Das Ende des Wirtschaftswunders: Geschichte der Sozial-, Wirtschafts- und Finanzpolitik in der Bundesrepublik 1969 – 1998 9783110503906, 9783828205161


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German Pages 569 [580] Year 2010

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Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Einleitung
Erster Teil. Das Jahrzehnt der Illusionen 1970-1980
Zweiter Teil. Das Jahrzehnt der unvollkommenen Konsolidierung 1980-1990
Dritter Teil. Die Bewältigung der Deutschen Einheit 1990-1998
Bibliographie
Personenregister
Sachregister
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Das Ende des Wirtschaftswunders: Geschichte der Sozial-, Wirtschafts- und Finanzpolitik in der Bundesrepublik 1969 – 1998
 9783110503906, 9783828205161

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Gerard Bökenkamp Das Ende des Wirtschaftswunders

Das Ende des Wirtschaftswunders Geschichte der Sozial-, Wirtschaftsund Finanzpolitik in der Bundesrepublik 1969-1998

von Gerard Bökenkamp

Lucius & Lucius • Stuttgart

Anschrift des Autors: Gerard Bökenkamp Ulrikenstraße 50 13581 Berlin

Mit freundlicher Unterstützung der Jacques-Koerfer-Stiftung, Berlin, zur Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar

ISBN 978-3-8282-0516-1

© Lucius & Lucius Verlagsgesellschaft mbH Stuttgart 2010 Gerokstraße 51 · D-70184 Stuttgart · www.luciusverlag.com

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Satz: Claudia Rupp, Stuttgart Druck und Bindung: Druckhaus Thomas Müntzer, Bad Langensalza

Inhalt Vorwort Einleitung

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Erster Teil Das Jahrzehnt der Illusionen 1 9 7 0 - 1 9 8 0 Das Jahrzehnt der Illusionen 1970 - 1 9 8 0 Haushalts- und „Reformpolitik" 1969 - 1 9 7 2 Zusammenfassung: Alex Möller als Finanzminister Schiller als Superminister 1971/72 Steuerdiskussion 1970-1972 Zusammenfassung: Karl Schiller als Superminister Helmut Schmidt als Finanzminister Zusammenfassung: Die sozialliberale Haushaltspolitik 1970 — 1973 Die Devisenkrise und der Kampf um das „Floaten" Zusammenfassung: Wahrungspolitik 1970 - 1 9 7 3 Die Rentenreform 1972 Zusammenfassung: Die Rentenreform 1972 Die Vollbeschäftigung, Lohnpolitik und Konzertierte Aktion Inflation und das Stabilitätsprogramm 1973 Lohn- und Geldpolitik 1974/75 - Der Weg in die Massenarbeitslosigkeit Zusammenfassung: Geld-und Lohnpolitik 1973-75 Die SPD-Linke und die Investitionslenkung Die Arbeitslosigkeit verfestigt sich und wird zum Dauerzustand Tendenzwende in den Wirtschaftswissenschaften und Meinungsklima Die Sozialversicherungskosten in den siebziger Jahren Steuerbelastung, Staatsausgaben und Staatsverschuldung Finanzminister Helmut Schmidt wird Kanzler Steuerpolitik 1972 bis 1975 Die Finanzkrise 1975 und die ersten Konsolidierungsanstrengungen Zusammenfassung: Haushalts-und Steuerpolitik 1974-76 Konjunkturpolitik 1974-1976 Konjunkturpolitik 1977 - 1 9 8 0 Zusammenfassung: Die Konjunkturpolitik der siebziger Jahre Helmut Schmidt: Weltökonom und Staatsschauspieler Zusammenfassung: Helmut Schmidt als Wirtschaftspolitiker Beschäftigungspolitik und Arbeitslosigkeit 1977 - 1 9 8 0 Zusammenfassung: Geld-und Lohnpolitik 1977-1980 Langzeitarbeitslosigkeit und die Geburt des „Prekariats" Der Streit um die Zumutbarkeitskriterien für Arbeitslose Die Gastarbeiter-Problematik

10 11 19 20 25 28 29 34 35 49 50 58 58 61 64 77 78 80 85 90 92 93 96 101 106 108 112 117 119 130 131 141 142 145 150

VI Zusammenfassung: Arbeitslosigkeit und Arbeitsmarkt 1 9 7 4 / 7 5 - 1 9 8 0 Tarifparteien, Mitbestimmung und Konzertierte Aktion Der „Rentenbetrug" 1975176 Die Rentenpolitik 1977 - 1 9 8 0 Die Gesundheitsreform Der demographische Umbruch Zusammenfassung: Rentenpolitik 1 9 7 6 - 1 9 8 0 Die Finanzpolitik 1 9 7 6 - 1 9 8 0 Die Steuerdebatte 1978 Matthöfer und die Steuerpolitik 1979/80 Zusammenfassung: Steuerpolitik 1977—1980 Die Haushaltspolitik von Finanzminister Matthöfer 1 9 7 8 - 1 9 8 0 Exkurs: Die FDP zwischen den Sozialliberalen und ihren Wirtschaftsministern

154 155 161 166 169 170 172 173 179 182 186 187 192

Zweiter Teil Das Jahrzehnt der unvollkommenen Konsolidierung 1980-1990 Die Konsolidierungspolitik nach der Bundestagswahl 1980 Der letzte Sanierungsversuch 1982 Zusammenfassung: Von Schmidt zu Kohl Das „Notprogramm" der neuen CDU/CSU-FDP-Koalition Die Wahl 1983 und das Sanierungsprogramm Das Scheitern der Investitionshilfeabgabe Zusammenfassung: Die erste Phase der Sanierungspolitik 1982—1984 Finanz- und Europapolitik - Der Gipfel von Brüssel und die Folgen 1984 . . . . Der Vorruhestand und der Kampf um die 35-Stunden-Woche Arbeitslosigkeit und Rentenfinanzierung Zusammenfassung: Arbeitsmarkt und Rentenpolitik Streit mit den Liberalen und die erste Steuerreformdebatte Verabschiedung der Steuerreform und die Familienpolitik Zwischenbilanz der Finanzpolitik 1985 Das „Westphal-Papier" und die Rechnungshofkritik Zusammenfassung: Die Steuerpolitik in der ersten Wahlperiode Finanzpolitik im Vorfeld des Bundestagswahlkampfes 1987 Zusammenfassung der Regierungsarbeit 1982—1987 Die Steuerreform 1987/88 Die Verabschiedung der Steuerreform 1990 Zusammenfassung: Die Steuerreform 1990 Der Rückschlag fur die Konsolidierung 1987/88 Der Aufschwung ab Herbst 1988 und Finanzminister Waigel Zusammenfassung: Aufschwung und Finanzpolitik 1989

200 206 211 213 220 230 232 233 238 243 247 248 256 259 260 262 263 269 271 282 289 291 297 305

VII

Dritter Teil Die Bewältigung der Deutschen Einheit 1990-1998 Wirtschaftlicher Aufschwung und politischer Umbruch im Herbst 1989/90 Von der Wende zur Währungsunion Die Geldpolitik der Bundesbank nach der Währungsunion 1990-1994 Zusammenfassung: Die Währungsunion und die „Wiedervereinigungskrise der DM" Die Eigentumsfrage und die Treuhandanstalt Zusammenfassung: Treuhandanstalt und Privatisierung Die Weichenstellung in der Tarifpolitik — Lohnangleichung im Osten 1990/91 Bilanz der Tarifpolitik in Ostdeutschland Lohnpolitik und Arbeitslosigkeit zwischen Boom und Rezession 1992/1993 . . Zusammenfassung: Die Lohnpolitik zwischen 1990 und 1993 Die Sozialunion und die Koalition der Sozialpolitiker 1990-1993 Der Sozialtransfer in den Osten: Renten- und Arbeitslosenversicherung Sparpolitik bei den Sozialleistungen 1992-1994 Rentenversicherung und Demographiedebatte Von Blüms zu Seehofers Gesundheitsreform Norbert Blüms Kampf um die Pflegeversicherung Bilanz der Sozial-, Privatisierungs- und Lohnpolitik 1990-1993 Die „Steuerlüge" und die Kosten der Deutschen Einheit Zusammenfassung: Die Steuerpolitik und die Wiedervereinigung Die Finanzierung der Einheit 1990 - 1 9 9 2 Der Solidarpakt 1992/1993 Der Solidarpakt und die Kosten der Einheit Der Konflikt zwischen Wirtschafts- und Finanzministerium 1991-1993 Haushaltspolitik zwischen Einheitskosten und Wirtschaftsboom 1990-1992. . Die Haushaltspolitik zwischen Rezession und Aufschwung 1992-1994 Zusammenfassung: Die Haushaltspolitik 1990-1994 Die Bundestagswahl 1994 und das Ende der Rezession Konjunktur und Arbeitslosigkeit 1995-1998 Das Bündnis für Arbeit 1995/96 Kohls politische Wende 1996 Reform der Lohnfortzahlung Seehofers Reformen: Gesundheit und Sozialhilfe Die Reform der Frühverrentung Die Krise der Rentenversicherung 1995/1996 Die Rentenreform und das Rentendebakel 1997 Zusammenfassung: Die Sozialreformen 1995-1998 Das BVG und die Steuerpolitik: Existenzminimum und Kohlepfennig

308 313 323 328 329 339 341 348 349 357 358 365 369 375 379 383 391 392 403 404 409 416 417 424 432 438 439 443 445 451 455 460 464 466 473 481 482

VIII Die Wirtschaft in Ostdeutschland in der Krise Die FDP und der Solidaritätszuschlag Die „große Steuerreform" Finanzpolitischer Wettlauf zum Euro Zusammenfassung: Die Finanzpolitik und der Euro 1995-1998 Die Abwahl 1998 Schluss

487 491 501 510 522 523 528

Bibliographie Personenregister Sachregister

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Vorwort Den Anlass mich mit den Themenfeldern dieses Buches zu beschäftigen, boten die Zeitumstände. Vor 2005 bestimmten die hohe Arbeitslosigkeit, die Schuldenlast und die Agenda 2010 sehr weitgehend die öffendiche Diskussion. Daraus entstand der Plan die Ursachen und Hintergründe, die zur Entstehung und Entwicklung dieser aktuellen Probleme gefuhrt haben historisch aufzuarbeiten. Meine Magisterarbeit „Die Finanzpolitik der Regierung Kohl 1982-1989" bot eine Grundlage fur eine wesendich größer angelegte historische Untersuchung. Mein Doktorvater Prof. Dr. Henning Köhler hat mich dazu ermutigt, dieses schon von seinem Umfang her sehr ambitionierte Projekt einer Geschichte der Sozial-, Wirtschafts-, und Finanzpolitik der Bundesrepublik zwischen dem Beginn der sozialliberalen Koalition und dem Ende der Regierung Kohl in Angriff zu nehmen. Ich bedanke mich bei meinen Gutachtern Herrn Prof. Dr. Köhler und Hon.-Prof. Dr. Daniel Koerfer für die intensive Betreuung, der diese Arbeit viel verdankt. Herrn Prof. Köhler danke ich besonders für unsere zahlreichen Gespräche über den Stand und die Ergebnisse der Arbeit und die politische Geschichte der Bundesrepublik, die die Entstehung der Arbeit begleitet haben. In diesem Diskussionsprozess gewann ich wertvolle Anregungen. Der Jacques-Koerfer-Stiftung danke ich dafür, dass sie die Förderung der Arbeit übernommen hat. Ich bedanke mich bei Florian Kunze, der das Manuskript durchgesehen und mir bei den nötigen Formatierungen geholfen hat. Er und viele andere Freunde und Kommilitonen haben mir die Möglichkeit gegeben, meine Gedanken und Überlegungen in persönlichen Gesprächen zu erklären und zu diskutieren. Doch mein größter Dank gilt meinen Eltern Manfred und Renate Bökenkamp. Von meiner Schulzeit an haben sie, wo auch immer sie konnten, meine wissenschaftlichen Interessen unterstützt und mir den persönlichen Freiraum geschaffen, den ich fur meinen Werdegang und meine Forschung brauchte. Das Manuskript ist in ihrem Haus in BerlinSpandau entstanden, wo ich die nötige Ruhe gefunden habe, um mich fur die Zeit meiner Forschung auf die Arbeit konzentrieren zu können. Ihnen ist dieses Buch gewidmet.

Einleitung Die Sozial- und Wirtschaftspolitik und ihre Finanzierung dominieren das Tagesgeschäft jeder Bundesregierung. Dieser Kernbereich der politischen Arbeit gerät jedoch besonders schnell in Vergessenheit. Anders als große außenpolitische Ereignisse wie die Ostpolitik, der Nato-Doppelbeschluss oder die Wiedervereinigung bleiben Steuer- und Rentenreformen, Haushaltssanierung und Tarifverträge nicht im Gedächtnis der Zeitgenossen haften. Diese Politikbereiche sind offenbar so komplex und kleinteilig, dass es schwer ist sie auf einen einfachen Nenner zu bringen. Dessen ungeachtet, sind viele Höhen und Tiefen der Regierungspolitik nicht verstehbar ohne die Kenntnis dieser Politikfelder. Die Geschichte der Wirtschafts-, Sozial- und Finanzpolitik ist in weit geringerem Maße aufgearbeitet als andere Felder. Dies mag etwas damit zu tun haben, dass diese zwischen verschiedenen Forschungsbereichen angesiedelt ist. Mit der wirtschaftlichen Entwicklung befassen sich Ökonomen theoretisch in Form abstrakter mathematischer Modelle, die ihre Gültigkeit gerade aus dem Umstand ableiten, dass externe Faktoren, also die Einflüsse jenseits der zu Grunde gelegten Annahmen, ausgeklammert werden. Die Sozialund Wirtschaftshistoriker sind in der Regel eher an gesamtgesellschaftlichen Tendenzen als am politischen Tagesgeschehen und den wechselnden Konstellationen des politischen Entscheidungsprozesses interessiert. So spielt etwa die Wirtschaftspolitik in Werner Abelshausers „Deutsche Wirtschaftsgeschichte seit 1945" 1 oder in Hans-Ulrich Wehlers „Deutsche Gesellschaftsgeschichte 1949-1990" eine untergeordnete Rolle. 2 Dabei mag auch eine Rolle spielen, dass der Einfluss einer Vielzahl einzelner und sehr widersprüchlicher politischer Entscheidungen sich nur schlecht in allgemeine Aussagen und Modelle integrieren lässt. Auch die Politikwissenschaftler, beispielsweise Raimund Zohnhofers „Die Wirtschaftspolitik der Ära Kohl, sind in der Tendenz eher an der Herausarbeitung eines Modells, in dem genannten Beispiel die Veto-Spieler-Theorie, als an den historischen Phänomenen an sich interessiert. Die Geschichte der Wirtschaftspolitik ist ein Teilgebiet der Politikgeschichte. Diese konzentriert sich im Allgemeinen aber stärker auf die großen außenpolitischen Ereignisse, in diesem Zeitraum also etwa auf die Ost- und Deutschlandpolitik und die Wiedervereinigung. In der englischsprachigen Literatur gibt es inzwischen Arbeiten von Historikern und historisch arbeitenden Ökonomen, die sich intensiv mit der Geschichte der Wirtschaftspolitik befasst haben. Zu diesen Arbeiten gehören beispielsweise Allen Matusows „Nixons Economy" 3 , W. Carl Bivens „Jimmy Carters Economy" 4 und John W Sloans „The Reagan Effect."5 Diese Arbeiten zeichnen sich dadurch aus, dass sie die Wirtschaftspolitik aus dem Blickwinkel der politischen Akteure in konkreten historischen Situationen be-

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^ 5

Werner Abelshauser: Deutsche Wirtschaftsgeschichte seit 1945, München 2004. Hans-Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte 1 9 4 9 - 1 9 9 0 , München 2008. Allen. J. Mutasow, Nixons Economy. Booms, Busts, Dollars and Votes, University Press of Kansas 1998. W. Carl Biven, Jimmy Carters's Economy. Policy in an Age of Limits,Chapel Hill/London 2002. John W Sloan: The Reagan Effect. Economics and Presidential Leadership, University Press of Kansas 1999.

3 schreiben. Diese Darstellungen haben gemeinsam, dass sie gängige Deutungsmuster unter dem Hinweis auf den improvisierten Charakter wirtschaftspolitischer Entscheidungen relativieren. Sie betonen die zeitgebundenen Zwänge und die begrenzte Handlungsfreiheit der politischen Führung und verweisen auf die ideologische Inkonsistenz der Regierungspolitik. So schreibt Biven über Carter: „There was continuing tension between his liberal instincts and his sense of fiscal prudence. But in the end, his natural inclination toward fiscal discline and his liberal instincts were both, in part irrelevant. The inflation, which had reached frightening proportions in the latter part of his administration, left him little choice but to move toward fiscal restraint."6 Sloan kommt zu dem Ergebnis, dass der Erfolg der Regierung Reagan gerade auch darauf zurückzuführen war, dass sie ihre nach außen vertretenden ideologischen Überzeugungen nicht umsetzen konnte. So schreibt er über Reagans Führungsrolle in der Wirtschaftspolitik: „His leadership did not bring about a conservative revolution, but it did create a hybrid regime of liberal and conservative policy commitments. The New Deal, the Great Society, and the Reagan revolution make a strange "goulash" that the public finds appetizing despite its ideological inconsistency."7 Auch die vorgelegte Arbeit legt den Fokus, auf die begrenzten Handlunsspielräüme der Akteure, die Improvisation in der politischen Entscheidungsfindung und die unvermeidbare programmatische Inkonsistenz der Sozial- und Wirtschaftspolitik. Die Handlungen. Motive, Konflikte und Entscheidungen vieler einzelner Akteure über den Zeitraum von drei Jahrzehnten stehen im Mittelpunkt der Untersuchung. Um zu erklären, welchen Einfluss diese Handlungsverläufe auf die wirtschaftliche und soziale Entwicklung besaßen muss man die konkreten Folgen im Einzelnen nachzeichnen, auf der anderen Seite müssen bestimmte ökonomischen Grundprinzipien in die Untersuchung einbezogen werden, ohne dass die Entwicklung oder Bestätigung eines ökonomischen Modells selbst das Ziel ist. Das Ziel ist die anschauliche Beschreibung der wirtschaftspolitischen Zusammenhänge, wie sie sich in der realen Welt abzeichneten. Diese Zusammenhänge ergeben sich aus dem Wechselspiel ökonomischer Mechanismen mit den Handlungen politischer Akteure. Der gewählte Zeitraum reicht vom Beginn der sozialliberalen Regierungszeit und reicht bis zur Abwahl der Regierung Kohl. Dieser Zeitabschnitt begann und er endete mit einer Reformdebatte. Der Wandel des Reformbegriffes in dieser Phase allein macht deutlich, dass sich in den drei Jahrzehnten ein radikaler Wandel vollzogen hat. Anfang der siebziger Jahre herrschte in der Bundesrepublik weitgehend Vollbeschäftigung, die Gesamtverschuldung war gering und unter Reformpolitik wurde damals die Erweiterung der Staatsaufgaben und die Ausweitung der staatlichen Leistungen verstanden. Am Ende des Untersuchungszeitraums lag die Arbeitslosigkeit in Gesamtdeutschland bei fast fünf Millionen, die Staatsverschuldung hatte eine enorme Größenordnung erreicht und unter Reformpolitik wurde Haushaltssanierung und die Begrenzung staadicher Leistungen

6 7

Biven, Jimmy Carterss Economy, S. 254. Sloan, Reagan Effect, S. 296.

4 verstanden. Daraus ergibt sich die historische Fragestellung, wie genau sich dieser Prozess im Laufe von drei Jahrzehnten vollzog. Die Arbeit gliedert sich in drei Teile. Der erste Teil trägt den Titel „Das Jahrzehnt der Illusionen" und beschreibt die Entwicklungen der 1970er Jahre. Der zweite trägt den Titel „Die unvollkommene Konsolidierung" und behandelt die Wirtschaftspolitik der 1980er Jahre. Der letzte Teil heißt „Die Bewältigung der Deutschen Einheit" und behandelt die Jahre der christlich-liberalen Koalition nach der Wiedervereinigung. Mit diesen Titeln sollen die zentralen Zeittendenzen zum Ausdruck gebracht werden, die die Sozial- und Wirtschaftspolitik dieser Zeit bestimmten. Diese Teile gliedern sich in Abschnitte, die im Schwerpunkt die Sozialpolitik und den Arbeitsmarkt behandeln und solche die die Finanz- und Steuerpolitik untersuchen. Beide Bereiche werden also getrennt voneinander behandelt, es geht aber in der Gesamtdarstellung darum, die Wechselwirkungen zwischen den verschiedenen Bereichen deutlich zu machen und kausale Beziehungen aufzuzeigen. Steuer- und Soziapolitik, Entwicklungen auf dem Arbeitsmarkt spiegeln sich in der Haushaltsentwicklung wieder, weshalb die Staatsverschuldung als leitendes Motiv gewählt wurde. Die siebziger Jahre waren durch die Illusion gekennzeichnet, dass Wirtschaft und Gesellschaft rational planbar seien. Diese technokratischen Vorstellungen waren eng verbunden mit keynesianischen Vorstellungen von der Lenkbarkeit der Wirtschaft und der Beeinflussung des Konjunkturverlaufes. Grundsätzlich bestand die weit verbreitete Ansicht, dass gesellschaftliche Probleme durch sozial- und gesellschaftspolitische Maßnahmen effizient gelöst werden könnten. Dies ging so weit, die Lenkungskompetenz des Staates prinzipiell für effizienter zu halten als privatwirtschaftliche Lösungen. Deshalb war die Ausdehnung des Staatsanteils auf Kosten der privaten Sektoren populär und wurde in einer Offenheit propagiert, die heute selbst angesichts der aktuellen Finanzkrise kaum vorstellbar ist. Die ersten Jahre der sozialliberalen Regierungszeit waren gekennzeichnet von Vollbeschäftigung, hohen Steuereinnahmen und der Ausweitung der Staatstätigkeit. In den ersten Jahren der sozialliberalen Koalition wurden die Preissteigerungen als größtes wirtschaftspolitisches Problem wahrgenommen. Die Preissteigerung überraschte nach den Wahlen im Herbst 1969 die neue Bundesregierung und sie gingen mit steigenden Lohnforderungen einher. Die Auseinandersetzung über die Ursachen der inflationären Tendenzen bestimmte die haushaltspolitische Auseinandersetzung innerhalb der Bundesregierung und mit der Opposition. Dieser Trend hing eng mit dem System fester Wechselkurse im Rahmen des internationalen Währungssystems von Bretton Woods zusammen. Der Konflikt über die Anpassung der Wechselkurse führte schließlich zum Rücktritt von Karl Schiller. Diese Phase ging 1973 zu Ende, als das System von Bretton Woods zusammenbrach und die Ölkrise die Weltwirtschaft erschütterte. Trotz der restriktiven Geldpolitik und der schwierigen gesamtwirtschaftlichen Lage setzten die Gewerkschaften hohe Lohnabschlüsse durch, was zur Entstehung der Massenarbeitslosigkeit beitrug. Die Bundesregierung versuchte dieses neue Phänomen durch groß angelegte Konjunkturprogramme zu bekämpfen. Dies war eine Ursache der steigenden Staatsverschuldung in den Regierungsjahren von Bundeskanzler Helmut Schmidt. Die andere Ursache war die Steuerreform von 1975. Die Steuerbelastung wurde zu jener Zeit bereits von weiten Teilen der Steuer-

5 zahler als so drückend empfunden, dass die Einnahmen nicht mehr ohne weiteres erhöht werden konnten. Die Einnahmen des Staates und seine Ausgaben klafften von der Mitte der siebziger Jahre an dauerhaft auseinander. Bundeskanzler Helmut Schmidt verstand es fur die Öffendichkeit die Illusion vom „Weltökonomen" zu schaffen, ohne in der Realität trotz steigender Schuldenlasten bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit reale Erfolge erzielen zu können. Die daraus resultierenden steigenden Zinslasten wurden Anfang der achtziger Jahre als so großes Problem angesehen, dass die SPD-FDP-Regierung zu politisch schmerzhaften Schritten gezwungen war. Als diese Konsolidierungsschritte sich als nicht ausreichend erwiesen, zerbrach die Koalition und die neue Regierung aus C D U und F D P musste diese Aufgabe übernehmen. Durch die hohe Zinslasten und die hohe Arbeitslosigkeit war die Sanierung eine schwierige Aufgabe. Finanzminister Stoltenberg unternahm drastische Schritte, um die Neuverschuldung zu senken. Seinem Haushalt kamen dabei allerdings die hohen Bundesbankgewinne zu gute. Die Wirtschaftspolitik der achtziger Jahre lässt sich ein Stück weit als Geschichte der Erosion des Sanierungskurses beschreiben und zeigen, wie groß der Druck von allen Seiten auf die Ausgabenpolitik war. Die Rückführung der Neuverschuldung wurde gebremst durch zwei Steuerreformen und die damit verbundene Nettoentlastung, zusätzliche familienpolitische- und soziale Leistungen sowie Subventionen. Die Politik der Haushaltssanierung und Steuersenkung wurde im Herbst 1989 mit einem großen wirtschaftlichen Aufschwung belohnt, der durch den Wiedervereinigungsboom noch weiter angeheizt wurde. Die achtziger Jahre waren von dem Versuch gekennzeichnet, die in den siebziger Jahren zum ersten Mal auftretenden Probleme wie die hohe Staatsverschuldung, die Arbeitslosigkeit, den demographischen Umbruch und die Krise der Sozialsysteme zu bewältigen. „Unvollendet" war diese Konsolidierung deshalb, weil sich die Erfolge auf die Haushalts- und Steuerpolitik beschränkte und auch hier zwar durchaus beeindruckende aber in der Frage der Neuverschuldung doch begrenzte Erfolge erreicht wurden. Trotz erheblicher politischer Anstrengungen konnte die Neuverschuldung nur durch Einsatz der zweistelligen Bundesbankgewinne gesenkt werden. Der Versuch der demographischen Entwicklung durch gezielte und teure familienpolitische Maßnahmen entgegenzuwirken, scheiterte. Die Geburtenrate blieb trotz der Anstrengungen der Bundesregierung auf niedrigem Niveau. Die Arbeitslosigkeit konnte aus demographischen Gründen kaum gesenkt werden. Diese Periode der Wirtschaftspolitik ist vor allem deshalb interessant, weil sich damals die Grenzen der Konsolidierung aufzeigt. Die neue Bundesregierung und ihr Kanzler starteten mit guten Vorsätzen. Kohl wollte den Haushalt sanieren, die Arbeitslosigkeit zurückfuhren, der Begriff von der „Wende" war fur Kohl keineswegs nur ein Schlagwort. Alle diese Probleme aber gleichzeitig anzugehen, war eine Herkulesaufgabe, die kaum zu bewältigen war und die Regierung verzettelte sich zwangsläufig in der Bewältigung dieser verschiedenen Anforderungen. Die Wiedervereinigung stellte die Sozial- und Wirtschaftspolitik vor eine gewaltige Herausforderung. Die Angleichung an den Westen vollzog sich durch die Währungsunion, die Sozialunion, den Stufentarifvertrag und die Einbeziehung der neuen Bundesländer in den Länderfinanzausgleich. Der mit den Bundesländern beschlossene Solidarpakt,

6 die Auflösung der Treuhand und anderer Nebenhaushalte markierten den Abschluss des Übergangs der neuen Bundesländer in das System der Bundesrepublik. Die hohen Transferzahlungen in die neuen Bundesländer stellten eine erhebliche Belastung fur den Bundeshaushalt und die Sozialversicherungen dar. Steigende Staatsverschuldung, Beiträge und Steuern waren die Folge. Nach zwei Jahren war die Grenze der Belastbarkeit erreicht. Dies war zugleich das Ende der Dominanz der Sozialpolitiker im Einigungsprozess. Erschwert wurde die Lage durch die große Rezession 1993. Die Beschäftigungskrise, die in Folge der schnellen Lohnangleichung und des Zusammenbruchs der DDR-Wirtschaft in Ostdeutschland erfasst hatte, erreichte nun den Aufschwung verwöhnten Westen. Die Arbeitslosigkeit wurde in der letzten Legislaturperiode der Regierung Kohl zu einem beherrschenden gesamtdeutschen Thema. Kohl setzte nach dem Scheitern des von den Gewerkschaften initiierten „Bündnisses für Arbeit" auf einen Reform- und Sanierungskurs, der zu der Konfrontation mit den Gewerkschaften führte. Die Rückführung der Neuverschuldung war die Grundlage dafür, dass die Bundesrepublik die Maastricht-Kriterien für die Währungsunion erfüllen konnte. Gleichzeitig stand die Endastung der Bürger durch Steuererleichterung auf der politischen Agenda. Über den Abbau des Solidaritätszuschlages kam es zu schweren politischen Konflikten innerhalb der Koalition. Schließlich rang sich die Koalition zu einer Steuerreform mit großer Nettoendastung vor. Das Scheitern der Steuerreform am Widerstand der Mehrheit des Bundesrates, der öffendiche Streit um die Rentenreform und die hohe Arbeitslosigkeit trugen erheblich zur Niederlage der Koalition bei den Wahlen 1998 bei. Die Folgen der Wiedervereinigung und die Einfuhrung des Euro stellten eine enorme Herausforderung dar und veranlassten die Regierung zu Versprechungen, die sie nicht einhalten konnte. Das Versprechen die Arbeitslosigkeit zu halbieren, konnte nicht gehalten werden und das Bündnis für Arbeit schuf zwar Hoffnungen, konnte aber keine Erfolge erzielen. Die Beschäftigungskrise entzog sich weitgehend den Gestaltungsspielräumen der Wirtschaftspolitik. Die wachsenden Arbeitslosenzahlen, die immer neue Rekordwerte erreichten, höhlten die Glaubwürdigkeit der Koalition aus und ebneten dem Wahlsieg von Gerhard Schröder im Jahre 1998 den Weg. Es geht in diesem Buch immer wieder um die Konsolidierungspolitik, ihre seltenen Erfolge und ihr häufiges Scheitern. Ihr Dilemma lässt sich vielleicht am besten mit dem Mythos von Sisyphos vergleichen. Im Mythos muss Sisyphos einen Felsen immer wieder einen steilen Hang hinaufzurollen. Kurz bevor er die Spitze des Hanges erreicht, entgleitet ihm der Felsen, und er muss wieder von vorne anfangen. So verhält es sich auch mit der Konsolidierungspolitik. Wenn unter Inkaufnahme öffendicher Unzufriedenheit und politischer Risiken die Lasten der Haushalte verringert sind, die Wirtschaft wieder in Gang kommt und die Beschäftigungslage sich bessert, dann ist es in der modernen Demokratie so sicher wie das Amen in der Kirche, dass die Begehrlichkeiten wachsen und an der Ausgaben- und Regelungsschraube gedreht wird, bis erneut große Anstrengungen zur Sanierung notwendig sind. Die Zukunftsfähigkeit der Demokratie hängt davon ab, ob sich die politische Führung — trotz der Neigung zu Freigiebigkeit und zur Popularitätshascherei - immer wieder zu Phasen von Austerity-Politik durchringen kann.

7 Zum Zeitpunkt der Beendigung dieses Buches steht die Bundesrepublik wie auch andere wesdiche Staaten erneut vor dieser Herausforderung. Es wird sich zeigen, ob angesichts der in den letzten Jahrzehnten und in jüngster Zeit aufgebauten enormen Lasten — der Staatsverschuldung, den hohen Zinslasten und Sozialausgaben, der strukturellen Schwächen des deutschen Arbeitsmarktes und nicht zuletzt aufgrund des vor uns liegenden demographischen Umbruchs und den damit verbundenen Kosten fur die Renten- und Pensionsleistungen - die politischen Verantwortungsträger den Willen aufbringen werden, die politische Sisyphusaufgabe der Konsolidierung auf sich zu nehmen und den immer schwerer werdenden Felsen unter Aufbietung ihrer Kräfte erneut den Hang hinaufzurollen. Eine Prognose darüber zu wagen, ob dies gelingen kann - und welche Konsequenzen ein Nichtgelingen zeitigen würde —, gehört nicht mehr in das Aufgabenfeld des Historikers.

Quellen und Literatur Die vorliegende Arbeit basiert auf einer breit angelegten Auswertung veröffendichter Quellen, die durch systematische Aufarbeitung eine umfassende und ins Detail gehende Analyse der Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik ermöglichen. Zentral für diese Arbeit ist die Wirtschaftsberichterstattung der großen Wochenzeitungen, Der SPIEGEL, Die ZEIT und die WIRTSCHAFTSWOCHE. Die Wochenberichterstattung präsentiert die wichtigsten Ereignisse der Woche und bietet darüber hinaus jeweils eine Interpretation. Die verschiedenen Publikationen haben verschiedene Schwerpunkte, beleuchten unterschiedliche Aspekte der Wirtschaftspolitik und vertreten unterschiedliche Standpunkte. Dieser Blick aus verschiedenen Perspektiven sowie die Beschreibung verschiedener Aspekte und die Darlegung unterschiedlicher Fakten zum selben Politikfeld, ermöglichen durch das komplementäre Heranziehen weiterer Darstellungen eine sehr dichte Beschreibung der Abläufe, Handlungen, Entscheidungsfindungen und Folgen. Die Wirtschaftsberichterstattung richtet sich in der Regel an ein fachkundiges Publikum mit besonderem Interesse an der Wirtschaft. Die Leserschaft und die Berichterstattung der Wirtschaftsberichterstattung weichen also in Ton, Stil und Aussage vom politischen Teil der Zeitungen und dem Feuilleton ab. In der Regel ist die Berichterstattung deshalb sachlicher und stärker Faktenorientiert. Die Glaubwürdigkeit der dargelegten Fakten ergibt sich daraus, dass der Faktenkern in unterschiedlichen Publikationen in der Regel übereinstimmte, daher unabhängig von der jeweiligen Färbung der journalistischen Darstellung sind. Die Wirtschaftsberichterstattung verwendet in der Regel die offiziellen Zahlen und Publikationen.. Die Wirtschaftsjournalisten verfugen aber zudem über ein Netzwerk aus Informanten unter den Wirtschaftspolitikern und in den Ministerien, die Hintergrundinformationen, Meinungs- und Stimmungsbilder liefern, die in die Protokolle keinen Eingang gefunden haben. Die Glaubwürdigkeit zeigt sich darin, dass die Berichterstattung von den späteren Ereignissen bestätigt wird. Da die jeweiligen Autoren sich mit bestimmten Themen beschäftigen, lassen sich diese über lange Zeiträume hinweg verfolgen. Bei der Lektüre der Wirtschaftsberichterstattung stößt man auf Probleme, die die übrigen Medien erst viel später erreichen. So kann man die ersten Berichte über die Finanzierungslücke in den Rentenkassen, die nach der Bundestagswahl 1976 zum öffendichen Skandal wurden, schon im Herbst 1975 finden.

8 Um die Darstellung abzurunden, wurden bei Bedarf Tageszeitungen - wie die Frankfurter Allgemeine Zeitung, die Welt, Süddeutsche Zeitung usw. - sowie themen- und interessenbezogene Periodika hinzugezogen. Zu diesen themen- und interessenbezogenen Periodika gehören zum Beispiel das Managermagazin, die Gewerkschaftlichen Monatshefte oder die Deutsche Apothekerzeitung. Die Informationen aus diesen Medien sind aus verschiedenen Gründen interessant. Durch sie lernt man die Ansichten und Interpretationen eines bestimmten Akteurs kennen, der Gewerkschaften, der Unternehmer oder der Apotheker usw. Da ihre Leser einem bestimmten wirtschaftlichen Interessenkreis angehören, sind die Leser an bestimmten Themen über das Maß der durchschnitdichen Leserschaft anderer Publikationen hinaus interessiert. Deshalb werden diese Themen auch in einer Ausführlichkeit dargestellt, wie sie in anderen Publikationen nicht zu finden sind, etwa die Mitbestimmung im Managermagazin, die Tarifpolitik in den Gewerkschaftlichen Monatsheften und die Gesundheitspolitik in der Deutschen Apothekerzeitung. Zur Aufgabe der Quellenkritik gehört es bei diesen Publikationen wie bei allen anderen auch die interessengeleitete Berichterstattung von den Informationen und der Faktenbasis zu trennen. Von besonderem Interesse sind auch öffentliche Interviews, da sie -wie etwa die Bundestagsreden- die öffendiche Meinung und den „O-Ton" einzelner Akteure wiedergeben. Darüber hinaus werden das Jahresgutachten des Sachverständigenrates, die Monatsberichte der Deutschen Bundesbank, die Protokolle der Bundestagssitzungen und Ausschüsse und Parteitagsprotokolle hinzu gezogen. Das Jahresgutachten des Sachverständigenrates ist für den Historiker weniger wegen der vorausschauenden Prognosen des Gremiums interessant, die in der Regel nur teilweise zutreffen, sondern wegen der Rückschau auf das vergangene Jahr und der Interpretation des Sachverständigenrates. Die Rückschau auf das vergangene Jahr ist nachvollziehbarerweise einfacher als eine Prognose. Die vom Sachverständigenrat vorgelegten Berichte über das vergangene Jahr sind wirtschaftshistorisch hochinteressante Darstellungen des Jahresverlaufs und der wichtigen Entwicklungen. Darüber hinaus ist die Interpretation des Sachverständigenrates deshalb aufschlussreich, weil sich darin die Hauptströmungen und die dominante Lesart der Ereignisse in den Wirtschaftswissenschaften spiegeln. Damit lässt sich auch ein Wandel des Zeitgeistes rekonstruieren, etwa bei dem Übergang vom Keynesianismus zur Angebotspolitik in der Mitte der siebziger Jahre. Die Monatsberichte der Deutschen Bundesbank sind eine hervorragende Quelle, weil die wichtigsten wirtschaftlichen und wirtschaftspolitischen Entwicklungen zeitnah dargestellt werden. Sie lassen sich durch die Kürze der Periode fast in Echtzeit verfolgen: Schuldenstand, Steuereinnahmen, Entwicklung des Geldwertes, des Arbeitsmarktes usw. lassen sich dort nachvollziehen. Für die Darstellung der Entwicklungen auf diesen Teilgebieten im Jahresverlauf bieten die Monatsberichte eine hervorragende Datenbasis und sind für die Darstellung des wirtschaftlichen Wandels über das Jahr hinweg unverzichtbar. Die Bundestagsreden geben die offiziellen Sichtweisen der Politiker auf die Wirtschaftspolitik wieder. Es bietet sich an, die Reden von Regierung und Opposition komplementär zu lesen, da letztere auch viele Fakten bieten, die erstere aus Gründen der politischen Opportunität verschweigen.

Erster Teil Das Jahrzehnt der Illusionen 1970-1980

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Das Jahrzehnt der Illusionen 1970-1980 Die Bildung der sozialliberalen Koalition fiel zusammen mit einem Zeitgeist, der an die Planbarkeit der Gesellschaft und die prinzipielle Lösbarkeit aller sozialen Probleme durch die Gesellschaftspolitik glaubte. Zur Jahreswende 1969/70 schienen alle wirtschaftlichen Sorgen verschwunden zu sein und das einzige Problem darin zu bestehen, wie man den wachsenden Wohlstand verteilen konnte. Es handelt sich um ein immer wiederkehrendes Phänomen, bei dem die gegenwärtige wirtschaftliche Lage von den Zeitgenossen einfach in die Zukunft projiziert und vergessen wird, dass die einzige politische und wirtschaftliche Konstante der stete Wechsel von Aufschwung und Abschwung, von Stabilität und Instabilität ist. Die ZEIT träumte von den „goldenen siebziger Jahren." Am Ende des Jahres 1969 schrieb die ZEIT: „Die Propheten sind voller Zuversicht. Die wirtschaftliche Zukunft der Bundesrepublik scheint gesichert. Die „ewige Hochkonjunktur" mit Vollbeschäftigung, hohen sozialen Leistungen, kräftige wirtschaftliche Wachstumsraten und relativ stabilen Preisen sorgt dafür, dass der Wohlstand in der Bundesrepublik weiter wächst." Die Wochenzeitung fugte hinzu: „Der Traum vom stetig wachsenden Wohlstand ist noch lange nicht ausgeträumt." 8 Die Fakten schienen diesen Optimismus zu bestätigen: „Zu Beginn der siebziger Jahre strotzt die Wirtschaft der Bundesrepublik geradezu vor Kraft. Der viel gescholtene Boom hat uns 1969 mit einem Zuwachs des Sozialprodukts von etwa acht Prozent den größten „Sprung nach vorn" seit 1960 gebracht. Wir haben heute praktisch keine Arbeitslosen, die Produktion läuft auf Hochtouren, die Auftragsbücher sind prall gefüllt, die Löhne und Gehälter schneller gestiegen als je in den letzten Jahren." 9 Mit dem Beginn der sozialliberalen Koalition kamen zwei Tendenzen zusammen, die die Wirtschaftspolitik der kommenden drei Jahre bestimmen sollten. Auf der einen Seite wollte die Regierung ein umfassendes gesellschaftspolitisches „Reformprogramm" verwirklichen. Auf der anderen Seite wurden die Sozialliberalen unmittelbar nach den Wahlen von einer neuen Qualität der Preissteigerung überrascht, die für den Erfolg der Regierungspolitik bedrohlich war. Die inneren Konflikte der Sozialliberalen waren durch diese widersprüchlichen Tendenzen vorgezeichnet. Das prominenteste politische Opfer dieser Auseinandersetzung zwischen Stabilitätspolitik und gesellschaftspolitischer Reformpolitik wurde der Star der SPD des Wahlkampfes 1969 Wirtschaftsminister Karl Schiller. Schiller scheiterte jedoch nicht nur an den politischen Widerständen, sondern auch daran, dass sich das wirtschaftspolitische Instrumentarium, das ihm die keynesianische Theorie zur Verfugung stellte, als ungenügend erwies. Keynes hatte seine Theorie vor dem Hintergrund einer weltweiten Depression entwickelt, über den umgekehrten Fall eines ungezügelten Wirtschaftsbooms war bei Keynes „explizit nichts ausgesagt." Es lag jedoch nahe, die Instrumente des Keynesianismus entsprechend restriktiv einzusetzen. 10

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Die Zeit, Nr. 1/25, 26. Dezember/2. Januar 1970, S. 25. Die Zeit, Nr. 2/25, 9. Januar 1970, S. 1. Gerhard Wilke, John Maynard Keynes, Frankfurt a. Main 2002, S. 133.

11 Das Wachstums- und Stabilitätsgesetz war am 10. Mai 1967 verabschiedet worden und trat am 8. Juni 1967 in Kraft. Damit war der Keynesianismus in der Bundesrepublik auf eine Weise gesetzlich verankert wie in keinem anderen westlichen Industrieland. Das Gesetz legte die Gebietskörperschaften, Bund, Länder und Gemeinden auf ein gemeinsames Ziel fest, die Erhaltung des „gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts." Der Schwerpunkt des Gesetzes lag auf der Fiskalpolitik. In Zeiten des Booms sollte der Wirtschaft durch eine Konjunkturausgleichsrücklage, die bei der Bundesbank stillgelegt würde, Kaufkraft entzogen werden. Das Gesetz sah zu dem steuerpolitische Maßnahmen zur Steuerung der privaten Nachfrage und Investitionen vor.11

Haushalts- und „Reformpolitik" 1969-1972 Durch die gute Konjunktur stiegen die Einnahmen des Staates rapide an. Die Zunahme der Steuereinnahmen belief sich auf das ganze Jahr 1969 gerechnet auf 19 Prozent. Von besonderer Bedeutung war das Wachstum der Einkommenssteuern. Dadurch, dass die Löhne- und Gehälter anzogen, wirkte sich der Progressionstarif, also die Zunahme der Steuerbelastung bei wachsendem Einkommen aus. So nahmen die Einnahmen aus der Lohnsteuer auf das Jahr 1969 gerechnet sogar um 23 Prozent zu. 12 Unter diesem positiven Vorzeichen der öffendichen Einnahmen würde es fur den zukünftigen Finanzminister schwer sein, Haushaltsdisziplin durchzusetzen. Noch schwerer würde es sein, der Konjunkturpolitik der herrschenden Lehre zu folgen und in dem sich ausbildenden Boom Ausgaben zu beschneiden und Defizite abzubauen, um den Boom zu dämpfen. Diese Politik hätte den keynesianischen Prinzipien entsprochen. Dieses Credo in praktische Politik umzusetzen, war angesichts der Begehrlichkeiten der Ressorts und gesellschaftlichen Gruppen allerdings utopisch. Die Aufgabe die Begehrlichkeiten zu dämpfen kam dem neuen Finanzminister Alex Möller zu. Alex Möller, der „Genösse Generaldirektor", war bei der Regierungsübernahme bereits 73 Jahre alt. Er hatte nur zögernd das Amt übernommen, da er wie auch Helmut Schmidt lieber in der Fraktionsfuhrung verblieben wäre.13 Möller konnte aber sich in dieser Anfangszeit als starker Finanzminister auch gegenüber seinem Konkurrenten im Kabinett Karl Schiller profilieren. Am 10. Dezember 1969 trat das Finanzkabinett zusammen. Mit einer Rücktrittsdrohung gelang es Möller, die Einsprüche aus den Ministerien zurückzuweisen. Wären alle Wünsche berücksichtigt worden, wäre der Etat schon im Jahr 1970 auf über 100 Milliarden D-Mark angewachsen. Bundesbankpräsident Blessing hatte vor dem Haushaltsausschuss davor gewarnt, die Ausgaben stärker als das Bruttosozialprodukt ansteigen zu lassen. Der Gesamthaushalt sollte 92 Milliarden D-Mark umfassen. Davon sollten zweieinhalb Milliarden D-Mark aus konjunkturellen Gründen gesperrt werden.14

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Alexander Nützenagel, Stunde der Ökonomen. Wissenschaft, Politik und Expertenkultur in der Bundesrepublik 1 9 4 9 - 1 9 7 4 , Göttingen 2005, S. 308ff. Monatsberichte, Februar 1970, S. 19. Baring, Machtwechsel. Die Ära Brandt-Scheel, Stuttgart 1982, S. 178 f. Der Spiegel, Nr. 53/23, 15. Dezember 1969, S. 26 f.

12 Im Januar 1970 verabschiedete das Kabinett den Haushalt, der nach der Sperrung noch 90 Milliarden D-Mark an Ausgaben umfassen sollte. Obwohl Möller gegen den Widerstand der Ressorts ihre Forderungen um 5 Milliarden D-Mark zusammengestrichen hatte, lag der Zuwachs noch immer bei 8,8 Prozent.15 Verteidigungsminister Helmut Schmidt hatte besonders hart für seinen Etat gekämpft und erst nach einer Woche Auseinandersetzung zugestimmt, dass von seinem Haushalt von 20 Milliarden D-Mark vorerst nur 19 Milliarden D-Mark ausgegeben werden durften. Möller hatte sich mit einer Rücktrittsdrohung gegen die Ausgabenwünsche im Kabinett durchgesetzt.16 Möller erreichte den Verzicht auf die Verdoppelung des Arbeitnehmerfreibetrags auf den 1. Juli und die Verschiebung des Abbaus der dreiprozentigen Ergänzungsabgabe auf den 1. Januar 1971. 17 Das Kabinett war zu diesem Zeitpunkt gespalten in diejenigen, die wie Möller mit Steuererhöhungen im keynesianischen Sinne gegen die Hochkonjunktur durch die Drosselung der Ausgaben vorgehen wollten und einer Gruppe um Brandt und Genscher, die die Konjunktur für das kommende Jahr nicht in die Gefahr bringen wollten, abzukühlen. Der Haushalt sollte dem Bundestag Mitte Februar 1970 vorgelegt werden. Selbst in den Augen einiger Kabinettsmitglieder war der Haushalt nicht restriktiv genug ausgefallen. Die Mehrausgaben würden sich trotz Möllers Vorgaben voraussichtlich für das Jahr 1970 auf sieben Milliarden D-Mark belaufen.18 Die Frage stellt sich, ob diese erste Auseinandersetzung in der sozialliberalen Koalition über den Haushalt, der noch viele weitere folgen sollten, eine neue Qualität besaß und die Ausgabenpolitik, immerhin ein Zuwachs von 8,8 Prozent, Ausdruck einer typischen Neigung der Sozialdemokratie war, Geld für linke Gesellschaftsprojekte aufzuwenden und dabei keine Rücksicht auf den finanziellen Rahmen zu nehmen. Um diese Frage zu beantworten, ist es an dieser Stelle sinnvoll, sich die Ausgaben des ersten sozialliberalen Haushalts genauer anzusehen. Dabei wird deudich, dass es nicht originär sozialliberale „gesellschaftspolitische Reformen" waren, die die Ausgaben des Kabinetts Brandt nach oben trieben. Denn die größten zusätzlichen Ausgabenposten hatten mit „inneren Reformen" wenig zu tun, sondern betrafen Landwirtschaft, Verteidigung und Personal oder waren noch in der Zeit der großen Koalition unter Finanzminister Strauß beschlossen worden. Der Sachverständigen Rat stellte im Herbst 1970 fest: „Freilich war schon Ende 1969 abzusehen gewesen, daß sich die beabsichtigte Steigerungsrate von 4 ν. Η nicht einhalten lassen würde. Denn die Personalausgaben wurden - tarifvertraglich bedingt - kräftig erhöht, die Kriegsopferversorgung wurde beträchdich verbessert und für Agrarsubventionen mußte wegen der Aufwertung mehr ausgegeben werden; zudem war die Basis für den Vorjahresvergleich im ersten Halbjahr 1970 gerade beim Bund besonders niedrig."19 Möller bezifferte den Mehrbedarf der aus der Ära Strauß „übernommenen Verpflichtungen" auf 7,3 Milliarden D-Mark für die Bereiche Agrarfinanzierung, verbesserte Kriegsopferversorgung und Kindergeld.20

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Die Zeit, Nr. 5/25, 30. Februar 1970, S. 6. Der Spiegel, Nr. 53/2329. Dezember 1969, S. 32 f. Der Spiegel, 4/24, Nr. 19. Januar 1970, S. 30ff. Der Volkswirt, Nr. 2/24, 9. Januar 1970, S. 13 f. Sachverständigenrat, Jahresgutachten 1970/71, S. 34. Der Spiegel, 4/24Nr. 19. Januar 1970, S. 30 ff.

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Insgesamt wuchsen vier Ausgabenposten stärker als eine Milliarde D-Mark. Das waren Landwirtschaft und Ernährung mit über 2 Milliarden D-Mark, Arbeit mit mehr als 1,4 Milliarden D-Mark, Verteidigung mit über 1,3 Milliarden D-Mark und Verkehr mit über einer Milliarde D-Mark. Der Gesamtzuwachs sollte schließlich, wie schon erwähnt, laut Finanzbericht bei fest acht Milliarden D-Mark liegen und der Gesamthaushalt von 80,8 auf 88,8 D-Mark ansteigen.21 Die Landwirte erhielten zur Kompensation der Aufwertung einen Einkommenssteuerausgleich von 1,7 Milliarden D-Mark. Die Kosten für die EWG-Marktordnungen schlugen mit 1,4 Milliarden D-Mark zu Buche, für den gemeinsamen Agrarfonds wurden zusätzlich 600 Millionen D-Mark ausgegeben und für den Devisenausgleich eine Milliarde. Zu den großen zusätzlichen Ausgabenposten in den übrigen Bereichen gehörte die Aufstockung der Kriegsopferrente um 1 Milliarde D-Mark und 700 Millionen zusätzlich für die Wohnungsbau- und Sparprämie, die Lohnfortzahlung, das Wohngeld und den Wegfall des Krankenversicherungsbeitrages fur Rentner.22 Der Wissenschaftsetat wurde um 940 Millionen D-Mark, vor allem fur den Universitätsbau, aufgestockt und der Verkehrsetat erhielt zusätzlich 872 Milliarden D-Mark, und 150 Mio. D-Mark wurden für den Krankenhausbau ausgegeben. Dieses Bild spiegelte sich auch bei den Zuwächsen der einzelnen Ressorts wieder. Die größten relativen Zuwächse verzeichneten mit 10 Prozent das Verteidigungsministerium und Ertels Landwirtschaftsministerium mit 41 Prozent.23 Dass die Landwirte, die wohl nicht gerade als Avantgarde sozialdemokratischer Reformvorstellungen gelten können, ihre Interessen in diesem Maße wahren konnten, hatte sicher auch etwas mit der politischen Konstellation zu tun. Mit Josef Erd war es gelungen, einen Exponenten des rechten Parteiflügels der Liberalen in die Kabinettsdisziplin einzubinden. Das Landwirtschaftsministerium wurde auf Erd zugeschnitten und ihm wurde ein finanzieller Gestaltungsspielraum eingeräumt, der dem Ressort unter anderen Umständen wohl nicht in derselben Größenordnung zur Verfugung gestanden hätte.24 Dieser Uberblick über die Ausgabenzuwächse ist insoweit interessant, als er zeigt, dass von einer authentisch sozialdemokratischen Reformpolitik in der Ausgabenpolitik nicht die Rede sein konnte, sondern der Ausgabenschwerpunkt stattdessen auf so „klassischen" Ausgabenblöcken wie Landwirtschaft und Verteidigung lag. Wie sich auch in den kommenden Jahren zeigen sollte, war die Auseinandersetzung um die Reformpolitik im Großen und Ganzen viel Lärm um nichts. Dass man die Ausgabenpolitik im sozialen Bereich nicht als ein originär linkes Programm ansehen kann, macht nicht nur der Sachverhalt deudich, dass viele der Ausgabenerweiterungen schon in der Zeit der Großen Koalition beschlossen worden waren, sondern auch der Umstand, dass die CDU/CSU in der Opposition Forderungen formulierte, die noch darüber hinausgingen. So etwa bei der Erhöhung der Kriegsopferrenten. Die Union lehnte die entsprechende Vorlage der Bundesregierung im Bun21 22

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BMF, Finanzbericht 1970, S. 100. Der Volkswirt, Nr. 2/24, 9. Januar 1970, S. 13 f.: Die Bundesregierung rechtfertigte die Haushaltsexpansion damit, dass diese durch die Überschüsse in den Sozialversicherungen kompensiert wurde. Der Spiegel, Nr. 4/24, 19. Januar 1970, S. 30ff. Arnulf Baring, Machtwechsel, S. 179 f.

14 desrat ab und forderte eine noch stärkere Erhöhung. 25 Ein aussagekräftiges Beispiel dafür, dass die Ausweitung der Sozialausgaben quasi ein Gemeinschaftsprojekt aller Parteien war, zeigt besonders deudich die Rentenreform 1972, die an späterer Stelle behandelt wird. Arnulf Baring hat recht, wenn er in „Machtwechsel" feststellt, die Reformbemühungen der sozialliberalen Koalition hätten sich gegenüber denen der großen Koalition „bescheiden" ausgenommen und hätten auf eher „marginalen Gebieten" gelegen. Barings Aussage ist zuzustimmen: „In zentralen Bereichen gab es nach 1969 keine Reformen." 26 Dass sich die Ausweitung der Staatsaufgaben um eine grundsätzliche Zeittendenz handelte, die im Boom begründet war, zeigt sich auch im Vergleich der Ausgabenentwicklung von Bund und Ländern. Der Bund erhöhte seine Ausgaben mit einer Steigerungsrate von 9,5 Prozent weniger stark als Länder und Gemeinden. Trotz der Haushaltssperren erhöhten die Länder ihre Ausgaben um über 10 Prozent und die Gemeinden um knapp 11 Prozent 2 7 Die unionsregierten Bundesländer verhielten sich haushalspolitisch nicht wesendich vernünftiger als die Bundesregierung oder die sozialdemokratischen Bundesländer. Die unionsregierten Bundesländer hatten - das liegt in der Natur des politischen Wettbewerbs - nur ein geringes Interesse daran, sich an die Konjunkturvorgaben aus Bonn, die eine Deckelung der Ausgaben forderten, zu halten. Der rheinland-pfälzische Ministerpräsident Helmut Kohl wurde vom SPIEGEL mit dem Satz zitiert, er sei nicht bereit fixr die Sozis Konjunkturpolitik zu betreiben. Auch wenn diesem Zitat von Seiten des SPIEGEL eine tendenziöse Absicht zugrunde lag, sprechen die Zahlen doch dafür, dass der SPIEGEL Kohls Ansicht durchaus korrekt wieder gab und dass den C D U / C S U regierten Ländern nicht weniger an einer expansiven Haushaltspolitik gelegen war als der sozialliberalen Bundesregierung. Die Zahlen sprechen hier fur sich: In Rheinland-Pfalz wurde der Haushalt 1970 um fast 14 Prozent ausgeweitet, in Schleswig-Holstein um 12,9, der Haushalt in Bayern um 13,7 und im Saarland sogar um über 15 Prozent. 28 Als die Wochenzeitung Der Volkswirt ebenfalls den Zuwachs des rheinland-pfälzischen Landeshaushaltes dem durchschnittlichen Wachstum der Länderhaushalte von 10 Prozent gegenüberstellte,29 protestierte Kohl gegen die Darstellung in einem Leserbrief, der Volkswirt habe nur vom SPIEGEL abgeschrieben. Woraufhin der Volkswirt darauf verwies, nur die offiziellen Zahlen wiedergegeben zu haben. 30 Auch die weitere Entwicklung zeigte, dass die Länder noch schlechter wirtschafteten als der Bund. Die Einnahmen der Länder nahmen dank steigendem Steueraufkommen und Bundeszuweisungen stärker zu als die Einnahmen des Bundeshaushaltes. Dennoch hatten die Länder ein größeres Problem mit ihrem Defizit, da auch die Ausgaben im Vergleich zum Bund stärker stiegen, noch schneller als die Einnahmen. 31 25 26 27 28 29 30 31

Der Spiegel, Nr. 53/23, 29. Dezember 1969, S. 32 f. Baring, Machtwechsel, S. 197 f. Jahresgutachten 1970/71, S. 34. Der Spiegel, Nr. 8/24, 16. Februar 1970, S. 29. Der Volkswirt, Nr. 9/24, 27. Februar 1970, S. 8. Der Volkswirt, Nr. 13/24, 26. März 1970, S. 8. Monatsberichte, September 1974, S. 25.

15 Die Blicke der interessierten Öffentlichkeit waren jedoch auf die Bundesebene und auf das Verhalten der neuen Bundesregierung gerichtet. Möllers Haushaltspolitik in der Phase 1971/72 war durch Autoritätsverlust gekennzeichnet. Der Drang angesichts sprudelnder Steuerquellen die Etats auszuweiten, war bei Möllers Kabinettskollegen so stark, dass er nicht in der Lage war, seine Vorgaben durchzusetzen. Dies führte schließlich zu seinem Rücktritt. Vor dem Hintergrund des Wirtschaftsbooms, der Vollbeschäftigung schuf und enormen Steuermehreinnahmen in die Kasse spülte, wollte kein Akteur der Spielverderber sein. Der Druck die Ausgaben zu erhöhen, um die Wähler zu erfreuen, nahm zu. Die Regierung beschloss fiir den Haushalt 1971 einen Zuwachs von 12 Prozent. Die Begründung, die restriktive Haushaltspolitik der Jahre 1969 und 1970 hätte zu einem „hohen Ausgabenstau" gefuhrt, war bezeichnend. Möller versuchte diese offensichdiche Schwäche seiner Finanzpolitik öffentlich so zu rechtfertigen: „Wir sind zu der Überzeugung gelangt, daß sich eine weitere Verzögerung von Investitionen für Wissenschaft und Bildung, Wohnungsbau und Verkehr sowie bei der Verteidigung nicht verantworten läßt." Möller wehrte sich gegen die Dramatisierung der Staatsverschuldung und meinte nun eine Ausweitung der Neuverschuldung sei der Erhöhung der Steuern vorzuziehen: „Langfristig sind wir der Meinung, daß es sozialer ist, wenn unserer Mitbürger über Staatspapiere oder ähnliches an der Finanzierung unserer Krankenhäuser und unserer Straßen beteiligt sind, als wenn wir ihnen nur Steuern abnehmen." 32 Möllers Haushaltspolitik befand sich seit der Regierungsübernahme noch immer in demselben politischen Dilemma. Einerseits wuchs seit der Wahl der Erwartungsdruck endlich die versprochene Reformpolitik umzusetzen, was zusätzlicher Finanzmittel bedurft hätte, auf der anderen Seite stand das keynesianische Credo der Konjunkturpolitik, das im Aufschwung „kontrastive" Maßnahmen zur Eindämmung der Inflation vorsah. Während sich Möller wenigstens rhetorisch stärker der Reformpolitik verpflichtet fühlte, blieb Schiller seinen wirtschaftspolitischen Grundüberzeugungen, die er im Stabilitäts- und Wachstumsgesetz in Gesetzesform gegossen hatte, treu. Nach außen versuchten Möller und Schiller, „Eintracht" zu demonstrieren. Ihre sachlichen und persönlichen Kontroversen ließen sich jedoch vor der Offendichkeit nicht verbergen. Schiller wollte die Finanzpolitik im Sinne seiner konjunkturpolitischen Vorstellungen einsetzen. Darum setzte er sich für die Aufspaltung des Haushaltes in einen Kern und einen Eventualhaushalt ein, so wie das die keynesianische Dogmatik vorsah. Möller setzte sich jedoch mit einem einheidichen Etat von 100 Milliarden D-Mark durch. Wegen der hohen Ausgaben geriet Möller jedoch nach der Sommerpause 1970 immer stärker unter Druck. Finanziell besonders freigiebig zeigte sich der liberale Innenminister Hans-Dietrich Genscher, der der O T V große Zugeständnisse machte. Er bot bis zu 11 Prozent für die Beschäftigten des öffendichen Dienstes an, ohne Möller in den Prozess einzubeziehen. Auch andere Kabinettsmitglieder nahmen Möllers Autorität nicht ernst und ignorierten seine Anweisungen. Der Finanzminister stand Mitte 1970 vor einem Scherbenhaufen. Im Juli 1970 waren die Ausgaben gegenüber dem Vorjahr entgegen Möllers Planungen um 19 Prozent gegenüber dem Vorjahr gestiegen. 33 32 33

Die Zeit, Nr. 38/25, 18. September 1970, S. 4. Die Zeit, Nr. 39/25. 25. September 1970, S.25

16 Die Diskussion um die Ausweitung der Ausgaben des Bundeshaushalts zeigt, dass alle Parteien, sich in ihrer Argumentation im Rahmen der keynesianischen Argumentation bedienten, dass die Ursache der Inflation in der Fiskalpolitik zu suchen war. Die wachsenden Ausgaben des Bundeshaushalts wurden daher nicht primär wegen ihrer Wirkung auf die Staatsverschuldung und die langfristige Zinsbelastung, sondern in Hinblick auf die Preissteigerungen kritisiert. Franz Josef Strauß nannte den Haushalt eine „Inflationsquelle erster Ordnung.". 3 4 Alex Möller verteidigte seine Politik mit einer harschen Attacke auf die Opposition, denn er lehnte den Begriff Inflation aufgrund seiner emotionalen Bedeutung für die Bevölkerung grundsätzlich ab. 35 Möller konnte jedoch nicht verbergen, dass er die Finanzpolitik der sozialliberalen Bundesregierung nach seinen Anfangserfolgen nach der Regierungsbildung nicht mehr im Griff hatte. Allein die von Genscher ausgehandelten Besoldungsverbesserungen kosteten zusätzliche 300 Mio. D-Mark. Hinzu kam der noch nicht ausgehandelte Devisenausgleich. Möller hatte die Steuereinnahme eine Mrd. D-Mark zu hoch angesetzt. Schon am 17. Dezember 1970 hatte der Finanzplanungsrat festgestellt, dass schon die Erwartungen fxir 1970 zu hoch angesetzt waren. Die exakten Zahlen wurden auf Anweisung Möllers bis zu der entscheidenden Kabinettssitzung unter Verschluss gehalten. 36 Auch in der Steuerpolitik geriet Möller ins Schleudern. Der Wirtschaft hatte Möller immer wieder versichert, dass die von ihm geplante Steuerreform die Steuerlastquote nicht erhöhen werde. Dies war mit Genscher und der FDP vereinbart worden. Am 28. April 1970 versicherte Möller vor Vertretern des DIHT: „Zunächst darf ich feststellen, daß die Steuerreform die steuerlichen Belastungen der Steuerpflichtigen, also die volkswirtschaftliche Steuerquote möglichst unverändert lassen sollte." Vor dem SPD-Parteitag begann Möller, seine Haltung zu korrigieren. Möller erklärte: „Denn fur mich handelt es sich bei der volkswirtschaftlichen Steuerlastquote nicht um eine heilige Kuh, sondern um einen Ochsen, der den Karren versäumter Reformen und vernachlässigter Infrastrukturen wieder aus dem Dreck ziehen muß." 3 7 In einer Reihe von Interviews klagte Möller über die sinkende Steuerlastquote und schloss Steuererhöhungen fur das Jahr 1972 nicht aus. Aber auch fur die Ausgabenseite hielt Möller keine populäre Botschaft bereit. Möller räumte ein, man habe sich „zu viele Illusionen" im Hinblick auf die inneren Reformen gemacht. Mit diesen Äußerungen brüskierte Möller seine Partei, die weiterhin an die Möglichkeiten der Reformpolitik glauben wollte. 38 Die ZEIT kommentierte: „Solches Hin und Her muß die Glaubwürdigkeit einer Regierung erschüttern. Zu viele im Lande erinnern sich noch daran, daß in der Regierungserklärung sogar Steuersenkungen versprochen worden waren. Heute ist davon keine 34

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Der Spiegel, Nr. 40/24, 28. September 1970, S. 29. Diese Auseinandersetzung um die Ursache der Inflation wurde mit großer Polemik gefuhrt Möller griff im Bundestag die Opposition frontal an: „Die die diese Weltkriege und die darauf folgende Inflation zu verantworten haben, stehen ihnen geistig näher als der SPD." Daraufhin verließen die Abgeordneten der CDU/CSU-Fraktion den Saal. Der Spiegel, Nr. 40/24, 28. September 1970, S. 36 ff. Wirtschaftswoche/Der Volkswirt, Nr. 3/25, 15. Januar 1971, S. lOf. Die Zeit, Nr. 22/25, 29. Mai 1970, S. 25 f. Die Zeit, Nr. 5/25, 29. Januar 1971, S. 25.

17 Rede mehr, die finanzpolitischen Absichten des Kabinetts Brandt bleiben im Dunkeln." 39 Die ZEIT hielt Steuerendastungen und Reformpolitik fur nicht miteinander vereinbar: ,Ausbau des Sozialstaates, Umweltschutz, mehr Straßenbau und Milliardeninvestitionen in die Bildung - wenn die Regierung auch nur einen Teil ihrer Versprechungen erfüllen will, wird sie um drastische Steuererhöhungen nicht herumkommen." Bereits mit dem Haushalt 1972 werde fur die Regierung die „Stunde der Wahrheit" kommen. 40 Derweil wurde im Kabinett Brandt nach Möglichkeiten gesucht, die „Reformen" durch Einsparungen an anderer Stelle zu finanzieren. Am Tag nach Aschermittwoch 1971 kam es darüber zum Streit im Kabinett. Im Auftrag von Horst Ehmke hatten fünf Ministerialdirektoren Sparvorschläge zusammengestellt, um wenigstens den Kern des sozialliberalen Reformprogramms finanzieren zu können. Die erarbeiteten „Herabsetzungsmöglichkeiten" betrafen vor allem den Verteidigungsetat, das Verkehrsministerium, das Agrarministerium und das Sozialbudget, also genau die Etats, die die größten Zuwächse zu verzeichnen hatten. Aus diesen Bereichen wollte Ehmke in den nächsten drei Jahren neun Milliarden D-Mark zur Finanzierung der angekündigten Reformen abzweigen. Verteidigungsminister Helmut Schmidt war nicht bereit, diese Einschnitte in sein Ressort zu akzeptieren. Schmidt griff Ehmke persönlich an und wies auf den Zusammenhang zwischen langfristigen, sicherheitspolitischen Verpflichtungen und Ostpolitik hin. Auf der anderen Seite waren auch die Möglichkeiten die Einnahmen zu vergrößern begrenzt. Denn das andere Schwergewicht der Regierung, Karl Schiller, sprach sich nun deudich gegen Steuererhöhungen aus. Allenfalls eine Erhöhung der Verbrauchssteuern wollte Schiller zugestehen. Jetzt war es an Möller in dieser verfahrenen Situation eine Lösung zu finden und in Einzelgesprächen die Ausgabenwünsche der Minister herunterzuhandeln. 41 Die Opposition wollte von der Uneinigkeit der Regierung profitieren und legte den Finger in die Wunde. Die CDU/CSU-Fraktion fragte die Regierung nach den Plänen für die Realisierung der in der Regierungserklärung angekündigten 480 Reformvorhaben. Die Regierung antwortete in einem 107 Seiten langem Papier. Dieses Papier offenbarte die Radosigkeit der Regierung, denn es wurden dort weder Prioritäten noch Finanzierungsmöglichkeiten genannt. Das Papier bezog sich auf den nicht mehr realisierbaren Finanzplan aus dem Jahr 1970. 4 2 Nun richtete sich die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit „auf den Versuch, die revidierte Reformpolitik mit einer revidierten mittelfristigen Finanzplanung in Einklang zu bringen." Schon im alten Finanzplan war fur den Zeitraum zwischen 1972 und 1975 eine Verschuldung von 25 Milliarden D-Mark vorgesehen. Ein Sprecher des BDI sagte, es bestehe die Gefahr, „daß letztlich die Finanzierung der inneren Reformen nicht nur zu einer Überforderung der Haushalte, sondern auch zu einer Überforderung der Wirtschaft führe. 43

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Die Zeit, Nr. 4/26, 22. Januar 1971, S. 25. Die Zeit, Nr. 5/25, 29. Januar 1971, S. 25. Der Spiegel, Nr. 10/25, 1. März 1971, S. 34. Der Spiegel, Nr. 12/25, 15. März 1971, S. 23f. Wirtschaftswoche/Der Volkswirt, Nr 12/25, 19. März 1971, S. 12f.

18 Finanzminister Möller konnte dem Druck zwischen den Anforderungen der Haushaltspolitik und den Wünschen der Ressorts sowie den reformpolitischen Erwartungen nicht mehr länger standhalten. Am 25. Februar 1971 beriet die Regierung über den Haushalt 1972 und die mittelfristige Finanzplanung. Alex Möller stieß mit seinen Vorstellung auf den Widerstand der Minister. Am lautstärksten artikulierte Verteidigungsminister Schmidt die finanziellen Interessen seines Ressorts und wies Möllers Sparvorschläge zurück. 44 Indessen sah es nicht so aus, als würden die finanziellen Spielräume größer werden, eher im Gegenteil: Im März 1971 kam das Münchner IFO-Institut für Wirtschaftsforschung in einer Vorausberechnung zu dem Ergebnis, dass die Einnahmen von Bund und Ländern bis 1975 um 35 Milliarden D-Mark hinter den Erwartungen zurückbleiben würden. Davon würden 13 Milliarden D-Mark auf den Bund entfallen.4-' Der zweite schriftliche Durchgang zur Festsetzung des Haushaltes führte zu einer Verschärfung der Gegensätze. Die neuen Forderungen der Ressorts hätten zu Mehrausgaben von 20 Milliarden D-Mark fur das Haushaltsjahr 1972 gefuhrt. Am 13. Mai sollte Möller dem Kabinett über den Stand der Haushaltsgespräche berichten. 46 In dieser Situation verlor Alex Möller die Nerven. In der Nacht vom 11. Zum 12. Mai 1971 nahm Möller eine haushaltspolitische Bestandsaufnahme mit dem Stand vom 5. Mai fur das Jahr 1971 auf. Am 9. Mai waren die Wechselkurse freigegeben worden. Dies machte aus Möllers Sicht Maßnahmen zur Stabilisierung des Haushaltes dringend notwendig. Möller fühlte sich jedoch politisch isoliert. Seit inzwischen schon zweieinhalb Monaten verweigerten seine Kabinettskollegen ihm das notwendige Entgegenkommen und lehnten seine Vorschläge zur Sicherung des Haushalts 1972 ab. Unter diesen Umständen kam Möller als Ergebnis seiner Bestandsaufnahme zu dem Schluss, dass es fur ihn im Kabinett keine Perspektive gab. Am Vormittag des 12. Mai 1971 verfasste Möller sein Rücktrittsgesuch an den Bundeskanzler. Seinem Schreiben legte Möller eine Dokumentation über die Haushaltslage 1972 und die mittelfristige Finanzplanung bis 1975 bei. Am Vormittag des 13. Mai 1971 führte Möller ein letztes Gespräch mit dem Bundeskanzler, bevor der Bundespräsident konsultiert wurde. Die C D U / C S U stellte am 29. Mai 1971 eine Große Anfrage, die sich mit dem Rücktritt des Finanzministers befasste. Möller erklärte im deutschen Fernsehen gegenüber Report, er habe bereits am 25. Februar eine erste Bilanz vorgelegt und habe um eine Reduzierung der Ressortausgaben gebeten. Brandt habe sich auch später noch unterstützend eingeschaltet. Dennoch hätten sich die Forderungen der Kabinettskollegen nicht verringert, sondern noch erhöht. 47 Der erste Finanzminister der sozialliberalen Koalition war gescheitert. Bis zum Ende der sozialliberalen Koalition sollten noch fünf weitere, Schiller, Schmidt, Apel, Matthöfer und Lahnstein, folgen.

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Baring, Machtwechsel, S. 650. Baring, Machtwechsel, S. 646. Baring, Machtwechsel, S. 650. Alex Möller, Genösse Generaldirektor, München 1980 S. 482 ff.

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Zusammenfassung: Alex Möller als Finanzminister Möller hatte einen starken Start, da er durch seine Rücktrittsdrohung die Forderungen seiner Kabinettskollegen begrenzen konnte. Dies war besonders schwer, weil die überhitzte Wirtschaft immer mehr Geld in die Kassen spülte. Die Länder und die Gemeinden verhielten sich entsprechend und weiteten ihre Ausgaben noch stärker aus als der Bund. Dies taten sowohl sozialdemokratische als auch von der C D U / C S U regierte Länder und Gemeinden. Die Ausgabensteigerungen im ersten sozialliberalen Haushalt waren zum Teil bereits durch Beschlüsse der Großen Koalition bestimmt. Der Großteil der übrigen Ausgaben ging in die Bereiche Verteidigung, Landwirtschaft und Personal, hatten also mit einer spezifisch sozialliberalen oder linken Reformpolitik nicht viel zu tun. Die FDP war kein liberales Korrektiv zu einer sozialdemokratischen Ausgabenpolitik. Die FDPMinister Genscher und Ertl gehörten durch die Erhöhung der Personalkosten im Öffentlichen Dienst und großzügige Hilfen für die Landwirtschaft zu den Ausgabentreibern im Kabinett, an denen Möller scheiterte. Es zeigte sich bald, dass Möller dem Amt nicht gewachsen war und nicht die Autorität besaß, sich gegenüber den Kabinettskollegen durchzusetzen. Seine Vorgaben wurden von ihnen einfach missachtet. Die Befürchtungen bezüglich der hohen Ausgabensteigerungen betrafen aber nicht wie in den kommenden Jahrzehnten die Staatsverschuldung und die zukünftige Zinsbelastung an sich, sondern die Kritik trat im keynesianischen Gewand auf. Nach Keynes Theorie sollten zu Zeiten von Rezession und Depression die Staatsausgaben ausgeweitet werden und in Zeiten den Booms eingeschränkt und die Schulden zurückbezahlt. Es bewahrheitete sich die oft in Bezug auf die keynesianische Konjunkturtheorie vorgebrachte Kritik, dass es einfacher war, in Krisenzeiten die Ausgaben zur Ankurbelung der Wirtschaft auszuweiten als einen Boom durch Ausgabeneinschränkung und Abgabenerhöhung abzukühlen. Entsprechend dieser Theorie wurde für die Inflation die „Fiskalpolitik", also Möllers Haushalt verantwordich gemacht, was dieser empört von sich wies und ohne es vermudich zu wissen damit auch recht hatte. Denn in späteren Jahren setzte sich die Sichtweise der Monetarismus durch, dass nicht die Fiskal- sondern die Geldpolitik fiir die Geldentwertung verantwordich war. Das fiskalpolitische Argument verschwand dann auch aus der Rhetorik von Regierung und Opposition, damals war diese Rhetorik jedoch noch sehr lebendig. Möller geriet immer mehr in eine Zwickmühle: Ihm gelang es nicht die Ausgabenpolitik seiner Kabinettskollegen unter Kontrolle zu bekommen, außerdem sollten zusätzliche Mittel für die angekündigten Reformen aufgebracht werden und die ersten tastenden Versuche Steuererhöhungen in die Debatte einzubringen, stießen auf massive Ablehnung. Damit war jeder mögliche Weg fur Möller verbaut. Unter diesen Bedingungen flüchtete Möller aus dem Amt, sein Nachfolger wurde sein Rivale Wirtschaftsminister Karl Schiller.

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Schiller als Superminister 1971/72 Einen Tag nach Möllers Rücktritt am 12. Mai 1971 entschieden sich Brandt und Wehner dafür, Wirtschaftsminister Karl Schiller zusätzlich die Verantwortung für das Finanzministerium zu übertragen. 48 Am 13. Mai gab Regierungssprecher Conrad Ahlers bekannt, dass Schiller Möllers Nachfolger werden würde. Brandt betonte, dass dies keine Zwischenlösung sei, sondern wenigstens für die ZEIT dieser Legislaturperiode ein neues Ministerium geschaffen werden sollte, das das Wirtschafts- und das Finanzministerium umfasste. Schiller wurde die Berufung eines neuen Staatssekretärs genehmigt und noch am selben Tag wurde Hans Hermsdorf als parlamentarischer Staatssekretär berufen. Schiller war das einzige Kabinettsmitglied, das über zwei parlamentarische Staatssekretäre verfügte. 49 Schiller besaß seit dem Ende der Rezession 1966/67, die seiner Globalsteuerung zugeschrieben wurde, in der Öffentlichkeit und in Wirtschaftskreisen hohes Ansehen. Der Vertrauensvorschuss war deshalb trotz Schillers schwieriger Persönlichkeit groß. Die Wirtschaftswoche schrieb über die Übernahme des Finanzministeriums durch Karl Schiller: „Was Schiller jetzt versucht, könnte ein Minister der Union (...) wohl schwerlich besser machen." 50 Schiller wollte den Ausgabenzuwachs auf 8,5 Prozent begrenzen. Besonders der immense Zuwachs der Personalausgaben bereitete dem Minister Sorgen. Im Jahr 1971 stiegen die Personalausgaben um 15 Prozent. Auch der Trend bei den Agrarausgaben war ungebrochen. Durch die Beschlüsse der EWG mussten die Hilfen fur Landwirte noch weiter ausgeweitet werden. Schiller plante in den Chefgesprächen die Ansprüche der Ressorts abzuwehren und damit die Stabilitätspolitik zu stützen. Arbeitsminister Arendt und Verkehrsminister Leber leisteten jedoch heftigen Widerstand gegen Abstriche bei ihren Etats. Nun war es an Brandt sich zwischen der Stabilitätspolitik seines Superministers und den Forderungen der Minister und der Partei-Linken zu entscheiden.51 Leber galt zu diesem Zeitpunkt als Schillers härtester Widersacher im Kabinett und die Konfrontation führte bis hart an die Grenze zum Bruch zwischen dem Kabinett und dem Wirtschafts- und Finanzminister. Leber hatte öffentlich zum Ziel erklärt, dass in der Bundesrepublik kein Bürger weiter als 20 Kilometer von der Autobahn entfernt wohnen sollte. 52 Lebers Verkehrsministerium hatte einen Bedarfsplan aufgestellt, der dafür bis 1985 den Einsatz von 150 Milliarden D-Mark fur den Straßenbau vorsah. Noch fehlten Leber 55 Milliarden D-Mark, um diesen Plan zu verwirklichen.53 Leber forderte außerdem zusätzliche Zuschüsse fur die Bahn und die Post. Die Auseinandersetzung zwischen Schiller und Leber ging so weit, dass nach öffentlichen Angriffen Lebers wegen der KfeSteuer Schiller sogar seinen Rücktritt anbot. 54

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Torben Lütjen, Karl Schiller, Superminister Willy Brandts, Bonn 2007, S. 304. Archiv der Gegenwart, 16256 f. Wirtschaftswoche/Der Volkswirt, Nr. 21/25, 21. Mai 1971, S. 10. Der Spiegel, Nr. 28/25, 5. Juli 1971, S. 21 f. Michael Hascher, Politikberatung durch Experten, Frankfurt/ New York, 2006, S. 263. Wirtschaftswoche/DerVolkswirt/Der Aktionär, Nr. 30/25, 23. Juli 1971, S. 4. Der Spiegel, Nr. 33/25, 9. August 1971, S. 20 f.

21 Doch Schiller konnte sich in dieser Phase noch auf seinen einzigen politischen Anker, Bundeskanzler Willy Brandt, verlassen. Schiller zog eine Obergrenze. Danach sollte das Haushaltsvolumen um nicht mehr als acht Milliarden D-Mark auf 107 Milliarden D-Mark steigen. Die Forderungen der Ressorts gingen um sechs Milliarden D-Mark darüber hinaus.55 Bei den Chefgesprächen in der zweiten Augusthälfte versuchte Brandt vom Kanzleramt aus zu vermitteln. Schiller gelang es einen Rumpf-Etat von 107 Milliarden D-Mark festzusetzen, hinzu kam ein Eventualhaushalt fiir den Fall eines Konjunktureinbruchs von drei Milliarden D-Mark. Geboten war besonders die Dämpfung der Personalausweitung. Im Jahr 1972 würden die Personalkosten auch ohne Tariferhöhung nur durch die zusätzlichen Einstellungen und Beförderungen um 6,2 Prozent wachsen.56 Zu diesem Zeitpunkt stand Brandt noch uneingeschränkt hinter seinem Superminister. Allein durch seine Unterstützung konnte Schiller die Forderungen des Kabinetts abwehren. Regierungssprecher Conrad Ahlers erklärte: „Der Kanzler hat ihm auch eisern geholfen. Schiller ist sehr happy." Schiller konnte sich mit Brandts Unterstützung gegen Gegner durchsetzen, die einen viel stärkeren Rückhalt in der SPD besaßen als er selbst: Schmidt war mit seiner Forderung nach einer Anhebung der Einkommenssteuer und Ehrenberg mit seiner Forderung nach Verlängerung der Investitionsabgabe gescheitert. Eine weitere große Welle von Stellenausweitungen konnte Schiller ebenfalls verhindern. Von über 11000 zusätzlich angeforderten Planstellen hatte Schiller nur 484 genehmigt. Helmut Schmidt hatte auf seinem eigenen Feld, dem Verteidigungsetat, seine Interessen gewahrt. Er hatte 10 Prozent an zusätzlichen Mitteln fur die Landesverteidigung durchsetzen können. Umstritten war noch immer die Erhöhung und Verteilung der Einnahmen aus der Mineralölsteuererhöhung zwischen Schiller und Leber.57 Insgesamt hatte Schiller einen beachdichen Erfolg verbuchen können, den durchzusetzen, Möller nicht mehr die Autorität besessen hatte. Dieser Erfolg schaffte jedoch böses Blut unter seinen Kabinettskollegen. Gegen deren vereinigte Kraft konnte Schiller langfristig nicht bestehen. Die Nachricht von Schillers Triumph und die Niederlage der Ressortchefs gelangten über den SPIEGEL an die Offendichkeit. Die Minister waren so erbost, über die Darstellung in dem Magazin, dass nach Schillers Rückkehr aus Rom, eine Woche später, der Superminister erneut die vorgetragenen Forderungen zurückweisen musste.58 Dies verhalf Leber bei der bis dahin noch offenen Frage der Mineralölsteuereröhung zu einem Teilerfolg. Denn schließlich einigte sich die Regierung auf die Erhöhung der Mineralölsteuer um vier Pfennig. Dreiviertel der zusätzlichen Einnahmen sollten in kommunale Verkehrsprojekte fließen, der Rest sollte Lebers Bundesfernstraßenbau zu Gute kommen. Außerdem wurde die Tabak- und die Branntweinsteuer 1972 erhöht. Damit war die Auseineinadersetzung um den Haushalt und die mittelfristige Finanzplanung endlich abgeschlossen. Der Konflikt hatte den ersten sozialliberalen Finanzminister die Flucht ergreifen lassen und Schiller in kurzer Zeit zu einer Rücktrittsdrohung gezwungen. Am Ende hatte Schiller mit dem Rückhalt des Kanzlers einen Erfolg erzielt. Der Verlauf der Auseinanderset55 56 57 58

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Spiegel, Spiegel, Spiegel, Spiegel,

Nr. Nr. Nr. Nr.

33/25, 36/25, 37/25, 38/25,

9. August 1971, S. 20 f. 30. August 1971, S. 21 f. 6. September 1971, S. 24 f. 13. September 1971, S. 24f.

22 zung machte deutlich, dass auch Schillers Tage zwangläufig gezählt sein würden, wenn dieser Rückhalt beim Kanzler schwand. Am 10. September 1971 wurden der Finanzplan des Bundes und der Haushaltsentwurf verabschiedet.59 Die nächste Front, an der Schiller seine Haushaltsplanung verteidigen musste, waren die Gespräche mit den Bundesländern. In den Verhandlungen zeigte sich, dass Schillers Position nicht nur durch die Begehrlichkeiten seiner Kabinettskollegen und die SPDLinke, sondern auch durch Schillers mangelndes Feingefühl und Verhandlungsgeschick gefährdet war. Am 21. September 1971 kam es zur Konfrontation zwischen Schiller und den Länderinteressen im Finanzplanungsrat. Schiller hatte sich schon vor der Sitzung auf den Verteilungsschlüssel zur Verteilung der Mehrwertsteuereinnahmen festgelegt. Schiller wollte 67 Prozent fur den Bund und 33 Prozent fur die Länder, die bisher dreißig Prozent erhalten hatten. Die Länder bestanden aber auf der Anhebung ihres Mehrwertsteueranteils auf 39,8 Prozent im kommenden und auf 42,8 Prozent im darauf folgenden Jahr. Die Ländervertreter verwiesen auf die steigenden Personalkosten der öffentlichen Hand, die zu 40 Prozent auf Kosten der Länder und nur zu 18 Prozent auf Kosten des Bundes gingen. Schiller drohte den Ländern, er könne bei Nichtannahme seines Vorschlages „etwas Besseres mit dem Geld machen und es stabilitätspolitisch richtiger einsetzen." Der Graben zwischen Schiller und den Ländervertretern war nach der vierstündigen Verhandlungsrunde so tief, dass der Finanzplanungsrat zum ersten Mal in seiner Geschichte ohne gemeinsames Kommunique auseinanderging. Nun musste Brandt in Gesprächen mit den Ministerpräsidenten versuchen, den tiefen Graben zwischen Schiller und den Verhandlungspartnern der Länder zu überwinden. 60 Eine Lösung wurde schließlich in einer Viererrunde aus Brandt, Schiller, dem schleswig-holsteinischen Ministerpräsident Stoltenberg, der die Unionsländer vertrat, und dem nordrheinwestfalischen Ministerpräsidenten Heinz Kühn, der die SPD-Länder vertrat, gesucht. Bund und Länder einigten auf einen Mehrwertsteueranteil von 35 Prozent für die Länder und eine zusätzliche Unterstützung für die ärmeren Bundesländer.61 Nach der Einigung mit den Bundesländern über die Verteilung der Mehrwertsteuer versprach Schiller, die sich daraus ergebenen Ausfälle von 1,2 Milliarden D-Mark fiir den Bund würden nicht über Steuererhöhungen finanziert. Schiller wollte den Ausfall stattdessen über die Ausweitung der Kredite finanzieren. Erneut zeigte sich, dass die Ausweitung der Neuverschuldung, der politisch am wenigsten konfliktträchtige Weg war. Die Ausweitung der Verschuldung war quasi das Ventil durch das Dampf abgelassen werden konnte, wenn Verhandlungen festgefahren waren. Die ZEIT kommentierte diese Entwicklung so: „Die rapide Verschlechterung der Finanzlage des Bundes ist von der Öffentlichkeit und dem Parlament bisher erstaunlich gelassen zur Kenntnis genommen worden." 62

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Archiv der Gegenwart, 16538. Der Spiegel, Nr. 40/25, 27. September 1971, S. 34. Der Spiegel, Nr. 49/25, 29. November 1971, S. 92. Die Zeit, Nr. 5/27, 4. Februar 1971, S. 21.

23 Das Jahr 1972 brachte eine Wiederholung der Ereignisse des Jahres 1971. Auch Schiller musste wie Möller erleben, dass sich die Etats schlicht nicht an die vereinbarten Vorgaben hielten. Im Frühjahr 1972 zeigte sich, dass der Haushalt für dieses Jahr, nicht auf 106,6 Milliarden D-Mark stieg, wie von Schiller geplant, sondern um über 11 Prozent auf 109,3 Milliarden D-Mark. Die Neuverschuldung des Bundes musste deshalb von 2,6 auf zusätzliche 7,3 Milliarden D-Mark angehoben werden. Staatssekretär Hermsdorf bekräftigte im kommenden Jahr 1973 dürfe sich „unter keinen Umständen die Verschuldung dieses Jahres wiederholen." 63 Als die Union am 24. April beschloss ein Konstruktives Misstrauen gegen die Regierung einzubringen, waren neben der Ostpolitik der Zustand der Staatsfinanzen die zweite offizielle Begründung. Am 27. April 1972 wurde das Misstrauensvotum abgelehnt. Am nächsten Tag gab Brandt eine Regierungserklärung ab. In der folgenden Abstimmung wurde der Haushalt mit 247 zu 247 Stimmen abgelehnt.64 Schiller suchte einen Kompromiss über den Haushalt mit der C D U / C S U zu erreichen. Der Wirtschafts- und Finanzminister bot an, die Neuverschuldung von 7,3 auf sechs Milliarden D-Mark zu senken. Staatssekretär Hans Hermsdorf verkündete: „Ich gehe felsenfest davon aus, daß der Haushalt nach dem Gespräch verabschiedet wird." Schiller hoffte, dass der Haushalt noch bis Ende Juni 1972 vor der Sommerpause verabschiedet werden würde.6'' Schiller setzte sich jedoch mit seinen Vorschlägen zwischen zwei Stühle. Auf der einen Seite wollte Strauß von der Regierung den „finanzpolitischen Offenbarungseid" erreichen. Der frühere Arbeitsminister der C D U Hans Katzer bekräftigte, in der Finanzpolitik könne es keine Kumpanei geben. Auf der andern Seite besaß Schiller für seine Sparvorschläge, mit denen er der Opposition entgegenkommen wollte, nicht den Rückhalt des Kabinetts. In der Kabinettssitzung kam es über Schillers Sparkurs zum Zusammenprall mit Verteidigungsminister Helmut Schmidt. Damit stand Schiller zwischen dem starken Mann der Opposition Franz Josef Strauß und dem starken Mann des Kabinetts Helmut Schmidt, die beide in die entgegengesetzte Richtung zogen. Die Situation wurde für Schiller nicht einfacher durch den Umstand, dass die Regierung nach dem Scheitern des Etats im Bundestag ihre Ausgaben unter Anwendung des Artikels 111 durchführen musste. Damit konnten nur 80 Prozent der Vorjahresansätze ausgegeben werden. Nach dem Artikel 112 durfte die Bundesregierung darüber hinaus nur bei „unabweisbaren" und „unvorhersehbaren" Bedürfnissen Geld ausgeben. Allerdings zeigten die Präzedenzfälle, dass eine Regierung auch ohne verabschiedeten Haushalt über einen längeren Zeitraum hinweg regieren konnte. Der „Adenauer-Rekord" eines nicht abgesegneten Etats lag bei acht Monaten. 66 Der Artikel 110 des Grundgesetzes, wonach nach dem „Grundsatz der Vorherigkeit" der Haushaltsplan „vor Beginn des Rechnungsjahres durch Gesetz festgestellt" werden musste, war seit dem Bestehen der Bundesrepublik nicht ein einziges Mal eingehalten worden. 67

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Der Spiegel, Nr. 17/26, 17. April 1972, S. 23. Archiv der Gegenwart, S. 17044 ff. Der Spiegel, Nr. 20/26, 8. Mai 1972, S. 30 f. Der Spiegel, Nr. 22/26, 22. Mai 1972, S. 34. Die Zeit, Nr. 19/27, 12. Mai 1972, S. 27.

24 Bei der Lage der Dinge - der Notwendigkeit, die Neuverschuldung zu senken und der Unfähigkeit, die Ausgaben zurückzufuhren - sah Schiller in Steuererhöhungen den einzigen Ausweg. Im Mai 1972 drangen Überlegungen des Superministers an die Öffendichkeit, unter Hinweis auf die konjunkturelle Entwicklung die Steuern zu erhöhen. Mit den zusätzlichen Einnahmen wollte Schiller die Ausgaben finanzieren, die seine Kabinettskollegen ihm abhandeln konnten. Das öffentliche Nachdenken über Steuererhöhungen wurde auch dadurch angeregt, dass die Rückzahlung des Konjunkturzuschlages zum Juni 1972 bevorstand. 68 Schiller stand unter besonderem Druck, weil sich zeigte, dass die Etat-Kürzungen nicht den vorgegebenen Zweck erfüllt hatten. Die beschlossene „globale Minderausgabe" hatte nicht zu den entsprechenden Kürzungen bei den Ressorts gefuhrt. Dies zwang Schiller, den Ressortchefs genauere Auflagen zu machen. Im Mai wurde die „geheime Kabinettsvorlage" von Karl Schiller öffentlich, in der präzise Kürzungen in den Etats vorgeschlagen wurden. Diese direkten Eingriffe in die Etats seiner Kabinettskollegen konnte Schiller aber nicht durchsetzen. Um dennoch auf die vorgesehene Kürzung von 2,5 Milliarden D-Mark zu kommen, wurde schließlich die „globale Minderausgabe" von 1,2 auf 1,34 Milliarden D-Mark aufgestockt, ungeachtet des Umstandes, dass dieser Ansatz, den Etats selbst die Einsparungen zu überlassen, bislang nicht zum Erfolg gefuhrt hatte. Die „echten Kürzungen" betrugen nur 1,16 Milliarden D-Mark. Der Umstand, dass sich in den ersten drei Monaten des Jahres die Ressorts nicht an die Vorgaben gehalten hatten und dass der politische Rückhalt Schillers schwand, ließen es als sehr fraglich erscheinen, ob der mit dem Doppelministerium politisch überforderte Superminister die Kraft haben würde, die „globale Minderausgabe" tatsächlich durchzusetzen. Schiller vereinbarte mit Brandt zehn Wochen später, noch einmal über das Ergebnis der Sparbemühungen zu sprechen. Bis dahin wollte Schiller die überarbeitete Finanzplanung vorlegen. 69 Spätestens zu diesem Zeitpunkt hätte sich das Schicksal des Superministers wohl entschieden. Vermutlich wäre Schiller wie Möller im Jahr davor gezwungen gewesen, angesichts der offensichdichen Missachtung seiner Vorgaben seinen Hut zu nehmen. Doch zu diesem Showdown kam es nicht mehr, zuvor scheiterte Schiller auf einem anderen Politikfeld, der Währungspolitik. Das war für die sozialliberale Koalition ein verträglicherer Abgang als ein Rücktritt des Superministers wegen außer Kontrolle geratener Staatsfinanzen, der eine größere Angriffsfläche fur die Opposition geboten hätte. Bevor wir zur Währungspolitik kommen, betrachten wir, wie sich die Steuerdebatte in diesen Jahren entwickelt hat.

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Die Zeit, Nr. 20/27, 19. Mai 1972, S. 25. Die Zeit, Nr. 24/27, 16. Juni 1972, S. 2 1 .

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Steuerdiskussion 1 9 7 0 - 1 9 7 2 In seiner Regierungserklärung sagte Willy Brandt über die zukünftige Finanzpolitik: „Solidität wird die Richtschnur unserer Finanzpolitik sein." Die in der vorigen Legislaturperiode angekündigte Steuerreform werde die Bundesregierung verwirklichen. Sie erfülle damit das Verfassungsgebot zu Schaffung des „sozialen Rechtstaates". Die Steuerpolitik solle die Voraussetzung für eine breitere Vermögensbildung schaffen, ohne bestehende Vermögen durch konfiskatorische Maßnahmen anzutasten. Die Regierung werde den Bericht der Steuerreformkommission abwarten. Das Ziel sei ein einfacheres, gerechteres und überschaubareres Steuersystem. Die kommenden Aufgaben könnten erfüllt werden, ohne die Steuerlastquote zu erhöhen. Brandt kündigte an den Arbeitnehmerfreibetrag, der bis dahin 240 D M betrug, und die Einkommenssteuergrenze, ab der die Ergänzungsabgabe zu zahlen war, zum 1. Januar 1970 an zu verdoppeln. Ferner sollte die Ergänzungsabgabe zum 31. Dezember 1969 ganz wegfallen. Die Ergänzungsabgabe war 1966 zur Sanierung des Bundeshaushalts eingeführt worden. 70 Insgesamt berieten acht Kommissionen über die Zukunft des Steuersystems. Noch Finanzminister Strauß hatte die 14-köpfige Steuerreformkommission zusammengerufen, um ein einfacheres und gerechteres Steuersystem zu erarbeiten. Der Abschlussbericht der Kommission wurde vom Dezember 1970 auf den Februar 1971 verschoben, weil in der Kommission Uneinigkeit über die Erbschaftssteuer herrschte.71 Neben der von Strauß einberufenen Kommission, die vom Präsidenten der bayerischen Staatsbank Eberhard geleitet wurde, hatte Möller im Finanzministerium eine Arbeitsgruppe unter der Leitung von Ministerialdirigent Klein und in Verantwortung von Staatssekretär Haller geschaffen. Die Steuerkommission beim Parteivorstand der SPD wurde von Erhard Eppler geleitet. Daneben gab es noch eine weitere Kommission beim liberalen Koalitionspartner und vier arbeiteten für die Opposition. 72 Im März 1971 übergab die offizielle Steuerkommission ihr 18000 Seiten umfassendes Gutachten. Das Reformpapier sah ein vereinfachtes Lohnsteuerverfahren vor, das den schwierigen Lohnsteuerjahresausgleich überflüssig machen sollte. Einkommen bis zu einer Höhe von 40 000 D-Mark Jahreseinkommen sollten endastet werden. Den Eingangssteuersatz wollte die Eberhard-Kommission von 19 auf 16 Prozent senken. Die Steuerprogression sollte schon bei den Kleinverdienern einsetzen. Zum Ausgleich sollten die kleinen Einkommen mit großzügigen Freibeträgen entlastet werden. Der steuerfreie Sockelbetrag sollte zu diesem Zweck von 1680 auf 2400 D-Mark angehoben werden. Außerdem sollte jeder Steuerzahler jährlich 30 Prozent seines Einkommens steuerfrei fiir seine Altersvorsorge anlegen dürfen. Der Spitzensteuersatz fur Einkommen über 125 000 D-Mark sollte nach den Kommissionsvorschlägen von 53 auf 55 Prozent angehoben werden. Dagegen sollte die Vermögenssteuer halbiert werden, aber nicht mehr vom steuerpflichtigen Jahreseinkommen abzugsfahig sein. Für die Erbschaftssteuer hatte sich die

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Archiv der Gegenwart, S. 15006. Der Spiegel, Nr. 4 2 / 2 4 , 1 2 . Oktober 1970, S. 36. Wirtschaftswoche/Der Volkswirt, Nr. 48/24, 27. November 1970, S. 15.

26 Kommission darauf geeinigt, sie zu vereinfachen, aber nicht zu erhöhen. Zwei Drittel der Gewerbesteuer sollte erlassen und eine Reihe von Bagatellsteuern ganz abgeschafft werden. Alle Steuererleichterungen zusammengerechnet machten gut 15 Milliarden D-Mark aus. Um diesen Ausfall zu kompensieren, wollte die Eberhard-Kommission die Mehrwertsteuer auf 15 Prozent anheben. 73 Unter der neuen sozialliberalen Bundesregierung hatten die Vorschläge der von Strauß eingesetzten Kommission keine Chance, realisiert zu werden. In der SPD arbeiteten verschiedene Kräfte daran, die Steuerpolitik fur die soziale Umverteilung zu instrumentalisieren. Im Juni 1971 teilte der Bundestagsabgeordnete Günter Wiehert Erhard Eppler mit, dass die Linke noch über die Forderungen der von Eppler geleiteten SPD-Steuerkommission hinausgehen wollte. Am Büß- und Bettag trafen sich 70 linke Delegierte im Dietrich-Bonhoeffer-Haus. Die Gruppe setzte sich zusammen aus den Jungsozialisten um Karsten Voigt und linken Sozialdemokraten um Rudi Arndt. Der Bundestagsabgeordnete Günter Wiehert entwarf die Parteitagsstrategie der Linken. 74 An der Parteibasis waren zum Teil noch radikalere Konzepte formuliert worden. Der Kreis-Verband BerlinReinickendorf hatte zum Beispiel die Forderung nach einem Spitzensteuersatz von 80 Prozent erhoben und ein saarländischer Ortsverein sogar von 90 Prozent. Auf einem der regelmäßigen Treffen der SPD-Linken in Frankfurt hatten sich die Teilnehmer schließlich gegen eine zu extreme Forderung und für einen Spitzensteuersatz von 60 Prozent entschieden.75 Insgesamt waren über 1300 Anträge aus den SPD-Ortsvereinen, Bezirken und Unterbezirken eingegangen. Der SPIEGEL schätzte, dass etwa 80 bis 90 Prozent der Parteibasis hinter den linken Anträgen standen, was sicher nicht zu hoch gegriffen ist. Eppler hatte fur seine steuerpolitischen Vorstellungen eine umfassende Informationsarbeit geleistet, wohingegen Schiller darauf verzichtete, bei der Parteibasis für die Eckwerte seines Ministeriums zu werben. 76 Die Vielzahl der Vorschläge, die zusammen einen „Papierberg von fünf Kilogramm" ausmachten, „erschreckten schon vor Beginn des Parteitages die Öffendichkeit und ließen Schiller furchten, dass die Seriosität der Gesamtpartei in Mideidenschaft gezogen würde. Der Superminister hatte auch ökonomisch schwere Bedenken. Seiner Ansicht nach war es letztlich irrelevant, dass die ins Auge gefassten Beschlüsse wohl spätestens am Einspruch des liberalen Koalitionspartners scheitern würden. Allein die Ankündigungen an drastischen Steuererhöhungen, könnten die Investitionsbereitschaft der Unternehmer dämpfen." 7 7 Zu diesem Zeitpunkt lagen im Wirtschafts- und Finanzministerium nur einige Eckpunkte zur Steuerreform vor. Schillers Position wurde vom SPD-Parteivorstand geschwächt. Dieser lehnte Schillers Antrag ab, dass die sozialdemokratischen Kabinettsmitglieder Schiller Eckwerte unterstützen müssten. Am Abend vor dem Beginn des Parteitages fand eine Besprechung der sozialdemokratischen Kabinettsmitglieder statt. Dabei wurde Schil73 74 75 76 77

Der Spiegel, Nr. 11/25, Der Spiegel, Nr. 48/25, Der Spiegel, Nr. 47/25, Der Spiegel, Nr. 44/25, Lütjen, Schiller, S. 316.

8. März 1971, S. 22 f. 22. November 1971, S. 27f. 15. November 1971, S. 36ff. 25. Oktober 1971, S. 36.

27 ler klar, dass er mit der Verteidigung der Eckwerte auf dem Parteitag allein stehen würde. Die anderen Minister beabsichtigten, sich aus dem Streit um die Steuerkonzepte „fein" herauszuhalten. Eine öfFendiche Zurücksetzung des sozialdemokratischen Superministers durch seine eigene Partei war der Umstand, dass nicht Schiller auf dem Parteitag das Hauptreferat zum Thema halten sollte, sondern sein parteiinterner Gegner Erhard Eppler. 78 Die Entfremdung zwischen Schiller und der SPD brachten die Beschlüsse des Parteitages klar zum Ausdruck. Alle wichtigen Entscheidungen am ersten Tag des Parteitages waren Entscheidungen gegen das Konzept von Schiller. Der Parteitag sprach sich fur einen Spitzensteuersatz von 60 Prozent aus. Am zweiten Tag des Parteitages wollte die Linke auch die Körperschaftssteuer von 51 auf 58 Prozent anheben. Die SPD-Spitze forderte die Delegierten zur Mäßigung auf und Hessen-Süd brach aus der linken Allianz aus. So stimmte die Parteitagsmehrheit schließlich für Epplers Vorschlag von 56 Prozent.79 Die FDP sah die Steuerbeschlüsse der Sozialdemokraten als Chance, um sich als Partei der Vernunft und des Mittelstandes zu profilieren. FDP-Generalsekretär Flach wurde zitiert: „Durch ihre Profilierung haben die Sozialdemokraten ein wenig Raum für uns freigemacht und dazu beigetragen, daß man SPD und FDP nicht mehr so leicht in den Koalitionstopf werfen kann." Die SPD wollte zwar grundsätzlich mit dem liberalen Koalitionspartner eine gemeinsame steuerpolitische Linie finden, aber Teile des auf dem SPD-Parteitag verabschiedeten Steuerprogramms dennoch in das Wahlprogramm aufnehmen. Schiller weigerte sich jedoch, die SPD-Beschlüsse im Wahlkampf zu vertreten. Damit befand er tendenziell eher beim Wähler als die SPD-Linke. Nach den Umfragen des Allensbachinstituts waren nur 29 Prozent der Deutschen bereit, für die Reformpolitik höhere Steuern zu akzeptieren.80 Die Tageszeitung Die WELT durchleuchtete die Steuerreform in einer Serie auf Nachteile für den Mittelstand und die Unternehmen. Eppler konnte zur Verteidigung der Vorschläge darauf verweisen, dass die Ansätze der CDU-Linken in eine ähnliche Richtung gingen und in der Frage der Erbschaftssteuerbelastung sogar noch darüber hinaus. 81 Die Unternehmensverbände ließen berechnen, dass mit den Eppler-Vorschlägen die Gewinne bis zu 90 Prozent belastet werden würden. Anfang Februar 1972 legte Schillers Ministerium Berechnungen vor, die von einer maximalen Belastung von 70 Prozent ausgingen. Schiller selbst tat wenig, um die Steuerreform noch bis zur Bundestagswahl umzusetzen. Als schließlich auch der damit befasste Staatssekretär Hans Haller sich Hals über Kopf in seine Schweizer Heimat absetzte und dort seinen Rücktritt erklärte, war ein neuer Tiefpunkt in der Auseinandersetzung um die Steuerreform erreicht. Möller hatte den international angesehenen Finanzwissenschaftler zur Ausarbeitung der Steuerreform ins Ministerium geholt. Nun bezweifelte die Bundesregierung die Solidität seiner Arbeit. Regierungssprecher Conrad Ahlers räumte ein, bei Hallers Rechnungen gäbe es „prinzipielle Zweifelsfalle, Absurditäten, und „Fehlrechnungen". 82 Wegen seiner Verzögerungstaktik

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Lütjen, Schüler, S. 317. Der Spiegel, Nr. 48/25, 22. November 1971, S. 27 f. Der Spiegel, Nr. 49/25, 29. November 1971, S. 92. Der Spiegel, Nr. 8/26, 14. Februar 1972, S. 21 f. Die Zeit, Nr. 9/27, 3. März 1972, S. 25.

28 war Schiller von der Fraktion bereits massiv angegriffen worden. Denn der Fraktion lag noch kein Gesetzentwurf zur Steuerreform vor. Die ZEIT kommentierte: „Der Zorn der Genossen richtet sich freilich vor allem auf Bundeswirtschafts- und Finanzminister Karl Schiller." 83 Schillers verbeamteter Staatssekretär Hans Hermsdorf hatte schon Ende Januar 1972 dem Arbeitskreis öffentliche Finanzwirtschaft der SPD-Fraktion mitgeteilt, dass die Steuerreform vor der Wahl nicht mehr zu verwirklichen sei. 84 Im Grunde hatte Schiller bei Lage der Dinge das Beste getan, was er in dieser Situation tun konnte, nämlich nichts. Jeder Steuervorschlag aus seinem Ministerium, der auch fiir die FDP tragfähig und wirtschaftlich vernünftig war, musste zwangläufig auf die Ablehnung der SPD stoßen und die Erbitterung über ihren Super-Minister noch erhöhen.

Zusammenfassung: Karl Schiller als Superminister Nach Möllers plötzlichem Rücktritt wurde sein kabinettsinterner Rivale Karl Schiller sein Nachfolger. Das Wirtschafts- und das Finanzministerium wurden zu einem „Superministerium" zusammengeführt. Es war ein politischer Fehler ein solches Machtzentrum zu schaffen, das von einem Einzelnen kaum gesteuert werden konnte, es einem Kabinettsmitglied zu übergeben, der in seiner Partei faktisch keinen Rückhalt besaß und dessen ganze Autorität sich auf das Verhältnis zum Bundeskanzler gründete. Dank Brandts Unterstützung gelang es Schiller sich in der ersten großen Auseinandersetzung 1971 um den Haushalt 1972 durchzusetzen und eine, großzügig bemessene, Obergrenze für den Haushaltszuwachs durchzusetzen. Schillers mangelndes Verhandlungsgeschick zeigte sich dann im Streit über den Mehrwertsteueranteil mit den Bundesländern, die Schiller so sehr vor den Kopf stieß, dass Brandt sich vermittelnd einschalten musste. Wie wenig Rückhalt Schiller in der SPD besaß, zeigt der Streit um das Steuerkonzept. Weite Teile der SPD-Basis hatten sich von der Wirklichkeit verabschiedet und brachten ihre Utopien in Steuerkonzepten zum Ausdruck. Die gemäßigte Version dieser Umverteilungsvorstellungen, die sich auf dem SPD-Parteitag durchsetzte, war immer noch so radikal, dass sie spätestens am Einspruch des liberalen Koalitionspartners scheitern musste. Zumal die FDP in der Steuerpolitik die Chance erkannte, sich als Kraft der Vernunft zu profilieren. Nicht nur in der Partei, auch im Kabinett war Schiller zunehmend isoliert. Schillers Gegner im Kabinett waren nicht bereit, sich an die vereinbarten Vorgaben zu halten. So stand Schiller Anfang des Jahres vor derselben Situation wie Möller ein Jahr zuvor. Als der Bundeshaushalt im Bundestag wegen der veränderten Mehrheitsverhältnisse keine Mehrheit fand, wollte sich Schiller mit der Opposition einigen. Strauß wollte die Regierung zum finanzpolitischen Offenbarungseid zwingen und Schmidt setzte den Sparvorschlägen des Ministers Widerstand entgegen. Schiller konnten keine konkreten Sparmaßnahmen in den einzelnen Ministerien durchsetzen. Stattdessen einigte sich das

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Die Zeit, Nr. 5/27, 4. Februar 1972, S. 2 1 . Wirtschaftswoche, Nr. 4/26, 28. Januar 1972, S. lOf.

29 Kabinett auf eine Erhöhung der globalen Kürzungen. Diese Kürzungen standen jedoch nur auf dem Papier, da es den Ministern selbst überlassen war, die Sparsumme aufzubringen. Da die Minister schon die Auflage der ersten globalen Kürzungen nicht erfüllt hatten, ist es unwahrscheinlich, dass in den nächsten Wochen und Monaten die Forderungen von Schiller erfüllt worden wären. Es ist sehr wahrscheinlich, dass die verfahrene Lage zu Schillers Rücktritt geführt hätte, hätte diesen nicht schon vorher die Währungskrise herbeigeführt. Deshalb war die Mehrheit seiner Kabinettskollegen erleichtert, als Schiller bei dieser Gelegenheit zurücktrat, da sein Sturz im Zusammenhang mit den Sparvorgaben in der OfFendichkeit als finanzpolitischer Offenbarungseid aufgefasst worden wäre.

Helmut Schmidt als Finanzminister Sehen wir nun, wie es mit der Haushaltspolitik weiterging. In nur zweieinhalb Jahren hatte die Koalition bereits zwei Finanzminister verschlissen. Der letzte machte schließlich sogar zusammen mit Ludwig Erhard Wahlkampf gegen seine eigene Partei. Es war für die Bundesregierung überlebenswichtig bis zu den Wahlen die Haushaltspolitik in ruhige Bahnen zu lenken. Wie schon Schiller seinem Rivalen Möller ins Finanzministerium gefolgt war, folgte nun wiederum dessen Rivale Helmut Schmidt Schiller auf die Position des Superministers. Schmidt hatte sich während der Auseinandersetzung mit Schiller auf die SPD-Linke zu bewegt, um seinen Rückhalt gegen den ungeliebten Widersacher zu vergrößern. Im Kabinett hatte Schmidt Schiller ganz im Sinne der Linken wegen seiner „übertriebenen Überängsdichkeit" in Hinblick auf die Entwicklung der Unternehmensgewinne kritisiert. Er hatte sich hinter die DGB-Forderung nach paritätischer Mitbestimmung gestellt und auf dem DGB-Kongress diese als unverzichtbare Voraussetzung für die Entfaltung der demokratischen Grundordnung bezeichnet.8^ In einem Interview mit dem SPIEGEL am 14. August 1972 erklärte Schmidt, die Wirtschaftsordnung der Bundesrepublik verdiene das Prädikat sozial nur zum Teil. Schmidt erklärte in Hinblick auf die Haushaltsentwicklung: „daß die Ausgaben steigen müssen, daran gibt es überhaupt keinen Zweifel. Die sind gestiegen vom ersten Amtsjahr Adenauers an, und das bleibt so." Schmidt trat dafür ein, die Steuern sobald wie möglich zu erhöhen. Der Rückgang des Staatsanteils am Bruttosozialprodukt sei eine ungesunde Entwicklung, der durch höhere Steuern entgegengetreten werden müsse. Schmidt erklärte: „Wenn man die letzten drei Generationen zurückgeht, haben sich die staatlichen Lenkungsmöglichkeiten des Staates eigendich immer vermehrt. Es ist anzunehmen, daß sie sich auch in Zukunft vermehren, es ist anzunehmen, daß wir dazu beitragen werden." 86 Schon zum Beginn seiner Amtszeit zeigte sich wie wendig Schmidt in seiner Rhetorik und ökonomischen Interpretation war und dass sich hinter dem nach außen getragenen wirtschaftspolitischen Sachverstand im Wesendichen politisch-pragmatische Motive ver-

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Der Spiegel, Nr. 34/26, 14. August 1972, S. 25 f. Der Spiegel, Nr. 34/26, 14. August 1972, S. 27 ff.

30 bargen. Als Schmidt Finanzminister wurde, verhielt er sich „solider" als es sein Verhalten als Minister und seine zitierten Äußerungen nahe gelegt hätten. Während Schmidt der Linken verbal Zucker gab, gedachte er jedoch nicht das Langzeitprogramm der SPD in die Tat umzusetzen. Staatssekretär Hermsdorf kündigte an: „Die Leute werden sich wundern, wie volkswirtschaftlich vernünftig und finanzwirtschaftlich solide unsere Finanzplanung sein wird." Schmidt hoffte, Schillers Sparziel von 2,5 Milliarden D-Mark zu übertreffen.87 Der Haushalt umfasste inzwischen knapp über 109 Milliarden D-Mark. Schmidt hielt an dem Ziel fest, die Neuverschuldung auf sechs Milliarden D-Mark um 1,3 Milliarden D-Mark zu kürzen. Für das Jahr 1973 war ein Budget von 118,6 Milliarden D-Mark vorgesehen.88 Noch stärker als der Bund weiteten auch im Jahr 1972 die Länder ihre Ausgaben aus. Wahrend die Gebietskörperschaften, Bund, Länder und Gemeinden, insgesamt ihre Ausgaben um 11 Prozent im Schnitt steigerten, lag der Zuwachs der Länderhaushalte bei 12,5 Prozent. Der Bund lag im Durchschnitt dieser Entwicklung 89 Der Sachverständigenrat stellt fest: „Auch im Jahr 1972 waren die Personalausgaben Hauptursache für die starke Ausgabenausweitung." 90 Für das Jahr 1972 galt: „Die Zunahme der Ausgaben des Bundes hielt sich im ganzen Jahr 1972 ungefähr in dem seit April gesteckten Rahmen." 91 Die zusätzlichen Ausgaben konnten durch die fortgesetzte Einnahmeexplosion finanziert werden, denn die Inflation trieb die Steuereinnahmen in die Höhe. Im Herbst 1971 war mit einem Einnahmezuwachs von sieben Prozent gerechnet worden, mit 12 Prozent zusätzlicher Steuereinnahmen wurden diese Schätzungen erheblich übertroffen. 92 Die Inflation verhinderte also einen massiven Anstieg der Staatsschulden trotz der erheblichen Ausweitung der Ausgaben. Die Geldentwertung verdeckte die Entstehung struktureller Defizite in den Etats der Gebietskörperschaften. Nicht Staatsschulden, sondern die Inflation war deshalb zu dieser Zeit das zentrale Thema der Finanzpolitik. Im Oktober 1972 lag der Preisindex fur die Lebenshaltung aller privaten Haushalte um 6,4 Prozent höher als ein Jahr zuvor. Besonders stark waren die Preise ftir Nahrungsmittel gestiegen, nämlich um 7,9 Prozent. Diensdeistungen um 6,6 Prozent und Wohnungsmieten um 5,5 Prozent.93 Schmidt wollte sich als Macher präsentieren, der die Probleme direkt anging, und legte Ende Oktober 1972 ein Stabilitätsprogramm vor. Es umfasste 15 Punkte und forderte eine Verbesserung des Bundesbankgesetzes und versprach ein langsameres Wachstum der Schulden, preiswertere Nahrungsmittel, einen stärkeren staadichen Rückhalt für Mieter gegenüber überhöhten Mieten, eine Besserung der Überwachung der Preisbindung und eine Begrenzung der Ausweitung der Beamtenstellen im nächsten Jahr. Die Tarifparteien forderte Schmidt zu mehr Mitverantwortung auf und drohte, auf überhöhte Tarifab-

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Der Spiegel, Nr. 35/26, 21. August 1972, S. 27. Wirtschaftswoche, Nr. 32/26, 11. August 1972, S. 12f. Jahresgutachten, 1972/73, S. 86 ff. Jahresgutachten 1972/73, 88. Monatsberichte, Februar 1973, S. 20. Jahresgutachten 1972/73, S. 89. Jahresgutachten 1972/73, S. 66.

31 schlösse mit einer Anhebung der Einkommenssteuer zu reagieren.94 Von solchen symbolischen Ankündigungen war eine grundsätzliche Wende der Preisentwicklung allerdings nicht zu erwarten. Nach den Wahlen 1972 wollte die FDP ihr wirtschaftspolitisches Profil zurückgewinnen und machten deshalb den wirtschaftsliberalen Hans Friderichs zum Wirtschaftsminister des zweiten sozialliberalen Kabinetts. Die Ambitionen Genschers auf das Finanzministerium hatte Schmidt brüsk zurückgewiesen: „Die Finanzen können wir doch nicht in die Hände dieses taktischen Quäkers geben." Dies war eine Anspielung auf Genschers ausgabefreudige Personalpolitik und die weiche tarifpolitische Linie gegenüber den Gewerkschaften des öffendichen Dienstes. 95 Erst im Endstadium der Koalitionsverhandlungen hatten die Liberalen ihren Kandidaten für das Amt des Wirtschaftsministers benannt. In der ersten Dezemberhälfte 1972 hatte Walter Scheel nach einer Fraktionssitzung bei dem rheinland-pfälzischen Staatssekretär Hans Friderichs angerufen und ihm das Wirtschaftsministerium angeboten. Friderichs galt als Angehöriger des rechten Flügels der FDP. Er war 1969 als Staatssekretär nach Mainz gegangen. Friderichs sollte ein liberales Gegengewicht gegen den neuen starken Mann Helmut Schmidt darstellen. Der von der FDPFührung gewünschte Kontrast zum Koalitionspartner würde deutlich werden. Friderichs lehnte die paritätische Mitbestimmung ab, Schmidt hielt sie für unverzichtbar. Friderichs attackierte „Vollbeschäftigungsapostel", fiir Schmidt hingegen war „Stabilität vor allem eine Stabilität der Arbeitsplätze." 96 Die erste wichtige Auseinandersetzung, um die Verteilung der Kompetenzen der nun wieder getrennten Ministerien, konnte Schmidt fur sich entscheiden. Das wieder entdeckte Interesse an der Wirtschaftspolitik bei den Liberalen kollidierte mit den Ambitionen des SPD-Finanzministers. Freie Demokraten und Teile der SPD wollten während der Koalitionsverhandlungen einen „Schatzkanzler" Helmut Schmidt verhindern, der die Abteilungen für Konjunktur- und Wahrungspolitik aus dem Wirtschaftsministerium lösen und ins Finanzministerium eingliedern wollte. Scheel erklärte vor den Kameras, dass sich die Freidemokraten mit einem gestutzten Wirtschaftsressort nicht zufrieden geben würden. Von seinen Gegnern in der Koalition wurde Schmidt als der „zweite Schiller" und der „rote Strauß" bezeichnet. Teile der Sozialliberalen hofften jedoch ein starker Finanzminister könnte Ausgaben- und Preiswachstum bremsen. Brandt erklärte: „Schmidt ist der erste Mann der Mannschaft." 97 Schmidt übernahm fiir sein Finanzministerium die wichtigen Referate aus der Abteilung „Geld und Kredit". Die FDP wurde von der Industrie gedrängt wenigstens die Konjunkturabteilung zu behalten. Schmidt kommentierte dies: „Die FDP wollte die Konjunktur, ich habe nicht darum gekämpft." Schmidt beschrieb seine Absicht so: „Die denken und reden, wir haben die Instrumente." 98 Der

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Nr. 45/26, 30. Oktober 1972, S. 27f. Nr. 50/26, 4. Dezember 1972, S. 25 ff. Nr.52/27, 18. Dezember 1972, S. 22 f. Nr. 50/26,4. Dezember 1972, S. 25 ff. Nr. 52/27, 18. Dezember 1972, S. 22 f.

32 Verlust der Geld- und Kreditreferate ließ dem Wirtschaftministerium nur geringen Einfluss auf die Konjunkturpolitik." Brandt hatte Schmidt also weitgehend freie Hand gegeben, die Finanzpolitik zu gestalten. Nachdem der Haushalt 1972 noch weitgehend die Handschrift des im Streit aus dem Amt geschiedenen Karl Schiller getragen hatte, zeichnete von nun an allein Schmidt für die weitere Entwicklung verantwortlich. Die Bundesbank hielt am Ende des Jahres die Haushaltsentwicklung des Bundes im Jahr 1973 fur „noch wenig überschaubar." Die Bundesbank rechnete aber mit einer Zunahme der Ausgaben von über 10 Prozent auf 120,4 Milliarden D-Mark. 1 0 0 Diesen Gesamtausgaben von 120,4 Milliarden D-Mark, die für 1973 von der Bundesbank erwartet wurden, standen Einnahmen aus Steuern und Gebühren von 116,3 Milliarden D-Mark gegenüber. Das Defizit würde voraussichdich also etwa knapp vier Milliarden D-Mark betragen. So würde das Defizit unter dem Defizit des Jahres 1972 liegen und die Gesamtschulden des Bundes auf 55 Milliarden D-Mark steigen. Der Verteidigungsetat war weiterhin mit 26,5 Milliarden D-Mark der größte Ausgabenposten. An zweiter Stelle lag der Etat fur Arbeit und Soziales mit 22,65 Milliarden D-Mark, gefolgt von Verkehr mit 16,5 Milliarden D-Mark. 1 0 1 Die Sozialversicherungen erhielten Zuschüsse von zweieinhalb Milliarden D-Mark. Schmidt setzte diesen Haushalt gegen die Mehrforderungen von acht Milliarden D-Mark der Ressorts durch. 102 Nach dem Finanzbericht vom 15. März 1973 würden die Haushalte für Arbeit und Verteidigung mit jeweils 1,1 und 1, 3 Milliarden D-Mark wachsen, gefolgt von zusätzlichen 822 Mio. D-Mark. Für das Landwirtschaftsressort.103 Nach Schmidts Planung sollten die Ausgaben des Bundes bis 1976 auf 153,8 Milliarden DMark ansteigen. 104 Am 20. Juni 1973 wurde der am 13. Februar beschlossene Haushalt und Haushaltsplan vom Bundestag bestätigt.105 In seiner Rede am 20. Juni vor dem deutschen Bundestag strich Schmidt die Begrenzung des Haushalts auf unter 120,4 Milliarden D-Mark als besondere Leistung heraus. Anders als die Opposition vorausgesagt habe, seien die Ansätze noch um 200 Millionen D-Mark unterschritten worden. Schmidt wies auf die expansiven Haushalte der Länder und Gemeinden hin. Der Finanzminister beurteilte positiv, dass die Sozialleistungen im Bundeshaushalt 34 Milliarden D-Mark betrugen und im nächsten Jahr auf 40 Milliarden D-Mark steigen würden. Schmidt lobte die Verdoppelung der Mittel für die „Agrarsozialpolitik" auf 1,8 Milliarden D-Mark und begrüßte die Zustimmung der Opposition zum Einzelplan des Verteidigungshaushalts, dessen Etat 1970 noch um 2,5 Prozent in den zwei folgenden Jahren aber 12,5 und 13,5 Prozent gestiegen war und in die-

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Der Spiegel, Nr. 53/27, 25. Dezember 1972, S. 20f. Monatsberichte, Dezember 1972, S. 23. Wirtschaftswoche, Nr. 16/27, 13. April 1973, S. 19. Die Zeit, Nr. 26/28, 22. Juni 1973, S. 26. Finanzbericht 1973, S. 105. Finanzbericht 1973, S. 126. Archiv der Gegenwart, S. 18019.

33 sem Jahr um 4,3 Prozent steigen sollte. 106 Die Inflation sah Schmidt nicht als wesentliches gesellschaftliches Problem an. Er erklärte: „Dann darf ich als Sozialdemokrat dazu sagen, 7,8 Prozent Preissteigerung ist gefahrlich, 5 Prozent wäre auch viel; aber auch nur 2 Prozent Arbeitslosigkeit wäre schon schlimmer als 5 Prozent Preissteigerung. Das ist meine wirkliche Meinung." 1 0 7 Am 5. September 1973 beschloss dann die Bundesregierung den Haushaltsentwurf fur das kommende Jahr 1974. Nach dieser Planung sollte die Nettokreditaufnahme bis 1977 auf 9,7 Milliarden D-Mark ausweitet werden. 108 Unter dem Einfluss der Ölkrise ab Herbst 1973 kam es zu einer eigentümlichen politischen Konstellation. Gemeinhin ist der Finanzminister darum bemüht, die Ausgaben zu begrenzen und das ganze Kabinett einer nicht besonders populären Haushaltsdisziplin zu unterwerfen. Die keynesianischen Ansätze hielten von einem ausgeglichenen Haushalt wenig, sondern verstanden Finanzpolitik als Instrument der Konjunkturpolitik. Ganz auf dieser Linie bewegte sich Finanzminister Helmut Schmidt. Im Herbst 1973 und Frühjahr 1974 war Schmidt darum bemüht, zusätzliche Mittel bewilligt zu bekommen, um die Konjunktur anzukurbeln. Willy Brandt, der sich mit FDP-Wirtschaftsminister Friderichs absprach, lehnte das jedoch ab. Im Dezember 1973 forderte Schmidt von Brandt in einer Expertise zur Arbeitsplatzsicherung zusätzliche Mittel fur Investitionen fur die Bauwirtschaft, die Bahn, die Bundeswehr und die Post. Dies entsprach auch der politischen Strategie Schmidts sich die Unterstützung der Gewerkschaften zu sichern. Willy Brandt wies die Forderungen nach zusätzlichen Ausgaben für Investitionen jedoch zurück. 109 Schon ab dem November 1973 versuchte Schmidt den Anstieg der Arbeitslosigkeit durch die Ankurbelung der Konjunktur aufzuhalten. Die Investitionsförderung und die Abschreibungsmöglichkeiten wurden ausgeweitet, ein Sonderprogramm für strukturschwache Regionen und ein Programm fur den Mittelstand aufgelegt. In Folge dieser Maßnahmen sollten die Staatsausgaben um 14 Prozent steigen, obwohl das Wirtschaftswachstum nur auf zwei Prozent geschätzt wurde. Schmidt wollte fur das Jahr 1974 darauf verzichten, die Mehrausgaben und Mindereinnahmen durch Einsparungen zu decken. Der Vorstandsprecher der Dresdner Bank Jürgen Ponto hatte Schmidt geraten, das Defizit durch Schuldscheine zu decken und Schmidt hatte den Rat angenommen, so dass im März die ersten Schuldscheine ausgegeben wurden. 110 In den vergangenen vier Jahren hatte der Bund 6,7 Milliarden D-Mark an Krediten aufgenommen. Für das Jahr 1974 waren Kredite in der Größenordnung von 7,6 Milliarden D-Mark, also mehr als in den letzten vier Jahren zusammen, vorgesehen. Das Volumen des Bundeshaushalts würde voraussichdich 136 Milliarden D-Mark umfassen. Allein die Mehrausgaben für den Öffendichen Dienst betrugen eine Milliarde D-Mark und im kommenden Jahr würden die Ausfälle, die durch die Umsetzung der geplanten Steuerreform entstanden, hinzukommen. Diese Ausfälle würden in eine Zeit gleichzeitig sinken106 107 108 109 110

Verhandlungen des Deutschen Bundestages. Stenographische Berichte, Band 83, S. 2692 ff. Verhandlungen, Band 83, S. 26990. Archiv der Gegenwart, S. 18240. Wirtschaftswoche, Nr. 4/29, 18. Januar 1974, S. 16ff. Die Zeit, Nr. 18/29, 26. April 1974, S. 34.

34 der Steuereinnahmen fallen. Der stellvertretende Vorsitzende des Haushaltsausschusses Andreas von Bülow glaubte: „Das wird 1975 ganz hart werden" und Staatssekretär Rainer Offergeld musste sich eingestehen: „Ein Rezept wie das 1975 gemacht wird, hat bis jetzt niemand." Von Manfred Schüler wurde der Satz kolportiert: „Wir machen ein paar Milliarden D-Mark mehr Schulden - was soll das schon?" Auch der SPIEGEL kam zu dem Ergebnis: „Eine höhere Neuverschuldung ist in der Tat, zumindest auf längere Sicht die beste Lösung" und zitierte den Kieler Nationalökonom Herbert Giersch: „Staatsschulden machen die Bürger reicher, Steuern dagegen machen sie ärmer." 111 Die Schuldenquote hatte unter der sozialliberalen Regierung bis dahin sogar abgenommen. 1969 hatte die Schuldenquote 7,5 Prozent des Bruttosozialproduktes betragen, im Jahr 1973 waren es nur 6,6 Prozent. Die Prokopiverschuldung betrug im Jahr 1972 etwa 2800 D-Mark und in den USA waren es 9200 D-Mark. 1 1 2 Dies war aber nur dadurch möglich gewesen, dass die Inflation und der damit einhergehende Boom genügend Mittel in die Kassen gespült hatte, um die wachsende Ausgabenlast zu bewältigen. Das änderte sich mit dem starken wirtschaftlichen Einbruch im Herbst 1974. Als diese Finanzkrise sichtbar wurde, war Schmidt bereits Bundeskanzler.

Zusammenfassung: Die sozialliberale Haushaltspolitik 1970-1973 Man kann die Haushaltsjahre 1970, 1971, 1972 so zusammenfassen: Diese Haushaltsjahre standen unter dem Vorzeichen eines enormen Wirtschaftsbooms und der Vollbeschäftigung. In dieser Phase hatten es Finanzminister schwer, ihren Haushalt in Ordnung zu halten, da es nicht die Möglichkeit gab, ihre Kabinettskollegen mit dem Hinweis auf die Wirtschaftslage zu disziplinieren. Die Autorität eines Finanzministers hielt nicht länger als die Phase seiner ersten Haushaltsplanung. Sowohl Möller als auch Schiller konnten ihre Haushaltsvorgaben nur durchsetzen, weil sie mit Rücktritt drohten. Sie mussten nach den Beschlüssen aber bald feststellen, dass sich das Kabinett an die Vorgaben nicht hielt. Nach dem Rücktritt von Karl Schiller übernahm Schmidt bis zu den Wahlen 1972 das Superministerium. Nach den Wahlen behielt er das Finanzministerium, das Wirtschaftsministerium übernahm der FDP-Politiker Hans Friedrichs. Schmidt hatte sich verbal sehr stark der Linken angenähert, er hielt Inflation und wachsende Defizite für politisch und wirtschaftlich nicht nur vertretbar, sondern zur Vermeidung der Arbeitslosigkeit sogar fur geboten. Im Wahljahr 1972 war Schmidt noch bemüht, den Haushaltsrahmen den Karl Schiller gesetzt hatte, einzuhalten. Das war politisch notwendig, weil im Wahljahr und nach dem Abgang des anerkannten Wirtschaftspolitikers der Koalition der Eindruck aus dem Ruder laufender Staatsfinanzen verhindert werden sollte. Doch schon für das kommende Jahr kündigten sich wachsende Defizite an. Als die Ölkrise die Konjunktur bedrohte, setzte Schmidt auf keynesianische Konjunkturpolitik und deficit spen-

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Der Spiegel, Nr. 19/28, 6. Mai 1974, S. 36fF. Der Spiegel, Nr. 27/28, 1. Juli 1974, S. 28 ff.

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ding. Während Brandt sich Rat beim liberalen Wirtschaftsminister holte und sich davon überzeugen ließ, dass die Ausgabenzuwächse begrenzt werden mussten, hielt Schmidt steigende Defizite nicht nur fur eine lässliche Sünde, sondern für eine wirtschaftspolitische Notwendigkeit. Schmidt trägt politisch die Hauptverantwortung für den Übergang zu zweistelligen Defiziten im Jahr 1975. Die haushaltspolitischen Grundlagen wurden in Schmidts Verantwortung als Finanzminister gelegt. Insoweit ist es nicht richtig, wenn dem wirtschaftspolitisch unbedarften Willy Brandt ein wirtschaftskompetenter Helmut Schmidt gegenübergestellt wird, der die Fehler des ersten hätte ausbügeln müssen. Schmidt gelang es, das Bild vom Macher und Weltökonom in der öfFendichen Meinung zu verankern, obwohl Schmidt schon in der Frage, die zu seiner Ernennung zum Finanzminister führte, dem Streit um Wechselkursfreigabe oder Devisenbewirtschaftung, falsch gelegen hatte.

Die Devisenkrise und der Kampf um das „Floaten" Der Zusammenbruch des Systems von Bretton Woods, dem System internationaler am Dollar ausgerichteter Währungsparitäten, fiel in die Zeit der sozialliberalen Regierung. Der Wirtschaftshistoriker Barry Eichengreen kommt zu dem Ergebnis: „Das Ende des internationalen Systems von Bretton Woods 1973 war ein Wendepunkt. Es veränderte die internationale Wahrungslandschaft, mehr noch als die Wiederherstellung des Goldstandards 1925 oder die Konvertibilität 1958. Seit Zentralbanken und Regierungen vom Vorhandensein des Instruments wußten, das unter dem Namen Geld- und Kreditpolitik bekannt werden sollte, waren stabile Wechselkurse ihr vorrangiges Ziel gewesen. Die Geld- und Kreditpolitik wurde eingesetzt, um den Wechselkurs zu stützen, Kriegszeiten, Perioden des Wiederaufbaus und der Depression ausgenommen. 1973 wurde die Politik von diesen Fesseln befreit. Die Wechselkurse konnten frei floaten."113 Hier erfolgt eine kurze Darstellung des Systems von Bretton Woods und es werden in groben Linien die Ereignisse skizziert, die zu seinem Zusammenbruch geführt haben. Das Grundproblem fester Wechselkurse liegt darin, dass die Parität niemals genau der Bewertung der Märkte entspricht. Bewertet der Markt eine Währung als unterbewertet, fließen der Zentralbank ausländische Devisen zu, die im Verhältnis zu der unterbewerteten Währung als überbewertet gelten. Diese Devisenzuflüsse erhöhen den inflationären Druck. Um die Zuflüsse zu bremsen oder zum Versiegen zu bringen, muss eine neue Parität gefunden werden, das heißt entsprechend der Bewertung der Märkte auf- oder abgewertet werden. Da im Laufe der sechziger Jahre die Mobilität des Kapitals immer größer wurde, auch bedingt durch die Verbesserung der Telekommunikation und der EDV, war die Währungspolitik kaum noch in der Lage auf das Verhalten der internationalen Finanzmärkte in angemessener Weise zu reagieren.11'* Diese Entwicklung entzog dem Weltwährungssystem das Fundament, auf dem es fast drei Jahrzehnte gestanden hatte. 113 114

Barry Eichengreen: Vom Goldstandard zum Euro. Die Geschichte des internationalen Währungssystems, Berlin 2000, S. 183. Eichengreen, Euro, S. 184 f.

36 Am 1. Juli 1944 hatten sich Delegationen aus 45 Staaten in Bretton Woods getroffen, einem Kurort, der einer ganzen Epoche der Weltwirtschaft seinen Namen geben sollte. 1 1 5 Unter Führung der USA wurde ein Weltwährungssystem errichtet, das auf festen Wechselkursen mit einer geringen Schwankungsbreite von einem Prozent nach oben und unten beruhte. Die internationale Leitwährung dieses Systems wurde der US-Dollar, der in einem festgelegten Verhältnis in Gold konvertierbar war. Das Handelsbilanzdefizit der Europäer in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg bewies, dass die Parität zum Dollar zu hoch angesetzt war. Deshalb wurden im Jahr 1949 die europäischen Währungen im Schnitt um dreißig Prozent abgewertet. 116 Im Laufe der fünfziger Jahre fand die so genannte Dollarknappheit dann ein Ende. 1956 übertraf der private Kapitaltransfer aus den Vereinigten Staaten nach Europa die staadichen Abflüsse. 117 In den folgenden Jahren drehte sich der ursprüngliche Trend um und die Amerikaner bauten gegenüber den Europäern Defizite auf, so dass Dollarliquidität in die europäischen Staaten abfloss und dort zum Wachstum der Dollarreserven und zu inflationären Tendenzen führte. 118 Im Jahr 1960 überstiegen die ausländischen Verpflichtungen, Währungsreserven bei Bedarf in Gold zu tauschen erstmals die amerikanischen Goldreserven.119 Die amerikanischen Auslandsverbindlichkeiten nahmen in den sechziger Jahren weiter zu und die Goldvorräte nahmen weiter ab. Dies schadete dem Vertrauen der europäischen Regierungen in die langfristige Wertbeständigkeit des Dollar. Die meisten europäischen Regierungen wollten der Stabilität des Systems nicht schaden. Die USA konnten sich aber nicht darauf verlassen, dass alle dem Dollar die Treue halten würden. Frankreich begann seit Mitte der 60 Jahre verstärkt von der Möglichkeit Dollar von den Amerikanern in Gold umtauschen zu lassen, Gebrauch zu machen. 120 Hinzu kam, dass der Goldpreis auf dem freien Markt auf über 40 Dollar kletterte, während die USA weiterhin verpflichtet war, diese fur den Preis von 35 Dollar umzutauschen. Dies erhöhte den Anreiz ausländischer Regierungen, sich von der amerikanischen Zentralbank Reservegold zu beschaffen. 121 Die Regierung Nixon schloss darauf hin das „Goldfenster" und hob die Verpflichtung auf, den offiziellen Besitzern von Dollar, diese in Gold zu 35 Dollar je Feinunze umzutauschen. Warenimporte in die USA wurden mit einem Zoll von 10 Prozent belegt. Mit dieser Maßnahme sollten die anderen Staaten zu einer Aufwertung veranlasst werden. 122 Zuvor waren es die Ungleichgewichte innerhalb Europas, die der Bundesrepublik Schwierigkeiten bereitet hatten. Im Herbst 1968 verlor der Franc auf den Märkten an Vertrauen und Liquidität floss aus dem schwachen Franc in die starke D-Mark ab. 1 2 3 Hatten schon

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James, Harold: Rambouillet, 15. November 1975. Die Globalisierung der Wirtschaft, München 1997, S. 59. Eichengreen, Euro, S. 138 f. James, Rambouillet, S. 10 3f. James, Rambouillet, S. 120 f. Eichengreen, Euro, S. 160. James, Rambouillet, S. 129. Eichengreen, Euro, S. 169. Eichengreen, Euro, S. 178 f. Otmar Emminger, D-Mark, Dollar, Währungskrisen. Erinnerungen eines ehemaligen Bundesbankpräsidenten, Stuttgart 1986, S. 140 ff.

37 die Ungleichgewichte innerhalb Europas den Druck zur Aufwertung auf die Bundesrepublik erhöht, so besaßen die globalen Ungleichgewichte eine ungleich größere währungspolitische Sprengkraft. Mit dem Beginn der siebziger Jahre trat das Verhältnis von D-Mark zum Dollar in den Vordergrund. Die deutsche Währung entwickelte sich zum „Gegenpol" des Dollar und war damit erheblich von den Kapitalbewegungen, die die Schwäche des Dollar in Folge des Vietnamkrieges verursachte, betroffen. 124 Erst mit dem endgültigen Zusammenbruch und dem Ende fester Paritäten im Jahr 1973 wurde die Bundesrepublik von dieser Bürde befreit. Die Phase zwischen 1968 und 1973 kann man als eine Phase des Übergangs begreifen, in der zwar die wachsenden Probleme nicht mehr zu verkennen waren, auf der anderen Seite die politischen Widerstände gegen eine grundsätzliche Neuordnung des Weltwährungssystems sehr groß waren. Diese Widerstände brachen erst durch die Gewalt des Faktischen zusammen. Dieser Ubergang war in der Bundesrepublik eng mit dem Machtkampf der zwei fuhrenden Persönlichkeiten im Kabinett Brandt, Schiller und Schmidt, verbunden. Der eine sollte diesen Machtkampf gewinnen, der andere aber in der Sache Recht behalten. Mit dem Beginn der siebziger Jahre bildete sich bei vielen Wirtschaftswissenschaftlern ein Konsens darüber, dass das internationale Wechselkurssystem mehr Flexibilität benötigte. Die Meinung, dass die Währungen frei floaten sollten, wurde von Milton Friedman vertreten, der damals mit seinen Standpunkten noch als extremer Außenseiter galt. 125 Diese Außenseiterposition eignete sich der sozialdemokratische Wirtschaftsminister unter dem Eindruck wachsender Devisenzuflüsse und rasanter Preissteigerungen an, als er feststellen musste, dass alle Korrekturen nicht zu dem gewünschten Ergebnis führten. Schiller isolierte sich aber mit dieser Position in der politischen Landschaft. Die Aufwertungsfrage war die Schicksalsfrage in der Karriere von Karl Schiller. Der Streit um die Aufwertung in der Großen Koalition machte die Wahlen 1969 zu „Schiller-Wahlen" und der Streit im sozialliberalen Kabinett über die Freigabe der Wechselkurse, die einer faktischen Aufwertung gleichkam, beendete Schillers Karriere als Politiker. Bis zum Februar 1969 hatte Schiller selbst noch eine Veränderung der Währungsparität abgelehnt. Doch Anfang März 1969 teilte Schiller seinen Mitarbeitern im Wirtschaftsministerium mit, dass er beabsichtigte, Bundeskanzler Kiesinger eine Aufwertung der D-Mark vorzuschlagen. Am 17. März schlug Schiller Kiesinger die Aufwertung der D-Mark vor. Schiller hatte den Vizepräsidenten der Bundesbank Otmar Emminger hinzugebeten, der ebenfalls für die Aufwertung plädierte. Schiller drang mit seinem Anliegen aber nicht durch. Am 2. Mai 1969 empfahl Schiller Kiesinger erneut die Aufwertung und er ging so weit zu erklären, dass er anderenfalls die Verantwortung nicht tragen könne, die ihm durch das Stabilitätsgesetz auferlegt sei. 126 Drei Tage nach dem Brief traf der Bundeskanzler Wirtschaftsminister Schiller, Finanzminister Strauß und Bundesbankpräsident Blessing. Der Wirtschaftsminister und der Bundesbankpräsident setzten sich fur die

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Emminger, D-Mark, S. 172 ff. James, Rambouillet, S. 135. Lütjen, Schiller, S. 254 f.

38 Aufwertung ein, Strauß war strikt dagegen. Nach einem Treffen der Aufwertungsgegner im Kanzleramt am 7. Mai 1969, zu denen Hanns Martin Schleyer, Hermann Josef Abs und Fritz Berg zählten, entschied Kiesinger, Schillers Vorschlag in der Kabinettssitzung am 9. Mai 1969 scheitern zu lassen. Kiesinger stellte in dieser Sitzung ohne namendiche Abstimmung fest, dass die Bundesregierung die Aufwertung mehrheidich ablehnte. Dies war Schillers erste wirkliche Niederlage als Wirtschaftsminister. 127 Auch in der SPD fand Schillers Kurs zunächst keine positive Resonanz. Der spätere Finanzminister Alex Möller, der damals stellvertretender Fraktionschef der SPD war, hatte Kiesinger vor der entscheidenden Kabinettssitzung am 9. Mai sogar ein Argumentationspapier gegen die Aufwertung zukommen lassen. Möllers Haltung belastete das Verhältnis zu Schiller nachhaltig. Die Sozialdemokraten sahen mit Sorge, dass sich ihr Wirtschaftsminister gegen die Mehrheitsmeinung der deutschen Bevölkerung stellte. In einer Umfrage vor der Kabinettssitzung hatten sich 87 Prozent der Befragten gegen die Aufwertung ausgesprochen. 128 Die politische Gesamtlage war fur eine Aufwertungspolitik also denkbar ungünstig, als sich Schiller zu einem bemerkenswerten Alleingang entschied. Dieser politische Alleingang Schillers war wider alle Wahrscheinlichkeit erfolgreich, trug dazu bei der Kanzlerschaft Kiesingers ein Ende zu setzen und ebnete den Weg zur sozialliberalen Koalition. Hatte Schiller zum Beginn der Auseinandersetzung nur die Experten des Sachverständigenrates, der Bundesbank und der meisten Wirtschaftsforschungsinstitute auf seiner Seite, so gelang es Schiller im Wahlkampf 1969 auch die Bevölkerung von der Richtigkeit seines Standpunktes zu überzeugen. Sein Biograph Lütjen schreibt: „Am Ende hatte Schiller etwas Erstaunliches geleistet: Innerhalb weniger Monate hatte er die öffentliche Meinung umgedreht. Die Mehrheit der Deutschen hielt eine Aufwertung plötzlich fur dringend notwendig. Karl Schiller wurde mit weitem Abstand vor Franz Josef Strauß am ehesten zugetraut, die Stabilität der Deutschen Mark zu gewährleisten. Und in Schillers Windschatten hatten die Sozialdemokraten eine höhere Wirtschaftskompetenz zugesprochen bekommen als die Union." 1 2 9 Nach den Wahlen kam es zu einer für die Währungspolitik wichtigen personellen Weichenstellung: Karl Klasen wurde der Nachfolger von Bundesbankpräsident Karl Blessing, der seit 1958 Bundesbankpräsident gewesen war. Als Karl Schiller Klasen zu diesem Amt verhalf, konnte er noch nicht ahnen, dass dieser die zentrale Rolle bei seinem Sturz spielen würde. Klasen galt als Vertreter der Großbanken und war Sozialdemokrat. Der Schlusssatz in Klasens Einfuhrungsrede war: „Eine Inflation wird es in der Bundesrepublik nicht geben." Klasen setzte in seiner Ansprache insoweit einen anderen Schwerpunkt als sein Vorgänger, als er den Zuhörern eröffnete, ihm sei das Thema Arbeitslosigkeit ebenso wichtig wie das Thema Inflation. Daher wurde Klasen eine größere Toleranz gegenüber Preissteigerungen als seinem Vorgänger unterstellt. Klasen signalisierte auch eine größere Nähe zu den Interessen der Gewerkschaften. Er sagte über sie: „Sie müssen die soziale

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Lütjen, Schiller, S. 256 f. Lütjen, Schiller, S. 259. Lütjen, Schiller, S. 268.

39 Symmetrie im Auge behalten und auf das durch die Knappheit der Arbeitskräfte gestiegene Selbstbewusstsein ihrer Mitglieder Rücksicht nehmen." 130 Klasen folgte der damals modernen und populären Sichtweise, dass die Arbeitslosigkeit durch die Inkaufnahme von Inflation gesenkt werden könnte. Von der Auffassung, dass die Stabilität der Währung einen Wert an sich darstellt, war Klasen im Gegensatz zu Otmar Emminger, dem Experten der Bundesbank fiir internationale Währungsfragen, zu diesem Zeitpunkt nicht überzeugt. David Marsh kommt zu der Einschätzung, dass im Falle eines erneuten Wahlsieges der C D U / C S U nicht Klasen, sondern Emminger Nachfolger von Blessing geworden wäre. Durch die Schiller-Wahl und die Inthronisierung von Klasen musste sich Emminger mit der Position des Vizepräsidenten begnügen. 131 Dies ist eine Ironie der Geschichte, weil Emminger inhaldich viel näher beim neuen Wirtschaftsminister stand und ein überzeugter Anhänger der Politik war, zu der Schiller sich Schritt fur Schritt durchrang, der Aufwertung der D-Mark und der Freigabe der Wechselkurse. Diese Politik führte schließlich zu Schillers Sturz durch die Interaktion von Bundesbankpräsident Karl Klasen mit Schillers Gegnern im Kabinett. Emminger, dessen Vater 1923/24 Reichsjustizminister gewesen war, gehörte zusammen mit Heinrich Irmler zu der Minderheit im Direktorium der Bundesbank, die die Hauptursache der Preissteigerung in der „importierten Inflation" sahen und die Aufwertung der D-Mark für das einzig wirksame Mittel gegen die inflationären Tendenzen hielt. 132 Nach eigener Aussage war Emminger im März 1969 einer der ersten, die von der Sinnesänderung Schillers, dass dieser auf Aufwertungs-Kurs gegangen war, erfahren hatte. Emminger und Schiller waren sich damals und später über die Lage einig. 133 Wie sich bald zeigte, war die von Schiller gegen massive politische Widerstände durchgesetzte Aufwertung nicht der Abschluss, sondern nur eine Etappe auf dem Weg zur Bewältigung der Währungskrise, die in massiven Devisenzuflüssen und steigenden Inflationsraten ihren Ausdruck fand. Als die neue Bundesregierung im Herbst 1969 das Steuer übernahm, war bereits eine Lohn-Preis-Spirale in Gang gekommen, die in den nächsten Jahren außer Kontrolle geriet und den sozialdemokratischen Wirtschaftsminister unvorbereitet traf. Die Grundlage für den Preisauftrieb wurde bereits im Oktober 1969 durch die hohen Lohnsteigerungen gelegt. Die Konsequenz war, dass 1970 die Lohnkosten je Produktionseinheit um 13 Prozent anstiegen. Das war die höchste Lohnsteigerung der letzten dreißig Jahre. Emminger stellt in seinen Erinnerungen fest: „In der Rückschau kann es kaum einen Zweifel geben, dass die Welle der „wilden" Streiks im September 1969 und die dadurch in Gang gebrachte jahrelange Lohnkostenexplosion der Hauptgrund fur die äußerst unbefriedigende Preisentwicklung in der Bundesrepublik zu Beginn der siebziger Jahre war. Die „wilden" Streiks aber wären im Herbst 1969 kaum ausgebrochen, wenn durch eine rechtzeitige Aufwertung die deutsche Geldpolitik handlungsfähig geworden wäre und der Wirtschaftsüberhitzung ab Anfang oder Frühjahr 1969 Einhalt geboten hätte." 134

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Der Volkswirt, Nr. 3/24, 16. Januar 1970, S. 14. David Marsh, Die Bundesbank. Geschäfte mit der Macht, München 1992, S. 250. Marsh, Bundesbank, S. 240. Emminger, D-Mark, S. 152. Emminger, D-Mark, S. 166.

40 Vizepräsident Emminger wollte dieser Entwicklung „Einhalt" gebieten, was zu diesem Zeitpunkt jedoch aufgrund der Zwänge des internationalen Währungsgefuges nicht möglich und aufgrund des Kurses des neuen Bundesbankpräsidenten nicht durchsetzbar war. Emmingers Stunde sollte erst 1973 kommen, als das System von Bretton-Woods endgültig zusammenbrach. Zu diesem Zeitpunkt schwenkte auch Klasen auf seine Linie ein. Die „D-Mark gab im Frühjahr 1973 die fixe Währungsparität zum Dollar auf und koppelte sich durch Floaten gegenüber dem Dollar vom internationalen Inflationsgeleitzug ab." 1 3 5 Bis dahin erschütterten eine Reihe schlimmer Devisenkrisen die Währungspolitik und das prominenteste politische Opfer dieser Erschütterungen war Karl Schiller. Der Sachverständigenrat beurteilte die Aufwertung der D-Mark im Herbst 1969, wie zu erwarten, positiv: „Die Änderung der D-Mark-Parität Ende Oktober 1969 hat die Chancen in diesem Konjunkturzyklus mehr Preisstabilität als in den beiden vorangegangenen zu erzielen, weiter verbessert." 136 Schiller rechnete damit, dass die D-Mark-Aufwertung ausreichen würde, um mit den Tendenzen der Preissteigerung fertig zu werden. Doch Schillers Kalkulation, der Preisauftrieb sei damit rasch in den Griff zu bekommen, erwies sich als falsch. Als Schiller die neuen Zahlen für den Dezember 1969 erhielt, zeigte er sich laut der Aussage von Otto Schlecht ungläubig und bezweifelte die Richtigkeit der Zahlen. Da die Richtigkeit der Zahlen aber nicht zu bestreiten war, suchte Schiller die Erklärung bei illegalen Preisabsprachen der Unternehmen. 137 Anfang Dezember 1969 hatte das Berliner Kartellamt festgestellt, dass in den letzten neun Wochen 56 Markenartikelhersteller insgesamt 7404 Preiserhöhungen in der Größenordnung zwischen einem und 28 Prozent angemeldet hatten. Schleswig-Holsteins Statistisches Landesamt meldete: „Auf dem Nahrungsmittelsektor haben sich die meisten Preise für Fleisch, Fleischwaren, Fisch, Käse, Brot und Backwaren erhöht. (...) Ferner zogen die Preise fiir Matratzen, Bettzeug, Metallwaren und Dienstleistungen des Handwerks an." Schiller wies die Kartellbehörde darauf hin an, die Missbrauchsaufsicht zu verstärken. Die Sozialdemokraten waren durch diese überraschende Entwicklung so verunsichert, dass sich sogar zeitweise die krude Verschwörungstheorie ausbreitete, die C D U treibe über ihren Wirtschaftsrat die Preissteigerung an, um der Regierung zu schaden. 138 Im Frühjahr 1970 betrieb Schiller eine offizielle Preissenkungskampagne. In Anzeigen, die in Boulevard- und Provinzzeitungen geschaltet wurden, verkündete Schiller den Erfolg der D-Mark-Aufwertung und versprach billigere Lebensmittel. 139 Die Unsicherheit, die Suche nach Schuldigen in der Wirtschaft oder gar bei der C D U / C S U und der Vorstoß mit dem Kartellamt und einzelnen Kampagnen zeigt, dass das Ausmaß der kommenden Entwicklung und der globale Hintergrund der Liquiditätszuflüsse in dieser Zeit noch nicht verstanden worden waren. Es sollte für die sozialliberale Bundesregierung ein sehr harter Lernprozess werden.

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Emminger, D-Mark, S. 165. Jahresgutachten 1969/70, S. 54. Lütjen, Schiller, S. 281. Der Spiegel, Nr. 50/23, 8. Dezember 1969, S. 30 ff. Der Spiegel, Nr. 7/24, 9. Februar 1970, S. 30 f.

41 In den Koalitionsbesprechungen am 15. Februar 1970 schlug der Wirtschaftsminister dem Kabinett vor, um den Preisauftrieb zu dämpfen, die Mehrwertsteuer um einen Prozentpunkt zu senken und einen Lohnzuschlag von 10 Prozent zu erheben, um die Kaufkraft abzuschöpfen. Dieser Zuschlag sollte dann nach Schillers Vorschlag zum 1. Juli 1971 zurückgezahlt werden. Dies widersprach aber der Ankündigung, die Brandt in seiner Regierungserklärung gemacht hatte, nämlich die Steuern zu senken. Auch im Hinblick auf die im Juni bevorstehenden Landtagswahlen beschloss das Kabinett, eine Diskussion über Steuererhöhungen zu vermeiden. 140 Das Kabinett machte Schiller die Auflage, dass er in seiner Bundestagsrede zum Jahreswirtschaftsbericht nur erklären dürfe, dass „bei exzessiven Verhaltensweisen von Marktpartnern bei der Preispolitik" Aufschläge auf die Lohn und Einkommensteuer erwogen würden. 141 Schon nach diesem Konflikt im Februar 1970 dachte Schiller ernsthaft über Rücktritt nach. Schiller formulierte einen Brief an Brandt, in dem er erklärte, er könne unter diesen Umständen die Verantwortung nicht übernehmen. Schiller schickte diesen Brief jedoch nicht ab. 1 4 2 Auch eine Umsetzung von Schillers Vorschlägen hätte nichts daran ändern können, dass sich die D-Mark 1970 zum „Gegenpol" des schwächer werdenden Dollar entwickelte, so dass die Bundesrepublik einen großen Teil des wachsenden Dollarumlaufs aufnehmen musste. Seit Anfang 1970 hatte die amerikanische Geldpolitik zur Konjunkturstützung auf eine Politik fallender Zinsen gesetzt. Das schwächte den Dollar im Vergleich zur D-Mark, was den Liquiditätsabfluss verstärkte. Diese zusätzlichen Dollarzuflüsse verursachten in der Bundesrepublik mit 22,5 Milliarden D-Mark den bis dahin höchsten Devisenzufluss. Die Netto-Währungsreserven der Bundesbank wuchsen als Folge dieser Entwicklung von 26 Milliarden D-Mark zu Beginn des Jahres 1970 bis Ende Mai 1971 auf 68 Milliarden D-Mark an. Dem gegenüber betrug die Summe, die in der Bundesrepublik durch die Mindestreservepolitik der Bundesbank und von der Bundesregierung durch die Konjunkturausgleichsrücklage und den Konjunkturzuschlag stillgelegt wurden, zusammen nur 24 Milliarden D-Mark. 1 4 3 Emminger konstatiert: „Nicht mehr die deutschen Währungsbehörden, sondern die von der amerikanischen Kreditpolitik ausgehenden liquiditätspolitischen Wechselbäder sowie das spekulative Hin und Her der vagabundierenden Dollar-Massen entschieden in diesem Zeitraum weitgehend über die Geldversorgung der deutschen Volkswirtschaft und damit auch über Erfolg und Misserfolg der deutschen Stabilitätspolitik." 144 Anfang Mai 1971, nach einem Jahr enormer Devisenzuflüsse, wurde Schiller von Wirtschaftsforschungsinstituten darüber informiert, dass sie sich in ihrem Gutachten zur Frühjahrskonjunktur für eine Freigabe des Wechselkurses aussprechen würden. Am Montag den 3. Mai 1971 sprach sich Schiller in der Sitzung des SPD-Fraktionsvorstandes ebenfalls fur die Freigabe aus. Die Dringlichkeit dieser Maßnahme zeigte sich schon am nächsten Tag, als vier Milliarden Dollar in die Bundesrepublik flössen. Am darauf fol140 141 142 143 144

Lütjen, Schiller, S. 282. Der Spiegel, Nr. 9/24, 23. Februar 1970, S. 31 f. Lütjen, Schiller, S. 282. Emminger, D-Mark, S. 173 f. Emminger, D-Mark, S. 174.

42 genden Tag waren es allein eine Milliarde Dollar in den ersten vierzig Minuten nach der Öffnung der Devisenbörsen, bis die Bundesbank um 10 Uhr 30 den Ankauf von Dollar stoppte und die Devisenbörsen wenig später schlossen. Bis dahin hatte Brandt die Diskussion ohne großes Interesse verfolgt. Unter dem Eindruck der immensen Devisenzuflüsse mussten dringend Gegenmaßnahmen beschlossen werden. Brandt kündigte deshalb vor der SPD-Fraktion einen nationalen Alleingang an. In der Nacht nach der Schließung der Devisenbörsen kamen Brandt, Ehmke, Schiller, Möller, Schmidt, Leber, Scheel und Genscher zusammen und entschieden sich fur die Freigabe. Damit hatte sich Brandt in dem Streit zwischen Schiller und Bundesbankpräsident Klasen, der sich fur Devisenkontrollen aussprach, fur Schiller entschieden. 145 Die Wirtschaftsverbände standen in dieser Frage auf der Seite von Karl Klasen. Der BDI erklärte, die Aufwertung würde, „die ohnehin schwierige Ertragslage der Unternehmen zusätzlich belasten." Daher votierten auch sie für Devisenkontrollen als Alternative zum Floaten. 146 Man kann Brandt hoch anrechnen, dass er in dieser Auseinandersetzung grundsätzlich seinem Wirtschaftsminister die Treue hielt, auch wenn die Bundesbank und Wirtschaftsverbände und Teile der SPD sich gegen Schillers Kurs stellten. Bundesbankpräsident Klasen fühlte sich durch den Beschluss, den Schiller mit Brandts Unterstützung durchgesetzt hatte, brüskiert und fand den Beschluss „persönlich einfach skandalös." Rücktrittsspekulationen ließ Klasen jedoch dementieren und gab gegenüber Bundeskanzler und Wirtschaftsminister nach. Schiller brauchte Klasens Kooperation, denn aus dem Bundesbankgesetz von 1957 ging nicht hervor, ob die Regierung oder die Bundesbank im Fall freier Wechselkurse fur die Eingriffe zuständig war. Schiller wollte die Bundesbank dazu veranlassen, aus ihren Reserven Dollar zu verkaufen, um den Kurs der D-Mark gegenüber dem Dollar zu erhöhen. Schillers Ziel war ein Aufwertungssatz von 5,2 Prozent der D-Mark gegenüber dem Dollar. Noch einer fünfstündigen Sondersitzung konnte Schiller verkünden: „Es gibt keinen Zweifel daran, dass uns die Bundesbank unterstützen wird." Die Bundesbank werde im Einvernehmen mit der Bundesregierung Interventionen am Devisenmarkt vornehmen, „falls sie notwendig sein sollten." 147 Der Umtauschkurs des Dollar pendelte sich gegenüber der D-Mark auf dem Niveau von 3,50 D-Mark ein. Schiller bestand darauf, erst dann wieder zu einem festen Wechselkurs zurückzukehren, wenn ein elastisches Währungssystem im europäischen Rahmen geschaffen worden war. Nach Tagungen der EWG-Minister sollte ein Gipfeltreffen im Juli 1971 in Bonn zwischen Pompidou und Brandt einen europäischen Kompromiss herbeifuhren. 148 Auf einer fünfstündigen Dampferfahrt auf dem Rhein wurde über das Währungsproblem gesprochen. Doch Brandt folgte den Instruktionen seines Superministers, der vermeiden wollte ein genaues Datum für die Rückkehr zu Parität zu nennen. 149 Schillers harte Linie in der Frage des Wechselkurses gegenüber den Verbündeten und gegenüber den innenpolitischen Einwänden trug ihm die harsche Kritik des Kabinetts 145 146 147 148 149

Der Spiegel, Nr. 20/25, 10. Mai 1971, S. 19ff. Wirtschaftswoche/Der Volkswirt, 20/25, 14. Mai 1971, S. 12ff. Der Spiegel, Nr. 22/25, 24. Mai 1971, S. 23 f. Der Spiegel, Nr. 28/25, 5. Juli 1971, S. 25. Der Spiegel, Nr. 29/25, 12. Juli 1971, S. 27.

43 ein. Während Schiller auf Erholungsreise in das Mexikanische Acapulco fuhr, musste sein Staatssekretär Johann Baptist Schöllhorn im Kabinett die Kritik der Minister über sich ergehen lassen. 150 Im Kabinett herrschte einhellig die Meinung vor, dass die Bundesrepublik möglichst bald zu festen Wechselkursen zurückkehren sollte. Scheel und Schmidt warfen Schiller vor, er gefährde mit seiner Wechselkurspolitik die sicherheitspolitischen Interessen der Bundesrepublik. 151 Hinzu kam, dass keine schnellen Erfolge bei den Preissteigerungen zu erwarten waren, weil das Abebben der Inflation nur über längere Zeiträume zu erwarten war. Die inflationäre Entwicklung lief daher im Laufe des Jahres 1971 ungebremst weiter. Im Herbst erreichte die Preissteigerungsrate mit 5,9 Prozent gegenüber dem Vorjahr einen neuen Rekord. Schiller versuchte deshalb die Erwartungen zu dämpfen: „Wir sollten uns nicht der Illusion hingeben, dass wir von heute auf morgen die Preisstabilität im strengen Sinne erreichen werden." Schiller äußerte aber die Hoffnung, dass „wir im Laufe des Jahres 1972 zu erträglichen Verhältnissen kommen." 1 5 2 Die Preissteigerungen waren fur die Sparer schmerzhaft, da die Inflationsrate nicht mehr durch die Zinsen auf die 200 Milliarden D-Mark umfassenden Spareinlagen aufgefangen werden konnte. Der Substanzverlust an Kaufkraft wurde fur die Sparer auf ganze 10 Milliarden D-Mark geschätzt. 153 Das Floaten dauerte bis zum Dezember 1971, als im Rahmen des Smithonian Agreements neue Wechselkursrelationen zwischen den wichtigen Währungen vereinbart wurden. Die Freigabe der Wechselkurse durch die Bundesrepublik lenkte den Dollarstrom auf andere Staaten, vor allem Japan, um. Während die Bundesrepublik auf das ganze Jahr 1971 gerechnet 4,5 Milliarden Dollar aufnehmen musste, hatte Japan einen Reservezugang von 10 Milliarden Dollar zu verzeichnen.154 Das Ergebnis der Gespräche in Washington im Dezember 1971 war die Abwertung des Dollar im Durchschnitt um 10 Prozent. Es war Schiller, der sich als erster auf eine konkrete Aufwertung von 13,57 Prozent fesdegte, und damit die Blockade der Gespräche aufbrach. Japan legte sich auf eine Aufwertung von fast 17 Prozent fest. Karl Schiller charakterisierte die Atmosphäre der Konferenz als die eines „Teppichhandels." Präsident Nixon nannte das Washingtoner Abkommen vollmundig, den ,Abschluss des bedeutungsvollsten monetären Abkommens der Weltgeschichte." 155 Die Neuordnung der Wechselkurse in Washington konnte das System nicht stabilisieren, da die USA nicht bereit waren, die neue Parität durch eine entsprechende Stabilitätspolitik zu sichern. In den letzten Monaten des Jahren 1971 und zu Beginn des Jahres 1972 lockerten die USA ihre Geldpolitik, um konjunkturellen Rückschlägen entgegenzuwirken. Emminger wies gegenüber der Federal Reserve auf die Besorgnis von deutscher Seite hin, stieß aber bei den Verantwortlichen auf taube Ohren. 1 5 6 Er zog daraus für sich die

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Der Spiegel, Nr. 42/25, 11. Oktober 1971, S. 28 f. Der Spiegel, Nr. 43/25, 18. Oktober 1971, S. 29f. Die Zeit, Nr. 42/26, 15. Oktober 1971, S. 25. Die Zeit, Nr. 47/26, 19. November 1971, S. 25. Emminger, D-Mark, S. 175 f. James, Rambouillet, S. 146-148. Emminger, D-Mark, S. 214.

44 Schlussfolgerung, „daß in dieser neuen weltwirtschaftlichen Umgebung gegenüber dem Dollar nur ein Floaten möglich ist." 1 5 7 Etwa ein halbes Jahr nach der Einigung in Washington war Großbritannien gezwungen, nach einer Woche voller Wahrungsturbulenzen den Wechselkurs des Pfundes freizugeben. Schiller lobte diese Entscheidung: „Das ist ein Fortschritt gegenüber früheren Tendenzen bestehende Dinge gegen Märkte zu verteidigen." In der letzten Aprilwoche hatte die Bundesbank Pfund im Wert von zwei Milliarden D-Mark aufkaufen müssen. 158 Klasen wollte einen erneuten Alleingang Schillers und eine weitere Aufwertung der D-Mark verhindern. Deshalb wollte er der Spekulationswelle mit Devisenbewirtschaftung auf der Grundlage des Paragraphen 23 des Außenwirtschaftsgesetzes begegnen. Schillers Sprecher Dieter Vogel erklärte, dass selbst der Einsatz von 5000 zusätzlichen Zollbeamten nicht ausreichen würde, die Devisenkontrolle durchzusetzen. 159 Schiller hatte die Dynamik der Entwicklung, die von Klasen angestoßen wurde und schließlich der Anlass zu seinem Sturz wurde, unterschätzt. Schiller wurde von Dieter Hiss, seinen Ministerialdirektor fur Geld und Kredit vor den Absichten des Bundesbankpräsidenten gewarnt. Schiller erklärte jedoch in der Rückschau, er habe sich nicht vorstellen können, dass die Bundesbank zu solch dirigistischen Maßnahmen greifen wollte. 160 Schiller beabsichtigte stattdessen, das Bardepotgesetz zu verschärfen. Das Gesetz sah vor, dass ein Unternehmen einen Teil des im Ausland geborgten Geldes zinslos bei der Bundesbank hinterlegen musste. Da diese Maßnahme Kredite aus dem Ausland verteuerte, erhoffte sich Schiller dadurch einen Rückgang der Devisenzuflüsse. 161 Noch am 26. Juni 1972 waren Schiller und Klasen gemeinsam auf der Währungskonferenz in Luxemburg gewesen. Beide nahmen denselben Flug zurück nach Bonn, doch Klasen hatte Schiller keinen Hinweis darauf gegeben, dass er bei der nächsten Kabinettssitzung Devisenkontrollen vorschlagen würde. Bei der Kabinettssitzung zwei Tage später am 28. Juni plädierte Schiller für die Bardepots und eine Vereinbarung über ein gemeinsames Floaten mit den anderen EWG-Staaten. Auf Schillers Beitrag antwortete Klasen. Er äußerte das gemeinsame Floaten sei wegen des Widerstandes der Franzosen gegen eine faktische Aufwertung der D-Mark nicht realistisch. Nach Schillers Darstellung hatte Klasen dann einen fertigen Antrag auf die Anwendung des Artikels 23 vorgelegt. Als Schiller auf diesen Verstoß gegen die Geschäftsordnung hinwies, habe Brandt dies damit zurückgewiesen, auch andere Kabinettsmitglieder hätten sich den Vorschlag des Bundesbankpräsidenten zu eigen gemacht. Von entscheidender Bedeutung für Klasens Triumph gegen den einstigen Freund und heutigen Rivalen war seine Erklärung, er könne die nächsten Monate „Ruhe an der Währungsfront" garantieren. Bis zur Bundestagswahl, so konnte das Kabinett Brandt hoffen, war das Problem damit vom Tisch. 162 Schiller zog sich ins Kanzlerammer zurück und verschärfte dort seinen Entwurf für die Änderung des Bardepot-Gesetzes. Während dessen 157 158 159 160 161 162

Emminger, D-Mark, S. 215. Der Spiegel, Nr. 27/26, 1. Mai 1972, S. 78 f. Der Spiegel, Nr. 28/26, 3. Juli 1972, S. 19 ff. Lütjen, Schiller, S. 338. Die Zeit, Nr. 27/27, 7. Juli 1972, S. 2. Lütjen, Schiller, S. 339.

45 ließ sich Klasen von Brandt und Scheel versichern, dass die Parität der D-Mark erhalten werde und das Kabinett keine Änderung beschließen würde, ohne Klasen zu konsultieren. Bei einem darauf folgenden Vieraugen-Gespräch zwischen Schiller und Klasen kam es zu keinem Kompromiss. Daraufhin vertagte Brandt die Sitzung. Auf der nächsten Kabinettssitzung trugen Schiller und Klasen ihre Vorschläge, die Verschärfung des Bardepotgesetzes und die Anwendung des Artikels 23, noch einmal vor. Schiller begründete seine Ablehnung des Klasen-Vorschlages und schlug zwei getrennte Abstimmungen vor, eine über die Verschärfimg des Bardepot-Gesetzes und eines über den Vorschlag von Bundesbankpräsident Klasen. Schillers Vorschlag wurde einstimmig angenommen, Klasens Vorschlag wurde ebenfalls angenommen mit Schillers Gegenstimme. Zuvor hatte Innenminister Genscher noch versucht, Schiller zur Stimmenthaltung zu bewegen. Schiller versprach die Umsetzung des Beschlusses und einige Kabinettsmitglieder hielten die Krise damit fur überwunden. 163 Mit der Annahme von Schillers Bardepot-Gesetz wollte das Kabinett Schiller einen symbolischen Erfolg lassen, um nicht den Eindruck zu erwecken, es wolle Schiller loswerden. Genau das wurde aber von den Gegnern Schillers im Kabinett, wenn nicht beabsichtigt, so doch billigend in Kauf genommen. Regierungssprecher Conrad Ahlers resümierte später: „Die Aufwertungsmüdigkeit im Kabinett war so groß wie die Schiller-Müdigkeit." Die Spitze der Schillergegner im Kabinett hatte Helmut Schmidt angeführt, dem der „Stabilitäts-Apostel" schon lange ein Dorn im Auge war. Ehmke hatte an dem Abend erklärt: „So billig werden wir Karl niemals mehr los." 1 6 4 Die letztere Bemerkung ist insoweit treffend, als das tatsächlich ein wahrscheinlicher Abgang des Finanzministers über die bevorstehenden Haushaltsgespräche einen unzweifelhaft größeren politischen Schaden für die Koalition bedeutet hätte, als sein Rücktritt über ein währungspolitisches Problem, das nur wenige Menschen verstanden. In seinem Rücktrittsgesuch erklärte Schiller richtig: „Ich kann das Ergebnis der Kabinettssitzung vom 29. Juni nur als eine Demonstration gegen den Wirtschafts- und Finanzminister werten." 1 6 ' Schiller trat als Ergebnis eines Streits zurück, in dem er die Argumente auf seiner Seite hatte. Die schrieb: „Was immer man Schiller vorwirft, er praktiziert das, was die Mehrheit der Konjunkturtheoretiker denkt. Und es gibt keinen Kritiker der „herrschenden Lehre", der ein anderes politisch praktikables Rezept hätte." 1 6 6 Angesichts des kommenden Wahlkampfes versuchte Schillers Nachfolger im Amt des Wirtschafts- und Finanzministers, Helmut Schmidt, Kontinuität zu demonstrieren. Schmidt versicherte „unmissverständlich" nach seiner Übernahme des Doppelministeriums für Wirtschaft und Finanzen, dass er den Kurs seiner Vorgänger fortsetzen werde. 1 6 7 Die Z E I T glaubte allerdings: „Kontinuität in der Wirtschafts- und Finanzpolitik ist schon deshalb nicht zu erwarten, weil Helmut Schmidt im Kabinett auch in der Sache ein entschiedener Gegner seines Amtsvorgängers war." 1 6 8 163 164 165 166 167 168

Die Zeit, Nr. 27/27, 7. Juli 1972, S. 21. Lütjen, Schiller, S. 340. Der Spiegel, Nr. 29/26, 10. Juli 1972, S. 19 ff. Wirtschaftswoche, Nr. 27/26, 7. Juli 1972, S. 12ff. Die Zeit, Nr. 28/27, 14. Juli 1972, S. 4. Die Zeit, Nr. 28/28, 14. Juli 1972, S. 25.

46 Bundesbankpräsident Klasen und Helmut Schmidt kannten sich schon seit den fünfziger Jahren. Schmidt hatte die Verbitterung von Klasen über das Verhalten Schillers fur seine Zwecke genutzt. Klasen beklagte sich über Schiller, kein Bundesbankpräsident sei so wenig gefragt worden wie er. Schmidt war so klug gewesen, den Schulterschluss mit dem Bundesbankpräsidenten zu suchen. Karl Klasen, der Schmidt mit seinem Putsch quasi in sein Amt gebracht hatte, wurde zum häufigen Begleiter des neuen Finanzministers. 169 Das Duo arbeitete zwar gut zusammen, war aber außer Stande das Problem auf andere Weise zu lösen, als ihr gemeinsamer Gegner, der geschasste Wirtschafts- und Finanzminister Karl Schiller. Ihr gemeinsamer Ansatz, die Devisenzuflüsse durch Kontrollen zu stoppen, erwies sich als zahnlos. Der von Ihnen unter diesem Vorwand gestürzte Schiller behielt recht, die Devisenbewirtschaftung konnte die Devisenzuflüsse nicht verhindern. Schon in den ersten Tagen, nachdem die Verordnung in Kraft getreten war und damit der Verkauf festverzinslicher Wertpapiere an Ausländer genehmigungspflichtig wurde, strömten in einer neuen Spekulationswelle 700 Millionen Dollar in die Reserven der Bundesbank. Die eingeführten Kontrollmaßnahmen hatten die Spekulationslust sogar noch verstärkt, da dies auf den internationalen Devisenmärkten als Hinweis darauf gewertet wurde, dass die Deutsche Mark gegenüber dem Dollar zu niedrig bewertet war. Die Anleger spekulierten nun auf eine erneute Aufwertung der D-Mark. Die Kontrollen erschwerten darüber hinaus die Kreditaufnahme der Gebietskörperschaften, da ein Viertel der deutschen Anleihen im Ausland abgesetzt wurden. 170 Das Glück war den beiden jedoch vorerst hold. Ab Mitte Juli 1972 beruhigte sich die Lage auf dem internationalen Devisenmarkt und bis zum Ende des Jahres wurde die Bundesregierung von weiteren schweren Währungskrisen verschont, was angesichts der Neuwahlen eine große Endastung war. Durch den Zinsanstieg in den USA wurde die Bundesrepublik von Devisenzuflüssen entlastet und der Dollar erreichte Anfang 1973 wieder die offizielle Parität. 171 Doch das große Finale stand unmittelbar bevor. Der Bundesbank flössen zwischen dem 2. und dem 9. Februar 1973 sechs Milliarden Dollar im Wert von 20 Milliarden D-Mark zu. Zu Beginn der Woche hatte Emminger im Finanzministerium angerufen, um das Ministerium zu informieren, dass die Bundesbank schon vor der Eröffnung der Devisenbörse 550 Millionen Dollar zur Stützung ankaufen musste, und forderte deshalb die Schließung der Devisenbörsen. Schmidt lehnte dies kategorisch ab und sicherte sich die Unterstützung von Brandt. Im Kanzleramt trat ein Krisenstab zusammen. Schmidt verkündete schließlich mit der Rückendeckung des Kanzlers, die Bundesregierung habe nicht die Absicht „sich in ihren Entschlüssen drängen zu lassen, von einer internationalen Spekulation." Ein Freigeben oder Floaten gegenüber dem Dollar käme fur die Bundesregierung nicht in Betracht. Allein am 9. Februar 1973, einem Freitag, musste die Bundesbank zwei Milliarden Dollar aufkaufen. Das war die größte Summe, die bis dahin je von einem Land an einem einzigen Tag aufgekauft worden war. Zu diesem Zeitpunkt holte Staatssekretär Pohl schon

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Der Spiegel, Nr. 42/26, 9. Oktober 1972, S. 26 ff. Der Spiegel, Nr. 29/26,10. Juli 1972, S. 27 ff. Emminger, S. 224 f.

47 Meinungsbilder aus anderen EWG-Staaten zu einem möglichen gemeinsamen Floaten ein. Als Schmidt weitere Devisenkontrollen durchsetzte, brachen die westdeutschen Aktienkurse ein. Das Kabinett stellte sich trotz der offensichdichen Unzulänglichkeit dieser Politik hinter Helmut Schmidt, wie vermutet wurde auch, um nicht Schiller nachträglich ins Recht zu setzten. Dieser verglich gegenüber der Presse seinen einstigen Schüler und ungeliebten Nachfolger mit Kurt Georg Kiesinger, der an seinem Widerstand gegen die Aufwertung gescheitert war. Schmidt geriet trotz des Vertrauens des Kabinetts immer stärker unter Druck. Die wirtschaftswissenschaftlichen Forschungsinstitute und die Experten seines eigenen Ministeriums rieten ihm zur Freigabe der Wechselkurse.172 Doch noch konnte Schmidt seinen Kurs halten. Schmidt hatte Emminger ausgestochen, der den erkrankten Bundesbankpräsident Klasen vertrat. Hinter Emmingers Rücken hatte Schmidt jeden Tag mit Klasen telefoniert. Da Bahr Schmidt schon im Dezember 1972 darüber informiert hatte, dass die Amerikaner die Abwertung in Erwägung zogen, glaubte Schmidt die Aufwertung der D-Mark verhindern zu können. Als Präsident Nixon den Dollar abwertete und die zweite große Währungskrise der sozialliberalen Koalition abgewendet schien, stand Schmidt als strahlender Sieger da, der die Nerven behalten hatte. Vor der SPD-Bundestagsfraktion erklärte Schmidt: „Wir wollten vor aller Welt klarstellen, dass die deutsche Bundesregierung nicht bei jeder Wahrungskrise als erstes ihre eigene Währung preisgibt." Die Fraktion reagierte mit „stürmischen Ovationen." Die Frankfurter Rundschau lobte Schmidt daraufhin als „eisernen Schatzkanzler" und die Süddeutsche als „Krisenmanager" und „Großmeister im Währungsschach." Der SPIEGEL blieb skeptisch: „Weil Schmidt nicht floaten wollte, verpaßte er die Chance, endlich wirksam Stabilitätspolitik betreiben zu können." 173 Schmidt erklärte dagegen gegenüber dem SPIEGEL, man dürfe die Währungspolitik nicht zur Dienstmagd der Stabilitätspolitik machen. 174 Schmidts Triumph dauerte nur etwas mehr als zwei Wochen. Diese zwei Wochen waren nicht mehr als die Ruhe vor dem Sturm. Denn der US-Finanzminister Shulz war nicht bereit, Anstrengungen zur Stabilisierung der neuen Parität nach der Abwertung zu unternehmen. Schmidts diesbezügliche Telefonanrufe ließ Shulz unbeantwortet. Zu diesem Zeitpunkt hatte selbst der IWF bereits resigniert und das System paritätischer Wechselkurse abgeschrieben. Der IWF kam zu dem Schluss: „falls die Krise zu weitverbreitetem Floaten fuhrt, sollte dem nicht entgegengewirkt werden." Am 1. März brach der Sturm auf den internationalen Devisenmärkten los und die Bundesbank musste an einem einzigen Tag die sagenhafte Summe von Devisen im Wert von 8 Milliarden D-Mark aufnehmen. Das Ende von Bretton Woods stand unmittelbar bevor.17:5 An diesem denkwürdigen 1. März 1973 informierte Otmar Emminger die Regierung telefonisch über die neue Spekulationswelle. Diese neue Spekulationswelle traf Schmidt unvorbereitet. Er selbst war im Krankenhaus und sein Staatssekretär Pohl im Urlaub. 176 Am 2. März 1973 stellte

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Der Spiegel, Nr. 7/27, 12. Februar 1973, S. 19ff. Der Spiegel, Nr. 8/27, 19. Februar 1973, S. 17 ff. Der Spiegel, Nr. 8/27, 19. Februar 1973, S. 18. James, Rambouillet, S. 152. Der Spiegel, Nr. 10/27, 5. März 1973, S. 19f.

48 die Bundesbank die Dollar-Stützung zur festen Parität ein. 177 In nur vier Wochen hatte die Bundesrepublik etwa fiir 26 Milliarden D-Mark Dollars aufgekauft. 178 Die Währungen von acht europäischen Ländern, von Frankreich, Dänemark, Schweden, Norwegen, der Benelux-Staaten und der Bundesrepublik wurden schließlich gleichzeitig freigegeben. Die Wechselkurse der acht Staaten durften um 2,25 Prozent voneinander abweichen. Als Vorleistung fiir das Gemeinschafts-Floaten hatte die Bundesrepublik vor der Freigabe um drei Prozent aufgewertet. Pohl glaubte: „Das war das beste Ergebnis, das man sich überhaupt denken kann." So konnten nach 15-tägiger Schließung die Devisenbörsen wieder geöffnet werden. 179 Dieser Kompromiss half Schmidt das Gesicht zu wahren. Gegenüber dem SPIEGEL erklärte er nun, er sei nicht grundsätzlich gegen eine Aufwertung gewesen, sondern er habe nur den Alleingang der Bundesrepublik verhindern wollen. 180 Emminger stellt in seinen Erinnerungen fest, dass der Ubergang zum Floaten nicht die Folge einer mehr oder weniger rationalen Entscheidung einer Regierung gewesen war, sondern durch die „Ereignisse aufgezwungen" worden war. Es sei einfach ein „Akt der Notwehr" gewesen, der die Bundesrepublik dazu zwang, die D-Mark vom Dollar zu entkoppeln. 181 Emminger kann in seinen Memoiren seine Genugtuung über das Einlenken von Helmut Schmidt, an dessen Widerstand gegen das Floaten Schiller gescheitert war, nicht verbergen. Emminger schreibt: „Nun setzte Schmidt - freilich mit einer „Verspätung von einigen Milliarden Dollar" - das Programm Schiller-Emminger in die Tat um!" 1 8 2 Somit kann Schillers Biograph berechtigt konstatieren: „Immerhin blieb Schiller der Trost, dass er vor der Geschichte in vielem Recht behalten sollte. Das galt zunächst für den konkreten Anlass seines Rücktritts. 1973 sollte das System der festen Wechselkurse endgültig zusammenbrechen. Die Devisenkontrollen waren in der Tat völlig unzureichend und man ging, wie von Schiller in den Tagen des 28. und 29. Juni gefordert, wieder zum Floaten über. Pikanterweise wurde Schiller später von Susanne Schmidt, der Tochter seines Nachfolgers, in seiner Ansicht bestätigt: In ihrer Promotion kam sie zu dem Schluss, dass die Freigabe der Wechselkurse bereits früher geboten gewesen wäre." 183 Für die Geldpolitik hatte das Floaten zwei sehr konkrete Konsequenzen, die Emminger so beschreibt: „Im Laufe des Jahres 1973 gelang es uns, durch eine allerdings fast brutale Restriktionspolitik die Geldschwemme in der Binnenwirtschaft aus den vorangegangenen Dollarkrisen zu beseitigen. Dadurch konnten wir uns bereits ab Mitte 1973 vom internationalen Inflationsgeleitzug deudich abkoppeln, trotz der erneuten Belastung, die Ende 1973 durch die Olpreisexplosion von außen kam. (...) Der Ubergang zum Floaten eröffnete uns nach Beseitigung der Geldschwemme endlich auch die Möglichkeit, ab Ende 1974 zu einer echten, im Voraus programmierten Geldmengensteuerung überzugehen." 184

177 178 179 180 181 182 183 184

Emminger, D-Mark, S. Der Spiegel, Nr. 11/27, Der Spiegel, Nr. 12/27, Der Spiegel, Nr. 12/27, Emminger, D-Mark, S. Emminger, D-Mark, S. Lütjen, Schiller, S. 348. Emminger, D-Mark, S.

243. 12. März 1973, S. 22 f. 19. März 1973, S. 22 f. 19. März 1973, S. 23. 251. 245. 254.

Zusammenfassung: Währungspolitik 1970-1973 Das zentrale wirtschaftspolitische Problem in den ersten Jahren der sozialliberalen Koalition war weder die Arbeitslosigkeit noch die Verschuldung, sondern die „importierte Inflation." Bretton Woods beruhte auf einem System fester Wechselkurse. Dies schuf gegenseitige Abhängigkeiten. Die Geldpolitik eines Staates wirkte sich auf die anderen Partnerstaaten aus. Die Finanzströme flössen aus Währungen, die der Markt als überbewertet ansah in Währungen, die als unterbewertet galten. Dies schuf einen Druck, die Parität entsprechend anzupassen. In den sechziger Jahren standen die Ungleichgewichte innerhalb Europas im Mittelpunkt der Bemühungen um die Währungsanpassung. Die Ausweitung der Liquidität des Dollarraumes seit Anfang der sechziger Jahre und beschleunigt durch den Vietnamkrieg zu massiven Liquiditätszuflüssen in die Bundesrepublik, da die D-Mark sich zum Gegenpart des Dollar entwickelte. Schiller hatte fast im Alleingang nach den Wahlen 1969 eine Aufwertung der D-Mark durchgesetzt und glaubte damit das Problem gelöst zu haben. Aber die Schwierigkeiten begannen erst. Es dauerte eine Weile, bis er den Zusammenhang zwischen den Wechselkursen des Dollar und der D-Mark und der neuen Dimension der Inflation seit 1970 erkannt hatte. Diese Erkenntnis machte ihn zu einem Befürworter der Freigabe der Wechselkurse, um zu einem marktgerechten Verhältnis der D-Mark gegenüber den anderen Währungen zu kommen. Diese Politik wurde aber von wenigen verstanden und stieß aus denselben Gründen auf Widerstand wie schon die erste Aufwertung. Bundesbankpräsident Klasen war ein vehementer Gegner der Freigabe. Er befürwortete stattdessen die Devisenbewirtschaftung. Schiller konnte sich auf Bundeskanzler Willy Brandt stützen, der Schiller den Rücken stärkte. Die Frustration über Schiller und seine Währungspolitik nahm aber zu. Bundesbankpräsident Klasen war ein Gegner der Wechselkursfreigabe und der Aufwertung. Er und Schillers Gegenspieler im Kabinett Helmut Schmidt setzte auf Devisenbewirtschaftung, um die Dollarzuflüsse zu stoppen. Angesicht der bevorstehenden Bundestagswahl schien dem Kabinett Klasens Versprechen mit der Devisenbewirtschaftung „Ruhe an der Währungsfront" zu schaffen, eine vielversprechende Alternative zu Schillers Aufwertungskurs. Da Schiller Kabinett und SPD ohnehin zum Ärgernis geworden war und auch Brandt ihm nicht länger Rückhalt gab, besaß Schiller keine Möglichkeit mehr, diese Entscheidung zu verhindern und musste zurücktreten. Schillers Nachfolger als Finanzminister Helmut Schmidt hatte ein gutes Verhältnis zum Bundesbankpräsidenten aufgebaut. Ihr Ansatz die internationalen Ungleichgewichte durch Regulierungen beizukommen, war jedoch zum Scheitern verurteilt. Als im Frühjahr 1973 trotz verschiedener Versuche, das System zu stabilisieren, Bretton Woods endgültig zusammenbrach, zeigte sich, dass Schiller recht behalten hatte. Das Ende der festen Wechselkurse gab der Bundesbank die Möglichkeit eine eigenständige Stabilitätspolitik zu formulieren und sich vom internationalen Inflationszug abzukoppeln. Inzwischen hatten sich jedoch die Regierungen und die Tarifparteien an steigende Inflationsraten als Rahmenbedingung für ihre finanz- und lohnpolitischen Planungen gewöhnt. Als die Bundesbank ernst machte und den Preisauftrieb stoppte, mussten sich die

50 Regierung und die Arbeitnehmervertreter mit den ernsten Folgen ihrer Fehlkalkulation, steigenden Arbeitslosenzahlen und hohen Defiziten, auseinandersetzen, wie an späterer Stelle beschrieben wird. Doch bevor wir auf den Zusammenhang zwischen Geld-, Lohnpolitik nach dem Zusammenbruch von Bretton Woods 1973 zurückkommen, sollen erst noch die sozialpolitischen Entwicklungen wie die Rentenreform und die konzertierte Aktion in den ersten Jahren der sozialliberalen Koalition verfolgt werden.

Die Rentenreform 1972 Die Renten- und Sozialpolitik der Bundesregierung wurden bis zur Bundestagswahl 1976 von Walter Arendt bestimmt. Arendt war gelernter Bergmann und von 1964 an Vorsitzender der IG Bergbau und seit 1968 Vorstandsmitglied der SPD. Als Vorsitzender der Bergarbeitergewerkschaft hatte er die Herabsetzung der Altersgrenze fiir die Beschäftigten auf 55 Jahre durchgesetzt sowie einen Mindesturlaub von vier Wochen. Er gehörte zu den politischen Unterstützern bei der Schaffung der Ruhrkohle AG. Mit der Berufung Arendts, der dem Sozialexperten der SPD-Fraktion Emst Schellenberg vorgezogen worden war, wollte die neue Bundesregierung den D G B in die Regierungsarbeit einbeziehen. Arendts zweiter Mann bei der IG Bergbau Heinz Oskar Vetter wurde Vorsitzender des D G B . 1 8 5 Mit diesem Rückhalt schien Arendt der geeignete Mann, die von den Sozialdemokraten anvisierte Rentenreform durchzusetzen. Das große Projekt der SPD hieß in der Rentenpolitik „Flexible Altersgrenze. Willy Brandt sagte in seiner Regierungserklärung: „Die Bundesregierung wird im Laufe der Legislaturperioden schrittweise den Abbau der festen Altersgrenze prüfen und sich bemühen, sie durch ein Gesetz über die flexible Altersgrenze zu ersetzen. Die gesetzliche Rentenversicherung soll fiir weitere Gesellschaftsgruppen geöffnet werden." 18 ^ Die Unionsopposition wollte die Regierung ausmanövrieren, indem sie die SPD in der Rentenpolitik links überholte. Stoltenberg, Katzer und Stücklen einigten sich auf einen Fahrplan fiir das Jahr 1970. Sie beabsichtigten, sich auf die Sozialpolitik zu konzentrieren. Ein zentrales politisches Ziel war die Öffnung der Rentenversicherung fiir die Selbstständigen. 187 Katzer musste fiir diesen Linkskurs nur die Linie fortfuhren, die er selbst bereits als Arbeitminister vertreten hatte. Katzer hatte in seinem letzten Amtsjahr das erste Sozialbudget vorgelegt und das Gesetz zur Lohnfortzahlung im Krankheitsfall und das Arbeitsförderungsgesetz durchgesetzt. 188 Immerhin hatte Katzer zur Vorsorge eine strategische Planungsreserve fiir die Rentenversicherung angelegt und den Rentenbeitragssatz zum 1. Januar 1973 von 17 auf 18 Prozent erhöht. 189 Katzer war 1965 als Nachfolger von Theodor Blank Arbeitsminister geworden. Seine politische Hausmacht lag im Rheinland und bei den Sozialausschüssen. Allerdings waren nur 5,5 Prozent der 290000

185 186 187 188 189

Der Volkswirt, Nr. 9/24, 27. Februar 1970, S. 19f. Archiv der Gegenwart, S. 15009. Der Volkswirt, Nr. 9/24, 27. Februar 1970, S. 19f. Der Volkswirt, Nr. 9/24, 27. Februar 1970, S. 19f. Der Spiegel, Nr. 5/26, 24. Januar 1972, S. 19 f.

51 CDU-Mitglieder in den Sozialausschüssen organisiert. In Katzers Hochburg NordrheinWestfalen waren es allerdings 18 Prozent. In Stoltenbergs Stammlanden Schleswig-Holstein hingegen nur 0,1 Prozent. Darüber hinaus besaß Katzers Politik bei den jungen Parteimitgliedern in der Jungen Union und im RCDS viele Sympathisanten. 190 Trotz der beschränkten politischen Basis gelang es den Sozialausschüssen einen großen Einfluss auf die Wirtschafts- und Sozialpolitik in der Bundesrepublik auszuüben. Dass sie den Kurs der Unionsopposition wesendich mitbestimmen würden, zeigte sich nach dem Machtverlust schnell. Der Regierungsentwurf der Sozialliberalen sah eine Steigerung der Kriegsopferrenten um ganze 16 Prozent vor, die C D U ging mit ihren Forderungen darüber hinaus und forderte die Erhöhung um 22 Prozent. 191 Darüber hinaus forderte Katzer die Erhöhung des Kindergeldes, die Beseitigung der Einkommensgrenze für das Zweitkindergeld, die Dynamisierung der gesetzlichen Krankenversicherung und die Einführung des gesetzlichen Arbeitgeberanteils fur alle Arbeitnehmer bei der Krankenversicherung und die Ausweitung des Krankenversicherungsschutzes in der Landwirtschaft. 192 Diese Vorschläge standen den Forderungen der Unionsopposition nach einer Beschränkung der steigenden Ausgaben des Bundeshaushalts entgegen. Ein innerer Widerspruch, der die gesamte Oppositionszeit und darüber hinaus für die politische Konzeption der Unionsparteien kennzeichnend war. Bis zur Mitte des Jahres 1971 blieb die Umsetzung der sozialliberalen Rentenpolitik in einer „Planungs- und Umsetzungsphase." Lediglich der individuelle Krankenversicherungsbeitrag der Rentner von 2 Prozent wurde zügig abgeschafft. Arendt schlug Anfang November 1969 vor, den Rentnern zusätzlich ein Überbrückungsgeld von 100 D-Mark zukommen zu lassen, um die Preissteigerungen auszugleichen. Möller und Schiller wandten sich jedoch gegen diese finanzielle Sonderausgabe. So verständigte sich die Bundesregierung am 13. November 1969 darauf, den Krankenversicherungsbeitrag der Rentner entfallen zu lassen. Die Unionsfraktion ging davon aus, dass durch die Abschaffung des Beitrages bis 1985 die Einnahmen um über 20 Milliarden D-Mark verringert würden. Trotz der Kritik an der Abschaffung von Seiten der Union verzichtete die Opposition auf einen gegensätzlichen Antrag. Der Sozialausschuss des Bundestages empfahl über die Abschaffung des Krankenversicherungsbeitrages hinaus, die bereits erhobenen Beiträge an die Rentner wieder zurückzuzahlen. 193 Um trotz des Einnahmeverzichts die Bilanz stabil zu halten, veränderte Arendt die Prognosen, auf denen die Rentenplanung basierte. Arendt hob den prognostizierten jährlichen Gehalteszuwachs von fünf auf 5,8 Prozent an und erreichte somit in der Prognose trotz des von der neuen Bundesregierung beschlossenen Einnahmeverzichts eine ausgeglichene Bilanz. 194 Im Sozialbericht 1970 erklärte die Bundesregierung, dass die Modelle über die finanziellen Auswirkungen der flexiblen Altersgrenze ausgearbeitet würden. Brandt selbst wollte sich nicht auf die Verabschiedung der flexiblen Altersgrenze innerhalb dieser Legislatur190 191 192 193 194

Wirtschaftswoche/Der Volkswirt, Nr. 4/25, 22. Januar 1971, S. 11. Der Volkswirt, Nr. 14/24, 3. April 1970, S. 13f. Der Volkswirt, Nr. 18/27, 30. April 1970, S. I4f. Richard Roth, Die Rentenpolitik der Bundesrepublik, Marburg 1989, S. 115 f. Der Volkswirt, Nr. 9/24, 27. Februar 1970, S. 19f.

52 periode festlegen. 195 Im selben Jahr gab das Bundesarbeitsministerium eine Umfrage in Auftrag, die ergab, dass 82 Prozent aller Versicherten und 89 Prozent der älteren Versicherten für die Vorverlegung des Renteneintrittsalters waren. 196 Die Expansion der sozialen Leistungen war ohne Zweifel populär. Die Planung von Walter Arendt zielte auf die Erhöhung der Sozialausgaben um 45,3 Prozent von 104, Milliarden D-Mark im Jahr 1968 auf 146 Milliarden D-Mark für das Jahr 1973. Schon 1973 würden die Altersrenten nach Arendts Planung aus dem Jahr 1970 26,2 Prozent aller Sozialleistungen umfassen. Im Jahr 1968 waren es noch 24,5 Prozent. Arendt strebte außerdem einen „chancengerechten Familienlastenausgleich" an. Im Jahr 1968 wurden 21 Milliarden D-Mark für die Unterstützung von Familien mit Kindern ausgegeben. Dreiviertel dieser Ausgaben entfielen auf indirekte Leistungen. Deshalb plante das Familienministerium zum 1. Oktober 1970 die Erhöhung des Kindergeldes. Die hohen Wachstumsraten machten Arendt optimistisch. Arendts Amtsvorgänger Katzer war noch von jährlichen Defiziten ausgegangen. Nun rechnete das Arbeitsministerium mit einem bis 1973 auf fünf Milliarden D-Mark wachsenden Überschuss. Im Begleittext zum Sozialbericht 1970 hieß es: „Das bedeutet, daß heute der Entscheidungsspielraum nicht mehr so eng ist wie im Sozialbudget 1968 angenommen." 197 Dieser Optimismus, der die ganze Republik erfasst hatte, kommt auch in einem Artikel des Sozialpolitikers der Union Ulf Fink zum Ausdruck. Fink ging davon aus, dass die Überschüsse in der Rentenversicherung dauerhaft sein würden. Diese Einschätzung beruhte auf der Annahme, dass die Löhne dauerhaft stärker steigen würden, als bis dahin angenommen. Fink sah die Gefahr, dass deshalb die Renten stärker als bisher hinter der Einkommensentwicklung zurückbleiben würden. Fink hatte Sorgen, die die Rentenpolitiker nur wenige Jahre später gerne gehabt hätten. Er fürchtete: „Die Zukunft könnte für die Rentner noch trüber aussehen, wenn die Löhne auf Dauer stärker als bisher angenommen steigen." Dann würden nämlich die Renten von 50 Prozent auf 42,5 Prozent sinken, obwohl die Politik sich ursprünglich ein Verhältnis von Rentenhöhe zu Lohn von 60 Prozent zum Ziel gesetzt hätte. Wohlgemerkt ging es nicht um ein reales Sinken der Renten, sondern nur um das relative Verhältnis zu den Löhnen. 198 Mit solchen Argumentationen wurde ein künsdicher Handlungsdruck zur Erhöhung der Rentenleistungen erzeugt, der bei der Lage der Dinge gar nicht gegeben war, denn so gut wie zu dieser Zeit war es denn Rentnern tatsächlich noch nie gegangen. Die Realisierbarkeit der kurzen Passage in der Regierungserklärung zur flexiblen Altersgrenze war in der Öffendichkeit zuerst durchaus skeptisch aufgenommen worden. Arendt war aber von dem Potenzial dieses Themas überzeugt. Kurz nach seiner Amtsübernahme erklärte Arendt vor Journalisten: „Stellen Sie sich einmal vor: Der Arbeiter könnte mit 60 sagen: Ich mag jetzt nicht mehr, ich gehe in die Rente. Das wäre eine tolle Sache." Arendt glaubte, dass diese Reform „beim kleinen Mann" ankommen werde. Arendt gelang es

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Roth, Rentenpolitik, S. 118. Roht, Rentenpolitik, S. 120. Der Volkswirt, Nr, 18/24, 30. April 1970, S. I4f. Wirtschaftswoche/Der Volkswirt, Nr. 9/25, 26. Februar 1971, S. 32ff.

53 sich mit seinen Konkurrenten innerhalb der SPD Prof. Schellenberg, dem Vorsitzenden des Sozialausschusses, auf eine Linie zu einigen. Schellenberg erklärte: „In Hinblick auf die günstige Finanzentwicklung der Rentenversicherung wird die sozialdemokratische Bundestagsfraktion die Bundesregierung ermuntern, baldmöglichst einen Gesetzentwurf zur Einfuhrung einer flexiblen Altersgrenze zugunsten der älteren Arbeitnehmer und Angestellten, zur Verbesserung der Rentenleistungen insbesondere fur Frauen mit Kindern und zur Öffnung der Rentenversicherung für alle Selbstständigen und Hausfrauen vorzulegen." Die Umstände schienen günstig, denn zeitgleich kam der Chefmathematiker des Arbeitsministeriums Hensen mit seinen computergestützten Berechnungen auf sehr positive, um nicht zu sagen erstaunliche Prognosen. 199 Die Vorstellungen in der Politik über die voraussichdichen Uberschüsse in der Rentenkasse waren geradezu fantastisch. Die Überschüsse wurden mit der Zeit, wenigstens in den Prognosen, immer größer. Ursprünglich hatte die Bundesregierung bis zum Jahr 1985 einen Überschuss von 33,7 Milliarden D-Mark vorausgesagt. Die Schätzungen aus dem Frühjahr 1971 kamen zu dem Ergebnis, dass die Überschüsse bis zum Jahr 1985 137 Milliarden D-Mark betragen würden. Diese intern gehandelte Zahl kam durch eine Indiskretion des Arbeitsministeriums an die Öffendichkeit. 200 Im Rentenanpassungsbericht 1971 hieß es, dass „das Vermögen der Rentenversicherung 1985 gegenüber der alten Rechnung allein um 75 Mrd. D-Mark" sich vergrößern werde. 201 Der Zuschuss zur Alterssicherung aus dem Bundeshaushalt betrug 1971 7,7 Milliarden D-Mark und würde voraussichdich bis 1973 auf 10 Milliarden D-Mark anwachsen. Der Vorschlag mit den zusätzlichen Einnahmen der Rentenkassen diesen Zuschuss abzubauen, wurde jedoch bald verworfen. Der Sozialexperte der FDP Kurt Spitzmüller sprach sich gegen die Kürzung des Zuschusses aus, weil er der Meinung war: „Politisch paßt das nicht in die Landschaft." In die Landschaft passte die Finanzierung des früheren Ausscheidens aus dem Berufsleben. Der SPD-Abgeordnete Wilhelm Nölling kam zu der politisch wohl realistischen Einschätzung: „Diese Regierung kommt von der flexiblem Altersgrenze nicht mehr runter." Nölling glaubte, wie viele Sozialdemokraten, mit der Einführung des flexiblen Altersgrenze einen großen Wurf und wesendichen Schritt zur Wiederwahl der sozialliberalen Koalition zu schaffen: „Die flexible Altersgrenze wird vergleichbar mit der Dynamisierung der Renten 1957 den großen Durchbruch bringen." Im Arbeitsministerium wurde daran gearbeitet, dass Gesetz noch rechtzeitig zur Wahl 1973 auf den Weg zu bringen. Dann sollte es jedem Arbeitnehmern frei stehen ab dem 63. Lebensjahr in Rente zu gehen. Damit die Prognosen, das Vorhaben stützten, hatte Arendt seine Zahlen nach oben korrigiert. Arendt hatte die erwarteten jährlichen Lohnzuwächse in seiner ersten Prognose von 5 auf 5,8 Prozent heraufgesetzt. In den damals aktuellen Rechnungen vom Frühjahr 1971 hatte Arendt noch einmal aufgebessert. Nun ging er von Lohnzuwächsen von 6,3 Prozent für die Jahre zwischen 1972 und 1975 aus und für die folgenden Jahre bis 1985 von sechs Prozent. Der CDU-Sozialexperte Adolf Müller stellte zutreffend fest: „Eine kleine Rezession wirft alles über den Haufen." 2 0 2 Diese

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Die Zeit, Nr. 16/26, 16. April 1971, S. 43. Wirtschaftswoche/Der Volkswirt, Nr. 11/25, 12. März 1971, S.10. Wirtschaftswoche/Der Volkwirt, Nr. 19/25, 7. Mai 1971, S. 2. Wirtschaftswoche/Der Volkswirt, Nr. 11/25, 12. März 1971, S. 12 ff.

54 Möglichkeit war jedoch nicht auf dem Radar des Arbeitsministers, denn er stand zeidich unter Druck durch die Unionsopposition. Diese war in der Reformdebatte am 24. März in die Offensive gegangen war und legte am 6. Mai Vorschläge zur Öffnung der Rentenkasse fur die Selbstständigen vor. Im Mai 1971 veröffendichte das Arbeitsministerium erste Ergebnisse zur Rentenreform. 203 Arendt schien für seine Rentenreform aus dem Vollen schöpfen zu können. Im Laufe der nächsten Monate bis zum Sommer 1971 vergrößerte sich der veranschlagte Rentenüberschuss auf dem Papier um weitere 2 0 - 3 0 Milliarden D-Mark auf einen Gesamtüberschuss von voraussichdich 150-160 Milliarden D-Mark bis zum Jahr 1985. Arendt konnte unter diesen Umständen im Sommer 1971 den Entwurf fur eine große Rentenreform vorlegen. Der Entwurf umfasste 288 Schreibmaschinenseiten und 10 Tabellen. Der Entwurf umfasste die Senkung des Renteneinstiegsalters und die Aufnahme von Selbständigen und Hausfrauen in die staadiche Rentenversicherung. Geschiedene Frauen sollten von den Renten ihrer früheren Ehemänner profitieren. Die Einkommen der Kleinstrentner sollten erhöht werden. Die Doppelbelastung von alleinerziehenden Frauen sollte bei den Rentenleistungen berücksichtigt werden. Für alle Frauen, die ab 1973 in Rente gingen, war die Anrechnung eines Babyjahres vorgesehen. Die Reform war trotz der einkalkulierten Uberschüsse nur unter der Voraussetzung möglich, dass der Zuschuss des Bundeshaushalts zur Rentenkasse weiterhin wie geplant gezahlt wurde. 204 Anfang 1972 erreichte der bis 1985 vorausgesagte, fiktive Überschuss in der Rentenkasse in den Prognosen des Arbeitsministeriums schließlich die 200-Milliarden-Grenze. Im Verlauf des Januar 1972 waren in nur drei Wochen die Schätzungen des Arbeitsministeriums um 10 Milliarden D-Mark angehoben worden. Damit hatte sich der veranschlagte Überschuss innerhalb eines Jahres von ursprünglich 105 Mrd. D-Mark auf die jetzt veranschlagten 200 Mrd. D-Mark fast verdoppelt. Davon sollten 170 Milliarden D-Mark den Rentnern zugute kommen. Arendts Rentenreform war bis 1985 mit 120 Milliarden D-Mark veranschlagt. Daraus ergab sich ein weiterer Verteilungsspielraum von fünfzig Milliarden D-Mark. Bei dieser Ausgabendimension wollten die Sozialexperten der Koalition eine Grenze ziehen. Wilhelm Nölling erklärte: „Ich lehne es ab, über unser Paket hinauszugehen." Darüber hinausgehen wollten aber der D G B und die C D U / CSU-Opposition. 2 0 5 Die Opposition war besonders darüber verärgert, dass ihr Arendt keinen Zugang zum Computer-Programm, mit denen die Renten berechnet wurden, erlaubte, aber die Zahlen dieses Systems gegen die Opposition verwendete. Der größte Zweifler an diesen Berechnungen des sogenannten „Renten-Computers" war kein führender Vertreter der Opposition, sondern der sozialdemokratische Super-Minister. Schiller hielt seine Einwände in einem Papier fest. Dort bezweifelte er die ,Annahme einer stabilitätskonformen Lohnentwicklung." Allerdings hielt er die Leistungsausweitung für politisch unvermeidbar: „Es ist aber wohl damit zu rechnen, daß nach der Verwirklichung der Reformvorschläge die derzeitige Initiative der C D U / C S U auf Anhebung des Rentenniveaus zu einer allgemeinen Forderung wird, die man in absehbarer Zeit nicht mehr wird abwehren können." Deshalb rechnete Schiller mit erneuten Beitragserhöhungen, da

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Roth, Rentenpolitik, S. 121 f. Der Spiegel, Nr. 34/25, 16. August 1971, S. 23 ff. Der Spiegel, Nr. 7/26, 7. Februar 1972, S. 23.

55 die „quantitativen Auswirkungen der vom BMA vorgeschlagenen Reformen im sozialen Bereich" in der Finanzplanung nicht berücksichtigt war. 206 Es hatte längst ein Wetdauf um die Verteilung der Rentenüberschüsse eingesetzt, dessen Zielgerade die Bundestagswahl 1973 sein sollte. Im Gutachten vom Mai 1971 hatte der Sozialbeirat empfohlen, die Renten zum 1. Januar 1972 um 6,3 Prozent zu erhöhen. Ein entsprechender Regierungsentwurf wurde am 8. Juni 1971 dem Sozialausschuss des Bundestages zugeleitet. Dieser Entwurf wurde aber dort von der Union zurückgewiesen. Die Opposition die Erhöhung um 6,3 Prozent angesichts der Preissteigerung für unzureichend. Die Union verlangte stattdessen eine Rentenanpassung um 11,3 Prozent. Die SPD befürchtete, dass durch die zusätzlichen Kosten der Unionsforderungen ihr Projekt der flexiblen Altersgrenze in Gefahr geraten würde. 207 Die SPD wollte aber unter keinen Umständen auf die flexible Altersgrenze verzichten, denn sie hielt die Verabschiedung für wahlentscheidend. So meinte Ehmke zur flexiblen Altersgrenze: „Das wird unser Wahlschlager 1973" 2 0 8 Solche Hoffnungen waren schon früh in den öffentlichen Betrachtungen genährt worden. Im April 1971 hatte die ZEIT geschrieben: „Die Einfuhrung der flexiblen Altersgrenze (...) fristgerecht zu den Wahlen des Jahres 1973 könnte fur die SPD ein ähnlicher Wahlschlager werden, wie die fristgerechte Einbringung der dynamischen Rente zu den Wahlen 1957 fur die C D U / C S U gewesen war. "209J Diesen Erfolg wollte die Union genau aus demselben Grund der Regierung nicht lassen. Katzer setzte die Regierung zusätzlich unter Druck durch die Forderung, die Rentenanpassung zum 1. Januar 1973 um ein halbes Jahr vorzuziehen. Der SPD-Sozialpolitiker Professor Ernst Schellenberg berechnete, dass neben der Verwirklichung der flexiblen Altersgrenze gemessen an dem vorausgesagten Überschuss von 200 Milliarden D-Mark noch ein Spielraum von dreißig Milliarden bestand. Mit diesem könnte die Rentenvorverlegung um ein Vierteljahr finanziert werden. Mit dem Vorziehen der Rentenerhöhung um ein Vierteljahr wollte Schellenberg Katzer den Wind aus den Segeln nehmen. 210 Die C D U ließ Arendts offizielle Zahlen zur flexiblen Altersgrenze vom Gutachterinstitut Haber E. G. Höfer H H V nachrechnen. Die Gutachter kamen zu dem Ergebnis, dass die Kosten fur die flexible Altersgrenze viel niedriger seien, als von Arendts Ministerium berechnet. Sie schätzten den Spielraum für zusätzliche Leistungen statt auf 30 Milliarden, wie Schellenberg errechnet hatte, auf bis zu 97 Milliarden D-Mark. Diese könnten zur Verbesserung der Rentenleistungen oder zur Senkung der Beiträge verwendet werden. Die von der Union beauftragten Gutachter glaubten, dass die „vom Sozialbeirat erwogene Anhebung des Rentenniveaus verwirklicht werden kann, ohne die Solidität der Rentenfinanzierung zu gefährden." 211

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Wirtschaftswoche, Nr. 5/26, 4. Februar 1972, S. 13ff. Roth, Rentenpolitik, S. 128 f. Der Spiegel, Nr. 16/26, 10 April 1972, S. 30 ff. Die Zeit, Nr. 14/26, 2. April 1971, S. 25. Der Spiegel, Nr. 21/26, 15. Mai 1972, S. 32. Wirtschaftswoche, Nr. 17/26, 28. April 1972, S. 19ff.

56 Die sozialliberale Mehrheit im Parlament war in der Zwischenzeit zusammengeschrumpft und durch den Rückzug von Karl Schiller, der an Abstimmungen nicht mehr teilnahm, war die Koalitionsmehrheit darüber hinaus geschwächt. Nicht nur im Bundestag auch im Bundesrat veränderten sich die Mehrheitsverhältnisse zuungunsten der Union. Als die C D U am 23. April 1972 bei der Landtagswahl in Baden-Württemberg die absolute Mehrheit erreichte, gewann die Union damit die Mehrheit der Bundesratssitze. Das konstruktive Misstrauensvotum war zwar am 27. April 1972 gescheitert, aber dann zeigte sich bei der Abstimmung über den Bundeshaushalt die Pattsituation zwischen Regierung und Opposition im Bundestag. Am 19. Mai 1972 erklärten Brandt und Scheel ihre Bereitschaft zu Neuwahlen. Der Auseinandersetzung um die Rentenreform und Arendts Sozialpolitik wurde eine zentrale Rolle in der Wahlkampfstrategie von Regierung und Opposition zugewiesen. 212 Die kommentierte: „Für Walter Arendt nämlich sieht die Wahlkampfstrategie Willy Brandts eine Hauptrolle vor. Mit sozialen Wahlgeschenken soll er Arbeiter, Angestellte und Rentner an die SPD binden." Dabei sei die Politik Arendts die „konsequente Fortentwicklung christdemokratischer Sozialpolitik." 213 Am 7. Juli 1972 hatte Schiller vom Bundespräsidenten seine Entlassungsurkunde erhalten. Katzer setzte darauf, dass der zurückgetretene Karl Schiller, der sich in Afrika aufhielt, nicht an der Abstimmung über die Rentenreform teilnehmen würde. 214 Er hoffte mit einer knappen Mehrheit sein eigenes Konzept durchzusetzen und Arendt damit eine Niederlage beizubringen. Dies zwang die Regierung auf die Opposition zuzugehen und die Anhebung der Renten rückwirkend zum 1. Juli 1972 um 9,5 Prozent zu akzeptieren. Im Gegenzug wollte Arendt die Zustimmung der Opposition zu seinem Konzept der flexiblen Altersgrenze erreichen. Die vorgezogene Rentenanpassung würde voraussichtlich bis 1986 72 Milliarden D-Mark kosten. Arendt tröstete sich damit, dass der Überschuss der Rentenkassen „eher mehr" als die inzwischen veranschlagten 205 Milliarden D-Mark würde. 2 1 ' In den Spitzengesprächen mit der Union Anfang September 1972 biss Arendt mit seinen Vorschlägen jedoch auf Granit. Katzer wollte sich nicht schon zu diesem Zeitpunkt auf eine Einigung festlegen. Unterstützt vom Hauptgeschäftsfuhrer der Sozialausschüsse Norbert Blüm hatte er die Union auf eine kompromisslose Haltung festgelegt. Die Union bestand darauf, allen 63jährigen die Möglichkeit zur Weiterarbeit zu geben und ihnen zusätzlich zum Lohn die Rente auszuzahlen oder ihnen später höhere Rentenansprüche anzurechnen. Das Unionskonzept war noch teurer als das Konzept des Arbeitsministers. Arendts Konzept sah vor, allen, die 35 Jahre in die Rentenkasse eingezahlt hatten, 70 Prozent des Durchschnittsverdienstes zu garantieren. Stattdessen wollte Katzer allen, die 25 Jahre gearbeitet hatten, 75 Prozent zusprechen. 216 Das Arbeitsministerium bezifferte die Kosten der Arendtschen Rentenkonzeption auf 186 Milliarden DMark und das der C D U / C S U auf über 200 Milliarden D-Mark. Katzer wollte so kurz vor der Wahl einen Triumph für die Union erreichen und damit auch parteiintern die Sozialausschüsse stärken. Der Wirtschaftsflügel der Union stand Katzers Konfrontationsstrate212 213 214 215 216

Roth, Rentenpolitik, S. 128 f. Wirtschaftswoche, Nr. 5/26, 4. Februar 1972, S. 13ff. Lütjen, Schiller, S. 346. Der Spiegel, Nr. 37/26, 4. September 1972, S. 23 f. Der Spiegel, Nr. 38/26, 11. September 1972, S. 67 f.

57 gie und seinen Forderungen kritisch gegenüber. Die Arbeitgeberverbände waren bei den Sozialausschüsse vorstellig geworden, um ihr Einlenken zu erreichen. Der Geschäftsführer des CDU-Wirtschaftsrates Haimo George erklärte: „Mir wäre ein 100-Milliarden-Paket am liebsten: vorzeitige Anpassung der Renten und flexible Altersgrenze, nicht mehr." 217 Am 21. September 1972 verabschiedete der Bundestag die Rentenreform mit 493 JaStimmen und einer Enthaltung. Nun konnte die Rente von allen die dreißig Beitragsjahre aufzuweisen hatten, ab dem 63. Lebensjahr bezogen werden. Wer länger arbeitete, konnte seinen Rentenanspruch um 7,5 Prozent erhöhen. Die Union hatte die Vorziehung der Rentenerhöhung um 9,5 Prozent um ein halbes Jahr und auch das Mindesteinkommen von 75 Prozent der Durchschnittsrente für alle, die mindestens 25 Jahre eingezahlt hatten, durchgesetzt. Die Rentenversicherung wurde fur Selbstständige und Hausfrauen geöffnet. Der Vorschlag der Regierung, ein Babyjahr fur Frauen auf die Rente anzurechnen, wurde mit der Mehrheit der Union verworfen. Insgesamt trug das Rentenreformgesetz allein schon durch die Mehrheitsverhältnisse von 248 zu 247 Stimmen zugunsten der Union, die durch die Abwesenheit Karl Schillers zustande kamen, ebenso sehr die Handschrift der Union wie der SPD. 2 1 8 Am 6. Oktober 1972 stimmte schließlich auch der Bundesrat der Rentenreform einstimmig zu. 2 1 9 Die Rentenreform war als Krönung der Arendtschen Sozialpolitik vorgesehen. Wilhelm Nölling beschrieb euphorisch die Ergebnisse der Arendtschen Politik: „Das sind goldene Jahre der Sozialpolitik. Da gibt es in diesem Jahrhundert keinen Vergleich." Arendt hatte mehr Gesetzesvorschläge als alle übrigen Kabinettsmitglieder vorgelegt. Das neue Betriebsverfassungsgesetz hatte die Rechte der Arbeitnehmerseite erweitert, die Kriegsopferrente war dynamisiert worden, die 2,5 Millionen Bezieher waren damit innerhalb von zwei Jahren um dreißig Prozent besser gestellt worden. Der Anspruch auf ärztliche Vorsorgeuntersuchungen wurde ausgeweitet, Kindergartenkinder, Schüler und Studenten erhielten auf Staatskosten eine Unfallversicherung, die Rentner waren von den Beiträgen für die Krankenkassen befreit worden und erhielten die bereits gezahlten Beiträge zurückerstattet und der Arbeitgeberbeitrag fur die Angestellten wurde fur die Krankenversicherung ausgedehnt. Die Kosten für diese massive Leistungsausweitung konnten nur ohne größere Schwierigkeiten getragen werden, weil die Inflation der Preise und Löhne zu immer höheren Beitragseinzahlungen führte. Die Sozialausgaben insgesamt sollten sich bis Mitte der achtziger Jahre von 16 Prozent auf 20 Prozent BSP erhöhen. Die Zuschüsse des Bundes an die Rentenversicherung würden nach den damals vorliegenden Berechnungen bis 1986 auf 26 Milliarden D-Mark wachsen. Als Folge davon sollte der Staatsanteil von damals 38,8 auf 47,7 Prozent steigen. 220

217 218 219 220

Der Spiegel, Nr. 39/26, 18. September 1972, S. 21. Archiv der Gegenwart, S. 17343f. Archiv der Gegenwart, S. 17378. Der Spiegel, Nr. 16/26, 10. April 1972, S. 30 ff.

Zusammenfassung: Die Rentenreform 1972 Die Rentenreform von 1972 ist aus drei Gründen interessant. Erstens zeigt sie die Tendenz, die jeweilige wirtschaftliche Lage in die Zukunft zu projizieren. Zweitens zeigt sie, wie der Wettbewerb zwischen den Parteien die Kosten fur die Sozialpolitik immer weiter in die Höhe treibt. Drittens bestätigt sich, was bereits im Kapitel über die Haushaltspolitik angeklungen ist, nämlich dass kein großer Unterschied zwischen den Parteien besteht, wenn es darum geht, zusätzliche Einnahmen für populäre Ausgabensteigerungen zu verwenden. Gehen wir auf diese drei Punkte nun genauer ein. Alle Prognosen sind nur so gut, wie die Zahlen, die ihnen zugrunde liegen. Die frühen siebziger Jahre sind eindeutig durch ein großes Vertrauen in Prognosen und Vorausberechnungen gekennzeichnet. Nur wenn es verlässliche Prognosen gibt, kann gesellschaftliche Planung, wie sie zu dieser Zeit das Ideal war erfolgreich sein. Langfristige Planung muss aber scheitern, da die Prognosen, wie später im Zusammenhang mit der „Rentenlüge" zu zeigen sein wird, eben nicht das halten, was sie versprechen. Das Maß, in dem die Politik damals auf die Rechenergebnisse eines Computers vertraute, wirkt im Nachhinein fast grotesk, besonders angesichts des Umstandes, mit welcher Unbefangenheit sich die Akteure die Ausgangsbedingungen zurechtbogen. Annahmen über die Lohnentwicklung wurden willkürlich nach oben korrigiert. Schließlich wurden Summen für die Zukunft fest verplant, die allein auf dem Papier vorhanden waren. Die Erfahrung, dass auf einen stürmischen Aufschwung ein rasanter Abschwung folgen kann, wurde konsequent von allen Parteien ignoriert. Die Regierung handelt rein gegenwartsbezogen und kann wohl auch nicht anders handeln. Sie steht unter dem Druck der Opposition, die darauf aus ist, die Begehrlichkeiten der Bevölkerung noch weiter zu erhöhen und noch mehr zu versprechen als die Regierung. Die Unionsopposition forderte nicht etwa, die Kosten zu begrenzen. Sie trug mit ihren Forderungen dazu bei, die Kosten noch weiter nach oben zu schrauben. Wie sich die Sozialausgaben und die Ausweitung der Leistungen für die Rentenversicherung entwickelt hätten, hätte die CDU/CSU auch nach 1969 den Kanzler gestellt, ist natürlich eine hypothetische Frage. Arbeitsminister Katzer hätte sich aber wohl auch in den siebziger Jahren nicht grundsätzlich anders verhalten als Arbeitsminister Arendt. Vielleicht wäre er in einer Unionsregierung vom Wirtschaftsflügel ausgebremst worden. Dennoch hätte es wohl keine grundsätzlich andere Sozialpolitik gegeben als mit den Sozialliberalen.

Die Vollbeschäftigung, Lohnpolitik und Konzertierte Aktion Wie das vorangehende Kapital gezeigt hat, ist die sozialpolitische Expansion vor dem Hintergrund steigender Löhne und erwarteter Beitragsüberschüsse zu sehen. Der Irrtum war die Annahme, dieser Zustand würde so auf Dauer bestehen bleiben. Der Zeitabschnitt zwischen I960 und 1973 war gerade fur die Lage auf dem Arbeitsmarkt der

59 Bundesrepublik eine außergewöhnliche Periode. In diesem Zeitraum war der Stand der Arbeitslosigkeit so niedrig, wie sonst niemals zu Friedenszeiten im 20. Jahrhundert. Zwischen 1960 und 1966 und dann wieder zwischen 1969 und 1973 blieb die Arbeitslosigkeit bei unter 1,5 Prozent. Zwischen 1969 und 1971 sogar bei unter einem Prozent. Im Jahr 1970 wurden nur 149000 Arbeitslose gezählt. In den kommenden zwei Jahren stieg die Arbeitslosigkeit in absoluten Zahlen auf etwa eine Viertelmillion, was immer noch ein sehr geringer Wert war. Erst ab 1973 änderte sich das Bild grundlegend. Die Arbeitslosigkeit stieg auf über 580000 im Jahr 1974 und übersprang schon 1975 die Millionengrenze. Das „Goldene Zeitalter" der Vollbeschäftigung ging zu Ende und sollte nie wieder kehren. 221 Die Wirtschaftswissenschaft war sich nicht einig, ob es sich bei der Vollbeschäftigung dieser Jahre um einen guten Zustand handelte, der aus einem ökonomischen Gleichgewicht resultierte, oder um einen Zustand der „Überbeschäftigung", der zu einer wachsenden Zahl von Gastarbeitern in der Bundesrepublik führte, weil diese das wesentliche Element der „Elastizität" auf dem Arbeitsmarkt waren 2 2 2 Der Zufluss von Liquidität aus dem Ausland setzte eine Lohn-Preis-Spirale in Gang, die durch die späte Aufwertung nach der Wahl 1969 nicht abgewendet werden konnte. Zu dieser Einschätzung kam damals der Sachverständigenrat: „Im Laufe des Jahres 1969 entstand durch die Übernachfrage auf den Gütermärkten und am Arbeitsmarkt eine labile Situation, in der ein geringfügiger Anlass genügte, einen Anpassungsprozess auszulösen. Mit den Arbeitsniederlegungen Anfang September 1969 wurden außertarifliche Lohnzuschläge durchgesetzt. Die Gewerkschaften sahen sich nun gezwungen, vor Ablauf der Tarifverträge hohe Lohnforderungen zu stellen." 223 Am 2. September 1969 hatte die Belegschaft der Hoesch-Hüttenwerke in Dortmund ihre Arbeit niedergelegt. In den folgenden Wochen und Monaten breiteten sich diese spontanen Arbeitsniederlegungen bzw. „wilden" Streiks über die ganze nordrheinwestfälische und saarländische Stahlindustrie und schließlich auch in andere Branchen und Regionen aus. Schließlich wurden bis zu 140000 Arbeitnehmer von der Streikwelle erfasst. In der Gewerkschaftsführung fürchtete man den Kontrollverlust. Dies hatte Folgen für Stil der Auseinandersetzung und die Ziele der Tarifpolitik in den nächsten Jahren: „In den folgenden Jahren, in denen die blühende Konjunktur anhielt, wollten sich die Gremien der Gewerkschaft das Heft des Handelns nicht mehr aus der Hand nehmen und sich auch nicht nachsagen lassen, zu nachgiebig und zurückhaltend zu sein." 224 Unter diesen Bedingungen war der Versuch die Gewerkschaften für die Stabilitätspolitik in die Pflicht zu nehmen aussichtslos. Für Wirtschaftsminister Schiller war die Konzertierte Aktion das zentrale Instrument, um die Preissteigerung zu bekämpfen und die Gewerkschaften im Sinne der Stabilitätspolitik zu disziplinieren. Die Konzertierte Aktion sollte sich jedoch als ausgesprochen stumpfes Schwert erweisen.

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Herbert Giersch, Karl-Heinz Paque, Holger Schmieding, The Fading Miracle. Four decades of market economy in Germany, Cambridge 1992, S. 126f. Giersch u.a., Fading Miracle, S. 126ff. Jahresgutachten 1969/70, S. 28. Klaus Kempter, Eugen Loderer und die IG-Metall, Filderstadt 2003, 236 f.

60 Die Konzertierte Aktion am 24. November 1969 fand ganz unter dem Eindruck des Preisauftriebs statt. Das Hamburger Welt-Wirtschafts-Archiv stellte fest: „Man muss schon bis zu Koreakrise zurückgehen, um einen ähnlich starken Anstieg der Industriepreise zu finden." Die Gewerkschaften warfen den Unternehmen vor, die Preise hochzutreiben. 225 Diese „Lohnexplosion" setzte sich im Laufe des Jahres 1970 fort und erfasste schließlich alle Branchen. Den Gewerkschaften gelang gestärkt durch die Vollbeschäftigung eine Änderung der Einkommensverteilung zu Gunsten der Arbeitnehmer. Allerdings wurde die Verbesserung der Realeinkommen durch die wachsende Steuerbelastung gebremst. 226 Deshalb war das Wachstum der Bruttoeinkommen mit 17, 6 Prozent höher als der Anstieg der Nettoeinkommen mit 14,7 Prozent. Dennoch nahmen 1970 die Einkommen aus unselbstständiger Arbeit brutto wie netto stärker zu als die Gewinneinkommen. 227 In der zweiten Jahreshälfte 1970 konnten „die Unternehmen nur einen Teil ihrer Kostensteigerung in die Preise umwälzen; die Unternehmensgewinne gingen daher (....) zurück." Die Bundesbank fürchtete als Konsequenz dieser Entwicklung einen Rückgang der privaten Investitionen. 228 Die Gewerkschaften lehnten ab, sich für diese Entwicklung in die Verantwortung nehmen zu lassen. Otto Brenner erklärte im Sommer 1970 in einem Interview mit dem Wirtschaftsmagazin der Volkswirt, die Gewerkschaften würden sich nicht zum „Prügelknaben der Wirtschaftspolitik machen lassen." Dies war in der Tat auch nicht gerechtfertigt. Denn die Gewerkschaften selbst waren nicht mehr Herr der Lohnentwicklung. Für Brenner und die übrige Gewerkschaftsfuhrung war das Auseinanderklaffen von Tariflöhnen und Effektiv-Löhnen ein zentrales Legitimationsproblem. Die Tariflöhne waren nämlich zu diesem Zeitpunkt nur um 12 Prozent, die Effektiv-Löhne hingegen um 16 Prozent gestiegen.22^1 Der Boom, der diese außergewöhnliche Entwicklung verursachte, indem dieser die Löhne auch ohne den Druck der Gewerkschaften nach oben trieb, setzte sich im darauf folgenden Jahr weiter fort. Die ZEIT schrieb zu Beginn des Jahres 1971: „Die ersten Monate des neuen Jahres haben ein gegenüber der zweiten Hälfte 1970 kaum verringertes wirtschaftliches Wachstum gebracht, trotz Kurzarbeit bei einer Reihe von Betrieben herrscht weiter extreme Vollbeschäftigung, von Stagnation kann keine Rede

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Der Spiegel, Nr. 49/23, 1. Dezember 1969, S. 36 f. Jahresgutachten, 1970/71, S. 16. Jahresgutachten 1970/71, S. 23. Monatsberichte, Februar 1971, S. 6. Der Volkswirt, Wirtschaftswoche, Nr. 29/24, 17 Juli 1970, S. 12 ff Die Zeit, Nr. 15/26, 9. April 1971, S. 1.

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Inflation und das Stabilitätsprogramm 1973 Preisbereinigt war das Bruttosozialprodukt in der Regierungszeit der sozialliberalen Koalition ab 1970 um 5,8, im Jahr 1971 um jeweils 2,8 Prozent in den Jahren 1971 und 1972 gewachsen.231 Anfang des Jahres 1973 waren die Konjunkturexperten der Bundesregierung für dieses Jahr wieder einen erneuten Wirtschaftsaufschwung voraus. Staatssekretär Otto Schlecht schätzte das Wachstum auf etwa 10 Prozent nominal und 5 bis 5 einhalb Prozent real. Staatssekretär Schüler glaube sogar an noch höhere Wachstumssätze.232 Damit schien sich ein regelrechter Boom anzudeuten, der die Preissteigerung noch verstärken würde. Die grundsätzliche Zielsetzung der Politik spiegelte sich auch im Jahreswirtschaftsbericht wieder. Die Zielvorgabe des Berichts war die Teuerungsrate von 6,5 Prozent, die im Dezember 1972 verzeichnet worden waren, auf 4,5 Prozent zu drücken. Es blieb jedoch im Bericht offen, wie diese Zielvorgabe konkret erreicht werden konnte. 233 Genau das war die Frage, die auf der Konzertierten Aktion am 2. Februar 1973 unter dem Vorsitz von FDP-Bundeswirtschaftsminister Hans Friderichs erörtert wurde. Einigkeit bestand unter den Anwesenden darüber, dass dem Preisauftrieb entgegengewirkt werden musste. Die Runde war sich mit den anwesenden Vertretern der Bundesbank, Emminger und Schlesinger einig, dass die Bundesbank zu diesem Zweck die Geld- und Kreditmenge begrenzen sollte. Die Bundesregierung versprach dafür den Haushalt nicht schneller wachsen zu lassen als die Wirtschaft insgesamt. Darüber hinausgehende Einnahmen sollten als Rücklagen stillgelegt oder zur Tilgung der Kredite verwendet werden. Auf einen allgemeinen Konjunkturzuschlag mit dem Ziel die Massenkaufkraft abzuschöpfen konnte sich die Runde nicht einigen. Besonders die Gewerkschaften lehnten den Zuschlag, der die breiten Einkommensschichten betroffen hätte, grundsätzlich ab.23"* In den folgenden Monaten nahm die Preissteigerung aber erneut Fahrt auf und erreichte neue Spitzenwerte. Im Frühjahr 1973 gaben die Statistischen Ämter bekannt, dass die Teuerung die Rekordmarke von 7,5 Prozent erreicht hatte. Im vergangenen Jahr hatten die Sparer 11,6 Milliarden D-Mark durch Zinsen eingenommen und gleichzeitig 16,1 Milliarden D-Mark durch den Kaufkraftverlust verloren. Dieser massive Geldwertverlust zeigte seine Wirkung auf das Verhalten der Sparer. In den ersten zwei Monaten des Jahres 1973 sank die Sparneigung und die Abbuchungen schnellten in die Höhe. In diesen zwei Monaten legten die Sparer 900 Millionen D-Mark weniger zurück als im selben Zeitraum ein Jahr zuvor. 235 Die Gewerkschaften sahen sich genötigt bei der Regierung zu intervenieren. Heinz Oskar Vetter erklärte am 1. Mai 1973 in München, sieben Prozent seien „nicht mehr hinnehmbar." Er erwarte von der Bundesregierung Maßnahmen, um die Preisentwicklung unter Kontrolle zu bringen. 236

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Archiv der Gegenwart, S. 17643. Der Spiegel, Nr. 1/27, 1. Januar 1973, S. 19f. Wirtschaftswoche, Nr. 6/27, 2. Febuar 1973, S. 10. Archiv der Gegenwart, S. 17641 f. Der Spiegel, Nr. 19/27, 7. Mai 1973, S. 91 f. Die Zeit, Nr. 20/28, 11. Mai 1973, S. 33.

62 Zu diesem Zeitpunkt wurde deutlich, dass auch die Gewerkschaften nicht mehr bereit waren, Preissteigerungen zu akzeptieren. Das Dogma, dass Inflation hingenommen werden musste, um die Vollbeschäftigung zu sichern, verlor unter dem Eindruck der Wertverluste der Sparkonten und dem Preisdruck, seine Überzeugungskraft. Als Reaktion auf die Preisentwicklung beschloss die Bundesregierung am 9. Mai 1973 ein zweites Stabilitätsprogramm. An den Beratungen im Kabinett hatten auch Bundesbankpräsident Karl Klasen und die Fraktionsvorsitzenden der Koalition Wehner und Mischnick teilgenommen. Die Bundesregierung forderte die Bundesbank auf, die restriktive Geldpolitik fortzusetzen, sie wollte eine zweite Tranche der Stabilitätsanleihe auflegen. Die Stabilitätsabgabe sollte ab einem Einkommen von 24 000 bzw. 48 000 D-Mark erhoben werden. Mit der Wirkung vom 9. Mai 1973 wurde eine Investitionssteuer auf Anschaffiings- und Herstellungskosten von 11 Prozent erhoben. Die aus diesen Maßnahmen resultierenden zusätzlichen Einnahmen sollten bei der Bundesbank hinterlegt werden und damit dem Wirtschaftskreislauf entzogen. Außerdem wurden Abschreibungsmöglichkeiten eingeschränkt. Gemeinschaftsausgaben von Bund und Ländern sollten verschoben werden. 237 Schmidt glaubte die „Pause der Reformpolitik" werde einen „Schock und viel Geschrei" auslösen. Dieses „Schmidt-Friderichs-Programm" hatte jedoch von der „Abschöpfung der Massenkaufkraft" abgesehen und nur die oberen Einkommen einbezogen. Die Gewerkschaften hatten ihren massiven Widerstand gegen einen allgemein Konjunkturzuschlag aufrecherhalten.238 Vetter war der Diskussion um einen Konjunkturzuschlag mit der rhetorischen Frage begegnet: „Was nützen Tarifautonomie und Tarifverträge, wenn anschließend Lohnerhöhungen durch Konjunkturzuschläge weggesteuert werden?" Eine Reallohnverschlechterung durch einen Konjunkturzuschlag sei „unzumutbar." Dabei sei das Stabilitätsgesetz einen solchen Konjunkturzuschlag von 10 Prozent für den Fall einer „Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts" vor. Vetter drohte fur den Fall der Einfuhrung des Konjunkturzuschlags zusätzliche Lohnforderungen an. 2 3 9 Auf der Konzertierten Aktion am 18. Mai 1973 erklärte Friderichs den Teilnehmern das von der Bundesregierung beschlossene Stabilitätsprogramm. Alle Anwesenden, Gewerkschaften, Arbeitgeberverbände, die Bundesbank und Sachverständigenrat stimmten dieser Maßnahme zu und versprachen sie mitzutragen. Die Unternehmer wiesen aber daraufhin, dass ein Übersteuern der Investitionen vermieden werden sollte. 240 Die Bundesbank kam im Juni trotz des Verzichts auf einen allgemeinen Konjunkturzuschlag zu der optimistischen Einschätzung: „Insgesamt sind somit von dem Stabilitätspaket der Bundesregierung, das weit über den Umfang früherer konjunkturdämpfender Programme hinausgeht, beachtliche Wirkungen zu erwarten." Die Bundesbank sah bei dem „geplanten Zusammenspiel der Fiskalpolitik mit der restriktiven Kreditpolitik bei gegebener außenwirtschaftlicher Absicherung eine Chance dafür, die derzeit bedrohlich überhitzte Konjunktur allmählich wieder abzukühlen." 241 237 238 239 240 241

Archiv der Gegenwart, S. 17875. Die Zeit, Nr. 20/28, 11. Mai 1973, S. 1. Die Zeit, Nr. 20/28, 11. Mai 1973, S. 33. Archiv der Gegenwart, 17933. Monatsberichte, Juni 1973, S. 22.

63 Die ZEIT kommentierte die Bundesbankpolitik im Juni 1973 wie folgt: „Die Bundesbank hat die Kreditbremsen unerwartet hart angezogen. Sie ist offenbar bereit, ernste Liquiditätsprobleme bei manchen Banken in Kauf zu nehmen. Tatsächlich war der Diskontsatz nur einmal (7,5 Prozent im Frühjahr 1970) für kurze Zeit höher als heute. Insgesamt sind auch die Kreditrestriktionen weit schärfer als damals. Und was noch wichtiger ist: Diesmal können die Bremsen der Bundesbank greifen, weil durch das Block-Floating und administrative Beschränkungen die Bundesrepublik gegen den Zufluß von „heißem Geld" besser abgesichert ist." 2 4 2 Auf diese Weise gelang es der Bundesbank, die „Geldmenge in der engeren Definition" bis zum Herbst 1973 auf das Vorjahresniveau zurückzufuhren. 243 Emminger sah in diesen gemeinsamen Stabilitätsanstrengungen von Bundesregierung und Bundesbank einen programmierten „Abschwung nach Maß." Emminger schreibt in seinen Erinnerungen: „Mit Recht wurde damals festgestellt, daß dieses massive Stabilitätsprogramm de facto eine Absage an die so oft beschworene „Vollbeschäftigungsgarantie" von Bundeskanzler Brandt war." 244 Die Bremspolitik von Bundesregierung und Bundesbank drückte auf die Investitionsbereitschaft. Etwa die Hälfte der Unternehmen hatten nach der Verabschiedung des zweiten Stabilitätsprogramms ihre Investitionen eingeschränkt. 245 Schmidt und Friderichs wollten abwarten, bis sich die Anzeichen eines Abschwungs zeigten, denn im September 1973 lag die Teuerungsrate noch immer bei 6,4 Prozent. Am 23. Oktober diskutierte Friderichs mit den Staatssekretären des Wirtschaftsministeriums mögliche Maßnahmen zur Stützung der Konjunktur. Geplant waren staadiche Baumaßnahmen und die Aufstockung der Mittel fur den sozialen Wohnungsbau und Hilfen fur Strukturschwache Regionen. 246 Am 26. Oktober 1973 erklärte Friderichs in einem Interview, das Stabilitätsprogramm zeige erste Wirkungen. Friderichs wollte noch keinen konkreten Zeitpunkt für die Lockerung der Konjunkturpolitik nennen. Er versuchte aber zu beruhigen: „Ein Abbau der Überbeschäftigung ist erforderlich, aber von Rezessionsgefahr kann keine Rede sein." 247 Nachdem das ganze Jahr dahin an der Bremsung der Konjunktur gearbeitet worden war, arbeitete die Grundsatzabteilung des Wirtschaftsministeriums seit Oktober 1973 an einem unter Verschluss gehaltenen Mehr-Phasen-Plan zur Wiederbelebung der Konjunktur. In einer ersten Phase sollten innerhalb von drei Monaten Staatsaufträge in Milliardenhöhe vergeben werden, in der zweiten Phase sollten weitere Staatsaufträge um ein halbes Jahr vorgezogen werden und in der dritten Phase sollten alle die Konjunktur bremsenden Restriktionen aufgehoben werden. 248

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Die Zeit, Nr. 24/28, 8. Juni 1973, S. 33. Emminger, D-Mark, S. 262. Emminger, D-Mark, S. 258. Der Spiegel, Nr. 40/27, 1. Oktober 1973, S. 33ff. Der Spiegel, Nr. 44/27, 29. Oktober 1973, S. 26 ff. Wirtschaftswoche, Nr. 44/27, 26. Oktober 1973, S. 17. Wirtschaftswoche, Nr. 45/27, 5. November 1973, S. 36 f.

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Lohn- und Geldpolitik 1974/75 - Der W e g in die Massenarbeitslosigkeit Von den tarifpolitischen Auseinandersetzungen der Jahre 1973/74 ist vor allem der Streik der O T V in Erinnerung geblieben. Vordergründig war es ein Duell zwischen dem Staat verkörpert durch Willy Brandt und seinen Staatsdienern gefuhrt von dem robust, um nicht zu sagen rücksichtslos agierenden Heinz Kluncker. Dieser Konflikt war jedoch nur ein Ausschnitt aus einem viel größeren Panorama. Es war ein Duell zwischen der Lohnund Ausgabenpolitik der Gewerkschaften und Sozialpolitiker auf der einen und den Stabilitätspolitikern der Bundesbank auf der anderen Seite. Die Lohn-Preis-Spirale hatte sich bis zu einem Punkt gedreht, an dem der langfristige Geldwert der D-Mark erheblich gefährdet war. Es musste der Zeitpunkt kommen, an dem die Wechselwirkung steigender Löhne und steigender Preise beendet werden musste. Die Frage war nur wieweit die Geldentwertung bis dahin fortgeschritten war. Die Bundesbank beschloss früher und konsequenter als die meisten anderen Staaten, dass die Geldentwertung gestoppt werden musste. Mit dem Ubergang zum Block-Floating im März 1973 konnte die Bundesbank die Geldmengenversorgung und die Inflationsbekämpfung selbst in die Hand nehmen, da sie nicht mehr auf die Aufrechterhaltung des festen Wechselkurses zum Dollar Rücksicht nehmen musste. Die neue Lage gab der Bundesbank die Handlungsfreiheit, die ihr einen bemerkenswerten Alleingang ermöglichte. In der Bundesbank setzten sich schließlich jene Kräfte durch, die nicht länger bereit waren, den Preis fur die Ausdehnung der Staatsausgaben und der Hochlohnpolitik in Form wachsender Inflationsraten zu zahlen. Die Beendigung der Lohn-Preis-Spirale war jedoch mit erheblichen Risiken fur den Arbeitsmarkt verbunden. Die Inkaufnahme dieses Risikos war allerdings unvermeidlich. Wie im letzten Kapitel gezeigt wurde, waren auch die Gewerkschaften nicht mehr bereit die sich beschleunigenden Preissteigerungen hinzunehmen. Die Lohn-Preis-Spirale funktioniert so: Der Preisanstieg fuhrt dazu, dass die Reallöhne weniger stark steigen, als von den Tarifparteien intendiert. Dieser durch die Preissteigerung gedämpfte Anstieg der Reallöhne wirkt sich positiv auf den Stand der Beschäftigung aus, da die Lohnkosten die Unternehmen weniger stark belasten. Die Preissteigerungen belasten aber die Arbeitnehmereinkommen unerwartet stark. Dies fuhrt dazu, dass die Gewerkschaften versuchen ihre Lohnforderungen der Preisentwicklung anzupassen und höhere Lohnforderungen stellen, die über die angenommene Inflationsrate hinausgehen sollten. Das verstärkte wiederum die inflationären Tendenzen, auf die die Gewerkschaften wiederum mit höheren Lohnforderungen reagieren usw. Dies fuhrt in der Konsequenz dazu, dass immer höhere Inflationsraten in Kauf genommen müssen, wenn diese Entwicklung nicht durch eine restriktive Geldpolitik gestoppt wird. Karl Klasen war Mitte 1973 in Sorge darüber, dass es wegen der Preissteigerungen zu einer Lohnexplosion kommen werde, bevor sich die Stabilitätspolitik auf die Preisentwicklung auswirken würde. Insoweit befand sich die Stabilitätspolitik tatsächlich im „Wettlauf mit

65 der Zeit", wie die ZEIT feststellte.249 Diese Sorge war gerechtfertigt, denn die Gewerkschaften gerieten wegen der Preisentwicklung immer weiter unter Druck. Noch bevor das Stabilitätsprogramm der Bundesregierung verabschiedet und die Geldpolitik der Bundesbank Wirkung zeigen konnte, kippte die Stimmung unter den Arbeitnehmern. Hunderte von Basisresolutionen erreichten den Vorstand der IG-Metall. Unter diesem Druck stellte Loderer die Forderungen die bestehenden Tarifverträge aufzubessern. Viele Unternehmen hatten angesichts der Preissteigerung von sich aus eine Einigung mit ihrem Betriebsrat über außertarifliche Zuschläge ausgehandelt. 250 Schließlich kam es in Köln, Mannheim, Huckingen und Heidelberg zu wilden Streiks und Demonstrationen der Arbeitnehmer für einen Inflationsausgleich.251 Im Laufe des Sommers 1973 breiteten sich wie schon im Herbst 1969 „wilde Streiks" aus. In der zweiten Augusthälfte legten 17 000 Arbeitnehmer des Bochumer Opel-Werkes ohne Billigung der Gewerkschaften die Arbeit nieder. Nur wenig später hatten die spontanen Arbeitsniederlegungen im Rheinland 16 Betriebe mit insgesamt 40000 Arbeitnehmern erreicht. Insgesamt beteiligten sich im Sommer 1973 120000 Arbeitnehmer in 60 Betrieben an den wilden Streiks. 252 Die wilden Streiks gefährdeten den Rückhalt der Gewerkschaften in den Betrieben. Denn die Front in den Betrieben verlief in vielen Fällen zwischen den Arbeitnehmern und dem Betriebsrat auf der einen und der Gewerkschaftsorganisation, die die Friedenspflicht wahren musste, auf der anderen Seite. Kleine betriebsinterne und betriebsexterne Gruppen gewannen an Einfluss. In den Betrieben selbst spielten die Gastarbeiter, besonders Türken, eine herausragende Rolle. Der SPIEGEL schrieb: „Anders selbst als im September 1969, als zum ersten Mal seit Kriegsende eine bedeutende Welle spontaner Streiks ein verändertes, selbstbewusstes Verhalten der Arbeitnehmer signalisierte, kündigte eine bisher stille und stets gefugige Gruppe plötzlich Protestbereitschaft an: die Gastarbeiter, die in einigen Betrieben sogar die Vorreiter machten und am Ende noch um einige Tage verlängerten." 253 Von Außen gelang es linksradikalen Splittergruppen wie K P D / M L und Anarchisten Einfluss auf den Streikverlauf zu gewinnen. 254 Auch die Jungsozialisten nutzen die Gunst der Stunde, um sich als Vorkämpfer für die Interessen der Arbeiter zu profilieren. Brandt nannte dieses Verhalten des sozialdemokratischen Jugendverbandes „abträglich für die Sozialdemokratische Partei und belastend für die gebotene Solidarität mit den Gewerkschaften." In der SPD-Fraktion hatte die Unterstützung der wilden Streiks durch sozialdemokratische Linke ein parteiinternes Nachspiel. In er SPD-Fraktion wurde mit den Abgeordneten, die mit den spontanen Arbeitsniederlegungen sympathisiert hatten, hart ins Gericht gegangen und die Jusos scharf gerügt. 255

249 250 251 252 253 254 255

Die Zeit, Nr. 24/28, 8. Juni 1973, S. 33. Der Spiegel, Nr. 23/27, 4. Juni 1973, S. 22 f. Wirtschaftswoche, Nr. 24/27, 8. Juni 1973, S. 16. Der Spiegel, Nr. 35/27, 27. August 1973, S. 19ff. Der Spiegel, Nr. 36/27, 3. September 1973, S. 19 ff. Der Spiegel, Nr. 36/27, 3. September 1973, S. 19ff. Der Spiegel, Nr. 38/27, 17. September 1973, S. 21.

