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German Pages 166 [192] Year 1953
SAMMLUNG
GÖSCHEN
B A N D 709
Geschichte der Philosophie IX Die Philosophie des neunzehnten Jahrhunderts II Von G e r h a r d Lehmann
Walter de Gruyter & Co. v o r m a l s G. J . Gösdien'sdie V e r l a g s h a n d l u n g • J . Guttentag, V e r l a g s buchhandlung • Georg R e i m e r • K a r l J . T r ü b n e r • V e i t & C o m p .
Berlin
1953
Alle Rechte, einschl. der Rechte der Herstellung von Photokopien und Mikrofilmen, von der Verlagshandlung vorbehalten
Copyright 1953 by
Walter de Gruyter & Co., vormals G. J. Göschen'sche Verlagshandlung • J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung • Georg Reimer • Karl J.Trübner • Veit & Comp. Berlin W35, Genthiner Str. 13
Druck von ^
Archiv-Nr. 110 709 Saladruck, Berlin N 65, Friedr.-Krause-Ufer 24 Printed in Germany
Inhaltsübersicht I. Der Spätidealismus Friedrich Wilhelm Joseph Schelling II Christian Hermann Weiße Immanuel Hermann Fichte Gustav Theodor Fecbner Hermann Lotze Literatur
4 9 11 13 17 20 28
II. Krise der Philosophie im Vormärz David Friedrich Strauß Ludwig Feuerbach Max Stirner Marx und Engels Literatur I I I . Der Neukantianismus Materialismusstreit Hermann, v. Helmholtz Friedrich Albert Lange Otto Liebmann Wilhelm Windelband Hermann Cohen Literatur
30 34 35 37 39 50
.
52 53 57 58 63 70 74 81
IV. Weltbild und Denkform des Positivismus . . . . 84 Auguste Comte 91 John Stuart Mili 98 Wilhelm Schuppe und die Immanenzphilosophie . . 1 0 9 Richard Avenarius 114 Ernst Mach 119 Literatur 123 V. Wissenschaftssynthese Herbert Spencer Wilhelm Wundt Eduard v. Hartmann Literatur Namenverzeichnis
126 135 144 156 164 167
I.
Der Spätidealismus In älteren Philosophiegeschichten tritt der Begriff S p ä t i d e a l i s m u s nicht auf. Man spricht von christlicher Philosophie, spekulativem Theismus oder Theismus schlechthin, um die Denker zu bezeichnen, die in der Nachfolge Scbellings und Hegels, mit spekulativen Mitteln und z. T. auf dialektischem Wege, den absoluten Idealismus bekämpfen. Nachher werden sie vergessen oder doch jedenfalls als gegenwartsfremd und reaktionär abgelehnt. Erst in der Gegenwart ist man im Zusammenhang mit der Kierkegaard-Bewegung und dem „Kampf gegen den Idealismus" (s. Band I), wieder auf diese christlichen Hegelgegner aufmerksam geworden. „Der Spätidealismus ist in Tiefe und Weite seiner Problemstellungen und Problemlösungen bisher unerkannt geblieben" (K. Leese, 1929). Chr. Weiße und 1. H. Fichte, besonders aber der erste, sollten einem Programm den Rückhalt geben, das der Situation protestantischer Theologie der zwanziger Jahre entsprach. Die „Dialektik des Nein und Ja zum Idealismus" sollte bei ihnen zum Ausdruck kommen, und die „Diskussion über das Verhältnis von Christentum und idealistischer Philosophie" sollte durch sie auf eine „neue Grundlage" gestellt werden. Um diese Zeit setzte sich der Begriff Spätidealismus durch. Ihn aufzugeben, besteht keine Ursache. In zweifacher Hinsicht ist jedoch die angedeutete Blickrichtung zu eng. Erstens gehören zum Spätidealismus auch eine Reihe k a t h o l i s c h e r Denker, wie A. Günther (1783— 1863), der eine dualistische Metaphysik auf theistischer Grundlage aufgestellt, oder M. Deutinger (1815—1864), der eine „positive Philosophie" (1843 ff.) geschrieben hat. Und dann ist die spätidealistische Bewegung überhaupt in einer längeren zeitlichen Ausdehnung zu nehmen, so daß sie (mit Fechner und Lotze) unmittelbar
Der Begriff Spätidealismus
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in den N e u i d e a l i s m u s übergeht. Geschieht dies, so tritt die theologisch-konfessionelle Bindung der Spätidealisten zurück, und der eigentlich philosophische Ertrag ihrer Arbeit w i r d deutlicher. Damit verringert sich denn auch der Abstand dieser ¿christlichen" Philosophen von ihren Widersachern: den L i n k s h e g e l i a n e r n und anderen „Pantheisten" im zweiten Drittel des Jahrhunderts. Gewiß nicht als weltanschaulicher oder politischer. Aber als philosophischer, insofern es sich zeigt — wie auch sonst in der Philosophiegeschichte —, daß es gewisse Grund- und sogar Zeitprobleme gibt, die weltanschaulich „neutral" sind, und über die standpunktlichen Gegensätze hinausgreifen. Das bezieht sich z. B. auf das Problem der P e r s ö n l i c h k e i t , für das die Persönlichkeit Gottes eben nur paradigmatische Bedeutung hat; die ganze Philosophie um die Jahrhundertmitte ist „personalistisch". Oder auf das Problem des U n b e w u ß t e n , dem romantischen Leitmotiv des ohnedies mit der Spätromantik zusammenhängenden Theismus: Feuerbachs Religionspsychologie ist in ihrer Weise ebensogut eine „Psychologie des Unbewußten" wie Carus' Symbolik der menschlichen Gestalt und I. H. Fichtes Lehre vom Genius (dem „apriorischen Wesen der Eigenpersönlichkeit"). Oder auf den Begriff des M e n s c h e n , dessen Problematik überall, bei den spekulativen Theisten wie bei Feuerbach, Stirner und Marx hervortritt: sei es in Form eines neuen „Humanismus" (Feuerbach) bezw. einer Kritik alles Humanismus (Stirner), sei es als „philosophische Anthropologie" ( S t e f f e n s , I.H.Fichte, Lotze u. a.). Es bezieht sich vor allem auf den W i r k l i c h k e i t s b e g r i f f , der bei Schelling neu thematisiert wird, die Voraussetzung seiner und Weißes Freiheitslehre bildet, die Kategorienlehre der Spätidealisten beherrscht (in bemerkenswerter Annäherung an die Positionen heutiger Existenzphilosophie; gehört doch Kierkegaard selbst dem Gedankenkreise des Spätidealismus an), und der auf der anderen Seite (bei Feuerbach) das Sprungbrett zur „neuen" Philosophie, der theologiefreien „Philosophie der Zukunft", ist. Überhaupt ist der Schellingsdie Gegensatz „positiver" und „negativer" Philosophie — in mannigfaltiger Abwandlung bis zu Fechners Unterscheidung von „Tagesansicht" und „Nachtansidit" — für die Philosophie um die Jahrhundert-
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Spätidealismus
mitte charakteristisch. U n d im Zusammenhang damit der öfter auftretende Versuch (zuerst bei Eschenmayer 1803), von der Philosophie zur „Nichtphilosophie" überzugehen; was sehr Verschiedenes bedeuten kann, den Ubergang zum „Glauben" wie zum „Unglauben" bzw. dazu, einen gewissen Traditionsbestand bisheriger Philosophie zu liquidieren.
Da diese Situation mit der „Emanzipation" der N a t u r w i s s e n s c h a f t e n zusammentrifft (aber allerdings nur von Feuerbach in der Weise mit ihr zusammengedacht wird, daß die „neue", atheistische und sensualistische Philosophie sich in den Dienst des Vulgärmaterialismus damaliger Naturforscher — beileibe nicht aller — stellt), so ist es nicht verwunderlich, wenn die spätidealistische Bewegung mehr und mehr mit naturwissenschaftlichen Gedanken infiltriert wird bezw. sidi den Naturwissenschaften so anpaßt, daß der spekulativtheistische, konstruktive Charakter verlorengeht. So ist es bei Lotze und Fechner, die beide von der Medizin herkommen und die Tendenz haben, das naturwissenschaftliche Denken mit dem Idealismus zu „versöhnen". Aber diese Versöhnung hat nicht die Form eines „komplementären Idealismus" (wie bei Fr. A. Lange, H. Vaihinger und der späteren Wertphilosophie), d. h. sie ordnet nicht dem „naturwissenschaftlichen Weltbild" irgendwelche Ideale oder Werte über, die an ihm selbst nichts ändern. Vielmehr ist gerade dies das Wesentliche des „naturwissenschaftlichen" Spätidealismus, daß die naturwissenschaftlichen Voraussetzungen in metaphysische übergeführt werden, — sei es in der Weise des „teleologischen Idealismus" (Lotze), der den Mechanismus in eine universale Zweckverbundenheit aufnimmt, sei es in der massiveren Weise des Panpsychismus (Fechner), für den alles Materielle bezw. Individuelle sein Bewußtseinskorrelat und seine Stelle im Gesamtbewußtsein (Gottes) hat. Fechner und Lotze sind keine „christlichen" Philosophen im Sinne des spekulativen Theismus, so sehr sich auch Fechner um „christliche Dinge" bemüht. Die Trinitätsspekulation des älteren Spätidealismus tritt im jün-
Stellung zur Naturwissenschaft
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geren nicht mehr auf. Fechner ist Panentheist wie Krause, u n d diesem darin vergleichbar, daß er "Welt und Überwelt als einen organischen Stufenbau von Bewußtseinseinheiten a u f f a ß t . In seinen, H e r z und Gemüt erwärmenden Phantasien über Himmel und Jenseits ist er das genaue Gegenteil zu Schopenhauer, und der beredteste Vertreter des Optimismus im 19. Jahrhundert. Fechner ist von allen Spätidealisten der bekannteste. Dennoch ist seine geschichtliche Leistung: die Begründung der P s y c h o p h y s i k , eine rein fachwissenschaftliche. Der Grundgedanke des psychophysischen Parallelismus ist freilich ein philosophischer, auf Schelling-S pinoza zurückgehender. Er tritt auch bei Fechner zuerst (im Zendavesta) als philosophischer bezw. metaphysischer auf, bestimmt von hier aus die Psychophysik, und wird dann wieder (in den populären Schriften) „weltanschaulich" gewendet. Aber seine wissenschaftliche Rechtfertigung und Durchführung ist davon ganz unabhängig. Diese Gespaltenheit weist ebenso zurück auf Fechners Persönlichkeit wie auf den Zeitcharakter. Sie findet sich auch in Lotzes Werk. Aber Lotze ist in so unvergleichlich größerem Maße Systematiker, und von so viel schärferer Begrifflichkeit, daß es unmöglich wird, ihn Fechner beizuordnen. Lotzes Philosophie allein verträgt den Maßstab der klassischen Systeme. Er denkt um der Sache, nicht um irgendwelcher Gemütsbedürfnisse willen, und der etwas unangenehme Beigeschmack, den die Schriften der spekulativen Theisten besitzen, fehlt den seinigen. D a ß seine Problembearbeitung o f t zu s k e p t i s c h e n Ergebnissen f ü h r t , ist teils in der Sache, teils in seiner, von Herbart abhängigen Methode, und natürlich auch in seiner Persönlichkeit begründet. Auch bei I. H. Fichte tritt der Einfluß Herbarts auf den Spätidealismus hervor; hier aber wesentlich als Einfluß von Herbarts metaphysischem Pluralismus. Bei Lotze zeigt sich H e r barts Einfluß in der Begriffsbildung selbst, in der Analyse des Gegebenen und in der Weiterbildung der
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Spätidealismus
Methode der „Beziehungen" (s. Bd. I.). Ist Lotze im Ganzen der gegenwartsnächste unter den Spätidealisten, so ist er in der Entwicklung seiner Philosophie das beste Beispiel f ü r den V e r l a u f d e r s p ä t i d e a l i s t i s c h e n B e w e g u n g selbst: 1 8 4 1 (Metaphysik) und 1843 (Logik) noch auf dem Boden des spekulativen Theismus stehend, gelangt er in Mikrokosmus ( 1 8 5 6 , 1858, 1864), seinem verbreitetsten W e r k , zu jener „Versöhnung" zwischen Idealismus und Naturwissenschaft, die dem Materialismusstreit ein Ende bereiten soll, während das System seines Alters (1874, 1 8 7 9 ) über diese Niederungen hinaus ist, und die Identitätsthese des klassischen Idealismus in die Form einer Sinn- und Wertphilosophie aufnimmt, die dann im Neuidealismus weitergebildet wird. Was nun den A n f a n g der spätidealistischen Bewegung betrifft, so liegt er gewiß in Schetlings späterer Philosophie, aber doch nicht allein, und nicht eindeutig. Denn bekannt wurde Schellings Altersphilosophie erst durch seine Berliner Vorlesungen, und ein wirkliches Eindringen in das Alterswerk ermöglichte erst die Herausgabe des handschriftlichen Nachlasses (1856), als dessen erster Band die „Einleitung in die Philosophie der Mythologie" erschien. Damals aber war der Höhepunkt des spekulativen Theismus i. e. Sinne längst überschritten. So bleibt als zeitgenössische Quelle die Freiheitslehre von 1809, und einige wenige Äußerungen, z. B. die Vorrede zu Cousin (1834). Die Freiheitslehre enthält aber die prinzipiellen Unterscheidungen des Alterswerkes überhaupt noch nicht, und zudem hatte Schelling 1812 in der Schrift gegen Jacobi den eigentlichen Theismus einer vernichtenden Kritik unterzogen. Der historische Sachverhalt ist also insofern verwickelt, als der spekulative Theismus schon v o r Schelling auf dem Plan ist. Ende der zwanziger Jahre (1828/9) erschien Günthers Vorschule zur spekulativen Theologie, 1830 Weißes Ästhetik, 1832 I. H. Fichtes Gegensatz, Wendepunkt und Ziel heutiger Philosophie, und von 1837 an gab es sogar eine eigene Zeitschrift für Philosophie und spekulative Theologie, die I. H. Fichte redigierte, und die zum Sammelpunkt aller antihegelischen christlichen Philosophen wurde. (Sie hat, unter wechselnder Redaktion und mehrmals geänderter Zielsetzung,
Schellings Altersphilosophie
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das J a h r h u n d e r t überdauert, und ist erst nach dem ersten Weltkrieg eingegangen.) Auch hatte 1830 Fr. ]. Stahl (1802— 1861) unter Berufung auf Schelling eine Philosophie des Rechts nach geschichtlicher Ansicht veröffentlicht: die politische H y p o t h e k , die auf dem Spätidealismus lastet, w i r d hier sehr spürbar, wenngleich der Spätidealismus nicht identisch ist mit R e s t a u r a t i o n s p h i l o s o p h i e , — anders als in der (zeitlich früheren) französischen Restaurationsphilosophie besteht in Deutschland, wenigstens bei den genannten Denkern, ein deutlicher Unterschied zwischen philosophischtheologischer Begriffsbildung u n d politischer Zielsetzung. Ebenso ist hinsichtlich der Beziehungen zu Hegel der Sachverhalt nicht einfach der, d a ß man sagen könnte, Schellings Hegelkritik sei der Ausgangspunkt des späridealistischen Antihegelianismus. Denn abgesehen davon, d a ß von einem auf Interpretation beruhenden Hegelverständnis weder bei den linken noch bei den rechten Hegelgegnern die Rede sein k a n n , u n d erst recht nicht bei Schelling, der unter rationaler (negativer) Philosophie zunächst immer sein eigenes früheres System versteht, ist Weiße trotz aller Kritik an Hegel selbst H e g e lianer und sein Verhältnis zu Hegel ausgesprochen ambivalent: „Ich f a n d mich von einem bekannten System zugleich mächtig angezogen u n d hart zurückgestoßen" (1835). Dies f ü h r t ihn zu Differenzen sowohl mit I. H. Fichte als auch mit Schelling selbst. L a s s e n w i r diese geschichtlichen V e r w i c k l u n g e n a u f sich b e r u h e n , so k a n n a l l e r d i n g s Schellings Altersphilos o p h i e als R e p r ä s e n t a n t i n d e s s p e k u l a t i v e n T h e i s m u s g e l t e n . V o r a l l e m d e s w e g e n , w e i l n u r b e i Schelling j e n e historische K o n t i n u i t ä t b e s t e h t , d i e d i e V o r a u s s e t z u n g f ü r d i e B e z i e h u n g e n des S p ä t i d e a l i s m u s z u m a b s o l u t e n I d e a l i s m u s ist. Bei Schelling t r i t t d i e v o m a b s o l u t e n I d e a l i s m u s w e i t e r f ü h r e n d e P r o b l e m a t i k in d e r E n t w i c k l u n g seiner e i g e n e n P h i l o s o p h i e z u t a g e ; w i r d er Hegel n i c h t g e r e c h t , so d o c h sich selber. „ D i e V e r n u n f t h a t v o n d e m , was das Seiende selbst ist, k e i n e n a n d e r e n als e i n e n n e g a t i v e n B e g r i f f " . Sie "ist etwas bloß Wesentliches, Potentielles, etwas Allgemeines, U n p e r s ö n l i c h e s ; i h r G e g e n s t a n d ist d a s a b s o l u t N o t w e n d i g e , d . h . d a s n i c h t n i c h t z u D e n k e n d e . Sie k a n n
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Spätidealismus
nur bis an die G r e n z e des „schlechthin-transzendenten" Seins führen. Sie kann nicht von dem „ a b s o l u t außer dem Denken befindlichen Sein" ausgehen. Die Vernunft kann zwar existierende Dinge deduzieren, aber sie kann nicht deduzieren, „daß" die Dinge existieren. Schellings Ausgangsproblematik ist also eine dreifache: die des S e i n s , der G r e n z e und der E x i s t e n z . In • der ersten Hinsicht ist Schellings Altersphilosophie O n t o l o g i e , in der zweiten philosophischer K r i t i z i s m u s , in der dritten E x i s t e n z p h i l o p h i e . Sie ist dies alles aber als R e l i g i o n s p h i l o s o p h i e . Die Vernunftwissenschatf, rationale oder negative Philosophie, hat Gott zum Z i e l . Gott als „transzendentales Ideal" (Kant) ist ihr höchster Begriff, das summum cogitabile. Die positive Philosophie hat Gott, d. h. den wirklichen, lebendigen, durch Vernunftbestimmungen nicht erreichbaren Gott, zum P r i n z i p , zum Ausgangspunkt: sie ist Philosophie der M y t h o l o g i e und O f f e n b a r u n g , und eben darin die „positive" Ergänzung der rationalen Philosophie. Das Was der Dinge ist vordenklich, in apriorischen Bestimmungen gründend. Das Daß der Dinge ist unvordenklich, nur der Erfahrung zugänglich. Die positive Philosophie ist E m p i r i s m u s , insofern sie nach Tatsächlichem, sie ist „philosophischer Empirismus", insofern sie nach der „wahren Tatsache" fragt. „Daß überhaupt etwas existiere, und daß insbesondere dies Bestimmte, a priori Eingesehene in der Welt existiere, kann die Vernunft nie ohne die Erfahrung behaupten." Die positive Philosophie ist Empirismus nicht in gewöhnlichem, sondern in metaphysischem Sinne: apriorischer Empirismus (Apriorismus des Empirischen) und empirischer Apriorismus (Empirismus des Apriorischen). Die positive Philosophie ist nicht ohne die negative; beide zusammen bilden „das" System der Philosophie. Der entscheidende Punkt ist dabei der U m s c h l a g von der negativen zur positiven Philosphie: die „Krisis der Vernunftwissenschaft". Sie besteht darin, „daß Gott
Sdielling und "Weiße
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aus der Idee ausgestoßen, die Vernunftwissenschaft selbst damit verlassen (verworfen) wird." Dies bedeutet, „daß das wahrhaft Seiende erst das ist, was außer der Idee, nicht die Idee ist, sondern mehr ist als die Idee." Das ist freilich Forderung der Vernunft selber. Aber die Vernunft bzw. die (kontemplative) Vernunftwissenschaft kann diese Forderung nicht realisieren: der W i l l e erst muß das „Signal zur Umkehrung" geben. „Mittels der Kontemplation konnte das Ich im besten Falle nur die Idee wieder finden, und also auch nur den Gott, der in der Idee, der in der Vernunft eingeschlossen, in welcher er sich nicht bewegen kann, nicht aber den, der außer und über der Vernunft ist." Wie das Ich, wenn die „letzte Verzweiflung sich seiner bemächtigt", dem beschaulichen Leben Abschied geben muß, so muß es, nach Gott verlangend, nun auch Gott wollen, — und zwar den h a n d e l n d e n Gott, „bei dem eine Vorsehung ist", Gott als den „Herrn des Seins": in ihm allein sieht es sein höchstes Gut. Diese Grundgedanken von Schellings Altersphilosophie, auf deren kunstvolle Durchführung in der Lehre von den Seinspotenzen und den Potenzen Gottes (als Vater, Sohn und Geist) wir nicht eingehen können, treten in ähnlicher Form bei Weiße auf. Christian Hermann Weiße (1801—1866) ist in Leipzig geboren, studierte hier, habilitierte sich 1823, wurde 1828 Extraordinarius und 1845 Ordinarius. Er starb auch in Leipzig (wie Hegel an der Cholera). Fechner war mit ihm befreundet und Lotze sein Schüler. Zu Lebzeiten genoß er hohe Anerkennung, die besonders seiner Gelehrsamkeit und der gewissenhaften Verarbeitung des philologisch-historischen Materials galt. Daß sich seine Arbeit wesentlich auf die p r o t e s t a n t i s c h e T h e o l o g i e erstreckte, und er in sein Hauptwerk, die Philosophische Dogmatik (1855—1862), alle systematischen Positionen der Kategorienlehre, Metaphysik, Naturphilosophie, Ästhetik und Ethik aufnahm, hat sein sdinelles Vergessen im Zeitalter der immer radikaler werdenden Evangelien- und Religionskritik verschuldet. (Sein Schüler Rudolf Seydel, (1835—1892), Verfasser der ersten Preisschrift
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Spätidealismus
über Schopenhauer (1857) und Herausgeber des Weißescheff Nachlasses, hat noch in den 90er Jahren eine „Religionsphilosophie" in Weißes Sinne geschrieben. Audi R. A. Lipsius' Dogmatik (1876) ist von Weiße beeinflußt.)
Der Begriff der n e g a t i v e n Philosophie, bei der er in ganz anderem Sinne als Schelling immer Hegels „Logik" vor Augen hat, tritt bei ihm in der Form auf: daß das Notwendige, das die Vernunft zu erkennen sucht, das Nichtseiende ist, bzw. daß das von der Vernunft Erkannte nicht wirklich ist, weil „wahrhaftes Sein" und "Wirklichkeit nur dem F r e i e n , nicht Notwendigen zukommt. Der Anschluß an Schellings Freiheitslehre ist damit hergestellt. Es gibt eine "Wissenschaft vom Notwendigen, „die zu ihrem Resultate das Nichtsein des Notwendigen und die alleinige Realität des Freien hat." Diese Wissenschaft ist die Metaphysik. Man kann auch statt vom Notwendigen vom M ö g l i c h e n und vom A b s o l u t e n ausgehen. Die reine Vernunftwissenschaft hat es nicht mit dem wirklichen, sondern mit dem möglichen Gott zu tun: mit der „Möglichkeit eines lebendigen und persönlichen Urgeistes, in dessen Wirklichkeit die Möglichkeit aller Dinge enthalten oder aufgehoben ist." Dieser Gott ist das ens realissimum der Schule, dessen Realitäten eben Essenzen, Wesensbestimmungen sind, und das die höchste V e r n u n f t i d e e bildet. Er ist nicht der wirkliche Gott, sondern sein Prius, seine Voraussetzung, — dasjenige, „ohne welche das Höchste weder das Höchste wäre, noch überhaupt w a r e." Er ist das Absolute, aber nicht das positive, sondern das n e g a t i v e A b s o l u t e . Und genau wie bei Schelling ist die Metaphysik als Wissenschaft vom negativen Absoluten dazu bestimmt, sich in der Religion „aufzuheben". „Das absolute Selbstbewußtsein der Vernunft, welches die negative Philosophie zum E n d z i e l des Weltlebens macht, ist umgekehrt als Geist und freier Wille der A n f a n g alles Weltenlebens. Anders aber als Schelling, und viel stärker auf Kant zurückgreifend, faßt Weiße Zahl,
Möglichkeit und Wirklichkeit
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Raum und Zeit als den „Inbegriff des negativen Absoluten". Zwar hat Kant die „absoluten Formbegriffe" (Raum, Zeit) s u b j e k t i v genannt, aber er hat doch ihre Selbstständigkeit gegenüber den Allgemeinbegriffen (denen Weiße eine von aller Subjektivität unabhängige „Geltung" zuschreibt, worin ihm dann Lotze folgt) erkannt. Die Subjektivität von Raum und Zeit als Anschauungsformen im Sinne der transzendentalen Ästhetik Kants lehnt Weiße als „Vorurteil" ab. Aber nicht darauf kommt es an, sondern auf die durch Zahl, Raum und Zeit ja nur definierte M a t e r i e und ihre Bedeutung für die Metaphysik: das Zurückgreifen auf Kant besteht darin, daß Weiße die Materienkonstruktionen Schellings und Hegels verwirft, und nur bei Kant „eine gewissenhafte Beachtung des aus den großartigen Ergebnissen der modernen Empirie so unzweifelhaft sich herausstellenden Begriffs der materiellen Substanz" findet. Ein bemerkenswerter Vorstoß in jene, von Lotze philosophisch weiter entwickelte m e c h a n i s t i s c h e Auffassung der zeitgenössischen Physik. Überhaupt läßt sich als Beispiel für die „unwirkliche Notwendigkeit" des negativen Absoluten die M a t h e m a t i k anführen: ihre Wahrheiten kündigen sich als unbedingt Notwendiges an und dennoch als ein bloß Mögliches, „als eine jedem Wirklichen einwohnende und aller Wirklichkeit dem Sein nach vorangehende Grenze des Wirklichen, aber nicht an und für sich selbst als ein Wirkliches." Auch G o t t ist an die Gesetze der Mathematik und an die „absoluten Formbegriffe" gebunden, — nicht zwar als ein ihm Fremdes und Anderes, sondern weil in seiner eigenen „Möglichkeit" alle andere Möglichkeit „eingeschlossen" ist. Weniger einheitlich und von geringerer systematischer Kraft ist die Philosophie I. H. Ficktes, der dem Spätidealismus die entschiedene Wendung zum p e r s o n a l e n I d e a l i s m u s gibt. Zwar hatte auch Weiße (1834) den Begriff einer „absolut geistigen, aber dennoch kreatürlichen Individualität und Persönlichkeit" in den Mittelpunkt seiner Unsterblichkeitslehre gestellt, jedoch zieht erst Fichte hieraus die anthropologischen Konsequenzen. Er begegnet sich darin mit der „Lebensphilo-
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Spätidealismus
sophie" der S p ä t r o m a n t i k und entwickelt eine Lehre von der T i e f e n p e r s o n (dem „Genius" als „vorbewußtem Geistesleben"), die durch Berufung auf okkulte Erfahrungen zum S p i r i t i s m u s gedrängt wird. Dadurch allein ist Fichte freilich nicht zu charakterisieren. Seine eigentliche Bedeutung liegt auf e t h i s c h - s o z i o l o g i s c h e m Gebiete, in der Verbindung von Herbarts „beseelter Gesellschaft" mit Krauses Gemeinschafts- und Gottinnigkeitslehre (s. Bei. I), und überhaupt in der Zusammenschau der philosophischen Grundgedanken seiner Zeit. E r ist darin das Gegenteil seines Vaters: vermittelnd, ausgleichend, liebenswürdig und ein großer Organisator. Der erste „philosophische Kongreß" ( 1 8 4 7 in Gotha) ist auf seine Initiative zusammengetreten. 1796 in J e n a geboren, wurde er von der Mutter erzogen, studierte in B e r l i n hauptsächlich Philosophie, und promovierte 1818 mit einer Dissertation über den Ursprung des Neuplatonismus. Sicherlich hat er Schleiermacher, und wohl auch Krause gehört. „Meine früheren halbphilologischen Studien Plotins und des Neuplatonismus nadi seinem Ursprünge und späten Verlaufe brachten mich mit der Theosophie in Verbindung; die Beschäftigung meiner Mutter mit den christlichen Mystikern ließ mich in diese reiche Welt von Erfahrungen hineinschauen." Kurz vor dem Tode der Mutter (1819) habilitierte er sich in Berlin, stand aber — als Sohn Fichtes — im Verdachte der Demagogie, und mußte nach Hegels Berufung seine Universitätstätigkeit einstellen. Er ging als Oberlehrer nach S a a r b r ü c k e n , dann (1826) nach D ü s s e l d o r f , wo er mit Immermann, Grabbe, Schadow Umgang hatte. Bis 1836 lebte er hier; eine Fülle von Schriften fällt in diese Zeit, darunter die zweibändige biographische Sammlung der Briefe seines Vaters (1830). Weißes Bekanntschaft machte er 1829, und auch Schellings Aufmerksamkeit hatte er erregt. Dadurch erhielt er einen Ruf nach B o n n (1836), wo er 1840 Ordinarius wurde. Von 1842 bis 1863 lehrte er in Tübingen. Hier erschien die „Spekulative Theologie" (1846), das System der Ethik (1850—1853) und die Anthropologie (1855). Mit den Romantikern Justinus Kerner (der 1829 die „Seherin von Prevorst" veröffentlicht hatte), Schwab und Uhland stand er in freundschaftlicher Verbindung.
I. H. Fichte
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Der Tod seiner Frau (1862), zweier Söhne, und ein Augenleiden führten zu schweren Depressionsanfällen, die ihn zur Aufgabe der Lehrtätigkeit nötigten. Er lebte noch bis 1879 in S t u t t g a r t , wo er die zweibändige Psychologie (1864, 1875) und eine Reihe kleinerer Arbeiten schrieb. In der Darstellung seines Bildungsganges (1859) verweist Fichte auf seines Vaters Wissenschaftslehre, Kants Begriff des übersinnlichen Menschen (homo noumenon), auf Okens Naturphilosophie, Steffens' Anthropologie, — auch den Begriff des Genius (als des übernatürlich-individuellen, „apriorischen" Menschenwesens) will er Steffens verdanken. Er verweist dagegen nicht auf Hegels Enzyklopädie, in der das Subjekt der „Gefühlstotalität" gleichfalls als „Genius", und das Individuum als die „seine Wirklichkeit in sich wissende Monade" bezw. als „Selbstanschauen des Genius" bezeichnet wird, in der ferner alle Acquisite dieser Fichteschen Tiefenperson: Somnambulismus, Hellsehen, Magnetismus, zur Sprache kommen. Da die Enzyklopädie 1817 erschien, bestehen auch in dieser (wie in systematisch-methodischer) Hinsicht Abhängigkeiten, die durch Fichtes Polemik gegen Hegel verdeckt werden. Immanuel Hermann Fichtes P h i l o s o p h i e zeigt in ihrer Entwicklung vom spekulativen Theismus zur „induktiven" Metaphysik eine ähnliche Kurve wie Lotzes. Sein System selbst ist dreigliedrig: Erkenntnislehre, Ontologie, Religionsphilosophie. Die Akzente sind aber schon verschoben, als Fichte an die Religionsphilosophie ( 1 8 4 6 ) herangeht, die Ontologie tritt nicht mehr selbständig neben der Erkenntnislehre auf, sondern wird in sie einbezogen. 1 ) Fichtes E r k e n n t n i s l e h r e handelt vom „Erkennen als Selbsterkennen" ( 1 8 3 3 ) : das Selbstbewußtsein ist „Anfang, Mitte und Ende der Philosophie", und die Philosophie ist insofern „Selbstvollendung oder Selbstorientierung des Bewußtseins über seinen ursprünglichen Besitz"; was das Bewußtsein ist, bringt es philosophierend zu „bewußter Anerkenntnis". Dieser Ansatz Das ist die „Wendung zur E r k e n n t n i s t h e o r i e " , die der Zeitlage entspricht (s. u.). Sie findet sich audi bei Reinholds Sohn (Ernst Reinhold 1793—1855), der seiner „Metaphysik" (1835) eine „Theorie des menschlichen Erkenntnisvermögens" (.1832) vorhergehen l ä ß t , aber der „ O n t o l o g i e " den P l a t z in der „metaphysischen D i a l e k t i k " anweist.
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entspricht durchaus der Fnesschen Vernunftkritik (s. Bd. I), von der Fichte, — wie auch Ernst Reinhold — am stärksten beeinflußt ist. Fichtes O n t o l o g i e (1836) ist Wissenschaft von den „Formen des Wirklichen", die „in allem Seienden das schlechthin Notwendige und Gemeingültige" sind. Sie hat die „Wirklichkeit an sich" bezw. den Gedanken des Wirklichseins, abgesehen von jedem Inhalt, zu bestimmen. Sie ist die Wissenschaft von den „ewigen Formen", in welche sich alles konkret Wirkliche „einbildet", d. h. in welchen sich Gott darstellt. Insofern stimmt Fichte mit Weiße überein. Er unterscheidet sich aber dadurch von ihm, daß er den Gegensatz von negativer und positiver Philosophie ablehnt: Möglichkeit und Wirklichkeit sind ja überhaupt subjektive Denkunterschiede, — will man sie aber auf das Absolute bezw. auf Gott beziehen, wie gelangt man von der absoluten Möglichkeit zur Wirklichkeit (Gottes)? wie ist dieser „Ubergang" selber möglich? Fichtes s p e k u l a t i v e T h e o l o g i e (1846), das Hauptwerk der früheren Zeit, entwickelt die Idee Gottes als höchster persönlicher Einheit des „Idealen und Realen", als Urgrund, realer Unendlichkeit und realisierter „Einheit" der Unendlichkeit; die christliche T r i n i t ä t kommt in der Form zur Darstellung, daß Gott als eine, ewige Selbstanschauung der Vater, als Allbewußtsein der Sohn, als „selbstbewußte Einheit der real-idealen Unendlichkeit" Persönlichkeit oder der Geist ist. Später hat Fichte einen deutlichen Trennungsstrich zwischen sich und dem SDekulativen Theismus gezogen. Den „Standpunkt" des Absoluten besitzen wir nicht. Wir können nicht beanspruchen, den „theogonisch-kosmogonischen Prozeß" zu rekonstruieren: „nichts, durchaus nichts, was mit solchen Voraussetzungen zusammenhängt, . . . . ist Resultat echter Philosophie." Seine frühere Überzeugung war das nicht. Da sollte vielmehr die Person teilhaben „an dem einzig Realen, der S e l b s t v o l l z i e h u n g des Absoluten". (1834). Richtig ist
I. H. Fichte — G. Th. Fechner
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jedoch, daß Fichte mehr und mehr einem „ethischen Theismus" zuneigt, der aus der „höchsten Welttatsache" die „höchste Weltursache", d. h. aus der religiösen Erfahrung die Idee eines „ewigen Geistes" abzuleiten sucht (1876). Ihn als N e u k a n t i a n e r zu bezeichnen, ist nicht zu rechtfertigen, hat er doch (im Gegensatz zu Weiße und Lotze) das Aprioritätsproblem völlig verfehlt. Ebensowenig ist er zu den Vorläufern heutiger E x i s t e n z p h i l o s o p h i e zu rechnen (auch wenn Kierkegaard ein Buch von ihm gelesen hat): seine Ethik ist rein metaphysisch und eher Wolfis Kosmonomie vergleichbar. Ungleich den bishergenannten Denkern ist Gustav Theodor Fechner (1801—1887) ein geistsprühender, humorvoller Kopf und glänzender Schriftsteller. Sein Denken ist nicht zähflüssig, sein Pathos nicht hohl, seine Bücher sind nicht langweilig. William James, der in ihm einen Bundesgenossen im Kampf gegen das „Blockuniversum", d. i. die Philosophie des Absoluten sieht, hat ihn (1909) liebevoll charakterisiert: sein Anschauungsvermögen, seine Liebe zum Konkreten, sein Denken in Analogien, seinen „Willen zum Glauben". W e n n er ihn aber deshalb als großen Philosophen anspricht, so irrt er sich. Selbst die begeistertsten Lobredner Fechners (Paulsen, Laßwitz, Spranger) vermissen bei ihm die „Erkenntnistheorie", soll heißen, die kritische Besonnenheit. Er ist der geschickteste Advokat seiner Wünsche; seine Uberredungsgabe ist großartig. Aber er kann nicht — wie Lotze — sein Urteil zurückhalten, und unerfreuliche Antworten kann er nicht ertragen. In G r o ß ä r c h e n bei Muskau geboren, verliert er als Fünfjähriger seinen Vater und wächst im Pfarrhause des Onkels auf. Medizin will er studieren, und tut es auch (1817— 1822). D a ihm aber die wichtigsten Voraussetzungen für den ärztlichen Beruf fehlen, wendet er sich früh der Physik zu. 1823 habilitiert er sich in L e i p z i g ; seine drückende ökonomische Lage zwingt ihn zur Übernahme immer größerer Arbeiten. Auch als er schon — durch seine „MaßbestimLehmann, Gesch. d. Phil. I X
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mungen über die galvanische Kette" (1831) und andere experimentelle Untersuchungen bekanntgeworden — das Extraordinariat für Physik in Leipzig erhaben hat (1832). Da er sich kurz danach verheiratet, bringt auch das Ordinariat (1834) keine Entlastung. Die Übernahme eines „Hauslexikons", für das er jährlich 2 Bände von je 900 Seiten schreiben muß, die Überreizung der Augennerven durch optische Versuche, und wohl auch andere Gründe führen zu einer schweren Erkrankung (1840—1843). Diese ist oftmals, und auch von Techner selbst, beschrieben worden; ihr Ausgang bestimmt jedenfalls die spätere Produktion. Hatte er vorher zur Philosophie, und zu manchem anderen, nur unter dem Pseudonym des Dr. Mises Stellung genommen, in den ergötzlich zu lesenden Schriften: Beweis, daß der Mond aus Jodine besteht, Panegyrikus der jetzigen Medizin, Schutzmittel für die Cholera, Vergleichende Anatomie der Engel u. a., unter denen allerdings auch eine ernstgemeinte ist (das Büchlein vom Leben nadi dem Tode 1836), so beginnt er 1846 (mit der Schrift über das höchste Gut) die Reihe jener philosophischen Konfessionen, in welchen er unter Einsatz seines wissenschaftlichen Namens von der Beseelung der Pflanzen (Nanna 1848) und der Gestirne (Zendavesta 1851) Kunde gibt. Diese Periode endet mit einer Arbeit über die „physikalische und die philosophische Atomenlehre" (1855), in der er zu zeigen sucht, „daß die Atomistik richtig ist, weil sie für die Wissenschaft des Faktischen notwendig ist." Aus einer Intuition im Jahre 1850 hervorgegangen, ansatzartig schon im zweiten Bande des Zendavesta enthalten, ließ Fechner 1860 seine E l e m e n t e d e r P s y c h o p h y s i k , d. i. der „exakten Lehre von den Abhängigkeitsbeziehungen zwischen körperlicher und geistiger Welt" erscheinen, zu denen 1877 noch die Verteidigungsschrift „In Sachen der Psychophysik" kam (2 Jahre später gründete sein Schüler Wilhelm Wundt das erste Institut für experimentelle Psychologie), und 1876 die, ebenfalls auf experimentellen Untersuchungen fußende „Vorschule der Ästhetik". Die Summe seiner philosophisch-religiösen Überzeugungen, die beste Zusammenfassung seiner Gedanken, gab er 1879 in der „Tagesansicht gegenüber der Nachtansicht"; hier setzt er sich auch mit dem Spiritismus (seines Freundes Zöllner) auseinander, und kommt zu dem salomonischen Urteil, daß die „Tagesansicht" mit und ohne den Spiritismus bestehen könne, „bestände aber doch lieber ohne als mit demselben". In der Psychophysik, deren N a m e von 1. H. Fichte
G. Th. Fechner
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stammt, und die Fechner in äußere Psychophysik (Beziehung des Geistigen zur körperlichen Außenwelt) und innere Psychophysik (Beziehung des Geistigen zur körperlichen Innenwelt) einteilt, handelt es sich zunächst um das Maß der Empfindungen bezw. um die Mathematisierung der Empfindungsintensitäten an Hand der Reizgrößen; Fechner hat hier das W e b e r s c h e G e s e t z auf die Formel gebracht: die Empfindung ist proportional dem Logarithmus des Reizes („psychophysische Fundamentalformel"). Es handelt sich aber auch um das allgemeine Problem des Verhältnisses von Leib und Seele überhaupt, und Fechners These ist hier die des p s y c h o p h y s i s c h e n P a r a l l e l i s m u s : daß allem Seelisch/Geistigen ein Körperlich/Leibliches, und umgekehrt, entspricht, wobei diese Entsprechung eine Identität beider zur Voraussetzung hat. (Körper und Geist verhalten sich wie Innerliches und Äußerliches, wie zwei Seiten derselben Sache, wie Schrift und „Sinn" der Schrift, wie äußere Erscheinung und „Selbsterscheinung".) Das Prinzip des psychophysischen Parallelismus wurde im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts fast zu einem Bestandteil „wissenschaftlicher" Weltanschauung; heute ist es in Psychologie und Philosophie preisgegeben. Für Fechner diente es zur Rechtfertigung seiner i d e a l i s t i s c h e n Weltanschauung: daß alles Körperliche und die ganze Natur „beseelt" ist. Dies ist dann freilich ein P a n t h e i s m u s ; und da Fechner an die Existenz eines persönlichen Gottes glaubt, muß er in Schwierigkeiten geraten. Gott ist Allgeist und die Natur sein Leib; Gott ist nicht allgemeiner Geist in der Bedeutung, daß alles Bewußtsein „in das einer Vielheit von Einzelgeschöpfen aufgehoben ist", d. h. alles Bewußtsein, und damit das „Bewußtsein des Alls" läuft für Fechner in ein „einiges höchstes bewußtes Wesen" zusammen. Gott ist die allgemeine Bewußtseinsverknüpfung, die höchste Individualität, das „Band" und der „Träger" aller Individualitäten; er ist einiger und selbständiger als sie alle; aber er unterscheidet sich von keiner mehr, weil er sie alle in sich selbst unterscheidet. 2*
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Wenn aber Gott so nichts mehr gegenübersteht, wird es für ihn auch keine „Natur" geben. Hierüber hat sich Fechner (im Zendavesta) ausführlich geäußert; doch gelingt es ihm nicht, Theismus und Pantheismus in Einklang zu bringen. Für den theistischen Standpunkt ist es sinnlos, von Gott zu sagen, er hätte eine „äußere Seite", die Natur wäre für ihn seine „äußere" Erscheinung. Für den Pantheismus ist es sinnlos, der lebendigen und beseelten Welt noch eine besondere Seele als „Träger" zugrundezulegen. Zwar haben auch andere Denker (Krause, I. H. Fichte) einen P a n e n t h e i s m u s , d. h. eine Verbindung von Theismus und Pantheismus erstrebt. Aber nicht wie Fechner unter Voraussetzung des psychophysischen Parallelismus. Von den letzten und höchsten Dingen sollte man, nach Fechner, nicht als von T r a n s z e n d e n t e m sprechen. Das Absolute, das „Wesen" hinter den Erscheinungen, das Sein, die Monaden — das alles sind „dunkle Dinge", die Gott selbst verdunkeln. Die Metaphysik kann nichts aus Prinzipien deduzieren; sie muß Metaphysik von unten, i n d u k t i v e Metaphysik sein. Unmittelbar gewiß ist nur das eigene Bewußtsein, alles andere sind Analogieen. Warum also nicht den Weg der „Tagesansicht" beschreiten, und die Welt in ihrer ganzen Erlebnisfülle als wirklich anerkennen, anstatt sie uns durch die „Negationen der Nachtansicht" zu entfremden? Die Einsicht freilich, daß Erlebnis und Erfahrung auf Aporieen führen und daß auch die Glaubensbedürfnisse zwiespältig sind, kann man von Fechner nicht erwarten; hätte er doch sonst seine phantasiereichen Einfälle: von den kugligen Engeln bis zur Äthersprache der Sterne, als wertlose Metaphern preisgeben müssen. Erst in den Werken Hermann Lotzes erhebt sich die Philosophie wieder zu jener Sachlichkeit und allgemeinen Bedeutsamkeit, die sie bei Hegel besaß, und die von weltanschaulichen Absichten oder Ergebnissen ganz unabhängig ist. Dabei ist Lotzes Denkweise so völlig verschieden von Hegels, so sehr bloße „Reflexionsphilosophie", so ängstlich-vorsichtig und zögernd, daß der Eindruck der Kraftlosigkeit und Gehemmtheit entstehen muß. „Durch seinen reichen Geist und luxurierenden Scharfsinn verleitet", wiege er sich unaufhörlich zwischen
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den vielseitigsten Erwägungen hin und her und lasse schwer erkennen, „wohin seine eigentliche und letzte Meinung falle" (I. H. Fichte 1859). Für Lotze freilich handelt es sich nicht so sehr um letzte Meinungen als darum, den P r o b l e m e n gerecht zu werden, und „nicht über der einseitigen Ausbildung eines einzigen Gedankenkreises die Übersicht über die volle Mannigfaltigkeit der Untersuchungsgegenstände" zu verlieren. Dies ist es, was ihn mit Leibniz und Herbart verbindet, und was ihn — trotzdem er seine idealistische und theistische Meinung nicht verschweigt — hindert, sich zur Unzeit auf das „hohe Pferd des neueren Idealismus" zu setzen. Er weiß auch, daß viele Probleme nur gerade eben gestellt, aber nicht gelöst werden können, „daß wir nicht wirklich sich Alles in Licht auflösen sehen, sondern nur glauben können, daß es geschehe." Und die berühmten Abschlußworte der Metaphysik: „Gott weiß es besser", sollen nicht nur bezeugen, daß ihm jedes „Bewußtsein der Unfehlbarkeit" mangele, sondern sie sollen überhaupt die Möglichkeit des I r r t u m s in der Philosophie zur Geltung bringen. So ist Lotze unter allen Systematikern der unsystematischste, von tiefem Mißtrauen gegen die systematischen Konstruktionen des Idealismus erfüllt, und dennoch überzeugt davon, daß alles R e a l e nichts ist als verwirklichtes I d e a l e s , und daß in dem, was sein s o l l , der Grund dessen, was i s t , zu suchen sei. Dies macht sein Verhältnis zum klassischen Idealismus nicht zweideutig, aber gespannt und kritisch. Nur daß es ihm nicht auf die Kritik ankommt, sondern darauf, in anderer Zeit mit anderen Maßstäben und Voraussetzungen Ähnliches zu leisten. Rudolf Hermann Lotze ist am 21. Mai 1817 in B a u t z e n (Lausitz) als Sohn eines Militärarztes geboren. Frühreif, studiert er schon mit 17 Jahren in L e i p z i g Medizin und Philosophie (bei Weiße). „Das Studium der Medizin. . . führte die Notwendigkeit naturwissenschaftlicher Belehrung und damit ohne Weitläufigkeit die Einsicht in die völlige Unhaltbarkeit eines großen Teiles der Hegelsdien Ansichten
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oder vielmehr ihres Ganzen in der Form, die ihnen gegeben war, mit sich" (1857). 1838 promoviert er in beiden Fakultäten; 1839 wird er in Leipzig Dozent, 1842 Extraordinarius, und 1844 erhält er einen Ruf nach G ö t t i n g e n als Nachfolger Herbarts. In Göttingen verbrachte er, ohne wesentliche äußeren Ereignisse, in freundschaftlichsten Beziehungen zu den Kollegen, und aller Rufe anderer Universitäten ablehnend, fast sein ganzes Leben, bis er sich schließlich (1881) doch für B e r l i n entschied. Seine Frau war gestorben, seine Söhne hatten das väterliche Haus verlassen; die Überlast an Fakultätsgeschäften, denen er sich in Göttingen nicht entziehen konnte, hoffte er loszuwerden, aber der Wechsel wurde ihm zum Verhängnis: schon im ersten Semester starb er (am 1. Juli 1881) an Lungenentzündung. Lotze, „das kleine hagere Männchen mit dem großen durchgebildeten Haupte", erscheint in den Briefen als einer der liebenswürdigsten und ausgeglichensten Persönlichkeiten. (Seine Korrespondenz mit Hirzel ist das volle Gegenteil zu Schopenhauers Briefen an Brockhaus). Eine gewisse Hypochondrie und ständiges Seufzen über Arbeitslast, Kränklichkeit, Lebenswiderwärtigkeiten, unterstreichen nur seine Neigung zur Beschaulichkeit und Ruhe. Von Anfang an stehen Philosophie und Naturwissenschaft bei ihm in Personalunion: anders als Techner denkt er stets auf beiden Gleisen, und die Philosophie behandelt er mit derselben Exaktheit wie Physiologie und medizinische Psychologie. Diese Exaktheit betrifft nicht das Äußere des Systems, dessen Gliederung wechselt, auch nicht die systematische Durchführung, sondern die genaue Problembestimmung. Unbeirrbar durch Scheinlösungen oder unvollständige Antworten, besitzt er jene „Beharrlichkeit und Zähigkeit", deren Mangel er als den „gewöhnlichsten Fehler beim Philosophieren" betrachtet. Es gibt nach Lotze „keinen geheimnisvollen methodischen Weg gegenüber dem, auf welchem der einfache Gebrauch unseres Verstandes uns alle leite» kann." Z w a r gilt auch ihm die d i a l e k t i s c h e Entwicklung der Idee „für die einzig wahre Angabe" eines Wirklichkeitsbegriffs. „Aber je lebhafter ich von dieser Überzeugung durchdrungen bin, umso weniger war ich geneigt, den guten Willen für die T a t zu nehmen und die Munterkeit zu bewundern, mit
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der ich Manchen auf diese unnahbare Aufgabe immer guter Dinge anspringen sah". Das Ausgehen vom Subjekt im Sinne des e r k e n n t n i s t h e o r e t i s c h e n Idealismus ist nicht minder ergebnislos. Es ist „unmöglich, voraussetzungslos und mit vollständig unvoreingenommenen Augen der Entstehung unserer Vorstellungen beobachtend zuzusehen, um daraus die Grenzen ihrer Giltigkeit zu bestimmen", und Lotze ergießt seinen Spott über das beständige „Wetzen des Messers", wenn es nichts zu schneiden gibt, oder über das Stimmen der Instrumente, wenn man die „Harmonie, die man hervorbringen will", nicht kennt. Diese Polemik, die sich nicht zufällig in ähnlichem Bilde bei Hegel findet, bezeugt gewiß Lotzes O b j e k t i v i s m u s . Sie bedeut aber nicht, daß er das Erkenntnisproblem verfehlt oder zu leicht- genommen hätte. Im Gegenteil hat die Erkenntnislehre sowohl in der ersten Metaphysik (1841) als auch später einen bevorzugten systematischen Platz. In den Metaphysikdiktaten (von 1871) teilt Lotze die Metaphysik in O n t o l o g i e , K o s m o l o g i e und P h ä n o m e n o l o g i e ein, und behandelt in der letzteren die „Subjektivität" der Erkenntnis und die „Bedeutung des Erkennens". In der großen Metaphysik tritt zwar nicht die Erkenntnis als letztes Glied auf, sondern die P s y c h o l o g i e („Lehre von dem geistigen Dasein"). Dafür aber schließt die L o g i k (1874), der erste Teil des Systems, mit dem „Erkennen", und ist insofern „erkenntnistheoretische Logik". Lotze ist damit der Vertreter eines Logik-Typus, dem auch die anderen großen Logikwerke gegen Ende des Jahrhunderts angehören: die Logik von Sigwart (1873—1878), von Schuppe (1878) und von Wundt (1880—1883).
