7.1725, 1784, 3.10.1706, 14.7.1727, 16.11.1729, 16.2.1732, 5.9.1733, 8.11.1735; Heiratsbuch 1677– 25.11.1755; Raynaud: Einwanderungen (wie Anm. 24), S. 191, 203. 32 Z.B. Geschäftsbuch Montfort, S. 70, 78, 135, 156, 181, 198. 33 Geschäftsbuch Montfort, S. 265, 320, 323, 335.
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In seinem 350 Seiten starken Handelsbuch hielt Montfort „offene“Geschäfte fest, die nicht gleich beim Abschluss beglichen worden waren –Warenverkäufe, bei denen die Zahlung oder Teile davon noch ausstanden, Kommissionsgeschäfte, Wechsel, Kredite usw.34 Fast alle Einträge fallen in die Jahre 1724 bis 1740. Die Reihenfolge der Einträge folgt keiner erkennbaren Systematik. Sie sind weder chronologisch noch nach Geschäftspartnern sortiert. Maurice Montfort führte sein Buch in deutscher Sprache, im Duktus mitunter unbeholfen unddeutlich alemannisch eingefärbt. Fast alle Einträge sind nachträglich durchgestrichen –vermutlich nach Begleichung der ausstehenden Beträge, in der Regel nach mehrjährigen Ratenzahlungen seiner Schuldner. Nur selten wird dies explizit formuliert; in manchen Fällen gewinnt man den Eindruck, dass Montfort die Restbeträge abgeschrieben hatte.35 Mit der großen Mehrheit seiner Abnehmer verbanden ihn langjährige Geschäftsbeziehungen. Dies gilt gleichermaßen füreinfache Hausierer wie fürgroße Handelskompanien. Das Buch erlaubt vor allem Einblicke in den Warenabsatz; Einkäufe finden sich nur selten. Zahlreiche Hinweise legen indessen nahe, dass Montfort seine Waren vorallem auf dengroßen Messen in Zurzach, Straßburg undFrankfurt einkaufte oder bestellte.36 Grundsätzlich ließ er keine Johanni- und keine Weihnachtsmesse in Straßburg aus, undmitunter kaufte er dort oder in Frankfurt auch für Geschäftspartner mit ein. Daneben erwarb er in kleinerem Umfang bei Ge-
schäftspartnern Gewürze, Färbemittel, Dochte, Lichter, Kurzwaren, Halstücher, Hüte, Stoffe, Tabak, Käse, Most, Hering undGetreide oder akzeptierte sie als Bezahlung fürandere Verkäufe.37 Die Summe der schriftlich festgehaltenen Geld- undWarenbewegungen beläuft sich auf gut 175.000 Gulden. Da das Buch nur über einen Teilbereich von Montforts Geschäftstätigkeit Aufschluss gibt, bildet diese Zahl aber lediglich einenAnhaltspunkt. Betrachtet mannurdie Warenverkäufe (Gesamtvolumen: rund 76.600 Gulden), fallen vorallem drei Sachverhalte auf: 1. Montfort handelte überwiegend mitStoffen unterschiedlicher Qualität undmit einer breiten Palette an Strümpfen: Bei 40% seiner Verkäufe wechselten ausschließlich Stoffe und/oder Strümpfe den Besitzer. Rechnet man noch diejenigen Transaktionen hinzu, bei denen neben Stoffen und/oder Strümpfen auch kleinere Posten anderer Waren verkauft wurden, kommt manauf ca. 60 % der Transaktionen. Daneben verkaufte er Kurzwaren (Knöpfe, Garn, Bänder, Bor-
34 Die einzelnen Geschäftsvorgänge wurden mit den Angaben zur Person des jeweiligen Geschäftspartners, Ort, Datum, Art derTransaktion (Einkauf, Verkauf, Warentausch, Kommissionsgeschäft, Einlagerung, Bilanz, Rückzahlung, Warenrückgabe, Bürgschaft, Geldwechsel, Kredit), Warenbezeichnung und-wert sowie Angaben zumZahlungsmodus in einer ACCESSDatenbank erfasst. 35 Typische Formulierungen: „ hab ihm nach gelassen aus giete“(S. 268); „ ist mihr nicht mehr recht wißent ob er so vill bezalt hat oder nicht“(S. 261); „ ist dißeß in sein felige richtig Keidt vndmiddanckh bezolt“(S. 322). 36 Geschäftsbuch Montfort, z.B. S. 17, 71, 76, 83, 85, 93, 101, 115, 127, 132, 152, 155, 234, 327.
37 Geschäftsbuch Montfort, S. 46, 134, 141, 147, 198, 214, 215, 252, 255, 283, 295 u.ö.
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ten, Spitzen, Kamelhaar), ein breites Sortiment an Krämer- undHaushaltswa-
ren (u.a. Messer, Schlösser, Schnallen, Schreibzeug, Färbemittel, Dochte, Lichter, Kalender, Haarpuder) undin kleinerem Umfang Kleidungsstücke wie Tücher, Kappen oder Hüte. Nicht unerheblich ist schließlich der Anteil der Geschäfte mitTabak, Hanf, Lebensmitteln, Schießpulver undEisen. Tab. 1: Warenverkäufe Maurice Montforts nach Warensorten38 Warensorten
Zahl
Anteil
Umsatz
Umsatzanteil
Stoffe und/oder Strümpfe Stoffe und/oder Strümpfe in Verbindungmitanderen kleinen Posten , unspezifiziert Waren“ „
315 158
(39,3 %) (19,7 %)
13.074,3 20.424,8
(26,4 %) (41,2 %)
111 38 15
(13,9 %) (4,7 %) (1,9 %)
9.545,0 1.627,9 228,4
(19,3 %) (3,3 %)
24 18 11 54 40 18 802
(3,0 %) (2,2 %)
1.836,4 1.107,8 598,4
196,6
(3,7 %) (2,2 %) (1,2 %) (1,0 %) (0,8%) (0,4 %)
49.517,5
(100 %)
Kurzwaren
Kopfbedeckungen, Tücher, Handschuhe
Lebensmittel, Holz Tabak Hanf Metall (v.a. Eisen), Schießpulver Haushaltswaren
Kalender Gesamt
(1,4%) (6,7 %) (5,0 %) (2,2 %) (100 %)
496,5 381,4
(0,5 %)
2. Der Umfang der einzelnen Geschäfte variiert stark undreicht etwa bei Hanf von 8 fl. bis zu 527 fl., bei Haushaltswaren von 9 Kreuzern bis zu 58 fl., bei Kurzwaren von 7 Kreuzern für ein Stück Floretband bis zu den 266 fl., die Montforts in Breisach ansässiger Landsmann, der Knopfmacher Jean Pierre Poncet, für 111 Pfund Kamelhaar bezahlte.39 Bei denLebensmitteln reicht die Spanne von Käseverkäufen für 36 Kreuzer bis zu einer Getreidelieferung im Wert von 456 Gulden an den jüdischen Handelsmann Jacob Greilsamer in
38 Die zweite Spalte derTabelle gibt die Anzahl derVerkaufsvorgänge, Spalte 3 denAnteil an der Gesamtzahl der Verkaufvorgänge, Spalte 4 denUmsatz dieser Transaktionen in Gulden undSpalte 5 denAnteil amGesamtumsatz an. Die folgenden Angaben sind nurals Anhaltspunkte zu verstehen. Zunächst sind sie Ergebnis einer Auswertung, die nurdie ersten zwei 220). Größere Verschiebungen sind bei der ansteDrittel des Geschäftsbuches umfasst (S. 1– henden Vollauswertung allerdings nicht mehr zuerwarten. Zweitens ist in demBuch, wie erwähnt, nur ein nicht näher bestimmbarer Teil von Montforts Handelstätigkeit festgehalten. Problematisch macht eine Analyse nach Warensorten undGeschäftsanteilen aber vor allem
Montforts ständiger Wechsel zwischen detaillierten Warenaufstellungen undsehr unbestimmten, pauschalen Angaben zudenverkauften Waren. Immer wieder finden sich Formulierungen wie: „ vorallerhand wahren, verbleibt Vor wollen strimpff Crepp Flor Kappen Floretband mit Ihme zuosammen gerechnet“ , oder: „ vorflohr bletz strimpff sambt anderer wahr“ . 39 Geschäftsbuch Montfort, S. 172.
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Breisach,40 bei Stoffen von 24 Kreuzern bis zu Partien im Wert von vielen hundert Gulden. Franz Wersel aus Freiburg zahlte 400 Gulden für „ zwey Körb mitallerhand Kremer Wahren“ .41 Auch bei denAbnehmern sind kaum Spezialisierungen feststellbar; vielmehr kauften die Kunden im Laufe der Zeit verschiedenste Waren ein. Offenbar zahlte es sich fürMontfort aus, dass er einbreites Sortiment führte.
Ein Viertel der 265 im Buch aufgeführten
Handelspartner waren wie Montfort selbst savoyischer Herkunft oder Ehefrauen bzw. Witwen undNachkommen von Savoyern, weitere 17 % trugen einen „ welschen“Namen. Die Hälfte der Partner sind hinsichtlich ihres Namens oder ihrer Herkunft als Deutsche oder Schweizer anzusprechen, 7 % waren Juden. Damit sind „ welsche“ , insbesondere aus Savoyen stammende Handelspartner zwar in der Minderheit, aber doch deutlich überrepräsentiert, was auf die Bedeutung landsmannschaftlicher Beziehungen verweist. Maurice Montfort traf seine Handelspartner auf denJahrmärkten undMessen derRegion. In dieser Hinsicht warer ein „reisender Händler“ , der einen Großteil des Geschäftsjahres unterwegs war. Er besuchte die Jahrmärkte innerhalb eines Gebiets, das sich von Riegel ausjeweils 30 Kilometer nach Norden und Süden erstreckte. ImWesten stellten derRhein unddie Festungsstadt Breisach, imOsten Waldkirch und Zell am Harmersbach die Grenze dar. Die besuchten Marktorte undStädte lagen imallgemeinen wie Riegel auf vorderösterreichischem Territorium. Auf diesen Märkten verkaufte Montfort kleinere und größere Posten am Stand,42 nahm aber auch Bestellungen an, die dann auf demVersandweg erledigt wurden. Außerdem forderte er dort Außenstände ein. Rückzahlungsfristen waren in 3 häufig an bestimmte Märkte gebunden. Eine typische Formulierung lautet: „ Thermin zuobezallen auff Offelding[en] der Erste auff Martin stauffen der ander 43Montforts Waren wurVndt der Drite auff Mathis in Ending[en] alle diß Jahr.“ den wohl zumindest teilweise auch außerhalb der skizzierten Region abgesetzt, denn viele seiner Handel treibenden Geschäftspartner wohnten weiter entfernt: in Basel, Offenburg, Gengenbach, Alpirsbach, Triberg, St. Georgen, Schlettstadt oder Straßburg. Montforts Kunden weisen eine große soziale Bandbreite auf, die von einfachen Hausierern wie Peter Meckel, „ Mander hromb gehet demSax“ , oder dem„ handlet mit Harr Buoder alß in Freyburg“über die „ Eisenkremer“Mathias Rußmann undCaspar Schwellinger, denBortenhändler Jacques Labal undzahlreiche Krämer aus kleineren Städten bis hin zu großen Kaufherren in Basel, Frankfurt oder Straßburg reichte. Geschäfte, bei denen Außenstände von mehr als 1000 fl.
40 Geschäftsbuch Montfort, S. 183. 41 Geschäftsbuch Montfort, S. 124. 42 Stadtarchiv Lahr, I, 98 Standgeldrechnungen 1723– 1729 (freundliche Schmölz-Häberlein). 43 Geschäftsbuch Montfort,
S. 195.
Mitteilung
Dr. Michaela
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stehen blieben, tätigte er fast ausschließlich mit Kaufleuten savoyischer Herkunft sowie mit drei Breisacher Juden, Philipp undLehmann Günzburger sowie Jacob Greilsamer. Montfort wardamit sowohl Zwischenhändler für Kaufleute in größeren Städten derRegion sowie für Hausierer undKrämer auf demLande als auch Einzelhändler, derin seinem Laden undauf denJahrmärkten derUmgebung Warendestäglichen Bedarfs direkt an seine Kunden verkaufte. Nicht selten mischen sich kleine undgroße Geschäfte, etwa wenndieWitwe desBreisacher Kaufmanns Bernard Pernat neben großen Chargen Stoff auch alles Notwendige erwarb, um ihren Sohn neueinzukleiden.44 Die Geschäfte Maurice Montforts waren in ein dichtes Netz persönlicher Bekanntschaften undverwandtschaftlicher Beziehungen eingebettet. Das gegenseitige Vertrauen derGeschäftspartner spiegelt sich in Bürgschaften, Kreditvergaben, Kommissions- und Wechselgeschäften sowie der Lagerung von Waren bei Geschäftspartnern wider. Knotenpunkte in Montforts Beziehungsnetz bildeten savoyische Landsleute undderen Nachkommen, aber auch „ einheimische“Verwandte undGeschäftspartner. Zahlungen konnten sich über viele Jahre hinziehen; kaum einer dervereinbarten Zahlungstermine wurde eingehalten. Montfort rechnete mit seinen Geschäftspartnern von Fall zu Fall ab –auf Messen und Märkten oder beim Ladenbesuch, ohne offenbar das Ziel zu verfolgen, die Geschäftsbeziehungenje restlos auszugleichen. Nurbei sehr massiven Verschleppungen undgroßen Beträgen drängte er aufdieVereinbarung vonZinszahlungen.45 Die im Schweizerischen Wirtschaftsarchiv in Basel überlieferten Handelsbücher der Firma „Perrolaz Cartier undCompagnie“in Laufenburg am Hochrhein aus denJahren 1773 bis 1827 stellen das weitaus umfangreichste Quellenkorpus einer savoyischen Handelsfirma dar, dasbislang bekannt ist. DerBestand umfasst 20 Geschäftsbücher undrund 190 überwiegend lose Aktenstücke wie Zahlungsforderungen und -befehle, Schuldnerverzeichnisse, Rechtsgutachten, Lieferscheine, Zollzettel undKostenverzeichnisse. Sieben Geschäftsbücher beziehen sich auf die Stadt Laufenburg, vier auf Kundschaft im Schwarzwald, sechs auf Kunden südlich des Rheins undeines auf Uniformverkäufe. Ferner liegen ein Einkaufsschuldbuch vondenZurzacher Messen undeines über diedortige Kundschaft vor. Das gesamte Textvolumen beläuft sich auf etwa 3800 Seiten.46 Da die Datenaufnahme erst begonnen hat, können an dieser Stelle nur einige Eckpunkte der Geschäfte derPerrollaz-Cartier abgesteckt werden. Die Perrollaz wieauch die Cartier stammten ausdemDorf Magland imArvetal, aus demzahlreiche savoyische Händler kamen. Über die an der Firma beteiligten Personen –in den Büchern werden die Brüder Jean, François undJoseph sowie ein Carl Perrollaz erwähnt –ist bislang jedoch noch nichts Näheres bekannt, dadiese Familienzweige nicht vonderpersonengeschichtlichen Forschung
44 Geschäftsbuch Montfort, S. 162f., S. 178f., S. 181. 45 Z. B. Geschäftsbuch Montfort, S. 75f., S. 153, S. 187, S. 254. 46 Schweizerisches Wirtschaftsarchiv Basel, Bestand 210, Perrollaz undKonsorten, Laufenburg.
Savoyische Kaufleute unddie Distribution vonKonsumgütern
imOberrheingebiet
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zur savoyischen Migration erfasst wurden.47 Da die Geschäftsunterlagen in französischer Sprache geschrieben und deutsche Eigennamen lautschriftlich wiedergegeben sind, entsteht derEindruck, dass dieTeilhaber direkt aus Savoyen anden Rhein gekommen sind. Im Falle der Cartier gehen aus einer Quelle verwandtschaftliche Beziehungen nach Magland hervor.48 Die rechtliche Struktur des Unternehmens lässt sich ausdenAkten nicht genau rekonstruieren, doch lassen Einträge, die sich auf Perrollaz-Firmen in benachbarten Städten beziehen, vermuten, dass es sich umein lokal begrenztes, rechtlich selbstständiges Unternehmen auf derBasis vonHerkunfts- undVerwandtschaftsbeziehungen handelte. Das in den Büchern ablesbare Geschäftsmodell bestand im Einkauf größerer Partien Textilien auf denZurzacher Verena- undPfingstmessen49 undderen De1817 tailverkauf im Umland von Laufenburg. DemEinkaufsbuch der Jahre 1800– zufolge50 kauften die Perrollaz-Cartier bei rund 120 Firmen ein. Davon kamen 20, also ein Sechstel, ausBasel, je sechs aus Frankfurt amMain undSt. Gallen, fünf ausBern sowie vier ausSchaffhausen. Die übrigen Lieferanten verteilen sich über 56 Orte in der Schweiz, Frankreich, Südwestdeutschland, Franken, Thüringen, Sachsen undim Bergischen Land. Mit Abstand wichtigster Lieferant warJohann Jacob Preiswerck aus Basel mit 168 Geschäftsvorgängen undeinem Umsatz von 83.835 fl., gefolgt von Benedikt Bischoff mit 101 Vorgängen sowie Christof Huber undJohann Jacob Bischof d. Ä. mitjeweils 60 Transaktionen. Die vier genannten Firmen –allesamt in Basel ansässig –waren für etwa ein Drittel aller geschäftlichen Transaktionen verantwortlich. Ein weiteres knappes Drittel entfiel aufzehn weitere Unternehmen, mitdenen jeweils 30 bis 60 Geschäfte abgeschlossen wurden. Die Zahlungszyklen sind ungleichmäßig; häufig laufen sie über ein Jahr zwischen den jeweiligen Messen. Bei größeren Lieferanten wurden öfter mehrere Schuldforderungen auf einmal beglichen. Ein Teil der Geschäfte wurde auch zwischen denMessen getätigt; einige Lieferanten hatten reisende Vertreter. Aus den Verkaufsbüchern geht hervor, dass die Perrollaz-Cartier beiderseits des Rheins mit einer breiten Palette an Textilien undKurzwaren handelten. Südlich desRheins lag derSchwerpunkt in derbis 1803 vorderösterreichischen Herrschaft Fricktal. DerWechsel derHerrschaft hatte keinen ersichtlichen Einfluss auf die Geschäfte der Perrollaz, die hier in rund 40 Orten handelten. Nördlich des Rheins erstreckte sich dasungefähr 70 Orte umfassende Absatzgebiet in denSüdschwarzwald bis Ibach und Todtmoos und wurde westlich von Säckingen und östlich von Albbruck begrenzt. Die Kartierung der Orte ergibt räumlich nahezu 47 Vgl. die genealogischen
Informationen bei Karl Martin: Die Einwanderung aus Savoyen nach Südbaden, in: Schau-ins-Land 65/66 (1938/39), S. 3– 118, hier S. 17, S. 23f., S. 85f. undRaynaud: Einwanderungen (wie Anm. 24), S. 219– 221.
48 Schweizerisches Wirtschaftsarchiv Basel, Bestand 210, Fasz. A, Nr. 177. 49 Zur Entwicklung dieser traditionsreichen Messen im frühen 19. Jahrhundert vgl. allgemein Walter Bodmer: Die Zurzacher Messen von 1530 bis 1856 (Argovia 62). Aarau 1962, S. 115– 122. 50 Schweizerisches Wirtschaftsarchiv Basel, Bestand 210, Fasz. U, Livre d’Achats, 1800– 1817.
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geschlossene Geschäftsregionen, die sich in einem Umkreis von ca. 20 Kilometern rundumLaufenburg erstreckten. Die Kundengeschäftsbücher sind nach einem relativ einheitlichen Muster angelegt. Es handelt sich nicht umVerzeichnisse aller Verkäufe, sondern umjournalartige Schuld- bzw. Restschuldverzeichnisse von Textilverkäufen. Die exemplarische Auswertung von 890 Transaktionen imJournal deLauffenbourg für die Jahre 1797– 1802 zeigt, dass es meist umden Verkauf von weniger als 10 Ellen Tuch ging.51 Die Hälfte aller Posten lag in der Größenordnung von weniger als einem Gulden. Die Kundschaft lässt sich beim gegenwärtigen Stand derAuswertung nur summarisch beschreiben. Ständige Kunden waren offenbar Schneider, undhäufiger erscheinen auch wohlhabende Bürger, die zumTeil größere Stoffmengen (bis ca. 100 Ellen) erwarben. Handwerker der unterschiedlichsten Branchen scheinen ebenfalls regelmäßige Kunden gewesen zusein. In vielen Einträgen wurden Dienstboten oder Verwandte ‚etablierter‘Kunden als Käufer genannt. Aus dem Buch über Uniformverkäufe geht hervor, dass die Perrollaz südlich des Rheins von 1799 bis nach 1820 –über denHerrschaftswechsel in Fricktal hinweg
–komplette
Uniformgarnituren (bzw. dasnotwendige Material dazu) verkauften.52 Auswertung derBücher zeigt, dass dasUnternehmen in seinem Geschäftsgebiet fraglos einen wichtigen Beitrag zurDistribution vonTextilien leistete. Gleichzeitig wird deutlich, dass es sich nicht umein monolithisches Großunternehmen handelte, wie Gothein und noch Raynaud suggerieren, sondern die Laufenburger Firma wohl als Teil einer Gruppe eigenständiger Unternehmen begriffen werden muss, die räumlich undvomGeschäftsgegenstand her klar gegeneinander abgegrenzt waren. Durch ihr dichtes Vertriebsnetz ist eine regionale Marktbeherrschung im Textildetailhandel zwar nicht auszuschließen, aber auch nicht nachzuweisen. Das letzte vorzustellende Handelsbuch, das sich in Privatbesitz befindet, 1859) undJohann Joseph Castell stammt von den Brüdern Johann Anton (1780– 1855) aus Gressoney im Aostatal, die sich um 1800 zunächst in Riegel als (1783– Hintersassen niederließen und 1813 nach Elzach im Schwarzwald übersiedelten. Johann Anton erwarb hier für 4200 fl. ein Haus, das„ mit demKrämerrecht versewar, samt Scheune undGarten. Beide Brüder waren in erster EhemitFrauen hen“ aus ihrem Heimatort verheiratet, die ihnen nach Elzach folgten. Während Johann Joseph dort blieb undin zweiter Ehe eine Einheimische zurFrau nahm, verbrachte Johann Anton seinen Lebensabend in Savoyen. Seine drei Söhne machten kauf-
Die erste
51 Schweizerisches Wirtschaftsarchiv Basel, Bestand 210, Fasz. D, Journal de Lauffenbourg No. 1. 52 Schweizerisches Wirtschaftsarchiv Basel, Bestand 210, Fasz. O, Livre de Kaichete, A des 1811. uniformes, 1799–
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männische Ausbildungen, u.a. in Genf undMorges amGenfer See, undbetrieben später Geschäfte in Elzach undOffenburg.53 DasHandelsbuch derCastell gliedert sich in zwei Teile. Imersten Teil stehen in der Form eines klassischen Hauptbuches die Forderungen von Geschäftspartnern dengeleisteten Zahlungen derJahre 1814 bis 1843 gegenüber, wobei diehier aufgeführten rund 50 Partner nurein unvollständiges Bild derGeschäftsbeziehungenwiedergeben. Derzweite, umfangreichere Teil umfasst Kopien vonüber 1500 Geschäftsbriefen aus den Jahren 1824 bis 1834, die in einer Datenbank erfasst wurden.54 Wurden bis 1828jährlich rund200 Briefe festgehalten, waren es danach noch etwa 80 bis 130. Ob dieser Rückgang mit der in einem Brief von 1834 erwähnten Eröffnung von Filialgeschäften in der Schweiz und in Offenburg zusammenhängt, muss offen bleiben.55 Nurwenige Briefe richteten sich anKunden, rund90 % hingegen anLieferanten, die derElzacher Firma in erster Linie Textilien undKurzwaren –verschiedene Stoffe, Tücher, Garne, Bänder, Knöpfe –verkauften. Die insgesamt 630 Bestellungen der Castell in den Jahren 1824 bis 1834 zeigen, dass ihr Warensortiment nach Muster, Größe und Qualität sehr differenziert war. Die wichtigsten Lieferanten waren in derNordschweiz, imsüddeutschen RaumundimBergischen Land ansässig. In 14 Schweizer Städte undGemeinden gingen insgesamt 267 Bestellungen, die meisten davon nach Basel (61), Thalwil im Kanton Zürich (37), Aarau (36), Zürich (35), Wattwil im Kanton St. Gallen (21), Roggwil im Kanton Bern (19) undSchönenwerth imKanton Solothurn (18). Die 261 Bestellungen bei süddeutschen Lieferanten verteilen sich auf 37 Städte undOrte, wobei die Stadt Lahr mit 62 Bestellungen für den Warenbezug eine herausragende Rolle spielte. In keine andere süddeutsche Stadt schickten die Castell im selben Zeitraum mehr als 20 Bestellungen. Fast alle Warenlieferungen ausdemBergischen Land kamen aus Barmen (11), Elberfeld (13) und Langenberg (26). Eine bedeutende Rolle spielten ferner Seiden- und Damastlieferungen aus Turin, eine geringere Rolle hingegen Bestellungen vonKleidungsstücken (Kappen, Handschuhen, Strümpfen) bei einer sächsischen Firma. Neben Textilien, Kleidung undKurzwaren, auf die
53 Karl Martin: Die italienische Gemeinde Gressoney amMonte Rosa undihre Beziehungen zum Breisgau, in: Schau-ins-Land 62 (1935), S. 32– 55, bes. 42f.; Martin: Einwanderung (wie Anm. 47), S. 53f., 62; Raynaud: Einwanderungen (wie Anm.24), S. 146. 54 Die in derQuelle nicht nummerierten Briefe wurden nach derReihenfolge ihrer Eintragung im Buch durchnummeriert. DaBriefe ausdenJahren 1831– 34 vordenBriefen derJahre 1824– 30 eingetragen wurden, entspricht diese Nummerierung nicht der Chronologie. Im folgenden werden die Briefe mitdervondenBearbeitern vergebenen Nummer unddemBriefdatum zitiert. Die ACCESS-Datenbank ist nach Datum, Name undWohnort des Empfängers, Art der Transaktion (z.B. Warenbestellung, Warenverkauf, Bezahlung, Reklamation), Höhe der Transaktion underwähnten Warensorten abfragbar. Eine Volltextsuche im Feld „inhaltliche Bemerkungen“ermöglicht zudem das Auffinden vonspezifischen Briefinhalten (z.B. Bemerkungen über denGang derGeschäfte, Preisentwicklungen, Geschäftsreisen). In einigen wenigen Fällen wurde nicht der ganze Brief in das Buch kopiert, sondern nurder Inhalt kurz zusammengefasst.
55 Castell-Handelsbuch, Brief Nr. 353 (7.4.1834).
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insgesamt zwei Drittel aller Bestellungen entfielen, kauften die Castell unterschiedliche Waren für den Detailhandel: Färbereibedarf, Weberohr, Gewürze, Kaffee, Mandeln, Tabak, Öl, Essig, Kalender, Holzlöffel, Schießpulver und Eisendraht. Diese Waren bezogen sie hauptsächlich aus dem rechtsrheinischen Raum zwischen Karlsruhe und Basel. Einige Lieferanten der Castell hatten im übrigen vor 1817 bereits Waren an die Perrollaz-Cartier in Laufenburg verkauft: Joseph Sautier undDominik Gäss in Freiburg, die Firma Heggi in Roggwil (KantonBern), Johann Jacob Preiswerck sowie Burghardt undVondermühl in Basel.
34 Tab. 2: Bestellungen derGebrüder Castell nach Warensorten, 1824– Warensorte
Anzahl
Anteil
anBestellungen
367 32 20 20 29 26 17 47 32 28
Stoffe, Garne, Bänder, Tücher Kopfbedeckungen, Strümpfe, Handschuhe
Knöpfe Kaffee, Zucker, Gewürze Lebensmittel (v.a. Öl, Essig) Metallwaren (Draht, Sensen) Pulver Tabak Weberohr Sonstiges (Löffel, Drucke, Färbemittel, Glas, Lichter, Kohle, Wachs) unbekannt
Gesamt
(58,3 %)
(5,1 %) (3,2 %) (3,2 %) (4,6 %) (4,1 %) (2,7 %) (7,5 %)
(5,1 %) (4,4 %)
12
(1,9 %)
630
(100,1 %)
Tab. 3: Geographische Verteilung der Bestellungen der Gebrüder Castell, 1824– 34 Region Süddeutscher Raum
Schweiz Rheinland, Bergisches Land Sachsen Italien Sonstige/Unbekannt Gesamt
Anzahl
261 267 51 12 31
Anteil
anBestellungen (41,4 %) (42,4 %)
8
(8,1 %) (1,9 %) (4,9 %) (1,3 %)
630
(100,0 %)
In rund 650 Briefen werden Fragen der Bezahlung angesprochen. In gut einem Drittel der Fälle wurde bar bezahlt –entweder direkt, durch einen Boten oder Fuhrmann oder durch die Post. Es ging dabei umBeträge zwischen vier und320 Gulden, in der Regel jedoch vonunter 100 Gulden. Größere Warenlieferungen – in den Briefen werden Summen von über 1500 Gulden genannt –wurden mit Wechseln beglichen, wobei die Castell vor allem Wechselbriefe Frankfurter, seltener Augsburger Bankhäuser sowie derSchweizer Häuser Petit Pierre inNeuchâ-
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tel und Kuenzer & Hettich in Vevey kauften. Regelmäßige Lieferanten wurden selten direkt für die einzelne Lieferung bezahlt. Vielmehr schickten die Castell Wechsel, wenn sie „gerade imbesitz“von solchen waren, wie es in denBriefen heißt.56 Erst nach mehreren Lieferungen undZahlungen rechnete manab undbeglich die noch ausstehende Summe. ZurGeschäftsstrategie derBrüder gehörte es, die Preise für erhaltene Ware wonurmöglich zu drücken. Ständig wurde reklamiert, die Lieferungen entsprächen nicht derBestellung, seien zu leicht, zuklein, 57undimmer wieder gingen derartige nicht schön oder „ nicht lebhaft in derFarb“ Reklamationen mit Preisabzügen einher.58 ZumTeil wurde die Ware auch wieder zurückgeschickt,59 oder die Gebrüder Castell boten an, mangelhafte Ware zunächst in Kommission zubehalten underst wieder zurückzugeben, wenn ein Weiterverkauf tatsächlich nicht möglich wäre.60 Soweit wir über die Kunden der Gebrüder Castell unterrichtet sind, fanden sich diese überwiegend im Schwarzwald und in der Rheinebene zwischen Bühl undBasel. Da mehrfach vonrecht kleinen Mengen die Rede ist, handelte es sich hier wohl zum Teil umEndverbraucher. Daneben erwähnten die Castell gegenüber ihren Lieferanten, sie würden bestellte Waren auch „ en gros“verkaufen. Dass dieser Zwischenhandel jedoch vergleichsweise bescheiden gewesen sein muss, zeigt sich etwa daran, dass bei der Bestellung von nur einigen Dutzend Baumwolltüchern bereits vomWeiterverkauf „ en gros“die Rede war.61 Nahe liegend erscheint eine Mischung aus Detailhandel und der Belieferung kleinerer Krämer der Umgebung. Schließlich scheint auch der Warenabsatz auf Jahrmärkten der Region noch eine Rolle gespielt zu haben. Mit Sicherheit jedoch spiegelt der Briefwechsel nurAusschnitte ausdemGeschäftsverkehr wider. AusdenBriefen erfahren wir von Reisen nach Genf undItalien, geschäftlichen Treffen während der Frankfurter undZurzacher Messen undBesuchen vonHandelsreisenden, bei denen viele Angelegenheiten direkt geregelt werden konnten.62 Einen neuen
56 Castell-Handelsbuch, Brief Nr. 127 (30.8.1831). Eine genauere Untersuchung der Zahlungsformen sowie derBeschaffungs- undVertriebswege derGebrüder Castell bleibt einer eigenen Untersuchung vorbehalten.
57 Castell-Handelsbuch, Brief Nr. 29 (26.11.1830). Vgl. außerdem z.B. Briefe Nr. 61 (28.2.1831), 208 (5.7.1832), 240 (2.11.1832). 58 Z.B. Castell-Handelsbuch, Briefe Nr. 85 (25.5.1831), 87 (30.5.1831), 97 (4.7.1831), 157 (19.11.1831), 184 (3.3.1832). 59 Castell-Handelsbuch, Briefe Nr. 386 (6.2.1824), 414 (1.4.1824), 1094 (24.12.1827), 1142 (13.3.1828), 1148 (19.3.1828), 1330 (14.3.1829), 1509 (22.9.1830), 97 (4.7.1831), 125 (30.8.1831), 134 (15.9.1831). 60 Z.B. Castell-Handelsbuch, Briefe Nr. 722 (7.12.1825), 893 (23.12.1826), 935 (28.2.1827), 1131 (29.2.1828), 11 (8.1.1830), 291 (14.10.1833). 61 Castell-Handelsbuch, Briefe Nr. 539 (18.12.1824), 630 (12.6.1825), 836 (12.10.1826), 973 (1.6.1827). 62 Vgl. exemplarisch Castell-Handelsbuch, Briefe Nr. 383 (30.1.1824), 607 (12.5.1825), 617 (22.5.1825), 626 (6.6.1825), 633 (24.6.1825), 1241 (21.9.1828), 1448 (8.3.1830), 76 (12.5.1831), 80 (19.5.1831).
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Wegschlugen die Castell 1833/34 ein, als sie größere Partien anTextilwaren aus demoberrheinischen Raum an Kaufleute in Genf undAosta zu liefern begannen. Da die Überlieferung 1834 abbricht, ist die weitere Entwicklung dieses Geschäftszweigs leider nicht dokumentiert.63 Kontakte zusavoyischen Firmen undFamilien spielten quantitativ eine untergeordnete Rolle. Einen besonderen Stellenwert hatten jedoch Beziehungen zu Familien aus Gressoney, demHeimatort der Castell. Der in Ravensburg undImmenstaad am Bodensee ansässigen Gressoneyer Familie Mehr hatten die Castell über viele Jahre 1000 fl. zu einem Zinssatz von4 % geliehen,64 undAnton Mehr ging bei ihnen in die Lehre.65 Enge private Beziehungen spiegeln sich in persönlich gefärbten Formulierungen wie demWunsch, der Adressat möge „einen vergnügten Sommer und gute Geschäfte“haben, oder der brieflich ausgedrückten personliches wiedersehn“in Gressoney.66 Noch enger waren Hoffnung auf ein „ die Beziehungen zur Familie Thumiger, aus der die Mutter der Brüder Castell stammte.67 Nach demToddes in St. Georgen bei Freiburg ansässigen langjährigen Geschäftspartners Sebastian Thumiger übernahm Johann Anton Castell nicht nur die Verantwortung für dessen Vermögen in Deutschland, sondern auch die Pflegschaft für dessen vier unmündige Kinder. Insbesondere derjunge Sebastian Thumiger bereitete seinem Vormund viel Kopfzerbrechen: seinem Wunsch, Kunstmaler zu werden, stimmte Johann Anton Castell offenbar nurschweren Herzens zu.68 AusderZeit vor demToddes älteren Thumiger sind ferner geschäftliche Kontakte zu der Gesellschaft Thumiger & Montering nachweisbar, die von Textilgeschäften über Sendungen vonbestellten Wechseln bis hinzugemeinsamen Bestellungen in Turin reichten. Möglicherweise waren die Brüder Castell undThumiger & Montering auch Mitglieder einer Kommanditgesellschaft.69 Mitglieder der Gressoneyer Familie Delapierre/ Zumstein im Aostatal undin Turin schließlich traten als Käufer undVerkäufer von Waren in Erscheinung undwurden in brieflichen Anreden bisweilen als „lieber alter guter Freund“bezeichnet.70
63 Castell-Handelsbuch, Briefe Nr. 265 (14.9.1833), 314 (26.12.1833), 343 (6.3.1834), 350 (4.4.1834), 354 (10.4.1834), 355 (10.4.1834), 369 (16.5.1834), 370 (16.5.1834). 64 Castell-Handelsbuch, Briefe Nr. 627 (11.6.1825), 796 (22.6.1826), 345 (16.3.1834), 360 65 66 67 68 69
(18.4.1834). Castell-Handelsbuch, Brief Nr. 503 (13.10.1824). Castell-Handelsbuch, Briefe Nr. 796 (22.6.1826), 503 (13.10.1824), 627 (11.6.1825). Martin: Gemeinde Gressoney (wie Anm. 53), S. 42. Castell-Handelsbuch, Brief Nr. 116 (6.8.1831). Castell-Handelsbuch, Brief Nr. 1286 (11.12.1828); Martin: Einwanderung (wie Anm. 47),
51.
70 Castell-Handelsbuch, Brief Nr. 1329 (13.3.1829).
S.
Savoyische Kaufleute unddieDistribution vonKonsumgütern
imOberrheingebiet
3. DerHandel mitKonsumwaren imSpiegel savoyischer
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Geschäftsbücher
Nach dieser allgemeinen Charakterisierung der drei savoyischen Händler bzw. Handelsfirmen und ihrer geschäftlichen Überlieferung wird im folgenden Abschnitt spezifischer nach demWarensortiment, das sie führten, undinsbesondere nach den von ihnen gehandelten Konsumwaren gefragt. Dabei erscheinen drei Warengruppen besonders aussagekräftig: erstens Stoffe undGarne, anhand derer sich veränderte Präferenzen für Stoffarten, Farben undMuster feststellen lassen; zweitens Accessoires wie Hals- undSchnupftücher, Knöpfe undKopfbedeckungen, deren Bedeutung vielen konsumgeschichtlichen Studien zufolge im Verlauf des 18. undfrühen 19. Jahrhunderts stark zunahm; unddrittens schließlich „Kolonialwaren“wie Tabak, Kaffee undZucker, deren Verbreitung ebenfalls häufig als Indikator fürsich wandelnde Konsumgewohnheiten herangezogen wird.
Stoffe undGarne
Maurice Montfort aus Riegel handelte in den20er und30er Jahren des 18. Jahrmiteinem breiten Sortiment an Stoffen, dasvongroßen Posten einfacher Sorten wie Zwilch, Landtuch, „ Land Sarge“undPacktuch bis hin zu Luxusstoffen wie Halbdamast, Droguet,71 Taft, Plüsch, Musselin, Seide undBrokat reichte. Ein beträchtlicher Teil dieser Stoffe wurde offenbar überregional bezogen. Darauf weist sowohl eine Transaktion aus demJahre 1724 hin, als Maurice Montforts in Freiburg ansässiger Bruder Carl Franz Montfort auf der Frankfurter Ostermesse für ihn Außenstände bei Kaufleuten in Hamburg, Eisenach, „Brekher Felt“und Frankfurt bezahlte, als auch Warenbezeichnungen wie „ , „EngEnglisch Tuch“ lischer Crepen“ , „Englischer Scharschet“ , „holendischer Taffet“ , , „Likher Duoch“ Frankfurter Tuch, „ Galler Tuoch“ , „Norder Duch“ , Görlitzer Tuch oder „roth langenfelder“ . 1734 kaufte Montfort in Basel rund 140 Ellen „Mihl Haußer Duoch a .72Wiederholt erwähnt das Buch den Absatz von geblümtem Flanell und 50xr“ von einzelnen Stücken bzw. kleineren Mengen an „moden farb duoch“ .73Detailliertere, über die Grundfarben hinausgehende Farbangaben sind zwar relativ selten, doch deuten Angaben wie „Canel farb“(zimtfarben), „Caffée“ , , „scharlach“ violet“oder „ „ blaw Melirt“auf ein differenziertes Angebot hin.74 ZumTeil werhunderts
71 Seidenzeug mit ein- undmehrfarbigen Mustern: vgl. Walther v. Hahn: Die Fachsprache der Textilindustrie im 17. und 18. Jahrhundert (Technikgeschichte in Einzeldarstellungen 22). Düsseldorf 1971, S. 156. 72 Geschäftsbuch Montfort, S. 147, 150, 161, 171f., 225, 237f., 241, 244, 256, 260, 272, 291, 310 u.ö.
73 Geschäftsbuch Montfort, S. 127, 160, 234, 238, 244, 256, 260, 272. 74 Geschäftsbuch Montfort, z.B. S. 166, 197, 272.
102
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denunterschiedliche Sorten ein unddesselben Stoffs auch durch Nummern unterschieden.75 Mit einem Ellenpreis von38 bis 40 Kreuzern gehörte (schwarzer) Halbdamast zu den teuersten Stoffen im Sortiment, und Montfort veräußerte ihn meist im Kontext größerer geschäftlicher Transaktionen. Im Jahre 1727 etwa verkaufte er seinem Vetter Montfort imelsässischen Rouffach Halbdamast imWert von 101fl. 12 kr., 1730 Antoni Deville in Breisach 44 Ellen Halbdamast für 29 fl. 20 kr. als Teil einer Warenlieferung im Wert von 551 fl. und 1732 der Witwe Pernat, die ebenfalls in Breisach ansässig war, 50 Ellen für 33 fl. 20 kr. im Rahmen eines Warengeschäfts über 580 fl.76 Eine vergleichsweise geringe Rolle spielte schließ,77 lich der Verkauf von Seide, sei es pfundweise oder in Form von „seiden Zeig“ sowie von Baumwollstoffen, die ausschließlich in den Farben blau und violett auftauchen.78 Fürdie Laufenburger Firma Perrollaz-Cartier warderellenweise Verkauf von Stoffen ein wesentlicher Teil ihrer Geschäftstätigkeit, unddas ausgewertete Sample von 890 Transaktionen imJournal deLauffenbourg aus denJahren 1797– 1802 umfasst eine breite Palette an Stoffarten und-farben. Die Firma verkaufte demnach häufig Biber-, Kamelott-, Chalon-, Woll-, Flanell-, Barchent-, Manchester-, Ratin-79 und Leinenstoffe; daneben finden sich aber auch Verkäufe von (Woll)Damast, Droguet, Indienne, Kaschmir, Serge, Taft undBaumwollsamt. Teurere Stoffsorten wurden meistens in Größenordnungen bis zu fünf Ellen abgesetzt. Allein unter der Rubrik „Drap“(Wolltuch) finden sich innerhalb des Samples rund 30 Sorten, die in der Qualität von „ordinaire“über „fin“ bis „super fin“und in derFarbpalette vonweiß undgrau über blau, rot undgrün bis hinzubraun und schwarz reichten. Die Sorten „ Drap de Sedan noir“und „Drap noir mulhouse“ verweisen auf die Herkunft der Stoffe aus Zentren der Manufakturproduktion. Biber –gerauten und geköperten Baumwollflanell –verkauften die PerrollazCartier ebenfalls in verschiedenen Qualitäten und Farben (braun, grau, grün, blau); das Sample umfasst insgesamt 15 verschiedene Bezeichnungen. Chalon – ein leichter, feiner Futterstoff aus Kammgarn –findet sich in den Farben weiß, blau, grün, olive, grau, rot, braun undschwarz.80 Unter denTuch- undGarnbestellungen, welche die Brüder Castell in denJahren 1824 bis 1834 in Auftrag gaben, finden sich Wollstoffe wie Frieß, Molton und Flanell, die aus Aalen, Nördlingen undSchaffhausen bezogen wurden, Taft, der
75 Geschäftsbuch Montfort, z.B. S. 159, 163, 267, 274, 290f. 76 Geschäftsbuch Montfort, S. 4, 6, 13, 39, 64, 71, 73, 77, 100, 117, 137, 156, 159, 162, 165f., 170, 175, 179. 77 Geschäftsbuch Montfort, S. 5, 13, 17f., 37, 41f., 65, 68, 72, 91– 110, 113f., 130, 137, 93, 108– 163, 166, 170f., 183, 193, 207, 225, 244, 321. 146, 150, 156, 161– 78 Geschäftsbuch Montfort, S. 153, 159, 166, 234, 256, 260, 282f., 287, 311, 326. 79 Frisiertes Wolltuch: v. Hahn: Fachsprache (wie Anm. 71), S. 205. 80 Angaben nach Schweizerisches Wirtschaftsarchiv Basel, Bestand 210, Fasz. D, Journal de Lauffenbourg No. 1.
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aus Basel kam, undso genannte „Rübele“ , ein gerippter Manchesterstoff, denJosef Heggi ausRoggwil imKanton Bern sowohl einfarbig als auch bedruckt lieferte.81 Auf eine differenzierte Nachfrage nach solchen Stoffen und saisonale Schwankungen der Absatzmöglichkeiten wiesen die Castell ihren Lieferanten Heggi imJahre 1830 hin: „ dertruck“ , klagten sie, „hätte für Somer Waar zuseyn viel lebhafter ausfallen können“.82Insgesamt führten die Castell aber offensichtlich ein weniger differenziertes Sortiment anWoll- undLeinenstoffen als die Perrollaz-Cartier in Laufenburg. Besondere Bedeutung für das Warenangebot der Castell kommt indessen den insgesamt 29 Bestellungen in Turin –11 für Damast und 18 für Seide –zu, wobei es sich hier umqualitativ ausgesprochen hochwertige Ware handelte. Damast or1830) bzw. derten die Castell bei denFirmen Giovanni Domenico Brachetti (1824– Calandra, Grasso & Tasca (1830– 33). In der Regel bestellten sie 100 bis 160 Ellen in den Farben schwarz („ noir noir“bzw. „noir bleu“ ) und„cremice“ . Bei Ellenpreisen vonüber 3 fl. belief sich derWert dieser Bestellungen aufjeweils 320 bis 500 fl.83 Seide kauften die Castell regelmäßig bei der Firma Dupré, die bis 1828 unter dem Namen „ Dupré & Soldati“ , ab 1829 dann unter „Dupré padre & figlio/figlii“in ihrer Korrespondenz erscheint. Die Abnahmemengen waren sehr unterschiedlich undreichten von einer kleinen Bestellung von eineinhalb Pfund im Dezember 1830 bis zu 212 Pfund im Juni 1824. Zwischen Juli 1825 undJuli 1826 erhielten die Castell von Dupré ausTurin insgesamt vier Sendungen im Gesamtwert von 1.767 fl. 5 kr. undim Sommer 1828 zwei Lieferungen für zusammen 875 fl. 11 kr.84 Die Bestelllisten weisen auf eine beträchtliche Farbenvielfalt der aus Turin bezogenen Seide hin. Anfang Juni 1828 beispielsweise orderten die Castell 80 ½ Pfund Seide, wovon 24 Pfund schwarz, 18 „ bleu fonce“unddie übrige unter anderem orange, grün, „ cremice“ , „porcolain“und„fantasia nera“sein sollte. Eine Bestellung über 43 ½ Pfund „Stepp- undNehseide“ , die Dupré nach denbeigelegten Farbmustern ausführen sollte, umfasste die Farben grün, blau, gelb, aschgrau, violett, braun, dunkelrot, inkarnat, carmoisin, schneeweiß, grüngelb, grasgrün, perle“ „ , dunkelblau undgoldgelb.85 81 Z.B. Castell-Handelsbuch, Briefe Nr. 427 (28.5.1824), 490 (26.9.1824), 540 (18.12.1824), 565 (5.2.1825), 1153 (10.4.1828), 1465 (28.5.1830). 82 Castell-Handelsbuch, Brief Nr. 1453 (15.4.1830). 83 Castell-Handelsbuch, Briefe Nr. 439 (22.6.1824), 544 (25.12.1824), 628 (12.6.1825), 873 (9.12.1826), 794 (22.6.1826), 1169 (15.5.1828), 1341 (9.4.1829), 1408 (5.9.1829), 21 (25.10.1830), 118 (8.8.1831), 146 (28.9.1831), 150 (31.10.1831), 202 (2.6.1832), 302 (15.11.1833). 1830 schrieben die Castell an Brachetto, ihnen sei berichtet worden, dass „ die Seide abgeschlagen hat“ , daher hofften sie auch auf einen günstigeren Preis für Damast: Brief Nr. 1448 (8.3.1830). 84 Castell-Handelsbuch, fol. 47. 85 Castell-Handelsbuch, Briefe Nr. 438 (22.6.1824), 1178 (4.6.1828), 1452 (11.4.1830), 32 (5.12.1830).
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Damast undSeide wurden in kleineren Partien an andere Händler der Region verkauft. Im Juni 1826 boten die Castell Michael Welly vonOberwolfach blauen Damast zumPreis von 5 fl. pro Elle an undübersandten ihmein Muster. ZuBeginn des Jahres 1831 erinnerten die Brüder ihren Kunden Joseph Pfaff von Triberg, dass noch eine Rechnung für eine Damastsendung des Jahres 1829 offen war. Den Freiburger Alexander Krebs ließen die Castell 1828 wissen, dass sie Damast für 8 fl. 15 kr. pro Elle bis nach Karlsruhe verkaufen würden.86 Im Mai 1829 unterbreiteten sie demKenzinger Händler J.G. Lachenmann ein Angebot für schwarze undgefärbte Seide, undim folgenden Monat sandten sie ihmein halbes Pfund schwarze und5/8 Pfund gefärbte Nähseide zumPreis von 13 fl. Außerdem verkauften sie Seide anHändler in Offenburg, Lahr undSchliengen.87 Während die Castell Damast undSeide in so großen Mengen ausTurin bezogen, dass sie sie an andere oberrheinische Händler abgeben konnten, kauften sie gefärbte Baumwolle nur in kleineren Partien bei regionalen Anbietern, insbesondere bei „Müller Carls Sohn“in Lahr, demsie in regelmäßigen Abständen Mengen zwischen 20 und 100 Pfund abnahmen,88 aber auch bei Händlern in Freiburg, Günterstal undBühl.89 Die relativ geringen Mengen sowie das im Vergleich mit der Seide wesentlich kleinere Farbenspektrum –neben weißer werden vor allem verschiedene Blautöne erwähnt –lassen vermuten, dass die Castell Baumwolle nurfürdenDetailverkauf bezogen.
Accessoires
Es warvor allem die Entwicklung vonAccessoires,“so Roman Sandgruber, „die „ es auch den weniger Wohlhabenden erlaubte, ihrem Äußeren einen modischen Anstrich zu verleihen. Durch Handschuhe, Knöpfe, Borten, Schnallen und Halstücher konnte man sich modisch und elegant kleiden, ohne sehr viel Geld aus90Der Vertrieb solcher Accessoires spielte für alle drei untersuchten zugeben.“ Firmen eine große Rolle. Maurice Montfort in Riegel verkaufte in den 1720er und 30er Jahren regelmäßig seidene bzw. halbseidene Hals- undSchnupftücher, in der Regel in Partien zwischen einem halben undvier Dutzend Tüchern. Die Dutzendpreise bewegten sich zwischen 2 fl. für kleine Schnupftücher und halbseidene Halstücher und8 fl. 30 kr. für seidene Halstücher; preislich ausdemRahmen fielen die zehn feinen Halstücher für Männer, die Montfort 1724 bei demStraßbur86 Castell-Handelsbuch, Briefe Nr. 792 (12.6.1826), 1208 (30.7.1828), 43 (4.1.1831). 87 Castell-Handelsbuch, Briefe Nr. 554 (17.1.1825), 861 (12.11.1826), 964 (12.5.1827), 1360 (18.5.1829), 1376 (22.6.1829), 52 (30.1.1831). 88 Vgl. z.B. Castell-Handelsbuch, Briefe Nr. 1065 (28.10.1827), 1204 (25.7.1828), 1346 (26.4.1829), 123 (18.8.1831), 181 (16.2.1832). 89 Z.B. Castell-Handelsbuch, Briefe Nr. 1187 (19.6.1828), 1226 (20.8.1828), 1421 (26.11.1829), 215 (10.8.1832), 285 (28.9.1833), 317 (29.12.1833), 344 (14.3.1834). 90 Sandgruber: Anfänge (wie Anm. 8), S. 287.
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ger Handelsmann (Dominique?) Brentano Somenza91 zumStückpreis von 1 fl. 12 kr. erwarb, sowie ein halbes Dutzend seidene Schnupftücher, die auf der Straßburger Weihnachtsmesse 1723 8 fl. 15kr. kosteten. An Farben werden weiß und blau, an Mustern gestreift undgeblümt genannt. Unter einer größeren Warenlieferung Montforts anHeinrich Wilhelm in Freiburg imJahre 1730 befanden sich z.B. ein Dutzend seidene Halstücher mitBlumenmuster zu7 fl., ein Dutzend gestreifte seidene Halstücher zu 6 fl., drei Dutzend blaue Schnupftücher zuje 3 fl. sowie zwei Dutzend weiße Halstücher zu5 bzw. 4 fl. dasDutzend.92 Auf der Straßburger Weihnachtsmesse 1723 kaufte Maurice Montfort zwei größere Partien Hüte ein, darunter einige Dutzend aus spanischer Wolle, undin denfolgenden Jahren finden sich unter seinen Transaktionen sporadische Hutverkäufe.93 Wesentlich häufiger sind Verkäufe von Kappen, die sich oft als kleinere Posten innerhalb größerer Warenlieferungen finden. Bei insgesamt 40 Transaktionen, bei denen Kappen als separater Posten ausgewiesen sind, wurden pro Transaktion meist ein halbes bis ein Dutzend, höchstens aber drei Dutzend Stück verkauft. In derRegel handelte es sich umeinfachere Ware, die fast immer im Dutzend4 fl. 30 kr. kostete; die Preisspanne lag zwischen 3 ½ und5 ½ fl. Die einzige Ausnahme stellt ein Dutzend seidene Kappen dar, das 1726 für 7 fl. verkauft wurde.94 Ein wichtiger Posten innerhalb des Montfort’schen Warensortiments waren ferner so genannte Hamburger Strümpfe, die in der Regel dutzendweise verkauft wurden undfast immer 10 fl. pro Dutzend kosteten. 1736 kaufte der in Breisach lebende Savoyer Franz Bijot neben neun Dutzend Hamburger auch ein Dutzend Rothe saxen Str[ümpf]“.95 „ Während Handschuhe, Haarbänder und Hutschnüre nur vereinzelt erwähnt Kristallwaren“–Accessoires wie Knöpfe, werden,96 spielte der Handel mit „ Stockknöpfe, kleine Herzen, Kreuze und„Mandlen“aus Kristall bzw. Granaten – für Montfort eine relativ große Rolle. Da die Herstellung solcher Massenware aus böhmischen Granaten in Freiburg und Waldkirch eine lange Tradition hatte,97 91 Vgl. Alfred Engelmann: Die Brentano amComer See (Genealogia Boica 2). München 1974, S. 56; Simone Herry: Une ville en mutation. Strasbourg au tournant duGrand Siècle. Stras-
bourg 1996, S.296. 92 Geschäftsbuch Montfort, S. 19, 22, 40f., 52, 71, 87, 109, 111, 114, 118, 120, 123, 140, 153, 157, 159, 177, 179, 216, 230, 240 f., 261, 324, 329. 93 Geschäftsbuch Montfort, S. 83, 93, 108, 116, 128, 141, 185, 191. 94 Geschäftsbuch Montfort, S. 5, 12, 22, 39, 40, 43, 49, 52, 60– 62, 64, 70f., 80, 83, 85, 87– 90, 92, 94f., 97, 111, 114f., 117f., 120, 122, 128, 132, 137, 140, 145, 149, 153f., 157f., 169, 177, 216f., 234, 238, 240, 249, 257, 260, 268. 95 Z.B. Geschäftsbuch Montfort, S. 40, 147– 149, 153, 158f., 233f., 237f., 240, 256f., 260f., 270, 274, 293, 320, 324– 326. 96 Z.B. Geschäftsbuch Montfort, S. 64, 153, 157, 178, 325. 97 Vgl. Elsbeth Schragmüller: Die Bruderschaft derBorer undBalierer vonFreiburg undWaldkirch. Beitrag zueiner Gewerbegeschichte desOberrheins. Karlsruhe 1914; Herbert Trimborn: Ein Beitrag zur österreichischen merkantilistischen Gewerbepolitik am Beispiel der Bruderschaft derBorer undBalierer zu Freiburg undWaldkirch. Diss. Freiburg 1939.
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dürfte Montfort sie von dort bezogen haben. Zwischen 1724 und 1738 sind rund zwanzig Verkäufe dokumentiert, unter denen sich mehrere Posten in derGrößenordnung von 60 bis 160 fl. befinden. Im Jahre 1735 kaufte Montforts Vetter Ludwig Salomon sogar für 400 fl. „Christallen wahr vndt granaten“und für weitere 79 fl. 20 kr. „Christallen Chreutzle“ ; zwei Jahre später hatte derselbe Vetter 119 Christallen Creitzli an der schnuor“in Kommission. Joseph Herne, ein Kristall„ warenhändler aus der Herrschaft Triberg, nahm 1741 66 ½ Dutzend „ Cristallen hembter Knöpff“in Kommission.98 Darüber hinaus verkaufte Montfort Knöpfe ausunterschiedlichen Materialien (u.a. Messing, Zinn, Kamelhaar, Rosshaar, Seide) undin verschiedenen Größen, Farben (schwarz, weiß, grün) undFormen.99 In diesen Kontext gehört auch der Absatz von Kamelhaar, das wiederholt in großen Mengen andenKnopfmacher Johann Peter Poncet, einen in dervorderösterreichischen Stadt Breisach ansässigen Savoyer verkauft,100 aber auch in kleinen Mengen imKramhandel vertrieben wurde.101 Die Perrollaz undCartier verkauften um 1800 in Laufenburg am Hochrhein kleinere Mengen an Strümpfen, in größerer Zahl hingegen Taschentücher (teilweise unter den Bezeichnungen „ ) und mouchoir poch[e]“bzw. „ mouchoir nez“ Knöpfe aus verschiedenen Materialien (Haar, Metall, Stahl). Warenbezeichnungen wie „gros bouton jaune“ , „petit bouton fin dore“und insbesondere „Bouton jone a la mode (petit)“weisen auf ausgeprägte Farb- und Stilpräferenzen ihrer Kunden hin. Bei Verkäufen vonKissen oder Regenschirmen handelte es sich hingegen umEinzelfälle.102 Accessoires wie farbige Tücher undBänder machten einen wesentlichen Teil der Castell’schen Warenbestellungen aus, wobei die Schweiz unddas Bergische Land die mit Abstand wichtigsten Bezugsquellen darstellten. Die Schweizer Lieferanten waren in der Regel auf bestimmte Textilerzeugnisse spezialisiert. Aus Zürich beispielsweise, wohin zwischen 1824 und1829 insgesamt 35 Bestellungen gingen, kamen vor allem Seidentücher und „Mouchoirs“.103 Auch von der in Kreutzkirch im Kanton Zürich ansässigen Firma Freytag bezogen die Castell im selben Zeitraum wiederholt Partien zwischen fünf und 16 Dutzend Seiden-
98 Geschäftsbuch Montfort, S. 1, 15, 24, 132, 172, 199, 212f., 282, 287, 310, 317, 324, 330f., 336. 99 Geschäftsbuch Montfort, S. 4, 18, 39f., 43, 69, 72, 75, 89, 95, 136, 138, 162, 166f., 172f., 244, 256, 263, 289, 310, 321, 325. 100 Geschäftsbuch Montfort, S. 126: 1729 an Johann Peter Poncet 20 Pfund „Ungetriett Camelhar“ für 50 fl.; S. 126: 1730 andenselben Kamelhaar für60 fl.; S. 172: 1731 andenselben 20 Pfund Kamelhaar für 53 fl. 42 kr.; S. 172: 1732 andenselben 111Pfund Kamelhaar zumPreis von265 fl. 57 ½ kr.; S. 173: 1731 andenSchwiegervater vonPoncet Kamelhaar imWert von 53 fl. 101 Geschäftsbuch Montfort, S. 68, 78, 93, 109, 115, 137, 166f., 185, 238, 256, 263, 292, 321. 102 Angaben nach Schweizerisches Wirtschaftsarchiv Basel, Bestand 210, Fasz. D, Journal de Lauffenbourg No. 1. 103 Vgl. exemplarisch Castell-Handelsbuch, Briefe Nr. 474 (6.9.1824), 646 (8.7.1825), 672 (4.9.1825), 764 (25.3.1826), 817 (23.9.1826), 910 (18.1.1827).
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Aus Aarau, wo das Unternehmen von Johann Rudolf Meyer undFriedrich Feer imJahrzehnt nach 1824 über 30 Sendungen nach Elzach abfertigte, ka-
tücher.104
men hingegen erhebliche Quantitäten an farbigen Florettüchern sowie Seiden-, Floret- undZwilchbändern. Besonders häufig nennen die Bestelllisten die Farben carmoisin (hochrot), blau, „ perle“ , grün, inkarnat, schwarz undweiß.105 Im April 1830 rechtfertigten die Castell eine verspätete Zahlung damit, dass auch die Ware spät bei ihnen ankam und ihr Absatz dadurch beeinträchtigt war, „indem diese Waare nicht zujeder Jahreszeit gleich Absatz findet und[wir] die meiste hievon hier liegen haben“.106
Vondenin Thalwil imKanton Zürich ansässigen Firmen Wieland & Kölliker, Schmid, Kölliker & Gebrüder Hotz sowie (ab 1827) Gebrüder Hotz bezogen die Castell große Mengen an so genannten Sack- undFransentüchern. Zwischen 1824 und1828 gaben sie allein 37 Bestellungen auf undorderten dabei häufig Mengen zwischen 100 und 150 Dutzend, die auf einen massenhaften Absatz dieser bunt bedruckten Tücher schließen lassen. Die Bestellungen waren mit umfangreichen Listen von Nummern versehen, die offensichtlich Musterkatalogen entnommen waren.107 Zehn Sendungen in den Jahren 1825 und 1826 hatten der Castell’schen Bilanz zufolge einen Gesamtwert von 5.525 fl.108 Dass der Markt für diese farbigen Tücher nicht unbegrenzt war, zeigt ein Brief vomMärz 1826, in demdie Castell gegenüber Wieland & Kölliker klagten, dass sie noch „ mit allen übrigen Deseng Sacktücher überschwemmt seyen“ . Ende 1828 indessen berichteten sie den Gebrüdern Hotz von einer positiven Marktentwicklung: „ Da auf schöne lebhafte Deseng Franzelntücher wieder Nachfrage geschieht, so wünschen unsnoch nebst unten notierten ein [Dutzend] p. Muster noch mehrere andere Deseng 1/12, 1/4, 1/3 oder auch 1/2 [Dutzend] wirklich mode beizulegen, in welchen aber wenig oder gar nichts grünes noch gelb sein sollte, sondern ander schöne lebhafte Farben, die sie mit Desengnummer bezeichnen undzumallerbilligst Preis stellen möchten.“ 109
Der Firma Luchsinger & Streiff in Glarus, die offenbar auf die Herstellung farbiger, qualitativ hochwertiger Wollwaren spezialisiert war, gaben die Castell in 1833 ein Dutzend Aufträge für Foulards, Schals, „Germanias“ den Jahren 1824– und Krawatten. Obwohl diese Artikel nicht billig waren –für das Dutzend Foulards wurde 1829 ein Preis von 5 ¼ fl. angegeben, während Schals aus Merinowolle je nach Größe zwischen 4 und7 fl. dasDutzend kosteten –orderten die 104 Castell-Handelsbuch, Briefe Nr. 592 (26.3.1824), 709 (14.11.1825), 827 (6.10.1826), 1019
(25.8.1827), 1217 (11.8.1828), 1308 (18.1.1829), 1337 (9.4.1829), 1401 (13.9.1829). 105 Vgl. z.B. Castell-Handelsbuch, Briefe Nr. 486 (24.9.1824), 523 (28.11.1824),
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(15.2.1825), 720 (2.12.1825), 1021 (28.8.1827). 106 Castell-Handelsbuch, Brief Nr. 1481 (11.7.1830). 107 Vgl. z.B. Castell-Handelsbuch, Briefe Nr. 388 (8.2.1824), 458 (26.7.1824), 651 (28.7.1825), 1188 (22.6.1828), 1271 (13.11.1828). 108 Castell-Handelsbuch, fol. 50. 109 Castell-Handelsbuch, Briefe Nr. 758 (7.3.1826), 1299 (26.12.1828).
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Castell relativ große Mengen, im Oktober 1824 beispielsweise 46 Dutzend, im September 1829 über 30 Dutzend undim Oktober 1830 36 Dutzend Stück dieser Ware. 1829 schrieben die Castell an Luchsinger & Streiff, dass sie diese Wollwaren „ en gros“verkaufen würden, undbaten sie, der nächsten Sendung eine Auswahl der von ihnen fabrizierten Halstücher in schönen „Desengs“beizufügen, „dann sie wissen ja schon was in hiesiger Gegend Absatz findet.“Im folgenden Jahr allerdings klagten sie, dass „ es gar zuviele Concurenten, die mitdiesem Ar.110 tickel handlen, in unßerer Gegend hatt“ Neben diesen Schweizer Textilherstellern gehörten Firmen aus dem Bergischen Land zu den wichtigsten Tücherlieferanten der Castell. An die in Barmen Modetücher“produzierte, adressierten ansässige Firma Metzger & De Barry, die „ die Castell in denJahren 1826 bis 1833 insgesamt 24 Schreiben, darunter 11 Warenbestellungen. In der Korrespondenz werden 16 Wechselbriefe mit einem Gesamtvolumen von4369 fl. erwähnt, die die Castell zur Bezahlung derWare übermittelten. Im September 1826 beispielsweise orderte dasElzacher Haus insgesamt 15 Dutzend „carirte mode Tücher mit franzen“ , „Cendrillons“ , Jacquards und alles wohl assortirt in Carmoisin, incarnat, weiß chanchant, hellblau, Schaals“–„ „ grün, nuraber nichts viel gelbes“ . ImApril 1830 teilten die Castell derBarmener Firma mit, sie seien „ wieder in Bedarf von Modetüchern“ , und bestellten vier Dutzend „ schöne rothfarbige Cenderillons“und 18 Dutzend Jacquards. „ Wir bitten nur,“erläuterten sie, „kein quatrilirte beyzufügen sondern mit schönen doppelten Girlandenkränzen weis mit roth, gelb mit weiß, grün mit weiß, undnur im Boten [sic] keine dunkle farben nemlich meistens roth undlebhaft, wie Sie aber zwar alles schon weißen [sic] wie es in unserer Gegend Absatz findet.“111 Das hier angesprochene Wissen der Barmener um die Absatzmöglichkeiten am Oberrhein ging offensichtlich auf gezieltes Marketing zurück. „[W]an ihr Hr. Reisende[r] einmahl in diese Gegend kommt,“schrieben die Castell 1826 an Metzger & De Barry, „ so bitten uns zubesuchen, auf das wir ihre Muster carten noch einmahl durch gehn kennen, unddanwerden ihnen womöglich eine kleine Comissen ertheilen.“112Dass diese Kontakte zwischen Produzenten undHändlern über Handelsvertreter nicht immer zufriedenstellend verliefen, zeigt indessen eine Reklamation der Castell bei Metzger & De Barry vomMärz 1828. Die Elzacher zu gar dün in der qualität,“hätten beklagten, die gelieferten Halstücher seien „ , undauch die Farbe der Streifen sei nicht wunschgemäß. Dabei, etwas appretur“ „ so die Castell weiter, hätten sie „ es ja Ihrem gar zu zudrünglichen Hr. Bergman deutlich undverständlich genug gesagt, Muster hievon gegeben, undüber allen Gegenstand gesprochen“ . Ohne einen ziemlich großen Rabatt könnten sie die Ware nicht „versilbern“.113 110 Castell-Handelsbuch, Briefe Nr. 506 (23.10.1824), 1406 (25.9.1829), 16 (17.10.1830). 111 Castell-Handelsbuch, Briefe Nr. 819 (23.8.1826), 1451 (2.4.1830); vgl. auch Nr. 919
(28.1.1827), 944 (6.3.1827), 205 (3.6.1832), 216 (14.8.1832).
112 Castell-Handelsbuch, Brief Nr. 849 (30.10.1826). 113 Castell-Handelsbuch, Brief Nr. 1107 (14.1.1828).
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Aus dem Barmen benachbarten Elberfeld bezogen die Elzacher ähnliche „ Modeartikel“ . Johann Wilhelm & Carl Blank sowie Johann Simons Erben beispielsweise sollten im Herbst 1833 jeweils drei Dutzend „ Schawls jaquard fond blau“und „ Jacquards mare“liefern,114 während die Firma J.G. Heimendahl & Söhne die Castell in den Jahren 1828/29 wiederholt mit größeren Partien Cendrillons“und „ „ Brillants“belieferte. Dass die Kundschaft auch bei diesen Artikeln klare Farbpräferenzen hatte, deutet die im März 1829 an Heimendahl gerichtete Klage an, die letzte Sendung habe zu dunkle Farben enthalten. Erwünscht seien „lebhafte dasheist viel roth undnicht violet undander dunkel farben“ .115Die in Langenberg bei Elberfeld ansässigen Gebrüder Colsman schließlich waren die größten Lieferanten der Castell überhaupt. Zwischen 1824 und 1832 bestellten die Elzacher bei Colsman 26mal Textilien, insbesondere glatte undgestreifte schwarze Seidentücher. Die häufig sehr umfangreichen, 50 bis 120 Dutzend Tücher umfassenden Bestellungen waren stets mit Nummern versehen, die offenbar Musterbüchern oder -listen entnommen waren.116 Zwischen Mai 1822 undFebruar 1823 empfingen die Castell vondenGebrüdern Colsman sechs Warensendungen imGesamtwert von5.597 fl. 20 kr., undzwischen August 1823 und Januar 1824 erfolgten weitere fünf Lieferungen für insgesamt 5.352 fl. 6 kr. Für sechs Sendungen zwischen August und Dezember 1825 bezahlten die Castell 3.967 fl., fürfünf Lieferungen zwischen Juli 1827 undJanuar 1828 2.874 fl. 48 kr. Allein im Sommer undHerbst 1825 orderten die Castell in drei Partien insgesamt 250 Dutzend –also 3000 Stück –Seidentücher, die damit als Konsumartikel für breite Bevölkerungsschichten anzusprechen sind.117 Von Jost Brun in Schönenwerth (Kanton Solothurn) sowie von der im sächsischen Hohenstein ansässigen Firma Oelsner & Rahlenbeck bezogen die Castell regelmäßig weiße undschwarze Kappen undMützen; die letztere Firma lieferte außerdem mehrmals Strümpfe und Handschuhe, die nach den Angaben in der Korrespondenz zu schließen für dengehobenen Bedarf bestimmt waren. Im Spätsommer 1828 etwa orderten sie mehrere Dutzend violett, blau, grau undgrün melierte, teilweise mit Seide bordierte eingelegte Handschuhe (mitunter auch als Amazonhandschuhe“bezeichnet). Insgesamt spielten Strümpfe innerhalb des „ Warensortiments der Castell allerdings eine geringere Rolle als bei Montfort ein Jahrhundert zuvor.118
114 Castell-Handelsbuch, Briefe Nr. 282– 283 (26.9.1833). 115 Castell-Handelsbuch, Briefe Nr. 1218 (11.8.1828), 1260 (31.10.1828), 1300 (26.12.1828), 1328 (12.3.1829). 116 Vgl. exemplarisch Castell-Handelsbuch, Briefe Nr. 530 (15.12.1824), 632 (12.6.1825), 788
(10.6.1826), 895 (23.12.1826), 1095 (24.12.1827). 117 Castell-Handelsbuch, fol. 44, 57; Briefe Nr. 632 (12.6.1825), 663 (27.8.1825), 681
(24.9.1825). 118 Castell-Handelsbuch, Briefe Nr. 1225 (20.8.1828), 1232 (20.9.1828); vgl. auch Nr. 636 (3.7.1825), 787 (10.6.1826).
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„Kolonialwaren“ Während in größeren oberrheinischen Städten wie Freiburg in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts bereits Händler nachweisbar sind, die sich auf den Vertrieb von Genussmitteln wie Tabak, Kaffee undZucker spezialisiert hatten,119 spielte der Handel mit diesen Genussmitteln innerhalb des Warensortiments der hier behandelten savoyischen Händler eine untergeordnete (Montfort, Castell) oder gar keine Rolle (Perrollaz-Cartier). Maurice Montfort aus Riegel handelte im frühen 18. Jahrhundert mit Tabak, Kaffee, Tee, Zucker undGewürzen, doch ging es dabei in der Regel um kleine Mengen und geringe Beträge. Der Umfang seiner Transaktionen mit Tabak belief sich imJahrzehnt von 1721 bis 1730 auf 320 und im folgenden Jahrzehnt auf rund 1300 fl. Soweit derTabakeinkauf Montforts dokumentiert ist, bezog er ihn offensichtlich in erster Linie aus Straßburg, wo er 1732 und1737 vonzwei Händlern Ware bezog.120 DenTabak verkaufte er anrelativ wenige Handelspartner weiter, unter denen mehrere savoyische Landsleute waren: So finden sich jeweils zwei bis vier Transaktionen mit den savoyischen Händlern Peter Dema aus Offenburg, Wilhelm Dema von Kenzingen sowie Johann Jacob Michon, Franz Planchant undGabriel Michon, alle aus Freiburg.121 An Sortenbezeichnungen finden sich gewöhnlicher bzw. gemeiner, (feiner) Hanauer, Rappé“undSchnupftabak, wobei derZentner gemeiner Tabak zwischen 6 ½und „ 8 fl., der Zentner Hanauer 9 bis 10 fl. kostete.122 Kaffee ist lediglich anlässlich eines kleinen Einkaufs auf der Straßburger Weihnachtsmesse 1724 und dreier Verkäufe in der Größenordnung von insgesamt 7,5 Pfund in den Jahren 1727/28 belegt, und 1732 verkaufte er zweimal ein Pfund Tee an in Breisach wohnhafte savoyische Landsleute.123 Auf der Straßburger Weihnachtsmesse 1724 gab Montfort außerdem 46 ½ fl. für den Erwerb von über einem Zentner kanarischen Zuckers undweitere 5 fl. für braunen Kandiszucker vondemHandelsmann Brentano Somenza aus, demer auch Muskatblüte, Pfeffer, Ingwer undSafran abnahm. 1726 verkaufte Montfort rund 20 Pfund Zucker verschiedener Qualität an Claude Chavuen, einen savoyischen Handelsmann in Ettenheim, undzwischen 1728 und 1730 folgten einige weitere Verkäufe von meist raffiniertem Zucker in Partien vonweniger als fünf Pfund an Handelsleute in Kenzingen undEmmendingen sowie an den Faktor des Kollnauer Bergwerks.124 Verkäufe von kleineren Mengen anPfeffer, Nelken, Ingwer, Muskatnuss, Muskatblüte undZimt erfolgten fast im119 Martina Reiling: Bevölkerung undSozialtopographie Freiburgs i.Br. im 17. und 18. Jahrhun-
dert. Familien, Gewerbe undsozialer Status (Veröffentlichungen Freiburg imBreisgau 24). Freiburg 1989, S. 81f. 120 Geschäftsbuch Montfort, S. 174f., 282.
aus demArchiv der Stadt
121 Geschäftsbuch Montfort, S. 65, 99, 118, 120, 127, 167, 173– 175, 188, 205, 208, 210f., 213,
217, 226, 252, 254, 282.
122 Geschäftsbuch Montfort, S. 127, 208, 210. 123 Geschäftsbuch Montfort, S. 1, 7, 35, 160, 171, 339. 124 Geschäftsbuch Montfort, S. 1, 65, 116, 128, 131, 134, 339.
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111
mer im Kontext
anderer Transaktionen, was die subsidiäre Funktion der Montfort’schen Geschäfte mit„Kolonialwaren“unterstreicht.125 Unter den Genussmitteln, welche die Brüder Castell ein Jahrhundert später vertrieben, spielte ebenfalls Tabak die größte Rolle. Wie sie Ende 1828 einem Geschäftspartner schrieben, benötigten sie „ ächten guten Taback“ , um „unsere . Ein Jahr später ersuchten sie einen KorrespondenKundsamen gut zu bedienen“ ten um Tabak von „extra auserlesener guter Qualitet“.126Im Zeitraum von 1824 bis 1834 erteilten sie insgesamt 47 Bestellungen, die allesamt an eine kleine Gruppe südwestdeutscher Händler gingen. Allein 21 Bestellungen erfolgten bei Müller Carls Sohn“in Lahr, vonwodie Castell auch Baumwolle bezogen; häu„ fig baten die Castell explizit um„lotzbeckische“Ware, wassich offensichtlich auf Produkte der Lotzbeck’schen Tabakfabrik in Lahr bezog.127 Weitere zehn Bestel29) bzw. Mahllungen erfolgten bei K.J. Heinzerling in Ettenheimmünster (1827– 31), acht bei P.J. Landfried in Heidelberg, fünf bei Johann Kessel in berg (1829– Rastatt sowie drei bei Mannheimer Händlern. Die einzelnen Bestellungen bewegten sich in Größenordnungen zwischen 25 und200 Pfund; häufig beliefen sie sich auf genau 100 Pfund. Insgesamt 19mal bestellten die Castell andere „ Kolonialwaren“wie Kaffee, Zucker, Reis undPfeffer. DermitAbstand wichtigste Lieferant dieser Waren war das Basler Handelshaus Burghardt & Vondermühl, bei dem das Elzacher Haus allein 14 Bestellungen in Auftrag gab (vgl. nachstehende Tabelle). Im Mai 1825 kamdie Geschäftsbeziehung zuBurghardt & Vondermühl allerdings ins Stocken, nachdem sich einige Kunden wegen des Geschmacks einer Kaffeelieferung beschwert hatten. „ [W]ir überzeigten uns selbst darvon,“schrieben die Castell nach Basel, „ undfanden wirklich daser einen sonderbaren geschmack hat.“Sie wollten diesen Kaffee nicht behalten undkündigten an, demnächst ein Pfund zurückzuschicken, damit die Verkäufer sich selbst davon überzeugen könnten: „ und dan werden Sie finden, das dieser kein kaufmanwar ist, sondern schimlich und faulschmeckend.“Nachdem 25 Pfund bereits verkauft seien undmandamit die Kundenvergrault habe, stünden die übrigen 175 Pfund der Basler Firma zur Disposition.128 Als sie imOktober 1825 Burghardt & Vondermühl neuerlich umdie Übersendung einiger Pfund Kaffee zurProbe ersuchten, wiesen die Castell darauf hin, dass sie vor kurzem auch in Freiburg „ ein recht schönen Caffé“für 29 Kreuzer das Pfund gekauft hätten; Burghardt könnten nurdann mit einer größeren Order rechnen, wenn sie den Kaffee billiger anbieten würden, als er in Freiburg erhält-
125 Geschäftsbuch Montfort, S. 37, 54, 58, 65, 128, 136, 137, 339. 126 Castell-Handelsbuch, Brief Nr. 1283 an K.J. Heinzerling in Ettenheimmünster, 08.12.1828; Brief Nr. 1427 anHeinzerling inMahlberg, 08.12.1829. 127 Vgl. zu diesem Unternehmen Ursula Huggle: Pioniere der ersten Stunde –Lahrer Unternehmerfamilien, in: Stadt Lahr (Hg.): Geschichte der Stadt Lahr. Bd. 2: Vom Dreißigjährigen Krieg bis zumErsten Weltkrieg. Lahr 1991, S. 153– 165. 170, bes. 162– 128 Castell-Handelsbuch, Briefe Nr. 613 (9.5.1825), 620 (30.5.1825).
112
Mark Häberlein
lich war.129 Eine Kaffeebestellung bei demBasler Carl Rychiner indessen brachte denCastell im Spätjahr 1825 nur„gebrochene undabgeschmackende Waar“ein, für die sie 3 fl. 50 kr. in Abzug brachten. Weitere 25 Pfund orderten sie nur zur Probe undunter derBedingung, dass „ derselbe nicht ein abgeschmack hat“ .130Die geringe Zahl an Bestellungen in den folgenden Jahren lässt vermuten, dass die Castell ihren Kaffee nundirekt von Geschäftspartnern derRegion bezogen. 1833 erging überdies eine Bestellung aneinen Korrespondenten in Breisach.131 Tab. 4: „Kolonialwaren“ - Bestellungen derGebrüder Castell bei Burghardt & Vondermühl in
34 Basel 1824–
Datum
13.04.1824
Waren
Preise
Brief Nr.
418
1 Sack Reis Mandeln, Gallus
04.06.1824
¼Zentner kleinbohniger Kaffee
09.08.1824
50 Pfund Kaffee 4 Sack Kaffee 3–
24.09.1824 05.10.1824
435 54 fl./Ztr. 53–
464
482 492
ca. 200 Pfund Kaffee 100 (Pfund?) Pfeffer Ingwer, Blauholz, Mandeln, Gallus
13.12.1824
12.01.1825
14.03.1825
50 Pfund kleinbohniger Havannakaffee ½Zentner Reis 6 Pfund „ vomgewohnlichen gumi“ 1 „ballen gutordinarj Caffe“ 200 Pfund Kaffee Nr. 26
531 573
582
100 Pfund feiner Havannakaffee Mandeln
30.05.1825
100 Pfund guter Kaffee
10.09.1825
ca. 100 Pfund gesiebter Pfeffer
42 fl.
620 675
1 Sack Reise Mandeln, Ingwer
03.10.1826
821
1 Pfund Perl-Tee fein Gallus
09.12.1826 28.02.1827
05.07.1831
130 Pfund) Kaffee 1 Sack (100– 50 Pfund kleinbohniger Kaffee 1 Sack Kaffee 4 Muster von „ordinary Caffe“B lau3– holz, Ingwer
129 Castell-Handelsbuch, Brief Nr. 675 (10.9.1825). 130 Castell-Handelsbuch, Brief Nr. 724 (10.12.1825).
131 Castell-Handelsbuch, Brief Nr. 263 (13.9.1833).
35 ¾ fl.
878
42 fl. 40– 36 fl.
938 100
Savoyische Kaufleute unddieDistribution vonKonsumgütern
imOberrheingebiet
113
Insgesamt ergibt sich daraus der Eindruck, dass die Castell zwar darauf bedacht waren, qualitativ hochwertige „ Kolonialwaren“für den Detailverkauf zu führen, dass diese Warengattung in ihrem Sortiment aber nur eine untergeordnete Rolle spielte unddenAufbau überregionaler Kontakte fürdenWarenbezug nicht lohnte.
4. Fazit Obwohl die vorgestellten Geschäftsbücher aufgrund ihrer unterschiedlichen Struktur nur bedingt vergleichbar sind, lassen sich einige Gemeinsamkeiten und Entwicklungstendenzen feststellen. Erstens: Im Falle aller drei Firmen stand einzelnen größeren Geschäften –Getreidelieferungen, großen Darlehen, Lieferungen an andere Krämer oder an das Militär –eine Vielzahl kleiner Transaktionen gegenüber. Eine klare Trennung zwischen Groß- undEinzelhandel hatten die savoyischen Händler amOberrhein zwischen 1720 und1840 also noch nicht vollzogen; vielmehr verknüpften sie Formen des Zwischen- und Detailhandels.132 Zweitens: Der Schwerpunkt aller drei Firmen lag imTextil- undKurzwarenhandel, doch ist in keinem Fall eine ausschließliche Spezialisierung auf diesen Bereich zu beobachten. Vor allem für Montfort unddie Castell hatte der „ Gemischtwarenhandel“ mit Gebrauchs- und Konsumgütern aller Art offenbar eine wichtige subsidiäre Funktion. Bestimmte Arten von Konsum- und Luxusgütern wie Uhren, Bilder, Glas- und Keramikwaren kommen im Sortiment der untersuchten Händler und Firmen nicht bzw. nur ganz am Rande vor; allerdings ist bekannt, dass andere savoyische Händler amOberrhein, wie ein Zweig der Perrollaz, sich auf spezialisierte Bereiche wie den Uhrenhandel konzentrierten.133 Drittens: Soziale und geschäftliche Beziehungen zu anderen Savoyern spielten in allen drei Fällen eine wichtige Rolle, sie erwiesen sich aber nicht als dominant. Nur wenige vertraute Geschäftspartner kamen aus dem landsmannschaftlichen Umfeld, die große Mehrheit gehörte „ einheimischen“kaufmännischen undbürgerlichen Kreisen an. Viertens: Die in der Literatur wiederholt postulierte „Machtausübung“savoyischer Händler durch großzügige Kreditvergabe ist grundsätzlich mit Skepsis zu betrachten, da Kreditbeziehungen zumnormalen Geschäftsleben gehörten. Vielmehr spricht alles dafür, dass sich die untersuchten savoyischen Handelsleute die in ihrer Zeit zurVerfügung stehenden Beschaffungs- undVertriebsmöglichkeiten –Jahrmarkt- undMessebesuche, Ladenverkauf, im 19. Jahrhundert auch Kontakte zu Handelsreisenden undpostalische Bestellungen aus Musterbüchern –nutzten und ihre Geschäftspraktiken den regionalen Möglichkeiten undGepflogenheiten anpassten. Aus spezifisch konsumgeschichtlicher Perspektive ist fünftens und letztens festzuhalten, dass Händler wie Maurice Montfort bereits in der ersten Hälfte des 132 Vgl. Spiekermann: Basis (wie Anm. 20), S. 615, demzufolge diese Trennung in der ersten Hälfte des 19.Jahrhunderts allgemein noch unüblich war. 133 Raynaud: Einwanderungen (wie Anm.24), S. 75.
114
Mark Häberlein
18. Jahrhunderts darauf bedacht waren, ein breites Sortiment an Stoffen undAccessoires in unterschiedlichen Qualitätsstufen, Mustern undFarben zu führen und auf Veränderungen der Mode und des Geschmacks zu reagieren. In den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts hatte sich das Angebot an diesen Waren noch erheblich differenziert, unddie Castell importierten Damast, Seiden- undBaumwollwaren in großen Mengen undeinem breiten Farbspektrum aus überregional bedeutenden Produktionszentren wie demZürcher Gebiet, Turin und demWuppertal. Produkte wie Seidentücher aus dem Bergischen Land konnten um 1830 offensichtlich von einem einzelnen Elzacher Handelshaus Jahr für Jahr tausendfach unter der Bevölkerung der Region abgesetzt werden, undTabak aus überseeischen Regionen warin einer kleinen Stadt amOberrhein ebenfalls problemlos zu bekommen. Zumindest was die hier betrachteten Warengruppen anbelangt, hatten sich im Oberrheingebiet zwischen 1720 und 1840 bereits einige wesentliche Charakteristika einer Konsumgesellschaft entwickelt.
Rainer Metz
Korreferat zu Mark Häberlein Savoyische Kaufleute unddieDistribution vonKonsumgütern „ 1840“ Oberrheingebiet, ca. 1720–
im
Mit der seit Jahren boomenden Konsumforschung ist in der Wirtschafts- undSozialgeschichte ein vielschichtiger Perspektivenwechsel verbunden, bei dem der Konsum als wichtigste Dimension und Antriebskraft moderner Gesellschaften verstanden wird. Damit stehen nicht mehr Produktion und Angebot im Mittelpunkt des Interesses, sondern Nachfrage und Verbrauch. Dieser Perspektivenwechsel der Historiker von der Angebots- zur Nachfrageseite, der übrigens auch in derÖkonomie zubeobachten ist1, bedeutet nunaber nicht, dass es dabei primär um die Analyse von Nachfrageaggregaten und den damit verbundenen gesamtwirtschaftlichen und gesamtgesellschaftlichen Prozessen (Löhne, Kaufkraft, Wohlstand, Verteilung) ginge, sondern vielmehr stehen individuelle, akteurs- und situationsbezogene Ereignisse und Handlungen, Firmen und Institutionen aber auch Gegenstände desmateriellen Lebens imMittelpunkt desInteresses. Mit dieser mikrohistorischen Perspektive korrespondiert die kulturgeschichtliche. Historische Konsumforschung versteht sich heute wesentlich als kulturgeschichtliche Forschung, die getragen ist von der Überzeugung, dass sich Struktur und Triebkräfte der erfahrbaren Welt nicht über abstrakte mikroökonomische Handlungs- und makroökonomische Aggregatmodelle empirisch quantitativ beschreiben underklären lassen, sondern im Wesentlichen über die hermeneutisch reflektierte Interpretation symbolischer Repräsentationen sinnhafter Konstrukte. Konsum, so die These, ist zentraler Bestandteil dergesamten Kulturwelt desMenschen, weshalb die historische Konsumforschung einen integralen, d.h. interdisziplinären und multiperspektivistischen Zugriff auf alle institutionellen, politischen, ökonomischen, sozialen –unddamit auch undgerade –normativen Voraussetzungen versucht, die Konsum in Gang setzen und seine Entwicklung fördern. Dem entspricht erwartungsgemäß keine streng analytische Definition von Konsum, sondern eine, die Herstellung, Vertrieb, Kauf von Gütern und Dienstleistungen, ihre Verwendung undEntsorgung genau so einschließt, wie die Spannung zwischen rationalem Handeln und Begehren, den Trade off von Zeit und 1 Vgl. z.B. Davide Gualerzi: Consumption andGrowth. Cheltenham/Northampton 2001; Ulrich Witt: Learning to Consume –A Theory of Wants andthe Growth of Demand. In: Journal of 36. Evolutionary Economics (11), 2001, S. 23–
116
Rainer Metz
Geld, die Spannung zwischen Konsumexpansion undlimitierten Ressourcen oder auch die konsumbedingte Manifestation vonLebensstilen, umnureinige Beispie-
le zunennen.2 Es ist geradezu eine forschungslogische Notwendigkeit, bei einer derart postulierten Omnipotenz des Konsums tiefer in die Vergangenheit zurückzugehen unddie historische Entwicklung, die zur modernen Konsumgesellschaft geführt hat, genauer zu beleuchten. In dieser Hinsicht kommt dem 18. und frühen 19. Jahrhundert eine besondere Bedeutung zu, da in dieser Zeit jene Epoche gesehen wird, in der mit einem zunehmenden Warenangebot undeiner Intensivierung des Handels der Grundstein für die moderne Konsumgesellschaft gelegt wurde. Das hier skizzierte Paradigma einer primär kulturgeschichtlich orientierten Konsumforschung gilt es zu vergegenwärtigen, wenn im Folgenden derBeitrag von Mark Häberlein et al. (im Folgenden H.) kritisch kommentiert wird. Der Beitrag besteht aus vier Teilen. Im ersten wird der Forschungsstand resümiert und die For-
schungsfragen werden konkretisiert. Im zweiten werden die Quellen detailliert vorgestellt underste Ergebnisse derAuswertung präsentiert. Imdritten Teil unterzieht H. spezifische Konsumwaren einer detaillierteren Untersuchung. Im vierten undletzten Teil kommen die Autoren noch einmal aufdieAusgangsfragen zurück undziehen ein erstes vorläufiges Fazit. Grundlegend für die folgenden Ausführungen ist die These, dass sich die von H. untersuchten Quellen, in denen die Geschäftstätigkeit von drei savoyischen Krämer- bzw. Kaufmannsfamilien ihren Niederschlag in einer Vielzahl von Geschäftsbüchern undhunderten vonGeschäftsbriefen gefunden hat, als mikrohistorische Massenquelle charakterisieren lassen, die sich nur durch eine methodisch undtheoretisch reflektierte quantitative Analyse sinnvoll auswerten lassen. Quantifizierung kann unterschiedliches bedeuten.3 Zumeinen die systematische Transformation von Text in Zahlen bei der elektronischen Erfassung der Quellen (numerische Codierung). Zumzweiten die mit Hilfe statistischer Methoden berechneten Maßzahlen zur Deskription der Quellen (durchschnittlicher Umsatz, relative Umsatzanteile bestimmter Warengruppen usw.), wobei die Maßzahlen der Verdichtung vonInformation unddamit derReduktion vonKomplexität dienen. Zum dritten kann Quantifizierung die Entscheidung über die Gültigkeit von Hypothesen undTheorien mit Hilfe der Inferenzstatistik bedeuten. Dabei werden statistische Maßzahlen und deren Relationen zueinander im Hinblick auf bestimmte Hypothesen interpretiert, umdamit Aussagen über die Validität dieser Hypothesenzugewinnen. Füreine quantitative Untersuchung lassen sich mehrere Arbeitsschritte nennen:
2
3
S. Jakob Tanner: Einleitung. In: Jakob Tanner, Béatrice Veyrassat, Jon Mathieu, Hannes Siegrist, Regina Wecker (Hg.): Geschichte der Konsumgesellschaft. Märkte, Kultur undIdentität 20. Jahrhundert). (Schweizerische Gesellschaft fürWirtschafts- undSozialgeschichte 15). (15.– 10. Zürich 1998, S. 7– Vgl. Charles H. Feinstein, Mark Thomas: Making History Count. A Primer in Quantitative Methods for Historians. Cambridge 2002.
Korreferat
1. 2.
3.
4.
zuMark Häberlein
117
Entwurf einer Fragestellung sowie Hypothesenbildung Auswahl derQuellen undBeurteilung deren Aussagekraft imHinblick aufdie formulierten Fragen undHypothesen Operationalisierung der Hypothesen, Definition von Variablen undIndikatorensowie statistische Auswertung derQuellen Interpretation der Ergebnisse unddamit Bewertung des Realitätsgehaltes der Hypothesen.
Analog zu diesen Arbeitsschritten beschäftigen wir uns zunächst mit den von H. aufgeworfenen Fragen. Danach werden Qualität und Aussagekraft der Quellen diskutiert. Von besonderem Interesse ist, ob sich die gestellten Fragen mit den Quellen überhaupt beantworten lassen undob die Ergebnisse verallgemeinerbar sind. H. entwickelt seine Fragestellung aus demForschungsstand. Dieser geht davonaus, dass im 18. und19. Jahrhundert eine Steigerung des Warenangebots und die Intensivierung des Detailhandels Vorbedingungen für die Entstehung dermodernen Konsumgesellschaft waren. Als Indikator für eine sich herausbildende Konsumgesellschaft unddamit für eine zumindest partielle Wohlstandssteigerung kommt dabei dem zunehmenden Verbrauch kommerziell vertriebener Manufakturwaren, von Genussmitteln (Kaffee, Tabak) undteuren Textilien (Accessoires) eine besondere Bedeutung zu. Der These eines zunehmenden Verbrauchs solcher Waren, die weder lebensnotwendig waren, noch Luxus darstellten, steht jedoch die ungeheure Armut dervorindustriellen Gesellschaft gegenüber, die uns in zahlreichen Quellen vor Augen geführt wird undauf die auch die neuere Forschung nachdrücklich hinweist.4 Neben dieser generellen These einer sich im 18. undfrühen 19. Jahrhundert allmählich herausbildenden Konsumgesellschaft ging die Forschung fürdasOberrheingebiet bislang davon aus, dass sich hier mit dem Aufkommen savoyischer Händler die Distributionsformen von Konsumwaren negativ verändert haben. Durch die savoyischen Händler, so die Argumentation, seien traditionelle Distributionsformen wie Jahr- undWochenmärkte verdrängt worden, undzudem hätte die spezifische Kreditpraxis der savoyischen Händler zu einer übermäßigen Verschuldung der Konsumenten geführt. Vor dem Hintergrund des hier skizzierten Forschungsstandes geht es H. darum, sowohl die Praktiken der Distribution von Konsumwaren als auch die Veränderungen des Warenangebots im Oberrheingebiet als einem ländlich bzw. kleinstädtisch geprägten Raum zwischen demfrühen 18. und der Mitte des 19. Jahrhunderts zu untersuchen. Dabei begnügt er sich nicht miteiner quasi statischen Interpretation derQuellen, sondern fragt für einen Zeitraum von mehr als 100 Jahren explizit nach langfristigen Entwicklungen, die Kontinuität undWandel gleichermaßen einschließen.
4
Martin Burkhardt: Konstanz im 18. Jahrhundert. Materielle Lebensbedingungen einer landstädtischen Bevölkerung am Ende der vorindustriellen Gesellschaft (Konstanzer GeschichtsundRechtsquellen 36). Sigmaringen 1997.
118
Rainer Metz
Als Quelle dienen H. Aufzeichnungen zurGeschäftstätigkeit vondrei savoyischen Händlern bzw. Handelsfirmen, nämlich Maurice Montfort, der Firma Perrollaz-Cartier undCompagnie sowie denBrüdern Johann Anton undJohan Joseph Castell. Für Montfort enthält das 350 Seiten starke Handelsbuch nur offene Geschäfte für die Jahre von 1724 bis 1740, meist nurVerkäufe. Bei insgesamt 265 Handelspartnern ist das Sortiment breit gestreut, Spezialisierungen lassen sich nach H.nicht erkennen. DasHandelsbuch dokumentiert nureinen Teil dergesamten Handelstätigkeit Montforts undes ist fraglich, ob sich nach Auswertung des gesamten Quellenbestandes abschätzen lässt, welchen Wert- und Mengenanteil die überlieferten offenen Geschäfte andergesamten Handelstätigkeit repräsentieren.
Mit der Erfassung undAuswertung der für die Firma Perrollaz vorhandenen in französischer Sprache abgefassten Quellen wurde erst begonnen. Der Gesamtbestand vonetwa 3.800 Seiten umfasst die Jahre von 1773 bis 1827. Die Quellen liefern, zeitlich verteilt, detaillierte Informationen über Ein- undVerkäufe, so das Journal de Lauffenbourg für die Jahre 1797– 1802 oder das Einkaufsbuch für die Jahre 1800– 1817. Auch bei dieser Firma spiegelt der überlieferte Quellenbestand nicht die gesamte Geschäftstätigkeit wider. Trotzdem kommt H. zu demgenerellen Schluss, dass das Unternehmen einen wichtigen Beitrag zur Distribution von Textilien in dieser Region leistet und eine Marktbeherrschung im Detailhandel zwar nicht auszuschließen, aber auch nicht nachzuweisen ist. Inwieweit sich dieses Fazit nach einer vollständigen Auswertung bestätigen lässt, oder ob es revidiert werden muss, bleibt abzuwarten. Für die Firma der Gebrüder Castell liefern die Quellen für die Zeit von 1814 bis 1843 u.a. Forderungen von undZahlungen an insgesamt 50 Geschäftspartner. Zusätzlich liegen über 1.500 Geschäftsbriefe vor, ausdenen sich für die Zeit von 1824 bis 1834 630 Bestellungen rekonstruieren lassen. Wie bei denanderen Firmenliefern auch diese Quellen nureinen Ausschnitt ausdergesamten Geschäftstätigkeit. Obwohl H. ein sehr differenziertes Warensortiment nachweist, überwiegt auch hier derHandel mitTextilien (vgl. Tabelle 2 bei H.). Bei allen drei Firmen liefern die vorhandenen Quellen offensichtlich nur ein jeweils mehr oder minder fragmentarisches Abbild derHandelstätigkeit bzw. des Warenangebots underlauben damit nurpartielle Einblicke in die Geschäftstätigkeit. Damit lassen sich auch nach vollständiger Erfassung der Quellen generelle Aussagen über das Warensortiment, daswertmäßige Geschäftsvolumen, die Handelspraktiken und die Geschäftspartner nur eingeschränkt bzw. überhaupt nicht ableiten. Hier macht sich dasFehlen summarischer Geschäftsberichte (z.B. Bilanzen) bemerkbar, mit denen sich die Angaben der Quellen relativieren ließen. Ist damit dieRepräsentativität derüberlieferten Quellen fürdie Geschäftstätigkeit der jeweiligen Firma ein erstes Problem, so ergibt sich ein weiteres ausderTatsache, dass die vorhandenen Quellen bei den einzelnen Firmen teilweise recht unterschiedliche Geschäftsbereiche bzw. Handelstätigkeiten abdecken. H. räumt deshalb selbst ein, dass die Geschäftsbücher und die anderen Quellen nur sehr bedingt vergleichbar sind. Ein drittes undletztes Problem ergibt sich schließlich aus 1843) keinesder Tatsache, dass die Quellen den anstehenden Zeitraum (1724–
Korreferat
zuMark Häberlein
119
wegs lückenlos abdecken, sondern weit auseinander liegende Zeiträume betreffen 40, 1797– (1724– 1802, 1800– 1834). Repräsentative Aussa1843, 1824– 1817, 1814– genüber langfristige Entwicklungen im 18. undfrühen 19. Jahrhundert lassen sich deshalb mit diesen Quellen wohl kaum ableiten, denn selbst wenn die Geschäfts-
bücher der Firmen untereinander vergleichbar wären, würden die vorhandenen Lücken eine Interpretation vonEntwicklungstrends undspezifischen Änderungen erheblich erschweren, wennnicht garunmöglich machen. Neben derDarstellung derQuellen understen Ergebnissen ihrer Auswertung unterzieht H. im dritten Teil seines Aufsatzes drei Gruppen von Konsumwaren einer detaillierten Untersuchung. Es handelt sich dabei umStoffe undGarne, Accessoirs undKolonialwaren. Auch hier zeigt sich, dass denTextilien eine vorherrschende Bedeutung im Handel der Firmen zukommt. Im Gegensatz zu denTextilien konstatiert H. für die Kolonialwaren eine nuruntergeordnete Bedeutung. Dagegen stellt H. für die Accessoires eine große Bedeutung fest. Diese wird vonH. jedoch nicht quantitativ belegt, sondern aufgrund zahlreicher Beispiele illustriert. Kennzeichnend für die Auswertung der Quellen durch H. ist auch hier eine Mischung aus quantitativer Deskription undder Aufzählung von Beispielen, wobei häufig unklar bleibt, anhand welcher Kriterien derAutor diese auswählt undwelche Bedeutung er ihnen zuerkennt. Hier ist nach vollständiger Erfassung derQuelleneine konsequente quantitative Auswertung erforderlich. Im vierten und letzten Teil zieht H. ein vorläufiges Fazit bezüglich einiger Gemeinsamkeiten undEntwicklungstendenzen. Danach lassen die Quellen noch keine klare Trennung zwischen Groß- und Einzelhandel erkennen. Obwohl Schwerpunkte im Textil- undKurzwarenhandel erkennbar sind, könne mannicht voneiner einseitigen Spezialisierung sprechen. Die Beziehungen zu denSavoyern würden zwar eine wichtige Rolle spielen, seien aber nicht dominant. Bei den Handelspraktiken würden sich die Savoyer den regionalen Gepflogenheiten anpassen, so dass z.B. einer These der Machtausübung bei der Kreditvergabe mit Skepsis zu begegnen sei undschließlich könne manfür die betrachteten Warengruppen davon ausgehen, dass sich zwischen 1720 und 1840 bereits einige wesentliche Charakteristika einer Konsumgesellschaft herausgebildet hätten. Mitseinen Ergebnissen liefert H.Antworten aufeinige dereingangs gestellten Fragen. Diese betreffen dasAngebot anWaren, die Wege, auf denen sich die Firmendie Waren beschafften undüber die Vertriebsformen. Angesichts der eingeschränkten Vergleichbarkeit undAussagefähigkeit der Quellen lässt sich jedoch (noch) nichts darüber sagen, ob die savoyischen Händler einen negativen Einfluss auf die Veränderung der Distributionsformen ausübten, undes lässt sich schließlich auch nichts darüber sagen, ob sich in Deutschland im 18. und frühen 19. Jahrhundert die Konsumgewohnheiten breiter Bevölkerungsschichten gewandelt haben. Trotz dieser Einschränkungen ist es keine Frage, dass H. mit diesem Aufsatz einen wichtigen Beitrag zu einer quantitativ orientierten Konsumforschung des 18. undfrühen 19. Jahrhunderts auf der Grundlage eines umfassenden undvielschichtig interpretierbaren Quellenmaterials vorlegt, das nur mit Hilfe der EDV systematisch erfasst undauch nurquantitativ ausgewertet werden kann. Es ist zu
120
Rainer Metz
begrüßen, dass sich H. ganz explizit aufdieUntersuchung desWarenangebots, die Distribution unddie Distributionsformen vonKonsumgütern beschränkt, unddamit explizit nicht denvon derkulturgeschichtlichen Forschung propagierten integralen, hermeneutisch orientierten Forschungsansatz praktiziert, da sich mit diesemeinsolcher Quellenbestand adäquat nicht auswerten lassen würde. Eine abschließende Auseinandersetzung mit denErgebnissen des Beitrags ist hier nicht möglich undangesichts der Tatsache, dass das Material noch nicht vollständig erfasst und ausgewertet wurde, auch nicht sinnvoll. Deshalb seien abschließend lediglich noch zwei Aspekte hervorgehoben, die mir für die weitere Arbeit mit diesem umfangreichen Quellenbestand als besonders relevant erscheinen und die für die Qualität jeder empirisch orientierten quantitativen Analyse entscheidend sind. Der erste Aspekt betrifft die Forderung, forschungsleitende Begriffe und Hypothesen zu operationalisieren, da sie sonst einer quantitativen Analyse nicht zugänglich sind. In diesem Zusammenhang wären die Kriterien bzw. formalen Charakteristika festzulegen, nach denen sich Begriffe wieDistributionsformen, Konsumwaren, Kreditpraxis, Groß- undEinzelhandel, breite Bevölkerungsschicht oder auch moderne Konsumgesellschaft messen bzw. charakterisieren lassen. Interessant wäre in diesem Zusammenhang auch zu erfahren, wie ausEinzelbeobachtungen auf langfristige Entwicklungen geschlossen werden soll undunter welchen Bedingungen mansignifikante von zufälligen Veränderungen diskriminieren zukönnen glaubt. Der zweite Aspekt betrifft die Repräsentativität der abgeleiteten Ergebnisse, d.h. deren Gültigkeit über den betrachteten Einzelfall hinaus. Die Frage nach der Relevanz der Ergebnisse für die Beantwortung der forschungsleitenden Fragen bedarf sicherlich in jedem Einzelfall einer ausführlichen Erörterung. Dies betrifft z.B. das Problem, ob die in den Quellen genannten Waren tatsächlich das verbrauchsrelevante Spektrum der Konsumwaren im 18. undfrühen 19. Jahrhundert widerspiegeln, oder auch ob die savoyischen Handelswaren das Spektrum aller Handelswaren repräsentieren und welche Besonderheiten es im Vergleich der savoyischen Händler mit Händlern anderer Herkunft zu berücksichtigen gilt. Nicht zuletzt wäre auch die Frage, welche Bedeutung die gehandelten Waren letztendlich für die Entstehung der Konsumgesellschaft haben, empirisch zu thematisieren. In diesem Zusammenhang erscheint es sinnvoll, typische Warenkörbe zukonstruieren, umso die Ausgabenstruktur auf der Seite der Endverbraucher abzubilden. Wenn manbedenkt, dass z.B. im Etat einer Berliner Maurerfamilie zu Beginn des 19. Jahrhunderts die Ausgaben für Kleidung undsonstiges lediglich 6% derGesamtausgaben betragen, für Ernährung aber 73% ausgegeben werden,5 dann erscheint es fraglich, ob aus demaus den Quellen rekonstruierbaren Handel mit Textilien auf eine Ausbildung der Konsumgesellschaft geschlossen werden kann. Darüber hinaus stellt sich natürlich auch dasProblem, wie sich die Ausgaben z.B.
5
Wilhelm Abel: Agrarkrisen und Agrarkonjunktur. Eine Geschichte der Land- und Ernähseit demhohen Mittelalter. Hamburg/Berlin 1978, S. 245.
rungswirtschaft Mitteleuropas
Korreferat
zuMark Häberlein
121
für Textilien, Kolonialwaren usw. imLaufe des 18. Jahrhunderts verändert haben. Betrachtet manhierzu deren Anteile amHandel, so wie diese in denTabellen bei H. aufscheinen, so gewinnt manden Eindruck, dass sich am Umfang der gehandelten Waren nicht allzu viel verändert hat. Zudem müsste auch die Preisentwicklung derWaren in die Analyse einbezogen werden, zumal dasArgument, dass es gerade der Preisverfall von Manufaktur- und Kolonialwaren war, der deren zunehmenden Konsum erst ermöglich hat, in der Diskussion eine entscheidende Rolle spielt.6 Interessant wäre hier auch der Frage nachzugehen, wie sich Handel undKonsum dieser „Luxuswaren“in Abhängigkeit vondenagrarischen Preiszyklenverhalten haben, d.h. ob einantizyklisches Ausgabeverhalten vorlag. Eine systematisch quantitative Überprüfung zahlreicher dervonH. aufgeworfenen Fragen ist in vielen Fällen sicherlich nicht oder nursehr eingeschränkt möglich. Erstens fehlen häufig schlichtweg die Quellen. Es ist zweitens meist auch unmöglich, Rückschlüsse vonder Stichprobe auf die Grundgesamtheit zuziehen. Drittens, unddasbetont auch H., wäre diese Aufgabe auch dann, wenn die erforderlichen Informationen zur Verfügung stünden, mit einem vertretbaren KostenLeistungsverhältnis nicht zubewerkstelligen. Die Kunst einer quantitativen historischen Analyse besteht offensichtlich darin, die Frage nach der Repräsentativität derabgeleiteten Ergebnisse gerade angesichts desgrundsätzlich fragmentarischen Charakters der Quellen plausibel zu beantworten. Das konsequente Bemühen um eine so verstandene quantitative Analyse sollte deshalb im Mittelpunkt der weiteren Auswertungen stehen, zumal viele kulturgeschichtlich inspirierte Studien der historischen Konsumforschung über das grundlegende Problem der Repräsentativität ihrer Aussagen allzu sorglos hinweggehen.
6
So zeigen z.B. die Preise für Tabak in Hamburg von 1736 bis 1829 einen trendmäßigen Anstieg. Vgl. Hans-Jürgen Gerhard, Karl Heinrich Kaufhold (Hg.): Preise imvor- undfrühindustriellen Deutschland. Nahrungsmittel –Getränke –Gewürze –Rohstoffe undGewerbeprodukte (Göttinger Beiträge zurWirtschafts- undSozialgeschichte 19/20). Stuttgart 2001, S. 122f.
Hans Jürgen Teuteberg
Vom„Gesundbrunnen“in Kurbädern zur modernen Mineralwasserproduktion Überblickt man die statistisch gesicherten Langzeitdaten des jährlichen Prokopfverbrauchs vonallen Getränken in Deutschland in derzweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, dann erkennt manfolgende Entwicklungen: Der Konsum der alkoholfreien Getränke mit dennatürlichen Mineral-, Quell- undTafelwässern sowie dengesüßten Erfrischungstränken auskünstlich erzeugten Mineralwässern an der Spitze gefolgt von den Fruchtsäften hat sich fast kontinuierlich explosionsartig gesteigert, während imGegensatz dazu die alkoholischen nach anfänglich teilweise ähnlich rascher Steigerung mit demhier führenden Bier seit den 1980er Jahren deutlich stagnierten oder mehr oder weniger stark zurückgingen. Die mengenmäßig insgesamt dominierenden „Heiß- und Hausgetränke“(Milch, Bohnen- und Ersatzkaffee, Tee) zeigten ein mehr uneinheitliches Bild, wobei zuletzt auch Stillstand undAbnahme überwogen (vgl. Tab. 1).1 Insgesamt gibt es keinen Zweifel –die sich seit 1950 deutlich abzeichnende Zunahme des gesamten Getränkekonsums ist primär von den Mineralwässern getragen worden. Für denWirtschaftshistoriker ist es daher eine spannende Frage, welche Determinanten den langanhaltenden Siegeszug auf diesem Teilmarkt bewirkt haben undwelche Folgen über den Wandel der Trinkgewohnheiten daraus ablesbar sind.
1 Die Daten beziehen sich 1938 auf dasDeutsche Reich, 1950– 1990 auf die alte unddanach auf
die heutige Bundesrepublik. Wenngleich die vor 1938 vorhandenen fragmentarischen und kurzen Einzelstatistiken wegen der verschiedenen Begriffe unddes anderen Gebietsstandes hier nicht zumVergleich dienen können, lassen diese undandere qualitative Quellen erkennen, dass die Beliebtheit der Mineralwässer, Limonaden und Fruchtsäfte schon wesentlich früher eingesetzt hat, wenngleich diemengenmäßige Nachfrage imVergleich mitanderen Getränken bis 1950 noch sehr gering blieb. Bei dieser Statistik desjährlichen Pro-Kopf-Konsums von Getränken in Deutschland sind folgende Einschränkungen zu beachten: Bei den Erfrischungsgetränken sind ab 1970 die Brunnensüßgetränke, nicht aber Getränke aus Konzentraten, Sirup oder Getränkepulvern einbegriffen. Die Gruppe derMineral-, Quell- undTafelwässer erfasst selbstverständlich auch die Heilwässer sowie seit 1970 die aromatisierten natürlichen Wässer, nicht aber mehr dieBrunnen-Süßgetränke. DieZeile Wein enthält bis 1965 auch denSekt, nicht aber denbesonders ausgewiesenen Fruchtwein bzw. Fruchtschaumwein. Diese beiden zuletzt genannten Getränke wurden ab 1970 mit demSekt unter demSammelbegriff Schaumwein zumbesseren Vergleich mit den Daten nach 1990 zusammengefasst. Bei der Milch ist nurdie Trinkmilch einschließlich derKondensmilch gemeint. Beim Kaffee wurden 35 g proLiter zuGrunde gelegt, die Zeile Tee (9 g proLiter) bedeutet denimportierten Tee unter Ausschluss derheimischen Früchte- undKräuterteesorten.
124
HansJürgen Teuteberg
2000 Tab. 1: Pro-Kopf-Verbrauch vonGetränken in Deutschland inLitern 1938– 1938
1950
1960
1965
1970
1975
1980
1985
1990
1995
2000
Alkoholfreie Getränke
6,8
12,2
33,2
44,4
71,8
104,3
130,4
153,6
209,6
231,7
246,6
Erfrischungsgetränke
2,5
5,5
13,6
22,0
47,5
65,6
69,6
71,1
85,0
93,1
105,7
Mineral-/ Quell-
2,7
4,8
13,0
19,3
14,4
25,8
41,4
57,3
85,0
97,9
100,3
Fruchtsäfte/ Nektare
1,6
1,9
6,6
7,1
9,9
13,5
19,4
25,2
39,6
40,7
40,6
Index
100 176,4
488,2
711,1
1.055,9
1.533,8
1.917,6
2.258,8
3.082,4
3.407,4
3.626,5
Getränkeart
/ u.Tafelwässer
Alkoholgetränke
94,3
44,2
112,4
146,0
166,6
180,5
181,4
179,5
178,4
168,1
155,7
Bier
82,0
35,6
95,3
122,3
145,9
145,8
142,7
137,7
125,3
6,1
12,2
17,4
141,1 18,7
147,8
9,1
25,1
27,5
27,3
29,5
23,9
24,6
Wein, Frucht-/ Schaumwein,
Sekt Spirituosen
3,2
2,5
4,9
6,3
6,8
7,6
8,0
6,4
6,2
6,5
5,8
Index
100
46,9
119,2
146,5
176,7
192,1
192,4
190,8
189,2
178,3
163,1
247,9
231,8
229,2
233,2
267,8
275,5
299,7
273,5
275,8
88,1 81,0 94,1 105,4 52,2 31,0
80,3
72,3
73,3
77,2
79,7
82,5
87,2
116,2
132,9
158,8
163,6
186,3
164,6
158,9
16,6
9,3 18,7
8,9 26,8
8,7
16,1
4,4 22,0
3,0 26,7
Heiß- und Hausgetränke
300,2
244,3
Milch Bohnenkaffee Kaffeemittel
120,0
110,0
81,2 80,9 18,1
19,2
Tee Index
Gesamtsumme Index
100
105,5
9,6 81,4
401,3
300,7
100
74,9
13,5
14,4
7,6 27,1
25,0
76,3
77,7
89,2
91,8
99,8
91,1
91,9
462,2
467,6
518,6
579,6
608,6
687,7
673,5
678,1
98,1 106,2
116,5
129,2
144,4
151,7
171,4
167,8
170,3
82,6 77,58 393,5
Quellen: Ifo-Institut München und Geschäftsberichte Getränkeindustrie. Zusammenstellungen durch denVerband derdeutschen Fruchtsaftindustrie e.V. (Bonn) unddieWirtschaftsvereinigung Alkoholfreier Getränke (Berlin). Auf eine Weiterführung der Daten bis 2003 wurde verzichtet, weil diese Angaben noch vorläufigen Charakter haben undein repräsentativer Vergleich mitdemnächsten Stichjahr 2005 sinnvoller erscheint.
Die folgende Studie soll einen Anstoß bilden, die Geschichte derMineralbrunnen und Erfrischungsgetränke erstmals monographisch aufzuarbeiten. Im Gegensatz zudenmeisten anderen Getränken sind diewissenschaftlichen Vorarbeiten hierfür noch mangelhaft.2 2 Die einschlägige
Literatur beschäftigt sich im Lehr- undHandbuchcharakter mit technischpraktischen Anweisungen oder mit zeitbedingten betriebs- undvolkswirtschaftlichen Einzelproblemen derMineralwasserindustrie, ohne auf denVerbrauch einzugehen undlässt die Einbindung in den größeren historischen Verlauf vermissen. Zur Entwicklung der allgemeinen Trinkwasserversorgung undeinzelner berühmter Kurbäder undihrer Heilquellen liegen zwar Monographien vor, doch fehlt es hier aneiner Vernetzung mitder Industrialisierung unddem Wandel desTrinkverhaltens. Dererste Versuch füreinen geschichtlichen Umriss findet sich in Rudolf Kühles: Handbuch der Mineralwasserindustrie, 3. Aufl., Lübeck 1941. Viele noch un-
Vom„Gesundbrunnen“inKurbädern zurmodernen
Mineralwasserproduktion
125
Zum besseren Verständnis erscheint zunächst eine Begriffsklärung angebracht. Unter der Bezeichnung Mineralbrunnen wurden im 19. Jahrhundert die Betriebe zusammengefasst, welche Heilwässer und Erfrischungsgetränke auf natürlicher Basis herstellten, denen auch aus technischen oder geschmacklichen Gründen gelegentlich Trinkwasser beigemischt wurde. Die Unternehmer der später aufkommenden Erfrischungsgetränkeindustrie, die ursprünglich nur künstlich hergestelltes Mineralwasser undBrauselimonade verfertigten, nannte sich bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges „Mineralwasser-Fabrikanten“, so dass der Begriff Mineralwasser-Industrie“die natürliche wie künstliche Produktion umschloss. „ Die folgende Abhandlung verwendet die in den historischen Quellen genannten zeitgenössischen Bezeichnungen. Heute werden die alkoholfreien Getränke wie folgt unterteilt: Erfrischungsgetränke 1. Limonaden: Sie enthalten natürliche Auszüge von Früchten oder Pflanzen sowie teilweise zusätzliche Fruchtsäfte. 2. Brausen: Sie haben die natürlichen Bestandteile durch künstliche Aromen oder Farbstoffe ersetzt. 3. Fruchtsaftgetränke: Ihr Charakter wird durch ein wechselndes Minimum an Fruchtsaftgehalt bestimmt. 4. Mineralstoffgetränke (Sportgetränke): Sie enthalten eine Mischung vonMineralstoffen undgegebenenfalls vonVitaminen. 5. Kalorienarme Erfrischungsgetränke: Der Zuckergehalt ist hier durch künstlichen Süßstoff ersetzt worden. 6. Diätetische Erfrischungsgetränke: Sie dienen nach ärztlicher Verordnung einerbesonderen Ernährung zutherapeutischen Zwecken. 7. Innovative Erfrischungsgetränke: Zu ihnen zählen z.B. aromatisierte Mineralwässer, Eistee, alkoholfreie Aperitifs undanderes.
Wässer 1. Natürliche Mineralwässer: Sie stammen aus unterirdischen natürlichen Wasservorkommen (Brunnen) und enthalten wechselnde Gehalte an Mineralien, Spurenelementen undanderen chemischen Bestandteilen, welche ernährungsphysiologische Wirkungen entfalten. In dieser Gruppe wurden vonder amtlichen Statistik bis 1994 auch die Heilwässer erfasst, welche rechtlich zu den Medikamenten zählen. 2. Quellwässer: Sie werden ausnatürlichen undkünstlich erschlossenen unterirdischen Wasservorkommen gewonnen. bekannte Einzelheiten lassen sich denPeriodika entnehmen, wie z.B. dem 1897 gegründeten Verbandsorgan „ Der Mineralwasser-Fabrikant“sowie der„Deutschen Mineralwasserzeitung“ (1938 ff.). Vorbildliche ausländische Monographien sind Gaston Durgardin: Histoire de Commerce de Spa, Liège 1944; Bernard Buffet/René Evrard: L’eaupotable à travers les âges, 2. Aufl., Liège 1951; John Burnett: Liquid Pleasure. A Social History of Drinking in Modern Britain, London 1999.
126
Hans Jürgen Teuteberg
3. Tafelwässer: Diese
enthalten Trinkwasser und natürlichen Mineralwässer, denen Mineralsalze oder Kohlensäure künstlich zugesetzt wurden.
Fruchtsäfte gehören neben den Fruchtsäften und Frucht- sowie Diätnektaren die Gemüsesäfte.
Zu ihnen
Heilwasserkuren
als Vorläufer moderner Mineralwasserfabrikation
Da Wasser die amhäufigsten
vorkommende chemische Verbindung auf der Erdoberfläche ist undjahrtausendelang primär den menschlichen Durst löschend in erster Linie zur Erhaltung des körperlichen Flüssigkeitshaushaltes beitrug, wird manfrühzeitig auf die Heilkräfte bestimmter Quellwässer aufmerksam geworden sein. Alle alten Hochkulturen haben Zeugnisse über die Anwendung vonBädern zur körperlichen Reinigung, Erfrischung undGesunderhaltung hinterlassen, was auch stets mit magisch-religiösem Kultus undzwischenmenschlicher Kommunikation vereint wurde.3 Natürlich war das auch immer mit Mundspülen undTrinken des Wassers verbunden, wie manheute noch amRitual vor islamischen Moscheen unddemBadhinduistischer Gläubiger im heiligen Ganges in Benares beobachten kann. Die meisten Überreste in Europa vomluxuriösen Badewesen sind vom Imperium Romanum hinterlassen worden. Nach anfänglichen Verboten des warmen Badens (mit Ausnahme der Kinder) im frühen Christentum aus moralischen Gründen nahm das mittelalterliche Baden seit dem8. Jahrhundert mit den Städtegründungen wieder zu, wobei dann neben den „ BadeBadestuben“auch „ fahrten“zu Wildbädern undMineralquellen in Mode kamen. Wie in der Antike rangierten aber gesellschaftliche Vergnügungen dort weit vor den gesundheitlichen Zwecken. Die heilende Wirkung desTrinkens natürlicher Mineralwässer gewann anBedeutung, als mansich davon eine Bekämpfung der in der zweiten Hälfte des 16. Jh. aus Amerika eingeschleppten Syphiliskrankheit versprach. Im 17./18. Jh. vergaben die Fürsten im Rahmen der aufkommenden „ Medicinal-Polizey“Privilegien zur Errichtung staatlich geförderter „Gesundbrunnen“ , welche ausführliche Beschreibungen fanden.4 Die Masse der einfachen Bevölkerung hatte an diesen
3 Zurälteren Badegeschichte, die hier nurangedeutet werden kann, vgl. Michael Matheus (Hg.): Badeorte undBäderreisen in Antike, Mittelalter undNeuzeit, München 2001; Martin: Deutsches Badeleben in vergangenen Tagen, Jena 1906. 4 Vgl. z. B. Caspar Fischer: Der imFürstenthum Coburg zuGrub amForst befindliche GesundBrunnen sammt denen darauf verfertigten Medicamenten undnützlichen Gebrauch zumTrincken undBaden, Coburg 1735; Ludwig Gottlieb Klein: Deaere, aquis et locis agrio Ebacendis
atque Breubergensis, largo Odenwaldiae, Frankfurt a.M./Leipzig 1754. Rudolf Brandes/Karl Tegeler: Die Mineralquellen unddasMineralschlammbad Tatenhausen in derGrafschaft Ravensberg, Lemgo 1830. Vgl. Josef Bauer: Wasser auf Reisen –zumMineralwasserversand, in: Grosse Welt reist insBad(Ausstellungskatalog), München 1980.
Vom„Gesundbrunnen“in Kurbädern zurmodernen Mineralwasserproduktion
127
luxuriösen, allein auf denLebensstil des Adels ausgerichteten, Bade- undTrinkkuren keinen Anteil. Eine Ursache für diese in einer Ständegesellschaft nicht ungewöhnliche soziale Separierung bestand in demUmstand, dass der Versand der hochgeschätzten Mineralwässer aus verkehrs- und verpackungstechnischen und damit auch ausökonomischen Gründen nicht in Frage kam. Eine erste Veränderung bahnte sich hier um 1800 an, als einige Besitzer von Gesundbrunnen“aufgrund der in der napoleonischen Herrschaft verkündeten „ Aufhebung der alten Zunftprivilegien undder neuen Zollgrenzen natürliches Mineralwasser in mehr stoßsicheren glasierten Tonkrügen, welche besonders geübte Kannenbäcker“angefertigt hatten, über kleinere Entfernungen erfolgreich zu „ verkaufen begannen. Zwar verfolgte man hier wie bei den Trinkkuren zunächst medizinisch-therapeutische Ziele, jedoch erschien es ebenso gewinnbringend, die anheißen Tagen besonders erfrischenden kohlensäurehaltigen Getränke noch mit Zucker, Zitronen oder anderen Kräuteressenzen geschmacklich zuverbessern und so einen größeren Kundenkreis anzusprechen. Als Vorbild dienten Straßenhändler, welche in europäischen Metropolen im Sommer mit Natureis gekühltes Wasser verkauften, dassie in Gläser füllten undin die sie Zucker, Zitronen oder Lakritze taten.5 In Paris bildeten solche „ limonadiers“vom 17. Jahrhundert bis zur Französischen Revolution 1789 sogar eine eigene Zunft. An dieses ältere ambuSelterwaslante Gewerbe anknüpfend schickten die kleinen Gastwirte nunauch „ sermacher“auf die Straße, welche auf dem Rücken einen kunstvoll verzierten Behälter trugen, aus dessen Abfüllhähnen verschiedene Geschmacksrichtungen derLimonade entnommen wurden. Die Bezeichnung „Selterswasser“rührte daher, dass in dem kleinen hessennassauischen Dorf Selters im Oberlahnkreis der dort seit über 400 Jahren bekannte „Sauerbrunnen“schon frühzeitig unter deranfänglichen Bezeichnung „Selterser Wasser“nach auswärts versandt wurde.6 Als nun die einsetzende Urbanisierung undIndustrialisierung den Massenkonsum von Nahrungsmitteln differenzierend steigerte, gewann derVersand vonMineralwasser anBedeutung, wobei die NachSelterswassers“zunächst eine ahmung desaufdemMarkt schon so erfolgreichen „ große Rolle spielte, weshalb manauch andernorts diese rechtlich noch nicht geschützte Markenbezeichnung übernahm. Sie wurde dann in der Alltagssprache zumersten umfassenden Produktbegriff, der dasnatürliche wie künstliche Mineralwasser umfasste. Mit der zunehmenden rechtlichen Regulierung wurden dann unterschiedliche Bezeichnungen der verschiedenen Quell-, Mineral- und Tafelwässer eingeführt.
5 Eine anschauliche
Beschreibung liefert Goethe, der in seiner „ Italienischen Reise“von 1787 berichtet, dass dort Gesellen herumwanderten, „ mitFäßchen Eiswasser, Gläsern undZitronen, umüberall gleich Limonade machen zukönnen, einen Trank, derauch derGeringste nicht zu entbehren vermag“ . Johann Wolfgang von Goethe: Italienische Reise, in: Ders., Sämmtliche Werke in vierzig Bänden. Vollständig neu geordnete Ausgabe, Bd. 24, Stuttgart/Tübingen
6
1840, S.20. Ulrich Eisenbart: Wirtschafts- undSozialgeschichte desNiederselterser Brunnenbetriebes bis zumEndedesHerzogtums Nassau, Wiesbaden 1982, S. 66.
128
HansJürgen Teuteberg
Die Suche nach derchemischen Zusammensetzung derHeilwässer Angesichts des frühzeitig weit verbreiteten Badewesens erscheint es nicht verwunderlich, dass schon seit der Antike Gelehrte die Inhaltstoffe der Mineralwässer undUrsachen ihrer heilenden Wirkungen zu erkunden suchten. Wie die Geschichte der Balneologie zeigt, haben sich nach Aristoteles undPlinius d. Ä. der mittelalterliche Arzt Aldebrandino aus Siena 1286 sowie derBasler Naturforscher 98) mit derKonsistenz vonHeilwässern beschäftigt. Leonhard Thurneysen (1531– Bei diesen Analysen des Quellwassers machte man erst wenig Fortschritte. Es gelang noch keine künstliche Nachbildung, weil der chemische Nachweis der Kohlensäure als wichtigstem Bestandteil fehlte. Erst die Untersuchungen des flä1644), der das Mineralwasser mischen Arztes Johann Baptist van Helmont (1577– vom Kurbad Spa analysierte understmals die Kohlensäure (Kohlendioxyd) von gewöhnlicher Luft unterscheidend künstlich ausKalkstein undkohlensaurem Kali 1691) in herstellte, aber auch die Analysen der Chemiker Robert Boyle (1671– 1742) in Deutschland (der die KohlenEngland und Friedrich Hoffmann (1660– säure in sämtlichen Sauerbrunnen erstmals als flüchtiges Gas nachwies) sowie 1784) und Jakob Berzelius (1779– 1848) in von Tobern Olof Bergmann (1734– Schweden und schließlich des berühmten Franzosen Antoine Laurent Lavoisier 1794), der die Kohlensäure chemisch ganz exakt bestimmte undfür sie den (1743– gas carbonique“in die Wissenschaft einführte, haben die entscheidenden Begriff „ Grundlagen für die dann einsetzende künstlich-gewerbliche Erzeugung derMineralwasserfabrikation gelegt. Justus Liebig und der Dresdner Mediziner Friedrich 1861) konnten bereits den Gehalt von Mineralquellen August von Ammon (1799– in Deutschland genau quantifizieren undwissenschaftliche Anleitungen zumrichtigen Gebrauch der „Gesundbrunnen“verfassen, was den Naturärzten und ihrer Wasserheilkunde großen Auftrieb verlieh.7
7 Vgl. als Quellen z. B. Johann Baptist vanHelmont: Hortus medicinae, Leyden 1648; Torbern Olof Bergmann: Treatise on Bitter, Seltzer, Spa und Pyrmont Waters and their synthetical
Preparation, Stockholm 1956. (Excerpt aus der zweibändigen schwedischen Originalschrift, Stockholm 1773– 74); William Saunders: A Treatise on the Chemical History and Medical Power of the most celebrated Mineral Waters, London 1800; J. Riem: Die Getränke des Menschen, Dresden 1803; Justus Liebig: Analyse desneugefassten sogenannten untersten Brunnen 287; Friedrich bei Homburg vor der Höhe, in: Annalen der Pharmacie Bd.18 (1836), S.275– August von Ammon: Brunnendiätetik-Anleitung zumheilsamen Gebrauche der GesundbrunnenundMineralbäder Deutschlands, Leipzig 1854; H.Helft, Balneodiätetik, Berlin 1853. Vgl. ferner allgemein Paul H. Piechotta: Geschichtlicher Werdegang des Mineralwassers, insbesondere deskünstlichen Mineralwassers, in: Deutsche Mineralwasser-Zeitung Jg. 1 (1937), S. 13; Julius Jauernig: Die Entwicklung der deutschen Mineralwasserindustrie (Rechts- und 10– sozialwiss. Diss.), Beuthen/Oberschlesien 1941, S. 21.
Vom„Gesundbrunnen“inKurbädern zurmodernen
129
Mineralwasserproduktion
Anfänge gewerblicher Nutzung derkünstlich hergestellten Mineralwässer
Alle daraus erwachsenden Versuche zur Herstellung künstlicher Kohlensäure stützten sich auf einen Mischprozess vonWasser undMineralsalzen, doch wares zunächst ein Problem, die dazunotwendige Apparatur für diegetrennte künstliche Kohlensäureerzeugung zu konstruieren. Demenglischen Physiker undChemiker Joseph Priestley (1733– 1804), dem bekannten Entdecker des Sauerstoffes, gelang es dann, eine 1767/68 vorihmentwickelte Vorrichtung soweit zuverbessern, dass nundie künstliche Gewinnung relativ reiner Kohlensäure endlich möglich wurde. Gleichzeitig entstanden weitere Apparate, nämlich ein mechanischer Mixer zur Vermischung desWassers mitderKohlensäure, ferner Abfüllhähne, Druckmesser und Sicherheitsventile, bei denen man auf Erfindungen von James Watt bei der Verbesserung derDampfmaschine zurückgreifen konnte. So waren um 1800 auch erste technische Voraussetzungen fürdenBeginn einer mechanisierten Produktion deskünstlichen Mineralwassers entstanden. Die ersten artifiziell hergestellten Surrogate der natürlichen Heilwässer, die auch nurüber Apotheken vertrieben werden durften, waren zwar vergleichsweise billiger als die natürlichen „Gesundbrunnen“ , doch haftete ihnen der große Mangel an, dass sie überall dengleichen Geschmack hatten undnicht derreichen Vielfalt dernatürlichen Quellen entsprachen. Hier tat sich eine erkennbare gewinnversprechende Marktlücke auf. Der aus einer alten thüringischen Gelehrtenfamilie 1840), der 1805 stammende Mediziner Friedrich Adolph August Struve (1781– neben der ärztlichen Praxis auch die Apotheke seines Vaters in Dresden übernommen hatte, stellte damals fest, dass das aus den benachbarten böhmischen Egerwasser“wie auch das bereits im Handel befindliche Kurbädern stammende „ künstliche Mineralwasser nicht mitdenkräftigen originalen Quellen in derchemischen Zusammensetzung übereinstimmten. In jahrelangen Experimenten gelang naturgetreue Nachbildungen einiger natürlicher Mine-
es ihm bis 1818, erstmals ralquellen zuerreichen.8
Dies war von solchem Erfolg gekrönt, dass er schon im folgenden Jahrzehnt
Städten Sachsens „ Trinkgärten“eröffnete, in denen seine Erzeugnisse gekauft oder an Ort undStelle getrunken werden konnten. Darüber hinaus versandte er seine künstlich neu hergestellten Heilwässer in die nächste Umgebung, um auch Minderbemittelten auf diese Weise einen Zugang zu den sonst sehr teuren „ Brunnenkuren“zu ermöglichen. Da Struve wie bei anderen Medikamenten hier ein staatliches Herstellungs- undAbsatzmonopol im Königreich Sachsen eingeräumt erhielt, das erst mit demErlass einer liberalen Gewerbeordnung 1861 endete, under seine Apparate durch Patente schützte, konnte er zunächst eine marktbeherrschende Stellung erobern. Als dergroße wirtschaftliche Erfolg seiner Produkte seit 1840 durch eine Gewerbeausstellung weithin bekannt wurde, veranlasste dies Unternehmer in anderen deutschen Bundesstaaten zur
in größeren
vonKranken
8 Friedrich
Adolph August Struve: Über die Nachbildung der natürlichen Heilquellen, 1826, 2. Aufl. 1826, S. 27. Dresden/Leipzig 1824–
2 Hefte,
130
HansJürgen Teuteberg
Gründung ähnlicher „ Mineralwasser-Fabriken“, um diese künstlich hergestellten Getränke Kranken unddann auch später Gesunden anzubieten.9
Wegweisende neue technische Innovationen
Das stürmische Vordringen des Mineralwassers als neues Massengetränk beruhte aber noch aufweiteren Neuerungen. Dass die Kohlensäure als farbloses, säuerlich riechendes Gas alten Vulkanen und anderen Spalten der Erdrinde entweichend denGeschmack unddie Haltbarkeit vonQuellwässern verbessern unddiese durch verschiedene Karbonatzusätze gesundheitlich förderlich sein konnten, war zwar im Rahmen des Badewesens wie erwähnt seit langem bekannt, aber viele ältere Gesundbrunnen wiesen keine oder nurwenig Kohlensäure auf, hatten aber wegen ihres starken Eisen- oder Schwefelgehalts ein trübes Aussehen und schmeckten sowie rochen muffig undunangenehm, so dass sie nur zumheilenden Bad taugten. Bei den„Säuerlingen“unter denMineralwässern ging beim Abfüllen zudem ein Teil deraufsprudelnden Kohlensäure verloren, so dass manauf denGedanken kam, diese in separaten Gefäßen aufzufangen undnachträglich dembereits abgefüllten Tafelwasser dann wieder zuzuführen. Aber dies war wie überhaupt die Herstellung künstlicher Kohlensäure im eigenen Betrieb zunächst ein technisch kompliziertes Verfahren, das sich die damals noch relativ kleinen Brunnenbetriebe noch nicht leisten konnten. Seit den 1880er Jahren kames hier zuzwei weiteren Innovationen. So gelang eine entscheidende Geschmacksverbesserung, indem man durch Oxydation die geschmacksschädigenden Eisen- und Schwefelbestandteile ausfilterte und sich so vondernatürlichen Zusammensetzung desMineralwassers befreite. Dieses bahnbrechende Verfahren wurden unter demNamen „ Enteisenung“bekannt. Zur gleichen Zeit wurde das Transportproblem revolutionär verändert, als der Firma Friedr. Krupp in Essen 1876 erstmals die Herstellung von„flüssiger Kohlensäure“ gelang. Mit Hilfe eines neukonstruierten Apparates konnte nundaskünstlich hergestellte Gas in flüssiger Form in großen Eisenflaschen über weite Strecken zum jeweiligen Vertriebsort gebracht unddort das Quellwasser damit vermischt werden.10 Wenngleich die schweren Kohlensäureflaschen anfangs die Absatzkosten steigerten, war dies ein weiterer entscheidender Schritt zur Eröffnung des Massenkonsums. Die sich nunetablierende Kohlensäureindustrie verstand es nämlich recht bald, durch leichtere Gasflaschen ausdünnem Stahl dasGewicht zureduzierenundmitHilfe eines verbesserten Sicherheitsventils die Explosionsgefahr prak9 Kurt Funck: 10
Geschichte der Mineralwasserindustrie amNiederrhein undan der Lahn. (Wirtschafts- undsozialwiss. Diss.), Köln 1923, S. 31ff.; Ilja Mieck: Die erste Mineralwasserfabrik 559. in Berlin, in: Berliner Gesundheitsblatt, Bd. 16 (1955), S. 557– Wilhelm Lohmann: Praktischer Versuch zur Herstellung von kohlensauerem Wasser im Mischzylinder mittels flüssiger Kohlensäure, in: Der Mineralwasser-Fabrikant Nr.17 v. 29. 4. 1927; Ders.: Die Fabrikation vonflüssiger Kohlensäure, Leipzig 1901.
Vom„Gesundbrunnen“inKurbädern zurmodernen
Mineralwasserproduktion
131
tisch auszuschalten. Alle diese technischen Fortschritte trugen zur wesentlichen Senkung des Mineralwasserpreises bei. Die Kohlensäurefabriken konnten ihre Produktion zwischen 1884 und 1899 von 122.000 kg auf rd. 14 Mill. kg steigern und so zur Neugründung zahlreicher Mineralwasserbetriebe beitragen.11 Bemerkenswert ist, dass auch die Großbrauereien von dieser Innovation angesteckt seit den 1880er Jahren begannen, ihr Bier mit künstlicher Kohlensäure geschmacklich zuverbessern. Die Mineralwasserindustrie profitierte bei ihrem Aufschwung noch vonanderen technisch-betriebswirtschaftlichen Rationalisierungen, welche die gesamte Getränkeindustrie betrafen. Zunächst ist auf die revolutionäre Modernisierung des Abfüllvorganges hinzuweisen. Wurden bis zumEnde des 19. Jh.s die Gefäße einfach durch Eintauchen in die sprudelnde Wasserquelle zeitraubend undunhygienisch unter Verlust von Kohlensäure in Handarbeit gefüllt, so geschah dies nach 1900 durch einen neuen Flaschenfüllapparat, der die Flüssigkeit unter Druckluft mechanisch in genau kalkulierter Menge durch eine Rohrleitung schnellstens und sauber direkt in die Flasche leitete. Da es beim Tafelwasser besonders auf den guten Geschmack ankam, wurde dieses zusätzlich mit Hilfe einer Düse vorher zerstäubt, wodurch sich die Kohlensäure besonders eng mit den Wasserpartikeln verband.12
Auch derfürdieHaltbarkeit so wichtige Verschluss erhielt neue Formen. Hatte manvorher die unterschiedlichen Versandgefäße mit rohen Holzstöpseln (süddeutsch: Stopfen) oder dem schon in der Römerzeit gut bekannten Korken verschlossen, denmandurch Schläge miteinem Holzhammer in dieFlaschenöffnung eintrieb, so wurde nun der in England erfundene „ Kronkorken“verwandt, der erstmals ein mechanisches Verschließen erlaubte, allerdings kein nochmaliges Wiederverschließen. Darum setzten sich dann mehr die bis heute gebräuchlichen Hebel- und Schraubverschlüsse durch.13 Auch das mühselige Etikettieren in
11 Vgl. Wender: Die Kohlensäure-Industrie, Berlin 1901; Baum: Die wirtschaftliche Bedeutung undHandelstechnik derKohlensäureindustrie, Düsseldorf 1911. 12 Jauernig: Entwicklung (wie Anm.7), S. 120f.; Walter Mingenbach: Betriebswirtschaftliche Gegenwartsfragen der Mineralwasserindustrie. Preisregelung, Rechnungswesen undBetriebsvergleich für die Mineralwasserindustrie sowie Möglichkeiten derPreissenkung bei Heilwässern, Emsdetten 1939, S. 9. 13 Korken werden bekanntlich aus der Rinde der in Mittelmeerländern wachsenden Korkeiche gewonnen. Sie verhindern durch ihr lückenloses abgestorbenes Zellgewebe ein Verdunsten jeder Flüssigkeit undsind wegen ihrer Elastizität besonders widerstandsfähig gegenüber äußeren Einflüssen. Schon Plinius d. Ä. wies auf die besondere Brauchbarkeit vonKorkstöpseln als Verschluss hin. Die kleinen Korken wurden mit der Hand geschnitten; dann aber kamen besondere Schneidemaschinen auf, während große Korken durch Zusammenpressen vonverschroteten Korkabfällen entstanden. DieNutzung derKorkrinde, die schon lange noch zuanderen Zwecken diente, blieb als Verschluss erhalten, als Kunstkorken (Suberit) aus Kautschuk, Stearinteer, Kollodium, Kaseinkalk oder anderen Kunststoffen hergestellt als Konkurrenz später aufkamen. Vgl. A. Stefan: Die Fabrikation von Kautschuktypen [...] sowie die Verarbeitung des Korkes, 2. Aufl., Leipzig 1900; Klauber: Monographie des Korkes, Berlin 1920. Zudenneuen Verschlüssen vgl. Funck, Geschichte (1923), S. 55ff.
132
HansJürgen Teuteberg
Handarbeit wurde nunvonneuen flinken Etikettiermaschinen übernommen, welche die Mineralwasserflaschen zugleich mit werbenden Schildern und den Verschluss mit einem Sicherheitsstreifen versahen, derwie heute noch für die Quali-
tät des Inhalts bürgte.14
Bei der künstlichen Herstellung von Heilwässern wurde nicht mehr wie anfangs normales Trinkwasser, sondern nunnur noch destilliertes Wasser benutzt. Bei derplatzsparenden undtechnisch weniger aufwendigen Einfüllung derflüssigenKohlensäure in die Stahlflaschen kamen ebenfalls eine Reihe neuer Gasometer undPumpen sowie gekühlte Mischzylinder undExpansionskessel in Betrieb, die großenteils halbautomatisch mitelektrischer Energie undTreibriemen arbeiteten. Aufgrund dieser starken Mechanisierung nannten sich die Unternehmer nun selbstbewusst „ Mineralwasser-Fabrikanten“ . Dererste Siegeszug derBrauselimonade als Massengetränk
Die preisgünstige Versorgung mit künstlicher Kohlensäure bedeutete auch einen ungeheuren Wachstumsschub für den zunächst sehr kleinen Zweig der Erfrischungsgetränke. Zu Struves Erfolg hatte wesentlich beigetragen, dass er bereits 1840 in seinen „Trinkgärten“auch künstliche „Brauselimonaden“anbot. Das bei allen Mineralwasserfabrikanten zunächst bescheidene Nebengeschäft wandelte sich nunbald zu einer Haupteinnahmequelle. Die Ursache für den rasch ansteigenden Limonadenkonsum lässt sich rückschauend guterkennen: Bis zumBeginn des 20. Jahrhunderts warwegen der kurzen Haltbarkeit des wasserreichen Obstes undderfehlenden Konservierungstechnik eine gewerbliche Weiterverarbeitung zu alkoholfreien frischen Obstsäften nicht möglich. Das meiste Obst wurde daher gleich nach der Ernte im häuslichen Bereich weiterverarbeitet, z. B. zu Dörrobst, Mus, Most, Beerenwein oder gebranntem „Obstgeist“ . Wegen der relativ hohen Zuckerpreise und vergleichbar geringen Obsterträge blieb die Produktion reinen Fruchtsaftes aber noch gering. Erst nach derMitte des 19. Jahrhunderts stieg diese erstmals an, als billiges Wirtschaftsobst minderer Qualität undvor allem kurzfristig reiche Beerenernten als Marktüberschüsse nach größerer Weiterverarbeitung drängten.15 Die Mineralwasserfabrikanten erkannten, dass die Substitution desbisherigen schalen Limonadenwassers durch künstliches, prickelndes undweit schmackhaf14 Mingenbach: Gegenwartsfragen (wie Anm.12), S. 9; Jauernig: Entwicklung (wie Anm. 7), S. 121.
