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German Pages [436] Year 2012
Geschichte der mittelalterlichen deutschen Literatur Thüringens
Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Thüringen Kleine Reihe Band 34
Reinhard Hahn
Geschichte der mittelalterlichen deutschen Literatur Thüringens
2012 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN
Gedruckt mit Unterstützung des Thüringer Ministeriums für Bildung, Wissenschaft und Kultur und der
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Umschlagabbildung: Burgruine Morungen bei Sangerhausen, mutmaßlicher Herkunftsort des Minnesängers Heinrich von Morungen. Foto: Falk Burkhardt.
© 2012 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Wien Köln Weimar Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Gesamtherstellung: WBD Wissenschaftlicher Bücherdienst, Köln Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier ISBN 978-3-412-20926-1
Inhalt
Vorwort ................................................................................................................................................ VII I. Einführung: Thüringen als Gegenstand regionaler Literaturgeschichtsschreibung .............................................................................................. 1 II. Frühzeit 1. Vorgeschichte: Runen, Legeswörter, Glossen ............................................................ 15 2. Thüringische Heldensage. Thüringische Heldenlieder? ........................................ 23 3. Neueinsatz im 12. Jahrhundert. Literatur im Umfeld von Kloster, Stift und Schule ............................................................................................... 36 III. Literatur im Umkreis des Landgrafenhofs 1. Antikendichtung und antikisierende Dichtung ........................................................ 63 2. Zweifelhaftes .................................................................................................................................. 95 Exkurs: Artusepik in Thüringen? .................................................................................... 105 3. Der Epiker Wolfram von Eschenbach ....................................................................... 110 4. Höfische Lyrik um 1200 ....................................................................................................... 125 IV. Wandlungen vom Hoch- zum Spätmittelalter 1. Späte Lieddichtung. Minnereden ..................................................................................... 159 2. Sangspruchdichtung, ‚Wartburgkrieg‘ und Wolfram-Nachfolge .................. 181 3. Erzählungen ................................................................................................................................. 209 4. Geistliche Literatur .................................................................................................................. 217 5. Thüringen und die Literatur des Deutschen Ordens .......................................... 251 V. Spätmittelalter 1. Geschichtsepik und Geschichtsschreibung ............................................................... 273 2. Geistliche und weltliche Spiele ......................................................................................... 294 3. Politische Lieder ........................................................................................................................ 314 4. Pragmatische Schriftlichkeit ............................................................................................... 328 VI. Bibliographie ............................................................................................................................. 353 VII. Personen- und Werkregister .......................................................................................... 412
Vorwort
Die folgende Darstellung sucht zusammenzufassen und überschaubar zu machen, was wir an mittelalterlicher Literatur in deutscher Sprache mit Thüringen verbinden können. Ein solcher Versuch sieht sich vor eine Reihe prinzipieller Entscheidungen gestellt, die kaum einmal befriedigend begründet werden können: Wie lässt sich eine Literaturlandschaft Thüringen geographisch überzeugend abgrenzen, inwieweit sind auch lateinische Texte, etwa Sigebotos ‚Vita Paulinae‘, und solche in lateinisch-deutscher Sprachmischung zu berücksichtigen, wie kann man die sprachgeographischen Begriffe „ostmitteldeutsch“ und „thüringisch“ in den Jahrzehnten der höfischen Klassik um 1200 befriedigend handhaben, wie vereinen sich literarische Interferenzen zwischen Thüringen und Hessen, Thüringen und Meißen sowie Thüringen und Preußen mit dem Modell einer Literaturlandschaft, wo ist die Epochenschwelle vom Spätmittelalter zur Frühen Neuzeit überschritten, und welcher Literaturbegriff ist welcher Epoche je angemessen? Diese Darstellung versteht sich als eine literarhistorische; sie handelt in erster Linie von thüringischen Autoren und von Werken, die für thüringische Adressaten entstanden. Dass sich bei dieser Perspektive eine gleichsam saubere Abgrenzung einer thüringischen Literatur nicht ergibt, leuchtet jedem ein, der sich der Tatsache erinnert, dass die Repräsentanten der Weimarer Klassik der Mainfranke Goethe, der Ostpreuße Herder und die Schwaben Wieland und Schiller waren. In jüngerer Zeit hat die Rezeption von Literatur an Interesse gewonnen. Die Frage, welche Werke in einer Region „gebraucht“, also vorgetragen oder gelesen, übersetzt und kommentiert wurden, in Sammelhandschriften aufgenommen, in Bücherinventaren verzeichnet und vererbt, vermag jene nach dem Entstehen von Literatur nicht ersetzen; es kann nur darum gehen, den einen Frageansatz um den anderen zu ergänzen. Im Folgenden liegt der Akzent auf der literarischen Produktion, während Rezeptionsaspekte nur fallweise berücksichtigt sind. Auch künftig wird immer wieder einmal ein Handschriftenfragment aus einem Bucheinband gelöst werden, das sprachlich nach Thüringen weist. Derartige Funde sind heute am besten über online-basierte Repertorien zugänglich, die regelmäßig aktualisiert werden. Eine lückenloserschöpfende Dokumentation von Autoren, Werken und Textsorten war nicht intendiert. Schon Rudolf Hildebrand, Mitarbeiter am ‚Deutschen Wörterbuch‘ der Grimms, wusste: „Vollständigkeit ist ein Seminarbegriff“. Allein der Versuch, das Schulschrifttum der Universität Erfurt zu erfassen, erforderte die gesonderte Darstellung eines Spezialisten. Wer an dieser wissensvermittelnden Schriftlichkeit, die zur Literatur zu rechnen einen weiten Literaturbegriff erfordert, interessiert ist, sollte nach dem Verfasserlexikon der deutschen
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VORWORT
Literatur des Mittelalters greifen, das in der ersten Auflage fünf Bände zählte und in der heute maßgeblichen zweiten bereits auf 14 angewachsen ist. Verzichtet wurde auf die Behandlung von Autoren/Werken angrenzender Regionen, etwa des in der nördlichen Randzone Thüringens gelegenen Zisterzienserinnenklosters Helfta, in dem unter der geistlichen Leitung der Hallenser Dominikaner die Mystikerinnen Mechthild von Magdeburg, Mechthild von Hackeborn und Gertrud die Große wirkten. Verzichtet wurde ferner auf Illustrationen, da immer mehr Handschriften digitalisiert online zugänglich sind, der Codex Manesse mit seinen bekannten Dichterbildern etwa und die ‚Jenaer Liederhandschrift‘. Auch weniger eindrucksvolle Codices sind über Datenbanken wie den ‚Handschriftencensus‘ und das ‚Marburger Repertorium Deutschsprachige Handschriften des 13. und 14. Jahrhunderts‘ leicht verfügbar. Für den Einband hätte sich die Sängerkrieg-Darstellung des Codex Manesse angeboten, erinnert sie doch an die Glanzzeit mittelalterlicher Literatur in Thüringen mit Dichtern wie Walther und Wolfram. Stattdessen Mauerreste: Reste der Burg Morungen in Nordthüringen, mit der man den Minnelyriker Heinrich von Morungen in Verbindung bringt. Was für diese Ruine gilt, trifft auf die mittelalterliche Überlieferung insgesamt zu: sie ist uns weithin nur in Bruchstücken zugänglich, und auch diese sind nicht immer direkt auf uns gekommen. An der Ruine Morungen findet sich eine Tafel mit der ernüchternden Mitteilung, sie sei 1925 vom Harzklub wiederaufgerichtet worden. Blickt man, die Burgruine im Rücken, über die Ebene, erkennt man in der Ferne den Kyffhäuser mit seinem Denkmal, das im Jahr 1896 eingeweiht wurde. Mein besonderer Dank geht an die ‚„Historische Kommission für Thüringen“ mit ihrem Vorsitzenden Herrn Prof. Dr. Werner Greiling, Jena, für die Aufnahme der Arbeit in ihre Schriftenreihe und die Ermöglichung der Drucklegung durch Zuschüsse des Thüringer Ministeriums für Bildung, Wissenschaft und Kultur sowie der Sparkassen-Kulturstiftung Hessen-Thüringen. Gedankt sei auch Herrn Harald S. Liehr vom Böhlau Verlag für die angenehme Zusammenarbeit. Herrn Archivdirektor Dr. Johannes Mötsch, Meiningen, gilt mein Dank für kritische Lektüre und sachliche Hinweise, Herrn Dr. HansPeter Nowitzki, Jena, für Hilfe in Layout-Fragen. Bei der Korrektur unterstützten mich Herr Referendar Pascal Mauf und Frau Kathrin Schaaff M. A.; dass für allfällige Fehler allein ich aufkomme, versteht sich. Dankbar erinnere ich mich Heinz Mettkes und seiner von ihm in Jena durch die Zeitläufte geretteten „Älteren Abteilung“, in der ich einiges von dem philologischen Grundlagenwissen erwerben konnte, das in meiner Leipziger Studienzeit nicht mehr vermittelt worden war. Größeren Dank noch schulde ich meinem Vater Karl-Heinz Hahn, der mich in Zeiten, in denen die Beschaffung von Büchern, Kopien oder Abbildungen nicht selten mühsam war, immer wieder unterstützt und ermutigt hat. Seinem Andenken sei das Buch daher gewidmet.
I. Einführung: Thüringen als Gegenstand regionaler Literaturgeschichtsschreibung
Literaturgeschichten, die sich auf eine bestimmte Region beschränken, sind fast so alt wie das Genre Literaturgeschichte überhaupt. Jedenfalls begegnen seit dem 19. Jahrhundert in größerer Zahl Darstellungen, die nur einen, meist politisch, rechtlich oder sprachlich definierten, Raum und damit einen Ausschnitt aus dem Gesamt der deutschen Literaturgeschichte behandeln: etwa die deutsche Literatur der Schweiz, die Literatur des Elsass, die Literatur in Böhmen, die Schlesiens usw.1 Der erste, der mit dem Konzept einer regionalen Literaturgeschichte Ernst machte und es zur Grundlage einer großen, umfassenden Darstellung erhob, war der aus Nordböhmen stammende Germanist Josef Nadler, der nach dem Studium in Prag an den Universitäten Fribourg, Königsberg und Wien wirkte. Seit 1912 legte er eine dreibändige ‚Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften‘ vor, die – mehrfach umgearbeitet und auf vier Bände erweitert – vier Auflagen erlebte und ihren Verfasser zu einem der bekanntesten Fachvertreter seiner Zeit machte. Nach Kriegsende wurde Nadler, seit 1938 Mitglied der NSDAP, der Reichsschrifttumskammer und anderer NS-Organisationen, als Nationalsozialist eingestuft und seines Amtes enthoben, nicht zuletzt wegen der tendenziösen Umarbeitung seines Hauptwerks in der vierten Auflage in eine ‚Literaturgeschichte des deutschen Volkes‘, deren vierter, ‚Reich (1914–1941)‘ betitelter Band in eine Apotheose des neuen „Reichs“ mündete.2 Man machte es sich jedoch zu einfach, Nadler umstandslos als Nationalsozialisten einzuordnen und sein Werk wegen der Akzentuierung biologischer Determinanten mit dem Blut-und-Boden-Denken gleichzusetzen. Dies weniger deshalb, weil es von manchen namhaften Zeitgenossen – etwa Hugo von Hofmannsthal und Ernst Robert Curtius – Zustimmung erfuhr, sondern vornehmlich, weil sein Konzept nur partiell deckungsgleich mit den Ideologemen der Nationalsozialisten war.
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Vgl. Jakob Baechtold: Geschichte der deutschen Literatur in der Schweiz. Frauenfeld 1892; Charles Schmidt: Histoire littéraire de l’Alsace. Bd. 1, 2. Paris 1879; Rudolf Wolkan: Geschichte der deutschen Literatur in Böhmen bis zum Ausgange des 16. Jahrhunderts. Prag 1894; Hans Heckel: Geschichte der deutschen Literatur in Schlesien. Bd. 1. Breslau 1929. Der IV. Band der 1938–1941 erschienenen 4. Auflage endet S. 576 ff. mit dem NS-Autor Hans Grimm. Wenig plausibel die Vermutung von Dieter Kelling: Josef Nadler und der deutsche Faschismus. In: Brücken. German. Jb. DDR – ÈSSR 1986/87, S. 132–147, hier 144, jene in plumper Weise die völkischen und rassistischen Thesen des Nationalsozialismus repetierenden Passagen könnten von einem anderen einformuliert worden sein.
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I. EINFÜHRUNG
Grundgedanke Nadlers ist, dass die Geschichte der deutschen Literatur sich in ihrer geistigen Entwicklung nicht vom Einzelnen – dem dichterischen Individuum – her darstellen lasse, aber auch nicht vom „letzten Ganzen, der Nation“. Für eine solche Darstellung bedürfe es einer überschaubaren Größe, gleichsam einer mittleren Betrachtungsebene; Nadler nennt sie „Zwischeneinheit“. Diese meinte er in dem Kollektivum Stamm und dessen Lebensraum, der Landschaft, gefunden zu haben; eine nähere Bestimmung seines Stammesbegriffs hat er freilich unterlassen.3 In seiner stammeskundlichen Ausrichtung unterschied Nadler sich zumindest partiell von der Rassenkunde, deren wissenschaftlichen Anspruch er auch aus religiösen Gründen zurückwies.4 Für die nationalsozialistische Rassenkunde war das „Vermischen“ des Bluts, wie Nadler es für die Entstehung der sogenannten Neustämme annahm, inakzeptabel, da jene eben die „Reinheit“ der Rassen und die völkische Einheit der Deutschen akzentuierte. Indes fehlt es auch in Nadlers Schriften nicht an Beschwörungen des Blutes.5 Zudem zeigt nicht erst die gegenüber der ersten erheblich umgearbeitete vierte Auflage seiner literaturgeschichtlichen Darstellung, sondern bereits manche seiner früheren Arbeiten, dass er dem Nationalsozialismus nicht unerhebliche Konzessionen machte.6
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„Dieses Ineinanderweben von Mensch und Landschaft birgt ihm den eigentlichen Kern des völkischen Schicksals. Nicht der Stamm an sich, sondern der Stamm in seiner Landschaft ist ihm die letzte Teileinheit im Raum.“ Walter Muschg: Josef Nadlers Literaturgeschiche. In: W. M.: Die Zerstörung der deutschen Literatur. 3. Aufl. Bern 1958, S. 283–302, hier 291. Der Stammescharakter erscheint bei Nadler als letztlich unauflöslich gegeben, er scheint sich durch die Jahrhunderte konstant zu erhalten. Die fehlende terminologische Präzision seines Stammesbegriffs erleichterte es dem national-katholischen Verfasser, sein Stammeskonzept in der 4. Auflage seiner Darstellung dem nationalsozialistischen Volkstumskonzept anzupassen. Vgl. Irene Ranzmaier: Germanistik an der Universität Wien zur Zeit des Nationalsozialismus. Karrieren, Konflikte und die Wissenschaft. Köln, Weimar, Wien 2005 (Literaturgeschichte in Studien und Quellen 10), S. 102–123. Schon 1912 konstatierte Josef Nadler: Literaturgeschichte der Deutschen Stämme und Landschaften. Band I. Die Altstämme (800–1600). Regensburg 1912, S. VII: „Mit dem ererbten Blute rollt eine Fülle erblicher Güter von Geschlecht zu Geschlecht. Neben den Einzelnen tritt Fluch und Segen der Sippe.“ S. 70 ist die Rede vom „Blutumlauf der Nation“. In: Das stammhafte Gefüge des Deutschen Volkes. München 1934, S. 105, sprach Nadler von der „ostmitteldeutschen Blutsgemeinschaft“ des Thüringers mit dem Ostfranken. Dieselbe Diktion bei Christian Krollmann: Geistige Beziehungen zwischen Preußen und Thüringen im 13. und Anfang des 14. Jahrhunderts. In: Thüringisch-Sächsische Zeitschrift für Geschichte und Kunst 22 (1933), S. 78–91, hier 79: „An der Blutsverbundenheit der preußischen Ansiedler mit dem thüringischen Volke kann also kein Zweifel sein.“ In: Literaturgeschichte des Deutschen Volkes. Dichtung und Schrifttum der deutschen Stämme und Landschaften. Bd. IV. Berlin 1941, S. 213, liest man: „Glaube, Wille und Ordnung des nationalsozialistischen Werkes sind darauf gerichtet, aus dem Volkskörper alle
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Die mittelalterliche Literatur Thüringens nun handelt Nadler in dem über 400 Seiten starken ersten Band seiner Literaturgeschichte auf wenigen Seiten ab.7 Wenn dieses Kapitel heute im Grunde unbrauchbar ist, dann zunächst deshalb, weil Nadler es an philologischer Sorgfalt fehlen lässt, sodann aber auch, weil das stammes- und landschaftsbezogene Konzept ihn immer wieder zu haltlosen Spekulationen verleitet. Den größten Teil des Kapitels nimmt eine Interpretation des ‚Parzival‘ ein; aber Nadler übergeht alle Fragen, die sich mit der Entstehungsgeschichte des Werks verbinden: Wer kommt als Auftraggeber in Frage, wo begann der Dichter seine Arbeit, welche Bücher des Romans lassen sich mit Thüringen in Beziehung setzen usw.? So entsteht der irrige Eindruck, als sei Wolframs ‚Parzival‘ als Ganzes ein Werk der thüringischen Literaturgeschichte.8 Ähnlich verfährt Nadler auch mit anderen Autoren. Den Epiker Otte erklärt er zu einem Franken „aus der Wetterau oder aus Oberhessen“, dessen ‚Eraclius‘ „um 1204 entstanden sein“ müsse.9 Tatsächlich besitzen wir verlässliche Fakten weder für die Person des Dichters noch für die Lokalisierung und Datierung seines Werks. Die Annahme, Otte sei Hesse gewesen, bleibt unsicher, und für die Entstehung seines Romans kommt immerhin die Zeitspanne von etwa 1190 bis 1230 in Frage.10 Zwar lässt Nadler dem ‚Eraclius‘ eine bei aller Kürze eindringlich-einfühlsame Interpretation zuteil werden, doch bleibt er jeden Nachweis schuldig, dass das Werk überhaupt in den Kontext der Literaturlandschaft Thüringen gehöre. Was Nadler über die traditionelle literarhistorische Präsentation des Materials hinaus zu dessen vorgeblicher stammesmäßiger Eigenart zu sagen weiß, ist im besten Fall forciert, nicht selten jedoch schlicht abwegig. Während die Umdeutung des ludowingischen Territorialbesitzes in Hessen, Thüringen und der Pfalzgrafschaft Sachsen zur Vereinigung der „Trümmer dreier deutscher Stämme“, nämlich „fränkische[r] Hessen, swebische[r] Thüringer und Sachsen“,11 für die folgenden Interpretationen belanglos bleibt, fallen die in diese je integrierten Autorenporträts gewöhnlich grobschlächtig aus. Über Heinrich von Veldeke heißt es: „Ein prächtiger Aristokrat, niederländisch schwerer als
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fremdrassigen Lebenszellen auszustoßen sowie dem ursprünglichen, volkhaft-germanischen und rassisch-nordischen Binnenkern seine Vormacht zurückzugeben.“ Vgl. Nadler (Anm. 5), S. 73–89, „Die Thüringer Schule“. Einleitend, S. 7 f., finden sich Anmerkungen zum „Volk“ der Thüringer in der Zeit der Stammesbildung, und S. 164–167 geht Nadler im Kontext Thüringens als „Paradies der Mystik“ kurz auf die wohl aus der Zerbster Gegend stammende Mechthild von Magdeburg und auf Meister Eckhart ein. Vgl. Nadler (Anm. 5), S. 80–86. Den ‚Willehalm‘, mit dem er offenbar nur wenig anzufangen weiß, streift Nadler nur S. 86, während er auf Wolframs ‚Titurel‘-Partien S. 86 f. etwas näher eingeht. Nadler (Anm. 5), S. 78 und 79. Vgl. Wolfgang Walliczek: Otte I. In: VL, Bd. 7 (1989), Sp. 199–203, bes. 199 f. Nadler (Anm. 5), S. 73.