Fragt man nach dem Inhalt von Lotzes M e t a p h y s i k , ohne Berücksichtigung ihrer Entwicklungsgeschichte, so läßt sich sachlich am einfachsten vom dritten Bande des Hauptwerkes der mittleren Periode, dem „Mikrokosmus" ausgehen, historisch dagegen von Lotzes Verhältnis zu Herbart. Was nämlich Lotze an dieser Stelle unter dem, auch sonst auftretenden Stichwort: V o m Z u s a m m e n h a n g d e r D i n g e , entwickelt, ist einerseits die idealistische „Widerlegung" der Her-
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Mariischen Metaphysik, andererseits die Bearbeitung u n d Weiterbildung der v o n Herbart aufgezeigten Probleme. An seiner, mehr gefühlsmäßig bedingten, E i n s t e l l u n g zu Herbart hat Lotze keinen Zweifel gelassen. „Der letzte der Herbartianer zu sein, ist vielleicht nicht ganz so schön, als der letzte der Homeriden zu sein; gleichwohl ist meine Hochachtung vor der großen geistigen Kraft Herbarts so aufrichtig, daß ich nicht beklagen würde, jene Stelle einzunehmen, sondern eher beklagte, daß es mir ganz unmöglich ist, sie mir zuteilen zu lassen." Diesen an I. H. Fichte gerichteten Worten (1857) fügt er die förmliche „Bitte" hinzu, ihn künftig „nicht zu den Anhängern Herbarts, sondern zu seinen entschiedensten, aber ihm gegenüber auch bescheidenen Gegnern zu rechnien", und zwar als einen „alten Gesinnungsgenossen Ihrer Partei im Allgemeinen", d. h. als einen Vertreter des spekulativen Theismus. In der Tat sind es die wichtigsten Positionen Herbarts, die Lotze bestreitet: die Trennung von Sein und Sollen, Metaphysik und „Ästhetik", die Realenlehre (als einen Pluralismus letzter Seinspunkte), die Psychologie. Dem Satze Herbarts, „daß das Sein auf kein Sollen hindeute, stellte sich in meinem Innern das Bewußtsein entgegen, von dem andern Ende eben ausgegangen zu sein, und gefunden zu haben, daß in dem Sollen eine sehr starke Hindeutung auf Sein liege." Schwerlich aber wird sich verkennen lassen, daß gerade das Besondere der Lotzeschen Leistung, und dasjenige, was ihn von anderen Spätidealisten unterscheidet, in seinem p o s i t i v e n Verhältnis zu Herbart besteht. D i e alte Frage nach dem Sein der Dinge, die G r u n d f r a g e der Ontologie, b e a n t w o r t e t Lotze mit dem sehr einfachen Satze: das Sein ist ein „ S t e h e n i n B e z i e h u n g e n " . Sollte nämlich gesagt w e r d e n , das Sein ist das schlechthin Gesetzte (Herharts „absolute P o sition"), so w ä r e zu entgegnen: „Nichts k a n n schlechthin gesetzt w e r d e n , ohne etwie oder etwohin, in irgendeine Lage oder Beziehung, gesetzt zu w e r d e n . " Sagte m a n weiter: e r s t m ü ß t e n doch die D i n g e „sein", ehe sie in Beziehungen (zu einander oder zu uns) stehen k ö n n e n , so steckt die ganze Problematik in jenem „erst". W a s in logischer Hinsicht z u t r i f f t (daß wir „erst" das Sein eines Dinges ins Auge fassen, d. h. seinen Unterschied
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vom Nichtsein, und „dann" seine Bestimmungen oder Beziehungen), braucht ja in metaphysischer Hinsicht durchaus riicht zuzutreffen. Vielmehr ist evident, daß ein Sein, welches beziehungslos „ist", überhaupt nicht mehr in diejenigen Beziehungen eintreten k a n n , „durch die es sich in der Wirklichkeit als ein Wirkliches neben anderen geltend machen würde." Stellt man sich (mit Herbart) vor, jedes Reale schwimme an sich „vollkommen beziehungslos in seinem reinen Sein", aber es könne dann doch in Beziehungen zu Anderen treten (weil es tatsächlich in solchen steht), so erweist sich diese Vorstellung als wertlos im Hinblick auf denjenigen W i r k u n g s z u s a m m e n h a n g , den wir meinen, wenn wir von „Wirklichkeit" sprechen: „Nichts i s t . . . in der Wirklichkeit zurückgeblieben, was außer aller Beziehung sich in seinem reinen Sein isolierte oder noch isolieren könnte." Aber ein Stehen der Dinge in „Beziehung" scheint zu bedeuten, daß es „zwischen" ihnen etwas gibt, ein „Band", eine „Macht", die sie verknüpft. Gesetzt, es sei so, dann wäre doch immer zu verlangen, daß die Dinge von den Beziehungen zwischen ihnen etwas „merken und leiden". „Nur von dem, was in ihm selbst wirklich ist, nur von seinem eigenen Leiden, kann jedes Wesen zur Veränderung seiner Zustände veranlaßt werden." Für Herbart war solche Zustandsveränderung Selbsterhaltung gegen „Störungen". Für Lotze sind Störungen und Selbsterhaltungen positiv zu nehmen als Ausdruck jener W e c h s e l w i r k u n g , in der. alle reale Beziehung besteht, und die das einzige ist, was es „zwischen" den Dingen gibt. „Andere objektive Beziehungen außer diesem lebendigen Tun und Leiden gibt es nicht, am wenigsten solche, in denen die Dinge vorläufig bloß ständen, u m . . . später wirken zu müssen." Die Wirklichkeit ist so ein „ewiger, allgemeiner, innerlicher Strom von Wechselwirkung in den Dingen."
Das ist der k o n k r e t e M o n i s m u s Lotzes im Gegensatz zum a b s t r a k t e n P l u r a l i s m u s Herbarts, — in unmittelbarer Umkehrung Herbarts, unter Beibehaltung von dessen Methode gewonnen. Müssen wir nämlich nach Herbart, wenn wir mit Einem nicht
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a u s k o m m e n , Viieles setzen, so müssen wir nach Lotze, weil wir m i t vielen letzten, gegeneinander a b g e k a p s e l ten Einheiten nicht a u s k o m m e n , ein „einziges S e i e n d e s " anerkennen, „ d e m die P r ä d i k a t e eines w a h r h a f t R e a l e n zukommen." Dieses Ergebnis f o l g t aus der, v o n Lotze mit musterh a f t e r P r ä g n a n z durchgeführten A n a l y s e der "Wechselw i r k u n g b z w . K a u s a l i t ä t , u n d des Nachweises, daß es eine „ t r a n s e u n t e " (auf ein s y s t e m f r e m d e s G l i e d übergreifende) K a u s a l i t ä t nicht geben k a n n , sondern nur eine „ i m m a n e n t e " (innerhalb desselben S y s t e m s v e r bleibende). E s läßt sich auch so fassen, d a ß die „ e n d lichen V i e l e n " in der „Einheit des U n e n d l i c h e n " s ü b s t a n z i e l 1 v e r k n ü p f t sind (Spinoza), u n d nur als „ T e i l e " einer sie u m f a s s e n d e n S u b s t a n z in "Wechselwirk u n g stehen können. E s ist d a n n aber z u sehen, d a ß die „unendliche S u b s t a n z " nicht die M a t e r i e sein k a n n . Denn die Materie ist „bloße Erscheinung, die aus einer Vielheit Wechsel wirkender diskreter Atome besteht." Materielle Dinge sind räumlich ausgedehnt, und der Raum ist weder selbst ein Ding, noch Ordnung, Verhältnis oder Form der Dinge. Räumliche Beziehungen sind nur im „Bewußtsein des beziehenden Geistes". Insofern schließt Lotze sich (im Gegensatz zu Weiße) Kants Lehre von der Idealität des Raumes und (mit gewissen Einschränkungen) auch der Zeit an. Den Materialismus bekämpft er auch aus dem Grunde, weil sich das geistige (psychische) Leben nicht aus der Materie ableiten läßt, sondern nur aus dem entstehen kann, „was in der sogenannten Materie m e h r als bloße Materie, d. h. als bloße Raumerfüllung und Bewegungskraft vorhanden ist." Andererseits widersetzt er sich jedweder Lehre von der „Lebenskraft" (Vitalismus) und der Allbeseelung (im Sinne Fechners). Sein Artikel: „Leben. Lebenskraft" (in Wagners Handwörterbuch der Psysiologie 1842) hat im Kampf gegen die romantische Naturphilosophie historische Bedeutung erlangt und den Sieg der m e c h a n i s t i s c h e n Auffassung vorbereitet. H a t man Lotze hier häufig mißverstanden, so deshalb, weil man nicht sah, daß M a t e r i a l i s m u s und M e c h a n i s m u s von ihm auf schärfste getrennt werden: der Mechanismus hat für Lotze, so kann man es (dialektisch) ausdrücken, einen nichtmechanischen (teleologischen) S i n n .
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Der Mechanismus ist von „unbeschränkter Gültigkeit" und dennoch von „durchaus untergeordneter Bedeutung im Ganzen der W e l t " . Das soll nicht heißen, es bestände „erst" ein „vorweltlicher Rechtskodex absoluter Mechanik nebst einem eisernen Bestand realer Elemente" und dann komme eine ordnende Macht „hinzu", die sich dieses Hilfsmittels bedient. Sondern das „Erste" ist die „lebendige Natur des W i r k lichen" in jener Wesenseinheit, die sich nur dem menschlichen Gedanken vergleichen läßt, und aus diesem „Sinn", der alles durchwaltet, folgt die allgemeine Gesetzlichkeit bzw. der universale Mechanismus als die zweckmäßigste R e a l i s i e rungsform. D e r Mechanismus ist also eine „Technik der N a t u r " (Kant) b z w . eine Technik jenes „Mittelwesens", das in der Religionsphilosophie m e h r und mehr t h e i s t i s c h e Züge erhält. Sind alle realen Wechselwirkungen nur als gespürte o d e r erlebte, so w i r d dem äußerlichen Erscheinungszusammenhange ein metaphysisch- p e r s o n a l e r entsprechen b z w . zugrunde liegen, der selbst seine E i n heit in der Persönlichkeit G o t t e s besitzt: wir können G o t t nicht unpersönlich denken; w i r können auch nicht (mit Schelling und Weiße) der Wirklichkeit ein „Reich ewiger W a h r h e i t e n , f o r m e l l e r N o t w e n d i g k e i t e n , abstrakter G r u n d l i n i e n " als „absolutes P r i u s " im g ö t t lichen W e s e n v o r a n g e h e n lassen: die ewigen W a h r h e i t e n sind nichts als die „Verfahrungsweisen des Schaffens selbst". Dieser Abschluß der Lotzeschen Philosophie, den er nur als seinen „philososophisdien Glauben" bezeichnet, und mit allen Vorbehalten umgibt, hätte an sich nichts sonderlich Bemerkenswertes, wenn Lotze ihn nicht mit einer A n a l y s e d e s S e l b s t b e w u ß t s e i n s verbunden hätte, die noch einmal den Scharfsinn und die Tiefe seines Denkens erkennen läßt: Ichbewußtsein ist nicht bloßes „Haben" des Ich als des je meinigen, sondern Miterleben dessen, was es heißt, „ T r ä ger" inneren Lebens zu sein; Ichbewußtsein ist nicht, den Gegensatz von Ich und Nicht-Ich denken, sondern „unmittelbares Selbstgefühl", das diesen Gegensatz (von Ich und NichtIch) erst möglich macht und die Gewähr dafür gibt, daß wir ihn ah „beispiellosen", anderen Objektbeziehungen unvergleichlichen, empfinden; Ichbewußtsein ist nicht „Reflexion"
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eines noch selbstlosen Wesens durch äußeren Widerstand, sondern u r s p r ü n g l i c h e s F ü r s i c h s e i n , dem nur die Anreize seines „Handelns" von außen gegeben sind.
a) b)
c)
d)
Literatur I. Ausgaben und Neuausgaben Schelling: Siehe Philosophie des 19. Jahrhunderts I. Weiße: System der Ästhetik I — I I 1830. — Über das Verhältnis des Publicums zur Philosophie in dem Zeitpunkte von Hegels Abscheiden 1832. — Die Idèe der Gottheit 1833. — Die philosophische Geheimlehre von der Unsterblichkeit des menschlichen Individuums 1834. — Grundzüge der Metaphysik 1835. — Das philosophische Problem der Gegenwart, Sendschreiben an Fichte 1842. — In welchem Sinne die deutsche Philosophie jetzt wieder an Kant sich zu orientieren hat 1847. — Philosophische Dogmatik oder Philosophie des Christentums I — I I I 1855, 1860, 1862. — Kleine Schriften zur Ästhetik (ed. SEYDEL) 1867. — Psychologie und Unsterblichkeitslehre (ed. SEYDEL) 1869. — System der Ästhetik (ed. SEYDEL) 1872. I. H. Fichte: De philosophiae novae platonicae origine 1818. — Sätze zur Vorschule der Theologie 1826. — Beiträge zur Charakteristik der neueren Philosohie 1829 (2. Aufl. 1841). — Über Gegensatz, Wendepunkt und Ziel heutiger Philosophie 1832. — Grundzüge zum System der Philosophie I 1833, II 1836, I I I 1846. — Die Idee der Persönlichkeit und der individuellen Fortdauer 1834 (2. Aufl. 1855). — System der Ethik I 1850, I I 1851—53. — Anthropologie 1856. — Zur Seelenfrage 1859. — Psychologie I — I I 1864—1873. — Vermischte Schriften I — I I 1869. — Die theistisdie Weltanschaung 1873. — Fragen und Bedenken über die nächste Fortbildung deutscher Spekulation 1876. G. Th. Fechner: Das Büchlein vom Leben nach dem Tode 1836 (Dr. Mises) 3. Aufl. 1887. — Über das höchste Gut, 1846. Neuausgabe Stuttgart 1923 (ed. PLATZ). Nanna oder über das Seelenleben der Pflanzen 1848. Neuausgabe (ed. LASSWITZ) Hamburg und Leipzig 1903. — Zend-Avesta oder über die Dinge des Himmels und des Jenseits I — I I I 1851. Neuausgabe (ed. LASSWITZ) I — I I , Hamburg und Leipzig 1906. — Über die physikalische und philosophische Atomenlehre 1855. — Elemente der Psychophysik I — I I 1860.
Literatur
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3. Aufl. 1907. — Über die Seelenfrage 1861. Neuausgabe (ed. S P R A N G E R ) Leipzig 1928. — Die drei Motive und Gründe des Glaubens 1863. Neuausgabe Stuttgart 1923 (ed. PLATZ). Einige Ideen zur Schöpfungs- und Entwicklungsgeschichte der Organismen 1873. — Vorschule der Ästhetik I—II 1876. Die Tagesansicht gegenüber der Nachtansicht 1879. — Revision der Hauptpunkte der Psychophysik 1882. e) R. H. Lotze: Metaphysik 1841. — Logik 1843. — Medizinische Psychologie oder Physiologie der Seele 1852. — Mikrokosmus I—III 1856, 1858, 1864. Neuausgabe (ed. R. S C H M I D T ) Leipzig 1924. — Streitschriften, 1. H e f t 1857. — Geschichte der Ästhetik in Deutschland 1868. — Logik 1874. Neuausgabe (ed. M I S C H ) Leipzig 1912. — Metaphysik 1879. Neuausgabe (ed. M I S C H ) Leipzig 1912. — Kleine Schriften (ed. P E I P E R S ) I—III 1885—1891. — Diktate aus den Vorlesungen (ed. R E H N I S C H ) I—VIII 1882 ff. II. Monographien a) Schelling: Siehe Philosophie des 19. Jahrhunderts I. b) Weiße: K. L E E S E , Philosophie und Theologie im Spätidealismus Berlin 1929. — R. SEYDEL, Religionsphilosophie im Umriß (ed. S C H M I E D E L ) Freiburg und Leipzig 1893. C) I. H. Fichte: J . E B E R T , Sein und Sollen des Menschen bei I . H . Fichte, Würzburg 1 9 3 8 . — H . H E R M A N N , Die Philosophie I . H . Fichtes Berlin 1 9 2 7 . — G. S P I E G E L , Fichtes Lehre vom Genius, Stuttgart 1927. d) G. Th. Fechner: K. A D O L P H , Die Weltanschauung Fechners, Stuttgart 1923. — St. HALL, Die Begründer der modernen Psychologie, Leipzig 1 9 1 4 . — W. J A M E S , Das pluralistische Universum, Leipzig 1 9 1 4 . — J . E . K U N T Z E , G. Th. Fechner, Leipzig 1892. — K. L A S S W I T Z , G. Th. Fechner, Stuttgart 1896; Empfundenes und Erkanntes, Leipzig 1919. — G. F. LIPPS, Grundriß der Psychophysik, Leipzig 1899. — M. W E N T S C H E R , Fechner und Lotze, München 1924. e) R. H. Lotze: B . B A U C H , Lotzes Logik und ihre Bedeutung im deutschen Idealismus. (Beiträge zur Philosophie des deutschen Idealismus) Erfurt 1 9 1 8 . — O . C A S P A R I , H . Lotze 1883. —• R . F A L C K E N B E R G , H . Lotze I Stuttgart 1901. — H A L L (siehe unter Fechner). — E. v. H A R T M A N N , Lotzes Philosophie 1888. — M . K L E I N ,
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Krise der Philosophie Lotzes Lehre vom Sein und Geschehen in ihrem Verhältnis zur Lehre Herbarts, Berlin 1890. — S. LEVI, Lotzes Substanzbegriff, Heidelberg 1906. —• A . L Ö W E N STAMM, Lotzes Lehre vom Ding an sich und Ich an sich, Breslau 1906 (Diss. Erlangen). — G. M I S C H , Einleitung zur Neuausgabe der Logik (s. o.). — H. PANNIER, Lotzes Gottesbegriff, Meerane 1921. — W. SCHELLER, Die kleine und die große Metaphysik Lotzes Diss. 1912. — J. F. S C H W A R Z , Lotzes Geschichtsphilosophie in ihrem Verhältnis zu seiner Religionsphilosophie und Metaphysik. Mainz 1901 (Diss. Gießen). — THIEME, Glaube und Wissen bei Lotze, Leipzig 1888. — M. W E N T SCHER, H. Lotze I 1913; Lotzes Monismus, in: Der Monismus, herausgegeben von A . D R E W S , Jena 1908.
II.
Krise der Philosophie im Vormärz Unter V o r m ä r z im weiteren Sinne versteht man die literarisch-politischen Bewegungen der 30er und 40er Jahre vor der Julirevolution (1830) bis zur Februarund Märzrevolution (1848), im engeren Sinne das radikale, die revolutionären Tendenzen anerkennende und vorwärtstreibende Denken der L i n k s h e g e l i a n e r und F r ü h s o z i a l i s t e n . (Die Bezeichnung Linksund Rechtshegelianer stammt von D. Fr. Strauß). Ihre Beziehung zu Hegel hat ihnen in älteren Darstellungen einen Platz — oder ein Plätzchen — in der Geschichte des Hegelianismus verschafft; die Tatsache, daß sie, von vornherein auf eine „Kritik" der Hegeischen Philosophie bedacht, dieses philosophische Kapital schnell verzehren, und mit ihrer eigenen Philosophie bald am Ende sind, hat es verhindert, zwischen ihnen und der Gegenwart Verbindungen zu ziehen. (Abgesehen natürlich vom M a r x i s m u s , der sich aber seiner Beziehungen zum Vormärzdenken selbst entledigte, und im 19. Jahrhundert fast nur als ökonomisch-soziologische Doktrin auftrat). In der T a t ist das Verhältnis der Vormärzdenker zur Philosophie, verglichen mit dem ihrer reaktionären
Tradition und Revolution
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Gegner, insofern ein anderes, als ihnen am Bestände philosophischer Tradition nichts liegt: sie wollen die Tradition nicht erhalten und weiterbilden; sie wollen sie in der Wurzel vernichten. W a s also hinsichtlich des spekulativen Theismus ebendieser Jahre möglich ist: ihn in den größeren Zusammenhang des Spät- und Neuidealismus aufzunehmen, scheint hinsichtlich der R a d i k a l e n nicht möglich. Als Philosophie wenigstens scheint es keine, das ganze Jahrhundert durchziehende „radikale Bewegung" zu geben. Die geschichtlichen Gründe f ü r das schnelle Versanden des Vormärzdenkens sind hier ebensowenig zu erörtern wie die Hegelproblematik und das Hegelverständnis der Linkshegelianer. Dagegen ist auf die These wenigstens hinzuweisen, daß es im Denken des 19. Jahrhunderts eine v o n Hegel (bzw. Goethe) über Marx und Kierkegaard zu Nietzsche und der Gegenwart führende Entwicklungslinie geben soll, die alle philosophischen „Entscheidungen" jener Zeit enthält, und die nicht nur f ü r das Verständnis der Geistesgeschichte ungleich wichtiger ist als die von der bürgerlichen Historie gezogenen Verbindungslinien, sondern auch dem V o r m ä r z denken allererst den ihm gebührenden Platz anweist. „Die Mitte, aus der Goethes N a t u r heraus lebte, und die Vermittlung, in der Hegels Geist sich bewegte, sie haben sich bei Marx und Kierkegaard wieder in die beiden Extreme der Äußerlichkeit und der Innerlichkeit auseinandergesetzt, bis schließlich Nietzsche, durch eine neues Beginnen, aus dem Nichts der Modernität die Antike zurückholen wollte und bei diesem Experiment im Dunkel des Irrsinns verschwand" (Karl Löwith ).
D a ß es sich bei dieser These, über deren Sinn nicht erst zu streiten ist, um geschichtlich unzulässige Rüclcdatierungen handelt, liegt auf der H a n d : Kierkegaard und Nietzsche gehören, hinsichtlich der Wirkungen ihres Denkens, wesentlich der G e g e n w a r t und nicht dem 19. Jahrhundert an. Das Problem freilich, worin der „revolutionäre Bruch im Denken des 19. Jahrhunderts" bestehe, und wie w i r ihn heute zu deuten haben, ist damit nicht erledigt. W i r sprechen, d a es sich für uns nicht um Geistes-, sondern um Philosophiegeschichte handelt, von der K r i s e der Philosophie im Vormärz.
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Krise der Philosophie
Sie betrifft sowohl den Begriff bzw. die Sache der Philosophie, als auch ihre Funktion im Geistesleben. U n d sie w i r d vom Spätidealismus nicht minder deutlich formuliert wie von den Linkshegelianern; nur in gegensätzlicher Weise. Sieht man darauf, daß Kierkegaard dem Spätidealismus angehört, so w i r d sie innerhalb des Spätidealismus allerdings nur von Kierkegaard „ r a d i k a l " formuliert, indem er, als Christ, die Möglichkeit, Philosophie weiterhin als „Religionsphilosophie" zu betreiben, ausschließt. Insofern ist die Antithese Kierkegaard-Marx sachlich berechtigt; nur nicht geschichtlich, weil Kierkegaard auf die Zeit k a u m Einfluß hatte. Eine Darstellung Kierkegaards ist daher hier nicht erforderlich. Auf der anderen, der also nun allein als „ r a d i k a l " zu bezeichnenden, Seite ist sogleich der Zusammenhang zwischen Krise und K r i t i k hervorzuheben, der auch für Kant bestand, als er unter dem Einfluß des M e t a physikverfalls seiner Zeit den Gedanken einer „kritischen" Philosophie faßte. Das Denken der R a d i k a l e n ist in der T a t von Grund auf „Kritik" (nur in ganz anderer Bedeutung als das Denken Kants, und in ganz anderer Absicht). Hegel selbst hatte, unter dem Eindruck seiner Differenzen mit der Preußischen A k a d e m i e (die ihn nicht als Mitglied aufnahm) 1 8 2 7 eine eigene Zeitschrift begründet: J a h r bücher für wissenschaftliche Kritik (1827 bis 1847), denen die Linkshegelianer nach seinem T o d e die Halleschen Jahrbücher für deutsche Wissenschaft und Kunst (1838—1841; Fortsetzung: Deutsche Jahrbücher für Wiss enschaft u n d K u n s t , 1 8 4 1 — 1 8 4 3 ) entgegensetzten. Z w a r sind die „Jahrbücher" nichts weiter als ein Organ der Hegeischen Philosophie und Schule. A b e r der Begriff K r i t i k hat bei Hegel einen tieferen Sinn als den einer bloßen wissenschaftlichen Beurteilung v o n Schriftwerken. Für Hegel nämlich ist der Geist in seiner Geschichtlichkeit ebenso das p r o d u z i e r e n d e wie das k r i t i s i e r e n d e Prinzip. Indem jede Philosophie einer bestimmten Zeit angehört, ist sie auch in deren „Beschränktheit befangen". Lebt
Die Kritik der Radikalen
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in dem Geiste ein „tiefer bestimmter Begriff", so kann ihn eine frühere Philosophie nicht befriedigen: jede höhere Entwicklungsstufe entwertet die frühere. O b w o h l sie deren „ W a h r heit" auch in sich enthält u n d a u f b e w a h r t , — dies ist das von Hegel vornehmlich betonte Moment. Es läßt sich aber ebensogut das andere Moment betonen: d a ß eine „ W a h r h e i t " , die sich einseitig auf der höheren Stufe geltend machen will, als U n w a h r h e i t erscheint u n d zu kritisieren ist. Eine bereits politische W e n d u n g erhält dieser Gedanke bei Hegel im Begriff der Weltgeschichte als W e l t g e r i c h t . P e r „Volksgeist" geht „in die allgemeine Weltgeschichte über, deren Begebenheiten die Dialektik der besonderen Völkergeister, das Weltgericht, darstellt." Aller Fortschritt ist ein dialektischer bzw. kritischer; der Weltgeist vollbringt seinen „absoluten Endzweck" auf Kosten der Volksgeister, die er zur Führung b e r u f t , um sie dann wieder in politische „Nullit ä t " herabzustoßen. Hegel sucht nach der „ V e r n u n f t in der Geschichte". Seine Geschichtskonzeption ist eine „endgeschichtliche", insofern der Geist in der Geschichte seine „ W a h r h e i t , das Selbstbewußtsein über sich", erlangt. Sie ist eine kritische, insofern es in jeder historischen Wirklichkeit „ein Faules" gibt, das „wohl scheinen k a n n , aber nicht an und f ü r sich wirklich" ist. Insofern ist auch der berühmte Satz der Rechtsphilosophie: „was v e r n ü n f t i g ist, das ist wirklich, u n d was wirklich ist, das ist v e r n ü n f t i g " , ein doppelsinniger. Die „Kritik" der Redikalen beginnt zunächst n i c h t als politische. Sie b e g i n n t als B i b e l - b z w . E v a n g e l i e n k r i t i k , e r w e i t e r t sich, z u r R e 1 i g i o n s k r i t i k u n d v o l l e n d e t sich als W e r t - u n d G e s e l l s c h a f t s k r i t i k . V o n dieser A n w e n d u n g a u f v e r schiedene G e b i e t e ist d e r S i n n w a n d e l d e r „ K r i t i k " als M e t h o d e z u u n t e r s c h e i d e n : h i e r „ v o l l e n d e t " sich d i e K r i t i k unter A b s t o ß u n g aller metaphysischen G e h a l t e d e r H e g e i s c h e n P h i l o s o p h i e u n d Z u r ü c k f ü h r u n g des „ G e i s t e s " a u f d a s „ S e l b s t b e w u ß t s e i n " (in e i n e r g e w i s s e n R ü c k e h r z u Fichte also, a b e r o h n e d i e k o n s t r u k tiven Ansprüche der „Wissenschaftslehre") zur reinen o d e r a b s o l u t e n K r i t i k (B. Bauer). O b z w a r die „ K r i t i k " der H e g e l i a n e r philosophisch gemeint u n d beg r ü n d e t ist, ist sie doch, w o sie w i s s e n s c h a f t l i c h e L e i stungen hervorbringt, der f a c h w i s s e n s c h a f t Lehmann, Gesdi, d. Phil. TX
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Krise der Philosophie
l i e h e n kritischen Methode (Textkritik, Quellenkritik etc.) des 19. Jahrhunderts, deren Aufkommen Hegel bekämpft, aufs engste verbunden. Das gilt vor allem von den religionsgeschichtlidien Leistungen der T ü b i n g e r S c h u l e (F. Chr. Baur, D. Fr. Strauß, K. R. Köstlin u. a.), die bis zu A. Ritsehl (s. u.) die protestantische Theologie bestimmt, und in philosophischer Hinsicht Schleiermachersdie Elemente mit He gelschen verbindet. Kann man hier auch allgemein von „religiösem Liberalismus" sprechen (W. Ntgg), im Gegensatz zu den spekulativen Theisten, so ist doch die, an D. Fr. Strauß' „Leben Jesu" (1835) anknüpfende radikale Bewegung mit ihrer immer schärferen Tendenz zum Unglauben und zur Theologiefeindschaft, von der Tübinger Schule selbst zu unterscheiden. F. Chr. Baur ( 1 7 9 2 — 1 8 6 0 ) sieht in seiner posthumen „Christlichen Dogmengeschichte" (1865 ff.) gut hegelisch die Kirchengeschichte als Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit; der Geist findet sich selbst, indem er sich des „äußeren" Geschichtsprozesses als eines „inneren" bewußt wird, und dieses Bewußtwerden ist die „Kritik" (Selbstkritik) des Geistes.
David Friedrich Strauß (1808—1874), für die Bildungsgeschichte des 19. Jahrhundert von größter Bedeutung, „Bekenner und Schriftsteller", „Philisterhäuptling" — wie ihn Nietzsche (1873) im Hinblick auf sein letztes, Aufsehen erregendes Werk (Der alte und der neue Glaube 1872) apostrophiert — hat als Theologe nicht zuerst, aber mit großem Scharfsinn und glänzender Polemik die Christusberichte des Neuen Testaments als „m y t h i s c h", d. h. als „unbewußte Sagenpoesie" bzw. als „Erzeugnis des Gemeindebewußtseins" darzustellen versucht. Hatte Schelling die Philosophie der Offenbarung d. i. des Christentums, als Vollendung der Philosophie der Mythologie betrachtet, so scheint Strauß den umgekehrten Weg zu gehen, indem er die „Offenbarung" wieder in „Mythus" auflöst. Aber Strauß' Mythenbegriff ist nicht selbst ein mythologischer — und sein philosophischer Ansatz kein irrationalistischer —, sondern ein a u f k l ä r e r i s c h e r . Gerade hierauf beruht seine Wirkung. Strauß war nach
D. Fr. Strauß
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vollendetem Studium nach Berlin gereist (1831), um Hegel zu hören. Schleiermacher, den er zuerst besuchte, machte ihm Mitteilung von Hegels Tode. Bei Hegels Schülern suchte er Anschluß und verschaffte sich Hegels Vorlesungsnachschriften. Das „Leben Jesu kritisch bearbeitet", das er in Tübingen schrieb, geht von Hegel aus; aber es geht auch über Hegels Religionsphilosophie hinaus. Besteht die Zersetzungsarbeit der Radikalen, v o n Hegel aus gesehen, darin, die „ V e r n u n f t " auf den „Verstand" zurückzuführen, d. h. alle dialektisch-spekulativen Bestimmungen in Gegensätze oder Widersprüche des „verständigen" Denkens zu verwandeln, so bemüht sich Strauß darum, die v o n Hegel behauptete „Einheit" v o n Offenbarungsreligion und Philosophie bzw. von „Vorstellung" und „Begriff" (die Religion hat in der Form der Vorstellung denselben Inhalt, den die Philosophie in der Form des Begriffs hat) aufzulösen. Die Christologie mag einen „absoluten" Inhalt haben, — man kann ihn aber nicht e i n e m menschlichen Individuum, nämlich diesem vermeintlich historischen Christus, zuschreiben. N u r die M e n s c h h e i t s e l b s t „ist die Vereinigung der beiden Naturen, der menschgewordene Gott, der zur Endlichkeit entäußerte unendliche und der seiner Unendlichkeit sich erinnernde endliche Geist." Mit diesem Resultat nimmt Strauß den Grundgedanken Feuerbachs vorweg, daß das „Geheimnis" der Theologie die A n t h r o p o l o g i e ist.
Wir bezeichnen den Fortschritt der „Kritik" von Strauß zu Feuerbach als Übergang von der Evangelienzur R e l i g i o n s k r i t i k . Ludwig Feuerbach (1804 bis ,1872) fragt nicht-mehr nach der Echtheit der biblischen Berichte, nach der historischen Gestalt Christi oder nach dem mythischen Gehalt der Christuslehren. Sondern er fragt nach dem „Wesen" der Religion bzw. des Christentums selbst. Und seine Methode der Kritik — seine „Radikalisierung" also — besteht in dem Nachweise, daß das „theologische" Wesen der Religion nicht das w a h r e Wesen der Religion ist. Es kann nicht das „wahre" Wesen der Religion sein, weil alle theologischen Aussagen, von der Existenz Gottes bis zur Lehre von den Sakramenten, w i d e r s p r u c h s i*
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Krise der Philosophie
v o l l e Aussagen sind. Die Reduktion der Hegelsdien Vernunftbestimmungen auf Verstandesbestimmungen ist hier also, innerhalb der Religionsphilosophie, zu Ende geführt. Dies jedoch ist nur die erste Phase von Feuerbachs Kritik. Die zweite besteht darin, die traditionelle P h i l o s o p h i e , die spekulative Philosophie insbesondere, als T h e o l o g i e zu entlarven. Natürlich nicht in der Hinsicht, in der sie selbst Theologie oder Religionsphilosophie sein will. Sondern gerade in der Hinsicht, in der sie „reine" Philosophie sein will. Hier wird Feuerbachs Kritik zu einem Angriff auf den Idealismus: alle Begriffe des Idealismus (aber auch des Rationalismus von Descartes bis Spinoza) sind umgemünzte, säkularisierte theologische Begriffe. Allerdings besteht ein Gegensatz zwischen (reiner) Philosophie und Theologie; die Philosophie unterscheidet sich selbst von der Theologie. Aber sie negiert die Theologie „auf dem Standpunkt der Theologie". Das ist ihr „"Widerspruch". Daraus aber ergibt sich: das Philosophieren entweder ganz zu unterlassen, weil es auf Selbsttäuschung beruht; oder eine n e u e P h i l o s o p h i e aufzustellen, die sich keiner versteckten und umgedeuteten theologischen Begriffe bedient. Indem Feuerbach den zweiten Weg beschreitet, gelangt er zu seiner eigenen „ P h i l o s o p h i e d e r Z u k u n f t " , die er unter verschiedene, nicht ganz zutreffende Gesichtspunkte, als Realismus, Sensualismus, Empirismus, Materialismus, bringt. Diese Philosophie ist die eigentlich herrschende in den 40er Jahren; sie ist gleichsam der ruhende Pol im Vormärzdenken. Aber sie ist es nicht lange. Weder war Feuerbach der Mann, seine Gedanken auszubauen, noch vermochte er an ihnen festzuhalten. Durch seine Freundschaft mit Moleschott (s. u.) und seine Unkenntnis der eigentlichen naturwissenschaftlichen Fragestellungen verfiel er (wie auch D. Fr. Strauß) dem V u l g ä r m a t e r i a l i s m u s . Die Krise der Philosophie und der Fortgang der „Kritik" war also von Feuerbach nur aufgehalten. Die
L. Feuerbach
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Methode seiner Philosophiekritik auf ihn selber anzuwenden, mußte um so leichter fallen, als Feuerbach, der die Theologie durch A n t h r o p o l o g i e ersetzen will, weil die unwahren theologischen Prädikate der Religion in „Wahrheit" anthropologische, d. i. G a t t u n g s m e r k m a l e des menschlichen „Wesens" sind, den Menschen i d e a l i s i e r t e : der Mensch ist das „höchste "Wesen des Menschen". Feuerbach will die Religion nicht verneinen; er will nur „kritisch" das Wahre vom Falschen scheiden. Er will zeigen, daß sich der Mensch in der Religion zum Gegenstande und das Erste (den Menschen) zum Letzten macht, indem er die Nächstenliebe aus der (illusorischen) Gottesvorstellung ableitet. Bis zu Comtes Konsequenz, auch den Gotteskult durch einen Menschheitskult zu ersetzen, gelangt er freilich nicht. Aber in den „Grundsätzen der Philosophie der Zukunft" (1843) verkündet er, daß die „neue" Philosophie „an die Stelle der Religion" tritt, daß sie das „Wesen der Religion in sich hat", daß sie „in Wahrheit selbst Religion" ist. Die, zunächst immanente, Kritik an Feuerbachs religiösem Humanismus (d. h. der Nachweis, daß auch Feuerbachs Liebes- und Menschheitsreligion Theologie ist), vollzieht Max Stirner (1806—1856, Pseudonym für Johann Caspar Schmidt) in seinem Buche: Der Einzige und sein Eigentum, das 1844, in Nietzsches Geburtsjahr, erschien. Aber er vollzieht sie unter Voraussetzungen, die schon nicht mehr diejenigen Feuerbachs sind: eines radikalen I n d i v i d u a l i s m u s und N o m i n a l i s m u s . Und er vollzieht sie in der Verallgemeinerung, daß die Religion nur als Unterfall menschlichen W e r t -
V e r h a l t e n s überhaupt betrachtet wird. Nicht mehr
auf die Religion und den religiösen Glauben kommt es an, sondern auf Moralität und Sittlichkeit, Autorität und Herrschaft, auf alles, was das Verhalten des Einzelnen normieren und ihm eine Verantwortung auferlegen bezw. ins Gewissen schieben will. In allen diesen Fällen werden die konkreten Interessen und Motive durch G l a u -
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Krise der Philosophie
b e n s i n h a l t e maskiert bezw. umgedeutet. Wie ein „Kreidepunkt" zu dem „gedachten Punkte", so verhält sich der Einzelne zum „Menschen". Die Gattung ist nur ein Gedachtes, der Mensch nur ein Ideal. „Ein Mensch sein, heißt nicht das Ideal des Menschen erfüllen, sondern s i c h , den Einzelnen, darstellen". Wir bezeichnen diesen Fortgang der „Kritik" als Übergang von der Religions- zur W e r t k r i t i k , und verstehen darunter, daß Stirner ein K r i t e r i u m sucht, um die Werte als geglaubte (als Spuk, Sparren, als „fixe Ideen", „heilige Sachen") von dem zu unterscheiden, was sie in Wirklichkeit bedeuten. Er findet dieses Kriterium im E g o i s m u s . Gegen den Egoismus haben sich alle Mächte der Sittlichkeit und des Geistes verschworen. Alle wollen sie, daß ich sie zu meiner Sache mache; nur mich selbst soll ich nicht zu meiner Sache machen. Dabei bin ich doch nicht nur insofern Voraussetzung aller dieser heiligen Sachen, als i c h sie realisieren soll, sondern auch insofern, als ich sie nur realisieren k a n n , wenn ich midi selbst zu „meiner" Sache gemacht habe. Ohne Selbstwert und Selbstverwertung ist alle Sittlichkeit wertlos. Die Frage nach den U r s a c h e n unechter, die Probe „egoistischer Kritik" nicht vertragender Sittlichkeit, Gesetzeshörigkeit, Gläubigkeit führt offenbar sogleich von der Wertkritik zur G e s e l l s c h a f t s k r i t i k . Sie führt auch bei Stirner dahin, insofern der „Einzige" sich gegen alle Staats- und Gesellschaftsordnung, die ein Interesse daran hat, ihn zum „armen Teufel", zum „Nicht-Ich" zu machen, für die er ein bloßer „Teil", ein Exemplar oder „Glied" ist, empört. Und insofern er an Stelle der abstrakten Gesellschaftsordnung den konkreten „Verein" setzt, der zwar meine Freiheit, aber nicht meine Eigenheit beschränkt. Doch ist es ebenso verkehrt, ihn deshalb als Vertreter einer politischen D o k t r i n (des individualistischen Anarchismus) aufzufassen, wie es verkehrt ist, in ihm einen „Apostel des
Max Stirner
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Egoismus" zu sehen, der bestimmte egoistische F o r d e r u n g e n stellt. In Wirklichkeit hat Stirner die Frage nach den U r sachen gesellschaftlicher Zustände so wenig beantwortet wie die nach dem Inhalt einzelner W e r t Vorstellungen. „ E r verzehrt wirklich nur das Heilige an der Welt, ohne sie selbst nur anzurühren". E r spricht die Welt „en bloc heilig", um sie damit ein für allemal „abfertigen" zu können. „Wollte er kritisieren, so finge die profane Kritik gerade da an, wo der etwaige Heiligenschein aufhört". Diese „profane" Kritik ist die Gesellschaftskritik von Marx und Engels. U n d diese Sätze gegen Stirner finden sich in der Abrechnung beider mit der „ D e u t s c h e n I d e o l o g i e " , als der „Kritik der neuesten deutschen Philosophie in ihren Repräsentanten Feuerbach, B. Bauer und Stirner, und des deutschen Sozialismus in seinen verschiedenen Propheten" ( 1 8 4 5 / 6 ; in Biuckstücken zuerst 1903 veröffentlicht; jetzt im V . Bande der Gesamtausgabe 1932). Die „Deutsche Ideologie", zeitgeschichtlich ohne Einfluß, bedeutet für Marx und Engels den Abschluß ihrer Auseinandersetzung mit dem Vormärz. Sie bezeichnet auch in gewissem Sinne das E n d e des Junghegelianismus. Die „profane" Kritik als Gesellschaftskritik ist zu unterscheiden von der p o l i t i s c h e n Kritik, wie sie überall im Vormärz auftritt: im Jungen Deutschland, im religiösen Liberalismus, bei Feuerbach und den Vertretern der „reinen" Kritik. Sie ist aber auch zu unterscheiden von der, dem marxistischen Ansatz schon näher kommenden Strukturanalyse der „bürgerlichen Gesellschaft", wie sie in Hegels Nachfolge und als Schüler Saint-Simons zuerst L. v. Stein (1815—1890) betreibt. Steins Buch über den „Sozialismus und Kommunismus des heutigen Frankreich" (1842) kennt bereits den Gegensatz von Bourgeoisie und Proletariat als zur Revolution drängenden Klassengegensatz. Während aber L. v. Stein auf Grund i d e a l i s t i s c h e r Voraussetzungen zur Forderung eines Staatssozialismus und eines „sozialen Königtums" gelangt, also wesentlich a u ß e r h a l b der radikalen Bewegung bleibt, haben Marx und Engels diese Bewegung und den ganzen Entillusionierungsprozeß von Strauß bis Stirner mitgemacht: ohne die „Krise" der
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K r i s e der Philosophie
Philosophie im V o r m ä r z ist ihre Stellung zur Philosophie ebensowenig zu verstehen wie dasjenige, w a s a m dialektischen Materialismus selbst „ P h i l o s o p h i e " ist.
D a ß die Konzeption des dialektischen Materialismus wesentlich die P r o b l e m a t i k des „ V o r m ä r z " enthält bezw. von ihr bedingt ist, scheint umso weniger einzuleuchten, als Marx bereits im Vorwort zur „ K r i t i k der politischen Ökonomie" (1859) den dialektischen Materialismus in festen Thesen und in Form einer besonderen „ D o k t r i n " vorführt. Hier ist die Rede von der realen „Basis" der Gesellschaft als der „ökonomischen Struktur", von dem „juristischen und politischen Überb a u " und den „gesellschaftlichen Bewußtseinsformen", die ihm „entsprechen". Hier heißt es, daß nicht das Bewußtsein der Menschen ihr Sein, sondern daß ihr „gesellschaftliches Sein" ihr Bewußtsein bestimmt. D a ß auf einer „gewissen Stufe ihrer Entwicklung" die materiellen Produktivkräfte in „Widerspruch" mit den vorhandenen Produktionsverhältnissen geraten. U n d daß sich mit der Veränderung der ökonomischen „Grundlage" der ganze ungeheure Überbau langsamer oder rascher „ u m w ä l z t " . So gefaßt — man müsse, heißt es ja auch, stets unterscheiden zwischen der materiellen, „naturwissenschaftlich treu zu konstatierenden" Umwälzung in den Produktionsbedingungen und den „ideologischen Formen, worin sich die Menschen dieses Konflikts bewußtwerden und ihn ausfechten" — , hat die Konzeption des dialektischen Materialismus durchaus den Charakter der großen naturwissenschaftlichen Entwicklungst h e o r i e n des späteren 19. Jahrhunderts. Dieser Charakter kommt ihr aber ursprünglich n i c h t zu. Die „Deutsche Ideologie", die den ersten zusammenhängenden Entwurf des dialektischen Materialismus enthält, bewegt sich in ganz anderen Vorstellungen als denen eines naturwissenschaftlichen Objektivismus, und es ist keine Frage, daß eine philosophische Interpretation auch der späteren Formulierungen nur vom j u n g e n M a r x aus möglich ist.
Dialektischer Materialismus
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W i r können uns darauf nicht einlassen, sondern nur die wichtigsten Momente angeben: das a n t h r o p o l o g i s c h e Moment, d. i. Marx' Begriff vom Menschen, wie er ihn in Auseinandersetzung mit Feuerbach gewinnt, das r e a l d i a l e k t i s c h e Moment, d. i. die F o r m und Begründung, die die Dialektik bei Marx enthält, im Gegensatz zu Hegels absolutem Idealismus, und das m a c h t s o z i o l o g i s c h e Moment als das über die politischen Ideologien der Radikalen und Frühsozialisten hinausführende. In den „Thesen über Feuerbach" (1845) wendet Marx gegen Feuerbach ein: er fasse das „Wesen" des Menschen als ein dem Einzelnen innewohnendes Abstraktum, während der Mensch in seiner Wirklichkeit das „Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse" ist. Dieser Einwand ist insofern unzutreffend, als Feuerbach das „Wesen" des Menschen gerade nicht in dem einzelnen Menschen „für sich" aufsucht, sondern „in der Gemeinschaft, in der Einheit des Menschen mit dem Menschen", also — nach heutiger Terminologie — im Miteinandersein. Dieses Miteinandersein würde in Feuerbachs Philosophie dem entsprechen, was Marx das Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse, den Inbegriff der „gesellschaftlidien Kräfte" nennt. Aber Feuerbachs Gemeinschaft ist nicht die konkret - g e s c h i c h t l i c h e Gesellschaft, die Marx meint, wenn er vom Menschen in seiner Wirklichkeit spricht. Feuerbach abstrahiert in der T a t „von dem geschichtlichen Verlauf"; er „fixiert" das religiöse Gemüt „für sich". Man kann jedoch den Menschen durch die Geschichte nicht definieren, ohne die Geschichte durch den Menschen zu definieren. Geschichtsphilosophie und Philosophische Anthropologie gehören zusammen. Diesen Zusammenhang legt denn auch die „Deutsche Ideologie" fest, indem sie sagt, daß die Menschen sich von den Tieren dadurch unterscheiden, daß sie ihre Lebensmittel und damit „indirekt" ihr materielles Leben selbst produzieren. Produktionskraft, gesellschaftlicher Zustand und Bewußtsein bilden den „wirklichen Lebensprozeß" des Menschen. Aber nicht vom Bewußtsein allein kann man ausgehen, sondern nur vom „wirklichen Sein" der Menschen, d. h. von ihrem W i r k e n , das durch bestimmte materielle, von der Willkür unabhängige „Schranken" begrenzt bezw. an bestimmte Voraussetzungen und Bedingungen gebunden ist.
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Krise der Philosophie
Die materialistische Geschichtsauffassung beruht also darauf, „den wirklichen Produktionsprozeß, und zwar von der materiellen Produktion des unmittelbaren Lebens ausgehend, zu entwickeln". Das Vorstellen, Denken, Bewußtsein der Menschen, ihre Ideen und geistigen Produktionen sind ursprünglich „direkter Ausfluß ihres materiellen Verhaltens." Der Mensch als sich selbst produzierendes Wesen ist allerdings Produzent seiner Ideen. Aber so wenig man aus seinen „Einbildungen" — den „Nebelbildungen im Gehirn" — den wirklichen Lebensprozeß erklären kann, so wenig kann man ihn umgekehrt als bloßes „Produkt der Umstände" erklären. Denn die „Umstände" werden" ja von den Menschen selbst verändert. Und so kommt Marx (in der 3. Feuerbachthese) zu der Formulierung: „Das Zusammenfallen des Änderns der Umstände und der menschlichen Tätigkeit kann nur als u m w ä l z e n d e P r a x i s gefaßt und rationell verstanden werden". In diesem Zusammenhange ist auf einen Mann wenigstens hinzuweisen, der gleich Marx von Feuerbach beeinflußt und gleich ihm Mitarbeiter an der Rheinischen Zeitung und den Deutsch-Französischen Jahrbüchern war, — auf Moses Heß (1812—1872). Für Heß nämlich ist Feuerbachs Satz, daß die Theologie Anthropologie ist, zwar richtig, aber nur halb richtig. Das Wesen des Menschen ist das „gesellschaftliche Wesen", der wahre Humanismus die „Lehre von der Gesellschaftung". Die Anthropologie ist Sozialismus. Daraus folgt, daß wie Gott, so auch das G e l d das „entäußerte Wesen des Menschen ist". Feuerbach kommt zu dieser Konsequenz nicht, weil ihm der menschliche „Gattungsakt" (das Zusammenwirken der Individuen) doch wesentlich noch „Denkakt" ist. Das Verhältnis Feuerbachs zum Sozialismus ist also „das Verhältnis des theoretischen Humanismus zum praktischen" (1845). Heß selbst, der viele Wandlungen durchgemacht, gilt, wie der Feuerbachschüler Karl Grün (1817—1887) oder wie Pierre Joseph Proudhon (1809—1865), den Marx im „Elend der Philosophie" (1840) bekämpft, als ethischer Anarchist, und hat in dieser Eigenschaft auch gegen Stirner polemisiert. Die positiven Beziehungen zwischen Marx und Heß bestanden nur bis zum Kommunistischen Manifest (1848): hier wird unter dem Titel der für den Sozialismus in Deutschland kennzeichnenden Pseudophilosophien auch Heß' „Philosophie der Tat" (1843) aufgeführt. Bevor wir auf die Gründe der Trennung Marx' von
M a r x und Hegel
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den „wahren Sozialisten" (Grün, Weitling, Heß u. a.) eingehen, ist die für die Entstehung des dialektischen Materialismus sehr viel wichtigere Frage nach der d i a l e k t i s c h e n M e t h o d e bezw. nach der Umwandlung, die Hegels Philosophie unter dem Einfluß der radikalen Kritik bei Marx erhält, zu stellen. Bekanntlich gibt Marx im Nachwort zur zweiten Auflage des Kapitals (1873) an, daß seine dialektische Methode „der Grundlage nach" von der Hegeischen „nicht nur verschieden, sondern ihr direktes Gegenteil" ist. Hegel mache nämlich den „Denkprozeß", den er unter dem Namen „Idee" in ein „selbständiges Subjekt" verwandele, zum Schöpfer der Wirklichkeit. „Bei mir ist umgekehrt das Ideelle nichts anderes als das im Menschenkopf umgesetzte und übersetzte Materielle". Diese Seite der Hegeischen Philosophie nennt er die „mystifizierende". Trotzdem bekennt er sich als Schüler Hegels. „Die Mystifikation, welche die Dialektik in Hegels Händen erleidet, verhindert in keiner Weise, daß er ihre allgemeinen Bewegungsformen zuerst in umfassender und bewußter Weise dargestellt hat. Sie steht bei ihm auf dem Kopf. Man muß sie umstülpen, um den rationellen Kern in der mystischen Hülle zu entdecken." Daß diese Worte die Hegelkritik der Junghegelianer v o r a u s s e t z e n , liegt auf der Hand. Aber Marx gehörte selbst zu den Hegelkritikern des Vormärz und verweist auch auf seine Schrift, in der er „vor beinah 30 Jahren" die „mystifizierende Seite der Hegeischen Dialektik" kritisiert habe: die „Kritik der Hegeischen Rechtsphilosophie" (von der 1844 in den Deutsch-Französischen Jahrbüchern die Einleitung erschien). Indessen hatte schon vor Marx Arnold Rüge ( 1 8 0 3 — 1 8 8 0 ) , der Begründer der Halleschen Jahrbücher (s.o.), 1842 über die „Hegeische Rechtsphilosophie und die Politik unserer Zeit" geschrieben. E r hatte ihren Mangel darin erblickt, daß sie den Staat wesentlich theoretisch (absolut), nidit g e s c h i c h t l i c h oder unter dem Gesichtspunkt seiner „Existenz" behandelte. Die Geschichte kommt in Hegels Rechtsphilosophie nur
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am Ende vor. Staat und Staatsverfassung sind aber selbst geschichtliche Erzeugnisse; sie lassen sich gar nicht absolut fassen. Für die Logik des Absoluten (Dialektik) gibt es keine Existenzen. Für die Naturwissenschaft (Naturphilosophie) hat die Existenz kein „Interesse". Erst mit dem Eintreten der Geschichte in die Wissenschaft (Philosophie), „wird die E x i s t e n z s e l b e r das Interesse" 1 ). Die „Beziehung der Theorie auf die geschichtlichen Existenzen des Geistes" ist K r i t i k , und wie von Strauß die christliche Dogmatik behandelt wurde, so ist auch die Hegeische Staatsmetaphysik zu behandeln — nämlich kritisch. Allerdings steht Rüge dabei noch selbst auf i d e a l i s t i s c h e m Boden. Die historischen Existenzen sind zwar nicht „ewige und notwendige", aber sie sind doch „so zu sagen geistige Individualitäten"; sie „schließen dem Geiste neue Tiefen seines Wesens auf". Nicht die Existenz zum „Begriff" zu bringen, sondern den „göttlichen Begriff zur Existenz" zu bringen, •— darin besteht die wahre Verbindung von Begriff und Wirklichkeit. In Marx' „Einleitung" w i r d dagegen die „Kritik" sogleich in ihrem Verhältnisse zur K r i s e d e r P h i l o s o p h i e bestimmt. Die Philosophie (d. i. die Hegekdne) kann nicht verwirklicht werden, ohne aufgehoben zu werden. Sie läßt sich aber nicht aufheben, ohne sie zu verwirklichen. Dieses sagt Marx den Praktikern, die der Philosophie den Rücken kehren. Jenes sagt er den Theoretikern, die bei den „gegebenen Resultaten" stehen bleiben. Sicherlich ist er dabei von Feuerbach beeinflußt (für den die „neue Philosophie" die „Negation aller Schulphilosophie" ist, „ob sie gleich das W a h r e derselben in sich enthält"). Aber f ü r Marx ist die Krise der Philosophie eben zugleich eine Krise der „deutschen Praxis": der wirkliche Lebenskeim des Deutschen Volkes hat „bisher nur unter seinem Hirnschädel gewuchert". Hegels Rechtsphilosophie, „dies abstrakte, überschwängliche Denken des modernen Staats, dessen Wirklichkeit ein Jenseits bleibt", w a r selbst nur möglich, weil der mo1) D i e s e U n t e r s c h e i d u n g w i r d s p ä t e r , bei Droysen ( d e r zu d e n a r b e i t e r n d e r H a l l e s c h e n J a h r b ü d i e r g e h ö r t e ) u n d Windelband-Richert, einer rein methodologischen bezw. erkenntnistheoretischen.