15 HansJürgen Teuteberg: Obst imhistorischen Rückspiegel –Anbau, Handel, Verzehr, in: Zeit199, bes. S. 161f. schrift für Agrargeschichte undAgrarsoziologie, Jg. 46 (1998), H. 2, S. 168– Vgl. M. Ahrenfeldt: Obst- undFruchtsäfte. Ihr Wert, ihre Verwendung undihre Selbstzubereitung im Haushalt. Hg. von der J. Weck GmbH, Oeflingen 1905; A. Weber: Die Obst- und Beerenweinzubereitung sowie Herstellung weinähnlicher Getränke undunvergorener Obstsäfte, 3. Aufl., Würzburg 1907; [Julius] Koch: Technisches aus demGebiet der alkoholfreien Getränke, in: Die Volksernährung, Jg. 2 (1927), S. 246f.
Vom„Gesundbrunnen“inKurbädern zurmodernen Mineralwasserproduktion
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teres Mineralwasser mit Zusätzen ausbilligen Zuckersirupauszügen, Schaumstoff und verschiedenen Aroma- und Farbstoffen eine weitere Marktlücke schließen konnte.16 Die Brauselimonade fiel nicht mehr unter die apothekerpflichtigen Medikamente, sondern unter die von keiner Zunft oder kommunaler Obrigkeit kontrollierten steuerfreien Lebensmittel, was freilich auch Verfälschungen erleichterte. Um 1900 kritisierte Wilhelm Lohmann als Vorsitzender des „Verbandes der Mineralwasser-Fabrikanten“ öffentlich die oftmals schlechte Qualität einiger Brauselimonaden, „ die von Anfängern undLeuten ohne Fachkenntnisse“hergestellt worden seien, „ welche durch die knallrote Farbe, die widerliche Süße und Überladung mit Kohlensäure wohl eine vom rasenden Tanz ermattete Kuhmagd abkühlen kann, bei gebildeten Leuten aber, die keinen Geschmack an roter Tinte finden, einen Widerwillen gegen die ganze Fabrikation hervorrufen muß“ .17 Erst 1904 wurden durch neue Richtlinien im „Deutschen Nahrungsmittelbuch“die bis dahin unklaren Produktvorstellungen beseitigt undfestgelegt, dass es sich bei Brauselimonaden umgashaltige Getränke handele, die mit destilliertem oder sonst wie einwandfreiem Trinkwasser unter Zusatz von Zuckersirup, Essenzen, Fruchtsäuren, Farbstoffen undSchaummitteln hergestellt werden mussten. Bei den Zusatzstoffen wurde ferner die überprüfbare gesundheitliche Unbedenklichkeit vorgeschrieben. Auch die Brauselimonadenfabrikanten setzten zunehmend mehr Maschinen ein, wobei die neuen mechanischen Saftpressen besonders erwähnenswert sind, welche das stets richtige Quantum von Fruchtauszügen indie Flaschen leiteten.
Die Entwicklung der Mineralwasserfabrikation zwischen 1840 und 1914 Anhand deramtlichen Statistik lässt sich derAufschwung derBetriebe, die Mineralwasser abfüllten undversandten, einigermaßen zurückverfolgen. So vermehrte sich zwischen 1861 und 1875 die Zahl derUnternehmen von45 auf 997, welche zuletzt 2.255 Arbeitskräfte beschäftigten.18 Die Zunahme hatte abgesehen von den technischen Innovationen mit den langanhaltenden günstigen Wirtschaftskonjunkturen imZeichen des Hochliberalismus, besonders mit derGründerphase nach der Reichsgründung 1871 undden tendenziell wachsenden Reallohneinkommen, der größeren Abhängigkeit der Haushalte von den städtischen Märkten unddemdarausresultierenden Wandel derNahrungsgewohnheiten zutun. Eine nicht unwich-
16
Hermann Hager: Vollständige Anleitung zur Fabrikation künstlicher Mineralwässer undBrausegetränke, 2. Aufl., Breslau 1870; Alwin Goldberg: Die natürlichen undkünstlichen Mineralwässer, Weimar 1892; F. Evers: Derpraktische Mineralwasser-Fabrikant, 4. Aufl., Lübeck
1917.
17Wilhelm Lohmann: Die Aufgabe undStellung derMineralwasser-Fabrikation imbürgerlichen Leben, in: DerMineralwasser-Fabrikant Nr.34 v. 1.4.1899. 18 Konrad Jürgen Kraus: Unternehmensgröße undKonzentration in derdeutschen Erfrischungsund Mineralbrunnenindustrie, Frankfurt a.M. 1982, Jahren nach amtlicher Statistik verbessert).
S. 77. (Fehlerhafte
Angaben
in einigen
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tige Tatsache waraber auch, dass für die Errichtung einer Mineralwasserfabrikation nurwenige Räume, Geräte sowie Mitarbeiter unddamit ein geringes Investitionskapital notwendig waren. Viele dieser neuen Unternehmen bestanden nuraus
einem Schuppen und wenigen Arbeitern neben dem einzigen Unternehmer, der sich nicht selten als ehemaliger Drogist, Kolonialwarenhändler oder kleiner Bierbrauer so eine aussichtsreichere Existenz zu schaffen versuchte. 1904 gab es im Deutschen Reich bereits 3.205 Betriebe mit9.077 Arbeitskräften, dieweiter überproportional anstiegen. Bei der Gewerbezählung von 1907 wurden die Betriebe, welche sich mit demVertrieb vonnatürlichem Mineralwasser beschäftigten, erstmals einbezogen, wasdenVergleich mit denfrüheren Daten erschwert. Nach widerspruchsvollen zeitgenössischen Schätzungen muss die Zahl der Mineralbrunnenin diesem Jahr imDeutschen Reich etwa zwischen 138bis 264 Betriebe gelegenhaben. Demstatistischen Vergleich kann manaufjeden Fall entnehmen, dass derbesonders sprunghafte Anstieg zwischen 1904 und1907 vornehmlich vonder künstlichen Mineralwasserproduktion getragen worden ist.19 Der „Allgemeine Verband der Deutschen Mineralwasser-Fabrikanten“beklagte schon bei der Gründung 1898, dass die Zahl der Betriebsgründungen den Konsumanstieg in den letzten Jahren bei weitem überstiegen habe. Während früher nur Chemiker undApotheker Mineralwasser hergestellt hätten, würden sich nun alle möglichen Berufe in dieser Branche betätigen und einen „unschönen Wettbewerb umdie Konsumenten führen“ .20Der wachsende Konkurrenzdruck in denbeiden ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts hatte auch damit zutun, dass sich Mineralwasserbetriebe nicht nurwie vorher allein in größeren, sondern auch in kleineren Provinzstädten niederließen. Die Reichsstatistik erfasste 1918 insgesamt 12.257 Betriebe, was eine Erhöhung der Produktionsstätten seit 1907 um 106 Prozent bedeutete. Der „Verband der Mineralwasser-Fabrikanten“bemühte sich schon vor demErsten Weltkrieg wegen der immer ruinöser werdenden Konkurrenz unddendamit sinkenden Erträgen umdie Einführung eines Konzessionszwanges, was aber vom Staat wegen der gesetzlich verankerten Gewerbefreiheit strikt abgelehnt wurde.21 Die durchschnittliche Beschäftigungsquote zwischen 1861 und 1918 lag bei 2,6 Arbeitskräften undbelegt, dass die Klein- undKleinstbetriebe bei weitem in diesem Wirtschaftszweig dominierten. Die statistische Erfassung der abgefüllten Mineralwässer ist zunächst unvollkommen, da sie sich nurauf die natürlichen Heilwässer in Preußen stützen kann. Eine Umrechnung verschiedener Tabellen zeigt, dass der Mineralwasserversand 1870 rd.4,6 Mill., 1880 schon 13,7 Mill., 1890 dann 22,6 Mill. und1900 schließlich 73,9 Mill. Flaschen undKrüge betrug, wasinsgesamt eine Steigerung umdas
19 Vgl. Egon Koch: Die deutschen Quellkurorte undMineralbrunnen in ihrer volkswirtschaftlichen Bedeutung, Köln 1932, S. 18f und S. 28. Vgl. Deutscher Bäderkalender Jg. 89, Berlin 1928; Deutsches Bäderbuch, Leipzig 1907.
20 DerMineralwasser-Fabrikant Nr.21 v. 1.11.1900. 21 Carl Jakob Bachem: 100 Jahre Verbandsorganisation der deutschen ErfrischungsgetränkeIndustrie, in: DasErfrischungsgetränk, Stuttgart o. J.
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Mineralwasserproduktion
16fache bedeutete.22 Die vier größten Versandbrunnen zeigten dertwende beispielhaft folgenden Absatz:
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um die Jahrhun-
Tab. 2: DerVersand vonnatürlichem Mineralwasser dervier größten Brunnenbetriebe 1900 Versandbrunnen
Ort
Apollinarisbrunnen
Neuenahr
Kaiserquelle/ Burscheider Sprudel Rhenser Mineralbrunnen
Aachen
Schlossbrunnen
Gerolstein
Rhens
Versandte Gefäße
27.652.496 6.110.140 5.230.000 3.800.000
Quelle: Kaiserliches Gesundheitsamt (Hg.): Deutschlands Heilquellen undBäder, Berlin 1900.
Bei diesem beachtlichen Aufstieg einzelner Brunnenbetriebe darf aber nicht übersehen werden, dass die gesamte Mineralwasserbranche weiterhin von mittleren undkleinen Betrieben geprägt wurde. Einige Unternehmen erwiesen sich auch nicht als wettbewerbsfähig underlebten einen Umsatzrückgang. Zu derwachsendenBetriebsdichte trug bei, dass die alten staatlichen Konzessionierungen bei den Heilwässern aufgehoben wurden undVertrieb undNiederlassungen über die alten Grenzen der Bundesstaaten möglich wurden. Zudem wurden im späten 19. Jahrhundert angesichts derguten Erfolgsaussichten noch weitere Heilquellen erschlossen. ImJahr 1900 hatten alle deutschen Gesundbrunnen einen Absatz von 16 Mill. Gefäßen, der Gesamtvertrieb aller natürlichen und künstlichen Mineralwässer betrug im Deutschen Reich aber 89,8 Mill. Flaschen und Krüge.23 Tabellarische Absatzvergleiche nach Bundesstaaten zwischen 1903– 1905 zeigen, dass Preußen bei den Heilwässern mit durchschnittlich 75 v. H. undbei den Tafelwässern mit 77 v. H. weit danach gefolgt von Hessen eindeutig marktführend war. Die nachfolgende Indexberechnung belegt, dass sich in diesem kurzen Zeitraum der Verkauf vonnatürlichem Heilwasser um10 v. H., dervomTafelwasser aber sogar um 19 v. H. steigerte.
22 Das in Kleinbetrieben hergestellte künstliche Mineralwasser ist bis zumBeginn des 20. Jahrhunderts quantitativ nicht ermittelt worden. Aber auch bei denamtlich erfassten Heilwässern lassen sich die versandten Mengen nicht in Litern berechnen, weil die verschiedenen Gefäßgrößen keiner Normierung unterlagen. Erst 1912 wurden die Mineralbrunnen einheitlich in 0,75- bzw. 1,0-Liter-Flaschen unddie künstlichen Mineralwässer ausschließlich in 0,3- bzw. 0,5- Liter-Flaschen angeboten. Die Zahlenangaben nach Kaiserliches Gesundheitsamt (Hg.): Deutschlands Heilquellen undBäder, Berlin 1900, S. 267; Zeitschrift des Kgl. Preußischen Statistischen Bureaus, Jg. 1903, Bd. 43, S. 142 ff.; Jauernig: Entwicklung (wie Anm. 7), S. 36 ff. 23 Kaiserliches Gesundheitsamt (Hg.): Deutschlands Heilquellen (1900), S. 1– 267; Jauernig: Entwicklung (wie Anm. 7), S. 66.
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1905 (Basisjahr 1903) Tab. 3: Absatz vonHeil- undTafelwasser imDeutschen Reich 1903– Jahr
Gefäßzahl Tafelwasser
Index
Gefäßzahl Heilwasser
Index
1903 1904 1905
11.438.110 11.813.504 12.539.551
100 103 110
90.619.368 99.120.649 108.964.499
100 109 119
Quelle: Jauernig: Entwicklung (1931),
S. 66.
Die Statistiken zeigen ferner, dass erwartungsgemäß dergesamte Mineralwasserverbrauch in den Großstädten mit ihrem höheren Bildungs- undLebensstandard wesentlich größer warals in Kleinstädten undländlichen Regionen. Allein in der Reichshauptstadt Berlin wurden nach Angaben seiner Handelskammer 1902 rd. 120 Mill. Flaschen künstliches Mineralwasser undrd. 1 Mill. Flaschen Tafelwasser getrunken. Im Jahr vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges hatte sich der Heilwasserversand auf 22,8 Mill. und der Tafelwasserverkauf 190 Mill. Gefäße von 1905 an weiter explosiv auf 81,8 v. H. bzw. 75,8 v. H. gesteigert. Wenngleich keine verlässlichen Daten für jedes einzelne Jahr vorliegen undpräzise Umrechnungen in Liter noch fehlen, kann von einer weiter wachsenden Produktion und Konsumtion ausgegangen werden, wobei der Genuss der künstlich hergestellten Erfrischungsgetränke denderalten „Gesundbrunnen“weiterhin überragte.24 Aus demZahlenwerk lässt sich damit generell ableiten, dass sich umdie Jahrhundertwende ein bisher noch wenig registrierter Konsumwandel vollzogen hat: Stellte die Limonadenfabrikation zunächst nur einen wenig beachteten Nebenerwerb dar, so warsie nunganz deutlich zueiner Haupteinnahme geworden. Dabei muss aber beachtet werden, dass derMineralwasserverbrauch stark vonderWitterung beeinflusst wurde. Die besonders heißen Sommermonate des Jahres 1904 brachten der Mineralwasserindustrie einen Rekordausstoß, so dass nach einem Bericht der Harzer Sauerbrunnen auch Nachtschichten zur Erfüllung der vielen Aufträge eingelegt wurden, was eine tägliche Versendung von 20 bis 30 Eisenbahnwaggons bedeutete. In einem verregneten Sommer fiel die Nachfrage dagegenwesentlich bescheidener aus. Dergenerell höhere Absatz vonMaibis Oktober blieb ein Charakteristikum. Die Weihnachtsfeiertage sowie die regelmäßigen Wintervergnügungen wie Bälle, Theater undKonzerte brachten freilich stets eine kurze Erholung auch in der absatzflauen Jahreszeit.25 Ein Vergleich der durchschnittlichen Monatstemperaturen mit dem prozentualen Jahresabsatz aus dem
24 Vgl. Meuser: Die Entwicklung der Brunnenindustrie seit der Jahrhundertwende, in: Deutsche 15, bes. S.14. Mineralwasser-Zeitung (Lübeck), Nr. 1, 1937, S. 13– 25 Jauernig: Entwicklung (wie Anm. 7), S. 74; Nebengeschäfte der Mineralwasser-Fabrikanten, in: DerMineralwasser-Fabrikant Jg.1901, Nr.24, S. 547.
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Jahr 2000 beweist, dass sich an dieser Nachfrageabhängigkeit bis heute nichts geändert hat.26 Daskontinuierliche Wachstum des Mineralwasserkonsums lässt sich schließlich aus der Ein- undAusfuhrstatistik des Deutschen Reiches entnehmen. Wenngleich diese Gesamtzahlen gemessen amGesamtabsatz relativ bescheiden blieben, so ist der Anstieg des deutschen Mineralwasserexports zwischen 1872 und 1912 nicht zuübersehen. Er konzentrierte sich aber fast ganz auf die natürlichen HeilundTafelwässer ausberühmten Kurbädern, die auch imAusland gutbekannt waren. Sie gingen primär in die Niederlande undnach Großbritannien, aber auch in deren tropisch-heiße Kolonien und die USA, wobei selbst kleinere deutsche Brunnenbetriebe einen relativ beständigen Absatz dasganze Jahr über fanden. So konnte derWolf Metternich-Brunnen ausderostwestfälischen Gemeinde Vinsenbeck bei Detmold schon kurz nach seiner Gründung 1904 sein „Natural Sparkling Table Water“in größeren Partien in London absetzen, wie eine überlieferte Annonce beweist. Demgegenüber blieb der mengenmäßig fast gleichbleibende und primär aus Österreich-Ungarn kommende Import ausländischer Mineralwässer marginal und ging zeitweise sogar wieder zurück.27 Interessanterweise hat sich dieses Verhältnis in der Gegenwart völlig verändert. Nicht nurbei den Mineralwässern, sondern auch bei den Erfrischungsgetränken und Fruchtsäften bestand mengenmäßig imJahr 2001 fürdie Bundesrepublik ein großer Importüberschuss. Die Ausbreitung des Mineralwasserkonsums wurde zunächst wie erwähnt von den Standorten der Brunnenbetriebe undden Frachtpreisen bestimmt.28 Diese lagen hauptsächlich in denehemals vulkanreichen Gebirgsregionen mit schlechten Verkehrsverbindungen undblieben trotz vermehrter Bohrungen nach neuen Mineralquellen räumlich ganz ungleich verteilt. Die Produzenten künstlicher Mineralwässer waren dagegen dank der überall zu beziehenden flüssigen Kohlensäure völlig frei in der Standortwahl undließen sich zurVerkürzung derTransportwege zunächst fast nurin Großstädten unddicht besiedelten Industrieregionen wie dem Ruhrrevier nieder. Erst die dann hier erstarkende Konkurrenz zwang sie zum Ausweichen in mittlere undkleinere Städte, wasaber meist erst nach demErsten Weltkrieg geschah. Ein Vergleich der Standorte umdie Jahrhundertwende zeigt, dass große Gebiete in Ost- und Norddeutschland, aber auch in Bayern, relativ schlecht mit eigener Mineralwassererzeugung versorgt undoffenbar im Konsum zurückgeblieben waren. Trotz der Fortschritte beim Ausbau des Verkehrswesens waren flächendeckende Angebote sehr schwierig. Die Eisenbahn bot fürdieoft etwas abgelegenen Kurbäder undBrunnenbetriebe keine große Hilfe, da es dort an Gleisanschlüssen fehlte. Auch der Einsatz von Binnenschiffen kamnurganz selten in großen Ballungszentren mit hohen Marktanteilen oder zu den Seehäfen für den ÜberseeExport in Frage. Der meiste Transport musste daher mit langsamen Pferdefuhr-
26 AFG-Markt (2002), S. 56f. 27 Funck: Geschichte (wie Anm. 9), S. 65; Jauernig: Entwicklung (wie Anm.7), S.108. 28 Theo Herzog: DerHandel mitnatürlichen Mineralwässern, Köln 1934.
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30 km werken wie früher abgewickelt werden, wobei ein Umkreis von etwa 25– umdenErzeugerort etwa die maximale Absatzgrenze bezeichnete, bis der sich in den 1920er Jahren erstmals anhebende motorisierte Lastkraftwagenverkehr die räumlichen Absatzchancen verbesserte.
Dasgroße Flaschenproblem Die anfangs gebräuchlichen glasierten Tonkrüge zumVersand vonMineralwasser waren nicht nurundurchsichtig unddaher wenig verkaufsfördernd, sondern auch schlecht zu säubern, weshalb mandann nur noch die mehrfach zu verwendende Glasflasche benutzte. Sie ließ sich wesentlich schneller in gleichmäßiger Dicke vomBoden bis zurHalsöffnung herstellen, vorallem aber auch mechanisch reinigen. Allerdings konnten sich die Hersteller bis zum Ersten Weltkrieg nicht auf einen gleichmäßigen Flascheninhalt bei denBestellungen in denGlashütten einigen. Die meisten nahmen die Flasche für Bordeauxwein (3/4 Liter) oder das berühmte Vichy-Mineralwasser (3/8 Liter) als Vorbild. Dasgrößte Hindernis beim Verkauf bestand darin, denteuren Bestand anMineralwasserflaschen, deretwa ein Drittel des Anlagekapitals ausmachte, im Laufe einiger Monate vollzählig undin möglichst gutem Zustand von denKunden wiederzurückzuerhalten. Dawegen dergroßen Konkurrenz nurin wenigen Großstädten ein zusätzliches Flaschenpfand in Höhe einer Neubeschaffung durchzusetzen war undauch die Flaschendiebstähle innerhalb der eigenen Branche zunahmen, wurde derFirmenname bei derHerstellung in denFlaschenboden eingraviert oder aber entsprechende Etiketten mit Markenzeichen versehen. Ferner führte man spezifische Kontrolllisten über die nur leihweise ausgegebenen Flaschen ein, jedoch blieb die Rückgabe des Leergutes ein ärgerliches Dauerproblem.29 Das lag vor allem auch daran, dass nicht wenige Hausfrauen die damals kostbaren Mineralwasserflaschen zumAufbewahren von Essig, Öl undanderen Substanzen benutzten, da man solche Artikel im Kaufmannsladen nur in unverpackter loser Form erhielt. Daes bei dieser Verwendung leicht zuLebensmittelvergiftungen im Haushalt kommen konnte, wurden auch in einigen Kommunen entsprechende Schutzregeln erlassen. Deren Befolgung ließ sich freilich praktisch nicht kontrollieren, daher beschränkten sich die Behörden meistens nurauf warnende Aufrufe in den Tageszeitungen.30 Ein Vergleich mit der Gegenwart zeigt, dass alle Massengetränke zwischen 1970 und2000 von der sehr kostenungünstigen Glasflaschenrückgabe mit demPfandsystem immer mehr abgerückt sind unddie Quote der Mehrwegverpackung in dieser Zeit von 88,4 v. H. auf 56,9 v. H. zurück29 Peter Berg: Die organisatorischen Anfänge der Branche, in: Das Erfrischungstränk Nr. 6 v. 11.3. undNr. 17 v. 12.8. 1992. Vgl. Hans Seling: Geschichte derGerresheimer Glashütte. Ur1908, Düsseldorf 1964, S. 341. sprung undEntwicklung 1864– 30 Wilhelm Lohmann: Neue Flaschenschutzregeln, in: Der Mineralwasser-Fabrikant Nr. 44, Jg. 1911, S. 1061.
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ging. Kartons, Kunststoffflaschen (PET), Blechdosen und Einwegglasflaschen sind stattdessen vorgedrungen.31 Dies erscheint besonders bemerkenswert, da die schon länger aus ökologischen Gründen erlassene staatliche Verpackungsverordnung unddie Kontroversen umihre Verschärfung durch Ausweitung des Dosenpfands sich gerade umdieses Problem drehen.
Vertriebssysteme undFaktoren der Preisbildung
Die für die Brunneninhaber meistens sehr ungünstigen Transportverhältnisse legten es nahe, sich der Dienste des Großhandels zu bedienen. Schon im frühen 19. Jahrhundert wurden Heilwässer durch dessen langerprobte Vermittlung an Apotheken, Ärzte undHospitäler, dann aber auch später an Sanatorien, Reformhäuser, Drogerien, Kolonialwarenhändler, Kantinen, Gaststätten undeinzelne vermögende Privatkunden ausgeliefert. War das Absatzgebiet sehr weit von demMineralbrunnen entfernt, entstanden auch betriebseigene größere Depots, welche Großhändler und zugleich andere Großabnehmer direkt belieferten. Die Hersteller künstlichen Mineralwassers undbesonders von Brauselimonaden benötigten dagegen keinen solchen Zwischenhandel, da sieja nureinen geringen Absatzradius besaßen.32 Wenngleich die reinen Produktionskosten bei den natürlichen wie denkünstlichen Mineralwässern unter dem Strich etwa ähnlich hoch waren, hatten die Heilbrunnenerzeugnisse durchweg höhere Marktpreise. Diese wurden mit dem Hinweis auf die originale Herkunft auseiner für seine Heilkraft berühmten Quelle verteidigt, in Wahrheit hatte dies aber wohl mehr mit den wesentlich höheren Frachtpreisen zutun. DerAbsatz dernatürlichen Heilwässer zielte hier nurauf die gesundheitsbewussten undfinanziell besser gestellten Kundenkreise, die auch die vornehmen Restaurants, Vergnügungsetablissements, Kurorte, Reformhäuser, Speisewagen der Eisenbahnen usw. bevölkerten. Die Anbieter der künstlich hergestellten Brauselimonade unddes billigen Selterswassers hatten mit ihren Surrogaten dagegen denMassenkonsum in denGroßstädten imAuge, womanvielfach mit Dumpingpreisen die Konkurrenz auszustechen versuchte. Ein mit Niedrigpreisen operierender Mineralwasserfabrikant meinte auch ganz ungeniert: „ Der Patient bekommt fürbilliges Geld ein Produkt dergleichen Güte unddergleichen Wirkung! Unsozial ist es, Wasser mit nurgeringem Gehalt an Salzen über lange Strecken mitderBahn zusenden unddadurch außerordentlich zuverteuern; sozial ist es, fürbilliges Geld ein gleichwertiges Wasser herzustellen!“33Dabei darf aber nicht übersehen werden, dass auch die besser bemittelten Haushalte denBrauselimonaden keineswegs völlig ablehnend gegenüberstanden. Die auf natürlichem
31 AFG-Markt (2002), S. 60f. 32 Jauernig: Entwicklung (wie Anm.7), S. 132f. 33 Der Mineralwasser-Fabrikant Nr. 8, Jg. 1926, S. 106.
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Mineralwasser basierende ungefärbte Zitronenlimonade mit fein abgeschmecktem Aroma warals Sommergetränk auch dort sehr beliebt.34 Waren die relativ stetigen Kosten für die Gewinnung des Quell- oder einfachen Trinkwassers sowie die übrige Produktion für denFabrikanten gut zuüberblicken, so wurde der Abgabepreis am Abfüllort von den wechselnden Zuckerpreisen der eng mit Landwirtschaft und Kartellen verbundenen Zuckerfabriken sowie den Kosten für flüssige Kohlensäure stark beeinflusst, deren industrielle Hersteller eine oligopolartige Marktstellung besaßen. Wenn diese beiden mächtigenZulieferergruppen höhere Preise einforderten, blieb denkleinen Mineralwasserfabrikanten nichts anderes übrig, als diese an den Kunden weiter zu wälzen oder eine Gewinneinbuße hinzunehmen. Um die Jahrhundertwende gaben die 10 Pfg. pro Brunnenbesitzer ihre natürlichen Mineralwässer durchschnittlich zu6– Flasche andenGroßhandel oder Vertreter ab, welche dann diese miteinem weite15 Pfg. an den Gastwirt oder Einzelhändler weiter ren Preisaufschlag von 10– 15 Pfg. verteuerten. DerEndreichten, welche dann dasGetränk nochmals um 10– 40 Pfg. Diese Angaben besaverkaufspreis für den Verbraucher lag somit bei 30– gen aber wirtschaftshistorisch generell wenig, da die Preise für die künstlichen Mineralwässer, die offensichtlich selbst in einer einzigen Stadt außerordentlich stark differierten und alle weit darunter lagen, nicht überliefert sind und Vergleichsmöglichkeiten daher nicht bestehen.35 Die Mineralwasserhersteller haben frühzeitig erkannt, dass die notwendige Ausdehnung ihres kleinen Absatzmarktes über die nähere Umgebung hinaus und das Ansprechen neuer Käuferschichten bei ihrem Versandhandel ohne verstärkte undgezielte Kommunikation nicht möglich war. Die sich im späten 19. Jahrhundert im Gleichschritt mit der Urbanisierung und Industrialisierung ausdehnende Wirtschaftsreklame wurde daher zuerst von den meist abgelegenen Brunnenbetrieben in Anspruch genommen.36 Dabei machte man sich die weithin verbreitete Ablehnung gegenüber künstlich erzeugten und industriell verarbeiteten Lebensmitteln zunutze, in dem in Annoncen auf den natürlichen Ursprung unddie gesundheitsfördernden Eigenschaften neben dem erfrischenden Geschmack hingewiesen wurde. Die heute recht naiv wirkenden Werbesprüche sollten in erster Li34 Der Mineralwasser-Fabrikant Nr. 2 v. 5.11.1911. 35 Während in Berlin 1902 die Preise für eine Flasche künstliches Mineralwasser zwischen 5– 7 8 Pfg. Pfg. schwankten, wurden zu gleicher Zeit in Hannover 12 Pfg. undanderen Orten 7– verlangt. Ein Bild über die durchschnittlichen Marktpreise ist nicht einmal für ein Jahr zurekonstruieren. Wilhelm Lohmann: Die Preise für künstliche Mineralwässer im Einzelverkauf, in: Der Mineralwassser-Fabrikant Nr. 14 Jg. 1902, S. 344ff. 36 Vgl. allgemein zur Reklamegeschichte Peter Borscheid/Clemens Wischermann (Hg.): Bilderwelt des Alltags. Werbung in der Konsumgesellschaft des Alltags. Festschrift für Hans Jürgen Teuteberg, Stuttgart 1995; Kirsten Schlegel-Mathies: Anfänge dermodernen Lebens- undGenussmittelwerbung. Produkte undKonsumgruppen im Spiegel vonZeitschriftenannoncen, in: Hans Jürgen Teuteberg (Hg.): Durchbruch zummodernen Massenkonsum. Lebensmittelmärkte undLebensmittelqualität im Städtewachstum des Industriezeitalters, Münster 1987, S. 277– 308; Dirk Reinhardt: VonderReklame zumMarketing. Geschichte derWirtschaftswerbung in Deutschland, Berlin 1993.
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Mineralwasserproduktion
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nie die Heilwässer undluxuriösen Tafelwässer der alteingeführten Brunnen von denbilligen „Kunstprodukten“dervielen kleinen neuen Erzeuger abgrenzen. In aufklärenden „ Bru nnenschriften“wurde ferner nicht nurdie Geschichte der Mineralquelle mit ihrer oft vornehmen Umgebung eines Kurbades, sondern auch die im Wasser enthaltenen Mineralien und Spurenelemente in chemischen Formeln dargestellt. Zwar konnte die kein gewöhnlicher Kunde verstehen, doch erfüllte dies denZweck, ihnvonderBesonderheit dieses Getränkes zuüberzeugen. Besonders gern berief mansich dabei aufdie Analysen desbereits 1848 ins Leben gerufenen Chemischen Laboratoriums des Geheimen Hofrates Professor Dr. Karl Remigius Fresenius (1818– 1897) und seines Sohnes und Nachfolgers Heinrich 1920) aus Wiesbaden, die beide dank ihrer immer wieder aufgelegten (1847– Handbücher undals Herausgeber der„Zeitschrift für analytische Chemie“gleichsamals Päpste derMineralquellenanalyse in Deutschland angesehen wurden. Die so akademisch untermauerte Reklame sollte dem Konsumenten den Eindruck vermitteln, er erhalte hier ein Produkt von gleichbleibender undwissenschaftlich überprüfter hoher Qualität im Unterschied von den künstlichen Wässern.37 Um die
Unverwechselbarkeit hier zuunterstreichen, wurden auch durch Patent geschützte Markenzeichen entwickelt, wobei der „ Apollinaris-Brunnen“in Bad Neuenahr mit seinem berühmten roten Dreieck und der „Gerolsteiner Sprudel“mit einem roten Stern schon kurz nach der Jahrhundertwende hier vorangingen.38 Inserate undBeilagen in Familienzeitschriften wie „ Die Gartenlaube“und„Daheim“ , aber auch in Kochbüchern und Prospekten der Speisewagengesellschaft „Mitropa“ sowie der großen Passagierdampfschifffahrtslinien, erwiesen sich als besonders nützlich für den Transfer solcher Werbebotschaften. Die wichtigen Großhändler, Gaststätten, Ärzte undDrogerien erhielten außerdem regelmäßig kleine Werbegeschenke wie Untersätze, Aschenbecher, Gläser, Flaschenöffner und Kellnerblocks. Die kleinen finanzschwachen Fabrikanten des künstlichen Mineralwassers, die einen ganz anderen Kundenkreis bedienten, wehrten sich mit Flugblättern undBroschüren gegen denVorwurf der angeblich gesundheitsschädlichen Manipulation und stellten dagegen in ihren Anzeigenkampagnen Geschmacks- und Preisvergleiche zwischen denrivalisierenden Produkten heraus.
37
Helmut Birkenhauer: Absatzprobleme der deutschen Mineralbrunnenindustrie, Köln 1936, S. 105. Vgl. Gerolsteiner Flora GmbH Mineralwasser –Kohlensäure (Hg.): 100 Jahre 1883– 97– 1983, Gerolstein 1983; Mariannenquelle Blieskastel (Hg.): Mariannenquelle 1925– 1975, Saarbrücken 1975. 38 Vgl. Hans Jürgen Teuteberg: Produkte erhalten ein individuelles „Gesicht“ . Markenzeichen als Mittel derWerbung undQualitätssicherung seit Beginn dermodernen Marktwirtschaft, in: Walter Masing u.a. (Hg.): Qualitätsmanagement –Tradition und Zukunft. Festschrift zum 50jährigen Bestehen der Deutschen Gesellschaft für Qualität e.V., München/Wien 2003, S. 178. 149–
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Einflüsse derAntialkoholimusvereine undNaturheilbewegung auf das Trinkverhalten
Bis zumzweiten Drittel des 19. Jahrhunderts spielten neben demKaffee, dervon derMasse derBevölkerung fast nurinbilliger Surrogatform getrunken wurde, die verschiedensten alkoholischen Getränke mit demBier an der Spitze bei dentäglichen Getränken die größte Rolle. Die Höhe des Trinkwasserkonsums aus dem häuslichen oder dörflichen Brunnen ist nicht feststellbar, jedoch lässt sich unschwer erkennen, dass dieTrinkwasserversorgung vielfach besonders in denStädten bis zumBeginn der kommunalen Kanalisation unddemBau von behördlich überwachten Wasserwerken in hygienischer Hinsicht katastrophale Mängel aufwies unddies zurdamals noch hohen Mortalitätsrate beigetragen hat. Die ständigen Klagen der Ärzte in den zahlreichen „Medizinischen Ortsbeschreibungen“ undderAusbruch vonCholeraseuchen sind hierfür ebenfalls als Indizien anzusehen.39 Noch um 1900 verfügten erst wenige Großstädte über eine zentrale Wasserversorgung, so dass die alte Angst voreiner Infektion durch unreines Wasser fortbestand unddieses besonders im Sommer oft nurin abgekochter Form getrunken wurde, wasFrische wieWohlgeschmack beeinträchtigte. Auch dierohe Milch aus der bäuerlichen Wirtschaft war bis zumAufbau des modernen Molkereiwesens unddemBeginn der staatlichen Lebensmittelkontrolle oft durch Stallmist verunreinigt undbot gerade geschmacklich keine Alternative. Der hohe Konsum von billigen geschmacksanregenden undinnerlich wärmenden alkoholischen Getränken, die vielfach auf demLand noch selbst hergestellt undmehr als Lebensmittel denn als Genussmittel angesehen wurden, kann nurvor diesem Hintergrund richtig beurteilt werden.40 Die aufkommende gegen zuhohen Alkoholkonsum gerichtete Mäßigkeitsbewegung mit dem 1883 gegründeten „ Deutschen Verein gegen den Missbrauch geistiger Getränke“an der Spitze, der eine noch nie so da gewesene öffentliche Massenagitation entfaltete und1914 bereits über 300.000 Mitglieder zählte, setzte sich wie verschiedene gleichgesinnte christliche undwohltätige Vereine für die Errichtung von Reformgaststätten und „ Volkskaffeehallen“ein, in denen preiswerte alkoholfreie Getränke angeboten werden sollten, vor allem Malzkaffee,
39 Thomas Kluge/Engelbert Schramm: Wassernöte. Die Geschichte des Trinkwassers, Köln 1988, S. 112ff.; Karl Paul Brandlmeier: Medizinische Ortsbeschreibungen des 19. Jahrhunderts, Diss. Berlin 1942; Jörg Vögele/Wolfgang Woelk (Hg.): Stadt, Krankheit undTod. Geschichte der städtischen Gesundheitsverhältnisse während der Epidemiologischen Transition (vom 18. bis zumfrühen 20. Jahrhundert), Berlin 2000; Jürgen Reulecke/Adelheid Gräfin zu Castell-Rüdenhausen (Hg.): Stadt und Gesundheit. Zum Wandel der „ Volksgesundheit“und kommunalen Gesundheitspolitik im 19. und20. Jahrhundert, Stuttgart 1991. 40 Vgl. als Standardwerk dazu Heinrich Tappe: Auf dem Weg zur modernen Alkoholkultur. Alkoholproduktion, Trinkverhalten undTemperenzbewegung in Deutschland vomfrühen 19. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg, Stuttgart 1994. Siehe auch Hans J. Teuteberg: „ In Treue fest zumAlten Korn“ . Westfälische Branntweinbrennerei im 19. Jahrhundert, in: Rainer S. Elkar u.a. (Hg.): „ Vomrechten Maßaller Dinge“ . Beiträge zurWirtschafts- undSozialgeschichte. Festschrift für Harald Witthöft zum65. Geburtstag, St. Katharinen 1996, S.436– 473.
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Milch, Limonaden undeinfache Mineralwässer.41 Während sich dervorallem von den Ärzten propagierte öffentliche Milchausschank vielfach als Fehlschlag erwies, wurden die nunüberall aus demBoden schießenden „Selterswasserbuden“ , in denen auch manchmal Kaffee ausgeschenkt wurde, ein Riesenerfolg. Wie ein Zeitgenosse 1906 berichtete, war der Straßenverkauf von Mineralwasser, vor allem der buntschäumenden Brauselimonade, im Sommer für viele Menschen fast unentbehrlich geworden.42 Offensichtlich hatte die Zahl der Selterswasserstände etwa seit 1880 ständig jährlich zugenommen, wobei Verkäufe von einem Pferdefuhrwerk als fliegender Handel noch dazukamen. Eine Auszählung dieses neuen Straßenhandels 1911 ergibt folgendes Bild: Tab. 4: Selterswasserbuden (Trinkhallen) indeutschen Städten 1911 Selterswasserbuden/Trinkhallen
Stadt
192 163 144 56 54
München Düsseldorf Dortmund
Frankfurt a.M.
Berlin
29 27 26 24 20
Kiel Remscheid Osnabrück Stettin Zwickau Danzig Hildesheim Stuttgart Aachen Plauen i.V. Potsdam
18 18 17 13 12 12 10 6
Würzburg
Liegnitz
Quelle:
M.Neefe (Hg.): Statistisches
Jahrbuch deutscher Städte, Breslau 1913,
S. 218f.
Bei derBewertung dieses Konsums ist freilich zubeachten, dass diese „Seltersbuoder „Trinkhallen“meistens nurim Sommer einige Monate geöffnet hatten. den“ Da sie keine Schankerlaubnis besaßen, achtete die Polizei darauf, dass die Flaschen nurzumKauf abgegeben wurden, aber kein gastwirtschaftlicher Ausschank 41 42
Heinrich Tappe: Der Kampf gegen denAlkoholmissbrauch als Aufgabe bürgerlicher Mäßigkeitsbewegung und staatlich-kommunaler Verwaltung, in: Teuteberg (Hg.): Massenkonsum 237, bes. S. 210. (1987), S. 189– L. Posner: Gebrauch undMissbrauch vonTafelwasser, in: Die Gesundheit in Wort undBild,
Jg. 1905/06, Sp. 381– 186, bes. Sp. 385.
144
Hans Jürgen Teuteberg
stattfand. Daneben existierten aber noch zahlreiche andere Stände, die Kaffee und Alkoholika verkauften, was aber in der amtlichen Statistik nicht getrennt erfasst wurde. Auch die Trennung zumgewerblich betriebenen Kiosk, der sich auf den Vertrieb von Zeitungen, Zeitschriften, Lotteriescheinen, Rauchwaren undSüßigkeiten spezialisiert hatte, warnicht immer leicht zu ziehen. Wenngleich sich das Angebot an alkoholfreien Getränken steigerte, so dürfte die Zahl derreinen Erfrischungsstätten (Mineralwasser, Kaffee, Milch) insgesamt gegenüber den übrigen Gaststätten und Restaurants mit konzessioniertem Alkoholausschank aber lange noch sehr gering geblieben sein. Dazu kam, dass die Temperenzbewegung gegenüber der neuen Brauselimonade uneinheitlich reagierte. Ihr zugesetztes Schaummittel erweckte bei einigen von ihnen gedankliche Verbindungen zumBier, weshalb dies als ein Rückfall in alkoholische Trinkgewohnheiten interpretiert wurde. Dies versetzte die Mineralwasserfabrikanten in arge Schwierigkeiten, da gerade die„Brause“dengrößten Absatz brachte.43 Im Jahr 1908 plante die Reichsregierung bei der Anhebung der Verbrauchssteuern auch eine Erhöhung des Bierpreises sowie als Ausgleich gegenüber dem einflussreichen Brauereigewerbe eine erstmalige Besteuerung auch der alkoholfreien Getränke. Daraufhin erhielt das Mineralwassergewerbe aber eine so kräftige Schützenhilfe durch die wohlorganisierten Verbände der Antialkoholgegner, dass derFiskus es bei derBesteuerung deralkoholischen Getränke beließ, die die Reichsregierung zu ihren wichtigsten Einnahmequellen zählte.44 Inwieweit die Alkoholgegner wirklich zumAnstieg des Mineralwasserkonsums beitrugen, lässt sich zwar nicht eindeutig nachweisen, doch dürfte an ihrem Einfluss nicht zu zweifeln sein. Die öffentliche Meinung stand demsteigenden Mineralwasserkonsum auf jeden Fall positiv gegenüber. Um die Jahrhundertwende hatte sich z.B. unter anderem schon die Sitte eingebürgert, dass bei besser situierten bürgerlichen Familien in Großstädten auch Mineralwasser, manchmal vermischt mitWein oder Schorle“ Fruchtsäften, als Tischgetränk („ ) gereicht wurde undauf denGetränkekarten dergroßen Restaurants jetzt nicht mehr fehlen durfte. Auch die Speisewagengesellschaften undSchifffahrtslinien wurden jetzt zu denregelmäßigen Großabnehmern gezählt.45 In diesem Zusammenhang ist ferner auf die nachhaltige Unterstützung des Mineralwassertrinkens durch die im späten 19. Jahrhundert anschwellende Lebensreformbewegung unddarin speziell auf die Wasserheilkunde undDiättherapie derNaturärzte sowie denengdamit verbundenen Vegetarismus hinzuweisen.46
43 Der Mineralwasser-Fabrikant Nr. 5, Jg. 1909, S. 82 undNr. 1 v.5.1.1911. 44 Die Besteuerung alkoholfreier Getränke, in: Der Mineralwasser-Fabrikant Nr. 5, Jg. 1909, S. 82 f. undNr. 12, Jg. 1909, S. 276f. 45 Posner: Gebrauch (wie Anm. 43), S. 885; DerMineralwasser-Fabrikant Nr. 1 v. 5.1.1905. 46 Sabine Merta: „Wege undIrrwege zummodernen Schlankheitskult. Diätkost undKörperkul1930, Stuttgart 2003 (= Studien zur Getur als Suche nach neuen Lebensstilformen 1880– schichte desAlltags, Bd. 22, Eva Barlösius: Naturgemäße Lebensführung. ZurGeschichte der Lebensreform umdieJahrhundertwende, Frankfurt a.M./New York 1992; HansJürgen Teute-
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Mineralwasserproduktion
145
Bei der großen Zulauf findenden Hydrotherapie spielten zur Unterstützung der Bäder, Güsse, nassen Wickel sowie der Massagen und Gymnastik gerade die Trinkkuren mit ihren natürlich heilenden Wässern eine maßgebliche Rolle.47 Damit sollte ganz im Gegensatz zur heftig bekämpften „Schulmedizin“nicht nur eine bestimmte Krankheit nachträglich therapiert, sondern eine ganz neue, der Natur wieder mehr angepasste Lebensweise erzeugt werden, bei der die natürlichen Mineralwasser generell auch dem gesunden Menschen empfohlen wurden. Die überall emporschießenden „Reformhäuser“hatten vielfach Mineralwasser neben den Obstsäften in ihrem Sortiment undlösten hier die Apotheken als ehemals dominierende Bezugsstätte ab. Die vielfältigen Vereine der Lebensreformbewegung (Bündische Jugend- und Wandervereine, Sportclubs, Landschulheime, Schwimmanstalten etc.), die alle den Kampf gegen die „ Volksseuche Alkohol“ auch auf ihre Fahnen geschrieben hatten, förderten selbstverständlich den Milch-, Obstsaft- und Mineralwasserkonsum. Das nach den Leibesübungen so herrlich erfrischende Wasser, gespendet von der „ Mutter Natur“ , passte hervorragend zu dieser neuen, sich betont jugendlich gebenden neoromantischen Kulturströmung. Verständlicherweise hoben die Brunnenbesitzer die „ Natürlichkeit“ihrer Produkte besonders hervor und versuchten, die mit chemischen Zusätzen versehenen Brauselimonaden“dagegen als „ „ minderwertige undmanipulierte Kunstprodukte“ abzuwerten. Dies empörte wiederum Mineralwasserfabrikanten, die auf den weltfremden Purismus“und„ „ Naturreinheits-Übereifer“ihrer Konkurrenten hinwiesen. Sie stellten die gesundheitlichen Wirkungen der natürlichen Heilwässer nicht in Frage, warfen aber die Frage derZweckmäßigkeit auf. Wenn dermenschliche Geist undForschungstrieb diese Mineralwässer in reiner potenzierter Form herstellen könne, dann dürfe nicht jede dieser technisch-wissenschaftlichen Verbesserungen grundsätzlich als eine Verschlechterung dargestellt werden. Das wissenschaftlich untermauerte Gesundheitswesen habe längst die Unersetzlichkeit künstlicher Produkte nachgewiesen, wobei auf die Beimischungen vonjodiertem Kochsalz im Trinkwasser zur Verhinderung von Schilddrüsenerkrankungen (Kropf) hingewiesen wurde, das z.B. kostenlos in der Schweiz an Schulkinder verabreicht wurde. Dies lasse sichjedenfalls nicht als eine Sünde wider denheiligenGeist derLebensreform darstellen.48
berg: Zur Sozialgeschichte des Vegetarismus, in: Vierteljahrsschrift schaftsgeschichte, Bd. 81 (1994), H. 1, S. 33– 65.
für Sozial- und Wirt-
47 Kurt Rotschuh: Naturheilbewegung, Reformbewegung, Alternativbewegung, Stuttgart 1983, S. 68ff und S.77ff.; Cornelia Regin: Selbsthilfe undGesundheitspolitik. Die Naturheilbewegung im Kaiserreich (1889 bis 1914), Stuttgart 1995, S. 177– 190. 48 Zudiesen heftigen Disput vgl. DerMineralwasser-Fabrikant Jg. 1926, Nr.6, S. 105f.
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HansJürgen Teuteberg
Staatliche Regulierungen desMineralwasserkonsums
Wie schon
erwähnt, wurde daskünstliche Mineralwasser zunächst wie dasnatürliche Mineralbrunnenwasser als ein Therapeutikum angesehen, so dass es nur in Apotheken sowie von staatlich ausgebildeten Chemikern hergestellt undabgegeben werden durfte. Lediglich ein ganz kleiner akademischer Personenkreis besaß deshalb hier eine gewerbliche Konzession. Eine preußische Verordnung vom23. November 1844 sah wie in anderen deutschen Bundesstaaten ausdrücklich die ständige Überprüfung derAbfüllung durch die „ Sanitäts-Polizei“vor. Die strenge amtliche Kontrolle wurde 1854 verschärft undin dieser Form 1864 noch einmal bestätigt.49 Die staatlichen Beschränkungen erklären die statistisch geringe Zahl der Betriebe undden offensichtlich noch sehr geringen Mineralwasserverbrauch in Deutschland bis zumzweiten Drittel des 19. Jahrhunderts. Eine durchgreifende Änderung setzte erst mit der Einführung der einheitlichen liberalen Gewerbeordnung durch den Reichstag des Norddeutschen Bundes 1869 ein, die 1871 vom Deutschen Reich übernommen wurde. Die sanitätspolizeilichen Überprüfungen der Abfüllanlagen wurden überall aufgehoben, weil dies als Bevormundung der erwünschten Gewerbefreiheit und Behinderung des notwendigen Wettbewerbs angesehen wurde. Der Staat sah es aber als eine seiner Hauptaufgaben in der Gesundheitspolitik an, den Kampf gegen Alkoholismus zu verstärken undz. B. den Ausschank alkoholischer Getränke an Kinder unddann auch anJugendliche unter 18 Jahren generell zuverbieten. Zugleich wurde eine erhebliche Reduzierung der Gast- undSchankwirtschaften angestrebt, die sich nach derReichsgründung ebenfalls aufgrund der neuen Gewerbefreiheit ungewöhnlich stark vermehrt hatten. Die Bundesstaaten wurden aufgefordert, die Erteilung von Konzessionen für den Alkoholausschank künftig vom Nachweis eines Bedürfnisses in einer Stadt abhängig zu machen, jedoch wurde den Großstädten die Übernahme dieser einschneidenden Regelung freigestellt. Wie sich dann aber herausstellte, verzichteten die fast nurmit demliberalen Bürgertum besetzten StadtverordnetenversammlungenundMagistrate dergrößeren Städte nahezu überall auf diese andie überwundene Zunftordnung erinnernde Bedürfnisüberprüfung von Gewerbetreibenden, zumal sich schon die Erfassung des Alkoholausschanks wie auch die Zahl der damit befassten Gast- undSchankstätten als äußerst schwierig erwies.50 Wosolche Bedürfnisprüfungen stattfanden, regten sich auch Proteste derHotel- undGaststättenvereine, die dann eine ebensolche amtliche Kontrolle derBrauselimonadenhersteller seit den 1890er Jahren forderten. Diese wurden daraufhin von der neu errichteten kommunalen Lebensmittelüberwachung an einigen Orten sogar der Lebensmittelfälschung beschuldigt. Die dortige Polizei erlaubte Trinkbuden nur noch denVerkauf reiner Obstsäfte, aber nicht mehr vonLimonaden mitEssenzen
49 Jauernig: Entwicklung (wie Anm. 7), S. 311. 50 Hans Jürgen Teuteberg: The Rising Popularity of Dining Out in German Restaurants in the Aftermath of Modern Urbanization, in: Marc Jacobs/Peter Scholliers (eds.): Eating Out in 299. Europe since theLate Eighteenth Century, Oxford/New York 2003, pp.281–
Vom„Gesundbrunnen“in Kurbädern zurmodernen
Mineralwasserproduktion
147
undkünstlichen Farbstoffen. Diese vereinzelten Repressionen endeten erst, als in einem aufsehenerregenden Prozess in Worms 1899 gerichtlich entschieden wurde, dass es sich bei denBrauselimonaden umein Erfrischungsgetränk undnicht um ein derstaatlichen Überwachung unterliegendes Lebensmittel handele.51 Die Bierbrauer und Spirituosenhersteller unterlagen hier, weil die von ihnen verwandten Rohstoffe zugleich als zu kontrollierende Lebensmittel gesetzlich erfasst waren. Die prozessuale Entscheidung bedeutete indirekt eine staatliche Förderung der Mineralwasserwirtschaft auf Kosten anderer Alkoholgetränkehersteller. Diese begannen nunals Folge dieser Entscheidung, auch verschiedene Mineralwässer in ihr Sortiment aufzunehmen, so dass sie auch in kleineren Bierkneipen zusätzlich angeboten wurden. Die staatliche Unterstützung der vomBildungsbürgertum getragenen breiten Mäßigkeitsbewegung zur Erhaltung derVolksgesundheit verstärkte sich nach der Jahrhundertwende. So stellten nicht nur einzelne kommunale Betriebe, sondern auch dasMinisterium für öffentliche Arbeiten für die Beschäftigten bei denstaatlichen Eisenbahngesellschaften und die Militärverwaltungen nach einem grundsätzlichen Verbot desAlkoholgenusses während derDienstzeit ihren unterstellten Kantinenpächtern frei, sich auch mit alkoholfreien Getränken zu versorgen und diese nach einem Einkauf zumSelbstkostenpreis abzugeben oder sogar diebillige Brauselimonade selbst herzustellen. Die Kohlensäureindustrie berichtete, das 14. Bayerische Infanterieregiment in Nürnberg habe 1902 die Selbsterzeugung von künstlichem Selterswasser undBrauselimonade aufgenommen, so dass mandort wegen des großen Konsums bereits 68.000 Flaschen mit flüssiger Kohlensäure habe absetzen können. Ebenso stellten die Gewerbeaufsichtsbeamten in Berlin fest, dass einfache Alkoholverbote wenig nützten und manchmal mit Arbeitsstreiks beantwortet würden, die Einführung nichtalkoholischer Getränke in der Arbeitszeit aber zumRückgang des starken Biergenusses geführt habe.52 Auch die Konsumgenossenschaften als Selbsthilfeorganisation derArbeiterbewegung sowie die sozialistischen „Freien Gewerkschaften“nahmen einen Schnaps- oder Bierboykott wegen Erhöhungen der Verbrauchssteuern und Preise zum Anlass, mit der Herstellung von eigenem Mineralwasser zu beginnen.53 Neben den Protesten
51 Vgl. Der Mineralwasser-Fabrikant Nr. 39 v. 1.6.1899; Peter Berg: Die organisatorischen Anfänge derBranche, in: Das Erfrischungetränk Nr.17 v. 12.8.1992 undNr. 8 v. 8.4.1992; Tappe: Kampf (wie Anm. 42), S. 216ff. 52 Vgl. Jahresberichte der Gewerbe-Aufsichtsbeamten Bd. 1, Berlin 1907, S. 106f.; Zeitschrift für die gesamte Kohlensäure-Industrie Jg. 1903, H. 19, S. 661. Vgl. Alkoholfreie Getränke für die Angestellten undArbeiter derHamburger staatlichen Gasanstalt, in: Soziale Praxis undArchiv fürVolkswohlfahrt, Jg. 1909/10, Sp. 387. 53 Martin Krolink: Der Bierkrieg undseine Lehren für die Konsumenten, in: Konsumgenossenschaftliche Rundschau Bd. 6 (1909), S. 805f.; Michael Grüttner: Alkoholkonsum in derArbeiterschaft 1871– 1939, in: Toni Pierenkemper (Hg.): Haushalt und Verbrauch in historischer Perspektive. ZumWandel desprivaten Verbrauchs in Deutschland im 19. und20. Jahrhundert, St. Katharinen 1987, S. 129– 274, bes. 262ff.
148
HansJürgen Teuteberg
sollte auch ein grundsätzlicher Wandel des Trinkverhaltens bei der Arbeiterschaft herbeigeführt werden. Die durch die beiden Weltkriege im 20. Jahrhundert ausgelösten politischwirtschaftlichen Krisen haben densteilen undkaum unterbrochenen Aufstieg des Mineralwassers zunächst für lange Zeit beendet undmangels Nachfrage zuerheblichen Produktionsrückgängen geführt. Dies führte zu erheblichen technischorganisatorischen Rationalisierungen sowie Konzentrationsvorgängen bei den Herstellern. Schon im Ersten Weltkrieg begann dieser ambivalente Strukturwandel. DadieBierbrauer undBranntweinbrenner wegen derstaatlichen Bewirtschaftung von Getreide, Kartoffeln und Zucker zu Produktionseinschränkungen gezwungen waren, gingen sie vermehrt zurHerstellung auch von Mineralwassergetränken über, da sie alle auch über eigene Wasserquellen verfügten. Die älteren Mineralwassererzeuger, die schlagartig ihren Export verloren undkeinen Naturgummi undKork mehr für ihre Verschlüsse importieren konnten, kamen schnell durch die flutartig anschwellende Konkurrenz undKriegsrohstoffbewirtschaftung in eine schwierige Situation. Der Mangel an Arbeitskräften, Flaschen, BetriebsundRohstoffen, vorallem aber dasVerbot zurVerwendung desknappen Zuckers zurHerstellung derBrauselimonade seit 1916, die Unterstellung unter einen staatlichen Kriegsauschuss 1917 und schließlich die erstmalige Einbeziehung der Mineralwässer undLimonaden unter die erhöhten Verbrauchssteuern seit 1918 wirkten sich für den Absatz verheerend aus.54 Besonders betroffen davon wurde die Herstellung derstark zuckerhaltigen konzentrierten Kunstlimonaden, an denen die Mineralwasserindustrie bisher ambesten verdient hatte. Die ruinöse Lage des Staatshaushaltes zwang den Reichsfinanzminister der Weimarer Republik durch eine Verordnung 1921 zur verschärften Anwendung der Mineralwassersteuer, die am 1. Mai 1922 durch ein neues Gesetz sogar auf das Doppelte angehoben wurde. Diese Einnahmen sind freilich durch die fortschreitende hyperinflationäre Kaufkraftentwertung schnell aufgefressen worden. Am 1. September 1923 wurde die Mineralwasserbesteuerung wieder aufgehoben, da sie die Erhebungskosten bei weitem nicht deckte.55 Wie die Statistik zeigt, waren die Steuereinnahmen zwischen 1919 und 1921 von 512 Mill. Mark auf 296 Mill. Mark unddamit fast zur Hälfte zurückgegangen.56 Auf demHöhepunkt der Weltwirtschaftskrise sah sich die Reichsregierung am 15. April 1930 trotz dieser schlechten Erfahrungen gezwungen, zumAusgleich des Haushaltsdefizits die Mineralwassersteuer mit den Steuersätzen von 1918 nochmals wieder in Kraft zu setzen. Sie war dabei der Meinung, der damalige Rückgang der Mineralwassersteuer habe wesentlich mit der Zuckerknappheit zusammengehangen. Der Staat hatte damals zwar den Unternehmern erstmals die Benutzung des 1879 erfunde-
54 Funck: Geschichte (wie Anm. 9), S. 37; Kühles: Handbuch (wie Anm. 2), S. 34; Jauernig: Entwicklung (wie Anm. 7), S. 771. 55 Vgl. Reichsgesetzblatt Bd. 1921, Nr. 12, S. 1498; ebd. Bd. 1922, Teil 1, S. 335 undS. 383. 56 Vgl. Begründung zum Gesetzentwurf vom 4. August 1923 über Änderungen einzelner Verbrauchssteuern (Drucksache desDeutschen Reichstages 6131).
Vom„Gesundbrunnen“in Kurbädern zurmodernen
Mineralwasserproduktion
149
nen, aber in Deutschland verbotenen Saccharins als Süßstoff für Limonaden wegen der wirtschaftlichen Not erlaubt, doch hatte diese Art des Süßens offenbar
nicht den Verbrauchergeschmack getroffen und den Nachfragerückgang primär verschuldet.57 Da sich derZuckerrückenanbau undderMineralwasserkonsum aber bis 1928 wieder stabilisiert hatten, erschien nach Meinung derReichstagsmehrheit die Wiederaufnahme dieser Verbrauchssteuer gerechtfertigt. Aber auch diesmal wurden die daran gehängten Erwartungen enttäuscht –statt der geschätzten Steigerung im Steuerjahr 1931 von rd. 15 Mill. RM auf 35 Mill. RM sank die Einnahme diesmal auf rd. 12,5 Mill. RM.58 Der „Allgemeine Verband Deutscher Mineralwasser-Fabrikanten“, der sich auseinem kleinen Berliner Verein vonehemals privilegierten akademischen Apothekern und Chemikern zu einer energisch auftretenden universalen Interessensorganisation seit 1898 gewandelt hatte, versuchte durch Annoncen in Zeitungen die Öffentlichkeit auf den enormen volkswirtschaftlichen Schaden dieser „Mineralwasser-Industrie-Vernichtungssteuer“ aufmerksam zu machen. Nach seinen Berechnungen waren 26.000 Beschäftigte auf dem Höhepunkt der Weltwirtschaftskrise dadurch zusätzlich erwerbslos und zudem die Kohlensäure-, Gasflaschen- undEssensindustrie als Zulieferer ebenso wie die Reichsbahn enorm geschädigt worden, welche deswegen einen großen Frachtausfall in diesem Jahr verzeichnen musste.59 Da die Mineralwasser- undLimonadensteuer wiederum in keiner Weise den Vorausschätzungen entsprach und der Branche großen Schaden zugefügt hatte, wurde sie zum1. Januar 1932 ein zweites Malwieder aufgehoben. Angesichts dieser schlechten Erfahrungen vermieden die Nationalsozialisten nach ihrer Machtübernahme, noch einmal an dieser gefährlichen Steuerschraube zudrehen. Zugleich verstärkten sie aber denstaatlichen Dirigismus, indem sie am 13. Oktober 1934 den „Allgemeinen Verband der Mineralwasser-Fabrikanten“ wie den 1917 geschaffenen „Reichsverband Deutscher Mineralbrunnen“dem neugeschaffenen „Reichsnährstand“unterstellten, dernunin Abkehr von der freien Marktwirtschaft in sämtliche Maßnahmen für die Erzeugung, den Absatz und die Preisgestaltung lenkend eingreifen konnte. Die Mitgliedschaft derBetriebe in einer der dem „Reichsnährstand“ unterstellten Fachgruppen „ MineralwasserFabrikanten“ , „Mineralbrunnen“und„Heilbrunnen“warfortan obligatorisch, wobei diesmal auch Klein- und Kleinstbetriebe als frühere Außenseiter der alten Verbände miterfasst wurden. Hauptaufgabe war nicht mehr die Wahrnehmung von konkurrierenden unternehmerischen Kartellinteressen, sondern das zentral gleichgeschlossene Mineralwassergewerbe hatte allein die Aufgabe, im Interesse der Volksgesundheit und Volksernährung „ das deutsche Volk mit alkoholfreien 57 Zu der heftigen Rivalität zwischen der Rübenzucker- und Saccharinindustrie vgl. Christoph Maria Merki: Zucker gegen Saccharin. Zur Geschichte der künstlichen Süßstoffe (Diss.). Frankfurt /New York 1993. 58 Statistisches Reichsamt (Hg.): Die deutsche Verbrauchsbesteuerung 1930/31 und 1931/32, Bd. 426, Berlin 1933, S. 13 undS. 137. 59 DerMineralwasser-Fabrikant Nr.3, Jg. 1932, S. f.
150
HansJürgen Teuteberg
kohlensauren Getränken
zu versorgen, die
erstklassig, gesund und preiswert
sind“.60
Wirtschaftliche Wechsellagen undRationalisierungen der Mineralwasserbranche
Wiehaben sich alle diese außerordentlich marktlenkenden staatlichen Eingriffe in die Mineralwasserwirtschaft auf die Entwicklung derBetriebsstätten, derProduktion unddesAbsatzes sowie dieweiteren technisch-betriebswirtschaftlichen Inno1939 ausgewirkt? Wiedie Statistik zeigt, vationen in derZwischenkriegszeit 1919– ging die Zahl der Mineralwasser erzeugenden Betriebe von 12.257 im Steuerjahr 1919, das einen dann nie wieder erreichten Höchststand markierte, bis 1925 auf 3.639 Produktionsstätten zurück. Besonders die Kleinerzeuger hatten in der Zeit der großen Inflation in den wirtschaftlichen Notjahren nicht genügend Kapitalkraft, um die steigenden Preise für Zusatzstoffe und Flaschen sowie die neue Verbrauchssteuer aufzufangen undkonnten diese finanziellen Belastungen wegen des drastischen Nachfragerückgangs nicht an ihre Kunden weitergeben. Besonders die Gastwirtschaften, Spirituosenhandlungen, Drogerien undKantinenpächter in Unternehmen, Behörden undMilitärverwaltung gaben die nebenbei betriebene Mineralwasserherstellung wieder auf, da sie sich nunals unrentabel erwies. Man kann daher hier vomBeginn eines großen, über ein Jahrzehnt sich erstreckenden Konzentrationsprozesses sprechen, der im übrigen beim benachbarten Gaststättengewerbe in dieser Zeit ähnlich verlaufen ist. Die nach demEnde der großen Inflation allmählich wieder einsetzende wirtschaftliche Erholung bescherte bis 1928 zwar wieder Umsatzsteigerungen in dieser Branche, doch wurden 1933 wiederum nur 3.599 Betriebe im „Statistischen Jahrbuch deutscher Städte“nachgewiesen, so dass ein erneuter großer Konsumrückgang infolge derWeltwirtschaftskrise undderzweiten steuerlichen Belastung anzunehmen ist. Für die Zeit des „ Dritten Reiches“gibt es zwar keine amtlichen Betriebszählungen, doch kann nach einer internen regionalen Verbandsschätzung angenommen werden, dass sich die Zahl der Mineralwasserfabriken nach der Aufhebung der Mineralwassersteuer bis 1934 wieder verdoppelte und 1940 kurz nach Beginn des Zweiten Weltkrieges auf circa 8.400 Betriebe dank der staatlichen Gewerbeförderung angestiegen ist.61 Die zwischen 1918 und1923 erhobene Mineralwassersteuer lässt erstmals die amtlich festgestellte Produktion von künstlich hergestelltem Mineralwasser und
60 Walter Fillies: DasMineralwassergewerbe imDienste vonVolk undStaat, in: Deutsche Mineralwasser-Zeitung, Nr. 30, Jg. 1938, S. 805. 61 Die Schätzungen beruhen auf Angaben des Bayerischen Mineralwasserverbandes e. V. (München). Vgl. R. Kammermeier: Der Markt alkoholfreier Getränke unter besonderer Berücksichtigung derBrauereien alsAnbieter (Diss.), München 1962, S. 77.
Vom„Gesundbrunnen“in Kurbädern zurmodernen
151
Mineralwasserproduktion
Brauselimonaden mit den unterschiedlich besteuerten Zusätzen präzise erkennen:
in Litern
Tab. 5: Die Erzeugung derMineralbrunnen undMineralwasserfabriken in Litern 1918– 1922
Be-
Be-
Be-
Mineral-
triebe
triebe
triebe
wasser
insge-
mit nur mit nur Litern
Steuersatz
samt
Mine-
konzen-
Litern
ralwas-
trierter
ser
in
Limonade
Limonade
Konzen-
einfacher
doppelter
trierte
in
Basisstoffe
Steuersatz
Kunst-
in
in Litern
Limonade
Litern
Limo-
nade 1.023
868
17.882.085
152.606.437
211.411 4.698.069 15.534
1919 12.980 2.093
893
58.530.882
385.709.741
715.495
1920 12.608
1.085
901
49.841.082
221.514.413 13.247.842
1921 12.378
965
904
48.273.533
173.755.368
8.805.410
5.162.362 42.980
1922 10.316
903
779
55.095.078
93.503.541
916.436
4.049.082 51.797
1918 12.257
908.302 22.729
6.789.593
17.598
Quelle: Jauernig, Entwicklung (1931), S. 83.
Hier fallt vor allem der hohe Konsum von Limonaden und anderen künstlichen Mineralwässern auf, der infolge der neuen Besteuerung auch besonders drastisch in dieser Zeit zurückging. In demKrisenjahr 1922 tranken die Deutschen im Vergleich zu 1918 nurnoch etwa ein Viertel derso beliebten Brauselimonade, woraus sich schließen lässt, dass dieses Massengetränk eine große Nachfrageelastizität aufwies und immer noch mehr als ein Genussmittel und nicht als ein tägliches
Grundnahrungsmittel bei breiten Verbraucherschichten angesehen wurde. In der Reichsstatistik wurde der auffällige Konsumrückgang damit erklärt, dass wegen der stark gestiegenen Limonadenpreise wieder mehr Bier getrunken wurde, nachdem 1921 die kriegsbedingte Malzkontingentierung aufgehoben worden war und das alte Volksgetränk zumaltgewohnten Geschmack zurückkehrte. Zum anderen hatte der inzwischen stark vermehrte gewerbliche Obstanbau mit wesentlich höheren Ernteerträgen zu einer Produktionserhöhung des Mostes undderreinen Obstsäfte geführt, welche die Konkurrenz auf demMarkt für alkoholfreie Billiggetränke verstärkte.62 Der wieder zunehmende Import von Apfelsinen veranlasste zudem die Fruchtsaftproduzenten für ihre neue „Orangeade mit natürlichem Aroma“zu werben, die schnell unter diesem positiven Werbespruch zueinem neuen Markenzeichen ausgebaut wurde. Auch die Hersteller vonreinem Beerensaft sowie die durch Molkereien qualitativ wie in der Haltbarkeit wesentlich verbesserte Trinkmilch machten sich auf dem Getränkemarkt intensiver als
62 Jauernig: Entwicklung (wie Anm. 7), S. 87.
152
HansJürgen Teuteberg
Konkurrenz bemerkbar, während die Kantinen indenIndustrieunternehmen, staatlichen Verwaltungen undder Eisenbahn an billigen Surrogaten von Kaffee und Tee festhielten undnicht mehr zu dervor demErsten Weltkrieg begonnenen Eigenerzeugung vonMineralwasser zurückkehrten. DerAbsatz dernatürlichen undkünstlich hergestellten Mineralwässer, welche ausvolksgesundheitlichen Gründen umdieHälfte geringer als dieLimonaden und andere künstliche alkoholfreie Getränke besteuert wurden, konnte imRahmen der wirtschaftlichen Regenerierung zwischen 1925 und 1929 deswegen besonders stark wieder zulegen, wiedienachfolgenden Zahlen belegen: Tab.6: Absatz vonnatürlichem Mineralwasser derBrunnenbetriebe in Litern 1925– 1933 Rechnungsjahr
1925 1926 1927 1928 1929 1930 1931 1932 1933
Absatz
in Mill. Litern 29 48 84 96 125
77 58 52 56
Index (Basisjahr 1925)
100 164 288 328 425 263 200 179 194
Quellen: Eigene Berechnungen nach Jauernig: Entwicklung (1931), S. 92, undHelmut Birkenhauer: Absatzprobleme derdeutschen Mineralbrunnenindustrie, Köln 1936, S. 50
Die zwischenzeitliche Erholung der Mineralwasserindustrie zwischen 1925 und 1929 ermutigte die Betriebe erstmals wieder zu neuen Investitionen. So konnten die bürstenlosen mechanischen Flaschenreinigungsanlagen in Großbetrieben ihre Stundenleistung von 1.500 auf 8.000 Flaschen steigern, obwohl zu ihrer Bedienung nur noch zwei bis drei Arbeitskräfte notwendig waren. Auch die für Brunnenbetriebe so wichtigen Enteisenungsanlagen erfuhren durch völligen Luftabschluss sowie die Abfülleinrichtungen undEtikettierungsmaschinen durch weitere Ersetzung von menschlicher Arbeitskraft wesentliche kostensenkende Rationalisierungen. Das aus der amerikanischen Autoindustrie stammende Fließbandsystemunddie Ideen desTaylorismus hielten auch hier nunwiein derübrigen deutschen Industrie Einzug. Die staatliche Gewerbeaufsicht stellte befriedigt fest, dass durch diese automatisierten Arbeitsvollzüge das Mineralwasser überhaupt nicht mehr mit der atmosphärischen Luft unddenMenschenhänden in Berührung kam, wasHygiene wie Qualität erheblich verbesserten.63
63
Zeitschrift
des Mineralwasserhandels Berlin, Jg. 2 (1928), H. 6, S. 127; Jauernig: Entwicklung (wie Anm. 7), S. 117f undS.120f.
Vom„Gesundbrunnen“inKurbädern zurmodernen Schlussbetrachtungen
Mineralwasserproduktion
153
zumKonsum desMineralwassers
Wie diese Studie in Grundlinien aufgezeigt hat, haben die heutigen Mineralbrunnenbetriebe wieauch die Erfrischungsgetränkeindustrie eine längere Vorgeschichte. Beide sind aber erst seit demspäten 19. Jahrhundert quantitativ wie qualitativ zuihrer jetzigen Bedeutung aufdemGetränkemarkt inmehreren großen Sprüngen emporgewachsen. Wenngleich das natürliche Mineralwasser seinen ursprünglichen Charakter als ärztlich verordnetes Heilmittel keineswegs verlor, so ist es erst durch die Erfindung seiner künstlichen Herstellung zu einem der massenhaft getrunkenen und immer mehr sich differenzierenden Genussmittel geworden. Die deutsche Erfrischungsgetränke- und Mineralbrunnen-Industrie, deren Jahresumsatz im In- undAusland zwischen 1980 bis 2000 von rd. 4,8 Mrd. DM auf 12,5 Mrd. DM anstieg, gehört ähnlich wie auch in anderen vergleichbaren Volkswirtschaften offensichtlich zu den am schnellsten wachsenden Gewerbezweigen, die global heute unter normalen Verhältnissen mitjährlichen Umsatzsteigerungen von 10 Prozent kalkulieren kann. Der Verbrauch ankünstlichem „Selterswasser“undLimonadenbrausen überstieg seit dem späten 19. Jahrhundert in Deutschland den des natürlichen Mineralwassers insgesamt bei weitem. Denälteren „Gesundbrunnen“wie denjüngeren Mineralwasserfabrikanten gelang erst nach Überwindung der verkehrs-, verpackungs- und produktionstechnischen Probleme eine wirklich erfolgreiche Vermarktung ihrer Produkte. Die fast explosionsartige Ausdehnung des Absatzvolumens ist eng mit denIndustrialisierungsschüben, ganz besonders mit der Einführung der liberalen Gewerbefreiheit und dem Wandel städtischer Ernährungsgewohnheiten, verbunden gewesen. Der durch die Erfrischungsgetränke bewirkte massenhafte Absatz prägte auch den industriellen Charakter der Mineralbrunnenerzeugung. Die beiden kurzfristigen Einführungen einer spezifischen Mineralwassersteuer in den Krisenjahren zu Beginn und am Ende der Weimarer Republik hatten verheerende Rückwirkungen auf den Konsum und führten zur Schließung vieler Kleinbetriebe der künstlichen Mineralwassererzeugung. Es handelte sich umdas typische Platzen einer wirtschaftlich unvernünftigen „ Gründerblase“ , wiees sie in der Wirtschaftsgeschichte öfter gegeben hat. Dieser folgende notwendige Konzentrationsprozess hatte die positive Wirkung, die technische wie betriebswirtschaftliche Rationalisierung energisch voranzutreiben unddie Arbeitsproduktivität wieRentabilität deseingesetzten Kapitals zusteigern. Interessanterweise zeigt die Entwicklung der Mineralwässermärkte in anderen vergleichbaren Ländern Europas eine analoge Entwicklung wie in Deutschland: Zunächst gab es ein Angebot vieler kleiner, regional höchst ungleich verstreuter Produzenten, die dann entweder durch Insolvenz aus dem Markt ausschieden oder oftmals in national wieinternational operierenden Großunternehmen undKonzernen aufgingen. Da derAlkoholkonsum im 19. undfrühen 20. Jahrhundert ausverschiedenen Gründen eine große Bedeutung bei dentäglichen Getränken besaß, gabes zahlreiche staatliche wie privat-karitative Bestrebungen, seinen missbräuchlichen Umfang unter anderem durch Förderung der Erzeugung nichtalkoholischer Getränke
154
HansJürgen Teuteberg
zur Hebung der Volksgesundheit einzuschränken. Der Antialkoholismus unddie naturärztliche Hydrotherapie wie Homöopathie als Hauptzweige der Lebensreformbewegung, aber auch der neue Lebensstil einer von derberuflichen Arbeitssphäre sich separierenden Freizeitgesellschaft mitdenSportvereinen anderSpitze haben den Aufstieg des Mineralwassertrinkens agitatorisch wie praktisch unter meist staatlichem Wohlwollen gefördert. Besonders das seit Jahrhunderten dominierende Bier erhielt dadurch eine auf die Dauer spürbare Konkurrenz, zumal selbst viele Gastwirte zunächst vorübergehend in der eigenen Mineralwasserherstellung eine lohnende Nebeneinnahme sahen. Unter anderem wurden die Brauereien veranlasst, die neue Technik der flüssigen Kohlensäure für die eigene Pro-
duktion zu übernehmen, um ihre Produkte geschmacklich noch anreizender zu machen. Schließlich unterstützten neue Erkenntnisse der Ernährungsphysiologie und die aufkommende Mode, mit Hilfe von Diättherapien dem körperlichen Schlankheitsideal näher zu kommen, die breite Hinwendung zumkalorienarmen Mineralwasser undvitaminreichen Fruchtsaft, die sich dann auch gut vermischen ließen. Dieser enge Verbund der Mineralwasserproduzenten mit den Obstbauern, Südfruchtimporteuren sowie der Lebensreformbewegung undGesundheitspolitik hatsich immer weiter bis heute fortgesetzt. Freilich darf der Aufstieg des Mineralwassers nicht darüber hinwegtäuschen, dass sein Konsum in demersten großen Rekordjahr 1919 erst 1,7 Prozent des gesamten deutschen Getränkeabsatzes ausmachte. Eine pauschale Zusammenstellung des Pro-Kopf-Verbrauches des natürlichen undkünstlichen Mineralwassers 1938 ausverschiedenen sowie ähnlicher Getränke in derZwischenkriegszeit 1919– Statistiken ergibt folgendes Bild: 1938 Tab 7: Pro-Kopf-Konsum natürlicher undkünstlicher Mineralwässer inLitern 1919–
in
Tsd.
in Mineralwässer in Litern
Mineralwässerpro Kopf
Limonaden Litern
1919 1921
62.897
59.900.480
62.473
90.567.398
0,95 1,45
173.776.041
6,13 2,78
1929 1938
63.000
117.428.200
1,86
66.000
140.000.000
2,12
145.000.000
2,19
Jahr
Bevölkerung
385.710.163
Limonaden
pro
Kopf
Quellen: Statistisches Bundesamt (Hg.): Bevölkerung gestern, heute undmorgen, Wiesbaden 1985, S. 39. Helmut Ruhrmann: Die Absatzpolitik der Hersteller alkoholfreier Erfrischungsgetränke bei besonderer Berücksichtigung der Mineralbrunnenindustrie, Berlin 1959, S. 21. DieDaten deramtlichen Reichsstatistik für 1938 stimmen nicht ganz mitdennachträglichen Berechnungen derBranchenverbände in Tab. 1 überein.
Leider ist eine präzise Aufgliederung des früheren Mineralwasserverbrauchs im Spiegel privater Haushaltsrechnungen nach Sozialschichten, Einkommensgruppen sowie regionaler Verteilung wegen fehlender Daten statistisch nicht möglich. So sind in der oft benutzten großen Untersuchung über den Lebensstandard der Arbeiter-, Angestellten- und Beamtenhaushalte durch das Statistische Reichsamt
Vom„Gesundbrunnen“inKurbädern zurmodernen
Mineralwasserproduktion
155
1927/28 im Gegensatz zu einigen anderen Getränken die gesamten alkoholfreien Getränke nur zusammen erfasst worden.64 Wegen dieser Pauschalierung können hieraus keine quantitativen Resultate zur Differenzierung der rohen Pro-KopfStatistik gewonnen werden. DieFeststellung derabsoluten Ausgabeposten füralle nichtalkoholischen Getränke bei denrd.2000 untersuchten Privathaushalten bleibt ohne entsprechende Vergleichsziffern aus anderen Jahren ohne Aussagewert. Es lässt sich lediglich im Vergleich mit anderen Haushaltsrechungen um 1900 annehmen, dass die durchschnittlich einkommensmäßig besser gestellten BeamtenundAngestelltenfamilien offenbar damals mehr für alkoholfreie Getränke ausgaben als Arbeiterhaushalte, wasmit ihrem festgestellten höheren Bildungsgrad korreliert. Dies würde sich mit deninzwischen quellenmäßig erhärteten Erkenntnissen decken, dass das Gesundheitsbewusstsein bei höherem sozialen Status und Einkommen generell zunahm unddie Lebensreformbewegung vornehmlich vom städtischen Bildungs- undBesitzbürgertum initiiert undgetragen wurde. Aufschlussreicher für einen Vergleich mit demKonsum in derVergangenheit ist es, zum Abschluss noch einen kurzen Blick auf den heutigen Pro-KopfKonsum von Erfrischungsgetränken und Mineralwässern in den europäischen Ländern zu werfen. Die nachfolgende Tabelle zeigt nicht nur erstaunlich große Unterschiede bei der Beliebtheit dieses Verbrauchs, sondern auch die Rangstellung derBundesrepublik dabei. Die meisten Erfrischungsgetränke 2000 wurden in den nordischen und nordwesteuropäischen Ländern, die meisten Mineralwässer dagegen in Italien, Frankreich, Belgien undDeutschland als klassische Hochburgen alter Mineralbrunnen getrunken. Das durchschnittliche Pro-KopfVerbrauchsquantum war erstaunlich unterschiedlich. Mehr als die ungleiche Verteilung dernatürlichen Mineralbrunnen müssen aber die stark differierenden nationalen sowie regionalen Getränkegewohnheiten zur Erklärung mit herangezogen werden.
64 Statistisches Reichsamt (Hg.): Die Lebenshaltung von 2000 Arbeiter-, Angestellten- und Beamtenhaushalten, Erhebungen von Wirtschaftsrechnungen im Deutschen Reich 1927/28, Teil I undII, Berlin 1932. Die Erhebung ist bei derAuswahl derOrtsgrößen, regionalen Zugehörigkeit, Haushaltsgrößen sowie der Sozial- bzw. Berufsschichten nicht genügend repräsentativ, so dass alle Aussagen gewisse Verzerrungen aufweisen. Unter anderem fehlen alle ländlichen Haushalte; die in Kleinstädten, solche mit nureiner Person unddie süddeutschen Gebiete sind bei weitem unterrepräsentatiert. Aufeine Darstellung desKonsums aller nichtalkoholischen Getränke wurde daher hier verzichtet.
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HansJürgen Teuteberg
Tab. 8: DerPro-Kopf-Konsum vonErfrischungsgetränken undMineralwässern in Europa imJahr 2000 in Litern
Staat Deutschland Belgien/ Luxemburg Dänemark Finnland Frankreich Griechenland Großbritannien Irland
Italien Niederlande
Norwegen
Osterreich Polen Portugal Schweden Schweiz Spanien
ErfrischungsGetränke (trinkfertig)
105,7 113,7 139,0
91,9 66,6 69,9 150,4 160,7
65,7 113,9 168,8 118,4
64,8 73,9 106,3
7,2 39,4
Fruchtsäfte und Mineral-, Quell- und Alkoholfreie Fruchtnektare Tafelwässer incl. Getränke Heilwässer
40,6 20,0 20,5 28,5
106,8 121,6
253,1
15,0 14,0
174,5 134,4
19,5 15,6 18,2 14,2 10,8
135,5
218,6
49,8
135,3
25,7 29,9 34,2 16,1 10,4
21,7 27,3 19,1
255,3
15,5
184,1
20,8
195,7
161,0
237,5
17,0 14,2
212,9
77,5 35,4 76,2 16,5 94,0 104,9
156,5
230,1 116,3 160,5 144,5
240,8 232,9
Quelle: Geschäftsberichte derGetränkeverbände undFirma Rudolf Wild (Heidelberg). Zitiert nach AFG-Markt 2001, S. 16.
Der heutige Mineralwasserkonsum wird im Gegensatz zu früher wesentlich von großen Lebensmittel- und Getränkekonzernen mitbestimmt. Der größte Lebensmittelkonzern der Welt Nestlé führt allein die Angebote von 70 Mineralbrunnen in seinem Sortiment. Er undandere multinationale Unternehmen bieten nicht nur viele bekannte alte natürliche Brunnenwässer an, z.B. die Premiumprodukte Vittel, Contrex, Volvic, Perrier, San Pellegrino, Fürst Bismarck, Gerolsteiner, Fachinger Rhenser oder Harzer Grauhof, sondern auch betont billige undartifiziell hergestellte Varianten. Diese haben in denEntwicklungsländern, diebereits in den Industrialisierungsprozess eingetreten sind, inzwischen einen außerordentlich hohenAnteil in denjeweiligen Getränkemärkten erobern können. Da etwa 1,5 Mrd. Menschen in den Entwicklungsländern noch keine ausreichende Trinkwasserversorgung besitzen unddienutzbaren Wasserressourcen durch denrasant steigenden Verbrauch dort vorläufig immer knapper werden, ist hier global noch ein rasch wachsendes Nachfragepotential vorhanden. Der in Deutschland wie in anderen Industriestaaten hohe Sicherheitsstandard für Trinkwasser ist aber gerade in diesenTeilen derWelt noch nicht vorhanden undsomit die wachsende Nachfragebefriedigung eng mit der ökologischen Frage verbunden. In Deutschland geht ein neuer Trend des Mineralwasserkonsums dagegen mehr in die Richtung der „ stil-
Vom„Gesundbrunnen“in Kurbädern zurmodernen
Mineralwasserproduktion
157
len Wässer“mit nur geringer Kohlensäure, ohne aber auf hohe geschmackliche Qualität zu verzichten. In Deutschland, dem einstigen Zentrum für künstliche Kohlensäure, wurden laut Bericht des Marktforschungsinstituts A.C. Nielsen im Jahr 2001 bereits 850 Mill. Liter Mineralwasser ohne dies prickelnde Gas verkauft. Selbst die weltweit bekannteste Brausenlimonadefirma „ Coca Cola“ , welche nach 1945 eine bis heute anhaltende Amerikanisierung des deutschen Mineralwasserkonsums einleitete, hat ihr Sortiment den Kundenwünschen folgend in dieser Richtung erweitert.65 Es gehört zu den Aufgaben der Wirtschafts- undSozialgeschichte, diese sich verbreiternde Konsumpalette anhand zeitgenössischer Zeugnisse weiter aufzuhellen undmit demWandel des gesamten Getränkemarktes undderTrinkkultur in Beziehung zusetzen. Historiker sollten nicht übersehen, dass im deutschen Lebensmittelgewerbe, in dem 2001 über 6000 Betriebe mit 547.855 Beschäftigten einen Jahresumsatz von 126,71 Mrd. Euro erwirtschafteten, die Getränkeindustrie denSpitzenplatz eingenommen hat. Die Deutschen habenihren Konsum vonMineralwasser proKopf undJahr zwischen 1980 und2003 insgesamt etwa verzehnfacht undtrinken heute erstmals mehr Wasser als Bier.
65 Vgl. Mark Pendergast: Für Gott, Vaterland und Coca Cola, Wien 1983; Irene BandhauserSchöffmann: Die Amerikanisierung desGeschmacks. Coca Cola in Österreich, in: Historicum. 28. Zeitschrift fürGeschichte, Herbstheft II: Ernährung, Linz 1995, S. 22–
Helmut Braun
Der Schmuckdiamant als Veblen-Leibenstein-Gut: vomSymbol der Reichen undMächtigen zumKonsumartikel mit Wertillusion für das breite Bürgertum 1. Prolog: Diamanten undihre „natürlichen“Eigenschaften Ein Diamant besteht lediglich aus Kohlenstoff, der durch Hitze- undDruckeinwirkungen zuunübertroffen harten, aber spröden unddamit spaltbaren Kristallen verdichtet wurde. Die Symmetrie der kristallinen Struktur verleiht dem Mineral Glanz, Transparenz undLichtbrechungsvermögen.1 Einen Gradmesser für die Seltenheit von Diamanten stellt deren Größe (in Carat) dar. Weitere naturgegebene Seltenheitsindikatoren sind die Freiheit von Einschlüssen an fremden Stoffen (Clarity) und Farbabstufungen (Colour) vom seltenen reinen Weiß hin zu den viel häufigeren gelblichen Steinen.2 Als letztes Merkmal kam später noch die Art undhandwerkliche Qualität der gezielten gestalterischen Bearbeitung des Rohdiamanten zum Schmuckdiamanten durch Beschliff (Cut) hinzu. Diese sogenannten „vier C“ bilden ein kaum entwirrbares Geflecht von scheinbar objektiv greifbaren Faktoren, die denPreis eines Diamanten bestimmen sollen.3 Bezüglich der Preisbildung bei Diamanten vermutete schon Adam Smith eine Abhängigkeit von den Produktionskosten, weil damals wenig ergiebige Diamantengruben mit hohen Produktionskosten geschlossen wurden.4 Eine an Kosten orientierte Preisbestimmung warinsofern plausibel, weil zurGewinnung eines als Schmuckstein geeigneten Rohdiamanten mit außergewöhnlich hohen Gütegraden derphysischen Indikatoren Carat, Clarity undColour mehr Kosten, etwa für Exploration und Abbau, aufzuwenden sind als für die viel häufiger zu findenden mangelhaften Steine mit geringer Größe, augenfälligen Einschlüssen und einer
1 Vgl. H.-J. Schubnel: 2 3
Mineralogie undKristallographie, in: Hartmut Jetter (Hg.): DerDiamant. 197. Mythos, Magie undWirklichkeit, deutsche Ausgabe Freiburg/Basel/Wien 1981, S. 192– Vgl. George G. Blakey: The Diamond, ohne Ort, Paddington Press 1977, S. 177– 185. Vgl. Alfred Eppler: Die Schmucksteine unddie Schmuckstein-Industrie, Leipzig 1912, S. 15–
16.
4 Vgl. Adam Smith: An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations, 4. ed., Edinburgh/London 1850, Book I, Chap. XI, Part II, S. 79– 80.
160
Helmut Braun
wenig „ Leuchtfeuer“erzeugenden Farbe.5 Auch die im Laufe der Zeit immer aufwändigeren Arten derRohsteinbehandlung stellten bald einen immer gewichtigeren Kostenfaktor dar. War anfänglich lediglich ein Polieren der glatten Oberflächen der Rohdiamanten möglich, kam später geschickt angesetztes Spalten der rohen Kristalle als Gestaltungselement hinzu. Etwa an der Wende zur Neuzeit fand mit dem Diamantenschleifen eine nun gezielte, aber zeitraubende undmit großen Materialverlusten verbundene Formveränderung statt, mit deren Hilfe die optischen Wirkungen des Diamanten voll geweckt werden konnten. Doch der vomKönnen, vonderErfahrung unddemZeitaufwand desBearbeiters wesentlich mitbestimmte Beschliff (Cut) war in der Art der Ausführung durchaus Moden unterworfen.6 Zu den Kosten der Suche undder Gewinnung der in derNatur extrem ungleich verteilten Diamantlagerstätten sowie den Kosten von Handel und Transport von der Fundstelle zum Endverbraucher, kamen nun diese beträchtlichen Bearbeitungskosten hinzu, die auch vonKnappheiten in denSchleifkapazitäten und dem nicht schnell vermehrbaren Humankapital besonders geschickter Schleifer abhingen. Abgesehen von den Kosten, identifizierte Adam Smith jedoch auch die damals noch physische Seltenheit von Diamanten als wertrelevanten Faktor: Nothing is more useful than water; but it will purchase scarce any thing; scarce „ any thing can be had in exchange for it. A diamond, on the contrary, has scarce anyvalue in use; buta very great quantity of other goods mayfrequently be hadin 7 Offenbar war der Schmuckdiamant für Smith ein Gut ohne erexchange for it.“ kennbaren Gebrauchswert, aber wegen derKnappheit hatte dieses Guteinen sehr hohen Tauschwert, also einen sehr hohen potentiellen Marktpreis. Die Grundfragen der folgenden Diskussionen lauten vor diesem Hintergrund daher: Welche „ Wertaspekte“oder Illusionen darüber gab und gibt es bei den Käufern von Diamanten? Wie entwickelte sich im Laufe der Zeit der Grad der physischen Seltenheit vonDiamanten undwelche Zusammenhänge sind zwischen der physischen Knappheit dieses Gutes undden Vorstellungen bei den „Konsumenten“über den „ Tauschwert“feststellbar? Wie muss eine Diamantenindustrie
5
6
Bereits über Jahrhunderte hinweg wurden minderwertige Diamanten auch zur Bearbeitung von anderen Edelsteinen eingesetzt. Spätestens ab den 1930er Jahren fanden für Schmuckzwecke ungeeignete Diamanten und die vorher wertlosen Diamantsplitter, der sogenannte Bort, wegen ihrer Härte Verwendung als Schleifmaterial, zumBesatz von Bohrkronen oder Sägeblättern undzur Fertigung von Präzisionswerkzeugen. Da derartige Einsatzzwecke beispielsweise in derRüstungsindustrie weit verbreitet waren, entstand eine dauerhafte undquantitativ bedeutende Nachfrage nach Industriediamanten. Diese Steine hatten zeitweise die Bedeutung eines militärstrategisch wichtigen Rohstoffes. Vgl. Stefan Kanfer: DasDiamantenimperium. Aufstieg und Macht der Dynastie Oppenheimer, deutsche Taschenbuchausgabe, 268. Frankfurt amMain 1996, S. 267– Bei sonst gleicher Steinqualität sind beispielsweise Diamanten mit Brillantschliff weit teurer als im einfacheren Rosenschliff. Vgl. Alfred Eppler: Die Schmucksteine (wie Anm. 3), S. 16. Ausführlicher zurEntwicklung derDiamantenbearbeitung undderArten vonBeschliffen vgl.
Eric Bruton: Diamonds, 2. Aufl. Radnor (Penn.) 1978. 7 Adam Smith: AnInquiry (wie Anm.4), S. 12.
DerSchmuckdiamant als Veblen-Leibenstein-Gut
161
organisiert werden, umeine Wertillusion bei denNachfragern schaffen undperpetuieren zukönnen? Kann dieWertillusion aufDauer bestehen? Bei der Diskussion dieser Fragen wechseln sich nun historische und empirische Befunde mitauftheoretischen Überlegungen beruhenden Erklärungen ab.
2. Vommythischen Handelsgut
Mineral ausdemfernen Indien zumseltenen Schmuck- und derReichen undMächtigen in Europa bis zurFrühen Neuzeit
Ursprünglich wurden Rohdiamanten allein in Indien gefunden und gehandelt. Formschöne undmangelfreie Rohdiamanten galten dort wegen ihrer Lichtwirkungen undihrer unübertreffbaren Härte bereits einige Jahrhunderte vor Christi Geburt als ein mit magischen Kräften ausgestatteter Stoff, der denGöttern geweiht warundvor Gefahren schützen sollte.8 Aber große undmakellose Rohdiamanten waren tatsächlich sehr selten unddaher denreichsten Fürsten vorbehalten. Unterlegt mit demMythos seiner unüberwindbaren Härte, konnten indische Kaufleute umdas3. Jahrhundert v. Chr. schließlich einzelne, als Adamas bezeichnete, kleine undweniger makellose Diamanten mithohen Gewinnen anRömer ausdenhöchsten Gesellschaftsschichten verkaufen. Dort galten die wegen ihrer noch fehlenden Bearbeitung eher unansehnlichen Steine zunächst als Kuriosum, wurden aber in Rombald auch als seltenes unddaher teures Statussymbol nachgefragt.9 Das geringe Angebot im Römischen Reich ergab sich daraus, dass die indischen Fürsten üblicherweise ein Herrscherregal über die Diamantengewinnung in ihrem Territorium errichteten. Gegen hohe Zahlungen und einer Ablieferungspflicht schöner undgroßer Diamanten zumZwecke der herrschaftlichen Hortung im Staatsschatz, wurde das fürstliche Regal oft an indische Kaufleute oder hohe Beamte übertragen. Diese brachten daher nurdienicht zurfeinsten Kategorie zählenden Steine in den freien Handel, wobei die Preise weitgehend obrigkeitlich geregelt waren. Aufgrund der hohen innerindischen Nachfrage nach den mystischen Steinen, Hortungen undhohen Kosten durch Zölle undMonopolisierungstendenzen indischer, persischer undarabischer Zwischenhändler, blieben die Diamantenpreise außerhalb Indiens auf einem hohen Niveau.10 Doch dies nutzte der Nachfrage nach diesen Steinen vermutlich mehr, als es schadete. Erst mit Ausbreitung des Christentums im Römischen Reich sank der Glaube an die magischen Kräfte der Adamas unddamit deren Wertschätzung. Farblich auffälligere Edelsteine wie Smaragde und Rubine, aber auch makellose Perlen standen imAnsehen unddamit auch im Preis nunweit höher. Im Gegensatz zum römischen Großbürgertum ging die Nachfrage nach Edelsteinen allgemein nun primär von den geistlichen undweltlichen Fürsten Europas aus, die aber die von
8 9
Vgl. George G. Blakey: TheDiamond (wie Anm. 2), S. 13. Vgl. Godehard Lenzen: Produktions- und Handelsgeschichte des Diamanten, Berlin 1966, S.
27. 19– 10 Vgl. Godehard Lenzen:
Produktions-
undHandelsgeschichte (wie Anm. 9), S. 32– 78.
162
Helmut Braun
den orientalischen Diamantenhändlern geforderte Bezahlung in Gold nicht aufbringen konnten oder wollten. Erst etwa ab dem 13. Jahrhundert, maßgeblich verursacht durch denAufschwung desvenezianischen Levantehandels, stieg in EuropadasInteresse anDiamanten langsam wieder an. ImLaufe des 14. Jahrhunderts war vermutlich in Brügge zudem das Polieren größerer Oberflächen unddas rudimentäre Beschneiden zum die Schönheit des Rohsteins weckenden Beschliff weiterentwickelt worden.11 Gegen Ende des 15. Jahrhunderts lieferte das auch im Edelsteinhandel stark engagierte Venedig bereits regelmäßig Diamanten an Käufer in Städten wieLissabon, Antwerpen undParis. Aber noch fürdieMitte des 16. Jahrhunderts wurde, gemessen am Karatpreis für Diamanten, das Achtfache für wohlgeformte undintensiv leuchtende Rubine sowie das Vierfache für Smaragde bezahlt.12
Der im Vergleich zu anderen Edelsteinen wegen verfeinerter Bearbeitungen nunoptisch aufgewertete, aber vergleichsweise immer noch billige Diamant, fand nunInteresse bei der gesellschaftlich aufstrebenden Schicht derreichen bürgerlichen (Fern-) Händler: Neben Venedig als traditionellem Umschlagplatz für Spezereien ausdemindisch-asiatischen Raum, unddamit auch fürEdelsteine,13 wurde mitEröffnung dertransozeanischen Gewürzroute durch Lissabon einweiterer und unmittelbarer Einkaufsplatz für indische Edelsteine erschlossen. Im Gegensatz zum Gewürzhandelsmonopol blieb der Edelsteinhandel aber frei von jeglichen obrigkeitlichen Eingriffen der portugiesischen Krone. Fernhändler wie Fugger, Welser, Imhof, Herwart undHirschvogel nutzten diese Handelsfreiräume undum die Mitte des 16. Jahrhunderts existierten einige Jahrzehnte in Augsburg und Nürnberg sogar Diamantenschleifereien. Diese standen aber in ihrer Bedeutung deutlich hinter derDiamantenbearbeitung imvonPortugal belieferten Antwerpen. ImGefolge religiöser Vertreibungen wanderten ab den 1580er Jahren jedoch große Teile des Antwerpener Diamantenschleifgewerbes nach Amsterdam undteilweise nach Frankfurt amMain ab. Mit derVerdrängung Portugals aus Indien und Hinterindien durch Holland undEngland stieg aber nicht nurAmsterdam zueiner Drehscheibe des Rohdiamantenhandels auf, sondern insbesondere nun London.14 Somit entstanden in Europa mehrere, konkurrierende Zentren sowohl desDiaman11 Vgl. Godehard Lenzen: Produktions- und Handelsgeschichte (wie Anm. 9), S. 27– 28 und S.
80. 77– 12 Vgl. Otto Mugler: Edelsteinhandel im Mittelalter undim 16. Jahrhundert. Mit Excursen über denLevante- undasiatischen Handel überhaupt, Diss. München 1928, S. 154. 13 Das Handelshaus derFugger kaufte nachweislich ab 1505 noch lange bis in die 1540er Jahre hinein Diamanten in Venedig. Vgl. Max Jansen: Jakob Fugger der Reiche, Leipzig 1910, S. 205; Alfred Weitnauer: Venezianischer Handel derFugger. Nach derMusterbuchhaltung des 103; Otto Mugler: Edelsteinhandel (wie Matthäus Schwarz, München, Leipzig 1931, S. 102– 127. Anm. 12), S. 124– 14 Vgl. Godehard Lenzen: Produktions- undHandelsgeschichte (wie Anm. 9), S. 107– 119. Zum Aufstieg vonAmsterdam zu einem derbedeutendsten kontinentaleuropäischen BearbeitungsundHandelsplätze für geschliffene Steine vgl. Henriëtte Boas: Jews andthe Amsterdam Dia223, hier S. 215. mondTrade, in: Studia Rosenthaliana 26 (1992), S. 214–
Der Schmuckdiamant als Veblen-Leibenstein-Gut
tenhandels beitung.
163
als auch, aber davon örtlich immer mehr getrennt, derDiamantenbear-
Die nach wievoraus Indien bezogenen Diamanten erfuhren durch dasInteresse zunächst derbedeutenden oberdeutschen Fernhändlerdynastien unddann der nahe vor einem Zwischenhandelsmonopol stehenden holländischen und englischen Ostindienkompanien aber auch eine Erweiterung des denSteinen zugemessenen Nutzens als ausgefallenes Schmuckobjekt. Neben spekulativen An- und Verkäufen fanden Diamanten nun auch Verwendung bei Finanztransaktionen, dienten der stillen Vermögensreserve für schlechte Zeiten undgelegentlich auch als dezente Geschenkgabe an einflussreiche Personen.15 Die mittlerweile zu fun-
kelnder Brillanz beschleifbaren Diamanten wurden zu einem im merkantilistischen Europa bekannten, begehrten unddennoch diskreten Handelsgut, welches nicht nur repräsentative Bedürfnisse der adeligen Hofhaltung während der demonstrativen Opulenz des Barockzeitalters befriedigte, sondern immer mehr als werthaltiges Kapitalanlagegut betrachtet wurde.16 Neben dem Adel bildete sich also auch das wirtschaftlich erfolgreiche undsich als machtvoller Stand etablierende Großbürgertum als neue, aufnahmefähige Nachfragerschicht für Güter wie Edelsteine heraus, mit deren profanen Erwerb Macht undReichtum demonstriert werden konnte; waren derartige Luxusgüter auch noch dazu geeignet, denerworbenen Reichtum dauerhaft, einfach und sicher aufzubewahren, dann genossen diese Güter um so höhere Attraktivität. Offenbar wuchs diese Nachfrage stärker als das ebenfalls steigende Angebot durch die Diamantenimporte aus Indien, wodurch bei relativ konstanten Rohdiamantenpreisen die Preise für geschliffene Diamanten zunächst ansteigen konnten.17 Dies wiederum weckte Erwartungen über weiter steigende Preise. Der wegen seiner Härte keinem physischen Verschleiß unterliegende „ unbezwingliche“18Diamant wurde wegen desBeschliffs nunnicht nur als Schmuckstück attraktiv, sondern zunehmend auch als langfristige Realvermögenserhaltung. Daraus ergibt sich eine für theoretische Analysen wichtige Schlussfolgerung: Werden einmal verkaufte Diamanten privat über Generationen hinweg gehortet, dann kann eine steigende Nachfrage nur durch neu geförderte undauf den Markt gebrachte Steine befriedigt werden. Preisbestimmend wirken daher nicht die einmal angesammelten und gehorteten Bestände, sondern allein die neu angebotenen Steinmengen in Verbindung mit einer möglichst stärker anwachsenden Nachfragerschicht, welche auf eine Realvermögenserhaltung vertraut, ergänzt um eine statusorientierte Nutzenkomponente der Schmucksteine. Diese Zusammenhänge umschrieb Godehard Lenzen mitfolgenden Worten: „ Wasdie Koketterie betrifft, so schmeichelt ein Schmuckstück umso mehr, je höher sein Preis ist. Nicht allein die ästhetische Schmuckwirkung genügt, sondern
15 Vgl. Otto Mugler: Edelsteinhandel (wie Anm. 12), S. 69– 97. 16 Vgl. M. E. Giard: DerDiamant imSchmuck, in: Hartmut Jetter (Hg.): DerDiamant (wie Anm. 267. 1), S. 252– 17 Vgl. dazudieDatenangaben inAbschnitt 4 dieses Aufsatzes. 18 Alfred Eppler: Die Schmucksteine (wie Anm. 3), S. 12.
164
Helmut Braun
es muss das Bewusstsein um einen besonderen, in Geld auszudrückenden Wert hinzutreten. Die Befriedigung des Geltungsbedürfnisses durch das Zur-SchauTragen hohen Wertes ist gänzlich unabhängig vonjeglicher Schmuckwirkung, setzt aber aus Gründen der Sitte immer noch einen gewissen Schmuckcharakter voraus. Die Thesaurierung schließlich beruht nurnoch auf demhohen Wert, dessen Beständigkeit manerwartet. Damit stellt sich als wesentliche Grundlage der Wertschätzung des Diamanten sein hoher Preis heraus: Diamanten werden gekauft, weil sie teuer sind. Das ist das Hauptmotiv der nachfrageauslösenden Wertschätzung; es steht seit dem17. Jh. imVordergrund undbestimmt Diamantenproduktion und-handel.“19 Nungeht es darum, diese Aussagen empirisch-historisch zu überprüfen und analytisch zuerklären. Reflexionen über dieArtdesGutes „Diamant“ unddie Motive, dieses Gutnachzufragen
3. Frühe theoretische
Neben Adam Smith beschäftigten sich weitere Klassiker der Nationalökonomie mit demCharakter vonGütern wie Diamanten, nunaber weniger ausdemBemühender Begründung eines Tauschwertes heraus: John Rae identifizierte derartige Güter als Luxusgüter, die von einer den Wohlstand vermindernden Tendenz des menschlichen Hanges zu Eitelkeit undSelbstgefälligkeit sowie zumZwecke einer Demonstration dersozialen Überlegenheit eines Menschen über andere Menschen gekennzeichnet wären.20 Dabei zitierte Rae bezüglich der abstrakten Art von An object of luxury is of no use from the moment it Luxusgütern J. B. Say: „ 21Unter Verweis ceases to gratify either the senses, or the vanity, of its possessor.“ auf die Arbeit von Storch konstatierte Rae, dass in allen Klassen von Menschen ein Hang zurDemonstration vonLuxus bestehe, undLuxus wird repräsentiert von Gütern, die nur mit zur Bewunderung auffordernden Reichtum beschafft werden können.22 Rae erkannte aber auch, dass bei entsprechend abnehmender Seltenheit, und damit abnehmenden Preisen, ehedem Luxusgüter wie beispielsweise Seife, Seide, Kaschmirwolle oder Glas zu„ normalen“(Massen-) Gütern werden können. Für das Gut „Diamant“stellte Rae für die Zeit der 1830er Jahre daher lapidar fest: The diamond is at present chiefly a luxury; should art ever succeed in giving at will a „ crystalline structure to simple carbon, so as to convert it into that substance, it would pass from the rank of luxuries, and would too contribute largely to the real wants. The high
19 Godehard Lenzen: Produktions- undHandelsgeschichte (wie Anm. 9), S. 143. 20 Vgl. John Rae: Statement Of Some NewPrinciples on the Subject of Political Economy, Book II. of the Nature of Stock, Chapter XI. of Luxury, Boston 1834, Reprint NewYork 1964, S. 299. 295– 21 Say, zitiert nach John Rae: Statement (wie Anm.20), S. 271. 22 Storch, zitiert nach John Rae: Statement (wie Anm. 20), S. 271– 272.
DerSchmuckdiamant als Veblen-Leibenstein-Gut estimation in which 23 project.“
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it is held serves at present to turn the attention of ingenuity to such a
Damit war der widersprüchliche Charakter von Luxusgütern, speziell auch von Diamanten, im Grundsatz erkannt worden: Erst eine physische Seltenheit schuf die die hohen Preise rechtfertigende Knappheit amMarkt, waswiederum denLuxusgutcharakter hervorhob; und eine Reduzierung der physischen Seltenheit konnte schnell den Preis unddamit den Luxuscharakter eines Gutes verderben. Hohe Preise fürein Gutwiederum schufen aber einen individuellen Anreiz, durch vermehrte Produktion oder Suche dasAngebot zuerhöhen, wasaber amMarkt im Zeitablauf den Preis und Luxusgutcharakter, im Falle von Edelsteinen auch die Realkapitalerhaltungsmöglichkeit, vermindert hätte. Diese dem dynamischen Marktgeschehen hier innewohnende Tendenz zurZerstörung desLuxusgutcharakters trat aber wegen einer gewissen statischen Betrachtung derAngebots- undinsbesondere derNachfragefunktionen noch in denHintergrund derzeitgenössischen Betrachtungen.
4. Erste historische Angebotsschocks auf demWeltdiamantenmarkt undihre Folgen Die tatsächliche historische Entwicklung des Diamantenangebotes war in Europa
seit Jahrhunderten von quantitativen Zuwächsen gekennzeichnet, aber durch die privaten Hortungsphänomene waren die bereits vorhandenen Diamantenbestände von kaum erkennbarer Relevanz für das laufende Marktangebot unddie Preisentwicklung. Eine von Lenzen vorgenommene Rekonstruktion der von der niederländischen Ostindien-Kompanie mitgebrachten Diamanten aus Indien geht insgesamt von unter 100.000 Karat aus, welche stoßweise zwischen 1616 und 1668 nach Europa gelangen konnten. Die unregelmäßigen Importe bewegten sich in denJah-
ren 1643, 1652 und 1668 in Bereichen von über 20.000 Karat.24 Einen ersten, noch moderaten Angebotsschock erzeugten die 1730 erstmals entdeckten Diamantenlager in Portugiesisch-Brasilien. Von dort kamen nunkontinuierlich Rohdiamanten auf die europäischen Märkte, wobei je nach Berech-
nungsgrundlage ein Anschwellen des Angebotes auf das Vier- bis Achtfache behauptet wird, bezogen auf die in denletzten Jahren davor aus Indien eingeführten Steinmengen. Unter starken Schwankungen gelangten zwischen 1730 und1822 so bereits im Durchschnitt jährlich etwa 32.400 Karat nach Europa. Der durchschnittliche Preis für Rohdiamanten sank nach Lenzen von 100 Goldfranken pro Karat auf 30 Goldfranken, die Preise für geschliffene Einkaräter blieben jedoch in der Zeit von 1665 bis 1832 bis auf geringfügige Abweichungen stabil bei etwa 200 Goldfranken. Mit derEntdeckung weiterer, noch ergiebigerer Lagerstätten in
23 John Rae: Statement (wie Anm.20), S. 292. 24 Vgl. Godehard Lenzen: Produktions- undHandelsgeschichte (wie Anm. 9), S. 150.
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Helmut Braun
Portugiesisch-Brasilien im Jahr 1844 kames zumzweiten, gravierenderen Angebotsschock: Nun lag die durchschnittliche jährliche Diamantenförderung bereits bei 200.000 Karat, mit Schwankungen zwischen 300.000 Karat im Jahr 1850 und 1851 und130.000 Karat imJahr 1852. Diese brasilianischen Funde deckten dann bis etwa zumJahr 1870 die weltweite Nachfrage zuetwa 99 Prozent.25 Trotz dieser gravierenden Angebotsausweitung an Rohdiamanten stiegen die Preise für geschliffene Steine aber sehr deutlich an, nämlich von 300 Goldfranken im Jahr 1858 auf 453 Goldfranken im Jahr 1865 und schließlich auf 625 Goldfranken im Jahr 1869. Binnen eines Jahrzehnts hatten sich somit die Preise auf derEbene der Konsumenten mehr als verdoppelt.26 Abb. 1: Kumulierte Südafrikanische Rohdiamantenproduktion, ab 1908 Weltproduktion, in Mio. Karat
Quelle: Lenzen, Godehard: Produktions- und Handelsgeschichte eigene Auswertung undDarstellung.
des Diamanten, Berlin 1966,
Obgleich die ersten Diamantenfunde in Südafrika bereits um 1867 stattfanden, verdrängten ab etwa demJahr 1870 die Diamanten aus densüdafrikanischen Minenauch wegen derweit niedrigeren südafrikanischen Produktionskosten endgültig Brasilien als Lieferanten des Weltmarktes. Bereits ab 1872 förderten die Minenin Südafrika jährlich über eine Million Karat, mitmeist sogar jährlich anstei25 Vgl. Godehard Lenzen: Produktions- undHandelsgeschichte (wie Anm. 9), S. 150– 156. 26 Vgl. Godehard Lenzen: Produktions- undHandelsgeschichte (wie Anm. 9), S. 169– 170.
DerSchmuckdiamant als Veblen-Leibenstein-Gut
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genden Zuwächsen. Abbildung 1 zeigt nundie in Südafrika geförderte Produktion, die im Kern mit der Weltproduktion zusammenfiel. Der Umfang des hierin verborgenen Angebotsschocks aufdenWeltdiamantenmärkten wird dadurch deutlich, dass in Abb. 1 die jährliche Produktion des ja keinem Verschleiß unterliegenden (Roh-) Diamanten für die Jahre 1870 bis 1926 kumuliert dargestellt wird. Bereits für dasJahr 1926 kann daher voneinem weltweiten Rohdiamantenbestand vonmindestens 140 Millionen Karat ausgegangen werden. Verglichen mitdenbis zum Jahr 1870 geförderten Diamantenmengen, kann nun nicht mehr von einer gravierenden physischen Knappheit ausgegangen werden. In der ökonomischen Theorie führen derartig ausgeprägte Angebotsschocks üblicherweise zu einer deutlichen Senkung der Marktpreise. Jedoch zeigt Abb. 2 eine von 1867 bis 1932 durchgehend rekonstruierbare Zeitreihe derVerkaufspreise für Rohdiamanten, dass trotz stärkerer Preiseinbrüche in den Jahren 1920/22 und während der Weltwirtschaftskrise von 1929 bis 1932 im Trend die Preise deutlich anstiegen, obwohl, wie in Abb. 1 gezeigt, die Angebotsmengen im gleichenZeitraum quantitativ regelrecht explodiert waren. Abb. 2: Verkaufspreise Rohdiamanten anGroßhändler undSchleifer (1867– 1932)
Quellen: Lenzen, Godehard: Produktions- und Handelsgeschichte des Diamanten, Berlin 1966; 1914, Newbury, Colin: The origins andfunction of the London Diamond Syndicate, 1889– 26, hier: S. 10; Department of Mines, The in: Business History, 1987, Vol. XXIX, S. 5– Mineral Ressources of the Union of South Africa, Pretoria 1939 –Eigene Auswertung undDarstellung.
Nunbasierend auf anderen Preisgrundlagen undeinschließlich der deutlich billigeren Industriediamanten, zeigt auch die in Abb. 3 dargestellte Preisentwicklung derJahre 1931 bis 1993 bis auf einige „Ausreißer“aufgrund von Sonderfaktoren imTrend eindeutig nach oben. Ohne es hier mit Daten zubelegen, wurden natürlich auch weiterhin ergiebige neue Diamantenminen entdeckt und ausgebeutet sowie auf den Markt gebracht. Besonders die Minen in der ehemaligen Sowjet-
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Helmut Braun
union undin Australien förderten Diamanten jährlich.27
imBereich vonMillionen vonKarat
Abb. 3: Durchschnittlicher Preis für Rohdiamanten in US-Dollar pro Karat (nicht für das erste Karat), bezahlt als Importpreis durch die USA (einschließlich Industriediamanten) (1929– 1994)
Quelle: United States, Bureau entVolumes.
of Mines (Ed.):
, differGemStones“ Mineral Yearbook, Chapter „
27 Allein imJahr 1970 betrug die Förderung aussowjetischen Minen 10 Millionen Karat, imJahr 1976 stieg diesowjetische Förderung auf 16 Millionen Karat. Jedoch handelte es sich hier um meist kleine Steine, die aber aufgrund ihrer sonstigen Qualitätsmerkmale sowohl zumIndustrie-, aber auch zumSchmuckdiamanten geeignet waren. Vgl. Edward Jay Epstein: The Dia167. ImJahr 1979 kames zur mond Invention, London/Melbourne/Sydney usw. 1982, S. 167– Entdeckung der Mine in Argyle in Australien, deren jährliche Förderung auf etwa 40 MillionenKarat Rohdiamanten geschätzt wird, wobei jedoch nurein geringer Anteil zumSchmuckdiamant geeignet ist. Vgl. Ohne Verfasser: ImGriff des Syndikats. Wie der südafrikanische Konzern DeBeers Angebot, Nachfrage undPreise derEdelsteine manipuliert, in: DerSpiegel, Nr.44 vom30.10.1989, S. 151– 166.
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DerSchmuckdiamant als Veblen-Leibenstein-Gut
Die aus Sicht der ökonomischen Theorie üblicherweise folgenden Preiseinbrüche fanden jedoch allenfalls kurzfristig statt. Wie konnten nunim langfristigen Trend trotz laufender Angebotsschocks die Verkaufspreise für Rohdiamanten dennoch deutlich ansteigen?
Dazumuss aufdie seit den 1880er Jahren eingeführten undin den 1930er Jahren verfeinerten Vermarktungsstrategien ebenso eingegangen werden wie auf die Entwicklung undgezielte Beeinflussung derNachfrage. Jedoch gibt es leider keine langen, durchgehenden undhomogenen Preisreihen fürdie Verkaufspreise von Diamanten an die Endkonsumenten.28 Dass es solche langen Preisreihen nicht gibt, liegt unter anderem auch in denSpezifika derVermarktungsstrategie.
5. Verfeinerungen in dertheoretischen
Analyse derLuxusgüterdamit auch derDiamantennachfrage
und
Wie bereits Rae identifizierte, jedoch erst nach der Entdeckung der ergiebigen Diamantenfunde in Südafrika, Thorstein Veblen als Merkmal der „ feinen Leute“ unter anderem eine zunächst individuell gewollte Verschwendung durch demonstSo schön Juwelen auch sein mögen, so verleihen rativen Konsum teurer Güter: „ ihnen doch erst ihre Seltenheit und ihr Preis eine Auszeichnung, deren sie sich 29Eine für die theoretische niemals erfreuen würden, wenn sie billig wären.“ Durchleuchtung derNachfrage nach Luxusgütern wichtige Erkenntnis bei Veblen bestand darin, dass er durch seine Darlegungen über „ Mode“und„ Geschmack“ imKontext verschiedener sozialer Klassen undderen „Lebensweisen“eine Loslösung von derindividuellen Analyse derNachfrage nach Luxusgütern schaffte und den demonstrativen Konsum als sozial interdependentes Nachfragephänomen erfasste:
„ Um ungeteilte Zustimmung zu finden, muss ein wirtschaftlicher Tatbestand die Prüfung desunpersönlichen, dasheißt allgemein menschlichen Nutzens bestehen. Der relative, das heißt jener Vorteil, den der Einzelne im Wettbewerb mit anderen erringt, genügt demökonomischen Gewissen nicht, weshalb der umder Konkurrenz willen getriebene Aufwand vondiesem Gewissen nicht gebilligt wird. Genau betrachtet, dürften zur demonstrativen Vergeudung nur solche Ausgaben gerechnet werden, die auf Grund eines neidvollen finanziellen Vergleichs zustandekommen.“30 Diese vonVeblen in Formdes„ Neides“und„ Vergleiches“erkannte abstrakte Interdependenz individueller Nachfragefunktionen bei der Bestimmung der aggregierten Marktnachfrage waraber in derformalen Theorie der Konsumnachfra28 Auch einem traditionsreichen undvomVerfasser kontaktierten Juwelier warkeine lange und homogene Zeitreihe bekannt. Auskunft pere-mail vom18. Dezember 2002 vonJuwelier Kaesemann andenVerfasser. 29 Thorstein Veblen: Theorie der feinen Leute, deutsche Ausgabe Köln, Berlin 1958, S. 131. 30 Thorstein Veblen: Theorie (wie Anm. 29), S. 105.
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ge eine Anomalie der normalen Preis-Mengen-Beziehung der Gesamtnachfrage. Denn der Veblen-Effekt des demonstrativen Konsums bedeutete in seiner Operationalisierung eine nunnach oben geneigte Nachfragekurve, weil hier die Nachfrage nach einem Gutsteigt, wenn eben derPreis dieses Gutes ansteigt. Damit ist allein bereits ein höherer Preis, unabhängig von den Gutseigenschaften als solchen, mit einem höheren Nutzen für die Konsumenten verbunden.31 Sind Informationen über Preise nicht allgemein bekannt, oder nicht unmittelbar anderinhärenten Qualität des Gutes erkennbar, dann kann an die Stelle destatsächlich vonaußenerkennbaren Preises auch eine vonanderen Mitgliedern des sozialen Systems
vermutbare Preishöhe fürdemonstrativen Konsum ausreichen.32 Eine weitere hier relevante Anomalie in derNachfragefunktion ist der bandwagon oder Mitläufereffekt. Dieser Effekt bedeutet, dass die Nachfrage nach einemGutzunimmt, weil andere Konsumenten das Gutbereits nachgefragt haben. Jedoch ist beim band-wagon Effekt nicht, wie beim Veblen-Effekt, der Preis das Argument der Nachfrageentscheidung, sondern die Menge der innerhalb des betrachteten sozialen Systems bisher nachgefragten Güter dieser Art. Bei statischer Betrachtung scheint dieser „ mengenbezogene“ Mitläufereffekt dem über die Preisentwicklung definierten Veblen-Effekt entgegenzustehen, bei dynamischer Betrachtung aber sind beide Effekte durchaus vereinbar, wenn im Laufe derZeit immer mehr Menschen in der Herde derer, die demonstrativen Konsum im Sinne von Veblen praktizieren, mitlaufen oder in diese Kreise aufgenommen werden wollen und zugleich das gesamtwirtschaftliche Wohlstandsniveau hinreichend stark angestiegen ist. Damit gibt es einige Güter, die konsumiert werden, umals Konsument „ in style“33zu sein. Das Gegenteil zum Mitläufereffekt ist ein sogenannter snob-Effekt; unabhängig vom Gutspreis, schränken die snobistischen Nachfrager bewusst undschnell denmengenmäßigen Konsum vonGütern ein, die andere Konsumenten vermehrt nachfragen. Snobs würden sich im hier diskutierten Fall vom Konsum von Diamanten zurückziehen, sobald der Diamant als ein Gut der breiten Masse erscheinen würde. Die Konsumfunktionen für derartige Güter sind nach Leibenstein „ nonfunctional“ , daneben derinhärenten Güterqualität eben externe, undzwar sozial-interagierende Effekte die individuelle Nutzenziehung aus dem Gut beeinflussen.34 Damit werden die individuellen Nachfragekurven additiv verknüpfbar zu einer Marktnachfragekurve, deren Elastizität aber davon abhängt, welcher Effekt die anderen beiden Effekte dominiert. Da sich der
31 Vgl. H. Leibenstein: Bandwagon, Snob, and Veblen Effects in the Theory of Consumer’s 207, hier S. 189 und Demand, in: Quartely Journal of Economics, Vol. LXIV (1950), S. 183– 205. S. 202– 32 Speziell bei Edelsteinen wie Diamanten ist demAuge desnormalen Betrachters die tatsächliche Qualität eines Steines, unddamit dessen Preis, verborgen. Aber allein dasdemonstrative Zeigen eines größeren Diamanten signalisiert, dass dafür ein vermutlich hoher Preis zu entrichten war.
33 H.Leibenstein: Bandwagon (wie Anm. 31), S. 183. 34 Vgl. H.Leibenstein: Bandwagon (wie Anm. 31), S. 202– 207.
DerSchmuckdiamant als Veblen-Leibenstein-Gut
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Mitläufereffekt und der Snob-Effekt gegenseitig ausschließen, ist entscheidend, wiederVeblen-Effekt konkret undsimultan auf einen derbeiden anderen Effekte wirkt.
Eine zentrale Konsequenz einer mit steigendem Güterpreis noch stärker ansteigenden intrinsischen Nutzenkomponente ausdem(demonstrativen undmitläuferbedingten) Konsum eines Luxusgutes ist, unter bestimmten weiteren Bedingungen, daher eine nach oben gedrehte Nachfragekurve, welche von steigenden Preisen aus demVeblen-Effekt in Verbindung mit verstärkenden NachfragemengenausdemMitläuferverhalten geprägt ist. Abb. 4 zeigt diesen Zusammenhang unddie Additivität der individuellen Nachfragekurven als Bedingung für die Gestalt derGesamtnachfragekurve: Abb. 4: Nachfrage nach Diamanten
Quelle:
InAnlehnung anW.D. Reekie: 1999, S. 304.
South Africa Corporation
, Lawandthe Diamond „Cartel“
35für nach Ng „mixed diaDiese „ upward-sloping compensating demand curves“ mond goods“hat damit im Verlauf eine strukturelle Ähnlichkeit mit der, was in 35 Vgl. Yew-Kwang Ng: Mixed
diamond goods and anomalies in consumer theory. Upwardsloping compensated demand curves with unchanged diamondness, in: Mathematical Social Sciences, Vol. 25, 1993, S. 287– 293. Jedoch definiert NgDiamanten nicht als gemischte, sondern als reine „diamond goods“ , deren Bewertung allein aufderBasis ihres Wertes stattfindet ohnejegliche intrinsische Konsumeffekte. „ Thebasic results obtained are. (1) a change in the price of such a good leaves its ownvalue andthe amounts of all other goods consumed and
[xxx]
172
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der Theorie üblicherweise unterstellt wird, ebenfalls nach oben gedrehten Angebotskurve in einem Preis-Mengen-Diagramm. Für Diamantenanbieter bedeutet dies, dass bei Kenntnis derkonkreten Strukturparameter dernach oben gedrehten Nachfragekurve diese mit einer die gleiche strukturelle Gestalt aufweisenden Angebotskurve zurDeckung gebracht werden kann. In diesem Fall kann derAnbieter aus der Menge aller sich ja deckenden Preis-Mengen-Kombinationen der synchron verlaufenden Kurven für das Angebot unddie Nachfrage die für ihn gewinnoptimale Kombination auswählen, lediglich restringiert durch den entweder im Angebot oder bei derNachfrage dann zuerst auftretenden quantitativen Engpass. Doch unter welchen Bedingungen kann eine derartige Konstellation am Markt funktionsfähig organisiert werden undwelche Anbieterstruktur muss dafür implementiert werden? Vermarktungsmanagement“in Verbindung mitrigider Angebotskontrolle als Notwendigkeit für die Funktionsfähigkeit eines Weltdiamantenmarktes
6. „Nachfrageorientiertes
6.1. Entstehung, Notwendigkeit undMarktsteuerungspotential vonDe Beers und der sogenannten Diamanten-Pipeline
Die skizzierten theoretischen Probleme der Erfassung der Luxusgüternachfrage wurden bei der Vermarktung der schockartig aufgetretenen Diamantenfunde in Südafrika schnell erkannt undeiner praktischen Lösung zugeführt, wie die Äuße-
rung eines zeitgenössischen Besuchers der Kimberly-Mine bereits im Jahr 1872 nahelegen: I do not believe that the supply of diamonds is falling off, therefore prices „ will notrise seriously, if they keep their level. Even now, it does notpayoneman in five to dig....This pick-and-shovel business is a mistake. Diamonds are not a proper subject for exemplifying the theories of Political Economy. You cannot drown the market with an article only appertaining to the highest luxury ...without swift and sudden catastrophe. These things require the most delicate manipula36 tion...they need a handto holdthem back or loose them as occasion asks.“ hence the utility levels of consumers unchanged; (2) the demand curve for a pure diamond good is a rectangular hyperbola; ...“E bd., S. 287. fürdie meisten „diamond goods“nimmt Ng jedoch an, dass sie „mixed“sind: „... they are valued both for their intrinsic consumption effects andfor their values.“Ebd., S. 288. Diese definitorische Unklarheit kann für die hier angestellte Betrachtung folgendermaßen ausgeräumt werden: „Pure diamond goods“sind Diamanten allein für Kapitalanlagezwecke, während Schmuckdiamanten sowohl zumZwecke einer Geldanlage, noch mehr aber wegen ihres intrinsischen Schmucknutzens zumdemonstrativenKonsum gekauft werden unddamit „mixed diamond goods“imSinne vonNgdarstellen. 36 Feststellung von Frederick Boyle aus dem Jahr 1872, zitiert nach Robert I. Rotberg: The Founder. Cecil Rhodes andthe Pursuit
of Power, NewYork/Oxford 1988, S. 181.
DerSchmuckdiamant als Veblen-Leibenstein-Gut
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Als zentral wurde also schon sehr früh die Errichtung eines Monopols zur Kontrolle des Angebotes angesehen. Diesen immanenten Zwang zu einer Monopolisierung des weltweit gehandelten Gutes „Diamant“erkannte nur kurze Zeit später auch Cecil Rhodes, derdaraufhin seinen Ehrgeiz zumAufstieg als weltweiter monopolistischer Anbieter von Diamanten in die Tat umzusetzen begann. Doch Rhodes erkannte auch, weil ein offenbar unvermeidliches physisches Überangebot an Diamanten die Preise in das Bodenlose fallen lassen würde, dass bei denKonsumenten die glaubwürdige Vorspiegelung einer Knappheit, also die Errichtung einer Wertillusion zwingend notwendig sei: Denn „ thevalue of diamonds rests largely with the perception of their scarcity“37.Nur mit der Schaffung einer derartigen Knappheits- unddamit Wertillusion konnten die gewaltigen südafrikanischen Diamantenfunde als „Massenprodukt“vermarktet werden, ohne dass die Käufer es als Massenprodukt wahrnahmen. Doch zu diesem Zweck musste die gesamte Vermarktung einheitlich undstrikt kontrolliert organisiert werden. Dies konnte nur durch ein weltweit wirkendes Monopol erreicht werden, mindestens aber durch von einer „starken Hand“geführtes Kartell, welches auch das möglicherweise entgegengerichtete Verhalten der der Rohdiamantenvermarktung folgenden Bearbeitungs- undHandelsstufen effektiv zufixieren im Stande war.38 Die Nachfrage musste also möglichst exakt abgeschätzt werden, um sie dann durch eine die Zahlungsbereitschaft der Konsumenten möglichst abschöpfende Angebotssteuerung zubefriedigen. Doch zuerst musste dasAngebot monopolisiert werden. Zunächst ausgelöst durch kapitalintensive neue fördertechnische Abbaumethoden, die die Mehrzahl dereinzelnen Diamantendigger nicht einführen konnten, begann Cecil Rhodes zusammen mit europäischen Financiers nach demKauf der De Beers-Mine undder Gründung der „ De Beers Diamond Mining Company“ zielgerichtet undmeist „ feindlich“alle anderen Diamantenminen in Südafrika zu übernehmen. DasMinenimperium vonRhodes führte 1889 zurGründung der„ De Beers Consolidated Mines“39,wobei dieses Unternehmen bis kurz nach derWende zum 20. Jahrhundert das Weltangebotsmonopol an Rohdiamanten hatte. Zudem wares Rhodes gelungen, das die Rohdiamanten bei ihm nachfragende Einkaufssyndikat derGroßhandelshäuser undGroßschleifer de facto durch die Disziplinierungsdrohungen seiner Produktionspotentiale zu kontrollieren. Die Kooperation des weltweit agierenden Einkaufssyndikates waraber letztlich nicht nurzu deren eigenem Vorteil undzumVorteil vonDe Beers, sondern eröffnete auch eine min-
37 Debora L. Spar: The Cooperative Edge. The Internal Politics of International Cartels, Ithaca/London 1994, S. 48. 38 Vgl. Debora L. Spar: The Cooperative Edge (wie Anm. 37), 1994, S. 48. 39 Obgleich nicht ganz korrekt, wird im weiteren nurnoch von „ De Beers“gesprochen. Dieses Unternehmen ist aber nureines innerhalb eines schwer durchschaubaren Konzerns. Seitdem Ernest Oppenheimer, dessen Nachkommen gleichsam dynastisch bis heute an der Spitze von De Beers stehen, zumunternehmerischen Herrscher über De Beers geworden war, bestehen beispielsweise enge Unternehmensverbindungen zur südafrikanischen Goldförderindustrie. Vgl. Stefan Kanfer: DasDiamanten Imperium (wie Anm.5).
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destens indirekte Kontrolle aller nachgelagerten Bearbeitungs- undHandelsstufen bis hin zum an den Endkunden geschliffene Schmuckdiamanten verkaufenden Juwelier.40 Diese mittelbare Durchgriffsmöglichkeit des damals „nur“ die Rohdiamanten fördernden Unternehmens DeBeers auf alle nachfolgenden Handelsstufen wird als sogenannte Diamanten-Pipeline bezeichnet. AndenBeginn dieser Pipeline wurde während der 1930er Jahre eine Einrichtung mit Namen Central Selling Organisation (CSO) gestellt. Die vonDe Beers unddemwichtigsten Rohdiamantenankaufs- undDiamantenvermarktungssyndikat in London unter derÄgide von Ernest Oppenheimer gemeinsam errichtete CSObesteht ausmehreren Tochterfirmen, die im Laufe derZeit neugegründet wurden undfür verschiedene Bearbeitungsfelder desDiamantenmarktes zuständig waren. Neben derimLaufe derJahre immer mehr verfeinerten ArtundWeise derAbgabe derRohsteine in die Stufen der Diamanten-Pipeline, kümmerte sich ein Unternehmen innerhalb der CSO um die Disziplinierung von Outsider-Anbietern bei der Rohdiamantenförderung durch Drohungen bis hin zumAufkauf der dortigen Produktion, letztlich also um die Beseitigung aller externen „Marktstörer“ . Ein anderes Unternehmen kontrolliert undreguliert denMarkt für sogenannte Industriediamanten, ein weiteres Unternehmen tritt durch gelegentlichen Ankauf von geschliffenen Diamanten als Angebotsstabilisator“auf denniedrigeren Handelsstufen auf, undwiederum an„ dere Unternehmen derCSObetreiben Marktforschung unddasallgemein denDiamanten bewerbende Marketing.41 Aufgrund komplizierter Verflechtungen ist dabei sichergestellt, dass De Beers, respektive die Familie Oppenheimer, zujeder Zeit das Verhalten unddie Marktpolitik der CSO effektiv lenkt. Obgleich der Anteil an derWeltrohdiamantenförderung ausdenMinen des früheren Monopolisten De Beers im Laufe derZeit deutlich abgenommen hatauf etwa 25 Prozent,42 wer-
40 ZudenAbbaumethoden unddendamit verbundenen Kosten in dendiversen südafrikanischen Minen vgl. Percy A. Wagner: Die diamantführenden Gesteine Südafrikas. Ihr Abbau undihre Aufbereitung, Berlin 1909. Zu den Stadien der Entwicklung von De Beers bis etwa zum Ersten Weltkrieg vgl. Hjalmar Schacht: Die südafrikanische Diamanten-Industrie, in: Preußische Jahrbücher 114 (1903), S. 295– 310; Colin Newbury: Technology, Capital, and Consolidation: ThePerformance of DeBeers Mining Company Limited, 1880– 1889, in: Business History Review 61 (1987), S. 1– 42; Rob Turrell: Rhodes, De Beers, andMonopoly, in: Journal of Imperial and Commonwealth History X (1982), S. 311– 343; Colin Newbury: The Origins andFunction of the London Diamond Syndicate, 1889– 1914, in: Business History 29 26. (1987), S. 5– 41 Für die angebotsseitigen Entwicklungen auf dem Diamantenmarkt, dem Einfluss von De Beers undderCSObis zumZweiten Weltkrieg vgl. Colin Newbury: The Diamond Ring, Oxford 1989; Ernst Steiner: Derinternationale Diamantenmarkt, Wien 1933; Ursula Tesch: Der internationale Diamantenmarkt unddie deutsche Diamantenwirtschaft, Diss. phil. Univ. Erlangen 1948. Zur Art und Aufgabenstellung der Tochterfirmen der CSO vgl. Wolfgang Schmidt/Heinz Malzahn: Industriemineral Diamant, Leipzig 1980, S. 136– 141; Godehard Lenzen: Diamantenkunde, mit kritischer Darstellung der Diamantengraduierung, 4. Aufl. 37; De Beers: De Beers und die Diamantenindustrie, Broschüre, Kirschweiler 1986, S. 36– 15. deutsche Ausgabe, o.O., o.J., S. 14– Anteil mengenmäßige bezieht sich etwa auf die Zeit der späten 1970er und frühen Dieser 42 1980er Jahre. Jedoch ist anzumerken, dass dieser relativ niedrige Anteil derausDe Beers Mi-
DerSchmuckdiamant als Veblen-Leibenstein-Gut
175
den immer noch über die CSO etwa 80 Prozent43 der weltweiten Rohdiamantenkäufe zu den Regularien44 der CSO, unddamit den Interessen von De Beers gehorchend, abgewickelt.
6.2. Funktionsweise des „Nachfrageorientierten Vermarktungsmanagements“ Bereits während der 1870er Jahre mutmaßte Cecil Rhodes, dass die Nachfrage nach Diamanten primär aufderEitelkeit derKäufer oder auf romantischen Anlässen beruhte. Diesbezüglich vermutete Rhodes eine preisunelastische Nachfrage, wobei er zur konkreten Abschätzung der Nachfrage davon ausging, dass in Abhängigkeit
vomBevölkerungswachstum in den hochentwickelten Staaten dieser verkauft werden konnten wie in diesem Jahr
Welt jährlich nur soviel Diamanten
Hochzeiten stattfanden. Um preisverderbende Überangebote zu unterbinden, musste nundieses jährliche Nachfragepotential abgeschätzt werden und, unter der zunächst noch durchzusetzenden monopolistischen Kontrolle von Rhodes, dann genau das nachfragedeckende Angebot auf den Markt gebracht werden.45 Trotz mehrerer Turbulenzen aufderAngebotsseite durch denAuftritt vonOutsidern und demdamit verbundenen Übergang vomMonopol vonDe Beers zueinem vonDe Beers kontrollierten, weltweit agierenden Kartell,46 wardie auf Rhodes zurückgehende Schätzfunktion für die jährliche Nachfrage offenbar hinreichend für die
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nen stammenden Rohdiamanten an dergesamten Weltförderung außergewöhnlich viele Rohsteine enthält, diezurVerarbeitung als Schmuckstein geeignet sind. ImBereich derSchmucksteinqualität hielten dieausDeBeers-Minen geförderten Rohdiamanten einen Weltmarktanteil von über 50 Prozent. Vgl. G. Ariovich: The Economics of Diamond Price Movements, in: Managerial andDecision Economics 6 (1985), S. 234– 240, hier S. 236. Vgl. De Beers: De Beers (wie Anm. 41), S. 3. Der Internetquelle „ Das Haus des Diamanten: Mitglied der Antwerpen Diamantenbörse“zur Folge hat De Beers umdas Jahr 2000 etwa 85 Prozent des Weltdiamantenhandels unter Kontrolle. Vgl. http://www.infodiamond.com/de/ menuf.html, Abruf vom17.12.2002. Es wird aber auch vermutet, dass DeBeers über die CSO heute nur mehr 60 Prozent des Weltmarktes für Rohdiamanten kontrolliert. Horst Fugger: Geldanlage: Das gewisse Funkeln, Financial Times Deutschland, elektronisches Dokument vom 11.12.2002, http://www.ftd.de/bm/ga/1038999461671.html, Abruf vom 17.12.2002. Zu den„Marktmechanismen“derauf der ersten Handelsstufe des Verkaufes sogenannter BoxenmitRohdiamanten andieweltweit weniger als zweihundert bei derCSOzugelassenen sogenannten sight-holder als Ankäufer vgl. Lisa Bernstein: Opting Out of the Legal System: Extralegal Contractual Relations in the Diamaond Industry, in: Journal of Legal Studies 21 (1992), S. 115– 157 undRoyW. Kenney, Benjamin Klein: The Economics of Block Booking, in: Journal of LawandEconomics 26 (1983), S. 497– 540. Vgl. Robert I. Rotberg: The Founder (wie Anm. 36), S. 181. Rhodes empfand es übrigens als abscheulich, wenn sich reiche Männer, wie es damals einige Zeitgenossen taten, wieDandys mitdiamantenbesetzten Ringen, Krawattennadeln oderManschettenknöpfen schmückten. Vgl. Brian Roberts: DasDiamanten Imperium, deutsche Ausgabe Berlin 1972, S. 131. Zur Enstehung, Funktionsweise undden„Erfolgen“dieses Kartells zur weltweiten Kontrolle des Diamantenmarktes vgl. beispielsweise Debora L. Spar: The Cooperative Edge (wie Anm. 37) undeine demnächst erscheinende Arbeit vomVerfasser dieses Aufsatzes.
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Absorbtion der laufenden Neuproduktion unddaher über Jahrzehnte hinweg die Grundlage dervomKartell betriebenen Vermarktungsstrategie. Nach eigenen Angaben begann De Beers erst im Jahr 1939 die Nachfrage nach Schmuckdiamanten aktiv mit Werbemaßnahmen anzufachen. Mit anderen Worten: Aufgrund der bereits gegen Ende der 1930er Jahre immer höheren Diamantenproduktion musste der Schmuckdiamant zueinem Massenprodukt werden, ohne dass bei den anvisierten breiten Käufermassen an der Exklusivität des Diamanten als teurem Luxusgut Zweifel aufkommen konnten. Im Jahr 1948 wurde A Diamond is Forever“ , im Deutschen derheute noch verwendete Werbeslogan „ , kreiert.47 Mit diesem ebenso eingängigen wie Ein Diamant ist unvergänglich“ „ subtilen Slogan konnten folgende Assoziationen als „Informationen“transportiert werden: Ein Diamant ist aufgrund seiner objektiv vorhandenen Härte „ unzerstörbar“ , also ein extrem dauerhaftes Gut, dessen „Wert“daher zumindest physisch auch keiner „Abnutzung“unterliegen kann. Der durch denhohen Preis beträchtliche finanzielle Opferbereitschaft signalisierende Kauf eines Diamanten zumZwecke desVerschenkens als Schmuckstück warmit diesem Slogan zudem assoziativ Unvergänglichkeit“angelegten symbolischen verbindbar mit einem ebenfalls auf „ Bekenntnis zu einer geliebten Person. Speziell zur Hochzeit mit Diamanten beschenkte Frauen galten für De Beers daher immer als „ safe hands“ , die psychologisch konditioniert waren, ihre Diamanten niemals mehr zu verkaufen. Zudem konnte durch die Marktsteuerung derCSO imZeitablauf ein Steigen derPreise für Rohdiamanten, letztlich damit aber auch weitgehend für geschliffene Steine, durchgesetzt werden. Damit kam als weiteres Moment hinzu, die immateriell wertvollen Steine zusätzlich wegen ihrer Entwicklung in denEndverkaufspreisen scheinbar auch materiell „ wertvollen“Steine zu horten.48 Doch wie stand es mit einer expansiven Ausweitung der Diamantenförderung undderen weiterer Vermarktung an immer neue, absorbtionsfähige Konsumenten? Existierten bereits Sättigungstendenzen, undwowarnoch Bedarf weckbar? Vonangebotsstrategischer Bedeutung wardaher für DeBeers, die Anzahl der anstehenden Verheiratungen in allen den Ländern abzuschätzen, in denen mit einer anzunehmenden Wahrscheinlichkeit aus traditionellen Gründen, oder weil der materielle Wohlstand sich so positiv entwickeln konnte, ein Diamant als Hochzeitsgeschenk in Frage kam. In diesem Umfang an potentieller Nachfrage konnten neue Diamanten angeboten werden, wobei die rein quantitative Nachfrage nach derAnzahl der Steine als solcher immer noch als relativ preisunelastisch unterstellt wurde, jedoch als elastisch bezüglich des Preises konkret nachgefragter einzelner Steinqualitäten.49 In Zeiten schlechterer wirtschaftlicher Rahmenbedin-
47 Vgl. De Beers: http://www.jwtworld.com/corporate/clients/De Beers.html, Abruf vom05.07. 97, S. 1. 48 Vgl. Edward Jay Epstein: The Diamond Invention (wie Anm.27), S. 224. 49 Von Saldem geht ebenfalls von einer preisunelastischen Nachfrage aus undbegründet dies , ein eben mitdemVorherrschen vonnicht-preisrelevanten Faktoren wieder„Notwendigkeit“ denErwartungen adäquates Verlobungsgeschenk zukaufen. ZurKreuzpreiselastizität mit an-
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gungen wurden bei als gleich unterstellter Menge dann eben preisgünstigere Steinegeringerer Qualität nachgefragt; dabei konnte aber den„anlaßbedingten“Nachfragern vonSeiten derAnbieter eingeräumt werden, später auf einen „ höherwertigen“ Stein „umsteigen“zukönnen.50 Die „anlaßbedingte“Nachfrage kann nunals eine Art moralischer Zwang zur Praktizierung eines Mitläuferverhaltens interpretiert werden, während die spätere Möglichkeit des „ Umsteigens“auf einen „ höherwertigeren“Stein auf einen Anreiz zur Ausübung eines Veblen-Verhaltens abzielen könnte. Die Anzahl derjährlich anstehenden Hochzeiten, welche wiederum durchaus von der gesamtwirtschaftlichen Lage oder denZukunftserwartungen darüber abhängen, waraber als nachfragestimulierender Anlass für dasGeschenk eines Diamanten im Laufe derZeit für einen Anbieter wie De Beers mit permanenter Neuförderung zu wenig. Denn nicht zu allen Zeiten waren in allen wohlhabenden Volkswirtschaften Diamantengeschenke zur Hochzeit, wie bereits seit etwa den 1880er und 1890er Jahren in denUSA,51 üblich. Zudem warein derartiges Nachfragepotential proEhepaar in derRegel nureinmal relevant, undweiterhin drohte insbesondere seit den letzten Dekaden des 20. Jahrhunderts eine Gefahr durch einen Verzicht auf feierlich geschlossene Verheiratungen vondennoch zusammen lebenden Paaren. Zentral fürdie Vermarktung vonSteinmengen, dieüber dieZahl der Verheiratungen in den bisher Diamantengeschenken aufgeschlossenen Ländern hinausgingen, war daher, neben der Aufrechterhaltung des Brauches eines diamantenen Hochzeitsgeschenkes, einerseits die Neueinführung dieses Hochzeitsgeschenkes in weiteren Ländern, andererseits die Etablierung des Diamantengeschenkes zuanderen, häufigeren Anlässen. Ein erster Schritt hinzur aktiven, werbegestützten Vermarktung des Diamanten als Geschenk vonMännern an ihre Verlobte warmit Beginn der 1950er Jahre die Durchführung von Vorträgen an höheren Schulen in den USA. Dort wurden vorjungem weiblichen Publikum auf die Jahrzehnte alte amerikanische Tradition
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deren Luxusgütern wie teuren Reisen, Autos undKleidern als möglichen Substituten nimmt von Saldern jedoch an, dass ein Großteil der Substitutionsprozesse innerhalb des Gutes „Diamant“selbst stattfindet undauf den Qualitätsgrad als Maß für den „ Wert“und„ Preis“bezogen wird. Ein Wert vongrößer als Eins für die Elastizität der Diamantennachfrage bezüglich des Einkommes der Käufer kann als plausibel angenommen werden. Vgl. Michael von Saldern: Forecasting rough diamond prices, in: Resources Policy 18 (1992), S. 45– 58, hier S. 47. Ein Indiz hierfür ist eine statistisch hohe positive Korrelation zwischen denPreisen geschliffener Schmucksteine unddemgesamtwirtschaftlich verfügbaren Einkommen als Wohlstandsindikator einer Volkswirtschaft. Die Preise für Schmuckdiamanten sind zudem hoch positiv korreliert mitderRate derGeldentwertung undnegativ korreliert mitdemherrschenden Realzinssatz. Hohe Inflationsraten beziehungsweise negative Realzinsen fördern somit die Kaufbereitschaft für Schmuckdiamanten. Damit beruht der Kauf von Schmuckdiamanten nicht nur auf Veblen-Effekten, sondern auch aufdemMotiv derRealkapitalerhaltung. Vgl. G. Ariovich: The Economics (wie Anm.42), S. 238– 240. Vgl. Stefan Kanfer: DasDiamanten Imperium (wie Anm. 5), S. 324– 326. Weitere Ausführungen zur sich im Zeitablauf entwickelnden Bedeutung einzelner Volkswirtschaften als Nachfrager aufdemDiamantenmarkt folgen inAbschnitt 7.