66 Unter diesen Umständen war es fur Eugen Loderer ein großer persönlicher Erfolg, als es ihm gelang, in direkten Verhandlungen mit Josef Weisweiler, dem Vorsitzenden des Arbeitgeberverbandes der Eisen- und Stahlindustrie, einen „Nachschlag" für die Stahlarbeiter zu vereinbaren. 256 In einem Interview mit dem SPIEGEL machte Heinz-Oskar Vetter die Preisentwicklung fur die Schwächung der Gewerkschaften verantwortlich: „Die Schwächung der Autorität der Gewerkschaften (...) ist nicht durch den damals konjunkturkonformen Abschluss der IG Metall entstanden, sondern durch die nachfolgende von uns nicht gewünschte und gewollte Preisentwicklung."257 Der Druck von der Basis in den Betrieben auf D G B und IG Metall verfehlte seine Wirkung nicht. Die Gewerkschaften ließen ihre Rücksichten auf die Stabilitätspolitik der Bundesregierung fallen. Loderer nannte die spontanen Streiks „verständlich." Die IG Metall plante, entsprechende Tarifforderungen im Oktober 1973 vorzulegen. 258 Wirtschaftsminister Friderichs suchte in dieser Situation das Gespräch mit den Gewerkschaften, um diese zu moderaten Lohnerhöhungen zu bewegen, hatte jedoch damit keinen Erfolg. 259 Die Konzertierte Aktion, die am 25. September zusammentrat, brachte Friderichs mit seinem Anliegen auch nicht voran. Die Teilnehmer sprachen sich zwar für die Fortsetzung der Stabilitätspolitik aus, hielten aber Vorkehrungen zur Bewältigung eines möglichen Abschwungs für notwendig. 260 Otto Schlecht redete den Gewerkschaften auf der Konzertierten Aktion ins Gewissen, dass im Falle überzogene Lohnabschlüsse „Gefahren für Wachstum und Vollbeschäftigung im zweiten Halbjahr 1974" zu befürchten seien. Das Wirtschaftsministerium legte Zahlen vor, wonach die Arbeitnehmereinkommen im Jahr 1973 um 14 Prozent gestiegen waren, die Gewinne der Unternehmen hingegen nur um 11,5 Prozent. 2 6 1 Schmidt und Friderichs hofften auf die disziplinierende Wirkung des Wirtschaftsabschwungs. Das Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut der Gewerkschaften selbst legte eine pessimistische Prognose vor. Es rechnete mit „stagflatorischen Tendenzen" und stellte fest, dass die erwartete „Gewinnexplosion" der Unternehmen nicht statt gefunden habe. Die Gewerkschaftsführung war jedoch entschlossen, ihren Kurs durchzusetzen. Loderer bezeichnete Schmidts Hinweis auf die Gefährdung der Arbeitsplätze als „dreiste Drohung." 2 6 2 Die ZEIT beschrieb die Stimmung in der Regierung in dieser Situation so: „Mit Bangen sehen Bundeswirtschaftsminister Hans Friderichs und Bundesbankpräsident Karl Klasen dem 1. Januar 1974 entgegen, an dem neue Tarifverträge für rund acht Millionen Arbeitnehmer fällig werden." Die IG Metall verhandelte davon für vier Millionen Arbeitnehmer und die O T V für die zwei Millionen Arbeitnehmer. Der DGB-Vorsitzende Hans Mayr erklärte auf einer Pressekonferenz: „Wir gehen davon aus, daß die Preisentwicklung 256 257 258 259 260 261 262

Kempter, Loderer, S. 288. Der Spiegel, Nr. 36/27, 3. September 1973, S. 27 f. Der Spiegel, Nr. 35/27, 27. August 1973, S. 19ff. Wirtschaftswoche, Nr. 39/27, 21. September 1973, S. 20. Archiv der Gegenwart, S. 18225. Der Spiegel, Nr. 40/27, 1. Oktober 1973, S. 33 ff. Der Spiegel, Nr. 44/27, 29. Oktober 1973, S. 26 ff.

67 eher noch etwas anziehen wird, vielleicht auf acht Prozent. Das müssen wir bei unseren Forderungen berücksichtigen." In der großen Tarifkommission der IG Metall setzte sich mit 50 zu 48 Stimmen die Forderung nach einer Lohnerhöhung von 15 Prozent durch. An der Gewerkschaftsbasis war sogar die Forderung nach 20 Prozent Lohnsteigerung erhoben worden. 263 Die Voraussetzung unter denen die Tarifverhandlungen stattfanden, waren fur eine Einigung alles andere als günstig. Inzwischen hatten die Stabilitätspolitik der Bundesbank und der Einbruch der Ölkrise den Boom gebrochen. Erste Krisenzeichen zeigten sich in der Bauwirtschaft und der Textilindustrie. Die Arbeitslosigkeit war im Vergleich zum Vorjahr um die Hälfte auf 330000 gestiegen. Die ZEIT meinte zum Ausgangspunkt der Verhandlungen, „daß die Diskrepanz zwischen den Erwartungen der Arbeitnehmer und den Möglichkeiten der Lohnerhöhungen wie sie die Arbeitgeber sehen, noch nie so groß war wie in dieser Lohnrunde. Dabei können die Arbeitgeber diesmal für sich verbuchen, daß Sachverständige und Regierung eher ihrer Haltung zuneigen. Noch nie waren die Gewerkschaften so isoliert." 264 In den ersten Monaten des Jahres 1974 kam es zu ernsthaften Verstimmungen zwischen Schmidt einerseits und Friderichs und der Bundesbank andererseits. Im Februar 1974 erreichte die Inflation mit 11,7 Prozent einen neuen Rekord. Schmidt forderte in dieser Situation von Klasen die Senkung der Zinsen und machte in den folgenden Wochen dazu immer neue Vorschläge. Schmidt sah die Gefahren für die Preissteigerungen im Ausland, Klasen und Friderichs waren hingegen beunruhigt über die preistreibende Tendenz der Lohnerhöhungen im Inland. 2 6 ' Schmidt erklärte im März 1974 dem SPIEGEL: „Die Bundesregierung kann mit Genugtuung darauf hinweisen, daß außer dem Großherzogtum Luxemburg in der ganzen Welt kein Industriestaat vorhanden ist, dem die Preisdämpfung so weit gelungen ist." 2 6 6 Im März 1974 erschien in der ZEIT ein sehr treffender Aufsatz von Wolfram Engels, der das Problemfeld umriss. Die Ursache der Inflation sah er in dem Zusammentreffen von flexiblem Geldangebot und Arbeitsmarktmonopol, das von den Gewerkschaften ausgeübt wurde. Die exzessiven Lohnforderungen würden nicht durch die Gefahr der Arbeitslosigkeit in Zaum gehalten, weil die Geldentwertung die Verteuerung der Arbeit abfing. Dem entsprechend war die Stabilitätspolitik der Bundesbank eine Bedrohung der Position der Gewerkschaften: „Sie kritisieren die gegenwärtige Geldverfassung deshalb, weil die Stabilitätspolitik der Bundesbank der Lohnpolitik der Gewerkschaften Grenzen setzt." Denn zugleich waren die Gewerkschaften auch Getriebene der Lohn-Preis-Spirale, die dazu führte, dass durch die fortgesetzte Geldentwertung die Arbeitnehmer nie den Kaufkraftzuwachs realisieren konnten, den das nominale Tarifergebnis zu versprechen schien: „Die enttäuschten Erwartungen der Gewerkschaftsmitglieder zwingen den Gewerkschaftsführern zunehmend Radikalität auf, selbst wenn sie persönlich von der gesamtwirtschaftlichen Sinnlosigkeit einer solchen Lohnpolitik überzeugt sind." Die Kalkulation der Tarifpolitiker mit der fortwährenden Geldentwertung war jedoch ein Spiel 263 264 265 266

Die Zeit, Nr. 47/28, 16. November 1973, S. 33. Die Zeit, Nr. 51/28, 14. Dezember 1973, S. 34. Wirtschaftswoche, Nr. 14/29, 29. März 1974, S. 18 f. Der Spiegel, Nr. 13/28, 25. März 1974, S. 38ff.

68 mit dem Feuer. Denn so stellte Engels richtig fest, wirtschaftsanregend wirke die Inflation nur, wenn die Inflationserwartung hinter der wirklichen Inflation zurückbleibt. Wären die Inflationserwartungen höher als die tatsächliche Inflation, so wirke sie rezessiv.267 Dieser Aufsatz ist deshalb so bemerkenswert, weil er ziemlich genau das wiedergab, was sich in den Jahren 1975/76 in der Bundesrepublik ereignete. Mit dem Übergang zum Block-Floating im März 1973 gewann die Bundesbank den verloren gegangenen Gestaltungsraum über die Geldmengenversorgung und die Inflationsbekämpfung zurück. Die neue Situation bot jedoch nicht nur die Chance, die Inflation in den Griff zu bekommen, sondern legte auch die Schwächen der Wirtschafts- und Lohnpolitik der letzten Jahre offen. Der günstige Umtauschkurs der Deutschen Mark verdeckte nicht länger die in den Jahren vor dem Floaten stark gestiegenen Produktionskosten. Seit 1969 hatte sich der Preisvorteil der deutschen Produkte, der in dem Jahrzehnt zuvor noch stark gewachsen war, auf dem Weltmarkt stark verringert. In dieser Lage musste sich die Wirtschaftsund Lohnpolitik auf niedrigere Inflationsraten einstellen und ihr Verhalten danach neu ausrichten. Der Ausbruch der Ölkrise machte diese Bestrebungen jedoch zunichte. Die Olpreis-Teuerung verstärkte die Inflationserwartung und die Gewerkschaften setzten auf hohe Lohnzuwächse. Die Regierung gab den überhöhten Forderungen der O T V nach und setzte damit ein Zeichen, dem andere Tarifpartner folgten. Auch die Unternehmen stimmten zweistelligen Lohnsteigerungen zwischen 12 und 15 Prozent zu. 2 6 8 Die Krise warf ihre Schatten voraus: Nach dem Investitionsboom in den Jahren zwischen 1968 und 1970 erfasste die Bundesrepublik eine „bis dahin unbekannte" Investitionsflaute. Zwischen 1971 und 1974 gingen die jährlichen Investitionen zwischen 1,6 und 9,7 Prozent zurück. In der Diskussion waren Begriffe wie „Investitionslücke" und „Investitionsstreik." Dies führte, wie es der Wirtschaftswissenschaftler Herbert Giersch nannte, zu einer „Vergreisung" des Sachkapitalbestandes. Für viele Unternehmer war die Investition in den Kapitalmarkt inzwischen lohnender als die Investition in das Unternehmen. Während die Lohn- und die Staatsquote in den Jahren der sozialliberalen Koalition erheblich ausgeweitet worden waren, ging der Anteil der Unternehmensgewinne am Bruttosozialprodukt stark zurück. 269 Die stellte Anfang 1974 fest: „In keinem vergleichbaren Zeitraum seit die Deutschen ihre Wirtschaft wieder zusammenflickten, verloren die Vermögenden mehr Geld, kam der wirtschaftliche Fortschritt direkter dem arbeitenden Mann zugute als in den dreizehn Monaten seit dem Wahlsieg Willy Brandts." Die Entwertung von Kapital, Aktien und Anteilsscheinen belief sich 1973 auf über 150 Milliarden D-Mark. Das waren fast zehn Prozent des Gesamtvermögens. Die Löhne der Arbeitnehmer hatten hingegen einen weiteren Zuwachs erlebt. In der Industrie erreichte der Durchschnittslohn im Spätsommer 1973 die 2000-DM-Grenze. Die Lohneinkommen lagen nun nur noch hinter denen der Schweiz und Schwedens auf dem dritten Platz in der Welt. 270

267 268 269 270

Die Zeit, Nr. 14/29, 29. März 1974, S. 36. Jahresgutachten 1975/76, S. 45 f. Die Zeit, Nr. 19/31. 30. Aprü 1976, S. 19. Wirtschaftswoche, Nr. 1,2/28. 4. Januar 1974, S. 24 ff.

69 Zugleich drifteten Produktion und Nachfrage immer weiter auseinander. Die Wirtschaft wurde nur noch durch die hohe Exportnachfrage stabilisiert.271 Im Jahr 1969 hatte der Export die 100 Milliarden-Grenze überschritten. Im Frühjahr 1974 wurde damit gerechnet, der Export werde im Laufe des Jahres die 200-Milliarden-Grenze überschreiten. Diese Exportausweitung galt jedoch in vielen Fällen als „Boom ohne Profit." Denn die veränderten Währungsparitäten ließen die Gewinnspannen der deutschen Exporteure zurückgehen. Viele Unternehmen exportierten dennoch in die ausländischen Märkte, um ihr Marktposition zu behaupten. 272 Anders als von den Unternehmen erwartet, konnten sie die zusätzlichen Kosten nicht auf die Preise umlegen, da die Bundesbank nun mit einer restriktiven Geldpolitik dem Preisauftrieb engere Grenzen setzte. Die gestiegenen Lohnkosten drückten die Gewinnerwartungen der Unternehmen und deren Bereitschaft, mehr Geld für zusätzliche Investitionen auszugeben. Dies verringerte wiederum den Spielraum fur die Beschäftigung und den Absatz auf dem Binnenmarkt. Umso mehr konzentrierte sich die deutsche Wirtschaft auf den Absatz im Export. So entwickelte im Jahr nach dem Ausbruch der Ölkrise der Export eine selbst fur die Verhältnisse der ohnehin exportorientierten Bundesrepublik herausragende Bedeutung fur die Stabilität der wirtschaftlichen Lage. Im Rezessionsjahr 1967 hatten die Ausfuhren mit zwanzig Prozent etwa ebenso viel zur Gesamtnachfrage beigetragen wie die Anlageinvestitionen im Inland. Im ersten Halbjahr 1974 hatte sich hingegen ein starkes Ungleichgewicht zwischen Exportnachfrage und der Entwicklung der Anlageinvestitionen entwickelt. Die Nachfrage hing zu fast 30 Prozent am Export und nur 17-18 Prozent wurden von den Anlageinvestitionen getragen. In dieser Situation musste ein Einbruch in der Auslandsnachfrage ernste Folgen für die wirtschaftliche Lage in der Bundesrepublik haben. 273 Zweistellige Inflationsraten und Zahlungsbilanzdefizite führten schließlich im wesdichen Ausland zu einer Nachfragekorrektur. Im Herbst 1974 wurde das wichtigste Standbein der deutschen Wirtschaft, der Export, geschwächt und die Weltrezession schlug auf die deutsche Wirtschaft durch. Zwischen Herbst 1974 und Frühjahr 1975 gingen die Auslandsaufträge um ein Fünftes zurück. Im selben Zeitraum war der Wechselkurs der DMark um 9 Prozent gestiegen. 274 Unter diesen Bedingungen stellte die Bundesbank die Weichen fur eine weniger restrikttive Geldpolitik. Die Bundesbank verkündete im Jahr 1974, das Geldangebot im Laufe des Jahres um 8 Prozent auszuweiten. 275 Die Tendenz steigender Löhne bei sinkenden Gewinnen setzte sich im Jahr 1975 ungebremst fort. Im März 1975 stellte das Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut der Gewerkschaften in Rückblick auf die Tarifpolitik des Jahres 1974 fest: „Im Jahr 1974 konnten die Gewerkschaften trotz der äußerst differenzierten konjunkturellen Situation Lohn- und Gehaltsabkommen treffen, die erheblich günstiger waren als die im Vorjahr

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Wirtschaftswoche, Nr. 1,2/28, 4 Januar 1974, S. 39. Die Zeit, Nr. 19/29, 3. Mai 1974, S. 25. Jahresgutachten 1975/76, S. 46. Jahresgutachten 1975/76, S. 47 f. Jahresgutachten 1975/76, S. 40.

70 erzielten Vereinbarungen." 276 Im Jahr 1974 wurden fur 10,6 Millionen Arbeiter und 6,2 Millionen Angestellte Tariflohn- und Gehaltserhöhungen durchgesetzt. Die Tariflöhne und Gehälter erhöhten sich um durchschnittlich 12 Prozent. Das WSI stellte fest: „Unter Berücksichtigung aller Stufenerhöhungen wurden die tariflichen Monatsgehälter um 12,6 v.H. und die tariflichen Stundenlöhne sogar um 13,3 v.H. angehoben." 2 7 7 Die Belastungen für die Unternehmen gingen über den Anstieg der direkten Lohnkosten hinaus. „Zu den regelmäßig gezahlten Effektiwerdiensten der Arbeitnehmer kamen 1974 noch in größerem Umfang tariflich abgesicherte Nebenleistungen, die in der Berichtszeit weiter verbessert wurden." Dazu gehörten für 1,4 Millionen Arbeitnehmer zusätzliche vermögenswirksame Leistungen. „In weit stärkerem Maße als die vermögenswirksamen Leistungen wurden im vergangenen Jahr die betrieblichen Sonderzahlungen aufgestockt. Für mehr als 6 Mill. Arbeiter und Angestellten traten neue Bestimmungen in Kraft, durch die ein 13. Monatseinkommen teilweise bzw. völlig abgesichert wurde." 278 Die Durchsetzung dieser weitreichenden finanziellen Verbesserungen fur die Arbeitnehmer führte dazu, dass die Zuwächse der Löhne und Gehälter 1974 die Zuwächse der Produktivität überstiegen: „Wie ein Vergleich der Reallohnentwicklung mit der Entwicklung der Arbeitsproduktivität zeigt, hat sich die Position der Arbeitnehmer im Verteilungskampf im Jahre 1974 spürbar verbessert." Während die gesamtwirtschaftliche Produktion je Erwerbstätigen um 2,5 Prozent stieg, wuchsen die Nettoverdienste der Arbeitnehmer real um ganze 3 Prozent. 279 Im Laufe des Jahres zeigte sich, dass die „Kalkulation mit der Geldentwertung" nicht aufging. Das WSI musste feststellen: „Auf Grund der rigorosen Stabilisierungspolitik der Bundesregierung und der Bundesbank hat sich der Anstieg der Verbraucherpreise im Laufe des Berichtsjahrs ein wenig verlangsamt. Insgesamt war die Lebenshaltung der Arbeitnehmerhaushalte 1974 um 6,9 Prozent teurer als im Vorjahr. Damit sind die Verbraucherpreise in einem spürbar geringeren Maße heraufgesetzt worden, als zu Beginn des vergangenen Jahres unter dem Eindruck der Energiekrise allgemein befurchtet worden war." Die Bundesregierung hatte bis zu 9 Prozent Inflation vorausgesagt. 280 Damit war genau das Szenario eingetreten, das Engels in seinem Aufsatz in der ZEIT skizziert hatte, die Inflation war hinter den Erwartungen zurückgeblieben und die Reallohnkosten hatten sich deshalb übermäßig verteuert. Die Konsequenzen fur den Arbeitsmarkt waren hart. Am Ende des Jahres fasste ein Mitarbeiter der Bundesanstalt für Arbeit im Bereich Konjunkturforschung die Entwicklung in einem Artikel fur die Gewerkschaftlichen Monatshefte zusammen. Interessant ist der Beitrag auch deshalb, weil er die große Radosigkeit der Experten vor Augen fuhrt: „Die Arbeitslosigkeit hat in der Bundesrepublik ein Ausmaß erreicht, das lange Zeit undenkbar schien. Im Sommer 1974 wurden bei den Arbeitsämtern über Vi Millionen Arbeitslo276 WSI-Mitteilungen. Zeitschrift des Wirtschafts und sozialwissenschaftlichen Instituts des Deutschen Gewerkschaftsbundes, 3/28, März 1975, S. 131. 2 7 7 WSI, 3/28, S. 130. 2 7 8 WSI, März 1975, S. 133 f. 2 7 9 WSI; März 1975, S. 133. 2 8 0 WSI, März 1975, S. 130.

71 se registriert, fur den Winter 1974/75 werden über 1 Million Arbeitslose erwartet. Das hat es seit Ende den 50er Jahre nicht mehr gegeben, auch nicht während der Rezession 1966/67. Vor ein paar Jahren war der Arbeitsmarkt noch weitgehend leer gefegt, hatte die Hochkonjunktur die Arbeitslosigkeit auf ein Minimum gedrückt, gab es nur 150 000 Arbeitslose im Jahresdurchschnitt (1965 und 1970). (...) Offensichdich spielt der gegenwärtige konjunkturelle Abschwung eine wesentliche Rolle bei der jüngsten Zunahme der Arbeitslosigkeit. Die Befürchtung besteht allerdings, daß sich - auch bei einer konjunkturellen Wiederbelebung — die Arbeitslosigkeit in der Bundesrepublik auf einem hohen Niveau einpendeln könnte. Der Anstieg der Arbeitslosigkeit in den letzten Jahren könnte daraufhindeuten, die Gründe hierfür sind jedoch weitgehend unklar." 281 Nur selten ist wohl ein so großes gesellschaftliches Problem so unerwartet und mit solcher Geschwindigkeit aufgetreten, wie die Massen- und Dauerarbeitslosigkeit 1974/75. Denn noch zum Anfang des Jahres 1974 hatten die Verantwortlichen Tarifpolitiker keine Bedrohung aus dieser Richtung wahrgenommen. Der grundsätzliche Wandel in dieser Phase war von Gewerkschaften und Politikern in seiner Bedeutung nicht erkannt worden. Dabei spielte die Erinnerung an die Rezession 1966/67 eine Rolle. Letzdich erwartete man in der DGB-Zentrale eine ähnlich kurzfristige und letztlich nicht bedeutsame Rezession in Folge der Ölkrise. Loderer hatte sich als Vorsitzender der IG-Metall 1973 gegen „unverantwortliches Gerede" über drohende hunderttausende von Arbeitslosen gewandt. Die Gewerkschaften gingen weiterhin davon aus, die bisherigen Trends der wirtschaftlichen Entwicklung und somit die bisherigen großen Erfolge in der Lohnpolitik sich ohne weiteres in die Zukunft fortsetzen ließen. Für die Gewerkschaften lag es deshalb nahe angesichts eines vermuteten kommenden Booms für ihre Mitgliedern zweistellige Lohnzuwächse durchzusetzen. 282 Die Öl-Krise wir in ihrer Bedeutung im Allgemeinen überschätzt. Wie in diesem Kapitel gezeigt worden ist, waren die Hintergründe der plötzlichen Massenarbeitslosigkeit langfristiger Natur. Die Ölkrise war der Auslöser der Beschäftigungskrise, aber nicht im eigentlichen Sinne die Ursache. Diese lag in der Jahre dauernden Lohn- Preisspirale begründet. Ausgerechnet zum Beginn des Jahres 1974, als die Weichen in der Lohnpolitik gestellt wurden, wurde der Pilotabschluss für alle Tarifabschlüsse im ÖfFendichen Dienst ausgehandelt, also in dem Bereich, in dem die Arbeitnehmer am aller wenigsten um den Verlust des Arbeitsplatzes furchten mussten. Die Auseinandersetzung im ÖfFendichen Dienst besaß eine besondere politische Dramatik, personifiziert durch Kanzler Willy Brandt und den ÖTV-Chef Heinz Kluncker. Heinz Kluncker war zum Zeitpunkt dieser großen Auseinandersetzung 48 Jahre alt. Der gebürtige Wuppertaler war Polizist, bevor er seine Karriere als hauptamtlicher Funktionär der Ö T V antrat. Mit 39 Jahren wurde er 1964 der jüngste Vorsitzende einer DGB-Gewerkschaft. Ein Jahr später hatte er ein Tabu der DGB-Gewerkschaften gebrochen, indem er sich mit den Vertretern kommunistischer Gewerkschaften getroffen hatte. 1966 besuchte Kluncker mit einer ÖTV-Delegation die Sowjetunion. Kluncker hatte als Gewerkschaftsführer immer auf eine harte Gangart ge281

282

Christian Brinkmann: Steigt langftisig das Niveau der Arbeitslosigkeit?, in: Gewerkschaftliche Monatshefte, 12/1974, S. 743 f. Kempter, Loderer und die IG-Metall, S. 293.

72 genüber den Arbeitgebern gesetzt. Mit dieser Konfrontationsstrategie war Kluncker erfolgreich. Die Einkommen im Öffentlichen Dienst hatten sich verdreifacht und im Jahr 1973 hatte er das 13. Monatsgehalt durchgesetzt. 283 Diese Tarifsteigerungen wirkten sich auf den Spielraum der staadichen Haushalte erheblich aus. Ein Großteil der staadichen Mehreinnahmen wurde durch die Mehrausgaben für den Öffendichen Dienst absorbiert. Im Jahr 1973 waren die Staatsausgaben um 7,1 Prozent gewachsen, die Ausgaben fur die Personalausgaben um 15 Prozent. In den letzten vier Jahren war der Personalbestand um jährlich 3,5 Prozent gewachsen. Das Durchschnittseinkommen in der Industrie betrug 1625 D-Mark und im Öffentlichen Dienst 1888 D-Mark. 2 8 4 Nun forderte Kluncker 15 Prozent Lohnzuwächse und war bereit zur Durchsetzung seiner Forderung die eine Million Mitglieder der Ö T V zu mobilisieren. Brandt erklärte intern: „Ich habe ja nicht dagegen, daß sie für die Mitglieder so viel herausholen wollen wie möglich. Aber ich habe etwas dagegen, daß sie nicht begreifen, daß auch wir einen Standpunkt haben und daß es dazwischen doch einen Kompromiss geben muß." 28 · 5 Das erste Angebot der öffentlichen Arbeitgeber lag bei 7,5 Prozent. Dem stand die Forderung der Ö T V nach einer Lohnsteigerung von 15 Prozent - jedoch mindestens 185 D-Mark und einem Urlaubsgeld von 350 D-Mark - und der DAG von 14 Prozent und 400 D-Mark Urlaubsgeld gegenüber. Die Verhandlungen führte in Stuttgart Innenminister Hans-Dietrich Genscher. Willy Brandt erklärte vor dem Bundestag: Das Jahr 1974 könne „kein Jahr wesendicher realer Einkommensverbesserungen sein. In der jetzigen wirtschaftlichen Lage sollte Klarheit darüber bestehen, daß alles in allem eine Absicherung der Realeinkommen auf dem erreichten hohen Niveau kein Rückschritt wäre (...) Zweistellige Ziffern bei den Tarifen beschleunigen die Gefahr einer entsprechenden Entwicklung bei den Preisen 2 8 6 Karl Schiller hatte den Kanzler nur mit seiner Arroganz und seinen Alleingängen oft in Verlegenheit gebracht, seine Loyalität zu Brandt stand aber grundsätzlich nicht in Frage. Mit Helmut Schmidt kontrollierte ein Mann die Finanzpolitik, der sich selbst zu noch Höherem berufen fühlte und der natürliche Anwärter auf die Kanzlerschaft war, sollte Brandt scheitern. Dass Brandts Vertrauen in seinen „Schatzkanzler" nicht gerechtfertigt war, zeigte dessen Verhalten während der Auseinandersetzung mit der Ö T V im Frühjahr 1974. Im Kabinett forderte Helmut Schmidt eine kompromisslose Linie und wollte auf keinen Fall über zehn Prozent hinausgehen, während die Kommunen schon am 21. Januar bereit waren, über 10 Prozent zuzugestehen. Am 24. Januar erklärten auch die Ministerpräsidenten Brandt, dass sie einen Kompromiss oberhalb von 10 Prozent für notwendig hielten. Schmidt erhöhte hingegen den Druck auf Brandt einen harten Kurs durchzusetzen, als er in einem Interview vom 28. Januar die Forderungen der Gewerkschaften noch einmal zurückwies und auf die 500 000 Arbeiter und 100 000 Kurzarbeiter

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Wirtschaftswoche, Nr. 7/29, 8. Februar 1974, S. 16. Wirtschaftswoche, Nr, 7/29, 8. Februar 1974, S. 14 ff. Ebd. Baring, Machtwechsel, S. 694 f.

73 hinwies. 287 Doch Schmidt wechselte als die Verhandlungen festgefahren waren, plötzlich seine Position. Telefonisch erklärte Schmidt dem Bundeskanzler aus dem Ausland von der Energiekonferenz in Washington, dass ihm die Entscheidung überlassen bleibe und riet damit praktisch zum Nachgeben gegenüber der OTV. Der Grund lag wahrscheinlich darin, dass Schmidt bereits auf die Kanzlerschaft spekulierte. Diese Ansicht vertritt Baring: „Schmidt sah seinen Konkurrenten seit Wochen angeschlagen und versuchte daher, neue Erfolge Brandt zu vereiteln, um das Ende zu beschleunigen." 288 Es kam Anfang Februar 1974 zu Warnstreiks und Kluncker erklärte, er halte den Streik für unvermeidlich. Während Kuncker auf lohnpolitischen Konfrontationskurs ging, war die Bundesbank entschlossen, sich von der Stabilisierung der Währung auch durch die hohen Lohnabschlüsse nicht abbringen zu lassen. Helmut Schlesinger schrieb in einem Beitrag für das MANAGER MAGAZIN: Das bisherige Handicap der Geldpolitik der Bundesrepublik war die fehlende außenwirtschaftliche Absicherung. „Hieraus erklärte sich vor allem, daß die Geldpolitik nicht immer zur rechten Zeit und im rechten Maß verschärft werden konnte, wenn die innere Konjunkturlage dies nahelegte." Aufgrund der Preissteigerung auf den internationalen Rohstoffmärkten und der „weltweiten Gefährdung der finanziellen Stabilität" sei der Knapphaltung der Geldmenge eindeutig Priorität einzuräumen, auch „wenn damit die ein oder andere subtilere Reaktion auf die Veränderung des konjunkturellen Klimas unterbleiben" müsse. 289 Nach den Warnstreiks kam es zwischen dem 11. Februar 1974 und dem 13. Februar 1974 zu einem Streik im Öffendichen Dienst auf breiter Front. Brandt erklärte am 12. Februar vor der SPD-Bundestagsfraktion, er stehe zu seiner bisherigen Aussage, nicht über eine zehnprozentige Erhöhung hinauszugehen. Zweistellige Lohn- und Gehaltsforderungen förderten den Preisauftrieb. Eine optimale Preisdämpfung mit möglichst niedriger Arbeitslosenzahl sei die Pflicht aller. Brandt stand mit seiner Position lohnpolitischer Vernunft schließlich allein. Die Länder und Gemeinden gaben unter dem Druck des Streiks schließlich nach. Die Arbeiter und Angestellten des Öffendichen Dienstes erhielten 11 Prozent mehr Lohn, aber mindestens 170 D-Mark. 2 9 0 Am Ende des Jahres räumte Kluncker in einem Interview ein, den „Nachholbedarf' beim Lohn im Öffendichen Dienst im Vergleich zu anderen Arbeitnehmergruppen „weitgehend" gedeckt zu haben. Im Jahr 1973 habe der Öffendiche Dienst im Vergleich zur gewerblichen Wirtschaft schlecht abgeschnitten, im Jahr 1974 sei dieses „Hinterherhinken" zu der gewerblichen Wirtschaft ausgeglichen worden. Der Öffendiche Dienst habe „zum ersten Mal seit 25 Jahren" (...) „aus der Rolle des Nachzüglers herausgefunden" und gehöre im „tarifpolitischen Geleitzug nicht zu den letzten." Kluncker bestritt, dass es in der gewerblichen Wirtschaft effizienter zuging als im Öffendichen Dienst und war stolz darauf, dass die Attraktivität des Öffendichen Dienstes fur Stellenbewerber erheblich zugenommen hatte und für viele eine erstrebenswerte Alternative zu einer Stelle in der Privatwirtschaft war 2 9 1 287 288 289 290 291

Baring, Machtwechsel, S. 695 f. Baring, Machtwechsl, S. 698. Manager Magazin, 2/1974, S. 12 Baring, Machtwechsel, S. 698. Manager Magazin, 12/1974, S17ff.

74 Karl Klasen erklärte, die Stabilitätspolitik der Bundesbank sei durch die hohen Tarifabschlüsse im Öffentlichen Dienst wesentlich erschwert worden. Die größte Gefahr für die Volkswirtschaft seien die steigenden Preise, da die Arbeitgeber voraussichdich versuchen würden, die steigenden Lohnkosten auf die Preise umzulegen. Klasen machte klar, dass die Bundesbank nicht bereit war, dies hinzunehmen: „Das einzige Mittel dem entgegenzuwirken, ist der Entschluss des Zentralbankrates, die zur Fortsetzung dieser preissteigernden Entwicklung notwendige Geldmenge nicht zur Verfugung zu stellen." Unter diesen Umständen schloss Klasen eine Zinssenkung aus und hielt die Möglichkeit weiterer Zinserhöhungen offen. Klasen räumte ein, dass dies mit Härten verbunden sei, sah aber dazu keine Alternative. Klasen sah die Gefahr für die Beschäftigung, glaubte aber, „da die Tarifparteien in der Arbeitslosigkeit keine große Gefahr" sähen, „daß die Bundesbank noch einen beachdichen Spielraum für ihre Aktionen hat, ehe es zu einer Arbeitslosigkeit kommt, die politisch nicht tragbar wäre." 292 Bundeskanzler Schmidt, der inzwischen die Nachfolge von Willy Brandt angetreten hatte, erklärte im SPIEGEL in Hinblick auf die Lohnpolitik: „Die eigentliche Gefahr liegt doch darin, daß sich die Menschen in den westlichen Industriestaaten nicht vorstellen können, daß das Realeinkommen mindestens für ein paar Jahre einmal kaum wachsen kann." Konjunkturprogramme zur Stützung der Beschäftigung lehnte Schmidt wegen des Preisauftriebes ab. Schmidt bemerkte jedoch auch in Hinblick auf die Geldpolitik, die Presse sei im Sommer 1972 über ihn hergefallen, als er sich „erkühnte zu sagen, fünf Prozent Preisanstieg sei leichter zu ertragen als fünf Prozent Arbeitslosigkeit. Ich halte den Satz heute noch für richtig." Schmidt bekräftigte diese Aussage mit der Feststellung, eine Arbeitslosigkeit von fünf Prozent sei nicht hinnehmbar 2 9 3 Die Bundesbank konnte sich mit ihrer Geldpolitik auf einen starken Rückhalt in der Bevölkerung stützen. Trotz des Ansteigens der Arbeitslosigkeit auf über eine halbe Million, sah die große Mehrheit der Bevölkerung in der Preissteigerung ein größeres Problem als in der Arbeitslosigkeit. In Umfragen nannten nur 11 Prozent die Arbeitslosigkeit als größtes Problem, über 40 Prozent hingegen die steigenden Preise. 294 Die Erfolge der Politik des knappen Geldes wurden bald sichtbar. Statt der vorausgesagten zweistelligen Preissteigerung lag die Inflationsrate im Herbst 1974 nur knapp über sieben Prozent. Die ZEIT kommentierte den Stand: „Das gute Abschneiden im stabilitätspolitischen Examen ist auch der Entschlossenheit der Bundesbank zu danken, eine harte Zinspolitik gegen viel Kritik durchzuhalten." 295 Im Frühjahr hatte der Sparkassen und Giroverband in seinem Jahresbericht festgestellt: „Das Ziel der Bundesregierung die Steigerung der Lebenshaltungskosten unter 10 Prozent zu halten, ist sehr ehrgeizig angesichts der Vorbelastungen." 296 Zum Beginn des Jahres 1975 war die Inflation in der Bundesrepublik sogar auf unter 6 Prozent gesunken - und das zum ersten Mal seit dem August 1972. Der Bundesbankdirektor Heinrich Irmler sah darin noch keine „Tendenzwende" 292 293 294 295 296

Die Zeit, Nr. 10/29, 1. März 1974, S. 30. Der Spiegel, Nr. 34/28, 16. August 1974, S. 28. Die Zeit, Nr. 34/20, 16. August 1974, S. 28. Die Zeit, Nr. 39/29. 20. September 1994, S. 41 ff. Vgl. Emminger, D-Mark, S. 269.

75 aber einen „Stabilisierungseffekt." Irmler erklärte: „Die Anfang vorigen Jahres geäußerten Befürchtungen sind nicht in Erfüllung gegangen. Es ist doch besser gelaufen." 297 Dieser Erfolg kam für die Gewerkschaften unverhofft. Dass die Lohnpolitik sich an den Vorhersagen von 10 bis 12 Prozent Preissteigerung orientiert hatte, nennt Emminger in seinen Erinnerungen „beinahe tragisch." 298 Heinz Markmann vom Institut für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften des D G B bestätigte, dass die Gewerkschaften die Stabilitätsrhetorik der Bundesbank nicht ernst genommen, sondern für einen Bluff gehalten hatten: „Die Gewerkschaften haben für 1974 mit höheren Inflationsraten und einer loseren Geldpolitik gerechnet. (...) Die haben die Geldpolitik für einen Papiertiger gehalten. Das ist sie nicht." Klasen rechtfertigte den harten Kurs mit seiner offensichdichen Alternativlosigkeit: „Wenn wir nicht gehandelt hätten, dann wäre alles aus dem Ruder gelaufen, dann hätten wir jetzt englische Zustände." Der SPIEGEL kommentierte die Entwicklung des Jahres 1974 so: „In der Geschichte des konjunkturellen Niedergangs liegt eine besondere Ironie: Arbeitnehmer profitierten davon, Arbeitnehmer aber zahlten auch dafür. Die einen bekamen einen unerwartet hohen Reallohn, die anderen wurden gerade deshalb entlassen." 299 Am 8. Oktober 1974 gab der Präsident der Bundesanstalt für Arbeit Josef Sdngl bekannt, dass sich die Zahl der Arbeitslosen auf 5 5 7 0 0 0 erhöht hatte. Am stärksten waren mit 85 000 Arbeitslosen die Metallberufe betroffen. Die Zahl der Kurzarbeiter war im September um 1 6 0 0 0 0 auf 2 6 5 0 0 0 gestiegen. 300 Dies sollte nicht der letzte Schock gewesen sein. Der Kampf um die Arbeitslosenprognosen waren selbst zu einem Politikum geworden. Als der Stingle im Sommer den Anstieg der Arbeitslosigkeit auf über eine halbe Million vorausgesagt hatte, war ihm „Zweck-Pessimismus" vorgeworfen worden. Einen Monat vor der Wahl in Bayern traten die Wirtschaftswissenschaftler des Sachverständigenrates mit der Vorhersagen an die Öffentlichkeit, die Arbeitslosigkeit werde die Millionen-Grenze überschreiten. Daraufhin wurden Vorwürfe aus den Reihen der Koalition erhoben, sie betrieben mit ihren pessimistischen Prognosen Wahlhilfe für die Union. Stingle wehrte sich gegen die Vorwürfe: „Ich beteilige mich nicht an Zahlenknabbereien um Arbeitslose — ob nun 9 8 0 0 0 0 oder 1 0 2 0 0 0 0 . " Stingle versuchte außerdem einer Hysterie entgegenzuwirken: „Ich bleibe dabei, daß wir uns nicht in eine Krise hineinreden lassen dürfen, denn solche Verhältnisse wie etwa 1930 kündigen sich nicht an bei uns." 3 0 1 Schon die Bekanntgabe von 6 7 2 3 0 0 Arbeitslosen durch die Bundesanstalt für Arbeit änderte die Einstellung der Gewerkschaften für die kommende Lohnrunde grundlegend. Der Tarifexperte der IG Metall Hans Mayer erklärte gegenüber der zu den noch vor wenigen Monaten anvisierten zweistelligen Tarifabschlüssen: „Die passen nicht mehr in die wirtschaftliche Landschaft der Metallindustrie." Denn über 1 0 0 0 0 0 Metaller waren inzwischen arbeitslos und etwa 230 000 erhielten Kurzarbeitergeld. Eugen Loderer fasste die neue Lage realistisch zusammen: „Damit werden die Arbeitnehmer schlicht vor die Wahl 297 298 299 300 301

Wirtschaftswoche, Nr. 3/29, 10. Januar 1975, S 21 f. Emminger, D-Mark, S. 269. Der Spiegel, Nr. 8/29, 17. Februar 1975, S. 32 ff. Archiv der Gegenwart, S. 18950. Wirtschaftswoche, Nr. 49/28, 29. November 1974, S. 14 ff.

76 zwischen Teufel und Beelzebub gestellt, zwischen Verlust des Arbeitsplatzes und Verzicht auf den erreichten verteilungspolitischen Besitzstand." 302 Dies entsprach einer allgemeinen Stimmung, die sich mit dem Herbsteinbruch und der steigenden Arbeitslosigkeit ausbreitete. Marion Gräfin Dönhoff schrieb dazu in der ZEIT: „Die rasche Steigerung der Arbeitseinkommen, die in verschiedener Graduierung überall stattgefunden hat, ist nur (...) durch einen Prozeß ständiger Inflationierung ermöglicht worden. Das aber heißt: Das Problem, vor dem wir heute stehen, ist die Kehrseite der vergangenen Erfolge. Wir haben jahrelang vor-konsumiert und müssen jetzt nacharbeiten, wir müssen weniger verbrauchen und mehr tun. Die Zeit, in der für immer weniger Arbeit immer mehr bezahlt wurde, ist vorbei." 303 Der Abschluss der IG Metall lag schließlich bei 6,8 Prozent und hatte eine Laufzeit von 12 Monaten. Loderer bestritt in der Öffentlichkeit, dass der Lohnabschluss auf Nachsuchen von Helmut Schmidt zustande gekommen sei und die sozialliberale Koalition stützen sollte. Er insistierte darauf, die Tarifpolitik sei kein konjunkturpolitisches Instrument und wiederholte den Standpunkt der Gewerkschaften, es gäbe keinen Zusammenhang zwischen Tarifpolitik und Beschäftigungsstand. Die Arbeitgeber forderte er auf, durch ihre Preispolitik die Realeinkommen der Arbeitnehmer nicht zu schmälern. 304 Im Herbst 1974 war die Bundesbank nach eineinhalb Jahren Bremspolitik dazu übergegangen, der veränderten konjunkturellen Lage Rechnung zu tragen. Am 24. Oktober 1974 beschloss der Zentralbankrat in Anwesenheit von Finanzminister Hans Apel und Staatssekretär Otto Schlecht, den Diskontsatz von 7 Prozent auf 6,5 Prozent abzusenken. Den Lombardsatz setzen die Bundesbanker von 9 auf 8,5 Prozent herunter. 305 Dieses moderate Entgegenkommen änderte jedoch nichts daran, dass der politische Druck auf die Bundesbank stetig zunahm. Im Februar 1975 titelte der SPIEGEL: „Arbeitslose: Stürzt knappes Geld die SPD?" 3 0 6 Im Februar 1975 stellte die Bundesbank fest: „Die Wirtschaftsaktivität in der Bundesrepublik hat gegen Ende des vergangenen Jahres weiter nachgelassen. Von der Abschwächung sind nun auch Wirtschaftszweige betroffen, die vielfach noch bis in den Herbst hinein ein durchaus befriedigendes Geschäftsergebnis erzielt hatten." 307 Deshalb wurde der Druck auf die Bundesbank die Geldmenge für die Konjunkturpolitik der Regierung und die Lohnpolitik der Gewerkschaften auszuweiten, erhöht. Im Februar 1975 warf Loderer der Bundesbank öffentlich vor, sie betreibe Einkommenspolitik fur die Arbeitgeber zu Lasten der Arbeitnehmer. In den Gewerkschaften wurde die Forderung stärker, die Unabhängigkeit der Bundesbank einzuschränken. Der Vorsitzende der hessischen Zentralbank Alfred Härtle, ein Freund des SPD-Parteilinken Rudolf Arndt, brachte die Forderung nach einer Rechenschaftspflicht der Bundesbank gegenüber dem Wirtschafts- und Finanzausschuss des Bundestages in die Diskussion. In Teilen der SPD wurde die Ablösung von Karl Klasen gefordert. Uber dessen vorzeitigen

302 303 304 305 306 307

Wirtschaftswoche, Nr. 48/28, 22. November 1974, S. 24 f. Die Zeit, Nr. 2/30, 3. Januar 1975, S. 1. Wirtschaftswoche, Nr. 10/29, 28. Februar 1975, S. 22. Archiv der Gegenwart, S. 19012. Der Spiegel, Nr. 8/29, 17. Februar 1975, S. 32 ff. Monatsberichte, Februar 1975, S. 5

77 Rücktritt spekulierte Anfang April die Welt am Sonntag. 3 0 8 Klasen war durchaus bereit, der Politik entgegenzukommen. Er erklärte am 24. April in einem Interview: „Wir könnten zu dem Ergebnis kommen, daß nicht eine Zunahme von acht Prozent der Zentralbankgeldmenge, sondern von acht plus χ Prozent angebracht ist." 3 0 9 Klasen schrieb im Oktober 1975 in einem Beitrag fur das MANAGER MAGAZIN über die bisherige geldpolitische Entwicklung im Jahr 1975. die anvisierten acht Prozent seien eine „Zielgröße", dies sei „impliziert eine deudich expansivere Geldpolitik, als sie die Bank im vergangenen Jahr verfolgt hatte - die entsprechende Rate lag damals bei sechs Prozent." Die Bundesbank habe wegen der konjunkturellen Erfordernisse frühzeitig ihre Geldpolitik umgestellt: „Ab Herbst 1974, als sich der Konjunkturrückschlag deudicher abzeichnete, hat sie dann aber ihren kreditpolitischen Kurs betont gelockert." Seit dem 25. Oktober 1974 wurde der Diskontsatz in sieben Schritten von sieben auf 3,5 Prozent gesenkt. Im gleichen Zeitraum war der Lombardsatz von neun Prozent auf 4,5 Prozent gesenkt worden. Dies sei, so Klasen das „niedrigste Notenbankzinsniveau unter den wirtschaftlich wichtigen Ländern." Es sei jedoch bislang nicht gelungen, den Geldschöpfungsprozess im erwünschten Umfang anzuregen. Im August wurde das Vorjahresniveau nur um knapp sechs Prozent überschritten. 310

Zusammenfassung: Geld- und Lohnpolitik 1973-75 Die Jahre 1 9 7 3 - 7 5 sind Schlüsseljahre in der Geschichte der Bundesrepublik. In ihren politischen Folgen wichtiger als das Schlüsseljahr 1968. Denn die Rahmenbedingungen für die Politik waren nach dieser Phase grundsätzlich andere als in den Jahrzehnten zuvor. Vollbeschäftigung, hohe Wachstumsraten und eine geringe Schuldenlast eröffnet der jeweiligen Bundesregierung ganz andere Möglichkeiten als bei hohen Arbeitslosenzahlen, zweistelligen Defiziten und angespannten Sozialversicherungssystemen. Vor 1973 gab es immer wieder wirtschaftliche Rückschläge wie etwa zur Zeit der Rezession 1967, diese waren aber relativ flüchtig und im Lichte der späteren Erfahrung ziemlich unbedeutend. Nach der plötzlichen und für die meisten Verantwordichen und Beobachter unerwarteten Beschäftigungskrise seit dem Herbst 1974 kam es nie wieder zu einer Rückkehr zu der ruhigen Lage in den Jahrzehnten zuvor. Bis dahin konnte die Bundesregierung sozialpolitisch aus dem Vollen schöpfen. Große sozialpolitische Reformen schufen Rückhalt fur die jeweilige Bundesregierung und Popularität im Wahljahr, zum Beispiel die Rentenreformen von 1957 und 1972. Diese für die jeweilige Regierung komfortable Situation ging mit dem Ende der Vollbeschäftigung zu Ende. Bundeskanzler Schmidt und Bundeskanzler Kohl konnten daher auf nationaler Bühne nicht mehr so strahlend agieren, wie noch Bundeskanzler Adenauer oder Bundeskanzler Brandt. Sie mussten den Mangel verwalten. 308 309 310

Wirtschaftswoche, Nr. 18/29, 24. April 1975, S. 12ff. Wirtschaftswoche, Nr. 18/29, 24. April 1975, S. 18. Manager Magazin, Oktober 1975, Grenzen der Geldpolitik, S. 11.

78 Die Ölkrise war ein wichtiger Auslöser und Verstärker der Beschäftigungskrise, aber nicht die Ursache. Auch ohne diesen „Angebotsschock" wäre der Arbeitsmarkt im Verlauf der siebziger Jahre Belastungen dieser Größenordnung ausgesetzt gewesen. In diesem Kapitel ging es darum zu zeigen, wie Geld- und Lohnpolitik, Inflation und Lohnsteigerungen, sich hochschaukelten und schließlich zu der Krise führten, die sehr oft allein der Ölkrise zugeschrieben wird. Im Herbst 1969 war eine Lohn-Preis-Spirale in Gang gekommen. Die „wilden Streiks" zeigten, dass die Gewerkschaften ihre Basis nicht mehr im Griff hatten und schon deshalb auf eine Hochlohnpolitik festgelegt waren, um zu verhindern, dass ihnen die Kontrolle völlig entglitt. Hinzu kam, dass viele Unternehmen angesichts des leer gefegten Arbeitsmarktes die Löhne stärker anhoben als in den Tarifverträgen festgelegt. Die steigenden Inflationsraten führten zu steigenden Lohnforderungen. Das Ende der festen Wechselkurse im Frühjahr 1973 gab der Bundesbank die Möglichkeit eine eigenständige Stabilitätspolitik zu betreiben und durch die Anhebung der Zinsen gegen die Inflation zu steuern. Diese Politik war langfristig alternativlos. Die Inflation entwertete Sparguthaben und Anlagen, führte zur Überhitzung auf dem Arbeitsmarkt, führte zu einer Umverteilung zu Lasten der Unternehmen, was wiederum über mehrere Jahre hinweg zu einem drastischen Rückgang der Investitionen führte. Selbst die Gewerkschaften empörten sich zunehmend über die Preissteigerungen. Als die Bundesbank diese Geldpolitik einleitete, drohten bereits zweistellige Inflationsraten. Diese nicht vorhersehbaren Preissteigerungen waren aber die Bedingung dafür, dass die Inflation einen positiven Beschäftigungseffekt haben konnte. Einen positiven Beschäftigungseffekt hat Inflation nur, wenn der Reallohn durch die Geldentwertung gesenkt wird. Die Gewerkschaften versuchten, die Inflationsraten zu antizipieren, was zu höheren Lohnforderungen führte. Dies machte wiederum eine höhere Inflationsrate notwendig, um den Reallohn dennoch abzusenken usw. An irgendeiner Stelle musste diese Entwicklung unterbrochen werden. Die Entwicklung zu unterbrechen gelang der Bundesbank im Jahr 1974. Die Bundesbank hatte ihre Absicht frühzeitig angekündigt, war aber von den Gewerkschaften nicht ernst genommen worden. Die Lohnforderungen der Gewerkschaften orientierten sich an einer erwarteten Inflationsrate, die über der lag, die dann tatsächlich erfasst wurde. Verbunden mit dem Einbruch des Exportes führte dies in kurzer Zeit zu sechsstelligen Arbeitslosenzahlen. Dies zwang die Gewerkschaften dazu lohnpolitische Zurückhaltung zu üben und erhöhte auf der anderen Seite den politischen Druck auf die Bundesbank ihre Geldpolitik zu lockern.

Die SPD-Linke und die Investitionslenkung Welche Rolle spielte nun die in Folge der so genannten 68er Revolte erstarkte marxistisch geprägte Neue Linke in der Sozial- und Wirtschaftspolitik nach dem Durchbruch der Massenarbeitslosigkeit? Im Grunde genommen, wenn man einmal von dem öffendichen Lärm absieht, den sie zuweilen verursachten, eine erstaunlich geringe. Sie waren vor allem ein SPD-internes Problem. Ihre Plattform waren die SPD-Parteitage, vom eigendichen Entscheidungsprozess waren sie mehr oder weniger ausgeschlossen. Die Parteitage

79 konnten sie nutzen, um mit weitgehenden Vorschlägen Staub aufzuwirbeln, die SPDWirtschaftspolitiker zu verärgern, der C D U / C S U Munition gegen den „Sozialismus" zu liefern und der FDP die Chance zu geben, sich als liberales Korrektiv zu profilieren. Ihre „Vorschläge" kamen über die Anträge auf den Parteien in der Realisierung nicht hinaus. Das hatte schon die Auseinandersetzung zwischen der SPD-Linken und Karl Schiller über die Steuerreform gezeigt. Dies zeigt zum Beispiel auch die Auseinandersetzung über die sogenannte „Investitionslenkung." Der seit dem Herbst 1974 um sich greifende Beschäftigungskrise wollte die Linke gezielte Investitionslenkung entgegensetzen. Wenige Wochen vor dem Mannheimer Bundesparteitag brach in der SPD die Auseinandersetzung zwischen dem moderaten und dem linken Flügel um die Investitionslenkung aus. Es ging um das entsprechende Kapitel im Orientierungsrahmen '85, der auf dem Parteitag verabschiedet werden sollte. Dort waren nur indirekte Mittel der Investitionslenkung wie staatliche Anreize vorgesehen. Der Bezirk westliches Westfalen wollte Zielgrößen sowohl für die Investitionen als auch für den Konsum fesdegen. Der schleswig-holsteinische Landesvorsitzende Günther Jansen erklärte am 20. September 1975 auf dem Landesparteitag, die Wirtschaftskrisen würden „von einer kapitalistischen Wirtschaft verursacht, die die Bedürfnisse der Bevölkerung nicht befriedigen kann und will." 311 Die ZEIT kommentierte die SPDinterne Debatte: „Inzwischen ist deutlich geworden, daß starke Kräfte - vielleicht sogar die Mehrheit - in der SPD in eine ganz andere Richtung ziehen: Sie wollen die Gesetze der Marktwirtschaft außer Kraft setzen." 312 Der Vorsitzende des SPD-Bezirks Rudi Arndt gab dem SPIEGEL ein Interview zum Thema Investitionslenkung, das am 29. September 1975 veröffendicht wurde. Arndt wollte einen Investitionsrat einrichten, dem Unternehmer, Gewerkschaftler und Politiker angehören sollten, die Investitionsquote fur bestimmte Bereiche festlegen sollte. Arendt sah die Aufteilung der Investitionen zwischen dem privaten und dem öffendichen Bereich als „generelles Problem." Die Relation zwischen beiden Bereichen sei in Unordnung geraten. Arendt sprach sich dafür aus, die Investitionsquote zugunsten des Staates neu zu verteilen und mehr in die öffendichen Ausgaben fließen zu lassen. Arndt erklärte: „Bei der Investitionslenkung geht es darum, daß man innerhalb des Investitionsbereichs eine vernünftige Aufteilung zwischen öffentlichem und privatwirtschaftlichem Anteil vornimmt." Der Rahmenplan fur die Investitionslenkung solle vom Parlament verabschiedet werden. Mit diesen Maßnahmen wollte Arendt verhindern, dass der freie Markt Überkapazitäten hervorbrachte. 313 Schmidt und Brandt gerieten wegen der Diskussion um die Investitionslenkung in Streit. Schmidt nahm Brandt übel, dass er die Diskussion als Vorsitzender nicht unterbunden hatte und damit der positive Eindruck des Spar- und Konjunkturprogramms verdeckt werde. Brandt wiederum fühlte sich dadurch brüskiert, dass Schmidt und Apel auf dem Hamburger Parteitag der SPD sich so deudich gegen die Investitionslenkung ausgespro-

311 312 313

Der Spiegel, Nr. 41/29, 6. Oktober 1975, S. 33 ff. Die Zeit, Nr. 40/30, 26. September 1975, S. 17. Der Spiegel, Nr. 40/29, 29. September 1975, S. 27 ff.

80 chen hatten. Am 23. September 1975 einigten sich Brandt und Schmidt auf eine gemeinsame Sprachregelung. Sie gaben der der fehlerhaften Berichterstattung die Schuld. Schmidt appellierte im Präsidium: „Es geht gegenwärtig nicht darum die Investitionen anders zu lenken, sondern es kommt darauf an, Erwartungen und Vertrauen zu schaffen dafür, daß überhaupt genug investiert wird." Ehrenberg argumentierte gegen den Ansatz mit dem Verweis auf die Tarifautonomie: „Ich bezweifle, daß die Verfasser daran gedacht haben, daß sie mit einer verbindlichen Investitionsquote auch die Höhe der Löhne festschreiben." Der liberale Koalitionspartner nahm die Diskussion irritiert zur Kenntnis. Lambsdorff bezeichnete die Investitionslenkung als „Sargnagel der Koalition." 314 Der SPD-Bundestagsabgeordnete Ulrich Lohmann schrieb im SPIEGEL: „In der Meinungsbildung an der Basis der Sozialdemokratischen Partei haben wir es mit einem Aufstand der unzureichend informierten, der moralisch Aufrechten und der prinzipiellen Systemveränderer zu tun." 3 1 5

Die Arbeitslosigkeit verfestigt sich und wird zum Dauerzustand Am 28. Juli 1975 gab Heinz-Oskar Vetter dem SPIEGEL ein Interview. Darin gab Vetter der Bundesbank mit ihrer „hartnäckigen Stabilitätspolitik" die Schuld an der hohen Arbeitslosigkeit. Dies war aber eher ein Lippenbekenntnis zum Gewerkschaftsstandpunkt, denn die Schlussfolgerungen, die Vetter aus der Lage zog, betrafen durchaus die Lohnpolitik. Zwar lehnte er eine Lohnpause, also einen generellen Verzicht auf Lohnerhöhungen ab, da das einen Einbruch des „Lebensstandards der Arbeitnehmerschaft" bedeute, daher seien die Gewerkschaften „nicht bereit, das zuzulassen." Er sei aber bereit, den autonomen Gewerkschaften vorzuschlagen auf Lohnzuwächse zu verzichten und nur einen Ausgleich für die Geldentwertung durchzusetzen, wenn dies in ein „größeres Konzept einer allgemeinen Bereitwilligkeit hineinpassen würde, den Preisauftrieb zu bremsen und wieder mehr zu investieren." Er werde den Gewerkschaften den Verzicht auf Zuwächse des Reallohnes empfehlen, wenn die Unternehmen auf weitere Rationalisierungen verzichteten." 316 Der IG-Metallvorsitzende Eugen Loderer sah den Vorstoß Vetters, den Einzelgewerkschaften den Verzicht auf Reallohnzuwächse zu empfehlen als Profilierungsversuch an. Denn an der Spitze der IG Metall betrachteten die Verantwortlichen den Verzicht auf Reallohnzuwächse aufgrund der Wirtschafts- und Arbeitsmarktlage ohnehin als unvermeidlich. Die Gewerkschaften waren in einer Zwickmühle. Sie suchten nach einer Strategie lohnpolitisch den Aufschwung zu fördern, ohne bei der Basis wilde Streiks zu provozieren. 317 Die im Laufe des Jahres 1975 anhaltend hohe Arbeitslosigkeit dämpfte aber die Bereitschaft zum Arbeitskampf unter den Beschäftigten erheblich. Der SPIEGEL be314 315 316 317

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Spiegel, Nr. Spiegel, Nr. Spiegel, Nr. Spiegel, Nr.

40/29. 40/29, 31/29, 32/29,

29. September 1975, S. 25 ff. 6. Oktober 1975, S. 35. 28. Juli 1975, S. 22 f. 4. August 1975, S. 27 f.

81 schrieb die Stimmung bei den Gewerkschaften am Ende des Jahres 1975 wie folgt: „Die Bereitschaft der Basis wie 1974 im öffendichen Dienst und der norddeutschen Metallindustrie, notfalls mit Streik zu streiten, ist geschwunden." Der Tarifexperte der IG-Metall Hans Mayr erklärte:, Aktuelle Gründe erklären den Verzicht auf Umverteilungsforderungen." Selbst Kluncker musste einräumen: „Aus dem wirtschaftlichen Wachstum wird sich 1976 nur ein geringer oder gar kein Verteilungsspielraum ergeben." 318 Diese moderate Lohnpolitik entsprach auch dem allgemeinen Stimmungstrend in der Bevölkerung. Nach Umfragen wünschten sich 73 Prozent der Deutschen in erster Linie Sicherheit fur ihren Arbeitsplatz. 319 Die Tarifabschlüsse fielen moderater aus als in den Jahren zuvor. „Für die Unternehmen verspricht 1976 das Jahr mit dem geringsten Kostenanstieg seit sieben Jahren zu werden. Das schafft eine wichtige Voraussetzung fur die notwendige Zunahme der Gewinnspannen, denn gleichzeitig ziehen die Preise im gesamtwirtschaftlichen Durchschnitt mit fünf Prozent stärker an als die betrieblichen Kosten." So schrieb etwa die ZEIT und stellte fest: Nachdem die Lohnkosten im Jahr 1975 um 7,5 Prozent angestiegen waren, lag der Anstieg fur 1976 mit drei Prozent geringer als in jedem anderen Tarifjahr seit dem Jahr 1969. Ohne die zusätzlichen Belastungen durch die steigenden Sozialbeiträge wären es sogar nur zwei Prozent gewesen. 320 Allerdings reichte diese Lohnzurückhaltung nicht aus, um das Beschäftigungsproblem zu lösen. Der Sachverständigenrat war der Ansicht, dass die Löhne sogar sinken mussten, um mehr Beschäftigung zu ermöglichen. 321 Die ZEIT stellte in der Rückschau auf die Lohnabschlüsse fest: „Jahrelang haben die Gewerkschaften Lohnerhöhungen durchgesetzt, die sich oft auch dann als zu hoch erwiesen haben - wenn sie - wie in den Jahren 1975 und 1976 — zunächst als maßvoll galten." 322 Der Leiter der Forschungsgruppe Konjunktur am Institut für Weltwirtschaft in Kiel, Norbert Walter, schrieb im Januar 1976, durch die Stabilitätspolitik der Bundesbank bleibe der Spielraum fur Preiserhöhungen begrenzt. Dies bestimme den Rahmen für die Lohnpolitik: „Wenn aber Gewerkschaften und Unternehmen angesichts der wirtschaftlichen Belebung glauben, rasch wieder starke Lohn- und Preiserhöhungen durchsetzen zu können, so werden sie damit den Aufschwung gefährden." Eine permissive Geldpolitik würde zwar kurzfristig die Konjunktur beleben aber langfristig das gerade gewonnene Vertrauen wieder verlieren. Walter glaubte: „Die wichtigste Voraussetzung für eine stete Aufwärtsbewegung der deutschen Volkswirtschaft ist somit die Einhaltung des potentialorientierten Kurses der Geldpolitik." 323 Die Bundesbank veröffendichte zum zweiten Mal ihre Wachstumsziele fur die Geldmenge. Die Bargeldmenge sollte danach um acht Prozent zunehmen. Das war derselbe Zuwachs, der auch schon für 1975 vorgesehen worden war. 324 Bundesbank-Direktor 318 319 320 321 322 323 324

Der Spiegel, Nr. 53/29, 29. Dezember 1975, S. 17. Die Zeit, Nr. 2/31, 2. Januar 1976, S. 18. Manager Magazin, Januar 1976, S. 12. Jahresgutachten 1977/78, S. 138ff. Die Zeit, Nr. 11/33, 10. März 1978, S. 1. Wirtschaftswoche, Nr. 1/30, 2. Januar 1976, S. 20 f. Der Spiegel, Nr. 1,2/30, 5. Januar 1976, S. 20f.

82 Helmut Schlesinger erklärte im Juni 1976 in einem Interview, er halte die Begrenzung der Preissteigerung von 4,5 bis Prozent fur erreichbar und lobte, dass durch stärkere Produktivitätssteigerungen bei langsameren Lohnsteigerungen die Lohnstückkosten nicht weiter stiegen. Schlesinger insistierte darauf: „Nicht die Restriktionspolitik hat in Wirklichkeit den Aufschwung 1973 zum Stehen gebracht und zur Rezession gefuhrt, sondern die importierten und hausgemachten Kostensteigerungen." 32 ' Die negative Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt zu Beginn des Jahres 1976 übertraf alle Erwartungen. Die Arbeitslosigkeit erreichte den Nachkriegsrekord von 1,35 Millionen. Dazu kamen noch 743 300 Kurzarbeiter. So waren insgesamt etwa 2 Millionen Arbeitnehmer von der Beschäftigungskrise betroffen. Der Präsident der Bundesanstalt fur Arbeit Josef Stingl beschrieb die Lage auf dem Arbeitsmarkt zur Jahreswende 1976 wie folgt: „Zwar gibt es keinen weiteren Einbruch in der Konjunktur mehr, aber auch noch keine Wende." 3 2 6 Zu dieser Zeit gingen die meisten Prognosen von einer Million Arbeitslosen im Schnitt für das Jahr 1976 aus. Denn nach Feststellung des Bundeswirtschaftsministeriums war die Produktivitätsauslastung „extrem niedrig." Allein die zahlreichen Firmenpleiten hatten ein Produktionskapital von 30 Milliarden D-Mark zerstört. Ein Aufschwung auf dem Arbeitsmarkt war vor 1977 nicht in Sicht. Nach den damals vorliegenden Schätzungen würde sich die Arbeitslosigkeit bis 1980 sogar verdoppelt, sollte sich das Wirtschaftswachstum nur um die zwei Prozent herum und bewegen und nicht wesendich höher sein. 327 Ein Grund dafür, dass sich auch die Zukunftsperspektiven auf dem Arbeitsmarkt verdüsterten, war die demographische Entwicklung. Denn der Zufall wollte es, dass die Rezession 1975 mit einer demographischen Wende zusammenfiel. Josef Stingle stellte dazu fest: „Wir hatten also gewissermaßen Glück, daß wir uns im Rezessionsjahr 1975 zugleich der geringfügigsten Zahl deutscher Erwerbstätiger gegenübersahen." 328 Daher war Stingle der Meinung: „Echte Probleme dagegen wirft die Entwicklung der Bevölkerung und damit des Potentials der Erwerbstätigen fur die nächsten 15 Jahre in steigendem Maße auf." Denn seit 1962 sank die Zahl der deutschen Erwerbskräfte aus demographischen Gründen von 26,2 Millionen auf den Tiefpunkt von 24,5 Millionen im Jahre 1975. Im Jahr 1976 würde die Zahl deutscher Erwerbstätiger wieder geringfügig ansteigen. In den folgenden Jahren würde es zu einem erheblichen Anstieg bis zum Jahr 1988 kommen. Dann würde voraussichdich mit 25,5 Millionen erneut ein demographischer Wendepunkt erreicht sein. Von da an würde das Angebot an deutschen Arbeitskräften wieder stark zurückgehen. 329 Anlässlich dieser gravierenden Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt organisierte die ZEIT eine Diskussionsrunde von Experten über die Arbeitslosigkeit. Äußerst pessimistisch zeigte sich der Staatssekretär im Wirtschaftsministerium Otto Schlecht. Schlecht stellte fest, dass neben der offiziellen Zahl von 1,3 Millionen, um die die Erwerbstätigkeit gegenüber 325 326 327 328 329

Wirtschaftswoche, Nr. 24/30, 11. Juni 1976, S. 18. Wirtschaftswoche, Nr. 7/30, 13. Februar 1976, S. 12 f. Die Zeit, Nr. 2/31, 2. Januar 1976, S. 18. Manager Magazin, März 1976, S. 20. Manager Magazin, März 1976, S. 20.

83 1973 geschrumpft war, der „Knick in unserer demographischen Entwicklung" hinzugerechnet werden müsse. Die deutsche Erwerbsbevölkerung war wegen dieser demographischen Entwicklung in den letzten Jahren um fast zwei Millionen zurückgegangen, in den nächsten 10 Jahren werde sie hingegen um 800000 steigen und damit den Arbeitsmarkt zusätzlich belasten. Schlecht machte darauf aufmerksam, dass der Zuwachs der Investitionen in den letzten fünf Jahren faktisch bei null gelegen habe. Ein Wachstum von acht Prozent bei den Investitionen sei aber notwendig, um ein Wirtschaftswachstum von fünf Prozent zu erreichen. Diese Größenordnung beim Wirtschaftswachstum war wiederum notwendig, um die Arbeitslosigkeit auf 2 - 3 Prozent zu senken. Der öffentliche Sektor konnte zur Senkung der Arbeitslosigkeit wohl nur noch wenig beitragen. Schlecht glaubte, dass die öffendiche Beschäftigung eine Grenze erreicht hatte, also der Staat seine Stellen anders als in den Jahren zuvor nicht weiter ausweiten konnte, um die Arbeitslosigkeit zu senken. 330 Pohl, der damals noch Staatssekretär im Finanzministerium war, spielte das Problem hingegen herunter und erinnerte daran: „daß es in den Jahren 1974/75 eine ganz massive Restriktionspolitik gab — mit extrem hohen Zinsen und massiven Stabilisierungsmaßnahmen der Regierung, die praktisch ohne Vorbild in der ganzen Welt gewesen sind." Pohl lobte, dass trotz Ölkrise und schwerster Rezession das „Wirtschaftssystem ausgesprochen flexibel" gewesen sei. Einen Vorteil der Situation erblickte Pohl, darin, dass sich nun nach dem Beschäftigungseinbruch mit der Rückkehr der Gastarbeiter das Problem der Ausländerbeschäftigung von alleine lösen werde. Pohl sah optimistisch auf die Zukunft der Beschäftigung. Nach der Rückkehr zum normalen Konjunkturverlauf werde die Arbeitslosigkeit bald wieder verschwinden. Pohl prognostizierte, dass mit dem nächsten Konjunkturaufschwung etwa 700 000 Arbeitslose wieder eine Beschäftigung finden und nur 600000 Arbeitslose übrig bleiben würden. 331 Prof. Herbert Giersch vom Institut fur Weltwirtschaft unterstrich die Tatsache, dass die Arbeitnehmereinkommen in der Bundesrepublik das Lohnniveau der USA erreicht hatten. Die Bundesrepublik habe sogar die Spitze bei den Prokopfeinkommen erreicht. Somit sei der Wettbewerbsvorteil der Vergangenheit nicht mehr vorhanden. Die Staaten der Dritten Welt seien zu einer exportorientierten Entwicklungspolitik übergegangen und setzten die wesdichen Industriestandorte unter Druck. Giersch ließ offen, ob es sich bei der hohen Arbeitslosigkeit um ein strukturelles oder ein konjunkturelles Phänomen handelte. Giersch hielt beides fur möglich und erwartete von der weiteren Entwicklung die Beantwortung dieser Frage: „Sollte durch den Konjunkturaufschwung die Arbeitslosigkeit rasch verschwinden, so hätte sich erwiesen, dass es keine besonderen strukturellen Probleme gibt. Stellen wir jedoch fest, daß der Konjunkturaufschwung sehr früh auf Engpässe in einzelnen Bereichen stößt, während wir in anderen Bereichen noch Arbeitslosigkeit haben, dann werden wir wissen, in welchem Umfange Strukturwandel zu bewältigen ist." Giersch glaubte, allein das hohe Maß an sozialer Sicherheit werde der Bundesrepublik in Zukunft einen „höheren Bodensatz an Arbeitslosigkeit bescheren", da dies in größerem Umfang zu „freiwilliger Arbeitslosigkeit" fuhren werde. Pohl antwortete, 330 331

Die Zeit, Nr. 9/31, 20. Februar 1976, S. 9 ff Die Zeit, Nr. 9/31, 20. Februar 1976, S. 9 ff

84 er erwarte, dass „im nächsten oder übernächsten Jahr der Rest der „strukturellen Arbeitslosigkeit" relativ klein sein werde. Schlecht erwiderte düster: „Im Übrigen bin ich nicht so optimistisch wie Herr Pohl." 3 3 2 Skeptisch war auch Schlechte Dienstherr Hans Friderichs. Auch dieser war überzeugt, dass die Beschäftigungsprobleme bei einem Aufschwung bestehen bleiben würden. Friderichs stellte fest: „Wir brauchen Arbeitsplätze für jene, die jetzt nicht beschäftigt sind, aber auch fur die, deren Arbeitsplätze künftig noch wegrationalisiert werden, und außerdem für diejenigen, die neu und zusätzlich in das Erwerbsleben eintreten." Darum hielt Friderichs mittelfristig Steigerungsraten bei den Realinvestitionen von acht Prozent fur notwendig. Die Steigerung müsse auch deshalb so hoch ausfallen, weil die Wachstumsimpulse, die durch Innovationen kamen, schwächer geworden seien. Friderichs zeigte sich davon überzeugt, dass (...) „wir zunächst einmal mit Kriegs-Erfindungen unser Wachstum beschleunigt haben. Dieser Innovationsstau ist abgebaut, so daß wir im Grunde genommen jetzt von den Innovationen leben, die wir heute produzieren." 3 3 3 Die Skepsis des Wirtschaftsministeriums sollte sich als richtig erweisen. Obwohl die Konjunktur sich positiv entwickelte, wirkte sich dies auf dem Arbeitsmarkt nicht dem entsprechend aus. Denn während die Wirtschaft verstärkt nach Fachkräften Ausschau hielt, blieben die Minderqualifizierten, die den Kern der über einen längeren Zeitraum Arbeitslosen bildeten, auch nach dem Ende der Rezession ohne Beschäftigung. Diese Entwicklung bestätigte, dass es sich bei der hohen Arbeitslosigkeit im Kern nicht um ein konjunkturelles, sondern um ein strukturelles Problem handelte. Deshalb wurde von der Konzertierten Aktion eine 20-köpfige Arbeitsgruppe unter dem Vorsitz des Ministerialdirektors im Arbeitsministerium Manfred Baden gegründet, die aus Beamten des Arbeits-, Finanz-, und Wirtschaftsministeriums gebildet wurde. Diese Arbeitsgruppe trat am 1. September 1976 zum ersten Mal zusammen. Sie beschloss das Missverhältnis von offenen Stellen und Arbeitslosigkeit und die bisherigen staatlichen Maßnahmen einer genaueren Prüfung zu unterziehen und einigte sich darauf, bis nach den Wahlen nichts in die Öffendichkeit dringen zu lassen und sich auf den 9. Oktober 1976 zu vertagen. 334 Als wichtige Hürde, die die Wiedereinstellungen nach dem Ende der Rezession verhinderten, erwies sich der großzügige Kündigungsschutz. Die Bewegungsfreiheit der Personalchefs war dadurch erheblich eingeschränkt. Vielen Unternehmen war erst im Verlauf der Krise das Maß an arbeitsrechtlicher Absicherung der Arbeitnehmer voll zu Bewusstsein gekommen. So schrieb das MANAGER MAGAZIN im Oktober 1976: „Geschockt durch „traumatische Erfahrungen" und psychologische Belastungen aus der Rezession, in der es sich häufig als unmöglich erwies, Mitarbeiter überhaupt zu endassen, scheuen viele Personalmanager jetzt vor neuen Einstellungen zurück." 33 ^ Die Arbeitslosigkeit hatte sich nicht nur zu einer sozialen, sondern vor allem auch zu einer erheblichen finanziellen Belastung für das Gemeinwesen entwickelt. Die Kosten fur die 332 333 334 335

Die Zeit, Nr. 9/31, 20. Februar 1976, S. 9 ff. Wirtschaftswoche, Nr. 7/30, 13. Februar 1976, S. 13ff. Manager Magazin, Oktober 1976, S. 20. Manager Magazin, Oktober 1976, S. 22.

85 Auszahlung der Arbeitslosenversicherung betrugen mehr als 10 Milliarden D-Mark, die Gemeinden kostete die Auszahlung der Sozialhilfe inzwischen 9 - 1 0 Milliarden D-Mark. Denn im Laufe des Jahres 1976 wurde die 2-Millionen-Grenze bei den Leistungsempfängern der Sozialhilfe überschritten.336 Die unterschiedlichen Ansichten über die effektivste Bekämpfimg der Arbeitslosigkeit führten zu Reibungen zwischen den Koalitionspartnern. Arendt kündigte im Sommer 1976 in einem Brief an die SPD-Bundestagsabgeordneten eine Klausurtagung zur Arbeitsmarktpolitik fiir den Herbst 1976 an. Arendt legte dem Brief ein Thesenpapier des Sozialpolitikers Eugen Lutze bei. Lutze wollte die Arbeitsmarktpolitik nicht mehr länger als ,Anhängsel der Konjunkturpolitik" behandelt wissen. Lutze wollte statt dessen die „strukturelle Arbeitslosigkeit" bekämpfen. Dies wollte Lutze erreichen durch zusätzliche Ausbildungsmaßnahmen fiir Ungelernte, die Verlängerung der Urlaubszeit und kürzere Arbeitszeiten und die Vorverlegung der Pensionierung. Diese Maßnahmen sollten zu einer „solidarischen Verteilung" der Arbeit fuhren. Diese Vorschläge aus den Reihen des sozialdemokratischen Koalitionspartners führten bei der FDP zu Irritationen. Der wirtschaftspolitische Sprecher der FDP Otto Graf Lambsdorff erklärte: „Wenn die Sozialpolitiker glauben, sich hier ausdehnen zu können, dann sind sie auf dem fälschen Dampfer." 337 Um die Ursache der Dauerhaftigkeit der Arbeitslosigkeit zu ergründen, hatte der Deutsche Industrie- und Handelstag auf Veranlassung des Sachverständigenrates unter seinen Mitgliedern im September 1976 eine Umfrage durchgeführt. Die Unternehmen nannten als die zwei wichtigsten Gründe fur den Abbau von Arbeitsplätzen den Rückgang der Produktionstätigkeit bedingt durch die Konjunktur und Rationalisierungsanstrengungen, um die hohen Lohnkosten, die sich in den letzten Tarifrunden aufgestaut hatten, abzubauen. In der arbeitsintensiven Verbrauchsgüterindustrie stand das zweite Motiv im Vordergrund. Nur in diesem Bereich spielte die Verlagerung der Produktion ins Ausland auch eine größere Rolle. Etwas mehr als ein Zehntel der befragten Unternehmen gab an, dass sie ihren Beschäftigungsstand auf Dauer vermindert hätten. Bei der anvisierten Ausweitung der Beschäftigung in den kommenden Jahren würden vor allem Facharbeiter nachgefragt werden, noch mehr als gut qualifizierte Angestellte, fur gering qualifizierte Arbeitnehmer ergaben sich hingegen aus den Befragungen der Unternehmen kaum positive Perspektiven.338

Tendenzwende in den Wirtschaftswissenschaften und Meinungsklima Im Jahr 1975/76 traten fast alle Probleme, die in den kommenden drei Jahrzehnten die Sozial- und Wirtschaftspolitik der Bundesrepublik bestimmen sollten, die Dauerarbeitslosigkeit, die hohe Neuverschuldung, die Krise der Renten- und Gesundheitskassen, zum ersten Mal auf. Damit veränderten sich die Rahmenbedingungen für die Politik grundlegend. Die Politik konnte nie wieder so aus dem Vollen schöpfen, wie sie es in den Jahrzehnten davor gewohnt war. Ein Ausbau der staatlichen Leistungen war von nun an 336 337 338

Die Zeit, Nr. 16/31, 9. April 1976, S. 17. Der Spiegel, Nr. 36/30, 20. August 1976, S. 39. Jahresgutachten, 1976/77, S. 55.

86 nur noch sehr begrenzt möglich. Die nicht mehr Konjunktur abhängige Dauerarbeitslosigkeit, verbunden mit einer Entstehung einer dauerhaft aus dem Arbeitsleben ausgeschiedenen und von Sozialleistungen abhängigen Bevölkerungsgruppe, fur die in jüngster Zeit der Begriff „Prekariat" geprägt wurde. Damit ist eine Bevölkerungsgruppe gemeint, die selbst unter den günstigsten konjunkturellen Bedingungen keinen Zugang mehr zum Arbeitsmarkt findet oder finden will. Die sozialdemokratische Wirtschaftspolitik wurde dominiert von gewerkschaftsnahen Sozialdemokraten vom konservativen Flügel der Partei. Die Neue Linke war mit ihren Ideen zu praxisfern und weltfremd, um in der Sozial- und Wirtschaftspolitik eine entscheidende Rolle spielen zu können. Die sozialdemokratischen Keynesianer hielten Neomarxisten und „Neoliberale" gleichermaßen für Anhänger wissenschaftlich überholter Sichtweisen. Die Probleme der Gesellschaft erschienen ihnen durch rationale Planung lösbar. Herbert Ehrenbergs 1974 erschienenes Buch „Zwischen Marx und Markt" ist ein publizistisches Beispiel fur diese Sichtweise. Die Protagonisten der neuen Linken erschienen Ehrenberg als „Vulgär-Marxisten", Ludwig Erhard mit seinen Maßhalte-Appellen und die neoliberalen Vordenker der Sozialen Marktwirtschaft als „Seid-nett-zueinanderApostel." 339 Als die entscheidenden Fehlentwicklungen machte er das Übergewicht der privaten gegenüber den öffentlichen Investitionen aus und den Exportüberschuss der Bundesrepublik. Der „wohlstandsmindernde Exportüberschuss" sollte in ein „Mehr an öffentlichen Leistungen" umgelenkt werden. 340 Ehrenberg beanstandete, dass in Bezug auf die Kreditaufnahme, dem Staat nicht dasselbe zugestanden wurde, wie den privaten Unternehmen. Den Umstand, dass die Bundesrepublik mit einem Schuldenstand von 18 Prozent des Bruttosozialproduktes gemeinsam mit Frankreich und Osterreich den zweitniedrigsten Platz nach Japan belegte, nahm Ehrenberg als Ausdruck dieser Fehlentwicklung. Nach oben schien also für die Ausweitung der öffendichen Schulden genug Spielraum offen zu sein. Um das Programm „Innerer Reformen", vor allem die Verbesserung der Infrastruktur, voranzutreiben, wollte Ehrenberg eine „Mischfinanzierung aus Steuern und Kapitalmarktfinanzierung" entwickeln.341 Ehrenberg hoffte auf „zunehmenden Wettbewerb" zwischen privaten und öffendichen Investitionen um die Kreditfinanzierung. Ehrenberg war zuversichdich, dass diesen Wettbewerb „immer die öffendichen gewinnen müssen." 342 Die Basis für diese Konzeption waren die Thesen des amerikanischen Ökonomen und Kennedy-Beraters John Kenneth Galbraith, der den „privaten Reichtum" bei „öffentlicher Armut" postuliert hatte. Dass schließlich ausgerechnet der von Ehrenberg angestrebte Rückgang der privaten Investitionen und der Einbruch des Exports 1974/75 eine permanente Krise verursachten, ist die bittere Ironie der siebziger Jahre. Die Ironie liegt darin, dass gerade die Erfüllung der Wünsche das Scheitern des ganzen Konzeptes unter Beweis stellte.

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Ehrenberg, Zwischen Marx und Markt, S. 14. Ders., S. 294. Ders., S. 1 6 2 - 1 6 6 . Ders., S. 170.

87 Monetarismus und Angebotstheorie entzogen der sozialliberalen Reformpolitik nach ihrem Scheitern in der finanzpolitischen Praxis auch noch den Rückhalt in der Wissenschaft. Man sollte an dieser Stelle betonen, dass die Krise der Preisstabilität, der Staatsfinanzen und der Finanzen der Sozialversicherungen dem Durchbruch dieser Theorien in der interessierten Öffentlichkeit vorausgingen. Es ist wohl nicht falsch davon auszugehen, dass diese veränderten Sichtweisen auch deshalb so schnell Anhänger gewannen, weil sie eine Deutung für das ohnehin nicht mehr zu leugnende Desaster boten. Hatten die Sozialdemokraten noch im Wahlkampf 1969 mit dem Zugpferd Karl Schiller und den Instrumenten von Globalsteuerung und Nachfragepolitik den Wind des wissenschaftlichen Zeitgeistes im Rücken, so blies er ihnen von nun an ins Gesicht. Die Politik der Sozialdemokratie und der Gewerkschaften hatte sich fiir kurze Zeit mit dem Lorbeer der wissenschaftlichen Modernität schmücken können. Damit war es von nun erst einmal vorbei, wie der Meinungsumschwung im Sachverständigenrat zeigte. Der Sachverständigenrat war im Februar 1964 eingesetzt worden. Durch die gesetzlich festgeschriebene Unabhängigkeit besaß der Sachverständigenrat eine außerordentlich starke Position und nutzte diese von Anbeginn an, um seine wissenschaftliche Unabhängigkeit auch durch die Konfrontation mit der Regierungspolitik unter Beweis zu stellen. 343 Damals war der Sachverständigenrat in der Aufwertungsfrage auf Konfrontationskurs mit der Regierung Erhard und der großen Koalition gegangen. Das war tendenziell eher der Position der SPD und ihres Wirtschaftsministers Karl Schiller von Nutzen gewesen. Nun entzogen die Experten dem bisherigen Kurs ihre Unterstützung. In den Jahren 1974, 1975 und 1976 hatte sich unter dem Eindruck der wirtschaftlichen Turbulenzen ein Wandel im Denken des Sachverständigenrates vollzogen. Olaf Sievert, der von 1970 bis 1975 dem Sachverständigenrat angehörte und von 1976 bis 1985 sein Vorsitzender war, beschreibt die damalige Lage in einem Aufsatz unter der Überschrift „Vom Keynesianismus zur Angebotspolitik." 344 Diese Überschrift bringt den Wandel in den siebziger Jahre auf den Punkt. Zwar meint Sievert, dass die theoretischen Grundlagen der Gutachten in den sechziger und frühen siebziger Jahren kein reiner Keynesianismus war, aber Sievert glaubt selbstkritisch wie die Politik sei auch der Sachverständigenrat „damals infiziert vom Machbarkeitsglauben, was die Konjunktursteuerung anbelangt." Doch die Professoren begannen während der Krisenjahre der sozialliberalen Koalition immer stärker an diesem Credo zu zweifeln. Der Sachverständigenrat begegnete nach dem Abgang von Alex Möller und Karl Schiller, der Ausweitung der Kosten fur den Öffentlichen Dienst und der Kosten des Sozialstaates, der Politik der Bundesregierung zunehmend mit Misstrauen. Die Ölkrise wurde als ein Schock „auf der Seite der Angebotsbedingungen" wahrgenommen fiir den es „früher in den Lehrbüchern nur Beispiele wie Kriege oder Mißernten" gab. So befasste sich der Sachverständigenrat im Krisenjahr 1974 mit einer grundsätzlichen Überprüfung seiner theoretischen Konzepte. Die bishe-

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Nützenagel, Stunde der Ökonomen, S. 164f. Olaf Sievert: Vom Keynesianismus zur Angebotspolitik, in: Vierzig Jahre Sachverständigenrat 1963 - 2003, Hrsg vom Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, o. O. und J.

88 rigen Indikatoren der aktuellen Konjunkturlage wurden in diesem Prozess verdrängt von dem Blick auf langfristige Veränderungen des Produktionspotentials. Sievert erinnert sich an das Verschwinden der Nachfragetheorien aus den Analysen des Rates: „Wir dachten damals an ein vorläufiges Beiseitelegen. Der Rat hat es aber im Grunde nie wieder richtig hervorgeholt. Stabilisierung der Auslastung des gesamtwirtschaftlichen Produktionspotentials, das Konjunkturproblem, trat von nun an zurück vor der Aufgabe Belebung des Wachstums des Produktionspotentials." Das Konzept der Nachfragesteuerung hatte in den Augen der Wirtschaftswissenschaftler angesichts der neuen Herausforderungen versagt. Prof. Gerhard Fels von der Universität Kiel war einer der fünf Wirtschaftsweisen. Am 1. April 1977 erschien ein Aufsatz von ihm in der ZEIT, der grundsätzlich die bisherigen Ansätze in Frage stellte. Dort schrieb er: „Ernüchterung ist eingetreten. Das Theoriegebäude, aus dem die Wirtschaftspolitik operiert, muß überprüft werden." Die Rezession sei mehr als eine verschärfte Stabilisierungskrise. Nach dem Einbruch herrsche eine neue Beschäftigungssituation, denn es werde keine Rückkehr zu den alten Beschäftigungsverhältnissen geben. Die Rezession von 1974/75 sei die entscheidende Zäsur. Viele Betriebe seien zusammengebrochen, die bis dahin nur wegen der Inflation wettbewerbsfähig gewesen waren. Für den Wandel machte Fels verantwordich, dass die D-Mark in den sechziger Jahren zu lange unterbewertet war und diese Unterbewertung nun in kurzer Zeit beseitigt worden sei. Die Entwicklungsländer waren dazu übergegangen, verstärkt Industrieerzeugnisse zu importieren und die Preise zu unterbieten. Die Zahl der technischen Innovationen, die diesen Einbruch hätten auffangen können, sei zwischen 1967 und 1973 aber gering geblieben. Auch der Diensdeistungsbereich stagnierte und konnte die Freisetzungen in den Industriebranchen nicht kompensieren. Aus diesen Umständen zog Fels die Schlussfolgerung: „Selbst ein gewaltiger Nachfrageboom könnte also unter den heutigen Bedingungen nicht jedem Arbeitssuchenden wieder einen Arbeitsplatz verschaffen." Fels strich in diesem Zusammenhang die Bedeutung von konjunktureller und struktureller Arbeitslosigkeit heraus. Um diesen Strukturwandel zu bewältigen, müsse die Wirtschaftspolitik vor allem auf die Innovationen der Angebotsseite setzen, denn: „Je mehr Investoren und Gewerkschaften in realen Größen rechnen, das heißt keine Geldillusion mehr haben, um so weniger ist es möglich, Wachstum und Beschäftigung über inflatorische Nachfrageexpansion auch nur kurzfristig positiv zu beeinflussen." 345 Neben der Angebotstheorie des Sachverständigenrates, die im Wesentlichen ein deutsches Produkt war, gewann der Monetarismus der Chicagoer Schule an Boden. Dieser Umbruch vollzog sich in solcher Geschwindigkeit, dass von einer „Monetaristischen Revolution" in den Wirtschaftswissenschaften gesprochen wird. Zwischen 1949 und 1975 hatte außer der Zeitschrift O R D O , der „Hauszeitschrift der deutschen Neoliberalen", keine deutsche Wirtschaftszeitung einen Aufsatz des Begründers des Monetarismus Milton Friedman veröffentlicht. In den fünfziger Jahren hatten sich die Keynesianer in der Bundesrepublik durchgesetzt. 346 345 346

Die Zeit, Nr. 15/32, 1. April 1977, S. 16. Hauke Janssen: Milton Friedman und die „monetaristische Revolution" in Deutschland, Marburg 2006, S. 55 ff.

89 Die Bundesbank galt als Pionier der neuen monetaristischen Lehre. Die Bundesbank führte die Zielvorgaben fur das Wachstum der Geldmenge bereits im Jahr 1974 ein. Jahre, bevor dies in Großbritannien und der USA geschah. Man sollte den Einfluss des Monetarismus aber nicht überschätzten. Für die Bundesbank war die Geldmenge keine ideologisch unverrückbare Größe. 347 Emminger der Jahrzehnte lange praktische Erfahrungen in der internationalen Wahrungspolitik gesammelt hatte, sah mit einer gewissen Herablassung auf die „dogmatische Monetaristen" herab. 348 Er relativierte im Sommer 1977 in einem Interview den Einfluss des Monetarismus auf die Geldpolitik der Bundesbank. Emminger erklärte: „Wir mußten eigendich nur auf das Bundesbankgesetz von 1957 zurückgreifen." Dort war bereits von der „richtigen Dosierung der Geldmenge" die Rede. 349 Die Protagonisten der Geldstabilität bei der Bundesbank empfanden das Ende von Bretton Woods als Befreiung. Der Übergang zum Floaten im Frühjahr 1973 war aus Emmingers Sicht eine „Kopernikanische Wende" der Geldpolitik. Emminger beschrieb die Folgen: „Wir gewannen dadurch - und nur dadurch - wieder die Kontrolle über unsere eigene Geldversorgung weitgehend zurück und damit die wichtigste Voraussetzung fur eine Rückkehr zur Stabilitätspolitik. Wir konnten uns dadurch ganz sichtbar vom internationalen Inflationszug abkoppeln. Schon ab Herbst 1973 übernahmen wir wieder die Führungsrolle in der Anti-Inflationspolitik, die uns in den nächsten Jahren 1970 bis 1972 durch die von außen importierte Inflation etwas entglitten war." 350 Der Zweifel an der Effektivität der staadichen Nachfragepolitik und Regulierung fand auch in den öffendich-rechtlichen Medien Einzug. Im,Arbeitgeber", der Publikation der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände stellten die Autoren im November 1974 unter dem Eindruck der Krise in den öffentlich-rechtlichen Medien „Risse in der linken Front" fest und konstatierten, es habe ein Prozess des Nachdenkens eingesetzt. Auf den „Tagen der Fernsehkritik" habe selbst eher links zu verortende Leiter der Hauptabteilung Fernsehspiel beim N D R über die „linken Utopisten" ausgelassen. Die Autoren verwiesen auf eine ganze Reihe von Sendungen, die sich im Dezember im öffentlichrechdichen Fernsehen mit der Wirtschaftskrise befassten. Diese trugen die Titel „Das wachsende Krisenpotential", „Die Steuerschraube", „Genösse Gesundheit." 351 Der Keynesianismus war erst spät in die deutsche Wirtschaftspolitik vorgedrungen. War aber dann sogar in der Verfassung verankert worden. Für den Reform-Flügel der SPD war dies ein Glück. Sie fanden sich durch ein Wirtschaftsmodell bestätigt, das dem Staat und der Umverteilung einen wichtigen Platz einräumte, aber eine klare marktwirtschaftliche Alternative zum Marxismus darstellte, der im Zuge des Godesberger Programms abgeschüttelt werden sollte. Mitte der siebziger Jahre nähme Angebotstheorie, Monetarismus und Zweifel an der Effizienz der Regierungspolitik, die in Teilen der Öffendichkeit stärker wurde, der sozialdemokratischen Regierungspolitik den Glanz fortschrittlicher Wirtschaftspolitik. 347 348 349 350 351

David Marsh, Die Bundesbank, S. 34. Emminger, D-Mark, Bsp. S. 431. Die Zeit, Nr. 27/32, 24. Juni 1977, S. 17. Emminger, D-Mark, S. 332. Der Arbeitgeber, 26 Jhrg, 1974, S. 970.

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Die Sozialversicherungskosten in den siebziger Jahren Im Zeitraum zwischen 1965 bis 1969 wuchsen die Ausgaben für die Sozialversicherung durchschnitdich um 11 Prozent im Jahr, in den Jahren der Regierung Brandt zwischen 1969 und 1974 beschleunigte sich der Anstieg der Sozialversicherungsausgaben um durchschnittlich 14 Prozent im Jahr. Die Ausgaben der Sozialversicherungen stiegen wesendich schneller als die Ausgaben der Gebietskörperschaften, Bund, Länder und Gemeinden. So erhöhte sich der Anteil der Sozialversicherung an den Gesamtausgaben der öffendichen Haushalte in der Zeit von 1964 bis 1974 um 5,5 Prozentpunkte auf 33 Prozent. Die Staatsquote war zwischen 1964 und 1974 von 38,5 auf 45 Prozent gestiegen, zwei Drittel dieses Anstiegs gingen auf die Ausweitung der Sozialversicherungsausgaben zurück. Dieser Anstieg war teilweise durch den Alterungsprozess der Bevölkerung verursacht. Im Jahr 1974 ζ. B. kamen auf hundert Pflichtversicherte bereits 55 Rentner. Das waren zehn mehr als im Jahr 1964. Teilweise lag der Anstieg auch an dem allgemeinen inflatorischen Anstieg der Lebenshaltungskosten und zum Teil am Ausbau der sozialen Leistungen. 352 Die Sozialversicherungen erreichten in den Jahren 1970 bis 1972 Uberschüsse von jeweils etwa fünf Milliarden D-Mark und im Jahr 1973 sogar von 8,5 Milliarden D-Mark. In den Krisenjahren 1974/75 fielen die Sozialversicherungen jedoch ins Minus. Im Jahr 1974 gingen die Überschüsse auf drei Milliarden D-Mark zurück und fur das Jahr 1975 zeichnete sich ein Defizit von vier bis fünf Milliarden Mark ab. Dieses Defizit wurde begrenzt durch den Einsatz finanzieller Mittel des Bundes fiir die Mehrausgaben der Bundesanstalt fur Arbeit. 353 Die Beiträge wurden in der Regel den steigenden Ausgaben angepasst, wohingegen die staatlichen Zuschüsse hinter der Ausweitung der Ausgaben zurückblieben. Hatten die staatlichen Zuschüsse im Jahr 1964 noch 17,5 Prozent der Einnahmen der Sozialversicherungen ausgemacht, waren es im Jahr 1974 nur noch 13 Prozent. Durch diese Entwicklung wurden die Arbeitnehmereinkommen übermäßig stark belastet. In den zehn Jahren zwischen 1964 und 1974 erhöhten sich die Beitragsbestandteile der Einkommen aus unselbstständiger Arbeit um fünf Prozentpunkte auf 23,5 Prozent. Die Ausweitung der Staatsausgaben und der Sozialversicherungsausgaben wurde also zu einem großen Teil von den abhängig beschäftigten Arbeitnehmern finanziert. Aus dem Anstieg der Sozialversicherungsbeiträge und den steuerlichen Belastungen, die aus dem Progressionstarif in Verbindung mit hohen Inflationsraten resultierten, ergab sich ein Anstieg der Belastung von 26 Prozent auf 37 Prozent im Jahrzehnt vor 1974. 3 5 4 Diese Tendenz, die zusätzliche Belastung der abhängig Beschäftigten setzte sich in den kommenden Jahren der sozialliberalen Koalition weiter fort.

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Die Finanzentwicklung der Sozialversicherungen seit Mitte der sechziger Jahre, in: Monatsbericht, November 1975, S. 22. Monatsberichte November 1975, S. 26 f. Monatsbericht November 1975, S. 25 f.

91 Im Jahr 1978 verbrauchten die Sozialleistungen schon etwa ein Drittel des Bruttosozialproduktes. Im Vergleich zu 1965, als die Sozialleistungen in der Bundesrepublik mit 111 Milliarden D-Mark bei einem Bruttosozialprodukt von 460 Milliarden D-Mark noch etwa ein Viertel des Bruttosozialproduktes verbrauchte, war das ein immenser Anstieg. Gleichzeitig war die Belastung der Einkommen gestiegen. Der Anteil der Lohnsteuer am Steueraufkommen war von 17,1 Prozent in 10 Jahren auf 30,7 Prozent gewachsen. Im Jahr 1976 wurden statistisch jedem Bundesbürger 3800 D-Mark überwiesen. Der SPD-Politiker Norbert Gansei kritisierte an der Situation den Umstand, „daß 70 Prozent der Sozialleistungen von denen aufgebracht werden, die sie erhalten." Die Einkommensgrenzen führten zu Verzerrungen und negativen Leistungsanreizen, denn bei steigenden Einkommen wurden die steigenden Bezüge durch die damit einhergehenden Kürzungen der sozialen Leistungen überkompensiert. Ralf Zapernick aus dem Wirtschaftsministerium stellte fest: „Heute gibt es bereits Einkommensgruppen, fur die Höhe und Struktur staadicher Einkommen wichtiger sind als marktmäßige Einkommen." So hatte zum Beispiel die Änderung des Wohngeldgesetzes für viele Haushalte eine stärkere Wirkung als die Tariflohnerhöhungen. Die hier beschriebene Entwicklung ist bemerkenswert. Die Politik der von der Arbeitnehmerpartei SPD geführten Regierung wurde im Wesentlichen von den Arbeitnehmern selbst über die Beiträge der Sozialversicherungen finanziert. Einem Großteil der höheren Beitragslasten stand keine entsprechende Leistungsausweitung gegenüber. Arbeitslosigkeit und die Alterung der Bevölkerung waren starke Kostentreiber, die von der Gemeinschaft der Versicherten getragen werden mussten. Die Stabilität der Sozialversicherung ist von der Beschäftigungssituation abhängig. Wenn die Arbeitslosigkeit steigt, dann fallen die Beitragseinnahmen aus der abhängigen Beschäftigung und steigen die Ausgaben zur Finanzierung der Arbeitslosen. Die zusätzliche Belastung der Beitragszahler war nachhaltig und dauerhaft. Sie wurde nicht korrigiert und verursachten auch keine politische Auseinandersetzung, die mit der Auseinandersetzung um die staadichen Defizite, die Inflation oder die Steuerbelastung vergleichbar gewesen wäre. Politisch ist es einfacher die Beiträge zu erhöhen als die Steuerlast. Dieser Umstand zeigt sich hier deudich und sollte bei der Finanzierung der Wiedervereinigung noch eine entscheidende Rolle spielen. Die Ursachen dafür sind vielschichtig. Die Steuerzahler besaßen mit der FDP einen starken politischen Anwalt, für den das Steuerthema ein entscheidender Pfeiler ihrer politischen Programmatik bildete. Den Vertretern der Arbeitnehmer in der SPD und den Gewerkschaften ist hingegen in der Regel die Ausweitung der sozialen Leistungen wichtiger als die Dämpfung der Beitragskosten. Hinzu kommt der psychologisch wohl nicht zu vernachlässigende Umstand, dass die Sozialbeiträge als Arbeitnehmer- und Arbeitgeberanteil bezahlt werden und somit bei den Arbeitnehmern der Eindruck sozialer Balance besteht. Dies mag Beitragserhöhungen, die ja auch immer den Arbeitgeberanteil betreffen, eine Legitimität verleihen, die Steuererhöhungen nicht besitzen.

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Der Spiegel, Nr. 5/32, 30. Januar 1978, S. 32 ff.

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Steuerbelastung, Staatsausgaben und Staatsverschuldung Bevor wir zur Schilderung der Finanzpolitik in der Kanzlerschaft von Helmut Schmidt kommen, eine kurze Erörterung voraus. In der Regierungszeit der sozialliberalen Koalition lassen sich zwei Phasen ausmachen. In der ersten Phase vom Regierungsantritt bis 1974/75 war die Staatsverschuldung kein entscheidendes Problem. Die „Reformpolitik" der Regierung Brandt führte zwar zu einem rasanten Wachstum des Haushalts und der Staatsausgaben. Die Kosten konnten aber von den ebenfalls rasant wachsenden Staatseinnahmen gedeckt werden. Dieser Politik wachsender Staatsausgaben und Einnahmen war von der Konzeption der Reformpolitik her eigendich keine klare Grenze gesetzt. Sie war darauf ausgelegt, den Staatsanteil immer mehr auszuweiten. Ein Stopp der Ausweitung der Ausgaben in einer nahen oder fernen Zukunft war nicht vorgesehen. Die Grenze der staadichen Ausgabenpolitik wurde bei den Reformpolitikern wurde nicht reflektiert. Das lag in der Planungseuphorie begründet. Es schien als könnten alle gesellschaftlichen Schwierigkeiten von der staatlichen Planung gelöst werden. Wenigstens fur den öffentlichen politischen und intellektuellen Diskurs hatten die Einwände der Privatwirtschaft ihre grundsätzliche Legitimität verloren. Die Vorstellung kollektiver Planung hatte den Gedanken des Liberalismus der Berechtigung individueller Interessen fur das Funktionieren des Gemeinwesens für eine Weile verdrängt. In den Jahren 1974/75 zeigte sich jedoch, dass die Grenze, die von der Reformpolitik nie gezogen worden war, erreicht, ja sogar überschritten wurde. Nach fünf Jahren sozialdemokratischer Regierungspolitik wurde deutlich, dass die Bürger nicht länger bereit waren die Kosten für den Ausbau des Staates und die Erweiterung der sozialen Leistungen zu tragen. Dies war für die Protagonisten der Reformpolitik ein böses Erwachen. Von nun an wurde die sozialliberale Regierung, wie Herbert Wehner es später in einer Auseinandersetzung mit der FDP erklärte „unter die Steuerschraube gelegt." Steuersenkungen stellten von nun an über Jahre hinaus das politische Schlüsselthema der Bundesrepublik dar. Dies bedeutete nicht nur den Zwang zur permanenten Nachbesserung der Steuergesetzgebung, es bedeutete auch, dass die SPD in eine Identitätskrise geraten musste. Eine linke Volkspartei kommt zwangsläufig in schwieriges Fahrwasser, wenn Steuersenkungen zum alles beherrschenden Thema werden, da diese sich ja im Wesentlichen über die Umverteilung zur Herstellung sozialer Gerechtigkeit definiert. Wenn die Staatseinnahmen nicht mehr ausgeweitet werden können, ja sogar zurückgeführt werden müssen, gibt es nur noch in einem sehr begrenzten Rahmen etwas zu verteilen. Auch die Möglichkeiten Steuersenkungen „sozial" zu gestalten sind begrenzt, da es in der Natur des progressiven Steuersystems liegt, dass bei Steuersenkungen die Endastung der höheren Einkommen stärker ausfällt als der unteren oder gar jener, die über kein zu versteuerndes Einkommen verfügen. So tat sich zwischen den sozialpolitischen Wünschen der SPD und der Zahlungsbereitschaft der Steuern zahlenden Bürger eine deudiche Lücke auf. Besonders der Protest der

93 mittleren Einkommen konnte politisch nicht mehr ignoriert werden. Hinzu kamen die wachsenden Kosten der Arbeitsmarktkrise, die den finanziellen Spielraum noch weiter beschränkten. Die daraus resultierende und sich schnell vergrößernde Finanzierungslücke der öfFendichen Haushalte konnte nur durch den Rückbau eines großen Teils der Leistungen geschlossen werden, die in den ersten fünfJahren der sozialliberalen Koalition eingeführt worden waren. Betrachtet man die Krise des Arbeitsmarktes, die weit über die Rezession von 1966/67 hinausging und immense Kosten verursachte, so muss man davon ausgehen, dass die Leistungen sogar unter das Niveau der späten sechziger Jahre hätten zurückgeführt werden müssen, um ausgeglichene Haushalte zu erreichen. Dies konnte und wollte die Volkspartei SPD und im übrigen auch die Opposition nicht durchsetzen. So fiel in den Schlüsseljahren 1974/75 die Grundsatzentscheidung, die Finanzzierungslücke, die zwischen den staadichen Ausgaben und der politisch durchsetzbaren Steuerbelastung klaffte, durch die Aufnahme von Krediten zu decken. Die Verschiebung der Lasten auf die Zukunft schien die politisch einfachste Lösung zu sein. Die Etappen auf dem Weg zu dauerhaften zweistelligen Staatsdefiziten zur Zeit der Regierung Schmidt schildert das folgende Kapitel.

Finanzminister Helmut Schmidt wird Kanzler Helmut Schmidt wollte mit der Übernahme des Kanzleramtes eine „Straffung der ökonomischen Politik" erreichen. Hans Apel war der erste Minister, der im neuen Kabinett feststand. In der Presse rechnete man damit der bisherige Staatssekretär werde als neuer Finanzminister von Schmidt an der kurzen Leine gehalten werden. Aus Apels direkter Umgebung fürchtete man, Apel werde unter Schmidt ein Finanzminister unter „besonderer Aufsicht." Darauf wies schon der Umstand hin, dass Schmidt den Finanzstaatssekretär Manfred Schüler ebenso mit ins Kanzleramt nahm wie den bisherigen Geld- und Kreditexperten des Finanzministeriums Dieter Hiss. 3 5 6 Die kommenden Jahre sollten von dem Aufbegehren des Hans Apel gegen dieses Bild in der Öffentlichkeit geprägt sein. Am 17. Mai 1974 veröffendichte die Z E I T Auszüge aus einer 56-seitigen vertraulichen Studie, die Helmut Schmidt fur die SPD-Spitze zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik verfasst hatte. Um die Preisstabilität 1974 nicht noch weiter zu gefährden, wollte Schmidt das Wachstum nicht anheizen und daher kein Investitionsprogramm auflegen. Deshalb lehnte Schmidt auch vorerst ab, direkten politischen Druck auf die Bundesbank auszuüben, ihre restriktive Geldpolitik aufzugeben, sondern wollte mit ihr kooperieren, um den Einfluss auf ihre Politik zu behalten. Schmidt schwenkte auf den Stabilitätskurs der Bundesbank ein, weil er zu dem Ergebnis gekommen war, dass die Inflation zu diesem Zeitpunkt das wichtigste „psychologisch-politische" Problem der Wirtschaftspolitik war. Schmidt warnte jedoch zugleich davor, die „Inflation" als Hauptthema der Politik zu behandeln. Um das Problem in den Griff zu bekommen, wollte Schmidt die Ausweitung des Staatsverbrauchs und die Ausweitung der Lohn- und Gehaltskosten im 356

Die Zeit, Nr. 21/29, 17. Mai 1974, S. 27.

94 öffentlichen Dienst begrenzen. Schmidt sprach sich gegen Lohn- und Preiskontrollen aus und gegen die Indexierung von Löhnen und Steuern. Der Export sollte nicht stärker gefordert werden und die Wechselkurspolitik sollte die Exportnachfrage dämpfen, da der Export nur auf Kosten der privaten und öffentlichen Investitionen im Inland wachsen könnte. 357 Schmidt skizzierte seinen Zeitplan: „Die öffendichen Haushalte werden 1975 die beherrschende Frage an den Stabilitätswillen der Regierung stellen; dabei werden alle wichtigen Weichen entweder schon im Spätsommer/Herbst 1974 gestellt werden, oder sie stellen sich nach dem Prinzip des geringsten Widerstandes von selbst." Zur anvisierten Steuerreform schrieb Schmidt, dem „Quantensprung in den Einnahmen", müsse ein „Quantensprung in den Ausgaben" gegenüberstehen. Daher müsse die Vorstellung von Steuerreform und Ausgabenbeschränkung in der Öffentlichkeit miteinander „verkoppelt" werden. Schmidt sagte voraus, der Haushalt 1975 werde der schwierigste seit dem Bestehen der sozialliberalen Koalition. Schmidt glaubte: „Je besser er bewältigt wird, um so besser ist die Ausgangssituation für den Haushalt des Wahljahres 1976" 3 5 8 Das erste „Opfer" des neuen stabilitätsorientierten Kurses wurde Entwicklungshilfeminister Eppler. Sein Ressort sollte in den kommenden Jahren bis 1978 mit zwei Milliarden D-Mark weniger auskommen müssen als ursprünglich vorgesehen. Dieser Einschnitt klingt härter als er war. Den Schmidt wollte den Ausgabenzuwachs 1975 nicht stärker als um acht Prozent wachsen lassen, um die Neuverschuldung auf 14 Milliarden D-Mark zu begrenzen. Eppler würde trotz der Kürzungen gegenüber dem ursprünglichen Ansatz noch mehr als neun Prozent mehr erhalten. Daher hatten Epplers Kabinettskollegen, die zum Teil höhere Kürzungen hinnehmen mussten, für Epplers Mehrforderungen wenig Verständnis. Wirtschaftsminister Friderichs erklärte, wenn Eppler mit seiner Rücktrittsdrohung Erfolg habe, werde seine und die von Ertl folgen. Am Dienstag, den 2. Juli 1974 kam es zu einer zweistündigen Unterredung zwischen Schmidt und Eppler über die Kürzungsvorgaben fur Epplers Etat. Schmidt stellte Eppler ein Ultimatum, sich bis Mitternacht zu entscheiden, ob er die Einsparungen akzeptierte oder es vorzog, sich aus dem Amt zurückzuziehen. Vor dem Ablauf der Frist erhielt Schmidt schriftlich von Eppler weitere Forderungen. Im Schlusssatz des Briefes hieß es: .Aufgrund des Gespräches, das wir heute im Kanzleramt geführt haben, müßte ich Sie bitten, falls meine Antwort Sie nicht zufrieden stellt, dem Herrn Bundespräsidenten meine Endassung aus dem Amt des Bundesministers für wirtschaftliche Zusammenarbeit vorzuschlagen." Da Schmidt die Forderungen ablehnen musste, trat Eppler zwei Tage später am 4. Juli 1974 zurück. 359 Der Haushalt, den das Kabinett Schmidt schließlich vorlegte, schien den Zahlen nach der bislang sparsamste der sozialliberalen Regierung zu sein. Innerhalb des Bundeshaushaltes sollten auf dem Papier nur die Ausgaben für Forschung und Entwicklung deudich ansteigen. Der Vorwurf von Strauß, das eigentliche Ausgabenwachstum werde „verschleiert", traf aber zu. Denn Schmidt war es nicht gelungen, Arendt auf den Konsolidierungskurs festzulegen. Kürzungen im Sozialetat in dieser Größenordnung schienen gegen den 357

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Hier findet sich also der absurd anmutende Vorbehalt gegen den Export, der auch schon in einem vorhergehenden Kapitel aufgetaucht ist. Die Zeit, Nr. 21/29, 17. Mai 1974, S. 26. Der Spiegel, Nr. 28/28, 8. Juli 1974, S. 17 ff.

95 starken Arbeitsminister und Schmidts wichtige Verbündete, die Gewerkschaften, nicht durchsetzbar. Offiziell betrug die Steigerungsrate im Sozialetat nur 5,7 Prozent. Die Steigerungsrate fiel aber nur deshalb so moderat aus, weil die Sozialversicherungen die Bundeszuschüsse dem Bund gestundet hatten. Rechnete man den Betrag fur diese Aussetzung hinzu, lag der Zuwachs sogar bei ganzen 15 Prozent. 360 Die Steuerschätzung im Herbst 1974 sagte für die Bundesebene im kommenden Jahr ein nie dagewesenes Defizit von 23 Milliarden D-Mark voraus. Der wirtschaftspolitische Sprecher der FDP-Fraktion Otto Graf Lambsdorff sagte: „Ein Jahr können wir uns das leisten, danach wird es bös." Apel stellte fest: „Der Haushalt 1976 wird eher noch knapper ausfallen müssen als das Budget von 1975. (...) Über Jahre hinaus wird es keine Reformen mehr geben können. (...) Selbst wenn die Steuereinnahmen um 16 bis 18 Milliarden D-Mark nach oben springen, bleibt ein hohes Defizit nach." Der Bundesbank-Direktor Heinrich Irmler sorgte sich: „Es ist höchst ungemütlich, daß im Ankurbelungsjahr 75 das Defizit so hoch ist, daß man gar nicht wieder davon runterkommt." 361 Am 19. März 1975 begann die dreitägige Auseinandersetzung im Parlament um den Bundeshaushalt 1975. Hatte das Budget im Vorjahr noch 133 Milliarden D-Mark umfasst, war es nun auf 157 Milliarden D-Mark hinaufgeschnellt. Die Opposition wollte der Bundesregierung nachweisen, dass die Verschuldung noch über ihren Haushaltsansatz hinausgehen würde. Der CSU-Haushaltsexperte Walter Althammer meinte, noch vor dem Osterurlaub werde „bewiesen sein, daß dieser 157-Milliarden-Mark-Etat so unseriös ist wie keiner zuvor. (...) Wir werden ihn deshalb ablehnen, weil er in die Finanzkrise fuhrt." Kernargument der Opposition war, dass der Zuschuss der Bundesanstalt mit 3,2 Milliarden D-Mark zu niedrig ausgewiesen war und die vorgesehenen 2,5 Milliarden DMark fur die Gehaltssteigerungen im Öffentlichen Dienst nicht ausreichen würden, um diesen Posten zu decken. Die Unionsfraktion forderte daher zusätzliche Kürzungen von über drei Milliarden D-Mark. 3 6 2 Am 21. März 1975 sprach Apel vor dem Bundestag zum Bundeshaushalt 1975 und verteidigte das Defizit: „Das Defizit des Bundeshaushalts ist groß; es ist notwendig, um die Konjunktur zu finanzieren." Apel erklärte das Defizit von 22 Milliarden D-Mark, von dem die Finanzplanung für dieses Jahr ausging, mit zwei Umständen: „Die Probleme liegen bei 8 Milliarden D-Mark Steuerausfall aufgrund der Rezession und bei 7 Milliarden D-Mark Steuerausfall wegen der Steuerreform." Apel erklärte, das Ziel Nummer 1 der Finanzpolitik so: „Es geht uns allen darum, die Konjunktur anzukurbeln." Das Ziel Nummer 2 sei, eine „knappe Ausgabenfuhrung durchzusetzen." Das Ziel Nummer 3 sei die Durchsetzung der finanziellen Forderungen des Bundes gegenüber den Bundesländern zum Ausgleich und als Konsequenz der Steuerreform. Am Ende beharrte Apel auf der Feststellung: „Dieser Haushalt paßt in die konjunkturelle Landschaft und ist solide zu finanzieren."363

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Die Zeit, Nr. 29/29, 12. Juli 1974, S. 31. Der Spiegel, Nr. 48/28, 18. November 1974, S. 25 ff. Wirtschaftswoche, Nr. 10/29, 28. Februar 1975, S. 20. Verhandlungen, 7. Wahlperiode, 160. Sitzung, S. 11260 ff.

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Steuerpolitik 1972 bis 1975 Kommen wir nun zu der von Apel angesprochenen Steuerreform, die das in der Eingangserläuterung zur Finanzpolitik dieser Phase angesprochene Dilemma zwischen Ausgabenentwicklung und Zahlungsbereitschaft der Steuerzahler offen legte. Nach den Bundestagswahlen 1972 konnte in den Koalitionsverhandlungen zwischen SPD und FDP über die Steuerreform keine Einigkeit erzielt werden. Man verständigte sich lediglich darauf, die ein Jahr zuvor ausgehandelten Eckwerte zur Basis der Steuerreform zu machen. Geplant war die Reform der Einkommensteuer, der Sparfbrderung, der Vermögenssteuer und der Körperschaftssteuer. In der SPD war man zu der Überzeugung gelangt, dass die Reform der Steuern nur in Teilen und nicht als Ganzes verabschiedet werden konnte. Finanzminister Helmut Schmidt hatte versucht, auch die Liberalen von diesem Ansatz zu überzeugen, aber ohne Erfolg. Die Steuerexpertin der FDP, Liselotte Funcke, lehnte das ab. Aus Sicht der Liberalen aus gutem Grund. Die Liberalen fürchteten, dass die SPD die Aufspaltung des Gesetzesvorhabens nutzen würde, um die von der FDP geforderte Aufkommensneutralität auszuhebeln und Einnahmeverbesserungen durchzusetzen. Funke erklärte: „Ich sehe keine Abtrennungsmöglichkeit, da hängt alles ineinander, da gleichen sich Plus und Minus aus." Für den Vorschlag der SPD sprach jedoch der Umstand, dass die Umsetzung der Steuervorhaben als ein einziger großer Wurf erhebliche technische Schwierigkeiten mit sich bringen würde. Rainer Offergeld, der als Vorgänger von Staatssekretär Konrad Porzner für die Steuerreform zuständig war, erklärte: „Das Verfahren in einem Akt durchzuziehen, das wäre die Stunde Null des deutschen Steuerrechts. Alle Fachleute sagen, daß so was nicht durchzuhalten ist." 3 6 4 Am ersten Februarwochenende 1973 rief Schmidt zu einer Klausurtagung über die Steuerreform im Hotel Jakobsberg zu Boppard zusammen. Schmidt selbst erschien mit seinen Staatssekretären und den sieben Beamten der Steuerreformgruppe. Das Finanzministerium legte ein 200-seitiges Papier vor, das als Diskussionsgrundlage dienen sollte.3655 Das Fazit der technischen Erörterungen war, dass sich die Steuerreform nicht, wie die FPD forderte, in einem Schritt umsetzen ließ. 366 Unter diesen nicht von der Hand zu weisenden Hürden konnte die FDP ihren Standpunkt nicht aufrechterhalten. Finanzminister Helmut Schmidt setzte außerdem gegen den Willen der Liberalen die Erhöhung der Mineralölsteuer zur Mitte des Jahres durch. Die kommentierte das Einlenken der Liberalen so: „Drei Monate standen die Liberalen durch. Dann hatten sie ihren ersten Umfall in der zweiten SPD/FDP-Koalition." 3 6 7 Im ersten Schritt der Steuerreform sollten zum 1. Januar 1974 die Grund- und die Erbschaftssteuer reformiert werden. Mit diesen Steueränderungen wollte Schmidt die Einnahmen um eine weitere Milliarde erhöhen. Denn beide Steuern wurden immer noch gemäß der sogenannten „Einheitswerte" von 1935 festgelegt. Nach den Berechnungen 364 365 366 367

Der Spiegel, Nr. 1/27, Wirtschaftswoche, Nr. Der Spiegel, Nr. 7/27, Wirtschaftswoche, Nr.

1. Januar 1973, S. 25. 6/27, 2. Februar 1973, S. 8 f. 12. Februar 1973, S. 63. 9/27, 23. Februar 1973, S. 16.

97 von Schmidts Steuerexperten würde Grundbesitz bei der Grund- und Erbschaftssteuer weit unter ihrem tatsächlichen Wert besteuert. Helmut Schmidt machte diesen Sachverhalt für die Flucht in die Sachwerte verantwortlich. Nun sollten neue Einheitswerte festgelegt werden. Die Beamten erwarteten im Zuge der Neubewertung einen Anstieg der Grundsteuer um 25 Prozent. Die Neubewertung fiir die Erbschaftssteuer war sogar vom Bundesverfassungsgericht in einem Urteil aus dem Jahr 1968 gefordert worden, da die unterschiedliche Besteuerung von vererbtem Grund und Bargeld eine Ungleichbehandlung darstellte. Nachdem die FDP bei diesem großen Steuerkomplex nachgegeben hatte, konzentrierte sie sich nun auf die Forderungen, wenigstens Einkommens- und Körperschaftssteuer im Jahr 1976 als Ganzes zu verabschieden. 368 Diese Konstellation brachte Bundeskanzler Brandt in eine schwierige Lage. Auf der einen Seite gab es Gruppen, die sich in der SPD radikalisierten, sogar das Godesberger Programm in Frage stellten und die Anhebung des Spitzensteuersatzes forderten. Auf der anderen Seite wurde für den Koalitionspartner FDP die Abwehr zusätzlicher steuerlicher Belastungen und die Endastung bei der Einkommenssteuer nach ihrem „Umfallen" gegenüber Schmidt zu einer Frage der politischen Glaubwürdigkeit. Der wirtschaftspolitische Sprecher der FDP Lambsdorff erklärte, dass „Steuererhöhungen für die FDP unter etatpolitischen Gründen unter keinen Umständen in Frage kommen." 3 6 9 Durch die Entwicklung der Steuerbelastung kam die Regierung zusätzlich unter Handlungsdruck. Die Steuerprogression hatte durch die starke Teuerung inzwischen 80 Prozent der Arbeitnehmer erfasst. Allein im ersten Halbjahr stiegen die Einnahmen aus der Lohnsteuer gegenüber dem Vorjahr um 26 Milliarden D-Mark bzw. 20 Prozent. Diese überraschenden Einnahmezuwächse eröffneten dem Bund die Möglichkeit, den Haushalt abzugleichen. Dies geschah aber gerade auf Kosten der sozialdemokratischen Wählerschaft. Das Münchner Ifo-Institut errechnete, dass jeder Arbeitnehmer im Schnitt von einer verdienten D-Mark 44 Pfennig für Steuern und Sozialabgaben abgeben musste. Um die Belastung der Arbeitnehmer zu begrenzen, kündigte Staatssekretär Porzner an, die Eckwerte der Steuerreform 1976 den neuen Gegebenheiten anzupassen. Finanzminister Helmut Schmidt lehnte eine Vorverlegung der Steuerreform weiterhin ab. Schon allein aus konjunkturellen Gründen hielt Schmidt dies fur falsch: „Dann haben wir wieder einige Milliarden zusätzlich an Nachfrage. Das ist eine Frage des Konjunktur-Managements und weiter nichts." 370 In dieser Lage entschied Brandt sich jedoch zu einem Alleingang. Am 6. August 1973 stellte Brandt ohne Absprache mit Schmidt und Friderichs vor 58 Journalisten baldige Steuersenkungen in Aussicht. Dies geschah zeitgleich mit der Stabilisierungspolitik des Finanzministers und der Bundesbank, um überschüssige Kaufkraft abzuschöpfen. Brandt hatte damit dem Drängen der Gewerkschaften nachgegeben, die wegen der hohen Teuerung und der wilden Streiks unter massiven Druck standen. Brandts Vorschläge trafen auf ein negatives Echo in der Öffentlichkeit und konnten an der zukünftigen Tarifpolitik der

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Der Spiegel, Nr. 10/27, 5. März 1973, S. 26 f. Die Zeit, Nr. 13/28, 23. März 1973, S. 33. Der Spiegel, Nr. 32/27, 6. August 1973, S. 51.

98 Gewerkschaften wenig ändern. Brandts Vorschläge beschleunigten aber die Umsetzung der Steuerreform. Das Kabinett verabschiedete zwei Tage später eine Erklärung, in der es hieß: „Sobald das Stabilitätsprogramm der Bundesregierung wirksam wird, werden zur Festigung der konjunkturellen Lage steuerliche Maßnahmen in Betracht kommen können." 371 Schmidt war inzwischen zu dem Ergebnis gekommen, dass die konjunkturelle Lage bis zum Inkrafttreten der Steuerreform eine Ausweitung der Nachfrage wieder erlauben würde. Eine baldige Ankündigung der Steuerreform könnte, so meinte auch der SPD-Steuerexperte Offergeid, die Gewerkschaften bei den kommenden Tarifverhandlungen vielleicht zur Mäßigung bewegen. Schmidt rechnete damit, dass die anvisierten Steuererleichterungen von acht Milliarden D-Mark durch steigende Steuereinnahmen und eventuell durch eine Erhöhung der Mehrwertsteuer gedeckt werden konnten. Am 11. September 1973 legte Schmidt dem Kabinett einen fertig ausgearbeiteten Detailplan zur Umsetzung der vorgezogenen Einkommenssteuerreform vor. Dieser Plan sah die Anhebung der Grundfreibeträge, feststehende, für alle Steuerzahler gleich hohe Steuerfreibeträge für Kinder und die Anhebung der Progressionszone zum 1. Januar 1975 vor. Die Steuerexpertin der FDP, Liselotte Funcke, stellte jedoch fest, dass eine auf die Interessen der Arbeitnehmer zugeschnittene Einkommenssteuerreform ohne damit einhergehende Reform der Körperschaftssteuer für die Liberalen nicht akzeptabel war. Schmidt versprach, schon bald die Grundzüge auch dieses Teils der Steuerreform vorzustellen. 372 Da die FDP schon bei der Grund- Vermögens- und Erbschaftssteuer erhebliche Zugeständnisse gemacht hatte und auch die Einkommenssteuerreform im wesendichen den Wählerschichten der SPD zu Gute kam, befand sie sich in einer starken Position gegenüber den Sozialdemokraten, die nun ebenfalls Zugeständnisse für die bereits erbrachten Vorleistungen der Liberalen erbringen mussten. Lambsdorff hielt die Körperschaftssteuer für das Kernstück der Reform. Damit einhergehend sollte die Doppelbesteuerung von Aktiengewinnen beseitigt werden. Offergeld nannte dies „die Kröte, die man wohl schlucken muß." 3 7 3 Im Januar 1974 erklärte Bundeskanzler Brandt in einem Fernsehinterview, die für 1975 anvisierten Steuersenkungen könnten vorgezogen werden. Diese Äußerung erhöhte den Erwartungsdruck auf die Bundesregierung. Die Unionsopposition hielt das Vorziehen der Steuersenkungen für eine Möglichkeit, die Gewerkschaften davon zu überzeugen, von ihren hohen Lohnforderungen abzugehen. Der schleswig-holsteinische Ministerpräsident Gerhard Stoltenberg erklärte, auf diese Weise könne der soziale Frieden bewahrt werden. Auch die Gewerkschaften stellten sich hinter diese Forderungen. Finanzminister Schmidt war sich jedoch mit Wirtschaftsminister Friderichs einig, dass ein Vorziehen der Steuerreform viel kosten, aber die Gewerkschaften nicht von ihrem Kurs abbringen würde. Der FDP-Finanzexperte Victor Kirst erklärte daher zu Brandts Äußerung, das habe Brandt so nicht gemeint und ein falsches Wort gebraucht. 374

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Der Spiegel, Nr. 33/27, 13. August 1973, S. 19f. Der Spiegel, Nr. 38/27, 17. September 1973, S. 23 f. Die Zeit, Nr. 44/28, 26. Oktober 1973, S. 39. Der Spiegel, Nr. 5/28, 28. Januar 1974, S. 22 f.

99 Zu diesem Zeitpunkt führte kein Weg mehr an dem Versuch einer größeren Endastung vorbei. Die Steuerbelastung der Arbeitnehmer war zu einem brisanten Dauerthema der sozialliberalen Koalition geworden und sollte es bleiben. Die Steuerquote lag inzwischen bei 25 Prozent, lange Zeit galten 24 Prozent als Obergrenze. Nun gerieten wegen der steigenden Nominallöhne immer mehr Steuerzahler in die Progressionszone hinein und waren einer immer stärkeren Belastung ausgesetzt.37^ Der Berater des neuen Bundeskanzlers Helmut Schmidt Walter Hesselbach, sah die Politik an die „Grenzen des Steuerstaates stoßen" und empfahl die Finanzierung der Ausgabenzuwächse durch Anleihen statt durch Steuern. Der Fraktionslinke Günter Wiechert sagte: „Solange wir nur darüber geredet haben, daß die Staatsausgaben erweitert werden müssen, waren alle dafür. Seitdem es ans Portmonnaie geht, sind sie dagegen." Der SPD-Abgeordnete Andreas von Bülow stellte fest, dass die Veränderung des Bewusstseins der Bevölkerung nicht ganz so schnell laufe, wie man sich das vorgestellt habe. Der Parteilinke Erich Meinecke erklärte vor dem Finanzausschuss: „Je schneller die staadichen Aufgaben-Bereiche wachsen, um so unüberschaubarer werden sie fiir den Bürger. Jedermann glaubt schließlich, das Geld ginge überall hin, nur nicht an ihn zurück. Alle fühlen sich als Geber, keiner als Nehmer." 376 Unter diesen Umständen wollte keine Partei in dem Ruf stehen, steuerliche Endastungen fur die Arbeitnehmer zu behindern. In der zweiten Julihälfte einigten sich Regierung und Opposition auf einen Kompromiss zur Steuerreform. Die Delegationen, die von Helmut Schmidt und Helmut Kohl geführt wurden, verständigten sich auf eine Endastung von 13 Milliarden D-Mark. Die C D U / C S U hatte durchgesetzt, dass die Beiträge für Bausparkassen, Renten- und Lebensversicherungen von der Steuer absetzbar blieben. Darüber hinaus wurde der Höchstbeitrag für diese sogenannten Sonderausgaben von 1100 auf 1800 D-Mark heraufgesetzt. 377 Dies führte zu einem zusätzlichen Steuerausfall von 1,5 Milliarden D-Mark. Damit war Hans Apels Haushaltsentwurf nach nur zwei Wochen schon wieder überholt, nachdem Apel und Schmidt sich lange einig darüber waren, dass 11,5 Milliarden D-Mark die Obergrenze für den Steuerausfell sein sollte. 378 Wenn die Bundesregierung aber geglaubt hatte, sich durch die Steuerreform die breite Unterstützung der Wähler zu sichern, hatte sie sich geirrt, wie sich bald nach der Inkraftsetzung der Reform zum Beginn des Jahres 1975 herausstellte. In der Geschichte der Bundesrepublik waren Steuerreformen immer das beste Mittel einer Regierung, um sich unpopulär zu machen. Dies liegt vor allem an einem Umstand, den der SPIEGEL in Hinsicht auf die Steuerreform 1975 so auf den Punkt brachte: „Doch nicht jene 20 Millionen Bundesbürger, die von dem Gesetzeswerk Vorteil haben, sondern die Benachteiligten bestimmen jetzt die Diskussion über das hochgejubelte Werk. Steuerbürger, die Vorteile einbüßen, und Tributpflichtige, bei denen sich der Gewinn der Steuerreform erst nach dem Jahresausgleich 1975 einstellt, fanden sich zu einem lautstarken Klagen-Chor zusammen." 379 Die Hauptverlierer der Steuerreform waren ge-

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Die Zeit, Nr. 16/29, 12. April 1974,, S. 33. Der Spiegel, Nr. 27/28, 1. Juli 1974, S. 28 ff. Wirtschaftswoche, Nr. 31/28, 26. Juli 1974, S. 20 f. Die Zeit, Nr. 31/20, 26. Juli 1974, S. 25. Der Spiegel, Nr. 6/29, 3. Februar 1975, S. 26ff.

100 schiedene Vater. Der Grund dafür war, dass die Kinderfreibeträge zu Gunsten des Kindergeldes abgeschafft wurden. Während in der Regel die geschiedenen Frauen nun vom Kindergeld profitierten, mussten die Männer auf die Freibeträge verzichten. Der Bund der Steuerzahler schätzte die Zahl der betroffenen Männer auf etwa eine Million. 380 Dies ist ein typisches Beispiel dafür, wie eine Steuerreform durch die Kompliziertheit des zugrunde liegenden Steuersystems nicht vorhersehbare Effekte zeitigt, die zum politischen Bumerang werden können. In diesem Fall wohl vor allem deshalb, weil die betroffene Gruppe keinem politischen Lager klar zuzurechnen war und daher ihre Interessen im Streit zwischen Bund und Ländern und innerhalb der Koalition schlicht und einfach vergessen wurden. Als wenn es damit nicht schon genug gewesen wäre, tauchten noch andere nicht einkalkulierte Schwierigkeiten auf, die dazu führten, dass Millionen von Steuerzahlern, die auf eine deudiche Entlastung gehofft hatte, enttäuscht, ja sogar erschreckt wurden. Der DGB-Vorstand wies Finanzminister Hans Apel auf „erhebliche Unruhe in den Betrieben" hin, die die Steuerreform verursachte. Am 18. Januar 1975 bekam Apel auf einer Parteiversammlung die Empörung zum ersten Mal persönlich zu spüren. Protestanrufe in der SPD-Parteizentrale und dem Finanzministerium schreckten die Regierung auf. Der Ursprung dieser Verwirrung lag in einer Fehleinschätzung des Finanzministeriums begründet. Dort hatte man den Plan entwickelt, mit der Umsetzung der Steuerreform zugleich die Steuerklassen neu zu ordnen. So wurden zeitgleich mit der Steuerendastung die Steuersätze für Doppelverdiener angehoben, um diesen die Nachzahlungen für die Zukunft zu ersparen. Dies war von den Beamten im Ministerium gut gemeint, führt aber dazu, dass die Wahrnehmung der Steuerreform extrem verzerrt wurde. Denn durch die Änderung der Steuerklassen mussten die berufstätigen Ehefrauen nun plötzlich für die Betroffenen völlig unerwartet einen hohen zusätzlichen Steuerbetrag bezahlen, der sonst erst als Nachzahlung fällig gewesen wäre. 381 Der Finanz-Staatssekretär Rainer Offergeid räumte im SPIEGEL ein, „daß die politische Brisanz dieser Lohnsteuerklassen-Problematik nicht erkannt worden ist." Diese „rein technische Regelung" sei erst im Nachhinein in die Reform eingeführt worden. Es sei den Beteiligten nicht klar gewesen, dass dies in der Realität zu so großen Sprüngen fuhren würde. 382 Ein weiterer wichtiger Punkt für die Entstehung einer negativen öffendichen Wahrnehmung der Steuerreform war, dass die Steuerendastung durch die Erhöhung der Sozialabgaben geschmälert wurde. 383 Das Institut für Allensbach befragte repräsentativ 2000 Personen, ob „ihnen die Steuerreform alles in allem Vorteile oder Nachteile brachte." Die Ergebnisse, die Anfang August 1975 vorlagen, ergaben, dass nur 30 Prozent der Befragten erklärten, sie würden weniger Steuern zahlen, 14 sahen für sich überwiegend Nachteile und die übrigen sahen zu dem vorhergehenden Zustand keinen Unterschied. 384

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Wirtschaftswoche, Nr. 3/29, 10. Januar 1975, S. 23 f. Der Spiegel, Nr. 6/29, 3. Februar 1975, S. 26 ff. Der Spiegel, Nr. 6/29, 3. Februar 1975, S. S. 31 ff. Die Zeit, Nr. 7/30, 7. Februar 1975, S. 3 Wirtschaftswoche, Nr. 33/29, 8. August 1975, S. 22.

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Finanzminister Apel erklärte im Februar 1975 in einem Interview, in dieser Legislaturperiode werde am Steuerrecht nichts mehr geändert werden. Da die Reform die öfFendichen Haushalte 13-14 Milliarden D-Mark koste, sei ein erneutes Senken der Steuern nicht mehr zu verantworten. Apel teilte der Öffentlichkeit mit, dass die geplanten Zuwächse des Bundeshaushalts „nicht machbar sein werden." Er sagte voraus, er werde einer der „unpopulärsten Menschen in diesem Land werden." Für den Fall einer steigenden Deckungslücke im Bundeshaushalt kündigte Apel eine Ausweitung der Kreditaufnahme an, denn Steuererhöhungen und Ausgabenkürzungen würden die Krise nur weiter verschärfen. 385

Die Finanzkrise 1975 und die ersten Konsolidierungsanstrengungen Im Finanzministerium hielt man eine Erhöhung der Einnahmen um 10-15 Milliarden D-Mark für notwendig. Dies entsprach in etwa der Summe, um die die Steuerreform 1975 die Steuerzahler mit Beginn des Jahres endastet hatte. Mitte des Jahres 1975, ein halbes Jahr nach dem Inkrafttreten der Steuerreform, brach Apel die Diskussion über die Finanzierung des Bundeshaushaltes los. Apel forderte öffendich, die Steuern müssten erhöht werden. Otto Schlecht hielt diese Äußerung für taktisch unklug. Die FDP war verärgert und Liselotte Funcke sagte angesichts des Haushaltsdefizits von 30 Milliarden D-Mark fur das kommende Jahr: „Da muß man jetzt einfach rigoros sparen."386 Auch Schmidt war verärgert. Er erklärte auf einer Arbeitnehmerkonferenz in Bremen: „Man muß nicht jede Wahrheit an jedem Montag aussprechen." Der Kanzler hatte ein Sommertheater unbedingt vermeiden wollen und die Diskussion über die Defizite und mögliche Steuererhöhung auf die Zeit nach der Sommerpause verschieben. Darum war die fällige Steuerschätzung im Mai 1975 abgesagt worden. Nun blieb keine andere Wahl als einzuräumen, dass im Herbst ein Nachtragshaushalt fur die zusätzlichen Defizite nötig sein würde. Die Opposition wollte, um die Regierung zu blamieren, schon vor der Sommerpause eine Generaldebatte im Bundestag über die „finanzielle Situation des Staates" fuhren. 387 Die SPD befand sich in einem Dilemma. Sie musste einerseits die Sparpolitik ihres Kanzlers und seines Finanzministers stützen, auf der anderen Seite wollten die Sozialdemokraten im Wahljahr die Arbeitnehmer nicht durch übermäßige Kürzungen vor den Kopf stoßen. Die SPD stand zu dieser Zeit auf dem Feld der Sozialpolitik unter dem besonderen Druck der Unionsparteien, die die „Neue soziale Frage" entdeckt hatten und sich damit sozialpolitisch profilierten. Kohl hatte auf dem Mannheimer Parteitag Ende Juni, die SPD für mögliche soziale Kürzungen angegriffen. Kohl erklärte, die „Soziale Demontage, die SPD und Helmut Schmidt seien unlösbar miteinander verbunden." Arbeitsminister Walter Arendt versprach, die SPD werde keine „soziale Demontage" zulassen. Um der 385 386 387

Die Zeit, Nr. 7/30, 7. Februar 1975, S. 3. Die Zeit, Nr. 25/30, 13. Juni 1975, S. 17. Die Zeit, Nr. 26/30, 20. Juni 1975, S. 15.

102 Strategie der Opposition zu begegnen und gleichzeitig den Sparkurs umsetzen zu können, entwarfen die Wahlkampfplaner der SPD im Zusammenarbeit mit ihren Finanzexperten in den Ministerien ein neues Konzept, das Sparmaßnahmen vor allem bei Gruppen vorsah, die nicht zum Stammklientel der SPD gezählt wurden. Mitte Juli 1975 legten sie ein vier Schreibmaschinenseiten langes Papier vor. In diesem Papier hieß es: „Damit die Diskussion um den Sozialstaat nicht einseitig gegen die große Gruppe der Arbeitnehmer gerichtet bleibt" müssten „alle Elemente des Sozialstaates auf den Tisch, also nicht nur jene, die im herkömmlichen Sinne in den Bereich Sozialpolitik fallen." Aus diesem Grund sah das Papier an erster Stelle Kürzungen bei Beamten und Bauern vor, die als Klientel von C D U und FDP galten. Die Sozialdemokraten waren der Ansicht, dass diese „Elite" ihre finanzielle Sicherheit auf Kosten der Arbeitnehmer genieße. Die Autoren des Sparpapiers zeichneten ein negatives Bild von diesen Gruppen. Ihr Sparziel war „der Professor mit Pensionsberechtigung und totaler Arbeitsplatzsicherheit (...), der leitende Beamte, der mit Beihilfen ausgestattet ist und dessen Gehaltssteigerungen von den Müllwerkern erkämpft werden." Bevor über zusätzliche Belastungen fur Arbeitnehmer gesprochen werden könne, müssten „Sozialleistungen bzw. Leistungen des Staates fur andere große und kleine Gruppen, die viel fragwürdiger, weil sinnloser, unwirksamer, übertrieben oder mißbräuchlich genutzt" würden diskutiert und gekürzt werden. Die SPD-Experten wollten die Sonderrechte im Öffentlichen Dienst zurückfuhren und die „Statussicherung und Regelbeförderung" der Beamten einschränken, ebenso die Altershilfen fur die Bauern, die nur etwa ein Fünftel ihrer Altersversorgung selbst aufbrachten. Außerdem sollte die staadiche Sparförderung gestrichen werden. Damit nahm die SPD Konflikte mit dem Koalitionspartner FDP bewusst in Kauf. Der Geschäftsführer der SPD sagte: „Da haben Leute an der Glocke gezogen, die sich noch wundern werden, wenn sie ihnen noch selbst auf den Kopf fällt. Privilegien kassieren bei uns nämlich vor allem die Kunden der C D U und der FDP." 3 8 8 Dieses Papier wurde der Öffentlichkeit durch eine Indiskretion bekannt. Das SPD-Konzept wurde vom Bund der Steuerzahler und den Jungsozialisten gelobt, Kritik kam hingegen von der C D U / C S U und FDP, aber auch vom DGB. Josef Ertl erklärte: „Die soziale Sicherung der Landwirtschaft ist eines der wesendichen Kapitel meiner Agrarpolitik. Sparmaßnahmen, die agrarspezifisch sind, werden nie meine Zustimmung finden."389 Der Zwang sich auf eine grundlegendere finanzielle Konsolidierung zu einigen war aber groß. Der wirtschaftspolitische Sprecher der FDP-Fraktion Otto Graf Lambsdorff mahne in einem Interview m 15. August 1975 eine straffere Haushaltsführung und Einsparungen an. Lambsdorff verwies darauf, dass das Gutachten des Finanzbeirates davon ausging, dass von dem Defizit des Bundes von voraussichdich 30 Milliarden D-Mark im kommenden Jahr das strukturelle Defizit etwa 15 Milliarden D-Mark betrug. Lambsdorff stellte fest: „Ich halte es für notwendig, einmal klar und deutlich zu sagen, daß wir die Staatsquote am Sozialprodukt nicht mehr erhöhen können." 3 9 0

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Der Spiegel, Nr. 30/29, 21. Juli 1975, S. 17 ff. Die Zeit, Nr. 31/30, 1. August 1975, S. 15. Die Zeit, Nr. 34/30, 15. August 1975, S. 16.

103 Die von Friderichs ausgearbeiteten Sparvorschläge nahmen die Einwände der SPD auf und nahmen dem Koalitionskonflikt damit ihre Schärfe. Der SPIEGEL druckte die vollständige Sparliste ab, die Friderichs erarbeitet hatte und seiner Partei vorstellte. Danach sollte bei den Personalausgaben des Bundes gespart und Privilegien der Angestellten des Öffentlichen Dienstes gegenüber den übrigen Arbeitnehmern abgebaut werden. Im Bereich der Ausbildungsfbrderung wollte der Wirtschaftsminister Stipendien fur Schüler, Studenten, Doktoranden und Absolventen eines Zweitstudiums in Darlehen umwandeln. Die Ausgaben für die Hochschulen sollten zeidich gestreckt werden. Die Steuervorteile für Landwirte wollte Friderichs abschaffen und Subventionen in diesem Bereich streichen. Im Verkehrsbereich sollte der Straßenbau eingeschränkt, Rationalisierungen bei der Bahn durchgesetzt und eine Autobahngebühr in Erwägung gezogen werden. Die staadiche Sparfbrderung sollte ebenso auf den Prüfstand kommen wie die Krankenhausfinanzierung. Darüber hinaus sah Friderichs Konzept Einsparungen im Bereich Soziales und Gesundheit vor. 391 Am 19. August 1975 erläuterte Wirtschaftsminister Friderichs vor dem Bundesvorstand der FDP in Frankfurt seine eigenen Sparvorstellungen zur Sanierung des Bundeshaushalts. Friderichs Ausführungen stießen auf den Widerspruch von Erd, der weiterhin Kürzungen im Agrarbereich strikt ablehnte. Am nächsten Tag trafen sich Bundeskanzler Helmut Schmidt, Apel, Genscher, Friderichs, Karl Klasen und Otmar Emminger in Schmidts Feriendomizil im holsteinischen Brahmsee und diskutierten die prekäre Haushaltslage. Apel und Friderichs waren sich über die Notwendigkeit eines strikten Sparkurses einig. Beide nutzten die Gelegenheit, um die Sparvorschläge ihrer Parteien abzugleichen. Die Diskussion zwischen beiden wurde sehr durch den Umstand erleichtert, dass Friderichs in sein Konzept Einsparungen bei Beamten und Landwirten aufgenommen hatte, um die Forderungen der SPD aufzunehmen. Genscher erklärte das Entgegenkommen der FDP: „Das alles muß ausgewogen sein. Hier darf niemand etwas auf Kosten der anderen Seite machen." Schließlich einigten sich die Koalitionspartner auf die Kürzung der Vergünstigungen der Landwirte bei der Mehrwertsteuer im Umfang von 900 Millionen D-Mark. Die Bevorzugung der Landwirte bei der Einkommensteuer sollte ebenso wegfallen, sowie die Zahlungen fur die Krankenversicherungsbeiträge der Landwirte. Beamte sollten auf Privilegien verzichten und Studenten, Graduierte und Umschüler Einschränkungen hinnehmen müssen. Auch bei der Endohnung der Zeitsoldaten gespart werden. Die vereinbarten Einsparungen würden sich voraussichdich im Jahr 1976 auf 3,5 Milliarden D-Mark belaufen. Die Einzelheiten sollte ein Koalitionsarbeitskreis ausarbeiten. 392 Die folgenden Haushaltsgespräche waren von einer öffendichen Debatte begleitet, auch da Genscher und Friderichs über die Haushaltspolitik viele Interviews gaben. Darüber war Schmidt verärgert. Ende August 1975 schloss das Kabinett nach zwanzigstündigen Gesprächen die Diskussion ab. Der SPIEGEL kommentierte die Beschlüsse: „Sechs Jahre lang gaben die Sozialliberalen mit vollen Händen. Innerhalb von 20. Stunden kassierte sie letzte Woche einen Großteil früher gewählter Großtaten wieder ein." Die Bundesregierung präsentiere einen „Katalog von Einsparungen und Abgabenerhöhungen, wie ihn noch keine Bundesregierung ihren Wählern zugemutet" habe. Die Einsparungen, die die Bundesre391 392

Der Spiegel, Nr. 35/30, 25. August 1975, S. 20. Der Spiegel, Nr. 35/30, 25. August 1975, S. 19 ff.

104 gierung verabschiedete, umfassten vier Milliarden D-Mark. Damit einhergehend sollte der Beitrag zur Arbeitslosenversicherung um drei Prozent erhöht werden. Die Beitragserhöhung sollte zusätzlich 3,8 Milliarden D-Mark erbringen. Im kommenden Jahr sollten den Landwirten Steuervergünstigungen von 269 Milliarden D-Mark gestrichen werden und im darauf folgenden Jahr die doppelte Größe. Die Beamten verloren finanzielle Vergünstigungen in der Größenordnung von 700 Millionen D-Mark und beim Sold und den Prämien fur Soldaten wurden 400 Millionen D-Mark gespart. Die Einsparungen bei den Stipendien sollten 300 Millionen bringen. Gegen die Einsparungen im Kabinett leisteten Arbeitsminister Arendt, Landwirtschaftsminister Erd und Bildungsminister Rohde Widerstand. Wahrend sich Arendt und Rohde sich mit ihren Einwänden nicht durchsetzen konnten, war es Erd gelungen, die Kürzungen beim Aufwertungsausgleich fur die Landwirte von 1,68 Milliarden D-Mark auf900 Millionen herunterzuhandeln. Die Regierung entschied sich auf der Steuerseite für die Erhöhung der Mehrwertsteuer von 11 auf 13 Prozent fiir das Jahr 1977, was eine zusätzliche Belastung von 10 Milliarden D-Mark bedeutete, und die Erhöhung der Steuerlast auf Tabak und Spirituosen um 1,2 Milliarden D-Mark. 3 9 3 Die Beschlüsse sollten am 10. September 1975 in den Bundestag eingebracht werden. Es war bereits absehbar, dass die Unionsparteien sich im Bundesrat gegen das Programm stellen würden, um einen „Offenbarungseid" von der Regierung zu erzwingen. Bauern, Beamte, Gewerkschaftler aber auch Jungsozialisten und Jungdemokraten protestierten gegen den Sparkurs. 394 Schmidt verteidigte das Programm im Fernsehen, gegenüber der -Zeitung und den Gewerkschaften. In der DGB-Zentrale in Düsseldorf warb Schmidt bei Vetter und dem Bundesausschuss für Verständnis fur den Sparkurs. Schmidt sprach dort über die zwei großen Belastungen für die Arbeitnehmer, die Mehrwertsteuererhöhung und die Anhebung der Sozialversicherungsbeiträge und rechtfertigte sie mit historischen Bezügen: „Die Geschichtsbewußteren unter euch werden wissen: Die Sozialdemokraten sind 1930 an der Frage der Anhebung der Arbeitslosenversicherung um ein halbes Prozent gescheitert." Loderer sagte dem Kanzler daraufhin die „Solidarität" der Gewerkschaften zu. Da Willy Brandt als SPD-Vorsitzender in die Beschlussfassung nicht einbezogen worden war, verweigerte er die Teilnahme an der Verabschiedung der Beschlüsse. Er erklärte aber auf dem baden-württembergischen Landesparteitag der SPD, der Bundeskanzler könne sich „auf vertrauensvolle Unterstützung der sozialdemokratischen Partei verlassen." In der Kabinettssitzung am 3. September 1975 kritisierte Schmidt die Minister, da er alleine in der Öffendichkeit das Sparprogramm verteidigt habe. Er beanstandete: „Ich finde für Koalition und Kabinett nicht gut, wenn der Kanzler das allein verkaufen muß. Es wäre ganz gut, wenn auch mal andere zu den Beschlüssen stünden." 395 Die Ministerien waren derweil mit der Detailausarbeitung der Sparbeschlüsse beschäftigt und eine Arbeitsgruppe, bestehend aus dem Staatssekretär im Finanzministerium Karl Haehser, dem SPD-Abgeordneten Andreas von Bülow und dem FDP-Abgeordneten Viktor Kirst, sollten die Kürzungen der Bundeszuschüsse ausarbeiten. 396 393 394 395 396

Der Spiegel, Nr. 36/29, 1. September 1975, Die Zeit, Nr. 37/30, 5. September 1975, S. Der Spiegel, Nr. 37/29, 8. September 1975, Der Spiegel, Nr. 37/29, 8. September 1975,

S. 19 ff. 17. S. 19ff. S. 20.

105 Etwa die Hälfte der Einsparungen im Öffentlichen Dienst sollten in den nächsten Tarifverhandlungen durchgesetzt werden. Der OTV-Vorsitzende Kluncker fühlte sich durch die partielle Vorwegnähme der Tarifabschlüsse in den Sparbeschlüssen brüskiert, da er hier eine „Lohnleidinie" sah. Daher versuchte die Regierung alles zu vermeiden, was diesen Eindruck bestätigen konnte. 397 Die Bundestagsdebatte über das Sparprogramm fand große öffentliche Resonanz. Der wirtschaftspolitische Sprecher der FDP Otto Graf Lambsdorff nutzte die Bühne und sprach sich für die Endastung der Unternehmen aus. 3 9 8 Die Debatte im Bundestag zeigte, dass die Union das „Krisenpaket ablehnte. Sie konzentrierte sich bei der Begründung ihrer Ablehnung vor allem auf die Mehrwertsteuererhöhung und die Anhebung der Arbeitslosen Beiträge für die Arbeitslosenversicherung.399 Die Experten der Wirtschaftsforschungsinstitute hielten diese, mit erheblichen politischen Anstrengungen verbundenen Einsparungen für unzureichend. Der Präsident des Ifo-Instituts erklärte: „Zu einer wirklichen Anpassung des Bundeshaushalts an die strukturellen Veränderungen, die auch bei einem konjunkturellen Wiederanstieg des Sozialprodukts bestehen bleiben, sind wesendich tiefer einschneidende Ausgabenkürzungen fur mehrere Jahre in der Höhe von 10 bis 20 Milliarden D-Mark erforderlich." Die Krise der Haushalte werde mindestens bis 1978 andauern. Dieter Biehl vom Institut fur Weltwirtschaft schätzte das Defizit des Staates für 1975 unter „optimistischen Annahmen" auf 55 Milliarden D-Mark. 4 0 0 Die ZEIT kommentierte die Finanzkrise: „Den Ärger haben Kanzler und Kabinett selbst redlich verdient. Zu lange haben Helmut Schmidt und seine Getreuen den Wählern einzureden versucht, die Finanzkrise des Staates sei nur eine Schreckensmär aus Sonthofen." 401 Apel sah jedoch für den Haushalt 1976 keine Einsparmöglichkeiten mehr. Er wollte aber Abstriche an den bisherigen Sparbeschlüssen nicht hinnehmen. 402 In einem Interview vom Februar 1976 erklärte Wirtschaftsminister Friderichs zur Staatsverschuldung: „Zwar konnten wir das strukturelle Defizit des Haushalts 1976 noch nicht beseitigen, aber von 1977 an, dürfte die Nettokreditaufnahme des Bundes auf ein vertretbares Maß zurückgehen." 403 Die Finanzkrise veränderte nicht nur die Haushalts- sondern auch die Stimmungslage im Land. Befragungen der Demoskopen von Allensbach waren 88 Prozent der Deutschen über die Schuldenlast beunruhigt. Für 74 Prozent der Bundesbürger standen die wirtschaftlichen Probleme überhaupt im Mittelpunkt ihres politischen Interesses. Die Bundesbürger wollten im Wesentlichen in den Bereichen sparen, die ihnen persönlich nicht wehtat. Von den Befragten wollten 67 Prozent bei der Entwicklungshilfe und 58 Prozent bei der Verteidigung sparen. 404 Friderichs erklärte zur Neuverschuldung im Fernsehen:

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Der Spiegel, Nr. 38/29, 15. September 1975, S. 19f. Die Zeit, Nr. 40/30, 26. September 1975, S. 17. Die Zeit, Nr. 44/30, 24. Oktober 1975, S. 17. Wirtschaftswoche, Nr. 38/29, 12. September 1975, S. 24. Die Zeit, Nr. 37/30, 5. September 1975, S. 17. Die Zeit, Nr. 38/30, 12. September 1975, S. 17. Wirtschaftswoche, Nr. 7/30, 13. Febraur 1976. S. 13ff. Wirtschaftwoche Nr. 34/30, 27. August 1976, S. 21 f.

106 „Ich glaube, wir haben letztlich alle über unsere Verhältnisse gelebt." Der SPIEGEL schrieb: „Konservatives Denken, lange zurückgedrängt, kehrt in aller Schlichtheit wieder. Die Vokabeln Reform, strahlendes Losungswort des Aufbruchs in die soziale Zukunft, ist aus der politischen Sprache verschwunden. In Mode ist Preußisches: Sparsamkeit, Solidarität, Zurückhaltung. Nur wer Verzicht predigt, kann auf Beispiel und öffentliches Vertrauen rechnen." 405 Indem sich Apel für die Realisierung der beabsichtigten Mehrwertsteuererhöhung stark machte, versuchte er sich das Image eines „von lauterer protestantischer Ethik geprägten Mannes" zu geben. 406 Teil dieser Strategie Hans Apels war seit dem Herbst 1975 die Mehrwertsteuer als notwendiges Opfer für die Staatsfinanzen darzustellen. Im Frühjahr 1976 bestand Lambsdorff darauf, die Mehrwertsteuer werde erst 1978 erhöht. Hans Apel war über diese Äußerung verärgert. Anfang April 1976 wurde die Frage im Kabinett diskutiert. Apel sagte: „Ich möchte auch mal wissen, wie wir vor 1978 die Löcher im Bundeshaushalt stopfen wollen." Nicht nur in der FDP auch in der SPD-Fraktion mehrten sich die Stimmen, die den Verzicht auf die Mehrwertsteuererhöhung forderten. Fraktionschef Wehner stellte sich hinter Apel. Auch der Finanzexperte der SPD Erich Meinecke verteidigte die Mehrwertsteuererhöhung: „Wir müssen das durchhalten, sonst heißt es nicht, wir haben die Interessen der Arbeitnehmer wahrgenommen, sondern die Leute meinen, wir hätten uns von der C D U erpressen lassen." 407 Seit 1975 wurden zweistellige Defizite fur den Bundeshaushalt zur Normalität. Im Jahr 1975 wurde zum ersten Mal die Ausnahmeregel des Artikels 115 G G angewendet. Nach diesem Artikel durfte die Neuverschuldung die Summe der veranschlagten Investitionen überschreiten. Das Haushaltsergebnis fiel dann doch wesendich besser aus als zuvor erwartet worden war. Die überschüssigen Kredite, die für das Jahr 1975 aufgenommen worden waren und nun doch nicht gebraucht wurden, wurden zur Finanzierung des Haushalts 1976 verwendet. Dies half, die Kreditaufnahme im Jahr 1976 auf 20 Milliarden D-Mark zu senken. Im Jahr 1977 stiegen die Schulden etwas stärker und im Jahr 1978 stieg wegen der Ausgabe für die Konjunkturprogramme die Neuverschuldung auf 27 Milliarden D-Mark. 4 0 8

Zusammenfassung: Haushalts- und Steuerpolitik 1974-76 Die Steuerreform war in der ersten Legislaturperiode der sozialliberalen Koalition zu einer Arena ideologischer Auseinandersetzungen geworden. Die SPD-Linke und die Kommission der SPD unter Erhard Eppler wollten das Steuerrecht benutzen, um Gesellschaftspolitik zu betreiben. Der Staatsanteil sollte schrittweise erhöht werden. Karl Schiller war

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Der Spiegel, Nr. 36/29, 1. September 1975, S. 21 ff. Die Zeit, Nr. 25/31, 11. Juni 1976, S. 19. Der Spiegel, Nr. 15/30, 5. April 1976, S. 21 ff. Monatsberichte Juli 1979, S. 15 ff.

107 der Erste, der sich offen dieser Konzeption entgegenstellte und damit zur Zielscheibe der Parteilinken wurde. Aber schon wegen der FDP war die Umsetzung vollkommen unmöglich. Nach der Wahl 1972 zeigte sich, dass auch die Wählerschaft der SPD nichts davon hielt, steigende Steuern für wachsende Ausgaben aufzubringen. Die Inflation brachte immer mehr Arbeitnehmer in die Progressionszone. Die Progressionszone und die Sozialbeiträge sorgten dafür, dass vor allem die Arbeitnehmer die Kosten der wachsenden Staatsausgaben zahlten. Deshalb übten die Gewerkschaften Druck aus, um sie zu endasten. Die hohe Belastung der Arbeitnehmer war für die SPD eine brisante Frage und unter diesen Bedingungen, sahen sich auch linke Sozialdemokraten mussten ihre Vorstellungen revidieren. Die Umsetzung der Steuerreform konnte sich ohnehin nicht allein an sozialdemokratischen Vorstellungen und den Interessen der Arbeitnehmer orientieren. Da die FDP der SPD bei den ersten Stufen der Steuerreform, bei der Grund-, Vermögens- und Erbschaftssteuer entgegengekommen war, musste die SPD ihr bei der Körperschaftssteuer entgegenkommen. Als die Steuerreform 1975 in Kraft trat, hielt sie nicht, was sich die politischen Protagonisten von ihr versprachen. Sie führte in der Bevölkerung zu Irritationen und die Mehrheit glaubte nicht, dass sie von der Reform profitieren würden. Fehler bei der Ausarbeitung der Reform trugen dazu bei, dass Unruhe und Misstrauen überwogen. Bald zeigte sich, dass die Reform nicht durch ein vernünftiges Gegenfinanzierungskonzept abgesichert war. Die Regierung befand sich in der Zwickmühle, eine Endastung der Einkommen war unvermeidlich, dem gegenüber standen aber die zusätzlichen Ausgaben, die durch die zusätzlichen Steuereinnahmen gedeckt wurden. Wenn aber die Steuerlast reduziert wurde, mussten auch die Ausgaben entsprechend reduziert werden. Hier war jedoch eine politisch schier unüberwindliche Hürde entstanden, denn es war leichter gewesen, zusätzliche Ausgaben zu beschließen als sie nun wieder zurückzunehmen. In dieser Situation erarbeitete die SPD ein Sparkonzept, dass vor allem auf die Klientel von Union und FDP abzielte. Gespart werden sollte bei Beamten und Landwirten. Die FDP-Führung reagierte auf die Befindlichkeiten der SPD politisch sehr klug, da sie sich hier kompromissbereit zeigte und bereit war, Vorschläge der SPD in das Sparkonzept aufzunehmen. Die Arbeitnehmer sollten durch steigende Sozialbeiträge und die Mehrwertsteuererhöhung stärker belastet werden, um die Kosten für die steigende Arbeitslosigkeit zu bezahlen. Die vereinbarten Einsparungen reichten aber doch nicht aus, die Finanzierungslücke im Haushalt zu schließen. Diese Lücke in der Finanzierung des Bundeshaushaltes war zweistellig und konnte in den nächsten Jahrzehnten nicht mehr geschlossen werden. Das hatte vor allem auch mit der wachsenden Zinslast zu tun, die sich innerhalb weniger Jahre auftürmte und die Staatsverschuldung zu einem Selbsdäufer machte. Das Auftürmen dieser Schuldenlast war nicht nur die Folge der hohen Arbeitslosigkeit und der nicht voll gegenfinanzierten Steuerendastung durch die Steuerreform, sondern auch Folge der Konjunkturpolitik der Bundesregierung.

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Konjunkturpolitik 1 9 7 4 - 1 9 7 6 Im Herbst 1974 hatte die internationale Krise die deutsche Wirtschaft und den Arbeitsmarkt stark in Mideidenschaft gezogen. Wie in den Kapiteln über die Geld- und die Lohnpolitik beschrieben worden ist, führte das sich verschlechternde globale Umfeld zu einem Einbruch beim Export. Dieser Einbruch traf auf eine durch unerwartet hohe Reallohnerhöhungen und eine jahrelange Investitionsflaute geschwächte Wirtschaft. Die Bundesregierung war deshalb an einer moderaten Tarifpolitik interessiert. Die Zurückhaltung der Gewerkschaften in der nächsten Lohnrunde war fur die Regierung politisch nicht zum Nulltarif zu haben. Als Gegenleistung forderten sie den Einsatz der 10 Milliarden D-Mark umfassenden Konjunkturrücklage, die bei der Bundesbank hinterlegt war. 409 Vetter übte Druck auf Schmidt aus, indem er diesem erklärte, wer jetzt nicht die Schublade zusätzlicher Staatsausgaben öffne, „spielt mit der Existenz von zigtausend Arbeitnehmern und ihrer Familien." 410 Über die notwendigen Konjunkturmaßnahmen gingen die Meinungen in der Regierung stark auseinander. Die FDP wollte die privaten, die SPD hingegen die öffentlichen Investitionen fördern. Am 21. November 1974 trafen sich Schmidt mit seinen Ministern Genscher, Apel, Friderichs, Arendt und Matthöfer und Bundesbankpräsident Klasen im Kanzleramt, um über die Konjunkturmaßnahmen zu diskutieren. Friderichs stützte sich auf das Sachverständigengutachten. Die Sachverständigen hielten den Anstieg der Unternehmereinkommen um 11 Prozent fur notwendig, um die Unternehmer zu den notwendigen Investitionen zu bewegen. Deshalb wollte Friderichs die Konjunkturrücklage fur die Verbesserung der Rahmenbedingungen der Unternehmensinvestitionen nutzen. Friderichs wollte eine zeitlich begrenzte Prämie für jede von den Unternehmen getätigte Investition und Lohnzuschüsse für die Einstellung von Arbeitslosen und den Verzicht auf Entlassungen. Lambsdorff formulierte die Bedingung fur die Einigung mit der SPD: „Wir haben jede Belastung der Wirtschaft zunächst zu unterlassen." 411 Mit diesen Forderungen stießen die Liberalen auf den Widerstand von Apel und Schmidt, die unter dem Druck der Gewerkschaften und der Verschlechterung der Lage auf dem Arbeitsmarkt von der gemeinsamen Linie zusätzliche Ausgaben abzulehnen auf den Kurs aktiver Konjunkturpolitik umgeschwenkt waren. In der SPD ging die Angst um, Helmut Schmidt werde fur die Offendichkeit zum .Arbeitslosenkanzler." Friderichs war jedoch vorerst nicht bereit, mehr als 100 Millionen für zusätzliche öffendiche Investitionen zur Verfügung zu stellen. Apel erklärte auf einer folgenden Koalitionsrunde: „Wenn das nicht zu Stande kommt, dann stimme ich dagegen. Wir machen hier nicht nur Unternehmerpolitik." Schmidt beauftragte Apel daraufhin, einen Katalog möglicher öffentlicher Maßnahmen zu erstellen. 412

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Wirtschaftswoche, Nr. 48/28, 22. November 1974, S. 24. Der Spiegel, Nr. 48/28, 25. November 1974, S. 25 f. Der Spiegel, Nr. 48/28, 25. November 1974, S. 25 f. Der Spiegel, Nr. 49/28, 2. Dezember 1974, S. 32 ff.

109 Apel erstellte eine Liste möglicher zusätzlicher Ausgaben im Gesamtumfang von vier Milliarden D-Mark. Um dieses Ausgabenprogramm kam es in den ersten zwei Dezemberwochen zu einer heftigen Auseinandersetzung zwischen Friderichs und der FDP auf der einen und Schmidt, Apel und der SPD auf der anderen Seite. Friderichs war es gelungen, bereits in der Sitzung am 1. Dezember 1974 eine Prämie von 7,5 Prozent für die Investitionen von Unternehmen durchzusetzen, die aus der Konjunkturrücklage finanziert werden sollte. Friderichs war jedoch nicht bereit im Gegenzug einer Ausweitung der öffendichen Ausgaben zuzustimmen. 413 Schließlich lagen Apel und Friederichs mit ihren Vorschlägen noch 900 Millionen D-Mark auseinander. Apel wollte zwei Milliarden für öffendiche Investitionen ausgeben, Friderichs aber nur 1,1 Milliarden D-Mark zugestehen. Die Auseinandersetzung in den kommenden Beratungen wurde so hart gefuhrt, dass ein Minister verärgert sagte: „Wie Friderichs sich benommen hat, hat sich Schiller in seinen schlimmsten Zeiten nicht aufgeführt." Apel argumentierte gegen Friderichs: „Ich kann nicht begreifen, daß Sie nur die privaten, nicht aber die öffendichen Investitionen fördern wollen." Friderichs kritisierte wiederum die Einzelmaßnahmen, die Apel in seinem Ausgabenprogramm aufgeführt hatte. Die Lage war so festgefahren, dass Genscher aus dem Ausland telefonisch bei Mischnick und Lambsdorff intervenieren musste, um Friderichs zum Entgegenkommen zu bewegen. Die Koalition einigte sich schließlich auf zusätzliche 1,73 Milliarden D-Mark für zusätzliche Investitionen. 414 Das Kabinett verabschiedete am 12. Dezember 1974 drei Gesetze zur Stützung der Konjunktur, die Bundestag und der Bundesrat im Eilverfahren am 19. Dezember einstimmig verabschiedeten. Das Programm umfasste insgesamt 10 Milliarden D-Mark. Die Unionsparteien kritisierten, dass das Programm in dieser Geschwindigkeit durch das Parlament gejagt werde, gab aber angesichts der sich verschärfenden wirtschaftlichen Lage dennoch ihre Zustimmung. 415 Das Programm besaß ein Gesamtvolumen von 10 Milliarden D-Mark. Es umfasste das „Gesetz zur Förderung von Investitionen und Beschäftigung", die Änderung des Investitionszulagegesetzes und das Investitionsstützungsprogramm. Das erstere war die Umsetzung von Friderichs 7,5-prozentiger Investitionsprämie. Es war beschränkt auf getätigte Investitionen in dem Zeitraum vom 1. Dezember 1974 bis zum 30. Juni 1975. Zur Finanzierung durfte der stillgelegte Stabilitätszuschlag von 3,5 Milliarden D-Mark und die stillgelegte Staatsanleihe von 2,5 Milliarden D-Mark aufgelöst werden. Durch die zweite Maßnahme wurde die Prämie auch auf Investitionen für Energiesparmaßnahmen ausgedehnt. Das Investitionsstützungsprogramm war die Umsetzung des von Apels geforderten öffendichen Investitionsprogramms. Von den 1,73 Milliarden D-Mark sollten 1,13 Milliarden D-Mark direkt in Investitionen der öffendichen Hand fließen und 600 Millionen in arbeitsmarktpolitische Maßnahmen. Zu den Investitionsvorhaben gehörte die Verbesserung der Energieversorgung für 310 Millionen D-Mark, 280 Millionen D-Mark gingen in den Hochbau und 115 Millionen D-Mark in den Fahrzeugbau der Bundeswehr, 170 Millionen D-Mark in den Tiefbau der Bundesbahn und 200 Millionen 413 414 415

Wirtschaftswoche, Nr. 50/28, 6. Dezember 1974, S. 22 f. Der Spiegel, Nr. 51/28, 16. Dezember 1974, S. 19ff. Archiv der Gegenwart, S. 19144 ff.

110 D-Mark sollten fur den Fernstraßenbau aufgewendet werden, daneben gab es noch eine reihe zweistelliger Positionen fur Bundesgrenzschutz und Bundesbahn. 416 Nach der Verabschiedung des Gesetzes im Schnellverfahren wurde die Wirksamkeit der Investitionsprämie durch Nachlässigkeit konterkariert. Sowohl Apel als auch Friderichs fuhren unmittelbar nach der Verabschiedung in den Festurlaub nach Hamburg und Tirol. Die Durchfuhrungsbestimmungen fur das „Gesetz zur Förderung der Investitionen und Beschäftigung" waren zum Zeitpunkt ihrer Abreise noch offen geblieben. Durch diesen Fehler blieben die Unternehmen bis Mitte Januar über die Modalitäten der neuen Regelung im Unklaren. Der Wirkungskreis der Regelung wurde außerdem durch den Umstand eingeschränkt, dass viele Unternehmen dazu übergegangen waren ihre Maschinen zu mieten, statt zu kaufen. 417 Die Resultate des Konjunkturprogramms, wie sie sich zur Mitte des Jahres 1975 darstellten, waren ernüchternd. Die ZEIT konstatierte im Juli 1975: „Das Jahr 1975 beweist: Die Konjunktur ist doch nicht machbar." (...) „Monat fur Monat hat sich seit dem Spätsommer 1974 die wirtschaftliche Situation in der Bundesrepublik verschlechtert. Und alle Versuche der Regierung wieder einen Aufschwung in Gang zu bringen oder wenigstens den Abstieg zu bremsen, sind bislang gescheitert. Das Programm für öffendiche Investitionen und Lohnzuschüsse, die Steuerreform, die den Konsum anregen, die Investitionsprämie, die Unternehmen zum Bau von Fabriken und Kauf von Maschinen ermuntern sollte, das Super-Deficit-Spending im Haushalt 1975 - all die Milliarden und Abermilliarden D-Mark, die in die Wirtschaft gepumpt wurden, blieben ohne Wirkung" 4 1 8 Zu dieser Zeit erarbeitete Apel im Auftrag von Helmut Schmidt ein weiteres Konjunkturprogramm. Die Gewerkschaften übten Druck auf die Regierung aus, die Konjunktur über die bisherigen Maßnahmen hinaus durch zusätzliche Mittel anzukurbeln. Mitte Juli 1975 hatte Oskar Vetter einen Brief an Helmut Schmidt geschrieben. Dort erläuterte Vetter dem Bundeskanzler: „Unsere Besorgnis zwingt uns, die Bundesregierung nachdrücklich darum zu bitten, ein neues Konjunkturprogramm unter Berücksichtigung unserer Vorschläge zu erarbeiten und kurzfristig zu verkünden." Die Vorschläge, die Vetter vorlegte, betrafen fast ausschließlich die Förderung der Bauwirtschaft. 419 Die Bundesregierung nahm diese Vorschläge auf. Das Wirtschafte- und Bauministerium erarbeiteten das Programm. Es sollte vier bis sechs Milliarden D-Mark umfassen. Zwei Milliarden davon sollten fur den Wohnungsbau verwendet werden. 420 In Brüssel legte sich Schmidt auf einen Förderbetrag von fünf Milliarden D-Mark fest, diese Aussage wurde von Friderichs in einem Interview mit dem SPIEGEL bestätigt. 421 Der wirtschaftspolitische Sprecher der FDP Otto Graf Lambsdorff spielte die Bedeutung 416 417 418 419

420 421

Ebd. Wirtschaftswoche, Nr. 5/29, 24. Januar 1975, S. 2 0 f. Die Zeit, Nr. 29/30, 11. Juli 1975, S. 1. Wirtschaftswoche, Nr. 32/29, 1. August 1975, S. 19 f. Diese Maßnahmen würden auch dem gewerkschaftseigenen Konzern Neue Heimat zu Gute kommen, was bei der Erarbeitung der Pläne eine Rolle gespielt haben dürfte Wirtschaftswoche, Nr. 29/29, 11. Juli 1975, S. 23 f. Der Spiegel, Nr. 33/29, 11. August 1975, S. 19fF.

111 des Konjunkturprogramms herunter. Lambsdorff warnte vor „extremen Erwartungen und Befürchtungen." Er sagte bis zum Frühjahr eine Verbesserung der Auftragslage in der Bauwirtschaft voraus. Lambsdorff schränkte aber ein, dies könne die allgemeinen konjunkturellen Probleme nicht lösen. 422 Dies bestätigte sich bis zum Ende des Jahres. Die Mehrausgaben im Bereich des Bausektors kompensierten lediglich die Einsparungen der öffendichen Hand in anderen Bereichen, die aufgrund der wachsenden Ausweitung der Schuldenaufnahme nötig wurde. Die Bundesbank stellte im Februar 1976 fest, die öffendichen Hände hätten „durch eine Reihe gezielter Maßnahmen, vor allem durch das Konjunkturprogramm vom August 1975, ein nicht unbeträchtliches Volumen an zusätzlichen Aufträgen, vor allem an die Bauwirtschaft, ausgelöst und damit in erheblichen Maße zu der geschilderten Nachfragebelebung in diesem Wirtschaftsbereich beigetragen. Gleichzeitig sahen sich jedoch die staadichen Stellen unter dem Zwang der angespannten Haushaltslage veranlaßt, Ausgaben einzusparen." Daher ließen die „anregenden Wirkungen," die von den staadichen Defiziten auf die Binnenkonjunktur ausgegangen seien in den letzten Monaten spürbar nach. 423 Friderichs zog in einem Aufsatz fur das MANAGER MAGAZIN im Dezember 1975 Bilanz: Es sei eine „ernüchternde Tatsache, daß es selbst bei angemessener Instrumentierung des konjunkturpolitischen Waffenarsenals — durch das Stabilitäts- und Wachstumsgesetz — und bei gutem Willen der Bundesregierung engere Grenzen der Konjunktursteuerung gibt, als zunächst angenommen werden konnte. Der übertriebene Glaube an die Machbarkeit der Politik ist jedenfalls zerronnen." Der Wirtschaftsminister wollte jedoch nicht den Eindruck erwecken, „daß die Globalsteuerung versagt hat und als Konzept obsolet geworden ist." Bis zum Herbst 1975 sei es durch den Einsatz expansiver Mittel gelungen, die Rezession zu stoppen. Friderichs räumte ein, dass das Konjunkturprogramm von 1974 kein Erfolg gewesen war. Das neue Expansionsprogramm vom 27. August 1975 werde den Aufschwung jedoch festigen und in den kommenden Monaten die Arbeitslosigkeit im Baubereich begrenzen. Die Investitionszulage und die Steuerreform hätten „allein den zur Zeit ihrer Inkraftsetzung insgesamt angestrebten Konjunkturverlauf nicht in der erhofften Dynamik herbeigeführt." Sie seien dennoch richtige „prozeßpolitische Instrumente", die langfristig Wirkung entfalten sollten. Friderichs meinte, der „unfundierte Glaube an eine weitgehende Machbarkeit" habe der Globalsteuerung das „Stigma des Mißerfolgs" aufgeprägt. 424 Der D G B hatte die Wiederherstellung der Vollbeschäftigung an die erste Stelle seiner Wahlprüfsteine zur Bundestagswahl 1976 gestellt und forderte noch mehr öffendiche Investitionen zur Beseitigung der Arbeitslosigkeit. Vetter forderte, um den Einsatz der Investitionsmittel in Zukunft zu optimieren, die Verwendung der Investitionen und ihre Wirkung transparenter zu machen: „Jede Mark, die ausgegeben wird, muß kontrolliert werden, ob sie, wie die Regierung beabsichtigt, zu neuen Arbeitsplätzen geführt hat." 4 2 5

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Die Zeit, Nr. 34/30, 15. August 1975, S. 16. Monatsberichte, Februar 1976, S. 6. Manager Magazin, Dezember 1975, S. 16ff. Der Spiegel, Nr. 38/30, 13. September 1976, S. lOOf.

112 Der Sachverständigenrat bilanzierte im Herbst 1976 die Ergebnisse der Konjunkturpolitik: „Obwohl in diesen Konjunkturprogrammen zusätzliche Investitionsausgaben von mehr als 6 Milliarden D-Mark vorgesehen waren, sind die öffendichen Investitionen der Gebietskörperschaften 1975 kaum gestiegen, 1976 sogar zurückgegangen." Der Sachverständigenrat räumte lediglich ein, dass die Investitionsausgaben immerhin auf dem Niveau von 1974 gehalten werden konnten. 4 2 6 Die erste Phase des großen Versuchs mit der Konjunkturpolitik die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen, hatte also zwei große Wellen umfasst. Die erste Phase folgte den Wünschen der F D P und des Wirtschaftsministers Friderichs, vor allem private Investitionen zu fördern; die zweite Phase den Wünschen der Gewerkschaften, die mit Nachdruck staadiche Investitionen in die Bauwirtschaft gefordert hatten. Die Ergebnisse dieser zwei unterschiedlichen Ansätze zur Belebung des Wachstums und des Arbeitsmarktes waren mäßig. Effekte, die an einer Stelle durch die staatlichen Aktivitäten erreicht wurden, wurden an anderer Stelle durch kontrastives Verhalten wieder aufgehoben. Nach der Wiederwahl von Schmidt unternahm seine Regierung einen neuen großen Anlauf.

Konjunkturpolitik 1 9 7 7 - 1 9 8 0 Nach der Bundestagswahl 1976 begann die zweite große Phase der Konjunkturpolitik. Helmut Schmidt hatte in seiner Regierungserklärung vom Dezember 1976 keine Angaben über den Umfang des geplanten Konjunkturprogramms gemacht. Ein viertel Jahre später, am 23. März 1977, stellte Finanzminister Apel vor der Bundespressekonferenz ein mehrjähriges, öffentliches Investitionsprogramm zur Wachstums- und umweltpolitischen Vorsorge vor. Das Programm hatte das gewaltige Volumen von 16 Milliarden D-Mark. Es sah vor, die Investitionsausgaben der öffendichen Hand mit Krediten zu finanzieren. 3,7 Milliarden D-Mark sollten zur Verbesserung der Verkehrssysteme verwendet werden. 1,3 Milliarden D-Mark sollten einer umweltfreundlichen Energieversorgung zu Gute kommen. Vier Milliarden D-Mark sollten fiir die „wasserwirtschaftliche Zukunftsvorsorge" und weitere vier Milliarden D-Mark für die Verbesserung der Wohnumwelt und 600 Millionen D-Mark für die Berufsausbildung ausgegeben werden. Noch 1977 sollten 3,5 Milliarden D-Mark direkt in Aufträge fließen, die in den Hoch- und Tiefbau fließen sollten. So sollte durch die staatlich Programme angeregt, Beschäftigung vor allem in der Bauwirtschaft geschaffen werden. 4 2 7 Lahnstein hoffte auf einen Anstoßeffekt der Investitionen, die „passabel über das Bundesgebiet verteilt" werden sollten, in der Größenordnung von 2 4 - 2 6 Milliarden D-Mark. 4 2 8 Dieses Programm ging der den Gewerkschaften nahe stehenden Linken noch immer nicht weit genug. 75 links orientierte Professoren, allen voran der Ökonom Rudolf Hickel, verfassten zum Frühjahrsgutachten des Sachverständigenrates ein Gegengutachten, in dem

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Jahresgutachten 1976/77, S. 112. Archiv der Gegenwart, S. 20921. Wirtschaftswoche, Nr. 13/31, 18. März 1977, S. 16 f.

113 sie ein Sofortprogramm zur Schaffung von Arbeitplätzen, das ein Volumen von 20 Milliarden D-Mark haben sollte, forderten, wie schon der Gewerkschaftsbund in seinem Brief vom Januar desselben Jahres. Daneben wollten sie die Arbeitslosigkeit durch die Verkürzung der Arbeitszeit, die Verlängerung des Urlaubs, die Herabsetzung der Pensionsgrenze auf sechzig Jahre und die Einfuhrung des allgemeinen 10. Schuljahres reduzieren. Würde auch dies die Vollbeschäftigung nicht wieder herstellen, sollten Schlüsselbereiche der Wirtschaft in „gesellschaftliches Eigentum" überfuhrt werden. 429 Auch DGB-Chef Vetter hielt das 16-Milliarden-Programm fur „zu mager" bemessen.430 Im Zuge der Umsetzung der Konjunkturprogramme breitete sich jedoch Ernüchterung aus. Am 23. März 1977 war das Programm für Zukunftsinvestitionen verabschiedet worden, aber Mitte Juni waren etwa die Kommunen im Saarland und in Rheinland-Pfalz nach Angaben der kommunalen Spitzenverbände „noch nicht offiziell über die beabsichtigte Durchführung des Programms" unterrichtet. Die ,Ablaufgeschwindigkeit" der zur Verfügung gestellten Finanzen blieb weit hinter den Erwartungen zurück. 431 Von einer direkten Wirkung des Programms auf die aktuelle Konjunkturlage konnte keine Rede sein. Von dem 16-Mrd.DM-Programm flössen 1977 nur eine Milliarde D-Mark in die Wirtschaft. 432 Denn die Länder und Gemeinden riefen die vorgesehenen Investitionsmittel nur zögerlich ab. Ehrenbergs Berater Werner Tegtmeyer kommentierte dieses Verhalten von Ländern und Gemeinden schon im Sommer wie folgt: „Was da läuft, ist eine mittlere Katastrophe."433 Die Regierung hatte die Hürden auf dem Weg zur Umsetzung des Konjunkturprogrammes unterschätzt, obwohl sie schon frühzeitig gewarnt worden war. Bereits im Januar 1977 hatte der Gemeindefinanzbericht auf die bevorstehenden Schwierigkeiten bei der Umsetzung der vom Bund vorgegebenen Konjunkturpolitik hingewiesen. Die staatlichen Zuschüsse wären für die Gemeinden ein „Danaergeschenk", da die Kommunen mit den Folgekosten der einmal angestoßenen Investition dauerhaft belastet blieben. Von der Planung bis zur Ausführung der Konjunkturprogramme sei ein so langer Instanzenweg zurückzulegen, dass eine „geballte Wirkung" nicht zu erwarten sei. Die von der Bundesregierung vorgegebenen Programme würden die Gefahr bergen, „daß Hilfen zu Maßnahmen angeboten" würden, die im „Rahmen der Investitions- und Stadtentwicklung gerade nicht höchste Priorität" hätten. 434 Der SPIEGEL ging davon aus, dass aufgrund des langen Antragsweges die ersten Zahlungen erst am Ende des nächsten Jahres erfolgen würden. Wegen der großen Umsetzungsverzögerung, die die komplizierten Verwaltungsabläufe im föderalen Bundesstaat verursachten, glaubte das Nachrichtenmagazin, sei Fiskalpolitik „in dieser Republik nur sehr begrenzt einsatzfähig." Antizyklische Konjunkturpolitik, die punktgenau auf die konjunkturelle Notwendigkeit reagierte und den Konjunkturverlauf nach oben oder un429 430 431 432 433 434

Wirtschaftswoche, Nr. 20/31, 6. Mai 1977, S. 26 f. Der Spiegel, Nr. 29/31, 11. Juli 1977, S. 21 f. Manager Magazin, September 1977, S. 27. Wirtschaftswoche, Nr. 40/31, 23. September, 1977, S. I4ff. Der Spiegel, Nr. 34/31,15. August 1977, S. 19ff. Der Städtetag. Zeitschrift fur kommunale Politik und Praxis, Januar 1977, S. 1 —6.

114 ten beeinflusst, seien unter diesen Bedingungen nicht möglich. Das zeige die Erfährung der letzten Jahre. So waren von den 14 Milliarden D-Mark, die bis 1975 für die verschiedenen Konjunkturprogramme bereitgestellt wurden, bis zu Jahresmitte 1977 nur acht Milliarden D-Mark abgerufen worden. Die Zurückhaltung der Gemeinden war fur die Konjunkturlenker ein besonderes Ärgernis, weil in der Regel zwei Drittel der öffentlichen Investitionen in den Gemeinden vorgenommen wurden. Gleichzeitig mit den Bemühungen des Bundes die Wirtschaft anzukurbeln, versuchten die Länder und Gemeinden ihre Haushalte zu sanieren und bildeten in diesem Zuge sogar Reserven. Wahrend der Bund 22 Milliarden D-Mark neue Schulden aufnahm, nahmen die Länder 10 Milliarden und die Gemeinden ganze 3 Milliarden D-Mark auf. Hamburgs Wirtschaftssenator Wilhelm Nölling kritisierte auf einer Sitzung des Konjunkturplanungsrates das Verhalten der Gemeinden: „Es gibt viele tausend Brünings im Lande." Der Umstand, dass die Gemeinden sich in der Regel prozyklisch verhielten, unterminierte das gesamte Gebäude an Vorstellungen von rationaler Konjunkturplanung. Nölling zeigte einen gewissen Galgenhumor, als er äußerte: „Man sollte das Geld in Zukunft prozyklisch anweisen, damit es antizyklisch wirkt." Finanzstaatssekretär Rainer Offergeld räumte ein: „Wir können in unseren Konjunkturprogrammen nur das ausgleichen, was Länder und Kommunen weniger ausgeben." 435 In der Bundesregierung wurde befürchtet, das zur Verfügung gestellte Geld könnte auf dieser Ebene ganz versickern. So appellierte Wirtschaftsminister Friderichs an die Gemeinden, die Mittel nicht zur Umfinanzierung zu verwenden, sondern die „Zusätzlichkeit" sicher zu stellen. Der Finanzplanungsrat machte deshalb den Vorschlag, die zusätzlich angestoßenen Investitionen der Kommunen in den Gemeindehaushalten mit einem Sternchen zu markieren. 436 Der Präsident des Deutschen Städtetages Manfred Rommel erklärte am 15. September 1977 auf der Mitgliedversammlung des Hessischen Städtetages in Offenbach, die Kommunen seien bereit, ihren Beitrag zur Stützung der Konjunktur zu leisten. Er kritisierte aber, dass die Konjunkturpolitik am „grünen Tisch" gemacht werde ohne „Rücksicht auf die kommunale Praxis." Auf der letzten Sitzung des Finanzplanungsrates am 1. September 1977 hätte der Bund eine Projektion vorgelegt, die die Kommunen dazu aufforderte, ihre Ausgaben fur das Jahr 1978 um neun Prozent zu erhöhen. Hinter diesen Zahlen stünde nichts anderes als das „Wunschdenken der Globalplaner." Vor nicht all zu ferner Zeit seien die Kommunen von Bund und Ländern noch dazu aufgefordert worden „drastisch" zu sparen. Nun könnten die Gemeinden nicht von „heute auf morgen" ihre Finanzplanung umwerfen und ihre abgebremste Investitionspolitik wieder ankurbeln. Zur Absicherung der kommunalen Finanzierungsmöglichkeiten bräuchten die Gemeinden mehrere Jahre. Rommel kritisierte „papierene Empfehlungen" staadicher Instanzen. Die staatliche Konjunkturpolitik müsse sich abgewöhnen, „kurzatmig von zick nach zack und von zack nach zick zu eilen." Rommel erinnerte daran, dass die Kommunen fur ihre Investitionen, baureife und rechtlich abgesicherte Planungen benötigten., Angesichts der Emsigkeit der Bürgerinitiativen und der vielen Rechtsmittel und Mitspracherechte einzelner Bürger sei der Planungsablauf äußerst arbeitsaufwendig." Verzögert würden die 435 436

Der Spiegel, Nr. 41/31, 3. Oktober 1977, S. 102 ff. Manager Magazin, September 1977, S. 27.

115 kommunalen Investitionen auch durch die bürokratischen Hürden wie die Mitsprache verschiedener Instanzen, komplizierte Vorschriften und langatmige Verfahrensabläufe. Im 16-Milliarden-Programm der Bundesregierung sah Rommel ein Beispiel dafür, wie man mit den Kommunen nicht umspringen dürfe. Die Kommunen seien monatelang über die Förderung im Unklaren geblieben. Rommel legte zwar ein Lippenbekenntnis zur antizyklischen Konjunkturpolitik ab, sah aber die Voraussetzung darin, dass „die finanziellen Grundlagen der Kommunen in einem mehrjährigen Zeitraum gesichert bleiben." 437 Neben den zögerlichen Kommunen, die um ihre Finanzen fürchteten, wurde in einem anderen wichtigen Bereich das Investitionsprogramm der Bundesregierung behindert: in der Bauwirtschaft. Der Vorsitzende der Industriegewerkschaft Bau, Steine, Erden Rudolf Sperber wies im September 1977 in einem Artikel über die praktische Umsetzung des Investitionsprogramms in der Bauwirtschaft darauf hin, dass ein normales Baugesuch in einer Großstadt der Bundesrepublik in der Regel 20 verschiedene Institutionen und Dienststellen innerhalb der Bauaufsichtsbehörde durchlaufen musste, bis ein Bauvorhaben umgesetzt werden konnte. Dieser Prozess konnte länger als ein Jahr dauern. Sperber bezog sich auf eine Untersuchung der Hansestadt Lübeck, dass die im Genehmigungsverfahren von der Bauaufsicht zu berücksichtigenden Bundes- und Landesgesetze von 48 Gesetzen und Verordnungen im Jahr 1966 auf 225 im Jahr 1974 angestiegen waren. Als Praktiker hielt Sperber die Vorgaben für den Einsatz der öffendichen Investitionen im Baubereich fur völlig untauglich. Die Terminvorgaben seien unrealistisch und es fehlten Anschlussaufträge und damit die Planungssicherheit für die Unternehmen. Sperber zog daraus die Schlussfolgerung: „Die Erfahrungen der Vergangenheit haben sich erneut bestätigt: Die staadiche Bürokratie ist zu wenig flexibel, um die finanziellen Mittel des Staates in den Wirtschaftskreislauf zum richtigen Zeitpunkt hineinzugeben." 438 Aber nicht nur das Wie, sondern auch die Frage, in welche Bereiche investiert werden sollte, wurde immer mehr zum Problem. In einem Interview mit dem SPIEGEL erklärte der bayerische Finanzminister Max Streibl zu den Konjunkturprogrammen: „Die Programme schlagen nicht durch, weil wir in weiten Bereichen einen gewissen Sättigungseffekt haben." In den letzten Jahren seien im Rahmen der Konjunkturprogramme 30 Milliarden D-Mark bereitgestellt worden. Streibl stellte zwar klar, dass Bayern das vorgesehene Ausgabenvolumen des 16-Milliarden-Programms erfülle, verteidigte aber auch das Verhalten der Gemeinden, die die Investitionsmittel des Bundes nur zurückhaltend anfragten. Die Folgekosten der Investitionen seien für die Gemeinden enorm und diese heute schon überschuldet. Streibl machte auf einen sehr wichtigen Umstand aufmerksam. Gerade die Erhöhung der Zinslasten für die öffendichen Haushalte durch die auch von den Konjunkturprogrammen verursachten Defizite senkten die Investitionsneigung der Unternehmen. Denn die hohe Verschuldung des Staates mache die Anlage in festverzinsliche Wertpapiere profitabler und risikoloser als unternehmerische Investitionen. Streibl nannte als Beispiele die Unternehmen Siemens und Babcock. Siemens habe im 437 438

Der Städtetag, September 1977, S. 555. Manager Magazin, September 1977, S 24: Sperber erklärte weiter: „Diese trüben Erfahrungen haben mich veranlaßt, den Forderungen auf Lenkung der privaten Investitionen durch den Staat entgegenzutreten."

116 letzten Geschäftsjahr von 600 Millionen D-Mark Jahresüberschuss 530 aus den Erträgen festverzinslicher Wertpapiere gewonnen. Babcock habe fur einen dreimal höheren Betrag Wertpapiere gekauft als investiert.439 Diese Praxis bestätigte auch der IG-Metall-Vorsitzende Loderer im Februar 1978. Er kritisierte, dass in den letzten Jahren die Unternehmen ihre Gewinne auf Sparkonten und Depots gebracht hatten, statt sie zu investieren. Loderer verwies darauf, dass 1976 die Anlagen in Wertpapieren um 169 Prozent höher lagen als in den vergleichbaren fünf Jahren zuvor. 440 Dass es immer schwieriger wurde, sinnvolle Investitionsmöglichkeiten fur die staadichen Investitionshilfen zu finden, war auch Finanzminister Apel klar. Er stellte sich im Sommer 1977 gegen die Forderung nach weiteren Konjunkturprogrammen mit dem Argument, es gäbe nicht genug Anlagemöglichkeiten dafür. 441 Die ZEIT stellte zum Brachliegen der Investitionsmittel fest: „Der Bedarf an Umgehungsstraßen, Krankenhäusern, Schulen, Kindergärten, Frei- und Hallenbädern ist eben nicht beliebig zu erhöhen." 442 Schmidt setzte sich jedoch auch gegen den Einspruch von Finanzminister Apel in der Bundesregierung weitere Konjunkturprogramme durch. Schmidt begründete das damit, dass es immer noch an Nachfrage fehle: „Wir müssen versuchen die Gesamtnachfrage zu erhöhen." Am 14. September 1977 wurde so ein weiteres Konjunkturprogramm beschlossen. Dieses beinhaltete einen höhere Grundfreibetrag und höheren Weihnachtsfreibetrag. Die degressive Abschreibung für Unternehmer sollte ausgeweitet werden, die Gemeindehaushalte aufgestockt und die Investitionszulage für Forschung und Entwicklung erhöhte. 443 Dies war das siebte Konjunkturprogramm in nur drei Jahren. Die sechs vorhergehenden Konjunkturprogramme hatten 35 Milliarden D-Mark umfasst. Das neue Programm umfasste zusätzlich 7,5 Milliarden D-Mark. Da die Endastung des einzelnen Arbeitnehmers zu gering war, um Wirksam zu werden, erwarteten die Ökonomen positive Impulse nur von den verbesserten Abschreibungsmöglichkeiten für Unternehmen und Bauherren. 444 In den Verhandlungen mit dem Bundesrat wurde das Programm noch wesendich verändert, nur die Erhöhung des Weihnachtsfreibetrages und die degressive Abschreibung waren unumstritten. 44 ' Während die Diskussion über Konjunkturprogramme nicht verstummen wollte und nach Möglichkeiten für die Verwendung der Mittel gesucht wurde, lagen bereits beschlossene und auch tatsächlich umsetzbare private und öffendiche Investitionen in zweistelliger Milliardenhöhe auf Eis. Aus Gründen, die Rommel in seiner Rede angesprochen hatte. Nach einer Studie der Bundesregierung konnten Anfang 1978 Investitionsvorhaben von über 26 Milliarden D-Mark wegen Verfahrens, Auflagen und Genehmigungsfragen nicht realisiert werden. Fünf Milliarden aus Mitteln des Verkehrsministeriums, das für Fernstraßen, Stra439 440 441 442 443 444 445

Der Spiegel, Nr. 41/31, 3. Oktober 1977, S. 108 ff. Die Zeit, Nr. 9/33, 24. Februar 1978, S. 17. Der Spiegel, Nr. 35/31, 22. August 1977, S. 21 ff. Die Zeit, Nr. 35/32, 19. August 1977, S. 1. Wirtschaftswoche, Nr. 39/31, 16. September 1977, S. 20 f. Wirtschaftswoche, Nr. 40/31, 23. September 1977, S. I4ff. Wirtschaftswoche, Nr. 32/31, 7. Oktober 1977, S. 24 f.

117 ßen, Stadtbahnen und die Bundesbahn vorgesehen war, waren blockiert. In der privaten Wirtschaft betraf dies Investitionsmittel von 9,4 Milliarden D-Mark für Kernkraftwerke und 2,6 Milliarden D-Mark fur Steinkohlekraftwerke. In der chemischen Industrie waren es 3,5 Milliarden und in der Mineralölwirtschaft 2,7 Milliarden D-Mark, selbst im Einzelhandel steckten 700 Millionen D-Mark an geplanten Investitionen fest. 446 Als das Programm für Zukunftsinvestitionen im ersten Halbjahr 1978 endlich in die Gänge kam, trafen die öffendichen Ausgaben schon wieder auf ein neues konjunkturelles Umfeld. Die öffendiche Nachfrage nach Bauleistungen konkurrierte nun mit der wachsenden Nachfrage fur den Bau von Eigenheimen, Mehrfamilienhäusern und der Modernisierung von Wohnbauten. So stellte die Bundesbank im Sommer 1978 fest:,Alles zusammen führte zu einem Auftragsstoß, der mit den verfügbaren Kapazitäten der Bauwirtschaft nicht ohne weiteres bewältigt werden kann; das zeigt sich u. a. darin, daß die Bestände der unerledigten Bauaufträge in den vergangenen Monaten ständig zu nahmen, obwohl die Bautätigkeit nun auf vollen Touren läuft und die Baupreise wieder nach oben tendieren." 447

Zusammenfassung: Die Konjunkturpolitik der siebziger Jahre Bei dem Versuch das Beschäftigungsproblem mit dem Hebel staadicher Konjunkturprogramme zu lösen, handelte es sich um eine finanzpolitische Scharade ungeheuren Ausmaßes. Der breiten Öffendichkeit wurde die „Machbarkeit" der Konjunktur vorgespielt. Nicht nur konnten damit die strukturellen Schwierigkeiten des deutschen Arbeitsmarktes nicht bewältigt werden, es ist auch mehr als fraglich, ob überhaupt ein nachweisbarer Effekt auf den Verlauf der Konjunktur genommen werden konnte. Werner Abelshauser kommt in seiner Gesamtbetrachtung der deutschen Wirtschaftsgeschichte seit dem Zweiten Weltkrieg zu dem Ergebnis, dass weder die Vollbeschäftigung in den fünfziger und sechziger Jahren, noch die „Destabilisierung" der Beschäftigung in den siebziger Jahren mit der konjunkturellen Entwicklung oder der Konjunkturpolitik zu erklären ist: „Stärker ins Gewicht fallen strukturelle Anpassungsprozesse - sei es innerhalb der Industrie oder zwischen den Wirtschaftssektoren - die durch schärferen Wettbewerb oder Wettbewerbsverzerrungen vom Weltmarkt her erzwungen werden. Auch das Versagen keynesianischer Rezepturen in der Wirtschaftspolitik - so offenkundig es seit Mitte der siebziger Jahre auch ist - verliert angesichts der langfristigen Stabilität des zyklischen Musters viel an Erklärungskraft." 448 Die Wirtschaftswissenschaftler Giersch, Paque und Schmiedig unterzogen in ihrer Darstellung der Wirtschaftsentwicklung der Bundesrepublik, die Konjunkturpolitik folgender Betrachtung: Würde man die Situation Ende der siebziger Jahre mit dem Bild vergleichen, dass Westdeutschland im Jahr 1973 bot, so sei es evident, dass alle Probleme dieses Krisenjahres immer noch vorhanden waren, nur waren inzwischen eine noch höhere 446 447 448

Die Zeit, Nr. 10/33, 3. März 1977, S. 17. Monatsberichte, September 1978, S. 5. Werner Abelshauser, Deutsche Wirtschafegeschichte seit 1945, München 2004, S. 422 f.

118 Arbeitslosigkeit und ein strukturelles Defizit hinzugekommen. Die Autoren ziehen daraus, den fur die Beurteilung der wirtschaftspolitischen Leistung der Regierung Schmidt ernüchternden Schluss: „Hence there can be no doubt that the cyclical activism of the years after the first oil-price shock did not have any tangible macroeconomic benefits, at least not in the relevant medium run." 4 4 9 Bestätigt werden diese skeptischen Betrachtungen durch die historischen Fakten. Von den bis 1975 zur Ankurbelung der Konjunktur beschlossenen 14 Milliarden D-Mark waren bis Mitte 1977 nur acht Milliarden D-Mark abgerufen worden. Schon früh warnten die Gemeindevertreter, dass zusätzliche Mittel nur sehr schwer in konkrete Investitionen umgesetzt werden konnten. Genehmigungsverfahren und die zahlreichen Instanzen verzögerten eine schnelle Umsetzung von Investitionen und Bauvorhaben. Diese praktischen Hürden hinderten Gewerkschaften und linke Ökonomen allerdings nicht daran, immer mehr Mittel für staadiche Konjunkturprogramme zu fordern. Schmidt schloss sich den Forderungen der Gewerkschaften an und setzte im Herbst 1977 noch ein weiteres Konjunkturprogramm durch, obwohl Finanzminister Apel schon längst skeptisch war und sich das 16-Milliarden-Programm offensichtlich als Misserfolg hinauskristallisierte. Als die Hürden, die den Investitionen im Wege standen, überwunden worden waren, trafen die staadichen Mittel bereits auf eine veränderte konjunkturelle Situation und trugen dazu bei, die Kapazitäten der Bauwirtschaft zu überlasten. Staatliche und private Bauvorhaben machten sich Konkurrenz. Die Bedeutung der Konjunkturpolitik liegt nicht in ihren wirtschaftlichen Effekten, sondern in ihren Auswirkungen für die politische Psychologie. Im Grund geht es um den Eindruck für die Öffendichkeit zum Zeitpunkt der Verabschiedung der Konjunkturprogramme und nicht um ihre späteren Wirkungen. Diese Wirkungen nimmt die Öffentlichkeit ohnehin kaum noch zur Kenntnis. Wie in diesen Kapiteln gezeigt worden ist, haben die milliardenschweren Konjunkturprogramme zwar die Staatsverschuldung aber nicht zur Lösung der Beschäftigungsprobleme beigetragen. Nach der Verabschiedung werden die Konjunkturprogramme ohnehin schnell vergessen. Was im Gedächtnis der Öffendichkeit bleibt, ist der Eindruck von politischer Aktivität und entschlossenem Handeln, wenn es dem Kanzler gelingt, sich entsprechend zu präsentieren. Politiker sehen sich im Falle ökonomischer Krisen vor der Aufgabe Stärke und Vertrauen auszustrahlen, auch dann, wenn ihre praktischen Einflussmöglichkeiten auf den Verlauf der Krise gering sind. Die Leistung von Bundeskanzler Helmut Schmidt bestand dann auch nicht in seinem besonderen, von anderen führenden Politikern sich abhebenden ökonomischen Sachverstand, sondern darin, dass er der großen Mehrheit der Deutschen den Eindruck vermitteln konnte, dass sie sich trotz der steigenden Arbeitslosenzahlen keine Sorgen zu machen brauchten, da der „Weltökonom" Schmidt nicht nur die Lage in Deutschland im Griff habe, sondern auch die Weltwirtschaft. Dass sich diese Vorstellung, trotz ihrer offensichdichen Unzulänglichkeit zur Erklärung wirtschaftlicher Abläufe, so verfestigt hat, war eine herausragende Leistung politischer PR und nicht zuletzt eine herausragende „schauspielerische" Leistung des Bundeskanzlers Helmut Schmidt.

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Giersch u.a., Fading Miracle, S. 192

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Helmut Schmidt: Weltökonom und Staatsschauspieler Anders als Karl Schiller war Helmut Schmidt kein überragender Ökonom. In der Frage der Devisenbewirtschaftung lag er falsch, seine Finanzpolitik war ein Desaster, seine Konjunkturpolitik blieb wirkungslos, seine Aussagen zur Inflation und Stabilität waren wechselhaft. Dennoch war es gerade die Wirtschaftspolitik, in die er seinen größten Ehrgeiz setzte und sich der Öffendichkeit als Experte empfahl. Auf diesem Feld wollte sich Schmidt profilieren und von seinem Amtsvorgänger abheben. Die Öffentlichkeit war dankbar dafür, dass in unruhiger Zeit Schmidt ihnen durch sein forsches Auftreten ein Stück weit ihre Ängste nahm und Stabilität verkörperte. Schmidt arbeitete systematisch an diesem Image als überragender „Weltökonom". Im Klostergut Sankt Jakobus rief Schmidt noch als Finanzminister im März 1974 eine Klausur zusammen. Schmidt hatte 23 Konjunktur- und Wirtschaftsexperten zusammengerufen, um mit ihnen über die künftige Wirtschaftspolitik zu diskutieren. Zu den kurzfristig eingeladenen Teilnehmern gehörten Notenbankvertreter, Professoren, Staatssekretäre, die Wirtschaftssprecher der Koalitionsfraktionen, Landesminister, Gewerkschaftler und als Vertreter der Wirtschaft Jürgen Ponto.450 Die Klausur kam zu keinem konkreten Ergebnis, diente Schmidt aber als Instrument zur Kontaktpflege und war wohl auch schon die Vorbereitung auf Höheres, nämlich auf die Kanzlerschaft. Nach der Übernahme des Kanzleramtes unternahm Schmidt sofort Schritte, sein wirtschaftspolitisches Profil auch in dieser Position zu schärfen. Die ZEIT kommentierte die Regierungserklärung von Helmut Schmidt so: „Noch nie hat ein Kanzler dem Bundestag ein Programm vorgelegt, dessen Schwergewicht so eindeutig im Bereich der Wirtschaftsund Finanzpolitik lag." 451 Schmidt nutzte seine Antrittsrede zu einer Zwischenbilanz der Regierungsarbeit. An erster Stelle nannte Schmidt die Steuer- und Kindergeldreform. Die anstehende Steuerreform werde vor allem die kleinen und mittleren Einkommen entlasten. Zum Stand der Sozialleistungen erklärte Schmidt: „Wir haben das System der sozialen Sicherung ausgebaut und die Sozialleistungen verbessert." Schmidt rühmte, allein in den Jahren 1972, 73 und 1974 seien die Renten um 44 Prozent gestiegen und die reale Kaufkraft um 19 Prozent. Die Inflationsrate von 7,1 Prozent nannte Schmidt einen „Erfolg, wie er in keinem anderen Land verzeichnet werden kann." Schmidt erklärte zur Beschäftigungssituation: „Unsere Arbeitsplätze sind sicher, unsere Löhne können sich sehen lassen, und bei uns ist der Arbeitsfrieden gewahrt." Positiv bewertete Schmidt auch, dass der Anteil der Einkommen der Arbeitnehmer auf Kosten des Anteils der Arbeitgebereinkommen gewachsen war. Darüber hinaus versprach Schmidt, Apel und die Stabilitätspolitik zu stützen.452 In den ersten Wochen nach der Regierungsübernahme malte Helmut Schmidt gegenüber seinen Gesprächspartnern das Bild einer drohenden Weltwirtschaftskrise. Einer seiner Berater sagte: „Das ist schon fast eine Obsession bei ihm." Schmidt schürte die Furcht vor 450 451 452

Wirtschaftswoche, Nr. 11/29, 8. März 1974, S. 17f. Die Zeit, Nr. 22/29 24. Mai 1974, S. 30. Verhandlungen, Band 88, 6593 ff.

120 einem „Schwarzen Freitag" und einer „apokalyptischen Entwicklung der Weltwirtschaft." Schmidt erklärte in Hamburg zu den bevorstehenden Aufgaben seiner Wirtschaftspolitik: „Hier handelt es sich um staatsmännische Aufgaben von so hohem Rang, daß lediglich die Erhaltung des Weltfriedens noch höher einzuschätzen ist." Schmidt sprach über seine Befürchtungen auf internationaler Ebene mit dem französischen Präsidenten Giscard d'Estaing, dem britischen Premierminister Wilson und US-Präsident Nixon. Den Kern der Krise sah Schmidt in dem Zahlungsbilanzdefizit, die die meisten westlichen Industriestaaten außer der Bundesrepublik, der USA und den Niederlanden aufwiesen. 453 In Schmidts Argumentation spielten die Parallelen zur Weltwirtschaftskrise und dem Aufstieg des Nationalsozialismus eine wichtige Rolle. Dies war der Grund, warum Schmidt der Beschäftigung grundsätzlich Vorrang vor der Preisstabilität einräumen wollte: „Der Aufstieg der N P D hängt unmittelbar zusammen mit der Rezession 1966. Ich könnte ebenso gut auf die Jahre 1931 und 1933 zurückgreifen, um zu sagen, daß der Begriff der Stabilität nicht nur auf die Preise angewendet werden darf." 4 5 4 Als diese Krise im Laufe des Jahres 1974 nicht eintrat, stellte Schmidt dies Anfang 1975 als den Erfolg seiner Politik hin: „Ich war gegen Ende 1973 und im ganzen Lauf des Jahres 1974 tief besorgt über die noch nicht greifbaren, für mich aber doch schon am Horizont sichtbar werdenden monetären, das private Kreditsystem der Welt betreffenden, handelspolitischen, konjunkturellen, ja zutiefst strukturellen Konsequenzen der Olpreisexplosion." Schmidt kritisierte die „Unfähigkeit der industriellen Ölverbraucherstaaten, zu einem Gesamtkonzept zu kommen." Das Problem habe darin bestanden, dass die anderen wesdichen Staaten nicht in der Lage gewesen waren, das „Re-Investment der Olerlös-Überschüsse, das Recycling" zu organisieren. Dies habe ihn für 1974 tief besorgt gemacht. Schmidts Beitrag zur Überwindung der Krisengefahr war seiner Ansicht nach, „dafür zu sorgen, daß eine Zusammenarbeit der Ölverbraucherstaaten und eine Zusammenarbeit dieser mit den Olproduzentenstaaten zustande gebracht wird." Daher habe er Anlass, das Jahr 1975 mit „größeren, positiveren Erwartungen zu betrachten als noch vor wenigen Monaten." Seine Vermittlung zwischen den USA, Frankreich und den Olfbrderstaaten habe „abgestimmtes ökonomisches Verhalten" bewirkt. 455 Die Wirtschaftsjournalistin Renate Merklein bezweifelte Schmidts Behauptungen und schrieb später im Rückblick auf die siebziger Jahre, es gäbe kein „Indiz für die Existenz jenes grauen Gespenstes, das Helmut Schmidt zwischen 1974 und 1982, als er Kanzler war, überall sah und dauernd beschwor: das Gespenst einer sogenannten „Weltwirtschaftskrise", das Schmidt immer erscheinen ließ, wenn es galt, den nicht sehr blanken Zustand der deutschen Wirtschaft zu erklären." 456 Schmidt hatte nach der Übernahme der Kanzlerschaft den Vorteil, dass sich die amerikanische Präsidentschaft nach dem Rücktritt Nixons in einer Schwächephase befand und weder Ford noch Kissinger in Bezug auf die Wirtschaftspolitik Eitelkeiten pflegten und 453 454 455

Der Spiegel, Nr. 28/28, 15. Juli 1974, S. 17 ff. Die Zeit, Nr. 11/29, 8. März 1974, S. 25 f. Manager Magazin, März 3/1975, Wo die Wirtschaft lernen kann, S. 16. Renate Merklein, Die Deutschen werden ärmer. Staatsverschuldung, Geldentwertung, Markteinbußen, Arbeitsplatzverluste, Hamburg 1982, S. 140.

121 Schmidts Ausführungen wohlwollend aufnahmen. Schmidt konnte Ford sogar gegen den Willen seiner Berater dazu überreden, an dem Weltwirtschaftsgipfel in Rambouillet teilzunehmen. „So entstand in Bonn der Eindruck, die wesdiche Welt werde vom Rhein aus regiert."457 Schmidt schrieb in einem Jahresrückblick für die SPD-Führung Anfang 1976 von einem „wesentlich im Verborgenen stattfindenden deutschen Krisenmanagement" für die Weltwirtschaft, das vor allem auf der Zusammenarbeit mit den USA beruhe.458 Schmidt profitierte auch davon, dass in der Krise der siebziger Jahre die Bundesrepublik der Einäugige unter den Blinden war. Man könnte sagen, die wirtschaftliche Schwäche der anderen schuf die Illusion der eigenen herausragenden Kraft. Der ECONOMIST schrieb am 17 August 1974: „As recession sets in, Europe's economies are more inextricably chained than ever to Germany's great fly-wheel economic machine. And the hard, tough policies of Helmut Schmidt, the man who succeeded Willy Brandt as German chancellor three months ago, dominate - for the moment at least - the economies, and so the policies, of western Europe."459 Eine Karikatur aus der vom Mai 1976 zeigt deudich das strotzende ökonomische Selbstbewusstsein vieler Deutscher, das aus dem Vergleich mit den übrigen Industriestaaten resultierte. In diesem Cartoon hält ein Herr einen Lichtbildvortrag und erklärt in einer Sprechblase: „In unserem Kurs über Staatskrankheiten heute einen Überblick über die europäischen Länder." Auf den folgenden Bildern, die neun europäische Länder personifizierten, erscheint Frankreich als Mann mit Baskenmütze, bandagiertem Arm und Gips, der Engländer hält sich nur auf zwei Krücken aufrecht und ist total von Kopf bis Fuß eingegipst usw. Selbst die Niederlande müssen immer noch einem gebrochenen Arm zurechtkommen. Nur ein glücklicher Deutscher stemmt auf dem letzten Bild leichthändig schwere Gewichte ohne Anzeichen von Müdigkeit. Das ironische Fazit des Cartoons lautete: „Um stark zu sein, muß man Krieg führen... am besten mit der ganzen Welt... und ihn verlieren!"460 Das Gefühlt der Schadenfreude und Genugtuung über den Misserfolg der anderen ist ganz offensichtlich. Dem Kunststück den Westdeutschen trotz der allgemeinen wirtschaftlichen Misere ein solches über die Wirtschaft vermitteltes Selbstbewusstsein zu vermitteln und dies mit dem starken Bundeskanzler zu verbinden, lag eine sehr kluge PR-Strategie des Kanzleramtes zugrunde. Der studierte Nationalökonom Albrecht Müller hatte in der „Baracke" für die SPD die Wahlkämpfe von 1969 und 1972 gemanagt und hatte schon in den letzten Tagen von Brandts Kanzlerschaft als Planungschef des Kanzleramtes eine Strategie ausgearbeitet, wie man mit der Krisenstimmung im Land, die man für das schlechte Abschneiden der SPD in den Umfragen verantwortlich machte, umgehen sollte. Müller schloss aus den vorliegenden Infratest-Zahlen Anfang 1974: „Es kommt darauf an die Angsdücke der 40 Prozent zu schließen." Müller hatte Brandt deshalb zu einer PositivKampagne geraten. Brandt sollte vermeiden, über die Krise in der Bundesrepublik zu reden, sondern immer auf die internationale Einordnung der deutschen Wirtschaftslage 457

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Klaus Wiegrefe, Das Zerwürfnis. Helmut Schmidt, Jimmy Carter und die Krise der deutsch-amerikanischen Beziehungen, Berlin 2005, S. 46 f. Wiegrefe, Das Zerwürfnis, S. 46 f. The Economist, August 17,1974, S. 38. Wirtschaftswoche, Nr. 20/30, 14. Mai 1976, S. 3.

122 zu sprechen kommen. Müller ging davon aus, dass die Presse auf Dauer nicht darum herumkäme, diese Argumentation in ihre Berichterstattung aufzunehmen und somit das Bild von der im internationalen Vergleich erfolgreichen Bundesrepublik zu festigen. Die Ursachen der wirtschaftlichen Probleme würden dann der Weltwirtschaft und nicht der Bundesregierung angelastet werden. Müller soll gesagt haben: „Wir machen stur auf positiv." 4 6 1 Helmut Schmidt setzte diese Strategie, als er kurz darauf Kanzler wurde, geradezu virtuos in die Tat um. In einem Interview im November 1974 erklärte Schmidt, es sei eine „Strukturkrise der Weltwirtschaft" eingetreten, die in ihrem Ausmaß niemand vorausgesehen habe. Diese beruhe auf zwei „additiven" Prozessen, der Weltinflation und dem internationalen Zahlungsbilanzdefizit. Schmidt sah seine Wirtschaftspolitik vor zwei Aufgaben gestellt: Einerseits müsse der Einfluss der globalen Strukturkrise auf die Bundesrepublik gedämpft werden, zweitens müsse der Gesamtprozess den Bürgern erklärt werden. Schmidt sah die wesentlichen Leistungen der Bundesregierung im Bereich der Stabilitätspolitik, der sozialen Sicherheit und der Kooperation mit den Gewerkschaften. Den Begriff der „Stabilität" wollte Schmidt nicht nur auf die Preise beziehen. Schmidt bekräftige in diesem Interview: „Mein im Mai 1972 geprägtes Wort, wonach fünf Prozent Preissteigerung zwar schlimm, aber eher zu ertragen sind, als etwa fünf Prozent Arbeitslosigkeit, war richtig. Richtig nicht nur fur 1972, sondern auch fiir 1975 ein absolut notwendiger Maßstab." Schmidt ging sogar noch darüber hinaus: „Man kann aber auch noch immer leichter sechs Prozent Preissteigerung als 4,5 Prozent Arbeitslosigkeit ertragen." Der „grundsätzliche Zusammenhang" zwischen Arbeitslosigkeit und Preissteigerung könne nicht geleugnet werden. Dem Mann auf der Straße müsse der Zusammenhang verständlich gemacht werden. Schmidt kanzelte die Bedenken der Oppositionsführer Strauß und Biedenkopf als die Meinung von NichtÖkonomen ab. Schmidt versprach, 1977 werde wieder „Spielraum für die Reformpolitik" vorhanden sein. 462 An dieser Stelle sollte vielleicht kurz auf den Hintergrund der berühmten Äußerung von Schmidt über die fünf Prozent Inflation, die besser seien als fünf Prozent Arbeitslosigkeit eingegangen werden. Die Äußerungen von Schmidt beruhten auf einem damals weitverbreiteten wirtschaftswissenschaftlichen Theorem, das in der heutigen Diskussion kaum noch eine Rolle spielt: der Phillips-Kurve. Der britische Wirtschaftswissenschaftler Alban Phillips hatte in einer Untersuchung des Zeitraums 1861 bis 1957 einen Zusammenhang zwischen Lohnentwicklung und Arbeitslosenquote aufgedeckt. Dieser Zusammenhang konnte mit der klassischen Sichtweise von Angebot und Nachfrage interpretiert werden. Arbeitslosigkeit galt als Angebotsüberhang, der zu einem sinkenden Preis für die Beschäftigung führte. Wie jeder Marktpreis schwankt auch die Lohnhöhe mit der Nachfrage nach und dem Angebot von Arbeitskräften. Die amerikanischen Ökonomen Samuelson und Solow stellten die aus dem empirischen Datensatz abgeleiteten mathematischen Formeln so um, dass sich ein direkter Zusammenhang zwischen Preissteigerung und Arbeitslosigkeit ergab. Daraus wurde abgeleitet, dass die Politik quasi vor der Alternative zwischen hoher Arbeitslosigkeit oder hoher Inflation stand. So entstand die Annahme, dass einer 461 462

Wirtschaftswoche, Nr. 17/29, 19. April 1974, S. I4f. Die Zeit, Nr. 46/29, 8. November 1974, S. 3 f.

123 bestimmten Inflationsrate eine bestimmte Arbeitslosigkeit zugeordnet werden könnte. 463 Dahinter steht die Vorstellung, dass durch die Anhebung der Inflationsraten der Reallohn gesenkt werden kann. Denn auch Keynes hatte festgestellt, dass, „im allgemeinen die Beschäftigung nur zunehmen kann, wenn die Reallöhne gleichzeitig fallen. Ich bestreite daher diese wesentliche Tatsache nicht, welche die klassischen Ökonomen (ganz richtig) als unantastbar bezeichnet haben."464 Die Inflation wurde als Möglichkeit gesehen, die Reallöhne zu senken, ohne die von den Gewerkschaften verteidigten Nominallöhne senken zu müssen. Die Kritiker dieser Theorie gewannen im Verlauf der siebziger Jahre angesichts der Entwicklung ein Ubergewicht. Liberale Ökonomen begründeten, warum dieser Ansatz zu einer beschleunigten Inflation fuhren musste. Denn die „Geld-Illusion" ließ sich nicht lange aufrechterhalten. Die Inflationsraten wurden bei den Inflationsforderungen antizipiert, so dass ein positiver Effekt auf die Beschäftigung durch Inflation nur erreicht werden konnte, wenn die Inflationsraten über den Erwartungen lagen. In Großbritannien war bei dem Versuch auf diese Weise die Beschäftigung stabil zu halten, die Inflationsrate innerhalb von 10 Jahren von 3,9 Prozent im Jahre 1964 auf 16 Prozent im Jahr 1974 hoch getrieben worden. 465 Dies war der Zeitpunkt, als die Bundesbank, wie wir im Kapitel über Geld- und Lohnpolitik der Jahre 1973—75 gesehen haben, diese Entwicklung stoppte, um zweistellige Inflationsraten wie in Großbritannien zu verhindern. Schmidt hielt zu diesem Zeitpunkt, wie das Interview aus dem Herbst 1974 zeigt, der Theorie von der Phillipskurve noch die Treue. Schließlich war es die Ausbreitung des Begriffes der Stagflation, der das Zusammenkommen von hoher Inflation und hoher Arbeitslosigkeit beschrieb, der der Phillipskurve ihre Plausibilität nahm. Dass die hohen Inflationsraten nicht zu sinkenden Arbeitslosenzahlen führten, wurde Mitte der siebziger Jahre zu offensichdich, um an dem Theorem ohne Glaubwürdigkeitsverlust festhalten zu können. Unter den veränderten Bedingungen änderte auch Bundeskanzler Schmidt seine Meinung. In seiner Regierungserklärung vom 17. Januar 1980 erklärte er: „Ich wiederhole, was ich häufig schon gesagt habe: Inflation schafft keine Arbeitsplätze; im Gegenteil, sie beeinträchtigt auf die Dauer das Wachstum unserer Wirtschaft." 466 Einen Monat nach dem Interview in der ZEIT, am 13. Dezember 1974, verkündete Schmidt vor dem Bundestag, die Bundesregierung habe den wirtschaftlichen Kurs nach ausfuhrlichen Beratungen mit den USA und den Partnern in der Europäischen Gemeinschaft angepasst, um einen „stabilitätsgerechten Aufschwung unserer Volkswirtschaft anzusteuern." Deshalb würden die Haushalte des Bundes und der Länder „expansiv gefahren und teilweise (...) durch Auflösung der Rücklagen finanziert werden." Schmidt begrüßte den Beschluss der Bundesbank, die Geldmenge um acht Prozent auszuweiten.467 Strauß 463

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Ζ. B. Yeong-Soo Park, Das Arbeitslosigkeits-Inflationsdilemma. Eine Diskussion über die PhillipsKurve, Pfaffenweiler 1985. John Maynard Keynes, Allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes, Berlin 2006, S, 15. Milton Friedman, Price Theorie, New Brunswick/London 2007, 227 ff. Verhandlungen, Band 113, S. 15583. Verhandlungen, Band 90, S. 9421 ff.

124 antwortete in dieser Bundestagssitzung auf Schmidts Erörterungen, mit der Feststellung, die Preissteigerungsrate sei nur deshalb im November 1975 gegenüber dem November im Vorjahr um nicht mehr als sieben Prozent gewachsen, weil die Preissteigerung im Jahr 1973 wegen des Nahostkonfliktes „abnorm" groß gewesen sei. Strauß lehnte das Argument, die Ursache der Krise sei im Ausland zu suchen ab: „Denn der Exportüberschuss wird 1974 mit 50 Milliarden D-Mark fünfmal so hoch sein wie das gesamte Finanzvolumen des neuen Konjunkturprogramms mit seinen 10 Milliarden D-Mark." Strauß erinnerte daran, dass Schmidt als Finanzminister schon einen Exportüberschuss von 25 Milliarden D-Mark als „ungesund" erklärt und den Abbau des Exportüberschusses gefordert habe. 468 Nun mag das Heranziehen der Argumente von Strauß insoweit als fragwürdig erscheinen, da er unbestreitbar nicht nur Partei, sondern als Finanzpolitiker der Opposition direkter Gegenspieler von Schmidt war. Doch der Wirtschaftshistoriker Werner Abelshauser kommt in Hinblick auf die Bedeutung der Weltwirtschaft auf die Beschäftigungslage in Deutschland genau zu derselben Einschätzung wie der Bayer: „Erklärungsversuche, die die sich verschlechternde Beschäftigungslage auf weltwirtschaftliche Krisenherde und deren Ausstrahlung auf Deutschland zurückfuhren wollen, sind in konjunktureller Betrachtung wenig plausibel. Es ist im Gegenteil gerade der Außenhandel, der bis heute zu den zuverlässigsten Stützen der Konjunktur zählt." 469 Die Rolle der Weltwirtschaft entsprang, wie bereits erwähnt, nicht allein der ökonomischen Analyse, sondern war eine rhetorische Figur. Während Schmidt die Weltwirtschaft stets in düsteren Farben zeichnete, erstrahlte die Situation in der Bundesrepublik immer im hellen Licht. Im März 1975 erklärte Schmidt in einem Interview: „Wir stehen in der Welt gegenwärtig beispiellos da. Preisdämpfung, eine leistungsfähige Zahlungsbilanz und unser Devisenpolster sind Erfolge, die sich sehen lassen können. Im Vergleich mit anderen EG-Staaten schneiden wir auch hinsichtlich der Beschäftigungssituation günstig ab. Das alles sind ja Leistungen, die ohne die wesentliche Mitwirkung der sozialliberalen Gesetzgebungsmehrheit nicht zustande gebracht worden wären." 470 Strauß traf auch mit seiner Kritik an diesem Selbstruhm einen wunden Punkt, nämlich der Neigung Schmidts mit seinen wirtschaftspolitischen Einschätzungen und Absichtserklärungen je nach Lage sich selbst zu widersprechen. Strauß warf Schmidt im Bundestag vor: „Zuerst schlagen Sie die Warnungen vor der Inflation in den Wind und bezichtigen uns, als ob wir Arbeitslosigkeit zu Disziplinierung der Arbeitnehmer beabsichtigen; dann verkündigen Sie, das bißchen Inflation müsse fur die Erhaltung der Vollbeschäftigung eben in Kauf genommen werden, dann erkennen Sie endlich, daß die Inflation zu einer Gefahr für die Arbeitsplätze wird, dann treffen Sie zu spät und unzulänglich Stabilisierungsmaßnahmen- siehe öffentliche Haushalte — und dann spielen Sie den Helden und sagen, unsere Stabilisierungspolitik fuhrt aber zu einer gewissen Arbeitslosigkeit, das müßten die Arbeitnehmer in Kauf nehmen. Das ist die Gedankenkette, die wir in den letzten Jahren erlebt haben." 471 468 469 470 471

Verhandlungen, Band 90, 9428 ff. Werner Abeldshauser, Wirtschaftsgeschichte, S. 422. Manager Magazin, März 3/1975, S. 15. Verhandlungen, Band 92, S. 10966 ff.

125 Wir erinnern uns, dass Schmidt im Frühjahr 1975 schon die Gefahr einer Weltwirtschaftskrise fiir gebannt erklärt hatte, sich selbst einen wesentlichen Anteil daran zuschrieb und optimistisch auf das Jahr 1975 sah. Das Jahr 1975 brachte allerdings neue Arbeitslosigkeitsrekorde. Die eben noch von Schmidt fur überwunden erklärte Gefahr einer Weltwirtschaftskrise beschrieb er nun wieder als sehr real. Im September 1975 erklärte Schmidt vor dem Bundestag: „Aus der ständig sich beschleunigenden Weltinflation, aus dem Auseinanderbrechen des Weltwährungssystems zu Beginn der 70er Jahre und aus der Ol- und Rohstoffkrise, die im Herbst 1973 begann, hat sich 1974 eine Weltrezession entwickelt, die alles in den Schatten stellt, was wir seit der Depression der 30er Jahre erlebt haben." Schmidt insistierte darauf, dass die Arbeitslosigkeit in den wesdichen Partnerstaaten höher läge als in der Bundesrepublik. Während die Rezession 1966/67 rein national verursacht gewesen sei, handle es sich bei der gegenwärtigen Krise im eine „importierte Rezession". Schmidt bekräftigte seinen Standpunkt mit der Aussage: „Wenn im Jahr 1975 auch unser Sozialprodukt nun zum erst einmal seit langer, langer Zeit sinkt, so liegt das ausschließlich an der importierten Rezession." Schmidt zog daraus die Schlussfolgerung, die Krise sei nur durch abgestimmtes Handeln im weltwirtschaftlichen Rahmen zu lösen. Schmidt rechtfertigte auch die steigende Verschuldung mit der weltwirtschaftlichen Lage: „Die öffentlichen Finanzen werden also, ausgehend von der Weltrezession, von beiden Seiten strapaziert: durch das Sinken der Steuereinnahmen und durch die zusätzlich notwendig werdenden Ausgaben." Diese Lage werde bis zur „Schwelle der achtziger Jahre" reichen. Schmidt schrieb sich den „härtesten und erfolgreichen Kampf gegen die Inflation (...) als in irgendeinem anderen Land der Welt" als politische Leistung zu. Schmidt garantierte darüber hinaus, „daß die zur sozialen Sicherung bei vorübergehender Arbeitslosigkeit bestehenden Einrichtungen von und uneingeschränkt intakt und leistungsfähig bleiben." 472 In den kommenden Monaten hellte sich die wirtschaftliche Lage auf und Schmidt stand vor seiner ersten Wiederwahl als Kanzler. Schmidt stellte den Aufschwung als Ergebnis seiner Politik dar. Am 7. Mai 1976 sprach sich Schmidt in einem Interview für eine vorausschauende Industriepolitik aus und nannte die staatliche Förderung der Nuklearenergie als herausragendes Beispiel fiir eine solche Politik. Er stellte heraus, dass sich die Politik der sozialliberalen Koalition nicht auf die Globalsteuerung beschränkt habe. Sie sei sogar über die indirekte Investitionssteuerung hinausgegangen, etwa durch die Direktinvestitionen im sozialen Wohnungsbau. Es sei eine „Vielfalt von Industrie- und Strukturpolitik nicht nur entwickelt, sondern auch tatsächlich mit großem Erfolg angewandt" worden. Es habe jedoch seit 1969 keinen Dirigismus gegeben. Kohl und Strauß warf er vor, den sozialen Frieden zu gefährden. Ein Schnitt in das „Netz der sozialen Absicherung" sei gleichbedeutend mit der Zerstörung des „Konsensus", auf dem das ökonomisch richtige Verhalten der deutschen Gewerkschaften beruhe. Die wirtschaftliche Erholung nach dem Krisenjahr 1975 bezeichnete Schmidt als einen „Aufschwung, wie wir ihn in dieser Welt selten erleben, in diesem Ausmaß." 473

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Verhandlungen, Band 94, S. 12885 ff. Wirtschaftswoche, Nr. 19/30, 7. Mai 1976, S. 16 ff.

126 Schmidt profitierte von dem normalen und vorhersehbaren Konjunkturaufschwung. In der ZEIT war dieses Ergebnis schon im Januar 1973 prognostiziert worden: „Zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik hat ein Konjunkturzyklus mit der Legislaturperiode begonnen und wird wahrscheinlich auch mit ihr enden (...) Wenn das bisher beobachtete Muster in der Länge der Konjunkturzyklen nicht durchbrochen wird, dürfte der sechste Zyklus schon 1976 auslaufen. Das würde bedeuten, daß genau dann ein neuer Bundestag gewählt werden muß, wenn sich, wie beim letzten Mal, ein neuer Aufschwung anbahnt." 474 Schmidt und seiner Koalition kam dieser Aufschwung vor der Wahl zu Gute. Die Erwartungen der Bevölkerung waren so optimistisch wie seit der Ölkrise nicht mehr. In Umfragen bezeichneten 48 Prozent der Westdeutschen den Zustand der Wirtschaft als „gut" oder „sehr gut." Der SPIEGEL meinte im Sommer 1976, keine Nachkriegswahl läge „konjunkturpolitisch für die Regierung so günstig wie die nächste." Dennoch lagen die Regierung und die Opposition in den Umfragen weiterhin Kopf an Kopf, da viele Bundesbürger den Aufschwung nicht der Regierung zuschrieben, obwohl Schmidt alle Anstrengungen unternahm, den Aufschwung mit seiner Person und Politik zu verbinden. Der SPIEGEL schrieb, Schmidt gebe sich in der Öffentlichkeit als eine Art „Weltwirtschafts-Messias."475 Diese Strategie hatte im begrenzten Maßen Erfolg. Während die innenpolitische Entwicklung sehr kritisch beurteilt wurde, erstrahlte Schmidts Stern als Weltökonom in ungetrübtem Glanz. Die ZEIT bemerkte zur Bilanz der sozialliberalen Regierung: „Eine Million Arbeitslose, eine Inflationsrate, die immer noch erheblich höher ist als jene, über die vor zehn Jahren der Kanzler Erhard stürzte, eine geradezu explosionsartig steigende Staatsverschuldung, teils beschlossene, teils drohende Steuererhöhungen. Und zu all dem noch die Gefahr, die uns die heraufziehende Finanzkrise der Rentenversicherung signalisiert: Das soziale Netz, das immer engmaschiger gestrickt worden ist, droht zu reißen." Dieser schwierigen innenpolitischen Bilanz stellte jedoch die ZEIT, die Leistung des Weltökonomen Schmidt gegenüber. Dieser habe: „Die Fluten der Weltrezession wieder in die Deiche gezwungen." 476 Dieser Einschätzung entsprechend fiel die Beurteilung von Schmidts ökonomischer Kompetenz durch die Wähler aus. Nach einer Allensbach-Umfrage glaubten vierzig Prozent der Befragten Schmidt könne mit den wirtschaftlichen Problemen gut fertig werden. Von Kohl glaubten dies 35 und von Strauß 34 Prozent, von Wirtschaftsminister Friderichs 31 und von Stoltenberg 29 Prozent, das Schlusslicht war Finanzminister Hans Apel mit 23 Prozent. 477 Den Aufschwung nutzte Schmidt, um dem Wähler wieder eine freigiebigere Politik in Aussicht zu stellen. Schmidt erklärte kurz vor der Wahl in einem Interview, ein Stillstand der Sozialpolitik sei unvorstellbar. Der Spielraum der Sozialpolitik werde bei steigendem Bruttoeinkommen wieder wachsen. Schmidt sagte: „Wenn es nicht zu weiteren tiefgreifenden weltwirtschaftlichen Verschlimmerungen kommt, beispielsweise durch drastische Öl-Preiserhöhungen, dann ist abzusehen, daß in der Bundesrepublik Deutschland bereits 474 475 476 477

Die Zeit, Nr. 5/28, 26. Januar 1973, S. 22. Der Spiegel, Nr. 27/30, 28. Juni 1976, S. 21 f. Die Zeit, Nr. 39/31, 17. September 1976, S. 17. Die Zeit, Nr. 2 5 / 3 1 , 1 1 . Juni 1976, S. 19.

127 gegen Mitte der kommenden Legislaturperiode eine größere wirtschaftliche Dispositionsfreiheit eintritt." Schmidt betonte die Bedeutung der „ökonomischen Urteilskraft" an der „Spitze moderner Staaten." In seinen Ausführungen bezog sich Schmidt auf die Fehler der Weltwirtschaftskrise. Nur Franklin Roosevelt und Hjalma Schacht hätten, ohne Keynes zu kennen, damals das Richtige getan. Schmidt verglich hingegen die Forderungen der Unionsparteien, die Staatsausgaben zurückzufuhren, mit der Politik von Reichskanzler Heinrich Brüning. Schmidt stellte dem gegenüber sein eigenes, richtiges Handeln heraus: Die Bundesregierung habe Frankreich, die Benelux-Staaten und die USA von konservativen Sparkonzepten abgebracht und dadurch eine Weltwirtschaftskrise verhindert. Uber seinen Gegenkandidaten äußerte sich Schmidt abfällig: „In Wirklichkeit ist Herr Kohl unter den gegenwärtig agierenden Politikern in Deutschland derjenige, der am allerwenigsten von Ökonomie und von Geld versteht." 478 Wie wir gesehen haben, bezog Schmidt sein wirtschaftspolitisches Renommee nicht aus seiner innenpolitischen Bilanz, sondern aus seiner Rolle auf dem internationalen Parkett, auf dem er sich den Ruf als „Weltökonom" und Überwinder der Weltrezession erwarb. Ein guter Grund also sein Wirken auf dieser Bühne und die wirtschaftspolitischen Effekte dieses Wirkens zu beleuchten. Dies ist gut möglich, weil inzwischen eine Arbeit von Johannes von Karczeweski zu den Weltwirtschaftsgipfeln vorliegt. 479 Diese Weltwirtschaftsgipfel, die mit seiner tatkräftigen Unterstützung ins Leben gerufen worden waren, waren für Schmidt die zentrale internationale Bühne für sein Auftreten als Weltökonom. Im Sommer 1975 hatte Schmidt in einem Memorandum für Gerald Ford, Harold Wilson, Valerey Giscard d'Estaing seine Sicht dargelegt und vorgeschlagen: „Vor Ende des Jahres sollte Eine Gipfelkonferenz über Fragen der Weltwirtschaft und des Weltwährungssystems stattfinden." 480 Diese Konferenz sollte in erster Linie dazu dienen, Geschlossenheit zu demonstrieren und die internationale öffendiche Meinung zu beruhigen. Schmidt war überzeugt, es komme „aus psychologischen Gründen darauf an, daß die wichtigsten Industrieländer der Welt sagen könnten, die Probleme seien erkannt und wir würden gemeinsam handeln. Dies sei wichtiger als das, was man wirklich tun könne. Als konkrete politische Maßnahmen benannte Schmidt in diesem Memorandum die „Wiederbelebung der privaten Investitionstätigkeit" und eine Niedrigzinspolitik. 481 Schon in dieser ersten Skizze der Weltwirtschaftsgipfel zeigte sich, dass die politische Inszenierung in der Konzeption im Mittelpunkt stand und die konkreten Inhalte zweitrangig waren. Denn die von Schmidt angestrebte Niedrigzinspolitik lag in der Bundesrepublik ohnehin in der Hand der Bundesbank und zur Belebung der privaten Investitionstätigkeit konnte ein internationaler Gipfel auch nur sehr begrenzt, wenn überhaupt, beitragen. Am 15. November 1975 trafen sich die Staats- und Regierungschefs der USA, Deutschlands, Frankreichs, Japans, Italiens und Großbritanniens auf Schloss Rambouillet. Schmidt übernahm dort das Eröffnungsreferat. Schmidt bekannte sich zur politischen 478 479

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Die Zeit, Nr. 40/31, 24. September 1976, S. 3 f. Johannes von Karczenewski: „Weltwirtschaft ist unser Schicksal". Helmut Schmidt und die Schaffung der Weltwirtschaftsgipfel, Bonn 2008. Karczenewski, Weltwirtschaft, 136. Karczenewski, Weltwirtschaft, S. 137

128 Steuerbarkeit der Wirtschaft. Persönliche Zweifel hatte Schmidt beiseite gewischt. In Bonn hatte er im Kreis enger Mitarbeiter, Zweifel an der Möglichkeiten der keynesianischen Konjunkturpolitik geäußert. 482 Nun plädierte er in Rambouillet fur eine Politik, die „bei den staatlichen Ausgaben und der Defizitfinanzierung gesamtwirtschaftlichen und konjunkturpolitischen Gesichtspunkten weiterhin Vorrang vor haushaltspolitischen Überlegungen einräumt." Schmidt betonte, wie wichtig es sei, nach außen Optimismus zu demonstrieren. Schmidt erklärte: „Hier, in unserem engen Kreis, müssen wir die weltwirtschaftliche Lage und Perspektiven immer noch als äußerst schwierig und kritisch bezeichnen; doch nach außen sollten wir nicht zu viel Pessimismus durchschimmern lassen. Optimismus erscheint mir konjunkturpolitisch notwendig und gerechtfertigt. Denn Konjunkturpolitik besteht zu einem Großteil aus psychologischer Beeinflussung der Verbraucher und Investoren." 483 Bei den Vorbereitungen des Gipfels hatte sich die Gefahr abgezeichnet, dass die Bundesrepublik zum Ziel der Kritik werden könnte, wegen ihrer als zu restriktiv empfundenen Finanzpolitik. Besonders Italien und Großbritannien hatten den Zuwachs der öffendichen Ausgaben in der Bundesrepublik fur unzureichend. Die Bundesrepublik wurde kritisiert, über den Export ihren Aufschwung zu „Lasten Dritter" zu stimulieren. 484 Deshalb betonte Schmidt in Rambouillet den Umfang und die Bedeutung der deutschen Konjunkturpolitik. 485 Schmidt erklärte in Hinblick auf die Ausgaben für die Konjunkturpolitik: „Wir sind bis an die Grenze des Vertretbaren gegangen." 486 Davon, dass Schmidt die anderen Staaten von „konservativen Sparkonzepten" abgehalten hätte, wie er behauptete, kann also keine Rede sein, vielmehr musste die Bundesrepublik die Forderungen nach einer expansiveren Politik abwehren. Die Ergebnisse des Gipfels waren konstruktiv, aber nicht weltbewegend. Auf jedenfalls nicht derart, dass man sagen könnte, die Gespräche hätten die von Schmidt heraufbeschworene Gefahr einer Weltwirtschaftskrise bannen können, wenn sie bestanden hätte. Es wurden gemeinsame Formeln für das Verhalten gegenüber den Entwicklungsländern und den Erdöl-Staaten, zum internationalen Handel und der Wechselkursproblematik gefunden. 487 Im Kabinett erklärte Schmidt, für ihn sei der Gipfel schon deshalb ein Erfolg gewesen, weil deudich geworden sei, dass man in „vielen Punkten eine gemeinsame Sprache zur Definition der Probleme" spreche und „politisch und wirtschaftspolitisch auf parallelen Wegen" unterwegs sei. Schmidt erklärte, der „vertrauensbildende Faktor" unterstütze psychologisch die wirtschaftliche Erholung 4 8 8 Im Z D F erklärte Schmidt den deutschen Fernsehzuschauern, dass man in vielen Feldern Fortschritte erzielt habe. 489 Schmidt ver-

482 483 484 485 486 487 488 489

Ders., Ders., Ders., Ders., Ders., Ders., Ders., Ders.,

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162. 158-163. 144. 163 f. 164. 178-205. Zu den Ergebnissen. 206. 207.

129 zichtete auf eine Regierungserklärung, ließ aber erklären, dass sich die Gipfel-Teilnehmer darüber einig seien, dass die schlechte Wirtschaftslage im Wesendichen weltweite Ursachen habe. Deshalb sei die These der Opposition von der hausgemachten Rezession „nun ad absurdum gefuhrt." 490 Der nächste Gipfel in Puerto Rico vom 27.-28. Juni 1976 fiel ins Wahljahr. Dies half der Inszenierung als Weltökonom vor der Bundestagswahl. In seiner Regierungserklärung zum Gipfel führte Schmidt die wirtschaftliche Erholung auf die „in Rambouillet vorgenommene Vertiefung der kreditpolitischen, der haushalts- und handelspolitischen Koordination" zurück. 491 In Puerto Rico hatten wieder die Gefahren der Inflation im Mittelpunkt der Diskussionen gestanden, aber auf den folgenden Gipfeln in Bonn und London wurde die Bundesrepublik wieder eindringlich mit der Forderung konfrontiert, die wirtschaftlich starke Bundesrepublik müsse ihre Konjunktur stimulieren, um die schwächeren Staaten aus der Rezession herauszuziehen. Besonders die USA und die Briten, die am maroden Zustand ihrer Wirtschaft litten, beharrten auf dieser Lokomotiv-Theorie. Schmidt selbst verwies auf das Gutachten der New Yorker CTI-Bank, nach dem sich ein Prozent zusätzliches Wachstum in der Bundesrepublik nur geringfügig auf das Wachstum in anderen Ländern auswirkte. Ein Prozent Wachstum würde nach diesen Berechnungen in Frankreich nur zu einem Zuwachs von 0,07 Prozent und in Großbritannien nur zu einem Zuwachs von 0,05 Prozent fuhren. 492 Diese von Schmidt verwendeten Zahlen zeigen, dass die Behauptung, die Wirtschaft könne koordiniert werden und die nationalen wirtschaftlichen Schwierigkeiten nur international gelöst werden, durch die vorliegenden Zahlen nicht bestätigt wurde und Schmidt, der in der Öffendichkeit als Protagonist dieses Ansatzes auftrat, daran selbst nicht glaubte. Für die Wirtschaftslage in der Bundesrepublik waren die Wirtschaftsgipfel und die „Koordinierung" der Wirtschaftspolitik auf internationaler Ebene von marginaler Bedeutung. Impulse fur die Konjunkturpolitik gingen nicht von den Gipfeln aus, vielmehr wurden die internationalen Absprachen genutzt, um die ohnehin vorbereitete expansive Politik zu legitimieren. Am ehesten lassen sich auf die Gipfelgespräche noch positive Impulse im Rahmen der Handelspolitik und der Vermeidung protektionistischer Tendenzen zurückführen. Aber insgesamt stimmte doch die Kritik des bayerischen Ministerpräsidenten Franz Josef Strauß, dass es sich bei den Gipfeln um „Showbusiness" handelte, dessen Hauptzweck in der Imagepflege der Teilnehmer bestand. Strauß brachte es richtig auf den Punkt, zu Hause werde erklärt, „daß man bestehende Probleme nur international gelöst werden könnten, während man in der internationalen Runde feststellt, daß der jeweils andere die Probleme zu Hause lösen müsse." 4 9 3

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209 261. 342 f. 411.