Mitzu
M a r x u n d Hegel
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derne Staat vom wirklichen Menschen abstrahiert und den „ganzen Menschen" nur auf imaginäre Art befriedigt. Das ist eine andere Bewertung Hegels als bei Rüge und Feuerbach. Der spekulative Gehalt der Hegeischen Rechtsphilosophie wird zwar nicht als Spekulation, aber hinsichtliche dessen, was dem spekulativen Ausdruck zugrunde liegt, e r n s t g e n o m m e n . „Die Deutschen haben in der Politik gedacht, was die anderen Völker getan haben." Da Deutschland „selbst die Stufe, die es theoretisch überwunden", praktisch noch nicht erreicht hat, muß es gleichsam den Auftrag der Theorie (Philosophie) erst praktisch erfüllen. Diese Erfüllung — Marx bezeichnet sie als Emanzipation — kann nur durch das Proletariat erfolgen, — eine Klasse, welche keine Klasse der bürgerlichen Gesellschaft, ein Stand, „welcher die Auflösung aller Stände ist." Nach Hegel ist es das Ziel der Geschichte, den Geist zum Wissen seiner selbst zu bringen und dieses Wissen „zu einer vorhandenen Welt" zu verwirklichen. D e r „Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit" als welchen Hegel den Prozeß der Geschichte bezeichnet, besteht in der Verwirklichung des Bewußtseins, daß „der Mensch als Mensch frei ist." Nach Marx entwertet Hegel die Geschichte, indem er ihr Subjekt, den Weltgeist, erst in der Philosophie zum Bewußtsein seiner selbst kommen läßt. Des „Geistes" Fabrikation der Geschichte existiert „nur in der spekulativen Einbildung". Aber Marx hält fest daran, d a ß die Geschichte progressiv, d a ß sie dialektisch, und d a ß sie Verwirklichung der Freiheit (Emanzipation) ist. D a die Dialektik der Geschichte primär keine Bewußtseinsdialektik sein kann, so ist sie R e a l d i a l e k t i k : Klassenherrschaft, Klassenkampf. Das Klassenbewußtsein in seiner realen Determination tritt dabei an Stelle des abstrakten Selbstbewußtseins. Aber die E m a n z i p a tion des Menschen ist nur möglich durch A u f h e b u n g der Klassengegensätze selbst. U n d diese ist nur möglich durch eine Klasse, die von allen anderen unterdrückt, „sich selbst nur durch die völlige Wiedergewinnung des Menschen gewinnen kann." Diese Klasse, das Proletariat, besitzt also in sich die beiden Momente: der N e g a t i o n (der bürgerlichen Gesellschaft) u n d der T o t a l i t ä t , d. i. der Beziehung auf das Ganze (der Menschheit). In dieser Hinsicht spricht Marx von
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der w e l t g e s c h i c h t l i c h e n E x i s t e n z des Proletariats, „d. h. der Existenz der Individuen, die unmittelbar mit der "Weltgeschichte verknüpft ist."
Was nun den eigentlich l o g i s c h e n Gehalt der Hege/sehen Dialektik betrifft, so hat Marx in der Schrift gegen Proudhon die „absolute Methode", deren auch Proudhon sich bedienen zu können glaubt, als „angewandte Metaphysik" bekämpft. Sobald man in den ökonomischen Kategorien „nur von selbst entstandene Ideen, von den wirklichen Verhältnissen unabhängige Gedanken sieht, ist man wohl oder übel gezwungen, den Ursprung dieser Gedanken in die Bewegung der reinen Vernunft zu verlegen." Aber was sind die logischen Kategorien anderes als Abstraktionen? Der Christ kennt nur eine Fleisdiwerdung. Der Philosoph kommt mit den Fleischwerdungen nicht zu Ende. Die absolute Methode (Hegels) ist die logische Formel für die „Bewegung der Dinge". Sie ist mithin die Abstraktion der Bewegung, die Bewegung im abstrakten Zustande, die Bewegung der reinen Vernunft. Wie stellt es aber die Vernunft an, um sich als bestimmte Kategorie hinzustellen, zu setzen? „Das ist Sache der Vernunft selbst und ihrer Apologeten." — In Wirklichkeit sind die „Materialien der Ökonomie" das „bewegte und bewegende Leben der Menschen", die Kategorien sind nur der theoretische Ausdruck der historischen Entwicklung der Produktionsverhältnisse. Wenn Marx demgegenüber im „Kapital" hervorhebt, Hegels Methode in ihrer „rationellen Gestalt" beibehalten zu haben, so ist klar, daß der logischen „Formel" für die Bewegungsgesetze (der Gesellschaft) auch ein logischer I n h a l t entsprechen muß: die Tatsache, daß die Entwicklung eine rationale „Gestalt" hat, bliebe sonst rein zufällig, bedeutungslos, — sie wäre weder eine Erkenntnis noch überhaupt eine „Tatsache". Andererseits läßt sich wirklich nicht sagen, wie die Vernunft es „anstellt", sich in bestimmten Kategorien zu „setzen", wenn sie nämlich kein absolutes Subjekt, u. d. h. für Marx:
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ein Anthropomorphismus, sein soll. Das Ergebnis wäre also die Behauptung der Rationalität der geschichtlichen Entwicklung und die Bestreitung jedes Versuches, diese Rationalität metaphysisch zu begründen (weil ja doch alle metaphysische „Begründung" i d e o l o g i s c h ist). Freilich begnügt sich Marx später meist damit, die Dialektik als seine „Methode, den Stoff zu behandeln", d. h. als D e n k v e r f a h r e n , geltend zu madicn. Man kann aber nicht (mit M. Adler u. a.) sagen, bei Marx gäbe es eben nur die beiden Bedeutungen von Dialektik: die bloß methodische, „wonach alle Denkinhalte nicht als starre, sich ausschließende Gegensätze, sondern „im Flusse", d. h. in ihrer stetigen Vermittlung zu denken sind", und die gegenständliche einer „realen Gegensätzlichkeit im Sein der Dinge selbst." Denn offenbar soll doch die Dialektik „als bloße Methode" die „reale Gegensätzlichkeit" treffen und zum Ausdruck bringen. Darauf kommt es ja gerade an. Und wie sollte ein solches Zusammentreffen anders möglich sein als dadurch, daß dem subjektiv logischen V e r f a h r e n ein objektiv logischer I n h a l t entspricht? Das ist das Problem der Dialektik bei Hegel, und auch bei Marx.
In der „Deutschen Ideologie" setzen sich Marx und Engels auch mit dem „wahren" Sozialismus auseinander, — mit dem „Handwerkerburschensozialismus" unter Führung Wilhelm Weitlings (1808—1871), der den „Kommunismus" als ideale Forderung vertrat. Ihre Kritik haben sie dann im Kommunistischen Manifest öffentlich ausgesprochen: „das Gewand, gewirkt aus spekulativem Spinnweb, überstrickt mit schöngeistigen Redeblumen, durchtränkt von liebesschwülem Gemütstau, dies überschwängliche Gewand, worin die deutschen Sozialisten ihre paar knöchernen „ewigen Wahrheiten" einhüllten...". Und noch 1888, in der Schrift über Feuerbach, wendet sich Engels mit Erbitterung gegen diesen Sozialismus, „der an die Stelle wissenschaftlicher Erkenntnis die belletristische Phrase, an die. Stelle der Emanzipation des Proletariats durch die ökonomische Umgestaltung der Produktion die Befreiung der Menschheit vermittelst der „Liebe" setzte." Es ist natürlich nicht zufällig, daß die Trennung vom
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ethischen Sozialismus bei Marx mit der Grundlegung der ö k o n o m i s c h e n T h e o r i e zusammenfällt. Will doch der wissenschaftliche Sozialismus nicht wie der „utopische" von Zukunftsforderungen, sittlichen Uberzeugungen, frommen Wünschen, sondern von ökonomischen Gesetzmäßigkeiten ausgehen. Die ökonomische Theorie des Marxismus, die wir hier nicht darzustellen haben, unterscheidet sich von der k l a s s i s c h e n Ökonomie, als deren Kritik sie auftritt, dadurch, daß sie nicht Lehre vom homo oeconomicus, sondern G e s e l l s c h a f t s l e h r e ist. Sie unterscheidet sich hinsichtlich ihres soziologischen Gehalts von anderen damaligen Richtungen dadurch, daß sie nicht bloß „Wirklichkeitswissenschaft" (H. Freyer), sondern Machtsoziologie, nicht bloße Strukturanalyse der bürgerlichen Gesellschaft, sondern Analyse der M a c h t s t r u k t u r e n der auf Arbeitsteilung beruhenden geschichtlichen Vergesellschaftungsformen (also nicht der primitiven Gemeinschaften) ist. Und daß sie dabei nicht im politischen Felde bleibt, sondern die „materiellen" Gründe der politischen Veränderungen aufsucht. Es ist der Begriff der ö k o n o m i s c h e n P o t e n z , in welchem Ökonomie und Machtsoziologie zum Schnitt kommen. Die Entwicklung der wirtschaftlichen Verhältnisse ist immer eine Entwicklung der sozialen Machtverhältnisse. Träger der Geschichte sind weder Persönlichkeiten noch Massen noch irgendwelche Sozialorganismen (Völker, Gruppen), sondern Klassen, die durch ihre ökonomische „Lage" gekennzeichnet sind. Aus ökonomischen „Interessen" entstehen alle politischen Veränderungen. Der Staat selbst steht nur scheinbar „über" der Gesellschaft. E r ist wesentlich Klassenstaat, Instrument der herrschenden Klasse. Macht und Wirtschaft verhalten sich wie das Innere zum Äußeren; die wirtschaftlichen Verhältnisse „entsprechen" nicht bloß den Mächtverhältnissen, sondern der ökonomische Prozeß ist selbst Vergegenständlichung der elementaren gesellschaftlichen Beziehungen. In der W a r e entäußert, v e r d i n g l i c h t sich das „gesellschaftliche Verhältnis des Produzenten zur Gesamtheit." Die ursprüngliche Akkumulation des K a -
Die ökonomische Potenz
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pitals ist ein A k t der G e w a l t : die Expropriation der „großen- Volksmasse" von G r u n d und Boden, Lebensmitteln u n d Arbeitsinstrumenten. Die Gewalt ist überhaupt der „Geburtshelfer jeder alten Gesellschaft, die mit einer neuen schwanger geht. Sie selbst ist eine ökonomische Potenz." Außerhalb der ökonomischen Potenz gibt es keine selbständige Machtquelle. Als „soziale Macht" bezeichnet schon die „Deutsche Ideologie" die „vervielfachte P r o d u k t i o n s k r a f t , die durch das in der Teilung der Arbeit bedingte Zusammenwirken der verschiedenen Individuen entsteht." U n d sie sucht den Schein der E n t f r e m d u n g , d. h. den Schein einer freien, außer den Individuen stehenden Gewalt, „von der sie nicht wissen woher und wohin, die sie also nicht beherrschen können", zu erklären. Auch bei Hegel, von dem der, das Denken der Radikalen bestimmende Begriff der E n t f r e m d u n g stammt, ist das Individuum abhängig von einer „ f r e m d e n Macht", „über welche es nichts vermag"; das Herrschende erscheint hier als das „bewußtlose, blinde Ganze der Bedürfnisse u n d der Arten ihrer Befriedigungen." Aber Hegel glaubt, das „Allgemeine" könne sich dieses „bewußtlosen, blinden Schicfksais" bemächtigen. E r glaubt, vom „System des Bedürfnisses" zum „System der Gerechtigkeit" fortschreiten zu können. U n d er glaubt, die „fremde Macht" zur M a c h t d e s G e i s t e s läutern zu können. Wie Marx den Übergang Hegels von der „bürgerlichen Gesellschaft" zum Staat als sittlichen Organismus rückgängig macht, so verneint er auch diese ganze Sinngebung der Macht, die schließlich bei der Macht Gottes als des absoluten Geistes endet. D a ß jedoch die soziale Macht auch ohne diese Verklärungen einen „Sinn" hat, dies eben zeigt der Begriff der ö k o n o m i s c h e n P o t e n z : die Gesetzlichheit ökonomischer Entwicklung ist dasjenige, was man als A n a 1 o g o n der V e r n u n f t im Bereich der Macht bezeichnen könnte. Sie verhindert einen puren Machtirrationalismus. U n d mit Erfolg hat sie Engels in seiner Schrift gegen D ü h r i n g (1878) zur Geltung gebracht: „ W a s zeigt sich gerade als ,das Primitive' der Gewalt selbst? Die ökonomische M a c h t . . . . " Der Logos dieser ökonomischen Macht m u ß dann freilich tragen, was Hegel das „System der Gerechtigkeit" nennt, u n d was auch die kommunistische Gesellschaft zur Verwirklichung bringen soll. W e n n überhaupt, so können die Forderungen L e h m a n n , G e s t h . d. P h i l . I X
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des „wahren" Sozialismus nur von hier aus gerechtfertigt werden. Literatur I." Ausgaben und Neuausgäben a) David Friedrieb Strauß: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet, 1835 f.; Streitschriften 1837 f.; Die Christliche Glaubenslehre in ihrer geschichtlichen Entwicklung und im Kampf mit der modernen Wissenschaft dargestellt. 1840 f.; Das Leben Jesu für das Deutsche Volk bearbeitet 1864; Der alte und der neue Glaube 1872; Gesammelte
S c h r i f t e n ( e d . ZF.LLER) I — X I I
1876—1881;
Ausgewählte Briefe 1895; Neuausgaben des Leben Jesu für das deutsche Volk I/II und des Alten und Neuen Glaubens in Kröners Volksausgaben. b) Ludwig Feuerbach: Sämtliche Werke I — X 1846—1866, von Feuerbach selbst veranstaltet; Sämtliche Werke, n e u h e r a u s g e g e b e n v o n W . BOLIN u . J . JODL B d . I — X ,
Stuttgart 1909 ff.; Briefe von und an Feuerbach I—II (ed. BOLIN) Leipzig 1904; Briefwechsel mit Kapp, Leipzig 1876; Das Wesen des Christentums, kritische Ausgabe (ed. K. QUENZEL) Leipzig 1904 (Reclam); Neuausgaben vom „Wesen des Christentums" und von den „Vorlesungen über das Wesen der Religion" in Kröners Volksausgaben und in der Deutschen Bibliothek; Philosophie der Zukunft (ed. H . EHRENBERG) Stuttgart 1922; Kleine Philosophische Schriften (1842 b i s 1 8 4 5 ) ( e d . M . G . LANGE) L e i p z i g
1951.
c) Max Stirner: Der Einzige und sein Eigentum 1844 (Jahreszahl 1845) Neuausgabe (ed. P. LAUTERBACH) Leipzig 1892 (Reclam); Geschichte der Reaction 1850; Kleinere Schriften (ed. MACKAY) 2. Aufl. Treptow b. Berlin 1914. d) Karl Marx und Friedrich Engels: Gesammelte Schriften von Karl M a r x und Friedrich Engels 1841—1850 I. Band M ä r z 1841—März 1844, 2. A u f l . Stuttgart 1915 (ed. MEHRING); Sämtliche Werke. Kritische Ausgabe. Frankfurt a. M . 1926 ff. Erste Abteilung Bd. I b i s V ( e d . RJAZANOW) ; B r i e f w e c h s e l B d . I
1844—1853.
Moskau—Leningrad 1935; K. M a r x , Das Elend der Philosophie (1847 französisch, erste deutsche Ausgabe Stuttgart 1855; neue Ausgabe Berlin 1947; K. M a r x , Zur Kritik der politischen Ökonomie (1859; neue Ausgabe Berlin 1947); K. M a r x , Der historische Material i s m u s . H e r a u s g e g e b e n v o n S . LANDSHUT U. J . P . MAYER,
Literatur
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I—II Leipzig 1932; Fr. Engels, Schelling, der Philosoph in Christo, oder die Verklärung der Weltweisheit zur Gottesweisheit. 1842 (anonym); Fr. Engels, Schelling und die Offenbarung 1892 (anonym); Fr. Engels u. K. Marx, Die heilige Familie, oder Kritik der kritischen Kritik 1845; Fr. Engels, Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft 1877/78. Neuausgabe Moskau 1946; — Fr. Engels, Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie 1888. Neuausgabe Leipzig 1946 (ed. HAJEK). e) L. v. Stein: Der Socialismus und Communismus des heutigen Frankreichs 1842; Geschichte der socialen Bewegung in Frankreich von 1789 bis auf unsere Tage 1850. Neuausgabe in drei Bänden (ed. SALOMON) München 1921. f) Moses Heß: Sozialistische Aufsätze 1841—1847 (ed. T h . ZLOCISTI) B e r l i n 1 9 2 1 .
g) Arnold Rüge: Gesammelte Werke I — I V 1846; Aus früherer Zeit I — I V 1862—1867. II. Zusammenfassende Darstellungen J . DUBOC, Hundert Jahre Zeitgeist in Deutschland I 1889. — J . DUBOC-WIEGLER, Philosophie. In: Das deutsche Jahrhundert I 1901. — H. FREYER, Soziologie als Wirklichkeitswissenschaft, Leipzig 1930. — M. HAASE, Die politische Literatur in Deutschland 1844. — W. LÖSER, Die reine Kritik und ihre Bewegung 1845. — J . LÖWENSTEIN, Hegels Staatsidee. Ihr Doppelgesicht und ihr Einfluß im 19. Jahrhundert. Berlin 1927. — K. LÖWITH, Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen, München 1928; Von Hegel zu Nietzsche, 2. Auflage. Stuttgart 1941. — M. J . MONRAD, Denkrichtungen der neueren Zeit 1879. — W. MOOG, Hegel und die Hegeische Schule, München 1930. — A. SCHWEITZER, Geschichte der Leben - Jesu - Forschung, Tübingen 1912. — P. VOGEL, Hegels Gesellschaftsbegriff und seine geschichtliche Fortbildung durch L. Stein, Marx, Engels und Lassalle, Berlin 1 9 2 5 . III. Monographien a) D. Fr. Strauß: K. HARRAEUS, D. Fr. Strauß, Leipzig 1901.
— E . ZELLER, D . F r . S t r a u ß , B o n n 1874. — T h . ZIEG-
LER, D. Fr. Strauß I — I I 1908. b) L. Feuerbach: W. BOLIN, Ludwig Feuerbach. Sein Wirken und seine Zeitgenossen. Stuttgart 1891. — F. JODL, Ludwig Feuerbach. Stuttgart 1921. — A. KOHUT, Lud4*
Neukantianismus
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wig Feuerbadi, Sein Leben und seine Werke. Leipzig 1909. — K. LEESE, Die Prinzipienlehre der neueren systematischen Theologie im Lidite der Kritik Feuerbachs. Leipzig 1912. — A. LEVY, La Philosophie de Feuerbadi et son influence sur la Littérature allemande. Paris 1904. — K. LÖWITH, L. Feuerbadi und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie. In: Logos
1 9 2 8 / 2 9 . — S. RAWIDOWICZ, L . Feuerbachs Philosophie,
Berlin
19331.
c) M. Stirner: G. LEHMANN, Stirners Theorie der Reaktion. In: Geisteskultur 1926. — J. H. MACKAY, Max Stirner. Sein Leben und sein Werk. 3. Aufl. Berlin 1914. — K. A. MAUTZ, Die Philosophie Max Stirners im Gegensatz zum Hegeischen Idealismus. Berlin 1936. — A. RUEST, Max Stirner. Berlin und Leipzig o. J. — H . SCHULTHEISS, Stirner (ed. R . DEDO). Leipzig 1922.
— H. SVEISTRUP, Stirner ah Soziologe. In: Festschrift für E. Kuhnert, Berlin 1928. d) Karl Marx und Friedrich Engels: M. ADLER, Marx als Denker, Berlin 1908; Engels als Denker, Berlin (1920); Lehrbuch der Materialistischen Geschichtsauffassung I Berlin 1930, II, Berlin 1932. — A. CORNU, La jeunesse de Karl Marx (1817—1845), Paris 1934. — H. CUNOW, Die Marxsche Geschichts-, Gesellschafts- und Staatstheorie. I — I I Berlin 1920 f. — G. LUKÄCS, Geschichte und Klassenbewußtsein. Berlin 1923. — F. MEHRING, Karl Marx, Geschichte seines Lebens. 3. Aufl. Leipzig 1920. — G.MAYER, Friedrich Engels, I. Berlin 1920. — J . PLENGE, Marx und Hegel, Tübingen 1911. e) L. v. Stein: E. GRÜNFELD, Lorenz v. Stein und die Gesellschaftslehre, Jena 1910. f) Moses Heß: Th. ZLOCISTI, Moses Heß. 2. Aufl. Berlin 1921.
III.
Der Neukantianismus Der N e u k a n t i a n i s m u s ist von der K a n t bewegung des 19. Jahrhunderts zu unterscheiden. N a türlich gehört er zu ihr. Aber die Forderung, in bestimmter Hinsicht an K a n t anzuknüpfen, ist lange vorher erhoben worden. Von fast allen Gegnern des absoluten Idealismus, insbesondere von Fries, Herbart, Scho-
Realistische Bildungsbewegung
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penhauer (s. Bd. I), aber ebensosehr von den Spätidealisten, und sogar in der Schule Hegels. K. Rosenkranz, der 1838 mit F. W. Schubert eine Gesamtausgabe Kants begann, war Hegelianer. (Im gleichen Jahr wurde auch die andere Gesamtausgabe von G, Hartenstein begonnen; Hartenstein war Herbartianer). Man kann sagen, daß mindestens seit dem Ende der 30er Jahre der Boden für eine „Rückkehr zu Kant" vorbereitet war. Allerdings dachte man damals nicht daran, mit Kant gleichsam von vorn anzufangen. Man dachte überhaupt nicht an einen „Neueinsatz" der Philosophie. D i e s e Forderung entstand erst unter dem Eindruck der Krise der Philosophie im Vormärz und aus dem Bestreben, den aufkommenden M a t e r i a l i s m u s wirksamer zu bekämpfen als mit den theologischen Argumenten der Spätidealisten. Der weltanschauliche Materialismus des 19. Jahrhunderts ist keine Philosophie, wie er es im 18. Jahrhundert war. Er ist auch nicht die „Philosophie" der Naturwissenschaft. Sondern er ist ein Bestandteil der realistischen Bildungsbewegung, die sich unter dem Einfluß von Naturwissenschaft und Technik überall gegen den als zeitfremd erscheinenden Neuhumanismus und seine Bildungsmonopole richtete. Und er ist natürlich — wie im 18. Jahrhundert ebenfalls — eine Oppositionsbewegung gegen die kirchlich-reaktionären Zeitströmungen, vornehmlich gegen den spekulativen Theismus, die „fromme Spekulation". In jener Hinsicht hat er zur Verbreitung und Popularisierung naturwissenschaftlicher Kenntnisse außerordentlich viel beigetragen. In dieser Hinsicht ging es ihm nicht so sehr um die Philosophie der Theisten als um die Eingangsfragen: ob man noch an die biblische Schöpfungsgeschichte, an einen persönlichen Gott, an die Existenz einer Seele, an Willensfreiheit und Unsterblichkeit glauben könne. Dieser „Vulgärmaterialismus" breitet sich um die Jahrhundertwende aus und erhält neuen Antrieb durch
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Neukantianismus
Häckels „Monismus" (Welträtsel 1899, Lebenswunder 1904). Doch haben wir es hier nur mit Häckels Vorgängern, mit Jakob Moleschott (1822—1893), Karl Vogt (1817—1895), Ludwg Büchner (1824—1899) und ihren Geistesverwandten zu tun. Und auch nur insofern, als der Neukantianismus in seiner ersten Phase ( p h y s i o l o g i s c h e r Neukantianismus) den Materialismus erkenntnistheoretisch ad absurdum zu führen sucht, aber doch in einigen Punkten noch von ihm abhängt. Der sogenannte Materialismusstreit entbrannte 1854 anläßlich der G ö t t i n g e r Naturforscherversamml u n g . Und anläßlich einer schlecht disponierten, gedankenlosen, prätentiösen Rede des Physiologen Rudolf Wagner über Menschenschöpfung und Seelensubstanz (1854 erschienen und im gleichen Jahre durch das Traktätdien „Uber Wissen und Glauben mit besonderer Beziehung zur Zukunft der Seelen" ergänzt). Wagners Ausführungen über die Abstammung der Menschen von einem Elternpaare und über die restlose Vereinbarkeit von Bibel und Naturforschung erregten einen Sturm des Unwillens. Sie brachten Karl Vogt auf den Plan, der den Hofrat schön vorher geärgert hatte (in seinen Physiologischen Briefen 1845 ff.) und die willkommene Gelegenheit ergriff, ihn (allerdings mit einer Reihe höchst persönlicher Argumente) zu vernichten. Das geschah in Vogts Schrift: Köhlerglaube und Wissenschaft (1854, schon 1856 in vierter Auflage). Hier findet sich unter anderen sarkastischen Bemerkungen auch der sehr „materialistische" Satz: daß sich die Gedanken zum Gehirn in demselben Verhältnis befänden wie „die Galle zu der Leber oder der Urin zu den Nieren." Man braucht das nicht ganz ernst zu nehmen. Vogt liebt die Derbheiten, er ist witzig, und hat Humor. (Sein Budi: Altes und Neues aus Tier- und Menschenleben 1859, enthält glänzende Parodien auf die sozialen und staatlichen Beziehungen der Menschen; seine Lebenserinnerungen 1896 sind ein Meisterwerk des Humors und eine Fundgrube für den Kulturhistoriker). Vogt ist Zoologe und Politiker. Philosoph ist er nicht. Anders ist es mit Moleschott. Er stellt die Verbindung zur älteren Naturphilosophie her und bewegt sich zuweilen in unbestimmbaren Gedankengängen philosophischer Art. Seine Affinität zu Feuerbad] beruht wohl hierauf. Mit Feuerbach stand er seit 1850 in Briefwechsel, und dieser hat in einer
Materialismusstreit
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Besprechung von Moleschotts „Lehre der Nahrungsmittel für das Volk" (1850) den materialistischen Extrakt des Buches auf die Formel gebracht: „Der Mensch ist, was er ißt" („Der Anfang der Existenz ist die Ernährung"). Moleschotts „Kreislauf des Lebens", ursprünglich eine Streitschrift gegen Liebigs Vitalismus (1852) ist schließlich (1876—1885) zu zwei stattlichen Bänden angewachsen, und gipfelt in den tiefsinnigen Sätzen: „Aus Luft und Asche ist der Mensch geworden; die Tätigkeit der Pflanzen rief ihn ins Leben. In Luft und Asche muß der Leichnam zerfallen, um durch die Pflanzenwelt in neuen Formen neue Kräfte zu entfalten. Das ist der Kreislauf des Lebens." Der redseligste Streiter für den Materialismus, und zugleich der gedankenärmste, ist L. Büchner. Von ihm stammt das Hauptwerk der ganzen Bewegung: „Kraft und Stoff, empirisch-naturphilosophische Studien" (1855), das es bis zur Jahrhundertwende auf 21 Auflagen brachte, und dessen Inhalt von Büchner auch noch zu zahllosen anderen Schriften verarbeitet wurde. (Marx nennt ihn den „Buchmacher"). Büchner hatte als Zeitungskorrespondent an der Göttinger Versammlung teilgenommen und war durch Moleschotts „Kreislauf" angeregt worden. Damals war er noch Privatdozent in Tübingen, mußte aber nach Erscheinen seines Buches die Lehrtätigkeit aufgeben. Was das Sachliche betrifft, so sind alle diese Gemeinplätze: von der Unsterblichkeit des „Stoffs" und der „Kraft", von der „Unabänderlichkeit" und „Allgemeinheit" der Naturgesetze,! vom „Kreislauf" des Lebens, der Unendlichkeit und Ewigkeit des Raumes usw., auf die damalige Situation zu beziehen. Zwar waren die Arbeiten von /. R. Mayer, Helmholtz und Joule sdion erschienen, aber das Energieprinzip hatte sich noch nicht durchgesetzt. Etwas von den Geburtswehen dieser großen Entdeckung ist auch in den Schriften der Materialisten spürbar. Darüber freilich, daß die energetische Betrachtung im Grunde die „materialistische" (im eigentlichen Sinne) überflüssig macht, bestand keine Klarheit. Es dauerte lange, bis sich die Wendung vom Materialismus zur Energetik im Bewußtsein der Gebildeten abzeichnete; erreicht wurde es erst durch den „Monismus" W. Ostwalds, der den alten Substanzbegriff der „Materie" durch den der E n e r g i e ersetzte und (1895)' die „Überwindung des wissenschaftlichen Materialismus" verkündete. Wie wenig im übrigen die Vorstellungen der damaligen
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Neukantianismus
Materialisten den philosophischen Voraussetzungen einer m a terialistischen D o k t r i n entsprachen, hat Büchner u n u m w u n d e n zugegeben, wenn er in einer Säkularbetrachtung über den Materialismus des 19. J a h r h u n d e r t s (1899), sagt: gewöhnlich versteht man unter „Materialismus" eine philosophische Richtung, die alle Erscheinungen der Welt und des Daseins aus den Eigenschaften oder Bewegungen der Materie „ohne Zuhilfenahme eines leitenden V e r n u n f t p r i n z i p s " zu erklären unternimmt; eine solche Erklärung w ü r d e sicherlich — wenn sie möglich w ä r e — „von allen Seiten mit großer Freude begrüßt w e r d e n " ; aber in diesr Beziehung läßt die materialistische Welterklärung „eben so viel zu wünschen übrig wie die spiritualistische." „Daher denn auch der Materialismus als p h i l o s o p h i s c h e s S y s t e m eben so w«nig jener Aufgabe zu genügen vermag wie alle übrigen philosophischen Systeme." Z u noch radikaleren Konsequenzen k o m m t der einzige unter den Materialisten der 50er Jahre, der sich wirklich um materialistische „Erklärungen" bemüht h a t : Heinrich Czolbe (1819—1873). E r hatte in seinem Buche „ N e u e Darstellung des Sensualismus" (1855) den Versuch gemacht, die „ f r a g mentarischen Behauptungen" der Feuerbach, Vogt und Moleschott zu begründen. E r meinte nicht mit Unrecht, d a ß sich diese sogenannten Materialisten „im G r u n d e noch gänzlich auf dem Boden der von ihnen angefeindeten Religion und spekulativen Philosophie" befinden, und genauso „dunkle Redensarten" vorbringen wie ihre Gegner. H e l l werde es erst, wenn man mit dem P r i n z i p des „Sensualismus", das Obersinnliche „stets u n d unter allen U m s t ä n d e n auszuschließen" ernst macht. Das f ü h r t ihn freilich zu dem hellen Unsinn einer „physikalischen" Logik u n d Ethik, sowie zu einer „extensionalen" Erkenntnistheorie. Die Entstehung der Begriffe, Urteile u n d Schlüsse soll nämlich wie diejenige der Wahrnehmungen u n d Vorstellungen eine „rein physikalische" sein bzw. mit „ p h y sikalischer N o t w e n d i g k e i t " stattfinden. (Vorstellungsfiguren u n d Begriffsfiguren sollen in der „Molekularstruktur" des Gehirns gründen). D a ihm das selber nicht auszureichen schien, gelangte er zu immer kühneren Hypothesen, deren letzte (in den „Grenzen u n d dem U r s p r u n g der menschlichen E r k e n n t nis" 1865) die Behauptung eines geistigen Inhalts des objektiven Weltraumes: einer „Weltseele", u n d einer universalen Zweckmäßigkeit war. Von hier aus konnte er dann sagen: „Der alles aus dejr Materie ableitende Materialismus, an den
H. Czolbe
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ich selbst früher zum Teil glaubte, ist eine durchaus falsche Auffassung, ich bin aufs gründlichste davon zurückgekommen." Wenn etwas die Materialisten der 50er Jahre verband, so war es ein gewisser naiver Realismus und O b jektivismus, f ü r den alles Subjektive bloße Zutat, „Funktion", Gehirnphänomen ist. Das lag ja in der N a t u r der Sache. N u n aber hatte die damalige Physiologie, auf die man sich so gern berief, einen Wissenschaftszweig entwickelt (bei Johannes Müller, Helmholtz u. a.), der in eine ganz andere Richtung wies: die Sinnesphysiologie. Gewiß läßt sich die Sinnesphysiologie auch materialistisch behandeln. Daran dachten jedoch ihre damaligen Vertreter durchaus nicht. Sie traten vielmehr in die erkenntnistheoretische K r i t i k des Objektivismus ein und näherten sich auf diesem Wege Kant. Hermann v. Helmholtz (1821—1894), der in Berlin bei Johannes Müller studiert hatte, und durch seinen Vater, den Freund I. H. Fichtes, mit der philosophischen Tradition vertraut war, hielt 1855 in Königsberg einen Vortrag über das „Sehen des Menschen". Kant habe, so f ü h r t er aus, f ü r seine Zeit darzulegen versucht, „was in neuerer Zeit die Physiologie der Sinne auf dem Wege der Erfahrung nachgewiesen", — den Anteil, „welchen die besonderen eingeborenen Gesetze des Geistes, gleichsam die Organisation des Geistes, an unseren Vorstellungen haben." U n d in der „Physiologischen O p t i k " (1856) wird von diesen „eingeborenen Gesetzen" besonders die K a u s a l i t ä t als Voraussetzung aller „Erfahrung von Naturobjekten", also als apriorisches Prinzip, geltend gemacht. In einem Brief an den Vater (vom 4. März 1857) protestiert er entschieden dagegen, Männer wie Vogt und Moleschott als Repräsentanten der Naturforschung zu betrachten. „Ich selbst fühle sehr lebhaft das Bedürfnis einer spezielleren Durcharbeitung gewisser Fragen, an welche aber, so viel ich weiß, kein neuerer Philosoph sich gemacht hat, und die ganz auf dem von Kant in seinen Umrissen erforschten Felde der
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Neukantianismus
apriorischen Begriffe liegen." Als solche gibt er an: die Ableitung der geometrischen und mechanischen Grundsätze, die Gesetze der „unbewußten Analogieschlüsse", durch die wir von Empfindungen zu Wahrnehmungen gelangen, die Auflösung des Realen in Materie und Kraft, — Themen, die Helmholtz auch späterhin, als er sich mehr und mehr vom Apriorismus entfernte, behandelt hat (z. B. in den „Tatsachen der Wahrnehmung" 1879). Helmholtz ist der erste Vertreter des „physiologischen" Neukantianismus. Der zweite ist Friedrich Albert Lange. In seinem Hauptwerk, der G e s c h i c h t e d e s M a t e r i a l i s m u s , gibt Lange nicht nur eine Widerlegung des Materialismus „mitten durch seine Konsequenzen hindurch", sondern auch das erste K a n t b i 1 d des Neukantianismus, das sich vom traditionellen wesentlich unterscheidet und bestimmend für die spätere Zeit wird. Gerade auch in den Mängeln, die es besitzt. Denn Lange wirft den Ballast der Überlieferung ab, verzichtet auf alle Metaphysik, läßt bei Kant nur die „Erkenntnistheorie" gelten, die er in eine Lehre von der „Gattungsorganisation" umdeutet. Was er an Eigenem, hinzufügt, sein aus Schiller gewonnener „Standpunkt des Ideals", ist ein dürftiger Ersatz für Kants Teleologie und Ethikotheologie. Kann auch von einer „Philosophie" Langes nicht ernstlich die Rede sein, so" hat er doch stark in die philosophische Bewegung der Zeit feingegriffen. Wie Helmholtz, ist audi Lange von Schopenhauer beeinflußt, und der subjektive Idealismus, den er bei Kant zu finden glaubt, ist ganz der Schopenhauersche Idealismus der „Welt als Vorstellung". Lange gilt als Begründer der Marburger Schule. Das ist er zwar nicht, aber er hat H. Cohen nach Marburg verholfen und ist von ihm zur Revision einiger Voraussetzungen veranlaßt worden. H. Vaihingers kritischer Positivismus oder Fiktionalismus (Philosophie des Als Ob) geht auf Lange zurück.
Helmholtz und" Lange
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Lange war kein Naturwissenschaftler. Als Pfarrerssohn 1828 in Wald b/Solingen geboren, studierte er in Z ü r i c h und in B o n n (bei Fr. W. Ritsehl, der auch Nietzsches Lehrer war) Philologie. Nach vierjähriger Bonner Privatdozentenzeit verläßt er die Universität, wird Gymnasiallehrer in D u i s b u r g (1858), und 1862 wegen politischer Betätigung gemaßregelt. Nun wird sein Leben abenteuerlich: er wird erst Zeitungsredakteur, Sekretär an der Duisburger Handelskammer, begründet dann eine eigene Zeitung, den „Boten vom Niederrhein". 1865 erscheint seine, für die Geschichte des sozialdemokratischen Revisionismus bedeutsame Schrift: Die Arbeiterfrage. In der Hoffnung, an die Universität Zürich zu gelangen, siedelt er 1866 in die S c h w e i z über. Hier begründet er, als sich seine Erwartungen nicht erfüllen, einen eigenen Verlag mit seinem Jugendfreund Bleuler, beteiligt sich an den Schweizer Verfassungskämpfen, wird in Zürich Mitglied des Bankrates, und schließlich Professor für „induktive Philosophie". Schon damals an Darmkrebs erkrankt, nimmt er einen Ruf nach M a r b u r g an (1872). Im Februar 1875 hielt er sein letztes Kolleg. Am 21. November starb er. Sein Vater hat ihn um zehn Jahre überlebt. Man muß die Kürze dieses Lebens bei der Beurteilung seiner Werke berücksichtigen. Lange war von größter Vitalität, von ungeheurer Arbeitskraft. (Neben der Setzmaschine schrieb er wissenschaftliche Arbeiten, Aufrufe, Zeitungsartikel). Er war aber auch von eigentümlicher Zwiespältigkeit, die in seiner Philosophie zum Ausdruck kommt: Agitator und Gelehrter, Politiker und praktischer Idealist, Aufklärer und frommer Christ. Der ganze Bildungsgegensatz seiner Zeit, die noch von der humanistischen Tradition bestimmt, aber ihr zugleich entfremdet ist, verkörpert sich in ihm. Seine Geschichte des Materialismus ist zuerst einbändig 1866, dann zweibändig 1873—1875 erschienen. Ihre Entstehung fällt noch in seine ersten Dozenten jähre: 1857 bekam er einen Zettel von 12 Studenten, die ihn um eine Vorlesung über Geschichte des Materialismus baten. Die zweite Auflage ist völlig neu bearbeitet, aber der Gesichtspunkt der Allgemeinverständlichkeit ist erhalten geblieben und hat dieses Werk zu einem Volksbuch gemacht, dem Generationen ihre philosophische Unterweisung verdanken.
Langes Neukantianismus ist nicht die Frucht eines langen Kantstudiums oder überhaupt einer um ihrer
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Neukantianismus
selbst willen unternommenen Kantinterpretation, sondern eine Sichtung der Kantischen Philosophie zum Zwecke ihrer Verwertung im K a m p f e gegen den naturwissenschaftlichen O b j e k t i v i s m u s — wie wir auch hier lieber an Stelle von Materialismus sagen wollen — und gegen den aus -England importierten empiristischen P o s i t i v i s m u s (Neubaconismus) / . St. Mills (s. u.). Lange sucht also nach den zeitgemäßen Bestandteilen des Kantischen Werkes. „Die bleibenden Errungenschaften der Kantischen Philosophie liegen in der Kritik der reinen V e r n u n f t , und auch hier nur in wenigen f u n d a mentalen Sätzen . . .". N u r die Kritik der reinen V e r n u n f t kommt in Betracht. N u r sie enthält Kants „Erkenntnistheorie". U n d nur die E r k e n n t n i s t h e o r i e , nicht die praktische Philosophie, nicht die „Metaphysik" Kants ist von bleibender Bedeutung. „Die ganze praktische Philosophie ist der wandelbare und vergängliche Teil der Kantischen Philosophie". Die „wenigen fundamentalen" Sätze Kants aber sind seine sogen. „Kopernikanische Wendung", derzufolge sich die Gegenstände nach unseren Begriffen richten, nicht etwa (wie der Objektivismus und Positivismus meinen) unsere Begriffe nach den Gegenständen; seine Unterscheidung von Erscheinung und Ding an sich; seine Lehre von der Apriorität, bezw. von den synthetischen Urteilen a priori. Diese „Sätze" sind freilich nur zu verstehen, wenn sie von den „wuchernden Ranken der Spekulation" befreit, und aus dem historischen Zusammenhang mit der rationalistischen Metaphysik, in dem sie bei Kant a u f treten, gelöst werden. Es ist der Dualismus von s i n n l i c h e r und ü b e r s i n n l i c h e r Welt, der sich in der ihm von Kant gegebenen Form als völlig unhaltbar erweist. „Kant wollte nicht einsehen, was schon Plato nicht einsehen wollte, daß die „intelligible W e l t " eine W e l t d e r D i c h t u n g ist, und daß gerade hierauf ihr Wert und ihre W ü r d e beruht". Erkennend haben wir es nur mit der Erfahrung und mit der Ersdieinungs-
Langes Kantauffassung
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weit zu tun. Die Erfahrung ist das „Fensterchen", das dem Menschen einen „beschränkten und getrübten Blick nach Außen eröffnet". Der Metaphysiker läßt sich dagegen von dem „Kaleidoskop seiner Ideenwelt" täuschen. Diese „Sätze" sind ferner nur zu verstehen, wenn unter den „Begriffen", nach denen sich die Gegenstände richten sollen, der Inbegriff der „Organisation unseres Denkens", die psychophysische Organisation des Menschen, verstanden wird. Mit Langes Lehre von der G a t t u n g s o r g a n i s a t i o n haben wir die Plattform seines Neukantianismus erreicht. Wir finden diese Lehre auch bei den anderen Vertretern des physiologischen Neukantianismus, und sie entspricht durchaus jenem „Anthropologismus" von Fries bis Feuerbach, der das Denken im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts beherrscht. Unser Erkennen ist durch die „Natur" unseres Erkenntnisvermögens bedingt; unser Wahrnehmen durch jene „psychologische Einrichtung", die uns nötigt, die Dinge nach Raum und Zeit anzuschauen; Sinnlichkeit und Verstand haben eine „gemeinsame Wurzel", — was Kant bloß vermutete, ist durch die S i n n e s p h y s i o l o g i e bewiesen: daß nämlich bereits die einfachsten Sinneseindrücke gewisser logischer Faktoren bedürfen (Lange denkt dabei an Helmholtz und Fechner). Die „Einheit von Sinnlichkeit und Denken", das ist die „wahre Lösung des transzendentalen Problems". (Auch Feuerbach hatte die Einheit von Sinnlichkeit und Denken in den Mittelpunkt seiner „neuen" Philosophie gestellt). Zwei Fragen erheben sich hier: die nach dem Wesen der „Dinge an sich" und die nach dem Sein der „Gattungsorganisation". Bezeichnen wir die Dinge als Erscheinungen, so sagen wir aus, daß sie nichts uns „schlechthin äußerlich Gegenüberstehendes", sondern „Produkte" unserer Sinnlichkeit und unseres Verstandes sind. Bezeichnen wir aber die Erscheinungen wieder als durch Dinge „an sich" bedingt, so sagen wir garnichts Positives aus. Denn über den Kreis unserer Denk- und Anschau-
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ungsfunktionen kommen wir nicht hinaus. Wir sagen aber etwas N e g a t i v e s oder K r i t i s c h e s aus. Wie der Fisch im Teiche nur im Wasser, nicht auf der Erde schwimmen, aber doch mit dem Kopf gegen Boden und Wände stoßen kann, so können auch wir unserer Schranken innewerden: das Ding an sich ist ein G r e n z begriff. Was nun das „Sein" der Gattungsorganisation selbst betrifft, so ist Lange mit dieser Frage nicht fertig geworden. Nur soviel ist ihm klar: Ding an sich kann unsere Organisation nicht sein, sondern nur „Erscheinung" eines Unbekannten. Das würde aber bedeuten, daß eine „Erscheinung" Fundament der Erkenntnis von Erscheinungen ist, daß, Kantisch gesprochen, eine „Erscheinung" die anderen k o n s t i t u i e r t . Und das ist in sich widersinnig; denn die Gesetzmäßigkeit, das Begründende, Bedingende der Erscheinung, muß ihr logisch und erkenntnistheoretisch v o r a u f g e h e n : eben dies ist der Sinn von Apriorität und der Sinn dessen, was Kant transzendentalen Idealismus nennt. Und auch der Rekurs auf ein der „fundierenden" Erscheinung (unserer Gattungsorganisation) zugrundeliegendes unbekanntes Ding an sich würde nichts erklären: apriorische Gesetze und Erkenntnisse können nicht aus Dingen an sich stammen. Das wäre ja gerade die Behauptung des Materialismus und Empirismus. Wenn Lange Kants Ideen- und Freiheitslehre verwirft, weil in ihnen eine Metaphysik der „übersinnlichen Welt" enthalten ist, und weil wir im sittlichen Kampfe doch nidit als intelligible Subjekte, sondern als E r s c h e i n u n g s wesen handeln, so erhebt sich schließlich die dritte Frage: was Lange an Stelle von Kants praktischer Philosophie setzt? Die Antwort darauf ist seine Lehre vom „ S t a n d p u n k t d e s I d e a l s " , die er zumeist auf Schillers philosophische Gedichte (nicht auf Schillers theoretische Schriften) zurückführt, die aber doch ebenso sehr von Herbarts praktischer Philosophie beeinflußt ist. Wie Herbart unterscheidet Lange die „Welt des Seienden" von der „Welt der Werte", bezeichnet er die Idealwelt als „Ergänzung" der Wirklichkeit. Nur daß ihm diese „ergän-
Der Standpunkt des Ideals
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zende" Idealwelt eine vom M e n s c h e n g e s c h a f f e n e ist, die Ideen mithin Erdichtungen, Illusionen, („Fiktionen", wie Vaihinger im Anschluß an Lange sagt) sind. Realität im erkenntnistheoretischen Sinne kommt ihnen nicht zu. Aber die Idealwelt ist G l a u b e n s i n h a l t , und als geglaubte aller Realität überlegen. Wie die Dichtung das Leben verklärt, uns erhebt und erbaut, so sollen Religion, Weltanschauung, Metaphysik, die nicht nur keine Erkenntnisse enthalten, sondern auch nichts mit Wahrscheinlichkeit zu tun haben, „die Gemüter über das Wirkliche erheben". Es findet sich auch die andere Wendung: daß uns die „Welt der Ideen" als „bildliche Stellvertretung der vollen Wahrheit" unentbehrlich ist. Aber es ist müßig, darauf näher einzugehen; denn dieser letzte Ausläufer des klassischen Idealismus treibt keine Blüten mehr, — so ernst es Lange mit dem „Standpunkt des Ideals" gewesen sein mag.
Ein Jahr vor der Geschichte des Materialismus war ein Werkdien erschienen, das durch die Frische der Darstellung und die Keckheit seines Tones, durch den immer wiederkehrenden Refrain: „Also muß auf Kant zurückgegangen werden", und durch die Vortrefflichkeit seiner historisch-kritischen Analysen Aufmerksamkeit erregte: K a n t u n d d i e E p i g o n e n (1865). Sein Verfasser war der damals 25jährige Otto Liebmann. Er war bei Kuno Fischer (1824—1907) in die Schule gegangen, dessen Kantbuch (1860/1) der Kantbewegung einen großen Auftrieb gegeben hatte, obzwar Fischer als Hegelianer nicht eigentlich dem Neukantianismus zuzuredinen ist. Wohl aber Liebmann selbst. Er repräsentiert in seinen früheren Jahren den physiologischen Neukantianismus, ist sidi aber — anders als Lange — von vornherein klar über die erkenntnistheoretisdie Problematik, die er in seinen späteren Werken (Analysis der Wirklichkeit, 1876, Gedanken und Tatsachen, 1899— 1904) fortbildet, um dabei zu einer k r i t i s c h e n M e t a p h y s i k zu gelangen, als „strenger Erörterung" menschlicher Hypothesen über das Wesen der Dinge, „innerhalb der Grenzen der menschlichen Vernunft". Der Umfang der Liebmannschen Schriften ist nicht groß. Aber seine Wirkung als Universitätslehrer war
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bedeutend. W. Windelband und Br. Bauch standen ihm nahe. Der Neuidealismus fand durch ihn den Boden vorbereitet.
Liebmann ist Schlesien 1840 in L ö w e n b e r g geboren, studierte er in Jena, Leipzig und Halle Mathematik, Naturwissenschaften und Philosophie, hörte bei Fischer und Treitschke, in Leipzig bei Fechner und Drobisch, und habilitierte sich in T ü b i n g e n. 1872 wurde er in S t r a ß b u r g Extraordinarius, 6 Jahre später Ordinarius. Von 1882 bis zu seinem Tode (1912) lehrte er in J e n a . Von der Jugendschrift abgesehen, sind seine Werke systematisch? Aber nicht in der Weise des Methodologismus und erkenntnistheoretischen Formalismus, sondern durchaus sachund lebensnah. Sie sind von einer gewissen naiven Unmittelbarkeit. Liebmann ist niemals langatmig; er schreibt nur kürzere Abhandlungen, die er zu Blütensträußen verbindet. Audi Gedichte hat er verfaßt. Wie er überhaupt zur Ästhetik in engeren Beziehungen steht (mit dem Ästhetiker F. Th. Vischer war er seit seiner Tübinger Zeit befreundet).
Anders als Schopenhauer, erkennt Liebmann (in seinem Jugendwerk) die idealistische Tradition ihrem "Werte nach an. Er findet nur bei allen idealistischen (und auch nichtidealistischen) Kantnachfolgern einen Fehler. Und diesen Fehler findet er auch bei Kant. Es ist der Begriff des D i n g e s a n s i c h . Das Ding an sich soll Antwort auf eine Frage geben, die sich nicht beantworten läßt; das letzte, äußerste Ziel unseres Intellekts kann „überhaupt kein Begriff sein, sondern nur eine unbeanwortete Frage, ein ungelöstes Rätsel." Geholfen werden kann uns nur dadurch, daß „durch eine anderweitige Befriedigung des Gefühls der Anlaß zur Frage wegfällt." Bei dem Versuche, „jene undenkbare Idee zu realisieren", verfällt der Intellekt unweigerlich in Widersprüche. Kants Ding an sich wird so zum Schicksalsbegriff der Nachkantischen Philosophie. Sie a l l e : Fichte, Schelling,
Hegel,
Herbart,
Fries,
Schopen-
hauer, machen von dem Ding an sich einen positiven, mithin unerlaubten Gebrauch.