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I. EINFÜHRUNG
die Pfälzer und Schwaben, und aus härterem Holze,“ und über den Sachsen Albrecht von Halberstadt erfährt man: „Keiner aus der Schule Veldekes stand so dankbar an den reinsten Quellen des Volkstums. Die heimische Landschaft duftet durch sein Gedicht; sie ist ihm wert und lockt ihm lyrische Töne ab.“12 Stets also erscheinen die Akteure der Literaturgeschichte als Repräsentanten ihres Herkunftsraums.13 Wenn Nadler sich zu der Vermutung versteigt, das nachdrückliche Bekenntnis Wolframs zu Veldeke sei „vielleicht unter dem unbewußten Drange der Stammesgleichheit“14 erfolgt, dürfte der Punkt erreicht sein, an dem eine ernsthafte wissenschaftliche Auseinandersetzung sich erübrigt. Mit dem Hinweis auf eine große Zahl mehr oder weniger problematischer Behauptungen ist Nadlers Literaturgeschichte allerdings nur unzureichend charakterisiert. Nadler ist ein ungemein belesener, kenntnisreicher, nicht selten auch scharfsinnig urteilender Literarhistoriker, dessen größte Stärke in seinem Überblick über die Gesamtentwicklung der deutschen Literaturgeschichte besteht, der ihm immer wieder die Herstellung größerer Zusammenhänge erlaubt. Nadler ist sich im Klaren darüber, dass das markanteste Kennzeichen der höfischen Dichtung Thüringens ihr auffälliger Antikebezug ist, und in gut Schererscher Manier sucht er nach einer Erklärung für den Umstand, dass „gerade auf diesem Fleck Erde so reiche Blüte antik-klassischer Stoffe“ anzutreffen sei und nicht etwa im Südwesten oder Südosten.15 Seine Erklärung 12 13
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Nadler (Anm. 5), S. 76 und 78. „Als Sachse oder Hesse oder Schwabe geboren zu sein, wird zum Schicksal eines jeden deutschen Dichters. Sie alle führen bei Nadler den Namen ihres Geburtsortes, ihrer Heimatlandschaft als grellen Wimpel immerzu mit sich. In ihrem Leben und Werk handeln und leiden die mächtigeren Kollektivwesen, die sie geboren haben.“ Muschg (Anm. 3), S. 290. Nadler (Anm. 5), S. 79. Nadler beginnt oft mit einer sachlichen Aussage, um dann unvermittelt ins Ungefähre und Unverbindliche auszuweichen. So knüpft er an den Hinweis auf die sprachgeographische Mittellage Hessens und Thüringens den Ausblick: „So wurden sie beide in jenen Zeiten, da sich die deutsche Literatur an weithin leuchtenden Punkten sammelte, die Heimstätte schönheitsheller Tage. Auf hessischem und thüringer Boden tauschten Sänger und Dichter Gedanken und Lieder aus und schlossen Bündnisse unerschöpflicher Freundschaft.“ S. 8. Dasselbe Bild bieten spätere Schriften. In: Das stammhafte Gefüge (Anm. 5), S. 106, heißt es über Thüringen: „Die Freude am Singvogel und am Gesang der eigenen Kehle ist nirgends in Deutschland allgemeiner verbreitet.“ Nadler (Anm. 5), S. 74. In den einleitenden Bemerkungen über seine methodologischen Auffassungen rechnet Nadler zu den Aufgaben des Literarhistorikers das Ausfindigmachen von „Ursachen“, die zu den literarisch sichtbaren „Wirkungen“ (S. VII) gehören. Seine Wortwahl erinnert an den programmatischen Aufsatz von Wilhelm Scherer: Die neue Generation. In: W. S.: Vorträge und Aufsätze zur Geschichte des geistigen Lebens in Deutschland und Österreich. Berlin 1874, S. 408–412, hier 411: „Wir fragen, wo sind die Thatsachen, für welche ein neues Verständniß eröffnet wird? Mit schönen Ansichten, mit geistreichen Worten, mit allgemeinen Redensarten ist uns nicht geholfen. Wir verlangen Einzeluntersuchungen, in denen die sicher erkannte Erscheinung auf die wirkenden Kräfte
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läuft im Wesentlichen darauf hinaus, dass Landgraf Hermann, in dessen Herrschaftszeit die fraglichen Werke fallen, den neuen Typus des Renaissancemenschen verkörpere, einen Typus, der „in der Thüringer Landschaft“ verwurzelt gewesen sei. Hermann gleiche „den oberitalienischen Fürsten und Condottieri aufs Haar“, und ergänzend fügt Nadler hinzu: „Die Landschaft forderte diese Künstler und solche Motive.“16 Wie man sieht, hat weder der behauptete „neue Männertypus“ des Renaissancemenschen noch der vage Hinweis auf die Landschaft viel mit dem einleitend postulierten stammeskundlichen Konzept zu tun; methodischer Anspruch und praktische Ausführung klaffen mithin auseinander. Nadler scheut sich auch nicht, bei Bedarf ad hoc Erklärungen zu bemühen wie die, Hermann habe Ovid übersetzen lassen, weil er „die Frauenfreude seiner Ahnen geerbt“ habe.17 Eine wichtige Konsequenz seines stammesgeschichtlichen Ansatzes hat er allerdings nicht ausgesprochen: die nämlich, dass die Autoren, die das Bild der mittelalterlichen Literatur Thüringens maßgeblich prägen, in der Mehrzahl keine Thüringer sind, sondern anderen „Stämmen“ angehören. Sein Bestreben ging offensichtlich dahin, alle wichtigen Autoren von Wolfram über Luther bis zu Goethe zu Franken zu erklären.18 Damit auch dürfte zusammenhängen, dass
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zurückgeführt wird, die sie ins Dasein riefen. Diesen Maßstab anzulegen haben wir von den Naturwissenschaften gelernt.“ Nadler (Anm. 5), S. 74 und 75. Nadler (Anm. 5), S. 77. Dass die mit dem Thüringer Hof verbundene kulturelle Blüte der Zeit um 1200 mit der Person Hermanns zu tun habe, wurde vor und nach Nadler betont, zumeist freilich in sachlicherer Weise, und die Frage nach dem Anteil des fürstlichen Gönners an der Entstehung bedeutender künstlerischer Leistungen ist eine von grundsätzlichem Interesse. Für die wettinischen Höfe kam Irmgard Höß: Die kulturelle Bedeutung der wettinischen Höfe. In: Jb. der Coburger Landesstiftung 31 (1986), S. 353–370, hier 353, zu dem Ergebnis: „Immer hing der Grad der Verwirklichung der kulturellen Repräsentationsansprüche von den Personen der Fürsten oder Fürstinnen ab, ihren Interessen und der Fähigkeit, bedeutende Persönlichkeiten an sich zu fesseln, die solche Wünsche in die Praxis umzusetzen imstande waren. Deshalb ist Diskontinuität eher die Regel als Kontinuität, wechseln die Schauplätze und kann bisweilen auch einmal nur für ganz wenige Jahre ein Hof einen Höhepunkt erreichen.“ Auf Franken entfallen in Nadlers Systematik der „Niederfranke“ Heinrich von Veldeke, der „Ostfranke“ Wolfram von Eschenbach und der „Franke“ Otte, Herbort wird als „Hesse“ rubriziert, Albrecht von Halberstadt nicht explizit als Sachse eingeordnet. Als Thüringer firmieren Heinrich von Morungen, Ebernand von Erfurt und Biterolf. Aus Luther macht Nadler in abenteuerlicher Beweisführung zunächst einen „fränkischen Henneberger“ (S. 231), dann einen Franken. Wenn auch die moderne Forschung den Anteil eines Herrschers wie Landgraf Hermann an der Entstehung der höfischen Literatur in Thüringen betont, ist die Übereinstimmung nur eine scheinbare. Während Nadler sich auf biologischanthropologische Schlagworte wie das vom Typus des Renaissancemenschen beschränkte, macht die heutige Forschung sich u. a. die Ergebnisse der Verfassungs- und Sozialgeschichte zunutze. Pointiert Alfred Ebenbauer: Dichtung und Raum. Kritische Gedanken zu einer mittelalterlichen „Literaturgeographie“. In: Interregionalität der deutschen Literatur im
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I. EINFÜHRUNG
in dem Thüringen-Kapitel die als methodisch konstitutiv benannten Größen Stamm und Landschaft keine Rolle spielen. Heute ist Nadlers – letztlich der Romantik und dem kausalgenetischen Positivismus Hippolyte Taines verpflichtete – Darstellung trotz ihres vielgerühmten Materialreichtums allenfalls noch von wissenschaftsgeschichtlichem Interesse.19 Sie mag anregend und einleuchtend sein, solange einzelne Werke besprochen und in ihren intertextuellen Bezügen dargestellt werden. Immer wieder aber unterbricht Nadler seine Beobachtungen und Vergleiche durch stammeskundliche Klischees wie die von den schweren, rätselhaften Niedersachsen oder den überreich mit Heiterkeit und Leichtigkeit ausgezeichneten Süddeutschen.20 Partienweise auch ist der durch epische Breite und ein Übermaß an Bildern geprägte Stil schlicht ungenießbar.21
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europäischen Mittelalter. Hg. von Hartmut Kugler. Berlin, New York 1995, S. 23–43, hier 30: „Zentrum mittelalterlicher Literaturproduktion war nicht ein Land, nicht ein Territorium, sondern der Hof, war der Fürst und Herrscher.“ Zur regionalen Literaturgeschichte vor Nadler vgl. Andreas Schumann: „... die Kunst erscheint überall an ein nationales und locales Element gebunden ...“ (A. W. Schlegel). Versuch einer Typologie regionaler Literaturgeschichtsschreibung in Deutschland im 19. und frühen 20. Jahrhundert. In: Sprachkunst 20 (1989), S. 237–257. Zu Nadlers Stellung zwischen Scherer-Schule und Geistesgeschichte vgl. Muschg (Anm. 3), S. 299, und Werner Krauss: Literaturgeschichte als geschichtlicher Auftrag. In: W. K.: Literaturtheorie, Philosophie und Politik. Hg. von Manfred Naumann. Berlin, Weimar 1984, S. 7–61, bes. 40 f. Nadler (Anm. 5), S. 80. Was man Nadler allenfalls zugute halten könnte, wäre, dass seine Auffassungen weniger originär oder seinem Lehrer Sauer verpflichtet waren, als er wohl selbst meinte. So finden sich in der Zeitschrift des Vereins für Thüringische Geschichte und Altertumskunde schon Ende des 19. Jh. Arbeiten, die im Namen einer anthropologischethnographisch verstandenen Volkskunde dazu aufrufen zu erforschen, wie viele blonde Volksangehörige speziell unter den Thüringern als Nachfahren der flachshaarigen Germanen gelten könnten und inwieweit sich noch germanisches Blut neben fremden Beimischungen erhalten habe. Vgl. Georg Kunz: Verortete Geschichte. Regionales Geschichtsbewußtsein in den deutschen Histoischen Vereinen des 19. Jahrhunderts. Göttingen 2000 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 138), S. 177–181. Um dieses harte Urteil zu belegen, mag ein kurzer Auszug aus dem 4. Kapitel des II. Buchs, überschrieben „Zwischen zwei Jahrhunderten“, folgen: „Den kurzen Sommernächten gleichen solche Zeiten; der verlöschende Abend und das Morgenrot fließen fast ineinander und dazwischen webt ein traumhaftes Leben. Das 12. und 13. Jahrhundert war des Mannes gewesen. Die Frau nahm hin und duldete und stand im Mittelpunkt der Feier. Die Sinnlichkeit war auf das Feinste vergeistigt, die Erde ging auf in Duft und Schimmer. Das 14. und 15. Jahrhundert gehörte der Frau. Sie hatte empfinden gelernt und wollte nun spenden. Sie warb und gab hin. Das Heiligste und Geistigste wurde ihr heiße Sinnlichkeit. Der goldende Dunst unfaßbarer Himmelssehnsucht verdichtete sich zu strömenden Wolken, die über das neue Geschlecht früh überreizter Kinder, verzückter Jungfrauen, irdisch satter Witwen sich ausgossen. Das Eigenleben der Generationen, die von 1300 bis 1400 kamen und gingen, ist die Mystik. Noch zittert in ihr die ritterliche Seele fort, doch auf dem vorwärts gewandten Gesicht lodert bereits das Feuer einer Zeit, die sich in Glaubenskämpfen verzehrte.“ Nadler (Anm. 5), S. 162.
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Dass die Literatur einer Region wie Thüringen sich auch in sachlichem Duktus darstellen lässt, bewies als erster der Göttinger Germanist Edward Schröder, ein Scherer-Schüler wie Nadlers Lehrer und Vorbild August Sauer. 1935 veröffentlichte er einen knappen, aber aspektreichen Abriss der Literatur Thüringens, der von den Anfängen bis zum Beginn der Frühen Neuzeit führt und heute noch mit Gewinn zu lesen ist.22 Es ist interessant zu sehen, dass Schröder seinem literarhistorischen Überblick eine längere Polemik gegen Nadler vorausschickt, in der er sich unmissverständlich von dessen stammeskundlichem Ansatz distanziert. Nadlers Konzept war also keineswegs allgemein akzeptiert.23 Schröder macht deutlich, dass er in der „Stammesart“ kein geeignetes methodisches Konzept einer literarhistorischen Darstellung sehe; bei den Franken habe Nadler sich zu „Experimenten“ verleiten lassen und im Fall Thüringens sei zu bedenken, dass es, wenn es überhaupt als „Stammesgebilde“ gelten dürfe, ein „recht kompliziertes“ gewesen sei. Er wolle sich mehr als dem Stamm „dem Lande Thüringen“ zuwenden und nur „verhältnismäßig wenig von den Söhnen dieses Landes und gar nicht von ihrer Stammesart“ handeln.24 Mit Schröder widmete sich der Literatur im mittelalterlichen Thüringen ein Meister der philologischen Methode, dessen Editionen mittelhochdeutscher Autoren sich bis heute behauptet haben, und ein Literarhistoriker, der die Kenntnis der mittelalterlichen Literatur mit zahlreichen Beiträgen förderte. Seine Nachfolge trat ein ganz anders ambitionierter Mann an, der aus Schleswig stammende Schriftsteller und Publizist Adolf Bartels, zunächst ein Anhänger und Theoretiker der Heimatkunst, später berüchtigt ob seiner „Judenriecherei“ (Tucholsky) in der deutschen Literatur, von der er übrigens auch Nadler nicht ausnahm. Seit 1895 in Weimar lebend und 1905 vom Großherzog zum Professor ernannt, betätigte er sich auch als Herausgeber deutscher Literatur und verfasste literarhistorische Handbücher. Früh schon propagierte Bartels in seinen Schriften einen völkischen Rassismus, sodass seine ‚Geschichte der deutschen Literatur‘, die bis 1943 nicht weniger als 19 Auflagen erfuhr, in der nationalsozialistischen Zeit zu einem Standardwerk avancierte.25 Von den Nationalsozialisten wurden ihm zu seinem 75. und 80. 22
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Edward Schröder: Der Anteil Thüringens an der Literatur des deutschen Mittelalters. In: ZThG. NF 31 (1935), S. 1–19. Schröders Distanzierung ist umso bemerkenswerter, als sich die kritische Auseinandersetzung mit Nadler in der Gegenwart auf die wissenschaftsgeschichtliche Literatur beschränkt. Schröder (Anm. 22), S. 2. Hier liest man einleitend: „Sicherlich, das alte germanische Blut ist stärker als alles andere in uns. Bedeutsamer als die landschaftlichen Unterschiede sind die der Stämme, der Stamm ist der natürliche Verband der Individuen, er war eher, nicht als die Rasse, aber als die Nation, und so bemerkt das schärfere Auge bei aller nahen Verwandtschaft die feineren unterscheidenden Charakterzüge doch. Wer könnte in Wolfram von Eschenbach den Bayern, in
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I. EINFÜHRUNG
Geburtstag hohe Ehrungen zuteil.26 Von seiner zweibändigen ‚Geschichte der thüringischen Literatur‘ interessiert hier nur der erste Band, den ein Mittelalter-Kapitel eröffnet, das allerdings nur wenige Seiten füllt. Es handelt sich dabei um eine Darstellung ohne wissenschaftlichen Wert, eine – wie der Verfasser selbst freimütig erklärt – Kompilation auf der Grundlage von Goedekes ‚Grundriß‘.27 Bartels meinte freilich, es sei ihm gelungen, das „ungeheure Material, das man in mancher Hinsicht als Kuddelmuddel bezeichnen kann“, zu ordnen, sodass er „eine wertvolle Stammesliteraturgeschichte“ vorlegen könne.28 Inwieweit er neben Goedeke auch andere Darstellungen heranzog, etwa die Nadlers, dessen „gewaltige“ Leistung er rühmt, bleibt unsicher, da der Band keinerlei Apparat aufweist. Gründlich gelesen haben kann er Nadler jedenfalls kaum, porträtiert dieser doch Wolfram als großen Franken, während er von Bartels als „geborener Bayer“29 vorgestellt wird, ohne dass der Widerspruch thematisiert würde.