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Zusammenfassung: Helmut Schmidt als Wirtschaftspolitiker Das Auseinanderfallen der wirtschaftspolitischen Bilanz und des wirtschaftspolitischen Renommees von Bundeskanzler Helmut Schmidt ist so extrem, dass es erklärungsbedürftig ist. Normalerweise wird der Regierungschef fur die schlechte Wirtschaftslage von der Öffendichkeit dafür verantwortlich gemacht, ganz gleich, ob er tatsächlich dafür verantwortlich ist oder nicht. Unter Schmidt Kanzlerschaft stiegen die Arbeitslosenzahlen rasant auf ein zuvor in der Bundesrepublik nicht gekanntes Niveau, die Inflation blieb hoch und der Bundeshaushalt verzeichnete zweistellige Defizite und steigende Zinslasten, von denen dieser nicht mehr herunterkam. Wenn man sich anschaut, was Schmidt konkret getan hat, um die hohe Arbeitslosigkeit zu bekämpfen und die Wirtschaftskrise zu überwinden, stellt man fest, dass keines der von seiner Regierung eingesetzten Mittel einen wesendichen Beitrag geleistet hat, diese Ziele zu erreichen. Die Konjunkturprogramme, die die sozialliberale Koalition auf den Weg brachte, hatten nur eine geringe Wirkung, wie wir in den vorhergehenden Kapiteln gesehen haben. Die internationalen Gipfel und Gespräche waren große Inszenierungen, bei denen es mehr auf die öffendiche Wahrnehmung als auch die inhaltlichen Ergebnisse ankam. Die im internationalen Vergleich relativ niedrigen Inflationsraten hatte die Bundesbank mit einer Politik des knappen Geldes erreicht, der Schmidt skeptisch gegenübergestanden hatte. Die Suche nach einer Kausalkette, die von Schmidts Politik zu positiven Effekten in der wirtschaftlichen Entwicklung reicht, bleibt ergebnislos. Dennoch galt Schmidt als Weltökonom und bis heute als einer der fähigsten Wirtschaftspolitiker der Bundesrepublik. Wie schon erwähnt, war Schmidt auch nicht ein so brillanter Ökonom, wie der von ihm bekämpfte Karl Schiller. Schiller war in der Lage, zu einer selbstständigen und schlüssigen Beurteilung ökonomischer Sachverhalte zu kommen. Er sah die Notwendigkeit der Freigabe der Wechselkurse, als noch viele Ökonomen und die breite Öffentlichkeit das ablehnten und Schmidt auf das primitive Instrument der Devisenbewirtschaftung zurückgreifen wollte. Schmidt argumentierte öffentlich noch mit der Theorie, dass die Inflation die Arbeitslosigkeit verhindern könnte, als sich schon längst abzeichnete, dass diese Annahme nicht mehr aufrecht zu erhalten war. Er schwankte ständig zwischen expansiver Nachfrage- und Stabilitätspolitik. Schmidt war anders als Schiller nicht in erster Linie Ökonom und wollte es auch nicht sein. Schmidt eigentliche Begabungen lagen auf einem anderen Gebiet, dem der politischen PR. Schmidt verstand es seine Politik gut zu verkaufen. Anders als es das Klischee uns glauben machen will, war Schmidt nach Brandt kein trockener Sachpolitiker, sondern er hatte ein sehr gutes Gespür für Psychologie. Schmidt verstand, dass in wirtschaftlich schwierigen Zeiten die Öffentlichkeit nicht nach politischen Visionären, sondern nach Wirtschaftspolitikern verlangte. Darum arbeite er hart daran, den Eindruck seiner Wirtschaftskompetenz in der Öffendichkeit zu festigen. Hätten statt Schmidt Politiker der Opposition, etwa Barzel, Strauß oder Kohl die Bundesrepublik in diesen Jahren regiert, wäre das Ergebnis im positiven wie im negativen Ende der siebziger Jahre wohl nicht wesentlich anders gewesen. Auch sie hätten die Mas-

131 senarbeitslosigkeit nicht verhindern können und zu einer Weltwirtschaftskrise wäre es genauso wenig gekommen. Vielleicht wäre die eine oder andere konjunkturelle Maßnahme weniger umfängreich ausgefallen und damit die Schulden nicht so stark gestiegen, aber auch das ist nicht sicher. Mit Sicherheit wären aber alle drei viel unpopulärer gewesen als Schmidt und ihnen wäre es angesichts der hohen Arbeitslosenraten wohl kaum gelungen, sich als „Weltwirtschafts-Messias" zu präsentieren. Helmut Schmidt war deshalb fur die SPD ein einmaliger Glücksfall. Kein anderer SPDPolitiker hatte das Zeug dazu zwischen den Forderungen der Gewerkschaften einerseits und den Notwendigkeiten der Stabilitätspolitik und dem Kurs der FDP andererseits bei sich immer weiter verschlechternden Rahmenbedingungen zu agieren und dabei trotz der Rückschläge dem Wähler das Gefühl zu vermitteln, die wirtschaftliche Zukunft sei bei dem Kanzler in guten Händen. Weder vorher noch nachher hat die SPD wieder einen Spitzenpolitiker mit einer so herausragenden Fähigkeit besessen. Bei der Lage der sozialliberalen Koalition war die erfolgreiche Umsetzung des Prinzips mehr Schein als Sein durchaus eine politische Leistung. Nach den Wahlen 1976 zeigte sich schnell, dass weder der Arbeitsmarkt noch der Rentenversicherung durch Konjunkturprogramme und internationale Konferenzen entlastet werden konnten.

Beschäftigungspolitik und Arbeitslosigkeit 1977-1980 Die Bundesregierung hatte nur einen sehr begrenzten Einfluss auf die Höhe der Arbeitslosigkeit, wie das Versagen ihrer Konjunkturprogramme vor Augen führte. Die wichtigsten Weichenstellungen erfolgen in der Tarifpolitik. Die Regierung musste aber mit den politischen Konsequenzen leben. Der Winter 1976/77 war der dritte Winter mit mehr als einer Million Arbeitslosen. Wegen der bisherigen Lohnabschlüsse musste Friderichs seine Prognose über die Entwicklung der Arbeitslosigkeit vor dem Wirtschaftsausschuss nach oben korrigieren. Das IfoInstitut prognostizierte für 1977 eine Arbeitslosigkeit von 4,3 Prozent. Der Präsident der Bundesanstalt fur Arbeit Stingle hielt bis 1980 noch eine weitere Million Arbeitsplätze für bedroht. Stingle glaubte: „Will man nicht nur die gegenwärtige Arbeitslosigkeit beseitigen, sondern auch die vermehrte Zahl der Erwerbstätigen mit unterbringen, so brauchen wir bis 1980 etwa zwei Millionen Arbeitsplätze. 494 Im Januar 1977 ging die Zahl der Arbeitslosen weniger stark zurück, als allgemein angenommen worden war. Das Institut fur Arbeitsmarkt- und Berufsforschung veröffentlichte eine Modellrechnung, die von 880000 Arbeitslosen im Schnitt im Jahr 1977 ausging. Die Analyse des Instituts besagte: „Der Rückgang der Zahl der Arbeitslosen beschränkte sich weiterhin auf den Personenkreis, der zuvor im verarbeitenden Gewerbe und im Bau-

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Die Zeit, Nr. 10/32, 25. Februar 1977, S. 18.

132 bereich gearbeitet hat." Diese Arbeitslosen hätten wieder sehr gute Chancen Arbeit zu finden.495 Die Bundesbank kündigte an, die Geldmenge um acht Prozent auszuweiten. Das RWI kritisierte diese expansive Ausweitung der Geldmenge. Die Bundesbank habe, „ein falsches Signal gesetzt, das die ohnehin versteifte Haltung der Gewerkschaften bei den anstehenden Lohnverhandlungen eher stärken als schwächen und den Widerstand der Unternehmen gegen überzogene Lohnforderungen eher schwächen als stärken wird." 496 Nach dem 1976 der Anteil der Gewinne auf Kosten des Lohnanteils gestiegen war, würde sich dieser Trend 1977 nicht mehr fortsetzen: „Der Kostenanstieg der deutschen Wirtschaft hält sich zwar auch in diesem Jahr in Grenzen. Doch beim wichtigsten Faktor, den Arbeitskosten, wird die Zunahme bereits wieder deudich höher liegen als 1976." Die effektiven Bruttoverdienste nahmen um acht Prozent zu. Damit würden die Löhne schneller wachsen als das reale Bruttosozialprodukt.497 Das Schlichtungsverfahren in der Metallindustrie hatte Lohnerhöhungen von 6,9 Prozent als Ergebnis. Mit den Vorleistungen zusammen ergab sich sogar eine Lohnsteigerung von 8,6 Prozent, gegenüber 7,5 Prozent, von denen der Wirtschaftsbericht ausgegangen war. Friderichs kommentierte den Abschluss besorgt: „Der Abschluss erschwert es, die Ziele der Projektion des Jahreswirtschaftsberichts zu erreichen."498 Hanns Martin Schleyer äußerte sich in einem Interview mit der im Mai 1977 zu den Lohnabschlüssen: „Wir sind enttäuscht vom Ausgang der bisherigen Lohnrunden. Sie sind über das Niveau von 1976 hinausgegangen."499 Die Regierung war inzwischen dazu übergegangen, die Arbeitslosigkeit durch zusätzliche Investitionen zu bekämpfen, aber im Wirtschaftsministerium herrschen erhebliche Zweifel daran, dass auf diesem Weg etwas ausgerichtet werden konnte. 500 Diese Herangehensweise stand jedoch im Zentrum des Denkens des neuen Arbeitsministers. Arbeitsminister Ehrenberg erklärte im März 1977 in einem Interview:,Aller aktuellen Brisanz der Konsolidierung der Rentenfinanzen zum Trotz ist unsere Aufgabe Nr. 1 die Wiederherstellung der Vollbeschäftigung." Ehrenberg bekräftigte, es sei die oberste Pflicht jeder Regierung, die Vollbeschäftigung zum obersten Ziel zu erklären. Alle wirtschafts-, finanz- und sozialpolitischen Kräfte müssten darauf konzentriert werden. Die Hauptaufgabe der Politik sei daher, ausreichendes Wirtschaftswachstum herzustellen und das „konjunkturelle Auf und Ab zu glätten."501 Arbeitsminister Ehrenbergs Konzept sah dies wie folgt: „Entscheidend fur die Erhaltung bestehender Arbeitsplätze und die Schaffung neuer Arbeitsplätze wird das Verhalten der Unternehmen und der Verbraucher sein. Die einen müssen mutig investieren, die anderen von einer übertriebenen Sparleistung lassen." Ehrenberg setzte auf eine „konzertierte Anstrengung der Wirtschafts-, Finanz- und Arbeitsmarktpolitik." Ehrenberg erwog fol495 496 497 498 499 500 501

Die Zeit, Nr. 10/32, 25. Februar 1977, S. 26. Wirtschaftswoche, Nr. 8/31,11. Februar 1977, S. 24 f. Manager Magazin, März 1977, S. 14. Wirtschaftswoche, Nr. 7/31, 4. Februar 1977, S. 27. Wirtschaftswoche, Nr. 23/31, 27. Mai 1977, S. 19. Die Zeit, Nr. 10/32, 25. Februar 1977, S. 29. Manager Magazin, März 1977, S. 17f.

133 gende Maßnahmen: die Senkung des Rentenalters bei Männern auf 60 Jahre und bei Frauen auf 58 Jahre. So sollten 150000 Arbeitsplätze frei werden. Die Einfuhrung des allgemein verbindlichen 10. Schuljahres sollte 170000 Jugendliche länger in der Schule halten. Dem lag die Rechnung zugrunde, dass ein Arbeitsloser im Jahr die Bundesanstalt zwischen 18000 und 20000 D-Mark kostete, ein Schüler jedoch den Staat dagegen nur 3000 D-Mark. Durch die Bereitschaft zu größerer Mobilität der Arbeitslosen sollten 246000 besetzt werden. Außerdem sollte die Zahl der Vermitder bei der Bundesanstalt fur Arbeit vergrößert werden. Über den Abbau von Überstunden und die Arbeitszeitverkürzung herrschte zu dieser Zeit selbst bei den Gewerkschaften noch Uneinigkeit. 502 Ehrenbergs Konzept entsprach genau den Vorstellungen, vor denen Otto Schlecht im Herbst des vorhergehenden Jahres noch gewarnt hatte. Damals hatte er beschworen: „Wir müssen uns vor Maßnahmen hüten, die viel kosten und irreversibel sind; eine Bewirtschaftung des Arbeitsvolumens, mit welchen Mitteln auch immer, heißt künstliche Verknappung unserer Ressourcen mit entsprechend niedrigen Wachstumsraten, Steuereinnahmen und Beitragszahlungen für die Versicherung."503 Der Vorsitzende des Sachverständigenrates Olaf Sievert korrigierte im Sommer 1977 die Wachstumserwartungen von fünf auf vier Prozent herunter. Hatte Friderichs noch im Frühjahr mit 850000 Arbeitslosen gerechnet, rechnete er nun mit fast einer Million. Die Arbeitslosigkeit lag mit über 930000 Arbeitslosen im Sommer 1977 um 100000 höher als im Jahr zuvor. Der SPIEGEL sah im Sommer 1977 die Arbeitslosigkeit als die „alle überlagernde Bedrohung der sozialliberalen Koalition"504 Friderichs hielt die düsteren Prognosen des Wirtschaftsministeriums noch zurück und wollte die Auseinandersetzung damit nicht vor dem Ende der Sommerpause beginnen. Friderichs richtete deshalb ein vertrauliches Schreiben an Schmidt und Apel. In dem Brief ging Friderichs von bis zu 1,1 Millionen Arbeitslosen in diesem Jahr aus und schloss die Rückkehr zur Vollbeschäftigung bis in die achtziger Jahre hinein aus und korrigierte die Wachstumserwartung von 5,5 auf 4,5 Prozent herunter. Nach der Trauerfeier für den von der RAF ermordeten Jürgen Ponto in Frankfurt trafen sich deshalb die Spitzenpolitiker der Koalition, Schmidt, Genscher, Apel, Ehrenberg und Friderichs zu einer Krisensitzung.505 Im Jahresgutachten des Sachverständigenrates 1977 mit dem programmatischen Titel „Mehr Wachstum. Mehr Beschäftigung." unterzog der Sachverständigenrat die Lohnpolitik einer Generalkritik mit dem neu entwickelten Instrumentarium der Angebotspolitik. Der Sachverständigenrat stellte fest: „Welche Bedeutung die Löhne fur die Beschäftigung haben, ist zur Kardinalfrage der Wirtschaftspolitik geworden. Das richtige Lohnniveau kann nur am Markt herausgefunden werden." Niemand könne auch nur im Nachhinein sagen, welche Lohnhöhe für Beschäftigungsimpulse optimal sei. Aus angebotsorientierter Sicht ändere dies jedoch nichts an der grundsätzlichen These, dass weniger Lohn mehr Beschäftigung gebracht hätte. Denn dann wäre ein größeres Produktionsvolumen ren-

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Wirtschaftswoche, Nr. 23/31, 17. Mai 1977, S. 14ff. Manager Magazin, Oktober 1976, S. 27. Der Spiegel, Nr. 29/31, 1 1 . 7 . 1977, S. 19 ff. Der Spiegel, Nr. 33/31, 8. August 1977, S. 19ff.

134 tabel gewesen. Die Lohnhöhe wäre der Grund dafür, dass sich das Beschäftigungsproblem nicht so schnell lösen ließ wie nach der letzten großen Rezession: „Das Niveau der Reallöhne lag vor dem Aufschwung 1975 nicht nur absolut, sondern auch im Vergleich zur Produktivität erheblich höher als vor dem Aufschwung von 1967/68." Der aktuellen Lohnpolitik stellte der Sachverständigenrat nur ein mäßiges Zeugnis aus. Die Lohnpolitik der Jahre 1976 und 1977 sei dem Konjunkturverlauf zwar angemessen gewesen, darüber hinaus sei es jedoch nicht zu einer Veränderung der „Verteilungsposition" gekommen. Der Sachverständigenrat sah darüber hinaus Korrekturbedarf. Die Änderung des Reallohnes müsse die Veränderung des Knappheitsverhältnisses auf dem Arbeitsmarkt wieder spiegeln, um beschäftigungspolitisch unbedenklich zu sein. In der aktuellen Situation hielten die Professoren sogar Abstriche am Reallohn für angemessen: „Größere Investitionsrisiken und höhere Kosten des Strukturwandels müßten sich dagegen in niedrigeren Reallöhnen niederschlagen." Um die Beschäftigung zu erhöhen, müssten aus diesem Grund die Lohnsteigerungen noch hinter der Produktionssteigerung zurückbleiben. 506 Diese Aussagen des Gutachtens provozierten harsche Reaktionen von Seiten der Gewerkschaften, denn schließlich bestritt der Sachverständigenrat nicht mehr und nicht weniger als die Arbeitsgrundlage ihrer Tarifpolitik. Eugen Loderer griff den Sachverständigenrat frontal an. Er nannte die Wirtschaftsprofessoren „dogmatische Hirne" und warf ihnen vor, sie teilten das „Welt- und Wunschbild von Arbeitergebern der allerreaktionärsten Sorte." Ein Beamter des Arbeitsministeriums kommentierte die Empfehlung: „Da kann man doch gleich die Gewerkschaftsführer in die Emigration schicken und den Marktplatz randalierenden Arbeitnehmern überlassen. 507 Für die Gewerkschaftsseite markierte das Gutachten einen grundsätzlichen Bruch mit der Institution, die sie von nun an dem Arbeitgeberlager zurechnete. In der in den Gewerkschaftlichen Monatsheften veröffentlichten Grundsatzkritik heißt es dazu: „Nach diesem Gutachten kann der Sachverständigenrat schreiben, was er will. (...) er wird bei den betroffenen Arbeitern, Angestellten und Beamten höchsten noch Gelächter ernten. Mit diesem Gutachten hat ein großes Experiment zur Versachlichung der wirtschafte- und sozialpolitischen Diskussion ein vorläufiges und trauriges Ende gefunden." 508 Die Gewerkschaften konnten nicht mehr damit rechnen, dass hohe Lohnabschlüsse automatisch von einer großzügigeren Geldpolitik aufgefangen würden, um den Preis einer Inkaufnahme höherer Inflationsraten. Im Juni 1977 hatte Otmar Emminger das Amt des Bundesbankpräsidenten übernommen. Emminger war als Vizepräsident zusammen mit Pohl als Staatssekretär im Finanzministerium in der internationalen Währungspolitik als Duo aufgetreten. Die Zeit stellte fest: „Kein anderer hat auf das internationale Geldsystem unserer Tage so stark Einfluss genommen wie Emminger." Die Regierung verzögerte die Benennung Pohls als Emmingers Nachfolger, weil die FDP darauf bestand auch Lambsdorff im Gespräch zu halten. 509

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Jahresgutachten 1977/78, S. 138 ff. Der Spiegel, Nr. 49/31, 28. November 1977, S. 32ff. Gewerkschaftliche Monatshefte 1978, S. 5. Die Zeit, Nr. 17/32, 15. April 1977, S. 20.

135 Im Juli 1977 hatte Otmar Emminger in einem Interview erklärt, er werde alles tun, um die bisherige Stabilitätspolitik der Bundesbank „konsequent fortzusetzen." Es gelte, die starke Position der D-Mark in der Welt zu erhalten. Das Endziel der inneren Geldstabilität sei noch nicht erreicht. Er erklärte: „Ich sehe es als besondere Aufgabe an, durch eine möglichst stetige Stabilitätspolitik das Vertrauen in den Geldwert zu festigen, daß die immer noch weitverbreitete Inflationsmentalität überwunden wird." Emminger lehnte die Vorstellung ab, daß „man mit ein bißchen mehr Inflation auch mehr Beschäftigung schaffen kann." Die Erfahrung in vielen Ländern hätte gezeigt, daß das nur vorübergehend wäre, aber auf Dauer nicht zu erreichen war. Emminger bezog sich dabei auf das Kommunique der Londoner Gipfelkonferenz von Anfang Mai 1977. Dort hieß es: „Die vordringlichste Aufgabe besteht darin, mehr Arbeitsplätze zu schaffen und weiterhin die Inflation zu dämpfen. Inflation verringert die Arbeitslosigkeit nicht. Im Gegenteil, sie ist eine ihrer Hauptursachen." Dadurch, dass die Bundesbank mit der Bekämpfung der Inflation zwei Jahre früher begonnen hätte als die anderen Industriestaaten, seien die aktuellen Finanzierungsbedingungen für die Wirtschaft die günstigsten aller größeren Industriestaaten. Die Zinssätze waren wieder so niedrig wie Ende der 60er Jahre. Die Zinsen für die Unternehmenskredite seien von über 10 auf 6—7 Prozent gesunken. Emminger stellte fest: „Wir sind längst nicht mehr auf Restriktionskurs. Seit Ende 1974 steuern wir einen Kurs, durch den soviel Geld bereitgestellt wird, wie fiir die gewünschte Expansion erforderlich erscheint." 510 Diese Lockerung der Geldpolitik hielt die Bundesregierung fiir nicht ausreichend. Im Herbst 1977 kam es zwischen der Bundesregierung und der Bundesbank zum Konflikt. Die Bundesregierung wollte vom Zentralbankrat eine weitere Zinssenkung erreichen, um ihre Konjunkturprogramme auch geldpolitisch zu verstärken. Bei der Beratung des Bundesbankdirektoriums und der Landeszentralbanken wurde die Senkung des Diskontsatzes jedoch mit neun zu neun Stimmen abgelehnt. Beobachter rechneten mit Zinssenkungen erst zu Beginn des nächsten Jahres. 511 Die nach wie vor hohe Arbeitslosigkeit verfehlte ihre Wirkung auf das Verhalten der Gewerkschaften nicht: Die Lohnsteigerung fiel geringer aus als im Jahr zuvor. Zu den Tarifabschlüssen fiir das Jahr 1978 stellte die Bundesbank fest: „Die Sozialpartner haben in der diesjährigen Lohnrunde den kurzfristig drängenden Problemen, nämlich der unzureichenden Ertragsbasis der Unternehmen und der hohen Arbeitslosigkeit, mit ihren Tarifvereinbarungen in gewissem Umfang Rechnung getragen." Die Zuwächse bei den Stundenverdiensten in der Metallindustrie, den Öffendichen Dienst und der Chemischen Industrie lagen bei 5 bis 5,5 Prozent, in anderen Bereichen wie Bau und Druck jedoch bei sieben Prozent. Diese Rückführung der Lohnsteigerungen war durch die Entlastungen bei der Lohnsteuer erleichtert worden. Durch die Steuersenkung würden die Nettolöhne nämlich stärker steigen als im Jahr zuvor, als sie um 6 Prozent gewachsen waren. 512

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Manager Magazin, Juli 1977, S. 19ff. Der Spiegel, Nr. 46/31, 14. November 1977, S. 57 f. Monatsberichte, Juni 1978, S. 37.

136 Nach der „Zwischenphase stagnierender Wirtschaftstätigkeit" im Frühjahr und Sommer 1977 hatte sich die wirtschaftliche Lage insgesamt im Herbst 1977 belebt. Die Lage auf dem Arbeitsmarkt hatte sich bis 1978 jedoch nicht deudich verbessert. Dies lag auch daran, dass, die „Diskrepanzen zwischen Angebot und Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt" zutage traten. Erhebungen der Arbeitsämter wiesen daraufhin, dass 1977 die Bedeutung der Gruppen, die als schwer vermittelbar galten, zugenommen hatte. Danach gehörten 57 Prozent aller Arbeitslosen im September 1977 zu diesen Problemgruppen. Zwei Jahre zuvor waren noch 49 Prozent der Arbeitslosen zu diesen Gruppen gezählt worden. 513 Daher blieb die Arbeitslosigkeit im ersten Halbjahr 1978 auf hohem Niveau. Ende Mai 1978 waren eine Million Menschen bei den Arbeitsämtern als arbeitslos gemeldet. 514 Da der Aufschwung im Herbst 1978 an Breite gewann, stieg auch wieder der Bedarf an zusätzlichen Arbeitskräften in der Wirtschaft. Die Gesamtzahl der unselbstständig Beschäftigten war im Herbst 1978 125000 Personen größer als noch ein Jahr zuvor. Ende November waren noch 960 000 Personen, das waren 4,2 Prozent der abhängig Beschäftigten, als erwerbslos gemeldet. 515 Zum Anfang des Jahres 1979 schien ein Durchbruch auf dem Arbeitsmarkt erreicht zu sein. Im Frühjahr 1979 gab die Bundesanstalt fur Arbeit den niedrigsten Stand der Arbeitslosen seit fünf Jahren bekannt. Auch das Frühjahrsgutachten der Forschungsinstitute fiel positiv aus. Die Experten rechneten mit einer Arbeitslosigkeit von 900 000 im Jahresdurchschnitt. 516 Da viele Unternehmen Investitionen jahrelang eingeschränkt und stattdessen in Staatsanleihen investiert und Bankschulden zurückgezahlt hatten, waren inzwischen viele Maschinen veraltet. Dies führte dazu, dass die Unternehmen verstärkt in ihren Maschinenpark investieren mussten. So meldete allein der Maschinenbau im Februar 1979 14 Prozent mehr Bestellungen. 517 Seit dem September 1978 gab es unter den Ökonomen eine „Woge des Optimismus." 5 1 8 Anfang 1979 erwarteten Bundesbank und Sachverständigenrat ein Wachstum zwischen 3,5 und vier Prozent. In Befragungen ging die Zahl derer, die Angst vor Arbeitslosigkeit hatten, von 38 Prozent auf 20 Prozent zurück. Sowohl der Geschäftsklima-Index als auch der Konsumklima-Index erreichten die höchsten Werte seit 1973. 5 1 9 Die Basler Prognos AG hielt die Bundesrepublik in dieser Situation fur „das Lokomotivland par exellence" und sah Westdeutschland seit dem Herbst 1978 in einer „Boomphase." Die Ertragserwartungen der Unternehmen wurden in den ersten Wochen des Jahres 1979 immer weiter nach oben korrigiert. 520 Im Sommer 1979 schrieb die : „Kein Zweifel 1979 ist ein Jahr des Booms - und ein Jahr der wirtschaftlichen Wende." 521 Im Laufe des Jahres 1979

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Monatsberichte, Februar 1978, S. 5, S. 28. Monatsbericht, Juni 1978, S. 36. Monatsberichte, Dezember 1978, S. 5. Der Spiegel, Nr. 16/33, 16. April 1979, S. 21 ff. Der Spiegel, Nr. 18/79, 30. April 1979, S. 30 f. Die Zeit, Nr. 4/34, 19. Januar 1979, S. 16. Wirtschaftswoche, Nr. 1/33, 1 Januar 1979, S. 24 f. Der Spiegel, Nr.7/33, 12. Februar 1979, S. 29 ff. Wirtschaftswoche, Nr. 29/33, 16. Juli 1979, S. 28.

137 entspannte sich die Lage auf dem Arbeitsmarkt. Zur Jahresmitte waren bei der Bundesanstalt fxir Arbeit noch 7 600 000 Arbeitslose gemeldet. Die Zahl der Beschäftigten war in den vergangenen zwölf Monaten um 3 0 0 0 0 0 gestiegen. Die Arbeitslosenzahl war jedoch nicht in der gleichen Größenordnung gesunken. Die Ursache für diesen Umstand war, dass die geburtenstarken Jahrgänge nun verstärkt auf den Arbeitsmarkt drängten und die Zahl der ausländischen Arbeitnehmer nicht mehr abnahm. Die Erteilung der Aufenthaltsgenehmigung für die Ehefrauen und heranwachsenden Kinder der ausländischen Beschäftigten erhöhte die Zahlen der Arbeitslosenstatistik.522 Im Herbst 1979 waren etwa 4 0 0 0 0 0 Arbeitnehmer mehr beschäftigt als im Jahr 1978 und 6 0 0 0 0 0 mehr als im Herbst vor zwei Jahren. 5 2 3 In der Bundesrepublik konnten bis zu 6 0 0 0 0 0 Stellen nicht besetzt werden. Der Aufschwung im Jahr 1979 zeigte also deudich, dass diejenigen Recht behalten hatten, die die Arbeitslosigkeit in dieser Größenordnung nicht fur konjunkturell sondern fur strukturell bedingt hielten. 524 Da die Bundesbank die Geldpolitik so stark gelockert hatte, machte die Entwicklung der Preise Kopfzerbrechen. Daher schien die Bundesbank 1979 zu einer restriktiveren Geldpolitik übergehen zu wollen. Bundesbankpräsident Emminger erklärte im Mai 1979 auf dem Sparkassen tag: „Nachdem im Vorjahr durch ein Zusammentreffen günstiger Sonderumstände die Teuerungsrate auf rund 2,6 Prozent abgesunken war, müssen wir für das laufende Jahr mit einem Preisanstieg von 3,5 bis vier Prozent rechnen, selbst wenn wir mit unserer Stabilitätspolitik erfolg haben." 5 2 5 In Regierungskreisen wurde deshalb bereits von einer „Zankenbewegung von Ol und Bundesbank" gesprochen. Schmidt wollte darum die Bundesbank und die Gewerkschaften bremsen und das Finanzministerium von schärferen Sparmaßnahmen abhalten. 526 Der Vorstand der IG-Metall ließ jedoch im Juli 1979 verlauten: „Der Vorstand der IG-Metall erkennt, daß die Preisentwicklung die Arbeitnehmereinkommen belastet und die Bedingungen fur die nächste Tarifrunde mitbestimmt." Eugen Loderer erklärte: „Bei weiteren drastischen Preiserhöhungen will die IG-Metall aktiv werden." Die Gewerkschaften fürchteten bei einer Fortsetzung des Preisauftriebs wilde Streiks, sollte dieser nicht durch entsprechende Lohnerhöhung kompensiert werden. 527 Die Regierung und die Bundesbank versuchten die Angst der Gewerkschaften vor dem Preisauftrieb zu dämpfen, um diese zu einer moderaten Lohnpolitik zu bewegen. Schmidt argumentierte gegenüber den Gewerkschaften, man müsse zwischen der Olpreis-bedingten Preissteigerung und der von den einheimischen Produzenten verursachten unterscheiden. So verkündete Schmidt bei jeder Gelegenheit, die an die Ölscheichs abgelieferte Mark könne nicht noch einmal verteilt werden. Loderer insistierte jedoch darauf, die IG Metall werde diese „Taschenspieler-Tricks" nicht mitmachen. Die Gewerkschaften hatten bei den letzten Tarifverhandlungen nur mit Mühe die Forderungen ihrer Basis abwehren 522 523 524 525 526 527

Manager Magazin, August 1979. Jahreswirtschaftsbericht, 1979/80, S. 54. Wirtschaftswoche, Nr. 10/33. 5. März 1979, S. 34 ff. Wirtschaftswoche, Nr. 21/33, 21. Mai 1979, S. 14f. Der Spiegel, Nr. 16/33, 16. AprÜ 1979, S. 21 ff. Wirtschaftswoche, Nr. 31/33, 30. Juli 1979, S. I4f.

138 können. Auf einer Klausurtagung in Bad Homburg einigte sich die IG Metall auf die Lohnformel fiir das Jahr 1980. Diese Formel sah einen Lohnzuwachs von Inflationsausgleich plus Zuwachs der Produktivität plus einen Zuschlag für die „davonlaufenden" Unternehmensgewinne vor. Daraus leitete die IG Metall eine Lohnforderung von 10 Prozent ab, um im Ergebnis ganze sieben Prozent zu erreichen.528 Im Dezember 1978 hatte die Bundesbank augrund der stark expansiven Tendenzen der Geldmenge beschlossen, diese im kommenden Jahr nur in einem Korridor von sechs bis neun Prozent wachsen zu lassen. Am 12. Juli 1979 beschloss der Zentralbankrat der Deutschen Bundesbank mit Wirkung vom 13. Juli den Diskontsatz von 4 Prozent auf 5 Prozent und den Lombardsatz von 5,5 Prozent auf 6 Prozent anzuheben. Die Bundesbank begründete diese Maßnahme: „Im Hinblick auf die sich abzeichnenden neuerlichen Gefahren fur die Geldwertstabilität erscheint dies dringlich, nicht nur um die Preiserhöhungen in nächster Zukunft zu begrenzen, sondern auch um über das kommende Jahresende hinaus den Preisüberwälzungsspielraum von der monetären Seite her eng zu halten." 529 Die Verschärfung der Geldpolitik zeigte in den nächsten Monaten Wirkung. Im Dezember 1979 konnte die Bundesbank feststellen: „Die Dynamik der monetären Expansion hat sich in der Bundesrepublik Deutschland in den vergangenen Monaten auf das geldpolitisch erwünschte Ausmaß vermindert."530 Die Gewerkschaften waren nicht die Einzigen, die diesen neuen Restriktionskurs mit Misstrauen betrachteten. Die Kritik an der Geldpolitik der Bundesbank kam aus einer ideologisch unverdächtigen Richtung. Das Kieler Institut hatte im Herbstgutachten des Sachverständigenrates ein Sondergutachten abgegeben. Während die Mehrheit der Forschungsinstitute von einem Wachstum von 2,5 Prozent fiir das Jahr 1980 ausgingen, glaubte das Kieler Institut an „bestenfalls eine Stagnation." Der Konjunkturexperte des Kieler Instituts Norbert Walter sah besonders die Geldpolitik der Bundesbank als kritischen Faktor an. 531 Walter erklärte dem SPIEGEL im Oktober 1979 seit einem Monat würden sich die Zeichen mehren, dass es im nächsten Jahr zu einer Stagnation kommen werde. Walter sagte für das Kieler Institut: „Wir sagen vielmehr: Im nächsten Jahr macht das Wachstum mal Pause." Walter sah vor allem zwei kritische Punkte: Die Olpreisausweitung und das knappe Geld. Dies seien, so Walter, beides „Bedingungskonstellationen" Parallelen zur Situation im Jahr 1973. Daher forderte Walter die Bundesbank auf, die Geldbremse zu lockern. Für die aktuelle Inflation machte Walter die Ausweitung der Geldmenge verantwortlich, die zwei Jahre zurücklag.532 Die Bundesbank kam zu einer anderen Einschätzung als das Kieler Institut. Zum 1. November 1979 erhöhe die Bundesbank den Diskontsatz von 5 auf 6 Prozent und den Lombardsatz von 6 auf 7 Prozent. Otmar Emminger begründete diesen Schritt damit, dass die „hausgemachte Inflation erhebliche Fortschritte" gemacht habe. 533 Emminger sah 528 529 530 531 532 533

Der Spiegel, Nr. 39/33, 24. September 1979, S. 60f. Monatsberichte, Juli 1979, S. 5. Monatsberichte, Dezember 1979, S. 9. Der Spiegel, Nr. 44/33, 29. Oktober 1979, S. 39f. Der Spiegel, Nr. 44/33, 29-Oktober 1979, S. 39f. Wirtschaftswoche, Nr. 45/33, 5. November 1979, S. 16.

139 trotz Zinserhöhung „nicht die Gefahr, die Konjunktur abzuwürgen." Er wollte ein Signal setzen für die „Sorge um die Geldwertstabilität." Emminger hatte immer wieder vor den Folgen der „Lohn-Preis-Spirale" gewarnt. Pohl, der zum Ende des Jahres Emmingen Nachfolge antreten wurde, trug Emmingers Kurs mit. 5 3 4 In diese Zeit fiel auch der Stabwechsel bei der Bundesbank. Emminger war im Mai 1977 Bundespräsident geworden und trat zum Ende des Jahres in den Ruhestand. Da nach der Erfahrung mit Klasen ein weiterer Vertreter der Großbanken abgelehnt wurde, lief alles auf den Sozialdemokraten Pohl hinaus, der seit 1977 Vizepräsident war. 535 C D U und C S U lehnten Pohl als Nachfolger von Emmingers zwar ab, dieser wurde aber von der großen Mehrheit der Zentralratsmitglieder unterstützt. Als Pohls Vize war Helmut Schlesinger vorgesehen. 536 Die Gewerkschaften kritisierten den Zentralbankrat dafür, dass dieser den Diskontsatz von 6 auf 7 Prozent und den Lombardsatz von 7 auf 8,5 Prozent anhob. Pohl erklärte im März 1980: „Ich muss schon sagen, dass ich die Kritik der IG Metall bedaure." Die Bundesbank hätte nicht die Absicht, „den Gewerkschaften oder besser den Tarifparteien den Schwarzen Peter fur die Preisentwicklung zuzuschieben." Allerdings seien die Tarifabschlüsse nicht optimal. Die Bundesregierung hielt sich mit Kritik zurück, denn Pohl hatte die Geldpolitik mit Matthöfer abgestimmt. Beide hatten sich noch vor der Sitzung des Zentralbankrates getroffen und Pohl hatte sich die Rückendeckung des Finanzministers geholt. Ein Grund dafiir waren die hohen Zinsen in den USA, die zu Kapitalabflüssen aus der Bundesrepublik führten. 537 Diese Zinsdifferenz trug dazu bei, dass die Bundesrepublik 1979 nach 14 Jahren wieder ein Leistungsbilanzdefizit aufwies. Nach neun Milliarden D-Mark Leistungsbilanzdefizit im Jahr 1979 zeichnete sich zu Beginn des Jahres 1980 sogar ein Leistungsbilanzdefizit von 20 Milliarden D-Mark ab. Allein im Januar und Februar hatte sich ein Leistungsbilanzdefizit von acht Milliarden D-Mark aufgetan. Verantwortlich dafiir waren neben den hohen US-Zinsen die hohen Preise für die Olimporte der Bundesrepublik. Im Jahr 1979 waren 48 Milliarden D-Mark an die Ölliferanten abgeflossen. Pohl warnte davor, diese Entwicklung zu „dramatisieren." Man müsse aber darüber nachdenken, „ob es sich nur um ein vorübergehendes Phänomen handelt oder ob die Bundesrepublik Deutschland auch längerfristig Abschied nehmen muß von den hohen Leistungsbilanzüberschüssen der Vergangenheit." Bundesvizepräsident Schlesinger räumte, man könne nicht von der Hand weisen, „daß der Zinsanstieg im Inland in dem einen oder anderen Bereich dämpfend auf die Konjunktur wirkt." 538 Pohl der zu erst weiteren Zinserhöhungen skeptisch gegenüber stand, schloss sich nach „einigem Zögern" den Vorschlägen seines Vizepräsidenten und der Mehrheit im Bundesbankdirektorium an. Der Diskontsatz wurde auf 7,5 Prozent erhöht und der Lombardsatz auf 9,5 Prozent. Pohl versuchte Matthöfer von der Richtigkeit dieser Linie zu überzeugen. Um einen Konflikt mit der Bundesbank zu vermeiden, erklärte Matthöfer öflendich, er halte die Entscheidung für vernünftig, obwohl die Regierung befürchtete, die harte Geld534 535 536 537 538

Der Spiegel, Nr. 45/33, 5. November 1979, S. 27f. Wirtschaftswoche, Nr. 29/33, 16. Juli 1979, S. 12. Wirtschaftswoche, Nr. 39/33, 24. September 1979, S. 20 ff. Wirtschaftswoche, Nr. 10/34, 7. März 1980, S. 14. Wirtschaftswoche, Nr. 11/34, 14. März 1980, S. 12ff.

140 politik könnte noch vor der Wahl zu einer Konjunkturdämpfung fuhren. 5 3 9 Emminger erklärte ein halbes Jahr nach seinem Abtritt am 27. Juli 1980 gegenüber der, er rechne mit einem Wachstumspfad von 2,5 Prozent. Die Gründe für die Abflachung des Wachstums lägen außerhalb der Geldpolitik. Emminger wehrte sich gegen die Behauptung, dass die Rezession durch die Geldpolitik verursacht worden sei. Emminger stelte heraus, dass die Bundesbank seit 1974 die Fiskalpolitik der Bundesregierung unterstützt habe. 5 4 0 1980 wurden die Pilotabschlüsse wieder von der IG Metall verhandelt. Zwischen dem 10 und 17. Januar 1980 sollten die ersten Tarifgespräche gefuhrt werden. Loderer hatte angeordnet, dass die Tarifpolitiker der IG Metall nicht mehr als 10,5 Prozent fordern durften. Dies führte zu Unmut an der Basis, denn in den Geschäftsstellen der IG Metall waren Forderungen von bis zu 22 Prozent Lohnsteigerungen erhoben worden. Die Gewerkschaften blieben bei ihrer Praxis Mindestbeträge als sogenannte Sozialkomponente als Lohnaufschlag durchzusetzen. Diese Praxis führte dazu, dass gerade die Kosten für die unteren Lohngruppen überproportional stiegen und der Automatisierungs- und Verlagerungsdruck bei diesen Lohngruppen ganz besonders groß war. 541 Nach Berechnungen des Wirtschaftsministeriums durfte die Lohnerhöhung nicht höher als sechs Prozent ausfallen. 5 4 2 Der SPIEGEL schrieb: „Die Sozialliberalen können sich glücklich schätzen, dass schon Anfang Oktober die Wahl zum Bundestag ansteht. Bis dahin dürfte die Trendwende der Konjunktur noch nicht allzuvielen Bundesbürgern die Stimmung verdorben haben. Läge der Wahltermin nur zwei, drei Monate später, so müßten sich die Regierenden wohl für deutlich steigende Arbeitslosenzahlen- und hohe Kurzarbeiterziffern verantworten." 543 Im Juli 1980 stieg die Arbeitslosigkeit gegenüber dem Vormonat um 70 000 Personen auf 853000. Am 6. August 1980 fand im Ferienkabinett eine Besprechung über die beunruhigende Arbeitsmarktentwicklung statt. Sie einigten sich darauf, erst nach dem Wahltag langfristige Konzepte zu diskutieren. Bis dahin war der Arbeitsmarkt durch die Rückkehr von Gastarbeitern entlastet worden, bis Mitte der achtziger Jahre würde die Zahl der Erwerbspersonen um eine Million zunehmen. Daher wurde von Arbeitsmarktexperten fur die achtziger Jahre eine Arbeitslosigkeit von 2 Millionen für wahrscheinlich gehalten. Forschungsminister Volker Hauff entwickelte in Zusammenarbeit mit dem Baseler Prognos-Institut Zukunftsstrategien, um diesem Trend zu begegnen. Nach Hauffs Vorstellung sollte der Bund durch umfangreiche Investitionen quasi Vorsorgen. Mit seinem Plan „Szenario 3" sollte „Wachstumsvorsorge" geleistet und das Wirtschaftswachstum auf durchschnittlich über vier Prozent bis Ende der achtziger Jahre angehoben werden. Diese Zielsetzung lag weit über den von den Experten für realistisch gehaltenen zwei Prozent. Hauffs Konzept sah den gewaltigen Kapitaleinsatz von 120 Milliarden D-Mark in den Bereichen Kommunikationstechnik, Energie, Wohnungsbau und soziale Diensdeistungen vor. Ein Drittel dieser Mittel sollte vom Staat aufgebracht werden. Hauff wollte die 539 540 541 542 543

Der Spiegel, Nr. 19/34, 5. Mai 1980, S. 32 ff. Wirtschaftswoche, Nr. 30/34, 27. Juli 1980, S. 40 ff. Wirtschaftswoche, Nr. 1,2/34, 7. Januar 1980, S. 12f. Wirtschaftswoche, Nr. 4/34, 25. Januar 1980, S. 22 ff. Der Spiegel, Nr. 30/34, 21. Juli 1980, S. 19 ff.

141 staatlichen Förderungen mit der Aufnahme von Krediten aus den Ölstaaten finanzieren. Dieser Plan stieß bei Bundeskanzler Schmidt und der FDP auf Ablehnung. 544

Zusammenfassung: Geld- und Lohnpolitik 1977-1980 Zwischen 1977 und 1980 können wir eine Konjunkturwelle beobachten und welchen Einfluss dies im Verlauf auf die politische Diskussion hat. Nach den Bundestagswahlen 1976 verschärfte sich die Lage auf dem Arbeitsmarkt. Die Lohnpolitik wirkte wieder expansiv. Ehrenberg setzte auf die Reduzierung des Arbeitskräfteangebots durch längere Ausbildungszeiten und kürzere Lebensarbeitszeiten. Ein Konzept von dem Otto Schlecht überzeugt war, dass es langfristig wachstumshemmend wirken würde. Der Sachverständigenrat wagte in dieser Lage eine Grundsatzkritik und machte auf den Zusammenhang zwischen Beschäftigungslage und Reallohnentwicklung aufmerksam. Die Gewerkschaften machten deshalb im Sachverständigenrat einen ideologischen Gegner aus. Wegen der hohen Arbeitslosigkeit sahen sich die Gewerkschaften zu moderaten Lohnabschlüssen und die Geldpolitik zu Zinssenkungen genötigt. Beides zusammen schuf günstige Rahmenbedingungen fur die Verbesserung der Beschäftigungslage. Im Herbst 1978 besserte sich die Beschäftigungslage und das Jahr 1979 wurde gar als wirtschaftlicher „Boom" wahrgenommen. Der Aufschwung schwächte sich im Jahr 1980 ab und ging nach der Bundestagswahl zum Abschwung über. Diese Entwicklung läuft parallel mit der Entwicklung der Geld- und der Lohnpolitik. Der hier wirksame Mechanismus ist klar erkennbar. Die Lockerung der Geldpolitik führte zu einer Abschwächung der realen Lohnentwicklung und das zu einer Verbesserung der Beschäftigungssituation. Die Preissteigerung setzte aber die Gewerkschaften wieder unter Druck ihre TarifForderungen anzupassen und die Bundesbank zu einer restriktiveren Geldpolitik über zu gehen. Höhere Löhne und höhere Zinsen setzen dann wieder die Wirtschaft unter Druck und leiteten im Herbst 1980 den Abschwung ein. Im Aufschwung zeigte sich, dass die Arbeitslosigkeit nicht nur durch die Konjunktur bedingt war, sondern eine wachsende Zahl von Arbeitslosen auch in Aufschwungphasen aufgrund ihres Bildungsprofils und ihrer mangelnden Qualifikation keine Beschäftigung mehr fanden. Es war absehbar, dass der Arbeitsmarkt sich so schnell nicht mehr erholen würde, weil aus demographischen Gründen sich die Nachfrage nach Arbeitsplätzen in den achtziger Jahren stark zunehmen würde. Deshalb rechnete die Regierung schon mit bis zu zwei Millionen Arbeitslosen, was sich später auch bewahrheitet hatte. Bis zum Aufschwung im Jahr 1989 musste die nächste Bundesregierung unter den Bedingungen dieser hohen Arbeitslosigkeit agieren.

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Der Spiegel, Nr. 33/34, 11. August 1980, S. 17 f.

142

Langzeitarbeitslosigkeit und die Geburt des „Prekariats" Bis zur Mitte der siebziger Jahre hatte die Arbeitslosigkeit in der bundesdeutschen Gesellschaft keine wesentliche Rolle gespielt. Das Hauptproblem schien eher zu sein genug Arbeitskräfte für die boomende Nachkriegswirtschaft zu finden. Der Arbeitsmarkt war so leer gefegt, dass auf ausländische Gastarbeiter zurückgegriffen wurde. Dies änderte sich im Herbst 1974/75. Plötzlich war die Epoche der Vollbeschäftigung zu Ende und die Arbeitslosigkeit wurde zu einem zentralen Thema der politischen Auseinandersetzung. Die Bezieher staadicher Leistungen aufgrund von Arbeitslosigkeit wurden seit dem zu einem festen Bestandteil der westdeutschen Gesellschaft. Diese Gruppe entwickelte ein eigenes soziales Profil und eine besondere Subkultur. Dieses Phänomen beschreibt Diether Döring in seiner Übersicht über die Aspekte des deutschen Sozialstaates wie folgt: Mit dem Krisenjahr 1974 hätten sich zwei Gruppen von Erwerbstätigen herausgebildet. Eine Gruppe sei von der Dauerarbeitslosigkeit getroffen und sinke daher durch das Versicherungssystem von Arbeitslosengeld auf Arbeitslosenhilfe ab. Dem Gegenüber sei eine Mehrheit der Beschäftigten von der Arbeitslosigkeit so gut wie gar nicht betroffen gewesen: „Durch die Jahr für Jahr stattfindenden millionenfachen Auswahlprozesse auf dem Arbeitsmarkt sind zunehmend solche Arbeitnehmer „aussortiert" worden, die tatsächlich oder vermeindich in geringerem Maße den gestellten Leistungsanforderungen gerecht werden können. Fehlende oder überholte Ausbildung, gesundheidiche Beschränkungen, höheres Alter und sprachliche Defizite (Ausländer) sind typische Negativkriterien." Arbeitsmarktanalysen hätten gezeigt, dass etwa 40 Prozent der Arbeitnehmer von der Konzentration in stärkerem Maße von Arbeitslosigkeit betroffen waren, währen 60 Prozent „im Laufe der Beschäftigungskrise nicht messbar von Arbeitslosigkeit betroffen waren." Diese „Segmentation" sei das Ergebnis „lang währender Filterungsprozesse" auf dem Arb e i t s m a r k t . D e r Rahmen fur diese „Filterung" wurde in der Zeit der sozialliberalen Koalition geschaffen und der Filterungsprozess hat sich seit dem mit unterschiedlichem Beschleunigungsgrad bis zum Ende des hier beschriebenen Zeitraums fortgesetzt. Der Beschäftigungsabbau hielt drei Jahre lang an und kam erst 1976, 12 Monate nach der wirtschaftlichen Wende zum Positiven im Sommer 1975 zum vorläufigen Stillstand. Insgesamt hatte die Zahl der Erwerbspersonen in diesem Zeitraum um 1,3 Millionen abgenommen. 546 Seit dem Krisenjahr 1974 hatte sich die durchschnittliche Dauer der Arbeitslosigkeit stark erhöht. Im Mai 1976 waren 45 Prozent der Arbeitslosen länger als ein halbes Jahr ohne Beschäftigung. Die Dauer der Arbeitslosigkeit erhöhte sich vor allem für die Personengruppe, „deren Qualifikation nicht den Anforderungen der Arbeitgeber entsprach oder deren Einkommensanspruch vergleichsweise hoch waren." Die Zeit der Vollbeschäftigung und des knappen Arbeitskräfteangebots, das jedem eine Chance auf Einstellung bot, war vorbei. Den Arbeitgebern war es nun möglich aus einem breiten Arbeitskräfteangebot die geeigneten herauszusuchen und ihre Ansprüche an Qualifikation und Motivation zu erhöhen. Dies war eine wachsende Hürde fur Geringqualifizierte und in ihrem Arbeitseinsatz in irgendeiner Form beeinträchtigte. Unter den Beschäftigten 545 546

Diether Döring, Sozialstaat, Frankfurt a.M. 2004, S. 52 f. Jahresgutachten 1976/77, S. 53.

143 machte der Anteil aus dem Personenkreis ohne abgeschlossene Berufsausbildung noch 27 Prozent aus, die stellten aber schon mehr als die Hälfte der Arbeitslosen. Nach Ansicht des Sachverständigenrates war der Anreiz fur die Wegrationalisierung der unteren Lohngruppen besonders groß, weil fur diese in den Jahren zuvor von den Gewerkschaften die höchsten Einkommenssteigerungen durchgesetzt worden waren. 547 Bei den Tarifverhandlungen 1974 hatten die Gewerkschaften in „zahlreichen Tarifgebieten überdurchschnitdiche Tariferhöhungen fur die in unteren Lohn- und Gehaltsgruppen eingestuften Arbeitnehmer erreicht." Diese Anhebung der Lohnkosten der unteren Lohngruppen erfolgt durch die Anhebung der Löhne durch einen Mindestbeitrag, die Anhebung oder Fortfall der unteren Tarifgruppen, die Erhöhung der Stundenlöhne durch einen einheidichen Betrag. 548 Auch innerhalb der Gewerkschaften gab es Stimmen, die die Wirkung der „Sockelbeträge" problematisch fanden. Der Vorsitzende der IG Chemie Hauenschild äußerte sich im November 1976 in einem Interview zu dieser Praxis: „In bestimmten Situation ist es durchaus vernünftig, den unteren Einkommensgruppen einen Vorsprung zu verschaffen. Denkt man in längeren Zeitabläufen, kann aber die Zusammenschiebung der Lohn- und Gehaltsgruppen bedenklich werden. Der qualifizierte Arbeiter fragt sich eines Tages: „Warum habe ich vier, fünf Jahre in meine Ausbildung investiert, wenn ich kaum mehr bekomme als ein Ungelernter."" 549 Diese systematische Verteuerung der unteren Lohngruppen konnte nicht ohne Konsequenzen fur die Beschäftigungslage bleiben. Bereits im Krisenjahr 1975 hatte der Direktor des Instituts fur Arbeitsmarkt- und Berufsforschung Dieter Mertens geschrieben, alle Informationen wiesen darauf hin, dass „die vielbesprochene Sorge vor einem künftigen „strukturbedingten Sockel von Arbeitslosigkeit", der auch bei ausreichender konjunktureller Nachfrageentwicklung bestehen bleiben würde, also am ehesten in die Gefahr übersetzt werden kann, daß unqualifizierte Arbeitskräfte in Zukunft immer weniger auf zumutbare Arbeitsplätze treffen werden." Mertens beschrieb noch einen anderen Umstand, der für die Zukunft des deutschen Sozialgefüges wichtig werden sollte und die Vorstellungen vieler Bildungs- und Arbeitsmarktpolitiker die Dauerarbeitslosigkeit der Geringqualifizierten durch Weiterbildungsprogramme quasi auf eine höhere Qualifikationsstufe zu heben ins Reich der Illusion verwies: „Auf der anderen Seite könnte die Anpassung wohl nur in geringerem Umfang durch die Höherqualifizierung von unqualifizierten oder gering qualifizierten Erwachsenen erfolgen. Als Regelfall gilt nach gesicherten Forschungsergebnissen, daß das Weiterbildungspotential um so geringer ist, je niedriger die Erstqualifizierung angesetzt war. Mangelnde Erstqualifizierung gilt als ausgesprochenes Weiterbildungshemmnis; Spätkorrekturen auch in horizontaler Richtung, erst recht aber in vertikaler Richtung sind eher innerhalb der mitderen und oberen Qualifikationen herstellbar." 550

547 548 549 550

Jahresgutachten, 1976/77, 58. WSI, März 1973, S. 132 f. Manager Magazin, November 1976, S. 17. Dieter Mertens: Unterqualifikation oder Überqualifikation?, in: Gewerkschaftliche Monatshefte, 8/1976, S. 491 ff.

144 Die höheren Qualifikationsanforderungen ergaben sich aus dem Prozess der Rationalisierung, die einfache Tätigkeiten dauerhaft leicht ersetzbar machten. Eine Episode, von der neue Wirtschaftsminister Otto Graf Lambsdorff drei Jahre später berichtete, fuhrt sehr plastisch vor Augen, was sich seit Mitte der siebziger Jahre in vielen Unternehmen ereignete. Lambsdorff erzählte in einem Interview diese vielsagende Begebenheit bei einem Besuch bei VW. Ein Vorstandsmitglied des Autokonzerns hatte ihn durch ein Werk gefuhrt. Dieser habe ihm eine Maschine gezeigt und gesagt: „Da können sie sehen, wie Handreichungen eines Mannes, der noch an der Nebenmaschine steht, durch Technik ersetzt werden. Und diese Maschine kostet eine bestimmte Summe. Der Mann daneben kostet etwas weniger. Wenn er die gleiche Summe kosten wird, dann ersetzen wir ihn durch die Maschine." 551 Dieser Prozess hätte sich ohne Zweifel auch unter dem Vorzeichen einer anderen, moderateren Tarifpolitik vollzogen, aber wohl nicht in dieser Geschwindigkeit und Konsequenz. Nach Berechnungen des DIW führten die Rationalisierungen der Unternehmen jährlich zum Verlust von 1,3 Millionen Arbeitsplätzen. Das Institut fur Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesanstalt fxir Arbeit legte Berechnungen vor, wonach zwischen 1970 und 1975 jährlich drei Prozent der Arbeitsplätze dem „technischen Wandel" zum Opfer gefallen waren. Nach Umfragen des Ifo-Instituts gingen im Jahr 1975 gut 46 Prozent aller industriellen Investitionen in die Rationalisierung. Der Vorsitzende der IG Metall Eugen Loderer befürchtete, dass die Mikroelektronik, zusätzlich Arbeitsplätze dahin schmelzen lassen würde wie „der Schnee in der Sonne." Durch die Wachstumsschwäche der Wirtschaft konnte der Verlust von Arbeitsplätzen durch die Rationalisierung nicht mehr durch die Ausweitung der Produktion kompensiert werden. Loderer kritisierte die Arbeitgeber dafür, dass diese mit „weniger Menschen neue Produkte herstellen." Damit widersprachen die Gewerkschaften ihrer bisherigen Argumentation. Diese hatten schließlich die hohen Lohnabschlüsse immer dadurch gerechtfertigt, dass diese als „Rationalisierungspeitsche" wirke, die die Unternehmen dazu zwang immer effizienter zu produzieren. Nun da sich der „Erfolg" einstellte, konnten die Arbeitnehmer kaum glücklich damit sein. Der sozialdemokratische Forschungsminister Hauff vertrat den für einen Forschungsminister ungewöhnlichen Standpunkt: „Wir stehen heute vor der Herausforderung durch international abgestimmte Maßnahmen die zeitweise Nichtverbreitung jener zivilen Technologien zu ermöglichen, deren Anwendung schwere soziale Verwüstungen nach sich ziehen würde." 552 Die Rationalisierung und Technisierung machte die Schaffung neuer Arbeitsplätze teurer als in der Vergangenheit und erforderte mehr Investitionen. Horst Seidler vom DIW hatte berechnet: „1976 kostet ein Arbeitsplatz 129000 D-Mark. Ausgeschieden sind aber Arbeitsplätze, die vor zwanzig Jahren mit einem Kapitalaufwand von 31000 D M geschaffen wurden. Jeder Arbeitsplatz der 1976 geschaffen wurde, war viermal so teuer wie einer vor 25 Jahren." 553 Anfang 1974 lebten nur 28000 Personen von der Arbeitslosenhilfe, aber im Juni 1975 waren es schon über 100000 Arbeitslosenhilfeempfänger. Im Verlauf der Krise gerieten 551 552 553

Die Zeit, Nr. 48/32, 18. November 1977, S. 17ff. Die Zeit, Nr. 15/33, 7. April 1978, S. 25. Die Zeit, Nr. 10/32, 25. Februar 1977, S. 30.

145 Zehntausende Arbeitslose in den Zuständigkeitsbereich der Sozialämter. Auf diesen Andrang waren Politik und Behörden nicht vorbereitet, da das Phänomen der Langzeitarbeitslosigkeit in den vergangenen Jahrzehnten verschwunden war und kaum jemand seine Wiederkehr einkalkuliert hatte. 554 Daher waren die Sozialämter vorerst mit der Bearbeitung überfordert. In diesen Jahren entstand das soziale Phänomen, für das in den letzten Jahren der Begriff Prekariat gebildet hat. Damit ist eine Bevölkerungsgruppe gemeint, die aufgrund ihrer sozialen Biographie und ihres Bildungsprofils selbst unter günstigsten konjunkturellen Bedingungen keinen Arbeitsplatz mehr findet, deren Beschäftigungslosigkeit ihre Biographie bestimmt, deren Absturz aber in die Existenz bedrohende Armut durch die ständige Unterstützung aus den sozialen Transferleistungen verhindert wird. Der Chef des Düsseldorfer Arbeitsamtes Anton Rohleder kam zu der realistischen Einschätzung: „Selbst wenn morgen wieder Hochkonjunktur herrschen würde und wir genügend offene Stellen hätten, würden nur die Leistungsfähigsten und Qualifiziertesten unter den Dauerarbeitslosen kurzfristig wieder Arbeit haben." 555 Daher wurden schon bald Arbeitsbeschaffungsprogramme speziell für die Zielgruppe der Problemgruppen entwickelt, deren langfristige Wirkung aber schon damals selbst von den SPD-Arbeitsmarktpolitikern angezweifelt wurde. 556 In diesem Kapitel haben wir gesehen, dass die Arbeitslosigkeit durch Rationalisierung und Tarifpolitik Arbeitslose mit einem besonderen sozialen Profil hervorbrachte, für die in jüngster Zeit der Begriff „Prekariat" geprägt wurde. Nun kommen wir auf die Frage, welchen Einfluss der deutsche Sozialstaat auf die Motivation der Arbeitslosen ausgeübt hat, wie die Bundesregierung darauf reagiert hat und welche politischen Streitigkeiten sich daraus ergaben.

Der Streit um die Zumutbarkeitskriterien für Arbeitslose In der Wirtschaftswissenschaft gibt es den Begriff der „freiwilligen Arbeitslosigkeit." Damit ist gemeint, dass es Menschen die Arbeitslosigkeit der Beschäftigung vorziehen, wenn sich die Arbeit in Hinblick auf Aufwand und Endohnung im Vergleich zur Beschäftigungslosigkeit nicht lohnt, weil etwa der Abstand zwischen der Lohn- und der Sozialleistung nicht groß genug ist. Ob die im Vergleich zu den 50er und 60er Jahren hohe Beschäftigungslosigkeit ab Mitte der siebziger Jahre in diesem Sinne zu einem gewissen Teil „freiwillige Arbeitslosigkeit" war, also auch eine Frage fehlender Motivation der Arbeitslosen war, eine weniger attraktive Stelle anzunehmen, wurde bald zum Streitpunkt. Der Präsident des Deutschen Instituts fur Wirtschaftsforschung Karl König erklärte im Sommer 1975: „Überspitzt trifft für einige Bereiche in der Wirtschaft der Satz zu, daß es den Arbeitslosen zu gut geht." Zu dieser Erkenntnis kam selbst Walter Arendts Arbeitsministerium. Uber diese Problematik kam es zu einem Briefwechsel zwischen Arendt und dem Präsidenten der

554 555 556

Der Spiegel, Nr. 28/29, 7. Juli 1975, S. 20 f. Der Spiegel, Nr. 28/29, 7. Juli 1975, S. 20f. Der Spiegel, Nr. 20/31, 9. Mai 1977, S. 41.

146 Bundesanstalt. Beide einigten sich darauf, dass mehr Druck auf die Arbeitslosen ausgeübt werden müsse, eine neue Beschäftigung auch zu schlechteren Bedingungen aufzunehmen. Zu diesem Zeitpunkt erhielt ein Arbeitsloser 68 Prozent des letzten Bruttoeinkommens. Nach dem Gesetz musste ein Arbeitsloser jede „zumutbare Beschäftigung" annehmen, die er aufnehmen konnte. Arendt wollte nun den Begriff der „Zumutbarkeit" präzisieren, um diese Forderung auch in der Praxis umsetzen zu können. Mitte Juni 1975 beauftragte Arendt den zuständigen Ministerialdirektor Manfred Baden mit dieser Aufgabe. Baden umriss die Problematik seiner Aufgabe: „Der Arbeitnehmer wurde jahrelang dazu erzogen, nach oben zu steigen. Man muß ihm auch klarmachen, daß es auch mal runter gehen kann." Dies war leichter gesagt als realisiert. Denn in der Praxis gab es viel subtilere Methoden, eine Beschäftigung auszuschlagen, als die offene Ablehnung. Der Leiter der Kölner Arbeitsanstalt beschrieb die gängige Form der Zurückweisung eines Arbeitsplatzangebotes so: Wer keine Arbeit wolle, verhalte sich bei der Vorstellung einfach so, dass der Arbeitgeber „kein überdurchschnitdiches Interesse an ihm hat." 5 5 7 Am 12. Juli 1975 erläuterte Arendt im Rahmen einer „sozialpolitischen Gesprächsrunde" im Arbeitsministerium, den anwesenden Vertretern von Arbeitgebern, Gewerkschaften und Ministerialbürokratie die vielfältigen Tatbestände des Missbrauchs sozialer Leistungen. Arendt kündigte an, die durch das Arbeitsförderungsgesetz gedeckten Umschulungsleistungen der „arbeitsmarktpolitischen Notwendigkeit" anzupassen, um Missbrauch in diesem Bereich in Zukunft zu vermeiden. 558 Ein Beispiel für die mangelnde Motivation und Qualifikation des von den Arbeitsämtern verwalteten Pools von Arbeitslosen waren die Erfahrungen des Unternehmens Ford. Die Autofirma stellte zwischen dem 1. April 1975 und dem 31. Juli 1976 3612 Arbeitnehmer ein, von denen 600 durch das Arbeitsamt vermittelt worden waren. Am Ende dieses Zeitraums war nur jeder Dritte der vom Arbeitsamt vermittelten auf dem neuen Arbeitsplatz geblieben. 559 Als 1976 die wirtschaftliche Erholung einsetzte, trat zum ersten Mal das seit dieser Zeit wohlbekannte Phänomen auf, dass bei anspringender Konjunktur trotz hoher nomineller Arbeitslosenzahlen die offenen Stellen nicht besetzt werden konnten. Allein in der Gastronomie konnten 50 000 Arbeitsplätze nicht besetzt werden. Auch für die Industrieproduktion konnten die Unternehmen im Sommer 1976 ihre Nachfrage nicht decken. Das Institut der Deutschen Wirtschaft stellte im Juni 1976 fest: „Trotz über einer Million Arbeitsloser konnten viele Unternehmen ihren Facharbeiterbedarf nicht im gewünschten Umfang decken." Im Juli 1976 vermeldete die Bundesanstalt 247000 offene Stellen. Das Berufsprofil der Mehrheit der Arbeitslosen entsprach nämlich nicht den Anforderungen des Arbeitsplatzangebotes. Mehr als die Hälfte der Arbeitslosen verfugten über keine Berufsausbildung. Für „Hilfsarbeiter ohne nähere Tätigkeitsangabe" waren nur etwa 2600 offene Stellen gemeldet. 560 Der Sachverständigenrat stellte in seinem Gutachten aus dem Herbst 1976 fest: „Möglicherweise haben sich inzwischen Verhaltensänderungen vollzogen, die dazu geführt haben können, daß sich die Arbeitslosen mehr Zeit 557 558 559 560

Wirtschaftswoche, Nr. 29/29, 11. Juli 1975, S. 22 f. Wirtschaftswoche, Nr. 30/29, 18. Juli 1975, S. 20 f. Manager Magazin, Oktober 1976, S. 25. Die Zeit, Nr. 37/31, 3. September 1976, S. 19.

147 lassen als früher, ehe sie eine neue Stelle annehmen oder daß sie weniger abgeneigt sind, längere Zeit arbeitslos zu bleiben. 561 Zu diesen Verhaltensweisen gehörte die räumliche und berufliche Unbeweglichkeit der Betroffenen. Zur Zeit des Gutachtens galten bei der Bundesanstalt fur Arbeit nur 17 Prozent der Arbeitslosen als regional „ausgleichsfähig", was bedeutete, dass 83 Prozent der Betroffenen nicht bereit waren umzuziehen. Staatssekretär Otto Schlecht äußerte sich zur Flexibilität der Arbeitslosen: „Versuchen Sie mal, eine arbeitslose Sekretärin hinter die Ladenkasse zu setzen." 562 Dieser Trend setzte sich auch im darauffolgenden Jahr weiter fort. Nach einer Umfrage der Industrie- und Handelskammer Koblenz konnten allein dort in der konjunkturellen Erholungsphase 1977 Tausende neuer Stellen nicht besetzt werden, weil die von den Arbeitsämtern vermittelten eigendich nicht arbeiten wollten. Schon damals gingen die Firmen wegen dieser frustrierenden Erfahrung dazu über, offene Stellen nicht mehr beim Arbeitsamt zu melden. 563 Innerhalb von nur zwei Jahren war eine Lage entstanden, in der hunderttausende von Arbeitslosen unter den gegebenen Umständen zwar öffendiche Leistungen empfingen, aber dem Arbeitsmarkt faktisch nicht mehr zur Verfügung standen. 82 Prozent der Arbeitslosen waren nicht zum Ortswechsel bereit, 53 Prozent verfugten über keine abgeschlossene Berufsausbildung, 9 Prozent verfugten über überhaupt keine Berufserfahrung, 20 Prozent waren nur an Teilzeitarbeit interessiert, 27 Prozent galten als gesundheidich beeinträchtigt, 12 Prozent waren 55 Jahre und älter. 564 Neben dem offiziellen Arbeitsmarkt, auf dem steigende Steuer- und Sozialabgaben geleistet werden mussten und auf dem Arbeit immer knapper zu werden schien, wuchs die Beschäftigung auf dem nicht offiziellen Arbeitsmarkt. Die Bundesbank registrierte einen wachsenden Bedarf an Bargeld, obwohl der Trend zur Abwicklung von Zahlungen über Schecks und Kreditkarten zunahm. Dies führte die Bundesbank auf das Anwachsen der Schwarzarbeit zurück. Der Bargeldumlauf steige deshalb, weil die „grauen Zonen des Wirtschaftsverkehrs, in denen Leistungen ohne Steuern und Sozialabgaben erbracht und bar abgerechnet werden" zunahmen. 565 Am 8. August 1978 erließ die Bundesanstalt fur Arbeit einen Vorschriftenkatalog zur Frage der Zumutbarkeit von Arbeitsstellen für Arbeitslose. Die Bundesanstalt für Arbeit stellte fest: „Im Interesse einer alsbaldigen Beendigung seiner Arbeitslosigkeit schuldet der Leistungsempfänger der Versicherungsgemeinschaft eine weitgehende Anpassung seiner Vermitdungswünsche und Vorstellungen an die Bedürfnisse des Arbeitsmarktes." Seine Arbeitsbereitschaft dürfe sich „nicht auf eine Beschäftigung in seinem erlernten, überwiegen, oder zuletzt ausgeübten Beruf beschränken." Sei eine Vermitdung nicht innerhalb von sechs Monaten zu erreichen, dann müsse auch eine darunterliegende Qualifikationsstufe akzeptiert werden. Nach zwölf Monaten sei auch ein Umzug zumutbar. Diese Regelung war allerdings durch die Bedürfnisse der Kinder der Betroffenen eingeschränkt. 566 561 562 563 564 565 566

Jahresgutachten 1976/77, S. 61. Manager Magazin, Oktober 1976, S. 26. Wirtschaftswoche, Nr. 32/31, 29. Juli 1977, S. I4f. Die Zeit, Nr. 16/33, 14. AprÜ 1978, S. 51. Der Spiegel, Nr. 36/32, 4. September 1978, S. 86fF. Archiv der Gegenwart, S. 22100f.

148 Da in den darauffolgenden Monaten eine breite Diskussion darüber stattfand, sollten die Zumutbarkeitskriterien konkretisiert werden. Am 21 November 1978 wurde eine weitere Arbeitsfbrderungs-Novelle im Kabinett beschlossen. Die Regierung schuf damit Regelungen zur bundesweit einheitlichen Anwendbarkeit der Zumutbarkeit. Die Regierung erweiterte die Maßnahmen zur Verbesserung der beruflichen Bildung und wollte den Zugang zu Fortbildungsmaßnahmen fur Jugendliche erleichtern.567 Herbert Ehrenberg war frühzeitig, zu der Überzeugung gelangt, dass die mangelnde Flexibilität der Arbeitslosen eine Schlüsselfrage des Arbeitsmarktes war. Bereits 1974 vertrat Ehrenberg in seinem Buch die Ansicht, Mobilität sei zwar „inzwischen fast zu einem Schlagwort geworden, aber sie ist in vielen Bereichen längst nicht groß genug. Und die Arbeitsmarktpolitik muß nicht nur die berufliche und regionale Mobilität erhöhen, sie muß auch - was sehr viel schwieriger ist - die mobiler gewordenen Arbeitskräfte (beruflich und regional) in eine Richtung lenken, die morgen noch Bestand hat." 5 6 8 Dieser Linie blieb Ehrenberg als Minister treu, auch wenn dies auf den erheblichen Widerstand der Gewerkschaften stieß. Ehrenberg erklärte im April 1979 in einem Interview, die mangelnde Mobilität der Arbeitnehmer sei ein gravierendes Problem. Es sei jedoch „vordringliches Ziel der regionalen Arbeitsmarktpolitik (...) die Maschinen zu den Leuten zu bringen und nicht die Leute zu den Maschinen zu holen." Er rechtfertigte die Schutzbestimmungen für ältere Arbeitnehmer, die von vielen als Sperre für den Wiedereinstieg älterer Arbeitsloser in den Axbeitsmarkt angesehen wurden. „Wenn ein Unternehmen pleite macht, wird ein älterer Angestellter sehr viel schwerer zu vermitteln sein als ein jüngerer. Solange aber das Unternehmen besteht - und die Mehrzahl der Unternehmen macht ja nicht pleite, sondern existiert weiter — ist der ältere eben schutzbedürftiger." Ehrenberg machte noch weitere Einschränkungen. Die Bundesregierung werde den Kündigungsschutz daher nicht einschränken, sondern eher noch ausbauen. 569 Norbert Blüm nutzte diese Situation, um Ehrenberg links zu überholen und die Verstimmung der Gewerkschaften auf seine Mühlen zu leiten. Blüm kritisierten Ehrenberg für das neue Arbeitsförderungsgesetz und forderte seinen Rücktritt. Blüm sprach sich gegen den Zwang zur Fort- und Weiterbildung und zur Annahme von Beschäftigung und den Zwang zur Mobilität aus. Die Notwendigkeit, sich einen Arbeitsplatz in einem anderen Teil der Republik zu suchen, nannte Blüm den „Marsch in die Zugvogelgesellschaft." Er kritisierte an Ehrenbergs Politik: „Im übrigen stört mich an der Ehrenberg-Novelle, daß hier offensichtlich Arbeitslose mit Drückebergern gleichgesetzt werden." 570 Der sozialdemokratische Arbeitsminister stand der Motivation eines Teils der Arbeitslosen tatsächlich skeptisch gegenüber. Ehrenberg ließ 1979 eine Studie erstellen, die zu dem Ergebnis kam, dass etwa 10 Prozent der Arbeitslosen nicht vermittelt werden wollten. Ehrenberg äußerte gegenüber der: „Wer sich noch die Hände dreckig machen will, findet auch einen Arbeitsplatz" 571 567 568 569 570 571

Archiv der Gegenwart, S. 22251. Ehrenberg, Marx und Markt, S. 252. Die Zeit, Nr. 16/34, 13. April 1979, S. 17f. Wirtschaftswoche, Nr. 10/33, 5. März 1979, S. 40. Wirtschaftswoche, Nr. 10/33, 5. März 1979, S. 34 ff.

149 Der Erlass der Bundesanstalt vom Herbst 1978 wurde zum Anlass dafür, dass die Gewerkschaften auf „Kollisionskurs" zu Ehrenberg gingen. In der „Welt der Arbeit" wurde Ehrenbergs Arbeitsmarktpolitik angegriffen als .Affront gegen die Arbeitnehmer." Ehrenberg selbst betätige sich als „Sachverwalter der Unternehmer." Ein Erlass der Bundesanstalt für Arbeit, der mit Ehrenbergs Genehmigung erlassen worden war, sollte mit der Drohung Leistungen zu sperren Druck auf die Arbeitslosen ausüben, auch Arbeit fur geringer Qualifizierte anzunehmen. Der Protest gegen diese Maßnahme von Seiten der SPD-Fraktion und der Gewerkschaften war so groß, dass Ehrenberg sich genötigt sah, den zuständigen Abteilungsleiter zu endassen. Der entlassene Beamte, der der C D U angehörte, hatte jedoch nur die Vorgaben Ehrenbergs umgesetzt. Einige Wochen später legte Ehrenberg eigene Änderungsvorschläge zum Arbeitsförderungsgesetz vor. Herabstufungen sollten auch in Ehrenbergs Entwurf möglich sein und das Wochenendpendeln wurde als zumutbare Arbeitsbedingung vorgesehen. Dies führte zu einem massiven Konflikt mit der Arbeitsgemeinschaft fur Arbeitgeberfragen (AfA) in der SPD. Der Vorsitzende Helmut Rohde warf Ehrenberg vor, mit diesen Maßnahmen die Schaffung gering qualifizierter Arbeitsplätze zu fördern. Damit würde er den Widerstand gegen die „Disziplinierung" der Arbeitnehmer durch die Arbeitgeber schwächen. Der Vorstand der AfA beschloss, die SPD-Fraktion aufzufordern, Ehrenbergs Gesetzentwurf zu korrigieren. Um der Arbeitsgemeinschaft entgegenzukommen, ernannte Ehrenberg einen engen Vertrauten Rohdes und Wehners zum Nachfolger des endassenen Abteilungsleiters. Diese Entscheidung traf Ehrenberg auch mit Blick auf seine Kandidatur fur die Wahl zum Parteivorstand auf dem Parteitag im Dezember 1979. 5 7 2 Auch Bundeskanzler Helmut Schmidt hatte erhebliche Zweifel an der Motivation der Arbeitslosen. Schmidt glaubte: „Die Leute haben einfach keine Lust mehr zu arbeiten." Zu dieser Überzeugung kam Schmidt durch Gespräche mit Betriebsräten, die ihm ihre Erfahrungen schilderten. Schmidt war sich mit Bundesbankpräsident Emminger, mit dem Schmidt über die Thematik im Sommer 1979 sprach, einig, dass die Arbeitslosigkeit auch im Aufschwung nicht verschwinden würde, weil Ungelernte, Ältere und Frauen für die Arbeitgeber einfach zu teuer waren. 573 Die Befürchtungen der Gewerkschaften gegen die Verschärfung der Zumutbarkeitskriterien und der Mobilitätsanforderungen waren grundsätzlicher Natur. In einem achtseitigen Aufsatz legte Karl Georg Zinn, Prof. fur Volkswirtschaftslehre an der Technischen Universität Aachen, in den Gewerkschaftlichen Monatsheften im Januar 1979 den Standpunkt der Gewerkschaften dar. Die Herabsetzung der Zumutbarkeitsgrenze sei ein „Instrument jener konservativen Kräfte", die die Individualisierung des Arbeitsplatzrisikos befürworten würden. Die Gewerkschaft Textil hatte Ehrenbergs Ansatz als „brutale Forderung nach totaler geographischer Mobilität der Arbeitnehmer" bezeichnet. Zinn sah die Hauptgefahr der Verschärfung der Zumutbarkeitskriterien darin, dass die „Fernwirkungen" dieser Maßnahmen, sich „äußerst ungünstig für die Beschäftigten und ihre Arbeitskampfmöglichkeiten auswirken" würden. Zinn befürchtete durch den Druck, der auf die Arbeitslosen ausgeübt werden sollte, auch eine schlechter bezahlte Beschäftigung 572 573

Der Spiegel, Nr. 17/79, 23. April 1979, S. 23 f. Der Spiegel, Nr. 23/33, 4. Juni 1979, S. 33 f.

150 anzunehmen die Entstehung von „Niedriglohnjobs" im Rahmen persönlicher Dienstleistungen. Dadurch könne der Eindruck entstehen, dass die „orthodox-kapitalistische" These vom Zusammenhang von Lohnhöhe und Arbeitslosigkeit bestätigt werde. In der Konsequenz fürchteten die Gewerkschaften deshalb eher den Erfolg als den Misserfolg dieser Maßnahmen: „Im Ergebnis könnte sich eine Situation herausstellen, in der die Zahl der „freien Stellen", die überwiegend aus jenen Niedriglohnjobs bestünden, größer ist als die Zahl der Arbeitslosen. Die reaktionäre Behauptung, daß Arbeitslosigkeit nur eine Frage zu hoher Löhne sei, fände dann gar eine empirische Bestätigung." 574 In diesem Kapitel wurde gezeigt, warum es sich so schwierig gestaltete, die Arbeitslosen nach dem großen Verlust von Arbeitsplätzen in der Industrie wieder unterzubringen und warum eine Sockelarbeitslosigkeit entstand. Sowohl Helmut Schmidt als auch die sozialdemokratischen Arbeitsminister Arendt und Ehrenberg waren davon überzeugt, dass die sozialen Transferzahlungen es unattraktiv machten, schlechter bezahlte Arbeitsplätze anzunehmen, oder seinen Wohnort zu verlassen. Der Versuch stärkeren Druck auf die Arbeitslosen auszuüben, um sie zur Annahme einer schlechter bezahlten Arbeit oder zum Umzug zu bewegen, stieß auf den massiven Widerstand der Gewerkschaften. Diese befurchten die Entstehung eines Niedriglohnsektors, der ihre eigene Position untergraben würde. Kommen wir nun zu einer besonderen Problematik des deutschen Arbeitsmarktes seit den siebziger Jahren, der die Situation noch erschwerte und darüber hinaus politische Brisanz verlieh: der Entwicklung der Gastarbeiterbeschäftigung.

Die Gastarbeiter-Problematik Zu einem großen Segment dieses neuen „Prekariats" wurden Teile der Gruppe der Gastarbeiter, die sich dauerhaft in der Bundesrepublik niederließen. Der Zustrom von Gastarbeitern hatte einen grundsätzlich anderen Charakter besessen als der Zustrom von Flüchtlingen aus der D D R . Während diese überdurchschnittlich hoch qualifiziert waren, lag der Anteil der Facharbeiter bei den angeworbenen Gastarbeitern nur bei 14 Prozent im Vergleich zu 40 Prozent auf die gesamte, statistisch die Gastarbeiter einschließende, Arbeitnehmerschaft. Von den Ausländern, die als ungelernte Arbeiter in die Bundesrepublik kamen, schafften nur ganze 3 Prozent den Aufstieg zum Facharbeiter.575 Bis zum Anwerbestopp 1973 gab es zwei große Einwanderungswellen. Die erste dauerte bis 1965. An ihrem Ende waren 4,7 Prozent aller Arbeitnehmer Ausländer. In der folgenden Rezession ging ihre Zahl durch Abwanderung jedoch wieder zurück. Nach der Uberwindung der Rezession hatte ein bis dahin in dieser Größenordnung ungeahnter Zustrom in die Bundesrepublik eingesetzt. Durch diese zweite Welle stieg die Quote der Ausländerbeschäftigung bis 1973 auf 11,6 Prozent an. 5 7 6

574 575 576

Gewerkschaftliche Monatshefte, 1979, S. 27 ff. Abelshauser, Wirtschaftsgeschichte, S. 319. Abelshauser, Wirtschaftsgeschichte, S. 320.

151 Noch vor der Ölkrise trat die Lage der Gastarbeiter in den Fokus des öffendichen Interesses. Die ZEIT schrieb im März 1973: „Es wird wohl immer unbegreiflich bleiben, warum erst über drei Millionen Ausländer in die Bundesrepublik kommen mußten, ehe man hier begriff, daß mit den Menschen auch deren Probleme importiert werden." In der Bundesregierung verfestigte sich die Meinung, daß „die Grenze der Belastbarkeit erreicht" sei. 577 Mit dem Einbruch der Ölkrise erhielt das Thema noch ein größeres emotionales Potential, da die Arbeitslosigkeit nun mit der großen Zahl der Gastarbeiter in Verbindung gebracht wurde. Am 23. November 1973 wies Bundesarbeitsminister Walter Arendt mit Zustimmung der Bundesregierung die Bundesanstalt für Arbeit an, keine weiteren ausländischen Gastarbeiter mehr anzuwerben und zu vermitteln. Diese Anweisung galt unbefristet. Unter diese Regelung fielen die Gastarbeiter aus der Türkei, aus Jugoslawien, Spanien und den nordafrikanischen Ländern. 578 Arendt rechtfertigte seinen Schritt in der BILD-Zeitung: „Wir können zwar bei uns beschäftigte Ausländer nicht wie Sklaven behandeln, die man heute einkauft, morgen wieder wegschickt. Aber wir werden dafür sorgen, daß unsere deutschen Arbeitnehmer zuerst Arbeit erhalten." 579 Im Januar 1974 fasste der arbeitsmarktpolitische Grundsatzreferent der Nürnberger Bundesanstalt in einem Artikel für die Gewerkschaftlichen Monatshefte die Lage der Gastarbeiterbeschäftigung in der Bundesrepublik zusammen: Im Jahr 1973 gab es 2,565 Millionen ausländische Erwerbspersonen in der Bundesrepublik, von diesen waren 2,5 Millionen abhängig beschäftigte Arbeitnehmer. Das waren etwa 12 Prozent aller in Deutschland beschäftigten Arbeitnehmer. Nur 50 000 waren selbstständig und nur 15 000 arbeitslos. Hinzu kamen etwa 1 Million Familienangehörige, davon zwei Drittel Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren. Die Arbeitsplätze der ausländischen Arbeitnehmer waren auf die „Güter erzeugenden, recht konjunkturempfindlichen" Sektoren konzentriert. Dies war bedingt durch die „Sprachbarrieren, unzureichende Vorqualifizierung und zu 80 Prozent geringe Qualifikationsanforderungen sowie die Ausweichmöglichkeiten" der Unternehmen, um konjunkturelle Beschäftigungsschwankungen bewältigen zu können. Es war auch die Folge einer großen Umschichtung auf dem Arbeitsmarkt hin zur Diensdeistung, besserer Qualifizierung und sozialem Aufstieg in Folge der Bildungsexpansion für die einheimische deutsche Bevölkerung, die eine Lücke bei der Nachfrage der Arbeitssuchenden nach einfachen Tätigkeiten aufriss. Kühl konstatierte: „Die zu vier Fünfteln an- und ungelernten Ausländer sind auf die industriellen Arbeitsplätze niedriger Qualifikationsanforderungen nachgerückt, die auch der arbeitssparende technische Fortschritt (...) nicht beseitigt haben und die von den Inländern verlassen oder nicht mehr angestrebt werden." 580 War Kühl in seiner Darlegung noch von einem steigenden Bedarf ausländischer Arbeitnehmer für den deutschen Arbeitsmarkt ausgegangen und davon, dass das Beschäftigungspotential der „Inländer" nicht ausreichen würde, um die offenen Stellen zu decken, 577 578 579 580

Die Zeit, Nr. 13/28, 23. März 1973, S. 33. Archiv der Gegenwart, S. 18330. Die Zeit, Nr. 51/28, 14. Dezember 1973, S. 35. Jürgen Kühl, Entwicklung und Struktur der Ausländerbeschäftigung, in: Gewerkschaftliche Monatshefte, 1/74, S. 10 ff.

152 änderte sich die Lage auf dem Arbeitsmarkt noch im Laufe desselben Jahres, wie oben dargelegt worden ist, fundamental. Die plötzliche Beschäftigungskrise führte auch bei weiten Teilen der Bevölkerung und in auch in der Politik zu einer anderen Perspektive auf die Gastarbeiterbeschäftigung, was sich zur Zeit der Ölkrise bereits abgezeichnet hatte. Im November 1969 hatte der Präsident der Bundesanstalt fur Arbeit Josef Stingle dem einmillionsten Gastarbeiter noch ein Fernsehgerät geschenkt. Mit dem Ende des Wirtschaftsbooms änderte sich die Stimmung sehr grundlegend. Nach einer ContestUmfrage machten nun 52 Prozent der Bevölkerung die Anwesenheit der Gastarbeiter fur die Arbeitslosigkeit verantwortlich.-'81 Längere Zeit waren die Gastarbeiter von der Arbeitslosigkeit weniger stark betroffen gewesen als die Deutschen. Mit dem Einbruch im Herbst 1974 änderte sich das. Im September 1973 waren etwa 15600 Gastarbeiter arbeitslos, im September 1974 waren es schon 66500. Die Metall-Branche beschäftigte zu diesem Zeitpunkt noch 52,3 Prozent aller Gastarbeiter. 700 000 Ausländer gehörten einer Gewerkschaft an. 5 8 2 Es gab zwei fuhrende Politiker in der Bundesrepublik, die die Rückkehr des größten Teils der Gastarbeiter betreiben wollten, um den Arbeitsmarkt in Deutschland zu entlasten. Der eine war der konservative CDU-Ministerpräsident von Baden-Württemberg Hans Filbinger, der andere und politisch in dieser Frage wichtigere der damalige Bundesarbeitsminister Walter Arendt. Arendt wollte die Zahl der in der Bundesrepublik lebenden Gastarbeiter so stark wie möglich reduzieren. Die Zahl der in der Bundesrepublik lebenden ausländischen Arbeitnehmer war zwischen Herbst 1973 und Herbst 1975 bereits von 2,6 auf 2,3 Millionen zurückgegangen. Gleichzeitig warteten jedoch Hunderttausende von Familienangehörigen im Ausland auf die Familienzusammenführung in der Bundesrepublik. Arendt wollte die Familienzusammenführung unter allen Umständen verhindern: „Dadurch kriegen wir, ob wir wollen oder nicht, in den nächsten Jahren mehr ausländische Arbeitnehmer als je zuvor - selbst dann, wenn wir keinen mehr reinlassen." Deshalb wollte Arendt die Sozialleistungen fiir ausländische Arbeitnehmer nach und nach zurückfuhren, um den Aufenthalt in der Bundesrepublik weniger attraktiv zu machen. So sollte etwa die Bezugsdauer fur arbeitslose Arbeitnehmer begrenzt werden. Im D G B löste Arendts Haltung Irritationen aus. Der FDP-Innenminister Maihofer wollte hingegen den Status der in Deutschland lebenden Ausländer verbessern und setzte sich fiir die Familienzusammenführung ein. 583 Arendt hielt Maihofers humanitäre Argumentation fur „sentimentales Zeug." 5 8 4 Arendt wollte freie Stellen schaffen, fiir die 400 000 Jugendlichen, die in den nächsten vier Jahren auf den Arbeitsmarkt drängen würden. Arendt konnte sich mit seinen Position zur Gastarbeiter-Politik, die Arbeitslosigkeit durch die Rückführung möglichst vieler ausländischer Arbeitnehmer abzubauen, im Kabinett nicht durchsetzen. 585

581 582 583 584 585

Wirtschaftswoche, Nr. 15/30, 9. April 1976, S. I4ff. Die Zeit, Nr. 44/29, 25. Oktober 1974, S. 41. Der Spiegel, Nr. 50/29, 8. Dezember 1975, S. 37 ff. Der Spiegel, Nr. 26/30, 21. Juni 1976, S. 34. Der Spiegel, Nr. 26/30, 21. Juni 1976, S. 34.

153 In dieser Frage blieb Arendt jedoch hart, was auch darauf hinweist, dass die Gastarbeiterproblematik fur ihn eine hohe politische Priorität besaß. Selbst als im Hotel- und Gaststättengewerbe wieder 50 000 Arbeitsplätze fehlten, weigerte sich Arendt den Anwerbestopp zu lockern. Denn nach den vorliegenden Zahlen der Schweizer Prognos AG sollte die Zahl ausländischer Arbeitnehmer um 750 000 reduziert werden und 500 000 Arbeitsplätze zusätzlich geschaffen, um wieder Vollbeschäftigung herzustellen. Zu diesem Zeitpunkt, im Sommer 1976, lebten 2 Millionen Arbeitnehmer in der Bundesrepublik und ungefähr noch einmal so viele Familienangehörige.' 86 Nach den Wahlen 1976 brach die „Rentenlüge" über der Bundesregierung zusammen und Arendt musste sein Ministeramt an Ehrenberg abgeben. Danach wurde das Konzept, die Gastarbeiter in großer Zahl zur Rückkehr zu bewegen, nicht weiter verfolgt. Im Herbst 1979 lud Helmut Schmidt die Vorsitzenden der Einzelgewerkschaften des D G B , der Arbeitgeberverbände und der Kirchen in den Kanzler-Bungalow ein, um dort eine „Weichenstellung" in der Ausländerpolitik zu verkünden. Um der Parteilinken entgegenzukommen, wollte Schmidt positive Signale senden. Die Staatssekretärin im Arbeitsministerium Anke Fuchs erklärte den Anwesenden: „Es stimmt nicht mehr, daß wir kein Einwanderungsland sind." Schmidt ernannte den NRW-Ministerpräsidenten Heinz Kühn zum Gastarbeiterbeauftragten. Um sich gegen Angriffe von Franz Josef Strauß abzusichern, suchte Schmidt in dieser Frage den Schulterschluss mit der katholischen Kirche. 587 Zu dieser Zeit lebten etwa 985 000 Ausländer in der Bundesrepublik, die schon vor der sozialliberalen Koalition nach Westdeutschland gekommen waren. 1,68 Millionen lebten länger als acht Jahre und 2,4 Millionen Ausländer länger als sechs Jahre in der Bundesrepublik. Etwa 953000 ausländische Kinder und Jugendliche unter 16 Jahren gingen in der Bundesrepublik zur Schule. Heinz Richter, der beim D G B fur ausländische Arbeitnehmer zuständig war, sah ihre Zukunft pessimistisch. Er wurde vom SPIEGEL mit dem Satz zitiert: „Das werden die Molukken der Bundesrepublik." 588 Tatsächlich sah es um die Zukunftsaussichten der ausländischen Arbeitnehmer auf dem Arbeitsmarkt nicht besonders gut aus. In den Jahren des Umbruchs in der Wirtschaft und auf dem Arbeitsmarkt zwischen 1973 und 1976 verlor jeder vierte Ausländer seinen Arbeitsplatz. Nach einer Studie des Instituts der Deutschen Wirtschaft waren die ausländischen Hilfsarbeiter besonders stark von der technischen Rationalisierung betroffen. Der Grund war, dass die Rationalisierung, vor allem einfache Tätigkeiten, fur die die Gastarbeiter ursprünglich nach Westdeutschland geholt worden waren, überflüssig machte und in den kommenden Jahren und Jahrzehnten bis auf einen Restbestand verschwinden ließ. Das Vorbild der westdeutschen Unternehmen war der Rationalisierungsstandard, den die ausländischen Konkurrenten besonders in Japan erreicht hatten. Obwohl mit der Ölkrise sich grundsätzlich der Bedarf an ausländischen Arbeitskräften reduziert und die Bundesregierung einen Anwerbestopp verhängt hatte, wuchs die ausländische Wohnbevölkerung bis Anfang der achtziger Jahre auf über vier Millionen an. Zu diesem Anstieg hatte vor allem die Familienzusammenführung beigetragen. Mit dieser Entwicklung ging einher, 586 587 588

Die Zeit, Nr. 36/31, 27. August 1976, S. 17. Der Spiegel, Nr. 35/33, 27. August 1979, S. 28. Der Spiegel, Nr. 35/33, 27. August 1979, S. 28.

154 dass der Anteil der Erwerbstätigen an dieser Bevölkerungsgruppe von 65 Prozent auf 53 Prozent zurückging. Unter diesen Umständen war man selbst im Deutschen Gewerkschaftsbund der Auffassung: „Wir können die Probleme der ganzen Welt nicht auf dem Arbeitsmarkt der Bundesrepublik lösen." Der sozialdemokratische Ministerpräsident von NRW Heinz Kühn befürchtete: „Wenn wir dieses Problem nicht lösen, dann kriegen wir einen Klassenkampf wie im 19. Jahrhundert" und er sagte voraus, es „werden die Ausländer unser größtes gesellschaftspolitisches Problem der achtziger Jahre." 5 8 9 Der Präsident der Bundesanstalt fur Arbeit Stingle glaubte, die Gastarbeiter seien in der Gesellschaft der Bundesrepublik die „Proletarier von morgen". 5 9 0 Der Nachfrage nach ungelernten Industriearbeitern war seit Mitte der siebziger Jahre dauerhaft die Grundlage entzogen worden. „Während sich die Gastarbeiter - unterstützt von ihren Arbeitgebern — immer häufiger dauerhaft niederließen, verloren viele Arbeitsplätze in der materiellen Produktion langfristig ihren Sinn. Zurück blieb eine industrielle Reservearmee, deren Einsatzgebiet obsolet geworden war." 591

Zusammenfassung: Arbeitslosigkeit und Arbeitsmarkt 1974/75-1980 Die Gewerkschaften hatten für die unteren Lohngruppen besonders starke Lohnerhöhungen durchgesetzt. Die übermäßige Verteuerung der Arbeit der ungelernten und nur mäßig ausgebildeten Arbeitnehmer traf auf veränderte Rahmenbedingungen in den Unternehmen. Die neuen Möglichkeiten der Rationalisierung gaben den Unternehmen die Möglichkeit die teuren einfachen Tätigkeiten durch den Einsatz von Maschinen zu ersetzen. Die Industrie hatte noch Anfang der siebziger Jahre Arbeitsplätze zur Verfügung gestellt, fxir die keine besonderen Bildungsanforderungen bestanden. In der Boom-Phase waren Millionen von Gastarbeitern, besonders aus der Türkei, in die Bundesrepublik gekommen, die als Ungelernte im Bereich der unteren Lohngruppen einfache Tätigkeiten ausübten. Diese Stellen fielen in immer stärkerem Maße der Rationalisierung zum Opfer. Deshalb waren die Gastarbeiter stark von der Arbeitslosigkeit betroffen. Die Chance durch Qualifizierungsmaßnahmen die betroffenen Arbeitnehmer auf ein höheres Ausbildungsniveau zu heben war nach den Erfahrungen der Bundesanstalt gering. Hinzu kam, daß die hohen Lohnersatzleistungen den Druck seine Profession oder Wohnort zu wechseln oder fur einen geringeren Verdienst zu arbeiten stark abschwächten. Der Versuch von Seiten der Politik diesen Druck durch die Neuformulierung der Zumutbarkeitskriterien zu erhöhen, stieß auf den Widerstand der Gewerkschaften. Die Gewerkschaften befürchteten die Schaffung eines Niedriglohnsektors, der ihre Verhandlungsposition gegenüber den Arbeitgebern geschwächt hätte. Der Niedriglohnbereich war jedoch nach dem Wegfall einfacher Tätigkeiten in der industriellen Produktion die 589 590 591

Wirtschaftswoche, Nr. 34/34, 22. August 1980, S. 12ff. Wirtschaftswoche, Nr. 34/34, 22. August 1980, S. 13. Abelshauser, Deutsche Wirtschaftsgeschichte, S. 320.

155 einzige Möglichkeit die Geringqualifizierten überhaupt wieder zu beschäftigen. Da die Rationalisierung auch im Aufschwung die Rückkehr zu den alten Positionen verhinderte, ein Niedriglohnsektor aufgrund der Ablehnung der Gewerkschaften nicht geschaffen werden konnte und Qualifizierungsmaßnahmen auch keinen Erfolg versprachen, würde die Gruppe der Geringqualifizierten zu einem immer größeren Teil dauerhaft auf staatliche Transferzahlungen angewiesen sein. Dieser Umstand wurde deudich, als auch im konjunkturellen Aufschwung ein Sockel von Arbeitslosen keine Beschäftigung fand, obwohl die Wirtschaft offene Stellen anbot, die aber nicht besetzt werden konnten, weil diese ein anderes Bildungsprofil oder örtliche Flexibilität erforderten. So entstand eine Bevölkerungsschicht, fur die Arbeitslosigkeit zum Dauerzustand wurde und die öffendichen Kassen über die nächsten Jahrzehnte in Anspruch nahmen. Die großen Befürchtungen bezüglich der sozialen und politischen Sprengkraft der Arbeitslosigkeit haben sich bislang nicht bewahrheitet: „Im Bewußtsein der politischen Akteure ist heute die Erfahrung der 30er Jahre mit den Folgen gesellschaftlicher und politischer Desintegration fiir das demokratische System zunehmend in Vergessenheit geraten. Die Bundesrepublik hat zudem eine jahrzehntelange Unterbeschäftigung mit einem relativ geringen Maß politischer Unruhe bewältigt, trotz der zweifellos bedrängten Lage, in der gerade viele Arbeitslose mit Familie geraten sind. Die geringere Unruhe scheint allerdings auch ein Ergebnis veränderter Lebensformen und einer medialen Welt zu sein, die Tendenzen der Vereinzelung begünstigt."^ 92 Hinzufugen muss man noch, dass natürlich die Lebensbedingungen der Arbeitslosen in der Bundesrepublik ungleich besser waren als zu jedem anderen Zeitpunkt der Geschichte.

Tarifparteien, Mitbestimmung und Konzertierte Aktion Am 18. Mai 1976 verabschiedete der Deutsche Bundestag mit 391 Stimmen gegen 22 Nein-Stimmen das Gesetz über die Mitbestimmung in Großunternehmen. Am 9. April stimmte schließlich auch der Bundesrat zu. Es trat am 1. Juli 1976 in Kraft und sollte in den nächsten zwei Jahren verwirklicht werden. Das Gesetz betraf Unternehmen mit mehr als 2000 Arbeitnehmern. Danach wurde der Aufsichtsrat paritätisch von Arbeitgebern und Arbeitnehmern besetzt. Die Gewerkschaften, die im Unternehmen vertreten waren, erhielten Sitze und Stimme im Aufsichtsrat. Die übrigen Sitze im Aufsichtsrat mussten mit Arbeitnehmern aus dem Unternehmen besetzt werden. Die Sitze der Arbeitnehmerseite mussten zwischen Arbeitern, Angestellten und leitenden Angestellten entsprechend ihres Anteils an der Belegschaft des Unternehmens aufgeteilt werden. Jedem dieser Gruppen war jedoch ein Sitz im Aufsichtsrat garantiert. Zur Bestimmung der Aufsichtsräte war die Urwahl oder die Wahl durch Wahlmänner vorgesehen. Die leitenden Angestellten nahmen an der Wahl innerhalb der Gruppe der Angestellten teil. Der Aufsichtsratsvorsitzende sollte durch die Zweidrittelmehrheit des Aufsichtsrates gewählt werden. Sollte diese nicht zustande kommen, bestimmten die Anteilseigner den Vorsitzenden und die

592

Diether Döring: Sozialstaat, S. 69.

156 Arbeitnehmerseite den Stellvertreter. Die Mitglieder des Vorstandes wurden dann von den Aufsichtsratsmitgliedern mit Zweidrittelmehrheit bestimmt. 593 Mit diesem Beschluss war eine jahrelang dauernde politische Auseinandersetzung um die Mitbestimmung und die verschiedenen Modelle der Beteiligung vorausgegangen. Die Auseinandersetzung um die Mitbestimmung hatte nach Ansicht des nordrheinwestfälischen Arbeitsministers Friedhelm Farthmann gezeigt, dass die „Belastbarkeit des Verhältnisses der Gewerkschaften zur SPD" (...) „erheblich größer" war „als viele — offengestanden auch ich - angenommen haben." Farthmann selbst hatte die Neuregelung der Mitbestimmung als Doppelmitglied von SPD und D G B als nicht weitgehend genug attackiert. Für die Gewerkschaften gäbe es zur Zusammenarbeit mit der SPD keine Alternative. Farthmann stellte fest: „Diese Regierung ist fur die Arbeitnehmer immer noch besser als andere. Wenn wir ihr unnötig Schwierigkeiten machen, treten wir uns selbst in den Hintern." 594 Die Neuregelung war trotz der zum Teil scharfen Auseinandersetzung auch zwischen Gewerkschaften und SPD fur erstere ein großer Erfolg. Mit der Neuregelung gab es fiir die Gewerkschaften die Aussicht auf 3500 zusätzliche Aufsichtsräte. Die Funktionäre wurden dafür am „Institut fur Führungsaufgaben" und dem „Institut fiir Sprechtechnik" der DGBBundeszentrale auf diese Aufgabe vorbereitet. Allein in der Metallindustrie würden voraussichtlich in 320 Betrieben 2000 Aufsichtsratsposten von den Arbeitnehmervertretern besetzt werden. Die Debatte um die Mitbestimmung sowie das Scheitern von Willy Brandt in derTarifäuseinandersetzung 1974 prägten auch das Bild vom Einfluss der Gewerkschaften in der Offendichkeit. Die Zahl der Bundesbürger, die den größten politischen Einfluss den Gewerkschaften zuschrieben, stieg in Umfragen mit möglichen Mehrfachnennungen von 67 Prozent im November 1973 auf 81 Prozent im Jahr 1975. Unternehmen wurden hingegen nur von 12 Prozent und Banken von 14 Prozent der Befragten genannt. 595 Angesichts dieser Stimmung mussten die Gewerkschaften um ihren gesellschaftlichen Rückhalt furchten. Sie gaben ein Jahr später, im Frühjahr 1976, beim Godesberger Institut für angewandte Sozialwissenschaft eine Umfrage in Auftrag. Auch ihre eigenen Erhebungen kamen zu sehr ernüchternden Ergebnissen: 61 Prozent der Befragten waren der Ansicht, die Gewerkschaften sollten sich aus der Politik „ganz heraushalten." 29 Prozent der Befragten waren der Ansicht der Einfluss der Gewerkschaften sei zu groß. 40 Prozent sahen die Interessen der Arbeitnehmer von der Bundesregierung ausreichend vertreten. Dagegen wollten nur 22 Prozent, dass die Gewerkschaften Druck auf das Parlament ausüben sollten. Nur jeder dritte Befragte hatte fur die wirtschaftlichen Aktivitäten der Gewerkschaften etwa bei der Neuen Heimat oder der Bank für Gemeinwirtschaft Verständnis. 596 Die Auseinandersetzung um die Mitbestimmung besaß für beide Seiten, Arbeitgeber und Gewerkschaften, einen sehr grundsätzlichen Charakter. Die Unternehmer sahen sich seit dem Beginn der siebziger Jahre verstärkt von Teilen der sozialliberalen Koalition, Gewerkschaften und linken Studenten in die Rolle des Buhmanns und Verantwordichen für

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Archiv der Gegenwart, S. 20185 f. Die Zeit, Nr. 13/31, 19. Min. 1976, S. 17. Wirtschaftswoche, Nr. 8/29, 14. Februar 1975, S. 14 ff. Wirtschaftswoche, Nr. 20/30, 14. Mai 1976, S. 26.

157 alle gesellschaftlichen Fehlentwicklungen gedrängt. Arbeitgeberpräsident Hanns Martin Schleyer stellte fest: „Noch in den sechziger Jahren war der Unternehmer eine positive Symbolfigur, jetzt wird er zu einer negativen. Sah man in ihm früher einen der Schöpfer des Wiederaufbaus, so verunglimpft man ihn heute als Profithyäne." 597 In einer Untersuchung des Institutes der Deutschen Wirtschaft über das „Unternehmerbild in der Rundfunkunterhaltung" aus dem Jahr 1973 kommen die Verfasser zu dem Ergebnis: „Ein einheidiches Unternehmerbild in den Unterhaltungssendungen läßt sich nicht erkennen. Die negativen Charakterisierungen von Unternehmen übertreffen die positiven jedoch bei weitem." Die Kritik an den Unternehmern sei viel pointierter und schärfer als bei anderen Gruppen der Gesellschaft und oft mit gesellschaftskritischen Tönen vermengt, die bis zur Ablehnung der Marktwirtschaft reichten. 598 Die Spitzenverbände der Wirtschaft, BDI und BDA, die von Hans-Günther Sohl und Hanns-Martin Schleyer gefuhrt wurden, hatten an politischem Einfluss verloren. Dies war bei der Auseinandersetzung um die Mitbestimmung besonders deudich geworden. Das MANAGER MAGAZIN schrieb im Mai 1974: „Noch wagen Manager und Unternehmen es nicht, ihre Spitzenvertretungen laut zu kritisieren. Doch die Ohnmacht der einstmals mächtigen Lobbyisten wurde in der Auseinandersetzung um die gesellschaftspolitischen Reformen der sozial-liberalen Regierung so augenfällig wie nie zuvor." Die BDA habe es nicht einmal geschafft jene 650 Großunternehmen der Bundesrepublik zu aktivieren, die nach der Mitbestimmungsregelung ihren Aufsichtsrat zur Hälfte mit Arbeitnehmervertretern besetzen mussten. Seit dem Beginn der sozialliberalen Koalition verloren die Verbände viele Kontakte in die Ministerien und nur noch 40 Abgeordnete der C D U / C S U galten im BDI-Präsidium als wirtschaftsnah, im Vergleich zu 60 Unionsabgeordneten im Jahr 1996. In der SPD waren es nur fünf und in der FDP 9 Abgeordnete. Diesen 54 Abgeordneten standen im Parlament 244 DGB-Mitglieder gegenüber. Die FDP war 1972 zu den Verbänden auf Distanz gegangen, als diese aktiv den Wahlkampf der C D U / C S U unterstützt hatten. Auch Walter Scheel hatte sich dadurch persönlich brüskiert gefühlt: „Viele Unternehmer würden sich sehr wundern, wenn wir sie so behandelten wie sie uns im letzten Wahlkampf." Allein zu Wirtschaftsminister Friderichs konnten die Unternehmensverbände nach den Wahlen 1972 im Kabinett ein engeres Verhältnis aufbauen. Auch Lambsdorff stand den Großverbänden kritisch gegenüber. Er beurteilte die Arbeit der Wirtschaftsverbände so: „Es gibt Riesenverbände, die sich durch ein beachdiches Maß an Immobilität, Unaufmerksamkeit und schematische Arbeit auszeichnen." 599 Graf Lambsdorff warf in einem Interview mit dem Managermagazin den Verbänden vor, in der Frage der Mitbestimmung vor, „jahrelang wenig geschickt operiert" zu haben. Durch die konsequente Ablehnung der Mitbestimmung hätten sich die Unternehmensverbände jeden Verhandlungsspielraum genommen. Lambsdorff lobte die Aktivitäten der ASU und des D I H T gegenüber den großen Verbänden, die sich aufs Briefe schreiben beschränkt hätten.^00

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Lutz Hachmeister, Schleyer. Eine deutsche Geschichte, München 2004, S. 300. Der Arbeitgeber, 26. Jhrg. 1974, S. 20. Manager Magazin, 8/1974, S. 1 f. Manager Magazin, 8/1974, S. 17.

158 Der Bundeskanzler und der Bundeswirtschaftsminister suchten sich andere Ansprechpartner als die Spitzen der Großverbände der Arbeitgeber. Schmidt unterhielt ein eigenes Netzwerk in die Wirtschaft, zu dem der Banken-Verbandspräsident Alwin Münchmeyer, Jürgen Ponto und dem Krupp-Vorsitzenden Ernst Wolf Mommsen gehörten. Lambsdorff hatte sogenannte „Mittwochsgespräche" eingeführt, an denen Parlamentarier, Ministerialbeamte, Gewerkschaftler und Wirtschaftsvertreter teilnahmen. Diese trafen sich einmal im Monat in der Parlamentarischen Gesellschaft. 601 Der Verlust von Prestige und Einfluss der Großverbände setzte die Spitze der Arbeitgeber unter Druck. Auch Schleyer musste Stärke demonstrieren, um die unzufriedene Arbeitgeberbasis zu überzeugen. Die Ausweitung der Mitbestimmungen konnten die Verbandsspitzen ebenso wenig einfach hinnehmen, wie die Gewerkschaften auf sie verzichten konnten. Nach der Verabschiedung der Mitbestimmung im Bundestag entschieden sie sich für den Gang nach Karlsruhe. Die Klage gegen die Mitbestimmung vor dem Bundesverfassungsgericht wurde von neun Großunternehmen, 29 Arbeitgeberverbänden und der Schutzvereinigung für Wertpapierbesitz eingereicht. 602 Die Arbeitgeber glaubten nicht daran, mit dieser Klage das Mitbestimmungsgesetz zu Fall bringen zu können, aber sie hofften auf eine Urteilsbegründung, aus der sich eine klare Grenze für die weitere Ausweitung der Mitbestimmung ableiten ließe. Ein Vertreter der Arbeitgeber äußerte sich so: „Man kann nun einmal gegen eine Fortschreibung von bestehenden Gesetzen nicht klagen, sondern nur gegen das Gesetz selbst." Im Sommer 1977 traf Helmut Schmidt mit Schleyer zusammen und versuchte ihn von der Rücknahme der Klage gegen die Mitbestimmung zu überzeugen. Zwei Wochen nach der Unterredung wurde Schleyer von der RAF entführt und schließlich ermordet. Hans Friderichs war sich im Klaren, dass die Arbeitgeber nun keinen Rückzieher machen konnten, denn die die Mitbestimmungsklage wurde nun als „Schleyers Vermächtnis" angesehen. Damit war eine Konfrontation zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern nicht mehr zu vermeiden. Arbeitsminister Herbert Ehrenberg sah mit der Klage die „Gewerkschaftsstruktur" in Frage gestellt: „Die Mitbestimmung ist von unseren Gewerkschaften nicht zu trennen." Die Gewerkschaften sahen die Mitbestimmung als Kompensation für moderate Lohnforderungen und politische Mäßigung. Diese Möglichkeit wollten sich die Gewerkschaftsspitzen auch in Zukunft offen halten. Deshalb forderte Loderer vom Bundesverfassungsgericht keine Zugeständnisse an die Arbeitgeber zu machen: „Das oberste Gericht wäre gut beraten mit seiner Entscheidung fortschrittliche Entwicklungen nicht unmöglich zu machen." 603 Die Entscheidung der Arbeitgeber vor dem Bundesverfassungsgericht zu klagen, traf auf eine verunsicherte Gewerkschaftsführung, die sich nicht nur von außen durch linksradikale Kräfte an der Basis herausgefordert, sondern auch radikalen linken Kräften im Innern der Organisation gegenübersah. Sowohl bei der Durchsetzung der hohen Lohnabschlüsse als auch bei der Frage der Mitbestimmung waren die Gewerkschaftsführungen aus diesem Grund nicht nur Antreiber, sondern auch Getriebene. In der größten und 601 602

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Manager Magazin, 8/1974, S. 1 f. Uwe Wesel, Der Gang nach Karlsruhe. Das Bundesverfassungsgericht in der Geschichte der Bundesrepublik, München 2004, S. 266. Der Spiegel, Nr. 2/32, 2. Januar 1978, S. 70 ff.

159 maßgeblichen Gewerkschaft, der IG Metall, entstand eine ähnliche Situation wie in der SPD. Der pragmatische und im Wesendichen an Sachpolitik interessierte Vorsitzende war vom Habitus her Helmut Schmidt nicht unähnlich.60'* Nicht umsonst war die Beziehung zwischen Loderer und Schmidt eine der tragenden Säulen der sozialliberalen Zeit, doch sah man sich einer ideologisch sich stärker profilierenden Linken gegenüber. Sowohl in der SPD als auch in den Gewerkschaften regten sich „Kräfte eines gegen die eigenen, als zu zaghaft empfundenen Führungen gerichteten Radikalismus." 605 Nach den „wilden Streiks" 1969 war es den Gewerkschaften nicht gelungen, ihre alte Autorität wie in den vorgehenden Jahrzehnten wieder herzustellen. Wie schon 1969 hatten sich im August und September 1973 spontane Arbeitsniederlegungen ausgebreitet. Anders als damals erfuhren Gewerkschaftsfunktionäre diesmal Feindseligkeit von den „wild" Streikenden. Sie wurden als „Bonzen" und,Arbeiterverräter" beschimpft. In einer internen Analyse der IG Metall hieß es, der wilde Streik bei Ford sei „der erste Streik, den gegen uns zu fuhren den Linksextremisten gelungen ist. Auch in anderen Betrieben verzeichneten „ultralinke Gruppen" Erfolge. Unter diesem Eindruck hatte die IG Metall sich im Herbst 1973 fur zweistellige Lohnforderungen entschieden, um der Kritik von Links keine Flanke zu bieten. 606 Mit der Durchsetzung der Mitbestimmung glaubte die Gewerkschaftsfuhrung Glaubwürdigkeit zurückzugewinnen. Neben der Herausforderung von außen begegnete Loderers moderatem Kurs im eigenen Apparat zunehmend Widerstand.,Abgesehen von solchen in die Organisation eher von außen - aus den Zirkeln der ehemaligen Studentenbewegung - hineingetragenen ideologischen Auseinandersetzungen manifestierte sich im Laufe der siebziger Jahre ein oppositioneller Geist, der bisher, jedenfalls in diesem Ausmaß, nicht sichtbar gewesen war." 607 Die organisationsinterne Opposition in der größten und mächtigsten Einzelgewerkschaft IG Metall kam aus dem Umfeld des baden-württembergischen Bezirksleiters Franz Steinkühler, dessen 109 Delegierte eine radikalere Form der Auseinandersetzung einführten. Auf dem 12. Ordentlichen Gewerkschaftstag der IG-Metall in Düsseldorf 1977 erhielt Loderer von den 546 Delegierten einen Denkzettel und musste eine Reihe von Abstimmungsniederlagen hinnehmen. Die Gewerkschaft beschloss gegen seinen Willen, dass der D G B solange nicht mehr an der Konzertierten Aktion teilnehmen sollte, bis die Arbeitgeber die Verfassungsklage gegen die Mitbestimmung zurückgezogen hätte. Der Gewerkschaftstag entschied außerdem gegen Loderers Willen, dass die 35-StundenWoche Ziel der Tarifpolitik sein sollte und die Schlichtungsabkommen zu Gunsten der Arbeitnehmer abgeändert werden sollten. Loderer selbst wurde zwar mit einem hohen Stimmenanteil wieder gewählt, er konnte sich aber nicht mit seinen Personalvorschlägen durchsetzen. Statt Loderers Vertrautem Otmar Günther, den Loderer als seinen Nachfolger aufbauen wollte, wurde Franz Stenikühler in den Vorstand gewählt. 608

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Kempter, Loderer, S. 302 Treffender Vergleich zwischen Schmidt und Loderer. Kempter, Loderer, S. 289. Kempter, Loderer, S. 290 ff. Kempter, Loderer, S. 380. Der Spiegel, Nr. 41/31, 3. Oktoberl977, S. 92ff.

160 Wirtschaftsminister Lambsdorff insistierte nach dem Rückzug der Gewerkschaften von der Konzertierten Aktion: „Die Konzertierte Aktion ist nicht tot." Lambsdorff und Schmidt wollten dem D G B „goldene Brücken" bauen, um ihnen ohne Gesichtsverlust ein Einlenken zu ermöglichen. 609 Lambsdorff besuchte zum Anfang des Jahres 1978 in Düsseldorf den D G B und versuchte die Gewerkschaften zur Rückkehr zur Konzertierten Aktion zu bewegen. Dies lehnte die DGB-Führung jedoch ab. Oskar Vetter erklärte: „Sollte die politische Führung der Bundesrepublik an einem Spitzengespräch zwischen Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden gelegen sein, so sollte sie sich nicht auf die konzertierte Aktion versteifen." Daher stellte Schmidt fest, es könne sein, „daß die Form sich ändert." 610 Loderer erklärte in einem Interview mit der ZEIT vom 24. Februar 1978, die Versicherung der Arbeitgeber, dass durch ihre Klage nicht der Kern der Mitbestimmung betroffen sei, reichte nicht aus, um zur Konzertierten Aktion zurückzukehren.611 Die Zeit verstrich, bis im Frühjahr 1979 das Bundesverfassungsgericht seine Entscheidung bekannt gab. Im Vorfeld zum Urteil zur Mitbestimmung drohten die Gewerkschaften mit politischen Streiks, ja sogar von einem Generalstreik war die Rede. Die Gewerkschaften mussten ihre Drohung nicht wahrmachen. Am Donnerstag den 1. März lehnte das Bundesverfassungsgericht die Klage der Arbeitgeber ab. Das Bundesverfassungsgericht urteilte allein zu den vorliegenden Punkten und setzte der Ausweitung der Mitbestimmung keine explizite Grenze. Das Gericht stellte fest, die Mitbestimmung bleibe durch die Zustimmungspflicht des Aufsichtsratsvorsitzenden innerhalb der Parität. Das Gericht führte über die Perspektiven der Mitbestimmung aus: „Erfahrungen im Montanbereich sprechen nicht gegen eine positive Prognose." Das Verfassungsgericht stellte fest, die Soziale Marktwirtschaft sei nicht in der Verfassung begründet. Der Gesetzgeber dürfe: „jede ihm sachgemäß erscheinende Wirtschaftspolitik verfolgen." Daher sei die Mitbestimmung eine „verfassungsrechtlich zulässige Sozialbindung." Der Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes Vetter erklärte seine „tiefe Befriedigung" über dieses Urteil. 612 Das Bundesverfassungsgericht hatte damit dem Artikel 14: „Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen" in den Mittelpunkt gerückt und die Gültigkeit des Artikels 9: „Alle Deutschen haben das Recht, Vereine und Gesellschaften zu bilden" eingeschränkt. Großunternehmen seien zwar Gesellschaften, aber nicht der „Grundtyp von Vereinigungen, auf den Artikel 9 Absatz 1 zugeschnitten ist." 6 1 3 Die Unternehmen versuchten, sich den Folgen der Mitbestimmungsgesetzgebung zu entziehen. Eine Reihe von Unternehmen hatten sich zergliedert, um unter der Grenze von 2000 Beschäftigten zu bleiben oder wechselten ihre Rechtsform in die der Kommanditgesellschaft. Die Zahl der Unternehmen, auf die das Gesetz angewendet werden konnte, sank dadurch von 600 auf 500. Viele andere Unternehmen veränderten ihre Satzung, Geschäftsordnungen und ihre Gesellschaftsverträge und beschnitten die Rechte des Auf609 610 611 612 613

Wirtschaftswoche, Nr. 4/32, 20. Januar 1978, S. 25. Die Zeit, Nr. 4/33, 20. Januar 1978, S. 15 f. Die Zeit, Nr. 9/33, 24. Februar 1978, S. 17. Der Spiegel, Nr. 10/33, 5. März 1979, S. 21 ff. Wesel, Karlsruhe, S. 267.

161 sichtsrats, um den Einfluss der Gewerkschaften so gering wie möglich zu halten. Besonders Familienunternehmen versuchten, auf diese Weise ihre Autonomie zu bewahren. 614 Die Regierung wollte nach dem Mitbestimmungs-Urteil die Konzertierte Aktion wiederbeleben. Lambsdorff erklärte: „Die Bundesregierung möchte, daß die Konzertierte Aktion wieder in Gang kommt." Der D G B verhielt sich jedoch reserviert, auch wenn die Arbeitgeber- und die Arbeitnehmerseite nach dem Urteil um eine Verbesserung des Verhältnisses bemüht waren. Daher wollten sich Oskar Vetter und Otto Esser zu einem Spitzengespräch treffen, um die Möglichkeit einer Wiederbelebung der Konzertierten Aktion zu besprechen. Eugen Loderer erklärte jedoch, er sei nicht mehr bereit „die Konzertierte Aktion als Stück Öffentlichkeitsarbeit des Wirtschaftsministeriums zu akzeptieren." Loderer forderte eine „effizientere Form der Zusammenarbeit" und auf einem Ausschluss des Sachverständigenrates. Hier zeigte sich die tiefe Verbitterung der Gewerkschaften über den Schwenk des Sachverständigenrates zur Angebotspolitik. 615

Der „Rentenbetrug" 1975/76 Die größte Glaubwürdigkeitskrise erlebte die Regierung Schmidt nach der Bundestagswahl 1976 auf dem brisanten Feld der Rentenpolitik. Zu Beginn des Jahres 1976, dem Jahr der sogenannten „Rentenlüge", hatte Arbeitsminister Arendt noch stolz erklärt: „1976 sind die Renten doppelt so hoch wie 1969 und das Vierfache von 1957. Da der Preisindex für die Lebenshaltung nur halb so stark gestiegen ist, hat sich die Kaufkraft in den letzten Jahren verdoppelt. Die Rentner haben somit in hohem Maße am wirtschaftlichen Fortschritt teilgenommen." 616 Langsam aber sicher begann diese Fassade zu bröckeln. Im Jahr 1974 war zum ersten Mal ein „Solidarausgleich" zwischen der defizitären Arbeiterrentenversicherung und der Angestelltenversicherung, die finanzielle Überschüsse erzielte, notwendig. 617 Der Grund fur die sich mit dem Beginn des Jahres 1975 sich rasant verschlechternden Lage, war die zeidiche Verzögerung der Rentenanpassung an die Arbeitseinkommen. Hinter der Einfuhrung dieser zeitlichen Verzögerung der Anpassung stand die Idee, dass sich die Renten antizyklisch verhalten sollten, um möglichen Konjunkturabschwüngen entgegenzuwirken. Diese Idee schuf nun jedoch in der Praxis massive Probleme. Zu Beginn der siebziger Jahre blieben die Rentenanpassungssätze hinter dem „inflationär aufgeblähten Beitragseinnahmen" zurück. Die moderate Anhebung der Renten spiegelte die moderatere Lohnpolitik der sechziger Jahre wieder. Dies führte zu Einnahmeüberschüssen der Rentenkassen. Nun kamen zwei Tendenzen zusammen. Zum einen mussten die Renten nun mit derselben zeidichen Verzögerung an die rasanten Lohnsteigerungen in der ersten Hälfte der siebziger Jahre angepasst werden, zum anderen führte die Arbeitslosigkeit

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Der Spiegel, Nr. 10/33, 5. März 1979, S. 21 ff. Wirtschaftswoche, Nr. 23/33, 4. Juni 1979, S. I4f. Wirtschaftswoche, Nr. 3/30, 16. Januar 1976, S. 12ff. Die Zeit, Nr. 34/29,16. August 1974, S. 28.

162 und die moderateren Lohnzuwächse zu sinkenden Beitragseinnahmen. 618 Daneben beeinflussten die Ausgabenbeschlüsse der Politik die Lage der Rentenkassen. Die Rentenreform von 1972 wirkte sich verheerend auf die finanzielle Lage der Rentenkassen aus. Die ZEIT fasste den Hintergrund der Krise 1976 richtig zusammen: „Es schien alles so einfach: Man mußte sich nur auf dem Papier reich rechnen, was dank der durch Inflation aufgeblähten Inflationsraten leicht möglich war- und dann vor der Tatsache die Augen schließen, daß das Geld in der Krise knapper wurde. Das ging einige Zeit gut, doch nun ist der Wind der Veränderung umgeschlagen in den Sturm der Krise." 619 Allerdings darf man bei der Bewertung der Rentenkrise nicht übersehen, dass die Rentenreform 1972 nicht nur von der CDU/CSU-Opposition mit beschlossen worden war, sondern dass diese, was das „reich rechnen" anging, kein Korrektiv darstellte, sondern die Regierung mit ihren Ausgabenforderungen noch übertraf. Bereits im Jahr 1975 unterschritten die Beitragseinnahmen der Rentenversicherung die Beitragsausgaben. Die Finanzierung verschlechterte sich im Vergleich zum Jahr 1974 insgesamt um acht Milliarden D-Mark. Das führte zu einem Defizit von 3,5 Milliarden DMark. Im November 1975 schrieb die ZEIT: „Wo sich nach den bisherigen Berechnungen bis zur Mitte des kommenden Jahrzehnts Uberschüsse in dreistelliger Milliardenhöhe türmen sollten, klaffen plötzlich Löcher. Der Rentenzuschuss des Bundeshaushalts betrug im Jahr 1975 bereits 17 Milliarden D-Mark und machte im Jahr 1976 einen Sprung auf 22 Milliarden D-Mark. 6 2 0 Damit fiel die Rentenkasse zum ersten Mal seit 23 Jahren wieder ins Defizit. Die Bundesversicherungsanstalt für Angestellte prognostizierte Ende 1975 das Defizit im kommenden Jahr auf neun Milliarden D-Mark. 6 2 1 Der Sachverständigen Rat schrieb in seinem Gutachten vom Dezember 1975: „Mit Einkommensübertragungen von - nach unserer Schätzung — 75 Mrd. D-Mark im Jahre 1975 ist die gesetzliche Rentenversicherung der Arbeiter und Angestellten der größte Zweig der Sozialversicherungen. Ihr drohen Defizite, die gegen Ende des Jahres nicht mehr zu decken sein werden." 622 Der SPIEGEL schrieb am 12. Januar 1976: „Jede Reform der Rentenversicherung brachte den bundesdeutschen Alten bislang Gewinn. Die nach dem Wahljahr unvermeidliche nächste Reform wird den Rentnern zum erstenmal ins Geld gehen." Arendt und Schmidt hatten über die voraussehbaren Schwierigkeiten der Rentenversicherung bereits bei den Verhandlungen über das Sparpaket am Brahmsee gesprochen, aber sich darauf geeinigt, das Problem vor den Wahlen nicht anzupacken. Ein Teilnehmer der Verhandlungen wurde vom SPIEGEL so zitiert: „Es wäre selbstmörderisch vor den Wahlen etwas zu tun." 6 2 3 Bereits 1975 hatte die Bundesversicherungsanstalt für Angestellte die Arbeiter-Rentenversicherung mit 10,5 Milliarden D-Mark stützen müssen, dieser Betrag würde sich 1976 voraussichtlich auf 15 Milliarden D-Mark vergrößern. Aber auch die BfA selbst musste mit einem zweistelligen Defizit rechnen. Der Verband der deutschen Rentenversiche-

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Monatsberichte, Dezember 1976, S. 23. Die Zeit, Nr. 32/31, 30. Juli 1976, S. 1. Die Zeit, Nr. 46/30, 7. November 1975, S. 1. Die Zeit, Nr. 53/30, 26. Dezember 1975, S. 21. Jahresgutachten 1975/76, S. 142f. Der Spiegel, Nr. 3/30, 12. Januar 1976, S. 19ff.

163 rungsträger räumte ein, es könnten „im Laufe des Jahres 1976 Liquiditätsengpässe entstehen." Deshalb sprachen sich sieben von den 12 Mitgliedern des Sozialbeirates des Arbeitsministeriums dafür aus, die Rentenanpassung, die zum 1. Juli 1976 erfolgen sollte, zu verschieben. 624 Wie von den maßgeblichen Experten vorausgesagt, verschlechterte sich 1976 die Lage der Rentenversicherung erheblich, besonders durch die Rentenanpassung von 11 Prozent zur Mitte des Jahres. Die Zahl der Rentner stieg im Jahr 1976 weiter an, so dass sich insgesamt eine Erhöhung der Rentenausgaben von 14 Prozent ergab. Die Rentenbeiträge blieben trotz der positiven Wirtschaftsentwicklung weit hinter den Ausgabezuwächsen zurück. Die Versichertenträger waren gezwungen, die Rücklagen anzugreifen, um das zweistellige Milliardendefizit zu finanzieren. Die Bundesbank stellte im Juni 1976, also vier Monate vor der Bundestagswahl, fest, „daß unter den gegenwärtigen Umständen eine Stabilisierung der Finanzlage der Rentenversicherungsträger nicht ohne gesetzliche Maßnahmen möglich ist." 6 2 5 Arendt ging mit der Rückendeckung von Schmidt in das Wahljahr 1976 mit der Absicht, die Schwierigkeiten bis zum Wahltag zu verschleiern. Im Rentenanpassungsbericht waren zum ersten Mal keine Vorausberechnungen fur die Einnahmen und Ausgaben vorgelegt worden, stattdessen 15 unterschiedliche Modellrechnungen. Arendt erklärte zu Beginn des Jahres 1976 in einem Interview diesen Umstand so: „Wir leben in einer dynamischen Welt — und niemand ist in der Lage, die Entwicklung über einen längeren Zeitraum vorauszusagen. Und deshalb werden im Rentenanpassungsbericht 15 Modelle des möglichen Verlaufs vorgestellt." Diese böten ein „Spektrum der möglicher Entwicklungen." Arendt beschwichtigte, es gäbe keinen Grund zur „Schwarzmalerei" oder „begründeten Sorge." Selbst bei ungünstigsten Annahmen könnten „die Renten mittelfristig mit einem Beitragssatz von 18 Prozent finanziert werden." Arendt lehnte jede Kürzung der Renten entschieden ab. Die bruttolohnbezogene dynamische Rente habe sich bewährt, die Rente werden auch in Zukunft „ungekürzt und pünktlich gezahlt." Allerdings bestehe kein Spielraum für „zusätzliche Leistungsverbesserungen."626 Am 1. Juli sprach 1976 Arendt im deutschen Bundestag und versicherte: „Die Rentenversicherung der Arbeiter und Angestellten haben ein solides Polster (...). Das fiir 1975 vorausgesagte Defizit ist ja nicht eingetreten, das wird auch 1976 so sein (...) Deshalb sage ich Ihnen in aller Ruhe: Es besteht derzeit überhaupt nicht der geringste Anlaß zu irgendwelchen Eingriffen in das Rentenrecht; das gilt für die Beitragsseite und das gilt genauso für die Leistungsseite." Eine Woche nach dieser Rede kamen Hochrechnungen der Rentenversicherungsträger durch eine Indiskretion an die Öffendichkeit, die eine Finanzierungslücke der Rentenversicherung von 15 Milliarden D-Mark für das kommende Jahr 1977 ergaben. Arendt hatte gehofft, dass diese Berechnungen vor der Wahl im Oktober nicht bekannt werden würden. Nun wurden von Seiten der Unionsopposition zum ersten Mal Rücktrittsforderungen laut und in der SPD-Fraktion über mögliche Finanzierungsmöglichkeiten diskutiert.627 In der SPD richtete sich die Stimmung gegen Arendt, der bis dahin nach einer 624 625 626 627

Der Spiegel, Nr. 3/30, 12. Januar 1976, S. 19ff. Monatsberichte, Juni 1976, S. 21. Wirtschaftswoche, Nr. 3/30, 16. Januar 1976, S. 14. Die Zeit, Nr. 30/31, 16. Juli 1976, S. 15.

164 Äußerung Ehmkes in der SPD wegen der Durchsetzung der Ausweitung der Sozialausgaben als „erfolgreichster Minister" der sozialliberalen Koalition galt. Arendt versuchte dem Stimmungsumschwung entgegenzuwirken, indem er über seinen parlamentarischen Staatssekretär Herman Buschfort und den SPD-Sozialexperten Eugen Glombig positive Zahlen verbreiten ließ. 628 Das Arbeitministerium erklärte die Zahlen des Verbandes der Deutschen Rentenversicherungsträger und der Bundesversicherungsanstalt fur Angestellte seien „überholt." Der ehemalige CDU-Arbeitminister Hans Katzer fragte: „Wie lange will der Bundeskanzler noch zusehen, wie der verantwortliche Minister (...) den aufgeschreckten Bürgern mit sturem Blick auf den bevorstehenden Wahltermin Beruhigungspillen verabreicht?"629 Am 26. August 1976 versprach Schmidt: „Die Renten sind sicher und Walter Arendt hat versichert, daß sie im nächsten Jahr um zehn Prozent angehoben werden. Die Anhebung wird auch mit Sicherheit kommen. Die Beiträge werden nicht erhöht, die Renten sind sicher, die Bruttolohnbezogenheit dieser Renten bleibt, die Leistungsbezogenheit dieser Renten bleibt und die regelmäßige Anpassung dieser Renten bleibt." 630 Im Wahlkampf schaltete die SPD Anzeigen mit der Aussage: „Lassen wir uns nicht ins Bockshorn jagen. Die Renten werden (...) zum 1. Juli erhöht." Auch Genscher erklärte vor der Wahl: „Es bleibt bei der fur das kommende Jahr angekündigten Rentenerhöhung von zehn Prozent." 631 Nach der Wahl war die Rentenkrise nicht mehr zu verheimlichen. Die Prognosen gingen von einem Defizit in der Rentenkasse von 84 Milliarden D-Mark bis zum Jahr 1980 aus. Der SPIEGEL schrieb, dies sei das bis dahin „größte Debakel der Regierung Schmidt/Genscher." Schmidt äußerte gegenüber Mitarbeitern, dies sei der „schwerste Schock seit dem Regierungswechsel 1974." Am Dienstag, den 7. Dezember 1976 beschlossen Schmidt und Genscher trotz aller Wahlversprechen die vorgesehene Erhöhung der Renten zum 1. Juli 1977 zu verschieben und die Beiträge nicht zu erhöhen, was die FDP im Wahlkampf versprochen hatte. Die Entscheidung löste große Empörung aus. Franz Josef Strauß nannte dies „Betrug am Wähler" und der DAG sprach von einer „Ohrpfeige für den mündigen Bürger." Die Rentner protestierten mit Protestanrufen und Briefen an die Parteibüros und Zeitungen. Noch am Mittwoch lehnte FDP-Fraktionschef Mischnick die Rücknahme der Beschlüsse ab und Wirtschaftsminister Friderichs glaubte noch, die Regierung könne dies durchstehen. Doch am nächsten Tag stieß Schmidt, der sich mit Genscher ohne die Konsultierung der Fraktion geeinigt hatte, als er versuchte, den Beschluss in der SPD-Fraktion durchzusetzen, auf Widerstand. Die SPD-Fraktion war aufgebracht. Eugen Glombig forderte von Wehner eine Sondersitzung der Fraktion. Karsten Voigt erklärte: „Ich trete nicht als Lügner vor meine Wähler", Forschungsminister Volker Hauff erklärte: „Ich beteilige mich nicht an einem betrügerischen Bankrott." Drei Tage, nachdem die Rentenverschiebung beschlossen worden war, wurde sie nun wieder zurückgenommen. Aufgrund der Flut der Proteste in den Wahlkreise, verschickte die SPD eine Depesche an alle Parteimitglieder: „Wir verstehen die Unruhe. Wir bitten, voreilige Stellungnahmen zu vermeiden." 632

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Der Spiegel, Nr. 30/30, 19. Juli 1976, S. 19f. Wirtschaftswoche, Nr. 30/31, 23 Juli 1976, S. 24. Wirtschafewoche, Nr. 51/30, 13. Dezember 1976, S. 23 ff. Der Spiegel, Nr. 51/30, 13. Dezember 1976, S. 23 ff. Ebd.

165 Da die SPD-Fraktion und eine Minderheit der FDP-Fraktion die erste Einigung abgelehnt hatte, wurden die Koalitionsgespräche am 10. Dezember 1976 wieder aufgenommen. Diesmal einigte sich die Koalition darauf, die Renten termingerecht zum 1. Juli 1977 um 9,9 Prozent anzuheben und die nächste darauf folgende Rentenerhöhung am 1. Januar 1979 vorzunehmen. Die Pauschalzahlungen der Rentenversicherungsträger für die Rentenkrankenversicherung wurden auf 11 Prozent begrenzt, der Kinderzuschuss wurde festgeschrieben und die Mindestreserve sollte auf eine Monatsreserve begrenzt werden. Ein einschneidender Punkt war, weil er die Systemkonformität betraf, war der Beschluss, die Renten in den Jahren 1979/1980 dem Anstieg der Nettolöhne, statt der Bruttolöhne anzupassen. Die Liberalen hatten sich mit ihrer Ablehnung einer Beitragserhöhung durchgesetzt. 633 Nach dieser politischen Erschütterung war der Abgang von Arendt unvermeidlich. Zwei Stunden vor seiner Wiederwahl im Bundestag erklärte Schmidt der Fraktion, dass Walter Arendt fiir das Kabinett als Minister nicht mehr zur Verfügung stand. Herbert Ehrenberg wurde erst im letzten Moment mitgeteilt, dass er sich für die Vereidigung als neuer Arbeitsminister bereithalten sollte. Bei der Wahl im Bundestag erhielt Schmidt nur 249 Stimmen von den 252 Abgeordneten der sozialliberalen Koalition. Am Anfang seiner Regierungserklärung sagte Schmidt: „Eine Regierung ist nicht unfehlbar." 634 Die kommentierte den chaotischen Ablauf wie folgt: „Der Rücktritt Arendts offenbarte, was der Minister stets verschwieg: Das System der sozialen Sicherung in der Bundesrepublik ist bereits 1977 nicht mehr finanzierbar." 635 Der Deutsche Gewerkschaftsbund griff den Rentenbeschluss der Koalition an und kritisierte die Regierungserklärung in der Welt der Arbeit. Besonders erzürnt waren die Gewerkschaften darüber, dass sie über die Ernennung Ehrenbergs von Schmidt erst im Nachhinein informiert wurden. Die Gewerkschaften hatten fur sich ein Mitspracherecht bei der Berufung des Arbeitsministers in Anspruch genommen. Dies war der Anfang eines sehr komplizierten Verhältnisses zwischen dem neuen Arbeitsminister Ehrenberg und den Gewerkschaften. 636 Herbert Ehrenberg hatte eine schillernde Karriere hinter sich. Der Ostpreuße hatte Dienst als Polizeibeamter getan, hatte Volkswirtschaft studiert, als Dozent an der Fachhochschule fur Arbeiterwohlfahrt gelehrt, sieben Jahre in der Industrie gearbeitet und als Funktionär der Gewerkschaft Bau-Steine-Erden gewirkt. Bevor er Arbeitsminister wurde hatte er politische Schlüsselstellungen als Abteilungsleiter im Kanzleramt, Staatssekretär im Arbeitsministerium und stellvertretender Fraktionschef bekleidet. 637 Der SPIEGEL lobte später seine „Fighter-Qualität". Kein anderer Minister sei unter ähnlich ungünstigen Umständen in die Regierung eingetreten.638

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Richard Roth: Rentenpolitik in der Bundesrepublik. Zum Verhältnis zwischen wirtschaftlicher Entwicklung und der Gestaltung eines sozialstaadichen Teilbereichs 1957-1986, Marburg 1989, S. 161. Der Spiegel, Nr. 51/30, 20. Dezember 1976, S. 21ff. Wirtschaftswoche, Nr. '/2/3I, 23. Dezember 1976, S. 22 f. Die Zeit, Nr. 2/31,31. Dezember 1976, S. 1. Wirtschaftswoche, Nr. Vi/31, 23. Dezember 1976, S. 23. Der Spiegel, Nr. 9/31,21. Februar 1977, S. 21 ff.

166 Ehrenberg versuchte dem aus der Not geborenen Kompromiss der Koalitionsparteien, die Beiträge auf Kosten der Rentenreserve stabil zu halten, eine ökonomische Legitimation zu geben. Ehrenberg argumentierte, die Rücklagen der Rentenkasse seien ohnehin zu hoch und nur schwer mobilisierbar. Die Verringerung der drei Monatsreserven auf eine sei längst fällig gewesen. Diese Argumentation blieb jedoch in der Koalition nicht unwidersprochen. FDP-Fraktionschef Mischnick sah sich genötigt festzustellen, die Koalition sei sich einig, „daß die Rücklagen sobald wie möglich wieder aufgefüllt werden sollen." Die Rentenreserven hatten zu Beginn des Jahres 1976 noch vierzig Milliarden D-Mark betragen und würden voraussichtlich bis zum Ende des Jahres 1977 auf 18,5 Milliarden D-Mark abschmelzen. 639

Die Rentenpolitik 1 9 7 7 - 1 9 8 0 Der Kompromiss war jedoch noch nicht das Ende der Misere. Neue Berechnungen zur Arbeitslosigkeit und Einkommensentwicklung ergaben, dass noch weitere 1 0 - 2 0 Milliarden D-Mark nötig waren, um das Defizit, das sich bis 1980 auftun würde, zu schließen. 640 Ehrenberg erklärte in einem Interview mit der Zeit, die widersprüchlichen Berechnungen seien wegen der Hektik nicht zu vermeiden gewesen. Am 14. Januar 1977 fiel der Beschluss, die Arbeitslosenversicherung zur Finanzierung der Rentenversicherung heranzuziehen. Die Bundesanstalt wurde dazu verpflichtet fur jeden Arbeitslosen den vollen Rentenbeitrag zu bezahlen. Damit wurde das Risiko hoher Arbeitslosenzahlen für die Alterssicherung von der Rentenversicherung auf die Bundesanstalt verlagert. Ehrenberg lobte die Entscheidung, weil damit die Rentenkasse von der Unsicherheit der Zahl der Beitragszahler befreit worden sei. Die Arbeitslosigkeit wiederum wollte Ehrenberg mit dem Investitionsprogramm der Regierung reduzieren. Für die Zukunft zeigte sich Ehrenberg im Hinblick auf die Tragfähigkeit des Rentensystems zuversichdich: „Das System, so wie es heute ist, wird mit Sicherheit bestehen können." 641 Es zeigte sich jedoch bald, dass die Sanierung nur vorübergehend eine Lösung für die Rentenversicherung bot. Schon fur das Jahr 1979 zeichneten sich weitere Defizite ab. Die Befürchtung wurde Laut die Sanierung würde zum „Dauerzustand" werden. Zwei wichtige Problemfelder waren die Notwendigkeit die Renten von Witwen und Witwern zu harmonisieren und die Verschlechterung der Altersstruktur der deutschen Bevölkerung. Die Öffentlichkeit war irritiert über das „augenblickliche Durcheinander der Gerüchte, Ankündigungen und Empfehlungen zum Thema Rentenversicherung." 642 Die Diskussion in der Koalition und der Öffentlichkeit reichte vom Herbst 1977 bis ins Frühjahr 1978 hinein. Die Lösungsfindung wurde durch Schmidts Regierungserklärung vom Dezember 1976 sehr erschwert. Denn Schmidt hatte sich darin darauf festgelegt, es werde keinen Krankenversicherungsbeitrag für Rentner geben und angekündigt vom 639 640 641 642

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Nr. Nr. Nr. Nr.

2/32, 31. Dezember 1976, S. 18. 4/32, 14. Januar 1977, S. 1. 5/32, 21. Januar 1977, S. 21. 51/32, 9. Dezember 1977, S. 1.

167 1. Januar 1979 an würde die Rente entsprechend der Nettoeinkommen der aktiven Arbeitnehmer erhöht werden. Die Nettoanpassung fuhrt durch die 1977 beschlossene Steuersenkung, durch die sich das verfugbare Einkommen der Arbeitnehmer erhöhte, zu noch höheren Defiziten. 643 Die Regierung suchte nun nach wegen die sich öffnende Defizit zu schließen ohne erneut den Vorwurf des Wortbruchs auf sich zu ziehen. Ehrenberg legte Anfang September 1977 dem Kabinett zwei Vorschläge zur Sanierung der Rentenfinanzen vor. Der erste Vorschlag sah die Sanierung der Rentenversicherung durch den Einsatz von Haushaltsmitteln vor. Der Bund würde danach 2,5 Milliarden DMark an Schulden an die Rentenversicherung zurückzahlen und Sonderlasten der Rentenkasse übernehmen. Die Bundesanstalt sollte die Zahlung der Rentenbeiträge schon ein Jahr früher übernehmen. Beiträge sollten auch auf Zuschläge fur Sonn-, Feiertags- und Nacharbeit und das 1 3 - 1 5 Monatsgehalt fällig werden. Das Restdefizit sollte durch die Besserung der wirtschaftlichen Lage geschlossen werden. Ehrenbergs zweiter Vorschlag war wesentlich simpler: Der Beitrag sollte demnach auf 19 Prozent zum 1. Januar 1979 angehoben werden. 644 Schmidt verfugte im November 1977 im Kabinett, dass öffendich über die Rentendefizite bis zum Januar 1978 nicht gesprochen werden durfte. Der SPIEGEL nannte dies einen „Maulkorb-Erlass." Aber ein Beamter des Arbeitsministeriums wurde mit der Aussage zitiert: „Die Krise der Rentenversicherung ist viel ernster als die der Energiepolitik." Die unter Verschluss gehaltenen Berechnungen hatten ein Defizit von 150 Milliarden D-Mark bis zum Jahr 1980 ergeben. Herbert Wehner hatte sich inzwischen wegen der Brisanz des Themas selbst an die Spitze einer Parteikommission gesetzt, die bis 1980 ein Konzept zur Reform der Sozialversicherungen erarbeiten sollte. 645 Im Februar 1978 stand schließlich Ehrenbergs überarbeitetes Konzept. Ehrenbergs Lösungsvorschlag war mehr als unorthodox, denn er stellte einen Bruch mit der Systematik der Rentenversicherung dar. Ab dem Jahr 1979 sollten die Renten pauschal ohne den Bezug zum Brutto- oder Nettolohn angehoben werden, 1979 noch um 4,5 Prozent und in den zwei folgenden Jahren um vier Prozent. Erst dann im Jahr 1982 sollte, so Ehrenbergs Plan, ein Beitrag der Rentner zur Krankenkasse eingeführt werden. Ehrenberg hielt dies fur eine „saubere, einfache Lösung", um das Defizit zu schließen.646 In einem Interview mit dem SPIEGEL unterstrich Ehrenberg, es handle sich um eine Ubergangslösung. Ehrenberg versicherte, die Rente werde lohnbezogen bleiben. 647 Außerdem beabsichtigte Ehrenberg, die Wirkung der Rentenreform von 1972, des einstigen „Wahlschlagers" der SPD zu begrenzen. Die Rentenreform 1972 war darauf angelegt, den Kreis der Beitragszahler für die öffendiche Rentenversicherung zu erweitern. Nun wollte Ehrenberg die freiwillig versicherten Hausfrauen und Selbstständigen, die im Zuge der Reform von 1972 für die Rentenversicherung gewonnen worden waren, finanziell stärker als damals beschlossen belasten. Die Zahl der Betroffenen lag bei eineinhalb Millionen, die bislang neun Milliarden D-Mark an Beiträgen aufgebracht hatten. Bereits im letzten 643 644 645 646 647

Die Zeit, Nr. 4/33, 20. Januar 1978, S. 23 f. Der Spiegel, Nr. 37/31, 5. September 1977, S. 21 ff. Der Spiegel, Nr. 51/31, 12. Dezember 1977, S. 21 ff. Wirtschaftswoche, Nr. 8/32, 17. Februar 1978, S. 16ff. Der Spiegel, Nr. 8/32, 20. Februar 1978, S. 25 ff.

168 Jahr 1977 war die Mindesthöhe ihrer Beiträge über das 1972 angekündigte Maß hinaus erhöht worden. Die ZEIT kritisierte: „Ehrenbergs Pläne laufen darauf hinaus, gutgläubigen Vertragspartnern mehr Geld abzuknöpfen, als bei Vertragsabschluss mit ihnen ausgemacht worden war." Ehrenberg beabsichtigte mit seinen Maßnahmen, die Privilegien, die man den Neuzugängen gewährt hatte, um sie für die Rentenversicherung zu „ködern" abzuschaffen. Die ZEIT bezeichnete dies als eine „Roßtäuscherei". 648 Ehrenbergs Plan, den er Anfang März vorlegte, sah dann auch vor, dass die Alterssicherung für die freiwillig Versicherten nur bei kontinuierlichen Zahlungen von drei Jahren geleistet werden sollte. Dies zielte vor allem auf die freiwillig versicherten Hausfrauen, betraf aber auch Teilzeitbeschäftigte. Die Mindestbeiträge, die fur die Rentenkasse geleistet werden mussten, sollten von 18 D-Mark im Jahr 1977 auf 72 D-Mark im Monat im Jahr 1979 ansteigen. 649 Die Alternatiworschläge der Unionsopposition zu Ehrenbergs Rentenplänen sahen vor, den Beitragssatz nicht zu erhöhen und die Bruttobezogenheit der Rentenzahlungen beizubehalten. Die Rentner sollten aber einen sozial gestaffelten Beitrag zur Krankenkasse leisten. Das nach dieser Maßnahme verbleibende Defizit sollte nach den Plänen der Union durch höheres Wirtschaftswachstum geschlossen werden.6550 Das Regierungsprogramm der Regierung wurde von der Wirtschaft als besser beurteilt als die Vorschläge der Opposition. Der Arbeitgeber-Vertreter Werner Doetsch erklärte in Sicht auf das Unionskonzept, er halte nichts davon, „das Prinzip Hoffnung in die Bilanz der Rentenversicherung einzustellen." Die Gewerkschaften lehnten den Regierungsentwurf hingegen ab. Aus den Reihen des D G B hieß es, das Regierungskonzept sei eine „verschrobene Lösung, der später noch verschrobenere folgen könnten." 651 In der zweiten Oktoberhälfte stellte der Rentenexperte der FDP Hansheinrich Schmidt, die vorgesehene Rückkehr zum Bruttoprinzip 1982 in Frage. Norbert Blüm zeigte sich darüber empört und sprach von einem „Rentenbetrug auf Abruf." 6 5 2 Der sozialpolitische Bundesfachausschuss der FDP veröffentlichte schließlich am 16. November 1978 ein Diskussionspapier zur Alterssicherung. Darin wurde ein Versorgungsziel von 60 Prozent des Nettolohnes fiir Rentner vorgeschlagen. Die flexible Altersgrenze ab dem sechzigsten Lebensjahr sollte nach den Vorstellungen der Liberalen nur mit den entsprechenden versicherungsmathematischen Abschlägen erfolgen. Dieser Vorstoß der Liberalen stieß auf starke Ablehnung. Der D G B sprach gar von einem „Generalangriff'. 653 Wie schon beschrieben, bot die Union in der Rentenpolitik kein besseres Bild als die Regierungsparteien. Im Wahlkampf 1976 hatte die Union den „Rentenbetrug" nicht zum zentralen Wahlkampfthema gemacht. Dies hätte die eigene Wahlkampfstrategie der C D U / C S U konterkariert. Die Union hatte damals noch eine zehnprozentige Rentenerhöhung versprochen. Vier Jahre später, im Wahlkampf 1980 machte CDU-Generalsekretär Geißler nachträglich den „Rentenbetrug" zu einem wichtigen Thema des Wahlkamp648 649 650 651 652 653

Die Zeit, Nr. 10/33, 3. März 1978, S. 1. Wirtschaftswoche, Nr. 10/32, 3. März 1978, S. 28 f. Wirtschaftswoche, Nr. 10/32, 3. Märe 1978, S. 28 f. Wirtschaftswoche, Nr. 17/32, 21. April 1978, S. 30f. Wirtschaftswoche, Nr. 44/32, 27. Oktober 1978, S. 20. Richard Roth, Rentenpolitik, S. 195 f.

169 fes, obwohl es zu diesem Zeitpunkt keine neuen Angreifpunkte gab. Geißler warf der Regierung vor, sie habe vor der letzten Wahl 1976 die Rentner „getäuscht und in die Irre gefuhrt." Die aktuelle Lage der Rentenversicherung nahm die C D U schon deshalb nicht auf, weil auch in diesem Wahlkampf die Versprechen der Unionsparteien über die der Regierung hinausgingen. Die Zeit schrieb im Spätsommer 1980: „Die Unionsparteien sind in wichtigen Belangen der bevorstehenden Rentenreform großherziger als die beiden derzeitigen Koalitionspartner." C D U / C S U wollten die Rentner weniger stark zur Finanzierung der Gesundheitskosten heranziehen als die Regierung und den Hinterbliebenen 75 Prozent der Gesamtrente des verstorbenen Ehepartners zusprechen statt 70 Prozent, die die Regierung ihren zugestehen wollte. 654 Um diesen Komplex zu vervollständigen, betrachten wir nun kurz die Entwicklung auf einem Nebengleis, das eng mit dem Rentendebakel verknüpft war, der Gesundheitspolitik.

Die Gesundheitsreform Die Finanzen der Sozialversicherungen sind eng miteinander verflochten. Es bestand in dem Untersuchungszeitraum eine sehr starke Tendenz den finanziellen Notstand des einen Versicherungszweiges auf Kosten der anderen zu beheben. Die Begrenzung der Zahlungen der Rentenkasse an die Krankenversicherungen verschob finanzielle Lasten der Rentenversicherungen in den Gesundheitsbereich. Das führte dazu, dass der Reformbedarf in diesem Bereich verstärkt wurde. Die Krankenkassenbeiträge stiegen auf über 12 Prozent an. Ehrenberg wollte nun durchsetzen, dass sich die Ausgaben in Zukunft an den Einnahmen orientieren sollten. Den Krankenkassen wollte Ehrenberg für ihre Selbstverwaltung mehr Autonomie einräumen. Bei den Ausgaben fiir Ärzte, Krankenhäuser und der Pharmaindustrie wollte Ehrenberg Kostendämpfung betreiben. Da die Rentner dreißig Prozent der Gesundheitskosten verursachten, forderte die FDP diese an den Kosten zu beteiligen. 655 Die Ärzte protestierten unter Führung des Präsidenten der Ärztekammer Joachim Sewering gegen die Anbindung ihrer Einkommen an die gesamtwirtschaftlichen Orientierungsdaten. Im Februar 1977 wurden wegen des Ärztestreiks Praxen geschlossen. Der D G B nannte das Verhalten der Ärzte „ärzdichen Amoklauf'. 6 5 6 Der SPIEGEL schrieb: „Zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik machen die Ärzte mobil gegen die Regierung." Der Aufwand für Warnstreiks, Demonstrationen und öffentliche Aktionen war ein Millionenaufwand fiir die Ärzteschaft. Ehrenberg sah in den Aktionen der Ärzte den „verfassungswidrigen Versuch, das Parlament zu erpressen." Die Ärzte drohten damit, die Praxisschließungen noch auszuweiten, um die „Rückkehr ins Mittelalter", zur „Primitivmedizin" zu verhindern. 657

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Die Zeit, Nr. 36/35, 29. August 1980, S. 18. Die Zeit, Nr. 6/32, 28. Januar 1977, S. 18. Wirtschaftswoche, Nr. 9/31, 18. Februar 1977, S. 28 f. Der Spiegel, Nr. 8/31, 14. Februar 1977, S. 21 ff.

170 Am 1. Juli 1977 trat mit der Zustimmung von Bundestag und Bundesrat das KVKV in Kraft, das „Krankeneversicherungskostensenkungsgesetz". Da die Regelung zur Rezeptgebühr zu Verwirrung führte, veranlasste Ehrenberg eine Telefonaktion, die den Verbänden die Neuregelung erklären sollte. Die Krankenkassen hatten sich vorbehalten gegen die Neuregelung zu klagen. Seine ursprünglichen Pläne die Rentenkassen auf Kosten der Krankenkassen zu sanieren, musste der Minister teilweise revidieren. Die Anhebung der Bemessungsgrenze fiel moderater aus als von Ehrenberg ursprünglich beabsichtigt, um die Privatversicherungen nicht zu provozieren. Trotz der Sparmaßnahmen wollte keine Krankenkasse Beitragserhöhungen fur 1978 ausschließen.658 Dieser kurze Abschnitt zeigt, wie durch die Logik des Sozialversicherungssystems die Probleme des einen Bereichs in den anderen verlagert wurden. Durch die Einsparungen bei den Zahlungen fur die Krankenversicherung bei der Rentenkasse wurde die finanzielle Situation der Krankenkassen verschärft. Dies erzwang Einsparungen in diesem Bereich, was wiederum zu Protestaktionen der Arzte führte.

Der demographische Umbruch Als die Geburtenzahl im Jahr 1968 zum ersten Mal unter eine Million gefallen war, hielten die Statistiker diesen Rückgang zu erst für eine Folge der Rezession 1967. Die Bevölkerung reagiere in ihrem „Fortpflanzungsverhalten rasch auf wirtschaftliche Rückschläge." Erst mit dem Einsetzen des Wirtschaftsbooms 1970 wurden den Experten klar, dass sich die Entwicklung „etwas außerhalb" der demographischen Erfahrung mit der Rezession bewegte. Denn spätestens für 1969 wäre ein Ansteigen bzw. wenigstens kein Absinken der Geburtenzahl zu erwarten gewesen, wenn die Ursache des Geburtenrückgangs die Rezession gewesen wäre. Die stellte 1971 fest: „Während der Boom zu kochen anfing, kamen immer weniger Kinder zur Welt." Der Zusammenhang zwischen Wirtschaftsentwicklung und Geburtenrate schien plötzlich aufgehoben. Die Geburtenrate des Jahres 1970 lag noch unter der Geburtenrate des Kriegs- und Hungerjahres 1917. Der Geburtenüberschuss lag in diesem Jahr nur noch bei 78000. 6 5 9 Das Jahr 1972 war das demographische Wendejahr. Damals drehte sich die Tendenz der Bevölkerungsentwicklung zum ersten Mal um. Zum ersten Mal gab es statt es Geburtenüberschusses einen Sterbeüberschuss. Im Jahr 1964 lag die Zahl der Geburten noch bei 1065 000, im Jahr 1973 waren es nur noch 632000. Als Konsequenz ordnete Innenminister Genscher die Schaffung eines Instituts fiir Bevölkerungsforschung an. Dieser Einbruch würde die Sozialstruktur Deutschlands in den kommenden Jahrzehnten stärker verändern als jeder andere gesellschaftliche Trend. Im Jahr 1971 brachten die Frauen der Gastarbeiter jedes zehnte in der Bundesrepublik geborene Kind zur Welt bei einem Bevölkerungsanteil von 5 Prozent. 660

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Wirtschaftswoche, Nr. 31/31, 22. Juli 1977, S. 22ff. Wirtschaftswoche/Der Volkswirt, Nr. 8/25, 19. Februar 1971, S. 39f. Die Zeit, Nr. 34/29, 16. August 1974, S. 28.

171 Die Unionsparteien machten die Bundesregierung für das „Geburtenfiasko" verantwortlich. 661 Dies war tatsächlich nicht mehr als eine Polemik, fur deren Thesen wenig spricht. Weder das Regierungshandeln der sozialliberalen Koalition, noch die Ideen der so genanten 68er waren ursächlich für den Rückgang der Geburtenrate. Dies zeigt sehr klar die Analyse des Demographen Herwig Birg. Der Wandel des generativen Verhaltens begann mit der abnehmenden Zahl der viertgeborenen Kinder und „begann sich anschließend stufenweise auf die Häufigkeit der Dritten, der Zweiten und zuletzt der Ersten Kinder auszubreiten." Dieser Prozess vollzog sich im Zeitraum zwischen 1966 und 1972. Dass die demographische Entwicklung als Konsequenz dieses Prozesses mit den politischen Umbrüchen der Bundespolitik und den Auseinandersetzungen mit den linken Studenten zusammenfiel, war ein zufälliges Zusammentreffen zweier Ereignisse zwischen denen es keinen ursächlichen Zusammenhang gab. Da die Entscheidung die Zahl der Kinder zu reduzieren, zuerst bei denen fiel, die schon eine gewissen Zahl von Kindern hatten, würde die Schuldzuweisung an die 68er bedeuten, „daß sich ausgerechnet die kinderreichen Eltern an den Studenten der 68er-Generation orientiert hätten, die ja ihrerseits nicht bereits zwei oder drei Kinder hatten, was die Voraussetzung dafür gewesen wäre, daß bei ihnen der Wegfall der Dritten und Vierten Kinder als Vorbild für die anderen hätte dienen können." 6 6 2 Tatsächlich war der Geburteneinbruch unter den katholischen Familien ganz besonders groß. Das katholische Saarland fiel bei der durchschnittlichen Geburtenrate von dem ersten auf den letzten Platz ab, das protestantische Schleswig-Holstein stieg durch diese Entwicklung vom letzten auf den ersten Platz auf. 6 6 3 Diese Entwicklung änderte die Grundlage für die zukünftigen rentenpolitischen Debatten rund stellte langfristig die Berechtigung des umlagefinanzierten Rentensystems in Frage. Die fehlenden 250000 Geburten im Jahr würden sich langfristig auf das Rentensystem auswirken. Der Sozialbeirat beim Arbeitsministerium Prof. Helmut Meinhold stellte zu dieser Entwicklung besorgt fest: „Wir können ja unmöglich auch die Beiträge verdoppeln, um die Rentner zu erhalten. Dann müssen wir uns etwas neues überlegen." 664 Schmidt hatte von Innenminister Maihofer noch vor der Sommerpause eine Expertise zum Geburtenrückgang angefordert als Grundlage für einen Bericht der Bundesregierung. Im November 1978 lag die Expertise vor. Schmidt war mit den Ergebnissen alles andere als zufrieden. Die Expertise ging von einem Bevölkerungsrückgang in der Bundesrepublik bis zur Jahrtausendwende von 57,7 Millionen auf 52 bis 49 Millionen Einwohner aus. Dem war eine Geburtenrate von 1,4 beziehungsweise 1,1 zugrunde gelegt worden. Die vier Millionen Ausländer waren in die Berechnungen nicht einbezogen worden, da das Papier davon ausging, sie würden in ihre Heimat zurückkehren. In dem Bericht fanden sich nur zurückhaltende Formulierungen zu den Folgen für die Wirtschaft und die Rentenversicherung. Das Thema war für die sozialliberale Regierung brisant, da die Opposition die Regierung für den Geburtenrückgang verantwortlich machen wollte. Die

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Die Zeit, Nr. 34/29, 16. August 1974, S. 28. Herwig Birg, Die demographische Zeitenwende. Der Bevölkerungsrückgang in Deutschland und Europa, München 2003, S. 53 f. Der Spiegel, Nr. 1/27, 1. Januar 1973, S. 37 ff. Wirtschaftswoche, Nr. 10/32, 3. März 1978, S. 28 f.

172 C D U hatte auf ihrem Parteitag in Ludwigshafen zusätzliche Milliarden D-Mark för die Familienpolitik angekündigt. 665 Bei der Diskussion im Kabinett in den folgenden Wochen über die Folgen des Geburtenrückgangs sagte Schmidt über die vorliegenden Bevölkerungsprognosen: „Das ist nicht das Gelbe vom Ei." Schmidt wies die Modellrechnungen zurück und wollte das zwei Kommissionen die Modelle des Familien- und des Innenministeriums überarbeiten sollten. Die Berechnungen hatten ergeben, dass die Rentenbelastung um bis zu 30 Prozent steigen konnte. Die SPD-Familienministerin Anke Huber war wütend und meinte, die Diskussion werden „unter dem Slogan gefuhrt: Frauen zurück an den Herd." Der Planungschef des Kanzleramtes Albrecht Müller wollte das Thema nicht politisch behandelt sehen. Er warf der Opposition vor: „Dieselben Kräfte, die über den Versorgungsstaat und das Ausmaß staadicher Transferleistungen klagen" seien „tendenziell fur die Sozialisierung der Kinderlasten." 666 Diese Anspielung war nicht falsch, weil angesichts dessen, was sich in Westdeutschland soziologisch vollzog, Teile der Union auf die angeblich erfolgreiche Bevölkerungspolitik in der D D R hinwiesen. Der Geburteneinbruch, der sich seit der Mitte der sechziger Jahre vollzog, war ohne Beispiel. So gingen in München die Geburten von 17000 im Jahr 1966 auf 9600 im Jahr 1978 zurück. 667

Zusammenfassung: Rentenpolitik 1976-1980 Die finanziellen Schwierigkeiten der Rentenkasse waren frühzeitig voraussehbar. Sie konnten in den Zeitungen schon im Herbst 1975 nachgelesen werden. Die sozialliberale Koalition wollte die Probleme nicht im Wahlkampf diskutieren und stritt deshalb bis zum Wahltermin die Schwierigkeiten ab. Auch die Opposition hielt sich zurück, da sie selbst auch keine finanzierbare Alternative zur Rentenpolitik anzubieten hatte. Sowohl Beitragserhöhungen als auch Leistungskürzungen waren unpopulär. Das ist das Dilemma der Rentenpolitik. Der Versuch die Rentenanpassung nach der Wahl 1976 zu verschieben führte zu einem Proteststurm, so dass die Verschiebung zurückgenommen werden musste. Die FDP wehrte sich gegen Beitragserhöhungen, deshalb war auch dieser Weg versperrt. Deshalb einigte sich die Koalition auf die fragwürdige Lösung, die Rentenreserve abzuschmelzen und die Pauschalzahlungen der Rentenkasse an die Krankenversicherungsträger zu beschränken. Dies riss wiederum Finanzierungslücken in das Gesundheitssystem, was der Bundesregierung Ärger mit der Ärzteschaft einbrachte. Nach Arendts Rücktritt war es an Ehrenberg nach den schnellen Beschlüssen nach der Wahl eine mittelfristig tragfähige Lösung zu finden. Sein erster Schritt bestand darin, das Risiko der Rentenkasse auf die Bundesanstalt fur Arbeit zu verlagern, die fur die Arbeitslosen Krankenversicherungsbeiträge zahlte. Der nächste Schritt war der zeitweise Bruch mit der bisherigen Rentensystematik. Bis 1982 sollte die Rente nur noch entsprechend der Entwicklung der 665 666 667

Der Spiegel, Nr. 45/32, 17. Oktober 1978, S. 20. Wirtschaftswoche, Nr. 52/32, 22. Dezember. 1978, S. 28 ff. Wirtschaftswoche, Nr. 20/32, 12. Mai 1978, S. 20 f.

173 Nettolohnentwicklung und nicht mehr entsprechend der Bruttolohnentwicklung erhöht werden. Erst dann sollte ein Krankenversicherungsbeitrag für Rentner eingeführt werden, was Schmidt in seiner Regierungserklärung abgelehnt hatte. Zur gleichen Zeit wurde die Bundesregierung mit Prognosen konfrontiert, die die langfristige Sicherheit des gesamten Systems in Frage zu stellen schienen. Es zeichnete sich eine demographische Umwälzung ab. Seit 1972 übertrafen die Sterberaten die Geburtenraten. Die Prognosen, die Schmidt vorgelegt wurden, gingen von einem massiven Bevölkerungsrückgang aus, der allerdings auf der Annahme beruhte, dass die Gastarbeiter in ihre Heimat zurückkehren würden, was nicht eintraf. Für die sozialliberale Koalition war die Entwicklung und die öffendiche Diskussion über die Entwicklung brisant. Die C D U / C S U sah die Schuld an dieser Entwicklung bei der sozialliberalen Koalition und beabsichtigte dieser Entwicklung durch familienpolitische Maßnahmen entgegen zu wirken. Eine Strategie, die in den achtziger Jahren nicht aufgehen sollte. Nach wir uns nun ausführlich mit dem Arbeitsmarkt und der Entwicklung der Sozialversicherungen unter den Bedingungen der Massenarbeitslosigkeit in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre auseinandergesetzt haben, kehren wir nun zur Finanzpolitik zurück und betrachten die Auswirkungen der neuen Rahmenbedingungen auf diesem Gebiet.

Die Finanzpolitik 1976-1980 Die sozialliberale Steuerreform von 1975 beinhaltete einen steuersystematischen Fehler von sehr weitreichender Wirkung. In der Reform hatte man die zu besteuernden Einkommen in Normal- und Progressionstarife eingeteilt. Vom niedrigen Normalsteuersatz sollte ursprünglich die große Mehrheit der Klein- und Mittelverdiener profitieren und ab einer bestimmten Einkommensgrenze von zuerst 16000 D-Mark für Ledige und 32000 D-Mark für Verheiratete sollten die Besserverdienenden durch einen Progressionstarif belastet werden, der mit steigenden Einkommen überproportional zunahm. Diese Tarifstruktur hatte die absurde Wirkung, dass Lohnerhöhungen im Ergebnis zu einem geringeren Nettoeinkommen führen konnten. Wer durch seine positive Einkommenssteuerentwicklung über die Einkommensgrenze vom Normal- zum Progressionstarif wechselte, der musste auf einen Schlag nicht mehr 20, sondern über 30 Prozent Steuern zahlen. Inflation und Lohnerhöhungen führten darüber hinaus zu der politisch brisanten Entwicklung, dass von dem überproportionalen Steuertarif schließlich die Masse der Steuerzahler betroffen war. Diese Entwicklung musste durch eine jährliche Anpassung der Tarifsätze ausgeglichen werden, um eine übermäßige Belastung des Durchschnittsverdieners zu verhindern, die ohne Korrektur quasi automatisch gewachsen wäre 668 Daraus ergab sich für die Finanzpolitik die verführerische Möglichkeit, die Einnahmen ohne offiziellen Beschluss die Steuern zu erhöhen, zu vergrößern. Nämlich einfach dadurch, dass die Anpassung ausgesetzt oder nicht vollständig vorgenommen wurde. Die Finanzpolitik stand vor der Wahl die Einnahmen zu erhöhen, die Ausgaben massiv zu 668

Der Spiegel, Nr. 20/32, 15. Mai 1978, S. 36 ff.

174 kürzen, was politisch ebenso wenig opportun war, und eine steigende Zinsbelastung durch den wachsenden Schuldenberg hinzunehmen. Bis in die siebziger Jahre hinein war die Staatsverschuldung nur ein Problem fur Experten. Zum Ende des Jahres 1976 lag der Schuldenstand der Bundesrepublik mit 400 Milliarden D-Mark bei 26 Prozent des Bruttosozialproduktes. In den Vereinigten Staaten waren es 53 Prozent des BSP und in Großbritannien 65 Prozent. 669 Es ist nicht überraschend, dass die im internationalen Vergleich noch relativ günstige Lage der Bundesrepublik und die sich bessernde wirtschaftliche Situation nach dem konjunkturellen Einbruch der Jahre 1974 und 1975 zu einem sorgloseren Umgang der Ressorts führten. Nach der Wahl 1976 forderten die Minister für das Haushaltsjahr 1977 10 Milliarden D-Mark mehr als von Finanzminister Apel vorgesehen worden war. Wegen der guten Konjunktur wurde fur 1977 mit Steuermehreinnahmen von fünf Milliarden D-Mark gerechnet und erwartet, dass die Bundesanstalt ohne Zuschüsse durch den Bundeshaushalt auskommen würde. Diese zusätzlichen Einnahmen würden jedoch nicht ausreichen die Ausgaben von 173 Milliarden D-Mark, die der Bundeshaushalt umfassen sollte, zu decken. 670 Apel gelang es diese Forderungen abzuwehren und bei einzelnen Ressorts sogar Kürzungen durchzusetzen. Der Finanzminister verkündete öffentlich: „Ich habe allen Beteiligten klargemacht, daß jetzt nicht die Zeit ist, um in einen großen Umfang neue Geldleistungen des Bundes zu erfinden und auszubauen." Diese Grenzziehung schien Apel auch deshalb dringend geboten, weil die Steuerschätzung im Dezember tatsächlich geringere Steuereinnahmen voraussagte. Apel wollte die Neuverschuldung auf 23 Milliarden D-Mark, die Höhe der Investitionen, begrenzen, um den Haushalt verfassungsgemäß zu gestalten. Zugleich war die steuerliche Entlastung der Bürger vorgesehen, die aber vom Einlenken der Bundesländer bei der Erhöhung der Mehrwertsteuer abhängig gemacht wurde. 671 Am 26. Januar 1977 beschloss das Bundeskabinett den Entwurf für den Bundeshaushalt 1977 und den Finanzplan des Bundes fur die Jahre von 1977 bis 1980. Auf die soziale Sicherung entfiel im neuen Finanzplan ein Drittel der vorgesehen Mittel auf die soziale Sicherung. Die Finanzplanung ging von einem nominalen Wachstum von neun Prozent im Jahr 1977 und nach den Annahmen der Finanzplanung von acht Prozent jährlich bis 1980 aus. Die Neuverschuldung sollte danach von fast 26 Milliarden D-Mark im letzten Jahr über 22,8 Milliarden D-Mark in diesem Jahr auf 15,5 Milliarden D-Mark im Jahr 1980 zurückgeführt werden. Dieser Rückgang der Neuverschuldung würde sich nach der Finanzplanung im Wesentlichen über die Ausweitung der Steuereinnahmen finanzieren. Nach Apels Planung sollten die Steuereinnahmen von 131 Milliarden D-Mark im letzten Jahr auf über 186 Milliarden D-Mark im Jahr 1980 wachsen. Dies sollte unter anderem durch die Erhöhung der Mehrwertsteuer geschehen, von der nur die Hälfte an anderer Stelle als Endastung an die Bürger zurückfließen sollte. 672 Der Bund war zu diesem Zeitpunkt mit 140 Milliarden D-Mark verschuldet, die öffentlichen Haushalte insgesamt mit

669 670 671 672

Die Zeit, Nr. 49/32, 25. November 1977, S. 30. Der Spiegel, Nr. 44/30, 25. Oktober 1976, S. 27ff. Wirtschaftswoche, Nr. 5/31, 21. Januar 1977, S. 28 f. Archiv der Gegenwart, S. 20791.

175 etwa 310 Milliarden D-Mark. Die Verschuldung von Bahn und Post umfasste zusammen 68 Milliarden D-Mark. Voraussichdich würde der Bund schon 1979 allein 30 Milliarden für die Zinsen aufwenden müssen. Sollte sich dieser Trend weiter fortsetzen, würde 1981 ein Fünftel des Bundeshaushalts für Zinsen aufgewendet werden.*·73 Zentraler Streitpunkt der Finanzpolitik war die von Apel geforderte Mehrwertsteuererhöhung. Apel bestand auf seiner Ankündigung aus der Zeit vor der Bundestagswahl 1976 die Mehrwertsteuer von 11 auf 13 Prozent zu erhöhen. Dafür war die Zustimmung des Bundesrates notwendig. Da die unionsgefiihrten Länder weiterhin nicht bereit waren, der Erhöhung zuzustimmen, drohte Schmidt damit, die Ergänzungszuweisungen für die ärmeren Bundesländer wie Bayern Rheinland-Pfalz, Saarland und Niedersachsen, die von der Union regiert wurden, zu kürzen. 674 Mitte März verabschiedete das Kabinett die Steueränderungen. Die Mehrwertsteuererhöhung und die Entlastung der Einkommen, finanziert durch die Hälfte der Mehrwertsteuereinnahmen, wurden dann dem Parlament zugeleitet. Die Unionsparteien beharrten darauf, die Erhöhung der Mehrwertsteuer im Bundesrat abzulehnen. Der finanzpolitische Sprecher der C D U Hansjörg Häfele sagte: „Die Pläne der Bundesregierung werden auf unseren einhelligen Widerstand stoßen." Einige Unionsländer signalisierten jedoch Kompromissbereitschaft. 675 Die C D U / C S U selbst war in dieser Frage alles andere als ein geschlossener Block. Gerade im Bereich der Wirtschaftspolitik war die Führungsposition in der Opposition umkämpft. Franz Josef Strauß war finanzpolitischer Sprecher der Unionsfraktion und sah sich selbst als wirtschaftspolitischen Generalisten. In der C D U gab es eine wirtschaftspolitische „Troika", die von Rainer Barzel, Gerhard Stoltenberg und Kurt Biedenkopf gebildet wurde. 676 Ministerpräsident Albrecht war in der Frage der Mehrwertsteuererhöhung kompromissbereit und Strauß wollte die Verhandlungen nutzen, um die Verteilung des Mehrwertsteueraufkommens zwischen Bund und Ländern neu zu regeln. Stoltenberg und Filbinger waren hingegen für eine strikte Ablehnung der Mehrwertsteuererhöhung. Der erste Beratungstermin im Bundesrat war für den 24. Juni 1977 angesetzt. Die Zeit lief der sozialliberalen Koalition davon, weil die Verwaltung für die fristgerechte Umstellung zum 1. Januar 1978 einen längeren Vorlauf benötigte. Wenn die Entscheidung zu spät fiel, war eine fristgerechte Umstellung nicht mehr möglich. 677 Unter diesem Druck hatten sich SPD und FDP in der Pfingstwoche darauf geeinigt, die Mehrwertsteuer nur um einen Prozentpunkt zu erhöhen. Apel musste nachgeben, weil Bundeskanzler Schmidt die liberalen Minister Genscher und Friderichs, die gut vorbereitet in die Verhandlungen gegangen waren, unterstützt hatte. Ein Teilnehmer der Verhandlungen kommentierte das Zusammenspiel von Liberalen und Bundeskanzler: „Genscher, Friderichs und Schmidt zogen an einem Strang." Dies bedeute einen Verzicht auf zwei Milliarden D-Mark an zusätzlichen Einnahmen. Diese Niederlage war für Apel ein besonderer Gesichtsverlust, weil er im Wahlkampf gegen den Willen breiter Teile der 673 674 675 676 677

Wirtschaftswoche, Nr. 44/31, 21. Oktober 1977, S. 28. Der Spiegel, Nr. 44/30, 25. Oktober 1976, S. 27ff. Die Zeit, Nr. 12/32, 11. März 1977, S. 21. Die Zeit, Nr. 22/32, 20. Mai 1977, S. 19. Wirtschaftswoche, Nr. 22/31, 20. Mai 1977, S. 16 ff.

176 SPD an der Forderung nach einer zweiprozentigen Erhöhung der Mehrwertsteuer festgehalten hatte. Das ist einer der seltenen Fällen, in denen ein Politiker im Wahlkampf den Wählern mehr Lasten ankündigte, als er nach der Wahl umsetzte. Da die beschlossenen Endastungen hingegen unangetastet blieben und den Haushalt in voller Höhe belasteten, hätte es Apel vorgezogen, auf das gesamte Paket von Mehrwertsteuererhöhung und Endastung zu verzichten. Die beschlossene Endastung sollte insgesamt sieben Milliarden D-Mark kosten. Dem standen die Mehreinnahmen aus der Mehrwertsteuererhöhung um jetzt nur noch einen Prozentpunkt gegenüber, die nun noch fiinf Milliarden D-Mark bringen würde. Ein Vertrauter Apels äußerte: „Das weiß doch keine Sau, wie wir den Haushalt jetzt finanzieren sollen." Auch in der SPD-Fraktion wurden Apels Bedenken geteilt. Bei der fraktionsinternen Abstimmung stimmten 44 der 224 SPD-Abgeordneten gegen das Steuerpaket. 678 Ein Teil der Endastung sollte in die Korrektur des Einkommenssteuertarifs und die Erhöhung des Kindergeldes fließen, ein anderer Teil in die Senkung der Gewerbe- und der Vermögenssteuer. Apel musste außerdem weitere Kosten einkalkulieren, die er als Verhandlungsmasse mit den Bundesländern im Bundesrat einsetzen konnte. 679 Apel erklärte in einem Interview mit der vom 3. Juni 1977, ohne die volle Mehrwertsteuerfinanzierung werde nun die Finanzierung des Haushalts viel schwieriger. Es sei weder sicher, ob sich der positive Trend bei den Einnahme fortsetze, noch wie die Neuverteilung der Umsatzsteuer ausfallen werde. Daher sähe er nun kaum noch Spielraum fur den Vermitdungsausschuss. Weitere Steuerausfälle in Milliardenhöhe dürfe es nicht geben. Unter diesen Bedingungen werde die geplante Defizitgrenze von 19 Milliarden D-Mark überschritten werden. 680 Der neue Koalitions-Kompromiss machte der Union die Ablehnung schwerer, denn die Wirtschaft begrüßte die Einigung, von der sie sich eine Entlastung versprach. Der BDI begrüßte das neue Konzept als „Schritt zur Überwindung der herrschenden Investitionsschwäche." Daher wertete auch Stoltenberg den Kompromiss als „Teilerfolg" der Union. 6 8 1 Doch nun kam es zu einem Aufstand in der SPD. Die Absenkung der Vermögenssteuer bei gleichzeitiger Erhöhung der Mehrwertsteuer schien vielen Sozialdemokraten nicht akzeptabel. Die Koalition hatte nur 10 Stimmen Mehrheit im Bundestag. Dieser Mehrheit standen aber die 40 potentiellen Abweichler gegenüber. 682 Die Senkung der Vermögenssteuer hatte Apel im letzten Herbst der FDP im Tausch gegen deren Zustimmung zu den Investitionshilfen versprochen. Die Vereinbarung zur Senkung der Vermögenssteuer konnte also kaum zurückgenommen werden, da die FDP ihren Part der Verabredung erfüllt hatte. Die Abweichler, deren fuhrende Köpfe die Partei-Linken Coppik und Hansen waren, fanden starken Rückhalt an der Basis der SPD. Eine Abstimmungsniederlage schien eine ernste Bedrohung für die Regierungsfahigkeit der SPD und für die Position des Bundeskanzlers. In dieser Situation spielte SPD-Fraktionschef Herbert Wehner als 678 679 680 681 682

Der Spiegel, Nr. 23/31, 30. Mai 1977, S. 23 f. Die Zeit, Nr. 23/32, 27.Mai 1977, S. 18. Wirtschaftswoche, Nr.24/31, 3. Juni 1977, S. 29. Wirtschaftswoche, Nr. 24/31, 3. Juni 1977, S. 29f. Die Zeit, Nr. 26/32, 17. Juni 1977, S. 1.

177 Mehrheitsbeschaffer eine herausragende Rolle. Wehner stilisierte die Abstimmung in der SPD-Fraktion zu einem Vertrauensvotum für Kanzler und Koalition. Wehner machte die Abweichler fur ein mögliches Scheitern der Koalition verantwortlich. Allerdings hatte Genscher zwei Tage vor der Abstimmung Schmidt versichert, dass die Koalition nicht an der Verabschiedung des Steuerpaketes scheitern werde und hatte für diese Zusicherung auch die Rückendeckung der FDP-Parteiführung. Wehner und Schmidt hielten diese Absprache geheim, um den Druck auf die potentiellen Abweichler aufrecht zu erhalten. Am 24. Juni 1977 sprach Schmidt vor der Fraktion und zeichnete ein düsteres Bild der Lage. Schmidt zog Parallelen zum Rücktritt des SPD-Reichskanzlers Hermann Müller im Jahr 1930, der über den Arbeitslosenversicherungsbeitrag gestürzt war. Unter diesem moralischen Druck unterwarfen sich die potentiellen Abweichler in der SPD der Fraktionsdisziplin. Coppik stellte später resigniert fest: „Es war alles nur Theaterdonner." 683 Die nächste Etappe nach der Überwindung der Widerstände in der Koalition war der Bundesrat. Auch bei den Verhandlungen im Bundesrat erhöhten sich für Apels Haushalt die Kosten des Steuerpaketes. Es kam zu einem Streit zwischen dem Bund und den Ländern über die Finanzverfassung und die zu Grunde liegende Datenbasis. Schlussendlich musste Apel noch eine Milliarde D-Mark zusätzlich für eine Neuordnung der Umsatzsteuerverteilung abgeben. Apel stellte enttäuscht fest, der Bund zahle die Zeche für die Finanzverfassung. Diese Aussage beruhte auch auf dem Umstand, dass der Bund nur 84 Prozent seiner Ausgaben aus den laufenden Einnahmen decken konnte, die Länder hingegen 94 Prozent. 684 Kaum war der Kompromiss erzielt, war es Apel selbst, der Steuersenkungen wieder auf die politische Agenda setzte Im Sommer 1977 vollzog der Finanzminister eine politische Wende. Er kündigte überraschend eine Senkung der Lohnsteuer für die Zeit nach 1980 an. Vor einer Versammlung von Steuerberatern erklärte er die Position des Finanzministers: „Gern sieht er die kräftig sprudelnde Einnahmequelle. Doch kann er die Augen nicht vor der Gefahr verschließen, daß die steigende Belastung der Einkommen ein Ausmaß annimmt, das vom Gesetzgeber nicht gewollt war." Tatsächlich gingen die Steuerschätzer aufgrund des Tarifverlaufs von zusätzlichen Steuereinnahmen von über 14 Prozent bzw. 92,5 Milliarden D-Mark aus. 6 8 5 Dass Apel nur zwei Wochen nach der Verabschiedung des Steuerpaketes erneut Steuersenkungen ankündigte, löste in der Koalition Irritationen aus. Genscher warnte vor „neuer Unsicherheit über die Steuerpolitik der Bundesregierung." Friderichs äußerte in Hinblick auf Apels Verhalten in der bisherigen Auseinandersetzung um die Steuerpolitik: „Man kann doch nicht erst sagen, ich bin finanziell am Arsch des Propheten und 14 Tage später eine Steuersenkungen verkünden." Schmidt war wütend und bestellte Apel in sein Ferienhaus am Brahmsee ein. Apel hatte mit seiner Ankündigung Forderungen der Union zuvorkommen wollen. Kohl forderte nach Apels Ankündigung, die Lohn- und Einkommenssteuer müsse so schnell wie möglich gesenkt werden. 686 683 684 685 686

Der Spiegel, Nr. 26/31, 20. Juni 1977, S. 21 ff. Wirtschaftswoche, Nr. 30/31, 15. Juli 1977, S. 26 f. Die Zeit, Nr. 31/32, 22. Juli 1977, S. 16. Der Spiegel, Nr. 33/31, 1. August 1977, S. 20 f.

178 Apels Vorschlägen lag ein sehr reales Problem zu Grunde. Im Jahre I 9 6 0 machten die Lohnsteuereinnehmen nur 12 Prozent des Steueraufkommens aus, im Jahr 1970 waren es schon 23 Prozent und im Jahr 1980 würden es vierzig Prozent sein. Die sogenannte Proportionalzone war im Jahr 1958 für 95 Prozent aller Steuerzahler eingeführt worden, aber immer mehr Steuerzahler fielen aus der Zone heraus. Im Jahr 1975 befanden sich nur noch 65 Prozent der Lohnsteuerzahler in der Proportionalzone und 1976 waren es nur noch 60 Prozent. Die Zahl der Steuerzahler die unter die Progressive Besteuerung fielen würde ohne Anpassung noch weiter zunehmen und die Steuerbelastung im Jahr um fiinf Milliarden D-Mark ansteigen. 687 Die FDP sprach sich auf ihrem wirtschaftspolitischen Sonderparteitag fur die Korrektur des Steuertarifs schon zum 1. Januar 1979 aus. Anfang September legte sich Genscher öffendich auf Steuersenkungen fest. Überraschend sprach sich sogar Bundespräsident Walter Scheel fur Steuersenkungen aus. Scheel erklärte: „Solche Maßnahmen schneller konjunktureller Anreize müssen groß und sofort spürbar sein." Zu diesem Zeitpunkt führte politisch kein Weg mehr an Steuersenkungen vorbei. Umstritten war aber, auf welche Weise die Steuerendastung erfolgen sollte. 688 Während die SPD sich für die Erhöhung des Grundfreibetrags einsetzte, wollte die FDP einen „Konjunktur-Freibetrag" durchsetzen. Die erste Variante bedeutete die Entlastung um einen festen Betrag, wohingegen die zweite eine Endastung gemäß der Steuerbelastung bedeutete. Die Steuerreform 1975 war im Wesendichen den unteren Einkommensgruppen zu Gute gekommen. Nun setzte die FDP darauf, dass die Union, die einen zehnprozentigen Steuerabschlag forderte, das Steuerpaket im Bundesrat ablehnen würde. Die FDP wollte dann ihren Konjunkturfreibetrag im Vermittlungsausschuss wieder einbringen. 689 Nach einer siebenwöchigen Debatte über die Steuersenkung, beschloss die Bundesregierung schließlich am 6. September 1977 die Anhebung des Steuerfreibetrages von 510 auf 3510 D-Mark und des Weihnachtsfreibetrages von 100 auf 400 D-Mark. Die Abschreibungsgrenze für Unternehmen sollten von 20 auf 25 Prozent angehoben werden. Die Kosten dieses Endastungspaketes würden voraussichtlich sieben Milliarden D-Mark betragen. Wie erwartet kündigte die Union im Bundesrat Widerstand an. Die Sozialdemokraten setzten aber darauf, dass die Union sich nicht leisten konnte, die Endastung der Steuerzahler scheitern zu lassen. 6 9 0 Damit wurde nur zwei Monate, nachdem die Mehrwertsteuer um einen Prozentpunkt erhöht worden war, die Steuern um 7,5 Milliarden D-Mark gesenkt. Apel rechtfertigte diesen steuerpolitischen Schlingerkurs als notwendigen Ausgleich zwischen direkten und indirekten Steuern. Eine langfristige Perspektive wollte Apel nicht mehr einnehmen, er sprach sich dafür aus „Steuerpolitik als etwas sehr jährliches anzusehen." 691

687 688 689 690 691

Wirtschaftswoche, Nr. 33/31, 5. August 1977, S. 2 4 ff. Wirtschaftswoche, Nr. 38/31, 9. September 1977, S. 24 f. Die Zeit, Nr. 38/32, 9. September 1977, S. 17. Der Spiegel, Nr. 38/31, 12. September 1977, S. 4 2 . Der Spiegel, Nr. 39/31, 19. September 1977, S. 4 1 ff.

179 Der Kompromiss, der schließlich im Vermittlungsausschuss zwischen Bremens Bürgermeister Hans Koschnick als Vertreter der SPD mit Johann Wilhelm Gaddum als Vertreter der Opposition ausgehandelt wurde, ließ die Kosten der Steuersenkung von 7,5 Milliarden D-Mark auf 10 Milliarden D-Mark ansteigen, da nun sowohl die Anhebung des Grundfreibetrages als auch die von der Union favorisierte Tarifkorrektur zusammenflössen. Damit sah Apel die finanziellen Möglichkeiten des Bundes als ausgeschöpft an. Seiner Ansicht nach sollte es über diese Beschlüsse hinaus bis 1979 keine weiteren Steuererleichterungen mehr geben. Für eine große Tarifreform sah Apel keinen Spielraum mehr und versuchte jede Erwartung darauf zu entkräften. Apel erklärte: „Eine große Tarifreform können wir zurzeit nicht bezahlen." Er bekräftigte: „Wir sollten uns davor hüten, Versprechen zu machen, die wir nicht halten können." 6 9 2

Die Steuerdebatte 1978 Nach den Wahlniederlagen in Hamburg und Niedersachsen forderte die FDP im Sommer 1978 erneut Steuersenkungen. Anfang Juni 1978 beschloss das Kabinett bis zum Weltwirtschaftsgipfel Mitte Juli keine weiteren Steuervorschläge öffendich zu diskutieren. Die Diskussion ließ sich jedoch nicht unterdrücken. Lambsdorff, Liselotte Funcke und Bundesgeschäftsführer Günter Verheugen erstellten ein Papier „steuerpolitische Leitlinien der FDP." Dieses Papier geriet durch die Presse an die Offendichkeit. Das FDP-Konzept sah die Senkung der Einkommensteuer und Gewerbesteuer, Vorteile fiir Geschiedene, Familien und Beamte vor. Die Kosten der aufgeführten Entlastungen summierten sich auf über 25 Milliarden D-Mark. Der SPD-Haushaltsexperte Claus Grobecker sagte: „Das ist absolut verrückt, das können wir gar nicht bezahlen." Die stellvertretenden Parteivorsitzenden der SPD Ehmke, Arendt und Karl Liedke intervenierten bei Herbert Wehner, um Schmidt zur Disziplinierung des Koalitionspartners zu bewegen. Schmidt und Genscher vereinbarten, erst in einer Haushaltsklausur nach dem Gipfel wieder Steuergespräche zu fuhren und bis dahin öffendiche Zurückhaltung zu üben. Durch die unautorisierte Veröffendichung in der Presse war jedoch in der Bevölkerung eine Erwartungshaltung geschaffen worden, die Herbert Wehner auf den Punkt brachte: „Die FDP hat uns unter die Steuerschraube geklemmt." 693 Das Steuersystem war zur zentralen politischen Frage geworden. Dies war die Konsequenz der Entwicklung des Steuerrechts und der Steuerbelastung seit Beginn der siebziger Jahre. Seit 1970 waren 306 neue Steuergesetze, 273 neue Verordnungen und 1246 Verwaltungsvorschriften in Kraft getreten. Die Zahl der Steuereinsprüche war 1978 in den letzten 15 Jahren von 378 000 auf eine Million angestiegen. Der Vorsitzende der deutschen Steuergewerkschaft Hermann Fredersdorf, selbst SPD-Mitglied, plante die Gründung einer Steuerprotestpartei.69'' Für eine solche Partei gab es Vorbilder in Frankreich und Dänemark. In einer gemeinsamen Presseerklärung mit dem Präsidenten des Bundes der Steuerzahler im 692 693 694

Wirtschaftswoche, Nr. 45/31, 28. Oktober 1977, S. 26 f. Der Spiegel, Nr. 26/32, 26. Juni 1978, S. 21 ff Wirtschaftswoche, Nr. 24/32, 9. Juni 1978, S. 16f.

180 Mai, auf der beide die Vereinfachung des Steuerrechts gefordert hatten, hatte Fredersdorf zum ersten Mal die Möglichkeit der Gründung einer neuen Partei angekündigt und großes öffendiches Aufsehen erreicht.69-' Es wurden Umfragen veröffendicht, in denen bis zu vierzig Prozent der Befragten erklärt hatten, sie könnten sich die Wahl einer Steuerprotestpartei vorstellen.696 Mitte Juni 1978 kündigte er die Gründung der Partei an. Das erhöhte den Druck auf die Freien Demokraten, die Stimmenverluste zu Gunsten der neuen Partei fürchtete. 697 Auf der anderen Seite wurde die Position der Liberalen gegenüber dem Koalitionspartner durch die öffendiche Aufmerksamkeit, die Fredersdorf erfuhr, in der Steuerdiskussion gestärkt. Dieter Julius Cronenberg glaubte: „Fredersdorf hat es uns erleichtert, solche Vorstellungen wieder in die Diskussion zu bringen." 698 Am 5. Juli 1978 schrieb Otto Graf Lambsdorff einen Brief an den Bundeskanzler. Dort schrieb Lambsdorff, dass seiner Einschätzung nach das im Jahreswirtschaftsbericht angestrebte Wirtschaftswachstum von 3,5 Prozent nicht zu erreichen war. Lambsdorff ging nur noch von einem Wachstum von 2 bis 3 Prozent aus. Da aber im ersten Quartal des Jahres die Produktion stagniert habe, sei dies nur zu schaffen, wenn in der zweiten Jahreshälfte ein Wachstum von 3-4 Prozent erreich würde. Für das Jahr 1979 müssten die Wachstumserwartungen von bisher 4,5 Prozent wesendich zurückgenommen werden. Unter diesen Umständen werde die Arbeitslosigkeit weiter und die öffendichen Defizite weiter steigen und die Konsolidierung der Sozialversicherung in Frage gestellt. Daraus zog Lambsdorff die Schlussfolgerung, dass ein zusätzlicher „finanzieller Impuls" zu Beginn des Jahres 1975 in der Größenordnung von 10-15 Milliarden notwendig war. Dieser Impuls sollte vor allem von Steuersenkungen ausgehen, die die Investitionsbedingungen der Unternehmen verbessern und den privaten Verbrauch ankurbeln würden. 699 Aussagen dieses Briefes wurden von der Frankfurter Rundschau veröffendicht. Schmidt fühlte sich durch die Veröffendichung dieser Steuersenkungsforderung brüskiert. Vor Parteifreunden lehnte Schmidt ein Entgegenkommen ab. Matthöfers Staatssekretär Manfred Lahnstein und Lambsdorffs Staatssekretär Otto Schlecht erstellten gemeinsam eine Optionsliste, auf der alle Vorschläge, die in der Koalition existierten, aufgelistet wurden. Nur ein Bruchteil davon konnte verwirklicht werden, denn alle Vorschläge zusammen summierten sich auf fünfzig Milliarden D-Mark. Auf dem Bonner Weltwirtschaftsgipfel verpflichtete sich die Bundesrepublik schließlich zusätzlich 13 Milliarden D-Mark fur die Konjunkturbelebung zu verwenden. 700 Dieser Umstand unterstreicht, dass es sich bei den Gipfeln um Alibi-Veranstaltungen handelte, die nur Ausgaben legitimierten, die aus innenpolitischen Gründen ohnehin auf der Prioritätenliste der Regierung standen. In einem Interview vom 4. August 1978 mit dem SPIEGEL, rechtfertigte Lambsdorff die nötige Verschuldung zur Finanzierung der Steuerentlastung mit dem Hinweis, Emminger habe eine Neuverschuldung von sechzig Milliarden D-Mark bei allen Gebietskörper695 696 697 698 699 700

Die Zeit, Nr. 22/33, 26. Mai 1978, S. 17 f. Wirtschaftswoche, Nr. 23/32, 2. Juni 1978, S. 17. Der Spiegel, Nr. 26/32, 26. Juni 1978, S. 21 ff Wirtschaftswoche, Nr. 24/33, 11. Juni 1979, S. 20 f. Archiv der Gegenwart, S. 22024. Der Spiegel, Nr. 30/32, 24. Juli 1978, S. 19 ff.

181 schaften fur vertretbar gehalten. Der Abbau der Neuverschuldung müsse jedoch mittelfristig im Auge behalten werden. Lambsdorff signalisierte keine weiteren Forderungen die Steuerpolitik betreffend an die SPD herantragen zu wollen. Uber die beschlossenen Maßnahmen hinaus werde es bis zum Ende der Legislaturperiode keine weiteren Endastungen geben. Lambsdorff bekräftigte dies durch den Satz: „Wir haben einen Schlußstrich gezogen." 701 Lambsdorff rechnete nicht damit, dass das Gesetz unverändert umgesetzt werden könnte. Er erklärte nur wenig später, „Ich war viel zu lange Abgeordneter, als daß ich annehmen könnte, das Sonderprogramm würde den Bundestag und den Bundesrat unverändert passieren." 702 Bis zum 30. August 1978 sollten die Steuerbeschlüsse vorliegen, damit dass Steuerpaket bis zum 1. Januar 1979 in Kraft treten konnte. Vorgesehen war eine weitere Anhebung des Grundfreibetrages für Ledige und Verheiratete. Der Tarifsprung von der Proportionalstufe zur Progressionsstufe, der fur so viel Verdruss führte, sollte endlich beseitigt werden. Der Grenzsteuersatz sollte bei 48000 fur Ledige und 96000 für Verheiratete erhalten bleiben. Zum 1. Juli 1979 sollte die Mehrwertsteuer nun doch auf 13 Prozent erhöht werden. Existenzgründer sollten darüber hinaus gefördert werden, ebenso wie Familien mit Kindern. So sollte zum 1. Juli 1979 auf Kosten des Bundes zusätzlicher Mutterschaftsurlaub eingeführt und zum 1. Januar 1980 das Kindergeld fur jedes zweite und dritte geborene Kind um 20 auf 100 D-Mark erhöht werden. 703 Die ZEIT nannte die Beschlüsse einen „ersten innenpolitischen Lichtblick" fur die sozialliberale Koalition. 704 Auch fur die Verabschiedung im Bundesrat sah die Z E I T positive Vorzeichen, denn die Opposition werde es „schwer haben, wenn sie politisch nicht Selbstmord begehen will, kann sie das Steuerendastungsprogramm nicht zu Fall bringen. Sie wird allenfalls Verbesserungen vorschlagen." 705 Auf den politischen Erfolg der Koalitionseinigung folgte jedoch ein wochenlanger Streit über die Lohnsummensteuer. Da die Lohnsummensteuer vor allem Unternehmen mit hohem Beschäftigungsgrad belastete, war diese angesichts der hohen Arbeitslosigkeit nicht mehr zu rechtfertigen und sollte im Zuge der Steuersenkung abgeschafft werden. Doch vor allem sozialdemokratisch regierte Kommunen in Nordrhein-Westfalen wollten an der Steuer festhalten. Die ZEIT kommentierte: „Der Streit über dieser Steuer, die nur in jeder zehnten deutschen Gemeinde überhaupt erhoben wird, erschüttert die Koalition, reißt Gräben innerhalb der SPD auf und überschattet die Wahl des künftiges Regierungschefs in Nordrhein-Westfalen." Aus dem Streit um eine steuerpolitische Lappalie entwickelte sich eine „unheilige Allianz" aus Jungsozialisten und sozialdemokratischen Kommunalpolitikern, die wohl ohnehin mit der Richtung der Steuerpolitik nicht einverstanden waren. 706 Der Vorsitzende des SPD-Bezirks Niederrhein Otto Bäumer war der Wortführer der Kritiker der Steuerreform. Er kündigte den Widerstand von 24 nieder-

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Der Spiegel, Nr. 31/32, 31. Juli 1978, S. 22 ff. Die Zeit, Nr. 32/33, 4. August 1978, S. 15 f. Die Zeit Nr. 32/33, 4. August 1978, S. 16f. Die Zeit, Nr. 32/33, 4. August 1978, S. 1. Die Zeit, Nr. 32/33, 4-August 1978, S. 15f. Die Zeit, Nr.38/33, 15. September 1978, S. 17.

182 rheinischen Bundestagsabgeordneten an. Diese sahen die Anhängerschaft der FDP durch die Steuersenkungen bevorzugt, die sozialdemokratischen Anhänger hingegen durch die Mehrwertsteuererhöhung belastet. Drei Wochen vor den Wahlen in Hessen und kurz vor dem kleinen Parteitag der SPD in Frankfurt, schien die Regierungsfähigkeit der SPD in Frage zu stehen. Erst nach einer Woche fraktionsinterner Gespräche und Druck auf die möglichen Abweichler gelang es diese zu disziplinieren und zur Zustimmung zu bewegen. Am 14. September 1978 stimmte die SPD-Fraktion bei nur zwei Enthaltungen der Einbringung der Steuergesetzes in den Bundestag zu. Die Erbitterung über die Richtung der Steuerpolitik blieb jedoch bestehen. Henning Scherf von der Bremer SPD sagte „heftige Kontroversen" bis zum nächsten Parteitag voraus. 707 Die C D U / C S U baute indessen neue Hürden auf, um das Steuerpaket im Bundesrat ablehnen zu können. Sie machte ihre Zustimmung zur Tarifreform von der Wiedereinführung der steuerlichen Kinderfreibeträge abhängig. Der taktische Charakter dieser Forderungen wurde durch den Umstand unterstrichen, dass die Union selbst der Abschaffung der Kinderfreibeträge im Zuge der Steuerreform 1975 zugestimmt hatte. Darüber hinaus war die Abschaffung der Kinderfreibeträge vor allem deshalb erfolgt, um die Bundesländer, die diese über ihren Steueranteil mitfinanzierten, zu entlasten. Das im Gegenzug dafür aufgestockte Kindergeld zahlte hingegen allein der Bund. Finanzminister Matthöfer machte in den aktuellen Verhandlungen einen Kompromissvorschlag, der aber wenig praktikabel war. Er war bereit einen steuerlich absetzbaren Betreuungsbeitrag anzubieten, die abzugsfähigen Ausgaben für die Kinder sollten aber im Einzelfall nachgewiesen werden. Die Union bestand jedoch auf dem pauschalen Freibetrag. 708 Am 1. Januar 1979 zeigte sich Lambsdorff in einem Beitrag in der mit den steuerpolitischen Maßnahmen der Bundesregierung zu frieden. Diese würden 13,5 Milliarden D-Mark zusätzlicher Nachfrage schaffen. Dies sei genau jenes eine Prozent des Bruttosozialproduktes, das die Bundesregierung auf dem Weltwirtschaftsgipfel zugesagt hatte. Damit sah Lambsdorff aber auch die Grenzen des Möglichen erreicht. Weitere konjunkturpolitische Maßnahmen werde es in absehbarer Zeit nicht geben. Lambsdorff stellte fest: „Die öffendichen Haushalte sind jetzt an die Grenzen dessen gegangen, was finanzpolitisch möglich war." Lambsdorff sah aber eine stabile ökonomische Basis, schränkte aber ein: „Voraussetzung dafür ist freilich auch, daß wir ordnungspolitisch standfest bleiben, daß wir uns von den Ideologien staadicher Lenkung und Kontrolle nicht verwirren lassen." 709

Matthöfer und die Steuerpolitik 1979/80 Auch im Jahr 1979 hatte sich die Dauerauseinandersetzung um die wachsende Steuerbelastung, bedingt durch die progressive Wirkung des Steuersystems weiter fortgesetzt. Die Verführung, ohne formale Steuererhöhungen die Einnahmen wesendich zu erhöhen, war durch diese günstigen Rahmenbedingungen wohl zu groß, als dass die Politik nicht 707 708 709

Der Spiegel, Nr. 38/32, 18. September 1978, S. 27 f. Der Spiegel, Nr. 46/32, 13. November 1978, S. 32. Wirtschaftswoche, Nr. 1/33, 1. Januar 1979, S. 26.

183 früher oder später auf dieses Instrument zurückgegriffen hätte. Durch den Tarifverlauf, den so genannten Mittelstandsbauch, den Umstand, dass die kleinen Einkommen wenig Steuern zahlten und sich nach oben hin die Belastung wieder abflachte, wurden mitdere Einkommen durch die Lohn- und Einkommenssteuer am stärksten belastet. Das führte in den Jahren nach der Steuerreform zu dauernden Spannungen mit den Liberalen, die die Begradigung des Tarifes und Steuersenkungen forderten, wohingegen eine solche massive Endastung, die schon aus steuersystematischen Gründen nicht den unteren und untersten Einkommen zugute kommen konnte, fur die Sozialdemokraten nicht in Frage kam. 7 1 0 Die SPD hatte vor der Sommerpause 1979 den Beschluss gefasst, keine Steuerdiskussion zu beginnen, doch Finanzminister Matthöfer handelte diesem Beschluss zu wider. Am Montagabend des 23. Juli 1979 kündigte Matthöfer vor Journalisten an, dass die Steuern nach der Bundestagswahl, also 1981, gesenkt werden müssten. Mit dieser Erklärung besetzte Matthöfer das Sommertheater. Durch sein Vorpreschen wollte Matthöfer die FDP darauf festlegen, erst im Jahr 1981 und nicht schon vor der Wahl die Steuern zu senken. Nach Matthöfers Vorstellung sollten die Steuersenkungen vor der Wahl beschlossen, aber nach der Wahl wirksam werden. Dies deshalb, weil die Erwartungen in den Endastungseffekt der Steuerreform voraussichtlich enttäuscht werden würden. Die von Matthöfer anvisierte Senkung der Steuern um 2,5 Milliarden D-Mark, würde im Schnitt den Beschäftigten nur eine Einkommensverbesserung von 8,50 D-Mark im Monat bringen. Matthöfer beabsichtigte, den Progressionstarif zu nutzen, um mit den heimlichen Steuererhöhungen die Neuverschuldung zurückfuhren zu können. Das war ein riskantes Doppelspiel: Nach außen sollten positive Erwartungen geweckt und durch die versprochene Steuersenkung die Einstellung der Bürger zur Bundesregierung positiv beeinflusst werden. Erst nach der Wahl sollte deudich werden, dass diese Endastung kaum die zusätzlichen Belastungen des Jahres 1980 kompensieren würde. Schon im Jahr 1979 war der Ertrag der Lohn- und Einkommensteuer erheblich gestiegen, im Wahljahr 1980 würden die Einnahmen aus diesen Steuerquellen voraussichdich noch um weitere 12 Prozent wachsen. 711 Seit 1969 hatte die Steuerpolitik die Progressionsbelastung durch Steuersenkungen abgeschwächt. Steuersenkung und Kindergelderhöhung hatten 1975 eine Entlastung von 14 Milliarden D-Mark gebracht, 1978 waren die Steuerzahler um 10-11 Milliarden D-Mark entlastet worden und 1979 um 10 Milliarden D-Mark. Aber schon im Jahr 1980 würde es nur eine Endastung von 3—4 Milliarden D-Mark sein. 712 Voraussichtlich würden bis zu fünfzig Prozent der Einkommenszuwächse von den zusätzlichen Steuerbelastungen absorbiert werden. Matthöfers Staatssekretär bestätigte dessen Haltung, das Jahr 1980 sei kein Jahr „weiterer Steuersenkungen." Matthöfer formulierte die rhetorische Frage, wann könne mit dem Schuldenabbau begonnen werden, wenn nicht jetzt in einer konjunkturell günstigen Zeit. 7 1 3 Bei diesem Plan hatte Matthöfer 710

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Der Spiegel, Nr. 20/32, 15. Mai 1978, S. 36ff. So stritt man sich um zwei Tarifmodelle (T 6000 und Τ 6002). Das Modell der F D P hätte nur den Mittelstandsbau beseitigt, das Modell der Sozialdemokraten zusätzlich noch die Tarifgrenze erhöht, wodurch Kleinverdiener befreit worden wären, was die Finanzlücke jedoch noch einmal erheblich verschärft hätte. Der Spiegel, Nr. 31/33, 30. Juli 1979, S. 19ff. Wirtschaftswoche, Nr. 31/33, 30. Juli 1979, S. 18. Wirtschaftswoche, Nr. 35/33, 27. August 1979, S. 16ff.

184 einen Verbündeten in dem Fraktionschef der FDP Wolfgang Mischnick. Im Kölner „Express" schrieb dieser „Der Abbau der öffentlichen Schulden" habe fiir ihn „im Jahr 1980" Vorrang. Daher schloss er spürbare Steuererleichterungen für das nächste Frühjahr aus. Der Ruf danach mache den Staat zum „Selbstbedienungsladen für Wahlgeschenke." 714 Ende Oktober 1979 legte der Arbeitskreis Steuerschätzung seine aktuelle Prognose zum Steueraufkommen vor. Die Steuereinnahmen stiegen noch weit stärker als noch Ende Mai angenommen worden war. Diese Schätzergebnisse erhöhten noch den Druck auf Matthöfer, schon im kommenden Jahr die Steuern zu senken. Die unionsregierten Länder setzten im Bundesrat den Beschluss durch, einen „Entwurf eines Steuersenkungsgesetzes 1980" in den Bundestag einzubringen. Diese Länderinitiative sah die Senkung des Eingangssteuersatzes vor und die Abschwächung der Progressionswirkung vor. 715 Im November 1979 begannen die Steuergespräche der Koalition. Die SPD und FDP waren sich einig, dass das Steuerendastungspaket nicht größer sein sollte als 13 Milliarden D-Mark. Davon sollte der Bund 5,9 Milliarden D-Mark tragen und die Länder den übrigen Betrag. Einigkeit herrschte auch über die Korrektur des Tarifverlaufs. Die Proportionalzone sollte um 3000 D-Mark nach oben verschoben werden und dann bei 19000 für Ledige und 38 000 D-Mark für Verheiratete liegen. Die Progressionszone sollte auf Wunsch der FDP abgeflacht werden, um die mitderen Einkommen zu endasten. Uneinig waren sich die Koalitionsparteien über den Freibetrag. Matthöfer wollte einen Grundfreibetrag für Kinder, um die Länder an der Finanzierung zu beteiligen. Die in diesem Bereich bei der FDP federführende Steuerexpertin Matthäus Meier wollte hingegen das Kindergeld anheben. Matthäus Meier lehnte den Grundfreibetrag „nicht prinzipiell" ab, sie beanstandete aber, dass etwa 250000 bis 300000 Familien wegen ihrer geringen Einkommen nicht vom Freibetrag profitieren würden. 716 Kaum war die Einigung in der Koalition erzielt worden, stellten Abgeordnete beider Fraktionen die Entlastungen schon wieder in Frage, da sie die Auswirkungen auf den Haushalt fürchteten. Matthöfer hielt an der Reform fest, stellte aber fest: „Ich bin mit dem Steuerpaket für 1981 bis an den äußersten Rand dessen gegangen, was ich als Finanzminister verantworten kann." Wegen der angespannten internationalen Lage kalkulierte die Regierung mit zusätzlichen Ausgaben zur Unterstützung der Türkei und Afghanistans. Dem standen sinkende Einnahmen gegenüber. Schon im Jahr 1979 hatte der Bund weniger eingenommen, als der Arbeitskreis Steuerschätzung optimistisch im Oktober vorausgesagt hatte. 717 Besonders die SPD-Haushaltspolitiker standen dem 17 Milliarden D-Mark umfassenden Steuerpaket daher skeptisch gegenüber. Denn allein in den ersten zwei Monaten des Jahres 1980 waren 12,3 Prozent mehr ausgegeben als eingenommen worden. Matthöfer wollte zur Finanzierung der Defizite auf Kredite der Saudis zurückgreifen. 718

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Der Spiegel, Nr. 34/33, 20. August 1979, S. 19 ff. Wirtschaftswoche, Nr. 44/33, 29. Oktober 1979, S. 18. Wirtschaftswoche, Nr. 49/33, 3. Dezember 1979, S. 16. Wirtschaftswoche, Nr. 7/34, 15. Februar 1979, S. 20. Wirtschaftswoche, Nr. 13/34, 28. März 1980, S. 14f.

185 Da Schmidt im Wahljahr die in Aussicht gestellten Steuersenkungen nicht zurücknehmen wollte, setzte Matthöfer mit seiner Unterstützung eine Kürzung aller Etats durch. Der Finanzminister hatte intern mehrmals mit Rücktritt gedroht, sollten seine Sparvorgaben nicht eingehalten werden. In diesem Jahr mussten schon neun Prozent des Haushaltes fur Zinsen ausgegeben werden, fünf Jahre zuvor waren es noch drei Prozent gewesen. 719 In den kommenden Wochen und Monaten erklärte Matthöfer, er werde an dem Steuersenkungspaket aus finanzpolitischen Gründen keine Abstriche machen. Nur sieben von den 17 Milliarden wurden fur die Tarifkorrektur verwendet. Ein „Großteil" der Entlastungen sollte in familienpolitisch motivierte Entlastungen fließen. Der Kindergrundfreibetrag kostete 5,4 Milliarden D-Mark, der Kindergeldzuschlag von 300 D-Mark in den ersten sechs Monaten nach der Geburt etwa eine Milliarde D-Mark, eine weitere Milliarde kostete die Wohngelderhöhung, zusätzliche kinderbezogene Leistungen nach dem Arbeitsförderungsgesetz und Haushaltsfreibeträge fixr Alleinstehende. 720 Damit war Matthöfers Plan, den Haushalt durch die Steuermehreinnahmen zu sanieren, an dem öfFendichen Druck und in den Verhandlungen im Bundesrat gescheitert. Um den Haushalt 1981, einschließlich der vorgesehenen Steuerentlastung und den Hilfen für die Türkei, Afghanistan und steigenden EG-Kosten und steigenden Lohnkosten im ÖfFendichen Dienst, finanzieren zu können, wollte Matthöfer ein Entgegenkommen der Länder bei der Verteilung der Körperschafts- und Mehrwertsteuer oder bei den Gemeinschaftsaufgaben erreichen. Bislang erhielt der Bund 67,5 Prozent dieser beiden Steuerarten. Stoltenberg erklärte als Sprecher der Unionsländer: „Das wird die schwerste Auseinandersetzung über die Fragen der Steuerverteilung, die wir in der Nachkriegszeit hatten." Stoltenberg wollte das Ergebnis der Bundestagswahl abwarten, wohingegen Matthöfer noch vor der Wahl zu einer Einigung mit den Ländern kommen wollte. Matthöfer schlug einen Steuerfreibetrag fur Kinder von 800 D M pro Elternteil vor, um sich diese Forderung von den Ländern gegen eine Anhebung der Mehrwertsteuererhöhung abhandeln zu lassen. An dem Steuerausfall wären die Länder mit 57,5 Prozent beteilitgt gewesen. Denn das Kindergeld wurde seit 1975 allein vom Bund bezahlt. Die drei Prozent Mehrwertsteueranteil, die der Bund damals als Kompensation erhalten hatte, deckten nicht mehr die Ausgaben für das Kindergeld. Die Lage der Finanzen des Bundes war angespannter als die Lage der Länderfinanzen. Seit der Kindergeldvereinbarung waren die Schulden des Bundes um 234 Prozent gestiegen, die Schulden der Bundesländer und Kommunen dagegen um 91 Prozent angewachsen. Im Jahr 1979 hatte der Bund über 14 Prozent seiner Ausgaben mit Krediten finanziert, die Länder ihre Ausgaben nur mit über 8 Prozent. 721 Im Sommer 1980 einigten sich Bund und Länder auf einen Steuerkompromiss. Danach sollte die Verteilung der Mehrwertsteuer bis zum 1. Januar 1982 unverändert bleiben und erst dann neu verhandelt werden. Die Länder gestanden zu, sich mit einer Milliarde D-Mark am Kindergeld zu beteiligen. Der rheinland-pfälzische Ministerpräsident Bern-

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Der Spiegel, Nr. 12/34, 17. März 1980, S. 21 ff. Die Zeit, Nr. 19/35, 2. Mai 1980, S. 18. Die Zeit bezeichnete diese familienpolitischen Leistungen als „sozialpolitisches Klimbim." Der Spiegel, Nr. 15/34, 7. April 1980, S. 33f.

186 hard Vogel erklärte: „Margaret Thatcher, die Türkei und Afghanistan sind für 1981 vom Tisch." 7 2 2 In einem Interview vom Dezember 1980 wies Matthöfer den Begriff „Sanierung" fur die kommenden Haushalte zurück. Von „Sanierung" könne keine Rede sein. Die Staatsfinanzen seien nach wie vor in Ordnung. Es gäbe keinen Anlass, die Mehrwertsteuer heraufzusetzen. Er bekräftigte: „Wir haben auch keine Pläne in der Schublade." Matthöfer erklärte, die Steuersenkungen zum 1. Januar 1981 seien konjunkturgerecht Die Neuverschuldung sei kontinuierlich abgebaut worden von 5,8 Prozent im Jahr 1975 auf 3,2 Prozent in diesem Jahr. 723

Zusammenfassung: Steuerpolitik 1977-1980 Nach den Wahlen 1976 musste Apel erneut erhebliche Forderungen der Ressorts abwehren. Um die Neuverschuldung für die in der Finanzplanung vorgesehenen Ausweitung der Ausgaben zu begrenzen und zusätzliche Entlastungen zu finanzieren wollte Apel seine Ankündigung aus dem Wahlkampf wahr machen und die Mehrwertsteuer um zwei Prozent erhöhen. Da die Unionsländer im Bundesrat die Mehrwertsteuererhöhung ablehnten, die SPD der Erhöhung skeptisch gegenüberstand, musste Apel schließlich nachgeben, als die FDP-Minister mit der Rückendeckung von Helmut Schmidt die Reduzierung der Erhöhung auf einen Prozentpunkt forderten. Die Entlastung sollte jedoch in der vorgesehenen Höhe durchgeführt werden. Gegen diese Regelung formierte sich der Widerstand in der SPD-Fraktion. Nur dem Einsatz Herbert Wehners und dem Aufbau eines erheblichen psychologischen Drucks mit Verweis auf einen möglichen Bruch der Koalition war es zu verdanken, dass der Kompromiss im Parlament verabschiedet werden konnte. Weitere Lasten kamen hinzu, um mit den Bundesländern eine tragfähige Einigung zu erreichen. Apel selbst war es, der nur wenige Wochen nach der Einigung erneut eine Diskussion über Steuersenkungen auslöste. Der Tarifverlauf trug dazu bei, dass die Lohnsteuerbelastung immer größer geworden war. Die Einigung innerhalb der Koalition und mit der Opposition im Bundesrat führte zu Steuerentlastungen durch die Anhebung des Grundfreibetrages und die Korrektur des Tarifes. Nachdem die Mehrwertsteuer um einen Prozentpunkt erhöht worden war, wurden nun die Steuern um 10 Milliarden DMark gesenkt. Dieser Schlingerkurs ergab sich nicht, wie Apel behauptete, aus einer bewussten Planung zur Neuordnung des Verhältnisses von direkten zu indirekten Steuern, sondern aus dem Umstand, dass die Bundesregierung sich selbst durch unkoordinierte Vorstöße trieb und von der Erwartung der Öffentlichkeit getrieben wurde. Dies zeigte sich auch im kommenden Jahr, als Landtagswahlniederlagen die FDP erneut dazu zwangen, Steuersenkungen auf die Tagesordnung zu setzen. Dabei spielten auch Indiskretionen, durch die die Vorschläge vorzeitig der Presse bekannt wurden, was den Erwartungsdruck erhöhte, eine wichtige Rolle. Die Aufmerksamkeit, die die Gründung

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Der Spiegel, Nr. 29/34, 14. Juli 1980, S. 32 f. Manager Magazin, Dezember 1980, S. 26.

187 einer chancenlosen Steuerprotestpartei durch den Vorsitzenden der Steuergewerkschaft Fredersdorf, in der Öffentlichkeit erhielt, zeigt, welche politische Bedeutung das Thema Steuersenkungen fur breite Bevölkerungsschichten inzwischen gewonnen hatte. Vorbei war die Illusion man könne die wachsende Staatstätigkeit durch eine permanente Ausweitung der Staatseinnahmen finanzieren. So blieb der Bundesregierung nur, entweder die Ausgaben massiv zu beschneiden, und zwar in einer Größenordnung, die von dem sozialdemokratischen Profil der Regierung nicht mehr viel übrig gelassen hätte, oder eine rasant wachsende Staatsverschuldung hinzunehmen, die schließlich zum selben politischen Ergebnis fuhren musste. Die wachsende Staatsverschuldung erlaubte der sozialliberalen Bundesregierung, einige Jahre länger zusammenzubleiben. Die Neuverschuldung erlaubte fur eine gewisse Zeitspanne die Ausgaben fur Investitionen, Konjunkturprogramme und Sozialkosten noch weiter zu erhöhen unter der Annahme, die Defizite könnten durch das dadurch beförderte Wachstum wieder geschlossen werden. Als sich diese Behauptung nicht bewahrheitete, waren die Tage der Koalition endgültig gezählt. Denn wie sich Anfang der achtziger Jahre zeigte, machte ein konsequenter Sanierungskurs, der die SPD-Basis verbittern musste, den Bruch unvermeidlich. Kommen wir also jetzt auf die Entwicklung der Haushaltspolitik und der Staatsverschuldung bis zum Anfang der achtziger Jahre.

Die Haushaltspolitik von Finanzminister Matthöfer 1978-1980 Die Ernennung von Hans Matthöfer zum Finanzminister hatte bei der FDP und den Arbeitgebern für Irritationen gesorgt. 724 Matthöfer war langjähriger IG-Metall-Funktionär und galt lange Zeit alt „Vorzeigerepräsentant der SPD-Linken." Der Fabrikarbeitersohn wuchs in Bochum auf und fand seine politische Verankerung im linken SPD-Bezirk Hessen-Süd. Er hatte in den USA studiert und vier Jahre für die O E C D in Washington und Paris gearbeitet. Zwischen Matthöfer und Schmidt bestand seit der Großen Koalition ein besonderes Loyalitätsverhältnis. Damals hatte Matthöfer dem damaligen Fraktionschef Helmut Schmidt als Notstandsgegner geholfen die Notstandsgesetze durchzusetzen. Als Forschungsminister im Kabinett Schmidt fand ein gewisser Entfremdungsprozess zwischen Matthöfer und der SPD-Linken statt. So sah der Fraktionslinke Wolfgang Roth in ihm einen reinen Opportunisten. Dies lag daran, dass sich Matthöfer in seinem praktischen Handeln als Kabinettsmitglied immer weiter von seiner eigenen Rhetorik entfernte. Er setzte sich fur den Bau von Kernkraftwerken ein und sah darin ein „Beispiel für zukunftssichere und langfristig wettbewerbsfähige Arbeitskräfte" und stimmte U-Boot-Geschäften mit Indonesien und Brasilien zu. 7 2 5 Das führte zu Irritationen bei vielen einstigen Mitstreitern.

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Die Zeit, Nr. 24/33, 9. Juni 1978, S. 19. Der Spiegel, Nr. 23/31, 30. Mai 1977, S. 36 ff.

188 Der Haushalt 1978 war der erste, den der neue Finanzminister Matthöfer zu verantworten hatte. Um die Konjunktur anzukurbeln, erhöhte der Bund seine Ausgaben schon im dritten Jahr hintereinander kräftig und stand vor der Überschreitung der 200-MilliardenDM-Grenze bei den Ausgaben. Etwa die Hälfte der Neuverschuldung war fur die Belebung der Konjunktur vorgesehen. Der Zuschuss zur Rentenversicherung lag bereits bei 25 Milliarden D-Mark. Die Haushaltspolitiker aller Parteien waren über diese Entwicklung beunruhigt. Auf Anraten des Haushaltsausschusses beschloss der Bundestag Mitte April 1978, dass der Bundeshaushalt „dauerhaft konsolidiert" werden und der „Schuldenzuwachs mittelfristig abgebaut werden" und die „Neuverschuldung des Bundes niedriger" werden müsse. 726 Matthöfer hielt nichts von den Höchstbeträgen von sechs Prozent für den Haushaltszuwachs und 27 Milliarden D-Mark fiir die Neuverschuldung. Denn Matthöfer wollte zusätzliche Mittel fiir die Technologieentwicklung zur Verfugung stellen. Auch nach seinem Wechsel aus dem Forschungs- ins Finanzministerium blieb fiir ihn die Forschungspolitik die zentrale finanzpolitische Aufgabe. Er begrüßte die Vorschläge des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung bis Mitte der achtziger Jahre 130 Milliarden D-Mark zusätzlich für Investitionen auszugeben. 727 Matthöfers Ziel war die Forderungen des Artikels 115 des Grundgesetzes zu erfüllen, wonach die Neuverschuldung mit den Investitionsaufwendungen im Gleichgewicht liegen sollte. Dies wollte er durch Mehrausgaben bei den Investitionen statt durch die Zurückfuhrung der Neuverschuldung erreichen. Seit 1975 waren die Vorgaben des Artikels 115 dreimal gebrochen worden. Matthöfer verkündete sein Ziel, dass 1979 die Investitionsausgaben deutlich über 16 Prozent der Ausgaben liegen sollten. 728 Matthöfers Nachfolger als Forschungsminister Volker Hauff gehörte dann auch zu den bei den Finanzplanungen bevorzugten Kabinettsmitgliedern. Dieser konnte von seinem im Juni 1978 vorgelegten Investitionsprogramm von 10 Milliarden D-Mark, die bis 1982 ausgegeben werden sollten, tatsächlich sieben Milliarden D-Mark durchsetzen. Hauff erklärte zufrieden nach den Verhandlungen: „Es ist wohl so, daß die Dinge, die mir politisch wichtig waren, durch die Beschlüsse realisiert wurden." 729 Im Januar 1979 schätzte Matthöfer das Defizit des Bundes in diesem Jahr auf 30 Milliarden D-Mark. Der gesamte Haushalt würde voraussichtlich 207 Milliarden D-Mark an Ausgaben umfassen. Matthöfer rechnete damit, dass die bessere Konjunktur und das damit verbundene höhere Wachstum die Defizite reduzieren würden. Für das erste Ziel der Finanzpolitik hielt Matthöfer deshalb einen „sich selbst tragenden und sich selbst verstärkenden Aufschwung." Der Finanzminister hielt Defizite daher nach wie vor fiir etwas Positives. Die trotz Konjunkturaufschwungs verbleibenden Defizite würden zusätzliche Arbeitsplätze schaffen. Matthöfer bestritt, dass das Wachstum sich schwächer entwickelte als in den Jahren zuvor. Er hielt den sich abschwächenden Wachstumspfad fiir ein statistisches Problem. Dieses Problem ergäbe sich ζ. B. daraus, dass die zusätzliche Freizeit nicht in die Wachstumsstatistik einfließen würde. Matthöfer sah keine Notwendigkeit 726 727 728 729

Die Zeit, Nr. 17/33, 21. April 1978, S. 25 f . Die Zeit, Nr. 24/33, 9. Juni 1978, S. 19. Wirtschaftswoche, Nr. 25/33, 16. Juni 1978, S. 3. Die Zeit, Nr. 32/33, 4. August 1978, S. 17.

189 die Staatstätigkeit einzuschränken, vielmehr hielt er die Ausweitung der Staatstätigkeit fur eine ökonomische Notwendigkeit. Matthöfer bezog sich dabei auf Wagners Gesetz der wachsenden Staatstätigkeit. Der Finanzminister erklärte: „Ich könnte mir auch, so wie die Welt beschaffen ist, nur mit allergrößter Phantasie eine Wirtschaft vorstellen, in der der Staat nicht eine fuhrende und unterstützende Rolle spielt." Matthöfer wollte den Staat als Akteur im Wirtschaftsgeschehen noch weiter stärken. Um die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft zu sichern, strebte Matthöfer eine „vorausschauende Strukturpolitik" an und bekannte sich zu dem Begriff „Investitionslenkung." Matthöfer versprach für die Verwirklichung der Vollbeschäftigung, die Verbesserung des Gesundheitssystems, die Förderung von Randgruppen einige Milliarden D-Mark neu zu verteilen. 730 Mitte des Jahres 1979 betrug die Verschuldung des Bundes 193 Milliarden D-Mark. Die Verschuldung war damit viermal so hoch wie zehn Jahre zuvor. Die Bundesbank kommentierte die 1974/75 eingeleitete Verschuldung: „Die Kreditaufnahme der Gebietskörperschaften in den letzten fünfJahren sprengte nicht nur in ihrer absoluten Größenordnung, sondern auch gemessen am Haushaltsvolumen den vorher gekannten Rahmen." Der Anteil der kreditfinanzierten Ausgaben hatte in den ersten Jahren der sozialliberalen Koalition, in den Jahren 1969-1973, etwa fünf Prozent betragen, was dem Niveau der Kreditaufnahme in den sechziger Jahren entsprach. In den letzten fünfJahren machten die defizitfinanzierten Ausgaben ganze 11 Prozent der öffentlichen Haushalte aus. Das Jahr 1975 ragt dabei mit 18 Prozent besonders heraus. In diesem Jahr machte die Neuverschuldung ganze sechs Prozent des gesamten Bruttosozialproduktes aus und war seit dem wieder auf 3,5 Prozent zurückgegangen. Zwischen 1973 und 1978 verdoppelte sich der Zinsaufwand auf 22 Milliarden D-Mark. Die moderate Zinspolitik der Bundesbank seit dem Herbst 1974 hatte wesendich zur Entlastung dieser Haushaltsgröße beigetragen. Von der Schuldenzunahme zwischen 1974 und 1978 waren vor allem der Bund und die Länder betroffen, während die Gemeinden dazu übergegangen waren, ihre Haushalte zu sanieren. Der Bund hatte in diesen Jahren einen Anteil Defizit finanzierter Ausgaben von über 13 Prozent, im Vergleich zu acht Prozent bei den Ländern und fünf Prozent bei den Gemeinden. Für diese Differenz verantwordich waren die Belastung durch die Steuer- und Kindergeldreform von 1975, verbunden mit der Ausweitung der Kindergeldleistungen, und die Kosten für die internationalen Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland. Die Bundesbank kommentierte: „Durch diese Entwicklung setzte sich der Bund mit seinem Schuldenstand inzwischen weit an die Spitze." Der Anteil des Bundes an den öffendichen Schulden erhöhte sich zwischen 1973 auf 1978 von 37 Prozent auf 48 Prozent. 731 Die Regierung ging im Sommer 1979 angesichts der guten Konjunktur davon aus, dass sie im nächsten Jahr fünfeinhalb Milliarden D-Mark weniger ausgeben musste, als in der Finanzplanung vorgesehen war. Dennoch würde sich die Neuverschuldung voraussichdich nur von 30 Milliarden D-Mark im Jahr 1979 auf 28 Milliarden D-Mark im darauf folgenden Jahr reduzieren lassen. Bis zum Jahresende 1979 würde sich die Gesamtverschuldung der Gebietskörperschaften auf 420 Milliarden D-Mark belaufen, das

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Der Spiegel, Nr. 5/33, 29. Januar 1979, S. 84 ff. Monatsberichte Juli 1979, S. 15ff.

190 war zweieinhalb Mal so viel wie sechs Jahre zuvor. 732 Noch im Aufschwung wirkten sich die im Abschwung beschlossenen Konjunkturmaßnahmen negativ auf die Staatsfinanzen aus. Die letzten Monate des Jahres 1979 war die Finanzentwicklung in der Bundesrepublik „durch den expansiven Kurs geprägt, den die Finanzpolitik mit den 1977 und 1978 beschlossenen Maßnahmen zur konjunkturellen Stützung eingeschlagen hatte." 733 Der Ende 1979 verabschiedete Bundeshaushaltsplan stand nach Ansicht der Bundesbank im „Zeichen der Bemühungen, das Ausgabenwachstum zu dämpfen und das Finanzierungsdefizit des Bundes etwas zurückzuführen." 734 In seiner Haushaltsrede vor dem deutschen Bundestag am 12. Dezember 1979 zeigte sich Matthöfer mit der Haushaltsentwicklung zufrieden. Matthöfer erinnerte daran, dass im Regierungsentwurf für das Jahr 1979 noch eine Neuverschuldung von 35 Milliarden D-Mark vorgesehen war. Diese sei innerhalb eines Jahres auf24—25 Milliarden D-Mark zurückgeführt worden. Matthöfer fühlte sich dadurch in seiner These bestätigt, dass „die Kreditaufnahme des Bundes eine Funktion unserer Vollbeschäftigung ist und nicht durch Haushaltszwänge verursacht worden" sei. Matthöfer bekräftigte: „Wir haben uns nicht in die Lage bringen lassen, auch nur eine D-Mark mehr Kredit aufnehmen zu müssen, als zur Sicherung der Beschäftigung in unserem Lande unabweisbar erforderlich ist." Die wirtschaftliche Lage beschrieb Matthöfer als die beste seit fünf Jahren. Der Finanzminister sah die Vollbeschäftigung bereits in greifbarer Nähe. Eine wesendiche Ursache fur die positive wirtschaftliche Entwicklung sah Matthöfer in der Stärkung der Massenkaufkraft, bewirkt durch die öffentliche Kreditaufnahme. Matthöfer eröffnete eine Bilanz der von den Krediten finanzierten Ausgaben: Die Regierung habe ein hervorragendes öffendiches Straßennetz gebaut, der Bundesbahn sei zur Deckung ihres Defizits von 25 Milliarden D-Mark ein Zuschuss von 14 Milliarden D-Mark gewährt worden und mit Subventionen einen leistungsfähigen Steinkohlebergbau erhalten. Die Regierung habe in den letzten fünf Jahren Steuerendastungen von 40 Milliarden D-Mark verabschiedet. Das Kindergeld eingerechnet liege die Steuerquote konstant bei knapp über 23 Prozent. 735 Doch zu Beginn des Jahres 1980 verdüsterten sich die Aussichten. Auf den Bundeshaushalt kamen zusätzliche Belastungen zu: Finanzhilfen fur die Türkei und Pakistan, Kokskohlebeihilfen, ein höherer Spritzzuschuss fiir die Bundeswehr, Abschlusszahlungen für die Entschädigung der NS-Opfer und die Lohnsteigerungen im öffentlichen Dienst summierten sich auf 2 Milliarden D-Mark. In einem Brandbrief an die SPD-Fraktion schrieb Matthöfer, die Finanzierung der Steuerendastung für 1981 sei „ausgesprochen schwierig." Das kommende Jahr werde „besonders kritisch." Matthöfer fürchtete, dass die Steuerschätzungen nach unten korrigiert werden mussten. Da der bevorstehende Wahlkampf die Rücknahme der zugesagten Steuersenkungen unmöglich machte, zeichnete sich eine noch höhere Neuverschuldung ab. Der Haushaltsexperte der FDP Klaus Gärtner befürchtete: „Wenn wir da wieder anfangen zu drehen, dann wird das schlimm, dann wird die Staatsverschuldung zum gefährlichen Wahlkampfthema." 736 732 733 734 735 736

Die Zeit, Nr. 23/34, 1. Juni 1979, S. 18. Monatsberichte, Februar 1980, S. 19. Monatsberichte, Februar 1980, S. 21. Verhandlungen, Band 113, S. 15193 ff. Der Spiegel, Nr. 7/34, 11. Februar 1980, S. 26 f.

191 Die Bundesfinanzen gerieten in den kommenden Monaten immer stärker unter Druck. Das Defizit lag schon im ersten Vierteljahr um 3,6 Milliarden D-Mark höher als im Vorjahreszeitraum.737 Unter diesem Eindruck änderte Matthöfer seine sonst übliche Argumentationsstrategie. Im April 1980,15 Monate nach seinem Interview mit dem SPIEGEL, in dem Matthöfer mehr Milliarden versprochen hatte, äußerte sich Matthöfer in einem neuen SPIEGEL-Interview so: „Wir sind allerdings jetzt an einem Punkt angelangt, wo ich mich gegen gesetzliche Festlegungen neue Ausgaben wenden muß, damit wir handlungsfähig bleiben und uns so oder so entscheiden können." Dann erklärte Matthöfer: „Ich halte nichts davon, immer größere Umverteilungsbürokratien zu finanzieren, die Aufgaben erfüllen sollen, die unter Umständen von der Familie, von der Gemeinde oder von der Nachbarschaft besser gelöst werden können." 738 In einem Interview mit dem SPIEGEL vom April 1980 versuchte Matthöfer, Optimismus zu verbreiten. Die Verschuldung der Bundesrepublik läge im internationalen Vergleich in der unteren Hälfte und sei zur Sicherung der Beschäftigung „durchaus noch steigerbar". Die Aufnahme von Krediten im Ausland diene auch dem internationalen Wirtschaftsausgleich. Damit bemäntelte der Finanzminister, dass der einheimische Kreditmarkt durch die Verschuldung des Bundes schon so sehr in Anspruch genommen war, dass er in diesem Jahr erstmals Kredite bei den Saudis aufnehmen musste. 739 Im Wahlkampf versuchte die Union, die Staatsverschuldung zu einem der Hauptwahlkampfthemen zu machen. Bei demoskopischen Untersuchungen zeigte sich jedoch, dass die Unionsparteien, anders als zwei Jahre später, mit ihrer Rhetorik kaum auf Resonanz in der Bevölkerung stießen. 57 Prozent der Befragten meinten, dass die Verschuldung den kommenden Generationen zumutbar sei, da diese ja auch von den Zukunftsinvestitionen profitierten, und in derselben Größenordnung lag die Zahl derer, die die Neuverschuldung fur vertretbar hielten, wenn sie Arbeitsplätze schaffe. 740 Im Juli 1980 warf Matthöfer der Union und der Presse vor: „In Hinblick auf das Reizwort Staatsverschuldung sind in der Bevölkerung tiefsitzende Ängste und Vorurteile geweckt worden." Die C D U / C S U wollte das Thema Staatsverschuldung zum zentralen Wahlkampfthema machen. Stoltenberg warf der Bundesregierung „maßlose Ausgaben — und Verschuldungspolitik" vor. 741 Deudich nahm auch die katholische Kirche Partei fur die Opposition. In einem Hirtenbrief kritisierten die katholischen Bischöfe die Staatsverschuldung. 7 4 2 Matthöfer wies die Vorwürfe jedoch zurück. Er lehnte „Radikalkuren" zur Verminderung der Staatsverschuldung ab. Während dessen wurde über ein Haushaltssicherungsgesetz spekuliert. Im Juni hatte die Regierung beschlossen, für den Fall, dass die Mehrwertsteuer nicht erhöht werden konnte, zum 1. Januar 1981 die Mineralöl- und Branntweinsteuer zu erhöhen, was 1,7 Milliarden D-Mark bringen sollte. Es wurde erwartet, dass der Arbeitskreis Steuerschätzung nach der Wahl die Prognosen nach 737 738 739 740 741 742

Monatsberichte,April 1980, S. 7. Der Spiegel, Nr. 15/34, 7. April 1980, S. 37 ff. Der Spiegel, Nr. 15/34, 7. April 1980, S. 37 ff. Der Spiegel, Nr. 32/34, 4. August 1980, S. 22 f. Der Spiegel, Nr. 32/34, 4. August 1980, S. 22. Wirtschaftswoche, Nr. 40/34, 3. Oktober 1980, S. 12ff.

192 untern korrigieren würde und weitere Einsparungen nötig machten. Die Haushaltspolitikerin Heide Simonis äußerte: „Wir Haushälter haben uns vorgenommen, dieses Mal hart zuzuschlagen." 743

Exkurs: Die FDP zwischen den Sozialliberalen und ihren Wi rtschaftsm i η istern Die FDP hatte sich in der Ära Brandt weit von klassisch liberalen Prinzipien der Begrenzung staadicher Aufgaben entfernt. Auf ihrem 22. Bundesparteitag, der vom 25. Bis zum 27. Oktober in Freiburg stattfand, bekannte sich die FDP voll und ganz zum sozialliberalen Kurs. Auf diesem Parteitag wurden die so genannten „Freiburger Thesen" verabschiedet, die die Partei auf eine linke Gesellschaftspolitik festlegen sollten. Die Vordenker dieser „Freiburger Thesen" waren Karl-Hermann Flach, der Redakteur der Frankfurter Rundschau war, und Werner Maihofer. Flach schrieb in einer Streitschrift: „Noch eine Chance fur die Liberalen": „Die Auffassung, daß Liberalismus und Privateigentum an Produktionsmitteln in jedem Fall identisch seien, gehört zu den Grundirrtümern der jüngsten Geschichte." Auf dem Freiburger Parteitag wurde Flach mit 345 gegen nur eine Gegenstimme und zwei Enthaltungen zum Generalsekretär der FDP gewählt. 744 Dieser Linkskurs war zu dieser Zeit opportun. Das Bündnis mit der SPD hatte die FDP trotz des schlechten Abschneidens bei den Wahlen 1969 wieder an die Regierung gebracht und die liberalen Minister Genscher und Ertl beteiligten sich emsig an der Ausweitung staatlicher Ausgaben und des Öffentlichen Dienstes. Gefördert wurde diese Entwicklung noch dadurch, dass die FDP in der ersten Legislaturperiode der sozialliberalen Koalition weder den Wirtschafts- noch den Finanzminister stellen konnte. Erst mit der Wahl 1972 entdeckte die FDP ihr wirtschaftsliberales Profil wieder. Hans-Dietrich Genscher erkannte die Chance der FDP sich als wirtschaftspolitisches Korrektiv zu den Sozialdemokraten zu präsentieren und damit die Unterstützung der Wirtschaft zu erreichen, die nun auf die FDP setzten, um aus ihrer Sicht Schlimmeres zu verhindern. Als Gegengewicht zu dem sozialdemokratischen Finanzminister Helmut Schmidt wurde deshalb Hans Friedrichs Wirtschaftsminister, der dem rechten Flügel der FDP angehörte. Dessen wirtschaftspolitische Vorstellungen hatten mit denen des Freiburger Parteitages wenig zu tun. Friderichs hatte sich 1969 entschieden als Staatssekretär nach Rheinland-Pfalz, wo Helmut Kohl Ministerpräsident war, zu wechseln und blieb dies auch, als die FDP 1971 aus der Landesregierung ausschied. Erst nach der Bundestagswahl 1972 sagte Friderichs die Übernahme des Ministeramtes zu. 7 4 5 Als Wirtschaftsminister erreichte Friderichs durch seine Fernsehauftritte einen hohen Bekanntheitsgrad. Achtzig Prozent der Bevölkerung kannten ihn, was fiir einen Minister ein hoher Wert war. Der SPIEGEL schrieb über Fri743 744

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Wirtschaftswoche, Nr. 37/34, 12. September 1980, S. 18. Leuschner, Udo: Die Geschichte der FDP. Die Metamorphosen einer Partei zwischen rechts, sozialliberal und neokonservativ, Münster 2005, S. 90f. Flach verstarb schon am 25. August 1973 an einem Gehirnschlag. Die Zeit, Nr. 31/32, 22. Juli 1977, S. 19.

193 derichs: „Friderichs ist überall. Ohne ihn - so scheint es - läuft nichts in Bonn. Selbst da, wo er nicht zuständig ist, mischt er sich ein, und oft setzt er sich auch durch — meist zu Lasten seiner SPD-Kollegen und zugunsten der deutschen Wirtschaft." Sein Ministerium sei eine „perfekt arbeitende Maschinerie". Friderichs Vorlagen würden von ordoliberal eingestellten Beamten erstellt, die schon unter Erhard im Ministerium waren. Hans Tietmeyer war Leiter der Grundsatzabteilung und galt als graue Eminenz des Wirtschaftsministeriums. Einen fast legendären Ruf besaß auch Staatssekretär Otto Schlecht. 746 Die kommenden Jahre waren in der FDP bestimmt von der Auseinandersetzung zwischen der Parteiführung und den liberalen Wirtschaftsministern auf der einen Seite und dem sozialliberalen Flügel, der den Geist von Freiburg wiederbeleben wollte, auf der anderen Seite. Diese Auseinandersetzung ging zugleich um die strategische Frage, ob sich die FDP dauerhaft an die SPD binden sollte oder auch eine politische Option mit der C D U / C S U ins Auge fasste. Die sozialliberale Koalition war unter dem Vorzeichen voller Kassen und gesellschaftspolitischer Idealvorstellungen geschlossen worden. Der Parteitag in Freiburg hatte diesen Kurs einen programmatischen Uberbau gegeben. Die „Freiburger Thesen" waren aber angesichts der steigenden Arbeitslosenzahlen und der zweistelligen Staatsdefizite spätestens seit dem Herbst 1974 zu einem Anachronismus geworden. Die Wahlplattform der FDP erarbeitete vor der Bundestagswahl 1976 eine Vorlage, die auf dem Parteitag verabschiedet wurde und die die Liberalen in die Nähe der C D U brachte. Es gab allerdings zu diesem Zeitpunkt in keinem Landesverband eine Mehrheit fur eine Koalition mit der Union. 7 4 7 Lambsdorff antwortete im Sommer 1976 auf die Frage, ob er sich eine Koalition mit der C D U vorstellen könnte: „Dies wäre vielleicht auf dem Gebiet der Wirtschaftspolitik nicht ausgeschlossen." 748 Nach der Bundestagswahl 1976 brach die Auseinandersetzung zwischen Wirtschaftsminister Friderichs und dem linken Flügel der FDP offen aus. Friderichs hatte auf dem Parteitag 1975 den Auftrag erhalten, den Entwurf für ein neues Wirtschaftsprogramm der FDP vorzulegen. Der Wirtschaftsminister hatte sich dieser Aufgaben mit wenig Enthusiasmus gewidmet. Erst im Juli 1977 legte Friderichs für viele in der Partei überraschend seinen Entwurf für ein Wirtschaftsprogramm der FDP vor, das auf dem Kieler Parteitag im November verabschiedet werden sollte. Genscher las das Papier mit dem Titel „Grundzüge einer liberalen Wirtschaftspolitik" auf dem Flug in die USA. Genscher befürchtete einen Flügelstreit und stellte sich auf lange Gespräche ein. 7 4 9 Denn an der gleichen Aufgabe, der Ausarbeitung eines Wirtschaftsprogramms für die FDP, arbeitete eine Parteikommission unter dem Vorsitz von Gerhard Baum. In dieser Kommission dominierten Parteilinke. Deshalb war es nicht verwunderlich, dass diese Friderichs Entwurf als unzureichend zurückwiesen. Ingrid Matthäus-Meier kritisierte: „Von den Nöten der Menschen ist im ganzen Papier nicht die Rede. Das Festhalten an überholten Argumenten wird zum Dogma erhoben." Friderichs wurde vorgeworfen, die Beschäftigungspolitik nicht behandelt zu haben. Die Kommission forderte hingegen in Anlehnung an 746 747 748 749

Der Spiegel, Nr. 23/30, 31. Mai 1976, S. 27 ff. Wirtschaftswoche, Nr. 25/30, 18. Juni 1976, Wirtschaftswoche, Nr. 25/30, 18. Juni 1976, S. 29. Der Spiegel, Nr. 30/31, 18. Juli 1977, S. 30.