Liebmann interpretiert also Kant S u b j e k t i v i s t i s c h . Und wie Lange kommt er zu diesem Subjektivismus auf dem
O. Liebmann
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Wege über die Sinnesphysiologie. In der Schrift „Ober den objektiven Anblick" (1869) sucht er zu zeigen, daß Kants Lehre von den reinen Erkenntnisformen den Erklärungsgrund f ü r die „Möglichkeit der Objektivierung und Projektion der sensiblen Qualitäten" (Licht- und Farbeindrücke) abgibt. Wie wird denn aus subjektiven Gesichtsempfindungen ein objektiver Anblick, d. h. ein solcher, bei dem die empfundenen Qualitäten räumlich angeordnet sind? Wie können Licht und Farbe zugleich unsere Zustände sein und als Eigenschaften von Dingen erscheinen? Liebmann unterscheidet drei Faktoren des „Anblicks": den sensualen, intellektuellen und transzendenten. D a ß wir beim Sehen unsere Sensationen „hinausschauen", dies ist die eigentliche Leistung des Intellekts. Das ganze sinnliche Naturbild entspringt „nach bleibenden Gesetzen in unserem Geiste." Aber nicht nur der erblickte Gegenstand, auch der Leib ist Phänomen. Wie bei den äußeren Sensationen, gelangen wir also auch bei dem Substrat unserer Sinnesorgane auf ein Unbekanntes. Von beiden Unbekannten kennen wir nur ihre R e l a t i o n , weiter nichts. Diese Relation ist der „transzendente Faktor der Anschauung." W i e Lange s t e h t auch Liebmann in d e r F r o n t gegen d e n E m p i r i s m u s u n d P o s i t i v i s m u s . E r sucht z u zeigen, d a ß alle A u s s a g e n ü b e r Tatsächliches A u s sagen ü b e r Nichttatsächliches e n t h a l t e n , die jene a l l e r e r s t ermöglichen, — d a ß die E r f a h r u n g ein „Geschenk des V e r s t a n d e s " ist. Z w e i e r Liebmannscher B e g r i f f e ist hier besonders zu gedenken: der „Interpolationsmaximen" u n d d e r „ L o g i k d e r T a t s a c h e n " . Sie finden sich in einer seiner wichtigsten k l e i n e r e n A r b e i t e n , d e r „ K l i m a x d e r T h e o r i e n " v o m J a h r e 1884. Da Problem, um das es sich in dieser Arbeit handelt, ist die Frage nach der K l a s s i f i k a t i o n d e r T h e o r i e n . Liebmann unterscheidet drei Arten von Theorien: Theorien e r s t e r O r d n u n g , „die ihre Erklärungsprinzipien unmittelbar aus dem Bereich des empirisch Gegebenen" entnehmen, die also die „Grenzen der wahrnehmbaren Tatsächlichkeit gar nicht 'überschreiten", — Theorien z w e i t e r Ordnung, die zum Zweck der Erklärung Faktoren heranziehen, die ihrer N a t u r nach nicht mehr beobachtbar sind und „hypothetisch als wirkende Ursachen angesetzt werden", — Theorien d r i t t e r Ordnung, die mit dem Anspruch auftreten, „ a b s o l u t e L e h m a n n , Gesch. d. P h i l . I X
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Prinzipien zur Erklärung der gegebenen Welt mitzuteilen", metaphysische Behauptungen also. Diese „Theorien" bilden offenbar eine S t u f e n r e i h e (Klimax). Und der Witz der Untersuchung liegt darin, daß sich in ihr gleichsam von selbst erweist: es gibt gar keine Theorien erster Ordnung, sondern nur Theorien zweiter und dritter Ordnung. Es gibt keine Erklärungsprinzipien unmittelbar aus dem Bereich des Empirischen. Es gibt keine „reine Erfahrung". Wir kommen ohne einen Bestand an „nichtempirischen Prämissen" nicht aus, um Wahrnehmungsdaten aufeinander zu beziehen. Das sind die I n t e r p o l a t i o n s m a x i m e n der Erfahrung: der realen Identität, der Kontinuität der Existenz, der Kausalität und der Kontinuität des Geschehens. Was den Begriff der L o g i k d e r T a t s a c h e n betrifft, als der im Weltlauf herrschenden, unserer Logik korrespondierenden o b j e k t i v e n L o g i k , so gelangt Liebmann zu ihm (schon 1876 in der „Analysis") von der Naturgesetzlichkeit aus. Läßt sich doch jeder naturgesetzliche Vorgang „ganz ungezwungen" als ein S c h l u ß darstellen, dessen Obersatz das Naturgesetz, dessen Untersatz der gegenwärtige Zustand eines Gegenstandes, dessen Konklusio sein nachfolgender Zustand ist. Ein schwacher Nachhall des Hegeischen „Alles ist ein Schluß", aber von Liebmann, der die Dialektik ablehnte, nicht auf Hegel, sondern auf Spinoza bezogen. — Ein ähnliches Verhältnis zu Hegel bestand auch bei Dühring (Natürliche Dialektik 1865), allerdings unter realistischen Voraussetzungen, die Liebmann gerade zu widerlegen sucht. Das sich für Liebmann zuletzt ergebende G e s a m t b i l d wird am deutlichsten in zwei Abhandlungen seiner „Gedanken und T a t s a c h e n " : Geist der Transzendentalphilosophie, und Grundriß der kritischen Metaphysik. An Kants Einzellehren ist nahezu alles strittig. „Aber der ganze Standpunkt, der prinzipielle Grundgedanke" ist „unveraltet und unsterblich". Dies gilt nicht nur (wie bei Lange) in bezug auf die theoretische, sondern auch auf die p r a k t i s c h e Philosophie, den kategorischen Imperativ und Freiheitsbegriii Kants. D a ß Kant keine inhaltliche (materiale) Ethik aufgestellt habe, sei kein Einwand gegen ihn: wenn es überhaupt allgemeingültige, für alle Gattungswesen „ n o r m a t i v e Geltung besitzende
Liebmanns Metaphysik
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Sittengesetze" gibt, so können sie nur formal sein wie die Gesetze der Logik. Das F r e i h e i t s b e w u ß t s e i n aber ist (wie das Zeitbewußtsein) auf die transzendentale Apperzeption, auf die „Identität und Beharrlichkeit des Ich", der obersten Bedingung alles Erkennens und aller Erfahrung, zu beziehen. Ob es auch auf das metaphysische Substrat des Selbstbewußtseins zu beziehen ist, wissen wir nicht. Dieses metaphyische Substrat ist für Liebmann ebenso ein „Grenzbegriff" wie der Begriff des übersinnlichen Substrats der Erscheinungen. Eine Metaphysik außerhalb der Grenzen der menschlichen Vernunft lehnt er, wie zu Anfang, so auch zuletzt ab.. Nicht dagegen eine Metaphysik innerhalb dieser Grenzen, eine kritische Metaphysik, Sie ist nicht etwa ein anderer Name für Erkenntnistheorie. Sondern wir kommen zu ihr, indem wir den Anspruch Kants, die Erscheinungswirklichkeit aus bestimmten Erkenntnisformen aufzubauen — 'den Kantischen Konstitutionsphänomenalismus also — h e r a b s e t z e n , und das nun Fehlende auf andere "Weise ergänzen. Diese „andere" Weise ist die kritische Metaphysik Liebmanns, die man „Postulatenmetaphysik" nennen könnte, wenn dieser Begriff nicht bei Kant eine Bedeutung hätte, die sich auf die praktische Vernunft bezieht. Nach Liebmann handelt es sich dagegen um t h e o r e t i s c h e Postulate bzw. Hypothesen, wie z. B. das Prinzip der Beharrlichkeit der Substanz, das Kausalitätspostulat, oder um die Forderung der „Freiheit" des Denkens, — kurz um dasjenige, was zuvor in den Interpolationsmaximen der Erfahrungswissenschaft zusammengefaßt worden war. "Wie diese theoretischen Postulate oder „Normen", so lassen sich auch die auf Werturteile bezüglichen zusammenstellen. Beides ergäbe einen Grundriß kritischer Metaphysik, die sich aller Aussagen über Transzendentes enthält. — Indem wir Liebmanns Entwicklung wenigstens andeuteten, sind wir in die E n t w i c k l u n g s g e s c h i c h t e 5*
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Neukantianismus
d e s N e u k a n t i a n i s m u s schon eingetreten. Das dem physiologischen Neukantianismus der 50er und 60er Jahre folgende Stadium beginnt in den 70er Jahr e n : ' 1 8 7 1 erscheint, dem Andenken Langes gewidmet, das Grundwerk der M a r b u r g e r Kantauffassung, „Kants Theorie der E r f a h r u n g " von H. Cohen, 5 Jahre danach das f ü r die r e a l i s t i s c h e Kantinterpretation entscheidende W e r k „Der philosophische Kritizismus und seine Bedeutung f ü r die positive Wissenschaft" von A. Riehl; 1878—1880 veröffentlicht W. Windelband seine Geschichte der neueren Philosophie, deren 2. Band ein mit Liebe gezeichnetes, f ü r die Kantäuffassung der Südwestdeutschen Schule vorbildlich gewordenes Kantbild enthält. Es ist dies also die Zeit der e i g e n t l i c h e n Kantrezeption. Freilich nicht eine solche der bloßen Kantphilologie. Denn immer handelt es sich ja doch um eine, der damaligen p h i l o s o p h i s c h e n Situation entsprechende Rekonstruktion, mithin um eine Umdeutung Kants. Das zeigen schon die großen Unterschiede in den Kantauffassungen Cohens, Riehls und Windelbands. K a n t soll s y s t e m a t i s c h interpretiert, er soll im Ganzen, nicht nur — wie im physiologischen Neukantianismus — in einigen Punkten zur Geltung gebracht werden. Aber die systematischen Ansätze weichen so grundsätzlich voneinander ab, daß ein philologisch einheitliches Bild gar nicht entstehen kann. (Eine in den 80er Jahren einsetzende „neutrale" Kantphilologie — Arnoldt, Adickes, Erdmann, Paulsen, Reicke, Vaihinger u. a. — hat die Fehler dieser neukantischen Interpretation zwar vermieden, d a f ü r aber Kant wie ein N a t u r p r o d u k t , nicht wie einen Gegenstand der Geistegeschichte behandelt). W a r der Neukantianismus im zweiten Stadium systematisch um Kant bemüht, so konnte es nicht fehlen, daß er sich im dritten Stadium um die Bildung e i g e n e r S y s t e m e bemühte. Das geschah innerhalb der Südwestdeutschen Schule in den 90er Jahren vor allem
Die Kantrezeption
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durch Heinrich Richert, der Windelbands Gedanken in umfangreichen "Werken fortbildete. Innerhalb der M a r burger Schule hat Hermann Cohen kurz nach der J a h r hundertwende mit der „Logik der reinen Erkenntnis" ( 1 9 0 2 ) die Darstellung seines Systems «röifnet. Auch A. Riehl hat 1 9 0 7 den ersten Band seines „Kritizismus" neu bearbeitet (die Endgestalt des Ganzen ist freilich erst 1925 posthum erschienen). Der Same dieser Systeme wurde überall verbreitet. Nicht nur in der damaligen Philosophie, auch in den Einzelwissenschaften gelangten die neukantischen Prinzipien zur Geltung, In der Rechtswissenschaft begründete Rudolf Stammler eine Lehre vom „richtigen Recht" im Gegensatz zum herrschenden Rechtspositivismus (1902), nachdem er schon vorher (1896) die materialistische Geschichtsauffassung kritisiert bzw. teleologisch „ergänzt" hatte. In der Pädagogik bekämpfte Paul Natarp, Cohens engster Mitarbeiter, den Herbartianismus in seiner „Sozialpädagogik" (1899). In der protestantischen Theologie hatte Albrecht Ritsehl (1822—1889) in seinem Hauptwerk: Die christliche Lehre von der Rechtfertigung und Versöhnung (1870 f.) eine von Kant, mehr aber noch von Lotze beinflußte „Erkenntnistheorie" vertreten und unter Abweisung der „Metaphysik" (über die er allerdings sehr sonderbare Vorstellungen hegt) 1 ) die Religion als Inbegriff von „Werturteilen" dargestellt. Das lag etwa in der Richtung der Südwestdeutschen Schule. Diese neukantische Theologie wurde durch W. Hermann, J, Kaftan u. a. zur herrschenden. Ernst Troeltsch, seinem Typus nach Wissenschaf tssynthetiker, und durch seine späteren Arbeiten zur Sozial- und Geschichtsphilosophie Repräsentant des Gegenwartsdenkens, ist als Theologe ebenfalls Schüler Ritschis (s. u.). In der A r b e i t e r b e w e g u n g machte sich E. Bernsteins Die Dingvorstellungen e n t s p r i n g e n aus S i n n e s e m p f i n d u n g e n , Löst m a n sie von allen ( s u b j e k t i v e n ) „ B e d i n g u n g e n des W i r k e n s " a b , so werden sie zu „blassen und s c h w a n k e n d e n " E r i n n e r u n g s b i l d e r n b e z w . zu G a t t u n g s b e g r i f f e n , die d a n n fälschlich selbst w i e d e r als „ D i n g e " gesetzt w e r d e n . D a m i t beschäftigt sich nach Ritsehl die M e t a p h y s i k als G n t o l o g i e , u n d schon Piaton sei der T ä u s c h u n g v e r f a l l e n , „in d e m G a t t u n g s b e g r i f f eine feste u n d k l a r e E r k e n n t n i s " erreicht zu h a b e n . I n dieser, ersichtlich an Lotze o r i e n t i e r t e n K r i t i k der M e t a p h y s i k w i r d der S i n n der I d e e und des metaphysischen I d e a l i s m u s (einschließlich des Lotze sehen) v e r f e h l t . — A n d e r e r s e i t s ist, angesichts der m o d e r n e n A n g r i f f e gegen Ritsehl u n d die "„Ära R i t s e h l " d a r a n zu e r i n n e r n , d a ß Ritsem selbst sich auf Luther bez i e h t , und o f t m a l s b e t o n t , Luthers „ E r k e n n t n i s t h e o r i e " ( i m G e g e n s a t z zum „scholastischen A p r i o r i s m u s " ) nur w i e d e r h e r s t e l l e n zu w o l l e n .
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Neukantianismus
R u f : „Zurück zu K a n t , zurück zu L a n g e ! " geltend; vermißte man doch im Marxismus jene ethischen Bestandteile, von denen dereinst die „wahren Sozialisten" ausgegangen waren (s. o.). Bei Lange glaubte man sie zu finden, und Bernstein stellt die Kantischi formulierte Frage: „Wie ist wissenschaftlicher Sozialismus möglich"? (1901). I m wesentlichen ist der ganze Revisionismus an Kant orientiert. Darin stimmte er mit der Marburger Schule überein; Cohen selbst vertrat einen „ethischen Sozialismus", den Natorp zum „Sozialidealismus" weiterbildete; F. Staudinger, M. Adler, K. Vorländer u. a. versuchten sich darin, marxistische Aufgaben im neukantischen Sinne zu behandeln. An diesen Punkten wird deutlich, wie eng der Neukantianismus mit der G e g e n w a r t s p h i l o s o p h i e zusammenhängt. Denn wenn er auch die heute am stärksten abgelehnte Denkweise des 19. Jahrhunderts ist, so sind seine Gegner und Überwinder doch fast alle Renegaten des Neukantianismus (N. Hartmann und M. Heidegger z. B., um nur die wichtigsten zu nennen). Mit dem Neukantianismus als Voraussetzung oder Bestandteil des Gegenwartsgedankens haben wir es hier nicht zu tun 1 ). N u r die Unterschiede der Systemansätze sind zu kennzeichnen. Wenn dabei auch der l o g i s c h e Neukantianismus der Marburger Schule den Vorrang beanspruchen darf, beginnen wir doch mit dem w e r t t h e o r e t i s c h e n (axiologisdien) Neukantianismus der Südwestdeutschen Schule, und zwar mit W. Windelband, weil bei ihm der Zusammenhang mit dem älteren Neukantianismus, und auch die Beziehung zur idealistischen Tradition klarer hervortritt. Windelband ist b e r ü h m t g e w o r d e n als H i s t o r i k e r der Philosophie. I n seinem L e h r b u c h z u r Geschichte der P h i l o s o p h i e (zuerst 1 8 9 2 ) versucht er, Kuno Fischers M e t h o d e , Philosophiegeschidite a n einzelnen großen Denkern darzustellen, durch eine „problemges c h i c h t l i c h e " abzulösen. D a s erschien d a m a l s als glücklicher W u r f . H e u t e , nach Diltheys A r b e i t e n , sind diese problemgeschichtlichen A n a l y s e n v e r a l t e t . Doch h a t t e Windelband v o n A n f a n g a n auch s y s t e m a t i s c h gearbeitet. U n d die V e r b i n d u n g des Systematischen m i t d e m Historischen ist es eigentlich, die den R e i z seiner D a r ü b e r siehe den Band 850 dieser Sammlung.
W. Windelband
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Schriften ausmacht. Wie bei Liebmann, dessen „Postulatenmetaphysik" in seiner „Normwerttheorie" anklingt, und dessen Kampf gegen den Empirismus auch der seinige ist, bildet sein Hauptwerk eine Sammlung von Aufsätzen und Vorträgen, die er unter dem Titel: P r ä l u d i e n 1883 einbändig, später in zwei Bänden «scheinen ließ. Anders aber als Liebmann, gewinnt er von Kant aus nicht nur Zugang zu Fichte, sondern zuletzt auch zu Hegel, so daß bei ihm die idealistische Tradition in den Neukantianismus eingreift. Wilhelm Windelband ist 1848 in Potsdam geboren. Er studierte in Jena, Berlin und Göttingen Philosophie, Geschichte und Naturwissenschaft, promovierte 1870 bei Lotze mit einer Arbeit über die Lehren vom Zufall, und habilitierte sich 1873 mit einer Schrift über die Gewißheit der Erkenntnis (seine Antrittsvorlesung handelte über das Verhältnis der Erkenntnistheorie zur Metaphysik). 1876 wurde er Professor in Zürich, 1877 in Freiburg, 1882 in Straßburg als Nachfolger Liebmanns, und 1903 in H e i d e l b e r g als Nachfolger Kuno Fischers. Hier starb er 1915, und H. Rickert, sein Schüler und Fortsetzer, prägte (1931) den Ausdruck H e i d e l b e r g e r T r a d i t i o n , wobei er nicht nur an Windelband, sondern auch an Kuno Fischer und Zeller dachte. Doch hatte sich die ältere Bezeichnung Südwestdeutsche oder Badener Schule schon eingebürgert. Außer den historischen Arbeiten, den Präludien und einem Buche über Willensfreiheit (1904), hat Windelband 1900 in der Festschrift für Sigwart und 1912 in einer Abhandlung über die Prinzipien der Logik einen Abriß seiner K a t e g o r i e n l e h r e gegeben, und ein Jahr vor seinem Tode eine E i n l e i t u n g i n d i e P h i l o s o p h i e veröffentlicht, die das Ganze der Philosophie nach Problemen aufgliedert, — in einer Methode, die zwar nicht dialektisch ist, aber der Dialektik doch nahe kommt, und von Windelband als A n t i n o m i s m u s bezeichnet wird. Man kann Windelbands Gedanken ebensogut an Lotze wie an Fichte oder an Kant anknüpfen. V o n Lotze aus ist es das Problem des Zusammenhanges von Sein und Sollen, das ihn bewegt. Von Fichte aus ist es die Methode _der Wissenschaftslehre, die Philosophie als System notwendiger Vernunfthandlungen zu bestimmen. Von
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Neukantianismus
Kant aus ist es die Frage, wie aus einer bloßen Vorstellungsverbindung objektiv gültige E r f a h r u n g wird. Die Philosophie Kants ist jedenfalls die Voraussetzung aller Nachkantischen: „Es ist nach ihm prinzipiell nichts Neues geschaffen worden." Nicht zufällig sind es stets G e g e n s ä t z e , die Windelband thematisch heraushebt, ob er über Denken und Nachdenken, N o r m e n und Naturgesetze, kritische und genetische Methode, Geschichte und Naturwissenschaft, über reflexive und konstitutive Kategorien, Gleichheit und Identität handelt. U n d nicht zufällig ist es insbesondere der „Gegensatz eines Gebots gegen die psychologische Notwendigkeit", den er an die Spitze stellt. Denn das ist ja das tiefere Problem Kants: die Frage nach dem kategorischen Imperativ und der sittlichen Verantwortung. Indem Windelband von hier ausgeht, unterscheidet er sich grundsätzlich vom älteren Neukantianismus (Langes), und unterscheidet sich seine Schule von derjenigen Cohens. Stellen wir „psychologischen N o t w e n d i g k e i t e n " , bzw. N a turgesetzen überhaupt, Gebote oder N o r m e n gegenüber, so sind das zunächst zwei ganz verschiedene Bereiche oder „Systeme": des Tatsächlichen und Geforderten, des Gegebenen und Aufgegebenen, des Realen und Idealen, der W i r k lichkeit u n d des Wertes, der Kausalität u n d Finalität oder wie immer man diesen „Antagonismus" beschreiben will. N a t u r gesetze sind Prinzipien der e r k l ä r e n d e n Wissenschatfen; N o r m e n haben dagegen „mit der theoretischen E r k l ä r u n g der Tatsachen, auf welche sie sich beziehen, nichts zu tun." Ihr Sein ist nicht von der A r t des Wirklichseins, das sich als U r teilszusammenhang darstellt, sondern es ist jenes „Sein", das Windelband mit Lotze als G e l t e n bezeichnet, u n d das der „beurteilenden" V e r n u n f t angehört. Die N o r m e n sind „Regeln der Beurteilung", der W e r t feststellung eines Tatsächlichen. Die N o r m e n dienen nicht zur „Erklärung"; die Naturgesetze dienen nicht zur „Beurteilung" (Bewertung). Die N o r m e n gelten, auch wenn sie nicht befolgt werden; die Naturgesetze drücken aus, was wirklich geschieht. Normwissenschaften sind E t h i k , Ä s t h e t i k , aber auch L o g i k , die Windelband als „Lehre von den richtigen For-
Das Normalbewußtsein
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men des Denkens", in seiner Frühschrift (über die Gewißheit des Erkennens) sogar als Ethik des Denkens bezeichnet, weil sie an das Individuum die „Forderung" richte, seine Vorstellungen der „Norm der logischen Gesetzmäßigkeit unterzuordnen." Es gibt nicht bloß ein ethisches Gewissen, sondern auch ein ästhetisches und ein logisches. Und der Ort dafür ist das normative oder wie Windelband mißverständlich sagt, das N o r m a l b e w u ß t s e i n (Normalität heißt hier nicht Durchschnittlichkeit). Freilich finden sich die Bestimmungen des „Normalbewußtseins" im empirischen Bewußtsein jedes Einzelnen; aber es ist darum nicht selber empirisches Bewußtsein. Es ist ein „Ideal", das als Ganzes durch wissenschaftliche Erkenntnis vollständig zu erfassen, „uns versagt" bleibt. Diese Lehre vom Normalbewußtsein, das Windelband mit Kants „Bewußtsein überhaupt" gleichsetzt, und Rickert als „transzendentales Subjekt" zum Thema seiner Untersuchungen über den Gegenstand der Erkenntnis (zuerst 1892) macht, verbindet den Anthropologismus der älteren Neukantianer mit dem erkenntnistheoretischen Subjektivismus der jüngeren. (Es läßt sich natürlich auch auf Fichtes „Idee" des absoluten Ich beziehen). Denn wenn es auch nicht mit der „Gattungsorganisation" zusammenfällt, ist es doch „zunächst" in dem „durch die Entwicklung der Volksseele erzeugten Gesamtbewußtsein" enthalten, und wird erst nach dessen „Erschütterung" als ein „ideales Maß" sichtbar. Ja sogar als „metaphysische Realität" soll es sich im Gewissen geltend machen. Zuletzt wird es als das Bewußtsein bezeichnet, welches das „menschliche Gesamtbewußtsein" überschreitet. Windelband definiert die Philosophie als Wissenschaft vom N o r m a l b e w u ß t s e i n , als kritische Wissenschaft v o n den allgemeinen W e r t e n . D a der W e r t - und Geltungsbegriff Windelbands nicht unmittelbar auf Kant, sondern auf Lotze u n d Herbart zurückgeht, liegt die Beziehung zu Kant im Begriff des K r i t i s c h e n . Die kritische M e t h o d e unterscheidet sich von der genetischen dadurch, d a ß sie nicht nach U r s p r u n g u n d Entstehung, sondern nach dem W o z u u n d dem Zweck f r a g t ; sie ist teleologisch. Die kritische Methode will nicht Gegenstände im D e n k e n „abbilden"; sie will die „Regeln" der als w a h r anzuerkennenden Vorstellungsverbindungen aufsuchen. U n d das sind gewisse A x i o m e ,
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Neukantianismus
„ohne welche es überhaupt keine erklärende Theorie gibt." Der Zusammenhang mit Liebmann ist hier handgreiflich. Indem Windelband seine Frage: wie „sich das Reich der Gesetze" zum „Reich der Werte" verhält, in Kants K r i t i k d e r U r t e i l s k r a f t wiederfindet, ist er der Erste, der sich der Bedeutung der dritten Kritik wieder bewußt wird, und der die Impulse des klassischen deutschen Idealismus erneuert. Von allen angegebenen Versuchen, Kants Fragestellung zu erneuern und systematisch fortzubilden, unterscheidet sich die Philosophie Hermann Cohens, auf die wir zuletzt noch einzugehen haben, sehr wesentlich. Sie hat nicht ohne Grund so außerordentliche Wirkungen auf die Zeitgenossen gehabt. Der Grund ist der gleiche, der die folgende Generation zum Widerspruch erregte: ihre, wie es scheint, bedingungslose Hingabe an die Begriffsbildung der mathematischen Naturwissenschaft. Im Zeitalter des Positivismus verkündet diese Philosophie ihre Abhängigkeit vom „ F a k t u m d e r W i s s e n s c h a f t " . Audi Windelband spricht von der Philosophie als „Wissenschaftstheorie"; aber er denkt dabei eher an Fichtes Wissenschaftslehre. Audi Riehl will den Kritizismus in seiner „Bedeutung für die positiven Wissenschaften" darstellen; aber er sucht doch den „Realismus der Dinge" in direkter Beweisführung zu erhärten. Demgegenüber ist Cohen von unüberbietbarem Radikalismus. Das „Faktum" ist die Naturwissenschaft. Nicht etwa die „Natur", die „Dinge" oder die Sinneserscheinungen. „Die Natur selbst — wer wird hoffen, sie zu begreifen. Wer will so abgeschmackt sein, den Doctor Faust in Paragraphos zu bringen!" Wissenschaft ist die Philosophie selbst nur, insofern -sie die Wissenschaft zum G e g e n s t a n d e hat. Aber sie hat sie nicht zum Gegenstande, indem sie „über" die Wissenschaft nachdenkt, sondern indem sie d a s D e n k e n d e r W i s s e n s c h a f t i s t . Philosophie ist nicht Anhängsel oder Begleiterin der Wissenschaft; sie ist
Windelband und Cohen
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das Innerste der Wissenschaft: die wissenschaftliche Erkenntnis in ihrem „Ursprung". Das Faktum der Wissenschaft wird zum f i e r i der immer fortschreitenden schöpferischen Erkenntnis. Cohen ist der Hohepriester der Wissenschaft. Seine Rede ist ernst, dunkel, blumig und immer pathetisch. Er ermähnt, beschwört und gebietet. Er ist reich an Gedanken, aber noch reicher an Worten. Alle Romantik ist ihm verhaßt. Fichte, Schelling, Hegel sind ihm romantische Metaphysiker. Ihnen gegenüber wahrt er die Klassizität^ — auch seine Philosophie möchte klassisch sein. Die Wissenschaft ist idealistisch, weil der Idealismus — nämlich der Idealismus von Piaton bis Kant, wie er ihn versteht — die Grundlage der abendländischen Wissenschaft ist. „Der Geist, der Piaton . . . mit Kant verbindet, dieser Geist der Philosophie, ist der Geist der wissenschaftlichen Philosophie, welche zum Unterschiede von allem, was sonst mit Unfug als Philosophie sich aufspielt, durch die Verbindung mit der Wissenschaft definiert wird." In der Philosophie ist Cohen Kosmopolit, wie Schopenhauer. Aber was diesem ein Gespräch mit den Genien der Vergangenheit, ist ihm die „Weltlinie der Philosophie." Unhistorisch denken sie beide. 1842 in C o s w i g (Anhalt) geboren, studierte er zuerst in B r e s l a u Philosophie (bei Braniß), Philologie und jüdische Theologie, dann (1864) in Berlin. An der Berliner Universität herrschte zu dieser Zeit Adolf Trendelenburg (1802 bis 1872), Spätidealist, Aristotelesforscher, Gegner Hegels und Herbarts, Verfasser der berühmten „Logischen Untersuchungen" (1840), in denen Denken und Wirklichkeit, Logik und Metaphysik durdi den Begriff der B e w e g u n g verbunden und diese dem Prinzip des Z w e c k e s , als schöpferischem Weltprinzip, untergeordnet wird. Trendelenburgs Einfluß auf Cohen, bis jetzt noch unerforscht, dürfte nicht unbeträchtlich gewesen sein: der „Panmethodismus" (die Methoden oder Denkwege bestimmen den Gegenstand der Wissenschaft), das Infinitesimalprinzip (Darstellung der Bewegung in der Differenzialund Integralrechnung), der Kategorienbegriff (Kategorie als Form der „konstruktiven Bewegung"), — diese und andere Lehrbegriffe Trendelenburgs finden sich jedenfalls auch in
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Cohens späterem System. Als Schüler Trendelenburgs bekannte er sich nicht. Seine Neigung galt der „modernen" Richtung: dem fortschrittlichen Herbartianismus der Lazarus und Steinthal, die damals die jüngste Wissenschaft, die V ö l k e r p s y c h o l o g i e , in den Sattel hoben. Besonders M. Steinthal (1823—1899) zog ihn als Philologe und Talmudist an. Und in der 1859 begründeten Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft erschienen Cohens erste Aufsätze. 1865 hatte er in H a 11 e promoviert. Mit einer lateinischen Arbeit über Notwendigkeit und Kontingenz (von den Vorsokratikern bis Aristoteles). Piatonstudien schlössen sich an, und in B e r l i n hörte er auch weiterhin. In die Kantforschung trat er um diese Zeit ein: 1871 erscheint zuerst eine kleine Arbeit über den Streit zwischen Trendelenburg und Kuno Fischer (Kants Raumlehre betreffend), in der er gegen Trendelenburg Partei nahm; hernach das grundlegende erste Werk über Kant: „Kants Theorie der Erfahrung". Vergebens suchte er sich mit diesem Buche in Berlin zu habilitieren. „Zweimal schlugen meine Versuche, zur Habilitation zu gelangen, fehl, und in dieser ganzen langen Zeit hat keine Fakultät nach meiner Lehrhilfe verlangt. Nicht zur Anklage, nicht einmal als Klage stelle ich diese Tatsache hier für ihre mannigfache Bedeutsamkeit fest, aber allerdings zur Mahnung." Erst Friedrich Albert Lange nahm sich seiner in M a r b u r g an (1873). 1875 wurde er Extraordinarius, 1876 Ordinarius als Nachfolger Langes. In Marburg lebte er bis zu seinem 70. Geburtstag (1912), gegen Ende des ersten Weltkrieges (1918) ist er in Berlin gestorben. Dem ersten Kantwerk folgte nach 6 Jahren (1877) das zweite: Kants Begründung der Ethik, und 1899 das dritte: Kants Begründung der Ästhetik. 1907 hat er noch einen kurzen Kommentar zur Kritik der reinen Vernunft verfaßt. Zu verstehen ist Cohens Neukantianismus weniger von Kant als von Maimon aus (s. Bd I). Wie dieser die transzendentale Logik der transzendentalen Ästhetik voraufgehen läßt, das Gegebene als infinitesimale Realität faßt, das Ding an sich als Idee bestimmt, so auch Cohen. Raum, Zeit, Kategorien sind „weder Gehirnformen noch Seelenformen, weder Gefäße, noch angeborene Präformationen; sondern sie sind sachliche Bedingungen als Voraussetzungen und Grundlagen, welche allen Richtungen des Bewußtseins vorg'esteckt sind". Sie sind nicht Geistesformen, sondern M e t h o d e n . Die Methode der reinen Anschauung
H . Cohen
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ist die Mathematik, die Methode des reinen Denkens die Mechanik. Nicht Raum, Zeit, Kategorien, sondern die s y n t h e t i s c h e n G r u n d s ä t z e Kants sind das „eigentliche" Apriori; jene sind nur „Mittel und Bausteine" f ü r diese. 'Die Kritik ist „nicht Untersuchung der Erkenntnisvermögen", ihr Problem nicht die Subjekt-Objektivität im Sinne Reinholds und Fichtes. Sondern sie ist Untersuchung der Wissenschaft, „der reinen V e r n u n f t , als reiner Wissenschaft". U n d das Subjekt, durch welches das O b j e k t zu „begründen" ist, ist das „Bewußtsein der Wissenschaft", also weder Individual- noch Gattungssubjekt. M u ß doch scharf unterschieden werden zwischen B e w u ß t s e i n und B e w u ß t h e i t . Bewußtheit ist Inbegriff dessen, was wir bewußthaben: Empfindungen, Vorstellungen usw. Danach zu fragen, ist „ u n s t a t t h a f t " ; die „Tatsache", daß wir Bewußtsein „haben", ist „der E r f o r schung und Bestimmung unzugänglich". Insofern ist auch Kants transzendentale Apperzeption nichts, was mit Seele oder hypostasiertem Bewußtsein zu tun hat, — die Einheit der transzendentalen Apperzeption ist „streng und klar" die Einheit der „Grundsätze" der reinen E r f a h r u n g . Über seine Ablehnung des p h y s i o l o g i s c h e n N e u k a n tianismus hat Cohen keine Zweifel gelassen. „Ich kann dieses Verfahren, mit dem Zauberwort der Organisation die Rätsel der Wissenschaften lösen zu wollen, nicht als den zureichenden Ausdruck des Kantischen Apriorismus anerkennen". Ebensowenig kann er Langes „Standpunkt des Ideals": Sittlichkeit und Religion zu Dichtungen des menschlichen Geistes zu machen, beipflichten. Vielmehr will er zeigen, daß der „transzendentale Apriorismus" eine „ethische Seite" hat. Ohne hierauf einzugehen — die entscheidende Umdeutung, die Cohen an Kants praktischer Philosophie vornimmt, liegt beim F r e i h e i t s b e g r i f f , der ihm zur „noumenalen Idee" bezw. zur „noumenalen Maxime" wird —, ist doch hervorzuheben, daß Cohen die transzendentale Methode nicht wie Windelband vom sittlichen Sollen aus interpretiert, daß er also in diesem Punkte Lange näher steht.
Cohens Kantinterpretation, zu einem großen Teil Kantkritik, geht nicht bloß allmählich in seine eigene Philosophie über, sondern hat diese mehr oder minder unentwickelt schon zur Voraussetzung. Sein S y s t e m , das er verhältnismäßig spät veröffentlichte, ist viergliedrig, liegt aber nur in drei Teilen vor: der Logik der reinen Erkenntnis (1902), Ethik des reinen Willens
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(1904), Ästhetik des reinen Gefühls (1912), vorbereitet durch die Schrift über das Prinzip der Infinitesimalmethode (1883). Das vierte, und eigentlich wichtigste Glied ist die Psychologie als Lehre von der Einheit des (Kultur-) Bewußtseins. Die Religionsphilosophie dagegen, von Cohen in mehreren Werken behandelt, (Der Begriff der Religion im System der Philosophie 1915, Die Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums 1919) schließt sich an die Ethik an. Cohens Philosophie ist l o g i s c h e r Idealismus, insofern sie den Logos des reinen Erkennens, das „Denken des Ursprungs", zum Prinzip aller (wissenschaftlichen) Gegenständlichkeit macht: alle Erkenntnis ist Erzeugung des Gegenstandes, nicht Abbildung oder „Erfassung". Sie ist logischer I d e a l i s m u s , insofern sie f ü r das Denken keine „Ergänzung": weder durch das Sein noch durch die Empfindung, benötigt. Nichts ist dem Denken „gegeben", als was es selbst aufzufinden vermag. Nichts ist ihm „vorausgesetzt", als was es selbst im Voraus setzt. Sie ist k r i t i s c h e r Idealismus, aber sie ist nicht E r k e n n t n i s k r i t i k im Sinne von „Erkenntnistheorie", die der Logik voraufzugehen hätte. (Jedenfalls nicht mehr 1902). T3och ist sie logischer Idealismus nur hinsichtlich der Grundlegung der (wissenschaftlichen) Erkenntnis; hinsichtlich des Willens ist sie e t h i s c h e r Idealismus. Freilich nicht in dem Sinne, als ob Ethik und Ästhetik von der Logik unabhängig wären: diese ist Grundwissenschaft; das System ist gestuft; „die Ethik hat die Logik zur Voraussetzung, aber die Logik ist an sich nicht Ethik." Die Logik der reinen Erkenntnis ist Logik der mathematischen Naturwissenschaft; die Ethik des reinen Willens ist die „positive Logik der Geisteswissenschaften" (d. i. Willenswissensdiaften). Genauer: wie die Logik das „Faktum der Wissenschaft" in der mathematischen Physik besitzt, so besitzt es die Ethik in der R e c h t s w i s s e n s c h a f t und im Staatsrecht. (In analoger • Weise möchte Cohen die Ästhetik auf die Kunstge-
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schichte als „Faktum" beziehen). Doch steht der Stufung in diesem Sinne entgegen, daß es sich in den drei philosophischen Wissenschaften um verschiedene Bewußtseins r i c h t u n g e n handelt: das Bewußtsein erzeugt den Inhalt in jeweils verschiedener Richtung (Bewußtseinsrichtung ist in der Marburger Schule nicht gleichbedeutend mit Intentionalität). So ist z. B. die Bewußtseinsrichtung bei der Erzeugung des Sittlichen von derjenigen bei der Erzeugung der Natur dadurch unterschieden, daß sie nicht „rekonstruktiv" ist, sondern „ewige Aufgabe" bleibt. „Erzeugt wird der Inhalt dort wie hier; dort aber soll er nur als nacherzeugter gelten, hier dagegen als ewig sich erzeugender." Sieht man darauf, daß Wissenschaft, Moralität und Kunst Kulturgebilde sind, und daß das Bewußtsein im Unterschiede von der Bewußtheit eine Kategorie ist, „welche von dem Urteil der Möglichkeit erzeugt wird" — also etwa: das die begriffliche Möglichkeit Realisierende —, so erweist sich Cohens Philosophie zuletzt als K u 11 u r p h i 1 o s o p h i e. Ist sie hierin dem Idealismus der Südwestdeutschen Schule verwandter als es den Anschein hat, so würde insbesondere die P s y c h o l o g i e , wenn sie ausgeführt worden wäre, diese Verwandtschaft deutlich gemacht haben. Wenn sich das Bewußtsein in der logischen, ethischen und ästhetischen Gesetzlichkeit auseinanderlegt, so bleibt die Frage nach der „wahren und lebendigen" Einheit des Bewußtseins, nach der V e r b i n d u n g dieser drei Momente. Diese lebendige Einheit nennt Cohen Einheit des K u l t u r b e w u ß t s e i n s , und versteht darunter das Prinzip, „aus welchem alle Arten und Richtungen der Kultur erwachsen." Diese Einheit des Kulturbewußtseins „zur Beschreibung u n d zur Bestimmung zu bringen", sei die Aufgabe der P s y c h o l o g i e . denn sie erst bringe den Begriff des M e n s c h e n zur Erzeugung. Natürlich ist dabei nicht an physiologische oder naturwissenschaftliche Psychologie zu denken, aber auch nicht an dasjenige, was u n g e f ä h r zur gleichen Zeit W. Dilthey „geisteswissenschaftliche" Psychologie nennt. Cohens Psycholo-
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Neukantianismus
giebegriff ist ein ganz eigentümlicher und setzt nicht nur sein einstiges Verhältnis zur „Völkerpsychologie", sondern auch seine strikte Ablehnung der Gleichung Seele = Individualseele voraus. („Die wissenschaftliche P r ä g n a n z des Seelenbegriffs entstand in der Weltseele, nicht in der Individualseele"). In Cohens Schule hat es P. Natorp unternommen, eine „Allgemeine Psychologie" (1912) aufzustellen, aber nicht unter dem f ü r Cohen entscheidenden Gesichtspunkt der Einheit der Kultur, sondern unter dem der Subjekt-ObjektKorrelation. Soll es doch A u f g a b e der Psychologie sein, zu allem Objektivem das Subjektive, das nicht wiederum O b j e k t sein kann, zu finden, — die „Ureinheit des Bewußtseins", das „Unmittelbare des Bewußtseins". Dieser Ansatz beim Erlebnis, der zu einer Lebensphilosophie f ü h r t , ist f ü r Natorps Abweichung von Cohen, die allerdings erst nach Cohens T o d e in Form einer eigenen Systematik geltend gemacht w i r d , charakteristisch. W i r können darauf nicht eingehen. Ebensowenig wie auf die eigentliche Leistung Cohens: die K a t e g o r i e n l e h r e , die er als U r t e i 1 s 1 e h r e a u f b a u t u n d dabei von den Urteilen der „Denkgesetze" über die der Mathematik u n d m a t h e m a tischen Naturwissenschaft zu den Urteilen der „Methodik" aufsteigt. Das U r t e i l d e s U r s p r u n g s geht den U r teilen der Identität und des Widerspruchs voraus: aus dem Etwas kann der U r s p r u n g des Etwas nicht gefunden werden, sondern nur auf dem „abenteuerlichen U m w e g e " über das N i c h t s , d. h. durch das Denkmittel des Differenzials. „ K o m p a ß " f ü r die Entdeckung des Ursprungs ist der Begriff der K o n t i n u i t ä t : Bedingung des Einheit stiftenden (erkennenden) Denkens ist der lückenlose, durch kein Gegebenes, kein Etwas, keiee Empfindung unterbrochene Zusammenhang aller Denkelemente. Das Urteil des Ursprungs ist kein schlechthin negatives Urteil (Verneinung), sondern ein u n e n d l i c h e s Urteil (Bejahung in der Verneinung). Glaubte Herbart die Widersprüche des Kontinuums ontologisch auflösen zu müssen, so glaubt Cohen das ontologische Problem synechologisch (d. h. von der Kontinuität her) a u f lösen zu können.
Cohens Bedeutung f ü r die Entwicklung des Gegenwartsdenkens nicht nur, sondern auch f ü r die Sachproblematik einer wissenschaftlichen Philosophie, steht außer Frage. Denn ein von den Einzelwissenschaften sich emanzipierendes Philosophieren war weder im
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Cohens Kategorienlehre
19. J a h r h u n d e r t möglich, noch k a n n es in der Gegenw a r t zu fruchtbaren Ergebnissen f ü h r e n . Über die M ä n gel des M a r b u r g e r N e u k a n t i a n i s m u s ist kein W o r t zu verlieren; die nachfolgende Generation, die C o h e n schule selbst, h a t genugsam K r i t i k d a r a n geübt. D a s eine k a n n jedoch nicht zurückgehalten w e r d e n : d a ß Cohens Einfluß auf die deutsche Philosophietradition verhängnisvoll w a r . K o m m t es doch eigentlich erst durch ihn zu jenem Bruch mit der Überlieferung, der den N e u kantianismus diskreditiert. Das gilt besonders v o n Cohens Hege/feindschaft, die bis zur V e r k e n n u n g der mit Hegel g e m e i n s a m e n Voraussetzungen f ü h r t . D e n n den sachlichen Beziehungen der Südwestdeutschen Schule zu Fichte entsprechen eben solche Beziehungen der Marburger Schule zu Hegel. W ä r e n sie zur rechten Zeit herausgestellt worden, so hätte es in Deutschland keines Neuhegelianismus b e d u r f t . Literatur I. Materialismusstreit Ludwig
Büchner: K r a f t und Stoff 1855; N a t u r und Geist 1857; A m Sterbelager des Jahrhunderts 1897. Heinrich Czolbe: N e u e Darstellung des Sensualismus 1855; Entstehung des Selbstbewußtseins, Eine A n t w o r t an H e r r n Prof. Lotze, 1856; D i e Grenzen und der U r sprung der menschlichen Erkenntnis im Gegensatz zu K a n t und H e g e l , 1865; Grundzüge einer extensionalen Erkenntnistheorie (ed. JOHNSON), J875; dazu E. JOHNSON, H . Czolbe, Königsberg 1875. Ludwig Feuerbach: Über Spiritualismus und Materialismus, besonders in Beziehung auf die Willensfreiheit 1866 ( W Bd. X . ) ; D i e Naturwissenschaft u n d die R e v o lution, in: Blätter für literarische Unterhaltung 1850. Justus Liebig: Chemische Briefe, 1844. Jacob Moleschott: Lehre der Nahrungsmittel für das V o l k 1850; D e r Kreislauf des Lebens 1852; Für meine Freunde 1894. Wilhelm Karl
Ostwald: D i e U b e r w i n d u n g des wissenschaftlichen Materialismus 1895. Vogt: Physiologische Briefe 1845 f.; Köhlerglaube und
L e h m a n n , Gesch. d. P h i l . I X
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Neukantianismus
Wissenschaft 1854; Altes und Neues aus Tier- und Menschenleben Bd. I/II 1859; Aus meinem Leben 1896. Paul Volkmann: Die materialistische Epoche des 19. Jahrhunderts und die phänomenologisch-monistische Bewegung der Gegenwart, Leipzig 1909. Rudolf Wagner: Menschenschöpfung und Seelensubstanz 1854; Über Wissen und Glauben mit besonderer Beziehung zur Zukunft der Seelen, 1854. II. Neukantianismus allgemein E. v. A S T E R , Die Philosophie der Gegenwart, Leiden 1934. — J. H E S S E N , Die Religionsphilosophie des Neukantianismus 1919. — E. K A U F M A N N , Kritik der neukantischen Rechtsphilosophie, Tübingen 1921. — E. LYSINSKI, Die Kategoriensysteme der Philosophie der Gegenwart (Diss. Leipzig), Weida 1913. — W. MOOG, Die deutsche Philosophie des 20. Jahrhunderts, Stuttgart 1922. — Th. S T E R N B E R G , Neukantische Aufgaben, Berlin 1931. — K. W I E D E R H O L D , Wertbegriff und Wertphilosophie, Berlin 1920. III. Physiologischer Neukantianismus H. Helmholtz: Über die Erhaltung der K r a f t 1847; Über das Sehen des Menschen 1855; Handbuch der physiologischen Optik 1859—66; Die Tatsachen in der Wahrnehmung 1879; Schriften zur Erkenntnistheroie (ed. P. H E R T Z und M. S C H L I C K ) 1921. Dazu: B. E R D M A N N , die philosophischen Grundlagen von Helmholtz' Wahrnehmungstheorie, Abh. Preuß. Akademie d. Wiss. 1921. Friedrich Albert Lange: Die Grundlegung der mathematischen Psychologie 1865; Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart, 1865 (Titel: 1866), 2. Aufl. 1875, 2. Band 1875, 7. Aufl. mit Einleitung und kritischem Nachtrag v. H . C O H E N , Leipzig 1896. Neuausgabe (ed. O. A. E L L I S S E N ) Leipzig o. J. (1905 )Reclam; Neue Beiträge zur Geschichte des Materialismus 1867; Die Arbeiterfrage in ihrer Bedeutung für Gegenwart und Zukunft 1865; J. St. Mill's Ansichten über die sociale Frage 1866. Dazu: O. A. ELLISSEN, Friedrich Albert Lange 1891; H . V A I H I N G E R , Hartmann, Dühring und Lange 1876. Eduard Zeller: Über Bedeutung und Aufgabe der Erkenntnistheorie 1862. IV. Otto Liebmann Kant und die Epigonen 1865, Neuausgabe (ed. B. B A U C H ) Berlin 1912; Über den objektiven Anblick 1869; Zur Analysis
Literatur
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der Wirklichkeit 1876; Die Klimax der Theorien 1884, Neudruck 1914; Gedanken und Tatsachen I/II. 1882—1904). Dazu: Kantstudien X V 1 (1910): Festschrift zu Liebmanns 70. Geburtstage. V. Wilhelm Windelband (Südwestdeutsdie Schule) Die Lehren vom Zufall 1870; Über die Gewißheit der Erkenntnis 1873; Die Geschichte der neueren Philosophie I—II 1878—1880; Präludien 1884, ab 1911 in 2 Bänden; Lehrbuch der Geschichte der Philosophie 1892; Vom System der Kategorien 1900: Über Willensfreiheit 1904; die Philosophie im deutschen Geistesleben des 19. Jahrhunderts 1909; Die Prinzipien der Logik 1912; Einleitung in die Philosophie 1914; Geschichtsphilosophie 1916 ( e d . W . W i n d e l b a n d und Br. Bauch). dazu: H. PICHLER, Kantstudien X I X (1914); H. RICHERT, W. Windelband, Tübingen 1915; A. RÜGE, W. Windelband, Leipzig 1917. Die Schriften Richerts und anderer Anhänger der Südwestdeutschen Schule in dem Bande: Philosophie der Gegenwart. VI. Hermann Cohen (Marburger Schule) Philosophorum de antinomia necessitatis et contingentiae 1865; Zur Kontroverse zwischen Trendelenburg und Kuno Fischer 1871; Kants Theorie der Erfahrung 1871; Die systematischen Begriffe in Kants vorkritischen Schriften 1873; Kants Begründung der Ethik 1877; Das Prinzip der Infinitesimalmethode und seine Geschichte 1883; Kants Begründung der Ästhetik 1889; Logik der reinen Erkenntnis 1902; Ethik des reinen Willens 1904; Kommentar zu Kants Kritik der reinen Vernunft 1907; Ästhetik des reinen Gefühls I—II 1912; Der Begriff der Religion im System der Philosophie 1915; Die Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums. Dazu: Festheft der Kantstudien zu Cohens 70. Geburtstage (XVII,3 1912); Philosophische Abhandlungen zum 70. Geburtstage Berlin 1912; W. KINKEL, Hermann Cohen, Eine Einführung in sein Werk, Stuttgart 1924; P. NATORP, H. Cohens philosophische Leistung unter dem Gesichtspunkt des Systems, Berlin 1918. Zu Natorp, Cassirer und anderen Schülern Cohens siehe Band 850, Philosophie der Gegenwart. VII. Theologischer und politischer Neukantianismus Max Adler: Kausalität und Teleologie im Streite um die Wissenschaft 1904; Marx als Denker 1908; Kant und 6»
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Positivismus
der Marxismus 1925 (s. auch weiter oben S. 52). Wilhelm Herrmann: Die Metaphysik in der Theologie 1876; Julius
D o g m a t i k (ed. RAÖE) 1925.
Kaftan: Das Wesen der christlichen Religion 1881; Philosophie des Protestantismus 1917. Otto Pfleiderer, Die Ritschl'sche Theologie 1891. Albrecht Ritsehl: Die christliche Lehre von der Rechtfertigung und Versöhnung I—III 1870—1874; Theologie und Metaphysik 1881. Otto Ritsehl: Über Werturteile 1895. Rudolf Stammler: Wirtschaft und Recht nach der materialistischen Geschichtsauffassung 1896; Lehrbuch der Rechtsphilosophie 1922.
IV.
Weltbild und Denkform des Positivismus D i e w e i t e r e Behandlung der Philosophie des 19. Jahrhunderts ist nicht möglich ohne Berücksichtigung a u ß e r d e u t s c h e r Einflüsse. Z w a r beschränkt sich der N e u kantianismus keineswegs auf Deutschland; der klassische Idealismus, die Philosophie der Romantik und vor allem der Hegelianismus verbreiten sich in allen Kulturländern. Der Positivismus aber, mit dem wir es nunmehr zu tun haben, ist wesentlich außerdeutschen U r s p r u n g s . Natürlich gibt es auch hier gewisse Parallelen: die Philosophie Comtes besitzt Übereinstimmungen mit der Philosophie Feuerbachs, ohne daß hier eine Einwirkung besteht. U n d klar ist auch, daß der Positivismus, sobald seine Stunde gekommen war, in Deutschland ebenso selbständig gedeihen konnte wie in anderen Ländern. T a t sächlich aber beziehen sich, schon in den dreißiger Jahren, Männer wie Beneke und Gruppe, Vorläufer des Positivismus in Deutschland, auf die englische und f r a n z ö sische Philosophie in ganz anderem Maße als dies vordem der Fall war. Dies ist umso wichtiger, als wir nunmehr eigentlich erst in das Z e n t r u m dessen vordringen, was die Geistesart der Philosophie im 2. und letzten Drittel
Die Ursprünge
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des 19. J a h r h u n d e r t s bestimmt. Die erkenntnistheoretische Bewegung setzt den Positivismus überall voraus; die N e u k a n t i a n e r suchen ihn zu widerlegen. Aber der Positivismus erweist sich selbst als. Erkenntnistheorie: Hume, so zeigt er — oder versucht es wenigstens zu zeigen — ist durch Kant nicht e n t t h r o n t w o r d e n ; Kants Erkenntnislehre ist vielmehr, an Hume gemessen, ein Rückschritt. W a s beiden gemeinsam zu sein scheint: die Lehre von der U n e r k e n n b a r k e i t der „Dinge an sich", die Beschränkung auf die E r f a h r u n g , — dieser Agnostizismus also, der sich bei Hume als Skeptizismus maskiert, dies gerade ermöglicht es, auf den konsequenteren englischen D e n k e r zurückzugehen. D e n n bei Kant treten eine Menge „metaphysischer" Thesen auf, die sich mit seiner Erkenntnislehre nicht vertragen. U n d gerade d o r t treten sie auf, w o sie unbedingt vermieden werden m ü ß ten: in seiner Theorie v o m A u f b a u der E r f a h r u n g . W a s die N e u k a n t i a n e r g e g e n den Positivismus geltend machen: d a ß empirische Urteile nicht allgemeingültig, d a ß ohne apriorische Voraussetzungen keine U r teile über Tatsächliches möglich, d a ß die obersten G r u n d sätze aller E r f a h r u n g Bewußtseinssynthesen sind, — dies wird n u n m e h r in A r g u m e n t e f ü r d e n Positivismus u m gewandelt. D e n n will m a n nicht von allen diesen „apriorischen" Elementen der Erfahrungsurteile etwas Sicheres u n d Bestimmtes aussagen? Müssen sie nicht notgedrungen behandelt werden, a 1 s o b sie Tatsachen wären? U n d w e n n nicht, — sind sie als hypothetische Elemente, Postúlate noch geeignet, die ihnen zugemutete „Begründ u n g " zu vollziehen? Dies eben ist ja die Schwierigkeit, in die Denker wie Liebmann u n d Cohen geraten; u n d gewiß k a n n m a n von ihnen sagen, d a ß sie den Positivismus, den sie b e k ä m p f e n , in sich tragen. Kein W u n d e r , d a ß es in der K a n t b e w e gung selbst (bei K. Göring, E. Laas, H. Vaihinger u. a.) z u m Ausbau positivistischer Erkenntnistheorien k a m , oder d a ß m a n sich, um diese „Selbstzersetzung" zu vermeiden, auf den Boden eines Realismus stellte, der die
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Positivismus
„Dinge an sich" für durchaus begreiflich hält (A. Riehl), — was den Positivisten im Grunde auch nur recht sein konnte. Denn der Realismus des 19. Jahrhunderts, ob er in der naiven Weise des Vulgärmaterialismus auftritt oder in der besonneneren eines erkenntnistheoretischen oder „kritischen" Realismus (wie bei Riehl), ist ja selbst Ausdruck einer positivistischen Geisteshaltung: „realistisch" zu denken, zu fühlen und erst recht zu handeln, die Dinge, zu nehmen, wie sie sind, sich aller verfälschenden subjektiven Zutaten, Wert- und Glaubensvorstellungen zu enthalten, ist die Forderung positivistischer „Weltanschauung". Man darf dies nicht in Gegensatz zu jenem A g n o s t i z i s m u s bringen, für den die Wirklichkeit „an sich" unbekannt ist, und die Metaphysik nur Scheinprobleme behandelt. Der Positivismus findet seine Sicherheit im d e u t u n g s f r e i G e g e b e n e n , nicht in transzendentalen Voraussetzungen des Gegebenen. Er sehnt sich nicht nach dem Unbekannten, und hält es für kindisch, Probleme, die sich als unlösbar erwiesen haben, abermals „lösen" zu wollen. Er bleibt in dieser Welt, innerhalb der Erfahrung, und man kann ihn insofern auch I m m a n e n z philosophie nennen (was allerdings insofern unzweckmäßig ist, als Erfahrungsimmanenz und Bewußtseinsimmanenz unterschieden werden müssen, und der' Positivismus nur jene, nicht diese behauptet, — wo das letztere geschieht, bei Schuppe, Schubert-Soldern, Kauffmann u. a. Denkern, die sich selbst als „Immanenzphilosophen" bezeichnen, besteht streng genommen kein erkenntnistheoretischer Positivismus mehr). Der Positivismus ist auch weit davon entfernt, Klagen über die unvermeidliche Beschränkung unserer Erkenntnisse zu äußern. Er ist keine Philosophie der Resignation. Sondern genau das Gegenteil: eine Philosophie des Hochschwungs und der intellektuellen Überheblichkeit. Seine Ausbreitung fällt in die Zeit der siegreichen Naturwissenschaften; die Fortschritte naturwissenschaftlicher
Das deutungsfrei Gegebene
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Erkenntnis auch für die G e s e l l s c h a f t fruchtbar zu machen, Ordnung zu schaffen durch Erkenntnis der sozialen Realitäten, das ist von Anfang an die Aufgabe der positivistischen Philosophie, die in so weitem Maße „Weltanschauung" ist, daß sie Kunst und Literatur, Lebensführung, Sitte und Institutionen aufs tiefste beeinflußte. Um diese Selbsteinschätzung zu verstehen, ist zu bedenken, daß der Positivismus die E n t i l l u s i o n i e r u n g der Wirklichkeit nicht erst herzustellen trachtet, sondern sie als das unkorrigierbare Ergebnis einer langen Geschichte und „Entwicklung" des menschlichen Geistes vorzufinden glaubt. Die Metaphysik kann schon deshalb kein nachahmungswürdiges Ideal sein, weil sie — dies ist eine wichtige These Comtes — ihrem Wesen nach kritisch, destruktiv und recht eigentlich n e g a t i v ist. Die Metaphysik ist die Auflösung der Theologie: sie zeigt die Widersprüchlichkeit theologischer Aussagen. Und bereitet dadurch den Boden für die „positive" Einstellung vor. Selbst wenn man diese Konstruktion bei Seite setzt, ist der Positivismus das K o m p l e m e n t d e r A u f k l ä r u n g . Die Aufklärung (des 18. Jahrhunderts, die in der „Kritik" der Radikalen ihre Fortsetzung findet, s. o.) macht die Illusionen deutlich, scheidet das Wahre vom Unwahren. Diese Arbeit ist getan, — der Positivismus kann sich damit beschäftigen, das Wahre zu v e r w i r k l i c h e n . Das wollten freilich die Aufklärer auch schon, und sieht man darauf, so ist der Positivismus in Frankreich (Comte) und England (Mill) nicht bloß die Verlängerung der Aufklärung, sondern in dieser schon selbst vertreten. Denker wie d'Alembert und Condillac in Frankreich, besonders aber David Hume in England verkörpern bereits den „Geist" des Positivismus. Dennoch bestehen Unterschiede zwischen dem Positivismus des 19. und 18. Jahrhunderts. Comte ist ein erbitterter Gegner des „anarchischen" Geistes der Aufklärung
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Positivismus
und der Revolution, des schalen Deismus und des statischen NaturbegrifFs; er sieht auch in der Aufklärungsphilosophie, und gerade in ihr, die Metaphysik am Werke. Seine Geschichtsphilosophie, die auf Saint-Simon und Condorcet zurückgeht, zeigt bemerkenswerte Anklänge an die Geschichtsphilosophie des deutschen Idealismus. Sie will aber, wie gegenüber der Aufklärungsphilosophie, so auch gegenüber den deutschen Idealisten, etwas Neues darstellen. Man hat es so ausgedrückt: Comte und seine Zeitgenossen treiben „materiale Geschichtsphilosophie", die sich nicht auf eine „Gesellschaft überhaupt", sondern auf die f r a n z ö s i s c h e G e s e l l s c h a f t i h r e r Z e i t bezieht. Die europäische Gesellschaft wird hier aus der „Perspektive des positivistischen Frankreich" gesehen. Diese ist das positiv Gegebene (R. König). Im Discours sur l'esprit positif (1844) gibt Comte eine Bedeutungsanalyse der „Positivität". Er hebt hier sechs Merkmale hervor: das Positive ist das T a t s ä c h l i c h e gegenüber dem Schimärischen, das N ü t z l i c h e gegenüber dem Müßigen, das G e w i s s e gegenüber dem Unentschiedenen, das G e n a u e gegenüber dem Schwankenden; es ist das G e g e n t e i l v o n n e g a t i v (also nidht zerstörend, sondern aufbauend), und das Gegenteil von absolut, — das R e l a t i v e . Auf die letzte Bestimmung kommt es an. Relativität hat nicht den allgemeinen Sinn von Relativismus, sondern den von Relation und R e l a t i o n i s m u s : das Absolute ist beziehungslos; absolute Aussagen führen zu Verneinungen und können eben deshalb nichts zur S y s t e m a t i s i e r u n g unserer Erkenntnis beitragen. W i r kennen nur Tatsachen gegenüber anderen Tatsachen; sie zu verknüpfen, ist wiederum nur möglich unter tatsächlichen Voraussetzungen, d. h. von einem konkreten Standpunkt aus.