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Goethe den Franken (mit einiger sächsisch-thüringischer Blutzumischung allerdings), in Schiller den Schwaben (mit einem keltischen Blutstropfen vielleicht), in Lessing den Obersachsen (erzgebirgisch-deutscher und Lausitzer-slawischer Mischung), in Hebbel den Niedersachsen, den Dithmarscher, in Otto Ludwig den (fränkischen) Thüringer, in Theodor Storm den Friesen verkennen?“ Adolf Bartels: Geschichte der deutschen Literatur. In zwei Bänden. Bd. 1. Leipzig 1901, S. 6 f. Walter Goetz: Bartels, Adolf. In: NDB, Bd. 1 (1953), S. 597, nannte den Bartels der späteren Zeit einen „einseitigen Parteigänger des Rassenprinzips und des Antisemitismus; von da an sind seine zahlreichen Arbeiten zumeist nicht Wissenschaft, sondern Propaganda zugunsten eines rein völkischen Schrifttums.“ Hier wären Schriften zu nennen wie: Rasse. Sechzehn Aufsätze zur nationalen Weltanschauung. Heidelberg 1909; Judentum und deutsche Literatur. Berlin 1912 [Vortrag]; Rasse und Volkstum. Weimar 1919 [Aufsätze]; Der Nationalsozialismus. Deutschlands Rettung. Leipzig 1924; Jüdische Herkunft und Literaturwissenschaft. Eine gründliche Erörterung. Leipzig 1925. Vgl. auch Karl Otto Conrady: Vor Adolf Bartels wird gewarnt. Aus einem Kapitel mißverstandener Heimatliebe. In: K. O. C.: Literatur und Germanistik als Herausforderung. Frankfurt a. M. 1974 (suhrkamp taschenbuch wissenschaft 214), S. 227–232. 1937 wurde Bartels der Adlerschild des Deutschen Reiches verliehen, 1942 die Ehrenmitgliedschaft in der NSDAP und das goldene Parteiabzeichen. Dem nationalsozialistischen Thüringer Innenminister Frick verdankte Bartels, der weder einen Schul- noch einen Universitätsabschluss vorweisen konnte, einen Lehrauftrag an der Universität Jena. Hier behandelte er 1930 im Rahmen einer Lehrerinnen-Weiterbildung das Thema Geschichte der thüringischen Literatur. Vgl. Adolf Bartels: Geschichte der thüringischen Literatur. Erster Band. Von den Anfängen bis zum Tode Goethes. Jena 1938, S. 3–25. Als Hauptquelle nannte Bartels „die zehn Bände der zweiten, neubearbeiteten Auflage des ‚Grundrisses zur Geschichte der deutschen Dichtung‘ von Karl Goedeke, die von 1884 bis 1913 erschienen“ (S. VII). Beim Lesen fühlt man sich an Tucholskys Urteil über ein anderes Handbuch des Autors erinnert: „Dieses Buch ist ein durch läppische Bemerkungen unterbrochener Bücherkatalog.“ Herr Adolf Bartels. In: Kurt Tucholsky. Gesamtausgabe. Texte und Briefe. Bd. 5. Texte 1921–1922. Hg. von Roland u. Elfriede Links. Reinbek 1999, S. 282–288, hier 283. Vgl. Bartels (Anm. 27), S. VI f. und VII. Bartels (Anm. 27), S. 7.
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Wenn die Literaturwissenschaft sich in der Nachkriegszeit der regionalen Betrachtung der Literatur von wenigen Ausnahmen abgesehen nur zögernd zuwandte, dann vornehmlich deshalb, weil diese Betrachtungsweise durch die von Sauer über Nadler bis Bartels reichende volks- und stammeskundliche Tradition nachhaltig diskreditiert war.30 Spätestens seit den 50er Jahren ging das Fach in den beiden deutschen Staaten getrennte Wege, wobei im Rückblick die Abhängigkeit von den je gegebenen politischen Bedingungen deutlich erkennbar ist. In der DDR, in der die Länder durch die Verwaltungsreform von 1952 aufgehoben worden waren, konnte es kein Interesse an wissenschaftlichen Bemühungen geben, die letztlich auf die Bewahrung der Identität jener als partikularistisch bekämpften historischen Gebilde hinausliefen. Folgerichtig ergab sich daraus das Aus für die Geschichtsvereine mit ihren Zeitschriften und über kurz oder lang auch für die Tätigkeit der Historischen Kommissionen. Auch die landesgeschichtlichen Lehrstühle an den Universitäten mussten anderen Schwerpunktbildungen weichen; was an die Stelle der herkömmlichen Landesgeschichte trat, hieß nun Regionalgeschichte. Als die politische Führung der DDR in den 50er Jahren verstärkten Druck ausübte, um die Universitäten endgültig in sozialistische Hochschulen umzuwandeln, war das Hauptergebnis eine massive Abwanderung von Wissenschaftlern nach Westdeutschland.31 Fortan hatte die thüringische Landesgeschichte ihr Zentrum nicht mehr in Jena oder Leipzig, sondern in Marburg. 30
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Zu Nadlers negativer Wirkung auf regionale Ansätze der Literaturbetrachtung vgl. Norbert Mecklenburg: Stammesbiologie oder Kulturraumforschung? In: Kontroversen, alte und neue. Akten des VII. IVG-Kongresses Göttingen 1985. Hg. von Albrecht Schöne. Tübingen 1986. Bd. 10. Hg. von Karl Pestalozzi [u. a.], S. 3–15. Vgl. ferner Volker Schupp: Literaturgeschichtliche Landeskunde? In: Alemannica. Landeskundliche Beiträge. Fs. Bruno Boesch. Bühl/Baden 1975 (Alemannisches Jb. 1973/75), S. 272–298, bes. 276 f. Noch 1995 meinte Ebenbauer (Anm. 18), S. 41: „‚Heimat‘ klingt nach ‚Heimat und Rasse‘, nach ‚Blut und Boden‘.“ Zu den Ausnahmen gehören literaturgeschichtliche Bestandsaufnahmen zu den früheren deutschen Ostgebieten wie Arno Lubos: Geschichte der Literatur Schlesiens. Bd. 1–3. München 1960–1974. Vgl. Hans Patze: Landesgeschichte. In: H. P.: Ausgewählte Aufsätze. Hg. von Peter Johanek, Ernst Schubert, Matthias Werner. Stuttgart 2002 (Vorträge und Forschungen 50), S. 21–80, hier 24–26. Für die Germanistik wirkte sich verhängnisvoll aus, dass Wilhelm Girnus, Staatssekretär für das Hochschulwesen, mehrfach erklärte, in der Ausbildung des germanistischen Nachwuchses dürfe die Gegenwartssprache nicht hinter den älteren Sprachstufen zurücktreten, bei aller Ehrfurcht vor der nationalen Vergangenheit sei ein steriler Historismus zu vermeiden, und grundsätzlich habe das Mittelalter nun ausgedient und müsse seinen Platz im Museum finden. Für jene Altgermanisten, die die DDR nicht verlassen wollten oder konnten, erwuchs daraus ein erheblicher Legitimationsdruck, die Beschäftigung mit Sprache und Literatur des Mittelalters oder – wie der bevorzugte Begriff lautete – des Feudalismus, war damit von höchster Ebene als obsolet eingestuft. Manche weither geholte Reflexion über das kulturelle Erbe oder über demokratische und revolutionäre Traditionen in der Literatur erklärt sich erst aus jener Situation.
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I. EINFÜHRUNG
Doch nicht nur für diese Disziplin bot die föderativ gegliederte Bundesrepublik die günstigeren politischen Rahmenbedingungen, sondern auch für die literaturwissenschaftliche Germanistik. In der DDR nahmen sich Arbeiten zur Literatur des Mittelalters und gar solche mit regionaler Perspektive zunehmend belanglos aus neben den von oben gelenkten Bemühungen um eine sozialistische deutsche Nationalliteratur. So fehlte es bald auch an geeigneten Verlagen und Publikationsorganen, und spätestens seit 1961 finden sich gewöhnlich nur noch in den Universitätszeitschriften kleinere mediävistische Beiträge.32 Um so größere Anerkennung verdient eine Publikation, die der Hallenser Mediävist Manfred Lemmer 1981 unter dem Titel ‚der Dürnge bluome schînet dur den snê‘ vorlegte.33 Die flüssig geschriebene und aufwendig bebilderte Darstellung gibt auf dem damaligen Forschungsstand einen Überblick über die höfische Literatur in der Landgrafschaft Thüringen vom letzten Viertel des 12. Jahrhunderts an. Sie führt allerdings nur bis zum Tod des Wettiners Heinrich III. des Erlauchten, berücksichtigt also die Literatur des späten Mittelalters nur zu einem geringen Teil. Die erste und bisher einzige Gesamtdarstellung der mittelalterlichen Literatur Thüringens erschien 1973 im zweiten Band der von Hans Patze und Walter Schlesinger herausgegebenen ‚Geschichte Thüringens‘.34 Der von Herbert Wolf verfasste Überblick reicht vom Typus des frühmittelalterlichen Heldenlieds bis zum Frühhumanismus an der Erfurter Universität. Mit stupendem Fleiß trug Wolf nahezu alles zusammen, was sich an schriftlicher, aber auch mündlicher Überlieferung in dem Jahrtausend zwischen 500 und 1500 mit Thüringen verbinden lässt. In diesem Materialreichtum dürfte der bleibende Wert der Darstellung liegen. Erkennbar ist ein weiter Literaturbegriff; neben klassischen Gattungen wie der höfischen Epik und dem Minnesang werden auch Predigtsammlungen, Rechtstexte, Chroniken, Sagen, Fabeln und andere Texttypen behandelt. Ob dieser seit dem Votum Kurt Ruhs meist „erweiterter 32
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Exemplarisch genannt sei Heinz Mettke: Zu einigen Erfurter Texten und Dichtungen im Mittelalter. In: Wiss. Zs. der Friedrich-Schiller-Universität Jena 34 (1985). Gesellschaftswiss. Reihe, S. 77–85. Dasselbe Schicksal erlitten andere mediävistische Disziplinen, etwa die mittelalterliche Kunstgeschichte. Vgl. Friedrich Möbius: Wirklichkeit – Kunst – Leben. Erinnerungen eines Kunsthistorikers. Jena 2001, S. 163–172. Manfred Lemmer: „der Dürnge bluome schînet dur den snê“. Thüringen und die deutsche Literatur des hohen Mittelalters. Eisenach 1981. Herbert Wolf: Die deutsche Literatur im Mittelalter. In: Geschichte Thüringens. Hg. von Hans Patze u. Walter Schlesinger. Bd. II. Hohes und spätes Mittelalter. Teil 2. Köln, Wien 1973 (Mitteldt. Forsch. 48/II/2), S. 188–249. Fortsetzung: Bernhard Sowinski: Die Literatur in der Neuzeit. In: Geschichte Thüringens. Hg. von Hans Patze u. Walter Schlesinger. Bd. IV. Kirche und Kultur in der Neuzeit. Köln, Wien 1972 (Mitteldt. Forsch. 48/IV), S. 345–480. Überlegungen zum Problem einer regionalen Literaturgeschichte S. 524–526.
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Literaturbegriff“ genannte Ansatz, d. h. die Öffnung der Germanistik hin zur Gebrauchsliteratur, ein universell anwendbarer ist, mag man bezweifeln; hier jedoch ist er sicherlich berechtigt. Innovativ erscheint Wolfs Darstellung im Rückblick nicht nur durch ihren umfassenden Literaturbegriff, sondern auch in der Beachtung rezeptionsgeschichtlicher Gesichtspunkte. So werden neben thüringischen Autoren auch Handschriften berücksichtigt, die in thüringischer Schreibsprache abgefasst bzw. aus Thüringer Skriptorien hervorgegangen sind.35 Besonders in jüngerer Zeit ist der rezeptionsgeschichtliche Ansatz intensiv diskutiert worden. Während autorbezogene Darstellungen mitunter dazu neigen, ihre Bilanz aufzubessern, indem sie Autoren, die in verschiedenen Regionen wirkten, mehr oder weniger gut begründet zu vereinnahmen,36 verspricht der überlieferungs- und rezeptionsgeschichtliche Ansatz, die Frage also nach der Literatur, die man in einer Region las, abschrieb, bearbeitete, übersetzte, in Büchersammlungen tradierte usw., neue Einsichten in den Literaturbetrieb. Natürlich kann man dabei kaum von neuzeitlichen Bibliotheksbeständen ausgehen, sind doch ältere Privat- und Klosterbibliotheken nur in wenigen Fällen als solche erhalten und in unserem Zusammenhang wichtige Manuskripte wie die ‚Schleizer Psalmenfragmente‘ oder die TeichnerSammlung des Erfurter Universitätsrektors Tilomann Ziegler als verschollen oder verloren zu betrachten.37 Schwerer noch wiegt, dass die Bibliotheksheimat einer mittelalterlichen Handschrift mit deren Herkunftsraum nicht identisch sein muss. So besitzt die Gothaer Bibliothek auf Schloss Friedenstein Handschriften aus dem Süden des bairischen Sprachraums, während ein heute in München liegendes Fragment des wolframschen ‚Willehalm‘ sprachlich nach Südostthüringen weist.38 Eine rezeptionsgeschichtlich gerichtete 35
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Kapitel wie 7. Literatur aus dem Bereich des Deutschen Ordens und 18. Universität, Kloster und Stadt als Pflegestätten der Literatur zeigen im Übrigen, dass auch das Konzept einer nach den Orten literarischer Interessenbildung fragenden Literaturgeschichtsschreibung der Sache nach schon längere Zeit bekannt war. Vgl. Literarische Interessenbildung im Mittelalter. DFG-Symposion 1991. Hg. von Joachim Heinzle. Stuttgart, Weimar 1993 (German. Symposien. Berichtsbände 14). Wurde Luther von Nadler zum „fränkischen Henneberger“ erklärt, wird er in: „Do tagte ez“. Deutsche Literatur des Mittelalters in Sachsen-Anhalt. Hg. von Andrea Seidel u. HansJoachim Solms. Dössel, Saalkreis 2003, S. 11, für Sachsen-Anhalt reklamiert. Vgl. Rudolf Ehwald: Reste der Reinhardsbrunner Bibliothek. In: Mitteilungen der Vereinigung für Gothaische Geschichte und Altertumskunde 1906/07 (1907), S. 63–73; Michael Baldzuhn: Teichnerreden und Meisterlieder in einer Handschrift des Erfurter Kanonikers und Universitätsrektors Tilomann Ziegler († 1479). In: ZfdA 133 (2004), S. 151–176. Gotha, FB, Memb. I 101 ist im 9. Jh. im Kloster Murbach im südlichen Elsass gefertigt worden. Gotha, FB, Chart. A 590 wurde um 1465 in der Diözese Brixen (Südtirol) geschrieben. Das ‚Willehalm‘-Fragment München, Bayerische Staatsbibliothek, Cgm 5249/4a
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I. EINFÜHRUNG
Literaturgeschichte einer mittelalterlichen Region kann allein bei der Schreibsprache der Texte ansetzen, doch gelangt man dabei im Fall Thüringens über eine Einordnung als „mitteldeutsch“ vielfach kaum hinaus. Diese Einordnung lässt einen weiten Spielraum mindestens vom Rheinfränkisch-Hessischen über das östlich angrenzende Thüringische bis zum Obersächsisch-Meißnischen.39 Aber nicht nur das Problem der Datierung und Lokalisierung einer Handschrift, das sich im Mittelalter grundsätzlich immer stellt, relativiert die Eignung des rezeptionsgeschichtlichen Ansatzes. Nicht zu übersehen ist auch, dass mit der produktions- und der rezeptionsästhetischen Perspektive, um bei diesen vereinfachenden Begriffen zu bleiben, je verschiedene Dinge in den Blick treten, wie am Beispiel der kleineren Erzählungen, der sogenannten Märendichtung, angedeutet sei. Fragt man, welche Mären in thüringischer Schreibsprache überliefert sind, lässt sich eine eindrucksvolle Liste erstellen. So enthält der Pommersfelder Codex 54, der im 14. Jahrhundert vermutlich in Erfurt entstand, neben anderem eine kleinere Sammlung von fünf Mären. Weitere Fragmente mit Märendichtung, deren Schreibdialekt nach Thüringen weist, verteilen sich über die Bibliotheken und Archive vom südthüringischen Römhild über Erfurt bis nach Thorn (Toruñ) und Moskau. Fragt man hingegen, welche Mären in Thüringen oder von thüringischen Autoren verfasst wurden, ergibt sich ein deutlich anderes Bild. Hier wäre Helwig zu berücksichtigen, wenn seine Legendendichtung mit dem Märenbegriff denn wirklich adäquat erfasst wäre. Die einzige Handschrift, die sein ‚Märe vom heiligen Kreuz‘ enthält, weist sprachlich nach Thüringen, wurde aber wohl in Freiburg i. Br. geschrieben, und auch der als Auftraggeber genannte Auftraggeber Markgraf Friedrich von Baden führt von Thüringen weg. In noch stärkerem Maße gilt das für den Verfasser der Erzählung ‚Frauenzucht‘, der wahrscheinlich aus Erfurt stammt, aber als videlære in der Hofkapelle König Manfreds von Sizilien († 1266) wahrscheinlich gemacht werden kann. Um etwas über die Märendichtung in Thüringen zu erfahren, wird man daher die produktionsund die rezeptionsgeschichtliche Perspektive kombinieren müssen; erst die Zusammenschau verspricht Aufschluss sowohl über Texte, die in Thüringen verfasst, wie auch über solche, die hier von Berufsschreibern für bestimmte Auftraggeber kopiert wurden.