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desdiamantenen Verlobungsringes hingewiesen undmitAnekdoten über Diamanten garniert, ergänzt umweitere Werbeaktivitäten. Daneben wurde auf Filmproduzenten in Hollywood eingewirkt, dass auch in geeigneten Filmtiteln Diamanten positiv hervorgehoben werden sollten. Gesellschaftliche Vorbilder wie Film- und Bühnenstars, aber auch die Ehefrauen oder Töchter hoher Politiker, trugen nun Diamanten offen erkennbar undweckten damit dieBedürfnisse anderer Frauen, es Blondinen bevorzugt“ diesen Vorbildern gleichzutun. Im 1953 gedrehten Film„ sangen die damaligen Superstars Jane Russell undMarilyn Monroe daseingängige, subtil auf Mitläufer-Effekte anspielende Lied„ Diamonds Are a Girl’s Best Friends“ . Parallel dazuwurden die schenkenden Bräutigame in eine Artstatusorientierte Konkurrenzsituation gedrängt unddazu implizit aufgefordert, für denanstehenden „ einmaligen Anlass“den mit ihren jeweiligen finanziellen Mitteln größtmöglichen Diamanten zukaufen. Die Kampagnen waren so erfolgreich, dass zu Beginn der 1950er Jahre etwa 50 Prozent der US-amerikanischen Frauen zur Verlobung einen Diamantring geschenkt bekamen, bereits Anfang der 1960er Jahre waren es nunschon 80 Prozent.52 Da sich das Wohlstandsniveau seit den 1950er Jahren in Japan und in der Bundesrepublik Deutschland ebenfalls merklich erhöht hatte, obgleich in beiden Ländern kaum eine Diamantenkauftradition vergleichbar zu den USA bestand, begann De Beers auch diese Märkte mitdenin denUSAerfolgreichen Werbemethoden zubearbeiten. Weniger als ein Prozent derjapanischen Ehepaare hatte vor dem Zweiten Weltkrieg einen diamantbesetzten Ehering, Ende der 1960 Jahre dagegen erhielten etwa 70 Prozent aller Bräute einen derartigen Ehering geschenkt. In der Bundesrepublik Deutschland waren die von beiden Ehepartnern getragenen, schlichten Goldringe Tradition, bevor 1967 De Beers dendritten, nun mit Diamanten besetzten Beisteckring für die Frau als sogenanntes triset in den Markt einführte. Mit dieser Neuerung gelang es zwar, die Bundesrepublik Deutschland zeitweilig als drittgrößten Absatzmarkt für Diamanten zupositionieren,53 aber letztlich konnte in Deutschland, wie auch in Italien oder Österreich, keine vergleichbare Tradition geschaffen werden wie sie in denUSA bereits vorhanden warundin Japan mit erfolgreichen Marketingmaßnahmen erzeugt werden konnte.54 Dennoch wurden mittels geschickter Werbemaßnahmen und auf der Grundlage von Mitläufer- undzugleich Veblen-Effekten diamantenbesetzte Verlobungsringe auch bei vielen europäischen undjapanischen Frauen mit der Hoffnung auf Eheglück symbolisch gleichgesetzt. Als Luxusgut demonstrierten Diamanten nunauch in diesen Ländern denwährend derNachkriegsprosperität individuell erreichten materiellen Erfolg, wenn auch nicht so offenkundig wie in den USA.55
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Vgl. Stefan Kanfer: Das Diamanten Imperium (wie Anm. 5), S. 324– 326. Vgl. Stefan Kanfer: DasDiamanten Imperium (wie Anm. 5), S. 13. Vgl. Edward Jay Epstein: The Diamond Invention (wie Anm. 27), S. 226. Vgl. Stefan Kanfer: DasDiamanten Imperium (wie Anm. 5), S. 325– 326.
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Die zunehmenden Sättigungstendenzen auf den amerikanischen undjapanischen Märkten fürdiamantenbesetzte Verlobungsringe unddie dennoch insgesamt weniger intensive Nachfrage in denebenfalls prosperierenden europäischen Staaten gewannen für De Beers an Brisanz, als neben der eigenen Diamantenförderung die beträchtlichen Diamantenfunde unddie teilweise dortige Weiterbearbeitung in der Sowjetunion die Märkte während der späteren 1960er undverstärkt während der 1970er Jahre zu überschwemmen drohten. Denn obgleich sich die Sowjetunion der von De Beers kontrollierten Nachfrage- undAngebotssteuerung letztlich unterordnete, mussten zur Erhaltung der Wertillusion neue, diesen nun aufgetretenen Mengenüberhang aus besonders viel kleineren Steinen nachhaltig absorbierende Nachfragesegmente erschlossen werden. Die dazu kreierte Produktneuheit wardersogenannte „ eternity ring“ , derauch als „Memory-“oder „ Erinnerungsring“vermarktet wurde.56 Dieser mitvielen kleinen Diamanten besetzte, zum Teil auch nachträglich noch mit weiteren kleinen Steinen „nachrüstbare“ Ring eröffnete insofern ein bisher unbearbeitetes, aber dennoch breites Feld an Massennachfrage, weil dasVerschenken dieses Ringes nunauf die bereits verheiratete Frau als Empfänger abzielte.57 Durch die vielen kleinen, auch nachträglich noch anbringbaren Steine konnten mit diesem Ring Ehejubiläen oder Geburten mit Diamanten honoriert werden. Wegen des Symbolgehaltes dieses Geschenkes konnte De Beers ebenfalls davon ausgehen, dass auch diese einmal verkauften Diamanten von den Frauen quasi in „ sicheren Händen“gehortet unddamit auf Dauer demMarkt preisunschädlich entzogen waren. Damit spielten Frauen immer diezentrale Rolle beim Konsum desihnen meist als Geschenk gemachten Gutes Diamant: Bei dengesamten Schmuckdiamantenverkäufen im Jahr 1981 betrug in den USA der Anteil der verheirateten Frauen, die einen Diamanten bekamen, 49 Prozent, bei denverlobten Frauen warderAnteil nur 11 Prozent. Den gleichen Anteil von 11 Prozent hatten weibliche Jugendliche. Erwachsene, alleinstehende Frauen erreichten einen Anteil von 18 Prozent, und 11 Prozent der verkauften Diamanten wurden von Männern getragen. Erstaunlich ist aber seit den 1980er Jahren die Benennung der Anlässe für einen Diamantenkauf: beträchtliche 46 Prozent wurden zu Weihnachten geschenkt, 13 Prozent als Geburtstagsgeschenk gemacht. Zuebenfalls 13 Prozent warein Hochzeitsjubiläum Anlass des Diamantenkaufes, die restlichen 28 Prozent bleiben unspezifiziert.58 Damit hatte die alte undbis hinein in die 1950er Jahre gültige Doktrin von Rhodes, Diamantenkäufe folgten den Verheiratungen, keine empirische Grundlage mehr. Da diese Art moralischer „ Zwangserwerbungen“offenbar weitgehend entfallen war, musste die potentielle Diamantennachfrage mit entsprechenden Marketingmaßnahmen auf neue Kaufanlässe gelenkt werden. Der „ eternity-ring“wareine hierfür geeignete Neuerung. 56 Vgl. Debora L. Spar: The Cooperative Edge (wie Anm. 37), S. 69. 57 Vgl. Edward Jay Epstein: TheDiamond Invention (wie Anm. 27), S. 226. 58 Vgl. G. Ariovich: The Economics (wie Anm. 42), S. 235.
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6.3. Markttechnische Mechanismen zurAufrechterhaltung der Wertillusion bei denKonsumenten
Für De Beers als Diamantenanbieter hatte der Verkauf von Schmuckdiamanten mit den oben skizzierten Assoziationen bei den Konsumenten folgende Konsequenzen: Zuderbei denKäufern vermuteten Gleichsetzung von„ Preis“mit„dau-
, trat eine kaum quantifizierbare, jedoch vermutlich psychologisch erhaftem Wert“ sehr hohe immaterielle Wertschätzung despersönlichen Geschenkes hinzu. Diese Verquickung von Wertschätzungen hat die Folge, dass derartig wertvolle GeFamilienschatz“sicher unddauschenke eventuell über Generationen hinweg im„ erhaft gehortet werden. Damit werden viele dieser Steine mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit nie mehr angebotswirksam auf dem Diamantenmarkt auftreten. Dadurch kann undsoll aus Sicht vonDe Beers auch kein vonprivaten Verkäufern undKäufern getragener, funktionsfähiger undoffener Sekundärmarkt für derartig gebrauchte“Diamanten im größeren Stil entstehen.59 Denn das Preis- undAb„ satzsystem der sogenannten Diamanten-Pipeline wäre wegen des nachfrageorientierten Verkaufsmanagements von De Beers durch einen privaten Wiederverkaufsmarkt für die im Massenkonsum gängigen Diamantenkategorien quantitativ unkontrollierbar geworden. Ein Sekundärmarkt rein auf privater Ebene kann aber auch „wertermittlungstechnisch“kaum funktionieren: mit demundurchsichtigen vier C“ist Gemenge der als wertrelevant hervorgehobenen Eigenschaften der „ aufgrund der fehlenden privaten Beurteilungskompetenzen der individuellen Steinqualität eine spätere Kaufpreisfindung extrem erschwert, selbst wenn ein beim Erstkauf ausgestelltes, steinspezifisches Qualitätszertifikat vorliegt. Die private Aushandlung eines konkreten Kaufpreises auf derBasis desZusammenspiels der „vier C“scheitert dann an der gleichsam unendlichen Variation der Zusammenhänge zwischen Carat, Clarity, Colour und Cut, und damit an einer entsprechenden Vielzahl variantenadäquater, also insgesamt intransparenter „Marktpreise“ . Diamanten sind daher, durchaus nicht ungewollt von der Anbieterseite, nicht standardisierte unddamit letztendlich kaum fungible Güter.60 Aufgrund dieser Konstellationen werden private Verkäufer sich an einen Sachverständigen wenden müssen, letztlich an einen Juwelier, also an das letzte Glied der von De Beers installierten Diamanten-Pipeline. Ein Juwelier wird aber vonprivater Seite einen Diamanten nurdann gegen Geld ankaufen, wenn ihmder Stein billiger angeboten wird als er ihn im etablierten professionellen Diamanten(groß-)handel erwerben kann. Jede dieser Distributionsstufen, wobei nureinige wenige Diamantenhändler und Schleifer weltweit als sogenannte „sight-holder“ vonDeBeers aufderersten Handelsstufe mitRohsteinen versorgt unddamit kon59 Vgl. Edward Jay Epstein: The Diamond Invention (wie Anm. 27), S. 203 undS. 223– 224. 60 Vgl. Edward Jay Epstein: The Diamond Invention (wie Anm. 27), S. 205. Nach Angaben von DeBeers erfolgt die Sortierung nach denKriterien derForm, Qualität, Farbe undGröße in etwa5.000 Güteklassen. Vgl. De Beers: De Beers (wie Anm. 41), S. 17.
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trolliert werden, fordert jedoch seine Handelsspanne.61 Je nachdem auf welcher Handelsstufe der private Diamantenverkäufer einen Stein anbietet oder auf ein Interesse mit seinem Angebot trifft, büßt er die im historischen Kaufpreis enthaltenen Handelsspannen zuzüglich derbeim Erstkauf angefallenen Verbrauchssteuern62 ein. Daher verwundert es nicht, wenn in der Literatur beispielsweise für die 1970er Jahre, neben der im privaten Verkaufsgespräch durch den sachverständigenAnkäufer stattfindenden „Herabstufung“derbeim früheren Verkauf attestiertenhohen Qualitätsmerkmale, stark unterschiedliche, teilweise nureinDrittel oder weniger desVerkaufspreises umfassende Rückkaufpreise geboten werden.63 Diese beträchtlichen Differenzen zwischen demerstmaligen Verkaufspreis eines Steines an den Endkäufer undeinem geringen privaten Rück- oder Weiterverkaufspreis können durchaus als im Sinne von De Beers interpretiert werden. Denn ein empfindlicher monetärer Verlust bei privaten Verkäufen schafft einen Anreiz, einen einmal teuer erworbenen Stein dann eben doch nicht zu versilbern undweiter zu horten. Zwar wird durch denVersuch der Wertrealisierung durch einen privaten Verkauf gegen Geld individuell wohl die bis dahin bestehende Wertillusion beim Steinbesitzer nachhaltig erschüttert werden, aber durch ein individuelles Zurückschrecken vor derRealisierung monetärer Verluste entsteht somit kein Sekundärmarkt aufgrund eines eben fehlenden privaten „ Gebrauchtdiamantenangebotes“. Zeitweise räumten Juweliere jedoch eine scheinbare Wertsicherungsgarantie für einen neugekauften Diamanten dahingehend ein, dass der Stein später zumnachzuweisenden historischen Verkaufspreis beim Neukauf eines teureren Diamanten in Zahlung gegeben werden konnte. Doch diese subtile Form der „Wertgarantie“ ist eben nicht direkt monetärer Art, sondern dient allein der Perpetuierung dermit
61 Nach Ariovich ist bei einem durchschnittlichen, 0,5 Karat schweren Diamanten beim Durchlaufen aller Handels- undBearbeitungsstufen von einer annähernden Verzehnfachung der ursprünglichen Förderkosten bis hin zumEinzelhandelsverkaufspreis ohne Steuern auszugehen. Vgl. G. Ariovich: The Economics (wie Anm. 42), S. 236. Bernstein schätzt für denWeg des Verkaufes vonderMine bis zumEndnachfrager die Preisaufschläge auf 200 bis 400 Prozent. vgl. Lisa Bernstein: Opting Out(wie Anm. 44), S. 117. 62 Hier kann sogar argumentiert werden, dass eine Kaufpreiserhöhung aufgrund sehr hoher zusätzlicher Luxusgutbesteuerung unter bestimmten weiteren Bedingungen beim Konsumenten
die „Wertschätzung“dieses preislich noch exklusiver gewordenen Gutes steigern kann. Vgl. Yew-Kwang Ng:Diamonds area government’s best friend: burden-free taxes ongoods valued for their values, in: American Economic Review 77 (1987), S. 186– 191. 63 Vgl. Beispiel in Edward Jay Epstein: The Diamond Invention (wie Anm. 27), S. 203– 222. Fuchs berichtet, dass Pfandleihen undspezielle An-undVerkaufskontors nuretwa einZehntel bis ein Viertel desaktuellen Verkaufspreises eines Steines bieten. Ähnlich, bei qualitativ unkorrekt zertifizierter Ware natürlich mit noch weit gravierenderen Abschlägen, ist die Verkaufssituation bei deninsbesondere während der 1980er Jahre verkauften, meist in Kunststoff verschweißten Diamanten zur Kapitalanlage. Alexander Fuchs: Fuchsbriefe Spezial: Fuchs 9. Diamant Report (FDR), Diamanten –Eine brillante Geldanlage?, Eisingen, Mai 1997, S. 8– Jedoch muss hier angemerkt werden, dass für sogenannte Massenware auch bei anderen vermeintlichen Sammel- oder Luxusgüteranlagen wie etwa Briefmarken, wobei hier durchaus funktionsfähige Sekundärmärkte existieren, ähnliche private Verkaufspreiskonstellationen vorherrschen.
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dem Kauf des ersten Diamanten erworbenen Wertillusion unter Hingabe eines weiteren monetären Aufpreises für einen neuen, „ wertvolleren“Stein. Doch mit derartigen Transaktionen kommt es letztlich zukeinem auch monetär „ wertoffenbarend“wirkenden sekundären Angebot außerhalb der Kontrollsphäre der CSO bzw. DeBeers.
Ein anderer, nunjedoch vonDe Beers wegen derDemonstration dermonetären „Werthaltigkeit“zumindest nicht unerwünschter Sekundärmarkt ist der professionelle und meist auch in den Geldbeträgen spektakuläre An- und Verkauf vonDiamanten durch weltweit bekannte Nobeljuweliere64 unddurch international agierende Auktionshäuser wie Sotheby’s oder Christie’s. Doch derartige Transaktionen beziehen sich üblicherweise nicht auf Massenware, sondern auf in Größe, Farbe oder Reinheit absolut außergewöhnliche Steine der obersten Spitzenklasse, die dann aufgrund des geforderten Preises nur für extrem begüterte Diamantenliebhaber in Frage kommen. Bei vielen Versteigerungen vonprivat angebotenen Spitzendiamanten waren bisher, durchaus öffentlichkeitswirksam, nominal hohe Verkaufserlöse über die früheren Einkaufspreise beobachtbar.65 Derart singuläre Erscheinungen jenseits der privaten Vermarktungsprobleme bei der Massenware erwecken nunden Eindruck, dass Diamanten zumindest langfristig doch eine das Realkapital erhaltende Anlage seien.66
7. Die Hauptabsatzmärkte fürDiamanten imWandel derZeit Ausgehend von den frühesten Fundstätten, war Indien von jeher ein Hauptabsatzmarkt für Diamanten. Aufgrund Jahrtausende währender Traditionen undreligiöser Orientierungen besteht auch heute noch auf dem indischen Subkontinent eine quantitativ bedeutende Nachfrage nach eher kleinen Diamanten, die als Rohware meist direkt bei „ kartellabtrünnigen“australischen Förderern eingekauft
64 Zudentraditionsreichen undweltweit bekannten Nobeljuwelierhäusern zählen beispielsweise Tiffany’s, Cartier, VanCleef & Arpels usw. Das erstgenannte Haus erfuhr eine Ehrung durch den Diamantensehnsüchte weckenden Film „Frühstück bei Tiffany’s“ : In den letzten Jahrzehnten honorierte De Beers ausgewählte Schmuckkreationen mit Diamanten durch die Verleihung eines Ehrenpreises und verhalf damit talentierten jungen Designern von etablierten Juwelieren zu Ansehen. Damit wurden zudem design-orientierte Käuferschichten zusätzlich 225. angesprochen. Vgl. George G. Blakey: TheDiamond (wie Anm.2), S. 195– 65 Vgl. Alexander Fuchs: Fuchsbriefe Spezial (wie Anm. 63), S. 9. Doch eine genaue KostenErlös-Kalkulation unter Einbeziehung entgangener Zinsen undanderer Kosten wie Versicherungsprämien zeigte selbst bei Diamantenverkäufen miteinem auch nominal hohen Veräußerungsgewinn netto einen Vermögensverlust. Vgl. hierzu das Beispiel des Verkaufes des von Richard Burton anLiz Taylor verschenkten, außergewöhnlich großen Diamanten vonüber 69 Karat. Vgl. Stefan Kanfer: DasDiamanten Imperium (wie Anm. 5), S. 401. 66 Lediglich fürdie Zeit derextremen Preisanstiege umdasJahr 1980, dievonspezifischen Interessen israelischer Diamantenschleifer undHändler angefacht wurden, soll es vereinzelt zu spektakulären Gewinnen aus nicht näher definierten Diamantenverkäufen gekommen sein. Vgl. Ohne Verfasser: Im Griff des Syndikats (wie Anm. 27), S. 163.
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undarbeitsintensiv in indischen Schleifereien für denVerkauf in Indien bearbeitet werden. Über Jahrhunderte hinweg waren jedoch die europäischen Käufer die wichtigsten Nachfrager nach Steinen aller, auch höchster Qualitätskategorien. DemDurchbruch desDiamanten vomHofjuwel derHerrscherhäuser zumbegehrten Schmuckobjekt für bürgerliche Bevölkerungsschichten verhalf hier nicht nur die über Westeuropa bis nach Moskau herausgebildete Diamantenschleif- und Juwelierskunst, sondern insbesondere der über Jahrhunderte hinweg in denmeisten europäischen Ländern real angestiegene materielle Wohlstand in immer mehr gesellschaftlichen Schichten. Dennoch gehört seit einigen Jahrzehnten Europa insgesamt nun nicht mehr zu den wichtigsten Diamantenabsatzgebieten. Viele Europäer ziehen seit mehreren Dekaden substitutive Luxusgüter wieteure Reisen, Autos oder Kleidung in das Nachfragekalkül mit ein, auch weil in denmittleren undunteren Gesellschaftsschichten Diamantschmuck weit weniger Tradition hat
als in denUSA. Beginnend mit derProsperität der 1880er bis 1890er Jahre, entwickelten sich die reich gewordenen bürgerlichen Schichten in der„Neuen Welt“ , zwar deutlich unterbrochen durch die Weltwirtschaftskrise 1929 bis 1933, aber dann verstärkt durch die erneuten Wohlstandsanstiege nach demEnde des Zweiten Weltkrieges, zumweltweit größten Abnehmer geschliffener Schmuckdiamanten. Damit lösten dieneureichen bürgerlichen Schichten, später auch diebesser situierten Massen in denUSAdaseuropäische Großbürgertum unddenAdel des„Alten Kontinents“in derquantitativen Nachfrage nach Diamanten immer mehr ab. Erst die gesamtwirtschaftlichen Krisenerscheinungen seit den 1980er Jahren dämpften zeitweise die US-amerikanische Diamantennachfrage merklich, ohne jedoch an der nominalen Größe dieses seit etwa einhundert Jahren weltweit wichtigsten Diamantenmarktes rütteln zu können. Doch seit Ende der 1970er Jahre undverstärkt während der 1980er Jahre etablierte sich das während dieser Zeit zu einer weltweit führenden undreichen Exportnation aufgestiegene Japan deutlich als zweitwichtigster Aufnahmemarkt für Schmuckdiamanten. Während der 1990er Jahre traten die ebenfalls wirtschaftlich zudieser Zeit rasant aufblühenden sogenannten kleinen asiatischen Tigerstaaten wie Hongkong, Singapur, Taiwan undSüdkorea als zahlungskräftige Nachfrager vonqualitativ höchststehenden undgroßkarätigen Diamanten auf. Diese asiatischen Staaten kompensierten damit dierezessionsbedingten Nachfrageausfälle in denUSA undbei den, mit gewisser Ausnahme von Deutschland, weniger vom Diamanten begeisterten gesellschaftlichen Schichten in Europa. Doch ausheutiger Sicht waren dieKaufwellen ausAsien wohl weniger voneiner, wiegelegentlich vermutet, dortigen mystischen Verehrung vonEdelsteinen getragenworden, sondern von denspekulativen Impulsen in Verbindung mit einer generellen Kaufwut gegenüber allem vermeintlich „ Wertvollem“ . Doch das von Japan ausgegangene Platzen der euphorischen Blase permanent steigenden wirtschaftlichen Wachstums griff während derletzten Jahre auch auf dieübrigen asia-
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tischen „ Tigerstaaten“über unddämpfte auch dort die Kauflust nach Diamanten.67 Getragen voneiner immer weiter zunehmenden Rohsteinförderung, scheinen nun weltweit Sättigungstendenzen beim Diamantenkonsum aufzutreten. Doch kann dannnoch dieWertillusion bestehen bleiben?
8. Neue industrieökonomische Zerplatzens
Erkenntnisse über dieMöglichkeit eines derjahrhundertealten Wertillusion bei denSteinkäufern
Nurdurch langfristig in derTendenz steigende Preise beziehungsweise Erwartungen an Preissteigerungen konnte, gesteuert durch die Vermarktungsstrategie der CSO, die Gefahr eines Zerplatzens der jahrhundertealten Wertillusion bei den Diamantkonsumenten gebannt werden. Dies lag aber nicht nur im Sinne aller Rohdiamantenförderer, der nachgelagerten Schleifindustrie und aller hier involvierten Handelsstufen, sondern letztlich auch imSelbstinteresse derprivaten Konsumenten, also derer, diebereits Diamanten besaßen undderer, diebeabsichtigten Diamanten aus den angenommenen Motiven undGutseigenschaften heraus kaufen zu wollen.68 Doch welches grundsätzliche Problem kann dieses gemeinsame Interesse derAnbieter undNachfrager anderWertillusion aufDauer gefährden?69 Ausgangspunkt der hier fundamentalen Problematik ist die von Ronald Coase70aufgestellte und für bestimmte Marktkonstellationen mittlerweile formal bewiesene71 Vermutung, dass dermonopolistische Anbieter eines dauerhaften Gutes, wie es ein Diamant ohne Zweifel ist, in einem (idealisiert) zwei Perioden umfassenden Zeitraum keinen Monopolpreis durchsetzen kann. Denn einrational kalkulierender Nachfrager wird in einer ersten Periode keinen über einem Wettbewerbsgleichgewicht liegenden (Monopol-) Preis akzeptieren, weil er davon ausgehen muss, dass derMonopolanbieter in derzweiten, also derletzten betrachtbaren Periode den Markt mit dem angebotenen Gut überschwemmen werde. Aufgrund dieser Antizipation einer zukünftigen Preissenkung desAnbieters bis in die Nähe der Grenzkosten durch die rational handelnden Nachfrager kann der formal einzige Anbieter deshalb seine Monopolmacht bereits in derersten Periode nicht ausüben. Kurz gesagt, in diesem intertemporalen Ansatz ist derAngebotsmonopo-
67 Vgl. Alexander Fuchs: Fuchsbriefe Spezial (wie Anm. 63), S. 12– 16 und ohne Verfasser: Nachfrage nach Diamanten ist eingebrochen, in Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr.298 vom
23. Dezember 1997, S. 21. 68 Vgl. W.Duncan Reekie: South African Competition LawandtheDiamond „Cartel“ , in: South 307, African Journal of Economics and Management Sciences, NewSeries 2 (1999), S. 292– hier S. 305. 69 In seinem bereits 1981 erschienen Buch überschrieb Schumach ein Kapitel mitderprovokanten Frage „ How Long Is Forever“ . Murray Schumach: The Diamond People, New York/London 1981, S.252. 70 Vgl. R. H.Coase: Durability andMonopoly, in: Journal of LawandEconomics XV (1972), S. 149. 143– 71 Vgl. Jean Tirole: Industrieökonomik, deutsche Ausgabe München/Wien 1995, S. 200– 202.
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list periodenübergreifend zugleich sein effektivster „Konkurrent“ , sofern die Nachfrager die Existenz einer „letzten“Periode erkennen undantizipativ Monopolpreise nicht akzeptieren.72 Der Monopolist als Anbieter eines dauerhaften Gutes, oder eben ein wie ein Monopolist agierendes funktionsfähiges Kartell, hat nundas Problem, die Vermutungen derNachfrager über das Angebotsverhalten in einer letzten Periode, mindestens aber über die Existenz einer eventuell demnächst anstehenden „ letzten Periode“glaubwürdig zu zerstreuen. Dies setzt voraus, dass bei Setzung eines Preises über den aus der Zukunft rational abdiskontiert ermittelten Wettbewerbspreis den Nachfragern mit hoher gegenwärtiger Zahlungsbereitschaft eine hohe Konsumentenrente zugestanden wird. Ihr gegenwärtiger Konsum muss mit einem hohen Nutzenniveau durch eine Wertillusion im Sinne einer möglichst glaubwürdigen Wertgarantie undeinem hohen Potential an Statusdemonstration verbunden werden. Zur glaubwürdigen Schaffung eben dieser Wertillusion als Mittel zur Unterbindung rationaler Erwartungen über sein Angebotsverhalten in der letzten Periode, kann der Monopolanbieter zu folgenden Maßnahmen greifen: Erstens, der Monopolist könnte die angebotenen Güter lediglich vermieten; damit wäre vertraglich geregelt, dass die Konsumenten nur die Nutzungskosten tragen und das Gut nach Vertragsende zu einem bekannten Restwert in Geld zurückgeben können. Zweitens, der Monopolist könnte weniger dauerhafte, also kurzlebiger haltbare, eventuell „ modisch“vergängliche Produkte anbieten, umzuzeigen, dass er damit seine Fähigkeit zukünftiger Preissenkungen selbst beschneidet. Drittens, der Monopolist könnte mit der Wahl seiner Produktionstechnologie demonstrieren, dass eine zukünftige Produktionskapazitätsausweitung an prohibitiv hohe Kostengrenzen stoßen wird, was seine zukünftige Angebotsmenge in Grenzen halten wird. Viertens, der Monopolist könnte rechtssicher garantieren, dass er seine einmal verkauften Produkte jederzeit undvonjedem Käufer zumdamaligen Verkaufspreis zurücknehmen wird; diese Rücknahmegarantie zu historischen Verkaufspreisen signalisiert den Konsumenten den Willen des Anbieters, den Markt nicht später überschwemmen zu wollen. Fünftens, kann der Anbieter über sein tatsächliches Preis-Absatz-Verhalten im Laufe einer längeren Periode in historischer Zeit glaubhaft eine Reputation aufbauen, dass er nachweislich niemals eine Preissenkungsstrategie betrieben oder es eventuell aufgetretenen Outsideranbietern gestattet hat, undder Monopolist dies in einer Art impliziten Kontraktes auch in Zukunft so halten wird.73 Die genannte fünfte Möglichkeit der Reputationssicherung zur Abwehr der Coase-Problematik setzt daher voraus, dass der Monopolanbieter durch seine Marktmacht nachweislich jederzeit Outsider effektiv disziplinieren konnte, ohne sich aber vertraglich explizit auf eine tatsächliche
72 Vgl. Jean Tirole: Industrieökonomik (wie Anm. 71), S. 179– 181. 73 Vgl. Jeremy I. Bulow: Durable-Goods Monopolists, in: Journal of Political Economy 90 331. (1982), S. 314–
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mengenmäßige Begrenzung derzukünftigen Produktion festlegen zumüssen oder monetär für ihnunkontrollierbare Rückkaufsgarantien zuzusichern.74 Welche dieser Handlungsmöglichkeiten hatte oder praktizierte nunDe Beers, undwelche waren auswelchen Gründen nicht anwendbar? Die erste Möglichkeit des Vermietens oder Verleasens ist zwarjuristisch problemlos, stößt aber bei einemGutdesdemonstrativen Konsums anmindestens emotionale Grenzen. Umes pointiert zu formulieren, welche Frau würde sich über einen gemieteten oder geleasten Verlobungsring freuen, der ihr rechtlich nicht gehört undzu einem bestimmten Zeitpunkt an den Vermieter zurückgegeben werden muss? Auch die zweite Möglichkeit des Anbietens von „ kurzlebigen“oder modisch veralteten Diamanten ist wenig sinnvoll: Ein Diamant ist physisch langlebig, undein modisch geschliffener und irgendwann deshalb nicht mehr hochgeschätzter Stein unterliegt schnell der Entwertung der beiden wichtigsten Eigenschaften, nämlich als Veblen-Gut bei anderen Menschen Neid zu erwecken sowie zusätzlich ein vermeintlich realkapitalerhaltendes, in Fällen monetärer Not jederzeit fungibles Anlagegut zu sein. Auch die dritte Möglichkeit des Diamantenkartells, eine Selbstbeschneidung der Neuförderung glaubwürdig zu versichern, ist schwerlich durchzusetzen. Denn dasGeschäft vonDiamantenförderern wieDe Beers ist eben die Exploration undAusbeutung neuer Fundstellen. Zudem treten immer wieder undoft zufällig neue Diamantenfunde auf, unddann oft in Ländern, die sich nicht oder zumindest nicht sofort demDiamantenkartell unterwerfen, sondern als Outsider versuchen, die eigene Neuförderung selbstständig zu vermarkten, selbst wenn durch ihr Trittbrettfahrerverhalten die künstlich hochgehaltenen Kartellpreise und damit der gesamte Markt gefährdet werden. Diese Gefahr des jederzeit möglichen Unterlaufens dervon De Beers glaubwürdig zu versichernden Produktionseinschränkung durch dann plötzlich auftretende Outsider restringiert auch die vierte Handlungsoption massiv: Eine monetäre Rücknahmegarantie für einmal verkaufte Diamanten zum erstmaligen Verkaufspreis setzt wegen der OutsiderProblematik nicht nur den Nachweis voraus, dass der zurückzukaufende Stein wirklich vom Garantieleister stammte, sondern birgt als rechtssicheres Rücknahmeversprechen die massive Gefahr des schnellen finanziellen Unterganges der garantierenden Einrichtung. De Beers bzw. die CSO wäre dann nicht nurbezüglich der Outsider-Förderung von Rohdiamanten in der Funktion einer Art „buyer of last resort“75,sondern müsste neben demRohdiamantenmarkt in gleicher Funktion auch auf demviel mehr Kapital erfordernden Markt fürgeschliffene Diaman-
74 Zu diesen fünf Möglichkeiten prägnant Dennis W. Carlton/Jeffrey M. Perloff: Modern Indus655. Einen ausführlicheren Überblick trial Organization, 2. Ed. HarperCollins 1994, S. 654– zur Behandlung der Coase-Problematik geben Drew Fudenberg/Jean Tirole: Game Theory, Cambridge/London 1991, S. 401– 431. 75 Während derSpekulationsphase derJahre 1980/81 setzte DeBeers eigene Geldmittel imUmfang zwischen 700 Millionen undeiner Milliarde US-Dollar fürMaßnahmen zurPreisberuhigung ein. Zudieser Zeit hielt De Beers ein sogenanntes Pufferlager an selbst gehorteten Diamanten im Umfang einer ganzen Jahresproduktion. Vgl. Debora L. Spar: The Cooperative Edge (wie Anm. 37), S. 56.
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ten auftreten. Eine Situation plötzlich auftretender Garantierückkäufe in hinreichender Höhe würde jedoch schnell beträchtliche Finanzmittel zur Erfüllung der Rücknahmezusagen erfordern. Derartige, eventuell im Rahmen eines band-wagon Effektes in die nunentgegengesetzte Richtung laufende Marktaktivitäten müssten aber trotz des unkalkulierbaren finanziellen Aufwands ausgeführt werden, wenn durch ein Anzweifeln derGlaubwürdigkeit nicht erst ein unkontrollierbarer Rückverkaufsrun und damit der Untergang der Garantieinstitution und des ganzen Marktes ausgelöst werden soll. Die vonderCSOzeitweise praktizierte „wertadäquate“Rücknahmegarantie in strikter Verbindung mit dem Kauf eines teureren Steines war dazu aber ebenso wenig geeignet wie nur zeitweilige Ankaufsinterventionen derCSOaufdemMarkt fürgeschliffene Diamanten. Für die Sicherung der Reputation ist es auch notwendig, dass die Preise zwar kontinuierlich, aber dafür langsam ansteigen.76 Denn ein abruptes Hochschnellen der Preise binnen kurzer Zeit könnte nicht nurmanchen privaten Diamantenbesitzer zurmonetären Realisierung dieser „Wertzuwächse“animieren,77 sondern auch denGlauben derDiamantenkäufer andieabsolute Kontrolle desDiamantenmarktes durch die CSO erschüttern. Zudem setzen rapide, vonderCSO nicht gewollte Preisanstiege amMarkt für die sich noch im System der CSO befindlichen Diamantenförderer einen Anreiz, nun aus der auf minenbezogene Verkaufsquoten gestützten Kartellvermarktung auszuscheren umdann als freier Outsider-Anbieter höhere Mengen zu denaktuell höheren Marktpreisen zuverkaufen unddamit höhere Gewinne realisieren zu können. Zudem ist seit Jahren bekannt, dass bei De Beers große Mengen an rohen und geschliffenen Diamanten lagern.78 Derartig zurückgestaute Angebotsmengen bewirken nicht nur eine bereits massive und teure Kapitalbindung bei De Beers, sondern können als zweischneidige Bedrohung interpretiert werden: Einerseits sind diese gehorteten Steinvorräte eine disziplinierend wirkende undin ihrem Umfang notwendige Abschreckung möglicher Outsider-Anbieter: diesen kann mit einer sie dann gezielt preisschädigenden Vermarktung eben der marktstrategisch gehaltenen Vorräte von De Beers die finanzielle Vernichtung angedroht werden. Andererseits sind für die Konsumenten die gehorteten Vorräte ein Indiz dafür, dass irgendwann einmal De Beers selbst damit denMarkt überschwemmen kann, auch wenn bis heute De Beers die Reputation hat, die Wertillusion durch in der Tendenz steigende Preise aufgrund gezielter 76 Reekie
begründet dies damit, dass sowohl die Minenbesitzer wie De Beers unddie übrigen Beteiligten in derDiamond-Pipeline, als auch die früheren, aktuellen oder potentiellen privaten Nachfrager nach Diamanten eine extrem niedrige Zeitpräferenzrate aufweisen undihre Gewinn- undNutzenoptimierungsüberlegungen auf eine extrem lange Sicht ausrichten. Vgl. W. Duncan Reekie: South African Competition Law(wie Anm.68), S. 304.
78
Vgl. zur theoretischen Wichtigkeit der strikten Unterbindung eines dafür nötigen Sekundärmarktes Jeremy I. Bulow: Durable-Goods Monopolists (wie Anm. 73). Für das Jahr 1991 beispielsweise wies De Beers Lagerbestände an Rohdiamanten im Wert over $3 billion“auf. Vgl. Debora L. Spar: The Cooperative Edge (wie Anm. 37), S. 77 Fuß„ note 84. De Beers bezeichnet die gehorteten Diamanten verharmlosend als Pufferläger zur Marktstabilisierung.
77
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Helmut Braun
Marktinterventionen aufrecht erhalten zu können, und bisher auch zu wollen. Doch genau dieses interdependente Glaubwürdigkeitsdilemma zwischen Marktüberschwemmungsängsten der Konsumenten unddemZwang zureffektiven Outsider-Disziplinierung ist für De Beers, die CSO undletztlich für alle daran Beteiligten, einschließlich derKonsumenten, dasKernproblem derDiamantenvermarktung.
9. Dievollkommene
Neuausrichtung
derVermarktungsstrategie vonDeBeers
Die eben imRahmen derCoase’schen Argumentation vorgestellten Ängste beziehungsweise Erwartungen einer in Zukunft irgendwann nicht mehr ausschließbaren Versilberung derLagerbestände bei De Beers sind bei denersten Zweifeln ander Glaubwürdigkeit der CSO als benevolentes79 Monopol daher geeignet, einen potentiell gewaltigen Druck auf die jetzigen Verkaufspreise entstehen zu lassen. Damit aber wäre die denDiamantenmarkt erst sichernde Wertillusion schnell zerplatzt. Gegen Ende der 1990er Jahre warschließlich die Notwendigkeit einer radikalen Neuausrichtung der Vermarktungsstrategie von Schmuckdiamanten bei De Beers erkannt worden, wobei eine Bewahrung deshochpreisigen Luxusgutcharakters gleichsam vom Zwang der Aufrechterhaltung einer Wertillusion bezüglich eines eben nur vermeintlich knappen physischen Angebotes entkoppelt werden musste. Die Charakteristik des exklusiven „ Luxusgutes“sollte also nicht mehr primär auf der seit den ausgiebigen Funden des 19. und 20 Jahrhunderts nicht mehr vorhandenen natürlichen Seltenheit der Steine, sondern auf dem Nimbus Marke“beruhen. einer einen elitären undbegüterten Lebensstil signalisierenden „ Das Konzept einer amMarkt erfolgreichen „Marke“ , eines „brandname“ , besetzt in einer Art virtuellen Welt eine Idee, die bei denjeweiligen Konsumenten des Markenproduktes auf gemeinsamen Wertvorstellungen, Anschauungen, Erlebniswelten, Wunschträumen undauch Mythen beruht. Dies wirddann auch nach außen kommuniziert undbringt gleichsam als totemartiges Zugehörigkeitszeichen in der Psyche eines kulturellen Kollektivs eine sozial relevante Abgrenzung des markenfixierten Konsumenten gegenüber anderen Menschen zumAusdruck. Daraus entsteht ein über den „Gebrauchswert“aus dem „normalen Konsum“eines Marke“verkörGutes hinausgehender spiritueller Mehrwert aufgrund der in der „ perten und signalisierten Philosophie. Ein erfolgreich inszeniertes Markenbild erlaubt dann einen den spirituellen Mehrwert der Konsumenten abschöpfenden Kaufpreis, welcher die vomMarkenhersteller undvomMarkenproduktkonsumenten gewünschte Exklusivität im Konsum herstellen kann. Letztlich treten die normalen“Gebrauchseigenschaften undeine absolute physische Knappheit des „ Markengutes als Determinanten derPreisbestimmung in denHintergrund. Denn in diesem Vermarktungskonzept ist ein exklusiver, hoher Preis als solcher die ent79 Vgl. Alexander Fuchs: Fuchsbriefe Spezial (wie Anm. 63), S. 4.
DerSchmuckdiamant als Veblen-Leibenstein-Gut
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scheidende Nutzenkomponente beim Konsumenten: Er kauft im Kern nicht ein physisches Gut, sondern einen nach außen kommunizierten undvon sehr vielen anderen Menschen gewünschten Lebensstil.80 Im Idealfall beruht die Begehrtheit derartiger Luxusmarkengüter auf einem reinen Veblen-Effekt, frei von auf die Erhaltung vonRealkapitalien beruhenden Motiven. Nach einem mehrere Jahre andauernden Entscheidungsprozess richtete De Beers seine Vermarktungsstrategie für Diamanten nunvollkommen neuim Sinne derEtablierung einer „Marke“aus: Zusammen mitdemfür sein Angebot vonLuxusgütern weltweit bekannten Unternehmen Moët Hennessy –Louis Vuitton (LVMH) wurde mittlerweile begonnen, in exklusiven Verkaufsläden teuren Diamantenschmuck unter demLabel „ De Beers“zu verkaufen.81 De Beers äußerte sich selbst folgendermaßen über die Ziele dieser neuen Strategie: „ We believe there is great potential for brands to revitalise the diamond jewellery sector... De Beers is nowacting on its belief that brands will help to transform the diamond 82Flankiert wurde dieser Strategiewechsel aber nicht nurdurch die enge business.“ Zusammenarbeit mit LVMH, sondern mit dem in den Jahren 1999/2000 praktizierten Verkauf derHälfte desauf 5,5 Milliarden Euro geschätzten Diamantenvorrats von De Beers83 undeiner im Jahr 2001 gestarteten, nunauf die Marke „ De Beers“ausgerichteten Marketing Kampagne im Umfang von nahezu 180 Millionen US-Dollar84. Damit einher ging eine weitere, emotional wirksame Maßnahme der Markenabgrenzung von De Beers-Produkten von Diamanten aus anderen, nicht von De Beers kontrollierten Quellen: Steinen, die nicht unter dem De Beers-Label vermarktet werden, wird von De Beers unterstellt, dass sie aus Weltgegenden mit blutigen Bürgerkriegen stammen undallein zur Kriegsfinanzierung gefördert, zu den Schleifereien geschmuggelt unddann verkauft werden. Der Käufer undanschließende Verschenker von Schmuck sollte also davon überzeugt werden, dass nurdie ausdenVertriebsquellen vonDe Beers stammenden undneuerdings auch kennzeichenbaren Steine frei sind vom Makel, dass Blut an ihnen klebt.85 Daher entbehrt es nicht einer gewissen Logik, dass diese emotional wichtig erscheinende Information verkoppelt wird mit einer Art von De Beers ausgesprochenen Vertrauensgarantie. Dieses Vertrauen in eine „ blutfreie“Herkunft soll mit einem
80 Vgl. Petra Schütz: Die Macht der Marken –Geschichte undGegenwart, Diss. Univ. Regensburg 2001, im Erscheinen, S. 275– 317. 81 Vgl. DeBeers: About us, http://www.De Beers.com/html/about.html, Abruf vom17.12.2002. 82 Ohne Verfasser: De Beers unleashes its brand power, in: Facets, Summer 2000/1, S. 3. Facets ist die Firmenzeitschrift vonDeBeers undwird amHauptsitz derFirma in Kimberly, Südafrika, publiziert. 83 Vgl. Andrew Cockburn: Diamanten –die bittere Wahrheit, in: National Geographic Deutsch72, hier S. 51. land, Ausgabe März 2002, S. 40– 84 Ohne Verfasser: DeBeers unleashes its brand power (wie Anm. 82), S. 3. 85 Vgl. Andrew Cockburn: Diamanten (wie Anm. 83), S. 40– 73.
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Helmut Braun
fünften „ C“ , welches für„credibility“steht, eingeführt werden.86
als weiteres Wertbemessungsmerkmal
10. Epilog: DasEnde derWertillusion –einFazit Seit frühesten Zeiten waren in annähernd allen Kulturkreisen die physisch noch extrem seltenen Diamanten ausmystischen undReichtum demonstrierenden Motiven heraus begehrte undentsprechend teure Güter. Umso schwerer wogen mehrere Angebotsschocks durch immer wieder neuentdeckte Diamantenvorkommen. Die nunneugeförderten Steine mussten, trotz permanent zunehmender Bestände aus früheren Verkäufen, an den Mann, beziehungsweise meist an die damit beschenkte Frau gebracht werden. Da durch die Neuförderungen Diamanten nun objektiv immer weniger „selten“wurden, musste der Luxusgutcharakter „künstlich“durch einen hohen Preis erzeugt werden. Zudem mussten immer weitere, mengenmäßig absorptionsfähigere Käuferschichten für dieses vermeintlich wertvolle undexklusive Gut erschlossen werden. Dazu bedurfte es eines alle Rohdiamantenförderer streng undeffektiv kontrollierenden Kartelles, welches den Verkauf der Rohdiamanten monopolisierte unddamit auch dasAngebot unddie hohenPreise fürgeschliffene Diamanten so steuerte, dass genau die durch geschickte Vermarktungsmaßnahmen neu geweckte und absorptionsfähige Nachfrage zu Monopolpreisbedingungen befriedigt werden konnte. Dies bewerkstelligte das weltweit agierende Unternehmen De Beers mit einemeffektiv arbeitenden Geflecht unterschiedlicher Vermarktungsmechanismen. Neben auf die breiten Massen wirkenden Werbemaßnahmen zur Förderung des Diamantenabsatzes,87 beispielsweise die auf band-wagon und Veblen-Effekten beruhende Propagierung des diamantbesetzten Eheringes und ähnlicher Schmuckstücke für bereits verheiratete Frauen, musste ein zentraler Komplex an Problemkreisen gelöst werden: Der Diamant musste aufgrund der zunehmenden Fördermengen zumbegehrten undteuren Konsumgut für die breiten Massen der Bevölkerung gemacht werden, unddennoch musste weiterhin der Hauch vonExklusivität dieses nun zum Massenartikel gewordenen Gutes in Verbindung mit hohen Wert“aufrechterhalten werden. Denn wettbewerbsbedingt drastisch einem „ 86 Dieses
Konzept entstand in Zusammenarbeit mitüber 50 Regierungen undNichtregierungsorganisationen. Vgl. Christian Schubert: Die kleinste Wertanlage der Welt ist selten die beste, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr.276 vom27. November 2002, S. 29 unddie InternetQuelle: brillanten online –Diamant-Info: Vertrauen, http://www.brillanten-online.de/diamantinfo/vertrauen/html, Abruf vom17.12.2002.
87 Varian beziffert ohne exakten Quellennachweis undohne Benennung desZeitraums die Werbeausgaben vonDeBeers bzw. derCSOaufetwa 110 Millionen US-Dollar. Vgl. HalR. Varian: Grundzüge der Mikroökonomik, deutsche Ausgabe, 3. überarb. und erw. Aufl. München/Wien 1995, S. 402. Allein anlässlich derKöniglichen Hochzeit zwischen demPrinzen of Wales und Lady Diana im Juli 1981 schaltete De Beers Fernsehwerbung im Umfang von 400.000 US-Dollar. Vgl. Edward Jay Epstein: The Diamond Invention (wie Anm. 27), S. 236.
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sinkende Preise hätten sowohl denLuxusgutcharakter, aber auch die Vorstellung einer damit vorhandenen Realkapitalanlage, und damit letztlich den gesamten Diamantenmarkt zerstört. Daher musste De Beers jegliche Outsiderangebote außerhalb seiner Kontrollsphäre, einschließlich die Existenz eines funktionierenden Sekundärmarktes, unterbinden. Dies gelang trotz massiver Störversuche in Form kartellexterner Förderungen über Jahrzehnte hinweg, so dass durch die immer überzeugender werdende Reputation von De Beers, „ moderate Preiserhöhungen“ durchsetzen zu können, am Markt eine nicht mehr durch eine physische Knappheit an Steinen fundierte kollektive „Wertillusion“bei denNachfragern geschaffenwerden konnte. DenndieNachfrager hatten undhaben diehistorische Vorstellung einer vor Jahrhunderten einmal vorhandenen physischen Knappheit des Diamanten im Gedächtnis, welche von De Beers durch geeignete Preisgestaltungsmaßnahmen beim Erstverkauf an Konsumenten vermeintlich bestätigt wird und aufgrund der Gutscharakteristik des Diamanten von den Käufern auch honoriert wird. De Beers hat aber mittlerweile erkannt, dass beim Auftreten rationaler Konsumenten dieses Gebäude derWertillusion auch bei einer funktionsfähigen Angebotskontrolle theoretisch schnell zusammenbrechen kann und damit die mittlerweile weit über einem Jahrhundert währende undletztlich auch von denmeisten Konsumenten gewollte Wertillusionsblase platzen kann und damit der gesamte Diamantenmarkt irreversibel zerstört wäre. Dann hätte der Diamant, wie bei Adam Smith erkannt, nicht nur keinen Gebrauchswert mehr, sondern dann wäre auch derbei Smith noch konstatierte extrem hohe „Tausch-“oder Marktwert dieserphysikalischen Spielart ordinären Kohlenstoffes dahin. Seit wenigen Jahren versucht De Beers nundiesem als Coase-Problem bei der Vermarktung dauerhafter Güter bekannten Phänomen zuentkommen. Daher ist es verständlich, dass bei der Vermarktung von Diamanten nun immer mehr vom Stein als solchem abgegangen wird unddie Konsumenten nunüber das Vehikel De Beers“als sagenumwobene Edelmarke zumKauf animiert werdesNamens „ densollen. Denn selbst höchstpreisige Artikel einer in dermodernen Konsumwelt höchst angesehenen Nobelmarke brauchen als Güter nicht mehr physisch knapp sein oder eine monetäre Illusion von Werterhaltung vorspiegeln; unter diesen Käuferkonstellationen reicht es üblicherweise aus, wenn die Güter das Image einesextrem teuren undedel-exklusiven Lebensstils symbolisieren.
Norbert Reuter
Korreferat zu Helmut Braun DerSchmuckdiamant als Veblen-Leibenstein-Gut: vomSymbol derReichen und „ Mächtigen zumKonsumartikel mitWertillusion fürdasbreite Bürgertum“
Preisbildung auf demDiamantenmarkt vonRegeln undAusnahmen
–
Märkte arbeiten –so sie keiner äußeren Einflussnahme unterliegen undein funktionierender Ordnungsrahmen existiert –perfekt: Seit Adam Smith und seinen klassischen undneoklassischen Mitstreitern wissen wir, dass Angebot undNachfrage nach einem Gut durch den Preis zumAusgleich gebracht werden, so dass einer Markträumung prinzipiell nichts im Wege steht. Im langfristigen Marktgleichgewicht kann der Preis nicht über den Durchschnitts- bzw. Stückkosten liegen, so dass für einen Gewinn kein Spielraum bleibt. Damit bekommt derKäufer das, waser konsumieren will, zumgeringstmöglichen Preis, während derAnbieter darauf vertrauen darf, alle produzierten Güter auch absetzen zukönnen. Kommt es in der Realität zu dauerhaften Ungleichgewichten –das Angebot ist größer oder kleiner als die Nachfrage –ist derMarktprozess gestört. Als aktuelles Beispiel gilt der Arbeitsmarkt: Seit mehreren Jahrzehnten ist in praktisch allen Industrieländern die Nachfrage nach Arbeit kleiner als das Angebot. Die Therapievorschläge entsprechen der (neo)klassischen Wirtschaftstheorie: Deregulierung, Abbau von Kartellen undMarktmacht, Preis- bzw. Lohnflexibilität nach unten
etc.
Soweit die Theorie. Unterstellt sind bei derartigen Empfehlungen „ normale“Angebots- undNachfragereaktionen. Wenn der Preis steigt, steigt das Angebot, die Nachfrage geht zurück; sinkt derPreis, steigt dieNachfrage unddasAngebot geht zurück. Aufdiese Weise muss es –zumindest theoretisch –zumAusgleich vonAngebot undNachfrage kommen. Damit in derÖkonomik niemand auf die Idee kommt, dass Nachfrager sich auch ganz anders verhalten können, wirdhier statt von„ Angebots- und Nachfragereaktionen“üblicherweise von „ Angebots- und Nachfragefunktionen“ gesprochen. Mit diesem kleinen Eingriff in die Begrifflichkeit ist der Mensch als handelndes Subjekt wegdefiniert. In der Ökonomik ist er weitgehend mit einer Marionette vergleichbar, die ohne eigenen Antrieb vonexogenen Kräften hin und hergezogen wird.
194
Norbert Reuter
Ein Unbehagen an dem zugrunde liegenden mechanistischen Menschenbild war der Ausgangspunkt für die Kritik Thorstein Veblens an der klassischneoklassischen Theorie. In einem häufig zitierten Satz hat Veblen dieses Menschenbild, daser als „ hedonistisch“charakterisierte, wiefolgt beschrieben: The hedonistic conception of manis that of a lightning calculator of pleasures andpains, „ who oscillates like a homogeneous globule of desire of happiness under the impulse of stimuli that shift him about the area, but leave him intact. [...] He is an isolated, definitive human datum, in stable equilibrium except for the buffets of the impinging forces that displace
1 himin onedirection oranother.“
Veblen, der als Kind norwegischer Einwanderer mit demBlick eines „Fremden“ seine amerikanische Umwelt betrachtete, beobachtete aber unzählige Gelegenheiten, in denen sich die Menschen ganz anders verhielten als es klassische undneoklassische Theorie unterstellten. Von spezifischen Reaktionen auf Preisveränderungen, Preisbewusstsein, Rationalität und Voraussicht keine Spur. Demgegen. Als Grund für dieüber sah er überall Formen „demonstrativer Verschwendung“ ses Verhalten erkannte Veblen eine Art menschlichen Trieb, sich gegenüber seinenMitmenschen als überlegen darzustellen: „ Manas wefindhimto-day hasmuchregard to his good fame–to hisstanding intheesteem of his fellowmen. This characteristic he always has had, andno doubt always will have. [...] It 2 is a striving to be, andmore immediately to be thought to be, better than one’s neighbor.“
3ist voll von derartigen BeiSein Erstlingswerk „ The Theory of the Leisure Class“ spielen. Er empfahl den Vertretern der Ökonomik gewissermaßen, sich erst einmal das Agieren realer Menschen unddas Funktionieren realer Märkte anzuse„llgemeine Wirtschaftstheorie“verfassen. hen, bevor sie eine neue abstrakte A Güter eignen sich besonders dann gut für Zwecke der demonstrativen Verschwendung, wenn sie einer „ anormalen“Nachfragefunktion unterliegen: Die Nachfrage nimmt mit steigendem Preis nicht ab, sondern zu. Diesen Zusammenhang hat die Volkswirtschaftslehre unter der Bezeichnung „ Veblen-Effekt“in ihren Begriffskanon übernommen. Neben vielen anderen Gütern undDienstleistungen sind Juwelen undEdelsteine besonders gut fürZwecke derdemonstrativen Verschwendung geeignet. Dies hatVeblen bereits 1899 explizit ausgeführt: So schön Juwelen auch sein mögen, so verleihen ihnen doch erst ihre Seltenheit und ihr „ 4 Preis eine Auszeichnung, derer sie sich niemals erfreuen würden, wenn sie billig wären.“ Diesen Satz hatHelmut Braun durch seinen die Geschichte derDiamantenproduktion umspannenden Beitrag illustriert. Sein Ausgangspunkt ist die mehr oder weniger bekannte Tatsache, dass derPreis fürNeudiamanten wenig mitdenHerstel-
1 Veblen, Thorstein B.: Whyis Economics Notan Evolutionary Science? (1898), in: Ders.: The Place of Science inModern Civilization andOther Essays (1919), NewYork 1990, S. 73. 2 Veblen, Thorstein: Some neglected Points in the Theory of Socialism (1891), in: Ders.: The Place of Science in Modern Civilization andOther Essays (1919), NewYork 1990, S. 392. 3 Vgl. die deutsche Übersetzung Veblen, Thorstein: Theorie der feinen Leute. Eine ökonomi-
4
sche Untersuchung derInstitutionen (1899), München 1981. Ebenda, S. 102.
Korreferat
zuHelmut Braun
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lungskosten zutunhat.5 Diamanten werden gekauft, weil sie teuer sind. Würde der Preis für Diamanten sinken, stiege die Nachfrage nicht an, sondern ginge im Gegenteil als Ausdruck des Veblen-Effekts zurück. Ausschließlich die mit Blick auf die lange Geschichte derDiamantenproduktion zu erklärende „Wertillusion“und der zu bezahlende hohe Preis sichern die Nachfrage undmachen Diamanten zu etwas Einzigartigem undsomit zu einem prädestinierten Geschenk für herausragende Ereignisse. Allerdings –so Helmut Braun –wachsen auch hier die Bäume nicht in den Himmel. Auch dieser Markt hat mit Sättigungstendenzen zu kämpfen, so dass bereits früh Gegenstrategien ergriffen wurden. Zunächst ab 1939 Werbemaßnahmen(„ Diamonds area Girl’s Best Friends“ ), dieneue regionale (Japan, BRD) und sektorale Märkte (Memory- oder Erinnerungsringe) erschließen sollten. Aus den genannten Gründen verbieten sich auf diesem Markt selbstverständlich „ normale“ Nachfragesteigerungsstrategien, etwa Bemühungen den Absatz mit Preissenkungen anzukurbeln. Die „jahrhundertealte Wertillusion“des Steinbesitzers würde nachhaltig erschüttert, derAbsatz nicht zu-, sondern dramatisch abnehmen. Als weitere Strategie, Sättigungstendenzen entgegenzuwirken, kamspäter der Versuch des Quasi-Monopolisten De Beers hinzu, eine „ Marke“ , einen „brandname“zu etablieren. Gelingt dies, ist das relevante Angebot nur auf De Beerszertifizierte Steine beschränkt, eine sinkende Nachfrage stünde auch einem sinkenden de facto-Angebot gegenüber; andere oder neue Anbieter hätten kaum Absatzchancen. Der Gefahr einer fortschreitenden Sättigung wäre erst einmal –zumindest für den Quasi-Monopolisten DeBeers –erfolgreich begegnet. Zu Recht stellt Helmut Braun fest, dass der Konsument im Kern kein physisches Gutmehr kauft, sondern einen nach außen kommunizierten undvon vielen anderen Menschen gewünschten Lebensstil. Es geht also gar nicht umdas konkrete Gut, sondern nurnoch umdas, wases in denAugen desKäufers symbolisiert. Diese Symbolfunktion vonWaren warauch Veblens zentraler Punkt. Mit anderen Worten: Immer dort, woMarkennamen erfolgreich platziert werden können, also Produkte neben dem Gebrauchswert (wärmendes Kleidungsstück) noch einen subjektiven Zusatznutzen abwerfen (bestimmtes Label), haben wir es mit Formen der „Wertillusion“zu tun. Um dem Gut eine Exklusivität zu geben, muss der Preis sich sogar von den Herstellungskosten und von anderen funktional gleichartigen Produkten abheben. Dies muss nicht einmal durch besonders hohe Gewinnspannen geschehen, sondern kann auch auf besonders aufwändigen Werbungs- undVermarktungsmethoden beruhen. Allerdings liegen Preissetzungsspielräume undGewinnspannen in Bereich der „ Marken“deutlich höher, wenn erst einmal ein „brandname“am Markt etabliert ist. Der Preis kann sich
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Allerdings würde manschon gerne einige Angaben über das Ausmaß der Wertillusion“ha„ ben. Wie hoch sind beispielsweise die tatsächlichen Kosten derProduktion eines lupenreinen Brillianten? Wiehoch ist dieGewinnspanne bzw. dieProfitrate imDiamantengeschäft vonder Urproduktion bis zumfertigen Produkt im Laden. Wie stark würden die Preise für Neudiamanten fallen, könnten nurdieProduktionskosten angesetzt werden?
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Norbert Reuter
dann von den Herstellungskosten lösen, Gewinne können nicht mehr einfach konkurriert werden. Ein erfolgreich platziertes Veblen-Gut kann in reichen weg“ „ Gesellschaften seinen Absatz über steigende Preise sogar ausweiten. Würden bekannte „ Marken-“ Kleidungsstücke sich nicht mehr durch den Preis von anderen abheben, wäre dieExklusivität dahin unddamit einwesentlicher Kaufanreiz. Diese Überlegungen leiten zu den Ausgangsfragen zurück: Inwieweit norbestimmen in verschiedenen Phasen der sozioökonomischen Entwicklung „ male“Markt- undPreisreaktionen denAbsatz von Gütern? In welchem Umfang werden in entwickelten Volkswirtschaften Veblen-Güter gehandelt? Inwieweit sind dann aber (Arbeits)Kostensenkungen geeignet, positive Nachfrageeffekte zu erzielen? In der Diamantenindustrie jedenfalls hätten niedrigere Kosten in allen Fertigungsstufen keinen positiven Effekt auf Nachfrage undArbeitsplätze, sondern ausschließlich auf die Gewinnspanne. Ähnliches gilt für denwachsenden Bereich von Markenprodukten. Des Weiteren: Wenn es zudenmenschlichen Grunddispositionen gehört, „ to be better than , inwieweit kann weiterhin davon ausgegangen werden, dass in one’s neighbor“ der Regel „normale“Angebots- undNachfragereaktionen vorliegen? Wenn über Marken“sich ein dauerhafter Gewinn realisieren lässt, wie wirkt sich das lang„ fristig auf die Verteilung von Primäreinkommen und Vermögen aus? Welche Auswirkung hat dies wiederum auf die gesamtwirtschaftliche Nachfrage? Sind es dann möglicherweise gar nicht vorwiegend Kostenprobleme, die das zentrale Problem in entwickelten Volkswirtschaften darstellen, sondern ein sich ausweitender Veblen-Güter-Bereich? Denkbar wären dann Nachfrageprobleme aufgrund von Verteilungsdisparitäten undhohen Profiten in einzelnen Sektoren, die die Massennachfrage in anderen Sektoren bremsen. Kurz: Ist die Preisbildung auf demDiamantenmarkt die Ausnahme von der Regel oder eher ein Beispiel für mehr undmehr Märkte in fortgeschrittenen Wachstumsgesellschaften? Der Aufsatz von Helmut Braun macht deutlich, dass die herrschende Ökonomik sich vielen Fragen noch kaum gewidmet hat oder gerade erst beginnt, sich ihnen –etwa im Rahmen der Neuen Institutionenökonomik –zu widmen. Einstweilen werden Veblen-, Bandwagon und Snob-Effekt immer noch –sofern sie überhaupt Erwähnung finden –als merkwürdige Kuriositäten in einer ansonsten weitgehend rationalen undmathematisch exakt fassbaren Ökonomie gelehrt. Darüber hinaus zeigen die vonHelmut Braun genannten Fälle nureinen Ausschnitt an „ atypischen“oder „ anormalen“Angebots- und Nachfragereaktionen. Von großer Bedeutung dürften gegenwärtig z.B. „inverse“Angebotsreaktionen auf demArbeitsmarkt sein, die auf einer S-förmigen Angebotskurve beruhen: Mit sinkendem Lohn geht dasAngebot anArbeit nicht etwa zurück, sondern unterhalb eines bestimmten Lohnsatzes steigt dasAngebot, dadie Menschen zurSicherung eines notwendigen Einkommensniveaus mehr arbeiten müssen. Damit bewegt sich die Wirtschaft nicht zu einem Gleichgewicht hin, sondern entfernt sich trotz (oder besser: wegen) sinkender Löhne wieder davon. Besonders in denUSA ist dieses Phänomen verstärkt zubeobachten.
Korreferat
zuHelmut
Braun
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Derartige von der Ökonomik immer noch nur als „ atypische“unddamit am Rande wahrgenommene Angebots- undNachfragereaktionen zeigen, dass sie von einer Verhaltenswissenschaft, als die sie nur Sinn macht, immer noch weit entfernt ist. Es gab hoffnungsvolle Entwicklungen –nicht zuletzt die auf Veblen zurückgehende Schule des amerikanischen Institutionalismus zu Beginn des letzten Jahrhunderts.6 Doch bekanntlich konnte sie sich gegenüber einer vermeintlich „ exakten“Ökonomik in einem stark naturwissenschaftlich geprägten Umfeld nicht behaupten. Historisch angelegte Untersuchungen über das tatsächliche Angebots- und Nachfrageverhalten auf einzelnen Märkten sind daher ein vorzügliches Mittel, die Ökonomik ausdemGegenstandsbereich derMechanik undderNaturwissenschaft herauszuholen undsie dort zuverankern, wo sie ursprünglich herkommt undwo sie auch wieder hingehört: in denBereich der Sozial- undVerhaltenswissenschaften.7 Helmut Braun hat hierfür ein ausgezeichnetes Beispiel geliefert und gleichzeitig deutlich gemacht, dass Untersuchungen auf diesem Gebiet nicht nur wissenschaftlich fruchtbar, sondern auch wirtschafts- undgesellschaftspolitisch von großem Wert sind.
Literatur: Brodbeck, Karl-Heinz: Die fragwürdigen Grundlagen der Ökonomie. Eine philosophische Kritik
dermodernen Wirtschaftswissenschaften, Darmstadt 2000. Veblen, Thorstein: Theorie der feinen Leute. Eine ökonomische Untersuchung der Institutionen
(1899), München 1981.
B.: Why is Economics Not an Evolutionary Science? (1898), in: Ders.: The 81. of Science in Modern Civilization andOther Essays (1919), NewYork 1990, S. 56– Veblen, Thorstein: Some neglected Points in the Theory of Socialism (1891), in: Ders.: The Place 408. of Science in Modern Civilization andOther Essays (1919), NewYork 1990, S. 387– Veblen, Thorstein
Place
Reuter, Norbert:
Der Institutionalismus. Geschichte und Theorie der evolutionären Ökonomie
(1994), Marburg 1996.
6 7
Reuter, Norbert: DerInstitutionalismus. Geschichte undTheorie derevolutionären Ökonomie, 2. Aufl., Marburg 1996. Brodbeck, Karl-Heinz: Die fragwürdigen Grundlagen der Ökonomie. Eine philosophische Kritik dermodernen Wirtschaftswissenschaften, Darmstadt 2000.
Hartmut Berghoff
„ All for your delight“ . Die Entstehung desmodernen Tourismus undder Aufstieg der Konsumgesellschaft in Großbritannien1 Am Ende des 20. Jahrhunderts war der Tourismus ein eindrucksvoller Wirtschaftsfaktor. Es handelt sich bei ihm umdie größte Branche der Weltwirtschaft überhaupt. 1992 arbeiteten in ihr weltweit 130 Mio. Menschen. Die Gesamtausgaben für Tourismus entsprachen 1994 12 % des globalen BSP. In mehr als 125 Ländern gehört der Tourismus zu dengrößten Arbeitgebern. In einem Drittel davon steht er gerechnet nach Arbeitsplätzen und Devisenzuflüssen an der Spitze der Volkswirtschaft. Abb. 1: Grenzüberschreitende Ankünfte vonTouristen nach Zielregionen, 1950– 2000
Quelle: World-Tourism Organisation (http://www.world-tourism.org/market_research/ facts&figures/menu.htm), abgefragt am3.4.2003.
Zwischen 1950 und2000 stiegen die weltweiten Einnahmen der Tourismusbranche in laufenden Preisen undunter Ausschluss der Transportkosten von 2,1 auf 476 Mrd. Dollar, waseinem durchschnittlichen Wachstum von 11 % proJahr entspricht. Die Zahl der grenzüberschreitenden Ankünfte von Touristen kletterte pa-
1 Ich danke Anne Sudrow für redaktionelle scher Originalzitate.
Hilfen und für die Übersetzung sämtlicher engli-
200
Hartmut Berghoff
rallel dazu von 25 auf 699 Mio., wuchs also durchschnittlich 7 % pro Jahr.2 Ähnliche globale Wachstumsraten über einen Zeitraum von 50 Jahren hinweg sucht manin anderen Sektoren vergebens. Tourismus ist jedoch nicht nurein Wirtschaftsfaktor, sondern auch ein kulturelles Phänomen, das den Hedonismus sowie die Freizeit- undKonsumorientierung der Reisenden widerspiegelt. Er ist in seiner heutigen Ausprägung paradigmatischer Ausdruck entwickelter Konsumgesellschaften. Der linksintellektuelle Schriftsteller Hans-Magnus Enzensberger beschreibt den Tourismus als „ Spiegelwelt der Gesellschaft, von der er sich abstößt. [...] Die Befreiung von der industriellen Welt hat sich selber als Industrie etabliert, die Reise aus der Warenwelt ist ihrerseits zur Ware geworden“ .3 Daher liegt es nahe, im Aufstieg des Tourismus undder Konsumgesellschaft eng miteinander verzahnte historische Phänomene zusehen. Dadie Forschung beide Felder bislang eher separat behandelt hat, ist es lohnend, dieInterdependenzen derTourismus- undKonsumgeschichte unter denfolgenden sechs Leitfragen zuanalysieren.4 1. Handelt es sich wirklich um Parallelphänomene, die demselben historischen Verlaufsmuster gefolgt sind? 2. Trifft die von Enzensberger und anderen aufgestellte These vom Tourismus als Folgeerscheinung derIndustrialisierung zu? 3. Handelt es sich beim Tourismus umdie Diffusion einer sozialen Praktik von oben nach unten, so dass die Tourismusgeschichte unter demLabel vom„Privileg zumMassenprodukt“zutreffend charakterisiert ist?5 4. Was eigentlich ist das „Produkt“der Tourismus-Industrie, undwas wird von ihren Kunden konsumiert? 5. Welche Interdependenzen undRückkopplungen bestanden zwischen Konsum undTourismus?
2
3 4
Vgl. Linda K. Richter: The Politics of Tourism in Asia, Honolulu 1989, S. 3; Vellas, Fran23 u. http://www.worldcois/Louis Bécherel: International Tourism, Basingstoke 1995, S. 15– tourism.org/market_research/facts&figures/menu.htm (abgefragt am3.4.2003). Enzensberger, Hans Magnus: Eine Theorie des Tourismus, in: Ders.: Einzelheiten, Frank-
168, hier S. 160f. u. 163. furt/M. 1962, S. 147– Zur Tourismusgeschichte allgemein Spode, Hasso: Der Tourist, in: Frevert, Ute/HeinzGerhard Haupt (Hg.): Der Mensch des 20. Jahrhunderts, Frankfurt/M./New York 1999, S. 137; Gregory, Alexis: The Golden Age of Travel, 1880– 1939, London 1991; Pimlott, John 113– A.R.: The Englishman’s Holiday: A Social History, Brighton 1947; Cormack, Bill: A History 1990, London 1998; Towner, John: AnHistorical of Holidays 1812–
Geography
of Recreation
1940, Chichester 1996; Burmeister, Hans-Peter and Tourism in the Western World 1540– (Hg.): Wohin die Reise geht. Perspektiven des Tourismus in Europa (Loccumer Protokolle 02/94), Loccum 1994; Berghoff, Hartmut u.a. (Hg.): The Making of Modern Tourism. The 2000, Houndmills/New York 2002; BausCultural History of the British Experience, 1600– inger, Hermann/Klaus Beyrer/Gottfried Korff (Hg.): Reisekultur: Von der Pilgerfahrt zum
OnHoliday. A History of Vacationing, Berkeley 1999. Reulecke, Jürgen: Vom Privileg zumMenschenrecht. Die Anfänge des Urlaubs in Deutsch32. land vor demErsten Weltkrieg, in: Journal für Geschichte 1 (1979), S. 28–
modernen Tourismus, München 1991; Löfgren, Orvar:
5
. Die Entstehung desmodernen Tourismus All for yourdelight“ „
6.
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Inwieweit kam demTourismus eine Schrittmacherfunktion für die Entwicklung derKonsumgesellschaft zu?
Diese Fragen werden hier vor allem anhand der Entwicklung Großbritanniens beantwortet, daderPionier derindustriellen Moderne auch eine Führungsrolle für denAufstieg des modernen Tourismus besaß undselbst noch im 20. Jahrhundert entscheidende Akzente setzte. Im 18. und 19. Jahrhundert gingen Briten früher undextensiver als Kontinentaleuropäer auf Reisen, deren Anlass nicht Arbeit und Pflicht waren. Das lag amWohlstand undan derWeltoffenheit der „first modern nation“(Landes). Der Begriff Tourismus selbst stammt aus demEnglischen und ist zu Beginn des 19. Jahrhunderts erstmals nachweisbar. An der Wende vom 18. zum19. Jahrhundert bevölkerten britische Touristen viele Teile Europas. Heinrich Heine schrieb in seinen Reisebildern (1828) von einer „ elegante(n) Völkerwandejetzt in Italien zu zahlreich“sind, umsie übersehen zu rung“der Engländer, die „ können, „ sie durchziehen dieses Land in ganzen Schwärmen, lagern in allen Wirthshäusern, die Söhne ‚Albions‘, laufen überall umher, um Alles zu sehen, undman kann sich keinen italienischen Zitronenbaum mehr denken, ohne eine Engländerin, die daran riecht, undkeine Galerie ohne einen Schock Engländer, die, mit ihrem Guide in der Hand, darin umherrennen, undnachsehen, ob noch 16 alles vorhanden, wasin demBuche als merkwürdig erwähnt ist.“ Im 19. Jahrhundert entstand in Großbritannien eine touristische Infrastruktur, die erstmals einen Massenbedarf befriedigte. 1911 gab es in England undWales 145 Badeorte, in denen permanent 1,6 Mio. Menschen oder 4,5 % der Bevölkerung lebten.7 In anderen Worten, der Bädertourismus war eine ausgewachsene Industrie mit beträchtlicher Bedeutung für den Arbeitsmarkt geworden. Daher diente er deninanderen Ländern zeitverzögert aufblühenden Seebädern als großes Vorbild. Schließlich stammen Basisinnovationen der Tourismusindustrie aus Großbritannien, wie die von Thomas Cook 1841 entwickelte Pauschalreise, das 1937 kreierte Holiday Camp als Vorläufer des Cluburlaubs undnach 1950 die mit einem billigen Mittelmeerurlaub kombinierte Charterflugreise.
1. Ursprünge undVorgänger desmodernen
Tourismus
Die Anfänge des Tourismus reichen weit vor die Zeit der Industrialisierung, eigentlich sogar bis in die Antike zurück. Hatten die Entdeckungsreisen derRenaissance primär denZweck, nützliches Wissen zu akkumulieren undpolitische Ansprüche zu erheben, etablierte sich im 17. Jahrhundert mit der Grand Tour eine Form deskulturellen Tourismus mit einer völlig anderen Agenda. Die Kavaliers6
7
Heine, Heinrich: Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke, Bd. 7/1. Reisebilder III/IV, Hamburg 1986, S. 64. Vgl. Walton, John: The English Seaside Resort: A Social History, 1750– 1914, Leicester 1983,
S. 65ff.
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reise sollte die Erziehung junger Adeliger undbald schon reicher Bürger abrunden, ihnen die Begegnung mit denStätten derklassischen Antike undderGegenwartjener europäischen Länder ermöglichen, die nach den Standards derAufklärung zur zivilisierten Welt zählten. Die Reisen der „grand tourists“an kulturell bedeutsame Orte vermittelten Bildung undPrestige. Dabei erzeugten sie sowohl einen Kanon vonAttraktionen als auch eine Infrastruktur, auf die spätere Touristenzurückgreifen konnten.8 Den„grand tourists“ging es eindeutig umimmaterielle Werte ohne direkten Bezug zurArbeitswelt. Diese Charakterisierung trifft in gewisser Weise auch schon auf Pilgerfahrten zu. Seit demMittelalter waren sie die wichtigste Form des Reisens, die nicht unSeelen retten“ mittelbar alltagspraktischen Zwecken diente. Sie sollten nicht nur„ undkörperliche Gebrechen heilen, sondern sie besaßen auch eine versteckte touristische Agenda. Obwohl wenn sie es selten zugaben: Pilger genossen zuweilen auch das Kennenlernen fremder Landschaften. Ihre Reisen erforderten weiterhin einen hohen Grad an Organisation. Sie waren durchaus Massenveranstaltungen, die schon bestimmte Elemente derPauschalreise wiedieKombination vonBeherbergung, Verköstigung undFührung großer Gruppen vorwegnehmen. Zudem umSeele zu fassten sie alle sozialen Gruppen, selbst Arme.9 Die Pilger hofften, ihre „ retten“ , indem sie vorübergehend ihre Heimat verließen undeinen entfernten Ort, dembesondere Qualitäten zugeschrieben wurden, aufsuchten. Es ging ihnen um Erneuerung undWiedergeburt. Der moderne Tourismus kann m.E. als säkularisierte Form der Pilgerreise angesehen werden, denn auch er beruht auf dieser Prämisse: „ Rekreation“–ein Begriff religiösen Ursprungs –erfordert die Abwesenheit von der Heimat unddas Aufsuchen derheilsbringenden Fremde.10 Zudem darf mannicht vergessen, dass Reisen aus religiösen Motiven nach wie vor ein wichtiges Segment desinternationalen Tourismusmarktes darstellt, mandenke nur anRom, Jerusalem, Mekka, Santiago deCompostela oder Lourdes. . Aufklärung und Romantik säkularisierten die Vorstellung der „ Rekreation“ Nunwaren es nicht spirituell geweihte Stätten, sondern Begegnungen mit großer Kunst oder mit der vermeintlich unberührten Natur, die geistig-spirituelle Erfahrungen versprachen. In derNähe zumeinzigartigen Kunstwerk oder in der Natur war es möglich, seine psychische und physische Gesundheit wiederzuerlangen und den Schlüssel zum authentischen Ich zu finden. Gleichwohl handelte es sich hier schon umeine Gegenbewegung, die auf denUtilitarismus undRationalismus
8 Vgl. Black, Jeremy: The British 9
10
Abroad. The Grand Tour in the Eighteenth Century, New 138. York 1992; Towner: Historical Geography (wie Anm.4), S. 96– Vgl. Herbers, Klaus: Unterwegs zu heiligen Stätten –Pilgerfahrten, in: Bausinger/Beyrer/
31; Sumption, Jonathan: Pilgrimage. AnImage of MeKorff: Reisekultur (wie Anm.4), S. 23– 210 u. Henning, Christoph: Sakrale Reisen. diaeval Revolution, London, 1975, bes. S. 168– 55. Über religiöse Motive immodernen Tourismus, in: Burmeister, Reise (wie Anm.4), S. 47– Im viktorianischen England stand „re-creatio“für die Verfeinerung von Körper, Geist und Seele durch gesellschaftlich anerkannte Freizeitpraktiken zuHause undauf Reisen. Vgl. Bailey, Peter: Leisure Class in Victorian England. Rational Recreation andthe Contest for Con-
1885, London 1978. trol, 1830–
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sowie auf die heraufziehende Frühindustrialisierung reagierte. Der Romantiker begab sich in eine Gegenwelt zum Alltag, der von Pragmatismus, Entfremdung undzunehmend auchverunstalteten Landschaften bestimmt wurde. Eine weitere Wurzel des modernen Tourismus reicht bis in die griechische Antike zurück, nämlich die Nutzung mineralischer Quellen zu Gesundheits- und Vergnügungszwecken. Im modernen England wurden Heilquellen seit dem 17. Jahrhundert zu Freizeitstätten von Aristokratie undGentry. Sie boten Erholung, eine Arena für demonstrativen Konsum sowie gesellige und sexuelle Kontakte. Daes sich als unmöglich erwies, dieoberen Mittelschichten auszuschließen, dientendie Badeorte auch derÜberbrückung sozialer Statusgrenzen. Diese Reiseziele lebten von dem Bedürfnis nach Erholung, Selbstdarstellung und Hedonismus.11 Diese Elemente ließen sich leicht auf die Seebäder transferieren, jenem neuen Typus der Freizeitstadt, der Ende des 18. Jahrhunderts entstand und bis in die 1970er Jahre das beliebteste Reiseziel der britischen Bevölkerung blieb. Ursprünglich nahmen die Seebäder die gleiche Kundschaft wie die alten Badeorte auf, öffneten sich jedoch sozial viel schneller nach unten. Bereits 1800 zählten Ladenbesitzer undsogar Bauern zuihren Besuchern. Industriearbeiter erreichten die Seebäder in großen Zahlen erst nach 1850. Magdies auf denersten Blick als ein Aufbruch zu völlig ‚neuen Ufern‘erscheinen, lassen sich auch hier starke Kontinuitätslinien zur vorindustriellen Zeit finden. Ältere Freizeitmuster wurden nicht über Nacht durch das industrielle Zeitregime ersetzt. In Nordengland, besonders in den Textilstädten Lancashires, überlebten alte Volksbräuche, etwa der„ Blaue Montag“ , undebneten denWegfürden modernen Tourismus. Wie John Walton nachwies, spielten die Tradition der einwöchigen Volksfeste („ Wakes“ ) und Jahrmärkte eine Schlüsselrolle für die Entstehung der Seebäder. Außerdem pflegten die einfachen Leute schon lange die Sitte, imMeer zubaden, nicht erst, seitdem die Mittelschichten den„ Ruf derSee“ vernommen hatten.12 Hier führt also das Modell der Nachahmung der oberen durch dieunteren sozialen Schichten in die Irre. Gleichwohl verschoben sich im 19. Jahrhundert die quantitativen DimensionenvonGrund auf. DasAufkommen desproletarischen Massentourismus unddie Durchsetzung der Fabrikdisziplin gingen Hand in Hand. Ironischerweise reagierten beide auf die hartnäckig verteidigten, laxen Arbeitsgepflogenheiten dervorindustriellen Zeit. Die Arbeitgeber in der Baumwollindustrie versuchten zunächst relativ erfolglos, die häufige undunvorhersehbare Abwesenheit ihrer Arbeiter zu bekämpfen. In den 1840er Jahren hatten sie schließlich begriffen, dass sie nicht Der völlige Stillstand eiumhin kamen, einige arbeitsfreie Tage zu akzeptieren. „ ner gesamten Fabrik während der traditionellen Volksfeste (Wakes) wardenunkalkulierbaren, sporadischen Unterbrechungen ... vorzuziehen, und es gab gute 11 Vgl. Neale, Ronald Stanley: Bath: A Social History 1680– 1815: or A Valley of Pleasure, yet a Sink of Iniquity, London 1981; Towner: Geography (wie Anm. 4), S. 53– 95. 12 Vgl. Corbin, Alain: The Lure of the Sea: The Discovery of the Seaside in the Western World, 1840, Cambridge/Mass. 1994; Walton: English Seaside Resort (wie Anm. 7). 1750–
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13 Gründe dafür, die arbeitsfreie Zeit aufbestimmte Zeiträume zukonzentrieren ...“ DerUrlaub wurde auf diese Weise zueinem subtilen Disziplinierungsmittel, denn es lohnte sich, die Arbeitszeiten derFabrik für denRest desJahres penibel einzuhalten, umsich imSommer einen Urlaub anderSee leisten zukönnen. Der Tourismus gewann den Charakter einer sozialen Praxis, die die Arbeiter disziplinierte und den heiklen Übergang vom vorindustriellen zum industriellen Arbeitszeitregime abfederte. Freie Tage für Arbeiter können als das Ergebnis einer Auseinandersetzung gesehen werden, in der die traditionelle Lässigkeit und die fließenden Grenzen des Arbeitsprozesses gegen straffe Disziplin undsteigende Einkommen eingetauscht wurden. Hier wirkten Volksbräuche unddie Verstetigungsbemühungen derFabrikherren zusammen. Das Resultat waren periodische Ausbrüche aus dem disziplinarischen Regelwerk der Fabrik, das danach um so rigider griff. DasVorbild derOberschichten, wiederBesuch vonKurorten, spielte für das Aufkommen unddie Ausgestaltung des Massentourismus der britischen Seebäder nur eine untergeordnete Rolle. Die vom romantischen Ideal inspirierte Suche des Reisenden nach Einsamkeit undAuthentizität waren für die entstehendenSeebäder in keiner Weise prägend. Vielmehr boten sie kollektive Vergnügungenundkarnevaleske, lautstarke Ablenkungen, deren Wurzeln eher in dertraditionellen Volkskultur zusuchen sind. Dieses kollektive Erbe „ von unten“bedeutet aber nicht, dass das vorindustrielle Reisen sozialer Eliten nicht zurAusbildung des äußerst komplexen Phänomens ‚moderner Tourismus‘ beigetragen hätte. Der Bildungstourismus ging auf die Grand Tour derRenaissance zurück. Die Romantik versprach die Rückkehr zu einer unverfälschten Welt undverband das Reisen mit Vorstellungen persönlicher Freiheit und Empfindsamkeit. Begegnungen mit idealisierten Landschaften und kulturell bedeutsamen Orten, denen eine rekreative Kraft innewohnte,14 sind bis heute wirksame Leitbilder der Tourismusbranche. Die Werbung für Urlaubsreisen weist vonAnfang an starke Bezüge zusolchen romantischen Stereotypen auf. Mit demVersprechen authentischer Erlebnisse undderFlucht ausdenPathologien des modernen Lebens rekurriert sie noch immer auf dieantiindustriellen Leitbilder der Romantik. Insofern hat Enzensberger mit derFeststellung Recht, dass dermoderne Tourismus ein Versuch der Industriegesellschaft ist, vor sich selbst zu fliehen, vor Umweltverschmutzung, Lärm und Menschenmassen, vor der Langeweile und Monotonie der Fabrik- und Büroarbeit. Gleichwohl reagierte der Massentourismuserst mit einer gewissen Zeitverzögerung auf die Industrialisierung undUrba-
13 Ebenda, S. 32f. Vgl. auch Pollard, Sidney: The Genesis of Modern Management. A Study of 208. the Industrial Revolution in Great Britain, London 1965, S. 181– 14 Für Spode gleicht derTourismus einer Zeitmaschine, die die Illusion einer Reise in die Vergangenheit vermittelt. Spode, Hasso: „ Reif für die Insel“ . Prolegomena zu einer historischen Anthropologie desTourismus, in: Cantauw, Christiane (Hg.): Arbeit, Freizeit, Reisen. Die feinenUnterschiede imAlltag (Beiträge zurVolkskultur in Nordwestdeutschland, 88) Münster 123, hier S. 112. Doch der Tourismus zelebriert auch die Neuheit undverweist 1995, S. 105– auf die Zukunft.
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nisierung. Bevor dasmöglich war, musste eine ausreichende Massennachfrage in Form disponiblen Kapitals vorhanden sein. Die Reallöhne stiegen ja erst nach 1870 spürbar an. Zudem bedurfte es grundlegender Innovationen wie vor allem der Eisenbahn, umdie Angebotsbedingungen der Tourismusbranche dramatisch zuverändern undderen Produkte für die Massen überhaupt erschwinglich zumachen. Ohne ausschließlich auf die Vorbilder der Oberschichten zu rekurrieren, besaßen vorindustrielle Reiseerfahrungen und Freizeitmuster eine große Bedeutung fürdie Entstehung desmodernen Tourismus. Es bedurfte jedoch aller Errungenschaften der Industrialisierung, damit er tatsächlich den Massenmarkt erreichen konnte. Angesichts der sehr vielfältigen Ursprünge des Tourismus verbietet es sich aber, in ihm lediglich einen Reflex auf die Industrialisierung zu sehen. Ebenso wenig haben wir es mit einem linearen Muster des sozialen Absinkens oder Aufsteigens von Verhaltensmustern zu tun, sondern mit einer Art „ Verkehr in beide Richtungen“ . DasLeitmotiv derNachahmung der Bessergestellten hatja ohnehin in derneueren Konsumforschung anÜberzeugungskraft verloren undgenießt keineswegs den Status eines universellen konsumgeschichtlichen Bewegungsgesetzes. Die Diffusion vonProdukten undPraktiken ist in der Regel viel komplizier-
ter.
2. Was konsumiert der Tourist? Die historische Konsumforschung wurde lange Zeit von einer Beschäftigung mit den materiellen Aspekten des Konsums dominiert oder, in den Worten Brewers undPorters, mit der„Warenwelt“ . In denletzten Jahrzehnten sind zahlreiche Studien über „ Objekte“entstanden.15 Inzwischen sind wir gut informiert über den steigenden Verbrauch von Tee und Tabak, Gewürzen und Wein, Büchern und Gemälden, Schmuck undKleidern, Knöpfen undSchnallen, Töpfen undPfannen. Statt Objekte zuverbrauchen, versucht derUrlaubsreisende, „ sich seiner fünf Sinneunddersieben Sünden zuerfreuen, einen Lebensstil zuerschaffen, wenn nicht gar eine Identität als solche.“16Als ein nahezu immaterielles Produkt hinterlässt der Tourismus keine Spuren in Handelsstatistiken und Inventaren. Der Tourist kauft eine Kombination von aufeinander bezogenen Dienstleistungen wie Transport, Unterbringung, Verpflegung undsolch flüchtige Phänomene wie Erfahrungen undErholung, Bilder undPrestige. Natürlich sind auch materielle Elemente im Spiel, wenn Hotels gebaut, Flugzeuge aufgetankt, Mahlzeiten gegessen und Souvenirs erstanden werden. Doch diese Phänomene befinden sich nur an der Oberfläche des touristischen Konsums. Wesentlich für ihn sind Träume von Alternativen zumAlltag. Eric Leeds bezeichnet denTourismus als die „ Erfahrungs15 Brewer, John/Roy Porter (Hg.): Consumption andthe World of Goods, London 1993. 16 Fine, Ben/Ellen Leopold: TheWorld of Consumption, London 1993, S. 3.
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touristischen Blick“den Kern des industrie“schlechthin.17 John Urry sieht im „ Phänomens Tourismus. Tatsächlich wurde denersten Reisegruppen Cooks in Italien vorgeworfen, gekommen zu sein, um „ uns anzustarren und auszulachen“.18 Touristen fotografieren Sehenswürdigkeiten, umdaheim beweisen zukönnen, was sie gesehen haben. Ihr Vergnügen beruht auf derVerfügbarkeit immer neuer Gegenstände der Betrachtung, seien sie auch noch so gestellt. Für Urry konsumiert derTourist dasNeue selbst. Poon argumentiert auseiner ökologischen Perspektive, dass der Tourist die Umwelt konsumiere und vernichte. Jedenfalls erweise sich der Tourismus als die Inkarnation der Prinzipien des Massenkonsums schlechthin, der auf einer „ Dialektik vonNeuheit undUnersättlichkeit“beruht. Schriftsteller undMaler waren die ersten, die –in Urrys Worten –„unseren Blick als Touristen konstruierten undentwickelten“.19Später gesellten sich ihnen professionelle Experten als Gestalter von Bildern undMetaphern hinzu. Mit dem Aufstieg der Massenpresse im 19. Jahrhundert begannen Zeitungen, Zeitschriften undAnzeigen eine wichtige Rolle bei dem Entwurf, der Aufrechterhaltung und der Bestärkung touristischer Erwartungen zu spielen. Im 20. Jahrhundert trugen Kino, Radio undFernsehen ihren Teil zur Ausrichtung des touristischen Blicks bei. Filme lenkten manchmal Besucherströme um.Die Schauplätze vonRomanen, TV-Serien undFilmen wurden durch Gäste zu Touristenattraktionen, die an der Magie“desOrtes teilhaben wollen. „ Wie bei anderen Konsumprodukten hob die Werbung nicht den Gebrauchswert hervor, sondern appellierte in zunehmendem Maße an psycho-soziale Bedürfnisse. Konsum beruht auf derKodierung vonWaren mitBedeutung, auf ihrer Semantisierung undsymbolischen Aufladung.20 DerTourismus ist mit vielen, sehr unterschiedlichen Vorstellungen verbunden worden: von der physischen bis hin zurpsychischen Gesundheit, vonder Sozialreform bis zumHedonismus, vonewiger Jugend bis zur Bildung. Der Baptisten-Prediger Thomas Cook sah imTourismus eine Mission für die Menschheit, durch die er die Arbeiter vom Alkoholismus erretten und ihr Bewusstsein erweitern könne.21 In der Zwischenkriegszeit kämpfte der Trade Union Congress (TUC) für bezahlten Urlaub mit dem Argument, er diene denArbeitern zur„ Weiterentwicklung ihrer Persönlichkeit“.22Dem Tourismus gelang es also, sich selbst durch die unterschiedlichsten Diskurse zu
17 Leed, Eric J.: The Mind of the Traveller: From Gilgamesh to Global Tourism, New York 7. Vgl. auch Colin Campbell: The Sociology of Consumption, in: Daniel Miller 1991, S. 5– (Hg.), Acknowledging Consumption. A Review of NewStudies (Material Cultures), London 126, hier S. 119. 1995, S. 96– Zit. in: Cormack: History (wie Anm. 4), S. 34. Vgl. John Urry: TheTourist Gaze: Leisure and Travel in Contemporary Societies (Theory, Culture & Society), London 1990. 19 Ebenda, S. 1. 20 Vgl. Marchand, Roland: Advertising theAmerican Dream: Making Wayfor Modernity, 1920– 1940, Berkeley 1985; Cambell, Colin: The Romantic Ethic andthe Spirit of Modern Consum95. erism, Oxford 1987, S. 77– 21 Vgl. Brendon, Piers: Thomas Cook: 150 Years of Popular Tourism, London 1991, S. 2 u. 27. 22 Zit. in Pimlott: Englishman’s Holiday (wie Anm. 4), S. 239. 18
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legitimieren. Er griff dabei hemmungslos auf unterschiedlichste Rhetoriken zurück, von der Medizin bis zur Philanthropie, vom Laissez-faire-Liberalismus bis zumWohlfahrtsstaat. Eine dergrößten Mythen lieferte die romantische Sicht derNatur als humanisierende Kraft. Ähnlich wirkungsvoll warderGlaube, dass dasReisen als ein Akt des Demonstrativkonsums soziale Distinktion garantiere. In Wirklichkeit besaß die Exklusivität prestigeträchtiger Reiseziele ein recht kurzes Verfallsdatum. Soziale Aufsteiger drangen früher oder später in sie ein, uman derExklusivität teilzuhaben. Faktisch zerstörten sie damit diese Qualität. Wettläufe in immer neue Enklaven der Exklusivität waren die Folge. Soziologen ordnen touristische Erfahpositionalen Güter“ein. Es geht demnach um„ rungen in die Kategorie der„ relationalen Konsum“ . DieBefriedigung desIndividuums hängt „vonderPosition des eigenen Konsums imKontext deranderen“ab. Ein starkes Element „ zwanghaften Wettbewerbs“derjenigen Urlauber, die nach sozialer Distinktion streben, ist also nicht zuübersehen. Spätestens wenn die ersten Pauschal- oder gar Sozialtouristen in das einst vornehme Ferienziel einfallen, muss sich die Hautevolee auf die Suchenach neuen Orten exklusiver Selbstinszenierung begeben.23 Touristische Ziele sind das Ergebnis von Konstruktionsleistungen. Sowohl die Alpen als auch das Meer wurden lange als furchterregende, unwirtliche Orte wahrgenommen, undes war das Ergebnis vor allem literarischer undmedizinischer Diskurse des 18. und 19. Jahrhunderts, sie neu zu deuten undin Regionen zu verwandeln, die manfreiwillig aufsuchte. Der Tourismus warseit seinen frühesten Tagen von der Wahrnehmung der Reiseziele durch die Brille kulturell definierter Semantiken abhängig. Hinzu kamen aufwändig undoft nurfür Touristen arrangierte Landschaften, ummit neuen Blickfängen Reiserouten zukanonisieren. Im späten 18. Jahrhundert wurden z.B. imLake District, derseine Bedeutung der romantischen Literatur verdankte, künstliche Ruinen angelegt, die zu demangestrebten Image der Region passten.24 Im 19. Jahrhundert warder Pier ein Muss für alle britischen Seebäder ebenso wie ausgebaute Promenaden, Parks, Aquarien, Wintergärten und Versammlungsorte, Aussichtstürme, Einkaufsläden, Hotels, Pavillons undKonzerthallen. In denGroßstädten entstanden in atemberaubendem Tempo neue Objekte, die vonTouristen angestarrt werden konnten undunter anderem auch die touristische Attraktivität des Ortes erhöhen sollten. Geburts-, Wohn- und Sterbehäuser bedeutender Menschen, Parkanlagen und Museen, archäologische Ausgrabungen und monumentale Artefakte wie der Kristallpalast oder der Eiffelturm fallen in diese Kategorie. Solche Ziele lassen sich nötigenfalls miterstaunlicher Geschwindigkeit
23 Vgl. Urry, John: The “Consumption”of Tourism, in: Sociology 24 (1990), S. 23– 35, hier S. 29. Siehe auch Walton: English Seaside Resort (wie Anm. 7), S. 74– 102 u. 225. Klassisch hierzu Veblen, Thorstein: The Theory of the Leisure Class. An Economic Study of Institutions, NewYork 1934 (1899). 24 Auf einer Insel in der Nähe von Derwentwater. Vgl. Nicolson, N.: The Lakers. The Adventures of the First Tourists, London 1955, S. 104– 107.
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undgroßer Beliebigkeit produzieren. Die Zahl der offiziell anerkannten Sehenswürdigkeiten stieg in Großbritannien zwischen 1960 und 1983 von 800 auf 2.300.25 Museen, historische Routen undneue Denkmäler sprossen nurso ausdem Boden. Alles undjedes kann zu einem Ziel touristischer Reisen erkoren werden, ein Landhaus ebenso wie ein verfallenes Stahlwerk, eine Einkaufspassage ebenso wieeinFriedhof oder einAbwasserkanal. Im späten 20. Jahrhundert entstanden größere undumfassendere Ensembles künstlicher Attraktionen wie Ferienclubs undThemen-Parks. Disneyland, Legoland, Las Vegas und Center Parks stehen für die von ihrer Umwelt isolierten Pseudo-Realität“des Tourismus. Angewidert vom Nachbau eines elisabethani„ schen Gasthauses in Japan, beklagen Turner undAsheine Welt, in deres „ keinen Bedarf für das Wirkliche“mehr gebe.26 Doch wirklich undunwirklich, authentisch undnicht authentisch sind wenig hilfreiche Begriffe. Es ist sinnlos, auf diese Direalen“und chothomien in einer Welt zubestehen, in derdie Grenzen zwischen „ virtuellen“Realitäten zunehmend verwischen. Umberto Eco macht deutlich, dass „ in der Postmoderne die Imitationen wirklicher sind als das Original. DenBesuch . solcher touristischen Artefakte bezeichnet er als „ Reise in die Hyperrealität“ Disneyland kann sich erlauben, seine Rekonstruktionen als Meisterwerke der „ Verfälschung zu präsentieren“und lehre seine Besucher „ die Perfektion dieser Fälschung noch zu bewundern. [...] In diesem Sinne produziert Disneyland nicht nur eine Illusion: indem es dies zugibt, stimuliert es auch noch denWunsch danach. [...] Disneyland lehrt uns, daß die verfälschte Natur viel stärker unseren Tagtraum-Bedürfnissen entspricht“und „ daß die Technik uns mehr Realität geben kann als die Natur“ .27Die Tourismusindustrie hat neue, synthetische Produkte geschaffen, die von Millionen von Besuchern akzeptiert werden, undzwar gerade aufgrund der Künstlichkeit, die sie verkörpern. Die Postmoderne feiert gar die ironische Freude anAttraktionen, die bekanntermaßen „ fakes“sind. Weltweit fand zugleich eine kontinuierliche „Ausweitung der Vergnügungs28statt. Nur noch wenige Teile der Welt sind heute nicht touristisch peripherie“ erschlossen. Billige Flüge haben geographischen Distanzen ihre abschreckende Wirkung genommen. Neben der kontinuierlichen Erweiterung des Angebots war auch im späten 20. Jahrhundert ein bemerkenswertes Wachstum derNachfrage zu verzeichnen. Immer mehr Menschen fuhren in den Urlaub unddie Zahl der Urlaubsreisen pro Person nahm ebenfalls zu. Der Tourismus wird vielleicht einmal als das ultimative Konsumgut bezeichnet werden, da es als Produkt fast unbegrenzt modifizierbar ist. Wie dem Konsum als Ganzem wohnt dem Tourismus eine Wachstumsdynamik inne, die trotz erheblicher ökologischer Probleme noch weit voneiner Sättigung entfernt zusein scheint. Weil dertouristische Blick zent25 Vgl. Urry: Tourist Gaze (wie Anm. 18), S. 5. 26 Turner, Louis/John Ash: The Golden Hordes: International Tourism and the Pleasure Periph148. ery, London 1975, S. 140– 27 Eco, Umberto: Travels in Hyperreality, London 1986, S. 43f. 28 Turner/Ash: Golden Hordes (wie Anm. 26), S. 124 u. 12.
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ral und im Wesentlichen eine konstruierte Erfahrung ist, gibt es beträchtlichen Spielraum für Innovation. Die Geschichte des Tourismus war eine Abfolge von Erfindung undständiger Neuerfindung. Der Tourismus ist bislang flexibel genug gewesen, die wichtigsten Veränderungen in denökonomischen, sozialen, kulturellen undpolitischen Rahmenbedingungen zuüberleben. Er verleibte sich neue Lebensstile undModen, sich wandelnde Erwartungshaltungen undVorlieben sowie dieLaunen undplötzlichen Einfälle derKunden einundverstärkte sie.
3. DerTourismus als Schrittmacher derKonsumgesellschaft Der Tourismus gehört nicht zu den biologisch verankerten Grundbedürfnissen, sondern zurSphäre dervonAdam Smith als „ decencies anddesires“(„ Nettigkeiten und Luxuswünschen“ ) bezeichneten Bedürfnisse, deren Befriedigung überschüssige Kaufkraft erfordern undkonstitutiv für moderne Konsumgesellschaften ist. Diese zeichnen sich nach John Brewer durch die Möglichkeit von Dispositionskonsum undElementen der „ freien Wahl“aus, durch die steigende Bedeutung von Freizeit und symbolischen Zuschreibungen in den „Sphären des Geschmacks, derMode unddes Stils“ . Hinzu treten die zunehmende Selbstdefinition der Menschen als Konsumenten und die dadurch ausgelösten Kontroversen mit denGegnern eines solchen Weltbildes.29 Diese Elemente sind in der Geschichte des Tourismus allesamt vorhanden. Von Anfang an war er ein umkämpftes, verspottetes undscharf kritisiertes Phänomen. Sie „erinnerten mich an eine Meute Schoßhunde vor der Fütterung“ ,30 schrieb ein Journalist auf einer von Cooks Touren durch die Schweiz in den 1860er Jahren. Ein anderer Kritiker fühlte sich an „ Verurteilte“erinnert, „ die 31Hintergrund dieser nicht länger nach Australien deportiert werden konnten.“ Urteile warder auf Pauschalreisen lastende Zwang, sich in vorgefertigte Strukturen einzupassen, strikte Zeitpläne einzuhalten und die Anordnungen von Reiseführern zubefolgen. Daneben spielte immer auch die Abwehr vonEindringlingen
in bislang exklusive Territorien eine Rolle. Besonders diejenigen, die denalleinigen Zugang zu bestimmten Reisezielen verloren, profilierten sich lange Zeit als stärkste Widersacher derPopularisierung desReisens. Die Proteste gegen die Ausweitung des touristischen Marktes waren stets eingebettet in Diskurse umdas Verhältnis vonKonsum undStatus im Allgemeinen. 1865 verglich die Pall Mall Gazette Thomas Cook mit einem „ billigen Schneider“ , der einen Kunden bedient, der „sich für möglichst wenig Geld wie ein 29 Vgl. Brewer, John: Waskönnen wir aus der Geschichte der frühen Neuzeit für die moderne Konsumgeschichte lernen?, in: Siegrist, Hannes/Hartmut Kaelble/Jürgen Kocka (Hg.): Europäische Konsumgeschichte. Zur Gesellschafts- und Kulturgeschichte des Konsums (18.– 20. Jahrhundert), Frankfurt/M./New York 1997, S. 51– 74. 30 Zit. in: Brendon: Thomas Cook (wie Anm. 21), S. 82f. 31 Ebenda, S. 89.
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Gentleman auszustaffieren versucht“ .32Sogar der russische Radikale Alexander Herzen beschwerte sich 1862: „ Alles –dasTheater, Urlaubsreisen, Bücher, Bilder und Kleider –hat an Qualität verloren und gleichzeitig zahlenmäßig überhand genommen [...] Überall liegt die hunderttausendköpfige Hydra auf derLauer [...], umsich wahllos alles anzuschauen, in alles Mögliche gekleidet undalles nurErdenkliche verschlingend.“33Diese diskursive Verflechtung wirft ein bezeichnendesBild aufdiezentrale Rolle desTourismus bei derHerausbildung derKonsumgesellschaft. Es stellte ein Terrain dar, auf demdie Grenzen des legitimen Konsums verschoben wurden, in demsich Märkte undZugangsberechtigungen erweiterten –argumentativ undrealiter. Thomas Cook, derErfinder derPauschalreise, wandte sich explizit gegen die Vorstellung vom Reisen als Privileg. Als typischer Verfechter des Freihandels vertrat er die Ansicht, dass die Erweiterung des Marktes mit derzivilisatorischen Weiterentwicklung des Menschengeschlechts gleichzusetzen sei: „ In unseren Tagen des Fortschritts ist es unzeitgemäß, von diesem exklusiven Unsinn zu sprechen. [...] Eisenbahnen undDampfschiffe sind dasErgebnis allgemeiner Erkenntnisse derWissenschaft, undsie gehören allen Menschen.“34 Urlaubsreisen waren nicht nur prestigeträchtige Konsumgüter, sondern auch eng verwoben mit anderen für die Ausbildung der Konsumgesellschaft bedeutsamen Waren und Praktiken. Der Massentourismus bereitete neuen Formen des Konsums unddes sorgloseren Umgangs mit Geld denWeg, zuerst natürlich „ nur im Urlaub“ , später dann aber auch zu Hause. Es fand also eine Art Einübung in denexpansiven Verbrauch statt, ja sogar zuweilen schon in denÜberfluss. In gewisser Hinsicht entwickelten sich die holiday resorts zu Übungsfeldern eines großzügigeren Lebensstils unddieTouristen zu„ Konsumenten parexcellence“.35 Andererseits war die Beziehung von Tourismus und Konsum jedoch voller Ambivalenzen. So verstärkte der Tourismus Werte wie Sparsamkeit undDisziplin, da die meisten Urlauber aus den Mittelschichten undder Arbeiterschaft das ganze Jahr über eisern für ihren Urlaub sparen mussten. Die Anstrengungen, auch ja keine Sehenswürdigkeit der Besichtigungstour zu verpassen, keine Minute der wertvollsten Zeit des Jahres“ungenutzt verstreichen zu lassen oder sich auf der „ Promenade in Brighton als respektabler Bürger darzustellen, enthielten starke disziplinierende Elemente undz.T. sogar die Projektion desArbeitsethos in die Freizeit. Andererseits wurden Ferien zu einer Zeit sorgloseren Konsums unddesentspannteren Umgangs mitGeld.
32 Zit. in: Ebenda, S. 90. 33 Zit. in: Engerman, David: Research Agenda for the History of Tourism: Towards an International Social History, in: American Studies International 32 (1994), S. 3– 31, hier S. 12. 34 Zit. in: Feifer, Maxine: Going Places: the Ways of the Tourist from Imperial Rome to the Present Day, London 1985, S. 168f. 35 Reulecke, Jürgen: Kommunikation durch Tourismus? Zur Geschichte des organisierten Reisens im 19. und20. Jahrhundert, in: Pohl, Hans (Hg.): Die Bedeutung derKommunikation für 378, hier S. 377. Wirtschaft undGesellschaft (VSWG, Beiheft 87), Stuttgart 1989, S. 358–
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DerTourismus zog eine ganze Reihe von Industrien nach sich, vonder Souvenir-Produktion bis zurMassenunterhaltung. Viele neue Konsumgüter wie Kosmetika undFotoapparate fanden ihren Wegauf die Massenmärkte über die Tourismus-Schiene. Der weltweit größte Musikinstrumentenhersteller, die württembergische Hohner AG, vermarktete mit großem Erfolg Harmonikas, die zugleich Souvenirs waren undz.T. denNamen undBilder desjeweiligen Badeortes trugen. Die entspannte Atmosphäre in denTourismuszentren eignete sich aber auch vortrefflich dazu, Verkaufs- undWerbeveranstaltungen durchzuführen, die keinerlei Urlaubsbezug aufwiesen. Hier ließen sich einem großen Publikum neue Produkte vorstellen. In den USA betrieb Heinz, der bekannte Hersteller von Ketchup und Büchsennahrung, in Atlantic City einen eigenen Pier, in dem Produktvorführungen, Ausstellungen undVorträge stattfanden undGratisproben verteilt wurden. Im Sommer hatte derPier bis zu 15.000 Besucher proTag. Zwischen 1899 und1944, als ein Hurrikan diese beliebte Institution unwiederbringlich zerstörte, kamen insgesamt ca. 50 Mio. Menschen.36 Die Badeorte wurden des Weiteren zu einem wichtigen Ansatzpunkt für die Kommodifizierung der Politik. Während der zollpolitischen Debatte im Vorfeld der Unterhauswahl des Jahresendes 1910 nutzten beide Seiten die Chance, im Sommer auf die in denBadeorten anwesenden Massen mitTausenden vonVeranstaltungen einzuwirken. Ein breiter Strom vonpolitischen Vorträgen, Ausstellungen, Musik- und Bühnendarbietungen ergoss sich auf die Touristen, die diese neuartige Form derals Entertainment verpackten Agitation Seite an Seite mit Eiscremeständen, Wahrsagern, Karussells und Straßenmusikern goutierten. Dabei kamen neuste Werbe- undUnterhaltungsmedien wie die beliebten „ magischen“ Lichtbildershows zum Einsatz, welche die Urlauber in großen Zahlen in ihren Bann zogen unddie Zolldebatte auf ebenso eingängige wie grobschlächtige Klischees reduzierte. Der Unterhaltungswert warso groß, dass manche Urlauber ihren Aufenthalt verlängerten, umweiter an den beliebten Massenveranstaltungen teilnehmen zu können.37 Die Verschmelzung von Tourismus und Konsum lässt sich u.a. auch daran ablesen, dass Warenhäuser, diese ebenso bewunderten wie verhassten Kathedralen des Konsums, schon bald zu Touristenattraktionen eigenenRechts undzumfesten Bestandteil vonStandardtouren großstädtischer Reise-
36 Vgl. Alberts, Robert C.: The Good Provider. H. J. Heinz andhis 57 Varieties, Boston 1973, S. 131ff. Eine kurze Zusammenfassung der Firmengeschichte bietet Nancy F. Koehn: Henry Heinz and Brand Creation in the Late Nineteenth Century: Making Markets for Processed Food, in: Business History Review 73 (1999), S. 349– 393. Zur Funktion der Badeorte als „Produktbühnen“in Deutschland jetzt auch Rainer Gries: Produkte als Medien. Kulturgeschichte derProduktkommunikation inderBundesrepublik undderDDR, Leipzig 2003. 37 Vgl. Trentmann, Frank: Vergangenheit, Zukunft und die Inszenierung von Wirklichkeiten. Politische Ökonomie und politische Kommunikation in Großbritannien zu Beginn des 20. Jahrhunderts, in: Berghoff, Hartmut/Jakob Vogel (Hg.): Wirtschaftsgeschichte als Kulturgeschichte. Dimensionen eines Perspektivenwechsels, Frankfurt/M./New York 2004 (imDruck).
212
Hartmut Berghoff
führer wurden. Manche Kaufhäuser organisierten
gar Führungen im eigenen
Haus.38
Ein großer Schritt in Richtung des standardisierten Massentourismus vollzog
sich zwischen der Jahrhundertwende und dem Zweiten Weltkrieg. Der Trade
Union Congress erklärte 1911 das Recht der Arbeiter auf bezahlten Urlaub zu einem seiner Hauptziele. DasInternationale Arbeitsamt in Genf, 1919 als Teil der Vereinten Nationen gegründet, setzte sich mit Nachdruck dafür ein, Urlaub als staatsbürgerliches Grundrecht anzuerkennen. Im faschistischen Italien entstand 1925 die Opera Nazionale Dopolavoro mit dem Ziel, die Freizeitgestaltung der Massen zureorganisieren undbreiten Volksschichten eine Ferienreise zuermöglichen. In den 1930ern übernahmen die französische Volksfrontregierung unddie deutsche Organisation Kraft durch Freude (KdF) Elemente des italienischen Modells undboten touristische Angebote zu erschwinglichen Preisen an. In Großbritannien setzte schließlich 1938 derHoliday with Pay Act den bezahlten Urlaub als politisch garantiertes Grundrecht durch. Dies geschah zueiner Zeit, in derihndie meisten europäischen Nationen ebenfalls einführten oder sogar bedeutend ausweiteten. DerStaat förderte aufdiese Weise nunmassiv dieEntwicklung desMassentourismus und setzte den Grundsatz der allgemeinen Verfügbarkeit gegenüber dem des Privileges sozialer Eliten und einzelner Beschäftigtengruppen mit entsprechend günstigen Tarifverträgen durch.39 Die Bedeutung dieser politischen Entscheidung offenbarte sich erst nach dem Krieg. Doch bereits in den späten 1930er Jahren erreichte der organisierte, hochgradig standardisierte Tourismus dasKleinbürgertum unddie Arbeiterschaft. Anders als in Deutschland undItalien gab es in Großbritannien aber keine staatliche Großorganisation für den Sozialtourismus. Freiwillige, nicht gewinnorientierte Körperschaften wie die Polytechnic Touring Association, die Cooperative Holidays Association, die Worker’s Travel Organisation und eine Reihe regionaler undlokaler Vereinigungen waren imVergleich zuKdF winzig, fügten sichjedoch insgesamt zueinem ausgedehnten Netzwerk zusammen. Hinzu kamen die großen kommerziellen Holiday Camps, die vonBilly Butlin undanderen in den 1930er Jahren gegründet wurden. Die Idee, eine Woche im Camp zu verbringen, stammte ursprünglich aus nichtkommerziellen Bewegungen
38 Vgl. Grossick, Geoffrey/Serge Jaumain: The World of the Department Store: Distribution, Culture and Social Change, in: Dies. (Hg.): Cathedrals of Consumption. The European Department Store 1850– 1939 (The History of Retailing andConsumption), Aldershot 1999, S. 1–
45, hier S. 29. 39 Vgl. Furlough, Ellen: Making Mass Vacations: Tourism and Consumer Culture in France, 286; Maase, 1930s to 1970s, in: Comparative Studies in Society andHistory 40 (1998), S. 247– 1970 (Europäische Kaspar: Grenzenloses Vergnügen. Der Aufstieg der Massenkultur 1850– 195; Keitz, Christine: Reisen als Leitbild. Die EntsteGeschichte), Frankfurt/M. 1997, S. 188– hung desmodernen Massentourismus in Deutschland, München 1997; Liebscher, Daniela G.: Organisierte Freizeit als Sozialpolitik. Die faschistische Opera Nazionale Dopolavoro unddie NS-Gemeinschaft Kraft durch Freude 1925– 1939, in: Petersen, Jens/Wolfgang Schieder (Hg.): 90. Faschismus undGesellschaft in Italien. Staat –Wirtschaft –Kultur, Köln 1998, S. 67–
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wie den Pfadfindern. Die Holiday Camps organisierten einen kollektiven, preisgünstigen Urlaub, der KdF-Funktionären in mancher Hinsicht gefallen hätte. Es waren strenge Regeln und Zeitpläne einzuhalten, Lautsprecher weckten die „ Camper“auf und schickten sie ins Bett, es gab uniformierte Animateure, das gemeinschaftliche Aufsagen von Sprüchen und Singen von Liedern sowie eine starke Gewichtung von Gruppenaktivitäten und Sport. Der Leitspruch der 1937 gegründeten Camps Billy Butlins lautete: „ Ourtrue intent is all for your delight.“40 Nach 1945 entwickelte sich der bezahlte Urlaub zu einem fast universalen Standard aller westlichen Gesellschaften, zurabsoluten Selbstverständlichkeit. Er wurde vom Staat oder durch Tarifverträge garantiert. Selbst Arbeitslose haben heute ein Recht auf ihn. Während dieser Universalisierung desUrlaubs kamen die Demonstrationseffekte des Tourismus erneut zum Tragen. Er lehrte die Menschen, ihre im Krieg noch einmal verstärkte Sparsamkeit wenigstens temporär zu suspendieren. In den 1950er und 1960er Jahren trug der Tourismus dazu bei, einenneuen, sorgloseren Lebens- undKonsumstil zupopularisieren. Nicht vonungefähr traf dieser Wendepunkt von der kargen zur üppigen Lebensweise zusammenmitderBlütezeit derHoliday Camps. Sie boten eine billige, hochorganisierte Form des Massenurlaubs. Anfangs waren Unterbringung und Verpflegung noch einfach unddie Betreuung recht streng. Jedoch trugen Animateure, die u.a. komische Wettbewerbe wie die Wahl der glänzendsten Glatze oder des hässlichsten Gesichts des Camps veranstalteten, zu einer besonders lockeren Atmosphäre bei und erleichterten das Knüpfen neuer Bekanntschaften. Noch heute schwärmen Veteranen der Camps von den wunderbaren Gemeinschaftserlebnissen nach den Entbehrungen des Krieges. Die Frauen genossen eine Woche völliger Befreiung vom Kochen und anderen häuslichen Mühen. Auch die Betreuung der lieben Kleinen übernahm dasCamp. Neben solchen Dienstleistungen boten die Feriencamps ihren Kunden einen Einblick in künftige Konsumwelten undbrachten sie in Kontakt mit Luxus und Glamour. Die Holiday Camps erweiterten den Horizont der Verbraucher undließen ihre Sehnsüchte aufblühen. Die Botschaft lautete: „Betrete dieses Reich der Ausgelassenheit, eines Tages könnte ihmdie Welt draußen ähneln.“Es gabreichlich zuessen undzutrinken, Swimming Pools undTanzsäle, Bühnenunterhaltung undVergnügungsparks. Prominente aus Showbusiness undSport traten auf. „ Die Bilder waren verdichtet undineinander verwoben, sie erschufen ein Traumland. Hawaii-Bars undvietnamesische Kaffeestübchen, Hollywood-Terrassen undSüdseeschwimmbecken, Luxus-Ballhäuser undSonnendecks, die nach Atlantikschifffahrtslinien benannt waren ...“ 41Ende der 1950er Jahre verkörperten die Camps 40 Butlin hatte ihn auf einer Kirmes aufgeschnappt undoffenbar erst Jahre später erfahren, dass es sich umein Zitat aus Shakespears Summernight’s Dream handelt. Zu Butlin siehe seine Autobiographie: The Billy Butlin Story. “ A Showman to the End” , London 2002. Vgl. auch Ward, Colin/ Denis Hardy: Good Night Campers! The History of the British Holiday Camp, London 1990.
41 Ebenda, S. 147.
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Hartmut Berghoff
die entstehende Überflussgesellschaft. 1961 hatte ein Besucher den Eindruck, in Manläßt die Sorgen derFabrik hinter die„Apotheose desKonsums“einzutreten: „ sich [...] undbetritt dasTraumland, dassich hinter dermodernen Industriegesellschaft verbirgt. Es ist, als lebe man in einer Fernsehwerbung. [...] Alle Zigarettenmarken werden an denWänden beworben; [...] Zeitungen sponsern die unzähligen Wettbewerbe [...] Radio Butlin’s beschallt die gesamte Anlage mit einer 42 halben Stunde Werbung pro Tag.“ Die Holiday Camps, die ihre große Zeit zwischen 1950 und 1970 erlebten, erlaubten es Millionen Menschen mitbescheidenem Einkommen, ihre ersten Ferienreisen anzutreten undneue Konsumwelten kennen zu lernen. Der Aufstieg dieser Form des kollektiven Massentourismus koinzidierte allerdings auch mit der Verbreitung neuer und alter Typen des Individualreisens, die deutlich weniger stark in denKontext der entstehenden Wohlstandsgesellschaft eingebettet waren. Linienbusse, Motorräder und–fürdiebesser Betuchten –Autos undWohnwagen erwiesen sich als bedeutende Kraft der Entstandardisierung. Weiter verstreute Unterbringung in kleinen Hotels undPrivatpensionen, aber auch dasCampingzelt eröffnete Individualreisenden Übernachtungen abseits derausgetretenen Pfade des Massentourismus.
In den 1950er und1960er Jahren verursachten die hohen Wachstumsraten der Wirtschaft, steigende Reallöhne und sinkende Arbeitszeiten einen beispiellosen Tourismusboom. Der Zugang zu billigen Reisezielen außerhalb Großbritanniens unddie sinkenden Kosten des Flugverkehrs ließen die Zahl der Auslandsreisen von Briten von 1,6 Millionen (1955) auf 16 Millionen (1986) ansteigen.43 In diesemProzess spielte die standardisierte Pauschalreise eine Schlüsselrolle. Sie führte viele Briten zumersten Mal ins Ausland, genauer zumeist in die künstlichen Gefilde abgezäunter Hotels an der Mittelmeerküste. „ Blackpool mit Sonne“spotteten Kritiker. Gleichwohl brachen viele dieser Pauschaltouristen schon bald aus den vorgefertigten Schablonen aus und erschlossen sich mit großer Kreativität individualistischere Formen desUrlaubs.44 Als die Touristen die britische Küste zunehmend zugunsten sonnigerer Gefilde aufgaben, blieb ihnen der Vorführeffekt dicht auf den Fersen. Urlaubsreisen veränderten die englischen Ernährungsgewohnheiten grundlegend undpopularisierten Versatzstücke der mediterranen Küche. In den 1970ern und 1980ern gewöhnten sich viele Engländer imAuslandsurlaub an Kreditkarten, die sie dann zu Hause weiter verwendeten. Die Mode- unddie Kosmetikindustrie koppelten ihre Produkte an touristische Bilder, indem sie ihre Werbespots an exotischen Stränden ansiedelten. In der Fernsehwerbung fuhren Autos auf leeren Straßen durch spektakuläre Landschaften, wenn nicht gar entlang von Stränden. Die unter42 Zit. in: Ebenda, S. 158. 43 Cormack: History (wie Anm. 4), S. 109 u. 112. 44 Vgl. Wright, Sue: Sun, Sea, Sand andSelf-Expression. Mass Tourism as an Individual Experi202. ence, in: Berghoff: Modern Tourism (wie Anm. 4), S. 181–
. DieEntstehung desmodernen Tourismus All foryourdelight“ „
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schwellige Botschaft lautet: Kauf dieses Produkt, unddasUrlaubsgefühl wirdTeil deines Alltags. Urry spricht von einer fortschreitenden „Ent-Differenzierung von Freizeit, 45Messen, Ausstellungen, Tourismus, Einkaufen, Kultur, Bildung, Essen usw.“ Werbung, Einkaufszentren, Hotels, Restaurants, Kneipen undFreizeitzentren zitieren zunehmend touristische Bilderwelten undpositionieren sich mit Hilfe urlaubsbezogener Themen. Supermärkte rufen italienische Wochen aus undbauen deutsche Weindörfer auf. Hotels bieten arabische Suiten an. Guinness hatHunderte von Irish Pubs auf demganzen Kontinent eröffnet, die in irisch anmutenden Einrichtungen z.T. sogar irisches Personal beschäftigen. Die durchschnittliche Einkaufsstraße der westlichen Welt vereinigt eine beeindruckende Ansammlung von Urlaubsthemen. Einer der wichtigsten Trends der fortgeschrittenen Konsumgesellschaft besteht in der Einführung wachsender Zahlen touristischer Bilder in den Alltag. Auch in dieser Hinsicht ist der Tourismus sowohl Symbol als auch Motor desKonsums.
4. Zusammenfassung In derTat handelt es sich beim Aufstieg des Massentourismus undder Konsumgesellschaft umeng miteinander verzahnte Phänomene. Jedoch greift die Verortung des Tourismus als Kind der Industrialisierung zu kurz, da die vormodernen Vorläufer kulturell eine sehr wichtige Rolle gespielt haben, auch wenn derDurchbruch zumwirklichen Massenphänomen erst mit Hilfe der von der Industrialisierung erzeugten Kaufkraft undihrer Technologien gelang. Keineswegs lässt sich das Klischee halten, der Tourismus sei eine von oben nach unten abgesunkene Praktik. Vielmehr kamen die Impulse sowohl von oben als auch von unten. Das „Produkt“der Tourismus-Industrie ist äußerst vielfältig
undvariabel. Die Bandbreite reicht von der Erholung bis zur Bildung, von der Selbstfindung bis zumStatussymbol. Schließlich konnte gezeigt werden, dass der Tourismus vielfach die Ausbildung neuer, konsumaffirmativer Dispositionen vorangetrieben unddie Grenzen des Verbrauchs expansiv verschoben hat. DerTourismus ging besonders nach 1945 eine sehr enge Verbindung mit der Mentalität der Konsumgesellschaft ein. Die Urlaubsorte wurden zu „Spielplätzen des Konsums“(Ernest Zahn). „ Die Werte, die der moderne Massentourismus verkörpert, individuelle Auswahl, Vergnügen, Selbs tverwirklichung, ... Überfluss undKomfort, Schönheit und Jugend ..., prägten die Werte der Konsumkultur der Nachkriegszeit. Diese Verbindung eskapistischer, lustbetonter und individualistischer 46verwies auf individualistische, vorrangig mittels kommerzieller Anbieter Werte“ zubefriedigende Bedürfnisse. Insofern warundist der Tourismus ein Motor der Konsumgesellschaft.
45 Urry: Tourist Gaze (wie Anm. 18), S. 152. 46 Furlough: Vacations (wie Anm. 39), S. 284f.
Franz Baltzarek Korreferat zu Hartmut Berghoff „ All foryour delight“ . DieEntstehung desmodernen Tourismus undderAufstieg
derKonsumgesellschaft
ImAnschluss andas Referat vonHerrn Berghoff möchte ich eingangs stärker als mein Vorredner hervorheben, dass der Massentourismus wesentlicher Teil der heutigen Konsumgesellschaft ist unddass der Wegzummodernen Massentouris-
mus einen wichtigen Indikator für die zunehmende Globalisierung unter der Dominanz der Wirtschaftstriade USA, Europa/EU und Japan darstellt. Die Entstehung undEntwicklung des Massentourismus ist weiter auch ein bedeutender Faktor für die Tertiarisierung der hochentwickelten Wirtschaften seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Heute ist der Massentourismus quantitativ in etwa dem Anteil der Erdölwirtschaft am Weltsozialprodukt vergleichbar. Auf der Nachfrageseite ist Massentourismus ein Phänomen der reichen Länder, denn nur sie können sich Konsum imZusammenhang mitTourismus leisten. Aber auch auf der Angebotsseite sind heute die Marktanteile der Einkünfte aus demTourismus auf die weltbeherrschende Triade Europa, Nordamerika, Ostasien undPazifik mit ca. 75 % konzentriert. Im zweiten Teil meiner Ausführungen versuche ich stärker die Grundlagen herauszuarbeiten, ohne dieMassentourismus nicht denkbar wäre. Diese umfassen 1. die allgemeine und durchschnittlich höhere Kaufkraft und Nachfrage von Konsumenten in denseit derzweiten Phase der Industrialisierung hochentwickelten Ländern. Allgemein wurde dieses Stadium nach demZweiten Weltkrieg endgültig erreicht. Die Entwicklung war eingebettet in ein System, das sozialen Aufstieg für breite Schichten der Bevölkerung ermöglichte. Nicht mehr nureine kleine Elite von Adeligen, Großbürgern etc. wie früher konnte touristische Wünsche/Angebote realisieren, sondern ein Mindestmaß an bürgerlicher Gleichheit und sozialer Nivellierung nach oben bei gleichzeitiger Abschleifung von Konsumhierarchien ließ jetzt Mittelschichten unter Einschluss von Arbeiterschaft und bäuerlichen Kreisen an den Segnungen des gehobenen Konsums und damit des Tourismus teilhaben. Jetzt war es erst möglich, dass breite Bevölkerungsschichten über ihre elementaren Grundbedürfnisse, Abdeckung vonSicherheit undsozialer Kontakte hinaus, gemäß der Maslowschen Bedürfnispyramide stärker in die Befriedigung von sogenannten„Wachstumsbedürfnissen“, wiezumBeispiel Tourismus, gehen konnten.
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Franz Baltzarek
2. Die Entwicklung besserer Personentransportbedingungen unddadurch erhöhte Mobilität beflügelten denMassentourismus. Ich erwähne nurdieverbesserten Infrastrukturen an Straßen, Wasserkanälen, Eisenbahnlinien, Autobahnen undFluglinien, dentechnischen Fortschritt bei denFortbewegungsmitteln von
3.
der Postkutsche der alten Zeit über Eisenbahnen, Seilbahnen, Dampfschiffe, Autos, Autobusse undFlugzeuge, schließlich die Entwicklung derNachrichtentechnik. Alles technische Fortschritte, wie sie in ununterbrochener Folge seit derIndustriellen Revolution in immer wirkungsvollerer Weise zurVerfügung stehen. Freizeit muss in größerem Maßvorhanden sein unddie Gesellschaft muss ihr auch einen entsprechenden Stellenwert zumessen. Dies drückt sich in der gesetzlichen Festlegung des Urlaubsanspruches mit Entgeldfortzahlung für Arbeitnehmer aus, auch in demgesetzlich geregelten Eintritt in das Pensionsalter. Beides hatdentouristischen Konsum wesentlich vermehrt.
Im dritten Teil meiner Betrachtung gehe ich kurz auf die Ansätze unddenDurchbruch des Massentourismus ein. Zeitlich gilt heute als absoluter Durchbruch zum Massentourismus die Periode nach dem Zweiten Weltkrieg, als sich unsere Wohlstandsgesellschaft zuetablieren begann. Allerdings gabes Vorläufer, die für gesellschaftliche Einübung undfür anspornende Visionen nicht unterschätzt werdendürfen. Neben dembesonderen Bereich der Pilgerreisen, die schon sehr früh Massenhaftigkeit desReisens in allen sozialen Schichten hervorriefen, orte ich auf demWeg zumMassentourismus Vorläuferschichten und-gesellschaften, geografisch und sozial begrenzt, in denen Massentourismus-Anläufe kultiviert und durchexerziert wurden unddie teilweise wichtige Erfahrungen für späteren Massenkonsum vorwegnahmen. In erster Linie kommt dafür der Bädertourismus in Frage, dann dieverschiedenen „adeligen Kavalierstouren“ . Zeitlich-örtlich lassen sich die Massentourismus-Anläufe etwa folgendermaßengliedern: Vor der Industriellen Revolution im 17./18. Jahrhundert: elitäre Schichten in Holland, in denitalienischen Stadtstaaten undin England, im 19. Jahrhundert (etwa nach 1860) urbane bürgerliche Schichten Europas. Als besonders wichtigen Vorläufer erwähne ich schließlich die USA nach dem Ersten Weltkrieg bis zur Weltwirtschaftskrise. Es war die erste moderne Konsumgesellschaft, in der Massenkonsum an dauerhaften Konsumgütern exerziert undMassentourismus gelebt wurde. Auf demWegzumMassentourismus –undunabhängig vomhohen Einkommensniveau einer Bevölkerung –gibt es allerdings auch noch historisch gesehen einen nicht marktmäßigen planwirtschaftlichen oder kommandowirtschaftlichen Weg, der auf Massentourismus abgezielt undin Kontinentaleuropa seit den 30erJahren bis zumZweiten Weltkrieg eine große Rolle gespielt hat: der staatlich verordnete Massentourismus, wie er im Dopo lavoro Italiens und in der KdFOrganisation des Dritten Reiches Bedeutung erlangte. Ähnlich verliefen auch die organisierten massentouristischen Anstrengungen in den kommunistischen Staaten nach demZweiten Weltkrieg bis 1989.
Korreferat
zuHartmut Berghoff
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Abschließend werfe ich noch einen Blick auf denMassentourismus hinsichtlich der Anbieter- und der Nachfrageseite. Wie auch in anderen Bereichen des Konsums kames zurEntwicklung wegvomVerkäufer- zumKäufermarkt. Gerade
die Massenhaftigkeit desKonsums hat auf derAnbieterseite zur„Technisierung“ geführt. Dazu gehört in derProduktion undBereitstellung eine gewisse Homogenisierung von Grundelementen des Tourismus, „ Fordismus“ , Massenbereitstellung, Vorfertigung undPlanung. Es gehört aber auch dazu die Entstehung eines umfangreichen kommerziellen Unternehmertums als Vermittler und Informationskollektor. DerimReferat erwähnte Thomas Cook als Erfinder derPauschalreise ist dafür nur ein Beispiel. Zur „Technisierung“gehört aber auch die Ausbildung von Sphären des Geschmacks, des Stils, der Mode unter professionellem Regime geschickter Fachleute, Sozialforscher, Psychologen undKonsumentenberater, die allmählich rivalisierende undtraditionelle Werbeschienen wie Kulturberufe, Professoren, Lehrer undKünstler ablösten. Bei derNachfrageseite kames zu grundlegenden Veränderungen imtouristischen Verhalten. Wegvonderreinen Bildungsreise, vondenreinen Kuraufenthalten undvonreligiösen Reisemotiven hin zumTourismus ausbloßem Vergnügen, wegen Wellness- undSportaktivitäten, zu einem Wandel von der eindimensionalen Erholungsfunktion zummultifunktionalen Urlaub undzumTrend zuKurzreisen. Der “ Post-Tourist”desbeginnenden 21. Jahrhunderts repräsentiert eine neue Spezies, die nicht mehr Authentizität sucht, sondern bewusst wechselt zwischen verschiedenen Spielarten desReisens, zwischen Konsum in Aktivitäten des Relaxing, Wellness, Sport, Besichtigung undShopping. Höhepunkte sind gegenwärtig synthetische“Ferienwelten, Einkaufsmalls sowie Themen- und Vergnügungs„ parks, in denen die Welt zurBühne wird. In diesem Sinne sind die fünf vonHerrn Berghoff aufgeworfenen Fragen folgendermaßen zu beantworten: Massentourismus von heute ist Teil des allgemeinenMassenkonsums einer Massenkonsumgesellschaft als höchstem Stadium entwickelter Marktwirtschaften. Er ist nicht Folgeerscheinung der Industriellen Revolution, sondern diese warmitihren sozialen undeinkommensmäßigen Veränderungen wie auch ihren ständigen Abfolgen neuer technischer Fortschritte ein wichtiges „Schmiermittel“für Massentourismus. Tourismus ist wichtiger Spielplatz desMassenkonsums undwesentlicher Teil dermodernen Globalisierung.
Andreas Weigl
VomVersorgungsfall zur Zielgruppe. Konsumverhalten Wiener Kinder undJugendlicher zwischen Kinderausspeisung und Markenfetischismus. Wachsende Konsumbudgets, wachsende „ Kinderkosten“ ?
Der kürzlich verstorbene Soziologe Niklas Luhmann hat in seinem Werk „ Die der Gesellschaft“auf den eigenartigen Charakter der Konsumsphäre hingewiesen, die sich klassischen Dichotomien wie Kapital/Arbeit, Arbeitgeber/Arbeitnehmer oder Erwerbstätige/erhaltene Personen entzieht. Ob Unternehmer, Arbeiter, Hausfrauen, Jugendliche –so Luhmann – , Konsumenten sind sie alle, undauch ihre Konsumsorgen sind sich häufig ähnlicher als es ihre Position in der (Individual-)Einkommenspyramide vermuten ließe.1 Im besonderen Maß gilt das Gesagte für Kinder undJugendliche, eine Konsumgruppe, der mannoch zu Beginn des 20. Jahrhunderts jede Konsumautonomie weitgehend abgesprochen hatte. Im Folgenden soll amWiener Beispiel versucht werden zu zeigen, welchen Bedeutungswandel der Konsum von Kindern und Jugendlichen im 20. Jahrhundert durchlaufen hat und in welchem Verhältnis dieser Wandel zur elterlichen Wirtschaft
Stammkultur stand. Unter Kindern undJugendlichen werden in diesem Beitrag Personen verstanden, die nicht viel älter als 20jährig sind. Diese pragmatisch gewählte demografische Definition besitzt denVorteil dervollständigen Vergleichbarkeit imbetrachteten Zeitraum, wobei nicht geleugnet werden soll, dass im Sinne soziologischer oder psychologischer Definitionen Jugend in den letzten Jahrzehnten ein altersmäßig nach oben ziemlich offener Begriff geworden ist. Dennoch haben sich die Lebensphasen von Kindern undJugendlichen im 20. Jahrhundert nicht eigentlich ausdifferenziert. Eher kann von einem Ineinandergreifen widersprüchlicher AufundAbwertungen von Statuspassagen gesprochen werden.2 Schulabgang, Eintritt in das Berufsleben oder Heirat undFamiliengründung haben einen Bedeutungswandel durchlaufen, der sie als längerfristig gültige Zäsurparameter wenig geeignet erscheinen lässt.3 Psychologische Definitionen von Kindheit und Jugend wie-
1 2
3
Niklas Luhmann: Die Wirtschaft derGesellschaft. 2. Aufl., Frankfurt a. M. 1989, S. 164– 166. Christina Benninghaus: Die Jugendlichen, in: Ute Frevert/Heinz-Gerhard Haupt (Hg.): Der
253, hier S. 234– 237. Mensch des20. Jahrhunderts. Frankfurt a. M./New York 1999, S. 230– Michael Mitterauer: Sozialgeschichte derJugend. Frankfurt a. M. 1986, S. 25f.
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Andreas Weigl
derum, die die aktive Entwicklung der eigenen Persönlichkeit als zentralen Indikator sehen, sind historisch-empirisch kaumüber längere Zeiträume zuverfolgen. Die Etablierung von „reifen“Konsumgesellschaften in den entwickelten Industrieländern warmit einer beträchtlichen Zunahme der Konsumautonomie verbunden. Klassenspezifische Konsummuster wurden auf der Basis geänderter innerfamilialer Distribution der Haushaltseinkommen durch generationenspezifische überlagert; der Prozess der Individualisierung bildete sich in der Konsumsphäre in einer neuen Unübersichtlichkeit vonKonsumstilen ab, Konsumstile, die sich einer simplifizierenden Klassenzuordnung zunehmend entziehen, ohne freilich in Form der „feinen Unterschiede“(Pierre Bourdieu) ihre distinktive Bedeutung völlig verloren zuhaben. Selbst wenndierealen Massenhaushaltseinkommen jedoch stagnierten oder fielen, wiedasimFall vonWien mehr oder minder fürdie Jahrzehnte vor denWirtschaftswunderjahren zutrifft, musste das nicht notwendigerweise zueiner Verringerung derKonsumautonomie beitragen, damit derEtablierung einer umfassenden „ Wohlfahrtspolitik“im „ Roten Wien“öffentliche, im konkreten Fall kommunale, Verteilungspolitik eine zunehmend bedeutendere Rolle in der Wiener Konsumgeschichte zu spielen begann. Als Konsumautonomiemultiplikator erwiesen sich in derersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zunächst vor allem das Einfrieren eines erheblichen Teils der Mieten ab 1917, der Bau kommunaler Sozialwohnungen und öffentliche Versorgungsleistungen, wie etwa Schulausspeisungen, die der Masse der Mittel- undUnterschichtenhaushalte bis zu einem gewissen, wenn auch bescheidenen, Grad mehr Dispositionsmasse für denmarktförmigen Konsum verschafften.4 In derzweiten Hälfte desJahrhunderts trat dazu zunehmend eine am Absatz von Massenkonsumgütern orientierte Konsumgüterindustrie, die ein Interesse an einer prinzipiellen Gleichheit der Konsumenten vor dem Markt entwickelte undKonsumverstärker wie Werbung, Mode undKredit förderte. Beide Autonomieschübe waren mit der Konsumgeschichte vonKindern undJugendlichen in spezifischer Weise verknüpft. Wie bereits angedeutet, verdankten im 20. Jahrhundert Wiener Kinder und Jugendliche ihr Dasein als Konsumenten in ganz hohem Ausmaß elterlichen oder öffentlichen Transferleistungen. Selbst erwachsene, im Haushalt lebende Kinder trugen nach denErhebungen derKammer für Arbeiter undAngestellte in Wien in derZwischenkriegszeit kaum 10 % zumgesamten Haushaltseinkommen von Arbeiter- undAngestelltenfamilien bei. Nach 1945 sanken die entsprechenden Anteile im längerfristigen Durchschnitt unter 1 %.5Selbstständige Einkommen bezogen Jugendliche vor allem als Lehrlinge. Diese bestanden vor 1918 in erhebli-
4
5
Hannes Siegrist: Konsum, Kultur und Gesellschaft im modernen Europa, in: Hannes Siegrist/Hartmut Kaelble/Jürgen Kocka (Hg.): Europäische Konsumgeschichte. ZurGesellschaftsund Kulturgeschichte des Konsums (18. bis 20. Jahrhundert). Frankfurt a. M./New York 48, hier S. 21. 1997, S. 13– Kammer für Arbeiter undAngestellte in Wien (Hg.): Wirtschaftssozialstatistisches)
(und
Jahrbuch der Kammer für Arbeiter und Angestellte
1969). S. 454f. 11(1936). S. 290f.; NF 11(1945–
in Wien 3(1926). Wien 1927, S. 346f.;
VomVersorgungsfall zurZielgruppe. Konsumverhalten Wiener Kinder
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chem Ausmaß ausNaturalleistungen undblieben auch in denfolgenden Jahrzehnten sehr bescheiden. Letzteres gilt wohl auch für die elterlichen Taschengelder in den urbanen Mittel- undUnterschichten vor den Wirtschaftswunderjahren. Seitdem haben diese allerdings an konsumgeschichtlicher Bedeutung gewonnen. Nach einer repräsentativen Erhebung ausdemJahr 2002 erhielten Wiener Kinder 15Jahren imDurchschnitt 48 EURproMonat anTaschengeld und imAlter von7– anlassbezogenen Geldgeschenken. Mehr als zwei Drittel der Befragten bekam regelmäßig Taschengeld.6 Das entsprach etwa 3 % des monatlichen Pro-Kopf-
Einkommens einer erwachsenen Person in einem Wiener Haushalt.7 Auch wenn die elterlichen Aufwendungen für Taschengeld und Geschenke unzweifelhaft in den letzten Jahrzehnten real zugenommen haben, so stellen sie doch nach wie vornureine untergeordnete Teilpost dergesamten „Kinderkosten“ dar. Entgegen populären Einschätzungen scheint sich seit derZwischenkriegszeit der durchschnittliche Anteil der „Kinderkosten“an den Haushaltsbudgets nicht gravierend geändert zu haben. Diesbezügliche Berechnungen finden sich angesichts derTabuisierung desThemas in derösterreichischen Innenpolitik allerdings nurspärlich. Der Statistiker Othmar Winkler legte 1948 eine auf Basis derEinzelhandelspreise beruhende Berechnung für4-Kind-Familien derZwischenkriegszeit vor. Sie ging im Bereich derErnährung vonanteiligen Ausgaben nach zeitgenössischen Schemata von Nahrungsverbrauchseinheiten aus. In den übrigen Konsumkategorien stützte sie sich auf durch retrospektive Befragungen erhobene Durchschnittsverbrauchsmengen für Bekleidung, Reinigung, Körperpflege und Gemeinkosten“im Bereich WohBildung und anteilige Zuordnungen von „ nen/Wohnungsausstattung.8 Bezieht man die von Winkler errechneten Werte auf die aus den Haushaltsrechnungen der Wiener Arbeiterkammer gewonnenen durchschnittlichen Haushaltsausgaben und Haushaltsgrößen von Arbeitnehmerhaushalten, dann lässt sich eine plausible Schätzung des Anteils der „ Kinderkos1934 geben. Demnach verschlangen diese Kosten in Mitfür die Jahre 1926– ten“ telschicht- undFacharbeiterfamilien Mitte der 1920er Jahre rund ein Drittel, Ende der 1920er ein Viertel undwährend der Wirtschaftskrise Mitte der 1930er Jahre 40 % desHaushaltsbudgets. Fürklassische Unterschichtenfamilien lagen die Anteile deutlich darunter. Sie erreichten in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre ein Viertel bis ein Sechstel, am Höhepunkt der Wirtschaftskrise an die 30 %. Zum Vergleich: Nach ökonometrischen Modellrechnungen betrugen im Jahr 1993 die monatlichen Haushaltsausgaben für Kinder in einem durchschnittlichen österreichischen Haushalt 7.400 von 26.000 ATS oder 28,5 %. Die Werte für ärmere Haushalte betrugen 3.300 von 13.000 ATS oder 25 %, die fürreichere 12.000 von
6
Institut
7
für Markt- und Sozialanalysen, Linz/D. (IMAS): Kinder-ÖVA (Österreichische Verbrauchsanalyse) 2002. Repräsentative Befragung unter 2.100 österreichischen Kindern. Eigene Berechnungen nach Statistik Austria: Verbrauchsausgaben 1999/2000. Hauptergeb-
8
nisse derKonsumerhebung. Wien 2001. Othmar Winkler: Der Wandel der Kinderaufzuchtkosten
1938 undsein Einin Wien 1926– 99. 1 (1948), S. 77–
fluss aufdenGeburtenrückgang, in: Statistische Vierteljahrschrift
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Andreas Weigl
40.000 ATS oder 30 %.9 Erheblich verändert hat sich allerdings die Gesamthöhe der realen Haushaltsbudgets. Nach den Ergebnissen der Österreichischen Konsumerhebung von 1999/2000 gaben Wiener Haushalte pro Kopf (Äquivalenzausgaben) rund 1.600 EUR aus. 1930 waren es gerade einmal 360 EUR (zu Preisen 2000).10 Es stellt sich daher die Frage: Besaßen Kinder undJugendliche in denersten beiden Dritteln des20. Jahrhunderts in einer weit verbreiteten „ Kultur derArmut“ überhaupt konsumgeschichtliche Relevanz? Im Sinne aktiver Konsumenten wohl kaum, aber wie stand es umihre passive Konsumentenrolle in einer Subsistenzökonomie undwelche Bedeutung besaßen öffentliche Versorgungsleistungen für ihren Konsumalltag?