194 die Beschlüsse des Freiburger Parteitages Formulierungen wie „Vollbeschäftigung" und „Reform des Kapitalismus" und sie vertraten eine positive Sicht auf das Konzept der Investitionslenkung. 750 Die Kommission legte schließlich ihr eigenes Papier vor, so dass nun zwei gegensätzliche Grundsatzpapiere in der Diskussion waren. Der Streit würde eine wichtige Weichenstellung für die Zukunft darstellen, da das Papier von Friderichs die FDP in eine deutliche Nähe zur Union rückte, wohingegen das Papier der Kommission auf die Stärkung der Gemeinsamkeiten mit der SPD auch in der Wirtschaftspolitik setzte. 751 Baum rechtfertigte sein Programm mit der Perspektive auf die Stabilität der sozialliberalen Koalition: „Dies ist ein Angebot an die Sozialdemokraten jetzt das fortzufuhren, was wir 1969 begonnen haben." Dies war der verspätete Versuch an die Reformeuphorie der ersten Jahre der sozialliberalen Koalition anzuknüpfen. Baum meinte: „Wir wollen den Leuten ein bißchen Utopie geben, ein bißchen Vision." In dem Programm der Perspektiv-Kommission wurden „Gezielte Maßnahmen und verstärkte Rahmensetzungen durch den Staat" gefordert. Dies war ein Schlag gegen die Politik fiir die Wirtschaftsminister Friderichs stand und damit auch auf seine Position in der Partei. Friderichs galt ohnehin als angeschlagen, weil ein kleiner Parteitag der FDP, den Bau neuer Kernkraftwerke, der von Friderichs befürwortet wurde, verurteilt hatte. 752 Lambsdorff sah den grundsätzlichen Konflikt und erklärte: „Da geht es fiir mich ums Grundsätzliche." Er fand es unglaublich, dass, „eine Parteiminderheit dieselben, die noch im Wahlkampf als die vier, auf die es ankommt, gepriesen wurden, jetzt desavoiert, diskreditiert und demontiert." 753 Lambsdorff kritisierte das Staatsvertrauen der Perspektiv-Kommission und sprach sich fiir den Grundsatz „Im Zweifel fiir den Markt" aus. Auch die Bundestagsfraktion zerfiel in diese zwei Lager. Daher hatte die Bundestagsfraktion die Arbeitsgruppe .Arbeitsmarktpolitik" eingesetzt. Diese sollte Vorschläge vorlegen, um die wirtschaftspolitischen Gegensätze der zwei Lager zu überbrücken. 754 Genscher setzte sich vehement fiir das Friderichs-Papier ein, da er Friderichs nicht noch weiter schwächen oder gar als Wirtschaftsminister verlieren wollte. 755 Es gab sogar Zweifel an Friderichs Wiederwahl zum stellvertretenden Parteivorsitzenden auf dem Parteitag im November. Friderichs zog fiir sich die Konsequenzen aus dem mangelnden Rückhalt in der Partei, als sich ihm eine attraktive Alternative zum Ministeramt bot. Anfang September 1977 gab Friderichs seinen Wechsel von der Politik in den Vorstand der Dresdner Bank als Nachfolger des von der RAF ermordeten Jürgen Ponto bekannt. Der Rücktritt erfolgte auf dem Höhepunkt der Auseinandersetzung über die Konjunkturpolitik. Der FDP-Parteilinke Burkhard Hirsch erklärte: „Ich empfinde das geradezu als Fahnenflucht." Die nannte Friderichs Rücktritt eine „Flucht aus dem Amt". An Lambsdorff als Nachfolger gab es keine Zweifel. Friderichs hatte fiir seinen wirtschaftsliberalen Kurs in der FDP-Fraktion die Mehrheit von nur einer Stimme besessen. Da fiir Friderichs Bundestagsmandat der Parteilinke Helmut Schäfer nachrückte, konnte Lambsdorff auf 750 751 752 753 754 755

Der Spiegel, Nr. 29/31, 11. Juli 1977, S. 27 f. Die Zeit, Nr. 30/32, 15. Juli 1977, S. 1. Der Spiegel, Nr. 30/31, 18. Juli 1977, S. 30. Ebd. Die Zeit, Nr. 33/32, 5. August 1977, S. 24. Wirtschaftswoche, Nr. 37/31, 2. September 1977, S. 30.

195 diese Mehrheit fur seine Wirtschaftspolitik nicht mehr rechnen. 756 Lambsdorff war sich angesichts dieser Lage darüber im Klaren, dass er keinen leichten Stand hatte. Er sagte: „Ich bin ja kein Illusionist. Ich kann mir durchaus vorstellen, daß ich mich nur kurze Zeit im Amt des Wirtschaftsministers einzurichten habe." 7 5 7 Lambsdorff war seit 1972 in der Bundespolitik präsent. Er war vor seinem Wechsel in die Politik bei der Viktoriaversicherung tätig gewesen. In den Koalitionsfraktionen war Lambsdorff als Wirtschaftssprecher Teil einer „Viererbande", die aus Martin Grüner von der FDP, Herbert Ehrenberg und Hans-Jürgen Junghans von der SPD und ihm selbst bestand. Alle Entscheidungen im Wirtschaftsausschuss wurden von diesem informellen Zirkel vorbesprochen. 758 Aufgrund der Mehrheitsverhältnisse in der Partei und dem Patt in der Fraktion hielt es Lambsdorff für klüger, harte persönliche Konfrontationen zu vermeiden und sich stattdessen als Vermittler zur Parteilinken darzustellen. Der zur Parteilinken gehörende Verheugen beschrieb diese Wendung bei Lambsdorff so: „Er fängt seinen Tag jetzt nicht mehr damit an, daß er zehn Leute beleidigt, sondern damit, daß er zehn Leute um ihren Rat fragt." Lambsdorff setzte inhaldich Friderichs wirtschaftspolitischen Kurs fort, sowohl was die Grundsatzfragen zur Wirtschaftspolitik als auch, was die Kernkraft anging. Die erste Feuerprobe fiir den neuen Wirtschaftsminister war die Frage, ob sich das wirtschaftsliberale Programm auf dem Parteitag im Kiel durchsetzen würde. 759 In einem Interview mit dem SPIEGEL erklärte Gerhard Baum, die FDP müsse weiterhin Reformpartei bleiben. Er sprach sich dagegen aus, sich zu sehr mit wirtschaftlichen Interessen zu verbinden. Baum stellte die Beschlüsse des Freiburger Parteitages zur Mitbestimmung, Vermögensbildung und Bodenreform heraus und forderte „Kontinuität zu Freiburg." Im Freiburger Programm hieß es: „Das Vertrauen des klassischen Kapitalismus, die Ziele einer liberalen Gesellschaft aus dem Selbstlauf einer privaten Wirtschaft zu erreichen, ist nach den geschichdichen Erfahrungen nicht zu rechtfertigen." Baum bestand deshalb auf die „Reform des Kapitalismus". Er sah die zentrale Aufgabe der Politik darin, Ausbildungs- und Arbeitsplätze zu sichern. Der Staat müsse fur die „Freiheit jedes Einzelnen von Not" sorgen. 760 Baum war der Ansicht: „Die materielle Erfüllung von Freiheit- und Teilhaberechten muß das Handeln des Staates in allen Bezügen bestimmen: bei der Setzung von Normen in der Legislative, in der Verwaltung und bei der Rechtssprechung. (...) Denn es kommt nicht nur auf Freiheit und Rechte als bloß formale Garantien des Bürgers gegenüber dem Staat an, sondern als soziale Chance in der alltäglichen Wirklichkeit der Gesellschaft." Ziel sei „humane Ziele der Gesellschaft" mit der „Effizienz der marktwirtschaftlichen Wirtschaftsordnung" in Einklang zu bringen. 761

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Wirtschaftswoche, Nr. 39/31, 16. September 1977, S. 14 ff. Der Spiegel, Nr. 42/31, 10. Oktober 1977, S. 67 ff. Der Spiegel, Nr. 42/31, 10. Oktober 1977, S. 28 f. Der Spiegel, Nr. 45/31, 31 Oktober 1977, S. 136 ff. Der Spiegel, Nr. 46/31, 7. November 1977, S. 23 ff. Manager Magazin, November 1977, S. 20.

196 Die Mitgiiederstruktur der FDP war damals solcher Art, dass die Durchsetzung des linksliberalen Kurses durchaus nicht ausgeschlossen war. Von 78 000 FDP-Mitgliedern waren 23000 im Öffentlichen Dienst beschäftigt, 16380 waren in Gewerkschaften engagiert, 6240 in Bürgerinitiativen und etwa 2000 waren Betriebs- und Personalräte.762 Dennoch setzte sich Lambsdorff auf dem Kieler Parteitag durch. Die ZEIT sah darin nicht nur die Distanz zu den Beschlüssen des Freiberger Parteitages, sondern auch eine Rückbesinnung auf den klassischen Liberalismus. 763 Der Kieler Parteitag hatte sich ausschließlich mit Wirtschaftspolitik befasst. 375 von 400 stimmberechtigten Delegierten stimmten fur die Verabschiedung des Kieler Wirtschaftsprogramms. Lambsdorff interpretierte öffendich die Beschlüsse mit Rücksicht auf die Unterlegenen nicht als, sondern lediglich als Ergänzung der Freiburger Thesen. Er betonte aber auch, dass sich seit dem Freiburger Parteitag, die weltpolitische Lage und die gesellschaftspolitische Situation geändert hatten. Lambsdorff sagte: „In Freiburg haben wir und nicht nur wir allein geglaubt, es sei fast alles machbar und wir könnten uns unbesehen und unbeschränkt, fast alles leisten. Hier sind wir an unerfreuliche, aber nicht zu bestreitende Grenzen gestoßen. Die Konsequenz aus dieser Tatsache haben wir in Kiel formuliert." Lambsdorff sah in der großen Mehrheit eine Bestätigung fur die Wirtschaftspolitik von Friderichs und ihm während der letzten fünf Jahre. 764 Mit dem Kieler Parteitag hatte sich in der FDP eine wirtschaftspolitische Linie durchgesetzt, die mehr Gemeinsamkeiten mit der C D U hatte als mit dem sozialdemokratischen Koalitionspartner. Lambsdorff bestätigte in einem Interview, es sei für die FDP sehr schwierig, sich gegenüber der Wirtschafts- und Finanzpolitik der Union abzugrenzen. 765 Die Beschlüsse des Kieler Parteitages waren jedoch nicht das letzte Wort in dieser Frage. Der Schlingerkurs der FDP zwischen Koalitionstreue, der Suche nach neuen Optionen und einer Stärkung des wirtschaftsliberalen Profil, führte zur Verwirrung bei Basis und Wählern der Liberalen. Ein Jahr nach dem Sturz der sozialliberalen Koalition in Niedersachsen beschloss die niedersächsische FDP im Dezember 1976 in eine förmliche Koalition mit der C D U einzutreten. Gleichzeitig sprach sich die FDP in Hamburg fur eine Koalition mit der SPD aus. Viele Wechselwähler gaben deshalb bei den Landtagswahlen am 4. Juni 1978 ihre Stimme einer der großen Parteien, da die FDP nicht mehr als Garant einer Koalition wahrgenommen wurde. 766 Sowohl in Hamburg als auch in Niedersachsen blieb die FDP bei den Landtagswahlen unter der Fünfprozent-Hürde. 767 Unter dem Eindruck der Niederlage suchte die Partei ihr Heil in einer Rückwendung zu einer stärkeren Akzentuierung des sozialliberalen Profils.

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Wirtschaftswoche, Nr. 46/31, 4. November 1977, S. 28 f. Die Zeit, Nr. 47/32, 11. November 1977, S. 6. Die Zeit, Nr. 48/32, 18. November 1977, S. 17 ff. Wirtschaftswoche, Nr. 48/31, 18. November 1977, S. 30. Wolfgang Jäger, Werner Link, Republik im Wandel 1974 - 1 9 8 2 . Die Ära Schmidt, Stuttgart 1987, S. I l 4 f . Leuschner, FDP, S. 123.

197 Auf dem Parteitag in Mainz im November 1978 kam es zu einem „Linksruck." Genscher hatte die Stimmung der Delegierten falsch eingeschätzt und musste viele Abstimmungsniederlagen hinnehmen. Die Ergebnisse des Parteitages in Kiel wurden faktisch revidiert. Nicht Lambsdorff sondern Baum wurde in Mainz ins Präsidium gewählt. Zum neuen Generalsekretär wurde auf den Vorschlag Genschers hin Günter Verheugen gewählt, der auf dem linken Flügel angesiedelt war. Lambsdorff kritisierte vor Journalisten und Delegierten die Wahl Verheugens: „Schon nach einem Tag hat sich gezeigt, dass es die falsche Wahl war." Lambsdorff war wütend auf Genscher, dem die Kontrolle entglitten war. Er nannte die Parteitagsorganisation: „Nicht gerade ein Glanzstück guter Vorbereitung." Lambsdorff erklärte, er werde sich als Wirtschaftsminister um die Parteitagsbeschlüsse nicht kümmern. 768 Lambsdorffs Kurs setzte sich trotz der Rückschläge in den kommenden zwei Jahren in der FDP durch. Damit wurden die Gräben zu den Sozialdemokraten größer. Auf dem Freiburger Parteitag 1980 bekam Josef Erd den Stimmungswandel zu spüren. Dort beschloss die FDP den Ubergang zu einem marktwirtschaftlich organisierten Agrarmarkt und Erd selbst wurde zum „Buhmann" für die Delegierten. Ertl erklärte, er sähe sich nicht in der Lage diese Beschlüsse mit all ihren Konsequenzen im Wahlkampf zu vertreten. Aufgrund der öffendichen Kritik an Ertl, der von Beginn an ein tragender Pfeiler der sozialliberalen Koalition war, sah Schmidt sich genötigt, dessen Agrarpolitik, die zum Anstieg der Belastungen durch die E G beitrug, zu verteidigen. 769 Schon vor der Wahl 1980 waren die Gemeinsamkeiten zwischen SPD und FDP aufgebraucht. In einem Interview vom 18. Juli 1980 beschwerte sich Lambsdorff darüber, dass die SPD-Linke keine Rücksicht auf den liberalen Koalitionspartner mehr nehmen wollte und eine absolute Mehrheit anstrebte. Lambsdorff warf SPD-Fraktionschef Wehner „Leichtfertigkeit im Umgang mit der Koalition vor." Lambsdorff erklärte: ,Alles andere sind Sollbruchstellen zwischen FDP und SPD, die es schon immer gegeben hat — in der Steuerpolitik, der Wirtschafts- und Sozialpolitik." Es sei da aber noch niemals zum Bruch gekommen, weil die Koalition es immer verstanden hätte, die notwendigen Kompromisse zu finden. Lambsdorff bestritt nicht, dass mit der C D U die bessere Wirtschaftspolitik möglich sei. Er verwies als weiterbestehenden Gegensatz auf die Außen- und Deutschlandpolitik. Über den inneren Zustand der Liberalen sagte Lambsdorff: „Es gibt vielleicht eine klarer herausgearbeitete marktwirtschaftliche Position auf dem Gebiet der Wirtschafts- und Steuerpolitik - mit allen Konsequenzen, die sich daraus im Verhalten zum Koalitionspartner ergeben." 770 Im Wahlkampf für die Bundestagswahl 1980 setzte die FDP auf Abgrenzung von der SPD. Während Helmut Schmidt sich vor allem über die Außenpolitik als Friedenspolitiker profilierte, stellte die FDP die Wirtschaftspolitik in den Mittelpunkt ihres Wahlkampfes. Die zentralen Themen der FDP-Kampagne sollten Schuldenabbau, Stärkung des Mittelstandes und die Ablehnung der von der SPD-Linken angestrebten Investi-

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Der Spiegel, Nr. 47/32, 20. November 1978, S. 21 ff. Wirtschaftswoche, Nr. 24/34, 13. Juni 1980, S. 12ff. Die Zeit, Nr. 30/35, 18. Juli 1980, S. 17.

198 tionslenkung sein. Eine andere Frage, in der sich die FDP von der SPD abgrenzte, war die Frage der Aussperrung. Schmidt selbst prangerte die Aussperrung als unmoralisch an. Genscher erklärte kategorisch zur Forderung nach Verbot der Aussperrung: „Das kommt überhaupt nicht in Frage." Umfragen zeigten, dass immer mehr Manager und Unternehmer auf die von Lambsdorff beeinflussten Liberalen setzten. Hinter vorgehaltener Hand sprachen Erd und Bangemann bereits über einen möglichen Koalitionswechsel.771

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Wirtschaftswoche, Nr. 23/34, 6. Juni 1980, S. 14.

Zweiter Teil Das Jahrzehnt der unvollkommenen Konsolidierung 1980-1990

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Die Konsolidierungspolitik nach der Bundestagswahl 1980 Die Wahl am 5. Oktober 1980 bestätigte noch einmal die sozialliberale Koalition. Die Koalition gewann 18 Mandate, vier für die SPD und 14 für die FDP, hinzu. Die SPD erzielte 42,9 Prozent und die FDP verbesserte sich um 2,7 auf 10,6 Prozent. Die C D U / C S U fiel um 4,1 Prozent auf 44,5 Prozent zurück. 772 Nach der gewonnenen Bundestagswahl meldete sich als Erster Wirtschaftsminister Lambsdorff zu Wort und profilierte sich in der Rolle des „Sparkommissars" auf Kosten der Sozialdemokraten. Lambsdorff forderte eine radikale Sanierung der Haushalte. 773 Von der geplanten Rückführung der Schulden konnte keine Rede sein, denn die Haushaltsdaten für das Jahr 1981 hatten sich rapide verschlechtert. In den Koalitionsvereinbarungen wollte die Regierung die Weichen für die Finanzpolitik der kommenden Legislaturperiode stellen. 774 Die FDP nutzte ihre neue Machtstellung, um Kürzungen der eigenen Etats abzuwehren. Die Kürzungen im Agrarbereich wurden daher teilweise rückgängig gemacht. 7 7 ' Im kommenden Haushaltsjahr sollte die Neuverschuldung bei 27 Mrd. D-Mark liegen und der Haushalt um vier Prozent wachsen. Zum 1. April wurden die Mineralöl- und die Branntweinsteuer erhöht. Die allgemeine Steuerbelastung sollte auf Drängen der Freien Demokraten in den nächsten Jahren nicht steigen. Man einigte sich auf eine Reihe von Subventionskürzungen. 776 Zu Beginn des Jahres 1981 zeigte sich, dass Lambsdorffs „Dellentheorie", die Annahme, dass der konjunkturelle Aufschwung nur eine kurzzeitige Unterbrechung erfuhr, von der Wirklichkeit widerlegt wurde und die Bundesrepublik nach 1967 und 1975 in ihre dritte Rezession eintrat. 777 Insgesamt mussten fünf Prozent des Haushalts zur Finanzierung der steigenden Arbeitslosigkeit aufgewendet werden. Von Haushaltspolitikern der Sozialdemokraten wurde ein Maßnahmenkatalog erarbeitet, der weitreichende Einschnitte in das soziale Netz vorsah. Die Empfehlungen ihrer Haushaltsexperten lösten in der übrigen SPD-Fraktion Ablehnung und Widerstand aus. 7 7 8 Zur Jahresmitte zeichnete sich ab, dass die schwache Konjunktur und die hohen Zinsen ein großes zusätzliches Defizit im Öffentlichen Haushalt verursachen würden. Für den laufenden Haushalt bot sich keine andere Möglichkeit als das Mittel der Nettokrediterhöhung. Lag die Neuverschuldung für das Jahr 1980 noch bei 24,2 Mrd. D-Mark, stieg in diesem Jahr das Defizit auf fast 34 Mrd. D-Mark an, 6 Mrd. D-Mark mehr als noch im Finanzplan von 1980 vorgesehen. Die Zuschüsse für die Bundesanstalt für Arbeit stiegen von 3,4 Mrd. D-Mark im letzten auf 11,5 Mrd. D-Mark im laufenden Jahr. 779 Theo Sommer schrieb in der ZEIT: „Wir leben am Ende der Sorglosigkeit und Sorgenlosigkeit, in dem es als unumstößliche 772

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Wolfgang Jäger, Werner Link, Republik im Wandel 1974 -1982. Die Ära Schmidt, Stuttgart 1987, S. 172. Der Spiegel, Nr. 42/34, 13. Oktober 1980, 26 ff. Wirtschaftswoche, Nr. 43/34, 24. Oktober 1980, S. 12ff. Wirtschaftswoche, Nr. 45/34, 31. Oktober 1980, S. 16. Archiv der Gegenwart, S. 24040. Wirtschaftswoche, Nr. 5/35, 23. Januar 1981, S. 12f. Der Spiegel, Nr. 14/35, 30. März 1981, 19ff. Finanzplan des Bundes 1980 bis 1984, S. 38; Finanzplan des Bundes 1981 bis 1985, S. 42.

201 Wahrheit galt, dass es immer nur vorwärts gehen werde, niemals wieder rückwärts oder einfach nur weiter auf der Stelle." 780 Ende Mai hatte dasselbe Blatt mit der Titelüberschrift „Steht Bonn vor dem Staatsbankrott?" aufgemacht. 781 Die Koalition vereinbarte, den Haushalt 1982, verbunden mit einem Sparkonzept, auszuarbeiten und erst im Herbst die Beschlüsse zu fassen. Der sozialliberalen Einmütigkeit wurde auf dem Kölner Parteitag der FDP ein jähes Ende gesetzt. Genscher sprach dort von der „sozialen Hängematte" und Lambsdorff erklärte, die Einsparungen müssten nun zwangsläufig die Masseneinkommen stärker treffen als Besserverdienende. Die Parteirechte setzte durch, die Haushaltsproblematik entgegen den Koalitionsabsprachen schon im Sommer zu thematisieren. Die Gespräche wurden unter diesen neuen Rahmenbedingungen von Anfang September auf Ende Juli 1981 vorverlegt. Die FDP-Fraktion ging mit umfangreichen Sparlisten in der Größenordnung von 20 Mrd. D-Mark in die Verhandlungen. Die SPD-Fraktion forderte hingegen den Verzicht auf Sozialabbau und dass jede einzelne Sparmaßnahme auf ihre Sozialverträglichkeit überprüft werden sollte. 782 Schon zu diesem Zeitpunkt stand die Zukunft der Koalition auf Messers Schneide, und Schmidt stellte fest: Nicht die Kernenergie und nicht der NATO-Doppelbeschluss sondern die Haushaltspolitik seien der Prüfstein fur die Haltbarkeit des sozialliberalen Bündnisses. 783 In dem so genannten Wende-Brief vom 20. August, den Genscher an die Führungsgremien und Mandatsträger seiner Partei sandte, erhob Genscher die Haushaltsverhandlungen zu einer Schicksalsfrage der Bundesrepublik. 784 Zuerst sah es so aus, als erreichten die Sozialliberalen einen Durchbruch. Sie einigten sich auf ein Sparpaket von 12 Mrd. D-Mark, das die Klientel beider Parteien belastete. Gekürzt wurden das Kindergeld, die Zuschüsse fur die Bundesanstalt fur Arbeit und bei Bauern und Beamten. Der Erfolg war durch die Einigung des auf Konsolidierung bedachten Finanzministers mit der FDP möglich geworden. 785 Der Finanzminister versprach darüber hinaus nach Einsparmöglichkeiten von vier Mrd. D-Mark zu suchen, um insgesamt ein Gesamtvolumen von 16 Mrd. D-Mark zu erreichen. Die Koalition schien für kurze Zeit wieder im Aufwind. Helmut Schmidt erklärte, er sei mit dem Ergebnis der Sparbeschlüsse „sehr zufrieden". Lambsdorff kommentierte den Kompromiss mit der Bemerkung, man habe den Haushalt in Ordnung gebracht, aber noch nicht „das Haus". 7 8 6 Der Erfolg der Koalition wurde, noch bevor die negative Wirtschaftsentwicklung den Kompromiss in Frage stellte, durch ihre Querelen in der Öffendichkeit entwertet. Ehrenberg hatte dem Kanzler ein sechs Mrd. D-Mark umfassendes steuerfinanziertes Investitionsprogramm vorgeschlagen, um die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen. Mit diesem Beschäftigungsprogramm hoffte Schmidt, die Gewerkschaften zum Stillhalten zu bewegen. 787 Die so genannte Ergänzungsabgabe, mit der SPD und Gewerkschaften die Besserverdienenden belasten und das 780 781 782 783 784 785 786 787

Die Zeit, Nr. 24/36, 5. Juni 1981, S. 1. Die Zeit, Nr. 22/36, 22 Mai 1981, S. 1. Der Spiegel, Nr. 26/35, 22. Juni 1981, S. 31 f. Der Spiegel, Nr. 27/35, 29. Juni 1981, S. 25. Jäger, Link, Republik im Wandel, Schmidt, S. 208. Der Spiegel, Nr. 27/35, 29. Juni 1981, S. 25 ff; Jäger, Link, Republik im Wandel, S. 224 f. Die Zeit, Nr. 33/36, 7. August 1981, S. 1. Der Spiegel, Nr. 32/35, 3. August 1981, S. 22 f.

202 Programm finanzieren wollten, stand bald im Mittelpunkt eines neuen Koalitionsstreites. Die FDP reagierte empört, und die Basis übte massiven Druck auf Genscher aus. 7 8 8 Die Liberalen, die ursprünglich auf frühzeitige Etatbeschlüsse gedrängt hatten, setzten eine Verschiebung durch, um in der Zwischenzeit eine Abwehrfront gegen die SPD aufzubauen. 789 Genscher erklärte schließlich öffentlich die Ergänzungsabgabe fur tot, „töter" gehe es nicht. 790 Von diesem Zeitpunkt an war klar, dass ein Beharren auf der Einfuhrung einer Ergänzungsabgabe von Seiten der Sozialdemokraten das Ende der sozialliberalen Koalition bedeuten würde. Lambsdorff, Matthöfer und Ehrenberg wurden mit der Suche nach Finanzierungsmöglichkeiten fur ein Beschäftigungsprogramm betraut. Arbeitsminister Ehrenberg war als Einziger motiviert in die Verhandlungen gegangen, wogegen Wirtschaftsminister Graf Lambsdorff und Finanzminister Matthöfer entschlossen waren, ihn auflaufen zu lassen. Ende August wurde die Uneinigkeit der Koalition allgemein augenfällig, als Matthöfer, Lambsdorff und Ehrenberg zum gleichen Anlass im deutschen Fernsehen völlig divergierende Meinungen äußerten. Das Ergebnis des Koalitionsstreites war ein Programm mit dem Volumen von 1,5 Mrd. D-Mark, das Der SPIEGEL als „Kleinkram" bezeichnete. Es sah unter anderem vor, dass Unternehmensverluste teilweise mit der Gewerbesteuer verrechnet werden konnten, Mikroelektronik und der Export sollten weiter gefördert werden, und zur Bekämpfung von Olschäden wurde mehr Geld zur Verfugung gestellt. 791 Vielen Sozialdemokraten erschien das Ergebnis der Sparbeschlüsse, die in zahlreiche Leistungsgesetze eingriffen, nicht tragbar. In mehreren Sitzungen mussten der Kanzler und die Parteispitze die Fraktion auf die Zustimmung einschwören. Zu diesem Zweck fanden sich Schmidt, Brandt und Wehner noch einmal zusammen, um den Kompromiss zu verteidigen. Wehner schilderte in einer dramatischen Rede vor der Fraktion die harten Auseinandersetzungen mit den Liberalen. Wenn die SPD jetzt ihre Regierungsverantwortung aufgäbe, werde sie mindestens 15 Jahre in der Opposition bleiben. Die SPDFraktion stimmte Anfang September mit 17 Gegenstimmen und drei Enthaltungen fur den Sparhaushalt. 792 Wenig später stellte sich heraus, dass die Anstrengungen, die die Sozialliberalen unternommen hatten, angesichts der schlechten Konjunkturentwicklung längst nicht mehr ausreichend waren, um den Haushalt zu stabilisieren. Die Wachstumsprognose musste nach unten korrigiert werden, und die Zahl der Arbeitslosen würde noch weiter ansteigen. Die Bilanz war ernüchternd: Am Ende des Jahres war die Stimmung in der Koalition miserabel, während Wehner sich auf ein Beschäftigungsprogramm festgelegt hatte, forderte jetzt auch Mischnick umfangreiche Kürzungen im sozialen Bereich. Schmidt erklärte, den Deutschen stehe der schwierigste Winter seit Bestehen der Bundesrepublik bevor. Die Zweifel an der Regierungsfähigkeit der Koalition wurden immer lauter. 793

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Jäger, Link, Republik im Wandel, Schmidt, S. 208 f. Wirtschaftswoche, Nr. 33/35, 7. August 1981, S. 12f. Zit. nach Die Zeit, Nr. 46/39, 9. November 1984, S. 25. Der Spiegel, Nr. 36/35, 31. August 1981, S. 19ff. Jäger, Link, Republik im Wandel, Schmidt, S. 209 ff. Der Spiegel, Nr. 45/35, 30. Oktober 1981, S. 19 ff.

203 Die sieben Gesetze, die zusammen die „Operation 82" bildeten, mussten den Bundesrat passieren und waren dort auf die Zustimmung der unionsregierten Länder angewiesen. Am 13. August hatte Kohl den schleswig-holsteinischen Ministerpräsidenten Stoltenberg damit beauftragt, die Sparpolitik der Union zwischen Fraktion und Bundesrat zu koordinieren.79'' Die Opposition konnte von den Haushaltsquerelen der Regierung profitieren. Im Herbst hielten C D U / C S U in den Umfragen die absolute Mehrheit und hatten berechtigte Hoffnung, mittelfristig sogar eine Zweidrittelmehrheit im Bundesrat zu erreichen.79^ Dennoch herrschte bei den Schwesterparteien Unzufriedenheit mit den unkoordinierten Reaktionen auf die Haushaltsschwierigkeiten der Regierung. Kohl, der die Opposition darauf fesdegen wollte, sich soweit wie möglich zurückzuhalten, um keine Solidarisierungseffekte in der Koalition zu erzeugen und nicht durch eigene Vorschläge Sympathien in der Öffendichkeit zu verlieren, hatte während der Verhandlungen im Sommer erklärt: „ausgewogene und durchgreifende Sparmaßnahmen werden an uns nicht scheitern." 796 Anfang September musste der CDU-Vorsitzende einen Rückschlag hinnehmen, als die Sparpläne der Haushaltsgruppe der C D U durchsickerten. Danach sollten in einem ersten Schritt weitere zehn Mrd. D-Mark eingespart werden. Die gesetzlichen Sozialleistungen sollten ab 1982 um fünf Prozent sinken und die Besoldungserhöhung für den Öffentlichen Dienst für ein Jahr ausgesetzt werden. Das Papier sah darüber hinaus eine Kürzung der internationalen Hilfen, einschließlich der Entwicklungshilfe, von 5 Prozent vor, und die Kürzung der Bafbg-Leistungen für Schüler und der Sozialleistungen für Asylanten. Noch am Abend desselben Tages, an dem das Papier an die Öffendichkeit gelangt war, ließ die Unionsführung die Sparpläne dementieren. Die einzelnen Punkte erschienen so brisant, dass ein neues abgemildertes Papier erstellt werden musste. 797 Zwei Wochen später berieten die Fraktion und die Ministerpräsidenten der Union ihre Sparvorschläge und Forderungen und demonstrierten Einmütigkeit, 798 die allerdings nicht lange anhalten sollte, da Späth, Albrecht und Stoltenberg mit eigenen Vorschlägen an die Öffendichkeit gingen. Ministerpräsident Späth erklärte: „Wer bei uns Kooperation einfordert, der muß durch seine Vorbereitung dieser Verhandlungen den Kooperationswillen erst einmal von sich aus einbringen." Die Sozialliberalen hätten von Kooperationswillen nichts spüren lassen, da sie nicht auf Steuererhöhungen verachtet und keine zusätzlichen Einsparungen im konsumtiven Bereich eingebracht hätten. Daher forderte die Union die Einbringung eines neuen Sparkonzeptes. Die C D U / C S U hatte selbst im Vorfeld der Verhandlungen noch keine Einigkeit über ihre Strategie herstellen können. In der Union standen sich zwei Lager gegenüber. Strauß und Späth wollten sich auf einige fundamentale Änderungen des Programms konzentrieren und die Regierung auflaufen lassen, wogegen der schleswig-holsteinische Ministerpräsident den kompromissbereiten Teil der Partei repräsentierte. Die Kompromisslinie wurde durch den Umstand gestärkt,

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Wirtschaftswoche, Nr. 45/35, 30. Oktober 1981, S. 16f. Die Zeit, Nr. 39/36, 18. September 1981, S. 3. Wirtschaftswoche, Nr. 33/35, 7. August 1981, S. 14. Wirtschaftswoche, Nr. 38/35, 11. September 1981, S. I6f. Die Zeit, Nr. 39/36, 18. September 1981, S. 3.

204 dass die unionsgefuhrten Länder selbst mit massiven Haushaltsproblemen zu kämpfen hatten und sich eine Totalblockade nicht leisten konnten. 799 Das Ergebnis der Verhandlungen im Vermittlungsausschuss war ein harter Schlag fur die Genossen. Es wurde vereinbart, die Sozialhilfe nicht mehr in der Größenordnung der Teuerungsrate zu erhöhen, gleichzeitig setzte die Union durch, dass Maßnahmen, die die Unternehmen und den Mittelstand getroffen hätten, zurückgezogen wurden. Ein SPDSozialpolitiker kommentierte den Kompromiss: „Das Ergebnis ist nicht so beschissen, um die Regierung zu stürzen, aber beschissen genug, der SPD weitere Minuspunkte in der Offendichkeit einzubringen". Der Sozialexperte Eugen Glombig stimmte gegen den Kompromiss und bemerkte, man könne aus „Exkrementen kein Gold machen" 800 . Die steigende Zahl der Arbeitslosen ließ in der SPD den Ruf nach einem Beschäftigungsprogramm immer lauter werden. Am 2. September 1981 nahm Wehner an der Kabinettssitzung teil. Er kündigte an, die beschäftigungspolitische Initiative zu ergreifen, falls die Arbeitslosigkeit weiter steige. Auf der anderen Seite ließen die Liberalen erkennen, dass sie auf diese Entwicklung mit der Forderung nach Karenztagen und Kürzung der Arbeitslosenunterstützung reagieren würden. 801 Im Dezember erklärte der Kanzler, über ein Beschäftigungsprogramm könne man erst im Zusammenhang mit dem Jahreswirtschaftsbericht sprechen. Und auch Wehner ließ sich auf die Verschiebung der Diskussion ins nächste Jahr ein. In der zweiten Novemberhälfte erklärte der Fraktionsvorsitzende, dass ein Beschäftigungsprogramm bis Ende Januar kein Thema sei. Bis dahin wollte sich die Parteilinke inhaldich auf die Auseinandersetzung vorbereiten. Lambsdorff lehnte zu diesem Zeitpunkt noch den gesamten Ansatz ab, Konjunkturprogramme seien „Drogen für die Wirtschaft". 802 Unter dem Druck der Sozialdemokraten und der Gewerkschaften, die eine Ergänzungsabgabe forderten, konnte die Regierung sich dem Ruf nach konjunkturpolitischen Maßnahmen nicht länger entziehen. Da die Finanzierung durch eine Anhebung der Nettokreditaufhahme nicht in Frage kam und die FDP sich der Einführung einer Ergänzungsabgabe entgegenstellte, waren die Spielräume eng. Schließlich einigte man sich darauf, ein Beschäftigungsprogramm durch die Erhöhung der Mehrwertsteuer statt durch die Einfuhrung einer Ergänzungsabgabe zu finanzieren. Unter der Überschrift „Gemeinschaftsinitiative" beschloss das Bundeskabinett am 2. Februar ein Bündel von Maßnahmen. Die Mehrwertsteuer sollte vom 1. Juli 1983 an von 13 auf 14 Prozent erhöht und die Wirtschaft durch eine zehnprozentige Investitionszulage mit einem Gesamtvolumen von vier Mrd. D-Mark belebt werden. Die Kreditanstalt fur Wiederaufbau vergab verbilligte Kredite, um die wirtschaftliche Aktivität zu fördern. Die Arbeitsämter sollten durch geringere Rentenbeiträge für die Arbeitslosen endastet und die Rentner ab dem kommenden Jahr an ihren Gesundheitskosten beteiligt werden. Die vorzeitige Pensionierung sollte finanziell erleichtert werden. Zum ersten Januar 1984 stellte man die Senkung der Einkommenssteuer in Aussicht und die SPD musste den Freien Demokraten bei der Liberalisierung des Mietrechts entgegenkommen.803 799 800 801 802 803

Die Zeit, Nr. 49/36, 27. November 1981, S. 11. Der Spiegel, Nr. 51/35, 14. Dezember 1981, S. 31 f. Die Zeit, Nr. 6/37, 5. Februar 1982, S. 17. Wirtschaftswoche, Nr. 49/35, 27. November 1981, S. 16f. Die Zeit, Nr. 6/37, 5. Februar 1982, S. 1, S. 17.

205 Die Sozialdemokraten waren von dem Ergebnis enttäuscht und fühlten sich erneut von der FDP übervorteilt. Die Belastung aller Bürger durch die Mehrwertsteuererhöhung, insbesondere der Rentner, die Einschränkung des Mieterschutzes, bei gleichzeitiger Erhöhung der finanziellen Hilfen für die Unternehmen und die Senkung der Einkommenssteuer erzeugten Verbitterung in der Partei. Nach der letzten Kabinettsrunde über das Beschäftigungsprogramm entschloss sich der Kanzler, gemäß Artikel 68 des Grundgesetzes die Vertrauensfrage zu stellen. Am 5. Februar 1982 stimmte der Bundestag in namendicher Abstimmung über den Antrag ab. Schmidt erhielt 269 Stimmen und damit sogar drei Stimmen mehr als 1980 bei der Kanzlerwahl.804 Dieser Konsens war nur eine Scheinlösung, da die Union der Mehrwertsteuererhöhung im Bundesrat zustimmen musste. Nach vorübergehenden Meinungsverschiedenheiten einigten sich die Unionsparteien auf die Ablehnung der Mehrwertsteuer. Diese Entscheidung war nicht so einhellig getroffen worden, wie es aus Sicht der Parteiführung wünschenswert gewesen wäre. Teile der Union schienen grundsätzlich mit einem Beschäftigungsprogramm zu sympathisieren. So machte Albrecht seine Zustimmung nur von einer anderen Finanzierung abhängig, und auch Blüm begründete seine Ablehnung lediglich mit dem Argument, die Erhöhung der Mehrwertsteuer sei „unsozial". Der Mittelstandsflügel der Union lehnte hingegen die Nachfragepolitik grundsätzlich ab und Franz Josef Strauß erklärte, im konsumtiven Teil des Haushalts sei das Reservoir an möglichen Einsparungen noch lange nicht ausgeschöpft. 805 Durch die Ablehnung der Union landete die „Gemeinschaftsinitiative" im Vermittlungsausschuss und sollte dort nach den Osterferien behandelt werden. Helmut Kohl schwor unterdessen die Union darauf ein, nicht aus der Deckung zu gehen, um nicht von den Querelen in der Koalition abzulenken. Er wollte durch die Politik in der Länderkammer einen Keil zwischen Sozialdemokraten und Liberale treiben. Diese Strategie schien aufzugehen. Die Liberalen hielten sich mit ihrer Kritik an der Blockade der Union deudich zurück, wodurch der Eindruck entstand, die FDP hätte sich auf die blockierbare Mehrwertsteuererhöhung festgelegt in der Erwartung, die Union werde sie ohnehin ablehnen. Lambsdorff selbst hatte vor dem Bundestag die Steuererhöhung bedauert und erklärt, dass eine Finanzierung des Programms durch Leistungskürzungen besser gewesen wäre. 806 Auf dem Parteitag der Sozialdemokraten am 19. bis 23. April in München sprachen sich die Delegierten für ein umfangreiches Beschäftigungsprogramm aus und forderten den Verzicht auf weitere Steuersenkungsprogramme. Finanziert werden sollte das Programm nach dem Willen der Partei durch die „Inanspruchnahme des Kapitalmarktes", sprich eine höhere Neuverschuldung und höhere Steuern, etwa die Einführung einer Ergänzungsabgabe, die Erhöhung der Vermögenssteuer, den Spitzensteuer- und Körperschaftssteuersatz. Der Kanzler versuchte die Beschlüsse des Parteitages als „Denkanstöße" herunterzuspielen. Die FDP attackierte die Beschlüsse des Parteitages lautstark. Lambsdorff sprach von „sozialistischen Marterwerkzeugen", Verheugen von „Dirigismus". 807

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Jäger, Link, Republik im Wandel, Schmidt, S. 215. Wirtschaftswoche, Nr. 9/36, 26. Februar 1982, S. 21 f. Wirtschaftswoche, Nr. 12/36,19. März 1982, S. 18f. Jäger, Link, Republik im Wandel, Schmidt, S. 220.

206 Wenige Tage nach dem Parteitag nahm der Kanzler die lang erwartete Kabinettsumbildung vor. Finanzminister Matthöfer hatte sich aus gesundheitlichen Gründen eine weniger aufreibende Aufgabe gewünscht und wechselte ins Postministerium. Matthöfers Nachfolger wurde der bisherige Kanzleramtschef Manfred Lahnstein. An dessen politischer Durchsetzungskraft gab es erhebliche Zweifel, da dieser nicht Mitglied des Bundestages war und über keinen Rückhalt in der Partei verfugte, 808 anders als sein neuer Gegenspieler im Kabinett. Der Nachfolger von Arbeitsminister Ehrenberg wurde Heinz Westphal, der fünf Jahre haushaltspolitischer Sprecher seiner Fraktion war. 809

Der letzte Sanierungsversuch 1982 Eine folgenschwere Belastung der Koalition bestand darin, dass der Kanzler sich voreilig auf 26,5 Mrd. D-Mark als Obergrenze für die Neuverschuldung im nächsten Jahr festgelegt hatte. Damit war eine politische Zahl entstanden, an der die Glaubwürdigkeit des Kanzlers und vor allem seines Finanzministers hing. 810 Bereits im April tat sich im Etat 1983 ein neues Haushaltsloch von über sechs Mrd. D-Mark auf. Die Neuverschuldung in diesem Jahr würde bei über 30 Mrd. D-Mark liegen. Die Mehrkosten wurden vor allem durch die hohe Arbeitslosigkeit verursacht, die mit 1,8 Mio. um etwa 150000 über dem prognostizierten Wert lag. Hinzu kamen die Ausgaben fur Kurzarbeit und Schlechtwettergeld. Ohne Einsparungen würde die Neuverschuldung auch im nächsten Jahr in dieser Größenordnung liegen. Über den weiteren Kurs kam es zum Koalitionsstreit. Während die FDP weitere Ausgabenkürzungen verlangte, traten die Sozialdemokraten fixr Steuererhöhungen ein. Matthöfer erklärte, eine Sparoperation wie im letzten Jahr sei „weder möglich, noch nötig". Auch Schmidt wollte alles tun, um eine Neuauflage des Sommertheaters zu verhindern. Der Kanzler meinte, dass Finanzloch müsse bis zum Juli geschlossen werden, um unmittelbar vor der Hessenwahl im September Ruhe in die Finanzpolitik zu bringen. 811 Nach der Amtsübernahme durch Lahnstein wurde durch eine Erklärung des FDPParteivorstands einerseits der Druck zur Konsolidierung verstärkt, andererseits hatte Westphal erklärt, dass weitere Kürzungen im Sozialbereich nicht mehr hinnehmbar seien. 812 Die Haushaltsgespräche im Juni standen unter dem Eindruck der Vertrauenskrise. Die Medien verglichen die Situation mit dem Absprung der FDP im Jahr 1966. Die Frage der Neuverschuldung wurde somit von allen Beteiligten als „Schicksalsfrage" der Koalition erkannt. Die Sommergespräche galten als eine Art Scheideweg, entweder würde Genscher diese Gelegenheit zum Absprung nutzen oder die Koalition bis 1984 bestehen bleiben. Daher beschlossen Schmidt und Lahnstein, den Liberalen in der Frage der Neuverschuldung entgegenzukommen. 813 Die Bemühungen des Kanzlers, die Liberalen in der Koalition zu halten, wurden vom SPD-Parteivorsitzenden und dem Bundesgeschäftsfiihrer 808 809 810 811 812 813

Wirtschaftswoche, Nr. 18/36, 30. April 1982, S. 18 f. Die Zeit, Nr. 18/37, 30. April 1982, S. 15. Der Spiegel, Nr. 44/35, 26. Oktober 1981, S. 19f. Der Spiegel, Nr. 15/36, 12. April 1982, S. 17f. Die Zeit, Nr. 18/37, 30. April 1982, S. 15. Der Spiegel, Nr. 25/36, 21. Juni 1982, S. 17ff.

207 konterkariert. Glotz hatte schon im Mai gewarnt: „Die alten Geldeliten und Neokonservativen sind darauf aus, die wirtschaftliche Krise zur Umverteilung und dem Abbau von Arbeitnehmerrechten zu nutzen". 814 Sie traten für ein weiteres Beschäftigungsprogramm ein und machten davon ihre Zustimmung zu den Einsparungen abhängig. An dieser Forderung hielten sie sogar dann noch fest, als Genscher in den folgenden Gesprächen klar machte, dass ein Scheitern der Verhandlungen ein Scheitern der Regierung bedeute. Schmidt versprach Genscher nach seiner Rückkehr von der Tagung des Europäischen Rates in Brüssel, direkt mit ihm ein Konzept zur Sanierung der Staatsfinanzen und der Sozialkosten zu erarbeiten. 815 Unterdessen wuchs in der SPD der Widerstand, genährt durch die Befürchtung, dass ihr auch diesmal wie im letzten Sommer mehr zugemutet würde, als den Liberalen. Als Ergebnis dieser Entwicklung gerieten die Verhandlungen immer wieder ins Stocken und selbst Verheugen kommentierte die Einigungsmöglichkeiten zusehends skeptisch. Obwohl Brandt und die Partei sich weiterhin für mehr Investitionen aussprachen, gaben sie schließlich nach, und die Koalition einigte sich auf ein Streich- und Finanzierungskonzept: Die Arbeitslosenversicherung sollte von vier auf 4,5 Prozent erhöht und die Rentner zum 1. Januar 1983 einen Beitrag zur Rentenversicherung leisten. Beitragsfreie Zeiten sollten in geringerem Maße anerkannt und leistungswirksam werden, und die Eigenbeteiligung an der Krankenkasse wurde erhöht. Insgesamt wurde mit Mehreinnahmen von 7,8 Mrd. D-Mark gerechnet. Kürzungen bei den Subventionen sollten weitere 2,1 Mrd. D-Mark bringen. Bezüglich der Neuverschuldung wurde die Grundbedingung der Freien Demokraten erfüllt: Sie sollte von 33,8 in diesem auf 28,4 Mrd. D-Mark im nächsten Jahr gesenkt werden. Daher konnte Schmidt von einem „passablen Ergebnis" sprechen. Die SPD-Basis reagierte empört über die Kostenbeteiligung und die Erhöhung der Beiträge. Von Brandt und aus der sozialdemokratischen Fraktion verlautete, man habe dem Paket nur zugestimmt, um den Kanzler nicht zu stürzen und eine neue „Dolchstoßlegende" zu verhindern. 816 Schmidt verteidigte den Haushaltskompromiss vor der Fraktion mit der Bemerkung, dass er sich mehr „soziale Gerechtigkeit" in Form einer Ergänzungsabgabe gewünscht habe, doch sah auch er keine Möglichkeit, ein Beschäftigungsprogramm zu finanzieren, und sprach sich grundsätzlich gegen eine Erhöhung der Nettokreditaufnahme aus. Auch mit einer absoluten Mehrheit würde er eine solche Politik nicht mittragen. 817 Einen Tag nach den Beschlüssen kündigte Stoltenberg den Widerstand der Union im Bundesrat an. Die C D U / C S U setzte damit ihre „Strategie des selektiven Widerstandes" fort. Sie wollte die Steuergesetze ablehnen, ohne die Kürzungen im Sozialbereich zu stoppen, und damit das Ergebnis für die Sozialdemokraten noch unannehmbarer machen. 818

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Die Zeit, Nr. 35/37, 27. August 1982, S. 18. Der Spiegel, Nr. 26/36, 28. Juni 1982, S. 19ff. Der Spiegel, Nr. 26/36, 28. Juni 1982, S. 19ff. Zit. nach Jäger, Link, Republik im "Wandel, S. 239. Wirtschaftswoche, Nr. 28/36, 9. Juli 1982, S. 16f.

208 Schmidt zeigte sich nach den harten Auseinandersetzungen über die Eckdaten des Haushalts 1983 in einem Interview in der ersten Juliwoche zuversichtlich, dass die Koalition bis zum Jahr 1984 erhalten bliebe. Wenn die Liberalen wirklich abspringen wollten, so der Kanzler, hätten sie den Kampf um den Haushalt 1983 dazu genutzt. 819 Die sich verschlechternden Haushaltsperspektiven führten zu einem Riss in der Sozialdemokratie. Ein Teil der Partei schien unter dem Eindruck der finanzpolitischen Realitäten bereit, ihre bisherige Position zu überdenken. Mitte August signalisierte Eugen Glombig, dass man zu weiteren Einschnitten bereit sein müsse, und legte ein sechsseitiges Papier zur Reform der Sozialpolitik vor, Glotz gestand ein, dass man sich zu spät den sozialund wirtschaftspolitischen Folgen der Wirtschaftskrise gestellt habe, und wich damit von seinem bisherigen Kurs ab. 8 2 0 Dagegen plädierte Arbeitsminister Westphal dafür, die möglichen Haushaltslücken durch „das bewährte Mittel der Nettokreditaufnahme" zu schließen, und bekräftigte seine Forderung nach einem Beschäftigungsprogramm. 821 Die moderaten Ansätze der Partei gerieten angesichts des politischen Kräfteverhältnisses ins Hintertreffen. Die Haushaltsbeschlüsse lösten bei den Gewerkschaften ein unerwartet heftiges Echo aus. Der D G B zeigte sich entschlossen, den Haushaltskompromiss zu kippen. Durch die Reaktion der Gewerkschaften drohten dem Bundeskanzler seine bis dahin loyalsten Bündnispartner verloren zu gehen. Die Offensive der Gewerkschaften richtete sich nun nicht mehr nur gegen die FDP, sondern auch gegen die Sozialdemokraten. In einem Schreiben an die Bundestagsabgeordneten verurteilte der DBG-Vorsitzende Ernst Breit die Haushaltsbeschlüsse als Abkehr vom sozialen Rechtsstaat. Kurzzeitig deutete sich gar ein Bruch in den „historisch begründeten" Beziehungen zwischen den Gewerkschaften und der SPD an. Die Kritik gewann Kampagnencharakter, und der Regierung wurde ein „heißer Herbst" mit massiven Protestmaßnahmen in Aussicht gestellt. Der Kanzler versuchte sich des „Interessen-Haufens" zu erwehren, aber bald formierte sich eine Phalanx von sozialdemokratischen Landes- und Bundespolitikern gegen die Regierungsbeschlüsse. 8 2 2 Der Widerstand bei den Haushaltsberatungen im Herbst würde stärker sein als vor der Sommerpause. Der hessische Wahlkampf wurde zur Bühne der Auseinandersetzung um die Haushaltspolitik. Die Liberalen verteidigten die Sparbeschlüsse gegen die sich formierende Gewerkschaftsfront. Lambsdorff ging sogar noch weiter und stellte die Eckwerte des Haushaltskompromisses in Frage, als er die konjunkturellen Annahmen als zu optimistisch bezeichnete, was weitere Sparanstrengungen notwendig machte. Der Kanzler und die SPD hielten hingegen eine Korrektur der Daten für überflüssig. Damit setzte zwischen den Koalitionsparteien erneut der Konflikt über die Nettokreditaufnahme, die Staatsverschuldung, Steuererhöhungen und mögliche Sparmaßnahmen ein. Der Ton der Auseinandersetzung wurde zusehends gereizter. Am 5. August, ein Jahr nach dem Wendebrief, schrieb Genscher erneut an die Funktions- und Mandatsträger der Partei. Darin

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Der Spiegel, Nr. 27/36, 5. Juli 1982, S. 23 ff. Die Zeit, Nr. 35/37, 27. August 1982, S. 27. Wirtschaftswoche, Nr. 34/36, 20. August 1982, S. 24 ff. Zit. nach S. 26. Jäger, Link, Republik im Wandel, Schmidt, S. 240 f.

209 verteidigte er die Politik der Bundesregierung gegen die Kritik von Sozialdemokraten und Gewerkschaften und erklärte, dass „weitere sozial ausgewogene Schritte" zur „strukturellen Konsolidierung der öffendichen Haushalte" notwendig seien. 823 Die Konjunkturschwäche und die damit verbundenen Steuerausfälle besiegelten das Ende der sozialliberalen Koalition. In der ersten Kabinettssitzung nach der Sommerpause am 25. August kam es nicht zu der vom Regierungssprecher angekündigten Diskussion über den Zeitpunkt der Haushaltskorrekturen. Am 30. August erklärte Genscher vor dem FDP-Präsidium, dass notwendige Korrekturen am Haushalt 1983 auf der Grundlage verlässlicher Daten rechtzeitig zum Inkraftsetzten am 1. Januar 1983 beschlossen werden müssten, und setzte die Regierungsparteien damit auch zeidich unter Druck. Grundsätzlich stimmten die Liberalen mit dem Finanzminister überein, der am nächsten Tag in einer internen Besprechung die sozialdemokratischen Minister in Kenntnis setzte, dass weitere vier bis fünf Milliarden D-Mark eingespart werden müssten. Da bereits die Beschlüsse vom Sommer von SPD und Gewerkschaften als nicht mehr tragbar angesehen wurden, war fur alle Beteiligten absehbar, dass eine Einigung im Herbst nicht mehr gelingen konnte. Zur Verabschiedung des zweiten Nachtragshaushaltes bedurfte es einer neuen Bundesregierung. Es ging von nun an eher um das Wie als um das Ob des Koalitionswechsels. In der Frage des Haushalts drifteten die Koalitionspartner unaufhaltsam auseinander. Wahrend die FDP die SPD davor warnte, von den Haushaltsbeschlüssen abzuweichen, erklärte Wehner in einer vierstündigen gemeinsamen Sitzung der Fraktionsfuhrung und des DGB-Bundesvorstands am 2. September, dass Korrekturen am Haushalt im Sinne der sozialen Gerechtigkeit noch möglich seien. 824 Auch Schmidt konzentrierte sich nun stärker auf die Übereinstimmung mit seiner Partei als auf den grundsätzlich vorhandenen inhaldichen Konsens mit dem Koalitionspartner. Er war entschlossen, in der nächsten Haushaltsrunde die Ergänzungsabgabe zu fordern, was zwangsläufig zu einem Bruch der Koalition fuhren musste. In der Fraktionssitzung am 7. September forderte Schmidt die Erhaltung des Bündnisses mit den Gewerkschaften. In seinem „Bericht zur Lage der Nation" am 9. September machte Schmidt auf die Grenzen des Zumutbaren aufmerksam und bekräftigte seine Ablehnung einer „deflationistischen Finanzpolitik". Der Kanzler erklärte seine „Sympathie für eine zeidich befristete Ergänzungsabgabe zu Lasten der besser gestellten Einkommenspflichtigen" zur Finanzierung eines möglichen zusätzlichen Defizits. Schmidt verteidigte zwar die bisherigen Haushaltsentscheidungen und bekannte sich zu „langfristigen Veränderungen im sozialen Netz" und der Begrenzung der Kreditaufnahme, legte aber zugleich ein Bekenntnis zu den Gewerkschaften ab und erklärte, dass man niemandem erlauben würde, einen Keil zwischen diese und die Sozialdemokratie zu treiben. In dieser Rede trat der Kanzler mit der Forderung auf, die Opposition möge ein konstruktives Misstrauensvotum stellen. 825

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Zit. nach dies., S. 242. Dies., S. 246. Dies., S. 247.

210 Bereits am folgenden Abend trat der Koalitionskonflikt in seine letzte Phase. Lambsdorff präsentierte Schmidt die vom Kanzler angeforderten Vorschläge zur Wirtschaftspolitik unter dem Titel „Konzept fur eine Politik zur Überwindung der Wachstumsschwäche", die Lambsdorff unter Mitarbeit seines Staatssekretärs Otto Schlecht und des Leiters der Grundsatzabteilung Hans Tietmeyer erarbeitet hatte. 826 In dem Papier wurde, die Finanzpolitik betreffend, die steuerliche Entlastung von Unternehmen, finanziert durch die Mehrwertsteuer und indirekte Steuern, gefordert. Subventionen und Steuervergünstigungen sollten abgebaut und Investitionen auf Kosten des komsumtiven Teils erhöht werden. In der Kabinettssitzung am 15. September stellte der Kanzler fest, dass das Papier mit den Grundsätzen der Regierungspolitik nicht vereinbar sei. 827 Ungeachtet des sich anbahnenden Endes der Koalition verteidigten Lambsdorff wie Lahnstein den Haushaltsentwurf 1983 in der ersten Lesung im Bundestag am 15. und 16. September. 828 Der Finanzminister erklärte, bei möglichen konjunkturbedingten Mindereinnahmen sei eine Erhöhung der Nettokreditaufnahme vertretbar. Dem zusätzlichen Sparen seien bei einem Nullwachstum enge Grenzen gesetzt. Eine deflationistische Finanzpolitik dürfe es nicht geben. Allerdings müsse langfristig die Neuverschuldung hinter dem Wachstum des Bruttosozialproduktes zurückbleiben, um der Bundesbank den Spielraum fur Zinssenkungen zu verschaffen. Man müsse über Veränderungen im sozialen Netz nachdenken, es dürfe aber keine weiteren Abstriche geben, wenn nicht auch die Besserverdienenden belastet würden. 829 Am 17. September wurde der Schlussstrich unter das sozialliberale Bündnis gezogen. Die liberalen Minister verließen das Kabinett, und der Bundeskanzler sah nun sein Ziel darin, den „Verrat der F D P " zu inszenieren, ungeachtet dessen, dass er mit dem Versuch, seine eigene Partei auf die notwendige Haushaltsdisziplin einzuschwören, gescheitert war. Helmut Schmidt verabschiedete sich mit einer brillanten Rede, die noch einmal seine Position rechtfertigte und die Schuld dem Koalitionspartner anlastete, und hoffte, durch baldige Neuwahlen den Wiedereinzug der FDP in den Bundestag zu verhindern. Für die FDP wurde die erfolgreiche Regierungsbildung mit der Union zur Überlebensfrage. Die Niederlage der Liberalen in Hessen beschleunigte die Verhandlungen eher als sie aufzuhalten, zumal auch das Projekt von Strauß einer absoluten Mehrheit einen Dämpfer erhalten hatte. 830 Die Konsolidierungspolitik wurde nun zum gemeinsamen Projekt, zum „Markenzeichen" der neuen christlichliberalen Koalition, auf die Helmut Kohl so lange hingearbeitet hatte.

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Die Zeit, Nr. 37/37, 10. September 1982, S. 2. Jäger, Link, Republik im Wandel, Schmidt, S. 249. Dies., S. 250. Verhandlungen, Band 122, S. 6881 ff Jäger, Link, Republik im Wandel, Schmidt, S. 257.

211

Zusammenfassung: Von Schmidt zu Kohl Die entscheidende Bewährungsprobe fiir die sozialliberale Koalition war, wie von Schmidt vorausgesehen, die Haushaltskonsolidierung gewesen, und sie hatte sie nicht bestanden: „Die Sozialliberale Koalition ist letzdich an der Finanzpolitik gescheitert, wobei der fortgesetzte Haushaltsstreit mitsamt seinen unerfreulichen Begleitumständen, der schließlich zum Regierungswechsel führte, eher Ausdruck als Ursache des Scheiterns war." 831 Die SPD hatte sich selbst angesichts der sich verschärfenden Haushaltskrise nicht von der Vorstellung verabschieden können, dass die Ausweitung der Kreditaufnahme ein legitimes, ja notwendiges Mittel zur Steuerung wirtschaftlichen Wachstums darstelle. „Der Glaube, daß es im technokratischen Sinne grundsätzlich möglich sei, mit den Mitteln der Finanzpolitik in einer sich schmerzhaft verändernden Welt eine ununterbrochene wirtschaftliche und soziale Aufwärtsbewegung bei Vollbeschäftigung zu sichern, hatte zunächst die Rücktritte von zwei Finanzministern und zwei Ölkrisen überlebt. Er besitzt im nachhinein fast mythische Qualität und ist wohl nur aus der spezifischen Bewusstseinslage der fünfziger und sechziger Jahre erklärbar." 832 In den siebziger Jahren vollzog sich ein Bruch, der nicht nur einen neuen Rahmen fur die Wirtschafts-, Finanz-, Sozial- und Gesellschaftspolitik setzte, sondern auch den Status der Politik dauerhaft veränderte. Die Politik konnte nicht mehr länger aus dem Vollen schöpfen und musste die Bürger in ihren Erwartungen, die die Parteien selbst geschürt hatten, enttäuschen. Die Zeit schrieb am 26. September 1980 über die vergangene politische Dekade: „Drängte zu Beginn der siebziger Jahre noch alles zur Politik und erwartete Wunderdinge von ihr, so herrschen heute Politik- und Parteienverdrossenheit." Helmut Kohl erklärte auf dem CDU-Parteitag in Berlin mit einem Gespür fur die Stimmung im Land: „Vor zehn Jahren herrschte Aufbruchstimmung, die Kassen waren voll, die Vollbeschäftigung war gesichert, es ging aufwärts, die Menschen hatten Vertrauen in ihren Staat, sie sahen optimistischer in die Zukunft." Nun sei „die Gesellschaft anonymer, der Staat bürokratischer, seinen Bürgern fremder geworden." 833 In den siebziger Jahren scheiterte ein großes Experiment. Es war die Vorstellung, dass die Wirtschaft und die Gesellschaft planbar seien. Die großen Pläne waren abhängig von der Zuverlässigkeit der Prognosen. Der Verlauf der siebziger Jahre enttäuschte jedoch die Erwartungen in die Prognostizierbarkeit der Zukunft ebenso wie in ihre Planbarkeit. Die Zukunft war nicht vorausberechenbar, zu mal bei vielen Prognosen der politische Wunsch Vater des Gedankens war. Um so optimistischer die Prognose, um so mehr Verteilung ließ sich rechtfertigen. Dies zeigte die Auseinandersetzung um die Rentenreform 1972. Die Folgen zu optimistischer Prognosen zeigten sich in den folgenden Jahren.

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Thilo Sarrazin, Die Finanzpolitik des Bundes 1 9 7 0 - 1 9 8 2 , in Kämpfer ohne Pathos, Festschrift für Hans Matthöfer zum 60. Geburtstag am 25. September 1985, hrsg. von Helmut Schmidt, u.a., Bonn 1985, S. 195. Ders., S. 195. Die Zeit, Nr.40/35, 26. September 1980, S. 33 ff.

212 Schmidts Wirtschaftspolitik war im Großen und Ganzen ein Fehlschlag, auch wenn er sie der Offendichkeit als gutes Krisenmanagement darstellen konnte. Es gibt keinen erhärteten Beleg dafür, dass sich ohne Weltwirtschaftsgipfel und Konjunkturprogramme die Gesamdage am Ende der siebziger Jahre wesendich anders dargestellt hätte, als sie es tat. Schmidts Leistung lag vor allem im Bereich der Psychologie. Dies wirkte Radikalisierungstendenzen entgegen und diente der politischen Stabilität in der Bundesrepublik. Diese psychologische Stabilität wurde aber teuer erkauft. Die Schuldenlast lag Ende der siebziger Jahre höher als sie ohne die teuren Konjunkturprogramme der Bundesregierung gelegen hätte. Die Fiktion vom starken Staat ließ sich nur durch die Inkaufnahme hoher Defizite aufrecht erhalten. Die Entwicklung der siebziger Jahre zeigt nämlich auch, dass es für die Bürger eine Grenze der Zumutbarkeit gibt. Die Reformrhetorik zielte auf eine Anhebung des Staatsanteils, um die versprochenen Reformen zu finanzieren. Die Anhebung der Belastung durch Steuern und Abgaben erreichte aber einen Punkt, ab dem eine weitere Ausdehnung des Staatsanteils politisch nicht mehr durchsetzbar war. Ab diesem Punkt wurden Steuersenkungen zum zentralen Thema und damit die sozialdemokratische Gesellschaftspolitik ein Papiertiger. Zwischen Neuverschuldung und der Forderung nach Steuersenkungen eingekeilt, hatte sie nicht mehr viel zu bieten. Die neue Bundesregierung trat das finanzpolitische Erbe von zwölf Jahren sozialliberaler Koalition an, das einer der Koalitionspartner wenigstens zum Teil mit zu verantworten hatte. Die direkten Leistungen des Sozialstaates an die Bürger hatten von etwas über 130 Mrd. D-Mark im Jahr 1969 auf über 400 Mrd. D-Mark 1980 zugenommen, ihr prozentualer Anteil am BSP war von unter 26 Prozent auf über 30 Prozent gewachsen. In den Jahren zwischen 1970 und 1975 lag die Wachstumsrate der Sozialausgaben durchgehend zwischen zwölf und 14 Prozent. In den folgenden Jahren der Regierung Schmidt wurden diese Zuwächse etwa halbiert und schließlich auf unter sechs Prozent gebracht.834 Das war auch dringend nötig, da im selben Maße auch die Einnahmezuwächse des Bundes zurückgingen. Die Ausgaben des Bundes stiegen vom Beginn der Koalition bis 1982 auf das 3,22-Fache, wohingegen sich die Einnahmen um das 2,61-Fache multiplizierten.835 Insgesamt waren die Schulden des Bundes von 49 auf 309 Mrd. D-Mark am Ende der Ära Schmidt angewachsen, was einer Steigerung von 531 Prozent entspricht.836 Hatte der Bund nach den wirtschaftlich durchaus schwierigen Jahren der Großen Koalition 1969 noch einen leichten Haushaltsüberschuss von knapp 1,2 Milliarden D-Mark aufzuweisen, wies der Haushalt Anfang der siebziger Jahre kleinere Defizite auf und war ab 1975 in ein zweistelliges Defizit gerutscht, das bis zum Beginn der Wirtschaftskrise zwischen 20 und 30 Mrd. D-Mark pendelte.837 Damit einhergehend, stieg die Belastung des Bundeshaushalts durch die Zinsen. Nach dem Finanzplan von 1982 betrug der Schuldendienst für dieses Jahr 23,4 Mrd. D-Mark und würde bis zur Mitte des Jahrzehntes auf über 30 Mrd. 834

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Harald Scherf, Enttäuschte Hoffnungen - Vergebene Chancen. Die Wirtschaftspolitik der SozialLiberalen Koalition 1 9 6 9 - 1 9 8 2 , Göttingen 1986, S. 87. Ders., S. 102. Ders., S. 98. Ders., S. 98.

213 D-Mark ansteigen. 838 Pikanterweise wurde die Zinslast erst von der neuen Regierung im Finanzplan als eigener finanzieller Aufgabenbereich ausgewiesen, wogegen er bis dahin unter dem Titel „Sonstige Bereiche" eingeordnet war. 839 Im letzten Jahr hatte das Defizit fast 38 Mrd. D-Mark betragen, und dieses Jahr würde es voraussichtlich weit darüber liegen. Die Regierung Schmidt hatte sich immer wieder auf die günstigen Vergleichsdaten gegenüber anderen wesdichen Industrieländern berufen. Deutschland hatte in der Zeit der großen Ausweitung der Nettokreditaufnahme in den Jahren nach der Ölkrise seine Kreditaufnahme zwar fast doppelt so stark gesteigert wie die USA, aber nur halb so stark wie Italien, und Japans Staatsverschuldung war fast dreimal so stark gewachsen. 840 Die Zahlenvergleiche der Regierung hatten die Koalition nicht vor dem Vertrauensverlust bewahrt und verminderten erst recht nicht den Druck auf die neue Koalition, die aktuellen Probleme zu bewältigen, da sich ihre Wirtschafts- und Finanzpolitik an anderen Leidinien orientieren wollte. Im Sommer 1982 hatte sich die Finanzlage rapide verschlechtert. Das Wachstum des Steueraufkommens hatte sich nach der Jahresmitte wegen der nachlassenden Wirtschaftstätigkeit deudich verlangsamt. Die negative Arbeitsmarktentwicklung, die sinkende Zahl der Beschäftigten, der Rückgang der Arbeitszeit durch Kurzarbeit und die geringen Verdienststeigerungen durch moderate Tarifabschlüsse hatten deudichen Einfluss auf die Entwicklung des Lohnsteuerertrages. Die kräftigen Erhöhungen der Steuern auf Tabak, Branntwein und Schaumwein brachten nicht die erhofften Mehreinnahmen, und die Zuwächse der Umsatzsteuer schwächten sich deudich ab. 8 4 1 Die Haushaltssanierung wurde zum zentralen Politikfeld der neuen Bundesregierung und Kohls Finanzminister Stoltenberg zur stärken Figur im neuen christlich-liberalen Kabinett.

Das „Notprogramm" der neuen CDU/CSU-FDP-Koalition Am 21. September 1982 trug Stoltenberg die neuen Zahlen des Bundeshaushalts der CDU/CSU-Fraktion vor. Der anwesende Strauß sprach sich aufgrund der gravierenden Verschlechterung der Lage für ein Notprogramm aus. 8 4 2 Stoltenberg nahm den Begriff auf und bezeichnete öffendich die Haushaltspolitik bis zur Wahl als ein „Notprogramm, weil wir uns in einer Notsituation befinden" 843 . Bei den Koalitionsvereinbarungen kamen C D U / C S U und FDP überein, die Neuaufstellung des Bundeshaushaltes im Dezember 1982 zu verabschieden. 844

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Finanzplan 1982 bis 1986, Bonn 1982, S. 38. Vgl. Finanzpläne 1982 und 1983 ff. Manfred Piel; Diethard B. Simmert, Staatsverschuldung. Schicksalsfrage der Nation?, Köln 1981, S. 32. Monatsberichte Dezember 1982, S. 20 ff. Helmut Kohl, Erinnerungen 1930 bis 1982, München 2004, S. 635. Wirtschaftswoche, Nr. 39/36, 18. September 1981, S. 18. Archiv der Gegenwart, S. 26013.

214 Stoltenberg als designierter Finanzminister verhinderte, wann immer möglich, Fesdegungen im Ausgabenbereich. Als Manfred Wörner versuchte, den Satz: „Sicherheit ist nicht zum Nulltarif zu haben" in die Koalitionsvereinbarung einzubringen, wurde das von Stoltenberg verhindert, um nicht den Anspruch auf eine Erhöhung der Verteidigungsausgaben festzuschreiben. 84 ' Die Koalitionsvereinbarung sah neben Kürzungen auf der Ausgabenseite auch Verbesserungen der Einnahmenseite vor. Um die Einnahmen zu erhöhen, wurde die Mehrwertsteuer erhöht. Man einigte sich auf die Erhöhung der Mehrwertsteuer zum 1. Juli 1983 um ein Prozent auf 14 Prozent. Stoltenberg hatte die Mehrwertsteuererhöhung noch im April als sozialpolitisch ärgerlich und ökonomisch schädlich abgelehnt, 846 und in der FDP-Fraktion kam es zu einer Diskussion darüber, was aus der Forderung der Liberalen geworden sei, die Mehrwertsteuererhöhung nur zur Absenkung der Progressionswirkung zu verwenden. 847 Zur Reduzierung der Ausgaben wurden folgende Maßnahmen getroffen: Die Rentenanpassung sollte auf den 1. Juli 1983 verschoben werden. Die Eigenbeteiligung der Versicherten für den Krankenhausaufenthalt wurde erweitert und das Kindergeld gekürzt, das Schüler-Bafbg nur noch in besonderen Fällen gezahlt und das Studenten-Bafog lediglich als Darlehen gewährt. 848 Blüms Arbeitsministerium war erleichtert, immerhin die Forderungen der FDP nach Karenztagen, die Streichung des Mutterschaftsgeldes und die Einschränkung des Arbeitslosengeldes verhindert zu haben. 849 Das Programm sah auch eine Regelung vor, die vor allem der politischen Optik dienen sollte, aber noch rechtliche Schwierigkeiten nach sich zog: Steuerpflichtige mit einem Einkommen von über 50000 D-Mark bei Ledigen und von über 100000 D-Mark bei Verheirateten sollten 1983 und 1984 eine obligatorische Anleihe von fünf Prozent ihrer Steuerschuld an den Staat zahlen. 8 ' 0 Die Einfuhrung der Ergänzungsabgabe war von der SPD immer befürwortet, von der FDP hingegen abgelehnt worden. Diese Abgabe war in den Koalitionsverhandlungen von der Union wieder in die Diskussion gebracht worden, um bei allen Kürzungen ein Zeichen der sozialen Symmetrie zu setzen. Heiner Geißler hatte sich in den Sitzungen nach dem 18. September immer wieder für einen finanziellen Beitrag der „Besserverdienenden" ausgesprochen und fand mit dieser Forderung die überwiegende Zustimmung seiner Partei. 851 Stoltenberg erklärte vor den TV-Kameras: „Es bleibt zu prüfen, ob man die notwendigen Verbesserungen der Rahmenbedingungen (...) und die unvermeidliche Kürzung der Leistungsgesetze verbinden kann mit einer Beteiligung der mittleren und höheren Einkommensgruppen an der Aufgabe der Sanierung". 852 Um das Gesicht der FDP zu waren, die der Union nicht einräumen wollte, was sie der SPD verweigert hatte, setzte Lambsdorff die Rückzahlbarkeit der Abgabe nach drei Jahren an die Betroffenen durch. Daraus ergaben sich verfassungsrechdiche Schwierigkeiten. Während nach außen hin die Vertreter der Regierung die von ihren

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Der Spiegel, Nr. 42/36, 18. Oktober 1982, S. 17 ff. Wirtschaftswoche, Nr. 40/36, 1. Oktober 1982, S. 20 f. Der Spiegel, Nr. 40/36, 4. Oktober 1982, S. 22 ff. Archiv der Gegenwart, S. 26013. Der Spiegel, Nr. 4 0 / 3 6 , 4 . Oktober 1982, S. 22 ff. Archiv der Gegenwart, S. 26013. Gerhard Stoltenberg, Wendepunkte. Stationen deutscher Politik 1947 bis 1990, Berlin 1997, S. 282. Zit. nach Wirtschaftswoche, Nr. 39/36, 18. September 1982, S. 18.

215 Gegnern als „Zwangsanleihe" denunzierte Investitionshilfezulage als verfassungsrechtlich einwandfrei verteidigten, schickte Justizminister Engelhard einen Brief an Stoltenberg mit einem Durchschlag an den Kanzler und den Innenminister, in dem er von einem „nicht unerheblichen Restrisiko" sprach.853 Am 1. Oktober 1982 wurde Helmut Kohl mit den Stimmen von CDU/CSU und FDP in der Abstimmung über das konstruktive Misstrauensvotum nach Artikel 67 des Grundgesetzes zum Kanzler gewählt. 854 Drei Tage später ernannte Bundespräsident Carstens die Minister der neuen Bundesregierung.855 Die wichtigsten Personalien fur die Wirtschaftspolitik waren die Wiederernennung von Lambsdorff zum Wirtschafts-, die Ernennung von Norbert Blüm zum Sozial- und vor allem von Gerhard Stoltenberg zum Finanzminister. Diese drei Personen bestimmten von nun an die erste Phase der neuen Finanz-, Sozial- und Wirtschaftspolitik. Nach dem Machtwechsel in Bonn sollten nach dem Willen der Unionsfuhrung in den Ministerien vorerst nur wenige Beamte ausgewechselt werden. Im Finanzministerium wollte Stoltenberg frühestens nach der Bundestagswahl weitergehende personelle Veränderungen durchführen. 856 Doch bereits im November gab er den Forderungen aus der Fraktion nach und nahm Umbesetzungen bis zu den von Ministerialräten geleiteten Referaten vor. Die Liegenschaftsabteilung entwickelte sich in der Folge zu einer Art „Personalparkplatz" fur sozialdemokratische Beamte. Der bisherige Leiter der mächtigen Haushaltsabteilung Eberhard Hubrich musste an ihre Spitze treten.857 Erst Ende der achtziger Jahre verließ mit Hubrich der letzte Sozialdemokrat die Leitungsebene des Ministeriums. 858 Im Ministerium schuf sich Stoltenberg mit den beamteten Staatssekretären Hans Tietmeyer und Günter Obert und den parlamentarischen Staatssekretären Hansjörg Häfele und Friedrich Voss ein eingespieltes Team, das die Kernmannschaft der Konsolidierungspolitik bildete. 859 Darüber hinaus sammelte der Finanzminister in den kommenden Jahren einen informellen Beraterkreis um seine Person, mit denen sich Stoltenberg regelmäßig in seinem Haus in Kiel traf. Zu diesem Kreis gehörte der Chef des Kieler Instituts ftir Weltwirtschaft Prof. Herbert Giersch, der Chef der Landeszentralbank von Schleswig-Holstein Johann Baptist Schöllhorn, früherer Staatssekretär bei Karl Schiller, und die Unternehmer Tyll Necker und Klaus Murmann. 860 Von der Ministervereidigung am 4. Oktober 1982 bis zur Regierungserklärung am 13. Oktober blieben der neuen Regierung nur noch acht Tage zur Neufassung des Haushalts und zur Ausarbeitung investitionsfbrdernder Maßnahmen, die die Uberwindung der Wirtschaftskrise beschleunigen sollten. Stoltenberg bemühte sich in dieser Phase, seine

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Der Spiegel, Nr. 47/36, 22. November 1982, S. 29 f. Kohl erhielt 2 5 6 der 4 9 5 gültig abgegebenen Stimmen, 2 3 5 stimmten gegen ihn und vier Abgeordnete enthielten sich. Archiv der Gegenwart, S. 2 6 0 2 1 . Die Zeit, Nr. 41/37, 8. Oktober 1982, S. 18. Die Zeit, Nr. 46/37, 12. November 1982, S. 26. Die Zeit, Nr. 52/43, 23. Dezember 1982, S. 18 Stoltenberg, Wendepunkte, S. 2 8 1 . Die Zeit, Nr. 13/39, 23. März 1984, S. 25.

216 Politik eng mit der Bundesbank und dem Sachverständigenrat abzustimmen. 861 Noch die alte Regierung hatte am 8. September ein Sondergutachten des Sachverständigenrates zur wirtschaftlichen Lage erbeten. 862 Das Gutachten kam gerade rechtzeitig, um die Grundlinie der neuen Regierung zu bestätigen und Orientierungspunkte fur die künftige Sanierungspolitik zu bieten. Die „fünf Weisen" forderten die Intensivierung der Konsolidierungspolitik, einhergehend mit der Erhöhung der investiven Ausgaben. Die volkswirtschaftliche Steuerquote dürfe nicht dauerhaft steigen und direkte Steuerbelastungen sollten auf indirekte Steuerbelastungen verlagert, der Progressionsverlauf des Tarifsystems korrigiert werden. Notwendig sei auch eine Vereinfachung des Steuersystems, verbunden mit dem Abbau der Steuersubventionen. 863 Stoltenbergs Plan sah vor, die Investitionskraft der Unternehmen mit Mitteln aus der für Mitte 1983 geplanten Mehrwertsteuererhöhung zu stärken und mit der Zusatzabgabe zusätzliche Wohnungsbauprogramme zu finanzieren. Durch die Streichungen im Sozialetat, bei den Renten und dem Schüler-BAföG wollte Stoltenberg ebenfalls mehr Spielraum fur zusätzliche Investitionen schaffen. 864 In einem Interview rechtfertigte Stoltenberg die Erhöhungen auf der Einnahmeseite, indem er zwischen dem Sofortprogramm und den Absichtserklärungen mit mittelfristiger Perspektive vor der Regierungsübernahme unterschied. Durch die zweite Stufe der Mehrwertsteuererhöhung könne die gewerbliche Wirtschaft stärker endastet werden und die Investitionshilfeabgabe könne ein Investitionsvolumen von bis zu zehn Mrd. D-Mark auslösen. Gegenüber der Möglichkeit von Steuersenkungen äußerte sich der Finanzminister im selben Interview zurückhaltend. Eine Steuerreform müsse mindestens zehn Mrd. D-Mark umfassen, damit sie für den Bürger spürbar sei. Stoltenberg sah die Priorität in der Verringerung der Nettokreditaufnahme, und die Rückführung der Gesamtschulden müsse ein mittelfristiges Ziel sein. 865 Am Mittwoch, dem 27. Oktober 1982 sprach Stoltenberg zum ersten Mal in seiner neuen Funktion als Minister vor dem Haushaltsausschuss. Das Thema war der fällige Nachtragshaushalt und der Haushalt für 1983. Stoltenberg hatte die Pressekonferenz auf Donnerstagvormittag verschoben, um die Ergebnisse der Kabinettssitzung zuerst dem Haushaltsausschuss mitzuteilen, und versprach, im Gegensatz zur Vorgängerregierung, dies auch zukünftig so zu halten. 866 Stoltenberg unterstrich, dass sich die Prognosedaten drastisch verschlechtert hätten und stellte fest, dass die in den Koalitionsvereinbarungen getroffenen Maßnahmen von der Regierung als praktikabel angesehen und in dieser Form umgesetzt würden. 867 Als nicht umsetzbar hatte sich lediglich der Umfang der Kürzung des Zuschusses zur Rentenversicherung erwiesen. Die Risiken für den Haushalt lägen vor allem in den internationalen Faktoren und bei den Subventionen im Bereich von Kohle und Stahl. 868 861 862 863 864 865 866 867 868

FAZ, Nr. 233/1982, S. 2. Jäger, Link, Republik im Wandel, Schmidt, S. 246. Die Zeit, Nr. 42/37, 15. Oktober 1982, S. 26. Der Spiegel, Nr. 42/36, 18. Oktober 1982, S. 17ff. Die Zeit, Nr. 49/37, 3. Dezember 1982, S. 23. Kurzprotokolle des Haushaltsausschußes, 56. Sitzung, 9. Wahlperiode, S. 47. Haushaltsausschuß, 56, 9 W p . , S . 51. Haushaltsausschuß, 56, 9 W p . , S . 59 ff.

217 Zwei Wochen später erklärte Stoltenberg in seiner Rede zur Einbringung des Nachtragshaushalts, man stelle den Haushalt auf die „realistischere, schlechtere Grundlage". Im Bundeshaushalt sei ein untragbares strukturelles Defizit entstanden, verbunden mit einer steigenden Nettokreditaufnahme. Das Leistungsvermögen und der Anspruch an den Staat klafften zu weit auseinander. Die Ergebnisse der Konsolidierungsbemühungen der alten Regierung seien unzureichend. Allein das Zinsvolumen fur das nächste Jahr sei so groß wie der Haushalt für Entwicklungshilfe, Wohnungsbau, Bildung und Wissenschaft zusammen. Die anstehenden Beschlüsse seien nur eine Ubergangslösung und der Minister kündigte weitere Sparanstrengungen an. Der Haushaltszuwachs müsse in Zukunft hinter dem Wachstum des Bruttosozialproduktes zurückbleiben und im Haushalt zukunftsfbrdernde Ausgaben Vorrang erhalten. Den von der Opposition vorgebrachten Vorwurf des „Kaputtsparens" wies Stoltenberg unter Hinweis auf die investitionsfordernden Ausgaben zurück. 869 Am 15. und 16. Dezember 1982 verabschiedete der Bundestag mit den Stimmen der Koalition den zweiten Nachtragshaushalt fur dieses Jahr, das Haushaltsgesetz 1983 und die Haushaltsbegleitgesetze. Am Tag darauf stimmte auch der Bundesrat den Beschlüssen der Regierung zu. 870 Stoltenberg hatte frühzeitig in seiner Rede zur Regierungserklärung jede Verantwortung fur den Haushalt 1982 abgelehnt. Die Regierung könne nur noch vollziehen, was ihre Vorgänger beschlossen hätten. 80 Tage vor Ablauf des Jahres hätte die neue Regierung keine Einwirkungsmöglichkeiten mehr.871 Der zweite Nachtragshaushalt fur 1982 umfasste 6,04 Mrd. D-Mark und wurde ausschließlich durch Kredite finanziert, wodurch sich die Nettokreditaufnahme in diesem Jahr auf die Rekordhöhe von 39, 9 Mrd. D-Mark vergrößert hätte, 872 wenn nicht vor Ablauf des Jahres positive Wirtschaftsentwicklungen der Sanierung zugute gekommen wären. Aber selbst dieser Wert wäre ohne diese unerwartete Entwicklung nur einem finanziellen Glücksfall zu verdanken gewesen. Nach dem Text des Bundesbankgesetzes mussten 20 Prozent des Gewinns als Rücklage eingestellt werden, der Rest sollte an die Bundeskasse abgeführt werden. 873 Seit Beginn der achtziger Jahre wuchs der Gewinn auf zweistellige Milliardenbeträge. 1981 hatte die Bundesbank 1,7 Mrd. D-Mark und im darauf folgenden Jahr bereits 6,1 Mrd. D-Mark an den Bund abfuhren können. 874 Ohne die Einstellung des Bundesbankgewinnes von 10,5 Mrd. D-Mark in diesem Jahr wäre die Neuverschuldung nach der Planung im Herbst auf über 50 Mrd. D-Mark gestiegen. Der Anstieg des Dollar hatte seine Ursache in der Inflationsbekämpfung des amerikanischen Notenbankpräsidenten und der Verbesserung des amerikanischen Außenhandels seit 1981. Die D-Mark hatte hingegen gegenüber dem Dollar in den letzten drei Jahren etwa 30 Prozent ihres Wertes eingebüßt. Trotz dieser langfristig erkennbaren Tendenz verliefen die Schwankungen des Dollar selbst fur Analys-

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Verhandlungen, Band 122, S. 7658fF. Archiv der Gegenwart, S. 26241 f. Verhandlungen, Band 122, S. 7274 ff. Archiv der Gegenwart, S. 26083. Wirtschaftswoche, Nr. 45/35, 30. Oktober 1981, S. 19f. Dietrich Dickermann, Bundesbankgewinn: Mit zweckgebundener Verwendung im Bundeshaushalt, Trier 1989, S. 5 a.

218 ten immer unvorhersehbarer.875 Stoltenberg hatte die Einstellung des Bundesbankgewinnes deshalb und wegen ihrer inflationsfördernden Wirkung immer als unseriös abgelehnt und die Regierung für die Nutzung des Gewinnes kritisiert. 876 Doch nun blieb ihm keine andere Wahl. Er machte deudich, dass er die Finanzierung des Haushalts mit Einnahmen der Bundesbank nach wie vor fur falsch hielt. Es sei aber nicht möglich, die Grundstruktur des Haushaltes innerhalb kürzester Zeit zu korrigieren, sondern die Einstellung müsse in mehreren Schritten zurückgeführt werden. 877 Nach der neuesten Steuerschätzung vom Oktober 1982 ergaben sich Steuerausfälle von 5,4 Mrd. D-Mark. 8 7 8 Ein zusätzlicher, ausgabensteigernder Posten war der kostenaufwendige Kompromiss mit den Bundesländern, 879 auf den sich Stoltenberg sich einlassen musste, da er als Finanzminister nicht jene Forderungen der Unionsministerpräsidenten ablehnen konnte, die er selbst noch als Ministerpräsident von Schleswig-Holstein im Bundesrat verteidigt hatte. Späth hatte diesen Umstand gegenüber Stoltenberg untermauert: „Unter fair würden wir verstehen, was Sie bisher mit uns vertreten haben." Der Bund verzichtete rückwirkend für 1982 auf die „Kindergeldmilliarde" und stimmte der Anhebung des Länderanteils an der Mehrwertsteuer zu. 8 8 0 Die Länder hatten sich 1981 zur Mitfinanzierung der Kindergelderhöhung bereit erklärt. Nachdem die alte Regierung im Rahmen der Sanierungsbemühungen das Kindergeld gekürzt hatte, forderten die Länder die Abschaffung ihrer Beteiligung. 881 Die Ergänzungszuweisungen des Bundes an die finanzschwachen Länder von 1,5 Mrd. D-Mark wurden nicht gekürzt, und auch Gemeinschaftsprojekte von Bund und Ländern sollten vor Einschnitten bewahrt werden. Der Kompromiss belastete den Haushalt 1982 mit einer weiteren Milliarde D-Mark und im darauf folgenden Jahr mit 2 Mrd. D-Mark. 8 8 2 Hinzu kamen noch kleinere zusätzliche Ausgaben für die Reaktorprojekte in Kalkar und Schmehausen und die Arbeitslosenhilfe.883 Der Etatentwurf für 1983 sah gegenüber 1982 eine Steigerung von 2,9 Prozent auf243,8 Mrd. D-Mark vor. Der vorgelegte Haushalt orientierte sich weitgehend an der Vorlage der sozialliberalen Koalition. Die Haushaltskorrektur und somit die Sanierungsleistung der neuen Regierung bestand in zusätzlichen Einsparungen von 5,62 Mrd. D-Mark. Die Einsparungen im Etat entfielen auf die Bundesanstalt für Arbeit mit 1,2 Mrd. D-Mark, das Kindergeld wurde nach der Einigung zwischen Stoltenberg und Geißler um 980 Mio. D-Mark gekürzt, der öffentliche Dienst sollte mit 750 Mio. D-Mark weniger auskommen. Die Subventionen wurden um 500 Mio. D-Mark zurückgeführt, die Globaleinsparung konsumtiver Ausgaben brachte 450 Mio. D-Mark und die Kürzung des BAföG und des Bundeszuschusses an die Rente jeweils 200 Mio. D-Mark, die Einschränkung der Sprachförderung für Asylbewerber und Aussiedler 100 Mio. D-Mark, 60 Mio. D-Mark 875 876 877 878 879 880 881 882 883

Die Zeit, Nr. 42/37, 15. Oktober Wirtschaftswoche, Nr. 45/35, 30. FAZ, Nr. 233/1982, S. 2. Archiv der Gegenwart, S. 26083. Archiv der Gegenwart, S. 26083. Wirtschaftswoche, Nr. 42/36, 15. FAZ, Nr. 234/1982, S. 2. Wirtschaftswoche, Nr. 42/37, 15. Archiv der Gegenwart, S. 26083.

1982, S. 25. Oktober 1981, S. 19f.

Oktober 1982, S. 20ff. Oktober 1981, S. 20ff.

219 die Einsparungen beim Wohngeld, die übrigen kleineren Sparposten zusammen 740 Mio. D-Mark. 8 8 4 Die Regierung entschied sich dafür, die Mittelfristige Finanzplanung und die Pläne zur Steuersenkung erst nach der Bundestagswahl bekannt zu geben. 885 Die Begleitgesetze betrafen vor allem Einschnitte im Bereich der sozialen Leistungen. Auch in diesem Bereich der finanziellen Sanierung legte die Regierung ein enormes Tempo vor. Noch bevor die Beschlüsse in den Bundestag eingebracht wurden und sich die Abgeordneten informieren konnten, hatte Stoltenberg die genauen Fesdegungen in einer Presseerklärung bekannt gegeben. Blüm hatte in den Verhandlungen erhebliche Zugeständnisse machen müssen. Einer seiner Kabinettskollegen hatte den Verlauf der Kabinettsdiskussion kommentiert, Blüm habe sich selbst „auf die Schlachtbank gelegt". 886 Die Beiträge für die Arbeitslosenversicherung wurden zum ersten Januar um 0,6 auf 4,6 Prozent erhöht, die Auszahlungen von der Dauer der Beitragsleistung abhängig gemacht und die bisherigen Fördermaßnahmen zur beruflichen Rehabilitation gekürzt. Die Erhöhung des Rentenversicherungsbeitrages von 18 auf 18,5 Prozent wurde vom 1. Januar 1984 auf den 1. September 1983 vorgezogen, und ab dem 1. Juli 1983 mussten sich die Rentner mit einem Prozent an den Kosten der Krankenversicherung beteiligen. Die Arbeitslosenversicherung wurde erheblich endastet, indem die Rentenbeiträge für Arbeitslose, Kurzarbeiter und Schlechtwettergeldempfänger gekürzt wurden. Das hatte neben der direkten Endastung zur Folge, dass diese geringere Ansprüche auf den späteren Rentenbezug erwarben, und die Verschiebung der Rentenanpassung führte insgesamt zu einer Verlangsamung ihres Anstiegs. Auf der anderen Seite bedeutete die Regelung, die Kürzung der Rentenbeiträge für Arbeitslose und Unterbeschäftigte, natürlich geringere Einnahmen für die Rentenkasse. Dieser Einnahmeverlust wurde durch die höhere Selbstbeteiligung der Beitragszahler bei der Krankenversicherung kompensiert, was die Ausgaben der Krankenversicherungen reduzierte. Diese Einsparung wurde wiederum an die Rentenkasse weitergegeben. Der pauschale Beitrag der Rentenkasse an die Krankenversicherungen wurde von 11,8 Prozent um einen halben Prozentpunkt gesenkt und so konnte durch die Selbstbeteiligung der Krankenversicherten die Rentenversicherung entlastet werden. 887 Dies sollte nicht die letzte Umverteilung zwischen den Sozialsystemen bleiben, wenn auch Blüm in Zukunft immer wieder betonte, dass die Sozialversicherung kein „Verschiebebahnhof' sei. 888 Durch diese Umverteilung zwischen den Sozialversicherungen, die zusätzlichen Belastungen der Beitragszahler und die Kürzungen der Leistungen konnten Einnahmen und Ausgaben erst einmal wieder ein Gleichgewicht gebracht werden. Die ZEIT, die zwar den Haushalt als „Anfang der Halbheiten" bezeichnete, musste der Regierung eine „gewisse Umorientierung" zugestehen, zu der die alte Regierung nicht mehr in der Lage gewesen sei. 889 884 885 886 887

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Archiv der Gegenwart, S. 26083. Wirtschaftswoche, Nr. 51;52/36, 17. Dezember 1982, S. 10 ff. Der Spiegel, Nr. 46/36, 15. November 1983, S. 29ff. Der Spiegel, Nr. 43/36, 25. Oktober 1982, S. 29 f.; Der Spiegel, Nr. 46/36, 15. November 1983, S. 29 ff. Zit. nach Der Spiegel, Nr. 28/40, 7. Juli 1986, S. 32. Die Zeit, Nr. 44/37, 29. Oktober 1982, S. 1.

220 Der neuen Bundesregierung kam eine Verbesserung des wirtschaftlichen Klimas zugute. Zwischen November 1982 und März 1983 fand eine konjunkturelle Umkehrbewegung statt. Das gemessene Geschäftsklima verbesserte sich im November deudich, nachdem es sich zwischen August und Oktober 1982 stabilisiert hatte. Im März folgte eine wesentlich bessere Produktionsauslastung. Der nun einsetzende Konjunkturaufschwung sollte von ungewöhnlich langer Dauer sein und von 1982 bis 1992, fast über ein Jahrzehnt hinweg, also den gesamten hier beschriebenen Zeitraum, die Wirtschaft positiv stimulieren. 890 Das Haushaltsjahr 1982 schloss daher besser ab als erwartet. Wahrend das Steueraufkommen nur leicht gestiegen war, musste eine Reihe von Einzelansätzen im Haushalt, wie die Zuschüsse für die Bundesanstalt für Arbeit, die Zinsausgaben, das Kindergeld und die Sparprämien, nicht voll ausgeschöpft werden. 891 Die Finanzierung des Defizits wurde außerdem durch eine verbesserte Lage auf den Kapitalmärkten erleichtert.892 Stoltenbergs Parlamentarischer Staatssekretär Voss konnte am 9. Februar vor dem Haushaltsausschuss bestätigen, dass die Ausgaben 1,7 Mrd. D-Mark hinter der Haushaltsplanung zurückgeblieben waren und die Verschuldung insgesamt noch 37,2 Mrd. D-Mark betrug. Von Seiten der Sozialdemokraten wurde in der Haushaltssitzung die Minderausgabe kritisiert, da man somit Mittel fur Investitionen zurückgehalten und die Schaffung neuer Arbeitsplätze verhindert habe. Dagegen bewertete die Union die geringere Neuverschuldung positiv und wehrte sich gegen die Behauptungen, dass man mit einer höheren Neuverschuldung zusätzliche Arbeitsplätze schaffen könne und die Koalition schon frühzeitig von dieser Entwicklung gewusst aber sie in der Auseinandersetzung um die Nettokreditaufnahme bewusst verschwiegen habe. 893

Die Wahl 1983 und das Sanierungsprogramm Am 7. Januar 1983 löste Bundespräsident Carstens den 9. Deutschen Bundestag auf und setzte für den 6. März Neuwahlen an. 8 9 4 In Kohls Erklärung zum Antrag auf Auflösung nahm die Konsolidierungspolitik in der Aufzählung der bereits erfüllten Zusagen den ersten Platz ein: „Die Koalition der Mitte hat die notwendigen ersten Schritte eingeleitet, damit die staatlichen Finanzen wieder gesunden können." Bei der Darlegung der Absichten der Bundesregierung nannte Kohl die Sanierung des Staatshaushaltes ebenfalls an erster Stelle, noch vor der Schaffung von Arbeitsplätzen und der Belebung der Wirtschaft. 89 ·' In dem vierwöchigen Wahlkampf spielte Norbert Blüm trotz oder gerade wegen seiner partiell sozialpopulistischen Parolen in Kohls Kalkül eine wichtige Rolle. Nach der verlorenen Hamburg-Wahl hatte der Arbeitsminister eine Anhebung des Spitzensteuersat-

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891 892 893 894 895

Wolfgang Merz, Der Beitrag der Finanz- und Geldpolitik zum Konjunkturaufschwung 1982/83, Berlin 1994, S. 2 3 - 2 8 . Monatsberichte, Februar 1983, S. 20. Monatsberichte, Februar 1983, S. 21. Haushaltsausschuß, 66, 9. W p „ S. 11 ff. Archiv der Gegenwart, S. 26253. Archiv der Gegenwart, S. 26252.

221 zes von 56 auf 60 Prozent gefordert. Auf der CDU-Präsidiumssitzung soll Blüm sogar geäußert haben, man müsse etwas tun, damit die Reichen „jaulen". Auf die Kritik an seinem Arbeitsminister soll Kohl geantwortet haben: „Laß den mal machen, der bringt uns die Arbeiter." Unabhängig davon, ob diese Worte tatsächlich so gefallen sind, hatte Blüm doch die Aufgabe, die Abwanderung chrisdicher Arbeitnehmer zu verhindern und die Facharbeiter für die CDU zu gewinnen. 896 Lambsdorff warnte den neuen Koalitionspartner in verschiedenen Interviews, durch eine neue Steuerdebatte Arbeitsplätze zu gefährden und der Konsolidierung der Wirtschaft entgegenzuwirken.897 Die CSU stellte sich im Vorfeld der Diskussion um das gemeinsamen Wahlprogramm auf die Seite der FDP und warnte davor, den Vorwurf fehlender „sozialer Symmetrie" seitens der SPD rein „defensiv" zu beantworten.898 Generalsekretär Geißler hatte bei internen Gesprächen die Notwendigkeit einer „sozialen Komponente" betont, um die Kampagne der SPD zu kontern. 899 Um die Anhebung des Spitzensteuersatzes im Wahlkampf aus der Diskussion zu halten, beschloss der CDU-Vorstand, dem linken Flügel in der Frage der Rückzahlbarkeit der Zusatzabgabe entgegenzukommen. Blüm erklärte, jetzt mache ihm der Wahlkampf erst richtig Spaß. 900 Dieser Beschluss brachte den Finanzminister in gewisse Erklärungsnöte. Noch am 13. Januar hatte Stoltenberg die Rückzahlbarkeit der Abgabe mit dem Hinweis auf den rechdich gebotenen Vertrauensschutz verteidigt, um am 17. bereits an der Forderung nach der Streichung der Rückzahlbarkeit nach der Wahl mitzuwirken.901 Kohl erklärte in einem Interview, er sei schon immer gegen die Rückzahlbarkeit der Investitionshilfeabgabe gewesen, habe sich aber in den Koalitionsverhandlungen mit der FDP in dieser Frage nicht durchsetzen können. 902 Im Wahlkampf erwies sich der Beschluss insoweit als glücklich, da er einerseits der Union die Möglichkeit bot, ihr soziales Image aufzubessern, und der FDP ein Wahlkampfthema mit dem sie sich als wirtschaftspolitisches Korrektiv profilieren konnte. 903 Die Wahl war eine Bestätigung der Regierung Kohl. Die CDU/CSU erhielt 48,8 Prozent, die FDP 7,0 Prozent, die SPD 38,2 Prozent und die Grünen, die erstmalig im Bundestag vertreten waren, bekamen 5,6 Prozent.90'* Damit war die Zeit des Überganges abgeschlossen, und die neue Regierung stand vor der Aufgabe, in den Koalitionsverhandlungen und der Regierungserklärung die Weichen fur die Fortsetzung des Konsolidierungskurses zu stellen. Für die weitere Diskussionslage zwischen den Konsolidierungspolitikern und der CDU-Linken war das gute Abschneiden der Union in NRW und in einstigen SPDHochburgen, besonders im Ruhrgebiet,90^ von Bedeutung, weil Geißler und Blüm sich in ihrem Kurs bestätigt sehen konnten. 896 897 898 899 900 901 902 903

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Der Spiegel, Nr. 2/37, 10. Januar 1983, S. 19ff. Zit. S. 20. Die Welt, Nr. 8/1983, S. 1. Die Welt, Nr. 11/1983, S. 1. Die Welt, Nr. 9/1983, S. 1. Wirtschaftswoche, Nr. 4/37, 21. Januar 1983, S. 20. Die Zeit, Nr. 4/38, 21. Januar 1983, S. 16. Die Zeit, Nr. 8/38, 18. Februar 1983, S. 3. Wirtschaftswoche, Nr. 4/37, 21. Januar 1983, S. 20; Der Spiegel, Nr. 6/37, 7. Februar 1983, S. 20 f. Die Welt, Nr. 56/1983, S. 4. Die Welt, Nr. 56/1983, S. 5.

222 In der Frage der Rückzahlbarkeit der Investitionshilfeabgabe fand man schnell einen Kompromiss. Nach einigen „hitzigen Wortgefechten" einigte man sich auf die Verlängerung der Abgabe auf das Jahr 1985 und darauf, dass die Rückzahlung erst in den Jahren 1990 bis 1992 erfolgen sollte. Im Gegenzug kamen die Liberalen Strauß beim Rhein-Main-Donau-Kanal entgegen.906 Noch wendiger als der Finanzminister im Wahlkampf hatte sich der bayerische Ministerpräsident, der nach der Wahl kurzzeitig als neuer Finanzminister gehandelt wurde, im Hinblick auf die Zusatzabgabe gezeigt.907 Hatte dieser im Wahlkampf noch gedroht, die Rückzahlbarkeit im Notfall auch mit der SPD durchzusetzen,908 erklärte er nun in einem Interview mit dem SPIEGEL einen Tag vor der Kanzlerwahl, er sei nur gegen die Rückzahlbarkeit gewesen, um eine Erhöhung des Spitzensteuersatzes zu verhindern und der CDU entgegenzukommen, die unter dem Druck von SPD und Gewerkschaften gestanden habe. 909 Das weitere Verfahren in den Koalitionsverhandlungen sah so aus, dass der Finanzminister die Eckdaten vorgab, an denen sich die finanziellen Planungen orientieren mussten. Diese Vorgaben machten weitere Einsparungen von sechs bis sieben Mrd. D-Mark notwendig. Noch eine Woche vor der Regierungserklärung musste Stoltenberg Mehrforderungen der Ministerien in der Größenordnung von 17 Mrd. D-Mark abwehren. Von diesen Forderungen blieb am Schluss noch ein zusätzlicher Finanzbedarf von vier Mrd. D-Mark übrig, der vollständig gegenfinanziert werden musste. 910 Der Finanzminister arbeitete an einem Katalog mit 166 Maßnahmen, auch als „Steinbruchliste" bezeichnet, durch die das Budgetwachstum auf zwei Prozent des BSP begrenzt werden sollte. Die Probleme der Rentenkasse seien „außerhalb der Bundeshaushaltes" zu lösen. Blüm sah sich von CSU und FDP in die Zange genommen und meinte, dass er sehr schlecht weggekommen sei, obwohl die Arbeitnehmer die Regierung an die Macht gebracht hätten. 911 Am 22. März einigten sich Union und FDP auf eine Koalitionsvereinbarung, in der die Begrenzung des Wachstums des Bundeshaushalts 1984 auf zwei Prozent und der kommenden Haushalte der Legislaturperiode auf drei Prozent vorgesehen war. Die Nettokreditaufnahme sollte 1984 unter 40 Mrd. D-Mark liegen und 6,5 Mrd. D-Mark eingespart, die Investitionen einhergehend um 1 — 1,5 Mrd. D-Mark aufgestockt werden. Eine Verlagerung der Kosten vom Bund auf die Länder wurde ausgeschlossen. Stattdessen sollte bei der Bundesanstalt fur Arbeit und im öffentlichen Dienst gekürzt werden. Der bisherige Freibetrag fur das Weihnachtsgeld von 100 D-Mark sollte sozialversicherungspflichtig werden. Eine Maßnahme, die besondere Ablehnung erfahren sollte, war, dass die Beschränkung der Behindertenunterstützung auf die wirklich Schwerbehinderten begrenzt wurde. Das Mehraufkommen aus der Erhöhung der Mehrwertsteuer von vier Mrd. D-Mark sollte zur Entlastung der gewerblichen Wirtschaft verwendet werden und ein relativ kleiner Betrag von 50 Mio. D-Mark für die Vermögensbildung der Arbeitnehmer.

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Wirtschaftswoche, Nr. 13/37, 25. März Die Welt, Nr. 56/1983, S. 1. Wirtschaftswoche, Nr. 13/37, 25. M a n Der Spiegel, Nr. 13/37, 28. März 1983, Der Spiegel, Nr. 18/37, 2. Mai 1983, S. Der Spiegel, Nr. 13/37, 28. März 1983,

1983, S. 20f. 1983, S. 20f. S. 23 f. 31 f. S. 21 f.

223 Man vereinbarte fur die Legislaturperiode eine Endastung bei der Lohn- und Einkommenssteuer und den Abbau von Steuersubventionen. 912 Kohl vertrat das Ergebnis der Koalitionsvereinbarung am 23. März 1983 vor dem CDUPräsidium. Sie sei die Grundlage für eine langfristige Zusammenarbeit. Bei den Verhandlungen habe es hin und wieder Spannungen gegeben, aber man sei fair miteinander umgegangen, niemand habe dem anderen seinen Stempel aufgedrückt. 913 Die ZEIT zog ebenfalls eine positive Bilanz der bisherigen Maßnahmen, einschließlich des Ergebnisses der Koalitionsverhandlungen: „So glatt, so konfliktarm und dabei im finanziellen Resultat so ergiebig sind in Bonn nie zuvor öffentliche Haushalte saniert worden." 914 Am 29. März 1983 wurde Helmut Kohl vom 10. Deutschen Bundestag mit 271 von 486 Stimmen als Bundeskanzler bestätigt, und am 30. März wurden die 16 Mitglieder des Kabinetts vereidigt. Die C D U stellte acht, die CSU fünf und die FDP drei Minister. 915 Am 4. Mai legte Kohl in der 4. Sitzung des Deutschen Bundestages seine Regierungserklärung vor. Die Erklärung stand unter hohem Erwartungsdruck. Bei der Formulierung der Regierungserklärung achtete Stoltenberg nach den Worten eines Kabinettsmitgliedes „wie ein Schießhund" darauf, dass keine Aussage in den Text aufgenommen wurde, aus der sich später finanzielle Verpflichtungen fur bestimmte Gruppen ableiten ließen. 916 Kohl eröffnete seine Rede mit dem Hinweis, dass die Bundesregierung ihre Arbeit in einer wirtschaftlichen Krise aufgenommen habe, und wies daraufhin, dass die Regierung damit begonnen habe, den Staatshaushalt in Ordnung zu bringen. Die Erneuerung der Sozialen Marktwirtschaft verlange die Rückkehr zur soliden Haushaltsführung. Für den Haushalt 1984 stellte Kohl die Ergebnisse der Koalitionsverhandlungen in der Erklärung in Form von vier zentralen Zielen vor. Die ersten zwei Punkte betrafen die Eingrenzung der Neuverschuldung und die Beschränkung des Anteils der Nettokreditaufnahme am Bruttosozialprodukt. Als dritten Punkt bestätigte er, dass bis zu 1,5 Mrd. D-Mark zur Belebung der Wirtschaft eingesetzt werden sollten. Als viertes Ziel versprach Kohl, dass die Konsolidierung betrieben werden sollte, ohne die Steuern zu erhöhen oder Länder und Gemeinden stärker zu belasten. Kohl stellte außerdem eine Umgestaltung des Steuersystems und Steuerendastungen in Aussicht. Er stellte in diesem Zusammenhang die Notwendigkeit heraus, den Lohn- und Einkommenssteuertarif zu verändern und die Bürger von Progressionswirkung zu endasten. 917 Der FDP-Finanzexperte Hoppe vermisste in der Regierungserklärung genauere Fesdegungen zur Konsolidierung, denn Einsparungen, die 1984/85 versäumt würden, könnte man bis zur Bundestagswahl 1987 nicht mehr nachholen. Kohl hatte zu diesem Zeitpunkt Konkretisierungen noch vermeiden wollen. Häfele erklärte, der Haushalt werde nicht mit der Regierungserklärung, sondern erst Ende Juni verabschiedet. Details sollten

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Archiv der Gegenwart, S. 26491. Ebd. Die Zeit, Nr. 13/38, 25. März 1983, S. 17. Archiv der Gegenwart, S. 26495. Der Spiegel, Nr. 18/37, 2. Mai 1983, S. 31 f. Verhandlungen, Band 124, S. 56ff.

224 erst in den Beratungen fur den Etat 1984, die direkt der Regierungserklärung folgten, festgelegt werden. 918 Nun stand der Finanzminister vor der Aufgabe, die Festlegungen der Koalitionsvereinbarung in einen Grundsatzbeschluss zum Sparhaushalt umzuarbeiten, der sich im Kabinett, in der Fraktion und auf dem Kölner Parteitag bewähren musste. Bei der Festlegung des Haushaltes 1984 gaben Stoltenberg und Lambsdorff die Richtung vor. In der ersten Sitzung, die sich mit dem Haushalt beschäftigte, teilte Stoltenberg seine „Steinbruchliste" aus, die er vor dem Ende um 23 Uhr wieder einsammelte, um zu verhindern, dass sie an die Presse gelangte. 919 In der dritten Maiwoche fasste die Bundesregierung den „Grundsatzbeschluss" über den Sparhaushalt des nächsten Jahres. Der überwiegende Teil der 6,5 Mrd. D-Mark, die eingespart werden sollten, insgesamt 5,1 Mrd. D-Mark, wurde dem Etat von Norbert Blüm entnommen, den Rest sollte der Öffentliche Dienst beisteuern. 920 Die Gehälter im Offendichen Dienst sollten nach dem Willen der Bundesregierung für die nächsten neun Monate eingefroren und die Eingangsgehälter im gehobenen und höheren Dienst gesenkt werden. Die Besoldung der Beamten wollte die Bundesregierung in diesem Jahr nicht der im Öffentlichen Dienst angleichen. 921 Vorgesehen war ein Abbau des Arbeitslosen-, Schlechtwetter- und Kurzarbeitergeldes für Kinderlose von 68 auf 63 Prozent und der Arbeitslosenhilfe von 58 auf 56 Prozent des letzten Nettoeinkommens, die Einschränkung der Vergünstigungen fur Schwerbehinderte und die Verkürzung des Mutterschaftsgeldes. 922 Dafür sollte ab 1987 ein Mutterschaftsgeld für alle Frauen unabhängig von ihrer Berufstätigkeit eingeführt werden. 923 Die Wirtschaft sollte nach Stoltenbergs Konzept hingegen um 1,62 Mrd. D-Mark Vermögenssteuer befreit und Betriebsvermögen bis 200000 D-Mark ganz freigestellt werden. Die Sonderabschreibungsmöglichkeiten fur bewegliche Güter wurden heraufgesetzt, und weitere Abschreibungsmöglichkeiten sollten Investitionen für Forschung und Entwicklung umfassen. 924 Die Entlastung der Wirtschaft fiel also noch höher aus, als in der Regierungserklärung angekündigt. Blüm und Geißler wehrten sich vergebens gegen die Kürzung ihrer Mittel. Blüm hatte bis zum Schluss versucht, das Versprechen der fristgerechten Rentenanpassung zum 1. Juli 1984 in die Regierungserklärung einzubringen, war damit aber gescheitert. Eine weitere Verschiebung der Rentenanpassung hatte Blüm in den Koalitionsverhandlungen gerade noch durch seine Rücktrittdrohung abwenden können, musste sich allerdings darauf festlegen, ein eigenes Sparmodell zu entwickeln, das zum selben Sparbetrag führen würde. Stoltenberg sah durch die Verschiebung der Rentenanpassung über die direkte Ersparnis von 1,2 Mrd. D-Mark hinaus die Möglichkeit, das Rentenniveau indirekt zu senken und somit

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Wirtschaftswoche, Nr. 18/37, 29. April 1983, S. 20. Der Spiegel, Nr. 20/37, 16. Mai 1983, S. 17ff. Die Zeit, Nr. 21/38, 20. Mai 1983, S. 20 17f. Wirtschaftswoche, Nr. 22/37, 27. Mai 1983, S. 20 ff. Die Zeit, Nr. 21/38, 20. Mai 1983, S. 1 7 f . ; Der Spiegel, Nr. 20/37, 16. Mai 1983, S. 17ff. Die Zeit, Nr. 22/38, 27. Mai 1983, S. 2. Dies bezeichnete Die Zeit als „familienpolitische Absonderlichkeit" bezeichnete. Wirtschaftswoche, Nr. 21/37, 20. Mai 1983, S. 20 ff.

225 zehn bis 15 Mrd. D-Mark in den nächsten 10 Jahren einzusparen. In den Dreiergesprächen mit Stoltenberg und Lambsdorff zum Haushalt 1984 waren Blüms Sparvorschläge zur Gegenfinanzierung der fristgerechten Anpassung daher durchgefallen. Blüm erreichte jedoch eine Ausklammerung der Rentenfrage aus den aktuellen Haushaltsberatungen. Die Entscheidung sollte erst in einer Sondersitzung des Kabinetts am 1. Juni getroffen werden. Blüm hoffte auf einen Erfolg auf dem CDU-Parteitag am 25. und 26. Mai. 1983. Auf Antrag des Sozialausschusses, so hoffte Blüm, würde der Parteitag die Verschiebung ablehnen und ihm fur die bevorstehenden Verhandlungen den Rücken stärken. 925 Die Rechnung des Arbeitsministers ging auf. Auf dem Parteitag in Köln sprach sich eine Unterstützer-Koalition mit Alfred Dregger, der um die Geschlossenheit der Fraktion besorgt war, an der Spitze gegen einen einseitigen Sparkurs aus. 9 2 6 Auch Franz Josef Strauß schwenkte auf Blüms Seite. Er erklärte, zwar beteilige er sich nicht an der Auseinandersetzung, lobte aber Blüm als mutigen Mann und brillanten Rhetoriker.927 Der von den Sozialausschüssen eingebrachte Antrag BIO „Konsolidierung der Rentenfinanzen" lautete: „Der Bundesparteitag fordert die Regierung auf, die notwendigen Entscheidungen zu treffen, damit die Rentenerhöhung ab 1.7.1984 erfolgt". 928 Blüm verteidigte diesen Antrag und er erklärte, er sei von großer politischer Bedeutung, da sich die Politik der Union von der Unberechenbarkeit der sozialliberalen Rentenpolitik unterscheiden müsse. Man habe unter dem Zwang der Umstände die Rentenanpassung zum 1. Januar um ein halbes Jahr verschoben und dabei müsse es bleiben. 929 Der Antrag wurde ohne Stimmenthaltungen und Gegenstimmen angenommen. Mit diesem Votum im Rücken konnte Blüm gestärkt in die entscheidende Kabinettssitzung gehen. Er konnte sich schließlich gegenüber Stoltenberg und Lambsdorff bezüglich des Anpassungstermins durchsetzen, musste allerdings eine Reihe einschneidender Zugeständnisse machen. Blüm musste der Absenkung der Hinterbliebenenrente und der geringeren Bewertung beitragfreier Zeiten zustimmen. Die Rente sollte deudich hinter den Lohnzuwächsen zurückbleiben, wenn dies aus demographischen Gründen notwendig werde. Politisch noch brisanter war die Anhebung des Renteneinstiegsalters fur Frauen von 60 auf 63 Jahre, da durch die gleichzeitige Kürzung des Mutterschaftsgeldes die Union ein „frauenfeindliches" Image furchten musste. Blüm wollte die Entscheidung erst nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts, das vermudich ohnehin die unterschiedliche Altergrenze für verfassungswidrig erklären würde, bekannt geben. Lambsdorff machte den Kompromiss jedoch vorzeitig bekannt, was der Glaubwürdigkeit von Blüms Erfolg in der Offendichkeit deudichen Schaden zufügte. 930 Über das Mutterschaftsgeld war das letzte Wort noch nicht gesprochen. Nach dem Kölner Parteitag war Strauß sichtbar in die politische Defensive geraten. In Bezug auf die Ambitionen von FJS hatte Kohl auf dem Kölner Parteitag gesagt: „Die Bundesregierung hat ihren Sitz in Bonn. Das weiß jeder in der Union. Wir lassen die Kirche im Dorf und

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Der Spiegel, Nr. 20/37, 16. Mai 1983, S. 17ff. Der Spiegel, Nr. 22/37, 30. Mai 1983, S. 23 f. 31. Bundesparteitag der C D U , Niederschrift, Köln 25-/26. Mai 1983, S. 181 ff. 31. Bundesparteitag, S. 284. 31. Bundesparteitag, S. 253 ff. Der Spiegel, Nr. 25/37, 20. Juni 1983, S. 32.

226 das politische Entscheidungszentrum der Politik in Bonn." 9 3 1 Die Milliardenkredite an die D D R taten ein Übriges, um auch der Kritik innerhalb der C S U an seiner Person Nahrung zu geben. Auf dem 43. Parteitag der C S U in München am 15. und 16. Juli 1983 erhielt Strauß mit 662 von 859 gültigen Stimmen das schlechteste Ergebnis eines CSU-Vorsitzenden seit 1961. 9 3 2 Auf demselben Parteitag, also mehr als zwei Wochen nach der Billigung der Haushaltsgesetze, brachte sich Strauß wieder in die Offensive und Stoltenbergs strikten Sparkurs in Gefahr. Die Familienpolitik, an der die christlichen Grundwerte der Union hingen, war durch die strenge Haushaltspolitik ins Hintertreffen geraten. Strauß sprach sich gegen die Kürzung des Mutterschaftsgeldes von vier auf drei Monate aus und nannte sie eine „Widerlichkeit". Er verwies auf den Rückgang der Geburten von 852000 im Jahr 1969 auf 500 000 Ende der siebziger Jahre. 933 Strauß forderte, dass sich die Laufzeit des Mutterschaftsgeldes nach der Geburtenfolge richten sollte. Bei Erstkindern sollte ein Jahr, bei Zweitkindern zwei und beim dritten Kind drei Jahre jeweils 670 D-Mark monadich gezahlt werden. Nach dem Plan von Strauß sollten diese Zahlungen Eltern optional zum bisherigen Kindergeld angeboten werden. 934 Strauß hatte eine Debatte losgetreten, die das Sommerloch bis Anfang September 1983 dominierte. Die familienpolitische Offensive gefährdete den Sparkurs des Finanzministers, auf den statt Einsparungen von 320 Mio. D-Mark nun Kosten von 7 Mrd. D-Mark in den nächsten vier Jahren zukämen. 9 3 ' Strauß konnte auf die Unterstützung großer Teile der C D U bauen. Schon auf dem Kölner Parteitag war eine Entschließung verabschiedet worden, in der es hieß: „Der Bundesparteitag fordert die CDU/CSU-Bundestagsfraktion auf, (...) die Kürzung des Bezugs des Mutterschaftsgeldes zu überprüfen mit dem Ziel (...) die Kürzung des Bezugs von vier auf drei Monate zu vermeiden." 936 Geißler und die C D A sagten Strauß ihre Unterstützung zu, Blüm und Geißler stimmten zwar im Bundestag für die Kürzungen, hofften allerdings auf den Widerspruch des Bundesrates. Strauß setzte im bayerischen Kabinett den offiziellen Beschluss durch, am 2. September im Bundesrat gemeinsam mit den Sozialdemokraten das Haushaltsbegleitgesetz abzulehnen. 937 Der Sozialexperte der SPD-Fraktion, Eugen Glombig, äußerte, in der Sache bewege sich Strauß auf der Linie der SPD, wenn er Einschnitte in das soziale Netz rückgängig machen wolle. 938 Genscher machte hingegen deutlich, dass die FDP nicht zu Kompromissen in dieser Frage bereit war. Es sei kein Platz für „schwächliches, kurzatmiges Taktieren" 939 . Das konnte die Koalition in eine sehr schwierige Lage bringen, denn Strauß brauchte nur einen C D U Ministerpräsidenten auf seine Seite zu ziehen und das Gesetz landete im Vermittlungsausschuss. Er begründete seine strikte Ablehnung: „Zum Schluß übergeben wir sonst einem 931 932 933 934 935 936 937 938 939

31. Bundesparteitag, S. 33. Archiv der Gegenwart, S. 26807. Der Spiegel, Nr. 30/37, 25. Juli 1983, S. 23 f. Archiv der Gegenwart, S. 26807. Die Zeit, Nr. 34/38, 19. August 1983, S. 15 f. 31. Bundesparteitag, S. 291. Der Spiegel, Nr. 33/37, 15. August 1983, S. 30 f. Zit. Wirtschaftswoche, Nr. 34/37, 19. August 1983, S. 22. Zit. nach Die Zeit, Nr. 34/38, 19. August 1983, S. 15.

227 sterbenden Volk konsolidierte Haushalte" 940 . In dieser fur den Sparkurs riskanten Situation hatte Kohl Albrecht in seinem Urlaubsort St. Gilgen gesprochen und mit Lothar Späth telefoniert. Dem Kanzler gelang es, die beiden potenziellen Abweichler wieder auf Linie zu bringen. 941 Am 25. August bat Kohl alle CDU-Ministerpräsidenten zu einer Präsidiumssitzung nach Bonn, um sie noch einmal auf den Sparkurs einzuschwören. 942 Derweil hatte Stoltenberg Dregger von der Fehlannahme im Modell des bayerischen Ministerpräsidenten überzeugen können 943 und mit Blüm einen Kompromiss ausgehandelt, bei dem Stoltenberg Entgegenkommen bei dem ab 1987 an alle berufstätigen Mütter gezahlten Erziehungsgeld zeigte. Nach diesem Ergebnis legten sich alle Unionsministerpräsidenten darauf fest, nicht mit Bayern gegen das Gesetz zu stimmen. 944 Im Laufe des Jahres zeigte sich der Haushalt 1983 als erster Erfolg des Finanzministers. Im Gegensatz zu den vergangenen Haushaltsjahren unter der sozialliberalen Koalition war 1983 kein Nachtragshaushalt nötig, da Stoltenberg seiner Planung sehr vorsichtige Annahmen zugrunde gelegt hatte.94^ Bereits im ersten halben Jahr hatte sich die Finanzlage des Bundes leicht gebessert. Das Haushaltsbegleitgesetz zeigte Wirkung, so dass die Zahlungen des Bundes für die Sozialversicherungen hinter denen des Vorjahres zurückgeblieben waren. Die einzige Ausgabenkategorie mit starkem Wachstum war der Zinsendienst. Das war die Folge des Schuldenstandes des vergangenen Jahres und der damals noch hohen Zinssätze. Auch die Einnahmen nahmen im ersten Halbjahr etwas stärker zu, in den ersten Monaten um etwa vier Prozent. 946 Dieses Wachstum verlangsamte sich in der Mitte des Jahres aufgrund der niedrigeren Lohnentwicklung. Dafür blieben die Ausgaben des Bundes hinter dem Wachstum des nominalen Bruttosozialproduktes zurück. Anfang des Jahres hatte sich die Tariferhöhung im öffentlichen Dienst noch stärker ausgewirkt; durch den moderaten Tarifabschluss konnte die Expansion der Ausgaben deudich gebremst werden, 947 und in den letzten Monaten des Jahres zogen auch die Einnahmen deudich an. Dafür war vor allem die zum 1. Juli in Kraft getretene Umsatzsteuererhöhung verantwortlich. So stieg das Steueraufkommen, noch stärker als in der ersten Jahreshälfte, um fünf Prozent. 948 Stoltenberg stellte in seiner Haushaltsrede vom 7. September 1983 vor dem Bundestag fest, der Haushalt 1984 sei der erste, der von der Bundesregierung in eigener Verantwortung entworfen worden sei, und konnte auf erste Erfolge verweisen. Der bisherige Haushaltsverlauf sei sehr zufriedenstellend, denn es scheine, als müsse die vorgesehene Neuverschuldung von 40,9 Mrd. D-Mark nicht voll ausgeschöpft werden. 949 Aber Stoltenberg hatte auch Glück; durch den Höhenflug des Dollar konnte die Bundesbank ihre Bestände zum höheren Preis verkaufen und erhielt mehr Zinsen für ihre Dollarwerte, so

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Zit. nach Der Spiegel, Nr. 35/37,15. August 1983, S. 21. Der Spiegel, Nr. 33/37, 15. August 1983, S. 30 f. Wirtschaftswoche Nr. 34/37, 19. August 1983, S. 22 ff. Der Spiegel, Nr. 35/37, 29. August 1983, S. 30 f. Der Spiegel, Nr. 35/37, 29. August 1983, S. 21 f. Der Spiegel, Nr. 37/37, 12. September 1983, S. 17ff. Monatsberichte, Juni 1983, S. 20 ff. Monatsberichte, September 1983, S. 21 ff. Monatsberichte, Dezember 1983, S. 20 ff. Verhandlungen, Band 125, S. 1170ff.

228 dass der Bundesbankgewinn höher ausfiel als erwartet. 950 Der starke Dollar hatte einerseits psychologische Ursachen, denn der Reagan-Effekt zog zusätzliches Kapital in den Dollarraum, zum anderen zog die „Stop-und-go-Poliltik" des amerikanischen Finanzministeriums eine künstliche Geldverknappung nach sich. Die USA nahmen mehr Kredite auf, als zur Deckung ihrer unmittelbaren Ausgaben notwendig war, um bei Bedarf durch Freisetzung von Mitteln die Wirtschaft zu beeinflussen. 951 Diese Umstände sind hervorzuheben, um zu verdeudichen, auf welch fragilen weltwirtschaftlichen Bedingungen die deutsche Haushaltskonsolidierung beruhte. Schon eine geringfügige Störung des Vertrauens in die amerikanische Währung konnte einen herben Rückschlag fur die deutsche Konsolidierungspolitik bedeuten, denn jeder Pfennig, den der Dollar im Verhältnis zur D-Mark verlor, kostete die Bundesrepublik 600 Mio. D-Mark. 9 5 2 Am 9. Dezember 1983 verabschiedete der Bundestag nach viertägiger Beratung den Haushalt 1984 in der vorgelegten Fassung. 953 Mit dem Haushalt wurden gleichzeitig das Haushaltsbegleitgesetz, das die Einsparungen im sozialen Bereich regelte, das Steuerendastungsgesetz, mit dem die Investitionstätigkeit der Wirtschaft angeregt werden sollte, das Vermögensbeteiligungsgesetz und das Stahlinvestitionsgesetz gebilligt. 954 Am 16. Dezember stimmte auch der Bundesrat mit den Stimmen der unionsregierten Länder dem Haushalt 1984 zu, nicht ohne dass die Vertreter Bayerns, Baden-Württembergs und Hessens die Kürzung des Mutterschaftsgeldes kritisiert hätten. 955 Stoltenberg erklärte in der zweiten Beratung am 8. November 1983: „In meinem Verständnis ist der Bundeshaushalt 1984 ein Markstein auf dem Wege zur Gesundung der Bundesfinanzen." Im Jahr 1984 werde man bereits die Früchte der Stabilitäts- und Gesundungspolitik ernten können. Bei einigen Posten habe es eine erhebliche zusätzliche Belastung gegeben. Stoltenberg nannte die befristete Stahlhilfe, die Mittel fur die Kokskohle und die Anpassungsmaßnahmen im Bergbau. Die Eckdaten für den Haushalt 1984 seien günstiger als erwartet. Die Höhe der investigativen Ausgaben sei gegenüber dem Finanzplan der alten Bundesregierung um 2,7 Mrd. D-Mark auf 35,3 Mrd. D-Mark gewachsen. Stoltenberg verwahrte sich gegen den Vorwurf der Umverteilung von unten nach oben und machte darauf aufmerksam, dass durch die Progressionswirkung der Steuer mitdere und höhere Einkommen erheblich zur Konsolidierung beitrugen. Stoltenberg verglich die Haushaltssanierung mit einer „Notoperation auf einer Unfallstation". Vorrang habe in Zukunft das Doppelziel stabiler Staatsfinanzen, verbunden mit dauerhaftem inflationsfreiem Wirtschaftswachstum. Ab 1985 sollte das Haushaltswachstum von drei Prozent die Obergrenze sein, und die Nettokreditaufnahme wollte er bis 1986 auf 22 Mrd. D-Mark zurückfuhren. 956

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954 955 956

Die Zeit, Nr. 35/38, 26. August 1983, S. 16. Wirtschaftswoche, Nr. 6/38, 3. Februar 1984, S. 23 f. Die Zeit, Nr. 46/42, 11. November 1983, S. 23 f. Für den Etat stimmten 261 der anwesenden 458 Abgeordneten, 197 Abgeordnete der Opposition lehnten ihn ab. Archiv der Gegenwart, S. 27498 f. Archiv der Gegenwart, S. 27500. Verhandlungen, Band 126, S. 3107 ff.

229 Der Elan, die Subventionen zu senken, hatte seit der Regierungsübernahme deudich abgenommen. Noch im Jahreswirtschaftsbericht hatte man sich zum Ziel gesetzt: „Subventionen schrittweise mit dem Ziel zu verringern, marktgerechten Entscheidungen wieder Vorrang zu geben." In der Regierungserklärung hatte Kohl nur noch von einer Überprüfung gesprochen und sich gleichzeitig zur Erhaltung des bäuerlichen Familienbetriebes, zur Zukunftsfähigkeit der einheimischen Kohle und zur Unterstützung von Werft- und Stahlindustrie bekannt. Stoltenbergs Idee einer linearen Kürzung war bei den Beamten des Finanzministeriums auf Ablehnung gestoßen. 957 Die .Arbeitsgruppe Haushalt" hatte unter dem Vorsitz von Alfred Dregger nach zusätzlichen Einsparmöglichkeiten in Milliardenhöhe gesucht. Alle kritischen Bereiche, wie die Frage der Finanzhilfen für Krisenbereiche der deutschen Industrie, wurden auf die Abschlusssitzung verschoben. 958 Der Ausschuss kam schließlich zu dem überraschenden Ergebnis, dass man Subventionen nicht zu negativ einschätzen dürfe. 959 Im Laufe des Jahres 1983 waren Stahl-, Werftindustrie und der Kohlebergbau auf höhere Subventionen angewiesen. Bereits im Sommer hatte ein interner Bericht des Bundesfinanzministeriums die Erhöhung der Subventionen um fast eine Mrd. D-Mark fur nötig gehalten. 960 Stoltenberg wollte den Subventionsabbau erst im Rahmen der Lohn- und Einkommenssteuer durchführen, um mit den Einsparungen nicht Begehrlichkeiten an anderer Stelle zu wecken. Nach den Kürzungen im Sozialetat bildeten die Subventionen die verbliebene Finanzreserve zur Finanzierung der Steuerentlastung. 961 Eine „subventionspolitische Wende" hat es aber in den achtziger Jahren nicht mehr gegeben. Die Regierung dehnte ihre Aktivitäten im Gegenteil noch weiter aus, als sie mit den Schwierigkeiten in den „alten Industrien", bei Stahl, Kohlebergbau, Werften und Landwirtschaft konfrontiert wurde. Die Stahlindustrie war mit einer Krise konfrontiert, die sich aus den Uberkapazitäten in Europa ergab. Die 15 bundesdeutschen Stahlunternehmen beschäftigten zu diesem Zeitpunkt noch 400 000 Arbeitnehmer. Am 27. Oktober 1982 hatten saarländische Bundestagsabgeordnete und die Vertreter des Saarlandes gefordert, die Finanzhilfen für die Stahlproduktion zu erhöhen. Der liberale Wirtschaftsminister Lambsdorff hatte daraufhin mit den existenzbedrohten Stahlwerken von ARBED Saarstahl einen Überbrückungskredit von 75 Millionen D-Mark ausgehandelt. 962 Die Lage bei Werfen und Stahlindustrie blieb 1983 labil. Im Juni 1983 musste die Bundesregierung weitere Mittel für die Stahlindustrie im Saarland zur Verfügung stellen. Dass die Bundesregierung ihre Hilfen an Bedingungen knüpfte erregte den Unmut der Gewerkschaften. Am 29. September 1983 demonstrierten deshalb 100000 Werft- und Stahlarbeiter in Bonn. Der Kapizitätsabbau in der Stahlindustrie und die Sozialpläne blieben ein Konflikt zwischen der Bundesregierung und der IG-Metall. Am 10. März 1985 wurde im

957 958 959 960 961 962

Wirtschaftswoche, Nr. 39/37, 24. September 1983, S. 18. Wirtschaftswoche, Nr. 43/37, 21 Oktober 1983, S. 31 ff. Die Zeit, Nr. 47/38, 18. November 1983, S. 25. Wirtschaftswoche, Nr. 23/37, 3 Juni 1983, S. 22. Der Spiegel, Nr. 37/37, 12. September 1983, S. 17ff. Andreas Wirsching, Abschied vom Provisorium. Geschichte der Bundesrepublik Deutschland 1 9 8 2 - 1 9 9 0 , München 2006, S. 246 f.

230 Saarland die chrisdich-liberale Regierung abgewählt und Oskar Lafontaine errang mit der SPD die absolute Mehrheit, was auch damit in Zusammenhang gebracht wird. 963 Ahnlich verhielt es sich in anderen Regionen und Branchen. Kohl strebte Ubergangslösungen an, um die Folgen des „Strukturwandels" sozial abzufedern und politische Konfrontationen zu vermeiden. So fiel auch die Entscheidung, die Kohle als nationalen Energieträger zu erhalten. Der Kohlepfennig wurde zu diesem Zweck mehrmals in den achtziger Jahren erhöht. Dieselbe Linie galt für die Landwirtschaft, in der die Unionsparteien sich dem Ideal des bäuerlichen Familienbetriebes verpflichtet fühlten. Kohl bekräftigte, dass „ungeachtet des Ökonomischen — die Bundesrepublik nicht mehr unsere Bundesrepublik ist, wenn es den bäuerlichen Familienbetrieb nicht mehr gibt!" 9 6 4 Diese politische Rücksichtnahme führte dazu, dass die anvisierten Pläne, den Subventionsstaat zurückzufuhren, in der politischen Praxis sehr schnell beiseitegelegt wurden. Wirsching stellt dazu fest: „Tatsächlich gelang es der chrisdich-liberalen Koalition zu keinem Zeitpunkt, den Direktanteil der Subventionen im Bundeshaushalt signifikant zu senken." 9 6 '

Das Scheitern der Investitionshilfeabgabe Die Auseinandersetzung um die Investitionshilfeabgabe war noch nicht vorbei, sondern hatte ein juristisches und politisches Nachspiel. Am Dienstag, dem 6. November 1984 erklärte der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts die Investitionshilfeabgabe für verfassungswidrig. Damit gab das Gericht den Normenkontrollanträgen der Finanzgerichte in Baden-Württemberg und Köln sowie zwei Verfassungsbeschwerden statt. 966 Der zuständige Ministerialdirektor Bruno Schmidt-Bleibtreu war auf das Nichtigkeitsurteil nicht vorbereitet. Vom Dienstag auf Mittwoch musste daher im Finanzministerium eine Nachtschicht eingelegt werden, damit die Länderfinanzminister bereits am Donnerstag ein Schreiben über die Rückzahlbarkeit fur 1984 empfangen konnten. Da Stoltenberg die Abgabe als Kredit kategorisiert hatte, hatte die Entscheidung keine zusätzlichen Schulden zur Folge, allerdings zusätzliche Zinszahlungen in Höhe von 150 Mio. D-Mark im Jahr. 9 6 7 Das Urteil kam zu einem politisch denkbar ungünstigen Zeitpunkt. Dass die Besserverdienenden ihre Zahlungen vom Staat zurückerhalten sollten, als zum ersten Mal die Sozialabgaben für die Sonderleistungen fallig waren, schadete der sozialen Optik vor den Wahlen in Berlin, dem Saarland, in NRW und Niedersachsen. Blüm erklärte, dass die Belastung für die Besserverdienenden wieder hergestellt werden müsste; andernfalls müssten Sparmaßnahmen im sozialen Bereich rückgängig gemacht werden. 968 In der Wirsching, Provisorium, S. 248 ff. 964 Wi r s c hing, Provisorium, S. 245. 965 Wirsching, Provisorium, S. 251 966 Archiv der Gegenwart, S. 28420. 967 Der Spiegel, Nr. 46/38, 12. November 1984, S. 31. 968 Der Spiegei, Nr. 46/38, 12. November 1984, S. 30ff. 963

231 Union wurde nun fieberhaft nach einem Ersatz für die Zusatzabgabe gesucht. Da eine nichtrückzahlbare Ergänzungsabgabe nicht durchsetzbar schien, konzentrierte man sich nun auf die Steuerreform. Die oberen Einkommen sollten nach der Vorstellung der Befürworter der „sozialen Symmetrie" weniger als geplant endastet werden, die unteren Einkommen hingegen stärker. Geißler war sich sicher: „irgendwo bei den kleinen Leuten wird es eine Endastung geben."969 Eine Veränderung des Tarifes stieß allerdings auf den Widerstand von Stoltenberg und den Liberalen. Stoltenberg wollte einen monatelangen Streit um die Tarife vermeiden, und die FDP sah den Sinn der gesamten Reform in Gefahr.970 Genscher kreierte den Begriff „Neidsteuer" und meinte, das Land würde sich in eine „Neidhammel-Republik" verwandeln. Intern soll er das Urteil als „Geschenk des Himmels" bezeichnet haben, weil es der FDP die Möglichkeit bot, sich als Wahrer der Marktwirtschaft zu profilieren. Ein liberaler Abgeordneter bezeichnete die Christdemokraten sogar öffentlich als „schwarze Marxisten".971 Am Montag dem 26. November 1984 sprach sich das CDU-Präsidium fur einen Ersatz der Zusatzabgabe aus. Auch Kohl selbst schien entschlossen, einen Ersatz für die Abgabe zu schaffen, was er dem DGB-Vorsitzenden Ernst Breit zugesagt hatte, um nicht den Eindruck zu erwecken, man mache Politik fur „die Reichen".972 Am darauf folgenden Mittwoch legten die Liberalen einen Kompromissvorschlag vor. Die Steuern fiir Kleinverdiener sollten stärker gesenkt werden, ohne die Entlastung der oberen Einkommen zu beeinträchtigen. Da auch Franz Josef Strauß eine stärkere Belastung der oberen Einkommen strikt ablehnte, kam es im Laufe der Diskussion zu einer Annäherung von FDP und CSU. Waigel sagte salomonisch, man solle das Richtige tun und das Falsche unterlassen, und signalisierte Unterstützung fur das FDP-Konzept. Im Vorfeld der Entscheidung wurde im Finanzministerium im Steuerrecht nach einer alternativen kostenneutralen Alternative als Ersatz fur die Abgabe gesucht. Diese Bemühungen zeitigten keine Erfolge. Ein Beamter wurde mit den Worten zitiert, man sei leider bei der Suche nach Steuervergünstigungen, die nur Reiche betreffen, nicht fundig geworden.973 Anfang Dezember 1984 bemerkte Kohl, er wolle die Sache in 14 Tagen vom Tisch haben. Am Montag vor der entscheidenden Koalitionsrunde scheiterte Stoltenberg mit dem Versuch, in München eine Einigung zu erzielen.974 Strauß nutzte im Gegenteil die voreilige Ankündigung des Finanzministers, man habe einen Kompromiss erreicht, um diesen öffentlich vorzuführen.97^ Das Ergebnis der Auseinandersetzung endete fiir Kohl in einer Niederlage. Am 13. Dezember fand früh morgens ein letztes Treffen der CDU-Spitze im Kanzleramt statt. Geißlet und Blüm drängten den Kanzler, einen Kabinettsbeschluss auch gegen die Stimmen von FDP und CSU durchzusetzen. In der abschließenden Kabinettsrunde am selben Tag gab Kohl dennoch dem Widerstand der Koalitionspartner

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Der Spiegel, Nr. 47/38, 19. November 1984, S. 19. Der Spiegel, Nr. 47/38, 19. November 1984, S. 19. Der Spiegel, Nr. 49/38, 3. Dezember 1984, S. 17 ff. Ebd. Wirtschaftswoche, Nr. 49/38, 30. November 1984, S. 2 2 ff. Die Zeit, Nr. 52/39, 2 1 . Dezember 1984, S. 2 1 . Der Spiegel, Nr. 51/38, 17. Dezember 1984, S. 19.

232 nach. 976 Nach der Sitzung erklärte Kohl: „Wir haben uns nicht durchgesetzt. Das muß ich zur Kenntnis nehmen, auch wenn ich das bedauere." 977 Geißler sagte den Journalisten: „Dies ist eine negative Entscheidung gewesen durch eine negative Koalition aus FDP und C S U . " 9 7 8 Als Kohl das Ergebnis vor der Fraktion vertrat, appellierte er an die Abgeordneten, nicht ausgerechnet in der Weihnachtspause ein Bild der Zerrissenheit zu bieten. 979 Es kam nicht zu einem Aufstand, obwohl der Arbeitnehmerflügel im Vorfeld beschlossen hatte, im Falle des Scheiterns eine Abstimmung der Fraktion gegen das Kabinett zu erzwingen. 980 Die beiden kleineren Koalitionspartner hatten sich auf Kosten der C D U profilieren können, während diese erheblich an Glaubwürdigkeit verlor, da seit dem Beschluss des CDU-Präsidiums der Ersatz der Ergänzungsabgabe von den Sozialausschüssen gegenüber den Arbeitnehmern und den Gewerkschaften und in den Wahlkämpfen von Worms in NRW und Zeyer im Saarland als Ausdruck des sozialen Ausgleichs herausgestellt worden war. 981 In kleinen Zirkeln wurde nun vom linken Flügel der CDU-Fraktion nach einer Kompensation fur die politische Niederlage gesucht, die dann in der Forderung nach der Anerkennung der Erziehungszeiten fiir alle Frauenjahrgänge gefunden wurde. 982

Zusammenfassung: Die erste Phase der Sanierungspolitik 1982-1984 Die Wirtschaftspolitik wurde von den „drei heiligen Königen", Stoltenberg, Lambsdorff und Blüm ausgehandelt. Blüm musste sich in der Regel fugen oder einen breiteren Widerstand organisieren und setzte dann auf die Partei, um sich durchzusetzen. Dies gelang ihm etwa in der Frage der Rentenanpassung. Die zentrale Aufgabe der neuen Bundesregierung war die aus dem Ruder geratenen Haushalte wieder in den Griff zu bekommen. Dafür wurden sowohl Steuern und Abgaben erhöht als auch Ausgaben gekürzt. Der Bundesregierung kamen die besseren wirtschaftlichen Rahmenbedingungen und die hohen Bundesbankgewinne zugute. Familienpolitik, „soziale Symmetrie" und Subventionen waren die drei wichtigsten Bereiche, in denen die Sanierungspolitik auf Widerstand stieß und Zugeständnisse machen musste. Da die Regierung Einschnitte bei den staadichen Leistungen vornehmen musste und mit der Einnahmeerhöhung - durch die Erhöhung der Mehrwertsteuer und der Sozialabgaben — auch die Bevölkerung die Sanierungspolitik schmerzlich zu fühlen bekam, wurde die soziale Symmetrie zu einem wichtigen Thema. Wenn es schon nötig war, unpopuläre 976 977 978 979 980 981 982

Der Spiegel, Nr. 51/38, 17. Dezember 1984, S. 19. Zit. nach Die Zeit, Nr. 51/39, 17. Dezember 1984, S. 21. Zit. Wirtschaftswoche, Nr. 52/38, 21. Dezember 1984, S. 18. Der Spiegel, Nr. 51/38, 17. Dezember 1984, S. 19. Der Spiegel, Nr. 47/38, 19. November 1984, S. 30. Der Spiegel, Nr. 57/38, 17. Dezember 1984, S. 19. Wirtschaftswoche, Nr. 52/38, 21. Dezember 1984, S. 18ff.

233 Maßnahmen zu verabschieden, sollten wenigstens symbolisch auch die Besserverdienenden belastet werden. Das Ergebnis der Auseinandersetzung zwischen den Liberalen und dem sozialen Flügel der Union war die Investitionshilfeabgabe, ein Konstrukt, das der juristischen Prüfung durch das Bundesverfassungsgericht nicht standhielt. Die Familienpolitik war ein sehr emotionales Thema für die christliche Volkspartei. Hinzu kam, dass der Einbruch der Geburtenrate der Förderung von Familien und Kindern eine existenzielle Bedeutung verlieh. Dies erkannte Franz Josef Strauß. So kam es zum ersten großen Zusammenstoß zwischen der Sanierungspolitik von Kohl und Stoltenberg und Franz Josef Strauß um das Mutterschaftsgeld. Strauß konnte den linken Flügel der Union für seine Ablehnung gewinnen. Wäre es ihm gelungen, auch die Ministerpräsidenten zu gewinnen, wäre das für Kohl und seinen Finanzminister eine herbe Niederlage gewesen. Kohl gelang es jedoch diese Niederlage abzuwenden, indem er die Ministerpräsidenten für sich gewann. Subventionen sind der Bereich, in dem zur Sanierung der Haushalte und Abbau der Steuern allgemein das größte Einsparpotential gesehen wird. Der Subventionsabbau ist deshalb ein Dauerbrenner aller haushalts- und steuerpolitischen Debatten. Nach der Regierungsübernahme gelangen harte Einschnitte in diesem Bereich jedoch nicht. Die Bundesregierung war in den traditionellen Wirtschaftsbereichen Stahl, Werften, Kohlebergbau und Landwirtschaft mit einer Kapazitätskrise konfrontiert. Die Bundesregierung stand dem Widerstand der Gewerkschaften gegenüber und wollte dem „Strukturwandel" wegen seiner politischen Brisanz mit zusätzlichen Staatshilfen abmildern. Deshalb war der Subventionsabbau zur Rückführung der Staatsausgaben sehr schnell vom Tisch. Die Haushaltssanierung der ersten Jahre war eine politische Leistung, die aber auch sehr schnell an ihre Grenzen stieß. Der Erfolg wurde der Regierung einfacher gemacht, durch die enormen Bundesbankgewinne, die an den Bundeshaushalt abgeführt wurden. Dies war eine Einnahmequelle, die der Vorgängerregierung in dieser Größenordnung nicht zur Verfügung gestanden hatte.

Finanz- und Europapolitik - Der Gipfel von Brüssel und die Folgen 1984 Schon bald nach der Regierungsübernahme hatten sich Risse im deutsch-französischen Verhältnis im Streit um die Finanzierung der E G und die Aufwertung der D-Mark aufgetan. In den letzten vier Jahren hatte der Franc gegenüber der D-Mark fast 20 Prozent verloren, und die ehrgeizige sozialistische Wirtschaftspolitik der französischen Regierung führte zur Kapitalflucht und Wirtschaftskrise. 983 Eine Aufwertung der D-Mark hätte die französische Regierung vor der Blamage einer weiteren Abwertung bewahrt. Nach der Lage der ökonomischen Daten gab es für eine solche Operation aus Sicht der Deutschen keinen Grund. Noch während der Koalitionsverhandlungen im März 1983 hatte

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Stoltenberg, Wendepunkte, S. 314.

234 sich Mitterand mit einer vertraulichen Botschaft an den deutschen Kanzler und seinen Finanzminister gewandt, um sie zu einem entgegenkommenden Kurs in der Wahrungsund der Europapolitik zu bewegen. Bereits am folgenden Tag war Stoltenberg zu fast konspirativen Gesprächen mit seinem Amtskollegen Delors nach Paris geflogen. 984 Die Bundesrepublik hatte in der ersten Jahreshälfte tournusgemäß die Ratspräsidentschaft der EG übernommen und schien auch deshalb auf einen konzilianten Kurs festgelegt. 985 Dank der Vermittlung der Deutschen kam es auf der Sondersitzung der Finanzminister des EWS im März zu einem für Frankreich sehr komfortablen Kompromiss. Die D-Mark wurde um 5,5 Prozent und die Wahrung der anderen Staaten um einen geringeren Wert aufgewertet, die Franzosen und Italiener mussten als Konsequenz nur um 2,5 Prozent abwerten. 986 Ein ähnlich schnelles Nachgeben war von der Bundesregierung in der Frage der Finanzierung der EG nicht zu erwarten, denn Stoltenberg hatte nach der Regierungsübernahme die Parole ausgegeben, dass man nicht länger der „Goldesel" der Gemeinschaft sein wolle 987 - dies umso weniger, als die Bonner Beamten zunehmend Zweifel hatten, ob die Bundesrepublik wirklich zu den größten Profiteuren der E G gehörte. Sie errechneten, dass die Bundesrepublik ihre Exporte in die EG-Länder zwischen 1958 und 1981 zwar um das 24-Fache gesteigert hätten, der Import aus eben diesen Staaten sei allerdings um das 29-Fache gewachsen. Nach dem im Finanzministerium erstellten Gutachten hatte sich auch der prozentuale Anteil des Gesamtexports bei anderen Ländern stärker erhöht. 9 8 8 Verständlicherweise stießen die Vorschläge der Europäischen Kommission von Anfang Mai 1983, die Defizite der Gemeinschaft und die Finanzierung der Süderweiterung, den Beitritt Spaniens und Portugals zum 1. Januar 1986 durch die Erhöhung des Mehrwertsteueranteils zu decken, auf Stoltenbergs strikte Ablehnung. Die Erhöhung des Mehrwertsteueranteils, zuerst von einem Prozent auf 1,4 Prozent, später auf 1,6 Prozent, bedeutete fur die Deutschen eine Anhebung ihres Beitrages von neun auf 13 Mrd. DMark. Stoltenberg wollte hingegen der EG einen harten Sparkurs verordnen. So richteten sich illusionäre Erwartungen auf ein „Wunder von Stuttgart", 989 wo der nächste EGGipfel stattfand, die natürlich enttäuscht werden mussten. Dennoch war der Stuttgarter Gipfel für Kohl und Stoltenberg ein Erfolg. Stoltenberg setzte sich mit seiner harten Linie durch, die Anhebung des Mehrwertsteueranteils von Kürzungen bei den Agrarsubventionen abhängig zu machen. 990 Der Finanzausschuss des Bundestages stellte sich eindeutig hinter den Kurs des Ministers und fällte einen Beschluss, in dem er einen engen Zusammenhang zwischen der nationalen Konsolidierungspolitik und der Eigenfinanzierung der EG feststellte, und begrüßte die in Stuttgart durchgesetzte Verknüpfung von Einsparungen mit der Finanzierungsfrage. Insbesondere in der Agrarpolitik werde es unabdingbar sein, den Ausgabenzuwachs 984 985 986 987 988 989 990

Ders., S. 318 ff. Ders., S. 318. Ders., S. 320. Der Spiegel, Nr. 11/38, 12. März 1984, S. 28. Wirtschaftswoche, Nr. 30/37, 22. Juli 1983, S. 17. Die Zeit, Nr. 20/38, 13. Mai 1983, S. 3. Der Spiegel, Nr. 11/38, 12. März 1984, S. 28.

235 deutlich einzudämmen. 991 Stoltenberg erklärte am Tag darauf vor dem Haushaltsausschuss, dass fur die Bundesrepublik unabdingbar sei, dass die Belastungen der Bundesrepublik kalkulierbar begrenzt würden. Zwar werde die Bundesrepublik Nettozahler bleiben, aber die Zahl der Nettozahler müsse ausgeweitet werden. Stoltenberg erwartete nun, dass die Kommission bis zum Dezember Vorschläge unterbreiten würde, die sich an den in Stuttgart festgelegten Richdinien, besonders einer strengen Ausgabendisziplin, orientierten. Kiechle schränkte auf derselben Sitzung ein, dass das Einkommen der deutschen Landwirte nicht sinken dürfe, Einkommenssteigerungen seien allerdings nur in einem sehr engen Rahmen möglich. 992 Der französische Landwirtschaftsminister Michel Rochard hatte zur Gegenfinanzierung auf der Ausgabenseite vor allem den Abbau des Grenzausgleichs im Blick, in dem er den Grund sah, warum die Bundesrepublik zum viertgrößten Agrarexporteur der Welt aufgestiegen war. Der Grenzausgleich wurde von der E G an die Hartwährungsländer gezahlt, um ihre Benachteiligung durch die Umrechnung in E C U bei Währungsschwankungen abzugleichen. 993 Die Bundesrepublik profitierte etwa mit zwei Mrd. D-Mark aus dieser Zahlung. 994 Kiechle hatte erklärt, dass ein Abbau des Währungsausgleichs nicht hinnehmbar sei, weil dies für die deutschen Landwirte Einkommensverluste von bis zu 20 Prozent bedeute. 995 Kiechle zeigte sich entschlossen, auch Einsparungen an anderer Stelle im Agrarhaushalt zu verhindern. Die Reformvorschläge der Kommission im August wurden von Kiechle, der die deutschen Milchproduzenten schützen wollte, torpediert. 996 Der zweite Gipfel in diesem Jahr, der im Dezember 1983 in Athen statt fand, entwickelte sich folgerichtig zu einem vollständigen Debakel; zum ersten Mal in der Geschichte der Gemeinschaft war kein gemeinsames Papier veröffentlicht worden, und die E G würde voraussichdich bis zur Mitte des nächsten Jahres zahlungsunfähig sein. Die deutsche Position wurde durch die Uneinigkeit von Finanz- und Landwirtschaftsminister unterminiert. Kohl war es dennoch gelungen, das „Stuttgarter Paket" zu verteidigen. Viele, so Kohl, hätten an den Ketten von Stuttgart gerüttelt. 997 Damit hatten sich die Deutschen isoliert, da im Herbst Premierministerin Thatcher, die einen ebenso strikten Konsolidierungskurs vertreten hatte, ihre Bereitschaft signalisierte, fur die Entschädigung Großbritanniens in der Frage der Finanzierung Zugeständnisse zu machen. 998 Unter Vorsitz des französischen Staatspräsidenten sollte nun ein Ausweg aus der Krise gefunden werden, und die französische Präsidentschaft sollte sich wiederum als erfolgreich bei der Durchsetzung eigener Interessen erweisen.

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998

Kurzprotokolle des Finanzausschußes, 6. Sitzung, 10. Wahlperiode, S. 14 f. Haushaltsausschuß, 12, 10. W p „ S. 9ff. Wirtschaftswoche, Nr. 18/37, 29. April 1983, S. 32. Der Spiegel, Nr. 11/38, 12. März 1984, S. 28. Haushaltsausschuß, 12, 10. W p „ S. 12. Wirtschaftswoche, Nr. 50/37, 9. Dezember 1983, S. 30. Wirtschaftswoche, Nr. 50/37, 9. Dezember 1983, S. 30; Die Zeit, Nr. 50/38, 9. Dezember 1983, S. 2. Wirtschaftswoche, Nr. 49/37, 2. Dezember 1983, S. 32.

236

Um ein erneutes Scheitern des Gipfels der Europäischen Gemeinschaft wie im Dezember zu verhindern, war Kohl zu erheblichen finanziellen Zugeständnissen bereit. Die harte Haltung der Deutschen und vor allem des Finanzministers seit dem Regierungswechsel hatte zur Verbitterung bei den europäischen Partnern und vor allem bei Frankreichs Staatspräsident Mitterrand gefuhrt. Im Vieraugengespräch zwischen Kohl und Mitterrand im Vorfeld des Gipfels konnte sich der französische Staatspräsident auf ganzer Linie durchsetzen.999 Stoltenberg bestand darauf, dass sein Zwischenbericht zum Stand der Verhandlungen des Brüsseler Gipfels im März im Haushaltsausschuss als vs-vertraulich behandelt wurde, und kündigte an, bei einem Gesamtkompromiss zu Zugeständnissen in der Frage des Grenzausgleichs und des Mehrwertsteueranteils bereit zu sein und einen nationalen Ausgleich fur die dadurch betroffenen Landwirte zu schaffen. Im Ausschuss wurde kritisiert, dass man mit diesen Zugeständnissen den „Hebel aus der Hand" gebe, um eine nachhaltige Finanzreform der EG herbeizufuhren.1000 Die Deutschen akzeptierten schließlich sowohl den Abbau des Grenzausgleichs bis 1986 als auch die Anhebung des Mehrwertsteueranteils zum 1. Januar 1986 auf 1,4 Prozent und zum 1. Januar 1988 auf 1,6 Prozent. Das bedeutete fur die Bundeskasse eine zusätzliche Belastung von zehn Mrd. D-Mark allein in den nächsten drei Jahren. 1001 Vor dem Haushaltsausschuss berichtete Kiechle am 11. April, dass die Agrarbeschlüsse nicht mehr, wie ursprünglich vorgesehen, als Bestandteil und Voraussetzung einer Gesamtreform der EG-Finanzierung aufgefasst werden könnten. Das Resultat der Beschlüsse seien Preissenkungen und Einkommensverluste fur die deutschen Landwirte. 1002 Die Einigung hatte Kohl gegen den Widerstand der Bauernlobby und des Finanzministers durchgesetzt.1003 Zur Kompensation des Grenzausgleichs legte Kiechle ein teures Hilfsprogramm auf und am 12. April flog Strauß nach Bonn, um ihn nachdrücklich zu unterstützen.1004 Trotz dieser Intervention des Bayern erschienen die Entschädigungen der Agrarlobby als unzureichend. Der stellvertretende Vorsitzende des Agrarausschusses im Bundestag Karl Eigen und der niedersächsische Landwirtschaftsminister Glup stellten sich an die Spitze des Bauernprotests. Wo auch immer Stoltenberg im Europawahlkampf als Landesvorsitzender in Schleswig-Holstein auftrat, wurde er von wütenden Bauern empfangen, die ihren Protest lautstark zum Ausdruck brachten. 1005 Unter diesem Druck beugte sich Stoltenberg der Bauernlobby und wich seit seiner Amtsübernahme zum ersten Mal deutlich von seinem Sparkurs ab. Über die Erhöhung der Mehrwertsteuerpauschale sollten etwa 750 000 Landwirte bis 1991 um etwa 20 Mrd. D-Mark endastet werden. 1006 Der Schritt kam fur Stoltenbergs Experten völlig überraschend und in der Presse wurde

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Der Spiegel, Nr. 11/38, 12. März 1984, S. 28. Haushaltsausschuß, 25, 10. Wp„ S. 29 ff. Der Spiegel, Nr. 11/38, 12. März 1984, S. 28; Die Zeit, Nr. 13/39, 23. Märe 1984, S. 1. Haushaltsausschuß, 28, 10. Wp„ S. I4ff. Wirtschaftswoche, Nr. 13/38, 23. März 1984, S. 26. Die Zeit, Nr. 24/39, 8. Juni 1984, S. 22. Der Spiegel, Nr. 24/38, 11. Juni 1984, 17ff. Die Zeit, Nr. 23/39,1. Juni 1984, S. 25.

237 „die erstaunlich rasche Befriedigung bäuerlicher Wünsche in Sachen Mehrwertsteuererhöhung in die klebrige Nähe eines Wahlgeschenks" gerückt. 1007 Die neuen Subventionen sollten noch vor der Sommerpause beschlossen werden. Kohl war entschlossen, die deutschen Sonderbestimmungen auch gegen den Widerspruch aus Brüssel aufrechtzuerhalten. 1008 Mitterand zeigte sich nun sehr kooperativ und half als Ratspräsident den Deutschen, ihren nationalen Alleingang bei den Agrarsubventionen auf dem Gipfel von Fontainebleau durchzusetzen, wofür sich Kohl in seiner Regierungserklärung am 28. Juni ausdrücklich bedankte: Kohl erklärte, ein halbes Jahr nach dem Fehlschlag von Athen und drei Monate nach dem Teilergebnis in Brüssel habe man nun in Fontainebleau einen Durchbruch erreicht. Man habe einen Kompromiss bezüglich der Beitragsleistungen Großbritanniens erzielt und habe Verständnis und Unterstützung für die nationalen agrarpolitischen Ausgleichsmaßnahmen fur die deutschen Bauern gefunden, ohne die es nicht möglich gewesen wäre, die der deutschen Landwirtschaft gemachten Zusagen einzuhalten. 1009 Allerdings mussten die Deutschen im Gegenzug ihre Beteiligung an der Rückzahlung an die Briten von 18 auf 24 Prozent aufstocken und auf die Festsetzung einer Höchstgrenze ihres Beitrages verzichten, wodurch die Folgekosten des deutschen Entgegenkommens in Brüssel noch weiter in die Höhe schnellten. 1010 An dieser Stelle lässt sich konstatieren, dass sich der Kanzler in der Europapolitik in dem Zielkonflikt zwischen Haushaltssanierung und europäischer Integration fur Letzteres entschieden hatte. Doch der haushaltspolitische DominoefFekt, den der Brüssler Gipfel ausgelöst hatte, war noch immer nicht zum Ende gekommen. Stoltenbergs Umfallen hatte seine Position als Sparkommissar des Kabinetts nachhaltig erschüttert, was sich unmittelbar in den laufenden Verhandlungen um die Steuerreform und dem Auftrieb sozialpolitischer Forderungen offenbarte. Stoltenberg wollte weiterhin daran festhalten, nur eine Nettoendastung von zehn Mrd. D-Mark fur die Familien in Kraft zu setzen und die Steuerreform in zwei Stufen aufzuteilen. Dagegen wollte eine „festgefugte Front" aus Wirtschaftspolitikern die volle Endastung zum 1. Januar 1989 umsetzen. Kohl war fur den Finanzminister in dieser Situation nur eine schwache Stütze, da dieser sich nicht zwischen einer umfassenden Steuerreform und einer „kleineren späteren Lösung" fesdegen wollte. Die FDP zeigte sich fest entschlossen, weit über die Endastungen der Familie hinaus Steuersenkungen durchzusetzen. Solms erklärte: „wir sind nicht bereit, uns wegen der höheren Ausgaben für die Landwirtschaft unser Ziel Tarifreform aus der Hand schlagen zu lassen." 1011 Auf der anderen Seite traten die Sozialpolitiker auf den Plan. Blüm hatte von seinem Ministerium ausrechnen lassen, dass die Zahlungen für die Bauern in etwa dem entsprachen, was Blüm bei der Arbeitslosenversicherung hatte einsparen müssen. Nun fühlte sich der Arbeitsminister, dessen Etat in vier Jahren 56 Mrd. D-Mark zur Konsolidierung beitrug, berechtigt, neue Forderungen an den Haushalt heranzutragen. Die kostenneu1007 1008 1009 1010 1011

Die Zeit, Nr. 23/39, 1. Juni 1984, S. 25. Der Spiegel, Nr. 24/38, 11. Juni 1984, S. 17 ff. Verhandlungen, Band 128, S. 5589 ff. Die Zeit, Nr. 28/39, 6. Juli 1984, S. 5. Wirtschaftswoche, Nr. 25/38, 15. Juni 1984, S. 22 f. Zit. nach S. 23.

238 trale Reform der Hinterbliebenenversicherung ging an den Witwen, die weiterhin nur 60 Prozent der Bezüge ihres Ehepartners erhielten, vorbei. Um diese besser zu stellen, wollte er allen Müttern ein Jahr pro Kind in der Rentenkasse anrechnen lassen und zur Finanzierung auf Steuermittel zurückgreifen. Die Kosten dieser Maßnahme würden den Haushalt im ersten Jahr nur mit 150 Mio. D-Mark belasten, aber nach zehn Jahren bereits mit 2,3 Mrd. D-Mark. Blüm holte sich die Rückendeckung der Sozialpolitiker der Koalition. Die CDU-Sozialexpertin Verhültsdork sagte, die Finanzierung könne nicht aus der Rentenkasse erfolgen, da es sich um eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe handele. Als Stoltenberg die Forderungen zurückwies, sagte Blüm im Hinblick auf die Agrarsubventionen dem Finanzminister ins Gesicht, während er, der Arbeitsminister, spare, verteile Stoltenberg Milliarden. Blüm fühlte sich fur sein kollegiales Verhalten bestraft und fand mit seinen Argumenten in der Fraktion Verständnis. Seine Rede vor der Fraktion zu diesem Thema wurde dann auch mit lautem Beifall quittiert. Blüm ging somit gestärkt in die nächste Runde. 1 0 1 2 Schließlich fand man noch im Verlauf dieses Jahres 1984 eine vorläufige Einigung. Ab 1986 sollten für alle nach 1921 geborenen Jahrgänge, also nur für diejenigen, die zu diesem Zeitpunkt ins Rentenalter eintraten, die Erziehungszeiten voll angerechnet werden. Bis 1988 übernahm der Bund die Kosten; die Finanzierung darüber hinaus blieb vorerst noch offen. Im Gegenzug hatte sich Blüm verpflichtet, das 1975 der Arbeitslosenversicherung vom Bund gewährte Darlehen in Höhe von 2,5 Mrd. D-Mark zurückzuzahlen. Als sich die Rückzahlbarkeit bald als unrealistisch herausstellte, deutete Blüm seine Bereitschaft an, einer Verlängerung des Arbeitslosengeldes zuzustimmen, um damit den Bund von den Kosten der Arbeitslosenhilfe zu entlasten, 1013 was schließlich im Rahmen einer umfassenden Anerkennung der Erziehungszeiten auch geschah.

Der Vorruhestand und der Kampf um die 35-Stunden-Woche Wie von den Prognosen aus der zweiten Hälfte der siebziger Jahre vorausgesehen, stieg die Arbeitslosigkeit mit Beginn der achtziger Jahre auf zwei Millionen Arbeitslose an. Von der Rezession erholte sich der Arbeitsmarkt lange nicht. Die Arbeitslosigkeit war zwischen 1980 und 1983 von 3,8 Prozent auf 9,1 Prozent gestiegen. 1014 Wie in den entsprechenden Kapiteln beschrieben hatte die Zunahme der Zahl der Arbeitslosen nicht nur konjunkturelle Gründe, sondern strukturelle Gründe. Das Bildungsprofil der Arbeitslosen entsprach bei einer großen Zahl von Betroffenen nicht mehr den Anforderungen des Arbeitsmarktes, hinzu kam das Nachrücken geburtenstarker Jahrgänge in den achtziger Jahren.

1012 1013 1014

Der Spiegel, Nr. 27/38, 29. Juni 1984, S. 76 f. Der Spiegel, Nr. 41/38, 8. Oktober 1984, S. 45 ff. Jürgen Peters (Hrsg.), In Freier Verhandlung. Dokumente zur Tarifpolitik der IG-Metall 1 9 4 5 - 2 0 0 2 , Göttingen 2003., S. 615.

239 Bei den Gewerkschaften und in der Politik setzten sich Konzepte durch, die die Arbeitslosenzahlen durch die Reduzierung der Lebens- oder Wochenarbeitszeit abbauen wollten. Die Gewerkschaften des Öffentlichen Dienstes und die Eisenbahnergewerkschaften hatten bereits 1974 die Forderung nach einer 35-Stunden-Woche formuliert. Der D G B und die IGM nahmen die Forderungen 1977 auf. Zu dieser Zeit wollte man die Neuregelung noch auf die Stahlindustrie begrenzen, um die Beschäftigungsprobleme in dieser Branche zu entschärfen. Der Arbeitskampf vom November 1978 bis zum Januar 1979 hatte in dieser Richtung aber keine Fortschritte gebracht, dafür aber eine Ausweitung des Jahresurlaubs, der für alle Beschäftigten auf sechs Wochen verlängert werden sollte. Dieser große Erfolg führte dazu, dass die Verkürzung der Wochenarbeitszeit in den nächsten Jahren nicht mehr auf der Tagesordnung der IG Metall stand. Erst im Herbst 1982 wurde die 35-Stunden-Woche von den Gewerkschaften wieder aufgegriffen. Der Vorstand der Metaller beschloss fur alle Tarifbezirke die Forderung der 35-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich. Hauptargument war für die IG Metall die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit durch die Umverteilung von Arbeit. Die Verkürzung der Wochenarbeitszeit um fünf Stunden bedeutete eine Verteuerung der Arbeitskosten um 14,3 Prozent, rechnete man die Folgekosten hinzu kam man sogar auf eine Kostensteigerung von 18 Prozent. 1015 Die IG Metall ging davon aus, dass eine flächendeckende Einfuhrung der 35 Stunden-Woche bis zu 1,45 Millionen zusätzlicher Arbeitsplätze schaffen würde. 1 0 1 6 Zu dieser Zeit lag die Zahl der Arbeitsstunden in der Bundesrepublik noch bei 1773 Stunden, die Einfuhrung der 35-Stunden-Woche bedeutete eine Reduktion auf 1570 Stunden. Im Vergleich dazu arbeiteten amerikanische Arbeitnehmer 1904 Stunden und japanische sogar 2101 Stunden. 1 0 1 7 Zu diesem Zeitpunkt lag nur in Belgien die tarifliche Arbeitszeit noch niedriger als in der Bundesrepublik. Dort lag die Arbeitslosigkeit bei 14,4 Prozent. 1018 Die Reaktion der Arbeitgeber erfolgte entsprechend geschlossen: „Lange nicht mehr (...) waren Angestellte- wie Eigentümerunternehmen so finster zum Kampf entschlossen wie jetzt." 1 0 1 9 Der Rechnung der IG-Metall lag ein mechanisches Verständnis vom Arbeitsmarkt zu Grunde. In einem Streitgespräch im Frühjahr 1984 drückte Gesamtmetall-Vorsitzende Kirchner die Befürchtungen des Arbeitsgeberlagers aus: „Die Arbeitszeitverkürzung bringt ja auch Meister, Führungskräfte, Berufsausbilder, bringt unsere Forschung und Entwicklung um fünf Stunden Tätigkeit. Und dafür gibt es auf den heutigen Arbeitsmarkt praktisch keinen Ersatz." 1020 Im Lager der Regierung und auf der Arbeitgeberseite wuchs die Einsicht, dass den Gewerkschaften eine Kompensation für den Verzicht auf die Verkürzung der Wochenarbeitszeit angeboten werden musste, um deren Einführung zu verhindern. Lambsdorff forderte bereits im Frühjahr 1983 die Arbeitgeber in Hinblick auf die Arbeitszeitverkürzung auf der Hannover-Messe auf, „nicht länger aus Überängsdichkeit im Tabu-Schützengraben

1015 1016 1017 1018 1019 1020

Zwickel, Geben und Nehmen. Die Autobiographie, Leipzig 2005, S. 98 f. Frank Neuhaus, D G B und CDU. Analysen zum bilateralen Verhältnis, Köln 1996, S. 172. Die Zeit, Nr. 18/39, 27. April 1984, Die Zeit, Nr. 27/39, 27. April 1984, S. 24. Der Spiegel, Nr. 17/37, 25. April 1983, S. 68 f. Der Spiegel, Nr. 12/38, 19. März 1984, S. 103.

240 zu verharren, sondern ihrerseits mit Angeboten hervorzutreten." 1021 Unter diesen Bedingungen war es kaum vorstellbar, dass die Politik auf die Einführung einer Vorruhestandsregelung, mochte sie in Hinblick auf die Entwicklung der Rentenkasse auch noch so fragwürdig sein, verzichten würde. So kanstatierte der SPIEGEL im Herbst 1983: „In keiner anderen sozialpolitischen Frage ist die Ubereinstimmung so groß: Alle Bonner Parteien sind im Ansatz dafür, für die Gewerkschaften und auch für die Arbeitgeber wäre ein früherer Rententermin von allen Formen der Arbeitszeitverkürzung noch am ehesten zu akzeptieren." 1022 Vor dem Stuttgarter Parteitag hatten sich Stoltenberg, Geißler und Blüm auf eine gemeinsame, negative Formel zur Verkürzung der Wochenarbeitszeit geeinigt: „Die generelle Einführung der 35-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich (...) schafft nicht neue, sondern gefährdet vorhandene Arbeitsplätze." Gegen diese Linie protestierten die Gewerkschaftler in der C D U . Gottfried Koch, der sowohl dem CDU-Vorstand angehörte als auch Betriebsrat der IG Metall war, insistierte, die schroffe Ablehnung der IG-MetallForderung könne „so nicht stehen bleiben." Biedenkopf, der den Wahlkampf in NRW im Auge hatte, nahm denselben Standpunkt ein. In einem Brief an Geißler warnte er, die Konfrontation über die 35-Stunden-Woche könne zu einer „Resolidarisierung" im Gewerkschaftslager führen. Kohl, Geißler und Blüm waren sich jedoch in dieser Frage einig. Alle drei wollten die Frührente als Alternative zur 35-Stunden-Woche durchsetzen. Geißler fürchtete, die Belastungen für den Öffentlichen Dienst könnten so groß werden, dass andere sozial- und familienpolitische Leistungen sich nicht mehr finanzieren ließen, Blüm sah die Chance sein bevorzugtes Modell durchzusetzen und Kohl die Gelegenheit, den Einfluss der Gewerkschaften insgesamt zurückzudrängen. Der SPIEGEL kommentierte: „Noch nie seit Bestehen der Republik stellte sich eine Regierung so offen gegen die Gewerkschaften. Dies hatte auch mit der Steilvorlage zu tun, die die Forderung der IG Metall darstellte. Laut Geißler war im Wahlkampf in Baden-Württemberg kein größerer Beifall zu erreichen als durch den Satz: „Weniger arbeiten, mehr verdienen — das ist Blödsinn." 1 0 2 3 Die Regierung setzte darauf, mit den moderaten Kräften der deutschen Gewerkschaften zusammenzuarbeiten und der Bewegung zur Verkürzung der Wochenarbeitszeit durch die Verkürzung der Lebensarbeitszeit den Wind aus den Segeln zu nehmen. Die Vorruhestandsregelung sollte als „Munition gegen die 35-Stunden-Woche" dienen. Blüm war in enger Fühlung mit den vier Gewerkschaften, die dieser Regelung den Vorzug vor der 35-Stunden-Woche gaben. Das waren die Gewerkschaften für Chemie, Bau, Nahrungund Genuss und für Textil. Auf ihren Druck hin und mit der Drohung auf den Kurs der IG Metall einzuschwenken, gelang es Blüm zu bewirken, dass der ursprüngliche Kompromiss mit Stoltenberg korrigiert und das Renteneintrittsalter nicht mehr nur auf 59 sondern auf 58 Jahre abgesenkt werden sollte. Stoltenberg bestand darauf, dass diese neue Regelung nicht mehr kosten durfte als die alte Vereinbarung. Daher wollte Stoltenberg den Finanzierungsanteil von 40 Prozent, wie ursprünglich vorgesehen, auf 35 Prozent 1021 1022 1023

Der Spiegel, Nr. 17/37, 25. April 1983, S. 68 f. Der Spiegel, Nr. 43/37, 24. Oktober 1983, S. 76ff. Der Spiegel, Nr. 12/38, 19. März 1984, S. 17ff.

241 reduzieren. 1024 Wie brisant diese Frage war, zeigte sich, als Döding von der Gaststätten-Gewerkschaft und Keller von der Textil-Gewerkschaft in einer Gegendarstellung im SPIEGEL ausdrücklich feststellen ließen, dass sie anders als verlautet nicht bereit seien, sich mit einem Finanzierungsanteil von nur 35 Prozent zufrieden zu geben. 102:5 Aber auch die IG Metall und ihre Verbündeten rüsteten zum Kampf. Ihr Vorsitzender Hans Mayer schrieb an einen Mitarbeiter: „Im Jahr 1984 werden wir voraussichdich den schlimmsten Tarifkampf seit 1945 zu bestehen haben." Ernst Breit stellte für den Deutschen Gewerkschaftsbund fest, die 35-Stunden-Woche sei der „entscheidende Ansatz", um die Arbeitslosen von der Straße zu holen.102 N r 4/ 1 9 8 8 ; S 1 . D e r Spiegel, Nr. 2/42, 11. Januar 1988, S. 16ff. 1 3 4 7 Die Zeit, Nr. 2/43, 9. Januar 1988, S. 16. 1 3 4 8 Der Spiegel, Nr. 2/42, 11. Januar 1988, S. 16ff. 1342 1343

294 die das Defizit noch begrenzen." 1349 Das Kabinett fällte, der Entscheidung des Kanzlers folgend, den Beschluss, das Defizit im kommenden Jahr auf 30 Mrd. D-Mark zurückzuführen. Die Differenz sollte durch den Abbau von Subventionen, die Erhöhung spezifischer Verbrauchssteuern und Ausgabenbegrenzung geschlossen werden. Am 11. Januar erklärte Kohl der Presse, dass die Ausuferung der Neuverschuldung auf unvorhersehbare Einflüsse zurückgehe, die eine strikte Ausnahme bleiben müsse. Es habe sich nichts an dem Ziel geändert, den Schuldenberg Schritt fiir Schritt abzubauen. 1350 Auf der C D U Präsidiumssitzung am selben Tag wurde die Politik der Regierung scharf kritisiert. Geißler fühlte sich übergangen, da Kohl nur Stoltenberg über seine neue Linie informiert habe. Die Glaubwürdigkeit der Union sei in Gefahr, da er keine Gelegenheit gehabt habe, die Basis auf die Entwicklung argumentativ vorzubereiten. 1351 In der Sitzung des Haushaltsausschusses am 20. Januar 1988 wurde dem Minister von der Opposition vorgeworfen, den Ausschuss und das Parlament getäuscht zu haben. Die Sozialdemokraten kritisierten, dass entgegen den Ankündigungen der Bundesbankgewinn nicht zur Haushaltskonsolidierung benutzt worden sei, sondern zur Deckung von Ausgaben. 1 3 5 2 Die Abgeordnete der Grünen Vennegerts unterstrich, der Verfall des Dollar sei keine plötzliche Katastrophe, sondern habe sich seit langem abgezeichnet. 1353 Stoltenberg verwies darauf, dass er im Ausschuss wiederholt und deudich auf die Unsicherheiten und Risiken des Bundeshaushalts 1988 hingewiesen habe. Der abrupte Einbruch des Dollarwertes nach den Ereignissen auf dem Aktienmarkt sei nicht vorhersehbar gewesen. Die voraussichtlichen Ausgaben fur die E G bezifferte er nach dem Stand der Verhandlungen in Kopenhagen mit vier bis 5,5 Mrd. D-Mark. Dieses zusätzliche Defizit habe er bereits während der Koalitionsverhandlungen thematisiert und in seiner Einbringungsrede zum Haushalt konkret benannt. Die Verhandlungen des Europäischen Rates würden im Februar fortgesetzt. 1354 Am 10. Februar 1988 kamen die zwölf Regierungschefs zu Verhandlungen über die künftige Agrarpolitik, über ein neues Finanzsystem und einen Ausgleich zwischen dem „reichen" Norden und dem ärmeren Süden in Brüssel zusammen. 1355 Kohl sah unter dem Vorsitz von Staatspräsident Mitterrand eine „realistische Chance für ein positives Ergebnis" 1356 . Nach harten Auseinandersetzungen um die Agrar- und Finanzpolitik erreichte der Gipfel einen „Durchbruch zu der wichtigsten Finanzreform der Gemeinschaft seit ihrem Bestehen" 1357 . Kohl wies daraufhin, dass Deutschland erhebliche Opfer fur die neue Finanzverfassung der Gemeinschaft bringen werde. 1358 Vereinbart wurde die Erhöhung des Mehrwertsteueranteils von 1,6 Prozent auf zwei Prozent. Zu dem Wegfall des 1349 1350 1351 1352 1353 1354 1355 1356 1357 1358

Zit. nach Die Zeit, Nr. 3/43, 15. Januar 1988, S. 17f. Der Spiegel, Nr. 2/42, 11. Januar 1988, S. 16ff. Der Spiegel, Nr. 3/42, 18. Januar 1988, S. 86. Haushaltsausschuß, 20, 11. Wp„ S. 13 Haushaltsausschuß, 20, 11. Wp„ S. 15. Haushaltsausschuß, 20, 11 Wp„ S. 16ff. Die Welt, Nr. 35/1988, S. 1. Zit. nach Die Welt, Nr. 36/1988, S. 1. Die Welt, Nr. 38/1988, S. 1. Die Welt, Nr. 28/1988, S. 1.

295 mit sechs Mrd. D-Mark veranschlagten Bundesbankgewinnes kamen also 1988 zusätzliche Kosten für die Europäische Gemeinschaft in der Größenordnung von vier Mrd. D-Mark hinzu, so dass sich das Defizit, wie von der Regierung vorweggenommen, auf zehn Mrd. D-Mark vergrößerte. Man hatte sich in Brüssel außerdem darauf verständigt, zukünftig auch das BSP zur Grundlage der Beitragsberechnung heranzuziehen, wodurch sich ab 1992 die Kosten noch einmal wesendich erhöhen würden. 1 3 ' 9 1980 hatte die Bundesrepublik noch 12,4 Mrd. D-Mark an Brüssel überwiesen, 1988 waren es 22,3 Mrd. D-Mark. Der deutsche Nettobetrag erhöhte sich im selben Zeitraum von 4,1 auf 13 Mrd. D-Mark und bis 1994 auf 27,6 Mrd. D-Mark. 1 3 6 0 Die Wochenzeitung Die ZEIT warf der Regierung vor, den Sparkurs in Brüssel behindert zu haben. 1361 Tatsächlich hatte Landwirtschaftsminister Kiechle alles getan, um zu verhindern, dass die Überproduktion durch eine Senkung der Agrarpreise eingeschränkt wurde und hatte sich stattdessen fur eine Ausweitung der Stilllegungsprämien stark gemacht. 1362 Auf der traditionellen Aschermittwocheskundgebung in Passau gestand Strauß Kohl zu, er habe „das letztmögliche herausgeholt", aber das Ergebnis des Gipfels müsse dennoch unter der Uberschrift stehen „Weniger kriegen und mehr zahlen", wer die Süderweiterung gewollte habe, müsse jetzt auch die ,Alimente" zahlen. 1363 Stoltenberg hatte sich in der Koalitionsvereinbarung die Möglichkeit offen gehalten, Mehrausgaben fur die E G durch die Anhebung spezifischer Verbrauchssteuern zu finanzieren. Durch die Erhöhung der Verbrauchssteuern wollte Stoltenberg Mehreinnahmen von sechs bis acht Mrd. D-Mark erreichen. Die Heraufsetzung der Mineralölsteuer brachte pro Pfennig 500 Mio. D-Mark und bot sich an, da die Preise fur Benzin und Heizöl stark zurückgegangen waren. 1364 Sowohl Strauß als auch Lambsdorff waren gegen die Anhebung der Verbrauchssteuern. Strauß sagte im April, dass weder die 19 Mrd. D-Mark zur Gegenfinanzierung der Steuerreform noch die Fesdegung, die Neuverschuldung um zehn Mrd. D-Mark zu senken, als unveränderbare Größen betrachtet werden dürften. 1 3 6 5 Am 24. Mai 1988 traf sich im Konrad-Adenauer-Haus eine Runde, bestehend aus dem CDU-Präsidium und den Ministerpräsidenten. Da die Erhöhung der Mehrwertsteuer wegen der Widerstandshaltung der Liberalen nicht in Frage kam, einigte man sich auf die Erhöhung der Tabak- und Mineralölsteuer. Ministerpräsident Vogel war gegen eine stufenweise Erhöhung der Benzinpreise und forderte, sie müsse im einstelligen Bereich bleiben. Also vereinbarte man die Anhebung um neun Pfennig pro Liter. 1366 Die Haushaltssituation hatte sich in der Zwischenzeit durch die Lage auf dem Arbeitsmarkt, die in diesem Jahr zusätzliche Überweisungen an die Bundesanstalt von 1,2 Mrd. D-Mark nötig machte, weiter verschärft. Der Präsident der Bundesanstalt fur Arbeit hatte Blüm am 9. Mai in einem Schreiben mitgeteilt, dass ein höheres Defizit, als es 1359 1360 1361 1362 1363 1364 1365 1366

Die Zeit, Nr. 3/43, 15. Januar 1988, S. 1. Stoltenberg, Wendepunkte, S. 325. Die Zeit, Nr. 3/43, 15. Januar 1988, S. 1. Wirtschaftswoche, Nr. 52;53/41, 18. Dez. 1987, S. 17ff. Zit. nach Die Welt, Nr. 41/1988, S. 1. Wirtschaftswoche, Nr. 4/42, 22. Januar 1988, S. 17ff. Wirtschaftswoche, Nr. 14/42, 1. April 1988, S. 32ff. Der Spiegel, Nr. 22/42, 30. Mai 1988, S. lOOf.

296 dem Haushalt zugrunde liege, aufgrund der Arbeitsmarktentwicklung, der Verlängerung des Versicherungsschutzes und der gestiegenen Kosten für Qualifizierungs- und Fortbildungsmaßnahmen nicht auszuschließen sei. 1 3 6 7 Der Trend steigender Arbeitslosigkeit bei gleichzeitiger Ausweitung der Beschäftigungszahl hatte sich weiter fortgesetzt. In der Sitzung des Haushaltsausschusses am 16. Juni gestand die Koalition ein, dass die Finanzlage der Bundesanstalt angespannt und im laufenden Jahr ein Defizit von über einer Mrd. D-Mark und im nächsten Jahr von etwa fünf Mrd. D-Mark zu erwarten sei. 1 3 6 8 Blüm legte dar, dass immer noch die geburtenstarken Jahrgänge auf den Arbeitsmarkt drängten, zu denen auch die zweite und dritte Generation von Ausländern zu rechnen sei, und der Zustrom von Aussiedlern die Kosten für Sprachfbrderprogramme um zusätzliche 320 Mio. D-Mark in die Höhe schnellen ließ. Blüm verteidigte die Verlängerung der Leistungsbezüge, da dies zeige, dass der Vorwurf der Opposition, dass immer mehr Arbeitslose aus dem Leistungsbezug herausfallen würden, ungerechtfertigt sei. 1 3 6 9 Nicht nur die Bundesanstalt in Nürnberg, sondern auch die Rentenkasse benötigte einen erheblich höheren Zuschuss aus Bonn, zwei Mrd. statt der veranschlagten zusätzlichen 300 Mio. D-Mark. In einem Brief an den Kanzler hatte Strauß sogar vier Mrd. D-Mark gefordert. 1 3 7 0 Er wollte die Lasten nicht einseitig den Rentnern, sondern dem Bundeshaushalt aufbürden und sprach sich damit gegen die Einigung von Stoltenberg und Blüm aus, 1 3 7 1 die vereinbart hatten, den Beitrag um 0,5 Prozentpunkte zu erhöhen. 1372 Eine Woche zuvor hatte die Koalition Maßnahmen gegen die Haushaltskrise beschlossen. Strauß hatte, als er mit dem Wagen vor dem Kanzleramt vorfuhr, gegenüber der Presse die schwierige Situation auf den Punkt gebracht: „Geld fehlt überall." 1373 Beim folgenden Koalitionsgespräch beschränkte sich Kohl aufs Moderieren. Die FDP sprach sich fur die Beschränkung der Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes für die unter 25-Jährigen aus, was Blüm zurückwies. Stoltenberg rechnete positiv mit einer niedrigeren Arbeitslosigkeit und einem höheren Bundesbankgewinn. 1374 Die Koalitionsrunde verständigte sich schließlich darauf, bleifreies Benzin mit neun Pfennig, verbleites mit zwölf Pfennig und Heizöl mit vier Pfennig pro Liter stärker zu besteuern, also der Linie zu folgen, die bereits im C D U Präsidium vorgegeben worden war. 1 3 7 5 Dieselkraftstoffe wurden nicht stärker belastet, aber die Inhaber von Dieselfahrzeugen mussten eine höhere Kfz-Steuer entrichten. Auch die Abgaben für Tabak und Sachversicherungen sollten erhöht werden. Man einigte sich außerdem auf die Erhöhung der Arbeitslosenversicherung um 0,5 Prozent. 1376 Mit diesen „Steuererhöhungen vor der Steuersenkung" verringerte sich der Endastungseffekt der Steuerreform erheblich. Die Erhöhung der indirekten Besteuerung belastete die Steuerzahler um zusätzliche sieben Mrd. D-Mark, die Anhebung der Sozialabgaben würde den 1367 1368 1369 1370 1371 1372 1373 1374 1375 1376

Haushaltsausschuß, 30, 11 Wp„ S. 39 ff. Haushaltsausschuß, 30, 11 Wp„ S. 42. Haushaltsausschuß, 30, 11. Wp, S. 44 f. Die Welt, Nr. 152/1988, S. 1. Der Spiegel, Nr. 27/42, 4. Juli 1988, S. 82. Die Welt, Nr. 130/1988, S. 1. Zit. nach Der Spiegel, Nr. 24/42, 13. Juni 1988, S. 98. Der Spiegel, Nr. 24/42, 13. Juni 1988, S. 98 f. Die Zeit, Nr. 25/43, 17. Juni 1988, S. 20. Der Spiegel, Nr. 24/42, 13. Juni 1988, S. 98 f.

297 Beitragszahlern zusätzlich fiinf Mrd. D-Mark abfordern. Der psychologische Effekt war deshalb besonders verheerend, da die zusätzlichen Belastungen bereits im nächsten Jahr vor dem Wirksamwerden der Steuerreform griffen. Als die Regierungsfraktionen ihre Zustimmung zur Erhöhung der Arbeitslosenversicherung verweigerten, ließ Kohl auf dem Gipfel in Ottawa verkünden, dass die fünf Mrd. D-Mark anderweitig aufgebracht werden müssten. 1377 Die Regierungskoalition einigte sich am 5. Juli 1988 auf die Einführung einer Erdgassteuer von drei Pfennig je Kubikmeter ab 1989. 1 3 7 8 Die Einfuhrung der Erdgassteuer bedeutete Mehreinnahmen von 1,8 Mrd. D-Mark und brachte die Bundesregierung in die Kritik, da die Steuer eine umweltfreundliche Energiequelle betraf. 1379 Besonders in der FDP stieß die Erdgasbesteuerung auf Ablehnung, und sie trug die Forderung vor, stattdessen Subventionen abzubauen. 1380 Erst im Oktober kam es zu einer Einigung, die zu einer differenzierten Besteuerung von Kraftwerken und Verbrauchern führte. 1381 Am 7. Juli präsentierte Stoltenberg seine Planung fur das Jahr 1989 und die kommenden Jahre vor dem erweiterten Kabinett. Der Haushalt sollte mit 4,6 Prozent doppelt so stark wie ursprünglich geplant wachsen, die Nettokreditaufnahme steigen. Ohne das Defizit der Bundesanstalt für Arbeit und die zusätzlichen Strukturhilfen hätte der Anstieg nur 2,5 Prozent betragen. Nach einer siebenstündigen Sitzung verabschiedete das Kabinett den Haushaltsentwurf für 1989, die mittelfristige Finanzplanung bis 1992, den Nachtragshaushalt für 1988, sowie die Steuererhöhungen für Erdgas, Tabak und Versicherungen. Die Neuverschuldung des Bundes sollte 1989 von 39,2 Mrd. D-Mark auf 32 Mrd. D-Mark zurückgeführt werden, also nicht ganz um die von Kohl angekündigten zehn Mrd. D-Mark. Durch den Anstieg der Subventionen für Kohle, Stahl und den Airbus würde der Etat des liberalen Wirtschaftsministers, dessen Partei wie eh und je die Rückführung der Subventionen forderte, 1989 um 20 Prozent wachsen; er lag damit an der Spitze aller Einzeletats. 1382

Der Aufschwung ab Herbst 1988 und Finanzminister Waigel Die Entwicklung des Jahres 1988 zeigt, mit welcher Geschwindigkeit sich die Rahmenbedingungen der Wirtschafts- und Finanzpolitik ändern können und wie stark die politische Position eines Kanzlers an den unvorhersehbaren Wellen der Konjunktur hängt. Bis zum Herbst 1988 zeichnete sich eine fur den Kanzler positive Wendung ab. Nachdem das Defizit im ersten Halbjahr 1988 durch den Wegfall des Bundesbankgewinns um acht Mrd. D-Mark höher war als im Vorjahreszeitraum, die Kassenausgaben waren um

1377 1378 1379 1380 1381 1382

Der Spiegel, Nr. 25/42, 20. Juni 1988, S. 18ff. Archiv der Gegenwart, S. 32342. Die Zeit, Nr. 28/43, 8. Juli 1988, S. 18. Der Spiegel, Nr. 28/42, 11. Juli 1988, S. 16ff. Die Welt, Nr. 254/1988, S. 1. Archiv der Gegenwart, S. 32342.

298 3,5 Prozent gestiegen, die Einnahmen lagen ein Prozent unter dem Vorjahresniveau, 1383 revidierte der „Arbeitskreis Steuerschätzung" seine Prognose vom Frühjahr drastisch nach oben. 1 3 8 4 Im ersten Halbjahr lag das Wachstum mit 3,9 Prozent weit über den Schätzungen zum Jahresanfang, und es zeichnete sich ab, dass bei konstanter Stärke des Dollars Stoltenberg ein zweistelliger Milliardenbetrag zur Verfügung stehen würde. Somit konnte Kohl seinen innerparteilichen Gegnern gegenüber wieder selbstbewusster auftreten. Im CDU-Bundesvorstand machte Kohl, als er die veränderte finanz- und wirtschaftspolitische Lage erläuterte, die Bemerkung, dass einige „auch in diesem Kreise" die Entwicklung vor kurzem noch ganz anders beurteilt hätten; der anwesende Lothar Späth musste zugeben, dass er sich mit seinen pessimistischen Prognosen geirrt hatte. 1 3 8 ' Der Finanzminister erklärte im September im Bundestag, dass der Bundeshaushalt 1989 und der Finanzplan unter dem Vorzeichen verbesserter Wirtschaftsdaten stünden. Die Schwierigkeiten, in die seine Finanzpolitik infolge des Dollarsturzes geraten war, spielte er herunter: „Die Entwicklung der öffentlichen Finanzen ist in den Ablauf wirtschaftlicher Trends und ihrer manchmal kurzfristigen Schwankungen eingebunden. So sind gewisse Abweichungen von angestrebten Zielgrößen und quantitativen Orientierungen in Zeiten des raschen Wandels der Daten und Prognosen unvermeidbar." 1386 Die Vorhersage der „falschen Propheten" sei widerlegt worden, da weder die Rezession noch die explodierende Staatsverschuldung eingetroffen sei. 1 3 8 7 Im Dezember 1988 stellte die Bundesbank fest: „Das Defizit wird im Gesamtjahr 1988 zwar höher ausfallen als 1987. Jedoch wird sich die Deckungslücke dank der konjunkturbedingten Steuermehreinnahmen nicht in dem Maße ausweiten, wie dies aufgrund der Steuersenkung, der Schmälerung der Bundeseinnahmen durch den höheren Finanzbedarf der E G und des weitgehenden Wegfalls einer Gewinnabführung der Bundesbank zunächst erwartet worden war." 1 3 8 8 Die weitere wirtschaftliche Entwicklung wurde von den Wirtschaftsforschungsinstituten sehr optimistisch beurteilt. Bei der Aufstellung des Etats war man für 1988 und 1989 von einem Wachstum von 3,5 Prozent ausgegangen, die Konjunkturforscher prognostizierten nun ein Wachstum von fünf Prozent für dieses und von vier Prozent für das nächste Jahr. Das Steueraufkommen werde durch die Anhebung der Verbrauchssteuer, die Einführung der Quellensteuer und die Progression um 6,5 Prozent wachsen. 1389 Alle Hoffnungen konzentrierten sich auf den Dollar, dessen Stärke vom Ausgang der Präsidentenwahlen abzuhängen schien, dessen Kursanstieg der Startschuss für die Formulierung neuer Ansprüche sein konnte. Die FDP wollte die Erdgassteuer kippen; der linke Flügel der Union hoffte auf Zuwendungen für den Sozialstaat, da laut Koalitionsvertrag ab 1989 mehr Geld für die Familienpolitik vorgesehen war. Um den Begehrlichkeiten entgegenzutreten, machte Stoltenberg auf die Risiken aufmerksam, die die Bürgschaften Monatsberichte, August 1988, S. 8. Die Zeit, Nr. 47/43, 18. November 1988, S. 28. 1 3 8 5 Der Spiegel, Nr. 37/42, 12. September 1988, S. 18ff. 1386 Verhandlungen, Band 145, S. 6061. 1387 Verhandlungen, Band 145, S. 6060 ff. 1 3 8 8 Monatsberichte, Dezember 1988, S. 21. 1 3 8 9 Wirtschaftswoche, Nr. 47/42, 18. November 1988, S. 18 f.

1383 1384

299 fur Brasilien, Argentinien und Polen beinhalteten. 1390 Er stellte im Bundestag entgegen der Koalitionsvereinbarung fest, dass es auch 1990 keinen weiteren Spielraum für neue Leistungsgesetze gäbe, was die Familien- und Sozialpolitiker der Union mit öffendichem Widerspruch beantworteten. Kohl wollte den Aufwind der Regierung nach der Sommerpause nicht durch eine erneute parteiinterne Debatte gefährden. Auf dem Kleinen Parteitag in Bonn bezeichnete er die Diskussion über neue familienpolitische Leistungen in dieser Legislaturperiode als „gänzlich unnötig". Stoltenberg lenkte ein und erklärte, dass er den Beschluss mittrage, das Kindergeld noch in dieser Legislaturperiode zu erhöhen, und fugte sich dem Beschluss des Kleinen Parteitages, stufenweise das Erziehungsgeld und den Erziehungsurlaub auszuweiten. Er stellte lediglich fest, dies dürfe nicht zu einer Erhöhung des Gesamtaufwandes fuhren. 1391 In einem anderen wichtigen Punkt konnte sich der Finanzminister durchsetzen. Ursprünglich hatte Kohl beabsichtigt, die erwarteten Mehreinnahmen aus dem Bundesbankgewinn zur versprochenen Verringerung des Defizits zu verwenden. 1392 Stoltenberg führte eine bedeutsame Neuregelung ein, die diese Möglichkeit begrenzte. Der Finanzminister veranlasste eine Neuerung des Haushaltsgesetzes, wonach alle Gewinne der Bundesbank, die über fünf Mrd. D-Mark hinausgingen, für die Tilgung von Altschulden verwendet werden sollten. 1393 Diese „Zweckbindung" des Bundesbankgewinns, der schließlich 1989 bei statdichen 10,04 Mrd. D-Mark lag, sollte die Begehrlichkeiten zurückdrängen, indem in einem Akt „parlamentarischer Selbstdisziplinierung" die zusätzlichen Mittel der Entscheidungsgewalt der Legislative entzogen wurden. 1394 Die Kritiker sahen darin eine Beeinträchtigung der Budget-Rechte des Parlaments, was formal-rechdich nicht zutraf. 1395 Durch die Neuregelung wurde verhindert, dass sich zukünftig die Schwankungen des Bundesbankgewinnes zu 100 Prozent auf die Höhe der Nettoneuverschuldung auswirken würden. Die Tilgung der Altschulden verringerte nicht mehr in vollem Umfang das Haushaltsdefizit, sondern die Gesamtschuldenlast, was allein fur die Abzahlung im kommenden Jahr eine Zinsersparnis von 70 Mio. D-Mark jährlich brachte. 1396 Durch die Einstellung des Bundesbankgewinns ließen sich zwar gerade zum Beginn der Regierungskoalition schnelle Prestigeerfolge erzielen, da der Fortschritt in der Offendichkeit mit der nominellen Senkung der Nettokreditaufnahme gleichgesetzt wurde. Die Unbeständigkeit der Einnahme hatte sich jedoch als erhebliches finanzpolitisches Risiko offenbart und reale Sanierungsfortschritte eher verhindert. 1397 Auch in der personellen Konstellation der Bundespolitik ereigneten sich wesentliche Veränderungen. Am 3. Oktober 1988 verstarb Franz Josef Strauß im Alter von 73 Jahren. 1398 Der Spiegel, Nr. 35/42, 29. August 1988, S. 96. Die Welt, Nr. 214/1989, S. 1. 1392 Di e t: r i c h Dickertmann, Bundesbankgewinn: Mit zweckgebundener Verwendung im Bundeshaushalt, Trier 1989, S. 4 1 3 9 3 Die Zeit, Nr. 37/43, 9. September 1988, S. 23. 1394 Dickertmann, S. 6.

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1395 1396 1397 1398

Ders., S. 7 f. Ders., S. 9. Ders., S. 7. Archiv der Gegenwart, S. 32597.

300 Sein Nachfolger im Amt des bayerischen Ministerpräsidenten wurde der bisherige bayerische Finanzminister Max Streibl, und am 20. November wählten die Delegierten auf dem CSU-Parteitag Theo Waigel mit 98,3 Prozent zum neuen Parteivorsitzenden1399 Im Mai hatte Bangemann seine Kandidatur fur das Amt des Präsidenten der EG-Kommission bekannt gegeben; sein Nachfolger als Wirtschaftsminister wurde der bisherige FDP-Generalsekretär Haussmann. 1 4 0 0 Auf dem Wiesbadener Parteitag wählte die FDP Otto Graf Lambsdorff als Nachfolger von Martin Bangemann zum Vorsitzenden der Liberalen. 1401 Die Wahl des Hauptprotagonisten der Bonner „Wende" war eine Bestätigung des christlich-liberalen Bündnisses. Die günstige Konjunkturentwicklung bewahrte die Regierungskoalition nicht vor weiteren politischen Rückschlägen. Bei der Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus am 29. Januar 1989 verloren C D U und FDP ihre bisherige Mehrheit. Die C D U fiel von über 46 Prozent auf 37 Prozent zurück und die FDP verfehlte den Einzug in das Landesparlament. Die SPD und die AL legten zu, und den Republikanern gelang erstmalig der Einzug in ein Landesparlament. 1402 Nach dem Wahldebakel in Berlin wurden immer neue finanzielle Forderungen formuliert, und die Konsolidierungspolitik geriet erneut in Gefahr. Weng äußerte, dass niemand mehr zur Kenntnis nehmen wolle, dass das Land überschuldet sei und ein Bonner Spitzenbeamter meinte: „Für Stoltenberg wird das Berliner Wahlergebnis am teuersten." 1403 Tatsächlich ließ ein neuer Vorstoß der Sozial- und Familienpolitiker nicht mehr lange auf sich warten. Süssmuth, Geißler und Ulf Fink brachten eine Anhebung des Kinderund eine Ausdehnung des Erziehungsgeldes ins Gespräch. Auch von Möllemann, Töpfer und Kiechle wurden weitere Forderungen vorgetragen. 1404 Noch vor der Berliner Wahl hatte Dregger die Initiative ergriffen und im Fraktionsvorstand den Beschluss herbeigeführt, von der Bundesregierung eine Verbesserung des Kinder- und Erziehungsgeldes zu fordern. Darüber hinaus setzte die Fraktion eine Kommission „Familien- und kinderfreundliche Politik" ein. 1 4 0 5 Im März und April kam es zum offenen Streit zwischen dem Bundeskanzler und der CDU/CSU-Bundestagsfraktion. Die Fraktion forderte Nachverhandlungen über höhere familienpolitische Leistungen. Stoltenberg vertrat die Ansicht, dass schon der von der Koalitionsfuhrung in einer zähen Nachtsitzung am 15. März 1989 vereinbarten Kompromiss kaum mehr zu finanzieren sei. Zwischen ihm und Geißler, der die Fraktion hinter sich wusste, kam es zu einer harten Auseinandersetzung. Die Unionsfraktion forderte eine Verbesserung des Kindergeldes noch in dieser Legislaturperiode und nicht erst 1992 und lehnte den von der FDP in den Verhandlungen durchgesetzten „Steuerabzug" fur Haushaltshilfen ab. 1 4 0 6 Geißler und der Fraktion gelang es, sich zum Schaden des Bundeskanzlers, dem wieder einmal Führungsschwäche vorgeworfen 1399 Ατς^ίν d e r Gegenwart, S. 32769. 1400 1401 1402 1403 1404 1405 1406

Archiv der Gegenwart, S. 32192. Archiv der Gegenwart, S. 32600. FAZ, Nr. 25/1989, S. 1. Wirtschaftswoche, Nr. 9/43, 24. Februar 1989, S. I4f. Zit. nach S. 14. Wirtschaftswoche, Nr. 9/43, 24. Februar 1989, S. 14 f. FAZ, Nr. 20/1989, S. 1. FAZ, Nr. 63/1989, S. l f .

301 wurde, durchzusetzen. 1407 Nach Ostern wurden als Konsequenz verschiedene finanzielle Wohltaten fur die Bürger beschlossen. Die Mittel fur den Sozialen Wohnungsbau und die fämilienpolitischen Leistungen wurden aufgestockt und Maßnahmen zugunsten von Langzeitarbeitslosen getroffen. 1408 Der Finanzminister, unter dem diese Beschlüsse fielen, hieß allerdings nicht mehr Stoltenberg. Im Januar 1989 hatte Kohl eine Kabinettsumbildung angekündigt, und Stoltenberg hatte ihm seine Bereitschaft signalisiert, zugunsten von Theo Waigel auf das Finanzministerium zu verzichten. Am 17. März sagte Kohl, er werde über die Verbesserung der Regierungsarbeit und der Kabinettsreform im Urlaub nachdenken. Der FDP-Vorsitzende Lambsdorff bezeichnete am 20. März die Kabinettsumbildung als geeignetes Mittel, um die Koalition aus ihrer „schwierigen Situation" herauszubringen. Nach Kohls Rückkehr gab der Kanzler am 13. April offiziell die Kabinettsumbildung bekannt. 1409 Gerhard Stoltenberg, der bereits am 9. April von Ottfried Henning als Vorsitzender der C D U in Schleswig-Holstein abgelöst worden war, 1 4 1 0 wechselte in das Verteidigungsministerium. Theo Waigel, der gezögert hatte, in das Kabinett des angeschlagenen Kanzlers einzutreten, wurde sein Nachfolger. Anders als Die ZEIT behauptete, war Waigel im Hinblick auf die Finanzpolitik kein „unbeschriebenes Blatt", 1 4 1 1 er hatte seine Karriere als Referent im bayerischen Finanzministerium begonnen und wirkte mehrere Jahre im Haushaltsauschuss. Die FDP stand der Vergabe dieser politischen Schlüsselposition an den CSU-Vorsitzenden positiv gegenüber. Solms erklärte: „In der Finanzpolitik haben wir mit der C S U nie grundsätzliche Probleme gehabt." 1 4 1 2 Waigel hatte die Übernahme des Finanzministeriums von der Rücknahme der Quellensteuer abhängig gemacht. Im Gegenzug versprach der CSU-Vorsitzende im kommenden Jahr bei der bayerischen Landtagswahl auf einen Distanzierungswahlkampf, wie ihn Lothar Späth gefuhrt hatte, zu verzichten. Die bayerische Staatskanzlei und Tandlers Finanzministerium erarbeiteten die Pläne zur Abschaffung der Quellensteuer in Zusammenarbeit mit Waigels Freund Franz Neubauer, dem Präsidenten des bayerischen Sparkassen* und Giroverbandes. 1413 Waigel fand für seine Linie auch die Unterstützung des CDU-Vorstandes. Nach einer langen Diskussion plädierten Späth, Teufel, der rheinlandpfälzische Landesvorsitzende Hans-Otto Wilhelm und der Bremer CDU-Chef Bernd Neumann für die ersatzlose Streichung der Quellensteuer. 1414 So konnte Waigel pünkdich zu seiner Amtseinführung am 21. April 1989 die Abschaffung der Quellensteuer zum schnellstmöglichen Zeitpunkt bekannt geben. Die von den Lebensversicherungen einbehaltenen Steuern sollten zurückerstattet und der Freibetrag rückwirkend zum 1. Januar verdoppelt werden. Am 10. Mai wurde die Abschaffung vom Kabinett

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Münch, S. 44. Wirtschaftswoche, Nr. 22/43, 26. Mai 1989, S. 24 f. Archiv der Gegenwart, S. 33251 f. Archiv der Gegenwart, S. 33253. Die Zeit, Nr. 40/44, 29. September 1989, S. 29. Die Zeit, Nr. 17/44, 21. April 1989, S. 33. Wirtschaftswoche, Nr. 16/43, 14. April 1989, S. 21 f. Wirtschaftswoche, Nr. 17/43, 21. April 1989, S. I4f.

302 beschlossen. 1415 Waigel erklärte zwei Tage später vor dem Deutschen Bundestag, dass die kleine Kapitalertragssteuer zum 1. Juli 1989 abgeschafft und bereits gezahlte Steuern auf die Zinserträge von Lebensversicherungen zurückerstattet würden oder mit der Steuer verrechnet werden konnten. Im Zusammenhang mit der Ankündigung der Steuer habe sich der Kapitalexport verstärkt, und die Kapitalanlagen von Ausländern seien zurückgegangen. Die Zinseinkommen blieben steuerpflichtig, und die Geldinstitute sollten ihre Kunden auf die Steuerpflicht der Kapitalerträge hinweisen. Durch das Gesetz über strafbefreiende Erklärungen bestehe weiterhin der Anreiz, den Weg in die Steuerehrlichkeit zu gehen. Der gesetzliche Bankenerlass bleibe weiter in Kraft, da die Einfuhrung von Kontrollmitteilungen den Kapitalmarkt nur erneut belasten würde. 1416 Die negativen Vorhersagen hatten sich tatsächlich bewahrheitet. Als Folge der Einführung der Quellensteuer hatten die Banken ausländische Investmentfonds vor allem in Luxemburg geschaffen. Dort hatten sich innerhalb weniger Wochen nach der Einfuhrung Milliardenbeträge gesammelt. Allein die Ankündigung der Steuer hatte die Absetzbarkeit staadicher Schuldscheine und der Staatsanleihen deudich verschlechtert, und die Zinsen waren um einen halben Prozentpunkt gestiegen. Nun, nach der Abschaffung, begannen die Zinsen wieder zu sinken. 1417 Waigels Regierungsstil unterschied sich grundsätzlich von dem Stoltenbergs. Auf die Beamten im Finanzministerium wirkte der neue Finanzminister jovialer und freundlicher als sein Vorgänger, und er pflegte einen weniger verkrampften Umgang; gleich nach seiner Amtsübernahme veranlasste er das erste Betriebsfest im Ministerium seit der Regierungsübernahme. Waigel führte seine Amtsgeschäfte zum großen Teil von München aus und nahm nicht an den wöchendichen Sitzungen der Abteilungsleiter teil. Waigel kam am Montagabend erst ins Ministerium, um es am Freitag frühzeitig wieder zu verlassen und nach Bayern zurückzukehren. 1418 Die Opposition warf Waigel deshalb vor, er sei ein Hobby- oder Teilzeitminister und verwende ebenso viel Zeit fur das Amt des Parteivorsitzenden wie fiir das des Finanzministers. 1419 Viele vermuteten, Waigel sei in die angeschlagene Regierung eingetreten, um sich eine bessere Ausgangsposition im Konkurrenzkampf mit dem bayerischen Ministerpräsidenten und ehemaligen bayerischen Finanzminister Max Streibl zu verschaffen. Ein hoher Beamter im Finanzministerium äußerte, Waigel denke zuerst politisch und dann fachlich, bei Stoltenberg sei dies umgekehrt gewesen. Der neue Finanzminister sei politisch geschickter als Stoltenberg und würde sich anders als dieser nicht in Details verlieren. 1420 Die ZEIT, die dem früheren Finanzminister relativ wohlwollend gegenübergestanden hatte, konstatierte hingegen, mit dem Abgang Stoltenbergs sei auch der Stabilitätskurs aufgegeben worden. 1421 Am 2. Juni 1989 stimmte der Bundestag dem zweiten Nachtragshaushalt zu. Die Gesamtausgaben betrugen 291,3 Mrd. D-Mark, was einer Ausgabensteigerung von 5,8 Prozent entsprach. Der Mehrbedarf von 1,06 Mrd. D-Mark ergab sich aus den Kosten für Aus14,5 1416 1417 1418 1419 1420 1421

Archiv der Gegenwart, S. 33354. Verhandlungen, Band 149, S. 10724ff. Die Zeit, Nr. 19/44, 5. Mai 1989, S. 41. Die Zeit, Nr. 40/44, 29. September 1989, S. 29. Die Zeit, Nr. 37/44, 8. September 1989, S. 38. Die Zeit, Nr. 40/44, 29. September 1989, S. 29. Die Zeit, Nr. 28/44, 7. Juli 1989, S. 1.

303 und Übersiedler, der Erhöhung des Erziehungsgeldes, der Anerkennung der Erziehungszeiten in der Rentenversicherung und dem Hochschulsonderprogramm. Bei der Arbeitslosenhilfe konnten aufgrund der günstigen Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt 350 Mio. D-Mark eingespart werden. Im selben Monat stellte die Bundesbank fest: „Im laufenden Jahr steht die Finanzentwicklung im Zeichen einer erheblichen Verbesserung der Haushaltslage durch stark wachsende Einnahmen." 1 4 2 2 Der Bundesbankgewinn schlug mit zehn Mrd. D-Mark gegenüber 0,2 Mrd. D-Mark im letzten Jahr zu Buche. 1 4 2 3 Die Bundesregierung schien sich also im Aufwind zu befinden. Sowohl der Abgang von Gerhard Stoltenberg als auch die Abschaffung der unpopulären Quellensteuer beendete die negative Serie der Regierung jedoch nicht. Bei den Kommunalwahlen in RheinlandPfalz und im Saarland musste die C D U erhebliche Verluste hinnehmen, 1424 auch die Europawahl ging für die Union verloren. 1425 Waigel beauftragte seine Experten damit, die Steuerreform durchzuforsten und alles zu melden, was sich auf die kommenden Wahlen negativ auswirken könnte. 1 4 2 6 Der Haushalt 1990 wurde von Waigel in Perspektive auf die Wahlen in Bayern und im Bund hin angelegt. Die Steuerprivilegien für bestimmte Personengruppen wie Dienstwagenbesitzer und Journalisten blieben erhalten. 1427 Dem Bundesland Bayern kamen zusätzliche Zahlungen fiir Wackersdorf, Mittel für den von der C S U gestellten Verkehrsminister, für den Ausbau der Maintalautobahn und eine Erhöhung der Förderung des Zonenrandgebietes zugute. Insgesamt war Waigels Planung wesendich großzügiger ausgelegt und in Bezug auf die Schuldenrückführung weniger ehrgeizig als die seines Vorgängers. Bis 1993 sollten die Schulden von 498 Mrd. D-Mark auf 617 Mrd. D-Mark wachsen. Die Zinsen würden dann voraussichdich bei 41 Mrd. D-Mark liegen, was nach der Finanzplanung etwa 15 Prozent der Staatseinnahmen entsprach. Noch vor der Verabschiedung kritisierte der FDP-Finanzexperte Wolfgang Weng den Haushalt und wurde dafür von der Koalition gerügt. Das Kabinett verabschiedete den Haushalt im Juli in großer Besetzung zusammen mit Vertretern der Bundesbank und den Etatfachleuten der Koalition. 1428 Waigel eröffnete seine Rede am 4. September zum Haushalt mit der Feststellung, dass finanzpolitische Solidität und politisches Gestaltungsvermögen die Markenzeichen der Bundesregierung seit 1982 wären. In diesem Jahr werde die Neuverschuldung eher unter 25 Mrd. D-Mark liegen und damit deudich unter der veranschlagten Neuverschuldung von 27,6 Mrd. D-Mark bleiben. Er prognostizierte fiir das Jahr 1990 ein Defizit von 33 Mrd. D-Mark. Er machte darauf aufmerksam, dass das Bruttosozialprodukt im letzten Jahr mit 3,7 Prozent so stark gestiegen war wie seit 1979 nicht mehr. Der Anstieg der Neuverschuldung von 3,4 Prozent in diesem und von durchschnittlich drei Prozent bis Monatsberichte, Juni 1989, S: 20f. Monatsberichte, Oktober 1989, S. 8. 1 4 2 4 Archiv der Gegenwart, S. 33434. 1 4 2 5 Die Zeit, Nr. 28/44, 7. Juli 1989, S. 1. 1 4 2 6 Der Spiegel, Nr. 27/43, 3. Juli 1989, S. 70f. 1427 £); e Zeit, Nr. 40/44, 29. September 1989, S. 29. Die Freibeträge für Journalisten waren noch unter Adenauer eingeführt worden und privilegierten vor allem Parlamentsjournalisten mit einer steuerfreien Werbungskostenpauschale von 850 D-Mark. 1 4 2 8 Der Spiegel, Nr. 28/43, 10. Juli 1989, S. 74ff.

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304 1993 blieb unterhalb des allgemeinen Wirtschaftswachstums. Er stellte die Entlastungen durch die Steuersenkungen heraus und hob hervor, dass die Quellensteuer den positiven Blick auf die Steuerreform versperrt hätte. Er stellte eine weitere Entlastung der Familien in der kommenden Legislaturperiode in Aussicht. Seit 1983 wären die familienpolitischen Leistungen insgesamt um 18 Mrd. D-Mark angehoben worden. Als Konsequenz der Entwicklung der Rentenkasse werde der Zuschuss 1990 um 300 Mio. D-Mark und 1991 um 2,3 Mrd. D-Mark aufgestockt. In gesamtwirtschaftlicher Sicht ernte die Regierung, was sie in den ersten Jahren nach dem Regierungswechsel gesät habe. 1 4 2 9 Die Haushaltsentwicklung profitierte davon, dass die weitere finanzielle Entwicklung die optimistischen Erwartungen des Finanzministers in den Schatten stellte. Die Zunahme der Kasseneinnahmen lag schließlich bei zwölf Prozent; 1430 das übertraf sogar noch die sehr positive Steuerschätzung vom November, die von einer Einnahmesteigerung in diesem Jahr von 9,3 Prozent ausgegangen war. 1431 Der Konjunkturaufschwung und der damit einhergehende starke Anstieg der Steuereinnahmen bewirkten, dass die Neuverschuldung seit 15 Jahren zum ersten Mal wieder unter 20 Mrd. D-Mark sank, 1 4 3 2 und das im Vergleich zu einer Neuverschuldung von 36 Mrd. D-Mark im Jahr zuvor. 1433 Zwischen den zwei Schritten der Steuersenkung 1988 und 1990 wirkte sich in diesem Jahr die Progression des Einkommenssteuertarifs noch einmal voll aus, und die Erhöhung der „spezifischen Verbrauchssteuern" vom letzten Jahr führte in diesem Bereich sogar zu einem Anstieg der Einnahmen von 17 Prozent. Die Ausgabensteigerung blieb hinter den Annahmen des Nachtragshaushalts zurück, da die Finanzhilfen für die Bundesanstalt fur Arbeit wesentlich geringer ausfallen mussten als veranschlagt. 1434 Diese positive Entwicklung war auch eine Folge der dynamischen Entwicklung der Beschäftigung. Im Sommer 1989 lag die Arbeitslosigkeit in der Bundesrepublik erstmals wieder seit dem Oktober 1982 unter zwei Millionen, einhergehend mit der höchsten Beschäftigungszahl der letzten 40 Jahre. 1 4 3 5 Damit war Waigel in den Schoß gefallen, wofür Stoltenberg sechs Jahre als Finanzminister gekämpft hatte. Die Prognosen fur das kommende Jahr waren günstig. Die Steuerreform 1990 würde zwar zu Einnahmeverlusten für alle Gebietskörperschaften von 24 Mrd. D-Mark fuhren, dennoch konnte man davon ausgehen, dass sich durch den Anstieg bei Einkommen und Umsätzen die Einnahmen trotz Steuerentlastung leicht erhöhen würden. 1436 Die Kosten, die die Bundesrepublik infolge des Falles der Berliner Mauer zu bewältigen hatte, wurden für das kommende Jahr noch als gering eingeschätzt. 1437

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Verhandlungen, Band 150, S. 1165 5 ff. Monatsberichte, Januar 1990, S. 8. Monatsberichte, Dezember 1989, S. 24. Institut Finanzen und Steuern, Zur Eigendynamik unserer Staatsverschuldung, Bonn 1995, S. 65; Monatsberichte, Januar 1990, S. 22. Die angegebenen Werte schwanken zwischen 15 und 19 Mrd. D-Mark, je nachdem, in welcher Größenordnung der Bundesbankgewinn einbezogen wird. Monatsberichte, Januar 1990, S. 22. Monatsberichte, Januar 1990, S. 20. Die Welt, Nr. 127/1989, S. 1. Monatsberichte, Dezember 1989, S. 25. Ebd.

305 Infolge des Besucherstroms nach der Öffnung der Mauer am 9. November musste der Bund bis zum Ende des Jahres immerhin schon 1,5 Mrd. D-Mark fur das Begrüßungsgeld aufwenden, was zwei Prozent der Gesamtausgaben des letzten Haushaltsquartals entsprach. 1438 Die wirtschaftlichen Probleme der Wiedervereinigung und die politische und soziale Integration der neuen Bundesländer stellten allerdings für die Zukunft eine Herausforderung dar, die die finanzpolitischen Aufgaben der achtziger Jahre bei weitem in den Schatten stellen sollten. Bei der Übernahme der Regierung war der Bund mit 309 Mrd. D-Mark verschuldet, im Jahr 1989 lag die Schuldenlast bei über 490 Mrd. D-Mark. 1 4 3 9 Die Zinslast des Bundeshaushalts stieg im selben Zeitraum von über 22 Mrd. D-Mark auf knapp über 32. Mrd. D-Mark. 1 4 4 0 Wesendich günstiger präsentiert sich das Ergebnis der Konsolidierungspolitik, wenn die Verschuldung des Gesamtstaates im Verhältnis zum Bruttosozialprodukt betrachtet wird. Der Anteil des Staatsdefizits am Gesamtvolumen der deutschen Volkswirtschaft ging von über vier Prozent in den Jahren 1981 und 1982 kontinuierlich auf 1,5 Prozent im Jahr 1989 zurück. 1441 Der Anteil der Gesamtverschuldung am BSP war in diesem Zeitraum leicht von 41 auf 43 Prozent gewachsen, was im Vergleich mit anderen OECD-Staaten als moderate Entwicklung bezeichnet werden kann. Die Staatsschuldenquote der Vereinigten Staaten war infolge der Reaganschen Politik von 43 auf 53 Prozent gestiegen, die Japans machte 1983 zwei Drittel des BSP aus und lag 1989 bei über 70 Prozent. Großbritannien hatte allerdings seine Schulden im selben Zeitabschnitt von 53 auf 37 Prozent zurückfuhren können. 1 4 4 2 Das war die Bilanz der vergangenen sieben Jahre, mit der im Rücken sich die chrisdichliberale Koalition den neuen Aufgaben stellen musste, fur die bislang keine ökonomischen und finanzpolitischen Erfahrungswerte vorlagen.

Zusammenfassung: Aufschwung und Finanzpolitik 1989 Die Jahre 1988 und 1989 zeigen, wie schnell sich die wirtschaftlichen Ausgangsbedingungen verändern können und die Wechselfälle des ökonomischen Klimas über Erfolg und Misserfolg einer Regierung entscheiden. Das Jahr 1988 war ein Jahr des Rückschlages für die Haushaltssanierung. Die Entwicklung zeigte, dass der Sanierungskurs von der Lage auf dem Arbeitsmarkt und dem Bundesbankgewinn abhängig war. Der Sturz des Dollar riss ein Loch in den Bundeshaushalt und quasi über Nacht schienen alle Sanierungserfolge der letzten Jahre in Frage gestellt. Die Arbeitslosigkeit war ein nicht zu bewältigendes Phänomen, da selbst die Ausweitung der Beschäftigung nicht mit der Nachfrage nach Arbeit mithalten konnte. Hinzu kamen die wachsenden Lasten der Europapolitik. Schon in den ersten Jahren seiner Regierung Monatsberichte, Dezember 1989, S. 20. 1439 Eigendynamik, S. 64. 1440 Eigendynamik, S. 69. 1 4 4 1 Eigendynamik, S. 66. 1 4 4 2 Eigendynamik, S. 76. 1438

306 hatte Kohl die Erfahrung gemacht, dass ohne die Zahlungsbereitschaft der Deutschen keine politischen Erfolge in Europa zu erreichen waren. Um diese Lasten bewältigen zu können und das sich auftuende Defizit wieder zu schließen, wurden Steuern, vor allem auf Energie- und Sozialabgaben erhöht. Dies war psychologisch besonders problematisch, da die Union zur gleichen Zeit eine umfassende Entlastung der Bürger durch die Steuerreform versprach. Auch dieser Umstand erklärt das Stimmungstief der Bundesregierung zum Ende der zweiten Legislaturperiode. Im Herbst 1988 setzte die wirtschaftliche Wende ein, die düsteren Prognosen bewahrheiteten sich nicht. Dies führte jedoch noch nicht umgehend zu einer Verbesserung der politischen Lage der Koalition. Weitere Landtagswahlen gingen ftir die Regierungskoalition verloren. Unter diesen Umständen, dem Zusammenkommen einer wirtschaftlichen Besserung und politischer Rückschläge, wuchsen die Begehrlichkeiten, gegen die sich der politisch geschwächte Stoltenberg kaum noch erwehren konnte. Die Zeit der aktiven Haushaltssanierung war nun vorbei. Dies fand seinen Ausdruck auch in der Neubesetzung des Finanzministeriums mit dem neuen CSU-Vorsitzenden Theo Waigel. Für Theo Waigel war die Finanzpolitik anders als für Stoltenberg ein Mittel zum Zweck. Er warf politischen Ballast wie die Quellensteuer über Bord und plante Ausgaben großzügiger und wollte alles vermeiden, was den Wahlerfolg gefährden konnte. Waigel hatte das Glück, dass die Wirtschaft weiterhin eine positive Entwicklung nahm und die Lage auf dem Arbeitsmarkt sich aufhellte. Besondere Leistungen musste er unter diesen Bedingungen nicht erbringen. Als am 9. November 1989 die Mauer fiel, hatte die Bundesrepublik einen Finanzminister, der die Finanzpolitik vor allem als politisches Sprungbrett betrachtete und einen farblosen Wirtschaftsminister, der auch im Verlauf des Einigungsprozesses kein Profil entwickeln konnte und dem Rückhalt in der eigenen Partei fehlte.

Dritter Teil Die Bewältigung der Deutschen Einheit 1990-1998

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Wirtschaftlicher Aufschwung und politischer Umbruch im Herbst 1989/90 Es wird oft mit großer Selbstverständlichkeit angenommen, dass die Koalition ohne die plötzliche Wende und den politischen Erfolg der Wiedervereinigung aufgrund des Popularitätstiefs in der zweiten Legislaturperiode der chrisdichliberalen Koalition nicht wieder gewählt worden wäre. Diese Frage ist natürlich spekulativ, aber es müssen doch erhebliche Zweifel an dieser Sichtweise angemeldet werden. Die Bundesregierung war durch die Begleiterscheinungen der Umsetzung der Steuerreform in eine politische Popularitätskrise geraten. Wie jede große Reformanstrengung hatte es erhebliche Reibungsverluste in der Auseinandersetzung zwischen Bund und Ländern und innerhalb der Koalition gegeben. Schließlich stand für einige in der Union die Ablösung des Bundeskanzlers und Parteivorsitzenden auf der Tagesordnung. Ein solcher Einbruch in den Meinungsfragen verbunden mit großen Reformvorhaben ist eher die Regel als die Ausnahme. Dass Kohl gute Chancen hatte 1990 wieder gewählt zu werden verdeudicht ein Vergleich mit der Situation vor der Bundestagswahl 1994. Damals erreichte Kohl unter ökonomisch sehr viel schwierigeren Bedingungen, behaftet mit dem Makel der so genannten „Steuerlüge" und dem weit verbreiteten Gefühl bei den Ostdeutschen über die Aussicht der „Blühender Landschaften" getäuscht worden zu sein, einen knappen Sieg. Die wirtschaftliche Belebung verhieß vom Frühjahr 1994 an zwar Besserung, die Auswirkungen auf die Lage der Beschäftigung blieben aber sehr begrenzt. Ganz anders war die Ausgangslage im Jahr 1990, als die Bundesrepublik mit optimistischen Erwartungen in das Jahr 1990 eintrat. Zum Ende des Jahres 1989 zeichnete sich eine wirtschaftliche Belebung ab, die sich auch ohne den Nachfrageschub aus der ehemaligen D D R zu einem rasanten Wirtschaftsaufschwung entwickelte. Nach dem Streit um die Steuerreform trat diese nun zum Jahresanfang 1990 pünktlich in Kraft. Im Grunde genommen ein politisch optimaler Zeitpunkt. Da die Steuerreform unmittelbar nach der Wahl 1987 in Angriff genommen worden war, konnte die Umsetzung noch vor der Bundestagswahl erfolgen (ganz anders als bei der gescheiterten Steuerreform 1997/88) und die Regierung der politischen Dividende profitieren. Der plötzliche Umbruch im Osten hat den Blick von diesem Erfolg eher abgelenkt und das Hauptthema der Legislaturperiode zum Nebenthema werden lassen. Dass sich die sehr auf Stabilität bedachten Bundesbürger unter sehr günstigen wirtschaftsund sozialpolitischen Rahmenbedingungen, wie sie sich im Herbst 1989 bereits deudich abzeichneten, för einen Kanzler Lafontaine und das Experiment einer rot-grünen Koalition entschieden hätten, scheint doch mehr als fraglich. Denn die Wende im November 1989 fiel mit der Belebung von Wirtschaft und Arbeitsmarkt zusammen. Die Zahl der Erwerbstätigen im November 1989 war auf 27, 75 Millionen gestiegen. Im Dezember waren noch knapp 2 Millionen Menschen ohne Arbeit, was einer Arbeitslosenquote von 7,0 Prozent entsprach. Die Zahl der offenen Stellen betrug zur Jahreswende etwa

309 330 0 0 0 . 1 4 4 3 Dass dieser einsetzende Aufschwung mehr war, als nur die übliche Konjunkturbelebung, sondern Ergebnis einer nachhaltigen Veränderung, unterstrich der Sachverständigen Rat in seinem Jahresgutachten. Seit 1986 stieg die Anzahl der geleisteten Arbeitsstunden wieder an. Damit war das Arbeitsvolumen im vierten Jahr hintereinander gestiegen. Das war eine Entwicklung, die es in den letzten 25 Jahren zuvor nicht gegeben hatte. 1 4 4 4 Die Unternehmen des produzierenden Gewerbes hatten 1989 ihren Personalbestand so stark aufgestockt wie seit zehn Jahren nicht mehr. Auch die bislang von dem Trend abgekoppelten Länder NRW, Bremen und das Saarland hatten Anschluss an die Entwicklung gefunden. 1 4 4 5 Bestehen blieb jedoch das Problem der Langzeitarbeitslosigkeit. Der Sachverständigenrat nannte dies „Disparitäten am Arbeitsmarkt." Die Langzeitarbeitslosigkeit betraf vor allem Frauen nach der Geburt des Kindes, Arbeitnehmer, die älter als 45 Jahre waren, Personen ohne Berufsabschluss und mit gesundheidichen Einschränkungen. Wen dies nicht betraf, war, nach Ansicht des Sachverständigenrates, in den meisten Fällen aus familiären oder anderen Gründen einfach nicht bereit den Wohnort zu wechseln. 1 4 4 6 Z u diesem Ergebnis konnte man kommen, da der dauernden Langzeitarbeitslosigkeit die drastische Verknappung von Arbeitskräften, besonders im Süden der Republik, gegenüberstand. So stellte der Sachverständigenrat fest: „Auf regionalen Arbeitsmärkten, insbesondere in Bayern und Baden-Württemberg, finden die Unternehmen nur noch schwer Arbeitskräfte." 85 000 Ausbildungsstellen konnten, besonders in der Fertigung nicht besetzt werden. Das war ein Drittel mehr als ein Jahr zuvor. Das Nachrücken der Schulabgänger versprach auch keine Besserung des Arbeitskräfteangebots: „Da die Jugendlichen gewerbliche Berufe weniger attraktiv finden und stattdessen Verwaltungstätigkeiten vorziehen, ist vom Berufsnachwuchs kaum eine Endastung als vielmehr eine Verschärfung des Mangels an Facharbeitern zu erwarten." 1 4 4 7 Diese Lücke wurde teilweise mit Aussiedlern aus Osteuropa gefüllt, die mehrheidich mittleren Alters und in Fertigungsberufen ausgebildet waren. 14480 Zur arbeitsmarktpolitischen Wende war es also unabhängig von der Wiedervereinigung gekommen und diese war keine Folge des „Wiedervereinigungs-Booms". Nach dem Jahreswechsel 1989/90 unterschritt die Zahl der Arbeitslosen die psychologisch wichtige 2-Millionen-Grenze. Die Zahl der Kurzarbeiter blieb mit 105000 „außerordendich niedrig." 1 4 4 9 Im Februar 1990 stellte die Bundesbank fest: „Der Arbeitskräftebedarf der Wirtschaft konnte durch die große Zahl von Einstellungen bei weitem nicht gedeckt werden." 1 4 5 0

Monatsberichtejan. 1990, S.U. Jahresgutachten 1989/90, S. 74. 1 4 4 5 Jahresgutachten 1989/90, S. 72. 1446 Jahresgutachten 1989/90, S. 78. 1447 Jahresgutachten 1989/90, S. 77. 1448 Jahresgutachten 1989/90, S. 80. 1449 Monatsberichte, März 1990, S. 11. 1450 Monatsberichte, Feb. 1990, S. 27 ff. 1443 1444

310 Die wirtschaftliche Belebung brachte auch die Haushaltskonsolidierung ein großes Stück voran und stabilisierte die Sozialversicherungen. Im Jahr 1989 schlossen die Haushalte der Gebietskörperschaften, also Bund, Länder und Gemeinden, mit einem Defizit von nur 20 Mrd. D-Mark ab. Ein Jahr zuvor hatte das Defizit noch 50 Mrd. D-Mark betragen. Die Sozialversicherungen erreichten in Folge der Blümschen Gesundheitsreform einen Uberschuss. 1451 Die Rentenversicherung hatte das Jahr 1989 mit einem Überschuss von drei Milliarden D-Mark abgeschlossen. Das Defizit der Bundesanstalt fiir Arbeit war von fünf auf zwei Milliarden D-Mark zurückgegangen. 1452 Die Investitionsquote war die höchste seit Beginn der siebziger Jahre und selbst die durchaus regierungskritische ZEIT gab ihrer Wirtschaftsanalyse des Jahres 1989 den Titel „So ein Jahr so wunderschön." 1453 Für die hohe Investitionsquote machte der Sachverständigenrat die „Verbesserten Angebotsbedingungen" am Standort Deutschland verantwortlich und stellte fest: „Die deutsche Wirtschaft befindet sich wieder auf einem steileren Wachstumspfad. Anders als im vergangenen Jahr kann es daran jetzt keine berechtigten Zweifel mehr geben." Der Sachverständigenrat hielt es auch nicht für bestreitbar, „dass die seit 1988 zu verzeichnende und für die für 1990 zu erwartende Expansion der wirtschaftlichen Aktivität die Beschäftigung deudicher als zuvor steigen lässt, den Lebensstandard spürbar erhöht, die Systeme der sozialen Sicherung entlastet und es den Staat auf allen Ebenen leichter macht, seine Haushalte zu konsolidieren." 1454 Der Ausblick der Sachverständigen für das Jahr 1990 verhieß Gutes: „Die anhaltende kräftige wirtschaftliche Aufwärtsbewegung beschert Bund, Ländern und Gemeinden erhebliche Steuereinnahmen. Gleichzeitig werden die Bürger durch die dritte Stufe der Steuerreform um 28 Mrd. D-Mark endastet." So werde die volkswirtschaftliche Steuerquote von 24,7 Prozent des BSP auf 23,4 Prozent fallen. Dies war der „niedrigste Wert seit 1960." Allerdings würden die Abgaben für die Sozialversicherung relativ hoch bleiben. Steuern und Abgaben zusammen genommen würden im Vergleich zum BSP aber immer noch auf einen Wert fallen wie zu letzt in der ersten Hälfte der siebziger Jahre. Die Staatsquote würde voraussichtlich mit 43,8 Prozent den niedrigsten Wert seit 1974 erreichen. 1455 Die Bilanz der Finanzpolitik der achtziger Jahre sei daher im „Ganzen positiv." Das „Gesetz der wachsenden Staatsausgaben" habe zumindest vorübergehend seine Gültigkeit verloren. Die Sanierungspolitik habe, „das Kapitalangebot für produktive Investitionen vergrößert, eine nachhaltige Senkung der Abgabensätze begonnen und das Vertrauen in die Handlungsfähigkeit des Staates gestärkt." 1456 Auch mittelfristig sahen Ökonomen die Perspektiven der deutschen Wirtschaft optimistisch: „Die deutsche Wirtschaft geht mit viel Schwung in die neunziger Jahre. Die Auftragsbücher sind randvoll, und die Produktion läuft auf hohen Touren. Es ist lange her, dass die konjunkturelle Lage ähnlich günstig

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Monatsberichte, Feb. 1990, S. 5 ff. Monatsberichte, Feb. 1990, S. 24 ff. Die Zeit, Nr. 1/45, 29. Dezember 1989, S.17. Jahresgutachten 1989/90, S. 137. Jahresgutachten 1989/90, S. 152. Jahresgutachten 1989/90, S. 114. Jahresgutachten 1989/90, S. 120.

311 Als zum Jahresanfang die von der Regierung beschlossenen Steuersenkungen in Kraft traten, prognostizierte die Bundesbank, dass trotz der Einnahmeverluste die Steuereinnahmen aufgrund der steigenden Einkommen und Umsätze höher ausfallen würden. 1458 Steuermehreinnahmen und ein statdicher Bundesbankgewinn ließen fur 1990 einen günstigen Haushaltsabschluss erwarten. Trotz des Wegfalls der „kleinen Kapitalsteuer und der dritten Stufe der Steuerreform, die das Steueraufkommen „merklich schmälerten", waren die Einnahmen im ersten Vierteljahr um zwei Prozentpunkte gewachsen. Das Lohnsteueraufkommen fiel zwar um drei Prozent niedriger aus, dafiir waren die „Erträge aus der veranlagten Einkommensteuer trotz der Steuersenkung noch bemerkenswert stark." Sie gingen in den ersten fünf Monaten um ein Viertel über das Vorjahresergebnis hinaus. 1459 Im Mai 1990 konnte die Bundesbank dem Bund einen Bundesbankgewinn von 10 Mrd. D-Mark überweisen.1460 Mitte des Jahres 1990 stand fest, dass sich die Voraussage des Sachverständigenrates bewahrheitet hatte und die Bundesbank sah die westdeutsche Wirtschaft in einer globalen Führungsposition: „Im achten Jahr eines weltweiten Aufschwungs hat die Wirtschaft der Bundesrepublik damit eine fuhrende Rolle im Wachstumsprozess der wesdichen Industrieländer übernommen. Gemeinsam mit anderen kontinentaleuropäischen Volkswirtschaften sowie Japan bildet sie ein Gegengewicht zu den schwächer expandierenden Ländern des angelsächsischen Raums." 1461 Einhergehend mit dem wirtschaftlichen Aufschwung verbesserte sich auch das Aufkommen der Sozialversicherungen. Im 17. April 1990 hatte das Statistische Bundesamt bekannt gegeben, dass die Sozialversicherungen 1989 in der Bundesrepublik einen Einnahmeüberschuss von 16 Mrd. D-Mark erreicht hatten. Die gesetzlichen Krankenkassen hatten ihren Einnahmeüberschuss von 1,5 Mrd. D-Mark auf 9,4 Mrd. D-Mark gesteigert. Die Bundesanstalt fiir Arbeit hatte ihr Defizit von vier Mrd. D-Mark im Jahr 1988 auf null gebracht. Blüm verkündete am 24. April 1990, es sei in diesem Jahr ein Überschuss in der Krankenversicherung von 11 Mrd. D-Mark zu erwarten und versprach eine Beitragssenkung fiir den Herbst. Blüms parlamentarischer Staatssekretär Horst Seehofer erklärte: „Die erfolgreiche Politik der Bundesregierung, die zu einem anhaltenden Konjunkturhoch und zur Schaffung von 1,5 Millionen Arbeitsplätzen gefuhrt hat, ist der wichtigste Grund fur diese positive Entwicklung."1462 Zum selben Ergebnis kam auch der SPIEGEL, dem man ein distanziertes Urteil in dieser Frage unterstellen kann, dieser stellte in der Rückschau 1996 fest, dass bis 1991 unter Kohl 2,6 Millionen neue Stellen geschaffen worden waren und „Erst die Deutsche Einheit brachte Kohl ökonomisch aus dem Tritt." 1463 In der Tat markiert das Jahr 1990 zugleich den Höhe- und Endpunkt dieses — bei allen beschriebenen Einschränkungen — im Großen und Ganzen positiven Kapitels der Wirtschaftspolitik und den Eintritt in eine ganz neue Phase der Wirtschafts-, Sozial-, und 1458 1459 1460 1461 1462 1463

Monatsberichte, Feb. 1990, S. 22 f. Monatsberichte, Juni 1990, S. 19f. Monatsberichte, Apr. 1990, S. S. 8. Monatsberichte. Juni 1990, S. 5. Archiv der Gegenwart, S. 35086. Der Spiegel, Nr. 4/50, 22. Januar 1996, S. 82 ff.

312 Finanzpolitik. Unter diesen wirtschaftlich günstigen Vorzeichen vollzog sich zwischen dem 9. November 1989 und dem 3. Oktober 1990 in einer nicht fur möglich gehaltenen Geschwindigkeit der Einigungsprozess der zwei deutschen Teilstaaten. Mit dem Aufschwung zusammen fiel der schrittweise Zusammenbruch der D D R . Die Auflösung des Ostblocks veränderte im Herbst 1989 auch das innerparteiliche Kräfteverhältnis in der C D U . Die Unzufriedenheit mit dem Zustand der Regierungspolitik und die Rückschläge bei den Landtagswahlen hatten dazu geführt, dass die Gegner Kohls innerhalb der Union sich mit der Absicht trugen, Kohl auf dem Parteitag in Bremen durch den baden-württembergischen Ministerpräsidenten Lothar Späth zu ersetzen. Der CDU-Bundesparteitag am 11. September 1989 fiel aber mit der Öffnung der ungarischen Grenze zusammen. Als Kohl dies in einer Pressekonferenz bekannt gab, war seine Position gefestigt und alle anderen Schwierigkeiten traten in der öffendichen Wahrnehmung zurück. 1 4 6 4 Die treibende Kraft hinter dem Putsch-Versuch war der CDU-Generalsekretär Heiner Geißler. Das Verhältnis zwischen ihm und Kohl hatte sich so sehr verschlechtert, dass Kohl im bereits in einem Brief vom 7. November 1988 angedroht hatte, ihn nicht wieder für das Amt des Generalsekretärs vorzuschlagen. Im Laufe des Jahres 1989 sondierte Heiner Geißler bei einer Reihe von Unionspolitikern, ob es möglich war, Kohl als Parteivorsitzenden abzulösen. So erfuhr Kohl vom hessischen Ministerpräsidenten Walter Wallmann, aber auch von Bundestagsabgeordneten, Kreis- und Bezirksvorsitzenden von Geißlers Aktivitäten, die auf Kohls Absetzung zielten. 1 4 6 5 Geißler hatte gemeinsam mit Blüm einen sozialpolitischen Linkskurs befürwortet, immer mit dem Hinweis auf sozialdemokratische Wählergruppen, die es zu gewinnen gelte, Kohl glaubte jedoch nicht, dass die Wählergruppen für die C D U erreichbar waren. Geißlers Widerstand gegen die Senkung des Spitzensteuersatzes hatte gleich zum Beginn der Legislaturperiode noch während der Koalitionsverhandlungen zu einer ernsthaften Koalitionskrise gefuhrt. Geißlers und Blüms Kurs hatte die sonst in einer ausgesprochenen Feindschaft verbundene FDP und C S U in finanzpolitischen Fragen zu einer „Koalition in der Koalition" geführt. So etwa beim Scheitern der Investitionshilfeabgabe und der Festschreibung der Steuerreform 1987. Kohl hatte als Kanzler in wirtschaftspolitischen Fragen auch deshalb oft eine schlechte Figur gemacht, weil er zwischen der CDU-Linken auf der einen und den Liberalen auf der anderen Seite moderieren musste, um die Gräben in der Koalition zu überbrücken. Dies machte Kohl fiir alle Seiten sehr angreifbar, aber auf der anderen Seite auch schwer ersetzbar. Denn ein Linkskurs, wie ihn Geißler sich vorstellte, war weder mit der C S U noch mit der FDP zu machen. Auch der potentielle von Geißler favorisierte Kohlnachfolger Lothar Späth hätte als Kanzler bei der Lage in der Koalition nicht viel anderes tun können als in der Koalition immer wieder zu vermitteln. Die Zwänge der Haushaltspolitik hätten auch nach Kohls Sturz der Sozialpolitik ebenso enge Grenzen gesetzt wie in den Jahren zuvor. Auch in der C D U selbst, wäre trotz aller Popularität zusätzlicher Maßnahmen für die Sozial- und Familienpolitik eine linke Neujustierung der Partei und 1464 Henning Köhler, Deutschland auf dem Weg zu sich selbst, Leipzig 2002, S. 650 f. 1 4 6 5 Kohl, Erinnerungen, 1 9 8 2 - 1 9 9 0 , München 2007, S. 925ff.