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gehört zu einer Ende des 13. Jh. oder um 1300 gefertigten Pergamenthandschrift. Vgl. Karin Schneider: Die deutschen Handschriften der Bayerischen Staatsbibliothek München. Die mittelalterlichen Fragmente Cgm 5249–5250. Wiesbaden 2005 (Die deutschen Handschriften der Bayerischen Staatsbibliothek München 8), S. 25. Das im späteren 14. Jh. entstandene Gedicht ‚Reimverse eines Begarden‘ weist sprachlich nach Türingen, aber die Handschrift befindet sich heute in Bremen, SUB, cod. c. 18. Vgl. Kurt Ruh: ‚Reimverse eines Begarden‘. In: VL, Bd. 7 (1989), Sp. 1153–1155. Als Beispiel ließe sich das ‚Wartburgkrieg‘-Fragment München, Bayerische Staatsbibliothek, Cgm 5249/10 aus der Mitte des 14. Jh. nennen.
THÜRINGEN ALS GEGENSTAND REGIONALER LITERATURGESCHICHTSSCHREIBUNG
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Wenn heute eine neue Darstellung der mittelalterlichen Literatur Thüringens berechtigt erscheint, dann nicht, weil diejenige Wolfs sachlich oder methodisch obsolet wäre.40 Doch sind in den letzten Jahrzehnten auch Texte und Handschriftenfragmente bekannt geworden, die die Überprüfung mancher Urteile – etwa über die Nichtbeteiligung Thüringens an der Artusepik – erforderlich machen.41 Zudem erlaubt das neue ‚Verfasserlexikon‘ inzwischen einen sehr vollständigen Überblick über die mittelalterliche Literatur und Schriftlichkeit in all ihren Facetten.42 Zum Methodischen bedarf es allenfalls noch des Hinweises, dass das nähere Eingehen auf den konservativen Literarhistoriker Nadler nicht nötig gewesen wäre, wenn sich unter Germanisten und Literarhistorikern nicht zäh die Auffassung hielte, er sei „der Meister und eigentliche Förderer“ landschaftsgebundener Literaturgeschichte und seine Darstellung „eine Fundgrube für jeden Literaturhistoriker“.43 Die heutige Forschung versteht Regionen nicht mehr als naturgegebene Grundeinheiten, wie Ethnographie und Heimatkunde sie einst definierten.44 40
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Manche Autoren und Texte bzw. Textsammlungen würde man heute wohl ausführlicher behandeln, etwa Walther von der Vogelweide und die ‚Jenaer Liederhandschrift‘. Neufunde sind der ‚Zwettler Erec‘ und das ‚Wigelis‘-Fragment eines Dietrich von Hopfgarten. Die schon länger bekannten ‚Segremors‘-Fragmente sind bei Wolf nicht berücksichtigt. Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. Begr. von Wolfgang Stammler, fortgef. von Karl Langosch. 2., völlig neu bearb. Aufl. Hg. von Kurt Ruh [Bd. 1–8] u. Burghart Wachinger [Bd. 9 ff.]. Berlin, New York 1978 ff. Bisher liegen vor 10 Bde., ein Ergänzungsbd. und ein Handschriftenregister, 2 Ergänzungsbde. für die Zeit des Humanismus sind im Erscheinen begriffen. Der gegenüber der 1. Aufl. erheblich gewachsene Umfang resultiert aus dem im Sinn des Herausgebers Ruh erweiterten Literaturbegriff. Gelegentlich ist der Namenansatz ein anderer als bei Wolf, so erscheint Jakob von Jüterbog (Wolf, S. 225) jetzt als Jakob von Paradies, vgl. Anm. V, 205. Erstes Zitat: Wolf (Anm. 34), S. 347, zweites Zitat: Paul Raabe: Einführung in die Bücherkunde zur deutschen Literaturwissenschaft. 10. Aufl. Stuttgart 1984 (SM 1), S. 43. Bei Raabe findet sich neben der Empfehlung des Werks besonders für das 17. Jh. der Hinweis, dass Nadlers „stammesgeschichtliche Betrachtungsweise hier nicht zur Diskussion“ stehe. Jens Haustein: Literaturgeschichte der Region. Das Beispiel Thüringen. In: Jb. für Internationale Germanistik 34 (2002), S. 167–180, hier 169, urteilte, dass Nadlers Literaturgeschichte „in der Sache besser ist, als ihr Ruf es vermuten lassen könnte“. Zu einem entschieden anderen Resultat gelangte Michael Rohrwasser: Josef Nadler als Pionier moderner Regionalismuskonzepte? In: Regionalität als Kategorie der Sprach- und Literaturwissenschaft. Hg. vom Instytut Filologii German´skiej der Uniwersytet Opolski. Frankfurt a. M. 2002 (Oppelner Beitr. zur Germanistik 6), S. 257–280. Zuzustimmen ist Schupp (Anm. 30), S. 286 f.: „Nicht dass es Nadler gegeben hat, macht das Fatale der landesgeschichtlichen Literaturwissenschaft aus, sondern daß diejenigen, die sich auf ihn berufen oder sich von ihm haben beeinflussen lassen, ihn nicht diskutiert, vielleicht nicht einmal gelesen haben.“ Neuere literaturwissenschaftliche Reflexionen über Regionen und ihren Zusammenhang, über Zentralität und Regionalität, Vernetzung und Austausch sind auch auf dem Hintergrund der Perspektiven zu sehen, die sich mit der Programmatik der Europäischen Union, dem Projekt eines Europas der Regionen verbinden, in dem nationalstaatlich geprägte
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I. EINFÜHRUNG
Die Vorstellung, dass sich mit einer Region oder – wie es bei Nadler heißt – einer Landschaft gleichsam naturwüchsige unverwechselbare Eigenarten verbinden ließen, ist der Einsicht gewichen, dass Kulturregionen Prozessen der Gestaltung und Umgestaltung unterliegen.45 Auf die Literatur bezogen, bedeutet das, dass die literarische Bilanz eines historischen Raums sich nicht durch Abzug aller „Fremdeinwirkungen“ errechnen lässt, sondern dass zum Literaturbetrieb auch und gerade der Austausch gehört, der Transfer von Handschriften wie von Stoffen, Motiven, Gattungen – erinnert sei nur daran, dass fast alle bedeutenden Romane der höfischen Klassik auf französische Vorlagen zurückgehen. Die geographische Herkunft eines Autors kann daher kein entscheidendes Kriterium regionaler Literaturgeschichte sein. Johannes Rothe, im westthüringischen Creuzburg geboren und über ein halbes Jahrhundert in Eisenach literarisch tätig, gehört ganz fraglos zur thüringischen Literaturgeschichte, während der aus dem ostthüringischen Weida stammende Dominikaner Marcus von Weida, der als Lektor im Leipziger Predigerkloster wirkte und seine Predigten und erbaulichen Schriften im Auftrag Leipziger Bürger und sächsischer Fürsten verfasste, seinen Platz ebenso fraglos in der Literaturgeschichte des meißnisch-obersächsischen Raums hat.46 In jüngerer Zeit hat man, um von den Unzulänglichkeiten der älteren Regionalforschung wegzukommen, den Begriff „Interregionalität“ geprägt, der auf Binnenbewegungen innerhalb eines komplexen Kulturraums zielt, auf den Zusammenhang also zwischen verschiedenen Regionen.47 Diese Einsicht ist freilich nicht unbedingt eine ganz neue; man kann sie, um beim Beispiel Thüringen zu bleiben, zur Zeit des Landgrafen Hermann wie zu der des Großherzogs Carl August überprüfen.
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Paradigmen zugunsten regionaler zurücktreten dürften. Vgl. Matthias Werner: Perspektiven einer thüringischen Landesgeschichte im Europa der Regionen. In: Neu entdeckt. Essays. Thüringen – Land der Residenzen. 2. Thüringer Landesausstellung [...]. Hg. von Konrad Scheurmann u. Jördis Frank. Katalog 1. Mainz 2004, S. 13–26. Entscheidend ist nicht, ob man von Landschaft (Nadler), Literaturraum (Steinbach), Literaturlandschaft (de Boor), geschichtlichem Kulturraum (Thum) oder Region (Kugler) spricht, sondern ob man diese Größen wie die ältere Regionalforschung als unabänderlich gegebene oder als historisch veränderliche ansieht. Vgl. Anthony van der Lee: Marcus von Weida OP. In: VL, Bd. 5 (1985), Sp. 1233–1237. Den ostmitteldeutschen Raum insgesamt nimmt in den Blick Bernhard Sowinski: Mittelund Ostdeutschland als Literaturlandschaft im Spätmittelalter. In: Mitteldeutsches Jb. für Kultur und Geschichte 3 (1996), S. 47–57. Vgl. Interregionalität der deutschen Literatur im europäischen Mittelalter (Anm. 18).
II. Frühzeit
1. Vorgeschichte: Runen, Legeswörter, Glossen Wenn man sich der Literatur früher Epochen zuwendet, ist es angeraten, sich vorab über den anzuwendenden Literaturbegriff Rechenschaft abzulegen; denn „Literatur“ definiert sich von Jahrhundert zu Jahrhundert durchaus unterschiedlich. Ganz allgemein lässt sich beobachten, dass die Literaturgeschichte, je weiter sie zurückschreitet, ihren Gegenstand zunehmend weiter fasst, und dies nicht erst seit Ruhs Plädoyer für einen erweiterten Literaturbegriff.1 Schon Gustav Ehrismann berücksichtigte im Schlussband seiner Literaturgeschichte auch Texttypen wie Totentanz, Predigt, Rechtsprosa und Bibelübersetzung, die in einer Darstellung der Literatur des 19. oder 20. Jahrhunderts schon aus ästhetischen Gründen undenkbar wären.2 Wenn man, noch weiter zurückschreitend, sich den Anfängen der deutschen Literatur zuwendet, gilt unterschiedslos alles schriftlich Fixierte, und sei es ein einzelnes Wort wie das so archaische wie schwer deutbare sunufatarungo im ‚Hildebrandslied‘, als wertvolles Sprachdenkmal. Die solchermaßen zu beobachtende Flexibilität des Literaturbegriffs korrespondiert natürlich der je unterschiedlichen, schmaleren oder breiteren Überlieferung einer Epoche. Die mittelalterliche Literatur Thüringens darstellen zu wollen, heißt grundsätzlich, sich einer Jahrtausendepoche zuzuwenden, der Zeit von 500 bis 1500, für die üblicherweise der Epochenbegriff Mittelalter verwendet wird.3 Damit 1
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Vgl. Kurt Ruh: Überlieferungsgeschichte mittelalterlicher Texte als methodischer Ansatz zu einer erweiterten Konzeption von Literaturgeschichte. In: Überlieferungsgeschichtliche Prosaforschung. Beiträge der Würzburger Forschergruppe zur Methode und Auswertung. Hg. von K. R. Tübingen 1985 (TTG 19), S. 262–272. Vgl. Gustav Ehrismann: Geschichte der deutschen Literatur bis zum Ausgang des Mittelalters. 2. Teil. Die mittelhochdeutsche Literatur. Schlussband. München 1935 (Handbuch des deutschen Unterrichts VI/2. Schlussband). Schon Josef Nadler: Die Wissenschaftslehre der Literaturgeschichte. Versuche und Anfänge. In: Euph. 21 (1914), S. 1–63, hier 26 f., befand: „[...] wenn es eine Wissenschaft von den literarischen Denkmälern geben soll, so muß sich diese Wissenschaft sämtliche Denkmäler ohne Auswahl, ohne Beschränkung, ohne Ausnahme zum Gegenstande nehmen. Und da diese Denkmäler in die Sprachwissenschaft nur der Form nach eingehen, in die Geschichtswissenschaft nur ein Teil von ihnen und der nur dem Inhalt nach, so muß eine Wissenschaft von den literarischen Denkmälern alle diese Texte sowohl der Form als dem Inhalt nach zum Gegenstande nehmen.“ Die vieldiskutierte Frage nach den zeitlichen Dimensionen des Mittelalters ist hier nicht aufzugreifen. In unserem Fall ändert es nichts, dass das LexMA, Bd. 1 (1980), S. XI, das Mittelalter mit den Daten „ca. 300 n. Chr.“ und „ca. 1500“ umgrenzt, da die schriftliche Überlieferung in Thüringen erst erheblich später einsetzt.
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II. FRÜHZEIT
verbindet sich das Problem, dass Thüringen in diesem Jahrtausend keineswegs eine unveränderliche Größe ist, keine gleichbleibenden, klar umrissenen Grenzen aufweist.4 Genauer zu bestimmen wäre auch der Begriff „Literatur“. Er meint das in litteris (Lettern) Geschriebene, und so verstandene Literatur setzt im späteren deutschen Sprachraum in der zweiten Hälfte des 8. Jahrhunderts ein.5 Literatur ist also nicht identisch mit Dichtung. Diese ist nicht zwingend an das Medium der Schriftlichkeit gebunden: sie kann, wie wir aus verschiedenen Kulturen wissen, Jahrhunderte leben, ohne dass das Bedürfnis ihrer Verschriftlichung entstünde; zur Verdeutlichung spricht man daher auch von mündlicher Dichtung.6 Mündliche Poesie nun darf nicht missverstanden werden als primitive Vorform einer verschriftlichten, literarisierten Dichtung; sie ist legitimer Bestandteil oraler Kulturen mit den diesen je eigenen Bedingungen. Mündliche Poesie gibt uns jedoch das methodische Problem auf, dass wir fast alles, was wir über sie wissen, schriftlichen Quellen verdanken. Dieses Problem wird am Beispiel des ‚Iringlieds‘ noch zu erläutern sein. Überaus wichtig für das Verständnis mittelalterlicher Literatur ist auch – worauf mit Nachdruck der Romanist Ernst Robert Curtius hingewiesen hat – das Verhältnis von Latein und Volkssprache. In seinem Buch ‚Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter‘ suchte er nachzuweisen, dass „die antike Kultursubstanz nie untergegangen“ sei, Antike und Mittelalter letztlich also 4
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Einen konzisen Überblick gibt Matthias Werner: Thüringen, Thüringer. In: LexMA, Bd. 8 (1997), Sp. 747–757. Bei der Gründung des Thüringischen Wörterbuchs 1907 löste man das Problem der historisch sich ändernden Grenzen durch die Orientierung an den damaligen politischen Grenzen. Anders liegen die Dinge, wenn in dem Sammelband: „Do tagte ez“ (Anm. I, 36), S. 23 ff., die ‚Merseburger Zaubersprüche‘, die im ersten oder zweiten Drittel des 10. Jh. auf das freie Vorsatzblatt eines lateinischen Sakramentars eingetragen wurden, dessen Reste heute den Schluss einer sechsteiligen Sammelhandschrift bilden, die später in die Bibliothek des Merseburger Domkapitels gelangte, vgl. Merseburg, Domstiftsbibl., Cod. 136, für das über ein Jahrtausend jüngere Bundesland Sachsen-Anhalt als Kulturgut reklamiert werden (1945 wurden die Provinzen Magdeburg und Halle-Merseburg mit dem Land Anhalt und einigen braunschweigischen und thüringischen Gebieten zur Provinz Sachsen zusammengelegt, 1946 zur Provinz Sachsen-Anhalt und 1947 zum Land Sachsen-Anhalt, das 1952 aufgelöst und in die Bezirke Halle und Magdeburg gegliedert wurde; das heutige Bundesland Sachsen-Anhalt wurde 1990 gegründet). Unter so verstandene Literatur fallen weder Einzelwörter, etwa die umfangreiche Überlieferung der ahd. Glossen, da ihnen der Status von Texten (schriftlich fixierten sprachlichen Äußerungen, die mehr als einen Satz umfassen) fehlt, noch runische Aufzeichnungen, da auf sie das Kriterium des lateinischen Alphabets nicht zutrifft. Traditionen mündlicher Epik gibt es heute z. B. noch in Afrika. Bis ins 19. Jh. waren sie auch auf dem Balkan anzutreffen. Die montenegrinische Heldenepik war das entscheidende Paradigma für die Forschungen der amerikanischen Epenforscher Parry und Lord zur mündlichen Dichtung („Oral Formulaic Theory“). Mündlich tradiert wurden nicht nur Heldenepik und Dichtung im Allgemeinen, sondern auch Wissensbestände unterschiedlicher Art, etwa Geschichtswissen und Rechtswissen.