Nahrungsmittelkonsum
undSubsistenz
Jede vor denWirtschaftswunderjahren einsetzende Konsumgeschichte muss wohl demNahrungsmittelkonsum eine zentrale Rolle zugestehen. Wohl wird etwa in Erinnerungen an Feier- undFesttage in Monarchie undZwischenkriegszeit deutlich, dass nicht nur für bürgerliche Kinder undJugendliche Spielwaren, Bücher undKleidungsgegenstände übliche Geschenke darstellten undauch über die Festtage hinaus für denkinder- undjugendbezogenen familiären Konsum eine gewisse Bedeutung hatten, doch belegen einschlägige Haushaltsstatistiken, dass sich dieser im Großen und Ganzen –mit Ausnahme einer dünnen Oberschicht –in relativ bescheidenen Grenzen hielt.11 Indirekt lässt sich das aus den unverändert hohen Anteilen derAusgaben für Ernährungs- undGenussmittel andengesamten
Konsumausgaben Wiener Arbeitnehmerhaushalte festmachen. Obwohl die Anfänge eines säkularen Bedeutungsrückgangs der Nahrungs- und Genussmittelausgaben für das Konsumbudget Wiener Haushalte zumindest bis in den Vormärz zurück reichen12, stand in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts für viele Wiener Kinder undJugendliche die bloße Subsistenz im Mittelpunkt ihres Konsuminteresses bzw. des Konsumverhaltens ihrer Eltern. Auch wenn mandie Kriegs- und Nachkriegsjahre des Ersten undZweiten Weltkrieges ausklammert, lagen die An-
9
Freundliche Mitteilung vonKarl Kollmann, Kammer fürArbeiter undAngestellte inWien. 10 Eigene Berechnungen nach Statistik Austria: Verbrauchsausgaben 1999/2000 (wie Anm. 7); Andreas Weigl: Zeitreihen zur Wiener Wirtschaft 1945– 2000, in: Statistische Mitteilungen 62, hier S. 49; Statistisches Jahrbuch der Stadt Wien NF der Stadt Wien 2001 (2/3). S. 3– 5(1938). Wien (1940), S. 146; Wirtschaftsstatistisches Jahrbuch 7(1930/31) (wie Anm. 5), S. 382f. 11 Heinz Blaumeiser/Eva Blimlinger (Hg.): Alle Jahre wieder ... Weihnachten zwischen Kaiserzeit undWirtschaftswunder (Damit es nicht verloren geht ... 25). Wien/Köln/Weimar 1993, S. 41, 296. 12 Roman Sandgruber: Ökonomie undPolitik. Österreichische Wirtschaftsgeschichte vom Mittelalter bis zurGegenwart (Herwig Wolfram (Hg.): Österreichische Geschichte). Wien 1995, S. 530.
VomVersorgungsfall zurZielgruppe. Konsumverhalten Wiener Kinder
225
teile derNahrungs- undGenussmittelausgaben durchwegs über 50%. Erst ab etwa 1950 setzte ein bis in die Gegenwart reichender kontinuierlicher Bedeutungsverlust dieser Ausgabenkategorie ein.13 Die entsprechenden Anteile variierten freilich gemäß dem „Engelschen Geje ärmer eine Familie, desto höher der Anteil der Ausgaben für Nahsetz“–„ rungsmittel“14–je nach Höhe des Haushaltseinkommens beträchtlich. Einzelne Befunde aus Haushaltsbüchern des gehobenen Wiener Bürgertums belegen entsprechende Anteile derNahrungs- undGenussmittel in den Jahren vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges von lediglich etwa 25– 30 %. Während derWirtschaftskrise der 1930er Jahre scheinen sie sich zwischen Arbeiter- undbürgerlichen Haushalten ein wenig angenähert zu haben. Die Unterschiede blieben jedoch beträchtlich.15 Dies trifft auch noch für die Wiederaufbaujahre zu. Noch umdie Mitte der 1950er Jahre konnten die Ernährungsausgaben in ärmeren, zumeist kinderreichen Wiener Familien an die 60 % des Haushaltsbudgets verschlingen.16 Erst in den Wirtschaftswunderjahren verloren sie auch für ärmere Haushalte an Bedeutung, sanken jedoch selbst zu Beginn der 1970er Jahre in derärmsten Haushaltskategorie kaum unter 40 %.17 Die erwähnten Haushalts-Konsumstatistiken sagen freilich noch nichts über die innerfamiliale Verteilung von Nahrungs- undGenussmitteln aus. Dass in den ersten Jahrzehnten des20. Jahrhunderts Kinder undJugendliche zumindest in den städtischen Unterschichten nicht gerade bevorzugt wurden, dokumentieren anthropometrische Befunde ebenso wie qualitative Reihenuntersuchungen. Mussten Wiener Unterschichtenkinder schon vor 1914 auch im Vergleich mit anderen großstädtischen Altersgenossen als unterdurchschnittlich ernährt gelten, verschlechterte sich die Situation in der unmittelbaren Kriegs- und Nachkriegszeit dramatisch.18 Die Nachkriegsgeneration wies eine durchschnittliche Körpergröße auf, wie sie im späten 18. Jahrhundert gemessen worden war.19 13 Roman Sandgruber: Die Anfänge der Konsumgesellschaft. Konsumgüterverbrauch, Lebensstandard undAlltagskultur in Österreich im 18. und19. Jahrhundert (Sozial- undwirtschaftshistorische Studien 15). Wien 1982, S. 385. 14 DazuGeorge J. Stigler: The early history of empirical studies of consumer behavior, in: Der233, hier S. 203. selbe: Essays in the history of economics. Chicago/London 1965, S. 198– 15 Marija Wakounig: Konsumverhalten des Wiener Bürgertums im 19. und20. Jahrhundert, in: Jahrbuch des Vereins für Geschichte der Stadt Wien 44/45 (1989). S. 154– 186, hier S. 179– 181.
16 Österreichisches Statistisches Zentralamt (ÖStZ)/Österreichisches Institut für Wirtschaftsforschung (Hg.): Der Verbrauch der städtischen Bevölkerung Österreichs. Ergebnisse der Konsumerhebung 1954/55. Wien 1956.
17 Kammer fürArbeiter undAngestellte in Wien (Hg.): Armut in Wien. Wien 1974, S. 17f. 18 Andreas Weigl: Demographischer Wandel undModernisierung in Wien (Kommentare zum Historischen Atlas vonWien 1). Wien 2000, S. 201f. 19John Komlos: Comments on the Economic Performance of the First Austrian Republic, in: Derselbe (Hg.): Economic Development in the Habsburg Monarchy and in the Sucessor States. NewYork 1990, S. 297– 301, hier S. 298.
226
Andreas Weigl
Tab. 1: Durchschnittliche Körpergröße unddurchschnittliches Gewicht vonWiener Schülern und 1994/95 Lehrlingen 1920–
a) Körpergröße in cm Jahr
Schulstufe
4.
1. männl.
weibl.
weibl.
männl.
9.
8. männl.
weibl.
männl.
weibl.
19201)
148
150
19211)
155
154
1946
117
117
1985/862)
122
120
1994/952)
121
3,6
132 141 141
147
154
166
162
121
132 141 142
167
163
3,5
7,3
6,7
13,5
5,6
Veränderung
1946/95
b) Gewicht in KG Jahr
Schulstufe
männl.
weibl.
weibl.
männl.
9.
8.
4.
1.
männl.
weibl.
19201)
männl.
weibl.
40,1
43,1 43,9
44,4
19211)
1985/862)
23,1
22,6
35,2
35,3
55,5
1994/952)
22,9
22,7
35,8
35,1
54,3
38,1 44,1 53,0 52,6
6,0
8,6
25,2
24,9
30,2
19,3
1922
19,9
19,7
24,9
24,3
33,4
1946
21,6
20,9
28,6
28,1
41,7
Veränderung
1946/95 15jährige 1) 14–
Lehrlinge der9. Schulstufe.
– 2) „truncated mean“ .
Quelle: Viktor Lebzelter: Größe undGewicht derWiener Arbeiterjugend in denJahren 1919 und 1921, in: Mitteilungen des Volksgesundheitsamtes 1922, S. 399– 401, hier S. 399f.; Clemens Pirquet: Schülerspeisung als Teil derallgemeinen Ernährungsfürsorge, in: derselbe (Hg.): Volksgesundheit im Krieg. Tl. 1. Wien/New Haven 1926, S. 273– 362, hier S. 352f.; Statistisches Jahrbuch der Stadt Wien NF 8 (1946/47), S. 112– 114; Statistik Austria: Gesundheitszustand der Schuljugend. Arbeitsunterlagen Österreichisches Statistisches Zentralamt. Wien.
DaVeränderungen derKörpergröße einer bestimmten Population, wieJohn Komlos gezeigt hat, mit Veränderungen des Ernährungszustandes korrelieren, bilden diese Messungen bis zu einem gewissen Grad die Ernährungssituation ab. Der Ernährungszustand wird allerdings nicht nur von der Regelmäßigkeit, Quantität
VomVersorgungsfall zurZielgruppe. Konsumverhalten Wiener Kinder
227
und Qualität der Ernährung, sondern auch von schweren Erkrankungen beeinflusst, einUmstand, derbei längerfristigen Vergleichen u.a. angesichts desdramatischen Anstiegs der Lungen-Tbc in denKriegsjahren zubeachten ist.20 Dennoch, bei allen notwendigen methodischen Vorbehalten, gibt ein Nachkriegsvergleich vonKörpergröße und-gewicht von Schülern undLehrlingen der 8. und9. Schulstufe nach denbeiden Weltkriegen einen gewissen Hinweis, dass sich an der Ernährungssituation Wiener Kinder undJugendlicher auch in den folgenden Jahrzehnten zunächst wenig geändert hat.21 Abb. 1: Index vonKörpergewicht und-größe Wiener Schulkinder der8. Schulstufe 1922– 1994/95
Quelle: Clemens Pirquet: Länge undGewicht derLehrlinge in Wien, in: Mitt. d. Generalkommissariates der Amerikan.Kinderhilfsaktion 35. Wien 1921, S. 159; Statistisches Jb. Wien 114; Statistik Austria. 1946/47, S. 112–
Diese Befunde lassen sich auch durch qualitative Ergebnisse erhärten: Nach Untersuchungen einer aus Mitgliedern der Amerikanischen Kinderhilfsaktion und städtischen Schulärzten gebildeten Kommission waren im Jahr 1920 45 % der Wiener Kinder undJugendlichen unterernährt. Bis 1924/25 sank dieser Anteil auf 20 John Komlos:
Ernährung
undwirtschaftliche Entwicklung unter Maria Theresia undJoseph
II. Eine anthropometrische Geschichte derIndustriellen Revolution in derHabsburgermonarchie. St. Katharinen 1994, S. 24 f; Richard H. Steckel: Stature andthe Standard of Living, in: John Komlos/Timothy Cuff (Hg.): Classics in Anthropometric History. St. Katharinen 1998, 114, hier S. 69. S. 63– (1946= 21 Vgl. dazu Tabelle 1 undAbbildung 1. 100)
228
Andreas Weigl
26 %.22 Ähnlich dramatisch stellte sich die Ernährungssituation nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges dar: Nach Angaben des städtischen Gesundheitsamtes waren im 4. Quartal der Jahre 1946 und 1947 jeweils ein Drittel der Wiener Schulkinder hochgradig unterernährt. Auch 1948 lag der entsprechende Wert bei 27 %.23 Dass es sich dabei nicht um reine Nachkriegsphänomene handelt, geht auch aus einem die Situation kaum übertreibenden vertraulichen Gutachten des Statistischen Amtes der Stadt Wien unddes Physiologischen Institutes der Universität Wien aus der NS-Zeit hervor, das im Dezember 1939 zu dem lapidaren Ergebnis kam: Die Kinder bis zum10. Lebensjahr sind kalorienmäßig ziemlich gut, injüngsten Jahren eher „ übermässig ernährt. Für das Pubertätsalter ist mit Rücksicht auf den hohen Aufbaustoffwechsel die Versorgung äusserst mangelhaft. Es müsste die eindringliche Pflicht einer Ernährungsplanung sein, dem Jugendlichen im Alter von 10 bis 20 Jahren höhere 24 Zuschüsse zubewilligen.“
, die Einrundfünf Jahre zuvor verfasster Bericht derOrganisation „Jugend in Not“ Jugendliche während der Wirtschaftskrise betreute und verpflegte, zeichnet für Arbeitermädchen ein ähnliches Bild: Besonders bemerken möchte ich, dass in einem derKurse, woarme Mädchen waren, dasim „ Heim verarbeitete Eintopfgemüse die einzige Nahrung war, da sie das zum Eintopfgericht verabreichte Stück Brot heimlich für kleine Geschwister mit nach Hause nahmen. Wenn wir während des Kochunterrichtes Knödel oder Nudeln abkochten, baten die Mädchen nachher, das Knödel- oder Nudelwasser mit nach Hause nehmen zu dürfen, damit die Familienangehörigen amnächsten Tagetwas zuessen hatten. Es warvielen Mädchen fremd, ein2- oder 3-teiliges Mittagessen zubekommen undnurschwer gelang es anfänglich sie dazu anzuhalten, dass sie nach der Suppe auch die nachfolgende Speise nahmen. Sie meinten 25 einfach, sie könnten nicht mehr, sie seien satt.“ Diese undähnliche Berichte verweisen zwar auf partielle Erfolge der SäuglingsundKinderwohlfahrtspolitik im Wien der Zwischenkriegszeit, belegen jedoch die nach wie vor insgesamt kritische Ernährungssituation. Auch die frühen 1950er Jahre kennzeichnete noch keineswegs jene „ Fresswelle“ , die das Konsumverhal-
ten der Nachkriegsgeneration angeblich geprägt haben soll. Der Kalorienverbrauch österreichischer undimbesonderen Wiener Haushalte undderKonsum
Schulfürsorge und körperliche Erziehung, in: Statistische Mitteilungen der Stadt Wien 1926. S. 139– 148, hier S. 140. Ganz ähnliche Befunde für Hamburg bei Axel Schildt: „Gesunde Jugend“–„Gesunde Stadt“ . ZurFörderung vonErholung undFreizeit der großstädtischen Jugend in den 1920er Jahren –am Beispiel Hamburg, in: Jürgen Reulecke/Adelheid Gräfin zu Castell Rüdenhausen (Hg.): Stadt undGesundheit. ZumWandel von Volksgesundheit“und kommunaler Gesundheitspolitik im 19. und frühen 20. Jahrhundert „ (Nassauer Gespräche der Freiherr-vom-Stein-Gesellschaft 3). Stuttgart 1991, S. 167f. Statistisches Jahrbuch der Stadt Wien NF 9 (1948) (wie Anm. 10), S. 80.
22 August Böhm:
23
24
Archiv
des Statistischen Amtes der Stadt Wien, Gutachten Dr. Dr. Wolfgang Holzer vom
12.12.1939, S. 11.
25 Berta
Neuber: Die Ernährungssituation in Wien in der Zwischenkriegszeit, während des Zweiten Weltkrieges undin denersten Nachkriegsjahren (ungedr.phil.Diss.). Wien 1988, S.
47.
VomVersorgungsfall zurZielgruppe. Konsumverhalten Wiener Kinder
229
von Eiweiß undFett in der Nahrung überschritten erst nach dem Staatsvertragsjahr 1955 das ohnehin geringe Niveau der Zwischenkriegszeit.26 Entsprechende Befunde aus der „oral history“bestätigen dieses Bild. So erinnert sich etwa ein Kind eines Facharbeiters anseine Grundschulklasse Mitte der 1950er Jahre:
„Gerade in der Nachkriegszeit waren wir eigentlich unterernährt und sind meistens in den Sommerferien auf Lager geschickt worden, wo etwas zugezahlt wurde ... Erst in der Mittelschulzeit [in den späten 1950er und frühen 1960er Jahren] sind einige Typen mit Überernährung aufgetreten.“27
Verschärft wurde die Ernährungssituation für Kinder undJugendliche durch die am„male bread winner“orientierte innerfamiliale Nahrungsverteilung in der Arbeiterschaft undim Kleinbürgertum. Auf die Zeit vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs Bezug nehmende lebensgeschichtliche Erinnerungen zeigen, dass das Image des Arbeiters als fleischessenden Familienerhalters der Realität sehr nahe kam, während Proletarierkinder häufig kein Fleisch erhielten. Begründet wurde diese Benachteiligung mit dem fehlenden Beitrag der Kinder zum Familieneinkommen.28 „ Wia maklein woarn, is in der Mitte vomTisch ein Weidling mit Mohnnudeln gstandn und dohamma oft aufn Teller vomVater gschaut, wann dera Fleisch kriegt hot. Haums gsogt, jo 29 Kinder, wanns amol vadients, kennts a a Fleisch hobn.“
Aber auch im Kleinbürgertum war ein solches Verhalten durchaus üblich. Der Sohn eines Friseurs undKammerdieners erinnert sich: Wann ich zumFleischhauer gegangen bin, höchstens zweimal in derWoche ..., mussten von „ 36 dag [360g] Fleisch –gekocht wardas noch weniger –fünf Menschen essen. Wasfür die Mutter übrig geblieben ist, kann man sich vorstellen: gerade 30 selbstverständlich derVater gehabt.“
ein Bissen. Das meiste hat
In bürgerlichen Mittelschichten finden sich kaum Hinweise auf derartige Bevorzugungen desmännlichen Haushaltsvorstandes. Die Ernährung in solchen Famili-
26 Roman Sandgruber: Vom Hunger zum Massenkonsum, in: Gerhard Jagschitz/Klaus Dieter Mulley (Hg.): Die „wilden“fünfziger Jahre. Gesellschaft, Formen undGefühle eines Jahrzehnts in Österreich. St. Pölten/Wien 1985, S. 112– 122, hier S. 114. 27 Lebensgeschichtliches Interview mit Josef W., geboren 1948 in Wien, Sohn eines Facharbeiters in derElektroindustrie, am22.2.2000. 28 Vgl. dazu auch das Beispiel einer Pflastererfamilie im Wien derJahrhundertwende bei Reinhard Sieder: Zuralltäglichen Praxis derWiener Arbeiterschaft imersten Drittel des20. Jahrhunderts (ungedr. Habil.). Wien 1988, S. 172, 174, 176, 228, zit. nach Roman Sandgruber: Das Essen der Arbeiterfrauen. Geschlechtsspezifische Konsumunterschiede in Arbeiterhaus56, hier S. 47f. halten, in: L’Homme 2 (1991), S. 45– 29 Reinhard Sieder: Vata derf I aufstehn?” . Kindheitserfahrungen in Wiener Arbeiterfamilien “ Ch.Ehalt/Gernot Heiß/Hannes Stekl (Hg.): Glücklich ist, wervergißt ...? um1900, in: Hubert Das andere Wien um 1900. Wien/Köln/Graz 1986, S. 39– 89, hier S. 58. 30 Lebensgeschichtliches Interview mit Franz W., geboren 1902 in Wien, Sohn eines Friseurs undKammerdieners, am29.4.1996.
230
Andreas Weigl
en wird nicht ohne Widersprüchlichkeit etwa mit „Also von satt essen warkeine 31charakterisiert. Rede, aber es wargenug da.“ In derZwischenkriegszeit begann das Image des„male bread winners“allerdings angesichts hoher Arbeitslosenraten zu bröckeln. Auch scheint die öffentliche Kinder- undJugendwohlfahrtspolitik allmählich in den Arbeiterfamilien ein
gewisses Bewusstsein für die Wichtigkeit ausreichender Kindernahrung, nicht zuletzt als Tbc-Prophylaxe, geschaffen zu haben. In der Erinnerung eines 1926 Geborenen liest sich dasso: Ja, dasEssen warauch in unserer Familie immer ganz, ganz wichtig. Fürmeinen Vater war „ 32 einEssen ohne Suppe undenkbar, unddenTeller leer essen musste manauch.“
Auch die massive Einbindung von Frauen in die NS-Kriegswirtschaft undder Nachkriegsalltag taten ein übriges, umtraditionelle Verteilungsmuster in der Familie zu diskreditieren. Eine Vater-Tochter-Episode aus der Nachkriegszeit des Zweiten Weltkrieges zeigt geänderte innerfamiliale Macht- unddamit Konsumverhältnisse. Ich kann mich erinnern, manwardoch so ausgehungert, undalle waren so mager, ichkann „ mich erinnern, dass einmal in derNacht, habich wasgehört, undschau, ist mein Papa in der Küche und streicht sich ein Schmalz aufs Brot. Und ich hab gesagt, wieso isst DU das Schmalz? Dasgehört doch für unsalle! Hater gesagt, aber geh, nimm dir auch ein Stückerl, dahast auch ein Stückerl. Unddann haben wirmiteinander Schmalzbrot gegessen. DieMama hat geschlafen [lacht].“33 Schulausspeisungen
Die massive Unterernährung von erheblichen Teilen der Wiener Kinder in den späten Kriegs- undNachkriegsjahren derbeiden Weltkriege erforderte umgehende öffentliche Maßnahmen zur Milderung der Ernährungsdefizite. Es war naheliegend, dass sich die zunächst mit ausländischer Hilfe zustande gekommenen gesundheitspolitischen Aktivitäten auf Klein- undSchulkinder konzentrierten, nicht zuletzt weil diese über die Schulen undKindergärten leicht administrierbar waren. Schon zur Zeit der Donaumonarchie bemühten sich private Organisationen mit städtischer Subvention, die in einem “ Zentralverein zurBeköstigung armer Schulkinder”zusammengefasst waren, um die Versorgung proletarischer Kinder mit warmen Mahlzeiten. Füreine massenhafte Versorgung reichten die Mittel aber bei weitem nicht aus. Wie in vielen anderen Bereichen wirkte auch bei der Schülerausspeisung der Erste Weltkrieg als Akzelerator. Ab 1916 konstituierten sich 31 Lebensgeschichtliches Interview mit Hans L., geboren 1913 in Wien, Sohn eines Kohlenhändlers, am2.5.1996. 32 Jürgen Ehrmann (Hg.): Was auf den Tisch kommt, wird gegessen. Geschichten vom Essen undTrinken (Damit es nicht verlorengeht ... 34). Wien/Köln/Weimar 1995, S. 179. 33 Irene Bandhauer-Schöffmann/Ela Hornung: Von der Erbswurst zum Hawaiischnitzel. Geschlechtsspezifische Auswirkungen von Hungerkrise und „ Freßwelle“ , in: Thomas Albrich 34, hier S. 21. [u.a.]: Österreich in denFünfzigern, Innsbruck/Wien 1995. S. 11–
VomVersorgungsfall zurZielgruppe.
Konsumverhalten Wiener Kinder
231
Speisekomitees und 1918 wurden erstmals von der Gemeinde Wien Schülerausspeisungen durchgeführt. Vonmindestens 100.000 Bedürftigen erhielt allerdings lediglich etwa ein Viertel regelmäßig Speisen.34 Eine annähernd flächendeckende Versorgung gelang erst derAmerikanischen Kinderhilfsaktion, die vomMai 1919 bis Mai 1922 Mittagessen für zunächst rund 100.000, schließlich 150.000 Kinder zurVerfügung stellte undzurVerteilung brachte.35 Nach Auslaufen derAmerikanischen Schülerausspeisungen übernahm die Gemeinde Wien diese Aufgabe und setzte die Ausspeisungen, allerdings nicht in der Dimension der unmittelbaren Nachkriegszeit, fort.36 Ende der 1920er Jahre wurden nicht ganz 10 % aller Schüler37 –davon etwa 7 % der „ Normal“ - undimmerhin noch 25 % der Hilfsschulkinder38 –durch die Aktion versorgt. Das entsprach einer verhältnismäßig hohen Versorgungsdichte. Deutsche Großstädte wie Berlin, Frankfurt/M. oder Hamburg kamen zu dieser Zeit zwar auf Versorgungsraten von 17 % undmehr, allerdings primär durch die Ausgabe vonFrühstücksportionen undvormittäglichen „ Zusatzspeisungen“ .39Warme Mittagessen wie in Wien erhielten jedoch beispielsweise nuretwa 2,5 % aller Berliner Schulkinder. Während der Wirtschaftskrise in den 1930er Jahren kames in Wien wie auch in dendeutschen Großkommunen zu einemkontinuierlichen Rückgang derabsoluten Zahl derausgegebenen Mahlzeiten, der in einer Verschärfung der Vergaberichtlinien begründet war40, da auch die Zahl derEssensportionen proPflichtschul- undKindergartenkind sank. In derNSZeit schlief die Aktion in Wien langsam ein. Zu bedeutenden Kinderausspeisungen in der Dimension der Jahre 1919/1922, die neben denheimischen Behörden vor allem von denAlliierten, sowie skandinavischen Ländern finanziert undteilweise auch administriert wurden, kam es wieder nach Ende des Zweiten Weltkriegs. Die Ausspeisungen wurden vonkommunalen Stellen fortgeführt. Erst Mitte der 1950er Jahre wurden dieSchulausspeisungen beendet.41 Generelle Ernährungsdefizite vor allem proletarischer Kinder schlossen allerdings vereinzelten „ Ernährungsluxus“in Form des Konsums bestimmter Genuss-
34 DasNeue Wien. Städtewerk. Bd.2. Wien 1927, S. 408. 35 Felix Czeike: Wirtschafts- und Sozialpolitik der Gemeinde Wien in der Ersten Republik 1934). Tl.2 (Wiener Schriften 11). Wien 1959, S. 183 Anm.169. (1919– 36 Die Verwaltung der Bundeshauptstadt Wien 1929– 1931. Bd. 1.Wien 1949, S. 277 f.; Czeike: Wirtschafts- und Sozialpolitik (wie Anm. 35), S. 184; Statistisches Jahrbuch der Stadt Wien 35) (wie Anm. 10), S. 66. 2(1930– 37 Eigene Berechnungen nach Czeike: Wirtschafts- und Sozialpolitik Tl. 2 (wie Anm. 35), S. 184 undFelix Olgenik: Historisch-statistische Übersichten von Wien. Tl. 3 (Mitteilungen aus Statistik undVerwaltung der Stadt Wien 1958. Sonderheft 1), S. 25f. 38 DasNeue Wien 4 (wie Anm. 34), S. 227. 39 Keith R. Allen: Hungrige Metropole. Essen, Wohlfahrt undKommerz in Berlin. Hamburg 2002, S. 91f. 40 Gerhard Melinz/Gerhard Unger: Wohlfahrt und Krise. Wiener Kommunalpolitik zwischen 1929 und 1938 (Forschungen undBeiträge zurWiener Stadtgeschichte 29). Wien 1996, S. 99. 41 Vgl. dazuAbbildung 2.
232
Andreas Weigl
mittel keineswegs prinzipiell aus. Schon aus lebensgeschichtlichen Erinnerungen aus der Zeit vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges wird klar, dass etwa Süßigkeiten einen gewissen Platz in der Ernährung von Arbeiterkindern besaßen.42 In der Folge nahm ihre Bedeutung zu. Dafür spricht dernicht ganz unbedeutende Schokoladekonsum, der aus denHaushaltsstatistiken Wiener Arbeitnehmerfamilien in 2 der Zwischenkriegszeit ablesbar ist. Er betrug Ende der 1920er Jahre etwa 1,5– kg pro erwachsenen männlichen Haushaltsmitglied und Jahr, sank allerdings bis Mitte der 1930er Jahre unter 1 kg.43 Abbildung
1956 2: (Schul-)Ausspeisungen in Wien 1920–
Quelle: Friedrich Reischl: Wiens Kinder undAmerika. Die amerikanische Kinder-Hilfsaktion 1994. 1919. Wien 1919, S. 151f.; Edith Hörander: WÖK. Eine Wiener Institution 1919– Wien o.J., S. 104f.; Statistische Mitteilungen derStadt Wien 1925, S. 219; 1926, S. 495; 1938, S. 54; 1939/42, S. 131; 1943/45, S. 109; 1946/47, S. 126f.; 1948, S. 91f.; 1952, S. 369f.; 1956, S. 391f.; Felix Olegnik: Historisch-statistische Übersichten vonWien. Tl. 3,
S. 25f.
42 Sieder: Kindheitserfahrungen (wie Anm.29), S. 59. 43 Roman Sandgruber: Schokolade. Von der Götterspeise zum Massenprodukt, in: Roman Sandgruber/Harry Kühnel (Hg.): Genuss & Kunst. Kaffee –Tee –Schokolade –Tabak –Co77, la (Kataloge des Niederösterreichischen Landesmuseums NF 341). Innsbruck 1994, S. 64– hier S. 70; Kammer fürArbeiter undAngestellte inWien (Hg.): Wirtschaftsstatistisches Jahrbuch 11 (1936) (wie Anm. 5), S. 292.
VomVersorgungsfall zurZielgruppe.
Konsumverhalten Wiener Kinder
233
Wie Befunde aus der „oral history“belegen, erhielt in bürgerlichen Haushalten der Zwischenkriegszeit der Genuss des Luxusgutes “ Banane”für die Ernährung vonKindern undJugendlichen eine ähnliche symbolische Bedeutung wie derder Schokolade in Proletarierfamilien. Die vonmirbefragte Tochter eines Bankbeamten etwa warso erpicht auf Bananen, dass sie sich diese zumGeburtstag wünschte.44 In der Regel dürften Wiener Kinder und Jugendliche Bananen jedoch erst nach 1945 kennen gelernt haben. „Bananen, das war ein richtiges Fremdwort“ , wie es der Sohn eines höheren Beamten ausdrückt.45 Ungeachtet ihres seltenen Konsums besaßen derartige „ Luxusgüter“eine präfigurierende Bedeutung für das Konsumverhalten in denentwickelten Konsumgesellschaften späterer Jahrzehnte. Zumeinen verwiesen sie auch Kinder undJugendliche, die in einer „Kultur der Armut“aufwuchsen, auf Konsumformen abseits bloßer physischer Reproduktion, zumanderen erwiesen sie sich für die imwahrsten Sinn des Wortes in ihren Kinderschuhen steckende Werbeindustrie als lohnende Einstiegskonsumprodukte. Adressat der Werbung waren zunächst noch fast ausschließlich die Eltern. Beispielsweise erinnert sich ein damaliger Schüler an eine Werbeaufschrift auf Wiener Telefonbüchern in der Zwischenkriegszeit mit dem Wortlaut: „Gebet euren Kindern täglich einige –(auf der Vorderseite) westindische Bananen (auf der Rückseite)“.46 Nach 1945, vor allem ab den 1950er Jahren nahm der Anteil vonGenussmitteln amgesamten Kalorienverbrauch dramatisch zu.47 Schon in der unmittelbaren
Nachkriegszeit stieg trotz der allgemein schlechten Versorgungslage der Schokoladekonsum rasch und überproportional wieder an. Trotz steigender Süßwarenpreise erreichte er bereits 1949 150 % derVorkriegsmenge aus derZeit derWirtschaftskrise.48 DerVerbrauch derspäten 1920er Jahre wurde allerdings erst in den späten 1950er Jahren erreicht undüberschritten. Im Jahr 1955 wurden in Arbeiterund Angestelltenhaushalten lediglich ca. 1,5 kg Schokolade pro erwachsene männliche Person konsumiert, 1960 bereits mehr als 3 und1968 etwa 4 kg. Damit warfreilich ein gewisser Sättigungsgrad erreicht. Der Verbrauch stieg in derFolge nurnoch in bescheideneren Dimensionen an. DerAnteil andengesamten Nahrungs- undGenussmittelausgaben ging sogar geringfügig zurück.49
44 Lebensgeschichtliches Interview mit Trude M., geboren 1914 in Wien, Tochter eines Bankbeamten,
am2.5.1996.
45 Lebensgeschichtliches
46
47 48
Interview mit Josef D., geboren 1910 in Wien, Sohn eines höheren Beamten, am 12.6.1996; Lebensgeschichtliches Interview mit Trude L., geboren 1920 in Wien, Tochter eines Betriebsleiters einer Bekleidungsfirma, am2.5.1996. Lebensgeschichtliches Interview mit Ernest M., geboren 1914 in Wien, Sohn eines Leder-
händlers, am2.5.1996. Sandgruber: Schokolade (wie Anm.43), S. 70. Sandgruber: Hunger (wie Anm.26), S. 116.
49 Wirtschafts- undsozialstatistisches Handbuch NF 11 (1945– 1969) (wie Anm. 5), S. 461, 463; Wirtschafts- undsozialstatistisches Taschenbuch 1990. Wien 1990, S. 237– 239; auch Franz X. Eder: Privater Konsum und Haushaltseinkommen im 20. Jahrhundert, in: Franz X.
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Andreas Weigl
Der neue Nahrungs- undGenussmittelüberfluss seit den späten 1950er Jahren blieb nicht ohne Wirkung auf den Ernährungszustand der Kinder undJugendlichen. Im Vergleich zu den Nachkriegsjahren nahm die Körpergröße Wiener Schulkinder bis Mitte der 1990er Jahre deutlich zu. Die Zuwächse betrugen bei männlichen Jugendlichen der achten Schulstufe 13,5 %. Noch bedeutender fielen die Zunahmen beim Körpergewicht aus. Bei Kindern der vierten und achten Schulstufe erreichten sie in denbetrachteten fünf Jahrzehnten zwischen 20 und30 %.50Auch wenn body-mass- undandere Indizes ernährungswissenschaftlich wieder umstritten sind, weist die deutlich höhere prozentuelle Zunahme des Körpergewichts auf denAbbau von Unter- undin weiterer Folge auf verbreitetes Übergewicht unter Wiener Kindern und Jugendlichen hin. Ohne Zweifel spielte für diese Entwicklung der Konsum von Süßwaren eine zentrale Rolle. In ErinnerungenvonWiener Grundschülern der 1950er und 1960er Jahre wird dervergleichsweise geringe, aber bereits alltägliche Konsum von Süßigkeiten hervorgehoben, der sich im stückweisen Kauf vonBonbons51 oder imauffälligen Sonderfall eines Mitschülers, derjeden Tag eine Tafel Schokolade verzehrte52, abbildet. Eine tiefere Bedeutung für die Konsumgeschichte der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gewannen in den 1950er Jahren Genussmittel amerikanischer Provenienz, die eine klare Distinktion zur Erwachsenenwelt transportierten. Über Schülerausspeisungen undBesatzungsalltag hatten Kinder undJugendliche amerikanische Essensprodukte kennen gelernt, zunächst noch mit erheblicher kultureller Distanz. Eine 1935 geborene Tochter eines Wiener Hilfsarbeiters erinnert sich etwa: An manchen Tagen wurde auch von der amerikanischen Armee Essen gebracht. Dieses „ Essen warviel besser [als jenes der Sowjetarmee], undwir Kinder freuten uns darüber. Ein Gericht ist mir besonders in Erinnerung geblieben: Es war ein brauner, süßer, dickflüssiger Brei mit Feigen. Wegen der Körnchen der Feigen, die immer zwischen den Zähnen knirschten, als hätte man Sand im Mund, wurde diese Speise von uns Kindern respektlos Wüstensandsuppe“genannt. Aber gutwares trotzdem, undderHunger wurde auch gestillt. „ Da die Zeit dann besser wurde undimmer weniger Kinder zu dieser „Ausspeisung“gingen, 53 wurde sie eingestellt.“
Eder/Peter Eigner/Andreas Resch/Andreas Weigl: Wien im 20. Jahrhundert. Wirtschaft, völkerung, Konsum (Querschnitte 12). Wien 2003 (imDruck).
Be-
50 Vgl. dazu Tabelle 1 undAbbildung 1. Bei denAngaben handelt es sich zumindest 1985 und 1994 umabgeschnittene Verteilungen. Angesichts dergeringen Besetzungszahlen deroffenen Altersgruppen wurden grobe Verteilungsannahmen getroffen. Zudieser Problematik vergleiche Markus Heintel: Über einige statistische Probleme undMöglichkeiten deranthropometrischen Geschichte, in: Jörg Baten/Markus A. Denzel: Wirtschaftsstruktur undErnährungslage 1870. Beiträge zum 1. Ernährungshistorischen Kolloquium im Landkreis Kulmbach 1770– 1996. St. Katharinen 1997, S. 108– 130. 51 Interview Josef W. (wie Anm. 27). 52 Lebensgeschichtliches Interview mit Martin H., geboren 1961 in Wien, Sohn eines Mediziners, am20.2.2000. 53 Ehrmann: Geschichten (wie Anm. 32), S. 190.
VomVersorgungsfall zurZielgruppe. Konsumverhalten Wiener Kinder
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Die Gewöhnung an neuartige Schokoladegetränke, Eiscremepuddings oder Kartoffel-Tomatenbreie tratjedoch bei denKindern schnell ein. Während sich fürden Gaumen von Mitteleuropäern ungewohnte Speisenkombinationen nur bedingt durchsetzten, wurden Kaugummi, Coca Cola, Eisdielen u.ä. allmählich selbstverständliche Konsumgüter und Konsumorte von Kindern und Jugendlichen.54 Im Jahr 1950 kamCoca Cola aufdenösterreichischen Markt –zuvor wares lediglich zurVersorgung der GIs produziert undabgefüllt worden. Wenn auch der Widerstand der Elterngeneration gegen die „ braune Flut ausAmerika“nurlangsam geringer wurde, etablierte es sich doch immer eindeutiger als Modegetränk für Jugendliche.55 Colagetränke waren freilich keineswegs leicht erschwinglich.56 Ein Interviewpartner erinnert sich daher noch genau an Zeit undOrt des ersten ColaKonsums, einer Bundesstraßenraststätte imJahr 1958.57 Wie die Ergebnisse von Konsumerhebungen des Österreichischen Statistischen Zentralamtes belegen, nahm in den späten 1950er undden 1960er Jahren die Popularität derartiger Produkte enorm zu. Nach der Konsumerhebung von 1974/75 wurden alkoholfreie Getränke besonders in kinderreichen Wiener Familien in überproportionalem Maß konsumiert.58 Süßigkeiten undalkoholfreie Modegetränke blieben auch in der Folge unter Kindern bevorzugte Konsumprodukte. Nach einer Erhebung aus demJahr 2002 stand der Kauf von Süßigkeiten an der Spitze der Konsumprioritäten von 7- bis 15-jährigen Wiener Kindern. 55 % der Befragten kauften um ihr Taschengeld Süßigkeiten, 35 % Getränke, 44 % Eis,
jedoch nur27 % Spielzeug.59 Die Lebens- undKonsumwelt von Kindern undJugendlichen warebenso wie die Erwachsenenwelt zu Beginn des Jahrhunderts durch distinktiven Konsum ge-
prägt. Ernährung, Kleidung undFreizeitverhalten von Kindern undJugendlichen auswohlhabenderen Familien waren Ausdruck eines bürgerlichen Lebensstils, der sich deutlich von Verhaltensmustern in kleinbürgerlichen oder proletarischen Schichten unterschied. Dazu trat eine nicht immer konfliktfreie, aber doch imwesentlichen ausgeprägte Akzeptanz der elterlichen Stammkultur.60 Die Verarmung breiter bürgerlicher Schichten nach 1918 und der Zerfall der „ alten Ordnung“
54 Arne Andersen: Der Traum vom guten Leben. Alltags- und Konsumgeschichte vom Wirtschaftswunder bis heute. Frankfurt a. M./New York 1999, S. 48f., 221f. 55 Irene Bandhauer-Schöffmann: Coca-Cola im Kracherlland, in: Sandgruber/Kühnel: Genuß
(wie Anm. 43), S. 92– 101, hier S. 96– 100. 56 Lebensgeschichtliches Interview mit Christine R., geboren am 9.6.1946, Tochter eines Lebensmittelhändlers undeiner Büroangestellten. 57 Interview Josef W. (wie Anm. 27). 58 Konsumerhebung 1974/75. Tl. 2, in: Mitteilungen aus Statistik und Verwaltung der Stadt Wien 1976/4, S. 7– 10, hier 9. 59 IMAS: Kinder-ÖVA 2002 (wie Anm. 6). 60 Dazu zusammenfassend anhand zahlreicher Beispiele aus der „oral history“Hannes Stekl (Hg.): „Höhere Töchter“und„Söhne ausgutem Haus“ . Bürgerliche Jugend in Monarchie und 53. Republik (Damit es nicht verloren geht ... 44). Wien/Köln/Weimar 1999, S. 47–
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Andreas Weigl
führten jedoch zu einer Aufweichung dieser scharfen Trennung. Beispielsweise erhielten bei der Amerikanischen Kinderhilfsaktion –also zu einer Zeit größter Not–Kinder undJugendliche ausfast allen Schichten Essensportionen. Nicht alle hatten sie freilich unbedingt nötig. Beabsichtigt war, dass die Kinder die ihnen nach ihrer Einstufung zugeteilte Portion vollständig aufessen sollten.61 In derPraxis wurde dieses Prinzip –wie die Erinnerungen eines Schülers belegen –jedoch vonmanchen Kindern bewusst oder unbewusst desavouiert. Der Sohn eines hohen Beamten erinnert sich etwa: Bei denBohnengerichten, Gemüse, hie unddaGulaschfleisch warich ein bissel heikel. Mir „ hatnicht alles zugesagt. Aber dahatmanhalt miteinem Kind, dasbesser Appetit gehabt hat, 62 getauscht.“
Diese gegen sozialmedizinische Bevormundung praktizierte „ Alltagsanarchie“ mit der Besserung der wirtschaftlichen Situation immer ausgeprägter. Der sozialdemokratische Stadtrat undSozialreformer Julius Tandler selbst berichtete, dass Schulkinder immer häufiger das Einerlei der Ausspeisungen ablehnten.63 Es wurde daher von den Verantwortlichen versucht, den Eindruck von Massenausspeisungen zu vermeiden.64 Die Initiatoren der Wiener Ausspeisungen standen damit vor ganz anderen Problemen wie die Verantwortlichen in den deutschen Großkommunen der Weimarer Republik. Während der Widerstand gegen staatliche Eingriffe in die (Ernährungs-)Autonomie der Familien in Deutschland zu einer nur widerwilligen Übernahme der Quäker-Ausspeisungen führte, und diese infolge knapper werdender finanzieller Mittel vonder Einstellung bedroht waren, bestanden in Wien seitens der sozialdemokratischen Kommunalpolitiker keine prinzipiellen Bedenken gegen die Durchführung öffentlicher Schulausspeisungen. Mit Ausnahme der Jahre großer Not hatten sie sich eher mit einer gewissen Abwehr der Befürsorgten gegen sozialdisziplinierende Maßnahmen dieser Art hewurde
rumzuschlagen.65 In Erinnerungen an die Durchführung derAusspeisungen finden sich Hinweise gewisser Solidarität unter Gleichaltrigen, die sich im„ungleichen Tausch“von Nahrungsmitteln artikulierte. Diese klassenübergreifende Generationensolidarität sollte in den folgenden Jahrzehnten eine größere Rolle in der Konsumgeschichte derKinder undJugendlichen spielen.
61 62
Edmund Nobel: Organisatorische Aufgaben bei Massenspeisungen von Kindern, in: E. Mayerhofer/C. Pirquet (Hg.): Lehrbuch der Volksernährung nach dem Pirquet’schen System. 278, hier S. 267. Wien/Berlin 1920, S. 267– Interview Josef D. (wie Anm. 45).
63 Karl Sablik: Julius
Tandler. Mediziner undSozialreformer. Eine Biographie. Wien 1983,
193. 64 Das Neue Wien 2 (wie Anm. 34), S. 409.
S.
65 ZurSituation in derWeimarer Republik vgl. Allen: Hungrige Metropole (wie Anm. 39), S. 94; Edward Ross Dickinson: The Politics of German Child Welfare from the Empire to the Federal Republic (Harvard Historical Studies 121). Cambridge (Mass.)/London 1996, S. 169f.
VomVersorgungsfall zurZielgruppe. Autonome Jugendkulturen:
Konsumverhalten Wiener Kinder
237
vonderImprovisation zumMarkenfetischismus
Impulse für autonome Jugendkulturen gingen zunächst überwiegend von derproletarischen Jugend aus. Vorrangiges Distinktionsmittel der sogenannten „ Wiener Schlurfs“undder sie nahezu nahtlos ablösenden „Halbstarken“waren Kleidung undMusikgeschmack. Beide Gruppen rebellierten radikal gegen von Eltern und der Erwachsenenwelt verordnete Bekleidungskonventionen. Ein solches Verhalten war zwar auch bürgerlichen Jugendlichen nicht völlig fremd. Es beschränkte sich jedoch zunächst zumeist auf singuläre „Revolten“gegen „ das blaßgrüne, handgestickte Kleid“ , in demsich eine Betroffene „ wie eine Eierspeise vorkam“.66 Anders die Schlurfs: Das Outfit der in den 1930er Jahren sich formierenden Gangs prägten bis in den Nacken reichende Haare undüberlange, extrem weite Sakkos undHosen mit ausgeprägten Stulpen undnicht zuletzt doppelt gesohlte Schuhe, sogenannte „ Doppelböck“ . Diese Grundausstattung, die die Bekleidung damaliger Hollywoodstars imitierte, wurde fast ausschließlich durch Umarbeitung alter Kleidungsstücke hergestellt. Von derüberwiegenden Mehrheit der Bevölkerung und nicht zuletzt den NS-Behörden scharf ausgegrenzt, wies der „Konsumismus“der Schlurfs, der sich auch im Hören von Swing-Platten äußerte, in die Richtung des späteren Konsumverhaltens von Jugendlichen in denWohlstandsgesellschaften.67 Die Perspektive eines guten Lebens und ausgiebiger Freizeit bei gleichzeitiger Imitierung des „ American way of life“hatten auch die proletarischen „ Halbstarken“der 1950er Jahre, die nicht zufällig auch als „ Schlurfs“bezeichnet wurden undebenso eine scharfe Ausgrenzung seitens der Erwachsenen erfuhren. Im Gegensatz zu den Schlurfs besaßen die Halbstarken allerdings abseits ihres spezifischen Gehabes und der toupierten Frisur begrenzt bereits die Mittel, einen bescheidenen Konsumhedonismus –etwa durch den Kauf von Lederjacken, Motorrollern und Blue Jeans –auszuleben.68 Beiden Jugendbewegungen gemein war ihre sprachlose Distanz zum kleinbürgerlichen Mainstream.69 Hinsichtlich ihrer kulturellen Opposition bestanden bei den Halbstarken jedoch Berührungspunkte zu den Altersgenossen der bürgerlichen Mittelschicht, die zu-
66 Stekl: „Höhere Töchter“(wie Anm. 60), S. 17, 282. 67 Christian Gerbel/Alexander Mejstrik/Reinhard Sieder: Die „Schlurfs“ . Verweigerung und Opposition von Wiener Arbeiterjugendlichen im Dritten Reich, in: Emmerich Tálos [u.a.]: NS-Herrschaft in Österreich. Ein Handbuch. Wien 2000, S. 523– 544. 548, hier S. 529– 68 Reinhold Wagenleitner: Die Kinder von Schmal(t)z undCoca Cola. Der kulturelle Einfluß der USA im Österreich der fünfziger Jahre, in: Jagschitz,/Mulley: Gesellschaft (wie Anm. 173, hier S. 160; Kurt Luger: Die konsumierte Rebellion. Geschichte derJugend26), S. 144– kultur von 1945 bis 1995, in: Reinhard Sieder/Heinz Steiner/ Emmerich Tálos (Hg.): Öster1995. Gesellschaft –Politik –Kultur (Österreichische Texte zur Gesellschaftskrireich 1945– 502. Zu den „Halbstarken“allgemein tik 60), 2. Aufl., Wien 1996, S. 497– 510, hier S. 500– Marina Fischer-Kowalski/Elisabeth Wiesbauer: „Früchterln“und was sie fruchten. Zur Jugendkultur in den fünfziger Jahren, in: Jagschitz/Mulley: Gesellschaft (wie Anm. 26), S. 64– 79. 69 Luger: Rebellion (wie Anm. 68), S. 500.
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nehmend auch gegen systemische Zwänge derWiederaufbaugesellschaft in Opposition gingen. Im Lauf der 1960er Jahre verdichteten sich die insbesonders in der Vorliebe fürRock- undPopmusik zuTage tretenden kulturellen Berührungspunkte verschiedener jugendlicher Subkulturen –von den Post-Halbstarken bis zum Milieu einer studentischen Avantgarde –zu einer generationenspezifischen jugendlichen „ Konsumkultur“ . Auch wenn manche Exponenten der Studentenbewegung eine bewusste Abkehr von der Konsumgesellschaft propagierten, erwies sich die Subkultur der 68er-Bewegung als kommerzieller Erfolg. Da diese –ursprünglich von Angehörigen der neuen Mittelklasse geschaffen –zunehmende Akzeptanz bei einer klassenüberschreitenden jugendlichen Mehrheit fand70, entstand eine Jugendkultur, die sich kommerziell verwerten ließ. Vorübergehend verschwammen die kulturellen Grenzen zwischen mittelständischer undArbeiterjugend.71 Erstmals „ bildete die kulturindustriell organisierte Jugend- undFreizeitkultur ... ein gemeinsames Erlebnisfeld ... einer altersspezifisch sich abgrenzenden Jugendkultur.“72 Die Generation der in denspäten 1950er undfrühen 1960er Jahren aufwachsenden Jugendlichen brach als erste den „ . Eine kulturellen Generationenvertrag“ zunehmende Distanz hinsichtlich bestimmter, häufig freizeitbezogener Konsumpräferenzen belegte bereits eine österreichweit durchgeführte Jugendstudie aus demJahr 1960. Nach ihren Ergebnissen bestand etwa eine 50%ige Übereinstimmung der Einstellungen befragter Jugendlicher zu denAuffassungen ihrer Eltern im Bezug auf Beruf, Arbeit, Ehe und Familie, jedoch nur noch eine 25 %ige Übereinstimmung in den Bereichen Tanz, Musik und Sexualität.73 Die aus den USA importierte Protestkultur des Rock’n’Roll hatte Mitte der 1950er Jahre Österreich erreicht undgriff rasch über das enge Halbstarkenmilieu hinaus. Ende der 50er Jahre besaßen bereits nahezu 40 % der Wiener Schüler undLehrlinge Platten. Die meisten davon bevorzugten die genannte Musikrichtung.74 In der Folge wurde eine spezifisch vonJugendlichen konsumierte Musikkultur zu einem fixen Bestandteil derKonsumgewohnheiten derjungen Generation, ja sogar derKinder. Unter den Freizeitbeschäftigten von unter 18-jährigen Jugendlichen in Österreich
70 Marina Fischer-Kowalski: Halbstarke 1958, Studenten 1968: eine Generation undzwei Rebellionen, in: Ulf Preuss-Lausitz [u.a.]: Kriegskinder, Konsumkinder, Krisenkinder. ZurSozi70, alisationsgeschichte seit dem Zweiten Weltkrieg, 4. Aufl., Weinheim/Basel 1995, S. 53– 56. hier S. 54– 71 Rudolf Kohoutek: Thesen zu einer „Neuen Kultur“ 351, , in: SWS-Rundschau 1988, S. 341– hier S. 343. 72 Kurt Luger: Vergnügen, Zeitgeist, Kritik. Streifzüge durch diepopuläre Kultur (Neue Aspekte in Kultur- undKommunikationswissenschaft 13). Wien 1998, S. 284. 73 Kurt Luger: Die konsumierte Rebellion. Geschichte der Jugendkultur 1945– 1990 (Neue Aspekte in Kultur- undKommunikationswissenschaft 1). Wien/St. Johann im Pongau 1991, S. 191.
74 Leopold
Rosenmayr/Eva Köckeis/Henryk Kreutz: Kulturelle Interessen
von Jugendlichen.
Eine soziologische Untersuchung anjungen Arbeitern undhöheren Schülern. Wien/München 1966, S. 199, 209.
VomVersorgungsfall zurZielgruppe. Konsumverhalten Wiener Kinder
239
stand 1976 „ Musik hören“mit 74 % an der Spitze.75 ImJahr 2002 gaben 25 % der 7- bis 15-jährigen Wiener Kinder an, ihr Taschengeld für Musik-CDs auszugeben.76 Der Bruch mit bürgerlichen Kleidungskonventionen wurde zunächst durchwegs mit bescheidenen Mitteln vollzogen, diejenen der Schlurfs ähnelten, er erwies sich aber nunals wesentlich nachhaltiger. Der allmähliche Durchbruch der Teeanfänglich vonjungen Mittelschichtfrauen undArbeiterinnen77 getragenen „ nager-Couture“vollzog sich vor einer „ Kultur relativer Armut“ , die der Bekleidung von Kindern undJugendlichen selbst in der Zeit des anbrechenden Wirtschaftswunders noch kaum Bedeutung zumaß. Eine 1951 Geborene beschreibt die übliche Bekleidung vonKindern undJugendlichen folgendermaßen: Ich bekam als Kind fast nur getragene Sachen, auch von der Mutter oder von Tanten „ Selbstgeschneidertes oder Gestricktes. Das fand ich normal, und es war mir ziemlich gleichgültig, wasich trug, auch als ich älter war. Erwachsenenkleidung wurde umgeändert – 78 insgesamt warmeinAufzug sokonservativ wiederalter Frauen.“
Traditionelle Geschlechterrollen bildeten sich
ab:
in der Kinderbekleidung
deutlich
In den 1960er Jahren waren viele Dinge überhaupt kein Thema, zumBeispiel Mode. Ich „ kann mich gut erinnern, als wir in der vierten Klasse kurz davor waren, die Volkschulzeit [ Grundschulzeit] zubeenden, wurden wirgefragt, waswirgerne später einmal werden wollen. Da gab es einen Schüler, der gesagt hat, sein Ziel ist es, so viel Geld zu verdienen, dass er sich modische Kleider leisten kann. Dahatdanndieganze Klasse gelacht. Daswaretwas sehr 79 Weibisches, fürunsabsolut nicht verständlich.“
Die „Halbstarken“ -Mode US-amerikanischer Provenienz erhielt jedoch durch das in den 1950er und frühen 1960er Jahren zentrale Medium des Films eine hohe Werbewirkung, die durch einschlägige Modemagazine und Jugendzeitschriften verstärkt wurde. Die Umsätze blieben freilich mangels entsprechender Budgets noch bescheiden:
Jeanshosen waren revolutionär undtopmodisch, als ich sechzehn Jahre alt war, aber kaum „ jemand trug Markenware. Die Dinger wurden oft nur mit blauen, festen Stoffen nachempfunden.“80
Auch wenn sich Jugendliche zunächst noch mit Modeimitationen begnügten, war die Basis für ein erhöhtes Selbstbestimmtheitsmaß der Jugendlichen in der Mode durch die gruppenbildende Funktion der 68er-Bewegung gelegt. Die Modeindust75 Erich Brunmayr: Jugendliche und ihre Freizeitgestaltung, in: Mensch und Freizeit. Wien 134, hier S. 130. 1977, S. 128– 76 IMAS: Kinder-ÖVA 2002 (wie Anm. 6). 77 Wolfgang König: Geschichte der Konsumgesellschaft (Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte Beihefte). Stuttgart 2000, S. 392. 78 Universität Wien, Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen (WISO, DLA): Eva W., geboren 1951, zit. nach Eder: Privater Konsum (wie Anm.49). 79 Interview Martin H.(wie Anm. 52). 80 WISO, DLA: Eva W. (wie Anm. 78), zit. nach Eder: Privater Konsum (wie Anm. 49).
240
Andreas Weigl
rie reagierte
darauf mit der für sie profitabelsten Antwort: der Kreierung immer neuer Jugendmoden, deren Einfluss auf die Erwachsenenmode zunahm. Jugendmode erwies sich so als multipler Konsumverstärker. Der Gebrauchswert von Bekleidungskonsum trat immer deutlicher in den Hintergrund. Nach den Ergebnissen einer Befragung ausdemJahr 1987 wurden österreichweit vondenbefragten 14- bis 25-jährigen Jugendlichen Kleidungskäufe zu 29 % getätigt, um„ in“zu sein.81 Besonders für Jugendliche aus ökonomisch schwachen Familien bildete undbildet der Konsum vonMarkenprodukten derBekleidungsindustrie ein wichtiges Distinktionsmittel: „Wenn DuMarken trägst, die „ in“ sind, weiß jeder, dass . „Wenn einer keine Marken anhat, du Geld hast, dass du es dir leisten kannst“ , wie es eine 18jährige Facharbeiterin zuBeginn der 1990er dann ist er ein Prolet“ Jahre ausdrückte. Oder ein Lehrling in einer Diskussionsrunde: „ Wenn ich keine 82 Marken anhabe, dann komme ich mirvorwiedie anderen, dienichts haben.“ Die gestiegene Kaufkraft ermöglichte es auch Unterschichtenjugendlichen, einen Markenfetischismus zu entwickeln, der die outfitbezogene soziale Zuordnung verwischt, nicht jedoch beseitigt. Gerade die sozial undkulturell differierendeArtderAneignung vonProdukten blieb in subtiler Form erhalten, eine Subtilität, vonderdieModeindustrie letztlich profitierte.83
? Ein „Kinderkreuzzug“ Wodurch sich das Konsumverhalten von Kindern und Jugendlichen der Wirtschaftswunderjahre bereits grundsätzlich von den vorangegangenen Jahrzehnten unterschied, war der mit dem Bruch des kulturellen Generationenvertrages verbundene Umstand, dass zunehmend nicht mehr Eltern undLehrer, sondern nunmehr die Freizeitindustrie Normen und Lebensstile vorgaben.84 Diese bediente sich dabei zunehmend kinder- undjugendspezifischer Werbung.85 In einem „Kinderkreuzzug“ , derin denUSAderZwischenkriegszeit seinen Ausgang genommen
Amann [u.a.]: Jugend und Konsum. Konsumverhalten Jugendlicher in Österreich. Ergebnisse einer Repräsentativerhebung. Wien 1988, S. 12,23, 46, 101. Richard Krisch: Konsumieren macht frei? Die Barbie denKindern, Reebok denJugendlichen,
81 Anton 82
Felix liebt Heinz, in: Karl Kollmann/Hildegard Steger-Mauerhofer (Hg.): Verbraucher oder Verbrauchte. Wenn wir30 Jahre älter sind. Wien 1994, S. 49– 58, hier S. 53f.
83 Heinz-Gerhard Haupt: Konsum undHandel. Europa im 19. und20. Jahrhundert. Göttingen 2003, S. 16, 144. 84 Axel Schildt: Freizeit, Konsum und Häuslichkeit in der „Wiederaufbau“ - Gesellschaft. Zur vonLebensstilen in derBundesrepublik Deutschland in den 1950er Jahren, 348, hier S. 344. in: Siegrist/Kaelble/Kocka: Konsumgeschichte (wie Anm. 4), S. 327– 85 Hartmut Kaelble: Europäische Besonderheiten des Massenkonsums 1950– 1990, in: Sieg203, hier S. 175. rist/Kaelble/Kocka: Konsumgeschichte (wie Anm. 4), S. 169– Modernisierung
VomVersorgungsfall zurZielgruppe.
Konsumverhalten Wiener Kinder
241
nun auch der europäische Handel das Kind undden Jugendlichen als Konsument.
hatte86, entdeckte
Mit wachsenden Haushaltseinkommen und den damit gestiegenen Einkommenstransfers anKinder undJugendliche bei gleichzeitig immer längeren Ausbildungszeiten und entsprechend verzögertem Einstieg in das Berufsleben wurden Jugendliche eine Konsumentengruppe von rasch wachsender Bedeutung. Nicht zuletzt verfügten Jugendliche über ungleich mehr Freizeit, die nun primär zur Konsumzeit wurde.87 Nach einer 1987 durchgeführten Befragung traf das für nahezu zwei Drittel der befragten Wiener Jugendlichen ganz oder eher zu.88 1997 definierten 52 % der österreichischen Jugendlichen Shopping als Freizeitbeschäftigung, 1999 bereits 61 %.89 postmarxistische Einsteigerjugend“blieben freilich Elemente Auch für die „ einer altersspezifischen Lebenslage erhalten. Die gemeinschafts- undgruppenbildende Funktion des Konsums, die keineswegs mit Passivität verwechselt werden sollte, spielt auch für diese Generation eine wichtige Rolle.90 Nach einer im Jahr 2002 durchgeführten nicht-repräsentativen Internet-Umfrage unter 1.000 österreichischen Jugendlichen zwischen 14 und24 Jahren standen mit 63 % Lokalbesuche, 61 % Telefonieren und55 % Bekleidung an der Spitze der Ausgabenliste.91 Dieser Befund deckt sich mit den allgemeinen Ergebnissen der Konsumerhebungen unter Wiener Haushalten. Im Zeitraum 1984– 2000 fiel der durchschnittliche reale jährliche Zuwachs bei den Pro-Kopf-Ausgaben für Kommunikation (+3,1 %) undbeim „Verzehr außer Haus“in Cafes undRestaurants (+3,6 %) weit überdurchschnittlich aus (insgesamt +1,36 %).92 Teile der Gastronomie wie McDonalds-Fast-Food-Restaurants dienen verstärkt als Medium zur Herstellung von 86 Peter N. Stearns: Konsumgesellschaft: Ein Kinderkreuzzug, in: Siegrist/Kaelble/Kocka: Konsumgeschichte (wie Anm. 4), S. 139– 168. 87 Luger: Vergnügen (wie Anm. 72), S. 284f. 88 Amann: Jugend (wie Anm. 81), S. 108. 89 Heide Tebbich: The Shopping experience, in: praev.doc 01/2001, S. 7– 9, hier S. 7. www.youthpromotion.at/praev_doc.
90 Siegrist: Konsum (wie Anm. 4), S. 17 Anm. 11; John Brewer: Was können wir aus der Geschichte der frühen Neuzeit für die moderne Konsumgeschichte lernen?, in: Sieg74, hier S. 58; Arjun Appadurai: rist/Kaelble/Kocka: Konsumgeschichte (wie Anm. 4), S. 51– Introduction: Commodities andthe Politics of Value, in: Derselbe (Hg.): The Social Life of 63. Things: Commodities in Cultural Perspective. Cambridge 1986, S. 33– 91 Fessel-GfK Sozialforschung, Wien: Jugend Online 2002. 92 Eigene Berechnungen nach ÖStZ/Österreichisches Institut für Wirtschaftsforschung: Konsumerhebung 1954/55; ÖStZ: Der Verbrauch der städtischen undbäuerlichen Bevölkerung Österreichs. Ergebnisse der Konsumerhebung 1964. Wien 1966; ÖStZ: Konsumerhebung 1974. Ergebnisse für Bundesländer (Beiträge zurösterreichischen Statistik 441). Wien 1976; ÖStZ: Konsumerhebung 1984. Regionalstatistische Auswertungen (Beiträge zurösterreichischen Statistik 851). Wien 1987; Statistik Austria: Verbrauchsausgaben 1999/2000. Hauptergebnisse derKonsumerhebung. Wien 2001 (wie Anm. 7).
242
Andreas Weigl
15-jährigen Wiener Beziehungen. ImJahr 2002 besuchten immerhin 38 % der 13– Jugendlichen regelmäßig diese Konsumorte.93 Ein solches Konsumverhalten der„postmarxistischen Einsteigerjugend“stand kaum mehr im Widerspruch zur elterlichen Stammkultur. Bereits die erwähnte Jugend-Befragung aus dem Jahr 1987 kam zu dem Ergebnis, dass „ die These eines ‚intensiven Konsums‘ von Jugendlichen ... für die große Zahl der Jugendlichen nicht bestätigt werden [kann]. Angezeigt scheint vielmehr eine eben schrittweise Übernahme von Ausgabebereichen für diese Felder, die in der Höhe den Kosten eines generellen Konsumstandards ... vergleichbar zu sein scheinen.“94 Nach denErgebnissen der Konsumerhebung des Jahres 1984 verzeichneten Wiener Haushalte mit Haushaltsvorständen unter 30 Jahren lediglich beim Wohnen, bei der Wohneinrichtung und bei Zigaretten überdurchschnittliche Anteile am Gesamtbudget. 1999/2000 war österreichweit auch das nicht mehr der Fall. Nun lagen in dieser Gruppe vonHaushalten lediglich die Anteile bei denAusgaben für Cafés, Restaurants“über demDurchschnitt.95 Kommunikation“und„ „ Wie sehr die elterliche Stammkultur nach wie vor prägend für das Konsumverhalten von Kindern undJugendlichen wirkt, erweisen u.a. auch Befragungen zurVerwendung von„Taschengeld“ . Das in den„Langen Fünfzigern“allmählich durch Konsumismus abgelöste Sparsamkeitsparadigma der europäischen Gesellschaften96 ist entgegen populärer Mutmaßungen keineswegs völlig verschwunden. Nach derKinder-Verbrauchsanalyse ausdemJahr 2002 stand Sparen mit 59 % an derSpitze der„Taschengeldverwendungen“. Österreichweit kamdieAltersgruppe der 7- bis 15-jährigen auf ein durchschnittliches Sparguthaben von 846,60 EUR.97 Konsum von schnelllebigen Produkten der Kulturindustrie ist in den 1990er Jahren für Jugendliche und Erwachsene alltäglich geworden. Zwar entwickeln Jugendliche eigene „ Rezeptionsstrategien“ , diejedoch rasch wechseln undkaum mehr dauerhafte autonome Jugendkulturen entstehen lassen.98 Damit unterscheidensie sich allenfalls im Tempo von denErwachsenen, deren verbreiterter Hang zuLebensstilisierungen verbindliche kulturelle Orientierungen kaum mehr erkennen lässt.99 Wachsende Bedeutung gewinnen Konsumpräferenzen von Kindern und Jugendlichen allerdings insofern, als neben der klassischen Preis/Mengenfunktion u.a. familiäre Kommunikationsstrukturen zunehmenden Ein-
93 Amann: Jugend (wie Anm. 81), S. 13, 44; IMAS: Kinder-ÖVA 2002 (wie Anm. 6). 94 Amann: Jugend (wie Anm. 81), S. 31. 95 ÖStZ: Konsumerhebung 1984, S. 41; Statistik Austria: Verbrauchsausgaben 1999/2000. Sozialstatistische Ergebnisse derKonsumerhebung. Wien 2002, S. 58. 96 Arne Andersen: Mentalitätenwandel undökologische Konsequenzen des Konsumismus. Die Durchsetzung der Konsumgesellschaft in den fünfziger Jahren, in: Siegrist/Kaelble/Kocka: 791, hier S. 764f. Konsumgeschichte (wie Anm.4), S. 763– 97 IMAS: Kinder-ÖVA 2002 (wie Anm.6). DieAntwortquote betrug allerdings nur26 %. 98 Luger: Vergnügen (wie Anm. 72), S. 280. 99 Rudolf Richter: Von der Klassenkultur zur Stilisierung des Lebens, in: SWS-Rundschau 340, hier S. 339. 28(1988), S. 333–
VomVersorgungsfall zurZielgruppe. Konsumverhalten Wiener Kinder
243
fluss auf Marktprozesse erlangen.100 Dadurch entstehen fließende Übergänge „ Massenkulturen“derErwachsenen.101
zu
Resümee
In den entwickelten
Industriegesellschaften
ist der Kampf um soziale Anerken-
nungimmer ausschließlicher zumWettbewerb umdenErwerb undKonsum materieller Güter geworden, deren Nachfrage weit über physiologische Grundbedürfnisse hinausgeht.102 Neben Gütern und Kapitalen werden zunehmend auch von jüngeren Konsumenten Reputationskarrieren konsumiert. In Anlehnung an eine
von Pierre Bourdieu formulierte soziologische Typologie von Kapitalformen103 lassen sich daher meiner Ansicht nach analog jeweils dominante Konsumformen definieren, die drei Phasen der Konsumgeschichte Wiener Kinder undJugendlicher im20. Jahrhundert charakterisieren: – Eine etwa von 1900 bis 1955 reichende Phase der„bedingt nivellierten groben Unterschiede“ , wie ich sie nennen möchte, warfür einen erheblichen Teil der Kinder undJugendlichen durch physische Subsistenz geprägt. Die durchgängige Verbreitung von Lohnarbeitsverhältnissen in den städtischen Unterschichten ließ den beschränkten Konsum von Genussmitteln und Produkten der Unterhaltungsindustrie (Schallplatten, Kino) allerdings bereits in dieser Phase zuundverwies damit auf darüber hinausreichende Konsumbedürfnisse von Kindern und Jugendlichen, die trotz erheblicher Ernährungsdefizite unelastisch nachgefragt wurden.
– Der Zeitraum von Mitte der 1950er bis etwa Mitte der 1980er Jahre war auf derBasis dramatischer Wohlstandsgewinne durch eine zunehmend schichtenübergreifende Jugendkultur bestimmt. Für ihre Etablierung spielten massenmedial vermittelte jugendliche Subkulturen und eine global agierende Jugendkonsumgüterindustrie eine beträchtliche Rolle. Deren Produkte wurden nicht zuletzt von Jugendlichen verstärkt nachgefragt, weil sie als „ soziales Kapital“die Zugehörigkeit zu sozialisationsrelevanten „kulturindustriell produzierten Kommunikationsgemeinschaften“104sicherten. 100 Birger Priddat: Theoriegeschichte der Wirtschaft. oeconomia/economics. München 2002, S.
225.
101 Wilfried Ferchhoff/Dieter Baacke: Jugendkulturen und Stile, in: Österreichische Zeitschrift fürGeschichtswissenschaften 6 (1995), S. 505– 530, hier S. 526. 102 Rolf Peter Sieferle: Gesellschaft im Übergang, in: Dirk Baecker (Hg.): Archäologie der Arbeit. Berlin 2002, S. 144ff.; Priddat: Theoriegeschichte (wie Anm. 100), S. 212f. 103 Pierre Bourdieu: Die verborgenen Mechanismen der Macht (Schriften zur Politik undKultur
1). Hamburg 1992; Bourdieu versteht unter Kapital „Verfügungsmacht imRahmen eines sozialen Feldes“ , wobei letzteres „Ding gewordene Geschichte“sei. Vgl. dazu Markus Schwingel: Pierre Bourdieu zurEinführung, 3. Aufl., Hamburg 2000, S. 153. 104 Ferchhoff/Baacke: Jugendkulturen (wie Anm. 101), S. 514.
244
Andreas Weigl
– Seit denspäten 1980er Jahren ist ein Pluralismus von Milieus undLebenssti-
len festzustellen.105 Spezifische Generationenkulturen sind zwar nicht völlig verschwunden, haben sich jedoch bis zu einem gewissen Grad atomisiert. Sie sozialen Kapitals“mittels Paarartikulieren sich etwa in der Aneignung „ Shopping, in der Aneignung von Identität im Kaufprozess undam Konsumort. Die Konsumindustrie hat darauf mit der Zurverfügungstellung von Openair-Shoppingmalls, wie der Wiener Mariahilferstraße, reagiert. Ausden Eckenstehern der 1950er Jahre ist also eine Vielfalt von ShoppingHerumlungerer-Kulturen der Jahrtausendwende geworden.106 Mit dem Bruch eines kulturellen Generationenvertrages hat das freilich kaum mehr zu tun. Eine theoretisch allen Gesellschaftsschichten offen stehende „attributive Kultur“ , die durch denKauf unddieZur-Schau-Stellung vonAccessoires undein situationsadäquates Selbstverständnis vermittelt wird, hat Jugendliche wie Es gibt Menschen die stylen sich umaufzufallen, aber Erwachsene erfasst.107 „ ich mach das nur, ummich zu verwirklichen, weil, wenn ich so herumlaufe wie alle anderen, dann bin ich wie die anderen“.108Der bei Kindern undJugendlichen zu beobachtende „ Markenfetischismus“erweist sich so als neue, diffizile Variante des traditionellen bürgerlichen Investments von „kulturellemKapital“in deneigenen Nachwuchs, ein Investment, dasletztlich zurStafeinen Unterschiede“beiträgt. bilisierung der„
105 Luger: Vergnügen (wie Anm. 72), S. 288. 106 Tebbich: Shopping experience (wie Anm. 89), S. 8f; Heide Tebbich: Stadt und(Jugend-) Kultur. Jugendliche als Zielgruppe und Akteure städtischen Wandels, in: SWS-Rundschau 27, hier S. 20f. 42(2002), S. 19– 107 H.P. Thurn: Perspektiven derKultursoziologie, in: E. Alemann/H.P. Thurn (Hg.): Soziologie
44, hier S. 21, zit. n. Richter: Klassenkultur in weltbürgerlicher Absicht. Opladen 1981, S. 11–
(wie Anm. 99), S. 339.
108 Tebbich: Shopping experience (wie Anm. 89), S. 8.
Oliver Volckart
Korreferat zuAndreas Weigl VomVersorgungsfall zurZielgruppe: Konsumverhalten Wiener Kinder und „ Jugendlicher zwischen Kinderausspeisung undMarkenfetischismus“
Herr Weigl hat amEnde seines Aufsatzes eine chronologische Gliederung seines Themas vorgestellt: Er hat in der Mitte der fünfziger undder achtziger Jahre Zäsuren gesetzt undso drei Zeiträume unterschieden, in denen dasKonsumverhalten derWiener Jugendlichen jeweils so viele gemeinsame Merkmale aufwies, dass er von„dominanten Konsumformen“spricht. Ich finde diese chronologische Gliederung vollkommen überzeugend. Wenn ich hier versuche, das Thema nach anderen Gesichtspunkten zu gliedern, bitte ich dasdaher nicht als Beckmesserei misszuverstehen. Es geht mir lediglich umden Versuch einer Ergänzung dessen, was Herr Weigl dargelegt hat, oder genauer gesagt umdieHervorhebung einer anderen Perspektive. Dazu möchte ich sachliche Gesichtspunkte in den Mittelpunkt stellen, nämlich die Mechanismen, diezueiner Änderung des Konsumverhaltens führen. Vorausschicken sollte ich zweierlei: Erstens ist mir natürlich bewusst, dass sich Änderungen des Konsumverhaltens auch aus anderem theoretischem Blickwinkel als dem, den ich wähle, analysieren lassen –Beispiele dafür finden sich in diesem Band. Die Mikroökonomik bzw. die individualistische Sozialtheorie überhaupt, deren Untersuchungsgegenstand individuelle Wahlhandlungen hinsichtlich des Einsatzes knapper Güter und Ressourcen sind, ist jedoch durchaus dazu in der Lage, Konsumentscheidungen sowie deren Veränderung zu erklären. Auf einer wirtschaftshistorischen Tagung sollte diese wirtschaftswissenschaftliche Perspektive meines Erachtens jedenfalls mit vertreten sein. Zweitens möchte ich hervorheben, dass im Zusammenhang mit Konsumentscheidungen und ihrem Wandel auch weitere, von mir nicht behandelte Mechanismen eine Rolle spielen. Im folgenden geht es lediglich um diejenigen, die im Zusammenhang mit dem von Herrn Weigl behandelten Thema besonders große Bedeutung hatten. Kurz gesagt handelt es sich umdrei Mechanismen: umunterschiedliche Nachfrageelastizitäten bei Änderungen der relativen Preise, um institutionellen Wandel und um die Verbreitung vonModen. 1. Dazu, wie sich unterschiedliche Nachfrageelastizitäten auswirken, wenn sich dierelativen Preise dernachgefragten Güter verändern, brauche ich hier nicht viel auszuführen. Die Frage ist von Wirtschaftshistorikern und Wirtschaftswissenschaftlern oft untersucht worden. Unter Wiener Kindern undJugendli-
246
Oliver Volckart
chen spielte
2.
dieser Mechanismus offenbar vor allem in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts eine Rolle, d.h. vor allem imAnschluss an denErstenundZweiten Weltkrieg. ImWien derNachkriegszeiten scheinen dieRealeinkommen so gering gewesen zu sein, dass eine Steigerung der Preise bestimmter Nahrungsmittel –d.h. solcher mitbesonders geringer Nachfrageelastizität –sofort einen Rückgang des Konsums anderer, elastischer nachgefragter Güter auslöste. Angesichts des seit den sechziger Jahren bestehenden Realeinkommensniveaus hat dieser Mechanismus in jüngerer Zeit allerdings wohl erheblich anBedeutung verloren. Was denzweiten oben erwähnten Mechanismus, deninstitutionellen Wandel betrifft, so lassen Herrn Weigls Ausführungen deutlich erkennen, dass das Konsumverhalten in erheblichem Maße von Institutionen mitbestimmt wird. Ich verwende diesen Begriff hier im institutionenökonomischen Sinne, d.h. ich verstehe unter Institutionen formelle oder informelle Verhaltensregeln, die von einem Durchsetzungsmechanismus ergänzt werden. Eine Institution, die das Konsumverhalten beeinflusste, hing beispielsweise mit der Vorstellung vom„male bread winner“zusammen. Anscheinend bestand hier eine Regel, die denFleischkonsum an denErwerb eines Geldeinkommens koppelte. KinderundJugendliche, die diese Institution verletzten, hätten mit Sicherheit mit einer irgendwie gearteten Sanktion rechnen müssen. Wenn die Regel befolgt wurde, dann deshalb, weil derpotentielle Nutzen desFleischkonsums vonden Konsumenten geringer bewertet wurde als die Kosten, die die Sanktion ihnen auferlegte. Ebenso wurde dergesamte Lebensstil bürgerlicher sowie kleinbürgerlicher undproletarischer Familien zuBeginn deszwanzigsten Jahrhunderts institutionell mitbestimmt. Offenbar existierten Regeln, die bestimmten, welche Kleidung getragen oder welche Nahrungsmittel konsumiert werden durften, undwer gegen diese Regeln verstieß, hatte mit Strafe zu rechnen. Wie kommt es hier nunzu einem institutionellen Wandel? Es gibt natürlich viele Faktoren, die institutionelle Änderungen auslösen können, aber im Zusammenhang mit Herrn Weigls Thema waren zwei von besonderer Bedeutung. Einerseits nämlich ist die Befolgung vonInstitutionen mit Kosten verbunden. Sich in einer Weise zukleiden, die demeigenen sozialen Statusanspruch entspricht, kostet z.B. etwas. Eine Verschiebung der relativen Preise –beispielsweise eine Verteuerung von Lebensmitteln gegenüber Kleidung –kann auch in diesem Zusammenhang zu Verhaltensänderungen führen. Dies geschieht allerdings nicht direkt, indem etwa wie in den oben erwähnten Fällen elastischer nachgefragte Güter weniger konsumiert werden, sondern indirekt: Die Akteure bewerten die Opportunitätskosten einer weiteren Befolgung derInstitution als zu hoch und entwickeln dementsprechend die Bereitschaft, die Sanktion in Kauf zu nehmen, die sich aus der Regelverletzung ergibt. Geschieht dies immer wieder, so kann die Folge die Erosion einer das Konsumverhalten bestimmenden Institution sein. Andererseits ist wichtig, dass sich in Institutionen gesellschaftliches Wissen bzw. gesellschaftliche Erfahrungen widerspiegeln. Individuen vergleichen dieses Wissen ständig mit den Erfahrungen, die sie täglichen Tags machen. Ergeben sich zu viele Diskrepanzen,
Korreferat
3.
zuAndreas Weigl
247
so kann das dazu führen, dass eine Institution zu erodieren beginnt. Das scheint mirderFall gewesen zusein, als dasImage des„ male bread winners“ erst aufgrund von Massenarbeitslosigkeit während der Weltwirtschaftskrise und später aufgrund der zunehmenden Erwerbstätigkeit von Frauen seinen Bezug zur Realität verlor. Die Verbreitung von Moden ist ein Thema, mit dem sich die individualistische Sozialtheorie relativ schwer tut, ähnlich wie mit Börsenpaniken undanderen Erscheinungen, die sich nicht unmittelbar als Ergebnis ökonomistischer Kosten-Nutzen-Kalküle erklären lassen. Es gibt aber zumindest einen Ansatz, den ich hier in seinen Grundzügen kurz skizzieren möchte. James Coleman geht davon aus, dass bei derVerbreitung vonModen zwei Typen vonAkteurenmitunterschiedlicher Nutzenfunktion eine Rolle spielen: sogenannte Meinungsführer undGefolgsleute. Während der Nutzen der Meinungsführer sich daraus ergibt, sich von anderen in zumindest einem relevanten Merkmal zu unterscheiden, geht in die Nutzenfunktion der Gefolgsleute die möglichst große Ähnlichkeit mit möglichst vielen anderen ein. Gefolgsleute übertragen also die Kontrolle bestimmter Aspekte ihres Verhaltens anderen Akteuren. Dieses Verhalten ist aufdie Vorteile zurückzuführen, die sich daraus ergeben, anderen möglichst stark zu ähneln, z.B. weil Gefolgsleute dann nicht auffallen, weil sie in bestimmen Zusammenhängen keine Entscheidungskosten aufzuwenden brauchen oder aus ähnlichen Gründen. Kurz gesagt: Zugehörigkeit zueiner Gruppe gleichartiger Individuen reduziert bestimmte Kosten, die das Individuum sonst tragen müsste. Meinungsführer helfen bei der Reduktion dieser Kosten, weil sie einen Teil derjenigen Kosten übernehmen, die beim Erwerb vonInformationen darüber anfallen, welche Moden gerade „ angesagt“ sind. Damit solche Moden eine gewisse Zeit lang stabil sein können, muss die soziale Gruppe, in der sie bestehen, gegenüber anderen Gruppen relativ stark geschlossen sein. Andernfalls ist die Wahrscheinlichkeit zu groß, dass der Meinungsführer von einem Konkurrenten verdrängt wird. Ich denke, damit wird die Vermutung plausibel, dass Jugendmoden wie die von Herrn Weigl beschriebenen nicht nur ein relativ hohes Einkommen voraussetzen, sondern vor allem Freizeit. Wenn Jugendlichen die Zeit fehlt, untereinander Gruppen zubilden, dürfte die Entstehung vonJugendmoden ausgeschlossen sein.
Lassen Sie mich abschließend noch kurz aufzwei Umstände hinweisen: Erstens konnte ich die Mechanismen, die zu Veränderungen des Konsumverhaltens führen, hier nurskizzieren. Tatsächlich sind diese Mechanismen natürlich komplexer als das, was ich kurz dargestellt habe. Undzweitens sollte mansich die Verhältnisse nicht so vorstellen, als hätten sich die Mechanismen, die ich erwähnt habe, in chronologischer Folge abgelöst. Ich denke vielmehr, sie wurden imWesentlichen parallel wirksam, wenn auch zu verschiedenen Zeiten mitunterschiedlicher Intensität. Eine Untersuchung derFrage, welche Mechanismen wann besondere Bedeutung hatten, würde vermutlich zu einer chronologischen Gliederung desvonHerrn Weigl untersuchten Themas führen, die sich vonseiner eigenen erheblich unterscheidet.
Reiner Flik Nutzung von Kraftfahrzeugen bis 1939 –Konsum- oder Investitionsgut?
I. Einführung Die Gattung Kraftwagen zerfällt in Personen- undin Lastkraftwagen. Dass Lastkraftwagen Produktionsmittel sind, braucht nicht begründet zu werden, deshalb beschränke ich meinen Vortrag auf Personenkraftwagen. Das Kraftrad spielt eine Nebenrolle. Es darf nicht ausgegrenzt werden, weil es ein inferiores Substitut für Kraftwagen ist. Schema: Kraftfahrzeuge, nach Fahrzeuggattungen
Kraftfahrzeug
Kraftwagen
Kraftrad Lastkraftrad
Personenkraftrad
Personenkraftwagen
Personenkraftwagen i. e. S.
Omnibus
Lastkraftwagen
Sonstiger Kraftwagen (Zugmaschine, selbstfahrende Arbeitsmaschineusw.)
ImJahr 2001 waren in derBundesrepublik Deutschland 43,8 Millionen Personenkraftwagen zugelassen –ein Zehntel davon auf Unternehmen undSelbstständige, der Rest auf unselbstständig Beschäftigte, Nicht-Erwerbstätige und Behörden. Kraftwagen im Besitz von Unternehmen und Selbstständigen sind Produktionsmittel. Jedoch werden Dienstwagen in der Regel auch für Privatfahrten benutzt undPrivatwagen dazu, zumArbeitsplatz zu fahren. Deshalb ist die Gewohnheit, Personenkraftwagen zu den langlebigen Konsumgütern zu rechnen, problematisch. Konsumgüter sind sie nur insoweit, wie sie Freizeitzwecken dienen. Wer denStandpunkt vertritt, dass Freizeit demErhalt der Arbeitsfähigkeit dient, dem magsogar derWagen, mit demer in denUrlaub fährt, als Produktionsmittel erscheinen. Eine eindeutige Zuordnung kann man demnach nur für den Teil des Pkw-Bestandes treffen, derNicht-Erwerbstätigen gehört.
250
Reiner Flik
Tab. 1: Verwendung von Personenkraftfahrzeugen (einschließlich Omnibussen) im Deutschen Reich, 1907–1938 Jahr
Krafträder
Personen-
Verwendung
Kraftwagen
Be-
derPersonenkraftfahrzeuge (in Prozent) Kran-
hör-
Öffentlicher
den
Fuhr-
gen
und berufl Zwecke
iche
iche,
kenwa-
sonstige
verkehr
Handel oder sonstiges Forstwirt- Gewerbe
Be-
Land-
Sonstige
oder
rufe (Freie Berufe usw.)
Vergnügung u.Sport
schaft Krafträder
1907 1908 1909 1910 1911 1912 1913 1914
15.700 19.573
20.928 22.283 20.535 19.958 20.325 22.457
10.115 14.671 18.547 24.639 31.696 39.943 49.760 60.876
0,8 0,9 1,0 1,0 1,1 1,2 1,5 1,8
4,6 5,1 5,9 7,0
8,1 8,8 10,0 10,1
undKraftwagen
X X X X X X X X
94,4
94,1 93,1 92,0 90,8 90,0 88,6 88,2
1,0
41,4
1,1
41,0
1,0
40,8 40,8
0,9 0,9 1,0
37,1
38,3 38,1 38,9
12,2 11,8 11,8 11,6 11,7 11,8 11,8 11,6
39,8 40,2 39,4 38,6
41,1 39,0 37,7 36,5
Kraftwagen
19141
1921 1922 1923 1924 1925 1926 1927 1928 1929 1930 1931 1932 1933 1934 1935 19362
1937 1938
20.660 26.729 38.048 59.389 97.965 161.508 263.345 339.226 438.288 608.342 731.237 792.075 819.178 852.776 983.994 1.053.556 1.184.081 1.327.189 1.513.328
55.276 60.611 82.692 100.340 132.179 174.665
206.487 267.774 351.380 433.205 501.254 522.943 497.275 522.209 674.523 800.444 960.652 1.125.727 1.290.434
2,3 6,3 4,6 3,1 2,3 2,2 2,1 1,6
1,5 1,3 1,4
1,4
1,5 1,6 1,2 1,3 1,4
1,4 1,3
14,1 13,4 10,8
9,0
7,1 7,9 9,9 10,0
8,8 8,0 7,3 6,9 6,5 6,0 5,3 4,3 3,3 2,9 2,5
X X X X X X X X X 0,4 0,4 0,4 0,4 0,4 0,3 0,3 0,2 0,2 0,2
83,7 80,4 84,6 87,9 90,7 89,9 88,1 88,4 89,7 90,3 90,9 91,3 91,6 92,0 93,2 94,2 95,0 95,4 95,9
Anmerkungen: 1) Deutschland nach demGebietsstand von 1921. 2) Ab 1936 ohne Omnibusse. Abweichungen derSummenvon100Prozent sinddurch Rundung bedingt.
Quelle: Vierteljahreshefte zur Statistik des Deutschen Reichs, hrsg. vomStatistischen Reichsamt,
Jg. 23 (1914) undJge. 30 (1921) – 48 (1939).
Daraus folgt, dass manbei der Charakterisierung des Personenkraftwagens mit der im Titel aufgebauten Entweder-oder-Fragestellung nicht weit kommt. Er ist sowohl Konsumgut als auch Produktionsmittel, erfordert also einen differenzierten Ansatz. Tabelle 1 enthält die Information, die der Statistik des Deutschen Reiches über die Verwendung von Personenkraftfahrzeugen zu entnehmen ist. Bis 1914 wurde 1,2 in Deutschland bei ihrer Registrierung auch nach der Nutzung gefragt. 1,1
Nutzung
vonKraftfahrzeugen bis 1939 –Konsum- oder Investitionsgut
251
Aber weil das Steuerrecht Fahrzeuge, die gewerblich bzw. beruflich genutzt wurden, bevorzugte, gaben fast alle erwerbstätigen Kraftfahrer, die keinen offensichtlich nur für Rennsport tauglichen Typen fuhren, dies als Hauptzweck an. Bei Wiederaufnahme der Zulassungsstatistik nach dem Ersten Weltkrieg wurde die Differenzierung des Kraftfahrzeugbestands nach demVerwendungszweck wegen erwiesener Nutzlosigkeit abgeschafft. Weil mich die Statistikquellen im Stich lassen, stütze ich meinen Vortrag hauptsächlich auf Quellen undLiteratur über die Kulturgeschichte unddie Diffusion des Automobils. Umihm eine prägnante These zu geben, stelle ich die Behauptung auf, dass Personenkraftwagen im Besitz privater Haushalte zu Beginn des Automobilzeitalters beinahe ausschließlich Konsumgut waren. Als sie ausgereift waren und die für ihren wirtschaftlichen Betrieb notwendige Infrastruktur geschaffen war, nahmen sie mehr undmehr denCharakter eines Produktionsmittels an. In neuerer Zeit sind sie Zwitter. Ihr Charakter wurde im Laufe ihres Produktlebenszyklus ähnlich verändert wie der des Personalcomputers. Umdiese These zu begründen, gehe ich folgendermaßen vor. In Teil II meines Vortrags beschreibe ich die Verbreitung undtypische Nutzung des Automobils bis 1939. Ich unterscheide dabei drei Stadien der Motorisierung –Motorisierung der Oberschicht, Motorisierung des gewerbetreibenden Mittelstands und Massenmotorisierung –unddifferenziere räumlich nach Nordamerika undEuropa. Nordamerika eilte Europa bei der Nutzung von Personenkraftwagen weit voraus. Das ist deshalb erstaunlich, weil fast alle bedeutenden Pionierleistungen auf demGebiet der Automobiltechnik von Europäern erbracht wurden. Da ich nicht alle Staaten Europas behandeln kann, beschränke ich mich diesbezüglich auf Deutschland, dessen Motorisierung des Straßenverkehrs ein Extremfall des westeuropäischen Motorisierungsmusters war. Imdritten Teil entwickle ich eine „ kleine Theorie derMotorisierung“ , die denVorsprung Nordamerikas erklärt.
II. Nutzung vonPersonenkraftwagen 1. Beschreibung
a. Kraftwagenhaltung, nach Regionen Man misst die Verbreitung von Automobilen in der Wirtschaft und der Gesellschaft mittels derKraftwagendichte. Das ist die Zahl derzumVerkehr auf öffentlichen Straßen zugelassenen Personen- undLastkraftwagen in einem Gebiet, bezogen auf dessen Einwohnerzahl. DerKraftfahrzeugbestand wurde in denmeisten Staaten der industrialisierten Welt bereits vor dem Ersten Weltkrieg statistisch erfasst, in Deutschland ab 1907. Für die USA liegen ab etwa 1910 verlässliche, alle Bundesstaaten erfassende Zahlen vor.
252
Reiner Flik
Abb. 1: Kraftwagendichte in Übersee undEuropa, 1900–19391
Abbildung 1 zeigt die Entwicklung der Kraftwagendichte, nach Regionen gegliedert. Sie wuchs amschnellsten in denVereinigten Staaten vonNordamerika und in einigen überseeischen Agrarstaaten. Ein Motorisierungsgrad, bei dem im Durchschnitt auf jede Familie ein Kraftfahrzeug entfällt, heißt Massenmotorisierung. In denUSAwardieses Verhältnis ausgangs der 1920er Jahre beinahe erreicht. In denaltindustrialisierten Staaten Europas begann damals erst die Motorisierung desgehobenen Mittelstandes. Deutschland war sogar nach europäischem Maßstab ein Spätkömmling. Frankreich, Großbritannien, Dänemark, Schweden, Norwegen, Belgien, die Schweiz (bis 1936) unddie Niederlande (bis 1935) hatten in der Zwischenkriegszeit eine höhere Kraftwagendichte als Deutschland.
b. Kraftwagenhaltung, nach Sozialgruppen Noch vor zwei Jahrzehnten galt die Sozialgeschichte des Automobils in Deutschland als vernachlässigtes Forschungsfeld; die Literatur über Automobilgeschichte warfast ganz aufTechnik- undUnternehmensgeschichte beschränkt. Seitdem sind 1 Die Abbildungen 1, 2 und5 dieses Textes sind meiner
Habilitationsschrift: VonFord lernen? Automobilbau und Motorisierung in Deutschland bis 1933, Köln/Weimar/Wien 2001, entnommen. Umden Fußnotenapparat nicht unnötig aufzublähen, wurde hier auf Angabe der Quellen undKommentierung derBerechnungsweise verzichtet.
Nutzung
vonKraftfahrzeugen bis 1939 –Konsum- oder Investitionsgut
253
aber mehrere Studien auf diesem Gebiet unternommen worden.2 Ich fasse ihren
Inhalt in wenigen Sätzen zusammen: Der typische Automobilist der Kaiserzeit warein Adeliger oder reicher Bürgerlicher, der keinem Beruf nachging undsich aus Sport- oder Reiselust Kraftwagen hielt. Im letzten Jahrzehnt vor demErsten Weltkrieg kames auch bei Industriellen, Großkaufleuten, Bankiers undGutsbesitzern in Mode, sich Kraftwagen anzuschaffen. Diese nutzten die Wagen natürlich auch für ihre Geschäfte. Jedoch spielte dieses Motiv zur Kaiserzeit beim Erwerb
eines Automobils kaum eine Rolle. Automobile waren damals noch enorm teuer, schwierig zubedienen, brauchten viel Wartung undwaren dennoch notorisch unzuverlässig. August Horch schrieb in seinen Erinnerungen, dass man sich um 1905 glücklich schätzen durfte, wenn ein Wagen 100 km lang ohne Panne lief,3 undsolange derEintrag „Auto mitPferden nach Hause gebracht“noch zumüblichen Inhalt eines Automobilistentagebuches gehörte, wares keine wirtschaftliche Alternative zuherkömmlichen Transportmitteln. DerKraftwagen galt deshalb vor dem Ersten Weltkrieg in der öffentlichen Meinung als Freizeitbeschäftigung und Statussymbol schwerreicher Leute. Woodrow Wilson nannte ihn 1906 in einer seiner ersten politischen Reden eine so aufdringliche Zurschaustellung vonReichtum, dass dies unweigerlich derSozialismus-Bewegung Vorschub leisten müsse. Es gab in Europa nur wenige Berufsgruppen, für die geschäftliche Nutzung schon vor demErsten Weltkrieg dasdominierende Kaufmotiv war–vornehmlich Landärzte, ferner Handelsvertreter, Versicherungsagenten, Vermesser, Architekten undBauingenieure. Die deutschen Automobilfirmen bedienten diesen Markt mit einem Kleinwagentyp, der Doktorwagen hieß –nach einem 1908 von Opel herausgebrachten Fahrzeug. Opels Doktorwagen war der Prototyp einer neuen Fahrzeuggattung, die in Deutschland Berufswagen, auch Gebrauchswagen, hieß – in Abgrenzung von den Renn- undSportwagen undden schweren Tourenwagen, die sechs bis acht Personen Platz boten. DerGebrauchswagen waraber weder bei Opel noch bei anderen europäischen Firmen ein Verkaufsschlager. ZumMassenartikel wurde er in Nordamerika. Um verständlich zu machen, warum das so war, muss mansich mit der Struktur des ländlichen Raumes inNordamerika beschäftigen.
2
3
Zatsch, Angela: Staatsmacht und Motorisierung am Morgen des Automobilzeitalters, Konstanz 1993; Haubner, Barbara: Nervenkitzel und Freizeitvergnügen. Automobilismus in Deutschland 1886– 1914, Göttingen 1998; Merki, Christoph Maria: Derholprige Siegeszug des 1930, Wien 2002; Möser, Kurt: Geschichte desAutos, Frankfurt a. M. 2002; Automobils 1895– Fraunholz, Uwe: Motorphobia. Anti-automobiler Protest in Kaiserreich undWeimarer Republik, Göttingen 2002. Horch, August: Ich baute Autos. VomSchlosserlehrling zumAutoindustriellen, Berlin 1937,
S. 131.
254
Reiner Flik
Motorisierung der Farmlandschaften Nordamerikas
Die Staaten, in denen die Kraftwagendichte schnell zunahm, haben überwiegend Farm-Landschaften, die dünn besiedelt waren undein weitmaschiges Eisenbahnnetz besaßen. Die Bevölkerungsdichte der USA betrug in den 1920er Jahren etwa ein Zehntel, ihre Eisenbahndichte –das ist die Schienenlänge pro km2–etwa ein Drittel der Deutschlands. Insbesondere fehlten dort Quer- und Nebenbahnen, die die Landstädte an die Hauptstrecken anbanden. Es ist leicht einzusehen, dass Kraftwagen unter solchen Umständen die Lebensverhältnisse enorm verbessern. In vielen Gegenden waren sie überhaupt Voraussetzung, umdie Landbevölkerung am städtischen Leben teilnehmen zu lassen. Vielerorts erhielten Farmerkinder durch Einrichtung von Kraftwagenlinien erst die Möglichkeit, Schulen zu besuchen. Kraftwagen waren auch hochnützliche Produktionsmittel für Farmer undfür Gewerbetreibende undFreiberufler in Landstädten. Die Reichweite eines Pferdefuhrwerks, das abends wieder zum Standort zurückkehren soll, beträgt etwa zwanzig kmpro Tag. Gemeinden undFarmen, die weiter vonderEisenbahn oder einem schiffbaren Gewässer entfernt lagen, waren also vor Einführung des Kraftfahrzeugs von regelmäßigem Kontakt zumüberregionalen Markt ausgeschlossen. Die Herausbildung eines Lastkraftwagen-Fuhrgewerbes machte es wirtschaftlich, Waren, bei denen die Fracht stark zu Buche schlug (z. B. Kunstdünger, Kohle, Mineralöl, Baustoffe, Maschinen), von weit her zu beziehen undungenutzte Bodenschätze, Wälder undÖdländer zuerschließen. Farmer wurden durch denKauf eines Wagens in die Lage versetzt, ihre Betriebe auf leicht verderbliche Produkte –Fleisch, Milch, Eier, Gemüse usw. –zu spezialisieren und diese auf weit entfernte Märkte zu bringen. Viele Farmer benutzten ihre Wagen auch, umMühlen, Pumpen, Sägen, Dreschmaschinen usw. anzutreiben. Es gab Zusatzgerät, mit dem mansie sogar zumPflügen verwenden konnte. Kraftwagen ermöglichten also eine beträchtliche Steigerung der Produktivität undRentabilität von Farmbetrieben. Das machte es sinnvoll, sich für denErwerb eines Kraftwagens zu verschulden. Er finanzierte sich nämlich selbst –aus dem durch seinen Gebrauch zu erzielenden Einkommenszuwachs. Der investive Charakter des Automobilerwerbs bewog die US-Automobilhersteller schon früh dazu, ihren Absatz durch Vorfinanzierung, wie sie beim Investitionsgütermarketing üblich ist, zu fördern. Ab 1916 boten sie ihren Kunden Ratenzahlung oder Finanzierung durch Automobilbanken an. Das Abzahlungssystem wurde von Firmen, die Wagen der mittleren Preisklasse herstellten, eingeführt, um der Konkurrenz desMarktführers Ford zubegegnen. Mitte der 1920er Jahre waren rundzwei Drittel aller Fahrzeugverkäufe in USA Teilzahlungsgeschäfte.4
4
Jarvis, George Kirkham: The diffusion of the automobile in the United States: 1895– 1969, unveröffentliche Diss. University of Michigan, AnnArbor 1972, S. 83f.
Nutzung
vonKraftfahrzeugen bis 1939 –Konsum- oder Investitionsgut
255
Abb. 2: Links: Durchschnittseinkommen in Deutschland undin den USA. Rechts: Jährliche Kosten für die Haltung von Kleinwagen in Deutschland, 1900–1938
Abbildung 2 zeigt links die Entwicklung der Einkommen in den USA. Von 1910 bis 1920 wurden das durchschnittliche Nettoeinkommen aus dem Betrieb einer Farm unddas Pro-Kopf-Einkommen verdoppelt. Wie viel von demZuwachs der Steigerung der Produktivität undwie viel demkriegsbedingten Anstieg der Agrarpreise zuzurechnen ist, kann ich nicht abschätzen. Beides trug dazu bei, Automobile für die Landbevölkerung erschwinglich zu machen. 1920 besaß etwa ein Drittel aller Farmer in denUSA Kraftwagen. 1929 waren es beinahe neun Zehntel. Damals warrund die Hälfte des Kraftwagenbestands derUSA in Gemeinden mit weniger als 5.000 Einwohnern registriert, nur 23,1 Prozent in Städten über
100.000 Einwohner (Großstädte).5
Abbildung 3 zeigt die Entwicklung derKraftfahrzeugdichte in denUSA, nach Staaten. Namentlich Kalifornien und der Mittlere Westen, wo Familienfarmen von durchschnittlich 40 acres Größe (etwa 16 Hektar) vorherrschten, galten als Fässer ohne Boden fürdenAbsatz vonAutomobilen. In denSüdstaaten, woGroßgrundbesitz unddas Pachtsystem vorherrschte, war die Kraftwagendichte niedrig, weil die Großgrundbesitzer keine bedeutende Käufergruppe bildeten undderRest derBevölkerung nicht in der Lage war, Automobile zu erwerben. Michigan war der Frachtkostenminimalpunkt für die Versorgung des US-Automobilmarktes. Es
5
Quellen: Siehe Flik, Reiner:
VonFord lernen?, S. 39.
256
Reiner Flik
war ausgezeichnet durch seine Lage an einem Wasserweg, seine Zugehörigkeit zumMittleren Westen sowie dieNähe derKohlereviere in Pennsylvania, Virginia und Kentucky und der Erzvorkommen in Wisconsin. Deshalb wurde Michigan binnen weniger Jahre, von 1905 bis 1910, zum Zentrum der Welt-Automobilindustrie. Abb. 3: Kraftwagendichte in denUSA, nach Bundesstaaten
Quelle: Jarvis, George Kirkham: Diffusion
of theautomobile, S. 184 undS. 189.
Nutzung
vonKraftfahrzeugen bis 1939 –Konsum- oder Investitionsgut
Motorisierung desgewerbetreibenden Mittelstands
257
in Deutschland
Die Diffusion desAutomobils in Nordamerika harmoniert nicht mit dergängigen Vorstellung derKonsumforscher, dass Neuerungen sich zuerst in urbanen Zentren durchsetzen undnach undnach in die Peripherie ausstrahlen. Hingegen folgte das Motorisierungsmuster Deutschlands eher diesem Modell. In Deutschland begann die Motorisierung derMittelklasse in den 1920er Jahren. Im Geschäftsbericht des Deutschen Automobilhändlerverbandes für 1921/22 heißt es, dass neben derGroßindustrie, die schon vor demKrieg in bescheidenem Umfang als Autokäufer auftrat, nunauch der gewerbetreibende Mittelstand eine bedeutende Käufergruppe geworden sei, zum Beispiel Vieh-, Holz-, Lebensmittelhändler unddas Müllereigewerbe. Auch Reisevertreter undKleingewerbetreibende, die regelmäßig auswärtige Kundschaft aufsuchten, und Gutsbesitzer benutzten neuerdings mit Vorliebe Kraftfahrzeuge, weil diese eine rationelle Ausnutzung der Zeit ermöglichten undwegen der Verteuerung der öffentlichen Verkehrsmittel preiswerte Transportmittel geworden seien. Tabelle 2 zeigt die Entwicklung der Kraftfahrzeugdichte in Deutschland, nach Ländern, im Falle Preußens nach Provinzen. In Abbildung 4 ist das Aufkommen an Kraftfahrzeugsteuer pro Kopf der Bevölkerung im Jahr 1932, nach Finanzamtsbezirken gegliedert, dargestellt. Diese Datensätze zeigen, dass Kraftfahrzeuge in Deutschland zuerst in gewerblich entwickelten Regionen aufkamen. 1929 waren 43,6 Prozent des Kraftwagenbestandes Deutschlands in Großstädten gemeldet.6 Hohe Dichtewerte besaßen auch Mittelgebirgsregionen mit hohem Besatz an Industrie (Sachsen, Württemberg, Baden). Weil Eisenbahnbau in Mittelgebirgslandschaften schwierig und teuer war, entstanden dort schon früh ÜberlandOmnibuslinien undgewerblicher Kraftverkehr. In den 1920er Jahren besaß Sachsen die höchste Kraftfahrzeugdichte. In den 1930er Jahren wurde es von Württemberg undvier mitteldeutschen Territorien eingeholt, von Braunschweig sogar überholt.7 Mitteldeutschland wurde von der Industrieansiedlungspolitik der Nationalsozialisten begünstigt. Außerdem profitierte seine Landwirtschaft vonder Autarkiepolitik (z. B. Zuckerrübenanbau und -verarbeitung). Vermutlich erklären diese Faktoren dasüberdurchschnittliche Wachstum seines Motorisierungsgrads. Die niedrigste Kraftfahrzeugdichte besaßen die Agrarregionen östlich derElbe, wo Großgrundbesitz überwog. Wahrscheinlich gilt dafür dieselbe Erklärung wiefür die Südstaaten derUSA. Zudenschwach motorisierten Gebieten gehörten freilich auch die Ballungsräume der Schwerindustrie –Oberschlesien, Westfalen 6 Vierteljahreshefte zurStatistik desDeutschen Reichs, Jg. 38 (1929), H.III, S. 27. 7 Von den Flächenstaaten erreichte Braunschweig von 1929 bis 1938 bei allen Fahrzeuggattungen die höchste Zuwachsrate (194 %). Dazu trugen alle Fahrzeuggattungen anteilig etwa gleichviel bei (Krafträder: 1929: 5.312, 1938: 15.695; Personenkraftwagen [einschließlich Omnibusse]: 1929: 4.139; 1938: 12.349; Lastkraftwagen [einschließlich Sonderfahrzeuge]: 1929: 1.199, 1938: 3.401; Zugmaschinen: 1929: 328; 1938: 839.)
258
Reiner Flik
unddas Saarland. Dort drückten derhohe Anteil derArbeiterhaushalte, die dichte Bebauung undein dichtes Netz vonEisen- undStraßenbahnen dieQuote. Tab. 2: Kraftfahrzeugdichte in Deutschland, 1914–1938, nach Regionen
Landbzw. Provinz
1914
1921
Oberschlesien
n.a.
Posen-Westpreußen
0,6 n.a. n.a. n.a. 1,0 0,9 1,4 1,3
Ostpreußen
Niederschlesien Saarland
Westfalen Pommern Rheinprovinz
Hessen Oldenburg
1,7
Hohenzollern
0,8
Lübeck
Lippe
n.a. 1,7 2,4 1,7 1,4 1,7 1,6 n.a. 1,5 n.a. 1,4 1,6 n.a.
Brandenburg
2,2
1929
1938
0,8
9,3
1,0 1,2
15,2 10,5 19,2 n.a. 13,0 13,5 16,4 16,9 18,2 16,9 20,4
20,01 31,31 35,71 40,01 32,3 37,0 41,7 41,7 43,5 45,5 45,5 45,5 47,6 47,6 47,6 50,0 50,0 50,0 50,0 52,6 52,6 52,6 55,6 55,6 55,6 55,6 55,6 55,6 62,5 47,6
2,1 n.a. 1,3
1,1 2,4 1,8 1,7
Provinz Sachsen
1,3
1,4 n.a. 1,8 3,3 2,3 1,8 1,5 1,9 3,2 2,0 n.a. 1,7 1,8 n.a. 1,4 1,8
Sachsen
2,1
2,8
Baden Hamburg
Hessen-Nassau Thüringen
Mecklenburg
Schleswig-Holstein
Berlin Bayern Bremen Hannover
Württemberg
20,0 21,7 18,2
20,8 16,7
20,0 22,2 20,0 23,3 19,2 21,7 23,8 23,3 21,3 27,0 19,6 21,7 18,9
n.a. n.a. Braunschweig 1,5 2,1 Deutschland 2,0 1,4 Anmerkungen: n.a. = nicht angegeben. 1) Wert für 1937 (1938: Provinz Schlesien: 37, Provinz Ostpreußen: 35,7).
Anhalt
Quelle:
WieTab. 1.
Nutzung
vonKraftfahrzeugen bis 1939 –Konsum- oder Investitionsgut
259
Abb. 4: Aufkommen anKraftfahrzeugsteuer proKopf 1932, nachFinanzamtsbezirken
Quelle: Die Kraftfahrzeugsteuer vor undnach ihrer Reform von 1933, in: Vierteljahreshefte zur Statistik des Deutschen Reichs, Jg. 45 (1936), H. II, S. 10. –Anmerkung: Obwohl die Stilllegung von Kraftfahrzeugen während der Weltwirtschaftskrise in als vorwiegend industriell eingestuften Finanzbezirken stärker zu Buche schlug als in ländlichen Bezirken, betrug das Pro-Kopf-Aufkommen an Kraftfahrzeugsteuer 1932 in Industriegebieten im Durchschnitt dasZweieinhalbfache desAufkommens in Agrargebieten.
„Soziale Tiefe“der Automobilnachfrage
Die geringe Kraftfahrzeugdichte derKohlereviere lenkt denBlick auf die Frage, in welchem Maße die Arbeiterbevölkerung schon in der Zwischenkriegszeit an der Motorisierung beteiligt war. Sie kennen alle die aus dem Studium des USWirtschaftswunders in den 1920er Jahren geborene Lehre, hohe Löhne undniedrige Warenpreise führten Vollbeschäftigung und Massenwohlstand herbei. In der Fachsprache heißt sie Kaufkrafttheorie. Ich nenne sie gerne Ford-Legende, weil sie maßgeblich ausdemStudium vonFords Geschäftspolitik abgeleitet wurde. Es heißt, Henry Ford habe durch überdurchschnittlich hohe Entlohnung der Beschäf-
260
Reiner Flik
tigten in seinen Werken undkontinuierlichen Preisabbau seine Arbeiter zumKauf vonFord-Wagen befähigt undso denAbsatz seiner Produkte gefördert.8 Ich habe mich beim Vergleich des deutschen mit dem nordamerikanischen Automobilmarkt beiläufig mit dieser Frage beschäftigt, undbin zu der Ansicht gekommen, dass es auch in den USA mit der „ sozialen Tiefe“der Automobilnachfrage nicht so weit her war, wie es unsdie Propagandisten derFord-Legende vorgaukelten. Arbeiterhaushalte erwarben in erster Linie Gebrauchtwagen.9 Sie waren dadurch freilich eine wichtige Unterstützung des Neuwagenmarktes, weil sie es reichen Leuten erleichterten, ihre Wagen vor der physischen Abnutzung durch einneues Modell zuersetzen. Fords Modell T warVorbild für Hitlers Volkswagenprojekt. Ausder Debatte über Sinn undVoraussetzungen dieses Projekts entstanden einige Studien über die Verteilung derAutomobilnachfrage in Deutschland. Sie zeigen, dass die Nutzung vonAutomobilen imDritten Reich noch fast ganz auf die Ober- unddiegewerbetreibende Mittelschicht beschränkt war. Noch ausgangs der 1930er Jahre wurden drei Viertel aller Neuwagen vonGewerbetreibenden, Freiberuflern undBehörden erworben. Von den Personenkraftwagen, die im ersten Halbjahr 1937 neu zum Verkehr zugelassen wurden, liefen nur 1,1 Prozent auf Arbeiter, 8,5 Prozent auf nicht-leitende Angestellte. Unter den 315.000 Personen und Körperschaften, die bis Juli 1942 am Volkswagen-Sparen teilnahmen, waren 29 Prozent Angestellte
8
9
Vgl. Rae, John B.: The American automobile. A brief history, Chicago 1965, S. 63; Ecker-
mann, Erik: Automobile: Technikgeschichte imDeutschen Museum, München 1988, S. 44. Eine Untersuchung des Lebensstandards von 100 Fordarbeiter-Familien in Detroit mit einem Jahreseinkommen vonetwa 1.700 Dollar 1929 ergab, dass 47 Familien Automobile besaßen, jedoch waren die meisten dieser Fahrzeuge gebraucht erworben worden, die teuren durchweg Es zeigt sich also, daßdie Arauf Abzahlung undgrößtenteils unter Aufnahme vonKredit. „ beiterkreise selbst in denVereinigten Staaten nur in gewissen Grenzen als Käufer in Betracht kommen, besonders wenn manbedenkt, dass die Fordarbeiter überdurchschnittlich hoch bezahlt werden –das Durchschnittseinkommen des Arbeiters beträgt 1927: 1.200 $, des Angestellten undBeamten 2.180 $ –unddaßder Abzahlungskauf nach der Krisis von 1929 wohl weniger großzügig gehandhabt wird. Die Käuferschicht in den nichtbäuerlichen Gemeinden dürfte sich daher vorzugsweise aus den Kreisen der Angestellten undder Kleingewerbetreibenden rekrutieren, bei denen die privaten undgewerblichen Einkommen ineinanderfliessen.“ Staehle, Hans: Die Lebenshaltung mindestbezahlter Arbeiter der Fordwerke in Detroit, in: Schmollers Jahrbuch fürGesetzgebung, Verwaltung undVolkswirtschaft imDeutschen Reich, Jg. 54 (1930), H. II, S. 1107– 1134; das Zitat nach der Besprechung dieser Studie in: Der deutsche Außenhandel unter derEinwirkung weltwirtschaftlicher Strukturwandlungen, Veröffentlichung des Enquête-Ausschusses zurUntersuchung derErzeugungs- undAbsatzbedingungen derdeutschen Wirtschaft, bearb. undhrsg. vomInstitut für Weltwirtschaft undSeeverkehr an derUniversität Kiel, 20. Band, 2 Halbbände, Berlin 1932, S. 47. In der Ford-Firmengeschichte vonNevins undHill heißt es, dass 1924 etwa 7.500 von42.000 Beschäftigten desneuerbauten, einige Meilen südöstlich vonDetroit gelegenen River Rouge-Werks miteigenen Wagen zurArbeit kamen, derRest mit Straßenbahnen undBussen. Die Wagen wurden damals noch an denRändern des Fabrikgeländes abgestellt. Ausgangs der 1920er Jahre wurde dasGedränge dann so groß, dass Ford Parkplätze für ihre Arbeiter anlegen musste. Nevins, Allan, Hill, 1933, NewYork 1957, S. 279. Frank Ernest: Ford. Expansion andchallenge: 1915–
Nutzung
vonKraftfahrzeugen bis 1939 –Konsum- oder Investitionsgut
261
und 17 Prozent Beamte. Nurzehn Prozent waren Lohnempfänger, die Hälfte davonIndustriearbeiter.10 Tab. 3: Absatz vonPersonenkraftfahrzeugen in Deutschland imersten Halbjahr 1937, nach Wirtschafts- undSozialgruppen Kraftwagen Stück Prozent Landwirtschaft
undHandwerk, Energie Handel undVerkehr, Finanzwesen Industrie
Freie Berufe Sonstige Org. (Gesundheitswesen, Kirchen usw.) Behörden, NSDAP undBeamte Leitende Angestellte Nichtleitende Angestellte Arbeiter Berufslose (Ehefrauen, Studenten usw.) Summe
Krafträder
Stück
Prozent
7,8
7.088 29.229 33.306 6.833 2.678 9.703 5.744 9.286 1.231 4.014
6,5 26,8 30,5 6,3 2,5 8,9 5,3 8,5 1,1 3,7
9.966 14.503 9.606 1.076 1.819 9.122 2.359 17.163 58.044
4.785
3,7
109.112
100,0
128.443
100,0
11,3
7,5 0,8 1,4
7,1 1,8 13,4
45,2
Quelle: Die Käufer derim 1. Halbjahr 1937 neuzugelassenen Kraftfahrzeuge, in: Wirtschaft und 665. Statistik, Jg. 17 (1937), S. 663–
Der geringe Anteil derArbeiterhaushalte amAutomobilbesitz lag weniger in deren Unvermögen, den Kaufpreis aufzubringen, begründet. Vielmehr waren die Betriebskosten so hoch, dass sie denGroßteil derBevölkerung sogar vomErwerb eines Gebrauchtwagens ausschlossen. Zwar gingen die Kosten für Abschreibung, Bereifung undWartung bis zur Zwischenkriegszeit beträchtlich zurück. Aber die Verbilligung der Fahrzeughaltung wurde in Europa durch Verteuerung anderer Positionen des Kraftfahrerbudgets, für die hauptsächlich der Staat verantwortlich war, gebremst. Weil mit der Zunahme des Kraftverkehrs auch die Zahl der Verkehrsunfälle stark zunahm, wurde in Deutschland 1909 der Führerschein Pflicht undeine ver-
schärfte Haftung für Kraftwagenhalter –Gefährdungshaftung –eingeführt. Sie hielt vorsichtige Leute vom Erwerb eines Automobils ab undbegründete einen de-facto-Versicherungszwang mithohen Kosten. Schon vordemErsten Weltkrieg führten viele deutsche Kommunen Straßennutzungsgebühren ein, um die Automobilisten zur Finanzierung des Wegebaus heranzuziehen. 1922 wurde das Dickicht der kommunalen Abgaben auf Kraftverkehr abgeschafft unddie Kraft-
10 Gudjons, Anette: Die Entwicklung des„Volksautomobils“von 1904 bis 1945 unter besonderer Berücksichtigung des „Volkswagens“ . Ein Beitrag zu Problemen der Sozial-, Wirtschaftsund Technikgeschichte des Automobils, Diss. Hannover 1988 (Mikrofiche), S. 254 und S. 367; Mommsen, Hans/Grieger, Manfred: DasVolkswagenwerk undseine Arbeiter imDritten Reich, Düsseldorf 1996, S. 201 undS. 1042.
262
Reiner Flik
fahrzeugsteuer als Kompensation zu einem Instrument umgestaltet. Ihr Tarif stieg in den folgenden Jahren Wachstum desKraftverkehrs fast erdrosselte.
der Wegebaufinanzierung auf ein Niveau, das das
Abb. 5: Links: Benzinpreis in Deutschland und den USA, 1919–1937. Rechts: Besteuerung von Mittelklassekraftwagen im Vier-Staaten-Vergleich, 1925–1932
Im Ersten Weltkrieg lernten die europäischen Staaten, wie verletzlich man war, wenn manseinen Bedarf an Kraftstoff importieren musste. Als sie zu Hause kein
Öl fanden,
begannen sie, die Einfuhr vonKraftstoff mit einem hohen Zoll zu belasten. Dabei flossen das Interesse des Fiskus, das Interesse der Geldpolitiker an Währungsreserven unddaswehrwirtschaftlich begründete Interesse, die Produktion landeseigener Kraftstoffe (Benzol, Methanol, Spiritus, Kohleverflüssigung) zu fördern, zusammen. Deutschland „ verdankt“seinen hohen Benzinpreis in den 1930er Jahren hauptsächlich dem Motiv, das Leuna-Benzin konkurrenzfähig zu machen. Zu diesem Zweck wurde der aus der Bismarckzeit stammende Mineralölzoll von 1930 bis 1936 in drei Schritten von 6 auf 21 Pfennige pro Kilogramm angehoben. Die Treibstoff-Autarkie und das Ziel, die Lohneinkommen zugunsten der Staatsquote niedrig zu halten, begründeten zwei bedeutende Zielkonflikte bei der Realisierung der NS-Motorisierungspolitik. Hitlers Volkswagenprojekt wäre zu einem Fiasko geworden. Sämtliche seriösen Rentabilitätsberechnungen kamen zumErgebnis, dass die für einen wirtschaftlichen Betrieb desVolkswagenwerkes notwendige Absatzmenge unter den Einkommensverhältnissen der 1930er Jahre
Nutzung
vonKraftfahrzeugen bis 1939 –Konsum- oder Investitionsgut
263
nicht zu erreichen war. Obwohl Neuwagen 1933 vonderKraftfahrzeugsteuer befreit und die Tarife der Haftpflichtversicherung 1938 per Verordnung gesenkt wurden, war der Kraft-durch-Freude-Wagen für den unteren Mittelstand kaum, für eine durchschnittliche Arbeiterfamilie gar nicht erschwinglich. Sloninger schätzte in seiner VW-Typengeschichte, dass etwa zwei Drittel derMenschen, die fürihnansparten, sich seinen Unterhalt nicht leisten konnten.11
2. Erklärung
ImFolgenden will ich die Pionierrolle der Staaten in Übersee bei derVerbreitung von Kraftwagen mit einem einfachen mikroökonomischen Modell erklären. Es beruht auf derfürNationalökonomen grundlegenden Annahme, dass dieNachfrage nach einem GutvomNutzen, denes stiftet, unddenKosten, die es verursacht, abhängt. Die Nachfragefunktion (1) bildet die Bereitschaft eines Haushalts bzw. einer Gruppe von Haushalten ab, zu bestimmten Kosten und Einkommen bestimmte Mengen von Automobilnutzung nachzufragen. Nutzen und Preise aller anderen imWarenkorb vertretenen Güter seien gegeben. Symbole: NA= Nachfrage nach Automobilen UA= Nutzen der Automobilhaltung (utility) KA= Kosten derAutomobilhaltung E = Einkommen (1)
mit: (1a) (1b)
(1c)
NA = f(UA, KA, E)
dNA/dUA dNA/dKA dNA/dE
> < >
0 0 0
DerNutzen vonAutomobilen ist vonmehreren Größen abhängig; die wichtigsten sind im folgenden Schema aufgezählt. Wenn er zunimmt, z. B. durch Bau von Fernstraßen, und alle anderen Einflussfaktoren konstant sind, dann nimmt auch die Bereitschaft, Automobile zu erwerben, zu (1a). Eine Zunahme des Einkommens stimuliert ebenfalls die Nachfrage nach Automobilen (1c). Steigende Kraftwagendichte stimuliert wiederum das Einkommenswachstum. Diese beiden Größen schaukeln sich also wechselseitig auf. Die Nachfragefunktion wandert folglich im Menge-Preis-Diagramm bei zunehmendem Einkommen mit derZeit nach rechts. Bezüglich derKosten halte iches fürzweckmäßig, private Kosten undsoziale Kosten der Automobilhaltung zu unterscheiden. Die privaten Kosten setzen sich 11 Sloninger, Jerry: Die VW-Story, Stuttgart 1981, S. 23, S. 33 undS. 45.
264
Reiner Flik
ausAnschaffungskosten (Abschreibung) undlaufenden Kosten zusammen. Wenn sie zunehmen und alle anderen Einflussfaktoren konstant sind, dann nimmt die Bereitschaft, Automobile
zuerwerben, ab(1b).
Schema: Bestimmungsfaktoren derKosten unddesNutzens
vonKraftfahrzeugen
Bestimmungsfaktoren
Kosten
Nutzen
•Siedlungsdichte
• Straßenwesen • Andere Verkehrsträger (Eisen-, Straßenbahn, Fahrrad usw.)
Soziale
Private
•Unfälle •Staubplage
Abschreibung • Benzin, Ölusw. • Wartung, Reparatur • Garage • Steuern, Versicherung •
• Straßenschäden •Lärm, Gestank
Internalisierung sozialer Kosten
Soziale Kosten entstanden durch die Zerstörung von Straßen, Unfälle, den Lärm undGestank vonAutomobilen unddie Staubfahne, dieAutomobile bei trockenem Wetter auf Schotterstraßen hinter sich herzogen. Die Staubplage wareine Belästigung für andere Verkehrsteilnehmer und sie schädigte die Landwirte; zum Beispiel war das Gras von Wiesen, die an vielbefahrenen Landstraßen lagen, als Grünfutter unbrauchbar. Die sozialen Kosten schlagen zwar imBudget der Kraftfahrer nicht unmittelbar zu Buche. Sie beeinflussen aber die Einstellung der Bevölkerung und der Verwaltung zu Kraftwagen und können mittels Steuern und Abgaben privatisiert werden. Manbezeichnet die Umwandlung sozialer in private Kosten als Internalisierung. Unten sind schematisch die Kosten-Nutzen-Relationen für Europa undÜbersee unddiejeweils zugehörige Nachfragekurve dargestellt. In Farmlandschaften stiftete dasAutomobil einen sehr hohen Nutzen. Deshalb warderen Bevölkerung bereit, zujedem gegebenen Preis mehr davon nachzufragen als die Bevölkerung Europas. Sie warauch inhöherem Maße dazubereit, sich füreinen Kraftwagen zu verschulden, daer in erster Linie ein Investitionsgut war, dassich selbst finanzierte. Durch dieZunahme desEinkommens wurde dieursprüngliche Nachfragekurve mitderZeit nach rechts verschoben. Dieser Effekt ist inderGrafik vernachlässigt. Die Belästigung der nicht-motorisierten Bevölkerung durch Automobile war in dendünn besiedelten Landschaften unddengroßzügig gebauten Landstädten in Übersee geringer als im dicht besiedelten Mitteleuropa; die Abnutzung der Straßenspielte keine große Rolle, weil es kaum befestigte Straßen gab–1914 waren noch fast neun Zehntel desLandstraßennetzes in denUSAunbefestigte Naturstraßen. Deshalb war die Bevölkerung in Übersee dem Kraftwagen im allgemeinen
Nutzung
vonKraftfahrzeugen bis 1939 –Konsum- oder Investitionsgut
265
freundlicher gesinnt als die Europas. Die USAverfuhren bei derBesteuerung von Kraftwagen umgekehrt wie die europäischen Staaten. Fahrzeuge, die zur gewerblichen Beförderung dienten, wurden verhältnismäßig hoch besteuert, weil ihre Nutzung die Leistungsfähigkeit derZensiten erhöhte. Hingegen wurden PersonenundLastkraftwagen, die auf private Haushalte zugelassen waren, vomFiskus geschont. Schema: Kosten undNutzen vonKraftwagen
in Europa undÜbersee
Der bedeutendste Posten bei den laufenden Kosten warder Kraftstoff. Er war in denUSA billiger als in Europa, weil diese ihren Kraftstoffbedarf aus heimischer Produktion deckten und bereits ein hochentwickeltes Distributionssystem mit Pipeline-Transport besaßen. Zwar wurde auch dort nach demErsten Weltkrieg eine Kraftstoffsteuer eingeführt. Aber diese Steuer betrug ausgangs der 1920er Jahre im Durchschnitt über alle Bundesstaaten nurdrei Pfennige pro Liter. Außerdem war sie ganz für Straßenbau zweckgebunden, kamalso demKraftverkehr wieder zugute.
Die hohe Nachfrage der Farmerbevölkerung nach Kraftwagen führte dazu, dass einige Firmen, die sich auf diesen Markt spezialisierten, schon vor demErsten Weltkrieg in die Lage versetzt wurden, kapitalintensive Produktionsverfahren
mit hohen Skalenerträgen einzuführen. Obwohl US-Automobilarbeiter in der Zwischenkriegszeit nominal rund viermal so hoch entlohnt wurden wie deutsche Automobilarbeiter, produzierten die amerikanischen Hersteller von Mittelklasse-
266
Reiner Flik
wagen nur etwa halb so teuer wie deutsche Automobilwerke. Die Senkung der Herstellkosten unddie niedrigen Unterhaltskosten machten Automobile für den Mittelstand, Gebrauchtwagen sogar für Arbeiterhaushalte erschwinglich. Undder Produktivitäts- undEinkommenseffekt ausderNutzung vonAutomobilen löste in den USA einen sich selbst tragenden Wachstumsprozess aus. Kraftwagen waren m. E. dasletzte Bindeglied, dasnach demEisenbahnbau noch fehlte, umdengroßenBinnenmarkt zuschaffen, derdie USA im ersten Viertel des20. Jahrhunderts zurbedeutendsten Wirtschaftsmacht derWelt werden ließ. In den dichter besiedelten und durch Eisenbahnen besser erschlossenen Industriestaaten Mitteleuropas spielte das Automobil keine so revolutionäre Rolle für die Ankurbelung derWirtschaft. Außerdem schlugen die sozialen Kosten, die es verursachte, dort stärker zuBuche. Deshalb hatten Automobile in Europa in der öffentlichen Meinung einen geringeren Stellenwert undwurden imKraftverkehrsrecht restriktiver behandelt als in Übersee, was sich in höheren Kosten niederschlug. Ich glaube, dass die Unfähigkeit, das in der Motorisierung schlummernde Potential zur Steigerung der Produktivität der Wirtschaft besser zu nutzen, wesentlich zudenWirtschaftsproblemen Europas in derZwischenkriegszeit beitrug. Weil dieNutzung vonAutomobilen imVerhältnis zumEinkommen in Europa drei- bis viermal so teuer zu stehen kamwie in denUSA, blieb die ursprüngliche Marktsituation, die gerne mit der Methaper beschrieben wird, Automobile seien zunächst nur„ Spielzeuge reicher Leute“gewesen, dort länger erhalten. Der europäische Personenkraftwagenbau spezialisierte sich auf sportliche undrepräsentative Wagen für die Oberklasse undauf Kleinwagen; under behielt wegen seiner geringeren Stückzahlen die kleinbetriebliche, handwerkliche Fertigungsweise länger bei als der US-Automobilbau. In Europa wurde die Mindestabsatzmenge, die für den Übergang zu kapitalintensiven Produktionsverfahren notwendig ist, vor demErsten Weltkrieg vonkeiner Firma erreicht, recht eigentlich auch in derZwischenkriegszeit nicht. Folglich entwickelte die europäische Automobilindustrie nicht dieselbe Rationalisierungsdynamik wiedieNordamerikas.12
12 Abbildung 6 zeigt schematisch, wie Marktgröße undProduktionsverfahren zusammenhängen. Umkapitalintensive Produktion der arbeitsintensiven überlegen zu machen, bedarf es einer Mindestabsatzmenge, grafisch darstellbar als die Ausbringung, bei derdie Stückkostenkurve desindustriellen Verfahrens, dievoneinem hohem Ausgangsniveau mitZunahme derProduktion steil abfällt, die auf niedrigerem Niveau beginnende, aber allenfalls schwach fallende Stückkostenkurve des handwerklichen Verfahrens schneidet. Auf demgroßen Binnenmarkt derUSA wurde diese kritische Masse schon vor demErsten Weltkrieg vonFord undeinigen anderen Firmen, die Standortvorteile besaßen undeine kluge Preis- undProduktpolitik betrieben, erreicht. Ihr Vorgang bei der Entwicklung von Massenproduktionstechniken setzte die Konkurrenz unter Druck, diese Produktionsweise nachzuahmen, und zwang die US-Automobilindustrie rasch zurKonzentration. Europäische Pioniere der Massenproduktion waren in England Austin undMorris, in Frankreich Citröen, in Deutschland Opel. Jedoch waren diedurch hohe Zölle geschützten nationalen Märkte in Europa in derZwischenkriegszeit zuklein, umMassenproduktionsverfahren rentabel anzuwenden. Eine Ausnahme bildet allenfalls Großbritannien, dessen Automobilhersteller außer demBinnenmarkt nochüberdenCommonwealth-Markt verfügten. Citröen machte 1934
Nutzung
vonKraftfahrzeugen bis 1939 –Konsum- oder Investitionsgut
267
Abb. 6: Vergleich typischer Stückkostenkurven
Stückkosten
Stückkosten bei handwerklicher Fertigung
Stückkosten bei Massenproduktion Verfahrensschwelle
Produktionsmenge
Zwar begann in derZwischenkriegszeit auch in Europa die Einbürgerung desAutomobils als zeitsparendes Transportmittel für Behörden, Gewerbetreibende und Freiberufler. Wegen des geringeren Durchschnittseinkommens und der höheren Besteuerung des Kraftverkehrs verlief die Motorisierung des Mittelstandes dort aber langsamer undwurde hauptsächlich von Kleinwagen getragen. In Deutschland spielte besonders dasMotorrad eine prominente Rolle. Abbildung 7 zeigt links die Entwicklung derKraftraddichte. Sie erscheint geradezu als Umkehrung vonAbbildung 1. Die Staaten, die bei derVerbreitung des Automobils nachhinkten, gingen bei derEinführung desKraftrads voran. Namentlich in Deutschland wurde die Motorisierung des Straßenverkehrs in der Zwischenkriegszeit überwiegend vom Motorrad getragen. Sein Krafträderbestand wuchs in den 1920er Jahren beträchtlich schneller als der Kraftwagenbestand. Ab 1931 hatte es die höchste Kraftraddichte und den größten Kraftradbestand der Welt.
Konkurs undging nach einer Sanierung in die Hände desReifenherstellers Michelin über. Die Firma Opel hatte dasGlück, dasGeneral Motors sie 1929 zumEinfallstor für die Eroberung des kontinentaleuropäischen Marktes erwählte. Aus eigener Kraft hätte Opel die Weltwirtschaftskrise wohl nicht überlebt. Vgl. Flik, Reiner: Von Ford lernen?, S. 183– 187.
268
Reiner Flik
Abb. 7: Links: Kraftraddichte im Fünf-Staaten-Vergleich, 1920– 1939. Rechts: Kraftfahrzeugdichte in den USA und in der Bundesrepublik Deutschland, 1948–199213
III. Fazit
Die Zeit, die mir zur Verfügung steht, reicht nicht aus, um die Nutzung von Kraftwagen erschöpfend zubehandeln. Ich habe die Argumente, die mirzumVerständnis der Massenmotorisierung wichtig erscheinen, ausgewählt. Dabei ist der Zwittercharakter des Automobils zu kurz gekommen. Wenn Haushalte über Kraftwagen verfügen, nutzen sie diese natürlich auch für konsumtive Zwecke. Deshalb müsste manunter demThema „ Konsumgeschichte“auch darüber reden, wie dasKraftfahrzeug die Entballung der Städte förderte unddie Siedlungsstruktur veränderte. Die Farmbevölkerung wurde aus der Idiotie des Landlebens herausgerissen. In den USA entwickelte sich schon in den 1920er Jahren ein Cam13 Quellen: Statistisches Jahrbuch für die Bundesrepublik Deutschland, Jge. 1952– 1993. Die Angaben für die Bundesrepublik Deutschland nach deren Gebietsstand von 1989. Das Saarland undWestberlin sind erst ab 1957 eingeschlossen. Die Angaben über die Entwicklung der Kraftwagendichte derUSAnach: Historical Statistics of the United States, Colonial times to 1970, bicentennial edition, 2 parts, Washington, D. C., 1975, S. 8 undS. 716, sowie: Mitchell, 1988, 2. Aufl., NewYork 1993, S. B. R.: International historical statistics: TheAmericas 1750– 577, S. 581 und S. 583. Bezüglich der Angaben über die Entwicklung der Kraftraddichte bis 1939 siehe: Flik, Reiner: VonFord lernen?, S. 290f.
Nutzung
vonKraftfahrzeugen bis 1939 –Konsum- oder Investitionsgut
269
ping-Tourismus mit Automobilen, und auch beim Kraft-durch-Freude-Wagen spielte der Gedanke, den Arbeiter aus dem Mietskasernenelend herauszuholen, eine prominente Rolle –zumindest in derPropaganda derNationalsozialisten. Ein weiterer Gesichtspunkt ist dieFrage, inwieweit Automobile auch als Statussymbol undInstrument der sozialen Differenzierung benutzt wurden. Diese Fähigkeit hat den Markt in demMaße, in demer sich vomErstkäufer- zumErsatzkäufermarkt wandelte, verändert. Damit begann derNiedergang vonFords Philosophie, ein für alle Zeiten und Schichten konzipiertes Einheitsautomobil herzustellen, und der Aufstieg der Firma General Motors. Sie begründete schon Mitte der 1920er Jahre eine Politik des geplanten Modellwechsels. Mirkames hauptsächlich darauf an, zuzeigen, dass demKauf eines Automobils in der Zwischenkriegszeit primär erwerbswirtschaftliche Motive zugrunde lagen. Die Fahrzeuge, die die Motorisierung der ländlichen undstädtischen Mittelschicht trugen, waren eher Investitions- als Konsumgut. Folglich standen bei ihrer Konstruktion Einfachheit der Bedienung, Zuverlässigkeit und Wirtschaftlichkeit im Vordergrund. Verfechter einer Kulturgeschichte der Technik haben mir vorgeworfen, die Bedeutung ökonomischer Faktoren für die Erklärung der Motorisierung zuübertreiben. Aber ich halte mich andie suggestive Kraft meiner Daten. Berücksichtigt man die Substitutionsbeziehungen zwischen Kraftfahrzeugen unterschiedlicher Gattungen, so wird der Zusammenhang zwischen Einkommen, Kosten undNachfrage nach Kraftfahrzeugen so augenfällig, dass ich nicht daran zweifle, dass diese die maßgeblichen Erklärungsfaktoren sind.14 Das zeigt nicht nur das Studium der Automobilgeschichte der Zwischenkriegszeit, sondern auch der Aufholprozess der Industriestaaten Westeuropas und Asiens nach dem Zweiten Weltkrieg.
14Ökonometrische Studien, die in den 1960er Jahren unternommen wurden mit demZiel, die Motorisierung des Straßenverkehrs in derBundesrepublik Deutschland vorherzusagen, kamen zudemErgebnis, dass das Wachstum des Bestands an Personenkraftwagen weder durch eine (einkommens- undzeitabhängige) logistische Bestandsfunktion noch durch ein Modell einkommensinduzierter Ausbreitungsprozesse erklärbar sei. Die Motorisierung des Straßenverkehrs sei ein vielschichtiger Prozess, dermehrere Ausprägungen annehmen unddeshalb nur durch eine simultane Analyse aller Subgüter, die das Bedürfnis nach Individualmotorisierung befriedigen (Kraftrad, Kraftwagen; Neu-, Gebrauchtfahrzeug), erfasst werden könne. Regressionsanalysen scheitern in der Regel daran, dass die Austauschbeziehungen zwischen den Fahrzeuggattungen schwer zu erfassen sind. Z.B. kames in der Bundesrepublik Deutschland schon vor der Abwanderung der Motorradbesitzer zumKleinwagen zu einer Abwanderung zumMoped, das in derStatistik erst in den 1960er Jahren erfasst wurde. Vgl. Bonus, Holger. Untersuchungen zur Dynamik des Konsumgüterbesitzes, Berlin 1975, S. 129ff., Bonus, Holger/Schweidnitz, Hildur von: Automobile undMotorisierung in der Bundesrepublik, in: Zeitschrift für die Gesamte Staatswissenschaft, Jg. 124 (1968), S. 541– 568. Eine weitere Schwierigkeit, die Entwicklung des Kraftfahrzeugsbestands zumodellieren, liegt in derWechselwirkung zwischen der Kraftwagendichte unddemEinkommenswachstum begründet: Die Nachfrage nach Kraftfahrzeugen hängt vomEinkommen ab, dasEinkommen aber wiederum vom Bestand anKraftfahrzeugen. Henry Fordbeschrieb diesen Zusammenhang seinerzeit mitdem oft zitierten Satz, die USA besäßen nicht deshalb viele Automobile, weil sie prosperierten, sondern sie prosperierten, weil sie viele Automobile besäßen. Ford, Henry: Dasgroße Heute, dasgrößere Morgen, Leipzig 1926, S. 7.
Paul Thomes
Korreferat zu Reiner Flik Nutzung „
vonKraftfahrzeugen bis 1939 –Konsum- oder Investitionsgut?“
Rückblende: 1986. Das Automobil, oder besser diejenigen, welche es zu unterschiedlichsten Zwecken instrumentalisieren, feiern seinen 100. Geburtstag. Es ist eine pompöse Veranstaltung; demStellenwert des Objekts angemessen, schließlich hat sich um das Automobil herum ein vielfältig vernetzter wirtschaftlicher Führungssektor entwickelt –eine beachtliche Karriere, vergleichbar derjenigen der noch ein halbes Jahrhundert älteren Eisenbahn. Ein junger, von den sozialökonomischen Dimensionen des Automobils faszinierter Habilitand, der sich seinerzeit in die Thematik einarbeitet, undauch deroffiziellen Festveranstaltung der historisch forschenden Wissenschaftsgemeinde beiwohnen darf, ist derweil erstaunt über zwei Dinge: den lückenhaften Forschungsstand und den fast schon devot daherkommenden Umgang mitdemgefeierten Objekt.1 Heute, knapp zwei Jahrzehnte später, zeigt sich ein durchaus anderes Bild. Das Automobil ist mit Hilfe unterschiedlichster Methoden seziert worden. Zumindest seine Technikgeschichte ist weitgehend erforscht, die Wirtschaftsgeschichte etwas weniger gut, während sozial- oder kulturhistorische Aspekte eher sporadisch thematisiert worden sind. Alles in allem kennzeichnet die historische Automobilforschung also eine eher durchschnittliche Dynamik. Ausnahmen bestätigen die Regel. Die weitere Präzisierung des Wissens über das Kfz in Form interdisziplinärer Ansätze undneuer Fragestellungen ist wünschenswert.2 Rainer
1 H. Pohl/W. Treue (Hg.): Die Einflüsse der Motorisierung auf das Verkehrswesen 1886– 1986. 2
Stuttgart 1988.