313 der Regierungsarbeit auf Widerstand gestoßen. Hinzu kam, dass die Fronde, die sich gegen Kohl bildete, ein inhaltlich widersprüchliches Bündnis darstellte, dem sich Politiker anschlossen, denen die Konsolidierung der Sozialsysteme nicht weit genug ging, wie Kurt Biedenkopf, und Sozialpolitiker, die über die Konsolidierungspolitik verbittert waren, wie Blüm und Geißler. Dieses Bündnis wäre nach einem Sturz von Kohl ebenso schnell wieder zerfallen wäre, wie es entstanden war. Was sie kurzzeitig zusammenbrachte, war die gemeinsame Wut auf Kohl. Fazit: Die Probleme für die Koalition wären nach einem Sturz von Kohl genau dieselben gewesen wie vorher. Ob Späth eine bessere Führungsfigur gewesen wäre und mit den Gegensätzen besser fertig geworden wäre und sie der Öffentlichkeit besser erklärt hätte, ist angesichts seiner weiteren politischen Laufbahn doch eher zweifelhaft. Dazu kam es aber nicht, da das fragile Bündnis und ihre zögerlicher Frontmann in Hinblick auf die Öffnung der ungarischen Grenzen, keine Chance für einen Sturz mehr besaßen. Während sich in der Bundesrepublik Politik und Öffendichkeit auf die innenpolitischen Streitigkeiten konzentriert hatten, die der Bundesregierung ein Popularitätstief bescherten, sich die Regierung an den Widerständen gegen ihre Steuerreform abgearbeitet hatte, aber ein neuer Aufschwung schon sichtbar wurde, begann in Osteuropa der größte Umbruch in Europa und der Welt seit dem Zweiten Weltkrieg. Diese „Schwächtendenzen in der DDR und im ganzen Ostblock" wurden registriert, aber es wurden keine Konsequenzen daraus gezogen. Die US-Regierung hatte hingegen bereits erkannt, dass sich die Möglichkeit bot, die Spaltung Europas zu überwinden. Nach den ersten freien Wahlen im Juni 1989 in Polen, die Vertreter der Solidarnosc in die Regierung gebracht hatten, stattete Präsident Bush Polen im Juli einen Staatsbesuch ab. Da sich nicht nur in Polen, sondern auch der Umbruch in Ungarn, würde die Lage der DDR immer schwieriger werden, zu mal auch die sowjetische Führung um eine Kooperation mit der Bundesregierung bemüht war. 1466 Nachdem Ungarn endültig am 11. September 1989 seine Grenze öffnete und Kohl über seine innerparteilichen Gegner triumphierte, überstürzten sich in den kommenden Monaten die Ereignisse. Massenflucht- und Massendemonstrationen aus und in der DDR führten am 17. Oktober zur Ablösung Erich Honecker durch Egon Krenz und am 9. November 1989 zur Öffnung der deutsch-deutschen Grenze, nach einer missverständlichen Aussage zur Reisefreiheit durch das Polit-Büromitglied Günter Schabowski. 1 ^ 7

Von der Wende zur Währungsunion Die Legitimationskrise durch die Abstimmung mit den Füßen der DDR-Bürger ging einher mit der sich beschleunigenden Krise des sozialistischen Wirtschaftssystems. Ein Bericht des Leiters der fur Wirtschaft zuständigen Hauptabteilung XVII des Ministeriums fur Staatssicherheit, Generalleutnant Kleine, vom 21. Oktober 1989 zeichnete ein düsteres Bild der wirtschaftlichen Lage der DDR. Die Zahlungsfähigkeit der DDR war akut 1466 Köhler, Deutschland auf dem Weg zu sich selbst, S. 644 f. Ders., S. 646 ff

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314 gefährdet, die West-Importe waren überwiegend fur den Konsum und nicht fur Investitionen verwendet worden. Honeckers Vorzeigeprojekt, die Mikroelektronik, war teuer und ineffizient. Die Herstellung eines Schaltkreises, der auf dem Weltmarkt zwei bis vier Dollar koste, lag bei 534 D-Mark. Kraftwerke, Fabriken und Anlagen waren überaltert. Die DDR-Bürger nutzten die Ausfalls-, Stillstands- und Wartezeiten, zu denen es in der Planwirtschaft kam, zur „Selbstverwirklichung", zum „Einkauf von Lebensmitteln, Baustoffen oder sogenannten Mangelwaren." 1468 Die DDR war zu diesem Zeitpunkt weder politisch, noch ökonomisch überlebensfähig. Schon zu diesem Zeitpunkt, im Oktober 1989, gab es Planspiele im Bundeswirtschaftsministerium zur Sanierung der DDR-Wirtschaft. Die Pläne sahen vor, dass in einem ersten Schritt der innerdeutsche Handel ausgeschöpft werden und die DDR ihr Außenhandelsmonopol aufgeben sollte. Die Pläne sahen in diesem Rahmen die verstärkte Kooperation von West-Firmen und DDR-Firmen in Joint Ventures vor. Die Risikoabsicherung würde die Bundesregierung übernehmen. 1469 Kohl selbst war zum Zeitpunkt der Vorlage seines „Zehn-Punkte-Programms" am 28. November 1989 noch davon überzeugt, dass „es zur deutschen Einheit erst in drei oder vier Jahren kommen werde — auf jeden Fall erst nach der Vollendung des europäischen Binnenmarktes." 1470 Am 19. Dezember 1989 besuchte Kohl Dresden. Dort konferierte Kohl mit Modrow unter vier Augen im Hotel Bellevue. Modrow erläuterte Kohl die schwierige Lage der DDR und forderte einen „Lastenausgleich" von 15 Mrd. D-Mark für 1990/91. Denselben Betrag hatte auch schon Schalk-Golodkowski bei seinem Besuch in Bonn gefordert. Kohl lehnte den „Lastenausgleich" ab und erklärte, dass es Hilfe nur bei entsprechenden Rahmenbedingungen geben könnte. Als erste Hilfsmaßnahmen vereinbarten beide einen gemeinsamen Reisedevisenfonds in Höhe von 2 Milliarden D-Mark und eine Aufstockung der ERPSonderkredite um 2 Mrd. D-Mark. Der Kreditrahmen für Lieferungen in die DDR sollte von 1,5 Mrd. D-Mark auf sechs Mrd. D-Mark ausgeweitet werden. Die DDR verpflichtete sich im Gegenzug für die Aufhebung der Visumspflicht und des Zwangsumtauschs und die Freilassung der politischen Häftlinge noch vor Weihnachten. 1471 Vor der Reise Kohls war Schalck-Golodkowski mit einer ganzen Riege von DDR-Staatssekretären mit Kanzleramtsminister Seiters und mehreren Spitzenbeamten in Bonn zusammengetroffen und hatte das in den Verhandlungen das Ergebnis des Kohlbesuchs vorweg verhandelt. 1472 Uber die Soforthilfen hinaus waren die Vorstellungen, die man sich selbst in Wirtschaftskreisen über die wirtschaftliche Lage in der DDR machte, eher verschwommen. Der Vorsitzende des BDI Tyll Necker schätzte am 25. Dezember 1989 die Zahl der Selbstständigen in der DDR auf 80 000, was im Vergleich zu Polen gering sei. Das BSP betrage 300 Mrd. Mark Ost und den Finanzbedarf zur Sanierung bezifferte er auf 200 bis 300 Mrd. D-Mark. 1 4 7 3 1468

Ders., S. 647f.

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Der Spiegel, Nr. 44/43, 30. Oktober 1989, S. 30f. Kohl, Erinnerungen 8 2 - 9 0 , S. 995. Kohl, Erinnerungen 8 2 - 9 0 , S. 1021 f. Wirtschaftswoche, Nr. 50/43, 8. Dezember 1989, S. 24 f. Der Spiegel, Nr. 52/43, 25. Dezember 1989, S. 78 ff.

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315 Dass der Zustand der DDR-Wirtschaft viel schlimmer war, als sich die Bundesregierung und auch die DDR-Bürger selbst vorstellen konnten, zeigt die Äußerung eines der Hauptverantwordichen. Im September 1991 erklärte Günter Mittag in einem Interview: „Ohne die Wiedervereinigung wäre die D D R einer ökonomischen Katastrophe mit unübersehbaren sozialen Folgen entgegengegangen, weil sie auf Dauer allein nicht überlebensfähig war [...] Man denke nur, angesichts dieser schwierigen Lage in der Sowjetunion, was heute hier los wäre, wenn es die D D R noch gäbe. Unbeschreiblich. Da läuft es mir heiß und kalt über den Rücken. Mord und Totschlag, Elend und Hunger." 1 4 7 4 Dank der Wirtschafts- und Währungsunion blieb den Bürgern der D D R dieses Schicksal erspart, auch wenn den Deutschen in Ost und West bis heute nicht klar geworden ist, welcher Kelch an ihnen vorüberging. Nach der Jahreswende spitzte sich die wirtschaftliche Lage der D D R weiter zu. Die erste freie Wahl in der D D R war eigendich fur Mai vorgesehen, wurde aber auf den 18 März vorgezogen. Modrow begründete diesen Schritt am 29. Januar in einer Erklärung vor der Volkskammer damit, dass die sozialen und ökonomischen Spannungen zugenommen hätten. Der Aderlass der D D R schmälerte ihre wirtschaftliche Leistungsfähigkeit. 1475 Am selben Tag gewann Oskar Lafontaine an der Saar erneut die absolute Mehrheit, die er noch um vier Mandate ausbauen konnte. Lafontaine hatte die Angst vor den Übersiedlern für seinen Wahlkampf genutzt. 1476 Dies waren die zwei wesendichen Faktoren, die eine zügige Währungsunion schließlich fast unvermeidlich machten. Das Kollabieren der ostdeutschen Wirtschaft erhöhte den Druck zur Übersiedlung in die Bundesrepublik. Lafontaines Wahlsieg zeigte, dass die Westdeutschen über diesen Zustrom Zusehens beunruhigt waren und ein führender Oppositionspolitiker und begabter Populist bereit war, diese Karte zu spielen. Daher musste die Wirtschaft der D D R stabilisiert werden und das Vertrauen der Ostdeutschen in die Zukunft dieses Gebietes hergestellt werden. Die einzige theoretisch mögliche Alternative dazu war, die Grenze fur die Übersiedler zu schließen. Das war eine Maßnahme, die außer für Oskar Lafontaine, für die Spitzenpolitiker der Bundesrepublik politisch nicht vorstellbar war. Mit Sicherheit hätte eine solche Maßnahme die Bundesrepublik auf Dauer mit einer schweren moralischen Bürde belastet. Deshalb blieb allein der Weg der schnellen Währungsunion, deren wirtschaftliche Folgen gravierend waren, aber — soviel sei vorweg genommen - als isolierter Akt nicht in dem Maße wirtschaftliche Schwierigkeiten verursachten, wie dies bis heute dargestellt wird. Bis zum Januar 1990 waren die Überlegungen zu einer möglichen Währungsreform die Sache von Einzelnen gewesen. Claus Köhler war im Bundesbankdirektorium als einziger Keynesianer ein Außenseiter. Aber er hatte als einer der Ersten die Zeichen der Zeit erkannt. Auf der ersten Sitzung des Zentralbankrats nach dem Fall der Mauer am 22. November 1989 legte Köhler einen dreizehnseitigen Plan zur Ablösung der DDR-Mark durch die D-Mark vor. Der Plan wurde jedoch nur kurz diskutiert. Pohl und sein ein1474 Zit. nach Schröder, Die veränderte Republik, S. 57 f. 1 4 7 5 Kohl, Erinnerungen, 8 2 - 9 0 , S. 1046. 1 4 7 6 Ders., 8 2 - 9 0 , S. 1047.

316 flussreicher Vize Schlesinger machten deutlich, dass sie nicht an die Realisierbarkeit einer Währungsunion glaubten. 1477 Doch es dauerte nicht lange, bis sich die Politik die Forderung nach einer deutsch-deutschen Währungsunion zu eigen machte. Im Januar schlug als erste Spitzenpolitikerin die sozialdemokratische Wirtschaftsexpertin MatthäusMaier eine Währungsunion vor. 1 4 7 8 Es ist bemerkenswert, dass der erste öfFendiche Vorschlag aus der Opposition kam. Die Bundesregierung hielt sich zu diesem Zeitpunkt noch bedeckt. Waigel warnte: „Eine künsdich aufgepropfte D-Mark-Währungsunion mit der D D R " sei „nicht nur gefährlich" sondern „gibt auch völlig falsche Signale an die Menschen." 1 4 7 9 Die wirtschaftliche Lage in der D D R spitzte sich jedoch immer weiter zu. Der Bundeskanzler wurde mit beunruhigenden Nachrichten über die wirtschaftliche Entwicklung in der D D R konfrontiert, die eine rasche Entscheidung erzwangen. Anfang Februar 1990 rief Lothar Späth überraschend im Kanzleramt an und schilderte die dramatische Situation in der D D R , die er auf seiner Reise zu Modrow erlebt hatte. Darauf hin rief Kohl seine Berater im Kanzleramt zusammen. Unter dem Eindruck dieser Entwicklung sprach Waigel sich nun fur eine Währungsunion aus und fungierte nach Aussage von Anwesenden als .Antreiber." Am nächsten Tag traf Kohl selbst mit Modrow am Rande des Wirtschaftstreffens in Davos zusammen und dieser bestätigte Späths Darstellung. Modrow erklärte Kohl, die finanziellen Mittel reichten noch bis Mitte des Jahres und prophezeite einen Massenexodus. 1480 Die Folgen eines Zusammenbruchs der D D R und eines „Massenexodus" in die Bundesrepublik berührten auch direkt die Stabilität in der Bundesrepublik. Für die politische Führung in Bonn war klar, dass alles getan werden musste, um so eine Entwicklung zu verhindern. Kohl selbst gab später als Hauptmotiv an, dass er ohne die Verwirklichung der Wirtschafts- und Währungsunion im Sommer mit bis zu 500 000 Übersiedlern rechnen musste. 1481 Am Dienstag, den 6. Februar 1990 um 10 Uhr traf Kohl mit Seiters und Teltschik zusammen. In diesem Gespräch fiel die Entscheidung, der D D R Verhandlungen über die Einfuhrung der D-Mark anzubieten. 1482 Einen Tag später stimmte das Bundeskabinett der Entscheidung zu. 1 4 8 3 Kohl verfugte die Bildung eines Kabinettsausschusses „Deutsche Einheit." 1484 Dem Ausschuss gehörten Wirtschaftsminister Helmut Haussmann, Finanzminister Theo Waigel, Sozialminister Norbert Blüm, Bundesbankpräsident Karl Otto Pohl und die Abteilungsleiter im Kanzleramt Georg Grimm und Baidur Wagner an. 1 4 8 5 Der Druck unter dem die Regierung arbeitete und die Hasst mit der die Entschei-

1477 1478 1479 1480 1481 1482 1483 1484 1485

Marsh, Bundesbank, S. 273. Die Zeit, Nr. 5/45, 26. Januar 1990, S. 20. Wirtschaftswoche, Nr. 8/44, 16. Februar 1990, S. 14 ff. Der Spiegel, Nr. 7/44, 12. Februar 1990, S. 24 ff. Marsh, Bundesbank, S. 280. Gespräch mit Kohl. Ders., S. 279. Der Spiegel, Nr. 10/44, 5. März 1990, S. 16f. Der Spiegel, Nr. 7/44, 12. Februar 1990, S. 24ff. Wirtschaftswoche, Nr. 13/44, 23. Märe 1990, S. 14 ff.

317 düngen getroffen wurden, hatte dazu geführt, dass die Befindlichkeiten eines wichtigen Akteurs, dem bei der praktischen Umsetzung der Währungsunion die zentrale Rolle zukam, außer Acht gelassen worden waren. Die Rede ist von der Spitze der Bundesbank, die bis dahin nicht in den Entscheidungsprozeß einbezogen worden war. Bundesbankpräsident Pohl hatte die Nachricht am Dienstagabend, an jenem 6. Februar, an dem in Bonn die Entscheidung fiir die Währungsunion fiel, in Berlin erreicht. Dort hatte er sich mit seinem Kollegen von der DDR-Staatsbank Kaminsky getroffen und über Wirtschaftsreformen in der D D R gesprochen. Vor der Presse erklärten beide auf der Treppe der DDR-Staatsbank zum Thema Wahrungsunion, sie hielten es für „verfrüht einen so weitreichenden Schritt jetzt schon ins Auge zu fassen." Am Abend desselben Tages wurde Pohl von Seiters informiert und vor vollendete Tatsachen gestellt. Pohl musste erfahren, dass Kohl ohne ihn informiert zu haben am Nachmittag vor die Fernsehkameras getreten war und eine „unverzügliche" Währungsunion mit der D D R angeboten hatte. Noch am Montag hatte Pohl sowohl mit Kohl als auch mit Waigel gesprochen, aber keinerlei Hinweis auf die bevorstehende Entscheidung erhalten. 1486 Es war wohl nicht die Absicht der Regierung die Bundesbank vor aller Offendichkeit vor vollendete Tatsachen zu stellen. Dass sie es dennoch tat lag daran, dass zur Zeit der Gespräche zwischen Waigel, Kohl und Pohl, die Bundesregierung selbst der Ausgang der nahen Entscheidung noch offen war. Noch am Montagabend hatten de Maiziere und andere ostdeutsche Politiker Kohl zu einem Angebot für eine Währungsunion gedrängt. 1487 Teltschik bestätigte dem britischen Journalisten David Marsh, die Entscheidung sei am Montag noch offen gewesen. Der Gang der Ereignisse, der in der Bundesbank als Brüskierung wahrgenommen wurde, sollte zu einer lang anhaltenden atmosphärischen Verschlechterung zwischen Bundesregierung und Notenbank führen. Pohl selbst fühlte sich persönlich bloß gestellt und spielte an diesem Abend mit dem Gedanken zurückzutreten. 1488 Pohl hatte noch wenige Tage vor dem Kabinettsbeschluss die Währungsunion als eine „sehr phantastische Idee" bezeichnet. Nach der Entscheidung bestätigte er öffentlich, dass er von dem Vorschlag zur Währungsunion nicht informiert worden war. Er erklärte, er persönlich hätte zwar einen Stufenplan vorgezogen, nun halte er es aber für seine Pflicht die Bundesregierung zu unterstützen. 1489 Nicht nur die Spitzen der Bundesbank standen der baldigen Währungsunion skeptisch gegenüber. Der Vorsitzende des Sachverständigenrates Hans Karl Schneider schrieb Kohl einen Brief, in dem er vor einer zu schnellen Verwirklichung der Währungsunion warnte. Der Sachverständigenrat gab darüber hinaus zu bedenken, es sei unvermeidlich, „dass die Einführung der D-Mark bei den Bürgern der D D R die Illusion erwecken muss, mit der Währungsunion sei auch der Anschluss an den Lebensstandard der Bundesrepublik hergestellt." 1490

1486 1487 1488 1489 1490

Marsh, Bundesbank, S. 276 ff. Ders., S. 278. Ders., S. 276ff. Der Spiegel, Nr. 9/44, 26. Februar. 1990, S. 106 f. Wirtschaftswoche, Nr. 8/44, 16. Februar 1990, S. 14ff.

318 Die Bundesrepublik und die DDR bildeten eine gemeinsame Währungskommission; in der Kommission saßen als Vertreter der Bundesrepublik Horst Köhler, Staatssekretär im Finanzministerium, Dieter von Würzen, Staatssekretär im Wirtschaftsministerium, Bernhard Jagoda, Staatssekretär im Arbeitsministerium, Helmut Schlesinger, Vizepräsident der Deutschen Bundesbank. Als Vertreter der DDR gehörten Walter Romberg, Rainer Eppelmann, Walter Sieger, Karl Grünheid, Wolfgang Rauchfuß, Staatssekretär im Ministerrat und Kaminski, Präsident der Staatsbank, dem Gremium an. 1 4 9 1 Am Dienstag den 21. März 1990 entschied das Bundeskabinett die Währungsunion zum 1. Juli 1990 zu verwirklichen. Die Vorbereitungen der Bundesbank fur die Währungsunion waren zu diesem Zeitpunkt weitgehend abgeschlossen. 1 4 9 2 Nachdem die Entscheidung fur die Währungsunion gefallen war, stand neuer Streit bevor über die Frage, zu welchem Umtauschkurs die Ost-Mark in West-Mark umgetauscht werden sollte. Der Wirtschaftswissenschaftler Horst Siebert empfahl, gemäß der monetaristischen Auffassung und der Meinung der Mehrheit der Ökonomen und der Bundesbank, dass die Geldmenge immer mit der Produktivität steigen sollte, dass die zusätzliche Geldmenge von der Produktivität DDR bestimmt werden sollte. Siebert schätzte das Produktionspotential der DDR realistischer als andere Analysten 1493 auf nur 10 Prozent der Bundesrepublik. Demnach durfte die Geldmenge insgesamt durch die Währungsunion um nicht mehr als 125 Mrd. D-Mark ausgeweitet werden. Umgerechnet auf den Umfang der Geldbestände in der DDR entsprach das einem Umtauschkurs von 1 zu 2. Siebert wies darauf hin, dass nur niedrigere Löhne die Wettbewerbsschwäche der DDR ausgleichen könnten. Diese sollten, so forderte Siebert, daher ebenfalls nur im Verhältnis 1 zu 2 umgetauscht werden. Er empfahl lediglich einen finanziellen Ausgleichsfaktor für die bisherigen staatlichen Subventionen der DDR zur Aufrechterhaltung des Lebensunterhalts. 1494 Eine solche nüchterne Schlussfolgerung aus den bekannten geldtheoretischen Überlegungen und der maroden wirtschaftlichen Lage in der DDR war den Ostdeutschen allerdings kaum zu vermitteln. In der DDR kam es zu Demonstrationen fur den Umtauschkurs von 1 zu 1. Die Ostdeutschen waren davon überzeugt, die D-Mark an sich sei der Garant für denselben Wohlstand und Lebensstil wie im Westen. Es gab keine politische Kraft, die gewagt hätte, sich dieser Suggestion entgegenzustellen. Von der oppositionellen SPD kamen „unterschiedliche Ratschläge." Von einer klaren Stellungnahme der SPD-Opposition gegen den „falschen" Umtauschkurs kann nicht die Rede sein. Im Kabinett setzte sich Blüm für einen möglichst günstigen Umtauschkurs ein, wohingegen Haussmann und Waigel mehr Rücksicht auf die Betriebe nehmen wollten. Eine schnelle Entscheidung musste herbeigeführt werden. Der Staatsvertrag mit der DDR lag Anfang April als funfzigseitige Skizze vor und sah die Übernahme aller bundesrepublikanischen Gesetze zum Währungs-, Geld- und Kreditwesen vor. Kohl wollte die Umtauschkurse noch vor

Die Zeit, Nr. 9/45, 23. Februar 1990, S. 23. Wirtschaftswoche, Nr. 13/44, 23. März 1990, S. I4ff. 1493 £)j e E x p e r t e n der Regierung gingen inzwischen davon aus, dass die DDR-Wirtschaft gerade einmal ein Viertel der westdeutschen Produktivität erreichte. Wirtschaftswoche, Nr. 13/44, 23. März 1990, S. 14 ff. 1 4 9 4 Wirtschaftswoche, Nr. 15/44, 6. April 1990, S. 26 f. 1491

1492

319 der Kommunalwahl am 6. Mai der Öffendichkeit vorstellen.1495 Die öffentliche Diskussion hatte derweil eine eindeutige Richtung genommen. Alle Parteien in der DDR, der Verband der deutschen Arbeitgeberverbände und die Gewerkschaften setzten sich für einen Umtauschkurs von eins zu eins ein. Dazu tendierte auch die West-SPD, die Unionsfraktion war uneins. Am 27. März 1990 schrieb Norbert Blüm einen Brief an Kohl, in dem er einen Umtauschkurs von eins zu eins forderte. Blüm befürchtete anderen Falls „tiefgreifende soziale Verwerfungen." Der Verlust des bisherigen Lebensstandard durch einen Umtauschkurs von zwei zu eins sei nicht hinnehmbar.149'' Diese Argumentation zeigt, dass die am Entscheidungsprozeß beteiligten Politiker wie etwa Norbert Blüm derselben Fehlannahmen aufsaßen wie die Ostdeutschen, nämlich, dass der „Lebensstandard" durch die Währungsumstellung festgelegt werden würde. Die Auseinandersetzung um den Umtauschkurs führte zu einer weiteren Belastung des Verhältnisses zwischen der Bundesregierung und der Bundesbank. Alle Parteien waren bereit die Geldstabilität der Erfüllung der Sehnsucht der Ostdeutschen nach einem Umtauschkurs von eins zu eins unterzuordnen. Die Bundesbank als Hüterin eben dieser Geldstabilität leistete eben gegen diesen Ansatz Widerstand. Die Bundesbank übte Druck aus und drohte mit schwerwiegenden geldpolitischen Konsequenzen eines zu großzügigen Umtauschkurses. Am 30. März 1990 schrieb Pohl an Kohl: „Eine Umstellung von Bargeld und privaten Bankguthaben 1:1 würde zu einer beträchdichen Kaufkraft- und Geldmengenausweitung fuhren und wäre deshalb geldpolitisch bedenklich."1497 In demselben Schreiben empfahl die Bundesbank, pro Person 2000 D-Mark im Kurs von eins zu eins umzutauschen und darüber hinaus mit dem Kurs 2:1. Die laufenden Verbindlichkeiten der DDR sollten im Verhältnis zwei zu eins umgetauscht werden, weil sonst Ausgleichsforderungen von 5 0 - 1 0 0 Milliarden D-Mark auf den Bund zukäme. 1498 Schlesinger erklärte am 20. April 1990 in der Presse, wenn von den Vorschlägen der Bundesbank abgewichen würde, müsste die Bundesbank reagieren, um die Stabilität der D-Mark zu sichern. Schlesinger machte aus seiner Verbitterung über das Verhalten der Politik keinen Hehl und beklagte, dass die Bundesbank „verkauft" worden sei. Die Bundesbank habe ihre Vorschläge vertraulich der Bundesregierung mitgeteilt. Die Information, dass die Bundesbank einen Umtauschkurs von 2 zu 1 befürwortete, sei noch am selben Tag der Presse zugespielt worden. Für Ersparnisse bis zu 2000 D-Mark hätten die Vorschläge anders als der Öffendichkeit suggeriert einen Kurs von 1 zu 1 vorgesehen. Schlesinger forderte, die Löhne im Osten sollten auf dem Niveau der Produktivität bleiben und dann mit der Produktivität ansteigen. Bei einer massiven Ausweitung des Geldvolumens durch einen zu großzügigen Umtauschkurs sei die Bundesbank gezwungen auf die Kreditbremse zu treten und negative Konsequenzen fur Wachstum und Beschäftigung in Kauf neh-

Wirtschaftswoche, Nr. 16/44, 13. April 1990, S. 14 f. 1496 Qgjjjafj Α Ritter, Der Preis der Einheit. Die Wiedervereinigung und die Krise des Sozialstaates, München 2006, S. 2 0 2 f. 1 4 9 7 Schreiben des Bundesbankpräsidenten Pohl an Bundeskanzler Kohl vom 30. März 1990, in: Deutsche Einheit, Akten des Kanzleramtes, S. 1 0 0 2 ff. 1 4 9 8 Ebd. 1 4 9 9 Wirtschaftswoche, Nr. 17/44, 20. April 1990, S. 2 4 f f . 1495

320 In diesem Interview war die kommende Entwicklung der nächsten Jahre vorgezeichnet. Dass eine so massive Ausweitung der Geldmenge inflationäre Tendenzen hervorbringen musste, lag auf der Hand. Dass die Bundesbank diese Tendenzen mit den ihr zur Verfugung stehenden geldpolitischen Mitteln bekämpfen würde, ebenfalls. Eine solche langfristige Überlegung lag aber im gewissen Sinne jenseits der auf Währungsunion, Wiedervereinigung und Bundestagswahl ausgerichteten Betrachtungen der politischen Akteure. Alle Kraftanstrengungen der Bundesregierung konzentrierten sich darauf, diese drei gewaltigen Hürden erfolgreich zu nehmen. In der Woche darauf fiel allen Einwänden der Bundesbank zum Trotz die Entscheidung für den „Wunschkurs" der Ostdeutschen. Bis spät in die Nacht hatte Kohl mit seinen Ministern und den Vertretern der Bundesbank, Pohl und Schlesinger, über die Wahrungsunion diskutiert. Löhne und Gehälter sollten zum 2. Juli im Verhältnis eins zu eins umgestellt werden und die Renten dem bundesdeutschen System angepasst. Bis zu 4000 Ostmark sollten im Verhältnis eins zu eins in Westmark umgetauscht werden. Pohl blieb bei seiner Forderung, den Umtausch auf 2000 D-Mark begrenzen. Die Auseinandersetzung war der bis dahin härteste wirtschaftspolitische Konflikt zwischen der Bundesregierung Kohl und der Bundesbank und das Ergebnis wurde als Niederlage der Bundesbank gewertet. 1500 Kohl hatte hingegen das Ziel erreicht, dass er von Beginn an vor allem aus politischen und weniger aus sachlich-ökonomischen Gründen vor Augen hatte: „Ich stellte von Anfang an die Überlegung an, einen Umtausch eins zu eins in begrenztem Umfang zuzulassen." Die Formel 1:1 war nach Kohls Überzeugung von enormer politischer und psychologischer Bedeutung, „weil damit den Menschen in der D D R signalisiert wurde, dass es um Solidarität unter Gleichberechtigten ging und nicht um eine herablassende Geste des reichen Vetters gegenüber seinem armen Verwandten. Mir war bewusst, dass dies ein höchst ungewöhnliches Angebot war, fiir das es in keinem Lehrbuch der Ökonomie ein Beispiel gab." 1 5 0 1 Der tatsächliche Umtauschkurs nimmt sich differenzierter aus, als das Schlagwort eins zu eins suggeriert. Der Umstellungskurs für Guthaben und Verbindlichkeiten lag bei zwei zu eins. Ein Umtauschkurs von eins zu eins galt für Guthaben für Personen, die vor dem 1.7.1976 geboren waren, und betrug 4000 D-Mark für Personen, die nach dem 2.7.1931 geboren wurden und für 6000 D-Mark für alle, die vor dem 2.7.1931 geboren wurden. Renten, Pensionen, Tariflöhne, Stipendien usw., die sogenannten Stromgrößen, wurden generell eins zu eins umgetauscht. Somit erhielt die D D R 14,7 Prozent der westdeutschen Geldmenge, im Gegensatz zu den 10 Prozent, die die Wirtschaftsexperten ftir geldpolitisch vertretbar hielten. 1502 Diese Differenz war im Kern das eigendiche Streitobjekt zwischen Bundesbank und Bundesregierung. Der Bundesbank sollte es in den folgenden Jahren darum gehen, ihre Niederlage und die damit verbundene Ausweitung der Geldmenge zu korrigieren. Denn die Geldpolitiker erklärten, den Preisauftrieb, der der Währungsunion folgte, mit dem Umstand, „dass mit der deutschen Währungsunion ein Wirtschaftswoche, Nr. 18/44, 27. April 1990, S. 14 ff. Kohl, Erinnerungen 8 2 - 9 0 , S. 1058f. 1502 £ r j k Gawel, deutsch-deutsche Wahrungsunion. Verlauf und geldpolitische Konsequenzen, BadenBaden 1994, S. 163. 1500

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321 monetärer Überhang entstanden sei, den es durch restriktive geldpolitische Maßnahmen abzuschöpfen gelte." 1503 Im Bundestag stimmten am 21. Juni 1990 444 Abgeordnete fur die Wirtschafts- und Wahrungsunion, 60 stimmten dagegen bei einer Enthaltung. Im Bundesrat stimmten am 22. Juni votierten allein Lafontaines Saarland und Schröders Niedersachsen dagegen.150^ In Teilen der Offendichkeit und vor allem der ostdeutschen Bevölkerung begann sich, um so näher der Umtauschtermin rückte, eine regelrechte Euphorie auszubreiten, die einerseits in Hinblick auf die langen Jahre des Verzichts auf Freiheit und Entwicklung verständlich war, auf der anderen Seite in keinem angemessenem Verhältnis zu den realen Perspektiven stand. Die BILD-Zeitung schrieb eine Woche vor der Währungsunion: „In sieben Tagen beginnt das 2. deutsche Wirtschaftswunder"1505 und drückte damit sicherlich eine allgemeine Erwartung aus. Die Einfuhrung der D-Mark nahm im Osten Volksfestcharakter an. „Der Alexanderplatz im Freudentaumel. Feuerwerksraketen steigen in den Himmel, Sektkorken knallen, Autokorsos hupen, Berliner liegen sich in den Armen und singen: So ein Tag so wunderschön wie heute .. ." 1506 Die Ernüchterung musste in den kommenden Jahren umso größer ausfallen. Die Wochenzeitung DIE ZEIT sagte richtig voraus: „Die üblen Folgen der Planwirtschaft werden manche Menschen der Marktwirtschaft ankreiden." Und empfahl „maßvolle aber regelmäßige Lohnerhöhungen", die an die Steigerung der betrieblichen Produktivität gekoppelt werden müssten. Das Bestehen der Bewährungsprobe würde von drei Dingen abhängen, der Bereitschaft der Westdeutschen zu investieren, dem Augenmaß der Sozialpartner und der Tüchtigkeit der Treuhandanstalt.1507 Für die Zukunft des Wirtschaftsstandortes Ostdeutschland waren die Probleme, um die die geldpolitischen Debatten im Frühjahr 1990 kreisten, zweitrangig. Zur Währungsunion selbst gab es politisch keine Alternative. Schließlich war eine Wiedervereinigung ohne eine einheidiche Währung nicht möglich. Ein auf Jahre angelegter Stufenplan war angesichts der kollabierenden ostdeutschen Wirtschaft und der Gefahr von Massenübersiedlungen und auch angesichts der außenpolitischen Konstellation eine Illusion. Bleibt also nur die Frage, ob der Umtauschkurs von eins zu eins den Ausschlag für den Zusammenbruch der ostdeutschen Wirtschaft gegeben hat. Dies wird zwar immer wieder vorgetragen und hat sich inzwischen als Standardargument eingebürgert. Das liegt aber wohl eher daran, dass über die Schlüssigkeit des Argumentes kaum reflektiert wird. In einer Studie über die Währungsunion kommt Gawel zu folgendem zusammenfassendem Ergebnis: „Aus der rückschauenden Perspektive fallt auf, dass der wesentliche Teil der Umstellungsdiskussion um kurzfristige Auswirkungen der Währungsumstellung auf Geldangebot, Löhne und Pensionen kreiste. Dabei wurde oft übersehen, dass der einzige

1503 15W

1505 1506 1507

Jahresgutachten 1991/92, S. 122. Daniel Friedrich Sturm, Uneinig in die Einheit. Die Sozialdemokratie und die Vereinigung Deutschlands 1989/90, Bonn 2006, 2 1 6 - 2 1 8 . Bild, 2 5 . 6 . 1 9 9 0 , S. 2. Bild, 2 . 7 . 1 9 9 0 , S. 3. Die Zeit, Nr. 28/45, 6. Juli 1990, S. 1.

322 dauerhafte Effekt der Umstellungskurse in der relativen Verteilung von Vermögen zwischen Ost- und Westdeutschland einerseits sowie Staatssektor und privaten Haushalten andererseits lag. Alle übrigen Fragen der Konversion von Stromgrößen bleiben dem gegenüber von ausschließlich ephemerer Bedeutung." 1 ^ 08 In dieser Aussage sind die wesentlichen Auswirkungen der Währungsunion zusammengefasst: Der günstige Umtauschkurs von eins zu eins war ein Vorteil für die ostdeutschen Sparer und ein Nachteil für die ostdeutschen Unternehmen. Die ostdeutschen Sparer erhielten für ihre Sparguthaben einen höheren D-Mark-Betrag als bei einem weniger günstigen Umtauschkurs, für die Schulden der Unternehmen wirkte sich dies genau umgekehrt aus; ihre Belastungen entsprachen nun einem höheren D-Mark-Betrag, als das bei einem ungünstigeren Umtauschkurs der Fall gewesen wäre. Da aber die Schulden der ostdeutschen Unternehmen schließlich zum größten Teil von der Treuhand übernommen wurden und deren Schulden schließlich die öffentliche Hand übernahm, war der Umtauschkurs von eins zu eins letztlich eine Umverteilung zugunsten der ostdeutschen Sparer zuungunsten der gesamtdeutschen Steuerzahler. Der Umtauschkurs beeinflusste auch die Verteilung der Vermögen zwischen Ost und West. Man kann in der Wahrungsunion sogar die erste große Umverteilungsmaßnahme von West nach Ost sehen. Denn die Ausweitung der D-Mark für Ostdeutschland blieb nicht ohne Auswirkungen auf den Wert der Guthaben in Westdeutschland. Dies ist in der Geldtheorie ein bekannter Umstand, dass die Ausweitung der Geldmenge zu einer Schmälerung der Kaufkraft der bisherigen Guthaben führt. Der günstige Umtauschkurs für die Ostdeutschen führte dazu, dass sie für ihre umgetauschten Guthaben mehr Kaufkraft erhielten als bei einem anderen ungünstigeren Umtauschkurs. Dies führte aber zu einem Auftrieb der Geldentwertung, was wiederum die Kaufkraft der westdeutschen Guthaben entsprechend verringerte. Da dieser Mechanismus sich nicht auf den ersten Blick erschließt und in breiten Teilen der Bevölkerung nicht verstanden wird, wurde diese Umverteilungsmaßnahme anders als etwa die Umverteilung über die Sozialbeiträge oder über den Solidaritätszuschlag nicht beanstandet, ja nicht einmal erkannt. Insoweit war die Entscheidung für den günstigen Umtauschkurs eine logische politische Konsequenz aus dem Umstand, dass diejenigen die von ihm profitierten — die ostdeutsche Bevölkerung - , sich massiv dafür stark machten und dass diejenigen, die dafür aufkommen mussten - westdeutsche Sparer und Steuerzahler —, der Frage des Umtauschkurses mehr oder weniger gleichgültig gegenüberstanden. Die Bundesbank stand mit ihren Argumenten also auf verlorenem Posten, denn genau diese realen Auswirkungen sind der Offendichkeit bis heute verborgen geblieben. Bis heute kreist die Debatte hingegen um die Verteuerung der ostdeutschen Produkte durch den Umtauschkurs der Löhne und Pensionen (was bekanntlich in einem gewissen Zusammenhang steht). Kohl habe durch den falschen Umtauschkurs den Zusammenbruch der ostdeutschen Wirtschaft herbeigeführt. Die Auswirkungen des Umtauschkurses auf die Wettbewerbsfähigkeit der ostdeutschen Wirtschaft waren aber tatsächlich nur „kurzfristig" von Bedeutung. Denn selbst nach dem Umtauschkurs von eins zu eins lagen die ostdeutschen Löhne nur bei einem Drittel des westdeutschen Lohnniveaus. In 1508

Gawel, Wahrungsunion, S. 166.

323 den folgenden Tarifverhandlungen wurden durch die Tarifparteien die Weichen zu einer schnellen Angleichung der ostdeutschen Löhne und Gehälter gestellt. Bei einem anderen Umtauschkurs hätte sich lediglich das Ausgangsniveau verändert, von dem aus die Tarifangleichung vorgenommen worden wäre. Im Grunde spielte es also keine Rolle, welches Lohnniveau durch den Umtauschkurs geschaffen wurde; dies hatte allenfalls psychologische Bedeutung und konnte die Anpassung nur geringfügig verzögern. Ob die Endohnung der Arbeitnehmer nun durch die Wechselkurse oder durch eine an der Produktivität orientierte Lohnpolitik niedrig gehalten worden wäre, macht keinen wesendichen Unterschied. Die Gewerkschaften hielten die niedrige Kaufkraft der in D-Mark ausgezahlten Löhne nach der Währungsunion für nicht akzeptabel. Es gibt keinen Grund anzunehmen, dass sie Löhne unter diesem Niveau, die durch einen weniger günstigen Umtauschkurs etwa von eins zu zwei zustande gekommen wären akzeptabel gefunden hätten. Die notwendige Orientierung der kommenden Lohnentwicklung an der Produktivität war nicht vom nominalen Umtauschkurs unabhängig, eben so wenig wie das Bedürfnis der Ostdeutschen Westwaren statt der einheimischen Produkte zu kaufen. Auch für die Absatzfähigkeit auf den osteuropäischen Märkten hätte ein Umtauschkurs von etwa 2 zu 1 bei beschleunigt steigenden Löhnen und Produktionskosten mittelfristig keinen Unterschied gemacht, da unabhängig vom Anfangskurs alle Zahlungen hätten in D-Mark abgewickelt werden müssen. 1509

Die Geldpolitik der Bundesbank nach der Währungsunion 1990-1994 Im Konflikt zwischen Regierung und Bundesbank spielten auch die ganz persönlichen Verletzungen in der Auseinandersetzung um die Währungsunion eine Rolle. Der Präsident der Hamburger Landesbank Wilhelm Nölling und der niedersächsischen Landeszentralbank Helmut Hesse hatten während der Debatte um die Währungsunion sich öffendich über die Missachtung der Bundesbank beschwert. Am 30. Mai 1990 hatte Pohl in einer Rede die Gerüchte über eine „Konfrontation" zwischen Bundesbank und Regierung zurückgewiesen und wies im Zentralbankrat bei Anwesenheit von Finanzminister Waigel und dessen Staatssekretär Horst Köhler beide Landeszentralbankpräsidenten zurecht, was diese als tiefe Demütigung empfanden. Diese Geschehnisse vergiftete die Stimmung zwischen den Akteuren im Zentralbankrat. Als Pohl im Herbst 1990 Vorschläge zur Reform des Zentralbankrates machte, musste er feststellen, dass sein Rückhalt im Zentralbankrat geschwunden war. Pohl wollte die Zahl der Ländervertreter im Zentralbankrat reduzieren, um die Handlungsfähigkeit aufrecht zu erhalten. Mit diesem Vorstoß stieß er jedoch auf massiven Widerstand der Landeszentralbankpräsidenten. Pohl schrieb im Januar 1991 dem Bundeskanzler, weil er nun Kohls Unterstützung in dieser Angelegenheit brauchte, die er aber nicht erhielt. Sein Brief blieb viele Monate lang unbeantwortet. 1510

1509 1510

Hans-Werner Sinn, Ist Deutschland noch zu retten?, München 2004, S. 232. Marsh, Bundesbank, S. 288 ff.

324

Mit seiner öffentlichen Kritik an den Folgen der Währungsunion setzte sich Pohl endgültig zwischen alle Stühle. Im März 1991 äußerte Pohl vor dem Wirtschafts- und Währungsausschuss des Europäischen Parlaments in Brüssel, das Resultat der Währungsunion sei eine Katastrophe („Disaster"), die er vorausgesehen habe. Sowohl die Regierung als auch die Opposition wiesen die Vorwürfe zurück. Kohl erinnerte daran, dass die Einführung der D-Mark nach intensiven Gesprächen mit der Bundesbank erfolgt war. Matthäus Maier, die als eine der Ersten eine Währungsunion vorgeschlagen hatte, erklärte, fur die prekäre Lage im Osten sei nicht die Währungsunion sondern die „wirtschaftliche Inkompetenz der Bundesregierung" verantwordich.1511 Die Äußerung des Bundesbankpräsidenten verursachte ein politisches Beben. Die Devisenbörsen sahen einen Konflikt über die Geldpolitik zwischen Bonn und Frankfurt heraufziehen und die D-Mark gab nach. 1512 Pohls Rede war von der Presse aus dem Zusammenhang gerissen worden. Pohl hatte nicht die Bundesregierung öffentlich kritisieren, sondern nur auf die Schwierigkeiten der deutschen Währungsunion aufmerksam machen wollen, um seine Skepsis gegenüber der Europäischen Währungsunion argumentativ zu untermauern. Pohl schrieb daraufhin einen Brief an Kohl, um das Missverständnis aufzuklären. Er entschuldigte sich fur den BegrifF „Disaster" und bat Kohl „dem Brüsseler Vorfall nicht mehr Bedeutung beizumessen, als er in Wirklichkeit verdient."1513 Pohl hatte nun weder den uneingeschränkten Rückhalt der Regierung, noch des Zentralbankrates. Am 6. Mai informierte Pohl als erstes seinen engsten Vertrauten Helmut Schlesinger von seiner Absicht zurückzutreten, in den folgenden Tagen informierte Pohl den Bundespräsident, die Regierung und das Bundesbankdirektorium. 1514 Die Ära des Bundesbankpräsidenten Pohl war zu Ende. Am 1. August 1991 trat der bisherige Vizepräsident der Deutschen Bundesbank Helmut Schlesinger die Nachfolge von Karl Otto Pohl an. Tietmeyer wurde an seiner Stelle Vizepräsident. In der Bundesbank hatte man sich darauf verständigt, dass Schlesinger 1993 aus Altersgründen sein Amt an Tietmeyer abgeben sollte.1515 Schlesinger hatte sich wegen seines fortgeschrittenen Alters von 68 Jahren eigendich keine Hoffnungen mehr auf das Spitzenamt machen können. Der historische Zufall wollte es, dass in der Situation, als durch die Ausweitung der Geldmenge im Zuge der Währungsunion ein Mann die Verantwortung übernahm, der als „Mister-DM" die Stabilitätspolitik geradezu verkörperte. Helmut Schlesinger war in Deutschland ein Monetarist der ersten Stunde. Die neue Geldlehre hatte in der deutschen Volkswirtschaft in den sechziger Jahren kaum Beachtung gefunden, hatte sich dann aber Anfang der siebziger Jahre durch den Anstoß einiger engagierter Hochschullehrer und einer neuen Generation von Ökonomen rasant durchgesetzt. Schlesinger hatte Anfang der siebziger Jahre zusammen mit anderen namhaften Geldpolitikern das Konstanzer Seminar von Karl Brunner, des Wissenschaftlers, der „den Monetarismus nach Deutschland brachte", besucht und war als Chefvolkswirt 1511 1512 1513 1514 1515

Archiv der Gegenwart, S. 35497. Marsh, Bundesbank, S. 293. Zit. nach Marsh, S. 294. Marsh, Bundesbank, S. 296 ff. Archiv der Gegenwart, S. 36072 f.

325 der Bundesbank die treibende Kraft gewesen bei der Einfuhrung fester Geldmengenziele 1974. 1 5 1 6 Schlesinger war entschlossen, die geschwundene Autorität der Bundesbank wieder herzustellen. Zum 19. Dezember 1991 erhöhte die Bundesbank den Diskontsatz von 6,5 auf 8 Prozent und den Lombardsatz von 9 auf 9,75 Prozent, um den inflationären Tendenzen nach der Währungsunion entgegen zu wirken. 1517 Der Sachverständigenrat stützte die Position der Bundesbank, sahen die Wirtschaftswissenschaftler doch das Risiko einer dauerhaften stabilitätspolitischen Entgleisung: „Für die Geldpolitik geht es im Jahre 1992 vor allem darum zu verhindern, dass sich aus dem beschleunigten Preisauftrieb, die Erwartung eines anhaltend hohen oder gar noch weiter steigenden Geldwertverlustes verfestigt." 1518 Erstmals seit 25 Jahren stiegen selbst im Vereinigten Königreich die Preise langsamer als in der Bundesrepublik. 1988 hatte die Inflation noch bei sehr moderaten 1,3 Prozent gelegen und stieg im Zuge der Wiedervereinigung bis 1992 auf 3,5 Prozent. Im Frühjahr 1992 wurde die Vierprozentgrenze durchbrochen. Somit lag die einst fur ihre Stabilitätspolitik bekannte Bundesrepublik nach der Wiedervereinigung plötzlich im internationalen Vergleich mit einer Inflation von 4,3 Prozent an der Spitze. Knapp vor Großbritannien mit 4,1 Prozent, aber deudich vor Frankreich mit 3,0 Prozent, den USA mit 2,8 Prozent und Japan mit 2,0 Prozent. In der Bevölkerung machten sich Inflationsängste breit. Der SPIEGEL beschrieb die Stimmung im April 1992 so: „Die Geldentwertung ist längst zum Angstthema für Stammtische und Kaffeekränzchen geworden." Otmar Issing, der Chefvolkswirt der Bundesbank, machte klar: „Einer weiteren Verschlechterung des Preisklimas können wir nicht tatenlos zusehen." 1519 Bundesbankpräsident Schlesinger entschied sich dafür, mit einem harten Kurs auf die Regierungspolitik, die aus Sicht der Bundesbank verfehlt war, zu reagieren, den er schon während der Verhandlungen über die Währungsunion angekündigt hatte. Als Bundeswirtschaftsminister Möllemann am 16. Juli 1992 zu einer Routinebesprechung mit dem Zentralbankrat in Frankfurt eintraf, sah er sich mit scharfer Kritik an der Politik der Bundesregierung konfrontiert. 1520 Noch am selben Tag erhöhte die Bundesbank den Diskontsatz auf 8,75 Prozent. Der Zahl kam große symbolische Bedeutung zu, denn mit dieser Erhöhung erreichte der Diskontsatz das höchste Niveau seit 1931. Schlesinger verwies zur Rechtfertigung dieser Maßnahme auf die hohe Steigerung der Geldmenge, auf die Inflation und auf die Mehrwertsteuererhöhung der Bundesregierung. 1521 Von der Erhöhung des Lombardsatzes hatte der Zentralbankrat auf Drängen Tietmeyers hin Abstand genommen. 1 5 2 2 Kohl erreichte die Nachricht von der Erhöhung in Oslo, wo er

Hauke Janssen: Milton Friedman und die „monetaristische Revolution" in Deutschland, Marburg 2006, S. 112f. 1 5 1 7 Archiv der Gegenwart, S. 36993. 1 5 1 8 Jahresgutachten 1991/92, S. 178. 1 5 1 9 Der Spiegel, Nr. 15/46, 6. April, 1992, S. 132f. 1 5 2 0 Der Spiegel, Nr. 30/46, 20. Juli 1992, S. 82 ff. 1 5 2 1 Archiv der Gegenwart, S. 36993. 1522 T i e t m e y e r ) Herausforderung Euro. Wie es zum Euro kam und was er fxir Deutschlands Zukunft bedeutet, München/Wien 2005, S. 178.

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326 gerade fur die Vorzüge der Europäischen Union warb. Kohl erklärte, natürlich hätte er es lieber gesehen, wenn Frankfurt auf diese Demonstration der Stärke verzichtet hätte. Über eine moderate Kritik wagten auch Waigel und Möllemann nicht hinauszugehen. Der Deutsche Industrie und Handelstag begrüßte die Entscheidung als „schmerzhaftes aber notwendiges Stabilitätssignal." Norbert Walter, der Chefvolkswirt der Deutschen Bank, sprach hingegen von einem „Zinsknüppel." Der Bundesverband der Volkseisen und RaifFeisenbanken befürchtete „fatale Folgen" fur die Konjunktur. 1523 Die Politik der Bundesbank machte Kohls Europapolitik nicht leichter. Am 7. Februar 1992 war der Vertrag von Maastricht unterzeichnet worden, in dem sich die Mitgliedsstaaten auf eine Reihe von Konvergenzkriterien geeinigt hatten, um die Grundlage fur die gemeinsame europäische Währung zu legen. Statt Konvergenz bot das Europäische Währungssystem ein chaotisches Bild. Die Hochzinspolitik hatte den EWS an den Rand des Zusammenbruchs gefuhrt, Pfund und Lira hatten ausscheiden und die D-Mark aufgewertet werden müssen. Im September rückte die Bundesbank kurzfristig von ihrer Hochzinspolitik ab. Ihr Chefvolkswirt Issing erklärte in einem Interview, seit Mitte September 1992 seien die Zinsen kontinuierlich gesenkt worden. 152 ^ Dieser Kurswechsel war jedoch verfrüht. Zum Ende des Jahres 1992 zeigte sich deudich, dass die geldpolitische Stabilität sich immer noch in schwierigem Fahrwasser befand. Auf der einen Seite stieg die Inflation weiter an und die Geldmenge wuchs doppelt so schnell, wie von der Bundesbank geplant. Auf der anderen Seit zeigten sich im Herbst 1992 deutliche Vorzeichen der Rezession und eine schwere Belastung der europäischen Währungspolitik. Schlesinger sah das Nachgeben im September als Fehler an; man sei in die „Wechselkursfalle des EWS" gerannt. Im Zentralbankrat herrsche keine Einigkeit über das weitere Vorgehen. Ein Mitglied ließ durchsickern: „Etwa die Hälfte tendiert für Lockerungen, die andere Hälfte will Härte." Das siebenköpfige Direktorium stand jedoch geschlossen hinter Schlesingers hartem Kurs. 1 5 2 5 Die Regierung wünschte in Hinblick auf die Konjunktur und die Europapolitik dringend eine Wende in der Währungspolitik, wagte aber nur verhaltene Kritik an jener Institution, die nach wie vor das größte Vertrauen in der deutschen Bevölkerung genoss. Delors ironisierte dieses Vertrauen mit der Aussage: „Nicht alle Deutschen glauben an Gott, aber alle Deutschen glauben an die Bundesbank." 1526 Am ersten Februar 1993 erklärte Waigels Staatssekretär Köhler im SPIEGEL, die größere Verantwortung des wiedervereinigten Deutschlands sei eine finanz- und geldpolitische Realität, der sich auch die Bundesbank nicht entziehen könne. Das Bundesbankgesetz schreibe nicht vor, „dass man Stabilität um den Preis einer massiven Rezession erreichen muss." Köhler beanstandete die engen Geldmengenziele, die die Bundesbank fur das Jahr 1993 gesetzt hatte. 1 5 2 7 Die Bundesbank kritisierte die Verschuldungspolitik der Bundesregierung. Am 22. März 1993 erklärte Schlesinger in einem Interview: „Ich möchte nicht verhehlen, dass das Ausmaß dieser Kreditaufnahme nach meinem Dafürhalten die Obergrenze erreicht hat." 1523 1524 1525 1526 1527

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Spiegel, Spiegel, Spiegel, Spiegel, Spiegel,

Nr. Nr. Nr. Nr. Nr.

30/46, 20. Juli 1992, S. 82 ff. 45/46, 2. November 1992, S. 50/46, 7. Dezember 1992, S. 118ff. 35/46, 24. August 1992, S. 18 ff. 5/47, 1. Februar 1993, S. 94 ff.

327 Schlesinger stellte fest, die Deutschen würden die Maastrichtkriterien zu diesem Zeitpunkt verfehlen. 1528 Schlesinger hatte jedoch nur noch wenige Monate, um den Kurs der Bundesbank zu bestimmen. Schlesinger erhielt zu seiner Verabschiedung das Großkreuz des Verdienstkreuzes der Bundesrepublik Deutschland. Kohl lobte, Schlesinger habe in „ungewöhnlich bewegten Zeiten" zur „Stabilitätskultur" beigetragen. Die schönen Worte und die Ehrung des verdienten Geldpolitikers konnten nicht verbergen, dass Kohl und die Regierung erleichtert waren über den Abgang des als geldpolitischen „Hardliner" verschrienen Schlesinger. Sein Nachfolger wurde wie vorgesehen Hans Tietmeyer und neuer Vizepräsident Johann Wilhelm Gaddum. Beide waren langjährige Vertraute Kohls. 1 5 2 9 Titmeyer hatte in den vergangenen Monaten anders als der scheidende Bundesbankpräsident fur Zinssenkungen plädiert und würde nach Ansicht der Beobachter voraussichdich europapolitische Überlegungen stärker in seine Entscheidungen einbeziehen 1530 , als Schlesinger, dessen Politik den EWS und die europäischen Nachbarn unter Druck gesetzt hatte, und der zum Feindbild besonders der britischen Medien geworden war. 1531 Tietmeyer war erst Anfang 1990 in das Bundesbankdirektorium aufgenommen worden und hatte das Dezernat fur internationale Währungsfragen übernommen. Ab April 1990 hatte er Kohl als Berater fur Währungsfragen gedient und hatte somit bei der Vorbereitung der Währungsunion eine Doppelfunktion ausgeübt. 1532 Tietmeyers Nähe zu Kohl führte dazu, dass in der Öffentlichkeit seine politische Unabhängigkeit angezweifelt wurde, so dass er nach den Zinssenkungen 1994 insistieren musste: „Mit Wahlhilfe hat das nichts zu tun." 1 5 3 3 Zwischen Februar 1994 und Mai 1994 senkte die Bundesbank die Zinsen bis auf 4,5 Prozent für den Lombard und 6,0 Prozent fur den Diskontsatz. 1534 Als Kohls Wahlchancen durch den Aufschwung 1994 wieder gestiegen waren, nannte der SPIEGEL, aller Erklärungen Tietmeyers zum Trotz, Tietmeyer „Kohls wichtigsten Wahlhelfer" und zitierte Wirtschaftswissenschaftler, die einen „politischen Konjunkturzyklus" auszumachen meinten. 1535 Einen direkten Zusammenhang zwischen Wahlkampf und Zinssenkungen herzustellen, ist aber mit Sicherheit eine zu einfache Sichtweise auf die geldpolitische Entscheidungsfindung. Die Bundesbank hatte ihre Zinspolitik der günstigeren Geldwertentwicklung angepasst. Der Anstieg des Preisniveaus verminderte sich 1994 erstmals seit 1991 wieder, wenn auch nicht so stark wie dies angesichts der gedämpften Konjunktur zu erwarten war. 1 5 3 6

Der Spiegel, Nr. 12/47, 22. März 1993, S. 21 fF. Gaddum war unter Kohl Finanzminister in Rheinland-Pfalz 1 5 3 0 Der Spiegel, Nr. 40/47, 4. Oktober 1993, S. 133f. 1531 T i e t m e y e r ) Herausforderung Euro, S. 178. 1 5 3 2 Marsh, Bundesbank, S. 284. 1 5 3 3 Der Spiegel, Nr. 21/48, 23. Mai 1994, S. 114 ff. 1 5 3 4 Archiv der Gegenwart, S. 39063. 1 5 3 5 Der Spiegel, Nr. 39/48, 26. September 1994, S. 104 ff. 1 5 3 6 Jahresgutachten 1894/95, S. 214. 1528

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328 Die Wiedervereinigungskrise der D-Mark hatte die Geldpolitik überwunden. Die Bundesbank bewältigte dank Schlesingers „Rosskur" und der Aufwertung der D-Mark im darauf folgenden Jahr die Herausforderung. Dass es ihr gelang mit ihrer „Machtdemonstration" das Vertrauen in die D-Mark zu erhalten, zeigt der Umstand, dass die D-Mark schließlich mit 15 Prozent aller Währungsreserven in diesen Jahren zur zweit wichtigen Reservewährung aufstieg, was vom Sachverständigenrat als, Ausweis, der hier betriebenen stabilitätsorientierten Geldpolitik" gesehen wurde. 1 5 3 7 Im Jahr 1995 schwächte sich das Preisniveau noch weiter ab und der Sachverständigenrat konnte feststellen: „Die Preisnorm der Bundesbank ist erreicht." 1538 Ein Jahr später wurde das Ergebnis im Jahresgutachten gelobt: „Unter den großen Bereichen der Wirtschaftspolitik ist die Geldpolitik derzeit die einzige, die vom Ergebnis her wenig Sorgen bereitet." Die Inflationsrate war ein Jahr zuvor auf unter zwei Prozent gesunken und erreichte 1996 noch 1,5 Prozent. Die Herrn aus Frankfurt hatten unter erheblichen Anstrengungen und unter in Kaufnahme belasteter Beziehungen zur Bundesregierung ihr Ziel erreicht: „Das zwischenzeitig durch die Wiedervereinigung in Unordnung geratene monetäre Umfeld" war „stabilitätspolitisch wieder hergerichtet." 1539

Zusammenfassung: Die Währungsunion und die „Wiedervereinigungskrise der D-Mark" Der Plan für die Währungsunion entstand vor dem Hintergrund der katastrophalen Lage in der D D R . Nach und nach erreichten Hiobsbotschaften aus dem Osten die Regierung, die mit Hunderttausenden von Übersiedlern rechnen musste. Die neue DDR-Führung drängte deshalb auf eine schnelle Übernahme der westdeutschen Währung und der Druck der Übersiedler begann auch im Westen politische Brisanz zu entwickeln. Oskar Lafontaine hatte mit einem Wahlkampf gegen die Übersiedler einen Wahlerfolg erzielt. Das schien ein Signal dafür, dass die Akzeptanz der Westdeutschen, die Lasten der Übersiedlung zu tragen, begrenzt war. Die politische Alternative dazu war aber noch weniger vorstellbar. Die Bundesrepublik wäre gezwungen gewesen die Grenzen für Übersiedler aus der D D R zu schließen. Nach vierzig Jahren Teilung, während der die DDR-Führung mit Mauer und Stacheldraht ihre Bürger eingesperrt hatte, wäre eine Schließung der Grenzen der Bundesrepublik der moralische Offenbarungseid gewesen und daher für die Verantwordichen aller Parteien — Lafontaine war die wichtigste Ausnahme — ausgeschlossen. Die schnelle Währungsunion war die einzige Möglichkeit den Übersiedlungsdruck zu beenden. Stufenpläne zur Angleichung der Währung, die sich über Jahre hingezogen hätten, waren unter diesen Umständen völlig illusorisch.

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Jahresgutachten 19995/96, S. 236. Jahresgutachten 1995/96, S. 236. Jahresgutachten 1996/97, S. 208.

329 Die Art und Weise, wie die Bundesbankfuhrung von der Bundesregierung bei der Entscheidung fiir die Wahrungsunion vor vollendete Tatsachen gestellt wurde, belastete das Verhältnis sehr. Die Beziehung trübte sich in der Auseinandersetzung über den richtigen Umtauschkurs noch weiter ein. Die Forderung der ostdeutschen Bevölkerung nach einem Umtauschkurs von eins zu eins war so stark, dass außer der Bundesbank und den unabhängigen Wirtschaftsexperten sich keine politische Partei oder großer Verband lautstark gegen diesen Umtauschkurs wandte. Deshalb wollte Kohl diesen Umtauschkurs durchsetzen und nahm Verwerfungen mit der Bundesbank in Kauf. Die negativen Auswirkungen des Umtauschkurses beschränkten sich auf die Höhe der zu begleichenden DDR-Altschulden, hohe Inflationsraten in den kommenden Jahren und eine nicht besonders konjunkturfreundliche Hochzinspolitik der Deutschen Bundesbank, mit der die Bundesbank diese inflationären Tendenzen bekämpfte. Der günstige Umtauschkurs stellte eine erste große Umverteilung zugunsten der ostdeutschen Haushalte auf Kosten der westdeutschen Sparer und Steuerzahler dar, die aber politisch ohne Bedeutung blieb. Die Auswirkung auf die Wettbewerbsfähigkeit der ostdeutschen Wirtschaft wird übertrieben, da der Umtauschkurs nur das Ausgangsniveau der Löhne definierte, dass ohnehin bald durch die tarifpolitischen Entscheidungen gründlich revidiert wurde, mit dem Ziel schnell das Wesdohnniveau zu erreichen. Relativiert wird die Bedeutung der Entscheidung für den Umtauschkurs von eins zu eins auch dadurch, dass durch Einschränkungen und Abstufungen der Gültigkeit des Wechselkurses von eins zu eins der Unterschied zu den Vorschlägen der Bundesbank nicht so groß war, wie dies auf den ersten Blick erschien. Die Währungsunion führte aber zu einer „Wiedervereinigungskrise der D-Mark." Die Ausweitung der Geldmenge im Zuge der Währungsunion heizte die Inflation an. Steigende Inflationsraten erschütterten das Vertrauen in die Währung. Pohls Nachfolger als Bundesbankpräsident Schlesinger setzte alles daran, durch eine Hochzinspolitik das Vertrauen in die D-Mark wieder herzustellen. Es dauerte etwa vier Jahre, bis die Bundesbank ihr altes Renommee zurückgewonnen und das alte Stabilitätsniveau der D-Mark wieder hergestellt hatte. Diese Hochzinspolitik erschwerte Kohls Europapolitik und trug zur Verschärfung der Wirtschaftskrise 1993 bei, war aber im Grunde unvermeidlich.

Die Eigentumsfrage und die Treuhandanstalt Bereits bei dem Treffen von Kohl und Modrow am 19. Dezember 1989 wurde vereinbart, dass sich eine Expertengruppe mit dem „Offenen Vermögensfragen" befassen sollte. Am 21. Februar 1990 kam die Expertengruppe zu ihrem ersten Treffen zusammen. 1540 Sehr früh kristallisierte sich die Haltung der Regierungen in der Eigentumsfrage heraus. Am 5. März 1990 schrieb der SPIEGEL: „Die Regierungsexperten einigten sich grob auf einige politische Grundlinien. Hauptpunkt: Enteignungen von Großgrundbesitz, Großindustrie und Bodenschätzen vor 1949 werden nicht wieder rückgängig gemacht, die früheren 1540

Constanze Paffrath, Macht und Eigentum. Die Enteignungen 1945-1949 im Prozeß der deutschen Wiedervereinigung, Köln 2004, S. 266 ff.

330 Eigentümer nicht entschädigt. Für spätere Enteignungen von Firmen, Häusern und Land soll im Prinzip gelten: Was klar abgrenzbar ist, wird zurückgegeben." In den Fällen in denen das nicht der Fall ist, sollte der frühere Besitzer eine Entschädigung erhalten. 1541 Dieser Umgang mit den Opfern der Boden- und Industriereform in der Sowjetischen Besatzungszone barg politischen Sprengstoff. Teile der FDP drängten auf Wiedergutmachung. Solms meinte, es sei „völlig unakzeptabel, dass Millionen von Leuten, denen etwas weggenommen wurde, ohne Entschädigung bleiben." Daher sah er in dieser Frage „Krach auf die Koalition zu kommen. 1 5 4 2 Krach stand auch mit der Unionsfraktion ins Haus. Auch dort gab es erhebliche Bedenken gegen dieses Vorgehen. In der Fraktionssitzung am 30. August wollte ein Teil der CDU/CSU-Fraktion die entsprechenden Passagen im Einigungsvertrag korrigieren. 1543 Um sich gegen Vorwürfe der Betroffenen und aus den eigenen Reihen abzusichern, betonte die Regierung die außenpolitischen Zwänge. Schäuble argumentierte in dieser Sitzung, dass ohne die Regelung „eine Vereinbarung mit den vier Mächten wie mit der D D R nicht zustande zu bringen sei." 1 5 4 4 Politisch und rechdich von großer Bedeutung, was das angebliche „Rückgabeverbot" der Sowjetunion. Danach habe die Sowjetunion die Nichtrückgabe zur Bedingung für die Wiedervereinigung gemacht. Die Existenz dieses Verbotes ist jedoch mehr als zweifelhaft. Im Gegensatz zu der Frage der Bündniszugehörigkeit der Bundesrepublik war die Eigentumsproblematik aus Sicht der Sowjetunion im Verhandlungsprozess ein untergeordnetes Problem. Der Sowjetunion ging es darum, als Ergebnis der Verhandlungen die „Legalität" der Konfiskationen festschreiben zu lassen, um selbst gegen Entschädigungsansprüche abgesichert zu sein. Die Frage, was mit dem Staatsvermögen der D D R nach der Wiedervereinigung passieren würde, war für die Interessen der Sowjetunion hingegen nicht von Bedeutung. 1545 Die eigendiche Entscheidung war unabhängig von den diplomatischen Rahmenbedingungen schon zu einem frühen Zeitpunkt gefallen. Zu diesem Zeitpunkt existierte noch die Vorstellung mit der Veräußerung des Treuhandbesitzes könnten wenigsten teilweise die Kosten der Einheit gedeckt werden. Statt für die Rückgabe oder Entschädigung sollte das DDR-Vermögen für die Rückzahlung der DDR-Altschulden verwendet werden. 1546 Ein anderer gewichtiger Grund war die Furcht, der SPD im Westen und der PDS im Osten eine offene Flanke zu bieten. Das Feindbild der „Junker", das die Linke über hundert Jahre hinweg kultiviert hatte, war noch präsent. Der Vorsitzende der SPD Ost Richard Schröder rechnete nach eigener Aussage im Osten mit Widerstand bis hin zu terroristischen Anschlägen. 1547 Das ist vermudich übertrieben, verdeudicht aber die politische

Der Spiegel, Nr. 10/44, 5. März 1990, S. 128. Wirtschaftswoche, Nr. 21/44, 18. Mai 1990, S. 21flF. 1 5 4 3 Paffrath, Macht und Eigentum, S. 166. 1544 Wolfgang Schäuble, Der Vertrag. Wie ich über die deutsche Einheit verhandelte, Stuttgart 1991, S. 261. 1 5 4 5 Vgl. Paffrath, Macht und Eigentum, S. 1 6 6 - 2 1 6 . 1 5 4 6 Schäuble, Der Vertrag, S. 178. 1 5 4 7 Klaus Schröder, Die veränderte Republik. Deutschland nach der Wiedervereinigung, München 2006, S. 259.

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331 Brisanz, die man der Behandlung der Enteignungen vor 1949 beimaß. Im Bundestag warf Oskar Lafontaine der Regierung eine „unmögliche Bodenpolitik" vor und malte das Bild rückkehrender Grundbesitzer, die schon Grundstücke und Geschäfte vermessen an die Wand. 1548 Für die übrigen Betroffenen, die nach 1949 ihr Vermögen verloren hatten, galt das Prinzip Rückgabe vor Entschädigung. Die Unsicherheit über die Eigentumsverhältnisse infolge des Prinzips Rückgabe vor Entschädigung fur die nach 1949 konfiszierten Vermögenswerte galt schon bald als eines der Investitionshemmnisse.1 Wirtschaftsminister Möllemann stellte das Prinzip Rückgabe vor Entschädigung angesichts der Schwierigkeiten im Osten in Frage und geriet damit in Konflikt mit Justizminister Kinkel, der als Justizstaatssekretär mit der DDR die Regelung der Eigentumsfrage ausgehandelt hatte. Der Kompromiss zwischen den beiden FDP-Ministern sah schließlich vor, dass das Prinzip Rückgabe vor Entschädigung bewahrt bleiben sollte, aber Ausnahmebestimmungen für Vermietung, Verpachtung und Verkauf erleichtern sollte. Am 15. März 1991 verabschiedete der Bundestag das so genannte Artikelgesetz, das Hindernisse für die Privatisierung und Investitionen abbauen sollte, am 22. März stimmte dem Gesetz auch der Bundesrat zu. 1550 Der Konflikt zwischen Eigentumsrechten und Wirtschaftspolitik spaltete aber auch weiterhin das bürgerliche Lager. Lambsdorff erklärte am 13. Februar 1992, eine Umkehr des Prinzips „Rückgabe vor Entschädigung" werde es nicht geben. Der Schutz des Privateigentums sei die konstitutive Grundlage der Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung.1551 Die Treuhandchefin Birgit Breuel bezeichnete hingegen das Rückerstattungsprinzip als „Investitionshemmnis Nummer eins." Solms stellte resigniert fest: „Eine akzeptable Lösung zu finden ist sehr schwer, vielleicht unmöglich." Der Mindestbedarf für die Entschädigungssumme wurde Anfang 1992 noch auf 15 Mrd. D-Mark geschätzt.1552 Ende 1994 waren von den etwa 2,8 Millionen Restitutionsansprüchen die Eigentumsfrage in 1,1 Millionen Fällen geklärt, aber nur für ein Fünftel des betroffenen Wohneigentums. 1553 Letztendlich war es nur eine Minderheit die ihr Eigentum zurückerhielt oder entschädigt wurde. Etwa 19 Prozent der beanspruchten Flurgrundstücke wurden zurückgegeben und etwa 11 Prozent der Unternehmen. Entschädigt wurden jeweils 4,7 Prozent bzw. 9,6 Prozent. Die betreffenden Objekte waren im Wesentlichen Besitz der Öffentlichen Hand, ostdeutsche Privateigentümer waren anders als dies von den Betreffenden befürchtet worden war von der Rückgabeverpflichtung und zu leistenden Entschädigungen kaum betroffen.1554 Insgesamt kann man wohl sagen, dass die Restitutionsansprüche als Investitionshindernis weit übertrieben wurden. Dieser Eindruck entstand vor allem durch die schleppende Bearbeitung der Anträge in den neuen Ländern. Dafür waren die Länder, Kreise und Gemeinden in den neuen Bundesländern verantwordich, in deren 1548 1549 1550 1551 1552 1553 1554

Paffrath, Macht und Eigentum, S: 172. Wirtschaftswoche, Nr. 33/44, 10. August 1990, S. 14ff. Archiv der Gegenwart, S. 35496 f. Verhandlungen, Band 160, S. 6305. Der Spiegel, Nr. 2/46, 6. Januar 1992, S. 66 ff. Jahresgutachten 1994/95, S. 64 f. Schröder, Veränderte Republik, S. 257 f.

332 Zuständigkeit die Ämter fur offene Vermögensfragen waren. Weniger als 4 0 0 0 Mitarbeiter mussten 2,6 Millionen Anträge bearbeiten. Die Verzögerung der Investitionsentscheidung war also vermudich eher eine Frage der behördlichen Bearbeitung als des Prinzips „Rückgabe vor Entschädigung." 1555 Im Rahmen der Privatisierung gelang es Teilen der alten SED-Elite, ihre Position zu behaupten. In der Landwirtschaft gelang es den ehemaligen LPG-Vorsitzenden in wenigen Jahren bei der Umwandlung der Landwirtschaftsbetriebe, diese zuerst durch Pacht von der Treuhand unter ihre Verfügung und schließlich in ihren Besitz zu bringen und in den kommenden Jahren von den hohen EU-Subventionen zu profitieren. Für diese neuen „Grundbesitzer" kam bald die Bezeichnung „Rote Barone" in Umlauf. 1 5 5 6 Während des Umbruchs profitierten auch andere große Personenkreise, die dem SED-Regime nahe gestanden hatten, von der Umwandlung in Privateigentum. In Folge eines Erlasses der Regierung Modrow vom März 1990 konnten 3 0 0 0 0 0 Personen Grundstücke erwerben. Im Rahmen dieser Praxis sind viele dem System nahe Kreise zu wertvollen Grundstücken zu niedrigen Preisen gekommen. 1 5 5 7 Über den Wert des DDR-Vermögens, besonders der industriellen Substanz, gab es im Frühjahr 1990 noch große Illusionen. In der Bundesregierung herrschte im Frühjahr 1990 die Meinung vor, mit dem Verkauf des DDR-Vermögens könnte ein großer Teil der Aldasten finanziert werden. Schäuble skizzierte die Perspektive folgerndermaßen: „Hat die Berliner Treuhand, die das volkseigene Vermögen - von den Fabriken bis zu den Grundstücken — verwertet, bis 1993 genügend erlöst, dann sollten deren neue Guthaben die alten Staatsschulden abdecken." 1 5 5 8 Ende Juni 1990 äußerte der damalige Direktor der Treuhandanstalt Wolfram Krause, dass das Vermögen der Treuhand gleich mehrfach zur Deckung herangezogen werde. Es bestanden Überlegungen größere Summen aus dem Verkaufserlösen für den Haushalt 1991 abzuzweigen und Sanierungs- und Liquiditätshilfen zu finanzieren. Die Realität sah jedoch anders aus. Nach einer Untersuchung der Treuhand waren von 2361 Unternehmen, in denen 89 Prozent der Industriebeschäftigten arbeiteten, 730 sanierungsbedürftig und 695 Betriebe, in denen etwa 43 Prozent aller Industriearbeiter beschäftigt waren, stark Konkurs gefährdet. 1559 Treuhand war noch von Modrow als ,Anstalt zur treuhänderischen Verwaltung des Volkseigentums" geschaffen worden und in ihr waren 570 „überzeugte SED-Leute" beschäftigt. 1560 Diese standen bald unter dem Verdacht „Obstruktion" zu betreiben. 1561 Mit dem 1. Juli 1990 wurde jedes DDR-Kombinat zu einer AG und jeder andere Betrieb zu einer „GmbH im Aufbau." 1 5 6 2 Zu diesem Zeitpunkt beschäftigte die Treuhand knapp

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Dieter Grosse, Das Wagnis der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion. Politische Zwänge im Konflikt mit ökonomischen Regeln, Stuttgart 1998 S. 487. Schröder, Veränderte Republik, S. 259, S. 372. Ebd. Schäuble, Der Vertrag, 178. Der Spiegel, Nr. 31/44, 30. Juni 1990, S. 64ff. Wirtschaftswoche, Nr. 21/44, 18. Mai 1990, S. 21 ff. Wirtschaftwoche, Nr. 35/44, 24. Juli 1990, S. 14 ff. Wirtschaftswoche, Nr. 28/44, 5. Juli 1990, S. 29ff.

333 die Hälfte aller ostdeutschen Arbeitnehmer, sie besaß etwa ein Drittel der landwirtschaftlichen und zwei Drittel des forstwirtschaftlichen Bodens. Sie verwaltete fast alle ostdeutschen Industrieunternehmen, etwa ein Viertel der Diensdeistungsunternehmen und ein Zehntel der Landwirtschaftsunternehmen. 1563 Das Treuhandgesetz ging in den Einigungsvertrag ein. Die Regierung hatte sich gegen die Einrichtung eines eigenen Ministeriums entschieden, die Treuhand war eine Anstalt des Öffentlichen Rechts im Zuständigkeitsbereich des Finanzministeriums. Die Treuhand hatte die Struktur einer AG erhalten, der erlaubt war, noch weitere Tochtergesellschaften zu gründen. Sowohl im Verwaltungsrat als auch im Vorstand der Treuhand dominierten Repräsentanten der westdeutschen Wirtschaft, neben Vertretern der Länder, Gewerkschaften und der Bundesministerien. Die Wahl dieser eigentümlichen Organisationsform wurde mit der „Schutzschild-Funktion" erklärt: Die Regierung wollte nicht direkt für die Privatisierung verantwortlich gemacht werden und die Privatisierung direkter politischer Beeinflussung entziehen, aber sich nicht aller Einflussmöglichkeiten berauben. 1564 D a die Opposition und Gewerkschaften über den Verwaltungsrat in die politische Verantwortung mit einbezogen waren, mussten frontale Attacken von dieser Seite ins Leere laufen. Die Alternative der Gewerkschaften wirkt aus heutiger Perspektive noch wesendich weniger überzeugend. Die IG Metall wollte die unrentable ostdeutsche Industrie zum Kollektiveigentum der ehemaligen DDR-Bürger und der westdeutschen Arbeitnehmer machen. Nach dem Konzept der IG Metall sollte aus der Treuhand eine „demokratisch mitbestimmte Industrieholding" werden. Diese sollte zu einem bestimmten Teil einem Treuhandvermögensfonds gehören. Die Hälfte des Fonds sollte nach diesem Konzept als Anteilsscheine an die ostdeutsche Bevölkerung verteilt werden, ein anderer Teil von den westdeutschen Arbeitnehmern obligatorisch erworben werden und ein dritter Teil sollte frei handelbar sein und mit Sparfbrderung und Mindestdividende versehen werden. 1565 Nachfolger des ersten Treuhandvorsitzenden Reiner Maria Golke, der nur knapp einen Monat die Führung der Treuhand ausgeübt hatte, wurde Detlev Karsten Rohwedder. Rohwedder war von Karl Schiller in die Politik geholt worden und SPD-Mitglied. Er war unter vier Ministern als Staatssekretär tätig gewesen. Nach seiner Laufbahn in der Regierung hatte er als Manager beachdiche Erfolge bei der Sanierung des Hoesch-Konzerns erreicht. Rohwedder wollte nicht nur privatisieren sondern auch „aktiv sanieren". Dennoch wurde Rohwedder zum „best gehassten Mann der ostdeutschen Werktätigen" gekürt. 1566 Rohwedder schätzte im Herbst 1990: „Der ganze Salat ist 600 Mrd. D-Mark wert." 1 5 6 7 Diese wenig reflektierte Schätzung wird bis heute fälschlicherweise von DDR-Apologeten angeführt, um damit zu beweisen, dass die DDR-Industrie von der Treuhand unter Wert verkauft werden sei. Der Ausspruch zeigt indes nur, dass selbst ein westdeutscher Manager wie Rohwedder zu diesem Zeitpunkt sich nicht vorstellen konnte, wie stark die industrielle Substanz unter den Jahrzehnten der Planwirtschaft gelitten hatte. Rohwedder kam ·'® Uwe Siegmund: Privatisierung in Ostdeutschland, Wiesbaden 2001, S. 14. Siegmund, Privatisierungspolitik, 21 ff. 1 5 6 5 Gewerkschaftliche Monatshefte, 1991, S. 755. 1 5 6 6 Der Spiegel, Nr. 13/45, 24. März 1991, S. 118f. 1 5 6 7 Der Spiegel, Nr. 51/48, 19. Dezember 1994, S. 78 ff. 1

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334 der Sache näher, als er die Privatisierung der ostdeutschen Industrie eine .Aufgabe von nahezu furchterregender Dimension" nannte. 1 ' 6 8 Rohwedder setzte dennoch auf das Sanierungskonzept, denn man müsse „die Braut hübscher machen, damit sie einen Freier findet." Der SPIEGEL kam zu der realistischen Einschätzung, die Sanierung werde viel Geld kosten, aber wenig bringen. Denn nicht einmal Daimler-Benz sei es gelungen, die AEG zu sanieren, die lange nicht so abgewirtschaftet war, wie die ehemaligen DDR-Betriebe. 1 5 6 9 Das Konzept der Bundesregierung, dass die Sanierung aus den Gewinnen der Privatisierung finanziert werden sollte, war zum Scheitern verurteilt. Allein die Unternehmen bis zur möglichen Übernahme eines Käufers am Leben zu halten kostete Unsummen. Im ersten Jahr beliefen sich die Liquiditätskredite auf 27 Mrd. D-Mark, die Kosten fiir die auf Kurzarbeit gesetzten Beschäftigten übernahm die Bundesanstalt fur Arbeit. Der Treuhandvorstand Koch erklärte: „Kühl kaufmännisch kalkuliert ist die Substanz der Unternehmen oft geringer als Null." 1 5 7 0 Die erste Phase der Privatisierung brachte der Anstalt nur wenig Probleme. In einer ersten Privatisierungswelle wurde bis zum März 1991 jedes achte Unternehmen in der D D R verkauft. Die Treuhand nahm 5,78 Mrd. D-Mark ein und betrachtete nun 341000 Arbeitsplätze als gesichert. 1571 In dieser Phase waren vor allem die „besten Stücke" verkauft worden, die den westdeutschen Investoren auf den ersten Blick als rentabel galten. Umso schwerer würde es werden, fiir die übrigen Betriebe tragfähige Lösungen zu finden. Da diese Lösung auf sich warten lassen würde, begann die Behörde sich auf Dauer einzurichten. Im März 1991 begann der Ausbau der Treuhandanstalt. Die Treuhand zog ins ehemalige Haus der DDR-Ministerien um. Da die Angst vor den politischen Auswirkungen der Arbeitslosigkeit in der Regierung wuchs, sollte die Treuhand selbst verstärkt unternehmerisch tätig werden, um Ost-Betriebe zu erhalten. In einem Schreiben vom 5. März 1991 an den Treuhandvorstand forderte das Finanzministerium „unternehmerische Verantwortung" fiir die nicht privatisierten Betriebe und forderte, es müsse „ohne ordnungspolitische und fiskalische Scheuklappen" gehandelt werden. 1572 Die Ausweitung der Aufgabenstellung zog die Expansion des bürokratischen Apparates nach sich. Das Personal der Treuhand wuchs von knapp 350 Mitarbeitern auf3000 Mitarbeiter und weitere 2000 Mitarbeiter mit Beraterstatus an. 1 5 7 3 Rohwedder musste seine Rückkehr in die Politik und die Übernahme dieser mächtigen, aber exponierten Stellung mit dem Leben bezahlen. Am 1. April 1991 wurde Rohwedder von der RAF ermordet. Seine Nachfolgerin wurde am 13. April die ehemalige niedersächsische Finanzministerin Birgit Breuel. 1574 Die Tochter des Hamburger Bankiers Alwin Münchmeier wechselte 1978 von der Hamburger Bürgerschaft in die Niedersächsische 1568 1569 1570 1571 1572 1573

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Treuhand intern, S. 111. Der Spiegel, Nr. 6/45, 4. Februar 1991, S. 108 ff. Der Spiegel, Nr. 13/45, 25. März 1991, S. 34ff. Archiv der Gegenwart, S. 35555. Martin Flug, Treuhand-Poker, Berlin 1992, S. 33. Ohne historisches Vorbild. Die Treuhandanstalt 1990 bis 1994, hrsg. Von Birgit Breuel und Michael C. Burda, Berlin 2005, S. 35. Archiv der Gegenwart, S. 35497.

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Landesregierung.1-57·' Als Niedersächsische Finanzministerin hatte sie die Konfrontation mit der Bonner Regierung nicht gescheut. Sie war es zum Beispiel, die in den Verhandlungen um die Steuerreform 1990 Albrecht zu einer harten Gangart bewegt hatte. 1576 Breuel übernahm ein schweres Erbe und das nicht nur wegen der maroden Betriebe, sondern auch wegen fragwürdiger Persönlichkeiten und Praktiken, die sich in der Treuhandbürokratie etabliert hatten. Die Treuhand-Stabsstelle Wirtschaftskriminalität schätzte, bis Ende 1991 würden 500 Fälle von Bestechlichkeit, Geheimnisverrat und betrügerischem Konkurs aktenkundig sein. Der Chef des Stabes Hans Richter erklärte: „Die Kontrollmechanismen des Staates sind im Osten weitgehend außer Kraft." Unter den Akteuren, gegen die die Staatsanwaltschaft ermittelte, waren große westdeutsche Konzerne und Politiker. Vier Treuhandmitarbeiter hatten ihren Posten bereits im Herbst 1991 wegen Korruption räumen müssen, gegen weitere dreißig Mitarbeiter wurde hausintern ermittelt. 1577 Auch auf der unteren Ebene der Treuhand -Hierarchie sorgte eine fragwürdige Bereichungspraxis für Unmut. Birgit Breuel erklärte in einem Interview: „Die gefährlichsten Verbindungen sind wohl die West-Ost-Kungeleien. Was wir da so erleben an Westlern, die im Osten im Zusammenwirken mit alten Geschäftsführern ihr Schnäppchen machen wollen - das ist schon unangenehm." 1578 Dubiose Geschäfte, Fälle von Untreue, Unfähigkeit und Geldverschwendung im Zusammenhang mit der Treuhand wurden zu Dauerbrennern in der Presseberichterstattung über die Behörde. Darin mischte sich berechtigte Wut über wirkliche Fälle von Wirtschaftskriminalität mit der Frustration über die Abwicklung nicht sanierbarer Betriebe. Der spektakulärste Zusammenstoß zwischen ostdeutschen Arbeitnehmern und der Treuhand im Verein mit einem westdeutschen Investor war die Auseinadersetzung um die Schließung der als allgemein als rentabel eingeschätzten Kaligrube Bischofferode im thüringischen Eichsfeld. Der BASF wurde vorgeworfen, ihre marktbeherrschende Stellung auf dem Kalimarkt durch die Fusion ihrer Tochter-Firma Kali+Salz mit der mitteldeutschen Kali AG und der Rückführung des ostdeutschen Bergbaus zu verteidigen. Die Treuhand, die die Fusion mit einer Milliarde D-Mark subventionierte, wurde vorgeworfen, die Kartellpolitik auch noch mit Steuergeldern zu unterstützen. Die Situation gewann an Dramatik, als die Kali-Kumpel von Bischofferode in den Hungerstreik traten, der ein breites Medienecho und die Solidarisierung vieler Prominenter fand. Bei ihren Demonstrationen flogen Eier gegen das Gebäude der Treuhandanstalt und der PDS-Vorsitzende Gregor Gysi trat als Vertrauensanwalt der Streikenden auf. Die Gewerkschaften waren in der Frage gespalten. IG Metall und IG-Medien stellten sich auf die Seite der KaliKumpel, wohingegen IG-Chemie und die IG Bergbau den Fusionsvertrag begrüßten und für die Schließung Stellung bezogen. Auch die thüringische CDU stürzte die Auseinandersetzung in ein Dilemma, handelte sich doch beim Eichsfeld um eines der wenigen Gebiete in der DDR mit katholischer Bevölkerung und um ein fur Ostdeutschland ungewöhnlich starke Wählerhochburg der CDU. Die 700 streikenden Kumpel wurden fiir die 1575 1576 1577 1578

Flug, Treuhand-Poker, S. 34. Der Spiegel, Nr. 16/45, 15. April 1991, S. 118f. Der Spiegel, Nr. 37/45, 9. September 1991, S. 122 ff. Wirtschaftswoche, Nr. 22/45, 24. Mai 1991, S. 18ff.

336 Ostdeutschen zum Symbol für die von vielen als bedrohlich empfundene unkontrollierte Macht der Treuhand und das weit verbreitete Gefühl des „Ausverkaufs". So gewann der Slogan „Bischofferode ist überall" gerade im Krisenjahr 1993 eine besondere politische Brisanz. In der Politik setzte sich jedoch die Einsicht durch, dass man unabhängig vom Anlass, sich nicht durch einen Hungerstreik unter Druck setzen lassen und keinen Präzedenzfall schaffen dürfe. Zum 1. Weihnachtstag mussten die letzten Kali-Kumpel den Schacht verlassen. 1579 Auf der anderen Seite privatisierte die Treuhandanstalt mit großer Geschwindigkeit. Wirtschaftsminister Möllemann erklärte in der Bundestagsdebatte zum Jahreswirtschaftsbericht 1992: „Trotz aller Kritik will ich hier feststellen, dass die Treuhandanstalt ihrer schwierigen Aufgabe gerecht wird." Nach fünftausend Privatisierungen sei nur noch jeder fünfte Beschäftigte bei einem Treuhandbetrieb beschäftigt. 1580 Der SPIEGEL beurteilte die Uberlebenschancen der bis dahin noch verbliebenen Firmen pessimistisch: „Uber 5000 Betriebe sind immer noch nicht privatisiert, viele werden wohl nie einen Käufer finden. Die meisten sind Klein- und Mittelbetriebe, die sterben laudos." Die Treuhand hatte noch 200 Firmen mit mehr als tausend Beschäftigten. Sie wurden deshalb als „strukturbestimmend" eingestuft und sollten möglichst erhalten werden. Berechnungen ergaben jedoch einen kaum zu rechtfertigenden Aufwand. Auch die von den Unternehmen selbst vorgelegten Konzepte waren gut gemeint, aber in den meisten Fällen nicht finanzierbar. 1581 Dabei fiel der Aufwand auch so schon teuer genug aus. Mit der Währungsunion waren auch die Altschulden der Unternehmen im Kurs von zwei zu eins umgetauscht worden und die Unternehmen mit diesen Altschulden nicht privatisierbar. Breuel hatte die Altschuldenlasten im Frühjahr 1991 auf 100 Mrd. D-Mark beziffert und vorausgesagt, „davon wird der größte Teil bei uns wohl auf Dauer verbleiben." 1582 Im Dezember 1994 bezifferte die Treuhand in ihrem Abschlussbericht ihre Ausgaben für die Übernahme der Altkredite auf 101 Mrd. D-Mark, für die ökologische Sanierung auf 44 Mrd. D-Mark und die Kosten für die Privatisierungshilfen und sozial verträgliche Abwicklung auf 154 Mrd. D-Mark und sonstige Aufgaben auf 38 Mrd. D-Mark. 1 5 8 3 Die Flächendeckende Sanierung der DDR-Betriebe durch eine staadiche Behörde war ein illusionäres Konzept, das an der konkreten Umsetzung scheitern musste und nur noch mehr geplatzte Hoffnungen und Frustration bei den Betroffenen erzeugen konnte. Die Treuhand war ein zu erst mit ostdeutschen später mit westdeutschen Seilschaften durchzogener Apparat, der von Spitze her kaum kontrollierbar war und mit der Aufgabe — unvermeidlicher Weise — überfordert. Birgit Breuel hatte dies anders als ihre Vorgänger von Anfang an klar gesehen. Seit dem Frühjahr 1992 plante Breuel die Arbeit der Behörde bis Ende 1993 zu beenden und wollte daher die Privatisierung noch beschleunigen. Gegen diese Politik regte sich - sicher 1579 1580 1581 1582 1583

Otto Köhler, Die große Enteignung, München 1994, S. 7 ff. Verhandlungen, Band 160, S. 6289 ff. Der Spiegel, Nr. 12/46, 16. M a n 1992, S. 132ff. Wirtschaftswoche, Nr. 22/45, 24. Mai 1991, S. 18ff. Bericht des Vorstands der Treuhandanstalt über den Abschluß der Arbeiten zum 31. 12. 1994, in: Treuhandanstalt Informationen, Ausgabe 21, Dez. 1994, S. 13.

337 auch aus nachvollziehbarem Eigeninteresse — Widerstand innerhalb des Apparates. Der Treuhand-Leitungsausschuss erarbeitete eine Analyse, die beweisen sollte, dass mehr für die Sanierung getan werden könne und die Treuhand-Zentrale ihr Hilfsangebot fiir Unternehmen ausweiten sollte. Der SPIEGEL deutete dies als Machtkampf innerhalb der Behörde. 1 5 8 4 Breuel machte jedoch deudich, sie werden allen „Ehrgeiz daran setzen bis Ende 1993 das operative Geschäft zu beenden." 1 5 8 5 Über die industriepolitischen Vorstöße der Bundesregierung im Herbst 1992 war die Treuhandchefin verständlicherweise nicht begeistert. Kohl verständigte sich mit Waigel und Möllemann auf ein Konzept, das die Deindustrialisierung der ostdeutschen Länder verhindern sollte. Der SPIEGEL kommentierte: „So massiv hat der bundesdeutsche Staat noch nie im Wirtschaftsleben mitgemischt: als Sanierer, Akquisiteur und Personalvermitder." Der Wirtschaftssprecher der SPD Wolfgang Roth merkte an: „Mit einem Jahr Zeitverzögerung macht der Kohl alles, was wir fordern." 1 5 8 6 Kohl hatte den Aufschwung Ost zur Chefsache erklärt. In geheimen Verhandlungen mit den Gewerkschaften bot Kohl ihnen an, die Treuhandbetriebe weiter zu subventionieren, wenn die Gewerkschaften auf schnelle Lohnangleichungen in Ostdeutschland verzichteten würden. Tyll Necker, Chef des BDI, hatte vor dem „Verlust der gesamten Industrie" in Ostdeutschland gewarnt. Schon 1992 waren von 110 Mrd. D-Mark, die der Staat in den neuen Ländern investierte 25 Mrd. D-Mark in der Industrie investiert worden. Waigel setzte einen sechs Punkte Plan auf, der die Erhöhung der Investitionszulage von acht auf zwanzig Prozent, weitere Mittel fiir die regionale Wirtschaftsstruktur und die Verlängerung des Eigenkapitalhilfeprogramms für die Gründung ostdeutscher Unternehmen vorsah. Außerdem sollten weitere Zulagen fiir die Wohnraumprivatisierung und Zulagen fur die industrienahe Forschung zur Verfugung gestellt werden. Waigel bezifferte das Volumen mit 10 Mrd. D-Mark. 1 5 8 7 Damit hatte sich endgültig der Weg gezielter Industriepolitik durchgesetzt, dessen Ziel die „Sicherung industrieller Kerne" war. Seit Ende November 1992 kursierte ein gleichnamiger Entwurf in den Ministerien und bei Abgeordneten. 1 5 8 8 Gewerkschaften, Opposition und Regierung setzten sich fur den Sanierungskurs bei der Treuhand ein. Kohl versprach öffendich, er werde die ostdeutsche Industrie „nicht absaufen" lassen. Die ostdeutschen Abgeordneten und die Gewerkschaften verstanden diese Äußerungen als Bestandsgarantie für die Arbeitsplätze, was wahrscheinlich die Position der Gewerkschaften bei den kommenden Tarifverhandlungen eher verhärtete. 1589 Die Gewerkschaften zeigten zwar grundsätzlich Bereitschaft zur Mitarbeit an Kohls „Solidarpakt fiir Deutschland." Auf dem IG-Metallkongress im Oktober 1992 gab Steinkühler seine prinzipielle Zustimmung. Die Gewerkschaften verlangten aber den Verzicht auf gesetzlich verankerte Offnungsklauseln fiir die Tarifverträge. Die IG-Metall forderte außerdem verbindliche Zusagen fiir öffendiche und private Investitionen und einen Plan zur Sanierung

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Der Spiegel, Nr. 21/46, 18. Mai 1992, S. 168. Wirtschaftswoche, Nr. 27/46, 26. Juni. 1992, S. 37 ff. Der Spiegel, Nr. 51/46, 14. Dezember 1992, S. 18 ff. Wirtschaftswoche, Nr. 49/46, 27. November 1992, S. 14ff. Wirtschaftswoche, Nr. 50/46,4. Dezember 1992, S. 14 ff. Wirtschaftswoche, Nr. 3/47, 15. Januar 1993, S. 18ff.

338 der Treuhandunternehmen. 1590 Gerade unter den ostdeutschen Abgeordneten fand Industriepolitik viele Sympathien. Ein Drittel der Mitglieder in den neuen Bundesländern kamen aus der Arbeiterschaft, im Westen waren es nur neun Prozent. In den alten Bundesländern war fast jedes vierte Mitglied selbstständig, in den neuen Bundesländern war es nur eines von sechzehn. 1591 Am 10. Februar 1993 erläuterte Rexrodt, selbst ehemaliger Treuhanddirektor, das Prinzip der industriellen Kerne im Bundestag: „Die Politik der industriellen Kerne zielt darauf ab — und das hat die Treuhand eigendich seit der Währungsunion versucht - bestimmte Unternehmen, die Sanierungswürdig sind, aber für die marktwirtschaftliche Bedingungen noch nicht gegeben sind, die Chance zu geben, in die Marktwirtschaft hinein zu wachsen: Das ist in der Treuhandanstalt von Anfang an unter der Überschrift Sanierung, einem zugegebener Maßen sehr vagen Begriff, gemacht worden." 1592 Birgit Breuel lehnte „politische Entscheidungen" im Sinne der Bestandsgarantie des Kanzlers für die „industriellen Kerne" ab. 1 5 9 3 Allein 1992 hatte die Sanierung von Treuhandbetrieben 25 Mrd. D-Mark gekostet. 1594 Breuel wollte die Arbeit der Treuhand so schnell wie möglich beendet und den Restbestand an kleinere dezentralere Einheiten übertragen. „Den größten Teil der verbliebenen Arbeit schaffen wir noch 1993 (...) Der Rest wird im ersten Teil des nächsten Jahres erledigt." Im Besitz der Treuhand waren noch immer 2400 Firmen mit 400 000 Beschäftigten und beschäftigte als Behörde 4000 Mitarbeiter. Von dem noch vorhandenen Bestand waren für 1200 Betriebe noch keine neuen Eigentümer gefunden worden. Darunter befanden sich noch dreißig Unternehmen mit über tausend Beschäftigten. Diese sollten in kleinere Gruppen aufgeteilt und so genannten Management KGs (MKG) zugeteilt werden. Mehrere dutzend Unternehmen sollten dort jeweils zusammengefasst und von westdeutschen Managern wettbewerbsfähig gemacht und die Länder in die Sanierung mit einbezogen werden. 1595 Am Ende des Jahres war Breuel ihrem Ziel ein ganzes Stück näher gekommen. Im Dezember 1993 lobte der Sachverständigenrat: „Die Fortschritte der Treuhandanstalt bei der Privatisierung der ihr anvertrauten Unternehmen übertreffen alle Erwartungen. Es zeichnet sich ab, dass die Privatisierung der Unternehmen im vierten Jahr nach der Vereinigung weitgehend zum Abschluss gebracht werden kann." 1 5 9 6 Im Herbst 1994 waren noch 144 Unternehmen mit 43000 Beschäftigten übrig beblieben. Fünf Management KGs umfassten insgesamt 86 Unternehmen. Die Rechtsnachfolgerin der Treuhand wurde die „Bundesanstalt für vereinigungsbedingte Sonderaufgaben, die Schulden der Treuhand sollte der Erblastentilgungsfonds übernehmen. 1597 Pünktlich zum 1. Januar 1995 hörte die Treuhand auf zu existieren. Die Bilanz fiel zwiespältig aus. Der SPIEGEL warf der Treuhand vor: ,Allzu leichthändig ging sie mit MilDi e Zeit, Nr. 43/47, 16. Oktober 1992, S. 26. Wirtschaftswoche, Nr. 44/46, 23. Oktober 1992, S. 24. 1 5 9 2 Verhandlungen, Band 166, S. 12015. 1593 Wirtschaftswoche, Nr. 3/47, 15. Januar 1993, S. 18ff. 1 5 9 4 Wirtschaftswoche, Nr. 50/46, 4. Dezember 1992, S. 14ff. 1 5 9 5 Der Spiegel, Nr. 8/47, 22. Februar 1993, S. 106 ff. 1 5 9 6 Jahresgutachten 1993/94, S. 203. 1 5 9 7 Jahresgutachten 1994/95, S. 85. 1590

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339 lionen und Milliarden um." Auch die Treuhand zog Bilanz. Sie habe bis außer „kleine Restbestände" die ostdeutsche Wirtschaft verkauft, etwa 1,5 Millionen Arbeitsplätze gerettet, 65 Mrd. D-Mark Erlös erwirtschaftet und 200 Mrd. D-Mark an Investitionen angestoßen.1 5 9 8 In ihrem Abschlussbericht erklärte die Treuhand: „Für die Bürger in ganz Deutschland sind es Kosten der Einheit. Technisch gesehen sind es Schulden, die über den Erblasttilgungsfonds in den nächsten Jahren abgetragen werden müssen." 1 5 9 9 Die Bundesregierung hatte ursprünglich beabsichtigte die Schulden der Treuhand bei ihrer Auflösung zwischen Bund und Ländern aufzuteilen, was sich jedoch wie so vieles als Illusion erwies. 1600 Der Erblastentilgungsfonds übernahm, als Sondervermögen des Bundes, die Schulden der Treuhandanstalt und des Kreditabwicklungsfonds sowie Teile der alten Schulden der kommunalen Wohnungswirtschaft. Sein Anfangsschuldenstand 1995 lag bei 336 Mrd. D-Mark. Dieser wurde allein durch den Bund verzinst und getilgt. Auf seine Einrichtung hatten sich Bund und Länder im Rahmen des Solidarpaktes geeinigt. 1 6 0 1 Ihre Privatisierungserlöse eingerechnet, musste der Erblasttilgungsfonds schließlich 205 Mrd. D-Mark Schulden von der Treuhand übernehmen. 1602

Zusammenfassung: Treuhandanstalt und Privatisierung Privatisierung ist eine schwierige politische und praktische Aufgabe. Tatsächlich ist es sehr viel komplizierter staatlichen Besitz in private Hände zu geben, als dies auf den ersten Blick erscheinen mag. Dies ist auch ein Grund dafür, warum der Staat als Eigentümer selbst Schwierigkeiten hat, effizient zu handeln. Der Staat an sich kann nicht dieselbe Funktion erfüllen wie ein privater Eigentümer, der seine eigenen Interessen bei der Veräußerung zu wahren sucht. Bei der Verwaltung von Unternehmen im Staatsbesitz und bei ihrer Privatisierung spielen zwangsläufig politische Interessen hinein und externe Einflüsse lassen sich kaum ausschließen. Bislang haben auch die Ökonomen, die sich mit dieser Problematik auseinandersetzten, kein in der Praxis völlig überzeugendes Verfahren gefunden. Ein von vielen Ökonomen favorisiertes Verfahren ist die öffentliche Auktion, mit der auf die transparenteste Art und Weise der Marktpreis ermittelt werden und auf diese Weise Manipulationen ausgeschlossen werden sollen. In der Praxis hat sich aber auch dieses Verfahren als fiir Manipulationen sehr anfällig erwiesen. 1603

Der Spiegel, Nr. 51/48, 19. Dezember 1994, S. 78 ff. Abschlußbericht Treuhand, in Treuhand Informationen, 21.12.1994, S. 14. 1 6 0 0 Wirtschaftswoche, Nr. 28/46, 3. Juli 1992, S. 27. 1 6 0 1 Monatsberichte, September 1993, S. 11 ff. Carl Ludwig Thiele, Der Erblastentilgungsfonds, Berlin 2009. 1 6 0 2 Monatsberichte, Feb. 95, S. 1 l.f. 1603 Nach Vorstellung einiger Spieltheoretiker lassen sich bei Privatisierungen durch Versteigerungden der „objektive" Marktpreis ermitteln. Der Ökonom Tim Herford schildert einige Beispiele fur öffendiche Versteigerungen bei der Verkauf von Lizenzen in den USA wie das ebenfalls durch Manipulation zu unbefriedigenden Ergebnissen führte, in: Tim Herfod, Ökonomics, München 2006.

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340 Schon aus diesem praktischen Grund wäre es mittelfristig der einfachere Weg gewesen, das in der SBZ und der D D R konfiszierte Eigentum einfach den Alteigentümern zurückzugeben. Dort wo es nachweisbare Ansprüche gab, wäre das im Vergleich zur gewählten Praxis wahrscheinlich in den meisten Fällen weniger aufwendig und kostenintensiv gewesen. Die Bundesregierung glaubte aber, dass sich durch die Veräußerung des DDRVermögens ein Teil der Kosten fiir die Sanierung der D D R selbst tragen würde, und unterschätzte den Sanierungsbedarf sowie die praktischen Schwierigkeiten der Privatisierung. Zum anderen fürchteten die politischen Verantwortlichen die politische Polarisierung in den neuen Bundesländern und die Instrumentalisierung der alten Feindbilder und das Schüren von Ängsten in der DDR-Bevölkerung. Deshalb fiel schon in einer frühen Phase des Einigungsprozesses die Entscheidung, die vor 1949 konfiszierten Unternehmen und Grundbesitz nicht zurückzugeben. Um das politisch vor den Kritikern aus den eigenen Reihen zu rechtfertigen, wurde auf die außenpolitischen Verpflichtungen gegenüber der Sowjetunion verwiesen. Was mit großer Sicherheit ein vorgeschobenes Argument war. Das Prinzip Rückgabe vor Entschädigung führte zwar zu einer Polarisierung in der Offendichkeit hat sich aber im Nachhinein als weniger problematisch erwiesen, als angenommen. Der größte Teil des DDR-Vermögens ging in die Verwaltung der Treuhandanstalt über. Die Verwaltung und Privatisierung eines so gigantischen Vermögensbestandes musste zwangsläufig zu Strukturen führen, die auch Korruption und Seilschaften forderten. Die Behörde war einfach zu groß und die Aufgabe zu wenig überschaubar und die Zeiträume zu knapp um eine wirksame Kontrolle zu ermöglichen. Das trug dazu bei, die Treuhand zum Feindbild fur viele Ostdeutsche zu machen. Die Politik hatte die Treuhand als „Puffer" gegründet, um die Frustration über die Abwicklung der Unternehmen abzufangen. Eine Alternative zu einer schnellen Übertragung der Betriebe in private Hände gab es nicht. Um so länger die Unternehmen im Besitz der Treuhand verblieben, um so höher waren die Kosten fiir den Steuerzahler. Eine flächendeckende Sanierung der Unternehmen durch die Treuhand war nicht finanzierbar und aufs Ganze gesehen aussichtslos. Deshalb setzte Birgit Breuel auf eine möglichst schnelle Auflösung der Behörde und den Abschluss der Privatisierung. Damit geriet sie in Konflikt mit der Politik, die mit den Auswirkungen der Arbeitslosigkeit konfrontiert, zur staatlichen Industriepolitik überging. Das Hauptproblem fiir den Industriestandort Ostdeutschland ließ sich durch keine Sanierung und keine noch so ausgefeilte Privatisierungsstrategie beheben. Der Großteil der Unternehmen war marode und nicht konkurrenzfähig. Der einzige große Vorteil des Standortes Ostdeutschland, gut ausgebildete Arbeit zu niedrigen Lohnkosten, ging durch die ersten Lohnvereinbarungen schnell verloren. Bei diesen Rahmenbedingungen — niedrige Produktivität zu hohen Lohnkosten — waren Investoren ohne Subventionen und Zuschüsse nur noch schwer zu überzeugen. Schluss endlich musste der Bundeshaushalt fiir die Industrie in Ostdeutschland aufkommen. Dass mit der Veräußerung der ostdeutschen Betriebe die Kosten der Einheit teilweise gedeckt werden konnten, war eine der großen Fehleinschätzungen im Einigungsprozess. Der Bund musste die Kosten fiir die Altschulden der Betriebe, den Unterhalt bis zu Veräußerung, die Kosten der Teilsanierung und die Zuschüsse und Subventionen zur Sicherung von Arbeitsplätzen übernehmen.

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Die Weichenstellung in der Tarifpolitik - Lohnangleichung im Osten 1990/91 Die Arbeitslosigkeit wurde nach der Wiedervereinigung zum beherrschenden Thema. Das Deutsche Institut fur Wirtschaftsforschung rechnete schon im Frühjahr 1990 mit einer Million Arbeitslosen. Der Präsident der Bundesanstalt für Arbeit Heinrich Franke hielt es hingegen „für unverantwortlich, Arbeitslosenzahlen in Millionenhöhe in die Welt zu setzen." Er rechnete mit 100000 bis 300000 Arbeitslosen.1604 Am Montag nach der Wahl in NRW und Niedersachsen veröffendichte die Bundesanstalt sogar eine Studie in der sie aufgrund der „beachtlichen Wachstums und Beschäftigungsimpulse" durch die Wirtschafts- und Währungsunion mit einem Rückgang der Arbeitslosigkeit um 700000 Stellen bis zum Jahr 2000 rechnete. 160 ' Bereits Mitte des Jahres hatte die Wirklichkeit Frankes optimistische Prognosen eingeholt. Ende Juli waren 400 000 Ostdeutsche ohne Arbeit und 500000 bezogen Kurzarbeitergeld.1606 Seit dem späten Frühjahr beschleunigte sich die Talfahrt der Produktion auf breiter Front. Verantwortlich dafür war vor allem der Wettbewerbsdruck aus der Bundesrepublik und anderen wesdichen Staaten. Die Produkte und die Produktionsstätten der DDR waren nicht wettbewerbsfähig. Im ersten Halbjahr 1990 war das reale Bruttosozialprodukt der DDR um sieben Prozent gegenüber dem Vorjahr gefallen, wohingegen die Löhne zum teil erheblich angehoben worden waren. 1607 Die sah schon im Februar 1990 die Gefahr, dass sich die Einkommensansprüche im Osten am Hochlohnland Bundesrepublik orientieren würden: „Der anfängliche Wettbewerbsund Standortvorteil, den man durch eine niedrige Bewertung der Währung erzielen kann, wird dann dadurch beseitigt, dass Preise und Löhne nach oben tendieren." (...) „Wettbewerbsnachteile, die etwa durch eine unangemessene, aber kaum zu ändernde Lohnentwicklung hervorgerufen werden könnten, sind dann nicht mehr abzugleichen." 1608 Die Reallohnentwicklung in den neuen Ländern war ein entscheidender Faktor fur die Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt. Deshalb kam den Tarifabschlüssen eine zentrale Bedeutung zu. Da sich die große Mehrheit der industriellen Arbeitsplätze in Ostdeutschland in der Metall- und Elektroindustrie - 1,8 Millionen - befand 1609 , besaß die IG Metall eine Schlüsselposition in den kommenden Auseinandersetzungen um die ostdeutschen Tarife. An der Spitze der IG-Metall stand seit 1986 Franz Steinkühler, der die Organisation autoritär führte. Ein ungenannter Funktionär der Frankfurter IG-Metall-Zentrale wurden die desillusionierten Worte zugeschrieben: „Steinkühlers Vorgänger haben mit Herzblut regiert, der Franz dagegen herrscht mit Terror." Im dreißigköpfigen Vorstand galten nur Riester, Teichmüller und Peters als Persönlichkeiten, die bereit waren Widerspruch 1604 1605 1606 1607 1608 1609

Der Spiegel, Nr. 19/44, 7. Mai 1990, S. 18ff. Bild, 15.5.1990, S. 2. Der Spiegel, Nr. 32/44, 6. August 1990, S. 18 ff. Monatsberichte, Jul. 90, S. 7 f. Wirtschaftswoche, Nr. 8/44, 16. Februar, 1990, S. 26 f. Jahresgutachten 1990/91, S. 70f.

342 zum Vorsitzenden zu äußern. Im Kreis der geschäftsführenden Vorstandsmitglieder habe Steinkühler im Wesendichen „freie Hand." 1 6 1 0 Steinkühler sah die Position der Gewerkschaften durch die Wiedervereinigung bedroht und erklärte wiederholt, zum Beispiel auf dem Gewerkschaftstag am 2. November 1990 „dass durch die deutsche Einheit die Gewerkschaften nicht stärker, sondern schwächer werden." 1611 Steinkühler forderte daher vorausschauend bereits im Dezember 1989, die Arbeitnehmervertreter müssten in „jedem Betrieb vor den Unternehmern da sein." 1 6 1 2 Die Organisation dieses ehrgeizigen Planes lag beim zweiten Vorsitzenden der IG Metall Klaus Zwickel. Zwickel war nach eigenen Worten „gewissermaßen der Innenminister mit Schwerpunkt Tarifpolitik." Für ihn bekam die „sukzessive Übertragung der in Westdeutschland abgeschlossenen Tarifregelungen auf die neuen Bundesländer ein besonderes Gewicht, ebenso wie die gewaltige Aufgabe, die bewährten Gewerkschaftsstrukturen auch in Ostdeutschland aufzubauen. Dieses Vorhaben würde sowohl personell als auch finanziell mit einem unvorstellbaren Einsatz verbunden sein. Und genau das war mein Auftrag, den „Aufbau Ost" optimal zu steuern." 1613 Für den folgenden Niedergang der ostdeutschen Wirtschaft macht Zwickel verantwortlich, „dass Kohls Währungsunion die ostdeutschen Betriebe mit einem gewaltigen Aufwertungsschock schwächte." In Zwickels Erinnerungen kommen indes die ersten Tarifverhandlungen und die wirklich bemerkenswerten Umstände des Zustandekommens des Stufentarifvertrages erstaunlicherweise überhaupt nicht vor. Er merkt lediglich an, die IG Metall und der Deutsche Gewerkschaftsbund seien einen „ganz anderen Weg" beim ,Aufbau Ost" gegangen als die Politiker. „So konnten wir die Menschen in den neuen Ländern sozusagen an die Hand nehmen und mit ihnen gemeinsam die schwierigen Aufgaben in die Hand nehmen." 1 6 1 4 Zwickel war bald im Bilde über den Zustand der ostdeutschen Wirtschaft: „Schnell stellte sich heraus, dass die Informationen im Westen über den technologischen und ökonomischen Zustand der ehemaligen DDR-Wirtschaft mehr als dürftig waren (...) Man fand sehr schnell heraus, dass der Osten mit den rückständigen Produktionsbedingungen unter marktwirtschaftlichen Gesichtspunkten nicht konkurrenzfähig werden konnte." 1 6 1 5 Ein Mitglied des Treuhandverwaltungsrats ließ durchsickern, dass ein Drittel der 8000 Betriebe voraussichdich „liquidiert werden" musste. IG-Metall-Chef Franz Steinkühler kam im Sommer 1990 zu der treffenden Einschätzung: „Die Betriebe liegen schlichtweg auf der Schnauze." 1616 Diese Einsicht hatte jedoch keine Auswirkungen auf das Verhalten der Gewerkschaften, vor allem der IG Metall, die ihren Kurs mit kompromissloser Härte durchzog, um ein „Niedriglohngebiet" in Ostdeutschland zu verhindern, ohne Rücksicht auf die besonde1610 1611 1612 1613 1614 1615 1616

Der Spiegel, Nr. 23/45, 3. Juni 1991, S. 120 f. Gewerkschaftliche Monatshefte 1990, 41. Jhrg., S. 798. Zit. nach Die Zeit, Nr. 15/45, 6. April 1990, S. 25 f. Zwickel, Geben und Nehmen, S. 129. Zwickel, Geben und Nehmen, S. 141 Zwickel, Geben und Nehmen, S. 134. Wirtschaftswoche, Nr. 30/44, 30. Juli 1990, S. 27 f.

343 ren Rahmenbedingungen der ersten Tarifverhandlungen. Denn die Tarifparteien standen vor der Schwierigkeit, dass zur Erklärung der Allgemeinverbindlichkeit des Tarifvertrages fünfzig Prozent der betroffenen Arbeitnehmer einer Branche durch den Tarifvertrag erfasst sein mussten. Durch das Fehlen statistischer Daten und einer handlungsfähigen Arbeitgeberorganisation in Ostdeutschland konnte nur schwer belegt werden, ob dies tatsächlich der Fall war. Zwischen dem Arbeitsministerium, den Gewerkschaften, dem BDA und den neuen Bundesländern bestand jedoch weitgehender Konsens „bei der Erfüllung der 50-Prozent-Klausel einen großzügigen Maßstab anzulegen."1617 Das ist ein entscheidender Punkt, da dies nicht nur die Frage des Arbeitsrechts, sondern der Legitimität der ersten Tarifverträge berührt. Gerade das organisatorische Chaos und die strukturelle Schwäche der ostdeutschen Arbeitgeber, die in diesem Umstand zum Ausdruck kam, machten es unmöglich, dass diese die Interessen ihrer Betriebe zu diesem Zeitpunkt angemessen wahrnehmen konnten. Die Gewerkschaften waren also in einer wesendich stärkeren Position als die Arbeitgeber. Mit Ausnahme des Bezirkes Dresden wurden die neuen Bundesländer in der Gewerkschaftsorganisation westdeutschen Bezirken zugeteilt. An die Spitze der 35 Verwaltungsbezirke der IG Metall stellte die Gewerkschaft mit einer Ausnahme nur westdeutsche Funktionäre. Finanziell hing die ostdeutsche Organisation am Tropf des Westens.1618 Ende April hatte die IG Metall ihre Forderungen fur die erste Tarifrunde der neu zu gründenden Bundesländer vorgelegt. Schon dieser erste Forderungskatalog sah die stufenweise Anhebung der Löhne- und Gehälter auf das Niveau der Bundesrepublik vor. Die alten Rahmenkollektiwerträge der DDR-Metallindustrie hatte die Metallgewerkschaft Ost zum 30. Juni 1990 gekündigt. 1619 Nach ersten Warnstreiks wurde ein Kompromiss erzielt. Die Tarifparteien einigten sich auf eine Beschäftigungsgarantie bis zum 30. Juni 1991. Die interessierte Öffendichkeit war sich über die Bedeutung der nun folgenden Weichenstellung durchaus im Klaren: Die Wochenzeitung Die Zeit befürchtete: „Lineare Tariferhöhungen wie in der vergangenen Lohnrunde wird die Wirtschaft nicht ohne gravierende Schäden - also Arbeitslosigkeit - überstehen."1620 Die Bundesbank stellte fest: „Eine rasche Anpassung der ostdeutschen Löhne und Gehälter an die westdeutschen Einkommensverhältnisse erscheint ohne Schaden für Wachstum und Beschäftigung nur bei entsprechend zügiger Angleichung der Arbeitsproduktivität möglich." 1621 Waigel erklärte am 21. Juni 1990 im Bundestag: „Ganz entscheidend dafür, dass Investoren anpacken und dass neue Arbeitsplätze geschaffen werden, ist eine vernünftige Tarifpolitik in den nächsten Jahren in der DDR." Die Belastungsfähigkeit der ostdeutschen Betriebe dürfte nicht „bis zum letzten Lohnprozentpunkt getestet werden." 1622 Wirtschaftsminister Haussmann pflichtete Waigel bei, der Tarifpolitik käme eine enorme Bedeutung zu. Zu nächst müsse die Produktivität erarbeitet werden, ehe sie verteilt werden könne. Der umgekehrte

1617 1618 1619 1620 1621 1622

Ritter, Preis der Einheit, S. 307. Ritter, Preis der Einheit, S. 309 ff. Wirtschaftswoche, Nr. 20/44, 11. Mai 1990, S. 35, Die Zeit, Nr. 42/45, 12. Oktober 1990, S. 26. Monatsberichte, Feb. 1991, S. 37f. Verhandlungen, Band 153, S. 17195.

344 Weg gehe zu Lasten der Beschäftigung. 1623 Selbst der den Gewerkschaften nahe stehende Ökonom Rudolf Hickel sah im Frühjahr 1990 die größte Gefahr der Währungsunion darin, „dass die Lohnsätze stärker steigen als die Produktivität, dann wäre ein weiterer Verlust der internationalen Konkurrenzfähigkeit der D D R vorprogrammiert." 1624 Der Zug in Richtung Angleichung der Löhne auf Westniveau war jedoch zu diesem Zeitpunkt schon abgefahren. Bereits 1990 nach den ersten Tarifvereinbarungen erreichten durch Lohnsteigerungen von dreißig bis zu sechzig Prozent und absolute Aufschläge von 250 bis 300 D-Mark die meisten Branchen fünfzig Prozent des westlichen Lohnniveaus. 162 ^ Die rasant steigenden Löhne standen in einem deudichen Kontrast zum Zustand der DDR-Wirtschaft. Im September 1990 lagen erstmals verlässliche Zahlen über die wirtschaftliche Lage der D D R vor. Das Institut fur angewandte Wirtschaftsforschung LAW, aus ehemaligen Mitarbeitern der DDR-Plankommission, hatten eine „bemerkenswert klare Diagnose" vorgelegt. Der Standort Ostdeutschland erschien darin als „Ein einziges großes Sanierungsgebiet." Das LAW beklagte, dass „der dringend benötigte Kapitalfluss bundesdeutscher und ausländischer Investoren jetzt ausblieb." 1626 Schnell hatte sich gezeigt, dass der ostdeutsche Standort für westdeutsche Unternehmer nur wenig Attraktivität besaß. Die stellte fest: „Konkrete Projekte für neue Betriebe jenseits der Grenze gibt es nur wenige. Fürs erste wollen die West-Unternehmer ihre Ost-Kunden aus der Ferne beliefern." Der BDI sah nur „noch Einzelfälle" von Investitionen. 1627 „Wer seine Unternehmenskapazitäten wegen des Booms im Westen erweitern will, wählt eher Portugal als Potsdam." 1 6 2 8 Da der ostdeutsche Markt weitgehend mit westdeutscher Produktion bedient werden konnte, war der Standort nur interessant, wenn es Exportchancen nach Westeuropa oder in den EWG-Raum gab. 1 6 2 9 Denn zur selben Zeit brach der Handel der ehemaligen D D R mit Osteuropa und der Sowjetunion und mit ihr die Produktion im Osten ein und in der Regierung breitete sich Panik aus. Nach ihren Berechnungen würde vom Industriepotenzial der neuen Länder höchstens zwanzig Prozent übrig bleiben. Blüm sah Anfang 1991 den Arbeitsmarkt kurz vor dem Zusammenbruch. Er forderte Arbeitsbeschaffungs- und Weiterbildungsmaßnahmen, auch wenn diese „mit konventionellen Mitteln nicht zu bezahlen sind", und er schlug selbst die Finanzierung durch eine Arbeitsmarktabgabe vor. 1 6 3 0 Die Dringlichkeit der Lage führte nicht zu einer Neujustierung der Tarifpolitik, da die Gewerkschaften ab dem Frühjahr 1990 das Ziel verfolgten zu „verhindern, dass sich niedrige Löhne als Hauptanreiz fur den privaten Kapitaltransfer durchsetzen würden." Die Erhaltung der eigenen starken Position im Westen besaß Priorität gegenüber der Erhaltung

Verhandlungen, Band 153, S. 17212. Gewerkschaftliche Monatshefte 1990, 41. Jhrg., S. 133 ff. 1 6 2 5 Jahreswirtschaftsbericht 1990/91, S. 70 f. 1 6 2 6 Wirtschaftswoche, Nr. 40/44, 28. September 1990, S. 29. 1 6 2 7 Wirtschaftswoche, Nr. 23/44, 1. Juni 1990, S. 21 f. 1628 Wirtschaftswoche, Nr. 33/44, 10. August. 1990, S. I4ff. 1 6 2 9 Wirtschaftswoche, Nr. 23/44, 1. Juni 1990, S. 21 f. 1 6 3 0 Der Spiegel, Nr. 7/45, 11. Februar 1991, S. 94. 1623

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345 von Industriepotenzial und Arbeitsplätzen im Osten. 1 6 3 1 Zwei Tage nach der Wiedervereinigung erläuterte Steinkühler der deutschen Offendichkeit, Macht und Gegenmacht seien fur das Verhältnis von Arbeitgebern und Arbeitnehmern kennzeichnender als das „gefuhlsund ideologiebeladene Gerede von der Sozialpartnerschaft." Gesamtmetall hätte versucht, die IG-Metall als Juniorpartner gegen die Interessen der arbeitenden Menschen im Osten aufzubringen. Man habe sich jedoch unter großem Kraftaufwand durchgesetzt. 1632 In einem Interview mit der ZEIT im Februar 1991, also zur selben Zeit, als die Regierung aus Angst vor der Massenarbeitslosigkeit die ersten Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen ausarbeitete, um einen völlig Kollaps des Arbeitsmarktes im Osten zu verhindern, erklärte Steinkühler, es werde keine Sonderregelung fur schwache Betriebe geben. Man sei mit der Praxis die Forderungen nach dem Durchschnitt der Betriebe auszurichten bisher gut gefahren und dabei werde es bleiben. 1633 Im Westen forderte die IG Metall Lohnzuschläge von 10 Prozent und im Osten die Anhebung von vierzig auf sechzig Prozent des West-Niveaus. Die BDA versuchte Konflikte schon im Vorhinein zu verhindern und war nicht bereit, für die Festsetzung günstiger Rahmenbedingungen in den neuen Ländern den Konflikt mit der streikbereiten IG Metall zu riskieren. Im Dezember 1990 einigten sich IG-Metallchef Franz Steinkühler und Gesamtmetall-Präsident Werner Stumpfe heimlich auf einen Stufenplan, noch bevor Anfang 1991 die ostdeutschen Tarifverträge ausliefen. 1634 Damit war das Ergebnis der Tarifverhandlungen bereits vorweggenommen und die Verhandlungen selbst verkamen zur Farce. Für Gesamtmetall verhandelte Gerhard Müller mit dem Chef der norddeutschen IG-Metall Frank Teichmüller einen neuen Tarifvertrag für Ostdeutschland aus. Im Osten waren die Arbeitgeberverbände zu diesem Zeitpunkt noch immer kaum organisiert. Außer Müller bestand die Delegation der Arbeitgeber aus Vertretern der Treuhand und ehemaligen Kombinatsleitern. Ihnen standen profilierte westdeutsche IG-Metaller gegenüber. 1635 Das Verhandlungsergebnis sah die Angleichung der ostdeutschen Löhne an das Westniveau bis 1994 in Schritten von dreißig Prozent Lohnsteigerung im Jahr vor. Der SPIEGEL urteilte über diesen beispiellosen Vorgang: „Das geheiligte Gut der Tarifautonomie (...) verkommt bei den Abschlüssen im Osten zur Parodie." Die Wirtschaftsforschungsinstitute erklärten in ihrem Frühjahrsgutachten mit diesem Tarifvertrag seien „alle Dämme gebrochen." Der Chef des BDI Heinrich Weiß nannte das Abkommen eine „Katastrophe", die Tageszeitung D I E WELT das „größte lohnpolitische Skandalon der überschaubaren Wirtschaftsgeschichte." Der SPIEGEL kommentierte das Ergebnis: „Nach den Maßstäben der Ökonomie sind die Stufenpläne unbegreifliche Geschenkaktionen." 1636

Ritter, Preis der Einheit, S. 289. Die Zeit, Nr. 41/45, 5. Oktober 1990, S. 32. 1633 D i e Z e ^ N r 6/46,1. Februarl991, S. 31. 1 6 3 4 Der Spiegel, Nr. 24/45, 10. Juni 1991, S. lOOff. 1 6 3 5 Der Spiegel, Nr. 24/45, 10. Juni 1991, S. lOOff. 1 6 3 6 Der Spiegel, Nr. 24/45, 10. Juni 1991, S. lOOff. 1631

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346 Gesamt-Metall-Chef Werner Stumpfe rechtfertigte den Kompromiss mit der Notwendigkeit, die Abwanderung aus Ostdeutschland zu verhindern. Tyll Necker wies hingegen darauf hin, dass der Wunsch zur Übersiedlung nicht von der Lohnhöhe sondern von den Beschäftigungschancen abhing. Stumpfe gestand ein, dass bei moderateren Lohnabschlüssen weniger Arbeitsplätze vernichtet worden wären. Er entschuldigte jedoch das Verhalten der Tarifparteien damit, dass diese überfordert gewesen seien. 1637 Die IGM stellte auf der Klausurtagung des Vorstandes im Oktober 1991 fest, „Die Einkommensangleichung hilft mit, eine verschärfte Billiglohnkonkurrenz zu vermeiden und damit einer drohenden Fehlallokation von produktiven Ressourcen nach Maßgabe eines kurzfristigen Kostenkalküls entgegenzutreten." Für die Kritik an der Lohnpolitik gäbe es „letzdich nur eine Erklärung. Die Angriffe auf die Lohnpolitik der Gewerkschaften in Ostdeutschland zielen auf die Schwächung der Gewerkschaften in Westdeutschland." 1638 Durch die Abschlüsse schlugen die Gewerkschaften zwei Fliegen mit einer Klappe. Einerseits wurden die hohen Erwartungen der ostdeutschen Mitglieder erfüllt, andererseits konnte die IG-Metal im Westen auf eine moderate Lohnpolitik vorerst verzichten. Am 30. April 1991 waren 300000 Beschäftigte in den alten Bundesländern vorübergehend in den Warnstreik getreten. Die Gewerkschaft IG Metall forderte eine Lohnerhöhung von 10 Prozent und eine Mindestanhebung von 280 D-Mark. Das Angebot der Arbeitgeber von vier Prozent betrachtete Steinkühler als Kampfansage. Am 2. Mai 1991 begannen die Schwerpunktstreiks und am 5. Mai einigten sich Arbeitgeber und die Industriegewerkschaft Metall auf eine Lohnerhöhung von 6,7 Prozent ab dem 1. Juni desselben Jahres. 1639 Steinkühler erklärte im Mai 1991 dem SPIEGEL, steigende Löhne hätten keinerlei negative Auswirkungen auf die Beschäftigung. Im Gegenteil sah er einen „Vorteil fiir den Oststandort" darin, dass dort die Lohnentwicklung bis 1994 bereits feststehe. Steinkühler rechtfertigte sogar die hohen Lohnforderungen im Westen mit den Effekten für die Löhne im Osten: „Die wissen, dass sie von Lohnerhöhungen im Westen profitieren, weil die Ost-Verträge mit festen Prozentsätzen an die West-Verträge gebunden sind. Was wir hier durchsetzen, geht automatisch im nächsten Jahr bei ihnen obendrauf." 1640 Angesichts des rasanten Zusammenbruchs der ostdeutschen Wirtschaft wirken diese Äußerungen aus heutiger Sicht geradezu grotesk. Die Lage auf dem ostdeutschen Arbeitsmarkt verschlechterte sich im Sommer 1991 noch weiter. Von Juni bis August stieg die Arbeitslosigkeit um 220000 Personen auf 1,6 Millionen Menschen, da viele Kurzarbeiter endassen wurden. 1641 Erst im Herbst ging die Arbeitslosigkeit wieder zurück. Bis November 1991 ging die Zahl der Arbeitslosen um 40000 und die Zahl der Kurzarbeiter um 510000 zurück. Jetzt griffen die staatlichen

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Die Zeit, Nr. 26/46, 21. Juni 1991, S. 29. Zur solidarischen Finanzierung der sozialen Einigung, Hrsg. Von IG Metall Vorstand, Funkfurt a.M. 1991, S. 36. Archiv der Gegenwart, S. 35695. Der Spiegel, Nr. 18/45, 29. April 1991, S. 34 ff. Monatsberichte, Sept. 1991, S. 7 f.

347 Gegenmaßnahmen, die Blüm seit Anfang des Jahres vorbereitet hatte. Die Endastung des Arbeitsmarktes wurde vor allem durch diese arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen erreicht. Die Bundesbank urteilte: „Daß sich die Lage auf dem Arbeitsmarkt nach der Jahresmitte nicht in dem befürchteten Ausmaß verschlechtert hat, ist zum großen Teil auf den Einsatz arbeitsmarktpolitischer Maßnahmen zurückzuführen, nur zum geringen Teil fanden freigesetzte Erwerbspersonen einen normalen Arbeitsplatz." 1991 nahmen 535 000 Arbeitnehmer eine berufliche Fortbildung oder Umschulung auf, 205 000 Altersübergangsgeld in Anspruch und 410000 machten von der Möglichkeit des Vorruhestandes gebrauch. 1642 Zählt man dies zusammen, wurden also über eine Million Menschen durch öffendiche Maßnahmen und auf Kosten der Steuer- und Beitragszahler aus dem freien Arbeitsmarkt herausgenommen. Ein anderer Bereich, der dem Arbeitsmarkt beschäftigungspolitische Impulse gab, war die durch den Ausbau der Infrastruktur angekurbelte Bauwirtschaf, die auch auf andere Sektoren der Wirtschaft ausstrahlte, aber ebenfalls von staadichen Subventionen abhängig war. Ende Januar 1992 waren in Ostdeutschland noch 1,34 Millionen Menschen erwerbslos gemeldet, was einer Quote von 16,5 Prozent entsprach. 1643 Auf die eine oder andere Weise ließen sich die positiven Entwicklungen in der ostdeutschen Wirtschaft und dem Arbeitsmarkt in fast allen Fällen auf die Wirkung staadicher Maßnahmen zurückfuhren. Für den Privatsektor war der Standort Ostdeutschland ohne staadiche Subventionen für Investitionen wegen der rasant steigenden Lohnkosten unattraktiv geworden. Anfang 1992 erreichten die ösdichen Tariflöhne ungefähr 60 Prozent des Westniveaus. Die Bundesbank stellte im September 1991 fest: „Der Lebensstandard ist in Ostdeutschland zwar noch deudich niedriger als in Westdeutschland, verglichen mit der Zeit vor der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion hat er sich jedoch nicht zuletzt dank der hohen staadichen Transfers aus Westdeutschland beträchdich gebessert." 1644 Dass diese Besserung ihre Ursache nicht einer sich selbst tragenden Entwicklung, sondern vor allem in staadichen Transfers und Investitionen hatte, zeigte die Entwicklung der Produktionsbasis der ostdeutschen Wirtschaft. Im Osten zeichnete sich im verarbeitenden Gewerbe noch „keine Wende zum Besseren" ab. Die Produktion ging zum Beginn des Jahres 1992 noch weiter zurück und eine Trendwende war nicht zu erkennen. „Auch die Investitionen in diesem Bereich sprechen bislang nicht für eine groß angelegte Nachholbewegung." Die Investitionsaufwendungen blieben bezogen pro Kopf deudich hinter dem Investitionsniveau im Westen zurück. 1645 Von einem Aufholen der neuen Bundesländer im Vergleich zu den alten konnte also keine Rede sein. In Westdeutschland schien die Konjunktur Anfang 1992 in ein „ruhiges Fahrwasser" zu münden, denn die „aufgestauten Konsumwünsche" der Ostdeutschen waren zum großen Teil befriedigt. 1646

Monatsberichte, Monatsberichte, 1644 Monatsberichte, 1 6 4 5 Monatsberichte, 1 6 4 6 Monatsberichte,

1642 1643

Sept. 1991, S. 38. Feb. 1992, S. 36. Sept. 1991, S. 7 f. Juni 1992, S. 5 ff. Feb. 92, S. 24 ff.

348

Bilanz der Tarifpolitik in Ostdeutschland Die westdeutschen Gewerkschaften, und vor allem die Führung der IG Metall hatten den Umbruch in der DDR als Bedrohung wahrgenommen. Ihre Schreckensvision war die Entstehung eines Niedriglohngebietes, das direkt an die alten Bundesländer grenzte. Ein solches Niedriglohngebiet würde, so die Vorstellung der Gewerkschaftsspitzen, vor allem aufgrund seines niedrigen Lohnniveaus Investitionen aus Westdeutschland anziehen und den Arbeitgebern ein Druckmittel gegen hohe TarifForderungen im Westen in die Hand geben. Deshalb war Steinkühler bestrebt so schnell wie möglich in Ostdeutschland Strukturen aufzubauen, um die Lohnentwicklung in den neuen Ländern unter Kontrolle r

zu haben. Sein verantwortlicher Mann für diese Aufgabe war Klaus Zwickel. Der organisatorische Vorteil gegenüber der nur rudimentär bzw. gar nicht organisierten Arbeitgeberschaft in Ostdeutschland machte es möglich einen Stufentarifvertrag durchzusetzen, der sich nicht am Produktivitätsniveau der Arbeitnehmer orientierte, sondern ohne Rücksicht darauf in Schritten das westdeutsche Niveau erreichen sollte. Mit dem Auseinanderklaffen von Lohnkosten und Produktivität war der Standort Ostdeutschland auf Dauer für Investoren unattraktiv, soweit keine zusätzlichen Anreize geschaffen wurden. Eine dauerhaft hohe Arbeitslosigkeit war damit vorprogrammiert. Dennoch kann man nicht sagen, dass die Gewerkschaften mit ihrer Tarifpolitik nicht dem Willen ihrer neuen Mitglieder entsprochen hätten. Den ostdeutschen Arbeitnehmern war nicht zu vermitteln, dass sie mit dem Vollzug der staadichen Einheit nicht automatisch denselben Lebensstandard wie ihre westdeutschen Kollegen erreichen sollten. Denn sie verglichen ihren Lebensstandard nicht mit denen ihrer neuen Mitbewerber um Investitionen in Europa, den anderen Ostblockstaaten oder auch nur mit anderen EUStaaten wie Portugal oder Irland, sondern mit ihren westdeutschen Landsleuten. Ihnen war nicht klar, dass wenn sie ihren Arbeitsplatz behalten wollten, sie sich für lange Zeit mit einem sehr viel niedrigeren Lohnniveau als das ihrer Kollegen im Westen zufriedengeben mussten. So trafen sich die Erwartungen der Arbeitnehmer im Osten, die zügig die Angleichung an das Westniveau wünschten, mit den tarifpolitischen Zielsetzungen der Gewerkschaftsfuhrung im Westen, die ein Niedriglohngebiet verhindern wollten. Der Schwarze Peter wurde somit an die Bundesregierung weitergereicht. Denn fiir die wachsende Zahl der Arbeitslosen machten die Ostdeutschen nicht mangelnde Wettbewerbsfähigkeit und steigende Lohnkosten sondern, den Kanzler, der ihnen „blühende Landschaften" versprochen hatte, verantwordich. Auf die Bundesregierung konzentrierte sich die ganze Verbitterung über den Verlust der Arbeitsplätze. Die Bundesregierung stand nun vor der Aufgabe, den Arbeitsmarkt im Osten zu stabilisieren und zugleich die Wohlstandserwartung der Ostdeutschen zu erfüllen. Da zusätzliche Arbeitsplätze in ausreichendem Maße nicht durch private Investitionen zu erwarten waren und die rasche Anpassung des Lebensstandards nicht von einer damit einhergehenden Anpassung der Produktivität getragen wurde, mussten die Steuer- und Beitragszahler einspringen. Über

349 arbeitsmarktpolitische Maßnahmen und Investitionen im Bausektor wurde der Anstieg der Arbeitslosigkeit im Laufe des Jahres 1991 gestoppt und über die sozialen Transfersysteme auch denen die von Arbeitslosigkeit betroffen waren einen hohen Lebensstandard garantierten. Um das finanzieren zu können, mussten die Steuern- und Beiträge erhöht und die Schuldenaufnahme ausgeweitet werden.

Lohnpolitik und Arbeitslosigkeit zwischen Boom und Rezession 1992/1993 Die Euphorie des Einheits-Booms verdeckte die reale Lage des deutschen Wirtschaftsstandorts, der die Kosten der Einheit bewältigen musste. Denn ganz anders als im Osten hielt der Einheitsboom 1991 im Westen weiter an. Die Beschäftigung in Westdeutschland expandierte: „Die Kapazitäten in den alten Bundesländern reichten nicht aus, um den „Warenhunger" in der ehemaligen DDR zu stillen." Die Folge dieser Entwicklung war sogar ein Umschwung der Leistungsbilanz. Diese Expansion wurde vor allem durch die Ausdehnung des Konsums getragen, der noch über die hohen Lohnzuwächse hinausging. 1647 Die Entwicklung hatte sich damit von den übrigen Industrieländern abgekoppelt, die wie Großbritannien und die USA an einer Wachstumsschwäche litten. 1648 Aber trotz des Einheitsbooms war die Wirtschaft mit den Bedingungen am Standort Deutschland zunehmend unzufrieden. Das Institut der Deutschen Wirtschaft beanstandete die hohen Löhne und Lohnnebenkosten, kurze und unflexible Arbeitszeiten, die hohen Unternehmenssteuern und die öffendichen Auflagen vor allem fur den Umweltschutz. Der Präsident des BDI Weiss kritisierte: „Wir sind ein Volk geworden, das erntet aber nicht mehr sät." Die deutschen Lohnstückkosten wurden nur noch von Dänemark übertroffen, die Lohnstückkosten in Frankreich lagen bei 91 Prozent der deutschen, in Großbritannien lagen sie bei 81 Prozent und in Spanien nur bei 71 Prozent. Die Durchschnittsarbeitszeit lag in Deutschland nach der Arbeitszeitverkürzung der achtziger Jahre noch bei 1651 Stunden, in den USA bei 1900 und in Japan sogar bei 2200. Der Ausfall durch Krankheit lag bei den Japanern bei 36 Stunden, in den USA bei 57 Stunden und in Deutschland bei 145 Stunden. Kohl sprach deshalb von einer „Urlaubsrepublik." Von den Firmengewinnen mussten 66 Prozent als Steuern abgeführt werden, in Großbritannien waren es nach Thatchers Reformen nur noch 35 Prozent. Die deutsche Industrie musste im Jahr etwa 21 Mrd. D-Mark für Umweltschutzmaßnahmen aufwenden. Die Unzufriedenheit der Wirtschaft drückte sich in der mangelnden Investitionsbereitschaft aus. Die deutschen Unternehmen hatten 1991 15-mal so viel im Ausland investiert, als ausländische Firmen im Inland. Der Geschäftsführer der Beratungsfirma McKinsey beschrieb die Entwicklung: „Die deutschen Unternehmen flaggen zwar nicht aus, aber Neuinvestitionen werden meistens im Ausland gemacht." 1649

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Monatsberichte, Juni 1991, S. 5 ff. Monatsberichte, Sept. 1991, S. 5 ff. Der Spiegel, Nr. 4/46, 20. Januar 1992, S. 88 ff.

350 Das Jahr 1992 war dadurch gekennzeichnet, dass der Umschwung der Wirtschaft zum Abschwung sich bereits ankündigte, die Tarifpolitik der Gewerkschaften aber noch immer auf Lohnexpansion ausgerichtet war. Kohl appellierte am 10 Januar 1992 an die Tarifparteien, sich bei den Lohnabschlüssen zurückzuhalten. Der Kanzler wies im Verlauf der Verhandlungen immer wieder darauf hin, dass die Verteilungsspielräume geringer geworden seien. Das Jahr 1992 bezeichnete er als „ein Jahr der Vorsorge für Wachstum, fur Arbeitsplätze und Stabilität.16-'0 Die Bundesanstalt für Arbeit ließ verlauten, dass zum Jahreswechsel von 1991 auf 1992 die Zahl der Arbeitslosen zum ersten Mal über drei Millionen lag. 1 6 5 1 Dies beeindruckte Steinkühler aber wenig; fur die alten Bundesländer verkündete die IG-Metall, dass ein Arbeitskampf nicht mehr zu vermeiden sei, da die Arbeitgeber nur 5,2 Prozent Lohnerhöhung angeboten hatten. Die IG-Metall bestand hingegen auf 10,5 Prozent. 1652 Ende Januar kam es zur Urabstimmung der Stahlarbeiter. Waigel kritisierte: „Was als Einkommensgewinn durch höhere Tarifabschlüsse erscheinen mag ist in Wahrheit ein Verlust der Stabilität, beim Wert der Ersparnisse und bei der Sicherheit der Arbeitsplätze." 1653 Der fragile Arbeitsmarkt im Osten und von der hohen Inlandsnachfrage verwöhnte Wirtschaft im Westen war 1992 mehr denn je auf günstige konjunkturelle Rahmenbedingungen angewiesen. Das Deutsche Institut fur Wirtschaftsforschung sagte voraus, eine mögliche Rezession „käme einer wirtschaftlichen Katastrophe gleich." 1654 Bei den Tarifverhandlungen hatte 1992 - anders als die Jahre zuvor — der Öffentliche Dienst die Vorreiterrolle inne. Die hohen Forderungen der Ö T V zu einer Zeit extremer finanzieller Anspannung der öffentlichen Kassen machten eine Konfrontation zwischen Regierung und Gewerkschaft unvermeidbar. Im CDU-Präsidium legte sich Kohl auf eine harte Linie fest. Kohl gab Innenminister Seiters die Richtlinie vor, dass das Ergebnis im Öffentlichen Dienst nicht über eine Vier vor dem Komma hinausgehen durfte. Dabei spielten die Erinnerungen an die politischen Folgen des letzten großen Streiks im Öffentlichen Dienst fur die sozialliberale Koalition eine Rolle. Für Kohl ging es ums Grundsätzliche, um die Position der Regierung gegenüber den Gewerkschaften: „Ich bin nicht Willy Brandt." 1 6 5 5 Die Gewerkschaften Ö T V und DAG hatten die Erhöhung der Bezüge um 9,5 Prozent gefordert und die Aufstockung des Urlaubsgeldes um 550 D-Mark. Die Politik übte quer durch alle Parteien Kritik an den hohen Lohnforderungen und verwies auf die angespannte Lage der öffendichen Finanzen und die öffentlichen Arbeitgeber boten eine moderate Lohnanhebung von 3,5 Prozent an. 1 6 5 6 Kohl hielt den Vorschlag des Schlichters, sich auf eine Lohnerhöhung von 5,4 Prozent zu einigen fur nicht akzeptabel. Er wies Seiters telefonisch an, nicht einzulenken. Die Stimmung an der ÖTV-Basis war explosiv und die 1650 1651 1652 1653 1654 1655 1656

Die Zeit, Nr. 14/47, 27. März 1992, S. 21. Die Zeit, Nr. 7/47, 7. Februar 1992, S. 26. Archiv der Gegenwart, S. 36490. Der Spiegel, Nr. 5/46, 27. Januar. 1992, S. 90 ff. Der Spiegel, Nr. 5/46, 27. Januar 1992, S. 90ff. Der Spiegel, Nr. 11/46, 9. Mäxz 1992, S. 21 f. Archiv der Gegenwart, S. 36726.

351 Erwartung der Arbeitnehmer lag weit über dem Schlichterspruch. Unter diesen Bedingungen brach Wulf-Mathies die Verhandlungen ab. Zwischen dem 27. April und dem 7. Mai kam es zu einem bundesweiten Streik der Beschäftigten im Offendichen Dienst. Das war der erste flächendeckende Arbeitskampf im Offendichen Dienst seit 1974. Der Arbeitskampf wurde dann auch einer der härtesten in der Geschichte der Bundesrepublik. Zeitweise legten bis zu 440 000 Beschäftigte die Arbeit nieder. Auf Plakaten der Streikenden war zu lesen: „Einheit hin, Einheit her, mehr Prozente müssen her." 1 6 5 7 Die BILD-Zeitung titelte: „Gnade, Monika." Wulf-Mathies lehnte während des Streiks jede Verantwortung für den Einigungsprozess ab: „Nationale Aufgaben gehören nicht in die Lohnpolitik." Der SPIEGEL brachte es auf den Punkt: „Die Botschaft der Arbeiter und Angestellten im Öffendichen Dienst ist klar: Sie wollen keine Opfer mehr bringen." 1658 Das betraf jedoch nicht nur die Arbeitnehmer, denn psychologisch ungünstig, lehnte das Kabinett während des Streiks die von Kohl initiierte Kürzung der Ministergehälter um fünf Prozent, die als Zeichen der Solidarität gedacht war, ab. 1 6 5 9 Nach elf Tagen Streik stellten Seiters und Wulf-Mathies die Einigung vor. Der Kompromiss von Stuttgart wich kaum vom Schlichterspruch ab. Zum 1. Mai 1992 wurden die Löhne um 5,4 Prozent erhöht. Hinzu kamen ein Urlaubsgeld von 200 D-Mark und einmalige Zuschläge. 1660 Das Ziel eine Vier vor dem Komma zu erreichen, hatte die Regierung verfehlt. Kohl hatte aber sein Ziel erreicht, die Position der O T V zu schwächen. Denn für Wulf-Mathies entpuppte sich das Ergebnis als schwere Niederlage, da sie Erwartungen geschürt hatte, die weit darüber lagen. In der Urabstimmung der Ö T V stimmten 55,9 Prozent gegen das Tarifergebnis. 1661 Dennoch blieb dem Hauptvorstand der O T V nichts anders übrig, als das Ergebnis gegen das Votum der Mitglieder anzunehmen und erklärte den Streik für beendet. Dieser Abschluss führte zu einem tiefen Riss in der Gewerkschaft. Wulf-Mathies musste erschüttert feststellen, die Ablehnung gehe „bei Teilen der Mitglieder und Funktionäre bis zum Haß auf die Organisation und ihre Führung." 1 6 6 2 Auch im Bankgewerbe und bei der Bundespost einigten sich die Tarifparteien auf 5,4 Prozent. Im Baugewerbe wurde am 19. Mai 1992 eine Einigung erreicht, die die Anhebung der Bezüge um 5,8 Prozent vorsah. Dasselbe galt fur die Druckindustrie und den Einzelhandel. In der westdeutschen Metallindustrie einigten sich die Tarifparteien nach Warnstreiks auf eine Anhebung der Bezüge rückwirkend zum 1. April 1992 um 5,4 Prozent und zum 1. April 1993 um drei Prozent. 1663 Diesen Kompromiss, der unter der Vermittlung von Johannes Rau zu Stande gekommen war, nannten die Metall-Arbeitgeber eine Katastrophe und erklärte, man werde in diesem Jahr auf Entlassungen nicht verzichten können. 1 6 6 4 Der Spiegel, Nr. 38/46, 14. September 1992, S. 18ff. Der Spiegel, Nr. 21/46, 18. März 1992, S. 26 f. 1 6 5 9 Der Spiegel, Nr. 19/46, 4. Mai 1992, S. 140 f. 1 6 6 0 Der Spiegel, Nr. 21/46, 18. Mai 1992, S. 116ff. 1 6 6 1 Der Spiegel, Nr. 21/46,18. Mai 1992, S. 26 f. 1 6 6 2 Der Spiegel, Nr. 25/26, 15. Juni 1992, S. 103f. 1663 Archiv der Gegenwart, S. 36726 f. 1 6 6 4 Archiv der Gegenwart, S. 36490. 1657 1658

352 Langsam aber sicher begann sich im Sommer 1992 die Abkühlung der Konjunktur, der Rückgang der Nachfrage und die veränderten internationalen Wettbewerbsbedingungen auszuwirken. Die Bundesbank beobachtete: „Offensichtlich bemühen sich zahlreiche Unternehmen, den Wettbewerbsdruck durch den Abbau von Personal wenigstens teilweise aufzufangen." Die Bundesbank stellte im Sommer 1992 fest, dass sich das Konjunkturklima in Westdeutschland deudich abgekühlt hatte, aber noch keine rezessiven Tendenzen zu erkennen seien. 1665 Die Rezession traf im Osten auf eine Volkswirtschaft, die über kein privatwirtschaftliches Fundament verfugte. In Ostdeutschland war im Sommer 1992 kein sich selbst tragender Aufschwung zu erkennen, vielmehr wurde der wachsende Wohlstand in den neuen Ländern durch Schulden, Steuern und Beiträge finanziert: „Die Lücke zwischen der sinkenden Produktion und den steigenden Einkommen wurde durch hohe staatliche Transfers aus Westdeutschland geschlossen." Durch die Staatlichen Investitionen war ein hohes „Präferenzgefalle bei Investitionen entstanden, von denen bisher vor allem die Bauwirtschaft profitiert hat." 1 6 6 6 Im Herbst 1992 verschlechterte sich die Lage der deutschen Wirtschaft deudich. Die wirtschaftliche Abkühlung war vor allem durch den Rückgang der Auslandsnachfrage bedingt. Die Beschäftigung in Ostdeutschland nahm insgesamt betrachtet weiter ab. Die Zahl der Arbeitslosen verharrte in den neuen Bundesländern bei über einer Million. Die Absatzerfolge ostdeutscher Unternehmen auf wesdichen Märkten waren „bescheiden geblieben." Das Lohnniveau war im Laufe des Jahres auf 70 Prozent des Westniveaus gestiegen. Nun bewahrheiteten sich die Prognosen, die aufgrund der hohen Lohnabschlüsse in Ostdeutschland verheerende Auswirkungen fur die langfristigen wirtschaftlichen Perspektiven vorausgesagt hatten: „Als zusätzlicher Wettbewerbsnachteil sind dabei die im Vergleich zur Produktivität hohen Löhne anzusehen, die in Ostdeutschland zu zahlen sind." Das Produktivitätsniveau hatte mit der Tarifänhebung nicht schritt halten können, sodass die Lohnstückkosten in Ostdeutschland inzwischen sogar höher lagen als im Westen. 1667 1 6 6 8 Im Westen stieg die Arbeitslosigkeit bis Anfang 1993 auf über zwei Millionen, was einem Anteil von 6,5 Prozent entsprach. Dieser Wert war allerdings in Höhe getrieben worden durch den Umstand, „dass 1992 mehr 600000 als Ausländer erstmals eine Arbeitserlaubnis erhalten haben." Etwa ebenso viele Aussiedler standen dem Arbeitsmarkt zusätzlich zur Verfügung. Die Zahl der Erwerbstätigen lag mit 29,36 Millionen immer noch auf Rekordniveau. 1669 In Ostdeutschland waren zu Beginn des Jahres 1993 noch einmal 800000 Menschen weniger beschäftigt als ein Jahr zuvor. Im Januar waren 3 400 000 in Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und 450 000 in der Fort- und Weiterbildung untergebracht, 645 000 bezogen Altersübergangsgeld, sodass insgesamt etwa 1,43 Millionen in arbeitsmarktpolitische Maßnahmen mit einbezogen waren. 1670 1665 Monatsberichte, Juni 92, S. 7 f. 1666 1667 1668 1669 1670

Monatsberichte, Monatsberichte. Monatsberichte. Monatsberichte. Monatsberichte.

Juni 92, S. 7 f. Nov. 92, S. 5 ff. Feb. 93, S. 19 ff. Feb. 93, S. 51 f. Feb. 93, S. 58 ff.

353 Die weiteren Perspektiven hingen auch von dem Ergebnis der Tarifverhandlungen in Ostdeutschland ab. Kohl hatte versucht, die Gewerkschaften durch den Solidarpakt mit ins Boot zu holen und im Gegenzug fur die Umsetzung der von den Gewerkschaften geforderten Industriepolitik moderate Lohnabschlüsse zu erreichen. In dem von Kohl herbeigeführten Parteitagsbeschluss hieß es: „Notwendig ist eine langsamere Anpassung des Lohnniveaus in Ostdeutschland und geringere Lohnsteigerungen in Westdeutschland, flexiblere Arbeitszeiten und eine stärkere Orientierung der Tarifverträge an der Produktivität sowie an regionalen und betrieblichen Besonderheiten." 1671 Alle Initiativen der Regierung und Arbeitgeber stießen bei der IG-Metall jedoch auf Granit und es kam zum unausweichlichen Konflikt. Die ostdeutschen Arbeitgeber wollten die Revisionsklausel des Stufenplans von Anfang 1991 nun zum Beginn des Jahres 1993 in Anspruch nehmen. Die Verhandlungen zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften über die Revision des Stufenplanes in Ostdeutschland begannen am Mittwoch den 14. Januar 1993. Zu diesem Zeitpunkt besaßen von den ehemals 1,5 Millionen Beschäftigten in der Metall- und Elektroindustrie in Ostdeutschland nur noch 3 0 0 0 0 0 einen Arbeitsplatz. 1672 60 Prozent der Betriebe hatten ihre Belegschaft auf Kurzarbeit gesetzt und ihre Kapazitäten waren nur zu siebzig Prozent voll ausgelastet. Bei der Umsetzung des Stufenplans würden die Lohnstückkosten auf 140 Prozent des Westniveaus steigen. Dies vor dem Hintergrund, dass nun der gesamte Wirtschaftsstandort Deutschland mit steigenden Arbeitslosenzahlen rechnen musste. Denn in Gesamtdeutschland planten mehr als die Hälfte der Betriebe neue Entlassungen. 1673 Der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung Lutz Hoffmann erklärte: „Die Lohnpolitik im Westen ist schon auf einen vernünftigen Kurs eingeschenkt, im Osten muß die Lohnanpassung zeidich gestreckt werden. Eine Erhöhung von noch einmal 26 Prozent würde manchem Betrieb den Garaus machen." 1 6 7 4 In den Kanzlerrunden gelang es den Gewerkschaften, Offnungsklauseln fur die Tarifpolitik zu verhindern. Steinkühler hatte jede Zusage bezüglich der Ostverträge gegenüber Kohl abgelehnt. Er nannte die Behauptung, dass durch Lohnerhöhungen zusätzlich Leute endassen würden „kalter Kaffee." 1 6 7 5 Andere Gewerkschaften schwenkten auf einen moderateren Kurs ein. Die IG-Chemie hatte einem Inflationsausgleich von neun Prozent zugestimmt und die Bergleute für 18 Monate auf Einkommenserhöhungen verzichtet. 1 6 7 6 Die Regierung sah das als Vorbild für die gesamte Tarifeinigung. Kohl erklärte am 25. März 2 0 0 3 zum Tarif-Streit im Bundestag: „Die Tarifparteien in der Chemie oder der Energiewirtschaft haben mit ihren Vereinbarungen ein Signal der Vernunft gesetzt." Er fugte hinzu: „Wir sind jetzt ein Land mit immer jüngeren Rentnern und immer älteren Studenten. Mit immer kürzerer Lebensarbeitszeit und kürzerer Wochenarbeitszeit und immer mehr Urlaub gerät die Wettbewerbsfähigkeit in Gefahr. Das sind einfach Tatsachen." Kohl unterstrich, dass „eine erfolgreiche Industrienation sich nicht als kollektiver

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3. Bundesparteitag der CDU, Niederschrift, Düsseldorf 26-28. Oktober 1992, S. 418. Beschluss: „Gemeinsam Handeln fur Deutschland." Wirtschaftswoche, Nr. 2/47, 8. Januar 1993, S. 18f. Wirtschaftswoche, Nr. 14/47, 2. April 1993, S. I4ff. Der Spiegel, Nr. 2/47, 11. Januar 1993, S. 82. Der Spiegel, Nr. 4/47, 25. Januar 1993, S. 82 ff. Die Zeit, Nr. 14/48, 2. April 1993, S. 25.

354 Freizeitpark organisieren lässt." 1 6 7 7 Schäuble stellte fest: „Wir haben 30 Tage gesetzlichen Urlaub, im Durchschnitt 20 Tage Krankheit pro Beschäftigten, 15 gesetzliche Feiertage, macht 65 Tage. Die Woche zu fünfTagen gerechnet, sind 13 Wochen pro Jahr, ein Viertel des Jahres arbeitsfrei. Damit werden wir im internationalen Wettbewerb immer weniger konkurrenzfähig." 1678 Wirtschaftsminister Rexrodt erklärte, eine Tariflohnerhöhung von 26 Prozent sei das Verkehrteste. 1679 Gesamtmetall wollte die im Stufenplan vorgesehenen Lohnerhöhungen verschieben. 1680 Statt der von den Gewerkschaften geforderten 26 Prozent Lohnsteigerung boten die Arbeitgeber daher neun Prozent an. Teile der Arbeitgeberschaft versuchten sich aus den Fesseln des Stufentarifvertrages zu befreien. In Sachsen legten die Arbeitgeber ein Rechtsgutachten vor, das beweisen sollte, dass die 1991 getroffene Vereinbarung keine „normative Wirkung" besaß. Dort scheiterten die Verhandlungen am Montag den 16. Februar 1993. 1 6 8 1 Zum Schlichter bestellten die Gewerkschaften den Ökonomen Rudolf Hickel, dem von den Tarifparteien bald sein akademischer Stil vorgeworfen wurde und der mit der unübersichtlichen Situation überfordert war. 1682 In Halle, Magdeburg und Dresden gingen tausende von Metallern auf die Straße und es zeigte sich bald, dass die Streikbereitschaft ungewöhnlich hoch war. 1 6 8 3 Die Metall-Arbeitgeber kündigten zum ersten Mal einen bestehenden Tarifvertrag. Zwickel merkt dazu an, dieser Vorgang sei „einmalig in der Tarifgeschichte." 1684 So kam es in Ostdeutschland zum ersten Streik seit 60 Jahren. Am 3. Mai 1993 begann er in Brandenburg und weitete sich am 4. Mai auf Mecklenburg aus. Wenig später beschloss der Vorstand der Gewerkschaft IG Metall, den Streik auf ganz Ostdeutschland auszudehnen. Es waren bis zu 40 000 Beschäftigte in der Stahl- und Metallindustrie im Ausstand. Erst am 23. Mai wurde der Streik beendet. 1 6 8 ' Dieser Vorgang ist insoweit besonders bemerkenswert als dass sich dieser flächendeckende Streik vor dem Hintergrund der bis dahin schlimmsten Rezession der Nachkriegsgeschichte verbunden mit einer Rekordarbeitslosigkeit vollzog. Rudolf Augstein kritisierte im SPIEGEL die Parolen von Franz Steinkühler und empfahl den Gewerkschaften ihre Rolle zu „überdenken." 1686 Alle Appelle verfehlten ihre Wirkung. Für die ostdeutschen Arbeitgeber endete der Streik mit einer Niederlage. Die Arbeitgeber mussten die Kündigung des Stufenplanes zurückziehen. Die Kopplung der Ostdeutschen Löhne an das westdeutsche Niveau wurde wieder festgeschrieben. Ein Zugeständnis mussten die Gewerkschaften jedoch machen: Die Gewerkschaften stimmten einer Öffnungsklausel zu, die den Ausstieg aus dem Tarifver-

1677 Verhandlungen, Band 167, S. 12722 ff. 1678 Verhandlungen, Band 167, S. 12738. 1679 1680 1681 1682 1683 1684 1685 1686

Die Zeit, Nr. 15/48, 9. April 1993, 21 ff. Wirtschaftswoche, Nr. 2/47, 8. Januar 1993, S. 18f. Wirtschaftswoche, Nr. 8/47, 19. Februar 1993, S. 27. Der Spiegel, Nr. 7/47, 15. Februar 1993, S. 103 Archiv der Gegenwart, S. 37500. Zwickel, Geben und Nehmen, S. 152. Archiv der Gegenwart, S. 37500. Der Spiegel, Nr. 19/47, 10. Mai 1993, S. 116.

355 trag allerdings nur mit ausdrücklicher Zustimmung der Gewerkschaft vorsah. 1687 Die Tarifpartien vereinbarten darüber hinaus, die Löhne nicht schon im April sondern erst im Dezember um 26 Prozent zu erhöhen. Die Vereinbarung setzte das Ziel, die Löhne bis Mitte 1996 auf 100 Prozent des Westniveaus anzuheben. 1688 Die Streiks markierten jedoch auch einen Einschnitt. Die Zeit starker Gewerkschaften im Osten ging zu Ende. Im Jahr 1991 kamen 4,3 Millionen Mitglieder, über 35 Prozent aller Gewerkschaftsmitglieder, aus dem Osten. Die Mitgliederzahl ging jedoch in Ostdeutschland zwischen 1991 und 1994 um 1,6 Millionen zurück. Damit ging der hohe Organisationsgrad der Gewerkschaften des D G B , der unmittelbar nach der Vereinigung 53 Prozent betragen hatte, im Westen hingegen nur 32 Prozent, verloren. Die IG Metall verlor in diesem Zeitraum sogar mehr als die Hälfte ihrer Mitglieder im Osten wieder. 1689 Der Osten sollte sich unter diesen Bedingungen zu einem Vorreiter außertariflicher Regelungen entwickeln. Nach einer Studie des DIW gehörten im Winter 1993/94 64 Prozent der Unternehmen des ostdeutschen verarbeitenden Gewerbes, die etwa 26 Prozent der Arbeitnehmer beschäftigten, also vor allem kleinere Unternehmen keinem Arbeitgeberverband an. Nach einer Umfrage des Ifo-Instituts gaben 1996 47 Prozent der befragten Unternehmen an, dass sie sich nicht mehr an die tariflichen Vereinbarungen gebunden fühlten. 43 Prozent zahlten nicht mehr das volle Weihnachts- und Urlaubsgeld, 37 Prozent hielten sich nicht an die Bestimmungen zur Lohnfortzahlung und dreißig Prozent hielten sich nicht an die tariflichen Lohnvereinbarungen. 1690 Das Ende dieser Phase wurde auch personell vollzogen. Da Franz Steinkühler Spekulationen mit Mercedes-Aktien und Fokker-Aktien getätigt hatte, wurden ihm Insidergeschäfte vorgeworfen und innerhalb der Gewerkschaften kam es zu einer Diskussion über die Glaubwürdigkeit des Vorsitzenden. Als Konsequenz musste Steinkühler am 25. Mai 1993 zurücktreten. 1691 Sein Nachfolger wurde Klaus Zwickel, der später den Zusammenhang zwischen Lohnhöhe und Beschäftigung einräumen und der Bundesregierung das „Bündnis für Arbeit" anbieten sollte, um die Massenarbeitslosigkeit zu bekämpfen. Auch fiir die Beschäftigung im Westen änderten sich die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen rasant, denn die Rezession traf die vom Einheitsboom verwöhnte Wirtschaft mit ganzer Wucht. Die Konjunkturforscher hatten sich erst verhalten optimistisch geäußert, korrigierten ihre Prognosen im Frühjahr 1993 drastisch nach unten. 1 6 9 2 Vom vierten Quartal 1992 bis zum ersten Quartal 1993 war die gesamtwirtschaftliche Produktivität um drei Prozent zurückgegangen. 1693 Wirtschaftsminister Rexrodt erklärte: „Wir stehen in der schwersten Rezession nach dem Zweiten Weltkrieg." Dies ließ auch für die Zukunft des Arbeitsmarktes nicht Gutes erahnen. Der Sockel der Arbeitslosigkeit war bisher 1687 1688 1689 1690 1691 1692 1693

Der Spiegel, Nr. 20/47, 17. Mai 1993, Wirtschaftswoche, Nr. 21/47, 21. Mai Ritter, Preis der Einheit, S. 310. Ritter, Preis der Einheit, S. 316f. Der Spiegel, Nr. 22/47, 31. Mai 1993, Wirtschaftswoche, Nr. 24/47, 11. Juni Jahresgutachten 1993/94, S. 63.

S. 138 f. 1993, S. 20.

S. 36 f. 1993, S. 18fF.

356 nach jeder Rezession um eine dreiviertel Million gestiegen. 1694 Im Oktober 1993 überstieg die Zahl der Arbeitslosen in Gesamtdeutschland erstmals die Grenze von 3,5 Millionen Arbeitslosen. 1695 Hinzu kamen 1,5 Millionen in Kurzarbeit, Umschulung oder Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen. Für das kommende Jahr sagte der Sachverständigenrat eine Zahl von vier Millionen Arbeitslosen voraus. 1696 Die beurteilte die Lage als das Platzen einer staadich erzeugten Blase: ,Auch das größte keynesianische Konjunkturprogramm, das die Bonner im Zuge der deutschen Einheit auflegten, half nichts. Nachdem das konjunkturelle Strohfeuer erloschen ist, schlägt die Rezession umso härter zu." Kohl gab auch den Arbeitgebern Schuld für die Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt, weil sie gegenüber den Gewerkschaften zu nachgiebig gewesen waren. 1 6 9 7 Auch der Sachverständigenrat sah in der Rezession das Ergebnis Wirtschaftspolitik seit der Wiedervereinigung: „Die Gründe für die starke Kontraktion der Nachfrage im Jahre 1993 waren bereits in der starken konjunkturellen Uberhitzung und den sich ausweitenden Verteilungskämpfen der vergangenen Jahre angelegt. Der Aufschwung nach der deutschen Vereinigung, der zu einem erheblichen Teil staadichen Nachfrageimpulsen zu verdanken war, ließ die Auslastung der Produktionskapazitäten im Jahre 1991 auf den bislang höchsten Wert seit 1970 ansteigen. Die Geldabwertung beschleunigte sich, verstärkt durch Lohnabschlüsse, die seit 1990 weit über der Produktionszunahme gelegen hatten. Das veranlasste die Notenbank, ihre Zinssätze schrittweise anzuheben (...) Der Zinsanstieg dämpfte die Expansion der Nachfrage, die Ertragsraten der Produktionsunternehmen gerieten unter Druck - auch aufgrund einer nachlassenden Auslandsnachfrage - schnell zurück." Damit waren die „Gründe fur einen zyklischen Abwärtstrend gelegt." 1698 Die Wirtschaft nutzte die Krise fur Umstrukturierung und Personalabbau, um trotz steigender Löhne und Sozialabgaben ihre Wettbewerbsfähigkeit zu erhalten. Eine Entwicklung, die langfristige beschäftigungspolitische Wirkungen zeitigen sollte. Die Z E I T stellte im Frühjahr 1994, als sich die Zeichen für einen wirtschaftlichen Aufschwung mehrten, fest: „Die Arbeitslosigkeit wird nicht von allein verschwinden. Nach der brutalen Schlankheits- und Effizienzkur, der sich die Industrie unterzogen hat, kann auch mit geringerer Belegschaft die Produktion gesteigert werden." 1 6 9 9

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Wirtschaftswoche, Nr. 35/47, S. 27. August 1993, S. I4ff. Archiv der Gegewart, S. 38516. Der Spiegel, Nr. 2/48, 10. Januar 1994, S. 90 ff. Wirtschaftswoche, Nr. 46/47, 26. November 1993, S. 34. Jahresgutachten 1993/94, S. 64. Die Zeit, Nr. 18/49, 19. April 1994, S. 23.

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Zusammenfassung: Die Lohnpolitik zwischen 1990 und 1993 Durch die im Kapitel „Währungsunion" beschriebene Ausweitung der Geldmenge wurde der Wiedervereinigungsboom angefeuert. Die Ostdeutschen besaßen nun D-MarkBestände, mit denen sie Westwaren einkaufen konnten. Dies führte dazu, dass über den ohnehin Ende 1989 einsetzenden Aufschwung hinaus die westdeutsche Produktion angeregt wurde, was ein sehr hohes Beschäftigungsniveau im Westen zur Folge hatte. Durch die Konsumnachfrage aus den neuen Bundesländern konnte sich die westdeutsche Wirtschaft für eine Weile vom internationalen Trend abkoppeln. Zwei Jahre nach der Einheit war die nachholende Konsumnachfrage aus den neuen Bundesländern zum großen Teil gestillt. Die Bundesbank hatte, um den inflatorischen Tendenzen entgegenzuwirken, die Zinsen auf ein Rekordniveau angehoben. Die hohen Steuern, Sozialabgaben und Lohnkosten belasteten die Unternehmen und die Privathaushalte. Die internationale Wettbewerbsfähigkeit war zu dem durch lange Urlaubszeiten, kurze Wochenarbeitszeiten und hohe Krankheitsstände beeinträchtigt. In diesem Zusammenhang fiel Kohls Wort vom „Freizeitpark." Die Arbeitszeitverkürzungen der achtziger Jahre und die von Blüm durchgesetzte Frühverrentung trugen zu diesem Phänomen bei. Nimmt man dies alles zusammen, so ist die Heftigkeit der Rezession 1992/93 erklärbar. Die Rezession 1992/93 ist ein wichtiger Einschnitt, der fur den Arbeitsmarkt weitreichende Folgen haben sollte. Durch die radikale Schlankheitskur und Umstrukturierung der deutschen Wirtschaft machten sich die deutschen Unternehmen ein Stück weit unabhängig von der tariflichen Entwicklung. Die Reduktion von Arbeitsplätzen durch Rationalisierung und Auslagerung sorgte dafür, dass die Unternehmen in Zukunft: trotz der Nachteile des Standorts Deutschlands, die hohen Lohn- und Sozialkosten, wettbewerbsfähig waren. Dies führte aber zu einem Phänomen, an dem schließlich die Regierung Kohl scheitern sollte: wachsende Arbeitslosigkeit trotz Wachstum. Das Wirtschaftswachstum und die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen waren von nun an von der Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt entkoppelt. Das Jahr 1992 war noch gekennzeichnet von einer expansiven Lohnentwicklung. Im Öffendichen Dienst kam es daher zum härtesten Zusammenstoß zwischen der Ö T V und den öffendichen Arbeitgebern seit 1974. Kohl setzte auf einen harten Kurs und ihm gelang tatsächlich der ÖTV-Führung eine schwere Niederlage beizubringen, auch wenn das numerische Lohnziel der Bundesregierung nicht erreicht wurde. In Ostdeutschland scheiterte selbst vor dem Hintergrund der massiven Wirtschaftskrise im Jahr 1993 der Versuch der Unternehmen, den starren Stufentarifvertrag aufzubrechen. Trotz der Rezession gelang es den Gewerkschaften, ihre Mitglieder fur einen Streik zu motivieren und sich noch einmal gegen die ostdeutschen Arbeitgeber durchzusetzen. Langfristig führte diese Tarifpolitik zu einem Aufbrechen der Verbandsstrukturen in Ostdeutschland. Der extrem hohe Organisationsgrad der Gewerkschaften in den neuen Bundesländern ging verloren und Unternehmen und Beschäftigte suchten verstärkt nach Lösungen außerhalb der Tarifverträge.

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Die Sozialunion und die Koalition der Sozialpolitiker 1990-1993. Neben den Lohnsteigerungen waren es vor allem die Lohnnebenkosten, die für das Beschäftigungsproblem im wiedervereinigten Deutschland verantwortlich gemacht wurden. Im Jahr 1970 hatten die Beitragssätze für die Sozialversicherung (in von Hundert des Bruttoarbeitsentgelts) noch 26,5 Prozent betragen, 1980 waren es bereits 32,5 und 1990 35,6 Prozent. Dieser Wert stieg bis 1998 auf 42,2 Prozent an. Parallel dazu entwickelte sich der Anteil des Staates am Bruttoinlandsprodukt. Hatte dieser noch 1970 39,1 Prozent betragen, war er bis 1981 auf 48,8 Prozent gestiegen und in der ersten Hälfte der chrisdichliberalen Regierungszeit auf 44 Prozent zurückgegangen. Der Staatsanteil stieg nach der Wiedervereinigung auf das Rekordniveau von 50,3 Prozent im Jahr 1996. 1 7 0 0 Bis zur Wiedervereinigung hatten Haushaltssanierung und Steuerreformen die Richtung der Politik bestimmt. Mit dem plötzlichen Umbruch im Osten und den drohenden sozialen Verwerfungen wurden die politischen Prioritäten neu gesetzt. Zwischen 1990 und 1993 dominierte die „Koalition der Sozialpolitiker" den inneren Prozess der Einheit. Die maßgeblichen wirtschafts- und sozialpolitischen Weichenstellungen zur Einheit wurden von dieser informellen Koalition aus Politikern der Regierungsparteien und der SPDOpposition vorgenommen. Dieser Kreis sah einerseits die Chance, nach langer Zeit den Primat der Haushaltspolitik abzuschütteln und eigene Vorstellungen zu verwirklichen. Andererseits wollten sie der potentiellen Bedrohung der eigenen Stellung durch die Entstehung ostdeutscher Konkurrenz zum westdeutschen Arbeitsmarkt und Tendenzen zur Einschränkung des Sozialstaates vorbeugen. Diese „Koalition der Sozialpolitiker" beruhte auf einer häufig sehr ähnlichen Sozialisation der Protagonisten in der Politik, ihrem Bemühen um Behauptung gegenüber dem ihnen übermächtig erscheinenden Einfluss der Haushaltspolitiker, der Kompetenz in einem dem komplexer werdenden Sachgebiet der sozialen Sicherungssysteme und der Zusammenarbeit in den Selbstverwaltungsorganen und bei der konkreten Umsetzung der Sozialpolitik." 1701 Die gegenseitige Verbundenheit und Abhängigkeit war den Beteiligten bewusst. So bezeichnete Blüm den SPD-Sozialpolitiker Dreßler öffentlich als seinen „Schatten" und rief ihm im Bundestag zu: „Dreßler, sehen Sie zu, dass es hell bleibt. Wenn es dunkel wird, sieht man den Schatten nicht mehr." 1 7 0 2 Auch personell kam diese Nähe im Arbeitsministerium zum Ausdruck. Blüm beschäftigte mit dem beamteten Staatssekretär Werner Tegtmeier und den Unterabteilungsleitern Ministerialdirigent Peter Rosenberg und Klaus Achenbach Sozialdemokraten in leitenden Positionen. 1703 Die Koalition der Sozialpolitiker sammelte sich hinter dem Konzept der Sozialunion, dem politischen Ziel der möglichst zügigen Übertragung des westdeutschen Sozial- und 1700

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Horst Siebert, Jenseits des sozialen Marktes. Eine notwendige Neuorierntierung der deutschen Politik, München 2005, S. 190. Ritter, Preis der Einheit, S. 378. Verhandlungen, Band 174, S. 21567. Ritter, Preis der Einheit, S. 278.

359 Tarifsystems auf Ostdeutschland, um den Liberalisierungsdruck durch ein „Niedriglohngebiet" abzuwehren. Die Finanzierung der Sozialunion über den Faktor Arbeit und damit verbunden rasant steigende Löhne, die Belastung des Haushalts und die Inkaufnahme höherer Arbeitslosigkeit war offen ausgesprochen Teil des Konzeptes: In einem Interview vom 6. April 1990 stellte Norbert Blüm fest, auch die ostdeutschen Renten müssten wie die westdeutschen an die Löhne angekoppelt werden und über Beiträge und den Bundeszuschuss finanziert werden. Der Arbeitsminister sah keine Notwendigkeit für niedrigere Löhne in Ostdeutschland, da für unproduktive Arbeitnehmer die Arbeitslosenunterstützung aufkommen würde. Wenn die Wirtschaftsreformen kämen, würde die Sozialreform von allein laufen. Blüm betonte: „Soziale Leistungen dürfen nicht hinter dem wirtschaftlichen Fortschritt zurückbleiben." 1704 Die Sozialunion war im ursprünglichen Angebot vom 7. Februar 1990 der Bundesrepublik an die D D R über eine Währungsunion nicht enthalten. Die DDR-Regierung, Norbert Blüm, die Sozialdemokraten und die Gewerkschaften setzten sich jedoch fur eine „großzügige soziale Absicherung" des Umbaus ein. 1 7 0 5 Die Expertenkommission beider deutscher Staaten zur Errichtung der Wirtschafts- und Währungsunion gründete eine Arbeitsgruppe „Soziale Sicherung." Wenige Tage vor der Volkskammerwahl am 13. März legte die Kommission ihren Zwischenbericht, der auch ihr letzter Bericht sein sollte, vor. Die Kommission stellte Einigkeit fest über die Einführung eines gegliederten beitragsfinanzierten Systems wie im Westen. Nun hing alles vom Angebot der Bundesregierung ab. Der Kabinettsausschuss „Deutsche Einheit" hatte eine Arbeitsgruppe „Angleichung der Arbeits- und Sozialordnung" gegründet. Die Arbeitsgruppe verhandelte zwischen dem 14. Februar 1990 und 6. März 1990. Dabei hatten sich Kontroversen zwischen dem Bundesarbeitsministerium und dem Ministerium fiir Wirtschaft und für Finanzen ergeben. Letztere wollten um den Haushalt und die Betriebe zu schonen westdeutsche Regelungen nur eingeschränkt auf Ostdeutschland übertragen. 1706 „Ihnen ging es um eine Flexibilisierung und Entschlackung des bundesdeutschen Arbeitsrechts bei dessen Ubergang auf den Osten, um private Investitionen anzuziehen und den wirtschaftlichen Umbau zu erleichtern. Auch wünschen sie eine nur allmähliche Anpassung sozialer Leistungen zur Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit ostdeutscher Unternehmen und zur Reduzierung der Kosten der Einheit." 1 7 0 7 In dieser grundsätzlichen Auseinandersetzung hatte Blüm die besseren Karten. Zum einen spielte ihm der Zwang der Umstände in die Hände: Im Jahr 1989 waren 343000 Übersiedler gekommen und 1990 bereits bis Mitte Februar 85000. Die D D R forderte 15 Mrd. D-Mark Soforthilfe zur Stabilisierung der Lage. 1 7 0 8 Der Druck Ostdeutschland sozialpolitisch zu stabilisieren war also immens und ließ wenig Raum fiir grundsätzliche Erörterungen über längerfristige wirtschaftliche Perspektiven. Zum anderen fand er in der SPD, die eine wenig beachtete, aber herausragende Rolle bei der Weichenstellung zur 1704 1705 1706 1707 1708

Wirtschaftswoche, Nr. 15/44, 6. April 1990, S. 24 f. Ritter, Preis der Einheit, S. 195. Ritter, Preis der Einheit, S. 266. Ritter, Preis der Einheit, 267. Die Zeit, Nr. 8/45, 16. Februar 1990, S. 21 f.

360 Übertragung der westdeutschen Systeme spielte, einen starken Verbündeten. Ritter stellt fest: „Die westdeutsche Sozialdemokratie sah in den Ende April einsetzenden Vertragsverhandlungen mit der D D R eine Chance, ihre sozialpolitischen Forderungen einzubringen und über Regelungen in der D D R Präjudizien auch für das bundesdeutsche Sozialsystem zu schaffen." 1709 Um die Rolle der westdeutschen SPD zu verstehen, müssen wir die politische Konstellation betrachten, die sich aus dem Wahlergebnis zur Volkskammer ergab. Bei den ersten freien Wahlen in der D D R am 18. März 1980 erzielte die Allianz für Deutschland überraschend 47,7 Prozent - davon allein die C D U 40,5 Prozent. Die SPD erreichte hingegen nur 21,7 Prozent und die PDS 16,3 Prozent. Am 12. April 1990 kam es zur Regierungsbildung einer großen Koalition unter Ministerpräsident Lothar de Maiziere. 1710 Trotz der verheerenden Niederlage der SPD erlangte sie im Laufe der Verhandlungen eine Schlüsselstellung. Nach der Volkskammerwahl wurde der Bundestagsabgeordnete und ehemalige regierende Bürgermeister Dietrich Stobbe Vertreter von Hans-Jochen Vogel in Berlin. Stobbe strebte ein einheitliches Vorgehen der ostdeutschen und der westdeutschen SPD an und sah die Möglichkeit, über die DDR-Regierung Einfluss auf den Gang des Geschehens zu nehmen. Er sah fur die SPD die „Chance, Regierungshandeln der D D R mit Oppositionshandeln im Deutschen Bundestag zu koppeln, dass die Bundesregierung zu Zugeständnissen gezwungen wird und die Profilierung der SPD in beiden Staaten nutzt." 1 7 1 1 Trotz des Wähler-Votums fur die Einheit und die Marktwirtschaft war das Klima fur die Durchsetzung und der Verfestigung sozialstaadicher Strukturen in Ostdeutschland günstig, denn es bestand zwar die breite Sehnsucht nach dem Wohlstand des Westens, aber ein Grundverständnis von den Marktmechanismen gab es nicht. Die kam zu der Einschätzung: „Denn während in anderen osteuropäischen Staaten längst eine intellektuelle Kultur wirtschaftswissenschaftlicher Dissidenten existierte, ist die DDR-Revolution eine Revolution der Pfarrer und Pastoren mit dem ungebrochenen Glauben an den Staat in der Wirtschaft." 1712 Die Führung der Verhandlungen über die Sozialpolitik lag für die Bundesrepublik bei Bernhard Jagoda, für die D D R lag sie bei Alwin Ziel, dem parlamentarischen Staatssekretär von Regine Hildebrandt. Er war der Vertrauensmann der SPD bei der Delegation der D D R . Ziel und Hildebrandt stützten sich auf die Beratung durch die westdeutsche SPD. Ihre wichtigsten Berater waren Stobbe, Rudolf Dreßler und Gerhard Jan. Der sozialpolitische Teil des DDR-Koalitionsvertrages ging wesentlich auf den Einfluss dieser Berater zurück. Ritter schreibt: „Vor jeder der Verhandlungsrunden über sozialpolitische Fragen wurde die Position der D D R in intensiven Gesprächen mit sozialdemokratischen Beratern aus dem Westen abgestimmt, die Ziel auch darauf aufmerksam machten, was nach ihrer Meinung bei Jagoda durchsetzbar war und wo sie auf Granit beißen würden." 1 7 1 3 1709 1710 1711 1712 1713

Ritter, Preis der Einheit, S. 213. Kohl, Erinnerungen 1 9 8 2 - 1 9 9 0 , S. 1087f. Ritter, Preis der Einheit, S. 213f. Wirtschaftswoche, Nr. 38/44, 14. September 1990, S. 35. Ritter, Preis der Einheit, S. 270.

361 Blüm und Hildebrandt kamen gut miteinander aus und wollten beide die Sozialunion aus voller Uberzeugung. Die beiden Delegationen waren sich in der Ablehnung jeglicher Abstriche bei der Übernahme der westdeutschen Sozialleistungen weitgehend einig. Darin zeigte sich eine „Interessenidentität" von Blüms Arbeitsministerium, der D D R Regierung und der westdeutschen SPD in der gemeinsamen Abwehr aller Versuche den ostdeutschen Arbeitsmarkt und die soziale Sicherung flexibler auszugestalten. Diese Versuche waren kraftlos und blieben schließlich auch erfolglos. Wirtschaftsminister Haussmann ging zwar gegenüber dem Begriff „Sozialunion" auf Distanz, weil er „suggerieren könnte, dass es sofort ein Sozialniveau in der D D R gibt, das dem unseren entspricht." 1714 Haussman war aber nicht in der Position etwas daran zu ändern, dass die Herstellung des gleichen Sozialniveaus die offizielle Linie der Politik wurde. Der Staatsvertrag mit der D D R über die zur Währungs- Wirtschafts- und Sozialunion wurde am 14. Mai 1990 unterzeichnet. In vielen Einzelheiten war die Bundesrepublik der D D R entgegengekommen. Der Versuch des Finanz- und Wirtschaftsministeriums Einschränkungen beim Kündigungsschutz und Sozialplänen durchzusetzen und das Tarifvertragsrecht zu flexibilisieren scheiterte.171^ Nach 45 Beitragsjahren sollte auch in der D D R die Rente 70 Prozent des Nettolohns ausmachen. Es war eine Anschubfinanzierung von fünf bis sechs Milliarden D-Mark vorgesehen, bis sich das System durch den Generationenvertrag selbst finanzieren sollte. Die Arbeitslosenhilfe sollte ohne Zuschuss auskommen. 1 7 1 6 Die Entscheidung fiel vor dem Hintergrund einer ökonomischen Euphorie, unter dem Finanzierungsvorbehalte nicht ernst genommen wurden. So meinte Ulf Fink vom Arbeitnehmerflügel der C D U , in der D D R wären höchste Wachstumsraten zu erwarten. Er kam in seiner Begeisterung sogar zu der Einschätzung, über vermögenswirksame Leistungen könnten westdeutsche Arbeitnehmer am „DDR-Wirtschaftswunder" beteiligt werden. Daher sah Fink keine Schwierigkeiten bei der Finanzierung der Sozialunion, denn die Renten und Krankenversicherung könnten sich durch das DDR-Wachstum schon bald selber tragen. „Im Wesentlichen sollten unsere Elemente übernommen werden, da sie ja die soziale Marktwirtschaft ausmachen." 1717 Durch die Niederlagen der Union bei der Doppelwahl in N R W und Niedersachsen am 13. Mai 1990 wurde die Position der Sozialpolitiker und damit paradoxerweise auch die Blüms in der Regierung gestärkt, obwohl dieser die Niederlage in als Kandidat NRW politisch zu verantworten hatte. Die Westdeutsche Allgemeine Zeitung kam zu der Einschätzung, „Den sozialen Absicherungen wird bei allen politischen Prozessen mehr Bedeutung beigemessen werden. Vor allem wird der Weg zur Einheit bedachtsamer gegangen werden. Daß er dadurch auch teurer werden kann, ist die Kehrseite der populären Medaille." 1718

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Wirtschaftswoche, 14/44, 30. März 1990, S. 14 ff. Ritter, Preis der Einheit, S. 216. Wirtschaftswoche, Nr. 14/44, 30. März 1990, S. 14 ff. Wirtschaftswoche, Nr. 11/44, 9. März 1990, S. 26 f. WAZ, Nr. 111/1990,14. 5. 1990, S. 2.

362 Dreßler erklärte in der Bundestagsdebatte über die Wirtschafts- und Sozialunion: „Wir wollen eine Einigung, die auch den Sozialstaat in den Mittelpunkt stellt, bei der soziale Gerechtigkeit und Solidarität identitätsstiftend sind." Die Sozialunion sei integraler Bestandteil des Staatsvertrages und habe im Mittelpunkt des Bemühens der SPD gestanden. Im März habe die Bundesregierung noch geglaubt die sozialpolitische Dimension des Einigungsprozesses auf Wahrungs- und finanzpolitische Fragen reduzieren zu können. Inzwischen hätte sie das Konzept der Sozialdemokraten übernommen. 1719 Blüm hielt der SPD in derselben Debatte ihre Argumentation vor: „Wir waren nicht beteiligt, aber wir haben viel erreicht." 1720 Damit sprach Blüm das Dilemma der westdeutschen Sozialdemokraten an, die offiziell nicht beteiligt waren aber inoffiziell sehr viel mehr erreicht hatten, als nach außen hin deutlich wurde. Der gemeinsame Wunsch, dass sich der Sozialstaat "identitätsstiftend" auswirken sollte, ging in Erfüllung. Auf die Frage, was die Einheit gefördert habe, antworteten im November 1996 achtzig Prozent der Befragten in Ostdeutschland die Angleichung der Renten und 81 Prozent die finanzielle Unterstützung aus dem Westen. 1721 Eine zentrale Frage in den Verhandlungen zum Einheitsvertrag war, ob das bundesdeutsche Recht sofort oder schrittweise in den neuen Bundesländern eingeführt werden sollte. Schäuble sah den Beitritt des Saarlandes als Vorbild für die Wiedervereinigung. Er wollte, um die Übernahme der westdeutschen Bürokratie zu vermeiden, eine flexible Anpassung an das westdeutsche Recht durchführen, um auf die konkreten Probleme der neuen Bundesländer reagieren zu können. Das Justizministerium und Blüm nahmen den konträren Standpunkt einer sofortigen und uneingeschränkten Übernahme des westdeutschen Rechts ein. Schäuble sah deudich Blüms Absicht „sehr viel schneller und konfliktärmer die sozialen Errungenschaften des Westens auf das Beitrittsgebiet übertragen zu können, auch wenn es den Finanzminister teuer zu stehen kommen sollte." 1722 Da Schäuble keine Unterstützung, auch nicht aus dem Finanzministerium, für seine Position erhielt, lenkte er ein und in den Verhandlungen zwischen dem 1. Und 3. August 1990 einigte man sich darauf grundsätzlich das Bundesrecht zu übernehmen. Die wichtigsten Grundfragen der Sozialunion waren bereits im Staatsvertrag mit der D D R geregt worden und wurden im Einigungsvertrag lediglich ergänzt. 1723 Den Sozialpolitikern war es gelungen, dem Einigungsprozess ihren Stempel aufzudrücken und sich mit ihren Anliegen weitgehend durchzusetzen. Ritter stellt fest: „Die Sozialpolitik konnte nach einer Periode der finanziellen Konsolidierung 1982-1989 im Jahr 1990 und den folgenden 18 Monaten aus dem Vollen schöpfen." 1724 Dies war möglich, weil es keine Persönlichkeit in der Regierung gab, die überzeugend die marktwirtschaftliche Position vertrat und sich für Alternativen - soweit diese vorhanden waren — einsetzte. Die kam am Ende des Jahres 1991 zu einer ernüchternden Bilanz der letzten Regierungsjahre.

1719 1720 1721 1722 1723 1724

Verhandlungen, Band 153, S. 17185ff. Verhandlungen, Band 153. S. 17224. Ritter, Preis der Einheit, S. 299. Zit. Nach Ritter, Preis der Einheit, S. 243. Ritter, Preis der Einheit, S. 252. Ritter, Preis der Einheit, S. 373.

363 „Im Tagegeschäft dominieren die Sozialpolitiker, die Ökonomen sind machdos, farblos oder gar nicht präsent (...) Dem Wirtschaftsflügel fehlen profilierte Köpfe und akzeptierte Kämpfer." Der Vorsitzende des Wirtschaftsausschusses Friedhelm Ost habe durch seine Aktivitäten fur die Kohle ordnungspolitisch an Glaubwürdigkeit verloren, aus der CDU-Parteizentrale kämen seit Jahren keine Impulse mehr, Wissmann sei als „Stürmer des CDU-Wirtschaftsflügels über die Ersatzbank nicht hinausgekommen", und Biedenkopf geriere sich als Industrie- statt als Ordnungspolitiker. 1725 Die vakante Rolle des Sanierers übernahm in den folgenden Jahren der CDU/CSU-Fraktionschef Wolfgang Schäuble. Schäuble erklärte 1992 auf dem Düsseldorfer Parteitag: „Es wäre vielleicht besser gewesen, wir hätten 1990 nicht unsere ganzen komplizierten Regelungen aus dem Westen mit einem Schlag auf die neuen Bundesländer übertragen. Aber damals wollte man auf Günther Krause und mich noch nicht hören. Deswegen wird es Zeit, dass wir jetzt diesen Fehler korrigieren." 1726 Günther Krause bestätigte Schäubles Aussage. „Ich bin Wolfgang Schäuble dankbar, dass er eines der größten Probleme auch sachlich richtig angesprochen hat." Ein separiertes Verwaltungsrecht sei damals nicht Mehrheitsfähig gewesen. Krause machte das komplizierte auf die D D R übertragene Bürokratie fur die niedrigen Investitionen verantwortlich. Er schätzte den Schaden auf 40 bis 80 Mrd. D-Mark. 1 7 2 7 Doch erst 1993 mit dem Aufkommen der Rezession konnten sich die Haushalts- und Wirtschaftspolitiker gegenüber den Sozialpolitikern durchsetzen. Dazu schreibt Ritter: .Aufgrund der Veränderung der wirtschaftlichen Lage durch die Rezession 1993, die anhaltend hohen Kosten der Einheit und die Verschärfung des wirtschaftlichen Wettbewerbs verlor die Koalition der Sozialpolitiker an Einfluss und begann abzubröckeln." 1728 Schäuble konnte sich bei der folgenden Auseinandersetzung in der Fraktion auf Julius Louven stützten. Im Januar 1991 war der Mittelstandspolitiker Vorsitzender der Arbeitsgruppe „Arbeit und Soziales" der Unionsfraktion geworden. 1729 Bei der folgenden Auseinandersetzung über die Finanzierbarkeit von Arbeitslosigkeit und Sozialstaat spielte das Feindbild „Neoliberalismus", das oft mit der Angst vor der Wiederkehr der deutschen Vergangenheit und vor einem „Rechtsruck" der Gesellschaft gekoppelt wurde, eine große Rolle. Den Beobachtern galt Schäuble als die zentrale Figur dieses „Rechtsrucks." Dem SPIEGEL fielen zu dieser Zeit Schäubles „patriotischnationalistische Bekenntnisse" auf und bezeichnete ihn als „badischen Thatcheristen." Rudolf Scharping attackierte den Kurs des CDU-Fraktionsvorsitzenden: „Wenn Schäuble versucht, durch Reklamation urdeutscher Tugenden eine Klammer um seine Wähler zu bilden, dann wird die nicht halten." 1 7 3 0 Während der SPIEGEL Norbert Blüm als letzten Vertreter der katholischen Sozialethik lobte, etikettierte das Magazin Schäuble als „Technokraten" und „Neokonservativen." Die Mitglieder des Wirtschaftsflügels bezeich1725 1726 1727 1728 1729 1730

Wirtschaftswoche, Nr. 51/45, 13. Dezember 1991, S. 20 ff. 3. Bundesparteitag Düsseldorf, S. 322. 3. Bundesparteitag, Düsseldorf, S. 325. Ritter, Preis der Einheit, S. 379. Ritter, Preis der Einheit, S. 379. Der Spiegel, Nr. 40/47,4. Oktober 1993, S. 22.

364 nete das Magazin als „konservative Kreuzzügler." Zu Schäubles Vorschlägen gehörten die Senkung der Staats- und Steuerquote, die Senkung der Spitzensteuersätze, die Kürzung der Lohnfortzahlung und die Öffnung der Tarifverträge. 1731 Damit knüpfte Schäuble an die Forderungen an, die von Seiten der Wirtschaftspolitiker schon in den Verhandlungen zur Sozialunion formuliert worden waren, sich aber gegen die Koalition der Sozialpolitiker und der letzten DDR-Regierung nicht durchsetzen konnten. Schäuble legte seine Ansichten, in dem 1994 erschienenen Buch „Und der Zukunft zugewandt" dar. Darin beszeichnete Schäuble die Bundesrepublik als „hypertrophen Staat" und „Milchkuh" und bekannte sich zu einer wirtschaftsliberalen und wertkonservativen Agenda. Die Bücher von Politikern sind über den Tag hinaus wenig bedeutsam, die Veröffentlichung zeigt aber, dass Schäuble die Rolle, die ihm von außen zugeschrieben wurde als Identifikationsfigur für den Wirtschaftsflügel und die konservative Anhänger der Union annahm und selbst für sich reklamierte. 1732 Bei den Anhängern des Sozialflügels trafen die Reformvorschläge wie zu erwarten auf erbitterte Ablehnung. Der Leiter des Oswald-Nell-Breuning-Instituts der Jesuitenpater Friedhelm Hengsbach erklärte im April 1992 in einem Interview, das Verteilungsproblem müsse stärker in den Vordergrund gerückt werden. Für den Pater waren Produktion und Verteilung „gleichwertige Ziele." Nicht nur an der Politik nach der Wiedervereinigung sondern an der gesamten Amtszeit der chrisdichliberalen Koalition ließ Hengsbach kein gutes Haar: „In der Bundesrepublik haben wir mehr als zehn Jahre einer neoliberalen Marktwirtschaft hinter uns, in denen vor allem auf die Selbstheilungskräfte des Marktes gesetzt wurde." Was der Pater vom „Neoliberalismus" hielt, brachte er klar auf den Punkt: „Die gesellschaftliche Folge der neoliberalen Wirtschaftspolitik - Kriminalität, Drogen, Obdachlosigkeit, Rechtsradikalismus - werden bald zum Umschalten zwingen." Die größte Sorge des Paters war angesichts des Versuchs den missglückten Stufentarif für Ostdeutschland zu korrigieren, dass im Osten „insgesamt die Tarifautonomie angekratzt wird." 1 7 3 3 Diese Äußerungen zeigen, dass die deutsche Öffentlichkeit aufgrund der informellen Entscheidungsabläufe nach der Wende den Prozess der Einheit nicht als das wahrnahm, was er faktisch war, eine nie gekannte Expansion der Sozialpolitik und eine Zurückdrängung, teils aus Notwendigkeit, teils aus politischem Kalkül, teils aus ideologisch bedingten Wunschvorstellungen, der Sanierungspolitik, die die Agenda der Regierung in den achtziger Jahren bestimmt hatte. Der Sozialflügel geriet trotz der Sympathien, die sie in der Öffendichkeit genossen, und der Ablehnung, auf den die so bezeichneten „Neoliberalen" stießen, in die Defensive. Der Grund war, dass eine großzügige Verteilung aus finanziellen Gründen nicht mehr möglich war. Blüms Aktionismus in der Wendezeit hatten nicht verhindern können, dass die Basis des Arbeitnehmerflügels weiter erodiert war. Die Sozialausschüsse, auf die sich Blüm stützte, wurden zum „Pflegefall der Partei". In den vergangenen 10 Jahren vor 1993 hatten die Sozialausschüsse 10 Prozent ihrer Mitglieder verloren und von den 29 000 MitDer Spiegel, Nr. 41/47, 11. Oktober 1993, S. 18ff. 1732 Wolfgang Schäuble, Und der Zukunft zugewandt. Berlin 1994. 1 7 3 3 Die Zeit, Nr. 18/48, 30. April 1993, S. 23. 1731

365 gliedern waren nur noch 1800 jünger als dreißig Jahre und ein Drittel der Mitglieder war in NRW zu Hause. Der Bedeutungsverlust der Sozialausschüsse zeigte sich auch daran, dass Kohl seit 1989 keinen ihrer Kongresse mehr besucht hatte. 1734 Um seine eigene geschwächte Position zu stärken, versuchte Blüm im CDU-Vorstand im Herbst 1993 das Szenario eines „erbarmungslosen Sozialwahlkampfes" an die Wand zu malen. Ein ähnlicher Tenor war von der Opposition bis hinein ins Lager der Union zu vernehmen. Lafontaine erklärte „soziale Stabilität" sei notwendig, damit sich „das, was zum Dritten Reich gefuhrt hat, nicht noch einmal wiederholt." Blüm sprach von der „Strukturkrise der Industriegesellschaft" und erhielt Schützenhilfe von höchster Stelle. Bundespräsident Weizsäcker erklärte, die Regierung „darf ihre notwendige Haushaltskonsolidierung nicht zu Lasten des sozialen Bereichs betreiben." 1735 Konnte die „Koalition der Sozialpolitiker" auch den politischen Prozess nicht mehr dominieren, so besaßen sie jedoch ein erhebliches Blockadepotenzial, das jedoch dadurch geschwächt wurde, dass die Kräfte ihres wichtigsten Protagonisten Norbert Blüm vom Kampf um die Pflegeversicherung absorbiert wurden.

Der Sozialtransfer in den Osten: Renten- und Arbeitslosenversicherung Am 27. Juni 1990 erklärte Blüm, dass die Sozialleistungen in der Bundesrepublik zwischen 1982 und 1989 von 8524 D-Mark auf 11270 D-Mark pro Kopf gestiegen waren. Insgesamt umfassten sie 678,5 Mrd. D-Mark, was einer Steigerung von 28,6 Prozent gegenüber 1982 entsprach. 1736 Der Aufschwung 1989/90 hatte den Sozialversicherungen sogar Uberschüsse beschert, so dass für die Sozialpolitiker kein Grund zu bestehen schien, das Verteilungssystem grundsätzlich in Frage zu stellen. Im Gegenteil schien es ihnen selbstverständlich das Modell möglichst uneingeschränkt auf die neuen Bundesländer zu übertragen. Dabei wurde außer Acht gelassen, dass die Stabilität der Sozialsysteme von der Kontinuität der positiven Wirtschafts- und Arbeitsmarkdage abhing. Angesichts des Zusammenbruchs der ostdeutschen Wirtschaft stand dem System die größte Herausforderung seiner Geschichte bevor. Wahrend im Westen die Sozialversicherungen 1989/90 stabiler zu sein schienen, als in den Jahren zuvor, verschärfte sich die Lage der Sozialsysteme der D D R im Sommer 1990 erheblich. Der Kollaps war kaum noch aufzuhalten. Der SPD-Politiker Dreßler warnte vor einem „sozialem Vietnamkrieg auf dem Gebiet der D D R " 1 7 3 7 Waigel wollte seinen Haushalt nicht belasten und die Anschubfinanzierung fur die Renten- und Sozialversicherungen deshalb von den westdeutschen Versicherungssystemen finanzieren lassen. 1738 Es wäre 1734 1735 1736 1737 1738

Der Spiegel, Nr. 7/48, 14. Februar 1993, S. 53 ff. Der Spiegel, Nr. 50/47, 13. Dezember 1993, S. 21 ff. Archiv der Gegenwart, S. 35086. Wirtschaftswoche, Nr. 20/44,11. Mai 1990, S. 14ff. Wirtschaftswoche, Nr. 19/44, 4. Mai 1990, S. 21 ff.

366 jedoch falsch anzunehmen, Waigel hätte der Sozialpolitik eine Aufgabe zugewiesen, die sie selbst nicht hätte übernehmen wollen. Den Sozialpolitikern war die wichtige Rolle, die sie im Wiedervereinigungsprozess einnehmen sollten durchaus Recht. Die Kosten der Arbeitslosigkeit in Ostdeutschland aus dem Haushalt zu finanzieren, hätte einen Bruch mit dem System bedeutet und die Kompetenzen für die sozialpolitische Bewältigung der Einheit der Finanzpolitik zugewiesen. Letzdich hätte die Haushaltslage über die sozialpolitischen Maßnahmen entschieden, wenn die Kosten der Sozialversicherung im vom Bundeshaushalt statt von den Sozialversicherungen bestritten worden wäre. Das konnte den Sozialpolitikern nicht recht sein, die durch die Sozialunion sich der Bevormundung durch die Finanz- und Wirtschaftspolitiker entziehen wollten. Die Übernahme der Kosten fiir die Arbeitslosigkeit in Ostdeutschland durch die gesamtdeutsche Arbeitslosenversicherung lag ganz in der Logik der Sozialunion, die die lückenlose Übertragung und Vereinheidichung des westdeutschen Sozialversicherungssystems vorsah. Man kann also durchaus davon sprechen, dass es einen breiten Konsens gab, den Sozialversicherungen diese wichtige Rolle bei der Finanzierung der sozialen Folgekosten des Zusammenbruchs der ostdeutschen Wirtschaft zu zuweisen. Diese Politik führte schon bald zu enormen zusätzlichen Belastungen der Sozialkassen, denn die Einnahmen aus den Sozialabgaben in Ostdeutschland blieben weit hinter den Erwartungen zurück. Nur durch eine „Blitz-Überweisung" von 2,4 Mrd. D-Mark im Juli 1990 konnte die Zahlungsfähigkeit der DDR-Rentenkasse aufrechterhalten werden und im Sozialministerium wurde ein darüber hinausgehender Bedarf von 10 bis 17 Mrd. D-Mark prognostiziert. 1739 Blüm zeigte sich jedoch wenigstens öffentlich optimistisch. In einem Interview am 17. September 1990 erklärte er, mit den steigenden Löhnen würden auch die Beiträge wachsen. Allerdings musste Blüm einräumen, dass in Bezug auf die Arbeitslosigkeit eine Aufwärtsbewegung nicht zu erkennen war. Die ursprüngliche Planung war davon ausgegangen, dass eine Anschubfinanzierung ausreichen würde. Blüm rechtfertigte diese Fehlannahme damit, dass die hohe Arbeitslosigkeit nicht vorhersehbar gewesen sei und drei ganze Beitragsmonate im „sozialistischen Kuddelmuddel" verschwunden waren. Er könne noch keine Prognosen für das nächste Jahr machen. Die „großzügige" Kurzarbeiterregelung habe bislang verhindert, dass neben den 360 000 Arbeitslosen weitere 1,4 Millionen Menschen arbeitslos würden. Blüm kündigte an, dass bis zum Ende des Jahres 100000 Plätze fur Umschulung und Weiterbildung zur Verfügung gestellt werden sollten. 1740 Blüms Aussagen lag ein krasses Fehlurteil zugrunde. Seine Hoffnung auf wachsende Beiträge durch höhere Löhne war schon deshalb auf Sand gebaut, weil gerade die zügige Anhebung des Lohnniveaus das Problem des Standortes Ostdeutschland verschärfen und die Arbeitslosigkeit zu einem dauerhaften Phänomen machen sollte. Der Zusammenhang zwischen Neuverschuldung und Arbeitslosigkeit war immer eng. Schon Mitte der siebziger Jahre bei dem Eintritt in zweistellige Neuverschuldungsraten 1739 1740

Der Spiegel, Nr. 34/44, 20. August 1990, S. 18. Der Spiegel, Nr. 38/44, 17. September 1990, S. 24ff. Blüm stellte auch fest, dass die die durchschnittlichen Renten in der D D R um dreißig Prozent gestiegen waren und mit dem 1. Januar werde die Kriegsoperversorgung im Osten eingeführt.

367 war die Bundesanstalt fur Arbeit ein entscheidender Kostenfaktor gewesen. So ging auch der größte Anteil der Nettoneuverschuldung, die der Bundeshaushalt fur die neuen Länder aufwandte, auf die Unterstützung der Arbeitslosen zurück. Der Sachverständigenrat prognostizierte im Herbst 1990 den Anstieg der Arbeitslosigkeit auf 3,4 Millionen, was Waigel für eine zu pessimistische Vorhersage hielt. Die Tendenz war jedoch klar, die Zahl der Erwerbslosen stieg immer weiter an. So geriet die Arbeitslosenversicherung stark in die roten Zahlen. 1741 Ganz anders stand hingegen die Rentenversicherung da. Die Rentenversicherung verfugte über Reserven von 33 Mrd. D-Mark. 1 7 4 2 Im Gesamtjahr 1990 schloss die Rentenversicherung in Westdeutschland mit einem Einnahmeüberschuss von 10 Mrd. D-Mark. Das war eine Verdreifachung gegenüber dem Vorjahr. 1743 Dieser Umstand, eine finanziell nodeidende Arbeitslosenversicherung und eine Rentenkasse, die Überschüsse abwarf und Reserven aufbaute, musste bei Lage der Dinge dazu verleiten, die eine Sozialversicherung fur die andere in die Bresche springen zu lassen. Die politische Kalkulation lag auf der Hand. Ein Abbau der Rentenreserven würde für weniger Aufregung sorgen als eine Anhebung der Beiträge zur Arbeitslosenversicherung. Was lag also näher als innerhalb der Sozialversicherungen so umzuverteilen, dass die Beitragszahler vorerst von höheren Beiträgen verschont blieben? Wegen der Arbeitslosigkeit im Osten musste der Beitrag für die Arbeitslosenversicherung erhöht werden. Diese Erhöhung konnte aber für die Beitragszahler kostenneutral gestaltet werden, indem der Rentenbeitrag entsprechend gesenkt wurde. Die Mindereinnahmen in den Rentenkassen würden wiederum durch das Aufzehren der Rentenreserven finanziert. Dies war nichts anderes als die Finanzierung der Arbeitslosigkeit durch die Überschüsse und die Reserven der Rentenversicherung. Die Arbeitslosigkeit in den neuen Bundesländern wurde also kurz- und mittelfristig durch den Abbau der Rentenreserven finanziert.1744 Im April 1991 hob die Regierung den Arbeitslosenversicherungsbeitrag von 4,3 Prozent auf 6,8 Prozent an und senkte den Rentenbeitragssatz von 18,7 auf 17,7 Prozent. Trotz der zusätzlichen Einnahmen, die aus dieser Beitragserhöhung resultierten, stiegen die Defizite der Bundesanstalt fur Arbeit. Denn Blüm hatte ein „umfangreiches Paket an Arbeitsbeschaffungs- und Qualifizierungsmaßnahmen" auf den Weg gebracht, das mit erheblichen Kosten verbunden war. Noch profitierten die Sozialversicherungen jedoch von der hervorragenden wirtschaftlichen Entwicklung. Allein die Reserven der Rentenversicherungen hatten sich bis dahin auf 40 Mrd. D-Mark erhöht. Das waren die größten Rentenreserven seit 15 Jahren. 1 7 4 ' Die Erhöhung des Arbeitslosenversicherungsbeitrags sollte 18 Mrd. D-Mark einbringen und das prognostizierte Defizit von 24 Mrd. D-Mark entsprechend reduzieren. 1746

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Die Zeit, Nr. 48/45, 23. November 1990, S. 26. Die Zeit, Nr. 48/45, 23. November 1990, S. 26. Monatsberichte, Februar 1991, S. 27 ff. Der Spiegel, Nr. 47/44, 19. November 1990, S. 136 ff. Wirtschaftswoche, Nr. 27/45, 28. Juni 1991, S. 16ff. Monatsberichte, Feb. 1991, S. 25 ff.

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Im Jahr 1990 hatten sich Wirtschaft und Sozialversicherungen im Westen ausgesprochen positiv entwickelt. Der SPIEGEL schrieb: „Das abgelaufene Jahr 1990 war das Jahr Deutschlands, politisch vor allem, aber auch ökonomisch das Höchste, Größte, Schönste, seit Bestehen der Republik." Bundesbankpräsident Pohl nannte Deutschland eine „Wachstumsmaschine fur die Weltwirtschaft." Das Jahr 1990 war ein Jahr des Konsums, allein im Weihnachtsgeschäft gaben die Deutschen 25 Mrd. D-Mark aus. Mit insgesamt 700 Mrd. D-Mark kamen 70 Mrd. D-Mark mehr in die Kassen des Einzelhandels als ein Jahr zuvor. Die Zahl der Beschäftigten lag bei 28,8 Millionen; das war ein neuer Beschäftigungsrekord. Die Zahl der Arbeitslosen blieb dennoch konstant, weil die Zahl der Erwerbspersonen ständig zunahm. Allein im abgelaufenen Jahr hatte die Bevölkerung Westdeutschlands durch Übersiedler, Aussiedler und Zuwanderer um eine Million zugenommen. 1747 Die Einnahmen der Bundesanstalt stiegen als Folge der Beitragserhöhung dieser positiven Wirtschaftsentwicklung in den alten Bundesländern von 40,7 auf 65,6 Milliarden D-Mark und in den neuen Bundesländern auf sehr bescheidenem Niveau von 1,3 auf 4,6 Mrd. D-Mark. Im Westen nahmen die Ausgaben der Bundesanstalt wegen des Anstiegs der Erwerbspersonen leicht von 41,4 auf 42,0 Mrd. D-Mark zu. Im Osten war ein gewaltiger Finanzierungsbedarf entstanden, da der Wirtschaftsstandort Ostdeutschland und mit ihm der Arbeitsmarkt regelrecht kollabierte. Die Ausgaben der Bundesanstalt stiegen in Ostdeutschland von 2,5 Mrd. D-Mark auf fest 30 Mrd. D-Mark an. Dem Überschuss im Westen von 23,6 Mrd. D-Mark stand also im Osten ein Defizit von 25,3 Mrd. D-Mark gegenüber. Somit schloss die Bundesanstalt 1991 trotz der Mehreinnahmen durch Beitragserhöhung und Wirtschaftsaufschwung mit einem Defizit von 1,7 Mrd. D-Mark. Davon übernahm der Bund eine Mrd. D-Mark. Für 1992 kalkulierte die Bundesregierung mit einem Defizit von 2 Mrd. D-Mark. 1748 Diese Zahlen zeigen, dass über die Arbeitslosenversicherung ein großer Teil des Transfers von West nach Ost abgewickelt wurde. Sie zeigen auch, dass dieser Transfer auf diese Weise nur so lange funktionieren konnte, wie die Arbeitslosenversicherung im Westen entsprechende Uberschüsse abwarf. Dieser Transfer musste die Sozialversicherungen vor erhebliche Schwierigkeiten stehen, wenn der Boom auf den westdeutschen Arbeitsmarkt nachließ und auch dort zusätzliche Mittel für die Erwerbslosen aufgewendet werden mussten. Hinzu kam, dass der niedrige Beitragssatz bei der Rentenversicherung, der die Anhebung des Arbeitslosenversicherungsbeitrags kompensierte, auch nur so lange aufrecht erhalten werden konnte, bis die Reserven der Rentenversicherung abgetragen waren. Schon bald wurde deudich, dass die Sozialversicherungen mit der Bewältigung des Vollzugs der Sozialunion an Finanzierungsgrenzen stießen. Die Uberschüsse verwandelten sich unter der Last der Ausgaben fur die neuen Länder innerhalb eines Jahres in Defizite. Die Bundesbank stellte im Herbst 1991 eine Untersuchung zur „aktuellen Finanzentwicklung der Sozialversicherungen" vor. Darin stellte sie den Sanierungsbedarf aller drei Sozialversicherungen fest. Im nächsten Jahr würden zwanzig Mrd. D-Mark in den Sozial1747 1748

Der Spiegel, Nr. 1/45, 3 1 . Dezember 1990, S. 18ff. Monatsberichte, Feb. 92, S. 2 6 ff.

369 kassen fehlen. Das sei ein Defizit, „wie es seit Bestehen der Bundesrepublik vorher weder absolut noch in Relation zum BSP zu verzeichnen war." Die Bundesbank sagte fur das nächste Jahr allein in der Rentenkasse ein Defizit in der Rentenkasse von 10 Mrd. D-Mark voraus. Denn zu den immensen Ausgaben fur die Arbeitslosigkeit in den neuen Ländern kamen die Kosten fur die schrittweise Anpassung der Renten der Ostdeutschen an das westdeutsche Niveau hinzu. Also wurden die Rentenkassen nicht nur auf der Einnahmeseite durch das sinkende Beitragsaufkommen als Folge der Beitragssenkung belastet, die die Erhöhung fur die Bundesanstalt fur Arbeit kompensierte, sondern auch auf der Ausgabenseite durch die steigenden Aufwendungen für die Rentner in Ostdeutschland. Im Jahr 1991 sollten die Renten in Ostdeutschland um 30 Prozent ansteigen. 1749

Sparpolitik bei den Sozialleistungen 1 9 9 2 - 1 9 9 4 . In der Zwischenzeit hatte sich herausgestellt, dass auch der Bund seine zusätzlichen Lasten fur die neuen Bundesländer nicht aus der Portokasse bezahlen konnte, sondern mit einer rasant wachsenden Schuldenlast konfrontiert war. Deshalb suchte Waigel nach zusätzlichen Einsparmöglichkeiten in seinem Etat und versuchte Anfang 1992 den Haushalt vom Zuschuss zur Bundesanstalt fur Arbeit zu endasten. Nach Waigels Plan sollte im Jahr 1993 der Zuschuss des Bundes an die Bundesanstalt ganz wegfallen, um den Haushalt zu endasten. Blüm sollte nach Waigels Plänen im Etat 1993 der Bundesanstalt für Arbeit die dafür notwendigen Einsparungen durchsetzen. Die ABM-Stellen sollten von 400 000 auf 265 000 in Ostdeutschland zurückgeführt, die Zahl der Ostdeutschen, die sich in Fort- und Weiterbildungsmaßnahmen befanden, auf 275 000 zurückgeführt werden. Blüm musste diese Kürzungen gegen den Widerstand des Vorstandes und des Verwaltungsrates der Bundesanstalt durchsetzen. 1750 Die Anstrengungen den Bundeshaushalt durch den Abbau des Zuschusses an die Bundesanstalt zu sanieren, stieß jedoch an Grenzen. Obwohl Deutschland durch die Wiedervereinigung einen außerordendichen und nicht wiederholbaren Nachfrageboom erlebte, konnte der Druck auf die Bundesanstalt nicht gelindert werden. Durch steigende Frauenerwerbstätigkeit, das Nachrücken der geburtenstarken Jahrgänge und die Einwanderung, besonders von Asylbewerbern und Spätaussiedlern, stieg die Zahl der Personen, die Arbeit suchten, schneller als die Zahl der Arbeitsplätze, obwohl die Zahl der Arbeitsplätze im Jahr 1992 die 30 Millionengrenze erreichte. Es lässt sich in diesem Zusammenhang feststellen, dass selbst bei günstigsten wirtschaftlichen Bedingungen im Westen 1,6 Millionen Menschen arbeitslos blieben. 1751 Als aber im Herbst 1992 die Rezession über das Land kam und die Arbeitslosigkeit rapide stieg, mussten Waigels Sparpläne bei der Bundesanstalt fur Arbeit zur Makulatur werden. Erschwerend hinzu kam, dass auch die

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Der Spiegel, Nr. 48/45, 25. November 1991, S. 134 ff. Die Zeit, Nr. 2/48, 8. Januar 1992, S. 18. Der Spiegel, Nr. 38/46, 14. September 1992, S. 146 ff. Die Regierung hatte sich dennoch zum Ziel gesetzt, die Ausgaben der Bundesanstalt für Arbeit im darauf folgenden Jahr um fünf Mrd. D-Mark zurückfuhren.

370 Sparanstrengungen die föderalen Hürden nicht überwinden konnten. Am Freitag den 7. November 1992 lehnte der Bundesrat die Novelle des Arbeitslosenfbrderungsgesetzes ab, mit der Waigel sechs Milliarden D-Mark einsparen wollte. 1752 Für das Jahr 1993 tat sich ein zusätzliches Milliarden-Defizit in der Arbeitslosenversicherung auf und Waigels Vorhaben den Zuschuss zur Arbeitslosenversicherung ganz zu streichen schien nicht mehr länger realistisch. Deshalb wiederholte sich die Operation vom letzten Jahr und Blüm nahm erneut eine Umschichtung zwischen Arbeitslosen- und Rentenversicherung vor: Der Bund senkte erneut den Beitrag zur Rentenversicherung, um den Beitrag zur Arbeitslosenversicherung erhöhen zu können. Diese Art der Finanzierung der Arbeitslosigkeit stieß nun definitiv an eine Grenze, da die Rentenkasse darüber hinaus nicht mehr belastet werden konnte. Spätestens zum 1. Januar 1994 würde deshalb der Rentenbeitrag erhöht werden müssen und voraussichdich um 1,5 Prozent steigen. Das bedeutete eine zusätzliche Belastung der Beitragszahler von etwa 18 Milliarden D-Mark. 1 7 5 3 Da der Weg über die Belastung der Rentenkasse nun verschlossen war, blieb als einziger Ausweg nur noch, die lange gemiedene direkte Kürzung der Sozialleistungen. Waigel wollte das Arbeitslosengeld, die Arbeitslosen- und die Sozialhilfe senken. Doch Blüm wehrte sich vehement gegen die Kürzungen und bot als Alternative eigene Sparanstrengungen an. Blüm gelang es Waigel umzustimmen. In den nächsten zwei Wochen sollte Blüm ein Konzept erarbeiten, das die Senkung der Leistungen vermeiden sollte. 1754 Unter diesen Bedingungen brach die „Koalition der Sozialpolitiker" auseinander. Dreßler erklärte am 22. Januar 1993 in einem Interview: „Die Waigelsche Horrorliste ist fiir uns in jedem Fall indiskutabel und nicht modifizierbar (...) Wenn die SPD das, was Waigel und Kohl vorhaben, mitmacht, ist sie nicht regierungsfähig." 1755 Auch die Bundesanstalt stand Kürzungen ablehnend gegenüber. Der neue Präsident der Bundesanstalt für Arbeit Bernhard Jagoda lehnte sowohl die Kürzung der Versicherungsleistungen als auch der zusätzlichen Arbeitsförderungsmaßnahmen ab. Er erklärte in einem Interview am 29. Januar 1993, dass ohne die arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen die Arbeitslosigkeit in Ostdeutschland bei 1,8 statt bei 1,1 Millionen liegen würde. Die Sozialleistungen seien hingegen nicht so hoch, als dass man noch deudiche Einschnitte realisieren könnte. 1 7 5 6 Da schließlich trotz seines Widerspruchs die Mittel fur die Arbeitsbeschafiungsmaßnahmen beschnitten wurden, kündigte Jagoda an, dass über bewilligte und laufende Maßnahmen hinaus keine Projekte mehr gefordert werden konnten. Die finanzielle Belastung der Sozialkassen durch die Arbeitslosigkeit würde wegen der Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt so schnell nicht abgebaut werden können. Nach den Jahren des Einheitsbooms, in denen sehr freigiebig mit den Mitteln der Sozialversicherungen sowohl in Hinblick auf die Entlastung des Bundeshaushalts als auch, was den Ausbau der Leistungen fur Ostdeutschland umgegangen worden war, würde der Druck in den Leistungskatalog einzugreifen bestehen

1752 1753 1754 1755 1756

Wirtschaftswoche, Nr. 47/46, 13. November 1992, S. 32f. Der Spiegel, Nr. 12/47, 22. März 1993, S. 18ff. Der Spiegel, Nr. 3/47, 18. Januar 1993, S. 82 ff. Wirtschaftswoche, Nr. 4/47, 22. Januar 1993, S. 21 f. Wirtschaftswoche, Nr. 5/47, 29. Januar 1993, S. 24.

371 bleiben. Denn nach einer internen Analyse des Wirtschaftsministeriums reichte selbst ein Wachstum von sechs Prozent bis 1996 nicht aus, um die Arbeitslosigkeit abzubauen. 1757 Im Frühjahr 1993 einigten sich Bund und Länder auf den Solidarpakt, der einen Großteil der finanziellen Lasten für die neuen Länder beim Bund blies. (Siehe Solidarpakt) Die Arbeitslosigkeit drückte über den Zuschuss an die Bundesanstalt für Arbeit zusätzlich auf den Etat, aller Sparvorgaben seit Beginn des Jahres 1992 zum Trotz. Erinnern wird uns, Waigel hatte das Ziel gesetzt, den Bund bis zum Jahr 1993 ganz von der Last des Bundeszuschusses für die Bundesanstalt zu befreien. Daraus wurde nichts: Im Jahr 1992 hatte der Bund einen Zuschuss von 13 Mrd. D-Mark leisten müssen. Mitte 1993 war voraussichdich mit einem Zuschuss von 18 Mrd. D-Mark zu rechnen. Die Kosten auf die Beitragszahler abzuwälzen, war politisch kaum noch durchzusetzen. Im Jahr 1970 hatten die Beiträge noch bei 26,5 Prozent des Bruttolohnes gelegen. Im Jahr 1982 war die chrisdichliberale Koalition angetreten, um die Sozialbeiträge zu senken, diese waren jedoch bis 1990 auf 35,5 Prozent gestiegen. Infolge von Wiedervereinigung und Sozialunion erhöhte sich die Belastung bis 1993 auf 37,4 Prozent des Bruttolohns. 1758 Im darauffolgenden Jahr kamen noch 1,8 Prozent fur die zusätzlichen Beiträge der Rentenversicherung hinzu. Unter diesen Umständen wurden die Sozialbeiträge immer mehr zum Politikum, da sie als Lohnnebenkosten für die steigenden Arbeitslosenzahlen und die mangelnde Attraktivität des Standortes mit verantwortlich gemacht wurden. Deshalb forderte der FDP-Wirtschaftsminister Rexrodt, die Sozialversicherungsbeiträge auf dem aktuellen Stand einzufrieren. 1759 Anfang 1993 beauftragte der Vorsitzende der CDU/CSU-Fraktion Schäuble den ihm nahestehenden Sozialpolitiker Julius Louven, ein Konzept fur die Bundesanstalt fur Arbeit und eine Ergänzungsabgabe zu entwerfen. Im Dezember 1992 hatte Louven einem Brief an Schäuble angeregt den Bereich Arbeitsmarktpolitik der Bundesanstalt fur Arbeit zu entziehen und forderte die Senkung der Beiträge der Arbeitslosenversicherung. Die Bundesanstalt fur Arbeit sollte nur noch echte Versicherungsleistungen zahlen und damit der Beitragssatz gesenkt werden. 1760 Die Suche nach Möglichkeiten auf die eine oder andere Weise die Beitragszahler zu endasten und andere Finanzierungsmöglichkeiten zur Senkung der Lohnzusatzkosten zu finden, wurde für die nächsten eineinhalb Jahrzehnte bis hin zur Mehrwertsteuererhöhung nach der Wahl 2005 zu einer andauernden politischen Auseinandersetzung. Unter den Bedingungen der Rezession spitzte sich die Lage der Arbeitslosenversicherung immer weiter zu. Der vorgelegte Haushalt der Bundesanstalt fur Arbeit fur 1993 stand mit 88 Mrd. D-Mark nur noch auf dem Papier. Schon im Frühjahr musste der Bund mit fünf Milliarden D-Mark einspringen. Der BDA rechnete mit einem zusätzlichen Bedarf von drei bis fünf Milliarden D-Mark. Zwei Milliarden waren bereits fur zusätzliche ABM zur Verfugung gestellt worden, womit Blüm 250000 ABM-Stellen schaffen wollte. 1761 1757 1758 1759 1760 1761

Der Spiegel, Nr. 9/47, 1. März 1993, S. 112 ff. Die Zeit, Nr. 25/48, 18. Juli 1993, S. 21. Die Zeit, Nr. 21/48, 21. Mai 1993, S. 17. Die Zeit, Nr. 6/48, 5. Februar 1993, S. 23. Wirtschaftswoche, Nr. 13/47, 26. März 1993, S. S. 21 f.

372 Am 16. Juni 1993 erklärte Staatssekretär Tegtmeier vor dem Haushaltsausschuss, dass die Ausgabenentwicklung der Bundesanstalt „besorgniserregend" sei. Bis Ende Mai 1993 sei schon ein Fehlbetrag von über 14 Milliarden D-Mark aufgelaufen. 1762 Der Präsident der Bundesanstalt Jagoda bezifferte den Anstieg des Ausgabenvolumens seiner Behörde auf 103 Milliarden D-Mark. 1 7 6 3 Für den Bundeshaushalt 1994 wurden im Krisenjahr 1993 schließlich 20 Mrd. D-Mark fur die Bundesanstalt fur Arbeit vorgesehen. Die Kosten für das Arbeitslosengeld und die Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen folgten der allgemeinen Tarifentwicklung. Die Bundesanstalt hatte fur ABM in diesem Jahr 12 Mrd. D-Mark genehmigt, obwohl im Etat nur neun Milliarden D-Mark vorgesehen waren. Waigel hatte sich mit seinen Kürzungsvorschlägen bei der Einigung auf den Solidarpakt im Frühjahr 1993 nicht durchsetzen können. Nun erklärte er: „Alle Kürzungsvorschläge, die ich im Vorfeld des Föderalen Konsolidierungsprogramms gemacht habe, liegen jetzt wieder auf dem Tisch. " 1 7 6 ^ Waigel bezifferte vor dem deutschen Bundestag den Anteil der Sozialabgaben für Ostdeutschland am Bundeshaushalt mit 27 Mrd. D-Mark. 1 7 6 5 Waigel wollte im nächsten Jahr, dem Wahljahr 1994, sagenhafte zwanzig Milliarden DMark im Bundshaushalt kürzen. Das waren fünf Prozent aller Ausgaben, davon sollte die Hälfte auf den Zuschuss zur Bundesanstalt für Arbeit entfallen. 1766 Am 29. Juni 1993 beschloss die Bundesregierung das Sparprogramm. Dieses sah Leistungs- und Subventionskürzungen von 20 Mrd. D-Mark im Jahr 1994 und 27 Mrd. D-Mark im Jahr 1995 vor. Die Kürzungen betrafen Arbeitslosengeld, Arbeitslosenhilfe, Sozialhilfe und Kindergeld. 1767 Allein bei der Bundesanstalt für Arbeit waren Einsparungen von 15 Mrd. D-Mark vorgesehen. Dieser Betrag sollte durch Kürzungen Lohnersatzzahlungen, des Arbeitslosen- und Schlechtwettergeldes erreicht werden. Unterhalts- und Übergangsgelder und der Aufwand für Umschulungen sollten gesenkt werden. Die Zahlungen der Arbeitslosenversicherung sollten auf ein Jahr begrenzt werden. Abgeschafft werden sollten die Sonderregelungen für den Bezug von Arbeitslosengeld für Referendare, Umschüler und nur kurz beschäftigte junge Arbeitnehmer, ebenso wie die Eingliederungsgeld und Eingliederungszuschüsse. Die Eingliederungshilfe für Russlanddeutsche sollten gekürzt werden und der Arbeitslosenversicherungsbeitrag nicht um 0,2 Prozent gesenkt werden. Die Kosten für Schlechtwetter- und Kurzarbeitergeld sollten zukünftig die Arbeitgeber tragen. Das Steuerprivileg für die Abfindungen von Arbeitnehmern sollten abgeschafft werden. 1 7 6 8 Kohl unterstützte Waigels Kürzungspolitik, denn er war davon überzeugt, dass die Mehrheit der Deutschen bisher keine wirklichen Opfer für die Einheit gebracht hatten. Kohl äußerte, der Missbrauch der sozialen Leistungen stehe einer „ehrlicheren, anständigeren 1762 1763 1764 1765 1766 1767 1768

Haushaltsausschuss, Kurzprotokoll, 69. Sitzung, 16. Juni 1993, S. 22. Haushaltsausschuss, Kurzprotokoll, 69. Sitzung, 16. Juni 1993, S. 23. Wirtschaftswoche, Nr. 23/47, 4. Juni 1993, S. 14 ff. Verhandlungen, Band 167, S. 12444. Die Zeit, Nr. 22/48, 28. Mai 1993, S. 22. Archiv der Gegenwart, S. 38517. Der Spiegel, Nr. 25/47, 21. Juni 1993, S. 82 ff.

373 Gesellschaft" im Weg. Nach Berechnungen wurden von 42 Mrd. D-Mark Arbeitslosengeld sieben Mrd. D-Mark missbräuchlich bezogen. 1769 Diese Debatte über den Missbrauch sozialer Leistungen bestimmte die Auseinandersetzung im Sommer 1993. In der Diskussion spielten die Ausgaben fur die Sozialhilfe eine herausgehobene Rolle. Im Jahr 1990 waren in Westdeutschland etwa 3,8 Millionen Anträge auf Sozialhilfe gestellt worden. Zwanzig Jahre zuvor erhielten vor allem alte Frauen Unterstützung zur niedrigen Rente, nun waren es zu einem Drittel Arbeitslose und zu sechzehn Prozent Alleinerziehende, 813000 Anträge wurden von Ausländern gestellt. Die Gesamtkosten der Kommunen wurden auf 32 Mrd. D-Mark geschätzt; fur Ostdeutschland lagen noch keine Statistiken vor. 1 7 7 0 Selbst Arbeitsminister Blüm sah den Sozialstaat durch Missbrauch belastet, „da die Raffinesse den Sozialstaat auszunutzen größer geworden ist, viele den Umweg über Arbeit scheuen und gleich zur Sozialhilfe gehen." Wirtschaftsminister Rexrodt stellte fest: „Es gibt Leute, die holen beim Arbeitsamt mehr heraus als bei ihrem Job." Waigel wollte, dass Arbeitslosengeld, Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe um jeweils drei Prozentpunkte gesenkt werden, um das Abstandsgebot zwischen Lohn- und Lohnersatzleistung wieder herzustellen. Sozialhilfe sollte nur das „soziokulturelle Existenzminimum" sichern. Die Einsparungen sollten zwischen 1994 und 1996 zwei Milliarden D-Mark einbringen. Die Einsparungen wären den Gemeinden, die die Sozialhilfe zahlten, zugute kommen und nicht dem Bund. Allerdings war die Senkung der Sozialhilfe die Voraussetzung für die Senkung des Arbeitslosengeldes. Das Arbeitslosengeld lag bei 63 bis 68 Prozent des letzten Nettoeinkommens. In einer internen Begründung Waigels hieß es, die Lohnersatzleistungen hätten ein „Leistungsniveau erreicht, das dem Arbeitslosen in vielen Fällen die Aufnahme einer niedriger endohnten Beschäftigung nicht mehr als wirtschaftlich sinnvoll erscheinen läßt." Der SPIEGEL kommentierte die Überlegungen der Regierung: „So schließt sich der Kreis: Die Sozialhilfe muß sinken, damit das Arbeitslosengeld gekürzt werden kann und als nächster Schritt ein Einfrieren der Löhne möglich wird." 1 7 7 1 Tatsächlich schließt sich damit der Kreis, der seinen Ausgangspunkt mit der Sozialunion und dem Stufentarifvertrag genommen hatte. Nachdem drei Jahre im Osten die Weichen fur die Angleichung der Löhne und der Sozialleistungen an das Westniveau gestellt worden waren, führte die Rezession 1993 vor Augen, dass die hohen Löhne und Sozialbeiträge sowohl in ganz Deutschland zu einer erheblichen Belastung des gesamtdeutschen Arbeitsmarktes führte und die Kosten für diese Arbeitslosigkeit von den Sozialversicherungen und dem Bundeshaushalt in dieser Höhe nur schwer zu verkraften waren und zu einem massiven Anstieg von Steuern-, Beiträgen und Schulden führte. Darum versuchte die Regierung Kohl durch die Diskussion über den Missbrauch der Sozialleistungen den Boden zu ebnen für eine Kostendämpfung und damit für eine Endastung des Arbeitsmarktes und der Haushalte. Von den 20 Mrd. D-Mark des Sparpaketes sollten 13 Mrd. D-Mark beim Arbeitslosengeld und der Sozialhilfe eingespart werden.

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Der Spiegel, Nr. 25/47, 21. Juni 1993, S. 82 ff. Die Zeit, Nr. 18/47, 24. April 1992, S. 21 f. Der Spiegel, Nr. 31/47, 2. August 1993, S. 26 ff.

374 Arbeitnehmer und Arbeitgeber waren seit der Wende um 115 Mrd. D-Mark belastet worden. 1 7 7 2 Der Anfang September 1993 vom Kabinett verabschiedete Bericht der Bundesregierung „Zukunftssicherung des Wirtschaftsstandortes Deutschland" sah vor, die Lohnnebenkosten zukünftig nicht schneller wachsen zu lassen als die Bruttolohnsumme. Das Rentenniveau sollte auf 68 Prozent gedrückt werden. Die Zumutbarkeitsregeln für Arbeitslose sollten verschärft werden die Entwicklung der Arbeitskosten sollte sich an der Entwicklung der Produktivität halten. 1773 Die Begrenzung des Arbeitslosengeldes würde für eine frühere Inanspruchnahme der Sozialhilfe sorgen. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung ging daher von einer zusätzlichen Belastung von einer Mrd. D Mark für die ostdeutschen Kommunen aus. Die Streichung des Schlechtwettergeldes und die Absenkung des Arbeitslosengeldes auf 64 bzw. 59 Prozent würden Ostdeutschland besonders hart treffen. Daher trafen sich die ostdeutschen Ministerpräsidenten und der Berliner Oberbürgermeister im thüringischen Schmalkalden um die Sparbeschlüsse zu verhindern. Sachsens Finanzminister Milbradt erklärte: „Mit dem Sparpaket weicht Theo Waigel den Solidarpakt durch die Hintertür auf." 1 7 7 4 Kohl verteidigte die Einschnitte in seiner Regierungserklärung vom 21. Oktober 1993: „Künftig müssen Eigenvorsorge und Selbsthilfe wieder mehr Gewicht in der sozialen Sicherung erhalten." Das gesamte Sozialbudget umfasse eine Billion D-Mark, die geplanten Einsparungen machten insgesamt nur 1,5 Prozent der Sozialausgaben aus. Kohl stellte fest, die festgelegte Sparsumme bewege sich an der Untergrenze des Nötigen und stehe daher nicht zur Diskussion. 177 ^ Der Oppositionsführer Rudolf Scharping erklärte am 23. November 1993 vor dem Bundestag: „Deshalb ist es besonders erstaunlich, dass von dieser Bundesregierung überhaupt keine Initiative kommt, wohl aber der höchst widersprüchliche Satz, dass die Lohnnebenkosten zu hoch seien, während sie auf der anderen Seite eine Politik betreibt, die genau diese Lohnnebenkosten in ungeahnte Höhen getrieben hat." 1 7 7 6 Im Lauf des nun folgenden Wahlkampfes 1994 kam es erneut zu einer Debatte über den Missbrauch sozialer Leistungen. Lambsdorff äußerte: „Wir müssen uns ernsthaft fragen, ob es überhaupt genug Anreize gibt zu arbeiten, statt sich unterstützen zu lassen." Michael Glos wies daraufhin, dass in München vierzig Prozent der Sozialhilfeempfänger unter 24 Jahre alt waren. Daher müsse man über „Fehler im System" nachdenken. 1777

1772 Wirtschaftswoche, Nr. 28/47, 9. Juli 1993, S. 20 f. Blüm war bereit die Einsparungen hinzunehmen, um im Gegenzug seine Pflegeversicherung durchsetzen zu können. Ein Beamter des Sozialministeriums beklagte sich. Blüm habe sich völlig in die Auseinandersetzung um die Pflegeversicherung „verrannt". Ein Mitglied des Kabinetts bestätigte, dass dieser Faktor fur die Durchsetzbarkeit eine „erhebliche Rolle" gespielt habe. 1 7 7 3 Wirtschaftswoche, Nr. 35/47, 27. August 1993, S. 18. 1 7 7 4 Wirtschaftswoche, Nr. 39/47, 24. September 1993, S. 30 ff. 1 7 7 5 Verhandlungen, Band 170, S. 15651 ff. 1 7 7 6 Verhandlungen, Band 171, S. 16569. 1 7 7 7 Wirtschaftswoche, Nr. 37/48, 9. September 1994, S. 28. Es war weniger die Sozialhilfe selbst als zusätzliche soziale Leistungen wie das Wohngeld in Hochmietregionen und die Einbeziehung der Zahl der Kinder in die Berechnungen der Sozialleistungsansprüche, die das Lohnabstandsgebot in Frage stellten.

375 Am Tl. Mai 1994 beschloss der Bundestag eine neue Fassung des Gesetzes fur Beschäftigungsfbrderung. Die alte Fassung war im Bundesrat an der Mehrheit der SPD gescheitert. Das Gesetz ließ private Agenturen zur Arbeitsvermittlung zu. Bezieher von Arbeitslosenhilfe durften nun zu Saisonarbeiten in der Land- und Forstwirtschaft herangezogen werden. Im Falle der Existenzgründung sollte die Unterstützung weiter gewährt werden.1778

Rentenversicherung und Demographiedebatte. In der Mitte der sechziger Jahre begannen die Geburtenraten zurückzugehen. Der Rückgang begann in den Großfamilien und pflanzte sich bis hin zu den Kleinfamilien fort. Von 1972 an waren die Geburtenraten nicht mehr Bestand erhaltend. Dies führte zu einer Diskussion über die Zukunft des deutschen Volkes und der Umlage finanzierten Rente. Die Debatte bewegte sich in den kommenden drei Jahrzehnten zwischen zwei Polen. Die einen bevorzugten staadiche Bevölkerungspolitik bzw. — wie es wohlklingender hieß — Familienpolitik, die anderen hofften auf die Geburtenfreudigkeit der Einwanderer. In der ersten Hälfte der Amtszeit von Helmut Kohl wurden umfassende steuerliche Entlastungen fur die Familien umgesetzt, die aber nicht zu den erhofften Ergebnissen führte. In der D D R entwickelte sich die Geburtenrate günstiger. Nach der Wende brach die Geburtenrate jedoch auch in Ostdeutschland quasi über Nacht extrem ein. Die demographische Entwicklung führte in den neunziger Jahren zu einer erneuten Diskussion über die Zukunftsfähigkeit der Renten. Das Ergebnis war die Einfuhrung eines sogenannten „demographischen Faktors" in das Rentensystem, der sehr unpopulär war, weil er die Rentenleistungen verringerte. Am 9. November 1989, dem Tag des Mauerfalls, war die Rentenreform verabschiedet worden und Blüm hatte die Entscheidung als „historische Stunde" bezeichnet. Damals hatten sich CDU, FDP und SPD auf die dritte Rentenreform seit der Gründung der Bundesrepublik geeinigt. Um die Rentner zu beruhigen, klebte Blüm Plakate mit seinem berühmten Ausspruch: „ ... denn eins ist sicher: die Rente." Durch die Kopplung der Renten an den Bruttolohn waren die verfugbaren Einkommen der Rentner schneller gestiegen als die der Arbeitnehmer, daher wurde mit der Reform die Rente an den Nettolohn gekoppelt. Im Zuge der Reform erhöhte der Bund seinen Zuschuss an die Rentenkasse bis 1992 auf 47 Mrd. D-Mark. Die Schwankungsreserve lag zum Zeitpunkt der Reform noch bei über 43 Mrd. D-Mark. Mit der Verabschiedung der Reform wurde beschlossen, dass beim Sinken der Schwankungsreserve automatisch der Bund einspringen sollte. 1779 Der Beitragssatz sollte von 18,7 auf 20,2 Prozent im Jahr 2000 steigen. Von da ab sollte das Renteneintrittsalter auf 65 Jahre erhöht werden. Für Frauen und Arbeitslose sollte diese Altersgrenze allerdings erst ab dem Jahr 2012 verbindlich werden.1780

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Archiv der Gegenwart, S. 39064. Die Zeit, Nr. 2/47, 3. Januar 1992, S. 16. Archiv der Gegenwart, S. 35079.

376 Im Verlauf des Einigungsprozesses wurde das westdeutsche Rentenrecht auf den Osten übertragen. In der D D R lebten 2,9 Millionen Rentner. Eine Million von ihnen wären mit der Währungsunion auf das Existenzminimum zurückfallen. 1781 Nach dem Rentenrecht der D D R hatte der Durchschnittsrentner Anspruch auf470 D-Mark monadich. Das DIW errechnete, dass die Renten mit der Währungsunion vierzig Prozent ihrer Kaufkraft verlieren würden. Die Bundesregierung plante daher einen Sozialzuschlag, der die Ostrenten automatisch auf die Untergrenze von 495 D-Mark heben sollte. Diese Regelung sollte voraussichdich im zweiten Halbjahr 730 Millionen D-Mark kosten. Das gegliederte Sozialsystem der Bundesrepublik wurde zum 1. Juli 1990 eingeführt. Die Entscheidung wurde getroffenen mit vollkommen unrealistischen Erwartungen an das Beitragsaufkommen der ostdeutschen Rentenversicherten. Die Rentenkasse im Osten sollte nach diesen Vorstellungen allein im zweiten Halbjahr 11,3 Mrd. D-Mark einnehmen. Diesen Einnahmen sollten Ausgaben von 13,8 Mrd. D-Mark gegenüber stehen. Die Differenz mussten der DDR-Haushalt und die Bundesrepublik zuschießen. Für die Anpassung an das westdeutsche Rentensystem wurden zwei Prinzipien diskutiert: Das „Fremdrentenprinzip", danach sollten vergleichbare Tätigkeiten zum selben Niveau der entsprechenden Westrenten fuhren und das „Entgeldprinzip", danach sollten die Renten sich nach dem tatsächlich erzielten Einkommen richten. 1782 Blüm tat nach der Sozialunion alles um eine Mindestrente oder ein Konzept, das Ähnlichkeit damit hatte, zu verhindern. Die Aufstockung der DDR-Renten hatte die Forderung nach Gesamtdeutschen Mindestrenten laut werden lassen. 1783 Das Rentenangleichungsgesetz vom 28. Juni 1990 beruhte auf dem Staatsvertrag mit der D D R und führte den Grundsatz der Rentendynamik und das westdeutsche Beitragsrecht ein und mit dem Rentenüberleitungsgesetz vom 25. Juli 1991 wurde zum 1. Januar 1992 das Leistungsrecht vollständig übertragen. 1784 Bereits im September 1990 erklärte Blüm, die Renten in der D D R seien mit der Sozialunion um dreißig Prozent gestiegen. 1785 Im Jahr 1991 stiegen die Renten um ganze 66 Prozent von 493 auf 820 D-Mark. Voraussichtlich würde die Rentenangleichung zwischen alten und neuen Bundesländern bis 1995 abgeschlossen sein. 1 7 8 6 Mit der Rentenerhöhung im Januar 1992 erreichte der ostdeutsche Eckrentner 57 Prozent der Leistungen im Westen. Nun betrugen die Rentenausgaben in Ostdeutschland ein Fünftel der Ausgaben fiir die Rentenzahlungen im Westen. 1787 Zum Jahresanfang 1993 stieg die ostdeutsche Eckrente im Vergleich zum Westen auf 75,3 Prozent. 1788 Der Anteil der Ausgaben der gesetzlichen Rentenleistungen am Bruttoinlandsprodukt lag im Westen bei 10 Prozent und im Osten bei 20 Prozent. 1789 1781 1782 1783 1784 1785 1786 1787 1788 1789

Die Zeit, Nr. 21/45, 18. Mai 1990, S. 3. Die Zeit, Nr. 26/45, 22. Juni 1990, S. 27. Die Zeit, Nr. 41/45, 5. Oktober 1990, S. 31. Ritter, Preis der Einheit, S. 317. Der Spiegel, Nr.36/44, 3. September 1990, S. 134 ff. Archiv der Gegenwart, S. 35555. Monatsberichte, Jun. 1992, S. 25 f. Monatsberichte, Feb. 1994, S. 47 ff. Ritter, Preis der Einheit, S. 326.

377 Die ostdeutschen Rentner waren die Gewinner der Wiedervereinigung. Sie profitierten wie keine andere Gruppe von einem umfangreichen Wohlstandstransfer von West nach Ost. Besonders die Frauen profitierten von der Regelung, da ihnen die Tätigkeiten in der D D R voll angerechnet wurden. Die Frauen im Westen kamen durchschnitdich auf 24 Beitragsjahre, die Frauen, die in der D D R aufgewachsen waren aufgrund der unterschiedlichen Erwerbsbiographien hingegen auf über 30 Jahre, sodass sie im Schnitt sogar eine höhere Rente beanspruchen konnten. Daher fürchtete die Regierung eine Neiddiskussion, besonders da im Westen aufgrund der Inflation Rentner reale Einkommensverluste hinnehmen mussten, während im Osten die Renten in Schüben von dreißig Prozent auf Westeniveau gebracht wurden. Dennoch gab es auch unter den ostdeutschen Rentnern Unzufriedenheit. Regine Hildebrandt monierte die schwierigen Bedingungen für die ostdeutschen Rentner und der SPIEGEL kommentierte im August 1993 die Stimmung: „Vor allem aber sind es überhöhte Erwartungen, die im Osten fur Enttäuschung und im Westen fiir Missmut sorgen." 1 7 9 0 Etwa zeitgleich mit der vollständigen Übernahme der Umlage finanzierten Rente 1992, wurden Zweifel am Prinzip des Generationenvertrages laut. Es ist wohl nicht abwegig zu vermuten, dass bei der Übertragung des Rentensystems auch die Überlegung, dass das Umlagesystem langfristig von der günstigeren Geburtenentwicklung in der D D R profitieren könnte, eine Rolle gespielt hat. Bestanden jedoch schon vor der Wende im Westen berechtigte Zweifel, ob der Generationenvertrag in einer rapide alternden Gesellschaft zu halten sein würde, so müssen die neuen Daten aus Ostdeutschland für viele Experten ein regelrechter Schock gewesen sein. In Ostdeutschland war die Zahl der Geburten innerhalb kürzester Zeit dramatisch eingebrochen. 1989 waren auf dem Gebiet der D D R noch 200000 Kinder geboren worden, 1991 waren es nur noch 108000 und diese Entwicklung setzte sich fort, 1994 waren es noch knapp 79 000. Nach diesem Tiefpunkt stieg die Zahl wieder leicht bis 1997 auf 98 500 Geburten an. 1 7 9 1 Im Frühjahr 1992 reiften daher Ideen innerhalb der Regierungskoalition, dem Zusammenhang zwischen Rentenversicherung und demographischer Entwicklung Rechnung zu tragen. Der Staatssekretär im Wirtschaftsministerium Johann Eekhoff entwarf ein dreißigseitiges Papier, in dem er empfahl, den Rentenanspruch an der Zahl der Kinder auszurichten. Personen ohne Kinder sollten nach und nach aus dem System herausfallen und fiir sich selbst Vorsorge treffen. Möllemann überzeugten die Argumente seines Staatssekretärs und er ließ die Thesen des Papiers in der Koalition verbreiten. 1792 Bald setzten sich auch andere Koalitionspolitiker mit der Problematik auseinander. Julius Louven fiir die Union und Uta Würfel von der FDP erarbeiteten Pläne, die Rentenbeiträge fiir Kinderlose zu erhöhen und fiir Eltern zu senken. Diese Ansätze stießen in der Öffendichkeit jedoch auf wenig Gegenliebe. Der SPIEGEL kritisierte, „Wer eine aktive Bevölkerungspolitik durch Strafpunkte fiir Kinderlose fordert, dem geht es wohl weniger um Gerechtigkeit oder sichere Renten. Er will viele deutsche Kinder. Die aber wollen

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Der Spiegel, Nr. 33/47, 16. August 1993, S. 27 f. Ritter, Preis der Einheit, S. 141. Der Spiegel, Nr. 14/46, 30. März 1992, S. 27 f.