1. VORGESCHICHTE
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eine Einheit bilden.7 Richtig ist, dass die volkssprachigen Literaturen des Mittelalters unverständlich blieben, berücksichtigte man nicht den sprachlichen und kulturellen Hintergrund des über ein Jahrtausend als Bildungssprache fungierenden Lateins. Das abendländische Mittelalter war, einfach gesagt, vornehmlich ein lateinisches Mittelalter, in dem die volkssprachigen Literaturen nur sehr langsam an Bedeutung gewannen.8 Man darf sich dieses Verhältnis allerdings nicht so vorstellen, dass der Anteil der vulgärsprachlichen Literatur langsam, aber unaufhaltsam auf Kosten der lateinischen angewachsen wäre. So entspricht der Blütezeit der volkssprachigen Literaturen im 12. und 13. Jahrhundert ein Höhepunkt auch der lateinischen Dichtung und Wissenschaft, und im 15. Jahrhundert erreichte die lateinische Schriftlichkeit ihren absoluten Höhepunkt, der die volkssprachige Produktion um ein Mehrfaches übertraf. Bleibt noch die sprachliche Bestimmung des Begriffs „deutsch“, bezogen auf jene frühen Jahrhunderte. Die älteste Periode der hochdeutschen Sprache nennt man mit einem Begriff Jacob Grimms „Althochdeutsch“.9 Dieses älteste Deutsch beginnt um 600 mit der 2. Lautverschiebung und geht um die Mitte des 11. Jahrhunderts über ins Mittelhochdeutsche. Die Überlieferung schriftlicher Zeugnisse können wir seit der zweiten Hälfte des 8. Jahrhunderts beobachten. Die Sprache der vorangehenden Zeit – das Voralthochdeutsche (600 bis 750) – ist nur in einigen Resten (Orts- und Personennamen in Briefen und Urkunden und Rechtswörtern in den Leges barbarorum) erfassbar. Der Begriff Althochdeutsch suggeriert eine Homogenität, die keineswegs gegeben war. Tatsächlich handelt es sich beim Althochdeutschen um eine Reihe von Stammesdialekten (Bairisch, Alemannisch, Langobardisch, Fränkisch, Thüringisch), für die sich erst in der Folge der Oberbegriff diotisc bzw. diutisc ‚volkssprachig‘ herausbildete – eine gewisse Einheitlichkeit ergab sich im Lauf einer mehrhundertjährigen Entwicklichung. Althochdeutsch ist letztlich ein Sammelbegriff für die ober- und mitteldeutschen Sprachvarietäten des östlichen Frankenreichs. Für die nach der Mitte des 8. Jahrhunderts einsetzende schriftliche Überlieferung, die sich des lateinischen Alphabets bediente, ist ihre einzelmundartliche Bindung charakteristisch. Die Schreiborte waren ausnahmslos Klöster (Freising, St. Gallen, Reichenau, Trier, Mainz, Weißenburg, Fulda u. a.), und so haben wir es mit klösterlichen Schreibsprachen zu tun, die 7
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Ernst Robert Curtius: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter. 9. Aufl. Bern, München 1978, S. 30. Der Begriff „lateinisches Mittelalter“ geht auf Curtius zurück. Max Wehrli: Literatur im deutschen Mittelalter. Stuttgart 1984 (RUB 8038), S. 30, bestimmte die „allmähliche Emanzipation des Deutschen von der Latinität als „das innerste, abwandlungsreiche Thema der deutschen Literaturgeschichte eines Jahrtausends“. Ein nicht-sprachgeschichtlicher Begriff für diese Sprachstufe ist „frühmittelalterliches Deutsch“.
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II. FRÜHZEIT
auf den jeweiligen landschaftlichen Mundarten beruhen oder auch je verschiedene Mischungen aus diesen darstellen.10 Unter den genannten Stammesdialekten, aus denen das Althochdeutsche allmählich erwuchs, nimmt das Thüringische insofern eine Sonderstellung ein, als zusammenhängende Texte, also nicht bloß Einzelwörter, hier erst aus deutlich späterer, nämlich mittelhochdeutscher Zeit, überliefert sind.11 Ins Althochdeutsche reichen nur wenige Namenzeugnisse zurück und einige südgermanisch-frühdeutsche Runeninschriften des 6. und 7. Jahrhunderts.12 Die althochdeutsche Schriftlichkeit setzt nicht mit Texten ein, sondern mit Einzelwörtern, den Glossen, von lat. glossa ‚erklärungsbedürftiges Wort‘. Unter Glossen versteht man deutsche Entsprechungen (Interpretamente) lateinischer Wörter (Lemmata), die zwischen den Zeilen (interlinear) oder am Rand (marginal) über- oder beigeschrieben oder in die lateinischen Zeilen (Kontextglossen) aufgenommen wurden. Diese, aus der römischen Spätantike überkommene, aber auch noch in späteren Jahrhunderten geübte Form der Texterschließung zielte auf die Vermittlung des Lateins: Die Glossen sollten den Benediktinermönchen jener frühen Jahrhunderte seltene und schwierige Wörter etwa in einem römischen Klassiker verständlich machen. Keineswegs also ging es um die Pflege der Muttersprache, die genau besehen noch nicht viel mehr war als ein Stammesdialekt oder, wie der Sprachhistoriker Stefan Sonderegger gesagt hat, eine Krieger- und Bauernsprache. Im spätalthochdeutschen ‚Summarium Heinrici‘, dem umfangreichsten Glossenwerk des Mittelalters, findet man in einem Katalog „De Nationibus Gentium“ im VIII. Buch etwa die Bezeichnungen dûringa und tûringera für die Thüringer.13 10
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Karl Bertau: Deutsche Literatur im europäischen Mittelalter. Bd. I. 800–1197. München, 1972, S. 1: „Literatur, d. h. mit Lettern geschriebene Sprache, beginnt auf deutsch bald nach 750 im Machtkreis des Frankenreichs.“ „Nach Osten hin bleibt das Thüringische außer vereinzelten Namen ohne Sprachzeugnisse. Erst in mhd. Zeit entstehen auf Kolonialboden die ostmitteldeutschen (thüringischen, obersächsischen, schlesischen) Sprachdenkmäler.“ Wilhelm Braune: Althochdeutsche Grammatik. 14. Aufl. Bearb. von Hans Eggers. Tübingen 1987, S. 3. Ähnlich die 15. Aufl. Bearb. von Ingo Reiffenstein. Tübingen 2004 (Sammlung kurzer Grammatiken germ. Dialekte. A. Hauptreihe 5/I), S. 10. In die Zeit um 1200 gelangt man mit dem ‚Erfurter Judeneid‘ zurück. Eine Übersicht über die thüringischen Sprachdenkmäler bietet Victor Michels: Mittelhochdeutsche Grammatik. 5. Aufl. Heidelberg 1979 (Gem. Bibliothek. NF. Reihe 1. Grammatiken), S. 23 f. und 33. Vgl. auch Anm. 64. Zusammenstellung der Runeninschriften aus Thüringen: Elmar Seebold: Chronologisches Wörterbuch des deutschen Wortschatzes. Der Wortschatz des 8. Jahrhunderts (und früherer Quellen). Berlin, New York 2001, S. 12. Vgl. auch Klaus Düwel: Runen und Runendenkmäler. In: RGA, Bd. 25 (2003), S. 499–512. „Orientales Franci osterfrankun. Alsavi vel Alsacii elisazari. Lo’tharii lutringa. Turingii duringa. Saxones sahsun. liutici lutinzara/lutizin.“ Summarium Heinrici. Hg. von Reiner Hildebrandt. Bd. 1. Berlin, New York 1974, S. 275. Der Beleg tûringera: Bd. 2. Berlin, New
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Älter noch als die Glossen sind die Runeninschriften. Bei den bereits von dem Römer Tacitus im 10. Kapitel der ‚Germania‘ erwähnten Runen handelt es sich um ein System von Schriftzeichen mit je eigenem Namen.14 Wann, wo und warum die Germanen die Runenschrift schufen, wird ebenso kontrovers diskutiert wie die Frage nach deren Verhältnis zu mediterranen Alphabeten. Unter den erhaltenen Runeninschriften lassen sich rd. zwei Dutzend sprachlich partiell dem Althochdeutschen zuweisen. Die ältesten innerdeutschen Runeninschriften finden sich auf vier Gegenständen, die man um 1900 bei Grabungen auf einem altthüringischen Reihengräberfeld im Nordosten der Stadt Weimar in zwei benachbarten Frauengräbern entdeckte und die in die erste Hälfte des 6. Jahrhunderts datiert werden.15 Auf dem Rahmen einer bronzenen Schnalle ist in rechtsläufigen Runen eingeritzt: [Vorderseite] ida : bigina : hahwar : [Rückseite] : awimund : isd : leob : idun. . Übers.: „Ida (besitzt dies). – Bigina (oder: Bugina) (und) Hahwar (schenken oder: wünschen Glück). – Awimund (und) Isdag (?) (wünschen) Liebes der Ida.“16
Die Runeninschrift vereint also mehrere Namen, die teilweise auch literarisch bezeugt sind, mit einem Wunschwort.17 Offensichtlich handelt es sich bei den Weimarer Ritzungen nicht mehr um Begriffsrunen, sondern bereits um
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York 1982, S. 72. Vgl. auch Die althochdeutschen Glossen. Gesammelt und bearb. von Elias Steinmeyer u. Eduard Sievers. Bd. 3. Sachlich geordnete Glossare. Bearb. von Elias Steinmeyer. Berlin 1895, S. 131. Tacitus, ‚Germania‘, über Vorzeichen und Losentscheidungen der Germanen c. 10: „virgam frugiferae arbori decisam in surculos amputant eosque notis quibusdam discretos super candidam vestem temere ac fortuito spargunt.“ Übers.: „Sie hauen von einem fruchttragenden Baum einen Zweig ab, zerschneiden ihn zu Stäbchen, versehen diese mit bestimmten unterschiedlichen Zeichen und streuen sie dann planlos, und wie es der Zufall will, über ein weißes Tuch.“ P. Cornelius Tacitus. Germania. Bericht über Germanien. Lateinisch und deutsch. Übersetzt, kommentiert und hg. von Josef Lindauer. München 1975 (dtv 9101), S. 22/23. Das Wort „Rune“ heißt eigentlich ‚(gerauntes) Wort‘. Man unterscheidet das 24 Zeichen umfassende ältere Futhark (benannt nach den ersten sechs Zeichen) und das 16 Zeichen umfassende jüngere Futhark. Die reiche Ausstattung der beiden Gräber lässt vermuten, dass die Frauen einer höheren sozialen Schicht angehörten. Vgl. Wolfgang Timpel: Weimar. In: RGA, Bd. 33 (2006), S. 384–396, besonders S. 389–392; Horst Fenge: Thüringer Runen – wiederentdeckt. In: Alt-Thüringen 29 (1995), S. 109–127, hier 116. Übers.: Wolfgang Krause: Die Runeninschriften im älteren Futhark. I. Texte. II. Tafeln. Mit Beiträgen von Herbert Jankuhn. Göttingen 1966 (Abh. d. Akad. d. Wiss. in Göttingen. Phil.–hist. Kl. 3. Folge. Nr. 65), S. 290, Nr. 148. Vgl. Klaus Düwel: Runenkunde. 3., vollständig neu bearb. Aufl. Stuttgart, Weimar 2001 (SM 72), S. 59 f. Die Deutungsschwierigkeiten resultieren u. a. aus dem Fehlen von Verbformen. Die Weimarer Runenfunde sind bisher die einzigen im Thüringer Raum, Thüringen ist also keine Runenlandschaft. Vgl. Georg Baesecke: Vorgeschichte des deutschen Schrifttums. Halle 1940 (Vor- und Frühgeschichte des deutschen Schrifttums. Erster Band), S. 117 f. und 119 f.
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II. FRÜHZEIT
Lautrunen; der ursprüngliche magische Kontext scheint also zu fehlen.18 Man hat die geographisch isolierten Weimarer Funde damit erklären wollen, dass mit Amalaberga, einer Nichte des Ostgotenkönigs Theoderich des Großen, ostgotische Runenmeister nach Thüringen gekommen seien; doch spricht wohl auch manches dafür, dass die Thüringer Runen von alters her kannten.19 Runeninschriften wie die zitierte sind in jedem Fall vor- oder frühgeschichtliche Zeugnisse, mit der mittelalterlichen Literatur Thüringens haben sie nichts zu tun. Weder handelt es sich um Literatur im oben bestimmten Sinn, noch kann ihre Sprache schon als deutsch gelten. Die Bestimmung ihrer Sprache als „thüringisch“ wird von der heutigen Forschung als spekulativ zurückgewiesen.20 Wie der Weimarer Gräberfund, aber auch andere archäologische Zeugnisse erweisen, gab es im 6. Jahrhundert in Mitteldeutschland thüringische Siedlungsgebiete mit Schwerpunkt im mittleren Saalegebiet. Seit dem 4. und 5. Jahrhundert hatten die Thüringer sich in dem Raum zwischen Thüringer Becken, unterer Saale und Mulde, mittlerer Elbe und Harzvorland als neuer gentiler Großverband formiert und in der Folge ein mächtiges germanisches Reich gegründet. Aus der verhältnismäßig reichen Ausstattung der Weimarer Gräber hat man schließen wollen, dass hier das Zentrum dieses Reichs mit der Residenz seines Königs gelegen habe, doch lässt diese Annahme sich kaum absichern.21 Offen bleiben muss schließlich auch, ob jene Grabbeigaben vor oder nach dem Jahr 531 entstanden, dem Jahr, in dem die Franken die Thüringer nach einer vernichtenden Niederlage an der Unstrut unterwarfen, womit ihr Königreich ein Ende fand. Volkssprachige Literatur wird in Thüringen erst über ein halbes Jahrtausend später greifbar. Was zeitlich vorausliegt, ist in lateinischer Sprache abgefasst oder beschränkt sich auf Einzelwörter und kann allenfalls als Sprachdenkmal gelten. Was man sich darunter vorzustellen hat, sei an einem weit vor den 18
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„Die Weimarer Runeninschriften sind sicherlich nicht allein durch rein heidnische Vorstellungen zu erklären.“ Günter Behm-Blancke: Gesellschaft und Kunst der Germanen. Die Thüringer und ihre Welt. Dresden 1973, S. 161. Christlicher Inhalt ist in den Inschriften nicht zu erkennen. Vgl. Fenge (Anm. 15), S. 116. Amalaberga war eine Tochter des Vandalenkönigs Thrasamund und der Amalfrida, einer Schwester Theoderichs d. Gr. Vgl. Hans Patze: Amalaberga. In: LexMA, Bd. 1 (1980), Sp. 504. Vgl. auch Baesecke (Anm. 17), S. 123 f. Vgl. Martin Hannes Graf: Die Runeninschriften von Weimar im Lichte der neueren Thüringerforschung. In: Die Frühzeit der Thüringer. Archäologie, Sprache, Geschichte. Hg. von Helmut Castritius, Dieter Geuenich, Matthias Werner. Berlin, New York 2009 (RGA. Ergänzungsband 63), S. 119–133, zur Kritik der sprachlichen Bestimmung als „thüringisch“ S. 121. Vgl. Gerhard Mildenberger: Die vorgeschichtlichen Grundlagen. In: Geschichte Thüringens (Anm. I, 34). Bd. I. Grundlagen und frühes Mittelalter. Köln, Graz 1968 (Mitteldt. Forsch. 48/I), S. 174–206, hier 204, und Karte 21, S. 199.
1. VORGESCHICHTE
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Anfängen einer mittelalterlich-deutschen Literatur liegenden Beispiel aus dem Wortschatz der Stammesrechte, der sogenannten Legeswörter, angedeutet.22 Zu den Volks- oder Stammesrechten (Leges barbarorum), die seit dem späteren 5. Jahrhundert zumeist in Latein aufgezeichnet wurden, gehört auch die ‚Lex Thuringorum‘.23 Die Revision und Aufzeichnung des thüringischen Stammesrechts, das im Raum südlich der Unstrut sowie zwischen Saale und Elster Geltung besaß, verbindet man gewöhnlich mit den Bemühungen Karls des Großen um die Normierung und Kodifizierung des Rechts, näherhin mit der großen Aachener Reichsversammlung von 802/03.24 Die ‚Lex Thuringorum‘ lässt verschiedene Teile erkennen, die ins 6. und 7. Jahrhundert, vielleicht auch noch in die Zeit des Stammeskönigtums zurückreichen.25 Einen geschlossenen Block bilden die Tituli 1–25, die sich mit Totschlag und Körperverletzung beschäftigen und einen altertümlichen Eindruck machen. Der erste Titel lautet: Si quis adalingum occiderit DC solidos conponat. Übers.: „Wenn jemand einen Adeligen tötet, büße er 600 Schillinge.“26 22
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„Vor der Welt der Glossen liegt in unserer Sprachüberlieferung noch die der deutschen Worte in den germanischen Gesetzen, den sogen. leges barbarorum.“ Georg Baesecke: Die deutschen Worte der germanischen Gesetze. In: PBB 59 (1935), S. 1–101, hier 1. Das Recht der germanischen Stämme war ursprünglich ein mündliches, das keiner Aufzeichnung bedurfte, da jeder es kannte. Vgl. Claudius Frhr. von Schwerin: Germanische Rechtsgeschichte. Ein Grundriß. Berlin 1944, S. 31 ff. Das erst nach mehreren Jahrhunderten der Sesshaftigkeit begegnende Recht der Thüringer scheint bis zu diesem Zeitpunkt in Geltung geblieben zu sein. Seine Kodifizierung erfolgte wohl auf der Grundlage von Befragungen rechtskundiger Angeln anhand der fränkischen ‚Lex Ribuaria‘ („Weisungen“). Vgl. Walter Schlesinger: Das Frühmittelalter. In: Geschichte Thüringens (Anm. 21), S. 316–380, hier 352–357. Die Entstehung der ‚Lex Thuringorum‘, bei der die ‚Lex Ribuaria‘ einwirkte, erklärt sich aus dem Interesse des Königtums an der Durchsetzung eines Königsfriedens, der die Selbsthilfe bei Delikten wie Totschlag, Körperverletzung, Raub und Diebstahl durch Festsetzung von Geldablösungen in bestimmter Höhe eindämmen sollte. Die ‚Lex Thuringorum‘, die trotz ihrer knappen Form eine eigenständige Überlieferung bietet, ist erhalten in einer Corveyer Handschrift des 10. Jh. und in einem Druck von 1557, hier überschrieben ‚Lex Angliorum et Vuerinorum, hoc est Thuringorum‘. Die Thüringer erscheinen also nur in einer nachträglichen Ergänzung (Glosse), die vielleicht am Rand der Handschrift stand – wohl ein Hinweis darauf, dass sie insgesamt ein einheitliches Stammesrecht nicht besaßen. Oder sind Angeln und Warnen erst nachträglich in die Überschrift geraten? Vgl. Ruth SchmidtWiegand: Lex Thuringorum. In: LexMA, Bd. 5 (1991), Sp. 1932 f.; Gerhard Lingelbach: ‚Lex Thuringorum‘. In: RGA, Bd. 18 (2001), Sp. 336 f. Recht der Thüringer. In: Die Gesetze des Karolingerreiches 714–911. Hg. von Karl August Eckhardt. Bd. III. Sachsen, Thüringer, Chamaven und Friesen. Weimar 1934 (Germanenrechte. Texte und Übersetzungen 2/III), S. 35–47, hier 36 (Text) und 37 (Übers.). Die ‚Lex Thuringorum‘ bezeugt für das thüringische Stammeskönigtum einen Adelsstand, mithin eine Ständegliederung. Die Höhe des Wergelds deutet auf eine starke Stellung des Adels.