Vgl. beispielhaft R. Boch (Hg.): Geschichte und Zukunft der deutschen Automobilindustrie. Stuttgart 2000. H. Edelmann: VomLuxusgut zumGebrauchsgegenstand. Die Geschichte der Verbreitung von Personenkraftwagen in Deutschland. Frankfurt a.M. 1989. B. Haubner: Nervenkitzel undFreizeitvergnügen. Automobilismus in Deutschland 1886– 1914. Göttingen 1998. C.M. Merki: Der holprige Siegeszug des Automobils 1895 bis 1930. Zur Motorisierung des Straßenverkehrs in Frankreich, Deutschland undder Schweiz. Wien 2002. H. Pohl/S. Ha1945. Eine Dokumentation (= beth/B. Brüninghaus: DieDaimler-Benz AGindenJahren 1933– Zeitschrift für Unternehmensgeschichte; Beiheft 47). 2., durchgesehene Aufl., Stuttgart 1987. H.-P. Rosellen: “ . Die dramatische Entwicklung von Ford in ... und trotzdem vorwärts” Deutschland von 1933 bis 1945. Frankfurt a.M., 1986; Ders:. Ford-Schritte. Der Wiederaufstieg der Ford Werke Köln von 1945 bis 1970. Frankfurt a.M. 1987/88; H.C.G. v.SeherrThoss: Die deutsche Automobilindustrie. Eine Dokumentation von 1886– 1979. 2. Aufl. Stuttgart 1979.
272
Paul Thomes
Flik zählt zu denjenigen, die sich dieser Aufgabe in den zurückliegenden Jahren mitErfolg angenommen haben. Mandenke u.a. anseine Habilitationsschrift „ Von Ford lernen?“ .3 Die Frage liegt also nahe: Waslernen wirvonFlik? Wirerleben ihn in seinen Texten als systematisch, zielorientiert arbeitenden Menschen, als kreativen, unsteten, provozierenden Geist, immer in Unruhe, permanent auf derSuche nach historischen Realitäten, und so muss die schriftliche Fassung des Korreferats –wie schon die mündliche –improvisieren; nicht wissend, welche Akzente die Druckversion desVortrags setzt unddarauf hoffend, dass die hier formulierten Anmerkungen nicht gänzlich ins Leere laufen.4 ZumReferat selbst ist zu sagen, dass Methode undArgumentation überzeugen. Mögliche Angriffsflächen, insbesondere bezüglich der Fragestellung des Tagungsthemas, hatderAutor erkannt undoffensiv angesprochen. Insofern kann der Korreferent allenfalls konstruktiv kommentieren, nicht mehr undnicht weniger.
Dieser angenehmen Pflicht kommt er hiermit gerne in vier Punkten nach. 1. Die eine Ausschließlichkeit zweier Dispositionen suggerierende Frage des Vortragstitels –Kosum- oder Investitionsgut? –kann nurals Rhetorik zu interpretieren sein. Der Vortrag hat gezeigt: Automobile Mobilität ist ein Grundbedürfnis. Das Kfz ist ein multifunktionales Gut, ein Gut von hoher qualitativer Komplexität, dassich nicht einfach in die eine oder andere Schublade einordnen lässt. Es befriedigt viele Bedürfnisse. Je verbreiteter die Nutzung, desto schwieriger fällt die Zuordnung, die zudem vielfach variabel ist. Das Kfz gleicht in gewisser Weise einem Chamäleon mit konsumtiven und produktiven Genen. Nicht umsonst schaffte die Statistik nach dem Ersten Weltkrieg die Differenzierung privater Pkwnach Verwendungszweck ab. 2. Flik geht es in seinem Vortrag nurzweitrangig darum, dieses schwer zu fassende Wesen zu definieren. Im Vordergrund seiner Fragestellung steht die möglichst exakte Definition derbestimmenden Faktoren für denje nach institutionellem Umfeld sehr unterschiedlich verlaufenden Diffusionsprozess der Innovation Automobil; die Fallbeispiele sind perfekt gewählt. Die Frage nach derArt derNutzung spielt in diesem Kontext natürlich eine Rolle, aber eben nicht dieprimäre. 3. DerVergleich zwischen Europa undNordamerika erweist sich als zielführend für dasVerständnis derBedingtheiten. Flik belegt hier einmal mehr die Relevanz von im weitesten Sinne zu interpretierenden institutionellen Rahmenbedingungen. Die vergleichende Perspektive dokumentiert darüber hinaus, dass die Biographie der Nutzung des Kfz keiner einheitlichen Linie folgt. Im Gegenteil; wir sehen uns mit auf unterschiedlichen Ebenen parallel bzw. überlappend verlaufenden Entwicklungstrends konfrontiert, welche eine Stufen-
3
4
R. Flik: Von Ford
lernen? Automobilbau und Motorisierung in Deutschland bis 1933. Wien/Köln/ Weimar 2001; dort auch sämtliche fürdasReferat relevante Literatur. Die Ausführungen beziehen sich auf eine Vorversion des Vortrages undden Vortrag selbst.
DieDruckversion desArtikels lagdemKorreferenten nicht vor.
Korreferat
4.
zuReiner Flik
273
theorie der Nutzung ad absurdum führten. Das von Flik präsentierte kleine Kosten-Nutzen-Modell macht einige Grundbedingungen dieser Zusammenhänge plausibel. Allerdings gibt es nicht zwangsläufig Auskunft über die Qualität derNutzung, sondern eher über quantitative Aspekte, die freilich wiederumin einem engen Verhältnis zurNutzungsvielfalt zustehen scheinen. Einen aussagekräftigen Beleg dafür liefern die 90 Prozent der über ein Kfz verfügenden US-Farmer. Sie nutzen es in einem weiten Spektrum –als Produktionsmittel sowieso, aber auch konsumtiv, umder Eintönigkeit des isolierten Farmalltages zu entfliehen: eine Investition in Lebensqualität und damit in wirtschaftliche Effizienz. Zum gleichen Zeitpunkt fahren zahlreiche der in Deutschland verkauften Ford Automobile in „ Ostelbien“ . Ein Hinweis auf ähnlich gelagerte Nutzungsusancen? Nicht zwangsläufig. Das Kfz dient hier weniger als Vehikel der „ rationellen Ausnutzung der Zeit“ , was im übrigen noch zubeweisen wäre, als vielmehr als Instrument der sozialen Differenzierung einer kleinen Oberschicht. Dagegen legt das Modell bei hohen sozialen undprivaten Kosten eher eine kommerzielle Nutzung nahe. Im übrigen beantwortet die Verbreitungsintensität nicht zwangsläufig die Frage nach der dominierenden Art des Gebrauchs. Die soziale Tiefe der Nachfrage ist nach Flik in Deutschland und den USA ähnlich gering ausgeprägt. Aber: In Nordamerika kaufen, so der Autor selbst, auch Arbeiter –ob neu oder gebraucht, spielt bezüglich unserer Fragestellung keine primäre Rolle. DasBeispiel Nationalsozialismus zeigt Möglichkeiten undGrenzen desquantitativ-statistisch orientierten Flik’schen Ansatzes besonders deutlich auf. Die NS Propaganda setzt neue starke Akzente in Richtung Konsumartikel, die Flik nicht thematisiert. Unseres Erachtens besitzt dieser sehr spezielle Rollenentwurf hohe Relevanz für den Charakter des deutschen Nachkriegsgebrauchs inklusive der rasanten Verbreitung. Die Indoktrinierten der KdF-WagenWerbung waren schließlich die Käufer des Volkswagens –undnutzten ihn in Anlehnung an die Propaganda gerne als Medium der Freizeitgestaltung.5 Ob Hitlers VW-Projekt zum Fiasko geworden wäre, wie Flik vermutet, ist schwerlich zu sagen. Der Käfer jedenfalls reüssierte nurwenige Jahre später. Kosten sind keine konstante Größe; die Politik kann sie variieren, undwürde sie wohl auch variiert haben im Fall des Falles. Das Beispiel derrestriktiven Mineralölbesteuerung durch die Nationalsozialisten im Rahmen ihrer Autarkiebestrebungen macht das deutlich. Es kommt eben immer auf die politi-
5 J.
Boberg u.a. (Hg.): Die Metropole. Industriekultur in Berlin im 20. Jahrhundert, München 1986, passim; speziell W. Dressen. Modernität undinnerer Feind, a.a.O., S.262– 281; H. Edelmann: Der Volkswagen –eine Erfahrung des Wirtschaftswunders, in: L. Niethammer (Hg.). Bürgerliche Gesellschaft in Deutschland, Frankfurt a.M. 1990, S.548– 562; S. Reich. The Fruits of Fascism. Postwar Prosperity in Historical Perspective, Ithaca/London 1990, S. 147– 201, spez. S. 186ff.; A. Schildt. Vom Wohlstandsbarometer zumBelastungsfaktor – AutovisionundAutoängste inderwestdeutschen Presse vonden50er bis zuden70er Jahren, in: H.-L. dienel/H. Trischler (Hg.): Geschichte der Zukunft des Verkehrs. Verkehrskonzepte von der Frühen Neuzeit bis zum21. Jahrhundert, Frankfurt/New York 1997, S. 289– 309.
274
Paul Thomes
schen Prioritäten an, die ebenfalls wiederum rekten Verhältnis zurNutzungsart stehen.
in einem mehr oder minder di-
Wie gesagt, es geht demAutor nicht in erster Linie umdie Klärung seiner hypothetischen Frage Konsumgut oder Produktionsmittel, sondern um das Erkennen unddie Definition derVoraussetzungen für denmassenhaften komsumtiven oder investiven Gebrauch desGutes Automobil, wie dasFazit selbstkritisch zeigt. Die Diskussion derEigenschaften des Kfz gerät deshalb in diesem Papier zwangsläufig etwas zu kurz; sie werden nur angerissen im Fazit –wie auch andere interessante Fragen zumThema Automobil. Die Position desAutors, sich in seinen Forschungen zuvorderst „ an der suggestiven Kraft der Daten zu orientieren“ , kann derKorreferent nurbestärken. Gleichwohl könnte er sich –mitdenvonFlik angeführten Kritikern –vorstellen, dass zumindest unter der hier diskutierten Fragestellung eine Prise Mentalitäts-, Alltags- undKulturgeschichte seinen Erklärungsansatz noch näher andie historischen Realitäten heranführen würde.6 Es gilt in der Tat, weiter zuvernetzen undunser Fach wievonFlik in derDiskussion gefordert, als Historische Sozialwissenschaft auszubauen. Davon abgesehen überzeugen die systematische Analytik wiedieimErgebnis präsentierte „ kleine Theorie der Motorisierung“auf ihre Weise durchaus, und deshalb ist auch derVortrag ein Gewinn.
6 Vgl. u.a. H.-G. Haupt: Konsum undHandel Europa im 19. und20. Jahrhundert. Göttingen 2003, S.117 ff. passim; W. König: Geschichte der Konsumgesellschaft, Stuttgart 2000, speziell u.a. S. 294 ff., 305 ff., 403 ff.. S. u. W. Jacobeit: Illustrierte Alltags- undSozialgeschichte 1945, Münster 1995; K. Maser: Geschichte desAutos, Frankfurt/M. 2002. Deutschlands 1900–
Hartmut Kiehling
23 Einzelhandel undKonsum in Zeiten der Inflation 1920– 1. Einleitung Die Stimmen der Zeitgenossen sind seltsam gespalten, wenn es umdie Situation des mittelständischen deutschen Einzelhandels während der großen Inflation in Deutschland geht. Einerseits sind Verbandsblätter und betriebswirtschaftliche Fachliteratur zwischen 1920 und1923 voll beredter Klagen über diekatastrophale Lage desKleinhandels. Diese Sicht derDinge hateiniges für sich. Dafür sprechen allein schon dermangelnde Zugang derBranche zuDevisen undihre zunehmende politische Entwurzelung, wiesie vonWinkler1 dargestellt worden ist. Andererseits quellen Tageszeitungen wie politische Agitation über vompuren Gegenteil: den angeblichen oder tatsächlichen Wucherpraktiken des Handels unddemspekulativen Zurückhalten bestimmter Waren. Wir haben es also ein weiteres Mal mit der höchst subjektiven Sichtweise zweier gesellschaftlicher Gruppen zu tun, wie sie sotypisch ist fürdieWeimarer Zeit. In diesem Beitrag soll auf der Basis zweier Arbeiten des Autors2 derVersuch einer Gesamtschau gemacht werden. Die Frage dabei ist: Wardermittelständische Einzelhandel Gewinner oder Verlierer der Inflation von 1920 bis 1923 und wie hat sich in dieser Zeit seine Position imVergleich zudenKonsumenten gestaltet?
2. Lage derKonsumenten 2.1. Vermögensverlust
Wirwissen ausvielen Untersuchungen, dass die Situation derKonsumenten während des Untersuchungszeitraums deutlich schlechter warals in derVorkriegszeit 1 2
Heinrich August Winkler: Zwischen Marx und Monopolen: Der deutsche Mittelstand vom Kaiserreich zur Bundesrepublik Deutschland, Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft Bd. 38, Göttingen 1979, S. 38ff. Hartmut Kiehling: Die wirtschaftliche Situation des deutschen Einzelhandels in den Jahren 27; Ders.: Die Be1920 bis 1923, in: Zeitschrift für Unternehmensgeschichte 41 (1996), S. 1– 60. völkerung inderHyperinflation 1922/ 23, in: Scripta Mercaturae (1999) 2, S. 1–
276
Hartmut Kiehling
und sogar direkt nach dem Ersten Weltkrieg.3 Die Ersparnisse der Verbraucher schmolzen durch dieEntwertung vonGuthaben undAnleihen dahin, undderVerfall der privaten Vermögen beschleunigte sich in der Hyperinflation noch durch die Notwendigkeit, Sachwerte zu verkaufen, um das Leben fristen zu können. Diese weithin bekannte Entwicklung sei an dieser Stelle nur kurz erwähnt. Sie macht inwesentlichen Teilen dasTrauma aus, dasdieHyperinflation bis heute für die deutsche Bevölkerung darstellt. 22 in Mio. Goldmark Abb. 1: Einlagen 1913– Monatsendstände
52. Quelle: Carl-Ludwig Holtfrerich: Die deutsche Inflation (wie Anm. 3), S. 50–
Wenn die Menschen in dieser Zeit überhaupt noch über Konten verfügten, so waren dies im wesentlichen Girokonten –für Geschäftswelt und Oberschicht bei Kreditbanken undPrivatbankiers, für die übrigen Kreise Postscheckkonten. Auch die realen Volumina des Giroverkehrs gingen jedoch spätestens seit demHerbst 1921 schrittweise zurück. Die selbe Entwicklung traf natürlich die Eigentümer von Schuldverschreibungen, wie sie bereits in der Vorkriegszeit, vor allem aber
während des Ersten Weltkrieges massenhaft gezeichnet worden waren. Vor einer weiteren Inflationierung konnten sich die Anleger auch nicht durch eine Umschuldung in höherverzinsliche oder wertbeständige Anleihen oder Konten schüt-
3
Vgl. beispielhaft nur: Carl-Ludwig Holtfrerich: Die deutsche Inflation 1914– 1923: Ursachen und Folgen in internationaler Perspektive, de Gruyter, Berlin/New York 1980; Gerald D. Feldman: The Great Disorder: Politics, Economics, andSocity in theGerman Inflation, 1914– 1924, Oxford University Press, NewYork/ Oxford 1993.
Einzelhandel
277
23 undKonsum inZeiten derInflation 1920–
zen, weil Reichsbank undReichsregierung lange Zeit weder eine Anpassung der Zinsen noch diewertbeständige Denominierung zuließen.4 Tab.1: Sichteinlagen 1913– 25 in% aller Einlagen beidenBerliner Großbanken
Quellen:
Ultimo
bis7 Tage
3 Monate 7 Tage –
über 3 Monate
1913 1918 1919 1920 1921 1922 1923 1924 1925
56,8 60,7 78,1 76,7 77,1 93,0 92,6 57,5 51,5
29,8 26,1
13,3 13,1
14,0 15,1 15,0
7,8 8,2 7,9 2,1 4,0 2,5 3,9
4,9 3,3 40,0 44,5
P. Barret Whale: Joint Stock Banking in Germany. A Study of German Credit Banks before andafter the War, London 1930, p. 218; Statistisches Reichsamt: Die deutschen 1926, Berlin 1927. Banken 1924–
23 Abb. 2: Bargeldloser Zahlungsverkehr 1918– Volumina
in Mio. Goldmark
Quelle: Statistisches Reichsamt: Deutschlands Wirtschaft (wie Anm. 7), S. 53f.
4 Vgl. Otto Pfleiderer: Die Reichsbank in der Zeit der großen Inflation, die Stabilisierung der Mark unddie Aufwertung vonKapitalforderungen, in: Deutsche Bundesbank (Hg.): Währung 201. 1975, Knapp, Frankfurt/ M. S. 157– undWirtschaft in Deutschland 1876–
278
Hartmut Kiehling
23 Abb. 3: Wertverlust derReichsschuld 1913–
Diefundierte
Reichsschuld
(verzinsl. Schatzanweisungen, Reichs-
u.Prämienanleihen)
Quelle: Statistisches Reichsamt: Deutschlands Wirtschaft, Währung undFinanzen, Berlin 1924,
S.62.
Tab. 2: Umlauf anSchuldverschreibungen derprivaten Hypothekenbanken inMio. GM Jahresendstand
Pfandbriefe
Kommunalobligationen
insgesamt
1913 1914 1915 1916 1917 1918 1919 1920
2.370 2.398 2.390 2.385 2.332 2.340 2.324 730 473
88 94 95 98 93 101 119 45 32 9
2.458 2.492 2.486 2.483 2.425
1921 1922 1923 1924
30 73 291
351
672
2.441 2.443
774 505 39 109 358
1) Werte derGoldmark-Eröffnungsbilanz; KOs lt. Stat. Jb 23/24, S. 323. 2) KOs aller Banken. Quellen: Achterberg, Erich: Hundert Jahre Deutsche Hypothekenbank: Von Wesen undWerden privater Hypothekenbanken in Deutschland, Bremen 1962, S. 235; Deutsche Bundesbank: Deutsches Geld- undBankwesen in Zahlen 1876– 1975, Frankfurt/ M. 1976, S. 291.
Einzelhandel undKonsum
23 in Zeiten derInflation 1920–
279
2.2. Reallöhne und-gehälter Zeitgenössische Berichte heben meist hervor, wie stark in der Inflationszeit der Lebensstandard derBevölkerung gesunken ist.5 Die Realwochenlöhne derunteren Lohngruppen zeichnen zunächst teilweise ein anderes Bild. Nach denZahlen des Statistischen Reichsamtes lagderRealwochenlohn etwa eines ungelernten Reichsbahnarbeiters bis zumSeptember 1922 in etwa aufdemNiveau von 1913, obwohl dieArbeitszeit in derZwischenzeit deutlich gesunken war. Nach 1919 gabes nur zwei größere Einbrüche jeweils in derersten Jahreshälfte 1920 und1922. Andere Gruppen von Erwerbstätigen hatten dagegen sehr wahrscheinlich spürbare Realeinkommensverluste hinzunehmen. Extrem waren sie bei denHöheren Reichsbeamten. Ihre Realeinkommen lagen während der gesamten Inflationszeit fast durchweg bei 30 bis 40% des Vorkriegsniveaus. Nur im Herbst 1921 und im Sommer 1923 konnten deren Einkommen diese Bandbreite etwas nach oben hin verlassen. Die Reallohnkurven der Facharbeiter verliefen nach den Zahlen des Statistischen Reichsamtes lange Zeit zwischen diesen beiden Extremen.6 Abb. 4: Reallöhne 1920– 23 Reallohnindices
ungelernte Bahnarbeiter
Buchdrucker
höhere Beamte
Quelle: Statistisches Reichsamt: Deutschlands Wirtschaft (wie Anm. 7), S. 40– 43.
Die Nivellierung der Einkommen deutet sich auch bei den Nominallöhnen an. Arbeiter rückten in der Einkommenshierarchie nach vorne. In einem Gebiet ausgeprägter Soziallöhne wie in Berlin konnte ein gelernter Metallarbeiter bei glei5 6
Vgl. Gerald D. Feldman: The Great Disorder (wie Anm. 3), pp. 513– 575. Vgl. Carl-Ludwig Holtfrerich: Die deutsche Inflation (wie Anm. 3), S. 228– 246.
280
Hartmut Kiehling
cher Familiengröße nundurchaus gleich viel verdienen wie ein mittlerer Beamter der Besoldungsgruppe VIII. Der durchschnittliche Arbeiter kam zumindest 1922/23 auch ohne Sozialbezüge und Überstunden auf ein Einkommensniveau, das nurunwesentlich unter demeines unteren Beamten lag.7 Umgekehrt mussten formell selbstständige Kleinexistenzen wie Journalisten und Schriftsteller ganz besonders dramatische Einkommensverluste hinnehmen.8 Erst mitBeginn derHyperinflation Mitte 1922 begannen sich diegesellschaftlichen Machtverhältnisse zu ändern unddie Reallöhne der Arbeiter wichen vom aufgezeigten Pfad ab. So lag selbst der Reallohnindex der vergleichsweise gut bezahlten Buchdrucker (Handsetzer) seit August 1922 lediglich bei einem Wert von etwa 50 (1913=100). Nurim Frühjahr 1923 undnoch einmal im August gelang kurzzeitig ein gewisser Inflationsausgleich, der die Reallöhne der Buchdrucker bis aufrund 70 Punkte trug. Umgekehrt wurde imJuli, September undOktober 1922 ein Wert von 40 zum Teil deutlich unterschritten. Vergleichbare Schwankungen wiesen auch die Einkommen der ungelernten Arbeiter auf. Sie konnten ihr altes Niveau nur im September 1922 noch einmal erreichen. 1923 überschritten auch sie einen Wert von 80 nurnoch ausnahmsweise undgeringfügig. Umgekehrt waren 60 Punkte bei ihnen die Untergrenze. ImGegensatz zuden Arbeiterlöhnen wiesen die realen Bezüge der Beamten keine extremen Monatsschwankungen auf. Lediglich gegen Ende der Hyperinflation trat einmal ein Sprung vonüber 11%-Punkten auf.9 Die verwandten Zahlen allein sindjedoch kaum aussagekräftig. Ihre Interpretation hing um so mehr von organisatorischen Regelungen undder Möglichkeit eines informellen Zusatzverdienstes ab,je weiter die Inflation fortschritt. In vielen Branchen herrschten spezielle Situationen. So drängten die Bankb eamten”andie “ die Börsenplätze oder zumindest an größere Bankplätze, umdie Personalkredite,
meist relativ großzügig gehandhabt wurden, besser für Wertpapiergeschäfte ausnutzen zukönnen. Allgemein wichtig waren vor allem die Auszahlungsmodalitäten von Lohn oder Gehalt. Im Herbst 1922 gingen die Unternehmen mehr und mehr dazu über, ihren Beschäftigten Vorauszahlungen zu gewähren.10 Außerdem stieg mit fortschreitender Inflation die Zahl der Gehaltstermine an. So vergütete die Bayerische Vereinsbank im Jahr 1923 ihre Beschäftigten zunächst alle zehn Tage undverkürzte diese Spanne danach weiter.11 Bei denmeisten Arbeitern war Mitte 1923 dietägliche Lohnauszahlung üblich. Dasgalt vorallem fürdieunteren Lohngruppen. Für die vergleichsweise sehr gut bezahlten Bergleute wurde dage-
7 Vgl.
Statistisches Reichsamt: Zahlen zur Geldentwertung in Deutschland, Sonderhefte zu 43. undStatistik, Berlin 1925, S. 40– 8 Vgl. Wirtschaftskurve, Jg. 1 (1922), H. 2, S. 30; zitiert nach Carl-Ludwig Holtfrerich: Die deutsche Inflation (wie Anm. 3), S. 239. 9 Vgl. Statistisches Reichsamt: Zahlen zurGeldentwertung (wie Anm. 7), S. 40– 43. 10 Konrad Fuchs: Ein Konzern aus Sachsen: Das Kaufhaus Schocken 1901– 1953, Stuttgart 1990, Wirtschaft
S. 84.
11 Franz Steffan: Bayerische Vereinsbank 1869– 1969, Würzburg 1969, S. 211.
Einzelhandel undKonsum
23 in Zeiten derInflation 1920–
281
gen erst am8. August ein Abkommen geschlossen mit demZiel einer wöchentlichen Lohnzahlung undder Festsetzung eines Entwertungsfaktors.12 Flexible Arbeitszeitregelungen wurden notwendig, je mehr die Geldentwertung fortschritt. “ Alle Welt beeilte sich [im Spätsommer 1923], das morgens erhaltene Geld bis mittags auszugeben. Die Büros leerten sich nach denGehalts- undLohnzahlungen
fürdieMorgenstunden. Durch Überstunden wurde dasabends ausgeglichen.”13 Die Lohnfindung stieß auf rein organisatorische Probleme. Die Tarifautonomie von Gewerkschaften undArbeitgeberverbänden bestand erst seit demErsten Weltkrieg. Beide hatten während der Hyperinflation längere Zeit Probleme, die Autonomie flexibel genug zu handhaben. Die einzelnen Unternehmen gewährten daraufhin vielfach Lohnzuschläge, die die Geldentwertung jedoch oft nurunvollkommen wettmachen konnten. So kames in Sachsen Anfang Mai 1923 zuUnruhen14 sowie vor allem Ende Juli 1923, als die Einzelhändler sogar Plünderungen und Zusammenstöße mit den Kunden innerhalb der Geschäftsräume befürchteten.15. Anfang August 1923 kam es mit dem Schwerpunkt in Sachsen zu immer heftigeren Kämpfen um die Anpassung der zurück gebliebenen Löhne.16 Noch Anfang August 1923 gab es keine solche automatische Anpassung derLöhne und Gehälter andiePreise.17 Dasänderte sichjedoch kurz darauf. Dennoch lagen bei den meisten Beschäftigten die Monate mit den größten Reallohnschwankungen im zweiten Halbjahr 1923. Dies warauf einige Probleme des Lebenshaltungskostenindex’ zurück zuführen, insbesondere seine Lückenhaftigkeit, mangelnde Repräsentativität undVeralterung seines Warenkorbes. Zwar warderIndex immer noch ein brauchbares Maßfür die Preisänderungen vonMonatzuMonat, bei längerfristigen Vergleichen jedoch fielen die Probleme stark ins Gewicht. Dasselbe galt für die Zeitreihen des Statistischen Reichsamtes für die Reallöhne, da diese mit Hilfe des Lebenshaltungsindex’ aus den Nominallöhnen gebildet wurden. Niveauvergleiche zwischen länger auseinander liegenden Zeiträumen sind insofern zu relativieren –und sie relativierten auch die oben angestellten Überlegungen zu den Reallöhnen. Insbesondere können die vorhandenen Zeitreihen nicht denEindruck erhärten, die Reallöhne derunteren Gruppen hätten in der Inflationszeit die gleiche Kaufkraft wie 1913 repräsentiert. Dagegen ist für diese Fragestellung derVergleich derNominallöhne mit denExistenzminima besser geeignet, wie sie für einzelne Städte vorliegen. Trotz dieser Vorbehalte bilden die vorhandenen Zeitreihen der Reallöhne und -gehälter doch dreierlei ab: die Nivellierung derEinkommensunterschiede zwischen denunselbstständig Beschäftigten gegenüber der Vorkriegszeit, deutliche Realeinkommensverluste aller
12 Manfred Overesch: Droste-Geschichts-Kalendarium: Politik, Wirtschaft, Kultur; Chronik deutscher Zeitgeschichte, Bd. 1: Die Weimarer Republik, Düsseldorf 1982, S. 200. 13 Richard Gaettens: Geschichte der Inflationen, 2. Aufl., München 1982, S. 276. 14 Vgl. Konrad Fuchs (wie Anm. 10), S. 85f. 15 Vgl. ebenda, S. 86. 16 Vgl. ebenda, S. 88f. 17 Vgl. ebenda, S. 89.
282
Hartmut Kiehling
Gruppen während der längsten Zeit der Hyperinflation, nämlich vom 4. Quartal 1922 bis zum Spätsommer 1923 sowie eine starke Fluktuation der Realeinkommenwährend dergesamten Hyperinflation.
2.3. Deckung desExistenzminimums Nach zeitgenössischen Quellen mussten die meisten Menschen ihren Konsum Schritt für Schritt auf das Existenzminimum reduzieren. Allerdings ist auch hier das Bild nicht ganz eindeutig, das sich aus demstatistischen Material ergibt. Stellt man Lohn- und Verbrauchsstatistiken einander gegenüber, so konnten sich die Einkommen von Facharbeitern undBeamten meist über dem Existenzminimum
einer vierköpfigen Familie halten. Kuczynski hat das wöchentliche Existenzmi23 sowie für einige Monate der nimum dreier Haushaltstypen für die Jahre 1920– unmittelbaren Vorkriegszeit im Großraum Berlin berechnet. Durch denVergleich seiner Zeitreihe einer vierköpfigen Familie mit den Nominalwochenlöhnen verschiedener Arbeitergruppen des Statistischen Reichsamtes sind mit aller Vorsicht einige Aussagen möglich. Nach seiner Untersuchung betrug das wöchentliche Existenzminimum einer vierköpfigen Familie in Berlin in denMonaten zwischen August 1913 undJuli 1914 28,80 M.18 Abb. 5: Lohn undExistenzminium
23 Nettolöhne und-gehälter undExistenzminimum 1920–
Quellen: Robert R. Kuczynski (wie Anm. 18), S. 66; Statistisches Reichsamt: Deutschlands Wirt43. schaft (wie Anm. 7), S. 40–
18 Robert R. Kuczynski: Postwar labor conditions in Germany, Washington 1925, S. 66; zitiert nach Carl-Ludwig Holtfrerich: Die deutsche Inflation (wie Anm. 3), S. 39f.; Statistisches 43. Reichsamt, Zahlen zurGeldentwertung (wie Anm. 7), S. 40–
Einzelhandel
23 undKonsum inZeiten derInflation 1920–
283
Die gezahlten Wochenlöhne gelernter Arbeiter übertrafen dieses Existenzmini-
mum 1913 je nach Berufsgruppe undStellung um 14,5 bis 40,6%,19 die der ungelernten männlichen unterschritten
sie um7,1 bis 25,8%.20
Abb. 6: Deckung desExistenzminimums durch dieNettolöhne/- g ehälter 1920– 1923
Nettolöhne/-gehälter
in% desExistenzminimums
R. Kuczynski (wie Anm. 18), S. 66; Statistisches Reichsamt: Deutschlands Wirt43. (wie Anm. 7), S. 40–
Quellen: Robert schaft
Demgegenüber konnten offensichtlich während des gesamten Jahres 1920 selbst relativ gutbezahlte Facharbeiter wiez. B. gelernte Reichsbahnarbeiter derGruppe III oder Buchdrucker bzw. Handsetzer allein mit ihrem Lohn das Existenzminimumihrer Familien nicht sichern. Die Preissenkungen des Frühjahrs 1921 haben hier wohl zeitweise für eine Entlastung gesorgt. Ungelernte Reichsbahnarbeiter derGruppe VII konnten ihre Familien dagegen nach wievornicht allein ernähren. In derFolgezeit gabes immer wieder Monate, in denen auch die besser gestellten Facharbeiter das Existenzminimum einer Familie nicht sichern konnten. Besonders stark differierten beide Zeitreihen vom November 1921 bis zum Februar/März 1922. Auch die Lohnerhöhungen der nun folgenden Monate reichten nicht aus, den lebensnotwendigen Warenkorb zu erwerben. Diese Entwicklung kulminierte nach demBeginn derHyperinflation imzweiten Halbjahr 1922 –und hier besonders fürdiebeim Staat beschäftigten Arbeiter. Diese Entwicklung kehr-
19 Ausnahmen: Textilarbeiter 90,9%, Textilarbeiterinnen 60,3% desExistenzminimums. 20 einzige Ausnahme: Bauarbeiter 102,4% desExistenzminimums. Die Löhne ungelernter licher Textilarbeiter lagen sogar lediglich bei 50,1%.
weib-
284
Hartmut Kiehling
te sich erst in derletzten Phase derHyperinflation um.Erst dieMonate August bis November 1923 brachten offenbar eine gewisse Entlastung. Während der Inflationszeit gab es innerhalb der Facharbeiterschaft einzelne privilegierte Berufsgruppen, die meist keine Probleme hatten. Zu ihnen gehörten sehr wahrscheinlich Hauer undSchlepper im Ruhrgebiet. Auch ihre Wochenverdienste hätten jedoch imzweiten Halbjahr 1922 nicht mehr ausgereicht, Kuczynskis Berliner Existenzminima zudecken.21 Für die Hyperinflation, also von Mitte 1922 bis Ende 1923, sind die Nominalwochenlöhne einiger weiterer Arbeitergruppen überliefert,22 darunter insbesondere einige ungelernte.23 Nach diesen Zahlen haben bereits im April 1922 nureinige wenige Gruppen von Arbeitern in besonders gut entlohnenden Branchen24 genug verdient, um das Existenzminimum ihrer Familien zu sichern. Bis zum März 1923 verschlechterte sich die Situation weiter; keine dererfassten Arbeitergruppen erreichte mehr dieses Ziel. Im weiteren Verlauf der Hyperinflation fächerten die Verdienste etwas auf. Eher sinkende Lebenshaltungskosten25 führten imVerein mitumfangreichen Lohnerhöhungen imMärz undApril zueiner deutlichen Verbesserung der Lage; nunmehr konnten die meisten Gruppen gelernter Arbeiter das Existenzminimum ihrer Familien decken. Dagegen zahlten lediglich die Hochlohnbranchen Chemie undBauihren ungelernten Arbeitern ausreichende Löhne. Derüberraschende Inflationsschub desMonats Maistoppte diese Entwicklung. Zwar stiegen auchjetzt die Nominallöhne deutlich, dies reichte jedoch selbst für gehobene Facharbeitergruppen durchweg nicht mehr zur Existenzsicherung aus. Auch die weitere Entwicklung wardurch einen wechselvollen Wettlauf zwischen Löhnen undPreisen gekennzeichnet. So konnte manim Juni ein Aufholen der Löhne konstatieren. Einzelne Arbeitergruppen waren dabei besonders erfolgreich, so dass die Verdienste weiter auffächerten. Im Juli 1923 überschritten die Löhne aller untersuchten gelernten Arbeiter das zu Grunde gelegte Existenzminimum. Die einzige Ausnahme fand sich imNiedriglohnsektor derTextilfacharbeiter. Durch enorme Lohnsteigerungen gelang dies von August bis Oktober 1923 ausweislich desuntersuchten statistischen Materials auch denmeisten ungelernten Arbeitern, bevor im November 1923 wieder sämtliche Arbeitergruppen von der Teuerung eingeholt wurden.
21 Statistisches Reichsamt: Zahlen zurGeldentwertung (wie Anm. 7), S. 40. 22 Für 1922 liegen nurdieMonate April, Juli undOktober bis Dezember vor. 23 jeweils gelernte undungelernte Metall-, Textil- Chemie- undBauarbeiter, bei denTextilarbeitern getrennt nach männlichen undweiblichen. 24 Chemie- undBauarbeiter. 25 wenigstens nach denExistenzminima Kuczynskis.
Einzelhandel
23 undKonsum inZeiten derInflation 1920–
285
Abb. 7: Deckung des Existenzminimums durch die Nettolöhne/-gehälter 1922/23
Nettolöhne/-gehälter
Bergleute gelernte Arbeiter höhere Beamte
in % desExistenzminimums
ungelernte Arbeiter untere Beamte
Quellen: Robert R. Kuczynski (wie Anm. 18), S. 66; Statistisches Reichsamt: Deutschlands Wirt43. schaft (wie Anm. 7), S. 40–
Insgesamt ist die Bilanz ernüchternd. Die zehn untersuchten Arbeiterkategorien konnten von Oktober 1922 bis November 1923 nurin knapp 30% aller Fälle das Existenzminimum ihrer Familien sichern. Dabei zeigten sich große Differenzen. Gelernte Chemiearbeiter etwa verdienten während der gesamten Zeitspanne zwischen März undOktober 1923 ausreichend. Die Entwicklung wies zudem starke Schwankungen auf. So erreichten wenigstens neun von zehn Kategorien im August und September 1923 das Existenzminimum einer Berliner Familie. In den Monaten Oktober 1922 bis Februar 1923, Mai undNovember 1923 gelang dies jedoch keiner einzigen erfassten Gruppe. An Hand der Zahlen des Statistischen Reichsamtes kann manfürdie Hyperinflation auch ähnliche Aussagen für die einzelnen Gruppen vonBeamten treffen. Die unteren Beamten (Gruppe III) konnten wie die Facharbeiter von Oktober 1922 bis Februar 1923 sowie im Mai undNovember 1923 das Existenzminimum ihrer Familien nicht decken, während dies schon fürmittlere Beamte (Gruppe IIX) nurimNovember 1922 zutraf.26 27 26 1913: Höhere 528, Mittlere 297 undUntere Beamte 136,3% des Existenzminimums. 27 Vgl. Robert R. Kuczynski (wie Anm. 18), S. 66; zitiert nach Carl-Ludwig Holtfrerich: Die deutsche Inflation (wie Anm.3), S. 39f. in Verbindung mit Statistisches Reichsamt: Zahlen zurGeldentwertung (wie Anm. 7), S. 40 u.42f.
286
Hartmut Kiehling
2.4. Weitere Hinweise auf einen sinkenden Lebensstandard Dass sich die Nachfrage der Konsumenten tatsächlich auf dieses Existenzminimumbeschränkte, zeigt eine Bestimmung der Notverordnung vom 26. Oktober
1923, die dieNennbeträge wertbeständigen Notgeldes auf höchstens 4,20 GM,in Ausnahmefällen 8,40 GM beschränkte.28 Auch beim Notgeld des Kaufhauses Schocken entfiel die Nachfrage hauptsächlich auf Gutscheine zu ein und zwei Goldmark.29 Das vorhandene Material deutet auch darauf hin, dass in derZeit der Hyperinflation in denmeisten Familien möglichst viele Personen zumFamilieneinkommen beitragen mussten. So hatten imDurchschnitt desJahres 1923 immer noch 20 Mio. Erwerbstätige eine Stellung. Das waren fast 900.000 mehr als im Boomjahr 1921, wenn auch rund 200.000 weniger als 1922.30 Erst ab dem Spätsommer 1923 spielte die Arbeitslosigkeit eine größere Rolle. Die Aufzeichnungen einzelner Haushalte beweisen, dass dieErwerbstätigkeit weiter Bevölkerungskreise bitter nötig war. Das Existenzminimum konnte zeitweise nurmit Mühe gehalten werden. Die Nachfragestruktur der vomLebensmitteleinzelhandel verkauften Güter konzentrierte sich mehr undmehr auf die Grundnahrungsmittel.31 Auseiner Vielzahl übereinstimmender Quellen wissen wir, dass viele Konsumenten Sachwerte verkaufen mussten, umüberleben zu können. Außerdem nahmen die Armutskrankheiten deutlich zu (Tuberkulose, Hungerödem, Skorbut undPellagra).32
2.5 Stellung gegenüber demEinzelhandel Gegenüber demEinzelhandel verschlechterte sich die Stellung der Konsumenten deutlich. Zwar ging demEinzelhandel ein Teil der verfügbaren Massenkaufkraft verloren. So führten Versorgungsprobleme dazu, dass die Konsumenten auf alternative Bezugsquellen wie den Einkauf beim Erzeuger, Konsumgenossenschaften undWochenmärkte auswichen. Außerdem förderte die Beschleunigung der Inflation die Intransparenz zuletzt in einem Maße, dass viele Konsumenten zum Tauschhandel zurückkehrten. Allerdings wares für die meisten Konsumenten aus einer Reihe von Gründen sinnvoll undnotwendig, sofort zu kaufen. Sie waren dadurch demEinzelhandel ausgeliefert, wodurch die Preiselastizität desKonsums dramatisch sank. So kames 1920 sowie im November/Dezember 1922, im Spätsommer und Herbst 1923 zu Versorgungsengpässen bei Grundnahrungsmitteln
28 Vgl. Karl Elster: Von der Mark zur Reichsmark: Die Geschichte derdeutschen denJahren 1914 bis 1924, Jena 1928, S. 209.
Währung
in
29 Vgl. Konrad Fuchs (wie Anm. 10), S. 94. 30 Vgl. Dietmar Petzina/Werner Abelshauser/Anselm Faust: Sozialgeschichtliches Arbeitsbuch 1945, München 1978, S. 119. Bd. III. Materialien zurGeschichte des Deutschen Reiches 1914– 31 Vgl. Carl-Ludwig Holtfrerich: Die deutsche Inflation (wie Anm. 3), S. 246– 260. 32 Vgl. Memorandum des Reichsgesundheitsamtes vom Oktober 1923, zitiert nach Carl-Ludwig Holtfrerich: Diedeutsche Inflation (wie Anm.3), S. 263.
Einzelhandel
23 undKonsum inZeiten derInflation 1920–
287
undauch sonst
wurden immer wieder bestimmte Waren knapp. Zudem war die Inflationsentwicklung äußerst sprunghaft. Es war daher vielfach sehr sinnvoll, sofort zu kaufen. Da sich viele Konsumenten am Existenzminimum bewegten, konnten sie kaumnoch Ersparnisse bilden undihren Konsum zeitlich verschieben. Der verbliebene Konsum entsprach demGrundbedarf undwar unabweisbar. Sie waren damit der Preisgestaltung des Einzelhandels ohne Reaktionsmöglichkeit ausgeliefert. Außerdem reduzierten viele Einzelhändler in der Hyperinflation ihre Öffnungszeiten, umihre Läger zuschonen. In derFolge hatten sie nurnoch einige Stunden proTagoder Tage proWoche geöffnet. Die Stellung der Kunden verschlechterte sich auch dadurch, dass die Preistransparenz insgesamt dramatisch zurück ging. Den Konsumenten fehlte vielfach die gewohnte Orientierung, wenn sie keine Zeit hatten, neue Preisschwellen zu bilden. Zwar war die Preisauszeichnung auch bei Kleinbetrieben vorgeschrieben. Üblich wares jedoch zumindest seit Herbst 1922, Preise entweder nurauf Anfrage zunennen oder lediglich sogenannte Grundzahlen auszuzeichnen. Die entsprechenden Multiplikatoren („ Schlüsselzahlen“ ) waren an anderer Stelle offen ausgehängt, undnur sie wurden laufend aktualisiert. Außerdem wiesen absolute und relative Preise starke Schwankungen in beide Richtungen auf. Dadurch verschob sich die Konsumstruktur ständig. Dies hatte zur Folge, dass der Informationsvorsprung des Handels stärker zumTragen kam. Insbesondere in der Hyperinflation blieb denKonsumenten gar keine Zeit mehr für Preisvergleiche. In derFolge verschwand die Preistransparenz völlig. Der Einzelhandel setzte sich daher gegen Ende der Hyperinflation immer ungenierter über die Interessen der Konsumenten hinweg. Abdem2. Quartal 1923 verweigerte er immer häufiger die Annahme von Papiermark und schuf ab der Jahresmitte seine eigenen wertbeständigen Zahlungsmittel.33 Die Stellung der Konsumenten verschlechterte sich also insgesamt gegenüber demEinzelhandel deutlich.
3. Position des Einzelhandels 3.1. Rechtslage Betrachten wirzunächst die einzelnen Aspekte derwirtschaftlichen Lage desEinzelhandels selbst. Unter dem Druck der Verhältnisse gingen im und kurz nach dem Ersten Weltkrieg selbst kleine Einzelhandelsbetriebe zu einer regelrechten Kalkulation ihrer Preise über. Ausschlaggebend wardabei zunächst die Entwicklung derRechtslage. Zumeinen waram8. Mai 1918 die Preistreibereiverordnung erlassen worden. Sie enthielt in § 1 Nr. 1 die Generalvorschrift derPreisvorschriften derInflationszeit. Nach ihr machte sich derjenige strafbar, dereinen Preis for-
33 Allerdings mehr.
akzeptierte
der Lebensmitteleinzelhandel erst im Herbst 1923 keine Papiermark
288
Hartmut Kiehling
derte, dereinen übermäßigen Gewinn enthielt. Allerdings waren dabei die gesamten Verhältnisse zu berücksichtigen unddaher verschiedene Fälle zu unterschei-
den. Herrschte eine normale, nicht durch ‘Preistreiberei’ verfälschte Marktlage oder gabes füreine Ware einen Marktpreis, so wardieser anzusetzen. DerMarktpreis konnte entweder ein sogenannter ‘Verbandspreis’ (der Hersteller), ein Großhandelspreis oder ein daraus abgeleiteter Einzelhandelspreis sein.34 Während einer Notmarktlage dagegen durfte der Einzelhändler den letzten normalen Marktpreis verlangen oder seine Gestehungskosten zuzüglich eines angemessenen Gewinnaufschlags. Behörden undGerichte unterstellten meist eine Notmarktlage. Eine Ausnahme stellte nur das Jahr 1920 unddie erste Hälfte des Jahres 1921 dar. Umdie Angemessenheit“des Gewinnaufschlags nachweisen zu können, wareine regel„ rechte Kalkulation unabdingbar. Bei derFrage der„ Angemessenheit“ist ein deutlicher Wandel der Gerichtsurteile feststellbar. Während undkurz nach der Revolution wandten Behörden undGerichte zunächst absolute Aufschläge an. Als die Inflation Mitte 1921 wieder anzog, legte man nach einem Urteil des Reichsgerichts prozentuale Zuschläge auf denEinstandspreis zu Grunde. Deren Höhe war von Fall zu Fall festzulegen. Sie umfasste den Unternehmerlohn, den Unternehmergewinn, die Verzinsung des Kapitals und eine Risikoprämie. Diese Prämie sollte nach einem ersten Urteil neben anderen Risiken, die demEinzelhändler und derWare drohten, auch eine mögliche Preissenkung (auf demAbsatzmarkt) abdecken.35 Sprunghafte Preissteigerungen (auf den Beschaffungsmärkten) waren damit zunächst nicht berücksichtigt. Gingen diese über die errechnete ‘angemessene’Handelsspanne hinaus, so warderEinzelhändler gezwungen, unter denaktuellen Einkaufspreisen zu verkaufen. Das war natürlich unbefriedigend. Daher gestand das Reichsgericht dem Einzelhandel bereits mit seinem Urteil vom 15. Mai 1920 zu, die Geldentwertung sowohl in die Risikoprämie als auch in den Unternehmerlohn einfließen zulassen.36 Diese Auslegung derVerordnung hatte bis zum Ende derInflationszeit Bestand. Eine weitere Liberalisierung bestand in derEinschränkung dervonderPreistreibereiverordnung erfassten Warengruppen. Gesetzeskommentare undGerichtsurteile vertraten nuneinhellig die Ansicht, dass Wucher im Sinne derVerordnung nurbei Gütern des täglichen Bedarfs, nicht jedoch bei sogenannten Luxuswaren vorliegen könne, dadiese für die gewöhnliche Lebenshaltung weiter Volkskreise keine soziale Notwendigkeit sei, sondern nur die materielle Besserung der Lebensführung herbei führten.37 Im Resultat war der Bekleidungseinzelhandel mit
34 Gerald D. Feldman: TheGreat Disorder (wie Anm.3), p. 229. 35 Der Bayerische Einzelhandel 2 (1921), 338, 376; Michael Siegel: Die Risikoprämie, in: Der Bayerische Einzelhandel (1921) 1, 206f. v. 5. Mai. 36 Juristische Wochenschrift 1920, S. 840. 37 Beispiele: Schreibtische oder modische Damenkonfektion. Vgl. Der Bayerische Einzelhandel (1921) 2, 158, 207.
Einzelhandel
23 undKonsum inZeiten derInflation 1920–
289
großen Teilen seines Sortiments nicht mehr der Wuchergesetzgebung unterworfen.38
Auf der Grundlage zweier weiterer wichtiger Entscheidungen des Reichsgerichts39 erließen Reichswirtschafts- und -justizminister Ende 1922 gemeinsam
Richtlinien über die Auslegung der Preistreibereiverordnung. Sie legten fest, bei welchen Preisbestandteilen während einer Notmarktlage die Geldentwertung mit welchem Aufschlag berücksichtigt werden durfte. Im wesentlichen richtete sich der Aufschlag bei Auslandswaren nach dem Dollarkurs, bei Inlandswaren nach dem Index der Lebenshaltungskosten. Auch diese Verordnung hatte jedoch für denEinzelhandel einen gravierenden Nachteil. Die Berechnung musste zumZeitpunkt der Bezahlung der Ware an den Lieferanten erfolgen. Spätere Preissteigerungen bis zumZeitpunkt desVerkaufs derWare oder garbis zu ihrer Wiederbeschaffung oder erneuten Bezahlung wurden nicht berücksichtigt, so dass insofern ein Substanzverzehr erfolgte.40 Nach wie vor lehnten es Reichsgericht undRichtlinien ausdrücklich ab, in einer Notmarktlage die Wiederbeschaffungspreise zu Grunde zulegen. Allerdings zeigte sich im Laufe der Jahre 1922 und 1923 auch in diesem Punkt eine gewisse Bewegung.41 So schrieb „ Der Pfälzische Einzelhändler“Ende „ Dezember 1922: Der Marktpreis wird [den Einzelhändlern] bei gerichtlichen Auseinandersetzungen in denmeisten Fällen nicht zugebilligt; es ist indessen Tatsache, dass die Zahl der gerichtlichen Entscheidungen, in denen bei Verstößen gegen die Preistreibereiverordnung vomMarktpreis ausgegangen wird, prozentual 42Zwar änderte sich an der Position von Behörden und immer stärker ansteigt.” Gerichten im Grundsatz selbst mit der letzten Preistreibereiverordnung v. 13. Juli 1923 nichts.43 De facto wurde diese Position jedoch in der letzten Inflationsphase mehr und mehr durchbrochen. Ab Mitte September 1923 ersetzten bestimmte Wiederbeschaffungspreise auch offiziell den Lebenshaltungskostenindex als Kal-
38 Holtfrerich schreibt sogar, die Preise für Bekleidung hätten keiner staatlichen Kontrolle unterlegen. Vgl. Carl-Ludwig Holtfrerich: Die deutsche Inflation (wie Anm. 3), S. 32. 39 Az.: 1D 1288/21–22. Sept. 1922; Az.: 1D 771/22–19. Dez. 1922. 40 Vgl. Mitteilungen für Preisprüfungsstellen 1922, 77f. Sie ersetzten die Maßnahmen verschiedener Länder. Vgl. Bekanntmachung derBayerischen Staatsregierung v. 15. September 1922; Stellungnahme der Bayerischen Staatsministerien der Justiz u. des Inneren v. 19. Dezember 1922 zudenKalkulationsgrundsätzen desLandesverbandes bayerischer Lebensmittelhändler. 41 Erlass des preußischen Staatskommissars für Volksernährung VI. a. 3714 v. 2. Dezember 1921.
42 Der Pfälzische Einzelhandel 1 (1922), 342 v. 27. Dezember. Siehe auch das Urteil des Landgerichts Mainz v. 12. Oktober 1922. Vgl. ebenda, (1923) 2, S. 185– 89 bzw. das Urteil einer Kölner Strafkammer v. Mai 1922. Vgl. Der Bayerische Einzelhandel (1922) 3, S. 308. 43 Mitteilungen für Preisprüfungsstellen 1923, 1– 4, S 89ff.; Schreiben des Reichswirtschaftsministers v. 28. Juni 1923 an die Hauptgemeinschaft des Deutschen Einzelhandels, abgedruckt in: Der Pfälzische Einzelhandel (1923) 2, S. 279.
290
Hartmut Kiehling
kulationsmaßstab für die Geldentwertung44 und die Berliner Preisprüfungsstelle veröffentlichte zudem danach laufend Kleinhandelsaufschläge für Lebens- und Genussmittel.45 Die aktuelle Rechtslage wurde vondenBehörden überwacht. Verstöße konnten gegebenenfalls zu einer strafrechtlichen Verfolgung führen. Das einschlägige Überwachungsnetz stammte noch ausderZeit desErsten Weltkrieges. Mangabes auch nicht auf, als mitderLiberalisierung desJahres 1920 diemeisten derbislang administrierten Preise freigegeben wurden. Nebeneinander gabes aufjeder administrativen Ebene bis hin zu den Landkreisen undkreisfreien Städten Preisprüfungskommissionen, Wucherabwehrstellen- oder -ämter und Dienststellen der Wucherpolizei. Allerdings waren sie oft wenig schlagkräftig, waren sie doch personell schlecht ausgestattet undverfügten über wenig (kaufmännischen) Sachverstand.46 Am 27. November 1918 richtete die Reichsregierung mit einer Verordnung sogar spezielle Wuchergerichte ein,47 die für Fälle nach denPreis- undWuchergesetzen und-verordnungen zuständig waren. Dasie zunächst als Ausnahmegerichte leicht beweisbare Wucherfälle behandeln sollten,48 wurde der Zugang zumReichsgericht stark erschwert. Er führte injedem Fall über einen Wiederaufnahmeantrag bei demselben Gericht49 undhatte daher nurin denseltensten Fällen Erfolg.50 Da andererseits die zentralen rechtlichen Regelungen der einschlägigen Gesetze nicht eindeutig gefasst waren undBehörden undGerichte widersprüchliche Stellungnahmen abgaben, erschien dies dem Einzelhandel je länger um so untragbarer. Andererseits war es für einen Einzelhändler auch nicht besonders wahrscheinlich, von einem solchen Gericht strafrechtlich belangt zu werden. So kam es 1920 wegen Preistreiberei undÜberschreitung von Höchstpreisen lediglich gegen 4.587 Personen zuVerfahren vordenWuchergerichten.51
3.2. Handelsmarge Anders als in der Kaiserzeit, als doppelte Buchhaltung und Preiskalkulation als Zeichen eines Vollkaufmanns stark standespolitisch verstanden worden waren, bestand nunalso für alle Einzelhändler dieNotwendigkeit dazu. Zumeinen übten
44 Genauer: die Großhandels-Notierungen des Landesverbandes Berlin und Brandenburg des Reichsverbandes desdeutschen Nahrungsmittelgroßhandels. Vgl. ebenda, S. 341. 45 Vgl. ebenda. 46 Gerald D. Feldman: TheGreat Disorder (wie Anm.3), S. 564. 47 Vgl. ebenda, S. 193f.. 48 Der Bayerische Einzelhandel (1922) 3, S. 102. 49 Rudolf Wassermann: Geldentwertung und Preistreiberei-Verordnung, in: Der Bayerische Einzelhandel (1922) 3, S. 549f. 50 So kam es angeblich 1920 bei 19.500 Wuchergerichtsfälle lediglich zu 22, 1921 bei 15.000 Fällen zu42 Wiederaufnahmen. Vgl. Der Bayerische Einzelhandel (1922) 3, S. 56. 51 Vgl. ebenda, (1921) 2, S. 545.
Einzelhandel undKonsum
23 inZeiten derInflation 1920–
291
die Behörden einen ständigen Rechtfertigungsdruck für die Preissetzung aus, zum anderen aber wardie Inflationsentwicklung immer wieder so sprunghaft, dass die herkömmliche peilende Aufschlagskalkulation52 intuitiv nicht mehr zu leisten war –oder doch zumindest zu den falschen Ergebnissen führte, nämlich zum Substanzverzehr bzw. (inPreissenkungsphasen) zuunrealistisch hohen Preisen. Dass der Einzelhandel tatsächlich zeitlich eng kalkuliert hat, lässt sich gut durch denVergleich vonGroß- undEinzelhandelsindices zeigen. Ansich wäre es naheliegend, für diesen Zweck diejeweiligen Gesamtindices heranzuziehen. Dieser Wegist allerdings nicht gangbar, weil die Warenkörbe derGesamtindices des Groß- und Kleinhandels53 recht unterschiedlich waren und die Preisentwicklung verschiedener Warengruppen sehr unterschiedlich verlief. Diese Untersuchung geht daher im Folgenden ausschließlich von denTeilindices für Ernährung bzw. Lebensmittel undBekleidung bzw. Textilien aus. Diese Vorgehensweise hatmehrere Vorteile. Die entsprechenden Sparten umfassten während der Inflationszeit sehr wahrscheinlich den größten Teil der Einzelhandelsumsätze. 1924 entfielen auf sie 40,7% (Nahrungs- undGenussmittel) bzw. 30,8% derUmsätze desEinzel-
fachhandels.54 Gleichzeitig repräsentierten die betreffenden Warengruppen die wichtigsten Ausgabengruppen der privaten Haushalte. Sie gaben 1918 durchschnittlich 48,0% ihres Budgets für Nahrungs- und Genussmittel aus, 16,8% für Kleidung, Schuhe und Reparaturen, 5,4% für Heizung und Beleuchtung und 29,8% für Sonstiges und Miete.55 Diese Relationen verschoben sich natürlich im Laufe der Inflationszeit. Zwar sind die überlieferten Haushaltsrechnungen für die Bekleidung wenig aussagefähig, doch lässt sich aus Ihnen ersehen, dass die Ausgaben für Nahrungsmittel, Heizung undBeleuchtung wichtiger wurden.56 Die Gegenüberstellung der genannten Groß- und Einzelhandelsindices birgt allerdings gewisse Probleme. Auch die Teilindices für Ernährung bzw. Lebensmittel undBekleidung bzw. Textilien hatten keineswegs völlig identische Warenkörbe. Außerdem umfasste der Lebenshaltungskostenindex bei der Ernährung nicht nur über den Einzelhandel verkaufte, sondern auch amtlich zugeteilte Waren.57 Trotz dieser Probleme akzeptierte manbereits in der Inflationszeit die relative Entwicklung vonGroß- undKleinhandelsindex als Indikator für die Entwick-
52 Vgl. Uwe Spiekermann: Basis der Konsumgesellschaft: Entstehung und Entwicklung des modernen Kleinhandels in Deutschland 1850– 1914 (Zeitschrift für Unternehmensgeschichte, Schriftenreihe Bd. 3), München 1999, S. 549ff. 53 Das Statistische Reichsamt bezeichnete seinen Lebenshaltungsindex auch als Kleinhandelsindex. 54 Hausrat, Wohnbedarf u. Kohlen 14,6%, Kultur-, Luxus-, Gesundheits- u. Sanitärbedarf 13,9%. DerFachhandel vereinigte 82,3% dergesamten Einzelhandelsumsätze aufsich. Vgl. Benning, Bernhard/ Robert Nieschlag: Umsatz, Lagerhaltung undKosten im deutschen Einzelhandel 1924 bis 1932 (Vierteljahrshefte zurKonjunkturforschung, Sonderheft 32) (1933), S. 25. 55 Erhebung des Kriegsausschusses für Konsumenteninteressen (KAKI), vgl. Carl-Ludwig Holtfrerich: Die deutsche Inflation (wie Anm. 3), S. 249– 252. 56 Ebenda, S. 255– 260. 57 Ebenda, S. 29f.
292
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lung der Handelsspanne.58 Diese Handelsspanne wird auch als Rohgewinn bezeichnet. Der zumAusdruck kommende Schluss auf die Gewinnlage der Einzelhändler ist allerdings gerade für die Inflationszeit problematisch. Die Handelsspanne lässt sich errechnen, indem mandie Einstands- von den Verkaufspreisen abzieht. Sie muss die übrigen Kosten decken und einen angemessenen Gewinn ermöglichen. Diese Rechnung steht unter einer zweifachen Fiktion. Zum einen müssen die Preise (einigermaßen) stabil bleiben, damitihr sonst ein Substanzverzehr eintritt, der sich in seiner Höhe noch nicht einmal bestimmen lässt, wenn mandie Wiederbeschaffungspreise nicht kennt. Zumanderen gibt derRohgewinn nur dann die Tendenz des Unternehmensgewinns wieder, wenn die Umschlagshäufigkeit einigermaßen konstant bleibt. Das war in der Inflationszeit dann nicht derFall, wenn die Kunden denEinzelhändlern ihre Waren förmlich ausdenHändenrissen, also etwa bei Versorgungsengpässen undin derHyperinflation, als die Kunden jede verfügbare (Papier-) Mark sofort ausgaben. Technische Gründe wie die Dauer der Auftragsabwicklung, betriebswirtschaftliche Überlegungen wie etwa optimale Bestellmengen, Lieferprobleme und -stopps der Lieferanten und Ordersperren der Einzelhändler sorgten jedoch dafür, dass sich die Umlaufgeschwindigkeit auch zudiesen Zeiten nicht beliebig erhöhen ließ. 23 Abb. 8: Indikatoren für die Handelsspanne imEinzelhandel 1920–
Klein- in % vomGroßhandelspreisindex des Statistischen Reichsamtes
Indikator
fürdenLebensmitteleinzelhandel
Indikator
fürdenBekleidungseinzelhandel
um1Monat dito, zeitversetzt um 4 Monate
dito, zeitversetzt
Quelle: Statistisches Reichsamt: Deutschlands Wirtschaft (wie Anm. 7), S. 16f. u. 33.
58
Wirtschaft
S. 22.
u. Statistik 3 (1923), S. 149; Wirtschaftskurve der Frankfurter
Zeitung (1923)
1,
Einzelhandel
23 undKonsum inZeiten derInflation 1920–
293
Dennoch soll der Versuch der Gegenüberstellung gewagt werden. Die relative Entwicklung von Groß- undEinzelhandelsindices weist auch ohne Glättung eine klare Periodizierung auf. Zunächst zumLebensmitteleinzelhandel: Die Reichsindexziffern der Lebenshaltungskosten für Ernährung59 bewegten sich vom April 1920 bis zumJuli 1921 meist über 100% der entsprechenden Großhandelspreise. Bis zumJuli desdarauf folgenden Jahres folgten Werte zwischen 70 undgut80%. Die Kennzahl sank danach über mehrere Monate spürbar ab. Erst im Jahr 1923 verbesserte sich derIndikator für die Handelsspanne des Lebensmitteleinzelhandels unter Schwankungen wieder deutlich underreichte im letzten Abschnitt der Inflation sogar erneut Werte vondeutlich über 100%.60 Diese Vorgehensweise lässt sich deutlich verfeinern. Zunächst ist es sinnvoll, die Lagerdauer zu berücksichtigen. An sich ist die Lagerdauer im Einzelhandel sehr stabil. So haben sich die Dispositionsgewohnheiten des Einzelhandels von den 1920er Jahren bis Mitte der 1960er Jahre nursehr wenig verschoben. Das lag daran, dass sich betriebliches Rechnungswesen, Beschaffungslogistik, Betriebsstruktur und Haltbarkeit der Waren nur sehr langsam änderten. Lag die Umschlagsdauer im Bekleidungseinzelhandel 1925 und 1931 bei 4,3, so war sie bis 1961 nur auf 3,2 Monate gesunken. Im Nahrungsmitteleinzelhandel ging sie in diesen Jahren von 1,4 über 1,1 auf 0,9 Monate zurück.61 Zwar gibt es für die Inflationszeit keine einschlägigen Untersuchungen, allerdings kann manwohl auch für einen großen Teil dieser Periode beim Lebensmitteleinzelhandel von einer Umschlagsdauer von rund einem und beim Bekleidungseinzelhandel von rund vier Monaten ausgehen. Diese Zeitspannen sollen daher denAusgangspunkt derweiteren Untersuchung bilden. Versetzt manden Großhandelspreisindex für Ernährung umeinen Monat, so gewinnt manzu einem Indikator für die Handelsspanne des Lebensmitteleinzelhandels auf Basis der aktuellen Einkaufspreise einen solchen für seine Handelsspanne auf Basis der tatsächlichen Einkaufspreise.62 Der Vergleich beider Kennzahlen für die Handelsspanne gibt gewisse Aufschlüsse über das Preissetzungsverhalten desLebensmitteleinzelhandels. Auch als Ergebnis dieser Analyse lassen sich klare Perioden abgrenzen. Bis zumJuli 1921 bewegten sich die Verkaufspreise im allgemeinen im Gleichschritt mit den aktuellen Einkaufspreisen oberhalb der tatsächlichen Einkaufspreise. Die Lebensmitteleinzelhändler hatten also keinen Grund, die traditionelle Kalkulationsmethode ihrer Verkaufspreise auf der Basis der gezahlten Einstandspreise zu ändern. Zwar lag die Handelsspanne auf der Basis der tatsächlichen Einkaufspreise auch im August 1921 noch oberhalb
59 VomStatistischen Reichsamt auch als Kleinhandelspreise bezeichnet. 60 Statistisches Reichsamt: Zahlen zurGeldentwertung (wie Anm. 7), S. 16f. u. 33. 61 Bernhard Benning/Robert Nieschlag (wie Anm. 54), S. 25; Betriebsvergleich 1961 des Instituts fürHandelsforschung anderUniversität zuKöln. 62 Eine solche Vorgehensweise hat allerdings denNachteil, dass sie die mutmaßlich starke Beschleunigung der Umschlagshäufigkeit durch aufgestauten Bedarf (Versorgungsengpässe!) unddie Wirkungen derHoch- undHyperinflation nicht abbildet.
294
Hartmut Kiehling
desVergleichswerts von 1913/14. In diesem Monat machten die Großhandelspreisejedoch einen Sprung von56,6% nach oben unddie Handelsspanne auf derBasis der aktuellen Einkaufspreise verringerte sich deutlich. Ab diesem Zeitpunkt lag derIndikator für die Handelspanne auf derBasis dervormonatigen Einkaufspreise imallgemeinen deutlich über deraufBasis deraktuellen Einkaufspreise. Abb. 9: Indikatoren fürdieHandelsspanne imEinzelhandel 1922/23
Klein-
in% vomGroßhandelspreisindex desStatistischen
Indikator
fürdenLebensmitteleinzelhandel
dito, zeitversetzt
Indikator
fürdenBekleidungseinzelhandel
dito, zeitversetzt
Reichsamtes
um1Monat um4 Monate
Quelle: Statistisches Reichsamt: Deutschlands Wirtschaft (wie Anm. 7), S. 16f. u. 33.
Dieser Abstand weitete sich nach dem Juli 1922 aus. Zur selben Zeit stieg der Indikator für die Entwicklung der Handelsspanne auf Basis der vormonatigen Einkaufspreise an undbewegte sich meist über 100%. Anfang 1923 erreichte er sogar Werte vonrund 120 bzw. 140%. Ab August 1923 liefert nurnoch die nicht zeitversetzte Gegenüberstellung der beiden Indices realistische Werte.63 Ab August 1921 hatten die Lebensmitteleinzelhändler also einen wachsenden Anreiz, zur Kalkulation auf der Basis der Wiederbeschaffungspreise überzugehen. Dies geschah mit Sicherheit spätestens im August 1923 auf breiter Front. Abgesehen voneinem gewissen Rückschlag imOktober konnte derLebensmitteleinzelhandel seine Preise stetig stärker erhöhen als der Großhandel.64 Dagegen lag zwischen
63 Bei der zeitversetzten
Betrachtung ergeben sich „Handelsspannen“ , die
um das 10- bis
270fache überderjenigen von1913/14 lagen. 64 Bezieht manandere Güter mitein, so begann diese Annäherung deraktuellen Groß- undEinzelhandelspreise bereits früher. Sobenötigte derEinzelhandelspreisindex vonAnfang April an
Einzelhandel undKonsum
inZeiten derInflation
23 1920–
295
August 1921 undJuli 1923 einZeitraum, in demnureinTeil derLebensmitteleinzelhändler auf der Basis ihrer Wiederbeschaffungskosten kalkulierten. Mankann sicher davon ausgehen, dass die Einzelhändler auf Basis derjeweils kalkulierten Einstandskosten eine positive Handelsmarge erzielt haben. Damit lag ihre Handelsmarge auf Basis der Wiederbeschaffungskosten –wenn überhaupt –so doch nicht wesentlich unter derMesslatte von 1913/14.65 Die Handelsspanne imBekleidungseinzelhandel entwickelte sich –abgesehen von einzelnen Monaten –nach demselben zeitlichen Muster. Allerdings gab es auch charakteristische Unterschiede. So fallt auf, dass der Rohgewinn trotz einer gewissen Annäherung offenbar bis zumHerbst 1921 deutlich niedriger lag als im Lebensmitteleinzelhandel undals 1913/14. Auf der Basis deraktuellen Einkaufspreise änderte sich dies bis zumEnde derInflationszeit nicht. Wie im Lebensmitteleinzelhandel gab es 1921 nach einer Erholung im zweiten Halbjahr einen dramatischen Einbruch der so berechneten Handelsspanne. Wie im Lebensmitteleinzelhandel verlief der Indikator für diese „ Handelsspanne“seit August 1921 auf Basis der aktuellen Einkaufspreise ständig unter der auf Basis der tatsächlichen Einkaufspreise. Der eigentliche Unterschied zwischen beiden Branchen bestand darin, dass sich der Abstand zwischen beiden Kennzahlen im Bekleidungseinzelhandel seit Beginn der Hyperinflation sehr viel schneller ausweitete. Durch die längere Umschlagsdauer (und die rechtlichen Möglichkeiten) war im Bekleidungseinzelhandel der Anreiz deutlich höher, auf der Basis der Wiederbeschaffungskosten zu kalkulieren. Daher muss man davon ausgehen, dass ein großer Teil des Bekleidungseinzelhandels seiner Preisgestaltung ab August 1922 die aktuellen Einstandspreise zu Grunde legte. Allerdings konnten nicht alle Betriebe einen Substanzverzehr vermeiden. Dasgalt insbesondere für Filialbetriebe. So hat KonradFuchs in seiner Monographie ‘Ein Konzern aus Sachsen’die Entwicklung des Kaufhauses Schocken, eines mittelgroßen Warenhaus-Filialisten mit dem Schwerpunkt in Sachsen, an Hand der internen Korrespondenz u.a. in der Inflationszeit nachgezeichnet.66 Danach verkaufte der Konzern seine Waren zumindest im Januar undvon Juli bis November 1922 sowie im April, Mai undJuli 1923 unter denaktuellen Wiederbeschaffungskosten – undzwarum20 bis 50 %.67
acht Wochen, bis er dengleichen Stand erreicht hatte wie der Großhandelspreisindex, Mitte August jedoch nurnoch eine Woche. Vgl. Der Pfälzische Einzelhandel (1923) 2, 324f. 65 Statistisches Reichsamt: Zahlen zur Geldentwertung (wie Anm. 7), S. 16f., 33. 66 Die Korrespondenz ist imLeoBaeck Institut, NewYork, erhalten. 67 Konrad Fuchs (wie Anm. 10), S. 82, 85 u. 87f.
296
Hartmut Kiehling
Abb. 10:Veränderungen derGroß- undEinzelhandelspreisindices 1920– 23
Veränderungen
derIndices in % zumVormonat
Einzelhandel Ernährung Einzelhandel
mitBekleidung
Großhandel Großhandel
mitLebensmitteln mitTextilien
Quelle: Statistisches Reichsamt: Deutschlands Wirtschaft (wie Anm. 7), S. 16f. u. 33.
Neben denNiveaus ist auch die Entwicklung der prozentualen Preisänderungsraten auf beiden Handelsebenen interessant. So waren die Ausschläge im Einzelhandel bis Mitte 1923 kleiner als im Großhandel.68 Dabei vollzog der Lebensmitteleinzelhandel die entsprechenden Großhandelspreise bis Mitte 1922 in sehr viel stärkerem Maße nach als der Bekleidungseinzelhandel. Besonders beim Bekleidungseinzelhandel flossen also neben Fragen derHandelsmarge in diePreisgestaltung auch andere Gesichtspunkte ein–etwa die Beeinflussung derNachfrage oder der Kundentreue. Bis 1922 lagen die Ausschläge der Großhandelspreise in aller Regel zeitlich vor denen derEinzelhandelspreise. Beim Lebensmitteleinzelhandel wardies sogar noch in denersten Monaten desJahres 1923 derFall. In dieser Zeit hat also wohl die Mehrzahl der Einzelhändler noch eine Aufschlagskalkulation auf der Basis der tatsächlichen Anschaffungskosten praktiziert. Die relativ kurzen time-lags zwischen denAusschlägen bei Groß- undKleinhandelspreisen für Textilien/Bekleidung weisen aber bereits darauf hin, dass sich dies in dieser Sparte änderte. Bereits ab Mai 1923 sind dann in beiden Sparten in zeitlicher wie in
68 Deutlich
wurde dies insbesondere aufderzeitlichen Ebene unterhalb eines Monats. Dies lässt sich beispielsweise noch fürdie Monate Januar bis Mai 1923 an HandderBerliner Preise für
zwölf wichtige Lebensmittel nachvollziehen,
wiesie dasStatistische Reichsamt veröffentlicht
hat. Vgl. Der Pfälzische Einzelhandel (1923) 2, S. 150 u. 227.
Einzelhandel
23 undKonsum inZeiten derInflation 1920–
297
quantitativer Hinsicht keine Unterschiede zwischen den Ausschlägen der Großund Einzelhandelspreise mehr feststellbar. Nach diesen Überlegungen ist der Zeitpunkt des Übergangs zur Kalkulation auf der Basis aktueller Einkaufspreise sogar etwas früher anzusetzen als oben angedeutet.69 Abb. 11:Veränderungen derGroß- undEinzelhandelspreisindices 1923
Veränderungen
derIndices in % zumVormonat
Einzelhandel Ernährung Einzelhandel mitBekleidung
Großhandel mitLebensmitteln Großhandel mitTextilien
Quelle: Statistisches Reichsamt: Deutschlands Wirtschaft (wie Anm. 7), S. 16f. u. 33.
3.3. Gesamtkosten Handelsspanne oder Rohgewinn stimmen nicht mit dem Betriebsgewinn eines Handelsbetriebs überein. Ihre Gesamtkosten umfassen neben den Wareneinstandskosten die Gemeinkosten sowie die übrigen Personal- und Vertriebskosten. Allerdings ergibt sich auch bei deren Berücksichtigung kein grundlegend anderes Bild. Nach denWareneinstandskosten sind die Personalkosten die wichtigste Kostenart. Zwar wurden während undnach der Revolution eine Fülle von Arbeitsschutzbestimmungen erlassen, die auch den Lebensmitteleinzelhandel betrafen. Besonders wichtig war die Arbeitszeitverordnung für Angestellte vom 18.März 1919,70 die für die Zeit der ‘Demobilmachung’ bis zum 17. November 1923 galt.71 Hinzu kamen nach dem Kriegsende Vorschriften des Tarifvertrags-
69 Vgl. Statistisches Reichsamt: Zahlen zurGeldentwertung (wie Anm. 7), S. 16f. u. 33. 70 RGBl. 1919 S. 315. 71 Zunächst sogar nurbis zum31. März 1922.
298
Hartmut Kiehling
undSchlichtungsrechts, die u.a. die gesetzliche Anerkennung vonTarifverträgen, die Möglichkeit der behördlichen Allgemeinverbindlichkeitserklärung undeines sogenannten staatlichen Zwangsschiedsspruchs’ umfassten. Sie waren in dieser ‘ nur während der Inflationszeit gültig.72 Daneben wurden die BeForm ebenfalls stimmungen des Kinder-, Jugend-, Frauen- und Mutterschutzes erweitert und schließlich trat das Gebot der Sonntagsruhe im Handelsgewerbe in Kraft.73 So durften Frauen an denNachmittagen vor Sonn- undFeiertagen nicht beschäftigt werden. All diese Vorschriften wurden nurteilweise angewandt –ob nunmitstillschweigender oder offener Billigung der Behörden oder sogar durch Erlass offizieller Ausnahmetatbestände. Außerdem konnte gerade der Lebensmitteleinzelhandel derNachfrage ohnehin zeitweise nicht nachkommen, so dass er sogar von sich aus seine Öffnungszeiten reduzierte. Gravierender waren zeitweise sprunghafte Lohn- undGehaltssteigerungen, die in den Jahren 1920 bis 1922 meist im Sommer undzu Jahresbeginn wirksam wurden. In der allerletzten Phase der Hyperinflation wurden die Personalkosten schließlich automatisch der Inflation angepasst. So betrug die Lohnsumme desKaufhauses Schocken imAugust 1923 das 20,6fache undim September das46,1fache derjenigen desJuli. Allein in derWoche vom 9. bis zum 15. September 1923 wurde das 38,2fache der Juligehälter ausgezahlt.74 Als besonders ärgerlich empfand der Einzelhandel (wie die übrige Wirtschaft) die vor allem aus der Erzbergerschen Steuerreform resultierenden neuen Steuern undmitihnen verbundene Hilfstätigkeiten. Bereits imKrieg wardieUmsatzsteuer eingeführt worden. Sie brachte deutlich erweiterte Aufzeichnungspflichten mit sich.75 Zu Beginn des Jahres 1920 kamen einige kleinere Verbrauchsteuern hinzu.76 Mit dem Rechnungsjahr 1920 besteuerte das Reich die Einkommen natürlicher Personen auf der Grundlage der Reichsabgabenordnung vom30. September 191977. Die Arbeitgeber mussten damit Lohnsteuer im Lohnabzugsverfahren ein-
72 Die betreffenden Vorschriften galten zumgroßen Teil nach 1923 in unterschiedlicher Weise undForm weiter. Vgl. Johannes Frerich/ Martin Frey: Handbuch derGeschichte derSozialpolitik in Deutschland, Bd. 1: Von der vorindustriellen Zeit bis zum Ende des Dritten Reiches, 186. München/Wien 1993, S. 177– 73 Vgl. ebenda, S. 188– 193. Diese ist jedoch in Provinzstädten nicht vollständig durchgeführt worden. Vgl. o.V.: Lage undAussicht des Bayerischen Einzelhandels: Ergebnis einer Umfrage imganzen Lande, in: DerBayerische Einzelhandel (1921) 2, S. 362. In Bayern waren Gemeinden bis zu 10.000 Einwohnern an 24 Sonntagen pro Jahr von der entsprechenden Regelung des § 105e der Reichsgewerbeordnung ausgenommen. Diese Ausnahmeregelung wurde jedoch von denuntergeordneten Behörden nicht flächendeckend angewandt. Vgl. Karl Theodor Senger: Der bayerische Einzelhandel, seine organisatorische Entwicklung, seine Kämpfe undNöte imJahre 1921, in: DerBayerische Einzelhandel (1922) 3, S. 54. 74 Vgl. Konrad Fuchs (wie Anm. 10), S. 90. 75 Gesetz über einen Warenumsatzstempel v. 26. Juni 1916, RGBl. 1916, S. 507 sowie Umsatzsteuergesetz v. 24. Dezember 1919, RGBl. 1919, S. 2157. 76 Zündwaren-, Spielkarten- undTabaksteuer. Vgl. Karl Elster (wie Anm. 28), S. 131. 77 RGBl. 1919, S. 1.993.
Einzelhandel
23 undKonsum inZeiten derInflation 1920–
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behalten und an den Fiskus abführen.78 Bei all diesen zusätzlichen Belastungen darf mannicht vergessen, dass derbloße Fortgang derinflatorischen Entwicklung zueiner tatsächlich immer geringeren relativen Steuerbelastung führte, so dass die neuen Steuern die Gewinnsituation der Unternehmen sehr wahrscheinlich kaum schmälerten. Je stärker die Inflation fortschritt, desto mehr rückten organisatorische Probleme in den Vordergrund der täglichen Arbeit der Einzelhändler. So förderten die großen Zahlen derHyperinflation die Differenzen. Dasie dieZahl derStellen innerhalb derZahlen betrafen, lauteten sie oft auf erhebliche Beträge. Noch mehr Arbeit als die Suche nach solchen Differenzen konnte das ständige Neuauszeichnenmachen. Mitte Juni 1923 konnten dieRegistrierkassen dievielen Stellen nicht mehr erfassen. Mannegierte daher die Hunderter undließ Anfang August zwei weitere Nullen weg.79 Gleichzeitig ging manbei der internen Warenbelastung z.T. aus Sicherheitsgründen vombisher praktizierten Dekadensystem zum täglichen Kontostand über. Auch dieser Schritt bedeutete einen erheblichen Mehraufwand.80 Außerdem wurden 1923 die Gehälter zuerst wöchentlich, später dann sogar täglich ausgezahlt. Gleichzeitig musste man den Mitarbeitern an jedem Arbeitstag freie Zeit einräumen, damit sie selbst einkaufen konnten.81 Der Katalog dieser zusätzlichen Belastungen klingt umfangreich. Die entsprechenden Gemeinkosten waren jedoch im Voraus kalkulierbar. Ihre relative Bedeutung trat zudem weit hinter die Wareneinstandskosten zurück. So betrugen 1929 die Gesamtkosten im deutschen Einzelhandel ohne Wareneinstandskosten lediglich 23,7% der Verkaufserlöse (Arbeitskosten inkl. Unternehmerlohn 11,4%, indirekte Steuern 2,4%).82 Nicht nur in Bezug auf Wareneinstandskosten undeffektiver Steuerbelastung ergab sich in derInflationszeit tendenziell eine Verbesserung derwirtschaftlichen Lage des Einzelhandels, sondern auch undin besonderem Maße bei denKapitalkosten. Daes kaum noch möglich war, bei Banken oder Lieferanten neuen Kredit zu erlangen, war das im Wesentlichen auf einen Rückgang der Kapitalbindung zurückzuführen. Bei den in der Vorkriegszeit üblichen fixen Zinssätzen trat im Inflationsprozess durch die Entwertung der Altschulden eine weitgehende Entschuldung ein. Außerdem bestand der Einzelhandel auf Barzahlung, sobald die Inflation auch nurtrabte. In der Folge verschwand das „ Borgwesen“vollständig, das in der Vorkriegszeit so viel Kapital gebunden hatte. Hinsichtlich der Größe des Warenlagers sah sich derHandel einem grundsätzlichen Dilemma ausgesetzt. Einerseits bestand wegen derVersorgungsprobleme ein starker Anreiz, lieferbare Ware in größeren Mengen zu bestellen. Da der Lebensmitteleinzelhandel damals 78 79 80 81 82
RGBl. 1919, S.359. Vgl. Konrad Fuchs (wie Anm. 10), S. 86. Vgl. ebenda, S. 88. Vgl. o.V.: EDEKA 75 Jahre immer in Aktion 1907– 1982, Hamburg 1982, S. 22. Vgl. Bernhard Benning/Robert Nieschlag (wie Anm. 54), S. 28.
300
Hartmut Kiehling
typischerweise auch viele Güter des periodischen Bedarfes im Sortiment hatte, wareine solche Bevorratungspolitik auch dort möglich. Andererseits kannte der Einzelhändler wegen derPreissprünge dergaloppierenden undHyperinflation die aktuellen Einkaufspreise bis zur Wiederbestellung nicht undging ständig das Risiko eines Substanzverzehrs ein. Ein solcher Substanzverzehr in den Lägern trat seit August 1921 aufbreiter Front ein, als es demEinzelhandel nicht mehr gelang, seine Verkaufspreise über den aktuellen Einkaufspreisen zu halten. In einer solchen Situation wargerade eine Verminderung derLagerhaltung geboten. In Kassenbeständen konnte eine wertbeständige Anlage erst in demMoment geschehen, als manvon der wertbeständigen Berechnung auf die wertbeständige Bezahlung überging. Nachdem derFebruar 1923 gegenüber demVormonat Preissteigerungen von durchschnittlich 136% gebracht hatte, war dieser Zeitpunkt gekommen. Der Dollar wurde faktisch zurParallelwährung. Dieser Prozess setzte sich vonWesten nach Osten undvon Süden nach Norden hin fort. In denbesetzten Gebieten wies der Einzelhandel die (Papier-) Mark seit April zurück. Süddeutschland undbald danach dasübrige Reich folgten.83 Auch die einzelnen Sparten des Einzelhandels wurden zeitversetzt erfasst. Vorreiter war naturgemäß der Einzelhandel mit Gütern des nicht lebensnotwendigen, nicht täglichen Bedarfs. Mit Beginn der letzten Beschleunigungsphase der Inflation akzeptierte auch die Bevölkerung die Papiermark nach der Jahresmitte immer weniger. Zwar bestand auchjetzt noch ein gravierender Mangel anZahlungsmitteln, so dass die Bevölkerung teilweise auf Papiermark angewiesen blieb. Allerdings standen ab der Jahresmitte immer größere Volumina anwertbeständigen Zahlungsmitteln zurVerfügung. Dies waren sogenannte Edelvaluta, also Bargeldbeträge vorallem in Dollar, Pfund-, Gulden- undSchwedenkronen, kleingestückelte wertbeständige Anleihestücke, auf Goldmark, Roggen, Kohle o.ä. lautend sowie wertbeständiges Notgeld. Selbst mittlere Einzelhandelsbetriebe haben sich die entsprechenden ‘Geldscheine’selbst geschaffen. Ein solches Vorgehen –obwohl in denmeisten Fällen verminderte die Kapitalbindung weiter, wenn es gelang, die dafür erhalillegal – tenen Papiergeldbeträge schnell genug wieder zu verwenden oder sie sogar für Bezüge einzusetzen. Die Nachfrage insbesondere nach denkleinen Stückelungen solchen wertbeständigen Notgeldes waraußerordentlich hoch. Vollständig konnte es sichjedoch erst sehr spät durchsetzen. Vor allem derLebensmitteleinzelhandel verlangte offenbar erst unmittelbar vor der Stabilisierung auf breiter Front die Bezahlung mit wertbeständigen Zahlungsmitteln.84 Einer der Gründe warjuristischer Natur: Dem Lebensmitteleinzelhändler drohten Zuchthausstrafen, sollte er dieAnnahme vonPapiermark verweigern.85 Insgesamt ging die Kapitalbindung im Lager sehr wahrscheinlich zurück. So entfielen Ende 1923 nur 24,3% der volkswirtschaftlichen Lagerhaltung auf den Einzelhandel, während es imDurchschnitt derJahresultimos 1923 bis 1931 29,4%
83 Vgl. Hjalmar Schacht: Die Stabilisierung derMark, 84 Vgl. Konrad Fuchs (wie Anm. 10), S. 93ff. 85 Vgl. o.V.: EDEKA (wie Anm. 82), S. 22.
Stuttgart/ Berlin/ Leipzig 1927,
S. 43.
Einzelhandel
23 undKonsum inZeiten derInflation 1920–
301
waren.86 Dieser Rückgang der Lagerhaltung in der Inflationszeit war vermutlich auf zwei Effekte zurückzuführen. Zumeinen sanken die Werte, zudenen dieses in denBüchern stand, mitdemInflationsprozess relativ zumMarktwert immer mehr ab. Zumanderen ging die Kapitalbindung im Lager auch in demMaße zurück,
wie sich –wie oben dargestellt –die Lagerzyklen Schritt für Schritt verkürzten. Nur in der Hyperinflation gab es zumindest bei manchen Betriebsgrößen und formen eine Gegenbewegung. Allerdings überwog erst dann das Bemühen, die verfügbare Liquidität wertbeständig anzulegen, als die Betriebe im Rahmen ihrer Kalkulation Wiederbeschaffungspreise ansetzen konnten87. Oscar Tietz schrieb rund 40 Jahre später, dass dies zumindest bei Großbetrieben vorzugsweise in Waren geschah.88 Weniger finanzkräftige Einzelhändler scheinen ihre Läger gegen Ende derHyperinflation jedoch weiter reduziert zuhaben. Dies lag zumeinen an
derAngst vor Plünderungen undAuseinandersetzungen in denVerkaufsräumen,89 zumanderen an derzunehmend unsicheren Wirtschaftslage.90 In der Summe also bleibt festzuhalten, dass die Kapitalbindung des Einzelhandels vor allem in der Hyperinflation deutlich sank.
3.4. Konkurrenzsituation Auch dieTatsache, dass eine Vielzahl neuer Konkurrenten in denMarkt drängten, deutet darauf hin, dass sich die Lage des Einzelhandels in der Inflationszeit gebessert hat. Daneben hat deren Auftreten allerdings eine Reihe weiterer Gründe. Sie
lagen in der phasenweisen Warenknappheit ebenso wie in den wirtschaftlichen Chancen, die sich ausdengroßen Preisfluktuationen ergaben, derSuche derKonsumenten nach billigeren Einkaufsmöglichkeiten undihren weit verbreiteten Vorurteilen gegen denEinzelhandel.91 Die Konkurrenz bestand im Wesentlichen aus Wochenmärkten, ambulantem Handel wie z.B. Hausierern, sogenanntem ‘wildem 86 Vgl. Bernhard Benning/Robert Nieschlag (wie Anm. 54), S. 22. 87 Etwa auf der Basis vonVeröffentlichungen in Verbands- undTagespresse, die im Laufe des Jahres 1923 immer häufiger wurden.
88 Wir kauften mit Wechseln auf die Tochtergesellschaften auf, wasan Waren zu bekommen war. “ Gab es im Augenblick keine Waren, dann kauften wir Devisen; gab es keine Devisen, dannerwarben wirAktien – dasalles umdemFinanzbedarf bei steigender Geldentwertung der Mark gewachsen zusein.”G. Tietz: Hermann Tietz, Geschichte einer Familie undihrer Warenhäuser, Stuttgart 1965, S. 202. 89 Vgl. Gerald D. Feldman: The Great Disorder (wie Anm. 3), pp. 594– 97; Konrad Fuchs (wie Anm. 10), S. 86. 90 Noch größere Preisschwankungen, Unsicherheit über die Bedingungen der diskutierten Währungsstabilisierung, Produktionseinbruch mit plötzlich hoher Arbeitslosigkeit. Vgl. Konrad Fuchs (wie Anm. 10), S. 88f., 92. 91 Vgl. Der Bayerische Einzelhandel (1920) 1, S. 87; ebenda, (1921) 2, S. 377; ebenda, (1922) 3, S. 74 u. 174; o.V., Lage undAussicht (wie Anm. 73), S. 362. Es handelte sich dabei insbesondere umKleiderabgabestellen.
302
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Handel’in Gaststätten, Betrieben, Behörden, Post undEisenbahn sowie demVerkauf bestimmter Waren durch soziale oder berufsständische Organisationen wie Gewerkschaften oder Kleinrentnervereine an ihre Mitglieder. Hinzu kamein Sys-
tem der Notstandsversorgung undvon kommunalen Warenabgabestellen, das lokale undübergeordnete Behörden frühzeitig errichtet hatten. Es sollte insbesondere Bekleidung für Bedürftige verbilligen. Zwar schafften die Reichsbehörden im Zuge der Marktliberalisierung des Jahres 1920 einige Vergünstigungen dieser Einrichtungen ab, sie wurden jedoch nur sehr zögerlich geschlossen und z.T. durch Nachfolgeorganisationen ersetzt. So verteilte die Bayerische LebensmittelLandeszuckerstelle noch 1923 Sonderzuweisungen für Säuglinge, stillende Mütter, Apotheken, Anstalten, Gaststätten undPensionen.92
Ammeisten schmerzte die Zunahme der Konsumgenossenschaften denmittelständischen Einzelhandel, zumal diese auch noch durch den Staat bevorzugt wurden. ZumBeispiel galt dieWuchergesetzgebung nicht fürKonsumvereine und das Kapitalverkehrssteuergesetz vom 8. April 1922 sah die Ermäßigung der Gesellschaftssteuer für Erwerbs- und Wirtschaftsgenossenschaften vor. Besonders gravierend war die umsatzsteuerliche Behandlung der Konsumgenossenschaften. Zwar warderSteuersatz zunächst vergleichsweise gering, er stieg jedoch ständig: 1918 0,5 %, 1919 1,5 %, 1922 2 und2,5 %. Außerdem wardie Steuer als sogenannte Allphasen-Bruttoumsatzsteuer ausgestaltet. Sie waralso aufjeder Produktions- undHandelsstufe fällig undbevorzugte somit die Konsumvereine, die regelmäßig über eigenen Großhandel undProduktion verfügten. Ende 1922 wurden die Konsumgenossenschaften von der Umsatzsteuer befreit.93 Außerdem war der traditionelle stationäre Einzelhandel empört, dass die Konsumgenossenschaften mehr undmehr auch anNichtmitglieder verkauften, obwohl dies nach § 8 IV Genossenschaftsgesetz verboten war. Auch diese Konkurrenz konnte jedoch die insgesamt positive Geschäftsentwicklung des Einzelhandels in der Inflationszeit vermutlich nicht wesentlich beeinträchtigen. Geht manvon denniedrigen Marktanteilen des ambulanten Handels undderKonsumgenossenschaften von 7,4 bzw. 2,1% 1924 aus94 undbedenkt, dass sich Konsum- undEinkaufsgewohnheiten nur langsam ändern, so waren beide auch während derInflationszeit wohl keine ernsthaften Konkurrenten. Das galt umso mehr, als sich die Konkurrenzsituation der Kleinbetriebe des Einzelhandels in derInflation in demMaße verbesserte, wiesich die Großformen des Einzelhandels spezifischen Problemen ausgesetzt sahen. Sie litten besonders unter demAnstieg derEigentumskriminalität, konnten sie sich doch weder aufdie Solidarität ihrer Angestellten verlassen noch sie ausreichend kontrollieren. Großbetriebe hatten zudem wesentlich größere organisatorische Probleme, zeitnah 92 Vgl. Der Bayerische Einzelhandel (1920) 1, S. 86; ebenda, (1921) 2, S. 208 u. 233; Der Pfälzische Einzelhandel (1923) 2, S. 150. 93 Vgl. Der Bayerische Einzelhandel (1922) 3, S. 732; Der Pfälzische Einzelhandel (1922) 1, S. 311. 94 Vgl. Bernhard Benning/ Robert Nieschlag (wie Anm. 54), S. 10.
Einzelhandel
zentral
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303
aufplötzliche Inflationsschübe zureagieren. Einer Dezentralisierung setzte
jedoch wiederum die geringere Loyalität der Beschäftigten Grenzen. Als Fazit kann manmit einer gewissen Sicherheit davon ausgehen, dass sich die Konkurrenzsituation des stationären mittelständischen Einzelhandels zumindest nicht verschlechterte.
in derInflationszeit
3.5. Stellung gegenüber denZulieferern
Die Stellung derEinzelhandelsbetriebe gegenüber ihren Lieferanten wardagegen im Allgemeinen relativ schwach. Sie waren im Durchschnitt wesentlich kleiner als diese.95 So entfielen 1924 erst 3,9% der Umsätze des gesamten Einzelhandels auf Warenhäuser.96 Öffentlichkeit und Behörden übten zwar stetigen Druck auf den Einzelhandel aus, nicht jedoch auf dessen Zulieferer. Außerdem hatte der Einzelhandel –außer in Gebieten, die von ausländischen Touristen frequentiert keinen Zugang zuDevisen undkonnte sich daher gegen Substanzverluswurden – te weit schlechter schützen. Undschließlich verfiel derAußenwert derMark während der meisten Perioden des Untersuchungszeitraums schneller als ihr Binnenwert. Diese zuniedrig bewertete Mark wirkte wie eine starker Schutzzoll, derdas inländische Angebot insbesondere an Lebensmitteln verknappte, wasdie Stellung derLieferanten weiter stärkte.97 Die Stellung der Einzelhandelsbetriebe gegenüber ihren Lieferanten verschlechterte sich zudem im Laufe der Inflationszeit. So wurden nach Einsetzen dergaloppierenden Inflation Mitte 1921 die Lieferkonditionen schrittweise schärfer gefasst. Bereits im Herbst 1921 hielten die Fabrikanten zuvor bestellte Ware zurück undnahmen Bestellungen allenfalls unter Preisvorbehalt an.98 Zu Beginn desJahres 1922 berechneten dieLieferfirmen Aufschläge selbst für solche Waren, die zu Festpreisen geordert worden waren. Dadurch sollten die Preissteigerungen zwischen Auftragserteilung und Lieferung aufgefangen werden.99 Ab Mai 1922 ließen sich die Lieferanten vielfach nicht mehr auf Festpreise ein undlehnten eine Schadensersatzpflicht wegen Nichtlieferung ab. Dennoch verlangten sie oft auch für handelsübliche Waren Vorauszahlungen. Diese Liefer- und Zahlungsbedingungen wurden demEinzelhändler vielfach erst auf denKommissionskopien oder sogar erst auf den Rechnungen mitgeteilt.100 Mit demBeginn der Hyperinflation begann die schrittweise Abkehr von der Mark. So stellten die Zulieferer ab Sep95 Vgl. Karl Theodor Senger (wie Anm. 74), S. 75. 96 Vgl. Bernhard Benning/ Robert Nieschlag (wie Anm. 54), S. 10. 97 Letzteres änderte sich erst Mitte 1923, als derBinnenwert derMark noch schneller verfiel als ihrAußenwert. 98 Vgl. Konrad Fuchs (wie Anm. 10), S. 79. 99 Vgl. ebenda, S. 82. 100 Vgl. Der Bayerische Einzelhandel (1922) 3, S. 265f. Vgl. dazu allerdings das Urteil des Reichsgericht, Az. VII. 455/21 v. 7. März 1922.
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tember 1922 ihre Rechnungen immer häufiger in Auslandswährung. Angesichts derRechtslage, aber auch mangels entsprechender Valuta geschah die Bezahlung allerdings meist noch in Mark.101 Die Politik unternahm mit derNotverordnung desReichspräsidenten vom 12. Oktober 1922 denVersuch, dieser stärkeren Verwendung vonValuta im Verkehr mit Industrie undGroßhandel entgegen zu steuern. Nach ihr waren Erwerb und Fakturierung in Valuta streng reglementiert. Die Verordnung schrieb vor, dass ausländische Zahlungsmittel nurnoch erworben werden durften, wenn dasbetreffende Unternehmen eine entsprechende Bescheinigung derHandelskammer besaß oder das zuständige Finanzamt eine Genehmigung erteilt hatte. Betriebe gleich welcher Handels- undVerarbeitungsstufen durften nurnoch dann in Valuta fakturieren, wenn sie die entsprechenden Waren importiert hatten.102 Von Anfang an umgingen dieUnternehmen diese Bestimmung jedoch teilweise. Nach einiger Zeit setzten sie sich offen darüber hinweg. Daher scheint sich bis zurJahresmitte 1923 an den üblichen Zahlungsbedingungen nichts wesentliches geändert zu haben, zumal es zeitweise zueiner Beruhigung derPreissteigerungsraten kam. Nach wie vorfakturierten Großhandel undFabrikanten ganz oder teilweise in fremder Valuta, nach wievorgabes Lohnvorbehalte undfreibleibende Preise.103 Das änderte sich erst, als sich im Juli 1923 die Lebenshaltungskosten fast vervierfachten. Nunverlangten die Lieferanten die sofortige Überweisung der Rechnungsbeträge. Außerdem banden sie ihre Preisaufschläge für gestiegene Kosten nicht mehr an einen bestimmten Umrechnungskurs.104 Als sich die Inflation weiter beschleunigte, wollten die Produzenten ab Anfang August nurnoch gegen Devisenliefern. Daswarallerdings für denLebensmitteleinzelhandel meist unmöglich, weil sie unter Strafandrohung zur Annahme von Papiermark gezwungen waren.105 Für den Fall solcher Zahlung in (Papier-) Mark enthielten die Zahlungsbedingungen seit Mitte 1923 sogenannte Repartierungsklauseln. Danach berechnete sich der Rechnungsbetrag in Papiermark nach demKurs, zu dem sich der Lieferant anschließend in Valuta eindecken konnte. Dashatte jedoch seine Tücken, weil die Reichsbank dieNachfrage nach Devisen auch nicht annähernd befriedigen konnte. In derFolge nahmen die Eindeckungen oft längere Zeit in Anspruch,106 so dass die Einkaufspreise noch weit stärker stiegen als dies bei einer zeitgleichen Umrechnung in Devisen der Fall gewesen wäre.107 Dabei war es völlig unsicher, ob und
101 Vgl. Der Bayerische Einzelhandel 3 (1922), S. 671f. 102 RGBl. S. 791; Ausführungsbestimmungen: RAnz. 1923 Nr. 171. 103 Vgl. Guido Fischer: Die Indexkalkulation undderen praktische Anwendung, in: Der Pfälzi210 v 20. Juni. sche Einzelhandel (1923) 2, 207– 104 Vgl. Konrad Fuchs (wie Anm. 10), S. 89. 105 Vgl. ebenda, S. 89; o.V.: EDEKA (wie Anm. 82), S. 23.
106 Vgl. Der Pfälzische Einzelhandel (1923) 2, S. 268 v. 1. August. 107 13.9.1923, Vgl. Konrad Fuchs (wie Anm. 10), S. 90; Der Pfälzische Einzelhandel (1923) 2, S.
392.
Einzelhandel undKonsum
inZeiten derInflation
23 1920–
305
inwieweit diese Repartierungsklauseln rechtlich überhaupt zulässig waren.108 Nichtsdestotrotz waren sie bis zumEnde derInflation überall anzutreffen. Die ohnehin meist schon starke Stellung der Lieferanten wurde durch deren Zusammenschluss vielfach nochverstärkt. So einigten sich einzelne Verbände der Lieferanten seit Mitte 1922 aufgemeinsame Bedingungen. Darin wurde daszuvor noch gewährte Ziel ausgeschlossen. Seit Mitte 1923 hat manmit Hilfe dieser Bedingungen den Termin immer weiter hinausgeschoben, dessen Devisenkurs für die Berechnung des Teuerungsaufschlags eines Papiermark-Rechnungsbetrags maßgeblich war. Die umstrittene Repartierungsklausel haben die Lieferantenverbände jedoch meist nicht aufgenommen.109 Auf Grund des Betriebsgrößenvorteils der Lieferanten strebten die Einzelhändler früher als diese Verbandsvereinbarungenan. So schloss der ‘Reichsbund Deutscher Textildetaillisten-Verbände’ bereits am 23. August 1920 mit dem ‘Verband deutscher Herrenwäsche-Fabrikanten’ eine Abmachung.110 Erst 1923 kames allerdings häufiger zu solchen Vereinbarungen. Mit ihrer Hilfe konnte derEinzelhandel durchweg vergleichsweise positive Ergebnisse erzielen. Beispiele dafür waren die Bindung der Preise an bestimmte Indices, ihre Festlegung durch gemeinsame Kommissionen oder bestimmte Verzugsbedingungen.111 Insgesamt bestätigten sich jedoch auch in diesen Vereinbarungen diebestehenden Machtverhältnisse.112 Da das hier aufgerollte Szenario große Lücken und einige Unsicherheiten aufweist, ist es sinnvoll, eine Sparte zuuntersuchen, deren Situation imZeitablauf durch eine zeitgenössische Untersuchung gut dokumentiert ist –den Schuhhandel.113 Auch hier kann manklare Perioden bilden. Die Schuhkonjunktur warin der zweiten Jahreshälfte 1919 lebhaft. Die Produzenten konnten die Nachfrage kaum bewältigen undgewährten daher kein Zahlungsziel. Bereits im darauf folgenden Frühjahr stockte derAbsatz. Sofort versuchten Hersteller undGroßhändler, diesen durch Sonderposten, Forderungsstundung und -verzicht zu stabilisieren. Ab diesemZeitraum wurde auch die Gewährung von Ziel wieder allgemein üblich. Außerdem erklärten sich die Lieferanten nach einigem Zögern zu Gesprächen auf 108 Erlasse desReichswirtschaftsministers v. 6. bzw. 18. Juli 1923; ‘Kundgebung’derDevisenbeschaffungsstelle in der Tagespresse, abgedruckt in: Der Pfälzische Einzelhandel (1923) 2, S.
312.
109 Vgl. Der Bayerische Einzelhandel (1922) 3, S. 695; Der Pfälzische Einzelhandel (1923) 2, S. 367, 390 u. 400. 282, 305f., 365– 110 Vgl. Der Bayerische Einzelhandel (1920) 1, S. 87.
111 Die Neufassung der ‘Deutschen Tuchkonvention’ am 28. März 1923: Vgl. Der Pfälzische Einzelhandel 2 (1923), S. 151; Abmachung des ‘Reichsverbandes für Damen- undMädchenkleidung’mitdem‘Verband derFabrikanten vonBlusen, Kostümen undverwandten Artikeln’ Anfang Juni 1923; ebenda, S. 203– 205. 112 Vgl. ebenda, S. 386. 113 Die Studie umfasst daneben den Lederhandel, der jedoch auch auf der Einzelhandelsstufe primär an Weiterverarbeiter absetzte undhier weniger interessiert. Vgl. Matthias Steeg: Einwirkungen der Geldentwertung auf die Verkaufsbedingungen der Leder- undSchuhbranche, in: Zeitschrift fürhandelswissenschaftliche Forschung 18(1924), S. 21– 45.
306
Hartmut Kiehling
Verbandsebene bereit. Bereits imNovember 1920 undimFebruar 1921 kames zu erfolglosen –Gesprächen derbeteiligten Verbände über gemeinsame Lieferbedingungen. Als die Inflation ab Mitte 1921 wieder anzog, rückte die Preisstellung in denMittelpunkt der Lieferbedingungen. Von Mitte 1921 bis Oktober 1922 waren für Lieferfristen vondrei bis vier Monaten freibleibende Preise üblich. Auch Vorauszahlungen kamen vor. Allerdings warderLieferant hinsichtlich seiner Preise nicht völlig frei. Zumeinen gewährten die Lieferanten formal feste Preise. Sie waren mit einem Lohn-, z.T. auch einem Materialvorbehalt versehen. Diese Preisvorbehalte durften den Gesamtpreis jedoch maximal um 5%, später um 10% erhöhen. Rund 1 ½Monate vor demLiefertermin gab der Lieferant meist eine Preisindikation unddemAbnehmer stand es frei, vonseinem Auftrag zurückzutreten. Mit Beginn der Hyperinflation umdie Jahresmitte 1922 verschlechterten sich diese Bedingungen. Auch langfristige Abschlüsse wurden nunmehr zuTagespreisen getätigt. Ab September 1922 gewährten die Lieferanten nurnoch für fünf Tage Ziel. Später verlängerte sich dieser Zeitraum zwischenzeitlich wieder, so dass derLieferantenkredit imDezember vielfach über eine Woche hinaus ging. Selbst im November undDezember 1922 wurden allerdings in aller Regel noch keine Geldentwertungsklauseln vereinbart. Am 12. Januar 1923 schlossen die beteiligten Verbände eine Vereinbarung. Danach wurde bei Zahlungsverzug zeitlich gestaffelt eine Entschädigung fällig. Ab diesem Zeitpunkt gab es auch Abschlüsse auf Basis des Dollarkurses. Insgesamt kamdie Vereinbarung den Einzelhändlern deutlich entgegen. Dennoch machten viele Fabrikanten weitere Zugeständnisse. Erst am 14. Juni 1923 beschloss der ‘Verband der Deutschen Schuh- undSchäftefabrikanten’, dass dieEinzelhändler nach einer Frist von acht Tagen ab derBestellung dasgesamte Risiko derGeldentwertung tragen sollten. Anfang Juli ging derVerband zurPreisstellung in Dollar über. Für die Umrechnung von Papiermark war der Zeitpunkt des Zahlungseingangs maßgeblich. Der Schuhgroßhandel gewährte im allgemeinen im Vergleich zu den Fabrikanten etwas günstigere Konditionen.114 Die Nachrichten über die Lieferbedingungen in den verschiedenen Sparten ergeben also ein vielschichtiges Bild. Dennoch ist eine grobe Periodenbildung möglich. Zunächst hat die Absatzkrise des Jahres 1920 Großhändler und Fabrikanten zuZugeständnissen veranlasst. Vor allem wares seit Frühjahr bzw. Mitte 1920 wieder üblich, Zahlungsziel zugeben. Zumindest dengrößeren Einzelhändlern gelang es zudem, Festpreise zu vereinbaren. (Das war allerdings nicht unbedingt vonVorteil, sanken die Preise doch zwischen Juni undSeptember 1920 und von Februar bis Mai 1921.) Kaum stiegen die Preise wieder, so verschlechterten sich auch die Bedingungen für denEinzelhandel ab derzweiten Hälfte desJahres 1921 wieder. Mit demInflationsschub imHerbst 1921 verlangten die Lieferanten sogar auf Festpreise nachträglich Aufschläge. Ab Mai 1922 forderten sie Vorauszahlungen undes wurden freibleibende Preise üblich. Mit Beginn derHyperinflation, also seit derJahresmitte 1922, verschärften sich auch die Lieferbedingungen
–allerdings
114 Vgl. ebenda, S. 31– 43.
Einzelhandel undKonsum
inZeiten derInflation
23 1920–
307
weiter. Ab Herbst 1922 bis Mitte 1923 waren die Fakturierung in Auslandswährung, Geldentwertungs- und scharfe Verzugsklauseln sowie die Verweigerung eines Ziels üblich. Danach forderten die Lieferanten dieZahlung in Devisen, Aufschläge in unbestimmter Höhe undstrikte Repartierungsklauseln. Sie wälzten damitdasRisiko derGeldentwertung fast vollständig aufdenEinzelhandel ab.Diese Entwicklung derLieferbedingungen kann allein für sich genommen die Erholung der Einzelhandelsmarge im ersten Halbjahr 1920 und ihren Einbruch nach der Jahresmitte 1921 bereits recht guterklären. Nurdie Entwicklung desJahres 1923 entzieht sich einer solchen Deutung. In diesem Jahr haben die Einzelhändler ganz offensichtlich das Risiko einer weiteren sprunghaften Geldentwertung immer mehr anihre eigenen Kunden weiter gereicht.
3.6. Vertikale Diversifikation Insgesamt gab es also starke Anreize für denEinzelhandel, sich auf vorgelagerte Produktions- und Handelsstufen auszudehnen. Dazu zählten die genannten Machtverhältnisse auf den Beschaffungsmärkten in Verbindung mit den unberechenbaren Fluktuationen derGroßhandelspreise sowie ein erleichterter Zugang zu Devisen. Bei dieser vertikalen Diversifikation hat manverschiedene Wege eingeschlagen. Großbetriebe wie vor allem Karstadt A.-G. kauften vorgelagerte Handels- undProduktionsstufen auf. Karstadt hat im Untersuchungszeitraum die Zahl seiner Groß- undEinzelhandelsbetriebe stark erhöht undgleichzeitig mindestens 19 industrielle Unternehmen der unterschiedlichsten Branchen gekauft: Bekleidung, Textil, Schuhe, Kosmetik, Glas und Papier.115 Gegen eine solche Ausdehnung sprachen allerdings bei den allermeisten Einzelhändlern Kapitalknappheit, Tradition oder mangelnde Erfahrung. Kleinere Einzelhändler kooperierten immer häufiger, um gemeinsam sichere, ergiebige undgünstige Einkaufsquellen zu erschließen. Damit konnte man zudem den Großhandel mit seiner zusätzlichen Handelsspanne umgehen.116 Eine solche Kooperation geschah meist in Form von Einkaufsgenossenschaften. Ihre Zahl verdreifachte sich von Ende 1918 bis 1923. Die bekannteste undgrößte unter Ihnen wardie seit 1907 bestehende ‘Einkaufsgenossenschaft Deutscher Kolonialwaren- und Lebensmittel-Einzelhändler’ (EDEKA). Sie nahm wie viele ihrer Konkurrenten in der Inflationszeit einen enormen Aufschwung, zumal sie lange Zeit als einzige Einkaufsgenossenschaft überhaupt noch Zucker liefern konnte. Auch die EDEKA diversifizierte in neue Geschäftsfelder wie das Bankgeschäft.117 Derartige Kooperationen konnten auch über Einzelhandelsverbände erfolgen. So wurde im Juli 1922 die ‘Südkauf Groß115 Vgl. Paul Ufermann: Könige derInflation, Verlag für Sozialwissenschaft, Berlin 1924, S. 56–
61.
116 Die Überlegungen waren also imPrinzip die gleichen wie die derso bekämpften Konsumvereine –nurdass esbeiihnen umdieHandelsmarge desEinzelhandels ging. 117 Vgl. o.V.: EDEKA (wie Anm. 82), S. 20.
308 einkaufs-Aktiengesellschaft
Hartmut Kiehling
bayerischer Lebensmittelhändler’ gegründet, nach-
dem der ‘Landesverband Bayerischer Lebensmittelhändler’ bereits früher die
‘Großeinkaufsgesellschaft Bayerischer Lebensmittelhändler’ ins Leben gerufen Die ‘Arbeitsgemeinschaft des Bayerischen Einzelhandels’ gründete Mitte 1921 die ‘Verbands-Giro-Gesellschaft m.b.H.’ Sie übernahm Steuerberatung, Buchhaltung und Bilanzierung für die Verbandsunternehmen, ja sogar Bankgeschäfte wie Annahme von Sicht- undTerminguthaben, den Einzug von In- und Auslandswechseln und-schecks undden Abrechnungs- undZahlungsverkehr im
hatte.118
Handel.119
4. Fazit Die Bestandsaufnahme ergibt ein differenziertes, für den mittelständischen Einzelhandel durchaus nicht negatives Bild. Zwar warseine Position gegenüber den Zulieferern relativ schlecht und sie verschlechterte sich im Laufe der Inflation noch. Andererseits wurde die Stellung der Konsumenten gegenüber demEinzelhandel allgemein undvor allem gegenüber demLebensmitteleinzelhandel immer schwächer. Insgesamt konnte der Lebensmittel-, aber auch der Bekleidungseinzelhandel daher seinen Rohgewinn relativ gut behaupten. Hilfreich war dabei auch dieKostenentlastung ananderer Stelle. Aus der ökonomischen Situation allein ist daher nicht nachzuvollziehen, warumdermittelständische Einzelhandel ausweislich vieler Äußerungen seiner Vertreter undseiner politischen Orientierungslosigkeit bereits in der Inflationszeit so unzufrieden war. Vielmehr bieten sich dafür andere Faktoren an wie die juristische undwirtschaftliche Unsicherheit sowie die Vorurteile, ja derHass, denen er sich von Teilen der Öffentlichkeit ausgesetzt sah. Diesen nachzugehen, würde jedoch denRahmen dieser Untersuchung sprengen.120
118 Vgl. Der Bayerische Einzelhandel (1922) 3, S. 466. 119 Vgl. Der Bayerische Einzelhandel (1921) 2, S. 354 u. 551f. 120 Vgl. beispielhaft Hans-Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Vierter Band (1914– 1949), München 2003, S. 302f.; Heinrich August Winkler (wie Anm. 1), S. 38ff.; Rembert Unterstell: Mittelstand in der Weimarer Republik: Die soziale Entwicklung und politische Orientierung von Handwerk, Kleinhandel und Hausbesitz 1919– 1933, (Europäische Hochschulschriften Reihe III Geschichte und ihre Hilfswissenschaften, Bd. 408), Frankfurt/M./Bern/New York/Paris 1989; Jens Flemming/Claus-Dieter Krohn/Peter-Christian Witt: Sozialverhalten und politische Reaktionen von Gruppen und Institutionen im Inflationsprozess. Anmerkungen zumForschungsstand, in: Otto Büsch/Gerald D. Feldman (Hg.): Historische Prozesse der deutschen Inflation 1914 bis 1924: Ein Tagungsbericht (Einzelveröffentlichungen derHistorischen Kommission zuBerlin, Bd. 21), Berlin 1978, S. 251f.
Einzelhandel
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Marcel Boldorf
Korreferat zu Hartmut Kiehling Einzelhandel „
23“ undKonsum in denZeiten derInflation 1920–
In denfolgenden Ausführungen sollen einige Aspekte zurGeschichte der Hyperinflation 1923 sowie ihrer Vorgeschichte behandelt werden. Wie grundlegende Standardwerke bereits in ihren Titeln hervorheben, reichen die Ursachen der Inflationskrise bis zumBeginn des Ersten Weltkriegs zurück.1 Schlaglichtartig sind wesentliche inhaltliche undmethodische Probleme deshier etwas enger gefassten Zeitabschnitts von 1920 bis 1923 zu beleuchten. Dabei folgt die Argumentation dervon Hartmut Kiehling vorgegebenen Dreiteilung in (a) Situation derVerbraucher, (b) Stellung desEinzelhandels gegenüber demVerbraucher, (c) Stellung des Einzelhandels gegenüber demGroßhandel. (a) Situation der Verbraucher Nach dem Weltkrieg ließ sich statistisch ein Reallohnanstieg feststellen. Dies galt jedoch nur für die Stundenlöhne. Da die Wochenarbeitszeit 1918 im StinnesLegien-Abkommen auf acht Stunden begrenzt worden war, lagen die realen Wo-
chenlöhne –diese werden für die Einkommenssituation derHaushalte sinnvollerweise zugrunde gelegt –unterhalb des Vorkriegsniveaus. Demwesentlichen Ergebnis bezüglich der Einkommensverhältnisse in den Nachkriegsjahren ist daher zuzustimmen: Es fand eine Nivellierung auf niedrigem Niveau statt. Dasbedeutete für ungelernte Arbeiter, dass sie mitunter trotz der verkürzten Arbeitszeit die Reallöhne von 1913 erreichen konnten. Qualifiziertere Arbeitskräfte, z.B. Facharbeiter undBeamte, verfügten über längere Zeitabschnitte nach 1920 aber nurüber die Hälfte ihrer früheren Realeinkommen. Ein markanter Reallohnverfall für Arbeiterhaushalte warerst seit derInflationskrise im Sommer 1922 zukonstatieren.2
1
2
Holtfrerich, Carl-Ludwig: Die deutsche Inflation 1914– 1923. Ursachen undFolgen in internationaler Perspektive, Berlin/New York 1980. Feldman, Gerald D.: The Great Disorder. Politics, Economics, andSociety intheGerman Inflation, 1914– 1924, Oxford 1993. Vgl. ebd., S. 228ff. Webb, Steven B.: Hyperinflation andStabilization in Weimar Germany.
New York/Oxford 1989, S. 78. Kiehling, Hartmut: Die Bevölkerung in der Hyperinflation 59, hier: S. 26– 29. 1922/23, in: Scripta Mercaturae 33 (1999/2), S. 1–
314
Marcel Boldorf
So überzeugend diese Befunde im Generellen sein mögen, birgt die Lohnstatististik bei einer genaueren Sichtweise doch erhebliche methodische Probleme. Zunächst einmal wardie Quellenbasis für die Erhebungen des Statischen ReichsReallohnvergleiche, die amtes teilweise sehr dünn unddisparat. Ferner verlieren „ auch in Zeiten stabiler Währung wegen derIndexziffernproblematik Schwachstellen aufweisen, [...] in Zeiten großer Geldwertveränderungen besonders stark an 3Die Berechnung eines realistischen Wertes für Genauigkeit in derAussagekraft.“ den Index setzt eine normale Verfügbarkeit der Waren voraus. Dies war aber kaum gegeben, da der Einzelhandel dazu tendierte, denVerkauf zu beschränken, z.B. indem Geschäfte zeitweise geschlossen blieben. Lange Warteschlangen deuteten eine Knappheit der Waren an. Insbesondere in derPhase derHyperinflation daßjedes Maß für denReallohn fiktiv wurde, weil es praktisch nur zeigte sich, „ wenige Stunden gültig war“ .4 In der Kürze der Zeit war es den Bürgern kaum möglich, ihr Geld auszugeben, weil ihnen dazu die Möglichkeiten fehlten. Insbesondere konnten die Verbraucher keine teuren Anschaffungen mehr machen, weil dasGeldbeim Ansparen seinen Wert so rasch verlor. Die Knappheit der Waren führte zu einer Veränderung der Konsumgewohnheiten. Manwich auf unmittelbar verfügbare Produkte aus, was meistenteils das Risiko vonQualitätseinbußen barg. Daher müsste sich die Zusammensetzung des für den Index der Lebenshaltungskosten relevanten Warenkorbs schnell geändert haben, wasjedoch statistisch nicht erfassbar ist. Legt manhingegen einen starren Konsum zugrunde, der sich auf ein physiologisches Existenzminimum bezieht,5 können die absoluten Ausgaben für den lebensnotwendigen Bedarf mit der Entwicklung der Nominallöhne kontrastiert werden.6 Der Verbrauch rückte dem Existenzminimum Schritt für Schritt näher. Dies potenzierte sich zu einer fehlendenKaufkraft derVerbraucher. Weitere Punkte wirkten sich negativ auf die Kaufkraft der Verbraucher aus. Durch die fortschreitende Inflation wurden Geldvermögen undSparguthaben entwertet.7 Besonders stark betraf dies zum Beispiel die Gruppe der Kleinrentner, d.h. Bürger, die während ihres Erwerbslebens Ersparnisse angelegt hatten, um ihren Lebensabend vonderKapitalrente zubestreiten. Sie erlebten einen sozialen Abstieg zu Empfängern öffentlicher Fürsorgeleistungen. Dasselbe galt für die 3
4 5
6
7
Holtfrerich: Deutsche Inflation (wie Anm. 1), S. 228 sowie S. 25 zu Schwächen der IndexbildungnachPaasche undLaspeyres.
Buchheim, Christoph: Währungsreformen in Deutschland im 20. Jahrhundert: ein Vergleich, 165, hier: S. 149. in: Vierteljahrschrift für Sozial- undWirtschaftsgeschichte 88 (2001), S. 145– Zur Problematik des Begriffs vgl. Leibfried, Stephan: Existenzminimum und FürsorgeRichtsätze in der Weimarer Republik, in: Sachße, Christoph/Tennstedt, Florian (Hg.): Jahr425. Im Idealfall sollte fürje523, hier: S. 422– buch der Sozialarbeit 4. Reinbek 1981, S. 469– denBürger ein „normaler Lebensstandard“garantiert werden, der eine angemessene Beteiligung andengesellschaftlichen Ressourcen bietet. Vgl. Holtfrerich: Deutsche Inflation (wie Anm. 1), S. 38ff. nach: Kuczynski, Robert: Postwar
Labor Conditions inGermany, Washington 1925. Kiehling: Bevölkerung inderHyperinflation (wie Anm.2), S. 17– 19.
Korreferat
zuHartmut Kiehling
315
Sozialrentner, d.h. Leistungsberechtigte der Invaliden- und Altersversicherung, deren Renten infolge der Geldentwertung häufig nicht mehr zumÜberleben ausreichten.8 Wachsende Kreise derBevölkerung waren zurVeräußerung von Sachwerten genötigt, dieaber meist nurbegrenzt zurVerfügung standen. Auch suchten viele Menschen, deren Lebensstandard gesunken war, nach einem Zusatzverdienst. Die Ausweitung der Zahl der Erwerbspersonen trug im Spätsommer 1923 zumraschen Anstieg derArbeitslosigkeit bei.
(b) Stellung desEinzelhandels gegenüber demVerbraucher Einerseits litt die Nachfrage unter dem beschriebenen Verlust von realer Kaufkraft, der sich unmittelbar auf die Absatzmöglichkeiten des Einzelhandels niederschlug. Andererseits waren die Konsumenten zu einem sofortigen Konsum angehalten, weil angesichts einer beschleunigten Inflationsentwicklung ständig ein weiterer Verlust derKaufkraft zubefürchten war. Auch dieallzeit drohenden Versorgungsengpässe drängten die Verbraucher zu einer raschen Ausgabe ihres Bargeldes. In dieser Situation war die Marktmacht der Verbraucher gegenüber den Einzelhändlern gering. Wenn sie sich an der Schwelle zum Existenzminimum befanden, waren sie auf den unmittelbaren Konsum angewiesen. Der Informationsvorsprung des Handels kambei derPreisfestsetzung stärker zumTragen; die Preistransparenz fürdieKonsumentenseite verschwand. Die ausderKriegszeit stammenden Verordnungen zurPreisüberwachung, wie z.B. die „Preiswucherverordnung“vom23. Juli 1915, wurden in der Friedenszeit beibehalten.9 Dem Trend zur Preisregulierung wirkte der Staat 1920 durch Freisetzung vieler vorher reglementierter Preise entgegen. Mitunter erließen die Gerichte auf der Basis der vorhandenen Gesetze, z.B. auch demim Mai 1918 erlassenen „ Verbot derPreistreiberei“ , Urteile gegen einzelne Preisfestsetzungen, doch war deren Durchsetzung in derRegel durch dasNetz staatlicher Preisprüfungsstellen auf unterer undmittlerer Verwaltungsebene kaum kontrollierbar. Im Gegensatz zu späteren Perioden der deutschen Geschichte, etwa den dreißiger Jahren oder der Nachkriegszeit nach 1945, verzichteten die Weimarer Regierungen auf denErlass eines Preisstopps, umdie inflationären Tendenzen einzudämmen. Dem Einzelhandel erlaubte diese wirtschaftspolitische Entscheidung eine relativ ungestörte Ausübung seiner Preisfestlegungskompetenz. In anderen Bereichen waren die Auswirkungen der Inflation auf den Einzelhandel ambivalent. Dies zeigte sich nicht allein bei derKalkulation derPreise und
8 9
Sachße, Christoph/Tennstedt, Florian: Geschichte der Armenfürsorge in Deutschland. Bd. 2: Fürsorge undWohlfahrtspflege 1871 bis 1929, Stuttgart u.a. 1988, S. 92. Holtfrerich: Deutsche Inflation (wie Anm. 1), S. 80. Feldman: Great Disorder (wie Anm. 1), S.
58f.
316
Marcel Boldorf
der Handelsspanne,10 sondern auch bei der Lagerhaltung der Produkte. Die von Hartmut Kiehling vorgelegten statistischen Reihen lassen aufeine Verkürzung der Lagerzyklen schließen. Hier näherte sich die Verfahrensweise des Einzelhandels dem Konsumverhalten der Endverbraucher an. Die Präferenz des Einzelhandels warjedoch in diesem Bereich nicht eindeutig: Einerseits bestand wegen derdrohenden Engpässe ein Interesse, Lagerhaltung zu betreiben; andererseits wardem Einzelhändler bei der Produktbestellung der tatsächliche Einkaufspreis mitunter nicht bekannt, weil der Großhandel als Lieferant über eine günstigere Position verfügte, wiein Abschnitt (3) zuerläutern ist. (c) Stellung des Einzelhandels gegenüber demGroßhandel Gegenüber seinen Lieferanten wardie Stellung des Einzelhandels eher schwach.11 Der Behördendruck bezüglich der Preisgestaltung beschränkte sich weitgehend auf denEinzelhandel. Die Großhändler vermochten ihre Interessen wirkungsvoll zuvertreten, indem sie sich zusammenschlossen. Eines derhervorstechenden monetären Probleme derInflation war, dass die Papiermark teilweise ihre Tauschmittelfunktion verlor, was der Einzelhandel in seiner Mittlerstellung zwischen Endverbrauchern undder Großwirtschaft besonders zu spüren bekam. Da die einheimische Umlaufwährung an Wert verlor, verlangte derGroßhandel imVerlauf der Inflation immer häufiger Bezahlung in Devisen. Der Einzelhandel konnte derPraxis der Abrechnung auf Devisenbasis kaum folgen, erzielte er seine Einnahmen doch fast ausschließlich in inländischer Währung. Zur Annahme der Papiermark war er gesetzlich verpflichtet. Der Großhandel konnte sein Anliegen dennoch durchsetzen, indem die Rechnungsbeträge an den Einzelhandel nach demKurs berechnet wurden, zu demdie Papiermark in Devisen eingetauscht werden konnte. Jedoch warauch diese Verfahrensweise nicht unproblematisch. DerDollarkurs schwankte täglich umbis zu zehn Prozent, auch regional gab es erhebliche Kursunterschiede.12 Die Abwicklung des Geschäfts dauerte so lange, dass die Dollarpreise längst wieder gestiegen waren, als die Bezahlung fällig war. Deshalb oktroyierte der Großhandel seinen Kunden die Annahme von Geldentwertungsklauseln auf, die ihm einen Ausgleich des durch die Inflation verursachten Wertaus-
falls garantierten.13 Als Reaktion auf diese strukturelle Unterlegenheit rückte der Einzelhandel näher zusammen. Größere Einzelhändler wie z.B. Karstadt kauften Betriebe in vorgelagerten Branchen auf. Kleinere Einzelhändler verstärkten die Zusammenar10 Kiehling, Hartmut: Die wirtschaftliche Situation des deutschen Einzelhandels in denJahren 1920 bis 1923. Das Beispiel des Lebensmittel- undBekleidungseinzelhandels, in: Zeitschrift 14. 27, hier: S. 2– fürUnternehmensgeschichte 41 (1996), S. 1– 11 Ebd. S. 19. 12 Kiehling: Bevölkerung inderHyperinflation (wie Anm.2), S. 5– 9. 13 Vgl. auch: Buchheim: Währungsreformen (wie Anm.4), S. 148.
Korreferat
zuHartmut Kiehling
317
beit in bestehenden Einkaufsgenossenschaften, z.B. erlebte die 1907 gegründete Einkaufszentrale der Kolonialwarenhändler (EDEKA) einen Aufschwung. Auch die Einzelhandelsverbände, z.B. Südkauf, gingen gestärkt aus der Krisenzeit hervor. Mankann das Fazit ziehen, dass der Einzelhandel –entgegen seiner Selbst-
wahrnehmung –keineswegs als Verlierer aus der Inflationszeit herausging. Die mentalitätsgeschichtliche Schlussfolgerung, dass die Einzelhändler ein zu pessimistisches Bild ihrer Situation entwarfen, gewinnt an Gewicht, wenn man ihr Wahlverhalten nach 1930 betrachtet. In jenen entscheidenden Krisenjahren der Weimarer Republik wandte sich die traditionell konservative und staatstragende Berufsgruppe verstärkt derNSDAP zu.14
14 Kiehling: Wirtschaftliche Situation des deutschen Einzelhandels (wie Anm. 10), S. 24.
Harm G. Schröter
Zur Geschichte der Marktforschung in Europa im 20. Jahrhundert 1. Definition undBedeutung derMarktforschung
sowie unsere Fragestellung1
In einem derersten umfassenden Lehrbücher über Marktforschung definierte der Amerikaner Lyndon O. Brown schon 1937: M arketing and distribution research is the use of scientific method in the solution“ of marketing or distribution problems for the purpose of increasing sales, decreasing marketing and distribution 2 Moderne, europäische Definitionen fallen nur costs, and maximizing profits.” graduell anders aus; sie betonen stärker die Einbindung derMarktforschung in das Marketing undzugleich weniger das Endziel unternehmerischen Handelns, den Gewinn. Bei der Perspektive, der unternehmensbezogenen Lösung von Problemen, ist esjedoch geblieben.3 Trotzdem hat sich viel verändert, vor allem wasdas Verständnis von Marktforschung, ihre wirtschaftliche Bedeutung, ihr methodisches Instrumentarium undnicht zuletzt ihre Organisation angeht. Diese Veränderungen, woher sie kamen, wann undwie sie sich ausbreiteten, sollen im Mittelpunkt dieses Beitrags stehen. Wie die Werbung wies auch die Marktforschung seit demZweiten Weltkrieg ein ununterbrochenes Wachstum auf, welches weit höher als dasallgemeine Wirtschaftswachstum lag. Allein zwischen 1993 und2001 wuchs der Weltmarkt für unternehmensexterne Marktforschung um 255 % auf ca. 35 Mrd. DM, und der europäische um 238 % auf ca. 14 Mrd. DM.4 Während der 1990er Jahre stellte Europa den größten Markt dar, dicht gefolgt von den USA (jeweils etwas über bzw. unter 40 %). Auf Japan entfiel zu Anfang der 1990er Jahre die Hälfte, zum 1 Ich danke allen, diemirmitHinweisen fürdiesen
2 3
Beitrag behilflich waren, insbes. denDiskutanten derGreifswalder Tagung derGesellschaft für Sozial- undWirtschaftsgeschichte. Lyndon O. Brown: Marketing andDistribution Research, NewYork 1937, S. 5.
Vgl. z. B. Gablers Wirtschaftslexikon, Wiesbaden 1988, Bd. 4, 12. Auflage, S. 279ff., 291ff., oder Robin J. Birn, (Hg.): The Handbook of International Market Research Techniques, London 2000, 2. Auflage. Vgl. zur Entwicklung der verschiedenen Definitionen das Kapitel
Marktforschung in deutschen Lexika 1932– 1982, in: Clodwig Kapferer: Zur Geschichte der deutschen Marktforschung. Aufzeichnungen eines Mannes, der dabei war, Hamburg 1994, S.
40. 25– 4 Vgl. auch für die weiteren
Zahlen: Auskunft des ADM (Arbeitskreis Deutscher Markt- und Sozialforschungsinstitute), 10.1.2003. DieZahlen basieren aufErhebungen derESOMAR.
320
Harm G. Schröter
Ende nurnoch ein Viertel der restlichen 20 %. Das bedeutet, dass auch noch in den 1990er Jahren in denUSAproEinwohner für Marktforschung doppelt so viel ausgegeben wurde wie in Europa undviermal so viel wie in Japan. Bis heute findet Marktforschung hauptsächlich in der Triade der Weltwirtschaft statt. Das Phänomen einer starken Konzentration auf große Regionen lässt sich auch innerhalb Europas ablesen. Hier entfielen in den 1990er Jahren auf Großbritannien und Deutschland jeweils knapp ein Viertel, auf Frankreich etwas weniger als 20 %, aufItalien, Spanien unddieNiederlande jeweils ca. 5 %, während sich dieübrigen Länder den Rest teilten. Pro Kopf lag damit das Vereinigte Königreich gefolgt von Deutschland an der Spitze, während Frankreich, Italien unddie Niederlande pro Kopf nur halb so viel Marktforschung wie Großbritannien betrieben. Insgesamt hat sich diese Verteilung seit den 1950er Jahren wenig verändert. Die deutschen Unternehmen erzielten 2000 rund die Hälfte ihres Umsatzes im Ausland. Weltweit blieben die Auftraggeber der entsprechenden Untersuchungen in ihrer Branchenverteilung seit demZweiten Weltkrieg ziemlich konstant. Die Konsumgüterindustrie fragte immer mehr als 50 % nach, gefolgt vonMedien undVerlagenmit ca. 10%. Im folgenden Text werden verschiedene Unternehmen erwähnt. Umeine Größenordnung zuvermitteln, seien hier die Beschäftigtenzahlen fürdas Jahr 2001 genannt: ACNielsen: 21.000 (weltweit Nr. 1), GfK: 4.750 (Nr. 7), Ipsos: 3.362, Gallup 2.500, Arbitron: 750.5 Marktforschung ist kein natürliches Erfordernis der industriellen Produktionsweise, sondern ein Instrument, das eng mit Massenproduktion und Massenkonsum zusammenhängt. Marktforschung geht also über die mehr oder weniger zufällige Sammlung von Informationen, wie sie Kaufleute und Produzenten zu allen Zeiten betrieben haben, hinaus. Massenproduktion undMassenkonsum traten zuerst in denUSAauf, sodass die Unternehmen dieses Landes hier einen gewissen Vorsprung entwickeln konnten. Ein solcher Vorsprung ist auch für die Gebiete der Werbung und des Marketing für große Teile des 20. Jahrhunderts nachgewiesen worden.6 Hieraus ergibt sich die Hypothese, dass es sich bei der Marktforschung ebenfalls umeinen ähnlich umfassenden Fall von Amerikanisierung7 in der europäischen Wirtschaft handelt. Diese Hypothese wurde in der
5 Am17.1.2003 denjeweiligen Home-Pages derFirmen entnommen. 6 Hans Günther Meissner: Geschichte des Marketing, in: Bruno Tietz/Richard Köhler/Joachim Zentes (Hg.): Handwörterbuch des Marketing, Stuttgart 1995, S. 785– 797; Dirk Reinhardt: Von der Reklame zumMarketing. Geschichte der Wirtschaftswerbung in Deutschland, Akademie Verlag 1993; Harm G. Schröter: Erfolgsfaktor Marketing: Der Strukturwandel vonder Reklame zur Unternehmenssteuerung, in: Wilfried Feldenkirchen/Frauke Schönert-
7
Röhlk/Günter Schulz (Hg.): Wirtschaft, Gesellschaft, Unternehmen, Festschrift für Hans Pohl zum60. Geburtstag, Bd. 2, Stuttgart 1995, S. 1099– 1127; Harm G. Schröter: Die Amerikanisierung der Werbung in der Bundesrepublik Deutschland, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte, 1997, H. 1, S.93– 115. Als Amerikanisierung bezeichnen wir einen Wertetransfer aus denUSA, derunter Selektion und Adaption durch die übernehmende Seite stattfindet. (Vgl. Harm G. Schröter: What is Americanisation? Or About the Use andAbuse of the Americanisation-Concept in: DominiqueBarjot/Isabelle Lescent-Giles/Marc deFerrière le Vayer (Hg.): Américanisation enEurope
321
ZurGeschichte derMarktforschung in Europa im20. Jahrhundert
Boomphase vom zeitgenössischen amerikanischen Selbstverständnis unterstrichen: M arketing anddistribution research is a peculiar American institution. It “ first in this country as a result of the intense pressure created by our developed 8 economic growth.”
2. Marktforschung bis 1945
In der Tat war die amerikanische Marktforschung organisatorisch, methodisch, finanziell und in ihrem Umfang allen anderen überlegen. Ein Beispiel mag die Untersuchung für die General Electric Company sein, die 1944, also noch während des Krieges, denAbsatz für 1947 minutiös plante (Anzahl der Kühlschränke, Heizdecken, Ventilatoren ...). Die mit erheblichem Aufwand erstellte Vorhersage erwies sich dann auch zu 85 % als zutreffend.9 Ihren spektakulären Triumph erlebte die Markt- undMeinungsforschung jedoch schon 1936, als George H. Gallup auf der Basis einer kleinen, aber repräsentativen Stichprobe die Wahl des amerikanischen Präsidenten gegen das Votum von Massenumfragen richtig vorhersagte. Zwei Jahre später gründete er mit C.E. Robinson das American Institute of Public Opinion (AIPO), welches eine bestimmte Stichprobenforschung amMarkt so durchsetzte, dass sie seitdem als „Gallup-Poll“bezeichnet wird. Schon 1937 gründete das AIPO Tochterunternehmen in Australien, Frankreich, Großbritannien, Kanada und Schweden. Es war ein Charakteristikum, dass in den USA Marktforschung und die sich stark auf politische Bewertungen konzentrierende Meinungsforschung parallel entwickelt und häufig von denselben Institutionen angeboten wurden. In Europa fehlte die Meinungsforschung fast völlig, hier herrschte ein unternehmensbezogenes Denken auf der Mikroebene vor, während dieMakroebene bis 1945 relativ unberücksichtigt blieb. In den 1950er Jahren erschien der amerikanische Vorsprung so groß, dass Wilhelm Vershofen sich bemüßigt sah, darauf hinzuweisen, die deutsche Marktforschung sei “ kein amerikanischer Abklatsch”10.Tatsächlich wareines derersten Werke, in welchem das Thema angeschnitten wurde, schon 1910 in Österreich erschienen.11 Vershofen hatte 1925 in Nürnberg das Institut für Wirtschaftsbeobachtung der deutschen Fertigware gegründet, welches 1934 von ihm zusammen mit Ludwig Erhard und Erich Schäfer in die Gesellschaft für Konsumforschung (GfK) überführt wurde. Mit ihrem Vorläufer ist die GfK die älteste Marktforau XXe Siècle: 8
Économie, Culture, Politique. Americanisation nomic, Culture, Politics, Lille 2002, S. 41– 57). Brown, (1955), S. 14.
9 C. Russell
in 20thCentury
Europe: Eco-
Holley: HowStraight CanWe Shoot in Long-Range Sales Forecasting? Management, July 1, 1948, S. 94– 100. 10 Wilhelm Vershofen: Marktforschung in Deutschland heute, in: FAZ, 30.1.1954. 11 Viktor Mataja: Die Reklame, Wien 1910.
in: Sales
322
HarmG. Schröter
schungsinstitution in Europa.12 In Hamburg hatte indessen Clodwig Kapferer 1929 die Untersuchungsstätte für Auslands-Marktforschung gegründet. Ähnliche Initiativen entstanden in der Schweiz undvor allem in Großbritannien. Eigenständige Marktforschungsunternehmen waren in Schweden 1932, in Frankreich 1939 und in denNiederlanden 1940 gegründet worden. Parallel zudenspeziellen undsehr kleinen Unternehmen zur Marktforschung schufen einzelne große Firmen in den 1920er Jahren entsprechende unternehmensinterne Abteilungen. In Deutschland warvon ihnen die berühmte Abteilung
NW7 derIG Farben die größte, jedoch konnten die Büros derRoyal Dutch Shell underst recht die der Standard Oil sich mitNW7 durchaus messen. Ähnlich wie im Werbesektor kooperierten derartige Abteilungen häufig mit freien Unternehmen. Es wardeshalb kein Zufall, dass IG Farben-Vorstandsmitglied Wilhelm R. Mann die Gründung derNürnberger GfK ideell unddurch Aufträge derIG Farben materiell unterstützte undihr erster Präsident wurde. In derSchweiz, wosich noch
kein Marktforschungsunternehmen gebildet hatte, war das Interesse von großen Firmen an institutionell unabhängiger Marktforschung so groß, dass eine Reihe vonUnternehmen undstaatlichen Institutionen 1941 gemeinsam die Gesellschaft für Marktforschung gründete. Im Folgenden sollen jedoch die unternehmensinternen Abteilungen ausgeblendet bleiben; wir wollen uns in dieser Untersuchung weiterhin aufselbstständige Organisationen derMarktforschung konzentrieren. Trotz dergenannten Initiativen in Europa dominierten die USA eindeutig das Feld. In seiner Geschichte der ESOMAR (European Society for Opinion Surveys and Market Research), der europäischen Organisation der Marktforschungsinstitute, schreibt John Downham: “ The original stimulus for much of the commercial research before 1939 came from international advertising agencies and their American clients, exporting the newideas of marketing from the USA where re13Zudem wurde die search had started to develop even before World War 1.” kommerzielle Marktforschung in Europa während des Krieges fast völlig eingestellt.
3. DerEinfluss derUSAin Europa nach 1945 Bis Ende der 1950er Jahre wurde der Vorsprung derUSA in Europa z. T. als so groß eingeschätzt, dass derbloße Hinweis, in Amerika verfahre manin dieser und keiner anderen Weise, eine inhaltliche Argumentation überflüssig machte.14 Die 12 European Productivity Agency (EPA) (Hg.): Market Research Methods in Europe, Project No. 261, o.O., o.J. (Paris 1956, Alleinautor: Clodwig Kapferer), S. 59. 13 John Downham: ESOMAR, a Continuing Record of Success, o.O., o.J. (Amsterdam 1998), S.
14
11. Auch dieWerbeagentur waranfangs eine typisch amerikanische Institution (vgl. Schröter, Amerikanisierung derWerbung). ...which wefeel even morejustified in doing as theboundaries are fluent “ also.”(EPA, Market Research in Europe, S. 14).
intheUnited States
ZurGeschichte derMarktforschung inEuropa im20. Jahrhundert
323
gesamte Literatur zudiesem Thema warin denUSAentstanden.15 Zugleich unterschätzten die in Europa Beteiligten selbst noch in den 1950er Jahren ihr Wachstumspotenzial völlig: “ Fürdiejüngere Generation derMarktforscher wieauch der Betriebswirte allgemein ist es heute kaum vorstellbar, wie dürr anfangs der 20er Jahre das Feld der Marktforschung war, die dann, besonders nach demZweiten Weltkrieg, in eine ungeahnt gewichtige Rolle hineingewachsen ist, in wissen16Europa waralso für einen –selektiven – schaftlicher wie praktischer Hinsicht.” Transfer aus denUSA qualitativ undquantitativ aufgeschlossen. Diese Transfers erfolgten auf verschiedenen Ebenen, anfangs meist mitdemMarshallplan undden Instrumenten der Productivity Mission verknüpft, d.h. in der BRD mit dem RKW.17 Im speziellen Falle von Westdeutschland und Österreich trat eine weitere Ebene noch hinzu: Hier organisierten die USA, lange bevor Marshallplan und Productivity Mission einsetzten, richtige Starthilfe. Die amerikanischen undbritischen Besatzungsbehörden erforschten systematisch die Stimmungslage der Bevölkerung. Hierfür gründeten die US-Behörden in der BRD die Opinion Survey Section undin Österreich die United States Information Agency. Beide Institutionen betrieben sie überwiegend mit einheimischem Personal. Darüber hinaus schickten sie verschiedene Personen zurAusbildung in die USA, in einigen Fällen sogar Außenstehende.18 In Österreich ermunterten sie Siegfried Becker, welcher zumLeiter derAgency aufgestiegen war, 1949 das Österreichische Gallup-Institut zu gründen. In der Entwicklung der Meinungsforschung konnte die Deutsche Bundesrepublik undÖsterreich erheblich vonderBesatzung profitieren. Der bedeutendste Vorsprung lag natürlich in der Existenz des Marktes in den USA. Hier gab es anerkannte Firmen, die Marktusancen waren definiert, die Erwartungen derMarktteilnehmer in ihrem Profil festgelegt, ausgebildetes Personal war ebenso vorhanden wie Kapital undKnow-how undauch Kredite waren für Marktforschungsunternehmen erhältlich. Alle diese Dinge fehlten in Europa weitgehend. Einen weiteren, deutlichen Vorsprung besaßen die USA imEinsatz vonTechnik. Schon vor demKrieg waren Zähl- und Sortiermaschinen von IBM auch in Europa zumZuge gekommen, nach 1945 kamdie Zeit dergroßen Lochkartensysteme, welche ebenfalls meistens IBM-Fabrikate darstellten. Diese für den USMarkt entwickelten Apparate waren natürlich nicht nurein Ausdruck derÜberle-
15 American Marketing Society, The Technique of Marketing Research, NewYork, jährlich seit 1937; Henry Schultz: TheTheory andMeasurement of Demand, Chicago 1938; etc. 16 Kapferer, S. 153. 17 Das RKW gab verschiedene Schriften hierzu heraus, u.a. Absatzwirtschaft. Betriebsführung aufneuen Wegen, München 1955; Marktforschung aufeuropäischer Ebene, Berlin 1962, etc. 18 Z. B. durfte Karl-Georg vonStackelberg auf Kosten derUS-Behörden zurWeiterbildung nach Amerika reisen. VonStackelberg hatte schon 1945 in Bielefeld dasEmnid-Institut fürMarktundMeinungsforschung gegründet. Emnid wurde bald der deutsche Kooperationspartner im Gallup-Poll. (Kapferer, Geschichte, S. 20f, 104f.).