Natürlich ist es mißlich, sich bei der Definition des Positivismus auf einen Denker festzulegen. Wie alle geistigen Bewegungen, tritt auch der Positivismus in mannigfaltigen Formen auf. Der Positivismus des 19. Jahrhunderts unterscheidet sich nicht nur von dem des 18. Jahrhunderts, sondern auch vom N e o p o s i t i v i s m u s der Gegenwart (in Deutschland: Schlick, Carnap,
Das Positive bei Comte
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Wiener Kreis). Er weist ferner beträchtliche n a t i o n a l e Unterschiede auf: der französische Positivismus (von Comte bis Dürkheim, Taine, Renan u. a.) hat andere Traditionselemente als der englische (von Mill bis Spencer) und dieser wiederum andere als der deutsche und italienische (von Cattaneo bis Ardigö). Dazu kommen die eigentlich sachlichen Unterschiede zwischen dem g e s c h i c h t s p h i l o s o p h i s c h e n Positivismus Comtes und seiner Nachfolger (in Deutschland Karl Lamprecht), dem logisch-phänomenalistis e h e n Positivismus ]. St. Mills, dem e r k e n n t n i s t h e o r e t i s c h e n Positivismus von Laas, Avenarius, Mach und ihren Schulen, sowie dem e v o l u t i o n i s t i s e h e n Positivismus H. Spencers. Noch oberhalb dieser Unterschiede liegt ein anderer, den wir summarisch als denjenigen zwischen p h i l o sophischem und einzelwissenschaftl i c h e m Positivismus bezeichnen. An der positiven Schätzung der Einzelwissenschaften besteht gewiß bei keinem Positivisten ein Zweifel. Aber der philosophische Positivismus ist mehr noch als an den Einzelwissenschaften am System der Wissenschaften (dem „natürlichen System der positiven Wissenschaften"), an der Stufenfolge, Ordnung, „Hierarchie", den Wechselwirkungen und der Bedeutung der Wissenschaften für die Kultur interessiert. Die Wissenschaft soll das menschliche Leben meistern: sie hat p o l i t i s c h e Aufgaben, und die höchste Wissenschaft kann darum nur die Wissenschaft vom Menschen bezw. vom menschlichen Zusammenleben sein, der Comte den Namen S o z i o l o g i e gab. Jedoch ist diese Wissenschaft weder bei Comte noch bei Mill oder Spencer Fachwissenschaft im eigentlichen Sinne. Sie besitzt mehr oder minder den Charakter einer U n i v e r s a l w i s s e n s c h a f t und übernimmt die Funktion der Philosophie im System der Wissenschaften. Alle philosophischen Disziplinen, als unwissenschaftlich gebrandmarkt, erhalten soziologische Vorzei-
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Positivismus
dien und werden in dieser Form restituiert (Rechts-, Wirtschafts-, Kunst-, Religions-, Kultur-, Geschichts-, Erziehungs-Soziologie usw.). Dieser aufs Ganze gehende weltanschauliche Zug f e h l t dem einzelwissenschaftlichen Positivismus: er ist recht eigentlich die aller Philosophie abgewandte Gesinnung der Einzelwissenschaften, — jene Gesinnung, die Max Weber in „Wissenschaft als Beruf" (1919) so trefflich gezeichnet hat. Der einzelwissenschaftliche Positivismus verzichtet wirklich, mit Bewußtsein und Stolz, auf jede „Deutung" des Gegebenen bezw. der mathematischen Transposition des Gegebenen, er verzichtet auf jede Bewertung der Ergebnisse, auf jede weltanschauliche „Abrundung" und Interpolation, und überhaupt auf alle Verbindungen zwischen „Erkennen" und „Leben". Das l'art pour l'art erhält hier sein Gegenstück: die Wissenschaft dient nur der Wissenschaft; sie ist autonom und wertfrei. Der Positivismus in diesem Sinne muß daher auch alle Konstruktionen des philosophischen Positivismus als unwissenschaftlich ablehnen. Die Tragödie des philosophischen Positivismus, mit dem allein wir es hier zu tun haben, ist nun freilich, daß er von Anfang an Träger einer solchen „Gesinnung" sein wollte, und daß er dadurch immer von neuem in K o n f 1 i k t e gerät: zwischen Theorie und Praxis, Beschreibung und Begründung, kausalgenetisch-erklärender und teleologisch-verstehender Betrachtung. Am schärfsten sind diese Konflikte im Bereich der Religion: Comte und Mill sind daran — jeder auf seine Weise — gescheitert. Während auf der anderen Seite der einzelwissenschaftliche Positivismus nicht bloß in den Normwissenschaften, sondern auch in der Theologie bezw. Religionswissenschaft Fuß fassen konnte. Hier gibt es zwar keine exakte Formulierung, aber es gibt wirkliche oder vermeintliche Gegebenheiten, die man ohne Rücksicht auf ihre philosophischen Sinnbeziehungen — in der Logistik (mathematischen Logik) sogar ohne Rücksicht auf den Sinn von „Erkennen" — behandeln kann.
Einzelwissenschaftlicher u. philosophischer Positivismus
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Bevor wir an die Veranschaulichung positivistischer Lehren gehen, ist noch eine Einschränkung vorzunehmen. Sie betrifft den e v o l u t i o n i s t i s c h e n Positivismus, der durch das Eindringen des biologischen Entwicklungsbegriffs und der Darwinschen Selektionstheorie in die Wissenschaft entstand, und dessen Hauptvertreter im 19. J a h r h u n d e r t Herbert Spencer ist. Steht auch die positivistische Einstellung Spencers nicht in Frage, so läßt sich doch nicht verkennen, daß sein „System der synthetischen Philosophie" ( 1 8 6 2 — 1 8 9 3 ) die dieser Einstellung gezogenen Grenzen weit überschreitet, und eine recht massive Metaphysik enthält. Nicht aus diesem Grunde allein, sondern auch auf Grund der inneren Verwandtschaft des Spencerscben Evolutionismus mit anderen Systemen um die Jahrhundertwende, die ohne Beziehung zum Positivismus sind, behalten wir seine Darstellung dem nächsten Kapitel vor. Es bleiben somit an außerdeutschen Denkern hier nur Comte und Mill. Auguste Comte ist 1798 in Montpellier geboren. Frühr e i f mathematisch begabt, kam er 1814 nach Paris, studierte an der École polytechnique, wurde 1816 wegen Ungehorsam relegiert und gezwungen, durch Nachhilfeunterricht sein Brot zu verdienen. In Paris war er in den Bann der Ideen des Grafen Saint-Simon (1760—1825) geraten, dessen Mitarbeiter und Sekretär er wurde. Er konnte von Glück sagen, daß er diese bezahlte Stellung erhielt. Aber sie hatte ihre Schattenseiten. Der Graf, der ein abenteuerliches und reichbewegtes Leben hinter sich hatte, als ihn der junge Comte kennenlernte, ließ schon 1819 einen Aufsatz Comtes unter seinem Namen erscheinen und wiederholte diese Operation so lange, bis Comte sich nachdrücklich und erfolgreich dieser Arbeitsteilung widersetzte (1824). Es kam zum Bruch. Vom Jahre 1827 an gibt Comte wieder Nachhilfestunden. In den zwanziger Jahren erschienen die ersten Schriften Comtes: der „Plan des travaux scientifiques nécessaires pour réorganiser la société" (1822) und die daraus hervorgegangene „Politique positive" (1824). Nach seiner Trennung von Saint-Simon hatte sich Comte verheiratet (1825). Die Ehe war nicht glücklich und trug vielleicht zum Ausbruch jener N e r v e n k r i s e bei, die ihn in eine Irrenanstalt brachte. („Nachdem mich die Mediziner
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Positivismus
glücklicherweise f ü r unheilbar erklärt hatten, siegte natürlicherweise die K r a f t meines Organismus über die Krankheit und besonders über die Heilmittel"). 1827 konnte er die, schon vor der E r k r a n k u n g begonnenen Privatvorlesungen wieder aufnehmen. 1832 bekam er eine Stelle an der École polytechnique, die er jedoch nach Veröffentlichung des letzten (6.) Bandes seines H a u p t w e r k e s , des Cours de philosophie (1830—1842) wieder aufgeben mußte: er hatte in der Vorrede Anklagen gegen die Leitung und Verfassung dieses Instituts erhoben. I m gleichen J a h r e (1842) trennte er sich endgültig von seiner F r a u ; die dabei eingegangenen Zahlungsverpflichtungen brachten ihn in große Schwierigkeiten. Durch Vermittlung ]. St. Mills gelang es, von seinen Anhängern f o r t l a u f e n d e Unterstützungen zu erhalten, die er als T r i b u t f ü r seine geistige Leistung entgegennahm. Dieses schon sinkende Leben w i r d nun durch die Bekanntschaft Comtes mit Clotilde Deveaux noch einmal emporgetrieben. Obgleich die Beziehungen nur von einjähriger D a u e r sind (die Geliebte stirbt 1846), werden sie zur Quelle jener religiös-erotischen Phantasien, die einen Hauptbestandteil des Comteschen Menschheitskultes ausmachen. D a r ü b e r sei wenigstens angedeutet, d a ß die positivistischë Religion, die auch nach Comtes T o d e fortbestand, in der Idee der M e n s c h h e i t als des höchsten Wesens (Grand-Être) gipfelt. Die Individuen, vom Menschheitsganzen abgelöst, bloße Abstraktionen, besitzen als O r g a n e des höchsten Wesens Unsterblichkeit. Der Schwerpunkt dieser Religion u n d ihres Gottessurrogats liegt, bei äußerlicher Übernahme aller Requisite des Katholizismus, in der M o r a l i t ä t : in der Durchf ü h r u n g u n d Systematisierung des Prinzips der Nächstenliebe ( w o f ü r Comte den N a m e n Altruismus e r f a n d ) . Das w a r auch f r ü h e r schon ein bevorzugtes T h e m a der Comte sehen Philosophie. N u r wird, was zuerst als methodisches Postulat a u f t r a t , jetzt an -den A n f a n g gestellt, u n d eine unmittelbare Offenbarung des die ideale Gesellschaft durchwaltenden Prinzips der Nächstenliebe in Gestalt des W e i b e s gelehrt: in der reinen Weiblichkeit durchbricht die Menschenliebe alle Schränken der Erscheinung. (Die positivistische Religion kennt Sakramente, Engel, Schutzengel, Heilige, Feiertage; sie hat eine Priesterschaft und ein — von Longchampt verfaßtes — Gebetbuch). Dieser zweiten, religiösen Periode Comtes — die übrigens auch an Saint-Simon a n k n ü p f t , der im N o u v e a u Christianisme
Comtes Leben
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(1825) allerlei religiöse Heilssätze aufgestellt und einen besonderen Kultus gefordert hatte — gehören die späteren Schriften der 50er J a h r e an: das System der positiven Politik (1851—1854), der positivistische Katechismus (1852). Comte selbst starb im J a h r e 1857, nach der Spaltung seiner Schule. Sein letztes Werk (1856) w a r eine Philosophie der Mathematik. Die o f t erörterte Frage nach dem Verhältnis der beiden Perioden Comtes, der „objektiven" und der „subjektiven", ist ohne Berücksichtigung des Zeitcharakters von 1840—1850 — in Frankreich wie in Deutschland, wo ja Feuerbach eine ähnliche Menschheitsreligion wenigstens postulierte — nicht zu beantworten. Gewiß ist Comte eine pathologische Erscheinung. Aber der humanistische Gedanke ist auch in seinen Übertreibungen in der Literatur und Dichtung damaliger Zeit weit verbreitet. (Der Saint-Simonist Pierre Leroux (1799 bis 1871) veröffentlichte 1840 sein großes "Werk über die Menschheit, i h r Prinzip und ihre Z u k u n f t , das alles enthält, was sich theoretisch auch bei Comte über den Menschheitsbegriff ausgesprochen findet). U n d selbst die Versuche, auf dieser Basis neue Kultformen einzuführen, sind im 19. J a h r h u n d e r t o f t unternommen. Die andere Frage ist die nach der Abhängigkeit Comtes von Saint-Simon. N a h m Saint-Simon bei den Historikern des Spzialismus ohnedies einen besonderen Platz ein (bei Mückle gilt er sogar als Begründer des entwicklungsgeschichtlichen Sozialismus), so ist man heute auch in der Soziologie geneigt, die Gedanken Saint-Simons und Comtes als Einheit zu behandeln; die ältere These, daß Comte der „Begründer" der Soziologie sei, ist längst aufgegeben. Bei Saint-Simon findet sich jedenfalls das sogen. D r e i s t a d i e n g e s e t z Comtes (aber es findet sich schon bei Turgot, und drei „Stadien" in der Philosophiegeschichte stellte bekanntlich auch Kant auf), der Begriff des „ P o s i t i v e n " (Saint-Simon unterscheidet die „konjekturale" Phase der Wissenschaften von ihrer eigentlich „positiven"), die Idee der neuen Wissenschaft (Physikopolitik) als der Wissenschaft „qui constitue la société", also die Idee der S o z i o l o g i e , und der Begriff der i n d u s t r i e l l e n G e s e l l s c h a f t als des neuen „sozialen Systems". Aber Comte ist Systematiker und Logiker; und wenn man will, kann man seine Beziehungen zu Saint-Simon mit denen Hegels zu Schelling vergleichen. N u r d a ß dabei Schelling noch schlechter wegkommt als Hegel.
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Positivismus
Die positivistische Philosophie beginnt bei Comte nicht mit erkenntnistheoretischen, sondern mit w i s senschaftstheoretischen Erwägungen, und ist darum vorbildlich für dasjenige, was auch heute noch in Frankreich als Philosophie de la Science zu den philosophischen Grunddisziplinen gehört. Diese Wissenschaftstheorie Comtes besteht wesentlich in der Erarbeitung von zwei G r u n d g e s e t z e n : des schon genannten D r e i s t a d i e n g e s e t z e s , und des e n z y k l o p ä d i s c h e n Gesetzes, als einer Art S t u f e n t h e o r i e der Wissenschaften, die auf der immer wachsenden Komplikation ihrer Gegenstände beruht. Das Dreistadiengesetz ist ein Gesetz der Entwicklung des menschlichen Intellekts, sowohl bei der Gattung als auch beim Einzelnen, und gilt für alle Erkenntnisbereiche. Es bezeichnet eigentlich drei verschiedene Zustände (etats) der Theorienbildung: des t h e o l o g i s c h e n oder fiktiven, m e t a p h y s i s c h e n oder abstrakten, w i s s e n s c h a f t l i c h e n oder positiven. Der theologische „Geist" wird nach drei Momenten — wiederum aufeinanderfolgenden Zuständen — charakterisiert: F e t i s c h i s m u s , P o l y t h e i s m u s , M o n o t h e i s m u s , deren erstes als eine Art Beseelung aller Einzelobjekte (seit Tylor: Animismus), deren zweites als Zuordnung besonderer Objektklassen zu einzelnen Göttern, deren drittes als Unterordnung aller Objekte unter einen Gott bestimmt wird; wobei der Verstand mehr und mehr die anfänglich- vorherrschende Phantasie verdrängt, und das monotheistische Stadium als Beginn des „unvermeidlichen Verfalls der Philosophie des Anfangszustandes" erscheint. Das zweite oder me t a p h y s i s c h e Stadium ist strenggenommen nur ein Übergang: der Umschlag des theologischen Geistes in den positiven. Die Metaphysik, die Comte zumeist in Gestalt der Ontologie, aber auch der (introspektiven) Psychologie veranschaulicht und bekämpft, ist verkappte Theologie, "Ersatz der übernatürlichen Wirkfaktoren durch abstrakte (leere) Wesen-
Dreistadienlehre
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heiten, die einer einzigen Wesenheit: der N a t u r , untergeordnet werden. Die metaphysische Philosophie ist gegenüber der theologischen unproduktiv. Aber sie kann kritisch oder auflösend sein, und das ist, wie sdion angedeutet, die eigentliche Funktion, die Comte dem metaphysischen „Regime" zugesteht. Das dritte oder p o s i t i v e Stadium ist das der Mannbarkeit und Reife des menschlichen Geistes, wogegen das metaphysische seine Pubertät bezeichnet. Es ist das „endgültige Stadium der rationellen Positivität" : der Unterordnung der Phantasie unter die Beobachtung, der Beziehung aller Erkenntnisse auf die „Tatsachen", die sie ausdrücken, des Ersatzes vermeintlicher „Ursachen" durch k o n s t a n t e B e z i e h u n g e n , der Zuordnung aller Erscheinungen zu unseren Sinnen und unserer Organisation bzw. zum M e n s c h e n , der damit an die Stelle der „Natur" des zweiten Stadiums tritt. Es ist vor allem das Stadium „rationaler Voraussicht": sehen, um vorauszusehen (voir pour prévoir). Auch das enzyklopädische oder Ra n g o r d n u n g s g e s e t z der Wissenschaften will zugleich logisch und historisch, d. h. ein Entwicklungsgesetz sein. Der Ausgangspunkt aller Wissenschaften ist die M a t h e m a t i k , der End- oder Zielpunkt die S o z i o l o g i e . Genauer: der Ausgangspunkt ist mathematisch- a s t r o n o m i s c h , der Endpunkt b i o l o g i s c h -soziologisch. Dazwischen liegen P h y s i k und C h e m i e . Diese sechs Wissenschaften: M a t h e m a t i k (Zahlenwissenschaft, Geometrie, Mechanik), A s t r o n o m i e , P h y s i k (Lehre von der Schwere, von der Wärme, Akustik, Optik, Elektrizitätslehre), C h e m i e , B i o l o g i e , S o z i o l o g i e sind die abstrakten Wissenschaften oder die Wissenschaften e r s t e r Klasse; sie haben es mit den allgemeinen Naturgesetzen zu tun. Die deskriptiven Wissenschaften (z. B. Botanik und Zoologie) oder die Wissenschaften z w e i t e r Klasse haben es mit den besonderen gegebenen Verbindungen der Tatsachen (Phänomene) zu tun. Im Cours de philosophie positive,
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Positivismus
der 6 Bände u m f a ß t , beschäftigt sich Comte in den ersten 3 Bänden mit den Naturwissenschaften, in den letzten 3 Bänden mit der Soziologie allein, ein Zeichen d a f ü r , welches Übergewicht die S o z i o l o g i e f ü r ihn besaß. Die Frage nach Gegenstand und Inhalt der S o z i o l o g i e bei Comte ist dadurch erschwert, daß einerseits unter den Wissenschaften erster Klasse A n t h r o p o l o g i e und P s y c h o l o g i e nicht auftreten, jene vielmehr zur Biologie gerechnet und diese als Residuum der Theologie abgelehnt bzw. durch Galls Phrenologie ersetzt wird, und daß andererseits der Gegenstand der Soziologie ein allgemeiner sein soll, während Comte tatsächlich die „industrielle Gesellschaft" vor Augen hat und die Geschichte der Menschheit unter diesem Gesichtspunkt behandelt, — so daß also hier der Gegensatz von Naturwissenschaft und Ge s c h i c h t e hervortritt, den Comtes Wissenschaftstheorie in seiner Bedeutung nicht erkannt hat. Sollen Gesetze der me n s c h l i c h e n Entwicklung aufgefunden werden — und das Dreistadiengesetz ist ja selbst ein solches Gesetz —, so muß die Menschheit als durchgreifendes S u b j e k t vorausgesetzt werden. Aber diese Voraussetzung hat bei Comte (wenigstens in seiner ersten Periode) einen rein methodischen Sinn. U n d dadurch gelingt es, Biologie und Soziologie, so verwandt sie sind, doch auch wieder zu trennen.Was Biologie und Soziologie verbindet, ist der Begriff des O r g a n i s m u s . Aber die Gesellschaft ist kein biologischer Organismus und die Gesellschaftslehre Comtes keine „organologische" Soziologie. Die Menschheit ist kein „ungeheurer Polyp, der sich über die ganze Erde ausbreitet." Die Beziehung zwischen den Teilen des gesellschaftlichen Ganzen ist eine andere als die zwischen den Teilen eines Lebewesens. Der Zusammenhang (Konsensus)) zwischen den Menschen ist ein bewußter u n d beruht auf Ideen: der Sozialorganismus; ist ein I d e e n o r g a n i s m u s . Durch dieses Ü b e r gewicht an „Solidarität" erhebt sich das Studium der Menschheit über das Niveau einer bloßen Anthropologie (histoire naturelle de l'homme) u n d die positivistische Soziologie über die naturrechtlichen Gesellschaftslehren der Aufklärung. Ohne näher auf die wichtigen Untersuchungen Comtes (auch der Konsensus, dessen Begriff im Anfange mit Kants Begriff der Affinität der Erscheinungen zusammenfällt, hat seine „Geschichte") eingehen zu können, ist nur noch auf die berühmte, auch in der Gegenwartssoziologie (F. Oppenheimer)
Die Soziologie
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noch beibehaltene Unterscheidung Comtes zwischen sozialer S t a t i k und D y n a m i k hinzuweisen. Sie ergibt sich unschwer aus dem Bisherigen. Denn die soziale S t a t i k ist die Theorie der „natürlichen Ordnung der menschlichen Gesellschaften", die soziale D y n a m i k die Theorie „des natürlichen Fortschrittes der Menschheit." Jene behandelt also den sozialen Konsensus, den Zusammenhang der Glieder des sozialen Organismus, diese das Dreistadiengesetz in seiner soziologischen Bedeutung (wobei dem Fetischismus die schönen Künste, dem Polytheismus Militarismus und Sklaverei, dem Monotheismus das Feudalwesen, der Verfallsphase des Monotheismus der Protestantismus zugeordnet wird usw.). Die Unterscheidung zwischen Statik und Dynamik entstammt natürlich der Physik; Comte weist aber darauf hin, daß sie ebensogut der T o n k u n s t hätte entlehnt werden können: die Harmonie ist statisch, die Melodie dynamisch. In der Tat ist der Konsensus oder die Solidarität eine Harmonie (wobei an Leibniz, von dem Comte stark beeinflußt ist, zu erinnern wäre). Die Wirkungen Comtes waren außerordentliche. Z w a r verfiel seine engere Schule ( L a f f i t t e , Littré) bald. Aber die französische Soziologie ist auch dort von Comte zutiefst beeinflußt, w o sie (wie bei Dürkheim, der Comtes „métaphysique positiviste" v e r w i r f t , dem Methodenmonismus Comtes einen Methodenpluralismus gegenüberstellt, und zu einer A r t Ontologie des Sozialen auf streng objektivistischer Grundlage fortschreitet) neue Wege einschlägt. In Deutschland hat Comtes System selbst keine Nachfolger gefunden, wenn man nicht die
Wirklichkeitsphilosophie Eugen Dührings
(1833—1921),
der sich öfter auf Comté beruft, hierher rechnen will. Aber die Aueinandersetzung mit Comte beschäftigt doch auch die deutschen Denker: noch Diltheys Einleitung in die Geisteswissenschaften (1883) ist von ihr erfüllt, und in der Lamprechtschule ist noch die Geschichtsphilosophie
Kurt Breystgs
von Comtes Entwicklungslehre bestimmt,
— wie ja in dem Streit um die geschichtliche Methode und ihr Verhältnis zur naturwissenschaftlichen Comte immer wieder auftritt. L e h m a n n , Gesch. d . P h i l . I X
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Positivismus
Auf die englische Philosophie hat Comte vor allem durch Vermittlung von ]. St. Mill gewirkt. Im „Geist des Positivismus" sagt Comte von Mills „Logik": dieses wertvolle Werk unterrichte vortrefflich über die positive Methode, und von nun an sei /. St. Mill, „mein hervorragender Freund", „an der unmittelbaren Begründung der neuen Philosophie beteiligt". Schon drei Jahre vorher (1841) hatte der B r i e f w e c h s e l zwischen Comte und Mill begonnen, der bis 1847 dauerte. Acht Jahre nach Comtes Tode hat dann Mill (in: Auguste Comte and Positivism 1865) ausführlich Rechenschaft gegeben über sein Verhältnis zu Comtes Hauptwerk und zu den „späteren Forschungen Herrn Comtes". Danach ist der unmittelbare Einfluß Comtes auf Mill nur kurz, wenn auch nachhaltig. Und Mills „Positivismus" — als Bezeichnung der allgemeinen Anschauungen Mills — ist wohl zu unterscheiden von seiner ComteAnhängerschaft. Mills eigener Positivismus (bzw. Empirismus) steht fest, bevor er die Logik verfaßte und bevor er Comte kennenlernte. Die Grundlage aber, aus der er hervorging: die Anschauungen seines Vaters James Mill (1773—1836) und des englischen Rechtsphilosophen Jeremy Bentham (1748—1832), ist nicht nur der Ursprung für die späteren Differenzen mit Comte, sondern gibt auch seinem Verhältnis zu Comte von vornherein ein besonderes Gepräge: Mill ist immer P s y c h o l o g e gewesen und ist es immer geblieben. John Stuart Mill lebte von 1806 bis 1873. In seiner Jugend herrschte noch die Philosophie William Hamiltons, des Fortführers von Thomas Reid. In seinem Alter hat sich der Evolutionismus Herbert Spencers schon ausgebreitet, und die deutsche Philosophie beginnt (seit 1865) in England Fuß zu fassen. Die dazwischen liegenden Jahrzehnte, die vierziger und fünfziger Jahre, sind recht eigentlich die Zeit des englischen Positivismus: und die beiden wichtigsten Werke Mills, die Logik (1843) und die „Examination of Sir W . Hamiltons Philosophy" (1865), bezeichnen genau diesen Zeitraum.
Mills Leben
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I n diesen J a h r e n ist Mill u n s t r e i t i g d e r r a d i k a l s t e , einflußreichste, d u r c h seinen A n t e i l a n d e r F r a u e n b e w e g u n g u n d seine Z u n e i g u n g z u m S o z i a l i s m u s die J u g e n d beg e i s t e r n d e , fortschrittlichste D e n k e r E n g l a n d s . Er wurde in L o n d o n als Sohn eines Mannes geboren, der durch die „Geschichte Britisch Indiens" (1818) und die „Analysis of the Phenomena of the H u m a n Mind" (1829) eine bedeutende Stellung in der englischen Literatur einnimmt. James Mill ist unter den Fortführern Hume-Hartleysdiet Assoziationspsychologie der wichtigste. Den Sohn benutzte er zu einem pädagogischen Experiment, das üble Folgen hatte und noch schlimmer hätte ausgehen können: er ließ ihn als Dreijährigen Griechisch, als Achtjährigen Lateinisch, als Zwölfjährigen Philosophie lernen, und parallel mit dem Sprachunterricht ging von A n f a n g an der Unterricht in Mathematik und Naturwissenschaft. Mit 14 Jahren war J. St. Mill ein vollkommen ausgebildeter Gelehrter. Mit 20 Jahren traten nervöse Erschöpfungszustände, Gedächtnisschwäche und andere Zeichen seelischer Erkrankung auf. „Ich saß . . . auf dem Strande mit einem wohlausgerüsteten Schiff und Steuer, aber ohne Segel, ohne ein wirkliches Verlangen nach den Zielen, die ich so sorgfältig vorbereitet worden war zu erreichen." Er überwand diese Krise durch Versenkung in Dichtwerke und Bekanntschaft mit alle dem, was der Intellektualismus seines Vaters — und sein eigener — verworfen hatte. Er las Byron und Goethe, Coleridge und Carlyle. Damals (1828) begann er auch, Comte zu studieren (den Plan des Traveaux Scientifiques). Erst diese Ingredienzien befähigten ihn, das erste große Werk, eben die Logik (A System of Logie, Ratiocinative and Inductive), die in zwei Bänden 1843 erschien, zu schaffen. Doch traten während dieser Arbeit noch Rückschläge auf: der in seinen Jugendjahren begeisterte Anhänger Bentheims und seines Prinzips des „größtmöglichen Glücks der größten Zahl" — dem er theoretisch auch später nicht untreu wurde — litt unter Depressionen und Nervenzuckungen. Es ist nicht überflüssig, diese Züge a u f z u f ü h r e n ; das Bild, das eine spätere Zeit von Mill und Mills Philosophie entworfen, ist seiner nicht ganz würdig. Er ist kein autoritativer Denker wie Comte; er erreicht und versteht nicht die Tiefen der deutschen Metaphysik, aber er ist auch nicht flach und seicht. Seine Stärke liegt in der Veranschaulichung solcher Dinge, die der Zeit wesentlich erscheinen. Kein Wunder, daß 7*
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ein Mann wie Liebig sich begeistert f ü r ihn einsetzte und ihn in Deutschland bekannt machte. Denn daß in einer „Logik" Fragen der Chemie mit solcher Gewissenhaftigkeit durchdacht wurden, — wann wäre das vor Mill geschehen? Comtes Positivismus kennt nur die Erfahrung, aber er verachtet die „Empiriker". Mills Positivismus ist viel wirklichkeitsnäher; er mißachtet keine Problematik. Wobei es geschehen kann, daß er Möglichkeiten anerkennt, die durchaus nicht im Bereich seines Systems liegen. Verblüffend, beinahe Ärgernis erregend war es, als die n a c h g e l a s s e n e n Schriften Mills (Three Essays on Religion 1874) erschienen, und man darin nicht etwa einen Anhänger David Humes, sondern einen dem Christentum zugeneigten Denker fand. Wohl gibt es auch in den früheren Schriften Andeutungen dieser Art, aber keine so unbefangene Anerkennung der Tatsachen religiöser Erfahrung. Von seinen Lebensdaten sind die äußerlichen unwesentlich. Im Indian House, dessen Sekretär er 1823 Wurde, war zuerst sein Vater sein Vorgesetzter. Später (1856) trat e r i n das Amt des Vaters ein. 1858 verließ er diesen Posten; von 1866 bis 1868 war er Vertreter der Liberalen im Parlament. Er starb in A v i g n o n am 8. Mai 1873. Wesentlich ist dagegen, daß auch in sein Leben, wie in das Comtes, eine Frau eingriff: Frau Taylor, die sich nach dem Tode ihres Mannes mit Mill verheiratete (1851), nachdem sie schon seit 1831 mit ihm befreundet war, und deren Einfluß auf Mill nach seinem eigenen Zeugnis ein außerordentlicher gewesen sein muß. Viele seiner Gedanken, z. B. in der Arbeit über die Hörigkeit der Frauen (The Subjection of Women 1869) führt er auf sie zurück, und nach ihrem Tode (1858) fühlt er sich wie vernichtet. Außer den philosophischen Schriften hat Mill eine umfangreiche nationalökonomische Arbeit (Prinzipien der politischen Ökonomie, 2 Bände 1848) und eine Reihe politisch-soziologischer Arbeiten verfaßt. Zu ihnen kann man auch den vielgelesenen Essay ü b e r d i e F r e i h e i t (On Liberty 1859) rechnen, — keine Untersuchung über die Willensfreiheit, sondern ein Protest gegen die Eingriffe des Staates und der Gesellschaft in die persönlichen Rechte, mit vielen Anklängen an die Jugendschrift Wilhelm v. Humboldts. Diesem Essay am nächsten kommt der andere über U t i l i t a r i s m u s (Utilitarianism 1863). Das Wort hat er zwar nicht erfunden, aber zum Schlagwort gemacht; in der üblichen Auffassung
Mills Leben
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(Nützlichkeitslehre, als Bezeichnung einer auf das Nützlichkeitsprinzip gestellten Moral) trifft es durchaus nicht das von Mill Gemeinte. Diese kleine Schrift, die ganz Bentheims Spuren zu folgen scheint, ist vielmehr der Abschluß von Mills Auseinandersetzung mit Bentheim. In seiner Jugend eifriger „Benthamit" und Begründer einer „utilitarischen Gesellschaft", machte er zur Zeit seiner Entwicklungskrise die Erfahrung, daß die Glückseligkeit, deren „Maximation" (d. i. größtmögliche Steigerung bei allen Gliedern der Gesellschaft) das Ziel sowohl der Ethik als auch der Gesetzgebung sein soll — ein Grundgedanke der ganzen Aufklärungsethik — , einen Widerhaken hat. „Die Fähigket, der Glückseligkeit entraten zu können" — so drückt er es dialektisch aus — eröffne „die sicherste Aussicht auf die Realisierung derjenigen Glückseligkeit, die uns allein erreichbar ist."* Tatsächlich ist Mills Moralphilosophie, die von H. Sidgwick in Kantischer Linie weitergebildet wurde (Methods of Ethics 1875) „Wohlfahrtsethik" und „Opferethik" in gleichem Maße; sie erkennt durchaus die Selbstentsagung, d. i. Preisgabe der eigenen Glückseligkeit an, aber sie sieht die Rechtfertigung eines solchen Opfers in der Glückseligkeit Anderer. D a ß dies ein Zirkel ist, braucht nicht ausgeführt zu werden. Mills L o g i k , das G r u n d w e r k der positivistischen L o g i k des 19. J a h r h u n d e r t s , ist nicht in dem Sinne „ S y s t e m " wie e t w a Hegels metaphysische Logik. A u d i nicht im Sinne der späteren „erkenntnistheoretischen" Logik Schuppes oder anderer dem Positivismus n a h e k o m m e n der Logiker. W o h l kündigt Mill ein „ S y s t e m " der L o gik a n und geht auch nach einer Untersuchung über „ N a m e n und S ä t z e " , die ungefähr der B e g r i f f s und Urteilslehre der allgemeinen L o g i k entspricht, zur S c h l u ß l e h r e oder Syllogistik und v o n d o r t zur M e t h o d e n l e h r e der Naturwissenschaften und der Geisteswissenschaften ( M o r a l Sciences) f o r t . A b e r der Schwerpunkt liegt so sehr in der L e h r e v o n der I n d u k t i o n , d. h. des Schließens „ v o m B e k a n n t e n a u f Unbekanntes, v o n Beobachtetem auf unbeobachtete Tatsachen, v o n dem, w a s w i r w a h r g e n o m men . . . auf das, w a s nicht in den Bereich unserer E r f a h r u n g getreten ist", also der M e t h o d e der empirischen
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Positivismus
Wissenschaften, daß alle Darlegungen nur von hier aus: v o m P r o b l e m der Induktion, zu fassen sind. Auch insofern ist Mill nicht eigentlich Systematiker, als seine beiden Hautpschriften, die L o g i k und die Untersuchung über Hamilton, wesentlich S t r e i t s c h r i f t e n sind. Die L o g i k jedenfalls ist hervorgegangen aus einer Auseinandersetzung mit William Whewell (1794—1866), der in seiner „Geschichte der induktiven Wissenschaften" ( 1 8 3 7 ) Xiiwfische Gesichtspunkte (hinsichtlich des V e r standesanteils an der E r f a h r u n g ) geltend gemacht, und die Entstehung allgemeiner Gesetze aus einem „ A g g r e g a t v o n individuellen, unzusammenhängenden E r f a h r u n g e n " untersucht hatte. Worin besteht das P r o b l e m der Induktion? „Warum ist", sagt Mill am Ende des dritten Buches, „in manchen Fällen eine einzige Instanz 1 ) zu einer vollständigen Induktion ausreichend, während in anderen Fällen Myriaden übereinstimmender Instanzen, ohne eine einzige bekannte oder vermutete Ausnahme, so wenig dazu beitragen, einen Satz von durchgängier Allgemeinheit zu begründen? "Wer diese Frage beantworten kann, der weiß mehr von den Grundwahrheiten der Logik als die Weisesten der Alten, und er hat das Problem der Induktion gelöst." Warum genügt ein einziges chemisches Experiment, um einen gültigen Satz zu finden, und warum geben zahllose Beobachtungen, z. B. über die Farbe der Krähen, nicht die Sicherheit, einen entgegensetzten Fall, z. B. eine graue Krähe (wenn er genügend verbürgt ist), als unmöglich abzulehnen? Offenbar hängt dies damit zusammen, daß uns das Experiment den u r s ä c h l i c h e n Zusammenhang aufdecken kann, während die Beobachtung der Farbe von Tieren nur auf „Gleichförmigkeiten der Koexistenz", wie Mill sich ausdrückt, führt. Das Problem der Induktion hängt also mit dem der K a u s a l i t ä t (der „Gleichförmigkeit der Succession") eng zusammen; es ist kein rein logisches, sondern ein e r k e n n t n i s t h e o r e t i s c h e s Problem. (Die logische Untersuchung des sogen. Induktionsschlusses verbindet Mill mit einer K r i t i k des S y l l o g i s m u s , d. h. des Schlusses vom Allgemeinen auf Besonderes, und sucht nachzuweisen, daß der Induktionsschluß in der Form des Schließens vom D e r Ausdruck Instanz ist Bacons bedeutet Beweismittel.
Novum
Organon
entnommen
und
Mills Logik
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Besonderen auf Besonderes der ursprüngliche ist, und der Syllogismus nur eine Art Kontrolle). Mill versteht unter Kausalität nicht ontologische, sondern phänomenale; die „Ursachen", die er sucht, sind nicht wirkende (efficient) sondern physische (physical). (Eine Unterscheidung, die sich bei Reid und Comte findet). Der Zusammenhang von Ursache und "Wirkung ist also nur der Zusammenhang zweier Phänomene. Und zwar als Zusammenhang in der Zeit, als Nacheinander. Dies hatte, wie Hune, so auch Kant hervorgehoben; beide aber hatten die N o t w e n d i g k e i t des Kausalzusammenhanges — der kein zufälliger oder eine b l o ß e Aufeinanderfolge sein darf —, verschieden interpretiert. Es scheint im Sinne von Kants „Analogien der Erfahrung" zu sein, wenn Mill definiert: Ursache einer Erscheinung sei das Antezedenz oder die Vereinigung von Antezedentien, auf die sie unabänderlich (invariably) und unbedingt (unconditionally) folgt. Aber Mill will von den „Transzendentalisten" nichts wissen; er lehnt es ab, Kausalität als ursprüngliche Verstandesform (Kategorie) aufzufassen. Er bestimmt sie vielmehr ganz und gar e m p i r i s t i s c h : „Das Gesetz der Ursächlichkeit. . . ist nur die alltägliche Wahrheit, daß man erfahrungsgemäß zwischen jeder Tatsache in der Natur und irgendeiner anderen Tatsache, die ihr vorangegangen ist, ein Verhältnis unabänderlicher Aufeinanderfolge antrifft, unabhängig von allen Erwägungen über die letzte Entstehungsart der Erscheinungen und von jeder anderen Frage inbetreff der Natur der „Dinge an sich". Und gegen den (von Reid, Schopenhauer u. a. erhobenen) Einwand: das A u s e i n a n d e r der Kausalität dürfe nicht mit dem N a c h e i n a n d e r der bloßen Zeitfolge verwechselt werden, weil sonst z. B. die Nacht Ursache des Tages sein müßte, bemerkt er: wir glauben ja an die Beständigkeit dieser Aufeinanderfolge nur unter der Voraussetzung, daß die Sonne über dem Horizont aufgeht. Die Aufeinanderfolge von Nacht und Tag ist also nicht unbedingt, sondern bedingt. Kausalität ist eine „durch die Erfahrung verbürgte Verallgemeinerung". Und zwar die wichtigste, weil sie die G r u n d l a g e aller Induktion ist. Alle induktiven Methoden hängen von der Geltung des Kausalgesetzes ab. Aber die Kausalität ist darum nicht eine Art Glaube oder Instinkt bezw. ein Gesetz unseres Denkvermögens. Sondern sie ist s e l b s t e i n F a l l v o n I n d u k t i o n . „"Wir hätten nie die Vorstellung von Ursächlichkeit (im philosophischen Sinne des "Wortes) als einer Bedingung aller Erscheinungen gewonnen, wenn wir nidit
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Positivismus
schon früher mit vielen Fällen des ursächlichen Verhältnisses . . . bekanntgeworden wären." Aus besonderen E r f a h rungen gewinnen wir das allgemeine Erfahrungsgesetz der Kausalität, das wir nun wieder neuen Erfahrungen zu Grunde legen. Diese Zirkeldefinition ist bei Mill nicht etwa eine Unachtsamkeit, sondern sie ist die G r u n d f o r m seiner theoretischen Erwägungen. W i r sehen das an der Behandlung weiterer Fragen: beim Problem der G l e i c h f ö r m i g k e i t der N a tur, der mathematischen Axiome, und der „ W a h r n e h mungsmöglichkeit". Die Induktion als Schluß von Bekanntem auf Unbekanntes, von beobachteten auf unbeobachtete Tatsachen hat offenbar eine letzte a x i o m a t i s c h e V o r a u s s e t z u n g : den Satz von der G l e i c h f ö r m i g k e i t des N a t u r l a u f s (uniformity of the course of nature). Er ist der Obersatz aller Induktionen; an ihm hängt die ganze Ableitung, wenn man sie syllogistisch vorstellt. Ohne die Voraussetzung, daß es in der N a t u r parallele Fälle gibt: „daß das, was einmal geschieht, bei einem genügenden Grade von Ähnlichkeit in den Verhältnissen wieder geschehen, und nicht nur wieder, sondern so o f t geschehen wird, als dieselben Verhältnisse wiederkehren", gibt es keine Verallgemeinerung aus der Erfahrung. Aber diese Voraussetzung ist selbst eine empirische Verallgemeinerung; der Obersatz aller Induktionen ist selbst induktiv gewonnen. In der gleichen Weise verfährt Mill sogar mit den A x i o m e n d e r M a t h e m a t i k . Der Satz, daß zwei gerade Linien keinen Raum einschließen, ist eine „Inijuktion aus der Evidenz unserer Sinneswahrnehmung". Darüber, meint Mill, daß uns die „Axiome" ursprünglich durch Beobachtung dargeboten werden (suggested by Observation) herrscht kein Streit. Aber es wird • behauptet (von Whewell und Kant), daß nicht die Erfahrung dieses Axiom beweist, „sondern daß dessen Wahrheit a priori, vermöge der Einrichtung unseres Geistes selbst, wahrgenommen wird." Mag es sich so verhalten oder nicht, — der Erfahrungsbeweis ist da, und er erweckt einen so starken Glauben an die Geltung des Axioms, daß er nicht stärker sein könnte, wenn wir auf eine „Einrichtung unseres Geistes" zurückgehen. W a r u m also annehmen, daß die Axiome einen anderen Ursprung haben als unsere übrigen Kenntnisse? Die Beweislast fällt dem Gegner zu. Bis jetzt hatten w i r es nur mit Sätzen oder T r i v i a l i -
Mills Phänomenalismus
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täten eines radikalen Empirismus zu tun. Mills originale Auffassung aber ist, nach der glücklichen Bezeichnung von Th. Gomperz, ein a n a l y t i s c h e r P h ä n o m e n a l i s m u s . Diese Auffassung entwickelt Mill vor allem in seinem erkenntnistheoretischen Werk, der Streitschrift gegen Hamilton. Hier kommen zwar auch die logischen Fragen zur Sprache, vorab aber die „psychologischen" : nach dem Wesen des Bewußtseins, des Fremdseelischen, der Realität der Außenwelt usw. Die Antwort, die Mill im Gegensatz zu Hamilton auf diese Fragen gibt, und in der er sich weniger auf Hume als auf Berkeley beruft, ist für den erkenntnistheoretischen Positivismus in Deutschland besonders wichtig geworden. Sie bestimmt auch die engen Beziehungen zwischen dem erkenntnistheoretischen Positivismus und der „immanenten" Philosophie. Diese Antwort besteht aus zwei Thesen Mills, für die er die Begriffe der p e r m a n e n ten W a h r n e h m u n g s m ö g l i c h k e i t e n (permanent possibilitis of sensation) und der p e r m a n e n ten B e w u ß t s e i n s m ö g l i c h k e i t (permanent possibility of feelings) verwendet. Auf diese Grundbegriffe des Millsdien Phänomenalismus ist noch einzugehen. Wenn wir von unseren Wahrnehmungen sprechen, unterscheiden wir solche, die uns unmittelbar gegenwärtig oder wirklich gegeben sind, von solchen, die wir früher hatten, und unter gewissen Voraussetzungen wieder erlangen können bezw. werden. Die Gesetze der Ideenassoziation, auf die sich Mill beruft, beziehen sidi auf die Repräsenz solcher „möglichen" Wahrnehmungen oder — wie Mill sagt — Phänomene. Ein Gegenstand, den ich in meinem Zimmer sehe, hört, wie ich glaube, nicht auf, da zu sein, wenn ich aus dem Zimmer gehe. Ich nehme ihn nicht mehr wahr. Aber ich glaube, daß ich ihn wahrnehmen könnte, wenn ich zurückkehrte, bezw. „daß es keinen Moment gegeben hat, in dem dies nicht der Fall gewesen sein würde". Ich glaube also an die permanente Möglidikeit, ihn wahrzunehmen. Solcher „Wahrnehmungsmöglichkeiten" gibt es unzählige, — entscheidend aber ist, daß sie in die Vorstellung eingehen, die ich von einem Gegenstand habe. „Die Vorstellung, die ich mir
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Positivismus
von der Welt bilde, umfaßt neben den Wahrnehmungen, die ich besitze (feel) . . . die Gesamtheit der Wahrnehmungen, die ich nach früherer B e o b a c h t u n g . . . in diesem Moment erfahren könnte." Mehr noch, — die G r u p p i e r u n g und O r d n u n g der Phänomene hängt von diesen permanenten Wahrnehmungsmöglichkeiten ab: denken w i r an einen Körper, so denken wir nicht an eine bestimmte Einzelwahrnehmung, sondern an eine Mannigfaltigkeit von Wahrnehmungsmöglichkeiten, die „so miteinander verkettet sind, daß die Gegenwart einer von ihnen in ebendemselben Augenblick die mögliche Gegenwart einer anderen oder aller übrigen ankündigt." Und auch in der Ordnung der Aufeinanderfolge wird nicht an einen zeitlichen Zusammenhang bestimmter aktueller Wahrnehmungen gedacht, sondern an einen Zusammenhang zwischen Gruppen p e r m a n e n t e r Wahrnehmungsmöglichkeiten. Unsere Ideen von Kausalität oder Kraft verbinden sich, von wenigen physiologischen Ausnahmen abgesehen, gar nicht mit wirklichen Wahrnehmungen. Das Feuer verbreitet Wärme und erlischt, das Korn reift, — ganz unabhängig von unseren wirklichen Wahrnehmungen. Ja, w i r denken diese selbst als z u f ä l l i g , die Wahrnehmungsmöglichkeiten dagegen als. das eigentlich Reale. Für jede Einzelwahrnehmung ist die ganze Klasse möglicher Wahrnehmungen „ein dauernder Hintergrund", und die Möglichkeiten werden in Relation zu den wirklichen W a h r nehmungen wie eine Ursache zu ihren Wirkungen gedacht, oder wie die Leinwand zu den auf ihre gemalten Gestalten . . . Es versteht sich, daß die Wahrnehmungen Anderer nicht mit unseren identisch sind. Andere Menschen können nicht meine Wahrnehmungen haben. Aber sie können dieselben Wahrnehmungs m ö g 1 i c h k e i t e n haben; w i r denken uns die permanenten Wahrnehmungsmöglichkeiten als uns und anderen gemeinsam. Und dies ist der eigentliche Inhalt des Glaubens an die R e a l i t ä t d e r A u ß e n w e l t : „Die Welt gesetzmäßig aufeinander folgender möglicher Wahrnehmungen ist in anderen Wesen ebenso vorhanden wie in mir: sie hat also eine Existenz außer mir, sie ist eine Außenwelt." Und diese anderen Wesen selbst? Die Frage setzt voraus, daß ich über „midi" etwas weiß oder zu wissen glaube, — eine Vorstellung von meiner „Seele" habe. Eine solche habe ich nur insofern, als ich gewisse Bewußtseinszustände (feelings) miteinander verknüpft denke, auch dann noch, wenn sie mir
Wahrnehmungs- und Bewußtseinsmöglidikeiten
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unmittelbar gegenwärtig sind. „Der Glaube, . . . daß meine Seele existiert, wenn sie weder fühlt, noch denkt, noch sich ihrer eigenen Existenz bewußt ist, löst sich in den Glauben an eine permanente Möglichkeit dieser Zustände auf." Wie unseren äußeren Wahrnehmungen, so fügen wir unseren inneren Wahrnehmungen gleichsam u n e n d l i c h e Bewußts e i n s m ö g l i c h k e i t e n hinzu, die unter bestimmten Bedingungen aktualisiert werden können, . . . als Möglichkeiten aber immer existieren." T r i f f t dies zu, dann w ü r d e n auch die a n d e r en Wesen als Reihen von Bewußtseinszuständen gedacht werden k ö n n e n ; denn nichts hindert mich, zu glauben, daß es noch andere „Aufeinanderfolgen von Bewußtseinszuständen gibt außer denjenigen, deren ich mir b e w u ß t bin, und d a ß diese ebenso real sind wie meine eigenen". Die G r ü n d e f ü r diesen Glauben liegen auf der H a n d : der Schluß von „meinem" K ö r p e r auf die „anderen" Körper, von „meinen" H a n d l u n g e n u n d ihren Ursachen auf die „ f r e m d e n " H a n d l u n g e n und deren Ursachen usw. „ W i r erkennen die Existenz anderer Wesen durch Verallgemeinerung aus der Erkenntnis unserer eigenen: die Verallgemeinerung postuliert nur, d a ß dasjenige, was, wie die Erf a h r u n g zeigt, ein Merkmal der Existenz eines Dinges innerhalb der Sphäre unseres Bewußtseins ist, auch als Merkmal desselben Dinges jenseits dieser Sphäre erschlossen werden darf." N u n aber hat die Lehre von den Bewußtseinsmöglichkeiten eine S c h w i e r i g k e i t . Soll die „Seele" eine Reihe von Bewußtseinszuständen sein, so müßte sie eine Reihe von Z u ständen sein, „die sich ihrer selbst als vergangen und z u k ü n f t i g bewußt sind". U n d wenn wir nicht annehmen wollen, d a ß die Seele etwas von einer Reihe wirklicher oder möglicher Bewußtseinszustände Verschiedenes ist, so müßten wir zugeben, d a ß eine „Reihe von Bewußtseinszutänden" sich selbst als eine Reihe erkennen kann. H i e r stoßen wir nach Mill auf ein Unbegreifliches. Unbegreiflich ist es, wie etwas, das aufgehört hat oder noch nicht wirklich ist, „dennoch in gewisser Weise gegenwärtig sein k a n n " . Unbegreiflich, wie „eine Reihe von Bewußtseinszuständen, deren unendlich größerer Teil vergangen oder z u k ü n f t i g ist, gleichsam in eine einzige gegenwärtige, von einem Glauben an Realität begleitete Vorstellung gesammelt werden k a n n " . Unbegreiflich ist also die I d e n t i t ä t d e s I c h ; und Mills Positivismus schließt mit dem Problem, mit dem der Idealismus einsetzt.