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II. FRÜHZEIT
Bei adalingum bzw. adalingus handelt es sich um die latinisierte Form eines germanischen bzw. voralthochdeutschen Begriffs.27 Der adalingus entspricht wahrscheinlich dem Adligen, altsächsisch edeling bzw. ediling, lat. nobilis.28 Eingesprengt in den lateinischen Text begegnen vereinzelt stammessprachliche Wörter wie alodis, bannus, faida und weregeld, die meist dem geographisch benachbarten fränkischen bzw. sächsischen Rechtswortschatz zugeordnet werden können. Einige lassen sich heute noch mehr oder weniger leicht identifizieren als Allod (freies Eigentum), Bann (Ausschluss einer Person aus der Gemeinschaft), Fehde (rechtlich anerkannter Privatkrieg zwischen Freien und ihren Sippen) und Wergeld (Buße für den erschlagenen Mann). Andere dagegen bleiben zunächst rätselhaft wie das Wort wlitivam in Titel 23: Wlitivam L solidis conponat vel cum VI iuret. Übers.: „Eine Gesichtsentstellung büße man mit 50 Schillingen oder schwöre mit 6.“29
Das Legeswort Wort wlitewam gehört in den Bereich der Körperverletzungen, die im germanischen Recht sehr detailliert abgehandelt und nach einfachen und qualifizierten Wunden, (unblutigen) Schlägen, Verstümmelung und Lähmung differenziert wurden.30 Der Begriff akzentuiert die Verunstaltung eines unbedeckten Körperteils, hier des Gesichts. Das Grundwort bringt man mit dem altenglischen Adjektiv wamm ‚schlecht, schädlich‘ in Verbindung, das Bestimmungswort wliti heißt ‚Antlitz‘31 Mit dem Kompositum wlitewam liegt 27
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Vgl. Heike Grahn-Hoek: Das Recht der Thüringer und die Frage ihrer ethnischen Identität. Mit einer Bemerkung zur Entstehung von Begriff und Institution „Adel“. In: Die Frühzeit der Thüringer (Anm. 20), S. 415–456, hier 421–429. Der hier erstmals in einem kontinentalen Volksrecht auftretende Begriff adalingus (nicht berücksichtigt bei Seebold, Anm. 12) weist auf Besonderheiten in der ständischen Struktur Thüringens, die von der in der ‚Lex Salica‘ und der ‚Lex Ribuaria‘ zu greifenden abweicht und altheimische Verhältnisse zu spiegeln scheint. Unterschieden werden der adalingus, das freigeborene, Grunderbe besitzende Stammesmitglied, der Freie (lat. liber) und der Unfreie (lat. servus). Das für einen Adligen zu entrichtende Wergeld ist dreimal so hoch wie für einen Freien. Man vermisst die Halbfreien (lat. liti), und Hörige sind wohl nicht bekannt. Vgl. Baesecke (Anm. 22) S. 68; Lingelbach (Anm. 25), Sp. 336. Recht der Thüringer (Anm. 26), S. 38 (Text) und 39 (Übers.). Über keinen anderen Bereich der Übeltaten enthalten die Stammesrechte so detaillierte Bestimmungen wie über die Körperverletzungen, und zwar für jeden Teil des menschlichen Körpers. Bei Verletzungen des Ohrs z. B. differenzierte man zwischen Abhauen, Taubschlagen und Schartigschlagen. Man unterschied den bloßen Schlag mit der Hand oder einem Gegenstand, der eine Beule oder einen blauen Fleck verursachen kann, die Wunde, bei der Blut fließt, differenziert nach Länge, Breite und Tiefe, und die Verstümmelung, die einen Körperteil abtrennt oder lähmt. Vgl. von Schwerin (Anm. 23), S. 214. Das ahd. Glossenwort bûlislac ist noch mhd. belegt als bûlslac ‚Schlag, der eine Beule bewirkt‘. Vgl. Baesecke (Anm. 22), S. 66 und 79. Ein Legeswort wie wlitewam belegt niederdeutsche Verbindungen der ‚Lex Thuringorum‘. Vgl. Lingelbach (Anm. 25), Sp. 336.
2. THÜRINGISCHE HELDENSAGE
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„ein spezifisch nordseegermanisches Rechtswort“ vor.32 Es begegnet in den angelsächsischen und friesischen Rechtsdenkmälern, dann auch in der ‚Lex Saxonum‘ von wo es in das Stammesrecht der Thüringer übernommen wurde.
2. Thüringische Heldensage. Thüringische Heldenlieder? Als das „erste literaturgeschichtliche Denkmal auf thüringischem Boden“ hat man ein Heldenlied, das ‚Iringlied‘, bestimmt.33 Wann dieses Lied entstand, vermögen wir nicht zu sagen, da es nicht überliefert ist. Doch tradieren seit dem 6. Jahrhundert fränkische und in späterer Zeit sächsische Geschichtsquellen eine Erzählung vom Ende des Thüringerreichs im Jahr 531, der die Heldensagenforschung seit langem den Status der Heldensage zuerkennt.34 Wir haben also Grund zu der Annahme, dass Thüringen mit einer Iringsage einen Beitrag zur germanisch-deutschen Heldensage leistete, besitzen aber kein heroisches Lied, in dem jene Sage künstlerische Gestaltung gefunden hätte. Vorschnelle Urteile über das ‚Iringlied‘ verbieten sich. Vielmehr wären zunächst die Gründe zu nennen, die eine Bewertung jener historiographischen Tradition als Heldensage rechtfertigen, und sodann wäre zu fragen, ob jenes Lied allein durch die Ungunst der Überlieferung verloren ging oder ob es ein solches vielleicht niemals gegeben hat. Obwohl bereits Wilhelm Grimm in seiner ‚Deutschen Heldensage‘ das Auftreten des Recken Iring in der mittelhochdeutschen Heldenepik genau verzeichnete, die Überlieferung vom Ende des Thüringerreichs auch in den ‚Deutschen Sagen‘ der Brüder Grimm berücksichtigt ist und seither immer wieder Abhandlungen über die Iringüberlieferung erschienen, können die mit ihr verbundenen Fragen kaum schon als 32
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Horst Haider Munske: Der germanische Rechtswortschatz im Bereich der Missetaten. Philologische und sprachgeographische Untersuchungen. I. Die Terminologie der älteren westgermanischen Rechtsquellen. Berlin, New York 1973 (Studia Linguistica Germanica 8/1), S. 246, § 346, und S. 284, § 406; Grahn-Hoek (Anm. 27), S. 433. Wolf (Anm. I, 34), S. 188. Wolfs Überschrift ‚Heldenlieder‘ ist nicht unproblematisch, da weitere thüringische Heldenlieder nicht postulierbar sind. Zum Heldenlied von Iring vgl. eingehend Baesecke (Anm. 17), S. 397–402. Die wichtigsten Quellen sind die ‚Historiae‘ des Gregor von Tours und Widukinds von Corvey ‚Res gestae Saxonicae‘. Prokop behandelt die thüringische Geschichte nur beiläufig im Zusammenhang der ostgotischen und byzantinischen. Vgl. die Quellenübersicht bei Wilhelm Pelka: Studien zur Geschichte des Unterganges des alten Thüringischen Königreichs im Jahre 531 n. Chr. In: ZThG 22 (1904), S. 165–228, hier 167 f. Auszüge aus den wichtigsten Quellen bei Hilkert Weddige: Heldensage und Stammessage. Iring und der Untergang des Thüringerreiches in Historiographie und heroischer Dichtung. Tübingen 1989 (Hermaea. NF 61), S. 163–188.
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II. FRÜHZEIT
geklärt gelten, nicht zuletzt auch deshalb, weil die Prämissen der heutigen Heldensagenforschung andere sind als zu Zeiten der Brüder Grimm.35 Dass wir kein ‚Iringlied‘ besitzen, besagt für die Iringsage nicht allzu viel. Heldensage kann, muss aber nicht in Gestalt von Heldendichtung auftreten, und nicht alle Sagenstoffe fanden dichterische Gestaltung.36 Die Stoffe der heute bekannten Epen wurden bis ins 12. Jahrhundert als Lieder tradiert, die Berufsdichter an den Adelshöfen auswendig vortrugen. Ein Bedarf, sie zu verschriftlichen, bestand nicht, da nur die wenigsten lesen konnten. Die Stoffe lebten also Jahrhunderte mündlich, ehe man sie im späten 12. Jahrhundert zu verschriftlichen, in Literatur zu überführen begann. So heißt es beispielsweise in Lambrechts ‚Alexander‘ (1150/60), einem der ersten höfischen Epen in deutscher Sprache, die Schlacht zwischen Persern und Griechen hätte an Härte noch den Kampf auf dem Wülpensand übertroffen: „man saget von dem sturm der ûf Wolfenwerde gescach“ (v. 1321). Diese beiläufige, für den heutigen Leser blinde Bemerkung spielt auf die Hildesage, eine wikingische Brautraubsage, an. Als Literatur wird diese Sage jedoch erst um 1240 in dem Heldenepos ‚Kudrun‘ greifbar, in dem vom Kampf der Hegelinge mit den Entführern Hildes auf dem Wülpensand erzählt wird. Lambrechts Vergleich belegt also, dass die Hildesage im 12. Jahrhundert offenbar so bekannt war, dass dem Hörer eine Anspielung genügte, um sich ihrer zu erinnern. Um nun die Iringsage zu verstehen, ist es unabdingbar, zunächst den Inhalt der beiden Hauptquellen zu referieren. Die älteste historische Darstellung des Kriegs der Franken gegen die Thüringer und seiner Vorgeschichte enthält die ein knappes Halbjahrhundert nach den Ereignissen entstandene ‚Historia Francorum‘ des fränkischen Geschichtsschreibers Gregor von Tours, die nicht frei ist von literarischer Stilisierung. Damals herrschten bei den Thüringern drei Brüder, Baderich, Herminafrid und Berthachar. Herminafrid bezwang gewaltsam Berthachar und tötete ihn; sein Bruder hinterließ eine Tochter Radegunde als Waise und auch Söhne. Nun stachelte Amalaberga, ein böses und grausames Weib, ihren Gemahl Herminafrid gegen den anderen
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Vgl. Klaus von See: Germanische Heldensage. Stoffe, Probleme, Methoden. Eine Einführung. 2. Aufl. Wiesbaden 1981, S. 9–22; Wolfgang Haubrichs: Von den Anfängen zum hohen Mittelalter. Teil 1. Die Anfänge: Versuche volkssprachiger Schriftlichkeit im frühen Mittelalter (ca. 700–1050/60). Kronberg /Ts. 1988 (Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zum Beginn der Neuzeit I/1), S. 125–127. Hans Kuhn: Heldensage vor und außerhalb der Dichtung. In: Zur germanisch-deutschen Heldensage. Sechzehn Aufsätze zum neuen Forschungsstand. Hg. von Karl Hauck. Darmstadt 1961 (WdF 14), S. 173–194, hat in seiner Kritik am Heldensagenmodell Andreas Heuslers, wonach Heldensage nur existiert, soweit sie in Liedform vorliegt, nicht nur gezeigt, dass das Heldenlied die Sage voraussetzt und nicht umgekehrt, sondern auch darauf hingewiesen, dass nicht jede Heldensage zum Lied taugte oder einen Dichter fand.
2. THÜRINGISCHE HELDENSAGE
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Bruder auf, worauf jener beschloss, sich auch Baderichs zu entledigen.37 Heimlich sandte er einen Boten zu dem Frankenkönig Theuderich und vereinbarte mit diesem, dass er, wenn er Baderich töte, die Hälfte seines Landes erhalten solle. Erfreut stimmte Theuderich zu, rückte mit einem Heer heran und zog gemeinsam mit Herminafrids Kriegern gegen Baderich, der im Kampf das Leben verlor. Theuderich kehrte in sein Reich zurück, Herminafrid aber vergaß sein dem Franken gegebenes Versprechen, weshalb unter ihnen große Feindschaft ausbrach. Theuderich indes vergaß nicht den Bruch des Versprechens. Er versicherte sich der Hilfe seines Bruders Chlothachar, indem er ihm einen Anteil an der Beute versprach, wenn der Himmel ihnen den Sieg verliehe, versammelte die Franken, erinnerte sie in einer Rede an die Greueltaten, die die Thüringer einst im Frankenland verübt hätten, und an den jüngsten Wortbruch Herminafrids, dann zogen die Franken unter Führung Theuderichs, seines Sohns Theudebert und seines Bruders Chlothachar gemeinsam gegen die Thüringer. Diese hatten in Erwartung der Feinde Löcher ausgehoben und wieder mit Rasen bedeckt, sodass viele der Franken einbrachen und der Angriff ins Stocken geriet. Doch bald verhielten sie sich vorsichtiger und richteten unter den Thüringern große Verheerungen an. Als diese sahen, dass sie große Verluste erlitten und ihr König bereits die Flucht ergriffen hatte, flohen auch sie in Richtung Unstrut, wobei so viele niedergemacht wurden, dass das Flussbett sich mit Leichen füllte und die Franken über sie wie über eine Brücke übersetzen konnten. Nach diesem Sieg nahmen sie das Land in Besitz und unterwarfen es ihrer Botmäßigkeit. Chlothachar aber führte bei der Rückkehr Radegunde als Gefangene mit sich und nahm sie zur Frau. Doch Radegunde legte das weltliche Gewand ab und baute sich ein Kloster in der Stadt Poitiers. In die Heimat zurückgekehrt, ließ Theuderich den einstigen Thüringerkönig zu sich kommen, sicherte ihm seinen Schutz zu und überhäufte ihn mit Ehrengaben. Als sie eines Tages, auf der Stadtmauer von Zülpich wandelnd, miteinander sprachen, „erhielt Herminafrid einen Stoß, ich weiß nicht von wem“, worauf er von der Mauer auf die Erde stürzte und seinen Geist aufgab.38
Vier Jahrhunderte nach Gregor von Tours erscheint die Überlieferung vom Untergang des Thüringerreichs bei einem sächsischen Geschichtsschreiber. In den ‚Res gestae Saxonicae‘ (um 967/68), die Widukind im Kloster Corvey an der Weser verfasste, wird sie ausführlich und unter Einschub zahlreicher Gespräche und sagenhafter Anekdoten wie folgt dargestellt.39 37
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Amalaberga empfängt ihren Mann eines Tages mit einem nur halb gedeckten Tisch und erklärt ihm auf seine Frage: wer nur das halbe Reich sein eigen nenne, müsse auch nur den halben Tisch gedeckt haben. Gregor von Tours. Zehn Bücher Geschichten. Erster Band: Buch 1–5. Auf Grund der Übersetzung W. Giesebrechts neu bearb. von Rudolf Buchner. [...] 8. Aufl. Darmstadt 2000 (FSGA II), III. Buch, c. 4, 7, 8. Vgl. Karl Langosch: Profile des lateinischen Mittelalters. Geschichtliche Bilder aus dem europäischen Geistesleben. Darmstadt 1965, S. 27–48. Ed.: Quellen zur Geschichte der sächsischen Kaiserzeit. Widukinds Sachsengeschichte, Adalberts Fortsetzung der Chronik Reginos, Liudprands Werke. [...] Neu bearb. von Albert Bauer u. Reinhold Rau. 4. Aufl. 1992 Darmstadt (FSGA VIII), I. Buch, c. 9–13. „Widukind
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II. FRÜHZEIT
Der Frankenkönig Huga (Chlodwig) hinterließ als Thronerben nur eine Tochter, Amalaberga, die mit dem König der Thüringer, Irminfrid (Herminafrid), vermählt war. Die Franken salbten jedoch den aus einer Beziehung Hugas mit einer concubina hervorgegangen Thiadrich (Theuderich) zum König. Als dieser eine Gesandtschaft mit der Bitte um Eintracht zu Irminfrid sandte, antwortete dieser freundlich, erklärte jedoch, sich zur Frage der fränkischen Thronfolge nur im Beisein seiner Freunde äußern zu wollen. Unterdessen veranlasste Amalaberga Irminfrids Ratgeber Iring, ihn gegen Thiadrichs Absichten einzunehmen: als Sohn einer Beischläferin sei er ein Knecht, und es zieme sich nicht für Irminfrid, dem eigenen Knecht zu huldigen. Iring setzte sich gegen andere Ratgeber durch, die davor warnten, den Frankenkönig herauszufordern, und gewann Irminfrid für eine scharfe Ablehnung: Als Knecht geboren, solle Thiadrich doch lieber die Freiheit als das Königtum zu erlangen suchen. Die öffentliche Beleidigung des Franken zog unweigerlich den Krieg nach sich. Thiadrich fiel mit gewaltiger Heeresmacht in Thüringen ein; nach einer drei Tage währenden Schlacht bei Runibergun floh Irminfrid in seine Burg Scheidungen an der Unstrut. Als der Sieg errungen war, beriet Thiadrich sich mit seinen Vertrauten, ob man heimkehren oder in Thüringen bleiben solle, worauf ein besonders erfahrener Ratgeber empfahl, zu bleiben und die Sachsen – „schon lange die heftigsten Feinde der Thüringer“ – um Waffenhilfe zu bitten. Die Sachsen, denen für den Fall des Siegs über die Thüringer deren Land zu ewigem Besitz in Aussicht gestellt war, entsprachen Thiadrichs Bitte und sandten 9000 Krieger; in einer feierlichen Rede brachte ihr Anführer ihre Ergebenheit zum Ausdruck.40 Am nächsten Tag griffen sie in aller Frühe Irminfrids Burg an, nahmen die Vorburg ein und zündeten sie an. Die Eingeschlossenen unternahmen einen Ausfall, und als der blutige Kampf am Abend ein Ende fand, hatten die Thüringer viele Tote und Verwundete und die Sachsen sechstausend Männer zu beklagen. Irminfrid sandte nun Iring als Unterhändler zu den Franken, um Frieden und freiwillige Ergebung auszuhandeln. Nachdem es Iring gelungen war, den Frankenkönig dazu zu bewegen, gegenüber seinem Schwager Gnade zu üben, ließ er seinen Herrn durch einen Boten zum nächsten Tag zu Thiadrich rufen, während er selbst im Lager der Franken blieb. Doch durch einen Zufall erfuhren die Sachsen von dem vereinbarten Friedensschluss, der sich als bedrohlich für sie erweisen konnte. Ein ergrauter Krieger namens Hathagat riss sie durch eine flammende Rede dazu hin, den Feinden
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hat in diesen ersten Kapiteln seines Werkes, denen heimische Sagen und Lieder zugrunde liegen, häufiger zum Dialog gegriffen als in den späteren Partien. Der Einfluss der Vorlagen ist also unverkennbar.“ Helmut Beumann: Widukind von Korvei. Untersuchungen zur Geschichtsschreibung und Ideengeschichte des 10. Jahrhunderts. Weimar 1950 (Abh. über Corveyer Geschichtsschreibung 3), S. 80. Vgl. auch Franz Brunhölzl: Geschichte der lateinischen Literatur des Mittelalters. Bd. 2. Die Zwischenzeit vom Ausgang des karolingischen Zeitalters bis zur Mitte des elften Jahrhunderts. München 1992, S. 417–424. „Als jene so sprachen, bewunderten die Franken die durch Körperkraft und Mut hervorragenden Männer; sie wunderten sich auch über die ungewohnte Tracht, auch über ihre Bewaffnung und das über die Schultern wallende Haar und vor allem über die gewaltige Festigkeit ihres Mutes“. I. Buch, c. 9, S. 35.