324
HarmG. Schröter
genheit der amerikanischen Bürotechnik, sie waren vor allem Artefakte, die den US-Vorsprung auf demGebiet mathematisch-statistischer Methoden repräsentierten. Dieses Gebiet hatte sich in den 1940er Jahren in den USA besonders stürmisch entwickelt.19 Ein anderes Beispiel ist Operations Research (OR), welches in denUSA in den 1950er Jahren in die Wirtschaft übernommen wurde. Ursprünglich war es während des Krieges als Planungsinstrument für militärische Entscheidungen in denUSAundEngland entwickelt worden, undfand insbesondere, nachdem George Bernard Dantzig die Simplex-Methode entwickelt hatte, Eingang auch in dieunternehmerische Planung. Es geht bei OR imersten Schritt darum,ein möglichst gutes mathematisches Modell des Untersuchungsgegenstandes mit vielen Variablen, wie Kaufkraft, Altersaufbau der Bevölkerung, Marktsättigung mit vergleichbaren Produkten, Zinssätze für Konsumentenkredite, usw. zu erstellen. Anschließend benutzt manVariable wie Stellschrauben: durch ihre gezielte Veränderung wird dasModell unterschiedlichen Szenarien unterworfen, um so die optimale Verhaltensweise eines zukünftigen Akteurs, also des Unternehmens, welches denForschungsauftrag gab, zubestimmen. 1959 diskutierten Repräsentanten europäischer Institute diese neue Methode, dersie eine große Zukunft einräumten. Derweil jedoch sahen sie noch keine Einsatzmöglichkeiten, denn, so schloss derentsprechende Absatz: “ Admittedly, anelectronic computer will often be needed for this work.”20Für die noch im Aufbau befindlichen europäischen Institute war ein Computer unerschwinglich. Es war also die Kombination von wissenschaftlichen Methoden unddie Verfügbarkeit über entsprechende Büro-, in diesem Falle Rechentechnik, diedenVorsprung derAmerikaner in derBoomphase auszeichnete. Doch wurden auch viele Methoden, die nicht antechnische Voraussetzungen gebunden waren, erst in denUSAentwickelt undverbreitet, bevor sie in Europa zumEinsatz kamen. Hierzu gehört das sog. Consumer Panel. Ein Panel ist eine Befragung, die regelmäßig bei denselben Informanten neu erhoben wird undauf diese Weise eine spezielle Dynamik im Zeitverlauf dokumentiert. Infolge ihrer Wiederholungen sind Panels relativ aufwändig undnurvonUnternehmen ab einer gewissen Größenordnung durchzuführen. Gleichzeitig erwirbt das Forschungsunternehmen durch Panels eine enorme Informationstiefe, die als Wettbewerbsvorteil eingesetzt werden kann. DerAmerikaner Arthur Charles Nielsen startete 1933 das erste Panel im Sektor Drogerien undLebensmitteleinzelhandel, zehn Jahre nachdem er sein Marktforschungsunternehmen gegründet hatte. Die Firma ACNielsen begann Mitte der 1950er Jahre die Panelforschung auch in Europa im selben Sektor.21 Auf diesem Gebiet ist das Unternehmen noch heute weltweit führend. Die Panelmethode wurde in Europa bald übernommen. Die britische Firma 19 Robert Ferber: Statistical Techniques in Market Research, NewYork 1949, S. XIII.
20
Clodwig Kapferer: Methods of Market Research on a European Scale, in: EPA(ed.), Market Research on a European Scale, Paris Conference, 29thJune –1stJuly 1959, Project No. 5/39, 34, S. 30. o.O., o.J. (Paris 1960), S. 25–
21Kapferer, Geschichte, S. 51
ZurGeschichte derMarktforschung in Europa im20. Jahrhundert
325
Attwood Statistics gründete ihr Attwood Random Panel 1945 unddehnte es auf der Basis eigener Tochterunternehmen auf die meisten Länder in Europa aus. Ebenso begannen die französische Stafco unddie deutsche GfK mit ihren Panels Mitte der 1950er Jahre. FürUS-Institute, die Markt- undMeinungsforschung meist parallel betrieben, lag es nahe, den Marktteilnehmer nach seiner Bewertung von Vorgängen (z.B. Politik) undDingen (z.B. Produkten) zu befragen. Aufgrund dieser Haltung war es leicht eine neue Richtung innerhalb der Marktforschung, die Motivationsforschung, zu integrieren. Die Motivationsforschung verneinte die These, dass die Nachfrage eine direkte Funktion des Einkommens sei. Sie stellte der Potenz, also der Kauffähigkeit, den Effekt, also den Kaufwunsch, entgegen. Die Motivationsforschung lenkte denFokus der Marktforschung von den Gruppen hin zumIndividuum, das Instrumentarium vom sog. Nasenzählen (“ nose-count” ) zur Psychologie. Der wichtigste Schöpfer dieser Richtung Ernest Dichter erklärte: “ Wir kümmern uns umdas Problem, welches dem durchschnittlichen Amerikaner erlaubt sich moralisch zurechtfertigen, auch wenn er zweimal imJahr Urlaub macht oder einen Zweit- oder Drittwagen kauft. Es ist ein Grundproblem des Wohlstandes herauszustellen, dass derhedonistische Lebensstil moralisch undnicht unmo22NunwarderDrittwagen weder eine moralische noch überhaupt eine ralisch ist.” Frage in Europa, wohl aber die Haltung zumMassenkonsum. Individualität und Massenkonsum sahen viele Europäer als Gegensätze.23 So wie es beispielhaft für Italien nachgewiesen ist, konnte Motivationsforschung –vor dem Hintergrund
steigender Kaufkraft –helfen, diesen Gegensatz abzubauen.24 DerTransfer dieser neuen Forschungsrichtung in europäische Institute dauerte ca. ein Jahrzehnt.25 Noch 1970 fühlte Max Adler, der in den 1930er Jahren nach England emigriert war, die Notwendigkeit, die Motivationsforschung zu verteidigenundgleichzeitig als deneigentlichen Kern derForschung darzustellen: “Motivational research is now(sic! –H.G.S.) an accepted technique to discover the real answers to the question –Why? Conventional market research is statistic-based. Motivational research is not, but the fact does not detract from its usefulness as 26 background information.” In den 1950er Jahren ergab sich deramerikanische Einfluss nicht nurauswissenschaftlichen, methodologischen undinstrumentellen Vorzügen, er machte sich
22 Dichter, zit. nach: Adam Arvidsson: The Discovery of Subjectivity: Motivation Research in 1968, in: Luisa Passerini (Hg.): Across the Atlantic. Cultural Exchanges between Italy, 1958– Europe andtheUnited States, Brussel 2000, S. 279– 294, S. 281. 23 Rolf Dahrendorf: Die angewandte Aufklärung, Gesellschaft undSoziologie in Amerika, München 1963, S. 220. 1968. 24 Arvidsson, Motivation Research in Italy, 1958– 25 George Katona hatte sein entscheidendes Buch 1951 veröffentlicht (Psychological Analysis of Economic Behaviour, NewYork 1951). DerDurchbruch in Europa ist mit seinen Vortragsreiseninverschiedenen europäischen Ländern in den 1960er Jahren markiert. DasBuch erschien 1960 auch aufDeutsch. 26 MaxK. Adler (Hg.): Leading Cases in Market Research, London 1971, Einleitung, S. VIIf.
326
HarmG. Schröter
gleichzeitig sehr handfest sowohl auf der Angebots- als auch auf der Nachfrageseite fest. Eine Reihe vonUS-Firmen investierte in Europa; Ende der 1950er Jahre konnten folgende Tochterfirmen nachgewiesen werden:27 ACNielsen betrieb unter eigenem Namen Zweigstellen in Belgien, Frankreich, Großbritannien, Irland, den Niederlanden, Schweden, der Schweiz und in Westdeutschland. Nowland and Company hatte Büros in Brüssel, Paris und Düsseldorf eröffnet. Ernest Dichter, der sein Institute for Motivational Research 1946 in NewYork gegründet hatte, errichtete schon zwei Jahre später einDichter-Institut in Zürich und1971 eines in Frankfurt. Die Firmen McCann-Erickson, J. Walter Thompson, Young andRubican waren ebenfalls in mehreren europäischen Städten vertreten. Andere USInstitute sparten Kapital und initiierten Kooperationen, die aber ganz auf USMethoden und US-Prinzipien aufbauten. Dies galt insbesondere im Sektor der Meinungsforschung. 1959 existierten folgende Netzwerke: Das Gallup-Institut hatte Associate Members of the Gallup-Poll über ganz Westeuropa mit Ausnahme von Portugal undSpanien ausgedehnt. Die NewYorker Marktforschungsgruppe INRA warin denselben Staaten undzusätzlich in Spanien vertreten. Gleichzeitig repräsentierte das US-Kapital auch die wichtigsten Kunden der Marktforschung: A characteristic phenomenon is the fact that companies with American capital “ interests rank prominently among the users of market research organisations. Through their American origin, these companies are familiar with the application of analytical methods for opening upnewmarkets. Moreover, they are instructed 28 accordingly by their parent companies.” Ein weiterer Weg des Transfers waren einzelne Experten, die nach Europa kamen und sich insbesondere in Großbritannien niederließen.29 Zu ihnen zählte Elizabeth Nelson, die 1965 Taylor Nelson gründete, heute die viertgrößte Marktforschungsfirma derWelt; Bob Worcester, derGründer derMORI; Judie Lannon, bei J. Walter Thompson tätig, undBill Schlackman als Trainer. Aus amerikanischer Perspektive warEuropa in den 1950er Jahren auf demGebiet der Marktforschung eine Ansammlung von Entwicklungsländern. “ In its early days some limited applications (of market research –H.G.S.) were made in England, but the science was scarcely known throughout the rest of the world. However, in recent years there hasbeen a growing interest in the subject, particularly in England, the Scandinavian countries and Germany. Today the movement is rapidly spreading to other parts of the world.”30
27 Vgl. auch imfolgenden: Clodwig Kapferer: European Co-operation in the Field of Market and Business Cycle Research, in: EPA(Hg.): Market Research ona European Scale, Paris Conference, 29thJune –1stJuly 1959, Project No. 5/39, o.O., o.J. (Paris 1960), S. 89– 110., Kapferer, Geschichte, S. 85. DieÜbersicht ist mitSicherheit unvollständig. 28 EPA, Market Research inEurope, S. 68. 2000, in: Matthias 29 James Obelkevich: Americanisation in British Consumer Markets, 1950– Kipping/Nick Tiratsoo (Hg.): Americanisation in the 20th Century Europe: Business, Culture, 74. Politics, CRHEN-O, Lille 2002, S. 61– 30 Brown, S. 14.
ZurGeschichte derMarktforschung in Europa im20. Jahrhundert
327
DieUSAbesaßen also aufdemGebiet derMarktforschung einen großen Vor-
sprung, dadurch wirkten ihre Verhaltensweisen undWertemuster auf diesem Gebiet sehr anziehend. Eine solche anerkannte Attraktivität ist der Motor jeden Transfers, in diesem Fall derAmerikanisierung. Bevor wirjedoch die Frage einer Amerikanisierung dereuropäischen Marktforschung beantworten, soll die Gegenseite, dieEntwicklung dereuropäischen Institutionen, untersucht werden.
4. Die Entwicklung dereuropäischen
Institutionen nach 1945
Eine Reihe von Firmen undForschungseinrichtungen hatte sich in Europa schon vor dem Zweiten Weltkrieg etabliert. Sie bildeten in mehrfacher Hinsicht die Kristallisationskerne derspäteren Entwicklung. Leitendes Personal gründete frühzeitig die europäische Organisation ESOMAR sowie nationale Institutionen, die ihrerseits auf denAufbau vonMarktforschungsunternehmen stimulierend wirkten. Schon im Januar 1947 hatte der Direktor des L’Institut Français d’Opinion Publique Alfred Max Repräsentanten verschiedener Länder in Paris versammelt, die sich vornahmen, einen europäischen Verband zu gründen. Die European Society for Opinion Survey andMarket Research (ESOMAR) wurde im September 1948 in Amsterdam von29 Personen, die sieben Länder vertraten, aus derTaufe gehoben.31 ESOMAR sollte bewusst die Marktforschung –im Gegensatz zur Meinungsforschung –in denVordergrund stellen undeine Vertretung vonFachleuten –im Gegensatz zu Institutionen –sein. Es ist überraschend, welche Dynamik der Verband trotz dieser doppelten Einschränkung entwickeln konnte. Er hat sich im Laufe der Zeit zu einem der weltweit wichtigsten Foren der Marktforschung und zugleich weit über Europa hinaus entwickelt. Erst 1992 fand manes nötig, einen Verband der europäischen Marktforschungsinstitute zu gründen. Die Aufgabe der ESOMAR bestand vor allem darin, denMeinungs- undErfahrungsaustausch zwischen ihren Mitgliedern zufördern undorganisatorische undideelle Hilfeleistungen anzubieten. Gleichzeitig wurde aber auch die völkerverbindende Seite hervorgehoben. Auf der dritten Jahrestagung 1950 in Rapallo ludder amtierende Präsident, derItaliener Prof. P. L. Fegiz, erstmalig auch wieder Deutsche ein. In deneuropäischen Ländern waren zu dieser Zeit Stand undAktivitäten der Marktforschung sehr unterschiedlich. In den sozialistischen Staaten gab es keine korrespondierende Forschung, wobei zwei Ereignisse nicht verschwiegen werden sollen. Zwar existierte 1947 in derTschechoslowakei ein entsprechendes Institut, dessen Vertreter in Paris die Gründungstagung für 1948 nach Prag einlud; seine Initiative wurde jedoch infolge des Prager Coups im Februar 1948 zunichte gemacht. Und 1968 fand die Jahrestagung in Belgrad sogar unter der Schirmherrschaft vonTito statt. Außerhalb dersozialistischen Länder existierte überall private Marktforschung, aber in jeweils sehr unterschiedlichem Umfang. Die Anzahl der Marktforschungsinstitute betrug 1956 (1957) in Belgien: 4 (7), BRD: 8 (17),
31 ESOMAR, S. 15– 24.
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Dänemark: 3 (6), Finnland: 2 (2), Frankreich: 8 (13), Großbritannien: 13 (14), Italien: 2 (2), Niederlande: 4 (7), Norwegen: 2 (3), Schweden: 5 (5), Schweiz: 3 (5), Spanien (1), Portugal (2), Griechenland (2).32 Die unterschiedliche Durchdringung lässt sich auch andenGründungsdaten nationaler Gesellschaften derMarktforscher bzw. -unternehmen ablesen. Noch 1956 gab es nur in Großbritannien (gegründet 1947), Deutschland (1949), Frankreich (1950 und1955) undin Italien (1954) solche Vereinigungen, während mansich in Schweden noch mitinformellen Treffen begnügte.33 Unter diesen Umständen ist es nachvollziehbar, dass in den 1950er Jahren Großbritannien, Frankreich undDeutschland bei weitem die größte Anzahl von Mitgliedern der ESOMAR stellten. Erst seit den 1960er Jahren hat sich eine breitere räumliche Differenzierung herausgebildet. Viele Jahre hindurch tagte die ESOMAR zusammen mit ihrer Parallelorganisation für Meinungsforschung, der WAPOR.34 Die WAPOR warkurz vor der ESOMAR in denUSA gegründet worden, die ESOMAR wardurchaus auch als eine europäische Antwort hierauf konzipiert worden. Das französische Gründungsmitglied Hélène Riffault brachte alle wichtigen Elemente für das Projekt ESOMAR auf einen Nenner: den Wunsch nach Erfahrungsaustausch, deneuropäischen Charakter, sowie das Herausstellen der eigenen Legitimität und Respektabilität. “ We felt a great need to meet researchers form other countries andexchange experiences andideas... Wefelt that weshould have some form of formal organisation. WAPOR hadalready been set up, but that was most public opinion research, not market research andhad an American perspective. We wanted to show potential clients in Europe that we were a newprofession which they needed, a profession with advanced techniques, 35 discipline andethical rules.” Das Zitat vonRiffault illustriert das europäische Selbstverständnis der Innovation unddes Aufbruchs. Neue Dienstleistungen wurden mit Hilfe eines neuen Berufsprofils angeboten. Die Wurzeln zur Vorkriegszeit gingen in Europa über eine kleine Anzahl vonPersonen kaum hinaus. Andieser Stelle muss auch anden erheblichen Braindrain von Deutschen, Österreichern undanderen Europäern erinnert werden, die in die USA emigriert waren. Erhebliche Teile der amerikanischen Marktforschung, speziell ihr psychologisch orientierter Zweig, sind auf europäische Wurzeln mit zurückzuführen. Ernest Dichter und Paul Lazarsfeld arbeiteten in den 1930er Jahren in Wien auf wirtschaftspsychologischem Feld, bevor sie in dieUSAemigrierten. MaxAdler nahm Zuflucht in England. DerUn32 Zahlen für 1956 aus EPA; Market Research in Europe, S. 175ff., für 1957 von Paul W. Meyer: Marktforschung. Ihre Möglichkeiten undGrenzen, Düsseldorf 1957, S. 226. Meyer gibt für 1956 fast die gleichen Zahlen wie EPA. Übersicht für 1962 bei Max Rembeck/Günther P. Eichholz: Im Dienste der Marktforschung. Marktforschungsinstitute in Europa, Bad Wörishofen 1962.
33 EPA; Market Research inEurope, S. 85f. 34 World Association of Public Oppinion Researchers. 35 Zit. nach ESOMAR, S. 16f.
ZurGeschichte derMarktforschung in Europa im20. Jahrhundert
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machte seine Karriere in denUSA, während F. M. Feller mit seinem Versuch, eine Zeitschrift für Werbepsychologie zu gründen, 1930 im deutschsprachigen Raumscheiterte. Nach dem Zweiten Weltkrieg konkurrierten in Europa vornehmlich zwei Richtungen um die Vorherrschaft, die “ mathematisch-mechanistische”und die ; die entsprechenden Vertreter wurden von derjeweils subjektiv-psychologische” “ anderen Seite “ Erbsenzähler” bzw. “ Tiefenheinis”genannt.36 ImGegensatz zuden USA, in denen beide Ansätze ergänzend nebeneinander benutzt wurden, wurde die Auseinandersetzung in Europa teilweise sehr heftig geführt. DerGrund fürdie Schärfe des Streits lag in der mangelnden Akzeptanz der Marktforschung in Europa (s. u.). Unter diesem Druck glaubte manes sich nicht leisten zukönnen, eine (wenn auch nurvermeintliche) Angriffsfläche zubieten undtendierte deshalb zur Überreaktion. So warf z. B. Hans F. J. Kropff demVertreter despsychologischen Ansatzes F. M. Feller “ Scharlatanerie”vor.37 Im Diskurs der europäischen Marktforscher war dies nicht mehr als Kritik zu werten, sondern als ein zerstörerisch intendierter Angriff. Kropff sprach Feller die Legitimität seines Ansatzes ab. Damit reflektierte er einen zentralen gesellschaftlichen Vorwurf, derdie Existenzberechtigung der Marktforschung generell hinterfragte. Hierin, in der geringeren gesellschaftlichen Anerkennung der Marktforschung, lag ein wesentlicher Unterschied zwischen Amerika undEuropa. Infolge ihres relativen Defizits an Legitimität, litt die (kontinental-) europäische Marktforschung jahrzehntelang an einem Wissenschaftskomplex. In den USA wurde die Frage, ob Marktforschung eine Wissenschaft sei oder nicht, pragmatisch umgangen –soweit sie überhaupt aufgeworfen wurde. Die Autoren benutzten einfach den Begriff science ohne ihn weiter zu reflektieren, und die Anwendung mathematisch-statistischer Rechnungen überzeugte Außenstehende durch ihre Komplexität. ImGrunde interessierte die Frage nach derWissenschaftlichkeit nicht. Marktforschung war ein Mittel “ Geld zu machen” , und schon dadurch legitimiert. 1937 setzte sich Lyndon Brown in einem derersten Handbücher derMarktforschung mitdem“Gebrauch derwissenschaftlichen Methode”auseinander. Bevor er auf verschiedene Kriterien, wie Rationalität, Objektivität, usw., hinweist, entwertet er denganzen folgenden Abschnitt, indem er ihmZitate verschiedener Autoren voranstellt, die über “ science”generelle Bücher veröffentlicht hatten und darin eine höchst kritische Haltung erkennen ließen: Unter anderem zitiert er “ Hard work, plus common sense, with no talk about it” , sowie “...I can , umzudemSchluss zukommen, waseine wissee nothing original or distinctive” senschaftliche Methode sei, sei schlicht “ konfus” .38Nach demKrieg in denUSA There is no Substitute for erschienene Bücher spielten das Thema herunter, “ Common Sense” lautet eine Überschrift bei Fox; undspätere Werke schnitten das
gar George Katona
36 EPA, Market Research in Europe, S. 14. Für den Hinweis auf die umgangsprachlichen Ausdrücke danke ichDr.P. Albrecht, derinderMarktforschung fürKaffe arbeitete. 37 Kapferer, Geschichte, S. 89. 38 Brown, S. 73f.
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Thema gar nicht mehr an. Bezüglich dieses sorglosen Umgangs in der Frage der Wissenschaftlichkeit zeigte Großbritannien wenig Unterschiede zu den USA. So ist z. B. Davies undPalmers Market Research and Scientific Distribution großenteils eine Anleitung für Befragungspersonal, in welcher die Autoren schlitzohrige Tipps füroptimales Verhalten geben.39 In seinem Buch mitdemcharakteristischen Titel Howto UseMarket Research for Profit schrieb der amerikanische Praktiker William Fox 1950: “ From time to time, one hears people talk about market research as a ‘science’. The charitable view is that English is being used carelessly. Market research is nomore a science than chalk is cheese. It is at most anart, and a useful art, but that is all.”40 Gerade diese Ansicht, Marktforschung als eine Kunst zu verstehen, wardas, was die Kontinentaleuropäer bekämpften. Kunst hat untrennbar eine emotionale Komponente, sie muss subjektiv verstanden, begriffen oder nachgefühlt werden. Kunst ist nicht mathematisch-objektiv nachvollziehbar. Für viele Wirtschaftssubjekte war das zu beliebig. Die Konnotation von Kunst undMarktforschung war gefährlich undstrahlte auf die Marktforschung negativ aus. Marktforschung war inweiten Teilen derBevölkerung keineswegs unumstritten. Hier drängt sich wieder die Parallele zur Werbung auf, denn auch sie galt in denersten Jahrzehnten nach demKrieg als moralisch bedenklich. Nach derDevise “ ein gutes Produkt verkauft sich selbst”bedurften im Umkehrschluss ja nur mangelhafte oder überflüssige Produkte der Werbung. Dagegen verteuerte der Werbeaufwand das erstrebte Produkt über die als notwendig zugestandenen Kostenhinaus. Eine solche Haltung konnte derWerbung nichts Positives abgewinnen. Darüber hinaus galt Bescheidenheit als eine Tugend, undanspruchsvoll zusein als illegitim. (Erst die Überflussgesellschaft der 1990er Jahre besetzte dasWort “ anspruchsvoll”positiv, underst seitdem wird es in der Werbung systematisch verwendet, meist umüberdurchschnittliche Preise zu legitimieren.) Im Rahmen des gesellschaftlichen Aufbruchs 1968 prägten Kritiker denAusdruck “ Konsumterror” und ein Teil der ökologischen Bewegung schlug später Konsumverzicht zur Schonung der Umwelt vor. Selbst jene Bevölkerungskreise, die diese Kritik am Konsum nicht teilten, hielten sie nicht nur für legitim, sondern waren oft bereit, ihr einen höheren moralischen Anspruch zuzugestehen als ihren eigenen Verhaltensweisen.
39 Z. B. imAbschnitt Ratschläge bei abwehrendem Verhalten derbefragten Person: C an’ t be bothered now.’Fix an appointment. I must ask myhusband first.’This is tricky and “ ‘ must be prevented at all costs –after all youwant ‘ heropinion, nothis. Gross flattery is theonly answer –andthen askthefirst question before shecanstop you.”(A.H. Davies/O.W. Palmer: Market Research and Scientific Distribution, London 1957, S. 115.) Allerdings lassen beide auf die Titelseite des Buches nicht nur ihre Mitgliedschaft in der Market Research Society drucken, sondern auch “ Lecturer, College for the Distributive Trades” , bzw. “Lecturer, City of London College” . DerBezug zurWissenschaft sollte also doch verkaufsfördernd wirken, waszumindest denGlauben aneben diese Möglichkeit voraussetzt. 40 Willard M. Fox: Howto Use Market Research for Profit, New York 1950, S. 316. Fox war Director of Market Research Remington Rand Inc.
ZurGeschichte derMarktforschung in Europa im20. Jahrhundert
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Ein Milieu, das nicht wie das amerikanische den Konsum grundsätzlich positiv bewertet sondern hinterfragt, stellt grundsätzlich auch die Marktforschung moralisch infrage. Geht es bei ihr doch nicht zuletzt um das Ausspähen geheimer Käuferwünsche, umdie Befriedigung vonBedürfnissen, die derKonsument noch garnicht definiert hat. Zumindest kann die Marktforschung nicht bestreiten, dass sie sich unter anderem auch dieser Aufgabe stellte undstellt. Jahrhunderte lang hatte die europäische Gesellschaft das Sparen, Verwahren, Aufbrauchen und Wiederverwenden als ökonomisch notwendige Verhaltensweisen gelebt undmoralisch positiv bewertet. Erst während des Nachkriegsbooms entwickelten die Menschen in Westeuropa neue, die materielle Lebensqualität sprunghaft steigernde Verhaltensmuster.41 Gleichzeitig steigerten sie, wie zuvor in den USA, den Material- undEnergieverbrauch ebenso schlagartig. Der Umgang mit statistischer Information war alles andere als selbstverständlich, sie gar zur Begründung von Entscheidungen anzuführen eher befremdlich. So erschien z. B. 1964 im EconVerlag dasBuch “ Der‘statistische’Mitmensch, in welchem triviale Informationen (“ 47 % derHaushalte haben ein Fahrrad”–Foto, 47 % derHaushalte haben eine Nähmaschine zumTreten” –Foto) bebildert aufjeweils einer ganzen Seite einander gegenübergestellt wurden.42 So etwas war damals verkäuflich, weil sich die Europäer hinreichend über dieses neue Sich-messen-lassen wunderten. Es warder Einfluss dieser traditionellen Wertemuster unddie, gegenüber den USA relative, ökonomische Rückständigkeit, die dereuropäischen Marktforschung ihr Legitimitätsproblem bescherte. Generell ist ein gesellschaftlicher Mangel anLegitimität heilbar. Er kann u. a. durch tadelloses Verhalten und die Beschäftigung angesehener Personen bzw. Berufsgruppen beseitigt werden. Eine enge Anlehnung an gesellschaftlich angesehene Institutionen befördert den Prozess. Dies alles hatten die Entscheidungsträger in dereuropäischen Marktforschung begriffen undbetrieben es intensiv. Als gesellschaftlich angesehene Institutionen boten sich Universitäten und Hochschulen an. Sie repräsentierten die Wissenschaft unddamit in weiten Teilen der Öffentlichkeit das objektiv Richtige. Ein bis heute nicht aufzulösendes Dilemma der Marktforschung, wie der Werbung, ist ja gerade, dass das “ richtige” Ergebnis –und das ist auf diesen Gebieten immer ein praxisbezogener Handlungsvorschlag –nurbis zueinem gewissen Grad nachvollziehbar ist, weil es sich aus einem wissenschaftlich-logischen und einem persönlich-intuitiven Teil zusammensetzt. In Europa wurde oft diesem zweiten, schwer fassbaren Teil das Übergewicht zugesprochen: “ Im Grunde handelt es sich fürjeden Forscher in unserem Fachgebiet darum, ob sich sein Interesse nurdemzuwendet, waserrechen-
41 Vgl. Gerold Ambrosius/Hartmut Kaelble: Einleitung: Gesellschaftliche und wirtschaftliche Folgen des Booms der 1950er und 1960er Jahre, in: Hartmut Kaelble (Hg.): Der Boom 1948– 1973, Gesellschaftliche undwirtschaftliche Folgen in derBundesrepublik Deutschland undin Europa, Opladen 1992, S. 7– 32. 42 Der “statistische”Mitmensch. Nach einer Idee vonHubert Troost, Fotografiert von Siegfried Kühl, Econ, Düsseldorf 1964 (ohne Seitenzahlen).
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bar ist, oder ob er darüber
hinaus auch denMenschen zu sehen vermag undsich nicht dadurch abschrecken lässt, dass dessen Wesen undVerhalten nicht rechen43Noch heute gilt: “ bar zumachen sind.” ... it becomes ever more critical not only to be right –but to be right at the right moment.”44Richtig und falsch sind im Marketing relative Größen, was heute richtig ist, kann morgen durchaus falsch sein. Der damals vorherrschende, konventionell-naturwissenschaftliche Wissenschaftsbegriff tolerierte diese Relativität nicht. Umso leichter war der Vorwurf der Scharlatanerie formuliert, eine Keule, die großen Schaden anrichten konnte. Die angestrebte Wissenschaftsnähe hatte deshalb eine höchst sinnvolle Protektionsfunktion für die frühe Marktforschung in Europa. Praktisch bot sie sich auch deshalb an, weil ein großer Teil derUnternehmensgründer zuvor anHochschulen gearbeitet hatte. So befanden sich unter den29 Gründern derESOMAR 7 Doktorenundein Professor. DerPraktiker Dr. Clodwig Kapferer empfand dasAngebot eines Lehrauftrags an der Universität Köln als “ , so ehrenvoll, äußerst ehrenvoll” dass er aus diesem Grund von Hamburg nach Köln umzog.45 Seine hamburgische Firma führte er von Köln aus weiter. Nach demZweiten Weltkrieg nahm er die Stelle als Leiter des Wirtschaftsforschungsinstituts Hamburger Welt-WirtschaftsArchiv an und verzichtete auf andere, finanziell sicher lukrativere Angebote. Trotz vielfältiger Bemühungen stellte er im Rückblick fest: “ Sich eine wissenschaftliche Heimat zu verschaffen, ist der Marktforschung in Deutschland bis in die Gegenwart hinein schwer gefallen.”46Diese Feststellung kann für ganz Kontinentaleuropa gelten.47 An Ansehen konnte die europäische Marktforschung auch durch Beschäftigung von wissenschaftlich ausgebildetem Personal gewinnen. Die EPA stellte 1959 fest: “ Theeconomist, the econometrician, the statistician, the sociologist and psychologist are all engaged in market research.”Sowie: “ Decisions based on 48Das verräterische “today” intuition can in no waybejustified today.” , sowie die Tatsache, dass Intuition überhaupt benannt wurde, zeigen, dass hier ein Problem undNachholbedarf bestanden. Wie in derWerbebranche warauch in dereuropäischen Marktforschung derBoomjahre eine Reihe vonAutodidakten ohne formale Ausbildung tätig, die sich während der Anfangsjahre eingearbeitet hatten. Weil dies zunehmend in allen Ländern als Mangel empfunden wurde, stellte die Ausbildung des Nachwuchses regelmäßig einen wichtigen Diskussionspunkt auf den Tagungen derMarktforscher in Europa dar. Noch 1972 beklagte einVertreter von ACNielsen, es gäbe über Aufgaben undAusbildung des Marktforschers “ ein hilf-
43
Ludwig Erhard: Vortrag auf demJahrestag des Verbandes Deutscher Marktforscher Kölnam24. Oktober 1968 (zit. nachKapferer, S. 81f.). Jürgen Schwörer: Introduction, in: ESOMAR, S. 7.
44 45 Kapferer, Geschichte, S. 71. 46 Kapferer, Geschichte, S. 22. 47 Max K. Adler: Moderne Marktforschung. Die Voraussetzung führung, Stuttgart 1955.
48 EPA, Market Research in Europe, S. 26.
e.V. in
fortschrittlicher Unternehmens-
ZurGeschichte derMarktforschung in Europa im20. Jahrhundert
333
anmutendes Vorstellungsbild.”49Erst in den 1990er Jahren, als Marktforschung wie Werbung gesellschaftlich nicht mehr hinterfragt wurden, schlug erneut dieStunde der“ Creativen” . und“Inspirierten” Für ihre gesellschaftliche Anerkennung war der Branche neben guten Leistungen nicht zuletzt gutes Benehmen wichtig. Es gabkeine Kammer, keine außergerichtliche Instanz, bei der sich Kunden über schlechte Leistungen hätten beschweren können. Deshalb wurde, wiederum nach amerikanischem Vorbild, ein Kodex geschaffen, indemStandards fürVerträge, Praktiken, Methoden usw. festgelegt wurden. Die Einhaltung dieser Standards sollte das berufliche Ansehen der Marktforscher fördern. Hierbei gab der für die ESOMAR gültige Kodex für viele Länder ein Beispiel. Ein solcher Kodex war schon auf der Gründungsversammlung vorgeschlagen undauf demdritten Kongress in Rapallo 1950 als verbindlich angenommen worden.50 Bei schwerwiegenden Verstößen konnten Firmen ausdem entsprechenden Verband ausgeschlossen werden. Damit wurde die Mitgliedschaft zu einer Art Gütesiegel für die Arbeit. 1954 verabschiedete die britische Gesellschaft als erste in Europa nationale Verhaltensregeln. In Deutschland gab es 1968 einen erneuten Vorstoß, doch dauerte es bis 1978, bevor die beiden deutschen Spitzenverbände deninzwischen vonESOMAR undder Internationalen Handelskammer in Paris verabschiedeten Kodex annahmen. In den 1960er Jahren konnte sich die Marktforschung in allen europäischen Ländern auch institutionell durchsetzen. Zugleich entstanden verschiedene Kooperationen unter europäischen Firmen, um den Anforderungen, die sich durch die Herausbildung übernationaler Märkte ergaben, gerecht zu werden. Erst hierdurch konnten sie mit amerikanischen multinationalen Firmen wie ACNielsen konkurrieren. Manche Unternehmen konzentrierten sich auf bestimmte Branchen oder Methoden. So initiierte z. B. die GfK 1963 Europanel, einen speziellen Zusammenschluss für die Panelforschung. In den 1970er und80er Jahren gründete bzw. übernahm sie im nächsten Schritt Firmen im europäischen Ausland. Diese langfristige Strategie hatsich für die GfK ausgezahlt. Sie gehört heute zudendrei Unternehmen (ACNielsen, Taylor Nelson Sofres undGfK), welche heute die Panelforschung weltweit dominieren.51 Seit den 1980er Jahren ist eine zunehmende gegenseitige Verflechtung von Marktforschungsunternehmen zu verzeichnen. 1982 erwarb die britische AGB Research plc. die noch von Clodwig Kapferer gegründete Gesellschaft für Marktforschung (GFM). Zehn Jahre später wurde ein Management Buy-out durchgeführt unddie GFM wurde Mitglied der französischen Ipsos-Gruppe, einem weltweit aktiven Zusammenschluss vonMarktforschungsfirmen. Zurselben Zeit stand dem eine merkwürdige Zurückhaltung amerikanischer Unternehmen bezüglich der Auslandsaktivitäten gegenüber. Von den 40 größten US-Firmen betätigten sich Mitte der 1980er Jahre nur fünf im Ausland, drei von ihnen erreichten dort
los
49 Kapferer, Geschichte, S. 165. 50 ESOMAR, S. 23, S. 29; vgl. EPA, Market Research in Europe, S. 89– 91. 51
Birn,
S.
232.
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nurunerhebliche Umsätze. Das US-Engagement konzentrierte sich allein auf die beiden größten Firmen, ACNielsen undIMS International, diejeweils über 50 % Auslandsumsatz erzielten.52 Es liegt nahe, die zeitgleiche Expansion europäischer unddie Zurückhaltung amerikanischer Firmen im Ausland auf eine gesunkene Wettbewerbsfähigkeit derAmerikaner zurückzuführen. Eine Erklärung hierfür ist, dass sich in den1980er Jahren dieMöglichkeit, Neues zulernen, in Europa früher auftat als in Amerika. Während in denUSA die traditionelle Segmentierung des Marktes vorerst weiter anhielt, entwickelten sich in Europa spezielle nach Erlebnistypen zu unterscheidende Konsumentengruppen. Das Neue hieran war, dass diese Erlebnistypen sich quer zu dentraditionellen Einkommensgruppen etablierten. Die europäische Marktforschung konnte sich auf diesen Konsumententyp früher einstellen, so dass der Wettbewerbsvorteil dieses mal bei den Europäern lag, von denen dann die Amerikaner lernten. Eine weitere Veränderung erfolgte jedoch parallel. Große branchenfremde Unternehmen engagierten sich bei Marktforschungsfirmen. Dun & Bradstreet, eine der traditionellsten undgrößten Auskunfteien, übernahm 1984 ACNielsen unddieMediengruppe vonRobert Maxwell 1988 AGB Research. Zu dieser Zeit gehörten schon Arbitron Ratings zu Control Data undSAMI zu Time. In den 1990er Jahren setzte ein Gegentrend ein, und viele Marktforschungsunternehmen wurden wieder an die Börse gebracht, oder durch Management Buy-out verkauft.
5. Fazit
In der Boomphase durchlebte die europäische Marktforschung einen doppelten Aufholprozess, der Anfang der 1970er Jahre weitgehend abgeschlossen war. In den 1950er Jahren war einerseits der Produktionsapparat dem der Distribution überlegen, andererseits bestand in Europa, gemessen andenUSA, ein erheblicher Nachholbedarf. Die Asymmetrie zwischen Warenherstellung und -absatz bestand weltweit. W hile production techniques are continually being improved, a deplo53Aufdiesem Gebiet holrable traditionalism prevails in the sphere of marketing.” “ te derDistributionssektor auch in denUSAauf. Gleichzeitig gelang es dereuropäischen Marktforschung, ihre Entwicklungslücke gegenüber den fortgeschrittenen USAzuschließen. Dieser zweite Prozess, auf denwirunsere Untersuchung konzentriert haben, beruhte einerseits auf einer eigenständigen Entwicklung in Europa, aber andererseits undvor allem auf einem massiven Transfer von Methoden, Technik, Ideen, Organisationsmustern, Kapital undPersonal aus den USA. Mathematisch-statistische Verfahren, die Bürotechnik (vor allem von IBM), Recherche- undVerarbeitungsverfahren (wie Gruppen- oder Tiefeninterviews, Panelun52 Einnahmen aus In-und Ausland in Mio. $ 1984: Nielsen: 491/255, IMS: 151/84, SAMI: 118/0, Arbitron Ratings: 106/0, Burke Marketing Serv. 66/2 (Mitteilungen derBundesstelle für Außenhandelsinformation, Nr. 10.341.85.368, November 1985, Tab. 11, S. 8). 53 EPA, Market Research in Europe, S. 9.
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335
tersuchungen, usw.) wurden inklusive ihrer Anwendungsmuster undDenkstrukturenausdenUSAübernommen, weil sie in Europa als deneinheimischen generell überlegen anerkannt wurden. Nach amerikanischem Vorbild wurden Verhaltenskodizes angelegt undder Methodenstreit zwischen Statistik- undPsychologieanhängern beigelegt. Allein dieExistenz eines großen, funktionierenden Marktes für diese Dienstleistungen in denUSAbewirkte eine Leitbildfunktion fürEuropa, wo ein solcher Markt erst im Entstehen war. Ein Teil der Veränderungen kann zu einem Bündel von Pull-Faktoren zusammengefasst werden, in welchen sich die Lernbegierde spiegelte. Ein anderer Teil repräsentiert Push-Faktoren, die die europäischen Marktforschungsunternehmen auf amerikanische Strukturen zurechtstutzten. Hierzu sind vor allem das Auftreten amerikanischer Direktinvestitionen auf den europäischen Märkten sowie die Auftragsgestaltung und-vergabe durch US-Firmen zu zählen. In der Bildungsphase der europäischen Firmen war die Nachfrage auch in Europa zumüberwiegenden Teil von amerikanischen Firmen bestimmt. Diese Unternehmen kannten die Praktiken derMarktforschung ausden USA undformulierten ähnliche Anforderungsprofile für ihre Aufträge. All diese Veränderungen waren an Lernvorgänge geknüpft, welche ihre Zeit brauchten. Unternehmen, die sich diesem Lernen nicht anpassen konnten oder wollten, hatten gerade in dendieneue Dienstleistung formierenden 1950er Jahren Schwierigkeiten. “ The organisations founded in Europe after the Second World Warwere more after the American pattern, even accepting the American practice of connecting market research with public opinion research. At bottom, this practice wasalien to the concept of trade research as it hadprevailed onthe European continent, which had regarded the two fields as different subjects.”54Wir können also eine erhebliche Übernahme von US-Praktiken, Mustern, Verhaltensweisen undWerten konstatieren unddamit, wiein derWerbebranche, eine umfangreiche Amerikanisierung dieses Sektors. Amerikanisierung bedeutet eine Werteänderung in eine definierte Richtung, aber nie eine vollständige Angleichung oder Übernahme. Neben der Bewunderung wurde auch, z. T. sogar gleichzeitig, Kritik an denUSA geäußert, sowie alternative Verhaltensweisen z. T. hartnäckig verfolgt. Hierin drückte sich die Selektion aus, die Europäer übernahmen nurdas, wassie für erstrebenswert hielten. Die europäische ESOMAR wareine Gegengründung gegen die als amerikanisch empfundene WAPOR, eine Weltorganisation, die theoretisch auch die europäischen Forscher bzw. Firmen hätte vertreten können. Europäische Unternehmen gaben denZusammenhang von Markt- undMeinungsforschung unter einem Firmendach sehr schnell wieder auf. Das europäische Konzept der Spezialisierung hat sich als das zukunftsfähigere erwiesen, was sowohl am Unternehmenserfolg als auch an der Entwicklung von WAPOR undESOMAR abzulesen ist.55 Neuerungen kamen eben nicht nur aus den USA, sondern auch aus Europa. Die in
54 EPA, Market Research in Europe, S. 59. 55 Die ESOMAR ist heute weltweit tätig undhat die WAPOR an Leistungsfähigkeit bei Weitem überrundet.
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HarmG. Schröter
Deutschland entwickelte Methode der Konjunkturvorhersage aufgrund monatli-
cher Firmenbefragung über deren subjektive Zukunftserwartung verbreitete sich erst in Europa undspäter auch in denUSA. Die italienische MarktforschungsfirmaLCMGraman entwickelte 1981 ihr sog. Peoplemeter, eine Methode dasFernsehverhalten zumessen; heute wird sie weltweit angewandt. Seit den 1970er Jah-
renhatten die europäischen Firmen qualitativ mit derUS-Konkurrenz gleichgezogen; quantitativ bezüglich Personal, Kapital und Auftragsvolumen ca. ein Jahr-
zehnt später. Es scheint, dass der stärkste Transfer aus denUSA zu Beginn der 1950er Jahre stattfand unddanach langsam abnahm. Gegen Ende des Booms hatte die europäische Marktforschung ausgelernt. Mit dem Legitimitätsdefizit war gleichzeitig der o.g. Wissenschaftskomplex verschwunden. Die europäischen Marktforschungsunternehmen waren größer, leistungsfähiger undkapitalstärker geworden undbegannen den US-Firmen nicht nur in Europa, sondern auch auf den Weltmärkten, Konkurrenz zu machen. Im Gegensatz zu Industrieunternehmen haben sich aber bis heute nurwenige “ in die Höhle desLöwen”gewagt undin denUSA investiert. Das immer noch pro Kopf doppelt so große Auftragsvolumen in Amerika verleiht deneinheimischen Firmen auch heute noch einen quantitativen Vorteil. Dass die amerikanische ACNielsen weltweit unangefochten an derSpitze der Marktforschungsunternehmen steht, darf als Symbol gelten.
Susanne Hilger
Korreferat zuHarm G. Schröter ZurGeschichte derMarktforschung in Europa im20. Jahrhundert“ „
Der Wandel vom Käufer- zum Verkäufermarkt leitete nach dem Zweiten Weltkrieg in derAbsatzwirtschaft einen tiefgreifenden strukturellen Wandel ein. Harm Schröter hat in seinem Beitrag die theoretischen Grundlagen der Marktforschung undihre praktische Ausgestaltung zu einem wesentlichen Instrument des modernen Absatzmarketing skizziert. Dabei betonte er nicht nur die Bedeutung amerikanischer Einflüsse, sondern wies auch auf die Nähe zu modernen Technologien
der EDV hin. Schröter hat sich in seinem Beitrag im Wesentlichen auf die überbetriebliche Ebene konzentriert unddamit die mikroökonomische Perspektive, also die Frage nach der Rezeption vonErgebnissen der Marktforschung bei den Auftraggebern, etwa bei privatwirtschaftlichen Unternehmen, unberücksichtigt gelassen. Daher soll im Folgenden ergänzend auf die Bedeutung der Marktforschung im Rahmen eines unternehmerischen Fallbeispiels eingegangen werden. Die Anfänge und Instrumentalisierung derMarktforschung nach demZweiten Weltkrieg lassen sich mit Blick auf eines derwichtigsten deutschen Markenunternehmen, der heutigen Henkel KGaA, veranschaulichen, die als Hersteller von Markenprodukten wie Persil“bis heute zu den führenden europäischen Konsumgüterunternehmen „ zählt. Henkel öffnete sich nach dem Zweiten Weltkrieg aufgrund eines nachhaltigen Wettbewerbsdrucks von Seiten amerikanischer Mitbewerber wie Procter & Gamble oder Colgate zusehends amerikanischen Einflüssen, adaptierte diese als Strategien und gehört damit zu den Pionieren des modernen Marketing in der Bundesrepublik.1
1
Siehe dazu als vergleichende Fallstudie auch meine Habilitationsschrift: „ Amerikanisierung“ deutscher Unternehmen. Unternehmenspolitik und Wettbewerbsstrategien bei Henkel, Siemens undDaimler-Benz (1945– 1975) (= VSWG-Beiheft 173) Beiheft 2004. Vgl. auch Christian Kleinschmidt: Der produktive Blick. Wahrnehmung amerikanischer undjapanischer Management- undProduktionsmethoden durch deutsche Unternehmer 1950– 1985 (= Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte, Beiheft 1), Berlin 2002, S. 237– 241. Siehe auch Kirsten SchlegelMatthies: Anfänge der modernen Lebens- und Genussmittelwerbung: Produkte und Konsumentengruppen im Spiegel von Zeitschriftenannoncen, in: Hans-Jürgen Teuteberg (Hg.): Durchbruch zummodernen Massenkonsum. Lebensmittelmärkte undLebensmittelqualität im Städtewachstum des Industriezeitalters (Studien zurGeschichte desAlltags 8). Münster 1987,
338
Susanne Hilger
MitBlick aufdieAusführungen Harm Schröters ist zufragen, wie, aufwelche Weise undmit welchem Ergebnis die neuartigen amerikanischen Techniken des Market Research bei Henkel Aufnahme fanden. Bestand im Unternehmen eine unmittelbare Bereitschaft, ein Interesse oder gardieNotwendigkeit, derartige Verfahren, die für ein völlig neues Marktverständnis –nämlich das des „ amerikanischen“Massenkonsums –standen, zu übernehmen? Oder stießen dieselben auf Abwehr undSkepsis, die sich als kulturelle Vorbehalte interpretieren lassen? DiesenÜberlegungen soll imFolgenden nachgegangen werden. Wie die Mehrzahl der deutschen Unternehmen stand auch die HenkelGeschäftsleitung amerikanischen Marketing-Techniken zunächst traditionell ablehnend gegenüber. Die unter deutschen Geschäftleuten noch geltenden Werte, wie „kaufmännischer Anstand“und„unternehmerische Bescheidenheit“schienen einen krassen Gegensatz zu denvonDeutschen häufig als aufdringlich empfundenen amerikanischen Vertriebsmaßnahmen („ schreiende Werbung“ ) zu bilden. Auch die Marktforschung galt lediglich als „ a way to make money“und stieß in Deutschland, anders als in den USA, zunächst nur auf geringe Akzeptanz. Unternehmensleiter Jost Henkel etwa, auf die Intuition der Verbraucherinnen vertrauend, ging fest davon aus, „dass die Hausfrau schneller undtreffender etwas feststellt als derbeste wissenschaftliche Test“ .2 Nach dem Zweiten Weltkrieg sorgten jedoch das Wachstum der nationalen undinternationalen Märkte, unddie Auseinandersetzung gerade auch mit neuen Mitbewerbern aus dem Ausland, auch bei deutschen Anbietern für eine zunehmende Aufgeschlossenheit gegenüber Marketingtechniken aus den USA. Angesichts rückläufiger Marktanteile ging es nun geradezu darum, die Konkurrenten mit ihren eigenen Waffen“zu schlagen. Seit Gründung des Unternehmens im „ Jahr 1876 betrachtete Henkel vor allem die Herstellung von Wasch- undReinigungsmitteln als eigentliches Stammgeschäft und bewegte sich damit in einem Bereich, der durch den Zweiten Weltkrieg empfindlich zurückgedrängt worden war.3 Seit den 1950er Jahren jedoch eroberten Markenprodukte wie „ Persil“ Dr. ,„ Oetker Backpulver“oder „ Maggi“nicht nur das an die anonyme Kriegsware verlorene Terrain zurück, sondern entwickelten sich geradezu zuGattungsbegriffen. Doch machten sich seit den 1960er Jahren deutliche Stagnationstendenzen im Absatz bemerkbar. Diese standen einerseits in einem engen Zusammenhang mit dem sich seit den 1960er Jahren verschärfenden Strukturwandel in den bundesdeutschen Märkten für Markenprodukte, dersich u. a. in einer starken Konzentrationsbewegung im Handel, demAufkommen von Handelsmarken in Konkurrenz zu Herstellermarken, der Verbreitung von Selbstbedienungsläden sowie in der
2 3
308. Harm G. Schröter: Die Amerikanisierung der Werbung in der Bundesrepublik S. 277– Deutschland, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 1 (1997), S. 93– 115, hier S. 104. Konzernarchiv derHenkel KGaA (HA) 153/9, Postprotokoll, 29.9.1953. Siehe dazu Wilfried Feldenkirchen/Susanne Hilger: Menschen undMarken. 125Jahre Henkel KGaA. Düsseldorf 2001.
Korreferat
zuHarmG. Schröter
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1973 aufgehobenen so genannten vertikalen Preisbindung für Markenartikel („ Preisbindung derzweiten Hand“ ) äußerte.4 Die sich damit im Vergleich zur Vorkriegszeit radikal verändernden Absatzbedingungen förderten bei den deutschen Markenherstellern offensichtlich das Interesse an den Methoden der Marktforschung. Seit den 1950er Jahren setzte daher in Reaktion aufdieImpulse ausdenUSA schrittweise ein Adaptionsprozess ein, dersich imFalle vonHenkel inverschiedenen Stationen wieetwa a) inderEinrichtung eines Marketingressorts, b) inderSchaffung eines Marketing-Informationssystems, c) inderImplementierung voneinzelnen Product Managements (PM’s) vollzog.
Die Reorganisation des Waschmittelgeschäfts, die Henkel in den späten 1950er Jahren vornahm, stand bereits im Zeichen eines kundenorientierten Marketing nach amerikanischem Vorbild. 1959 wurde in der Düsseldorfer Konzernzentrale erstmals ein Marketingressort für das Waschmittelgeschäft eingerichtet, das auf der Grundlage derMarkt- undVerbraucherforschung alle Aktivitäten im Absatzbereich von der Produktplanung bis zur Werbung zusammenfasste unddamit die vier Säulen des modernen Marketing, nämlich Philosophie, Organisation, Werbung undMarktforschung berücksichtigte.5 Dieses Novum warinsbesondere auf eine neue Generation vonUnternehmerpersönlichkeiten zurückzuführen. Im Falle von Henkel gehörte hierzu etwa Helmut Sihler, der sich nach dem Studium in den USA amerikanischem MarktDenken verpflichtet fühlte. Er nutzte die Marktforschung im unternehmerischen Marketing, um„ auf die Wünsche des Kunden“eingehen zukönnen.6 Ebenso trug die Zusammenarbeit mit Werbeagenturen undUnternehmensberatern dazu bei, dass Trends undKnow howaus den USA in deutschen Unternehmen zunehmend Eingang fanden. Sie propagierten die Marktbeobachtung als zentrale Voraussetzung für ein erfolgreiches Marketing, da die ermittelten Meinungen undBedürfnisse derKonsumenten in die Produktpolitik einfließen sollten. Nach Ansicht desamerikanischen Stanford Research Institute, dasHenkel betreute, sei Marktforschung schon allein notwendig, umüber die selben Informationsvoraussetzungen wie dieWettbewerber zuverfügen. Ein aktives Market Research bildete aus der Sicht derBerater insbesondere in unbekannten Märkten eine her-
4 Siehe dazuauch Hilger: „Amerikanisierung“. , in: Manager-Magazin 2 (1979), S. 8. Nach Auffassung vonHelmut 5 „Kurz vorm Ziel“
Sihler
waren insbesondere die 1960er Jahre „ dasJahrzehnt derVereinigten Staaten [...] vonProduktenbis zurWerbung“ . Interview mit Prof. Dr. Helmut Sihler, in: Joachim Kellner et al. (Hg.), 1945 bis 1990. 50 Jahre Werbung in Deutschland. Ingelheim, S. 91– 96, hier S. 91, 94; ähnlich Richard Tedlow: NewandImproved. The Story of Mass Marketing in America. Boston 1997,
6
S. XVIII-XXX. mit Prof. Dr. Helmut Sihler, S. 91; siehe auch Helmut Sihler: Marktforschung. Instrument derUnternehmensführung, in: Ders., Reden undAufsätze, o.O., o.J., S. 83– 88. Interview
340
Susanne Hilger
ausragende Notwendigkeit zur Entwicklung von effizienten MarketingStrategien.7 In der unternehmerischen Praxis ließ die Verwendung vonUmfrageergebnissen aus der Marktforschung allerdings zunächst häufig Wünsche offen. So vermochten die von Henkel beauftragten Marktforschungsunternehmen wie Nielsen oder Infratest nicht alle gewünschten Informationen abzudecken, was auf die unvollständigen Auskünfte der befragten Unternehmen zurückzuführen war. Daher griff Henkel vielfach –wie bereits vor dem Zweiten Weltkrieg üblich –auch auf Auskünfte deseigenen Außendienstes zurück, derdie gewünschten Informationen auf ‚informelle‘ArtundWeise beim Besuch vonKunden undPartnern „erhob“ .8 Angesichts dieses vergleichsweise unsystematischen Erhebungsmodus kames 1968 zur Errichtung eines unternehmensinternen so genannten „MarketingInformationssystems“ , dasbald als Operationsgrundlage für alle Marketingaktivitäten des Waschmittelressorts von Henkel diente. Die EDV gestützte MarketingDatenbank fasste die laufenden Erhebungen von Marktforschungsdaten wie die Nielsen-Indexwerte, das GfK-Haushaltspanel oder die Infratest-Werbewirkungsuntersuchungen zusammen undergänzte sie umeigene Daten zu Umsätzen, Lagerhaltung, Werbeaufwendungen oder zurProduktplanung einzelner Mitbewerber oder Marktsegmente.9 Neben verbesserter Erhebungsverfahren undInformationsbearbeitung gewann bei Henkel die Wettbewerbsbeobachtung an Bedeutung. Auf dem Sektor der schnelllebigen Konsumgüter waren US-Unternehmen für ihre aggressive Absatzpolitik bekannt geworden. Da sich „ die Wettbewerbssituation auf demdeutschen Markt [...] mehr undmehr zu einem Zweikampf zwischen Henkel undP&G“ entwickelte, setzte sich das Düsseldorfer Unternehmen seit der zweiten Hälfte der 1960er Jahre detaillierter mit denMethoden, denZielen undderOrganisation des Hauptwettbewerbers auseinander. So entstand ein „ Ausschuss zum Studium von P&G“ , der langfristig die gesamte Firmenpolitik des Mitbewerbers „ so genau wie möglich beobachten“sollte.10 Kontinuierlich wurden dazu alle „ Kontakte, Gespräche undsonstige[n] Kenntnisse“ , die innerhalb desKonzerns „ imZusammenhang mit P&G“standen, gesammelt undausgewertet.11 Die auf diese Weise gewonne-
7
HA 314/130, Untersuchungsbericht SRI, Bd. 1, Juli 1966, S. 81f: „[...] Henkel muss wissen, ihre Marken entwickeln undauf denMarkt brinbesonders P&G – wie seine Konkurrenten – gen [...]“ ; HA 153/30, Postprotokoll, 27.6.1966; HA 153/31, Postkonferenz, 20.9.1966. 8 Siehe etwa HA 153/21, Postprotokoll, 19.2.1963 oder HA 153/27, Postprotokoll, 14.5.1965. 9 HA 153/36, Postprotokoll, 17.9.1968; siehe zu Nielsen: HA455/7, Besprechung mit den Herren der Firma A.C. Nielsen, Frankfurt/Main, 21.11.1957. Nielsen stellte bei Lebensmitteleinzelhändlern undFachgeschäften aus demGesundheits- undKörperpflegebereich im Bundesgebiet für bestimmte Artikel genaue Erhebungen durch. Die Umfragen ergänzten seit den die durch das GfK-Panel erlangten Fakten“ 1950er Jahren „ . Die Firmen bedienten sich der Nielsen-Berichte vorallem wegen der„guten Marktübersicht“ , diediese boten. 10 HA 153/42, Gemeinsame Post, 9.1.1968. 11 HA 153/42, Gemeinsame Post, 14.5.1968.
Korreferat
zuHarmG. Schröter
341
nenErkenntnisse trugen ebenso wiedie Marktforschung zueiner Veränderung der Absatzpolitik vonHenkel bei.12 Die Implementierung von Produkt-Managements, einer Organisationsform wie sie „ in den fortschrittlichen amerikanischen Firmen“seit langem üblich war, bildete schließlich zu Beginn der 1970er Jahre einen ersten Schlusspunkt in der PM“ Durchsetzung der modernen Marketingorganisation bei Henkel.13 Das „ , das der Verwirklichung einer marktorientierten Unternehmensführung dienen sollte, umfasste neben der Koordination undKontrolle der Absatzaktivitäten vor allem auch dieKernaufgaben derInformationsbeschaffung durch die intensive Beobachtung der relevanten Märkte bzw. Marktsegmente sowie die produktbezogene Informationssuche und-auswertung.14 Mit Blick auf die zögerliche Implementierung moderner Marktforschungstechniken aus denUSA lässt sich abschließend zusammenfassen, dass Marktforschung als „ Auswuchs des amerikanischen Kapitalismus“in deutschen Unternehmen anfänglich auf Skepsis stieß. Dass sich die Markt- und Wettbewerbsbeobachtung in derFolgezeit auch in der Bundesrepublik so stark verbreiten konnte, wareinerseits nachhaltig auf die sich wandelnden Märkte undWettbewerbsstrukturen zurückzuführen undandererseits durch die fortschreitende Rationalisierung undSystematisierung derunternehmerischen Betriebsführung begründet. Im Ergebnis sorgte die Adaption neuer Techniken der Marktforschung und Meinungserhebung seit den 1960er Jahren für eine stärkere Berücksichtigung der Verbraucherbedürfnisse undfür eine kreativere Umsetzung der davon ausgehenden Impulse bei der Findung undGestaltung von Produkten. Sie eröffnete somit Strategien, von denen weltweit engagierte Konsumgüterunternehmen wie Henkel bis heute profitieren.
12 Dazuauch Hilger, „Amerikanisierung“ . 13 HA455/1, Postbesprechung, 6.4.1968.
14 Robert Nieschlag/Erwin Dichtl/Hans Hörschgen: Marketing. Berlin 1988; Heribert Meffert: Marketing-Geschichte, in: Hermann Diller (Hg.): Vahlens Großes Marketinglexikon. München 1992, S. 698– 702, hier 663ff.
Peter Skyba Konsumpolitik in der DDR 1971 bis 1989. DieVerbraucherpreise als Konfliktgegenstand Noch bevor Erich Honecker als designierter Nachfolger Walter Ulbrichts im Mai 1971 auch formal zumSED-Chef gekürt wurde, versuchte er bei denBeratungen der SED-Spitze über den Fünfjahrplan die Eckpunkte der künftigen Wirtschaftspolitik festzuklopfen. Den Preisen für Konsumgüter widmete er dabei besondere Aufmerksamkeit: “ Zu unserer Preispolitik: [...] Bei den EVP wurde viel von der Stabilität gesprochen. Vielleicht sollen wiraber noch definitiver formulieren. Wirdürfen keine Preiserhöhungen bei Einzelhandelsverkaufspreisen zulassen. Überall gibt es Preisverstöße. Wenn wir Vertrauen schaffen wollen zu unserer Planung, dann müssen wir feste Preise schaffen. Wenn wir Preissenkungen machen, verschwindet leider oft die Ware und es erscheinen neue Erzeugnisse zuneuen höheren Preisen. Genosse Warnke hatdoch Recht: Mankann nie gegen die Arbeiter regieren. [...] Ich würde vorschlagen, daß Ihr das prüft vom Standpunkt der 1 Erhaltung desVertrauens undder Steigerung desReallohnes.”
Obgleich nach offizieller Lesart in der DDR Preisstabilität herrschte, sah Honecker in der Preisfrage doch dringenden Handlungsbedarf und verknüpfte damit zwei Probleme. Das erste verwies auf die Schwierigkeiten der SED-Diktatur, die Preise exakt zu reglementieren undzukontrollieren. Von oben verfügte Preissenkungen scheiterten oftmals an dem Bestreben von Produzenten, Handel undTei-
len der Wirtschaftsapparate, mit höheren Preisen monetär abgerechnete Planvorgaben leichter erfüllen zu können; sie bevorzugten daher teurere Produkte und waren vergleichsweise kreativ darin, günstige Konsumgüter zu verteuern. Das zweite betonte die politische Dimension der Preise in der Diktatur. Mit Preissteigerungen zog das Regime stets den Unmut der Konsumenten auf sich. Stabile Preise dagegen sollten Vertrauen aufbauen zur Wirtschaftsplanung, unddas hieß in Honeckers Interpretation zueiner steten Verbesserung desLebensstandards mit regelmäßigen Einkommenssteigerungen bei stabilen Preisen. Damit –so die Hoffnung –sollte sich das Vertrauen auf das Regime, das diese Preisstabilität gewährleistete, übertragen. 1
Heinz Klopfer (Staatssekretär
in der Staatlichen
Plankommission), Persönliche Niederschrift
1975 im Poüber die Beratung derGrundlinie für die Ausarbeitung des Fünfjahrplanes 1971– 44, litbüro am 23.3.1971, 24.3.1971, BArch B (Bundesarchiv Berlin), DE 1 VA 56131, Bl. 32– zit. Bl. 38 f. Sofern diezitierten Archivalien paginiert sind, ist dieBlattzählung mitAusnahme derseriellen Protokolle desPolitbüros unddes Sekretariats desZK, die teilweise nach derBenutzung durch
denAutor foliiert wurden, angegeben.
344
Peter Skyba
Mit Blick auf die sechziger Jahre der DDR sind die defizitäre Kontrolle des Regimes über die an der Preisbildung beteiligten Apparate undInstitutionen und das stete Risiko, durch eine als ungerechtfertigt empfundene Preisgestaltung den Volkszorn zu wecken, dezidiert als „Schwächen“des Regimes gekennzeichnet worden; Schwächen, die in derSED-Führung auch als solche empfunden wurden.2 Honeckers Vorstoß zielte darauf, diese Schwächen zubeseitigen. Preisstabilität stieg zu einem zentralen Element einer neukonzipierten Konsum- undSozialpolitik auf, die in Kombination miteiner steten Erhöhung vonArbeitseinkommen und Sozialleistungen zur schnellen und konstanten Steigerung des Lebensstandards führen sollte. Die rasche undspürbare Wohlstandsmehrung rückte ihrerseits ins Zentrum desprogrammatischen Zielhorizonts der SED. DasVersprechen von Wohlstand undsozialer Sicherheit avancierte zugleich zu einer der zentralen und immer stärker angezapften Legitimitätsressourcen der SED-Diktatur.3 In diesem Rahmen wardie Politik stabiler Preise Teil desVersuchs, die Kluft zwischen Regime undBevölkerung zuüberbrücken unddie Diktatur durch materielle Leistungenpolitisch zustabilisieren. Wenn hier am Beispiel der Preispolitik der Ära Honecker das Problem von Herrschaftsstabilisierung durch Konsum aufgeworfen wird, so darf sich die Perspektive dabei nicht verengen auf das Regime einerseits und die Konsumenten andererseits. Die Ambivalenzen einer auch intentional politisch hoch aufgeladenenKonsumpolitik kommen erst ins Blickfeld, wenn dasRegime nicht als monolithisches Herrschaftszentrum betrachtet wird, das einheitlich nach festgelegten Prämissen agierte. Vielmehr ist die Annahme nützlich, dass auch in den Führungen undApparaten von SED und Staat unterschiedliche Funktionslogiken existierten, die meist aus verschiedenen Zuständigkeiten undArbeitsfeldern resultierten.4 Imvorliegenden Fall traf die Logik politischer Machtsicherung in derDiktatur auf die Funktionslogik derZentralverwaltungswirtschaft. DasBild würde noch facettenreicher, wenn andere an demkomplexen Prozess der Preisbildung beteiligte Instanzen bis hinunter zu denBetrieben in die Analyse einbezogen würden.5 Der vorliegende Beitrag konzentriert sich allerdings auf die Konfliktlinie zwischen der engeren Parteiführung umHonecker undden Spitzenfunktionären der zentralen Wirtschaftsverwaltung. 2
3
4
Philipp Heldmann: Herrschaft, Wirtschaft, Anoraks. Konsumpolitik in der DDR der Sechzigerjahre, Göttingen 2004. Diese innovative Untersuchung, die auch systematisch die Preisbildung vonKonsumgütern analysiert, lag zurZeit derAbfassung dieses Beitrags noch nicht gedruckt vor, so dass auf Seitenangaben verzichtet werden muss. Vgl. Hans Günter Hockerts: Soziale Errungenschaften? Zumsozialpolitischen Legitimitätsanspruch der zweiten deutschen Diktatur, in: Jürgen Kocka/Hans-Jürgen Puhle/Klaus Tenfelde (Hg.): VonderArbeiterbewegung zummodernen Sozialstaat. Festschrift fürGerhard A. Ritter zum65. Geburtstag, München u.a. 1994, S. 790– 804. Vgl. Eric Larsen: Marxism-Leninism’s Loss of Revolutionary Momentum: Conflict andRou-
29. tinization in the East German State, 1961– 1971, Diss. Seattle 1994, S. 12– 5 Vgl. Heldmann, Herrschaft (wie Anm.2).
Konsumpolitik
inderDDR 1971 bis 1989
345
Der erste Abschnitt skizziert und kontextualisiert die preispolitischen Entscheidungen derSED-Spitze zuBeginn dersiebziger Jahre sowie deren Modifikation gegen Ende desJahrzehnts. Thesenartige Antworten aufdie schwierige Frage nach Stabilitätsgewinnen oder -verlusten werden anschließend auf zwei Ebenen gesucht. Teil Zwei fragt nach derReaktion der Konsumenten auf diese Preispolitik, während sich im dritten Abschnitt der Fokus auf die Wirkungen im Herrschaftszentrum selbst richtet.
I. Der wirtschaftspolitische Kurs der SED war im Machtkampf umdie SED-Spitze zwischen Erich Honecker und Walter Ulbricht gleichermaßen Gegenstand und taktisches Instrument. Der überambitionierte Versuch der späten sechziger Jahre, ausgewählte Schlüsselindustrien in einem enormen Kraftakt technologisch und wirtschaftlich an die Weltspitze zu bringen, hatte nicht die erhofften Resultate gezeitigt, aber die Auslandsverschuldung der DDR abrupt in die Höhe getrieben undzueiner relativen Vernachlässigung anderer Branchen –nicht zuletzt imKonsumgütersektor –geführt. Die Defizite der Ulbrichtschen „Strukturpolitik“waren seit demSommer 1970 zunehmend kritisch diskutiert worden, undbereits imSeptember war der ökonomische Modernisierungskurs gegen den Willen des alterndenSED-Chefs weitgehend abgebrochen worden. Im Machtkampf umdie Parteispitze waren die Defizite der Konsumgüterversorgung ein wesentliches und gezielt eingesetztes Argument gegen dengeschwächten Staats- undParteichef. Der Personalwechsel sollte so auch für einen wirtschaftspolitischen Kurswechsel stehen. In der „Strukturpolitik“der späten sechziger Jahre war die Steigerung des Lebensstandards einer erfolgreichen Modernisierung der Industrie der DDR konzeptionell nachgeordnet; dazu sollten der Bevölkerung im Konsumbereich in der Hoffnung auf eine spätere Wohlstandsmehrung in der Gegenwart durchaus Opfer abverlangt werden. Sparsam dosierte Verbesserungen der Lebenslage sollten vor allem der Steigerung der Arbeitsproduktivität dienen undkonzentrierten sich dabei stark auf die Betriebsebene. DerandieMacht strebende Erich Honecker stand für ein anderes Konzept. Noch während des Machtkampfs setzte er, quasi im Handstreich, unter Umgehung der für Wirtschaft zuständigen Spitzenfunktionäre in einem Politbürobeschluss die „Hebung des Volkswohlstands“an die Spitze nicht nur der ökonomischen, sondern auch der politischen Agenda.6 Das in den späteren internen Beratungen immer wieder dafür ins Feld geführte optimistische Argument lautete, die schnelle undbreite Steigerung des Lebensstandards werde 6
Arbeitsprotokoll der PB (Politbüro)-Sitzung vom 16.2.1971, SAPMO-BArch (Stiftung Archiv derParteien undMassenorganisationen derDDRimBundesarchiv), DY 30, J IV 2/2A/1499; vgl. Christoph Boyer/Peter Skyba: Sozial- undKonsumpolitik als Stabilisierungsstrategie. Zur Genese der„ Einheit vonWirtschafts- undSozialpolitik“in der DDR, in: Deutschland Archiv 32 (1999), S. 577– 590; Peter Hübner/Jürgen Danyel: Soziale Argumente im politischen 1971, in: ZfG 50 (2002), S. 804– Machtkampf: Prag, Warschau, Berlin 1968– 832.
346
Peter Skyba
eine bewusstseinsinduzierte rasche Steigerung der Arbeitsproduktivität nach sich ziehen, die wiederum weitere Verteilungsspielräume schaffen werde.7 Der VIII. SED-Parteitag erhob imJuni 1971 die „Erhöhung desmateriellen undkulturellen 8 und fixierte damit ein Dogma, Lebensniveaus des Volkes“zur „Hauptaufgabe“ dasbis 1989 immer wieder proklamiertes Kernziel der SED-Politik blieb. Begrifflich firmierte die angekündigte Wohlstandssteigerung bald unter demEtikett von , die bereits in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre einen zu„Sozialpolitik“ nächst sehr begrenzten Aufschwung genommen hatte undnun vor allem in den Jahren 1972 bis 1976 eine enorme Ausweitung erfuhr. Der wenig trennscharf gefasste Begriff umfasste weit mehr als die klassischen Felder der Sozialpolitik im eigentlichen Sinn understreckte sich bis auf die Konsumgüterversorgung unddie Arbeitseinkommen.9 Die solcherart zu einer Lebensstandardpolitik erweiterte Sozialpolitik fusionierte schließlich unter dem Schlagwort „ Einheit von WirtschaftsundSozialpolitik“zu einem begrifflichen Leitbild, das, 1976 im Parteiprogramm kanonisiert10, bis zumEnde derSED-Herrschaft Bestand haben sollte. Noch in der Agonie derDDR imMai 1989 verwarf Erich Honeckers Kronprinz, Egon Krenz, das der akuten Wirtschaftskrise geschuldete Ansinnen, den Lebensstandard der Bevölkerung zusenken, mit denWorten, die „ Einheit vonWirtschafts- undSozialpolitik [...] muß fortgeführt werden, denn sie ist ja der Sozialismus in der DDR“ .11 Die Preispolitik warnicht nureiner derzentralen Bestandteile dieses Kurses, sondern hatte sogar gegenüber Maßnahmen Priorität, die sich eher demBereich der klassischen Sozialpolitik zuordnen lassen. Während der Regelungsschub auf 7
8
Vgl. Heinz Klopfer, Persönliche Niederschrift über die Beratung der Grundlinie für die Ausarbeitung des Fünfjahrplanes 1971– 1975 im Politbüro am23.3.1971, 24.3.1971, BArch B, DE 44, bes. Bl. 37 f.; vgl. auch André Steiner: Die DDR-Wirtschaftsreform 1 VA 56131, Bl. 32– dersechziger Jahre. Konflikt zwischen Effizienz- undMachtkalkül, Berlin 1999, S. 543. Direktive des VIII. Parteitags der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands zum Fünfjahrplan für die Entwicklung derVolkswirtschaft der DDR 1971 bis 1975, in: Protokoll derVerhandlungen des VIII. Parteitags der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, 15. bis 19. Juni 1971 in der Werner-Seelenbinder-Halle zu Berlin, Bd. II, Berlin 1971, S. 316– 415, zit. S.
322.
9 Vgl. zum Überblick
Manfred G. Schmidt: Grundlagen der Sozialpolitik in der Deutschen Demokratischen Republik, in: Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, Bd. 1, Grundlagen der Sozialpolitik, herausgegeben vomBundesministerium für Arbeit undSozialordnung unddemBundesarchiv, Baden-Baden 2001, S. 685– 798. 10 Vgl. Programm der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, in: Protokoll der Verhandlun-
gendes IX. Parteitages der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands. Im Palast derRepu-
blik in Berlin, 18. bis 22. Mai 1976, Bd. II, Berlin 1976, S. 209– 266, hier S. 221. 11 Heinz Klopfer: Persönliche Notizen über die Beratung beim Generalsekretär desZK der SED und Vorsitzenden des Staatsrates der DDR, Erich Honecker, betreff Entwurf des Volkswirtschaftsplanes unddes Staatshaushaltsplanes 1990, 16.5.1989, BArch B, DE 1 VA 56317, zit. nach: Hans-Hermann Hertle: Die Diskussion derökonomischen Krisen in derFührungsspitze der SED, in: Theo Pirker/M. Rainer Lepsius/Rainer Weinert/Hans-Hermann Hertle: Der Plan 345, hier S. als Befehl und Fiktion. Wirtschaftsführung in der DDR, Opladen 1995, S. 309–
344.
Konsumpolitik
in derDDR 1971 bis 1989
347
diesem Feld erst 1972 einsetzte, begann die versuchte Neuordnung des Konsumgütersektors noch in derPhase desMachtwechsels. Die SED-Spitze dehnte am26. Januar 1971 das System derKonsumgüterplanung und-bilanzierung in allen Hierarchien vonder Staatlichen Plankommission bis zudenBetrieben undzumHandel erheblich aus. Ein neuer, umfangreicher Versorgungsplan legte exakt fest, welche Produkte nach Menge undWert zentral zuplanen undzubilanzieren seien. Dermehrere hundert Positionen umfassende Katalog führte vonMargarine bis Personenkraftwagen praktisch alle Sortimente auf, bei denen Mangel bestand oder denen besondere „ politische“Bedeutung zugemessen wurde.12 Dieser Versuch, die Konsumgüterproduktion und -distribution stärker unter die Kontrolle der SED-Spitze unddesWirtschaftsapparats zubringen, warTeil derAnstrengungen, die Prärogative derParteiführung über Wirtschaft undStaat zubetonen, undeine dialektische Reaktion auf die an kybernetischen Modellen orientierten ökonomischen Reformbemühungen der späten sechziger Jahre, die einen tendenziellen Verlust vonSteuerungskapazität derZentrale nach sich gezogen hatten. Die Rezentralisierungstendenz traf in besonderem Maß die Preisplanung für Konsumgüter. Bereits im August 1971 versuchte die SED-Führung die Preisplanung stärker ihrer Steuerung undKontrolle zuunterwerfen. Ein später vomMinisterrat in eine staatliche Verordnung umgegossener Politbürobeschluss schrieb die Preisstabilität von am Markt eingeführten Produkten fest und erweiterte sie zugleich auf Substitute ohne wesentliche Neuerung hinsichtlich Qualität, Lebensdauer undGebrauchseigenschaften.13 Die Preisbildung wurde mit der so genannten Preisgruppenplanung in ein enges Korsett gezwängt und nach Preisgruppen dreistufig gegliedert. Die dazu zentral erstellte, umfangreiche Nomenklatur legte fest, welche Produkte in unterschiedlicher Qualität jeweils zu niedrigen, mittleren undhöheren Preisen angeboten werden mussten. Besonderer Wert wurde auf Produktion undAngebot in niedrigen Preissegmenten gelegt. Eine Verlagerung aus demuntersten Segment in höhere sollte ausgeschlossen sein. Parallel zur Einführung dieser Preisgruppenplanung wurde die Preisfestsetzung für neue Produkte zentralisiert unddie Verantwortung des Amts für Preise undderjeweils zuständigen Minister hierfür gestärkt. Schließlich schloss das Politbüro im Fünfjahrplan1975 Preiserhöhungen ebenso optimistisch wie kategorisch aus, zeitraum 1971– während Kostensenkungen bei der Herstellung sich in niedrigeren Endverbraucherpreisen niederschlagen sollten. Diese Neuregelung der Konsumgüterpreisbildung ist in zumindest drei Zusammenhängen zuverorten: 1. Die Parteiführung versuchte damit im politisch sensiblen Bereich der Verbraucherpreise ihre Steuerungs- undKontrollkapazität zusteigern. Gerade 12 Vgl. Arbeitsprotokoll der PB-Sitzung vom 26.1.1971, SAPMO-BArch, DY 30, J IV 2/2A/1494 und 1495. 13 Vgl. Arbeitsprotokoll derPB-Sitzung vom 3.8.1971, SAPMO-BArch, DY 30, J IV 2/2A/1530; Teilabdruck bei Helmut Weiß: Verbraucherpreise in derDDR. Wie stabil waren sie? Schkeu201. ditz 1998, S. 193–
348
Peter Skyba
aufdiesem Feld aber wares derSED-Spitze unddenzentralen Wirtschaftsapparaten nie gelungen, eine konsistente Preispolitik zu formulieren und die Preisbildung unter ihrem Einfluss zubehalten. 1970 beklagten sich beispielsweise Mitarbeiter desMinisteriums fürHandel undVersorgung beim Ministerium für Staatssicherheit, „ daßleitende Wirtschaftsfunktionäre in Fragen der Preispolitik unterschiedliche Auffassungen vertreten; die ‚Meinungen leitenderFunktionäre‘zuProblemen derEVP würden sich laufend wandeln“.14Die sechziger Jahre, in denen der Konsumgütersektor im Windschatten der Modernisierungsbestrebungen gestanden hatte, hatten sogar einen weiteren Kontrollverlust derZentrale mit sich gebracht. Wardie Preisbildung bei Konsumgütern aufgrund der Vielzahl der Erzeugnisse undder in einigen Branchen häufigen Sortimentswechsel ohnehin schwer unter Kontrolle zu behalten, so konnten sich bei schwacher zentraler Steuerung undKontrolle die Interessen von staatlicher Finanzpolitik, Produktion und Distribution stärker Geltung verschaffen.
Zwar galt seit langem der Grundsatz der Preisstabilität; derbetraf allerdings
nuramMarkt eingeführte Produkte. Die Möglichkeit, bei einer Änderung des Produkts höhere Verbraucherpreise festzusetzen, hatten Betriebe undHandel meist mit Rückendeckung durch den an höheren Einnahmen durch produktgebundene Abgaben interessierten Staat vielfach extensiv ausgelegt undselbst bei marginalenVariationen, die weder Qualität noch Lebensdauer tangierten, deutliche Aufschläge erhoben. Resultat war ein in sich widersprüchliches Preissystem, dassowohl Einheitspreise umfasste, die seit denvierziger Jahren oder wie bei Grundnahrungsmitteln von der Abschaffung der Lebensmittelkarten im Jahr 1958 bis 1989 unverändert blieben, als auch Preise, die beispielsweise bei Bekleidungssortimenten, die modischem Wandel unterlagen, binnen Jahresfrist erheblich anstiegen.15 Da Betriebe, Handel und auch der Staatshaushalt ausdemoben genannten Grund ein Interesse an höheren Preisen hatten, war diese latente Inflationierung schwer in den Griff zu bekommen. Gegen Ende der sechziger Jahre hatte sich der Preisauftrieb erheblich beschleunigt. Ungeachtet desDogmas derPreisstabilität begannen Finanz- undPreisbehördenbei in vielen Segmenten stagnierendem bzw. sogar rückläufigem Warenangebot zur systematischen Kaufkraftabschöpfung an der Preisschraube zu drehen. Hinzu kamen durch die festgelegten Preisbildungsmechanismen quasi 14 Einige Hinweise zurReaktion wirtschaftsleitender Funktionäre imZusammenhang mitvorgesehenen Regulierungen vonEinzelhandelsverkaufspreisen in derDDR, o.V. [MfS (Ministeriumfür Staatssicherheit), vermutlich ZAIG (Zentrale Auswertungs- undInformationsgruppe) oder Abt. XVIII], 22.12.1970, BStU (Bundesbeauftragter für die Unterlagen des Staatssicher28, heitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik), ZAIG 1871, Bl. 19– zit. Bl. 21; vgl. Heldmann, Herrschaft (wie Anm. 2). 15 Ebenda; Ina Merkel: Utopie undBedürfnis. Die Geschichte der Konsumkultur in der DDR, 61. Köln/Weimar/Wien 1999, S. 57–
Konsumpolitik
in der DDR 1971 bis 1989
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automatische Preissteigerungen vor allem bei verschiedenen Bekleidungssortimenten, bei denen erstmals synthetische Fasern verwendet wurden. Nach wohl eher konservativen Berechnungen hatten sich die Durchschnittspreise für Konsumgüter 1970 gegenüber 1965 durch Sortimentsverschiebungen um neun Prozent erhöht, in einigen Warengruppen waren sie auf dasAnderthalbfache gestiegen. Mehr als ein Drittel der Steigerung des Einzelhandelsumsatzes ging in diesem Zeitraum auf das Konto von Preiserhöhungen.16 Insbesondere 1970 hatte sich der Preisauftrieb extrem beschleunigt: Etwa drei Viertel des Einzelhandelsumsatzwachstums (2,665 Milliarden Mark gegenüber dem Vorjahr) resultierte aus Preissteigerungen; bei Sortimenten wie Schuhen, Lederwaren, Bekleidung undTextilien standen einem deutlich gesunkenen Angebot drastische Preiserhöhungen gegenüber.17 Besonders von der Lohnentwicklung abgekoppelte, produktionsferne Gruppen mit knappem Haushaltsbudget wie die Rentner waren von der Inflation betroffen. Andere Teile der Bevölkerung verfügten über erhebliche Kaufkraft, der kein entsprechendes Warenangebot gegenüber stand. Der Stopp oder zumindest die Eindämmung des Preisauftriebs schien besonders angezeigt, weil die Bevölkerung zunehmendunduldsamer auf Preissteigerungen undVersorgungsengpässe reagierte. Anfang Dezember 1970 notierte das Ministerium für Staatssicherheit, „häufig“sei die Meinung zu hören, die Versorgung sei so schlecht wie nie in den häufig“würde die Wirtschaftspolitik derDDR in Zweifel letzten Jahren, und„ gezogen. Die Lage habe sich so zugespitzt, dass die Äußerungen aggressiven Charakter annähmen undvereinzelt Vergleiche mit derLage vor dem 17. Juni 1953 gezogen würden.18 Zwar drohte in der DDR wohl kaum ein neuer Aufstand, aber immerhin hatten die von Versorgungsdefiziten undPreiserhöhungenausgelösten polnischen Unruhen vomDezember 1970, die zwar mitWaffengewalt niedergeschlagen wurden, aber dennoch einen Wechsel an derpolitischen Spitze des Landes zur Folge hatten, die mögliche Brisanz demonstriert.19
16 Vgl. Information, Entwicklung der Durchschnittspreise (EVP) 1970 gegenüber 1965, o. Verfasser (vermutlich Amtfür Preise), 18.6.1971, SAPMO-BArch, DY 30, IV A2/6.08/99. 17Vgl. Amtfür Preise, Information über die Entwicklung derVerbraucherpreise für Konsumgüter, 20.6.1973, BArch B, DE 1 VA 56161. 18 MfS, Zentrale Auswertungs- undInformationsgruppe, Information über einige Probleme der Versorgung der Bevölkerung (Stand 1.12.70), BStU, ZAIG 1871, Bl. 1– 18, bes. Bl. 1 und 5; vgl. auch MfS, Zentrale Auswertung- undInformationsgruppe, Information über einige Probleme derVersorgung derBevölkerung, 3.9.1970, BStU, ZAIG4991. 19 Heinz Klopfer, Persönliche Niederschrift über die Beratung der Grundlinie für die Ausarbei1975 im Politbüro am 23.3.1971, 24.3.1971, BArch B, DE 1 tung des Fünfjahrplanes 1971– VA56131, Bl. 32– 44, bes. Bl. 39; vgl. auch Steiner: Wirtschaftsreform (wie Anm. 7), S. 543 f. undPeter Skyba: Die Sozialpolitik derÄraHonecker aus institutionentheoretischer Perspektive, in: Christoph Boyer/Peter Skyba (Hg.): Repression undWohlstandsversprechen. ZurStabi62, hier S. 53– lisierung vonParteiherrschaft in derDDRundderCSSR, Dresden 1999, S. 49– 55.
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Peter Skyba
2. Eine Interpretation derneuen
Preisbildungsrichtlinien
als kurzfristige
präven-
tive Pazifizierungbemühung allein griffe allerdings viel zu kurz. Vielmehr wardie damit verheißene Preisstabilität bei wachsenden Einkommen undaus-
geweitetem Konsumgüterangebot zentraler Bestandteil der Politik der . Dieunter diesem Label betriebene Politik trug stets ambivaHauptaufgabe“ „ lente Züge. Auf der einen Seite versuchte die SED-Führung erkannte soziale Problemlagen –etwa dengroßen Abstand der Renten zu denArbeitseinkommenoder im Wohnungsbau –zu korrigieren undzielgerichtete Sozialpolitik zubetreiben, wie etwa bei derFrauen- undFamilienförderung, dieunter dem Druck des Arbeitskräftemangels die Vereinbarkeit von Mutterschaft undBerufstätigkeit erleichtern sollte. Auf deranderen Seite waren ArtundZuschnitt derneuen Leistungen dezidiert demZiel derStabilisierung desSED-Regimes undder Integration der Bevölkerung untergeordnet. In Konfliktfällen siegte der Wunsch, durch populäre undbreit gestreute Leistungsausweitungen bei derBevölkerung Zustimmung zumRegime zugenerieren, über problemorientierte, differenzierte Vorschläge, dieauchversuchten, diewirtschaftliche Leistungsfähigkeit derDDRin Rechnung zustellen. Beispielsweise konterte Erich Honecker bei der Konzipierung des ersten großen sozialpolitischen Maßnahmebündels, das 1972 die Ankündigung der „Hauptaufgabe“konkretisieren sollte, die vergleichsweise zielgerichteten Vorschläge der Apparate mit der Forderung, diekünftigen Leistungen so zuzuschneiden, „ daßdergrößte politische Effekt erreicht wird“ .20Die Preisstabilität bei Konsumgütern hatte unter diesem Gesichtpunkt allergrößten Stellenwert. Wie daseinleitend vorgestellte Zitat zeigt, richtete sich die Hoffnung darauf, stabile Preise würden „ Vertrauen“zum proklamierten Wohlstandskurs und damit zum Regime schaffen. Preisstabilität war so ein Kernelement der Sozialpolitik unddamit auch des Stabilisierungskonzepts der siebziger Jahre, undsie blieb es auch, als sich die wirtschaftliche Lage der DDR in der Mitte des Jahrzehnts derart zuspitzte, dass selbst die Optimisten in der Parteiführung kaum noch Spielräume für neue Leistungen sahen. In dieser Phase verschob die SED-Spitze allmählich denSchwerpunkt vonder Expansion in der Sozialpolitik auf die Konservierung des erreichten Stands undauf die symbolische Seite; Begriffe wie „soziale Sicherheit“oder „ Geborgenheit“sollten –insbesondere im Kontrast zu den perhorreszierten Verhältnissen der Bundesrepublik –eine affektive Bindung an die DDRunddas Regime schaffen, eine Bindung, die mangels Verteilungsspielraum zusehends weniger materiell zu fördern war. Obwohl die bei stabilen Preisen wachsenden Produktsubventionen zu einer rasch zunehmenden Belastung für den Staatshaushalt wurden undsich die Stimmen in den Apparaten mehrten, die
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Information zumErgebnis der Beratung beim 1. Stellv. des Vorsitzenden des Ministerrates, Genossen Sindermann, über die Ausarbeitung sozial-politischer Maßnahmen vom25.2.1972, o. Verfasser (Udo-Dieter Wange), 28.2.1972, BArch B, DE 1 VA 56129, Bl. 188– 191, zit. Bl.
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eine Umverteilung der Mittel zugunsten von Investitionen in der Industrie forderten, stieg Preisstabilität auch zum Bestandteil der Propaganda von der sozialen Sicherheit“auf, während Felder der Sozialpolitik im engeren Sinn „ ins Hintertreffen gerieten. Bereits 1975 verschob Honecker die Schwerpunkte von Wirtschafts- undSozialpolitik in diese Richtung: „ Die Hauptaufgabe ist in der Richtung weiterzuführen, daß [...] hohe Leistungen auf demWege der
Intensivierung erreicht werden unddie soziale Sicherheit in den Mittelpunkt der Entwicklung der Arbeits- undLebensbedingungen gestellt wird. Soziale Sicherheit bedeutet vor allem, Stabilität der Preise [...], Durchführung des Wohnungsbauprogramms, Erhaltung undErweiterung derKapazitäten imGesundheitswesen und Sicherung des Schulprogramms.“21Offene Preiserhöhungenblieben selbst noch einTabu, als sich die DDRlängst in einer binnen- wie außenwirtschaftlichen Krise befand, diegroßen Teilen derWirtschaftsfunktionäre nicht mehr überwindbar schien. So schmetterte Erich Honecker 1979 den ausderNotgeborenen Vorschlag, Konsumgüterpreise drastisch undauf breiter Front zu erhöhen, mit der Bemerkung ab: „Wenn man das macht, dann 22Die Furcht kann gleich dasPolitbüro zurücktreten unddie Regierung auch.“ vor den herrschaftsunterminierenden Folgen von Preissteigerungen überwog die Furcht vor den Konsequenzen der Wirtschaftskrise. 3. Schließlich trug die Preispolitik der siebziger undachtziger Jahre auch ideologische undsozialutopische Züge. Wichtige Akteure teilten die ideologiegeprägte Perzeption sozioökonomischer Verhältnisse der zwanziger Jahre und die Erfahrung von Inflation undWeltwirtschaftskrise. Die möglichst günstige Sicherung derGrundbedürfnisse Arbeit, Wohnen undErnährung hatte in diesemWeltbild einen hohen Stellenwert. Sozialutopische Vorstellungen vonder Stillung solcher Bedürfnisse zum Nulltarif konnten sich zeitweise um so leichter Bahn brechen, als nach der 1971 verbindlich gemachten parteioffiziellen Gesellschaftsinterpretation das Ziel des Kommunismus in greifbare Nähe gerückt schien. Denn nach dem Konzept der „entwickelten sozialistischen Gesellschaft“befand sich der Sozialismus der DDR bereits in einer Phase, in der sich erste Elemente des Kommunismus herausbilden würden.23 Amhervorstechendsten ist dieser Aspekt bei derNeuregelung derMietpreise.
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22 23
Gerhard Schürer, Vermerk über ein Gespräch mit Honecker, 31.1.1975, BArch B, DE 1 VA 56256, Bl. 486– 494, zit. Bl. 486; vgl. zumFolgenden auch Peter Skyba: Sozialpolitik als Herrschaftssicherung. Entscheidungsprozesse undFolgen in der DDR der siebziger Jahre, in: Clemens Vollnhals/Jürgen Weber (Hg.): Der Schein derNormalität. Alltag undHerrschaft in der SED-Diktatur, München 2002, S. 39– 80. Notizen zurBeratung desPolitbüros desZentralkomitees derSED zumPlanentwurf 1980 am 27. November 1979, o. Verfasser (vermutlich Heinz Klopfer), 27.11.1979, BArch B, DE 1 VA 56296, Bl. 434– 456, zit. Bl. 436; vgl. Hertle, Diskussion (wie Anm. 11), S. 318. Vgl. Kurt Hager: Die entwickelte sozialistische Gesellschaft. Aufgaben derGesellschaftswissenschaften nach dem VIII. Parteitag der SED, in: Einheit 26 (1971), S. 1203– 1242, hier S. 1212; vgl. auch Sigrid Meuschel: Legitimation undParteiherrschaft. ZumParadox von Stabili1989, Frankfurt/M. 1992, S. 221– tät undRevolution in derDDR 1945– 226.
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Peter Skyba
Schon frühzeitig hatte Honecker verlangt, „ die Ideologie der kostendeckenden Miete“zu „ beseitigen“ , weil sie seiner Meinung nach die Arbeiter besonders beim Zugang zudenbegehrten Neubauwohnungen benachteilige;24 tatsächlich warder hohe Anteil von Angestellten undder Intelligenz an denBewohnern vonNeubauvierteln wohl eher ein Ergebnis derWohnungsvergabepraxis. Als es 1972 darum ging, die 1966 eingeführte, zwischen Alt- undNeubauten differenzierende Mietregelung zu modifizieren, hatten sich die zuständigen Apparate auf einen Vorschlag verständigt, der nach Art eines Wohngelds Zuschüsse zur Miete in Abhängigkeit vomEinkommen undFamilienstand vorsahundnurdenBeschäftigten dervolkseigenen Wirtschaft zukommen sollte. Honecker drängte demgegenüber auf eine Einheitsmiete. In der Perspektive tauchte jetzt sogar die Vorstellung auf, „ daßbereits im Sozialismus dasWohnen kostenlos wird“ .25Das Ergebnis dieses Prozesses war die bekannte Einheitsmiete, die lediglich zwischen denBezirken derDDRundOstberlin differenzierte, die Miete vondenWohnungskosten vollends entkoppelte undeiner der größten Subventionsposten im Staatshaushalt der DDR werden sollte. Damit entsprachen die Charakteristika derMietpreisregelung in vielen Teilen denPrinzipien deskünstlich niedrig gehaltenen Preisniveaus: Diewenig differenzierte Verteilung nach demGießkannenprinzip minimierte die Möglichkeiten der Verbrauchssteuerung undder Reaktion auf veränderte wirtschaftliche Bedingungen undführte zueinem raschen, in denachtziger Jahren dann explodierenden Anstieg derSubventionslasten.
Die Grenzen derkonsumorientierten Wirtschaftspolitik wurden aber bereits in der Mitte der siebziger Jahre immer unübersehbarer, als die DDR in eine sich schnell zuspitzende Wirtschaftskrise geriet. In diesem Zusammenhang muss der Verweis auf die Phänomene genügen.26 Die Effizienz der Rationalisierungsinvestitionen blieb weit hinter denKalkulationen zurück unddie extensiv ausgeweitete Produktion konnte mit der durch die raschen Einkommenszuwächse davoneilenden Kaufkraft nicht Schritt halten. In den wachsenden Sparguthaben spiegelte sich 24 Heinz Klopfer, Persönliche Niederschrift über die Beratung der Grundlinie für die Ausarbei1975 im Politbüro am 23.3.1971, 24.3.1971, BArch B, DE 1 tung des Fünfjahrplanes 1971– 44, zit. Bl. 41. VA 56131, Bl. 32– 25 Schreiben vonErich Wappler (Leiter derZK-Abteilung Planung undFinanzen)/Fritz Brock an Günter Mittag, 2.2.1972 mit Vorschlägen auf sozialpolitischem Gebiet, SAPMO-BArch, DY 30, vorläufig 11658. 26 Vgl. zum Überblick André Steiner: Zwischen Konsumversprechen und Innovationszwang. Zum wirtschaftlichen Niedergang der DDR, in: Konrad H. Jarausch/Martin Sabrow (Hg.): Wegin denUntergang. Derinnere Zerfall derDDR, Göttingen 1999, S. 152– 192; Armin Volze: Zur Devisenverschuldung der DDR–Entstehung, Bewältigung undFolgen, in: Eberhard Kuhrt (Hg.) in Verbindung mit Hannsjörg F. Buck undGunter Holzweißig im Auftrag des Bundesministeriums desInnern: Die Endzeit derDDR-Wirtschaft –Analysen zurWirtschafts, Sozial- und Umweltpolitik (Am Endes des realen Sozialismus. Beiträge zu einer Bestandsaufnahme der DDR-Wirklichkeit in den 80er Jahren Bd. 4), Opladen 1999, S. 151– 183, 159. bes. S. 152–
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eine zurückgestaute Inflation. Die Entscheidungen etwa zu den Miet- und Produktsubventionen oder zu den Investitionen für den Wohnungsbau schlugen immerstärker auf den Staatshaushalt durch. Der zweite Aspekt der „Hauptaufgabe“ –die Steigerung der Arbeitsproduktivität –kambei Weitem nicht zurerwarteten Entfaltung. Da die Industrie nicht genügend Produkte zur Verfügung stellen konnte, dieaufdenwestlichen Märkten konkurrenzfähig undzudenerwarteten Preisen absetzbar waren, stiegen Importüberschuss undHandelsbilanzdefizit. Schon Mitte der siebziger Jahre bereitete es Schwierigkeiten, die Zahlungsbilanz der DDR über internationale Finanzkredite und Devisenzuschüsse des Staates aus Sondereinnahmen wie den Häftlingsfreikäufen und den getarnten Geschäften des Schalck-Imperiums Kommerzielle Koordinierung auszugleichen. Hinzu kamen zwei Wellen drastischer Preissteigerungen auf den internationalen Rohstoffmärkten. Wegen der Preisbildungsmechanismen innerhalb des RGW schlugen diese zwar zeitverzögert auf die DDR durch, die Sowjetunion hatte aber frühzeitig erkennen lassen, dass sie in derzweiten Hälfte der siebziger Jahre erheblich höhere Preise für Rohstoffe verlangen würde.27 Für die rohstoffarme DDR bedeutete die deutliche Verschlechterung der terms of trade eine binnenwirtschaftliche Herausforderung ersten Ranges. In der Führungsetage der SED war bereits 1975 zum ersten Mal von einer drohenden internationalen Zahlungsunfähigkeit, von der Gefahr der „ Pleite“die Rede.28 Nicht erst Anfang der achtziger Jahre, wie oftmals angenommen, sondern bereits Mitte der siebziger Jahre war der ökonomische Handlungsspielraum weitgehend ausgereizt. Der Kaufkraftüberhang erforderte eine größere Konsumgüterproduktion und höhere Investitionen; gleichermaßen verlangte die Herstellung konkurrenzfähiger Produkte für den Export mehr Investitionsmittel. Schuldentilgung und Zinszahlungen machten den Export aller absetzbaren Güter –zunehmend unabhängig von der Rentabilität –notwendig. Zudem ließen das Veralten der Industrieausrüstungen und die Vernachlässigung der Infrastruktur erkennen, dass für die Modernisierung erheblich mehr Mittel bereitgestellt werden mussten, wenn die ostdeutsche Ökonomie ihre Zukunftsfähigkeit nicht völlig einbüßen sollte. Die Veränderung deseinen Parameters konnte nurnoch zuLasten desanderen vorgenommen werden. Entgegen einer populäreren Sichtweise sollte diese Krisenlage jedoch nicht allein auf die wirtschaftspolitischen Weichenstellungen der siebziger Jahre zurückgeführt werden. Vielmehr führten strukturelle Innovationsschwäche,29 systembedingt niedrige Arbeitsproduktivität,30 die Verschlechterun27 Vgl. Ralf Ahrens: Gegenseitige Wirtschaftshilfe. Die DDR im RGW. Strukturen undhandelspolitische Strategien 1963– 311. 1976, Köln u.a. 2000, S. 302– 28 Handschriftliche Notizen über eine Beratung zumFünfjahrplan 1976– 1980, o. Verfasser (Gerhard Schürer), o.D. (ca. 5.5.1975), BArch B, DE 1 VA 56166. 29 Vgl. Gernot Gutmann: In der Wirtschaftsordnung der DDR angelegte Blockaden und Effizienzhindernisse für die Prozesse der Modernisierung, des Strukturwandels und des Wirtschaftswachstums, in: Kuhrt (Hg.), Endzeit (wie Anm.26), S. 1– 57. 30 Vgl. Albrecht Ritschl: Aufstieg und Niedergang der Wirtschaft der DDR. Ein Zahlenbild 1989, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 1995/2, S. 11– 1945– 46, bes. S. 23– 17.
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genderAußenwirtschaftsbedingungen unddie konsumorientierte Wirtschaftspolitik in dieKrise. Gerade das Verhältnis von Konsumtion undInvestition wurde aus Sicht der Wirtschaftsfunktionäre zunehmend prekär. Der Anteil der improduzierenden Bereich eingesetzten Investitionen am Nationaleinkommen war von elf Prozent im Zeitraum 1966 bis 1970 auf 9,6 Prozent im Jahr 1978 gesunken. Ausdruck des stark extensiven undwenig intensiven Wirtschaftswachstums undbesonders problematisch war, dass beispielsweise imJahr 1977 nahezu die Hälfte dieser Investitionen in denNeubau unddie Erweiterung vonKapazitäten geflossen waren, während für Rationalisierungsmaßnahmen nur ein Viertel aufgewendet wurde. Nach 1975 ging die Effektivität dereingesetzten Investitionen stark zurück; gleichzeitig wuchs der Umfang der überalterten und abgeschriebenen Industrieausrüstungen weiter. DerAnteil derimnichtproduzierenden Bereich eingesetzten Investitionen amNationaleinkommen stieg dagegen von7,7 Prozent in denJahren von 1966 bis 1970 auf9,4 Prozent imFünfjahrplanzeitraum 1976 bis 1980.31 Verschärft wurde dasProblem, weil diedurch expandierende Sozialleistungen unddurch –besonders vonHonecker verfochtene –regelmäßige Erhöhungen der Arbeitseinkommen wachsende Kaufkraft einen zusätzlichen Druck ausübte, die Konsumgüterproduktion auszuweiten. Preissteigerungen zur Abschöpfung des Kaufkraftüberhangs undletztendlich zur Beschränkung der für die Konsumgüterherstellung erforderlichen Ressourcen schien aus Sicht vieler Wirtschaftsfunktionäre in dieser Situation eine verlockende Perspektive. ImVerlauf der siebziger Jahre hatten vor allem Wirtschaftsfunktionäre immer wieder Vorstöße unternommen, die auf eine Modifikation des 1971 eingeschlagenenKurses undin derRegel auf eine Begrenzung derKonsumtion zugunsten von Investitionen zielten.32 Dabei blieben auch bisherige Tabus wie etwa Mieterhöhungen nicht unangetastet.33 Allerdings scheiterten solche Vorschläge regelmäßig am Einspruch der engeren Führung um Honecker. Erst als sich aber 1979 abzeichnete, dass es auch unter günstigsten Annahmen nicht gelingen würde, einen nach den ohnehin weichen Kriterien der Zentralverwaltungswirtschaft auch nur halbwegs stimmigen Planentwurf für das Folgejahr zu entwerfen, wuchs die Bereitschaft derpolitischen Führung für vorsichtige Abstriche amKonsumkurs. Vor diesem Hintergrund entstand derwohl drastischste Vorschlag fürPreiserhöhungen imKonsumsektor, derselbst zwar scheiterte, gleichwohl langfristig zueiner Politik der Preiserhöhungen führte. Sogar Erich Honecker schreckte vor diesem bri-
31 Vgl. Arbeitsprotokoll der PB-Sitzung vom 30.10.1979, SAPMO-BArch, DY 30, J IV 2/2A/2269, 2270 und2271. 32 Vgl. einige knappe Beispiele bei Hertle, Diskussion (wie Anm. 11). 33 Vgl. ZK-Abteilung Planung und Finanzen/ZK-Abteilung Bauwesen, Information über die Untersuchung zumEntstehen eines Vorschlages zurÜberprüfung dergeltenden Bestimmungenfür die Festsetzung vonMieten in Abhängigkeit vonderEinhaltung neuzuerarbeitender Wohnraumbelegungsnormen, 19.10.1979, SAPMO-BArch, DY 30, vorläufig 22170, sowie ZK-Abteilung Bauwesen anGünter Mittag, 25.10.1979, mitAktenvermerk, ebenda.
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santen Thema nicht mehr zurück underteilte im Juli 1979 über Ministerpräsident Willi Stoph an den Leiter des Amts für Preise, Walter Halbritter, den Auftrag, eine Politbürovorlage mit Vorschlägen für Preiserhöhungen unter anderem bei Spirituosen, Benzin, Diesel, Heizöl undausgewählten Sortimenten der Kinderbekleidung zu erarbeiten.34 Unter Federführung vonFinanzminister Siegfried Böhm, Gerhard Schürer undWerner Halbritter entstanden daraufhin mehrere Entwürfe, die weit mehr Produkte erfassten undErhöhungen der Verbraucherpreise im Volumen zwischen 7,2 und22 Milliarden Mark vorsahen. Auf Weisung Günter Mittags wurden die gemäßigteren Ansätze verworfen undimAugust Erich Honecker eine Variante vorgelegt, die Preiserhöhungen von insgesamt 21 Milliarden Mark vorsah.35 Ausgenommen von radikalen Preissteigerungen sollten nicht einmal Grundnahrungsmittel bleiben, deren Preisstabilität sich die DDR bis dahin stets besonders gerühmt hatte. Ein Blick auf einzelne Posten lohnt; er illustriert nicht nur die Dimension undsoziale Sprengkraft der Planungen, sondern zeigt auch, welcher Reformbedarf sich nach Auffassung derWirtschaftsfunktionäre aufgrund der Politik der Preisstabilität im Lauf der Jahre angestaut hatte. Im Einzelnen wurde vorgeschlagen, die Preise für importierte oder importabhängige Produkte wie Kraftstoff, Fleisch und Wurstwaren, Kaffee, Baumwollerzeugnisse, Schuhe undauch Kinderbekleidung je nach Produkt um40 bis 130 % zuerhöhen, woraus sich ein Steigerungsvolumen von 14 Milliarden Mark ergeben hätte. Vor allem zur Kaufkraftabschöpfung waren Preissteigerungen bei Wein, Sekt und Spirituosen im Gesamtumfang von 2,5 Milliarden Mark gedacht. Grundnahrungsmittel wieBrot undBrötchen, Kartoffeln, Mehl, Butter, Käse undZucker sollten um33 bis 80 % teurer werden, umSubventionen zu sparen, umdie durch die bisherigen niedrigen Preise begünstigte Verschwendung einzudämmen undumden Abkauf durch Bürger vor allem Polens undderCSSR einzuschränken (Volumen 2,9 Milliarden Mark). Schließlich sollten die Preise für PKW um die Hälfte, die für PKW-Ersatzteile ebenso wie die Gebühren für Post undTelekommunikation um 65 % steigen. Lediglich etwa ein Drittel des vorgeschlagenen Preissteigerungsvolumens sollte über Ausgleichszahlungen an besonders betroffene einkommensschwache Gruppen undeine Kindergelderhöhung kompensiert werden. Zur Einstufung der Größenordnungen: Das Statistische Jahrbuch derDDRwies dengesamten Einzelhandelsumsatz des Jahres 1978 mit 92,490 Milliarden Mark aus.36 Die SPK rechnete als Folge der vorgeschlagenen Preissteigerungen mit der Möglichkeit, das
34 Vgl. MfS, Hauptabteilung XVIII, Information über die Ausarbeitung von Vorschlägen zur Herstellung einer besseren Übereinstimmung der Entwicklung der Kaufkraft unddes Warenfonds 1980 sowie zur Sicherung normaler Touristenabkäufe durch Verbraucherpreiserhöhungen, 7.8.1979, BStU, HAXVIII, 1248, Bl. 1– 6. 35 Vgl. zumfolgenden Gerhard Schürer/Werner Halbritter/Siegfried Böhm, Berechnungen und Varianten zurErhaltung undStärkung derMarkstabilität, Kaufkraftbindung, Verbesserung der Zahlungsbilanz und zur Sicherung normaler Touristenabkäufe, 6.8.1979, BA B, DE 1 VA 56296, Bl. 117– 211. 36 Statistisches Jahrbuch derDDR, Berlin (Ost) 1985, S. 234.
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materielle Volumen des Warenangebots verglichen mit den Planvorgaben für 1979 auf 92 % herunterfahren zu können, während es durch die Preiserhöhungen wertmäßig auf 115 bis 117 % wachsen sollte. Insgesamt rechneten die Planer mit einem Rückgang des Realeinkommens pro Kopf der Bevölkerung umzehn Prozent.37
Faktisch war das Konzept ein Frontalangriff auf den 1971 eingeschlagenen Aufkonsumsozialistischen Kurs underinnert gleichermaßen andie imZuge des„ baus der Grundlagen des Sozialismus“im Vorfeld des 17. Juni 1953 verfügten Preissteigerungen unddennach der Entmachtung Honeckers imNovember 1989 dem Politbüro vorgelegten Katalog, der als Notbremsung auf der Fahrt in den Staatsbankrott gedacht war.38 DerBrisanz waren sich fast alle Beteiligten bewusst; nach Erkenntnissen des MfS waren mit Ausnahme von Mittag, Schürer und Böhm, die wohl im Konflikt umpolitische oder ökonomische Stabilisierung letzterer den Vorrang gaben, alle in die Ausarbeitung einbezogenen nachgeordneten daßdie [...] vorFunktionäre des Amts für Preise undder SPK der Auffassung, „ geschlagenen Verbraucherpreiserhöhungen politisch nicht zu vertreten sind und konterrevolutionäre Ausschreitungen herbeiführen können“ .39 Wenigstens mit negativen Auswirkungen auf diepolitische Moeiner „Schockwirkung“undmit „ ral undden Leistungswillen breiter Schichten der Werktätigen“rechnete auch das Mielke-Ministerium.40 Nach demZeugnis Honeckers standen bei einer ersten Diskussion des Materials auf Spitzenebene –vermutlich imAugust 1979 –dennoch die führenden Funktionäre hinter dendrastischen Maßnahmen. DerParteichef selbst machte wohl aus taktischen Gründen erst imNovember 1979 im Politbüro klar, dass ihre Realisierung seiner Auffassung nach eine akute Gefahr fürdenBestand desSED-Regimes bedeuten würde.41 Offenkundig gingen die Vorschläge weit über seine ursprünglichen Vorstellungen hinaus. Einmal beschlossene Leistungen seien „sozialer Besitzstand“ , die nicht zurückgenommen werden könnten: 37 Vgl. ZK-Abteilung Planung und Finanzen, Übersicht über die Vorschläge der Staatlichen Plankommission zu Kennziffern des Volkswirtschaftsplanes 1980, 30.7.1979, SAPMOBArch, DY 30, vorläufig 22153/1. 38 Vgl. zu 1989: Gernot Schneider: Lebensstandard undVersorgungslage, in: Die Endzeit der DDR-Wirtschaft –Analysen zurWirtschafts-, Sozial- undUmweltpolitik, herausgegeben von Eberhard Kuhrt (Hg.) in Verbindung mit Hannsjörg F. Buck undGunter Holzweißig im Auftrag des Bundesministeriums des Innern (AmEnde des realen Sozialismus. Beiträge zu einer Bestandsaufnahme der DDR-Wirklichkeit in den 80er Jahren Bd. 2), Opladen 1996, S. 111– 130, hier S. 228 f. 39 Vgl. MfS, Hauptabteilung XVIII, Information über die Ausarbeitung von Vorschlägen zur Herstellung einer besseren Übereinstimmung der Entwicklung der Kaufkraft unddes Warenfonds 1980 sowie zur Sicherung normaler Touristenabkäufe durch Verbraucherpreiserhöhungen, 7.8.1979, BStU, HAXVIII, Bl. 1– 6, zit. Bl. 6. 40 Ebenda. 41 Notizen zurBeratung desPolitbüros desZentralkomitees derSED zumPlanentwurf 1980 am 27. November 1979, o. Verfasser (vermutlich Heinz Klopfer), 27.11.1979, BArch B, DE 1 VA 456, zit. Bl. 436. Vgl. auch Hertle, Diskussion (wie Anm. 11), S. 318. 56296, Bl. 434–
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„ Renten sind ein sozialer Besitzstand. Das mußman als festen Posten einsetzen. [...] Und 1985: dann sage ich, wasmußfortgeführt werden, besonders auch fürdenPlan 1981–
DasWohnungsbauprogramm einschließlich Baureparaturen. [...]
Die Bezahlung nach Leistung. Wir haben die Grundlöhne eingeführt. Effektivlöhne.
Das sind aber
Die Mieten müssen bleiben wiesie sind. Imsozialen Wohnungsbau derBRD kostet 1 m210– 12 Mark, beiuns0,80 Markbis 1,20 Mark. [...]
Zu den Preisen. Bei Grundnahrungsmitteln, wo hat sich da etwas verändert seit Jahren? Es bleibt alles beim alten. Das gilt auch für die Dienstleistungen. Die Straßenbahn kostet nach wie vor 20 Pfennige. Kosten für Wäschereileistungen, Reinigung bleiben. Es gibt keinen 42 Anstieg aufdiesem Gebiet.“ Während sich Honecker bei denPreisen für die Grundversorgung kompromisslos zeigte, öffnete er aber zugleich einen Weg zur massiven Kaufkraftabschöpfung und Einnahmesteigerung des Staatshaushalts, der den Schein der Preisstabilität wahren sollte: deutliche Preissteigerungen bei neuen, bei importierten oder importabhängigen Konsumgütern, bei aufwändigeren Produkten undbei Waren, die häufigeren Sortimentswechseln unterlagen. „ Das Leistungsprinzip darf manim Sozialismus injedem Fall nicht zuschütten lassen. Wenn wir das Leistungsprinzip bejahen, dann muß man vertreten, daß für neue Erzeugnisse entsprechende Preise festgelegt werden müssen. [...] Wenn wir den Kern der Sozialpolitik erhalten wollen, müssen wiraufderanderen Seite die Bereitschaft dafür schaffen; auch durch bestimmte Waren, für die die entsprechenden Preise bezahlt werden müssen. [...] Es gibt [...] Menschen, die verfügen über 800 Mark monatlich undwelche über 20.000 Mark. Manmuß 43 füralle etwas haben.“
Lediglich Chefideologe Kurt Hager wies in diesem Zusammenhang vorsichtig auf die Brisanz vonPreiserhöhungen hin, denn es habe sich allgemein die Vorstellung verbreitet, „ daßwir in allem stabile Preise haben“.44Höhere Preise für „Güter mit
höherem Gebrauchswert“würden daher erheblichen Begründungsbedarf gegenüber derBevölkerung schaffen. Ungeachtet dieses Einwands wurden schleichende Preiserhöhungen in der Folge zur offiziell geförderten Praxis. Ausgenommen von den Preissteigerungen sollte künftig allein derGrundbedarf unddamit ein definitionsbedürftiger Teil des Warenangebots sein; konsequenterweise war die SPK bestrebt, diesen Grundbedarf möglichst engauszulegen.45 Welche Blüten diese Preispolitik, die weit über eine Anpassung an gestiegene Kosten oder verändertes Verbraucherverhalten hinausging, innerhalb kürzester
42 Notizen zurBeratung des Politbüros desZentralkomitees der SED zumPlanentwurf 1980 am 27. November 1979, o. Verfasser (vermutlich Heinz Klopfer), 27.11.1979, BArch B, DE 1 VA 456, Bl. 446 f. 56296, Bl. 434– 43 Ebenda, Bl. 437 f. 44 Ebenda, Bl. 451. 45 Vgl. Schürer, Vorschläge für Erzeugnisse, die derNomenklatur des Grundbedarfs, ausgehend vomzentralen Versorgungsplan, zugeordnet werden sollen, o.D. (Januar oder Februar 1980), BArch B, DE 1 VA 56768; vgl. auch Weiß, Verbraucherpreise (wie Anm. 13), S. 38– 73.
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Zeit trieb, zeigte sich beispielsweise bei der Unterhaltungselektronik. Eine Stereokompaktanlage aus DDR-Produktion, deren Einzelkomponenten für 4.670 Mark zu erstehen waren, kostete in einem Schränkchen zusammengefasst beispielsweise –sofern sie im Handel auftauchte –7.200 Mark.46 Insbesondere bei Waren mit häufigen Sortimentswechseln wie Textilien wurde exzessiv an der Preisschraube gedreht. So stiegen etwa die Durchschnittspreise, das heißt die Verbraucherpreise aller drei Preisgruppen der jeweiligen Sortimente, im ersten Halbjahr 1981 im Vergleich zumVorjahreszeitraum bei Schuhen zwischen 110
und 113 % undbei Herrenanzügen um 117 %; dieser Vielzahl von Sortimenten standen nur wenige gegenüber, bei denen der Durchschnittspreis niedriger lag.47 Langfristig wurde dieses Muster derPreissteigerung zurLeitlinie fürdiegesamten achtziger Jahre: Die Preisstabilität beschränkte sich auf denGrundbedarf, also den Subsistenzkonsum, undweitgehend auf Produkte, die normiert undunverändert im Angebot blieben. Bei anderen Sortimenten wurden echte und vermeintliche Produktmodifikationen oder auch nur Änderungen der Verpackung genutzt, um die Preise heraufzusetzen. Damit einher ging eine systematische Intensivierung der auch in den siebziger Jahren nicht völlig unterbundenen Versuche, Produkte aus demnormalen Handel abzuziehen undsie über die hochpreisigeren Filialen von Delikat undExquisit zu verkaufen.48 Hinzu kam, dass die Intershops zunehmend als Bestandteil des Versorgungssystems undder seit 1974 erlaubte Besitz vonDevisen als Voraussetzung fürgehobenen Konsum betrachtet wurden.49 Um gegenüber der Bevölkerung dennoch ein weitgehend ungebrochenes Wachstum des Konsumgüterangebots vortäuschen zu können, wurde der intendierte Preisauftrieb zunehmend zur Grundlage der Plankonzeptionen. Nach einer internen Kalkulation vom April 1981 sollte sich etwa das öffentlich bekanntzugebende jährliche Steigerungsvolumen des Warenfonds von 3,6 Prozent aus einemMengenwachstum zwischen 1,3 und 1,6 Prozent undeinem „Wertzuwachs“ von zwei Prozent zusammensetzen.50 Aber selbst mit diesen Maßnahmen der Kaufkraftabschöpfung glichen die Bemühungen, dasWarenangebot mitderKaufkraft in Einklang zubringen, zunehmend einem Rennen zwischen Hase undIgel, 46 Vgl. AmtfürPreise, 47 48
49
Information überdieKosten unddenVerbrauchspreis fürdieStereokompaktanlage Hi-Fi-Turm SC 1700, 16.7.1980, SAPMO-Barch, DY 30, vorläufig 26549. Vgl. Werner Halbritter, Information über dieErgebnisse derzentralen Kaufhandlungen Herbst 1980, 31.10.1980, SAPMO-Barch, DY 30, vorläufig 26549. Vgl. Annette Kaminsky: Wohlstand, Schönheit, Glück. Kleine Konsumgeschichte der DDR,
146; dieselbe: Ungleichheit in der SBZ/DDR am Beispiel des KonMünchen 2001, S. 144– sums: Versandhandel, Intershop undDelikat, in: Lothar Mertens (Hg.): Soziale Ungleichheit 79. in derDDR. Zueinem tabuisierten Strukturmerkmal derSED-Diktatur, Berlin 2002, S. 57– Vgl. Jonathan R. Zatlin: Consuming Ideology. Socialist Consumerism and the Intershops 1989, in: Peter Hübner/Klaus Tenfelde (Hg.): Arbeiter in der SBZ-DDR, Essen 1999, S. 1970– 572; Rainer Gries: Die Mark der DDR. Eine Kommunikationsgeschichte der sozialisti555–
schen deutschen Währung, Erfurt 2003.
50 Vgl. SPK, Planansatz fürdenFünfjahrplan zurEntwicklung derVolkswirtschaft derDDRim 1985, 18.4.1980, BArch B, DE 1 VA 56200. Zeitraum 1981–
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inderDDR 1971 bis 1989
359
denn bereits 1980 wurde nahezu der gesamte Zuwachs des Warenfonds allein durch den Einkommenszuwachs durch die auf die –weiter steigenden –Spareinlagen der Bevölkerung vonknapp 100 Milliarden Mark51 gezahlten Zinsen aufgezehrt. Wie aber reagierten die Konsumenten auf die Aushöhlung des Versprechens der Preisstabilität durch eine zwar verdeckte, aber eben doch erkennbare Politik derPreissteigerungen?
II. Preisstabilität hatte im Bereich der Sozial- undKonsumpolitik für die Bevölkerung der DDR nicht die höchste Priorität; die Umfragen des Instituts für Meinungsforschung entsprechen sicher nicht westlichen Standards hinsichtlich Repräsentativität, liefern aber zumindest brauchbare Anhaltspunkte. 1976 etwa rangierte die Subventionierung zur Erhaltung stabiler Preise erst an sechster Stelle hinter demWohnungsbau, der Erhöhung der Renten, demGesundheitswesen, der Steigerung niedriger Einkommen und der Verbesserung der Konsumgüterversorgung.52 Das markiert aber nicht imUmkehrschluss eine Toleranz gegenüber Preissteigerungen. Denn hier ist die Wirkung der jahrzehntelangen Propaganda der Preisstabilität genauso in Rechnung zu stellen. Die Bedeutung dieses Versprechens als Basis desVertrauens derBevölkerung gegenüber demRegime istjüngst hervorgehoben worden.53 Insofern konnte gerade die systematische, schleichende Preiserhöhung das Vertrauen der Bevölkerung in Frage stellen. Der Anfang der achtziger Jahre dürfte hier einen Bruch markieren als Umschlagpunkt von stabilisierender hinzudestabilisierender Wirkung derPreispolitik. Einige Indikatoren deuten darauf hin, dass dieZufriedenheit großer Teile der Bevölkerung mit der materiellen Lebenslage und auch die Akzeptanz des SEDStaates gerade in der ersten Hälfte der siebziger Jahre zunahm.54 Die Mischung aus Aufbruchstimmung nach demMachtwechsel, spürbaren Verbesserungen von Einkommen undKonsumchancen sowie die Ankündigung weiterer Verbesserungen verdrängte die heftige Kritik aus der Bevölkerung an der Versorgungslage undauch an der Parteidiktatur. Wenngleich die Wirkung der Preispolitik für die siebziger Jahre nicht isoliert von anderen Faktoren betrachtet werden kann, so spielte etwa dasniedrige Mietniveau doch eine erhebliche Rolle bei derpositiven
51 Vgl. SPK-Abteilung Lebensstandard, Analyse derEntwicklung derGeldeinnahmen undGeld1980, 28.1.1982, ausgaben der Bevölkerung in den Bezirken der DDR im Zeitraum 1976– BArch B, DE 1 VA 54695. 52 Vgl. Werner Lamberz an Erich Honecker, 14.4.1976 mit Information über eine Umfrage des Instituts für Meinungsforschung beim Zentralkomitee der SED zu ausgewählten politischen 49, bes. Bl. 45 f. Fragen (I. Quartal 1976), SAPMO-BArch, DY 30, IV 2/2.033/29, Bl. 43– 53 Vgl. Rainer Gries: Produkte als Medien. Kulturgeschichte der Produktkommunikation in der Bundesrepublik undderDDR, Leipzig 2003, S. 274 und587. 54 Vgl. Thomas Gensicke: Mentalitätswandel und Revolution. Wie sich die DDR-Bürger von 1283. ihrem System abwandten, in: Deutschland Archiv 25 (1992), S. 1266–
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Einschätzung derSozialpolitik, bei derdie DDRgerade imVergleich zurBundesrepublik gute Noten bekam.55 Allerdings ist auch voneinem Gewöhnungsprozess auszugehen, dendie oben zitierte Aussage von Kurt Hager illustriert. Feste Preise galten vielfach nicht als besondere Leistung des Regimes, sondern wurden als Selbstverständlichkeit hingenommen; insofern ließ sich dervertrauensbildende Effekt nicht beliebig aktualisieren. DasMfS stellt immer wieder fest, „ daßerreichte Verbesserungen [...] als selbstverständlich hingenommen würden, noch bestehende Mißstände jedoch besonders hervorgehoben oder zum Anlass genommen werden, die sozialistische 56 Entwicklung in derDDRzunegieren.“ Undbereits in derzweiten Hälfte des Jahrzehnts machte sich wieder stärker derUnmut breit, als dieDDRdevisenintensive Importe angesichts explodierender Weltmarktpreise einschränkte. DerVersuch, Rohkaffee durch Surrogate zuersetzen, führte 1977 zubreiten Verbraucherprotesten undgeradewegs in die „ Kaffee57.Auch die verstärkte Praxis, Sortimente demnormalen Handel zu entziekrise“ henundzuhöheren Preisen in Delikat undExquisit zuverkaufen, stieß aufartikuliertes Missfallen. 1977 registrierte das MfS die fatale Wirkung sinkender Zuwachsraten im Konsum, sich häufender Versorgungsengpässe, Einschränkungen imAngebot bei importabhängigen Konsumgütern undschleichender Preissteigerungen. Alarmiert meldete das Mielke-Ministerium „ eine Tendenz zunehmender Unzufriedenheit [...] teilweise skeptische, pessimistische undnegative Meinungen bis hin zu aggressiven Argumenten“.58 Die Hoffnung auf kontinuierlich wachsenden Wohlstand ausderersten Hälfte dersiebziger Jahre warbinnen kurzem einer Perspektive dauernder Mangelwirtschaft mit drohenden materiellen Notlagen gewichen, die Vielen noch aus den fünfziger undsechziger Jahren vertraut war. Das MfS registrierte sensibel die Meinung von Konsumenten. In der Perzeption von Teilen derBevölkerung zeichnete sich dasBild einer neuen, durch Konsumchancendifferenzierten Klassengesellschaft ab: 1. Arbeiter, Rentner undandere Bürger mit niedrigem Einkommen ohne Westwährung, die „ sich weiterhin einschränken müssen, weil sievondenSparmaßnahmen betroffen werden [...];
2.
solche Bürger,
diedurch einhöheres Einkommen inExquisit-Geschäften kaufen können;
3. Personen, die in denBesitz vonDMgelangen undihre Bedürfnisse befriedigen;
in ‚Intershop-Läden‘
55 Vgl. Werner
Lamberz an Erich Honecker, 14.4.1976 mit Information über eine Umfrage des Instituts für Meinungsforschung beim Zentralkomitee der SED zu ausgewählten politischen 49. 49, bes. Bl. 47– Fragen (I. Quartal 1976), SAPMO-BArch, DY 30, IV 2/2.033/29, Bl. 43–
56 MfS, ZAIG, Hinweise über aktuelle Reaktionen der Bevölkerung der DDR zu Versorgungsfragen, 21.12.1978, BStU, ZAIG 4132, Bl. 12– 15, zit. Bl. 5. 57 Vgl. Volker Wünderich: Die „Kaffeekrise“von 1977. Genussmittel undVerbraucherprotest in derDDR, in: Historische Anthropologie 11 (2003), S. 240– 261. 58 Hinweise auf Tendenzen der Unzufriedenheit in der Reaktion der Bevölkerung der DDR, o. Verfasser (MfS, Zentrale Auswertungs- und Informationsgruppe), 12.9.1977 BStU, ZAIG 8, zit. Bl. 2. 4119, Bl. 2–
Konsumpolitik
4.
privilegierte Personen teure Westwagen fahren 59 betroffen seien.“
in derDDR 1971 bis 1989
361
undhohe Funktionäre, die in ‚besonderen Läden‘kaufen würden, und in keinerlei Hinsicht von irgendwelchen Sparmaßnahmen
Nimmt mandie Berichte derStaatssicherheit als Indikator, kamdertiefe Einbruch imVerbrauchervertrauen aber erst zuBeginn derachtziger Jahre mit demEinsetzen der systematischen schleichenden Preissteigerungen. Sicher lässt sich die Wirkung der gefühlten Inflation in der Wirkung nicht sauber trennen von den wachsenden, vielfach am Konsumstandard der Bundesrepublik orientierten Verbraucherwünschen oder den Versorgungsengpässen; dennoch dürfte die besondere Qualität der Preissteigerungen darin begründet liegen, dass sie eben verdeckt, aber doch fürjeden erkennbar vorgenommen wurden. Während die Preisstabilität für den Grundbedarf als quasi normal undnicht als besondere Leistung des Staates galt, wurden die nur schlecht kaschierten Preissteigerungen in den anderen, oft vomGrundbedarf nurschwer abgrenzbaren Sortimenten zunehmend als Betrug und Vertrauensbruch interpretiert. Die Staatssicherheit registrierte schon im September 1980 den schnell steigenden Unmut: „Ständige Lücken im Warenangebot, Nichtvorhandensein bestimmter Waren in denunteren undmittleren Preisgruppen unddas ständig steigende Preisniveau sind seit Monaten in erheblichem Maße Diskussionspunkte unter derBevölkerung. [...] Es sei doch‚Betrug‘, zumindest aber ‚Täuschung‘, wenn lediglich mit anderen Etiketten versehene oder in anderer Verpackung angebotene Produkte als Neuentwicklung deklariert würden“ .60Aus den achtziger Jahren ist eine Vielzahl von Berichten überliefert, die die kritische Haltung der Verbraucher zur Versorgungslage undauch zu Preiserhöhungen dokumentieren. Letztendlich musste sich diese Kritik gegen SED undStaat selbst richten unddamit denAnfang der siebziger Jahre vor allem durch die Prophezeiung künftigen Wohlstands erhaltenen Vertrauensvorschuss nicht nur zunichte machen, sondern ins Gegenteil verkehren. 1989 transportierte das MfS schließlich kritische Stimmen von einer „Preisexplosion [...], mit der Unzulänglichkeiten in der Wirtschaftsführung auf Kosten der Werktätigen ‚ausgebügelt‘ werden sollen“ .61Schon im September 1980 aber berichtete die Stasi „ Zweifel, über Misstrauen undVorbehalte hinsichtlich Richtigkeit der ökonomischen Politik derDDR, mangelhaftes Vertrauen zumPlanungssystem“.62Auch auf dersemantischen Ebene schließt sich damit derKreis; wollte Erich Honecker mit Vertrauen schaffen [...] zu unserer Plaeiner Politik der stabilen Preise 1971 „ 63,so trug die kaschierte Aushöhlung dieses Versprechens dazu bei, genau nung“ 59 Ebenda, Bl. 6. 60 MfS, Hinweise zur Reaktion der Bevölkerung der DDR, 29.9.1980. BStU, ZAIG 4165, Bl. 9– 14, zit. Bl. 10undBl. 11; vgl. auchGries, Produkte (wie Anm. 53), S. 272 f. 61 MfS, Hinweise auf beachtenswerte Aspekte der Reaktion der Bevölkerung zur Um- und Durchsetzung derökonomischen Strategie der SED undzu Problemen in denBereichen Han12, zit. Bl. 10. del/Versorgung undDienstleistungen, 6.6.1989, BStU, ZAIG 14283, Bl. 1– 62 MfS, Hinweise zur Reaktion der Bevölkerung der DDR, 5.9.1980, BStU, ZAIG 4165, Bl. 1– 3, zit Bl.2; vgl. Gries, Produkte (wie Anm. 53), S. 272. 63 Vgl. Anm. 1.
362
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das „Vertrauen zumPlanungssystem“unddamit zumRegime nachhaltig terminieren.
zu un-
III.
In der SED-Spitze warder 1971 eingeschlagene Kurs sozialpolitischer Leistungsausweitung, steter Erhöhung der Arbeitseinkommen, Steigerung des Konsumgüterangebots bei proklamierter Preisstabilität keineswegs uneingeschränkt konsensfähig. Als treibende Kraft lässt sich eindeutig Erich Honecker identifizieren; sein persönlicher Einfluss auf die Sozial- undKonsumpolitik, derbei deneinschlägigenEntscheidungsprozessen immer wieder hervortrat, ist kaum zuüberschätzen.64 Manwird diese prägende Rolle nicht umstandslos den individuellen Vorstellungendes SED-Chefs zuschreiben können; vielmehr wardie dominierende Stellung desjeweiligen Parteivorsitzenden ein Charakteristikum derpolitischen Strukturen undderMachtverteilung innerhalb der SED. Allerdings traf bei denEntscheidungenzurKonsum- undSozialpolitik dieherausgehobene Position miteinem ausgeprägten persönlichen Engagement und dezidierten Vorstellungen zusammen.65
Diese waren von einer eigentümlichen Ambivalenz. Einerseits verweisen Honeckers Äußerungen aufeinwohlfahrtsstaatliches Leitbild, in demdie Grundbedürfnisse Arbeit, Wohnen undErnährung Aller nicht nur gesichert, sondern –wenn schon nicht zumNulltarif, dann doch für denEinzelnen extrem günstig –gestillt werden. Diese Interpretation sozialer Gleichheit stand in einem Spannungsverhältnis zum Ideal von Arbeiterklasse und Arbeiter, das seine Wurzeln in der kommunistischen Arbeiterbewegung desersten Drittels des20. Jahrhunderts hatte unddasseinen Ausdruck imVersuch fand, die Arbeiter sozialpolitisch zuprivilegieren. Daneben hatte Honecker –gleichermaßen persönlichen Erfahrungen und Vorstellungen wieseiner Rolle als SED-Chef geschuldet –weit mehr als dieanderen Spitzenfunktionäre vonStaat undPartei denmöglichen Zugewinn anMassenloyalität undStabilität fürdieParteidiktatur imAuge, derüber eine expandierende Konsum- undSozialpolitik zuerzielen war. Warer quaAmtfürdieHerrschaftssicherung derSED-Spitze verantwortlich undmachte er die rasche Ausdehnung der Konsumtion zum Mittel der Herrschaftssicherung, so geriet er damit schnell in Gegensatz zu denWirtschaftsfunktionären in denApparaten undFührungen von SED undStaat. Denn diese hatten durch ihre Funktion stets auch die durch diese Politik verursachten ökonomischen Belastungen im Auge zu behalten. Tendenziell traf hier die Ratio des Machterhalts auf die Ratio der Zentralverwaltungs-
64 Vgl. 65
stellvertretend: Finanzministerium –Staatssekretär Kaminsky, Niederschrift über die erste Beratung der vom Politbüro beauftragten Arbeitsgruppe zur Ausarbeitung sozialpolitischer Maßnahmen, 25.1.1972, SAPMO-BArch, DY 34, 8966. Vgl. M. Rainer Lepsius: Handlungsspielräume undRationalitätskriterien der Wirtschaftsfunktionäre
f.
362, bes. S. 348 in derÄra Honecker, in: Pirker u.a. (Hg.): Plan (wie Anm. 11), S. 347–
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363
wirtschaft. Mit seiner aus der Spitzenfunktion abgeleiteten Autorität prägte Honecker in wechselnden Koalitionen mit anderen Politbüromitgliedern –in Einzelfällen auch gegen die gesamte Parteispitze –die DDR-Konsum- und Sozialpolitik, zuderen Signatur dieAbkoppelung vonderLeistungsfähigkeit derWirtschaft und der mit der Hoffnung auf Loyalitätsgewinn verbundene populistische Zuschnitt wurden. Ökonomisch begründete Einwände der Wirtschaftselite ließ der Parteichef dabei nicht gelten. In derTat zeigte er ein zuweilen frappierend simples Herangehen anZusammenhänge, etwa wenn er dasProblem derInvestitionen lediglich unter demAspekt betrachtete, die Voraussetzungen für die Ausdehnung der Konsumtion zuschaffen: „ Wirmüssen dafür sorgen, daßunsere Investitionen, die wir imPlan festgelegt haben, auch realisiert werden. Wenn wir hier zurückbleiben, dann bleibt der Zuwachs an industrieller Warenproduktion zurück, dann können wir die vorgesehenen sozialpolitischen Maßnahmen 66 nicht verwirklichen. Deshalb müssen die Investitionen kommen.“
Die Konsumgüterpreise standen bei diesen Konflikten meist nicht derart imZentrumwie in demoben dargestellten Beispiel ausdemJahr 1979. Bereits 1971 aber hatte der Minister für Leichtindustrie, Johan Wittik, die Sicht vieler Wirtschaftsfunktionäre auf das Dilemma der Preispolitik deutlich gemacht: „ Was vertragen wirpolitisch [?]; Wasvertragen wirvolkswirtschaftlich [?]“ , wobei klar sei, „dass 67Sicher lässt sich das Ziel politibeide Faktoren nicht zusammenpassen werden.“ scher Preise ebenso wenig ausschließlich auf der Seite Honeckers verbuchen wie die planökonomische Sichtweise auf der Seite der Wirtschaftsfunktionäre. In einzelnen Konflikten finden sich hier unterschiedliche Konstellationen; aber im Überblick wird doch deutlich, dass es Honecker war, der aus Gründen der Herrschaftssicherung bei Einkommen, Konsum undPreisen auf Seiten derKonsumentenstand unddabei dieEinwände derWirtschaftsfunktionäre oftmals indenWind schlug. Schon bei derersten größeren Konkretisierung der Politik der „Hauptaufgabe“1972 trat derKonflikt zwischen Konsumtion undInvestition in aller Deutlichkeit zuTage; die Warnungen der Staatlichen Plankommission, die angepeilten Leistungsausweitungen für Soziales und Konsum überforderten die binnen- und außenwirtschaftliche Potenz der DDR, wies Honecker scharf zurück undbekräftigte den „ Primat der Politik vor der Ökonomie“ .68Die in den siebziger Jahren wiederholt gemachte Erfahrung, mit ihren Vorschlägen undEinwänden am Widerstand Honeckers gescheitert zu sein, führte bei denfür Ökonomie Zuständigen zuder die systemimmanenten Probleme der DDR-Wirtschaft undeigene Verant66 SPK-Staatssekretär (Heinz Klopfer), Persönliche Niederschrift über die Beratung imPolitbüro desZK derSED zumBeschluss über Maßnahmen zurweiteren Durchführung des Volkswirtschaftsplanes 1976, 18.2.1976, BArch B, DE 1 VA 56286, Bl. 461– 470, zit. Bl. 468. 67 Hauptabteilung gesellschaftliche Konsumtion undLebensstandard der SPK an Schürer, 1.6. 1971, BArch B, DE 1 VA 51575. 68 SED-Kreisleitung in derSPK, Wasist in Auswertung derRede desGenossen Erich Honecker in Leipzig undderBeratung desPolitbüros am14.3.1972 vonderKreisleitung derStaatlichen Plankommission unternommen worden undwas wurde erreicht?, 10.4.1972, BArch B, DE 1 VA 56286, Bl. 176– 185, zit. Bl. 182.
364
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wortlichkeiten ausblendenden Sicht, dass die Wirtschaftskrise der DDR, die ja vielfältige Ursachen hatte, wesentlich auf den als falsch eingeschätzten Entscheidungen Honeckers beruhte –eine Auffassung, die sich an den Materialien des Ministeriums für Staatssicherheit deutlich ablesen lässt. Die Staatssicherheit bezogmit demAnwachsen derökonomischen Probleme die Wirtschaft undihr Leitungspersonal immer stärker in ihre Überwachungstätigkeit ein; einige Wirtschaftsfunktionäre der zentralen Ebene unterhielten darüber hinaus beste Beziehungen zumMielke-Ministerium undlieferten bereitwillig Informationen ausden engsten Führungszirkeln, die gegen Ende der siebziger Jahre bei der Stasi zunehmendBesorgnis auslösten: In wachsendem Maße werden andasMfS problemorientierte Informationen herangetragen, „ denen zufolge sich bei verantwortlichen Partei- undStaatsfunktionären Erscheinungen einer 69 pessimistischen Grundhaltung zeigen undsich teilweise Resignation ausbreitet.“
Gemeint waren hier nicht etwa randständige Kader, sondern höchste Wirtschaftsfunktionäre unterhalb des engeren Führungszirkels umHonecker, beispielsweise SPK-Chef Gerhard Schürer oder derLeiter derZK-Abteilung Planung undFinanzenGünter Ehrensperger. Es sei praktisch Konsens, „ daßdie volkswirtschaftliche Situation noch niemals so ausweglos erschienen ist, wie in der gegenwärtigen Periode“.70 Die Wirtschaftsführung sähe sich „außerstande“ , Lösungen für die Probleme zufinden, so dass sich die resignativen Haltungen bis hinunter zumbetrieblichen Leitungspersonal ausbreiteten. In vertraulichen undpersönlichen Gesprächen kämen immer wieder „Vorbehalte, Besorgnis und Unsicherheit“zum Ausdruck.71 Resignation der Wirtschaftsfunktionäre in einer für ausweglos gehaltenen wirtschaftlichen Lage –so lassen sich die Erkenntnisse des MfS zusammenfassen. Diese Art derKapitulation wardie frustrierte Reaktion auf diejahrelange Erfahrung, dass alle Versuche, die Ausgaben für Konsum undSoziales der Leistungsfähigkeit derostdeutschen Ökonomie anzupassen unddenWirtschaftskurs aufdie drastisch verschlechterten Rahmenbedingungen einzustellen, von der politischen Spitze abgeblockt wurden. Jede substanzielle Modifikation des 1971 eingeschlagenen Weges schien zumScheitern verurteilt. Es waren das Beharren der Spitze auf der Politik des Konsumsozialismus und die scheinbare Unmöglichkeit der Wirtschaftsverantwortlichen, einen für unabdingbar gehaltenen Wandel in der Wirtschaftspolitik voranzutreiben, die bei derWirtschaftsführung unddenFunktionseliten massive Zweifel an der Zukunftsfähigkeit des Projekts Sozialismus auslösten. Dass daraus verdeckte Friktionen zwischen der engeren politischen Führung einerseits und den Wirtschaftskadern und -apparaten andererseits resultierten,
69 Vgl. MfS, Hauptabteilung XVIII, Information zu zunehmend dem MfS bekannt werdenden Problemen über dieLage bei derLeitung, Planung undBewältigung bedeutender Aufgaben in 22, zit. Bl. 1. derVolkswirtschaft derDDR, 22.6.1979, HAXVIII, 12477, Bl. 1– 70 Ebenda, Bl. 2. 71 Ebenda, Bl. 1.