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Positivismus
"Während der erkenntnistheoretische Positivismus bei Mill fest in der englischen Tradition wurzelt (auch hinsichtlich deri Identität des Ich kann sich ja Mill auf ein ähnliches Eingeständnis Humes berufen), ist der d e u t s c h e Positivismus in der mißlichen Lage, sich im Gegensatz zur Tradition zu befinden. Er hat an ihr keinen Rückhalt, und muß zugleich bemerken, daß die idealistische Begriffsbildung von Kant bis Hegel der englischen gerade im Punkt der Bewußtseinsproblematik überlegen ist. Diese unbestreitbare Tatsache — die sich in der englischen Philosophie darin ausspricht, daß man, einmal wirklich mit Kant und Hegel bekanntgemacht, (das geschah in den 70er und 80er Jahren durch die Schriften von T. H.Green, J. H. Stirling und E. Caird), mit großer Energie diesen Vorsprung einzuholen sucht — hat in Deutschland die Folge, daß es zu Theorien kommt, die sich zwischen erkenntnistheoretischem Idealismus und erkenntnistheoretischem Positivismus gleichsam i n d e r S c h w e b e befinden. Um dies zu verstehen, genügt es, sich klarzumachen, daß der Phänomenalismus, der sich auf Wahrnehmungsund Bewußtseinsmöglichkeiten beschränkt, und der Idealismus, der von „Tatsachen des Bewußtseins" ausgeht, jedenfalls diese Beziehung zum Bewußtsein gemeinsam haben. In der Tat ist ja der spekulative Idealismus (bei Reinhold, Maimon, Fichte, s. Bd. I) aus einer „Bewußtseinsphilosophie" hervorgegangen. Und wenn man den Fortgang vom „Immanenten" zum „Transzendenten", von der Bewußtseinsanalyse zur Metaphysik, verbietet, muß eine m e t a p h y s i k f r e i e I m m a n e n z p h i l o s o p h i e geradezu als der Weisheit letzter Schluß erscheinen. Die Beziehungen zu Kant und zum Neukantianismus liegen auf der Hand. Hier aber ist nun der positivistische Einfluß entscheidend: die deutsche Kanttradition wird durch den, wie es scheint, konsequenteren subjektivistischen Standpunkt der Engländer (Berkeley, Hume) ersetzt.
Immanenzphilosophie
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Von den hierher gehörenden Denkern, die sich 1895 zusammentaten, um eine „Zeitschrift f ü r immanente Philosophie" zu begründen, ist Wilhelm Schuppe (1836—1913) der bedeutendste. Er stammte aus B r i e g , studierte wie Cohen in B r e s l a u bei Braniß und in B e r l i n bei Trendelenburg, war erst Oberlehrer, später (seit 1873) Professor an der Universität G r e i f s w a l d . Seine „Erkenntnistheoretische Logik" (1878) steht zu Trendelenburgs „Logischen Untersuchungen" in ähnlichen genetischen und sachlichen Beziehungen wie Cohens „Logik des reinen Denkens". Außer diesem Hauptwerk, einem „Grundriß der Erkenntnistheorie und Logik" (1894) und kleineren erkenntnistheoretischen Arbeiten hat er mehrere rechtswissenschaftliche Schriften verfaßt. Schuppes Immanenzphilosophie ist Analyse des Gegebenen als Bewußtseinsanalyse; sie ist Kategorien- bezw. Denklehre, insofern sie nachweist, daß die gegenständliche Welt aus dem ursprünglich Gegebenen vom Denken bestimmt wird. Das ursprünglich Gegebene ist „beziehungsloses Neben- und Nacheinander der bloßen Empfindungs- oder Wahrnehmungsinhalte", das Denken ist das „ins Bewußtsein-treten" der kategorialen Bestimmtheiten. Wichtigste Aufgabe der erkenntnistheoretischen Logik ist dabei die Untersuchung, wie der Begriff des Individuellen, das „Dingindividuum", zustande kommt, — das Raumding, die Zeitdinge, das Eigenschaftsding, das Ichding usf. Ist die Nähe von Trendelenburgs ontologischer Logik hier überall spürbar, so gibt es doch eine Identität von Denken und Sein bei Schuppe nicht mehr, — oder vielmehr, es gibt sie nur hinsichtlich des B e w u ß t s e i n s . Alles Objektive hat seine Existenz „in der Realität des bewußten Ich"; was auch immer Gegenstand des Wissens sein kann, „fällt unter den Begriff desjenigen, dessen ein Ich sich bewußt ist". Bei dieser Fassung des „Satzes des Bewußtseins" (den natürlich Schuppe nicht zuerst aufgestellt hat) oder des I m m a n e n z p r i n z i p s ist zweierlei zu beachten: erstens, daß Schuppe sich jeder theoretischen Bestimmung des „Ichs" im Sinne einer Wesensanalyse oder Ichdialektik enthält; zweitens, daß er genau wie Mill genötigt ist, den Schritt vom aktuellen Bewußtsein zur Bewußtseins m ö g l i c h k e i t zu machen. „Das ganze Wesen des Ich . . . besteht doch in demjenigen, dessen es sich freilich nicht nur tatsächlich in irgend einem Augenblicke bewußt ist, sondern dessen es sich. . . bewußt werden kann, vielleicht noch bewußt werden wird.* Anders aber als Mill begnügt sich Schuppe nicht mit einer
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Positivismus
permanenten Bewußtseinsmöglichkeit, sondern schaltet hier Überlegungen über den Unterschied von individuellem Bewußtsein und G a t t u n g s b e w u ß t s e i n ein, die in die Richtung des Neukantianismus weisen. Genauer sind es zwei miteinander verbundene Überlegungen. Erstens soll der Versuch, das Bewußtsein in die beiden „Seinsarten", des Subjektseins und des Objekt- oder Bewußtseinsinhaltseins zu zerlegen, vom individuellen Ich auf ein abstrakt-allgemeines Moment „im" individuellen Ich führen. Dieses abstrakte Subjektsein ist aber wie jedes abstrakte Allgemeine nicht Nichts. Sondern es ist das den jeweiligen individuellen Inhalt des Einzelbewußtseins übergreifende B e w u ß t s e i n ü b e r h a u p t . Zweitens soll das die Vielheit der Einzeliche zusammenhaltende Bewußtsein nicht etwas bloß begrifflich-Allgemeines und als solches „Reales", sondern eben das (menschliche) G a t t u n g s b e w u ß t s e i n sein. Daraus ergibt sich, daß wir uns wesentlich nicht durch die Ichheit, sondern durch die Verschiedenheit der Bewußtseinsi n h a 11 e unterscheiden. Auch die Lehre vom Bewußtsein überhaupt als N o r m a l b e w u ß t s e i n (s. Windelband) klingt an, wenn Schuppe sagt: „so weit die Objektwelt normal wahrgenommen und gedacht ist, ist sie bei allen individuellen Bewußtseinen dieselbe." Dieser Bestandteil der Schuppeschen Immanenzphilosophie — der keine zusätzliche Hypothese, sondern ein notwendiger Bestandteil seiner Lehre vom Bewußtsein ist — hat bei anderen Vertretern „immanenter" Philosophie Widerspruch gefunden. Z. B. bei R. v. Schubert-Soldern, der ein Bewußtsein „in abstracto", d. h. abgesehen von allen Daten und ihren Beziehungen, bestreitet, und Schuppes vom „Raumindividuum" ausgehende Individualitätslehre kritisiert. Das „Gespenst", das Schuppe zu bannen suchte, und das er wegen seiner „Gedankenlosigkeit" in die Kinderstube verwies, — dieses Gespenst des S o l i p s i s m u s "wird von SchubertSoldern gründlicher untersucht. In seiner ersten Arbeit (Transzendenz des Objekts und Subjekts 1882) wird der Solipsismus auf die Formel gebracht: „was besteht, bin ich, und ich bin Alles, was besteht." Das sei ein unleugbarer Satz. Was vor einem „vollständigen" (d. h. nicht erkenntnistheoretischen, sondern metaphysischen bezw. praktischen) Solipsismus bewahre, sei die „Gleichberechtigung des fremden Ich mit dem eigenen", und die Eigentümlichkeit des Denkens, immer nur eine Seite des Gegebenen auffassen zu können. In seinem
Schuppe u n d Bergmann
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H a u p t w e r k (Grundlagen einer Erkenntnistheorie 1884) hat er dann die Solipsismuskontroverse weitergeführt. „Einheit des Bewußtseins" ist die einfache zeitliche Einheit, in der Alles: Z u k u n f t u n d Vergangenheit, steht. Das Ich ist mein „eigenes" nur insofern u n d solange ihm ein „erschlossenes" fremdes Ich gegenübersteht, — dem Ich als solchem k o m m t der Gegensatz von Ich und D u nicht zu. Die solipsistische Formel: „alles ist in m e i n e m Ich enthalten", hätte also nur dann Sinn, wenn das ganze Ich im Gegensatz zu dem ihm gegebenen f r e m d e n Ich gedacht wird. Das ist aber unmöglich. Das „Bewußtseinsganze" könnte nur dann „allein existieren", wenn es durch irgendetwas n i c h t in ihm Liegendes charakterisiert würde. Das ist unvollziehbar. Alles liegt in ihm. D a ß die von der Immanenzphilosophie aufgerührte Solipsismusfrage weder von Schuppe noch von Schubert-Soldern zureichend behandelt bezw. gelöst ist, zeigt ihr Weiterwirken in der Gegenwartsphilosophie, in der H. Driesch einen „methodischen Solipsismus" an den A n f a n g seiner „Ordnungslehre" stellt, E. Husserl in seiner „Kritik der logisdien Vern u n f t " einen „transzendentalen Solipsismus" e n t w i r f t , R. Carnap sein „Konstitutionssystem" solipsistisch fundiert. Für die damalige Zeit zeigt es das, Schuppe in vielem verwandte, aber nun ganz und gar nicht mehr „positivistische", sondern an Fichte und Herbart anklingende „System des objektiven Idealismus" von / . Bergmann. Julius Bergmann (1840—1904), der erst in K ö n i g s b e r g , dann (seit 1875) in M a r b u r g im Schatten Cohens lehrte, hat in einer Fülle von Werken zur Logik, Metaphysik und Philosophiegeschichte gleichsam die m e t a p h y s i s c h e G e g e n r e c h n u n g zur Immanenzphilosophie aufgestellt: er zeigt die, in jeder Bewußtseinsphilosophie enthaltene M e t a p h y s i k d e r S u b j e k t i v i t ä t auf, wobei es insbesondere die Reflexion—in— sich des Bewußtseins bzw. die D i a lektik der Subjekt-Objektivität ist, die er Schuppe gegenüber zur Geltung bringt. K a n n Bergmann auch in der Grundansicht seines Systems nichts wesentlich Neues bringen, so ist er doch in Methode und Einzelfragen origineller u n d scharfsinniger als andere seiner Metaphysik treibenden Zeitgenossen. Die Verbindung von Subjektivität, Zeitlichkeit und Denken, die seine durchgreifende Fragestellung bildet, läßt sich hier nicht darstellen. N u r das f ü r Bergmann Charakteristische ist anzudeuten: daß er die „Bewußtseinsreihe" — jene V e r k n ü p f u n g
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Positivismus
von „Bewußtseinszuständen", d¡ e Mili „unbegreiflich" blieb — aus der S u b j e k t - O b j e k t i v i t ä t ableitet. „Inwiefern das Ich das Subjekt seines Bewußtseins ist, setzt es sein Existieren und Sichwahrnehmen über den Zeitpunkt der Gegenwart hinaus fort, und inwiefern es das Objekt seines Bewußtseins ist, ist es das vorher und bis dahin existiert und sich selbst wahrgenommen Habende." M. a. W . : das gegenwärtige aktuelle Ich ist sich selbst als in die Gegenwart e i n t r e t e n d e s Objekt, als aus ihr a u s t r e t e n d e s Subjekt; „es spinnt mit stets rückwärts gewandtem Blick den Faden seines Daseins fort". Die Endkonzeption ist dann die eines u n i v e r s a l e n B e w u ß t s e i n s , das alle individuellen bewußten Wesen als seine Teile in sich faßt, ;,und so unserem Bewußtsein als ein von ihm Unabhängiges gegenübersteht", — eine Vorstellung, wie wir sie bei Lotze fanden, und wie sie sich in ähnlicher Form auch bei Chr. Sigwart (1830—1904) und H. Maier findet.
Für die p o s i t i v i s t i s c h e n Erkenntnist h e o r e t i k e r im engeren Sinne ist jede Rede vom Ich als realer Einheit sinnlos; Erfahrungsimmanenz ist nicht Bewußtseinsimmanenz, — ein universales Bewußtsein, dem die Einzelwesen mit ihren Bewußtseinsinhalten eingelagert wären, ist eine metaphysische Konstruktion. Immerhin gibt es einen Ü b e r g a n g von der Immanenzphilosophie zum Positivismus. Er besteht darin, daß alles Gegebene für ein Wesen gegeben, als Empfindung, Wahrnehmung usw. empfunden, wahrgenommen, erlebt, und jedenfalls „subjektiv" angeeignet werden muß. Geschichtlich zeigt sich dieser Übergang am deutlichsten im K o r r e l a t i v i s m u s von Ernst Laas, der eben davon ausgeht, daß jede Erscheinung „nur als Objekt zu einem wahrnehmenden, vorstellenden Ich denkbar ist: welches Ich freilich selbst,... . seinerseits wiederum nicht ohne Nicht/Ich, nicht ohne Wahrnehmungsobjekt existiert". Die Beziehung zwischen Subjekt und Objekt ist also eine wechselseitige (Korrelation), und sie ist von der Art, daß sie jedes a b s o l u t e Objekt und Subjekt ausschließt: der Korrelativismus ist R e l a t i v i s m u s . Laas (1837—1885, erst Gymnasiallehrer in Berlin, seit 1872
E. Laas
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Professor in Straßburg) hat den Positivismus recht eigentlich t h e m a t i s i e r t : in seinem Hauptwerk (Idealismus und Positivismus I—III 1879—1884; vorher ging eine Arbeit über Kants Analogien der Erfahrung 1876) werden Piaton und Protagoras gegenübergestellt und an ihnen der Gegensatz von Idealismus und Positivismus als ebenso grundsätzlicher wie typischer aufgezeigt. Alles, was der moderne Positivismus lehrt (besonders Hume und Mill), findet sich schon bei Protagoras: die Korrelation von Subjekt und Objekt, die Relativität der Wahrnehmungsinhalte, der Ausgang von den Sinnesgegebenheiten. Die „Uberwindung" des Protagoreismus ist Piaton und allen späteren Idealisten (einschließlich Kant und Herbart) nicht gelungen. Der I d e a l i s m u s steckt voller Vorurteile, die er nicht verifizieren kann. Er stellt die Mathematik in den Dienst der Metaphysik; er erstrebt absolute Erkenntnisse; er fordert eine für die Wirklichkeit und das praktische Handeln geltende Gesetzlichkeit übersinnlichen Ursprungs; er lehrt eine „Spontaneität" des Geistes und gibt dem Geiste eine übersinnliche Bestimmung. Trotz dieser Kritik ist Laas nicht frei von idealistischen Residuen. Sie sind — wenn wir von seiner Ethik absehen, — enthalten in der Lehre vom „Bewußtsein überhaupt". Zwar sind Wahrnehmungen das ursprünglich Gegebene, aber doch eben als Inhalte des jeweiligen Bewußtseinszustandes; und von hier aus kann Laas sagen: „das Allerrealste ist und bleibt für jeden einzelnen die festgegründete, selbstevidente Tatsächlichkeit des in jedem Moment im Bewußtsein Gegenwärtigen". Wobei, da es von zufälligen Inhalten als solchen keine „Evidenz" geben kann, diese die „Selbstevidenz" des B e w u ß t s e i n s betrifft. Und was das „Bewußtsein überhaupt" angeht, das f ü r Laas wie f ü r Schuppe eine so große Bedeutung hat, so ist es allerdings ein formelles und hypothetisches Gebilde, ein Zuordnungs- oder Beziehungspunkt, aber es gehört doch so notwendig in den Ansatz des Korrelativismus, daß weder Objektivität noch Realität ohne es zu denken sind. Die objektive Welt „wird als Inhalt eines von aller individuellen Stimmung gereinigten Bewußtseins, eines allgemein menschlichen, eines B e w u ß t s e i n s ü b e r h a u p t gedacht". Mit anderen Worten: wenn jede Erscheinung nur als Objekt eines Subjekts denkbar ist, muß auch dort, wo wir Erscheinungen nicht mehr auf unser individuelles Ich beziehen, die Subjektbezogenheit erhalten bleiben und ein überindividuelles Subjekt an Stelle unseres Lehmann, Gesch. d. Phil. I X
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individuellen gesetzt werden, — nicht als (metaphysischer) T r ä g e r oder Schöpfer, w o h l aber als G a r a n t der O b j e k t i v i t ä t . Dieser Schritt ist notwendig, weil wir sonst nicht von R e a l i t ä t im Sinne der Unabhängigkeit vom individuellen Bewußtsein sprechen könnten: „Die ponderablen und imponderablen Materien oszillieren vor einem Bewußtsein ü b e r h a u p t im absoluten Raum, u n d ihr Rhythmus bestimmt sich nach Einheiten der absoluten Zeit . . . Sie werden e r f a ß t von dem Verstände der reinen mathematischen Imagination". In Rickerts Lehre vom „transzendentalen Subjekt" sind die idealistischen Bestandteile dieses Bewußtseinsbegriffes herausgearbeitet u n d erkenntnistheoretisch bestimmt worden. Auch Natorps „methodischer" Korrelativismus (s. o.) ist von Laas abhängig.
Einen ganz anderen Boden betreten wir mit der Philosophie von Richard Avenarius. An Avenarius und Mach (der ihm nahekommt, ohne jedoch ein selbständiger Systematiker zu sein) schließen sich die meisten im engeren Sinne positivistisch zu nennenden E r k e n n t nistheoretiker an (z. B. ]. Petzoldt, H. Kleinpeter, Th. Ziehen, R. Wahle u. a.), die, vom psychophysischen Grundproblem ausgehend, einen strengen M o n i s m u s der Erfahrung vertreten. U n d zwar auf Grundlage des sogen. n a t ü r l i c h e n W e l t b e g r i f f s , der den Gegensatz von „innerer" und „äußerer"Erfahrung nicht kennt. Dieser Gegensatz soll sich vielmehr als Verfälschung und Aufspaltung des natürlichen Weltbegriffs ergeben. Er soll bedingt sein durch die (von Avenarius so genannte) I n t r o j e k t i o n , die Hineinlegung eines subjektiven Faktors in das Gegebene. Die dadurch hervorgebrachte „Variation" des natürlichen Weltbegriffs, vom primitiven Seelenglauben bis zur modernen (introspektiven) Psychologie, muß r ü c k g ä n g i g gemacht, der natürliche (monistische) Weltbegriff muß restituiert werden. Die Reinigung der Erfahrung von allen subjektiven Zutaten ist K r i t i k der E r f a h r u n g , und Avenarius bezeichnet seinen Standpunkt als E m p i r i o k r i t i z i s m u s , wobei er beansprucht, Kant, den „größten kritischen Philosophen", fortzusetzen.
R . Avenarius
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Richard Avenarius, 1843 in Paris geboren, habilitierte sich nach Studien in Zürich, Berlin und Leipzig 1876 in Leipzig und wurde 1877 Ordinarius für induktive Philosophie in Zürich, wo er 1896 starb. E r ist durch Drobisch (s. Bd. I ) vom Herbartianismus beeinflußt und auch von Steinthals „Völkerpsychologie". Sein erster Versuch galt der Interpretation Spinozas (Über die beiden ersten Phasen des Spinozischen Pantheismus 1868), dessen Monismus, verbunden mit Herbarts Vorstellungslehre und einer mechanistischen Physiologie, seine eigene Philosophie bestimmt. Diese ist enthalten in der zweibändigen „Kritik der reinen Erfahrung" ( 1 8 8 8 — 1 8 9 0 ) , der er (1876) die kleine Schrift „Philosophie als Denken der Welt gemäß dem Prinzip des kleinsten K r a f t m a ß e s " voraufgeschickt hatte. Es folgte noch (1891) die z. T vor der „ K r i t i k " geschriebene Arbeit „Der menschliche Weltbegriff", in welcher der Empiriokritizismus in lesbarerer Form dargestellt ist als in dem terminologisch überlasteten und mit mathematischen Konstruktionen beschwerten Hauptwerk. Avenarius war von schwächlicher Gesundheit und erlag früh einem Ubermaß von gedanklicher Anstrengung. „Seltene Energie des Denkens im Verein mit künstlerischem Interesse und eine offene, milde Gesinnung sind die Hauptzüge des Bildes, das alle, die zu ihm in persönliche Beziehung traten, im Gedächtnisse aufbewahren" (Hoffding). D a s im „ D e n k e n der W e l t " behandelte, auch v o n a n d e r e n Positivisten (Mach, Ostwald) und vor Comte selbst hervorgehobene Ö k o n o m i e p r i n z i p des Denkens, w o n a c h die „Seele" (den Begriff v e r w a n d t e Avenarius d a m a l s noch) m i t den geringsten M i t t e l n die g r ö ß t e n Leistungen z u erreichen sucht, u n d w o n a c h das D e n k e n als begriffliches, indem es viele E i n z e l h e i t e n unter einen Begriff bringt, d e m P r i n z i p des „kleinsten K r a f t m a ß e s " f o l g t , — dieser A n s a t z h a t f ü r die K r i t i k der reinen E r f a h r u n g keine g r o ß e B e d e u t u n g , w e n n er auch f o r m a l in sie einbezogen ist. E i n e B e d e u t u n g h a t er d a g e g e n für die M o t i v a t i o n des Avenariusscken Philosophierens, insofern es ein N a c h d e n k e n über den Sinn der p h i l o s o p h i s c h e n P r o b l e m a t i k als solcher ist. H. Hoff ding, der diese Seite des Empiriokritizismus in den Vordergrund stellt, spricht von einer „Naturgeschichte der Probleme", d. h. der Aufgabe, die philosophische Problematik s>
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„rein naturgeschichtlich" zu studieren. Gemeint ist, daß das Problem, wo immer es auftritt, als Zeichen eines gestörten Gleichgewichts, einer V i t a l d i f f e r e n z auftritt. Als ungelöstes erregt es Unlust, und diese Unlust deutet auf eine S p a n n u n g im Leben. Das Individuum ist seiner Umgebung entfremdet; äußerer Reiz und K r a f t a u f w a n d kommen nicht zum Ausgleich, d. h. entweder ist der Reiz unverhältnismäßig größer als die verfügbare Energie oder umgekehrt. Ruhe und Sicherheit, völlige Angepaßtheit des Individuums an seine Umgebung, — darin besteht das v i t a l e E r h a l t u n g : m a x i m u m , dem alle Entwicklung zustrebt, •und dem auch dasjenige entspricht, was wir Problemlösung nennen. Bezeichnen wir die der Beseitigung von Vitaldifferenzen dienenden Vorgänge als V i t a l r e i h e n , und unterscheiden wir die biologisch-organischen „Lösungsprozesse" von den Aussagen eines Individuums über seine Zustände während der „Problematisation", so ist ersichtlich, daß die beiden Vitalreihen in f u n k t i o n e l l e m Verhältnis zueinander stehen: die eine ist unabhängig, die andere abhängig, und zwar ist unabhängig (von unseren Aussagen) die biologisch-organische Vitalreihe, die sich auf die Erhaltung des Zentralnervensystems ( S y s t e m C) bezieht, abhängig (vom Zentralnervensystem bzw. Gehirn) die subjektive Vitalreihe, die sich in den Aussagen des Individuums über seine Zustandsänderungen ausdrückt. Wollen wir nun die E r k e n n t n i s t h e o r i e mit diesem Ansatz verbinden, so ist klar, daß sich für Avenarius die p o s i v i s t i s c h e Forderung, gegebene Tatsachen zu beschreiben, die Welt zu begreifen, wie sie ist, mit der b i o l o g i s c h e n Voraussetzung, daß alles Erkennen lebenserhaltend ist (und alle Erkenntnisaussagen abhängige Vitalreihen sind) verknüpft, daß also seine Erkenntnistheorie eine b i o 1 o g i s c h - p o s i t i v i s t i s c h e ist. Wenn das Erkennen vom System C abhängt, das wiederum äußeren Reizen, dem Stoffwechsel und anderen ständigen Änderungen (Systemschwankungen) unterworfen ist, kann es natürlich nicht beanspruchen, die Wirklichkeit an sich oder irgendwelche Transzendenzen zu bestimmen. Es kann nicht auf A b s o l u t e s gerichtet sein. Es wird vielmehr, wenn es diesen Anspruch erhebt, seine eigentliche Leistung: die genaue Wiedergabe des Gegebenen bzw. der „Erfahrung", verfälschen. Dieser Verfälschungsprozeß ist recht eigentlich Inhalt der Philosophiegeschichte, und seine Aufdeckung — die dann also das „Problem" der
Empirikritizismus
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Philosophie löst — die Aufgabe der K r i t i k . Wenn Avenarius nun den Versuch macht, das „ n a t ü r l i c h e W e l t b i l d " zu restituieren, so bedeutet dies, den Standpunkt der „reinen Erfahrung", von dem aus allein es so etwas wie „Erkenntnis" geben kann, als bereits vorhandenen und in der Wissenschaft nur nadizuvollziehenden aufzuweisen. Es ist dies, wenn man es geschichtlich oder völkerpsychologisch nehmen wollte, eine Fiktion. Aber darauf kommt es nicht an. Sondern darauf, hier wirklich so etwas wie eine „Phänomen" zu sehen, das durch Erklärungen und Deutungen verdeckt ist, dem unbefangenen Blick jedoch offen liegt. Dies Phänomen ist ganz einfach die W a h r n e h m u n g bzw. Erfahrung, wie sie sich uns jederzeit „gibt". Wenn wir von unseren oder anderen Wahrnehmungen sprechen, so sind es stets Beziehungen oder K o o r d i n a t i o n e n , die wir meinen: „jedem konkreten Ich ist ein spezielles Nicht-Ich, jedem konkreten Nicht-Ich ein spezielles Ich zugeordnet." Das nennt Avenarius die empirokritische Prinzipialkoordination. Wichtig ist, was die Prinzipialkoordination n i c h t besagt, ja geradezu aussschließt: daß die Wahrnehmung Bewußtseinsinhalt ist, „im" Bewußtsein liegt. Der Baum, den ich sehe, ist ein Vorgefundenes oder Gegebenes, aber er liegt nicht „in" mir als Gesehenes. Er ist als wahrgenommener Baum Bestandteil meiner Umgebung, nicht Bestandteil meines Ich. Sollte er jenes und dieses zugleich sein, so würde er v e r d o p p e l t bzw. aufgespalten, und wir würden in „erkenntnistheoretische" Schwierigkeiten geraten, die immer neue Voraussetzungen erfordern und doch unlösbar sind. Schließt die Prinzipialkordination den S a t z d e r I m m a n e n z (als Bewußtseins-, nicht Erfahrungsimmanenz) aus, so schließt er andererseits auch jede T r a n s z e n d e n z aus, im Sinne des transzendentalen Realismus. Aussagen über Gegebenes ohne Berücksichtigung der Prinzipialkoordination sind keine Erkenntnisse, sondern Behauptungen, die auf ebensoviele Schwierigkeiten führen wie die „idealistischen". Der Empiriokritizismus ist n e u t r a l gegenüber Idealismus und Realismus; er hat seinen Standort d i e s s e i t s von beiden. Er ist auch neutral gegenüber der Unterscheidung des „Physischen" vom „Psychischen". Er kennt nur wahrgenommene Sachen, nicht „Seelen" und „Körper". Erst die I n t r o j e k t i o n erzeugt diesen Dualismus. „Die Sachen hatte ich vor mir wahrgenommen; nun aber wird aus diesem „vor mir"
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ein „in mir", aus dem Vorgefundenen ein Vorgestelltes, aus der Sache eine Empfindung, Wahrnehmung oder Vorstellung. Sache und Wahrnehmung treten damit auseinander, und zu den Wahrnehmungen im Innern des Menschen wird auch ein Träger derselben (Seele, Geist, Bewußtsein) in den Menschen hineingelegt." Meint man, durch die Zuordnung der Umgebungsbestandteile zum „System C " werde doch einer materialistischen Psychologie Vorschub geleistet, so würde das nur bei Annahme der Introjektion zutreffen. Mit allem Nachdruck macht Avenarius geltend, daß das Gehirn kein Wohnort, kein Sitz oder Erzeuger, kein Instrument oder Organ, Träger oder Substrat des Denkens, und das Denken kein „Bewohner" des Gehirns ist. Wie aber verhält es sich mit dem Problem des F r e m d s e e l i s c h e n ? Es ist nach Avenarius gewissermaßen verantwortlich für die ganze „Variation" des natürlichen Weltbegriffs durch die Introjektion. Das fremde Ich gehört sicherlich zu dem, was man „erfährt" (indessen gibt es nach Avenarius zwei Begriffe von „Erfahrung": die a n a l y t i s c h e E r f a h r u n g ist alles als „Erfahrung" Ausgesagte; die s y n t h e t i s c h e Erfahrung ist die auf die „Elemente" zurückgeführte bzw. aus ihnen aufgebaute Erfahrung). Nimmt man die Aussagen des Mitmenschen als das, was sie sind, so bleibt der Mitmensch Gegenglied einer Prinzipialkoordination, wie anderes Vorgefundenes auch. Versetzt man jedoch den Inhalt seiner Aussagen i n i h m h i n e i n , so entsteht mit der Introjektion das „Problem" des Fremdseelischen. Der Wahrnehmungsinhalt (das Haus oder der Baum als Umgebungsbestandteile eines Individuums) „ist" jetzt zugleich in der Außen- und Innenwelt. Alles, was ich vorfinde und wahrnehme, lege ich als wirklichen oder möglichen Wahrnehmungsinhalt in die „Seele" des Anderen hinein, und der Andere verfährt mit mir ebenso. Ohne weiter auf die D i a l e k t i k d e r Introjekt i o n einzugehen — um eine solche handelt es sich bei Avenarius in der T a t —, ist nur noch anzudeuten, wie sich der Empiriokritizismus zu Kant verhält. Erscheint es auch, von Äanrischen Voraussetzungen, wie ein Hohn auf die Vernunftkritik, wenn Avenarius von ihr auszugehen behauptet, so sieht er es doch so, daß Kant die „Reinigung" der Erfahrung (nämlich von metaphysischen und realistisch-dogmatischen Voraussetzungen) gleich ihm unternommen, aber darin nicht weit genug fortgeschritten sei. Insbesondere sollen die
Die Introjektion
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„apriorischen Verstandesbegriffe" ein „Zusatz" zur reinen Erf a h r u n g sein, den Kant noch stehen gelassen habe.
Z w a r hat Avenarius (ab 1877) mit Heime, K. Göring und Wundt die Vierteljahrsschrift f ü r wissenschaftliche Philosophie herausgegeben und in ihr mehrere kleinere Arbeiten veröffentlicht; aber größeren Einfluß hat er auf die Zeitgenossen nicht gehabt, und die wenigen, die seine „Kritik" studierten (unter ihnen der Charakterologe Otto Weininger, 1880—1903, dessen „Geschlecht und Charakter", 1903, eine von den „Elementen" des Männlichen und Weiblichen in jedem Menschen ausgehende Sexualitätstheorie enthält), interpretierten ihn verschieden. Im Gegensatz dazu ist Ernst Mach von vornherein als Popularisator der Naturwissenschaften zur Philosophie gelangt. Seine leichtgeschürzten, glänzend geschriebenen, humorvollen und lebendigen Schriften, die einen besonderen Arbeitsaufwand nicht verlangen 1 ), haben ihm schnell die Gunst des Publikums erobert. U n d auch die der Physiker, die sich philosophisch orientieren wollten. Der „Machismus" ist so zu einer beachtenswerten Zeitströmung geworden, — zu einem Bestandteil jener m o n i s t i s c h e n Weltanschauung, die sich von Häckel und Ostwald bis zu Mach und seiner Schule erstreckt, und deren W i e n e r Kolorit das eines gewissen wohlgemuten Sozialismus ist, wie er sich in Popper-Lynkeus' „Recht zu leben" (1878) und in A. Mengers „Neuer Staatslehre" (1902) ausspricht. Ernst Mach, 1838 in T u r a s (Mähren) geboren (sein Vater w a r Lehrer) studierte und habilitierte sich in Wien (1861). 1864 w u r d e er Professor f ü r Physik in Graz, drei J a h r e danach in Prag. 1895 erhielt er in Wien einen L e h r a u f t r a g f ü r induktive Philosophie. 1901 t r a t er aus Gesundheitsgründen zurück und w u r d e Mitglied des Herrenhauses; 1916 ist er in der N ä h e von München gestorben. Die meisten seiner Schriften, Aufsätze und Akademieabhandlungen sind n a t u r wissenschaftlichen Inhalts, so die Mechanik (1883) und die Prinzipien der Wärmelehre (1896), auch die psychologischen Arbeiten (Grundlinien der Lehre von den BewegungsD a s b e z i e h t sich n a t ü r l i c h n u r auf d i e p h i l o s o p h i s c h e n S c h r i f t e n
Muchs.
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Positivismus
empfindungen 1875 u. a.), — gilt ihm doch die Psychologie von vornherein als Naturwissenschaft. Zur eigentlichen Philosophie äußert er sich in der „Analyse der Empfindungen" (1886), in „Erkenntnis und Irrtum" (1905), und in den Populärwissenschaftlichen Vorlesungen (1896). Diese Bücher sind Zusammenstellungen von Aufsätzen, die ebenfalls zumeist physikalisch-psychologische Fragen behandeln. „Erkenntnis und Irrtum" ist Hume, Avenarius und Schuppe gewidmet. Sein Verhältnis zu Avenarius bringt Mach auf den Ausdrude, daß dieser von einer „realistischen", er selbst von einer „idealistischen" Phase ausgegangen sei. Auch sonst betont er öfter seinen idealistischen Ausgangspunkt. Mit 15 Jahren habe er Kants Prolegomena gelesen. „Diese Schrift hat damals einen gewaltigen unauslöschlichen Eindruck auf mich gemacht, den ich in gleicher Weise bei späterer Lektüre nie mehr gefühlt habe." In seinen eigenen Schriften sucht man jedoch vergebens nach den Spuren . dieses Eindrucks. Anders ist es mit dem Einfluß Fechners, auf den er ebenfalls verweist. „Ich madie keinen Anspruch auf den N a m e n eines Philosophen. Ich wünsche nur in der Physik einen Standpunkt einzunehmen, den man nicht sofort verlassen muß, wenn man in das Gebiet einer anderen "Wissenschaft hinüberblickt." Diese andere Wissenschaft ist die S i n n e s p h y s i o l o g i e bzw. Psychophysik. U n d sein Problem ist es, die „Brücke zwischen der Physik im weitesten Sinne und der naturwissenschaftlichen P s y chologie" zu finden. Offenbar ist der Ubergang von der Physik zur Psychologie am leichtesten, wenn man die Verschiedenheit des Physischen und des Psychischen leugnet: er liegt dann bloß in der Me t h o d e zweier Wissenschaften, die einen gemeinsamen Gegenstand haben. Das behauptet Mach in der T a t . D a in der „sinnlichen Sphäre meines Bewußtseins" jedes Objekt zugleich physisch und psychisch ist, und die Körper, die ich w a h r nehme, nichts als Empfindungskomplexe sind, so gibt es doch wohl gewisse „Elemente", die ich im Hinblick auf bestimmte „Befunde" p h y s i s c h , im Hinblick auf andere p s y c h i s c h nennen kann.
E. Mach
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Mach erzählt, wie ihm dies zuerst einfiel. „ A n einem heiteren Sommertage im Freien erschien mir einmal die Welt samt meinem Ich als eine zusammenhängende Masse von Empfindungen, nur im Ich stärker zusammenhängend." D a s könnte i m m a n e n z p h i l o s o p h i s c h bzw. subjektiv-idealistisch verstanden werden; es ist aber bei Mach nicht so zu verstehen. Zwar weist er Kants „Erfindung" des Dinges an sich mit Entschiedenheit ab, ebenso sehr aber ein Ich an sich. „Ding und Ich sind provisorische Fiktionen gleicher A r t . " Wollte man das Ich „als eine r e a l e Einheit ansehen, so käme man nicht aus dem Dilemma heraus, entweder eine Welt von unerkennbaren Wesen demselben gegenüberzustellen (was ganz müßig und ziellos wäre), oder die ganze Welt, die Ich anderer Menschen eingeschlossen, nur als in unserem Ich enthalten anzusehen (wozu man sich ernstlich schwer entschließen wird)." Was sind also die „Elemente"? Es sind nicht einfach „Empfindungen", sondern es sind diejenigen Bes t a n d t e i l e der E r s c h e i n u n g e n , die, mit bestimmten Vorgängen des Leibes verbunden und durch dieselben bedingt, Empfindungen genannt werden. Sehen wir von dieser Verbindung ab, so bleibt noch eine „mannigfaltige, allseitige Abhängigkeit der Elemente voneinander." Die Physik hat es mit Körpern zu tun. Gewiß. Aber was sind die Körper, wenn wir im Bereich der Erfahrung bleiben? Nichts als E l e m e n t e n k o m p l e x e : Kombinationen aus Farben, Tönen, Räumen, Zeiten usw. D a ß die Farben, die wir sehen, von Körpern v e r u r s a c h t e Empfindungen sind, ist ja bereits eine Konstruktion. „Ursachen" gibt es überhaupt nicht, sondern nur gesetzmäßige Zusammenhänge, die wir beschreiben. Die Physik ist eine d e s k r i p t i v e Wissenschaft. Natürlich beschreiben wir in ihr anders als in der Psychologie. Aber der Stoff ist derselbe. U n d dieser Stoff sind die „Elemente". Erkenntnistheoretisch begründet hat Mach seinen Standpunkt nicht. Er hat ihn nur zur Geltung gebracht und ver-
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Positivismus
teidigt. Von entscheidender Bedeutung ist der I c h begriff, den Mach einerseits völlig bagatellisieren möchte, den er aber andererseits zur Verbindung seiner Elemente braucht. „ D i e selben Elemente hängen in vielen V e r k n ü p f u n g s punkten, den Ich, zusammen. Diese V e r k n ü p f u n g s p u n k t e sind aber nichts Beständiges. Sie entstehen, vergehen und modifizieren sich f o r t w ä h r e n d " . Relativ beständig ist das Ich als leibgebundener Erinnerungs-, Gefühls-, Stimmungskomplex. (Gelegentlich bezeichnet er es wohl auch als „psychischen Organismus"). Wie ein solcher „Komplex"denken, wollen, sich selbst bewußt haben kann, w i r d nicht gesagt. B e w u ß t s e i n ist ja nach Mach keine besondere Qualität, sondern nur ein „besonderer Zusammenhang von Qualitäten". Wille ist nur eine „besondere Form des Ergreifens der temporär erworbenen Assoziationen in dem voraus gebildeten festen Mechanismus des Leibes". V o r s t e l l u n g e n sind „Erinnerungsspuren älterer Empfindungserlebnisse", die sich z w a r von den Empfindungen durch größere Flüchtigkeit u n d durch die Art ihrer V e r k n ü p f u n g unterscheiden, im übrigen aber keine neue A r t von Elementen sein sollen. Die Elemente bilden das Ich; aber die Bewußtseinselemente e i n e s Individuums sind mit denen eines anderen verwoben, —• Bewußtseinsinhalte von allgemeiner Bedeutung durchbrechen die Schranken des Individuums „und f ü h r e n , natürlich wieder an Individuen gebunden, unabhängig von der Person, durch die sie sich entwickelt haben, ein allgemeines, u n p e r s ö n l i c h e s , ü b e r p e r s ö n l i c h e s Leben f o r t . " Wie Comte kann daher Mach sagen: „Das Ich ist u n r e t t b a r " . U n d die Frage nach dem S u b j e k t der Empfindungen u n d Empfindungszusammenhänge kann er als Rückfall in einen „älteren, . . . beschränkteren" S t a n d p u n k t bezeichnen, weil hier ein u n a n a 1 y s i e r t e r Ichkomplex, d . h . eine noch nicht in ihren Bedingungen erkannte vermeintliche Erlebnistatsache, zugrundegelegt werde. Z w a r trägt das eine seiner Bücher den T i t e l : Erkenntnis und Irrtum. Aber von Erkenntnis selbst ist hier n u r in b i o l o g i s c h e r Hinsicht die Rede. Eine Erkenntnis „ist stets ein uns unmittelbar oder doch mittelbar biologisch förderndes psychisches Erlebnis". Erkenntnis u n d I r r t u m haben denselben U r s p r u n g ; nur der „Erfolg vermag beide zu scheiden." Dieselben Funktionen, dieselben Ablaufsregeln f ü h r e n einmal zur Erkenntnis, das andere Mal zum I r r t u m . N i m m t man hierzu noch das ö k o n o m i s c h e P r i n z i p in „Beobachtung" und „Theorie" — wonach die Beobachtung ( = Deskription) Er-
Die A n a l y s e der Elemente
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fahrung „ersparen", und die Theorie als „Anpassung der Gedanken aneinander" erst recht unser „logisch-ökonomisches Bedürfnis", mit möglichst Wenigem (der „geringsten Zahl einfachster unabhängiger Urteile") auszukommen, befriedigen soll —, so hat man das Wesentliche beisammen, wodurch Mach die Erkenntnistheorie bereicherte. Muchs A n a l y s e der „Elemente" ist eine A n a l y s e ohne A n a l y s a t o r und ohne W e r k z e u g , ohne Subjekt und ohne K a t e g o r i e n , eine Erlebnisatomistik ohne A k t und Gegenstand, ein Empfindungsimpressionismus ohne Realitätsbezug, — sein Positivismus ist ein Positivismus ohne „Tatsachen", die Knochenerweichung des Positivismus. U n d d a r u m ein Abschluß. D e r N e o p o s i t i v i s m u s , so sehr er sich auf Mach b e r u f t , m u ß t e neue W e g e suchen, — sowohl im Begrifflichen (Logistik) als auch im Gegenständlichen (Konstitutions- bezw. S t r u k t u r t h e o r i e der Wirklichkeit). Literatur I. Allgemeines P. BARTH, Die Philosophie der Geschichte als Soziologie. Leipzig 1897. — J . B A U M A N N , Deutsche und außerdeutsche Philosophie der letzten Jahrzehnte, Gotha 1903. — R. ETTINGER - REICHMANN, Die Immanenzphilosophie. Göttingen 1916. — R . F A L C K E N B E R G , Geschichte der neueren Philosophie. Leipzig 1885. — L. G R U N I C K E , Der Begriff der Tatsache in der positivistischen Philosophie des 19. Jahrhunderts. H a l l e 1930. — H . H Ö F F D I N G , Einleitung in die englische Philosophie der Gegenwart. Leipzig 1889; Geschichte der neueren Philosophie Bd. II, 1896; Moderne Philosophen (Vorlesungen 1902), deutsch von BENDIXEN. Leipzig 1905. — H. K L E I N P E T E R , Kantstudien 1903; Die Erkenntnistheorie der Naturforschung der Gegenwart. Leipzig 1905; Der Phänomenalismus 1913. — R . K Ö N I G , Die naturalistische Ästhetik in Frankreich und ihre Auflösung. Borna-Leipzig 1931. — E. T R O E L T S C H , Die D y n a m i k der Geschichte nach der Geschichtsphilosophie des Positivismus. Berlin 1919. — F. Ü B E R WEG, Grundriß der Geschichte der Philosophie. V . T e i l : Die Philosophie des Auslandes. 12. A u f l a g e . Berlin 1928. ( T r . K. OESTERREICH).
124
Positivismus
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F. BLASCHKE. Leipzig
1923;
Soziologie
(ed. DORN)
I—III 2. Aufl. Jena 1923; Entwurf der wissenschaftlichen Arbeiten, welche für eine Reorganisation der Gesellschaft erforderlich sind (ed. W. OSTWALD). Leipzig 1914; Abhandlung über den Geist des Positivismus, deutsch von F. SEBRECHT. Leipzig 1915. L i t e r a t u r : H. GRUBER, S. J., A. Comte. Freiburg 1889; Der Positivismus. Stimmen aus Maria-Laach, Erg. Bd. XIII 1891.— LEVY-BRUHL, Die Philosophie A. Comtes (deutsch von MOLENAAR). Leipzig 1902. — G. MEHLIS
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Ernst
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V.
Wissenschaftssynthese Der Positivismus ist nicht allein nach seiner Erkenntnistheorie zu beurteilen. U n d nicht allein als analytische Philosophie, d. h. als Zergliederung des Gegebenen, der Erfahrung, der Empfindungen oder Elemente. Zu dieser gewiß vorhandenen und starken analytischen Tendenz tritt von Anfang an eine s y n t h e t i s c h e . Comtes Wissenschaftssystematik will das Ganze der Erkenntnis aus der Verbindung der Einzelwissenschaften und ihrer allgemeinen Ergebnisse gewinnen. Comtes Wissenschaftstheorie ist nicht bloß Klassifikation der Wissenschaften, sondern W i s s e n s c h a f t s s y n t h e s e . Und das Mittel zu dieser Synthese ist das Dreistadiengesetz als E n t w i c k l u n g s g e s e t z , — die Ordnung der W i s -
Begriff der Wissenschaftssynthese
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senschaften bestimmt sich nach den Gesetzen der Entwicklung des menschlichen Geistes. Sie bestimmt sich also nicht nur nach den physischen Tatsachen. Allerdings entspricht Comtes Vorstellung von der Ordnung der Erkenntnisse jener Idee einer „natürlichen" Ordnung, die das Denken der A u f k l ä r u n g beherrscht; der esprit positif entspricht dem esprit systématique Condillacs und der Enzyklopädisten. Aber für Comte ist die natürliche Ordnung der Wissenschaften zugleich eine g e s c h i c h t l i c h e , — das unterscheidet ihn von der Aufklärungsphilosophie und nähert ihn der Wissenschaftsphilosophie des deutschen Idealismus. Der Begriff Wissenschaftssynthese, den w i r damit einführen, hat s a c h l i c h die Bedeutung, daß die Einzelwissenschaften hinsichtlich ihrer Methoden und Ergebnisse nicht nur koordiniert werden müssen — das ergibt sich aus dem Verhältnis von theoretischen und t e c h n i s c h e n Disziplinen ohne weiteres; denn die technischen Disziplinen haben stets eine Vielheit heterogener theoretischer Voraussetzungen —, sondern daß sie grundsätzlich miteinander zu v e r b i n d e n sind, und z w a r nicht nur zum Zwecke der Objektbestimmung, sondern um neue Gegenstandsbereiche und Erkenntnisinhalte zu erschließen. Jede Wissenschaftssynthese ist eine konstruktive Leistung und überschreitet auf alle Fälle die Grenzen derjenigen Einzelwissenschaft, von der aus sie erfolgt. H i s t o r i s c h hat der Begriff Wissenschaftssynthese eine grundlegende Bedeutung insbesondere fär die Wissenschafts- und Philosophiegeschichte im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts. Das 19. Jahrhundert ist das Jahrhundert der Einzelwissenschaften. Aber es ist auch das Jahrhundert der Wissenschaftssynthese. Die Philosophie hat an beidem Anteil. Sie ist einerseits selbst Fachwissenschaft (Erkenntnistheorie, Wissenschaftstheorie). Andererseits w i l l sie, wie Wundt einmal definiert, die „allgemeine Wissenschaft" sein, „welche die durch die Einzelwissenschaften
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Wissenschaftssynthese
vermittelten allgemeinen Erkenntnisse zu einem widerspruchslosen System zu vereinigen hat." Im 19. Jahrhundert hat sich die Arbeitsteilung der Wissenschaften sehr viel weiter gebildet als im 18. Jahrhundert. Eine Fülle neuer Disziplinen ist entstanden; der wissenschaftliche Betrieb ist ungleich verwickelter und unübersichtlicher geworden. Noch mehr: es ist zu Gegensätzen und tiefgreifenden K o n f l i k t e n gekommen, die sich zuletzt auf den Anspruch gewisser Grundwissenschaften (mathematische Physik, Biologie, Psychologie, Geschichte bezw. Geisteswissenschaft) zurückführen, den eigenen Horizont zu verallgemeinern und die eigene Methode auf andere Gegenstände anzuwenden. Diese Konflikte zeigen sich in den häufigen M e t h o d e n s t r e i t i g k e i t e n gegen Ende des Jahrhunderts. In ihnen zeigt sich doch aber auch der Drang, über die Relativität fachwissenschaftlicher „Standpunkte" hinauszukommen. Denn weit entfernt davon, bloß innerwissenschaftliche Bedeutung zu haben, sind die Methodenstreitigkeiten von p h i l o s o p h i s c h e r und w e l t a n s c h a u l i c h e r Bedeutung. Die philosophische Problematik, als solche von den Einzelwissenschaften ignoriert, bricht in diesen selber auf. Umgekehrt kann die Überwindung des einzelwissenschaftlichen Relativismus durch die Philosophie nur in der Form der „ W i s s e n s c h a f t s p h i l o s o p h i e " erfolgen, d. h. nicht in der Form einer reinen Philosophie, die ihre Gegenstände unmittelbar aus Wirklichkeit und Leben empfängt. Sind sich darin im allgemeinen die Schulen und Richtungen innerhalb der Philosophie einig — denn auch dort, wo es, wie im erkenntnistheoretischen Positivismus und in der Immanenzphilosophie, zum Anschluß an den sogen, n a i v e n R e a l i s m u s , d. h. an das vorwissenschaftliche Weltbild einer angeblich unmittelbaren Wirklichkeitsauffassung kommt, will man doch eben diesen „Realismus" mit den Mitteln der exakten Wissenschaften klären bezw. begründen —, so sind doch diejenigen Systeme, die es ausdrücklich mit wisscnschaftsynthetischen Aufgaben zu tun haben, keiner dieser Schulen oder
Begriff der Wissenschaftssynthese
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Richtungen einzuordnen. Wissenschaftsphilosop h i e ist so ziemlich die ganze Philosophie im letzten Drittel des Jahrhunderts, P h i l o s o p h i e a l s W i s s e n s c h a f t s s y n t h e s e ist dagegen eine typische F o r m des konstruktiven, materialdurchdringenden, ganz und gar inhaltlich gerichteten und durch besondere ideelle Voraussetzungen nicht zu bestimmenden Philosophierens. Entscheidend ist vor allem, daß die „ Wissenschaf tssynthetiker" nicht ü b e r die Wissenschaften denken, sondern i n ihnen. D a s bedeutet, daß sie ungeheure Stoffmassen verarbeiten und die wesentlichsten Verfahren der exakten Wissenschaften beherrschen. E s bedeutet ferner, daß es bei ihnen eben auf diese L e i s t u n g und auf d i e s e spezielle A r t von System, nicht auf die philosophischen Prinzipien als solche ankommt. (Beachtet man das nicht, so erscheinen sie leicht als E k l e k t i k e r ) . D a ß es also nicht wesentlich ist, ob sie idealistische, realistische, empiristische oder positivistische Ausgangspunkte haben, ob sie verkappte oder offene M e t a p h y siker sind, mit einer Metaphysik anfangen oder erst mit einer Metaphysik enden. Für eine katalogisierende Philosophiegeschichte ist das natürlich erschwerend; w o soll man sie unterbringen und auf welche Vorgänger soll man sie beziehen? Für ein wirklich g e s c h i c h t l i c h e s Verständnis des ausgehenden 19. Jahrhunderts ist es aber erforderlich, die. Philosophie als Wissenschaftssynthese nach ihren besonderen Merkmalen von den anderen D e n k f o r m e n zu unterscheiden. Denn erstens w i r d gerade an diesem P u n k t die Differenz der Philosophie des 19. Jahrhunderts von der G e g e n w a r t s p h i l o s o p h i e a m deutlichsten: es gibt heute keine Philosophie als Wissenschaftssynthese mehr. U n d zweitens ist leicht zu sehen, daß die Wissenschaftssynthese sozusagen den Reinertrag, die letzte reife Frucht eben jener Zeit des „wissenschaftlichen" Philosophierens ist: das 19. Jahrhundert im engeren Sinne hat in jeder anderen Hinsicht die klassische T r a d i tion nur abgebaut, in dieser einen aber hat es ihr etwas Neues h i n z u g e f ü g t . Wenn auch die großen klassischen Systeme, besonders das Hege/sehe, synthetische Leistungen darstellen, die von der späteren Zeit nicht übertroffen und nicht einmal nachgeahmt werden konnten, so gibt es doch in der Zeit ihrer Entstehung keine A u t o n o m i e d e r Einzelwissenschaften. „Wissenschaft" ist die Philosophie schlechthin, das „ U r w i s s e n " ; der Bau der Wissenschaften ist ein Gliedbau, der überall auf L e h m a n n , Gesch. d . P h i l . I X
9
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Wissenschaftssynthese
die Philosophie als ausgliederndes Z e n t r u m verweist. F ü r das 19. J a h r h u n d e r t im engeren Sinne ist diese ganzheitliche V o r stellung, diese K o n s t r u k t i o n des Wissens aus dem Selbstbewußtsein, der Wissenschaft aus der Idee des sich selbst begreifenden Geistes, verloren. M a n geht auch d o r t v o m „ F a k t u m " der Wissenschaft als E i n z e l w i s s e n s c h a f t aus, w o m a n (wie im logischen Neukantianismus) alle gegenständliche E r kenntnis im Denken „erzeugen" will.