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zuvorzukommen und die Thüringer noch in der Nacht zu überfallen. So geschah es: die Thüringer wurden überrascht, die Erwachsenen niedergemetzelt, die noch nicht Erwachsenen als Beute behandelt. Nur der König entkam mit Gemahlin und Kindern und einem kleinen Gefolge. Am Morgen errichteten die Sachsen der Siegesgöttin einen Altar, woraus man ersehen kann, dass jene recht haben, die die Sachsen für Nachkommen der Griechen halten, und hielten eine dreitägige Siegesfeier. Darauf suchten sie den Frankenkönig auf, wurden hoch gelobt und mit dem Land Thüringen beschenkt. Den beiden Königen aber war ein eigentümliches Schicksal beschieden. Als Thiadrich hörte, dass Irminfrid entkommen sei, bestach er Iring, seinen Herrn zu töten, weil er selbst als unbeteiligt an dieser Mordtat erscheinen wollte. Icing gab endlich nach, und als Irminfrid erschien und sich Thiadrich zu Füßen warf, tötete er – als Waffenträger mit entblößtem Schwert danebenstehend – seinen knienden Herrn, worauf Thiadrich ausrief: „Da du durch solchen Frevel, den Mord an deinem Herrn, allen Menschen verhasst geworden bist, sollst du freien Weg haben, von uns hinwegzugehen; an deiner Freveltat wollen wir weder Schuld noch Anteil haben.“ Als Iring sich so von Thiadrich getäuscht sah, hieb er auch den Frankenkönig nieder, nahm die Leiche seines Herrn und legte sie auf die Thiadrichs, „damit der wenigstens im Tode siegte, welcher im Leben unterlegen.“ Mit dem Schwert sich seinen Weg bahnend, ging er von dannen. Der Leser (so Widukind) möge selbst entscheiden, ob er dieser Erzählung Glauben schenke; erstaunlich sei jedoch, dass die Sage solche Bedeutung gewann, dass die Milchstraße noch heutigentags Irings Namen trägt.
Was spricht nun für die von den meisten Historikern und Germanisten geteilte Annahme, den Hintergrund dieser beiden, nicht nur vier Jahrhunderte auseinander liegenden, sondern auch sehr unterschiedlich akzentuierenden historischen Berichte bilde eine Heldensage von Iring,41 obwohl weder ein historischer Iring nachweisbar noch ein heroisches Lied von Iring überliefert ist? Gewiss war die ältere Heldensagenforschung hypothesen- und rekonstruktionsfreudiger als die heutige und mitunter rasch bei der Hand mit der Annahme einer Heldenliedfabel. Aber deshalb kann die Annahme einer Iringsage als Hintergrund der beiden referierten und einiger weiterer Geschichtsquellen nicht als pure Spekulation abgetan werden.42 Sieht man ab
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Nach Hermann Schneider: Germanische Heldensage. Bd. II/2. Englische Heldensage – Festländische Heldensage in nordseegermanischer und englischer Überlieferung – Verlorene Heldensage. Berlin, Leipzig 1934 (Grundriß der germ. Philologie 10/3), S. 139, treten „die Umrisse eines verlorenen germanischen Heldenlieds“ von Iring kaum je so deutlich hervor wie in Widukinds Sachsengeschichte. Ähnlich Friedrich von der Leyen: Das Heldenliederbuch Karls des Großen. Bestand, Gehalt, Wirkung. München 1954, S. 40. „Darüber, daß Widukinds Darstellung ein Lied zur Grundlage hat, sind sich alle Literarhistoriker [...] und meist auch die Historiker einig. Auch die Annahme, daß das ‚Iringlied‘ [...] von sächsischer Beimischung noch völlig frei war, hat, soweit ich sehe, keinen ernstlichen Widerspruch gefunden.“ Karl Voretzsch: Das Ende des Königreichs Thüringen im Jahre 531 in Geschichte, Sage und Dichtung. Naumburg 1943, S. 33.
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vom Sonderfall des althochdeutschen ‚Hildebrandslieds‘, setzt die kontinuierliche schriftliche Aufzeichnung der mittelalterlich-deutschen Heldendichtung erst um 1200 mit dem ‚Nibelungenlied‘ ein. Ein Blick auf andere Literaturen des Mittelalters erweist vergleichbare Konstellationen; so wissen wir aus dem mittelalterlichen Spanien von Heldenliedern, die nicht erhalten sind, oder doch nur indirekt, insofern sie in die Chroniken eingingen, deren Abfassung König Alfons der Weise von Kastilien veranlasste. Das Auftauchen der Iring-Überlieferung bei sächsischen Geschichtsschreibern wie Widukind und dem Quedlinburger Annalisten dürfte zunächst einmal bezeugen, dass die Erinnerung an den fränkisch-thüringischen Krieg und an den tragischen Helden Iring bis in das 11. Jahrhundert in mündlicher Tradition als thüringische Geschichte lebendig blieb. Iring begegnet zuerst im letzten Drittel des 10. Jahrhunderts bei Widukind, der die Erzählung vom Untergang des Thüringerreichs nach dem Vorgang Rudolfs von Fulda um den Bericht von der sächsischen Kampfhilfe für die Franken – eine offenkundig sächsischen Interessen dienende Überlieferung – erweiterte.43 Da Iring mit der Sachsenhandlung in keinem Zusammenhang steht, muss er in der Überlieferung schon vorhanden gewesen sein. In die Richtung der Heldensage nun weist die Überlieferung vom Ende des Thüringerreichs und von Iring aus stofflichen Gründen, pflegt jene doch von geschichtlichen Ereignissen zu erzählen, der Gründung und Zerstörung von Reichen, von Schlachten zwischen Völkern, einschneidenden historischen Begebenheiten, also von einer
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Widukind ist, so Brunhölzl (Anm. 39), S. 418, „von der Liebe zu seinem Stamm zutiefst durchdrungen“. Die Iring-Überlieferung lebte in der thüringischen Historiographie fort. Johannes Rothe bringt sie in der ‚Thüringischen Landeschronik‘, Konrad Stolle im ‚Memoriale‘, Wigand Gerstenberg in der ‚Landeschronik von Hessen und Thüringen‘. 1510 begann Georg Spalatin im Auftrag Kurfürst Friedrichs des Weisen mit der Arbeit an einer Chronik, die die Ursprünge der Sachsen darstellen sollte. Das genealogisch, als Abfolge von rd. 200 Personen-Porträts angelegte Großunternehmen blieb ein Torso. Erhalten sind drei 1515/16 in Wittenberg gefertigte Bände mit Illustrationen aus der Cranach-Werkstatt, Coburg, LB, Ms. Cas. 9–11 (Online-Ausgabe vgl. Anm. V, 162). Ein 1681 aus Spalatins Nachlass zusammengestellter vierter Band, Weimar, Thüring. Hauptstaatsarchiv, Ernestinisches Gesamtarchiv, Reg. O 21, enthält einen Widukind-Auszug. Vgl. Irmgard Höß: Georg Spalatin 1484–1545. Ein Leben in der Zeit des Humanismus und der Reformation. 2. Aufl. Weimar 1989, S. 408–410, Tafel III; Christina Meckelnborg u. Anne-Beate Riecke: Die ‚Chronik der Sachsen und Thüringer‘ von Georg Spalatin. In: „Fata libellorum“. Fs. Franzjosef Pensel. Hg. von Rudolf Bentzinger u. Ulrich-Dieter Oppitz. Göppingen 1999 (GAG 648), S. 131–162. Cas. 11 enthält f. 8v –13r Widukinds Bericht mit geringen Abweichungen, motiviert das Geschehen jedoch in einem Punkt besser: Als Irminfrid den Franken fußfällig um Gnade bittet, rechtfertigt er sich mit dem Argument, zu seiner Antwort an den Gesandten durch seine Räte veranlasst worden zu sein, worauf der „Ritter Iring“ sich wutentbrannt auf ihn stürzt und ihn erschlägt. Auch der Ausgang ist ein anderer. Iring „hieb konig Dittrich [...] dernidder“, worauf er von des Königs Dienern „erstochenn“ wurde (f. 13r).
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abgeschlossenen Frühzeit (heroic age), die als bedeutsam für das Schicksal einer gentilen Gemeinschaft angesehen wurde.44 Heldensage besitzt aber nicht geschichtliche Grundlagen schlechthin, zu ihren Charakteristika gehört des Weiteren, dass ihre Akteure herausgehobene Einzelne sind, Menschen mit besonderen physischen wie intellektuellen Fähigkeiten, „Helden“. Heldensage neigt ferner dazu, große geschichtliche Vorgänge und Ereignisse auf wenige Generationen und Personen zu reduzieren, sie gleichsam zu synchronisieren und zu personalisieren. Das kann man am ‚Nibelungenlied‘ sehen. Den historischen Hintergrund des im zweiten Teil dargestellten Untergangs der Nibelungen bildete die vernichtende militärische Niederlage, die der römische Heermeister Aëtius und hunnische Hilfstruppen dem ostgermanischen Stamm der Burgunden unter ihrem König Gundahar beibrachten und die zum Untergang ihres Reichs am Mittelrhein führte. Das Epos erzählt freilich von einem Sippenkonflikt zwischen den drei Brüdern Gunther, Gernot und Giselher und ihren Vasallen auf der einen Seite und ihrer Schwester Kriemhild und deren zweitem Gemahl, dem Hunnenkönig Etzel, auf der anderen. In vergleichbarer Weise erscheint bei Widukind der Untergang des Thüringerreichs auf vier Personen reduziert: den Frankenkönig Theuderich, den Thüringerkönig Herminafrid, dessen Gemahlin Amalaberga und Herminafrids Ratgeber und Waffenträger Iring. Eine wichtige Eigentümlichkeit der Heldensage besteht schließlich darin, dass sie jene großen historischen Vorgänge und Ereignisse aus elementaren menschlichen Affekten und Handlungsantrieben wie Rache, Hass, Neid, Eifersucht und Goldgier erklärt. So erscheint der Untergang des Burgundenreichs in der Nibelungensage letztlich als das Resultat von Kriemhilds Rache. Der historische Hintergrund der Iringsage – der Aufbruch der Chlodwigsöhne Theuderich und Chlothar gegen das eine Barriere gegen die fränkische Reichsbildung im Osten bildende Thüringen – reduziert sich bei Widukind auf einen Konflikt zwischen Sippenangehörigen, der daraus resultiert, dass Amalaberga den Erbanspruch ihres Halbbruders Thiadrich nicht anzuerkennen bereit ist und ihren Mann anstachelt, die offene Konfrontation mit den Franken zu suchen. Ebenso unhistorisch und wirklichkeitsfern ist das Ende der beiden Könige dargestellt: Irminfrid wird das Opfer seines verräterischen Ratgebers Iring, und Thiadrich muss sterben, weil Iring seine Freveltat an ihm sühnen will. Eine nordische Parallele bietet das nur trümmerhaft überlieferte Heldenlied von der Hunnenschlacht aus dem 9. Jahrhundert, das von einer acht Tage währenden Völkerschlacht zwischen Goten und Hunnen erzählt, die aus einem Erbstreit zwischen den Halbbrüdern Hlöd und Angatyr erwuchs und in
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Vgl. zusammenfassend Joachim Heinzle: Heldendichtung. In: RLW, Bd. 2 (2000), S. 21–25.
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deren Verlauf Hlöd den Tod durch die Hand des Bruders findet und von diesem beweint wird.45 Iring indes ist ein Held sui generis, dem sich nicht leicht ähnliche Gestalten zur Seite stellen lassen. Widukind beschreibt ihn als kühn, kräftig, intelligent und scharfsinnig, beharrlich im Handeln und fähig, anderen seinen Willen einzureden.46 Iring als Vertrauter und Ratgeber, der das Wohlwollen König Irminfrids besitzt: das erinnert an heldenepische Konstellationen wie Naimes und Kaiser Karl in der altfranzösischen ‚Chanson de Roland‘, Hagen und Gunther im ‚Nibelungenlied‘ und den Waffenmeister Hildebrand und den Berner in der mittelhochdeutschen Dietrichepik. Aber wie der über alle männlichen Eigenschaften und Tugenden verfügende Ratgeber und Waffenträger Iring vom treuen Berater zum bestochenen Verräter an seinem König werden und diesen heimtückisch ermorden und damit sein Volk seiner Stütze berauben kann, bleibt schwer erklärlich. Das in diesem Kontext seit Heusler gern gebrauchte Schlagwort von der Neidingstat hat kaum Erklärungswert, und auch Gustav Neckels Behauptung, es sei kennzeichnend für germanische Dichtung, sogar „den Verräter zum bewunderten Helden“ zu machen, vermag, so richtig es ist, dass Heldensage vom Faszinosum des Außerordentlichen lebt, nicht das in sich Widersprüchliche der Figur plausibel zu machen.47 Richtiger scheint es, die Konstellation „Königsmord durch den treuesten Mann“ als ungelöstes Problem festzuhalten.48 Irings amoralische Tat spricht allen Vorstellungen von germanischer Gefolgschaftstreue Hohn, und sie wurde ebenso wie sein exorbitanter Versuch einer Ehrenrettung schon von Widukind als eine unerhörte, beispiellose Tat (memorabilis fama) verstanden. Psychologisch also ist Irings Wandel vom treuen Ratgeber zum Verräter und weiter zum Rächer seines Herrn schwerlich zu verstehen. Doch sei hier noch einmal an das Prinzip heroischer Dichtung erinnert, große historische
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Das Lied von der Hunnenschlacht. In: Edda. Übertragen von Felix Genzmer. Bd. 1. Heldendichtung. Jena 1934 (Thule 1), S. 24–32. Vgl. Heiko Uecker: Geschichte der altnordischen Literatur. Stuttgart 2004 (RUB 17647), S. 231 f. „Erat autem Iring vir audax, fortis manu, acer ingenio, acutus consilio, pertinax in agendis rebus, facilis ad suadendum quae vellet, hisque rebus animum sibi Irminfridi connexerat.“ Übers.: „Es war aber Iring ein kühner Mann, ein tapferer Degen, von lebhaftem Geiste und scharfem Verstand, zäh im Handeln, leicht imstande, andern seinen Willen einzureden, und hatte dadurch das Herz des Irminfrid gewonnen.“ I. Buch, c. 9, S. 30/31. Gustav Neckel: Etwas von germanischer Sagenforschung. In: GRM 2 (1910), S. 1–14, hier 14. Von der Niederlage der Thüringer in Scheidungen, Herminafrids Ende und dem Schicksal Irings erzählt noch Cyriacus Spangenberg in der ‚Mansfeldischen Chronica‘ (1572), f. 55r–57r. Schneider (Anm. 41), S. 140. Baesecke (Anm. 17), S. 400, vermutete als „Ziel: daß im Liede die Rache den Sieger ereile, der in der Geschichte den Besiegten ungestraft gemeuchelt hat“. Vgl. auch Georg Scheibelreiter: Herminafrid. In: RGA, Bd. 14 (1999), S. 425–427.