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365
kann kaum verwundern. Es ist nicht unbedingt notwendig Max Weber zu bemühen, umdie Akzeptanz der Legitimitätsansprüche der obersten politischen Führung –des Politbüros undvor allem Honeckers –in denHerrschaftsapparaten als erstrangige Bedingung
der Stabilität kommunistischer Diktaturen hervorzuhe-
ben.72 Gerade in denWirtschaftsapparaten aber führte die Zuweisung der Verantwortung für die dramatisch wachsenden ökonomischen Probleme an Honecker zu
einer stetigen Erosion desLegitimitätsglaubens. Auch hier erlauben besonders die Berichte des MfS einen vergleichsweise ungeschönten Blick auf das Verhältnis der Apparate zur Honecker-Führung: „Verantwortliche Funktionäre der Staatlichen Plankommission und der Fachabteilungen des ZK vertreten einhellig die Auffassung, daß sich Genosse E. Honecker in einem für die Volkwirtschaft der DDR schwerwiegenden Irrtum befindet.“73Das Bemerkenswerte ist hier nicht so sehr, dass einzelne Funktionäre Zweifel an der Richtigkeit der Führungsentscheidungen hegten –dies dürfte in gewissen Umfang nicht selten der Fall gewesen , sondern dass offenbar mehr oder weniger alle Wirtschaftsverantwortlichen sein – gleichermaßen derÜberzeugung waren, die DDRbefinde sich unter Honecker auf einem verhängnisvollen Pfad. Dies mündete in eine zumindest implizite Infragestellung der Führungskompetenz des SED-Generalsekretärs, der diesen Kurs wie kein anderer verkörperte; wenn auch nur im informellen Gespräch wurde damit eines dertragenden Fundamente innerparteilicher Herrschaft –das Tabu der Kritik an Entscheidungen derjeweils übergeordneten Ebene –in wachsendem Ausmaßuntergraben. Allerdings verblieb es beim Murren undbei Unmutsäußerungen im kleinen Kreis, eine Ausweitung der Diskussionen über die Wirtschaftsproblemeundüber Lösungsansätze, die zu steigendem Reformdruck aus denApparaten heraus hätte führen können, ist nicht zu konstatieren. Kennzeichnend war vielmehr eine Umsetzung dergeforderten Linie durch das Personal, ungeachtet eigener, widersprechender Meinungen. Die Staatssicherheit registrierte den Trend, dass „Staatsfunktionäre Aufträge ausführen, ohne von deren Richtigkeit und Wahrhaftigkeit überzeugt zu sein, lediglich aus Gründen der Parteidisziplin, Unterordnung unter drakonische Festlegungen der Spitze bzw. Angst vor harter Kritik oder Ablösung ausderFunktion.“74 72 Vgl. Winfried Thaa: Die Wiedergeburt des Politischen. Zivilgesellschaft und Legitimationskonflikt in denRevolutionen von 1989, Opladen 1996, S. 68 f.; vgl. auch Peter Skyba: Konsumsozialismus als Dogma. Statische Stabilisierungsstrategie und innere Erosion der SEDDiktatur in densiebziger Jahren, in: Stephan Müller/Gary S. Schaal/Claudia Tiersch (Hg.) im Namen der Mitarbeiter des Sonderforschungsbereichs 537 „ Institutionalität und Geschichtlichkeit“ : Dauer durch Wandel. Institutionelle Ordnungen zwischen Verstetigung undTransformation, Köln/Weimar/Wien 2002, S. 255– 267. 73 Vgl. MfS, Hauptabteilung XVIII, Ergänzende Information zur Information Nr. 177/77 vom 15.11.1977 zurAusarbeitung des Volkswirtschaftsplanes 1978, 18.11.1977, BStU, HAXVIII, 12478, Bl. 1– 5, zit. Bl. 3. 74 Vgl. MfS, Hauptabteilung XVIII, Information zu zunehmend dem MfS bekannt werdenden Problemen über die Lage bei derLeitung, Planung undBewältigung bedeutender Aufgaben in derVolkswirtschaft derDDR, HAXVIII, 12477, Bl. 1– 22, zit. Bl. 1.
366
Peter Skyba
Auch innerhalb desHerrschaftszentrums wirkte so die in herrschaftsstabilisierender Absicht 1971 implementierte Konsumpolitik mit ihrem Kernelement der Preisstabilität ungeachtet derModifikation imDetail destabilisierend. Während es aus Konsumentensicht die Abkehr des Regimes von demVersprechen der Preisstabilität unddiePolitik derschleichenden Preissteigerung waren, die die ohnehin schwache Vertrauensbasis unterminierten, war es aus der Perspektive der Wirtschaftsfunktionäre gerade dasFesthalten an einer Politik derÜberkonsumtion mit zugeringen Konsumgüterpreisen, die sie in Gegensatz zudemProtagonisten die-
sesKurses brachte.
Dirk Schindelbeck
Korreferat zuPeter Skyba DerSozialismus in seinem Lauf ...“ „ Alltagskulturelle undlebensweltliche Aspekte desKonsums in derDDRwährend derÄraHonecker
Im vorangegangenen Beitrag hat Peter Skyba denökonomischen Niedergang der DDRwährend derÄraHonecker detailliert beschrieben. Dabei sind vor allem die Diskussionen und auch Friktionen innerhalb des Herrschaftsapparats der SED herausgearbeitet worden. Danach ist der wirtschafts- und insbesondere verbraucherpreispolitische Kurs Erich Honeckers zwar von seinen Parteifreunden und -genossen immer wieder kritisch begleitet undkommentiert, aber in der letzten Konsequenz undwider besseres Wissen (und freilich stets im Sinne des eigenen Machterhalts) mitgetragen worden, bis –spätestens wohl 1979 –alle Chancen eines grundlegenden Richtungswechsels vertan waren. Die Skybasche Analyse lässt nurdeneinen, wenngleich fürmanchen noch immer überraschenden, Schluss zu: Die ÄraHonecker steuerte auch wirtschaftspolitisch vonAnfang an auf ihren Untergang zu; ebenso wenig wardas eingesetzte Instrument der Preispolitik geeignet, diesen aufzuhalten. Im Gegenteil: spätestens in den frühen achtziger Jahren konterkarierte, ja karikierte es die abenteuerliche Mischung ausimmer unverhohlener zur Schau getragenem Populismus des Parteivorsitzenden –von der DDR-Bevölkerung als plumpe Anbiederungstaktik durchschaut und zunehmend abgelehnt –und astronomischen Phantasiepreisen für rare Gebrauchsgüter wie Autos oder Unterhaltungselektronik. Freilich darf dabei nie aus denAugen verloren werden, dass Honeckers Interesse an Wirtschaftspolitik von Haus aus gering war. Das Feld, auf dem er zu punkten hoffte undauf Bestätigung (und vermutlich auch auf Nachsicht in anderen weniger erfolgreichen Politikfeldern) in denAugen seiner Landsleute spekulierte, war stets die Außenpolitik; das hieß für sein politisches Handeln, den Prozess der Anerkennung der DDR als zweiten deutschen Staat auf der Weltbühne voranzutreiben undzu vollenden. Undhier ließ sich während seiner Amtszeit in der Tat einiges vorzeigen undpropagandistisch ausschlachten, sei es der sagenhafte Aufstieg der DDR zur Sportsupermacht seit den olympischen Spielen in München 1972 oder der noch Ende der siebziger Jahre nicht für möglich gehaltene Empfang auf demroten Teppich in Bonn 1987 beim einstigen Klassenfeind undErzwidersacher Helmut Kohl, denHonecker kaum anders denn als Krönung seines politischen Lebenswerks empfunden haben dürfte.
368
Dirk Schindelbeck
Angesichts solch großer außenpolitischer Zielvorgaben verblassten die innenundwirtschaftspolitischen Fragen, so brennend sie auch sein mochten undsofern sie nicht eine unmittelbare Bedrohung der Honeckerschen Macht darstellten. Im Grunde beschränkte sich der wirtschaftspolitische Sachverstand des Parteivorsitzenden auf diesem Sektor auf einige Glaubenssätze undReaktionsschemata auf traumatische Erfahrungen wiedenJuni-Aufstand von 1953, ausdemer sein Credo abgeleitet hatte, dass maneben nicht „ gegen die Arbeiter regieren“könne. In der innenpolitischen Praxis hieß dies: Als Garant der „ Ruhigstellung“der Bevölkerung mussten die berühmten „Errungenschaften“des Sozialismus herhalten und ausreichen –die niedrigen, im Laufe der Jahre freilich immer stärker subventionierten Preise für die Güter des täglichen Bedarfs als den unveräußerlichen Besitzständen des weltanschaulichen Systems selbst (ein Brötchen 0,05 Mark, 1 kg Roggenmischbrot 0,52 Mark, 1kg Rinderschmorfleisch 9,80 Mark, 1 kg Salzheringe 1,20 Mark, eine Straßenbahnfahrt 0,20 Mark, eine Kilowattstunde Strom 0,08 Mark, ein qmWohnfläche 0,80 bis 1,20 Mark).1 Auch wenn mansich mit Beginn der siebziger Jahre von dengroßen ökonomischen Ambitionen, wie dem„ Überholen ohne einzuholen“derkapitalistischen Bundesrepublik, wie sie zuZeiten einer noch offenen Grenze (1958/59) nicht nur Propagandamünze, sondern reale Zielstellung politischen Handelns gewesen waren2, verabschiedet hatte undzu ehrlicheren Formeln wie dem„ real existierenden Sozialismus“übergegangen war, so lag doch gerade in derneuen Bescheidenheit einer solchen Selbstbeschreibung zunächst ein Stück Glaubwürdigkeit, dasbei der eigenen Bevölkerung anfangs recht gut ankam. Als Erika Runge 1969 ihre berühmten Interviews mit Rostocker Bürgern machte, war sie als Bundesbürgerin jedenfalls überrascht über dasgewachsene „ Wir-Gefühl“derOst-Menschen sowie deren bestimmtes, wenngleich bescheidenes Selbstbewusstsein als Bürger der DDR undderen relative Zufriedenheit auch mit den ökonomischen Verhältnissen, unter denen sie lebten.3 Das war in etwa die sozialpsychologisch gesehen durchaus tragfähige Ausgangslage, auf die Honecker bei seinem Regierungsantritt traf und von der er glaubte, dass dieses Proprium des Sozialismus –auch mithilfe von preis- bzw. konsumpolitischen Instrumenten –konservierbar bliebe undsich niemals zueiner akuten Bedrohung für das DDR-System auswachsen könnte. Doch in den siebziger undachtziger Jahren sollte sich bald deutlich zeigen, wie sehr dasrohstoffarmeLand äußeren Einflüssen ausgeliefert war, seien dies nundie überlebenswich-
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Klaus Pötzsch: Von 5 Pfennigen für ein Brötchen bis 7000 Mark für ein Fernsehgerät –die Preise in derPlanwirtschaft, in: Egon Hölder (Hg.): ImTrabi durch die Zeit –40 Jahre Leben in derDDR, Statistisches Bundesamt Wiesbaden 1992, S. 111– 120. Vgl. hierzu: Monika Gibas/Dirk Schindelbeck (Hg.): „ Die Heimat hat sich schön gemacht!“ 1959: Fallstudien zurdeutsch-deutschen Propagandageschichte, Leipzig 1994 DDR-Jubiläum. Du, unsere Liebe, in: Der Spiegel, 23. Jg., Nr. 41 vom 6. 10. 1969.
Vgl. auch Neue Gesellschaft für Bildende Kunst (Hg.): Wunderwirtschaft. DDRKonsumkultur in den60er Jahren, Köln/Wien/Weimar 1996, desgl: Annette Kaminsky: Illustrierte Konsumgeschichte derDDR, Erfurt 1999.
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tigen Wirtschaftsbeziehungen mit nichtsozialistischen Handelspartnern (insbesondere der BRD) oder die Erdöllieferungen vom großen Bruder Sowjetunion (um nurzwei entscheidende Faktoren zunennen), undwie sehr schon allein diese beiden Interdependenzen auf Lebenswelt undKonsumalltag der DDR-Bevölkerung massiv durchschlugen, der rasch zunehmende Einfluss westlich-kapitalistischer Lebenszuschnitte noch garnicht gerechnet. Hinzu kamwährend derRegierungszeit Erich Honeckers ein für dasLand fataler grundlegender technologisch-wirtschaftlicher Paradigmenwechsel, der sich weltweit vollziehende Übergang zum fünften Kondratieff-Zyklus (Informationsund Kommunikations-Technologie)4, welcher die DDR innerhalb weniger Jahre aufdenStand eines Entwicklungslandes zurückfallen ließ. Dieser Übergang in die neue Epoche wurde in derDDR, diein ihren Basisinnovationen noch eher imdritten (Elektrizität und Chemie) als im vierten Kondratieff (individueller Massenverkehr) verhaftet war, einerseits schlicht verschlafen, andererseits durch gezielte politische Maßnahmen seitens jener Staaten, die sich –wie die USA unddie ihr angeschlossene Wertegemeinschaft –diesem Paradigmenwechsel stellten undmit Hochdruck an dessen Umsetzung machten, nicht nur erschwert, sondern bewusst blockiert (Embargopolitik der Reagan-Administration), sodass die Grundvoraussetzungen (Investitionen, Knowhow, Strukturmaßnahmen etc.) zum Einschwenken in diesen neuen Zyklus in derDDR letztendlich in keiner Weise mehr gegebenwaren.5 Sie konnten schon deswegen nicht gegeben sein, weil sich die „Terms of Trade“im innerdeutschen Handelsverkehr während der Amtszeit Erich Honeckers zuungunsten der DDR dramatisch verschlechterten, was freilich erst nach dem Zusammenbruch des Systems in seinem ganzen Ausmaß deutlich werden sollte. Selbst ein intimer Kenner der DDR-Wirtschaftspolitik wie Harry Maier (der das Land 1986 verließ) zeigte sich 1993 in seinem Bericht vor der Eppelmannschen Enquete-Kommission außerordentlich schockiert darüber, in welcher Geschwindigkeit sich die technologische Lücke zwischen denbeiden deutschen Staaten seit Beginn der siebziger Jahre aufgetan hatte. Selbst in ihren traditionell starken Industriesparten wie Maschinenbau, Chemie, Feinmechanik/Optik undBüromaschinen war die DDR kontinuierlich undbereits Mitte der siebziger Jahre hoffnungslos gegenüber derBRD ins Hintertreffen geraten: „Erzielte die Bundesrepublik im
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Nikolai Dmitrievich Kondratieff erfand 1926 die Theorie von denlangen Wellen vonetwa 50 Jahren Dauer. Nach Kondratieff gibt es diese langen Zyklen erst seit Beginn moderner marktwirtschaftlicher Verhältnisse um1800. Jede neue Welle wird dabei vonBasisinnovationen angestoßen: im Zentrum des ersten Zyklus, der von etwa 1800– 1850 dauerte, standen die Dampfmaschine und die Textilindustrie (mechanische Webstühle etc.), der zweite (1850– 1900) entfaltete sich aus den Möglichkeiten der neuen Technologie der Stahlerzeugung (Eisenbahn etc.), im Kern des dritten Kondratieff-Zyklus (1900– 1950) standen Elektrizität und Chemie, der vierte Kondratieff (1950– 1990) war geprägt vom individuellen Massenverkehr, derfünfte (etwa seit 1980) steht deutlich imZeichen vonInformation undKommunikation. Vgl. Dirk Schindelbeck: Marken, Moden und Kampagnen. Illustrierte deutsche Konsumgeschichte, Darmstadt 2003, insbes. S. 79– 94.
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Dirk Schindelbeck
Jahr 1970 beim Maschinenbau proEinheit Lieferung das 1,8-fache anErlösen, so war es 1989 bereits das 5,2-fache. Bei den chemischen Erzeugnissen hatte die DDRnoch 1970 proEinheit Lieferung sogar eine höhere Wertschöpfung von26,5 % gegenüber denwestdeutschen Lieferanten. ImJahre 1989 waren die Erlöse der westdeutschen Lieferanten bereits 3,7 mal so hoch wie die der DDR-Liefe6Ähnlich sah es bei der klassischen Vorzeigeindustrie der DDR aus, der ranten.“ Feinmechanik/Optik. 1970 hatte manhier gegenüber derBRD noch ein Plus von 12,8 % erzielen können, 1989 hingegen hatte die BRD 3,5 mal mehr an feinmechanischen/optischen Geräten
indieDDRgeliefert alsdiese aufdemumgekehrten
Weg. Noch katastrophaler liest sich die Bilanz im Sektor Büromaschinen. 1970 lieferte die BRD 5,9 mal so viel davon in die DDRwie umgekehrt, 1989 wares bereits 15,3 malsoviel. Defacto waren also wachsende Importe durch eine rapide steigende Staatsverschuldung und–daraus zwangsläufig folgend –Inflation erkauft worden. Mit anderen Worten undin rein quantitativen Größen: Noch 1970 konnte die DDRmit einer Ost-Mark 0,54 DMerwirtschaften, 1988 nurnoch 0,25 DM, im selben Zeitraum warihre Staatsverschuldung von2,2 Mrd. Valuta-Mark imJahre 1971 umdassage undschreibe 22-fache auf49 Mrd. Valuta-Mark 1988 gestiegen.7 Diese Entwicklungen waren, wenngleich Mitte der siebziger Jahren noch nicht in dieser Dramatik, so doch in ihrer Tendenz in derFührungselite umHonecker wohl bekannt undBesorgnis erregend genug. Spätestens 1975 –dieser Einsicht konnte sich niemand in derFührungsriege verschließen –wardasLand auf demWeltmarkt nur noch eingeschränkt konkurrenzfähig, manlebte schlicht auf Pump. Nur: nach innen, gegenüber der eigenen Bevölkerung, war mannatürlich weit davon entfernt, diese sich schnell öffnende Schere zwischen Anspruch und Wirklichkeit, verursacht durch denrapiden Verfall derwirtschaftlichen Leistungsfähigkeit unddenparallel sich abzeichnenden Staatsbankrott, einzugestehen. Nach innen wurde nach wie vor die Mär vom stetig sich steigernden Lebensstandard breitester Bevölkerungskreise verbreitet. Allein die kontinuierlich anwachsenden Spareinlagen, umeinen signifikanten Parameter zunehmen, waren ja nichts anderes als ein solches Versprechen (zukünftiger) Konsummöglichkeiten. Die ökonomischen Konsequenzen allein aus diesem Umstand waren für das System DDR bedrohlich genug, schon weil anfangs der siebziger Jahre der Zinssatz auf Spareinlagen bei 3,25 Prozent festgeschrieben worden war, wasin derFolge das ProKopf-Guthaben von 3.840 Mark (1970) über 7.290 Mark (1980) auf 11.830 Mark (1989) ansteigen ließ8: es bedeutete in der Endphase des Systems zwischen 1986
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Deutscher Bundestag.
27. Sitzung der Enquete-Kommission
„ Aufarbeitung
von Geschichte
und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland“am 5. Februar 1993. Öffentliche Anhörung zumThema „ 40. Die DDR-Volkswirtschaft als Instrument der SED-Diktatur“ , S. 18– Ebda. Vgl. auch: Rainer Gries: Die Mark der DDR. Eine Kommunikationsgeschichte der sozialistischen deutschen Währung, Erfurt 2003. Edith Dabbert: Von 280 Mark zu 11.830 Mark – 40 Jahre Sparen, in: Egon Hölder (Hg.): Im Trabi durch dieZeit –40 Jahre Leben in derDDR, Statistisches Bundesamt Wiesbaden 1992, 127. S. 121–
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und1989 einen jährlichen Kaufkraftüberhang von4 Milliarden Mark, welchem in keiner Weise ein reales Warenangebot gegenüberstand –zumindest nicht aus eigenen Ressourcen. Welchen politischen Handlungsspielraum konnte es unter diesen Voraussetzungen überhaupt noch geben, der sowohl geeignet war, die Machtbasis zu sichern als auch dendrohenden Staatsbankrott abzuwenden? Manentschied sich zu einer Doppelstrategie: einerseits den Schein, die Fassade des sozialistischen Propriums unter allen Umständen zuwahren (und dashieß de facto: Propaganda), zugleich aber hinter den Kulissen mit allen Mitteln den erodierenden Unterbau des Systems aufzuhalten. Die Versuche zur Umsetzung dieser Doppelstrategie waren ebenso vielfältig wie trickreich undkönnen im Folgenden nuran einzelnen Beispielen illustriert werden. Genannt seien hier wenigstens die Devisenbeschaffungsmaßnahmen im großen Stil (wie etwa das „ Verschieben“von sowjetischem Erdöl in die Bundesrepublik: So waren Mitte der achtziger Jahre 22,8 % der Lieferungen aus der DDR im innerdeutschen Handel Erdöllieferungen, obwohl die DDRkein eigenes Erdöl förderte!) oder die massiven Geldabschöpfungsaktionen mit einhergehendem Etikettenschwindel im Konsumsektor. (So verschwand zu Beginn der achtziger Jahre fast schlagartig die gesamte Bettwäsche aus demAngebot der Geschäfte. Nach einigen Monaten tauchte sie in neuen Verpackungen undzudeutlich höheren Preisen wieder auf. Diese Preise mussten vonderBevölkerung zwangsweise akzeptiert werden, da sie ja nicht auf die alte qualitativ gleichwertige, aber billigere Bettwäsche ausweichen konnte.). Im Kern ging es bald nurnoch darum, angutes (= fremdes) Geld zukommen unddenGeltungsanspruch des eigenen Zahlungsmittels listig zuuntergraben oder zuumgehen. Parallel dazu wurde, umdie Fassade, zu derunter denMaßgaben derEntspannungspolitik ja auch ein Stück Liberalität gehörte, aufrecht zu erhalten, immer wieder zu kosmetischen Strategien gegriffen, wozu etwa die Einfuhr von 10.000 Fahrzeugen des Typs VW Golf oder Citroen GS zu zählen sind, die natürlich ihrerseits wieder rollende Werbungen für den Genex-Geschenkdienst waren (einer weiteren Devisenquelle!) und überdies ein paar willkommene moderne Akzente ins marode DDR-Straßenbild setzten. Insgesamt betätigte sich die Führungselite unter Honecker –unddie kriminellen Bezeichnungen seien hier bewusst gebraucht –zunehmendals Schieber undEtikettenschwindler, Betrüger undHochstapler. Wannjedoch begann die sorgfältig durch Propaganda aufrecht erhaltene Fassade erstmals zubröckeln? Wann nahmen auch Normalbürger wahr, dass die Versprechungen des langsam, aber stetig steigenden Lebensstandards keine direkte Korrelation mehr zurHöhe ihrer Sparguthaben aufwiesen? Nicht derEndverbraucher, sondern diejenigen Bürger der DDR, die im Bereich von Produktion und Verkauf tätig waren und somit unmittelbar mit der Umsetzung der Direktiven beschäftigt waren, bekamen zuerst einen tieferen Einblick in die zunehmenden Probleme derDDR-Volkswirtschaft während derÄraHonecker. So berichtete mir Frau Regehr, die bis Mitte der siebziger Jahre als Graphikerin beim Leipziger Versandhaus beschäftigt war, dass der gesamten Belegschaft im Jahr 1975 vom
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materiell-technische Basis“ einen auf den anderen Tag eröffnet wurde, dass die „ für diese Form der Warendistribution nicht mehr gegeben sei.9 „Ganz oben“sei deswegen entschieden worden, den Versandhandel in der DDR fortan gänzlich einzustellen. Dabei war doch gerade diese Verkaufsform 1954 mit großen Hoffnungen unddemZiel eingeführt worden, denstets zuknappen Warenstrom besser undgezielter steuern undkontrollieren zukönnen und(über diedabei anfallenden Kundenkarteien) natürlich zugleich auch ein Instrument in die Hand zu bekommen, um etwa Hamsterkäufe wirkungsvoll zu unterbinden. Nach gut 20 Jahren sollte das Versandhaus-System also plötzlich nicht mehr praktikabel sein –warum? Die Erfahrungen der Versandhaus-Mitarbeiterin sind es wert, hier zusammengefasst wiedergegeben zuwerden, bieten sie doch einen plastischen Eindruck in dielogistischen Absonderlichkeiten innerhalb einer Mangelwirtschaft. Ein Versandhaus-Katalog tritt demKunden als ein Angebot gegenüber, das ihm Wahlfreiheit verheißt. Schon das ist eigentlich nichts als Propaganda, da es jene, unter planwirtschaftlichen Rahmenbedingungen, in Wahrheit niemals gab bzw. geben kann. In der Praxis bedeutete dies für die Versandhausmitarbeiter nämlich die Wiederkehr stets desselben Problems: Kleid A erfreute sich bei den Kunden großer Beliebtheit undwurde entsprechend häufig geordert, Kleid B hingegen gefiel nicht undstellte sich schon nach wenigen Tagen als Ladenhüter heraus. Nunwaraber vor Erscheinen desneuen Katalogs vonjedem derbeiden Modelle dieselbe Stückzahl auf Lager genommen worden, sodass dasVerkaufsergebnis die Versandhausmitarbeiter regelmäßig in ein doppeltes Dilemma stürzte. Einerseits mussten nach Abverkauf von Kleid A weitere Bestellungen abschlägig beschieden werden, andererseits waren für den Ladenhüter Kleid B absatzfördernde –in der Praxis natürlich meist erfolglose –Werbemaßnahmen zu ersinnen unddurchzuführen. Unterdessen lief der Strom der Bestellungen für Kleid A ungehemmt weiter ein, sodass jeder neu versendete Ausverkaufs-Bescheid bei den Kunden Anlass für Enttäuschung undVerärgerung bot. In den sechziger undfrühensiebziger Jahren wares aber nunimmer wieder vorgekommen, dass, wenn die Nachfrage nach einem bestimmten Artikel über Monate hin unvermindert stark anhielt, irgendwann „ oben“die Einsicht reifte, davon schließlich doch noch ein gewisses Kontingent nachproduzieren zu lassen. Nunwaren –an einem Zahlenbeispiel verdeutlicht –10.000 amLager vorhandene Stücke vonKleid A geordert undausgeliefert worden. Ab der 10.001 Bestellung gingen die Kunden leer aus. Nachdem die weiterhin ungebremste Nachfrage dazu geführt hatte, dass ein halbes Jahr später der Artikel plötzlich wieder begrenzt verfügbar war, wurde die 15.001 bis 20.000 Bestellung wieder mitWare beliefert. Dies wiederum sorgte im Nachhinein undzumzweiten Mal für sehr böses Blut bei jenen Kunden, die viel früher, nämlich als 10.001 bis 15.000 bestellt hatten undabschlägig beschieden worden waren, daja zujenem Zeitpunkt noch nicht abzusehen gewesen war, dass
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Interview
mit Frau Regehr am24. Juli 1993 in Leipzig imRahmen derRecherchen des von 1992 bis 1997 durchgeführten DFG-Forschungsprojekts: „Propagandageschichte der beiden
deutschen Staaten
imVergleich“(imBesitz desVerfassers).
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es den Artikel
später wieder geben würde. So war also selbst das gutgemeinte Bemühen, einer starken Nachfrage wenigstens partiell zu entsprechen, im Endergebnis kontraproduktiv, daes denUnmut in derBevölkerung in Hinsicht auf ihre Konsummöglichkeiten weiter schürte. Solcherart Offenbarungseide des Systems häuften sich in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre, ob dies nundie Fernsehwerbung war, die, Ende der fünfziger Jahre zu Zeiten einer offenen Grenze eingeführt, noch ein Relikt aus der Wettlaufzeit mit derBundesrepublik darstellte, undebenfalls 1975 sang- undklanglos verschwand, oder die erste skandalös empfundene Mangelsituation wie die Kaffeekrise von 1977, die einen wahren Konsumentenaufstand hervorrief. Spätestens zu Beginn der achtziger Jahre stellte sich dannjene Situation ein, die Zeitgenossen als das Bild einer an ihrem Staat zunehmend desinteressierten und sich abwendenden Nischengesellschaft beschreiben, die, westlichen Lebensstilen huldigend, für die Protagonisten des eigenen Systems nurnoch Verachtung undSpott übrig hatte. Der bekannte Populismus Erich Honeckers hatte wohl spätestens jetzt als Gewinnungsinstrument ausgedient: ihm standen de facto ja auch keine Mittel mehr zurVerfügung. Was konnte der Bevölkerung unter diesen Bedingungen überhaupt noch glaubhaft versprochen werden? Wir sehen eine –auch im konsumpolitischen Bereich –sich nahezu verselbstständigende Propaganda, die weiterhin undanscheinend unbeirrt unter dem Titel „Errungenschaften“trommelt, aber immer mehr jede Bodenhaftung verlor, am sinnfälligsten in Honeckers groteskem „Endspiel“ (die Anspielung auf das gleichnamige absurde Theaterstück Samuel Becketts ist beabsichtigt) am 14. August 1989. Längst war die Grenze in Ungarn gefallen, strömten Tausende von Ost-Bürgern in den Westen, da wurde ihm vom VEB Kombinat Mikroelektronik „ Karl Marx“daserste funktionsfähige Muster eines in der DDR hergestellten 32-Bit-Mikroprozessors überreicht. Wie noch nie zuvor bediente sich derMinisterpräsident einer geradezu biblischen Bildersprache: „ Den Sozialismus in seinem Lauf hält weder Ochs noch Esel auf!“ 10Diese Anleihen bei der christlichen Heilsgeschichte kamen nicht von ungefähr, denn die vermeintliche Geburt des sozialistischen Super-Chips sollte augenscheinlich zur Erlösung vondererdrückenden Überlegenheit des Westens in derMikroelektronik undder Embargopolitik der Reagan-Administration führen. Doch wie teuer war dieser Propagandaauftritt erkauft! Was Honecker überreicht wurde, war lediglich ein Labormuster, von der Serienfertigung war mannoch weit entfernt. Der Herstellungspreis dieses Chips betrug 1675 Mark. Bei einem in der DDR angepeilten Verkaufspreis von 120 Mark hätten die staatlichen Subventionen pro Stück also bei 1555 Mark gelegen. Auf demWeltmarkt waren Chips dieser Leistungsfähigkeit inzwischen für 16 bis 18 (Valuta-) Mark zu haben.11 Konnte daraus auch nur imentferntesten noch eine Konsumhoffnung abgeleitet werden, dergestalt, dass in
10 André Beyermann: Staatsauftrag: „Höchstintegration“ . Thüringen und das MikroelektronikProgramm der DDR, Landeszentrale fürpolitische Bildung Thüringen, Erfurt 1999. 11
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absehbarer Zukunft auch DDR-Bürger einen mit solchen Chips bestückten Heimcomputer erwerben konnten? Ganz offensichtlich nicht. Das PropagandaSchauspiel warnurnoch absurdes Theater –ohnejeden Realitätsbezug. In derTat waren die Wünsche derMenschen imLande zudieser Zeit aufviel bescheidenere Dinge ausgerichtet undnoch längst nicht imdigitalen Zeitalter angekommen, wie es derPropagandaauftritt glauben machen wollte. Ich möchte abschließend anhand dreier, sehr viel gewöhnlicherer Produkte versuchen nachzuzeichnen, wie auf dieser eher alltäglichen Ebene Konsumpolitik als Preispolitik aussah und welche Versprechungen, Einlösungen und Enttäuschungen sie transportierte. Solcherart Konsum- bzw. Gebrauchsgüter waren immerhin erreichbar, oder sie sollten es sein bzw. werden: 1.) derVideorekorder, 2.) der Wartburg mit 4-Takt-Otto-Motor, 3.) der Nordhäuser Doppelkorn. Neben einemFarbfernsehgerät wünschten sich viele DDR-Bürger etwa ab Mitte der achtziger Jahren auch einen Videorekorder. Auch auf demFeld der Ausstattung der Haushalte mit Unterhaltungselektronik warderWesten inzwischen weit davongezogen. So hatte in derBundesrepublik schon 1980 als dasJahr desVideorekorders gegolten, als anstatt der erwarteten 600.000 fast 800.000 Stück solcher Geräte verkauft werden konnten. In derDDRhingegen diskutierte manin derFachpresse zwar eifrig über Für undWider dieser neuen Medien, ohne dass die meisten der Diskussionsteilnehmer solche Geräte aus eigener Anschauung überhaupt gekannt hätten. Undso wurde spätestens vom 11. Parteitag 1986 erwartet, dass auch diese Bedürfnisse in den Beschlüssen endlich Berücksichtigung fanden. Für die Mehrzahl der Menschen (ohne entsprechende Finanzressourcen oder Westwährung) erfüllten sich die großen Erwartungen auf ein entsprechendes Geräteangebot jedoch nicht: „ Die Verantwortlichen entschlossen sich lediglich Ende der achtziger Jahre zueiner einmaligen Importaktion von50.000 Geräten imjapanischen VHSStandard, die für 7.300 Mark in den offiziellen Handel kamen. Eine eigene Lizenzfertigung, wie sie teilweise die UdSSR, CSSR undVR Polen eingeführt hatten, wurde nicht mehr in Angriff genommen. Darüber hinaus ließ der Stand der Produktivkräfte eine serienreife Herstellung weiterer Produktgruppen nicht zu, sodass selbst in denbevorzugt behandelten Bereichen des Fernsehens die Investitionen in denBau eigener Studio- undSendeanlagen längst eingestellt waren und Fremdfabrikate denVorzug erhielten. So konnten kaufkräftige Interessenten offiziell nurmit ausländischen Währungen über Intershop-Verkaufsstellen oder einen Genex-Geschenkdienst die begehrte Elektronik legal in ihren Besitz bringen. Da das letztere Unternehmen nicht wie üblich der staatlichen Plankommission und den Fachministerien unterstand, sondern dem ausgegliederten Sonderreferat Kommerzielle Koordination (KoKo) beim Außenhandelsministerium zugeordnet war, flossen die hohen Valuta-Umsätze direkt den Parteikassen zu. Demzufolge wurde das lukrative Versandgeschäft von West nach Ost relativ großzügig ge-
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handhabt und aus dem Zuständigkeitsbereich der Zollbehörde ausgeklammert.“12 Einmal mehr organisierte die SED auf diese Weise „ einen staatlich gelenkten ‚Schwarzmarkt‘fürchronische Mangelwaren imeigenen Land, umangutgehütete Devisenvorräte ihrer Landsleute zugelangen.“13 Der Preis von7.300 Mark wurde von der Bevölkerung als Beutelschneiderei empfunden, ähnlich wie der für den lange ersehnten Wartburg mit 4-Takt-Motor aus demHause VW. Als das Fahrzeug auf der Leipziger Messe 1988 vorgestellt wurde, nahmen viele Besucher denhorrenden Preis von32.000 Mark zumAnlass, dasAusstellungsstück mit Eiern zubewerfen.14 Schon die Tatsache, dass daseinstige Vorzeige-Automobil der DDR nach fast 22 Jahren Produktionszeit endlich mit einem VW-Polo-Motor ausgeliefert wurde, hatte auch demLetzten denGlaubenandie Innovationsfähigkeit derDDR-Wirtschaft genommen. Hinzu kam, dass das 2-Takt-Prinzip über Jahrzehnte hin geradezu im Rang einer Staatsdoktrin gestanden hatte, vor diesem Hintergrund bedeutete diese Innovation schlicht und einfach eine Selbstdemontage. Wo immer solcherart „ Weltniveau“in der DDR überhaupt noch auftauchte, es kam von außen undals Import herein. Die damit einhergehende staatliche Preispolitik musste im Hinblick auf die Wahrnehmung des eigenen Systems sozialpsychologisch verheerende Folgen zeitigen. Denn seine –zum Teil hoch subventionierten –originären Leistungen (Brötchen, Milch, Mieten) wurden in den Augen der Verbraucher in dem Maße entwertet wie die importierten Gebrauchsgüter astronomisch überteuert undautomatisch eine Überbewertung erfuhren, die sie, unter Maßstäben marktwirtschaftlicher Konkurrenz betrachtet, keineswegs verdienten. Der DDR-Staat warde facto in seiner Endphase genau das geworden, waser seinem ideologischen Bonner Kontrahenten in der ÄradesKalten Krieges stereotyp vorgeworfen hatte, ein Monopolkapitalist. Im Gegensatz zu Videorekorder und 4-Takt-Wartburg war der Nordhäuser Doppelkorn jedoch ein originärer DDR-Markenartikel undeinjedem ihrer Bürger erreichbares Produkt. Mitte der achtziger Jahre sollte nun selbst dieser originäre DDR-Artikel zumGegenstand staatlicher Preispolitik werden, um auch ihn zum Instrument systematischer Kaufkraftabschöpfung zu machen –mithilfe dessen, was oben als Etikettenschwindel gebrandmarkt wurde. Die nunerwogenen Maßnahmen dazu sahen vor, gleich die ganze Marke –nach demMotto „ Schnaps ist Schnaps“–vomMarkt zu nehmen unddurch ein neues Produkt zu ersetzen, dessen Alkohol-Anteil von 38 auf 32 Prozent abzusenken, dessen Preis hingegen von
12 Thomas Beutelschmidt: Von „Robotron“bis „Colortron“ . Form undFunktion der Unterhaltungselektronik in der sozialistischen Medienlandschaft, in: Heide Riedel (Hg.): Mit unszieht 173. die neue Zeit. 40 Jahre DDR-Medien, Berlin 1993, S. 165– 13 „ Dakriegst Dualles, wases nicht gibt.“Wiedie SEDdenDDR-Schwarzmarkt aufKosten der Bürger organisiert, in: derSpiegel, Nr.41/1985, S. 131. 14 Zur Bedeutung des Wartburg vgl. Rainer Gries/Volker Ilgen/Dirk Schindelbeck: Perfekte Panne, perfide Performance. Opel baut aufEisenach: Bemerkungen zueiner Einheits-Anzeige, In: Dies.: „ Ins Gehirn der Masse kriechen“Werbung undMentalitätsgeschichte, Darmstadt 1995, S. 173–192. Desgl.: Dirk Schindelbeck: Die volkseigene Mobilität. Streiflichter aus der 62. Geschichte desZweitakt-Staates, in: praxis Geschichte, Hr.4/1993, S. 60–
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Dirk Schindelbeck
17,60 Mark auf 32 Mark anzuheben war.15 Doch die Parteigewaltigen hatten eins völlig übersehen. In diesem Fall warder Preis nicht nureine quantitative Größe, die 17 Mark 60 für denNordhäuser waren gewissermaßen Bestandteil derMarke selbst, hatten Zeichencharakter, standen für ein Qualitätsversprechen ein –ein Stück gewachsenes Verbrauchervertrauen. Es genügte, allein denPreis zunennen, undaufderanderen Seite derLadentheke warklar, wasGegenstand derNachfrage war. Es magsein, dass es ein solches Phänomen nurimSozialismus mitseinen tonnenideologischen Denktraditionen gab–gleichviel: Es gelang denVerantwortlichen des Kombinats jedenfalls, demAnsinnen der Plankommissionäre entgegen zu treten, ihren Markenartikel –unddas heißt: dessen Qualitätsversprechen und dasdafür einstehende Preis-Äquivalent –durch die schwierigen achtziger Jahre zu retten. Dieses symbolische Kapital blieb unbeschädigt undkonnte auch nach der Wende gute Zinsen tragen. Generell freilich galt: Für den Machterhalt des Systems waramEnde kein Preis zu hoch, wie Honeckers final-skurriler Propagandaauftritt zeigte. Lediglich dort, wo es um die wirklichen Errungenschaften des DDR-Systems ging, wodie lebensweltliche Geschichte vonProdukten Spiegel der Menschen und ihrer Konsumgeschichte selbst geworden war, war willkürlicher Geldabschöpfungspolitik vonoben Grenzen gesetzt, undzwarrecht enge. Sicherlich hat Erich Honecker schon früh das Gefühl für die schwindende symbolische Integrationskraft der Verbraucherpreise aus den Augen verloren. Einst dazu ersonnen, dasProprium desSozialismus („ Billige Grundversorgung für alle!“ ) zu beglaubigen unddie klassenlose Gesellschaft als Konsumgemeinschaft zu begründen, wurde der durch sie versinnbildlichte ideologische „Mehrwert“in densiebziger underst recht denachtziger Jahren vonderBevölkerung nicht mehr wahrgenommen oder garwertgeschätzt, sondern imGegenteil mit Füßen getreten, wenn diese tonnenweise Brot anHaustiere verfütterte oder hemmungslos subventionierte Heizenergie verpulverte. Wenn es in den Augen der DDR-Bevölkerung imletzten Jahrzehnt des Systems überhaupt noch einen symbolischen „Mehrwert“ gab, so warer nicht genuin sozialistischen Ursprungs, wie es der Sozialpsychologe Hans-Joachim Maaz nach der Wende scharfsinnig analysierte undzusammenfasste: „ Der ‚real existierende Sozialismus‘ hat an keiner Stelle glaubhafte und überzeugende Werte schaffen können, die über das profane Leistungs- und Wohlstandsdenken hinaus reichten. Imewig kränkenden Vergleich zudenüberlegeneren undreicheren Westdeutschen waren die DDR-Bürger eher noch verrückter nach äußeren Werten. So hat sich eine Steigerungskultur entwickelt, die die sogenannte klassenlose Gesellschaft in neue ‚Klassen‘einteilte: weres sich leisten konnte, in den Luxusläden ‚Delikat‘ und ‚Exquisit‘ einzukaufen, wer D-Mark besaß undsich aus demIntershop versorgen konnte oder wer als höchsten Rang denReisekaderstatus oder die Reiseerlaubnis mit Westverwandtschaft für sich in Anspruch nehmen konnte. Der Fetischcharakter westlicher Waren warnicht mehr zu überbieten: Leere Bier- und Coladosen wurden als Schmuckstücke auf die 15 Vgl. hierzu Rainer Gries: Produkte als Medien. Kulturgeschichte der Produktkommunikation inderBundesrepublik undderDDR, Leipzig 2003, S. 440ff.
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Schrankwand gestellt, Plastetüten mit Reklameaufschriften besaßen Handelswert, Westkleider machten Leute. Realer Mangel undqualitätsmindere Ware bei uns, derWarenüberfluss undderQualitätsluxus imWesten waren deraffektive Hintergrund füreine nie endende undnie befriedigende Konsumspirale. So warauch bei uns ‚Familie Neureich‘ ein beliebtes Spiel mit Variationen des Kinderspiels ‚Meins ist besser als deins!‘, wobei der Westartikel den absoluten Maßstab setzte.“16
Letzten Endes war in der DDR also durch die desaströse Politik der Verbraucherpreise eine Klassengesellschaft entstanden, die man–auch undmithilfe vor allem vonPreispolitik –ideologisch ja ein füralle Malabschaffen wollte.
16 Hans-Joachim Maaz: Der Gefühlsstau. Ein Psychogramm derDDR, Leipzig 1991, S. 95.
Roman Sandgruber
DasGeschlecht der Esser DieErnährungsgeschichte hatsich einen umfassenden Fragenkanon erarbeitet, der eigentlich alles abdecken müsste: wer, was, wie viel, wie, wann, wo, mit wem. Dennoch ist dabei eine Variable nur unzureichend berücksichtigt worden, der in manchen Bereichen des Essens undTrinkens heute die größte Varianz zukommt, wer“hat sich auf „den“Esser undTrinker nämlich die des Geschlechts.1 Das „ bezogen, auf denKonsumenten, in einer sehr abstrakten Form, auf denanonymen Verbraucher in Form des „ Pro-Kopf-Verbrauchs“ , auf Staaten, Regionen, Städte undAnstalten, auf Armen- undKrankenhäuser, die Armee, Gefängnisse, Klöster, vornehmlich aber auf „ denHaushalt“ , gegliedert nach Einkommen oder nach Berufsständen (Arbeiter, Bürger, Adel...).2 Die Pro-Kopf-Angaben, die für Veränderung von Verbrauchsmengen, bei Fleisch, Brot, Milch, Bier etc., in derLebensstandard-Forschung undErnährungsgeschichte immer wieder herangezogen werden, vermögen zwar langfristige Trends und regionale Unterschiede herauszuarbeiten, verdecken aber nicht nur einkommensbedingte oder altersbedingte Unterschiede innerhalb der erfassten Gruppen, sondern vorallem auch alle geschlechtsbedingten Unterschiede. Dasselbe gilt in einem noch stärkeren Maße für die auf Körpergrößen abzielende Lebensstandard-Forschung, die als Erklärungsvariablen auf Ernährung und Arbeitsbelastung in derPhase desErwachsenwerdens abzielt, dasGeschlecht aber 1 Das Themenheft: Nahrungskultur. Essen undTrinken im Wandel, Der Bürger im Staat, 52 Jg., H. 4, 2002: geht auf das Geschlecht nicht ein, weder in einem eigenen Beitrag, noch in den 218, einzelnen Themen, z.B. Heinrich Tappe: Alkoholverbrauch in Deutschland, ebda, S. 213– erwähnt geschlechtsspezifische Faktoren, diebei Alkohol sehr viel mehr Bedeutung haben als im übrigen Konsumverhalten, überhaupt nicht; Gunther Hirschfelder: Der Mythos vom Elendstrinken. Die Realität der frühen Fabrikarbeiterschaft im Raum Aachen 1750– 1850, ebda 224, widmet denFabrikarbeiterinnen einen kleinen Absatz, mit demHinweis auf eine S. 219–
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„Sonderentwicklung“ . Neuester Literaturüberblick: HansJürgen Teuteberg: Deressende Mensch zwischen Natur und Kultur, in: Themenheft: Nahrungskultur, S. 179ff; ferner: Hans Jürgen Teuteberg (Hg.): Essen undkulturelle Identität: europäische Perspektiven, Berlin 1997 (Kulturthema Essen 2); ders. (Hg.): European food history: a research review, Leicester 1992; Hans Jürgen Teuteberg/Günter Wiegelmann: Nahrungsgewohnheiten in der Industrialisierung des 19. Jahrhunderts, Münster 1995; dies.: Der Wandel der Nahrungsgewohnheiten unter demEinfluss der Industrialisierung, Göttingen 1972 (Studien zumWandel von Gesellschaft und Bildung im Neunzehnten Jahrhundert 3); Roman Sandgruber: Die Anfänge der Konsumgesellschaft. Lebensstandard, Konsumgüterverbrauch undAlltagskultur in Österreich im 18. und19. Jahrhundert, Wien 1982; ders.: Bittersüße Genüsse. Kulturgeschichte derGenussmittel, Wien 1986.
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Roman Sandgruber
gezwungenermaßen außer Acht lassen muss, weil die Daten ausdermilitärischen Rekrutierung dielängste Zeit nurfürMänner verfügbar sind. Die Konsumerhebungen, die traditioneller Weise für Haushalte gemacht werden, lassen das Geschlecht aus, mit Ausnahme der in jüngster Zeit rasch zunehmenden Single-Haushalte. Aber auch da werden, zumindest in Österreich, die Daten nach Geschlechtszugehörigkeit nur sehr rudimentär publiziert und ausgewertet. Selbst da, wo das Geschlecht aus wirtschaftlichen oder marketingbezogenen Überlegungen eine große Rolle spielen müsste (Frauen als Adressatenkreis für bestimmte Produkte, die stärker von Frauen oder sehr wenig von Frauen konsumiert werden), wird darüber kaum geforscht, sondern bestenfalls räsonniert. Genauere geschlechtsspezifische Daten empirischer Artliegen nurfürdenVerbrauch vonTabakwaren vor. Umfrage-Daten für Produkte, wo Geschlecht ein entscheidender Faktor ist, sind mit Ausnahme der Rauchwaren für Nahrungs- undGenussmittel (für Alkohol, Kaffee, Schokolade, Fleisch etc.) kaum verfügbar, ganz abgesehen von der Frage der Verlässlichkeit, die an derartige Umfrage-Ergebnisse immer wieder gestellt werden muss. Der Konsum- undErnährungshistoriker ist also primär mit fehlenden Quellen konfrontiert. In Haushaltsrechnungen erlauben die meisten Ausgabenposten überhaupt keine geschlechtsspezifische Zuordnung, ausgenommen fürjene Konsumartikel, vondenen manannehmen kann, dass sie nurvoneinem Geschlecht genutzt werden: Kleidungsstücke, bestimmte Toilettenartikel... In denmeisten Fällen ist manaufqualitative Evidenz undentsprechende literarische Aussagen angewiesen.
Frauengeschichte undKonsumgeschichte
Die Frauengeschichte schenkt derGeschichte desKonsumverhaltens, mitwenigen bemerkenswerten Ausnahmen (Geschichte der Hose, Geschichte derHaushaltsarbeit und der Haushaltsmaschinen, Geschichte des Frauensports, Geschichte des Fahrrads), immer noch zu wenig Aufmerksamkeit.3 Im Österreichischen Frauenbericht, mit immerhin fast 800 Seiten ein sehr voluminöses Werk, kommt das Konsumverhalten nur mit wenigen Seiten vor.4 Die fünfbändige Geschichte der Frauen behandelt im Band für das 19. Jahrhundert den Konsum überhaupt nicht, im Band für das20. Jahrhundert nurin einem sehr kurzen Beitrag undnurauf der Basis angelsächsischer Forschungen.5 3 The sex of things: 4
5
gender and consumption in historical perspective, hg. v. Victoria de Grazia/Ellen Furlough, Berkeley 1996. Frauenbericht, hg. v. Bundesministerium für Wissenschaft undVerkehr, Wien Bd. 1.1996 und
Bd. 2. 1998.
Georges Duby/Michelle Perrot (Hg.): Geschichte der Frauen (ed. Betreuung d. dt. Gesam1995: Bd. 1: 19. Jahrhundert, hg. von Genetausg. d. Heide Wunder). 5 Bde., Frankfurt 1993–
DasGeschlecht derEsser
381
Die Konsumgeschichte ihrerseits interessiert sich fürdenAspekt oder die Variable Geschlecht sehr wenig: Derrepräsentative, auch mehr als 800 Seiten umfassende Sammelband „ Europäische Konsumgeschichte“widmet zwar z. B. dem Thema „ Kind undKonsum“einigen Raum (Stearns), sehr viel dennationalen Unterschieden (Europa/USA/Osteuropa) unddemThema Klasse, undgibt demThema„Geschlecht“zwareinen eigenen Teil, aber vornehmlich unter demAspekt der Haushaltsführung unddesEinkaufens: Läden undWarenhäuser als neue Kommunikationsräume für Frauen, Kritik der Warenhäuser etc. bzw. bestenfalls in HinDerVater sitzt ander Schmalseite desFrühstücksblick aufmanche Privilegien: „ tisches undköpft ein Ei. Er ist dereinzige, demnoch ein Ei serviert wird, denn er 6NurzumThema Kleidungskonsum gibt es einen Beitrag, der sich ist derVater.“ spezifisch geschlechtsspezifischen Aspekten widmet.7 Konsumgeschichte als Erweiterung derWirtschafts- undSozialgeschichte bedeutet imBereich derErnährungsgeschichte vor allem Zusammenhänge zwischen Nahrungsmittelversorgung, Wirtschaftswachstum, Bevölkerungsentwicklung, Nachfrageverhalten etc. herzustellen. Geschlecht ist hier wie imgesamten Bereich derMakroökonomie eine besonders vernachlässigte Größe. Konsumgeschichte als vertiefende Dimension der Kulturwissenschaften beschäftigt sich imBereich Ernährung mitFragen derZubereitung, derVerbrauchsanlässe undVerhaltensweisen. Konsumgeschichte als Aspekt der Bedeutungsgeschichte undGeschichte der Zeichen: gerade hier spielen geschlechtsspezifische Aspekte eine besondere Rolle. Dies gilt noch viel stärker für die Bekleidungsgeschichte unddenVerbrauch dauerhafter Konsumgüter generell, oder auch für Sportausübung undSportgeräte. Die Statistik Austria veröffentlichte für den Mikrozensus 1999/2000 erstmals eine Auswertung für Einpersonenhaushalte nach Geschlecht, allerdings nurdifferenziert nach Erwerbstätige und Pensionisten, nicht differenziert nach Einkommen. Da die Männereinkommen allerdings höher sind, lässt sich nicht herausarbeiten, wasgeschlechts- undwaseinkommensbedingte Unterschiede sind.8
6
7
viève Fraisse, 1994; Bd. 5: 20. Jahrhundert, hg.vonFrançoise Thébaud, 1995, darin: L. Passerini, Frauen, Massenkonsum undMassenkultur, S. 355– 374. Stefan Heam: Nachruf. Frankfurt, 1991, 10, zit. n. Heinz-Gerhard Haupt: Konsum undGeschlechterverhältnisse. Einführende Bemerkungen, in: Hannes Siegrist u.a. (Hg.): Europäische Konsumgeschichte. ZurGesellschafts- undKulturgeschichte des Konsums (18. bis 20. Jahrhundert), Frankfurt, 1997, S. 406. Peter Scholliers: Geschlecht, Klasse undKleidungskonsum in Belgien, 1890– 1990, in: Sieg-
rist: Europäische Konsumgeschichte,
8 Statistik Austria,
S. 474 ff.
Konsumerhebung 1999/2000.
382
Roman Sandgruber
Tab. 1: Monatliche Verbrauchsausgaben, Österreich (Einpersonenhaushalte 1999/2000)
Ausgaben insgesamt
(in ATS)
Pensionisten
Erwerbstätige
Insgesamt Frauen
Männer
Frauen
Männer
Frauen
Männer
18.800
25.700
23.200
30.500
17.400
18.500
12,7
8,4 3,4 5,3 24,6 4,9 1,5 19,9
9,2 2,8 7,3 25,8 8,2
7,2 3,3
14,7 1,6
12 3,7
6
5,6 34,7
27,6
2,7
3,8
11,1
12,6
13,5
4,5
9,8 6,9
6,2 8,1
in % Lebensmittel
Alkohol Bekleidung Wohnung, Heizung Ausstattung
Gesundheit
Verkehr Kommunikation
Freizeit, Sport Bildung Cafés, Restaurant Sonstiges
2,1 6,3 31,6
8,1 2,4 7,9 3,1
10,1
1,5 13,3
23,3 5,2 21,2 2,5 13,5
8,3 3,0 5,0 2,7 9,5
10,1
3,4
6,9
11,5
16,2
9,9 8,9 6,9
Quelle: Statistik Österreich.
Essen undGeschlecht
undgegessen wurde früher meist imHaushalt undin Gemeinschaft. EssenundTrinken aber kann mannurals Einzelner: „ Waseiner isst, kann kein anderer essen“ , schrieb Georg Simmel in seiner „Soziologie derMahlzeit“ . DieNahrung ist imstrengen Sinne mitniemandem teilbar, weil sie imAktdesKonsumierens vomEinzelnen verbraucht undvernichtet wird undanders als Kleidungsstücke, Möbel oder Automobile von niemand anderem mehr ein zweites Mal oder Gekocht
gemeinsam verwendet werden kann. Es gibt keinen natürlichen Zwang, Essen gemeinschaftlich auszuüben. Essen trennt mehr als es verbindet. •Dennoch ist das Essen von der Gemeinschaft geprägt und sozial bestimmt. Mankann das Essen nicht nur gemeinsam einnehmen, sondern das Vorhandene auch mitanderen aufteilen. Die Esssitten undMahlzeitenrituale, die geschmacklichen Vorlieben undPeinlichkeitsschwellen, die Formen desgemeinsamen Essens undderVersammlung anderTafel sind Resultate sozialer Übereinkunft undindividueller Selbstdarstellung. Manisst in Gemeinschaft. Gleichzeitig ist dermoderne Mensch peinlich bemüht, mit demEssen anderer nicht in Berührung zu kommen: nicht aus einer gemeinsamen Schüssel essen zu müssen oder ein benütztes Essbesteck oder Glas zuerwischen. In derOrdnung desEssens spiegeln sich komplexe soziale Beziehungen und Ordnungen: Dass diewichtigsten Überlebensmittel, dieNahrungsmittel, unter den
DasGeschlecht derEsser
383
Mitgliedern derGemeinschaft aufgeteilt werden, ist altes Herkommen. Dass dabei Hierarchien undGeschlechterrollen zumAusdruck kommen, ist eigentlich selbstverständlich.9 Hungersnöte unddasAngebot anNahrungsmitteln betreffen eine ganze Region, ein Land, die gesamte Menschheit. Malthus konzipierte den Zusammenhang zwischen Bevölkerungsentwicklung und Nahrungsmittelversorgung. Irgendwelche Unterschiede, insbesondere auch geschlechtsspezifische, werden dabei ausgeblendet, obwohl gerade vonHungersnöten die einzelnen Schichten, Einkommensgruppen, Altersstufen undGeschlechter sehr unterschiedlich betroffen waren und sind.
Männer sindVielesser
DasVerhältnis zwischen Nahrung undsozialem Status waranfangs vorallem eine Frage der Quantität.10 Die Menge dessen, wasjemand zu essen bekam, war, solange nichts so knapp war wie das Essen, nicht nur ein deutlicher Indikator der sozialen Stellung, sondern auch derGeschlechterrolle. Die Menge des zugeteilten Essens warundist für Männer undFrauen recht verschieden.11 Dass Frauen weniger essen als Männer undkleiner von Körpergröße undleichter vonGewicht sind, hängt mit denGeschlechterrollen, Geschlechtsidentitäten undgeschlechtsspezifischen Arbeitsbedingungen zusammen.12 Männer sind Vielesser. Essen spiegelt Macht und Stärke: Das „starke“Geschlecht, die Götter undHelden, Herrscher undKrieger, Kapitalisten undPfaffen, sie werden, zumindest in der Karikatur, durch starkes Essen gekennzeichnet. Esshunger undMachthunger sind engbeieinander. Wenn es umMacht geht, sind die Geschlechterbeziehungen nicht weit weg.13 Die geschlechtsspezifisch ungleiche Verteilung derNahrung amFamilientisch wurde zur Parallelisierung der Mythen . vom“schwachen Geschlecht”undvon„schwacher Nahrung“ Solange eine mehr oder weniger geschlossene Hauswirtschaft bestand, in der imGroßen undGanzen alles, wasgegessen wurde, auch im Haus produziert wurde, war die Aufteilung der Nahrung vor allem eine Frage der innerfamiliären Machtverhältnisse. 9
Eva Barlösius: Soziologie des Essens. Eine sozial- undkulturwissenschaftliche Einführung in die Ernährungsforschung, München 1999. 10 Thomas Macho: Machthunger –Vom vollen und vom leeren Leib, in: Annemarie Hürlimann/Alexandra Reininghaus (Hg.): Mäßig undgefräßig, Wien 1996, S. 54f. 11 Gert v. Paczensky/Anna Dünnebier: Leere Töpfe, volle Töpfe. Die Kulturgeschichte des Essens undTrinkens, München 1994, S. 236. 12 Irmgard Eisenbach-Stangl: Geschlechtsspezifischer Umgang mit dem eigenen Körper, in: Frauenbericht 1995, Wien 1995, S. 440. Allerdings hatsich dieumfangreiche quantifizierende Forschung über Körpergrößen noch nicht dazuaufgerafft, geschlechtsspezifische Unterschiede
13
zumessen undzuanalysieren.
Paczensky/Dünnebier: Leere Töpfe, volle Töpfe,
S. 232.
384
Roman Sandgruber
In einer Erwerbswirtschaft, die durch verdienende undreproduzierende Familien- undHaushaltsmitglieder gekennzeichnet war, konnte undmusste sich eine mehr oder weniger starke Beziehung zwischen Anteil am Haushaltseinkommen undAnteil an denHaushaltsausgaben bzw. an denzukonsumierenden Produkten ausbilden. Solange die Entlohnung vor allem in Naturalien bestand undMänner in der Regel höher entlohnt wurden als Frauen, musste sich dies auch oder sogar vornehmlich in konsumierten Nahrungsmittelmengen undQualitäten ausdrücken. In bäuerlichen Gesellschaften, wo Essen am gemeinsamen Tisch undaus der gemeinsamen Schüssel lange dieRegel war, herrschte dennoch eine klare Abstufung dessen, wasjedem zustand, werzuerst in die Schüssel langte, werdasTempo vorgab etc., vomniedrigsten Jungknecht bis zumAltknecht, Männern undFrauen, Bauern undBäuerinnen. Die schweizerische Kommission für Kriegsernährung, die während desZweiten Weltkriegs die wissenschaftlichen Grundlagen für das schweizerische Rationierungssystem ermittelte, stellte bei der Bestimmung des Normbedarfs einer fünfköpfigen Familie den mittelschwer arbeitenden Mann und den 15- bis17jährigen Jüngling mit je 24 Prozent an der ganzen Kalorien-, Fett- und Eiweißmenge gleich: Eine erwachsene Frau erhielt nur 15 Prozent, das 15- bis 17-jährige Mädchen 10Prozent derfamiliär verfügbaren Nahrungsmenge.14 Das Bewirtschaftungssystem im Nachkriegsösterreich, das in seinen Grundzügen vom nationalsozialistischen System übernommen wurde, unterschied die zuzuteilenden Rationen nach der Höhe der Arbeitsbelastung in fünf Kategorien: Schwerarbeiter, Arbeiter, Angestellte, Kinder undNormalverbraucher. In derEinstufung der einzelnen Berufsgruppen war naturgemäß erheblicher Konfliktstoff enthalten. Frauen waren in vielen Fällen benachteiligt. Sie erhielten fast immer nurNormalverbraucherstatus zuerkannt, auch wenn sie enorm schwere Arbeiten ausführten. Zudem wurden Forderungen nach Erhöhung derLebensmittelrationen nicht mitGleichheitsargumenten untermauert, sondern mitPatriotismus.15 In derNachkriegszeit warEssen knapp. Werdurfte zumzweiten Mal nach„ nehmen? Der Bruder, denn er musste ja noch wachsen (er war längst größer als wirzwei Schwestern). Alle Bekannten haben solche Geschichten ausihrer Familie zuerzählen, meist wares derVater, derdoppelt zulangte.“16 Die Wiener Kammer für Arbeiter und Angestellte erhob in der Weltwirtschaftskrise der dreißiger Jahre Körpergröße und Gewicht der Arbeitslosen: die 14 Jakob Tanner: Waskommt auf denTisch? Überlegungen undFakten zurZusammensetzung der Ernährung aus historischer Sicht, in: Historicum, Sommer 95, 22; Alfred Fleisch: Ernährungsprobleme in Mangelzeiten. Die schweizerische Kriegsernährung 1939– 1946, Basel 1947, S. 302. 15 Irene Bandhauer-Schöffmann: Weibliche Wiederaufbauszenarien, in: Wolfgang Kos/Georg Rigele (Hg.): Inventur 45/55. Österreich im ersten Jahrzehnt der Zweiten Republik, Wien 1996, S. 214f. 16 Paczensky/Dünnebier: Leere Töpfe, volle Töpfe, S. 235.
DasGeschlecht derEsser
385
erwachsenen Männer in denbetreffenden Familien hatten 1932 einDurchschnittsalter von45 Jahren undeine durchschnittliche Körperlänge von 169 cm. Ihr Gewicht warvon 1931 auf 1932 von65,4 auf 63,7 kg zurückgegangen. DasGewicht derFrauen, deren Durchschnittsalter 42 Jahre warundderen Körperlänge 156 cm betrug, warin denbeiden Jahren mit 59,6 kggleich geblieben. Frauen essen dort weniger als Männer, wo die Armut regiert. Frauen essen erst recht dann weniger als Männer, wenn überhaupt kein Anlass zumSparen besteht: Über Mode und Schönheitsideale wird vermittelt, was anderswo von der Armut erzwungen wurde: Frauen dürfen sich nicht satt essen, aus Rücksicht auf Wespentaille undschlanke Figur. In Wohlstandsgesellschaften hat sich die Essenspyramide längst umgekehrt: Nicht mehr die Fähigkeit, viel zuessen, schätzte manseit dem15. Jahrhundert bei den Oberschichten, sondern die Geschicklichkeit des Essens und die Pracht der Tafeln. Angehörige der Unterschichten nehmen heute mehr an Kalorien zu sich als Oberschichten. Die Menge des Essens ist kein Indikator für Einkommen und Wohlstand mehr. In der modernen Gesellschaft sind die Eliten schlank oder zumindest um Erreichung von Schlankheit bemüht. Übergewicht und Fettleibigkeit werden zu Attributen der Unterschicht. Viel zu essen kann in der modernen Wohlstandsgesellschaft auch kaum mehr als Zeichen der Männlichkeit gewertet werden. Allerdings gibt es noch Reste derartigen Selbstverständnisses, in folkloristisch belustigten Knödelesswettkämpfen und ähnlich archaisch oder ländlichtouristisch anmutenden Bewerben. Der Wettstreit zwischen beleibten undasketischen Eliten neigte sich seit der Aufklärung immer mehr zuGunsten derschlanken Figur. Edle Schlankheit wurde zumKörperideal, begründet mit christlich-aufklärerischen Tugenden, mit Mäßigkeit, Einfachheit, Natürlichkeit. Schlankheit wurde zumZeichen der Leistungs-, Freizeit- und Sportgesellschaft. Die Gleichung von Machtfülle und Leibesfülle wurde zunehmend außer Kraft gesetzt. Die Schlankheit, verbunden mit Schnelligkeit, Produktivität und Effizienz, begann sich zu dem Zeitpunkt und dort als neues ästhetisches und kulturelles Leitbild durchzusetzen, wo das Essen im Ausgabenkorb der Haushalte immer mehr an Bedeutung verlor. Im Bedeutungswandel des Wortes Diät, das sich immer mehr von auf bestimmte Krankheitsbilder abgestimmten Speiseplänen zum Begriff der Kalorieneinschränkung generell erweiterte, wird diese Entwicklung unterstrichen. Das europäische Bürgertum des 19. Jahrhunderts wollte seine Frauen schlank undzart. Auch das kolonialistisch-rassistische Denken des 19. Jahrhunderts war von derartigen Körperstereotypen geprägt: schlanke Europäer, dicke „Wilde“ . Das Duallamädchen“verwieAlbert Wirz hat auf Jesco von Puttkamers Roman „ sen. Hier wurden die spätviktorianischen Weiblichkeitsklischees in krasser Weise auf kolonialistische Sichtweisen übertragen: Die europäische Heldin dieses Kolo-
386 nialromans
Roman Sandgruber
ist schlank undkeusch, die Afrikanerinnen sind fett undimmer
hung-
rig.17
Die Männer, die den neuesten österreichischen Repräsentativerhebungen zufolge umetwa 40 Prozent mehr Energie aufnehmen als Frauen (2.552 kcal/Tag im Vergleich zu 1852 kcal), sind in allen Altersstufen deutlich schwerer als Frauen: Das durchschnittliche Körpergewicht österreichischer Männer betrug 1991 78,1 kg, jenes von Frauen 64,8 kg. Die österreichischen Männer sind zwischen 1973 und 1991 umdurchschnittlich 1,9 kg schwerer geworden, die Frauen um 1,2 kg leichter.18 Frauen machen sich häufiger Gedanken über ihr Körpergewicht, sind seltener damit zufrieden und unterziehen sich häufiger einer Schlankheitsdiät.19 Schlankheit“ist für Frauen deutlich sichtbarer ein wichtiges Leitbild als für „ Männer.
Die Mutter schneidet dasBrot Suppen, Milch, Mehlspeisen undGemüse denFrauen zuzuordnen, Fleisch, scharhingegen den Männern, bestimmt bis heute die Denkweisen der europäischen Gesellschaft. Frauen essen häufiger Gemüse undObst. Bei Zucker, Süßwaren, Brot undKartoffeln haben sich die Unterschiede inzwischen fast angeglichen: Frauen essen nur noch geringfügig mehr Süßwaren als Männer undbevorzugen bei Brot etwas häufiger Vollkornbrot.20 DemMann als dem„Erhalter“derFamilie unddemRepräsentanten nach außen gestand mannicht nur mehr, sondern auch andere Speisen zu als der Frau.21 Männer erhielten mehr von demteuren Fleisch unddemteuren Alkohol, Frauen mehr Süßes, mehr pflanzliche Esswaren wieBrot, Kartoffeln, Gemüse, mehr (Ersatz)Kaffee. Das begann sich erst zu ändern, allerdings mit starker Verzögerung, als Fleisch undalkoholische Getränke in Relation zu Gemüse oder Süßwaren erheblich billiger wurden.
fe Gewürze undAlkohol
17 Albert Wirz: „Schwaches
zwingt Starkes“ : Ernährungsreform
undGeschlechterordnung, in:
Hans Jürgen Teuteberg/Gerhard Neumann/Alois Wierlacher (Hg.): Essen undkulturelle Identität. Europäische Perspektiven, Berlin 1997, S. 442; Jesco von Puttkamer: Das Duallamädchen, Leipzig 1908.
18Eisenbach-Stangl: Geschlechtsspezifischer Umgang mitdemeigenen Körper, S. 440. 19 Günther Landsteiner/Maria Mayer: Praxisformen desEssens, Trinkens undKochens: empirische Ergebnisse einer repräsentativen Untersuchung; Teilstudie des multidisziplinären Forschungsprojektes „Ernährungskultur in Österreich“ , Wien, 1994 (Ernährungsweisen undEssundTrinkkulturen inÖsterreich; Bd. 2). 20 Hanni Rützler: Mahlzeiten, Lebensmittel, Nährstoffe. Ergebnisse einer repräsentativen Verzehrserhebung, Bd. 3 desmultidisziplinären Forschungsprojektes “ Ernährungskultur in Österreich, Wien 1994, S. 132; WHO-Projekt: Wien – Gesunde Stadt, I. Wiener Ernährungsbericht, Dokumentation 7, Wien 1994; Eisenbach-Stangl: Geschlechtsspezifischer Umgang mit dem eigenen Körper, S. 440. 21 Eisenbach-Stangl: Geschlechtsspezifischer Umgang mitdemeigenen Körper, S. 440.
DasGeschlecht derEsser
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Frauen bereiten das Brot, sorgen sich umdie Brotnahrung, essen mehr Brot. Brot- undMehlkrawalle waren anvielen Orten eine Sache derFrauen. Die Bereitung vonBrot wareine Sache derFrauen: dasKneten desTeiges, dasEinschießen in denBackofen, dasEinkaufen undAufschneiden: Das Bild vonderMutter, die den Kindern das Brot austeilt, das Butterbrot streicht, das Jausenbrot richtet, ist zumKlischee geworden. Aus der Köhlerhütte in Ferdinand Raimunds Lustspiel Der Alpenkönig und der Menschenfeind“(1828)22 dringt der Verzweiflungs„ schrei der Kinder „ Mutter, a Brot!“ , under klingt aggressiver, als Raimund das wohl beabsichtigt hatte. Die reale Erfahrung: „Kinder, das Brot muss kleiner geschnitten werden, denn das Mehl wird immer teurer“ , bestimmte dasAlltagsden-
ken undAlltagshandeln.23 „ Kriegen wirheut garnichts als Brot?“ , fragen die Kinder derFamilie SchluZuebener Erde underster Stock“ cker in Johann Nepomuk Nestroy’s „ . Schlucker antwortet: „ So lang’wir das noch haben, dankt’s Gott!“In der kargen Welt der Arbeiterfamilien war Brot der wichtigste Bestandteil der täglichen Kost, mit Schmalz oder Marmelade, zumwärmenden Kaffee oder Tee. „ Dasbilligste warja immer dasBrot. Wirhaben hauptsächlich vonBrot gelebt. Wirhaben schon Freude gehabt, wenn wir Schmalz gehabt haben aufs Brot...“ , erzählten alte Arbeiterfrauen.24
Für die Ökonomen ist Brot ein „inferiores“Gut, von dem die Konsumenten bei steigendem Einkommen weniger kaufen. Die Nachkriegsgesellschaft warvon einem allgemeinen Rückgang des Brotverbrauchs gekennzeichnet. Der Pro-KopfVerbrauch an Brotgetreide in Österreich sank von 126,1 kg im Wirtschaftsjahr 1947/48 auf 63,8 kg imJahr 1989/90. Männer sind Fleischesser
Fast überall auf derWelt bekamen undessen Frauen weniger Fleisch als Männer: Pflanzenkost wird als Frauenkost empfunden, Fleisch hingegen als Männerspeise. Dashat Tradition. „Doch kaum ein Historiker, kaum eine Historikerin“ , schreibt Albert Wirz, „ so scheint es, hates bemerkt.“25 Fleisch ist eine besondere Speise. In denmeisten Kulturen ist das Fleischgericht der zentrale Teil festlicher Mahlzeiten, eben die Festspeise. Kein Fleisch zu essen gilt als Verzicht undFastenübung. Der Fleischverbrauch der Europäer war schon im Mittelalter sehr hoch. Die Angaben für dasspätmittelalterliche Deutschland schwanken zwischen 40 und100 kgproKopf undJahr. Vom 16. bis zum 18. 22
Ferdinand Raimunds: „ Der Alpenkönig und der Menschenfeind“(1828), I, 19; Wolfgang Häusler: „ Wart’s, Gourmanninen!“ . VomEssen undTrinken in Nestroys Possen undin Nestroys Zeit, Österreich inGeschichte undLiteratur, 35, 1991, H.4.
23 Sophie Schröder: Erinnerungen ausmeinen Kinderjahren, Arbeiterzeitung, 3. April 1899. 24 Roman Sandgruber: DieAnfange derKonsumgesellschaft, Wien 1984, S. 248ff. 25 Wirz: „Schwaches zwingt Starkes“ , S. 440.
388
Roman Sandgruber
Jahrhundert sank derdurchschnittliche Fleischverbrauch aufetwa 15bis 20 kgpro Einwohner ab, umim Verlauf der Industrialisierung wieder auf die frühere Höhe vonetwa 100 kg anzusteigen. ImVergleich mitaußereuropäischen Gesellschaften nimmt sich Europas undAmerikas Hunger nach Fleisch demnach gewaltig aus. Asien, Schwarzafrika und das vorkolumbianische Amerika waren fast zur Gänze aufpflanzliche Nahrung ausgerichtet. Weder imalten Japan noch in China, Indien oder bei den Azteken, Inkas undden übrigen vorkolumbianischen Indianerstämmen wurde Fleisch in nennenswerten Mengen verzehrt. Im kolonialen Amerika entstand mit derEuropäisierung eine neue, hauptsächlich Fleisch essen-
de Gesellschaft.
Jäger sind Fleischesser: Fleisch bedeutet Macht, zuerst einmal Macht über die Tierwelt. Nichts charakterisiert die hartnäckig sich haltende Vorstellung von der Macht des Mannes undder Macht des Menschen über die Natur stärker als die Jagd. Jagen gilt als die erste undnobelste Tätigkeit desMannes. Jagen ist mitder Bedeutung vonFreiheit verknüpft, bringt Prestige undsignalisiert Herrschaft, die sich in der Macht über das Leben der Tiere undin der Möglichkeit, sie zu töten undzu essen, ausdrückt.26 Schon in der Schule lernt manbei den ersten Unterrichtseinheiten Urgeschichte, dass die Männer für das Jagen unddie Frauen für das Pflanzensammeln zuständig waren. Das lässt sich archäologisch wohl weder beweisen noch widerlegen. Wo Fleisch als starkes Nahrungsmittel gilt undgleichzeitig der Eindruck verbreitet ist, Männer würden die gefährliche oder „ harte“ Arbeit leisten, tendieren die Männer dazu, das Fleisch fast zur Gänze allein zu essen. Priester sind Fleischesser: Fleischessen war häufig mit rituellen Opfern und sakralen Handlungen verbunden, bei Juden, Griechen, Römern. Den Göttern musste man das Wertvollste, das Fleisch, anbieten. Die Götter bekamen einen symbolischen Teil der geschlachteten Tiere. Den Rest teilten die Opfernden, die Priester, unter sich auf. Männliches Fleischessen und männliche Opferpriester standen damit in einem wechselseitigen Konnex. Männer dominierten das Priesteramt, weil es umhoch bewertete Positionen undweil es umFleisch ging. Das Christentum sublimierte die Realität des Opfers: Brot statt Fleisch, Wein statt Blut. DerMönch, mitseinem Verzicht aufFleisch, mitstrengen Fastengeboten, ist die bewusste Negierung des priesterlichen Machtanspruchs. Fleischgenuss würde das sexuelle Verlangen stimulieren und sei daher für jungfräulich-enthaltsames Leben besonders gefährlich, warnten mittelalterlich-frühneuzeitliche Lebensratgeber. DerMönch desfrühen Mittelalters verzichtete auf Fleisch undauf Sexuali26 Das solche Vorstellungen auch heute noch grassieren, vgl. Hubert C. Ehalt: Mensch undTier – Aspekte einer gemeinsamen Geschichte, Beiträge zur historischen Sozialkunde 23, 1993, 5: Vermutlich hatdie Jagd eine entscheidende Rolle bei derMenschwerdung gespielt. Die frü„ henMenschen machten mitErfolg Jagd auch auf Tiere, diewesentlich schneller undkräftiger als sie selbst waren. Dasverstärkte Eiweißangebot inderNahrung hatfraglos einen Beitrag zu der erfolgreichen evolutionären Entwicklung des Menschen geleistet. Vom Beginn der Menschheit an bis zumEntstehen der ersten bäuerlichen Kulturen bildete die Jagdbeute die Hauptgrundlage derErnährung.“
Das Geschlecht der Esser
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tät. Fasten als Verzicht auf Fleischspeisen undsexuelle Enthaltsamkeit sind damit eng verwandt. Dass zumMacho das Steak gehört, möglichst dick undinnen noch
blutig, suggeriert unsdieWerbung. „ Krieger sind Fleischesser: Mankennt es vondenarchaischen Mythen undalten Geschichtsschreibern: Der keltische Heldenbissen, die homerischen Siegesmähler, die mittelalterlichen Gastmähler...“27Fleisch repräsentiert denvermeintlichen Sieg der Männer über die Natur. Vegetarische Feministinnen erblicken im Fleischgenuss nicht nurein Zeichen für die Ausbeutung der Tiere, sondern auch für die Unterdrückung derFrau.28 Fleisch ist der Inbegriff des patriarchalischen und kolonialistischen Weltbildes des 19. Jahrhunderts, schreibt Albert Wirz.29 Fleisch ist in vielerlei Weise Ausdruck männlicher Vorherrschaft, über Tiere, über Frauen, über Menschen generell. So gibt es eine ernährungsphysiologische Trikolore der Macht: weißes Vegetarismus, das ist die Diät der versklavMehl, rotes Fleisch, blaues Blut...30 „ ten, stagnierenden undunterworfenen Rassen, eine fleischreiche Diät hingegen ist die Diät von fortschrittlichen underobernden Geschlechtern ... Weißes Mehl, rotes Fleisch undblaues Blut ergeben die Trikolore der Eroberung.“31Jean-Jacques Rousseau entwickelte eine ganze Völkertypologie: die Italiener seien weibisch undweichlich, weil sie viel Gemüse essen, die Engländer herrisch undtugendstark, weil sie viel Fleisch essen, die Franzosen, die alle Speisen schätzen, haben, geschmeidig undveränderlich, alle Charaktereigenschaften.32 Rousseaus Romanfigur Sophie isst Milch- undZuckerspeisen, Gebäck undBreigerichte, „ aber sehr viel weniger Fleisch“ . Wein undstarke Getränke hat Sophie, die Sanftmütige, erst garnie gekostet. Sie isst nursehr mäßig.33 Die Frauen aßen in Wiener Arbeiterhaushalten der Jahrhundertwende ungleich weniger Fleisch als die Männer, undwenn Fleisch, so fast nur an Sonntagen. Viele Konsumerhebungen belegen, dass Männer mehr undöfter Fleisch essen als Frauen undbei der Mahlzeit ein größeres Stück erhalten. Während die Männer zuMittag meist Fleisch aßen, undoft in garnicht kleinen Portionen, hatten deren Frauen undauch ledige Arbeiterinnen eine sehr viel fleischärmere oder
27Helmut Birkhan: Kelten. Versuch einer Gesamtdarstellung ihrer Kultur, 2., korr. u. erw. Aufl. Wien 1997, 961 ff, Poseidonios-Zitat bei Athenaios (IV, 40), zit. n. Birkhan: Kelten, S. 963. 28 Carol J. Adams: The Sexual Politics of Meat. A Feminist-Vegetarian Critical Theory, New York 1991; Priyani Soysa, Women andNutrition, in: World Review of Nutrition andDietetics 52 (1987). 29 Albert Wirz: Die Moral auf demTeller, Zürich 1993, S. 54. 30 Ernst Haeckel: Generelle Morphologie der Organismen, Bd. 2, Berlin 1866, S. 235, zit. n. Wirz: „Schwaches zwingt Starkes“ , Ernährungsreform undGeschlechterordnung, S. 455. 31 Woods Hutchinson: Instinct and Health, New York 1909, S. 46f, zit. n. Wirz, “Schwaches zwingt Starkes” , Ernährungsreform undGeschlechterordnung, 455. 32 Jean-Jacques Rousseau: Julie oder die neue Héloise, München 1988, 4. Teil, 10. Brief; Wirz, „Schwaches zwingt Starkes“ , Ernährungsreform undGeschlechterordnung, S. 440f. 33 Wirz, „Schwaches zwingt Starkes“ , Ernährungsreform undGeschlechterordnung, S. 441.
390
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gänzlich fleischlose Kost.34 Fleisch war in der kargen Welt der Arbeiterfamilien fürdieMänner, fürdie„Familienerhalter“ , bestimmt, während sich dieFrauen mit Brot, dasmitZucker, Marmelade, Kaffee oder Tee „ verbessert“wurde, oder „ Zuspeisen“ausKartoffeln undKraut begnügen mussten.35 Käthe Leichter, die in denzwanziger Jahren eine Studie über Wiener Arbeiterinnen erstellte, ermittelte auch Zahlen: fast die Hälfte der Arbeiterinnen aßen damals generell fleischlos. ZuMittag wurde zunächst auf denHausvater, denErnährer undErhalter derFamilie, gesehen. Er bekam diegrößte Fleischration; nach ihm der männliche Sprössling; die übrigen taten nur so, als würden sie Fleisch essen, damit es denanderen besser schmeckte.36 Geschlechtsspezifische Unterschiede sind bis in die Gegenwart erhalten geblieben: Männer aller Altersstufen essen deutlich häufiger undgrößere Mengen Fleisch undWurst alsFrauen derentsprechenden Altersgruppen.37
Frauen sind Suppenesser Suppen undBreie sindbillige Küche. Meist kein Herrenessen, auch eher einFrauenessen als ein Männeressen. Suppen undBreie sindjedenfalls viel älter als das Brot undin derZubereitung viel sparsamer als Braten oder Gegrilltes. Dadiemittelalterlichen Bauernküchen mitdenoffenen Feuerstellen meist aufeinen einzigen hängenden Kessel beschränkt waren, bestimmte der Eintopf die Zubereitungsart der meisten Speisen. Der übers Feuer gehängte Kessel, der „pot-au-feu“ , lieferte denBauern undkleinen Handwerkern eine immer wieder aufgekochte Brühe. Nur in der gehobenen Küche der Oberschichten konnte eine Fülle gegrillter, gebratenerundgebackener Rezepte verwirklicht werden. Die Auffassungen vonderOrdnung derHauswirtschaft undderArbeitsteilung der Geschlechter stehen, wie Pierre Bourdieu hingewiesen hat, in engem Zusammenhang. Eine Hausfrau, die ihre ganze Zeit und Mühe ihrem Herd undHeim widmet, wird im Französischen kurzerhand „ pot-au-feu“genannt, wie die Pantoffeln, die „ er“ vor demAbendessen anzieht, die komplementäre Rolle des Manns pot-au-feu“ versinnbildlichen.38 Das Topfgericht, „ , bei dembilliges Suppenfleisch Verwendung findet unddasviel Zeit erfordert, hatAffinitäten zurherkömmlichen Vorstellung vonderRolle derFrau. „ Dass die Mutter die Suppe aufträgt“wurde
34 Albert Wirz: Die Moral auf demTeller, S. 40ff. 35 EvaZiss (Hg.): Ziehkinder, Wien 1994 (Damit es nicht verlorengeht...; 28); Reinhard Sieder: Zuralltäglichen Praxis derWiener Arbeiterschaft im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts, Habil.Schrift, Wien 1988, S. 172, 174, 176, 228. 36 Käthe Leichter: So leben wir..., S. 80, zit. n. Sieder: Zuralltäglichen Praxis, S. 231. 37 Eisenbach-Stangl: Geschlechtsspezifischer Umgang, 440. 38 Pierre Bourdieu: Die feinen Unterschiede, Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Übers. vonBernd Schwibs undAchim Russer, 10. Aufl., Frankfurt amMain 1998, S. 304.
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zumbeliebten Bild der bürgerlichen Familie, Kinder undEhemann sitzen erwartungsvoll. Milch ist weiblich. Milch ist für Kinder. Für das ländliche wie für das städtische Milieu gibt es ausverschiedenen Teilen Europas die Tendenz, dass Erwachsene undvor allem Erwachsene männlichen Geschlechts keine Trinkmilch konsumieren. Mitunter wird dies zu direkter Abneigung gegen Frischmilch, etwa in der Aussage eines Bauern aus der südöstlichen Steiermark für das frühe 20. Jahrhundert: „ Wann ma oan statt der Suppn morgens a Mülch hingstellt hätt, so hätt er’ s wegschütt ... die hätt neamd gessen.“39Milch zu trinken wurde einerseits für Kinder, Kranke undSchwache als passend eingeschätzt, andererseits als pure Verschwendung eingestuft. Der niederösterreichische Pfarrer und Stiftsgeistliche Franz Erdinger (1823– 1885), der aus einer bäuerlichen Familie in Steinegg im Kamptal stammte, beschrieb in einer Familienchronik die Frühstücksgewohnheiten in seiner Familie (um etwa 1830): „Mein Vater undder Geselle frühstückten in der Regel nur Brot undWein. Die Mutter mit den Kindern undDienstboten aßen an einem Tische, auseiner Schüssel, eine gute Milch, oder Stosuppe genannt...“40 Die Gewinnung der Milch unddie Herstellung der Milchprodukte warFrauenarbeit. Das Milch- undEiergeld gehörte in Österreich traditionell der Bäuerin. Zur Männerarbeit mutierte sie dort, wo ein besonderes Kommerzialisierungsinteresse oder technisches Verständnis damit verbunden war.41 Butterbrote gelten als Kinder- und Frauenspeisen, schon zu Martin Luthers Zeiten. Die Kinder suchten mit derGröße der Butterbrote einander zuübertreffen, schrieb der Reformator: Zu Luthers Zeit muss es also im Sächsischen schon weit verbreitet gewesen sein, dass alle Kinder Butterbrote aßen.42 Drei Jahrhunderte später bestätigt das Grimm’sche Wörterbuch den sozialen Akzent des Butterbrotessens: „ Butterbrot ...eine geringe Kost, wie man sie Kindern zum Frühstück streicht undschneidet, auf die manzubescheidenen Abendessen einladet...“ , kontrastierend zur urbayerisch-männlichen „ : Brot mit Bierrettich, Speck, Brotzeit“ Wurst undKäse, dazu eine Maß Bier oder ein Krügel Most, zerkleinert mit dem mitgebrachten Taschenmesser... 1928/29 wurde in dengrößeren Städten Österreichs mit der Schulmilchaktion begonnen. Die 1926 gegründete österreichische Milchpropagandagesellschaft machte sich die Steigerung des Milchverbrauchs zur Hauptaufgabe, bei Eltern, 39 Thomas Schürmann: Milch –zur Geschichte eines Nahrungsmittels, in: Helmut Ottenjann/Karl-Heinz Ziessow (Hg.): Die Milch. Geschichte und Zukunft eines Lebensmittels, Cloppenburg 1996, S. 19. 40 Zit. n. Erhard Chvojka: Zeitbewusstsein undUhrenbesitz in ländlichen Milieus des 19. Jahrhunderts, in: Neue Blicke. Historische Anthropologie inderPraxis, Wien 1997, S. 314. 41 Schürmann: Milch, S.,26. 42 Günter Wiegelmann: AusderGeschichte derButter-Brot-Speisen, in: Helmut Ottenjann/KarlHeinz Ziessow (Hg.): Die Milch. Geschichte undZukunft eines Lebensmittels, Cloppenburg 1996, S. 71.
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Schulbehörden undauf Bahnhöfen. So genannte „ Wohlfahrtsmilch“wurde um20 Groschen je Liter verbilligt ankinderreiche Familien, stillende Mütter undSchulkinder (Schulmilch) abgegeben.43
Schärfe undSüße Männer lieben Schärfe. Vielleicht nurein Klischee. Von denvier grundlegenden Geschmacksrichtungen, scharf/bitter, salzig, sauer undsüß, wird amehesten süß demweiblichen Geschlecht zugeordnet. Es wäre zu simpel, derartige Unterschiede mit denhohen Preisen, die im Mittelalter für Pfeffer undandere Gewürze zu zahlen waren, erklären zuwollen. Denn Zucker warwahrscheinlich noch teurer. Ist süß weiblich? Die Mädel sind süß. Heinrich Reinhardts Operette „ Das süße Mädel“war 1901 uraufgeführt worden. Eine Figur undein geflügeltes Wort aus Schnitzlers Anatol wurden umgedeutet in die Süßigkeit undSüßlichkeit einer angeblich heilen Wienerliedwelt des Fin de Siècle. Schon 1794 warin Wien ein Zuckerbäckerkochbuch herausgebracht worden, das sich ausdrücklich an das weibliche Geschlecht richtete, der „ Wienerische Zuckerbäcker, zum Besten des weiblichen Geschlechtes...“Auch im englischen Sprachgebrauch verweisen für Frauen gebrauchte Kosenamen wie „ sugar“ , „sweetheart“ , „sweetie“oder „honey“ auf die Vorstellung einer Verbindung von Süßigkeit undWeiblichkeit. Herbe und bittere Schokolade wurde schon um 1900 von Stollwerck, der größten deutschen Schokoladenfabrik, als „Herrenschokolade“auf denMarkt gebracht. Die Volksmeinung ist überzeugt, dass Frauen mehr Süßwaren konsumieren als Männer. Immer wieder wurde die Erwartung zum Ausdruck gebracht, dass Frauen dem Süßen mehr zuneigen als Männer, dass sie süße Nahrung benützen, umanderweitig unerreichbare Gegenstände zuerlangen, dass Süßigkeiten imrealen undübertragenen Sinn mehr die Domäne derFrauen als die derMänner seien. Keine Süßigkeiten zu wollen, diente dem Wiener Novellisten Ferdinand v. Saar zur Charakterisierung einer Revolutionärin und Barrikadenkämpferin, eines Mannweibes, einer solchen „ mit heiserer Stimme“ :„ Sie aß fast nichts, mochte nicht einmal Süßigkeiten.“44Werner Sombart sprach von der Verbindung zwischen süßem Konsum und weiblicher Dominanz, von „Süßigkeitskonsum und Weiberherrschaft“.45 Kinder undFrauen werden ammeisten beschenkt. Die Einbürgerung eines geschlechtsspezifischen Genussreglements, Alkohol und scharfe Sachen als männ-
43 Martina Deutsch: DerVölkerbundmolkereikredit: Entstehung undVerlauf derKreditaktion für 1938), Wien, Univ., Dipl.-Arb. 1998, denAusbau desösterreichischen Molkereiwesens (1926– S. 106ff. 44 F. v. Saar: Novellen ausÖsterreich, Sämtl. Werke 10, 69. 45 Werner Sombart: Liebe, Luxus undKapitalismus: über die Entstehung dermodernen Welt aus demGeist der Verschwendung, Neuausg. Berlin 1992 (Wagenbachs Taschenbuch 215) Originalausgabe 1913/1922 unter demTitel: Luxus undKapitalismus.
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lich, Kaffee und Süßes als weiblich. In der Wirklichkeit des Proletariats war es umgekehrt. Frauen undKinder aßen mehr Zucker als Männer. Zucker fungierte als Substitutionsgut für Fleisch. Bezogen auf den Kaloriengehalt war Zucker im späten 19. Jahrhundert bereits wesentlich billiger als Fleisch und konnte als Substitutionsgut dienen. Das war auch der Grund, dass Frauen undKinder mehr Zucker aßen als dieMänner.
Die Schokolade
Im Genussmittelkonsum sind eine Vielzahl vonVorstellungen geschlechtsspezifischer Differenzierung versteckt: Männer rauchen, Frauen seien Kaffeetanten, Mädchen seien süßundgenäschig, glaubt manzumindest. Die geschlechtsspezifische Differenzierung, die sich mehr oder weniger deutlich herausbildete, wenn auch regional, schichtspezifisch undnach Produkten höchst unterschiedlich –etwa Zucker, Milchkaffee oder Schokolade als vor allem weiblich zugeordnete, Tabak oder schwarzer Kaffee als vorallem männlich eingeordnete Genussmittel – muss einerseits mit innerfamilialen Rollen, andererseits mit demGrad derÖffentlichkeit desjeweiligen Konsumaktes in Zusammenhang gesehen werden. Schokolade galt als stärkend, in der Fastenzeit genauso wie vor dem Geschlechtsverkehr. Es wurde ihr eine aphrodisiakische Wirkung nachgesagt. Literarische und bildliche Darstellungen von Liebesmahlzeiten und Liebestränken, im Wirtshaus, im Chambre separée, im Schlafzimmer, im Frühstücksraum, bezogen sich besonders in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts immer wieder auf das Schokoladetrinken. Die Schokolade wardie galante Näscherei desRokokozeitalters, desgalanten Jahrhunderts. Die Dame im losen Negligé auf derOttomane unddasvombellenden Bologneserhündchen empfangene Stubenmädchen, das das sehnlichst erwartete billet-doux unddie noch ersehntere Schokolade brachte, wareine häufig dargestellte Rokokoszene. Casanova führte stets eine Schokoladenkanne mit sich. Venedig in seiner dekadenten Spätzeit galt als das Eldorado der Schokoladetrin-
ker.
Vom 16. bis zum 18. Jahrhundert war Schokolade ein teures, exklusives Genussmittel, dessen Konsum weitgehend auf die höfische Gesellschaft beschränkt war. Schokolade wurde damals als heißes Getränk konsumiert. Was sie keineswegs war, war ein Frühstücksgetränk für Kinder. Die Welt der Schokolade war eine exklusiv erwachsene, undwohl kaumeine vornehmlich weibliche.46 Erst im Verlauf des 19. Jahrhunderts wurde Schokolade zu einem Getränk undsüßen Geschenk für Frauen undKinder. Besonders bittere undherbe Schokoladen wurden nunmehr als „ Herrenschokolade“bezeichnet. Für Männer erfolgte 46 Roman Rossfeld: VomFrauengetränk zur militärischen Notration. Der Konsum von Schokolade ausgeschlechtergeschichtlicher Perspektive, in: Yvonne Leimgruber u.a. (Hg.): Chocolat Tobler, ZurGeschichte derSchokolade undeiner Berner Firma, Bern 2001, S. 55ff.
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eine neuerliche Durchsetzung des Schokoladenkonsums über einen klassisch männlich definierten Raum, das Militär. Seit demletzten Drittel des 19. Jahrhunderts wurde versucht, Schokolade als Frühstücksgetränk undals Notration in verschiedenen europäischen Armeen einzuführen. Im italienisch-türkischen Krieg von 1911/12 undin denbeiden Balkankriegen 1912/13 lieferten Tobler undandere Schweizer Fabrikanten Schokolade in großen Mengen ans Militär. Im Ersten Weltkrieg setzte sich dies fort. 1919 wurde in der Schweizer Armee der Frühstückskaffee weitgehend von Kakao undSchokolade ersetzt.47 1917 beurteilte Theodor Tobler die Veränderungen der geschlechtsspezifischen Zuordnung: „ Wenn vor dem Kriege das weibliche Geschlecht zusammen mit den Kindern das Hauptkontingent der Schokolade-Konsumgesellschaft darstellte, so haben jetzt vor allem die in denArmeen eingereihten Männer Kakao 48 trinken undSchokolade essen gelernt.“ Auch Alpinisten undTouristen wurden als Konsumenten beworben. Berühmte Polarforscher machten Werbung für Schokolade. Dass die Schokolade von Männern wie Roald Amundsen, Fridtjof Nansen oder Robert Scott gelobt wurde, sollte ihren Konsum auch fürMänner entsprechend prestigereich machen. Dennoch blieb die Schokolade auch im 20. Jahrhundert deutlich weiblich besetzt. Pralinen werden weiter vornehmlich anFrauen undKinder geschenkt. Noch in den 1990er Jahren konsumierten in Westeuropa Kinder undJugendliche unter 20 Jahren rund 40 Prozent aller Schokoladewaren, erwachsene Frauen weitere 35 Prozent unddie Männer nurdie restlichen 25 Prozent.49 Kaffeehäuser undKaffeeschwestern
Kaffee, das war eine Revolution. Das Lob des Kaffees in der Kulturgeschichte fallt meist überschwänglich aus: Kaffee, das demokratische, dasradikale, das intellektuelle, das bürgerliche, das anregende, das ernüchternde Getränk, das Getränk der Moderne, der Industrie, des klaren Kopfs... Underst das Kaffeehaus – sein Mythos ist nahezu grenzenlos: die Literaten undKünstler, die Börsen- und Wirtschaftsleute, die Flaneure undBohèmiens, dieHeimatlosen undVertriebenen, sie alle hätten nicht nurAnregung, sondern auch Heimat imKaffeehaus gefunden. Kaffeehäuser wurden in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts in allen wichtigeren westeuropäischen Städten eröffnet undeingerichtet. Sie wurden zum wichtigsten Ort derneuen bürgerlichen Öffentlichkeit, wo sich literarische, philosophische undpolitische Diskussionen zusammen mit kommerzieller Kommunikation zuerst undvor allem relativ frei entfalten undartikulieren konnten undwo 47 Rossfeld: VomFrauengetränk zurmilitärischen Notration 61. 48 Rossfeld: VomFrauengetränk zurmilitärischen Notration 61. 49 Albert Pfiffner: Kakao, in: Thomas Hengartner/Christoph Maria Merki (Hg.), Genussmittel. 140, 124; Debra Waterhouse: FrauEin kulturgeschichtliches Handbuch, Frankfurt 1999, 117–
enbrauchen
Schokolade, München 1995.
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im Unterschied zu denWein- undBierlokalen derklare Kopf denVorrang hatte. VomZutritt her, derjedem Zahlungsfähigen, wenn auch vorerst nicht denFrauen, offen stand, weitaus weniger elitär als derSalon, bot sich imKaffeehaus über das Großbürgertum hinaus für breitere Schichten des Mittelstandes eine neue Institution der Kontaktnahme undNachrichtenvermittlung, wo –unddas machte wiederum denUnterschied zudenWein- undBierlokalen –derklare Kopf denVorrang hatte.
In derzweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts machte dasWiener Kaffeehaus einenbedeutsamen Wandel durch. Es warnicht mehr wie im Vormärz in erster Linie Spiel- undRauchsalon undTreffpunkt von Herrenrunden. Ab der Mitte der achtzehnhundertsiebziger Jahre begann sich auf der Ringstraße der Typus der „Familienkaffees“zu etablieren. Manversuchte, auch die Frauen mit speziellen Damensalons oder Wintergärten als neue Kundinnen zu gewinnen. Diese als Treffpunkte für Familien konzipierten Lokale erhielten eine besonders prächtige Ausstattung mit modernsten Möbeln, Spiegelscheiben, exquisiten Tapeten, Gaslicht undspäter elektrischer Beleuchtung. Der Ort, über den die Frauen das Kaffeetrinken kultivierten, war nicht das Kaffeehaus, das, vonAusnahmen abgesehen, vonihnen im 17., 18. undfrühen 19. Jahrhundert nicht aufgesucht werden durfte. Als Einstieg in dasKaffeetrinken der Frauen gilt dieBesuchsmahlzeit oder dasKaffeekränzchen. Schon um 1700 wird die Lust auf Kaffee mit Laster gleichgesetzt unddieses besonders Mädchen undFrauen unterstellt, mit offenen undversteckten Hinweisen auf daraus resultierende erotische Ausschweifungen. Kaffeetrinken erschien als Verschwendung, nicht nurwegen der Kosten des Kaffees undwegen des fehlenden Nährwerts des Getränks, sondern auch wegen des zumKaffeekochen notwendigen Holzes undder mit demKaffeetrinken in den dafür notwendigen Arbeitspausen verbundenen Zweitverschwendung.50 Dass sich Frauen seit dem Ende des 17. Jahrhunderts zu geselligen, nicht durch Arbeit bedingten Runden trafen, halt zu ‘Kaffeekränzchen’, erklärte das älteste deutschsprachige Frauenzimmerlexikon, erschienen im Jahre 1715 in Leipzig folgendermaßen: „Caffe Cräntzgen, Ist eine tägliche oder wöchentliche Zusammenkunft und Versammlung einiger vertrauter Frauenzimmer, welche nach der Reihe herum gehet, worbey sie sich mit Caffee trincken undL’ombre-Spiel
51 divertiren undergötzen.“ Die Vorstellung vomhohen Kaffeekonsum der Frauen wurde zumKlischee. ZurArbeit ging derMann, die Dame trank Kaffee.“Auf einen Kaffee undeinen „ Kuss kommen... Für die Kaffeeschwestern aus J.S. Bachs Kaffeekantate ist Kaffee Ei, wie schmeckt derCoffee süße, lieblicher als taudaseinzige Lebenselexier: „ send Küsse, milder als Muscatenwein...“Der Musikus Miller in Schillers „Kabale
50 Ulla Heise: Kaffee und Kaffeehaus. Eine Bohne
51
macht Kulturgeschichte, Leipzig 1996,
120. Amaranthes (das ist Gottlieb Wilhelm Corvinus): Nutzbares, galantes zimmer-Lexicon [...] Leipzig 1715, Sp.284.
S.
undcuriöses Frauen-
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und Liebe“war sicher nicht der erste gewesen, der seiner Frau Vorhaltungen machte, mit dem „ vermaledeiten Kaffeetrinken“aufzuhören. Das Kaffeekränzchen derklatschsüchtigen Tanten warzumTopos derdeutschen Lustspielliteratur des 18. Jahrhunderts geworden. „Denn haben d’Weiber kein Kaffee, so werden’s sterbenskrank“ , heißt es in „Kasperls neuerrichtetem Kaffeehaus“des Wiener Volksdichters Joachim Perinet um 1780. Tratschen, Lotteriespielen undKaffeetrinken wurden zuweiblichen Lastern stilisiert, woKaffeeschwestern, TratschtantenundLotteriesüchtige sich zutrauter Runde vereinigten.52 Die erste Welle der Zunahme des Kaffeeverbrauchs bei den Wiener Unterschichten ist ins letzte Drittel des 18. Jahrhunderts zu datieren. Josef Richter, der Autor der Eipeldauerbriefe, brachte den Wandel auf die Kurzformel: Damals: das Frühstück der Damen undder vermögenden Klassen – Heute: Kaffee Kaffee – –das Frühstück der Obst- undFratschelweiber.53 VondenHeim- undIndustriearbeitern undArbeiterinnen wardiebürgerliche Mode desKaffeetrinkens sehr rasch aufgegriffen undübernommen worden. Diese Stellung verdankte der Kaffee nicht nur dem Bestreben, bürgerliche Vorbilder nachzuahmen, sondern auch derEigenschaft, neben derbelebenden Wirkung auch eingewisses Sättigungsgefühl zuvermitteln. Andie Stelle desBohnenkaffees und Kaffeehausbesuches waren allerdings billige Ersatzstoffe undfliegende Kaffeestände getreten. In dieser Form wurde das Luxusgetränk zu einem Hauptbestandteil derHaushaltsführung derUnterschichten des 19. Jahrhunderts. Schon ausdenProtoindustrialisierungslandschaften des 18. Jahrhunderts wird dies berichtet. Wie sehr Kaffee zumwichtigsten Getränk undNahrungsmittel der Industriearbeiter undvor allem auch Arbeiterinnen im 19. Jahrhundert geworden war, wird ausvielen Berichten deutlich. Kaffee warrasch zuzubereiten, konnte in den Fabriken undbei der Heimarbeit schnell zwischendurch getrunken werden, unterdrückte denHunger unddie Müdigkeit undwarbestimmt noch besser als die indenStädten oft verdorbene undverfälschte Milch.54 Liest mandie Protokolle der österreichischen Arbeiterinnenenquete vomJahre 1896, so müsste manzudemSchluss kommen, dass die Mehrzahl derArbeiterinnen überhaupt nur von Kaffee lebte: Sie gingen in der Früh in die SechsKreuzer- Kaffeehäuser, undmittags auch, undabends nahmen sie zu Hause wiederKaffee. Wenn mandie Antworten durchgeht, stößt manimmer wieder darauf: Die Ernährung derArbeiterinnen, die 2 oder 3 Gulden die Woche verdienten, bestand hauptsächlich aus Kaffee, den sie sich von zu Hause mitnahmen, irgendwo erwärmten, unddieser diente für Frühstück, Mittagessen undJause ... Fragte der Organisator der Enquete Dr. Ofner: „ Warum essen die Mädchen nicht lieber Eier oder sonst etwas, wasnahrhafter ist, statt zu Mittag in die Kaffeehäuser zu ge52 I.B. Moser: Die Lotterieschwestern, in: ders.: Das Wiener Volksleben in komischen Szenen, NF 16, 1866, S. 68 ff. 53 Josef Richter: Dasalte unddasneue Wien, Wien 1800, S. 26f. 54 Heidi Witzig/Jakob Tanner: Kaffeekonsum von Frauen im 19. Jahrhundert, in: Daniela Ball 168. u.a. (Hg.), Kaffee im Spiegel europäischer Trinksitten, Zürich 1991, S. 153–
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hen?“war die Antwort: „ Weil das viel zu teuer ist.... ZumKaffee isst manein 55 Stück Brot, undfürdenMoment ist manmehr gesättigt als mitzwei Eiern.“ Dem Kaffee haftete selbst noch als Zichorienbrühe der Anspruch des Vornehmen an, derBesuchsmahlzeit, die zudem schmackhafter warals Brei oder hartes Brot. Kaffee ist kurzfristig anregend und stand in einer Traditionslinie von Freizeit und Kurzweil. Das mag der Kaffeepause ihre Beliebtheit und beherrschende Stellung im Arbeitsalltag gesichert haben.56
Männerorte
–Männerdrinks
Männer sind Vieltrinker. Trotz eines voranschreitenden Prozesses der AngleiGeschlecht“neben dem Alter immer noch die wichtigste Variable chung ist das „ hinsichtlich Frequenz undMenge des Alkoholkonsums. Frauen konsumieren weniger Alkohol undweniger häufig als Männer. Alkoholische Getränke sind in Österreich eine Domäne der Männer geblieben, Kaffee und Tee hingegen eine der Frauen. Eine 1993/94 für Österreich durchgeführte Studie belegt, dass Frauen durchschnittlich 14,5 g Alkohol proTag konsumierten, Männer durchschnittlich 50,3 g. Frauen tranken nur 29 Prozent dessen, was Männer zu sich nahmen.57 Frauen tranken auch deutlich risikoärmer als Männer. Die Emanzipation seit den 70er Jahren hat nicht, wie vielerorts befürchtet und wie etwa bei Zigaretten der Fall, den Alkoholkonsum der Frauen drastisch ansteigen lassen oder garjenem derMänner angenähert. Es geht dabei nicht allein umdas Ausmaß des Alkoholkonsums unddie Art der bevorzugten Getränke, sondern auch umdie Rahmenbedingungen des Trinkens, die Orte, Zeitpunkte und Anlässe, die Trinkfrequenz und die Einstellung zumRausch. Die Nivellierung geschlechtsspezifischer Unterschiede im Trinkverhalten vollzog sich zuerst undin stärkerem Maße in den mittleren undoberen sozialen Schichten. Trotz steigender Berufstätigkeit der Frauen ist es aber zu keiner wesentlichen Einebnung dergeschlechtsspezifischen Unterschiede im Trinkverhalten gekommen.58 Die Toleranz gegenüber Trinkern ist offensichtlich stark geschlechtlich differenziert geblieben. Die Frauen schließen sich immer noch, offensichtlich aus eigener Überzeugung, vonjener Teilöffentlichkeit „Wirtshaus“aus, in derein nicht unbeträchtlicher Teil des Alkoholkonsums vollzogen wird. Im Wirtshaus, 55 Die Arbeits- undLebensverhältnisse der Wiener Lohnarbeiterinnen. Ergebnisse undstenographisches Protokoll derEnquete über Frauenarbeit, Wien 1896. 56 Michael Mende: Rübenzucker: Die Industrialisierung von Ackerbau und Mahlzeiten im 19. Jahrhundert. Regionale Beispiele, Sozialwissenschaftliche Informationen für Unterricht und Studium 1985/2, S. 106. 57 Eisenbach-Stangl: Geschlechtsspezifischer Umgang mitdemeigenen Körper, S. 442 f. 58 Irmgard Eisenbach-Stangl: Alkoholproduktion, Alkoholkonsum undsoziale Kontrolle alkoholischer Rausch- undGenussmittel in Österreich 1918– 1984, Habil. Wien 1988, S. 209.
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mit Arbeits- oder Vereinskollegen, tranken einer österreichischen Erhebung aus den 1970er Jahren zufolge jeweils maximal halb so viele Frauen wie Männer (IFES 1977). Vergleichende Untersuchungen über Trinken und Trunkenheit belegen für viele Kulturen die geschlechtsspezifische Bestimmung des Alkoholkonsums und das Ungleichgewicht zwischen den Geschlechtern.59 Trinkende Frauen brachen ein doppeltes Tabu, weil Trinken als unweiblich bzw. sexuell stimulierend galt und trinkende Frauen als „femmes fortes“die Geschlechterrollen und die Geschlechterhierarchie in Frage stellten.60 Einerseits wurden „trunkene Weiber“als „gemeine Weiber“eingestuft, andererseits „ rechte Männer“als „ trinkende Männer“ .„ Wer niemals einen Rausch gehabt, derist kein rechter Mann“ , meinte Martin Luther.61 Weibliche Trunkenheit hingegen wurde vonKritikern desAlkoholismus als besonders verwerflich eingestuft, von Sebastian Franck (Über das gräuliche Laster der Trunkenheit, 1528) oder Matthäus Friedrich (Sauffteuffel, 1552), indem man darstellte, dass jetzt Frauen genauso wieMänner tränken: „Sauft erda,säuft sie dort. Trägt erdasGeld vorne hinaus, so trägt sie es hinten hinaus“(Matthäus Friedrich). „ Wann derman eyn seydlen will haben, so will die fraw ein maß.“(Sebastian Franck). Dass Männer mehr tranken als Frauen, lag an denEinkommen. In denösterreichischen Bauernhaushalten des 19. Jahrhunderts, wo die Entlohnung der Knechte undMägde noch vornehmlich in Naturalien bestand, in Essen undTrinken, Kleidung undUnterkunft undvielleicht einem kleinen Taschengeld, wurde der Alkohol –in Österreich meist Obstmost –den Knechten undMägden meist genau zugemessen. Frauen erhielten ein Drittel bis die Hälfte des Quantums der Männer. Wenn der Mostkrug im Bauernhaus der Reihe umgereicht wurde, ging die Reihenfolge vomGroßknecht bis zumHüterbub, dann von der Großdirn bis zum„Kuchlmensch“ . Klar war, dass dieFrauen weniger erwischten. Wurden zwei Krüge gebracht, warderfür die Frauen nurhalb so groß.62 Es existierten zwei Hierarchien, jene derMänner über die Frauen, undjene derälteren undhöher qualifizierten Dienstboten über diejüngeren undjungen.
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Katharina Simon-Muscheid: Der Umgang mit Alkohol. Männliche Soziabilität undweibliche Tugend, in: Kontraste im Alltag des Mittelalters, Wien 2000, S. 44; Maryon MacDonald (Hg.): Gender, Drink, andDrugs. Cross-cultural Perspective on Women 10, Oxford 1994; Anja Meulenbelt/Anke Wevers/Colet vanderWen: Frauen undAlkohol, Reinbeck 1998. AnnB. Tlusty: Crossing Gender Boundaries: Women as Drunkards in Early Modern Augs-
burg, in: Sybille Brackmann u.a. (Hg.): Ehrkonzepte in der frühen Neuzeit. Identitäten und Abgrenzungen, Berlin 1998, S. 185– 197; Michael Frank: Trunkene Frauen und nüchterne Männer. Zur Gefährdung der Geschlechterrollen durch Alkohol in der frühen Neuzeit, in: Martin Dinges (Hg.): Hausväter, Priester, Kastraten. Zur Konstruktion von Männlichkeit in Spätmittelalter undFrüher Neuzeit, Göttingen, 1998, S. 187– 212. Britta Hufeisen: „Frauen undPelze wollen geklopft sein“ . ZurDarstellung derFrau in Sprichwörtern, Redewendungen undsonstigen feststehenden Ausdrücken, in: dies. (Hg.), „ DasWeib soll schweigen...“ , Frankfurt 1993, S. 154. Hermine Aigner: Mägde. Lebensweise undLebensverhältnisse derweiblichen Dienstboten im
oberösterreichischen Innviertel,
DAWien 1988, S. 35.
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Auch derAlkoholkonsum außer Haus unterlag fürFrauen einer sehr viel stärkeren Kontrolle. Mit Ausnahme von Tanzveranstaltungen und Festen war der Gasthausbesuch von Frauen im 19. Jahrhundert generell verpönt undvor allem ohne Begleitung vonMännern stark eingeschränkt. Wenn Frauen es denMännern beim Gaststättenbesuch gleichtaten undan Sonntagen oder auch an denAbenden der Wochentage allein ins Gasthaus gingen und dort öffentlich für eigenes Geld Alkohol tranken, wie das von manchen Schweizer Dörfern im frühen 19. Jahrhundert berichtet wurde, wurde dies als Zeichen extremen Niedergangs der Sitten gewertet.63
Das öffentliche Gasthaus galt auch in der Stadt als Domäne des Mannes. Die Wiener Arbeiteraktivistin Adelheid Poppetwabeschreibt dieHemmungen, diesie als junge Arbeiterin um 1900 hatte, eine Arbeiterversammlung zu besuchen, das Lokal zubetreten undschließlich sogar dasWort zuergreifen.64 Das Wirtshaus als Bollwerk der Freiheit undein Stück proletarischer GegenausderPerspektive derArbeiterfrauen sahdies ganz anders aus: als Zentkultur – rumnämlich einer männlich geprägten Sphäre, die oft Anlass familiärer Auseinandersetzungen war. Die Abneigung vieler Arbeiterfrauen gegen die Aktivitäten ihrer Männer richtete sich dabei nicht so sehr gegen diepolitischen Ansichten, die sie vertraten, als gegen den Ort, das Wirtshaus, wo sie sie vertraten.65 Bei nachträglichen Befragungen allerdings ließen manche Frauen erkennen, dass sie vielleicht ganz froh waren, wenn der Mann nicht immer in der ohnehin überfüllten Wohnung herumsaß undimWegstand.66 Die feststellbare, wenn auch langsamer als in anderen Bereichen fortschreitende Nivellierung geschlechtsspezifischer Unterschiede im Alkoholkonsum ist Resultat der Annäherung beruflicher Qualifikationen, ökonomischer Positionen undveränderter Verfügbarkeit alkoholischer Getränke. Die Gaststätten öffneten sich mehr undmehr auch den Frauen. Die Zunahme weiblicher Erwerbstätigkeit förderte die Angleichung derVerhaltensweisen. Bier wird in Österreich bis heute als Männergetränk eingestuft: Frauen empfinden Widerstand dagegen, wegen des angeblich hohen Kaloriengehalts, wegen desmännlichen Images, auch wenn amAnfang derGeschichte desBiers einenger Konnex zwischen Frauen und Bier bestand. Dass Frauen wenig Bier trinken, hängt zweifellos mit dessen lange Zeit fast ausschließlicher Bindung an die öf63 Heinrich Tappe: AufdemWegzurmodernen Alkoholkultur. Alkoholproduktion, Trinkverhalten und Temperenzbewegung in Deutschland vom frühen 19. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg, Stuttgart 1994, S. 110f. 64 Adelheid Popp: Die Jugendgeschichte einer Arbeiterin: vonihr selbst erzählt, miteinf. Worten vonAugust Bebel, München 1909. 65 Johanna Gehmacher: Die „Alkoholfrage“als „Frauenfrage“ . ZurBehandlung des Alkohols in derTheorie derösterreichischen Sozialdemokratie mitbesonderer Beachtung sozialdemokratischer Frauenzeitschriften in Österreich 1918– 1934, DAWien 1987. 66 Eva Viethen, Wiener Arbeiterinnen. Leben zwischen Familie, Lohnarbeit und politischem Engagement, Diss. Wien 1984.
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fentliche Gaststätte zusammen. Erst mitderEinführung desFlaschenbieres änderte sich auch die Verfügbarkeit des Bieres imprivaten Haushalt. Die Renaissance des Biertrinkens in den Mittel- und Oberschichten umdie Mitte des 19. Jahrhunderts stand sicherlich imZusammenhang mitdemindustriell hergestellten, als modern empfundenen Lagerbier: Bier zutrinken, galt als ehrbar und„deutsch“ , viel Bier vertragen zukönnen als Ausweis männlicher Stärke und „ urdeutscher“Tugend. Mitunmäßigem Biertrinken renommierte die geistige Elite der Nation. Im studentischen Biercomment, zusammen mit dem Offizierscomment, erfuhr das Bier eine Bewertung als Getränk für Männergesellschaften und erfolgte eine Bewertung desVieltrinkens als Zeichen vonKraft undMännlichkeit. Die Bierwerbung präsentierte mit Vorliebe den gesetzten, wohlbeleibten Mann, sei er nun Mönch, Bürgermeister oder Hausherr, wenig angekränkelt von Schlankheits- undFitnessidealen. DasVieltrinken, dasseit jeher dasCharakteristikum desBierkonsums ist, verträgt sich problemlos mitderbürgerlichen Konvention männlicher Körperlichkeit.67 Frauen treten in derBierreklame als Dienerinnen undKellnerinnen, die den germanischen Kriegern das durstlöschende Horn, den Landsknechten den schäumenden Humpen, den Gästen die vollen Krügel, den Oktoberfestbesuchern die schlecht gefüllten Maßkrüge reichen. Trinken ist Männersache, wirdsignalisiert. Der Pro-Kopf-Verbrauch von Bier sank in Österreich während der beiden Weltkriege undin dergroßen Depression Anfang derDreißiger Jahre auf ein sehr niedriges Niveau von etwa 35 Liter, verglichen mit 80 Liter in den späten 20er Jahren. Der Rückgang in der Weltwirtschaftskrise fiel deshalb so hoch aus, weil vor allem die Bierkonsumenten von der Krise undArbeitslosigkeit betroffen waren unddie Nachfrage nach Alkohol drastisch einschränken mussten. 1934 wurdenin einem durchschnittlichen Arbeitslosenhaushalt nurmehr 1 Liter Bier pro Kopf oder 7 Prozent desVerbrauchs von 1929 verbraucht. Die Höchstwerte wurdenin denfrühen 1990er Jahren mitetwa 125 Litern erreicht. Hochprozentiger Alkohol hat sich dominierend als Männergetränk eingeprägt: für verelendete Proletarier, für die er denraschesten Weg symbolisiert, aus Manchester hinauszukommen, fürharte Männer, wie sie Hollywoods „schwarze Serie“ in den 30er und40er Jahren für die Zeit der Prohibition (1919– 1933) zum Klischee gemacht hat, für exklusiven Genuss exklusiver Männerclubs und für die Trinkfestigkeit einer männerdominierten Nomenklatura. Weniger deutlich ist die geschlechtsspezifische Zuordnung bei Wein undApfelmost. Man spricht zwar von Weinbruderschaften, aber wenn Frauen Alkohol im Gasthaus tranken undtrinken, warundist es vornehmlich Wein. Der Weinverbrauch warin Österreich vonkonjunkturellen Schwankungen wenig betroffen
67 Heinrich Tappe: Der Genuss, die Wirkung und ihr Bild: Werte, Konventionen und Motive gesellschaftlichen Alkoholgebrauchs im Spiegel der Werbung, in: Peter Borscheid/Clemens Wischermann (Hg.): Bilderwelt des Alltag. Werbung in der Konsumgesellschaft des 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart 1995, S. 232.
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undstieg über 35 Liter kaumhinaus undging imausgehenden 20. Jahrhundert auf etwa 31 Liter zurück.
Tab. 2: Alkoholkonsum, Österreich, 1993/94 (Anteile in% undGesamtverbrauch ing reiner Alkohol) Insgesamt
Männer
Frauen
Most
56,7 29,2 5,9 1,8 6,4
63,8 23,3 5,7 1,1
6,1
34,2 46,8 6,3 5,1 7,6
Gesamt, g/Tag
31,2
50,9
13,2
Schwips,
12,0
19,0
Rausch,
4,4 1,6
7,5 2,8
5,5 1,6 0,6
Bier Wein, Sekt Spirituosen Aperitifs
1 x/Woche 1 x/Woche
Vollrausch,
1 x/Woche
Quelle: Statistik Österreich.
Schöne Frauen rauchen
Geschlecht ist ein wichtiger Faktor in der Erklärung unterschiedlicher Rauchgewohnheiten, wenn auch inzwischen nicht mehr so deutlich herausgehoben wie bei Alkohol. Ideologisch wardas Rauchen vonFrauen noch stärker umkämpft als der Alkoholkonsum. Die Frau als Raucherin wurde einerseits als besonders unweiblich in Verruf gebracht undandererseits im Gegenzug als Vorkämpferin weiblicher Emanzipation besonders hervorgehoben: Rauchen hat die Urteile undVorurDie deutteile stimuliert. „Rauchen wie ein Mann.“„ Schöne Frauen rauchen.“„ sche Frau raucht nicht.“ Manweiß wenig über geschlechtsspezifische Unterschiede bei denRauchgewohnheiten in der frühen Neuzeit. Johann Michael Moscherosch schreibt von Tabakbrüdern undTabakschwestern, Hans Jakob Christoph von Grimmelshausen, dass Frauen aller Stände Pfeife rauchten. Abraham a Sancta Clara geißelt Männer so schön anundWeiber, die die Tabakspfeife stets im Maul tragen, wasihnen „ verkehrte Welt“ stehe als wie dem Bären das Schwebelpfeifen.“68Was davon „ und vorbeugende Kritik, und was Beschreibung realer Zustände ist, ist schwer auseinander zuhalten. Allerdings sind in denGenrebildern ausdem 17. Jahrhundert häufig Pfeifen rauchende Männer undviel seltener rauchende Frauen darge68 Georg Böse: Im blauen Dunst. Eine Kulturgeschichte des Rauchens, Stuttgart 1957, S. 89ff, 130; Conte Corti/Egon Caesar: „ Die trockene Trunkenheit“ ; Ursprung, Kampf undTriumph des Rauchens, Frankfurt 1986 (Insel-Taschenbuch 904) S. 216 f.
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Roman Sandgruber
stellt, sodass dieVermutung sich aufdrängt, dass es sich bei demWehklagen eher umdie Mahnung undAufzeigung der rechten Ordnung als umtatsächlich herrschende Zustände handeln könnte. Ähnliches dürfte auch der Fall sein, wenn der in Amsterdam wirkende Arzt Stephan Blankaart (1650– 1702) die Kaffeekränzchen kritisierte, dass die Frauen auff solche Ketzereyen / die man von diesen Zuckermäulern und lieben dort „ Kindern schwerliche glauben sollte“ , verfallen: „Denn sie wissen auch Taback zu rauchen / und die Zeitvertreibe der Männer anzunehmen. [...] Selbige bedienen sich derkurtzen Porcellainen Pfeiffen / welche sehr nett gemachet sind / undvon jedermann leichtlich erkennet werden / in dem sie viel in den Coffee-Häusern 69 brauchen / undJungfern-Pfeiffen heissen.“ In der höfischen Gesellschaft des 18. Jahrhunderts wurde vorwiegend geschnupft. Im höfischen Milieu hatte die Frau ein relativ hohes Maß an Gleichberechtigung erlangt, wasauch in derAngleichung desKonsumverhaltens bei Tabak zumAusdruck kam.70 Die höfische Dame, die ihrem Schnupfvergnügen unbehindert nachgehen konnte, war für ihre Grazie dabei gerühmt.71 Auch Frauenorden genossen in Österreich staatliche Schnupfdeputate, die Elisabethinen 3/4 Pfund pro Kopf undMonat, sonstige Ordensschwestern ein halbes Pfund.72 Die Rollenerwartung warzuvorderst standesspezifisch undnicht geschlechtsspezifisch differenziert.73 Was beim Adel unbeanstandet blieb undals standesgemäß galt, wurde aber bei bürgerlichen Frauen auch im 18. Jahrhundert kritisiert und verspottet, etwa in dembekannten Wienerischen Tabaksdosenlied mit seinem höchst anzüglichen Inhalt. Aus dem bäuerlichen Bereich kennt man aus dem 18. und 19. Jahrhundert Hinweise aus verschiedensten Regionen, dass das Pfeifenrauchen nicht nur bei Männern, sondern auch bei Frauen verbreitet war: ausder Schweiz, ausHolland, ausNorddeutschland undDänemark, aus Schweden, aber auch aus Tirol, Vorarlberg, Kärnten, der Steiermark undOberösterreich. Die aus bürgerlichem Milieu
69
Stephan Blankaart: Haustus Polychrestus, oder: Zuverlässige Gedanken vomThee, Chocolate, Coffee, undTaback. Mit welchen der Große Nutzen dieser ausländischen Wahren sowol in gesunden alskranken Tagen gelehret wird. Hamburg 1705, S. 69. 70 Michael Mitterauer: Wie groß ist der kleine Unterschied?, Beiträge zur historischen Sozial-
71 72
kunde 13, 1983, S. 75 ff. Wolfgang Schivelbusch: DasParadies, derGeschmack unddie Vernunft: eine Geschichte der Genussmittel, Frankfurt 1997, S. 132 f. Harald Hitz/Hugo Huber: Geschichte derÖsterreichischen Tabakregie: 1784– 1835, Wien 1975
(Veröffentlichungen derKommission fürWirtschafts-, Sozial- undStadtgeschichte 2) S. 87. 73 Joachim Perinet: Annehmlichkeiten in Wien, 1788, II, S. 42ff; Richter: Eipeldauerbriefe, I, 156, II, 337; Widerlegung derLaternputzerschrift „ Dasalte unddasneue wien“durch einen Schuhflicker, Wien 1800, 38; Joseph Bosing: Versuch einer medizinischen Topographie von Wien, Medicinisches Archiv von Wien undÖsterreich unter der Enns, 3, 1800, 227; Franz Strohmayr: Versuch einer physich- medizinischen Topographie von St. Pölten, 1813; In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sind schnupfende Damen beliebtes Spottobjekt; Friedl: Volkssänger-Duette, S. 288.
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stammenden Berichterstatter haben diesjeweils mitÜberraschung, meist auch mit Missbilligung wahrgenommen undmitgeteilt.74 Was im 18. undfrühen 19. Jahrhundert im bäuerlichen Bereich üblich war, warim späten 19. Jahrhundert zumAttribut derAlten undAußenseiter geworden: nicht mehr junge Mädchen und gestandene Bäuerinnen, sondern alte Weibchen undAußenseiterinnen derGesellschaft tauchen als Raucherinnen auf undwerden als Witzfiguren bespöttelt oder zu Außenseiterinnen gestempelt, Einlegerinnen, Bettelweiber, Hausiererinnen, Zigeunerinnen. Im 20. Jahrhundert war es gerade derländliche Raum, worauchende Frauen amstärksten verpönt waren. Auch in Protoindustrialisierungslandschaften scheinen im 18. Jahrhundert rauchende Frauen nicht ungewöhnlich gewesen zu sein. Im Industriearbeitermilieu des späten 19. Jahrhunderts hingegen waren rauchende Frauen völlig ungewöhnlich. In derbürgerlichen Welt galt dasRauchen als Vorrecht desMannes. Rauchen gewann damit eine Funktion als Zeichen der Männlichkeit und des Erwachsensein. Mit Rauchen zu beginnen, signalisierte in verschiedenen Schichten, im Handwerk, in der Studentenschaft, im Arbeiter- undBauernmilieu, erwachsen zu werden. Dazu waren ganz spezifische Arten des Brauchtums entstanden. Das Bild des Nichtrauchers als Schwächling, Duckmäuser und Spielverderber wurde systematisch gefördert. Die scharfe Diskriminierung der rauchenden Frau entsprang der bürgerlichen Differenzierung der Geschlechtscharaktere. Gerade weil das Rauchen eine so deutliche geschlechtsspezifische Zuordnung erhalten hatte, wurde es auch zunehmend dazu benutzt, ein Signal für das Ausbrechen aus dieser ungleichen Stellung zu setzen, von den Emanzipationsvorkämpferinnen des 19. Jahrhunderts ebenso wievondenSympathisantinnen der 1848er Revolution.75 Rauchende Frauen galten, wenn schon nicht als politisch verdächtig, so doch als sozial gefährlich undaußerhalb der Norm stehend. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren rauchende Frauen nicht mehr ganz so auffällig. Frauengestalten des Fin de Siècle, wie sie die berühmte Wiener Photographin Madame d’Ora abgebildet hat76, sind ohne Zigarette fast nicht denkbar. Die Tabakkonzerne erfassten denneuen Markt rasch, erkannten nicht nurdie Wirksamkeit derFrau als Werbeträgerin, die nach dem französischen Werbegraphiker Cheret als Cherette zum feststehenden Begriff geworden ist, sondern auch ihre Bedeutung als Konsumentinundbegannen, sie aufmerksam zuumwerben. Umdie Jahrhundertwende kennt manaus den Oberschichten zahlreiche Hinweise auf rauchende Frauen, einerseits die exzentrisch und modischextravaganten, andererseits solche mit potentiell feministischen Zielen. Bei den
74 Atlas der Schweizerischen Volkskunde, Karten 40– 47, Komm. Teil 1, S. 276 ff; Richard Weiß: Volkskunde der Schweiz, 2. Aufl., 1978, S. 144 u. Abb. 75 Böse: Imblauen Dunst, S. 102. 76 Monika Faber: Madame d’Ora. Wien –Paris. Portraits ausKunst undGesellschaft 1907– 1957, Wien 1983.
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Roman Sandgruber
Unter- undMittelschichten entwickelten sich vornehmlich drei Typen rauchender Frauen: Schauspielerinnen, Prostituierte undalte Frauen, die nach anderen Kriterien beurteilt wurden, mit Schnurrbärten umdenMund, verdorrt undhässlich ... demAspekt derRespektabilität waren sie alle drei enthoben.77 Die nationalsozialistische Ideologie verpönte das Rauchen. Elemente der LeDie deutbensreform vermengten sich mitrassebiologischen Pseudoargumenten. „ sche Frau raucht nicht!“lautete die Parole. Abbildungen von Marlene Dietrich wurden verbreitet, mit einer Zigarette in der Hand, mit der Unterschrift: „ Das ist keine deutsche Frau, deutsche Mädels!“78 DerZusammenhang zwischen leichten Frauen undZigaretten wurde im Film immer wieder hergestellt. Zur Prostituierten auf der Leinwand gehörte die Zigarette, Asta Nielsen in „ Die BüchDie freudlose Gasse“(1925), Louise Brooks in „ se der Pandora“(1928), Marlene Dietrich in „ Der blaue Engel“(1930), Shirley Mac Laine in „Irma la douce“(1963), Jeanne Moreau in „Eva“(1962), nicht gerechnet die zahllose Dutzendware. Auch in denachtziger Jahren fallt es Filmemachern noch schwer, eine Femme fatale ohne Rauch zucharakterisieren.79 NurJulia Roberts in „Pretty Women“raucht nicht. Sie ist allerdings auch im Grunde keine Prostituierte, sondern eine verkleidete Prinzessin.80 Es ist auffällig, wie gerne sich österreichische und deutsche Schauspielerinnen eine Zeitlang mit Rauchzeug abbilden und photographieren ließen: Friedl Czepa, Lotte Lang, Käthe von Nagy, Käthe Gold, Adrienne Gessner, Paula Wessely: „ Es ist doch selbstverständlich, dass ich Raucherin bin“ , sagte die damals bei den Salzburger Festspielen als Gretchen Triumphe feiernde Paula Wessely 1935 in einem Interview.81 Manorientierte sich an denaußerordentlichen Frauengestalten des Films: Greta Garbo, Marlene Dietrich, Lilian Harvey, Rita Hayworth, Lauren Bacall....82 Die schlanke Frau, dieZigarette graziös amlangen Zigarettenspitz haltend, wurde fürdieZwischenkriegszeit zurSuggestion unwiderstehlicher, geradezu geballter Verführungskraft: Agentinnen undBlondinen, Verführerinnen, die zumRauchen verführen, Vamps undProstituierte. Dann, eigentlich erst nach dem Zweiten Weltkrieg, trat ein anderer Frauentyp in den Vordergrund: nicht mehr dierauchende „femme fatale“ , sondern dierauchende „Hausfrau“und„Sek-
77 Matthew Hilton: Der Konsum des Unschicklichen. Raucherinnen in Großbritannien 1880– 1950, in: Siegrist: Europäische Konsumgeschichte, S. 506f. 78 Roman Sandgruber: Bittersüße Genüsse. Kulturgeschichte der Genussmittel, Wien 1986, S. 136, 140; Rudolf Käs: Die Zigarette –der flüchtige Genuss, Aufriss. Schriftenreihe des Centrum Industriekultur, 1, 2, 1982, S. 20f. 79 Sabina Brändli: „ Sie rauchen wieeinMann, Madame“ . ZurIkonographie derrauchenden Frau im 19. und20. Jahrhundert, in: Ders. u. Ch. M. Merki (Hg.): Tabakfragen. Rauchen auskulturwissenschaftlicher Sicht, Zürich 1996, S. 104f. 80 Brändli: „ Sie rauchen wieeinMann, Madame“ . S. 104f. 81 Der Raucher, 1935.
82 Alfred Pfoser: Verstörte Männer undemanzipierte Frauen. ZurSitten- undLiteraturgeschichte der Ersten Republik, in: Franz Kadrnoska (Hg.): Aufbruch undUntergang: österreichische Kultur zwischen 1918 und1938, Wien 1981, S. 205.
DasGeschlecht derEsser
405
retärin“ . Im Zusammenhang der „Amerikanisierung des Haushalts“stand in der Werbung dierauchende Hausfrau fürden„ .83 American Wayof Life“ Kriege undZigaretten treten in Symbiose auf. Unzählige Männer wurden in den Kriegen des 20. Jahrhunderts zu Zigarettenrauchern geformt. Man kann die berühmtesten Kriegsromane des 20. Jahrhunderts unter die Lupe nehmen, vom Ersten bis zum vorläufig nur in der Science fiction existierenden Dritten Weltkrieg: die Zigarette als bester Freund des Soldaten, Trost spendend, Hunger und Erschöpfung vergessen lassend, Mut einflößend, Entspannung bringend, von Erich Maria Remarque über Ernest Hemingway, Norman Mailer, William Styron undDale A. Dye bis zu Tom Clancy, vom Ersten Weltkrieg über den Spanischen Bürgerkrieg, denZweiten Weltkrieg, denKorea- undVietnamkrieg bis zumKalten Krieg. Man findet eine verwirrende, gleichzeitig fast monotone Vielfalt von Texten, in denen Zigaretten angezündet undausgedrückt, weggeworfen oder ausgelöscht, geteilt oder gehortet, verabscheut oder geliebt werden, mit denen gefoltert undgeheilt wird.84 An der Heimatfront allerdings wurden die Frauen ausgeschlossen. Der Verkauf von Tabakfabrikaten an Frauen wurde in Österreich bereits 1917 teilweise untersagt. Die Raucherkarten, die ab 15. April 1918 generell eingeführt wurden, galten nur für männliche Raucher über 17 Jahre. Ab 1940 wurden wieder Raucherkarten ausgegeben. Es wurden eigene Frauenraucherkarten ausgestellt. Frauen erhielten aber weniger Zigaretten zugeteilt undhatten nur im Alter von 25 bis 55 Jahren einen Anspruch, während dieser Männern ab 18 Jahren undnach oben unbeschränkt gewährt wurde. Ab März 1942 konnten auch Frauen über 55 Jahre Raucherkarten erhalten, wenn sie nachweisen konnten, dass sie Raucherinnen waren oder ein unverheirateter Sohn oder der Ehegatte in der Wehrmacht diente.85 In der letzten Phase des Krieges hatten Frauen nur auf die Hälfte des Quantums der Männer Anspruch, und Frauen über 55 Jahre erhielten keine Raucherkarte. Nach Kriegsende wurde in Österreich die ausdemNationalsozialismus stammende Benachteiligung von Frauen nicht nurübernommen, sondern noch verschärft. Ab Juli 1946 fiel zwar die Altersbegrenzung weg, die ungleichen Abgabemengen blieben aber bestehen. Der deswegen angerufene Österreichische Verfassungsgerichtshof konnte in einer Entscheidung vom 11. Februar 1947 darin keine Diskriminierung sehen. Die unterschiedliche Zuteilung vonRauchwaren an Männer und Frauen wurde vonder„ weiblichen Natur her“ als für gerechtfertigt erkannt.86
83 Brändli: „ Sie rauchen wieeinMann; Madame“ , S. 106ff. 84 Richard Klein: Schöner blauer Dunst. Ein Lob der Zigarette. Aus demAmerikanischen von
85 86
Michael Müller, München Wien 1995. Irene Bandhauer-Schöffmann: Weibliche Wiederaufbauszenarien, S. 216. Irene Bandhauer-Schöffmann: Schlechte Karten für Frauen. Die Frauendiskriminierung
im
Lebensmittelkartensystem im Nachkriegs-Wien, freundlich zur Verfügung gestelltes Manuskript; Brigitte Hornyik: Die Judikatur des Verfassungsgerichtshofes zur Geschlechtergleichheit, in: Grund- undFreiheitsrechte in dergerichtlichen Praxis, hg.vonBundesministerium für Justiz, Wien 1993, S. 272.
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Roman Sandgruber
Dievorübergehend hochschnellende Zahl desFrauenrauchens in Deutschland in undnach demKrieg ist wohl auch Ausdruck der geldähnlichen Position von Zigaretten, wosich viele Frauen als Raucherinnen deklarierten. Nach dem Zweiten Weltkrieg vollzog sich schrittweise eine Angleichung des geschlechtsspezifischen Raucherverhaltens. Dieser Umschichtungs- und Angleichungsprozess beschleunigte sich in den70er und80er Jahren. Während derAnteil männlicher Raucher an der männlichen Gesamtbevölkerung leicht abgenommenhat, ist derAnteil derRaucherinnen stark gestiegen. Anfang der 50er Jahre rauchten 84 Prozent der deutschen Männer undetwa 20 Prozent derFrauen über 15 Jahre. 1958 rauchten 77 Prozent derMänner, 1966 noch 57 Prozent, 1984 weniger als 50 Prozent, bei Frauen stieg derRaucheranteil gegen 30 Prozent.87 In Österreich rauchte imJahre 1972 fast die Hälfte derMänner, während sich von den Frauen nur 13 Prozent als Raucherinnen bezeichneten. Bis 1986 ergab sich bei denFrauen eine Zunahme derRaucherinnen auf 21 Prozent, in absoluten Zahlen von 380.000 auf 648.000, während der Anteil der Raucher bei denMännern von 1972 bis 1986 leicht abgenommen hat, von45 Prozent auf40 Prozent, in absoluten Zahlen von 109.1000 auf 1.072.000. Nach neuesten Umfragen rauchen schon 31 Prozent derösterreichischen Frauen. Die rasche Zunahme desweiblichen Raucheranteils drückte sich vorallem in der Altersstruktur der Raucher aus. Beginnend mit den 30- bis 34-jährigen und vor allem aber der Altersklasse der 35- bis 39-jährigen unterschieden sich 1972 die Anteile derRaucher nach Geschlecht deutlich. Frauen sind weniger starke Raucher als Männer. 21 bis 40 Zigaretten täglich wurden 1972 von 21,6 Prozent der männlichen und 7,8 Prozent der weiblichen Raucher konsumiert. Bei einer halben Packung pro Tag (also bis 10 Stück) ist dafür derAnteil derFrauen doppelt so hoch wiederderMänner. Während bei Männern derRaucheranteil mithöherer Schulbildung abnimmt, ist es bei Frauen umgekehrt: mit höherer Schulbildung steigt der Raucheranteil. Diese Strukturen haben sich in denletzten zwei Jahrzehnten eher noch verstärkt. 20 Prozent der Frauen mit Pflichtschulabschluss rauchen, aber 34 Prozent der Frauen mit Hochschuldiplom. Nach der Berufszugehörigkeit undsozialen Stellung sind die geschlechtsspezifischen Unterschiede ebenfalls sehr beträchtlich. Amhöchsten ist der Raucherinnenanteil bei Angestellten, Facharbeiterinnen, dann Arbeiterinnen undSelbstständigen. Niedrig ist er bei Hausfrauen, amniedrigsten bei Bäuerinnen. Frauen rauchen inkleinen Orten viel seltener als in denStädten. Die Zahl der rauchenden Männer geht in vielen Industriestaaten zurück, die Zahl der rauchenden Frauen steigt an oder bleibt auf konstantem Niveau. Auch die Intensität weiblichen Rauchens, die Zahl dertäglich konsumierten Zigaretten, ist tendenziell im Zunehmen begriffen. Was ist die Ursache des zunehmend stär87
International Smoking Statistics. A collection of historical data from 22 economically developedcountries, hg.v. AnsNicolaides-Bouman u.Nicholas Wald, Oxford 1993.
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DasGeschlecht derEsser
kerwerdenden Rauchens vonFrauen? Angst umdie schlanke Linie? Zunehmende Emanzipation? Mehr Stress? Unsicherheit? Sicherlich ist nicht die Frauenbewegung für das zunehmende Rauchen verantwortlich. Emanzipation, veränderte Arbeitswelt, neue Positionen machen es Frauen gesellschaftlich möglich zurauchen. Umgekehrt kann Rauchen auch diese Entwicklung signalisieren. Aber genauso wie die neue Gleichheit ist auch die noch bestehende Ungleichheit für die Zunahmeunddie damit verbundenen Schwierigkeiten von Frauen verantwortlich, nämlich Unsicherheit zu überspielen, etwas vorzugeben, das man nicht hat. Die Gleichsetzung von „leicht“und„ schlank“suggeriert ein Schönheitsideal, das zu erreichen undzuhalten fürFrauen mehr bedeutet als fürMänner. Tab. 3: Raucher/Raucherinnen, Österreich Frauen
Raucher/ Raucherinnen
(in%)
davon täglich
regelmäßig, nicht täglich gelegentlich Zigaretten
Pfeife Zigarre Sonstiges
Männer
1972
1979
1986
1997
1972
1979
1986
1997
13,1
17,1
21,3
23,3
45,3
41,1
40
35,9
74,9 4,4 20,7
79,7 3,2 17,1
82 2,6
85,4 4,2 10,4
86 3 11
86,4
15,4
80,5 4,6 14,9
83,6 4,6 11,8
98,9
99,9
0,1 0,1 0,8
0,1 0 0
94,1 3,6
94,8 2,9 1,8 0,5
99,1 0 0,1 0,8
2 0,3
2,2 11,4
96,9 1,4 1,7
0
Quelle: Statistik Österreich
Die Zigarettenwerbung hat anders als die Autowerbung oder die Waschmittelwerbung immer die emanzipierte Dame kultiviert. Daher hat sie seitens der Frauenemanzipation auch wenig Kritik einstecken müssen. Einerseits verheißen die Werbestrategien Härte, Kraft, Erfolg, Status, dieauch derFrau zuteil werden, oder sie versprechen eine neue Weiblichkeit, die aggressiv die Jet-Setterin von heute
mitdemunterdrückten Weibchen voneinst vergleicht.