378 die Deutschen offenbar nicht." 1 7 9 3 Im Herbst 1992 setzte der Deutsche Bundestag eine Enquete-Kommission „Demographischer Wandel" aus Abgeordneten und Sachverständigen ein, die die „Rahmendaten" aufarbeiten und die „gesellschaftlichen, ökonomischen und sozialen Auswirkungen für alle Generationen aus dem demographischen Wandel" untersuchen sollte. 1794 Die Debatte über die Sicherheit der Renten konnte Blüm nicht recht sein. Auf dem Düsseldorfer Parteitag forderte Blüm: „Laßt die Rentner in Ruhe! Wir haben eine Rentenreform durchgeführt und ich empfehle meiner Partei nicht, alle drei Tage eine neue Rentenreform anzukündigen." Blüm verkündete der Beitragssatz der Rentenversicherung sei der niedrigste seit 1972. Dies sei ein Erfolg der Regierung. 1 7 9 ' Blüm verschwieg jedoch, dass der Rentensatz gesenkt worden war, um die drastische Erhöhung des Beitrages zur Arbeitslosenversicherung zu kompensieren und die Reserven der Rentenversicherung wegen der Beitragssenkung langsam abschmolzen. Auch nach dem Abgang von Wirtschaftsminister Möllemann blieb das Wirtschaftsministerium unter Federführung von Staatssekretär Eeckhoff Vorreiter der schmerzhaften aber notwendigen Diskussion. Wirtschaftsminister Rexrodt forderte in dem Papier „Zukunftssicherung des Wirtschaftsstandorts Deutschland" die Anhebung des Renteneintrittsalters über die Ansätze des Reformgesetzes hinaus. Ab dem Jahr 2010 würden, laut Wirtschaftsministerium, die geburtenstarken Jahrgänge aus der Zeit um I 9 6 0 das Rentenalter erreichen. Seit den sechziger Jahren war die Lebensarbeitszeit der Deutschen von 4 6 auf 41 Jahre zurückgegangen. 1796 Der Rentenbeitragssatz lag zu diesem Zeitpunkt noch bei 19,2 Prozent und würde bei Beibehaltung der Regelung von 1992 langfristig auf 28 Prozent ansteigen. Das Rentenniveau müsse deshalb auf 68 Prozent zurückgeführt werden. 1 7 9 7 In einem Interview vom 2. 8. 1993 machte Staatssekretär Eckhoff erneut auf die demographisch bedingten Probleme für die sozialen Sicherungssysteme aufmerksam. Die Basis für die Beitragszahlung müsse verbreitert und das sinkende Renteneintrittsalter angehoben und die Erziehung von Kindern systemgerecht berücksichtigt werden. 1798 Nicht einmal in der FDP konnte das Wirtschaftsministerium auf Unterstützung seiner Analyse hoffen. Solms erklärte am 3. September 1993, die Diskussion gehe in die falsche Richtung. Die negativen Prognosen des Wirtschaftsministeriums über den Anstieg des Rentenversicherungsbeitrags bis 2010 tat Solms als Wichtigtuerei des Ministeriums ab. Solms bezweifelte die Relevanz der demographischen Entwicklung, da die Zahl der Beitragszahler von der Zahl der Beschäftigten abhänge. 1 7 9 9 Das setzte aber voraus, dass die Beschäftigung bei wachsender Alterung und schrumpfender Bevölkerung nicht nur gleich blieb sondern noch erheblich zunahm. Diese Entwicklung stellte sich in den kommenden Jahren aber nicht einmal in Ansätzen ein. 1793 1794 1795 1796 1797 1798 1799

Der Spiegel, Nr. 17/46, 29. April 1992, S. 118. Ritter, Preis der Einheit, S. 140 3. Bundesparteitag, Düsseldorf, S. 304 f. Wirtschaftswoche, Nr. 30/47, 23. Juli 1993, S. 14 ff. Der Spiegel, Nr. 35/47, 27. August 1993, S. 18. Der Spiegel, Nr. 31/47, 2. August 1993, S. 29ff. Wirtschaftswoche, Nr. 36/47, 2. September 1993, S. 20.

379 Der weitere Einbruch der Geburtenrate besonders in den neuen Ländern ließ sich in seiner langfristigen Konsequenz trotz der üblichen Abwehrreaktionen nicht mehr völlig ignorieren. In der gesamten Bundesrepublik wurden 1993 noch 795000 Kinder geboren. Das waren 11000 weniger als ein Jahr zuvor. Über die Hälfte der deutschen besaß kein oder nur noch ein Kind. So ergab es sich fast von selbst, dass nach den Ursachen der Kinderlosigkeit und den Benachteiligungen fiir Familien geforscht wurde. Etwa 38 Mrd. D-Mark flössen im Jahr über Kindergeld und Steuerfreibeträge an die Eltern. Das Erziehungsgeld hinzugerechnet waren es 45 Mrd. D-Mark. Die Befürworter der Familienpolitik kritisierten auf dieser Basis, dass der Staat für die „Funktion Kinder" acht Prozent des Sozialbudgets ausgab, fur die „Funktion Alter" aber mehr als viermal so viel. Der Rentenexperte Jürgen Borchert bezifferte den Umverteilungseffekt des Sozialstaates zuungunsten der Familien auf 160 Mrd. D-Mark. Kurt Biedenkopf brachte das auf den Nenner: „Der Nutzen der Kinder wird sozialisiert, die Kosten bleiben privatisiert." 1800 Zum Jahreswechsel 1993/94 trat Kurt Biedenkopf mit seiner Kritik an dem bestehenden System an die Öffentlichkeit. Der Generationenvertrag sei nicht durchzuhalten und wer jünger als vierzig sei, könne nur noch mit einer Grundsicherung rechnen. Nicht nur der sächsische Ministerpräsident, auch Wolfgang Schäuble forderte eine höhere Beteiligung der Kinderlosen. 1801 Von Hannelore Rönsch kam im Frühjahr 1994 der Vorschlag eine Sonderabgabe von 7,5 Prozent für Kinderlose einzuführen, um mit den Einnahmen Leistungen für Familien zu finanzieren.1802 Blüm stand diesen Ansätzen ablehnend gegenüber und betonte, der Generationenvertrag sei ein „abendländischer Konsens." 1 8 0 3 Die Akzeptanz dieser „abendländischen" Errungenschaft fand allerdings gerade unter den Jüngeren immer weniger Unterstützung. 1989 hatten bereits 46 Prozent der jüngeren Männer und Frauen in einer Umfrage erklärt, dass sie sich an den Generationenvertrag nicht gebunden fühlten. 1804 Blüm versuchte sich gegen die Debatte zu stemmen, indem er auf die Rolle der Rentner in der kommenden Bundestagswahl verwies: „Mit viel Einfallsreichtum versuchen wir nun auch noch die gegen uns aufzubringen. Das kann der Union nicht nutzen." 1805

Von Blüms zu Seehofers Gesundheitsreform Die Gesundheitskosten absorbierten einen wachsenden Teil des volkswirtschaftlichen Wohlstandes. Zwischen 1960 und 1992 war ihr Anteil von 4,8 auf 8,7 Prozent des BIP gestiegen. Das letzte Gesundheitsreformgesetz war am 20. Dezember 1988 verabschiedet worden. Das Gesetz hatte Festbeträge für Arzneimittel festgeschrieben und Leistungssenkungen etwa beim Zahnersatz und Brillen und hatte die Selbstbeteiligung von Patienten eingeführt. 1989 war als Folge der Reform ein Überschuss 9,4 Mrd. D-Mark und 1990 1800 1801 1802 1803 1804 1805

Wirtschaftswoche, Nr. 8/48, 18. Februar 1994, S. 14 ff. Der Spiegel, Nr. 1/48, 3. Januar 1994, S. 19. Archiv der Gegenwart, S. 38673. Der Spiegel, Nr. 40/45, 30. September 1991, S. 18ff. Wirtschaftswoche, Nr. 30/47, 23. Juli 1993, S. I4ff. Der Spiegel, Nr. 1/48, 3. Januar 1994, S. 19f.

380 von 6,1 Mrd. D-Mark erreicht worden. Doch schon 1991 ergab sich wieder ein Defizit von 5,6 Mrd. D-Mark und 1992 sogar von 9,1 Mrd. D-Mark. 1 8 0 6 Populäre Gesundheitsreformen sind ein Ding der Unmöglichkeit. Zu viele organisierte Interessen kämpfen um ihren Anteil am öfFendichen Gesundheitssektor. Blüm erinnerte sich mit Verbitterung an die Zeit zurück, als er selbst noch für die Gesundheitspolitik zuständig war: „Manchmal hatte ich den Eindruck die Gesundheitsreform wäre mein Privatunternehmen" (...) „Acht Jahre war ich der Fußabtreter fur alle." 1 8 0 7 Zu Blüms Nachfolgerin im Gesundheitsministerium hatte Kohl Gerda Hasselfeldt von der C S U ernannt, weil er von ihr erwartete, dass sie Konflikte mit den Interessengruppen vermeiden und damit nach den Auseinandersetzungen um die letzte Gesundheitsreform erst einmal Ruhe einkehren würde. Doch die Kostenentwicklung ließ eine Gesundheitspolitik in ruhigen Bahnen nicht zu. Im Jahr 1991 waren die Gesundheitskosten doppelt so schnell gestiegen wie die Einnahmen. Eine Ursache war die Aufweichung der Blümschen Gesundheitsreform. Nach der alten Regel durfte die Vergütung für die Arzte nicht schneller ansteigen als die Löhne. Da die Gesamtkosten auf diese Weise noch oben hin begrenzt waren, drückte die wachsende Zahl der Ärzte und Fachärzte das Einkommensniveau. Um den Ärzten entgegenzukommen, stimmten im Herbst 1991 die Ersatzkassen festen Honoraren zu, wodurch das Verfahren umgedreht wurde. Jeder zusätzliche praktizierende Arzt erhöhte nun zwangsläufig die Kosten des Gesundheitssystems. Als die Kosten steigernde Wirkung deudich wurde, betrieben die Ersatzkassen die Revision des Vertrages. Aber auch der neue Kompromiss konnte den Trend nicht umkehren, sodass der Druck die Beiträge zu erhöhen wuchs. Als Hasselfeldt im Dezember 1991 von der C S U gedrängt wurde, die Beitragserhöhung unbedingt zu verhindern, wurde der Konflikt zwischen der Gesundheitspolitik und den Ärzten unvermeidlich. Hasselfeldt wurde deshalb vom Hartmannbund auch persönlich „hart angegangen." Die Diskussion entfachte eine öffendiche Protestwelle. Die Ärzte ließen 100 000 Plakate kleben und gingen einen Monat lang jeden Mittwoch auf die Straße. 1808 Der Widerstand schien vorerst erfolgreichen und die Versicherten mussten die Kosten der steigenden Ausgaben tragen. Die Selbstbeteiligung wurde zum 1. Januar 1992 auf 15 Prozent der Rezeptkosten, höchstens aber 10 D-Mark pro Verordnung, erhöht. 1809 Am 23. April 1992 wollte Gerda Hasselfeldt ihre weiteren Sanierungsvorschläge vorstellen. Auch in diesem Konzept trugen die Versicherten die Haupdast, auch wenn die Maßnahmen im Einzelnen durchaus als sinnvolle Kostenbegrenzung angesehen werden können. Die Krankenhausaufenthaltsdauer sollte begrenzt und diversifiziert vergütet, die finanzielle Unterstützung der Brille zurückgenommen und das Verschreiben von Medikamenten stärker überprüft werden. An dem eigendichen Problem der Zunahme besonders gut verdienender und damit fiir das System besonders teurer Fachärzte änderte die Regelung nichts, denn inzwischen kamen auf vierzig allgemeine Ärzte bereits sechzig Fachärzte. 1810 Einen Marktmechanismus, der durch den Preismechanismus die Nachfrage und damit auch das Angebot begrenzte gab es nicht. 1806 1807 1808 1809 1810

Ritter, Preis der Einheit, S. 329. Die Zeit, Nr. 48/45, 23. November 1990, S. 27. Die Spiegel, Nr. 4/46, 20. Januar 1992, S. 104 f. Wirtschaftswoche, Nr. 39/45, 20. September 1991, S. 27 ff. Der Spiegel, Nr. 17/46, 20. April 1992, S. 95.

381 In der ersten Jahreshälfte 1992 verschärften sich die Finanzierungsprobleme. Die Gesundheitsausgaben stiegen in den ersten drei Monaten doppelt so schnell wie die Einnahmen. 1811 Damit geriet die Stabilität des Beitragssatzes in Gefahr. Der Beitragssatz zur gesetzlichen Krankenkasse hatte 1980 bei 11,4 Prozent gelegen, 1982 schon bei 12 Prozent, 1984 war der Beitragssatz auf 11,4 Prozent zurückgegangen. Zwischen 1986 und 1992 schwankte er zwischen 12 und 12,5 Prozent und drohte 1993 zum ersten Mal über 13 Prozent anzusteigen.1812 Hasselfeldt besaß nicht die politische Statur, um eine umfassende Reform durchsetzen zu können. Im Mai 1992 wurde daher Horst Seehofer neuer Gesundheitsminister. Schon bald nach seiner Amtsübernahme wurde in Öffentlichkeit gemunkelt, der neue Gesundheitsminister wolle bis Mitte Juni 1992 einen Totalumbau des deutschen Gesundheitswesens auf den Weg bringen, der auch Honorarkürzungen bei sinkenden Einnahmen und die leistungsorientierte Bezahlung der Kliniken beinhalte. 1813 Seine Reformvorschläge stellte Seehofer mit einer Arbeitsgruppe zusammen. Das Reformprogramm sah die Erhöhung der Medikamentenzuzahlungen, der Zuzahlungen für den Krankenhausaufenthalt und die Einschränkung der Leistungen für den Zahnersatz und die Abschaffung der automatischen Ubernahmen steigender Krankenhauspflegekosten vor. Der Punkt, der gerade bei jüngeren Medizinern besondere Verbitterung auslösen sollte, aber die aktuelle Ursache der Kostensteigerung an der Wurzel angehen sollte, war die schrittweise Beschränkung der Zulassung weiterer Kassenärzte. Da es keinen Marktmechanismus gab, der das Angebot zugelassener Ärzte reduzierte, geschah dies nun quasi per Verordnung. Seehofers Arbeitsgruppe errechnete, dass bei einer Umsetzung aller Reformvorschläge von 1993 an 11, 4 Mrd. D-Mark eingespart werden konnten. Am 2. Juni 1992 stellte Seehofer sein Programm vor. Kohl nannte Seehofers Reform eine „Musterleistung." Die Koalitionsfraktionen stimmten Seehofers Vorschlägen zu, ohne dass es zu Konflikten gekommen wäre. Der SPIEGEL kommentierte Seehofers Erfolg: „In der Tat ist es dem Bayern offenbar überraschend schnell gelungen, die zerstrittenen Gesundheitspolitiker der Koalition auf sein Programm einzuschwören."1814 Seehofer war nun gezwungen aufgrund der Mehrheitsverhältnisse im Bundesrat sich nun mit der Opposition auseinandersetzen. Im Umgang mit der SPD zeigt Seehofer ebenso viel Geschick wie im Umgang mit den Koalitionsparteien. Dreßler nannte Seehofers Konzept: „Ordnungspolitisch fragwürdig und gesundheitspolitisch falsch." Dies war jedoch nur eine routinemäßige Äußerung, denn sachlich lagen Koalition und SPD nicht so weit auseinander.1815 So konnte der Gesetzgebungsprozess relativ reibungslos über die Bühne gehen. Trotz der Widerstände gelang es Seehofer sich mit den Sozialdemokraten zu einigen und die FDP zum Einlenken zu überreden. Seehofer agierte mit Kohls Rückendeckung und erwarb sich für seine Anstrengungen Achtung innerhalb der Koali-

1811 1812 1813 1814 1815

Wirtschaftswoche, Nr. 26/46, 19. Juni 1992, S. 37. Wirtschaftswoche, Nr. 18/46, 24. April 1992, S. 30. Wirtschaftswoche, Nr. 22/46, 22. M a i l 9 9 2 , S. 30f. Der Spiegel, Nr. 24/26, 8. Juni 1992, S. 1 1 2 f f . Wirtschaftswoche, Nr. 26/46, 19. Juni 1992, S. 37.

382 tion. 1 8 1 6 Am 12. August verabschiedete das Bundeskabinett das von Gesundheitsminister Seehofer vorgelegte Reformprogramm im Gesundheitswesen. Im Oktober 1992 einigten sich die Gesundheitsexperten der Regierungsfraktionen und der SPD in Bad Lahnstein einen Kompromiss. 1 8 1 7 Als die Reform am 5. November 1992 im Bundestag verhandelt wurde, erklärte Seehofer: „Entgegen allen Vermutungen ist es bei diesem Kompromiss nicht nur zu einer Minimallösung gekommen. Wir haben vielmehr meiner Meinung nach eine optimale Lösung erreicht." 1818 Dreßler erklärte, der Kompromiss habe „exemplarische Bedeutung." Er beweise, „dass Koalition und Opposition abseits des sonst notwendigen parlamentarischen Gegeneinanders zu gemeinsamen Handeln fähig sind, wenn die Wohlfahrt des Landes es erfordert" und er kritisierte den Versuch der „politischen Nötigung" der Interessengruppen. 1 8 1 9 Dieter Thommae erklärte für die FDP, der Gesundheitskompromiss sei ein „Gebot politischer Vernunft." Er diene aber auch der Sache. 1820 Diesmal mussten die Anbieter von Gesundheitsleistungen die Haupdast der Reform tragen. Von den 11,4 Mrd. D-Mark, die nach dem Konzept eingespart werden sollten, würden Arzte, Zahnärzte, Pharmaindustrie und Krankenhäuser voraussichdich 8,2 Mrd. D-Mark tragen. Die Wut über den Kompromiss war dem entsprechend groß und die voraussehbaren Angriffe auf den Gesundheitsminister dem entsprechend heftig. Seehofer wurde von der Ärzteschaft „Planwirtschaft" und „Verstaatlichung des Gesundheitswesens" vorgeworfen und „verkappte Euthanasieabsichten." Alle Angriffe und Widerstände konnten nicht verhindern, dass der Kompromiss mit der größten möglichen politischen Mehrheit verabschiedet wurde. Am 9. Dezember 1992 verabschiedete der Bundestag die Reform mit 455 gegen 54 Stimmen bei 21 Enthaltungen. 1821 Derweil hatte Seehofer bereits die nächsten mittelfristigen Reformschritte angekündigt. Seehofer erklärte im Interview vom 20. November 1992, er habe schon im Frühjahr erklärt, er werde Bremsmaßnahmen, bereits beschlossene strukturelle Reformen und eine weitere Reformstufe umsetzen. 1822 Am. 1. Januar 1993 trat die Gesundheitsreform, das sogenannte Gesundheitsstrukturgesetz GSG, in Kraft. Es zeigte sich bald, dass die Vertreter der Pharmaindustrie aus ihrer Perspektive, allen Grund gehabt hatten, das Gesetz abzulehnen. Der Umsatz der deutschen Pharmaindustrie ging in Folge der Reform um 12,8 Prozent zurück. Anfang September 1993 zog Seehofer hingegen eine positive Bilanz der Reform und erklärte: „Die gesetzliche Krankenversicherung ist wieder gesund." Seehofer konnte verlauten lassen, dass die Krankenkassen im ersten Halbjahr 1993 einen Uberschuss von 2,6 Mrd. D-Mark erreichten. Damit konnte voraussichdich bis zum Ende des Jahres das Defizit des Vorjahres ausgeglichen werden. Seehofer beschrieb die prekäre Ausgangslage, die er vorgefunden hatte: „Im 1816 1817 1818 1819 1820 1821 1822

Der Spiegel, Nr. 41/46, 5. Oktober 1992, S. 158 ff. Ritter, Preis der Einheit, S. 330. Verhandlungen, Band 164, S. 9932. Verhandlungen, Band 164, S. 9920. Verhandlungen, Band 164, S. 9924. Ritter, Preis der Einheit, S. 330. Wirtschaftswoche, Nr. 48/46, 20. November 1992, S. 31 f.

383 letzten Jahr hatte die gesetzliche Krankenkasse einen neuen Rekordbeitragssatz von 13,4 Prozent des Lohns, Rekordeinnahmen und ein Rekorddefizit: neun Milliarden D-Mark" und versicherte: „Einen Kurswechsel gibt es mit mir nicht, auch nicht 1994, wenn in Deutschland 19-mal gewählt wird." Seehofer hatte auf einem politisch verminten Gelände einen wichtigen politischen Erfolg für die Regierung erreicht. Allerdings hatte Seehofer sich dauerhaft einen mächtigen politischen Gegner geschaffen. Die FAZ beschrieb die Gesundheitsindustrie als „wichtiger als die Energiewirtschaft, umsatzstärker als die Automobilindustrie, politisch sensibler als Verteidigung und Rüstung." 1 8 2 3 In Anlehnung an die Kritik des amerikanischen Präsidenten Eisenhower an der Rüstungslobby sprach die sogar von einem „medizinisch-industriellen Komplex", der in der Bundesrepublik entstanden

Norbert Blüms Kampf um die Pflegeversicherung Ein anderer Komplex, der im Kern nichts mit der Wiedervereinigung zu tun hatte, aber in dem Zeitraum zwischen 1990 und 1994 zentrale politische Bedeutung besaß, war die Auseinandersetzung um die Schaffung einer Pflegeversicherung. Auf der einen Seite standen die Kräfte, die eine Erweiterung der öffendichen Sozialversicherung durch eine „vierte Säule" neben der Renten-, Arbeitslosen- und Krankenkasse anstrebten. Dies waren neben der Mehrheit der Unionsparteien um Arbeitsminister Norbert Blüm auch die Sozialdemokraten und die Gewerkschaften. Auf der anderen Seite gab es die Kräfte, die auf eine private Absicherung des Pflegerisikos setzten. Zu diesen Kräften gehörten neben der FDP der Wirtschaftsflügel der Union und die Arbeitgeberverbände. Norbert Blüm maß der Entscheidung über diese Frage eine hohe politische und persönliche Priorität zu. In Deutschland gab es zu dieser Zeit 1,65 Millionen Pflegebedürftige. Von den Heimpflegeinsassen waren siebzig Prozent auf Sozialhilfe angewiesen. Blüm sah sich in seinem Kampf fur eine neue „Säule" der Sozialversicherung als: „Bismarck ohne Sozialistengesetze und Kulturkampf." Dieser Enthusiasmus musste zu einer harten koalitionsinternen Konfrontation mit den Liberalen führen. Lambsdorff nannte Blüms Begeisterung fur den Ausbau der Sozialversicherung im Bereich der Pflege „Traumtänzerei." Die FDP trat fur freiwillige private Verträge mit der Versicherungswirtschaft ein, die durch Steuervergünstigungen gefördert werden sollten. Blüms gewichtigstes Argument war dasselbe, dass schon 1957 fur die Einfuhrung der umlagefinanzierten Rente ins Feld geführt worden war, nämlich dass nur das durch Umlage finanzierte System auch den aktuellen Pflegefällen helfen könnte. Denn diese hatten nicht mehr die Möglichkeit Ansprüche an eine Versicherung aufzubauen. Blüm griff Lambsdorffs Modell vor der Fraktion an, es werde die Spaltung festschreiben, und erhielt dafür „brausenden Beifall". Blüm wurde der Satz zugeschrieben: „Die FDP jagt uns bei den Steuern, jagen wir sie bei der Pflege." 182 ^

1823 1824 1825

Der Spiegel, Nr. 37/47, 20. September 1993, S. 18 ff. Wirtschaftswoche, Nr. 18/46, 24. April 1992, S. 27 ff. Der Spiegel, Nr. 2/45, 7. Januar 1991, S. 23 ff.

384 Es kam während der Koalitionsverhandlungen zu einer öffentlichen Auseinandersetzung um die Pflegeversicherung. Nach Blüms Rechnung würden die Kosten bei 20 Mrd. D-Mark liegen, nach der Rechnung der FDP bei 30 Mrd. D-Mark. Elmar Pierot, Vorsitzender der CDU-Mittelstandvereinigung und Wissmann hatten eine Pflichtversicherung vorgeschlagen, wohingegen die FDP eine Pflichtversicherung zu diesem Zeitpunkt noch ablehnte. Die FDP und die Mittelstandsvereinigung erreichten eine Verschiebung der Entscheidung. 1826 Die Regierungsparteien einigten sich in den Koalitionsverhandlungen 1990/1991 darauf bis Mitte 1992 einen Gesetzentwurf fur eine gesetzliche Pflegeversicherung vorzulegen. 1827 Ein Jahr später, am 3. Mai 1991 legte Norbert Blüm wie vorgesehen seinen Entwurf zur Pflegeversicherung vor. Nach Blüms Vorstellungen sollte durch die neue Sozialversicherung die Sozialhilfe um vier Mrd. D-Mark und die Krankenkasse um 10 Mrd. D-Mark endastet werden. Die Pflegeversicherung sollte nach Blüms Entwurf durch die Abgabe von zwei Prozent des Bruttolohnes aber höchsten 50 D-Mark monadich finanziert werden. Nach diesem Konzept würden 90 Prozent der Bevölkerung pflegeversicherungspflichtig. Die Pläne wurden von den Gewerkschaften und den Krankenkassen begrüßt und erwartungsgemäß von den Liberalen und den Arbeitgeberverbänden abgelehnt. 1828 Innerhalb der Union zeigte vor allem Biedenkopf seine grundsätzliche Skepsis. Biedenkopfs Reserve beruhte auf seiner Überzeugung, dass der Generationenvertrag aufgrund der Bevölkerungsentwicklung ohnehin nicht tragfähig war. Aus dieser Perspektive musste es als schwerer Fehler erscheinen, ein System, dem aus demographischen Gründen die Basis verloren ging, durch eine weiteres Standbein zu erweitern. Er rief im Bundesrat dazu auf, den Staat von sozialpolitischen Aufgaben zu befreien und nannte die Pflegeversicherung einen Schlüsselfall für die notwendige Entkopplung von Lohnkosten und Sozialvorsorge. 1829 Die Auseinandersetzung um die Pflegeversicherung bildete Zündstoff im Verhältnis zu den der Koalition eigentlich wohl gesonnenen Arbeitgebern. Bei ihnen stieß Blüms Entwurf auf massive Ablehnung. Der Präsident des BDA Klaus Murmann konnte sich später an kein Gesetzvorhaben erinnern, „das so einhellig von der gesamten Wirtschaft, aber auch von der Wissenschaft und der Bundesbank abgelehnt worden ist." 1830 Für die Unionsparteien stand die innere Geschlossenheit im Vordergrund. Bis zum Herbst 1991 dauerte die Suche nach einem tragfähigen Kompromiss, den C D U und CSU geschlossen gegenüber dem Koalitionspartner vertreten konnten. Am Montag den 24. September 1991 diskutierte der CDU-Bundesvorstand drei Stunden über Blüms Pflegeversicherung. Kohl forderte bis zum nächsten Montag eine Lösung zu finden, mit der alle leben konnten. Die Experten der Union sollten sich unter dem Vorsitz von Geißler einigen. 1831 Die Partei akzeptierte schließlich grundsätzlich, dass das Pflegerisiko über 1826 1827 1828 1829 1830 1831

Wirtschaftswoche, Nr. 3/45, 11. Januar 1991, S. 17. Archiv der Gegenwart, S. 35272. Archiv der Gegenwart, S. 35699. Der Spiegel, Nr. 40/45, 30. September 1991, S. 18 ff. Ritter, Preis der Einheit, S. 333. Wirtschaftswoche, Nr. 40/45, 27. September 1991, S. 16ff.

385 die Sozialversicherung gedeckt werden sollte. In zwei Punkten musste Blüm aber Zugeständnisse machen: Uber das Umlagesystem sollte nicht mehr als die Grundversorgung abgesichert werden und Sozialversicherungssatz sollte nur um 1,5 Prozent, statt wie von Blüm vorgeschlagen um zwei Prozent angehoben werden. 1832 Ein halbes Jahr, nachdem Blüm seine Vorschläge vorgelegt hatte, hatte die Union einen parteiinternen Kompromiss gefunden. Nun musste der liberale Koalitionspartner überzeugt werden, was sich als schwierig erwies. Die unionsinterne Einigung stieß bei dem Koalitionspartner weiterhin auf Ablehnung. Solms machte deutlich: „Wir sind nicht bereit, den Einstieg in ein dauerhaft falsches System mitzumachen." Lambsdorff schloss auch ein Scheitern der Verhandlungen mit der Union nicht aus: „Im schlimmsten Fall kann es zu einem Nullergebnis kommen." Wirtschaftsminister Möllemann ging noch einen Schritt weiter: „Diese Regelung gibt es mit mir nicht, nicht mit dem Wirtschaftsminister, dann gibt es eben keine Regelung." 1833 Da die Liberalen ihre grundsätzlichen Bedenken gegenüber einer „vierten Säule" nicht aufgaben, erreichten die Diskussionen einen toten Punkt. Erst im Mai 1992 kam wieder Bewegung in den Entscheidungsprozess. Blüm drohte fiir den Fall, dass es zu keiner Einigung in seinem Sinne kommen würde, mit Rücktritt: „Wenn der Zug auf dem falschen Gleis steht, erübrigt sich jede Diskussion über den Fahrplan." 1834 Waigel und Schäuble drohten in den Gesprächen mit der FDP mit dem Platzen der Koalition. 183 ^ Genscher leitete im Mai 1992 den Umschwung seiner Partei ein. Er war überzeugt, dass die Koalition nicht an dieser Frage scheitern sollte, weil es Blüm gelungen war eine große Mehrheit der Bevölkerung hinter sich zu bringen. 1 8 3 6 Die Sozialdemokraten setzen auf die Strategie im Bundesrat die Modelle der CDU-Sozialausschüsse zu stützen, um einen Keil in die Koalition zu treiben. 1 8 3 7 Den Liberalen blieb unter diesen Umständen gar keine andere Wahl als einzulenken. Als am Dienstag den 1. Juli 1992 Blüms Modell zur Pflegeversicherung verabschiedet von der Koalition angenommen wurde, nannte die Zeit Norbert Blüm den „Sieger der Woche." Dieser habe die Unterstützung von Gewerkschaftlern, Sozialdemokraten, Wohlfahrtsverbänden und großen Teilen der Union. Die Liberalen hätten sich in dieser Situation mit einer Ablehnung isoliert. Einen Tag vor der Verabschiedung hatten Vorstand und Fraktion der FDP sich zur Zustimmung durchgerungen. Die FDP-Fraktion hatte mit nur 41 zu 21 zugestimmt. Die FDP-Sozialpolitikerin Gisela Babel erklärte: „Wir halten dieses Thema nicht fur wichtig genug, um die Koalition daran platzen zu lassen." 1 8 3 8

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Die Zeit, Nr. 41/46, 3. Oktober 1991, S. 26. Der Spiegel, Nr. 42/45, 14. Oktober 1991, S. 59ff. Am 23. Oktober 1991 sollte die Versicherungswirtschaft ihre Modelle vorstellen. Kohl machte die Vorgabe, dass nach der Neuregelung nur noch 30 Prozent der Betroffenen auf Sozialhilfe angewiesen sein sollten. Der Spiegel, Nr. 3/36, 13. Januar 1992, S. 18ff. Der Spiegel, Nr. 20/46, 11. Mai 1992, S. 18 ff. Der Spiegel, Nr. 22/46, 25. Mai 1992, S. 26 f. Wirtschaftswoche, Nr. 21/46, 15. Mai 1992, S. 18ff. Die Zeit, Nr. 28/47, 3. Juli 1992, S. 21.

386 Da die Liberalen sich bewegt hatten, musste nun auch Blüm Entgegenkommen zeigen. Die Einigung sah vor, die Arbeitgeber von den Lasten der Pflegeversicherung zu befreien. Blüm hatte nun den Schwarzen Peter und die Liberalen konnten sich erst einmal zurücklehnen. Um seinen Plan eine vierte Säule zu schaffen durchzusetzen, musste jetzt Blüm den Part der FDP übernehmen und Vorschläge unterbreiten, wie die Arbeitgeber entlastet werden konnten. Dies war keine dankbare Aufgabe fur einen Sozialpolitiker mit dem Drang zur Popularität, weil die Entlastung der Arbeitgeber mit Belastungen an anderer Stelle finanziert werden mussten. Keine der möglichen Finanzierungsoptionen löste bei den Arbeitnehmervertretern Begeisterung aus. Blüms Plan die Pflegeversicherung mit einem Karenztag zu finanzieren oder einen Urlaubstag zu streichen, führte zu Protesten der Gewerkschaften und Sozialdemokraten. Am 4. Juli 1992 demonstrierten 100000 Arbeitnehmer gegen diese Maßnahmen. Lambsdorff konnte sich wegen der Koalitionsvereinbarung von dem Finanzierungskonzept distanzieren: „Wir sind nicht die Erfinder des Karenztages." 1839 Man kann die Situation zu diesem Zeitpunkt schon als ironisch bezeichnen: Für die Sozialpolitiker der C D U war es keine komfortable Situation, dass ausgerechnet sie den ungeliebten Karenztag durchsetzen sollten, um die Forderung der FDP, die Arbeitgeber zu endasten, zu erfüllen. Der Sozialflügel wollte von diesem ungeliebten Zugeständnis wieder wegkommen. Der Sozialpolitiker Ulf Fink hatte nach der Einigung mit den Liberalen erklärt: „Das ist der große Durchbruch... Aber die Kröte Karenztage muß weg." Zur Kompensation fiir die Arbeitgeber war vorgesehen, den Arbeitnehmern die Wahl zwischen dem Verzicht auf einen Urlaubstag oder das Gehalt zu lassen. Die Lohnfortzahlung war für achtzig Prozent der Arbeitnehmer im Tarifvertrag geregelt. Die Arbeitgeber mussten nach der Regelung jährlich 10,9 Mrd. D-Mark der Pflegeversicherung überweisen, der Karenztag entlastete sie jedoch nur um 6,5 Mrd. D-Mark 1 8 4 0 Die Durchsetzbarkeit des Karenztages war deshalb mehr als fraglich. So rückte die Abschaffung eines Feiertages im Frühjahr 1993 ins Zentrum der Überlegungen. Der NRWMinisterpräsident Johannes Rau wollte den Pfingstmontag erhalten, war aber bereit den Bußtag zur Disposition zu stellen, da dieser keine „heilsgeschichtliche Begründung" habe. Kohl und Blüm sahen die Feiertagsregelung als konsensfähig an, aber die FDP stand der Feiertagsregelung mit Skepsis gegenüber. Rexrodt wendete ein: „Was hat der Pfingstmontag mit den Lohnnebenkosten zu tun." 1 8 4 1 Dass Blüm mit der Umsetzung der Koalitionskompromisses nicht voran kam, bestärkte die Liberalen in ihrer Skepsis gegenüber dem ganzen Ansatz einer neuen staatlichen Sozialversicherung. Im April 1993 unternahmen die Liberalen einen erneuten Anlauf, um das gesamte Vorhaben zu Fall zu bringen. Die FDP-Sozialexpertin Gisela Babel, Günter Rexrodt und auch Lambsdorff positionierten sich gegen die Pflegeversicherung. Lambsdorff erklärte: „Wir haben uns verschätzt, wir müssen das bleiben lassen." In Gesprächen zwischen Schäuble, Seehofer und Solms gelang es der Union die Liberalen wieder auf die gemeinsame Kompromisslinie einzuschwören. Schäuble drängte Blüm sich eng an das Koalitionspapier zu halten, 1839 1840 1841

Der Spiegel, Nr. 28/46, 6. Juni 1992, S. 20. Die Zeit, Nr. 28/47, 3. Juli 1992, S. 21. Der Spiegel, Nr. 15/47, 12. April 1993, S. 119f.

387 um der FDP keine Chance zur Distanzierung mehr zu geben. Blüm schien die „Kröte", die die Einfuhrung von en fur die Sozialpolitiker darstellte, zu groß und hoffte auf Verhandlungen mit der SPD, da er die Feiertagsregelung als das wahrscheinlichste Ergebnis solcher Gespräche ansah. 1 8 4 2 Erschwerend fiir Blüms Argumentation war allerdings, dass Karenztage im Bundesrat nicht zustimmungspflichtig und damit institutionell einfacher umzusetzen waren als die Feiertagsregelung. Denn der Bund konnte bei den Feiertagen nur über den 1. Mai und den 3. Oktober ohne Zustimmung der Länder verfügen. 1843 Am 27. März 1993 billigten die Bundestagsfraktionen den Kompromiss zur Pflegeversicherung. Die Versicherung sollte ab 1994 in zwei Stufen eingeführt werden. Zur Entlastung der Unternehmen war die Einfuhrung von zwei Karenztagen vorgesehen. 1844 Die Einfuhrung von Karenztagen rührte an ein „Tabu". Die Lohnfortzahlung war fur die Gewerkschaften eine heilige Kuh, die sie im Händen und Zähnen verteidigen würde. Für die Einfuhrung eines Karenztages gab es aber noch aus anderen als rein finanziellen Gründen Argumente. Der letzte Karenztag war 1970 von der sozialliberalen Koalition abgeschafft worden. Seit dem waren die Kosten der Lohnfortzahlung auf schätzungsweise 45 Mrd. D-Mark pro Jahr gestiegen. Nach den Erkenntnissen der Spezialisten beim Institut der Deutschen Wirtschaft, gab es kaum Betriebe in denen Fehlzeiten eine untergeordnete Rolle spielten. Der Wirtschaftswissenschaftler Eberhard Hamer schätzte die Zahl der „Simulanten" auf ein Drittel der Krankmeldungen. Im Schnitt waren 1990 8,5 von hundert Arbeitstagen krankheitsbedingte Fehltage. Die Bundesrepublik wurde nur von Schweden und Norwegen noch übertroffen. Der SPIEGEL kommentierte diesen Umstand: „Die Fehlzeiten sind überall dort üppig, wo es eine Lohnfortzahlung im Krankheitsfall gibt, dank solider Sozialnetze also Morbidität nicht gleich mit Einkommensverlust oder Rausschmiß bestraft wird." In der Bundesrepublik nahmen täglich 1,5 Millionen Arbeitnehmer die Lohnfortzahlung in Anspruch. Dafür konnte es keine andere Erklärung geben als die gesunkene Hemmschwelle bei der Krankmeldung. Denn trotz der verbesserten Arbeitsbedingungen fehlten in der freien Wirtschaft täglich 230000 Mitarbeiter mehr als noch 1973. Der Öffentliche Dienst lag bei den Fehlzeiten an der Spitze, die Fehlzeiten von Ausländern lagen um ein Drittel höher als die von Deutschen und die Fehlzeiten von ledigen Frauen waren höher als die von denen mit Familie. Der blaue Montag war vom Freitag abgelöst worden. An diesem Tag traten die meisten Kurzerkrankungen auf, sowie vor Feiertagen und vor und nach dem Urlaub. 1 8 4 ' Das Vorhaben wieder zwei Karenztage einzuführen, trug der Regierung Anfeindungen von allen Seiten ein. Der SPD-Vorsitzende Rudolf Scharping nannte die Regelung: „Einen Beweis tiefer geistiger Verwirrung, rechdich bedenklich und sozial unerträglich" und die Gewerkschaften schlossen einen Arbeitskampf nicht aus. 1 8 4 6 Auf der anderen Seite führte die Auseinandersetzung um die Pflegeversicherung zur Entfremdung zwischen der Union und Teilen der Wirtschaft. Nach einer Allensbachumfrage waren 72 Prozent der 1842 1843 1844 1845 1846

Der Spiegel, Nr. 17/47, 26. April 1993, S. 34ff. Der Spiegel, Nr. 21/47, 24. Mai 1993, S. 34f. Archiv der Gegenwart, S. 38009 f. Der Spiegel, Nr. 18/45, 29. April 1991, S. 40f. Archiv der Gegenwart, S. 38009 f.

388 Führungskräfte mit dem Kanzler unzufrieden. Tyll Necker sprach von der „Unfähigkeit der Politik", Heinrich von Pierer vom „Verfall unserer Wettbewerbsfähigkeit." 1847 Der Präsident des BDI Hans Olaf Henkel hatte die Pflegeversicherung sogar als eine „Kriegserklärung an die deutsche Wirtschaft" bezeichnet 1848 In dieser Lage trat Kohl mit einer emotional bewegenden Rede vor dem Wirtschaftsrat auf und appellierte an Bürgersinn und Leistungsbereitschaft fur das Vaterland und erntete stehende Ovationen. 1849 Wolfgang Schäuble hatte in der Finanzierung der Pflegeversicherung über Karenztage die Chance gesehen, das krude System der Lohnfortzahlung aufzubrechen und somit auch dem unzufriedenen Wirtschaftsflügel und den Arbeitgebern entgegenzukommen. Der Widerstand gegen diese Regelung formierte sich jedoch nicht nur in der Opposition und Gewerkschaften, sondern auch in den Reihen der von der Union geführten Länder. Die von der C D U regierten Bundesländer Sachsen und Sachsen-Anhalt kündigten an, die Karenztage im Bundesrat zu verhindern. Daraufhin suchten Kohl und Blüm die Verständigung mit der SPD. Blüm hatte sein Ziel erreicht, über eine Vereinbarung mit den Sozialdemokraten zum Ergebnis zu kommen. Gespräche mit der Opposition erschienen als der beste Weg, den Einfluss der Freien Demokraten auf den Entscheidungsprozess zu schwächen. Der Arbeitsminister machte keinen Hehl daraus, dass ihm die Verabschiedung der Pflegeversicherung wichtiger war als die Festigkeit des Regierungsbündnisses. 1850 Die Liberalen hatten also guten Grund, der Annäherung zwischen Union und SPD zu misstrauen und wollten ein Aufweichen des Kompromisses in den Verhandlungen mit der Opposition verhindern. Deshalb blockierte die FDP am 17. September 1993 die für das Wochenende vorgesehenen Verhandlungen zwischen der C D U und den Sozialdemokraten. 1851 Blüm wollte unbeirrt an seinem Kurs festhalten und mit der SPD zu einem Abschluss kommen. Zumal er mit der Kompromissbereitschaft des SPD-Vorsitzenden Rudolf Scharping rechnen konnte. Scharping sah nämlich seine Chance in dieser wichtigen Frage die Koalition zu spalten und hatte deshalb seine Partei auf einen kompromissbereiten Kurs festgelegt. Kohl war sich jedoch über die möglichen Konsequenzen einer Einigung mit der SPD über die Köpfe der Liberalen hinweg im Klaren. Er wollte deshalb Rücksicht auf den liberalen Koalitionspartner nehmen. Er legte sich gegenüber den Liberalen Anfang November 1993 darauf fest, nur eine einvernehmliche Lösung anzustreben. 1852 Da die Einigung mit den Sozialdemokaten damit in die Ferne gerückt war, versuchte es die Koalition mit einer neuen Strategie: Die Koalitionsparteien kamen überein, die Pflegeversicherungsreform in zwei Gesetze aufzuspalten. Sie wollten den Umstand nutzen, dass die Pflegeversicherung zur Verabschiedung die Zustimmung des Bundesrates brauchte, die Einfuhrung der unpopulären Karenztage hingegen ohne Zustimmung der Länder von der Koalitionsmehrheit im Bundestag beschlossen werden konnte. Die Koalition 1847 1848 1849 1850 1851 1852

Zit. nach Der Spiegel, Nr. 25/47, 21. Juni 1993, S. 18 ff Zit. nach Der Spiegel, Nr. 15/47, 12. April 1993, S. 119. Der Spiegel, Nr. 25/47, 21. Juni 1993, S. 18ff Wirtschaftswoche, Nr. 39/47, 24. September 1993, S. 24 f. Der Spiegel, Nr. 38/47, 20. September 1993, S. 18ff Der Spiegel, Nr. 46/47, 15. November 1993, S. 3 2 f f

389 hoffte, dass die Sozialdemokraten es nicht wagen würden, das populäre zustimmungspflichtige Pflegegesetz in der Länderkammer abzulehnen. Die unpopuläre Kompensation durch Karenztage konnte dann in einem Zweiten ohne ihre Zustimmung verabschiedet werden. 1853 Nun musste der SPD-Vorsitzende aktiv werden, um sich nicht von der Regierung den Schwarzen Peter der Ablehnung zuschieben zu lassen. Um zu vermeiden, dass in der Offendichkeit der Eindruck der Blockade entstand, suchte Scharping auch die Unterstützung der unionsregierten Bundesländer. Ihm gelang es alle 16 Bundesländer auf Nachbesserungen des Gesetzeswerkes festzulegen. Dies veranlasste die Koalition erneut das Gespräch mit den Sozialdemokraten zu suchen. Ende November sollte eine vierzehnköpfige Allparteienrunde einen Kompromiss finden. Wieder mussten die Liberalen eine Einigung zwischen SPD und Union über ihre Köpfe hinweg furchten. 1854 Im November 1993 hatte sich die Koalition taktisch also einmal im Kreis bewegt und war am Ende wieder in der taktischen Ausgangsposition angelangt. In den Spitzengesprächen zwischen Kohl und Scharping stimmte der SPD-Vorsitzende schließlich zu, zur Endastung der Arbeitgeber einen Feiertag abzuschaffen und legte sich öffendich auf die Streichung von einem Feiertag fest. Solms und Schäuble erwarteten jedoch die Streichung von zwei Feiertagen, sodass die Einigung mit der SPD scheiterte, da die FDP eine Einigung zwischen C D U / C S U und SPD unter diesen Bedingungen als Koalitionsbruch ansah. Blüm war es gelungen, Berlin und Baden-Württemberg im Vermitdungsausschuss zur Zustimmung zu bewegen, im Bundesrat würden sie sich jedoch der Stimme enthalten, wodurch man zur Ausganglage zurückkehren würde. Im Dezember 1993 legte Blüm neue Rechnungen vor, die diverse Leistungsverbesserungen in Aussicht stellten. Ihm wurde vorgeworfen die Feiertagserlöse hochzurechnen, damit die Kompensation für die Unternehmen formal erreicht würde. Am 18. Dezember 1993 kam das Gesetz erneut in den Bundesrat und wurde abgelehnt. 1855 In dieser verfahrenen Lage trafen sich Schäuble und Scharping konspirativ in der Stuttgarter Landesvertretung, um zu sondieren, ob es noch eine Möglichkeit gab, sich über die Pflegeversicherung zu einigen. Schäuble machte den Vorschlag, die Pflegeversicherung durch eine Anhebung der Mehrwertsteuer für die Arbeitnehmer kostenneutral zu finanzieren. Scharping nannte das Modell „erörterungsfähig." Kohl und Waigel verweigerten diesem Ansatz jedoch ihre Zustimmung, da sie zu diesem Zeitpunkt Steuererhöhungen ablehnten. Am 24. Februar 1994 informierte Schäuble Scharping vor den Verhandlungen im Vermittlungsausschuss über das Scheitern der Operation. Daraufhin machte Scharping das Angebot Schäubles öffendich. 1856 Doch schließlich kam es nach jahrelangem Tauziehen doch noch zu einer Einigung, die auf der Linie von Blüm lag. Am 10 März 1994 einigte sich die Koalition mit der SPD auf einen Kompromiss zur Einfuhrung der Pflegeversicherung. Für die häusliche Pflege sollte die Versicherung ab dem 1. April 1995 aufkommen und fur die stationäre Pflege ab dem

1853 1854 1855 1856

Der Spiegel, Nr. 41/47, 11. Oktober 1993, S. 22. Wirtschaftswoche, Nr. 48/47, 26. November 1993, S. 34. Wirtschaftswoche, Nr. 51/47, 17. Dezember 1993, S. 27 ff. Der Spiegel, Nr. 7/48, 14. Februar 1994, S. 18ff.

390 1. Juli 1996. Die Beteiligung sollte bei 1,0 und später bei 1,7 Prozent des Lohnes liegen, als Kompensation fiir die Arbeitgeber sollten in den Bundesländern ein Feiertag gestrichen werden. Am 11. März wurde der Kompromiss im Bundestag mit großer Mehrheit gebilligt. 1857 Am 22. April erklärte Schäuble in einem Interview, es habe vier Wochen nach der Einigung über die Pflegeversicherung keinen Sinn erneut über die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall zu diskutieren. „Wir sind in dieser Legislaturperiode bis an die Grenze des politisch Möglichen gegangen." 1858 Blüm hatte sich durchgesetzt, weil die Pflegeversicherung die breite Unterstützung in der Bevölkerung besaß und der Verhandlungsprozess einen Konsens mit dem Sozialflügel der C D U / C S U und den Sozialdemokraten nötig machte. Diese Umstände hatten die Position Blüms gegenüber der FDP gestärkt, die immerhin durchsetzen konnte, dass die Arbeitgeber durch die Streichung eines Feiertages nicht die vollen Kosten der neuen Sozialversicherung zu tragen hatten. Kohl schrieb später über Blüm: „Heute weiß ich, dass es politisch wie persönlich ein schwerer Fehler war, an ihm als Sozialminister festzuhalten." 1859 Damals war Kohl davon überzeugt, auf ihn nicht verzichten zu können. Denn anders als der Rücktritt Haussmanns, den die Öffendichkeit kaum zur Kenntnis nahm oder der von Jürgen Möllemann, den selbst eigene Parteifreunde mit Erleichterung notierten, besaß Norbert Blüm einen starken Rückhalt in seiner Partei. Auf den Parteitagen der Union zog Blüm alle Register zur Emotionalisierung der Diskussion. So erklärte Blüm: „Aber wenn jemand nicht weiß, wohin er mit seiner Pflegebedürftigen Mutter soll, dann muß er Unterstützung erfahren. Und die Frau, die ihr spastisch gelähmtes Kind rund um die Uhr pflegt und am Ende ihres Lebens selber Sozialhilfeempfängerin ist, weil sie keine Rente hat, muß geholfen werden." Die Pflegeversicherung werde kommen „mit ihrer Hilfe, so wahr ich Norbert Blüm heiße. Denn das ist doch unser ,,Herzblut""(...) „Ich bin nicht streitsüchtig; aber fur die Pflegeversicherung stelle ich mich jedem Streit." Allein die Häufigkeit des Beifalls und des „lebhaften Beifalls" zeigt, das Blüm einen starken Rückhalt in der Partei besaß und die Pflegeversicherung populär war. 1860 Seinen Rücktritt konnte sich Kohl nicht leisten und für die FDP war die Pflege der alten Menschen ein denkbar ungünstiges Thema, um dafür die Koalition aufs Spiel zu setzen. Die Pflegeversicherung sollte längerfristig mit denselben Finanzierungsschwierigkeiten zu kämpfen haben wie die übrigen Sozialversicherungen. Während sie zunächst Überschüsse erwirtschaftete, war sie seit 1999 defizitär. 1861

1857 1858 1859 1860 1861

Archiv. Der Gegenwart, S. 39064. Wirtschaftswoche, Nr. 17/48, 22. April 1994, S. 14 ff. Kohl, Erinnerungen 1 9 8 2 - 1 9 9 0 , S. 928. 3. Bundespartei, Düsseldorf, S. 304 f. Ritter, Preis der Einheit, S. 337.

391

Bilanz der Sozial-, Privatisierungs- und Lohnpolitik 1990-1993 In diesem Abschnitt wurden die Komplexe Währungs- und Sozialunion, Eigentumsfragen, die Geldpolitik und die Sozialtransfers behandelt. Nun sollen die Zusammenhänge noch einmal kurz skizziert werden. Der Fall der Berliner Mauer beendete die Teilung Deutschlands und legte das Gefalle im Lebensstandard zwischen Ost und West offen. Die D D R stand vor dem ökonomischen Zusammenbruch. Um einen Massenexodus zu verhindern, musste die wirtschaftliche Lage in der D D R stabilisiert und eine Zukunftsperspektive fur die ostdeutsche Bevölkerung geschaffen werden. Deshalb fiel die Entscheidung fur eine schnelle Wahrungsunion, die zugleich die wirtschaftspolitische Weichenstellung für die Wiedervereinigung war. Da die Ostdeutschen sich am Lebensstand der Westdeutschen orientierten und die westdeutschen Gewerkschaften und Sozialpolitiker ein Niedriglohngebiet verhindern wollten, wurden mit dem Stufentarifvertrag und der Sozialunion die Weichen für eine schnelle Angleichung der Löhne, Sozialleistungen und Renten an das Westniveau gestellt. Da die ostdeutsche Produktivität mit dieser Angleichung der Löhne und Sozialstandards nicht Schritthalten konnte, war eine dauerhafte Massenarbeitslosigkeit in den neuen Ländern unvermeidlich. Private Investitionen konnten dem Standort Ostdeutschland allein nicht auf die Beine helfen, da Ostdeutschland mit seinen steigenden Lohnkosten bei niedriger Produktivität für Investoren unter diesen Bedingungen nicht attraktiv war. Zu einem frühen Zeitpunkt des Einigungsprozesses war die Entscheidung gefallen, fur die Zeit der S B Z zwischen 1945—49 keine Restitution vorzunehmen. Für die Zeit nach der Gründung der D D R galt das Prinzip Rückgabe vor Entschädigung. Die Hoffnung durch den Verkauf des staatseigenen Vermögens die Sanierung der neuen Bundesländer zu finanzieren erfüllte sich nicht, da die Privatisierung der Betriebe ein enormes Verlustgeschäft für den Bund war. Die Treuhand versuchte Arbeitsplätze zu sichern, indem sie Subventionen zahlte und die Altschulden übernahm. Dies führte dazu, dass die Treuhand statt Gewinnen eine immense Schuldenlast bei ihrer Auflösung hinterließ. Die ostdeutsche Industrie konnte aus den genannten Gründen trotz dieser Anstrengungen nicht gerettet werden. Die Finanzierung der daraus resultierenden Massenarbeitslosigkeit geschah durch die Transfers innerhalb der sozialen Sicherungssysteme. Der Überschuss im Westen wurde genutzt, um die Kosten der Arbeitslosigkeit im Osten zu bezahlen. Dennoch sollten die Sozialbeiträge vorerst stabil gehalten werden. Das war nur dadurch zu erreichen, dass innerhalb der Sozialversicherungssysteme von der Renten- zur Arbeitslosenversicherung umfinanziert wurde. Dies funktionierte jedoch nur so lange, wie wenigstens die Wirtschaft im Westen auf einem stabilen Fundament stand. Doch auch im Westen waren die Unternehmen mit den Standortbedingungen zunehmend unzufrieden. Nachdem die Konsumnachfrage aus den neuen Bundesländern abflaute und in der zweiten Jahreshälfte 1992 die Rezession auch im Westen ausbrach, begann ein Prozess der Verlagerung und Rationalisierung von Arbeitsplätzen, der die Arbeitslosigkeit auch im Westen auf ein dauerhaft höheres Niveau brachte.

392 Die Rezession wurde dadurch verschärft, dass die Ausweitung der Geldmenge im Zuge der Währungsunion einen erheblichen Inflationsdruck auf die Deutsche Mark ausübte, was die Bundesbank zu einer Hochzinspolitik zwang. Durch die harte Rezession und die steigenden Arbeitslosenzahlen geriet das gesamte System der Transferzahlungen und die Finanzierung der Sozialleistungen unter Druck. Dies führte zu einem Umdenken in der Politik. Unmittelbar nach dem Umbruch in der D D R hatten die Sozialpolitiker den Prozess der inneren Einheit dominiert, was ihnen deshalb möglich war, weil der Wirtschaftsflügel der Koalition kaum überzeugende Köpfe zu bieten hatte. Als sich abzeichnete, dass ein Sanierungskurs unvermeidlich war, übernahm diesen Part der C D U / CSU-Fraktionschef Wolfgang Schäuble. Im Jahr 1992 und 1993 wurde ein Kurs der Kürzungen sozialer Leistungen eingeläutet, der auf erheblichen Widerstand stieß und das Feindbild „Neoliberalismus" stärkte. Die Regierung antwortete darauf, mit einer verstärkten Thematisierung des „Missbrauchs" sozialer Leistungen.

Die „Steuerlüge" und die Kosten der Deutschen Einheit Die Finanzierung der deutschen Einheit wurde zur Schlüsselfrage der kommenden Jahre. Die Behauptung, dass die Einheit sich mehr oder weniger selbst finanzieren würde und Steuererhöhungen deshalb nicht nötig seien, ging als „Steuerlüge" in die Geschichte ein. Später behaupteten die dafür verantwortlichen Spitzenpolitiker das Ausmaß der Kosten des Einigungsprozesses sei nicht erkennbar gewesen und die Erwartungen an das wirtschaftliche Potenzial zu groß. Dabei erinnert bei der „Steuerlüge" der Regierung Kohl von 1990 vieles an den „Rentenbetrug" von 1976 der Regierung Schmidt. In beiden Fällen zeigten sich schwere Finanzierungslücken zu einem Zeitpunkt, als der Wahlkampf bevorstand und eine öffendiche Debatte über dieses Thema als Gefahr für den Wahlerfolg beurteilt wurde. In beiden Fällen wurden die kommenden Belastungen schon zu einem frühen Zeitpunkt in der Wirtschaftspresse benannt, aber im Nachhinein die Kenntnis davon von der Bundesregierung bestritten. Die dahinterliegende politische Logik liegt klar auf der Hand. Aus der Perspektive der Regierung sind die öffentlichen Angriffe nach der Wahl wegen der Unehrlichkeit vor der Wahl trotz ihrer voraussichtlichen Heftigkeit immer noch leichter zu verkraften, als über Monate hinweg eine Kosten- und Finanzierungsdebatte im Wahlkampf fuhren zu müssen. In beiden Fällen ging das Kalkül trotz der öffentlichen Empörung und der politischen Erschütterung letztlich auch auf: Schmidt hat trotz „Rentenbetrug" und Kohl trotz „Steuerlüge" auch die darauf folgende Wahl gewonnen. Die alternative Erklärung fur das Verhalten der verantwortlichen Spitzenpolitiker wäre, dass diese sich selbst etwas vorgemacht haben und die relevanten Daten und Prognosen schlicht nicht zur Kenntnis nahmen. Selbst bei dem großen wirtschaftlichen Optimismus, der sich im Frühjahr 1990 tatsächlich ausgebreitet hatte, musste aber die Erkenntnis vorhanden sein, dass wenigstens für den Übergang erhebliche Kosten entstehen würden und in der Vergangenheit Steuern schon aus weniger bedeutsamen Gründen erhöht worden waren. Es mag 1990 auch eine Rolle gespielt haben, dass gerade erst eine schwer erkämpf-

393 te Steuerreform in Kraft getreten war, der man den Aufschwung 1989/90 zugeschrieben hat. Doch wichtiger war mit Sicherheit die schwierige politische und psychologische Gemengelage in Westdeutschland in den Monaten nach der Wende in den neuen Ländern. Bis heute ist oft zu hören, Kohl habe eine „Blut-Schweiß-und-Tränen-Rede" halten sollen, um die Bevölkerung auf die kommenden Belastungen vorzubereiten und sich den Rückhalt fiir seine Politik zu verschaffen. Diese Vorstellung steht aber in einem starken Widerspruch zur psychologischen Ausgangssituation im Frühjahr und Sommer 1990. Kohl konnte sich nach eigener, realistischer Einschätzung bei seiner Wiedervereinigungspolitik nicht auf eine breite Unterstützung der politischen Klasse verlassen. Ernüchtert schreibt Kohl in seinen Erinnerungen: „Ein sehr großer Teil der gesellschaftspolitischen Führungsschicht in der Bundesrepublik, von den Kirchen über die Gewerkschaften und die Parteien bis zur Wirtschaft, zeigte in Fragen der deutschen Einheit keine Spur Enthusiasmus." 1862 Ein Konsens mit der Opposition darüber, dass die Lasten für die Einheit notwendig waren und deshalb gemeinsam politisch vertreten werden mussten, war nicht zu erreichen. Sozialdemokraten wie Willy Brandt und der SPD-Vorsitzende Hans-Jochen Vogel waren zu einer gemeinsamen Kraftanstrengung durchaus bereit, nicht aber die jüngere Riege der SPD-Politiker, die schließlich die Richtung vorgaben. Dies zeigte sich schon im Herbst 1989 bei der Bewältigung des Zustroms von Übersiedlern. Oskar Lafontaine forderte am 15. November 1989 die Aufkündigung der gemeinsamen Staatsbürgerschaft. Damit wollte er den Ubersiedlern, den „Zugriff auf die sozialen Sicherungssysteme der Bundesrepublik" nehmen. 1 8 6 3 Lafontaine und Schröder waren sich in dieser Frage weitgehend einig. Schröder erklärte am 6. November 1989 im SPD-Präsidium, „ein Handeln gegenüber den Aussiedlern" sei „notwendig, denn gerade an der Basis unserer Wähler" mache „sich Angst bemerkbar." Lafontaine erklärte am 27. November 1989. „Ich meine die Antwort, die historisch gewachsen ist und wir bisher gegeben haben, ist nicht mehr aufrechtzuerhalten. Ich halte eine Politik, die das Weggehen der aktiven Leistungsträger aus der D D R prämiert, fiir verfehlt." Lafontaine beauftragte seine Staatskanzlei mit der Aufgabe, ein Gutachten zur Drosslung des Zustroms zu erstellen. 1864 Der SPD-Vorsitzende Vogel, der der Politik Lafontaines gegenüber den Flüchdingen lange Widerstand entgegengesetzt hatte, schwenkte Anfang 1990 auf Lafontaines Kurs ein. Nun stellte auch Vogel die Sozialleistungen fur die DDR-Flüchdinge in Frage. Vogel sprach sich fur den „Abbau nicht mehr gerechtfertigter Sondervergünstigungen" aus. 1 8 6 ' Günter Grass sprach fur viele und vor allem für viele Angehörige der Bildungsschicht, als er zu Beginn des Jahres 1990 die Angst vor einem neuen wiedervereinigten Deutschland mit 80 Millionen Einwohnern und mit einer starken D-Mark artikulierte. Seine wirtschaftspolitischen Vorstellungen von einem „gerechten, längst fälligen Lastenausgleich" fur eine demokratische D D R blieben sowohl verschwommen als auch unrealistisch. Aber

1862 1863 1864 1865

Kohl, Erinnerungen 1 9 8 2 - 1 9 9 0 , S. 1014. Ritter, Preis der Einheit, S. 191. Sturm, Uneinig in die Einheit, S. 230 ff. Sturm, Uneinig in die Einheit, S. 236.

394 mit seiner Aussage brachte er doch die Bedenken der politischen Linken auf den Punkt: „Wer gegenwärtig über Deutschland nachdenkt und Antworten auf die Deutsche Frage sucht, muß Auschwitz mitdenken. Der Ort des Schreckens, als Beispiel genannt fiir das bleibende Trauma, schließt einen zukünftigen deutschen Einheitsstaat aus. Sollte er, was zu befurchten bleibt, dennoch ertrotzt werden, wird ihm das Scheitern vorgeschrieben sein..." 1 8 6 6 Aber auch die einfache Bevölkerung Westdeutschlands und darunter besonders die jungen Deutschen standen der Wiedervereinigung eher mit wohlwollender Gleichgültigkeit gegenüber als etwa mit dem von Grass und anderen befürchteten patriotischen Überschwang: Die Zeit stellte fest: „Die Verzichtsbereitschaft ist nicht hoch, von einer patriotischen Bewegung nichts zu spüren." 1 8 6 7 Stabilität und Wohlstand waren für die meisten Deutschen wichtigere politische Zielsetzungen als die Erlangung der nationalen Einheit. Oskar Lafontaine lag gar nicht so fern von der Wirklichkeit als er auf die Frage der BILD-Zeitung, ob er den Drang der Bevölkerung nach der Wiedervereinigung nicht unterschätzt habe, antwortete: „Zu erst interessiert die Leute, ob sie eine gute Wohnung, ein gutes Einkommen und eine gute Rente haben." 1 8 6 8 Von einer breiten persönlichen Opferbereitschaft in der westdeutschen Bevölkerung konnte in der Tat keine Rede sein. Zwischen dem 14. und 19. Februar hatte Allensbach 1109 Interviews geführt, um die Opferbereitschaft der Deutschen zu ermitteln. Für die Wiedervereinigung sprachen sich 69 Prozent aus, dagegen waren nur 11 Prozent. Steuererhöhung erwarteten 75 Prozent der Befragten steigende Sozialbeiträge 61 Prozent. 21 Prozent der Befragten entschieden sich bei einer Alternativfrage fur die Antwort dafür, „nicht die Kosten aufzurechnen", dagegen entschieden sich 66 Prozent der Befragten für die Antwort der „Wohlstand dürfe nicht aufs Spiel gesetzt werden." 23 Prozent der Befragten waren bereit eine Ergänzungsabgabe auf die Einkommensteuer zu bezahlen, 53 Prozent entschieden sich für die Alternative „Ich könnte mir das nicht leisten." Von den Befragten waren 22 Prozent bereit für die Finanzierung der Einheit höhere Steuern zu bezahlen, 47 Prozent lehnten dies ab. In der Selbsteinschätzung der Befragten erklärten 24 Prozent „meine Opferbereitschaft ist groß" und 58 Prozent hielten ihre persönliche Opferbereitschaft in Hinblick auf die Einheit für „nicht groß." Die Opferbereitschaft war mit 12 Prozent bei den Jungen am geringsten und bei den Alten mit 36 Prozent am größten. Auf die Frage, was politisch wichtig sei, antworteten nur 23 Prozent die Wiedervereinigung, 60 Prozent nannten den Umweltschutz, 52 Prozent Arbeitslosigkeit, 44 Prozent Wohnungsbau 39 Prozent die Sicherung der Renten. 1 8 6 9 Wie wenig populär Hilfen für den Osten waren zeigt etwa ein Aufmacher der Bildzeitung. Die Boulevardzeitung sah sich genötigt an ihre Leser zu appellieren: „Beschämend! Wohlstandsdeutsche neidisch auf DDR-Deutsche. Hört auf mit der Missgunst!" 1870

1866 G i j n t e r Grass: Kurze Rede eines Vaterlandslosen Gesellen, in: Nation-Nationalismus-Nationale Identität, hrsg von Dorothea Weidinger, Bonn 2002, und Die Zeit, Nr. 9.2.1990. 1 8 6 7 Die Zeit, Nr. 9/45, 23. Februar 1990, S. 21 f. 1 8 6 8 Bild, 2.1.1990, S. 6. 1 8 6 9 Die Zeit, Nr. 11/45, 9. März 1990, S. 3. 1 8 7 0 Bild, 19.2.1990, S. 1.

395 Es gibt noch andere Hinweise darauf, dass die positive Stimmung für die Wiedervereinigung unter dem Einfluss sozialer Ängste umschwingen konnte. Das Arbeitsministerium erhielt täglich etwa 300 Briefe. Ein Mitarbeiter Blüms schilderte, diese seien von ,Angst, Missgunst, und Neid" bestimmt. Vor allem Rentner würden furchten, durch die Aufwendungen fur Übersiedler und die Hilfen an die D D R zu kurz zu kommen. 1 8 7 1 Die Z E I T kommentierte die Stimmung im Lande: „Verständnislos registrieren sie (Die Ostdeutschen), dass die Bundesbürger offensichtlich nicht bereit sind, für die deutsche Einheit auch nur kleine Abstriche von einem Lebensstandard zu machen, der nach D D R Maßstäben sehr komfortabel ist." 1 8 7 2 Kohl sieht im Nachhinein die Skeptiker nicht nur im linken, sondern auch im bürgerlichen Lager: „Nicht wenige, die bei uns immer „Einigkeit und Recht und Freiheit" gesungen hatten und sich dabei gelegendich ein wohliges Nationalgefuhl über den Rücken laufen ließen, dachten nun: Hoffentlich ändert sich fur mich nichts durch die Einheit. Vor allem darf es nicht an mein Portemonnaie gehen." 1 8 7 3 Die Umfrage von Allensbach hatten damals ergaben, dass selbst unter CDU-Wählern nur 33 Prozent und bei FDPWählern nur 25 Prozent zu finanziellen Opfern bereit waren. Selbst unter der Anhängerschaft der rechtspopulistischen Republikaner fanden sich nur 17 Prozent zu finanziellen Opfern bereit, knapp vor den Grünen mit 14 Prozent. 1874 Oskar Lafontaine wollte sich diesen Umstand für seine Kanzlerkandidatur zunutze machen. Er erklärte Anfang März 1990 im SPD-Parteivorstand laut Protokoll: „Die Bevölkerung in der D D R wolle durch Einheit Wohlstand erreichen. Die Bevölkerung in der Bundesrepublik wolle fur die Einheit nur wenig geben. Dies seien die unterschiedlichen Interessenlagen, die es zu berücksichtigen gelte. " 1 8 7 ^ Da die SPD noch von einer rein westdeutschen Bundestagswahl ausging, schien ein Appell an die Sozialängste der Westdeutschen Erfolg versprechend. In einer internen Analyse des Ollenhauer-Hauses fur den Parteivorsitzenden Vogel vom 2. März 1990 hießt es: „Der Versuch von Oskar Lafontaine, das Thema „Deutsche Einheit" von einer nationalen zu einer sozialen Frage umzuinterpretieren, war offensichdich erfolgreich. Und dies ist - nach meiner Analyse aller Daten über die gegenwärtige Stimmungslage in der Bundesrepublik kein saarländischer Sonderfäll. (Dieser Satz ist im Original unterstrichen). Man sollte sich da auch nicht durch die Umfragewerte täuschen lassen, nach denen eine deudiche Mehrheit der Bevölkerung fur eine Wiedervereinigung eintritt. (...) Bei einer Wahl zwischen dem „Kanzler der Einheit" und dem „Kanzler der sozialen Gerechtigkeit" wird sich eine Mehrheit der bundesdeutschen Wählerinnen und Wähler fur den Kanzler der sozialen Gerechtigkeit entscheiden." 1876 Unter dem Eindruck der Stimmung im Land wurden erste Vorstöße, die Bevölkerung auf größere Lasten vorzubereiten schnell korrigiert. Zuerst hatte es solche Vorstöße der Regierung gegeben, die die Bürger auf Einschnitte vorbereiten sollten. Finanzminister Theo 1871 1872 1873 1874 1875 1876

Die Zeit, Nr. 11/45, 9. März 1990, S. 24. Die Zeit, Nr. 21/45, 18. Mai 1990, S. 3. Kohl, Erinnerungen 8 2 - 9 0 , S. 1079. Die Zeit, Nr. 11/45, 9. Märzl990, S. 3. Zit. nach Sturm, Eineinig in die Einheit, S. 236. Zit. nach Sturm, Uneinig in die Einheit, S. 237.

396 Waigel hatte erklärt: „Wenn weit über siebzig Prozent für die Einheit sind, dann wissen sie auch, dass ein bestimmter Preis zu zahlen ist. Sie wissen: Dies ist ein Ziel, das den Preis wert ist." Blüm war noch deutlicher geworden: „Wenn es notwendig sein sollte, müssen auch die Steuern erhöht werden. Die Wiedervereinigung gibt es nicht zum Nulltarif." Blüm musste sich dann aber öffendich korrigieren: „Ich habe keine Steuererhöhungen vorgeschlagen und halte sie dank unserer florierenden Wirtschaft auch nicht fur nötig." Und Waigel erklärte: „Wir können ein solches Projekt im Grunde mit dem Wirtschaftswachstum der nächsten Jahre finanzieren."1877 Die Regierung wollte vermeiden der Opposition eine offene Flanke zu bieten. Am 19. März 1990 wurde Oskar Lafontaine vom Parteivorstand der SPD zum Kanzlerkandidaten gekürt. In dem Protokoll der Sitzung heißt es, Lafontaine „betonte, er denke, dass dies der richtige Zeitpunkt sei, die Herausforderung anzunehmen ... Kohl sitze jetzt in der Falle, die er mit seinen Versprechungen selbst geschaffen habe." Lafontaine sah die Wahlniederlage der Ost-SPD in der D D R als Vorteil an. Denn Lafontaine war überzeugt, nun einen vollkommen auf die Ängste der Westdeutschen abgestellten Wahlkampf fuhren zu können. Lafontaine wollte die Regierung mit den Problemen der Einheit gegen die Wand fahren lassen. Der frisch gekürte Kanzlerkandidat meinte, er werde „spätestens im Herbst recht bekommen. Dann schlage ich zurück, weil Kohl die Leute belogen und betrogen hat." Auf dem Sender RTL kritisierte Lafontaine am 25. März 1990, die Regierung habe übersehen, „dass es hier noch 60 Millionen gibt, die auch ihre Interessen und Rechte haben..." Obwohl in der SPD erhebliche Bedenken gegen diesen Konfrontationskurs vorhanden waren, billigte der Parteirat am 27. März 1990 in Hannover die Kandidatur Lafontaines einstimmig. 1878 Die Doppelwahl in Niedersachsen und NRW am 13. Mai 1990 bestätigten aus Sicht der Regierung die Befürchtung aus Sicht des Oppositionsführers die Hoffnung, dass Lafontaines Kurs erfolgreich sein könnte. Das schwache Abschneiden der C D U bei den Wahlen wurde vielfach mit dem Hinweis auf die Diskussion über die Kosten der Einheit in Verbindung gebracht. 1879 Fast die Hälfte der bundesdeutschen Wähler war am Wahlsonntag aufgerufen bei den Landtagswahlen der beiden Flächenstaaten ihre Stimme abzugeben. Parteien und Öffendichkeit sahen darin eine Testwahl. In N R W konnte Johannes Rau seine absolute Mehrheit gegen seinen Herausforderer Norbert Blüm verteidigen, der mit 36,0 Prozent noch einen halben Prozentpunkt schlechter abschnitt als die C D U bei der letzten Wahl und in Niedersachsen verlor die C D U über drei Prozent und Ernst Albrecht wurde von Gerhard Schröder und einer rotgrünen Koalition abgelöst. Damit verlor die Union zugleich ihre Mehrheit im Bundesrat, über die sie seit der Regierungsübernahme verfugt hatte. Die C D U hatte nicht nur nicht von einem Bonus fur die Einigungspolitik profitiert, im Gegenteil drängte sich dem Regierungslager der Eindruck auf, gerade fur die Politik bestraft worden zu sein. Natürlich lag es auch für die unterlegenden Unionskandidaten nahe, die Finanzdiskussion um die deutsche Einheit statt ihre eigenen Fehler fur ihr Scheitern verantwortlich zu machen. CDU-FraktionschefWorms gab unmittelbar 1877 1878 1879

Die Zeit, Nr. 9/45, 23. Februarl990, S. 21 f. Sturm, Uneinig in die Einheit, S. 361 ff. Die Zeit, Nr. 21/45, 18. Mai 1990, S. 5.

397 nach der Wahl die Stimmung aus seiner Perspektive wieder: „Bei jeder Veranstaltung haben mich die Leute gefragt: Wie teuer wird die deutsche Einheit. D a gab es viele Befürchtungen, die wir einfach nicht ausräumen konnten." 1 8 8 0 Ernst Albrecht hatte erklärt, ausschlaggebend für das Ergebnis sei die Frage, ist man bereit, Opfer für die Vereinigung zu bringen. 1881 Nach seiner Abwahl stellte er verbittert fest, die Ursache seiner Wahlniederlage sei der ,Appell an den Egoismus" gewesen. 1882 Beurteilt man die Wahl nüchtern, so kann man als Erklärung fur den Wahlausgang auch andere Faktoren wie die mangelnde Zugkraft der Kandidaten heranziehen. Entscheidend ist aber fur die Frage, warum die Regierung sich dafür entschied, die Kosten der Wiedervereinigung nicht zu thematisieren, nicht die kühle Wahlanalyse im Nachhinein, sondern der damalige Eindruck des Wahlausgangs auf die Spitzenpolitiker in Regierung und Opposition. Die SPD nahe Westdeutsche Allgemeine Zeitung kommentierte das Ergebnis: „Verloren haben Norbert Blüm und Ernst Albrecht, vor allem aber Helmut Kohl. Jede Stimme für Blüm sei auch eine Stimme für ihn und die Einheit, hatte Kohl in NRW geworben. Doch übertrug sich keine Woge nationaler Begeisterung auf die Wähler. Kein anderer Schluss ist möglich, als dass die Wähler in der Bundesrepublik zur Einheit ein anderes Verhältnis haben als die Wähler in der D D R . Die Frage nach den Kosten und den Lasten der Einheit wird in der Bundesrepublik offenbar immer dringlicher gestellt, jedenfalls nicht hinweggeschwemmt von unkontrollierten Gefühlen." 1 8 8 3 Wichtig ist, dass nicht nur die SPD ihre Chance, sondern auch Kohl eine Gefahr sah. Vor der Bundestagsfraktion erklärte Kohl am 15. Mai 1990 es sei die „Zeit der Demagogen", die „Sozialdemokraten spielen auf Baisse." 1884 Fünf Tage nach den Wahlen in Niedersachsen und NRW schrieb die ZEIT, das Wahlergebnis schürte Befürchtungen in der Regierung über die kommenden Verteilungskämpfe und es reife der Entschluss die Einheit über den Kapitalmarkt zu finanzieren.1885 Nach einem Treffen mit dem DDR-Finanzminister Walter Romberg und Gesprächen über den DDR-Haushalt beruhigte Waigel: „Wer heute voraussagt, was die deutsche Einheit kosten wird, ist entweder ein Hellseher oder ein Hochstapler." 1886 Unter den wirtschaftspolitischen Autoritäten teilte auch der ehemalige Wirtschaftsminister Karl Schiller die Ansichten der Regierung. In einem Interview nannte Schiller die Berechnungen der Kosten der Einheit von 80 bis 100 Mrd. D-Mark für unsolide. Der Wachstumsprozess in der D D R werde das meiste von selbst erledigen und verglich diesen Prozess mit der Wahrungsunion von 1948. Steuererhöhungen seien nur im Notfall zu akzeptieren, sollte sie doch nötig werden, wäre er dafür, die Mehrwertsteuer zu erhöhen. Er sei von der Möglichkeit eines zweiten Wirtschaftswunders überzeugt. 1887 Dies schien eine Botschaft, die 1880 W A Z ) 1881 1882 1883 1884 1885 1886 1887

N r

111/1990, 14. 5. 1990, S. 3.

WAZ, Nr. 111/1990, 14. 5. 1990, S. 1. Wirtschaftswoche, Nr. 21/44, 18. Mai 1990. S. 21 ff. WAZ, Nr. 111/90, 14. 5. 1990, S. 2. Ritter, Preis der Einheit, S. 219. Die Zeit, Nr.21/45,18. Mai 1990, S. 23. Die Zeit, Nr. 21/45, 18. Mai 1990, S. 23. Wirtschaftswoche, Nr. 10/44, 2. März. 1990, S. 32f.

398 besser dazu geeignet war, Begeisterung fur die Einheit zu erreichen und den Wahlerfolg zu sichern. Kohl und die Bundesregierung entschieden sich fur die Argumentation der Optimisten. Unter den gegebenen Umständen schien ein Appell an die Opferbereitschaft oder gar eine im Nachhinein oft geforderte „Blut-Schweiß-und-Tränen-Rede" keine Chance auf eine positive Resonanz in der Bevölkerung, den Medien oder auch nur bei den eigenen Anhängern der bürgerlichen Parteien zu haben. Kohl versuchte den Bürgern die Ängste zu nehmen und Optimismus zu verbreiten. Am 21 Juni 1990 versprach Kohl: „Keiner wird wegen der Vereinigung Deutschlands auf etwas verzichten müssen." 1 8 8 8 Kohl erklärte im ZDF: „Zunächst einmal bleibe ich bei meiner These, dass das finanziell zu meistern ist. Ich habe keine Angst, wenn es mehr kostet, das öffentlich zu sagen." In seiner Fernsehansprache zum 1. Juli erklärte Kohl: „Wann je waren wir besser gewappnet fur die Gemeinschaftsaufgabe der deutschen Einheit als heute? Unserer Wirtschaft floriert, der wirtschaftliche Aufschwung geht in sein achtes Jahr." 1 8 8 9 Waigel erklärte am 17. September 1990: „Steuererhöhungen müssen das Letzte sein, wenn alle anderen Maßnahmen ausgeschöpft sind und dürfen nicht am Anfang stehen." 1890 Es gab jedoch auch gegenläufige Stimmen in der Union, die diesen Kurs nicht mittragen wollten. Drei Tage zuvor am 14. September hatte Biedenkopf in der erklärt: Ich halte es sachpolitisch fur falsch, Steuererhöhungen auszuschließen. Und ich bin überzeugt davon, dass es niemand glaubt." Biedenkopf sprach sich dafür aus die indirekten Steuern zu erhöhen. 1 8 9 1 Lothar Späth forderte die Erhöhung der Mineralölsteuer, Manfred Rommel forderte in seiner Eigenschaft als Präsident des Deutschen Städtetages die Steuern anzuheben und schätze die jährlichen Kosten der Einheit auf 100 Mrd. D-Mark fur die nächsten vier Jahre. Auch Volker Rühe zeigte sich skeptisch. Im kleinen Kreis hatte Waigel über „alternative Wahlkampfstrategien" nachgedacht. Intern fürchtete man jedoch einen NeidWahlkampf der SPD und legte sich daher auf ein Nein zu Steuererhöhungen fest. Die CDU/CSU-Fraktion beschloss schließlich, die Wirtschaftsdaten, seien so positiv, „dass kein Anlass zu Steuererhöhungen besteht; diese halten wir fur falsch" 1 8 9 2 Im Wahlprogramm der C D U wurden Steuererhöhungen zur Finanzierung der deutschen Einheit ausgeschlossen. Das Versprechen war jedoch auf die Kosten der Einheit beschränkt. Kohl verwies ausdrücklich auf die Risiken in Osteuropa und am Golf. Im Programm waren Umschichtungen im Haushalt, Privatisierungen und ein vorübergehender Anstieg der Neuverschuldung vorgesehen. Die C D U versprach auf der Ausgabenseite bessere Leistungen für Familien und eine Erhöhung des Kindergeldes. Ein Wohnungsbauprogramm sollte in den nächsten zwei Jahren zwei Millionen neuer Wohnungen schaffen. Der C D U Vorstand bestätigte noch einmal am 12. November 1990 das Versprechen, die Steuern zur Finanzierung der Deutschen Einheit nicht zu erhöhen. 1893

1888 1889 1890 1891 1892 1893

Die Zeit, Nr. 13/47, 20. März 1992, S. 25. Die Zeit, Nr. 33/45, 10. August 1990, S. 15 f. Zit. nach Archiv der Gegenwart, S. 34927 f. Wirtschaftswoche, Nr. 37/55, 7. September 1990, S. 44 ff. Der Spiegel, Nr. 39/44, 24. September 1990, S. 138 ff. Archiv der Gegenwart, S. 35114.

399 Kohl und Waigel erklärten jedoch bei verschiedenen Wahlkampfauftritten und in Interviews, dass die Abgaben in verschiedenen Bereichen steigen würden. Dies führte zu Konflikten mit der FDP. Lambsdorff erklärte, eine Erhöhung der Mineralölsteuer oder Mehrwertsteuer sei mit den Liberalen nicht zu machen.189"* „Dieses Chaos beim Koalitionspartner kann einen wirklich erschrecken", äußerte Lambsdorff am 19. November 1990, die C D U sei „steuerpolitisch noch niemals völlig zuverlässig und verlässlich gewesen." 1895 Am selben Tag hatte Kohl auf einer Wahlkampfkundgebung in München erklärt „wir kommen nicht umhin, über die Erhöhung der Abgaben zu reden." Und in einem Zeitungsinterview hatte Kohl präzisiert, er habe nur in Blick auf die deutsche Einheit Abgabenerhöhungen ausgeschlossen. Lafontaine erklärte, nun sei „Das Lügengebäude um die Finanzierung der Einheit ohne Steuererhöhungen zusammengebrochen." 1896 In der dritten Novemberwoche 1990 erzwang Lafontaine eine Sondersitzung des Bundestages, um die Regierung als Steuerlügner vorzufuhren. 1897 Die SPD schaltete ganzzeitige Anzeigen mit der Aussage: .Auch Steuerlügen haben kurze Beine." 1 8 9 8 Dies konnte den Ausgang der Bundestagswahl aber nicht mehr beeinflussen. Bei der Wahl am 2. Dezember erhielt die C D U 36,7 Prozent, ihre Schwesterpartei C S U 7,1 Prozent und die FDP 11 Prozent, die SPD nur 33,5 Prozent. Die Regierungskoalition besaß mit 398 Abgeordneten eine ansehnliche Mehrheit. 1899 Der erste größere Steuerstreit ließ aber nicht lange auf sich warten. Bei diesem Streit ging es erst einmal nicht um Steuererhöhungen, sondern Steuerentlastungen in den neuen Bundesländern. Noch im Frühsommer hatte die Unionsfraktion niedrigere Steuern fur Ostdeutschland gefordert, war aber auf die Ablehnung von FDP-Wirtschaftsminister Haussmann gestoßen. Die Positionen hatten sich innerhalb der Koalition im Laufe der Debatte fast vollständig gedreht. Das Finanzministerium befürchtete, dass die Verlegung des Firmensitzes ausreichen würde, um von den niedrigen Steuern zu profitieren. Daher sprach sich Waigel gegen das Niedrigsteuergebiet aus, da er steuerliche „Mitnahme und Umgehungsmöglichkeiten" befürchtete. 1900 Das FDP-Präsidium hatte sich darauf verständigt in den Koalitionsverhandlungen Druck auszuüben und die Erklärung Ostdeutschlands zum Niedrigsteuergebiet zur Bedingung für die Kanzlerwahl zu machen. Lambsdorff erklärte: „Ohne Niedrigsteuergebiet keine Kanzlerwahl." 1901 Auch Genscher warf sich fur das Niedrigsteuergebiet in die Bresche: „Ich werde der neuen Bundesregierung nicht angehören, wenn das nicht kommt." 1 9 0 2 Neben dem Niedrigsteuergebiet war die Erhöhung der Abgaben das zweite wichtige finanzpolitische Thema in den Koalitionsverhandlungen, die zwischen dem 6. Dezember 1990 und dem 16. Januar 1991 stattfanden. Um Steuererhöhungen trotz der stärkeren 1894 1895 1896 1897 1898 1899 1900 1901 1902

Archiv der Gegenwart, S. 35115. Wirtschaftswoche, Nr. 48/44, 23. November 1990, S. 18ff. Wirtschaftswoche, Nr. 48/44, 23. November 1990, S. 18ff. Der Spiegel, Nr. 48/44, 26. November 1990, S. 18ff. Gefunden in Bild, 30.11.1990. Archiv der Gegenwart, S. 35119. Der Spiegel, Nr. 50/44, 10. Dezember 1990, S. 118f. Archiv der Gegenwart 1990, S. 35120. Der Spiegel, Nr. 3/45, 14. Januar 1991, S. 18ff.

400 Beanspruchung der Haushalte zu vermeiden, wollte die Regierung Gebühren und Abgaben erhöhen. Die Erhöhung der Telefongebühren und die Einfuhrung einer Autobahnbenutzungsgebühr traten in den Mittelpunkt der Debatte. 19o;5 Bald zeigte sich, dass die Belastung der Autofahrer nicht weniger unpopulär war als die Erhöhung direkter Steuern. Die BILD-Zeitung titelte „Nein zum Wegezoll" und bezeichnete die Autobahngebühr als „Straßenräuberei."1904 Die Idee verschwand so schnell wieder, wie sie in der Debatte aufgetaucht war. Ende Dezember war auch das „Niedrigsteuergebiet Ostdeutschland" schon weitgehend ad acta gelegt worden, die FDP bestand nur noch auf die Senkung der Gewerbesteuern und Vermögenssteuer.1905 Lambsdorff bestätigte in einem Interview am 11. Januar 1991, dass das Niedrigsteuergebiet keine Bedingung für die Kanzlerwahl mehr war. 1906 Später erklärte Lambsdorff, das Niedrigsteuergebiet zur Bedingung fur die Kanzlerwahl zu machen, sei sein größter Misserfolg als Politiker gewesen.1907 Während Union und FDP über den Koalitionsvertrag verhandelten, spitzte sich die Lage in den neuen Bundesländern zu. Am 20. und 21 Dezember 1990 tagte in München die Konferenz der Ministerpräsidenten unter dem Vorsitz von Gerhard Schröder. Thema war die Aufstockung des Fonds Deutsche Einheit. Die Länder forderten eine Klärung der unklaren finanziellen Beziehungen zwischen dem Bund und den Ländern. Nach Berechnung der Länderfinanzminister reichte die Summe von 115 Mrd. D-Mark zur Sanierung der ostdeutschen Bundesländer nicht aus und am 18. Januar 1991 warnte Biedenkopf vor der drohenden Zahlungsunfähigkeit der neuen Bundesländer. Er erklärte: „Die Landesregierungen im Osten befinden sich in einer verzweifelten Lage." 1908 Biedenkopf erklärte die ostdeutschen Länder würden in „wenigen Monaten Zahlungsunfähig sein." Voraussichtlich würden sich die neuen Bundesländer 1991 um 50 Mrd. D-Mark verschulden müssen, bei direkten Steuereinnahmen von voraussichtlich nicht mehr als 15 Mrd. D-Mark. Neben dem Fehlen eigener Steuereinnahmen war für die Einnahmeschwäche der neuen Bundesländer verantwordich, dass die westdeutschen Bundesländer durchgesetzt hatten, dass die ostdeutschen Länder nur 55 Prozent der ihnen nach der alten Regelung zustehenden Mehrwertsteuereinnahmen erhielten.1909 Sachsens Finanzminister Milbradt sekundierte seinem Ministerpräsidenten: „Wir sind haushaltswirtschaftlich am Ende." Am 22. Dezember 1990 hatte das Wirtschaftsministerium entschieden, dass die Subventionen in den neuen Ländern fur Miete, Energie und Verkehr weiter gezahlt werden sollten, aber Waigel lehnte die Übernahme der finanziellen Lasten durch den Haushalt ab, sodass die Haushalte der neuen Bundesländer erheblich Wirtschaftswoche, Nr. 51/63, 2 1 . Dezember 1990, S. 14ff. Bild, 1 9 . 1 2 . 1 9 9 0 , S. 1. 1 9 0 5 Wirtschaftswoche, Nr. 51/63, 2 1 . Dezember 1990, S. 14 ff. 1906 Wirtschaftswoche, Nr. 3/45, 11. Januar 1991, S. I6ff. Bedingung fiir die Kanzlerwahl sei die Einigung über den Subventionsabbau. Er unterstrich: „Noch nie war der finanzpolitische Druck so groß wie heute. Deshalb muß die Chance genutzt werden." Es dürfe keinen Bereich geben, der vom Subventionsabbau ausgenommen werden dürfe. Die Regierung habe sich bereits auf Einsparungen bei der Zonenrandforderung, im Verteidigungsbereich, der Berlinförderung und bei Großforschungsprojekten geeinigt. 1 9 0 7 Der Spiegel, Nr. 25/45, 17. Juni 1 9 9 1 , S. 21 ff. 1 9 0 8 Archiv der Gegenwart, S. 3 5 2 7 4 f. 1 9 0 9 Der Spiegel, Nr. 5/45, 28. Januar 1991, S. 98 ff.

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401 belastet würden. Hunderte sächsischer Bürgermeister demonstrierten vor dem Landtag in Dresden, um auf die Pleite der Kommunen aufmerksam zu machen. Die Kommunen hatten einen Schuldenstand von 35 Mrd. D-Mark übernommen. Biedenkopf forderte: „Der Bund muß diese Schulden übernehmen; bis das geklärt ist, bekommen die Gemeinden keine Kredite von den Banken." 1 9 1 0 Es führte kein Weg daran vorbei einzugestehen, dass das Wahlversprechen die Steuern nicht zu erhöhen sich nicht einhalten ließ. Der Versuch sich wenigstens formal an das Wahlversprechen zu halten, indem statt der Steuern die Abgaben für Autofahrer und Telekommunikation erhöht wurden, war gescheitert. Das Streichen von Subventionen allein würde nicht ausreichen, um mit der Herausforderung fertig zu werden, deren Ausmaß sich nun nicht mehr mit Verweis auf ein neues deutsches Wirtschaftswunder wegdiskutieren ließ. Die internationale Großwetterlage schien einen argumentativen Ausweg zu bieten. Die USA hatten die G 7-Konferenz am 20/21. Januar 1991 zu einer „Sammelaktion" fiir den Golfkrieg umfunktioniert. 1911 Nach seiner Zusage von 5,5 Mrd. Dollar fiir die Kriegsparteien erklärte Kohl für eine bestimmte Dauer würden „die Einnahmen erhöht" und Lambsdorff räumte ein: „Wenn die Amerikaner (...) einen Kostenbeitrag zum Golfkrieg verlangen, dann können wir uns das Geld nicht aus Rippen schneiden, dann müssen die Steuern erhöht werden." 1912 Am 18. Februar 1991 gab die FDP ihren Widerstand gegen Steuererhöhungen auf und Lambsdorff schrieb einen acht Seiten langen Brief an die Führungskräfte seiner Partei, um den Schritt zu rechtfertigen. 1913 Als Lambsdorff am 21. Februar 1991 vor den Bundestag trat, erklärte er, ihm falle die Rede schwer. Es widerspreche seiner ganzen ökonomischen Grundüberzeugung mit Steuererhöhungen zu reagieren, aber er halte es auch für grundfalsch die Defizite weiter auszudehnen. 1914 Im Finanzministerium wurden im Februar 1991 Vorschläge zur Erhöhung der Steuern erarbeitet, Waigel wollte jedoch vorerst die Steuereingänge in Ostdeutschland im März abwarten. Solms lehnte die Erhöhung der Einkommensteuer ab, befürwortete jedoch eine Erhöhung der Mineralölsteuer. Lambsdorff hatte zwar Steuererhöhungen fiir den Golfkrieg zu gestimmt, weigerte sich aber vorerst Steuererhöhungen zur Finanzierung der Einheit zu akzeptieren. Auf dem Stuttgarter Dreikönigstreffen erklärte Lambsdorff, die aus der Einheit resultierenden Defizite „dürfen nicht durch Steuererhöhungen finanziert werden. Das würde unsere Wirtschaft nicht stärken sondern schwächen." 1915 In der C D U / C S U fürchtete man das Wort von der „Steuerlüge" werde die Partei in den kommenden Wahlkämpfen begleiten und die Stimmung im Kabinett wurde als „beklommen" beschrieben, weil das negative Presseecho alle Erwartungen übertroffen hatte 1916 . So hatte etwa die BILD-Zeitung nach der Bekanntmachung der Entscheidung mit dem Titel aufgemacht: „Die Steuerlüge: Der Umfaller" und zeigte einen auf dem Rücken liegenden Kohl quer auf der Titelseite. Im ersten Satz des Artikels hieß es lapi1910 1911 1912 1913 1914 1915 1916

Die Zeit, Nr. 6/46, 1. Februar 1991, S. 28. Die Zeit, Nr. 5/46, 25. Januar 1991, S. 24. Die Zeit, Nr. 6/46, 1. Februar 1991, S. 25. Der Spiegel, Nr. 10/45, 4. März 1991, S. 18ff. Verhandlungen, Band 155, S. 352. Wirtschaftswoche, Nr. 10/45, 1. Mäiz 1991, S. 16ff. Der Spiegel, Nr. 10/45, 4. März 1991, S. 18ff.

402 dar: „Bundeskanzler Helmut Kohl hat sein Wort gebrochen." 1917 Finanzminister Waigel lehnte ab, öffendich Fehler einzugestehen und verfolgte die Strategie, die Steuererhöhung aus jedem Zusammenhang mit der Wiedervereinigung zu lösen und nur als Folge der internationalen Entwicklungen darzustellen. In seiner Regierungserklärung zur Finanzpolitik erklärte er: „Jedermann muß wissen, dass wir unsere internationalen Verpflichtungen nur erfüllen können und uns damit treu bleiben, wenn wir den Kapitalmarkt nicht weiter in Anspruch nehmen. Für diesen Zweck ist eine stärkere Erhöhung der Steuern unumgänglich." 1918 In der ersten Haushaltsrede nach der Wiedervereinigung rechnete Waigel dem Parlament und einer extrem emotionalisierten und angriffslustigen Opposition vor, die Summe aus den Zahlungen für den Golfkrieg und die Hilfe für Osteuropa belaufe sich in diesem Jahr auf 17,7 Mrd. D-Mark. Dies entspreche genau der Summe der zusätzlichen Steuereinnahmen aus dem Solidaritätszuschlag, der deshalb auch zum 1. Juli 1992 wieder abgeschafft werde. Dieser werde für die neuen Länder verwendet, weil der Golfkriegsbeitrag den Spielraum für die Wiedervereinigung belegt habe. Die Anhebung der Verbrauchssteuern und der Mehrwertsteuer sei hingegen auf Dauer angelegt, um der gestiegenen internationalen Verantwortung gerecht zu werden und um die „Gefahr gewaltiger Flüchtlingsströme und politische Unruhen" zu bannen. 1 9 1 9 Am 18. März 1991 erklärte Waigel in einem Interview: „Ich bleibe dabei: Ohne die Ausgaben für den Golf 1990 und 1991 und vor allem die Ausgaben, die durch Mittel- und Osteuropa auf uns zugekommen sind, hätten wir die Steuern 1991 nicht erhöhen müssen." 1 9 2 0 Die SPDFinanzpolitikerin Matthäus-Maier rechnete genüsslich Einnahmen und Ausgaben gegeneinander auf: „Wer für einmalige 11,5 Mrd. D-Mark Kosten für den Golfkrieg in diesem Jahr und Steuer und Abgabenerhöhungen in Höhe von 33 Mrd. D-Mark in diesem Jahr und den Folgejahren vorsieht, will doch wohl die Wähler für dumm verkaufen, wenn er sich hinter dem Golfkrieg versteckt." 1921 Kohl nahm im April 1991 zum Vorwurf der Steuerlüge in einem Interview Stellung und gestand eine persönliche Fehleinschätzung der Situation ein: „Ich war davon überzeugt, dass wir das ohne Steuererhöhung hinbekommen würden. Es gab zwei Gründe dafür, dass es dann anders kam." Der eine Grund, den Kohl nannte, war die Kostendimension des Golfkrieges, der andere Grund war der Zusammenbruch des Osthandels: „Wir haben im Jahr 1990 im Osthandel der neuen Bundesländer noch 36 Mrd. D-Mark erwirtschaftet. Experten rechneten zwar schon im Herbst mit einem spürbaren Rückgang, aber einen vollständigen Zusammenbruch konnte niemand voraussehen." Da er davon überzeugt sei, dass der wirtschaftliche Erfolg der letzten Jahre auf die Steuersenkungen zurückzuführen sei, sei es ihm schwer gefallen Steuererhöhungen zuzustimmen. 1922 Die finanziellen Kraftanstrengungen der nächsten Jahre, verbunden mit einem Transfer von jährlich über 100 Milliarden D-Mark von West nach Ost machten es schließlich

1917 1918 1919 1920 1921 1922

Bild, 27.2.1991, S. 1. Verhandlungen, Band 155, S. 340ff. Verhandlungen, Band 155, S. 645ff. Der Spiegel, Nr. 12/45, 18. März 1991, S. 24ff. Verhandlungen, Band 156, S. 1666. Die Zeit, Nr. 17/46, 19. April 1991, S. 27.

403 unmöglich die Steuerbelastungen auf Einzelfaktoren wie den Golfkrieg oder darauf, dass der Osthandel schneller zurückging, als erwartet, zurückzufuhren. Vier Jahre später, als die schwierige Übergangszeit abgeschlossen war, gab es niemanden mehr der an dieser Argumentation festhielt - auch Waigel nicht. Am 31. März 1995 erklärte Waigel vor dem Deutschen Bundestag mit großer Selbstverständlichkeit: „Natürlich hat die Einheit Deutschlands auch zu Steuererhöhungen geführt. Sie waren unvermeidbar, um neben den deudichen Einsparungen und der maßvollen Erhöhung der Defizite im Bundeshaushalt einen ausgewogenen Finanzierungsmix herzustellen." 1923

Zusammenfassung: Die Steuerpolitik und die Wiedervereinigung Die Mehrheit der Westdeutschen begrüßte die Wende in Ostdeutschland und die Wiedervereinigung, fürchtete aber die damit verbundenen Belastungen. Der Spitzenkandidat der SPD Oskar Lafontaine wollte diese Ängste schüren, um damit seine Position fxir die Bundestagswahl zu verbessern. Die Regierung fürchtete deshalb eine Diskussion über die Lasten der Wiedervereinigung und sah in dem Ausgang der Wahlen in NRW und Niedersachsen — zu Recht oder zu Unrecht — einen Hinweis darauf, dass Lafontaines Strategie aufgehen könnte. Deshalb konzentrierte sich Kohl darauf Optimismus zu verbreiten und Finanzminister Waigel schloss Steuererhöhungen kategorisch aus. Sie setzten auf das Argument die Einheit werde sich durch den kommenden Aufschwung in den neuen Bundesländern selbst finanzieren. Angesichts der Entwicklung in den neuen Bundsländern, die sich schon ab dem Sommer 1990 abzeichnete und der ungeklärten Finanzlage der neuen Bundesländer ist es nicht wahrscheinlich, dass Kohl und Waigel an dieses Bild selbst geglaubt haben, besonders da es angesichts der kommenden Wahl nahe lag das Bild positiv zu überzeichnen. Noch während der Koalitionsverhandlungen kamen die Schwierigkeiten zum Vorschein. Die Idee ersatzweise statt Steuererhöhungen zusätzliche Mittel über Abgaben in anderen Bereichen als der direkten Steuern aufzubringen scheiterte. Die Finanzierung der Gebietskörperschaften in den neuen Bundesländern war nicht länger gewährleistet. Die Idee der FDP durch die Schaffung eines Niedrigsteuergebietes den Aufschwung in den neuen Ländern zu befördern ging schon in den Koalitionsverhandlungen unter. Unter diesen Umständen waren die finanziellen Forderungen der USA zur Finanzierung ein willkommener Anlass, um den Bruch des Wahlversprechens zu bemänteln. Diese Situation ist vergleichbar mit der sogenannten „Rentenlüge" der Regierung Schmidt im Wahljahr 1976. Auch in diesem Fall zeichneten sich, die steigenden Kosten schon lange vor der Wahl ab und auch in diesem Fall wurde die Aufklärung über die unangenehmen Konsequenzen auf die Zeit nach der Wahl verschoben. Auch 1976/77 kam nach der Wahl das böse Erwachen und musste die Bundesregierung mit der öffentlichen Empörung fertig werden.

1923

Verhandlungen, Band 178, S. 2472.

404

Die Finanzierung der Einheit 1990-1992 Schon im Sommer 1990 hatte der SPIEGEL vorausgesagt: „Das neue Deutschland wird ein Subventionsland ohne Beispiel"1924 Der Staatsvertrag und der Einigungsvertrag hatten die langfristige Finanzierung der deutschen Einheit offen gelassen. Die westdeutschen Bundesländer hatten sich vehement gegen die volle Einbeziehung der neuen Bundesländer in den Länderfinanzausgleich gewehrt. Der Grund dafür war, dass sich die Verteilung der Gelder danach richtete wie die Länder im Vergleich zueinander standen. Die relativ reichen Länder mussten fur die relativ armen Länder zahlen. Im Vergleich zu den neuen Bundesländern waren die alten Nettoempfänger „reich." Die westdeutschen Länder, die bislang vom Länderfinanzausgleich profitierten, hätten bei einer Ausweitung des Systems des Länderfinanzausgleichs auf die neuen Bundesländern, auf das Geld verzichten müssen. Denn bei einer Einbeziehung der neuen Länder in den Finanzausgleich wären in Zukunft alle Gelder nach Ostdeutschland geflossen, da diese weit unter dem Niveau der bisherigen Nettoempfänger lagen. Der SPD-Finanzminister von NRW Heinz Schleußer begründete seine ablehnende Haltung deshalb mit der Feststellung, der Finanzausgleich funktioniere nur, „wenn die Differenz zwischen dem Land mit der stärksten und der schwächsten Wirtschaftskraft relativ klein ist."192-' Da die Länder sich gegen die Finanzierung über den Finanzausgleich wehrten, sie aber die finanzielle Last nicht allein dem Bund aufbürden konnten, wurde nach anderen Wegen zur Finanzierung des Aufbaus in den Neuen Bundesländern gesucht, an denen auch die Länder beteiligt werden konnten. Die niedersächsische Finanzministerin Birgit Breuel machte den Vorschlag, die Einheit durch ein Fonds-Modell zu finanzieren. Sie schlug vor, der Bund solle alle Einsparungen, die durch das Ende der Teilung anfielen in diesen Fonds einzahlen und für das Jahr 1990 den überplanmäßigen Bundesbankgewinn. Die Kosten, die darüber hinaus entstehen würden, könnten Bund, Länder und Gemeinden entsprechend ihrer Finanzkraft aufteilen. 1926 Die Finanzierung der Einheit über Fonds erwies sich zwischen Bund und Ländern als konsensfähig, weil die genaue Klärung der Beteiligung auf einen späteren Zeitpunkt verschoben werden konnte. Die Länder leiteten aus der Einigung über den Fonds Deutsche Einheit ab, dass sie ihren Teil der Verpflichtungen erfüllt hätten und weiteres Entgegenkommen nicht zumutbar wäre. Streitpunkt war, ob die Zahlungen von 47,5 Mrd. D-Mark für den Fonds die westdeutschen Länder auch von der Abtretung von Teilen der Mehrwertsteuereinnahmen befreiten. Die Mehrwertsteuereinnahmen umfassten 1990 155, 8 Mrd. D-Mark, was 25 Prozent des gesamten Steueraufkommens entsprach. Der Verteilungsschlüsse bestimmte 65 Prozent fur den Bund und 35 Prozent für die Länder. Die westdeutschen Länder lehnten die gleichberechtigte Einbeziehung der neuen Bundesländer in die Mehrwertsteueraufteilung ab. Der baden-württembergische Finanzminister schrieb an Wolfgang Schäuble: „Ich halte diese weitere Beteiligung der Länder an den Kosten der Einheit we-

1924 1925 1926

Der Spiegel, Nr. 35/44, 27. August 1990, S. 94 ff. Wirtschaftswoche, Nr. 39/45, 20. September 1991, S. 26 f. Wirtschaftswoche, Nr. 20/44, 11. Mai 1990, S. 38 f.

405 der mit den Absprachen der Regierungschefs des Bundes und der Länder vom 16. Mai 1990 zur Finanzierung der Kosten der deutschen Einheit noch mit dem Gesetz zu dem Vertrag vom 18. Mai 1990 über die Schaffung einer Wahrungs-, Wirtschafts- und Sozialunion fiir vereinbar." 1927 Der erste Kompromissvorschlag zur Mehrwertsteueraufteilung sah vor, die neuen Bundesländer pro Kopf der Bevölkerung mit sechzig Prozent zu beteiligen und ihren Anteil dann jährlich um 10 Prozent zu erhöhen. Weder die westdeutschen Bundesländer noch die D D R wollten sich mit diesem Vorschlag anfreunden. Das Zwischenergebnis war schwammig: „Für die bisherigen Länder der Bundesrepublik und die Länder im beigetretenen Teil Deutschlands sind jeweils gesonderte Verteilungsmassen zu bilden, deren Höhe nach makroökonomischen Kriterien bemessen wird." Schließlich löste Waigel das Problem, indem er die Anpassungssätze für den Umsatzsteueranteil der neuen Bundesländer bis einschließlich 1994 noch weiter senkte und fiir den Ausfall von fünf Milliarden D-Mark mit dem Bundeshaushalt einsprang. Schäuble rechtfertigte die Inkaufnahme der Unterfinanzierung der ostdeutschen Länder mit der Feststellung, dass „andere Vereinbarungen als die im Einigungsvertrag erzielten zum damaligen Zeitpunkt keine Chance einer mehrheidichen Zustimmung im Deutschen Bundesrat gehabt hätten." 1 9 2 8 Diese „Unterfinanzierung" konnte man durchaus auch als handfeste Diskriminierung sehen, weil sie darauf angelegt war, den Sonderstatus der neuen Länder innerhalb des wiedervereinigten Deutschlands fiir einen längeren Zeitraum festzuschreiben. 1991 sollten die neuen Bundesländer nur 55 Prozent des Umsatzsteueranteils der Länder pro Einwohner erhalten und bis 1994 sollte ihr Anteil auf lediglich siebzig Prozent erhöht werden. 1929 Erst unter dem düsteren Eindruck der Finanzkrise der neuen Länder wurde im Februar 1991 von Bund und Ländern ihre volle Einbeziehung in die Umsatzsteuerverteilung beschlossen. 1930 Als die Schwierigkeiten der ostdeutschen Gebietskörperschaften immer drängender wurden, kündigte die Bundesregierung am 12. Februar 1991 ein Sofortprogramm zur Unterstützung der neuen Bundesländer an. Die Regierung stellten den ostdeutschen Kommunen 5 Mrd. D-Mark als kurzfristige Liquiditätshilfe in Aussicht, die Ausgaben zur Entsendung qualifizierter Mitarbeiter sollten von 50 Millionen auf 100 Millionen angehoben und die Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen intensiviert werden. 1931 Da die Regierung Schwierigkeiten hatte, sich von der Fiktion zu lösen, die Steuererhöhungen seien nur durch den Golfkrieg bedingt, einigte man sich im Kabinettsbeschluss auf die Formulierung, die Steuern müssten erhöht werden wegen „des Golfkrieges und der Entwicklung in Europa" (...) „wodurch auch Spielräume fiir zusätzliche Ausgaben in den neuen Bundesländern geschaffen werden." Kohl, Waigel und Lambsdorff diskutieren drei Stunden lang über die Steuererhöhungen. Auf die Erhöhung der Mineralölsteuer hatte man sich schnell geeinigt. Waigel sprach sich auch fiir eine höhere Mehrwertsteuer aus,

1927 1928 1929 1930 1931

Wolfgang Schäuble, Der Vertrag, S. 180. Wolfgang Schäuble, Der Vertrag, S. 184. Ritter, Preis der Einheit, S. 356. Ritter, Preis der Einheit, S. 356. Archiv der Gegenwart, S. 35492.

406 konnte sich aber nicht durchsetzen. Stattdessen einigte sich die Koalition auf eine Ergänzungsabgabe auf die Einkommenssteuer, die auf ein Jahr befristet werden sollte. 1 9 3 2 Am 26. Februar stimmten die Koalitionsfraktionen den Steuererhöhungen zu, die am 1. Juli 1991 wirksam werden sollten. Die Hälfte der zusätzlichen Einnahmen sollten durch einen Zuschlag von 7,5 Prozent auf die Lohn- und Einkommensteuer, der den Namen Solidaritätszuschlag erhielt, aufgebracht werden. Die Kostensteigerung der Erhöhung der Mineralölsteuer wurde durch die Erhöhung der Kilometerpauschale begrenzt. 1933 Am 8. März 1991 beschloss das Kabinett die Steuererhöhungen, den Jahreswirtschaftsbericht und das „Gemeinschaftswerk Aufschwung Ost." Dieses Gemeinschaftswerk umfasste zusätzlich 12 Mrd. D-Mark fur die neuen Bundesländer. Diese Mehrausgaben sollten durch die Mehreinnahmen aus den Steuererhöhungen, die mit 18 Mrd. D-Mark veranschlagt waren, gedeckt werden. Neben den Steuererhöhungen versuchte der Bund seine Ausgaben durch Einsparungen zu begrenzen. Nach Angaben der Bundesregierung waren Steuervergünstigungen und Sonderregelungen von 13,5 Mrd. D-Mark abgebaut worden. 1934 Von den 12 Mrd. D-Mark, die die neuen Ländern im Rahmen des Gemeinschaftswerks erhielten, sollten die ostdeutschen Gemeinden fur die Sanierung von Schulen, Altenheimen und Krankenhäusern fünf Milliarden D-Mark erhalten. Die übrigen sieben Mrd. D-Mark wurden für Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und zur Belebung der Wirtschaft aufgewendet. Außerdem sollten zusätzlich fünf Mrd. D-Mark aus dem Fonds Deutsche Einheit in den Osten fließen, so dass insgesamt 17 Mrd. D-Mark zusätzlich fur den Aufbau in den neuen Ländern zur Verfugung stand. Zusammen mit den ohnehin vorgesehenen 50 Mrd. D-Mark ergab sich also die gewaltige Summe von 67 Mrd. D-Mark fiir den .Aufbau Ost". 1 9 3 5 In Ostdeutschland schlugen derweil die Emotionen hoch. Die Enttäuschung über dem ausgebliebenen Aufschwung endud sich in Protest. Im März 1991 wurde eine Neuauflage der Montagsdemonstrationen mit zehntausenden von Teilnehmern in Leipzig initiiert. Unter den Demonstranten waren Vertreter der evangelischen Kirche und der SPD-Vorsitzende Hans-Jochen-Vogel. Die Demonstranten trugen Transparente mit der Forderung .Aufschwung jetzt!", „Gebt uns endlich Arbeit" und „Lieber Kohl los als arbeitslos." 1936 Nachdem Kohl die Chemieregion bei Bitterfeld besucht hatte, wurde er am 10. Mai 1991 in Halle mit Eiern, Tomaten und Farbbeuteln beworfen. Unter den Randalierer befand sich auch der Vorsitzende der Jungsozialisten in Halle, der die Partei im Anschluss verließ, aber auf Anraten von Gerhard Schröder später wieder in die SPD zurückkehrte. Die Sozialdemokraten lehnten es ab, sich für den Vorfall zu entschuldigen und die stellvertretende SPD-Vorsitzende Däubler-Gmelin erklärte, dass sie solche Aktionen zwar ablehne, aber den Ärger der Menschen in Ostdeutschland verstehen könnte. 1 9 3 7

Der Spiegel, Nr. 9/45, 25. Februar 1991, S. 18ff. 1933 Aj-chiv d e r Gegenwart, S. 35496. 1934 Archiv der Gegenwart, S. 35496. 1 9 3 5 Wirtschaftswoche, Nr. 11/45, 8. Märe 1991, S. 29. 1 9 3 6 Bild, 26.3.1991, S. l.f. 1937 Archiv der Gegenwart, S. 35697. 1932

407 Die unpopuläre Steuerpolitik, verbunden mit dem Vorwurf der Steuerlüge und der Krise in Ostdeutschland schadete der Popularität der Regierung erheblich und trug zu einer Serie von Wahlniederlagen in den Bundesländern bei. Am 21. April 1991 musste die C D U in Rheinland-Pfalz eine bittere Wahlniederlage hinnehmen. Die Union erhielt nur noch 38.7 Prozent und die SPD statdiche 44,8 Prozent, die FDP 6,9 Prozent und die Grünen 6,4 Prozent. 1938 Nach der Wahl in Rheinland-Pfalz titelte die Bildzeitung, gedruckt in einem dicken schwarzen Balken: „Die CDU-Katastrophe" 1 9 3 9 und am nächsten Tag „Die C D U — tiefer geht's nimmer." 1 9 4 0 Pünktlich zur Einfuhrung des Solidaritätszuschlages am 1. Juli 1991 hieß es in BILD unter der Überschrift „Der Lohn-Schock", der „kleine Mann ist wieder der Dumme", die BILD-Zeitung ließ verschiedene Bezieher mittlerer und kleinerer Einkommen zu Worte kommen, die beteuerten, dass sie mit diesen Abzügen nicht über die Runden kommen könnten: „Viele sind verzweifelt." 1 9 4 1 Nach Berechnungen würde der durchschnittliche Arbeitnehmer mit zwei Kindern durch die Steuer- und Abgabenerhöhungen im Jahr mit 1000 D-Mark belastet, der durchschnitdiche ledige Arbeitnehmer mit 1300 D-Mark. 1 9 4 2 Zu Beginn des Jah res 1992 erklärten 78 Prozent der Westdeutschen nach einer Infas-Umfrage: „die Grenze der Belastbarkeit ist fur mich persönlich erreicht." 1943 Im darauf folgenden Jahr setzte sich die Serie der Wahlniederlagen in den Bundesländern fort. Am 5. April 1992 musste die C D U hohe Stimmenverluste bei den Wahlen in Baden-Württemberg hinnehmen. Sie erhielt nur 39,6 Prozent, die SPD 29,4 Prozent, die Republikaner erhielten 10,9 Prozent, die Grünen 9,5 Prozent. Bei der Wahl in SchleswigHolstein erreichte die SPD, auch in Folge der Barschel-Affäre 46,2 Prozent, die C D U 33.8 Prozent, die D V U 6,3 Prozent, die FDP 5,6 Prozent und die Grünen 4,97 Prozent. 1 9 4 4 Diese Ergebnisse verschoben die Macht im Bundesrat noch weiter zu Gunsten der oppositionellen Sozialdemokraten. Die kommentierte: „Ohne Mithilfe der SPD, das weiß auch der Bundeskanzler, kann Helmut Kohl sein Mammutprogramm fur die nächsten 18 wahlkampffreien Monate nicht umsetzen." 1 9 4 ' Die Bundesregierung wollte den unpopulären Solidaritätszuschlag möglichst bald durch eine Mehrwertsteuererhöhung ersetzen und war für diese Maßnahme auf die Zustimmung des Bundesrates angewiesen. Der Finanzminister rechtfertigte die Mehrwertsteuererhöhung mit der Finanzierung der Europäischen Gemeinschaft. Die EG-Finanzminister hatten einen Mindeststeuersatz bei der Mehrwertsteuer von 15 Prozent beschlossen. 1946 Ab November 1991 schwelte darüber der Steuerstreit zwischen der Regierung und der Opposition. Lafontaine und Engholm wollten die Regierung im Bundesrat auflaufen lassen. Die Ländermehrheit der SPD war jedoch alles andere als ein geeinter politischer 1938 Archiv der Gegenwart, S. 35556. 1 9 3 9 Bild, 22.4.1991, S. 1. 1 9 4 0 Bild, 23.4.1991, S. 2. 1 9 4 1 Bild, 31.7.1991, S. 1,6. 1 9 4 2 Der Spiegel, Nr. 27/45, 1. Juli 1991, S. 21 ff 1 9 4 3 Der Spiegel, Nr. 9/46, 24. Februar 1992, S. 110. 1944 Archiv der Gegenwart, S. 36646. 1 9 4 5 Wirtschaftswoche, Nr. 21/46, 15. Mai 1992, S. 18ff. 1 9 4 6 Die Zeit, Nr. 8/47, 14. Februar 1992, S. 26.

408 Block. In Berlin regierte eine große Koalition, Schröder lehnte jede Fesdegung auf eine Strategie im Bundesrat ab und Stolpe galt als „unsicherer Kantonist". Stolpe befand sich in einer besonders schwierigen Situation, da der Bund die Einnahmen aus der Mehrwertsteuererhöhung dem Osten zukommen lassen wollte. Waigel war bereit den Ländern bei der Verteilung der Mehrwertsteuer und dem Familienlastenausgleich entgegen zu kommen. 1 9 4 7 Der Bundesfinanzminister hatte den Ländern am 6. Februar 1992 zugesagt, ihren Anteil an der Mehrwertsteuer von 35 auf 37 Prozent zu erhöhen, um die Mehrwertsteuererhöhung auch fiir die sozialdemokratisch regierten Länder attraktiv zu machen. Lafontaine vertrat die SPD im Vermittlungsausschuss. Er bezeichnete die Erhöhung der Mehrwertsteuer als unsozial und das familienpolitische Konzept der Bundesregierung als familienpolitische Katastrophe. Einige Länder, die von der SPD regiert wurden, forderten die Erhöhung des Kindergeldes von 50 D-Mark auf 100 D-Mark und eine Aufstockung des Fonds Deutsche Einheit, was Waigel als unseriös bezeichnete. 1948 Lafontaine und Engholm wollten die sozialdemokratischen Länder von einer geschlossenen Ablehnung der Vorlage überzeugen. Brandenburg signalisierte jedoch schon mehrere Wochen vor der Abstimmung Kompromissbereitschaft. Stolpe kam als dem einzigen ostdeutschen SPD-Ministerpräsidenten eine Schlüsselstellung zu, weil die klammen ostdeutschen Haushalte dringend auf die Einnahmen aus der Mehrwertsteuer angewiesen waren. Ein Verzicht auf die Mehreinnahmen hätte Stolpes Glaubwürdigkeit im Osten erheblich geschadet und den Vorwurf eingebracht, Partei- über Länderinteressen zu stellen. Schäuble betonte daher im Bundestag am 13. Februar 1992, Stolpe und seine Kollegen aus den neuen Ländern könnte die Beschlüsse zur Mehrwertsteuer und Familienfbrderung „nicht ernsthaft ablehnen wollen." 1949 Peter Struck behauptete im Namen der Sozialdemokraten, es sei der Regierung nicht gelungen einzelne Länder „einzukaufen". Und warf der Regierung im Bundestag versuchte Erpressung der neuen Länder vor. Die Finanzhilfen würden als Druckmittel verwendet und die Familien in „Geisel-Haft" genommen. 1 9 5 0 Doch schon am nächsten Tag zeigte sich, dass das Angebot der Bundesregierung fiir Stolpe größere Überzeugungskraft besaß als der moralische Druck, den seine Partei auf ihn ausübte. Vor der entscheidenden Abstimmung im Bundesrat traf sich Waigel mit Stolpe und sagte ihm eine finanzielle Aufstockung des Familienlastenausgleichs zu. Dieses Entgegenkommen sollte Stolpe helfen, auch gegenüber den westdeutschen Genossen das Gesicht zu wahren. Daraufhin schloss sich auch die große Koalition in Berlin dem Votum von Brandenburg an. Bei der Abstimmung über die Mehrwertsteuer am 14. Februar 1992 stimmten beide Bundesländer der Vorlage zu. Der Versuch der SPD im Bundesrat eine einheidiche Front aufzubauen war kläglich gescheitert. Engholm und Lafontaine kritisierten Stolpes Haltung als schädlich fiir die Glaubwürdigkeit der SPD. 1 9 5 1 Nüchtern betrachtet blieb Stolpe jedoch kaum eine Wahl als der Neuregelung zu zustimmen, da das Steuerpaket fast vollständig den neuen Bundesländern zu Gute kam, denen wegen finanziell das Wasser bis Der Spiegel, Nr. 6/46, 3. Februar 1992, S. 27 ff. Archiv der Gegenwart, S. 36492. 1949 Verhandlungen, Band 160, S. 6278. 1 9 5 0 Verhandlungen, Band 160, S. 6278 ff. 1 9 5 1 Archiv der Gegenwart, S. 3692 f.

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409 zum Hals stand. Das Kindergeld wurde mit der Verabschiedung des Steueränderungsgesetzes der Bundesregierung von 50 auf 70 D-Mark, der Kinderfreibetrag von 3024 auf 4104 D-Mark und der Kindergeldzuschlag auf 65 D-Mark erhöht. Die Einnahmen des Bundes aus der Erhöhung der Mehrwertsteuer um ein Prozent dienten der Aufstockung des Fonds Deutsche Einheit. Der Anteil der Länder an den Mehrwertsteuereinnahmen erhöhte sich mit der Neuregelung auf 37 Prozent, also um 4,4 Mrd. D-Mark. Die Strukturhilfe fur die Wesdänder von 2,2 Mrd. D-Mark wurde nur noch einmal als Abschlusszahlung von 1,5 Mrd. D-Mark abgeführt werden. Diese Ländersubvention, die 1988 von Ernst Albrecht im Gegenzug fur die Zustimmung zur Steuerreform erzwungen worden war, wurde aber nicht abgeschafft, sondern umgeleitet. Die Mittel aus der Strukturhilfe wurden auf 5,9 Mrd. D-Mark aufgestockt und sollten den neuen Bundesländern zu Gute kommen. Die Freibeträge der Gewerbesteuer und der betrieblichen Vermögenssteuer wurden angehoben. 1 9 5 2

Der Solidarpakt 1992/1993 Genscher sah bei seinem Rücktritt im Mai die Perspektiven der Koalition durchaus kritisch: „Diese Regierung wird nur überleben, wenn sie bis zum Sommer die Finanzprobleme in den Griff bekommt." 1 9 5 3 Die Regierung überstand die Krise und ihr gelang es die Finanztransfers in die neuen Bundesländer in mehr oder weniger geordneten Bahnen zu lenken. Dies geschah durch einen politischen Kraftakt, bei dessen Bewältigung der Bundeskanzler die entscheidende Rolle spielte. Diesem Kraftakt ging eine Monate lange zähe und unerquickliche Debatte voraus, die ihren Ausgangspunkt im Sommertheater 1992 nahm. Anfang Juni 1992 beschloss die Koalitionsfraktionen, dass die Koalition sich erst nach der Sommerpause mit der Steuerpolitik auseinander setzen sollte. Erst dann sollte ein Thesenpapier zum Länderfinanzhaushalt und die Eckwerte fur die Unternehmenssteuerreform vorgelegt werden. Die Steuerdebatte geriet der Bundesregierung jedoch außer Kontrolle und beherrschte das Sommertheater bis weit in den Herbst hinein. Dreh- und Angelpunkt der Diskussion war die „soziale Schieflage" bei der Finanzierung der Einheit. Den Auftakt machte Heribert Scharrenboich, ein Vertreter des Arbeitnehmerflügels. Er forderte eine zehnprozentige Ergänzungsabgabe fiir mitdere und höhere Einkommen. Der Vorsitzende der C D A Ulf Fink setzte sich ebenfalls für eine Investitionshilfeabgabe ein. Friedhelm Ost forderte die Streichung staatlicher Leistungen und der Steuervergünstigungen fur Besserverdienende. Waigels Staatssekretär Faltlhauser bemühte sich erfolglos die Debatte zu beenden. 1954 Waigel selbst nannte Scharrenboichs Äußerung im Bundesvorstand unverschämt und schädlich. Doch auch der Kanzler selbst machte den Fehler, die Steuer- und Abgabendiskussion am Laufen zu halten. Kohl hatte eine Woche vor der Sommerpause die Erhöhung der Mineralölsteuer zur Finanzierung der Bahnreform 1952 Archiv der Gegenwart, 36493. 1 9 5 3 Der Spiegel, Nr. 38/46, 14. September 1992, S. 18ff. 1 9 5 4 Wirtschaftswoche, Nr. 30/46,17. Juli 1992, S. 18f.

410 angekündigt. Im Kabinett wurde derweil die Beseitigung der „Sozialen Asymmetrie" diskutiert und im CDU-Bundesvorstand beanstandete Heiner Geißler die Finanzierung der Einheit über die Sozialversicherungen; bis zum Herbst sollte eine Arbeitsgruppe der Union ein Modell für einen sozialen Ausgleich entwerfen. 1955 Neben der „sozialen Schieflage", die darin bestand, dass durch die Umsetzung der Sozialunion ein Großteil des Transfers von West nach Ost über die Sozialversicherungen vollzogen wurde, beherrschten die Frage wie mehr Investitionen in den neuen Bundesländern erreicht werden und wie die ostdeutschen Länderregierungen genügend Mittel zur Erfüllung ihrer Aufgaben erhalten könnten, die Debatte. Schäuble und Krause setzen sich für eine Investitionslenkung in Form einer Zwangsabgabe ein. 1 9 5 6 Dieser Ansatz wurde von den ostdeutschen Abgeordneten Unterstützt, aber von der FDP in der Koalitionsrunde gestoppt. 1957 In dieser Situation hatte auch der sächsische Finanzminister Milbradt 1958 in Bonn einen „publikumswirksamen" Auftritt. Er erklärte „Wer schnell hilft, hilft doppelt, wer langsam hilft, zahlt doppelt." Milbradt stellte fest: „Schon nach vier Jahren Staatstätigkeit haben wir eine ähnlich hohe Verschuldung wie die Länder im Westen nach 45 Jahren." Er bezifferte die Finanzierungslücke der neuen Bundesländer auf 90 Mrd. D-Mark, davon könnten dreißig Mrd. D-Mark durch den Finanzausgleich gedeckt werden. Weitere 50 Mrd. D-Mark für die nächsten zwei Jahre forderte er vom Bund 1 9 5 9 Sein Ministerpräsident, Kurt Biedenkopf, kritisierte die mangelnde finanzielle Unterstützung und machte eine Rechnung auf, nach der von 92 Mrd. D-Mark, die nach Ostdeutschland überwiesen wurden, 42 Mr. D-Mark als Steuern zurück in den Bundeshaushalt flössen. Von der gesamten Unterstützung fur Ostdeutschland würden, so rechnete Biedenkopf vor, netto nur 23,6 Mrd. D-Mark die ostdeutschen Haushalte direkt erreichen. Biedenkopf erklärte, das sei weniger als der Beitrag für die Europäische Union. 1960 Waigel hatte sich auf der CSU-Klausurtagung im Kloster Banz eindeutig gegen weitere Steuererhöhungen für den Osten ausgesprochen. Somit drohte eine Blockade der Politik, da neue Finanzquellen nicht zu erschließen waren, die Forderungen aus den neuen Bundesländern aber immer drängender wurden. Waigel hielt trotz dieser Lage an seiner Sprachregelung fest, die Steuern fur die neuen Bundesländer nicht zu erhöhen. In dieser Situation übernahm Kohl das Ruder. Der Bundeskanzler übertrug Fraktionschef Schäuble die Aufgabe nach einer Lösung fur den Osten zu suchen. Verkehrsminister Krause, der Schäuble seit den gemeinsamen Verhandlungen zum Einheitsvertrag nahe stand, stellte fur Schäuble eine Liste zusammen, die den Titel „Zehn Punkte für Deutschland" trug. Diese Liste umfasste eine staatliche Investitionsoffensive fur die neuen Bundesländer. Das Papier fand besonders den Beifall der 64 ostdeutschen Abgeordneten, die es zum „Erfurter Programm" aufwerteten. Das Programm sah eine Investitionszulage für BesserDer Spiegel, Nr. 28/46, 6. Juli 1992, S. 18ff. Der Spiegel, Nr. 36/46, 31. August 1992, S. 3 3 f f . 1 9 5 7 Die Zeit, Nr. 38/47, 11. September 1992, S. 38. 1958 Milbradt machte sich im Übrigen durch seine solide Haushaltspolitik um den Freistaat Sachsen verdient. Nur Bayern weist heute eine niedrigere Pro-Kopf-Verschuldung auf. (Karisch, Schäfer: Wirtschaftsgeschichte Sachsens, S. 2 8 1 . 1 9 5 9 Wirtschaftswoche, Nr. 33/46, 7. August 1992, S. 3 0 f. 1 9 6 0 Der Spiegel, Nr. 41/46, 5. Oktober 1992, S. 41 ff. 1955

1956

411 verdienende vor. Kohl begrüßte diesen Ansatz als Entgegenkommen gegenüber den Gewerkschaften, die er zu einem Solidarpakt überreden wollte. Kohl hoffte im Gegenzug die Gewerkschaften zu einer moderaten Lohnpolitik überreden zu können. Am Dienstag den 2. September 1992 empfing Kohl die Fraktionschefs der Union aus allen Bundesländern. Diese zeigten sich unzufrieden mit der politischen und wirtschaftlichen Lage und forderten Kohl auf eine „Brand-Rede" an die Nation zu halten. Am Donnerstag darauf tagte der Bundesvorstand nahe Windhagen. Der Bundesvorstand stimmte der „Investitionsanleihe im Rahmen eines Solidarpaktes mit den Gewerkschaften und den Unternehmen" zu. In der Nacht vom Donnerstag zum Freitag, vom 4. zum 5. September 1992, einigte sich der CDU-Vorstand unter Kohls Vorsitz auf eine Investitionszulage für Existenzgründungen im Osten. Die Finanzierung blieb zu diesem Zeitpunkt noch offen. 1 9 6 1 Hatte die Regierung sich bis dahin noch auf die positive ökonomische Entwicklung im Westen stützten können, so verschärfte der Eintritt in die Rezession die Lage erheblich. Der Konjunktureinbruch im Herbst 1992 traf die Regierung unvorbereitet. Wolfgang Weng von der FDP stellte fest: „Der Konjunktureinbruch hat den Finanzminister überrollt." Unter diesen Gegebenheiten beschloss Kohl vor dem CDU-Parteitag in Düsseldorf am 26-28 Oktober 1992 die Finanzpolitik an sich zu ziehen und wurde zum „Sparkommissar". Kohl erklärte: „Ihr habt Führung gewollt, jetzt habt ihr sie. Ich nehme alles auf meine Kappe." 1 9 6 2 In Kohls Rede auf dem Parteitag bereitete er die Union auf die kommende Aufgabe vor: Die Reformen müssten angepackt werden „Weil ich denke, dies ist die Stunde der Wahrheit." Der CDU-Vorsitzende sprach von „Einnahmeverbesserungen." 1963 Diese Äußerung markierte die Abkehr von der von Waigel verfolgten Linie öffentlich keine Steuererhöhung fur die Wiedervereinigung zu akzeptieren, um seine Glaubwürdigkeit nicht zu gefährden. Denn Waigel fürchtete immer noch den Vorwurf der „Steuerlüge." Der finanzpolitische Sprecher der CSU-Fraktion Kurt Faldhauser bezeichnete das als „blödsinniges Geschwätz über Steuererhöhungen" und Waigel kommentierte Kohls überraschende Erklärung: „Ich halte es für problematisch, wenn man das Pferd vom Schwanz her aufzäumt." 1 9 6 4 Die Ablehnung von Waigel konnte die Neujustierung des Kurses nicht verhindern. Auf dem Parteitag gab Kohl den Kurs für die kommenden Monate vor. 1 9 6 5 Kohl stellte auf dem Düsseldorfer Parteitag ein Fünf-Punkte-Programm vor. Unter Punkt eins versprach Kohl Stabilität in der Haushalts- und Geldpolitik, unter Punkt zwei wiederholte er sein Angebot eines Solidarpaktes zur gerechten Verteilung der Lasten an die Gewerkschaften und alle Gruppen der Gesellschaft. Punkt vier betraf die Verwaltungsund Rechtsvereinfachung, als fünften und letzten Punkt versprach er eine rasche Neuregelung des Bund-Länderfinanzausgleichs. 1966 Kohl kritisierte in seiner Rede darüber

Der Spiegel, Nr. 37/46, 7. September 1992, S. 18ff. Der Spiegel, Nr. 47/46, 16. November 1992, S. 26 ff. 1963 3 Bundesparteitag, Düsseldorf, S. 26 1 9 6 4 Die Zeit, Nr. 45/47, 30. Oktober 1992, S. 25 ff. 1965 Wirtschaftswoche, Nr. 46/46, 6. November 1992, S. 34. Während des Parteitages telefonierte Kohl mit Waigel und sprach mit ihm über die von Kohl angekündigten Steuererhöhungen. 1966 3 Bundesparteitag, Düsseldorf, S. 25. 1961

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412 hinaus das niedrige Renteneintrittsalter, die geringe Wochen- und Jahresarbeitszeit und die hohe Zahl der Feier- und Urlaubstage. 1967 Schäuble fasste in seiner Rede die bevorstehenden Aufgaben zusammen: „Jedenfalls müssen wir die Entscheidungen über den Haushalt 1993, über zusätzliche Mittel fur den Aufbau in den jungen Bundesländern, über deren finanzielle Ausstattung über 1993 hinaus und ihre Einbeziehung in den Bund-Länder-Finanzausgleich ab 1995 sowie über die finanzielle Bewältigung der Altlasten des sozialistischen Systems bündeln und die Tarifund Sozialpartner in die gemeinsame Verantwortung einbeziehen. 1968 In dem auf dem Parteitag verabschiedeten Beschluss „Gemeinsam handeln für Deutschland" hieß es, zwei Jahre nach der Verwirklichung der deutschen Einheit trete die Union dafür ein, frühere Entescheidungen zu überprüfen und notwenige Korrekturen durchzuführen." Der Beschluss stellte fest, dass die Deutschen über ihre Verhältnisse lebten. Das Instrument der Staatsverschuldung stehe nur noch „äußerst begrenzt" zur Verfugung. 1969 Peter Hintze, der auf dem Parteitag zum neuen Generalsekretär gewählt wurde, hatte Kohl zur Ankündigung der Steuererhöhungen geraten und der Bundesvorstand über den Vorschlag entschieden. Dagegen gestimmt hatten Manfred Carstens, der Staatssekretär im Bundesfinanzministerium und Dieter Murmann, der Vorsitzende des Wirtschaftsrates. 1970 Anfang November 1992 trafen sich die Spitzenpolitiker der Koalition im Kanzleramt und Kohl erklärte seine Absicht: „Bis Weihnachten will ich alles vom Tisch haben." Kohl wollte ein Haushaltsstrukturgesetz, um in die gesetzlichen Leistungen eingreifen zu können. Dieses sollte den Titel „Föderales Konsolidierungsprogramm" tragen. Auch das Vorziehen von Steuererhöhungen wurde nicht mehr ausgeschlossen. Biedenkopf zeigte sich positiv überrascht, noch vor einigen Wochen habe er diese Entwicklung für nicht möglich gehalten. Kohl setzte auf die Durchsetzung des Konsolidierungsprogramms im Konsens und vergas in keiner Rede den Begriff „Solidarpakt", um auch Opposition und Tarifparteien an ihre Pflichten zu mahnen. 1971 Die Entwicklung wirtschaftspolitischer Perspektiven fur Ostdeutschland übertrug Kohl nun seinem persönlichen Berater Johannes Ludewig. 1972 Damit hatte Kohl die Wende eingeleitet und quasi über Waigels Kopf hinweg die Weichen der Wirtschaftspolitik gestellt. Ein Mitglied des CDU-Vorstandes wurde zitiert: „Der hat Waigel ausgeschaltet." 1973 Nachdem Kohl gegen den Widerstand von Waigel eine interne Klärung herbeigeführt hatte, mussten die Ansätze der Regierung nun mit der Opposition verhandelt werden. Zwischen Regierung und Opposition war die Frage streitig, ob zur Finanzierung der Konsolidierung vor allem im sozialen Bereich gespart werden sollte, wie das die Regierung wollte, oder die Steuern fur die Besserverdienenden erhöht werden, wie die SPD forder1967 3 Bundesparteitag, Düsseldorf, S. 28. 1968 3 Bundesparteitag, Düsseldorf, S. 48. 1969 3 Bundesparteitag, Düsseldorf, S. 4 1 6 ff. 1 9 7 0 Wirtschaftswoche, Nr. 45/46, 30. Oktober 1992, S. 14f. 1 9 7 1 Der Spiegel, Nr. 46/46, 9. November 1992, S. 16ff. 1 9 7 2 Die Zeit, Nr. 2/48, 8. Januar 1992, S. 17. 1 9 7 3 Der Spiegel, Nr. 52/46, 21. Dezember 1992, S. 24f.

413 te. 1 9 7 4 In einer Sitzung Waigels mit den Länderfinanzministern trug Waigel unter der Bitte um Vertraulichkeit Einsparmöglichkeiten aus einem 28seitigen Konzept vor. Diese wurden protokolliert und Lafontaine übergeben. Beim Treffen im Kanzleramt am 17. Dezember 1992 konfrontierte Lafontaine den Kanzler, den Wirtschafts- und den Finanzminister mit der Liste und ließ diese anschließend der Presse zugehen. In Waigels Konzept waren Einsparungen beim Kindergeld, der Sozialhilfe, Wohngeld, Arbeitslosenhilfe, Erziehungsgeld, Mutterschaftspauschale, Studenten-Bafbg und der Sparzulage fur Arbeitnehmer vorgesehen; die Versicherungssteuer sollte erhöht und der Anstieg der Löhne im Öffentlichen Dienst begrenzt werden. Nach der Veröffentlichung durch Lafontaine brach ein Entrüstungssturm los. Der Regierungssprecher Dieter Vogel relativierte daraufhin die Bedeutung des Papiers und erklärte, die Liste sei nur als Vorschlag zu verstehen. 1975 Das Jahr 1993 begann unter denkbar schwierigen Bedingungen. Die Rezession hatte dem Einheitsboom ein jähes Ende gesetzt, die Arbeitslosigkeit verharrte im Osten auf hohem Niveau und die Beschäftigungskrise hatte nun auch den Westen erreicht. Die Finanzierung der Neuen Länder hing immer noch in der Luft und war von der Einigung mit Ländern und Opposition abhängig. Kohl sah im Januar 1993 die „schwierigsten sechs Monate der Legislaturperiode" auf die Regierung zukommen. 1 9 7 6 Am 20. Januar 1993 legte die Koalition den Entwurf fur das „Föderale Konsolidierungskonzept" vor. Die Z E I T nannte den Entwurf „Einen Verschiebebahnhof mit gewaltigen finanziellen Dimensionen." Der in der Mitte 1992 ausgelaufene Solidaritätszuschlag, sollten allen Beteuerungen des Finanzministers zum Trotz 1995 wieder eingeführt werden. Uber die Höhe des Zuschlages wurde zu diesem Zeitpunkt allerdings noch keine Aussage gemacht, da diese vom Umfang der finanziellen Beteiligung der Länder abhing. Der Entwurf für das Föderale Konsolidierungspakt sah vor, dass der Bund die Schattenhaushalte vollständig übernehmen sollte. Das war ein gewaltiges Zugeständnis des Bundes an die Länder. Als Gegenleistung fur dieses Entgegenkommen wollte der Bund die Länder an der Finanzierung der E G beteiligen, die Übernahme der Kosten fur den öffentlichen Nahverkehr und den Verzicht auf vier Prozent ihres Umsatzsteueranteils erreichen. 1977 Das „Föderale Konsolidierungsprogramm" wurde am 3. März 1993 Bundesregierung und den Fraktionen verabschiedet. Auf einer Klausurtagung der Ministerpräsidenten am 26./27. Februar 1993 in Potsdam hatten sich zuvor die Länder auf eine gemeinsame Verhandlungsposition geeinigt und lehnten die Ubernahmen zusätzlicher Lasten ab. 1 9 7 8 Einen Tag vor dem Beginn der Verhandlungen zwischen Regierung, Opposition und Ländern erklärte Waigel am 10. März 1993 vor dem Deutschen Bundestag: „Der fragile Kompromiss von Potsdam beruht auf einem Übereinkommen zu Lasten Dritter, nämlich des Bundes." Waigel bekräftigte seine Ablehnung dieser einseitigen Belastung. 1979

Ritter, Preis der Einheit, S. 357. Der Spiegel, Nr. 52/46, 21. Dezember 1992, S. 24 f. 1 9 7 6 Wirtschaftswoche, Nr. 4/47, 22. Januar 1993, S. 14 ff. 1 9 7 7 Die Zeit, Nr. 4/48, 5. Februar 1993, S. 19f. 1978 Archiv der Gegenwart, S.37665. 1979 Verhandlungen, Band 167, S. 12443. 1974 1975

414 Zwischen dem 11. März und dem 13. März 1993 kamen der Bundeskanzler, die Parteiund die Fraktionsvorsitzenden und die Ministerpräsidenten zu einer Klausur zusammen. In der Runde wurde wider Erwarten eine Einigung über Umfang und Details des Solidarpaktes erreicht. Vereinbart wurde die Erhebung des Solidarzuschlages von 7,5 Prozent auf die Lohn- und Einkommensteuer ab dem 1. Januar 1995. Der Solidarzuschlag sollte dem Bund Mehreinnahmen von 28 Mrd. D-Mark bringen. Auf die anvisierten Kürzungen sozialer Regelleistungen und der Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen in Ostdeutschland wurde nicht nur verzichtet, in den neuen Bundesländern sollten sogar 225 000 neue Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen finanziert werden. Die Finanzierung der ostdeutschen Länder wurde auf eine langfristige Basis gestellt, die die Ubergangsfinanzierung ersetzte. Dies geschah auf folgende Weise: Die neuen Bundesländer sollten ab dem Jahr 1995 voll in den föderalen Finanzverband eingegliedert werden und zum Ausgleich die Bundesländer 44 Prozent statt wie bisher 37 Prozent der Mehrwertsteuer erhalten. 1980 Auch über die Verteilung der Verpflichtungen, die sich aus der Fonds-Wirtschaft ergaben, wurde eine Einigung erzielt. Im Einigungsvertrag war festgelegt worden, dass der Bund und die neuen Länder die Schulden des Kreditabwicklungsfonds je zur Hälfte tragen sollten. An den Schulden der Treuhandanstalt sollten die neuen Länder ebenfalls zu fünfzig Prozent beteiligt werden. Waigel und die Koalitionsfraktionen wollten ursprünglich die Hälfte der Schulden der Kreditabwicklungsfonds nicht nur auf die neuen, sondern auf alle Bundesländer umlegen. Als Konsequenz dieses Beschlusses wären allein die Schulden von Baden-Württemberg um fünfzig Prozent gewachsen. Der baden-württembergische Finanzminister Mayer-Vorfelder hatte daher klar Ablehnung signalisiert: „Diese Erbschaft treten wir nicht an." 1 9 8 1 Der Streit über die Fonds-Wirtschaft wurde schließlich auf Kosten des Bundes gelöst. Der Kreditabwicklungsfond, die Schulden der Treuhandanstalt und ein erheblicher Teil der Schulden der ostdeutschen Wohnungswirtschaft wurden zum Erblastentilgungsfonds zusammengefasst, dessen Verzinsung und Tilgung der Bund übernahm. Dagegen sollten sich Länder und Gemeinden stärker an dem Schuldendienst für den Fonds „Deutsche Einheit" beteiligen. Die Einigung war eine gigantische Umverteilung der bisherigen Verpflichtungen und finanziellen Zuordnungen zu Gunsten der Länder und zu Lasten des Bundes. Durch die Neuordnung der Finanzbeziehungen wurde eine Mittelverschiebung von insgesamt 94, 8 Mrd. D-Mark bewirkt. 1982 Länder und Opposition waren mit dem Ergebnis zu frieden. Biedenkopf nannte den Ausgang der Solidarpakt-Klausur das „Wunder von Bonn." Bund und Länder hatten nun einen neuen Rahmen fur die Finanzbeziehungen vereinbart, mit dem die Bundesländer zu frieden sein konnten. Die alten Bundesländer mussten voraussichdich kaum mehr als ein Zehntel der Belastungen tragen, die der Bund finanzieren musste. Die SPD-Opposition hatte zusätzliche staatliche Investitionen für die neuen Länder durchgesetzt. Die Bundesregierung legte ein Milliarden schweres kreditfinanziertes Wohnungsbauprogramm 1980 1981 1982

Archiv der Gegenwart, S. 37665 ff. Die Zeit, Nr. 29/47, 10. Juli 1992, S. 18. Ritter, Preis der Einheit, S. 358.

415 fur die neuen Länder auf, um die Konjunktur zu beleben. Die Sanierung der ostdeutschen Wohnungen sollte insgesamt mit dreißig Milliarden D-Mark gefördert werden. Ein Mitarbeiter des Bundeskanzlers gestand ein: „Das ist im Ergebnis mehr als die SPD auf diesem Gebiet gefordert hatte." Der SPD war es auch gelungen die von der Bundesregierung beabsichtigten Leistungskürzungen zu verhindern. Die beabsichtigten Kürzungen bei den Sozialleistungen musste die Regierung zurücknehmen. 1983 Engholm bezeichnete das Ergebnis als „Bombenforschritt." 1984 Das Ergebnis des Solidarpaktes war fur Finanzminister Waigel hingegen eine Niederlage. Sein Haushalt wurde mit dreißig Milliarden D-Mark stärker belastet, als er ursprünglich einkalkuliert hatte. Waigel hatte die Länder stärker in die Pflicht nehmen wollen und die Finanzhilfen fur Bremen und Hamburg kürzen. Die Verhandlungen über den Finanzausgleich waren sehr hektisch gewesen. Das Finanzministerium hatte sich verrechnet und es gab Ärger über ein ominöses Missverständnis bei einer Absprache im Flur. 1985 Aus der Perspektive des Finanzministeriums waren die Verhandlungen also nicht optimal gelaufen. Waigels Argumentation gegen Steuererhöhungen, die er seit der Wahl konsequent aufrechterhalten hatte, hatte sich in Luft aufgelöst. Die Wiedereinführung des Solidarzuschlages strafte die Behauptung Lügen, dieser sei nicht fur die Finanzierung der neuen Länder eingeführt worden. Durch das insistieren auf dieser Behauptung hatte Waigel seine Position geschwächt und war zu einem „Gefangenen der „Steuerlüge" geworden." 1986 Für Kohl bedeutete die Einigung hingegen einen großen persönlichen Erfolg, quasi im Alleingang hatte er zwischen Oktober 1992 und März 1993 die Initiative übernommen und — auf Kosten seines Finanzministers — eine tragfähige Lösung mit der Opposition und den Ländern fur das schwelende Finanzierungsproblem der neuen Länder gefunden. Am 25, März 1993 sagte Kohl in seiner Regierungserklärung, ab 1995 würden die ostdeutschen Länder nicht mehr länger „Zuwendungsempfanger" sein. Bis dahin werde der Fonds Deutsche Einheit aufgestockt. Kohl zählte die bisherigen Leistungen im Rahmen des Aufbaus Ost auf. Zwischen 1990 und 1992 wurden 27 Mrd. D-Mark in das Verkehrsnetz der neuen Länder investiert. Der größte Einzelinvestor war die Deutsche Telekom, die allein 90 000 Arbeitsplätze sicherte. 1997 werde im Osten dieselbe Telefondichte wie im Westen erreicht sein. Kohl fasste das Ergebnis der Verhandlungen zusammen. Die Ergänzungs- und Arbeitsmarktabgabe, die die Sozialdemokraten gefordert hatten, würden nicht kommen, 1995 werde aber der Solidaritätszuschlag wieder eingeführt und für 1995 sei ein festes Sparziel gesetzt worden. Das Altschuldenproblem des ostdeutschen Wohnungsbestandes war gelöst. Kohl versprach fur Ostdeutschland zusätzliche 225 000 ABM-Stellen. Kohl konnte als Fazit verkünden: „Mit der Bonner Vereinbarung über das Föderale Konsolidierungsprogramm steht der Solidarpakt." 1987

1983 1984

1985 1986 1987

Die Zeit, Nr. 12/48, 19.März 1993, S. 27 ff. Die Zeit, Nr. 12/47, 19. März 1993, S. I4ff. Doch Rudolf Dreßler stellte den Kompromiss schon am Montag danach in Frage. Dreßler kritisierte, der Pakt sei nur ein Programm fiir den Osten, ein Programm für den Westen fehle. Die Zeit, Nr. 17/48, 3. April 1993, S. 25. Die Zeit, Nr. 36/46, 30. August 1991, S. 24. Verhandlungen, Band 167, S. 12722 ff.

416

Der Solidarpakt und die Kosten der Einheit Die Debatten betrafen drei Problemkomplexe: Die „soziale Schieflage" der Finanzierung der Transferzahlungen, die Unterfinanzierung die ostdeutschen Bundesländer und den Anstoß von Investitionen in Ostdeutschland. Die „soziale Schieflage" war dadurch entstanden, dass durch die Übertragung der westdeutschen Sozialsysteme auf Ostdeutschland im Rahmen der Sozialunion erhebliche Transfers über die Beiträge der Sozialversicherungen geleistet wurden. Die Unterfinanzierung der ostdeutschen Bundesländer lag daran, dass die westdeutschen Bundesländer eine Einbeziehung der neuen Bundesländer in den Länderfinanzausgleich und die Mehrwertsteuerverteilung abgelehnt hatten. Staatliche Investitionen schienen notwendig, da durch die schnelle Lohnangleichung in Ostdeutschland der Standort für private Investoren nicht mehr attraktiv genug war, um den Aufschwung nur über private Mittel zu finanzieren. Die Bundesregierung musste eine Lösung finden, die bei den Bundesländern und der SPD-Opposition konsensfähig war. Dies machte den zusätzlichen Einsatz finanzieller Mittel erforderlich. Diese schienen nur durch zusätzliche Steuereinnahmen aufzubringen. Waigel lehnte jedoch Steuererhöhungen ab, da er nach wie vor die Fiktion aufrecht erhalten wollte, dass fur den Aufbau Ost keine Steuererhöhungen notwendig waren. Dies führte zu einer politischen Blockade, was Kohl veranlasste seinem Finanzminister nach und nach politisch das Heft des Handelns aus der Hand zu nehmen. Kohl kündigte schließlich gegen den Willen Waigels Steuererhöhungen an. Um eine Einigung über den Solidarpakt mit den Ländern und der SPD-Opposition zu erreichen, kam Kohl diesen sehr weit entgegen. Im Gegenzug dafür, dass die westdeutschen Länder der vollen Einbeziehung der neuen Länder in den Länderfinanzausgleich zustimmten, trat der Bund große Mehrwertsteueranteile an die Länder ab. Der Bund übernahm außerdem die Schuldenlasten des Erbschaftstilgungsfonds, an denen ursprünglich auch die Bundesländer beteiligt werden sollten. SPD und Gewerkschaften wurden durch umfassende Investitionen in die ostdeutsche Wohnungswirtschaft zufrieden gestellt. Um diesen finanziellen Kraftaufwand bewältigen zu können, einigten sich die Beteiligten darauf 1995 den Mitte 1992 abgeschafften Solidaritätszuschlag wieder einzuführen. Die Verteilung der finanziellen Lasten war geregelt, aber für niemanden war absehbar, wie lange das wiedervereinigte Deutschland diese Bürde würde schultern müssen. Unter amerikanischen Wirtschaftswissenschaftlern kam es zu einer Diskussion, ob sich die neuen Bundesländer zu einer deutschen Form des süditalienischen Mezzogiorno, das als Inbegriff einer zurückgebliebenen Zuschussregion innerhalb eines Staates gilt, entwickelten. Nach den Auffassungen der klassischen Schule führte die Zusammenfuhrung von Märkten zu einer Angleichung von Produktivität und Wohlstand. Gunnar Myrdall hatte in Hinblick auf Süditalien argumentiert „kummulative Effekte" und „zirkuläre Verursachung" könnten ein Gebiet dauerhaft auf dem Niveau der Unterentwicklung halten. Nach 1860 sei jeder Versuch einer Industrialisierung Süditaliens durch Konkurrenz aus dem Norden beseitigt worden. Ähnliche Entwicklungen stellte der Ökonom Paul Krugman bei der Entwicklung des „manufacturing belt", in dem sich sechzig Prozent der Industrie der USA konzentrierte. Die Ökonomen Steven Brakman und Harry Garretsen

417 wendeten Krugmans Ansatz auf Ostdeutschland an und prognostizierten, alle Industrie werde sich im Westen sammeln. Andere US-Ökonomen sahen die Entwicklung ähnlich pessimistisch und glaubten, dass der Aufholprozess mit Hilfe staadicher Transfers in dreißig Jahren erreicht werden könnte. 1988 Im Vergleich zum süditalienischen Mezzogiorno zeigt sich auch die Einmaligkeit des finanzpolitischen Kraftaktes. Während diese süditalienische Region 12-13 Prozent mehr konsumierte als erwirtschaftete, lag der Verbrauchsüberhang der neun Bundesländer nach Zahlen der O E C D von 2000 bei 45 Prozent. Der Chef des Ifo-Instituts Hans-Werner Sinn stellt in diesem Zusammenhang fest: „Vermutlich hat es niemals in der Geschichte der Industrieländer ein Land oder einen Landesteil gegeben, der in ähnlich großem prozentualen Umfang von einem Ressourcenstrom aus anderen Regionen abhängig war, wie die neuen Bundesländer." 1989

Der Konflikt zwischen Wirtschafts- und Finanzministerium 1991-1993. Über das Verhältnis der FDP zu ihren Wirtschaftsministern ist folgendes gesagt worden: „Eine Erfolgsgeschichte ist die Geschichte der liberalen Wirtschaftsminister gewiss nicht, eher die Chronik einer unglücklichen Liebe." 1 9 9 0 Wirtschaftsminister Hausmann stand im Schatten von Lambsdorff, der unbestrittenen Autorität seiner Partei in Fragen der Wirtschaftspolitik. Dieser neigte dazu mit seinen marktwirtschaftlich sehr weitgehenden Forderungen seinen Nachfolger in Verlegenheit zu bringen, sich aber wie im Falle des Niedrigsteuergebietes in der Koalition letztlich nicht durchsetzen zu können. 1991 Haussmann war ein schwacher Wirtschaftsminister, ein politisches „Leichtgewicht", dessen Rückhalt sowohl im Ministerium als auch in seiner eigenen Partei begrenzt war. Kohl hielt wenig von Haussmann. Als Haussmann vor dem BDI erklärt hatte: „Die kleinlichen Bedenkenträger, Subventionsjäger und die buchhalterischen Kostenrechner scheinen überall wieder Oberwasser zu bekommen", hatte ihn Kohl dafür öffendich gerügt. 1 9 9 2 Unter Haussmanns Parteifreunden gehörten Genscher und Möllemann zu seinen schärfsten Kritikern. 1993 Haussmann verstand etwas von Wirtschaft, hatte jedoch den Einigungsprozess anders als Blüm kaum beeinflussen können. Noch in der Wahlnacht erklärte Haussmann enttäuscht seinen Rücktritt.

1988

1989 1990 1991 1992 1993

£)j e Zeit, jsjr. 46/48, 11. November 1993, S. 31. Robert J. Barro und Xavier Sala-i-Martin schätzten, es werde dreißig Jahre dauern, bis der Unterschied zwischen Ost und West auf die Hälfte schrumpfen würde und Jean Blanchard und Lawrence Katz sahen die Ursache für die Steigerung des Durchschnittswohlstands in Ostdeutschland im Wesendich in der Abwanderung der Arbeitslosen. Nughes Hallet und Yuue Ma glaubten optimistischer, dass der Aufholprozess mit Hilfe staadicher Transfers in dreißig Jahren erreicht werden könnte. Sinn, Deutschland, S. 233. Die Zeit, Nr. 50/45, 7. Dezember 1990, S. 21 f. Die Zeit, Nr. 50/45, 7. Dezember 1990, S. 21 f. Die Zeit, Nr. 38/45, 14. September 1990, S. 25 f. Die Zeit, Nr. 38/45, 14. September 1990, S. 25 f.

418 Schließlich drückte Jürgen Möllemann, der seit 1987 Bildungsminister im Kabinett Kohl war, gegen den Widerstand vieler in seiner Partei die Kandidatur fur das Wirtschaftsministerium durch. Möllemann wurde allgemein attestiert von Wirtschaft wenig zu verstehen, traute sich jedoch selbst ohne weiteres zu, das Amt zu meistern: „Das bischen, was man für das Wirtschaftsministerium braucht, lerne ich über Weihnachten." 1994 Anders als Hausmann war Möllemann in der Lage dem gegenüber dem Arbeits- und dem Finanzministerium ins Hintertreffen geratenen Wirtschaftsministerium eine Stimme zu geben, die nicht zu überhören war. Schon kurz nach seinem Amtsantritt zeigte Möllemann, dass er nicht bereit war, sich Sprachregelungen zu unterwerfen. Am 22. Februar 1991 erklärte Möllemann, er habe eine Bestandsaufnahme gemacht und räumte als erster Minister des Kabinetts ein, es habe „Irrtümer" bei der Einschätzung des Finanzbedarfs der neuen Bundesländer gegeben. Möllemann gab zu, die Einheit werde nicht ohne Steuererhöhungen zu finanzieren sein. Außerdem machte er deutlich, dass er eine Erhöhung der Verbrauchssteuern favorisieren würde. Eine Ergänzungsabgabe lehnte er jedoch ab. Möllemann forderte eine lineare Kürzung der Subventionen: „Nach 18 Jahren Bonn halte ich die Rasenmähermethode für die einzig machbare." Er forderte nicht nur eine Kürzung von 10 Prozent pro Ressort, sondern auch zusätzliche Einsparungen bei Kohle, Werften und in der Landwirtschaft. 199iS Waigel wurde von Möllemanns Forderungen nach einem Subventionsabbau von 10 Mrd. D-Mark überrascht. Möllemann stellte sogar eine eigene, ebenfalls nicht mit Waigel abgesprochene „Strategie Aufbau Ost" vor, die allerdings auf ein „geteiltes Echo" stieß. 1996 Allein zwischen 1985 und 1989 waren die direkten Subventionen um 11 Mrd. D-Mark auf 46 Mrd. D-Mark gewachsen (unter der politischen Verantwortung der amtierenden FDP-Wirtschaftsminister), und im Monatsbericht der Bundesbank wurde kritisiert, dass die Zuschüsse 20 Prozent über dem Vorjahresniveau lagen. Die Landwirtschaft blieb mit 14 Mrd. D-Mark der größte Empfänger, die Subventionen für die Kohle machten neun Milliarden D-Mark im Jahr aus. 1 9 9 7 Allein zwischen 1988 und 1990 waren 25,3 Mrd. D-Mark in die Kohle geflossen. Jeder Arbeitsplatz wurde mit 79 000 D-Mark subventioniert, bei einem Anteil der im Bergbau Tätigen von 0,6 Prozent aller Beschäftigten. 1998 Möllemann entwickelte eine rege Aktivität. Kaum ein Tag verging ohne neue Initiativen aus dem Wirtschaftsministerium. 1999 Er habe, so die anerkennend, selbst Lambsdorff in den Schatten gestellt. 2000 Möllemann wurde von der Opposition als Kronzeuge herangezogen, um Waigel seine steuerpolitische Fehlplanung vorzuwerfen. Lafontaine forderte Waigel im Bundestag auf, er solle bei Möllemann „Nachhilfeunterricht" nehmen. 2001 In einem Interview vom 8. März 1991 mit der ZEIT betonte Möllemann noch einmal,

1 9 9 4 Wirtschaftswoche, Nr. 52,53/44, 21. Dez. 1990, S . l 4 f f . 1995 Wirtschaftswoche, Nr. 9/45, 22. Februar 1991, S. S. 36 ff. 1 9 9 6 Wirtschaftswoche, Nr. 9/45, 22. Februar 1991, S. 28 ff. 1 9 9 7 Die Zeit, Nr. 1/45, 28. Dezember 1990, S. 17. 1 9 9 8 Der Spiegel, Nr. 46/45, 11. November 1991, S. 150ff. 1 9 9 9 Wirtschaftswoche, Nr. 14/45, 29. März 1991, S. 16ff. 2 0 0 0 Wirtschaftswoche Nr. 14/45, 29. März 1991, S. I6ff. 2 0 0 1 Verhandlungen, Band 155, S. 658.

419 dass die Annahme die Kosten der Einheit könnten durch das bestehende Steueraufkommen gedeckt werden, eine Fehleinschätzung gewesen sei. Er nannte diesen Vorgang eine „Selbsttäuschung." Um die Glaubwürdigkeit der FDP wieder herzustellen - so seine Begründung - verknüpfte er den Subventionsabbau mit seinem Verbleib im Amt. Er habe in der Fraktion erklärt, dass er mit der Streichung von Subventionen von 10 Mrd. D-Mark 1992 seine Position verbinde. Sollte er dieses Ziel nicht erreichen, sei er wieder ein „freier Abgeordneter." 2002 Am Dienstag, den 14. Mai 1991 erklärte er vom Erfolg beim Abbau der Subventionspolitik sei die „Zukunftsiahigkeit" der Bundesrepublik abhängig. Am Tag darauf traf sich Möllemann mit Waigel und Schäuble. Möllemanns Streichliste sah vor allem Kürzungen in den klassischen Subventionsbereichen Landwirtschaft, Kohle und Werfen vor. Es wurde allgemein angenommen, dass Möllemann durch den Erfolg bei den Subventionen sich für das Amt des FDP-Parteivorsitzenden und des Außenministers in Position bringen wollte. 2003 Der Wirtschaftsminister nannte sein Programm wenig bescheiden „Aktion Möllemann." Waigel arbeitete an einer eigenen Liste von Haushaltsendastungen ohne dass es eine Abstimmung zwischen den zwei Kabinettsmitgliedern gegeben hätte. 200 '* Auf Haussmann hatte Waigel wenig Rücksicht nehmen müssen. Nun entwickelte sich ein „Krieg der Nadelstiche" zwischen beiden Ministerien. Dieser Konflikt erhielt noch dadurch Auftrieb, dass die zwei Protagonisten, Möllemann und Waigel, sich auch persönlich nicht schätzten. Nach Möllemanns Überzeugung hatte Waigel zu wenig „Härte". Der ehrgeizige Liberale glaubte deshalb diesen leicht an die Wand spielen zu können. Waigel hielt Möllemann fur jemanden, der den Mund zu voll nahm. Das Eingeständnis der Fehlkalkulation über die Finanzierung der Einheit durch die Bundesregierung, musste Waigel als indirekten Angriff auf seine Kompetenz werten. „Ich heiße doch nicht Möllemann" war eine Redewendung des Finanzministers. 2005 So arbeiteten beide Minister konsequent an einander vorbei, jeder an seinem eigenen Sparkonzept, so dass Fraktionschef Schäuble vermitteln musste, um die Konzepte miteinander abzugleichen. 2006 Möllemann verstand zwar mediale Präsenz aufzubauen, verspielte aber durch seinen Profilierungsdrang viele Sympathien. Ein ungenanntes Kabinettsmitglied ließ durchsickern: „Er nervt alle im Kabinett, nicht nur Waigel." 2007 Daher sollte sich Möllemanns Rücktrittsankündigung als Waffe mit sehr begrenztem Drohpotential erweisen. Im Verlauf der Auseinandersetzung Mitte des Jahres 1991 hielt Möllemann seine Rücktrittsdrohung zwar aufrecht, relativierte sie jedoch dahingehend, dass er erklärte, er habe nie gefordert, dass schon 1992 10 Mrd. D-Mark Subventionen eingespart werden sollten. Möllemann ließ den genauen Wortlaut seines Interviews vom 8. März mit der ZEIT verbreiten, um Überinterpretationen zu verhindern, die ihn vor die Alternative stellten, zurückzutreten oder seine Glaubwürdigkeit zu verlieren. In Briefen des Ministeriums waren jedoch For2002 2003 2004 2005 2006 2007

Die Zeit, Nr. 11/46, 8. März 1991, S. 23 f. Der Spiegel, Nr. 21/45, 20. Mai 1991, S. 118. Der Spiegel, Nr. 26/45, 24. Juni 1991, S. lOOf. Die Zeit, Nr. 23/46, 31. Mai 1991, S. 17; Die Zeit, Nr. 9/46, 22. Februar 1991, S. 26. Der Spiegel, Nr. 26/45, 24. Juni 1991, S. lOOf. Zit. nach: Die Zeit, Nr. 23/46, 31. März 1991, S. 17.

420 mulierungen wie „bereits im Bundeshaushalt 1991 ...einzusparen" zu finden. Das war peinlich fiir Möllemann, er entschuldigte diese aber mit Fehlern innerhalb des Ministeriums. 2 0 0 8 Möllemanns Parteifreund Solms, der auf eine langjährige Erfahrung als Finanzpolitiker zurückblicken konnte, hielt Subventionskürzungen von 10 Mrd. D-Mark für illusorisch. Auf seine Unterstützung konnte Möllemann nicht bauen. Solms sagte: „Was Möllemann sagt, ist sein Problem." 2009 Möllemann musste schließlich eingestehen, dass er seine Möglichkeiten überschätzt hatte: „Das Instrument der Rücktrittsankündigung — von Drohung kann man nicht sprechen, weil es nicht von allen als Drohung verstanden worden ist - ist in der Legislaturperiode nur einmal anzuwenden." Aber er tröstete sich: „Ergebnislos war das ja nicht." 2 0 1 0 Am 24. 6. 1991 entschied die Koalition über den Subventionsabbau. Von dem Sparpaket, das die Arbeitsgruppe von Faldhauser und Gattermann erarbeitet hatten und 5,2 Mrd. D-Mark umfasste, würden nur zwei Milliarden D-Mark dem Bund direkt zukommen und sich erst ab 1992 als zusätzliche Einnahmen für den Haushalt auswirken. 2011 Der SPIEG E L nannte die Einsparungen von 10 Mrd. D-Mark die „Folge von Buchungstricks." 2012 Die WIRTSCHAFTSWOCHE, die Möllemanns Engagement zu Anfang mit viel Wohlwollen begleitet hatte, nannte die Subventionskürzungen einen „hohlen PR-Gag." 2 0 1 3 Um die Subventionen im Bergbau kürzen zu können musste der Hütten und der Jahrhundertvertrag revidiert werden. Schon im Mai 1991 hatte Möllemann Zweifel an der Finanzierung der Steinkohle öffendich zum Ausdruck gebracht. Der Vertrag legte die Abnahme von jährlich vierzig Millionen Tonnen Steinkohle durch die Elektrizitätswerke fest. Die deutsche Steinkohle war zweieinhalb Mal so teuer wie die Importkohle, daher mussten die Verbraucher fünf Milliarden D-Mark, die über den so genannten „Kohlepfennig" erhoben wurden, aufbringen, um die Lücke zu schließen. Möllemann konnte darauf verweisen, dass die Energiesicherheit durch die Wiedervereinigung sichergestellt war, da mit der ostdeutschen Braunkohle ein wesentlich kostengünstiger und voraussichdich nicht auf Subventionen angewiesener Energieträger zur Verfügung stand. Es war in der Tat eine paradoxe Situation, dass die wirtschaftlicheren ostdeutschen Bergleute weniger Arbeitsplatzsicherheit besaßen als ihre hoch subventionierten Kollegen im Westen. 2 0 1 4 Zu diesem Zeitpunkt hatten schon 50000 Kumpel im Osten ihre Beschäftigung verloren. Weitere 20 000 Beschäftigungsverhältnisse standen noch auf der Kippe. Möllemann war also in einer argumentativ starken Position, als er insistierte, es dürfe keine zwei Sozialstandards geben. 201 -'

2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015

Die Zeit, Nr. 28/46, 5. Juli 1991, S. 20. Zit. nach Wirtschaftswoche Nr. 26/45, 21. Juni 1991 ebd. Die Zeit, Nr. 29/46, 12. Juli 1991, S. 19f. Wirtschaftswoche, Nr. 26/45, 21. Juni 1991, S. 27 ff. Der Spiegel, Nr. 2 9 / 4 5 , 1 5 . Juli 1991, S. 18ff. Wirtschaftswoche, Nr. 1/47, 1. Januar 1993, S. 14 ff. Die Zeit, Nr. 22/46, 17. Mai 1991, S. 22. Der Spiegel, Nr. 21/45, 20. Mai 1991, S. 118ff.

421 Der Vorsitzende der IG-Bergbau Berger verfasste einen Brief, der an die Abgeordneten verschickt wurde, in dem er die Lage den Volksvertretern in düsteren Farben malte: „Angst droht umzuschlagen in Wut, Zorn und Verbitterung."201^ Diese Wut zeigte sich im Sommer, als auf einer Großdemonstration eine Möllemann-Puppe verbrannt wurde. In den vergangenen dreißig Jahren war die Beschäftigung im Bergbau um 50 000 auf 130 000 zurückgegangen. Unter den Beschäftigten waren 22 000 ausländische Arbeitnehmer. Nicht nur der Bergbau selbst, sondern ganze Regionen lebten von den Subventionen, die der Wirtschaftsminister nun schrittweise zurückfuhren wollte. Von jedem Beschäftigten im Bergbau waren weitere 1,3 Arbeitsplätze abhängig. Die IG-Metall fürchtete bei der Umsetzung der Subventionskürzung den Wegfall von 70000 Arbeitsplätzen.2017 Der Mobilisierungsgrat der Bergleute nach den Koalitionsbeschlüssen war ungeheuer und übertraf die Zahl der direkt im Bergbau beschäftigten. In der ersten Oktoberwoche demonstrierten 140000 Menschen gegen den Abbau der Kohlesubventionen. Auf der Protestkundgebung rief Berger den Demonstranten zu: „Auf einen Wirtschaftsminister Möllemann kann Deutschland ohne Schaden verzichten auf heimische Kohle nicht." Blüm wollte als NRW-Vorsitzender die Verträge mit der Steinkohlewirtschaft nicht in Frage stellen und erklärte sich mit dem Protest der Bergarbeiter solidarisch. Die ZEIT sagte voraus: „... die Bergarbeitergewerkschaft würde im Ernstfall das Revier auf den Kopf stellen. Das steht kein Politiker durch." Möllemann traf sich nach den Demonstrationen zu Verhandlungen mit Berger.2018 Bereits in der ersten Kohlerunde machte Möllemann wesendiche Zugeständnisse. Das war eine politisch und persönlich nachvollziehbare Reaktion auf die Sitzstreiks, Mahnwachen und Transparente und seine politische Isolation, denn Möllemann musste ohne die Rückendeckung des Kanzlers agieren. Kohl hatte erklärt: „Die in meiner Regierungserklärung Anfang des Jahres vorgezeichneten Grundlinien meiner Kohlepolitik gelten nach wie vor." Und „Es ist mein fester Wille, dass Stein- und Braunkohle auch im vereinten Deutschland zu einer sicheren Energieversorgung beitragen sollen..." 2 0 1 9 In der erstem Verhandlungsrunde sagte Möllemann der IG-Berbau 50 Millionen Fördertonnen statt der ursprünglich angebotene 45 Millionen Tonnen zu und im zweiten Gespräch fand er sich zur Halbierung der Kürzungen bis 1994 bereit. 2020 Damit wurden statt wie vorgesehen 1,1 Mrd. D-Mark nur noch 550 Mio. D-Mark gekürzt. Das war fur den Mann, der sich vorgenommen hatte, radikale Einschnitte im Subventionsabbau zu erreiche in der Tat eine „schwarze Woche." 2021 Die Kommentierte das Ergebnis: „Sein vollmündig angekündigter Subventionsabbau, (...), gerät zur peinlichen Lachnummer." 2022 Möllemann ging politisch angeschlagen aus der Auseinandersetzung um die Subventionskürzungen hervor. Auf dem Bundesparteitag der FDP in Suhl scheiterte Möllemann mit seinen Geschäftsordnungs- und Personalvorschlägen.2023

2016 2017 2018 2019 2020 2021 2022 2023

Der Spiegel, Nr. 28/45, 8. Juli 1991, S. 18ff. Die Zeit, Nr. 26/46, 21. Juni 1991, S. 25. Die Zeit, Nr. 42/46, 24. Oktober 1991, S. 27. Zit. nach: Die Zeit, Nr. 46/46, 8. November 1991, S. 26. Die Zeit, Nr. 46/46, 8. November 1991, S. 26. Der Spiegel, Nr. 46/45, 11. November 1991, S. 59ff. Wirtschaftswoche, Nr. 46/45, 8. November 1991, S. 37 ff. Wirtschaftswoche, Nr. 46/45, 8. November 1991, S. 37 ff.

422 Im Frühjahr 1992 unternahm Möllemann erneut einen Vorstoß. Die FDP und Teile der Union wollten den Sozialstaat zurückdrängen und die Verbindlichkeit des Flächentarifvertrages in Frage stellen. Möllemann forderte erneut lineare Kürzungen bei den Subventionen, kritisierte das Vermitdungsmonopol der Bundesanstalt für Arbeit und wollte nach den Wahlen in Baden-Württemberg und Schleswig-Holstein Kürzungen im Sozialbereich durchsetzen. Er attackierte den Sozialflügel der Union als „Katholische Sozialdemokraten." Möllemann forderte: „Die Bundesregierung sollte die Möglichkeit, Tarifverträge allgemein verbindlich zu erklären, einschränken." Der Wirtschaftsminister wollte den Betriebsräten erlauben, mit den Unternehmen Tarife unter dem festgeschriebenen Mindesttarifen zu vereinbaren. Dieser Vorschlag stieß auf den massiven Widerstand von Norbert Blüm: „Das wäre das Ende der Tarifautonomie." 2024 Möllemanns Vorpreschen irritierte den Koalitionspartner. Obwohl Kohl die Kürzung von Sozialleistungen dementieren ließ 2025 , erklärte Möllemann unbeeindruckt Sozialleistungen seien nicht tabu und „drastische Einschnitte" in diesem Bereich nicht zu vermeiden. Darauf kam es zu einem klärenden Gespräch in der Koalitionsrunde. Kohl machte deutlich, dass er nicht bereit sei zu akzeptieren, dass sich die FDP mit Kürzungsforderungen profiliere und Waigel und Blüm die Konsequenzen zu tragen hätten: „Diese Arbeitsteilung funktioniert nicht." Nach dem „klärenden Gespräch" distanzierten sich sowohl die FDP als auch die Union von Sozialkürzungen. Hinter den Kulissen arbeiteten die Sozialstaatskritiker jedoch an Konzepten zur Reduzierung der Lohnfortzahlung, der Einschränkung des Kündigungsschutzes und des Tarifrechts. Möllemann stützte seine Vorschläge vor allem auf die Vorarbeiten seines Staatssekretärs Johann Eeckhoff. 2026 Eekhoffwar CDU-Mitglied und 1991 von Möllemann überraschend zum Nachfolger von Otto Schlecht zum Staatssekretär ernannt worden. Eekhoff erwarb sich bald den Ruf als „ordnungspolitisches Gewissen" des Wirtschaftsministeriums. 2027 Möllemann und Eeckhoff ergänzten sich sehr gut. Während der Professor für Volkswirtschaft die konzeptionelle Arbeit leistete und somit Möllemanns Defizite auf diesem Gebiet ausglich, fand der akademische Eeckhoff in Möllemann einen lautstarken Anwalt seiner ordnungspolitischen Konzeption. Das Duo Möllemann-Eeckhoff verschafften dem Wirtschaftsministerium fur eine kurze Zeit eine aktive Rolle wie es dies zu letzt unter Karl Schiller ausgeübt hatte, ohne allerdings auch nur annähernd denselben politischen Einfluss zu erreichen. Ihre Aktivität reichte jedoch aus, um die Schwächen des Finanzministers offen zu legen. Das Verhältnis zwischen Möllemann und Waigel verschlechterte sich immer mehr. Im April 1992 stellte Möllemann Waigels Finanzplanung in Frage. In einem löseitigen Papier, das Möllemann Waigel zukommen ließ, listete das Wirtschaftsministerium eine Liste nicht gedeckter Haushaltsrisiken auf. 2028 Das Wirtschaftsministerium sah Risiken in der Größenordnung von 50 Mrd. D-Mark in den nächsten drei Jahren auf den Haushalt zukommen. Möllemann beschränkte sich nicht darauf Waigel mit den Risiken zu konfrontieren, sondern ließ auch selbst ein radikales Sparkonzept er2024 2025 2026 2027 2028

Der Spiegel, Nr. 10/46, 2. März 1992, S. 135f. Der Spiegel, Nr. 13/46, 23. März 1992. Der Spiegel, Nr. 14/46, 30. März 1992, S. 27 f. Die Zeit, Nr. 48/49, 25. November 1994, S. 24. Die Zeit, Nr. 20147, 8. Mai 1992, S. 3 f.

423 stellen, das das Datum 10. März 1992 trug. Möllemanns Sparprogramm sah die Selbstbeteiligung an der Krankenversicherung, umfangreiche Privatisierungen, die Verschiebung der Steuersenkung fiir Unternehmer, Streichung des Jägers 90 und Raumfahrtprojekten, die Umstellung des Bafög auf Volldarlehen, die Einschränkung familienpolitischer Leistungen, die Kürzung der Sozialhilfe für Asylbewerber, eine Fehlbelegungsabgabe für den sozialen Wohnungsbau und einen Personalstopp im Öffendichen Dienst vor. Das Konzept wurde Anfang Mai 1992 der Öffendichkeit bekannt. Waigel nannte das Konzept: „Eine Unverfrorenheit, eine Zumutung und zu dem mit erheblichen Fehlern behaftet." Der haushaltspolitische Sprecher der FDP Wolfgang Weng nahm Möllemann in Schutz: „Die Kritik an Möllemann ist überzogen und inhaklich nicht begründet." 2029 Kurz darauf erfolgte die nächste Brüskierung des Finanzministers. Anfang Juni 1992 stellte Möllemann ohne Absprache mit Waigel sein Wirtschaftskonzept der FDP-Fraktion und dem Kabinett vor. Er plante im Herbst eine Neuauflage der Konzertierten Aktion. Waigel reagierte verärgert und äußerte intern, Möllemann habe nichts dazu gelernt und nannte ihn einen „Schwätzer". 2030 Tatsächlich musste Möllemanns Versuch einer konzertierten Aktion an den Gewerkschaften scheitern. 2031 Warum sollten sie auch ihrem schärfsten Kritiker ein Forum bieten, sich öffendichwirksam zu profilieren? Aber auch das Verhältnis zur Führung seiner eigenen Partei wurde immer schwieriger. In der Auseinandersetzung um die Pflegeversicherung hatte sich Möllemann gegen den Kompromiss der Regierung und damit auch gegen die Führung seiner eigenen Partei positioniert. Möllemann war zu den Koalitionsgesprächen eingeladen worden, aber nicht erschienen und stellte sich, nach dem die Entscheidung gefallen war, an die Spitze der Kritiker. Einige FDP-Abgeordnete erklärten, sie würden sich auch einer Mehrheitsentscheidung der Fraktion nicht beugen. Sie waren jedoch nicht gezwungen, ihrer Ankündigung Taten folgen zu lassen, weil sich die Fraktion gegen die Einigung aussprach. 2032 Am 21. September 1992 veröffentlichte der SPIEGEL das erste SPIEGEL-Streitgespräch zwischen zwei Kabinettsmitgliedern überhaupt. Blüm und Möllemann gingen sich dort mit einer Härte an, die die Öffentlichkeit an den Gemeinsamkeiten der Regierungskoalition zweifeln lassen musste. Möllemann forderte Einsparungen in allen Bereichen, dagegen stellte Blüm fest: „Die Grundsysteme der sozialen Sicherheit stehen jedenfalls nicht zur Disposition" und kritisierte „Was Sozialpolitiker mit ihren Händen aufbauen, stoßen andere mit dem Hintern um." Möllemann insistierte: „Sie müssen doch wissen, dass die Beitragssätze in 10, 15 Jahren dramatisch steigen werden, wenn die Zahl der Beitragszahler sinkt." Blüm erwiderte, nur der „liebe Gott" wisse genau, wie sich die Renten entwickeln würden und sprach sich vehement gegen familienspezifische Rentenbeiträge, Mindestabsicherung und Beschränkung auf die Armutsbekämpfung aus. Möllemann forderte hingegen die Kindererziehung in der Rentenformel zu berücksichtigen, da viele Paare kinderlos blieben. Möllemann erklärte stolz, er habe sowohl im Kabinett als auch

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Die Zeit, Nr. 20/47, 8. Mai 1992, S. 25. Der Spiegel, Nr. 24/46, 8. Juni 1992, S. 28 ff. Die Zeit, Nr. 2/48, 8. Januar 1992, S. 17. Der Spiegel, Nr. 22/46, 25. Mai 1992, S. 26 f.

424 in der Fraktion gegen die Pflegeversicherung gestimmt. Blüm machte jedoch klar: „Also die Pflegeversicherung kommt, so wahr ich Norbert Blüm heiße." 2033 Dieses öffentliche Streitgespräch hat schwerlich etwas dazu beigetragen, das Klima in der Koalition zu verbessern. Am 3. Januar 1993 war Möllemann gezwungen, sein Amt wegen der so genannten Briefbogenaffäre niederzulegen. Sein Nachfolger wurde am 22. Januar der ehemalige Berliner Finanzsenator Günter Rexrodt. 2034 Die Kritik an Möllemann war vernichtend und überzogen. Über Möllemanns Rücktritt seien „Freund und Feind" erleichtert. 2035 Im Rücktritt und in der in ihrer Schärfe übertriebene Kritik waren die Konsequenz daraus, dass Möllemann sich zwischen alle Stühle gesetzt hatte. Dem lag die Überschätzung der Rolle der FDP innerhalb der Koalition und der Bedeutung des Wirtschaftsministeriums in der Ordnung der Ressorts zu Grunde. Der Versuch, auf eigene Faust dem Wirtschaftsministerium die Bedeutung vergangener Tage zurückzugeben, war zum Scheitern verurteilt. Viele Vorschläge des Wirtschaftsministeriums waren sachlich richtig. Aber es hatte sich gezeigt, dass mit ihnen bei Lage der Dinge keine spektakulären politischen Erfolge zu erreichen waren. Möllemann war es nicht gelungen, dass Vakuum auf dem wirtschaftspolitischen Flügel der Koalition zu füllen. Es war die Mischung aus mangelnder Kollegialität Möllemanns und dem schwindendem Rückhalt seiner eigenen Partei und in der Koalition die Möllemanns Scheitern verursachten. In der kurzen „Ära Möllemann" zeigte sich wieder einmal das Grunddilemma der FDP. Das liberale Wirtschaftsprofil gehört zur Identität der Freien Demokraten. Sie selbst scheute aber den Konflikt mit Interessengruppen und unpopuläre Maßnahmen. Möllemanns Nachfolger Rexrodt beendete die „Dauerfede" zwischen Wirtschafts- und Finanzministerium und war bei der Pflegeversicherung zum Kompromiss bereit, was ihn allerdings Sympathien bei den Unternehmensverbänden kostete. 2036 Rexrodt beschränkte sich darauf, liberale Forderungen vorzutragen und darüber hinaus klassische Industrieund Subventionspolitik zu betreiben.

Haushaltspolitik zwischen Einheitskosten und Wirtschaftsboom 1990-1992 Unmittelbar vor der Wiedervereinigung waren die Anstrengungen der Bundesregierung zur Konsolidierung und Steuersenkung mit einem kräftigen Wirtschaftsaufschwung belohnt worden, der die Neuverschuldung des Staates stark reduzierte. 1989 schlossen die Gebietskörperschaften mit einem Defizit von nur 20 Mrd. D-Mark. Das Defizit hatte im Jahr zuvor noch 50 Mrd. D-Mark betragen. 2037 Der Bund hatte ursprünglich fur 1990 eine Neuverschuldung von 27 Mrd. D-Mark eingeplant. Der Etat sollte 300 2033 2034 2035 2036 2037

Der Spiegel, Nr. 39/46, 21. September 1992, S. 22 ff Archiv der Gegenwart, S. 37500. Die Zeit, Nr. 2/48, 8. Januar 1993, S. 17. Die Zeit, Nr. 37/49, 9. September 1994, S. 25. Monatsberichte, Nr. Feb. 1990, S. 21.

425 Mrd. D-Mark umfassen und voraussichtlich würde der Bund 11 für Zinsen aufwenden müssen. 2 0 3 8 Mit dem Fall der Mauer war jedoch s die bis dahin gültige Finanzplanung überholt. Ein Experte des Finanzministeriums kommentierte die Ereignisse: „Wir haben nichts in der Schublade, was die Wiedervereinigung ökonomisch vorbereitet. Es gibt lediglich den Entwurf des Nachtragshaushalts." 2039 Dieser Nachtragshaushalt wurde Mitte Februar 1990 beschlossen, um den Herausforderungen der Wende und den Vereinbarungen im Offendichen Dienst gerecht zu werden. Der Nachtragshaushalt umfasste sieben Mrd. D-Mark 2 0 4 0 Dadurch stieg die geplante Nettokreditaufnahme von 27 auf 33,5 Mrd. D-Mark. 2 0 4 1 Im Finanzministerium bestand die Hoffnung, dass die Währungsunion und die Wiedervereinigung die Steuereinnahmen erheblich steigern würden. Waigels Staatssekretär Horst Köhler erklärte vor der EG-Kommission, die Belastung des Bundeshaushalts würden „überdramatisiert." Es gab Prognosen, die voraussagten, dass steigendes Wachstum und Inflation zwischen 1991 und 1993 130 Mrd. D-Mark zusätzliche Steuereinnahmen bringen konnten. Das Magazin Der SPIEGEL sprach wegen dieser Perspektive von „Theo im Glück" und von „rosigen Aussichten." 2042 Die EG-Kommission selbst kam zu der Einschätzung, dass die Einheit der Bundesrepublik ein zusätzliches Wachstum von einem Prozent im Jahr bringen könnte. 2043 Die Bewältigung der Einheit sahen Öffentlichkeit und Regierung deshalb zu diesem Zeitpunkt noch als Selbstläufer, der sich quasi selbst finanzieren würde. Wirtschaftsminister Haussmann erklärte in einem Interview am 4. Mai 1990: „Die Hauptaufbauleistung kommt von der Wirtschaft, vom Staat kommt nur die Erstausstattung." Man müsse am Ziel einer Steuerentlastung für Unternehmen festhalten. „Wir müssen den Finanzbedarf für die D D R in einem Korridor fahren, der Steuererhöhungen ausschließt, aber die Finanzierungsmaßnahmen voll ausschöpft." Er sehe daher keine Notwendigkeit etwa die Mehrwertsteuer zu erhöhen. 2044 Die D D R war zu diesem Zeitpunkt von den Zuweisungen aus dem Westen abhängig. Ohne die Unterstützung aus der Staatskasse der Bundesrepublik, konnte sie nicht einmal mehr die kurze Zeitspanne bis zur staatlichen Einheit finanziell bewältigen. Schon dieser Umstand zeigt, dass die Vorstellung einer eigenständigen D D R eine Utopie war, die direkt in den Staatsbankrott gefuhrt hätte. Für den ersten Halbjahreshaushalt hatte der DDR-Finanzminister Walter Romberg 25 Mrd. D-Mark erhalten und die Treuhandanstalt einen Kredit von 10 Mrd. D-Mark. Die DDR-Subventionen fur Mieten, Heizung und Verkehrstarife liefen zum Ende des Jahres aus. Welche Regelung folgen würde, war offen. Auf den Abbau der Stellen im Offendichen Dienst konnte dank der Hilfe aus dem Westen vorerst verzichtet werden. 2045 Auf diese Weise konnte die D D R vorerst stabilisiert werden, in langfristiger Perspektive zeichneten sich Belastungen ab, 2038 2039 2040 2041 2042 2043 2044 2045

Die Zeit, Nr. 48/44. 24. November 1989, S. 36. Die Zeit, Nr. 8/45, 16. Februar 1990, S. 21 f. Monatsberichte, Nr. Feb. 1990, S. 22 f. Die Zeit, Nr. 9/45, 23. Februar 1990, S. 21 f. Der Spiegel, Nr. 14/44, 2. April 1990, S. 134 ff. Wirtschaftswoche, Nr. 12/44, 16. März 1990, S. 12. Wirtschaftswoche, Nr. 19/44, 4. Mai 1990, S. 24 f. Der Spiegel, Nr. 32/44, 6. August 1990, S. 18 ff.

426 die weit über die Überbrückungshilfe hinausgingen. Vermutlich ging es Waigel darum in der aktuellen Situation die DDR-Regierung nicht darin zu bestärken zusätzliche Forderungen zu stellen, als er erklärte, es werde keine „Verlagerung der Finanzproblematik des DDR-Haushalts auf den Bundeshaushalt" geben. Nach den Vorstellungen Waigels sollten die Schulden der D D R durch die Privatisierung des DDR-Besitzes finanzieren und die verbleibenden Schulden auf die neuen Bundesländer aufteilen. 2046 Dieser Ansatz war aus der heutigen Perspektive ebenso utopisch, wie das Kapitel über die Privatisierung des DDR-Vermögens zeigte, wie die Vorstellung eines Teils der DDR-Bürgerrechtler, die D D R könne als eigenständiges Gebilde weiterexistieren. Ob die finanzielle Bewältigung auf eine andere Weise abgewickelt worden wäre, wenn zur Zeit der Einheit noch der „kühle Blonde aus dem Norden", Gerhard Stoltenberg, das Amt des Finanzministers ausgeübt hätte, ist eine offene Frage. Fest steht, dass Waigel von Anfang an der Erfüllung politischer Begehrlichkeiten offener gegenüberstand als sein Vorgänger. Waigel wurde vorgeworfen ein „reiner Parteipolitiker" zu sein. Er interessiere sich mehr fur die Machtverhältnisse in der C S U als fiir die Finanzpolitik. Der SPIEGEL kritisierte mit Waigel „... regiert in Bonn ein Mann, der es mit den Milliarden nicht so genau nimmt." Dieser Vorwurf wird durch das Lob Norbert Blüms aus dieser Zeit bestätigt, Waigel sei ein „Finanzminister mit Sinn für politische Proportionen, der sich nicht mit 3,50 D-Mark aufhält." Wenn ein solches Lob aus dem Ressort kommt, dass traditionell besonders ausgabenfreudig ist und deshalb mit jedem Finanzminister über Kreuz liegt, bestätigt dieser Umstand, dass Waigel an der unangenehmen Aufgabe seines Ministeriums, sich bei den Kollegen unbeliebt zu machen, nicht besonders interessiert war. Für Waigel war die Finanzpolitik keine politische Mission wie fur Stoltenberg, sondern ein Sprungbrett, um seinen Einfluss in der C S U zu stärken. Die Grundvoraussetzungen, das Amt im Sinne seiner Funktion im Kabinett erfolgreich auszufuhren, waren deshalb bei Waigel schlechter als bei den meisten Vorgängern, die immerhin zu Beginn ihrer Amtszeit Zähne gezeigt hatten, um sich wenigstens aus Imagegründen als Sparkommissare zu profilieren. Waigel hatte sich hingegen schon zum Beginn seiner Amtszeit freigiebig gezeigt und die Regionalinteressen der C S U in den Vordergrund gestellt. Auch angesichts der kommenden Herausforderung blieb Waigel bei diesem Kurs. So mied Waigel aus parteipolitischen Gründen sich offen für einen Abbau der Zonenrandforderung auszusprechen. Im Gegenteil versprach er auf dem CSU-Parteitag in Nürnberg, es werde „im kommenden Jahr zu keinen Eingriffen bei der Zonenrandforderung kommen." 2 0 4 7 Bereits im Januar 1990 hatte sich die Bundesregierung auf ein weiteres Jahr Förderung festgelegt. Seit 1971 waren 40 Mrd. D-Mark in die Zonenrandforderung geflossen. Die betroffenen Gebiete machten etwa ein Fünftel des Bundesgebietes aus. Sowohl strukturschwache als auch strukturstarke Regionen wurden gefördert. 2048 Dies zeigt auch insoweit einen besonders „pragmatischen" Umgang mit der Wahrheit, als dass auf der anderen Seite von der Regierungskoalition die Zonenrandforderung als einer der Haupteinsparposten genannt worden war, mit dem Steuererhöhungen vermieden werden könn2046 2047 2048

Wirtschaftswoche, Nr. 19/44, 2. Mai 1990, S. 21 ff Der Spiegel, Nr. 36/44, 3. September 1990, S. 134 ff. Wirtschaftswoche, Nr. 9/44, 23. Februar 1990, S. 32 f.

427 ten. Zwei Tage nach der Wiedervereinigung am 5. Oktober 1990 erklärte Waigel dann in einem Interview, die Zonenrandfbrderung werde zurückgefiihrt. Darüber hinaus kündigte Waigel die Kürzung der Verteidigungsausgaben an. Waigel profitierte noch immer von der Konsolidierungsleistung seines Vorgängers, wohingegen sein eigener Sparbeitrag bescheiden ausfiel. Er rühmte, dass er ohne die Belastungen durch die Wiedervereinigung den besten Haushalt seit 1969 hätte vorlegen können. Waigel bekräftigte, er habe alle Möglichkeiten zu sparen genutzt und im Sozialhaushalt 1,5 Mrd. D-Mark eingespart. Er setzte die Neuverschuldung von 3,5 Prozent in diesem Jahr mit den sechs Prozent 1995 und den fünf Prozent 1981 in Relation. 2049 Zur Zeit der Wiedervereinigung war also weder ein profilierter Wirtschaftsminister noch ein klassischer Sparkommissar als Finanzminister im Amt. Haussman blieb als Wirtschaftsminister farblos und war eine Übergangslösung. Waigel war als Finanzminister in erster Linie Parteipolitiker. Er schmückte sich mit den Erfolgen seiner Vorgängers schmückte, gedachte aber selbst nicht, sich in den Kämpfen um die Haushaltssanierung aufzureiben. Die Zahlen des Bundeshaushalts und des Haushaltsdefizits waren in den nächsten Jahren nur noch begrenzt aussagekräftig, da ein großer Anteil der Einheitskosten über Nebenhaushalte abgewickelt wurde, die nicht im Bundeshaushalt auftauchten. Neben dem Bundeshaushalt wurden drei große Nebenhaushalte geschaffen: Der Fonds Deutsche Einheit, der Kreditabwicklungsfonds und die Treuhandanstalt. Der Fonds Deutsche Einheit umfasste 115 Mrd. D-Mark, davon wurden 95 Mrd. D-Mark über Schulden finanziert; die Laufzeit der Kredite belief sich auf dreißig Jahre. Im Kreditabwicklungsfonds wurden die Schulden und Verpflichtungen der D D R in Höhe von 80 Mrd. D-Mark untergebracht. Der Kreditabwicklungsfonds sollte zum 31 Dezember 1993 aufgelöst werden und seine Lasten zwischen Bund und den neuen Ländern aufgeteilt werden. 20 ' 0 Eine besonders große Fehlkalkulation lag dem Haushalt der Treuhand zu Grunde. Ursprünglich hatten die Verantwordichen vorgesehen, die Altschulden der D D R aus den Erlösen des Verkaufs des D D R Vermögens bestritten werden sollte. 2051 Diese Entscheidung war offensichdich auf der Grundlagen völlig falscher Vorstellungen über den Wert des DDR-Vermögens gefallen. Die Treuhandanstalt musste voraussichdich schon 1990 und im darauffolgenden Jahr 25 Mrd. D-Mark an Krediten aufnehmen. 2 0 5 2 Der Fonds Deutsche Einheit war am 16. Mai 1990 von der Finanzministerkonferenz beschlossen worden. Das Finanzministerium rechnete zu diesem Zeitpunkt im Frühjahr 1990 mit einem Defizit des DDR-Haushalts von 40 Mrd. D-Mark. In den nächsten viereinhalb Jahren sollten fur die Finanzierung des Fonds Kredite in der Größenordnung von 95 Mrd. D-Mark aufgenommen und weitere 20 Mrd. D-Mark durch Einsparungen des Bundes aufgebracht werden. Die Gründung des Fonds hatte fur die Regierung den positiven Nebeneffekt, dass die Verletzung des Artikels 115 des Grundgesetzes vermieden

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Wirtschaftswoche, Nr. 41/44, 5. Oktober 1990, S. 32ff. Der Spiegel, Nr. 48/44, 26. November 1990, S. 18 ff. Schäuble, Der Vertrag, S. 178. Der Spiegel, Nr. 48/44, 26. November 1990, S. 18 ff.

428 werden konnte, da die zusätzliche Neuverschuldung nicht mit den Schulden und Investitionen des Bundeshaushalts verrechnet wurden. Die durch die Verfassung festgelegte und von dem Umfang der Investitionen abhängige Verschuldungsgrenze lag bei 35 Mrd. D-Mark, der eine geplante Neuverschuldung im Bundeshaushalt von 33 Mrd. D-Mark gegenüber stand. 2 0 5 3 Die finanzpolitischen Szenarien waren im Laufe des Jahres immer pessimistischer geworden, was in diesem Fall realistischer bedeutete. Noch im Mai 1990 ging das Finanzministerium von einer Neuverschuldung der Gebietskörperschaften von 53,5 Mrd. D-Mark aus. Im August rechnete die Bundesbank mit einer Nettokreditaufnahme von 121 Mrd. D-Mark. Waigel erklärte schließlich die Obergrenze der Neuverschuldung der Öffendichen Hand liege bei 140 Mrd. D-Mark. 2 0 5 4 Doch auch diese „Obergrenze" war nicht endgültig. Am 19. November 1990 erklärte Waigel die Nettokreditauihahme von 140 Mrd. D-Mark sei die mittlere Linie der Risikoschätzung. 2055 Diese Anpassung der Prognosen an die Wirklichkeit war ein finanzpolitisches Tauziehen mit der DDR-Regierung vorausgegangen. Am 22. Juni 1990 war Waigel noch von einem Umfang des Bundeshaushalts von 324 Mrd. D-Mark ausgegangen für das Jahr 1991 und von einem DDR-Haushalt von 64 Mrd. D-Mark. 2 0 5 6 Einige Tage nach der Verabschiedung des DDR-Haushalts forderte Romberg jedoch weitere 10 bis 12 Mrd. D-Mark. Wie sich bestätigen sollte, waren im Staatsvertrag zwischen der Bundesrepublik und der D D R die Einnahmen des DDR-Haushalts tatsächlich zu hoch und die Hilfen aus Bonn zu niedrig angesetzt. 2057 Waigel warf Romberg vor, ihm keinen ausreichenden Einblick in die DDR-Finanzen gegeben zu haben. Romberg wehrte sich mit der Erklärung, Waigels Beamte seien ständig in Ost-Berlin und der Minister habe über den Zustand der DDR-Finanzen informiert sein müssen. 2 0 5 8 Die Differenzen über die Finanzierungsfragen führten am 15. August 1990 zur Endassung von Romberg durch Ministerpräsident de Maiziere, der die Entlassung mit dessen Konzeptionslosigkeit und Missachtung der Richtlinienkompetenz des Ministerpräsidenten begründete. Deshalb beschlossen am 19. August 1990 der Parteiund Fraktionsvorstand der SPD aus Protest gegen die Endassung ihres Ministers aus der Regierung auszuscheiden. Dies war acht Wochen vor dem offiziellen Ende der D D R nur noch ein symbolischer Akt von geringer Bedeutung. 2 0 5 9 Am 23. August, also etwa eine Woche nach Rombergs Rücktritt, schrieb Waigel einen Brief an die Bundesminister: „Es ist erforderlich, die Rossortanforderungen sowohl fur das Bundesgebiet als auch fur das Gebiet der ehemaligen D D R auf das unabdingbar notwendige zu beschränken. Der Mehrbedarf für die D D R muß zumindest zum Teil innerhalb der bisherigen Ansätze des Haushaltsentwurfs 1991 und des Finanzplans 1990 bis 1994 aufgefangen werden." 2 0 6 0

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Die Zeit, Nr. 21/45, 18. Mai 1990, S. 23. Der Spiegel, Nr. 48/44, 26. November 1990, S. 18 ff. Der Spiegel, Nr. 47/44, 19. November 1990, S. 138 ff. Waigel erklärte in Fragen der Privatisierung gäbe es keine Tabus und wollte die Autobahngebühr nicht ausschließen Die Zeit, Nr. 34/45, 17. August 1990, S. 21. Die Zeit, Nr. 38/45, 14. September 1990, S. 26. Ritter, Preis der Einheit, S. 42. Die Zeit, Nr. 37/45, 7. September 1990, S. 23 f.

429 Romberg erklärte später, er könne dem Einigungsvertrag nur unter großen Gewissensbissen zu stimmen, da die finanzielle Ausstattung von Ländern und Kommunen, die Instrumente der Wirtschaftsfbrderung und die sozialpolitische Absicherung unzulänglich seien.2061 Während die sozialpolitische Absicherung gewährleistet war, zeigte sich bald, dass Rombergs Vorbehalte bezüglich der unzulänglichen finanziellen Ausstattung der Länder und Gemeinden zutraf. Wenige Tage, nachdem de Maiziere Mitte August 1990 Finanzminister Walter Romberg emlassen hatte, zog der Bundesfinanzminister den Entwurf für den Bundeshaushalt 1991 zurück, da er vor der Wahl keinen gesamtdeutschen Haushalt vorlegen wollte. Waigel äußerte verfassungsmäßige Bedenken mit dem Haushalt 1991 nur einen „Teilhaushalt" zu verabschieden. Gattermann erklärte die Entscheidung: „Wir halten es fur ziemlich unmöglich, wenn der alte deutsche Bundestag und die alte Bundesregierung einen Haushalt verabschieden, den eine gesamtdeutsche Regierung und ein gesamtdeutsches Parlament ein Jahr zu schlucken haben." Die Opposition warf ihm Täuschung und Angst vor einem Kassensturz vor. Der Finanzexperte der SPD Rudi Walther insistierte: „Ich bin der festen Uberzeugung, daß die Sorge, daß die wahren Kosten der deutschen Einheit noch vor der Bundestagswahl herauskommen würden, auch eine Rolle bei dieser Entscheidung gespielt hat." 2062 Am 28. September 1990 verabschiedete das Kabinett den dritten Nachtragshaushalt für 1990. Der Nachtragshaushalt umfasste 20,1 Mrd. D-Mark, von denen 17,6 Mrd. D-Mark für die DDR aufgewendet wurden. Der Nachtragshaushalt sollte für Finanzierungslücken in den Sozialversicherungen und für die Finanzierung der Subventionen für Miete, Energie und Landwirtschaft aufgewendet werden. Die Neuverschuldung erhöhte sich mit dem Nachtragshaushalt um 5,7 Mrd. DMark. 2063 Mit dem dritten Nachtragshaushalt wurde der Haushalt der Bundesrepublik und der DDR als Abschnitt Α und Β zusammengeführt. Die Kreditaufnahme erfolgte seit dem 3. Oktober 1990 über das Konto des Westteils.2064 Statt der ursprünglich geplanten 27 Mrd. D-Mark musste sich der Bund mit 67 Mrd. D-Mark neu verschulden. Zusammen mit dem Fonds Deutsche Einheit und derTreuhandanstalt lag die zusätzliche Schuldenlast sogar bei 100 Mrd. D-Mark. 2065 Der Sachverständigenrat kritisierte, dass die Hälfte der Ausgaben auf konsumtive Ausgaben zurückging. Der größte Teil des Ausgabenzuwachses finanzierte die Unterstützung der Arbeitslosen in Ostdeutschland. Waigel setzte sich das Ziel, die Neuverschuldung des Bundes bis 1994 auf 30 Mrd. D-Mark zurückführen.2066 Am 14. November 1990 legte Waigel die Eckwerte für den Haushalt 1991 vor. Die Nettokreditaufnahme sollte auf 70 Mrd. D-Mark begrenzt werden und Einsparungen und Umschichtungen von 35 Mrd. D-Mark vorgenommen werden. 2067 Es mussten also erhebliche Sparanstrengungen unternommen werden, um Waigels

Ritter, Preis der Einheit, S. 262. Die Zeit, Nr. 34/45, 17. August 1990, S. 29. 2 0 6 3 Archiv der Gegenwart, S. 34928. 2 0 6 4 Monatsberichte, Nov. 90, S. 9. 2 0 6 5 Die Zeit, Nr. 45/45, 2. November 1990, S. 22. 2 0 6 6 Die Zeit, Nr. 48/45, 23. November 1990, S. 26. 2067 Archiv der Gegenwart, S. 35115. Waigel ging darin von einem Wirtschaftswachstum von 2 bis 2,5 Prozent aus. 2061

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haushaltspolitische Vorgabe zu erreichen.2068 Das Ziel der Regierung war es, dass fur 1991 erwartete Defizit des Bunds von 105 um 35 Mrd. D-Mark zu reduzieren, um Waigels Vorgabe, die Neuverschuldung auf 70 Milliarden D-Mark zu begrenzen, zu erreichen. Die Reduzierung des Defizits wurde durch die Erhöhung von Abgaben erreicht. Die Lasten des Bundeshaushaltes wurden auf die Sozialversicherungen verlagert. So sollten die Beitragserhöhung der Arbeitslosenversicherung in der Größenordnung von 18 Mrd. D-Mark genutzt werden, um den Bundeszuschuss, der 24 Mrd. D-Mark betrug, zu reduzieren.2069 Auf diese Weise gelang es der Koalition die voraussichdiche Neuverschuldung formal auf die 70 Mrd. D-Mark, die Waigel als Verschuldungsobergrenze festgesetzt hatte, zurückzufuhren. Die Kürzungen im Verteidigungsetat waren mit 7,6 Mrd. D-Mark angegeben. 2070 Über zwei Milliarden sollten direkt bei der Bundesanstalt eingespart werden; 500 Millionen D-Mark durch den Verkauf von Bundesvermögen und zwei Milliarden D-Mark von der Telekom aufgebracht werden. 2 Mrd. D-Mark durch die Kürzung bei den Subventionen erreicht werden 2 0 7 1 Als Waigel am 14. Februar 1991 den ersten gesamtdeutschen Bundeshaushaltsentwurf für 1991 vorlegte, umfasste das Zahlenwerk 399,7 Mrd. D-Mark und sah eine Neuverschuldung von 69,8 Mrd. D-Mark vor. Die Überschreitung der psychologisch wichtigen Grenze von 70 Milliarden D-Mark für die Neuverschuldung schien damit erreicht. Das Volumen des Haushalts wollte Waigel bei 400 Milliarden D-Mark begrenzen.2072 Allerdings blieben die zusätzlichen finanziellen Lasten fur den Golfkrieg und die neuen Bundesländer zu diesem Zeitpunkt aus der Planung noch ausgeklammert.2073 Somit schwebte bei seiner Verabschiedung das Damoklesschwert großer zusätzlicher Belastungen. Waigel erklärte vor dem Deutschen Bundestag, der Haushalt 1991 sei der „Haushalt der Wiedervereinigung." Ein Viertel der 400 Mrd. D-Mark beziehe sich auf die Kosten der deutschen Einheit. Der Bundesfinanzminister bekräftigte: „Umfang und Struktur dieses Haushaltsentwurfs sind Zeugnis der gewaltigen Herausforderung, vor der wir seit dem Fall von Mauer und Stacheldraht 1989 gestellt sind." Er bestätigte: „Der größte Anteil der vorgesehenen Einnahmeverbesserungen entfällt auf die Anhebung der Beiträge für die Arbeitslosenversicherung." Ein vorübergehender Anstieg der Kreditfinanzierung sei richtig und ökonomisch sinnvoll. Waigel bilanzierte, 1989 habe der Haushalt 300 Mrd. D-Mark umfasst und war durch drei Nachtragshaushalte auf380 Mrd. D-Mark angewachsen und würde in diesem Jahr auf 411 Mrd. D-Mark steigen. Diesen Ausgaben standen in diesem Jahr 293,9 Mrd. D-Mark an Steuereinnahmen gegenüber. Hinzu kamen die Einnahmen aus den Steuererhöhungen von 17 Mrd. D-Mark und die veranschlagte Nettokreditaufnahme von 70 Mrd. D-Mark. Hinzu kamen die anvisierten Haushaltsendastungen. Diese ergaben sich durch Einsparungen bei der Bundesanstalt für Arbeit mit 20 Mrd. D-Mark, Wirtschaftswoche, Nr. 50/44, 7. Dezember 1990, S. 14 f. Monatsberichte, Feb. 1991, S. 25ff. 2070 Qjgj beruhte auf einem merkwürdigen Verfahren. Die Kürzung land von einer fiktiven Größe, die den zusätzlichen Aufwand fur die NVA hinzurechnete und dann die Einsparungen abzog. Gegenüber dem Aufwand für die Bundeswehr lagen die Einsparungen nur bei 800 Millionen D-Mark. 2 0 7 1 Die Zeit, Nr. 4/46, 18. Januar 1991, S. 17. 2 0 7 2 Archiv der Gegenwart, S. 34928. 2 0 7 3 Die Zeit, Nr. 9/46, 22. Februar 1991, S. 25 f. 2068

2069

431 im Verteidigungsetat mit 7,6 Mrd. D-Mark und durch die Umlenkung von Investitionen nach Ostdeutschland mit 2 Mrd. D-Mark und zahlreiche kleinere Einzelposten. 2074 Die zwanzig Milliarden D-Mark der Bundesanstalt ergaben sich aus den zwei Milliarden D-Mark direkter Einsparungen bei der Bundesanstalt und den 18 Mrd. D-Mark, die durch die Beitragserhöhung der Arbeitslosenversicherung um 2,5 Prozentpunkte aufgebracht wurde. Schleußer warf Waigel darum vor, den Haushalt auf Kosten der Sozialversicherung zu schonen. Die Kürzung des Verteidigungsetats nannte die ZEIT ein „Rechenkunststück." In einem ersten Schritt wurde ein Zuschlag fur die NVA hinzuaddiert und dann der vorgesehene Betrag gekürzt, so dass die eigendiche Minderausgabe etwa bei 0,8 Mrd. D-Mark lag. 2 0 7 5 Solange der Wirtschaftsaufschwung und der Wiedervereinigungsboom anhielten, blieben den Haushalten schlimmere Rückschläge erspart. Die Offendichen Haushalte mussten sich wie sich im Lauf des Frühjahrs 1991 herausstellte deudich weniger stark verschulden als angenommen, da das Wachstum zu höheren Einnahmen führte. 2 0 7 6 1 991 erreichten die Ausgaben des Bundes eine Höhe von 401,8 Mrd. D-Mark und blieben damit 8,6 Mrd. D-Mark unter dem für 1991 veranschlagten Betrag, einschließlich des Nachtragshaushalts, zurück. Die Neuverschuldung fiel mit 52,0 Mrd. D-Mark niedriger aus als die Prognose, die 61,7 Mrd. D-Mark vorgesehen hatte. 2077 Diesen finanzpolitischen Spielraum nutzte die Regierung, um in dem Nachtragshaushalt der Bundesanstalt fünf Milliarden D-Mark zu kommen zu lassen. So sollte die Fortführung der Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen gewährleisten werden und der Beitrag zur Arbeitslosenversicherung 1992 um 0,2 Prozent gesenkt werden können. 2 0 7 8 Am 10. Juli 1991 billigte das Kabinett den von Finanzminister Waigel vorgelegten Etatentwurf für 1992. Danach sollte der Haushalt gegenüber 1991 um nur drei Prozent steigen, von 410,3, wie zu diesem Zeitpunkt noch fur 1991 veranschlagt, auf 422,4 Mrd. D-Mark. Die Neuverschuldung sollte von 66,4 Mrd. D-Mark um 16,7 Mrd. D-Mark auf 49,7 Mrd. D-Mark gesenkt werden. Waigel erwartete 1992 Mehreinnahmen durch den Solidaritätszuschlag von 26,7 Mrd. D-Mark und dem gegenüber Mehraufwendungen fur die deutsche Einheit von 23 Mrd. D-Mark. Die Mehrausgaben fur den Familienlastenausgleich, Kindergelderhöhung, Kindergeldzuschlag und Erhöhung der Kinderfreibeträge, sollten 6,6 Mrd. D-Mark kosten, von denen der Bund 4,6 Mrd. D-Mark aufbringen sollte. Voraussichdich würden 1992 allein die Zinszahlungen im Bundeshaushalt 45,8 Mrd. D-Mark betragen. 2079 Die Finanzplanung der Regierung wurde von verschiedenen Seiten in Frage gestellt und selbst innerhalb des Regierungslagers herrschte Skepsis. Der SPIEGEL nannte den Haushalt 1992 ein „Meisterwerk der Camouflage: Risiken werden verschwiegen, Schulden in

Verhandlungen, Band 155, S. 645 ff. Die Zeit, Nr. 4/46, 18. Januar 1991, S. 17. 2 0 7 6 Wirtschaftswoche, Nr. 41/45, 4. Oktober 1991, S. 20ff. 2 0 7 7 Archiv der Gegenwart, S. 36492. 2078 Verhandlungen, Band 158, S. 2981 ff. 2079 ArChiv der Gegenwart, S. 3607. 2074 2075

432 Schattenhaushalten versteckt, die Einnahmen wohlgefällig nach oben, die Ausgaben nach unten gerundet." 2080 Lambsdorff erklärte, eine unvoreingenommene Bestandsaufnahme zeige, „dass viele Schlüsselzahlen ähnlich problematisch sind wie 1982." Die Unterschiede sah Lambsdorff lediglich in der Ursache der Verschuldung und den günstigeren Wachstumsbedingungen. Er verlangte die Rückkehr zur „Politik der Konsolidierung und der äußersten Sparsamkeit." 2081 Matthäus-Maier erklärte: „Die Lage der Staatsfinanzen ist besorgniserregend." Die Opposition prognostizierte einen jährlichen Anstieg der Staatsverschuldung, einschließlich der Nebenhaushalte, von 200 Mrd. D-Mark. 2 0 8 2 Im September 1991 erklärte Kohl das Thema Staatsverschuldung zur Chefsache. Im nächsten Jahr dürfte die von Waigel gesetzte Grenze der Neuverschuldung von 50 Mrd. D-Mark nicht überschritten werden. 2083 Die Bundesbank kommentierte die Sparanstrengungen: „Im kommenden Jahr soll ein Schritt zur Rückführung des außergewöhnlich hohen Defizits der Gebietskörperschaften getan werden. Durch die Ausgabenplanung des Bundes und steuerliche Maßnahmen sind hierfür wichtige Weichen gestellt." 2084 Am 29. November 1991 wurde der Bundeshaushalt 1992 verabschiedet. Die Ausgaben sollten wie im Sommer beschlossen bei 422,1 Mrd. D-Mark liegen und eine Steigerung von 2,9 Prozent aufweisen. 2085

Die Haushaltspolitik zwischen Rezession und Aufschwung 1992-1994 Am 17. April 1992 erklärte Waigel in einem Interview er arbeite an keinem Haushaltsstrukturgesetz aber an einem „klaren Konzept" für die Finanzpolitik bis 1996. Die Bundesregierung habe von 1990 bis 1992 ein Volumen von insgesamt 60 Mrd. D-Mark zur Entlastung des Bundeshaushalts geschaffen, um die Kosten der Wiedervereinigung finanzieren zu können und erklärte: „Das entscheidende Sparpotential der Zukunft liegt aber in der mittelfristigen Finanzplanung bis 1996." In dieser Zeit sollte nach Waigel der Bundeshaushalt mit 2,5 Prozent langsamer wachsen als das nominale BSP. Er kündigte die Verlängerung des Ausgabenmoratoriums an. Waigel lehnte weitere Steuererhöhung ab. Er erklärte Steuererhöhungen seien Gift und bei einem Konsolidierungskurs von Ländern, Bund und Gemeinden nicht notwendig. Die erste Stufe der Unternehmenssteuerreform sei voll gegenfinanziert worden und er versprach, auch die zweite werde gegen finanziert werden. 2086 Auf dem Treffen der Finanzminister der sieben wichtigsten Industrienationen wurde die Bundesrepublik für ihre Haushaltspolitik kritisiert. Kohl war davon überzeugt, auf dem Weltwirtschaftsgipfel im Juni werde die Bundesrepublik nur bestehen können, „wenn wir

Der Spiegel, Nr. 29/45, 15. Juli 1991, S. 18 ff. Verhandlungen, Band 158, S. 3065. 2082 Verhandlungen, Band 158, S. 2991 ff. 2 0 8 3 Der Spiegel, Nr. 39/45, 23. September 1991, S. 134 ff. 2 0 8 4 Monatsberichte, Sept. 91, S. 27ff. 2 0 8 5 Archiv der Gegenwart, S. 36305. 2 0 8 6 Wirtschaftswoche, Nr. 17/46, 17. 4. 1992, S. 18ff. 2080 2081

433 zu Hause unsere Hausaufgaben gemacht haben." Kohl und Waigel einigten sich darauf, wie schon 1982 einen strikten Konsolidierungskurs einzuleiten, denn 1995 würde der Bund die Nebenhaushalte übernehmen müssen. 2 0 8 7 Waigel legte ein Sparkonzept vor, das allerdings eine Diskussion über die Beteiligung der Besserverdienenden an den Kosten der Einheit auslöste. Die FDP war sich über diesen Kurs uneins. Auch Lambsdorff wollte die Bezieher höherer Einkommen stärker belasten. Er selber, so erklärte Lambsdorff, werde mit Ausnahme des Solidaritätszuschlags „zur Finanzierung der Einheit nicht herangezogen." Schwaetzer forderte eine stärkere Besteuerung von Spekulanten. Solms stand diesen Ansätzen skeptisch gegenüber und machte sich über den Verlauf der Diskussion lustig: „Einheitsgewinner erkennt man daran, dass sie ein großes Schild auf der Brust tragen." 2088 Waigel erklärte am 4. Juni 1992 im Bundestag zum Nachtragshaushalt 1992, die Finanzpolitik folge dem „Primat der wirtschaftlichen und sozialen Integration Deutschlands." Mit dem Nachtragshaushalt werde einerseits die Förderung für Ostdeutschland verstärkt, andererseits sei dies ein Schritt in Richtung Konsolidierung. Trotz der Mehraufwendungen von sechs Milliarden D-Mark werde die Nettokreditaufnahme von 45,3 Mrd. D-Mark auf 42,7 Mrd. D-Mark zurückgeführt. Damit seien alle Ziele und Vorgaben erreicht worden. Waigel legte sich auf das Ziel fest, durch Ausgabendisziplin die Kreditaufnahme bis 1995 auf 25 Mrd. D-Mark zu senken. Er lobt die Bilanz der eigenen Finanzpolitik: „Wir haben solide gewirtschaftet, wir sind sparsam mit dem Geld umgegangen, wir haben nichts verschleudert und wir sind jedes Mal von der Wirklichkeit positiv überrascht worden." Waigel führte aus, man sei 1990 zwanzig Milliarden D-Mark hinter der Planung zurückgeblieben, 1991 habe man 51 Mrd. D-Mark statt 70 Mrd. D-Mark neue Schulden aufgenommen und nun in diesem Jahr nehme man nur 42,5 Mrd. D-Mark statt 50 Mrd. D-Mark auf. 2 0 8 9 Der Finanzexperte der SPD Wieczorek wies hingegen darauf hin, dass die mittelfristige Finanzplanung von jeweils 50 Mrd. D-Mark im Jahr ausgegangen war. 2090 Dieser argumentative Rückgriff auf die alte Planung zeigte jedoch, dass die Negativszenarien sich dank der guten Wirtschaftsleistung sich nicht bewahrheitet hatten. Der Sparkurs auf den Waigel auf Weisung Kohls im September 1991 eingeschwenkt war, stieß aber auf Kritik innerhalb der Koalition. Am 23. Juni 1992 sprach sich Biedenkopf im Kanzleramt gegen den Sparkurs aus, der die neuen Bundesländer seiner Ansicht nach in den Bankrott treiben würde. Auch Wirtschaftsminister Möllemann wollte dem Aufbau Ost Vorrang vor dem Sparkurs einräumen. Er glaubte: „Entweder werden die Haushaltsdaten gehalten, oder im Osten wird investiert - beides zusammen geht nicht." Diese Haushaltsdaten sahen nur einen sehr moderaten Anstieg der Ausgaben vor: Der Haushalt 1993 sollte um 2,5 Prozent gegenüber den um den Nachtragshaushalt erweiterten Haushalt 1992 wachsen. 2091

2087 2088 2089 2090 2091

Wirtschaftswoche, Nr. 19/46, 1. Mai 1992, S. 18ff. Wirtschaftswoche, Nr. 24/46. 5. Juni 1992, S. 18 ff. Verhandlungen, Band 162, S. 7794 ff. Verhandlungen, Band 162, S. 7798 f. Der Spiegel, Nr. 27/46, 29. Juni 1992, S. 25ff.

434 Am 26. Juni 1992 verabschiedete der Bundestag den Nachtragshaushalt. Dieser sah Mehrausgaben von 3,9 Mrd. D-Mark vor. Dennoch sollte die Verschuldung des Bundes um 2,6 Mrd. D-Mark gesenkt werden. Das Ausgabenmoratorium, das Mehrausgaben nur bei Einsparungen in gleicher Höhe in anderen Bereichen zuließ, wurde bis 1994 verlängert. Im Haushaltsplan sollten auch die Auflösung des Kreditabwicklungsfonds, die Übernahme des Defizits der Treuhandanstalt und die Neuregelung des Finanzausgleichs enthalten sein. Am 1. Juli billigte das Kabinett auch den Entwurf des Bundeshaushalts 1993. Im kommenden Jahr sollte der Etat 435,65 Mrd. D-Mark umfassen und eine eine Nettokreditaufnahme von 38 Mrd. D-Mark. Trotz der Rückführung der Verschuldung sollten 1993 die Ausgaben für die neuen Bundesländer von 86 Mrd. D-Mark auf 92 Mrd. D-Mark erhöht werden. 2092 In seiner Rede zur Einbringung des Bundeshaushalts 1993 am 8. September 1992 bekräftigte Waigel, das Ziel sie bis 1995 auf 25 Mrd. D-Mark zurückzufuhren. Der Verteidigungshaushalt werde im kommenden Jahr um zwei Milliarden D-Mark gekürzt und die Sonderleistungen fur Berlin um 10 Prozent auf 20 Mrd. D-Mark gesenkt. Der formale Anstieg von vier Milliarden D-Mark ergab sich laut Waigel nur aus der Weiterleitung des Mehrwertsteueranteils an den Fonds Deutsche Einheit. Waigel bezeichnete seinen Entwurf als den „stärksten Sparhaushalt, der je vorgestellt wurde." 2 0 9 3 Die SPD hatte gefordert den Entwurf zurückzuziehen und zu überarbeiten. Sie warf Waigel vor, er vernachlässige eine ganze Reihe von Haushaltsrisiken wie die von der Verfassung gebotene Einfuhrung des Grundfreibetrages, Bürgschaftsrisiken in der Größenordnung von 42 Mrd. D-Mark, die Kosten der familienpolitischen Versprechen in Folge der Neuregelung des Paragraphen 218 und Konjunktur bedingte Steuerausfalle. Fünfzig Milliarden D-Mark Schulden waren im „Sondervermögen" der Reichs- und Bundesbank geparkt worden und die prognostizierten Verbindlichkeiten der Treuhand wurden nur zur Hälfte in die Schuldenstatistik des Bundes aufgenommen, weil die Fiktion aufrecht erhalten wurde, dass die andere Hälfte die neuen Länder tragen würden. Matthäus-Maier zählte mögliche zusätzliche Ausgaben auf, die ohne Steuermehreinnahmen nicht zu bewältigen waren. Dazu gehörten steigende Agrarsubventionen, die Gewerbe- und Vermögenssteuersenkung, die steigenden Kosten der Europapolitik, der Regierungsumzug von Bonn nach Berlin, die Kosten fiir die Asylbewerber, steigende Ausgaben fur Entwicklungshilfe in Folge der Verpflichtungen von Rio und die Unterstützung für die Expo und die Bewerbung fiir die Olympischen Spiele. Sie griff den Finanzminister an, er werde als größter Schuldenmacher in die Geschichte des Landes eingehen. 2094 Auch der ehemalige Finanzminister Stoltenberg kritisierte Waigel vor der Fraktion: „Ich nehme an, dass wir bald eine Neubewertung der Finanzlage des Bundes vorzunehmen haben." Lambsdorff, Möllemann und Solms forderten weitere Kürzungen bis hin zu einem Haushaltssicherungsgesetz und im Finanzministerium sah man die „Glaubwürdigkeit" der deutschen Finanzpolitik in Gefahr. 2095

2092 2093 2094 2095

Archiv der Gegenwart, S. 36992 f. Verhandlungen, Band 163, S. 8662. Verhandlungen, Band 163, S. 8673 ff. Wirtschaftswoche, Nr. 44/46, 23. Oktober. 1992, S. 27f.

435 Am 20. November 1992 gestand der Vorsitzende des Sachverständigenrates Herbert Hax in einem Interview ein, dass die Prognose des Gremiums zu optimistisch war. Hax forderte alle Einsparmöglichkeiten zu nutzen und Steuererhöhungen nur als letztes Mittel zu sehen. Durch die stark gestiegenen Schulden existiere kein Spielraum mehr fur eine auf die Konjunktur orientierte Finanzpolitik. „Wir müssen jetzt die Staatsverschuldung eindämmen: Wenn diese noch weiter wächst in dem Maße wie bisher, dann läßt sich die destabilisierende Wirkung der Verschuldung auf mittlere Sicht nicht mehr ausgleichen." 2096 Die Bundesbank beurteilte die Möglichkeit die Schulden zurückzufuhren skeptisch: „Dem angestrebten Abbau der Defizite stehen im kommenden Jahr die Auswirkungen der konjunkturellen Abkühlung auf die öffentlichen Haushalte im Wege." 2 0 9 7 Am 3. Dezember 1992 billigte der Bundestag den Bundeshaushalt 1993, der einen Umfang von 436 Mrd. D-Mark haben sollte und nun eine nach oben korrigierte Neuverschuldung von 43 Mrd. D-Mark. 2 0 9 8 Im Januar 1993 waren die im Dezember 1992 verabschiedeten Eckwerte bereits überholt und die Neuverschuldung würde voraussichdich auf über 50 Mrd. D-Mark statt auf die anvisierten 43 Mrd. D-Mark ansteigen. Der Ausgabenanstieg würde voraussichdich bei fünf statt bei 2,5 Prozent liegen. Ausgabentreiber war vor allem die Bundesanstalt für Arbeit. Die im Solidarpakt vorgesehenen Einsparungen betrafen die Subventionen für die Landwirtschaft, Kohle, und Werften, Kürzungen beim Kinder- und Erziehungsgeld, der Ausbildungsförderung und dem Wohngeld. 2099 Der im Januar verabschiedete Nachtragshaushalt umfasste fünf Milliarden D-Mark zusätzlich fur die Bundesanstalt fur Arbeit, 2,4 Mrd. D-Mark für das Eigenkapitalhilfeprogramm, 1,6 Mrd. D-Mark zur Unterstützung der regionalen Wirtschaftsstruktur, 1,5 Mrd. D-Mark kommunale Investitionspauschale, 1,0 Mrd. D-Mark für die Zwangsarbeiterentschädigung und 2 Mrd. D-Mark für sonstige Ausgaben. 2100 Die Regierung geriet durch die Etatentwicklung und die Zunahme der Staatsverschuldung unter Druck. Bundesbankpräsident Schlesinger erklärte in einem Interview am 22. März 1993, dass das Ausmaß der Staatsverschuldung die vertretbare Obergrenze erreicht habe. 2 1 0 1 Die Bundesregierung erklärte zu erst, dass die wachsende Staatsverschuldung, da sie konjunkturbedingt sei, hingenommen werden müsse, da Steuererhöhungen und Einsparungen konjunkturell kontraproduktiv wirken würden. Im Mai kündigte Kohl jedoch schließlich an, der Bund werde bei den Finanzen die Notbremse ziehen. Waigel sollte im nächsten Jahr 20 Mrd. D-Mark aus dem Haushalt kürzen, wovon die Hälfte auf die Bundesanstalt für Arbeit entfallen sollte. 2102 Die Finanzkrise spitzte sich zu. Nach der neuesten Steuerschätzung musste der Bund bis 1995 Einnahmeausfälle von neunzig Milliarden D-Mark erwarten. Waigel erklärte im Bundestag: „Deutschland gescheitert an der Wiedervereinigung — das wäre ein historisch unglaubliches Ergebnis." In diesem Jahr musste die Bun2096 2097 2098 2099 2100 2101 2102

Wirtschaftswoche, Nr. 48/46, 20. November 1992, S. 25 f. Monatsberichte, November 1992, S. 27 f. Archiv der Gegenwart, S. 37389. Wirtschaftswoche, Nr. 4/47, 22. Januar 1993, S. 21. Wirtschaftswoche, Nr. 5/47, 29. Januar 1993, S. 25. Der Spiegel, Nr. 12/47, 22. März 1993, S. 21 ff Die Zeit, Nr. 22/48, 28. Mai 1993, S. 22.

436 desregierung allein 47 Mrd. D-Mark für die Zinslast aufbringen. Die Wochenzeitung Die ZEIT sagte voraus, dass die steigende Staatsverschuldung durch den Zwang Überschüsse zu erwirtschaften, Druck auf die Einkommen ausüben würde und zu einem „echten Armutsproblem" werden könnte. 2 1 0 3 Waigel erklärte am 23. November 1993 in der Haushaltsdebatte, der Bund werde durch die Einsparungen um 20 Mrd. D-Mark endastet und die Defizitgrenze von 70 Mrd. D-Mark eingehalten, die Ausgaben nur um 2,9 Prozent steigen. Die Regierung sei mit Mehrforderungen von 10 Mrd. D-Mark konfrontiert, davon entfielen 8 Mrd. D-Mark auf den Arbeitsmarkt. Zur Finanzierung der Deutschen Einheit seien bisher 15 Prozent aller Ausgaben gekürzt worden. „Ohne die Wiedervereinigung hätten wir heute mit Sicherheit eines der niedrigsten Staatsdefizite aller westlichen Länder. In jedem Falle wäre die Deckungslücke weit geringer als 1975 oder 1981/82." Man werde den Vorschlag des Haushaltsausschusses zu einer globalen Minderausgabe von fünf Mrd. D-Mark umsetzen. Waigel griff den unklaren Kurs der SPD an: „So feiern in den Reihen der SPD Keynes und Brüning gleichermaßen Urstände." 2104 Der FDP-Finanzpolitiker Wolfgang Weng äußerte sich vorsichtiger: „Der Haushalt beinhaltet immer noch erhebliche Risiken. Wir können nicht sicher sein, dass die Zinshöhe so niedrig bleibt. Wir können nicht sicher sein, dass nicht weitere Gewährleistungen auf den Haushalt zu kommen. Ob hier die Haushaltsansätze reichen werden, ist unsicher." 2105 Der Finanzexperte der SPD Wieczorek bezifferte die Neuverschuldung mit den Nebenhaushalten auf 150 Mrd. D-Mark und prognostizierte für das Haushaltsjahr 1994 eine Deckungslücke von 80 Mrd. D-Mark. 2 1 0 6 Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung warf der Regierung vor ihr Sparpaket erwecke „fatale Assoziationen zur Brüningschen Sparpolitik", die als Fehlleistung in die Wirtschaftsgeschichte eingegangen sei. Das DIW forderte hingegen die Aufnahme neuer Schulden. Lafontaines Kritik ging in dieselbe Richtung. Er behauptete das Sparen bei den sozialen Leistungen verlängere die Rezession. Das Kieler Institut für Weltwirtschaft nannte die Vorwürfe ihrer Kollegen „sehr unausgegoren". In dem Haushalt 1994 waren 168 Mrd. D-Mark für Sozialleistungen vorgesehen und 60,5 Mrd. D-Mark für Zinsen. Schatten und Nebenhaushalte mit eingerechnet konnten sich die Zinsen im nächsten Jahr auf bis zu 100 Mrd. D-Mark summieren. Der Haushaltsexperte der Union Adolf Roth sah in den Sparmaßnahmen die absolute Obergrenze erreicht und Waigel versprach, es werde in diesem Jahr kein weiteres Sparpaket geben. 2 1 0 7 Waigel erklärte am 20. Januar 1994, zwischen 1990 bis 1993 seien Einsparungen von 30 Mrd. D-Mark erreicht worden und berief sich auf die O E C D , die im bescheinigt habe, dass die Haushaltsziele in den 90er Jahren erreicht wurden. Waigel rechnete vor, dass ohne die Kosten der Wiedervereinigung ein annähernd ausgeglichener Haushalt erreicht worden wäre. 2 1 0 8 Die Opposition kriti-

2103 2104 2105 2106 2107 2108

Die Zeit, Nr. 23/48, 4. Juni 1993, S. 21. Verhandlungen, Band 171, S. 16452ff. Ebd. Verhandlungen, Band 171, S. 16460. Wirtschaftswoche, Nr. 30/47, 23. Juli 1993, S. 21 f. Verhandlungen, Band 172, S. 17648 ff.

437 sierte, dass in der ursprünglichen Finanzplanung eine Neuverschuldung von nur 38 Mrd. D-Mark für das Jahr 1994 vorgesehen war, die Planung dann auf 43 Mrd. D-Mark, dann 68 Mrd. D-Mark erhöht worden war. Matthäus-Meier stellte anhand dieser Zahlen mit Recht die von Waigel gerühmte Solidität der Haushaltsplanung in Frage. 2109 Der Finanzplan 1991 hatte fur das Jahr 1991 noch Ausgaben von nicht ganz 400 Milliarden D-Mark vorgesehen, der Finanzplan 1992 zeichnete dagegen schon 410,33 Milliarden D-Mark aus. Bis 1994 sollten die Ausgaben nach der damaligen Planung auf nicht ganz 439 Milliarden D-Mark steigen. 2110 Im Finanzbericht 1993 war bis zum Jahr 1994 schon ein Ausgabenanstieg auf 452 Milliarden D-Mark vorgesehen. 2111 Erst 1994 stabilisierte sich die Ausgabenentwicklung. Im Finanzbericht 1994 blieben die Ausgaben, auf der Höhe, die in dem Finanzplan 1993 fur 1993 und 1994 eingeplant worden waren. 2112 Der Haushaltskonsolidierung kam das unerwartet frühe Ende der Rezession zur Hilfe. Der Entwurf fiir den Haushalt 1994 sah ein Defizit von 68 Mrd. D-Mark vor. Die Ausgaben würden danach um 4,4 Prozent auf ein Gesamtvolumen von 478,5 Mrd. D-Mark wachsen. Zinszahlungen und die Zuschüsse an die Rentenversicherung würden sich voraussichdich erheblich erhöhen. 2113 Zu Beginn des Jahres 1994 stellte die Bundesbank fest, der strukturelle Teil des Defizits werde 1994 deudich zurückgehen. Die Konsolidierungsmaßnahem, die im Vorjahr eingeleitet worden waren, begannen „allmählich Früchte zu tragen." Die Finanzpolitik sei auf dem richtigen Weg: „Insgesamt betrachtet zeichnen sich also Fortschritte bei der Konsolidierung der Staatsfinanzen ab." 2 1 1 4 Der Bundesbankgewinn war mit 18,3 Mrd. D-Mark beträchtlich höher ausgefallen als ein Jahr zuvor und wurde im April 1994 an den Bund ausgezahlt. Auch die Steuereinnahmen waren zu diesem Zeitpunkt kräftig gestiegen. 2115 Waigel erklärte am 4. August 1994 in einem Interview, 1994 werde es keinen Nachtragshaushalt geben. 1995 stehe die Finanzpolitik auf „sicherem Boden." Waigel versprach, die Konsolidierung werde in den nächsten Jahren wirken und der Staatsanteil sich wieder verringern. Der Konjunktureinbruch 1992 und die höhere Arbeitslosigkeit hätten dreißig Mrd. D-Mark gekostet. Durch das Zurückbleiben des Haushaltswachstums hinter dem Zuwachs des BSP würde sich „automatisch ein Konsolidierungseffekt" ergeben. Waigel bezifferte die von der D D R übernommene Schuldenlast auf 600 Mrd. D-Mark. Waigel profitierte noch immer von der Sanierungsleistung seines Vorgängers Gerhard Stoltenberg, so konnte er den folgenden Vergleich anstellen: „Denn der proportionale Anstieg der Schuldenaufnahme von 1969 bis 1982 war um vieles höher als der von 1982 bis 1994." Waigel beklagte, dass ihm aus seinem letzten Sparpaket vom Bundesrat 2,5 Mrd. D-Mark gestrichen worden waren. 2116

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Verhandlungen, Band 172, S. 17656 ff. Finanzbericht 1992, S. 12. Finanzbericht 1992, S. 12. Finanzbericht 1992, S. 12. Monatsberichte, Sept. 93, S. 40ff. Monatsberichte, Jun. 94, S. lOf. Monatsberichte, Sept. 94, S. lOf. Die Zeit, Nr. 32,49, 5. August 1994, S. 15 f.

438 Das Defizit des Bundes blieb 1994 weit hinter der pessimistischen Prognose zurück. Es betrug 50, 5 Mrd. D-Mark gegenüber den 69,5 Mrd. D-Mark, die veranschlagt worden waren. Unter Einbeziehung des Bundesbankgewinnes betrug es sogar nur 39,5 Mrd. D-Mark und war damit 22 Mrd. D-Mark geringer ausgefallen als noch 1993. Die Bundesanstalt fur Arbeit hatte nur einen Zuschlag von 10 statt der geschätzten 18 Mrd. D-Mark benötigt. Ein Jahr zuvor hatte das Defizit der Bundesanstalt fur Arbeit noch bei 24,5 Mrd. D-Mark gelegen. 2117 Nach der Überwindung des Abschwungs blieb eine schwierige Bilanz, die eine dauerhafte Bürde fur die zukünftige Politik darstellte: Der Anteil des Sozialbereiches am Haushalt stieg von 21 Prozent im Jahr 1989 auf 37 Prozent im Jahr 1995. Im gleichen Zeitraum stieg der Anteil der Zinsen von elf Prozent auf 21 Prozent. 2118 Die Schulden hatten 1989, dem letzten Jahr vor der Wiedervereinigung, knapp über 600 Mrd. D-Mark und würden im Jahr 1994, einschließlich aller Nebenhaushalte auf über 1,4 Billionen D-Mark steigen. Voraussichdich würde bereits im Jahr 1995 ein Viertel der Steuereinnahmen für Zinsen aufgewendet werden müssen. Im selben Jahr würde die Steuerbelastung selbst mitderer Einkommen auf bis zu 50 Prozent des Einkommens ansteigen. Kohl kündigte an: „Wir werden den Sparkurs eisern fortsetzen." 2119 Das schien auch dringend geboten, denn der Bund übernahm mit dem Ende des Jahres 1994 die Schulden der Treuhand im Umfang von 205 Mrd. D-Mark und des Kreditabwicklungsfonds im Umfang von 103 Mrd. D-Mark. 2 1 2 0

Zusammenfassung: Die Haushaltspolitik 1990-1994 Die haushaltspolitische Entwicklung der Jahre 1990 bis 1994 soll an dieser Stelle zusammengefasst werden. 1989 hatten die Gebietskörperschaften als Folge des Wirtschaftsaufschwungs mit einer Neuverschuldung von nur 20 Milliarden D-Mark abgeschlossen, gegenüber 50 Milliarden im Jahr zuvor. Waigel konnte dank der jahrelangen Vorarbeit seines Vorgängers Gerhard Stoltenberg darauf verweisen, dass ohne die Einheit die Bundesregierung den besten Haushalt seit 1969, den Beginn unseres Untersuchungszeitraums hätte vorlegen können. Zur Verwaltung der durch die Kosten der Einheit verursachten Schulden wurden drei große Nebenhaushalte geschaffen: Der Kreditabwicklungsfond, der Fonds Deutsche Einheit und der Haushalt der Treuhand. Von der Treuhandanstalt hatte sich die Regierung Überschüsse durch die Veräußerung des DDR-Vermögens erhofft. Es zeigte sich jedoch bald, dass auch die Treuhand einen großen Berg Schulden hinterlassen würde. Der Bundeshaushalt selbst musste sich, statt mit 27 Milliarden D-Mark, wie von Waigel veranschlagt, schließlich mit 67 Milliarden D-Mark verschulden. Diese Neuverschuldung ergab sich bei der Zusammenfuhrung des Bundeshaushalts mit dem DDR-Haushalt. Für das Jahr 1991 wollte Waigel die Neuverschuldung auf 70 Milliarden 2117 2118 2119 2120

Monatsberichte, Feb. 95, S. 40. Ritter, Preis der Einheit, S. 365. Die Zeit, Nr. 40/49, 25. November 1994, S. 24. Monatsberichte, Feb. 95, S. 6 ff.

439 D-Mark begrenzen. Dies gelang ihm, indem er die 18 Milliarden D-Mark, die die Anhebung der Beiträge zur Arbeitslosenversicherung nutzte, um den Zuschuss des Bundes zu reduzieren. Zusammen mit den zwei Milliarden D-Mark, die direkt bei der Bundesanstalt eingespart wurden, ergab sich damit eine Ausgabenreduktion von 20 Milliarden D-Mark in diesem Bereich. Waigel hatte den Haushalt ursprünglich unter 400 Milliarden D-Mark halten wollen, korrigierte die Ausgaben dann auf 411 Milliarden D-Mark nach oben, konnte dann aber wegen der guten Wirtschaftslage wieder auf knapp über 400 Milliarden D-Mark heruntersetzen. Für das Jahr 1992 hatte Waigel ein Volumen von 422 Milliarden D-Mark und eine Obergrenze der Neuverschuldung von 50 Milliarden D-Mark angesetzt. Dieser Ansatz wurde aber von verschiedenen Richtungen her bezweifelt. Daraufhin zog Kohl im September 1991 selbst die Finanzpolitik an sich und entschied, die von Waigel angesetzte Obergrenze politisch zu verteidigen. Die Ereignisse des Jahres 1992 stellen sich in der Zusammenfassung folgender Maßen dar: Kohl und Waigel hatten sich auf einen grundsätzlichen Sparkurs geeinigt, um eine stabile haushaltspolitische Basis fur die Übernahme der Schulden aus den Nebenhaushalten zu schaffen. Nicht nur die neuen Bundesländer sondern auch fur die EG und Osteuropa mussten erhebliche zusätzliche Mittel aufgewendet werden. Nach dem Stand vom Ende März 1993 hatte die Bundesrepublik seit 1989 Osteuropa mit 117,9 Mrd. D-Mark unterstützt. Davon gingen 80,6 Mrd. D-Mark in die Sowjetunion und ihre Nachfolgestaaten. Allein der Abzug der sowjetischen Truppen hatte die Deutschen knapp 19 Mrd. D-Mark gekostet. Die Kreditgarantien und Hermesbürgschaften beliefen sich auf 41,65 Mrd. D-Mark, 17,1 Mrd. D-Mark betrugen die unbezahlten Exporte Ostdeutschlands in die UdSSR. 2 1 2 1 Auch die EG war bei der Bewältigung der Kosten der Einheit alles andere eine Hilfe. Allein durch die 1988 beschlossenen Maßnahmen zur Eigenfinanzierung der Gemeinschaft wuchsen die Kosten für den Bundesetat massiv an, und zwar von 22 Mrd. D-Mark im Jahr 1990 auf 47 Mrd. D-Mark im Jahr 1995. Die Leistungen von Brüssel für die Bundesrepublik stagnierten mit Ausnahme der Hilfen für die neuen Bundesländer. Die Wochenzeitung Die ZEIT kommentierte diese Entwicklung: „Die Kluft zwischen Leistung und Gegenleistung wird immer tiefer." die Nettobelastung würde von 12 Mrd. D-Mark auf 31 Mrd. D-Mark anwachsen. Bundesbankpräsident. 2122

Die Bundestagswahl 1994 und das Ende der Rezession Das Jahr 1993 brachte eine tiefe Rezession. Das BSP ging um 1,3 Prozent zurück. Im Oktober 1993 überstieg die Zahl der Arbeitslosen erstmals die Grenze von 3,5 Millionen. 2123 Der Bericht des Sachverständigenrates vom 12. November 1993 sagte den Anstieg der Arbeitslosigkeit auf über vier Millionen voraus. 2124 Und tatsächlich hatte im Januar die 2121 2122 2123 2124

Wirtschaftswoche, Nr. 23/47, 4. Juni 1993, S. 15. Die Zeit, Nr. 1/47, 27. Dezember 1991, S. 18. Archiv der Gegenwart, S. 38516. Archiv der Gegenwart, S. 38517.

440 Arbeitslosigkeit zum ersten Mal die Vier-Millionen Grenze überschritten. Doch zeigten sich bald die ersten Anzeichen einer Aufhellung der düsteren Lage. Die Wirtschaftsforschungsinstitute korrigierten ihre Gewinnprognose nach oben. 2 1 2 5 In Ostdeutschland sah die Lage besser aus: „Im Gegensatz zu Westdeutschland ist in Ostdeutschland ein anhaltend kräftiges Wirtschaftswachstum zu beobachten." Die wirtschaftliche Expansion erfasste auch das verarbeitende Gewerbe. In Ostdeutschland stieg die Zahl der Arbeitslosen dennoch auf 1,3 Millionen. Der Grund lag in den steigenden Lohnkosten: „Die Lohnpolitik in Ostdeutschland hat bisher wenig Rücksicht auf die Wettbewerbsfähigkeit der Betriebe genommen." Ende 1993 erreichte die Löhne ungefähr 80 Prozent des westdeutschen Durchschnitts. 2126 In den Frühjahrsmonaten verbesserte sich die Lage der deutschen Wirtschaft deudich. Die stärksten Impulse für die Konjunktur kamen von der Auslandsnachfrage. 2127 Trotz der wirtschaftlichen Aufwärtsbewegung in den neuen Bundesländern blieb die Situation im Osten instabil. Die reale Inlandsnachfrage in Ostdeutschland war weiterhin fast doppelt so hoch wie die eigene Produktionsleistung. Die Bundesbank stellte fest, „dass zwischen Lohnniveau und Produktivität bislang eine große und nur langsam abnehmende Diskrepanz bleibt." 2128 In einem Interview mit der relativierte der Kanzler-Berater Johannes Ludewig das bestehende Arbeitsmarktproblem. „Wir haben heute mehr Arbeitsplätze in Deutschland als 1989." Er führte die hohen Zahlen auf die „Zuwanderung von viereinhalb Millionen Menschen", vor allem Asylbewerber, Spätaussiedler und Flüchdinge aus dem ehemaligen Jugoslawien, in den letzten vier Jahren zurück. 2129 In der Jahresmitte beschleunigte sich der Wirtschaftsaufschwung. Zum ersten Mal seit der Wende begann die Zahl der Erwerbstätigen in Ostdeutschland wieder zu steigen 2 1 3 0 Der Arbeitsplatzabbau war schon im Frühjahr zum Stillstand gekommen. Ende Juli belief sich die Zahl der Erwerbslosen im Westen auf 2,57 Mio. Die Arbeitslosenquote betrug 8,3 Prozent. In Ostdeutschland waren 1,14 Millionen Menschen ohne Arbeit. Die Arbeitslosenquote belief sich auf 15,1 Prozent. 535000 Personen nahmen an ABM und Weiterbildungsmaßnahmen teil. 2131 Seit dem Frühjahr sprachen deshalb sowohl Rexrodt als auch Kohl vom „Aufschwung." Der Kanzler sah sich durch die Entwicklung in seiner Politik bestätigt und unterstrich auf SAT 1: „Es gibt überhaupt niemanden in Deutschland, der etwas von Ökonomie versteht, der bestreitet, dass der Aufschwung in Gang gekommen ist." 2 1 3 2 Für 77 Prozent der Wähler stand das Thema Arbeitslosigkeit an erster Stelle und die Arbeitslosigkeit wurde auch in den Medien an erster Stelle behandelt. 2133 Die Union sah die Hauptaufgabe in der Schaffung neuer Arbeitsplätze durch die Förderung von Investi2125 2126 2127 2128 2129 2130 2131 2132 2133

Archiv der Gegenwart, S. 39063. Monatsberichte. Feb. 94, S. 8 f. Monatsberichte. Jun. 94, S. 6. Monatsberichte. Jun. 94, S. 10. Wirtschaftswoche, Nr. 19/48, 6. Mai 1994, S. 20f. Monatsberichte. Sep. 94, 10f. Monatsberichte. Aug 94, S. 29 ff. Die Zeit, Nr. 27/49, 1. Juni 1994, S. 19. Andreas Bachmeier, Wirtschaftspopulismus. Die Instrumentalisierung der Arbeitslosigkeit in Wahlkämpfen, Wiesbaden 2006, S. 68.