Insofern ist die Wissenschaftssynthese anfänglich der p o s i t i v i s t i s c h e n Denkform angehörig. Wir sahen es an Comte, und könnten hinzufügen, daß die neue Wissenschaft: die Soziologie, eben die „synthetische" Wissenschaft, die alle anderen verbindende und krönende Universal Wissenschaft, ist. Aber die Philosophie als Wissenschaftssynthese ist nicht an den Positivismus im engeren Sinne gebunden. Herbert Spencer, der sein zehnbändiges Hauptwerk „System der synthetischen Philosophie" nannte, ist weder von Comte noch von Mill ausgegangen, sondern von Hamilton und Mansel. Man kann wohl von Spencers Positivismus sprechen, aber dann in einem anderen als dem Comte sehen Sinne. Das Zauberwort der Wissenschaftssynthese ist der Begriff der E n t w i c k l u n g . Spencers System der „synthetischen" Philosophie ist das Grundwerk des E v o l u t i o n i s m u s , Aber wir können Evolutionismus und Wissenschaftssynthese nicht in gleicher Bedeutung verwenden. Der Entwicklungsbegriff tritt im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts bei Herder, in der Romantik, im deutschen Idealismus, bei Hegel und Schopenhauer, er tritt im Spätidealismus und Anthropologismus der Jahrhundertmitte — abgesehen höchstens von Herbart und seiner Schule — nicht minder deutlich hervor als in der späteren Zeit. Er hat freilich hier und dort einen sehr verschiedenen Sinn: in den idealistischen Entwicklungssystemen bewegt sich die Natur zum Geiste, kraft einer ihr schon innewohnenden ideellen Potenz, deren Realisierung dann eben die Entwicklung ist, — ein Maximum an „Sinn", der Logos des Absoluten, entfaltet sich in der Welt, und die immer höhere Formenmannigfaltigkeit ist
Evolutionismus
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b e g r i f f l i c h determiniert. Gewiß trifft diese (Hegelsdie) Kennzeichnung nicht auf alle metaphysischen Entwicklungslehren zu. Aber wir benötigen keine erschöpfende Formulierung; der Unterschied der idealistischen Entwicklungssysteme vom späteren Evolutionismus ist ohnedies handgreiflich. Von ideellen Faktoren ist hier überhaupt nicht die Rede; die Entwicklung (der Tier- und Pflanzenarten) soll aus materiellen, empirisch nachweisbaren Kausalfaktoren, und wenn man so will, rein „mechanisch" erklärt werden. Darwin selbst, dessen Werk über den Ursprung der Arten (On the Origin of Species by Means of N a t u r a l Selection, 1859) den Grundstein aller modernen Entwicklungstheorien bildet, wollte überhaupt kein „Entwicklungssystem" aufstellen. Das hatte sein Großvater Erasmus, das hatten Lamarck (in der Philosophie zoologique 1809), Geojfroy Saint Hilaire und andere getan. Er wollte zwei Analogien (die Ähnlichkeit zwischen künstlicher und „natürlicher" Zuchtwahl, und die Ähnlichkeit des von Malthus 1798 statuierten wirtschaftlichen „Existenzkampfes" mit dem im Tier- und Pflanzenreich bestehenden Lebenskampf, worauf schon Wallace hingewiesen hatte) zur Erklärung f ü r die Umwandlung der Arten benutzen. Er war kein Philosoph, und staunte über den kühnen Flug der Häckelsdien Verallgemeinerungen. Er ließ sich Häckel und sogar Büchner gefallen, weil er in Deutschland Anerkennung fand, die er in England vermißte. Von Materialismus und Freidenkerei wollte er nichts wissen, weil es ihm nie einfiel, aus seinen Theorien, die er immer vorsichtig einschränkte, eine Weltanschauung zu machen. Auf den ganz anderen Charakter des Spencersdieri Evolutionismus wird einzugehen sein. Aber Spencers Leistung liegt nicht so sehr in der Aufstellung seiner „Entwicklungsformel" als in der Zusammenschau physikalischer, biologischer, psychologischer und soziologischer „Prinzipien", in der programmäßig durchgeführten minutiösen Kleinarbeit, die immer zugleich unter fachwissen9*
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Wissenschaftssynthese
schaftlidien wie unter philosophischen Gesichtspunkten erfolgt, und in der, nicht wie bei Comte durch mehr oder minder vage geschichtliche Verallgemeinerungen, sondern durch ein riesenhaftes e t h n o l o g i s c h e s Material fundierten S o z i o l o g i e . Das trifft in ähnlicher Weise auch auf den Evolutionismus Wilhelm Wundts zu, nur daß die psychologische Begründung überwiegt und Wundts Entwicklungslehre von vornherein Entwicklungspsychologie ist. Indessen ist von Wundts mehr internen Forschungen zur* allgemeinen und experimentellen Psychologie der gewaltige Bau seiner V ö l k e r p s y c h o l o g i e zu unterscheiden: hier liegt seine wissenschaftssynthetische Leistung, die Ethnologie, Sprachforschung, vergleichende Religionswissenschaft und alle anderen Kulturwissenschaften zu einem doch eben auch s o z i o l o g i s c h zu nennenden Ganzen verbindet. Dem Versuch, Wandt als Positivisten unterzubringen, steht der andere entgegen, ihn dem Neuidealismus zuzurechnen, — beides gleich berechtigt, weil sein „Idealrealismus" positivistische und idealistische Züge hat, und beides gleich abwegig, weil es darauf gar nicht ankommt. Von geringerem Umfange, aber nach Voraussetzungen und Struktur mit Wundt vergleichbar, ist das Lebenswerk von Gustav Schmoller (1838—1917): die „Allgemeine Volkswirtschaftslehre" (1900 ff.), — ebenfalls eine Soziologie auf geschichtswissenschaftlichem, psychologischem und geisteswissenschaftlichem Grunde, von der deutschen historischen Schule und der organischen Staats- und Wirtschaftslehre, aber auch von Comte und Spencer bestimmt. Führt der Weg von Schmoller vorwärts zu Kurt Breysig, Max Weber, Werner Sombart, so weist er rückwärts auf die Anfänge „universalwissenschaftlicher" Soziologie in Deutschland, wie sie sich noch im Anschluß an die idealistische Tradition, an Herbarts Ideenlehre und an die „Theologische Ethik" (Schleiermacher und besonders Richard Rothe, 1799 bis 1867) entwickelt hat. Bei Albert Schaffte (1831—1903) und Gustav Ratzenhofer (1842—1904) kommt es zu wissensdiaftssynthetischen Versuchen großen Ausmaßes, aber unzureichender
K. Lamprecht
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Begründung; Schäffles „Bau und Leben des sozialen Körpers" (4 Bde., 1875 ff.), das wohl merkwürdigste soziologische Buch dieser Zeit, in welchem die Analogienbildung zwischen biologischen u n d sozialen Vorgängen auf die Spitze getrieben wird, ist gleichsam das Sammelbecken f ü r die „westlichen" positivistischen und evolutionistischen Einflüsse auf die deutsche T r a d i t i o n . Diese A r t u n e c h t e r Wissenschaftssynthese, wie wir sie nennen können, findet sich auch in dem W e r k e Karl Lamprechts (1856—1915), das den stärksten Einfluß auf seine Zeit hatte, heftigen Widerspruch erregte, aber auch begeisterte Fortsetzer f a n d . Breysigs „Stufenbau u n d die Gesetze der Weltgeschichte" (1905) u n d Spenglers „Untergang des Abendlandes" (1918 und 1922) sind Weiterführungen Lamprechtsdier Ansätze. In einer Geistesgeschichte der 90er J a h r e u n d der J a h r hundertwende käme der Persönlichkeit Lamprechts eine wichtige Stelle zu. Historiker, Nationalökonom, Psychologe u n d Völkerpsychologe, Kunstgeschichtler, Politiker, und auch wohl Philosoph, ist er eine faustische N a t u r , — reich an W a n d lungen, Widersprüchen und von großer „Reizsamkeit" (ein von ihm geprägter u n d zur Kennzeichnung der Zeitlage verwendeter Ausdruck). Er strebt nach nichts Geringerem als nach der „großen Synthese sämtlicher K u l t u r f a k t o r e n in der Gesamtpsyche einer N a t i o n " (Spieß), insbesondere der d e u t s c h e n N a t i o n , der sein H a u p t w e r k : die 12 bändige Deutsche Geschichte (1891—1909), gewidmet ist. E r ist Wissenschaftsynthetiker der Absicht und Anlage, obzwar nicht dem Gelingen nach. M a n macht es sich zu leicht, wenn man diesen „deutschen Taine" (Troeltsch), den man ebensogut den anderen Treitschke nennen könnte, nur unter dem Gesichtspunkt des von ihm entzündeten M e t h o d e n s t r e i t e s sieht („kollektivistische" Methode in der Geschichtswissenschaft an Stelle der bisherigen individualistischen; Übertragung naturwissenschaftlicher V e r f a h r e n auf die Geisteswissenschaften). Das Methodologische ist bei ihm, so sehr er es sich und anderen a u f d r ä n g t , doch immer Ergebnis mangelhafter Reflexion. U n d gerade Erkenntnistheoretiker ist Lamprecht nicht. D e r Schwerpunkt liegt bei ihm in der Schau — nicht in der begrifflichen Bestimmung — der K u l l t u r s t u f e n u n d K u l t u r z e i t a l t e r (Kulturzyklentheorie, auf Vico u n d Herder zurückgehend; H e r d e r entnimmt er auch den Begriff
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Wissenschaftssynthese
des Volksgeistes), in dem Versuch, die fünf Periodisierungsformen der Kultur: Symbolismus, Typismus, Konventionalismus, Individualismus und Subjektivismus, als idealtypische Entwiddungsabläufe historisch nachzuweisen. Dies ist ihm nicht gelungen. Erst Max Weber hat das Problem des Idealtypus materialmäßig aufzuarbeiten vermocht.
Entfernen wir uns mit alledem von der P h i l o s o p h i e nicht allzusehr? Zweifellos steckt in allen großen wissenschaftlichen Leistungen des ausgehenden 19. Jahrhunderts ein „wissenschaftssynthetischer" Gehalt; wollte man sie in die Philosophiegeschichte einbeziehen, so wäre ein Ende nicht abzusehen. D a ß die reine Philosophie ihrerseits fast überall als „Wissenschaftsphilosophie" auftritt (und als Dilettantismus bei Seite gedrängt wird, wenn sie es nicht tut), wurde hervorgehoben. Ist es der Philosophie als Wissenschaftssynthese wesentlich, nicht „reine" Philosophie, nicht einmal bloße Wissenschaftsphilosophie zu sein, sondern durch die Einzelwissenschaften hindurch p r o d u k t i v auf den Prozeß der U m g e s t a l t u n g d e r Wiss e n s c h a f t einzuwirken, so wäre natürlich die Frage, ob es außer den genannten Beispielen noch solche zur „reinen" Philosophie geh.rige gibt, gegenstandslos. Sie ist es nicht, wenn man das System E. v. Hartmanm, des letzten Metaphysikers im 19. Jahrhundert, heranzieht und wenigstens versuchsweise hier einordnet. Denn dieser Modephilosoph der 70er Jahre, der durch seine Jugendarbeit, die mit 22 Jahren begonnene „ P h i l o s o p h i e d e s U n b e w u ß t e n " (1869), einen großen literarischen Erfolg hatte, und der zu den zweideutigsten Gestalten der Gründerjahre gehört, hat es doch vermocht, in zäher Arbeit, Werk auf Werk schreibend, eine Philosophie zu gestalten, die mit der Jugendkonzeption nur noch formelhaft verbunden, die wichtigsten Wissenschaftsbereiche von der Physik, Biologie, Psychologie bis zu den Geisteswissenschaften in sich vereint. Im Unterschiede von Wandt und Spencer ist freilich E. v. Hartmann, so sehr er behauptet, i n d u k t i v zu
Induktive Philosophie
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verfahren, nicht aus der einz.el wissenschaftlichen Praxis zu wissenschaftlichen Synthesen gelangt. Er kombiniert nur Ergebnisse. Dies aber mit schärfstem Blick für ihre philosophische Eignung, und mit der Fähigkeit, ihnen einen metaphysischen Gehalt abzugewinnen, den er sogleich selbst ausmünzt und in Umlauf bringt. Von Spencers „Unerkennbarem" und Wundts vorsichtig dosierter Willensmetaphysik ist er weit entfernt. Er weiß alles unterzubringen. E r kennt sich in der metaphysichen Region genau so gut aus wie in den Kategorien der Sinnlichkeit und des reflektierenden Denkens.
Längst hat die Philosophiegeschichte erkannt, daß sie v. Hartmann Unrecht tat, indem sie ihn ignorierte. U n d sie hat ihm getreulich seinen Stammbaum, den er auf Schilling und Hegel, Schopenhauer und Leibniz zurückführt, bescheinigt. Daß er nur auf dem Papier steht, und Hartmann diesen großen Metaphysikern nur die Worthülsen entnimmt, hat sie nicht erkannt. Sie hat ihn im Spätidealismus wurzeln und als :inen der „Wiedererwecker" der Metaphysik im letzten Drittel des Jahrhunderts auftreten lassen. Dadurch hat sie das Verständnis seiner wissenschaftssynthetischen Leistungen erschwert. Und auch das seiner Wirkungen. Denn diese liegen durchaus nicht auf spekulativem Gebiet. Denker und Forscher wie O. Külpe, E. Becher, B. Bavink, die einen kritischen Realismus auf der Basis der Erfahrungswissenschaften vertreten, sind seine Fortsetzer in der Gegenwart. Zu seinen Lebzeiten standen ihm / . Volkelt und L. Ziegler nahe. Sie sind aber eigene Wege gegangen. Während der einzige Schüler, der seinem Buchstaben folgte: A. Drews (1865—1935), der Gegenwart fremd blieb.
Herbart Spencer, 1820 in Derby geboren, 1903 in Brigthon gestorben, ist unter den Denkern des viktorianischen Zeitalters der bedeutendste und absonderlichste. Sein Leben, das er in einem zweibändigen Werk von nahezu 2000 Seiten (An Autobiography 1904) beschrieben hat — das Buch ist selbst ein Rulturkuriosum — , ist in vielem das Gegenstück zu demjenigen / . St. Mills. Ohne eigentliche Schulbildung wächst er, voll unbändigen Freiheitsdranges, als Autodiefakt heran, weigert sich, die
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Wissenschaftssynthese
Universität zu besuchen, wird Eisenbahningenieur, Journalist, als welcher er sein erstes Buch (Social Stades 1850) verfaßt, und erlangt durch Erbschaft eine gewisse Unabhängigkeit, die es ihm ermöglicht, seinen Lebensplan durchzuführen. Dieser Plan ist die Darstellung eines Systems der Philosophie, das nach dem ersten Entwurf (Januar 1858) von den „Gesetzen" des „Unerkennbaren" über die astronomische Entwicklung zu den Prinzipien der Biologie, Psychologie und Soziologie fortschreiten, und mit den Prinzipien des „richtigen Handelns" schließen sollte. U n d das, in der ersten öffentlichen Ankündigung (Prospekt März 1860) auf zehn Bände: Grundlagen der Philosophie (I), Prinzipien der Biologie ( I I — I I I ) , Prinzipien der Psychologie ( I V — V ) , Prinzipien der Soziologie ( V I — V I I I ) , Prinzipien der Ethik ( I X — X ) berechnet war. Hiervon hatte er das psychologische Thema schon 1855 bearbeitet (Prinzipien der Psychologie, einbändig), noch ohne Beziehung auf den Gesamtplan des „Systems der synthetischen Philosophie" (die späteren „Prinzipien der Psychologie" sind 1868—1872 entstanden). Und diese Arbeit hatte ihn körperlich so schwer geschädigt, daß er — wie Darwin — in der zweiten Hälfte seines Lebens krank war: Schlaflosigkeit, Herzstörungen, Magenbeschwerden und andere neurotische Symptome, über die er gewissenhaft Buch führt, begleiteten ihn fortan, und mehr als 3 Stunden am Tage konnte er nicht tätig sein. Hinzu kam, daß ihn die Veröffentlichung der ersten Bände des „Systems" in immer größere finanzielle Schwierigkeiten brachte, so daß er 1865 seinen Subskribenten die Einstellung der monatlichen Leiferungen mitteilen mußte. Aber nochmals erbte er (durch den Tod seines Vaters 1866) ein kleines Vermögen, das ihm die Weiterarbeit ermöglichte. Und allmählich besserte sich mit wachsendem äußeren Erfolg seine Lage: ein Geldgeschenk aus Amerika (wo er auch einen Verleger fand), ermöglichte ihm die Herausgabe der „ D e s k r i p t i v e n S o z i o l o g i e " (1873—1881), eines achtbändigen tabellarischen Werkes ethnologischen Inhalts, das als Materialsammlung für die Soziologie dienen sollte. Fand diese Arbeit kaum Leser, so war die kleinere zweibändige E i n -
Spencers Leben
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l e i t u n g i n d a s S t u d i u m d e r S o z i o l o g i e (The study o f sociology 1873) um so erfolgreicher. Oberhaupt hat Spencer außerhalb des Hauptwerkes noch eine Fülle von Schriften verfaßt. E r war ein glänzender Essayist, lebendig und von immer origineller Auffassung. E r war durchaus nicht humorlos, ein vortrefflicher Menschenbeobachter und auch künstlerisch begabt. Allerdings treibt sein starker Intellektualismus und Individualismus, verbunden mit einem fast völligen Mangel an geschichtlichem Sinn, zuweilen merkwürdige Blüten. V o n seinen Essays sind bei uns am meisten gelesen die über E r z i e h u n g (Education, I n tellectual, Moral and Physical 1861). Unter den politischen Essays sind die Abhandlungen T h e M a n v e r s u s t h e S t a t e (1884) mit scharf liberalistischer, antisozialistischer Tendenz für seine Geisteshaltung am kennzeichnendsten. Sein System, an dem er mit eiserner Energie und unbeirrbarem Zielbewußtsein nahezu 35 J a h r e arbeitete (der erste Band erschein 1862, der letzte 1893), ist bis auf einen, allerdings wichtigen P u n k t : den ursprünglich als Band I I I der Soziologie vorgesehenen T e i l über sprachliche, intellektuelle, ästhetische und ethische Entwicklung, also den eigentlich kulturgeschichtlichen Teil, so zum Abschluß gekommen, wie er geplant war. D a ß Spencer eine Geschichtsphilosophie im hohen Alter nicht mehr schreiben konnte, ist klar. Ebenso aber auch, daß ihm die inneren Voraussetzungen dazu fehlten. ( V o r der gleichen Lücke im System stand E. v. Hartmann am Ende seines Lebens). Spencers P h i l o s o p h i e liegt a u f der L i n i e des klassischen englischen E m p i r i s m u s v o n Locke bis Hume, und a u f der des metaphysischen „ R e l a t i v i s m u s " W. Hamiltons, den Mill so siegreich b e k ä m p f t e . D u r c h den Schellingianer Samuel Taylor Coleridge ( 1 7 7 2 — 1 8 3 4 ) , dessen i d e a o f L i f e Spencer 1 8 4 9 las, e r f u h r er einen gewissen Einfluß „ K r i t i k " schlug er der deutschen S p e k u l a t i o n . Kants z w a r nach der L e k t ü r e der T r a n s z e n d e n t a l e n Ä s t h e t i k e n t r ü s t e t z u , weil i h m die S u b j e k t i v i t ä t v o n R a u m u n d Z e i t so „ u n g l a u b w ü r d i g " schien, d a ß er das Z u t r a u e n z u d e m A u t o r v e r l o r . A b e r er setzt sich doch ö f t e r m i t i h m auseinander. M a n c h e Ähnlichkeiten m i t Comte (den er auch p e r s ö n lich k e n n e n l e r n t e ) ließen ihn als A n h ä n g e r der positiven Philosophie erscheinen; durch seinen E v o l u t i o n i s m u s g a l t
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Wissenschaftssynthese
er als Darwinist. Beides ist falsch. Außer der Übernahme der "Worte: Altruismus und Soziologie habe er Comte nur das Eine zu verdanken, — seinen „Widerspruch geweckt zu haben. Denn mein ausgesprochener Widerspruch mit seinen Ansichten führte zur Entwicklung von einigen meiner eigenen Anschauungen". (Das bezieht sich vornehmlich auf die Kritik der Comieschen Wissenschaftsklassifikation). Darwin hat in der „Entstehung der Arten" Spencer als einen seiner Vorläufer angeführt. In der T a t hatte Spencer 1852 (in dem Aufsatz The Development Hypothesis) und 1857 (in: Progreß, its Law and Cause) das Dogma von der Konstanz der Arten bekämpft und ihre natürliche Umbildung auch im Hinblick auf die vom Menschen bewirkten Artveränderungen behauptet. Aber nicht als Darwinist vor Darwin. Sondern als Lamarckist. Und als er später Darwins „natürliche Zuchtwahl" als Kausalfaktor anerkannte und den, von Darwin übernommenen Ausdruck „Uberleben des Passendsten" (Survival of the Fittest) prägte, hat er doch mit seiner Kritik am „Darwinismus" nicht zurückgehalten. Noch in den 90er Jahren wendet er sich in mehreren Aufsätzen gegen Weismanns radikale Weiterbildung der Darwinschen Selektionstheorie. Der E v o l u t i o n i s m u s Spencers, der auf eine Formel des deutschen Naturforschers K. E. v. Baer (1792 —1876) zurückgeht, hat einen grundsätzlich anderen Sinn als den einer biologischen Entwicklungs- und Deszendenztheorie. Zwar enthalten seine „Prinzipien der Biologie" alle Materialien zur Entwicklungsgeschichte der Lebewesen, die der damaligen Zeit bekannt waren. Und auch daran besteht kein Zweifel, daß Spencer die „Entwicklung" der Welt vom Urnebel bis zur menschlichen Kultur zu beschreiben suchte. Das ist aber nicht das Wesentliche. JDer Evolutionismus Spencers besteht vielmehr darin, das in allen Wirklichkeitsbereichen gültige S t r u k t u r g e s e t z , die Formulierung der z e i t l i c h e n E x p l i k a t i o n d e s S e i e n d e n aufzustellen.
Entwicklungsformel
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Nach v. Beter besteht die Entwicklung eines Organismus formal darin, aus einem Zustand der Gleichartigkeit in einen solchen der Ungleichartigkeit überzugehen. Diesen Ansatz benutzt Spencer zur Ableitung seiner Entwicklungsformel: „Entwicklung ist eine Integration von Materie, die von einer Bewegungsabgabe (dissipation of motion) begleitet ist, während deren die Materie von einer relativ unbestimmten, unzusammenhängenden Gleichartigkeit (homogeneity) zu einer relativ bestimmten, zusammenhängenden Ungleichartigkeit (heterogeneity) übergeht, wobei die zurückgehaltene Bewegung eine entsprechende Umwandlung (transformation) erhält." Dieses Gesetz ist ein Struktur- oder B i l d u n g s g e s e t z , das von physikalischen Gebilden wie von Lebewesen, von Weltsystemen wie von Sozialgebilden, seelischen Zuständen oder kulturellen Prozessen gilt. Es fordert an sich noch keine Ableitung aller Inhalte der Wirklichkeit aus einem einzigen Keim, hat also mit einem „monistischen" Evolutionismus von der Art Häckels unmittelbar garnichts zu tun. Es ist ein K o o r d i n a t i o n s g e s e t z , insofern es die Zuordnung und Verbindung der Wissenschaften ermöglicht. Und darin liegt seine w i s s e n s c h a f t s s y n t h e t i s c h e Bedeutung. Die Herleitung der Entwicklungs- (Integrations-) formel erfolgt in mehreren Schritten. In morphologischer Hinsicht ist Entwicklung der „Ubergang aus einer weniger zusammenhängenden in eine mehr zusammenhängende Form", bedingt durch stoffliche I n t e g r a t i o n (Verdichtung) und Bewegungszerstreuung (d. h. Verlust der Bewegung der vorher selbständigen Teile). Zugleich ist sie aber auch „Obergang aus einem homogenen (gleichartigen) in einen heterogenen (ungleichartigen) Zustand". Dies bedeutet, daß die Bestandteile bei fortschreitender Integrierung d i f f e r e n z i e r t werden (Baersdie Formel). Und weiter, daß ein „Obergang vom Unbestimmten zum Bestimmten", ein „Fortschritt", nicht nur vom Einfachen zum Zusammengesetzten, sondern auch „von der Verwirrung zur Ordnung, von unbestimmter zu bestimmter Anordnung", stattfindet. Sodaß sich also die genauere Formulierung ergibt: Entwicklung ist ein „Übergang aus einer unbestimmten unzusammenhängenden Gleichartigkeit in eine bestimmte zusammenhängende Ungleichartigkeit, der die Zerstreuung der Bewegung und die Integration des Stoffes begleitet." Aber nicht nur Bewegung wird abgegeben, sondern es wird auch die zurückbleibende Bewegung anders verteilt. Und ebenso wird der Stoff nicht bloß fortschreitend integriert,
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Wissenschaftssynthese
sondern auch umgelagert. — Daraus folgt dann die angegebene Schlußformel. Wird man in ihr ohnedies schon eine D i a l e k t i k erkennen die von weitem an Hegel erinnert, so kommt hinzu, daß Entwicklung nicht ist ohne ihr Gegenteil: A u f l ö s u n g . Fragen wir nach dem Ziel der Entwicklung, so ergibt sich, daß sie immer ein „Fortschritt zur Ausgleichung", d. h. zu einem G l e i c h g e w i c h t s z u s t a n d ist. „Da jede Bewegung gegen widerstrebende Kräfte anzukämpfen hat, so erleidet sie beständig gewisse Abzüge, und diese. . . führen schließlich zum gänzlichen Stillstand der Bewegung". Von dem unabhängigen oder vollkommen beweglichen Gleichgewicht (z. B. des Sonnensystems) und dem abhängigen beweglichen Gleichgewicht (z. B. der Anpassung eines Lebewesens an seine Umwelt) ist das ab s o 1 u t e Gleichgewicht zu unterscheiden, bei dem alle Eigenveränderungen des Gebildes aufhören, und es den eindringenden entgegengesetzten Kräften anheimfällt. Diese Einwirkungen bestimmen den Prozeß der A u f l ö s u n g (dissolution), einer phasenmäßig der Integration entsprechenden D e s i n t e g r a t i o n , die bis an jenen Punkt führt, an dem es zu neuer Verdichtung und Integration kommen kann. Ob es dazu kommen m u ß , oder ob es im Sinne moderner Energetik zu einem Maximum von Entropie (Wärmetod) kommen wird, — diese Frage, die sich Spencer freilich nicht als physikalische, sondern als rein spekulative stellt, wird im Sinne des ewigen Stirb und Werde, der Anfangs- und Endlosigkeit des Weltprozesses, beantwortet. Das Entwicklungsgesetz ist dann und nur dann ein V e i t g e s e t z , wenn alle Dinge oder Wesen, von denen es gilt, und an denen es nachgewiesen werden kann, gleichsam unter einen H u t gebracht, und von diesem so gedachten Ganzen behauptet wird, daß es sich selber dem Entwicklungsgesetz gemäß „entwickelt". Das ist für Spencer selbstverständlich. Denn er ist nicht nur von Haus aus Realist, sondern bemüht sich auch, (in seiner Psychologie) diesen Realismus gegen die (idealistischen) Metaphysiker zu rechtfertigen und, da er ja dabei einige Abstriche machen muß, als „ v e r k l ä r t e n " (transfigured) Realismus zu retten. Die „Umwandlung" des Realismus besteht darin, daß zwar wie im naiven Realis-
Verklärter Realismus
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mus objektive Existenz von subjektiver unterschieden und als von ihr unabhängig behauptet wird, daß aber n i c h t behauptet wird, die Zusammenhänge zwischen den Formen objektiver Existenz seien so beschaffen wie sie erscheinen. Der „verklärte" Realismus ist also doch eine A r t Phänomenalismus. Aber er gründet nicht, wie der Phänomenalismus Mills, die Erscheinung auf Wahrnehmungsund Bewußtseinsmöglichkeiten, sondern bezieht sie auf unerkennbare „Dinge an sich". (Von Mill unterscheidet sich Spencer auch dadurch, daß er dessen radikalen E m pirismus ablehnt und a p r i o r i s c h e Voraussetzungen der Erfahrung arierkennt, — allerdings nur der i n d i v i d u e l l e n Erfahrung; was für das Individuum apriori, ist für die Gattung erworben: das individuelle Apriorische ist gleichsam der Niederschlag früherer Gattungserfahrungen). So hängt Spencers Realismus zusammen mit seinem A g n o s t i z i s m u s , d. h. seiner Lehre vom Unerkennbaren (Unknowable). Mit ihr beginnt und endet das System. Sie ist kein Lückenbüßer und keine bequeme Ausflucht. Sondern die Weiterbildung des Hamilton-Manselschen Antiabsolutismus. Das Absolute ist zwar auch nach Spencer nicht denkbar, aber es ist darum nicht überhaupt unmeinbar. Es gibt keine a b s o l u t e Erkenntnis, nicht einmal ein Denken des Absoluten (weil jeder „Gedanke" Beziehung, Identität, Verschiedenheit voraussetzt, das Absolute aber keine dieser Eigenschaften besitzt). Aber es gäbe keine r e l a t i v e Erkenntnis, wenn es kein Absolutes gäbe. Wir müssen das Absolute immer mitdenken, — seine positive Existenz ist ein „notwendiger Bestandteil des Bewußtseins". Wir könnten ja auch nicht von G r e n z e n des Erkennens sprechen, ohne das Unerkennbare vorauszusetzen. Stellen wir uns das Wissen als stets fortwachsende Kugel vor, so wird jede Vergrößerung der Kugeloberfläche „sie nur in noch umfänglichere Berührung mit dem umgebenden Nichtwissen" bringen. Alle unsere wissenschaftlichen Grundbegriffe „repräsentieren Realitäten, welche nicht begriffen werden können", und der Mann der Wissenschaft wird in Wahrheit besser als jeder Andere
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Wissenschaftssynthese
erkennen, „daß seinem innersten Wesen nach Nichts erkannt werden kann."
Dies ist für Spencer einerseits das Mittel, Wissenschaft und R e l i g i o n zu „versöhnen" (denn beiden ist die „allgemeinste und gewisseste aller Tatsachen" gemeinsam: daß die Macht, die sich uns im Universum offenbart, unerforschlich und ein Geheimnis ist), andererseits glaubt er sich dadurch vor Konsequenzen bewahrt, die allerdings nahe genug liegen: seinen Realismus als M a t e r i a l i s m u s durchzuführen. Das betrifft vor allem das psychophysische Problem. Nach Spencer müssen wir zwar den psychischen Inhalten eine g e i s t i g e Substanz zugrundelegen, wie dem Körper eine m a t e r i e l l e Substanz, aber beides sind nur Symbole des Unerkennbaren. Es betrifft auch die Frage des Ursprungs der Empfindungen bzw. des Bewußtseins. Und da Spencer, in einem an Berkeley erinnernden Sinne, alle Dinge als „Kundgebungen des Nichterkennbaren" bezeichnet, so erweist sich sein Agnostizismus allgemach als recht positive Metaphysik. Die Erscheinungen oder Tatsachen sind nicht einfach gegeben. Sie sind „kundgegeben". Und zwar in bestimmten Verbindungen, die wir analysieren können. Aber die A n a l y s e der Elemente ist unzureichend, um das Gesetz ihrer Verbindung zu erkennen. Dazu bedarf es derjenigen „Synthesis des Denkens, welche allein eine Erklärung der Synthesis der Dinge sein kann." Nun verfährt allerdings jede Wissenschaft synthetisch.. Aber jede Wissenschaft ist gegen andere abgegrenzt. Wir braudien eine a l l g e m e i n e S y n t h e s i s , die die Grenzen der Wissenschaftsklassen übersteigt, — eine „synthetische Philosophie". Bis hierher reicht, könnte man sagen, der gegenstandstheoretische, unmetaphysische Teil der Spencersdien Philosophie. Wenn wir aber fortfahren: dia allgemeine Synthese geht nicht nur auf das allen Gegenständen Gemeinsame, sondern sie geht auf die Bildung desjenigen Gesamtindividuums, das wir W e l t oder Wirklichkeit nennen, auf die N a c h bildung seines Ursprungs, seiner
Das Unerkennbare
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Entwicklung, Erhaltung und Auflösung in der Zeit — und ebendies will ja die „Entwicklungsformel" leisten — , so befinden wir uns mitten in einer kosmologischen Spekulation wesentlich m a t e r i a l i s t i s c h e n Gepräges. Und damit wird der andere Teil der Spencerschen Philosophie entwertet. War es dort gelungen, Analogien in der Bildungs- und Verbindungsform aller „möglichen" Gegenstände und Prozesse — physikalischer, geologischer, astronomischer, biologischer, psychologischer usw. — nachzuweisen (wobei natürlich die Worte Materie, Bewegung, Zerstreuung usw., die in der Entwicklungsformel auftreten, keinen rein p h y s i k a l i s c h e n Sinn haben können, sonst wären sie zur .Bezeichnung anderer als physikalischer Gegenstände von vornherein unverwendbar), so werden jetzt diese Ubereinstimmungen insgesamt auf den einen materiellen Prozeß r e d u z i e r t , und alles andere wird zum „Überbau". Die Zweideutigkeit, in die Spencers Philosophieren damit gerät, zeigt sich besonders auf soziologischem und ethischem Gebiet. Die S o z i o l o g i e handelt vom sozialen Organismus, der kein Organismus ist (sondern ein „Überorganismus"); die E t h i k beschreibt die sozial zweckmäßigsten Handlungen, die zugleich dem Einzelnen am dienlichsten sind, und supponiert eine ideale Gesellschaft, die keine Gesellschaft mehr ist (sondern gleichsam eine „Übergesellschaft"). Der Fehler ist immer derselbe: es werden die einzelnen Gegenstandsbereiche nach ihren Strukturzusammenhängen befragt, aber ihre spezifischen Kategorieen auf frühere „Stufen" zurückgeführt und daraus abgeleitet. Damit hängt der andere Fehler zusammen, daß Spencer nicht nach den S u b j e k t e n der Entwicklung fragt, und in der Entwicklungsformel das wichtigste: die Einheiten, an denen so etwas wie Intregation und Differenzierung vor sich geht, unberücksichtigt läßt. Sie als Zweckeinheiten zu fassen — wie z. B. Trenaelenburg in seiner Bewegungsmetaphysik — lehnt Spencer ab, wenn er auch um ein „Ziel" der Entwicklung nicht herumkommt. Aber er kennt überhaupt keine i n d i v i d u e l l e n S u b s t a n z e n , und seine Beschreibung der Entwicklungsvorgänge bleibt in allen Fällen eine rein äußerliche, die es ganz offen läßt, ob es sich wirklich um „Entwicklung" oder nur um den Anschein einer solchen handelt. Wenige Jahre nach dem letzten Bande von Spencers „System", genau um die Jahrhundertwende, erschien der
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Wissenschaftssynthese
erste Band der V ö l k e r p s y c h o l o g i e von Wilhelm Wundt. Doch ist, was bei Spencer den Mittelpunkt der ganzen Lebensarbeit bildet, bei Wundt Abschluß und Fortbildung früherer Ansätze: der Schöpfer der „Entwicklungspsychologie" hat sich selbst zur Völkerpsychologie entwickelt. Dennoch ist der Zug zur W i s s e n s c h a f t s s y n t h e s e bei Wundt schon früh bemerkbar. Er tritt am stärksten hervor in seiner » L o g i k" (1880—1883). von der man gesagt hat, sie nähere sich „fast einer Enzyklopädie, die über den Stand der Arbeit auf jedem einzelnen der so zahlreichen modernen Forschungsgebiete Auskunft gibt." Bezeichnet ferner Spencer sein Hauptwerk als „System" der Philosophie, so hat Wundt ein „System der Philosophie" erst nach der E t h i k (1886), also sozusagen post festum und in einem Bande verhältnismäßig geringen Umfanges (1889; später zweibändig) vorgelegt. Der Unterschied ist nicht zufällig. Wenn Spencer mit dem Unerkennbaren (Absoluten) und der „Versöhnung" von Wissenschaft und Religion beginnt, Wundt damit endet, so ist k k r , daß Wundt der Metaphysik noch wissenschaftliche Aufgaben übrig läßt, die Spencer bestreitet. Wundt scheint den Umkreis wissenschaftssynthetischen Denkens zu überschreiten, wenn er es wagt, „ein System der Philosophie zu entwerfen . . . in welchem der Metaphysik eine zentrale Stellung eingeräumt wird." Wie es sich damit verhält, werden wir sehen. Allerdings hat Wundt die metaphysischen Resultate seiner Philosophie in seinem Spätwerk: „ S i n n l i c h e u n d ü b e r s i n n l i c h e W e l t " (1914) noch einmal energisch herausgestellt. Daß es im Alter von 82 Jahren geschah, ist erstaunlich. Aber an dem Grundcharakter seiner Werke ändert es nichts, und man kann ihn deshalb nicht zu den Gegenwartsphilosophen rechnen. Er gehört ganz dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts an. Sieht man allein auf seine „Metaphysik", so ist er dem Neuidealismus zuzurechnen. Im Ganzen seiner Philosophie aber steht er Spencer viel näher und ist ihm sogar
Wundts' Leben
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darin überlegen, daß er noch enger mit der Fachwissenschaft verbunden ist. Wilhelm Wundt, der sein Leben selbst beschrieben hat (1920), nicht wie Spencer als „Naturgeschichte" seiner selbst, sondern als „Resultante" seiner Erlebnisse und Erkenntnisse, ist 1832 in einem Vorort von M a n n h e i m geboren und war der Sohn eines protestantischen Pfarrers. Der Träumer und Phantast, dem ein Lehrer den Rat gab, Postbeamter zu werden, hat in T ü b i n g e n Medizin (1851—1852), dann in H e i d e l b e r g Chemie und Physiologie gehört; 1856 ging er, nach seiner Promotion, nach Berlin zu Johannes Müller und E. Dubois-Reymond. Zurückgekehrt, habilitierte er sich in Heidelberg, und begann sogleich im ersten Semester ein Kolleg über die gesamte Physiologie zu lesen. Dies führte zu einem Nervenzusammenbruch, von dem er sagt, er habe eine völlige Umkehrung seiner Lebensanschauung hervorgebracht. Von den Ärzten aufgegeben, hatte er mit allem abgeschlossen, „was das Gemüt beunruhigen kann". Seitdem hegte er den Wunsch, das Leben um keinen Preis zu verlassen, außer mit vollem Bewußtsein, den Akt des Sterbens selbst zu erleben. Nach seiner Genesung wurde er Assistent bei Helmholtz, der 1858 nach Heidelberg berufen worden war. Unter den Schriften, die er Anfang der 60er Jahre verfaßte — sein erstes größeres Buch, von dem aber niemand Notiz nahm, waren Beiträge zur Lehre von den Muskelbewegungen (1858) — sind die V o r l e s u n g e n ü b e r M e n s c h e n - u n d Tierseele (1863 zweibändig, später einbändig), als frühester, wen auch von ihm selbst als verfehlt betrachteter w i s s e n s c h a f t s s y n t h e t i s c h e r Versuch bemerkenswert. In diese Zeit fällt Wundts Obergang von der Sinnesphysiologie zur P s y c h o l o g i e , und nicht viel später (1866 in der Schrift über die physikalischen Axiome) zur Philosophie. Seit 1864 Extraordinarius in Heidelberg, hatte Wundt den Rahmen seiner Tätigkeit inzwischen noch mehr vergrößert: von 1866—1868 gehörte er als Abgeordneter und Vertreter Heidelbergs der Badischen Kammer an, und wird bald neben Treitschke (der seit 1867 in Heidelberg lehrte) zum Anhänger Bismarcks. Eine neue Etappe seines Lebens begann mit der Annahme des Ordinariats in Z ü r i c h als Nachfolger (und wohl Lehmann, Gesch. d. Phil. I X
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Wissensch'aftssynthese
auf Veranlassung) Fr. Albert Langes, dessen Professur f ü r „induktive Philosophie" er ein Jahr lang bekleidete. Wobei es kennzeichnend ist, daß er (1875) zugleich über L o g i k und V ö l k e r p s y c h o l o g i e liest, „um zu erproben, inwieweit psychologische Gesichtspunkte auf die Logik und ebenso logische auf die Psychologie bei den verwickeiteren, in der Völkerpsychologie betrachteten Geistesfunktionen bestimmte Einflüsse ausüben könnten." In diese Zeit fällt der Abschluß des Hauptwerkes seiner ersten Periode: der zuerst zwei-, dann dreibändigen G r u n d z ü g e d e r p h y s i o logischen Psychologie. Die Glanzzeit Wundts aber beginnt mit seiner Übersiedlung nadi L e i p z i g . Hier wurde er 1875 Ordinarius f ü r Philosophie; und bis zum 85. Lebensjahre hat er auf dem Katheder gestanden. Das von ihm 1879 begründete I n s t i t u t f ü r e x p e r i m e n t e l l e P s y c h o l o g i e , das erste in Deutschland, erlangte bald internationalen Ruf und wurde zur Ausbildungsstätte zahlreicher Psychologen und Pädagogen des In- und Auslandes. Wundt selbst legte Wert darauf, den Zusammenhang mit der Philosophie nicht preiszugeben; seine Antrittsvorlesung handelte über die Aufgaben der Philosophie in der Gegenwart, seine Zeitschrift, die er (ab 1881) bis zum siebzigsten Geburtstag (1902)" selbst redigierte, nannte er Philosophisdie Studien; seine eigene Arbeit stellte er mehr und mehr in den Dienst der Geisteswissenschaften. Aus der Fülle der Schriften, die er in seiner Leipziger Zeit verfaßte, und in immer neuen Auflagen umarbeitete, sind außer den schon genannten Hauptwerken: der Logik (als „Erkenntnislehre" und Methodenlehre der Natur- und Geisteswissenschaften), der Ethik (als „Untersuchung der Tatsachen des sittlichen Lebens") und des Systems der Philosophie, die der Einführung dienenden: der G r u n d r i ß d e r P s y c h o l o g i e (1896) und die E i n l e i t u n g i n d i e P h i l o s o p h i e (1901), sowie die Sammlung seiner kleineren Schriften und Auseinandersetzungen, die zuerst 1885 („E s s a y s") erschienen, hervorzuheben. Die Produktion nach 1900 steht vornehmlich im Dienste der V ö l k e r p s y c h o l o g i e , die in 10 Bänden Sprache (I—II), Kunst (III), Mythus und Religion (IV—VI), Gesellschaft (VII—VIII), Recht (IX), Kultur und Geschichte (X) umfaßt, und zu deren Erläuterung die „ P r o b l e m e d e r V ö l k e r p s y c h o l o g i e " (zuerst 1913), sowie die, einen
Wundts Leben
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ausgezeichneten Querschnitt gebenden „ E l e m e n t e der V ö l k e r p s y c h o l o g i e " (zuerst 1912), dienen. Im Weltkrieg und nach dem Zusammenbruch hat Wundt mehrmals zu den geschichtlichen Ereignissen Stellung genommen. (Die Nationen und ihre Philosophie 1915, Die Weltkatastrophe und die deutsche Philosophie 1920). Sein Ziel war und blieb bis zuletzt die kulturelle Hegemonie Deutschlands. Am 31. August 1920 ist er in G r o ß b o t h e n bei Leipzig gestorben.
Die ungeheure Vielseitigkeit Wundts, den man in dieser Hinsicht nicht zu Unrecht als modernen Aristoteles bezeichnet hat, wird kompensiert durch die Einheitlichkeit seiner Gesamtauffassung und Entwicklung. Er gehört nicht, wie Franz Brentano, der andere große Psychologe seiner Zeit 1 ), zu den Entdeckernaturen im eigentlichen Sinne, soviel neue Gesichtspunkte und einprägsame Formulierungen sich auch bei im finden. Seine Persönlichkeit scheint wie untergetaucht in das Medium einer unpersönlichen Wissenschaft. Mit vollendeter Objektivität, ohne jede Eigenwilligkeit, bringt er alles in „widerspruchsfreie" Ordnung und begründet es „zureichend". Sieht man ihn so, dann übersieht man jedoch das Wesentlichste: den • w i s s e n s c h a f t s s y n t h e t i s c h e n Gehalt seiner Werke, die niemeals bloß „ordnen" und „begründen", sondern immer konstruktiv sind und zu neuen Ergebnissen gelangen. Sein Grundbegriff der s c h ö p f e r i s c h e n Synt h e s e ist nicht nur der Schlüssel zu seiner Entwicklungslehrel sondern auch der Schlüssel zu seinem Werk. Die schöpferische Synthese bedeutet kein schöpferisches Prinzip, das gestaltend auf ein Nichts einwirkte. Sondern sie bedeutet, daß die S y n t h e s e , d. h. die Verbindung von „Elementen", schöpferisch ist. Sie bedeutet nicht eine Synthese, die irgendwer erst herzustellen hätte, sondern die Synthese, die sich von selber macht, die aus den Voraussetzungen „resultiert". Sie ist der Ausdruck dessen, was Wundt in der Psychologie das Prinzip der p s y c h i s c h e n R e s u l t a n t e n nennt:
U b e r ihn siehe P h i l o s o p h i e der G e g e n w a r t , S a m m l u n g Gösdien B d . 850.
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Wissenschaftssynthese
daß „jedes psychische Gebilde Eigenschaften zeigt, die zwar, nachdem sie gegeben sind, aus den Eigenschaften seiner Elemente begriffen werden können, die aber gleichwohl keineswegs als die bloße Summe der Eigenschaften jener Elemente anzusehen sind." ]. St. Mill hat den Ausdruck „psychische Chemie" geprägt. Er meinte, im Seelischen verhalte es sich so wie in der Chemie: daß die Verbindung zweier Elemente einen qualitativ neuen Stoff ergibt. Für Wundt aber sind die Elemente der Chemie nichts, was sich den „Elementen" seelischer Gebilde vergleichen läßt. Das seelische Gebilde ist rein d y n a m i s c h , die Gestalt eines unaufhörlich weitergehenden Prozesses. Allerdings ist es Aufgabe der Psychologie, die unmittelbar gegebenen Erfahrungsinhalte (irp Gegensatz zu den mittelbar gegebenen, von der Beziehung zum Subjekt abgelösten, welche die N a t u r w i s s e n s c h a f t untersucht) zu a n a l y s i e r en. Auf den Begriff des Elementes verzichtet also Wundts Psychologie nicht. Aber sie ist nicht „Elementenpsychologie" im Sinne der älteren Assoziationstheorie. Die psychische Synthese ist keine Summation, sondern eine V e r s c h m e l z u n g , „durch die alle in unserem Bewußtsein wirklich vorhandenen psychischen Gebilde überhaupt erst entstehen, da isolierte Elemente niemals in demselben vorkommen." Sie ist ein Prinzip der W e r t s t e i g e r u n g : was aus den „Elementen" entsteht, ist nicht nur qualitativ andersartig, sondern auch höherwertig, d. h. bedeutungsreicher. Sie ist ein Prinzip des Wachstums und der Entwicklung, ja das eigentliche E n t w i c k l u n g s p r i n z i p . D e m Prinzip der schöpferischen Synthese („resultativen Synthese", H. Volkelt) hat Wundt zwei andere zur Seite gestellt: das Prinzip der p s y c h i s c h e n R e l a t i o n e n , demzufolge „jeder einzelne psychische Inhalt seine Bedeutung empfängt durch die Beziehungen, in denen er zu anderen psychischen Inhalten steht", und das Prinzip der p s y c h i s c h e n K o n t r a s t e , w o nach alle Erlebnisse oder inneren Erfahrungen eine Ordnung nach Gegensätzen (Lust-Unlust, Erregung-Hemmung, Spannung-Lösung) erfordern. U n d er hat drei „allgemeine psychische Entwicklungsgesetze" unterschieden: das Gesetz des g e i s t i g e n W a c h s t u m s , der H e t e r o g o n i e d e r Z w e c k e und der E n t -
Die schöpferische Synthese
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wicklung in G e g e n s ä t z e n . Sie bezeichnen die „Anwendungen" jener Prinzipien auf „umfassendere psychische Zusammenhänge" (des Gemeinstliaftslebens, der Ethik, Geschichte, Kultur usw.). Am wichtigsten ist die H e t e r o g o n i e d e r Z w e c k e . Ist ein Zweck verwirklicht, so zeigt sidi allemal, daß er sich nicht mehr mit der ursprünglichen Zweckvorstellung deckt, daß in den erreichten Wirkungen „stets noch Nebeneffekte gegeben sind, die in den . . . Zweckvorstellungen nicht mitgedacht waren, die aber gleichwohl in neue Motivreihen eingehen und auf diese Weise entweder die bisherigen Zwecke umändern oder neue zu ihnen hinzufügen." Haben wir eine „Absicht" erreicht, so hat sich ihr „Sinn" schon verändert; denn die psychischen Relationen, aus denen sie hervorging, haben sich geändert. Das Gesetz von der Heterogonie (Entstehung aus anderem; „Metamorphose", wie Höffding sagt, ist nicht gleichwertig) der Zwecke ist also Beispiel für die Anwendung des Prinzips der p s y c h i s c h e n R e l a t i o n e n auf das Gebiet der Willensvorgänge. Ebenso ist das Gesetz der E n t w i c k l u n g i n G e g e n s ä t z e n Anwendung des K o n t r a s t prinzips auf Geschichte und Kulturpsychologie. Die während einer gewissen Zeit überwiegenden Gefühle müssen schließlich — so drückt es Wundt aus — den zunächst weniger intensiven e n t g e g e n g e s e t z t e n weichen, die nun selbst für kürzere oder längere Zeit zur Herrschaft gelangen, bis wieder ein durch Kontrastverstärkung bedingter Umschlag eintritt. Dies wäre ein bloßes Hin- und Herpendeln; nimmt man aber die beiden anderen Gesetze: des geistigen Wachstums und der Heterogonie der Zwecke hinzu, so zeigt sich, daß es sich wirklich um ein E n t w i c k l u n g s g e s e t z handelt, — Hegels Dialektik vergleichbar (wie sich das Prinzip der Relationen Leibniz, das der schöpferischen Synthese Fichte, und die ganze „Entwicklungsformel" Spencer vergleichen läßt). Auf Wundts Einteilung der psychischen Elemente, Gebilde, Gebildezusammenhänge und Entwicklungen ist hier nicht einzugehen, da sie in eine Geschichte der Psychologie gehört. N u r der C h a r a k t e r dieser Psychologie, die man, weil Wundt von der Physiologie zu ihr gelangte und offensichtlich naturwissenschaftliche Methoden anwandte, zum Typus der physiologischen rechnet, ist zu berücksichtigen. Und dann natürlich das
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Verhältnis der Psychologie zur V ö l k e r p s y c h o logie. Wundt nannte seine Psychologie eine e x p e r i m e n t e l l e . Aber er nannte sie nicht deshalb so, weil er sie auf Fragen der Gehirnphysiologie und Psychophysik beschränken wollte. Im Gegenteil. Seine „experimentelle" Psychologie ist aus der Kritik der WeberFechnersdien Psychophysik hervorgegangen. U n d nicht darum handelt es sich, durch das Experiment die S e l b s t b e o b a c h t u n g zu ersetzen. „Ihr eigentlicher Zweck ist vielmehr die exakte Analyse des individuellen Bewußtseins mit H i l f e einer genau geregelten Selbstbeobachtung." Darin liegt freilich auch eine Kritik der „ r e i n e n " Selbstbeobachtung, die ein „äußerst unsicheres, steuerlos beliebigen Einbildungen und vorgefaßten Meinungen preisgegebenes Fahrzeug ist." Ja, Wundt behauptet, ohne experimentelle Methode sei eine Selbstbeobachtung im wissenschaftlichen Sinne überhaupt unmöglich. Gewiß gibt es „innere Wahrnehmungen". Aber sie halten nicht stand. Ihre einzelnen Bestandteile lassen sich nicht fixieren. „Je mehr wir uns anstrengen, uns selbst zu beobachten, um so sicherer können wir sein, daß wir überhaupt gar nichts beobachten." Wir können die „Seele" nicht beobachten, weil es keine besondere „Seele" gibt. „Unsere Seele ist nichts anderes als die Summe unserer inneren Erlebnisse selbst, unseres Vorstellens, Fühlens und Wollens, wie es sich im Bewußtsein zu einer Einheit zusammenfügt und in einer Stufenfolge von Entwicklungen schließlich zum selbstbewußten Denken und freien sittlichen Wollen erhebt." Wundts Psychologie ist eine „ P s y c h o l o g i e o h n e S e e l e " , — ein Ausdruck, den Fr. A. Lange in der Geschichte des Materialismus gebrauchte, und den man in tadelndem Sinne auf Wundt anwandte, ohne ihn damit zu treffen. Denn weder lehnt Wundt den Seelenbegriff als solchen ab (er ist ein „Hilfsbegriff der Psychologie" wie die
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M a t e r i e ein „ H i l f s b e g r i f f der N a t u r w i s s e n s c h a f t " ist), noch leugnet er die Tatsächlichkeit und Selbständigkeit des Psychischen gegenüber d e m Physischen. W a s er ablehnt," ist der Begriff der S e e l e n s u b s t a n z , — die substanzielle Einheit des Psychischen. U n d er lehnt die Seelensubstanz nicht ab, weil sie ein metaphysischer Begriff ist. S o n d e r n g e r a d e aus m e t a p h y s i s c h e n Gründen. Wundts Psychologie ist a k t u a l i s t i s c h (von actus Vorgang), weil sie nur Geschehnisse, Ereignisse, Entwicklungen, kein bleibendes „Sein" der Seele kennt, weil ihr Grundbegriff die schöpferische Synthese, der produktive Prozeß als solcher ist. Sie ist v o l u n t a r i s t i s c h 1 ), nicht weil es für sie nur Willensprozesse gibt, sondern weil der Willensvorgang der einzige „typische Repräsentant" aller psychischen Erfahrungsinhalte ist. Und s k ist A p p e r z e p t i o n s p s y c h o l o g i e (im Gegensatz zur Assoziationsspychologie), weil die „Apperzeptionsverbindungen", d. h. die unter Mitwirkung der Aufmerksamkeit zustande kommenden, a k t i v e Erlebn i s s e sind, und weil die psychische Synthese überhaupt nur nach dem Typus der a p p e r z e p t i v e n S y n t h e s e gedacht werden kann. Wundts Psychologie ist mithin B e w u ß t s e i n s p s y c h o l o g i e (im Gegensatz zur „Psychologie des Unbewußten"), nicht weil sie das Bewußtsein als besonderen geistigen Vorgang allen anderen vor- und überordnet, sondern weil ihr das „Bewußtsein" den Z u s a m m e n h a n g aller a k t u e l l e n psychischen Tatsadien und inneren Erfahrungen bedeutet. Das Bewußtsein ist keine „Schaubühne", es ist keine besondere Realität, — es ist das G a n z e des Seelenlebens unter dem Gesichtspunkt der schöpferischen Synthese. D i e experimentelle Psychologie hat ihren Inhalt, aber auch ihre G r e n z e a m „Bewußtsein des entwickelten Menschen". Sie ist Individualpsychologie. Wundt nennt die Individualpsychologie, insofern sie es mit dem zu tun hat, „ w a s f ü r das menschliche I n d i v i d u u m als solches gültig i s t " a l l g e m e i n e Psychologie. D a s ist nicht sehr glücklich, weil die I n d i v i d u a l p s y c h o logie d a n n auch die psychologischen Gesetze des G e D e r Ausdruck Voluntarismus P h i l o s o p h i e 1892).
stammt von
Paulsen
(Einleitung
in die
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m e i n s c h a f t s l e b e n s umfassen müßte. In gewissem Sinne tut sie es auch. Aber nur deswegen, weil die menschliche Entwicklung „von A n f a n g an darauf gerichtet ist, daß sich das Individuum mit seiner geistigen Umgebung zu einem Ganzen verbindet", d. h. weil sie als Individualpsychologie nicht b l o ß e Individualpsychologie ist. D a s (menschliche) Individuum ist nichts ohne die Gemeinschaft; aber das „geistige Leben einer Gemeinschaft besteht schließlich doch nur aus dem Leben der einzelnen." Trotzdem können wir die drei „Gemeinschaftserzeugnisse" : S p r a c h e , M y t h u s , S i t t e , nicht aus den Individuen herleiten. Wir können sogar die Individualpsychologie nicht ohne Berücksichtigung dessen durchführen, was Wundt Völkerpsychologie nennt, und worunter er die Lehre von der „Volksseele" und vom „Volksgeist", die „Untersuchung derjenigen psychischen Vorgänge, die der allgemeinen Entwicklung menschlicher Gemeinschaften und der Entstehung gemeinsamer geistiger Erzeugnisse von allgemeingültigem Werte zu Grunde liegen", versteht. Diese „Völkerpsychologie" kennt keine experimentelle Methode; sie ergänzt die Individualpsychologie gerade dort, wo die experimentelle Methode versagt. Die Völkerpsychologie ist das psychologische Fundament der G e i s t e s w i s s e n s c h a f t e n . Das ist ein entscheidender Punkt. "Weil nämlich Wundt, so hat man gesagt, alle Geistes- oder Kulturwissenschaften psychologisch „begründe", sei er der Vertreter eines u n i v e r s a l e n P s y c h o l o g i s m u s , d. h. einer Auffassung, die jeden Sachund Problemgehalt in einen psychologischen umdeutet. Wobei es wenig besagt, daß Wundt die „ s p e z i e l l e n Geisteswissenschaften" (Geschichte und Philologie, Gesellschaftswissenschaften: Ethnologie, Nationalökonomie, Jurisprudenz, allgemeine Soziologie) von der „a 11 g e m e i n en Geisteswissenschaft" (Individualpsychologie, Psydiophysik, Völkerpsychologie und Pädagogik) trennt, und die besondere Gegenständlichkeit der ersteren durchaus anerkennt. Auch kann der Einwand bei Seite gelassen werden, daß ein universaler Psychologismus sich aufheben würde; denn wenn alle Wis-
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senschaften „psychologisch" sind, bliebe f ü r eine Psychologie als besondere Wissenschaft kein Platz. Wundts „Psychologismus" hat vielmehr einen w i s s e n s c h a f t s s y n t h e t i s c h e n Sinn. Nicht um die Geisteswissenschaften unter einen H u t zu bringen, sondern um sie so miteinander zu v e r b i n d e n , d a ß der Prozeß des geistigen Lebens als Gesamtprozeß verständlich wird, ist auf die Völkerpsychologie zurückzugehen. Sie ist nicht die einzige Voraussetzung der Geisteswissenschaften, aber die einzige, die ihre T r a n s f o r m a t i o n u n d S y n t h e s e ermöglicht. Sie ist es deshalb, weil die geistigen Gebilde auf jeden Fall „schöpferische Synthesen" sind, u n d weil die Wissenschaft von der schöpferischen Synthese a l s s o l c h e r nach Wundt eben die Psychologie ist.