Hans Jürgen Teuteberg Korreferat zu Roman Sandgruber Das Geschlecht der Esser“ „
In Anbetracht derverfügbaren
Diskussionszeit soll sich hier auf einige gedanklich stark verkürzte Anmerkungen beschränkt werden. Zunächst zum Grundproblem derErnährungshistorie: Bei einer genuinen Konsumgeschichte gehört der Lebensmittelverbrauch unbedingt an die erste Stelle. Der Mensch kann notfalls auf alle Lebensgüter verzichten, nicht aber auf drei existentielle Mittel zur Erhaltung seines Körpers – Atemluft, Wärme undNahrung. Letztere ist ein hochkomplexes, jeden Lebensbereich tangierendes Totalphänomen. Jeder Versuch zuseiner vollständigen Analyse warbisher aufweiten Strecken unscharf, ist in fragmentarischer, rein deskriptiver, manchmal gar halblegendärer Faktenkumulation mit oft unsicheren Hypothesen steckengeblieben. Dutzende vorliegender Gesamtgeschichten über unsere Ernährung täuschen einen Wissensfundus vor, den wir in Wahrheit immer noch nicht besitzen. Das hängt mit den inhaltlich relativ mageren, antinomischen und weit verstreuten Quellen zusammen: Das Konsumgut Nahrung wird zudem durch Verzehr als sachliches Objekt bekanntlich bis auf die Speisereste vernichtet und geht dann durch den Stoffwechselprozess in andere körpereigene Materie undEnergie über sowie durch die ausgeschiedenen Exkremente wieder in denNaturkreislauf ein. Dertägliche Nahrungsakt fallt umgehend derVergessenheit anheim undkann nur gelegentlich in der eigenen wie kollektiven Erinnerung fortleben, zumeist muss er indirekt mitHilfe derSprache, Schrift, Bilder undSachgüter vornehmlich aus demKüchenbereich rekonstruiert werden. Eine weitere große Schwierigkeit: Bei der historischen Ernährungsforschung ist eine Reihe wissenschaftlicher Disziplinen mitganz unterschiedlichen Fragestellungen, Methoden undAbstraktionsverfahren beteiligt. Ihre Resultate, besonders die aus einigen Natur- undKulturwissenschaften, werden erst neuerdings unter einheitlichen Problemstellungen historisch-systematisch im größeren Umfang zusammengeführt. Der mögliche Einwand, der international hochgeschätzte österreichische Nahrungshistoriker Sandgruber habe wichtige Aspekte seines Themas übersehen, ist angesichts dieser immensen Forschungslücken deshalb müßig. Die Entwicklung des Lebensmittelverzehrs lässt sich zunächst am ertragreichsten unter biologisch-medizinischen, ökonomisch-technologischen und soziokulturellen Blickwinkeln erfassen. Sandgruber versucht als Sachkenner keineswegs alle, aber doch verschiedene wissenschaftliche Anläufe hier konsequent
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HansJürgen Teuteberg
historisch zu kombinieren. Zunächst kritisiert er, dass unser Fach bisher denLebensmittelkonsum primär nur aus der rein quantitativen Sicht des Jahresprokopfverbrauchs undderprivaten Haushaltsrechungen analysiert hat, deren methodologische Unzulänglichkeiten seit über einhundert Jahren gut bekannt sind. Es handelt sich hier umnachträglich konstruierte Abstraktionen, die von der Ernährungsrealität mehr oder weniger weit entfernt sind, wichtige regionale wiesoziale Differenzierungen verdecken oder aber die notwendige Repräsentativität vermissenlassen. Dieneueren Langzeitmessungen früherer Körpergrößen zurErmittlung derProteinzufuhr, vondenen auf allgemeine Lebensstandardveränderungen in der Vergangenheit geschlossen wird, sind von der eigentlichen Ernährungssituation noch weiter entfernt undgeben Anlass zu erheblicher Kritik an der Richtigkeit wie dem Nutzen solcher Forschungsergebnisse. Hauptsächlich bemängelt nun Sandgruber, die geschlechtlichen Differenzierungen bei der Ernährung seien bei den Historikern bisher nahezu unbeachtet geblieben. Seiner Klage stimme ich prinzipiell zuundmöchte sie mitfolgendem Hinweis noch verstärken: Wirsollten uns hier zweckmäßigerweise am besten an der „Nahrungskette“Beschaffung – Bevorratung –Zubereitung –Mahlzeitenverzehr methodologisch orientieren. Die Agrarproduktion, die von Roscher über Schmoller undAbel bis heute mit derjeweiligen Bevölkerung unddemAußenhandel in Relation gesetzt bereits als Konsumbezeichnet wurde, ist ja nurals eine erste Vorstufe des entscheidenden Verzehrsaktes anzusehen. Auch der Bezug der rohen Lebensmittel, meist nur in Geldwerten angegeben, kann nurbegrenzt mit demdarauffolgenden tatsächlichen Verzehr gleichgesetzt werden. Die zu allen Zeiten, allen Räumen undbei allen Konsumenten vorhandene Kategorie der Mahlzeit bildet hier die einzige zusammenführende Grundeinheit, da die Lebensmittel undselbst Speisen niemals ubiquitär vorhanden waren. Bei derBetrachtung derMahlzeit tauchen, wasfürdiese Problemstellung ganz entscheidend ist, die gesuchten geschlechtlichen, aber auch die nicht weniger wichtigen altersmäßigen, regionalen und sozialschichtentypischen Differenzierungen desKonsums regelmäßig auf. Die ältere Kulturgeschichte unddie mit ihr engverflochtene Volks- undVölkerkunde sind zwar typischen sozialen Rollen undHandlungsfeldern derFrau wie des Mannes bei einzelnen Stufen der Nahrungskette zumeist in der Frühen Neuzeit anhand der Quellen schon gelegentlich nachgegangen, aber erst die intensivierte historische Frauenforschung in den beiden letzten Jahrzehnten hat einige Teilbereiche dieses Problemfeldes auch seit 1800 anhand der Quellen näher ins Visier genommen. In Münster wurden von denHistorikern im Verbund mit dem führenden Nahrungsethnologen Günter Wiegelmann z. B. unter dem Titel „ In Heim und am Herd“der Wandel des Hausfrauenbildes und der Küchenarbeit 1930, die Rolle von Frauen unter der Hungerblockade des Ersten Weltkrie1880– ges 1914/18 und bei der Verbürgerlichung ländlicher Festtagsmahlzeiten um 1900, die revolutionären Verbesserungen der Konservierung und des Kochens oder der Verzehr einzelner Lebensmittel und Speisen sowie die Rolle der Lebensmittelverfälschungen undder Beginn einer staatlichen Kontrolle untersucht, aber auch dieVerpflegung in Armenhäusern, Hospitälern undGefängnissen sowie typische räumliche undgesellschaftliche Kostunterschiede im Sog der Moderni-
Korreferat
zuRoman Sandgruber
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sierung. Der Konsum im Geschlechtervergleich auf allen Stufen der „ nutrition chain“wurde in der Tat aber noch nicht systematisch komparativ in einer tiefschürfenden Monographie untersucht. Im Mittelpunkt standen immer nur der „Ganze Haushalt“(Otto Brunner) unddie Familie oder aber allein die kochende Frau, während der bisherigen engeren historischen Geschlechterforschung das Küchenthema wohl als zutrivial erschien. Amweitesten ist die geschlechtsspezifische Nahrungsweise offenbar vonder schöngeistigen Literaturgeschichte zum zentralen Objekt gemacht worden, was freilich in der fiktionalen Geschichte undWelt rein geistiger Diskurse endet und einen Wirtschafts- und Sozialhistoriker allein nicht befriedigen kann. Dabei ist darauf zu achten, dass Feministinnen gern emanzipatorische Geschlechterkämpfe auch dort in die Geschichte hineinkonstruieren, wosie noch garnicht als Problem der Gesellschaft empfunden wurden. Die von Sandgruber erwähnten hierarchischen Abstufungen bei Tisch unddie quantitativen wie qualitativen Zuteilungen der Speisen werden absolut richtig herausgehoben. Ich würde freilich, Max Webers Definition folgend, dies aber nicht als bloße Demonstration „innerfamiliärer Macht“interpretieren. Es handelte sich in der Regel ja nicht umeine ungezügelt despotische eigene Durchsetzung des hausväterlichen Willens, sondern umeine spezifische Form des paternalistischen Herrschaftssystems, wie es für die ältere Ständegesellschaft überall typisch war, dessen ethisch-religiös wie rechtlich akzeptiertes Normensystem viele Jahrhunderte andauerte undin Ausläufern auch in Deutschland noch bis ins 20. Jahrhundert hineinreichte. Die Ungleichheit beim Essen und Trinken war ein Bestandteil jenes Kulturprozesses, den Gerhard Oestreich so feinsinnig mit demBegriff der„Sozialdisziplinierung“charakterisiert hat. Wenn beispielsweise einem ehrbar züchtigen Weib der Besuch eines Wirtshauses oder einer Bierschänke grundsätzlich verwehrt blieb, dann hatte dasallein mitdamaligen Moralauffassungen zutun, diejedem einen bestimmten Platz in der stark gegliederten Gesellschaftspyramide zuwies, womannoch nicht vomliberalaufklärerischen Emanzipationsideal derGleichheit beeinflusst war. Die Wirtschaftshistoriker haben beim Ernährungskonsum, weil dies die überlieferten Daten nahelegten, zunächst die durchaus wichtige Versorgungsseite (supply side) zueruieren versucht, die eigentliche Konsumseite (demand side) mit ihrem wirren Motivationsgeflecht und soziokulturellen, technischen wie gesundheitlichen Sachzwängen aber noch weitgehend im Dunkeln gelassen. Dabei gibt es zwischen beiden Polaritäten keine Einbahnstraße. Es kann nicht übersehen werden, dass Änderungen der Verbraucherwünsche oder auch der Küchen- bzw. Konservierungstechniken die Art der Produktion als feat-back erheblich beeinflussten. Andererseits erzeugte die Zufuhr neuentdeckter überseeischer Nahrungsund Genussmittel erst eine völlig neue Nachfrage. Da die von Karl Heinrich Kaufhold und seinen Mitarbeitern präsentierten langen Preisreihen einiger Lebensmittel wegen des hohen Grades der Selbstversorgung der Haushalte undNaturallöhne bis 1850 nurspärliche Einblicke in die frühere Realität des häuslichen Nahrungskonsums gestatten, müssen hier noch andere Quellengruppen zurergänzenden Rekonstruktion herangezogen werden: Autobiographien, Anschreib- und Kochbücher, Haushaltslehren, Speisekarten, medizinische Topographien, Reise-
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HansJürgen Teuteberg
berichte, Familienzeitschriften, Annoncen, die Belletristik und zeitgenössische Abbildungen. Hiermit lässt sich der geschlechtsspezifische Verzehr besser ablesen. Freilich haben diese mehr subjektiven Zeugnisse wie die abstrakten Statistiken ebenfalls ihre Tücken undsindjeweils für das heutige Verständnis zu dekodifizieren. Man muss stets gezielt nach Absicht undForm seiner Wiedergabe fragen. Eingängige Bilder erwecken bekanntlich oft zuviele Emotionen undentziehensich immer einem repräsentativen Anspruch, weshalb sie durch dasnüchterne Zahlenwerk unbedingt von einem mehr rationalen Standpunkt zu kontrollieren sind. DievonSandgruber vorgenommenen Zuweisungen, Männer hätten prinzipiell mehr animalische Nahrung und Alkohol, Frauen dagegen mehr vegetabilische Kost, Milch undKaffee konsumiert, sind imKern wohl unstrittig undwerden von derneueren Literatur bestätigt. Jedoch darf nicht übersehen werden, dass frühere Lebensmittel und Speisen fast nirgendwo heutiger Qualität entsprachen. Noch wichtiger fürdieweitere Forschung erscheinen dieräumlich, beruflich undsozialschichtenmäßig geprägten Kostunterschiede. Die bisherigen historischen Vergleiche derMahlzeiten derOber-, Mittel- undUnterschichten sind hier noch sehr ungleichmäßig vorangeschritten, wobei zufällige Einzelbeispiele voreilig zu allgemeinen Aussagen dienen. Die räumlichen Konsumgrenzen lassen sich ebenfalls schwer ziehen, weil sich die älteren Nahrungslandschaften durch heterogene Lebensmittelauswahl, differierende Zubereitungstechniken undandere Geschmackspräferenzen auszeichneten, was wiederum mit der natürlichen Umwelt undihrer daran angepassten Agrarerzeugung zusammenhing. Die ganze ländliche Familie einschließlich desweiblichen Teils verzehrte bis zumspäten 19. Jahrhundert z. B. morgens warme Biersuppen undGetreidebreie mit Milch, dann eine Art Milchkaffeemus, in das wie früher Brot- oder Kartoffelreste, gedörrtes Obst u.a. zur besseren Sättigung hineingebrockt wurden, ehe dann verschiedene Sorten von Ersatzkaffee mit bestrichenem Brot den älteren Brei- und Musstandard immer mehr verdrängten. Verschiedene selbst hergestellte alkoholische Getränke bildetenandererseits tagsüber lange mehr einbegleitendes Nahrungs- als Genussmittel. Die vonSandgruber primär vondemAfrikanisten Albert Wirtz unddarwinistischmonistischen Zoologen Ernst Haeckel entlehnte These, dasFleischessen hätte den Sieg derMänner über die Natur undderUnterdrückung des Weibes symbolisiert undsei Inbegriff despatriarchalischen Weltbildes im 19. Jahrhundert, die Pflanzenkost dagegen das Kennzeichnen der „ versklavten unterworfenen Rassen“gewesen, kann manebenso wie Rousseaus fast humoristisch wirkende Völkertypologie nach willkürlich herausgegriffenen angeblichen Hauptspeisen mit empirisch gewonnenen Einsichten so nicht in Einklang bringen. Fleisch diente wegen seiner Kostbarkeit in der alten Agrargesellschaft eindeutig der Gewinnung von Sozialprestige bzw. derMarkierung eines gehobenen gesellschaftlichen Ranges; bei der breiten Volksmasse konnten sich auch Männer denVerzehr nurrelativ selten und in denhäufigen Notzeiten garnicht erlauben. Erst die Agrarreformen undderAnstieg derRealeinkommen haben hier seit demzweiten Drittel des 19. Jahrhunderts einen allmählichen Wandel eingeleitet. Der „Hausvater“ , der gebratenes Fleisch auf demSpeisetisch anschnitt, hatte stets Anspruch auf dasgrößte Stück, weil er
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zuRoman Sandgruber
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dies seiner herausgehobenen Stellung als „Ernährer“undVormund des „Ganzen Hauses“schuldig war. Die Zuteilung der mehr kostbaren Nahrung folgte stets einer nach Familienzugehörigkeit, Alter undArbeitsverrichtung gestuften Rangfolge, ehe der runde Tisch der städtischen Bürgerfamilie eine erste allmähliche Auflösung dieser althierarchischen Tischordnung einleitete. Sicherlich gab es auch Proteste gegen die ungleiche Nahrungsverteilung, aber dies führte dann zu gesellschaftlich sanktionierten Disziplinierungsmaßnahmen wie bei anderen Normübertretungen. Sandgruber hat sich in seiner Forschung besonders intensiv mit der Entwicklung des Genussmittelverbrauchs beschäftigt undviele neue Einsichten vor allem aus Wien in seinen Schriften präsentiert. Dabei ist folgender Sachverhalt zu bedenken: Der Essgeschmack ist wie andere Sinne eine unserer Antennen zur Wahrnehmung derAußenwelt. Er ist keineswegs angeboren, sondern muss durch eine in frühester Kindheit einsetzende intergenerative Kulturtransmission individuell erst erlernt werden. Auch die oft erwähnte Vorliebe für das Süße ist nicht genetisch bedingt. Der Rohrzucker diente wie andere tropische Gewürze wegen seines hohen Preises ebenfalls lange zurUnterstreichung des sozialen Ranges, die höfische Zuckerbäckerei, aus der sich dann die feine Konditorei entwickelte, besaß deshalb ihre herausgehobene Funktion. Die Ausbreitung des Kaffeehauses, das sich seit demspäten 18. Jahrhundert schrittweise demganzen Bürgertum und den Frauen öffnete, hat die spezifische weibliche Präferierung aller Süßigkeiten wahrscheinlich befördert. Andererseits wurde die stark zuckerhaltige Brauselimonade seit den 1840er Jahren jedoch von beiden Geschlechtern gleichermaßen getrunken. Die meist aus der schöngeistigen Literatur entnommenen einzelnen Aussagen über den zunehmenden Konsum von Zucker, Kaffee, Schokolade undBier müssen überall noch mitanderen Quellenaussagen undjetzt sich mehrenden quantitativen Berechnungen verglichen werden. Manche heftige Klagen über den zu hohen Kaffee-, Zucker-, Tabak- und Alkoholkonsum in früheren Jahrhunderten waren in Wahrheit Tugendpredigten gegen den angeblich „sittenverderbenden Luxus des niederen Volkes“ , der wahrscheinlich oft nicht der angegebenen übertriebenen Konsumhöhe entsprach. Erst durch mühevolle Einzelvergleiche schält sich der wahre tendenzielle Wandel der einzelnen Märkte und des häuslichen Konsums in seinen soziokulturell prägenden Konturen heraus. Sandgrubers Beitrag ist letztlich die Bestätigung einer Einsicht, die Friedrich Vorländer in seinem Aufsatz „ Über das ethische Prinzip der volkswirthschaftlichen Consumtion“in der „Zeitschrift für die gesammte Staatswissenschaft“bereits 1857 geäußert hat. Noch vordemBeginn einer eigenständigen Konsumtionslehre meinte er hellsichtig, dass diemateriellen Ergebnisse produktiver Arbeit und ihre Verteilung durch Verkehr undHandel ambesten ausderErfahrung erfassbar seien, die Konsumtion aber mehr mit der inneren Natur des Menschen undden sittlichen Lebenszwecken in Verbindung stehe. Auch Julius Hasbach klagte noch 1906 in seinem bekannten Werk „Güterverzehrung und Güterhervorbringung“ über die mangelnde Behandlung einer Theorie des Verbrauchs, die kein eigentliches Objekt der Volks- wie der Gesellschaftslehre darstelle, weil sich der Güterverbrauch primär in derprivaten Sphäre derHauswirtschaft abspiele. Eugen Düh-
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HansJürgen Teuteberg
ring, Lorenz vonStein, Albert Schäffle undnicht zuletzt Gustav Schmoller haben daher gefordert, die aus der klassischen Ökonomie herrührende Dreiteilung Produktion, Distribution undKonsumtion umzukehren unddenVerbrauch aussozialethischen Gründen an die Spitze einer Volkswirtschaftslehre zu setzen. Die alte Einteilung entspreche der kameralistisch-merkantilistischen bzw. naturwissenschaftlichen undnicht der entwicklungsgeschichtlichen und sozioökonomischen Denkweise. Die weiteren Debatten über die Grundlegung einer autonomen Konsumtheorie zeigen, dass die Befriedigung menschlicher Bedürfnisse immer von Motiven geleitet wird, die allein den Konsum erklären können. Die materiellen wie immateriellen Bedürfnisse, welche das Uhrwerk der Wirtschaft ständig in Gang halten, lassen sich letztlich nur mit immer wieder wandelnden ethischen Wertvorstellungen undnicht mitüberzeitlichen ökonomischen Begriffen erfassen. Es ist einigermaßen interessant, dass die letzten großen Sammelbände über den Forschungsstand der europäischen Konsumgeschichte seit dem 18. Jahrhundert durch die angelsächsischen Herausgeber John Brewer undRoy Porter 1992 wie auch ihrer deutschen Kollegen Hannes Siegrist, Hartmut Kaeble undJürgen Kocka 1997 zudererstaunlich ähnlichen generellen Schlussfolgerung kommen, dass die herkömmlich dominierenden wirtschaftsgeschichtlichen Analysen des Konsums künftig dringend einer vertieften Ergänzung in Richtung der Sozial-, Medizin-, Technik- undKulturgeschichte bedürfen. Sandgrubers Beitrag ist ein weiterer Schritt in diese Richtung.
Margarete Wagner-Braun
Die Frau in der Konsumgüterwerbung im 20. Jahrhundert Werbung begegnet unstäglich in verschiedensten Formen. Gute Werbung macht uns aufmerksam, erregt unser Interesse underweckt in uns –im Idealfall –das Bedürfnis nach dembeworbenen Produkt.1 Die Abbildung von Lebewesen ist am besten geeignet, Aufmerksamkeit zu erzeugen. Deshalb ist der Mensch das am häufigsten verwendete Anzeigenmotiv. In denMassenmedien werden Frauen relativ häufig abgebildet. Eine Studie aus dem Jahr 1963 ergab, dass in Illustrierten der Frauenanteil in denWerbeanzeigen 39 % betrug, der Männeranteil 34 %. In speziellen Frauenzeitschriften betrug der Frauenanteil sogar 57 %.2Es lohnt sich also, die Frau in derWerbung genauer zubetrachten. Dass die Frau in werbenden Darstellungen vonAnfang aneine wichtige Rolle spielt, zeigt die historische Genese. Die Geschichte des Frauenmotivs in der Anzeigenwerbung geht bis zu denAnfängen der Annonce selbst zurück.3 Leider gibt es nur wenige, dafür aber zentrale Arbeiten zu Frauendarstellungen, welche die historische Dimension betonen.4 Eine einen langen Zeithorizont umspannende Analyse dieses Subjekts fehlt allerdings ebenso wie eine mit wirtschaftshistorischer Intention ausgestattete Detailanalyse derspäteren Nachkriegszeit.5
1
2
Vgl. Behrens, Gerold: Werbung –Entscheidung Erklärung Gestaltung, München 1996, S. 111, 114. Vgl. Klickow, Reinhard: Die Menschendarstellung in derAnzeigenwerbung, in: Die Anzeige, Heft
30, hier S. 26f. 1, 1964, S. 24–
3 Vgl. Weisser, Michael:
Reclame anno dazumal, München, 1981, S. 54. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts ist der Mensch oder genauer die Frau das am häufigsten dargestellte Motiv im Künstlerplakat. Bereits damals gab es zur Produktion aufmerksamkeitsstarker Plakate nur einenBlickfang undein Motiv: „ DasWeib“ . Schindler, Herbert: Monografie des Plakats, Mün-
4
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chen 1972, S. 42. Vgl. z.B. Weisser, Michael: Wirksam wirbt das Weib –Die Frau in der Reklame, München, 1985, wo Text- undBilddokumente aus der Zeit des ausgehenden 19. undbeginnenden 20. Jahrhunderts zusammengestellt werden. Mit demSpezialaspekt der sich im Zeitablauf verändernden Schönheitsideale beschäftigt sich Thoms, Ulrike: Dünn unddick, schön undhässlich.
Schönheitsideal und Körpersilhouette in der Werbung 1850– 1950, in: Borscheid, Peter/Wischermann, Clemens (Hg.): Bilderwelt desAlltags. Studien zurGeschichte desAlltags, Stuttgart, 1995, S.242– 281. Dass dasThema Frau in derWerbung in derwirtschafts- undsozialgeschichtlichen Forschung unterrepräsentiert ist, überrascht nicht angesichts derTatsache, dass dasThema Werbung im allgemeinen bislang noch kaum zueinem Forschungsgebiet derHistoriker geworden ist. Der fortschreitende Übergang voneiner durch Schriftkultur geprägten zueiner vonvisueller Kultur dominierten Gesellschaft wird künftig auch die historische Bedeutung der Werbung mehr
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Margarete Wagner-Braun
In diesem Beitrag werden die wichtigsten in Werbebotschaften vorkommendenweiblichen Darstellungsformen aufgegriffen undin ihrer Entwicklung untersucht. Es wird ein Überblick über die Situation im 20. Jahrhundert gegeben, für einen Zeitabschnitt also, in demdie Werbung zur Massenerscheinung geworden ist. Dabei steht dieFrau als Werbeobjekt imVordergrund; eine Analyse derFrauen als Zielgruppe von Werbebotschaften, also als Konsumentinnen, wäre ein eigenes Thema undwirdhier nicht behandelt.
1. Entwicklung,
Aufgaben undZiele derWerbung
Die Geschichte der breit angelegten Wirtschaftswerbung beginnt an der Wende vom 19. zum20. Jahrhundert. Nachdem früher Anzeigen6 auf einzelne Geschäfte oder Warenkontingente hingewiesen hatten, verlangte nunderin denVordergrund tretende Markenartikel7 Werbekampagnen zur Markteinführung und Positionssicherung.8
6
betonen. Die Akzeptanz undAnalyse vonWerbebotschaften in Form vonPlakaten, Anzeigen oder Fernsehspots imSinne historischer Quellen wird anBedeutung gewinnen. Eine instruktive Positionierung der Werbung unter historischem Aspekt liefert Clemens Wischermann: Werbung zwischen Kommunikation undSignifikation im 19. und20. Jahrhundert, in: North, Michael (Hg.): Kommunikationsrevolutionen. Die neuen Medien des 16. und 19. Jahrhun201. derts, Köln 1995, S. 191– Wann die Plakatwerbung tatsächlich einsetzte, ist nicht exakt festgelegt. Es gibt Ansätze, die
denUrsprung desPlakatwesens mitdemAnfang dersich abMitte des 19. Jahrhunderts entwickelnden Plakatkunst gleichsetzen. Vgl. Henatsch, Martin: Die Entstehung des Plakats, Hildesheim 1994; Hillmann, Hans: Ein Plakat ist eine Fläche, die ins Auge springt, Frankfurt/M. 1979. Andere Autoren lassen die Geschichte derPlakatwerbung mitderErfindung derBuchdruckerkunst beginnen. Vgl. Kühn, Friedrich: Der Bogenschlag in Deutschland, Nürnberg 1937, S. 13; Graak, Karl: „ Wirb oder Stirb“–100 Jahre Lyrik in der Werbung –Die schöne Kunst der Selbstdarstellung, Köln, 1988, S. 9– 10. Entscheidend aber scheint die Erfindung der Lithographie Ende des 18. Jahrhunderts zu sein, so dass alles, was vor dieser Zeit an plakatähnlichen Medien in Umlauf war, allenfalls als Vorläufer der Plakate nach heutiger Auffassung interpretiert werden kann. Vgl. Zankl, Hans: Erfolgreich plakatieren, Düsseldorf 1969, S. 26. Insbesondere diebildhafte Darstellung löste die Schriftplakate erst imLaufe des 19. Jahrhunderts ab unddie Illustration wurde als wichtiges psychologisches Instrument erkannt, um Aufmerksamkeit zuerlangen. Vgl. Buchli, Hans: 6000 Jahre Werbung, Band 3, Berlin 1966, S. 214. 7 Zur Bedeutung von Marken vgl. insbesondere Teuteberg, Hans: Warenzeichen als Mittel der Werbung undQualitätssicherung seit Beginn dermodernen Marktwirtschaft, in: Masing, Wal-
ter/Ketting, Michael/König, Wolfgang/Wessel, Karl Friedrich (Hg.): Qualiltätsmanagement – Tradition undZukunft. Festschrift zum 50-jährigen Bestehen der Deutschen Gesellschaft für 178. Die Werbung bezüglich eines Markenartikels über Qualität e.V., München 2003, S. 149– denlangen Zeitraum von 185Jahren analysiert beispielhaft Conrad, Hans-Gerd: Werbung und Markenartikel amBeispiel der Markenfirma Dr. Oetker von 1891 bis 1975 in Deutschland,
Berlin 2002.
8 Vgl. König, Wolfgang: Geschichte derKonsumgesellschaft,
Stuttgart, 2000,
S. 396.
DieFrau inderKonsumgüterwerbung im20. Jahrhundert
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Nach demErsten Weltkrieg nahm die deutschsprachige Werbung ihren ersten großen Aufschwung, denn die in der Kriegswirtschaft aufgestauten Bedürfnisse wollten nunbefriedigt werden.9 Die Werbung, damals Reklame genannt, begann sich als Wirtschaftsfaktor zu etablieren.10 Der Nationalsozialismus brachte dann aber eine Zäsur. Durch die mit Kriegsbeginn nahezu vollständige Rationierung derGüter wurde dieBedeutung derKonsumgüterwerbung zurückgedrängt unddie noch verbliebene vonnationalsozialistischen Maximen dominiert. In derDiktatur trat die Propaganda in den Vordergrund, die nicht primär bestimmte Güter hervorheben will, sondern auf die Veränderung vonEinstellungen undgesellschaftlichem Verhalten abzielt.11 Die Konsumgüterwerbung gehört in erster Linie zu marktwirtschaftlichen Wirtschaftsordnungen. So konnte in der Konsumgüterwerbung der aufwärtsgerichtete Entwicklungstrend erst nach demZweiten Weltkrieg wieder aufgenommen werden.12 Nun wurde das Werbewesen stark von technischen Neuerungen geprägt und von amerikanischen Strömungen beeinflusst.13 Ab der Mitte der 1960er Jahre kammitzunehmender Marktsättigung undmitderEntwicklung vom Verkäufer- zum Käufermarkt der Werbung ein höherer Stellenwert zu14. Nun stand weniger dasProdukt im Mittelpunkt, als vielmehr derVerbraucher in seiner sozialen Situation.15 Die Werbung verband nundenGebrauch eines Produktes mit Problemlösungen, körperlichem und seelischem Wohlbefinden, Erfolg, Prestige, Sicherheit undLiebe.16 Es wurden nicht mehr Putzmittel angeboten, sondern Sauberkeit; nicht mehr Radios, sondern Unterhaltung.17 Das Produkt wurde als Statussymbol definiert. Der Verbraucher sollte veranlasst werden, das in der Werbung vermittelte Image des Produktes durch dessen Kauf auf sich zu beziehen. Darin
9 Vgl. Bergler, Georg: MaßundVerpflichtung für Werbungtreibende undWerbungschaffende im Wandel unserer Gesellschaft, in: Hundhausen, Carl (Hg.): Werbung im Wandel, Essen,
353, hier S. 342. 1972, S. 339– 10 Vgl. Westphal, Uwe: Werbung im Dritten Reich, Berlin, 1989, S. 7– 11. 11 Vgl. Schöning, Kurt: Anzeigenwerbung, München 1975, S. 168. 12 Vgl. Oppenberg, Dietrich: Wandel bei dengedruckten Medien derWerbung, in: Hundhausen, Carl (Hg.): Werbung imWandel, Essen, 1972, S. 67– 76, hier S. 75. 13 Vgl. Kriegeskorte, Michael: Werbung in Deutschland 1945– 1965, Köln, 1992, S. 10; Schmidt, Siegfried/Spieß, Brigitte: Von der Reklame zur virtuellen Werbewelt, in: Kellner, Joachim/Kurth, Ulrich/Lippert, Werner (Hg.): 50 Jahre Werbung in Deutschland –1945 bis 1995, Ingelheim 1995, S. 183– 197, hier S. 183. 14 Vgl. König: Konsumgesellschaft (wie Anm. 8), S. 394. 15 Vgl. Bossle, Rudolf: Werbung im Wandel der Konsumgütermärkte, in: Hundhausen, Carl (Hg.): Werbung imWandel, Essen, 1972, S. 161– 173, hier S. 161f. 16 Vgl. Hastenteufel, Regina: DasBild vonMannundFrau inderWerbung, Bonn, 1980, S. 84f. 17 Vgl. Kropff, Hanns: Die Werbemittel und ihre psychologische, künstlerische und technische Gestaltung, Essen, 1953,
S. 64.
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Margarete Wagner-Braun
zeigt sich die Doppelrolle der Werbung: Sie kann auf die Wünsche der Konsumenten eingehen undist gleichzeitig in derLage, Bedürfnisse zuinitiieren.18 Mit Hilfe der Werbung versuchen Unternehmen ihren Absatzerfolg zu erhöhen. Es ist die Aufgabe derWerbung, eine Marke bekannt zumachen undzu informieren, zumeinen über die Beschaffenheit eines Produktes undzumanderen über den Nutzen, der daraus gezogen werden kann.19 Je besser es gelingt, die Aufmerksamkeit eines Verbrauchers zu wecken, um so besser stehen die Erfolgsaussichten, dass dieser sich zumKauf entscheidet.20 Somit kommt derGestaltung der Werbeaussage die größte Bedeutung zu. Eine auffällige, ja sogar provokative Darstellung gilt somit, zumindest unter diesem Aspekt, als vorteilhaft.21 Dies führt direkt zumKern desThemas.
2. Der Normalfall: Die Frau als Werbeobjekt Grundsätzlich greift die Werbung verschiedene Sozialbereiche auf, insbesondere die Familie, die Arbeits- undBerufswelt, denweltanschaulich-religiösen Bereich, sowie den Freizeitbereich.22 Die Produkte, für die Männer bzw. Frauen werben unddie Verkaufsargumente, die ihnen zugeordnet werden, sind unterschiedlich. Hier wurde zumindest bis in die 1980er Jahre deutlich differenziert: Die Frau warb häufiger für Kleidung, Kosmetik undHaushaltsgeräte, während derMann in der Werbung für Verkehrsmittel undProdukte derNachrichtenübermittlung häufiger vorkam. Injungem Alter dominieren Frauen die Werbebotschaften, im fortgeschrittenen Alter werden Männer bevorzugt.23 Denn woSchönheit undAttraktivität derFrau als wesentliche Werbemittel eingesetzt werden, ist Jugend vonVorteil, dort wo Erfahrung und Souveränität als männliche Attribute eingesetzt werden, ist Alter vonVorteil. „Werbemänner“unterliegen weit weniger als „Werbefrauen“ demSchönheitsideal.24
18 Vgl. Weisser, Michael: HeldundHure, ZumRollenbild desMannes undderFrau inderWerbung –Ersatzbefriedigung von Wünschen, in: Werk und Zeit, Nr. 12, 1974, S. 3; Schmidt, Siegfried/Spieß, Brigitte: DieKommerzialisierung derKommunikation –Fernsehwerbung und sozialer Wandel 1956– 1989, Frankfurt/M. 1997, S. 140. 19 Vgl. Roos, Bernhard: Werbung undWettbewerb auf demZigarettenmarkt, in: Röper, Burk150, hier S. 146. hardt (Hg.): Wettbewerb undWerbung, Berlin 1989, S. 145– 20 Vgl. Hartungen, Christof von: Psychologie der Reklame, Stuttgart 1921, S. 62. 21 Vgl. Hastenteufel: Das Bild (wie Anm. 16), S. 86. 22 Vgl. Mayer, Hans: Darstellungsformen derFrau in derZeitschriftenwerbung: Eine empirische 220, hier Analyse, in: Jahrbuch derAbsatz- undVerbraucherforschung, Heft 3, 1980, S. 203– S. 211. 23 Vgl. Hastenteufel: Das Bild (wie Anm. 16), S. 268f. 24 Vgl. Krohne, Stefan: It’s a Men’s World –Männlichkeitsklischees in der deutschen Fernsehwerbung, in: Schmidt Siegfried/Spieß Brigitte (Hg.). Werbung, Medien undKultur, Opladen 152, hier S. 151. 1995, S. 136–
Die Frau in derKonsumgüterwerbung im20. Jahrhundert
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Die gesellschaftlichen Unterschiede zwischen Mann undFrau offenbaren sich in denTypen, die sie verkörpern, in ihren Beschäftigungen, in ihrer Umwelt und in ihren Umgangsweisen. Männer undFrauen handeln in der Gesellschaft nach bestimmten Orientierungen und Erwartungen. Dadurch entwickeln sie typische Ordnungsmuster, diedenIndividuen soziale Positionen zuweisen.25 Die Werbung greift diese Tatsache auf undhilft, Vorstellungen darüber zu zementieren, wie Frauen oder Männer „ vonNatur aus sind“oder zu sein haben. Die in der Werbung erscheinenden Männer-Frauen-Klischees übertreffen die soziale Realität oftmals bei weitem. Üblicherweise ist der Mann in der Werbung stark, überlegen underfolgreich, die Frau hatdagegen jung undschön zusein, sie muss erotische Ausstrahlung, Heiterkeit undFreundlichkeit besitzen, zudem muss sie zart, passiv undhilfsbedürftig sein.26 Heute begegnen uns Frauen in der Rolle des biederen undfleißigen Hausmütterchens einerseits undin der Rolle der modernen, attraktiven Freundin undGeliebten andererseits. Natürlich gibt es in der Werbung nicht nureinseitig-stereotype Frauendarstellungen, jedoch kristallisieren sich im wesentlichen drei Basisformen der weiblichen Darstellung heraus: Die Hausfrau undMutter, dieBerufstätige unddie erotische Frau. Diese Darstellungsformen haben sich bereits früh entwickelt undsindje nach Zeitabschnitt mit unterschiedlicher Intensität imgesamten 20. Jahrhundert anzutreffen.
2.1. Die Darstellung als Hausfrau undMutter Bereits
am Anfang des 20. Jahrhunderts war das Bild der
undMutter eine häufig verwendete Darstellungsform und ist auch heute noch ein beliebtes Werbeobjekt. Die Werbefrauen wurden zwar bei der Verrichtung ihrer täglichen Hausarbeit gezeigt, wirkten dabei aber wie verkleidete Mannequins, jung, hübsch, sauber, adrett understHausfrau
Kalendertitel 1890
Quelle: Weisser, Michael: Wirksam wirkt dasWeib, München 1995, S.44.
klassig frisiert. Der Haushalt wurde als Ort des gehobenen Lebensstils dargestellt, nicht als Ort der Arbeit, welche die meisten Frauen in derRealität ganz selbstverständlich täglich leisteten. Eheprobleme lösten sich fast von selbst mit Rama, Kaba oder Zahnpasta.27 Die Hausfrau war für die angenehmeAusgestaltung des Heimes zuständig undhatte darüber hinaus auch noch Zeit, sich ausgiebig um ihr äußeres Erscheinungsbild zukümmern. Sie warderruhende Pol in der Familie undbefand sich stets in einer harmonischen Bezie-
25 Mayer, Hans: Darstellungsformen (wie Anm. 22) S. 204. 26 Vgl. Hastenteufel: Das Bild (wie Anm. 16); S. 267. 27 Vgl. Becker, Egon: DasBild derFrau in derIllustrierten, in: Horkheimer Max(Hg.): Zeugnisse, Frankfurt/M. 1963, S. 427– 438, hier S. 432.
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Margarete Wagner-Braun
hung zu Mann undKindern. Die Werbemutter liebte ihre Kinder heiß undinnig, auch wenn sie völlig verschmutzt nach Hause kamen, denn sie hatte ja Mittel X zurVerfügung.28 Das alles lag nach herrschender Meinung in derNatur der Frau. So wares nurverständlich, dass sie als Hüterin desHauses fungierte.29 ImGegensatz zumMann lebte sie nicht für Leistung, sondern füremotionale Geborgenheit. Ihre Lebenserfüllung bestand in derrichtigen Verwendung vonWasch- undPflegemitteln –Hilfe bekam sie dabei vommännlichen General, demweißen Riesen oder von Meister Proper.30 Das Selbstwertgefühl der Werbefrau stand in engem Zusammenhang mit der Frage, ob im Hause alles glänzte. Ihre alleinige Zuständigkeit für den Bereich Haushalt entsprach der traditionellen Rollenverteilung. Die Frauenrolle warhier stark auf die Reflexion zumMann hin ausgerichtet und suggerierte folgende Botschaft: Eine Hausfrau, die nicht das beworbene Produkt verwendete, bekam völlig zu Recht ein schlechtes Gewissen (Fernsehwerbung vonLenor). Nurmit Hilfe desangebotenen Produkts konnte es gelingen, die Wäsche weich unddas Haus sauber zu halten, was ihr Lob undAnerkennung ihres Mannes
als Belohnung sichern würde.
Dieses traditionelle Frauenbild kennzeichnete
Anzeige 1959
Quelle: Kriegeskorte, Michael: Wer-bung in Deutschland, 1965, 1945–
Köln 1992 S. 59.
das gesamte 20. Jahrhundert. Die Persil-Werbung gilt als anschauliches Beispiel: Die weiße Frau wird als elegante Dame präsentiert. Sie trägt in der Zeit zwischen 1923 und 1948 elegante Hüte, einen Schirm oder posiert auf einer Schaukel. Ihr strahlend weißes Kleid spiegelt die jeweilige Mode der Zeit wider undgibt zuverstehen, dass es mit Persil höchst einfach ist, die Wäsche perfekt zu pflegen.31 Im Nationalsozialismus blieben die der Hausfrauenrolle zugewiesenen Werte in den Werbedarstellungen erhalten und wurden sogar noch verstärkt. Die Hausfrauen wurden allerdings weniger elegant als vielmehr arbeitsam und schlichter gekleidet abgebildet. Auch nach dem Krieg wurde dieses Frauenbild fortgeführt. Angesichts der Wohnungsnot undals Reaktion auf die Unsicherheit der Nachkriegsjahre war ein gemütliches Heim das
28 Vgl. Wagner, Angelika/Frasch, Heidi/Lambert, Elke: Mann–Frau, Rollenklischees imUnter91; Rechner, Horst: Geschlechterrollen in der Werbung, 2001, richt, München 1978, S. 90– http://home.t-online.de/home/Horst.Rechner/rollen/geschlechterrollen.html, Zugriff am 21.6. 2003; Litzka, Susanne: Frauen-Bilder. Die Konstruktion vonWeiblichkeit in österreichischer Magazinwerbung, http://www.metameta.org/~susi/da/da.html, Zugriff am23.6.2003. 29 Vgl. Scheffler, Karl: Die Frau unddie Kunst, Berlin 1908, S. 36; Alfermann, Dorothee: Geschlechterrollen undgeschlechtstypisches Verhalten, Stuttgart 1996, S. 31f. 30 Vgl. Schmerl, Christiane: Das Frauen- undMädchenbild in den Medien, Opladen, 1984, S. 32. 31 Vgl. Grosse, E.: 100 Jahre Werbung in Europa, Berlin 1980, S. 70, 104.
DieFrau in derKonsumgüterwerbung im20. Jahrhundert
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ersehnte Ziel. Dafür zusorgen, galt als die vornehmste Aufgabe derHausfrau. Sie wurde als attraktive Gastgeberin oder in gepflegter häuslicher Atmosphäre darge-
stellt, was keineswegs dem durchschnittlichen Alltag der damaligen Zeit entsprach; so zeigte die Werbung ein Idealbild, eine erstrebenswerte Vorstellung von Haushalt, Hausfrau undMutterschaft undrückte Ehe-Ideal undFamilienglück in bisher nicht gekanntem Maße in denMittelpunkt.32 Als eine demverstärkten Bedürfnis nach Geborgenheit undFamilienverband gegenläufige Strömung regte sich in derNachkriegszeit Kritik an dentraditionellen Familienvorstellungen, die ihre praktische Ausprägung nicht zuletzt in der zunehmenden Berufstätigkeit von Frauen fand. Daraus resultierend wurde eine neue Definition derBeziehungen zwischen Männern undFrauen erforderlich –ein Prozess, der bis heute anhält und auch in der Werbung thematisiert wurde. Die Berufstätigkeit unter denFrauen nahm immer mehr zu. Umdie Doppelbelastung derberufstätigen Hausfrauen in Grenzen zu halten, wurden die Haushalte zunehmendautomatisiert. Die Unternehmen erkannten dasenorme Absatzpotenzial und begannen fleißig für ihre Haushaltsgeräte zuwerben. Die Werbung hielt die traditionelle Hausfrauen- undMutterrolle aufrecht undpries Staubsauger, Kühlschrank und Waschmaschine als unentbehrliche Haushaltshilfen an.33 So konnten die Frauen ihrer traditionellen undgesellschaftlich anerkannten Rolle gerecht werden und gleichzeitig ihre Wünsche nach eigener Erwerbstätigkeit erfüllen –eine Doppelrolle, die vonder Werbung betont wurde. Die mit der steigenden Zahl der Elektrogeräte einhergehende Elektrifizierung der Haushalte veranlasste auch die Stromhersteller, Frauen zu umwerben, und die einkaufende Hausfrau benötigte bald ihr eigenes Auto. So erwies sich die veränderte Positionierung derFrau in der Gesellschaft als beachtlicher Wirtschaftsfaktor, den die Werbung erkannte und unterstützte. Die Hausfrau der Fünfziger erledigte ihre Hausarbeit nebenbei und sah in ihrer Cocktailschürze auch bei der Hausarbeit gut aus. Wie von selbst brachte sie Glanz und Sauberkeit ins Heim.34 Sauberkeit galt als hochgeschätzter Wert –die Wäsche sollte nun„nicht nursauber, sondern rein“werden, ambesten sogar „ wunderbar weich“ . Die Verwendung von Stereotypen war erfolgreich. Klementine eroberte mit ARIEL die Herzen der Zuschauer. Der mütterliche Urtyp, eine adrette, tüchtige Hausfrau wusch rein und weiß zugleich. Sie strahlte Überlegenheit ausundinihrem weißen Kittel wirkte sie wieeine Expertin.35
32 Vgl. Rother, David: Die Frau in der Werbung. Werbewelt und Frauenbild in den fünfziger Jahren, Aachen, 2003, http://www.kawo2.rwth-aachen.de/~rot/indexfrau.html, Kapitel 2, Zugriff am 28.2.2003; Feldmann-Neubert, Christiane: Frauenbild im Wandel 1948– 1988. Von derFamilienorientierung zurDoppelrolle, Weinheim 1991, S. 126– 127 undS. 144. 33 Vgl. Andersen, Arndt: Der Traum vom guten Leben, Frankfurt/M. 1995, S. 27– 29; Schindel beck, Dirk: Marken, Moden undKampagnen, Darmstadt 2003, S. 26. 34 Vgl. Rother. Die Frau in derWerbung (wie Anm. 32), Kapitel 7. 35 Vgl. Neuhaus, Beatrix: Das Bild der Frau in der Werbung, in: Probst, Ulrich (Hg.): Männer undFrauen sind gleichberechtigt, München 1981, S. 65– 77, hier S. 68.
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Margarete Wagner-Braun
DadieFraununnicht mehr ausschließlich aufihrHeim fokussiert war, erhielten die Hausfrauendarstellungen im Laufe der Jahre auch modernere Züge. Die bereits erwähnte Persilfrau tauschte im Jahr 1959 ihr schickes, wallendes Kleid gegen eine sportlich-legere Bluse undversprühte mit ihrer lebendigen Körperhaltung undihrem großzügigen Lachen Dynamik undEnergie. Bald wurde die Hausfrau undMutter derrealen Entwicklung entsprechend immer mehr als multifunktionale Managerin präsentiert, die eine Vielzahl vonAufgaben zubewältigen hatte: Kindererziehung, Kochen, Waschen, Putzen... Dieser Trend wurde weiterentwickelt
und die Hausfrau immer selbstbewusster gezeigt. Sie verfügte nunüber unkonventionellen Individualismus, strahlte sogar Erotik ausundbeschäftigte sich, mit ihren Kindern spielend, ganz nebenbei mit Aktienkursen und Bankangelegenheiten. Die Verbindung zwischen Mutterschaft und Beruf wurde möglich. Die heutige Hausfrau ist also auch in der Werbung eine Kurz-Phasen-Hausfrau geworden, die ihre häuslichen Pflichten sozusagen nebenbei erfüllt. Dabei wirkt sie nach wie vor sehr gepflegt, ist praktisch veranlagt, geschickt und gelegentlich sogar männlich. Das Bild eines Mannes, der zur Erledigung der Hausarbeit beiträgt, kommt Quelle: Unilever: www.Zickenthron.de 04– 03/unilever.html. ... tualisierung20– heute sowohl in der Realität als auch in der Zugriff am 10.07.2003. Werbung vor.36 Extreme Darstellungen dieser Art zeigen knapp bekleidete Hausmänner, die von ihrer Partnerin Anweisungen erhalten. KamdasHausfrauenbild bis in die 50er Jahre noch allgemein sehr häufig vor, so kann diese Aussage heute nicht mehr pauschal getroffen werden. ImLaufe der letzten dreißig Jahre wurde die Werbehausfrau in der Anzeigen- undPlakatwerbung immer seltener, in derRundfunk- undvor allem Fernsehwerbung konnte sie ihren Platz wesentlich besser behaupten.
2.2. Die Darstellung als Berufstätige
Der Typderberufstätigen Frau warbis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts in derWerbung nicht anerkannt, denn die in derArbeitswelt so nützlichen Eigen36 Vgl. Baszczyk, Evelin: Werbung Frau Erotik, Marburg 2003, S. 121; Unverzagt Gerlinde, Tüchtig, leidenschaftslos undnicht zu klug. Das Frauenbild am Ende des 20. Jahrhunderts, http://www.papa.com/emanzi/kj_focus.htm, Zugriff am31.8.2003; Bonacker, Kathrin: Hyperkörper inderAnzeigenwerbung des20. Jahrhunderts, Marburg 2002, S. 90.
DieFrauin derKonsumgüterwerbung im20. Jahrhundert schaften wie Durchsetzungsfähigkeit undInitiative traten
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in unmittelbare Konkur-
renz zu den für das weibliche Geschlecht geforderten wie Selbstlosigkeit und
Nachgiebigkeit.37 So gabes nurwenige Darstellungen, die Frauen amArbeitsplatz zeigten, allerdings mit Ausnahme des Arbeitsplatzes Küche. In diesen wenigen Darstellungen erschien die Frau immer sehr gepflegt, betonte ihre Topfigur durch perfekte Kleidung und präsentierte ihr strahlendes Äußeres durch vorteilhafte Schminke. Unverheiratet underfolgreich warsie umschwärmt undbewundert.38 ZumThema Frau im Beruf hatte die Werbung der 50er Jahre noch wenig zu sagen. Die dargestellten Berufe blieben auf eine sehr enge Bandbreite wie Sekretärin, Stewardess undKrankenschwester beschränkt. Nachdem die Frauen in der unmittelbaren Nachkriegszeit verstärkt berufstätig geworden waren, setzte sich in der Gesellschaft bald erneut die Vorstellung durch, dass Frauen eigentlich doch nicht erwerbstätig sein sollten. So wurden in der Werbung die Werbefrauen auf ihre „ ureigensten“ Berufe festgelegt. Das waren schlecht bezahlte Hilfs- und Büroarbeiten mit geringen Aufstiegschancen. Vollzeitberufe wie Stewardess kamen deshalb ab Mitte der 50er Jahre nicht mehr vor. Stattdessen Quelle: Schmidt, Siegfried/Spieß, Brigitte: standen nunBerufe im Vordergrund, die VonReklame zurvirtuellen Werbewelt, in: geringe Anforderungen an den Kellner, Joachim et al.: 50 Jahre Werbung stellten und mit Qualifikationsgrad in Deutschland, 1945– 1995, Ingelheim Pflichten gut vereinbar familiären 1995, S. 132. waren.39
In den 1970er und 1980er Jahren gewann die als Berufstätige dargestellte Werbefrau an Bedeutung.40 Denn Ziel war es nun geworden, mit den Werbebotschaften den sich immer mehr etablierenden modernen Frauentyp anzusprechen: Die selbstbewusste intelligente Frau. So wurden Frauen in Traumberufen präsentiert, die zwar demBild vom„ Wesen derFrau“entsprachen, gleichzeitig aber ein höheres gesellschaftliches Ansehen genossen als dertraditionelle Beruf derHaus37 Vgl. Hastenteufel: Das Bild (wie Anm. 16) S. 67.
38 Vgl. Boese, Angelika: Frau undWerbung, in: Weichmann, Elisabeth (Hg.): Mann undFrau schon Partner, Köln 1973, 29– 38, hier S. 29. 39 Vgl. Rother: DieFrau inderWerbung (wie Anm. 32), Kapitel 5. 40 Vgl. Brosius, Hans-Bernd/Staab, Joachim-Friedrich: Emanzipation in derWerbung? Die Darstellung von Frauen undMännern in der Anzeigenwerbung des „Stern“von 1969– 1988, in: Publizistik, Nr. 35, 1990, S. 292– 303, hier S. 298.
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frau. Die Stewardess tauchte wieder auf. Wurden akademisch gebildete Frauen dargestellt, dominierten Berufe wie Lehrerin undÄrztin.41 Deremanzipierte undselbstbewusste TypderBerufstätigen blieb zwar imgesamten Betrachtungszeitraum im Vergleich zur Hausfrau unterrepräsentiert, erzielte aber bei der angepeilten Zielgruppe dengewünschten Erfolg undwurde im Laufe derletzten 10 Jahre bis zursouveränen Karrierefrau weiterentwickelt.42
2.3. Die erotisch dargestellte Frau
Bei der Auswahl der Werbemaßnahmen für ein Produkt ist vor allem die Zielgruppe zu definieren und entsprechend anzusprechen. Je nach Alter und Geschlecht sind die Wünsche undBedürfnisse der Konsumenten unterschiedlich. Im Grunde müsste also jede Gruppe auf eine andere Art angesprochen werden. Jedoch allen Gruppen gemeinsam ist dieAufnahmebereitschaft vonBotschaften, die im Bereich der Sexualität angesiedelt sind. Diese spricht einen außergewöhnlich hohen Prozentsatz aller Bevölkerungsschichten gleichermaßen an.43 Ummit einer Werbebotschaft eine möglichst große Streuung zu erreichen, liegt es also nahe, sich in derWerbung der Wirkungen der Erotik zubedienen.44 Die erotisch dargestellte Frau gilt als „ eindrucksmächtiges“Motiv, das sowohl Männer als auch Frauen anspricht. Männer reagieren dabei auf einen visuellen Reiz, während Frau-
en sich zum Ziel setzen, die gleiche Attraktivität zu erreichen und selbst zur Verführerin zuwerden.45 Nacktheit der Werbemodelle ist nur ein Teilaspekt der Erotik; vielmehr umfasst derBegriff denEinsatz jeglicher sexuell ansprechender Gestaltungselemente wie etwa Darstellung von Zärtlichkeiten, sinnliche Kleidung oder romantische Texte. Es liegt beim Betrachter zu entscheiden, ob eine Darstellung als erotisch einzustufen ist oder nicht. Somit entspringt die in einer Werbebotschaft vermittelte Erotik letztlich derVorstellungskraft eines Rezipienten.46 Mit Frauenkörpern Umsatz zumachen, funktionierte in derWerbung vonAnfang an hervorragend. Zeitweise spielte die Erotik eine übergroße Rolle, der SexAppeal der Frau wurde in allen Zusammenhängen und für die verschiedensten Produkte verwendet.47 So warben undwerben kaum bedeckte oder nackte Frauen41 Vgl. Hastenteufel: Das Bild (wie Anm. 16), S. 66– 69. 42 Vgl. Velte, Jutta: Die Darstellung vonFrauen in denMedien, in: Fröhlich, Romy/Holz-Bacha, 219, hier S. 212. Christiana (Hg.): Frauen undMedien, Opladen 1995, S. 181– 43 Vgl. Brinkmann, Margret: Mit Eva fing die Werbung an, Köln 1964, S. 175; entsprechend Rost, Dankwart: Werbung imWettbewerb, in: Röper, Burkhardt (Hg.): Wettbewerb undWer33, hier S. 24. bung, Berlin 1989, S. 21– 44 Vgl. Bergler, Georg: Werbung undGesellschaft, Essen 1965, S. 136. 45 Vgl. Hastenteufel: Das Bild (wie Anm. 16), S. 87. 46 Vgl. Baszczyk: Werbung (wie Anm. 36), S. 150. 47 Vgl. Bergler: Werbung (wie Anm. 44), S. 136.
Die Frau in derKonsumgüterwerbung im20. Jahrhundert
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typisch weibliche“Gegenstände wie Deodorant, Körperlokörper nicht nur für „ tion oder Badeschaum, sondern ohnejeglichen Produktbezug auch für Güter aller Art, so auch für Autos undStereoanlagen. Der Kauf von Autos undtechnischen Geräten lagbis ins zweite Drittel des20. Jahrhunderts meist noch immer in männlicher Entscheidungskompetenz.48 Um die Aufmerksamkeit der Männer zu erwecken, bediente mansich vielfach des Klassikers der erotischen Werbung, des sogenannten „Stoppers“ . Das ist zum Beispiel ein attraktives Mädchen, das die Aufmerksamkeit derMänner vollständig auf sich ziehen kann.49 Mit diesem Bild wurde der Continental Reifen bekannt.50 Die hübsche Radfahrerin erregte mit ihrem für die damaligen Verhältnisse viel zukurzen Rock das Interesse und lenkte es auf den an sich unattraktiven Radreifen weiter, der auf dem Bild ohnehin kaum zu sehen ist, dafür aber die auffällig gestrümpften Beine derDame. Ebenso verwendete Benz für seinen Motorenwagen die Verführungskraft dieser liebkosenden Frau.51 Im Zusammenhang mit dem aufkommenden Kabriolett erbrachten Motivforschungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts, dass Kabrioletts auf Anzeige 1899 Männer eine unglaubliche Quelle: Weisser, Michael: Anziehungskraft hatten. Wirksam wirkt das Weib, Sie sahen darin eine München 1995, S.38. mögliche Geliebte, die in Anzeige 1910 ihnen Wünsche nach Jugend, Romantik undAbenteuer weckte. Durch diese Träume in die Verkaufsräume gelockt, kauften sie dannaber die viertürige Limousine, genauso wie sie im praktischen Leben ein einfaches undzuverlässiges Mädchen heirateten.52
Quelle: Weisser, Michael: Wirksam wirkt das Weib, München 1995, S.99.
48 Vgl. Hastenteufel: DasBild (wie Anm. 16), S. 87. 49 Vgl. Tappe, Heinrich: DerGenuss, die Wirkung undihr Bild: Werte, Konventionen undMotive gesellschaftlichen Alkoholgebrauchs im Spiegel der Werbung, in: Borscheid, Peter/Wischermann, Clemens (Hg.): Bilderwelt desAlltags. Werbung in derKonsumgesellschaft des 19. und20. Jahrhunderts, Stuttgart, 1995, S. 222– 241, hier S. 234. Zumsogenannten Catch Visual vgl. auch Zielke, Achim, Beispiellos ist beispielhaft oder Überlegung zurAnalyse und zur Kreation des kommunikativen Codes von Werbebotschaften in Zeitungs- undZeitschriftenanzeigen, Pfaffenweiler 1991, S. 81– 84. 50 Vgl. Brinkmann: MitEva(wie Anm.43), S. 176. 51 Vgl. Weisser, Michael: Reclame (wie Anm. 3), S. 54. 52 Vgl. Brinkmann: Mit Eva(wie Anm.43), S. 177.
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Mit demBild der eleganten Schönen in verführerischer Pose gab es also bereits zu Beginn des Betrachtungszeitraumes erotische Frauendarstellungen. Mit der Hinwendung zumarbeitsamen, pflichtbewussten undbodenständigen Frauentyp wurde dann im Nationalsozialismus die Erotik weitgehend aus der Werbung verbannt. Nuntrat dasnatürliche Mädchen, die durchtrainierte Sportlerin oder ein eher hagerer Muttertyp, dem man die Arbeit ansieht, in den Vordergrund. Die elegante undschlanke Dame konnte jedoch in gewissem Umfang ihren Platz behaupten.53 Auch die Nachkriegsjahre boten keinen geeigneten Hintergrund für erotische Frauendarstellungen. Das Verhältnis der Gesellschaft zur Erotik in der Öffentlichkeit hat sich im Laufe des Betrachtungszeitraumes sehr verändert. Die Weimarer Republik zeigte erste Ansätze zu mehr Liberalität, die erst in den 1970er Jahren fortgesetzt wurden, und dann eine geradezu rasante Entwicklung nahmen als zunehmend der (weibliche) Körper in den Mittelpunkt der Werbedarstellungen rückte.54 Was früher absolut undenkbar gewesen wäre, ist heute eine Selbstverständlichkeit geworden. Auch die Werbung hat diesen Trend zu mehr Freizügigkeit mitgemacht, was sehr deutlich an der Entwicklung der Ausgestaltung von Werbebotschaften erkennbar ist.55 Somit ist die Werbung, auch wenn sie innerhalb eines interaktiven Prozesses durchaus auch trendverstärkend gewirkt hat, ein Eine derersten erotischen WerSpiegelbild der gesellschaftlichen Situation.56 beanzeigen derNachrkriegszeit Wenn auch die erotisch dargestellte Frau von ausdemJahre 1975 Anfang an vorkam, so blieb sie doch bekleidet, Quelle: Baszczyk, Evelin: Werzumindest bis in die 70er Jahre. Die Lockerung bung. Frau. Erotik, Marburg des Sexualstrafrechts im Jahr 1973 gilt als Sig2003, S. 151. nal für eine größere sexuelle Freizügigkeit auch in den Medien, in denen die Frau zunehmend als erotisches Dekorationsobjekt 53 Vgl. Thoms: Dünn unddick, (wie Anm. 4), S. 260. 54 Vgl. Schmidt/Spieß: Von der Reklame (wie Anm. 13), S. 189– 191; Kellner, Joachim/Kurth, 1990. Ulrich/Lippert, Werner (Hg.): 1945– 1995, S. 104.
50 Jahre
Werbung
in Deutschland,
Frankfurt
/M.
55 Vgl. Cornelissen, Waltraud: Traditionelle Rollenmuster –Frauen- undMännerbilder in den westdeutschen Medien, in: Helwig, Gisela/Nickel, Hildegard (Hg.): Frauen in Deutschland 1992, Bonn 1993, S. 53– 67, hier S. 58. 1945– 56 Vgl. Zentralverband der deutschen Werbewirtschaft: Nackte Tatsachen –Das Frauenbild in der Werbung, Bonn 1993, S. 15; Rost: Wettbewerb (wie Anm. 43), S. 31; Bergler, Reinhold/Pötzgen, Brigitte/Harich, Katrin: Frau undWerbung –Vorurteile undForschungsergebnisse, Köln 1992, S. 16.
Die Frau in derKonsumgüterwerbung im20. Jahrhundert
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eingesetzt wurde.57 Der Trend ist eindeutig: Im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts nahm in der Werbung die weibliche Erotik sowohl in quantitativer Hinsicht als auch mitwachsender Intensität kontinuierlich zu.58
2.4. Andere Darstellungsformen
Der zu Beginn des 20. Jahrhunderts kreierte Frauentyp der selbstbewussten undmodernen Frau war revolutionär. Dieser Typwurde mitNamen wie Tosca, Manolita oder Diana populär. Vor allem die Zigarettenindustrie verwendete Frauennamen, umihr Produkt an denMann oder an die Frau zu bringen. Damals, als das Rauchen noch als männliches Privileg galt und der Abgrenzung gegenüber weiblichen Verhaltensmustern diente, benutzte die moderne Frau des 20. Jahrhunderts die Zigarette als Symbol für ihre Forderung, es demMann gleichzutun.59 Die Zigarettenindustrie warb mit dem Bild der fremden orientalischen Frau. 1910 brachte Manoli das Genuss imStil Gibson-Girl“heraus undLord ließ den„ „ Zigarettenwerbung 1910 der neuen Zeit“ durch sonnengebräunte Mädchen Quelle: Weisser, Michael: anpreisen, die ihre sportlichen Männer bei deren FreiWirksam wirkt das Weib, zeitbeschäftigungen bewunderten, selbst aber passiv München 1995, S.21 blieben.60 Vorallem in derzweiten Hälfte des20. Jahrhunderts sind folgende Frauenbilder ebenfalls von Bedeutung. Zu nennen ist das lebenslustige Mädchen, das eingebunden in eine zauberhafte Atmosphäre das Produkt an die Konsumenten bringensollte oder als flippig gekleidete Jugendliche, die in einer dynamischen Gruppeagiert. Außerdem gabes die Ungeschickte, die dümmlich-treuherzig zumMann aufschaute und den bewunderte, der sie über ein Produkt informierte. Dieser Typ Werbefrau besaß nicht die Intelligenz, ein Produkt zu verstehen undwandte sich deshalb hilfesuchend aneinen Mann.
57 Vgl. Baszczyk: Werbung (wie Anm. 36), S. 155. 58 Vgl. Baszczyk: Werbung (wie Anm. 36), S. 160; Kriegeskorte, Michael: 100 Jahre Werbung imWandel: eine Reise durch diedeutsche Vergangenheit, Köln 1995, S. 191. 59 Vgl. Weisser, Michael: Wirksam wirbt dasWeib, (wie Anm. 4), S. 103. 60 Vgl. Tabert, Winfried: Ein Mann darf Falten haben, eine Frau nicht, in: Schmerl, Christiane (Hg.): Frauenfeindliche Werbung –Sexismus als heimlicher Lehrplan, Hamburg 1983, S. 161– 181, hier S. 161.
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DasLuxusweibchen anderSeite ihres Karrieremannes ist ebenfalls zuerwäh-
nen. Sie kaufte dasTeuerste undBeste undvermittelte denEindruck als sei sie im Alltag völlig verloren. In dieser Darstellung diente die Frau zum Vorzeigen vor Geschäftspartnern undKunden, als Schmuck ihres Mannes.61Diese attraktive Modellfrau konnte sich frei von Sorgen des Berufslebens ihrer Schönheit widmen und verbreitete die implizite Drohung an alle möglichen Konsumentinnen, sie könnten denAnschluss verpassen, falls sie nicht Produkt X oder Seife Y verwen-
denwürden.62
In den 1950er und 1960er Jahren die Werbung mit Prominenten beliebt. Vor allem die Marke LUXOR ging
wurde
diesen Weg: Zunächst wurden amerikanische Schauspielerinnen wie Liz Taylor undMarilyn Monroe, dann auch deutsche Schauspielerinnen wie Heidi Brühl oder Marianne Koch abgebildet.63 Im Gegensatz zur Realität bleibt die Sportlerin64 in der Werbung nach wie vor unterrepräsentiert. Dennoch wurden Frauen häufiger als Männer bei einer Freizeitbeschäftigung gezeigt. Außerdem waren in der Werbung öfter Frauen als Männer Patienten und werben für die verschiedensten Arzneimittel.65 Auch wenn Frauen nach wie vor in jungem Lebensalter präsentiert werden, muss die Schöne aus der Werbung heute Quelle: Kriegeskorte, Michael: Werbung in nicht mehr zwingend sehr jung sein. Die 1965, Köln 1992, S. 80. Deutschland 1945– Werbemacher setzen verstärkt auf die Ausstrahlung von Frauen mittleren Alters. Inzwischen wird mit demweiblichen Älterwerden weniger der Verlust an Attraktivität verknüpft als vielmehr die Zunahme an Erfahrenheit undAusgeglichenheit.66 61 Vgl. Wagner: Rollenklischees (wie Anm. 28), S. 90– 92. 62 Vgl. Becker: Das Bild (wie Anm. 27), S. 435. 63 Vgl. Kriegeskorte: Werbung (wie Anm. 13), S. 32; Urselmann, Karin: Schöne Frauen, starke Männer, in: Haus derGeschichte der Bundesrepublik Deutschland Bonn (Hg.): Prominente in 51. 57, hier S. 48– derWerbung. Daweiß man, wasmanhat, Mainz 2001, S. 46– 64 Vgl. Huster, Gabriele: Wilde Frische –zarte Versuchung Männer- undFrauenbilder auf Wer90er Jahre, Marburg 2001, S. 89. beplakaten der50er– 65 Vgl. Heilingbrunner, P./Köster, M.: Typisch Mann, typisch Frau. Jeder spielt die Rolle, die er von klein auf gelernt hat, in: P.M.-Perspektive, 32, 1993, S. 4– 17; Dohn, F.: Nunraten Sie 57. mal, werhier das„schwache“Geschlecht ist, in: P.M.-Perspektive, 32,1993, S. 53– 66 Vgl. Baszczyk: Werbung (wie Anm. 36), S. 123– 126, Bergler/Pötzgen/Harich: Frau undWer34. bung (wie Anm. 56), S. 31–
DieFrau inderKonsumgüterwerbung im20. Jahrhundert
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2.5. Verbreitung verschiedener Darstellungsformen in verschiedenen Medien
Die Darstellung vonFrauen erfolgt in denverschiedenen Werbemitteln wie Zeitschriften, Plakaten, Rundfunk undFernsehen aufunterschiedliche Art. Frauen wurden in den verschiedensten Situationen gezeigt, wobei die beschriebenen Rollenklischees denweitaus größten Teil ausmachten. Eine Untersuchung von Zeitschriftenanzeigen aus demJahr 1972 ergab, dass in der „ Bunte“ Illustrierte der Typ Mutter mit 30 % vertreten war, der Typ Hausfrau mit 50 % Für Sie“verkörperten unddie Frau als Schönheit mit 20 %. In der Zeitschrift „ Frauen die Mutterrolle zu ca. 9 %, die der Hausfrau zu 20 % unddie der Schönheit zu71 %.67Je nach Produktgruppe wurden Frauen in derZeitschriftenwerbung in unterschiedlichem Umfang eingesetzt. Mit Abstand amhäufigsten warben sie für Kosmetika, gefolgt von Bekleidung und Genussmitteln. Deutlich seltener war die Werbung für Haushaltsprodukte, Nahrungsmittel, Reisen oder Waschmittel.68 Der Frauenanteil in den Werbedarstellungen hing wesentlich von der Zielgruppe ab. In Illustrierten mit breiter Leserschaft stand das Motiv „Frau“zum Motiv „Mann“in einem ausgewogenen Verhältnis. In typischen Frauenzeitschriften überwog die Darstellung von Frauen eindeutig. Auch im männerorientierten „Stern“warderTrend zurDarstellung derFrau ungebrochen; hier wurde die Frau allerdings weniger als Hausfrau undMutter gezeigt, als vielmehr im Freizeitbereich, als Partnerin des Mannes undals Dekorationsobjekt.69 Im Bereich Rundfunkwerbung gab es vor demZweiten Weltkrieg nurin den USA erste Ansätze. Da die Nationalsozialisten im Jahr 1935 die Rundfunkwerbung eingestellt hatten, entwickelte sich diese in Deutschland erst nach 1948.70 Die Rollenverteilung der Frau in der Rundfunkwerbung überrascht nicht. Hier dominierte der Typ Hausfrau mit deutlichem Abstand gefolgt vom Typ Ehefrau bzw. Freundin, Mutter oder Berufstätige. Auch in der nach demZweiten Weltkrieg wachsenden Fernsehwerbung dominierten die genannten Typen, insbesondere das Leitbild Ehefrau und Mutter.71 Traten zwei Frauen zusammen in Erscheinung, so bestand deren Beziehung untereinander nicht selten aus Belehrung undKonkurrenz bezüglich Tüchtigkeit, Sauberkeit undSchönheit.72 Erotik spielte in diesem Bereich eine geringe Rolle. Die
amhäufigsten auftretende Hausfrau undMutter warimmer gutaussehend undgepflegt, blieb meist imhäuslichen Funktionsbereich underfüllte dort die notwendi67 Vgl. Schmitz, Elisabeth: Frau undWerbung, in: Katholische Frauenbildung, September, 1973, S. 470– 476, hier S. 470. 68 Vgl. Mayer: Darstellungsformen (wie Anm. 22), S. 206. 69 Vgl. Schmerl, Christiane: Thema Frau: Das Diskussionsniveau der deutschen Werber, in: Schmerl, Christiane (Hg.): Frauenzoo derWerbung, München 1992, S. 190– 243, hier S. 196. 70 Vgl. König: Konsumgesellschaft (wie Anm. 8), S. 401. 71 Vgl. Schmerl: Frauen- undMädchenbild (wie Anm. 30), S. 92 und97. 72 Vgl. Hastenteufel: Das Bild (wie Anm. 16), S. 269.
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gen Aufgaben.73 Eine Studie74 aus dem Jahr 1981 untersuchte die Frauendarstellungen in der Fernsehwerbung. Von 644 auftretenden Personen waren Frauen zwar leicht überrepräsentiert, kamen aber dennoch seltener zu Wort. 172 Frauen wurden als Hauptpersonen dargestellt, davon waren 59 Hausfrauen. In der damaligen Fernsehwerbung waren Frauen in der Regel nicht Partnerinnen ihres Ehemannes. Hausfrauen wurden eher als Dienerinnen dargestellt, die mit Beruf oder Interessen, die über die Haushaltsführung hinausgingen, nichts zu tun hatten. Mögliche Sanktionen und erstrebte Anerkennung legten der Werbe-Hausfrau einenerheblichen Leistungsdruck auf. Lob vonFamilienangehörigen undein gutes Gewissen ließen sich nurmit der Wahl der richtigen Produkte erzielen. Die Produktwahl wurde so zur Schlüsseltätigkeit der Fernsehhausfrau. Sanktionen wie Liebesentzug, Unzufriedenheit der Familie oder Hohn und abwertende Bemerkungen der Nachbarin waren die Resultate von Missgriffen.75 Auch heute noch arbeitet die Fernsehwerbung mit demPrinzip Strafe undBelohnung. In der Calgonit-Werbung erwartet eine Frau ihren Nachbarn, mit demsie gelegentlich Tee trinkt. Zu ihrem Entsetzen zeigen die Tassen aber noch immer Teeränder. Was soll der Nachbar von ihr denken? Wie kann mehr aus dieser Beziehung werden, wenn sie keinen perfekten Haushalt organisieren kann? Doch dank Calgonit werden die Tassen wieder strahlend sauber und der Nachbar kann kommen. Dieser Spot wurde auch mit vertauschten Geschlechterrollen gesendet, wo der Mann die Nachbarin erwartete. Das Frauenbild in der Fernsehwerbung variierte je nach Sendezeit: Im Abendprogramm, das sowohl Männer als auch Frauen verfolgten, wurden Frauen eher albern, unfähig undweniger erfolgreich als Männer gezeigt. AmNachmittag dagegen, wenn hauptsächlich Frauen und Kinder zusehen, wurden Werbefrauen fähiger undkompetenter präsentiert.76 Die Berufstätige und das Luxusweibchen kamen deutlich seltener vor, die Sportlerin unddie erotisch dargestellte Frau hatten bis in die 1980er Jahre kaum Bedeutung.77 Auch der Typ der attraktiven Frau tauchte in der Fernsehwerbung auf, allerdings überwiegend in Werbespots ohne Spielhandlung; dort diente sie als Dekoration für das angepriesene Produkt. Im Laufe der Jahre gewann die ledige und emanzipierte Frau zunehmend an Bedeutung. Laut einer Untersuchung aus demJahr 1980 wurden Frauen undMänner in etwa gleich häufig eingesetzt, Frauenjedoch verkörperten in relativ geringerem Unfang dieHauptrollen. Wieauch in
73 Vgl. Wagner: Rollenklischees (wie Anm. 28), S. 89f. 74 Vgl. Kotelmann, Joachim/Mikos, Lothar: Frühjahrsputz und Südseezauber, Baden-Baden 1991.
75 Vgl. Kotelmann/Mikos: Frühjahrsputz (wie Anm. 74), S. 66. 76 Vgl. Schmerl: Frauen- undMädchenbild (wie Anm. 30), S. 193. ZurInfantilisierung des Frauenbildes vgl. Köster-Lossack, Angelika: Weiblichkeitsstereotype undihre Verstärkung durch die Werbung, in: Bauer, Dieter/Volk, Birgit (Hg.): Was Medien aus Frauen machen: Weibs81. Bilder, Stuttgart 1990, S. 73– 77 Vgl. Kotelmann/Mikos: Frühjahrsputz (wie Anm. 74), S. 32.
Die Frau inderKonsumgüterwerbung im20. Jahrhundert
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derRadiowerbung wurden Kommentare undEmpfehlungen nurselten vonweib-
lichen Stimmen gesprochen; dies taten zu 93 % Männer, auch wenn oder gerade wenn dasProdukt Frauen ansprechen sollte.78
2.6. Fazit
In den 1970er und 1980er Jahren wurden zahlreiche Untersuchungen zu Art und Häufigkeit von Frauendarstellungen angestellt, von denen nur einige angesprochen werden konnten. In der Nachkriegszeit trat der Typ der liebenden und gleichzeitig naiven Ehefrau, Hausfrau und Mutter genau wie früher in Erscheinung undwurde in der Fernsehwerbung der amhäufigsten verwendete. Daneben etablierte sich derneue Typderjungen, attraktiven undschlanken Unabhängigen. Folgende Abbildungsmöglichkeiten kamen zumTragen: Der edel-versnobte Typ, dersportliche, beschwingte undmädchenhafte Typ, derVamp, die sexuell Aufreizende oder dieemanzipierte unddieberufstätige Erfolgsfrau. Im Unterschied zur Fernsehwerbung, in welcher der häusliche Typ vorherrschte, dominierten erotische Frauendarstellungen die Anzeigenwerbung. Dies trifft auf dasgesamte 20. Jahrhundert zu,jedoch im Laufe der Jahrzehnte nahmen die Darstellungen anHärte undRücksichtslosigkeit zu. Frauen wurden keineswegs ihrem eigenen Selbstverständnis entsprechend präsentiert. Die Typen der Werbefrauen entstanden nach männlichen Vorstellungen darüber, wie Frauen sind oder sein sollten. Da nurdiese Frauenbilder gezeigt wurden, setzte sich im Laufe derZeit die männliche Vorstellung vom„ Wesen der Frau“soweit durch, dass diese zur allgemein verbreiteten Meinung wurde.79 Obgleich es primär um die Vermarktung von Produkten ging, wurden diese Bilder dennoch bald als gesellschaftliche Realität akzeptiert, auch vonFrauen.80 3. Die Provokation:
Frauenfeindliche Werbung
Eine Grenzziehung, wann eine Werbebotschaft als frauenfeindlich unddamit diskriminierend einzustufen ist, ist sehr schwierig. Hier sind die persönlichen Empfindungen undEinschätzungen der Betrachter extrem heterogen. Wasder eine als angemessen ansieht, stellt für denanderen bereits eine Provokation dar. Dennoch kann dieExistenz frauendiskriminierender Werbung nicht grundsätzlich geleugnet werden. Nurweil es keine allgemein gültigen Grenzen gibt, kann frauenfeindliche Werbung nicht grundsätzlich als Geschmacksfrage abgetan werden. In anderen Bereichen reagieren die Konsumenten, bzw. Empfänger von Werbebotschaften 78 Vgl. Schmerl: Frauen- und Mädchenbild (wie Anm. 30), S. 94. Ähnlich auch Kotelmann/Mikos: Frühjahrsputz (wie Anm. 74), S. 30f. 79 Vgl. Weisser, Reclame (wie Anm. 3), S. 7. 80 Vgl. Becker, Das Bild (wie Anm. 27), S. 427.
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wesentlich sensibler. So wäre eine Werbung mit witzigen antisemitischen Sprüchen oder Abbildungen bei unsebenso undenkbar wiedie Erniedrigung behinderter oder alter Menschen.81 Auch in der Literatur wird die Frage, was als diskriminierend gelten soll, sehr unterschiedlich behandelt. Martiny82 zum Beispiel forderte, dass Werbung, die Menschen wie Sachen behandelt, auf jeden Fall als diskriminierend eingestuft werden sollte. Hierunter würden auch alle Darstellungen von Frauen fallen, die sich dem Mann untergeordnet zeigen unddie ihr innerhalb des Rollenklischees bestimmte Verhaltensregeln zuweisen. Die Frau als schwaches undanlehnungsbedürftiges Püppchen, lieb, aufopfernd undhäuslich eingestellt, hübsch anzusehen und ohne großen Verstand. Nach dieser Definition wären überaus zahlreiche Werbesendungen als diskriminierend einzustufen.83 Einem konträren Standpunkt zufolge ist sogar derVorwurf des Sexismus als besondere Variante frauenfeindlicher Werbung grundsätzlich gegenstandslos, da nur ein kleiner Teil pornographisch sei84 undKritiker undKritikerinnen unter mangelndem Kunstverstand und Humorlosigkeit litten. Innerhalb dieses breiten Spektrums muss jeder Betrachter seinen persönlichen Standpunkt finden. Eine hilfreiche Systematisierung verschiedener als möglicherweise diskriminierend einzustufenden Ausdrucksformen liefert Schmerl:85 Demnach gilt die Gleichsetzung von Frauen mit Produkten undKonsumartikeln als eine derVarianten diskriminierender Werbung. Eine weitere ist die klischeehafte Betonung angeblich typisch weiblicher Unarten: Frauen werden als dick undgefräßig dargestellt; entweder sind sie schwach undkönnen sich nicht beherrschen oder zeigen eine schrille Aufmachung. Als weitere weibliche Unart wird der zügellose Hang zumLuxus verwendet. Werbefrauen verreisen oft mit zuviel Gepäck, so dass sie drei starke Männer benötigen, welche die zahlreichen Gepäckstücke schleppen, während sie, bekleidet mit engem Kostüm, Stöckelschuhen und Hut, elegant voranschreiten (Werbung der Deutschen Bahn). Oder wir erfahren aus der Christ-Werbung, dass sie „keinem Mann die kalte Schulter zeigt“ , der ihr eben dorthin ein Diamantkettchen hängt.
81 Vgl. Schmerl, Christiane: Die alten Rezepte sind nicht die besten, in: Schmerl, Christiane (Hg.): Frauenzoo derWerbung, München, 1992, S. 146– 148, hier S. 147. 82 Vgl. Martiny, Anke: Die Diskriminierung vonFrauen in derWerbung, in: Politik undZeitge41, hier S. 40. 33, 1979, S. 33– schichte, Heft 32– 83 Vgl. Neuhaus: DasBild (wie Anm. 35), S. 72. 84 Vgl. Heller, Eva: Frauen haben im Beruf nichts zu suchen undzu Hause nichts zu tun–Die neue Frau der achtziger Jahre, in: Schmerl, Christiane (Hg.): Frauenzoo der Werbung, Mün145, hier S. 131. chen, 1992, S. 131– 85 Vgl. Schmerl, Christiane: Vorwärts in die Vergangenheit, in: Schmerl, Christiane (Hg.): Frau33. 78, hier S. 19– enzoo derWerbung, München, 1992, S. 14–
DieFrau inderKonsumgüterwerbung im20. Jahrhundert
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Ein weiteres Beispiel ist dasvonderWerbung pointierte angebliche Unvermögen von Frauen gegenüber den Anforderungen des Alltags. Sie verpassen den Zug, verwechseln die Fahrpläne und versengen beim Bügeln das Oberhemd des Gatten; im Büro sind sie erst recht nicht zu gebrauchen, denn sie buchen den falschen Mietwagen für den Chef (Sixt). Auch zynische Darstellungen gelten als diskriminierend. Dieses Beispiel appelliert andie ökonomische Rationalität eines Mannes und stellt ihn vor die Entscheidung, entweder an den entscheidenden Stellen seiner Partnerin teuere Schönheitsoperationen durchführen zu lassen oder doch besser mit Quelle: Werbeprospekt, Flyer, dem Kauf des Heimkino-Systems die preisHerbst 2002. günstigere Variante zu wählen, die ihm dann die schönsten Frauen inbeliebiger Zahljederzeit frei Haus liefern kann. Außerdem werden Frauen als aggressiv, eitel, dumm, tratschsüchtig undlaunenhaft dargestellt und in kosmetische Zwangsjacken gesteckt, eine besonders subtile Form der diskriminierenden Werbung. Es werden Schönheitsideale86 propagiert undzementiert; diese aber wechseln mit demZeitgeschmack, dervonder Werbung nicht unwesentlich beeinflusst wird. Das Schönheitsideal für Frauenkörper ist in den letzten 50 Jahren immer schlanker geworden. In jedem Zeitabschnitt gibt es fast nur einen Idealtyp: Dieser Frauentyp ist derzeit jung, schlank undhat exakte Proportionen, volle Lippen, eine schmale Nase, große Augen und natürlich keine Falten.87 Diese kleine Auswahl an Beispielen für überzeichnete Geschlechterklischees vermittelt eine Vorstellung über die breite Palette Frauen-diskriminierender Darstellungen. Die augenfälligste Variante Frauen-diskriminierender Werbung aber stellen sexuelle Anzüglichkeiten dar. Die sexistische Werbung unterscheidet sich vonder oben erwähnten erotischen Darstellung in der Art der Präsentation, denn weibliche oder männliche Nacktheit per se provoziert heute kaum noch. Es geht umdie Frage, inwieweit Weiblichkeit auf Kosten des Selbstwertgefühls undder(menschlichen) Würde von Frauen vermarktet wird und wie die verschiedenen Medien den Trend zu mehr Frauenfeindlichkeit zeigen.88 Häufiges Stilmittel der sexistischen Werbung ist die Präsentation nackter Frauen in Teilaspekten; die Körper wurden durchgeschnitten undnurdie sexuell besonders ansprechenden Körpertei86 Zu den Grundsätzen der Schönheitsideale in der Werbung vgl. zumBeispiel Thoms: Schön281. heitsideal (wie Anm.4), S. 242– 87 Vgl. Schmerl: Vorwärts (wie Anm. 85), S. 28. 88 Vgl. Zentralverband der deutschen Werbewirtschaft: Nackte Tatsachen (wie Anm. 56) S. 9 undSchmerl: Frauen- undMädchenbild (wie Anm. 30), S. 92.
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le großformatig gezeigt. Die gezeigten Abschnitte dienen als Projektionsflächen, vor denen die Werbebotschaft positioniert wird. Oftmals wird auch das Gesicht durchgeschnitten undohne Augen gezeigt. Dadurch wirdeine Entpersonifizierung erreicht, diein dererotischen Werbung fehlt. In den letzten Jahren, hat sich diese Art der sexistischen Darstellungen in Werbebotschaften immer weiter ausgebreitet und ist dabei immer provokativer geworden. Grund dafür ist derwachsende Konkurrenzdruck auf denAbsatzmärktenaufgrund dessen dieAnbieter miteiner „Werbeflut“reagierten.89 Wurden zum Beispiel imdeutschen Fernsehen imJahr 1986 „nur“ 162.000 Werbespotts ausgestrahlt, waren es im Jahr 1991 bereits 366.000. Die Gesamtdauer derausgestrahlten Werbesendungen stieg im genannten Zeitraum von 3,6 Stunden täglich auf 8 Stunden täglich. Nun galt es, in dieser Masse aufzufallen.90 Notwendige, wenn auch nicht hinreichende Bedingung für Erfolg in der Werbung ist das Erzeugen von Aufmerksamkeit.91 Dies wird auch undoftmals durch Provokation erreicht.92 Es gibt viele Möglichkeiten zu provozieren. Erinnert sei nur beispielhaft an die Benetton-Werbung, die eindeutig der gefühlsbetonten Werbung zuzuordnen ist, undden Sachbezug zur beworbenen Ware vermissen lässt. Über diese Werbung wurde in der Öffentlichkeit sehr intensiv gesprochen, so dass damit ein hoher GradanPublicity erreicht werden konnte.93 Eine weitere und vermutlich die am häufigsten verwendete Möglichkeit zu provozieren ist derMissbrauch weiblicher Reize in derWerbung. Damit wird eine auffällige Inszenierung einer Marke oder eines Produktes erreicht. Emotionale Reize imAllgemeinen unddamit dergezielte Einsatz derWeiblichkeit im Besonderen versuchen dasUnterbewusstsein anzusprechen, umdadurch biologisch vorbestimmte Reaktionen imGefühlsleben desRezipienten hervorzurufen. In demBestreben, das eigene Produkt von demder Konkurrenz abzuheben, wurden weibliche Reize vonjeher zumGegenstand von Werbeaussagen genommen94 –mit zunehmender Dauer immer aggressiver. Mit viel nackter Haut diente die „Ware“Frau verschiedenen Produkten als Blickfang. Aber je emotionaler, aggressiver und damit irrationaler die Werbebotschaften werden, desto weniger dienen sie der Marktinformation undder Markttransparenz, einer ursprünglichen Aufgabe der Werbung.95 War Werbung früher noch informativer bezüglich der
89 Nicht
zuletzt aufgrund immer neuer technischer Möglichkeiten wurden neue Informationskanäle erschlossen. Dies führte unweigerlich zunoch intensiveren Kommunikationsmöglichkeiten und verschärfte die Konkurrenz auf dem Informationsmarkt und somit im Bereich der Werbung. Vgl. Rost: Wettbewerb (wie Am.43), S. 27. 90 Vgl. Kassebohm, Kristian: Grenzen schockierender Werbung, Berlin 1995, S. 27f. undBackman, Jules: Werbung undWettbewerb, NewYork 1971, S. 57. 91 Es genügt nicht, dass eine Werbebotschaft wahrgenommen wird. Sie muss zudem positiv
verarbeitet werden undin derErinnerung haften bleiben. 92 Vgl. Bau, Axel: Wertewandel, Frankfurt/M. 1995, S. 5. 93 Vgl. Kassebohm: Grenzen (wie Anm.90), S. 5 undS. 55f. 94 Vgl. Schmerl: Rezepte (wie Anm.81), S. 147. 95 Vgl. Bau: Wertewandel (wie Anm. 92), S.287.
Die Frau inderKonsumgüterwerbung im20. Jahrhundert
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Qualität eines Produktes oder der damit verbundenen technischen Möglichkeiten, so baut heute Werbung verstärkt auf Effekte und Emotionen und spricht nicht selten auf eine provokative Art Gefühle undTriebe an.96 Nicht zuletzt als Konsequenz dieser Entwicklung wird in der Literatur auf die Sinnkrise hingewiesen, in der sich die Werbung derzeit zu befinden scheint. Einerseits befriedigen Phrasen wie„wäscht noch weißer“nicht mehr, andererseits aber auch nicht diebloße Lifestyle-Beratung ohne Produktbezug, die zudem immer mehr mit Aufmerksamkeit erregenden Schockbildern präsentiert wird. Es stellt sich immer dringender die Frage, wie die wesentlichen Elemente der Werbung zu kombinieren sind: Aufmerksamkeitserregung, Suggestion und Information. Die Sensibilität für Geschlechterdiskriminierung ist je nach Geschlecht des Betrachters unterschiedlich. Die Blickfangwerbung mit Hilfe vonFrauendarstellungen wird vonMännern seltener als diskriminierend oder verletzend empfunden. Nicht selten folgen auch Frauen dieser Ansicht. Jedoch hat die unterschiedliche Behandlung beider Geschlechter in denletzten Jahren immer mehr Aufmerksamkeit erregt. Umzukonstruktiven Lösungen zukommen, musste ein Kanal gefunden werden, in den die weit verstreute Kritik einmünden konnte.97 Eine Möglichkeit zu protestieren bot sich darin, beim deutschen Werberat Beschwerde einzureichen. Die Rechtsgeschichte zeigte aber, dass die Würde derFrau nurschwer einklagbar ist. Trotz derin denletzten Jahren abnehmenden Schärfe der Diskussion über die Darstellung der Frau in der Werbung, bildet diese auch heute noch den Schwerpunkt der Kritik. Von den401 Beschwerden, die im Jahr 1999 beim Zentralverband der Deutschen Werbewirtschaft eingegangen sind, entschied derWerberat in 188 Fällen, 72 davon (38 %) betrafen dasThema Frauen.98 Ausdemoben genannten Katalog möglicher Diskriminierungsfälle erkennt der Werberat nurdie sexuellen Anzüglichkeiten als Grund für einen Einspruch an, undzwar nurdann, wenn sie das„allgemeine Anstandsgefühl“verletzen99 – wasimmer dasauch sei.
4. Resümee Die Darstellung derFrau in der Werbung wurde in der Literatur bereits breit thematisiert. Da die bisherigen Untersuchungen jeweils nur einen auf wenige Jahrzehnte beschränkten Zeithorizont umspannen, ist der hier gegebene Überblick über ein ganzes Jahrhundert besonders aufschlussreich. Es wurde deutlich, wie traditionell die Werbewirtschaft in ihren Grundrastern geblieben ist. Denn die den Frauen vonderWerbung zugewiesenen Rollenklischees sind alt. Die Frau in erotischer Darstellung undals Hausfrau undMutter waren bereits in derersten Hälfte 96 Vgl. Kassebohm: Grenzen (wie Anm. 90), S. 56f. und95f. 97 Vgl. Martiny: Diskriminierung (wie Anm. 82), S. 33f. 98 Beispiele für gerügte Werbebotschaften finden sich in: Zentralverband der deutschen 28. wirtschaft (Hg.): Jahrbuch Deutscher Werberat, Bonn 2000, S. 21– 99 Vgl. Baszczyk: Werbung (wie Anm. 36), S. 136.
Werbe-
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des20. Jahrhunderts dominant, in derNachkriegszeit erreichte die Darstellung als Berufstätige zusätzlich Bedeutung. Die sexistische Werbung ist ein Produkt des ausgehenden 20. Jahrhunderts. Konkurrenzdruck ließ die Werbewirtschaft zu immer „drastischeren“Maßnahmen greifen, wasvor allem seit den 70er Jahren zu heftiger Kritik führte, die vor allem von Frauen geübt wurde, die sich in ihrer Würde verletzt sahen. Jedoch vermochte diese Kritik nicht, den einmal eingeschlagenen Trend zu stoppen. Die Schärfe undder Grad der Provokation, vor allem in der Plakatwerbung, haben weiter zugenommen, nicht zuletzt auch als Ergebnis der Werbeflut der letzten Jahre. Parallel dazu nahm die kritische öffentliche Diskussion über das Thema „frauenfeindliche Werbung“ab. Diese Tatsache könnte auf eine gewisse Resignation hinweisen, aber auch auf einen erhöhten Akzeptanzgrad. Vielleicht fühlt sich die moderne aufgeschlossene Frau nicht mehr so leicht provoziert undmisst demProblem geringere Bedeutung zu. Denn die Werbung belegt nicht nur Frauen mit Klischees, auch Männer bleiben nicht verschont.100 Gleichstellung kennt viele Spielarten. Es geht in derWerbung also nicht nurumdieWürde derFrau imBesonderen, sondern umdie Würde des Menschen. In diesem Sinne ist das Zitat von Günter Rexrodt ausdemJahr 1994, damals Bundesminister fürWirtschaft, zuverstehen: Die Werbewirtschaft muss Verantwortung tragen. Es besteht garkein Zweifel daran, dass die „ Elemente undInstrumente, die für Werbezwecke benutzt werden, etwas anderes sind als ein einfaches Produkt und einfaches Gut. Das hat gesellschaftspolitische Relevanz –nicht im 101 Detail, aber in derSumme.... Werbung ist einhochsensibles Gut.“
In erster Linie will Werbung gefallen undaufkeinen Fall denUnwillen möglicher Konsumenten erregen, denn dann hätte sie ihren Zweck verfehlt. Deshalb zeigt sie uns Idealbilder vom Haushalt, der Familie, dem Berufsleben undder Schönheit
der Menschen102, denn „Hässlichkeit verkauft sich schlecht“103. Werbeaussagen bewegen sich oftmals auf einer sehr schwierigen Gratwanderung zwischen der Notwendigkeit aufzufallen (was nicht selten durch Provokation erreicht wird) und der Notwendigkeit, von den Empfängern der Werbebotschaften angenommen zu werden. Zu scharfe Provokation kann das Gegenteil von dembewirken, was eigentlich erreicht werden sollte. Im gesamten Betrachtungszeitraum zeigte sich die positive Wirkung der Erotik in der Werbung. Deshalb wurde undwird sie immer noch eingesetzt, im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts sogar verstärkt undmit steigender Tendenz. Die Ausuferungen dersexistischen Werbung allerdings sollten vermieden werden.
100 Vgl. zumBeispiel Zurstiege, Guido: Mannsbilder. Männlichkeit in derWerbung. ZurDarstellung vonMännern in derAnzeigenwerbung der50er, 70er und90er, Opladen 1998. 101 Rexrodt, Günther: Mit Werbung in den Aufschwung, in: Zentralverband der deutschen Wer-
bewirtschaft e. V. (Hg.): Mit Werbung in denAufschwung. Neue Akzente schaft, Bonn, 1994, S. 11– 23, hier S. 17. 102 Vgl. Cornelissen: Traditionelle Rollenmuster (wie Anm. 55), S. 66.
in Politik undWirt-
103 So derTitel eines Buches vonRaimond Loewy ausdemJahr 1953, Düsseldorf.
Rainer Gries
Korreferat zuMargarete Wagner-Braun VonderGeschichte derWirtschaftswerbung zurGeschichte der Produktkommunikation –Plädoyer füreine theoretische und methodische Erweiterung derhistorischen Werbeforschung. Anmerkungen zurDarstellung derFrau in der Konsumgüterwerbung im20. Jahrhundert Lassen wir die Ikonographiegeschichte der Werbung im 20. Jahrhundert Revue passieren, so kristallisieren sich drei gewissermaßen archetypische Darstellungsmuster von Frauen heraus, so die Bestandsaufnahme von Margarete WagnerBraun:1 die „weiße“Frau in den Rollen als Hausfrau undMutter, die aktive Frau imBerufsleben unddie „rote“ , dieerotisch aufgeladene Frau. Seit derGenese der Wirtschaftswerbung im modernen Sinne, also seit dem 19. Jahrhundert, dominierten weibliche Kommunikationsschemata diese Gattung persuasiver Kommunikationen. Nicht erst in densechziger Jahren, sondern auch in denersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts, ja auch in der deutschsprachigen Werbung der Zwischenkriegszeit und im Nationalsozialismus, gaben Frauenfiguren die beliebtesten Werbeträger ab. Unddie postulierte Trias weiblicher Phantasmagorien vermag auf Anhieb ebenfalls nicht sonderlich zu überraschen; spiegelt sie doch ganz offensichtlich diefundamentale Dualität hergebrachter „Männerphantasien“wieder, die der Freiburger Literaturwissenschaftler Klaus Theweleit schon in den siebziger Jahren formuliert hatte2 –freilich ergänzt um das Bild von der Frau im Beruf, derenDarstellung zwischen „weißer“und„roter“Frau oszillieren dürfte.
1. VonderAnalyse der Werbung zur Untersuchung der Produktkommunikation Diese Inventur vonFrauendarstellungen beschreitet insofern einen neuen Weg, als die Autorin einen kursorischen Blick über ein ganzes Jahrhundert wagt. Nachdem
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Dieser Beitrag versteht sich als „Kommentar“zu demBeitrag von Margarete Wagner-Braun in diesem Band. Diese Untersuchungsergebnisse beziehen sich auf die psychische Verfasstheit von Männern
derersten Hälfte deszwanzigsten Jahrhunderts. Siehe Klaus Theweleit: Männerphantasien. 2 Bände, Frankfurt amMain 1977 und1978.
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das Frauenbild in den Medien undin der Wirtschaftswerbung seit den siebziger Jahren verstärkt wissenschaftliche Aufmerksamkeit erfuhr,3 die im Laufe der neunziger Jahre wieder etwas zurückging, gilt es nunmehr, Studien über lange Zeiträume hinweg zu initiieren. Erst mit der Anlage von Langzeitstudien wird es möglich werden, die gesellschaftliche Relevanz dieser Bilder genauer auszumessen. Hier ist naturgemäß die Geschichtswissenschaft gefordert unddenbislang in der Frauenbildforschung dominierenden Sozial- und Kommunikationswissenschaften methodisch überlegen. Nur dann, wenn es gelingt, die Konfigurationen unddieKonsistenzen vonMedien- undWerbeaussagen auf Dauer zuuntersuchen, können wir valide Aussagen über deren Bedeutungshorizonte und über deren Deutungsmacht formulieren. Narrative derWerbung, die sich nicht nurdurch Performanz, sondern überdies durch Persistenz auszeichnen, sind füreine Sozial- und Kulturgeschichte4 vontragender Bedeutung. Mit Langzeitstudien wird es möglich sein, Aussagen über die sozialen undkulturellen unddamit auch über die explizit ökonomischen und die implizit politischen Bedeutungshorizonte nicht nur der Frauenbilder in der Werbung zu machen. Denn erst langfristige Forschungsperspektiven eröffnen die Möglichkeit, die Akzeptanz bestimmter Aussagen, die Annahme undAblehnung vonwerblich vorgetragenen Narrativen, auch ohne sozialstatistische Quellen zuerschließen. Dies wiederum ist nötig, weil wir in derRegel erst ab den sechziger, vielfach erst ab den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts, über zeitgenössische Studien derMarkt- undMeinungsforschung verfügen. Undauf die diffizilen Aneignungsprozesse der Werbebotschaften kommt es an. Die Werbebotschaften an sich lassen sich vergleichsweise präzise undlückenlos dokumentieren, doch die Gretchenfrage lautet: Wer sind die Akteure dieser Frauennarrative, wersind die Agenten dieser Bilder? Sind dies ausschließlich die Agenturen? Sind dies ausschließlich „ die Männer“ , die aufgrund ihrer ökonomischen Machtpositionen ihren Geschlechter- undGesellschafts-Phantasien auf diesemWegfreien Lauf lassen können? Die Hauptthese dieses Plädoyers lautet: Die klassische Wirtschaftswerbung repräsentiert nureinen Teilbereich all derjenigen Kommunikationen, die umProdukte stattfinden.5 Freilich, Werbung stellt den für alle sichtbaren und monologi3
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Bearbeitet vorallem mit sozialwissenschaftlichen Methoden, siehe zumBeispiel: Heide Wohlers/Monika Fuchs/Bärbel Becker: Die geheimen Verführerinnen. Frauen in der Werbung. Berlin 1986; Christiane Schmerl (Hg.): Frauenzoo derWerbung. Aufklärung über Fabeltiere. München 1992; Thomas Eckes: Geschlechterstereotype. Frau undMann in sozialpsychologischer Sicht. Pfaffenweiler 1997; Heidrun Baumann: „ Frauen-Bilder“in denMedien. ZurRezeption vonGeschlechterdifferenzen. Münster 2000. Zurtheoretischen Diskussion einer Kulturgeschichte derWirtschaftswerbung siehe die Einlei-
tung des Bandes Rainer Gries/Volker Ilgen/Dirk Schindelbeck: „ Ins Gehirn der Masse kriechen!“ Werbung undMentalitätsgeschichte. Darmstadt 1995. Dieser Beitrag basiert auch auf theoretischen undmethodischen Überlegungen, die in meiner
Habilitationsschrift entfaltet werden; Rainer Gries: Produkte als Medien. Kulturgeschichte der Produktkommunikation in der Bundesrepublik undder DDR. Leipzig 2003, insbesondere S.
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schen, kurz: denpersuasiven Part von Produktkommunikation dar. Aber über die Werbung hinaus fanden undfinden umdie Waren undProdukte herum unzählige kommunikative Akte statt. Zu den Hauptakteuren dieser Produktkommunikationenmüssen in erster Linie die Konsumenten gezählt werden. Sie sind als Käufer undVerwender vonProdukten zugleich Agenten undNutzer dermit denProdukten verknüpften Narrative, welche die Marketingleute gerne den „Markenkern“ nennen. Die Käufer undKonsumenten als Autoren der Produkterzählungen: Das gilt ohne Abstriche auch fürdie via Werbung offerierten Frauenmuster.6 Mit dieser theoretischen Erweiterung der Analyse von werblichen ÄußerungenzurUntersuchung derProduktkommunikationen wird demVerbraucher sogar die entscheidende Position zugewiesen7: Niemand anders als derKäufer undVerwender entscheidet über den Kauf und den Wiederkauf eines Produktes und er entscheidet damit zugleich über die je individuellen Aneignungsformen ebendieses Produktes. Unddamit sind Frauen als Konsumentinnen undVerwenderinnen bestimmter Produkte und ihrer Bilder nicht minder „ verantwortlich“für die gesellschaftliche Dominanz bestimmter Frauentypisierungen. Auch Frauen werden damit zu regelrechten „ Nutzern“der im vorigen Beitrag inventarisierten Bildvorlagen. Damit relativiert sich eine der Grundaussagen jenes Beitrages, wonach in der Werbung „Frauen [...] keineswegs ihrem eigenen Selbstverständnis entsprechend präsentiert“würden. Denn: „ Die Typen der Werbefrauen entstanden nach 8 Diese männlichen Vorstellungen darüber, wie Frauen sind oder sein sollen.“ schon nahezu klassisch zu nennende Interpretation bekommt nur eine Seite der Produktion vonWerbeaussagen undWerbebildern in denBlick, die Botschaftsseite: Demzufolge saßen undsitzen in denWerbestuben derUnternehmen undin den Werbeateliers der Agenturen Dunkelmänner9, welche unaufhörlich versuchen, ein männlich dominiertes Weltbild mit den Mitteln der Manipulation zu vergesellschaften. Dieser Blick vergisst, dass langfristig erfolgreiche Werbeaussagen und langfristig reüssierende Werbebilder nicht gegen den Sinnhorizont ihrer konsumierenden Klientel, mithin auch der Frauen, argumentieren können. Die Frauen als Kundinnen undKonsumentinnen produzieren zu den via Werbung angebote-
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In diesem Sinne argumentiert zuletzt auch die Literaturwissenschaftlerin undSozialpsychologin Nicole M. Wilk: Körpercodes. Die vielen Gesichter der Weiblichkeit in der Werbung. Frankfurt/New York 2002, S. 31. „ Für Werbung gilt: Auf die Wirkungen einer Botschaft, nicht aufihre Absichten kommt es an.“ Dieses Problem findet sich eingehend dargelegt unddiskutiert in demBeitrag Rainer Gries: Die Konsumenten unddie Werbung. Kulturgeschichtliche Aspekte einer interaktiven Kommunikation, in: Kai-Uwe Hellmann/Dominik Schrage (Hg.): Konsum der Werbung. ZurProduktion undRezeption vonSinn in derkommerziellen Kultur, erscheint 2004. Siehe denBeitrag vonMargarete Wagner-Braun in diesem Band. Einjahrhundertealtes Stereotyp, welches mitpersuasiven Kommunikationen, insbesondere mit Propaganda, verbunden wird. Siehe die Begriffsgeschichte von„Propaganda“vonWolfgang Schieder/Christof Dipper: Propaganda, in: Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in 112. Deutschland (6 Bde.). Bd. 5. Stuttgart 1984, S. 69–
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nen Botschaften ihre ureigensten Bedeutungen. Unddiese Bedeutungen müssen wiederum zuBotschaften werden, will dasProdukt à la longue amMarkt reüssieren. Wenn Produkte unddas mit ihnen verknüpfte Wort- undBildprogramm von der angestammten Kundschaft nicht positiv in dieje eigene Lebenswelt integriert
werden können, verbleibt ihnen keine Überlebenschance amMarkt. Produkterzählungen erweisen sich dann als erfolgreich, wenn der von ihnen offerierte Bilderkanon mit den sogenannten „inneren Bildern“der Verwender harmoniert.10 Freilich ungeachtet dessen, ob diese angebotenen Bilder nun als reale oder ideale Selbstbilder angeeignet werden.
2. Produkte als Medien Was meint „Produktkommunikation“? Mit dem Begriff Produktkommunikation sei die schier unüberschaubare Vielzahl von Kommunikationsakten bezeichnet, die über Produkte vermittelt werden. Damit verknüpft ist ein Verständnis vom Produkt als Medium.11 Damit ist überdies ein interaktives Verständnis vonProduzenten, Agenturen, Verkäufern, Käufern, Verwendern, „ Marketern“undMarktforschern verbunden: Diese Gruppen werden in diesem Modell zuKommunikatoren, dieüber dasProdukt miteinander kommunizieren. Produkte, insbesondere Markenprodukte, erfuhren einen Prozess derMedialisierung, derim 19. Jahrhundert seinen Ausgang nahm, in denzwanziger unddreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts noch einmal einen kräftigen Entwicklungsschub bekam undim Laufe der sechziger Jahre zueinem strukturellen Abschluss kam.12 Die Ausbildung der modernen Wirtschaftswerbung war nur ein Bestandteil eines umfassenden Entfaltungsprozesses derKonsumkommunikation seit dem19. Jahrhundert, zu demauch die Herausbildung von Marken gehörte.13 Die Massengesellschaft in statu nascendi produzierte Waren en masse undmusste auch für massenhaften Absatz sorgen. Das damit verbundene Überschreiten der lokalen undregionalen Märkte, dasfürmanche Produkte bereits vonderMitte derdreißiger Jahre des 19. Jahrhunderts an mit derGründung desZollvereins einsetzte, zog 10 Demzufolge rufen Bildreize, also Gegenstände, Worte oder „äußere Bilder“sogenannte „ Gedächtnisbilder“oder „innere Bilder“auf. „Innere Bilder“sind nach diesem Konzept als „ konkrete visuelle Vorstellungen“des Individuums zuverstehen. ZumKonzept des Wechselspiels von „äußeren“und„inneren Bildern“siehe das Lebenswerk des Saarbrücker Verhaltenswissenschaftlers Werner Kroeber-Riel: Strategie undTechnik der Werbung. 2. Aufl., Stuttgart 1990, undders.: Bildkommunikation. Imagerystrategien fürdieWerbung. München 1995. 11 Gries: Produkte als Medien (wie Anm. 5), S. 87ff. 12 Zur Geschichte des Medialisierungsprozesses der Produkte siehe Rainer Gries: Die Medialisierung der Produktkommunikation. Grundzüge eines kulturhistorischen Entwurfs, in: Habbo Knoch/Daniel Morat (Hg.): Kommunikation als Beobachtung. Medienwandel und Gesell1960. München 2003, S. 113– schaftsbilder 1880– 130. 13 Dirk Reinhardt: Von der Reklame zum Marketing. Geschichte der Wirtschaftswerbung in Deutschland. Berlin 1993.
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zwangsläufig die Einführung eines Fundus vonProdukt-Zeichen mit sich, welche die wesentliche Produktbotschaft zu repräsentieren vermochten. Bis zur Jahrhundertwende hatte sich ein System der Produktkommunikation14 entfaltet und ökonomisch wiekulturell bereits behauptet, dasdurch zwei Realitäten gekennzeichnet war: einerseits das–nunmehr staatlich geschützte –Produkt selbst unddie damit verbundenen Praxen undandererseits die Zeichenwelt, die das Produkt repräsentierte –unddie mit diesem Kapital an Zeichen verbundene Praxis und Politik. Dieses System entwickelte sich im Laufe des zwanzigsten Jahrhunderts weiter, die Warenkommunikationen weiteten sich quantitativ ausunderweiterten qualitativ ihre Funktionen. Bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts hatten sich insbesondere die Markenprodukte zu regelrechten Medien der Moderne herausgebildet, Produkte avancierten zu veritablen Mittlern und Vermittlern von Informationen. Über die Produkte wurden fortan rapide wachsende Zeichenmengen ausgetauscht: in Form vonTexten, von Bildern, kurz, in Form von zunehmend komplexer werdenden ProduktNarrativen. Ende der fünfziger Jahre war dieser Prozess abgeschlossen undvon den sechziger Jahren an, kräftig befördert durch die flächendeckende Einführung von Selbstbedienungsläden, explodierte der Zeichenumsatz dieser „neuen Medien“ . In densechziger undsiebziger Jahren wurden wenigstens die rasant ansteigenden Quantitäten der werblichen Transaktionen gemessen undwie folgt beziffert: 1975 gaben die Unternehmen in der Bundesrepublik rund fünf Millionen Deutsche Mark aus, um damit klassische Werbung für circa 25.000 Marken zu bestreiten. 1988 waren bereits mehr als 41.000 Marken beworben worden, für die ein Gesamtetat von 12,5 Millionen Mark aufgewandt wurde. Ein Extrembeispiel für die eklatante Marken- undProduktexpansion war der Markt für Textilien und Bekleidung; in diesem Bereich stieg die Zahl derMarken in nur 13 Jahren auf das Doppelte, mithin von 1.741 Marken auf 3.475.15 Für die diejenigen Informationsmengen, die von den Käufern über Produktmedien ausgetauscht werden, gab undgibt es leider keine Möglichkeit derQuantifizierung. Die gewaltige Expansion der Zeichenmengen, welche über Produkte ausgetauscht wurden, verweist auf die historische Entwicklung der beiden großen Referenzsysteme der Produktkommunikation. Dies ist sowohl die Geschichte des Konsums wie auch die Geschichte der Kommunikation; beide Systeme verzeichneten von der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre an nicht nurvergleichbare quantitative, sondern auch ähnliche qualitative Sprünge, die in Richtung „ Modernisierung“wiesen. Die Paradigmen, denen beide gesellschaftlichen Teilsysteme fortan unterlagen, waren Expansion undAusdifferenzierung. Das tertium comparationis beider Teilbereiche, die Produktkommunikation, folgte diesen Grundtendenzen 14 Peter Borscheid/Clemens Wischermann (Hg.): Bilderwelt des Alltags. Werbung in der Konsumgesellschaft des 19. und20. Jahrhunderts. Stuttgart 1995. 15 Burckhard Brandes: Präferenzen zugunsten der elektronischen Medien. Die wichtigsten Ergebnisse der Werbestatistik aus den vergangenen 30 Jahren, in: Horizont-Special: 40 Jahre Werbung, Horizont Nr. 41 vom 13.10.1989, S. 54.
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präzise undbildete Produkte zu regelrechten Medien im Sinne kommunikationswissenschaftlicher Theorien16 aus. Wie funktioniert das Produkt als Medium? Mit demTerminus ‚Produktkommunikation‘ sei hier auch ein Konzept des Produktphänomens gekennzeichnet, daskommunikationswissenschaftliche mitsozial- undkulturhistorischen Theorien und Methoden verknüpft. Damit werden produktkommunikative Prozesse erstmals in ihrer Ganzheitlichkeit undNachhaltigkeit beobachtbar unddokumentierbar: Es gilt, die unabsehbaren Kommunikationsbeziehungen undKommunikationen der zahlreichen Akteursgruppen aufzuklären undin ihrer Gesamtheit exemplarisch zu analysieren –undüber lange Zeit, womöglich über Generationen und Gesellschaftssysteme hinweg, zu verfolgen. Das Modell einer solch vielfältigen undeine Vielzahl vonAkteuren einschließenden „Produktkommunikation“öffnet denbisherigen Frage- undAnalysehorizont beträchtlich. Der Konsument als Kommunikator vermag demnach zahlreiche Beziehungen zu pflegen, mit welchen er aktiv über das Produkt kommuniziert, in welchen er semantische undsinnstiftende Zuschreibungen produziert. Eine dereinflussreichsten Relationen ist diejenige mit seinesgleichen: Verwender kommunizieren über die Produktofferte „horizontal“mit potentiellen Verwendern. Diese Kommunikationen werden –außer von der Marktforschung –selten beobachtet, geschehen aber Tag für Tag in erheblichem Umfange undsind Bestandteil des Alltages in allen Gesellschaftsordnungen. Die Informationen, die über das Produkt in der informellen Relation Verwender-Verwender ausgetauscht werden, können zuweilen nicht minder marktentscheidend sein als aufwendige kommerziell-werbliche Kommunikationen! „Produktkommunikation“geht also weit über das Strukturelement ‚Werbung‘ hinaus. ‚Wirtschaftswerbung‘ bezeichnet infolgedessen nur mehr eine ganz bestimmte Kommunikationssphäre, mithin eine definierbare Konjunktion von zahlreichen denkbaren „ umdas Produkt herum“ . Werbung stellt dann einen deutlich sichtbaren und erlebbaren, ja in gewisser Hinsicht sogar messbaren, Bestandteil desGesamtsystems derProduktkommunikation dar. Umdieses Geflecht von Kommunikationen zu versinnbildlichen, bietet sich ein dreidimensional gedachtes Modell der Produktkommunikation an.
16 Der Wiener Kommunikationswissenschaftler Roland Burkart: Kommunikationswissenschaft. Grundlagen undProblemfelder. Umrisse einer interdisziplinären Sozialwissenschaft. 4. überarbeitete undaktualisierte Auflage, Wien/Köln/Weimar 2002, S. 42ff. entwickelte einen Katalog von„Begriffsbestandteilen“, die unter denAuspizien einer Kommunikationswissenschaft als Sozialwissenschaft an „Medien“anzulegen sind. Produkte als Medien vermögen ein solches Ensemble vonKriterien zuerfüllen. Dervonder Systemtheorie inspirierte Siegener Medientheoretiker Siegfried J. Schmidt stellte einen Katalog vonFunktionen auf, dievonMedien in dermodernen „Medienkulturgesellschaft“abgeleistet werden. Produkte erfüllen auch dieInsenAnforderungskatalog. Vgl. dazubeispielweise Siegfried J. Schmidt: DerUmgang mit „ formationen“ , oder: Das Nadelöhr Kognition, in: Jörg Tauss/Johannes Kollbeck/Jan Mönikes (Hg.): Deutschlands Weg in die Informationsgesellschaft. Herausforderungen undPerspekti203. venfürWirtschaft, Wissenschaft, Recht undPolitik. Baden-Baden 1996, S. 183–
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Abb. 1: Produktkommunikation will alle denkbaren kommunikativen Akte einer Vielzahl von Akteuren dokumentieren undüber lange Dauer untersuchen.
In der Mitte eines solchen produktkommunikativen Kosmos steht das jeweilige Produkt selbst, versinnbildlicht durch eine mehrschichtige Kugel. Wie Satelliten lassen sich umdiese Kugel herum alle möglichen Gruppen von Kommunikatoren denken. Die Anzahl der Kommunikationspartner, die sie repräsentieren, darf als ebenso unüberschaubar gelten wie deren Kommunikationsabsichten. Ein solch dreidimensionales Kugel-Modell ermöglicht es, dass grundsätzlich alle denkbaren Kommunikatoren mitallen denkbaren Kommunikanten Kontakt über dasProdukt aufzunehmen vermögen. Die räumliche Satelliten-Struktur ermöglicht es weiterhin, dass –im Idealfall –jeder dieser Kommunikanten wiederum zum Akteur und damit seinerseits zu einem Kommunikator werden kann. Jedwede denkbare Kommunikation muss also nicht eindimensional bleiben, sondern ist wiederum
vielschichtig undreflexiv modellierbar. Wobei reflexive Informationen nicht notwendig auf derselben Achse zurückfließen müssen: das dreidimensionale Modell von Produktkommunikation lässt viele Wege, auch Umwege, für eventuelle Rückkoppelungen zu. Getragen“werden die zahlreichen kommunikativen Vorgänge von der An„ ziehungs- undBündelungskraft des Produktsterns in der Mitte, dessen statischer Kern das Produkt in seiner physischen Wahrnehmungsdimension darstellt. Um diesen Kern herum undvon ihmmaßgeblich getragen, legen sich die zeichenhaften Produktanteile. Zunächst der dünne Ring der sehr beständigen undunspekta-
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kulären denotativen Anteile. Darauf folgt die schillernde konnotative Aura, die sich stets in Bewegung befindet und in der Regel Inhalt und Ergebnis der hier beschriebenen kommunikativen Austauschprozesse ist.
3. Akzeptanz undAneignung Erinnern wir uns an das von Frau Wagner-Braun angeführte Beispiel, das Erfahrungen des Motivforschers Ernest Dichter17 aus den vierziger Jahren wiedergibt: Derinteressierte Mann lässt sich zwar durch ein aufreizend ausgestelltes Cabriolet in das Autohaus locken –umdann anschließend doch eine gediegene Limousine zukaufen. Es ist schon eine Binsenwahrheit: Die Inszenierung derImages in den Medien entspricht der vielfältigen Aneignung dieser Bilder keineswegs 1 zu 1. Die Botschaften der Werbemedien werden von den vielen Akteuren undAkteurinnen als Werbebotschaften erkannt und mit dem entsprechenden Wahrnehmungsschema decodiert. Ähnlich wird politische Propaganda in der Regel als politische Propaganda entschlüsselt und Werbung eben als Werbung. Damit kommen wir schließlich zu einer der zentralen Fragestellungen. Wenn wir nur die werblichen Äußerungen dokumentieren und interpretieren, bekommen wir womöglich wenig präzise Informationen über die Aneignung dieser werblichen Botschaften durch die Verbraucherinnen undVerwenderinnen. Mehr noch: Die Verbraucherinnen wirken anderkollektiven Bildproduktion mit–auch anderGestaltung der Werbebilder.18 Denn wenn die Produktaussagen unddamit auch die angebotenen Frauenbilder, potentiellen Käufergruppen nicht gefallen, wenn sie nicht akzeptiert und in die Sinnhorizonte der Zielgruppen integriert werden, erfahren die damit verbundenen Produkte auch keinen Markterfolg; sie werden schlicht nicht gekauft. Unddas ist das Ende zumindest dieser Bildkomposition respektive dieser Bildofferte. Dasbedeutet methodisch, dass es unsgelingen muss, die Werbebilder mitden möglichen „inneren Bildern“der Vielen in Abgleich zubringen, wenn wirkulturgeschichtlich valide Aussagen machen wollen. Die Produkt-Aura kann nicht zuletzt über das wiederholte Jawort des Kaufes von denKonsumenten nicht nurpassiv wahrgenommen, sondern aktiv mitgestal-
17 Rainer Gries: Die Geburt des Werbeexperten ausdemGeist derPsychologie. Ernest W. Dichter: Der „Motivforscher“als Berater undProphet, in: Hartmut Berghoff/Jakob Vogel (Hg.): Wirtschaftsgeschichte als Kulturgeschichte. Erscheint 2004. 18 Wilk: Körpercodes (wie Anm. 6), S. 301, dazu: „ Die psychosemiotischen Analysen, die Anwendung leibphänomenlogischer Methoden und das Rückbeziehen der Werbebotschaft als Symptom aufpsychosoziale undmachttheoretische Funktionen zeigen, wieunangemessen die Rede von einer ‚Innenweltverschmutzung‘ (W. Schmidbauer) durch massenmediale Sünden, vomwillenlosen Introjizieren konsumistischer Lockrufe oder vomMarionettenrezipienten ist. Angesichts der subtilen Wege, auf denen sich Werbebotschaften sinnstiftend undsinnvoll im Seelenhaushalt verankern, [...] müssen solche Bewertungen der Konsumpraxis zurückgewiesenwerden.“
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tet werden. Diese These lässt sich am Beispiel langfristig am Markt und im Bewusstsein der vielen agierenden Markenprodukte aufzeigen. Über Jahrzehnte, über Generationen, ja über Jahrhunderte hinweg, kann hier ein Prozess gegenseitiger Wahrnehmung und gemeinsamer Akkulturation der Produktbedeutungen stattfinden: Diekonnotative Ausgestaltung derAura eines erfolgreichen Produktes muss als das Ergebnis eines lang andauernden Aushandlungs- undEinigungsprozesses verstanden werden, an welchem die Verbraucher undVerwender maßgeblich beteiligt sind. Nicht nurdie Werbefachleute unddie Produzenten derErzeugnisse sind damit Autoren der gültigen Produktnarratio, sondern auch die Kunden undVerwender. Diese interaktive Gestaltung essentieller Produktaussagen ist ein Phänomen von langer Dauer undgilt ohne Einschränkungen auch für die Akzeptanz von Frauendarstellungen. Wir können daher mit Fug undRecht annehmen, dass ein Frauenimago, welches über lange Zeit amMarkt reüssiert, nicht nurwirtschaftlich, sondern auch kulturell bei bestimmten Ziel- und Verwendergruppen eine tragende Rolle spielt.
4. Konjunkturen des Frauenbildes in denProduktmedien Wenn Produkte seither wie Medien funktionieren, können wireine Kommunikations- undKulturgeschichte dieser Medien konzipieren. Eine fundamentale Frage eines solchen Zugriffs auf die Geschichte des Konsums ist diejenige nach dem „Programm“dieser Produktmedien. Wie sind die Inhalte, die über diese Produktmedien ausgetauscht werden, zu charakterisieren?19 Welche Erzähl- undKompositionsmuster lassen sich zuwelcher Zeit erkennen –undwie sind deren Konjunktu-
renzubegründen? Werbung mit Frauendarstellungen zählt zu den persuasiven Kommunikationen mit menschlichem Antlitz.20 In der Tat lassen sich mit Erzählmustern, die einen Menschen als Zeugen aufrufen –dassogenannte testimonial-Konzept –komplexe Produktnarrative im Idealfall präzise undkompakt sowie rasch undnachhaltig, kurz: verständlich, kommunizieren. „Eine Marke hat ein Gesicht wie ein
19 ZurProgramm- undFormatgeschichte dieses „neuen Mediums“siehe Rainer Gries: Regionalisierende Produktkommunikationen als ökonomische undkulturelle Langzeitphänomene. Zur Geschichte des ‚Nordhäuser Korn‘, in: Hannes Siegrist/Manuel Schramm (Hg.): Regionalisierung europäischer Konsumkulturen im 20. Jahrhundert (Leipziger Studien zur Erforschung 74; undders.: von regionenbezogenen Identifikationsprozessen, Bd. 9). Leipzig 2003, S. 55– DerVertrieb vonVertrauen. Überlegungen zuProduktkultur undpolitischer Öffentlichkeit, in: Bernd Weisbrod (Hg.): Die Politik der Öffentlichkeit –Die Öffentlichkeit der Politik. Politische Medialisierung in der Geschichte der Bundesrepublik (Veröffentlichungen des Zeitge283. schichtlichen Arbeitskreises Niedersachsen, Bd. 21). Göttingen 2003, S. 261– 20 Zudieser Gattung vonpolitischer Propaganda undWirtschaftswerbung siehe dasentsprechende Kapitel in demBand vonRainer Gries/Wolfgang Schmale (Hg.): Kultur derPropaganda (= Herausforderungen. Historisch-politische Analysen, Bd. 15), Bochum 2004.
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Rainer Gries
Mensch“ , warnicht zuletzt einer der Lehrsätze des deutschen Absatztheoretikers
und-praktikers Hans Domizlaff schon in den dreißiger Jahren.21
Das „Antlitz“ , mithin die basalen, verbalen undvisuellen Texturen der drei grundlegenden Frauentypen, hat Frau Wagner-Braun bereits herausgearbeitet. Hier sejen zwei historisierende Akzente gesetzt: Die Demokratisierung desFrauenbildes in der Zwischenkriegszeit und die Sexualisierung des Frauenbildes in densiebziger Jahren.
* Die Demokratisierung des Frauenbildes: Seit den zwanziger
Jahren finden
sich vermehrt Darstellungen von Frauen, die durch ihre Attribuierungen als Frauen der Mittelschicht, zuweilen sogar als Frauen der Unterschicht, gekennzeichnet sind. Vor allem Frauen der Mittelschicht werden nunvermehrt zuTrägerinnen vonWerbeaussagen stilisiert: ihr Gestus undHabitus wirdnun stilbildend undlöst mehr undmehr Darstellerinnen der Oberschicht ab. Das galt insbesondere fürdieKosmetika-Werbung.
Stellvertretend sei diese eklatante Werbe-Wende am Beispiel der Geschichte der ‚Nivea‘-Creme22 erläutert: Die ebenso blasse wie elegante Dame23 im Haus, im Salon undam Boudoir, ein feudal-fragiles Luxusgeschöpf, bis in die zwanziger Jahre alleinige Protagonistin der Hautcreme, wurde nundurch einen neuen Frauentypus ersetzt. Die neue Werbefrau derzwanziger Jahre ist alles andere als blass, sondern braun, sie ist sportlich und wird in Außer-Haus-Szenen vorgestellt, am liebsten am Strand undin der Sonne. Die abgebildeten Frauen befanden sich also im farblichen Einklang mit der Natur, die sie umgab, undsie waren jetzt golden gebräunt. Auf sonnenüberfluteten Waldlichtungen (1927), im Gebirge am See (1928) oder am Meer –„überall genießen Sonnenanbeterinnen mit Nivea geNoch in denzwanziger Jahren hatten [...] die schützt die Sonne unddenWind“ .24„ Werbeleute eine geradezu revolutionäre Idee. Sie wagten es, in ihren Anzeigen auf Damen undDämchen in Salon undBoudoir zu verzichten [...] An Stelle der Plüschwerbung traten Aussagen, die denMenschen draußen, in Wind undSonne, ansprachen. Die Haut sollte nicht mehr verzärtelt, sie sollte gekräftigt werden. 25 Heute sind diese Attribute selbstverständlich, damals waren sie eine Sensation.“ Den betriebswirtschaftlichen Hintergrund für diese „Demokratisierung“bildete
21 Hans Domizlaff: Die Gewinnung des öffentlichen Vertrauens. Ein Lehrbuch der Markentechnik, Hamburg 1992, S. 97. 22 Siehe dazuausführlich dasKapitel 4.3 ‚Nivea‘: „ Die Creme dela Creme“ , in: Gries: Produkte 546. als Medien (wie Anm. 5), S. 453– 23 Claudia Hansen: DasBild derFrau in Produktreklame undKunst: Kulturdokumente des Beiersdorf-Firmenarchivs (Beiträge zur Wirtschaftskommunikation, Bd. 15). Tostedt 1998, und 1995, dies.: Nivea. Entwicklung einer Weltmarke dargestellt durch die Werbung von 1911– Beiersdorf Hamburg 1995.
24 Ebenda, S. 25.
25 Beiersdorf AGHamburg, Zentrale
Unternehmensdokumentation (ZUD), Fach 150.
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zunächst ein neues absatzpolitisches Paradigma des Hamburger Herstellers. Mit solchen Werbefiguren sollte die Zielgruppe sozial erweitert werden. ‚Nivea‘wollte eben nicht mehr länger als Produkt für die gehobenen Stände, sondern als Produkt fürdie Frau unddie Familie aller sozialen Schichten gelten. Mit dieser sozialen Ausweitung ging übrigens auch eine Ausweitung der Verwendungsmöglichkeiten einher. Bislang hatte sich die ‚Nivea‘als bloße Gesichtscreme präsentiert, fortan firmierte sie als Hautcreme, stellte sich als Schutzexpertin für den ganzen Körper vor. Damit wardasPrinzip derUniversalcreme geboren. Abb. 2: „ Mit ‚Nivea‘inLuft undSonne“ : DieDemokratisierung desFrauenbildes in denzwanzi-
gerJahren.
Solch ‚Demokratisierung‘ ist freilich nicht mit ‚Emanzipierung‘ zu verwechseln, denn die neuen frisch-fröhlichen ‚Nivea‘-Models aus demVolk undfür dasVolk verbleiben natürlich weiterhin Inkarnationen traditioneller Rollen- undFrauenbilder. Gleichwohl fanden im Laufe der zwanziger Jahre entscheidende Modernisie-
rungen im Frauenbild statt, auf welche die Werbung später in den fünfziger und sechziger Jahren zugreifen und aufbauen konnte. Im Gegensatz zu den ehedem „fragilen Frauen“hatten die ‚Nivea‘-Frauen jetzt Kontur undKörperlichkeit26 gewonnen. Der sonnengebräunte Frauenkörper war fortan in Sport- oder Badebekleidung zubestaunen, nackte Hautwurde öffentlich darstellbar undanschaubar. In den zwanziger Jahren wird demnach die mediale Inszenierung der Frau teilidentisch mit der Inszenierung des weiblichen Körpers.27 Der weibliche Körper begann damit in diesem Jahrzehnt so recht seine Karriere als Medium, als Projek-
26 ZurGeschichte desKörperkultes vgl. Julian Nida-Rümelin: Derschöne Mensch –Ideal seiner Zeit, in: Die Kunst zu werben. Das Jahrhundert der Reklame, Begleitbuch zu einer Ausstel360. lung des Münchner Stadtmuseums. München 1996, S. 353– 27 Vgl. Clemens Wischermann/Stefan Haas (Hg.): Körper mitGeschichte (Studien zurGeschichte desAlltags, 17). Stuttgart 2000.
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tionsfläche vonBotschafts- undBedeutungszuweisungen. Dieser Prozess sollte in densiebziger Jahren des 20. Jahrhunderts einen weiteren katalysatorischen Schub erfahren, dessen Folgewirkungen bis ins 21. Jahrhundert anhalten. Die ikonographische und die kulturelle Innovation dieser demokratisierten weiblichen Vor-Bilder ist wiederum mehrschichtig zu interpretieren: Die‚Demokratisierung‘ des Frauenbildes in den zwanziger Jahren lässt sich gut in zwei übergreifende Interpretamente einfügen. * Erstens wares mit demErsten Weltkrieg zueinem „Traditionsverzehr“(Lutz Niethammer)28 gekommen, der zu einem Aufschwung undzu einer Ausdifferenzierung der Massenkommunikation führte. Mitten im Ersten Weltkrieg wurde „ die Masse“entdeckt –undihre Ansprache als politische Notwendigkeit postuliert. MitderNovemberrevolution wirdebendiese Masse dann selbst politisch aktiv: Die Ansprache der Masse, die ‚Demokratisierung‘ der öffentlichen Kommunikation steht aufdemTapet wieniemals zuvor, weswegen Öffentlichkeitsarbeit, politische Propaganda und Wirtschaftswerbung in den nächsten Jahren einen enormen Schub bekommen. * Zweitens kames in den„goldenen Zwanzigern“zu einer‚Demokratisierung‘ desKonsums –mindestens in derWeise, dass in diesen Jahren eine ganze Palette vonErwartungen bei denVielen geweckt wurde. Eine Vielzahl vonProdukten, die bislang der Oberschicht vorbehalten war, präsentierte sich nunmehr als Objekte der Sehnsucht für die Vielen. Womöglich konnten diese konsumtiven Erwartungen noch nicht eingelöst werden, aber sie wurden jetzt glaubwürdig als Sehnsüchte kommuniziert, die in absehbaren Zeiten realisiert werden können. Eine Sektmarke wie ‚Deinhard‘beispielsweise begann just in jenen Jahren, sich als Sekt für alle anzubieten: „Dein Sekt sei Deinhard!“hieß der dazugehörige Slogan. Die zwanziger Jahre brachten also genau genommen eine ‚Demokratisierung‘ der Konsumerwartungen mit sich. Die hier entwickelten Sehnsüchte undWünsche werden in derZeit desNationalsozialismus sogar bestärkt, über die Kriegs- und Nachkriegszeit hinweg gerettet undin denfünfziger undsechziger Jahren massenhaft eingelöst.
Imneuen Bild derFrau derzwanziger Jahre manifestiert sich also ein modernisierender Schub der Produktkommunikation insgesamt, der bis in die fünfziger und sechziger Jahre ausstrahlte.
*
Die Sexualisierung desFrauenbildes: Auch die Frauendarstellungen dersiebziger Jahre verdienen eine besondere Erwähnung undBeachtung.29 Die werblichen Produktkommunikationen dieses Jahrzehnts polarisierten unddiversifizierten das Bild der Frau. Auf der einen Seite des Motivspektrums trat die
28 Lutz Niethammer: Kollektive Identität. Heimliche Quellen einer unheimlichen Konjunktur. Hamburg 2000, S. 418 ff. undpassim. 29 Europäische Werbemotive dersiebziger Jahre listet die Studie vonErving Goffman auf: GenderAdvertisements (Communications andCulture). London/Basingstoke 1976.
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Frau nunauch im Fernsehen offen als „rote Frau“auf, als Inkarnation nicht nurvonErotik im Sinne von Margarete Wagner-Braun, sondern als enttabuisierter Inbegriff des Rein-Sexuellen. Pure Sinnlichkeit undSexualität wurden so zutragenden Motiven einer signifikanten Vielzahl vonAnzeigen. Auf der die weiße Frau“mit offenbar anderen Seite des Spektrums entwickelte sich „ großer Akzeptanz fort; und der Typus „ der berufstätigen Frau“wurde verstärkt in denDienst derKonsumwerbung gestellt.
Die siebziger Jahre gebaren das Leitbild der „neuen Frau“ Es sind nicht die un:„ erreichbaren Heldinnen derLeinwand unddesGlamours, die die Rolle derTrendsetterin unddes Vorbildes übernehmen, sondern es ist der Typus der selbstbewußten, kreativen undberufstätigen Frau. Jil Sander ist die Inkarnation dieser ‚neuen Frau‘. Es sind Frauen, die es verstehen, jede Blöße zuvermeiden, gerade wenn sie mit den Männern konkurrieren.“30Eine dieser Musterfrauen, welche die Bundesdeutschen durch die zunehmenden Unwägbarkeiten dieses Jahrzehnts begleiteten, war ‚Karin Sommer‘, die Werbefigur von‚Jacobs Kaffee‘. Frau Sommer beriet ihr Publikum von 1972 bis 1985 in wichtigen Kaffee- wie in zentralen Lebensfragen. ‚Karin Sommer‘, die weibliche Leitfigur des Jahrzehnts, machte einen frischen, natürlichen, lustigen, fröhlichen, patenten undproblemlosen Eindruck. Sie repräsentierte denTypeiner jungen, modernen Hausfrau, die neben demHaushalt noch zahlreiche andere Interessen hatte. Als höchst unkompliziertes Wesen konnte sie auch mit Männern durchaus konkurrieren. Sie wusste in allen Fragen Rat. Sie ging „für ihre Familie auf, ohne dabei den Charakter des Heimchens zu haben“ .31Die „schönen frischen Farben“von ‚korall‘ und ‚Persil 70‘scheinen diesem Frauentypus geradezu auf den Leib geschneidert. Überdies wurde sie mit zwei weiteren Produkten als Insignien ihrer Individualität undSiglen weiblicher Selbstentfaltung ausgestattet: Im August 1970 wurde ‚kim‘, die erste Frauenzigarette, amMarkt eingeführt: „ kim–schlank undrassig“hieß die Devise 1971. Die neue Zigarette reüssierte bei derneuen Frau –undFrauen avancierten fortan auch zuLeitbildern in derZigarettenwerbung. Zumweiteren Attribut derselbstbewussten undselbstsicheren „neuen Frau“wurde dasneuerfundene Antitranspirant stilisiert. Zwar gab es bereits Deodorants, die auch seit derzweiten Hälfte dersechziger Jahre kräftig steigende Absatzziffern aufzuweisen hatten, doch Anfang der siebziger Jahre ging es demSchwitzen selbst an den Kragen. „ Der Schwitzfleck unter demArmjunger Frauen gehört als feste Zugabe des Werbefernsehens zum deutschen Abendbrot“ , schrieb ein zeitgenössischer Beobachter ebenso genüsslich wie sarkastisch. Mit diesen Produktzuschreibungen war der moderne Typ der „ weißen Frau“fürdieaufgeklärte Gesellschaft dersiebziger Jahre konfiguriert. Unddie„rote Frau“wurde geradezu zelebriert. 30 Joachim Kellner/Ulrich Kurth/Werner Lippert (Hg.): 1945 bis 1995. 50 Jahre Werbung in Deutschland. Deutsches Werbemuseum. 2. Aufl., Frankfurt amMain 1995, S. 196. 31 Joachim Kellner/Werner Lippert (Hg.): Werbefiguren. Geschöpfe der Warenwelt. Düsseldorf u. a. 1991, S. 113.
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: Die Sexualisierung derWerbung in densiebziger Jahren. Abb. 3: „Macht doppelt schön“
: Rund fünfzig Jahre nach dem Das Abenteuer der wilden Frische von Limonen“ „ Auftritt nackter, braungebrannter ‚Nivea‘-„ Mädels“trat mit dem ‚Fa‘-Girl’ e rstmals eine nackte Frau in der Fernsehwerbung auf, understmals hielt dasLifestyle-Prinzip auf derMattscheibe Einzug. Die Seife Fa warwilde Frische, Ozean und Abenteuer. In dieselbe Zeit Ende der sechziger Jahre gehört auch der schon kanonisch zu nennende Werbespot von Charles Wilp, der „ Nonnen“im sogenannten Afri-Cola-Rausch zeigte.32 Afri-Cola war Rausch, flower power und Sex. Die siebziger Jahre brachten nicht nur die Revolutionierung des Körpergefühls, sondern auch die zweite Revolutionierung der Körperdarstellung. „ Die Werbung folgt damit dem Zeitgeist der ‚Sexuellen Revolution‘, der die Ent33Genauer gesagt: Die Werbung Tabuisierung derweiblichen Sexualität forderte.“ derfrühen siebziger Jahre folgte denEmanzipations-Diskursen der sechziger Jahre undvergesellschaftete sie mit Hilfe derProduktmedien. Mit Beginn dersiebziger Jahre wechselten die laufenden Diskurse um die „sexuelle Befreiung“die Ebene undwurden –nicht nur, aber eben auch –via Konsumwerbung massenwirksam –freilich mit gewissen Adaptationen. Die Diskurse umdie Enttabuisierung des Geschlechtlichen, um die Liberalisierung der Sexualität, um die De32 Dirk Schindelbeck: Marken, Moden undKampagnen. Illustrierte deutsche Konsumgeschichte. Darmstadt 2003, S. 60. 33 Gabriele Huster: Wilde Frische –Zarte Versuchung. Männer- undFrauenbild auf Werbeplakatenderfünfziger bis neunziger Jahre. Marburg 2001, S. 54.
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konstruktion desWeiblichen wie des Männlichen der sechziger Jahre bildeten ein zweites Sexualitätsdispositiv34 heraus, dessen Ausgestaltung undAusformulierung fortan nicht nurdieMedien dersiebziger Jahre beherrschte. Mit dem„ hegemonialen Männlichkeitskonzept“(Wolfgang Schmale) war zugleich auch das gültige Weiblichkeitskonzept während der sechziger Jahre hinterfragt und dekonstruiert worden. Träger dieses Umwälzungsprozesses waren maßgeblich die Akteure der ’68er Bewegung gewesen, aber sie waren es beileibe nicht ausschließlich. In diesemZusammenhang sei hier nurandieöffentlichen Debatten umdieAntibabypille und die Abtreibung erinnert. „ Ich habe abgetrieben“erklärten denn auch im Juni 1971 374 Frauen im „Stern“provokant und bezichtigten sich damit einer strafbaren Handlung. Ihre Portraits wurden demonstrativ auf der Titelseite abgedruckt underregten aufJahre hinaus diebundesdeutschen Gemüter. Die kommunikative und soziale Diffusion des neuen liberalen SexualitätsundGeschlechterdispositivs in densiebziger Jahren spiegelte sich in dennunmehr differenzierten undzugleich suchenden Frauen- undMännerbildern der Werbung wieder. DasMotivspektrum derFrauenbilder entfaltet dieersten Versuche, aufdie Umwälzungen eine Antwort zu geben, geradezu mustergültig: Die neue „ weiße Frau“empfiehlt ihre Beraterschaft in Zeiten der Unsicherheit und Unwägbarkeit. Sie zeigt sich jetzt so stark undselbstbestimmt, dass sie mit Bravour Fragmente der ehedem männlichen Rolle übernehmen kann. Sie beginnt, zu Hause und im Beruf „ihren Mann zustehen“ . Die „rote Frau“offeriert ihren nackten Körper und feiert zumindest während der ersten Hälfte der siebziger Jahre ausgiebig die neu gewonnene sexuelle Freiheit. Insofern gilt jetzt unter anderem auch, dass sich die „soziale Körpergrenze von der Kleidung zur Haut“verschiebt:35 In den siebziger Jahren wird die mediale Inszenierung der Frau identisch mit der Inszenierung des weiblichen Körpers. Undgleichzeitig beginnen gegen Ende der siebziger Jahre erste männliche Produktprotagonisten, weibliche Zuschreibungen zuübernehmen. Die Zeit der „Patchwork“ -Identitäten beginnt.36 Die politischen undsozialen Unsicherheiten (Ölkrise, Autokrise undBedrohung durch die Atomkraft) unddiese psychosozialen undphysiosemiotischen Unsicherheiten der siebziger Jahre führten im weiteren Verlauf des Jahrzehnts zu einer Psychologisierung vor allem jüngerer Alterskohorten respektive Generationen.
5. Derneue Mann des21. Jahrhunderts Mit dem Abbau des traditionellen, hegemonialen Männlichkeitsprinzips wurde ein weiteres, langlebiges Prinzip abgebaut: die traditionelle Dominanz von Frauenbildern in denMedien unddamit auch in denProduktmedien. Neueste Untersu34 Wolfgang Schmale: Geschichte derMännlichkeit inEuropa (1450– 2000), Wien 2003, S. 248. 35 Wilk: Körpercodes (wie Anm. 6), S. 183. 36 Bereits in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre wird das Spektrum um naiv-romantische Frauenfiguren erweitert.
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chungen zumpublizierten Frauen- undMännerbild Ende des 20. undAnfang des 21. Jahrhunderts kommen zu demErgebnis, dass männliche Figuren den weiblichen Figuren in derWerbung neuerdings denRang ablaufen. Seit Ende derneunziger Jahre scheinen Männerbilder nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ zu dominieren. Dasgilt auch undgerade für die Inszenierung maskuliner Körper. Der Siegeszug nackter oder teilnackter männlicher Körper macht sich offenbar In Erwartung gerade in den werblichen Produktkommunikationen bemerkbar.37 „ mit einer Fülle vonFrauenkörpern konfrontiert zuwerden, die Waren erotisieren, wurde ich nach Sichtung weniger Magazine eines Besseren belehrt“ , resümiert die Autorin einer der neuesten Studien mit Überraschung. „ Der Mann ist en vogue. Die Männerdarstellung in der Werbung ist offensichtlich stark vom Wandel des Geschlechterverhältnisses betroffen. Da reckt sich der athletische Adonis zum beworbenen Produkt empor, scharwenzelt ein liebestrunkener Sportwagen-Macho um halbnackte Frauen herum [...]“38Über die Produktmedien wird nunmehr ein neuen Männern“und„ breites Sortiment von„ neuen Vätern“angeboten. Liebevolle undzärtliche, sinnliche underotische Männerfiguren bevölkern seit denspäten neunziger Jahren die Produktbühnen. „ Wirbegegnen demTypus des Helden, des Kriegers, des Machos, des Abenteurers, des Sportlichen, des Magiers, des zärtlichen Ehemannes oder Partners, des liebevollen Vaters, des seine Emotionen zeigenden Mannes, desPantoffelmachos, desArbeiters, des Stars, desIntellektuellen ... –aber keiner dieser Typen ist wirklich verbindlich oder repräsentiert eine Majorität“.39Frauenfiguren undFrauenkörper werden hingegen „ verschoben“ , zuweilennurnoch als „Körperspuren“gezeigt.40 Die medial publizierten Frauen- und die Männerrollen sind im Laufe eines Prozesses, der in den sechziger Jahren seinen Anfang nahm und in den liberalisierten Öffentlichkeiten der siebziger Jahre einen katalysatorischen Schub gewann, polymorph undpolysemisch geworden. Das ruft abschließend einmal mehr denkünftig sowohl theoretisch wie auch methodisch zubeherzigenden Grundsatz einer historischen Frauenbildforschung ins Gedächtnis, wonach Identitätsdiskurse immer auch Alteritätsdiskurse sind. Die Zukunft gehört daher vergleichenden Bilder“ „ -Geschichten von Geschlechtsstereotypen. Das Wechsel- und Beziehungsverhältnis von Frauen- und Männerbildern sollte daher nicht nur diachron und über lange Dauer, sondern ebenso synoptisch und synchron aufgearbeitet werden: Audiatur et altera pars!
37 Harrison G. Pope/Katharine A. Philipps/Roberto Olivardia: Der Adonis-Komplex. Schönheitswahn undKörperkult bei Männern. München 2001 (amerikanische Ausgabe 2000), S. 83; vgl. dazuauch Nils Borstnar: Männlichkeit undWerbung. Inszenierung –Typologie –Bedeutung. Kiel 2002; Guido Zurstiege: Mannsbilder –Männlichkeit inderWerbung. Eine Untersuchung zur Darstellung von Männern in der Anzeigenwerbung der 50er, 70er und90er Jahre. Opladen 1998.
38 Wilk: Körpercodes (wie Anm. 6), S. 38. 39 Schmale: Geschichte derMännlichkeit (wie Anm. 34), S. 270. 40 Wilk: Körpercodes (wie Anm. 6), S. 40.
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FRANZ STEINER VERLAG STUTTGART
Der Sammelband umfasst außer der Einleitung von Rolf Walter und dem Eröffnungsvortrag von Michael North 13 Referate und 12 Korreferate zu den wichtigsten Themen der Konsumgeschichte. Auch Aspekte der Konsumtheorie werden in zwei Beiträgen beleuchtet und in Korreferaten diskutiert. Die Beiträger decken ein breites Spektrum der Konsumgeschichte ab. Es reicht zeitlich von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart und deckt thematisch und exemplarisch sämtliche Felder der Konsumgeschichte ab.
www.steiner-verlag.de Franz Steiner Verlag