441

tionen und flankierenden arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen. Die SPD forderte staatliche Arbeitsmarkt- und Strukturpolitik und die Finanzierung gesellschaftlich sinnvoller Arbeit. Die FDP stellte die Begrenzung der Staatsverschuldung, Steuersenkungen und die Privatisierung staatlicher Leistungen in den Mittelpunkt ihres Wahlkampfes. 2134 Das Wahlprogramm der Unionsparteien wurde von Kohl und Waigel am 25. August 1994 vorgestellt. Darin legte sich die Union auf ein finanziell umfassendes Programm fur Ostdeutschland fest. Die Union versprach 160 Mrd. D-Mark für private und öfFendiche Investitionen aufzuwenden. Von 1995 an sollten jedes Jahr zehn Jahre lang 6,6 Mrd. D-Mark in Umweltschutz, Energieversorgung, Trinkwasser, Bau, Forschung und Ausund Weiterbildung investiert werden. Der Straßenbau sollte im kommenden Jahr mit 5 Mrd. D-Mark gefordert werden. In das Telekommunikationsnetz sollten 60 Mrd. D-Mark investiert werden. Insgesamt sollten 700 000 neue Wohnungen entstehen und allein noch im laufenden Jahr 100 000 neu Baugenehmigungen erteilt werden. Allerdings erklärte Waigel das gesamte Programm unterliege grundsätzlichem Finanzierungsvorbehalt.2135 Für die Regierung von Vorteil war, dass das Statistische Bundesamt zeitgleich mit dem Beginn der heißen Phase des Bundestagswahlkampfes die neuen Zahlen vorstellte. Im Westen war fur das erste Halbjahr ein Wachstum von 2,2 Prozent ermittelt worden, fiir die neuen Bundesländer von 8,9 Prozent.2136 Sowohl Regierung als auch die Opposition wurden von der Stärke des Aufschwungs überrascht. Der Wahlkampfauftakt der SPD wurde durch die neuen Daten erheblich gestört.2137 Die SPD war durch die neuen Umstände gezwungen auf Nebenschauplätze auszuweichen. Sie kritisierte die hohe Jugendarbeitslosigkeit und thematisierte in diesem Zusammenhang die „Lehrstellenlücke."2138 Nicht nur der Aufschwung verbesserte die Bedingungen fiir die Wiederwahl der Regierungskoalition, sondern auch das unglückliche Agieren des SPD-Kanzlerkandidaten Rudolf Scharping. Durch dessen Verwechslung von brutto und netto im Zahlenmaterial der SPD-Vorschläge wurde die Glaubwürdigkeit der SPD in Fragen von Wirtschaft und Beschäftigung erschüttert.2139 Am 21. September 1994 gab die Bundesregierung eine Erklärung zum Aufschwung ab. Wirtschaftsminister Rexrodt schätzte das Wachstum fur 1994 auf 2,5 Prozent und fiir das nächste Jahr auf drei Prozent. Neben der Export- habe auch die Inlandskonjunktur Tritt gefasst. Die Arbeitslosigkeit gehe erstmals seit 1991 zurück. Er schätzte das Beschäftigungswachstum fur dieses Jahr auf 150000 und für das kommende Jahr auf 250000 zusätzliche Stellen. Rexrodt warf der SPD vor auf eine Rezession gesetzt zu haben. 2140 Erstmals seit 1989 war auch die Erwerbstätigkeit im Osten wieder angestiegen.2141 Die Produktion im Osten war 1992 um 7,8 Prozent gestiegen, 1993 um 5,8 Prozent und

2134 2135 2136 2137 2138 2139 2140 2141

Archiv der Gegenwart, S. 39268. Der Spiegel, Nr. 28/48, 11. Juli 94, S. 22 f. Die Zeit, Nr. 38/49, 16. September 1994, S. 25. Die Zeit, Nr. 38/49, 30. September 1994, S. 25. Bachmeier, Wirtschaftspopulismus, S. 73. Bachmeier, Wirtschaftspopulismus, S. 78. Verhandlungen, Band 174, S. 21555. Jahresgutachten 1994/45, S. 93.

442 1995 sogar um 9,5 Prozent. 21 '' 2 In Westdeutschland kam der Personalabbau in der zweiten Jahreshälfte zum Stillstand, weil die Unternehmen die „entscheidenden Personalanpassungen" vorerst abgeschlossen hatten. 2143 Der Sachverständigenrat kam im November zu einer nüchternden Einschätzung der Lage: „Vom Ziel eines hohen Beschäftigungsstandes ist die deutsche Wirtschaft im Jahre 1994 mit Arbeitslosenquoten von 9 von Hundert im Westen weiter entfernt denn je seit vierzig Jahren." Aber nur durch den Personalabbau seien viele Unternehmen wieder wettbewerbsfähig geworden. 2144 63 Prozent der Westdeutschen und 75 Prozent der Ostdeutschen nannten in der Wahl auf eine offene Frage nach dem wichtigsten Problem in Deutschland die Arbeitslosigkeit. Diese allgemeine Einschätzung stimmte jedoch nicht mit der Einschätzung der persönlichen Lage überein. Nur 13 Prozent der berufstätigen Westdeutschen hielt ihren Arbeitsplatz fiir gefährdet. Arbeitslosigkeit war also noch längst nicht ein so ein wichtiges Thema wie im Wahljahr 1998, aber wichtiger als fiir die Wahlen davor. 2145 Am 16. Oktober fanden die Wahlen zum zweiten deutschen Bundestag statt. Die Unionsparteien erhielten 41,5 Prozent, die SPD 36,4 Prozent, die FDP 6,9 Prozent und die Grünen 7,3 Prozent. 2146 Die SPD erzielte bei den Arbeitern 45 Prozent und die Union 37 Prozent. Die Arbeiter in Ostdeutschland entschieden sich der Wahlprognose zur Folge mit 41 Prozent fiir die CDU und mit nur 35 Prozent fiir die SPD. 2 1 4 7 Mit der Wende vom Jahr 1994 zum Jahr 1995, der knappen Wiederwahl der Regierungskoalition, der Auflösung des Kreditabwicklungsfonds und der Treuhand und der Übernahme ihrer Schulden durch den Bund, dem Ende der Rezession nach dem Wiedervereinigungsboom, der endgültige Entscheidung über die sozialpolitisch wichtigste Neuerung, der Pflegeversicherung, und der Durchsetzung des westdeutschen Tarif- und Sozialsystems mit all ihren Folgen, kann die „heiße Phase" der Sozial- und Wirtschaftspolitik nach der Wiedervereinigung als abgeschlossen gelten. Die wesentlichen Weichen waren gestellt. „Für die Finanzpolitik stellt sich nun die Doppelaufgabe, die hohe Abgabenbelastung zu reduzieren und das Staatsdefizit mittelfristig weiter zu verringern." 2148 Neben diesem zentralen Thema der nächsten Legislaturperiode, mussten die Urteile des Bundesverfassungsgerichts zum Familienlastenausgleich, der Eigentumsgarantie und dem Existenzminimum umgesetzt werden. Außerdem stand der schwierige Spagat bevor, die Kosten steigender Arbeitslosigkeit zu bewältigen und die Erfüllung der Maastrichtkriterien zu erreichen.

Jahresgutachten 1994/95, S. 177. Jahresgutachten 1994/95, S. 95. 2 1 4 4 Jahresgutachten 1994/95, S. 179. 2 1 4 5 Bachmeier, Wirtschaftspopulismus, S. 76 f. 2 1 4 6 Archiv der Gegenwart, S. 39396. 2 1 4 7 Bachmeier, Wirtschaftspopulismus, S. 78. 2 1 4 8 Monatsberichte, Jun. 95, S. 10. 2142

2143

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Konjunktur und Arbeitslosigkeit 1995-1998 Der wirtschaftliche Aufschwung der im Frühjahr 1994 eingesetzt hatte, setzte sich bis in den Sommer 1995 hinein fort. In den neuen Bundesländern war die Wirtschaft 1994 um neun Prozent gewachsen. 2149 Das Schlagwort „Wachstum ohne Arbeitsplätze" beherrschte jedoch bald die Diskussion. Seit 1991 waren 1,2 Millionen industrielle Arbeitsplätze verloren gegangen. Davon 223000 im Maschinenbau, 195000 in der Automobilindustrie, 160 000 in der chemischen Industrie. 2150 Im April 1995 gab es in der Bundesrepublik 28,5 Millionen Erwerbstätige, das waren eine Million weniger als vor der Rezession. 2151 Die steigenden Sozialabgaben spielten beim Beschäftigungsabbau eine wichtige Rolle. Nach einer Umfrage des Münchner Ifo-Instituts bei 700 ausgewählten Unternehmen, gaben 60 Prozent der kleinen und mittleren Betriebe an, die Kosten für die Kranken- und Rentenversicherung der Arbeitnehmer sei für den Abbau der Beschäftigten ausschlaggebend, unter den befragten Großbetrieben gaben dies fünfzig Prozent an. 2 1 5 2 Die D-Mark-Aufwertung und die Lohnsteigerungen schadeten der Wettbewerbposition der Bundesrepublik. Die Einbußen im Auslandsgeschäft führten in der zweiten Jahreshälfte 1995 wieder zu einer Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage. Die Bundesbank stellte zum Jahresende fest: „Die Seit dem Frühjahr 1994 anhaltende wirtschaftliche Aufwärtsbewegung in Deutschland ist in den Sommermonaten ins Stocken geraten." 2153 Zum Jahresende verschärfte sich die Situation. Die Wachstumsschwäche legte die „Strukturprobleme der deutschen Industrie" wieder offen. Die Industrie reagierte mit einem umfassenden Umstrukturierungsprozess, der vor allem auf die hohen Lohnkosten reagierte: Die Investitionen flössen vor allem in die Rationalisierung der Arbeitsprozesse und den Abbau von Arbeitsplätzen. In Ostdeutschland war die Ausweitung er Erwerbstätigkeit zum stillstand gekommen. Die treibende Kraft hinter dem ostdeutschen Aufschwungs war die Bauwirtschaft. Als sich nun in diesem Sektor ,Abkühlungstendenzen" durchsetzten durchsetzten wurde dies zu einem wachsendes Problem. Im Westen schritt der Beschäftigungsabbau voran. Die Bundesbank ging davon aus, dass auch ein stärkeres Wachstum das Beschäftigungsproblem nicht lösen würde. 2 1 5 4 Der Erfolg der deutschen Unternehmen entkoppelte sich durch die Rationalisierung zusehends von der Entwicklung der Beschäftigung. Dies sollte sich als nachhaltige Folge der Rezession 1992/93 herausstellen. Ende 1995 erreichte die Zahl der Arbeitslosen mit 3,791 Millionen den höchsten Dezemberstand der Nachkriegszeit. Damit verzeichnete die Bundesanstalt über 230 000 mehr Arbeitslose als im Dezember ein Jahr zuvor. Jagoda führte den Anstieg auf die ungünstige Witterung, das stockende Wirtschaftswachstum und den Rückgang arbeitsmarktpolitischer Maßnahmen zurück. Die Perspektiven fur das Jahr 1996 sah Jagoda „alles andere als 2149 2150 2151 2152 2153 2154

Monatsberichte, Feb. 1995, S. 6 - 1 1 . Der Spiegel, Nr. 51/49, 18. Dezember 1995, S. 76ff. Wirtschaftswoche, Nr. 29/49, 13. Juli 1995, S. I4ff. Wirtschaftswoche, Nr. 33/49, 10. August 1995, S. 22. Monatsberichte, Dez. 1995, S. 6 f. Monatsberichte, Feb. 96, S. 6-9.

444 günstig." 2 1 5 5 Anfang 1996 überschritt die Zahl der Arbeitslosen die psychologisch wichtige Grenze von vier Millionen Erwerbslosen. Die Krise im Baugewerbe trug zum Anstieg der Zahlen wesendich bei. Im Januar hatten allein in dieser Sparte 150 000 Beschäftigte ihren Arbeitsplatz verloren. Waren im Oktober noch 100000 Bauarbeiter arbeitslos gemeldet, so waren es im März 1996 schon 350 000. 2 1 5 6 Im Verlauf des Jahres 1996 besserte sich die Marktstellung der deutschen Unternehmen. Sie griffen verstärkt auf billigere ausländische Zulieferer zurück, so dass der Anteil der importierten Komponenten in den deutschen Exportprodukten deudich zunahm. 2 1 5 7 Die wirtschaftliche Belebung im ersten Halbjahr 1996, die vor allem durch die Exportnachfrage getragen wurde, schlug sich daher kaum auf dem Arbeitsmarkt nieder. Im August 1996 lag der Anteil der Arbeitslosen im Westen bei 9,1 Prozent und im Osten bei 15,2 Prozent. 2158 Bis Ende November stieg die Arbeitslosigkeit auf 4,1 Millionen. Die Zahl der Beschäftigungslosen war jedoch noch wesendich höher als aus der Statistik hervorging, denn gleichzeitig nahmen 895 000 Personen an Fortbildungs- und Weiterbildungsmaßnahmen teil. 2159 So kann man davon ausgehen, dass im Jahr 1996 annähernd 5 Millionen Menschen in der Bundesrepublik arbeislos waren. Die erhoffte Trendwende auf dem Arbeitsmarkt stellte sich nicht ein. Zum Beginn des Jahres 1997 stellte die Bundesbank fest: „Die Belebung der deutschen Wirtschaft hat sich gegen Ende 1996 nicht fortgesetzt." Im Verlauf des Jahres 1996 hatten 500000 Personen ihren Arbeitsplatz verloren, so dass die Zahl der Arbeitslosen im Januar 1997 bei 4,3 Millionen lag 2 1 6 0 Die Arbeitslosigkeit wurde innenpolitisch zum bestimmenden Thema dieser Wahlperiode. In seiner Regierungserklärung am 31. Januar 1997 zur Beschäftigungslage erklärte Bundeskanzler Helmut Kohl, er rechne 1997 mit einer Trendwende auf dem Arbeitsmarkt und erklärte, er werde an seinem Ziel die Arbeitslosigkeit zu halbieren festhalten. 2161 Auch Wirtschaftsminister Rexrodt zeigte sich bei der Vorstellung des Jahreswirtschaftsberichts im deutschen Bundestag am 20. Februar 1997 optimistisch: „Ich bleibe aus guten Gründen bei unserer Prognose. Am Ende des Jahres 1997 wird es weniger Arbeitslose und mehr Beschäftigte als am Ende des Jahres 1996 geben." 2 1 6 2 Tatsächlich hellte sich die wirtschaftliche Lage in den kommenden Monaten auf. Die Bundesbank stellte Mitte 1997 fest: „Nach einer Unterbrechung im Herbst 1996 ist die deutsche Wirtschaft zu Beginn dieses Jahres auf den Wachstumspfad zurückgekehrt." Das Wachstum wurde im Wesentlichen durch den Export gestützt. Die Inlandsnachfrage war in Folge der Beschäftigungsverluste schwach geblieben. 2163 Dass die Arbeitslosigkeit trotz der besseren Wachstumstendenzen nicht zurückging, war für die Bundesregierung psy-

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FAZ, 10.1.1996, S. 1. FAZ, 6.3.1996, S. 15. Monatsberichte, Jun. 1996, S. 6 f. Monatsberichte, Sept. 1996, S. 6 ff. Monatsberichte, Dez. 1996, S. 55 ff. Monatsberichte, Feb. 97, S. 6 f. Verhandlungen, Band 187, S. 13947ff. Verhandlungen, Band 187, S. 14079 Monatsberichte, Jun. 1997, S. 8 - 1 2 .

445 chologisch und politisch fatal. Von einer konjunkturellen Belebung war die Lösung des Problems nicht zu erwarten: Nach Berechnungen des Internationalen Währungsfonds waren 80 Prozent der Arbeitslosigkeit strukturell bedingt und würde sich auch bei einer besseren Konjunktur nicht wesentlich verbessern. Auf diesen Umstand wies Waigel am Rande des Gipfels der G7-Minister hin. 2 1 6 4 Zu demselben Ergebnis kam auch eine Studie der O E C D , die am 26. Mai der Offendichkeit vorgestellt wurde und die strukturelle Arbeitslosigkeit in Deutschland auf 9,6 Prozent schätzte. 2165 Das Institut fur Arbeitsmarkt und Berufsforschung in Nürnberg sagte einen weiteren Anstieg der Arbeitslosigkeit voraus und bezifferte die Zahl der fehlenden Arbeitsplätze auf zwischen fünf bis sieben Millionen. Besonders Großbetriebe rechneten in den fünf kommenden Jahren mit einem weiteren Abbau von Beschäftigung. 2166 Der Wirtschaftswaise Horst Siebert sagte fur den Fall einer erneuten Rezession voraus, dass die Zahl der Arbeitslosen bis zu einer weiteren Million zusätzlichen Erwerbslosen ansteigen würde. 2 1 6 7 Im September 1997 stellte die Bundesbank fest: „Die insgesamt betrachtet durchaus beachtlichen Konjunkturerhöhung hat sich am Arbeitsmarkt bislang noch nicht nennenswert ausgewirkt." Im Gegenteil hatte sich der Arbeitsplatzabbau weiter fortgesetzt und die Arbeitslosigkeit war auf 4,4 Millionen gestiegen. 2168 Zum Beginn des Jahres 1998 erreichte die Arbeitslosigkeit den bisherigen Höchststand von über 4,8 Millionen. 2169 Die Massenarbeitslosigkeit wurde zum entscheidenden psychologischen Hindernis fur die Wiederwahl der Regierung. Die Kosten der Arbeitslosigkeit addierten sich bei Staat und den Sozialversicherungen auf 160 Mrd. D-Mark. Zwischen 1991 und 1998 waren die Sozialbeiträge von 35,2 auf 42 Prozent der Bruttolöhne gestiegen. Die moderate Lohnpolitik, auf die die Gewerkschaften seit 1995 eingeschwenkt waren, hatten den Trend, dass die Kosten der Arbeit den Arbeitsmarkt belasteten, nicht umkehren können. Die Wochenzeitung die Zeit stellte Anfang 1998 fest: „Denn tatsächlich hat die zurückhaltende Lohnpolitik der vergangenen drei Jahre noch nicht einmal die Fehlentwicklungen der kräftigen Lohnzuwächse im Nachwendeboom korrigiert." 2170

Das Bündnis für Arbeit 1995/96. Nach den Wahlen suchte Kohl die Nähe zu den Gewerkschaften. Er wollte Kompromisslösungen verstärkt in kleinen Gesprächskreisen mit der Opposition und den Arbeitnehmervertretern suchen. Zu seinen Gesprächspartnern gehörten DGB-Chef Schulte und Roland Issen, der Vorsitzende der Deutschen Angestellten Gewerkschaft. Von der

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FAZ; 9.2.1997, S. 1. FAZ, 27.5.1997, S. 18. FAZ, 18.6.1997, S. 13. FAZ, 29.8.1997, S. 15. Monatsberichte, Sept. 1997, S. 6 ff Monatsberichte, Feb. 1998, S. 9 f. Die Zeit, Nr. 7/53, 5. Februar 1998, S. 19 f.

446 Arbeitgeberseite gehörten Tyll Necker, Hans Peter Stihl, der Präsident des DIHT, Murmann und Heribert Späth zu diesem informellen Gesprächskreis. Schulte zeigte sich Kompromissbereit: „Auch über Mißbrauch muß geredet werden, für uns gibt es diesmal keine Tabus." Im Gegenzug für Kompromisse im Tarifbereich wollten die Gewerkschaften Förder- und Ausbildungsprogramme von Staat und Wirtschaft erreichen und Beschäftigungsgarantien in problematischen Branchen einhandeln. Diese Linie setzte sich durch und die Ordnungspolitiker mussten Terrain preisgeben. Kohls Vertrauter Johannes Ludewig, der als Pragmatiker galt und Industriepolitischen Ansätzen offen gegenüber stand, ersetzte das „ordnungspolitische Gewissen" des Wirtschaftsministeriums Johann Eeckhoff, der resigniert feststellte: „echte Marktwirtschaftler haben in Bonn zur Zeit keine Konjunktur." 2171 Es zeigte sich jedoch bald, wo für die Gewerkschaften die Grenzen der Kompromissbereitschaft lagen. Zwickel erklärte in einem Interview vom 12. Dezember 1994: „Wir werden an den Eckpfeilern unserer Grundsicherung, den Tarifen und dem Sozialsystem nicht rütteln." Er sprach sich gegen Billigjobs wie in den Vereinigten Staaten aus und er stellte fest, die IG Metall werde „auf keinen Fall" Niedriglöhne fur Arbeitslose tariflich vereinbaren. Zwickel lehnte auch die Einführung privater Leihfirmen zur Vermittlung von Arbeitslosen ab. Dafür setzte er sich für die Umverteilung von Arbeit zur Sicherung von Arbeitsplätzen ein. Zwickel forderte, die Mitbestimmung müsse noch weiter ausgeweitet werden. Er warf den Unternehmen mangelnde Risikobereitschaft vor und forderte mehr Investitionen. Zwickel zeigte sich aber allgemein zu Gesprächen mit der Politik und den Unternehmen zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit bereit. 2172 Damit trafen sich Zwickels Absichten mit denen des Kanzlers. Der Plan für die „Konzertierte Aktion" und die Annäherung zwischen Bundesregierung und Gewerkschaften wurde allerdings durch die öffentlichen Äußerungen aus dem Arbeitgeberlager gestört. Stihl und Murmann legten Pläne zur Rückführung des Sozialstaates vor. Ihre Forderungen waren mit den von Zwickel für eine Zusammenarbeit vorgestellten Rahmen unvereinbar. Beide forderten eine Zurückführung des Rentenniveaus und der Sozialhilfe, die Umfinanzierung versicherungsfremder Leistungen, die Anrechnung des Krankengeldes auf das Urlaubsgeld und die Erlaubnis zu Samstags- und Sonntagsarbeit. Der Vorstoß stieß auch im Arbeitgeberlager auf Kritik, weil man dort auf ein entspanntes Klima zwischen den Tarifparteien für die kommende Lohnrunde setzte. Der baden-württembergische Verhandlungsführer Dieter Hundt insistierte: „Wir wollen uns mit allem Nachdruck bemühen, die Tarifrunde in ruhigere Bahnen zu führen. Ich hoffe, daß unbedachte Äußerungen von Dritten diese Absicht nicht stören." 2173 Trotz der kaum miteinander zu vereinbarenden Positionen fanden die ersten Kanzlerrunden in einer konstruktiven Atmosphäre statt. Der neue Präsident des BDI Hans Olaf Henkel, der bis 1994 war Europa-Chef des Computerherstellers IBM gewesen war, lobte im Februar 1995 in seiner die „überraschend offene Atmosphäre" der Kanzlerrunde aus Gewerkschaften und Wirtschaftsvertretern. Die Kanzlerrunde vereinbarte, dass 2171 2172 2173

Der Spiegel, Nr. 50/48, 12. Dezember 1994, S. 90 ff. Der Spiegel, Nr. 50/48, 12. Dezember 1994, S. 93. Der Spiegel, Nr. 52/1994, 26. Dezember 1994, S. 18ff.

447 Wirtschaftsminister Rexrodt den Dialog zwischen Regierung, Arbeitgebern und Gewerkschaften moderieren sollte. Henkel erklärte, sein Ziel sei es „die Reformbereitschaft in Deutschland in Gang zu bringen." 2174 Diese Reformbereitschaft war unter dem Eindruck von Rezession und Massenarbeitslosigkeit seit 1993 auf der Gewerkschaftsseite gewachsen. Der DGB-Vorsitzende Schulte war sich als Gesamtbetriebsratsvorsitzender beim Stahlkonzern Thyssen, über die Lage auf dem Arbeitsmarkt im Klaren und strebte realistische Kompromisse an. Schlütes setzte sich fur die Einstellung von Arbeitnehmern mit befristeten Arbeitsverträgen ein, war bereit über Arbeitszeitverkürzung ohne Lohnausgleich, Arbeitszeitverkürzungen ohne vollen Lohnausgleich und Samstagsarbeit zu verhandeln. Dafür geriet er bald in den Gewerkschaften unter Druck. Engelen-Kefer und Riester distanzierten sich mit der Unterstützung der mitderen Funktionäre von Schultes Vorschlag zur Zeitarbeit, wohingegen Zwickel die heimliche Unterstützung des Öffnungskurses zugeschrieben wurde. 2175 Der Kanzler sah dies als Chance und bemühte sich deshalb das Gewicht der Union nach links zu rücken, um der konzertierten Aktion eine politische Basis zu geben. Kohl betrieb intensiv die Annäherung an den Arbeitnehmerflügel und Schärfung des sozialen Profils, was der Regierung bei der Bevölkerung Pluspunkte einbrachte. Anfang Juni 1995 besuchte Kohl zum ersten mal seit sechs Jahren wieder die Bundestagung der C D A und erklärte dort: „Wir denken nicht daran, den Sozialstaat abzubauen." Denn er wolle vor allem die „Stimmen der Arbeiter gewinnen." Er lehnte dort Einschnitte bei der Pflegeversicherung und den ostdeutschen Renten ab. 2 1 7 6 Diese Neujustierung fand auch seinen Ausdruck in Kohls Personalpolitik. Kohl verhalf den CDA-Sprecher Rainer Eppelmann zu einem Platz im Parteipräsidium 2 1 7 7 Die Annäherung an die Gewerkschaften und den Sozialflügel und der öffentliche Eindruck der Pakt-Politik wurden von den Bürgern begrüßt und brachte dem Kanzler akzeptable Zustimmungswerte. In den Umfragen von Emnid legte Kohl um sieben Prozent zu. Kohl lag mit 55 Prozent im direkten Vergleich vor dem SPDVorsitzenden Scharping, der nur 35 Prozent Unterstützung erhielt. Die Union lag in der Umfrage mit 42 Prozent deudich vor der SPD mit 32 Prozent. 2178 Fraktionschef Schäuble konnte auf dem CDU-Parteitag in Karlruhe, der zwischen dem 16 und 18. Oktober 1995 statt fand, verkünden: „Kaum eine Regierung zuvor war ein Jahr nach der Wahl von einer so breiten Zustimmung getragen wie die Regierung Helmut Kohl heute." Schäuble forderte jedoch zu gleich Arbeitsmarktreformen. Deren konsequente Umsetzung würde den Konsens mit den Gewerkschaften zwangsläufig wieder zerstören. Er forderte eine Reform der Sozial- und Arbeitslosenhilfe, Kürzungen bei abgelehnten Arbeitsplatzangeboten und die Ablehnung des Lohnabstandsgebots, mehr Eigenverantwortung und die Senkung der Lohnzusatzkosten. Schäuble begründete gegenüber den Delegierten seine Forderungen mit den Ungleichgewichten auf dem deutschen Arbeitsmarkt. Trotz der enormen Zahl von 3,5 Millionen Arbeitslosen mussten im Jahr 2174 2175 2176 2177 2178

Der Spiegel, Nr. 6/49, 6. Februar 1995, S. 97 ff. Der Spiegel, Nr. 6/49, 6. Februar 1995, S. 104. Wirtschaftswoche, Nr. 26/49, 22. Juni 1995, S. I4ff. Wirtschaftswoche, Nr. 41/49, 5. Oktober. 1995, S. I6ff. Der Spiegel, Nr. 31/49, 31. Juli 1995, S. 40f.

448 eine Million Ausnahmeregelungen fur ausländische Arbeitnehmer vergeben werden, da die angebotenen Stellen sonst nicht besetzt werden konnten. 2179 Schäuble suchte in den folgenden Monaten die Nähe zum Arbeitgeberlager und forderte Abschläge bei der Frühverrentung, die Einfuhrung von Karenztagen und allgemein die Rückführung des Sozialstaates. Der zweite Mann der C D U verfolgte damit eine ganz andere politische Linie als der Vorsitzende. Kohl strebte weiterhin einen Beschäftigungspakt der Tarifparteien an. Um den Gewerkschaften entgegenzukommen, ließ Kohl Kürzungspläne im Sozialbereich zurückstellen. Im Kanzleramt und im Wirtschaftsministerium arbeiteten Arbeitsgruppen, die die Einzelheiten des Paktes ausarbeiten. 2180 Zwickel hatte lange einen Vorstoß geplant, der die Gewerkschaften die Offensive bringen sollte. Der IG-Metall-Chef betrachtete mit Sorge, dass in vielen Betrieben nach Wegen gesucht wurde, die Arbeitsplätze zu sichern, indem sich die Belegschaft mit den Arbeitgebern auf Regelungen außerhalb des starren Tarifsystems einigte. Die Massenarbeitslosigkeit drohte somit die Gewerkschaften dauerhaft zu schwächen, deshalb suchte Zwickel nach einem Weg, um die IG-Metall wieder aus der Defensive an die Spitze der Bewegung zur Überwindung der Arbeitslosigkeit zu stellen. Zwickel plante die Gespräche mit der Bundesregierung und den Arbeitgebern auf eine institutionalisierte Basis in Form eines „Bündnisses" zu stellen und fur ein begrenztes Entgegenkommen Arbeitsplatzgarantien einzuhandeln. Die Position der IG- Metall als politischer Kraft wollte Zwickel mit diesem Vorstoß trotz Massenarbeitslosigkeit und betriebsinterner Regelungen stärken. Zwickel entschied, dass der Berliner Gewerkschaftstag der richtige Anlass dazu war, da dieser genügend öffendiche Aufmerksamkeit auf sich zog, um seiner Erklärung ein breites Echo zu sichern. In seiner Rede erklärte Zwickel: „Ich schlage der Bundesregierung, sowie den Unternehmen und ihren Verbänden ein Abkommen auf Gegenseitigkeit zur Schaffung von Arbeitsplätzen vor, ein „Bündnis für Arbeit". Zwickels Bündnis-Vorschlag enthielt ein konkretes Angebot: „Wenn die Unternehmen der Metallverarbeitung garantieren, in den nächsten drei Jahren auf betriebsbedingte Kündigungen zu verzichten, 300 000 zusätzliche Arbeitsplätze zu schaffen, außerdem 30000 Langzeitarbeitslose einzustellen sowie die Zahl der Ausbildungsplätze um jährlich fünf Prozent zu steigern und wenn die Bundesregierung verbindlich erklärt, bei der Novellierung des Arbeitsförderungsgesetzes auf die Kürzung des Arbeitslosengeldes und der Arbeitslosenhilfe zu verzichten und die Sozialhilfekriterien nicht zu verschlechtern, eine Regelung der Gewährleistung des Ausbildungsplatzangebots entsprechend der Nachfrage zu schaffen, Betriebe, die nicht oder zu wenig ausbilden, zum Lastenausgleich heranzuziehen, dann werde ich mich dafür einsetzen, in 1997 Einkommenssteigerungen zu vereinbaren, die sich am Ausgleich der Preissteigerung orientieren, und befristete Einarbeitungsabschläge für Langzeitarbeitslose zu ermöglichen." 2181 Die Bedingungen, an die das Angebot geknüpft war, waren so umfangreich, dass es fur Regierung und Arbeitgeber weit weniger attraktiv war, als es vielleicht auf den ersten Blick erschien. Das eigendich „Revolutionäre" der Rede bestand darin, dass Zwickel den Zusammenhang zwischen Beschäftigung und Lohnkosten einräumte. Das war zwar für die 2179 2180 2181

7. Bundesparteitag der CDU, Niederschrift, Karlsruhe, 16-18. Oktober, S. 121 ff. Der Spiegel, Nr. 51/49, 18. Dezember 1995, S. 76ff. Zwickel, Geben und Nehmen, S. 153.

449 Delegierten eine Zumutung, aber keine neue Erkenntnis. Zwickel hatte jedoch im Hinblick auf die öffentliche Aufmerksamkeit einen Coup gelandet. Das „Bündnis fiir Arbeit" war das „Highlight" des Gewerkschaftstages. Das Bündnis wurde trotz seiner inhaldichen Leere ein ausgesprochenes Medienereignis. Zwickel schwamm, trotz Kritik aus den eigenen Reihen, auf einer Welle des Zuspruchs: „Nach meinem Vorstoß zum „Bündnis für Arbeit" war der Medienrummel um die IG-Metall enorm. Unvermittelt bestürmten mich engagierte Redaktionen mit Interviewwünschen, luden mich zu thematischen Foren ein und baten um Gastkommentare in verschiedenen Gazetten. Rundfunk- und Fernsehteams überschütteten mich mit Terminanfragen, und zahlreiche ausländische TV-Teams reisten an, um vom deutschen „Bündnis fur Arbeit" berichten zu können." 2 1 8 2 Die FAZ kommentierte Zwickels Bündnisvorschlag: „Musste die IG-Metall sich über lange Zeit hinweg nur mit Meldungen über Mitgliederschwund und Ansehensverlust, schließlich sogar über Verschwendung und Missmanagement bei Immobiliengeschäften herumschlagen, so hat die Gewerkschaft sich jetzt geschickt und erfolgreich in die Offensive gebracht." 2183 Die IG-Metall startete im Dezember 1995 ein Aktionsprogramm, um in den Bezirken und in den Betrieben das Bündnis für Arbeit zu propagieren. Zwickel setzte die Arbeitgeber moralisch unter Druck: „Wir werden die Arbeitgeber zu einer Antwort treiben, weil es um Menschen und um Arbeit geht." Den Einwand der Juristen die Arbeitgeberverbände könnten, selbst wenn sie es wollten, keine rechtlich verbindlichen Zusagen zur Schaffung von 300 000 Arbeitsplätzen machen und die Bedingung Zwickels nicht erfüllen, wischte der IG-Metall-Chef beiseite: „Es ist vieles machbar, wenn der politische Wille da ist." 2 1 8 4 Diese Reaktion zeigt, dass das Bündnisangebot Zwickels auf tönernen Füßen stand und Zwickel den entscheidenden Punkt einfach verdrängte - Die Arbeitgeberverbände konnten fiir seine lohnpolitischen Konzessionen keine Gegenleistungen anbieten, die fur ihr Mitglieder binden waren. Im Januar 1996 lobte Stumpfe zwar das Bündnis für Arbeit, bestritt jedoch zu gleich seine konzeptionelle Grundlage. Er erklärte zwar „Ich glaube, dass es in unserer Situation ganz wichtig ist, eine konzertierte Aktion wieder ins Leben zu rufen." Er Stellte dann aber fest: „Wir können 1996 keine zusätzlichen Arbeitplätze schaffen." 218 ^ Dessen ungeachtet verständigten sich Regierung, Arbeitgeber und Arbeitnehmer auf eine mit den Mitteln des Bündnisses nicht realisierbare Absichtserklärung. Am Mittwoch den 24. Januar 1996 wurde bekannt gegeben, dass das Bündnis sich auf das Ziel verständigt hatte bis zum Jahr 2000 zwei Millionen neue Arbeitsplätze zu schaffen. 2 1 8 6 Diese Zusage sollte sich für die Bundesregierung als psychologischer Bumerang erweisen. Denn die Messlatte war nun denkbar hoch gehängt und bei einem weiteren Anstieg der Arbeitslosigkeit war ein Gesichtsverlust für den Kanzler und seine Regierung unvermeidbar. Als ausgerechnet zum Beginn des Wahljahres 1998 die Arbeitslosigkeit statt sich auf das vorgegebene Ziel — die Halbierung der Arbeitslosigkeit — hinzubewegen eine neue Rekordmarke erreichte, hatte diese Zusage den größtmöglichen politischen Schaden angerichtet. 2182 2,83 2184 2185 2186

Zwickel, Geben und Nehmen, S. 157 f. FAZ, 23.11.1995, S. 17. FAZ, 27.11.1995. Wirtschaftswoche, Nr. 4/50, 18. Januar 1996, S. 20 ff Der Spiegel, Nr. 5/50, 29. Januar. 1996, S. 22 ff.

450 Durch das Ausrufen des „Bündnisses fur Arbeit" waren die Arbeitgeber vorerst in die Defensive geraten, denn das Arbeitgeberlager war zerstritten. Der BDI war über den moderaten Kurs des BDA erzürnt. Henkel und Murmann standen sich mehr als distanziert gegenüber. Henkel und der BDI waren davon überzeugt, ihre Ziele nur in der Konfrontation mit den Gewerkschaften erreichen zu können. Die Entwicklung spielte den Gegnern des Bündnisses für Arbeit in die Hände, da sich die offensichtlichen Gegensätze nicht auflösen ließen. In der dritten Märzwoche 1996 erklärte Stumpfe von Gesamtmetall das Bündnis für tot. 2 1 8 7 Der moderate Stumpfe begründete seine Einschätzung dem SPIEGEL damit, dass die Gewerkschaften von ihrer Forderung nach der Schaffung von 100 000 Arbeitsplätzen für eine zurückhaltende Tarifpolitik nicht abgegangen waren und die IG Metall keine Gegenmeinung zulasse. 2188 Das Bündnis für Arbeit scheiterte nicht, an der Uneinsichtigkeit der Arbeitgeberverbände, sondern an der falschen Prämisse, die Zwickel schon in der ersten Rede zum Bündnis aufgestellt hatte. Die Arbeitgebervertreter konnten Zwickel keine „Garantien" für die Schaffung von Arbeitsplätzen geben. Dies zeigten auch die bisherigen Erfahrungen: Eine Arbeitsgruppe im Kanzleramt untersuchte die Einhaltung der Selbstverpflichtungen der Wirtschaft der letzten Jahre. Egal ob es sich um die Schaffung von Ausbildungsplätzen handelte, die Reduktion von Kohledioxid, der verstärkten Abnahme von Ostwaren oder zusätzlichen Investitionen in die neuen Bundesländer - Das Ergebnis dieser Evaluation viel in jedem Einzelfall ernüchternd aus. Kohl fühlte sich von der Wirtschaft getäuscht und im Stich gelassen. Dabei zeigte das Scheitern der Selbstverpflichtungen einfach die natürlichen Grenzen der „Konzertierten Aktion". Die Unternehmensverbände besaßen keine Handhabe eingegangene Verpflichtungen gegenüber ihren Mitgliedern durchzusetzen. 2189 Nach einer Umfrage des Ifo-Instituts waren nur ein Drittel der befragten Unternehmer bereit, die Selbstverpflichtungen ihrer Verbände umzusetzen. Ein weiteres Drittel gab an, die Empfehlungen ihrer Verbände einfach zu ignorieren und 23 Prozent wollten nach eigenen Angaben sogar juristisch dagegen vorgehen. 2190 Kohl ließ das Bündnis fallen, als sich zeigte dass am Verhandlungstisch mit Gewerkschaften und Arbeitgebern nichts zu erreichen war, um auf eigene Faust und unter Inkaufnahme massiver Konflikte Reformen umzusetzen. Zwickel schreibt in seinen Erinnerungen, ihm sei bis heute „schleierhaft", warum Bundeskanzler Helmut Kohl das Bündnis kurzerhand fällen ließ. 2191 Kohl verabschiedete sich nach den Landtagswahlen schlicht von einem politischen Projekt, das zwar kurzfristig politisch nützlich, aber im Ergebnis zum Scheitern verurteilt war. Dass das Bündnis für Arbeit nicht weiterführte, zeigte sich auch in der Entwicklung jenseits des Rampenlichts der Politik. Die Verhandlungen der IG-Metall mit Gesamt-Metall über den Abbau von Überstunden kamen zu keinem Ergebnis und bis etwa April 1996 waren alle regionalen Bündnisse für Arbeit, die im Dezember angestoßen worden waren, ge2187 2188 2189 2190 2191

Der Spiegel, Nr. 13/1996, 25. März 1996, S. 114ff. Der Spiegel, Nr. 13/1996, 25. März 1996, S. 116. Der Spiegel, Nr. 20/1995, 15. Mai 1995, S. 104 ff. Wirtschaftswoche, Nr. 20/49, 11. Mai 1995, S. 32 ff. Zwickel, Geben und Nehmen, S. 160.

451 scheitert.2192 Als Kohl erkannte, dass der Versuch die wesendichen Reformen in einem nationalen Konsens mit Arbeitgebern und Gewerkschaftlern zu erreichen, gescheitert war, setzte er nach den Landtagswahlen darauf, die Reformpolitik auch gegen die Widerstände der Gewerkschaften durchzusetzen. Die gesellschaftlichen Konflikte, die diese Politik zwangsläufig herbeiführen musste, trugen dann wesendich zur Abwahl der Koalition 1998 bei. 2 1 9 3

Kohls politische Wende 1996 Für Kohl übernahm in dieser Situation Kohls Vertrauter Staatssekretär Ludwig die politische Planung. Am Sonntag den 14. Januar trug Ludewig auf einer Klausurtagung der Union einen Vierpunkteplan vor: Es sollte ein Notprogramm gegen die Arbeitslosigkeit sein. Sein Plan sah die Senkung der Lohnnebenkosten auf unter vierzig Prozent durch die Erhöhung der Mehrwertsteuer und die Senkung der Einkommensteuer, finanziert durch die Streichung von Steuervergünstigungen vor. Die Gründung von Unternehmen wollte Ludewig staadich fördern. An anderer Stelle sollten Subventionen abgebaut werden und zwar auch in politisch brisanten Bereichen wie Kohle und Landwirtschaft, um das Staatsdefizit abzubauen. Blüm begrüßte die Idee, die Mehrwertsteuer zur Senkung der Sozialabgaben zu erhöhen. Zwei Tage später schnitt Blüm im Fraktionsvorstand später das Thema an, stieß aber auf die Ablehnung von Michael Glos. Der Plan wurde später von Glos, Waigel, Seehofer, Blüm, Schäuble und Bohl im Kanzleramt besprochen. Auch Waigel lehnte die Mehrwertsteuererhöhung ab. Kohl überlies es Ludewig die Reformdebatte in die Unionsfuhrung zu tragen und wartete selbst das Ergebnis des Bündnisses fur Arbeit ab. 2 1 9 4 Auf der Sitzung des Bündnisses sagte Kohl zu, dass die Erhöhung der Mehrwertsteuer vorerst nicht in Frage kam. Auch Ludewigs Vorschläge zur Streichung von Steuervorteilen mit einem Volumen von dreißig Milliarden D-Mark bargen erhebliche Brisanz. Im Finanzministerium hielt man die Sparvorschläge nur für durchfuhrbar, wenn auf auf der anderen Seite dem Steuerzahler eine Nettoentlastung geboten würde. 2195 Damit waren die Konflikdinien, die das Jahr 1997 bestimmten bereits vorgezeichnet. Blüm sollte an der Idee, die Sozialversicherung durch die Mehrwertsteuererhöhung zu entlasten festhalten, wohingegen das Finanzministerium später auch zur Finanzierung der Nettoendastung auf die Mehrwertsteuer zurückgreifen wollte. Kohl leitete nach den Landtagswahlen am 24. März 1996 die politische Wende ein. Da das Bündnis fur Arbeit festgefahren war und die Verhandlungen zu keinem Ergebnis führten, führte Kohl nun in kurzer Zeit den Schwenk auf die Linie der von Schäuble vertretenen konfliktreichen Reformpolitik herbei. Der SPIEGEL kommentierte diese politische Wende im April 1996 wie folgt: „Die politischen Fronten sind verändert. Eindeutig hat sich die Koalition auf die Seite der Arbeitgeber gestellt." 2196 2192 2193 2194 2195 2196

Jahresgutachten 1996/97, S. 114. Und im Jahr 2005 zur Abwahl von Bundeskanzler Gerhard Schröder. Der Spiegel, Nr. 4/50, 22. Januar 1996, S. 82 ff. Der Spiegel, Nr. 5/50, 29. Januar 1996, S. 22ff. Der Spiegel, Nr. 18/50, 29. April 1996, S. 36 ff.

452 Am 23. April 1996 stellte Kohl auf der Sitzung des Bündnisses für Arbeit die Anwesenheit vor vollendete Tatsachen. Durch die Ankündigung eines harten Sparkurses und der Reform der Lohnfortzahlung fühlte sich die Gewerkschaftsseite vor den Kopf gestoßen. Schulte kündigte „massiven Widerstand" an. 2 1 9 7 Die Gewerkschaften fühlten sich brüskiert über die plötzliche Verhärtung der Fronten. Zwickel schreibt in seinen Memoiren, „Bis zu den Landtagswahlen im Frühjahr 1996 war diese positive Tendenz aus dem Regierungslager erkennbar. Dann brach die Diskussion plötzlich ab." 2 1 9 8 Es waren aber die Gewerkschaften, die unter den gegeben Umständen nicht bereit waren, die Gespräche fortzusetzen. Schulte warf der Regierung vor, mit den Arbeitgebern ein „Bündnis gegen Arbeit" zu schließen und sah unter diesen Bedingungen keinen Sinn darin, die Gespräche fortzusetzen. 2199 Jetzt verlagerte sich der politische Schwerpunkt von den Verhandlungsrunden im Kanzleramt zurück in die Koalitionsfraktionen. In den Koalitionsverhandlungen über die Reform- und Sparbeschlüsse kam es zu einem engen Zusammenwirken von FDP-Parteichef Gerhardt und CSU-Landesgruppenchef Glos mit der Rückendeckung von Helmut Kohl. Kohl mischte sich in die fachliche Diskussion nicht ein, gab aber die Richtung vor und drängte Blüm und Waigel, die sich beide nur widerstrebend dem neuen Kurs fügten, sich diesem anzupassen. Die FDP war der Gewinner dieser Entwicklung. Mit dem Scheitern der Bündnispolitik, sahen sich die Liberalen mit ihrer Politik wieder im Aufwind. Westerwelle erklärte der FAZ: „Alles ging in Richtung FDP, das hat der Zwang zur ökonomischen Vernunft bewirkt." 2200 Die Koalition einigte sich auf ein gewaltiges Sparpaket im Umfang von 25 Mrd. D-Mark Entlastung für den Bundeshaushalt, 20 Mrd. D-Mark für die Sozialversicherungen und 25 Mrd. D-Mark für die Länderhaushalte. Die Verschiebung der Kindergelderhöhung und der Erhöhung des Kinderfreibetrages und des Existenzminimums und der Anpassung der Sozialhilfe um ein Jahr waren bis zum Schluss umstritten. Über die von der FDP geforderte Abschaffung des Solidaritätszuschlages wurde zu diesem Zeitpunkt allerdings noch nicht entschieden. 2201 Am 26. April gab Bundeskanzler Kohl eine Regierungserklärung zum Reformprogramm ab, das „Programm für mehr Wachstum und Beschäftigung" genannt wurde. Kohl bezog sich in der Rede noch auf die Zielvorgaben des gescheiterten Bündnisses: „Wir haben uns im Bündnis für Arbeit und zur Standortsicherung das Ziel gesetzt, die Arbeitslosigkeit bis zum Jahr 2000 auf die Hälfte zu reduzieren. Das ist ein ehrgeiziges Ziel, aber es ist ein erreichbares Ziel." Kohl bilanzierte die Erfolge des Bündnisses. Dazu gehörten aus seiner Sicht das Programm für Langzeitarbeitslose, die Lehrstellenzusage der Wirtschaft, eine „Offensive für die Selbstständigkeit" und die Lösung der Frage der Frühverrentung. (Siehe: Die Reform der Frühverrentung) Kohl verwies auf die Reformanstrengungen in den Nachbarländern, besonders in Schweden und den Niederlanden.

2197 2198 2199 2200 2201

Der Spiegel, Nr. 18/50, 29. April 1996, S. 36 ff. Zwickel, Geben und Nehmen, S. 160. FAZ, 25.4.1996, S. 1. FAZ, 26.4.1996, S. 2. FAZ, 26.4.1996, S. 1.

453 Kohl zog in der Rede die Konsequenzen aus der sich beschleunigenden Globalisierung: „Heute müssen wir uns mehr denn je, auf den internationalen Wettbewerb einstellen. Das muß Konsequenzen haben für die Steuern, die Abgaben, fiir Lohn- und Lohnzusatzkosten und fur viele Regulierungen. (...) Wir müssen das Verhältnis sozialer Leistungen unter veränderten weltwirtschaftlichen und demographischen Bedingungen neu ausbalancieren und dauerhaft sichern. Dies erfordert die sozialen Leistungen an die wirtschaftliche Leistungskraft anzupassen und die Hilfen (...) auf die Bedürftigen konzentrieren." Kohl erinnerte daran, dass ohne die Konsolidierungserfolge der achtziger Jahre die Transfers in die neuen Länder nicht möglich gewesen wären und kündigte „strikte Ausgabendisziplin" an. Zu den langfristigeren demographischen bedingten Schwierigkeiten der Rentenversicherung sprach Kohl Klartext: „Das Verhältnis von Beitragszahlern zu Rentenbeziehern, wird sich also drastisch verändern. Das ist überhaupt nicht zu leugnen, das ist die Realität." Daher verkündete der Kanzler die Einsetzung einer Rentenkommission unter dem Vorsitz von Norbert Blüm. Diese solle bis zum Ende des Jahres ihre Ergebnisse vorstellen und die Rentenreform bis Ende 1997 in Kraft treten. Daneben kündigte Kohl die Einsetzung einer Steuerkommission unter dem Vorsitz von Theo Waigel an. Diese Kommission sollte eine „umfassende Reform des Steuertarifs" ausarbeiten. Kohl erklärte: „Die Steuersätze sollen deudich gesenkt und das Steuerrecht vereinfacht werden. Um dieses zu erreichen, muss es weniger Ausnahmen geben." Eine Erhöhung der Mehrwertsteuer schloss Kohl zu diesem Zeitpunkt noch aus. Anvisiert war fur das Inkrafttreten der großen Steuerreform der 1. Januar 1999. Das war in der Tat ein „ehrgeiziger Zeitplan." Kohl bekräftigte den Willen der Regierung, und das galt als die größte Provokation für die Gewerkschaften, die Lohnfortzahlung - wenn auch unter der Wahrung der Tarifautonomie - neu zu regeln. 2202 Das Programm führte endgültig zum Bruch zwischen den Gewerkschaften und der Bundesregierung. Auf dem auf Anstoß der IG-Metall und Initiative des D G B organisierten Sozialgipfel am 7. und 8. Mai 1996 erklärte Zwickel, in der Regierungserklärung Kohls manifestiere sich der „Wortbruch" des Kanzlers. Zwickel erklärte: „An Stelle der gesellschaftlichen Kooperation tritt die politische Konfrontation. Wir halten an unserem Angebot fest. Aber wir werden den Weg zu mehr Arbeitslosigkeit und sozialem Unrecht auch entschieden bekämpfen." 2 2 0 3 Zwickel sprach auch von einem „Komplott gegen Arbeit und soziale Gerechtigkeit", Roland Issen von der DAG rief zum „entschlossenen Widerstand" auf. Oskar Lafontaine bekräftigte: „Das Programm der Bundesregierung hat eine totale sozialpolitische Schieflage. Der Kanzler hat die Wähler getäuscht." Auch der Vorsitzende der Bischofskonferenz Karl Lehmann tat aus Sorge um die Familien seine Bedenken kund, da die Erhöhung des Kindergeldes im Zuge der Sparanstrengungen verschoben wurde. 2 2 0 4 Kohl schwor derweil die Partei auf den neuen Kurs ein. In Dessau versammelten sich am 14. Mai die Unions- Fraktionsvorsitzenden von Bund und Ländern. Dort verkündete Kohl, die Koalition müsse „durchstarten oder abdanken". Er sei

Verhandlungen, Band 183, S. 8975 ff. Gewerkschaftliche Monatshefte 1996, Dokumentation, S. 335. 2204 Wirtschaftswoche, Nr. 19/50, 2. Mai 1996, S. 16 ff. 2202 2203

454 kein „Schönwetterkanzler" und bekräftigte seine Bereitschaft, die Konfrontation mit den Gewerkschaften durchzustehen. 2205 Die direkte Konfrontation mit den Gewerkschaften ließ nicht lange auf sich Warten. Am 15. Juni 1996 kam es in Bonn zu einer Großkundgebung gegen den Abbau von Sozialleistungen, zu der der D G B aufgerufen hatte. Hunderttausende von Demonstranten zogen in den Bonner Hofgarten. Es war eine der größten Demonstrationen seit den Protesten gegen den Nato-Doppelbeschluss. Schulte drohte der Bundesregierung „Französische Verhältnisse" an 2 2 0 6 Oskar Lafontaine reihte sich in den Protestmarsch ein. Kohl hielt den Organisatoren entgegen: „Demonstrationen schaffen keine Arbeitsplätze." 2207 Mit 350000 Teilnehmern war dies sogar die größte Gewerkschaftsdemonstration der deutschen Nachkriegsgeschichte. Zu der Demonstration waren rund 5400 Busse und 72 Sonderzüge nach Bonn gekommen. Zahlreiche Gewerkschaftler riefen dazu auf die Regierung 1998 abzuwählen und die Demonstranten skandierten: „Kohl muss weg." 2 2 0 8 Kohl reagierte mit der Demonstration von Entschlossenheit. Auf der Jahrestagung des CDU-Wirtschaftsrates in Bonn erklärte er: „Das Programm fur Wachstum und Beschäftigung wird durchgesetzt. Ich bin meiner Sache ganz sicher." Kohl zog Parallelen zu den Massenprotesten gegen den Nato-Doppelbeschluss. Wenn er damals den Demonstranten nachgegeben hätte, wäre die Einheit nicht gekommen. 2 2 0 9 Kurz vor der entscheidenden Abstimmung brachten die Gewerkschaften noch einmal 250 000 Menschen in Berlin, Dortmund, Hamburg, Leipzig, Ludwigshafen und Stuttgart auf die Straße. Die stellvertretende DGB-Vorsitzende Engelen-Kefer bezeichnete die Regierungskoalition als „Scharfmacher des Kapitals." In Stuttgart rief Klaus Zwickel vor 50 000 Demonstranten dazu auf, die „politischen Konkursverwalter" abzuwählen und in Leipzig kündigte der ÖTV-Vorsitzende Mai einen „heißen Herbst" an. 2 2 1 0 Zum Beginn der entscheidenden Woche im September 1996 sagte Kohl: „Wir machen alles, was wir angekündigt haben, seriös. In dieser Woche wird das jetzt dem Parlament vorliegende Paket verabschiedet, so wie es sich gehört am Freitag." 2211 Es gelang der Fraktionsfuhrung, sämdiche Kritiker des Sparpaketes innerhalb der Regierung auf Linie zu bringen. Diese Geschlossenheit herzustellen, musste erhebliche Anstrengungen gekosten haben, denn auch in den Koalitionsparteien war der neue Kurs umstritten. An den Demonstrationen gegen die Politik der Bundesregierung hatten sich auch Gruppierungen der C D A beteiligt und der Vorsitzende der C D A Eppelmann hatte immer wieder Änderungen angemahnt. 2212 Wie stark der Druck war, der aufgebaut werden musste, um die knappe Mehrheit zusammenzuhalten zeigt ζ. B. die Äußerung des Abgeordneten Hirsch. Der FDP-Abgeordnete Hirsch erklärte noch unmittelbar vor der Abstimmung, er

2205 2206 2207 2208 2209 2210 2211 2212

FAZ, 15.5.1996. Die Zeit, Nr. 25/51, 14. Juni 1996, S. 1. Archiv der Gegenwart, 41143. FAZ, 16.6.1997, S. 1. FAZ, 15.6.1997, S. 1. FAZ, 9.9.1996, S. 1. FAZ, 14.9.1996, S. 3. FAZ, 17.6.1996, S. 1.

455 halte die Einschränkung der Lohnfortzahlung für einen schweren politischen Fehler, der den sozialen Frieden aufs Spiel setzte. Er werde aber dennoch zustimmen, weil er sich der Vertrauensfrage nicht entziehen könne. 2 2 1 3 Gerade in dieser öffentlichen Disziplinierung der koalitionsinternen Kritiker sah die Frankfurter Allgemeine Zeitung eine Stärkung Kohls: „Daß sie aber jeden einzelnen Abgeordneten der Union und der FDP zwang, sich im Angesicht der öffendichen Stimmungsmache fiir das Sparpaket der Regierung zu entscheiden, macht den Abstimmungserfolg noch bedeutungsvoller. Die Leistung, nicht nur die Abgeordneten aus den Sozialausschüssen, sondern auch ausnahmslos alle ostdeutschen CDU-Parlamentarier bei der Stange gehalten zu haben, wird auf den Rest der Legislaturperiode ausstrahlen." Drei mal konnte die Koalition alle 341 Stimmen aufbieten und damit den Einspruch des Bundesrates gegen die Einschränkung der Lohnfortzahlung, die Erhöhung der Rentenaltersgrenze fur Frauen und gegen die Senkung der Gesundheitsbeiträge abweisen. Kohl hatte demonstriert, dass er Herr der Lage war und die knappe Mehrheit der Koalition geschlossen entscheiden konnte. 221 '* Das verabschiedete Sparpaket war umfassend. Die Rentenaltersgrenze für Frauen wurde von 60 auf 65 Jahre angehoben, die Regeldauer von Kuren von vier auf drei Wochen gekürzt, der Kündigungsschutz in Kleinbetrieben eingeschränkt, die Lohnfortzahlung auf 80 Prozent des vorherigen Arbeitsendgeldes gekürzt, die Beitragssätze der gesetzlichen Krankenkassen sollten zum 1. Januar 1997 um 0,4 Prozentpunkte gekürzt werden und die Zuzahlung zu Arzneimitteln erhöht, das Krankengeld von 80 auf 70 Prozent des Bruttoverdienstes gesenkt, der Kassenanteil fur Brillenfassungen gestrichen. Für jüngere Versicherte entfiel die Zuzahlung zum Zahnersatz. 2215

Reform der Lohnfortzahlung Der Versuch zur Finanzierung der Pflegeversicherung Karrenztage einzuführen war am Widerstand der Gewerkschaften, der SPD und der grundsätzlichen Ablehnung von Blüm und dem Arbeitnehmerflügel der Union gescheitert. Stattdessen hatten sich Regierung und Opposition auf die Abschaffung eines Feiertages geeinigt. Damit war Schäubles Plan gescheitert bei der Einfuhrung der Pflegeversicherung zu gleich die Lohnfortzahlung einzuschränken. Diese Auseinandersetzung um die Pflegeversicherung hatte Frühjahr 1994 einen Abschluss gefunden. Unmittelbar nach der Bundestagswahl 1994 nahm Schäuble die Pläne zur Einschränkung der Lohnfortzahlung wieder auf und sprach sich im C D U Präsidium erneut fur die Kürzung der Ansprüche aus. 2 2 1 6 Dass die Lohnfortzahlung politisch mit allergrößter Vorsicht behandelt wurde und sich die Koalition schließlich doch von Karrenztagen Abstand genommen hatte, hatte einen guten Grund: Die Lohnfortzahlung war 1957 in einem als „legendär" geltenden Streik erkämpft worden und war für 2213 2214 2215 2216

FAZ, 14.9.1996, S. 2. FAZ, 14.9.1996, S. 1. FAZ, 13.9.1996, S. 1. Der Spiegel, Nr. 44/48, 31. Oktober 1994, S. 21 ff.

456 die Gewerkschaften von nicht zu unterschätzender symbolischer und emotionaler Bedeutung. 2 2 1 7 Ohne Gesichtsverlust konnten die Gewerkschaften die bisherige Lohnfortzahlungsregelung also nicht ohne Kampf aufgeben. Zwischen Schäuble und Kohl herrschte deshalb ein Dissens über den weiteren Kurs in der Frage der Lohnfortzahlung. Kohl stand der Kürzung der Lohnfortzahlung skeptisch gegenüber. 2218 Seine Befürchtungen sollten sich als richtig erweisen. Der Sozialpolitiker Julius Louven, der Schäuble politisch nahe stand, schlug vor, die Lohnfortzahlung in der ersten Woche um zwanzig und in der zweiten Woche um zehn Prozent zu kürzen und machte auf den offensichtlichen Missbrauch der Leistungen aufmerksam: „Es kann nicht angehen, dass die Krankenstände in öffentlichen Verwaltungen höher liegen als in der Metallindustrie." Allein die Diskussion löste im Spätsommer 1995 wütende Proteste von Gewerkschaftsseite aus und selbst FDP-Chef Gerhardt kritisierte die Vorschläge als „zu weitgehend." Am 17. August 1995 trat Bohl in Kohls Auftrag vor die Presse und erklärte die Debatte für beendet. Am Nachmittag desselben Tages ließ Kohl DAG-Chef Issen mitteilen, die Debatte entspringe keiner „Initiative der Regierung". Kohl stellte klar, eine Politik „a la Thatcher" sei mit ihm nicht zu machen. 2219 Zumal Kohl zu dieser Zeit noch an einer Übereinkunft mit den Gewerkschaften arbeitete. Schäubles Linie konnte sich erst durchsetzen, als Kohl vom Scheitern der Konsenssuche mit Arbeitgebervertretern und Gewerkschaften überzeugt war. Dies war erst im April 1996 der Fall. Im Spätsommer 1995 hatte Kohl Schäubles Pläne erst einmal gestoppt. Kohl glaubte zu diesem Zeitpunkt nicht an die Durchsetzbarkeit weitreichender Einschnitte in das soziale Netz. Der Kanzler konnte seine Argumentation auf die Erkenntnisse von Allensbach stützen. Nach den Umfragen des Instituts lehnten 70 Prozent der Bundesbürger weitere Einschnitte im Sozialbereich ab. 2 2 2 0 Selbst der FDP-Wirtschaftsminister Günter Rexrodt hielt die Korrektur der Lohnfortzahlung fur ein „unrealistisches Vorhaben." 2221 Sachlich waren Schäubles Einwände gegen die bisherige Regelung berechtigt. (Siehe Pflegeversicherung). Im Schnitt nahm jeder Arbeitnehmer im Jahr 20 Krankheitstage in Anspruch. In der öffentlichen Verwaltung lag der Schnitt sogar bei 28 Tagen. In Schweden hatten inzwischen die Einführung von Karenztagen und das Absenken des Lohnfortzahlungsniveaus die Fehlzeiten halbiert. Es gab also gute Argumente für eine Reform, der offensichtlich oft missbrauchten Regelung. Schäuble hörte daher nicht auf, das Thema am Kochen zu halten. 2222 Bei dieser Frage zeigte sich eine der herausstechenden Eigenschaft des Unionsfraktionsvorsitzenden. Hatte sich Schäuble einmal ein Ziel gesetzt, verfolgte er es aller Widerstände zum Trotz unablässig. In einem Interview vom 11. September 1995 insistierte Schäuble, dass die Diskussion über die Lohnfortzahlung weder aktuell noch in dieser Legislaturpe2217 2218 2219 2220 2221 2222

Der Spiegel, Nr. 14/50, 1. April 1996, S. 22 ff. Wirtschaftswoche, Nr. 35/49, 24. August 1995, S. 23. Wirtschaftswoche, Nr. 35/49, 24. August 1995, S. 23. Wirtschaftswoche, Nr. 41/49, 5. Oktober 1995, S. 16ff. Wirtschaftswoche, Nr. 3/50, 11. Januar 1996, S. I4f. Wirtschaftswoche, Nr. 8/50, 15. Februar 1996, S. I4ff.

457 riode vom Tisch sei. 2 2 2 3 In seiner Rede am 14. Dezember 1995 vor der Jahresversammlung der Arbeitgeberverbände forderte Schäuble die Einfuhrung von Karenztagen. 2224 Der Druck der Arbeitgeber half Schäuble dabei, seine Vorstellungen durchzusetzen. Der Präsident der Deutschen Arbeitgeberverbände hatte drei Tage vor Schäubles Rede auf der Mitgliederversammlung des Verbandes erklärt, die Lohnfortzahlung für Kranke gehöre ganz oben auf die Tagesordnung. 222 ' Im Bündnis mit den Arbeitgebern konnte Schäuble trotz der Reserviertheit Kohls Fortschritte in dieser Angelegenheit machen. Die Bundesregierung machte gegenüber den Arbeitgebern schließlich feste Zusagen zur Rückführung der Lohnfortzahlung für das Jahr 1996. Diese Zusage gefährdete die im Rahmen des Bündnisses für Arbeit geführten Gespräche mit den Gewerkschaften. Der Vorsitzende der IG-Chemie Hubertus Schmoldt ließ verlauten: „Wenn die Regierung uns hierbei vor vollendete Tatsachen stellt, verliert das Bündnis für Arbeit seine Grundlage." Zwickel warnte, dass jeder Versuch einer Aufweichung der Lohnfortzahlung die Gewerkschaften durch Streik verhindern würden. Auch Kohls Wirtschaftsberater Ludewig war skeptisch und riet dem Kanzler von diesem Unternehmen ab. Für achtzig Prozent der Arbeitnehmer war die Lohnfortzahlung ohnehin in den Tarifverträgen geregelt, so dass eine Gesetzesänderung ohne Änderung der Tarifpolitik für diese Arbeitsverhältnisse keine Folgen haben würde. 2 2 2 6 Die Frage stand also im Raum, ob das erreichbare Ergebnis der Lohnfortzahlungsreform die voraussichdich sehr harte Konfrontation rechtfertigen würde. Zwickel äußerte unmissverständlich: „Da hängt die Ehre der Metaller dran." Bei den Tarifverhandlungen im Öffendichen Dienst weigerte sich der OTV-Vorsitzende Herbert Mai über die Lohnfortzahlung überhaupt zu reden. 2227 Das Scheitern der Bündnis-Gespräche nach den Landtagswahlen machte den Weg frei für die Umsetzung der den Arbeitgebern zugesagten Reform der Lohnfortzahlung. Die Lohnfortzahlung wurde mit den übrigen Spar- und Reformbeschlüssen verabschiedet, waren aber auf erhebliche Vorbehalte auch innerhalb der Regierungsparteien gestoßen. Am 20. September 1996 verabschiedete der Bundestag im Zuge des Spar- und Reformpaketes das neue Lohnfortzahlungsgesetz. Die Lohnfortzahlung wurde auf achtzig Prozent des Arbeitsentgeltes begrenzt. Fünf Krankentage konnte man mit einem Urlaubstag ausgleichen. Neben der Lohnfortzahlung wurde auch der Kündigungsschutz neu geregelt. Der Kündigungsschutz wurde für Unternehmen bis zu 10 Beschäftigten abgebaut und befristete Arbeitsverhältnisse erleichtert. 2228 Als Reaktion auf die Neuregelung der Lohnfortzahlungen durch die Bundesregierung kam es in mehreren Städten zu Arbeitsniederlegungen und Protestkundgebungen. 2229

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Der Spiegel, Nr. 37/49, 11. September 1995, S. 57 ff Der Spiegel, Nr. 51/49, 18. Dezember 1995, S. 76ff FAZ, 21.12.1996, S. 10. Der Spiegel, Nr. 16/50, 15. April 1996, S. 34 f. Der Spiegel, Nr. 25/50, 17. Juni 1996, S. 36f. Jahresgutachten 1996/97, S. 113. Archiv der Gegenwart, S. 41380.

458 Die gesetzliche Neuregelung änderte nichts an der Festschreibung der Lohnfortzahlung in den Tarifverträgen. Nun war es an den Arbeitgebern, die Vorlage der Regierung in der Praxis zu realisieren. Der Vorsitzende von Gesamt-Metall Werner Stumpfe rief nach einer Vorstandssitzung die Arbeitgeber auf, entgegen der geltenden Tarifverträge das neue Gesetz zum 1. Oktober 1996 in die Tat umzusetzen. Die IG-Metall bereitete derweil den Widerstand gegen die Durchsetzung der Neuregelung vor. Zwickel und Riester luden die Betriebsratsvorsitzenden der fünfzig größten Metallunternehmen in die Zentrale nach Frankfurt ein, um den Widerstand zu organisieren. In Kohls Umfeld wurde die Befürchtung laut, die Auseinandersetzung um die Lohnfortzahlung könne der Regierung das Genick brechen. Seit dem Scheitern des Bündnisses für Arbeit war Kohl für das Gewerkschaftslager ohnehin zur Unperson geworden. Ein Gewerkschaftler bemerkte: „Wenn sich heute ein Gewerkschaftsführer mit Kohl sehen lässt, ist er einen Kopf kürzer." 2230 Kohl reichte den Schwarzen Peter an die Arbeitgeber weiter. Am 14. Oktober verteidigte der Kanzler auf dem 16. Bundeskongress der Deutschen Angestellten Gewerkschaft die Gesetzesregelung mit der Feststellung, dass es in keinem anderen Land eine gesetzliche Regelung gab, nun sei es an den Tarifparteien intelligente Lösungen zu finden.2231 Die Gewerkschaften waren durch die Entscheidung über die Lohnfortzahlung wie elektrisiert. Immer wieder riefen sie die Erinnerung an den großen Streik von 1956 wach, der in dieser Auseinandersetzung fast mythische Qualität gewann. Der Grad der Emotionalisierung ist aus heutiger Sicht schwerlich nachvollziehbar und stand in keinem Verhältnis zum sachlichen Kern des Konfliktes. So geißelte zum Beispiel Klaus Zwickel die Arbeitsmarktreformen als „Killerkapitalismus." 2232 Die BILD-Zeitung bezeichnete die folgenden Proteste gegen die Lohnfortzahlung mit dem Arbeitnehmerlager sympathisierend als „Wut-Aufstand". 2233 Nachdem der Vorstand der Daimler-Benz AG beschlossen hatte das Gesetz zur Lohnfortzahlung umzusetzen, legten 25 000 Arbeitnehmer stundenweise die Arbeit nieder. Auch andere große Unternehmen wie Hoechst, die Deutsche Bank, die Commerzbank, Siemens und Philipps wollten das Gesetz sobald wie möglich umsetzen. Das widersprach der Absicht der Regierung, die gehofft hatte, das ihr Gesetz erste mit dem Auslaufen der Tarifverträge Anwendung finden würde. 2 2 3 4 Die Arbeitsrechtler hatten erhebliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Streiks, da die Gewerkschaften den Ablauf der Friedensfrist der alten Tarifverträge nicht abgewartet hatten. Der Direktor des Instituts für Arbeits- und Wirtschaftsrecht der Universität Köln erklärte: „Nach ganz überwiegender Auffassung sind Arbeitsniederlegungen in Bezug auf bloße Rechtsfragen unzulässig." Aufgrund der Rechtslage vermieden es die Gewerkschaften, die „spontanen" Arbeitsniederlagen offiziell zu organisieren. 2235 Auch ohne offizielle Organisation und trotz unsicherer Rechtslage

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Der Spiegel, Nr. 39/50, 23. September 1996, S. 22 ff. FAZ, 15.10.1996, S. 17. FAZ, 27.10.1996, S. 7. Der Spiegel, Nr. 41/50, 7. Oktober 1996, S. 22 ff. Der Spiegel, Nr. 40/50, 30. September 1996, S. 122 ff. FAZ, 8.10.1996, S. 19.

459 kam es zur Arbeitsniederlegung von zehntausenden von Arbeitnehmern in der Metallindustrie in Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen. 2236 Der designierte Arbeitgeberpräsident Hundt verurteilte die Streiks als rechtswidrig und forderte Solidarität von den Unternehmen. 2 2 3 7 Die Solidarität der Arbeitgeber sollte nicht lange vorhalten. Bis zum Ende des Jahres 1996 fielen die Unternehmen nacheinander um wie Dominosteine. Z u Beginn beendete der nordrheinwestfälische Einzelhandel den härtesten Tarifkonflikt seiner Geschichte. Nur eine Woche nach dem Beschluss der Regierung hatten die Arbeitgeber der Gewerkschaft Handel, Banken und Versicherungen ihren 4 5 0 0 0 0 Beschäftigten ein weiteres Jahr die volle Lohnfortzahlung garantiert. 2238 Für die 5 9 0 0 0 0 Beschäftigten in der Chemieindustrie wurde im Dezember 1996 die Lohnfortzahlung erstmals in den Tarifverträgen festgeschrieben. 2239 Besonders dramatisch verlief die Auseinandersetzung bei Daimler. Es war durchgesickert, es habe Absprachen zwischen Schrempp und dem Arbeitgeberverband gegeben, die Konfrontation zu suchen und einen Präzedenzfall fur die Neuregelung zu schaffen. Die übrigen Automobilhersteller ließen den Konkurrenten jedoch im Regen stehen. Als schließlich auch Daimler-Benz Mitte Oktober zum Einlenken gezwungen war, galt dies als „Wende im Konflikt um die Lohnfortzahlung." 2 2 4 0 In der Mehrheit der Branchen wurden schlussendlich Tarifverträge abgeschlossen, die die Lohnfortzahlung auch weiterhin garantierten. 2 2 4 1 Die Auseinandersetzung um die Lohnfortzahlung endete fur die Regierung und das Arbeitgeberlager mit einer psychologischen Niederlage. Die Gewerkschaften gingen gestärkt aus der Auseinandersetzung hervor. Sie selbst hatten mit der großen Resonanz, die ihrer Kampagne gefunden hatte, nicht gerechnet. Sie hatten sich den Arbeitnehmern als glaubhafte Interessenvertreter präsentieren können. Allein die IG-Metall konnte zwischen Oktober und Dezember 1996 2 8 0 0 0 neue Mitglieder aufgenommen. 2 2 4 2 Was weder Gesetzesänderung, noch das Vorgehen der Arbeitgeber erreicht hatte, bewirkte die Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt - sinkende Krankenstände in den Unternehmen. Nur ein Jahr nach dem Konflikt registrierte der Bundesverband der Betriebskrankenkassen den niedrigsten Krankenstand seit 20 Jahren. Die Betriebskrankenkassen führten die Entwicklung auf die „dramatische Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt" und die damit verbundene Verunsicherung unter den Arbeitnehmern zurück. Die Gesetzesänderung zur Lohnfortzahlung spielte hingegen nach Einschätzung der Kassen nur eine untergeordnete Rolle. 2 2 4 3 Hier zeichnete sich das Muster ab, das von nun an die Entwicklung maßgeblich bestimmen sollte. Der verschärfte globale Wettbewerb erzwang Lösungen, die die Politik in den letzten Jahren und Jahrzehnten weder durch Appelle, noch durch Gesetzte erreichen konnte.

FAZ, 25.10.1996, S. 1. FAZ, 4.10.1996, S. 17. 2 2 3 8 FAZ, 22.9.1996, S. 1. 2 2 3 9 FAZ, 20.12.1996, S. 17. 2240 F A Z ; 21.12.1996, S. 10. 2241 FAZ, 19.12.1996, S. 13. 2 2 4 2 FAZ, 20.12.1996, S. 15. 2 2 4 3 FAZ, 21.11.1997, S. 76.

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Seehofers Reformen: Gesundheit und Sozialhilfe In Westdeutschland wurden 1990 etwa 3,8 Millionen Anträge auf Sozialhilfe gestellt, zwanzig Jahre zuvor waren es nur 1,5 Millionen. Damals bestand das Gros der Leistungsempfänger noch aus alten Frauen. Unter den Antragsstellern waren inzwischen 813000 Ausländer, ein Drittel Arbeitslose und 16 Prozent Alleinerziehende. Nach der offiziellen Definition lebte in Westdeutschland jeder zehnte Bundesbürger unter der Armutsgrenze. 2 2 4 4 Dabei muss man in Rechnung stellen, dass offiziellen Armutsdefinitionen von dem Konzept der relativen Armut ausgehen. So kann es zu der paradoxen Situation kommen, dass bei einem Anstieg des Durchschnittseinkommen Menschen unter die Armutsgrenze rutschen, obwohl sie faktisch über ein unverändertes oder sogar höheres Einkommen verfugen. 2245 Nach der Wahl wurde Seehofer mit der Reform der Sozialhilfe betraut. 1994 hatten die Gemeinden 50 Mrd. D-Mark fur die Sozialhilfe aufwenden müssen, um mehr als zwei Millionen Menschen zu unterstützen. Im Westen waren 33,6 Prozent der Sozialhilfeempfanger Langzeitarbeitslose, im Osten waren es 65 Prozent. Zur Diskussion stand auch die Kürzung der Leistungen fur Bürgerkriegsflüchtlinge und Asylbewerber, die allerdings von der FDP abgelehnt wurde. 2 2 4 6 Die Reform der Sozialhilfe sollte nach Seehofers Absicht dem Gemeinden mindestens 2,2 Mrd. D-Mark bringen. Der Anstieg der Sozialhilfe sollte auf die Zuwächse der Nettolöhne begrenzt werden und die Ablehnung zumutbarer Arbeit sollte zur Kürzung von bis zu 25 Prozent der Bezüge fuhren. 2 2 4 7 Die Sozialdemokraten warfen der Regierung „schamlose" Kürzungen vor. Seehofer erklärte die Reform sei „maßvoll" und sollte diese Reform nicht gelingen, sei die Gesellschaft vollkommen reformunfähig. Seehofer stellte fest, dass das Leistungsniveau der Sozialhilfe auch weiterhin über das physische Existenzminimum hinausgehe und die Teilhabe am sozialen, kulturellen und gesellschaftlichen Leben ermögliche. Er wandte sich dagegen, die Zunahme der Sozialhilfe als neue Armut zu deuten. Die Zunahme der Zahl der Sozialhilfeempfänger, sei durch die starke Zunahme der Zuwanderung zwischen 1990 und 1993 bedingt. Ein Drittel der Leistungsbezieher seien Ausländer und davon wiederum die Hälfte Asylbewerber und Bürgerkriegsflüchdinge. Zwei Drittel der Kosten gingen hingegen entfielen hingegen auf die Hilfen für Pflegebedürftige und Behinderte in Heimen. Die Kosten für diese Einrichtungen lagen im Schnitt bei 5000 D-Mark im Monat. Seehofer machte darauf aufmerksam, dass für einen Fall überhaupt Kürzungen vorgesehen waren, nämlich bei der Ablehnung zumutbarer Arbeit. Ob die Anpassung der Sozialhilfe an die Nettolöhne statt an die Lebenshaltungskosten zu realen Einschnitten fuhren würde war zwischen Regierung und Opposition umstritten. 2248

Die Zeit, Nr. 18/47, 24. April 1992, S. 21 f. Zum Widersinn dieser Armutsdefinitionen: Schröder, Veränderte Republik, S. 272 ff. 2 2 4 6 Der Spiegel, Nr. 15/49, 10. April 1995, S. 34 f. 2 2 4 7 Der Spiegel, Nr. 30/49, 24. Juli 1995, S. 30 ff. 2248 F A Z ; 29.9.1995, S. 1. 2244 2245

461 Die begrenzten Reformen bei der Sozialhilfe wurden von der Aufgabe die Defizite abzubauen in den Schatten gestellt. Aus taktischen Gründen kalkulierte Seehofer schon lange wieder wachsende Defizite mit ein: „So bedauerlich es ist: Sie brauchen Defizite." 2 2 4 9 Deshalb sah er in de rasanten Kostenanstieg seit Anfang des Jahres keinen „Beinbruch". Das 1992 eingeführte Prinzip der Budgetierung, die den Kassen Milliarden eingespart hatte, war auf drei Jahre begrenzt und lief 1995 aus. Diese Zeit hatte Seehofer genutzt, um sein eigenes Konzept vorzubereiten. Im Jahr 1996 wollte Seehofer die Wahlfreiheit zwischen verschiedenen Kassen einfuhren. Die Patienten sollten die Kassen dann beliebig wechseln dürfen, um Wettbewerb zwischen den Kassen sicher zu stellen. 2250 Für die Reform wollte Seehofer die Praxismediziner gewinnen. Ende Mai 1996 strich er auf dem Arztetag ihre Bedeutung besonders heraus und nannte sie seine „wichtigsten Ratgeber" und setzte im Juni für sie erhebliche Honorarzuschläge durch. Seehofers Bemühungen zielten darauf ab, die Praxisärzte und Krankenkassen als Verbündete gegen die Krankenhäuser zu gewinnen, die er als schlimmsten Kostentreiber identifiziert hatte. Seehofer erklärte: „Die Sparbemühungen der niedergelassenen Ärzte sind vom stationären Bereich verschluckt worden. Der Kliniksektor wuchert." 2251 Seehofer hielt von Möllemann, der sich nach seinem Sturz als FDP-Vorsitzender in NRW auf seine Position als gesundheitspolitischer Sprecher konzentrierte, nicht besonders viel. Er nannte ihn „die ReclamAusgabe eines spät berufenen Gesundheitsreformers." 2252 Lambsdorff und Möllemann einigten sich im Sommer 1995 auf eine Linie und legten die Fraktion darauf fest. Die Reform der Krankenhausfinanzierung sollte aus dem Gesamtvorhaben ausgeklammert werden, um Verhandlungen mit den SPD-Ländern, in deren Zuständigkeit die Krankenhäuser fielen, zu verhindern. Seehofer nutze das Ausscheren der Liberalen allerdings, um der SPD entgegenzukommen und die Budgetierung zu fordern. 2253 Die erste Klausurtagung zwischen C D U / C S U und FDP über die Gesundheitsreform am 6. Oktober 1995 scheiterte eben an der Frage der Einbeziehung der Krankenhäuser in die Reform und den Arbeitgeberanteil. Union und Liberale warfen sich gegenseitig vor, Schuld am Abbruch der Verhandlungen zu sein. Nachdem Möllemann im Rundfunk vorgeschlagen hatte, den Arbeitgeberanteil als Lohn auszuzahlen, warf Seehofer ihn vor, das Solidaritätsprinzip abzuschaffen. Für den 31. Oktober war die nächste Gesprächsrunde zwischen den Koalitionsparteien angesetzt. 2254 Im Interview erklärte Seehofer, er sei nicht bereit in der Frage der Auszahlung des Arbeitnehmeranteils einzulenken. Seehofer wies darauf hin, dass auch die Arbeitgeber die Vorschläge der FDP nicht unterstützten, da sie die Tarifverhandlungen verkomplizieren würde. 2 2 5 5 Am 27. Oktober 1995 erklärte Möllemann gegenüber der BILD-Zeitung, Seehofer habe die Atmosphäre mit seinen „Rambo-Manieren" ziemlich vergiftet und drohte „Wenn Minister Seehofer tatsächlich auf die Idee kommen sollte, beim Thema 2249 2250 2251 2252 2253 2254 2255

Wirtschaftswoche, Nr. 26/49, 22. Juni 1995, S. 14ff. Der Spiegel, Nr. 26/49, 26. Juni 1995, S. 96 ff. Wirtschaftswoche, Nr. 28/49, 6. Juli 1995, S. 16ff. Der Spiegel, Nr. 26/49, 26. Juli 1995, S. 96 ff. Wirtschaftswoche, Nr. 42/49, 12. Oktober 1995, S. 22 ff. Deutsche Apotheker Zeitung, 135, 41, 12.10.1995, S. 52f. Wirtschaftswoche, Nr. 44/49, 26. Oktober 1995, S. 25 f.

462 Gesundheitsreform eine Mehrheit mit der SPD zu suchen, dann müssen sich C D U und C S U einen neues Koalitionspartner suchen."2251^ Für den Fall, dass die Koalition keine Einigung finden würde, wollte Seehofer im November ein „drastisches Notprogramm" einleiten, das mit dirigistischen Mitteln das Ausufern der Defizite verhindern sollte. Damit übte er zu gleich Druck auf die Freien Demokraten aus, da ein solcher Eingriff die Anhängerschaft der FDP, die freien medizinischen Berufe, am stärksten getroffen hätte. Seehofer war bereit dieses Programm unter Androhung seines Rücktritts durchzusetzen. 2 2 5 7 Für das Jahr 1995 zeichnete sich schließlich ein Defizit von 10 Mrd. D-Mark ab. Allein die Kosten fur die Kuren waren von drei Mrd. D-Mark im Jahr 1991 auf 4,5 Mrd. D-Mark im Jahr 1995 angestiegen. Seehofer war sicher, dieser Anstieg bei den Kuren könne nicht medizinisch begründet werden, sondern sei zum Teil heraus geworfenes Geld. Die Einigung zwischen Seehofer und Möllemann über die „dritte Stufe der Gesundheitsreform" kam der FDP entgegen. Sie sah eine höhere Selbstbeteiligung der Patienten vor und Zahnärzte sollten das Recht erhalten dem Patienten Wahlleistungen anbieten zu dürfen. 2 2 5 8 Bis zum Ende des Jahres einigte sich die Koalition auf die Grundzüge der 3. Stufe der Gesundheitsreform. Noch im Januar 1996 leitete das Bundesgesundheitsministerium einen vorläufigen Gesetzentwurf den daran Beteiligten zu. 2 2 5 9 Am 1. Februar 1996 brachte die Koalition ihren Gesetzentwurf in den Bundestag ein. 2 2 6 0 Zuvor war schon die Entscheidung gefallen, die umstrittene Positivliste aufzugeben. Union und FDP rückten von der 1992 erzielten Einigung über eine Positivliste also die Liste erstattungsfähiger Arzneimittel, ab, nachdem Ärzteschaft und pharmazeutische Industrie gegen eine solche Liste Druck ausgeübt hatten. Im Januar 1995 forderten die Koalitionsfraktionen die Bundesregierung auf, diese sogenannte Positivliste zu prüfen. Nachdem die Koalitionsmehrheit im Gesundheitsausschuss die Streichung der Liste forderte, warf die SPD der Regierung Wortbruch vor. Während die Koalition im Februar Anstrengungen unternahm die Arbeit an der Liste zu unterbrechen, bekräftigten die Sozialdemokraten ihr Festhalten an der Positivliste. Ende Februar kündigten die Experten der Krankenkassen an, bis Ostern eine Liste von Medikamenten vorzulegen. Der FDPPolitiker und Vorsitzende des Gesundheitsausschusses Dieter Thomae legte sich jedoch Ende Februar darauf fest, die Positivliste werde nicht kommen. Auch der gesundheitspolitische Sprecher der Unionsfraktion Lohmann erklärte die Positivliste fur tot. Mitte März schloss sich Seehofer öffendich dieser Meinung an. Dessen ungeachtet legte Anfang April 1995 Arzneimittelinstitut der Krankenversicherungen einen Entwurf vor. Der überraschend doch noch vorgelegte Entwurf führte zu erheblichen Irritationen bei Ärzteschaft und Pharmaindustrie. Auf dem Arztetag in Stuttgart am 3. Mai bekräftigte Seehofer seine Ablehnung der Positivliste und im Juli legte Seehofer einen Gesetzentwurf vor, der die Abschaffung der Positivliste vorsah. Auch dieser Vorstoß konnte nicht verhindern, dass das für Arzneimittel zuständige Institut in der Krankenversicherung im September 1995 einen überarbeiteten Entwurf vorlegte. Dies war jedoch nur ein letztes Aufbäumen. Am 2256 2257 2258 2259 2260

Bild, 27.10.1995, S. 2. Der Spiegel, Nr. 43/49, 23. Oktober 1995, S. 30 f. Der Spiegel, Nr. 52/49, 25. Dezember 1995, S. 26 f. DAZ, 136, 18.1.1996, S. 40. DAZ, 136, 1.2.1996, S. 58.

463 23. November 1995 entschied der Bundestag nicht nur die Abschaffung der Positivliste sondern gleich auch die Abschaffung des Instituts für Arzneimittel.2261 Seehofers Anstrengungen die Beiträge zu begrenzen führten 1996 zum Konflikt mit den Krankenkassen. Die Krankenkassen hielten steigende Beiträge 1997 für unvermeidlich. Die Kassen rechneten nur mit der Hälfte der Einsparungen, mit denen die Regierung als Folge ihrer Beschlüsse rechnete. Die Ortskrankenkassen rechneten mit Beitragserhöhungen von 0,8 bis einen Prozentpunkt. Die Krankenkassen rechneten mit höheren Belastungen durch die Beschlüsse der Bundesregierung, besonders die gesetzliche Versicherung aller Sozialhilfeempfänger von 1997 an. Seehofer sah hingegen noch weiteres Einsparpotential in der Verwaltung, Gesundheitsfbrderung, Krankengeld und Fahrkosten. Ende Juli 1996 drohte Seehofer den Krankenkassen eine gesetzliche Festschreibung der Beiträge an. 2262 Das im Rahmen des Sparpaketes verabschiedete Beitragssenkungsgesetz sah Einsparungen bei den Kassen von sieben Mrd. D-Mark vor und die Senkung des Beitragssatzes um 0,4 Prozent.226^ Mit diesem Beschluss wurde die gesundheidiche Prävention auf medizinisch notwendige Maßnahmen begrenzt, der Anteil an der Erstattung der Brillengestelle auf zwanzig D-Mark, das Krankengeld wurde um 10 Prozent auf siebzig Prozent gekürzt. Für die Jahrgänge die nach 1979 geboren wurden fur den Zahnersatz keine Zuschüsse mehr gezahlt. Die Regelkurdauer wurde von vier auf drei Wochen gekürzt und die zwischen den Kuren liegende Zeit auf vier Jahre angehoben und die Zuzahlung zu den Kuren auf 25 D-Mark am Tag angehoben, zwei Tage pro Kurwoche wurden vom Urlaub abgezogen.2264Die dritte Stufe der Gesundheitsreform bestand aus dem ersten und dem zweiten Neuordnungsgesetz. 226 ' Am 25. September 1996 stellte Seehofer zusammen mit dem CDU-Abgeordneten Lohmann und Zöllner von der CSU und Möllemann und Thomae von der FDP den neuen Entwurf vor. Dieser sollte nach den Plänen der Koalition bis zum 1. Januar 1997 in Kraft treten. Die Neuregelung sah vor, die Selbstbeteiligung des Patienten bei einer Anhebung des Beitragssatzes ebenfalls anzuheben, um die Kosten zu dämpfen. Niedrigverdiener sollten von den Zuzahlungen befreit werden. Bei Beitragserhöhungen sollten Patienten die Kasse wechseln dürfen. Möllemann betonte, die FDP habe „liberale Akzente" setzen können. Die FAZ lobte die Reform: „Ordnungspolitisch Besseres hat die Koalition lange nicht vorgewiesen."2266 BILD titelte hingegen weniger enthusiastisch: „Gesundheitsreform: Ab Januar alles noch teurer. Harte Zeiten fiir alle Mitglieder der gesetzlichen Krankenkassen und ihrer Familienangehörigen."2267 Nach der Verabschiedung des Sparpaketes und dem Kampf um die Lohnfortzahlung war dies eine weitere Reform, die von der Bevölkerung eher als Zumutung denn als Verbesserung wahrgenommen wurde.

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DAZ, 135, 51/52, 21.12.1995, S. 24f. DAZ, 136, 25.7.1996, S. 32. DAZ, 136, 1.8.1996, S. 43. DAZ, 136, 19.9.1996, S. 52. DAZ, 136, 21.11.1996, S. 48. FAZ, 26.9.1996, S. 1. Bild, 28.12,1996, S. 1.

464 Die Liberalen konnten in den folgenden Monaten weitere Ziele durchsetzen. Im Februar 1997 einigte sich die Koalition die feste Budgetierung von Medikamenten durch „flexiblere Richtgrößen" zu ersetzen. Die Staffelung der Medikamente nach Wirksamkeit wurde fallen gelassen. Dies wurde als „Geschenk an die Pharmaindustrie" aufgefasst. Der neue Entwurf schrieb das Verhandlungsmonopol der kassenärzdichen Vereinigungen fest. Die Krankenkassen kritisierten diese Entscheidungen wegen der damit verbundenen Kosten. Die Maßnahmen kamen der Klientel der FDP entgegen, die Union hoffte durch ihr Entgegenkommen den Liberalen die Kompromissbereitschaft fur die Renten- und Steuerreform zu vergrößern. 2268 Am 27. Februar 1997 bekräftigte Seehofer vor dem Bundestag gegenüber der Opposition seine Absicht Beitragserhöhungen auf den Arbeitnehmeranteil zu beschränken. 2269 Seehofers Kompromisse mit den Liberalen entfremdeten ihm den Sozialflügel der Union. Seehofer warf Geißler vor, gegen ihn eine Interviewkampagne zu fuhren wie „sie der politische Gegner nicht schärfer konstruieren könnte." Geißler malte das Gespenst der „Zweidrittelgesellschaft" an die Wand. 2 2 7 0 Die Widerstände in der eigenen Partei zwangen Seehofer auf die grundsätzliche Aufhebung der Parität zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern zu verzichten. Stattdessen schlug Seehofer als Kompromiss eine pauschale Selbstbeteiligung für Medikamente, Krankenfahrten und Krankenhausaufenthalte vor. Am 11.März 1997 billigte die Unionsfraktion Seehofers Kompromissvorschlag. 2271 Schon 10 Tage später wurde das Zweite Neuordnungsgesetz (2. NOG) fur die Krankenversicherung verabschiedet. Dreßler warf Seehofer im Bundestag vor durch die Rücknahme der Positivliste der Pharmaindustrie zwei Milliarden D-Mark „hinterherzuwerfen." Dreßler kritisierte zu dem den Verzicht auf die Durchsetzung der Budgetierung. 840 Millionen D-Mark koste der Verzicht auf Regressforderungen fur die Überschreitung der Budgetierung von den Ärzten. 2272 Seehofers Absage an die Budgetierung verbesserte das Klima zur Ärzteschaft. Auf dem 100. Ärztetag in Eisenach am 29. Mai 1997 erntete Seehofer dann auch „freundlichen Beifall". Dort erklärte Seehofer die Diskussion über die Reform des Gesundheitswesens fxir abgeschlossen. Nach den Gesundheitsreformgesetzen von 1989, 1993 und 1997 werde es keine vierte Gesundheitsreform mehr geben. 2273

Die Reform der Früh Verrentung Die Kosten der Frühverrentung wurden zu einer ernsthaften Belastung für die Sozialsysteme. Bei der Entstehung dieser Lasten wirkten politische Entscheidungen der DDR-Regierung und der Bundesrepublik zusammen. Blüm hatte in den achtziger Jahren die Frühverrentung in der Bundesrepublik politisch durchgesetzt und Modrow hatte nach der Wende Wirtschaftswoche, Nr. 9/51, 20. Februar 1997, S. 19. 2269 F A Z > 28.2.1997, S. 1. 2 2 7 0 Die Zeit, Nr. 10/52, 28. Februar 1997, S. 17. 2 2 7 1 FAZ, 12.3.1997, S. 1. 2 2 7 2 FAZ, 21.3.1997, S. 1. 2 2 7 3 FAZ, 30.5.1997, S. 1. 2268

465 das Vorruhestandsgeld eingeführt, um die Beschäftigungsprobleme der D D R zu mildern. Blüm hatte mit dem Altersübergangsgeld eine Anschlussregelung geschaffen. Anfang 1995 erhielten noch etwa eine halbe Million Ostdeutsche Altersübergangsgeld. Die Kosten fur das Altersübergangsgeld trug im Wesendichen die Bundesanstalt für Arbeit. 2274 Aber auch im Westen wurde von der Möglichkeit des vorzeitigen Ruhestandes großzügig Gebrauch gemacht. Allein Daimler-Benz hatte 35 000 Beschäftigte in die Frührente endassen. Blüm wuchs seine eigene Regelung über den Kopf. Er erklärte: „Wir müssen den Trend umkehren, daß immer mehr Menschen immer früher Rente beziehen." Die Erwerbsquote der über 60 Jährigen war auf 35 Prozent gesunken. Etwa ein Beitragspunkt der Versicherten musste für die Frühverrentung aufgewendet werden. Daher arbeitete das Arbeitsministerium seit April 1995 an Änderungsvorschlägen. Anfang Mai insistierte DGB-Chef Schulte jedoch, die Frührente dürfe prinzipiell nicht in Frage gestellt werden und auch die Arbeitgeber stemmten sich gegen die Änderung der fur sie sehr komfortablen Regelung. Die BDA drohte mit Personalreduzierung bei Berufsanfängern und familiär Gebundenen, sollte die Regelung gekippt werden. 2275 Blüm beabsichtigte die Frühverrentung durch ein System der Altersteilzeit ersetzen.227^ In einem Interview vom 1. Mai 1995 erklärte Blüm, die Sozialpläne der Großunternehmen würden zu zwei Drittel von der Rentenversicherung und der Bundesanstalt für Arbeit getragen. Blüm forderte als Konsequenz eine Kehrtwende bei der Frühverrentung. 2277 Auf 100 000 Frührentner kamen kosten von 23,7 Mrd. D-Mark. Von den Gesamtkosten trug die Bundesanstalt für Arbeit 92 Milliarden D-Mark, die Rentenversicherung 12,7 Milliarden D-Mark und die Unternehmen nur 1,8 Mrd. D-Mark. 2 2 7 8 Blüm ließ ein Modell ausarbeiten, wonach Frührentner Abschläge von 0,3 Prozent pro Monat hinnehmen sollten; durch Zuschüsse der Arbeitslosenversicherung sollte als Ersatz für die Frühverrentung die Altersteilzeit gefördert werden. Seine Vorschläge stießen nach wie vor auf den Widerstand der Tarifparteien. Engelen-Kefer erklärte für die Gewerkschaftsseite: „Die geplanten Rentenabschläge sind nicht tragbar." Die Regierung bemühte sich um eine Lösung im Konsens mit Arbeitgebern und Arbeitnehmern. Am 21. September 1995 traf sich die Kanzlerrunde um die Vorschläge der Regierung zu diskutieren 2 2 7 9 Die Regierung hatte unter dem Zwang der Tatsachen gar keine andere Wahl als zu einer Korrektur der Frühverrentungspolitik kommen. Die Welle der Frühverrentung hielt auch 1995 ungebremst weiter an. Die Zahl der Frühverrentungen stieg im ganzen Jahr 1995 um vierzig Prozent auf 290 000. Allein in Ostdeutschland waren es 180 000 und in Westdeutschland 110000. Nach Blüms Plänen sollte jeder Arbeitnehmer ab 60 Jahre in Rente gehen dürfen, aber Abschläge von 0,3 Prozent pro Monat hinnehmen müssen. Die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes für ältere Arbeitnehmer sollte gekürzt werden. Wer ab

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Die Zeit, Nr. 17/50, 21. April 1995, S. 38. Wirtschaftswoche, Nr. 20/49, 11. Mai 1995, S. 23 ff. Wirtschaftswoche, Nr. 51/49, 14. Dezember 1995, S. 26 ff. Der Spiegel, Nr. 18/49, 1. Mai 1995, S. 29ff. FAZ, 14.9.1995, S. 17. Wirtschaftswoche, Nr. 39/49, 21. September 1995, S: 22.

466 55 eine Halbtagsbeschäftigung akzeptierte sollte Gehaltsaufstockungen und das Anrecht auf eine Teilrente vom 55 Lebensjahr an erhalten. 2280 Am 25. Dezember 1995 schrieb Blüm im SPIEGEL: „300000 Frührentner sind es in diesem Jahr. 66 Mrd. D-Mark zahlen die Sozialkassen. Nur fünf Milliarden die Betriebe. Das ist Sozialklau." 2281 Die Vorschläge der Bundesregierung stießen auf den Widerstand der Tarifparteien und der Opposition. Wolfgang Clement nannte Blüms Vorschläge eine „mutwillige Gefährdung des sozialen Friedens." Um gegen die Reformpläne der Bundesregierung zu protestieren, legten zehntausende von Metaller ihre Arbeit bei Krupp, Thyssen und Opel für eine Stunde nieder. 2282 Der Vorsitzende der IG-Metall Klaus Zwickel erklärte, die geplante Abschaffung der Frührente sei eine Gefährdung des „Bündnisses fur Arbeit." Es musste aber allen Beteiligten klar sein, dass die Position der Tarifparteien angesichts der Belastung nicht zu halten war. Den Gewerkschaften ging es im Kern vor allem um den Vertrauensschutz fur die 15 000 Arbeitnehmer unter 57, die allein in der Metallindustrie im Vertrauen auf die Frührente frühzeitig aus dem Beruf ausgeschieden waren. Die Interessen dieser Gruppe konnten durch die Gewerkschaften weitgehend gewahrt werden. Am 12. Februar 1996 einigten sich Bundeskanzler Kohl und die Vertreter der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer nach dreistündigen Verhandlungen darauf, dass fur Arbeitnehmer, die älter als 55 Jahre alt waren und für Arbeitnehmer, die bereits einen Aufhebungsvertrag hatten, weiterhin die alte Regelung gelten sollte. Blüm bezeichnete die Einigung als „ganz wichtigen Schritt". 2283 Die neue Altersteilzeit besaß für die Arbeitnehmer offensichtlich längst nicht Attraktivität der alten Frühverrentung. Nach der Neuregelung lag die Zahl der Anträge auf Altersteilzeit 1996 nur noch bei 1200. 2 2 8 4

Die Krise der Rentenversicherung 1995/1996 Nach der Bundestagswahl geriet die Rentenversicherung in eine Finanzierungskrise, die sich zu einer Glaubwürdigkeitskrise ausweitete, die bis heute anhält. Für diese Krise gab es zwei Ursachen: Die Alterung der Gesellschaft und die Arbeitslosigkeit. Beide Probleme hatten oberflächlich betrachtet nichts miteinander zu tun. Das Arbeitmarktproblem und die demographische Entwicklung waren von unterschiedlicher Dynamik. Die wachsende Arbeitslosigkeit wirkte sich rasant auch auf das Beitragsaufkommen der Rentenversicherung aus. Dagegen wirkte sich der demographische Umbruch langsam und langfristig aus. Dennoch bestand zwischen der Wahrnehmung beider Probleme eine enge Wechselwirkung: Das aktuelle vor allem durch die hohe Arbeitslosigkeit bewirkte Finanzierungsproblem legte jedoch auch die langfristigen Schwächen des Umlagesystems offen. Bislang begegnete viele der Verantwortlichen den Warnungen der Demographen, die Zahl der erwerbstätigen Beitragszahler werde demographisch bedingt schrumpfen, mit dem

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Wirtschaftswoche, Nr. 5/50, 25. Januar 1996, S. 21. Der Spiegel, Nr. 52/49, 25. Dezember 1995, S. 72 f. Wirtschaftswoche, Nr. 5/50, 25. Januar 1996, S. 21 ff. FAZ; 13.2.1996, S. 1. Wirtschaftswoche, Nr. 11/51, 6. März 1997, S. 20 f.

467 Hinweis darauf, dass der Anteil der Erwerbstätigen an der Gesamtbevölkerung erhöht werden könnte, um den demographischen Ausfall zu kompensieren. Als sich durch die rasante Entwicklung der Rationalisierung und Auslagerung das Beschäftigungsproblem immer weiter zuspitzte, verlor diese Argumentationsweise viel von ihrer Überzeugungskraft. Dass sinkende Arbeitslosenzahlen die demographische Entwicklung kompensieren könnten, schien nicht mehr besonders wahrscheinlich. Dies führte zu einer grundsätzlichen Debatte über die Nachhaltigkeit des Rentensystems und wie dieses System trotzdem langfristig finanziert werden könnte. Es gab grundsätzlich zwei Möglichkeiten, wie die Politik auf diese Herausforderung reagieren konnte: Die Bundesregierung konnte versuchen, Einnahmen und Ausgaben innerhalb des Rentensystems den gegenwärtigen und zukünftigen Anforderungen anzupassen. Drei Stellschrauben standen dafür zur Verfugung: Die Höhe des Beitragssatzes, die Leistungen für die Rentner und die Finanzierung über Steuern, etwa durch die Anhebung der Mehrwertsteuer. Die zweite Möglichkeit war, das gesamte Rentensystem auf eine neue Grundlage zu stellen, etwa durch eine Mindestrente und private Vorsorge. Für diesen Systemumbau stand in den Unionsparteien der sächsische Ministerpräsident Kurt Biedenkopf. Biedenkopf setzte nach der Bundestagswahl 1994 durch, dass er in die Kommission fur die Koalitionsverhandlungen aufgenommen wurde. Biedenkopf wollte Alterssicherung und Krankenversicherung vom Lohn entkoppeln. Für einen dritten Ansatz sprach sich Schäuble aus. Er wollte Kinder stärker im Rentenrecht berücksichtigen, um den demographischen Zusammenhängen Rechnung zu tragen. Blüm lehnte eine solche Konzeption grundsätzlich ab. 2 2 8 5 Blüm gelang es nun aber nicht länger, eine grundsätzliche Debatte um das Rentensystem zu verhindern, denn das Vertrauen der Bevölkerung in die Sicherheit der staatlichen Rente war geschwunden. Die BILD-Zeitung titelte: „Renten-Angst: Krieg ich in 20 Jahren überhaupt noch was?" und malte die Zukunft düster: „Stell Dir vor, du bist alt, kannst nicht mehr arbeiten, und deine Rente wird gekürzt..." 2 2 8 6 In einer Allensbachumfrage gaben zwei Drittel der Befragten an, dass die Rente in Zukunft sinken würde. 77 Prozent rechneten damit, dass die Rentenbeiträge weiter steigen würden. Der SPIEGEL schrieb: „Die Geburtenraten sinken, die Lebenserwartung steigt - die Gesellschaft vergreist langsam, aber stetig." Die Zahlen sprachen fiir sich: Zwischen 1950 und 1990 war die Lebenserwartung von Frauen von 68 auf 79 Jahre gestiegen und die von Männern von 65 auf 73 Jahre. Dabei wurde nicht einmal das offizielle Renteneinstiegsalter eingehalten. Männer gingen im Schnitt mit 58,8 Jahren in Rente. Nur ein knappes Drittel der 59 Jährigen arbeitete noch. Der Vorruhestand wurde jährlich mit 3,7 Mrd. D-Mark von der Rentenversicherung und der Bundesanstalt subventioniert. 2287 Die Bundesbank hatte sich in ihrem Monatsbericht vom März 1995 fur eine Reform des Rentensystems ausgesprochen. Das derzeitige Rentenversicherungssystem sei ohne spürbare Korrekturen nicht durchzuhalten. Die Bundesbank lobte die 1989 beschlossene und

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Der Spiegel, Nr. 44/48, 31. Oktober 1994, S. 21 ff. Bild, 21.3.1995, S. 1. Der Spiegel, Nr. 16/49, 17. April 1995, S. 100 ff.

468 1992 in Kraft getretene Rentenreform, die die finanziellen Belastungen wesendich gedämpft habe, nämlich von einem prognostizierten Anstieg des Beitragssatzes bis zum Jahr 2010 auf 26 Prozent auf 21 bis 22 Prozent. Ohne eine erneute Reform würde jedoch der Rentenbeitrag bis zu Jahr 2030 auf 27 Prozent steigen. Die Bundesbank sagte bis 1998 einen Anstieg des Beitragssatzes von 18,6 auf 19,2 Prozent voraus. Noch stärker als das Rentensystem würden die wachsenden Pensionsleistungen den Haushalt belasten. Der Spielraum für Steuer- und Abgabenerhöhungen war aus Sicht der Bundesbank begrenzt. Die Bundesbank sah in der hohen gesamtwirtschaftlichen Abgabenquote von 44,5 Prozent eine ernsthafte Gefährdung des Wachstumspotentials. 2288 Im Zuge der Wiedervereinigung waren die Beiträge ohnehin erheblich angehoben worden. Die Sozialversicherungen trugen sowohl die zusätzlichen Kosten Arbeitslosigkeit in den neuen Bundesländern als auch für die Anhebung der Leistungen für die ostdeutschen Rentner. Als die Beschäftigungskrise auch auf den Westen übergriff, gerieten die Sozialversicherungen in die Krise. Im April 1995 erklärte der Sozialpolitiker Julius Louven der CDU/CSU-Fraktion in einem „dramatischen Appell", dass die Lohnnebenkosten in den kommenden Jahren auf eine „historisches Rekordniveau" wachsen würden. Die Fraktion beschloss daraufhin bis zur Sommerpause ein Konzept zur Senkung der Lohnnebenkosten zu erarbeiten. Mitte April schrieb Schäuble in einem Brief an die Fraktion: „Die Belastung durch Steuern und Abgaben muss zurückgeführt werden." Mit der Vorbereitung des Sozialkonzeptes wurde Heiner Geißler betraut. 2289 Geißler erklärte in einem Interview vom 27. April 1995, er werde als erstes eine Bestandsaufnahme machen. Das Umlagefinanzierte Rentensystem sei das Beste der Welt. Das eigentliche Problem sei die Arbeitslosenversicherung. Die meisten Probleme der Sozialversicherungen könnten durch die Senkung der Arbeitslosigkeit gelöst werden. Die Arbeitslosigkeit müsse durch Flexibilisierung, Teilzeitarbeit und Deregulierung abgebaut werden. Eine isolierte Debatte über das Sozialsystem lehnte Geißler ab. Stattdessen müsse über die Senkung der Einkommensteuer und die Anhebung der Energiebesteuerung gesprochen werden. Geißler sagte voraus, im Prinzip werde das Sozialsystem 1998 „wie heute aussehen." 2290 Gegen diese Haltung, dass das Sozialversicherungssystem im Prinzip unverändert bestehen werde, bezog der schärfste Kritiker des Rentensystems in den Unionsparteien Stellung. Biedenkopf verfasste ein 21seitiges Papier mit dem Titel, Anmerkungen zur politischen Lage". Dieses Papier versehen mit dem Datum 27. 5. 1995 erhielten als erstes der C D U Generalsekretär Hinze und als vertraulich die sächsische Bundestagsabgeordneten. 2291 In dem Papier warf Biedenkopf Blüm „systematische Desinformation" über die Sicherheit der Renten vor. Generalsekretär Hintze verteidigte Blüm öffendich gegen die Vorwürfe des sächsischen Ministerpräsidenten. Hintze sagte, der Angriff auf Blüm sei ungerecht. Blüm habe bewiesen, dass, „wir unser bewährtes Alterssicherungssystem unter veränderten Bedingungen stabil halten." Hintze lehnte die demographischen Zukunftsprognosen ab und erklärte: „theoretische Rechnungen interessieren mich nicht." Die Empirie sei FAZ, 21.3.1995, S. 17. Wirtschaftswoche, Nr. 17/49, 20. April 1995, S.19f. 2 2 9 0 Wirtschaftswoche, Nr. 18/49, 27. April 1995, S. 32f. 2291 Der Spiegel, Nr. 23/49, 5. Juni 1995, S. 17. Neben Kritik am Sozialstaat und Blüm beschäftigte sich das Papier auch mit der Identität der deutschen Nation. 2288

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469 stärker als die Theorie. 2 2 9 2 Mitte Juni 1995 stellte Blüm auf 12 Seiten seine Gegenposition dar. Blüm kritisierte, dass für Biedenkopf der Sozialstaat nur eine „Fürsorgeanstalt" sei und Biedenkopfs eigenes Programm sei der „Ruin der Gemeinschaft." Stattdessen forderte Blüm eine Entlastung der Sozialsysteme von den versicherungsfremden Leistungen. Kohl wollte die Debatte möglichst schnell beendet und eine „Neuauflage" möglichst vermeiden.. 2293 Der am 18. Juli 1995 veröffendichte Rentenbericht setzte Blüm jedoch noch stärker unter Druck, weil die Prognosen zeigten, dass die Rentenbeiträge bis 1999 schneller steigen würden als erwartet. Die zusätzliche Belastung war dadurch bedingt, dass durch die Steuerendastung die Nettoeinkünfte und damit auch die Renten stärker als geplant steigen würden. Durch die Kopplung des Haushaltszuschusses an Rentenausgaben und Beitragssatz drohte auch die Belastung für den Bund zu wachsen 2 2 9 4 Unter dem Eindruck der neuen Zahlen korrigierte auch der Sozialbeirat, in dem die Sozialpartner, die Bundesbank und unabhängige Wissenschaftler vertreten waren, seinen Standpunkt. Bis dahin war das Gremium der Position Blüms gefolgt, dass in der nächsten Zeit eine Korrektur nicht nötig war, die über die Reform von 1992 hinausging. Nun setzte sich der Sozialbeirat für eine größere Reformanstrengung ein: Das System müsse von versicherungsfremden Leistungen endastet werden. Freiberufler und Angestellte sollten aus der Versicherungspflicht endassen, das durchschnittliche Renteneintrittsalter erhöht, die Begünstigung von Aussiedlern eingeschränkt werden und die Leistungen dürften nicht weiter ausgeweitet werden. Außerdem machte der Sozialrat darauf aufmerksam, dass die Auflullbeträge für Ostdeutschland dazu führten, dass die Rentner im Osten inzwischen die Rentner im Westen überholt hatten, und forderte den Abbau dieser Sonderleistung. 2295 Berechnungen zeigten, dass dieses Ungleichgewicht nicht mehr nur länger für die Frauen, sondern im Jahr 1995 auch fur die Männer galt. 1995 erhielten die Rentner im Osten im Schnitt 1837 D-Mark und im Westen 1605 D-Mark. Die Rentnerinnen im Osten erhielt im Schnitt 1057 D-Mark, die im Westen hingegen nur 689 D-Mark. 2 2 9 6 Von den drei Stellschrauben - Beitragserhöhungen, Leistungssenkungen und Steuerfinanzierung - wollte Blüm die Steuerfinanzierung nutzen, um den Gordischen Knoten zu zerschlagen. Dies war auch in dem Vierpunkte-Programm, das Ludewig im Frühjahr 1996 vorgestellt hatte, vorgesehen. Blüm wollte die Mehrwertsteuer auf 16 Prozent erhöhen, um dafür die Sozialbeiträge um zwei Prozent senken zu können. Unterstützung fand er bei Ludewig. Der Vorschlag stieß jedoch auf die Ablehnung von C S U und FDP. 2 2 9 7 Ironischer Weise standen Blüm und Biedenkopf in dieser Frage auf derselben Seite. Die Senkung der Lohnnebenkosten durch die Mehrwertsteuer gehörte zu seinem Konzept 2292 £) e r Spi e gel ; Nr. 24/49, 12. Juni 1995, S. 32. Biedenkopfs kritische Haltung gegenüber der „multikulturellen Gesellschaft", die die „kulturelle Substanz der deutschen Nation" in Frage stelle, wollte Hintze nicht kommentieren. 2293 £) e r Spiegel Nr. 25/49, 19. Juni 1995, S. 97 f. Der Spiegel identifizierte heimliche Sympathisanten der Biedenkopf-Kritik in Jürgen Rüttgers und Angela Merkel.

2294 F A Z ) 19.7.1995, S. 11.

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FAZ, 24.7.1995, S. 9. FAZ, 3.11.1996, S. 1. Wirtschaftswoche, Nr. 5/50, 25. Januar 1996, S. 1 ff

470 einer steuerfinanzierten Grundrente. Waigel war hingegen der Meinung, die Mehrwertsteuer sei nicht die „Reservekasse fiir die Sozialversicherung." 2298 Dieser Konflikt um die Erhöhung der Mehrwertsteuer wurde zum Dauerkonflikt in der Regierung und zu einem Fallstrick im Wahlkampf. Im Spätherbst beschloss die Bundesregierung eine Rentenbeitragserhöhung von 18,6 auf 19,2 Prozent. Doch die Konjunkturlage und die schlechte Beschäftigungsentwicklung sorgten dafür, dass sich trotz der Beitragserhöhung zu Beginn des Jahres 1996 ein Defizit in der Rentenkasse von sechs bis neun Milliarden D-Mark abzeichnete. 2299 Die Zweifel an der Sicherheit der Renten nahmen mit wachsenden aktuellen Finanzierungsschwierigkeiten weiter zu. Die Leipziger Volkszeitung hatte fur Irritationen gesorgt, als sie schrieb, Kohl wolle Blüms Rücktritt, sollte der Rentenbeitrag über 20 Prozent steigen, was der Kanzler jedoch sofort dementieren ließ. 2300 Blüm geriet immer stärker unter Beschuss: Die BILD-Zeitung griff die Regierung an, BDI-Chef Henkel nannte Blüm das „größte Standorthindernis", der FDP-Politiker Guido Westerwelle Blüm einen „handfesten Sozialdemokraten". Auf der anderen Seite des politischen Spektrums warf ihm Dreßler „gezielte Täuschung" vor. Blüm beklagte sich, er sei „an die FDP und die Biedenkopfs" ausgeliefert. Kohl verlangte von Blüm eine öffentliche Rechtfertigung seiner Rentenpolitik in einer Regierungserklärung. 2301 Blüms Regierungserklärung, die er am 2. Februar 1996 hielt, bestand aus einer Verteidigung der Umlage finanzierten Rente und Angriffen auf die Opposition. Blüm eröffnete seine Rede mit den Worten: „Dies ist eine Vertrauenserklärung fiir unsere Rentenversicherung." Es sei das ungeschriebene Gesetz der Sozialstaatstradition das Rentensystem aus dem parteipolitischen Streit herauszuhalten. Blüm erinnerte die SPD daran, dass sie allen Rentengesetzen zugestimmt habe und unterstrich das mit seiner Aussage: „Wenn das Diebstahl ist, dann haben sie Schmiere gestanden." Blüm lehnte Rentenkürzungen strickt ab und strich die Leistungen des Umlagesystems heraus. Dank des Umlagesystems sei das Aufkommen für die ostdeutschen Rentner von 16 Mrd. Ost-Mark auf 73 Mrd. D-Mark gestiegen. Die Durchschnittsrente in Ostdeutschland läge bei 97,2 Prozent des Westniveaus bei den Männern und sogar bei 135,1 Prozent für die Frauen. Blüm stellte die Transferleistung innerhalb der Rentenversicherung für den Osten von 16 Mrd. D-Mark dem Liquiditätsausgleich von 22 Mrd. D-Mark zwischen Angestellten und Arbeiterrentenversicherung gegenüber, um der Diskussion über die Ostrenten den Wind aus den Segeln zu nehmen. Die Rentenausgaben betrugen insgesamt 300 Mrd. D-Mark; der Rentenzuschuss des Bundeshaushaltes belief sich auf 76,6 Mrd. D-Mark. Blüm stellte die bessere Zahlungsmoral des Bundes unter der gegenwärtigen Regierung den Kürzungen der sozialliberalen Koalition gegenüber. Die steigenden Rentensätze versuchte Blüm klein zu rechnen. 1996 werde der Rentensatz nur um den Betrag erhöht, um den er zuvor gesenkt worden sei. Blüm wollte den Kostenauftrieb durch die Einsparungen bei der Frühverrentung und der Rehabilitation eindämmen. Blüm unterstrich: „Wir müssen sparen 2298 2299 2300 2301

Wirtschaftswoche, Nr. 9/50, 22. Februar 1996, S. 16. FAZ, 30.1.1996, S. 13. Der Spiegel, Nr. 6/50, 5. Februar 1996, S. 22ff. Der Spiegel, Nr. 7/50, 12. Februar 1996, S. 34 ff.

471 ohne das System zu verändern und wir können sparen ohne das System zu verändern." Er warf der SPD vor, mit ihrer Kritik im Wahlkampf den „Systemgegnern" in die Hände zu spielen - Damit war auch sein Parteifreund Kurt Biedenkopf gemeint. Blüm bestätigte das „ehrgeizige Ziel", die Sozialversicherungsbeiträge bis 2000 auf unter vierzig Prozent zu senken und warb zum Schluss um einen Konsens. 2 3 0 2 Blüms Ausführungen fanden vor der Opposition wenig Gnade. Dreßler warf Blüm vor, er habe es geschafft über vierzig Minuten zu reden, ohne auf das Problem des möglichen Anstiegs des Rentenbeitrags auf über zwanzig Prozent überhaupt eingegangen zu sein. Er habe stattdessen nur Lyrik produziert. 2303 Das Rententhema war gerade für die Union heikel, da sie so sehr wie keine andere Partei auf die Sympathien und die Stimmen der Rentner angewiesen war. Beim letzten C D U Parteitag in Karlsruhe stellte die Seniorenunion ein Viertel der Delegierten. In BadenWürttemberg hatte die C D U bei den über 60 Jährigen 52 Prozent der Stimmen erreicht, in Rheinland-Pfalz 46 Prozent und in Schleswig-Holstein sogar 74 Prozent, wohingegen die SPD in dieser Alterskohorte weit abgeschlagen war. 2 3 0 4 Dem entsprechend unpopulär waren in der CDU/CSU-Fraktion Ansätze, den Rentnern Einschränkungen zumutete. Der Vorsitzende der sozialpolitischen Arbeitsgruppe der Unionsfraktion Julius Louven wurde genau aus diesem Grund von den Sozialpolitikern der Fraktion als „Renten-Rambo" und „Sozial-Herostraten" beschimpft 2 3 0 5 Louven hatte in einem Papier, das er fur Fraktionschef Schäuble verfasst hatte, umfassende Kürzungen gefordert, denen pessimistische Annahmen über die künftige Wirtschaftsentwicklung zu Grunde lagen. Louven rechnete bis 1998 mit einem Wachstum von unter zwei Prozent und einer Arbeitslosenrate von bis zu fünf Millionen. Daher verlangte er das Aussetzen der falligen Rentenanpassung und dass die 1992 beschlossene Anhebung des allgemeinen Renteneintrittsalters von 2001 auf nächstes Jahr vorgezogen werden sollte. Sein Papier sah außerdem die Anhebung der Altersgrenze für Frauen, Behinderte, Berufs- und Erwerbsunfähige vor. Darüber hinaus wollte Louven, den Rentnern den vollen Beitragssatz zur Kranken- und Pflegeversicherung zu zumuten, der bisher zur Hälfte von der Rentenkasse übernommen wurde. Die zweite Stufe der Rentenreform wollte Louven verschieben und die jährliche Rentenanpassung vermindern. Die Anhebung des Beitragssatzes für die Rentenversicherung wollte Louven vom 1. Januar 1997 auf den 1. Juli 1996 vorziehen. Er empfahl darüber hinaus Lohnabschlüsse in Höhe der Inflationsrate, die Rückführung der Sozialversicherungsrate und eine geringe Abwertung der D-Mark. Auf der anderen Seite schlug er vor, die Einkommens- und Unternehmenssteuer deudich zu senken 2306 Blüm lehnte die Verschiebung der Rentenangleichung hingegen strikt ab und benannte seine Idealvorstellung so: „Die Anpassung muss mit der Zuverlässigkeit eines Uhrwerks 2302 2303 2304 2305 2306

Verhandlungen, Band 182, S. 7377 ff. Verhandlungen, Band 182, S. 7385 ff. Wirtschaftswoche, Nr. 16/50, 11. April 1996, S. 16 ff. Wirtschaftswoche, Nr. 46/50, 7. November 1996, S. 16. Der Spiegel, Nr. 15/50, 8. April 1996, S. 32.

472 funktionieren." Blüm bestand darauf: „Wir brauchen eine Veränderung im System aber keine Veränderung des Systems." 2 3 0 7 An den „Veränderungen im System" wurde derweil mit Hochdruck gearbeitet. Auf der Expertensitzung der Koalition und den darauf folgenden Gesprächen der Partei und Fraktionsvorsitzenden im April 1996 zeichnete sich eine Mehrheit in der Koalition für eine neue Rentenformel ab. Der Darmstädter Bundestagsabgeordnete Andreas Storm schlug einen demographischen Faktor für die Rentenversicherung vor. 2 3 0 8 Dieser Vorschlag machte Karriere und sollte die Konzeption und Diskussion bis zu seiner Abschaffung durch die neue rot-grüne Koalition 1998 bestimmen. Im April 1996 war die Diskussion schon so weit gediehen, dass von Seiten der Regierung die demographische Herausforderung nicht mehr in Frage gestellt wurde. In seiner Regierungserklärung vom 26. April 1996 stellt Kohl nüchtern fest: „Das Verhältnis von Beitragszahlern zu Rentenbeziehern wird sich drastisch verändern. Das ist überhaupt nicht zu leugnen, das ist die Realität." 2309 Kohl schränkte später Blüms Aussage, die Rente sei sicher ein auf die Aussage ein, sie sei sicher für die „jetzige Rentengeneration". Kohl hatte eine Kommission unter dem Vorsitz von Norbert Blüm eingesetzt, um eine neue tragfähige Rentenformel finden. Blüm wendete sich an Rudolf Dreßler, um die SPD in die Rentenpolitik einzubinden. Die SPD verweigerte jedoch die Teilnahme an der Kommission. 2 3 1 0 Auch Kurt Biedenkopf lehnte Kohls Angebot in der Kommission mitzuarbeiten mit der Begründung ab, dass die Kommission nur einen begrenzten Auftrag habe. Er wolle sich nicht auf eine Verhandlungsgrundlage begeben, die er fiir falsch halte. Dahinter stand auch der Widerwille Biedenkopfs, sich von Kohl in den Entscheidungsprozess einbinden zu lassen, denn er sah in Helmut Kohl in dieser Auseinandersetzung seinen eigendichen Widerpart. 2311 Denn trotz aller Vorbehalte und Konflikte stützte Helmut Kohl nach wie vor Norbert Blüm und dessen Politik. Vor Journalisten stellte Kohl fest, dass Blüm „in diesem Ressort ist und bleibt, auch wenn andere das anders sehen, und mein uneingeschränktes Vertrauen genießt." Dies war eine denkbar klare Ansage in einer zusehends chaotischen von Gerüchten um Rücktrittsforderungen geprägten Debatte. So musste etwa Waigel in der FAZ dementieren, dass er Seehofer als Nachfolger von Blüm durchsetzen wollte. Angriffe auf Blüm kamen auch von der J U , der C S U und der FDP. 2 3 1 2 Noch schien der Zweikampf zwischen Blüms „Veränderung im System" und Biedenkopfs systemverändernden Vorschlägen nicht endgültig entschieden. Am 2. Mai 1996 ließ Blüm den Abgeordneten der Koalition ein vielseitiges Papier zustellen, in dem er warnte den alten Klassenkampf durch einen neuen „Generationenkampf' zu ersetzen. Dort nahm Blüm gegen Biedenkopfs Konzept der Grundrente Stellung. Die Grundsicherung werde den Mehrwertsteuersatz auf über 30 Prozent hinauf treiben. Stattdessen müsse die Sozialversicherung von versicherungsfremden Leistungen endastet werden. Al-

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Der Spiegel, Nr. 15/50, 8. April 1996, S. 29. Wirtschaftswoche, Nr. 17/50, 18. April 1996, S. 19. Verhandlungen, Band 183, 8975. Der Spiegel, Nr. 19/50, 29. April 1996, S. 29 f. FAZ, 15.5.1996, S. 2. Die Zeit, Nr. 20/51, 10. Mai 1996, S. 4.

473 lerdings dürfe nicht vergessen werden, dass der Bund bereits Zuschüsse in der Größe von 76 Mrd. D-Mark an die Rentenversicherung zahle und weitere 10 Mrd. D-Mark wurden fur einzelne Leistungen zurückerstattet. 2313

Die Rentenreform und das Rentendebakel 1997 Im laufenden Jahr 1996 verfugte Blüms Ministerium über Mittel in der Größenordnung von 124,6 Mrd. D-Mark. Der Etat des Arbeitsministeriums umfasste drei große Ausgabenblöcke. Der Zuschuss des Bundeshaushaltes zu den Sozialversicherungen betrug 87 Mrd. D-Mark. Für die Arbeitslosenhilfe und die Arbeitslosenförderungen mussten 22 Mrd. D-Mark aufgewendet werden. Immerhin 11,8 Mrd. D-Mark flössen noch immer in die Unterstützung der Kriegsopfer. Von diesen Aufwendungen des Bundeshaushalts gingen folgende Anteile auf den Transfer in die Neuen Bundesländer zurück: 30 Mrd. D-Mark entfielen auf die Zuschüsse zu den Sozialversicherungen, 8 Mrd. D-Mark auf die Arbeitsförderung und zwei Milliarden D-Mark auf die Kriegsopferversorgung in den neuen Bundesländern. 2314 Blüms Etatausgaben sollte im Rahmen des Sparpaketes auf 122,1 Mrd. D-Mark gesenkt werden. Allerdings würden voraussichdich im nächsten Jahr die Rentenzuschüsse aus dem Bundeshaushalt von 76,6 auf 81,6 Mrd. D-Mark aufgestockt werden müssen. Davon sollten 65 Mrd. D-Mark auf die Rentenversicherung im Westen und 16,6 Mrd. D-Mark auf die Rentenversicherung im Osten entfallen. Die Absenkung der Etatausgaben konnte also nur bewerkstelligt werden, wenn die Zuschüsse zur Bundesanstalt für Arbeit 1997 zurückgeführt werden konnten. 23 ^ Um zu verhindern, dass der Beitrag auf über 20 Prozent steigen würde, beschloss der Bundestag am 9. Juli 1996 eine umfangreiche Entlastungen der Rentenversicherung von Ausgaben. Das verabschiedete Sparpaket umfasste eine ganze Reihe von Maßnahmen: Zu den Entlastungen gehörte die Anhebung der Altersgrenze für Frauen vom 60 auf das 65. Lebensjahr in den Jahren zwischen 2000 und 2004, und die Einschränkung der beruflichen und medizinischen Rehabilitation. Die Anrechnung der Zeiten in Ausbildung, Arbeitslosigkeit oder Krankheit wurden reduziert und das Fremdrentengesetz eingeschränkt und Einkünfte von Studenten in die Versicherungspflicht einbezogen. Mit der Umsetzung dieser Maßnahmen sollte die Rentenversicherung bis zum Jahr 2000 um 24 Mrd. D-Mark endastet werden 2 3 1 6 Norbert Blüm erklärte in einem Interview am 28. Juni 1996, die Regierung spare mit Augenmaß und versprach, die Sozialleistungsquote werde von 33,4 auf 33,0 Prozent sinken. 2 3 1 7

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FAZ, 3.5.1996, S. 2. FAZ; 12,7.1996, S. 15. FAZ; 12,7.1996, S. 15. FAZ, 10.7.1996, S. 1. Die Zeit, Nr. 27/51, 28. Juni 1996, S. 15f. Blüm erklärte auch, der Bundeszuschuss für die Rente sei mit 76 Mrd. D-Mark auf „eine bisher unbekannte Höhe" gebracht worden.

474 Wenige Wochen, nachdem das Sparpaket verabschiedet worden war, erhielten die Abgeordneten den Rentenversicherungsbericht, aus dem hervorging, dass der Rentenversicherungsbetrag von 19,2 auf 19,9 Prozent steigen würde. Diese Prognose kam der von der Koalition festgelegten Obergrenze von 20 Prozent gefährlich nahe. 2 3 1 8 Am 30. Oktober 1996 teilte der Vorstandvorsitzende des Verbandes der deutschen Rentenversicherungsträger Husman mit, der Rentenversicherung drohe trotz der Anhebung des Beitrages auf 19,9 Prozent im kommenden Jahr ein Defizit von sieben Milliarden D-Mark. Husman hielt einen Beitragssatz von 20,3 Prozent fur nötig, um die Rentenversicherung zu stabilisieren. Schon in diesem Jahr sei nicht mehr als eine halbe Monatsreserve vorhanden. 2319 Ein Rentenbeitrag oberhalb von zwanzig Prozent kam einer politischen Katastrophe fur die Regierung gleich. Doch weitere Einsparungen im System hielt Blüm nur noch im begrenzten Maß fur möglich. Mit dem Sparpaket vom Juli 1996 schienen alle politisch durchsetzbaren Sparmöglichkeiten ausgeschöpft zu sein. Umso stärker richtete sich nun sein Blick auf neue Finanzierungsquellen für die maroden Sozialversicherungen. In einem Interview vom 18. November 1996 erklärte Blüm, die Sozialpolitik könne durch Sparen nicht alle Defizite schließen, die durch die Arbeitslosigkeit entstünden. Das Arbeitslosengeld sei im Laufe der Jahre von 68 auf 60 Prozent gesenkt worden und damit schon in „Sichtweite der Sozialhilfe." Blüm forderte die Umfinanzierung des Faktors Arbeit durch die Verbrauchssteuern. 2320 Blüm konnte seinen Widerstand gegen die Anerkennung der langfristigen Schwierigkeiten des Rentensystems nicht länger aufrechterhalten. Blüm deutete an, das Niveau der Rente könne im Rahmen der geplanten Reformen sinken. Die längere Lebenserwartung mache eine „demographische Komponente" notwendig. Denn ein Jahr durchschnittlich längerer Rentenbezug kostete die Rentenkasse 27 Mrd. D-Mark. Blüm sprach sich sogar für eine private Zusatzversicherung aus. 2 3 2 1 Die BILD-Zeitung verkündete der Republik den Meinungswandel des Arbeitsministers: „Jetzt auch Blüm: Renten nicht ewig sicher." 2322 Auf der Klausurtagung der C D U in Windhagen Anfang Januar 1997 forderte Blüm die Umfinanzierung der versicherungsfremden Leistungen durch indirekte Steuern. Nach den Zahlen des Verbandes der Rentenversicherungsträger beliefen sich die „versicherungsfremden Leistungen" auf 100 Mrd. D-Mark, der Bundeszuschuss in der Gegenrechnung jedoch nur auf 60 Mrd. D-Mark. Dabei hatte sich der Bundeszuschuss von 1990 an verdoppelt. 2323 Blüm war entschlossen, die Umfinanzierung über die Mehrwertsteuer vorzunehmen, was Konflikte mit dem Kanzler heraufbeschwor. Am 23. Januar 1997 kam es in einer CDU-Vorstandssitzung zwischen Kohl und Blüm zu einer heftigen verbalen Auseinandersetzung um die Frage der Mehrwertsteuererhöhung. Blüm war nur bereit eine Rentenreform vorzustellen, wenn zur Finanzierung der Reform die Mehrwertsteuer erhöht werde. 2324 Kohl reagierte auf Blüms Drohung lautstark und war in „höchster Erre2318 2319 2320 2321 2322 2323 2324

Die Zeit, Nr. 32/51, 2. August 1996, S. 17. FAZ, 31.10.1996, S 1. Der Spiegel, Nr. 47/50, 18. November 1996, S. 47 ff. FAZ, 25.11.1996, S. 1. Bild, 25.11.1996, S. 1. Wirtschaftswoche, Nr. 4/51, 16. Januar 1997, S. 18. Archiv der Gegenwart, S. 41756 f.

475 gung." Kohl erklärte, dieser Stil sei mit ihm nicht zu machen und sah sich genötigt, Blüm auf seine Loyalitätspflicht als Minister hinzuweisen. Nach Einschätzung von Anwesenden ging die Auseinandersetzung bis an die „Grenze des Bruchs." 2 3 2 5 Am nächsten Tag wiederholte Blüm vor der Fraktion seine Weigerung auf Grundlage der Steuerbeschlüsse eine Rentenreform vorzulegen. Nach der Sitzung erklärte Geißler: „Nur Phantasten können glauben, dass man zusätzlich zu den schwierigen, aber notwendigen Reformen wie Absenken des Rentenniveaus fur 17 Millionen Rentner, erhöhten Zuzahlungen in der Krankenversicherung, Kürzung des Krankengeldes, bei gleichzeitig über vier Millionen Arbeitslosen auch noch eine zusätzliche Besteuerung von über 12 Millionen Rentnern und der damit verbundenen Verunsicherung der übrigen Rentner einfuhren kann, ohne dafür einen politischen Preis zu bezahlen." 2326 Blüm sagte der Welt am Sonntag: „Ich bin doch kein Hampelmann. Man kann mit mir nicht machen, was ich will. Ich kämpfe dabei ohne jede Spur von Resignation." 2327 Blüm erklärte in einem Interview mit dem SPIEGEL „Es gibt auch für Kompromisse Schmerzgrenzen. Ich lasse mich nicht verbiegen." Die Rentenversicherung müsse über indirekte Steuern umfinanziert werden. „Weniger Steuern auf Arbeit, mehr Steuern auf Verbrauch." Blüm insistierte: „Eine Rentenreform ohne Umfinanzierung wird von mir nicht vorgelegt." 2328 Die Rentenkommission stellte trotz des Konfliktes innerhalb der Regierung am 27. Januar ihre Reformvorschläge vor. Das Rentenniveau sollte demnach bis 2030 von 70 auf 64 Prozent des Nettolohnes gesenkt werden. Die andere Hälfte der demographisch bedingten Belastungen sollte die Beitragszahler übernehmen. Die Anhebung der Altersgrenze, eine Kapitaldeckung und die Besteuerung der Renten lehnte die Kommission ab. Die Zahlungen des Bundes sollten um 17 Mrd. D-Mark angehoben werden. Außerdem wollte die Kommission Nebentätigkeiten und Teile der Selbstständigen in das Beitragssystem einbeziehen. Mit diesen Maßnahmen plante die Kommission den Beitragssatz bis 2030 auf 22,9 Prozent zu begrenzen. 2329 Einen Tag, nachdem die Rentenkommission ihr Vorschläge vorgestellt hatte, betonte die CSU, dass sie eine Verbindung von Steuer- und Rentenreform ablehnte. CSU-Landesgruppenchef Glos erklärte, man werde sich von der Theatralik bestimmter Leute nicht beeindrucken lassen. Glos stellte fest, die Berührungsfläche der beiden Reformen sei gering, da nur 5,6 Prozent der Rentner von der Steuerreform direkt betroffen wären. 2330 Am 30. Januar verband Blüm sein politisches Schicksal mit der Rentenreform. „Ich werde mich nicht beteiligen an Unternehmen, bei denen die Sozialversicherung vor die Hunde geht." 2 3 3 1 Die Situation war festgefahren, weil FDP, C S U und der Sozialflügel auf ihren Standpunkten beharrten. Die Umfinanzierung der Versicherungslasten, etwa durch die Übernahme der Finanzierung der Anrechnung der Kindererziehung durch den Haushalt, 2325 2326

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FAZ, 24.1.1997, S. 3. FAZ, 25.1.1997S. 1.

Die Welt, 27.1.1997, S. 1.

Der Spiegel, Nr. 5/51, 27. Januar 1997, S. 24. FAZ, 28.1.1997, S. 1. 2 3 3 0 FAZ, 29.1.1997, S. 2. 2331 Die Welt, 31.1.1997, S. 1. 2328

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476 stieß bei der FDP auf Widerstand und Waigel bestand auf seinem Plan, wonach durch Absenken der Freibeträge die Hälfte der Renten steuerpflichtig werden sollte. Geißler wiederholte seine Ablehnung der Besteuerung der Renten: „Wenn auf das Absinken des Rentenniveaus noch die Besteuerung draufkommt, scheitert die Reform." Bei der knappen Mehrheit der Koalition im Bundestag stand dies tatsächlich zu befürchten, denn zwanzig Fraktionsmitglieder der Union stimmten gegen die Steuerreform. 2332 Der Konflikt um die Rentenreform weitete sich zur Koalitionskrise aus. Schäuble beklagte: „Die Leute glauben, wir kommen nur noch in Bonn zusammen, um die Bürger zu ärgern." Es wurde über die mögliche Nachfolge fiir Norbert Blüm spekuliert. Im Konflikt mit Kohl und Waigel wuchs Blüms Ansehen in der OfFendichkeit. In der demoskopischen Beliebtheitsskala stieg Blüm rasant aus dem Mittelfeld zur Spitze a u f 2 3 3 3 Sechzig Prozent der Deutschen zwischen 18 und 24 Jahren wünschten sich für Blüm eine wichtigere Rolle in der Politik, bei den Übersechzigjährigen waren es sogar 71 Prozent. 2334 Generalsekretär Hintze versuchte die Rücktrittsdiskussion zu beenden: „Ich halte die Zukunft von Norbert Blüm, der eine ganz zentrale Persönlichkeit unserer Politik ist, für absolut gesichert." 2335 Die Solidarisierung in der Bevölkerung und der C D U retteten Blüms Position und Kohl musste seinem Arbeitsminister Entgegenkommen signalisieren. Bei einer Gedenkstunde zum Ahlener Programm wurde das Zerwürfnis zwischen Kohl und Blüm fur die Öffentlichkeit sichtbar beigelegt. Kohl kam Blüm entgegen, als er erklärte: „Wir müssen über die Finanzierung versicherungsfremder Leistungen reden." Blüm sagte, er wolle, „den Sozialstaat zusammen mit Helmut Kohl reformieren." Damit war der .Aufstand des Arbeitsministers" beendet, aber Kohls Autorität galt als angeschlagen. 2336 In einem eine Woche nach dem öffendichen Schulterschluss veröffendichten Interview übte Schäuble Kritik an dem Verlauf der Debatte. Natürlich müsse er mit Norbert Blüm streiten können, „ohne das dieser gleich mit seinem Rücktritt droht und damit eine breite Solidarisierung auslöst, die dann die eigendichen Probleme überlagert." Schäuble kritisierte auch die „jüngeren Parteifreunde", die jungen Wilden, die Waigels Rücktritt gefordert hatten. Er kritisierte namendich den hessischen Fraktionsvorsitzenden Roland Koch, der die Mehrwertsteuerdebatte angefacht habe. Die Finanzierungsfrage werde geklärt, sobald die Reformvorhaben stünden. Es herrsche jedoch Einigkeit darüber, dass die Sozialausgaben durch Umschichtung auf den Bundeshaushalt zurückzuführen seien. Schäuble bestand darauf, dass die Rentenbesteuerung als Mittel zur Berichtigung des Steuersystems nicht in die Kompetenz von Blüms Rentenkommission falle. Sie sei nicht vom Tisch, denn ohne die Besteuerung von Renten und Lebensversicherungen sei die Steuerreform gefährdet. 2337 Blüm konnte indessen nach der Beilegung der öffendichen Auseinandersetzung erste inhaltliche Erfolge verzeichnen. Auf der CDU-Klausur in Mariental setzte

Die Zeit, Nr. 6/2, 31. Januar 1997, S. 25. Der Spiegel, Nr. 6/51, 3. Februar 1997, S. 22 ff. 2 3 3 4 Der Spiegel, Nr. 6/51, 3. Februar 1997, S. 40f. 2 3 3 5 Die Welt, 1.2.1997, S. 1. 2336 Wirtschaftswoche, Nr. 7/51, 6. Februar 1997, S. 16ff. 2337 Wirtschaftswoche, Nr. 8/51, 13. Februar 1997, S. 16ff.

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477 Blüm durch, dass die Rentenreform an die Steuerreform gekoppelt wurde. Von der Erhöhung der indirekten Steuern sollte die Rentenkasse die Hälfte erhalten. 2338 Nun musste sich bald das Tauziehen zwischen Reform des bestehenden Rentensystems oder Bruch mit dem Rentensystem entscheiden. Die Liberalen setzten in diesem Konflikt auf eine mitdere Linie. Gerhardt erklärte in einem Interview vom 7. Februar 1997, Blüms demographische Komponente gehe in die richtige Richtung. Gerhardt sprach sich darüber hinaus für die Einführung eines Kapitaldeckungsverfahrens aus. 2 3 3 9 Blüm verfolgte derweil seine alte Linie die Liberalen zu isolieren, indem er eine Einigung mit der SPD fand. Wahrend die FDP forderte eine neue Kommission zur Koordinierung von Steuer- und Rentenreform einzusetzen, wollte Blüm hingegen unbedingt eine Einigung mit der SPD erreichen. Blüm bekräftigte sein politisches Ziel mit der SPD überein zukommen so: „Uns darf keine Anstrengung zu groß sein, um zu einem rentenpolitischen Konsens zu kommen." Längerfristig setzte Blüm nämlich auf einen Weg, der mit der FDP nur schwer zu gehen war: Beitragserhöhungen. Blüm widersprach der Forderung der Rentenbeitrag dürfe 20 Prozent nicht überschreiten, weil sonst bis 2030 das Rentenniveau auf 55 Prozent fallen werde oder das Renteneintrittsalter auf 72 Jahre steigen müsse. Blüms großer Vorteil war, dass jede Systemumstellung ein finanzielles und organisatorisches Mamutprojekt war, das erhebliche politische Gefahren barg. Die Forderung nach einer Kapitaldeckung hielt Blüm fur illusorisch, Blüm nannte die fantastische Zahl von 12 Billionen D-Mark, die notwendig seien, um die Kapitaldeckung zu bewerkstelligen.2340 Die Furcht vor den praktischen Konsequenzen eines Generalumbaus verwies die konkurrierenden Modelle auf die Plätze. Immerhin erreichte Biedenkopf, dass sein Konzept einer Steuer finanzierten Grundsicherung gleichberechtigt mit dem Rentenreformkonzept der Kommission diskutiert wurde. Dass auf dem kleinen Parteitag der C D U zwischen den Konzepten entschieden werden sollte, war ein großer persönlicher Erfolg des sächsischen Ministerpräsidenten. 2341 Schnell wurde jedoch klar, dass Biedenkopf mit seinem Konzept über diesen Achtungserfolg nicht hinauskommen würde. Am Freitag den 14. März 1997 nahm der Bundesvorstand der C D U Blüms Rentenkonzept an, Biedenkopfs Modell der Grundsicherung erhielt im Vorstand nur zwei Stimmen. Blüm wurden zur Sanierung der Rentenkasse, für die Finanzierung „versicherungsfremder Leistungen" 15 Mrd. D-Mark aus dem Haushalt zugestanden. Zur Finanzierung des Zuschusses sollten die Verbrauchssteuern erhöht werden, ohne dass spezifiziert wurde, welche Steuer erhöht werden sollte. So umging die C D U vorerst eine Fesdegung auf die Mehrwertsteuererhöhung. Auch wenn auf dem kommenden Parteitag noch über beide Vorschläge, den von Blüm und den von Biedenkopf, abgestimmt werden sollte, war doch mit dem Vorstandsbeschluss eine klare Vorentscheidung gefallen. Blüm war optimistisch, dass die Reform bis zum Ende des Jahres in Kraft gesetzt werden und damit aus dem Bundestagswahlkampf 1998 herausgehalten werden konnte. 2 3 4 2 Auf dem kleinen Parteitag am 19. März 1997 wurde Blüms Reform

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Der Spiegel, Nr. 9/51, 24. Februar 1997, S. 29 f. Die Zeit, Nr. 7/52, 7. Februar 1997, S. 25. D i e W e

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8 . 2 . 1 9 9 7 , S . 14.

2341 Die Welt, 8.3.1997, S. 1. 2 3 4 2 Die Welt, 15.3.1997, S. 1.

478 vor allem von der Jungen Union angegriffen. Biedenkopf beantragte eine Verschiebung der Entscheidung, fiel damit auf dem Parteitag aber durch. Daraufhin verzichtete Biedenkopf darauf, sein Konzept zur Abstimmung zu stellen. Die große Mehrheit der 150 Delegierten entschied sich fiir die Rentenreform von Norbert Blüm. 2 3 4 3 Selbst mit dieser moderaten Reform konnte die Regierung nicht mehr auf ein Entgegenkommen der Opposition hoffen. Die Rentenkommission Der SPD ließ verlauten: „Die langfristigen Finanzierungsprobleme der Rentenversicherung werden vielfach überdramatisiert." Die SPD forderte, das Rentenniveau nicht zu senken. Dafür sollten Kindererziehungs- und Ausbildungszeiten stärker angerechnet werden. Die Sozialdemokraten wollten das Recht bei Arbeitslosigkeit ohne Abstriche in Rente zu gehen, wieder herstellen. Die Finanzierung blieb im SPD-Konzept ungeklärt. Der SPIEGEL nannte dies „Populismus pur." 2 3 4 4 Nach Schätzungen des Sozialministeriums summierten sich die Forderungen der Sozialdemokraten auf sechzig Mrd. D-Mark. Blüm äußerte resigniert über die Position der SPD: „Ich habe alle Brücken gebaut, mehr geht nicht." 234 -' Nach dem Scheitern der Verhandlungen über die Steuerreform war das Klima zwischen Regierung und SPD für eine Einigung über die Reform der Rente schlecht. Lafontaine lehnte baldige Verhandlungen über die Rentenreform ab. Er argumentierte, dass die Politik nicht wie bei der Steuerreform unter Zeitdruck stand, da die Rentenreform Entscheidungen fiir das Jahr 2015 bis 2030 treffe. Außerdem war die Verabschiedung der Rentenreform auch ohne die Zustimmung der Sozialdemokraten möglich. 2 3 4 6 Blüm und auch der Kanzler wollten jedoch zu einem Konsens mit der Opposition kommen, um einen Rentenwahlkampf zu verhindern. Blüm war besonders enttäuscht, weil er in die Ausarbeitung der Rentenreform die sozialdemokratischen Professoren Rürup und Ruland mit einbezogen hatte. Die Absenkung des Rentenniveaus ergab sich allein daraus, dass die bisherigen durchschnittlichen Aufwendungen auf die längere Lebensarbeitszeit umgerechnet wurden, dies jedoch nicht einmal vollständig. 2347 Ging den Sozialdemokraten die Blümsche Rentenreform zu weit, so sah die Wirtschaftswissenschaft in der Reform nur einen ersten Schritt in die richtige Richtung. Der Sachverständigenrat schrieb in seinem Gutachten: „Insgesamt betrachtet gehen die in dem Gesetzesentwurf enthaltenen Reformmaßnahmen zwar in die vom Sachverständigenrat aufgezeigte Richtung, sie bleiben jedoch in ihrer Konsequenz hinter den Notwendigkeiten einer langfristig ausgerichteten Strategie zurück." 2 3 4 8 Die Reformdebatte wurde überschattet von der aktuellen Lage der Rentenkassen. Nachdem 1997 der Beitragssatz von 19,2 auf 20,3 Prozent angehoben werden musste, war Regierung entschlossen den Beitrag im Jahr 1998 wieder auf unter 20 Prozent zu drücken. Doch sie wurde erneut von der Entwicklung überrollt. Auf der Mitgliederversammlung

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Die Welt, 20.3.1997, S. 1. Der Spiegel, Nr. 20/51, 12. Mai 1997, S. 22 ff. Wirtschaftswoche, Nr. 21/51, 1. Mai 1997, S. 18f. FAZ, 13.5.1997, S. 1. FAZ, 7.5.1997, S. 3. Jahresgutachten 1997/98, S. 102.

479 des Verbandes der deutschen Rentenversicherungsträger (VDR) in Halle wies dessen Vorsitzender Erich Standfest darauf hin, dass der Rentenbeitragssatz auf das Rekordniveau von 20,5 Prozent steigen könnte. Ursache für den prognostizierten Auftrieb war der Anstieg der Arbeitslosigkeit und die verbesserte Anrechnung der Kindererziehungszeiten. Letztere würde allein 900 Mio. D-Mark kosten. 2349 Der Rentenversicherungsbericht, den Blüm im Juli 1997 dem Kabinett vorlegte, bestätigten Standfests Vorhersage. Blüm musste einräumen, dass eine Senkung des Beitragssatzes im nächsten Jahr nur durch eine Aufstockung des Bundeszuschusses möglich war. 2 3 5 0 Die Regierung plante nun wohl oder übel den Rentenbeitrag von 20,3 Prozent auf 20,6 Prozent zum 1. Januar 1998 anzuheben. Ohne Rentenreform würde dieser Beitrag noch höher liegen. Deshalb sollte die Reform von 1999 auf 1998 vorgezogen werden. 2351 Die FDP machte ihre Zustimmung fur die Rentenreform vom Vorziehen des „demographischen Faktors" abhängig. Das hätte zur Folge gehabt, dass die Regierung den Rentnern im Wahljahr 1998 die Rentenerhöhung vorenthalten musste. Der so genannte „demographische Faktor" bedeutete eine jährliche Kürzung der Renten um etwa 0,4 Prozent. Damit sollte das Rentenniveau von 70 Prozent auf 64 Prozent im Jahr 2030 absenken. Die Regierung wollte bereits 1998 den Rentenbeitrag um einen Prozent senken und dies mit der Aufstockung des Bundeszuschusses um 15 Mrd. D-Mark finanzieren.2352 Schäuble und die FDP befürworteten den frühen Termin für das Inkrafttreten der Rentenreform. Die sozialpolitische Sprecherin erklärte die Rentenreform sei fur die FDP „mindestens so wichtig wie die Soli-Senkung." Die SPD, Blüm und die C S U lehnten die für 1998 geplante Nullrunde für Rentner ab 2 3 5 3 Anfing September 1997 äußerte Blüm seine Sorge ohne die Erhöhung des Bundeszuschusses könnte der Beitragssatz im nächsten Jahr sogar auf 20,8 Prozent steigen. Einen Anstieg auf 21 Prozent, den die SPD voraussagte, schloss Blüm jedoch aus. 2 3 ' 4 Schon bald wurde Blüm jedoch von der Wirklichkeit widerlegt. Der Schätzerkreis der deutschen Versicherungsträger, der in jedem Herbst die Schätzung für die Anpassung des Beitragssatzes vornahm, prognostizierte eine notwendige Beitragserhöhung auf 21 Prozent. Der sozialpolitische Sprecher der Unionsfraktion musste am 29. Oktober zugeben, dass derzeit nicht erkennbar war, wie unter diesen Umständen der Beitragssatz wie von der Regierung angestrebt auf unter 20 Prozent gesenkt werden könnte. 2 3 5 5 Kohl erklärte: „Diese 21 Prozent sind nicht akzeptabel." Die Stimmung richtete sich in der Koalition gegen Blüm. Die FDP-Sozialexpertin Gisela Frick schimpfte auf den Arbeitsminister: „Norbert Blüm ist zum Sicherheitsrisiko für die Koalition geworden." 2356 BDI-Präsident Henkel nannte die Rentenpolitik ein „einzige Desaster", BDA-Präsident Hundt sah darin einen schweren Schlag für den Standort Deutschland. 2349 2350 2351 2352 2353 2354 2355 2356

FAZ, 23.5.1997, S. 17. FAZ, 23.7.1997, S. 1. Wirtschaftswoche, Nr. 37/51, 4. September 1997, S. 19 ff. Der Spiegel, Nr. 34/51, 18. August 1997, S. 24. Der Spiegel, Nr.39/51, 22. September 1997, S. 32f. FAZ, 4.9.1997, S. 1. FAZ, 30.10.1997, S. 1. Wirtschaftswirtschaft, Nr. 46/51, 6. 11. 1997, S. 16 ff.

480 Blüm rechtfertigte sich, die Einnahmen hätten sich bis Juli im Rahmen der Schätzungen bewegt. Denn plötzlichen Einbruch bei den Pflichtbeiträgen führte Blüm auf die Umwandlung regulärer Beschäftigung in geringfügige Beschäftigungsverhältnisse und Scheinselbstständigkeit zurück. 2 3 5 7 Das Kabinett beschloss am 6. November die Beitragserhöhung auf 21 Prozent, hoffte aber bis zur Verabschiedung im Bundestag zu einem Kompromiss mit der SPD über die Anhebung der Mehrwertsteuer zu kommen, um das Defizit zu schließen. 2358 Da nach der Rentenformel für 0,1 Prozent zusätzlichem Beitragssatz der Bund seinen Zuschuss um 340 Mio. D-Mark aufstocken musste, kamen auf Waigels Haushalt nun ohnehin zusätzliche Lasten von 1,2 Mrd. D-Mark zu. 2 3 5 9 Die Zurückdrängung der 610-Mark-Jobs wurde von vielen als Grundlage fur eine Einigung mit der SPD gesehen. Ministerpräsident Gerhard Schröder signalisierte in seiner Funktion als Präsident des Bundesrates Kompromissbereitschaft. Lafontaine hatte Zweifel, ob man durch die Zustimmung zur Steuererhöhung indirekt die Rentenpolitik der Regierung unterstützen sollte. Beide erklärten, die SPD sei nicht daran interessiert alle geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse abzuschaffen. 2360 Da bis Weihnachten schon aus technischen Gründen eine Klärung über den Beitragssatz herbeigeführt sein musste, standen Regierung und Opposition unter Druck. Anders als beim Steuerkompromiss waren beide Seiten an einer Einigung interessiert. Die wichtigste Bedingung der SPD war der Verzicht auf das Vorziehen der Rentenreform auf das Jahr 1998, wohingegen die Korrektur der 610 D-Mark von zweitrangiger Bedeutung war. Die FDP musste unter diesen Bedingungen von ihrer Forderung nach einer Verknüpfung der Mehrwertsteuererhöhung mit einer grundsätzlichen Strukturreform des Rentensystems abrücken. 2361 Der Kompromiss sah keine deudiche Einschränkung der geringfügigen Beschäftigung vor und die Koalition verzichtete auf die Inkraftsetzung der Rentenreform vor der Bundestagswahl 199 8 2 3 6 2 Am 19. Dezember 1997 stimmte der Bundesrat der Erhöhung der Mehrwertsteuer von 15 auf 16 Prozent zum 1. April 1998 zu. Die Zusätzlichen Einnahmen wurden im vollen Umfang für den Zuschuss des Bundes zur Rentenversicherung verwendet. Mit dieser Maßnahme sollte der Beitragssatz bei 20,3 Prozent stabilisiert werden. Blüm bezifferte, dass nach diesem Beschluss der Bundeszuschuss von 96 Mrd. D-Mark im nächsten Jahr auf 103 Mrd. D-Mark im Jahr 1999 ansteigen werde. Mit Leistungen, die der Bund fur die Pflege- und die Arbeitslosenversicherung an die Rentenkasse entrichtete, würde laut Blüm eine Summe von jeweils 130 Mrd. D-Mark vom Bund an die Rentenkasse gezahlt. Der Hessische Ministerpräsident Eichel nannte fur die SPD die Regelung einen „guten Kompromiss." Eichel bedauerte aber, dass es nicht gelungen sei die geringfügige Beschäftigung, die für den Beitragseinbruch verantwordich gemacht wurde, einzuschränken. 2 3 6 3 2357 2358 2359 2360 2361 2362 2363

FAZ, 3.11.1997, S. 1. FAZ, 7.11.1997, S. 1. FAZ, 31.10.1997, S. 1. FAZ, 8.11.1997, S. 1. FAZ, 9.12.1997, S. 1. FAZ, 11.12.1997, S. 1. FAZ, 20.12.1997, S. 2.

Zusammenfassung: Die Sozial reformen 1995-1998 Die hohe Arbeitslosigkeit schuf Defizite in allen Sozialsystemen. Die Bundesregierung war deshalb zu einer Mischung aus Leistungseinschränkungen und Beitragserhöhungen angewiesen. Horst Seehofer war fur Leistungseinschnitte bei der Sozialhilfe und im Gesundheitssystem verantwortlich. Dabei bewegte er sich auf die Liberalen zu und kam der Pharmaindustrie entgegen. Das entfremdete ihm den Sozialflügel der Union. In den achtziger Jahren hatte Norbert Blüm auf die Frühverrentung gesetzt, um die Arbeitslosigkeit zu reduzieren. Nach der Wiedervereinigung wurde dieses Instrument auch auf die neuen Bundesländer übertragen. Dies war ein Fass ohne Boden, so dass Blüm schließlich gezwungen war seine Linie zu korrigieren und die Leistungen wieder zurückzunehmen. Die steigenden Arbeitslosenzahlen führten in der Rentenkasse zu einer Finanzkrise. Dies führte zu einer grundsätzlichen Debatte über die Zukunftsfähigkeit der umlagefinanzierten Rente. Blüm wollte das Rentensystem so weit wie möglich unverändert lassen. Biedenkopf arbeitete hingegen auf eine grundsätzliche Umstellung des Rentensystems hin. Dies führte zu einer harten Auseinandersetzung zwischen dem Arbeitsminister und dem sächsischen Ministerpräsidenten, in deren Verlauf sich beide gegenseitig die Seriosität ihrer Konzepte absprachen. Auch Fraktionschef Schläuble ließ von dem Sozialpolitiker Julius Louven Reformvorschläge ausarbeiten, die sehr weitgehend waren, aber sich im Rahmen des Retensystems bewegten. Dass unter den Rentnern ein besonders großer Teil Unionswähler waren, machte die Diskussion über die Sicherheit der Rente für die CDU/CSU besonders brisant. Blüms Position war durch die Beitragserhöhungen bei steigenden Defiziten geschwächt und wurde zum Ziel von Angriffen von allen Seiten. Weder Biedenkopf noch die Sozialpolitiker der Opposition ließen sich in die Rentengespräche einbinden. In den Rentengesprächen Anfang 1996 kristallisierten sich zwei Instrumente zur Sanierung der Renten heraus: Die Mehrwertsteuererhöhung und die Einführung eines „demographischen Faktors." Beide Ansätze sollten den Sprung in die offizielle Rentenreform der Regierung schaffen. Dass trotz der erheblichen Sparanstrengungen der Beitragssatz zur Rentenkasse auf über 20 Prozent zu steigen drohte, war für die Regierungskoalition ein schwerer psychologischer Rückschlag. Blüm selbst hielt von dieser Obergrenze nichts und setzte statt auf Kapitaldeckung oder steuerfinanzierte Grundrente auf die Erhöhung die Finanzierung der Rentenversicherung durch die Erhöhung der Mehrwertsteuer. Er legitimierte diese Forderung durch den Hinweis auf die versicherungsfremden Leistungen. Über die Erhöhung der Mehrwertsteuer kam es zum offenen und öffendichen Konflikt zwischen Kohl und Blüm. Blüm gewann in dieser Auseinandersetzung an Profil und gewann die Unterstützung der Bevölkerung, wie seine steigenden Beliebtheitswerte zeigten. Biedenkopf konnte für sein Modell Achtungserfolge erreichen, hatte aber nicht den Hauch einer Chance sich mit seinen Vorstellungen durchzusetzen.

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Das BVG und die Steuerpolitik: Existenzminimum und Kohlepfennig Die Steuerpolitik nach den Bundestagswahlen wurde wesentlich durch eine Reihe von Urteilen des Bundesverfassungsgerichts bestimmt. Die Bundesregierung war gezwungen als Konsequenz dieser Entscheidungen, weitreichende Veränderungen im Steuerrecht durchzufuhren. Otto Graf Lambsdorff bezeichnete den Verfassungsgerichtspräsidenten Paul Kirchhof deshalb als „obersten Steuergesetzgeber der Bundesrepublik." 2364 Kommen wir zu den zwei Urteilen, die die größten Folgewirkungen für die Bundespolitik hatten: Der Freistellung des Existenzminimums und der Abschaffung des Kohlepfennigs. Die Freistellung des Existenzminimums führte zu einer umfassenden Veränderung der Steuersystems und zwang zu einem Kompromiss mit der Opposition. Abschaffung des Kohlepfennigs führte zu einem harten Konflikt zwischen den Unionsparteien und der FDP, dem sich in den kommenden Jahren weitere anschließen würden. Bereits in dieser Auseinandersetzung zeigte sich, dass die Koalition ihre guten Tage hinter sich hatte. Das Bundesverfassungsgericht hatte entschieden, dass das Existenzminimum von 12000 bzw. 24000 D-Mark im Jahr ab 1996 steuerfrei bleiben musste 2 3 6 5 und ebenso das Existenzminimum für Kinder. 2366 Waigel hatte eine Kommission aus sieben Experten unter dem Vorsitz des Finanzprofessors Hans-Peter Bareis mit der Entwicklung eines Konzeptes beauftragt. Die Kommission schlug die volle Freistellung des Existenzminimums durch einen Grundfreibetrag vor. Waigel hatte sich jedoch darauf festgelegt, dass die Reform nicht mehr als 16 Mrd. D-Mark steigen sollte. Die Vorschläge der Bareis-Kommission umfassten aber 34 Mrd. D-Mark. 2 3 6 7 Für die Kommission stand die Forderung des Bundesverfassungsgerichts im Fordergrund und hatte einen Steuersatz vorgeschlagen, der bei 25 Prozent beginnen und bei 35 Prozent enden sollte. Bei weitgehender Streichung aller Steuerausnahmen. Faltlhauser kritisierte an dem Ansatz der Bareis-Kommission, dass das Steuerrecht bei Umsetzung des Vorschlages keine Lenkungsfunktion mehr besitzen würde. Das Kommissionsmitglied Poß warf Waigel wegen der ablehnenden Haltung der Bundesregierung gegenüber den Vorschlägen der Kommission vor, die Kommission nur als Alibi benutzt zu haben. 2 3 6 8 Am 31. März 1995 begründete Waigel seine Ablehnung der Kommissionsvorschläge vor dem Bundestag: „Eine Erhöhung des Grundfreibetrages für alle im bisherigen Tarif ist nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts nicht notwendig und nicht finanzierbar." 2369 Waigel legte einen eigenen Vorschlag zur Entlastung des Existenzminimums vor. Durch Waigels Reformansatz würden 1,5 Millionen Haushalte ganz aus der Besteuerung herausfallen. Die Streichung von Sondertatbeständen vermied Waigel, anders als die Kommission es wollte, um keine Angriffsfläche zu bieten. Um die Kosten der Reform auf den Der Spiegel, Nr. 35/49, 28. August 1995, S. 86. Der Spiegel, Nr. 50/48, 12. Dezember 1994, S. 98 f. 2 3 6 6 Wirtschaftswoche, Nr. 7/49, 9. Februar 1995, S. 24 f. 2 3 6 7 Der Spiegel, Nr. 11/49, 13. März, 1995, S. 82ff. 2368 Wirtschaftswoche, Nr. 12/49, 16. März 1995, S. 32 ff. 2369 Verhandlungen, Band 178, S. 2473.

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483 vorgegebenen Umfang zu begrenzen, hatte Waigels Staatssekretär Franz-Christoph Zeitler ein kompliziertes System entwickelte, das zu Besteuerungssystematik geführt hätte, in der keine Logik mehr erkennbar war. Der Grundfreibetrag sollte nicht angehoben, sondern abgeschafft und durch eine „außertarifliche Steuerermäßigung" ersetzt werden. Die Anhebung des Grundfreibetrages wäre allen Steuerzahlern zu Gute gekommen. Um dies zu vermeiden, sollte die Steuermäßigung das Grundeinkommen frei stellen und die Ermäßigung von diesem Satz an linear bis zu einem Einkommen von 30 000 D-Mark Einkommen bis auf Null abnehmen. Der Schönheitsfehler dieses Modells war, dass der Steuertarif nicht mehr linear verlaufen, sondern ein „Buckel" im Einkommenssteuertarif entstanden wäre, der bald als „Waigel-Buckel" durch die Wirtschaftspresse ging. 2 3 7 0 Wie voraussehbar, wurde der neue Tarif wegen seiner absurden steuersystematischen Konsequenzen einhellig von Bundesbank, Wirtschaftsverbänden, Experten und Opposition kritisiert. 2371 Der Waigel-Buckel wurde zwar beseitigt, das Problem der „Grundendastung" blieb allerdings erhalten und damit die übermäßige Belastung bei steigendem Einkommen. Dennoch stimmte in der zweiten Märzhälfte 1995 das Kabinett dem von Waigel vorgeschlagenen Einkommenstarif zu. 2 3 7 2 Damit war nur eine vorläufige Entscheidung getroffen, da der Beschluss wegen der Mehrheit der SPD im Bundesrat keine Chance hatte, unverändert in Kraft zu treten. Der SPD-Finanzminister von NRW Heinz Schleußer hatte ein eigenes Konzept vorgelegt. Dieses sah einen höheren Grundfreibetrag vor, der durch die Belastung höherer Einkommen und den Abbau von Steuervergünstigungen finanziert werden sollte. Das Vermitdungsverfahren würde ein finanzpolitisch „gigantisches Paket" behandeln müssen. 2 3 7 3 Ende April begannen die Verhandlungen zwischen Waigel und der SPD über das „Jahressteuergesetz." Daran beteiligt waren fur die Opposition die Finanzexperten der SPD-Fraktion Matthäus-Maier, Poß, Fraktionsgeschäftsfuhrer Peter Struck, NRW-Finanzminister Schleußer und Oskar Lafontaine. 2374 Bis Ende Juni wurde im Vermitdungsausschuss über die meisten Fragen Einigkeit zwischen Regierung und Opposition erreicht. Faltlhauser beschrieb den Stand der Verhandlungen: „Die großen Themen sind abgeräumt." Scharping erklärte, die Regierung habe sich den sozialdemokratischen Positionen angenähert. Man habe sich auf einen Steuertarif geeinigt dessen Grundfreibetrag mit dem Existenzminimum übereinstimmte. Das hatte Waigel durch seine komplizierten Tarifkonstruktionen eigendich vermeiden wollen. Um den prognostizierten Steuerausfall von 22 Mrd. D-Mark auf 12 Mrd. D-Mark zu begrenzen hatte der Finanzausschuss des Bundestages 67 mögliche Steuerrechtsänderungen aufgelistet. Eine koalitionsübergreifende Arbeitsgruppe wurde mit einer Vorauswahl aus der Liste betraut. Auch bei der Abzugsfahigkeit des Kindergeldes hatten Regierung und Opposition Einigkeit erzielt. Der FDP-Finanzexperte Carl-Ludwig Thiele ließ verlauten, man habe ein völlig neues Kindergeld entwickelt. 2375

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Der Spiegel, Nr. 50/48, 12. Dezember 1994, S. 98 f. Wirtschaftswoche, Nr. 18/49, 27. April 1995, S. 36. Der Spiegel, Nr. 14/49, 30. März 1995, S. 24 ff Der Spiegel, Nr. 3/49,16. Januar 1995, S. 80 f. Wirtschaftswoche, Nr. 18/49, 27. April 1995, S. 36. Wirtschaftswoche, Nr. 27/49, 29. Juni 1995, S. 26 ff.

484 Am 31. Juli kam der Vermittlungsausschuss zu einer gemeinsamen Empfehlung an Bundestag und Bundesrat. Die Forderungen des Verfassungsgerichts waren erfüllt worden. Das „völlig neue Kindergeld" war ein Optionsmodell, bei dem die Eltern zwischen Kindergeld und Steuerfreibetrag entscheiden konnten. Der bisherige seit der Steuerreform 1990 geltende Steuertarif wurde durch einen „Knicktarif' ersetzt, also zwei Bereiche. Der erste Bereich reichte bis zur Summe von 55 727 D-Mark, dann setzte der seit 1990 geltende Tarif ein. Das Existenzminimum war nun freigestellt. Der neue Tarif hatte den Nachteil, dass der Eingangssteuersatz zur Gegenfinanzierung von 19 Prozent auf 25,9 Prozent erhöht werden musste. So dass schon Einkommen, die wenig über dem Existenzminimum lagen, mit 45 Prozent belastet wurden, wenn man Steuern und Lohnnebenkosten zusammenrechnete. 2376 Der FDP-Finanz-Experte Thiele war bereit, weitgehende Einschnitte bei den Steuervergünstigungen zu akzeptieren, aber Solms hatte ihn zurückgehalten. Damit verhinderte Solms Einschnitte in der Größenordnung von sechs Milliarden D-Mark. Damit blieben von den vorgeschlagenen Streichungen schließlich noch vier Milliarden D-Mark übrig. Die ZEIT kritisierte diese Politik: „Alle Bürger müssen auf Subventionen verzichten, nur die Klientel der FDP muß verschont werden. Damit ist auf Dauer kein Staat zu machen." 2 3 7 7 Zur Verabschiedung des Jahressteuergesetzes am 21. September 1995 erklärte Waigel, die Hürden im Vermitdungsausschuss seien überwunden worden. Mit dem Inkrafttreten des Jahressteuergesetzes würden Endastungen von 19 Mrd. D-Mark wirksam. Die Bezieher kleiner und mitderer Einkommen würden davon um 15,5 Mrd. D-Mark entlastet. Waigel stellte heraus, dies sei ein besonderer Tag fur die Familien. Diese sollten ab 1996 sieben Mrd. D-Mark zusätzlich erhalten und ab 1997 weitere fünf Milliarden. Eine Durchschnittsfamilie mit zwei Kindern hätte damit in der ersten Stufe 230 D-Mark mehr im Monat und mit der zweiten Stufe noch einmal fünfzig D-Mark zusätzlich im Monat. Waigel betonte, dass das verfügbare Einkommen ab 1996 auch durch den Wegfall des Kohlepfennigs erheblich steigen werde. Waigel erinnerte daran, dass seit 1982 die Leistungen für Familien sich von dreißig auf sechzig Mrd. D-Mark verdoppelt hätten. Regierung und Opposition hätten sich auf die Erhöhung des Kindergeldes auf 200 D-Mark und ab 1997 auf220 D-Mark geeinigt. Ab dem Jahr 1996 wurden für das dritte Kind 300 D-Mark und ab 1997 sogar 350 D-Mark gezahlt. Waigel lobte, dass dadurch kinderreiche Familien besonders gefördert würden. Der Kinderfreibetrag sollte 1996 von 4104 zu erst auf 6264 D-Mark angehoben werden und das Jahr darauf auf 6912 DMark. Waigel hob hervor, dass sich Regierung und Opposition auf das „steuerpolitisches Optionsmodell" geeinigt hatten, so dass die Wahl zwischen Kindergeld und Freibetrag möglich war. Die Länder wurden ftir ihren Verlust, der aus der Anhebung der Steuerfreibeträge resultierte, durch eine Erhöhung ihres Mehrwertsteueranteils entschädigt. Der neue Verteilungsschlüssel zwischen Bund und Ländern lag bei 49,5 Prozent für die Länder und bei 50,5 Prozent für den Bund 2 3 7 8 2376 2377 2378

Die Zeit, Nr. 38/50, 15. September 1995, S. 26. Die Zeit, Nr. 32/50, 4. August 1995, S. 32. Verhandlungen, Band 180, S. 4567 ff.

485 Die SPD-Finanzpolitikerin Matthäus Meier nannte die Einigung einen „klassischen Kompromiss" und betonte, dass unter Einfluss der SPD das „duale System" aus Kinderfreibeträgen und Kindergeld faktisch aufgehoben werde, da der Freibetrag nur noch ftir fünf Prozent der Steuerzahler galt. Die Anhebung des Kindergeldes auf 200 D-Mark statt der von der Regierung anvisierten 70 D-Mark sei ein großer Erfolg der Sozialdemokraten. Matthäus Meier beschrieb den Anteil der SPD an der steuerlichen Neuregelung: „Wir haben durchgesetzt, daß der Grundfreibetrag in Stufen auf 13000 bzw. bei Verheirateten auf 26000 D-Mark steigt und das die Endastung ausschließlich auf kleinere und mittlere Einkommen konzentriert wird." 2 3 7 9 Der CDU-Politiker Gunnar Uldall beanstandete, dass zwar die Erhöhung des Existenzminimums für Erwachsene entsprechend der Einkommenssteuerverteilung von Bund, Ländern und Gemeinden gemeinsam aufgebracht werde, jedoch die Freistellung des Existenzminimums fur Kinder weitgehend vom Bund finanziert werden musste. Damit setzte sich eine kontinuierliche Entwicklung fort. Der Anteil des Bundes am Gesamtsteueraufkommen war seit 1970 von 53 Prozent auf 44 Prozent gesunken, der Anteil der Länder hatte sich hingegen von 30 auf 39 Prozent erhöht. 2380 Ein anderes Urteil des Bundesverfassungsgerichts vertiefte den Graben innerhalb der Koalition. Die deutsche Steinkohle stand seit Ende der fünfziger Jahre unter besonderem staadichem Schutz. Der Steinkohlebergbau wurde nicht nur subventioniert, es bestanden auch im Rahmen des „Jahrhundertvertrages" Abnahmegarantien der Elektrizitätswirtschaft und im Rahmen des „Hüttenvertrages" Abnahmegarantien der Eisen- und Stahlindustrie. Konkurrenz wurde soweit als möglich unterbunden. In der Praxis wurde der Neubau von Olkraftwerken und Erdgaskraftwerken nicht mehr genehmigt und Heizöl besteuert, die preiswerteren Importe wurden begrenzt. 1994 beliefen sich die Subventionen auf über 10 Mrd. D-Mark, das entsprach 192 D-Mark pro geförderter Tonne. Bei einem durchschnittlichen Lohn von 63000 D-Mark lag die staadiche Förderung pro Beschäftigten bei 103000 D-Mark. 2 3 8 1 Der sogenannte Kohlepfennig entsprach einem Aufschlag von 8,5 Prozent auf jede Stromrechnung in den alten Ländern. Die Produzenten erhielten aus dieser Einnahme die Differenz aus der billigen Importkohle und dem Preis für die einheimische Kohle. 2 3 8 2 Am 7. Dezember 1994 erklärte das Bundesverfassungsgericht, dass der Kohlepfennig verfassungswidrig sei, weil es sich um eine unzulässige Sonderabgabe handelte. Der Kohlepfennig wurde seit 1975 erhoben und musste nun zum 31. Dezember 1995 abgeschafft werden. 2383 Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts suchte das Finanzministerium nach einer Alternative zur Finanzierung der Kohlesubventionen. Waigel favorisierte die Umwandlung des Kohlepfennigs in eine Steuer, da eine Steuer rechdich unbedenklich 2379 Verhandlungen, Band 180, S. 4569f. 2380 Verhandlungen, Band 180, S. 4578 f. Das widerlegt im Übrigen das sogenannte Popitzsche Gesetz, wonach in einem föderalen Staat die Bundesebene ihren Zugriff auf die Finanzen auf kosten der Gliedstaaten kontinuierlich ausweiten würde. 2 3 8 1 Jahresgutachten 1995/96, S. 214. 2 3 8 2 Der Spiegel, Nr. 8/49, 20. Februar 1995, S. 28f. 2 3 8 3 Archiv der Gegenwart, S. 39602.

486 war. Für die FDP, die sich als Steuersenkungspartei profilierte, schien eine neue Steuer, auch wenn sie nur die formale Umwandlung einer alten Abgabe war, nicht hinnehmbar. Auch Kohls Kompromissvorschlag, einen Teil der alten Abgabe aus dem Haushalt zu finanzieren und somit die Lasten der Steuer gegenüber den bisherigen Lasten, die die Abnehmer fur den Kohlepfennig aufbringen mussten, zu senken, stieß auf Kinkels Ablehnung. Dies führte zu einer ernsthaften Konfrontation zwischen dem Kanzler und der FDP. Kohl erklärte den Liberalen, sie müssten entscheiden: „wollen wir zusammenarbeiten oder wollen wir nicht." Der Energieexperte der FDP Paul Friedhoff erklärte, er wisse nicht, was die FDP noch in der Koalition wolle, sollte die Union auf ihren Steuerplänen beharren. Kohl fürchtete die organisatorische Schlagkraft der Bergarbeiter und fragte in den Gesprächen die FDP-Vertreter: „Wenn die Protestler kommen, wo werden sie dann sein?" 2384 Lambsdorff beharrte auf dem Standpunkt der FDP und sprach sich gegen eine steuerliche Kompensation aus. Er forderte vom Finanzminister Sparvorschläge. Der Konflikt zwischen Waigel und Lambsdorff verschärfte sich so sehr, dass die Debatte in persönliche Beleidigungen abglitt. Waigel bezeichnete Lambsdorff als „adeligen Klugscheißer" (Welt) und Lambsdorff erwiderte „Benehmen ist Glücksache. Theo Waigel hat offensichdich kein Glück." 2385 Anfang März 1995 kam es zu Protesten vor der FDP-Zentrale in Bonn. Für den nächsten Monat war ein großer Protestmarsch auf die Bundeshauptstadt geplant, den die IG-Metall unterstützen wollte. 2386 Schäuble wollte die Abschaffung des Kohlepfennigs zum allgemeinen Einstieg in eine stärkere Besteuerung von Energie nutzen. Die FDP lehnte die Kompensation für den Kohlepfennig durch Energiesteuern ab und auch Kohl war dagegen. 2387 Auch die CDU/ CSU-Fraktion lehnte eine höhere Energiebesteuerung ab, Faldhauser nannte die Vorlage zur Energiebesteuerung ein „Harakiri-Unternehmen." Deshalb stellte Schäuble die Pläne zurück. 2388 Schließlich einigte sich die Koalition darauf, nach dem Wegfall der alten Finanzierung durch den Kohlepfennig den Zuschuss aus dem Haushalt zu finanzieren. Die Stromkunden sollten auf diese Weise, nach Angaben der Regierungsvertreter, um 8 - 1 0 Prozent endastet werden. Hartmut Schauerte erklärte in der abschließenden Debatte am 29. September 1995 für die Unionsfraktion, die CDU/CSU begrüße die Finanzierung der Kohle durch Steuern anstelle des Kohlepfennigs und stellte für die Zukunft weitere Kürzungen in Aussicht: „Der Druck in Richtung eines weiteren Abbaus der Kohlesubventionen insbesondere ab 1998 wird stark zunehmen. Das sehe ich als ganz unvermeidlich und realistisch an." 2 3 8 9

Der Spiegel, Nr. 8/49, 20. Februar 1995, S. 28f. Bild, 14.3.1995, S. 2. 2 3 8 6 Der Spiegel, Nr. 11/49, 13. März 1995, S. 18 ff. 2 3 8 7 Wirtschaftswoche, Nr. 21/49, 18. Mai 1995, S. 19f. 2 3 8 8 Wirtschaftswoche, Nr.23/4, 1. Juni 1995, S. 21 f. 2389 Verhandlungen, Band 180, S. 5023. 2384 2385

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Die Wirtschaft in Ostdeutschland in der Krise Das Institut für Wirtschaftsforschung in Halle (IWH) legte im Herbst 1995 eine Untersuchung über die Lebensverhältnisse in Ostdeutschland vor. Das durchschnitdiche Arbeitseinkommen hatte sich seit 1990 fast verdoppelt. Die ostdeutschen Einkommen erreichten 78 Prozent der Kaufkraft der westdeutschen Einkommen. Zum gesamtdeutschen Bruttosozialprodukt trug der Osten hingegen nur 10 Prozent bei. Zwei Drittel der ostdeutschen Arbeitslosen waren weiblich, Frauen besetzten aber zu 62 Prozent die Stellen im öffemlichen Dienst. Am stärksten hatten nach dem Ergebnis der Untersuchung die Rentner von der Wiedervereinigung profitiert. Die durchschnittlichen Spareinlagen im Osten lagen bei 4 0 000 D-Mark, im Westen hingegen bei 135 000, dagegen waren die Haushalte in Ostdeutschland durchschnittlich nur mit 2 7 0 0 D-Mark fiir Konsumentenkredite belastet im Gegensatz zu 1 2 0 0 0 D-Mark der Haushalte in Westen. Besorgniserregend war die demographische Entwicklung. Die Geburtenraten hatten sich seit 1989 halbiert. 2 3 9 0 Der ehemalige BDI-Chef Tyll Necker interpretierte in einem Interview den rapiden Geburtenrückgang als Zukunftsangst der Ostdeutschen und beschrieb die gravierenden Probleme, die 1995 nach dem Wahljahr wieder auf der Tagesordnung waren. Necker beanstandete, dass zu viel Geld in den Konsum und zu wenig in Investitionen floss. In der ostdeutschen Industrie arbeiteten nur noch 6 0 0 0 0 0 Beschäftigte, 1,5 Millionen seien aber notwendig. 2391 Die Lohnpolitik hatte Ostdeutschland als Industriestandort viel von seiner Attraktivität genommen. Die Investitionen waren im Jahr 1994 zwar beträchtlich, sie dienten jedoch in der Hauptsache der Versorgung der ostdeutschen Bevölkerung. Die Investitionen von Diensdeistungsunternehmen machten 1994 über sechzig Milliarden D-Mark aus. Die Investitionen im produzierenden Gewerbe fielen im selben Jahr auf unter fünfzig Milliarden D-Mark zurück. Darunter waren vor allem Investitionen in Versorgungsdienstleistungen wie Energie, Wasser und Bergbau vertreten, erst in zweiter Linie die industrielle Produktion. Die Expansion der Investitionen beruhte auf der Wohnungsbautätigkeit. Der Schwerpunkt des wirtschaftlichen Aufbaus konzentrierte sich also auf die Deckung der Bedürfnisse des ostdeutschen Verbrauchers. 2392 Für Kohl hatte der Leiter der wirtschaftspolitischen Abteilung im Kanzleramt Ludewig die Rolle des Koordinators fur die wirtschaftspolitischen Aktivitäten in Ostdeutschland übernommen. Kohl hatte ihn 1991 auch offiziell mit dieser Aufgabe betraut. Ludewig fuhr jede Woche ein bis zwei Tage in die neuen Bundesländer, um Unternehmen und Kommunen zu besuchen und mit Verwaltung und Treuhand zu sprechen. Er trat fur die Leute vor Ort als direkter Ansprechpartner auf, der sich bemühte bei der Lösung der praktischen Probleme Hilfe zu leisten. Als Ludewig 1995 vom Kanzleramt als Staatssekretär in Rexrodts Wirtschaftsministerium wechselte, behielt er die Zuständigkeit als Kohls Sonderbeauftragter für die neuen Länder bei. Die Kopplung dieser Funktionen schien

2390 2391 2392

Der Spiegel, Nr. 36/49, 4. September 1995, S. 118 ff. Wirtschaftswoche, Nr. 40/49, 28. September 1995, S. 26 ff. NZZ, 14.2.1995, S . 2 1 .

488 vorteilhaft, da Ludewig als Staatssekretär Einfluss auf die Verwendung der Wirtschaftsfbrderung nehmen konnte. 2393 Bis Ende 1994 waren schätzungsweise 514 Mrd. D-Mark in den Osten geflossen. Hinzu gerechnet werden mussten noch etwa zwanzig Mrd. D-Mark aus europäischen Kassen. Die Zuschusspolitik zeigte aber bald ihren zweischneidigen Charakter. Der SPIEGEL veröffentlichte unter der Überschrift „Baggern statt denken" einen ausfuhrlichen Artikel, der die Verschwendung öffendicher Gelder in Ostdeutschland behandelte und der für erhebliche Irritationen sorgen sollte. Der SPIEGEL konstatierte, es werde „in einem bislang unvorstellbaren Ausmaß öffentliches Geld verschwendet, zweckentfremdet und veruntreut - Ostdeutschland entwickelt sich zum Milliardengrab." Bernhard Friedmann vom europäischen Rechnungshof sprach sogar von „Sizilianischen Verhältnissen." Der Präsident des Landesrechnungshofes von Sachsen-Anhalt schätzte, dass etwa 10 Prozent der Fördergelder „versickert und versandet" waren. Die neuen Kläranlagen wurden für die Öffendichkeit zu Symbolen für die Fehlinvestitionen in den neuen Ländern. Es standen Schätzungen im Raum, wonach von den 159 errichteten Kläranlagen 74 Prozent überflüssig waren. Im Jahr 1993 hatten ostdeutsche Kommunen sieben Milliarden D-Mark in die Abwasserreinigung investiert. Von den gigantischen Förderprogrammen hatte vor allem der Bausektor profitiert. Nicht nur durch direkte Investitionen, sondern vor allem auch durch erhebliche Steuernachlässe für Investitionen.239'* Besonders ostdeutsche Politiker fühlten sich durch die vom SPIEGEL vorgetragenen Vorwürfe angegriffen. Der brandenburgische Ministerpräsident Manfred Stolpe erklärte, der Westen habe dem Osten „das Geld geradezu aufgenötigt." Wolfgang Thierse sah in der Diskussion eine Kampagne gegen die neuen Länder. Wirtschaftsminister Rexrodt, der für die Subventionen in Deutschland die politische Verantwortung trug, bezweifelte die im SPIEGEL genannten Zahlen. Andere Töne kamen hingegen aus Bayern. Edmund Stoiber forderte die schrittweise Zurückführung der flächendeckenden Sonderförderung und Waigel bestätigte: „Wir werden die Wirtschaftsförderung in den neuen Bundesländern straffen und schrittweise zurückführen. 2395 Der Osten war auf Transferzahlungen jedoch auch für die Zukunft dringend angewiesen. Im Jahr 1994 waren zwei Drittel der Wertschöpfung in den neuen Bundesländern in Wirtschaftsbereichen mit geringem überregionalem Konkurrenzdruck erzielt worden. In einer vom Wirtschaftsministerium in Auftrag gegebenen Studie stellte das HWWA-Institut für Weltwirtschaftsforschung in Hamburg fest, dass der Niedergang der deutschen Wirtschaft zwangsläufig gewesen sei. In der Studie wurde die Bedeutung der Treuhand hervorgehoben, die Anfang 1995 zu existieren aufgehört hatte. 2396 Da die Treuhand als Subventionsgeber ausfiel, wuchs die Ostdeutsche Wirtschaft 1995 nur noch um fünf Prozent. Der Wirtschaftsstandort Ostdeutschland hatte nach wie vor mit dem Manko der überzogenen Lohnangleichung zu kämpfen. Die Betriebe mussten gemessen an der Pro-

2393 2394 2395 2396

FAZ, 30.4.1997, S. 5. Der Spiegel, Nr. 7/49, 13. Februar 1995, S. 46 ff. Der Spiegel, Nr. 8/49, 20. Februar 1995, S. 18 ff. FAZ, 29.5.1995, S. 14.

489 duktivität 35 Prozent mehr fur Löhne aufwenden als im Westen. Die ZEIT stellte fest: „Je später die Wesdöhne kommen, desto besser fur den Osten." 2 3 9 7 Auch Kurt Biedenkopf, der zu den Unterstützern der gewerkschaftlichen Lohnpolitik im Osten gehört hatte, war nun der Meinung, dass die Löhne in den neuen Bundesländern zu schnell gestiegen waren: „Die Produktivität ist zu niedrig, und die Löhne sind der Produktivität voraus." 2 3 9 8 Kohls Sonderbeauftragter Ludewig betonte im Juli 1996, dass die hohen Lohnstückkosten das Kernproblem beim Aufbau Ost seien. Ludewig hielt eine reine Konzentration auf die erfolgreichen Wirtschaftszentren in Ostdeutschland fur schwer vorstellbar und hielt die Fortsetzung der staadichen Investitionspolitik für notwendig. Er bezifferte die Transferausgaben im Haushalt 1997 auf 80 Mrd. D-Mark. 2 3 9 9 Zur selben Zeit stellten die fuhrenden Deutschen Wirtschaftsinstitute fest, dass die Dynamik der ostdeutschen Wirtschaft an Schwung verloren hatte. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung, das Institut fur Weltwirtschaft und das Institut fur Wirtschaftsforschung stellten in einem gemeinsamen Bericht fest, dass dies nicht allein konjunkturelle Ursachen hatte. Vielmehr machten sie die unzureichende Wettbewerbsfähigkeit vieler ostdeutscher Unternehmen dafür verantwortlich. 2400 Die Zahl der Pleiten in den neuen Bundesländern nahm rapide zu. 1995 waren in den neuen Bundesländern 5874 Unternehmen in Konkurs gegangen, ein Jahr später waren es etwa 7500. In einem Papier für die EU-Kommission sprach Wirtschaftsminister Rexrodt von der „drastischen Wettbewerbsschwäche" der neuen Bundesländer. Lothar Späth stellte ernüchtert fest: „Die starke Lohnsteigerungen haben sich als die Achillesverse der ostdeutschen Wirtschaft erwiesen." Dieser Prozess hatte zu einer Deindustrialisierung der ostdeutschen Länder gefuhrt: In ganz Ostdeutschland gab es nur noch etwa 50 Unternehmen mit mehr als 1000 Mitarbeitern und laut statistischem Bundesamt gab es zum Beginn des Jahres 1996 weniger als 600 000 Industriearbeiter. Damit trugen die neuen Bundesländer nur 6-7 Prozent zur Industrieproduktion der Bundesrepublik bei. 2 4 0 1 Wichtigstes Standbein der ostdeutschen Wirtschaft blieb somit die hochgradig subventionierte Bauwirtschaft. In diesem Bereich wurde 16,7 Prozent der Wertschöpfung erwirtschaftet. Im Vergleich: Der Anteil der Bauwirtschaft an der Wertschöpfung im Westen betrug 5,3 Prozent. Somit hing die wirtschaftliche Stabilität in Ostdeutschland ganz Wesendich an den steuerlichen Abschreibungen und der finanziellen Förderung. 2402 Die Steuerbegünstigungen führten zu immensen Einkommenssteuerausfallen und zu einer Diskussion über die Beteiligung der Wohlhabenden an der Finanzierung des Gemeinwesens. Ende September 1996 legte die Regierung einen Bericht über die Entwicklung der neuen Bundesländer vor. Pro Kopf lag die reale Wirtschaftsleistung bei 45 Prozent des westdeutschen Leistungsniveaus. Die Annäherung an den Westen verlangsamte sich und die industrielle Basis blieb schmal. Wirtschaftsminister Rexrodt erklärte, man werde sich beim Die Zeit, Nr. 5/51, 26. Februar 1996, S. 24. FAZ, 7.7.1996, S. 6. 2399 p A Z ) 12.7.1996, S. 5. Das waren neun Mrd. D-Mark weniger als noch 1996. 2 4 0 0 FAZ, 1.7.1996, S. 13. 2 4 0 1 Der Spiegel, Nr. 25/50, 7. Juni 1996, S. 94 ff. 2 4 0 2 Der Spiegel, Nr. 25/50, 17. Juni 1996, S. 94ff. 2397

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490 Aufbau auf „etwas längere Zeithorizonte einstellen" müssen. 2 4 0 3 Dabei waren bis 1996 waren nach den Zahlen der Bundesregierung netto 615 Mrd. D-Mark in die neuen Bundesländer geflossen, nach den Annahmen des Sachverständigenrates 607 Mrd. D-Mark. Die Wirtschaftsforschungsinstitute gingen noch von weit höheren Leistungen aus: Das Institut der Deutschen Wirtschaft in Berlin von über 760 Mrd. D-Mark, das Wirtschaftsforschungsinstitut in Halle auf fast 780 Mrd. D-Mark und das Weltwirtschaftsinstitut in Kiel sogar auf fast 890 Mrd. D-Mark. 2 4 0 4 Der Einbruch im Aufholprozess der neuen Bundesländer veranlasste die Politik dazu, diesen Transfer auch fur die nächsten Jahre festzuschreiben. Am 15. Dezember 1996 stellte Rexrodt auf einer Konferenz der Wirtschaftsminister der ostdeutschen Länder in Magdeburg fest: „Wenn sich die wirtschaftliche Aufwärtsbewegung in Ostdeutschland in den kommenden Jahren fortsetzen soll, brauchen wir dort eine Verbreiterung der industriellen Basis." 2 4 0 5 Dies konnte nach Rexrodts Auffassung nur durch die Fortsetzung der Subventionspolitik erfolgen. Auf einer Veranstaltung des Deutschen Industrie- und Handelstages (DIHT) in Bonn am 19. September 1996 hatte der FDP-Wirtschaftminister die staatlichen Beihilfen verteidigt. Der Wirtschaftspolitik sei auferlegt, Subventionen in begründeten Ausnahmefällen zuzulassen, und die neuen Bundesländer seien die begründete Ausnahme schlechthin. 2406 Diese Politik des FDP-Wirtschaftsministers stand der Politik der Steuersenkung und des Subventionsabbaus, die seine Partei offiziell verfolgte, diametral entgegen. Zur selben Zeit forderte die FDP den Abbau des Solidaritätszuschlages und Steuererleichterungen, die mit dem Abbau von Subventionen finanziert werden sollten. Die Krise Ostdeutschlands verschärfte sich einhergehend mit der Krise der Bauwirtschaft. Die nachlassende Nachfrage nach der Errichtung von Wirtschaftsbauten und öffendichen Bauvorhaben zwangen die Baubranche in Ostdeutschland zum Abbau von Überkapazitäten. 1997 schrumpfte die ostdeutsche Bauwirtschaft das zweite Jahr in Folge. Allein 1997 mussten weit über 8000 Bauunternehmer Insolvenz anmelden. Dies verschärfte die Lage auf dem ostdeutschen Arbeitsmarkt, fiir den die Bauwirtschaft eine so herausragende Rolle spielte. 2407 Dieser Einbruch fiel zusammen mit dem erbitterten Streit innerhalb der Koalition über den Abbau des Solidaritätszuschlages. In Ostdeutschland wurde die Forderung nach der Reduzierung des Solidaritätszuschlages als Bedrohung der Transferzahlungen interpretiert. Denn nach den Koalitionsvereinbarungen sollte der Zuschlag reduziert werden, wenn die Belastung, die die Hilfen fur den Osten darstellten, abgebaut werden könnten. Die wirtschaftliche Lage sprach nicht dafür, dass das in absehbarer Zeit der Fall sein würde. 2408 Am 1. Mai 1997 zog Ludewig kurz vor seinem Wechsel in den Vorstand der Deutschen Bahn AG Bilanz und kam trotz allem zu dem Ergebnis, dass das Glas halb voll war und nicht halbleer: „Der Aufbau Ost ist besser als sein Ruf. Immerhin ist es uns in den letzten Die Zeit, Nr. 43/51, 18. Oktober 1996, S. 32. 2404 N Z Z 1 8 1 0 1 9 9 6 ) s 23. 2405 F A Z ) 17.12.1996, S. 17. 2406 F A Z 20.9.1996, S. 17. 2403

2407 2408

NZZ, 10.06.1997, S. 25. NZZ, 8.1.1997, S. 19.

491 Jahren gelungen, den Strukturwandel der ostdeutschen Wirtschaft in die richtigen Bahnen zu lenken." 2 4 0 9 Nach der Jahrtausendwende fallt die Bilanz der Ostfbrderung in den ostdeutschen Ländern unterschiedlich aus. In Sachsen und Thüringen führte die Förderung zu der Verbreiterung der industriellen Basis, die Rexrodt angestrebt hatte. In Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern gelang es hingegen nicht, der Ausweitung der Beschäftigung im verarbeitenden Gewerbe wesendiche Impulse zu geben. Die Infrastruktur im Bereich Verkehr, Gesundheit und Soziales sowie die ökologische Sanierung konnte mit den Transferzahlungen auf westdeutsches Niveau gebracht werden. 2410 Klaus Schröder bezeichnete die Entwicklung in Ostdeutschland als „Wohlstandsexplosion ohne wirtschaftliches Fundament." Denn obwohl die wirtschaftliche Basis in Ostdeutschland im Vergleich zum Westen schmal blieb, konnte der Angleichung des Lebensstandard weitgehend vollzogen werden. Die Angleichung verlief in einem rasenden Tempo. Die meisten Haushalte erreichten in Ost- und West nur wenige Jahre nach dem Ende der Ära Kohl das gleiche Einkommensniveau. Lässt der Vergleich die oberen 10-20 Prozent der Einkommen außen vor, lag das reale Nettoeinkommen von Ost und West schon seit Mitte der 90er Jahre etwa gleich auf. Vor allem Familien, Alleinerziehende, Rentner und Bezieher von Sozialeinkommen erreichten durch die staadiche Umverteilung West-Niveau. 2411 Der kurzfristige Anschein, die ostdeutschen Frauen würden zu Verlierer der Einheit werden, ist so nicht eingetroffen. Ein Teil der höheren Arbeitslosigkeit im Osten kann auf die stärkere Erwerbsneigung ostdeutscher Frauen zurückgeführt werden 2 4 1 2 Die Entwicklung zeigt, dass das an die Ostdeutschen gerichtete Versprechen Helmut Kohls durch die Wiedervereinigung werde es niemanden schlechter gehen weitgehend eingehalten worden ist, auch wenn dies aufgrund der überspannten Erwartungshaltung und der Orientierung am Westen so im Osten nicht wahrgenommen wurde.

Die FDP und der Solidaritätszuschlag Die Bundespolitik und insbesondere die Steuerpolitik wurden in der Legislaturperiode 1994 bis 1998 von der Krise der FDP mitbestimmt, die von Wahldebakel zu Wahldebakel schlitterten und um ihre Identität rang. Die FDP schien nur noch mit einem Profil als „Steuersenkungspartei" überlebensföhig zu sein. Ihre Glaubwürdigkeit und somit ihre Überlebenschance hing an vorzeigbaren Erfolgen in dieser Frage. Am 26. Juni 1994 war die FDP bei den Landtagswahlen in Sachsen-Anhalt von 13,5 auf 3,53 Prozent abgerutscht. In Sachsen und Brandenburg ging ihr Stimmenanteil bei den Wahlen am 11. September 1994 von 5,3 auf 1,7 bzw. von 6,6 auf 2,2 Prozent zurück und mit dem Ergebnis von 2,8 Prozent fiel die FDP am 25. September aus dem bayerischen Landtag heraus. Bei der Bundestagswahl fiel die FDP mit 6,9 Prozent weit hinter ihr 2409 2410 2411 2412

FAZ, 2.5.1997, S. 16. Schröder, Veränderte Republik, S. 245. Schröder, Veränderte Republik, S. 271 f. Schröder, Veränderte Republik, S. 597.

492 herausragendes und durch die Wiedervereinigung bedingtes Ergebnis bei der Bundestagswahl 1990 zurück, als sie mit Genscher als Galionsfigur elf Prozent erzielt hatte. In der neuen Legislaturperiode verfugte die FDP nur noch über 42 statt über 79 Mandate und in der Regierung stellte sie nur noch drei statt wie zuvor fünf Minister. Zeitgleich mit der Bundestagswahl hatte die FDP auch in Mecklenburg-Vorpommern, Thüringen und dem Saarland den Einzug in die Landtage verfehlt. 2413 Die Folge diese Rückschläge waren parteiinterne Querelen. Nach den Bundestagswahlen unternahm Möllemann erneut Vorstöße in die Bundespolitik und forderte die Parteiführung heraus. Am 11. und 12. Dezember 1994 fand der Bundesparteitag der FDP in Gera statt. Es kam zum Machtkampf zwischen Kinkel und Möllemann. 2 4 1 4 Kinkel war auf dem Parteitag massiven Angriffen ausgesetzt, die Kinkel „unter die Haut" gingen. Mangels Alternative erhielt Kinkel jedoch die Unterstützung von zweidrittel der Delegierten. Er galt aber als Parteivorsitzender „auf A b r u f . Die FDP-Führung erzwang Möllemanns Sturz als FDP-Parteivorsitzender in NRW. Nach dem Verlust dieser Position gelang es Möllemann im Januar 1995 gesundheitspolitischer Sprecher der FDP zu werden und suchte dort die Auseinandersetzung mit Gesundheitsminister Seehofer. 2 4 1 5 Die Serie der Niederlagen setzte sich im Jahr 1995 weiter fort. Am 14. Mai 1995 stürzte die FDP in NRW von 5,8 auf 4 Prozent ab und in Bremen von 9,5 auf 3,4 Prozent. 2416 Außenminister Kinkel gab bekannt, nicht mehr als Parteivorsitzender kandidieren zu wollen. 2417 In dem Machtkampf um die Kinkel-Nachfolge stellte Möllemann die Koalition mit der Union in Frage: „Der Standort der Liberalen in Sachfragen muss unabhängig von der Koalition definiert werden." 2418 Vom 9. Bis zum 11. Juni 1995 fand der Parteitag der FDP in Mainz statt. Dort setzte sich Gerhardt mit 57 Prozent gegen Möllemann durch, der 33 Prozent der Stimmen erhielt. 2419 Bereits im November vergangenen Jahres war der Generalsekretär Werner Hoyer zurückgetreten. Von diesem stammt das für die FDP verheerende Wort von der „Partei der Besserverdienenden." Sein Nachfolger wurde der 32 Jährige Rechtsanwalt Guido Westerwelle. Dieser definierte die Partei als „Partei der Leistungsbereiten." 2420 Auch die Wahl der neuen Parteiführung konnte weitere Rückschläge nicht verhindern. Bei der Wahl des Abgeordneten Hauses in Berlin am 22. Oktober 1995 sank der Stimmenanteil der FDP von 7,1 auf 2,5 Prozent. Die Grünen konnte ihren Stimmenanteil hingegen von 9,3 auf 13,2 Prozent steigern. 2421 Am Ende war die FDP nur noch in den Landtagen von Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz, Schleswig-Holstein und Hessen präsent. Viele Kommentatoren hörten schon die Totenglocken für die FDP läuten. Nach

2413 2414 2415 2416 2417 2418 2419 2420 2421

Leuschel, FDP, S. 243 ff. Archiv der Gegenwart, S. 39602. Leuschel, FDP, S. Archiv der Gegenwart, S. 40002. Archiv der Gegenwart, S. 40015. Leuschel, FDP, S. 256 f. Archiv der Gegenwart, S. 40067. Leuschel, FDP, S. 245 ff, 269. Archiv der Gegenwart, S. 40462 f.

493 den Wahlniederlagen in NRW und Bremen, bezweifelte eine Infas-Wahlanalyse die Fähigkeit der FDP aus eigener Kraft den Einzug in die Parlamente zu schaffen: „...ohne Zweitstimme scheinen die Liberalen immer weniger überlebensfähig zu sein. Diese Rolle nehmen nun in beiden Ländern die Grünen wahr, die mehr und mehr in linksliberale Wählerschichten vordringen und somit den Platz der FDP besetzen." Die FAZ schrieb: „Die FDP bangt um ihre Existenz...Die schwerverwundete FDP wird der Union ein unberechenbarer Partner sein." 2 4 2 2 Die Steuerpolitik wurde zum entscheidenden politischen Notanker der Liberalen, denn durch die Belastungen der Wiedervereinigung gewann dieses Politikfeld fur die Bundesbürger erheblich an Bedeutung. Seit 1990 waren die Mehrwertsteuer, die Vermögenssteuer, die Mineralölsteuer und die Versicherungssteuer erhöht worden. Der Solidaritätszuschlag war eingeführt, abgeschafft und zum 1. Januar 1995 wieder eingeführt worden. Der Sachverständigenrat erklärte, es sei „kein klarer Kurs in der Steuerpolitik zu erkennen." 2423 Mit der Wiedereinführung des Solidaritätszuschlages wurde die Steuerbelastung für die Bundesbürger ein zentrales Thema. Nach einer Umfrage der Forschungsgruppe Wahlen sahen 72 Prozent der Bundesbürger die Belastung als „zu hoch" an, 1990 waren nur 54 Prozent der Westdeutschen dieser Ansicht. 43 Prozent der Befragten hielten unter diesen Bedingungen Steuerhinterziehung fur verständlich und die Hälfte der Befragten setzte auf das .Ausschöpfen sämtlicher Steuersparmöglichkeiten". 2424 Für die angeschlagene FDP lag es auf der Hand, ihr liberales Profil als „Steuersenkungspartei" zu schärfen. Die FDP wollte Mitte 1995 den Solidaritätszuschlag ab 1997 schrittweise auslaufen lassen. Ein Abbau sei gerechtfertigt, weil der Koalitionsvertrag den Zuschlag an die allgemeine wirtschaftliche Entwicklung gekoppelt habe und der Aufbau in den neuen Bundesländern Fortschritte mache. Im Gegenzug fur den Abbau des Solidaritätszuschlages sollten nach dem Willen der FDP Subventionen gestrichen und die Förderung für den Osten langsam zurückgeführt werden. Dieser Ansatz stand jedoch im krassen Gegensatz zu Rexrodts Förderpolitik. Gerhardt erklärte, er habe trotz der Absichtserklärungen der FDP Verständnis dafür, dass Wirtschaftsminister Rexrodt in Absprache mit den Bundesländern gerade erst wieder neue Förderelemente für Ostdeutschlang geschaffen habe 2 4 2 5 Die C D U hatte für die steuerpolitischen Ambitionen ihres Koalitionspartners nur wenig Verständnis. Durch das Föderale Konsolidierungsprogramm ergaben sich für den Bund im Jahr 1995 zusätzlichen Belastungen von 50 Milliarden D-Mark. Davon wurden 9 Mrd. D-Mark durch Einsparungen, 11 Mrd. D-Mark durch zusätzliche Kredite und 30 Mrd. D-Mark über zusätzliche Steuereinnahmen gedeckt. Der Löwenanteil der zusätzlichen Steuerannahmen ging mit 26,5 Milliarden D-Mark auf den Solidaritätszuschlag zurück. 2426 Waigel erklärte am 22. November 1995 vor dem Unternehmertag des Bundesverbandes des deutschen Groß- und Außenhandels: „Illusionen sind nicht angebracht. 2422 2423 2424 2425 2426

Archiv der Gegenwart, S. 40002 f. Jahresgutachten, 1994/95, S. 199. Wirtschaftswoche, Nr. 4/49, 19. Januar 1995, S. 14ff. Wirtschaftswoche, Nr. 25/49, 15. Juni 19995, S. 28. Jahresgutachten 1995/96, S. 207.

494 Es ist weder möglich bis zum Ende des Jahrzehntes die Defizite der öffentlichen Hand zum Verschwinden zu bringen, noch ist es möglich den Solidaritätszuschlag vollständig abzuschaffen." 2427 Kohl erklärte, er halte „diese Diskussion im Moment für durchaus entbehrlich". Die Koalition hätte nicht umsonst eine jährliche Uberprüfung vereinbart. Die wördiche Vereinbarung war: „Der Solidaritätszuschlag muss bei Rückführung dieser Belastungen (Transfer des Bundes an die Länder) oder bei einem ernsthafteren Anstieg der Einnahmen aus dem Solidaritätszuschlag gegenüber den Annahmen des Finanzplanes entsprechend zurückgeführt werden." 2428 Kohl und Waigel hatten die Uberprüfung der Abgabe mit dem Ziel ihrer Rückführung in Hinblick auf die kommenden Belastungen still schweigend ad acta gelegt. Die FDP war jedoch nicht bereit, diesen Schritt der Union nachzuvollziehen. Im Dezember 1995 eskalierte der Streit. Die FDP-Finanzexpertin Gisela Frick sagte: „Ich hoffe, dass wir sehr ernsthaft an den Abbau der Steuern gehen." Hans Peter Repnik von der C D U artikulierte die Sorgen der Finanzpolitik: „Ich weiß nicht, wo wir darüber hinaus fast zehn Milliarden D-Mark für eine Verminderung des Solidaritätszuschlages nehmen sollen." Repnik fürchtete, die finanzpolitischen Probleme würden 1997 noch größer sein als im kommenden Jahr. 2 4 2 9 Schäuble baute in der Öffendichkeit vor dem Koalitionspartner eine Drohkulisse auf, um die FDP zum einlenken zu zwingen. Er schloss gegenüber der BILD-Zeitung eine absolute Mehrheit für die Union bei der Bundestagswahl nicht aus und erklärte der Boulevard-Zeitung: „Wenn unser Partner Selbstmord begehen sollte, gilt bei uns nicht das Prinzip Witwen-Verbrennung." 2430 Das Interview sorgte für Aufregung. Die Deutsche Presseagentur kommentierte die Äußerung: „Allein die Tatsache, dass sich Schäuble in einem Blatt mit Millionenauflage in die Neuwahldiskussion eingeschaltet hat, gibt ihr eine andere Qualität." 2 4 3 1 Aller koalitionsinternen Kritik zum Trotz versprach Solms den BILD-Zeitungslesern am 5. Dezember, also vier Tage nachdem Schäuble seine Drohung dort platziert hatte, die vollständige Abschaffung des „Soli": „Bei meinem Schnauzbart 1997 kommt der Einstieg in den Ausstieg — dann werden wir mit dem Abbau des Solidaritätszuschlages beginnen. Bis zum Jahr 2000 ist der Soli weg." 2 4 3 2 Das Jahr 1996 begann, wie das Jahr 1995 geendet hatte. Die Auseinandersetzung über den Solidaritätszuschlag wurde verbissen fortgeführt. In einem Interview vom 8. Januar 1996 forderte Solms die Abschaffung der Gewerbekapital- und Vermögenssteuer und die Senkung des Solidaritätszuschlages von 1997 an und damit einhergehend die Rückführung des Staatsanteils von 53 auf 46 Prozent. Für Solms war die Rückführung des Solidaritätszuschlages eine „Frage der Glaubwürdigkeit" der FDP. Auf die Feststellung, dass Waigel das Geld fehle, antwortete Solms: „Das ist nicht mein Problem. Die Steuerzahler haben einen Anspruch auf Steuersenkung." Was mögliche Einsparungen anging, musste Solms erklären: „Ich räume ein, mit Rücksicht auf die Betroffenen haben auch

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Bild, 23.11.1995, S. 2. Die Zeit, Nr. 50/50, 8. Dezember 1995, S. 23. Die Zeit, Nr. 50/50, 8. Dezember 1995, S. 23. Bild, 1.12.1995, S. 2. Bild, 2.12.1995, S. 2. Bild, 5.12.1995, S. 2.

495 wir keine Radikallösung vorgeschlagen." Solms sah realistisch, dass es fiir die Liberalen keine politische Alternative zum Bündnis mit der Union gab. 2 4 3 3 Wirtschaftsminister Rexrodt äußerte sich daher auch zurückhaltender. Er sei zwar entschieden dafür, den Solidaritätszuschlag abzubauen, wolle davon aber nicht das Schicksal der Koalition abhängig machen. 2 4 3 4 „Radikallösungen" forderte lediglich Graf Lambsdorff. Lambsdorff forderte die „alte Medizin von 1982." Alle müssten sich darauf einstellen, fur einen gewissen Zeitraum reale Einkommensverluste hinzunehmen. Auch beim Koalitionspartner wachse die Einsicht, dass „wir einen echten Sozialabbau brauchen." Bei der Rentenversicherung dürfe die Frage der bestehenden Renten nicht mehr außen vor bleiben. Lambsdorff forderte darüber hinaus eine Aufhebung der Rentenanpassung: „Die Dynamisierung der Renten (...) können wir uns (...) nicht länger leisten." Der Abstand zwischen Lohn- und Sozialhilfe müsse vergrößert werden. Lambsdorff forderte darüber hinaus Kürzungen beim Arbeitslosengeld und machte noch einmal deudich, dass er die Einfuhrung der Pflegeversicherung für einen schweren Fehler hielt. 2435 So weitreichende Einschnitte waren aber in der Koalition nicht durchsetzbar. Am 16. Januar 1996 hatte CSU-Generalsekretär Protzner die FDP in der BILD-Zeitung ermahnt: „Ich fordere die FDP auf, endlich konkret über zusätzliche Einsparungen aufzuklären, die mit ihrem Weg zwangsläufig stattfinden müssten." 2 4 3 6 Zwei Tage später äußerte Solms in einem Interview: „Die Koalition hält. Der Solidaritätszuschlag wird abgebaut. Wir haben dafür die notwendigen Einsparungen vorgeschlagen und sind bereit, diese auch durchzusetzen." Solms erklärte, die FDP habe 60 Einsparungen vorgeschlagen. 2437 Ende Januar 1996 wurde die Wochen dauernde Koalitionskrise beigelegt. Solms und Gerhardt setzten sich in den Verhandlungen mit Schäuble gegenüber Waigel und Glos durch. Nach der Vereinbarung sollte der Solidaritätszuschlag zum 1. Juli 1997 von 7,5 Prozent auf 5,5 Prozent zurückgeführt werden. Das würde den Haushalt voraussichdich vier Milliarden D-Mark kosten. Zur Finanzierung waren jedoch keine Einsparungen im Haushalt, sondern ein gewagtes politischen Manöver vorgesehen. Um die Lücke zu decken, wollte Waigel ab 1998 drei Milliarden D-Mark aus dem Mehrwertsteueranteil der Länder zurückverlangen. Daher kritisierte der brandenburgische Ministerpräsident Stolpe den Kompromiss als „durchsichtige Rettungsaktion der FDP auf Kosten der Bundesländer." 2438 Waigel begründete seine Forderung an die Bundesländer damit, dass die 1993 beschlossene Aufstockung des Anteils der Bundesländer an der Mehrwertsteuer allein dem Länderfinanzausgleich zu Gunsten der neuen Bundesländer zu Gute kommen sollte. Das dafür nicht verwendete Geld könne also den Steuerzahlern im Zuge der Senkung des Solidaritätszuschlages zurückgegeben werden. Da die Ministerpräsidenten diesen Plan geschlossen ablehnten, suchte Waigel die Abtretung des Mehrwertsteueranteils mit anderen steuerpolitischen Fragen zu verknüpfen. Er werde noch in diesem Frühjahr ein „gro-

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Der Spiegel, Nr. 2/50, 8. Januar 1996, S. 57ff. Die Zeit, Nr. 4/51, 19. Januar 1996, S. 21 f. Der Spiegel, Nr. 4/50, 22. Januar 1996, S. 97 ff. Bild, 16.1.1996, S. 2. Wirtschaftswoche, Nr. 4/50, 18. Januar 1996, S. 20 ff. Wirtschaftswoche, Nr. 6/50, 1. Februar 1996, S. 14f.

496 ßes Steuerpaket" schnüren. Dieses sollte den Solidaritätszuschlag, die Vermögenssteuer, weitere Teile der Unternehmenssteuerreform, die Erbschafts- und Schenkungssteuer und die Kfc-Steuer betreffen. Waigel setzte somit auf ein effizientes Druckmittel. Das Bundesverfassungsgericht hatte verfugt, dass der Bund die Vermögenssteuer neu regeln musste, da diese in der aktuellen Form verfassungswidrig war. Ohne eine vom Bundestag beschlossene Neuregelung der Vermögenssteuer, würde diese wegen des Richterspruchs des Bundesverfassungsgerichts automatisch mit Verstreichen des Jahres entfallen. Die Einnahmen aus der Vermögenssteuer für die Länder würden weg brechen, ohne dass diese etwas dagegen unternehmen konnten. Die Länderregierungen sahen darin eine handfeste Erpressung. 2439 Die Abtretung des Mehrwertsteueranteils würde die Bundesländer drei Milliarden D-Mark kosten, der Wegfall der Vermögenssteuer hingegen 8,5 Mrd. D-Mark. 2 4 4 0 Waigel konnte sich zu Gute halten, dass er durch die „Erpressung" etwas einforderte, auf das der Bund durchaus Ansprüche geltend machen konnte. Die Bundesregierung hatte den Ländern 1993 sieben Prozent der Mehrwertsteuer abgetreten. Voraussichtlich würden die Einnahmen aus der Erhöhung des Mehrwertsteueranteils den Ländern 1997 Einnahmen von 16,5 Mrd. D-Mark bescheren. Von diesen würden jedoch nur 13,5 Mrd. DMark dem Länderfinanzausgleich zufließen. So dass, die Rückübertragung dieser Differenz tatsächlich eine sachlich zutreffende Begründung besaß, allerdings voraussetzte, dass die Kosten fur den Länderfinanzausgleich nicht weiter steigen würden. 2441 Die Länder lehnten die Interpretation verständlicher Weise ab. Bayerns Finanzminister Erwin Huber erklärte: „Eine Vereinbarung im Solidarpakt zur Rückführung des Solidaritätszuschlages auf Kosten der Länder gibt es nicht." 2 4 4 2 Hintze und Glos verständigten sich nach dem Koalitionsbeschluss darauf, die Senkung des Solidaritätszuschlags vom Entgegenkommen der Länder in dieser Frage abhängig zu machen. Denn ohne Gegenfinanzierung der SoliSenkung war die Einhaltung des Maastrichtkriteriums ernsthaft in Gefahr. Solms lehnte jedoch im Namen der FDP ein Junktim ab. Seine Partei brauchte für die Landtagswahlen am 24. März 1996 einen sichtbaren Erfolg. 2 4 4 3 Die Länder traten mit großem Selbstbewusstsein auf, weil sich Unions- und SPD-Ministerpräsidenten verbündet hatten. Stoiber hatte den Schulterschluss mit Lafontaine gesucht und warnte vor der ,Amerikanisierung der deutschen Verhältnisse." Stoiber erklärte: „Thatcherismus ist mit mir nicht zu machen." Die Länder lehnten die Senkung des Solidaritätszuschlages ab und setzten eigene Arbeitsgruppen ein, die von SPD und Unionsministerpräsidenten geleitet wurden. 2444 Am 26. Februar 1996 legten Gerhardt und Solms nach einer Beratung des FDP-Präsidiums ihre steuerpolitischen Vorschläge für die Jahre 1997 und 1998 vor. Zu den Vorschlägen gehörte die vollständige Abschaffung des Solidaritätszuschlages bis 1999. Die Wirtschaftswoche, Nr. 8/50, 15. Februar 1996, S. 18ff. 2440 Wirtschaftswoche, Nr. 19/50, 2. Mai 1996, S. 16 ff. 2 4 4 1 Der Spiegel, Nr. 6/50, 5. Februar 1996, S. 31. 2 4 4 2 Die Zeit, Nr. 6/51, 2. Februar 1996, S. 17. 2 4 4 3 Der Spiegel, Nr. 6./50, 5. Februar 1996, S. 31. 2 4 4 4 Der Spiegel, Nr. 7/50, 12. Februar 1996, S 75 f. 2439

497 Senkung des Solidaritätszuschlages sei jedoch nur ein erster Schritt. 2445 Die Strategie sich politisch auf die Steuersenkungen zu konzentrieren, zahlte sich fiir die Liberalen aus. Die FDP ging gestärkt aus den Landtagswahlen am 24. März hervor. In Baden-Württemberg legte die FDP von 5,9 auf 9,1 Prozent zu. In Rheinland-Pfalz von 6,9 auf 8,9 Prozent und in Schleswig-Holstein blieb die FDP mit einem Zuwachs von 0,1 Prozent auf 5,7 Prozent stabil. Vier Wochen nach der Übernahme des Parteivorsitzes durch Oskar Lafontaine mussten die Sozialdemokraten hingegen einen herben Rückschlag hinnehmen. Allerdings blieb die sozialdemokratische Mehrheit im Bundesrat unverändert. 244 ^ Die FDP nutzte die Bestätigung ihres Kurses, um ihr Profil als Partei wirtschaftlichen Freiheit programmatisch zu untermauern. Zwischen dem 7. Und 9. Juni 1996 fand der Bundesparteitag der FDP in Karlsruhe statt. In ihrem Grundsatzprogramm forderte die FDP eine Abkehr vom „Gefälligkeitsstaat." 2447 Zu der Freude über das Abschneiden der Koalition gesellten sich Befürchtungen im Hinblick auf das Haushaltsdefizit, die Arbeitslosigkeit und den steigenden Rentenbeitrag. Das erste Regierungsgespräch bei Kohl nach der Wahl kam zu keinem Ergebnis sondern glich nach Seehofers Aussage eher einem „Kampf aller gegen alle". Unentschieden ging die Regierung in den Osterurlaub. Die Fraktionschefs Schäuble und Solms übernahmen es auf Kohls Weisung nach Kompromissen zu suchen. 2448 Die Abschaffung des Solidaritätszuschlags stieß auf den erbitterten Widerstand der ostdeutschen Landesregierungen. Am 1. April 1996 waren die fünf ostdeutschen Finanzminister gemeinsam vor der Presse auf. Sie präsentierten der Öffendichkeit ein „Sechs-Thesen-Papier." Darin machten Sie auf die gravierenden Schwierigkeiten der ostdeutschen Wirtschaft und ihrer Länderhaushalte aufmerksam 2 4 4 9 Der Streit zwischen FDP und Union wurde um den Soli mit der bekannten Härte gefuhrt und bald stand unter dem Zwang der Umstände die Senkung des Solidaritätszuschlages wieder zur Disposition. Bild artikulierte die Stimmung ihrer Leser mit der Überschrift: „Soli-Wut: Bei der nächsten Wahl werden wir es euch zeigen!" und gab die Zitate empörter Bürger wieder. 2450 Die ZEIT stellte die sehr nahe liegende Frage: „Wenn aber schon die Finanzierung eines Haushaltslochs von einigen Milliarden D-Mark das Regierungsbündnis an den Rand des Bruchs führt, wie will dann die Koalition eine große Steuerreform verwirklichen, mit der Staatseinnahmen von schätzungsweise hundert Milliarden D-Mark bewegt werden sollen und bei der auch schmerzhafte Belastungen fur die eigene Wählerklientel nicht zu vermeiden sein werden?" 2451 Am 1. November äußerte Waigel in der BILD-Zeitung: „Die FDP muss wissen, wenn sie diese Koalition gefährdet, fuhrt sie ihren eigenen Untergang herbei." 2452 Er stellte die

2445 2446 2447 2448 2449 2450 2451 2452

FAZ, 27.2.1996, S. 4. Archiv der Gegenwart, S.40912. Archiv der Gegenwart, S. 41145. Der Spiegel, Nr. 14/50, 1. April 1996, S. 22 ff. FAZ, 2.4.1996, S. 17. Bild, 21.10.1996, S: 1. Die Zeit, Nr. 44/51, 25. Oktober 1996, S. 25. Bild, 1.11.1996, S. 2.

498 FDP vor die Alternative Verschiebung der Senkung des Solidaritätszuschlags oder Erhöhung der Mineralölsteuer. Die FDP sah ersteres als das kleinere Übel an und Gerhardt war gezwungen vor der FDP-Fraktion zu erklären, wenn die FDP nicht bereit sei, die Verschiebung der Senkung des Solidaritätszuschlages zu akzeptieren, sei die Koalition beendet. Vor dem FDP-Präsidium am 4. November 1996 erklärte Gerhardt, er werde eine feste Zusage von Kohl für eine Senkung zum 1. Januar 1998 verlangen und davon die Zustimmung zum Haushalt 1998 abhängig machen. Am nächsten Morgen kam es zum Treffen im Kanzleramt und die Union wies das Junktim harsch zurück. Schäuble drohte: „Dann ist die Veranstaltung eben zu Ende." Er fugte hinzu, in der Opposition hätte die FDP keine Chance. Kohl erklärte, er könne zum Bundespräsidenten gehen, um das Scheitern der Regierung zu erklären. Kohl und Waigel wollten allerdings trotz dieser Machtdemonstration an dem Bündnis festhalten, wohingegen Schäuble mit der Idee einer großen Koalition spielte.24-'3 Der Verzicht auf die Senkung des Solidarzuschlages brachte fur die FDP die im Frühjahr die Landtagswahlen als „Steuersenkungspartei" gewonnen hatte, ein erhebliches Glaubwürdigkeitsproblem mit sich. Den Freien Demokraten ging es nun darum der Öffendichkeit und dem Koalitionspartner deudich zu machen, das fur sie mit diesem Kompromiss die Grenze des Erträglichen erreicht war. Gerhardt erklärte in einem Interview: „Wenn die chrisdichliberale Koalition nicht mehr in der Lage wäre, einen Haushalt zu konsolidieren. Und wenn sie zu Steuererhöhungen greifen müßte. Das wäre mit der FDP nicht möglich." Gerhardt erklärte definitiv, Steuererhöhungen wären das Ende der Koalition. Mit ihrem Verzicht auf die Senkung des Solidaritätszuschlags hätte die FDP ihren Beitrag geleistet. „Nun ist es Aufgabe des Finanzministers, genau die Aufgabenseite zu überprüfen, mit den Haushältern der Koalition und jede Steuer- und Abgabenerhöhung zu vermeiden." In Hinsicht auf mögliche andere Koalitionsoptionen sah Gerhardt klar, zur Koalition mit der Union gab es „keine Alternative." 2454 Solms erklärte in einem anderen Interview, die FDP habe mit ihrem Verzicht auf die Senkung des Solidaritätszuschlages ein hartes und schwieriges Opfer gebracht. Durch die Verhinderung der Mineralölsteuererhöhung sei die FDP ihrem Kurs treu geblieben. Jetzt sei Schluss, alle zusätzlichen Defizite müssten mit Einsparungen gedeckt werden. Für 1998 gelte die alte Vereinbarung der Absenkung des Solidaritätszuschlages von 7,5 auf 5,5 Prozent. 2455 Noch deudicher wurde Solms in einem Interview mit der ZEIT vom 1. November 1996. Solms erklärte nach diesem Kompromiss gerate die Koalition an eine „Bruchlinie." Mit der Senkung des Solidaritätszuschlages 1998 sei es der FDP „sehr ernst". Die Koalition sei in diesem Punkt zur Einigung verurteilt und der Koalitionspartner wisse, „dass wir keinen Verhandlungsspielraum mehr haben." 2 4 5 6 Möllemann kündigte an, dem Haushalt nicht zu zustimmen, ohne die Senkung des Solidaritätszuschlags. Schäuble unterstrich, dass eine nicht Verabschiedung des Haushaltes das Ende der Koalition bedeuten würde. Er versuchte aber auch die Wogen zu glätten. Schäuble erklärte, er sei gegen eine große Koalition und zum Bündnis mit der FDP gäbe 2453 2454 2455 2456

Der Spiegel, Nr. 46/50, 11. November 1996, S. 22 ff. Der Spiegel, Nr. 44/50, 28. Oktober 1996, S. 26 ff. Wirtschaftswoche, Nr. 45/50, 31. Oktober 1996, S. 22 ff. Die Zeit, Nr. 45/51. 1. November 1996, S. 29.

499 es keine „verantwortbare Alternative." Die Stimmung sei aber ernst. Die Zukunft des Solidaritätszuschlags sei offen. Schäuble räumte aber ein, dass der Verzicht auf eine Senkung, die nächste Koalitionskrise heraufbeschwor. 2457 Am 18. Dezember vereinbarten die Spitzenpolitiker der Koalition schriftlich die Senkung des Solidaritätszuschlages um zwei Prozentpunkte zum 1. Januar 1998. 2 4 5 8 Vor der ersten Arbeitssitzung der Steuerreformkommission bestätigte Waigel, dass der Solidaritätszuschlag in einer ersten Stufe 1998 von 7,5 auf 5,5 Prozent gesenkt werden sollte. Rexrodt erklärte, dass in den nächsten Monaten eine Gegenfinanzierung gefunden werden müsse. 2 4 5 9 Die Zweifel in der Führung der Union an der Finanzierbarkeit der Soli-Senkung blieben bestehen. Am 26. April 1997 erklärte Schäuble, der Soli sei nach wie vor ein „dringend erforderlicher Finanzbeitrag für den Aufbau der neuen Länder" 2 4 6 0 Zwischen dem 23. Und dem 25. Mai 1997 fand der Bundesparteitag der FDP in Wiesbaden statt. Überschattet wurde der Parteitag von den Differenzen der FDP mit der Union über die Haushaltskonsolidierung. Gerhardt wurde als Parteivorsitzender bestätigt und Steuererhöhungen abgelehnt. 2461 Gerhardt bekräftigte in seiner Parteitagesrede, die FDP werde Steuererhöhungen zum Schließen von Haushaltsdefiziten nicht hinnehmen und in der Frage des Solidaritätszuschlags den in der Koalition vereinbarten Zeitplan einhalten. Gerhardt verband seine Forderung mit einem eindeutigen Bekenntnis zur Koalition. Gerhardt erklärte: „Wir wollen den Erfolg der Koalition, weil Deutschland Reformen braucht. Wir wollen den Erfolg der FDP, weil die Koalition nicht stehen bleiben darf." Möllemann griff auf dem Parteitag Rexrodt und Solms an, was zu Irritationen in der Partei führte. 2 4 6 2 Im Sommer 1997 suchte die Koalition nach Finanzierungsmöglichkeiten für die Senkung des Solidaritätszuschlags. 2463 Denn als sich das Scheitern der großen Steuerreform abzeichnete, forderten die Freien Demokraten die Senkung des Solidaritätszuschlages notfalls auch in einem gesonderten Gesetz zu regeln. Die Union lehnte die gesonderte Senkung des Solidaritätszuschlages jedoch ab. Solms betonte, die FDP habe zwar im vergangenen Jahr bei der Senkung des Solidaritätszuschlages nachgegeben und der Verschiebung zugestimmt, doch das werde sich nicht wiederholen. 2464 Die ostdeutschen Ministerpräsidenten allen voran der sächsische Ministerpräsident Kurt Biedenkopf lehnten die separate Senkung des Solidaritätszuschlages strikt ab. Die ostdeutschen Ministerpräsidenten kündigten an, im Bundesrat eine Zwei-Drittel-Mehrheit gegen die Senkung herbeizuführen. Biedenkopf erklärte, bei der gegenwärtigen Haushaltssituation sei eine „nicht gedeckte Senkung des Solidaritätszuschlags nicht zu verantworten." 2465 Noch eine

Der Spiegel, Nr. 46/50, 11. November 1996, S. 27 f. FAZ, 19.12.1996, S. 1. 2459 F A Z > 8.1.1997, S. 11. 2 4 6 0 Bild, 26.4.1997, S. 2. 2 4 6 1 Archiv der Gegenwart, S. 42067. 2 4 6 2 FAZ, 24.5.1997 S. 1. 2 4 6 3 Die Zeit, Nr. 35/52, 22. August 1997, S. 26. 2457 2458

2464 F A Z > 21.7.1997, S. 2. 2465

FAZ, 28.7.1997, S. 1.

500

Woche vor der Verabschiedung im Bundestag war die Finanzierung ungeklärt. Waigel wiederholte, dass der Bundeshaushalt 1998 mehr als eine Milliarde D-Mark an Steuerausfällen nicht verkraften konnte. Weil die Zeit drängte, konnte die Regierung die Steuerschätzung im November nicht abwarten, wollte sie das Gesetz rechtzeitig zum Beginn nächsten Jahres in Kraft treten lassen.2466 Am 9. Oktober 1997 zog die Koalition mit dem Beschluss zur Senkung des Solidaritätszuschlages von 7,5 auf 5,5 Prozent zum ersten Januar 1998 einen Schlussstrich unter die zermürbende Debatte. Die Senkung wurde mit der Streckung der Tilgung des Erblastentilgungsfonds gegen finanziert. Deshalb warf die Opposition der Regierung Steuersenkung auf „Pump" vor. Waigel rechtfertigte die unkonventionelle Finanzierung mit der günstigen Zinsentwicklung und damit, dass zwischen 1995 und 1998 40 Mrd. D-Mark getilgt worden waren, das war etwas mehr als die Hälfte mehr als geplant. 2467 Der Bund hatte sich verpflichtet die finanziellen Verpflichtungen, die aus dem Untergang der DDR resultierten, in Höhe von 330 Mrd. D-Mark innerhalb von dreißig Jahren abzutragen. Nach dem Gesetz mussten jährlich 7,5 Prozent des Haushalts zu Tilgung verwendet werden, was damals 26 Mrd. D-Mark entsprach.2468 Laut Waigel würde die Tilgung im laufenden Jahr 12 Mrd. D-Mark statt der ursprünglich veranschlagten fünf Milliarden D-Mark betragen. Für diese positive Entwicklung war vor allem die günstige Zinsentwicklung verantwortlich, so dass nach Abzug der Zinsaufwendungen ein größerer Anteil der jährlichen Tranche zur Tilgung verwendet werden konnte. Außerdem waren fur die Finanzierung der Senkung des Solidaritätszuschlages zusätzliche Mittel von 1,5 Mrd. DMark aus Grundstücksgeschäften des Bundes eingeplant. 2469 Der Beschluss über die Senkung des Solidaritätszuschlages erfolgte nach dem Scheitern der von der Regierung beschlossenen Steuerreform und der Erhöhung der Sozialbeiträge und der Mehrwertsteuer für die aus den Fugen geratene Rentenversicherung. Die Senkung des Solidaritätszuschlages brachte der Regierung daher wohl nur wenige Punkte. Die BILD-Zeitung titelte „Wie viel bleibt mir in der Tasche? Soli runter - aber Rentenbeiträge rauf und Mehrwertsteuer soll auf 16 Prozent hoch!" Die BILD-Zeitung veröffentlichte Steuertabellen aus denen ihre Leser entnehmen konnten, dass untere Einkommen und Familien mit Kindern besonders belastet wurden, aber sehr hohe Einkommen durch die Senkung des Solidaritätszuschlages besonders entlastet.2470 Diese Berichterstattung wird nicht wenig zur gefühlten „sozialen Ungerechtigkeit" beigetragen haben.

FAZ, 1 . 1 0 . 1 9 9 7 , S. 1. 2467 F A Z ; 1 0 1 0 1 9 9 7 > s 2. 2466

Der Spiegel, Nr. 41/51, 6. Oktober 1997, S. 24. 2469 N Z Z , 0 3 . 1 0 . 1 9 9 7 , S. 2 1 . 2468

2470

Bild, 1 . 1 1 . 1 9 9 7 , S. 1.

501

Die „große Steuerreform" Im März 1996 vertrat Waigel in einem Strategiepapier, dass die große Steuerreform erst nach der nächsten Bundestagswahl vorbereitet werden könnte. Der steuerpolitische Sprecher der Unionsfraktion Gunnar Uldall legte jedoch ein eigenes Konzept vor, mit dem er in der Koalition einen Stimmungsumschwung zu Gunsten eine vorgezogenen Reform auslöste. Uldall war ein großer Bewunderer der Steuersenkungen unter US-Präsident Reagan. Uldalls Konzept sah drei niedrige Stufen mit einem Spitzensteuersatz von 28 Prozent und Steuermindereinnahmen von 123 Mrd. D-Mark vor, die durch den Wegfall fast aller Sondertatbestände finanziert werden sollten. Solms legte ein eigenes Konzept vor, das drei Stufen mit einem Spitzensteuersatz von 35 Prozent vorsah. In einem ersten Schritt wollte Solms die Steuer auf die Sätze 20, 30 und 40 Prozent um 25 Mrd. D-Mark senken und schloss die Anhebung indirekter Steuern zur Gegenfinanzierung nicht aus: „Wenn der Steuerausfall wegen des niedrigen Tarifs nicht vollständig durch Subventionsabbau ausgeglichen werden kann, müssen zum Auffullen der Lücken die Verbrauchssteuern angehoben werden." Solms Konzept sah jedoch noch keine konkreten Streichvorschläge vor. Nach dem Osteurlaub gab Kohl Solms seine Zustimmung. Mitte April 1996 einigte sich die Koalition darauf, noch vor der Wahl die Einkommensteuerreform vorzulegen und schon 1999 in Kraft zu setzen. Waigel lehnte den Vorschlag eine Kommission mit der Ausarbeitung der Reform zu betrauen ab und wollte stattdessen sein Finanzministerium mit der Ausarbeitung betrauen. 2471 Solms erklärte, ein Stufentarif sei viel transparenter als der linear-progressiver Tarif. Er machte darauf aufmerksam, dass fast alle andern Länder in Europa über einen Stufentarif verfugten. In der C D U gäbe es Zustimmung, aber die C S U bremse vehement. Den zu erwartenden Steuerausfall von achtzig Milliarden D-Mark wollte Solms durch die Schließung von Steuerschlupflöchern, und durch die Steuerreform angestoßenes zusätzliches Wachstum finanzieren.2472 Die Fraktionsvorsitzenden Schäuble und Solms vereinbarten auch unter Druck an der geplanten Steuerreform festzuhalten. Trotz der Absprache sich mit öffendichen Verlautbarungen zurückzuhalten lief die Debatte über die Steuerreform aus dem Ruder. Der CSU-Finanzminister Erwin Huber legte ein eigenes Konzept vor, in dem allerdings die Landwirtschaft von Einschnitten weitgehend ausgenommen war. FDP-Generalsekretär Westerwelle erklärte die Steuerprivilegien für Lebensversicherungen für unantastbar, nachdem es auf den Vorschlag ihrer Besteuerung in der Öffentlichkeit heftige Reaktionen gegeben hatte. Der SPIEGEL kommentierte: „Mehrwertsteuerdebatte, Tarifbeispiele und das vorzeitige Fesdegen einzelner auf die Abschaffung ausgewählter Steuergeschenke bestimmen die Diskussion." 2473 Schäuble nannte die Diskussion abfällig einen „Profilierungswettbewerb". Die Union werde bis Jahresende ihre Vorschläge für eine umfassende Reform vorlegen. In einem Interview vom 9. September 1996 dämpfte Schäuble die Erwartungen: „Wir haben un-

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Der Spiegel, Nr. 17/50, 22. April 1996, S. 102 ff. Wirtschaftswoche, Nr. 33/50, 8. August 1996, S. 20. Die Spiegel, Nr. 35/50, 26. August 1996, S. 78 ff.

502 gefähr 20 Millionen steuerpflichtige Haushalte. Wenn die um 20 Mrd. D-Mark endastet werden, dann entfallen auf den Steuerpflichtigen durchschnittlich 1000 D-Mark im Jahr oder gut 80 D-Mark im Monat. Das ist nicht die aufregende Weltveränderung." 2474 Fraktionschef Schäuble stellte die Ergebnisse der vom Bundesvorstand parteieigenen Kommission vor, die sich darum bemüht hatte vom C D A bis zum Wirtschaftsflügel alle Gliederungen der Partei mit einzubeziehen vor. Die Kommission hielt eine Steuerendastung von dreißig Milliarden D-Mark fur realisierbar. Schäuble machte jedoch auch auf die Schwierigkeiten aufmerksam, die der Koalition bevorstanden: „Dieses vorhaben ist außergewöhnlich ehrgeizig, und es steckt voller Risiken, die wir auch auf dem Bundesparteitag nicht negieren und nicht verdrängen dürfen...Jede Steuervergünstigung, die wir streichen, wird einen Aufschrei der Betroffenen nach sich ziehen. Die organisierten Interessen werden alles in Bewegung setzen, um ihre Ausnahmetatbestände zu erhalten. Mancher Verbündete, der uns am Anfang grundsätzlich schulterklopfend zur Seite stand, wird sich dann still heimlich verdrücken." 2475 Schäuble hob Uldalls Bedeutung für die Reform auch entsprechend heraus: „Ich möchte Gunnar Uldall nennen. Er hat mit seinen Gedanken wesentlichen Anteil daran, dass die Notwendigkeit einer Reform und die Chance, die sich damit eröffnet, endlich erkannt wurden und sich in den Köpfen festgesetzt haben." 2 4 7 6 Der so Gelobte hielt dann auch eine Rede, die weniger Vorsicht als Schäuble, aber dafür mehr Enthusiasmus offenbarte. Die Reform müsse eine „große Reform" werden, „die keine Micky-Maus-Reform werden darf. Sie darf nicht ein weiteres reines Jahressteuergesetz werden, sondern sie muss zugleich zu einem Neuanfang in unserem Steuersystem in Deutschland werden." Man müsse sich von der Lenkungsfunktion des Steuersystems endgültig trennen. Uldall ging noch weiter als die Vorschläge der Kommission. Er betonte, der Spitzensteuersatz könne auch unter 35 Prozent liegen, die die Vorschläge der Kommission vorsahen, zeigte sich aber insgesamt mit dem Ergebnis zu frieden, das ja auch ganz wesentlich die Folge seines Wirkens war: „Noch vor wenigen Monaten hätte ich nicht zu träumen gewagt, dass wir auf diesem Parteitag einen so weitgehenden Antrag beschließen würden." 2 4 7 7 Der vom Parteitag verabschiedete Steuerbeschluss sah vor, Sonderegelungen im Steuerrecht „weitgehend zu streichen und gegebenenfalls durch direkte, d. h. offene zeidich begrenzte Zuwendungen zu ersetzen." Die Union strebte ein „ausgewogenes Verhältnis von direkten und indirekten Steuern an." Was nichts anderes hieß, als dass man auf die Erhöhung der Mehrwertsteuer zurückgreifen wollte, um die Senkung der Einkommensteuer finanzieren zu können. Der Eingangssteuersatz sollte auf zwanzig Prozent sinken und der Spitzensteuersatz auf 35 Prozent. 2478 Damit hatte sich die C D U festgelegt, nun stellte sich die Frage, wieviel von dem Konzept nach der Abstimmung mit dem Finanzminister, der Koalition und schließlich dem sozialdemokratisch dominierten Bundesrat übrig bleiben würde.

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Der Spiegel, Nr. 37/50, 9. September 1996, S. 48 ff. 8. Bundesparteitag der Chrisdich Demokratischen Union Deutschlands, Niederschrift, Hannover 21./22. Oktober 1996, S. 173 ff. 8. Bundesparteitag, S. 184. 8. Bundesparteitag, S. 189 ff. 8. Parteitag, S. 254 ff.

503

Gunnar Uldall bedauerte in einem Interview, dass sich der Stufentarif nicht durchgesetzt hatte, lobte aber dennoch die Vorschläge, die die Arbeitsgruppe unter Wolfgang Schäuble vorgelegt hatte. Die CDU müsse trotz der Proteste daran festhalten, soviele Steuerausnahmen wie möglich zu streichen. Uldall hielt es für „falsch und populistisch", dass FDP-Chef Gerhardt an der Steuerfreiheit für Sonn- und Nachtarbeit festhalten wollte. Die Gegenfinanzierung der Steuersenkung werde wesendich durch die Bezieher höherer Einkommen erfolgen. Die Unterstützung für den Steuersenkungskurs in der Partei sei gewaltig.2479 Theo Waigel erklärte, das Modell von Gunnar Uldall sei zu teuer. Auf die Frage nach der Höhe der Spitzensteuersatzes antwortete er: „Ich halte 35 Prozent fiir einen guten Satz." Waigel stellte zwei Steuervergünstigungen voraus, die nicht zur Disposition stünden, die Abzugsfahigkeit der Kirchensteuer und die Beiträge und Spenden für gemeinnützige Organisationen." Waigel warf Lafontaine vor, er forciere eine Krise, um darüber an die Macht zu kommen und warf dem Bundesrat eine Politik der „Verbrannten Erde" vor.2480 Die Kommission unter dem Vorsitz von Waigel sprach sich schließlich für ein Modell aus, dass die Senkung des Eingangssteuersatzes unter 20 Prozent und des Spitzensteuersatzes auf unter vierzig Prozent vorsah. Das bedeutete einen Steuerausfäll von 100 Mrd. D-Mark, von denen 35 Mrd. D-Mark durch die Streichung von Steuervergünstigungen, 30 bis 35 Mrd. D-Mark durch die Erhöhung der indirekten Steuern und 30 Mrd. D-Mark im Haushalt gekürzt und als Nettoendastung an den Steuerzahler weitergegeben werden. Im FDP-Präsidium fragte der FDP-Finanzexperte Wolfgang Weng skeptisch wie man 30 Mrd. D-Mark einsparen könne, wenn schon der Haushalt 1997 fast gescheitert sei und erhielt keine Antwort.2481 Am 23. Januar 1997 stellte Waigel der ÖfFendichkeit den endgültigen Entwurf für die große Steuerreform vor und nannte es einen „Durchbruch zu den niedrigsten Steuersätzen der letzten fünfzig Jahre." Ab 1999 sollten die Steuersätze zwischen 15 und 39 Prozent liegen und den alten Satz von 53 Prozent und 25,9 Prozent ersetzen. Der Höchststeuersatz für gewerbliche Einkünfte sollte von 47 auf 35 Mrd. D-Mark gesenkt werden, die Körperschaftssteuer von 45 auf 35 Prozent. Ein Teil der Steuerreform sollte bereits auf das Jahr 1998 vorgezogen werden. Im kommenden Jahr sollte der Solidaritätszuschlag von 7,5 Prozent auf 5,5 Prozent gesenkt werden. Das Gesamtvolumen der Steuerreformen sollte bei 82 Mrd. D-Mark liegen und davon 30 Mrd. D-Mark als Nettoendastung beim Steuerzahler verbleiben. Hinzu kamen die 7,5 Mrd. D-Mark, die aus der Senkung des Solidaritätszuschlags resultieren würden. Die Basis des Steueraufkommens sollte verbreitert werden. Renten, Sonderzuschläge und Teile der Lohnzusatzleistungen sollten steuerpflichtig werden, die Besteuerungen der Kapitallebensversicherungen war umstritten.2482 Fast ein Jahr lang hatten Waigel, Schäuble mit Angehörigen der Regierung und Experten an dem Entwurf gearbeitet. Nun sollte der Einkommensteuertarif so stark gesenkt werden wie noch nie zu vor in der Geschichte der Bundesrepublik. Die Körperschafts- und die Einkommenssteuer auf gewerbliche Einkünfte sollte in einem ersten Schritt schon 1998 gesenkt werden und im darauf folgenden Jahr auf 35 Mrd. D-Mark. Die in den Unterneh-

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Wirtschatswoche, Nr. 42/50, 10. Oktober 1996, S. 28 f. Der Spiegel, Nr. 47/50, 18. November 1996, S. 22 ff Der Spiegel, Nr. 50/50, 9. Dezember 1996, S. 25. Archiv der Gegenwart, 41756.