Was nun die M e t a p h y s i k im eigentlichen Sinne betrifft, so bestimmt sie sich f ü r Wundt als Prinzipienlehre (der Wissenschaften bzw. ihres Inhalts). Diese Prinzipienlehre wird der Erkenntnislehre (Erkenntnistheorie) gegenübergestellt. Die Metaphysik ist Wissenschaft, insofern sie unter Ausschluß aller Begriff sdichtung und Dialektik streng logisch v e r f ä h r t ; sie ist i n d u k t i v e Metaphysik, insofern sie von der Erfahrung (Verstandeserkenntnis) zu ihren hypothetischen Voraussetzungen bzw. Ergänzungen (Vernunfterkenntnis) fortschreitet; sie ist „I d e a 1 r e a 1 i s m u s", insofern sie nicht „aus idealen Prinzipien die Realität spekulativ abzuleiten, sondern, gestützt auf die berichtigten Begriffe der Wissenschaft, das Verhältnis der idealen Prinzipien zu der objektiven Realität nachzuweisen" sucht. Eine besondere Bedeutung hinsichtlich ihres Inhaltes kommt der Wundtschen Metaphysik nicht zu. Wie im Bereich der Einzelwissenschaften, so hat Wundt auch in der Metaphysik eine Fülle von systematischen Motiven und fast alle Ansätze der Philosophie seiner Zeit zur Geltung gebracht. Der Sache nach kommt er Schopenhauer immerhin so nahe, daß man ihn zu den realistischindividualistischen Weiterbildnern Schopenhauers rechnen konnte. Dem widerspricht freilich die scharfe Kritik, die er im Einzelnen an Schopenhauer übt, und der
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ganz andere Sinn, den die Willensmetapysik bei Wundt und Schopenhauer besitzt.
In Wundts „System der Philosophie" tritt das metaphysische Problem im Rahmen einer Lehre von den t r a n s z e n d e n t e n I d e e n auf. Diese „Ideen" sollen den „empirischen Tatbestand" durch Voraussetzungen ergänzen, „welche geeignet sind, die gebliebenen Widersprüche endgültig aufzulösen". Entspricht dies der Methode Herbarts, so soll doch für Wundt die Philosophie nicht nur „Verstandesforderungen", sondern auch „Gemütsbedürfnisse" befriedigen. Es gibt drei transzendente Ideen: k o s m o l o g i s c h e , p s y c h o l o g i s c h e , o n t o l o g i s c h e . Ihnen gemeinsam ist der R e g r e ß vom Endlichen zum Unendlichen, vom „Empirischen ins Transzendente". Verschieden sind die Ausgangspunkte : N a t u r w i s s e n s c h a f t , P s y c h o l o g i e , und (für die Ontologie) P s y c h o p h y s i k . Der kosmologisdie und der psychologische Regreß sind in gewissem Sinne entgegengesetzt und für sich unzureichend; der ontologische Regreß „ergänzt" sie und hebt ihren Gegensatz auf. Die kosmologischen Probleme beziehen sich auf die äußere, die psychologischen auf die innere Welt. Jene auf die Welt in Raum und Zeit, diese auf die „Welt" des Willens, d. h. auf die Willensgemeinschaft oder „geistige Gesamtheit" als „Bestimmungsgrund des Einzelwillens". Insofern Wundt sogleich ein Insgesamt v i e l e r Willenseinheiten, nicht einen einheitlichen „Weltwillen" ins Auge faßt, unterscheidet er sidi von Schopenhauer. „Der empirische Wille ist bewußte Tätigkeit, von Vorstellungen als seinen Motiven getragen; der Weltwille ist unbewußt, unabhängig von Vorstellungen, die er selbst vielmehr erst hervorbringt". Der „Weltwille" ist also ganz ungeeignet, den psychologischen Regreß abzuschließen. Dafür ist aber auch Wundts eigene Bearbeitung, die ihn auf der einen Seite zum Begriff des reinen apperzeptiven Willens, vergleichbar der transzendentalen Apperzeption Kants (und auch so genannt), auf der anderen Seite über die menschlichen Willensgemeinschaften hinaus zum sittlichen Ideal und seiner Ergänzung, der religiösen Idee, führt, nicht geeignet. Denn offenbar liegt der Schwerpunkt der Metaphysik in der O n t o l o g i e , in der Verbindung (Synthese) von Kosmologie und Psychologie, von kosmologischem Realismus und psychologischem Idealismus, in der Beziehung des eigenen Seins der O b j e k t e zum Sein der (Willens-) S u b j e k t e . Und hier erst gelangt Wundt zu seinem W i l l e n s p l u r a -
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1 i s m u s , d e r den b e w u ß t e n I n d i v i d u a l w i l l e n „niedere W i l lenseinheiten" ein- u n d v o r o r d n e t , die sich z u i h m v e r h a l t e n w i e er selbst sich zu dem G e s a m t w i l l e n b e z w . z u der v o n i h m w i r k e n d m i t a u f g e b a u t e n "Willensgemeinschaft v e r h ä l t . D i e s e W i l l e n s e i n h e i t e n sind nicht, w i e Leibniz' M o n a d e n , t ä t i g e S u b stanzen, s o n d e r n sie sind „ s u b s t a n z e r z e u g e n d e T ä t i g k e i t e n " . Sie sind nicht w i e bei Leibniz g e g e n e i n a n d e r abgeschlossen, s o n d e r n stehen in „durchgängigen R e l a t i o n e n " z u e i n a n d e r . U n d sie „haben" nicht v o n v o r n h e r e i n ihre je eigenen „ V o r stellungen", s o n d e r n ihre V o r s t e l l u n g e n ergeben sidi erst aus wechselseitigem T u n u n d Leiden. (Seine A u f f a s s u n g d e r ' Leib»¿zsdien P h i l o s o p h i e h a t Wundt 1 9 1 7 in einer S d i r i f t z u m Leibnizjubiläum dargelegt).
Als Spezies der zahlreichen Metaphysikentwürfe im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts ist Wundts „System" für die Gegenwart ohne Interesse. Nicht dagegen als Versuch, in Form einer l e t z t e n S y n t h e s e das Ganze der Wundtsdcizn Forschungen zusammenzufassen. Wobei es durchaus seiner Methode entspricht, daß diese Zusammenfassung wiederum ein neues „Gebilde "ergeben muß, — ein Gebilde, dessen „Elemente" die Resultate der einzelwissenschaftlichen Arbeit sind. Man kann auch sagen, daß sich Wundt in seiner Metaphysik des eigentlichen Gehaltes seiner psychologischen, völkerpsychologischen, logischen, erkenntnistheoretischen, ethischen Grundbegriffe allererst versichert. Denn alle diese Begriffe besitzen einen über die Fachwissenschaft hinausgehenden Gehalt. Aber sie sind wertlos, wenn der wissenschaftliche Gehalt selbst verlorenginge. Das gilt insbesondere vom Begriff der schöpferischen Synthese und von Wundts psychologischem Aktualismus, der sich in seiner Metaphysik zu einem reinen Aktualismus Fichte scher Prägung, zum „schöpferischen Tatwerden" steigert. „Nicht ein an sich beharrendes Sein, das durch seine Handlungen die Welt der Erscheinungen hervorbringt, kann als das Ursprüngliche gelten, sondern die Aktualität des Seins ist dieses Ursprüngliche, das Sein selber ist Werden: es ist die T a t , die die Welt außer uns und das geistige Leben in uns beherrscht." Interpretiert man Wundt von hier aus, so befindet man
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sich allerdings mitten im N e u i d e a l i s m u s (Euchens „Tatleben"). Aber man setzt dann nur eine metaphysische Chiffre an die Stelle jenes Erfahrungsinhaltes, aus dem Wundt das Prinzip der psychischen „Resultanten" gewann und an dem er es fortdauernd neu herausarbeitete. Kürzer können wir uns bei der Philosophie E. v. Hartmanns fassen. Nicht, weil sie gedankenärmer oder weniger durchgebildet wäre. Im Gegenteil. E. v. Hartmanns System ist so ausgearbeitet und weit gespannt, daß die Systeme Spencers und Wundts daneben wie fragmentarisch erscheinen. Aber auf das Systematische allein kommt es nicht an, sondern auf den Inhalt. Und in dieser (also in wissenschaftssynthetischer) Hinsicht ist v. Hartmann schon dadurch im Nachteil, daß er am Betrieb der Wissenschaft keinen Anteil hat. Freilich sollen es s p e k u l a t i v e Resultate nach „induktiver" Methode sein, die er verspricht, so daß also der Schwerpunkt seiner Philosophie, wie es scheint,' ganz in der M e t a p h y s i k liegt. Doch ist v. Hartmann auch in metaphysischer Hinsicht R e f l e x i o n s p h i l o s o p h ; im Gegensatz zu den Metaphysikern, an die er sich anschließt: Schelling, Schopenhauer, Hegel. Es gibt für ihn keinen direkten Zugang zur metaphysischen Sphäre; jeder Versuch, sie unmittelbar zu erkennen, ist „völlig verfehlt und aussichtslos". Es gibt also nur eine h y p o t h e t i s c h e Metaphysik, — eine Verallgemeinerung von Erfahrungen, die der Naturwissenschaft und der Psychologie entnommen sind. So wird die "Wissenschaftssynthese bei ihm Mittel zum Zweck: und der Zweck, d. h. die spekulative Absicht, verfälscht das Mittel. Eduard v. Hartmann ist 1842 in B e r l i n geboren, und hier 1906 gestorben. Er war der Sohn eines Artilleriehauptmanns und hatte schon die militärische Laufbahn eingeschlagen, als ihn die Folgen einer 1861 erlittenen Knieverletzung zwangen, seinen Abschied zu nehmen (1868). Sein Leiden verschlimmerte sich später (1879 stürzte er zum zweiten-, 1881 zum drittenmal, 1883 mußte er am Darm operiert werden) so daß ihm eine Tätigkeit außerhalb des
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Hauses unmöglich wurde. Liegend hat er in den letzten Jahrzehnten seine Werke verfaßt. 1867 promovierte er in Rostode mit einem Kapitel aus der Philosophie des Unbewußten (Die Materie als Wille und Vorstellung); 1886 veröffentlichte er eine Kritik der Hege/sehen Dialektik, und im gleichen Jahre erschien das 1864 begonnene Jugendwerk (zunächst einbändig, von der 7. Auflage 1875 an zweibändig, in der 10. Auflage 1890 dreibändig, — der Text der 5. Auflage 1873 ist stereotypiert und durch Zusätze ergänzt). Der außerordentliche Erfolg der „Philosophie des Unbewußten" ermöglichte es ihm, als Privatgelehrter zu leben. Dieser Erfolg eines schlecht geschriebenen und unreifen Werkes beruhte darauf, daß hier die Schopenhauersdie Philosophie mit den „progressiven" Tendenzen der Zeit verbunden, der P e s s i m i s m u s evolutionistisch und kulturoptimistisch verbrämt wurde (der „Amalgamist Hartmann" nach Nietzsches Bezeichnung). Und darauf, daß v. Hartmann die Begeisterung für naturwissenschaftliche Bildung überall trefflich auszunutzen verstand, dabei aber den Materialismus und Darwinismus heftig angriff. Nicht zuletzt auch auf seiner antikirchlichen, christentumsfeindlichen Einstellung, und auf einer geschickten Hervorhebung aller Züge damaliger „Modernität". Immerhin mußte nachgeholfen werden. Ständig schreibend „steigt er immer wieder von den reinen Höhen des Gedankens herab in die Niederungen des Alltags, um die gärenden Zeitfragen klären zu helfen" (v. Schnehen), d. h. er betätigt sich journalistisch, er politisiert, er erläutert seine Philosophie, er läßt seine Frau (Agnes Taubert, mit der er sich 1871 verheiratete) für sich schreiben, er veröffentlicht anonym 1872 eine Arbeit: „Das Unbewußte vom Standpunkt der Philosophie und Deszendenztheorie", in der er sich selber angreift, um diesen Angriff dann (1877) in der 2. Auflage (unter seinem Namen) zurückzuweisen. — 1874 erscheint die Aufsehen erregende Schrift über die „Selbstzersetzung des Christentums und die Religion der Zukunft". Trotzdem geht der Geist der Zeit über ihn hinweg. Aber auch er überwindet seine Modephilosophie und schafft immer inhaltsreichere, besser stilisierte, grundlegende Werke: die P h ä n o m e n o l o g i e des s i t t l i c h e n B e w u ß t s e i n s (1879), die R e l i g i o n s p h i l o s o p h i e („Das religiöse Bewußtsein der Menschheit im Stufengang seiner Entwicklung" 1881, „Die Religion des Geistes" 1882), die Ä s t h e t i k (1886—87), das „Grundproblem der Erkenntnistheorie"
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(1890), die K a t e g o r i e n l e h r e (1896) und das „ S y s t e m d e r P h i l o s o p h i e i m G r u n d r i ß", das posthum in 8 Bänden (Erkenntnislehre, Naturphilosophie — 1907 — Psychologie, Metaphysik, Axiologie — 1908 —, ethische Prinzipienlehre, Religionsphilosophie, Ästhetik — 1909) erschien, und neben der Kategorienlehre seine bedeutendste Leistung ist. Nach dem Tode seiner Frau (1877) hatte er sich (1878) zum zweitenmal verheiratet. Alma v. Hartmann, ebenfalls Schriftstellerin, wurde zur unermüdlichen Kämpferin für sein Lebenswerk. Er starb an einem Darmleiden am 6. Juni 1906 in Lichterfelde bei Berlin. Ständig sich selbst kommentierend und interpretierend, scheint v. Hartmann dem „Historiker die Aufgabe sehr erleichtert zu haben" (Külpe). Das Gegenteil ist der Fall. Er konstruiert seine Entwicklung, wie er seine Metaphysik konstruiert; über die eigentlichen Motive seines Denkens erfährt man kaum etwas. Wie seine Selbstkommentare, so sind auch die darauf aufbauenden Darstellungen seiner Anhänger geschichtlich ohne Wert. Sein „haarspaltender Scharfsinn" (R. Haym) läßt die intuitiven Momente seiner Philosophie nicht zur Geltung kommen. Der Philosoph des „Unbewußten" hat zur P s y c h o l o g i e (wie H. Driesch, der ihm darin folgt) ein fast negatives Verhältnis, indem er die psychischen „Phänomene" für rein passiv, die psychischen „Tätigkeiten" aber für unerlebbar und dem Bewußtsein unzugänglich hält. Der M e t a p h y s i k e r erzählt einen Mythos vom Absoluten, ohne Verständnis für den Sinn mythologischer Begriffsbildung, und berichtet mit dürren Worten, daß die „Majorität des in der Welt tätigen Geistes" eines schönen Tages den „Beschluß" fassen werde, das „Wollen aufzuheben". Der P e s s i m i s t stellt über das „Elend des Daseins" mathematische Berechnungen an, zieht die „Weltlustbilanz" nicht nur des Menschen, sondern auch des Absoluten. Der K u l t u r p h i l o s o p h zersetzt den „Illusionsdusel", fordert aber auf, kräftig für den „Fortschritt" zu arbeiten, damit das Absolute erlöst werden kann. Er ist seiner Zeit, dem Zeitalter Bismarcks, aufs engste verbunden. Ebenso seiner Heimat, dem Berlin der Gründerjahre, dessen „Geist" in der Diktion seines Jugendwerkes spürbar ist (Baugrund, Bauhorizont, Prozent, Geldlotterie und andere Motivtermini!). Ihn deshalb als den „Bismarck des Gedankens" zu bezeichnen (Braun), dürfte mehr als abwegig sein; es ist vielmehr der M a n g e l der deutschen Philosophie um 1870, daß sie keinen „Bismarck des Gedankens" hervor-
Das Unbewußte
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gebracht hat, sondern sich dafür mit E. v. Hartmann begnügen mußte. E. v. Hartmanns Metaphysik hat wie diejenige Schopenhauers einen a n t h r o p o l o g i s c h e n Ursprung: sie geht vom Menschen aus, als dessen „alleinige psychische Grundfunktionen" ihr W i l l e und Vo r s t e 1 1 u n.g gelten. Nach Analogie dieser Funktionen wird das Ganze der Welt, die Wirklichkeit, das Absolute gedacht. Aber nicht durch Selbstversenkung oder Bewußtseinszergliederung können wir zu den Tätigkeiten des Willens und Vorstellens in uns gelangen, sondern nur durch K a u s a l s c h l u ß , indem wir unser bewußtes Seelenleben als Produkt des U n b e w u ß t e n auffassen. Das Unbewußte in diesem Sinne ist nicht im Bewußtsein enthalten. Es ist kein „abgeschwächtes oder modifiziertes" Bewußtsein, darf also nicht mit dem U n t e r b e w u ß t e n bezw. mit dem Unbewußten der P s y c h o a n a l y s e (die mit v. Hartmanns Philosophie weder sachlich noch genetisch etwas zu tun hat) verwechselt werden. Wohl gibt es ein r e l a t i v U n b e w u ß t e s . Aber das sind psychische Phänomene niederer Bewußtseinszentren, „die unter der Schwelle meines obersten Zentralbewußtseins bleiben", — woraus ersichtlich ist, daß v. Hartmann wie Fechner allen Organismen Bewußtsein zuschreibt und einen „Parallelismus zwischen Naturindividuen und Bewußtseinsindividuen" annimmt. Es gibt auch ein p h y s i o l o g i s c h U n b e w u ß t e s , insofern das physiologische Substrat des Bewußtseins nicht ganz und gar unpsychisch sein kann (wie der Materialismus behauptet), sonders als materielles beseelt sein muß; schreibt doch v. Hartmann den Atomen — die er nicht für ausgedehnt hält, sondern als reine K r a f t z e n t r e n auffaßt — „¡primitivste Lust- und Unlustgefühle" zu, die „noch nicht zu qualitativen Empfindungen zusammengefaßt sind, aber das primitive Material zu diesen Synthesen in den Individuen nächsthöherer Stufe liefern".
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Wissenschaftssynthese
D a s Unbewußte im eigentlichen Sinne oder das a b s o l u t Unbewußte ist kein „Bewußtseinskeller", kein „Taubenschlag" (für die Vorstellungen), kein potentielles Bewußtsein, — es ist der Inbegriff von Wille und Vorstellung als m e t a p h y s i s c h e r T ä t i g k e i t e n . N u r seine Produkte spiegeln sich im Bewußtsein. Die psychischen Phänomene sind Erscheinungen, denen ein Transzendentes (Bewußtseinsjenseitiges) zugrunde liegt; die erkenntnistheoretische Voraussetzung der Philosophie des Unbewußten ist mithin ein transzendentaler (kriin mehreren tischer) R e a l i s m u s , den v, Hartmann Schriften dem vermeintlichen Phänomenalismus Kants und dem Neukantianismus gegenüber zur Geltung bringt. D e r W e g des J u g e n d w e r k e s ist allerdings nicht der, z u zeigen, wie nun d a s reale und transzendente U n b e w u ß t e die „ s u b j e k t i v - i d e a l e " S p h ä r e (des bewußten Geistes oder der Bewußtseinsimmanenz) bestimmt. Untersucht w i r d vielmehr zuerst die Erscheinung des U n b e w u ß t e n in der „Leiblichk e i t " : der unbewußte Wille in den R ü c k e n m a r k s - und G a n g lienfunktionen, der Anteil des unbewußten Willens an der willkürlichen K ö r p e r b e w e g u n g , d a s U n b e w u ß t e im Instinkt, in der „ N a t u r h e i l k r a f t " usw., — F r a g e n der N e r v e n p h y s i o logie, Psychophysik und Biologie, deren Zusammenschau f ü r die w i s s e n s c h a f t s s y n t h e t i s c h e T e n d e n z v. Hartmanns kennzeichnend ist. D i e vordringliche Einbeziehung naturphilosophischer Fragen hängt aber auch d a m i t zusammen, d a ß f ü r v. Hartmann nicht einfach der subjektiv-idealen Bewußtseinssphäre ( v o n der wir erkenntnistheoretisch auszugehen haben) eine transzendentreale metaphysische S p h ä r e gegenübersteht, sondern d a ß d a s erkenntnistheoretisch T r a n s z e n d e n t e (das „ D i n g an sich") in die objektiv-reale S p h ä r e ( N a t u r ) und die m e t a p h y s i s c h transzendente S p h ä r e z e r f ä l l t , die objektiv-reale S p h ä r e aber metaphysisch i m m a n e n t ist, d. h. d a ß Bewußtsein u n d N a t u r z u s a m m e n ein G a n z e s bilden, d a s a l s solches „Erscheinung" des U n b e w u ß t e n ist.
D a s Unbewußte „erscheint" also nicht bloß im Bewußtsein; es erscheint in der N a t u r und im G e i s t e , bezw. dasjenige, was wir N a t u r und Geist nennen, ist an sich „Unbewußtes". N a t u r und Geist sind, insofern sie unbewußt sind, i d e n t i s c h : v. Hartmanns Meta-
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physik ist Identitätsphilosophie. Aber sie ist i d e a l i s t i s c h e Identitätsphilosophie, d. h. das „hinter der doppelseitigen Erscheinung liegende Wesen . . . dcckt sich mit dem unbewußten Geiste, der die einheitliche Wurzel des bewußten Geistes und der N a t u r , des Bewußtseins und des Daseins, der Innerlichkeit und der Äußerlichkeit ist." N u r dies rechtfertigt es ja, nicht bloß vom Absoluten mit zwei „Attributen", sondern vom absolut U n b e w u ß t e n als metaphysischem „Wesen" zu sprechen. „Geist ist das Wesen, weil es ein Subjekt mit Wille und Vernünftigkeit, Allmacht und Allweisheit, und dadurch befähigt ist, unbeschadet seiner ewigen Sichselbstgleichheit in die Tätigkeit einzutreten, kurz weil es lebensfähiges Insichsein ist". Wille ist der Realfaktor, Vorstellung der Ideal'faktor; Wille ist irrational, Vorstellung ist rational, das Logische; Wille ist die t h e l i s c h - d y n ä m i s c h e , Vorstellung (Wissen, Weisheit) die l o g i s c h i d e e l l e Seite der metaphysischen Tätigkeit. Beide aber sind nicht nur f ü r uns unbewußt, sondern sie sind gleichsam s i c h s e l b s t unbewußt. Das Absolute ist Wille, Vorstellung, Macht und Geist, aber o h n e B e w u ß t s e i n u n d P e r s ö n l i c h k e i t , v. Hartmann glaubt, dies denken zu können, und hat von hier aus am Spätidealismus, besonders an Lotze, scharfe Kritik geübt; seine Religionsphilosophie lebt ganz von der Unpersönlichkeit Gottes, ist also Pantheismus. Natürlich ist das P r o b l e m des Bewußtseins damit nicht gelöst, und die Hauptschwierigkeit seiner Spekulation ist der Nachweis, wie Bewußtsein überhaupt entstehen, welche Bedeutung es im metaphysischen bezw. theogonischen Prozeß haben kann. E. v. Hartmann ist E v o l u t i o n i s t wie Spencer und Wundt („wir aber, die wir in Natur und Geschichte nur einen einzigen großartigen und wertvollen Entwicklungsprozeß erkennen . . ."). Doch ist eine p o s i t i v i s t i s c h e Entwicklungslehre für ihn sinnlos. Ohne Zweck und Zweckverwirklichung, ohne F i n a 1 i t ä t , gibt es keine Entwicklung. Die unbewußte Vernünftigkeit durchwaltet alles, und wie für L e h m a n n , Gesdi. d. Phil. I X
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Hegel ist für v. Hartmann die Wirklichkeit die wirkliche Idee. Aber der Weltprozeß ist nicht bloße Entfaltung des Logischen, sondern „fortdauernder Kampf des Logischen mit dem Unlogischen", der Vernunft mit dem Willen, des Rationalen mit dem Irrationalen. Und das Irrationale, das dem Logisdien die M a c h t gibt, sich als Idee zu realisieren, ist der Wille. Dem Willen ist das Daß, die E x i s t e n z , —' der Vorstellung ist das Was, die E s s e n z der Welt zugeordnet. Doch wie soll es zu einer „Entwicklung" kommen, solange Wille und Vernunft friedlich nebeneinanderlagern? Hier erzählt nun v. Hartmann seinen Mythos, den er von Schelling übernimmt: daß der W i l l e aus einem Zustande bloßer Potenzialität zum aktuellen W o l l e n wird, d. h. zu einem Sehnen oder „Schmachten" nach Erfüllung mit Inhalt, daß ihm dieser Inhalt durch die V o r s t e l l u n g gegeben wird, er sich also gleichsam mit der Vorstellung vermählt, sie „umarmt", daß aus dieser Umarmung das S e i n gezeugt wird, welches den Willen zum Vater, die Vorstellung zur Mutter hat, — daß aber das Wollen (weil der Wille der Potenz nach unendlich ist) durch keine Realisierung befriedigt, aus seiner „Unseligkeit" erlöst, vielmehr unersättlich zu immer neuen Realisierungen getrieben wird, die alle dasselbe „Ziel" haben: das Wollen aus seiner Unseligkeit zu e r l ö s e n . Wobei d a n n endlich das B e w u ß t s e i n zu seinem Recht k o m m t . D e n n es ist f ü r diese Erlösung, Verneinung des Willens z u m Leben (Schopenhauer), unentbehrlich. Die Vorstellung des Nichtwollens k a n n sich das Wollen nicht geben; nur das Bewußtsein k a n n das Nichtwollen wollen. Durch das Bewußtsein t r i t t also jene W i l l e n s s p a l t u n g (in einen positiven u n d negativen Teil, die sich gegenseitig aufheben) ein, die f ü r die Beendigung des Weltprozesses erforderlich ist. (Andererseits lehrt v. Hartmann, d a ß das Bewußtsein selbst als „Tätigkeitswiderstreit" aus dem U n b e w u ß t e n hervorgeht, wie „das Feuer durch Reibung oder Stoß aus Dunklem und Kaltem"). Die Erlösung erfolgt nicht auf dem von Schopenhauer gewiesenen Wege, sondern durch immer größere B e w ü ß t m a c h u n g , d. h. Einbeziehung der Zwecke des U n b e w u ß t e n in unser zwecksetzendes Bewußtsein, also
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auf dem Wege der K u l t u r b e j a h u n g , des „Fortschrittes", der Erkenntnis und Sittlichkeit, — bis zu dem Punkt, „wo anlangend das Bewußtsein genügt, um das gesamte aktuelle Wollen in das Nichts zurückzuschleudern." Dieser Metaphysik des Unbewußten ist in den Werken v. Hartmanns eine Fülle von Einzelproblemen und Einzeluntersuchungen auf natur- und geisteswissenschaftlichem Gebiet zugeordnet. Es fragt sich, ob dies alles, wie v. Hartmann will, das Induktionsmaterial für die letzten „hypothetischen" Verallgemeinerungen bildet oder, wie v. Hartmann nicht will, nur zur Rechtfertigung der von vornherein feststehenden metaphysischen Thesen dient. Selbst wenn es eine „induktive" Metaphysik gäbe, ist die Metaphysik des Unbewußten bestimmt keine, sondern reine Begriffsdichtung. Die Vorbehalte v. Hartmanns dienen lediglich stilistischen Zwecken; sein Denken ist viel zu selbstherrlich und absichtsvoll, um irgendetwas in der Schwebe zu lassen. Seine Vorstellung, daß die Metaphysik die „Spitze der Pyramide der induktiven Erkenntnisse" bildet, ist bestenfalls eine Selbsttäuschung. Jede einzelwissenschaftliche These, die er aufstellt, ist mit seiner Metaphysik infiziert. So ist der Sinn der „Wissenschaftssynthese", wenn wir ihn auf sein Werk anwenden wollen, ein anderer als bei Spencer und Wundt. Er ist der einer K o n s t r u k t i o n aus Wissenschaftsdaten oder -resultaten, die von vornherein so ausgewählt sind, daß sie zu dem vorgesetzten Zwecke passen. Seinen Stoff in dieser Form herzurichten, — darin allerdings ist v. Hartmann Meister. W i r sind am Ende einer Darstellung, die sich die Aufgabe gesetzt hatte, die Philosophie des« 19. Jahrhunderts nach den Hauptmomenten ihrer Entwicklung, ihren Strukturänderungen und ihren wichtigsten Vertretern zu schildern. Die Grenze zur G e g e n w a r t s p h i l o s o p h i e mußte dabei öfter überschritten werden. Umgekehrt w i r d aber auch einiges von dem, was man hier vermißt, in der Philosophie der Gegenwart seinen Platz finden. Denn diese Grenze ist flüssig, und zu den philosophiegeschichtlichen Voraussetzungen der Gegenwartsphilosphie gehören Denker und Schulen, die in ihrer Zeit geringere Bedeutung hatten.
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Der N e u i d e a l i s m u s ist um die Jahrhundertwende schon in voller Blüte; aber Denker wie Kichert und Natorp, Eucken und Dilthey rechtfertigen es, ihn in der Philosophie der Gegenwart zu behandeln. Nietzsche und Kierkegaard gehören zeitlich dem 19. Jahrhundert an. Doch sind nicht nur ihre Wirkungen in der Gegenwart größere als zu ihrer Zeit, — sie werden auch in der Gegenwart erst als Philosophen im eigentlichen Sinne anerkannt. Die ö s t e r r e i c h i s c h e S c h u l e (von Bolzano bis Husserl) ist im 19. Jahrhundert eine Gegenbewegung zum erkenntnistheoretischen Subjektivismus und Kritizismus: führend wird sie erst im 20. Jahrhundert. Ohnedies versteht es sich, daß man den Gedankentext einer Zeit zweimal lesen muß: unter dem Gesichtspunkt ihrer eigenen Zielvorstellungen, und von der Gegenwart aus. Und daß sich dabei der M a ß s t a b für die geschichtliche Bedeutung (Bewertung) ändert. Geschichte ist als Geistesgeschichte keine ein für allemal feststehende Realität, sondern ein ständig sich, wandelnder Sinnzusammenhang. Dieser „Perspektivismus" gehört zum Wesen geschichtlicher Erkenntnis, und ist kein notwendiges Übel. Literatur I. Werke a) Spencer: Social Statics 1850; A System of Synthetic Philosophy 1862 ff., deutsch: System der synthetischen Philosophie (ed. VETTER-CARUS) 1876—1903. (s.Text); The Study of Sociology 1873, deutsch: Einleitung in das Studium der Soziologie (ed. MARQUARDSEN) 1875; Essays I — I I 1858—1863; Education 1861, deutsch von Fr. SCHULTZE 1874; An Autobiography I — I I 1904, deutsch (ed. STEIN) I — I I Stuttgart 1905. b) Wundt: Vorlesungen über die Menschen- und Tierseele 1863/4, 6. Auflage 1919; Grundzüge der physiologischen Psychologie 1873/4, 6. Auflage Bd. I — I I I 1908—1911; Über die physikalischen Axiome 1866; Logik 1880—1883, 5. Aufl. I — I V 1920—1924; Ethik 1886, 5. Aufl. I — I I I , Stuttgart 1923—24; System der Philosophie 1889, 4. Aufl. I — I I 1919; Essays 1885,
Literatur
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2. Aufl., Leipzig 1906; Völkerpsychologie 1900—1920 I—X (s.Text); Einleitung in die Philosophie 1901, 9. Aufl. 1922; Grundriß der Psychologie 1896, 15. Aufl, Leipzig 1922; Kleine Schriften I—III, Leipzig 1910— 1921; Elemente der Völkerpsychologie 1912, 2. Aufl., Leipzig 1922; Probleme der Völkerpsychologie 1913, 2. Aufl., Leipzig 1921; Reden und Aufsätze 1913, 2. Aufl., Leipzig 1914; Sinnliche und übersinnliche Welt 1914, 2. Aufl., Leipzig 1923; Die Nationen und ihre Philosophie, Leipzig 1915; Leibniz, Leipzig 1917; Einführung in die Psychologie, Leipzig 1920; Die "Weltkatastrophe und die deutsche Philosophie, Erfurt 1920; Erlebtes und Erkanntes, Stuttgart 1920. c) v. Hartmann: Ausgewählte Werke (von ihm selbst veranstaltet), Leipzig 1885—1901; I. Grundlegung des transzendentalen Realismus; II. Das sittliche Bewußtsein; III.—IV. Ästhetik; V.—VI. Religionsphilosophie; VII.—IX. Philosophie des Unbewußten; X. Kategorienlehre; XI.—XII. Geschichte der Metaphysik; XIII. Psychologie; System der Philosophie im Grundriß, Bad Sachsa 1907 ff. (s.Text); Über die dialektische Methode, Berlin 1868; Die Selbstzersetzung des Christentums und die Religion der Zukunft 1874; Zur Geschichte und Begründung des Pessimismus 1880; Lotzes Philosophie, Leipzig 1880; Das Grundproblem der Erkenntnistheorie 1889; Kants Erkenntnistheorie und Metaphysik 1894; Schellings philosophisches System 1897; Die Weltanschauung der modernen Physik 1901; Das Problem des Lebens 1906, 2. Aufl. (ed. K E R N ) , I—III, Leipzig 1923; BOLLAND, Briefwechsel mit E. v. Hartmann 1937. II. Darstellungen a) Spencer: P.
O . G A U P P , H . Spencer 5 . Aufl., Stuttgart 1 9 2 3 ; HÄBERLEIN, Spencers Grundlagen der Philosophie 1 9 0 8 ; R . M E T Z , Philosophische Strömungen der Gegen-
wart
in
Großbritannien,
Band I, Leipzig 1935; Leipzig 1 9 0 9 ; A. STADLER, Leipzig 1 9 1 3 ; L. v. W I E S E , Zur Grundlegung der Gesellschaftslehre, Jena 1906; A. WIESENHÜTTER, Die Prinzipien der evolutionistischen Ethik nach Spencer und Wundt, Leipzig 1910. b) Wundt: R. EISLER, Wundts Philosophie und Psychologie in ihren Grundlehren, Leipzig 1 9 0 2 ; E. KÖNIG, H . SCHWARZE, H . Spencer, H . Spencer (ed. P L A T T E R ) ,
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W . Wundt, Stuttgart 1901; F. KRÜGER, Über Entwicklungspsychologie, Leipzig 1915; W . NEF, Die Philosophie Wundts, 1923; O. PASSKÖNIG, Die Psychologie Wilhelm Wundts, Leipzig 1912; P . PETERSEN, W . Wundt und seine Zeit, Stuttgart 1925; T h . RIBOT, Die experimentelle Psychologie der Gegenwart in Deutschland, Braunschweig 1881; E. WUNDT, W.Wundts Werkf(Schriftenverzeichnis) 1927; Wilhelm Wundt, eine Würdigung (herausg. von A. HOFFMANN), Erfurt 1922, 2. Aufl. 1924. c) v. Hartmann: G. J . BOLLAND, Alte Vernunft und neuer Verstand, Leiden 1902; O. BRAUN, E. V. Hartmann, Stuttgart 1909; A. DREWS, E. V. Hartmanns philosophisches System im Grundriß, Heidelberg 1902, 2. Aufl. 1906; L. v. GOLTHER, Der moderne Pessimismus (hrsg.
v.
F r . T h . VISCHER)
Leipzig
1878;
J.HESSEN,
Die Kategorienlehre E. v. Hartmanns, Leipzig 1924; Th.
K A P P S T E I N , E . V. H a r t m a n n
1 9 0 7 ; O . KÜLPE,
Die
Philosophie der Gegenwart in Deutschland, 5. Aufl., Leipzig 1911; K . O. PETRASCHEK, Die Logik des U n bewußten I — I I , München 1926; F. J . v. RINTELEN, Pessimistische Religionsphilosophie der Gegenwart, München 1924; M. SCHMIDT, Die Behandlung des erkenntnistheoretischen Idealismus bei Hartmann (ed. MESSER) Berlin 1918; J . P. STEFFES, V. Hartmanns Religionsphilosophie 1921; J . VOLKELT, Das Unbewußte und der Pessimismus 1873; L. ZIEGLER, Das Weltbild E . v. Hartmanns, Leipzig 1910.
Namenverzeichnis (ohne Literaturangaben) Adidtes 68 Adler 47, 70 d'Alembert 87 A r d i r ò 89 Arnoldt 68 Avenarius 89, 120
Dürkheim 89, 97
114-119,
Bacon 102 y. Baer 138, 139 Baudi 64 Bauer 33, 39 Baur 34 Bedier 135 Beneke 85 Bentham 98, 99 f., 101 Bergmann, J. 111—112 Berkeley 105, 108, 142 Bernstein 69 f . Bismardt 146, 158, 159 Bolzano 164 Braniß 75, 109 Braun 158 Brentano 147 Breysig 97, 133 Brockhaus 22 Büdiner 54, 55, 56, 131 Byron 99 Caird 108 C a r l y U 99 Carnap 88 Carus 5 Cattaneo 89 Cohen 59, 68, 69, 72, 74—81, 86, 109, 111 Coleridge 99 Comte 37, 84, 87, 88, 89, 90, 91—98, 99, 100. 115, 122, 126 f . , 130, 132, 137 f . Condillac 87, 127 Condorcet 88 Czolbe 56—57 Darwin 131, 138 Descartes 36 Deutinger 4 Deveaux, Clotilde 92 Dilthey 70, 79, 97, 164 Drews 135 Drobisch 64, 115 Droysen 44 Dubois-Reymond 145 Diihring 66, 97 f.
Engels 39, 40, 47, 49 Erdmann, B. 68 Esdienmayer 6 Eudten 156, 164 Fediner 4, 5, 6, 7, 11, 17—20, 22, 26, 61, 120, 159 FeuerbaA 5, 6, 35-37, 39, 41, 42, 44, 45, 93 Fidite, I. H. 4, 5, 7, 8, 9, 13—17, 18, 20, 21, 24, 57 Fichte, J . G. 33, 65, 71, 72, 73, 75, 77, 108, 1 1 1 , 149, 155 Fischer, K . 63 , 70, 76 Freyer 48 Fries 16, 53, 61, 65 Gall 96 Geoffroy Saint Hilaire 131 Goethe 31,99 Gomperz, Th. 105 Göring, K. 85, i l 9 Grabbe 14 Green 108 Grün 39, 43 Gruppe 85 Günther, A . 4, 8 Hädtel 54, 119, 131 Hamilton 98, 105, 130, 137, 141 Hartenstein 53 Hartley 99 v. Hartmann, AI na 158 v. Hartmann, E. 134, 135, 137, 156—163 Hartmann, N. 70 Haym 158 Heidegger 70 Hegel 4, 9, 11, 12, 14, 15, 20, 22, 23, 30, 31, 32-33, 34, 35, 39, 41, 43, 44, 45, 46, 47, 49, 50, 57, 65, 66, 71, 75, 81, 93, 108, 129. 130, 131, 135, 140. 149, 156, 157, 16?.
v . Helmholtz 55, 57 bis 58, 61, 145 Herbart 7, 14, 21, 24, 25, 53, 63, 65, 73, 75, 80, 1 1 1 , 113, 130, 133, 154 Herder 130, 133 Hermann 69 Heß 42—43 Hirzel 22 HöfFding 115, 149 v . Humboldt, W . 100 Hume 85, 87, 99, 100, 105, 108, 113, 120, 137 Husserl 111, 164 Immermann 14 James 17 Joule 55 K a f t a n 69 K a n t 10, 13, 15, 26, 27, 57, 58, 60—63, 64, 65, 66 f . , 68, 69, 72, 73, 74, 75, 76-78, 85, 93, 96, 101, 102, 103, 104, 108, 113, 114, 118 f . , 120, 137, 154, 160 Kauffmann 86 Kerner 15 Kierkegaard 4, 5, 17, 3 1 , 32, 164 Kleinpeter 1 1 4 König, R. 88 Krause 7, 14, 20 Külpe 135, 158 Laas 85, 89, 112—114 Laffitte 97 Laroardt 131, 138 Lamprecht 89, 97, 133 bis 134 Lange 6, 58-63, 65, 66, 68, 70, 72, 76, 77, 146, 150 Laßwitz 17 Lazarus 76 Leese 4 Leibniz 21, 97, 135, 149, 155 Liebig 55, 100 Liebmann 63—68, 71. 74, 86
Littré 97 Lodce 187 Longchampt 93 Lotze 4, 5, 6, 7, 8, 11, 17, 20-28, 69, 7 1 , 7 2 , 73, 112 Löwith 31 Luther 69 Mach 89, 114, 119—123 Maier, H . 112 Maimon 76 Malthus 131 Mansel 130, 141 Marx 5, 31, 32, 39, 40— 50, 55 Mayer, J. R. 55 Menger, A. 119 Mill, J. 98, 99 Mill, J. St. 60, 87, 89, 90, 91, 92, 98—108, 109, 112, 113, 135, 137, 141, 148 Moleschott 36, 54, 55, 56, 57 Müller, J. 57, 145 N a t o r p 69, 80, 114, 164 Nietzsche 31, 34, 37, 59, 157, 164 Nigg 34 Oppenheimer 96 O s t w a l d 55 f., 115, 119 Paulsen 17, 68, 151 P e tzoldt 114 P l a t o n 75, 113 Popper-Lynkeus 119 Protagoras 113 P r o u d h o n 42, 46 Ratzenhofer 133 Reidte 68 Reid 98, 103 Reinhold, E. 15, 16
Reinhold, K . L. 108 Rickert 44, 69, 71, 73, 114, 164 Riehl 68, 69, 86 Ritsdll, A. 34, 69 f. Ritsdil, Fr. W . 59 Rosenkranz, K . 53 Rothe 133 Rüge 43—44, 45 Saint-Simon 39, 91, 92, 93 Sdiadow 14 Schifile 133 Schelling 4, 5, 8, 9-11, 12, 14, 27, 34, 65, 75, 93, 156 Schiller 58, 62 f. Schleiermacher 35, 133 Schlick 88 Sdimoller 132 Schnellen, v. 157 Schopenhauer 7, 12, 58, 64, 65, 75, 103, 130, 135, 153 f., 156, 157, 162 Schubert, F. W , 53 Schubert-Soldern 86, 110—111 Schuppe 86, 109—111 Schwab 15 Seydel 12 Sidgwidt 101 Sigwart 23, 112 Sombart 132 Spencer 89, 90, 91, 98, 130, 131, 132, 135 bis 144, 145, 149, 156, 161, 163 Spengler 133 Spieß 133 Stahl 9 Stammler 69 Staudinger 70 Steffens 5, 15
Stein, L. v. 39—40 Steinthal 76 Stirling 108 Stirner 5. 37—39, 40 S t r a u ß 30, 34—35, 36, 40, 44 T a i n e 89 T a u b e r t 157 T a y l o r 100 Treitschke 64, 146 Trendelenburg 75 f., 109, 143 Troeltsch 69, 133 T u r g o t 93 T y l o r 94 U h l a n d 15 Vaihinger 6, 58, 68, 85 V i s i e r 64 V o g t , K . 54, 56, 57 Volkelt, H . 148 Volke lt, J. 135 W a g n e r , Rudolf 26, 54 W a h l e 114 W a l l a c e 131 W e b e r , E . H . 19 W e b e r , M. 90, 132, 134 Weininger 119 W e i ß e 5, 8, 9, 11—13, 16, 17, 22, 26, 27 Weitling 43, 47 W h e w e l l 102, 104 W i n d e l b a n d 44, 64, 68, 69, 70—74, 77 Wolff 17 W u n d t , W . 18, 23, 119, 127, 132, 135, 143 bis 156, 161, 163 Zeller 71 Ziegler, L. 135 Ziehen 114 Zöllner 18
fllefiA ah 300 Bände. der kurzen, klaren, allgemeinverständlichen Einzeldarstellungen sind schon wieder lieferbar.
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Jeder Band DM 3,60 — Doppelband DM 5,80 Stand Januar 1959
W A L T E R DE G R U Y T E R & CO. vormals G. J . Göschen'ßche Verlagshandlung / J . Guttentag, Verlagsbuchhandlung / Georg Reimer / K.arl J . Trübner / Veit & Comp,
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13 13 12 6 ij 7 8 1j 7 5 8 8 18 7 15 5 15 8 16 9 15 4 3 3 11 3 9 4 7 8 8 3 13 15 9 18 14
Geisteswissenschaften Philosophie Einführung in die Philosophie von H. Leisegang f . 3. Auflage. 145 Seiten. 1957. (¿ij) Hauptprobleme der Philosophie von G. Simmelf. 7., unveränderte Auflage. 177 Seiten. 1950. (joo) Geschichte der Philosophie 1: D i e g r i e c h i s c h e P h i l o s o p h i e von W.Capelle. i . T e i l . Von Thaies bis Leukippos. 2., erweiterte Auflage. 135 Seiten. 1953. (i/7) II: Die g r i e c h i s c h e P h i l o s o p h i e von W.Capelle. 2. T e i l . Von der Sophistik bis zum Tode Piatons. 2., stark erweiterte Auflage. 144 Seiten. 1953. (SjS) III: D i e g r i e c h i s c h e P h i l o s o p h i e von W. Capelle. 3. T e i l . Vom Tode Piatons bis zur Alten Stoa. 2., stark erweiterte Auflage. 132 Seiten. 1954. (#J9) IV: Die g r i e c h i s c h e P h i l o s o p h i e von W. Capelle. 4. T e i l . Von der Alten Stoa bis zum Eklektizismus im 1. Jahrh. v. Chr. 2., stark erweiterte Auflage. 132 Seiten. 1954. (S63) V : Die P h i l o s o p h i e des M i t t e l a l t e r s von J.Koch. In Vorbereitung. (826) VI; V o n der R e n a i s s a n c e bis K a n t von K. Schilling. 234 Seiten. 1954. (3941394a) VII: I m m a n u e l K a n t von G. Lebmann. In Vorbereitung, (336) VIII: Die P h i l o s o p h i e des 19. J a h r h u n d e r t s von G. Lehmann. 1. T e i l . 151 Seiten. 195 3- (/7-0 I X : Die P h i l o s o p h i e des 19. J a h r h u n d e r t s von G. Lehmann. 2. T e i l . 168 Seiten. . I9Î3- (709) X : Die P h i l o s o p h i e im ersten D r i t t e l des 20. J a h r h u n d e r t s I von G. Lebmann. 128 Seiten. 1957. (84J) Die geistige Situation der Zeit (1931) von K. Jaspers. 4., unveränderter Abdruck de 1932 bearbeiteten 5. Auflage. 211 Seiten. 1955. (1000) Erkenntnistheorie von G. Kropp I.Teil: A l l g e m e i n e G r u n d l e g u n g . 143 Seiten. 19J0. (Î07) Formale Logik von P. Lorenken. 165 Seiten. 1958. (1 iy6j 1176a) Philosophisches Wörterbuch von M. Apel f . 5., völlig neubearbeitete Auflage von P. Lud%. 315 Seiten. 1958. (1031110310) Philosophische Anthropologie. Menschliche Selbstdeutung in Geschichte und Gegenwart von M. Landmann. 266 Seiten. 1955. (ijdjiféa)
Pädagogik, Psychologie, Soziologie Geschichte der Pädagogik von Herrn. Weimer. 13., durchgesehene und vermehrte Auflage von Heinz Weimer. 178 Seiten. 1958. {14J) Therapeutische Psychologie. Ihr Weg durch die Psychoanalyse von W. M. Kranefeldt. Mit einer Einführung von C. G.Jung. 3. Auflage. 152 Seiten. 1956. (1034)
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GEISTESWISSENSCHAFTEN Allgemeine Psychologie v o n Tb. Erismann. 3 Bände. I : G r u n d p r o b l e m e . 2., neubearbeitete A u f l a g e . 146 Seiten. 1958. (8j/) II: G r u n d a r t e n d e s p s y c h i s c h e n G e s c h e h e n s . In Vorbereitung. (