504 men verbleibenden Gewinne sollten nur noch mit 25 Prozent versteuert werden. Stoiber hatte sich bislang nicht von Waigel auf die Unterstützung der Reform fesdegen lassen, weil die Steuerfreiheit fur die Zuschläge zur Sonntags- Feiertags- und Nachtarbeit abgeschafft werden sollten. U m die Steuerausfalle aufzufangen, sollte nach Waigels Absicht, der niedrigere Spitzensteuersatz früher greifen als bisher, wodurch die Steuerkurve steiler ansteigen würde. Für die Koalition bestand daher das Risiko, dass mittlere Einkommen teilweise kaum endastet würden. Niedrigere Tarife ließen sich nur durch das volle Ausschöpfen der geplanten Mehrwertsteuererhöhung finanzieren. Die Hälfte der Einnahmen wollten die Sozialpolitiker jedoch für die Umfinanzierung der Sozialsysteme reservieren. 2483 Die Steuerreform sah eine ganze Reihe weiterer bitterer Pillen vor. Die Arbeitnehmerpauschale sollte von 2000 auf 1300 D-Mark gesenkt werden ebenso die Kilometerpauschale, Arbeitslosengeld, Arbeitslosenhilfe und Krankengeld steuerpflichtig. Die Pauschalbesteuerung für Landwirte sollte eingeschränkt werden. Auch fur Unternehmen würden zusätzliche Belastungen anfallen. Die Steuerfreiheit für betriebliche Rückstellungen sollte eingeschränkt und die Steuererleichterungen für Abfindungen und Firmenverkäufe sollten abgeschafft werden. Renten und bisher steuerfreie Kapitalerträge sollten steuerpflichtig werden. 2 4 8 4 Im C D U Vorstand votierte Blüm gegen die Steuerreform und schloss seinen Rücktritt nicht aus. Die Besteuerung der Renten schien den Sozialpolitikern unannehmbar und die Mehrwertsteuer nahmen sie für den Umbau des Sozialbudgets in Anspruch. Die so genannten „Jungen Wilden" in der C D U , Wulff, Oettinger, Müller und Koch, forderten Waigels Rücktritt. Waigel wehrte sich gegen Wulffs Rücktrittsforderung und nannte dessen Verhalten „unanständig und hinterfotzig" Wulff beharrte auf seinem Standpunkt und erklärte, sollte der Finanzminister kein überzeugendes Konzept vorlegen, dann „halte ich eine Kabinettsumbildung das Finanzministerium betreffend fur notwendig." Wulffs Vorgehen war Teil einer „konzertierten Aktion" der so genannten „Jungen Wilden", zu denen neben Wulff, Koch, Müller und von Beust gehörten. 2 4 8 5 Hinter Christian Wulffs Vorstoß stand der Hesse Roland Koch. Dieser galt im Gegensatz zu Wulff als hervorragender Steuerexperte und wurde damals noch dem linken Parteiflügel zugeordnet. Die Welt schrieb über ihn: „Wie kaum ein anderer füllt Koch in der Union derzeit den Platz auf dem linken Parteiflügel aus." Koch hatte sich im Rahmen der Steuerreformdebatte fur die Besteuerung von Aktien und Immobiliengewinnen ausgesprochen und übte Kritik an der geplanten Erhöhung der Mehrwertsteuer. 2486 Wulff erklärte: „Wenn wir tatsächlich alle Einkünfte besteuern würden, könnten wir die Steuersätze wirklich auf 13 und 29 Prozent senken." 2 4 8 7 Seehofer erklärte, die C S U dürfe es sich nicht weiter gefallen lassen von Partnern aus der Schwesterpartei beschimpft und beschädigt zu werden. 2 4 8 8 Kohl rügte Christian Wulff wegen der „nicht akzeptablen Form sich auf Kosten anderer zu profilieren." Wulff wisse gar nicht wovon er rede. Auch Manfred Kanter trug im

2483 2484 2485 2486 2487 2488

Der Spiegel, Nr. 4/51, 20. Januar 1997, S. 22 ff. Der Spiegel, Nr. 4/51, 20. Januar 1997, S. 23. Die Welt, 21.1.1997, S. 1. Die Welt, 21.1.1997, S. 3 Die Welt, 23.1.1997, S. 13. Die Welt, 23.1.1997, S. 2.

505 Bundesvorstand Bedenken bezüglich der Mehrwertsteuererhöhung vor. Kurt Biedenkopf hingegen begrüßte die Ergebnisse der Kommission und erklärte, er sei „beeindruckt von der Arbeit, die dort geleistet worden ist." 2489 Auch in der Bevölkerung dominierte das Misstrauen. Nach einer Emnid-Umfrage lehnten 61 Prozent der Befragten die Steuerreform ab. Unter den Bürgern mit einem Einkommen von 2000—4000 D-Mark waren es sogar 70 Prozent, 79 zweifelten Prozent der Befragten an der steuerlichen Entlastung.2490 Die BILD-Zeitung hatte auf ihrer Titelseite die Steuertabelle mit den Endastungen fur die einzelnen Gehaltsgruppen abgedruckt. Auf der zweiten Seite listete das Boulevard-Blatt die Pauschalen, Freibeträge und steuerfreien Zuschlage auf, die mit Steuerreform wegfallen würden unter der Überschrift „...hier die Liste, wo der Staat zulangt." 2491 Bei der Abstimmung in den Koalitionsfraktionen am 23. Januar 1997 stimmten 13 Abgeordnete gegen die Reform, darunter Blüm und Geißler. Die FDP-Fraktion befürwortete die Reform hingen einstimmig. 2492 Der SPD-Vorsitzende Oskar Lafontaine forderte am 31 Januar 1997 im Bundestag sowohl die Konzentration der Endastung auf die unteren Einkommen als auch das Vorziehen der gesamten Reform auf 1998: „Entweder verständigen wir uns auf eine spürbare Endastung breiter Schichten unseres Volkes zum 1. Januar 1998 oder sie können sich das ganze Projekt abschminken."2493 Am politischen Anschermittwoch teilte Waigel nicht nur aus, indem er die Sozialdemokraten als die „rückständigsten in Europa" bezeichnete. Er unterbreitete in seiner Rede der SPD auch sein erstes konkretes Verhandlungsangebot. Waigel kam Lafontaines Forderung entgegen, indem er die Möglichkeit einer vorgezogenen Steuerreform noch vor der Wahl 1998 einräumte. Der SPD-Vorsitzende erzählte am selben Tag, die SPD sei, innerhalb einer Woche in der Lage mit „diesem verlogenen Haufen" die Steuerreform abzuschließen. Lafontaine formulierte als weitere Bedingungen den Verzicht auf die Mehrwertsteuererhöhung und die Kürzung der Steuerfreiheit für Freibeträge und Kilometerpauschale.2494 In der zweiten Februarhälfte 1997 trafen sich Union, SPD und FDP zum Steuergipfel in der NRW-Landesvertretung. Gerhard Schröder und Kurt Beck hatten Kompromissbereitschaft angedeutet.2495 In den ersten Verhandlungsrunden zeigte die Regierung Entgegenkommen in der Frage der Besteuerung der Sonntags-, Nacht-, und Feiertagsarbeit und beim Existenzminimum, das die SPD angehoben sehen wollte, und bei der gewerblichen Einkommensteuer. Die SPD erhob zusätzlich die Forderung die Sozialabgaben um zwei Prozent zu senken. Ein Teil der versicherungsfremden Leistungen sollten zum 1. Juli 1997 vom Haushalt übernommen werden und die Kosten durch eine ökologische Steuerreform gegenfinanziert werden. 2496 2489 Die Welt, 22.1.1997, S. 1. 2 4 9 0 Die Welt, 1.2.1997, S. 1. 2 4 9 1 Bild, 27.1.1997, S. 2. 2 4 9 2 Der Spiegel, Nr. 5/51, 27. Januar 1997, S. 22 ff. 2493 Verhandlungen, Band 187, S. 13947. 2 4 9 4 Die Welt, 13. 2.1997, S. 1. 2 4 9 5 Der Spiegel, Nr. 9/51, 24. Februar 1997, S. 22 ff. 2 4 9 6 Der Spiegel, Nr. 10/51, 24. Februar 1997, S. 25 ff.

506 Das Scheitern der Verhandlungen wurde schließlich von einer Auseinandersetzung bestimmt, die mit der Steuergesetzgebung in keinem direkten Zusammenhang stand. Der Kampf um die Zukunft der Steinkohle beherrschte die Öffentlichkeit und ließ die steuerpolitische Debatte fur einige Zeit in den Hintergrund treten. Kohl erklärte 1996 die die Gespräche mit der Bergbau-Gewerkschaft und der Ruhrkohle zur Chefsache. Darüber war die FDP verärgert, weil dadurch die Erwartung genährt wurde, ein Kernbestand bleibe dauerhaft erhalten. Die FDP wollte hingegen längerfristig die Kohlesubventionen auf null zurückfuhren. Wären die Pläne der FDP realisiert worden, wären wahrscheinlich von 19 Zechen mit 90000 Kumpeln noch zwei Zechen übrig geblieben. In dieser Frage waren Waigel, Bayern, Baden-Württemberg und die neuen Bundesländer auf der Seite der Liberalen. 2497 Im November 1996 hatte eine Arbeitsgruppe fur Wolfgang Schäuble ihre Überlegungen zusammengefasst: „Es besteht Einigkeit, daß die C D U den Wettbewerb gegen SPD du IG Bergbau, wer am meisten fur die Bergleute unternehme, ohnehin nicht gewinnen kann." Bohl legte im Namen der Regierung Anfang März 1997 das Angebot der Regierung vor, das vorsah, die Bundeszuweisung fur den Kohleabbau bis zum Jahr 2005 von neun Mrd. D-Mark auf fünf Milliarden D-Mark zu kürzen. Die Kokskohlebeihilfe sollte im Jahr 2000 noch zwei Mrd. D-Mark betragen. Die Zahl der zu schließenden Zechen würden sich von vier auf sieben erhöhen. Die Ruhrkohle AG berechnete, dass 36 000 Bergleute ihre Arbeit verlieren würden. 2498 Die SPD brach daraufhin die Gespräche zur Steuerreform ab. Ein Sprecher der SPD begründete die Absage: „Die von der Bundesregierung vorgelegte Vernichtung von 60 000 Arbeitsplätzen im deutschen Bergbau ist eine nicht hinnehmbare Provokation." 2499 Die IG Bergbau hatte hingegen auf eine Perspektive fur die Jahre nach 2005 gepocht und die Rückführung auf 6,5 Mrd. D-Mark zur Untergrenze erklärt. Auch Norbert Blüm warnte davor, den Bergbau „absaufen zu lassen." 2500 Es protestierten nicht nur die Bergarbeiter in Bonn sondern zeitgleich auch aus eigener Unzufriedenheit mit den Bedingungen der Baubranche die Bauarbeiter in Berlin. Eine ganze Woche blockierten die Bauarbeiter den Potsdamer Platz. Die Sozialdemokraten stellten den Bergleuten das „Erich-OllenhauerHaus" zur Verfügung. Waigel erklärte, man wolle sich einigen, „aber nicht auf der Basis einer Erpressungsstrategie von Oskar Lafontaine." Die SPD profitiere von der Zuspitzung. Schäuble hatte die Proteste so nicht erwartet. Erneut stellten Massenproteste die Reformpolitik der Bundesregierung in Frage: „Im Grunde wiederholt sich, was mit dem Konflikt um das Sparpaket und die Lohnfortzahlung Anfang 1996 begann." Joschka Fischer forderte die Bergleuten auf: „Laßt Euch von dem Dicken im Kanzleramt nicht vorführen." 2501 Die Situation drohte zu eskalieren, als Kohl wiederum als Reaktion auf die Proteste die Kohlegespräche absagte. Die Bergleute blockierten mit Sitzblockaden Autobahnen und drangen in die Bonner Bannmeile ein, die Parteizentrale der FDP war quasi belagert. 2502

2497 2498 2499 2500 2501 2502

Der Spiegel, Nr. 45/51, 4. November 1996, S. 133. Der Spiegel, Nr. 12/51, 17. März 1997, S. 22 f. Die Welt, 8.3. 1997, S. 1. Die Welt, 15.2.1997, S. 13. Die Zeit, Nr. 12/52, 14. März 1997, S. 3. Die Welt, 12.3.1997, S. 1.

507 Vor dem Thomas-Dehler-Haus hatten sich die Demonstranten gekettet und ein Demonstrant kletterte die Fassade hinauf und hisste dort die Flagge der IG-Bergbau. Gerhardt erklärte, die Blockade grenze an „Freiheitsberaubung", die Frankfurter Allgemeine Zeitung befürchtete „Territorialverluste des Rechtsstaates." 2503 Die Regierung beendete die Konfrontation mit der Zusage, es werde keine betriebsbedingten Kündigungen geben. In der Nacht vom 12 zum 13. März handelten Bohl und NRWWirtschaftsminister Clement einen Kompromiss aus. Die Kürzungen auf 5,5 Mrd. D-Mark bis zum Jahr 2005 sollte zwar bestehen bleiben, die Bundesregierung verpflichtete sich aber die Anpassung mit zusätzlichen 300 Millionen D-Mark jährlich abzufedern. 2504 Im Anschluss an die Einigung kam es koalitionsintern zu einer weiteren Diskussion über den Abbau der Subventionen. Führende FDP-Politiker kritisierten den Subventionsabbau bei der Steinkohle als zu inkonsequent. Klaus Kinkel erklärte auf dem Parteitag in Pforzheim, er sei nicht glücklich mit der Einigung. Der baden-württembergische Wirtschaftsminister Walter Döring sagte, es sei niemanden zu vermitteln, dass bis zum Jahr 2005 noch weitere 70 Mrd. D-Mark in die Kohlefbrderung „gepumpt" würden. Der Vorsitzende des Finanzund Wirtschaftsausschusses Carl Ludwig Thiele von der FDP und Friedhelm Ost von der C D U forderten die Kürzung auch in anderen Subventionsbereichen. Thiele sagte: „Wir müssen prüfen, ob wir nicht in gleichen Schritten wie bei der Kohle auch die anderen Subventionen zurückfuhren können." Schäuble lehnte Kürzungen im Wohnungsbau und der Landwirtschaft ab, da in der Landwirtschaft bereits Leistungen zurückgeführt worden seien und die Förderung des Wohnungsbau im Rahmen der Steuerreform zurückgeführt werde, was von Seiten der SPD als „Doppelmoral" gegenüber den Kumpeln kritisiert wurde. 2505 Lafontaine nutzte die Chance um den Konfrontationskurs zur Regierung festzuschreiben. 2 5 0 6 Während der Protestwoche hatte Lafontaine die Regierung als „Irregeleitete" und „Flaschen" bezeichnete. Er erklärte, die Politik der Bundesregierung führe zur Entsolidarisierung der Gesellschaft, der Sozialabbau sei viel zu weit gegangen. Lafontaine erklärte: „Die bisherigen Vorschläge der Koalition sind keine seriöse Verhandlungsgrundlage." Die SPD wolle keine endlosen Verhandlungen, sondern schnelle Entscheidungen. Die Erhöhung der Mehrwertsteuer lehnt Lafontaine ab. Eine Nettoentlastung sei bei der Steuerreform nur in „sehr bescheidenem Umfang" möglich. Lafontaine forderte Hingegen eine Endastung der kleineren und mitderen Einkommen und die Senkung der Sozialabgaben. 2507 Lafontaine bestand auf direkten Gesprächen zwischen Ihm und dem Bundeskanzler über Steuern und Sozialabgaben, wohingegen Kohl ihn in einem Brief auf direkte Verhandlungen mit Finanzminister Waigel verwies. Lafontaine lehnte aber Waigels Referentenentwurf als völlig unzureichend ab. 2 5 0 8 Am 20. März beschloss die Koalition unabhängig von der Verhandlungsbereitschaft der SPD an ihrem Zeitplan festzuhalten. Westerwelle sah die Verhandlungen mit der SPD FAZ, 12.03.1997, S. 3. Die Welt, 14.3.1997, S. 1. 2 5 0 5 FAZ, 16.3.1997, S. 8. 2 5 0 6 Der Spiegel, Nr. 12/51, 17. März 1997, S. 22 f. 2 5 0 7 Der Spiegel, Nr. 12/51, 17. März 1997, S. 26 ff. 2508 Die Welt, 20.3.1997, S. 1. 2503 2504

508 schon als gescheitert an. Hamburgs Bürgermeister Voscherau war kompromissbereit, man könne die Probleme auch mit Waigel besprechen. 2509 Erst sechs Wochen nach dem die Gespräche abgebrochen worden waren, kam es erneut zu Verhandlungen zwischen Regierung und Opposition über die Steuerreform. Solms und Waigel wollten der Rückführung der Lohnnebenkosten nur zu stimmen, wenn die SPD ihre Zustimmung zur Steuerreform gab. NRW s Finanzminister Schleußer wiederum erklärte: „Wenn die Koalition zur Senkung der Lohnnebenkosten ab 1. Juli keine klare Aussage macht, dann geht gar nichts." Außerdem Forderte Lafontaine eine Erhöhung des Kindergeldes um dreißig D-Mark. Die SPD schätzte die Steuerausfalle durch die Steuerreform auf 56 Mrd. D-Mark. Die SPD fürchtete Stolpe könne wie bei vergangenen Auseinandersetzungen im Bundesrat umfallen. Denn 1998 liefen die Investitionshilfen für die neuen Länder aus und es wurde nicht ausgeschlossen, dass Waigel diesen Umstand als Druckmittel verwenden würde. 2 5 1 0 Am Donnerstag den 16. 4. 1997 erklärten die Wirtschaftsforscher auf der Bundestagsanhörung in den nächsten drei Jahren sei kein spürbarer Effekt der Steuerreform auf dem Arbeitsmarkt zu erwarten, was die Position der Regierung gegenüber der Opposition nicht gerade stärkte. Lafontaine lehnte die Senkung des Spitzensteuersatzes ab: „Wir bleiben bei 53 Prozent." Voscherau hatte die Senkung des Spitzensteuersatzes hingegen als „unausweichlich" bezeichnet. Das SPD-Konzept sah vor, die Beiträge von Arbeitgebern und Arbeitnehmern um je einen Prozentpunkt zu senken, im Gegenzug sollten die Mehrwert- und die Mineralölsteuer angehoben werden. 2511 Ein eigenes Steuerreformkonzept ließ auf sich warten. Bodo Hombach kritisierte: „Es gibt keinen überzeugenden Gegenentwurf." Am 12. Juni 1997 trat die Unionsfraktion zu einer Sondersitzung zusammen. Sowohl Union als auch die FDP-Fraktion stimmten schließlich der Neufassung der Steuerreform zu. 2 5 1 2 Am 29. Juli 1997 endeten die Verhandlungen zwischen der Koalition und der SPD über die Steuerreform ohne Ergebnis. Am 5. August befasste sich der Bundestag im Rahmen einer Sondersitzung mit der Steuerreform. Ein parteiübergreifender Konsens ergab sich lediglich bei der Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer mit Wirkung zum 1. Januar 1998, bzw. dem Verzicht auf deren Erhebung in den neuen Bundesländern. 2513 Nach dem Scheitern der Steuerreform arbeitete das Finanzministerium an einer weniger ambitionierten Version, das Forderungen der SPD aufnahm und ihr somit die Ablehnung erschweren sollte. Der Spitzensteuersatz sollte nach dem neuen Konzept nur noch auf 49 bis 48 Prozent gesenkt werden, der Eingangssteuersatz sollte von 25,9 auf 23 Prozent gesenkt werden. Auch in der Frage der Erhöhung des steuerfreien Grundfreibetrages fur das Existenzminimum wollte Waigel der SPD entgegenkommen. Das neue Steuerkonzept sollte im September vorgelegt werden. 2514 Lafontaine hielt einen Einigungsversuch vor der nächsten Steuerschätzung im November 1997 für sinnlos. Am Donnerstag den 2509 25,0 2511 2512 2513 2514

Die Welt, 21.3.1997, S. 1. Der Spiegel, Nr. 16/51, 14. April 1997, S. 28f. Der Spiegel, Nr. 17/51, 21. April 1997, S. 30f. Der Spiegel, Nr. 25/51, 16. Juni 1997, S. 92 ff. Archiv der Gegenwart, 42214. Der Spiegel, Nr. 34/51, 18. August 1997, S. 22 ff.

509 25. September 97 war das nächste Treffen angesetzt. 2515 Am 29. September 1997 erklärte Schäuble, wegen der SPD-Blockade im Bundestag werde man die Steuerreform wohl „ad acta" legen müssen. In dieser Legislaturperiode sei das Vermittlungsverfahren gescheitert. Es hätten sich zwar Risse in der SPD-Front gezeigt, doch am Ende seien die Verhandlungswilligen wieder „eingefangen" worden. 2516 Auf dem C D U Parteitag zog Schäuble eine Bilanz der Reformanstrengungen. Das „Programm für Wachstum und Beschäftigung" sei fast vollständig umgesetzt worden, „wo wir nicht auf die Zustimmung des Bundesrates angewiesen waren." Arbeitsförderung und Sozialhilfe wurden reformiert, die Gesundheitsreform in Kraft gesetzt und die Rentenreform verabschiedet. Doch diese Erfolge wurde überschattet durch das Scheitern der Steuerreform. Schäuble rechtfertigte das Vorgehen der Bundesregierung: „Daß wir dieses Konzept vorgelegt haben und es im Bundestag durchgesetzt haben, war richtig. Dieses Konzept ist in Wahrheit auch nicht gescheitert. Ich höre und lese gelegentlich, man hätte doch wissen müssen, wie die Mehrheiten im Bundesrat sind." Schäuble rechtfertigte jedoch den gescheiterten Anlauf zur Steuerreform als notwendig für die Stimmung im Land, bei Wirtschaft, Verbänden und Steuerzahlern. Er verwies die Delegierten auf die Hoffnung das Blatt durch einen Wahlerfolg wenden zu können: „Wenn wir mit Helmut Kohl die Wahl gewonnen haben, wird jeder weitere Widerstand der SPD gegen die Steuerreform durch das Votum der Wähler delegitimiert sein und zusammenbrechen." 2517 Es war nicht überraschend, dass alle weiteren Versuche, doch noch auf einen gemeinsamen Nenner mit der Opposition zu kommen, im Sande verliefen. Am Donnerstag den 4. Dezember 1997 kam es erneut zu einem Treffen zwischen Regierung und Opposition, an dem Waigel, Schäuble, Solms, Scharping und Eichel teilnahmen. Auf dem SPD-Parteitag war die Forderung fur die „deutliche Absenkung der Steuersätze über den gesamten Tarifverlauf' verabschiedet worden. 2518 Schäuble erklärte, nach Lafontaines Ankündigung, dass eine Umschichtung zwischen direkten und indirekten Steuern nicht in Frage käme, seien weitere Gespräche sinnlos, denn ohne Umschichtung sei eine wirkliche Steuerreform nicht möglich. 2519 Mit dem Zusammenfallen des Scheiterns der Verhandlungen über die Steuerreform mit dem Desaster der Rentenfinanzierung, musste sich der Eindruck eines politischen Fiaskos in der deutschen Bevölkerung verfestigen. Am 11. Dezember 1997 war auf der Titelseite der Bild- Zeitung in großer Blockschrift zu lesen: „Renteneinigung Steuer rauf!" 2 5 2 0 Einen Tag später lautete eine überdimensionierte Titelüberschrift: „Steuer-Wut. So zahlen wir wieder drauf." Der Text eröffnete: „Enttäuschung und Wut bei Deutschlands Steuerzahlern. Aus der versprochenen Steuerreform wurde am Ende eine Steuererhöhung." 2521

2515 2516 2517

2518 2519 2520 2521

Der Spiegel, Nr. 39/51, 22. September 1997, S. 32f. Der Spiegel, Nr. 40/51, 29. September 1997, S. 24 f. 9. Bundesparteitag der Chrisdich Demokratischen Union Deutschlands, Niederschrift, Leipzig 13-15. Okt. 1997, S. 147ff. Der Spiegel, Nr. 50/51, 8. Dezember 1997, S. 30. Der Spiegel, Nr. 3/51, 12. Januar 1998, S. 24ff. Bild, 11.12.1997, S. 1. Bild, 12.12.1997, S. 1.

510

Finanzpolitischer Wettlauf zum Euro Die Richtung der Haushaltspolitik bis 1995 wurde von der Integration und Finanzierung der neuen Länder und dem Aufbau und Abwicklung der Nebenhaushalte bestimmt gewesen. Die Finanzpolitik zwischen 1995 und 1998 war durch drei widerstreitende Tendenzen geprägt: Die Suche nach Wegen die Steuer- und Abgabenlast zu senken; den Wegbruch von Steuer- und Beitragseinnahmen durch die Arbeitslosigkeit und die Investitionsförderung für den Aufschwung Ost; die Erfüllung der Neuverschuldungsvorgaben durch den Maastrichtvertrag, um die Währungsunion umzusetzen. Die Währungsunion hatte eine lange Vorgeschichte. Die zentralen Weichenstellungen erfolgten Mitte der achtziger Jahre. Ein wichtige Rolle hatte der Präsident der EU-Kommission Jacques Delors gespielt, der 1985 sein Amt übernommen hatte. Delors wollte den EWS, der bis dato nur auf Vereinbarungen der Zentralbanken beruhte, eine neue Rechtsgrundlage verschaffen und das Ziel einer Wirtschafts- und Währungsunion festschreiben. Da die Vorschläge der Kommission auf eine Einschränkung der Autonomie der nationalen Zentralbanken hinausliefen, begegneten sowohl die Bundesbank als auch das Bundesfinanzministerium den Vorschlägen mit großen Vorbehalten. Diesen Vorbehalten wurde dadurch Rechnung getragen, dass bei der von Delors angestrebten Änderung des EWG-Vertrages, die die Weichen in Richtung Währungsunion stellten, dass Eingriffe in die Autonomie der nationalen Zentralbanken nicht zulässig waren, bis ein von den Mitgliedsstaaten ratifizierter Vertrag in Kraft treten würde. 2 5 2 2 Die nächste wichtige Etappe war der Gipfel in Hannover. Kohl, Mitterand und Delors hatten sich im Vorfeld darauf verständigt, einen Stufenplan zu der angestrebten Währungsunion auf den Weg zu bringen. Delors regte einen Expertenausschuss an, dem die Präsidenten der Notenbanken angehören sollten. Bei den Gipfelberatungen am 27./28. Juni 1988 in Hannover griff Kohl diesen Vorschlag auf. So dass die „Delors-Gruppe", wie der Ausschuss genannt wurde, seine Arbeit aufnehmen konnte. 2523 Den Umständen gemäß spielten in den Diskussionen der deutsche und der französische Zentralbankpräsident, Karl Otto Pohl und Jacques des Larosiere die zentrale Rolle. Im Frühjahr 1989 legte der Ausschuss schließlich seine Vorschläge vor. Sie sahen einen neuen Vertrag vor, mit dem die Währungskompetenz von den Mitgliedsstaaten auf die Gemeinschaftsebene übertragen werden sollte. Als Grundlage für die Währungsunion, die stufenweise realisiert werden sollte, sollte ein hoher Grad wirtschaftlicher Konvergenz sein. Während die Geldpolitik also Gemeinschaftsaufgabe werden sollte, sollte die Verantwortung für die Wirtschafte- und Finanzpolitik in der Kompetenz der Mitgliedsstaaten bleiben, aber bestimmten Regeln unterworfen werden. 2524

2 5 2 2 Tietmeyer, Euro, S. 94 ff. 2523 T j e t m e y e r ) Euro, S. 114 ff. 2524

Tietmeyer, Euro, S. 121.

511 Der plötzliche Umbruch in Osteuropa und die Wiedervereinigung wurde von vielen Befürwortern der Währungsunion als Rückschlag angesehen. Die Umsetzung des Zeitplanes schien durch die Beanspruchung der Bundesrepublik unwahrscheinlich geworden zu sein. Viele europäische Nachbarn, allen voran Frankreich und Großbritannien waren über Kohls Vorpreschen mit dem 10-Punkte Programm verschnupft. Hans Tietmeyer schreibt: „Die politische Stimmungslage fur die weiteren Beratungen über die Wirtschafts- und Währungsunion war jedenfalls im Vorfeld des für den 8. Und 9. Dezember vorgesehenen Straßburger Gipfels nicht besonders günstig." Die Atmosphäre war frostig und Kohls Erläuterungen, Wiedervereinigung und europäische Integration seien „zwei Seiten einer Medaille" wurden mit Skepsis aufgenommen. 2525 Dennoch einigten sich die Teilnehmer auf dem Straßburger Gipfel, den Beginn der ersten Stufe der Wirtschaftsund Währungsunion im darauffolgenden Jahr. Karl Otto Pohl nannte diesen Beschluss am 16. Januar 1990 eine „Entscheidung von großer Tragweite." Wegen des Zusammenbruchs der DDR und dem Prozess der Wiedervereinigung wurde diese Weichenstellung in der deutschen Öffentlichkeit aber kaum zur Kenntnis genommen. Das ganze Jahr 1990 über wurden, während die Deutschen mit der Wiederherstellung ihrer nationalen Einheit beschäftigt waren, von der europäischen Kommission, im Währungsausschuss und vom Ausschuss der Notenbankgouverneure die fachlichen Vorbereitungen der Währungsunion geleistet.2526 Faktisch ging es auf dem Maastricht-Gipfel am 9. und 10. Dezember 1991 nur noch um die Festlegung der Sonderregelung fur Großbritannien und die Einigung über das Beschlussverfahren und den Zeitplan fiir die dritte Stufe der Währungsunion. Sowohl Kohl als auch Mitterand wollten einen festen Termin fiir das Inkrafttreten der Währungsunion fixieren. In Maastricht war deshalb der 1. Januar 1999 als spätester Termin für den unwiderruflichen Eintritt festgelegt. Die Europäische Zentralbank sollte bereits ein halbes Jahr früher zum 1. Juli 1998 eingerichtet werden. Nicht nur bei der Bundesbank wurde die Fesdegung auf diesen Termin mit Sorge betrachtet. Diese Sorge der Bundesbank war damit begründet, „dass die jetzt festgelegte Einbahnstraße mit absolut festgelegter Terminierung des Einmündens in die Währungsunion leicht zur missbräuchlichen Interpretation und Verfahrensanwendung bei der endgültigen Zulassungsentscheidung fuhren konnte." Mit der exakten Einhaltung der Kriterien würde das Vertrauen in den Maastricht-Prozess stehen und fallen. 2527 Die Bundesbank hatte schon vor den Maastricht-Verhandlungen eine Haushaltspolitik eingefordert, die diesem Umstand Rechnung trug: „Da in der Wirtschafts- und Währungsunion die finanzpolitischen Entscheidungen weitgehend in der Hand der Mitgliedstaaten bleibt, müssen auf Gemeinschaftsebene vertragliche Vorkehrungen einschließlich besonderer Regeln und Sanktionen fiir eine wirksame Haushaltsdisziplin in allen Mitgliedstaaten geschaffen werden." 2528 2525 2526 2527

2528

Tietmeyer, Euro, S. 139. Tietmeyer, Euro, S. 142 ff. Tietmeyer, Euro, S. 170. Die Ratifizierung konnte in Deutschland erst nach einem Bundesverfassungsgerichtsurteil zum 1. November 1993 in Kraft treten. Tietmeyer, Euro, S. 228.

512 Um den stabilitätspolitischen Anforderungen Rechnung zu tragen, war in dem Vertrag das Defizit- und Schuldenkriterium im Verhältnis zum Bruttosozialprodukt in den Maastricht-Vertrag aufgenommen worden. Der Schuldenstand sollte nicht 60 Prozent des Bruttosozialproduktes überschreiten und — das war fur die Ereignisse in Deutschland faktisch und psychologisch wichtige - das jährliche Defizit durfte nicht drei Prozent des BSP überschreiten. 2529 Während das 60-Prozent-Kriterium psychologisch weitgehend bedeutungslos blieb, bestimmte die Null hinter dem Komma bei dem 3-Prozent-Kriterium die politische Auseinandersetzung zwischen 1995 und 1998 in der Bundesrepublik. Da bis 1995 kaum erkennbare stabilitätspolitische Fortschritte in den Mitgliedsstaaten erkennbar waren, setzte das deutsche Finanzministerium gestützt und sicher auch angetrieben von der Bundesbank die Maastricht-Kriterien wieder auf die politische Agenda. Die Auswahlkriterien sollten nach dem Willen der Deutschen möglichst strikt gehandhabt werden und ein wirksames Überwachungsverfahren eingeführt werden. Zu diesem Zeitpunkt konnte Waigel noch nicht ahnen, wie groß die Schwierigkeiten der Bundesrepublik selbst sein würden, die von ihr so strikt eingeforderten Stabilitätskriterien zu erreichen. Im September 1995 begann Waigel die deutschen Vorstellungen inhaldich zu artikulieren und das Finanzministerium unternahm die Ausarbeitung konkreter Verfahren. Im Dezember 1995 stimmten die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union der Idee eines zusätzlichen Stabilitätspaktes zu. Die folgenden Sondierungsverhandlungen fanden im Wesentlichen zwischen den Finanzministerien statt. Den Deutschen gelang es, das Drei-Prozent-Kriterium „eindeutig als verbindliche Obergrenze fur die jährliche öffentliche Verschuldung" zu bestimmen. 2530 Die Notwendigkeit zur Erfüllung der Maastrichtkriterien gab der Finanzpolitik einen sehr wirksamen Hebel zur Durchsetzung der haushaltpolitischen Ziele. Unter diesen Umständen wurde das Finanzministerium in dieser Legislaturperiode zur wichtigsten Schaltstellte der Regierung nach dem Kanzleramt. Damit hatte dieser Trend, der mit Schmidts Mitnahme der Geld- und Währungspolitischen Abteilung begonnen hatte, einen neuen Höhepunkt erreicht. 2531 Nach der Bundestagswahl 1994 zeichneten sich im Bundeshaushalt Fehlbeträge von bis zu 30 Mrd. D-Mark ab. Waigel bestritt dies öffendich, um Zeit zu gewinnen, und setzte auf eine altbewährte Methode um die Finanzierungslücke zu schließen: Er hoffte, dass ein höheres Wirtschaftswachstum, verbunden mit den Auswirkungen des Progressionstarifs das Defizit begrenzen würde. Den Steuertarif von 19 bis 53 Prozent wollte Waigel deshalb erst einmal unangetastet lassen. Waigel wollte aber nicht nur die Steuereinnahmen erhöhen. Auf der anderen Seite wollte Waigel weitgehende Einsparungen durchsetzen. Zu diesem Zweck war eine „Steinbruchliste" erstellt worden, die im November 1994 vorlag. Diese Liste war umfangreich: Die Abschreibungsmöglichkeiten sollten reduziert werden, um auf diese Weise sechs Mrd. D-Mark einzusparen. Die Bauern sollten zwei Mrd. DMark staatliche Zuwendungen verlieren. Die Steuerminderung durch Verlustabzug sollte

2529 2530 2531

Tietmeyer, Euro, S. 231 ff. Tietmeyer, Euro, S. 235 ff. Die Zeit, Nr. 39/53, 17. September 1998, S. 31.

513 gestrichen werden und 800 Mio. D-Mark einbringen. Die Arbeitnehmerpauschale wollte Waigel senken. Durch diese Maßnahme sollten vier Mrd. D-Mark zusätzlich dem Haushalt verbleiben. 1,5 Mrd. D-Mark sollte die Streichung der Steuerfreiheit fur Sonntags-, Feiertags- und Nachtarbeit bringen. Durch die Streichung der Lohnsteuerpauschalierung sollten 2,2 Mrd. D-Mark aufgebracht werden und durch den Abbau der Rückstellungen bei den Versicherungen vier Mrd. D-Mark. Doch diesen Kürzungen standen finanzielle Begehrlichkeiten gegenüber: In der C D U / C S U waren es wieder einmal familienpolitische Maßnahmen, die zusätzliche Ausgaben rechtfertigen sollten. Eine Reihe von Unionsabgeordneten hatte sich intern bereits darauf festgelegt, Waigels Sparvorschlägen nur zu zustimmen, wenn damit einhergehend das Kindergeld angehoben würde. Ins Auge gefasst war die Aufstockung des Kinderfreibetrages auf 1000 D-Mark. Auch der liberale Koalitionspartner schlug Maßnahmen vor, die die Ausgaben anheben würden: Die FDP setzte sich fur die Abzugsfähigkeit von Haushaltshilfen ein. Hinzu kamen Lasten, die sich nicht vermeiden ließen: Denn die Auflösung eines wichtigen Nebenhaushalts stand bevor: Die Altschulden der Bahn in Höhe von sechs Mrd. D-Mark mussten vom Bund übernommen werden. Die vorgesehene Gegenfinanzierung durch die Befristung der Arbeitslosenhilfe hing von der unwahrscheinlichen Zustimmung der SPD im Bundestag ab. Diese war aber mehr als unwahrscheinlich. Waigel spielte deshalb mit dem Gedanken, die Mineralölsteuer zu erhöhen, um der Konfrontation mit der Opposition im Bundesrat aus dem Weg zu gehen. 2 5 3 2 Paradoxer Weise trugen gerade auch die Kosten für die Europapolitik dazu bei, die Einhaltung der Kriterien zu erschweren. Denn die Kosten für die Europäische Union stiegen für die Bundesrepublik erheblich. Der Staatssekretär fur Europafragen im Finanzministerium Jürgen Stark erklärte: „Wir müssen den Partnern klar machen, dass wir im Finanzbereich ein Problem haben." Die EU-Kommission verweigerte eine genaue Bilanz der Zahlungen einzelner Mitgliedstaaten, mit der Begründung, dies würde einen falschen Eindruck vermitteln. Daher beauftragten die Finanzminister der Bundesländer ihre Europareferenten mit der Untersuchung, wie viel die Deutschen letztendlich für die EU aufwenden mussten. Das Ergebnis war so eindeutig, dass man darauf verzichtete, das Ergebnis der Öffentlichkeit vorzustellen, weil man europakritischen Sichtweisen keine Vorlage liefern wollte. Einer der Autoren äußerte gegenüber dem Magazin der SPIEGEL: „Das würde nur die Anti-Euroa-Stimmung schüren und das sei nicht erwünscht." Die Berechnungen hatten ergeben, dass gemessen am realen Wohlstand Deutschland nach der Wiedervereinigung 13 Mrd. D-Mark zu viel gezahlt hatte. Allein im aktuellen Haushaltsjahr 1995 werde sich die „Überzahlung" auf sechs Mrd. D-Mark belaufen. Frankreich war eindeutig der Profiteur dieser finanzpolitischen Schieflage. Obwohl Frankreich zwischen 1991 und 1993 ein höheres Pro-Kopf-Einkommen erwirtschaftet hatte als die wiedervereinigte Bundesrepublik, hatten die Franzosen nur ein Sechstel des deutschen Nettobetrages aufgebracht. Der Grund war, dass die Deutschen in weit geringeren Maßen von den Agrarsubventionen und den Strukturfonds profitierten. Für Deutschland ergab sich daraus eine Nettozahlung von 23,7 Mrd. D-Mark. Bundeskanzler Kohl und Finanzminister Waigel wollten erreichen, dass der Beitrag der Deutschen wenigstens nicht weiter steigen würde. Dem 2532

Der Spiegel, Nr. 46/48, 14. November 1994, S. 18ff.

514 stand allerdings das Ziel der europäischen Integration und der Osterweiterung entgegen. Detlev Samland, der Vorsitzende des Haushaltsausschusses brachte es auf den Punkt: „Sparen und erweitern, das paßt überhaupt nicht zusammen." Ein nicht genannter EUKommissar glaubte die Deutschen würden deudich mehr zahlen müssen, „wenn nicht, dann platzt der Laden." Und auch der SPIEGEL glaubte, „Die Deutschen werden nicht weniger, sondern deutlich mehr nach Brüssel überweisen müssen." 2 5 3 3 Hatten in den Jahren zwischen 1990 und 1995 sowohl die Neuverschuldung als auch die Steuerbelastungen zur Finanzierung der deutschen Einheit den Rahmen gesprengt, arbeitete die Finanzpolitik 1995 an der Rückkehr zu normalen Verhältnissen. Am 5. Juli 1995 wurde der Bundeshaushalt 1996 verabschiedet. Waigel nannte den Entwurf ein „Dokument der Sparsamkeit." Die Zahlen des Entwurfs bestätigten dieses Selbsdob. Der Haushalt sah die erste Ausgabenkürzung in absoluten Zahlen seit 1953 vor. Die Ausgabenreduzierung sollte 1,4 Prozent betragen. Dies sollte die Grundlage für die Entlastung der Bürger sein. Nach Waigels Plänen sollte die Steuer- und Abgabenquote bis zum Jahr 2000 auf das Niveau vor der Wiedervereinigung sinken. 2534 Die Realisierbarkeit dieser ehrgeizigen Ziele stand freilich auf einem anderen Blatt. Denn die positive wirtschaftliche Entwicklung, die im Wahljahr 1994 eingesetzt hatte, setzte sich nicht fort. Anfang Oktober 1996 prognostizierte Waigel einen Steuerausfall von vierzig Mrd. D-Mark für Bund, Länder und Gemeinden. Schon drei Wochen später prognostizierte der Arbeitskreis Steuerschätzung sogar einen Ausfall von 55,5 Mrd. D-Mark. Der enorme Steuerausfall ging zu einem Drittel auf die konjunkturelle Entwicklung zurück. Darüber hinaus wirkten sich die Steuernachlässe fur Investitionen in den neuen Bundesländern massiv aus. 2 5 3 5 Dieser Wegbruch der Einnahmen machte drastische Schnitte notwendig. Waigels Staatssekretär Manfred Overhaus kündigte in einem Schreiben an die Ressorts eine Haushaltssperre an. Alle Ausgaben der Ministerien, die über einer Million D-Mark lagen, mussten von Waigel persönlich genehmigt werden. Diese Maßnahme kam überraschend, da sie unmittelbar nach Waigels Auftritt im Bundestag angekündigt wurde, bei dem er diese Absicht nicht erwähnt hatte. 2536 In dieser schwierigen Lage war der Finanzminister auf den vollen politischen Rückhalt des Bundeskanzlers angewiesen, den Kohl ihm nicht versagte. Kohl wusste, dass der Erfolg seiner Europapolitik eng mit dem Erfolg seines Finanzministers verknüpft war. Scheiterte Waigel, würde der ganze Prozess, der zur Währungsunion fuhren sollte, in Gefahr geraten. Auf dem CDU-Parteitag am 16. Oktober 1995 erklärte Kohl: „Heute sind die Zeitungen voll davon, daß Theo Waigel eine Haushaltssperre verhängt hat - mit meiner vollen Unterstützung - (...) wir müssen bei den Staatfinanzen wieder Handlungsspielräume zurückgewinnen (...)." 2 5 3 7

2533 2534 2535 2536 2537

Der Spiegel, Nr. 25/49, 19. Juni 1995, S. 97 f. Archiv der Gegenwart, S. 40638. Der Spiegel, Nr. 43/49, 23. Oktober 1995, S. 124 f. Die Zeit, Nr. 43/50, 20. Oktober 1995, S. 23. 7. Bundesparteitag, S. 35.

515 In den Sitzungen des Finanzplanungsrates zeichnete sich ab, dass wegen der Steuerausfalle im nächsten Jahr mit einem sprunghaften Anstieg der Neuverschuldung zu rechnen war. Wie unter diesen Bedingungen die ehrgeizigen finanzpolitischen Ziele verwirklicht werden sollten, die Waigel gesetzt hatte, stand in den Sternen. Dieser unverhoffte haushaltspolitische Rückschlag schien eine ernsthafte Gefährdung der währungspolitischen Ziele des Maastrichter Vertrages. Da sich weder die Einahmen wesentlich erhöhen ließen und auch die Sparpolitik auf immer stärkeren Widerstand stieß, musste Waigel auf andere Formen der Geldbeschaffung zurückgreifen, um die Kriterien einhalten zu können. Durch den Verkauf von Bundesbeteiligungen wollte Waigel die Maastrichtkriterien 1995 erfüllen. Durch die Veräußerungen gewann Waigel jedoch nur einen kurzen Aufschub, denn schon im nächsten Jahr würde die Haushaltssanierung durch Privatisierung an Grenzen stoßen. 2 5 3 8 Die SPD warf Waigel vor, die „dramatische Verschlechterung" der Bundesfinanzen verschleiert und verleugnet zu haben. Er habe noch im September den Ausfall bestritten. 2539 Peter Struck erklärte fur die SPD im Bundestag: „Es ist in der Tat ein einmaliger Vorgang in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, daß man heute einen derart schlampig vorbereiteten Bundeshaushalt in der zweiten und dritten Lesung beraten soll." Waigel habe dem Haushaltsausschuss in der Bereinigungssitzung einen „jämmerlichen Wisch von Papier" vorgelegt. Daher forderte Struck die Rücküberweisung der Haushaltsvorlage in den Ausschuss. 2540 Die Lage der Finanzen verschlechterte sich noch und setzte die Regierung unter Druck. Anfang 1996 musste Waigel einräumen, dass die Bundesrepublik trotz aller Anstrengungen im Jahr 1995 die Maastrichtkriterien knapp verfehlt hatte. Die Perspektiven für die Staatsfinanzen schienen düster: In einer Runde von Staatsekretären wurde ein weiterer Fehlbetrag von 15 Mrd. D-Mark berechnet 2 5 4 1 Waigel begegnete dem sich im März 1996 abzeichnenden Defizit erneut durch den Erlass einer Haushaltssperre. Die massiven Steuerausfälle führten zu einer Diskussion über die Ursachen, die nicht allein mit der Konjunktur erklärbar waren. Besondere Aufmerksamkeit fanden die Steuerersparnisse der Wohlhabenden, die durch steuerlich geförderte Geldanlagen in den neuen Bundesländern ihre Steuerlast reduzierten. Oft wurde bei dieser Diskussion vergessen, dass die Begüterten ihr Geld genau gemäß den Wünschen der Politik angelegt hatten. Denn viele Bundesbürger machten von den Möglichkeiten gebrauch, die die Steuervergünstigung für Investitionen in den neuen Ländern boten. Die Bundesregierung wurde also vom „Erfolg" ihrer eigenen Programme überrascht. Dass diese Programme so weitgehende Folgen fur das Steueraufkommen der oberen Einkommensgruppen haben könnten, hatte die Regierung offenbar nicht einkalkuliert. Die Protagonisten der politischen Lager kamen zu sehr unterschiedlichen Einschätzungen, was die Dimension dieser Entwicklung anging. Der Hamburger SPD-Bürgermeister Voscherau behauptete: „Die Hälfte der 4500 Hamburger Millionäre zahlt keine Einkommensteuer." Waigel kam hingegen zu 2538 2539 2540 2541

Wirtschaftswoche, Nr. 45/49, 2. November 1995, S. 26 ff Verhandlungen, Band 181, S. 5649ff. Verhandlungen, Band 181, S. 5645. Der Spiegel, Nr. 3/50, 15. Januar 1996, S.22ff.

516 dem Ergebnis, dass nur 0,1 Prozent der Einkommensmillionäre ohne Einkommensteuer auskämen. Waigels Statistiken hatten es nicht leicht, sich gegen die Zweifel zu behaupten. Das Nachrichtenmagazin Der SPIEGEL zitierte Finanzwissenschaftler, die errechnetet hatten, dass die Einkommenssteuerbelastung der Spitzenverdiener im Schnitt 19 Prozent unter dem Spitzensteuersatz lag. 2 5 4 2 Aller Beschwichtigungen des Finanzministers zum Trotz setzte sich dieser Trend weiter fort und weitete sich aus. Die Einnahmen aus der veranlagten Einkommensteuer versiegten immer mehr. 1996 lag das Aufkommen aus dieser Steuerquelle nur noch bei einem Viertel der Einnahmen aus dieser Quelle Anfang 1990er Jahre. 2 5 4 3 Dies war der Preis, der fur den Anstoß der Investitionen durch Steuernachlässe in den neuen Bundesländern zu zahlen war. Da die schnelle Reallohnanpassung in den neuen Ländern, den Standort Ostdeutschland unattraktiv gemacht hatte und wirtschaftliche Stagnation drohte, waren die Steuererleichterungen fur Investitionen der Regierung als probates Mittel erschienen, um die sich auftuende Investitionslücke zu schließen und dem Aufschwung Ost neue Impulse zu geben. Diese indirekten Investitionen schlugen im Haushalt genauso zu Buche wie direkte Investitionen. Um so mehr sie angefragt wurden, um so teurer wurde dies für den Etat. In seiner Haushaltsrede am 10. September 1996 musste Waigel einräumen, die geplante Nettokreditaufnahme von 59 Mrd. D-Mark werde nicht ausreichen. Der Finanzminister versprach aber, er werde alles daran setzen, „die Nettokreditaufnahme 1996 unter 70 Mrd. D-Mark zu halten." 2544 Wegen der hohen Arbeitslosigkeit und den Steuerausfällen lag die Neuverschuldung 1996 schließlich 10 Mrd. D-Mark über den von der Finanzplanung anvisierten 59 Mrd. D-Mark. Das war ein finanzpolitisches Fiasko, auch, wenn Waigel sein versprechen halten konnte, die Neuverschuldung knapp unter 70 Milliarden D-Mark zu halten. 2545 Waigels Entwurf fiir das Jahr 1997 sah eine geplante Neuverschuldung von 56,5 Mrd. D-Mark vor. 2546 Waigel kündigte an, dass 1997 die Ausgaben des Bundes von 451 Mrd. D-Mark auf 440 Mrd. D-Mark zurückgeführt werden sollten. 2547 Als Anfang November 1996 die neue Steuerschätzung für das laufende und das kommende Jahr vorgelegt wurde, geriet die Regierung noch stärker unter Druck. Die Experten prognostizierten für das kommende Jahr für die Gebietskörperschaften Steuermindereinnahmen von fast zwanzig Milliarden D-Mark. Davon ging die eine Hälfte auf den Wegfall der Vermögenssteuer zurück und betraf die Länder. Von den übrigen, unerwarteten Mindereinahmen, entfielen fünf Milliarden D-Mark auf den Bundeshaushalt. Die Wirtschaftsforschungsinstitute bezweifelten, dass nach dem Verfehlen der Maastrichtkriterien in diesem Jahr, diese im nächsten Jahr eingehalten werden konnten. 2548 Der Spiegel, Nr. 12/50, 18. März 1996, S. 22 ff. Die Zeit, Nr. 35/52, 22. August 1997, S. 26. 2 5 4 4 Verhandlungen, Band 185, S. 10701 ff. 2 5 4 5 Archiv der Gegenwart, S. 41380. 2 5 4 6 Archiv der Gegenwart, S. 41380. 2547 Verhandlungen, Band 185, S. 10701 ff. Waigel wies in der Rede darauf hin, dass der Anteil der Bundesausgaben am Bruttosozialprodukt einen Tiefstand erreicht habe wie zuletzt 1954. Etwa ein Drittel der Zinslast von 94 Mrd. D-Mark gehe auf die Erblasten zurück, fiir die 34 Mrd. D-Mark auigewendet werden mussten. 2 5 4 8 N Z Z , 9.11.1996, S . 2 1 . 2542

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517 Das Zusammentreffen einer ausgesprochen schweren Haushaltskrise mit dem Prozess der Währungsunion, gefährdeten Kohls europapolitische Ziele. Kohl versuchte die wachsenden Zweifel an der Realisierbarkeit der europäischen Währungsunion, die angesichts der sich verschlimmernden Finanzkrise aufkamen, zu zerstreuen. Am 22. November 1996 erklärte Kohl auf einem Bankenkongress in Frankfurt: „Ich verbinde mein politisches Schicksal mit dem Bau des Hauses Europa." Dies sei für ihn eine existentielle Frage. Kohl legte sich darauf fest, die Maastrichtkriterien ohne Einschränkungen auf Dauer einzuhalten. Kohl wies darauf hin, dass der Finanzplanungsrat sich zwei Tage zuvor darauf verständigt hatte, die Neuverschuldung der öffendichen Haushalte auf 2,5 Prozent zu begrenzen. 2 ^ 9 Dies war angesichts der Haushaltsprobleme ein sehr ehrgeiziges Ziel und nachdem sich der Kanzler auf diese Weise festgelegt hatte, gab es keinen Ausweg mehr. Die Zielmarke von 3,0 musste wenigstens formal bis auf die Null hinter dem Komma eingehalten werden, um nicht das Gesicht zu verlieren. Das Jahr 1997 war also das Entscheidungsjahr fur die Teilnahme an der europäischen Währungsunion und es schien unter keinem guten Stern zu stehen. Die Bundesbank zeigte sich zunehmend skeptisch gegenüber den stabilitätspolitischen Rahmenbedingungen und die Politik der Bundesregierung. In ihrem Geschäftsbericht stellte die Bundesbank fest, dass „die öffendichen Finanzen in vielen Fällen von der im Maastrichter Vertrag geforderten, auf Dauer tragbaren Lage nach wie vor ein erhebliches Stück" entfernt waren. Im Jahr 1996 hatte die Bundesrepublik zum ersten auch das Maastrichtkriterium, das eine Gesamtverschuldung von nur 60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts erlaubte, verfehlt. 2550 Die gesamtwirtschaftliche Frühjahrsprognose der Europäischen Kommission malte hingegen ein zuversichdiches Bild und vermied jeden Zweifel daran, dass die Währungsunion pünktlich zum 1. Januar 1999 beginnen und die große Mehrheit der Mitgliedstaaten daran teilnehmen würde. Die Kommission war bereit, den Deutschen Konzessionen zu machen. In der Schlussbetrachtung wurde die deutsche Wiedervereinigung in die Betrachtung einbezogen. Damit war klar, dass die Kommission, diese als „außerordendiche Umstände" anerkennen und auch ein Ergebnis oberhalb von 3,0 akzeptieren würde. 2551 Innenpolitisch musste die Bundesregierung aber wenigstens den Schein einer Punkdandung wahren, um ihre Glaubwürdigkeit nicht zu verlieren. Die Kritiker in den eigenen Reihen waren nicht bereit, die Daten so großzügig auszulegen wie die Kommission. Der bayerische Ministerpräsident Edmund Stoiber erhöhte den politischen Druck auf Kohl und Waigel. Stoiber erklärte, falls das Kriterium 3,0 nicht präzise erreicht werden könne, solle die Währungsunion verschoben werden. Kohl wollte sich zu dieser Aussage direkt nicht äußern, aber nach einer Sitzung des Parteivorstandes erklärte Kohl: „Es bleibt bei 3,0 und da wird nichts verwässert." Kohl bekräftigte, dies gelte ebenso fur den laufenden Haushalt wie auch fur den Haushalt 199 8 2 5 5 2

2549 F A Z > 23.11.1996, S. 13. 2550 NZZ, 24.4.1997, S. 23. 2551 NZZ, 24.4.1997, S.21. 2 5 5 2 FAZ, 1.7.1997, S. 4.

518 Um dieses Ziel zu erreichen, verfiel Waigel auf ein fragwürdiges finanzpolitisches Manöver: Die Neuverschuldung wollte der Finanzminister auf 3,0 Prozent begrenzen, indem er auf die Gold- und Devisenreserven der Bundesbank zurückgriff. 2553 In den Büchern der Bundesbank war die Feinunze mit 92,4 D-Mark in den Büchern verzeichnet, der Marktplatz lag hingegen bei 340 Dollar. In der letzten Maiwoche 1997 kündigten Kohl und Waigel an, die Abführung des Gewinns durch ein Gesetz zu regeln. Die Goldreserven sollten nicht nur höher bewertet, sondern auch ein Teil des sich aus der Höherbewertung ergebenden Gewinns in zwanzig Tranchen an den Bund abgeführt werden. Der Spielraum für die Neuverschuldung würde sich durch diese Maßnahme erhöhen. Bundesbankpräsident Tietmeyer und der Zentralbankrat waren über Waigels Plan empört und Tietmeyer drohte indirekt mit seinem Rücktritt. 2554 In den Monatsberichten der deutschen Bundesbank schrieben die Zentralbanker: „Die im Konzept des Bundesfinanzministeriums bisher vorgesehene detaillierte Sonderregelung für die Jahre 1997 und 1998 kann als Eingriff in die eigenverantwortliche Aufstellung und Feststellung des Bilanz und insoweit in die Unabhängigkeit der Bundesbank angesehen werden." 2555 Die Neubewertung war nicht nur ein Eingriff in die Verfügungskompetenz der Bundesbank, sie war im Grund genommen willkürlich. Die einfache Übernahme des aktuellen Marktpreises für die Neubewertung dieser Reserven war nur auf den ersten Blick ein plausibles Verfahren. Hätte nämlich die Bundesbank nur einen Teil ihrer Reserven auf dem freien Markt angeboten, hätte das den aktuellen Goldpreis erheblich gedrückt. Um die Konfrontation mit der Bundesbank nicht eskalieren zu lassen und den Eindruck einer Selbstbedienung des Finanzministers zur Sanierung des maroden Haushalts auf Kosten der Bundesbank zu vermeiden, wählte Waigel ein kompliziertes Verfahren, um die Neuverschuldung durch die Neubewertung der Goldreserven zu senken. Waigel erklärte, dass „es dank einer völlig legitimen, volkswirtschaftlich sauberen Neubewertung der Gold- und Devisenreserven der Bundesbank möglich sei, in der Vergangenheit angesparte Reserven in den nächsten Jahren zur Tilgung der Schulden der DDR-Aklast zu nutzen." Nicht die Währungsreserven selbst, sondern nur der Gewinn werde zur Schuldentilgung verwendet. 2556 Waigel erklärte am 4. Juni 1997 im deutschen Bundestag: Es habe gestern ein Gespräch zwischen ihm und Tietmeyer gegeben. Waigel erklärte: „Durch die vorgesehene Anpassung des Wertes der Währungsreserven und die teilweise Abfuhrung des Bewertungsgewinns an den Erblasttilgungsfonds wird die geldpolitische Unabhängigkeit der Bundesbank nicht berührt." Die genaue Formulierung des Gesetzes werde in enger Absprache mit der Bundesbank erfolgen. 2557 Tietmeyer sah dieses Vorgehen im Nachhinein als Versuch einer „fragwürdigen Schönheitsoperation." Tietmeyer stellte es allerdings so dar, als habe er dieses fragwürdige Verfahren in Abstimmung mit Waigel verhindern können, was allerdings nur insoweit richtig ist, als dass die Gewinne aus der Neubewertung nicht direkt in den Bundeshaushalt flössen. 2558 Die Verschleierungstaktik des Finanzministers, die der Bundesbank helfen sollte das Gesicht zu wahren, ist also aufgegangen. Die

2553 2554 2555 2556 2557 2558

Der Spiegel, Nr. 22/51, 26. Mai 1997, S. 25fF. Der Spiegel, Nr. 23/51, 2. Juni 1997, S. 28 ff. Monatsberichte, Jun. 1997, S. 5 ff. Der Spiegel, Nr. 22/51, 26. Mai 1997, S. 25 ff. Verhandlungen, Band 188, S. 15983 ff. Tietmeyer, Euro, S. 248 f.

519 Bundesregierung konnte durch den Zugriff auf die Goldreserven 1998 eine Sondertilgung im Erblastentilgungsfonds weit über Plan durchführen. Die WIRTSCHAFTSWOCHE stellte fest: „Im Kern ist der Vorgang eine Schuldentilgung durch Geldschöpfung." 2559 Das Verhältnis zwischen der Regierung und der Bundesbank blieben gespannt. Die Aussagen die Bundespräsident Hans Tietmeyer am 3. September 1997 gegenüber der Hamburger Zeitung „DIE W O C H E " machte, sorgten für Wirbel. Die Zeitung berichtete, Tietmeyer sei „nicht in jedem Fall" fiir einen Start der europäischen Währungsunion zum 1. Januar 1999. Tietmeyer erklärte: „Manchem Argument, das ich in letzter Zeit gehört habe, wonach im Fall einer Verschiebung des Euro der europäische Himmel einstürzen oder die Wirtschaft aus den Fugen geraten würde, kann ich einfach nicht folgen." Tietmeyer unterstrich die hohen stabilitätspolitischen Anforderungen der Bundesbank. Tietmeyer insistierte, dass 3 Prozent Neuverschuldung „grundsätzlich die Obergrenze" sein sollten. Sollten einzelne Staaten Ergebnisse von 3,3 oder 3,4 vorlegen, halte er das „in der Tat fur schwierig - sowohl für die Menschen als auch für die Finanzmärkte." Der Bundesbankpräsident erklärte, eine einzelnes Jahresergebnis könne kein Freibrief sein und sah die Finanzpolitik langfristig in der Pflicht: „Was ich gegenwärtig in einigen Analysen an Stellungnahmen lese, als spiele die Lage der öffendichen Finanzen keine wichtige Rolle, kann ich nicht akzeptieren." 2560 Die Äußerungen des Bundespräsidenten sorgen für große Irritationen bei den Befürwortern der Wahrungsunion, wohingegen sich die Gegner bestätigt fühlten. Tietmeyer sah sich gezwungen, zu seinem Interview richtig zu stellen: „Meine Aussagen sind eindeutig kein Plädoyer für eine Verschiebung des Beginns der Währungsunion. Ich habe vielmehr nachdrücklich eine Stellungnahme der Bundesbank hierzu abgelehnt und eine Verschiebungsdiskussion derzeit für nicht angemessen erklärt. In dem Interview wird lediglich auf die ökonomische Fragwürdigkeit gelegendich vorgebrachter Argumente hingewiesen. " 2 5 6 1 Die Finanzpolitik stand weiter unter Druck, vor allem wegen der steuerlichen Aufwendungen für den Aufschwung Ost. Das Scheitern der Steuerreform gab der steuerlichen Abschreibung weiteren Auftrieb. In der FAZ wurden ζ. B. Anzeigen mit dem Versprechen „Zahlen Sie keine Steuern mehr - die nächsten zehn Jahre" geschaltet. Allein 1997 wurden 230 geschlossene Fonds und Verlustzuweisungsgesellschaften mit einem Volumen von 23 Mrd. D-Mark am Markt platziert. Der bayerische Finanzminister bewies seinen Galgenhumor als er äußerte: „Bei manchen Leuten ist der Steuerspartrieb stärker ausgeprägt als der Fortpflanzungstrieb." Das Geld wurde vor allem in ostdeutsche Immobilien investiert. Am 24. Juni 1991 hatte die Regierung die Sonderabschreibungsmöglichkeiten für die neuen Bundesländer beschlossen. Als Folge dieser Entscheidung sank das Aufkommen der veranlagten Einkommensteuer von 4 1 , 5 Mrd. D-Mark von 11 Mrd. D-Mark im Jahr 1997 gesunken. 2562

2559 2560 2561 2562

Wirtschaftswoche, Nr. 5/52, 22. Januar 1998, S. 26. Zit. nach NZZ, 4.9.1997, S. 21. NZZ, 5.9.1997, S. 21. Der Spiegel, 45/51, 10. November 1997, S. 30 ff.

520 Der Sachverständigenrat kritisierte, die kurzfristige auf die Entscheidung für den Prozess der Währungsunion angelegte Finanzpolitik. Besonders in der Kritik stand die Finanzierung der Defizitabbaus über die Anhebung der Sozialbeiträge und die Begrenzung der Investitionen. Die Forschungsinstitute sagten voraus, dass langfristig ohne tiefer gehende Einschnitte, wegen der demographischen Veränderung die Defizite und die Schuldenlast weit über die Kriterien des Maastrichtvertrages hinaus steigen würden. 2563 Im November 1997 wurde der Haushaltsplan des Bundes verabschiedet. Dieser sah ein Defizit von 56,4 Mrd. D-Mark vor. Das waren 1,4 D-Mark weniger als noch in dem im Juni beschlossenen Entwurf. Das Ausgabenvolumen sollte 456,8 Mrd. D-Mark betragen, was wiederum zwei Prozent über dem ursprünglichen Entwurf lag. Gegenüber dem ursprünglichen Entwurf waren Mehrbelastungen von 20 Mrd. D-Mark hinzuzurechnen. Davon entfielen 9,5 Mrd. D-Mark auf Steuermindereinnahmen, 6 Mrd. D-Mark auf die Senkung des Solidaritätszuschlages und drei Milliarden D-Mark auf arbeitsmarktbedingte Mehrausgaben und 1,5 Mrd. D-Mark an zusätzlichem Bundeszuschuss für die Rentenversicherung. Zur Finanzierung der Deckungslücke wurden die Telekom-Aktien an die KfW verkauft fur acht Milliarden D-Mark, die Zuschüsse fur den Erblastentilgungsfonds sollten um fünf Mrd. D-Mark gesenkt werden und 1998 weitere Telekomanteilen für 23 Mrd. D-Mark veräußert werden. Mit diesen Finanzierungsmaßnahmen sollte ein Rückgang der Nettokreditaufnahme um 14,5 Mrd. D-Mark erreicht werden. 2564 Da es sich im Gros dieser Maßnahmen um einmalige Veräußerungsgewinne handelte, wurde das 3,0-Kriterium nur der Form nicht aber dem Zweck entsprechend erfüllt. Denn der Zweck des Kriteriums lag eben darin, einen langfristig stabilen Haushalt zu erreichen. Dieser Umstand zeigt, dass sich dass 3,0-Kriterium zu einer rein psychologischen Hürde von allerdings immenser politischer Bedeutung entwickelt hatte. Als das statistische Bundesamt feststellte, dass das Haushaltsdefizit des Bruttoinlandsprodukts mit 2,7 Prozent 1997 unter der von Waigel gesetzten Marke von 3,0 lag, hatten Kohl und Waigel allen Grund erleichtert zu sein. Am 27. Februar 1998 konnte Waigel erklären. „Wir werden zu dem Kreis der Länder gehören, die sich für die Teilnahme an der Währungsunion von Anfang an qualifizieren." Mit den 2,7 Prozent sei ein „entscheidendes Kriterium" erfüllt. Damit sei eine sichere Grundlage für einen stabilen Euro gelegt, alle Zweifler und Schwarzseher seien eindrucksvoll widerlegt. Bundeskanzler Kohl wertete das Ergebnis der Finanzpolitik als eine „eindrucksvolle Bestätigung fur die Politik der Bundesregierung und insbesondere für Bundesfinanzminister Theo Waigel." Allerdings musste Waigel auch einräumen, dass Deutschland das Maastricht-Kriterium, das die Begrenzung des Schuldenstandes auf 60 Prozent des BSP vorsah, mit 61,3 Prozent verfehlt hatte. 2565 Dieses Kriterium hatte jedoch psychologisch nicht annähernd eine solche politische Bedeutung erlangt wie die Neuverschuldungsbegrenzung. Dass die Bundesrepublik dieses Kriterium verfehlte, ging in der öffentlichen Debatte fast ebenso unter wie der Umstand, dass andere Teilnehmerstaaten wie Italien nicht einmal in Sichtweite dieser Schuldengrenze gekommen waren. Das ist insoweit bemerkenswert, als dass die

2563 2564 2565

NZZ, 29.10.1997, S. 23. Monatsberichte, Dez. 1997, S. 42 f. FAZ, 28.2.1998, S. 1.

521 Gesamtverschuldung eines Staates fiir die allgemeine Stabilität und die Zukunftsperspektive viel bedeutsamer ist als die Neuverschuldung in einem bestimmten Haushaltsjahr, die immer konjunkturellen Schwankungen folgt. Es war aber nicht volkswirtschaftliche Vernunft sondern politische Psychologie, die den Ausschlag gab. Dies war in einem Prozess mit solcher Dynamik wohl auch nicht anders vorstellbar. Den finanzpolitischen Wetdauf fur die Währungsunion hatten Kohl und Waigel mit Glück und einigen haushaltspolitischen Verrenkungen gewonnen. Am 20. April 1998 erklärte Waigel stolz vor dem Finanzausschuss und dem Ausschuss fiir die Angelegenheiten der Europäischen Union: „In Deutschland konnte das öffentliche Defizit 1997 trotz Zusatzbelastungen allein fur den Bund in Höhe von 30 Milliarden D-Mark auf 2,7 Prozent des BIP zurückgeführt werden. 1996 lag es noch bei 3,4 Prozent. Dieser Erfolg der deutschen Finanzpolitik wird inzwischen auch von Kritikern anerkannt." 2 ' 66 Waigel ging auf die Kritik ein, dass dieser Erfolg nur auf „Einmalmaßnahmen" beruhte. Einmalmaßnahmen seien, „wenn sie ordnungspolitisch richtig sind" nichts Negatives und zu dem befanden sich in jedem Haushalt Einmalmaßnahmen. Waigel räumte jedoch ein, dass auf diese Weise dauerhafte Stabilität nicht zu gewährleisten war, da der Effekt der Einmalmaßnahmen zeidich begrenzt war. Sie seien aber „notwendige und richtige Uberbrückungsmaßnahmen" bis die Strukturmaßnahmen greifen würden. Waigel musste einräumen, dass die Reduzierung des Schuldenstandes in Europa unter den Referenzwert von 60 Prozent des BIP nicht gelungen war: „Während die Erfolge beim Defizitabbau unbestreitbar sind, kann man dies vom Schuldenstand nicht uneingeschränkt sagen." Den Referenzwert von 60 Prozent hatten nur Finnland, Frankreich, Großbritannien und Luxemburg unterschritten. Hatte die Bundesrepublik den Referenzwert mit 61,3 Prozent knapp verfehlt, waren Griechenland mit einer Verschuldung von 108,7 Prozent, Italien mit 121,6 und Belgien mit 122,2 Prozent himmelweit davon entfernt. 2567 Am 24. April 1998 stimmte der Bundesrat bei Stimmenthaltung Sachsens dem Beschluss der Bundesregierung zu, in die dritte Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion einzutreten. Biedenkopf beanstandete, dass weder die Geldstabilität noch der Schuldenabbau gewährleistet seien und verwies auf die Stellungsnahme der Bundesbank. Kohl nannte hingegen in seiner Rede vor der Länderkammer die Währungsunion einen säkularen Schritt und bekräftigte, der Euro werde den Wohlstand sichern und genauso stabil sein wie die D-Mark. 2 5 6 8 In der Entwicklung des Steueraufkommens kam es im Jahr 1998 zu einer „Wende". Das Steueraufkommen des Bundes war um 2,5 Prozent gewachsen. Die Steuerquote hatte sich erhöht auf 22,1 Prozent. Der Bundesbankgewinn und die günstige Zinsentwicklung endastete die Nebenhaushalte. 2569 Die Rentenversicherung schloss das Jahr 1998 mit einem Überschuss von drei Milliarden D-Mark ab, das Defizit der Bundesanstalt fiir Arbeit fiel mit 7,75 Milliarden D-Mark wesendich geringer aus als die veranschlagten 14 Mrd. 2566 Finanzausschuss, 13. Wahlperiode, Protokoll 103, S. 2. 2 5 6 7 Finanzausschuss, 13. Wahlperiode, Protokoll 103, S. 2 f. 2 5 6 8 FAZ, 25.4.1998, S. 2. 2 5 6 9 Monatsberichte, Feb. 1999, S. 3 8 - 4 4 . Die Einnahmen wurden jedoch durch die höheren Abfuhrungen an die Europäische Union geschmälert.

522 D-Mark. 2 5 7 0 Diese Verbesserung der finanzpolitischen Rahmenbedingungen kam jedoch zu spät, um die Regierung vor ihrer Wahlniederlage zu bewahren.

Zusammenfassung: Die Finanzpolitik und der Euro 1995-1998 Der Anstieg der Arbeitslosigkeit und der Aufbau in den neuen Bundesländern führten zu erheblichen Steuerausfallen. Innenpolitisch standen Steuerentlastungen auf dem Programm, da die Zahler von Steuern und Abgaben durch die Einführung des Solidaritätszuschlages und steigende Sozialabgaben so belastet waren, dass wie schon in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre Steuerentlastungen zum Thema Nummer eins wurden. Anders als in den Jahren nach der Wiedervereinigung konnten diese Anforderungen nicht einfach durch die politisch bequemte Ausweitung der öffendichen Verschuldung bewältigt werden. Europapolitisch waren Kohl und Waigel auf die Erfüllung des psychologisch wichtigen 3,0-Neuverschuldungskriteriums festgelegt. Die sich verschlechternde Lage auf dem Arbeitmarkt und der Einbruch des Steueraufkommens traf die Regierung nach dem kurzen Aufschwung im Jahr 1994 unerwartet. Nachdem das Maastrichtkriterium 1995 schon verfehlt worden war, wurde der Prozess zur Zitterpartie. Um diese Aufgaben zu bewältigen, folgte die Finanzpolitik zwei politischen Ansätzen. Zum einen wurden Reformschritte unternommen, um die Kosten der Sozialsysteme zu beschränken und Einsparungen im Bundeshaushalt vorgenommen. Zum anderen setzte Waigel auf kurzfristige Maßnahmen, um die Einnahmen zu erhöhen, wie die Neubewertung der Goldreserven und die Veräußerung von Bundesvermögen. Das zentrale Ziel, auf das Politik und Öffentlichkeit fixiert waren, war zu erreichen, dass die Neuverschuldung der Bundesrepublik nicht über 3,0 Prozent stieg. Dabei handelte es sich um eine politische Zahl. Die europäischen Staaten hatten vereinbart die Geldpolitik auf die Gemeinschaftsebene zu übertragen, aber die Wirtschafts- und Finanzpolitik bei den Einzelstaaten zu belassen. Da der Erfolg der neuen europäischen Währung nach Ansicht der meisten Experten wesentlich auch von der nationalen Finanzpolitik abhängen würde und der haushaltspolitischen Stabilität wurden sogenannte Konvergenzkriterien vereinbart, die die Teilnehmerstaaten erfüllen mussten, um die Voraussetzung für die Teilnahme an der Währungsunion zu erfüllen. Besonders der Bundesrepublik, die eine im internationalen Vergleich sehr starke Währung aufgeben musste, war an diesen Regelungen gelegen gewesen, um der öffentlichen Meinung die Furcht vor dem Verlust der D-Mark zu nehmen. Als die Bundesrepublik nun wider Erwarten selbst in die Gefahr kam, die Kriterien zu verpassen, weil die Steuerausfälle überraschend hoch ausfielen und sich diese zu einer Haushaltskrise steigerten, war dies eine Bedrohung für das ganze Projekt. Wie sollte die Bevölkerung von der Stabilität der neuen Währung überzeugt werden, wenn nicht einmal das Musterland die als Stabilitätsgarantie gepriesenen Kriterien erfüllte?

2570

Monatsberichte, Feb. 1999, S. 47 ff.

523 Die andere volkswirtschaftlich relevantere Schuldengrenze, die die Gesamtverschuldung der Bundesrepublik betraf, wurde hingegen kaum zur Kenntnis genommen. Es ist zu Bezweifeln, dass eine Mehrheit der Bevölkerung überhaupt klar war, dass mit „3,0" die Neuverschuldung aller Gebietskörperschaften in Bezug auf das BIP gemeint war. Die „3,0" wurde, wie so oft in der öffentlichen Wahrnehmung von Wirtschaftspolitik, zu einer magischen Zahl, deren Nichterfiillung identisch war mit dem Scheitern der Regierungspolitik. Darum wurde sie zum Dreh- und Angelpunkt der Haushaltsanstrengungen des Bundesfinanzministers.

Die Abwahl 1998 Am 12. Januar 1998 erklärte Schäuble in einem Interview, nach der Ankündigung Lafontaines, dass eine Umschichtung zwischen direkten und indirekten Steuern nicht in Frage käme, seien weitere Gespräche sinnlos. 2571 Schäuble wollte die Bundestagswahl zu einem „Plebiszit für die Steuerreform" machen. Bei einem Sieg der Koalition, so hoffte Schäuble, konnte sich die SPD eine Fortsetzung der Blockade nicht leisten. 2572 Der Versuch, die Wahl zu einem Plebiszit über die wenig populäre Steuerreform zu machen, war zum Scheitern verurteilt. Viel erfolgreicher war hingegen die SPD mit ihrer Strategie, die sie in einer Presseerklärung vom 8. 9. 1998 formulierte, die Wahl zu einer Volksabstimmung über die Arbeitslosigkeit zu machen. 2 5 7 3 Die SPD-Wahlkampfstrategie sah vor, die Arbeitslosigkeit zum Kernthema zu machen. Oskar Lafontaine versprach mit klassischer keynesianischer Wirtschaftspolitik die Nachfrage zu stärken. Die Stärkung der Kaufkraft war ein populäres Argument, wohingegen die Maßnahmen der Bundesregierung zur Bekämpfung der strukturellen Ursachen, die der Bundesregierung ein Popularitätstief beschert hatten, zum Teil zurückgenommen werden sollten. 2574 Kohl musste einräumen, dass sein Ziel die Arbeitslosigkeit zu senken, nicht mehr erreichbar war. Vor dem Beginn der Klausurtagung des Bundesvorstandes seiner Partei sagte Kohl in Windhagen bei Bonn im Januar 1998, obgleich das Ziel nicht mehr erreichbar sei, wolle er sich bemühen „möglichst viele in Arbeit und Brot bringen." Die jüngsten Zahlen des Arbeitsmarktes seien völlig unbefriedigend 2 5 7 5 Denn das Jahr der Bundestagswahl 1998 begann unter dem Vorzeichen schlechterer Arbeitsmarktdaten als im Wahljahr 1994. Im Januar 1994 hatte die Zahl der Arbeitslosen im Januar bei 4,03 Millionen gelegen, im Januar 1995 waren hingegen 4,82 Millionen Personen ohne Arbeit. 2576 Die Arbeitslosenquote betrug somit 12,6 Prozent, in Ostdeutschland waren erstmals mehr als 20 Prozent der Erwerbsfähigen arbeitslos. In der vormals boomenden Baubranche waren in Ostdeutschland vierzig Prozent der dort Tatigen ohne Arbeit. Am 5. Februar 1998 Der Spiegel, Nr. 3/52, 12. Januar 1998, S. 24 ff. Wirtschaftswoche, Nr. 14/52, 26. März 1998, S. 22. 2 5 7 3 Bachmeier, Wirtschaftspopulismus, S. 99 f. 2574 Noelle-Neumann/Kepplinger/Donsbach, Kampa. Meinungsklima und Medienwirkung im Bundestagswahlkampf 1998, S. 49. 2 5 7 5 FAZ, 10.1.1998, S. 2. 2 5 7 6 Bachmeier, Wirtschaftspopulismus, S. 85. 2571

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524 demonstrierten in über 100 Städten Arbeitslose, um auf ihre Situation aufmerksam zu machen. 2 5 7 7 In keiner Wahl zuvor hatte die Beschäftigungslosigkeit in der Bundesrepublik eine so große Rolle gespielt. Die Rangliste der wichtigsten Themen führte die Arbeitslosigkeit mit 91 Prozent Zustimmung an, das waren sogar noch 14 Prozentpunkte mehr als bei der letzten Bundestagswahl, in der der Arbeitslosigkeit auch schon eine außergewöhnlich hohe Bedeutung bei den Wählern zu kam. 2 5 7 8 Im Februar 1998 starteten die Gewerkschaften ihre eindeutig fur die SPD und gegen die Regierung Partei nehmende Kampagne für einen Politikwechsel. Treibende Kraft hinter der Kampagne der Gewerkschaften war Zwickels IG-Metall. Aus dem Solidaritätsfonds des DGB, der eigendich fur die Stützung schwacher Gewerkschaften gedacht war, wurden acht Millionen D-Mark für die Kampagne aufgeboten. Die IG-Metall wendete aus eigenen Mitteln für Millionen D-Mark auf, um für den Politikwechsel zu werben. 2579 Am 1. Mai riefen mehrere Gewerkschaftsführer zur Abwahl der Regierung auf. Zwickel erklärte, die derzeitige Bundesregierung habe weder die Ideen noch die Kraft, um Deutschland in das kommende Jahrtausend zu fuhren. Kohl war den Gewerkschaften wegen ihrer Wahlkampfaktivitäten „Verrat am Prinzip der Einheitsgewerkschaft" vor. Repräsentanten hätten „offen und ohne Hemmung für Rot-Grün" Partei ergriffen. Der Bundesvorsitzende der Christlich-Demokratischen Arbeitnehmerschaft, Epplemann, sprach von „platter Wahlhilfe für die S P D . " 2 5 8 0 Am 12. Juli 1998 formulierte Zwickel seine Forderungen an eine neue Bundesregierung. Zwickel forderte in Stuttgart die gesetzliche Zusage für die Lohnfortzahlung, die Rücknahme der Einschränkung beim Kündigungsschutz und Verzicht auf die weitere Absenkung des Rentenniveaus. Der Bundesregierung warf Zwickel erneut Versagen vor und forderte erneut ein Bündnis fur Arbeit. 2581 Im Wahlkampf kam die SPD auf den Bündnisgedanken zurück und setzte auf die Popularität von Pakten. 2582 Die Strategie der Opposition wurde nicht nur durch die Kampagne der Gewerkschaften sondern auch durch die Medienberichterstattung gestützt. Wahrend die Medien wegen der besseren Wirtschaftsdaten eher positiv berichteten, dominierte bei den Nachrichten über den Arbeitsmarkt die Negativberichterstattung. Nach einer Untersuchung von Wolfgang Donsbach waren negative Berichte über die aktuelle Arbeitsmarkdage doppelt so häufig wie positive über die zukünftige Entwicklung. Über die schwierige Lage auf dem Arbeitsmarkt wurde ausführlich berichtet, aber über die Ursachen wurde selten berichtet. 2583 Dies erleichterte der SPD einen Wahlkampf, der der Bundesregierung die Schuld für die hohe Arbeitslosigkeit gab, aber selbst auch keine vielversprechende Alternative anzubieten hatte. Günstig für die Opposition wirkte sich auch aus, dass sie sich für den erfolgversprechenderen Kandidaten entschied. Am 1. März 1998 klärte sich die Kandidatenfrage der SPD. Bei den Landtagswahlen in Niedersachsen wurde Ministerpräsident Gerhard Schröder 2577 2578 2579 2580 2581 2582 2583

Archiv der Gegenwart, S. 42620 f. Bachmeier, Wirtschaftspopulismus, S. 104. Wirtschaftswoche, Nr. 9/52, 19. Februar 1998, S. 29. FAZ, 4.5.1998, S. 1. FAZ, 13.7.1998, S. 17. Bachmeier, Wirtschaftspopulismus, S. 94. Noelle-Neumann, Kampa, S. 58. f.

525 mit deutlicher Mehrheit wieder gewählt. Die SPD konnte ihren Stimmanteil von 44,3 auf 47,9 Prozent ausbauen, die C D U gewann nur 36,4 Prozent, die Grünen 7,4 Prozent und die FDP verfehlte mit 4,4 Prozent den Einzug in den niedersächsischen Landtag. 2 5 8 4 Damit war die Entscheidung für Schröder gefallen. 2585 Schröder löste bei den bürgerlichen Medien in weit geringerem Maße negative Befürchtungen bezüglich der Wirtschaftspolitik aus als es Oskar Lafontaine. Donsbach stellt fest: „Vermudich hatte einen nicht unerheblichen Einfluß auf die Wahlentscheidung, dass sich vier üblicherweise konservative Medien ambivalent verhielten." Dies betraf den Rheinischen Merkur, Focus, die BILD-Zeitung und die Welt. Im öffentlich-rechdichen Fernsehen, in ARD und ZDF, wurde Schröder bei den Themen Wirtschaftslage, Arbeitsmarkt und Standort Deutschland wurde Schröder günstiger dargestellt als Kohl. 2 5 8 6 Am 17. April wurde der smarte Schröder offiziell auf dem Sonderparteitag der SPD zum Kanzlerkandidaten der SPD ausgerufen. 2587 Die SPD setzte auf zwei Motive: Die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und das Motto: „16 Jahre sind genug." Die SPD genoss die gesamte Wahlkampfphase in der Wahrnehmung der Wähler einen Kompetenzvorsprung. Mit dem Slogan „Innovation und Gerechtigkeit" wagte und gelang der SPD der Spagat zwischen den Versprechen an die traditionelle Klientel, dass sich nicht nur nichts ändern, sondern dass man die Politik der Regierung Kohl korriegieren würde und der so genannten „neuen Mitte." 2 5 8 8 Schröder versprach die Arbeitslosigkeit auf unter 3,5 Millionen zu senken. Kurz vor der Wahl erklärte er sogar: „Wenn wir es nicht schaffen, die Arbeitslosenquote signifikant zu senken, haben wir es weder verdient wieder gewählt zu werden, noch werden wir wieder gewählt werden." Schröder ließ kleine Karten mit Wahlkampfversprechen der SPD verteilen, die unter dem Motto stand „ich gebe Ihnen neun gute Gründe, die SPD zu wählen. Der zehnte heißt Kohl." Das erste Versprechen lautete: „Mehr Arbeitsplätze durch eine konzertierte Aktion fur Arbeit, Innovation und Gerechtigkeit. Arbeitslosigkeit kann man bekämpfen." 2 5 8 9 Die Kohl im Zusammenhang mit dem Bündnis für Arbeit zugeschriebene Absichtserklärung die Arbeitslosigkeit zu halbieren wurde hingegen zur Belastung für die Glaubwürdigkeit der Regierung im Wahlkampf. 2 5 9 0 Hans-Hermann Tietje gab im Rückblick einen Einblick über die Bedeutung, die der Symbolik der Arbeitslosenzahl im Regierungslager zugeschrieben wurde: „Das war ja auch der Versuch der Union, vor der Bundestagswahl 98 partout die offizielle Arbeitslosenzahl unter vier Millionen zu kriegen. Da ist alles mobilisiert worden, um das rauszurechnen, dass das unter vier Millionen ist. Da war ein richtiges Tauziehen in dieser Frage." 2 5 9 1 Ein Instrument die Arbeitslosigkeit in der offiziellen Statistik noch vor den Wahlen unter die psychologisch wichtige Vier-Millionen-Grenze zu drücken, war die Ausweitung der 2584 2585 2586 2587 2588 2589 2590 2591

Archiv der Gegenwart, S. 42667. Bachmeier, Wirtschaftspopulismus, S. 93. Noelle-Neumann, Kampa, S. 65. Archiv der Gegenwart, S. 42772. Bachmeier, Wirtschaftspopulismus, S. 104 f. Bachmeier, Wirtschaftspopulismus, S. 106. Bachmeier, Wirtschaftspopulismus, S. 109. Bachmeier, Wirtschaftspopulismus S. 109

526 ABM-Maßnahmen. Im Frühjahr entwickelte die Regierung Pläne mit sieben Mrd. D-Mark an zusätzlichen Mittel fur die Bundesanstalt für Arbeit 400000 Ostdeutsche aus der Arbeitslosigkeit in ABM, Fordbildungsmaßnahmen und bezuschusste Arbeitsverhältnisse zu bringen. Noch im Jahr zu vor waren die ABM maßnahmen zurückgeführt worden. Damals war entschieden worden, ABM-Projekte, wenn möglich, in der gewerblichen Wirtschaft zu realisieren, wodurch allein in Sachsen 400 000 ABM-Stellen entfallsen waren. Im Februar 1998 wurde diese Regelung durch Weisung an die Arbeitsämter weitgehend rückgängig gemacht. 2592 Blüm stellte den Arbeitsämtern zusätzlich einen Überziehungskredit zur Verfügung. Die Mittel aus dem Kredit konnten nur für Vorhaben abgerufen werden, die noch 1998 realisiert würden. 2593 Der ostdeutsche Arbeitsmarkt wurde mit Hilfe der öffentlichen Beschäftigung bis zum August um 120 000 Personen entlastet und die Arbeitslosigkeit bei leichter natürlicher Erholung auf 4,075 000 gesenkt. 2594 Im Wahlkampf überraschte Schröder mit der Aufnahme des weitgehend unbekannten Jost Stollmann für die Position des Wirtschaftsministers in seinem Schattenkabinett. Stollmann gab der SPD den Anstrich von Modernität. Seine Firma Compunet war mit 3000 Angestellten und einem Umsatz von 1,73 Mrd. D-Mark Deutschlands größter EDVDiensdeister. Stollmann erklärte, er wolle auf „Markt anstatt auf Konsolidierung" setzen. Seine Bemerkung, er wollte, nie Politiker werden und er werde nie Politiker werden, zeigt, dass seine Berufung zwar Offendichkeitswirksam war, aber politisch bedeutungslos bleiben musste. 2595 Stollmann, der selbst bis 1986 CDU-Mitglied war, meinte, Kohl sei für ihn ein hervorrangender Staatsmann, aber Schröder verkörpere für ihn die Moderne. 2596 Diesmal konnte auch die wirtschaftliche Aufwärtsbewegung und die Moderate Entspannung auf dem Arbeitsmarkt die Regierung nicht retten. Die Ostasienkrise wirkte sich kaum auf die deutsche Wirtschaft aus. „Die Wirtschaftliche Aufwärtsbewegung hat seit Jahresanfang 1998 wieder an Fahrt gewonnen, gleichzeitig ist ihre Basis breiter geworden." 2597 Schröder beanspruchte den Aufschwung für sich und begründete ihn mit der optimistischen Erwartung seines Wahlsieges. 2598 In der ZDF-Sendung „Was nun...?" antwortete Schröder: „Der Aufschwung, den wir jetzt haben, ist mein Aufschwung." Damit zog Schröder viel Kritik auf sich. Nicht nur die Union sprach von „Märchenstunde" und nannte Schröder einen .Angeber", auch die Wirtschaftsverbände warfen Schröder Überheblichkeit vor und die Medien kommentierten diese Äußerungen durchgehend negativ. 2599 Kurz vor der Bundestagswahl sorgte Familienministerin Claudia Nolte mit ihrer Aussage über die Erhöhung der Mehrwertsteuer für Aufregung. Kohl nannte ihre Äußerung eine Torheit. Waigel erklärte: „Wir planen keine Mehrwertsteuererhöhung." Die Erhöhung

2592 2593 2594 2595 2596 2597 2598 2599

Der Spiegel, Nr. 15/52, 6. April 1998, S.76 Der Spiegel, Nr. 34/52, 17. August 1998, S. 83 ff. Die Zeit, Nr. 29/53, 3. Juli 1998, S. 19. Der Spiegel, Nr.26/52, 22. Juni 1998, S. 26 f. Der Spiegel, Nr. 27/52, 29. Juni 1998, S. 26 ff. Monatsberichte, Juni, S. 6 ff. Bachmeier, Wirtschaftspopulismus, S. 109. Bachmeier, Wirtschaftspopulismus, S. 96.

527 der Mehrwertsteuer war allerdings integraler Bestandteil der Reformvorhaben und daher längst in alle Vorhaben der Regierung einkalkuliert. 2600 Bei den Wahlen zum 14. Deutschen Bundestag am 27. September 1998 erzielte die Union mit 35,2 Prozent ihr schlechtestes Ergebnis seit 1949. Die SPD erreichte 40,9 Prozent und die Grünen 6,7 Prozent, die FDP erreichte mit 6,2 Prozent klar den Einzug in den Bundestag. Die PDS schaffte 5,1 Prozent. Von 328 Wahlkreisen gewann die SPD 212. Besonders stark verlor die C D U in den neuen Bundesländern. Bei der zeitgleich stattfindenden Wahl in Mecklenburg Vorpommern gewann die SPD 4,8 Prozent hinzu, wohingegen die C D U 7,5 Prozent verlor. Die bisherige Opposition war voller Euphorie als der zukünftige Kanzler Gerhard Schröder am Wahlabend verkündete: „Nach 16 Jahren ist die Ära Kohl zu Ende." 2 6 0 1 Der SPIEGEL beschrieb die politische Perspektive der kommenden Bundesregierung bereits im Sommer 1998 wie folgt: „Gleichfalls unbestritten ist, daß das Land ein Reformwerk von historischem Ausmaß braucht, das so ziemlich jeden deutschen Lebenslauf gründlich umkrempeln wird. Und noch eins ist sicher: Je später die Regierung damit anfängt, desto schmerzlicher werden die Folgen sein." 2 6 0 2 Die Agenda der Regierung sah allerdings erst einmal anders aus und auch die Erwartung der Wähler. Schließlich war die neue Regierung gewählt worden, weil sie Reformen ohne schmerzhafte Einschnitte und die Rücknahme bereits erfolgter Einschnitte versprochen hatte. Noch im Dezember 1998 löste die neue Regierung ihr Wahlversprechen ein und nahm die 1996 von Kohl eingeführte Lockerung des Kündigungsschutzes und die Kürzung der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall zurück. 2603 Wolfgang Donsbach ist der Ansicht, die Bundestagswahl 1998 sei in einem „virtuellen Bereich" gefuhrt und gewonnen worden: „Die SPD gewann die Wahl, weil sie hinreichend viele Wähler davon überzeugen konnte, sie habe die geeigneten Konzepte, um gleichzeitig Arbeitsplätze und gerecht verteilten „Wohlstand fur alle" zu schaffen. Die Rhetorik bestand darin, Maßnahmen zu propagieren, die ohne Folgen fur Einkommen, Anforderungen und Sozialleistungen sind." 2 6 0 4 Dies sind sicher gewichte, aber doch nicht die einzigen Gründe für die Wahlniederlage der Koalition. Nach 16 Jahren Regierung waren die persönlichen Gemeinsamkeiten in der Koalition aufgebraucht und die Regierung hatte sich in dieser Legislaturperiode verhoben. Sie hatte zu viele Aufgaben gleichzeitig bewältigen müssen und konnte keine sichtbaren Erfolge vorweisen. Mit dem Beginn des Wahljahres 1998 war, die Arbeitslosigkeit auf eine Rekordhöhe gestiegen, obwohl Kohl noch 1997 die Halbierung der Arbeitslosigkeit versprochen hatte. Der Rentenbeitragssatz hatte entgegen allen Versicherungen und Ankündigungen 20 Prozent überstiegen. Der demographische Faktor und die jahrelange Debatte über die Sicherheit der Renten hatten die Rentner verunsichert. Die Steu-

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Der Spiegel, Nr. 39/52, 21. September 1998, S. 26. Archiv der Gegenwart, S. 43085 ff. Der Spiegel, Nr. 30/1998, 20. Juli. 1998, S. 22 ff. Bachmeier, Wirtschaftspopulismus, S. 106. Noelle-Neumann, Kampa, S. 75.

528 erreform, die eine Jahrhundertreform werden sollte, war am Nein der Sozialdemokraten gescheitert, war aber mit der Ankündigung einer ganzen Reihe von Zumutungen wie etwa der Rentenbesteuerung verbunden gewesen. Seit Sommer 1996 hatte die Bundesrepublik die größten Protestveranstaltungen aus sozialpolitischen Gründen in ihrer Geschichte gesehen. Der Aufschwung Ost war ins Stocken geraten und die Art der Wirtschaftsfbrderungen in den neuen Bundesländern in Verruf. Die Erhöhung der Mehrwertsteuer verärgerte die Bürger mehr als die Senkung des Solidaritätszuschlages sie erfreute. Kohl und Waigel war es mit Ach und Krach gelungen die Maastrichtkriterien zu erfüllen, aber über die Abschaffung der D-Mark waren die Deutschen alles andere als begeistert. Die Franzosen hatten der neuen europäischen Währung in einem Referendum nur sehr knapp zugestimmt; es war ein Glück für die Bundesregierung, dass sie nicht gezwungen war, auch die Deutschen in einem Referendum zu befragen. Dem Erfolg, das 3,0-Kriterium einzuhalten, war eine Auseinandersetzung mit der Bundesbank um die Goldreserven vorausgegangen, der die Glaubwürdigkeit des Projektes nicht gerade vergrößert hatte. Die Koalition hatte sich einen jahrelangen öffentlichen Kleinkrieg geleistet. Schäuble hatte der FDP öffentlich mit dem Ende der Koalition und ihrem politischen Ende gedroht, Blüm und Biedenkopf hatten sich gegenseitig mangelnde Seriosität und Täuschung unterstellt und waren mit zwei sich widersprechenden Konzepten aufgetreten. Blüm und Waigel hatten parallel zwei Reformen entwickelt, die miteinander schwer vereinbar waren. Blüm hatte daraufhin Kohl in der Offendichkeit brüskiert und sich in der Koalition durchgesetzt. Die Versuche Subventionen abzubauen, die Lohnfortzahlung einzuschränken waren an den Massenprotesten der Gewerkschaften gescheitert. Vor diesem Hintergrund wäre ein Wahlerfolg im Jahr 1998, nachdem schon 1994 die Regierung nur knapp gewonnen hatte, ein ganz außerordentlicher Vorgang gewesen.

Schluss Von 1969 bis 1998 spannt sich ein weiter Rahmen. Mit dem „Machtwechsel" übernahm die sozialliberale Regierung die Macht und versprach weitgehende Reformen. Ihre Anhängerschaft war entschieden der Meinung, dass die Gesellschaft durch richtige Planung optimiert werden könnte. Welch andere Haltung herrschte hingegen 1998. Als die Regierung abgewählt wurde, hatte die Arbeitslosigkeit die Fünf-Millionen-Grenze erreicht. Auch der Begriff der Reform hatte einen grundsätzlichen Wandel erfahren. Zu Beginn des Untersuchungszeitraums hieß Reform die Verbesserung der Gesellschaft durch die Ausweitung staatlicher Leistungen und aktive Eingriffe des Staates in Wirtschaft und Gesellschaft. Am Ende bedeutete Reform Revision der Reformen, die von der sozialliberalen Koalition auf den Weg gebracht worden waren. Waren zum Beispiel bei der großen Rentenreform 1972 zusätzliche Leistungen in der Größenordnung von 200 Milliarden D-Mark beschlossen worden, so sah der von der Regierung Kohl beschlossene „demographische Faktor" die Kopplung der Leistungen für die Rentner an die demographische Entwicklung vor. Und dies bedeutete Kürzungen. Von der Reformeuphorie der ersten Jahre der sozialliberalen Koalition war nichts übrig geblieben.

529 In diesen drei Jahrzehnten gab es massive Veränderungen. Rückblickend könnte man sagen, dass die wirtschaftliche und soziale Lage Ende der sechziger Jahre ein Idealzustand war. Bald nach dem Machtwechsel änderten sich die Verhältnisse grundlegend. Die Maßstäbe haben sich unter dem Eindruck der Entwicklungen dieser Zeit drastisch gewandelt. Die Defizite und Arbeitslosenzahlen von damals sind kein Vergleich zu den Millionen von Arbeitslosen, die die Arbeitsmarktstatistiken in den Jahrzehnten danach aufwiesen, und den jährlichen zweistelligen Defiziten des Bundeshaushalts. In der Mitte der siebziger Jahre trat das Ende des Wirtschaftswunders ein. Bis dahin blieb die Wohlstands- und Beschäftigungsmaschine weitgehend in Takt. Noch in den ersten Jahren der sozialliberalen Koalition hatte der Wirtschaftsboom den Arbeitsmarkt leer gefegt, sodass immer mehr Gastarbeiter angeworben wurden. Trotz wachsender Ausgaben war die Neuverschuldung des Bundes niedrig, denn den wachsenden Ausgaben standen wachsende Steuereinnahmen gegenüber. Doch dieser Boom trug bereits den Keim der kommenden Krise in sich. Durch das internationale Währungssystem fester Wechselkurse floss der Bundesrepublik vor allem aus dem Dollarraum Liquidität zu, die einerseits den Wirtschaftsboom beflügelte, auf der anderen Seite aber auch die Inflation vorantrieb. Die schnell steigenden Preise hebelten die Tarifverträge aus, führten zu wilden Streiks und wachsenden Lohnforderungen der Gewerkschaften, die unter dem Druck radikaler Kräfte an der Basis standen. Die Unternehmen gaben die steigenden Kosten wiederum an die Konsumenten weiter. Diese „Lohn-Preis-Spirale" konnte nur fortgesetzt werden, solange der Zufluss von Liquidität anhielt. In diesem Zusammenhang musste sich aber auch die Geldentwertung beschleunigen, was wiederum zwangsläufig zu dem Punkt führen musste, an dem diese Entwicklung in die Krise fuhren würde. Der SPD-Wirtschaftsminister Karl Schiller hatte diese Entwicklung frühzeitig erkannt und versuchte diesen Prozess durch die Anhebung und schließlich durch eine Freigabe der Wechselkurse zu bremsen. Doch Schiller war durch die Doppelfunktion als Wirtschaftsund Finanzminister überfordert und verlor schließlich in der Wechselkursfrage auch den Rückhalt des Bundeskanzlers. Hinzu kam, dass es Schiller - wie schon seinem Vorgänger Alex Möller — als dem fur den Bundeshaushalt Verantwortlichen nicht gelang, die von ihm erkannten politischen Ziele gegenüber seinen ausgabefreudigen Kabinettsfreunden durchzusetzen. Schließlich stürzte Schiller, als sich Helmut Schmidt und Bundesbankpräsident Klasen auf Devisenbewirtschaftung statt auf freie Wechselkurse festgelegt hatten. Die Politik der Devisenbewirtschaftung, die Helmut Schmidt als Schillers Nachfolger umzusetzen versuchte, war zum Scheitern verurteilt. Der enorme Devisenzustrom aus dem Dollarraum konnte nur durch die Freigabe der Wechselkurse gestoppt werden. Die Freigabe der Wechselkurse gab der Bundesbank schließlich ihren Handlungsspielraum zurück. Es setzten sich jene Kräfte durch, die unter der Führung von Otmar Emminger, dem Vizepräsidenten der Bundesbank, schon lang die Abkopplung vom internationalen Inflationszug gefordert hatten. Die Bundesbank ging als eine der ersten Zentralbanken der Welt zum Konzept der direkten Geldmengensteuerung über und setzte darauf, die

530 Geldentwertung durch Zinserhöhungen zu stoppen, was zweistellige Teuerungsraten wie in anderen westlichen Staaten verhinderte. Die Gewerkschaften passten ihre Tarifpolitik jedoch nicht schnell genug den neuen Rahmenbedingungen an. Sie ignorierten die Warnungen der Bundesbank und gingen bei ihren Forderungen weiter von zweistelligen Inflationsraten aus. Gerade der Streik im Öffentlichen Dienst im Frühjahr 1974, der nicht unwesentlich zu Brandts politischem Sturz beitrug, zeigte, dass Hardliner wie der ÖTV-Vorsitzende Heinz Kluncker nicht bereit waren, den neuen Gegebenheiten Rechnung zu tragen. So eilten die steigenden Löhne den jetzt langsamer ansteigenden Preisen voraus. Im Herbst 1974 führte das Zusammentreffen der allgemeinen Investitionsschwäche, rasant steigender Löhne mit dem vorübergehenden Wegbruch des Exportmotors als Folge der Ölkrise zu einer nicht erwarteten Entlassungswelle. In der folgenden Rezession verstärkten die Unternehmen ihre Rationalisierungsmaßnahmen. Besonders gering Qualifizierte, ältere, gesundheitlich beeinträchtigte Arbeitnehmer und Gastarbeiter waren von Endassung betroffen. Schon bald lag die Arbeitslosigkeit bei über einer halben Million und im Jahr darauf wurde die Millionengrenze überschritten. Dieses plötzliche Ende der Vollbeschäftigung löste eine heftige Debatte aus, ob es sich dabei um konjunkturelle oder strukturelle Arbeitslosigkeit handelte. Die Pessimisten - wie etwa der Staatssekretär im Wirtschaftsministerium Otto Schlecht —, die schließlich recht behalten sollten, prognostizierten aus demographischen Gründen fur die achtziger Jahre eine Arbeitslosigkeit von über zwei Millionen. Auch die Möglichkeit zur Rückkehr der von der Beschäftigungslosigkeit besonders stark betroffenen Gruppe der Gastarbeiter in ihre Heimatstaaten stand lange zur Diskussion, wurde aber nur zögernd ergriffen. Solch unterschiedlich orientierte Politiker wie der baden-württembergische Ministerpräsident Hans Filbinger und Arbeitsminister Walter Arendt gehörten zu denen, die diese Lösung zur Entlastung des Arbeitsmarktes favorisierten und die Familienzusammenführung ablehnten. Die Regierung Schmidt entfaltete bemerkenswerten Aktivismus. Sie setzte auf Milliarden schwere Konjunkturprogramme, um die Arbeitslosigkeit zu senken. Sie konnte keine dauernden Erfolge verzeichnen, die Arbeitslosigkeit blieb auf außerordentlich hohem Niveau. Mit der Gewöhnung an diesen Zustand trat in der Folgezeit sogar eine gewisse psychologische Entspannung ein. Befürchtete man in den siebziger Jahren, als die Arbeitslosenzahlen zum ersten Mal sechsstellig waren, noch eine Gefährdung der Demokratie und einen Rückfall in Weimarer Verhältnisse, so wurde inzwischen die Erfahrung gemacht, dass durch die Transferzahlungen des Sozial- und Versorgungsstaates die Massenarbeitslosigkeit nicht mehr die politische Sprengkraft besaß wie noch zu Zeiten der Weimarer Republik. Arbeitslosigkeit bedeutete in der Bundesrepublik eben nicht eine vergleichbare Armut. Der Sozialstaat wurde damit ebenso Teil der Lösung als auch Teil des Problems. Er verhinderte politische Radikalisierung, definierte jedoch auch ein festes Einkommensniveau, unterhalb dessen sich Arbeit für viele nicht mehr lohnte. Und mit dem Wegfall einfacher Tätigkeiten in der Industrie im Zuge der Rationalisierung wurde es fur gering Qualifizierte zunehmend schwerer, Arbeit zu Löhnen zu finden, die das vom Sozialstaat gesetzte Niveau erreichten.

531 So entstand durch das Zusammenspiel von Hochlohnpolitik, Rationalisierung und Sozialstaatsausweitung eine neue soziale Schicht, für die man den Begriff „Prekariat" gefunden hat. Diese Gruppe zeichnet sich dadurch aus, dass die Langzeitarbeitslosen zwar nicht im herkömmlichen Sinne arm, aber eben auf Transferzahlungen angewiesen sind und es selbst in wirtschaftlich guten Zeiten schwer haben, eine Beschäftigung zu finden. Schon Ende der siebziger Jahren sah sich die Politik vor die Alternative gestellt: Entweder hohe Arbeitslosigkeit - und damit verbunden hohe Sozialkosten - oder einen Niedriglohnsektor zu akzeptieren. Ein Niedriglohnsektor war damals jedoch politisch nicht gewollt und noch dreißig Jahre später ist diese Möglichkeit stark umstritten. Die Krise auf dem Arbeitsmarkt wirkte sich in Form hoher finanzieller Lasten auf die Verschuldung des Staates und die Belastung der Sozialsysteme aus. Da durch die steigende Arbeitslosigkeit die Ausgaben stiegen und das Aufkommen der Abgaben sank, mussten die Zuschüsse fiir die Bundesanstalt angehoben werden. Um diese Belastung abzuschwächen, konnte die Bundesregierung die Beiträge erhöhen und damit die Arbeit noch weiter verteuern, Leistungen streichen oder innerhalb der Sozialversicherungen umverteilen. Letzteres geschah in der Regel so, dass Reserven der einen Sozialversicherung zur Bewältigung der laufenden Kosten der anderen Sozialversicherung genutzt wurden. Mit der Verschiebung der Kosten ging eine Verschiebung der politischen Auseinandersetzung einher. So hatte die Krise der Rentenkasse in den siebziger Jahren die erste große Konfrontation mit den Ärzten zur Folge, da die Kosten der Rentenkasse zum Teil auf das Gesundheitssystem umgewälzt werden sollten. Die Belastungen des Bundeshaushalts erhöhten den Druck, an anderer Stelle zu sparen oder zusätzliche Schulden aufzunehmen. Die steigenden Staatsausgaben standen einer begrenzten Bereitschaft der Steuerzahler gegenüber, die steigenden Kosten zu tragen. Die Forderung, die Steuerbelastungen zu begrenzen, wurde zum politischen Dauerbrenner und zwang die Politik zum permanenten Nachbessern innerhalb des progressiven Steuersystems. Das Auseinanderklaffen von Einnahmen und Ausgaben führte 1975 zur großen Haushaltskrise, von der sich die Staatsfinanzen nie wieder erholten und an der schließlich die sozialliberale Koalition scheiterte. Helmut Schmidt trägt politisch die Hauptverantwortung für den Ubergang zu dauerhaften zweistelligen Defiziten. Er hielt Staatsschulden nicht für ein maßgebliches Problem — ebenso wenig wie Inflation. Seine Politik erhöhte die Belastung des Bundeshaushalts erheblich. Dabei bleibt undeudich, wo bei Schmidt ökonomische Uberzeugungen endeten und psychologisch-taktische Erwägungen begannen. Schmidt setzte ganz auf die öffendiche Inszenierung als „Krisenmanager" der Nation und zeigte wenig Neigung sich mit der Krise der Staatsfinanzen ernsthaft auseinanderzusetzen. Die Konjunkturprogramme hatten keinen nachhaltigen Erfolg. Allein schon aus praktischen Gründen war es kaum möglich, zielgerichtet die Konjunktur zu steuern. Durch die komplizierte Finanzverfassung der Bundesrepublik blieb der Versuch die Konjunktur zu beeinflussen schon im Ansatz stecken. Die Abstimmung von Bund, Ländern und Gemeinden, die notwendig gewesen wäre, um tatsächlich „Feinsteuerung" zu betreiben, fand nicht statt und war wohl auch nicht möglich. Die zur Verfügung gestellten Mittel

532 wurden entweder überhaupt nicht oder nicht rechtzeitig abgerufen, um Einfluss auf den Konjunkturverlauf nehmen zu können. Dass diese Politik die Verschuldung des Bundes beschleunigte, aber keinen mittel- oder langfristigen Effekt hatte, zeigt der Umstand, dass in den achtziger Jahren die Arbeitslosigkeit genau auf die zwei Millionen anstieg, die Mitte der siebziger Jahre prognostiziert worden waren. Dass die hohe Kreditaufnahme volkswirtschaftlich kontraproduktiv war, wird durch die Tatsache unterstrichen, dass Anfang der achtziger Jahre die Neuverschuldung für die Begleichung der Zinslast verwendet werden musste. Schon zu diesem Zeitpunkt war die Verschuldung also zum Selbsdäufer geworden, die den Handlungsspielraum der Politik einschränkte und nicht erweiterte. Das große Thema der achtziger Jahre wurde deshalb die Konsolidierung. Der erste Ansatz wurde noch von der sozialliberalen Koalition gemacht. Die sogenannte „Operation 1982" war eine große Sparanstrengung, die eine Zerreißprobe fur die sozialliberale Koalition bedeutete. Als sich herausstellte, dass diese längst nicht ausreichend gewesen war, um den Bundeshaushalt wieder in den Griff zu bekommen, war das Schicksal der sozialliberalen Koalition besiegelt. Die neue chrisdichliberale Bundesregierung und vor allem ihr Finanzminister Gerhard Stoltenberg unternahmen große Anstrengungen, um ihre Konsolidierungspolitik umzusetzen. Dabei trugen die zweistelligen Bundesbankgewinne zur Erfolgsbilanz der Regierung erheblich bei, die in diesem Umfang der sozialliberalen Koalition nicht zur Verfugung gestanden hatten. Die Folgen des Wegbruchs des Bundesbankgewinnes zum Jahresanfang 1988 auf die Haushaltspolitik demonstrierten, wie sehr der Sanierungserfolg der Bundesregierung mit diesen Zuflüssen stieg und fiel. Die Konsolidierung der achtziger Jahre ist deshalb als unvollkommen zu bezeichnen, da keine weitreichende Reform der Sozialsysteme in Angriff genommen wurde und auch in der Frage der Subventionen die Tendenz zur Ausweitung der Staatshilfen nicht gestoppt wurde. Es wurden sogar zusätzliche Subventionen für die Stahlindustrie und die Landwirtschaft beschlossen. Die von der Bundesregierung beabsichtigte sozialpolitische Signalwirkung des Vorruhestandes wurde mit dem Kampf der IG Metall für die 35-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich in Frage gestellt. Besonders familienpolitische Erwägungen nahmen einen dominanten Platz in der Regierungspolitik ein. Uberspitzt könnte man sagen, was für die SPD die Sozialpolitik war fur die Union die Familienpolitik, fur die sich so unterschiedliche Politiker wie Heiner Geißler und Franz Josef Strauß stark machten. Die Sorgen der Familienpolitiker waren allerdings nicht unbegründet. Seit Anfang der siebziger Jahre unterschritten die Geburtenraten die Bestandserhaltung. Damit lief das deutsche System der Altersvorsorge Gefahr, das Fundament zu verlieren. Darüber hinaus fürchteten konservative Kräfte um die „biologische Leistungsgemeinschaft", wie der bayerische Ministerpräsident Franz Josef Strauß es ausgedrückt hatte. Strauß hielt es fur sinnlos einem „sterbenden Volk konsolidierte Haushalte" zu hinterlassen. Durch steuerliche Entlastungen sollte diesem demographischen Trend entgegengewirkt werden. Allerdings behielten die Kritiker recht, die daran zweifelten, dass finanzpolitische Maßnahmen zu einer Erhöhung der Geburtenrate fuhren würden.

533 Erst die Steuerreform, die nach den Wahlen 1987 auf den Weg gebracht wurde, hatte allein wirtschaftspolitische und steuersystematische Ziele. Die Dauerfehde zwischen Sozial- und Wirtschaftsflügel der Koalition erreichte jedoch in den Koalitionsverhandlungen einen neuen Höhepunkt. Dies war nur der Anfang einer langen Auseinandersetzung um die beschlossene Steuerreform. Der Koalition war es nicht gelungen sich auf eine Gegenfinanzierung zu verständigen, sodass die Kritik stichhaltig war, die Regierung würde erst die „Bonbons verteilen" und später „die bitteren Pillen". Als die „bitteren Pillen" in Form eines Konzeptes zur Gegenfinanzierung schließlich präsentiert wurden, stürzte dies die Regierung Kohl in eine tiefe Popularitätskrise. Dennoch beweisen gerade die 1988 verabschiedeten Steuersenkungen sowie die Korrektur des Tarifverlaufs, dass weitreichende Reformen möglich sind — wenn das politische Führungspersonal bereit ist, persönliche Risiken zu akzeptieren. Denn immerhin hätte dieses Stimmungstief Helmut Kohl fest die Kanzlerschaft gekostet. Dessen ungeachtet war der Zeitplan der Steuerreform ideal. Da die Steuerreform unmittelbar nach der Bundestagswahl 1987 in Angriff" genommen worden war, konnte ihre Umsetzung noch vor der Bundestagswahl 1990 erfolgen. Der Regierung bot sich so die Möglichkeit, von der politischen Dividende zu profitieren. Die Steuersenkungen gingen schließlich einher mit einem starken wirtschaftlichen Aufschwung, der auch den Arbeitsmarkt endastete. Die Wirtschaftspolitik der Regierung Kohl waren keine „Reagonomics" - Steuerendastung durch exzessive Kreditaufnahme. Vielmehr hatte Stoltenberg eine symmetrische Finanzpolitik verfolgt, bei der durch die Endastung des Bundeshaushalts die Spielräume fur die Endastung der Steuerzahler geschaffen werden sollten. Im Großen und Ganzen ging diese Politik auf, auch wenn sie der Regierung große Probleme bereitete. Steuerreformen sind für eine Bundesregierung fast immer ein politisches Risiko. Noch bevor die Bürger von der Endastung profitieren, fuhrt die Auseinandersetzung um die Reform und das negative Echo in der öffendichen Meinung dazu, dass die Popularität der Regierung leidet und die Kritik in den eigenen Reihen wächst. Es war just in dem Augenblick, als die Bundesregierung ab dem Herbst 1989 in Form der fühlbaren Steuerendastung und des wirtschaftlichen Aufschwungs die Früchte ihrer Anstrengungen hätte ernten können, als das fur die meisten Unfassbare geschah und die Berliner Mauer fiel. Die politische Revolution in der D D R öffnete ein neues Kapitel in der deutschen Geschichte, aber auch in dem Drama um Staatsverschuldung, Arbeitslosigkeit, Haushaltssanierung und Sozialreformen. Die Vereinigung zweier so unterschiedlicher Volkswirtschaften stellt wohl einen in der Wirtschaftsgeschichte einmaligen Akt dar. Das Grunddilemma, das im Jahr der Einheit nur wenige erkannten, bestand darin, dass die Übertragung des westdeutschen Tarif- und Transfersystems, das schon für die alte Bundesrepublik erhebliche Schwierigkeiten mit sich gebracht hatte, für den Produktionsstandort Ostdeutschland verheerend wirken musste. Die Übertragung dieses Systems auf eine weitgehend gelähmte Volkswirtschaft muss als die eigendiche Ursache der anhaltend hohen Arbeitslosigkeit in den neuen Ländern betrachtet werden. Bemerkenswert ist die Kompromisslosigkeit, mit der die Angleichung des Systems von Gewerkschaften und Sozialpolitikern in einer Mischung aus ökonomischem Unwissen und politischer Rücksichtslosigkeit durchgesetzt wurde. Bei diesen zentralen Entschei-

534 düngen dominierten westdeutschen Partikularinteressen, die allerdings der ostdeutschen Erwartungshaltung sehr entgegen kamen. Unter der Führung von Franz Steinkühlers IG Metall wurde ein Stufentarifvertrag fur die neuen Bundesländer ohne Beteiligung einer handlungsfähigen Arbeitgebervertretung in Ostdeutschland durchgesetzt, der die Produktivität der ostdeutschen Betriebe unberücksichtigt ließ. Eine Koalition aus C D U Sozialpolitikern, der letzten DDR-Regierung und der SPD brachte die Übertragung des westdeutschen Sozialstaates in die neuen Bundesländer ohne Abstriche auf den Weg. Die Währungsunion spielte hingegen fur die zukünftige Wettbewerbsfähigkeit Ostdeutschlands eine untergeordnete Rolle, da durch sie nur das Anfangsniveau der Lohn- und Produktionskosten bestimmt wurde und schon die ersten Tarifverträge Lohnsteigerungen festlegten, die darauf abzielten in möglichst kurzer Zeit das Westniveau zu erreichen. Ein anderer Wechselkurs hätte daran wenig geändert. Deshalb beschränkte sich die Wirkung der Währungsunion auf die Geldpolitik. Die Ausweitung der Geldmenge durch die Währungsunion erhöhte den Preisauftrieb und die Geldentwertung, was die Bundesbank dazu veranlasste mit hohen Zinsen gegenzusteuern. Dies verschärfte die Rezession von 1993, führte aber auch zur Uberwindung der „Wiedervereinigungskrise" der D-Mark und zur Wiederherstellung des Vertrauens in die deutsche Wahrung, das zeitweise gelitten hatte. Die Jahre nach 1990 zerfallen in eine Phase bis 1995 und eine zweite Phase bis 1998. Während der ersten Phase war die Politik der Bundesregierung fast völlig von der Einbeziehung der neuen Bundesländer in die Finanzverfassung und von der Organisation der Übergangsfinanzierung absorbiert. Zu dieser Übergangsphase gehörten die Abwicklung der Nebenhaushalte, die Übertragung des westdeutschen Sozial-, Tarif- und Rechtssystems in die neuen Bundesländer, die Auseinandersetzung um die Eigentumsfrage und die Privatisierung der ostdeutschen Wirtschaft durch die Treuhand. Diese Phase war gekennzeichnet durch den totalen Zusammenbruch des ostdeutschen Wirtschaftsstandortes, was eine Massenarbeitslosigkeit in den neuen Bundesländern zur Folge hatte und hohe Sozialtransfers erforderlich machte. Finanziert wurde diese Übergangsphase durch eine Mischfinanzierung aus zusätzlicher Kreditaufnahme und dem Rückgriff auf die Reserven der Sozialversicherungen und durch Steuererhöhungen. Mit dem sogenannten Solidarpakt vom Herbst 1993 wurden die Weichen fur den Abschluss dieser Phase gelegt. Die Haupdast trugen der Bund und die Sozialkassen, wohingegen die westdeutschen Länder ihre Interessen weitgehend durchsetzen konnten. Die kürzere Phase von Beginn des Jahres 1995 bis zum Beginn des Wahljahres 1998 war gekennzeichnet durch ein neues Phänomen, dem sich die Regierung stellen musste. Es handelte sich um einen wirtschaftlichen Aufschwung, der jedoch ohne Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt blieb. Die Kosten für die hohe Arbeitslosigkeit kollidierten mit dem Ziel der Sanierung der Sozialsysteme und der Staatsfinanzen. Diese Phase zerfällt wieder in zwei Abschnitte. Bis zum Frühjahr 1996 versuchte Kohl das Land im Konsens mit den Gewerkschaften zu reformieren. Da sich aber herausstellte, dass dieses „Bündnis fur Arbeit" nicht von Erfolg gekrönt sein konnte, entschied sich Kohl nach den Landtagswahlen im Frühjahr 1996 die Reformen auch in Konfrontation mit den Gewerkschaften zu verwirklichen. Diese letzten zwei Jahre kosteten Kohl die Mehrheit und führten zur Wahlniederlage von 1998.

535 Die Regierung ist am Ende nicht wegen des „Reformstaus" gescheitert; sie war im Kampf um die auf den Weg gebrachten Reformen erschöpft. Die Regierung verabschiedete eine Rentenreform, eine Gesundheitsreform und die Einschränkung der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, eine Reform der Sozialhilfe und die Einschränkung der Frühverrentung. Ferner sah sie sich zu erheblichen Sparanstrengungen genötigt, um das Maastrichtkriterium von 3,0-Prozent Neuverschuldung zu erreichen und die Senkung des Solidaritätszuschlages. Die in Angriff genommene große Steuerreform scheiterte allerdings an der Ablehnung der SPD im Bundesrat. Die Kritik an der Regierung Kohl war von Seiten der Opposition aus zwei Richtungen vorgetragen worden. Da waren diejenigen, denen die Reformen nicht weit genug gingen und diejenigen, die schon in den umgesetzten Reformen einen sozialen Kahlschlag erblickten. Gerhard Schröder versuchte nun mit seinem Slogan von Innovation und sozialer Gerechtigkeit beide Ströme auf seine Mühlen zu leiten, was ihm unter der Uberschrift „Neue Mitte" den Sieg bei der Bundestagswahl 1998 brachte. Aber eben an diesem Widerspruch zwischen Reformansprüchen und Bestandswahrung zerbrach schließlich die rot-grüne Bundesregierung und zerbrach die SPD. Dabei glich die Situation im Sommer des Jahres 2005 in vielerlei Hinsicht der Situation im Herbst 1982. Die SPD-Führung scheiterte daran, dass sie die notwendigen Einschnitte der Partei nicht vermitteln konnte. In 16 Jahren Opposition hatte die SPD kein tragfdhiges Programm als künftige Regierungspartei ausgearbeitet, wie sie mit der radikal veränderten Lage seit Mitte der siebziger Jahre umgehen sollte. In den siebziger Jahren vollzog sich im Zuge der untersuchten Veränderungen ein Bruch, der nicht nur einen neuen Rahmen fur die Wirtschafts-, Finanz-, Sozial- und Gesellschaftspolitik setzte, sondern auch den Status der Politik dauerhaft veränderte. Die Politik konnte nicht mehr aus dem Vollen schöpfen und musste die Bürger in ihren Erwartungen, die die Parteien selbst geschürt hatten, enttäuschen. Die Jahre bis 1975 sind deshalb Schlüsseljahre in der Geschichte der Bundesrepublik. Denn die Rahmenbedingungen fur die Politik veränderten sich grundlegend. Von nun an war die Bundesrepublik nicht mehr das Land des Wirtschaftswunders. In Zeiten knapper Kassen - und durch die wachsende Belastung des Haushalts durch Zinsen und Zuschüsse an die Sozialsysteme sind die Kassen fast immer knapp - reduziert sich die Möglichkeit gesellschaftspolitisch zu „gestalten" ganz erheblich. Schon die „Reformpolitik" der Regierung Brandt war mehr Mythos als Wirklichkeit, Helmut Schmidt half sich aus der Misere zunehmend enger werdender Handelsspielräume, indem er sich der ÖfFendichkeit als „Macher" präsentierte, also aus der Not eine Tugend machte, auch wenn er faktisch kaum Erfolge aufweisen konnte. Die Regierung Kohl setzte die Konsolidierung auf ihre Agenda, stieß damit jedoch bald an politische Grenzen. Bis heute haben die Parteien keine Antwort darauf gefunden, wie sie auf die Herausforderung von Staatsverschuldung und Massenarbeitslosigkeit angemessen reagieren sollen, ohne die Zustimmung in der Bevölkerung zu verlieren. Helmut Kohl wurde vorgeworfen, dass er angesichts der nationalen Herausforderung keine „Blut-Schweiß-und-Tränen-Rede" gehalten habe. Die organisierten Interessen lassen sich aber von moralischen Appellen wenig beeindrucken, denn auch diese stehen unter dem Druck, ihre Daseinsberechtigung

536 gegenüber ihrer Basis rechtfertigen zu müssen. Es gibt Beispiele dafür, dass Politiker die Bevölkerung fiir unpopuläre Entscheidungen gewinnen konnten. Karl Schiller konnte nach 1969 der Öffentlichkeit vermitteln, dass eine Aufwertung der D-Mark richtig war. Kohl und Stoltenberg konnten die Mehrheit der Wähler vor den Bundestagswahlen 1983 überzeugen, dass die Staatsverschuldung einen Konsolidierungskurs dringend notwendig machte. Dem stehen aber genug Beispiele gegenüber, die zeigen, dass gerade das Verschweigen der unangenehmen Realität vor den Wahlen zur politischen Kultur geworden ist. Vor den Bundestagswahlen 1976 verschwieg die Regierung Schmidt wissentlich die kommenden Lasten fiir die Rentenversicherung, was als „Rentenbetrug" in die Geschichte einging. Vor den Bundestagswahlen 1990 stellte die Regierung die Lage der neuen Bundesländer in rosigem Licht dar und verschwieg die Notwendigkeit für einen Lastenausgleich zwischen neuen und alten Bundesländern, was als „Steuerlüge" in Erinnerung geblieben ist. Dies fuhrt uns zu der Frage nach dem persönlichen Faktor, also inwieweit die Kanzler der Wirtschaftspolitik ihren Stempel aufdrücken konnten. Willy Brandt überließ die Wirtschaftspolitik weitgehend seinen Fachministern und hörte in der Regel auf ihren Rat. Er zeigte auf diesem Gebiet kein Engagement. Brandt stützte Schiller auch bei unpopulären Entscheidungen, bis er ihn unter dem Druck der Mehrheit des Kabinetts fallen lassen musste. Auch mit dem liberalen Wirtschaftsminister Friderichs arbeitete Brandt vertrauensvoll zusammen. Schmidt zog die Wirtschaftspolitik an sich, um eigene Vorstellungen durchzusetzen und nutzte sie, um sich als „Weltökonom" in Szene zu setzen. Die keynesianische Konjunkturpolitik im Innern und die Gipfeltreffen auf globaler Ebene waren die wichtigen Elemente seiner Politik. Der Aktionismus, der damit verbunden war, schuf in der Bevölkerung Vertrauen und konnte sogar das Bild von einem „WeltwirtschaftsMessias" entstehen lassen (SPIEGEL 27/30) Helmut Kohls Führungsstil folgte einer mittleren Linie zwischen dem zurückhaltenden Brandt und dem alles an sich reißenden Schmidt. Wie Brandt überließ er die Ausgestaltung der Wirtschaftspolitik den Fachministern, anders als dieser schaltete er sich aber entschlossen ein und zog die zentralen Entscheidungen an sich, wenn ihm dies fur den Erfolg der Regierung und zur Durchsetzung zentraler Projekte geboten schien. Es ist augenfällig, wie sehr der Graben zwischen den Möglichkeiten der handelnden Personen und den Erwartungen, die auf sie gerichtet waren und die sie oft selbst erweckt hatten, Enttäuschungen hervorrufen musste. Die Bundesregierung trägt die Verantwortung und setzt sich auch selbst als Gestalter der Wirtschaftspolitik in Szene. Dies verschleiert aber die Tatsache, dass die Regierung auf viele Entwicklungen im Positiven wie im Negativen nur begrenzt Einfluss ausüben kann. Der Einfluss der Bundesregierung beschränkt sich auf die Bundesebene, die Länder und Gemeinden verfolgen ihre eigenen Interessen. Die Länder haben mit dem Bundesrat ein starkes Instrument, um dem Bund Zugeständnisse abzutrotzen. Die Geldpolitik der Bundesbank und die Tarifpolitik setzen wirtschaftliche Rahmenbedingungen fiir Inflation und Beschäftigung, auf die die Bundesregierung oft nur reagieren, sie aber nicht bestimmen kann. Der Versuch, die Tarifparteien in die Wirtschaftspolitik in Form der konzertierten Aktion einzubeziehen, war nicht von Erfolg gekrönt. Ein weiterer schwer berechenbarer Akteur war das Bundesverfassungsgericht, das

537 Vorgaben aus der Verfassung ableitet, aber die Umsetzung der Regierung überlässt. Hinzu kommen die Interessen der Parteien und damit verbunden die Gegensätze innerhalb der Regierungskoalition. Dies lässt den Prozess wirtschaftspolitischer Entscheidungsfindung zu einem permanenten politischen Kleinkrieg werden, der umso frustrierender ist, je weniger es zu verteilen gibt. Diese politische Auseinandersetzung läuft selten auf einen „großen Wurf" hinaus, sondern auf viele kleine Kompromisse. Finanzpolitische Kompromisse werden allzu oft auf Kosten der Zukunft erreicht, denn zusätzliche Verschuldung ist sehr viel einfacher durchzusetzen als die Streichung von Ausgaben oder die Erhöhung von Abgaben. Ob diese Praxis durch die Errichtung von Verfassungshürden wie der Schuldenbremse unterbunden werden kann, ist mehr als fraglich. Was kurz- und mittelfristig fiir die politischen Akteure eine politisch opportune Lösung zu sein scheint, trägt über Jahre hinweg zur Aufhäufung gewaltiger Lasten bei. Desto größer diese Lasten sind, umso tiefer müssen die Schnitte sein, die notwendig sind, um die aus ihnen resultierende Zinslast zu begleichen oder sogar Schulen abzubauen. Solche Einschnitte sind erfahrungsgemäß kaum durchzusetzen, ohne auf einen breiten Widerstand zu stoßen, der schwer zu überwinden ist. Trotz der an der Bundesrepublik geübten, oft unverhältnismäßigen Gesellschaftskritik, waren die letzten Jahrzehnte für die Bürger der Bundesrepublik ohne Zweifel insgesamt eine glückliche Epoche. Es war eine Epoche des Wohlstands und des - wenn auch unter den Spannungen des Kalten Krieges - dauernden Friedens. Doch das Bewusstsein für das im Vergleich zur Vergangenheit außergewöhnliche Maß an Sicherheit und Wohlstand ging in dem Maße verloren, in dem dieser Zustand zur Normalität wurde. Unzufriedenheit machte sich breit und die Anspruchshaltungen gegenüber Staat und Wirtschaft überschritten oft genug die Grenze zur Maßlosigkeit. Zu einem Zeitpunkt, als die „soziale Frage" zum ersten Mal in der Geschichte weitgehend gelöst war, wurde die Notwendigkeit von Gesellschafts- und Reformpolitik wieder entdeckt und mit den finanzpolitischen Konsequenzen der neuen Anspruchshaltung die Grundlage fur neue harte Verteilungskonflikte in der Zukunft gelegt. Der in den siebziger Jahren begonnene Marsch in die Staatsverschuldung war für das politische und soziale Gefüge der Bundesrepublik folgenreicher als der „Marsch durch die Institutionen" der 68er. Um am Ende dieser Arbeit noch einmal auf das Bild des Mythos von Sisyphos zurückzukommen, das schon in der Einleitung Verwendung fand: Der Fels, der den Hang hinauf gerollt werden muss, wurde mit jedem Konjunkturprogramm, jeder zusätzlichen Sozialleistung als Folge der steigenden Zinslasten immer größer und schwerer. Ob am Ende ein Punkt erreicht werden wird, an dem die Sanierung wegen des Widerstandes der wachsenden Zahl der von Sparmaßnahmen Betroffenen und der Interessengruppen undurchführbar wird oder ob in kommenden Krisensituationen letzdich doch die Einsicht in die Notwendigkeit den Sieg davon trägt, bleibt eine offene Frage.

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2. Zeitungen und Zeitschriften Bild, Der Arbeitgeber, Der SPIEGEL, Die Zeit, Der Städtetag, Die Welt, Deutsche Apotheker Zeitung, Frankfurter Allgemeine Zeitung, Gewerkschaftliche Monatshefte, Manager Magazin, Neue Zürcher Zeitung, Süddeutschte Zeitung, WIRTSCHAFTSWOCHE, Westdeutsche Allgemeine Zeitung, WSI-Mitteilungen,

3. Sonstige Quellen Archiv der Gegenwart, Finanzausschussdes Bundestages, Kurzprotokolle. Finanzberichte des Bundesministeriums fur Finanzen, Haushaltsausschusses des Bundestages, Kurzprotokolle Jahrbuch des Statistischen Bundesamtes Jahresgutachten des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung. Monatsberichte der Deutschen Bundesbank. Bundesparteitage der Chrisdich Demokratischen Union Deutschlands, Niederschriften. Verhandlungen des Deutschen Bundestages, Stenographische Berichte.

543 3. Die verwendeten Ausgaben der Wochenzeitschriften im Überblick DER SPIEGEL; DIE ZEIT und WIRTSCHAFTSWOCHE 1969 Der Spiegel, Nr. 49/23, 1. Dezember 1969 Der Spiegel, Nr. 50/23, 8. Dezember 1969 Der Spiegel, Nr. 15. Dezember 1969 Der Spiegel, Nr. 53/23, 29. Dezember 1969

1970 Der Volkswirt, Nr. 2/24, 9. Januar 1970 Der Volkswirt, Nr. 3/24,16. Januar 1970 Der Volkswirt, Nr. 9/24, 27. Februar 1970 Der Volkswirt, Nr. 9/24, 27. Februar 1970 Der Volkswirt, Nr. 13/24, 26. März 1970 Der Volkswirt, Nr. 14/24, 3. April 1970 Der Volkswirt, Nr. 18/24, 30. April 1970 Der Volkswirt, Wirtschaftswoche, Nr. 29/24,17 Juli 1970 Wirtschaftswoche/Der Volkswirt, Nr. 48/24, 27. November 1970 Der Spiegel, Nr. 19. Januar 1970 Der Spiegel, Nr. 4/24,19. Januar 1970 Der Spiegel, Nr. 7/24, 9. Februar 1970 Der Spiegel, Nr. 8/24,16. Februar 1970 Der Spiegel, Nr. 9/24, 23. Februar 1970 Der Spiegel, Nr. 40/24, 28. September 1970 Der Spiegel, Nr. 42/24, 12. Oktober 1970 Die Zeit, Nr. 1/25, 26. Dezember / 2. Januar 1970 Die Zeit, Nr. 2/25, 9. Januar 1970 Die Zeit, Nr. 22/25, 29. Mai 1970 Die Zeit, Nr. 38/25, 18. September 1970. Die Zeit, Nr. 39/25.25. September 1970

1971 Wirtschaftswoche/Der Volkswirt, Nr. 3/25, 15. Januar 1971 Wirtschaftswoche/ Der Volkswirt, Nr. 4/25, 22. Januar 1971 Wirtschaftswoche/Der Volkswirt, Nr. 8/25, 19. Februar 1971

Wirtschaftswoche/Der Volkswirt, Nr. 9/25, 26. Februar 1971 Wirtschaftswoche/Der Volkswirt, Nr. 11/25, 12. März 1971 Wirtschaftswoche/Der Volkswirt, Nr. 12/25, 19. März 1971 Wirtschaftswoche/Der Volkwirt, Nr. 19/25,7. Mai 1971 Wirtschaftswoche/Der Volkswirt, Nr. 20/25,14. Mai 1971 Wirtschaftswoche/Der Volkswirt, Nr. 21/25, 21. Mai 1971 Wirtschaftswoche/DerVolkswirt/ Der Aktionär, Nr. 30/25, 23. Juli 1971 Der Spiegel, Nr. 10/25, 1. März 1971 Der Spiegel, Nr. 11/25, 8. März 1971 Der Spiegel, Nr. 12/25, 15. März 1971 Der Spiegel, Nr. 20/25, 10. Mai 1971 Der Spiegel, Nr. 22/25,24. Mai 1971 Der Spiegel, Nr. 28/25, 5. Juli 1971 Der Spiegel, Nr. 29/25, 12. Juli 1971 Der Spiegel, Nr. 33/25, 9. August 1971 Der Spiegel, Nr. 34/25, 16. August 1971 Der Spiegel, Nr. 36/25, 30. August 1971 Der Spiegel, Nr. 37/25,6. September 1971 Der Spiegel, Nr. 38/25, 13. September 1971 Der Spiegel, Nr. 40/25, 27. September 1971 Der Spiegel, Nr. 42/25,11. Oktober 1971 Der Spiegel, Nr. 43/25, 18. Oktober 1971 Der Spiegel, Nr. 44/25, 25. Oktober 1971 Der Spiegel, Nr. 47/25, 15. November 1971 Der Spiegel, Nr. 48/25, 22. November 1971 Der Spiegel, Nr. 49/25, 29. November 1971 Die Zeit, Nr. 4/26, 22. Januar 1971 Die Zeit, Nr. 5/25, 29. Januar 1971 Die Zeit, Nr. 5/27,4. Februar 1971 Die Zeit, Nr. 14/26, 2. April 1971 Die Zeit, Nr. 15/26,9. April 1971 Die Zeit, Nr. 16/26,16. AprÜ 1971 Die Zeit, Nr. 42/26, 15. Oktober 1971 Die Zeit, Nr. 47/26, 19. November 1971

544

1972 Wirtschaftswoche, Wirtschaftswoche, Wirtschaftswoche, Wirtschaftswoche, Wirtschaftswoche,

Nr. 4/26, 28. Januar 1972 Nr. 5/26, 4. Februar 1972 Nr. 17/26, 28. April 1972 Nr. 27/26, 7. Juli 1972 Nr. 32/26, 11. August 1972

Der Spiegel, Nr. 5/26, 24. Januar 1972 Der Spiegel, Nr. 7/26, 7. Februar 1972 Der Spiegel, Nr. 8/26, 14. Februar 1972 Der Spiegel, Nr. 16/26,10. April 1972 Der Spiegel, Nr. 17/26, 17. April 1972 Der Spiegel, Nr. 27/26,1. Mai 1972 Der Spiegel, Nr. 20/26, 8. Mai 1972 Der Spiegel, Nr. 21/26, 15. Mai 1972 Der Spiegel, Nr. 22/26, 22. Mai 1972 Der Spiegel, Nr. 28/26,3. Juli 1972 Der Spiegel, Nr. 29/26, 10. Juli 1972 Der Spiegel, Nr. 34/26, 14. August 1972 Der Spiegel, Nr. 35/26, 21. August 1972 Der Spiegel, Nr. 37/26,4. September 1972 Der Spiegel, Nr. 38/26, 11. September 1972 Der Spiegel, Nr. 39/26, 18. September 1972 Der Spiegel, Nr. 42/26, 9. Oktober 1972 Der Spiegel, Nr. 45/26, 30. Oktober 1972 Der Spiegel, Nr. 50/26, 4. Dezember 1972 Der Spiegel, Nr. 52/26, 18. Dezember 1972 Der Spiegel, Nr. 53/26, 25. Dezember 1972 Die Zeit, Die Zeit, Die Zeit, Die Zeit, Die Zeit, Die Zeit, Die Zeit,

Nr. 5/27, 4. Februar 1972 Nr. 9/27, 3. März 1972 Nr. 19/27, 12. Mai 1972 Nr. 20/27, 19. Mai 1972 Nr. 24/27,16. Juni 1972 Nr. 27/27, 7. Juli 1972 Nr. 28/27,14. Juli 1972

1973 Wirtschaftswoche, Wirtschaftswoche, Wirtschaftswoche, Wirtschaftswoche, Wirtschaftswoche, 1973 Wirtschaftswoche, 1973 Wirtschaftswoche, 1973

Nr. 6/27, 2. Februar 1973 Nr. 9/27, 23. Februar 1973 Nr. 16/27,13. April 1973 Nr. 24/27, 8. Juni 1973 Nr. 39/27, 21. September Nr. 44/27, 26. Oktober Nr. 45/27, 5. November

Der Spiegel, Nr. 1/27, 1. Januar 1973 Der Spiegel, Nr. 7/27,12. Februar 1973 Der Spiegel, Nr. 8/27, 19. Februar 1973 Der Spiegel, Nr. 10/27, 5. März 1973 Der Spiegel, Nr. 11/27,12. Mäiz 1973 Der Spiegel, Nr. 12/27, 19. März 1973 Der Spiegel, Nr. 19/27, 7. Mai 1973 Der Spiegel, Nr. 23/27, 4. Juni 1973 Der Spiegel, Nr. 33/27, 13. August 1973 Der Spiegel, Nr. 35/27, 27. August 1973 Der Spiegel, Nr. 36/27, 3. September 1973 Der Spiegel, Nr. 38/27,17. September 1973 Der Spiegel, Nr. 44/27, 29. Oktober 1973 Die Zeit, Die Zeit, Die Zeit, Die Zeit, Die Zeit, Die Zeit, Die Zeit, Die Zeit, Die Zeit,

Nr. 5/28,26. Januar 1973 Nr. 13/28, 23. März 1973 Nr. 20/28, 11. Mai 1973 Nr. 24/28, 8. Juni 1973 Nr. 24/28, 8. Juni 1973. Nr. 26/28, 22. Juni 1973 Nr. 44/28, 26. Oktober 1973 Nr. 47/28, 16. November 1973 Nr. 51/28, 14. Dezember 1973

1974 Wirtschaftswoche, Wirtschaftswoche, Wirtschaftswoche, Wirtschaftswoche, Wirtschaftswoche, Wirtschaftswoche, Wirtschaftswoche, Wirtschaftswoche, 1974 Wirtschaftswoche, 1974 Wirtschaftswoche, 1974

Nr. 1,2/28,4 Januar 1974 Nr. 4/29,18. Januar 1974 Nr. 7/29, 8. Februar 1974 Nr. 11/29, 8. März 1974 Nr. 14/29, 29. März 1974 Nr. 17/29, 19. April 1974 Nr. 31/28, 26. Juli 1974 Nr. 48/28, 22. November Nr. 49/28, 29. November Nr. 50/28, 6. Dezember

Der Spiegel, Nr. 5/28, 28. Januar 1974 Der Spiegel, Nr. 13/28, 25. März 1974 Der Spiegel, Nr. 19/28, 6. Mai 1974 Der Spiegel, Nr. 27/28, 1. Juli 1974 Der Spiegel, Nr. 28/28, 8. Juli 1974 Der Spiegel, Nr. 34/28, 16. August 1974 Der Spiegel, Nr. 48/28, 25. November 1974 Der Spiegel, Nr. 49/28, 2. Dezember 1974 Der Spiegel, Nr. 51/28, 16. Dezember 1974

545 Die Zeit, Die Zeit, Die Zeit, Die Zeit, Die Zeit, Die Zeit, Die Zeit, Die Zeit, Die Zeit, Die Zeit, Die Zeit, Die Zeit,

Nr. 10/29,1. Märt 1974 Nr. 11/29, 8. März 1974 Nr. 14/29,29. März 1974 Nr. 18/29,26. April 1974 Nr. 19/29, 3. Mai 1974 Nr. 21/29, 17. Mai 1974 Nr. 22/29 24. Mai 1974 Nr. 29/29,12. Juli 1974 Nr. 31/20,26. Juli 1974 Nr. 34/29, 16. August 1974 Nr. 44/29,25. Oktober 1974 Nr. 46/29, 8. November 1974

1975 Wirtschaftswoche, Wirtschaftswoche, Wirtschaftswoche, Wirtschaftswoche, Wirtschaftswoche, Wirtschaftswoche, Wirtschaftswoche, Wirtschaftswoche, Wirtschaftswoche, Wirtschaftswoche, 1975

Nr. 3/29,10. Januar 1975 Nr. 5/29, 24. Januar 1975 Nr. 8/29, 14. Februar 1975 Nr. 10/29, 28. Februar 1975 Nr. 18/29, 24. April 1975 Nr. 29/29, 11. Juli 1975 Nr. 30/29, 18. Juli 1975 Nr. 32/29, 1. August 1975 Nr. 33/29, 8. August 1975 Nr. 38/29, 12. September

Der Spiegel, Nr. 6/29, 3. Februar 1975 Der Spiegel, Nr. 8/29, 17. Februar 1975 Der Spiegel, Nr. 28/29, 7. Juli 1975 Der Spiegel, Nr. 30/29, 21. Juli 1975 Der Spiegel, Nr. 31/29,28. Juli 1975 Der Spiegel, Nr. 32/29,4. August 1975 Der Spiegel, Nr. 33/29,11. August 1975 Der Spiegel, Nr. 35/30, 25. August 1975 Der Spiegel, Nr. 36/29, 1. September 1975 Der Spiegel, Nr. 37/29, 8. September 1975 Der Spiegel, Nr. 38/29,15. September 1975 Der Spiegel, Nr. 40/29, 29. September 1975 Der Spiegel, Nr. 41/29, 6. Oktober 1975 Der Spiegel, Nr. 50/29, 8. Dezember 1975 Der Spiegel, Nr. 53/29, 29. Dezember 1975 Die Zeit, Die Zeit, Die Zeit, Die Zeit, Die Zeit, Die Zeit,

Nr. 2/30, 3. Januar 1975 Nr. 7/30,7. Februar 1975 Nr. 25/30,13. Juni 1975 Nr. 26/30, 20. Juni 1975 Nr. 29/30,11. Juli 1975 Nr. 31/30,1. August 1975

Die Zeit, Nr. 34/30, Die Zeit, Nr. 37/30, Die Zeit, Nr. 38/30, Die Zeit, Nr. 40/30, Die Zeit, Nr. 44/30, Die Zeit, Nr. 46/30, Die Zeit, Nr. 53/30,

15. August 1975 5. September 1975 12. September 1975 26. September 1975 24. Oktober 1975 7. November 1975 26. Dezember 1975

1976 Wirtschaftswoche, Wirtschaftswoche, Wirtschaftswoche, Wirtschaftswoche, Wirtschaftswoche, Wirtschaftswoche, Wirtschaftswoche, Wirtschaftswoche, Wirtschaftswoche, Wirtschaftswoche, Wirtschaftswoche, Wirtschaftswoche, 1976

Nr. 1/30, 2. Januar 1976 Nr. 3/30, 16. Januar 1976 Nr. 7/30, 13. Februar 1976 Nr. 7/30, 13. Februar 1976 Nr. 15/30, 9. April 1976 Nr. 19/30, 7. Mai 1976 Nr. 20/30,14. Mai 1976 Nr. 24/30,11. Juni 1976 Nr. 25/30,18. Juni 1976 Nr. 30/31, 23 Juli 1976 Nr. 34/30, 27. August 1976 Nr. 51/30,13. Dezember

Wirtschaftswoche, Nr. Viß\, 23. Dezember 1976 Der Spiegel, Nr. 1,2/30, 5. Januar 1976 Der Spiegel, Nr. 3/30, 12. Januar 1976 Der Spiegel, Nr. 15/30, 5. AprÜ 1976 Der Spiegel, Nr. 23/30, 31. Mai 1976 Der Spiegel, Nr. 26/30,21. Juni 1976. Der Spiegel, Nr. 27/30,28. Juni 1976 Der Spiegel, Nr. 30/30,19. Juli 1976 Der Spiegel, Nr. 36/30, 20. August 1976 Der Spiegel, Nr. 38/30,13. September 1976 Der Spiegel, Nr. 44/30, 25. Oktober 1976 Der Spiegel, Nr. 44/30, 25. Oktober 1976 Der Spiegel, Nr. 51/30, 13. Dezember 1976 Der Spiegel, Nr. 51/30, 20. Dezember 1976 Die Zeit, Die Zeit, Die Zeit, Die Zeit, Die Zeit, Die Zeit, Die Zeit, Die Zeit, Die Zeit,

Nr. 2/31, 2. Januar 1976 Nr. 9/31, 20. Februar 1976 Nr. 13/31,19. März 1976 Nr. 16/31,9. April 1976 Nr. 19/31. 30. April 1976 Nr. 25/31, 11. Juni 1976 Nr. 30/31, 16. Juli 1976 Nr. 32/31, 30. Juli 1976 Nr. 36/31, 27. August 1976

546 Die Zeit, Nr. 37/31, Die Zeit, Nr. 39/31, Die Zeit, Nr. 40/31, Die Zeit, Nr. 52/31,

3. September 1976 17. September 1976 24. September 1976 31. Dezember 1976

1977 Wirtschaftswoche, Nr. 5/31, 21. Januar 1977 Wirtschaftswoche, Nr. 7/31, 4. Februar 1977 Wirtschaftswoche, Nr. 8/31,11. Februar 1977 Wirtschaftswoche, Nr. 9/31, 18. Februar 1977 Wirtschaftswoche, Nr. 13/31, 18. März 1977 Wirtschaftswoche, Nr. 20/31, 6. Mai 1977 Wirtschaftswoche, Nr. 23/31, 17. Mai 1977 Wirtschaftswoche, Nr. 22/31, 20. Mai 1977 Wirtschaftswoche, Nr. 23/31, 27. Mai 1977 Wirtschaftswoche, Nr. 24/31, 3. Juni 1977 Wirtschaftswoche, Nr. 30/31, 15. Juli 1977 Wirtschaftswoche, Nr. 31/31, 22. Juli 1977 Wirtschaftswoche, Nr. 32/31, 29. Juli 1977 Wirtschaftswoche, Nr. 33/31, 5. August 1977 Wirtschaftswoche, Nr. 37/31, 2. September 1977 Wirtschaftswoche, Nr. 38/31, 9. September 1977 Wirtschaftswoche, Nr. 39/31, 16. September 1977 Wirtschaftswoche, Nr. 40/31, 23. September 1977 Wirtschaftswoche, Nr. 32/31, 7. Oktober 1977 Wirtschaftswoche, Nr. 44/31, 21. Oktober 1977 Wirtschaftswoche, Nr. 45/31, 28. Oktober 1977 Wirtschaftswoche, Nr. 46/31, 4. November 1977 Wirtschaftswoche, Nr. 48/31, 18. November 1977 Der Spiegel, Nr. 8/31,14. Februar 1977 Der Spiegel, Nr. 9/31,21. Februar 1977 Der Spiegel, Nr. 20/31, 9. Mai 1977 Der Spiegel, Nr. 23/31, 30. Mai 1977 Der Spiegel, Nr. 26/31, 20. Juni 1977 Der Spiegel, Nr. 29/31, 11. Juli 1977 Der Spiegel, Nr. 30/31, 18. Juli 1977 Der Spiegel, Nr. 33/31, 1. August 1977 Der Spiegel, Nr. 33/31, 8. August 1977

Der Spiegel, Nr. 34/31, Der Spiegel, Nr. 35/31, Der Spiegel, Nr. 37/31, Der Spiegel, Nr. 38/31, Der Spiegel, Nr. 39/31, Der Spiegel, Nr. 41/31, Der Spiegel, Nr. 42/31, Der Spiegel, Nr. 45/31, Der Spiegel, Nr. 46/31, Der Spiegel, Nr. 46/31, Der Spiegel, Nr. 49/31, Der Spiegel, Nr. 51/31,

15. August 1977 22. August 1977 5. September 1977 12. September 1977 19. September 1977 3. Oktober 1977 10. Oktober 1977 31. Oktober 1977 7. November 1977 14. November 1977 28. November 1977 12. Dezember 1977

Die Zeit, Nr. 4/32, 14. Januar 1977 Die Zeit, Nr. 5/32, 21. Januar 1977 Die Zeit, Nr. 6/32,28. Januar 1977 Die Zeit, Nr. 10/32, 25. Februar 1977 Die Zeit, Nr. 10/33, 3. März 1977 Die Zeit, Nr. 12/32, 11. März 1977 Die Zeit, Nr. 15/32, 1. April 1977 Die Zeit, Nr. 17/32, 15. April 1977 Die Zeit, Nr. 22/32,20. Mai 1977 Die Zeit, Nr. 23/32, 27.Mai 1977 Die Zeit, Nr. 26/32, 17. Juni 1977 Die Zeit, Nr. 27/32, 24. Juni 1977 Die Zeit, Nr. 30/32,15. Juli 1977 Die Zeit, Nr. 31/32, 22. Juli 1977 Die Zeit, Nr. 33/32, 5. August 1977 Die Zeit, Nr. 35/32,19. August 1977 Die Zeit, Nr. 38/32, 9. September 1977 Die Zeit, Nr. 47/32, 11. November 1977 Die Zeit, Nr. 48/32, 18. November 1977 Die Zeit, Nr. 49/32, 25. November 1977 Die Zeit, Nr. 51/32, 9. Dezember 1977

1978 Wirtschaftswoche, Nr. 4/32, 20. Januar 1978 Wirtschaftswoche, Nr. 8/32, 17. Februar 1978 Wirtschaftswoche, Nr. 10/32, 3. März 1978 Wirtschaftswoche, Nr. 17/32, 21. April 1978 Wirtschaftswoche, Nr. 20/32,12. Mai 1978 Wirtschaftswoche, Nr. 23/32,2. Juni 1978 Wirtschaftswoche, Nr. 24/32, 9. Juni 1978 Wirtschaftswoche, Nr. 25/33, 16. Juni 1978 Wirtschaftswoche, Nr. 44/32, 27. Oktober 1978 Wirtschaftswoche, Nr. 52/32, 22. Dezember 1978

547 Der Spiegel, Nr. 2/32, 2. Januar 1978 Der Spiegel, Nr. 5/32,30. Januar 1978 Der Spiegel, Nr. 8/32,20. Februar 1978 Der Spiegel, Nr. 20/32,15. Mai 1978 Der Spiegel, Nr. 26/32, 26. Juni 1978 Der Spiegel, Nr. 30/32, 24. Juli 1978 Der Spiegel, Nr. 31/32, 31. Juli 1978 Der Spiegel, Nr. 36/32, 4. September 1978 Der Spiegel, Nr. 38/32,18. September 1978 Der Spiegel, Nr. 45/32,17. Oktober 1978 Der Spiegel, Nr. 46/32, 13. November 1978 Der Spiegel, Nr. 47/32, 20. November 1978 Die Zeit, Nr. 4/33, 20. Januar 1978 Die Zeit, Nr. 9/33, 24. Februar 1978 Die Zeit, Nr. 10/33, 3. März 1978 Die Zeit, Nr. 11/33, 10. März 1978 Die Zeit, Nr. 15/33, 7. April 1978 Die Zeit, Nr. 16/33,14. AprÜ 1978 Die Zeit, Nr. 17/33, 21. April 1978 Die Zeit, Nr. 22/33, 26. Mai 1978 Die Zeit, Nr. 24/33, 9. Juni 1978 Die Zeit, Nr. 32/33, 4. August 1978 Die Zeit, Nr.38/33, 15. September 1978

1979 Wirtschaftswoche, Nr. 1/33, 1. Januar 1979 Wirtschaftswoche, Nr. 7/34,15. Februar 1979 Wirtschaftswoche, Nr. 10/33, 5. März 1979 Wirtschaftswoche, Nr. 21/33, 21. Mai 1979 Wirtschaftswoche, Nr. 23/33, 4. Juni 1979 Wirtschaftswoche, Nr. 24/33, 11. Juni 1979 Wirtschaftswoche, Nr. 29/33,16. Juli 1979 Wirtschaftswoche, Nr. 31/33, 30. Juli 1979 Wirtschaftswoche, Nr. 35/33, 27. August 1979 Wirtschaftswoche, Nr. 39/33, 24. September 1979 Wirtschaftswoche, Nr. 44/33, 29. Oktober 1979 Wirtschaftswoche, Nr. 45/33, 5. November 1979. Wirtschaftswoche, Nr. 49/33, 3. Dezember 1979 Der Spiegel, Nr. 5/33, 29. Januar 1979 Der Spiegel, Nr. 7/33, 12. Februar 1979 Der Spiegel, Nr. 10/33, 5. März 1979 Der Spiegel, Nr. 16/33, 16. April 1979

Der Spiegel, Nr. 16/33, 16. April 1979 Der Spiegel, Nr. 17/79,23. April 1979 Der Spiegel, Nr. 18/79, 30. April 1979 Der Spiegel, Nr. 23/33,4. Juni 1979 Der Spiegel, Nr. 31/33, 30. Juli 1979 Der Spiegel, Nr. 34/33, 20. August 1979 Der Spiegel, Nr. 35/33,27. August 1979 Der Spiegel, Nr. 39/33, 24. September 1979 Der Spiegel, Nr. 44/33, 29. Oktober 1979 Der Spiegel, Nr. 45/33, 5. November 1979 Die Zeit, Nr. 4/34, 19. Januar 1979 Die Zeit, Nr. 16/34, 13. April 1979 Die Zeit, Nr. 23/34,1. Juni 1979

1980 Wirtschaftswoche, Nr. 1,2/34,7. Januar 1980 Wirtschaftswoche, Nr. 4/34, 25. Januar 1980 Wirtschaftswoche, Nr. 10/34, 7. März 1980 Wirtschaftswoche, Nr. 11/34, 14. März 1980 Wirtschaftswoche, Nr. 13/34, 28. März 1980 Wirtschaftswoche, Nr. 23/34, 6. Juni 1980 Wirtschaftswoche, Nr. 24/34, 13. Juni 1980 Wirtschaftswoche, Nr. 30/34,27. Juli 1980 Wirtschaftswoche, Nr. 34/34, 22. August 1980 Wirtschaftswoche, Nr. 37/34, 12. September 1980 Wirtschaftswoche, Nr. 40/34, 3. Oktober 1980 Wirtschaftswoche, Nr. 43/34, 24. Oktober 1980 Wirtschaftswoche, Nr. 45/34, 31. Oktober 1980 Der Spiegel, Nr. 7/34, 11. Februar 1980 Der Spiegel, Nr. 12/34, 17. März 1980 Der Spiegel, Nr. 15/34, 7. AprÜ 1980 Der Spiegel, Nr. 19/34, 5. Mai 1980 Der Spiegel, Nr. 29/34, 14. Juli 1980 Der Spiegel, Nr. 30/34,21. Juli 1980 Der Spiegel, Nr. 32/34, 4. August 1980 Der Spiegel, Nr. 33/34, 11. August 1980 Der Spiegel, Nr. 42/34, 13. Oktober 1980 Die Zeit, Nr. 19/35, 2. Mai 1980 Die Zeit, Nr. 30/35,18. Juli 1980 Die Zeit, Nr. 36/35, 29. August 1980 Die Zeit, Nr. 40/35, 26. September 1980

548

1981 Wirtschaftswoche, Wirtschaftswoche, Wirtschaftswoche, 1981 Wirtschaftswoche, 1981. Wirtschaftswoche, 1981 Wirtschaftswoche, 1981 Wirtschaftswoche, 1981

Nr. 5/35, 23. Januar 1981 Nr. 33/35, 7. August 1981 Nr. 38/35, 11. September Nr. 39/36, 18. September Nr. 42/37, 15. Oktober Nr. 45/35, 30. Oktober Nr. 49/35, 27. November

Der Spiegel, Nr. 14/35, Der Spiegel, Nr. 26/35, Der Spiegel, Nr. 27/35, Der Spiegel, Nr. 32/35, Der Spiegel, Nr. 36/35, Der Spiegel, Nr. 44/35, Der Spiegel, Nr. 45/35, Der Spiegel, Nr. 51/35, Die Zeit, Die Zeit, Die Zeit, Die Zeit, Die Zeit,

30. März 1981 22. Juni 1981 29. Juni 1981 3. August 1981 31. August 1981. 26. Oktober 1981 30. Oktober 1981 14. Dezember 1981

Nr. 22/36, 22 Mai 1981 Nr. 24/36, 5. Juni 1981 Nr. 33/36,7. August 1981. Nr. 39/36, 18. September 1981 Nr. 49/36, 27. November 1981

1982 Wirtschaftswoche, Wirtschaftswoche, Wirtschaftswoche, Wirtschaftswoche, Wirtschaftswoche, Wirtschaftswoche, 1982 Wirtschaftswoche, Wirtschaftswoche, 1982 Wirtschaftswoche, ber 1982

Nr. 9/36, 26. Februar 1982 Nr. 12/36, 19. März 1982 Nr. 18/36, 30. April 1982 Nr. 28/36, 9. Juli 1982 Nr. 34/36, 20. August 1982 Nr. 39/36, 18. September Nr. 40/36, 1. Oktober 1982 Nr. 42/36, 15. Oktober Nr. 51; 52/36, 17. Dezem-

Der Spiegel, Nr. 15/36, Der Spiegel, Nr. 25/36, Der Spiegel, Nr. 26/36, Der Spiegel, Nr. 27/36, Der Spiegel, Nr. 40/36,

12. April 1982 21. Juni 1982 28. Juni 1982 5. Juli 1982 4. Oktober 1982

Der Spiegel, Nr. 42/36,18. Oktober 1982 Der Spiegel, Nr. 43/36, 25. Oktober 1982 Der Spiegel, Nr. 47/36, 22. November 1982 Die Zeit, Die Zeit, Die Zeit, Die Zeit, Die Zeit, Die Zeit, Die Zeit, Die Zeit, Die Zeit, Die Zeit,

Nr. 6/37, 5. Februar 1982 Nr. 18/37, 30. April 1982 Nr. 35/37, 27. August 1982 Nr. 37/37, 10. September 1982 Nr. 41/37, 8. Oktober 1982 Nr. 42/37, 15. Oktober 1982 Nr. 44/37,29. Oktober 1982 Nr. 46/37, 12. November 1982 Nr. 49/37, 3. Dezember 1982 Nr. 52/43, 23. Dezember 1982

1983 Wirtschaftswoche, Nr. 4/37, 21. Januar 1983 Wirtschaftswoche, Nr. 13/37,25. März 1983 Wirtschaftswoche, Nr. 18/37,29. April 1983 Wirtschaftswoche, Nr. 21/37, 20. Mai 1983 Wirtschaftswoche, Nr. 22/37, 27. Mai 1983 Wirtschaftswoche, Nr. 23/37,3 Juni 1983 Wirtschaftswoche Nr. 30/37, 22. Juli 1983 Wirtschaftswoche, Nr. 34/37,19. August 1983 Wirtschaftswoche, Nr. 39/37, 24. September 1983 Wirtschaftswoche, Nr. 43/37, 21 Oktober 1983 Wirtschaftswoche, Nr. 48/37, 25. November 1983 Wirtschaftswoche, Nr. 49/37, 2. Dezember 1983 Wirtschaftswoche, Nr. 50/37, 9. Dezember 1983 Wirtschaftswoche, Nr. 52; 53/37, 26. Dezember 1983 Der Spiegel, Nr. 2/37, 10. Januar 1983 Der Spiegel, Nr. 6/37, 7. Februar 1983 Der Spiegel, Nr. 8/37, 21. Februar 1983 Der Spiegel, Nr. 13/37, 28. März 1983 Der Spiegel, Nr. 17/37, 25. April 1983 Der Spiegel, Nr. 18/37, 2. Mai 1983 Der Spiegel, Nr. 20/37, 16. Mai 1983 Der Spiegel, Nr. 22/37, 30. Mai 1983 Der Spiegel, Nr. 25/37, 20. Juni 1983 Der Spiegel, Nr. 30/37, 25. Juli 1983 Der Spiegel, Nr. 33/37, 15. August 1983

549 Der Spiegel, Nr. 35/37,15. August 1983 Der Spiegel, Nr. 35/37, 29. August 1983 Der Spiegel, Nr. 37/37,12. September 1983 Der Spiegel, Nr. 43/37,24. Oktober 1983 Der Spiegel, Nr. 44/37, 31. Oktober 1983 Der Spiegel, Nr. 46/36,15. November 1983 Der Spiegel, Nr. 49/37, 5. Dezember 1983 Der Spiegel, Nr. 52; 53/37, 26. Dezember 1983 Die Zeit, Nr. 4/38, 21. Januar 1983 Die Zeit, Nr. 8/38, 18. Februar 1983 Die Zeit, Nr. 13/38, 25. März 1983 Die Zeit, Nr. 20/38,13. Mai 1983 Die Zeit, Nr. 21/38, 20. Mai 1983 Die Zeit, Nr. 22/38,27. Mai 1983 Die Zeit, Nr. 34/38, 19. August 1983 Die Zeit, Nr. 34/38, 19. August 1983 Die Zeit, Nr. 35/38, 26. August 1983 Die Zeit, Nr. 46/42, 11. November 1983 Die Zeit, Nr. 47/38, 18. November 1983 Die Zeit, Nr. 50/38, 9. Dezember 1983

1984 Wirtschaftswoche, Nr. 6/38, 3. Februar 1984 Wirtschaftswoche, Nr. 13/38, 23. März 1984 Wirtschaftswoche, Nr. 15/38, 6. April 1984 Wirtschaftswoche, Nr. 19/38, 4. Mai 1984 Wirtschaftswoche, Nr. 24/38, 8. Juni 1984 Wirtschaftswoche, Nr. 25/38, 15. Juni 1984 Wirtschaftswoche, Nr. 27/38, 29. Juni 1984 Wirtschaftswoche, Nr. 38/38, 14. September 1984 Wirtschaftswoche, Nr. 49/38, 30. November 1984 Wirtschaftswoche, Nr. 50/38, 7. Dezember 1984 Wirtschaftswoche, Nr. 52/38, 21. Dezember 1984 Der Spiegel, Nr. 3/38,16. Januar 1984 Der Spiegel, Nr. 7/38, 13. Februar 1984 Der Spiegel, Nr. 9/38, 27. Februar 1984 Der Spiegel, Nr. 12/38,1. März 1984 Der Spiegel, Nr. 11/41, 9. März 1984 Der Spiegel, Nr. 11/38, 12. März 1984 Der Spiegel, Nr. 12/38, 19. März 1984 Der Spiegel, Nr. 14/38, 2. April 1984

Der Spiegel, Nr. 15/38, 9. April 1984 Der Spiegel, Nr. 16/38,16. April 1984 Der Spiegel, Nr. 17/38, 23. April 1984 Der Spiegel, Nr. 19/38,7. Mai 1984 Der Spiegel, Nr. 24/38, 11. Juni 1984 Der Spiegel, Nr. 27/38,29. Juni 1984 Der Spiegel, Nr. 41/38, 8. Oktober 1984 Der Spiegel, Nr. 46/38, 12. November 1984 Der Spiegel, Nr. 47/38, 19. November 1984 Der Spiegel, Nr. 49/38, 3. Dezember 1984 Der Spiegel, Nr. 57/38, 17. Dezember 1984 Die Zeit, Nr. 9/39, 24. Februar 1984 Die Zeit, Nr. 13/39,23. März 1984. Die Zeit, Nr. 18/39, 27. April 1984 Die Zeit, Nr. 27/39,27. April 1984 Die Zeit, Nr. 21/39, 18. Mai 1984 Die Zeit, Nr. 23/39, 1. Juni 1984 Die Zeit, Nr. 24/39, 8. Juni 1984 Die Zeit, Nr. 28/39, 6. Juli 1984 Die Zeit, Nr. 46/39, 9. November 1984 Die Zeit, Nr. 51/39, 17. Dezember 1984 Die Zeit, Nr. 52/39, 21. Dezember 1984

1985 Wirtschaftswoche, Nr. 23/39, 31. Mai 1985 Wirtschaftswoche, Nr. 24/39,7. Juni 1985 Wirtschaftswoche, Nr. 30/39, 19. Juli 1985 Der Spiegel, Nr. 3/39,14. Januar 1985 Der Spiegel, Nr. 5/39, 28. Januar 1985 Der Spiegel, Nr. 7/39, 11. Februar 1985 Der Spiegel, Nr. 9/39, 25. Februar 1985 Der Spiegel, Nr. 12/39, 18. März 1985 Der Spiegel, Nr. 23/39, 3. Juni 1985 Der Spiegel, Nr. 31/39, 29. Juli 1985 Der Spiegel, Nr. 47/39, 18. November 1985 Die Zeit, Nr. 3/40, 11. Januar 1985 Die Zeit, Nr. 7/40, 8. Februar 1985 Die Zeit, Nr. 21/40, 17. Mai 1985 Die Zeit, Nr. 23/40, 31. Mai 1985 Die Zeit, Nr. 27/40, 28. Juni 1985 Die Zeit, Nr. 33/40, 9. August 1985 Die Zeit, Nr. 50/ 40, 6. Dezember 1985 Die Zeit, Nr. 52/40, 20. Dezember 1985 Die Zeit, Nr. 1/41, 27. Dezember 1985

550

1986 Wirtschaftswoche, Nr. 10/40, 28. Februar 1986 Wirtschaftswoche, Nr. 43/40, 17. Oktober 1986 Der Spiegel, Nr. 6/40, 3. Februar 1986 Der Spiegel, Nr. 13/40, 24. März 1986 Der Spiegel, Nr. 17/40, 21. April 1986 Der Spiegel, Nr. 18/40, 28. April 1986 Der Spiegel, Nr. 23/40, 2. Juni 1986 Der Spiegel, Nr. 26/40,23. Juni 1986 Der Spiegel, Nr. 27/40, 30. Juni 1986 Der Spiegel, Nr. 28/40, 7. Juli 1986 Der Spiegel, Nr. 36/40, 1. September 1986 Die Zeit, Nr. 14/41,28. März 1986 Die Zeit, Nr. 19/44, 5. Mai 1986 Die Zeit, Nr. 23/41,20. Mai 1986 Die Zeit, Nr. 22/41, 23. Mai 1986 Die Zeit, Nr. 28/41, 4. Juli 1986. Die Zeit, Nr. 52/41, 19. Dezember 1986

1987 Wirtschaftswoche, Nr. 5/41, 23. Januar 1987 Wirtschaftswoche, Nr. 6/41, 30. Januar 1987 Wirtschaftswoche, Nr. 8/41, 13. Februar 1987 Wirtschaftswoche, Nr. 10/41, 27. Februar 1987 Wirtschaftswoche, Nr. 11/41,6. März 1987 Wirtschaftswoche, Nr. 12/41,13. März 1987 Wirtschaftswoche, Nr. 12/41,13. März 1987 Wirtschaftswoche, Nr. 16/41,10. April 1987 Wirtschaftswoche, Nr. 18/41, 24. April 1987 Wirtschaftswoche, Nr. 30/41, 17. Juli 1987 Wirtschaftswoche, Nr. 43/41, 16. Oktober 1987 Wirtschaftswoche, Nr. 43/41, 19. Oktober 1987 Wirtschaftswoche, Nr. 49/41, 27. November 1987 Wirtschaftswoche, Nr. 52; 53/41,18. Dezember 1987 Der Spiegel, Nr. 6/41, 30. Januar 1987 Der Spiegel, Nr. 7/41, 9. Februar 1987 Der Spiegel, Nr. 9/41, 23. Februar 1987 Der Spiegel, Nr. 10/41, 2. März 1987 Der Spiegel, Nr. 11/41, 9. März 1987 Der Spiegel, Nr. 12/41, 16. März 1987

Der Spiegel, Nr. 14/41,30. März 1987 Der Spiegel, Nr. 16/42, 18. April 1987 Der Spiegel, Nr. 24/41, 8. Juni 1987 Der Spiegel, Nr. 25/41,15. Juni 1987 Der Spiegel, Nr. 31/41, 27. Juli 1987 Der Spiegel, Nr. 36/41, 31. August 1987 Der Spiegel, Nr. 42/41,12. Oktober 1987 Der Spiegel, Nr. 43/41, 19. Oktober 1987 Der Spiegel, Nr. 43/41,19. Oktober 1987 Der Spiegel, Nr. 50/41, 7. Dezember 1987 Die Zeit, Nr. 7/42, 6. Februar 1987 Die Zeit, Nr. 8/42, 13. Februar 1987 Die Zeit, Nr. 11/42, 6. März 1987 Die Zeit, Nr. 15/42, 3. April 1987 Die Zeit, Nr. 25/42, 12. Juni 1987 Die Zeit, Nr. 27/42, 26. Juni 1987 Die Zeit, Nr. 29/42, 10. Juli 1987 Die Zeit, Nr. 43/42, 16. Oktober 1987 Die Zeit, Nr. 43/42, 16. Oktober 1987 Die Zeit, Nr. 45/42, 30. Oktober 1987 Die Zeit, Nr. 46/42, 6. November 1987 Die Zeit, Nr. 48/42, 20. November 1987

1988 Wirtschaftswoche, Nr. 4/42, 22. Januar 1988 Wirtschaftswoche, Nr. 6/42, 5. Februar 1988 Wirtschaftswoche, Nr. 12/42,18. März 1988 Wirtschaftswoche, Nr. 13/43, 25. März 1988 Wirtschaftswoche, Nr. 14/42,1. April 1988 Wirtschaftswoche, Nr. 18/42, 29. April 1988 Wirtschaftswoche, Nr. 21/42,20. Mai 1988 Wirtschaftswoche, Nr. 27/42, 1. Juli 1988 Wirtschaftswoche, Nr. 28/42, 8. Juli 1988 Wirtschaftswoche, Nr. 29/42, 15. Juli 1988 Wirtschaftswoche, Nr. 29/42,16. Juli 1988 Wirtschaftswoche, Nr. 30/42, 22. Juli 1988 Wirtschaftswoche, Nr. 47/42,18. November 1988 Der Spiegel, Nr. 2/42, 11. Januar 1988 Der Spiegel, Nr. 3/42, 18. Januar 1988 Der Spiegel, Nr. 16/42,18. April 1988 Der Spiegel, Nr. 18/42, 2. Mai 1988 Der Spiegel, Nr. 22/42, 30. Mai 1988 Der Spiegel, Nr. 24/42,13. Juni 1988 Der Spiegel, Nr. 25/42, 20. Juni 1988 Der Spiegel, Nr. 27/42, 4. Juli 1988

551 Der Spiegel, Nr. 28/42,11. Juli 1988 Der Spiegel, Nr. 35/42,29. August 1988 Der Spiegel, Nr. 37/42, 12. September 1988 Die Zeit, Nr. 2/43, 9. Januar 1988 Die Zeit, Nr. 3/43,15. Januar 1988 Die Zeit, Nr. 8/43,19. Februar 1988 Die Zeit, Nr. 9/43,26. Februar 1988 Die Zeit, Nr. 10/43, 4. März 1988 Die Zeit, Nr. 18/43, 29. April 1988 Die Zeit, Nr. 25/43,17. Juni 1988 Die Zeit, Nr. 28/43, 8. Juli 1988. Die Zeit, Nr. 29/43,15. Juli 1988 Die Zeit, Nr. 32/43, 5. August 1988 Die Zeit, Nr. 37/44, 8. September 1988 Die Zeit, Nr. 37/43, 9. September 1988 Die Zeit, Nr. 47/43, 18. November 1988

1989 Wirtschaftswoche, Nr. 9/43, 24. Februar 1989 Wirtschaftswoche, Nr. 16/43, 14. April 1989 Wirtschaftswoche, Nr. 17/43, 21. April 1989 Wirtschaftswoche, Nr. 22/43, 26. Mai 1989 Wirtschaftswoche, Nr. 50/43, 8. Dezember 1989 Der Spiegel, Nr. 27/43, 3. Juli 1989 Der Spiegel, Nr. 28/43,10. Juli 1989 Der Spiegel, Nr. 44/43, 30. Oktober 1989 Der Spiegel, Nr. 52/43, 25. Dezember 1989 Die Zeit, Nr. 17/44,21. April 1989 Die Zeit, Nr. 19/44, 5. Mai 1989 Die Zeit, Nr. 28/ 44, 7. Juli 1989 Die Zeit, Nr. 40/44, 29. September 1989. Die Zeit, Nr. 48/44. 24. November 1989 Die Zeit, Nr. 1/45, 29. Dezember 1989

1990 Wirtschaftswoche, Nr. 8/44, 16. Februar 1990 Wirtschaftswoche, Nr. 9/44, 23. Februar 1990 Wirtschaftswoche, Nr. 10/44, 2. März. 1990 Wirtschaftswoche, Nr. 11/44, 9. März 1990 Wirtschaftswoche, Nr. 12/44,16. März 1990 Wirtschaftswoche, Nr. 13/44, 23. März 1990 Wirtschaftswoche, Nr. 14/44, 30. März 1990 Wirtschaftswoche, Nr. 14/44, 30. März 1990

Wirtschaftswoche, Nr. 15/44, 6. AprÜ 1990 Wirtschaftswoche, Nr. 16/44, 13. April 1990 Wirtschaftswoche, Nr. 17/44, 20. April 1990 Wirtschaftswoche, Nr. 18/44, 27. April 1990 Wirtschaftswoche, Nr. 19/44, 2. Mai 1990 Wirtschaftswoche, Nr. 20/44,11. Mai 1990 Wirtschaftswoche, Nr. 21/44,18. Mai 1990 Wirtschaftswoche, Nr. 23/44,1. Juni 1990 Wirtschaftswoche, Nr. 28/44, 5. Juli 1990 Wirtschaftswoche, Nr. 30/44, 30. Juli 1990 Wirtschaftswoche, Nr. 33/44,10. August. 1990 Wirtschaftswoche, Nr. 37/44, 7. September 1990 Wirtschaftswoche, Nr. 38/44, 14. September 1990 Wirtschaftswoche, Nr. 40/44, 28. September 1990 Wirtschaftswoche, Nr. 41/44, 5. Oktober 1990 Wirtschaftswoche, Nr. 48/44, 23. November 1990 Wirtschaftswoche, Nr. 50/44, 7. Dezember 1990 Wirtschaftswoche, Nr. 51/44, 21. Dezember 1990 Wirtschaftswoche, Nr. 52,53/44, 21. Dezember 1990 Der Spiegel, Nr. 7/44, 12. Februar 1990 Der Spiegel, Nr. 9/44, 26. Februar. 1990 Der Spiegel, Nr. 10/44, 5. März 1990 Der Spiegel, Nr.14/44, 2. AprÜ 1990 Der Spiegel, Nr. 19/44, 7. Mai 1990 Der Spiegel, Nr. 31/44,30. Juni 1990 Der Spiegel, Nr. 32/44, 6. August 1990 Der Spiegel, Nr. 34/44,20. August 1990 Der Spiegel, Nr. 35/44,27. August 1990 Der Spiegel, Nr. 36/44, 3. September 1990 Der Spiegel, Nr.36/44, 3. September 1990 Der Spiegel, Nr. 38/44, 17. September 1990 Der Spiegel, Nr. 39/44,24. September 1990 Der Spiegel, Nr. 47/44, 19. November 1990 Der Spiegel, Nr. 47/44, 19. November 1990 Der Spiegel, Nr. 48/44, 26. November 1990 Der Spiegel, Nr. 50/44, 10. Dezember 1990 Der Spiegel, Nr. 1/45, 31. Dezember 1990 Die Zeit, Nr. 5/45, 26. Januar 1990 Die Zeit, Nr. 8/45, 16. Februar 1990 Die Zeit, Nr. 9/45, 23. Februarl990

552 Die Zeit, Nr. 11/45, 9. Märe 1990 Die Zeit, Nr. 15/45,6. AprÜ 1990 Die Zeit, Nr. 21/45,18. Mai 1990 Die Zeit, Nr. 26/45,22. Juni 1990 Die Zeit, Nr. 28/45, 6. Juli 1990 Die Zeit, Nr. 33/45, 10. August 1990 Die Zeit, Nr. 34/45, 17. August 1990 Die Zeit, Nr. 37/45, 7. September 1990 Die Zeit, Nr. 38/45, 14. September 1990 Die Zeit, Nr. 38/45,14. September 1990 Die Zeit, Nr. 41/45, 5. Oktober 1990 Die Zeit, Nr. 42/45,12. Oktober 1990 Die Zeit, Nr. 45/45, 2. November 1990 Die Zeit, Nr. 48/45, 23. November 1990 Die Zeit, Nr. 50/45, 7. Dezember 1990 Die Zeit, Nr. 1/45, 28. Dezember 1990

1991 Wirtschaftswoche, Nr. 3/45, 11. Januar 1991 Wirtschaftswoche, Nr. 9/45, 22. Februar 1991 Wirtschaftswoche, Nr. 10/45, 1. März 1991 Wirtschaftswoche, Nr. 11/45, 8. März 1991 Wirtschaftswoche Nr. 14/45, 29. März 1991 Wirtschaftswoche, Nr. 22/45, 24. Mai 1991 Wirtschaftswoche, Nr. 26/45, 21. Juni 1991 Wirtschaftswoche, Nr. 27/45, 28. Juni 1991 Wirtschaftswoche, Nr. 39/45, 20. September 1991 Wirtschaftswoche, Nr. 40/45, 27. September 1991 Wirtschaftswoche, Nr. 41/45, 4. Oktober 1991. Wirtschaftswoche, Nr. 46/45, 8. November 1991 Wirtschaftswoche, Nr. 51/45, 13. Dezember 1991. Der Spiegel, Nr. 2/45, 7. Januar 1991 Der Spiegel, Nr. 3/45, 14. Januar 1991 Der Spiegel, Nr. 5/45, 28. Januar 1991 Der Spiegel, Nr. 6/45, 4. Februar 1991 Der Spiegel, Nr. 7/45, 11. Februar 1991 Der Spiegel, Nr. 9/45, 25. Februar 1991 Der Spiegel, Nr. 10/45, 4. März 1991 Der Spiegel, Nr. 12/45, 18. März 1991 Der Spiegel, Nr. 13/45, 25. März 1991 Der Spiegel, Nr. 16/45,15. AprÜ 1991

Der Spiegel, Nr. 18/45, 29. April 1991 Der Spiegel, Nr. 21/45, 20. Mai 1991 Der Spiegel, Nr. 23/45, 3. Juni 1991 Der Spiegel, Nr. 24/45, 10. Juni 1991 Der Spiegel, Nr. 25/45, 17. Juni 1991 Der Spiegel, Nr. 26/45, 24. Juni 1991 Der Spiegel, Nr. 27/45, 1. Juli 1991 Der Spiegel, Nr. 28/45, 8. Juli 1991 Der Spiegel, Nr. 29/45,15. Juli 1991 Der Spiegel, Nr. 37/45, 9. September 1991 Der Spiegel, Nr. 39/45, 23. September 1991 Der Spiegel, Nr. 40/45, 30. September 1991 Der Spiegel, Nr. 42/45, 14. Oktober 1991 Der Spiegel, Nr. 46/45, 11. November 1991 Der Spiegel, Nr. 48/45, 25. November 1991 Die Zeit, Nr. 4/46, 18. Januar 1991 Die Zeit, Nr. 5/46, 25. Januar 1991 Die Zeit, Nr. 6/46, 1. Februarl991 Die Zeit, Nr. 9/46, 22. Februar 1991 Die Zeit, Nr. 11/46, 8. März 1991 Die Zeit, Nr. 23/46, 31. März 1991 Die Zeit, Nr. 17/46,19. April 1991 Die Zeit, Nr. 22/46,17. Mai 1991 Die Zeit, Nr. 23/46, 31. Mai 1991 Die Zeit, Nr. 26/46, 21. Juni 1991 Die Zeit, Nr. 28/46, 5. Juli 1991 Die Zeit, Nr. 29/46, 12. Juli 1991 Die Zeit, Nr. 36/46, 30. August 1991 Die Zeit, Nr. 41/46, 3. Oktober 1991 Die Zeit, Nr. 42/46, 24. Oktober 1991 Die Zeit, Nr. 46/46, 8. November 1991 Die Zeit, Nr. 1/47, 27. Dezember 1991

1992 Wirtchaftswoche, Nr. 17/46, 17. 4. 1992 Wirtschaftswoche, Nr. 18/46, 24. April 1992 Wirtschaftswoche, Nr. 19/46,1. Mai 1992 Wirtschaftswoche, Nr. 21/46,15. Mai 1992 Wirtschaftswoche, Nr. 22/46, 22. Mail992 Wirtschaftswoche, Nr. 24/46. 5. Juni 1992 Wirtschaftswoche, Nr. 26/46,19. Juni 1992 Wirtschaftswoche, Nr. 27/46, 26. Juni. 1992 Wirtschaftswoche, Nr. 28/46, 3. Juli 1992 Wirtschaftswoche, Nr. 30/46, 17. Juli 1992 Wirtschaftswoche, Nr. 33/46, 7. August 1992 Wirtschaftswoche, Nr. 44/46, 23. Oktober 1992

553 Wirtschaftswoche, Nr. 45/46, 30. Oktober 1992 Wirtschaftswoche, Nr. 46/46,6. November 1992 Wirtschaftswoche, Nr. 47/46, 13. November 1992 Wirtschaftswoche, Nr. 48/46, 20. November 1992 Wirtschaftswoche, Nr. 49/46, 27. November 1992 Wirtschaftswoche, Nr. 50/46, 4. Dezember 1992 Der Spiegel Der Spiegel Der Spiegel Der Spiegel Der Spiegel Der Spiegel Der Spiegel Der Spiegel Der Spiegel Der Spiegel Der Spiegel Der Spiegel Der Spiegel Der Spiegel Der Spiegel Der Spiegel Der Spiegel Der Spiegel Der Spiegel Der Spiegel Der Spiegel Der Spiegel Der Spiegel Der Spiegel Der Spiegel Der Spiegel Der Spiegel Der Spiegel Der Spiegel Der Spiegel Der Spiegel Der Spiegel Der Spiegel Der Spiegel Der Spiegel Der Spiegel

Ν Ν Ν Ν Ν Ν Ν Ν Ν Ν Ν Ν Ν Ν Ν Ν Ν Ν Ν Ν Ν Ν Ν Ν Ν Ν Ν Ν Ν Ν Ν Ν Ν Ν Ν Ν

2/46,6. Januar 1992 3/36,13. Januar 1992 4/46,20. Januar 1992 5/46,27. Januar 1992 6/46,3. Februar 1992 9/46,24. Februar 1992 10/46,2. März 1992 11/46,9. März 1992 12/46,16. März 1992 21/46,18. März 1992 13/46,23. März 1992 14/46,30. März 1992 15/46,6. April, 1992 17/46,20. April 1992 19/46,4. Mai 1992 20/46,11. Mai 1992 21/46, 18. Mai 1992 22/46,25. Mai 1992 28/46, 6. Juni 1992 24/46, 8. Juni 1992 25/26,15. Juni 1992 27/46, 29. Juni 1992 28/46, 6. Juli 1992 30/46,20. Juli 1992 35/46,24. August 1992 36/46, 31. August 1992 37/46,7. September 1992 38/46, 14. September 1992 39/46, 21. September 1992 41/46, 5. Oktober 1992 45/46, 2. November 1992 46/46, 9. November 1992 47/46,16. November 1992 50/46, 7. Dezember 1992 51/46, 14. Dezember 1992 52/46, 21. Dezember 1992

Die Zeit, Nr. 2/47, 3. Januar 1992 Die Zeit, Nr. 2/48, 8. Januar 1992 Die Zeit, Nr. 7/47,7. Februar 1992 Die Zeit, Nr. 8/47,14. Februar 1992 Die Zeit, Nr. 13/47, 20. März 1992 Die Zeit, Nr. 14/47,27. März 1992 Die Zeit, Nr. 18/47,24. April 1992 Die Zeit, Nr. 20/47, 8. Mai 1992 Die Zeit, Nr. 28/47, 3. Juli 1992 Die Zeit, Nr. 29/47,10. Juli 1992 Die Zeit, Nr. 38/47, 11. September 1992 Die Zeit, Nr. 43/47, 16. Oktober 1992 Die Zeit, Nr. 45/47, 30. Oktober 1992

1993 Wirtschaftswoche, Nr. 1/47, 1. Januar 1993 Wirtschaftswoche, Nr. 2/47, 8. Januar 1993 Wirtschaftswoche, Nr. 3/47, 15. Januar 1993 Wirtschaftswoche, Nr. 4/47, 22. Januar 1993 Wirtschaftswoche, Nr. 5/47,29. Januar 1993 Wirtschaftswoche, Nr. 8/47,19. Februar 1993 Wirtschaftswoche, Nr. 13/47, 26. März 1993 Wirtschaftswoche, Nr. 14/47,2. April 1993 Wirtschaftswoche, Nr. 21/47, 21. Mai 1993 Wirtschaftswoche, Nr. 23/47, 4. Juni 1993 Wirtschaftswoche, Nr. 24/47,11. Juni 1993. Wirtschaftswoche, Nr. 28/47, 9. Juli 1993 Wirtschaftswoche, Nr. 30/47,23. Juli 1993 Wirtschaftswoche, Nr. 35/47, 27. August 1993 Wirtschaftswoche, Nr. 36/47, 2. September 1993 Wirtschaftswoche, Nr. 39/47, 24. 1993 Wirtschaftswoche, Nr. 46/47, 26. 1993 Wirtschaftswoche, Nr. 48/47, 26. 1993 Wirtschaftswoche, Nr. 51/47,17. 1993

September November November Dezember

Der Spiegel, Nr. 2/47,11. Januar 1993 Der Spiegel, Nr. 3/47, 18. Januar 1993 Der Spiegel, Nr. 4/47, 25. Januar 1993 Der Spiegel, Nr. 5/47, 1. Februar 1993 Der Spiegel, Nr. 7/48, 14. Februar 1993 Der Spiegel, Nr. 7/47, 15. Februar 1993 Der Spiegel, Nr. 8/47, 22. Februar 1993 Der Spiegel, Nr. 9/47, 1. März 1993

554 Der Spiegel, Nr. 12/47, 22. März 1993 Der Spiegel, Nr. Nr. 12/47, 22. März 1993 Der Spiegel, Nr. 15/47, 12. AprÜ 1993 Der Spiegel, Nr. 17/47,26. April 1993 Der Spiegel, Nr. 19/47, 10. Mai 1993 Der Spiegel, Nr. 20/47, 17. Mai 1993 Der Spiegel, Nr. 21/47, 24. Mai 1993 Der Spiegel, Nr. 22/47, 31. Mai 1993 Der Spiegel, Nr. 25/47, 21. Juni 1993 Der Spiegel, Nr. 31/47, 2. August 1993 Der Spiegel, Nr. 33/47,16. August 1993 Der Spiegel, Nr. 35/47, 27. August 1993 Der Spiegel, Nr. 38/47, 20. September 1993 Der Spiegel, Nr. 40/47,4. Oktober 1993 Der Spiegel, Nr. 41/47, 11. Oktober 1993 Der Spiegel, Nr. 46/47, 15. November 1993 Der Spiegel, Nr. 50/47, 13. Dezember 1993 Die Zeit, Nr. 2/48, 8. Januar 1993 Die Zeit, Nr. 4/48, 5. Februar 1993 Die Zeit, Nr. 6/48, 19. Februar 1993 Die Zeit, Nr. 14/48,2. April 1993 Die Zeit, Nr. 15/48,9. April 1993 Die Zeit, Nr. 17/48,23. April 1993 Die Zeit, Nr. 18/48, 30. April 1993 Die Zeit, Nr. 21/48, 21. Mai 1993 Die Zeit, Nr. 22/48,28. Mai 1993 Die Zeit, Nr. 23/48,4. Juni 1993 Die Zeit, Nr. 25/48,18. Juli 1993 Die Zeit, Nr. 46/48, 11. November 1993

1994 Wirtschaftswoche, Nr. 8/48, 18. Februar 1994 Wirtschaftswoche, Nr. 17/48, 22. AprÜ 1994 Wirtschaftswoche, Nr. 19/48, 6. Mai 1994 Wirtschaftswoche, Nr. 37/48, 9. September 1994 Der Spiegel, Nr. 1/48, 3. Januar 1994 Der Spiegel, Nr. 2/48, 10. Januar 1994 Der Spiegel, Nr. 7/48, 14. Februar 1994 Der Spiegel, Nr. 10/48, 5. März 1994 Der Spiegel, Nr. 16/48, 16. April 1994 Der Spiegel, Nr. 21/48, 23. Mai 1994 Der Spiegel, Nr. 28/48,11. Juli 94 Der Spiegel, Nr. 39/48, 26. September 1994 Der Spiegel, Nr. 44/48, 31. Oktober 1994 Der Spiegel, Nr. 46/48, 14. November 1994

Der Spiegel, Nr. 50/48, 12. Dezember 1994 Der Spiegel, Nr. 51/48,19. Dezember 1994 Der Spiegel, Nr. 52/48, 26. Dezember 1994 Die Zeit, Nr. 18/49, 19. April 1994 Die Zeit, Nr. 27/49,1. Juni 1994 Die Zeit, Nr. 32,49, 5. August 1994 Die Zeit, Nr. 37/49, 9. September 1994 Die Zeit, Nr. 38/49, 16. September 1994 Die Zeit, Nr. 39/29. 20. September 1994 Die Zeit, Nr. 38/49,30. September 1994 Die Zeit, Nr. 40/49, 25. November 1994

1995 Wirtschaftswoche, Nr. 4/49, 19. Januar 1995 Wirtschaftswoche, Nr. 7/49, 9. Februar 1995 Wirtschaftswoche, Nr. 12/49,16. März 1995 Wirtschaftswoche, Nr. 17/49, 20. April 1995 Wirtschaftswoche, Nr. 18/49, 27. April 1995 Wirtschaftswoche, Nr. 20/49,11. Mai 1995 Wirtschaftswoche, Nr. 21/49,18. Mai 1995 Wirtschaftswoche, Nr. 23/4, 1. Juni 1995 Wirtschaftswoche, Nr. 25/49,15. Juni 1995 Wirtschaftswoche, Nr. 26/49,22. Juni 1995 Wirtschaftswoche, Nr. 27/49,29. Juni 1995 Wirtschaftswoche, Nr. 28/49,6. Juli 1995 Wirtschaftswoche, Nr. 29/49,13. Juli 1995 Wirtschaftswoche, Nr. 33/49,10. August 1995 Wirtschaftswoche, Nr. 35/49, 24. August 1995 Wirtschaftswoche, Nr. 39/49,21. September 1995 Wirtschaftswoche, Nr. 40/49, 28. September 1995 Wirtschaftswoche, Nr. 41/49, 5. Oktober. 1995 Wirtschaftswoche, Nr. 42/49, 12. Oktober 1995 Wirtschaftswoche, Nr. 44/49, 26. Oktober 1995 Wirtschaftswoche, Nr. 45/49, 2. November 1995 Wirtschaftswoche, Nr. 51/49,14. Dezember 1995 Der Spiegel, Nr. 3/49, 16. Januar 1995 Der Spiegel, Nr. 6/49, 6. Februar 1995 Der Spiegel, Nr. 7/49,13. Februar 1995 Der Spiegel, Nr. 8/49, 20. Februar 1995 Der Spiegel, Nr. 11/49, 13. März 1995

555 Der Spiegel, Nr. 14/49, 30. März 1995 Der Spiegel, Nr. 15/49,10. April 1995 Der Spiegel, Nr. 16/49,17. April 1995 Der Spiegel, Nr. 18/49,1. Mai 1995 Der Spiegel, Nr. 20/49, 15. Mai 1995 Der Spiegel, Nr. 23/49, 5. Juni 1995 Der Spiegel, Nr. 24/49,12. Juni 1995 Der Spiegel, Nr. 25/49, 19. Juni 1995 Der Spiegel, Nr. 26/49,26. Juni 1995 Der Spiegel, Nr. 30/49, 24. Juli 1995 Der Spiegel, Nr. 26/49, 26. Juli 1995 Der Spiegel, Nr. 31/49,31. Juli 1995 Der Spiegel, Nr. 35/49,28. August 1995 Der Spiegel, Nr. 36/49,4. September 1995 Der Spiegel, Nr. 37/49, 11. September 1995 Der Spiegel, Nr. 43/49, 23. Oktober 1995 Der Spiegel, Nr. 51/1995, 18. Dezember 1995 Der Spiegel, Nr. 52/49, 25. Dezember 1995 Die Zeit, Nr. 17/50,21. April 1995 Die Zeit, Nr. 32/50,4. August 1995 Die Zeit, Nr. 38/50, 15. September 1995 Die Zeit, Nr. 43/50,20. Oktober 1995 Die Zeit, Nr. 50/50, 8. Dezember 1995

1996

Der Spiegel, Nr. 6/50, 5. Februar 1996 Der Spiegel, Nr. 7/50, 12. Februar 1996 Der Spiegel, Nr. 12/50, 18. März 1996 Der Spiegel, Nr. 13/50, 25. März 1996 Der Spiegel, Nr. 14/50,1. April 1996 Der Spiegel, Nr. 15/50, 8. April 1996 Der Spiegel, Nr. 16/50, 15. April 1996 Der Spiegel, Nr. 17/50, 22. April 1996 Der Spiegel, Nr. 18/50, 29. April 1996 Der Spiegel, Nr. 25/50,7. Juni 1996 Der Spiegel, Nr. 25/50, 17. Juni 1996 Die Spiegel, Nr. 35/50, 26. August 1996 Der Spiegel, Nr. 37/50, 9. September 1996 Der Spiegel, Nr. 39/50, 23. September 1996 Der Spiegel, Nr. 40/50, 30. September 1996 Der Spiegel, Nr. 41/50, 7. Oktober 1996 Der Spiegel, Nr. 44/50, 28. Oktober 1996 Der Spiegel, Nr. 45/51, 4. November 1996 Der Spiegel, Nr. 46/50, 11. November 1996 Der Spiegel, Nr. 47/50,18. November 1996 Der Spiegel, Nr. 50/50, 9. Dezember 1996 Die Zeit, Nr. 4/51,19. Januar 1996 Die Zeit, Nr. 6/51, 2. Februar 1996 Die Zeit, Nr. 5/51, 26. Februar 1996 Die Zeit, Nr. 20/51,10. Mai 1996 Die Zeit, Nr. 25/51,14. Juni 1996 Die Zeit, Nr. 32/51, 2. August 1996 Die Zeit, Nr. 43/51, 18. Oktober 1996 Die Zeit, Nr. 44/51,25. Oktober 1996 Die Zeit, Nr. 45/51. 1. November 1996

Wirtschaftswoche, Nr. 3/50, 11. Januar 1996 Wirtschaftswoche, Nr. 4/50, 18. Januar 1996 Wirtschaftswoche, Nr. 5/50, 25. Januar 1996 Wirtschaftswoche, Nr. 5/50, 25. Januar 1996 Wirtschaftswoche, Nr. 6/50, 1. Februar 1996 Wirtschaftswoche, Nr. 8/50, 15. Februar 1996 Wirtschaftswoche, Nr. 9/50, 22. Februar 1996 Wirtschaftswoche, Nr. 16/50, 11. April 1996 Wirtschaftswoche, Nr. 17/50, 18. April 1996 Wirtschaftswoche, Nr. 19/50, 2. Mai 1996 Wirtschaftswoche, Nr. 33/50, 8. August 1996 Wirtschaftswoche, Nr. 42/50, 10. Oktober 1996 Wirtschaftswoche, Nr. 45/50, 31. Oktober 1996 Wirtschaftswoche, Nr. 46/50, 7. November 1996

Wirtschaftswoche, Nr. 4/51, 16. Januar 1997 Wirtschaftswoche, Nr. 7/51, 6. Februar 1997 Wirtschaftswoche, Nr. 8/51, 13. Februar 1997 Wirtschaftswoche, Nr. 9/51, 20. Februar 1997 Wirtschaftswoche, Nr. 11/51,6. März 1997 Wirtschaftswoche, Nr. 21/51,1. Mai 1997 Wirtschaftswoche, Nr. 37/51,4. September 1997 Wirtschaftswoche, Nr. 46/51, 6. November 1997

Der Spiegel, Nr. 2/50, 8. Januar 1996 Der Spiegel, Nr. 3/50,15. Januar 1996 Der Spiegel, Nr. 4/50, 22. Januar 1996 Der Spiegel, Nr. 5/50, 29. Januar. 1996

Der Spiegel, Nr. 4/51, 20. Januar 1997 Der Spiegel, Nr. 5/51, 27. Januar 1997 Der Spiegel, Nr. 6/51, 3. Februar 1997 Der Spiegel, Nr. 9/51, 24. Februar 1997

1997

556 Der Spiegel, Nr. 12/51,17. März 1997 Der Spiegel, Nr. 16/51, H.April 1997 Der Spiegel, Nr. 17/51, 21. April 1997 Der Spiegel, Nr. 20/51, 12. Mai 1997 Der Spiegel, Nr. 22/51, 26. Mai 1997 Der Spiegel, Nr. 23/51,2. Juni 1997 Der Spiegel, Nr. 25/51, 16. Juni 1997 Der Spiegel, Nr. 34/51, 18. August 1997 Der Spiegel, Nr.39/51,22. September 1997 Der Spiegel, Nr. 40/51, 29. September 1997 Der Spiegel, Nr. 41/51, 6. Oktober 1997 Der Spiegel, Nr. 45/51, 10. November 1997 Der Spiegel, Nr. 50/51, 8. Dezember 1997 Die Zeit, Nr. 6/2, 31. Januar 1997 Die Zeit, Nr. 7/52, 7. Februar 1997 Die Zeit, Nr. 10/52, 28. Februar 1997 Die Zeit, Nr. 12/52,14. März 1997 Die Zeit, Nr. 35/52, 22. August 1997 Die Zeit, Nr. 35/52, 22. August 1997.

1998 Wirtschaftswoche, Nr. 5/52, 22. Januar 1998 Wirtschaftswoche, Nr. 9/52,19. Februar 1998 Wirtschaftswoche, Nr. 14/52, 26. März 1998 Der Spiegel, Nr. 3/51, 12. Januar 1998 Der Spiegel, Nr. 3/52, 12. Januar 1998 Der Spiegel, Nr. 15/52, 6. April 1998 Der Spiegel, Nr. 26/52, 22. Juni 1998 Der Spiegel, Nr. 27/52, 29. Juni 1998 Der Spiegel, Nr. 30/1998, 20. Juli. 1998 Der Spiegel, Nr. 34/52,17. August 1998 Der Spiegel, Nr. 39/52, 21. September 1998 Die Zeit, Nr. 7/53, 5. Februar 1998 Die Zeit, Nr. 29/53, 3. Juli 1998 Die Zeit, Nr. 39/53,17. September 1998

557

Personenregister A Abs, Hermann Josef 38 Albrecht, Ernst 175, 203, 205, 227, 244, 2 4 7 - 2 5 0 , 2 5 3 , 2 7 2 f., 277,279, 285-287, 291, 396 f., 409 Althammer, Walter 95 Apel, Hans 1 8 , 7 6 , 7 9 , 9 3 , 9 5 , 9 9 , 100-103, 105 f., 108-110, 112, 116, 118, 126, 133, 174-179, 186 Arendt, Walter 20, 50, 51-58, 79, 85, 94,101,104, 108,145 f., 150-153, 162-165, 179, 530 Arndt, Rudi 26, 76, 79 Augstein, Rudolf 354 Β Baden, Manfred 84 Bangemann, Martin 198, 244-246, 254, 258, 273, 291 f., 300 Barczynski, Jörg 242 Barzel, Rainer 130, 175 Baum, Gerhard 193-197 Bäumer, Hans Otto 181 Beck, Kurt 505 Berger, Hans 421 Biedenkopf, Kurt 122, 175, 240, 242, 246, 248, 250, 284, 313, 363, 379, 384, 398, 400 f., 410,412,414, 433, 468-472, 477 f., 481, 499, 505, 521, 528 Biehl, Dieter 105 Birg, Herwig 171 Blessing, Karl 1 1 , 3 7 - 3 9 Blüm, Norbert 56, 148, 168, 215, 219-226, 230-232, 237 f., 240, 245-249, 264, 266, 272, 273, 278, 295 f., 312 f., 316, 318, 319, 344, 347, 357, 358 f., 363-371, 373-376, 378 f., 383, 385-390, 396 f., 417, 421 f., 452 f., 455, 465-481, 504, 526, 528

Bohl, Friedrich 451, 456, 506 f. Brandt, Willy 12, 17, 18, 2 0 - 2 5 , 23, 31 - 3 3 , 35, 37,41 f., 4 4 - 4 6 , 4 9 - 5 1 , 5 6 , 6 3 - 6 5 , 7 1 - 7 4 , 77,79 f., 90, 92, 97, 121, 130, 202, 207, 350, 393, 536 Breit, Ernst 208, 231, 241 Brenner, Otto 60 Breuel, Birgit 276, 285, 331, 334-338, 340,404 Brüderle, Rainer 278 Brunner, Karl 324 Bülow, Andreas von 34, 99, 104 Buschfort, Hermann 164

C Carstens, Manfred 293,412 Carstens, Karl 215,220 Carter, Jimmy 3 Clement, Wolfgang 466, 507 Coppik, Manfred 176 f.

D Däubler-Gmelin, Herta 406 Delors, Jacques 234,326,510 Döding, Günter 241 Dönhoff, Marion Gräfin 76 Dregger, Alfred 225, 227, 229, 249, 252, 253, 273, 283, 300 Dreßler, Rudolf 358, 360, 362, 365, 370, 381, 382, 464, 470 f., 472 Driesch, Karl Heinz von der 249, 291 Ε Eberhard, Rudolf 25 f. Eekhoff, Johann 377,422 Ehmke, Horst 17, 42, 45, 55, 179 Ehrenberg, Herbert 21, 80, 86, 132, 141, 148 f., 150, 153, 158, 165, 166-170, 172, 195, 201,202 Eichel, Hans 480

558 Emminger, Otmar 37, 39, 41, 43, 46, 47,48, 63, 75, 89,103, 134, 135, 138, 139, 140, 180, 529 Engelen-Kefer, Ursula 447, 454, 465 Engels, Wolfram 67, 68 Engholm, Björn 407 f., 415 Eppelmann, Rainer 318, 447, 454 Eppler, Erhard 25-27, 94, 106 Ertl, Josef 13,102, 192, 197 f. Esser, Otto 161 F Farthmann, Friedhelm 156 Fels, Gerhard 88 Filbinger, Hans 152, 175, 530 Fink, Ulf 52, 361, 386, 409 Fischer, Joschka 506 Flach, Karl-Hermann 27, 192 Ford, Gerald 120 f., 127 Franke, Heinrich 341 Fredersdorf, Hermann 179 f., 187 Frick, Gisela 479, 494 Friderichs, Hans 31, 33, 61-63, 66 f., 84, 103, 108 f., 110-114, 126, 131-133, 164, 175, 177, 192-196 Friedman, Milton 37, 88 Friedmann, Bernhard 488 Fuchs, Anke 153 Funcke, Liselotte 96, 98, 101, 179 G Gaddum, Johann Wilhelm 179,327 Galbraith, John Kenneth 86 Gansei, Norbert 91 Gärtner, Klaus 190 Gattermann, Hans 261, 275, 284,420, 429 Geißler, Heiner 168 f., 214, 218, 221, 224, 226, 231, 240, 244, 246 f., 250, 252 f., 261 f., 264, 269, 270, 272 f., 284, 294, 300, 312 f., 384, 410, 464, 468, 475 f., 505, 532

Genscher, Hans-Dietrich 12, 16, 42, 45, 72, 103, 108, 109, 133, 164, 170, 175, 177-179, 192-194, 197 f., 201 f., 206-209, 226, 231, 249, 252, 275, 385, 399, 409, 417 George, Haimo 57 Gerhardt, Wolfgang 452, 456, 477, 492 f., 495 f., 498 f., 503, 507 Giersch, Herbert 34, 68, 83, 117, 215 Glombig, Eugen 164, 204, 208, 226 Glos, Michael 279, 282 f., 451 f., 475, 495 f. Glotz, Peter 207 f. Golke, Reiner Maria 333 Grass, Günter 394 Grimm, Georg 316 Grünbeck, Josef 273 Grüner, Martin 195 Grünheid, Karl 318 Gysi, Gregor 335 Η Haehser, Karl 104 Häfele, Hanjörg 175,215,223,258, 279 Haller, Hans 25, 27 Hamer, Eberhard 387 Hansen, Karl-Heinz 176 Härde, Alfred 76 Hasselfeldt, Gerda 380 f. Haussmann, Helmut 258, 300, 316, 318, 343, 361, 399, 417, 419, 425 Hax, Herbert 435 Heitzer, Wilhelm 281 Hengsbach, Friedhelm 364 Henkel, Hans-Olaf 388, 446 f., 450, 470,479 Henning, Ottfried 301 Hermsdorf, Hans 20, 23,28, 30 Hesse, Helmut 323 Hesselbach, Walter 99 Hickel, Rudolf 112, 344, 354 Hildebrandt, Regine 360 f., 377

559 Hintze, Peter 412, 468, 496 Hirsch, Burkhard 194,454 Hiss, Dieter 44, 93 Hoffmann, Lutz 553 Honecker, Erich 313 Höpfinger, Stefan 246 Hoppe, Hans-Günter 223, 249 Hoyer, Werner 492 Huber, Erwin 496, 501 Huber, Antje 172 Hundt, Dieter 446, 459 I Irmler, Heinrich 39, 74 f., 95 Issen, Roland 445, 453, 456 Issing, Otmar 325 f. J Jagoda, Bernhard 318, 360, 370, 372, 443 Jan, Gerhard 360 Jansen, Günther 79 Junghans, Hans-Jürgen 195 Κ Kaminsky, Horst 317 Katzer, Hans 23, 50, 55, 56, 164 Keller, Berthold 241 Keynes, John Maynard 10, 19, 123, 127, 436 Kiechle, Ignaz 235 f., 264, 300 Kiesinger, Kurt Georg 37 f. Kinkel, Klaus 331,492,507 Kirchner, Dieter 239 Kirst, Victor 98, 104 Kissinger, Henry 120 Klasen, Karl 4 6 - 4 9 , 62, 64, 66 f, 7 4 - 7 7 , 103, 108, 529 Kluncker, Heinz 64, 7 1 - 7 3 , 81, 105, 530 Koch, Gottfried 240, 334 Koch, Roland 476, 504

Kohl, Helmut 5, 6, 14, 77, 99, 101, 125-127,130,177,203,205,210 f., 215, 220 f., 223, 227, 229-237, 240, 246, 248, 250, 252 f., 257, 240, 246, 248, 250, 252 f., 257, 259, 263, 267-269, 272-278, 284-287, 290 f., 293-299, 301, 306, 308, 311-314, 316-320, 322, 324-327, 329, 337, 349-353, 356 f., 370, 372-375, 380 f., 386, 388-390, 392 f., 395-399,401-403,405-407, 4 0 9 - 4 1 3 , 4 1 5 - 4 1 8 , 421 f., 432 f., 435,438 f., 440 f., 444 f., 447 f., 4 5 0 - 4 5 6 , 4 5 8 , 4 6 6 , 4 6 9 f., 472, 4 7 4 - 4 7 6 , 4 7 9 , 4 8 1 , 4 8 6 f., 491,494, 497 f., 501,504, 506 f., 509-511, 513 f., 517 f., 520-528, 533-536 Köhler, Claus 315 Köhler, Horst 318, 323, 326,425 König, Karl 145 Krause, Günther 363, 410 Krause, Wolfram 332 Krenz, Egon 313 Kühl, Jürgen 151 Kühn, Heinz 22, 153 f. L Lafontaine, Oskar 230, 308, 315, 328, 331, 365, 393-396, 399,403,407 f., 413,418,453,454,480,483,496 f., 503, 505-508, 523, 525 Lahnstein, Manfred 18, 112,180, 206, 210, 382 Lambsdorff, Otto Graf 80, 85, 95, 97 f., 102, 105 f., 108-111, 134, 144, 157 f., 160 f., 179-182, 193-198, 200-202, 204 f., 208, 210, 214 f., 221, 224 f., 229, 232, 239, 248 f., 252 f., 254 f., 262, 269, 273, 279, 295, 300 f., 331, 374, 383, 385 f., 3 9 9 - 4 0 1 , 4 0 5 , 4 1 7 f., 432-434, 461,482,486,495

560 Leinemann, Hans Joachim 273 Leber, Georg 20, 21, 42, 242 Loderer, Eugen 65 f., 71, 75 f., 80, 104, 116,134,137,140,144,158 f., 160 f. Lohmann, Ulrich 80 Lohmann, Wolfgang 462 f. Louven, Julius 363,371,377,456,468, 471,481 Ludewig, Johannes 412,440, 446,451, 457,469,487-490 Μ Mai, Herbert 457 Maihofer, Werner 152,171,192 Maiziere, Lothar de 428 f., 317, 360 Markmann, Heinz 75 Matthäus-Maier, Ingrid 316, 402, 432, 434,483 Matthöfer, Hans 18, 108, 139, 182-191,202, 206 Mayer-Vorfelder, Gerhard 414 Mayr, Hans 66, 81 Meinecke, Erich 99, 106 Meinhold, Helmut 171 Meyer zu Bentrup, Reinhard 279, 284 Milbradt, Georg 374, 400, 410 Mischnick, Wolfgang 62, 109, 164, 166, 184, 202 Mitterand, Francis 234, 237, 510, 511 Modrow, Hans 314-316, 329, 332,464 Möller, Alex 11 f., 15-19, 21, 23-25, 2 7 - 2 9 , 34, 38,42,51,87, 529 Mommsen, Ernst Wolf 158 Müller, Albrecht 121 f., 172 Müller, Gerhard 345 Müller, Hermann 177 Müller, Peter 504 Münchmeyer, Alwin 158 Murmann, Dieter 412 Murmann, Klaus 215,384,446,450

Ν Necker, Tyll 215, 314, 337, 346, 388, 446, 487 Neumann, Bernd 301 Nixon, Richard 47, 120 Nölling, Wilhelm 53 f., 57, 114, 323 Nolte, Claudia 526 Ο Oettinger Günther 504 OfFergeld, Rainer 34, 96, 98, 100, 114 Ost, Friedhelm 409, 507 Overhaus, Manfred 514 Ρ Phillips, Alban W. 122 Pohl, Karl Otto 4 6 - 4 8 , 83 f., 134, 139, 315-317, 319f., 323 f., 368,511 Ponto, Jürgen 33, 119, 133, 158, 194 Porzner, Konrad 96 f. Poß, Joachim 482 f. Protzner, Bernd 495 R Rau, Johannes 351,386 Rauchfliß, Wolfgang 318 Repnik, Hans-Peter 494 Rexrodt, Günter 338, 354 f., 371, 373, 378, 386,424,440 f., 444,447,456, 488-491,493,495,499 Richter, Hans 335 Richter, Heinz 153 Rochard, Michael 235 Rohde, Helmut 104, 149 Rohwedder, Detlev Karsten 333 f. Romberg, Walter 318, 397, 425, 428 f. Rommel, Manfred 114-116, 278, 398 Roth, Adolf 436 Roth, Wolfgang 187,337 S Samuelson, Paul 122 Schabowski, Günter 313 Schäfer, Helmut 194 Schalk-Golodkowski, Alexander 314

561 Scharping, Rudolf 363, 374, 387-389, 441,447,483, 509 Schäuble, Wolfgang 267, 284, 287, 330, 332,354, 362-364,371,379, 385 f., 388-390, 392,404 f., 408, 410, 412, 419,447 f., 4 5 1 , 4 5 5 - 4 5 7 , 4 6 7 f., 471, 476, 479,486, 494 f., 497-499, 501-503, 506 f., 509, 523, 528 Scheel, Walter 31,42 f. 45, 46, 56, 157, 178 Schellenberg, Ernst 50, 53, 55 Sperber, Rudolf 115 Schiller, Karl 4, 10 f., 15, 17, 18-24, 2 6 - 2 9 , 31 f., 34, 3 7 - 4 9 , 51, 54, 56, 59,72, 79, 87, 106, 109, 119, 130, 215, 333, 397,422, 529, 536 Schlecht, Otto 40, 61, 66, 73, 76, 82, 83, 84, 101, 133, 141, 147, 180, 193, 210,422, 530 Schlesinger, Helmut 61, 73, 82, 139, 316, 318-320, 324-327,329,435 Schleußer, Heinz 404, 431, 483, 508 Schleyer, Hanns Martin 38, 132, 157 f. Schmidt, Helmut 4 f., 11 f., 17f., 21, 23, 2 8 - 3 5 , 37,42f., 4 5 - 4 9 , 62 f., 66 f., 7 2 - 7 4 , 76 f., 79 f., 80, 92-94, 9 6 - 9 9 , 101, 103-105, 108-110, 112, 116, 118-131, 133, 137, 141, 149,150, 153, 158-165,167, 171-173, 175, 177, 179 f., 185-187, 192, 197 f., 201 f., 205-211,392, 529, 531, 535 f., Schmidt, Hansheinrich 168 Schmidt-Bleibtreu, Bruno 230 Schmoldt, Hubertus 457 Schneider, Hans Karl 317 Schöllhorn, Johann Baptist 43,215 Schröder, Gerhard 6, 393, 396, 400, 406,408,480, 505, 524-527, 535 Schröder, Klaus 491 Schröder, Richard 330 Schüler, Manfred 3 4 , 6 1 , 9 3 Schulte, Dieter 445-447,452, 454, 465

Seehofer, Horst 311,381-383,386, 451,460-464,472,481,492 Seidler, Horst 144 Seiters, Rudolf 314, 316 f., 350 f. Sewering, Hans Joachim 169 Shulz, George 47 Siebert, Horst 318,445 Sieger, Walter 318 Sievert, Olaf 87, 133 Solow, Robert 122 Sommer, Theo 200 Späth, Heribert 446 Späth, Lothar 203, 218, 227, 242, 244, 249-253, 261,272, 277 f., 284-286, 291, 298, 301, 312 f., 316, 398, 489 Spitzmüller, Kurt 53 Steinkühler, Franz 159, 241, 337, 341 f., 345, 346, 348,350, 353-355 Stihl, Hans Peter 446 Stingl, Josef 75, 82 Stobbe, Dietrich 360 Stoiber, Edmund 488, 496, 504, 517 Stollmann, Jost 526 Stolpe, Manfred 404, 488, 495, 508 Stoltenberg, Gerhard 5, 22, 50, 98, 126, 175 f., 185, 191,203, 207, 213-219, 221-225, 227-238, 240, 245-250, 252-256, 258-272, 275-283, 287, 289, 291-304, 306, 426,434,437,438, 532 f., 536 Strauß, Franz Josef 12, 16, 23, 25, 26, 28, 37 f., 94, 122-126, 129 f., 153, 164, 175, 203, 205, 210, 213, 222, 225 f., 231, 233, 236, 251 f., 256, 261 f., 269-273, 276,278, 281 f., 284, 295 f., 299, 532 Streibl, Max 115, 249, 258, 260, 271, 285, 300, 302 Struck, Peter 408,483, 515 Stumpfe, Werner 345, 346, 449,450, 458 Süssmuth, Rita 261, 266, 300

562 Τ Teichmüller, Frank 341, 345 Thatcher, Margaret 186, 235 Thiele, Carl-Ludwig 241, 483 f., 507 Thierse, Wolfgang 488 Tietje, Hans-Hermann 525 Tietmeyer, Hans 193,210,215,324, 327, 511, 518 f. Töpfer, Klaus 300 U Uldall, Gunnar 485, 501-503 V Verheugen, Günter 179, 195, 197, 205, 207 Vetter, Heinz Oskar 50, 61 f., 66, 80, 104, 108, 110, 111, 113, 160 f. Vogel, Dieter 44, 413 Vogel, Bernhard 186,295 Vogel, Hans-Jochen 360, 393, 395,406 Voss, Friedrich 215,220,283

W Waffenschmidt, Horst 251 Wagner, Baidur 316 Waigel, Theo 231, 300, 301-304, 306, 316, 317 f., 323, 326, 337, 343, 350, 365-367, 369-374, 385, 389, 396-403, 405, 4 0 8 - 4 1 6 , 4 1 8 f., 422 f., 426-439,441,445, 451-453,470,472,476,482-486, 488,494-496,484, 499-509, 512-518, 520-522, 526, 528

Walter, Norbert 81, 138, 326 Walther, Rudi 429 Wehner, Herbert 20, 62, 92, 106, 164, 167, 176 f., 179, 197, 202, 204, 209 Weiss, Heinrich 349 Weng, Wolfgang 281, 300, 303,411, 423,436, 503 Westerwelle, Guido 452, 470, 492, 501, 507 Westphal Heinz 206, 208 Westphal, Jürgen 261 Wiehert, Günter 26 Wieczorek, Norbert 433,436 Wilhelm, Hans-Otto 301 Worms, Bernhard 232, 396 Worner, Manfred 214 Wulff, Christian 504 Wulf-Mathies, Monika 241,351 Würfel, Uta 377 Würzen, Dieter von 318 Ζ Zavelberg, Günter 261 Zeitler, Franz-Christoph 483 Zeyer, Werner 232 Ziel, Alwin 360 Zinn, Karl Georg 149 Zwickel, Klaus 242, 342, 348, 354 f., 4 4 6 - 4 5 0 , 4 5 2 - 4 5 4 , 4 5 7 f., 466, 524

563

Sachregister A Abschreibungen 116,489,519 Abwicklung 147, 287, 335f., 339f., 340, 414,427,434,438,442, 510, 534 Afghanistan 185 f. Agrarsubventionen 12, 234, 237 f., 434, 513 Alleinerziehende 373,460,491 Allensbach 100, 105, 126, 394 f., 456 Altersgrenze 50-57, 168, 375,471, 473, 475 Alterung 91,251,378,466 Angebotstheorie 8 7 - 8 9 Angestellte 56, 70, 85, 162, 164, 239, 469 Apotheker 8 Arbeitsamt 146 f., 373 Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen 345, 352, 356, 370, 372, 405 f., 414, 431 Arbeitsgemeinschaft Selbständiger Unternehmer 157 Arbeitslosengeld 142, 246 f., 267, 370, 372-374,495, 504 Arbeitslosenhilfe 142, 144,218,224, 247, 255, 267, 303, 361, 372 f., 375, 413,447 f., 473, 504,513 Arbeitslosenversicherung 85, 104 f., 166, 207, 219, 237 f., 245 f., 250, 267, 296 f., 365-368, 370-372, 378, 391, 430 f., 439,465,468,480 ARD 289, 525 Ärzte 169 f., 380-382, 461 Asylbewerber 218, 423,434, 440, 460 Aufschwung Ost 337, 406, 510, 516, 519, 528 Aussiedler 218, 352, 368 Aussperrung 198 Autobahn 20 Automobilindustrie 242, 286, 291, 383, 443

Baden-Württemberg 56, 152, 230, 240, 284-286, 291,309, 389,407,414, 422,459,471,492,497, 506 Bauern 102, 104, 201, 236 f., 264, 512 Bayern 14, 75, 115, 175, 227, 236, 256, 264, 282, 285, 302 f., 309, 381, 388, 506 Beamte 102-104, 149, 179, 215, 279, 428 Belgien 239, 521 Bevölkerungspolitik 172, 375, 377 Brandenburg 354,408,491 Bremen 101,279,285,309,312,415, 492 f. Bretton Woods 4, 35 f., 40, 47, 49 f., 89 Bund der Steuerzahler 100,102 Bundesanstalt fur Arbeit 70, 75, 82, 90, 131, 133, 136 f., 144, 147, 149, 151 f., 154, 172, 200 f., 218, 220, 222, 244 f., 255, 267, 292, 295, 297, 304,310 f., 334, 341,350, 367, 369-372,422,430,435,438,465, 473, 521, 526 Bundesausbildungsförderungsgesetz 203, 214,216,218,413,423 Bundesbankgewinne 5, 217 f., 228, 232 f., 249, 255, 259, 265, 271, 276, 285, 292-297, 299, 303, 305, 311, 404, 437 f., 521, 532 Bundesbankgesetz 30, 42, 89, 217, 326, Bundespost 20, 33, 175, 292 Bundesrat 6, 56 f., 104, 109, 116, 155, 170, 175-178, 181 f., 184-186, 203, 205, 207, 217 f., 226, 228, 256, 282, 285-287, 291, 321, 331, 370, 375, 381, 384 f., 887-389, 396,405, 407 f. 455, 480, 483 f., 497, 499, 502 f., 508 f., 513, 521, 535 f. Bundesrechnungshof 261

564 Bundesverband der Deutschen Industrie 17, 42, 157, 176, 234 f., 273, 275, 280, 314, 337, 344, 349, 388,417, 428,446,450,470,479,487 Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände 157, 343, 345, 364, 371, 384,450,453,465,479 Bundesverfassungsgericht 97, 158, 160, 225, 230, 233, 442, 482, 385 f., 496, 511,536 Bundesversicherungsanstalt fur Angestellte 162, 164 Bundeswehr 33, 109, 190 Bürokratie 115, 146, 191, 335, 362f.

Deutsches Institut fur Wirtschaftsforschung I44f., 188,341, 350, 353, 355,374, 376,436,489 Devisenbewirtschaftung 35, 44,46,49, 119, 130, 529 Die Grünen 221, 269, 294 f., 395, 407, 442, 492 f., 525, 527 Deutscher Industrie- und Handelskammertag 147,157,446,490, Diensdeistungen 30,40,140, 150 Diskontsatz 63, 76 f., 138, 139, 325, 327

C

Ε

CDU/CSU-Bundestagsfraktion 17, 213, 226, 232, 300, 330, 371, 398, 468, 471,486 CDU-Bundesparteitage 211,225,312, 411,447, 514 CDU-Bundesvorstand 221,240,264, 274, 298 301, 365, 384, 410-412, 474 CDU-Präsidium 221, 231 f., 247, 272 f., 295, 350 Commerzbank 458

D Daimler-Benz 286, 334, 458 f., 465 Demographie 257 Demonstrationen 45, 65, 169, 242, 318, 326, 335,421,454 Deutsche Angestellten Gewerkschaft 72, 164, 350,453, 456 Deutsche Bank 458 Deutsche Demokratische Republik 6, 150, 172, 226, 308,312-320, 328-336,340-344,348 f., 359-366, 375-377,391-397,405,425-429, 437 f., 464 f., 500, 511, 518, 533 f. Deutscher Gewerkschaftsbund 153, 156 f., 159-161, 168 f., 208 f., 231, 239, 241, 280, 355, 445, 447, 453 f., 465, 524

Dresdner Bank 33, 194

Ehefrauen 101, 137 Eigentum 113,160,331,340 Einheitsboom 349, 355, 370, 413 Einigungsvertrag 330, 333, 362,404 f., 414,429 Einkommenssteuer 21, 31, 97, 177, 183, 204 f., 223, 229, 249, 251, 254 f., 259, 272-275, 406, 503 Energiebesteuerung 468,486 Energiesicherheit 420 Energieversorgung 109, 112, 421, 441 Entwicklungshilfe 105, 203, 217, 434 Entwicklungsländer 88 Erblastentilgungsfonds 338 f., 414, 500, 519 f. Erbschaftssteuer 25, 96-98, 107 Ergänzungsabgabe 12, 25, 201f., 204 f., 207, 209, 214, 231 f., 371, 394, 406, 409,418 Europäische Gemeinschaft 124,185, 197, 233-236,249, 255, 260, 275-277, 283, 293-295, 298, 300, 407,413,425,439 Europäische Wirtschaftsgemeinschaft 13, 20, 42,44, 47,510 Europäisches Währungssystem 234, 326 f., 510 Europäische Union 332, 410, 489, 513 Export 69, 94, 108, 128,202, 441, 444

565

F

Facharbeiter 85,150, 221, 286 Familie 155, 191, 237, 252, 266, 387 FDP-Bundestagsfraktion 95, 102, 165, 194, 2 0 1 , 2 1 4 , 2 8 5 , 3 8 5 , 4 2 3 , 4 9 8 , 505, 508 FDP-Präsidium 209, 257, 271 275, 399, 496 Finanzplanungsrat 16, 22, 114, 517 Floating 63 f., 68 Fonds Deutsche Einheit 4 0 0 , 4 0 4 , 4 0 6 , 408,415, 427, 429, 434, 438 Frankreich 36, 48, 86, 120 f., 127, 129, 179, 234,269, 3 2 5 , 3 4 9 , 5 1 1 , 5 1 3 , 521 Frauenerwerbstätigkeit 369 Freibetrag 178, 182, 184, 222, 280, 286, 301, 484 f. Freiburger Parteitag 192, 196,197 Frühverrentung 357,448, 452, 4 6 4 - 4 6 6 , 4 7 0 , 4 8 1 , 535

G

Gastarbeiter 65, 83, 142, 150-154, 170, 173, 529 f. Geburtenrate 5, 170 f., 233, 375, 379, 532 Gegenfinanzierung 255, 235, 253 f., 263, 271, 2 7 5 - 2 7 9 , 288, 290, 295, 4 8 4 , 4 9 6 , 4 9 9 , 501, 503, 513, 533 Geldmenge 63, 73 f., 76, 81, 89, 123, 138, 318, 320, 322, 324 f., 326, 329, 357,392, 534 Geldschöpfung 519 Gemeinden (Kommunen) 11, 14, 30, 32, 72 f., 85, 90, 113-115, 181, 185, 189, 223, 247, 254, 272, 276 f., 281 f., 2 8 5 , 2 8 7 , 3 1 0 , 331,373 .f, 4 0 1 , 4 0 4 f., 4 0 6 , 4 3 2 , 4 2 9 , 4 6 0 , 4 8 5 , 487 f., 524, 531, 546 Genehmigungsverfahren 115, 118 Generationenvertrag 2 6 3 , 2 7 0 , 3 6 1 , 377, 379, 384

Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten 240 Gewerkschaft Offendiche Dienste, Transport und Verkehr 15, 64, 66, 6 8 , 7 1 - 7 3 , 1 0 5 , 2 4 1 , 3 5 0 f., 357, 454,457, 530 Gipfel 127-130, 179, 234 f., 237, 254, 294, 2 9 7 , 5 1 0 , 5 1 1 Globalisierung 453 Globalsteuerung 20, 87, 111, 125 Goldreserve 36, 518 f., 522, 528 Grenzausgleich 235 Griechenland 521 Großbritannien 44, 89, 123, 128 f., 174, 261,305,325, 349,511,521 Η Hamburg 110, 120, 179, 196, 220, 285, 415,454,488 Hartmannbund 380 Hessen 27, 182, 187, 210, 244, 492 Hochkonjunktur 1 0 , 1 2 , 7 1 , 1 4 5 Hoechst 458 I Ifo Institut für Wirtschaftsforschung 18, 97,105, 131, 1 4 4 , 3 5 5 , 4 1 7 , 4 4 3 , 450 IG Berbau 50, 335, 421, 506 f. IG Chemie 143, 335, 3 5 3 , 4 5 7 IG Druck 241 f. IG Medien 335 IG Metall 6 5 - 6 7 , 71, 75 f., 80 f., 116, 137-140, 144, 159, 187, 229, 2 3 8 - 2 4 2 , 333, 335, 337, 3 4 1 - 3 4 6 , 348, 350, 3 5 3 - 3 5 5 , 421,446, 4 4 8 - 4 5 0 , 4 5 3 , 4 5 8 f., 466,486, 524, 532, 534 Import 36, 39, 49, 88, 139, 234, 314, 420,444,485 Indonesien 187 Industriearbeiter 332, 489 Industriepolitik 125, 337 f., 340, 353 Inflation 187

566 Institut der Deutschen Wirtschaft 146, 349, 387,490 Institut fur angewandte Wirtschaftsforschung 344 Institut fur Wirtschaftsforschung in Halle 487 Internationale Währungsfonds 445 Investitionslenkung 79 f., 189, 194, 410 Irland 348 J Jäger 90 423 Jahreswagenrabatt 280,287,291 Japan 43, 86,127, 153, 213, 239, 293, 305,311,325,349 Jugoslawien 151,440 Junge Union 427 Jungsozialisten 25, 65, 102, 104, 181, 406 Κ Karenztag 204, 214, 386-389, 448, 456 f. Keynesianismus 8, 10, 11, 87, 89 Kernkraft 117, 187, 194 f. Kieler Institut fur Weltwirtschaft 138, 215,436 Kindergeld 12, 51 f., 100, 119, 176, 181-185, 189-201, 214, 218, 220 Kinderlose 224, 255, 277, 279 Kirche 6, 153, 191,406 Kirchensteuer 503 Kohlepfennig 230, 420, 4 8 2 , 4 8 4 - 4 8 6 Kommunistische Partei Deutschlands/ Marxisten-Leninisten 65 Konsum 79, 110,314,487 Konzertierte Aktion 50, 59 f., 66, 160 f., 446,449, 525 Krankenkasse 57, 167-170, 207, 311, 381-384,455, 461-464 Krankenversicherung 51, 57, 170, 219, 264, 311, 361, 382, 423, 462, 464, 467, 475 Kreditabwicklungsfonds 339, 414, 427, 434, 438, 442

Kreditanstalt für Wiederaufbau 204, 247, 520 Kriegsopfer 12 f., 51, 57, 259,473 Kündigungsschutz 84, 148, 361, 422, 455,457, 524, 527 L Länderfinanzausgleich 5,272,404,411, 416,495 f. Langzeitarbeitslosigkeit 142, 145, 246, 309 Liberalismus 92, 192, 196 Linksradikale 65, 158 Lohnabstandsgebot 447 Lohnentwicklung 54, 58, 60, 122, 141, 227, 244, 323, 341, 346, 348, 357 Lohnfortzahlung 13, 50, 355, 364, 386-388, 390,422, 452 f., 455-459,463, 506, 524, 527 f., 535 Lohn-Preis-Spirale 39, 59, 64, 67, 71, 78, 139, 529 Lohnsummensteuer 181 Lohnzusatzkosten 371,447,453 Lohnzuschläge 59,280,345 Lombardsatz 76 f., 138 f., 325 Luxemburg 44, 67, 302, 521 Μ Maastrichtkriterium 496, 517, 522, 535 Maastrichtvertrag 510,520 Maschinenbau 136, 443 Mauerfall 375 Mecklenburg-Vorpommern 354, 491 f., 527 Mehrwertsteuer 22,26,41,98, 103-106, 174-176, 181, 185 f., 191, 204 f., 210, 214, 218. 232, 249, 252 f., 263, 271, 277 f., 291, 295, 389, 397, 399, 402,405, 407-409, 414, 425,451,453, 467, 469 f., 474 f., 480 f., 493, 495 f., 500, 502, 504, 507, 526-528. Mineralölsteuer 21, 96, 252, 277, 282, 283, 288, 295, 398 f., 401, 405 f., 409, 493, 498, 508,513

567 Mitbestimmung 8,29,31, 155-161, 195,446 Mittelfristige Finanzplanung 18,21, 219, 297,433 Mittelstandsbauch 183, 257, 274 Monetarismus 19, 87, 88 f., 324 Mutterschaftsgeld 214, 224-226, 228, 233,255,257,270 Ν Neoliberalismus 363 f., 392 Nettoendastung 5, 6, 237, 260, 262, 274,275 f., 451, 503, 507 Nettokreditaufnahme 33, 105, 204, 208, 210, 213, 216 f., 217, 220, 222 f., 229,249,259, 265,292,297,299, 425,428 f., 431,433 f., 516, 520 Niederlande 120 f., 452 Niedersachsen 175, 179, 196, 230, 261, 264, 266, 287, 291, 321, 341, 361, 396 f., 403, 524 Niedriglohngebiet 342, 348, 359, 391 Niedriglohnsenktor 150, 154 f., 531 Niedrigsteuergebiet 399 f., 403, 417 Norddeutscher Rundfunk 89 Nordrhein-Westfalen 51, 153 f., 181, 221, 230, 232, 240, 246 f., 249, 261, 273, 309, 341, 361, 365, 386, 396 f., 403 f., 421, 459, 461, 483, 492 f., 505, 507 f. North Adantic Treaty Organization 2, 201, 424, 454, 487 Ο Ölkrise 4, 33 f., 67-69, 71, 78, 83, 87, 126, 151-153,211,213, 530 Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung 187, 305,417,436,445 Ostasien 526 Ostblock 312 f., 348 Ostdeutschland 6, 321 f., 335, 337, 340, 342-348, 352-357, 359f., 362, 364, 366, 368-370, 372-377, 391, 399-401, 403, 404, 406 f., 410, 412,

414-417,429,431,433,440-443, 466,469 f., 470,487-491, 516, 524, 433 f. Österreich 86, 262 Osteuropa 209, 313, 323, 344, 360, 398, 402,439,511 Oswald-Nell-Breuning-Institut 364 Ρ Partei des Demokratischen Sozialismus 330, 335,360, 527 Pflegeversicherung 365, 383-390,423 f., 442,447,455 f., 456,471,495 Phillips-Kurve 122 Polen 299, 313 f., 375 Portugal 344, 348, 234 Preissteigerung 4, 10, 16, 33, 37-41, 43,51,55, 5 9 , 6 1 , 6 2 , 6 4 f., 67, 7 3 - 7 5 , 78, 82, 122, 124, 137, 141, 268, 448 Privatflieger 282 f., 290 Privatisierung 331-334, 336-340, 391, 398,423 Produktivität 70, 134, 138, 318 f., 321, 323,340,343 f., 348, 352 f., 355, 374,391,416,440,489, 534

Q Quellensteuer 262 f., 281, 283 f., 290, 298, 301-304. 306

R Rationalisierung 80, 85, 103, 143-145, 153-155,367, 391,443,467, 530 f. Raumfahrt 423 Reagonomics 255, 262, 533 Rentenversicherung 50, 52-54, 57 f., 126, 131, 161-169, 171, 188, 207, 216, 219, 243-248, 250, 270, 281, 292, 303,310,367 f., 370 f., 377 f., 437,443,453,465-467,470-475, 478-481, 495, 500, 520 f., 536 Rentner 264, 267, 369, 375-379, 395, 467-471,475,479,487,491, 527 f. Rheinischer Merkur 525

568 Rheinland-Pfalz 14,31, 113, 175, 185, 192,285,303,407,471,492,497 Rhein-Main-Donau-Kanal 222 Ring Christlich-Demokratischer Studenten 51 Rote Armee Fraktion 133 Ruhrkohle AG 50,506 S Saarland 14, 113, 171, 175, 229, 230, 232,244, 303, 309, 321,492 Sachsen 354,388,491,526 Sachsen-Anhalt 388,488,491 Sachverständigenrat 8, 30, 40, 59, 62, 81,87, 112, 133 f., 136, 141, 146, 216, 248, 292, 309 f., 317, 325, 328, 338, 141, 146, 216, 248, 292, 309 f., 317, 325,328, 338,356,367,429, 442, 478,493, 520 Saudis 184, 191 Schleswig-Holstein 14,22,40,51,79, 98, 171, 203, 215, 218, 236, 261, 266, 269, 279, 285, 287, 301,407, 422, 471,492, 497 Schüler 214,216 Schwarzarbeit 147 Schweden 48, 68, 387, 452, 456 Selbständige 50, 53 f., 57, 60, 130, 359, 314,475 Selbstfinanzierung 255, 262 Solidaritätszuschlag 322, 402, 406 f., 407, 413,415 f., 431, 491, 493-496, 499, 503 Solidarpakt 5, 337, 339, 353, 371 f., 374,411 f., 414-416,496, 534 Sowjetische Besatzungszone 340, 391 Sowjetunion 71, 315, 330, 340, 344, 439 Sozialausschüsse 50, 51, 53, 56 f., 225, 232, 254,364 f., 385,455 Sozialbeirat 55, 163, 171,469 Sozialbeiträge 81, 92, 107 f., 322, 371, 373, 392, 394, 445, 469, 500, 520

Sozialhilfe 85,204,285,370, 372-374, 383 f., 390,413,423,446,448,452, 460 f., 463,474,481,495, 509, 535 SPD-Bundestagsfraktion 28, 42, 50, 66, 106, 149,163-165, 176 f., 182, 186, 191, 200 f., 227, 483 SPD-Präsidium 393 SPD-Bundesparteitage 508, 16, 27 f., 78 Sozialismus 79 Sozialistische Einheitspartei Deutschlands 332 Sozialunion 5, 347, 358 f., 361 f., 364, 366, 371, 373, 376, 391,405,410, 416 Spanien 151,234,349, Sparer 43, 61, 259, 322, 329 Spitzensteuersatz 25—27, 272 f., 288, 290, 501 f., 504, 508, 516 Staatsanteil 4, 29, 57, 92, 106, 212, 259, 266, 358, 437, 494 Staatssicherheit 313 Städtetag 114,278,398 Stahlindustrie 59, 66, 229, 239, 270, 485,532 Steinbruchliste 222, 224, 512 Steuererhöhung 101, 205, 394, 402, 411,432, 480, 509 Steuerkommission 25 f., 453 Streik 39, 59, 65 f., 68, 73, 78, 80 f., 97, 137, 159 f., 169, 241-243, 336, 343, 345 f., 350 f., 354 f., 357,421,455, 457-459, 529 f. Studenten 57, 103, 156, 159, 171,214, 353,413,473 StufentarifVertrag 5, 348, 357, 374, 391, 534 Subventionen 5, 12, 103, 190,207,210, 216, 218, 223, 229, 230, 232-234, 237 f., 254, 260, 263, 267, 270, 275, 279-281, 290, 292-294, 297, 318, 332, 340, 347, 391, 400f., 418-422, 425,429 f., 434 f., 451,484-486, 488,490, 493, 506 f., 513, 528, 532

569 Süderweiterung 234, 295 Symmetrische Finanzpolitik 533 Τ Tabaksteuer 21, 104, 213, 252, 285, 295 f. Tarifvertrag 242, 343, 345, 354, 386 Teilzeitarbeit 147, 468 Telekom 415, 430, 520 Thatcherismus 496 Treuhandanstalt 321, 332, 334-336, 338-340, 414, 425,427, 429, 434, 438 Trümmerfrauen 266, 270 Türkei 151, 154, 184, 186, 190 U Übersiedler 303, 315, 328, 359, 368, 395 Umtauschkurs 42, 68, 318-323, 329 Umverteilung 26, 78, 89, 92, 207, 219, 228, 239, 247 f., 322, 329,414, 446, 491 Umweltschutz 17,349,441 Ungarn 313 Unternehmenssteuer 249, 471 Unternehmer 8, 26, 62, 68, 79, 108, 116, 149, 156 f., 198,215,344, 423, 450 USA 34, 36,43,46, 83, 89,120-123, 127, 129, 139, 187, 193, 213, 228, 248,261,325,349,401,403,416

V Verband der deutschen Rentenversicherungsträger 164,474,479 Verbraucher 128, 132,420 Verheiratete 173, 181, 184, 256, 274, 288 Verkehr 13,15, 17, 20 f., 32, 103, 112, 116, 147, 241, 303, 354,400, 410, 413,415,425,491 Vermögenssteuer 25, 96, 176, 205, 224, 259, 273,400,409,434,493 f., 496 516 Vorruhestand 240 f., 243, 347, 465, 467, 532 W Werften 229, 233, 270, 280, 418,435 Wirtschaftskriminalität 335 Wirtschaftsrat 40,261,388 Wirtschaftsstandort 353, 368, 488 Wirtschaftswissenschaft 8, 37, 47, 59, 68, 75, 85, 88, 117, 122, 145, 247, 318, 325, 327, 360, 387,416, 478 Witwen 166,238,494 Wohnungsbau 13, 15, 63, 110, 125, 140, 217, 301, 394,423, 507 Ζ Zinslast 107, 213, 305, 436, 536, 532, 537 Zonenrandfbrderung 426 f. Zumutbarkeit 146-148,212 Zuwanderung 268, 440, 460 Zweites Deutsches Fernsehen 128, 398, 525 f.

Michael Stolleis

Geschichte des Sozial rechts in Deutschland 2003. X/B50 S., kt. € 16,90. UTB 2426. ISBN 978-3-8252-2426-4 Der Band bietet eine kompakte Darstellung der Geschichte des Sozialrechts in Deutschland. Der Autor stellt die Entwicklung von den Frühformen der vorindustriellen Epochen über die entscheidenden Stufen der Entstehung einer modernen Sozialversicherung ab den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts und die Fortentwicklungen der Weimarer Zeit (Arbeitslosenversicherung) dar. Die weiteren Abschnitte behandeln die NS-Zeit, Bundesrepublik und D D R sowie das vereinigte Deutschland, und schließen ab mit einem Ausblick zur Europäisierung des Sozialrechts sowie mit kritischen Fragen, ob die heutigen Formen sozialer Sicherung in der postindustriellen Welt unter veränderten gesellschaftlichen Bedingungen nicht grundlegend überdacht werden müssen. Inhaltsübersicht I. Einleitung 1. Kulturelle Bedingtheit und Wandelbarkeit sozialer Sicherung 2. Zeitliche Begrenzungen 3. Gesellschaftsformation und soziale Sicherung II.

Soziale Sicherung im Mittelalter und im frühmodernen Staat

1. Christliche Armenpflege 2. Frühmoderner Staat und Kirche 3. Der Übergang in das 19. Jahrhundert III. Sozialpolitik im Kaiserreich 1. Der Versicherungsgedanke 2. Alte Sicherungsformen und Industrielle Revolution 3. Reform versuche 4. Die Bismarcksche Sozialversicherung 5. Krankheit, Unfall, Invalidität 6. Ergänzende Gesetze und Fortentwicklung IV.

Der Erste Weltkrieg

1. Anpassungen 2. Der Vaterländische Hilfsdienst und das kollektive Arbeitsrecht 3. Kriegsfürsorge und Erwerbslosenhilfe 4. Versorgung V.

Die Weimarer Republik

1. Fürsorge 2. Jugendwohlfahrt

3. Wohnungspolitik 4. Sozialversicherung und Arbeitsrecht vor neuen Herausforderungen 5. Arbeitsgerichtsbarkeit 6. Krisenmanagement ohne Parlament VI.

VII. Nachkriegszeit, BRD und DDR 1. "Stunde Null" oder Kontinuität? 2. Von der Fürsorge zur Sozialhilfe 3. Der lange Weg zum Kinder- und Jugendhilfegesetz 4. Innere und äußere Kriegsfolgelasten 5. Soziale Unterstützung und Förderung 6. Sozialversicherung nach 1945 VIII. Sozialrecht als wissenschaftl. Disziplin IX.

Europäisierung des Sozialrechts

1. Nationale Sozialsysteme und internationale Zusammenarbeit 2. Europarecht und die werdende europäische Verfassung X.

LUCIUS LUCIUS

DerNS-Staat

1. Brüche und Kontinuität 2. Rassen- und Bevölkerungspolitik 3. Arbeitsbeschaffung und Arbeitsrecht 4. Sozialversicherung 5. Fürsorge und Versorgung 6. Sozialpolitik im Kriegsstaat

Langzeitperspektiven der sozialen Sicherung

Stuttgart

Markus C. Kerber / Dieter Spethmann / Joachim Starbatty / Franz Ludwig Graf Stauffenberg

Der Kampf um den Lissabon-Vertrag

Das Ringen der deutschen Bürgergesellschaft um die europäische Integration Eine Dokumentation Marktwirtschaftliche Reformpolitik Band 10 2010. VI/355 s., geb., € 42,-. ISBN 978-3-8282-0500-0 Die grundgesetzlich gewährleistete Befugnis, im Wege einer Verfassungsbeschwerde durch das Bundesverfassungsgericht überprüfen zu lassen, ob bei Souveränitätstransfers im Rahmen der europäischen Integration die grundgesetzliche Substanz nicht Schaden nimmt, scheint gerade im Zusammenhang mit dem Lissabon-Vertrag eine besondere politische Dimension erlangt zu haben. Die vorliegende Dokumentation vermittelt jene Tatsachen, Kommentare und Hintergründe, die von den amtlichen Trägern der politischen Willensbildung und der europäischen Integration entweder ignoriert oder der Öffentlichkeit vorenthalten werden. Die europäische Einigung wird nicht gelingen ohne mehr Öffentlichkeit: Die Dokumentation soll deshalb dazu beitragen, sich ein eigenständiges Urteil zu erlauben, welche Chancen und Risiken aber auch welche Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit gesetzt sind, um als Hüter der Verfassung gerade im Prozess der europäischen Integration zu fungieren. Inhaltsübersicht I

Dieter Spethmann: Zum Lissabonvertrag

II Markus C. Kerber: Nach der Entscheidung: Anmerkungen zum LissabonUrteil des Bundesverfassungsgerichts vom 30.6.2009 III Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 30.6.2009 IV Dieter Spethmann / Joachim Starbatty: Die Stabilitätsgemeinschaft existiert nicht mehr V Franz Ludwig Graf Stauffenberg: Zerbrechender Rechtsstaat

VI Markus C. Kerber: Der Text der Verfassungsbeschwerden vom 20.1.2009 und vom 17.9.2009 1. Die Verfassungsbeschwerde vom 20.1.2009 2. Die Verfassungsbeschwerde vom 17.9.2009 a. Der Text der Verfassungsbeschwerde b. Der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 22.9.2009 c. Anmerkungen zum Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 22.9.2009

ORDO Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft Band 60 Begründet von Walter Eucken und Franz Böhm Herausgegeben von Hans Otto Lenel, Clemens Fuest, Walter Hamm, Ernst Heuss, Wolfgang Kerber, Martin Leschke, Ernst-Joachim Mestmäcker, Wernhard Möschel, Josef Molsberger, Peter Oberender, Ingo Pies, Razeen Sally, Alfred Schüller, Viktor Vanberg, Christian Watrin, Hans Willgerodt 2009. X/642 S., geb. € 112,-. ISBN 978-3-8282-0482-9 Inhaltsübersicht: Hans Willgerodt 60 Jahrgänge Ordnungstheorie und Ordnungspolitik Steffen W. Groß/Athanassios Pitsoulis Ist .Freiheit' als .negative Freiheit' ausreichend bestimmt? Uwe Dathe Walter Euckens Weg zum Liberalismus Ernst-Joachim Mestmäcker Gesellschaft und Recht bei David Hume und Friedrich A. von Hayek Hauke Janssen Zwischen Historismus und Neoklassik: Alexander Rüstow und die Krise in der deutschen Volkswirtschaftslehre Hanno Beck Wirtschaftspolitik und Psychologie Dieter Schmidtchen Zum Verhältnis von Recht und Ökonomie in der Wettbewerbspolitik Gerhard Schwarz Über die Not-Wendigkeit von Nothilfe Albrecht F. Michler/H. Jörg Thieme Finanzmarktkrise Ulrich van Suntum/Cordelius llgmann Das Bilanzproblem der Banken Erich Weede Die Finanzmarktkrise als Legitimitätskrise des Kapitalismus

LUCIUS LUCIUS

Roland Vaubel Lehren aus der Finanzkrise Rüdiger Pohl Krisenbewältigung und Krisenvermeidung: Lehren aus der Finanzkrise Thorsten Polleit Der Krise entkommen - das Geld privatisieren Wilhelm Meyer Finanzmarktinnovationen und Finanzkrisen: Historische Perspektive Alfred Schüller Krisenprävention als ordnungspolitische Aufgabe Jürgen Volkert Unternehmen als Agenten der Armutsüberwindung und Entwicklung Ortrud Leßmann Die Rolle der Wahlfreiheit in der Armutsbekämpfung Stefan Hielscher/Markus Beckmann Social Entrepreneurship und Ordnungspolitik Klaus Beckmann/Carsten Gerrits Armutsbekämpfung durch Reduktion von Korruption Thomas C. Schelling Ökonomische Vernunft und politische Ethik

Stuttgart