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Vorgänge wie den Untergang eines ganzen Volks auf individuelle Verwicklungen und Handlungsmuster zurückzuführen.49 Im ‚Nibelungenlied‘ wird der Untergang der Burgunden letztlich durch Kriemhilds Rache verursacht, und wenn in der ‚Chanson de Roland‘ die fränkische Nachhut unter Markgraf Roland in den Pyrenäen von den Basken niedergemacht wird, so deshalb, weil dessen Stiefvater Ganelon sich vom Heidenkönig Marsilie bestechen ließ – auch hier also das Motiv „Verrat aus den eigenen Reihen“. Um Heldensage verstehen zu können, muss man sich klarmachen, dass sie genuin in einer Kultur der Mündlichkeit wurzelte und erst sekundär im hohen und späteren Mittelalter verschriftlicht wurde. Eine ihrer entscheidenden Funktionen sieht man heute in der Vermittlung historischer Erfahrung, sodass sie als Teil des „kulturellen Gedächtnisses“ (Assmann) gelten kann. Natürlich gibt sie niemals historische Fakten umstandslos wieder, sondern deutet sie mehr oder weniger stark um und bedient sich dabei geläufiger narrativer Schemata wie der Brautwerbung oder der verräterischen Einladung und vorgegebener Motivationsmuster, die darauf zielen, historisches Geschehen begreiflich zu machen und in bedeutsame „Erinnerungsfiguren“ (Assmann) zu verwandeln. Ein Beispiel bietet die gotische Dietrichsage, die von dem „armen“ (glücklosen) Dietrich erzählt, der vor Odoakers bzw. Ermrichs Hass fliehen und Jahrzehnte im hunnischen Exil leben musste, während sein historisches Vorbild, der Ostgotenherrscher Theoderich der Große, in Oberitalien einfiel, seinen Widersacher Odoaker militärisch besiegte und anschließend beseitigte und darauf eine glanzvolle Herrschaft entfaltete. Es ist also zumindest nicht ungewöhnlich, wenn die Erzählung von Iring und dem Ende seines Königs nur wenig mit den historischen Tatsachen zu tun hat. Mag Irings Handeln psychologisch ein Problem sein, so lieferte die Erzählung von seinem Verrat doch den Angehörigen der thüringischen gens möglicherweise eine plausible Erklärung für den jähen Untergang ihres Reichs. Der offene kriegerische Konflikt zwischen Franken und Thüringern war eines Familienzwistes wegen ausgebrochen, ausgelöst durch die aus fränkischem Haus stammende Königin, eine hochmütige, ehrsüchtige und grausame Frau, und Herminafrid, die eigentliche tragische Gestalt der Sage, wurde Opfer eines Verrats. Auch der Frankenkönig ist mit thüringischen Augen gesehen: er stiftete Unheil und empfing am Ende den Lohn, den er verdiente. An der Existenz einer Iringsage, die dem Geschichtsschreiber Widukind im 10. Jahrhundert zugänglich war, ist also kaum zu zweifeln. Eine andere Frage
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Einige Beispiele wurden bereits genannt: der Erbstreit zweier Brüder im ‚Hunnenschlachtlied‘, die Rache an den Verwandten für den Gattenmord im ‚Nibelungenlied‘, zu nennen wäre noch die listige Entführung der Tochter des Blutsbruders in der Hildesage.
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ist, ob ihm diese Sage in Gestalt eines thüringischen oder eines sächsischen Heldenlieds bekannt wurde bzw. wieviele Entwicklungsstadien dieses Lieds sinnvollerweise anzunehmen sind, und endlich, ob wir überhaupt zwingend mit seiner Existenz rechnen müssen.50 Eine sichere Antwort auf die letzte Teilfrage dürfte kaum möglich sein. Den Beweis für die Existenz der Sage hingegen liefert das ‚Nibelungenlied‘, das nach 1200 Verbreitung fand. Für uns überraschend, da aus der Stoffgeschichte nicht zu erklären,51 taucht Iring im zweiten Teil des Epos am ersten Kampftag wieder auf. Er ist ein dänischer Markgraf und lebt mit seinem Lehnsherrn, Hâwart von Dänemark, als „recke“ (Verbannter, Fremdling, herumziehender Krieger) am Hof des Hunnenherrschers. Beide sind sie befreundet mit Landgraf Irnfrit von Thüringen, der ebenfalls im hunnischen Exil am Etzelhof lebt; wie die drei dahin gelangten, bleibt ungesagt. Die Vorgeschichte, der das Interesse der Geschichtsschreiber galt, wird nicht erzählt, sondern stillschweigend vorausgesetzt. Diese Konstellation zeigt zunächst, dass die Iringsage durch die Jahrhunderte fortlebte, ohne dass wir genau sagen könnten, was der österreichische Epiker von ihr wusste. Nach Heusler war es der Verfasser einer älteren Vorstufe des zweiten Teils des Epos, der von ihm so genannten ‚Älteren Not‘ (um 1160), der Iring in der Exulantenrolle in den Kontext des Burgundenuntergangs einführte.52 Aber da diese ‚Ältere Not‘ wie das ‚Iringlied‘ nur postulierbar, aber nicht überliefert ist, bleibt diese Annahme fraglich. Irings Stellung als dänischer Markgraf im hunnischen Exil zeigt zum anderen, dass die Iringsage im 12. Jahrhundert bereits stark verblasst gewesen sein muss, anders hätte der ‚Not‘-Dichter sich solche eingreifenden Veränderungen wohl kaum erlauben können. Ein Markgraf zu Zeiten Attilas ist
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Nach Andreas Heusler: Iring. In: Reallexikon der Germanischen Altertumskunde. Hg. von Johannes Hoops. Bd. 2. Straßburg 1913–1915, S. 598–600, hier 598, bewahrt Widukinds Bericht eine Dienstmannensage, und zwar eine historische Sage thüringischer Provenienz, doch lasse sich aus ihm„nicht unmittelbar ein Liedinhalt ablesen“. Der Aufbau der Fabel sei nicht klar erkennbar. Auf die Frage eines Heldenlieds und seiner Rekonstruierbarkeit ging Heulser nicht ein. Andernorts führte er den Iring des ‚Nibelungenlieds‘ auf eine thüringische Heldensage zurück, wiederum ohne die Lied-Problematik zu erörtern. Vgl. Andreas Heusler: Nibelungensage und Nibelungenlied. Die Stoffgeschichte des deutschen Heldenepos. 3. Aufl. Dortmund 1929, S. 87 f. Kuhn (Anm. 36), S. 185, rubrizierte die IringÜberlieferung unter „in alte Chroniken geratene Heldenliedinhalte“. Schneider (Anm. 41), S. 137: „[...] was Heldendichtungen von Helden des Heldenzeitalters berichten, muß aus Heldenliedern geflossen, muß selbst ‚Heldensage‘ gewesen sein.“ Vgl. Heusler: Nibelungensage (Anm. 50), S. 87 f. und 101. Dagegen fragte Friedrich Panzer: Das Nibelungenlied. Entstehung und Gestalt. Stuttgart, Köln 1955, S. 415, „ob denn nicht etwa erst der jüngste Dichter die Figuren in sein Epos aufgenommen haben könnte“. Von Irungs Kampf gegen Högni erzählt auch die ‚Thidrekssaga‘, S. 408–410, doch ist das Verhältnis der ‚Thidrekssaga‘ zur ‚Älteren Not‘ bzw. zum ‚Nibelungenlied‘ umstritten.
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offenkundig ebenso unhistorisch wie ein Landgraf von Thüringen (ihn gab es erst seit 1131), und gegen den Bericht Widukinds, demzufolge allein Iring überlebte, gehört zu den Exulanten am Hunnenhof auch Irnfrit, „ein küener jungelinc“ (Str. 2031, 2). Als Bindeglied zwischen den Werken der sächsischen Historiographie (Rudolf von Fulda, Widukind, ‚Annales Quedlinburgenses‘) und der mit dem ‚Nibelungenlied‘ einsetzenden oberdeutschen Heldenepik, die den Recken Iring kennt, gilt eine anonyme Schrift über die Herkunft der (Nord-)Schwaben, ‚De origine gentis Swevorum‘, die nun die bezeichnende Wendung enthält, nach der militärischen Niederlage sei dem Thüringerkönig die Flucht mit 50 Gefolgsleuten zum Hunnenkönig Attila gelungen.53 Das ist eine mehr sagenhafte als historische Nachricht, denn der Thüringerkönig Herminafrid starb 533 oder 534, der Hunnenkönig bereits 453.54 Da die Schrift über die Herkunft der Schwaben sich nur ungefähr ins 12., vielleicht auch erst ins 13. Jahrhundert datieren lässt, wäre auch denkbar, dass ihr oberdeutscher Verfasser die ‚Ältere Not‘ bzw. das ‚Nibelungenlied‘ kannte. Iring wird in der 22. Aventiure des Epos wie folgt eingeführt: Dô kom von Tenemarken der küene Hâwart und Îrinc der vil snelle, vor valsche wol bewart, unt Irnfrit von Düringen, ein wætlîcher man. si enpfiengen Kriemhilde, daz sis êre muosen hân.55
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„At illi confederationes regum metuentes, ne vel Theoderici sponsionum fraudarentur vel regum conspiratione ex provintia propellerentur, decreverunt noctu vadum per Gozholdum monstratum transire ac Thuringiorum castra ex inproviso irrumpere. Quo peracto tantam stragem de hostibus dederunt, ut vix quingenti cum Irminfrido evaderent, qui etiam commigravere ad Hunorum regem Attilam.“ De origine gentis Swevorum. In: Die Sachsengeschichte des Widukind von Korvei. 5. Aufl. In Verbindung mit H.-E. Lohmann neu bearb. von Paul Hirsch. Hannover 1935 (MGH. Scriptores rerum Germanicarum in usum scholarum ex monumentis Germaniae historicis separatim editi 60), S. 155–160, hier 160. Gegen den Usus heroischer Epik, Personen verschiedener Epochen zu Zeitgenossen zu machen, polemisiert schon die ‚Kaiserchronik‘: „Swer nû welle bewæren, / daz Dieterîch Ezzelen sæhe, / der haize daz buoch vur tragen. / do der chunic Ezzel ze Ovene wart begraben, / dar nâch stuont iz vur wâr / driu unde fierzech jâr, / daz Dieterîch wart geborn.“ Die Kaiserchronik eines Regensburger Geistlichen. Hg. von Edward Schröder. Hannover 1892 (MGH. Deutsche Chroniken I, 1), v. 14176–14182. Übers.: „Wenn nun einer beweisen will, dass Dietrich mit Etzel zusammentraf, der möge das Buch [die Quelle der ‚Kaiserchronik‘?] herbeibringen lassen: Tatsächlich vergingen, nachdem man König Etzel in Ofen begraben hatte, noch 43 Jahre bis zur Geburt Dietrichs.“ Ed.: Das Nibelungenlied. Mittelhochdeutscher Text und Übertragung. Hg., übersetzt u. mit einem Anhang versehen von Helmut Brackert. Teil 1, 2. Frankfurt a. M. 1995 (Fischer Taschenbuch 6038/39), hier Str. 1345. Übers.: „Da kam der tapfere Hawart von Dänemark herbei und der kühne Iring, der keinen Arg kannte, und Irmfried von Thüringen, ein stattlicher Held. Sie empfingen Kriemhild so, daß auch sie selbst ihr Ansehen dadurch vermehrten.“ Zum Auftreten Irings in der späteren Heldenepik vgl. Wilhelm Grimm: Die
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Die drei gehören zu den Recken Etzels, die Kriemhild bei deren Reise ins Hunnenland nach Tulln an der Donau entgegenreiten. Iring ist durchaus positiv aufgefasst, an seinen Verrat erinnert nichts mehr; vielmehr erscheint er als tapferer Krieger („vil snelle“), der immer ohne Falsch und Tücke war („vor valsche wol bewart“). Seinen großen Auftritt hat er in der 35. Aventiure, die man „eine der großartigsten des ganzen Liedes“ genannt hat,56 als er von Kriemhild gegen Hagen geschickt wird. In der Frühzeit der Forschung rechnete Karl Lachmann diese Aventiure zu den ursprünglichen Liedern im Sinn seiner Liedertheorie. Doch da es Markgrafen weder im Wormser Burgundenreich noch in Attilas Hunnenreich gab, wird man sie oder doch wenigstens die Figuren Iring, Hâwart und Irnfrit einer jüngeren Stoffschicht zuzurechnen haben, die erst später – nach Heusler durch den ‚Not‘-Dichter – in den Kontext des Burgundenuntergangs integriert wurde. Man hat sogar gemeint, die ganze 35. Aventiure könne „ohne Konsequenzen für den Gang der Handlung [...] ausgelassen werden“.57 Ihre Funktion ist klar: sie soll Hagen als unerschütterlichen Kämpfer herausheben. Iring wird von der nach Kampf verlangenden Kriemhild benutzt wie der Iring der Iringsage von Amalaberga. Als keiner den Kampf gegen die eingesperrten Burgunder eröffnen will, gewinnt sie Iring mit ihrer Freundschaft und ihrem Gold. Wenn Iring den Kampf mit dem stärksten Gegner, dem gefürchteten Hagen, aufzunehmen wagt, erinnert das an Widukinds Charakteristik Irings als vir audax. Dô rief von Tenemarke der marcgrâve Îrinc: ‚ich hân ûf êre lâzen nu lange mîniu dinc unde hân in volkes stürmen des besten vil getân. nu brinc mir mîn gewæfen: jâ wil ich Hagenen bestân.‘58
Iring rennt Hagen an und bringt ihm eine Wunde bei, wird jedoch im zweiten Gang von Hagens Speer durchbohrt.59 Irings Kampf mit Hagen ist in der
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deutsche Heldensage. 4. Auflage. Unter Hinzufügung der Nachträge von Karl Müllenhoff u. Oskar Jänicke aus der Zeitschrift für Deutsches Altertum. Darmstadt 1957, Register. Panzer (Anm. 52), S. 418. Norbert Voorwinden: Die Markgrafen im ‚Nibelungenlied‘: Gestalten des 10. Jahrhunderts? In: Nibelungenlied und Klage. Sage und Geschichte, Struktur und Gattung. Passauer Nibelungengespräche 1985. Hg. von Fritz Peter Knapp. Heidelberg 1987, S. 20–42, hier 36. Str. 2028. Übers.: „Da rief der Markgraf Iring von Dänemark: ‚Ich habe schon immer ganz auf die Ehre gesetzt und habe mich in riesigen Schlachten ruhmvoll bewährt. Nun bringt mir meine Waffen! Ich will gegen Hagen kämpfen.‘“ Heusler: Nibelungensage (Anm. 50), S. 88: „Der kampfgierigen Kriemhild mochte Iring dienen wie einst der thüringischen Amelberg. Er und Hagen, das waren Geistesverwandte; sie gaben ein Paar. Hagen über Iring frohlocken zu lassen, dies war der zündende Funke für unsern Dichter. Als keiner gegen die eingesperrten Nibelunge vor will, läßt sich Iring von
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Hundeshagenschen Handschrift dargestellt, einer um 1440 vielleicht in Augsburg gefertigten Papierhandschrift, die einen vollständigen Illustrationszyklus von 37 kolorierten Federzeichnungen besitzt.60 Die rd. zwei Jahrzehnte nach dem ‚Nibelungenlied‘ entstandene ‚Nibelungenklage‘ gibt den drei Helden eine geschichtsferne, schablonenhafte Vor- und Nachgeschichte. Irnfrit, Hâwart und Iring sind „recken“, die vor langer Zeit der Reichsacht verfielen, aus der sie sich vergeblich zu befreien suchten. Infrit musste „Düringe lant“ verlassen, dort war er früher Landgraf; Hâwart war „vogt“ in Tenemarke. Irinc, „ein starc küener man“, wurde „ze Lütringen geborn“, später wurde er Lehnsmann Hâwarts (v. 373 ff.). Mit dem Motiv der Reichsacht, das bereits um 1160/70 in dem Spielmannsepos ‚Herzog Ernst‘ (A) eine Rolle spielt, wird das alte Reckenmotiv oberflächlich der reichsgeschichtlichen Gegenwart angepasst. Vielleicht wollte der ‚Klage‘-Dichter eine über seinen Stoff hinausreichende Sagenkenntnis suggerieren, um seine stofflichen Ergänzungen zu legitimieren.61 Gegen Ende des 13. Jahrhunderts erscheint Iring unter dem Einfluss des ‚Nibelungenlieds‘ in den historischen Dietrichepen ‚Dietrichs Flucht‘ und ‚Rabenschlacht‘ (zusammen auch: ‚Buch von Bern‘) und wenigstens als Statist ein Dutzend Mal in dem etwas älteren Heldenroman ‚Biterolf und Dietleib‘.62 In der ‚Rabenschlacht‘ führt er dem Berner 7000 Recken zu, seine Herkunft bleibt ungenannt; er heißt der „starke Îrinc“ (DF 5144) und „Îrinc der mære“ (RS 709). Erwähnt wird ein Bruder namens Erewin, und zumeist wird Iring gemeinsam mit Blœdelin erwähnt, sonst wissen die Dichter offenbar nichts über ihn. Die diesem Abschnitt als Überschrift vorangestellte Frage lässt sich nun wie folgt kurz beantworten: Dass es eine an den Untergang des Thüringerreichs anknüpfende Heldensage mit Iring als Protagonisten gab, dürfte als sicher gelten. Weniger sicher ist hingegen, ob sie auch dichterische Gestaltung fand, und vollends unbeweisbar bleibt die Existenz eines heroischen Lieds (‚Iringlied‘).63 Denn denkbar wäre
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Kriemhildens Gold und Freundschaft erkaufen, stürmt kühnlich gegen Hagen an und haut ihm eine Wunde; im zweiten Gange durchrennt ihn Hagens Speer.“ Die erste Erwähnung von Îrinc und Irnvrit enthält Str. 1345, 2 f. Vgl. Das Nibelungenlied in spätmittelalterlichen Illustrationen. Die 37 Bildseiten des Hundeshagenschen Kodex MS. GERM. FOL. 855 der ehemaligen Preußischen Staatsbibliothek Berlin, derzeit Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz. Faksimileausgabe unter Mitarbeit von Günther Schweikle hg. von Hans Hornung. Bozen 1968, Bildseite Nr. 32. Vgl. Josef Körner: Die Klage und das Nibelungenlied. Leipzig 1920. Vgl. ‚Dietrichs Flucht‘, v. 5144, 5393, 5911, 7355, 8591, 9869; ‚Rabenschlacht‘, Str. 54, 1; 542, 1, 709, 1. Ed.: Deutsches Heldenbuch. II. Hg. von Ernst Martin. 2. Aufl. Dublin, Zürich 1967. Biterolf und Dietleib. Hg. von André Schnyder. Bern, Stuttgart 1980. Entsprechend zu beurteilen sind Rekonstruktionsversuche des Lieds wie die Nachdichtung in 180 stabenden Langzeilen durch Felix Genzmer: Das Iringlied. In: Deutsches Volkstum 17 (1935), S. 881–889. Mit Liedern, „von denen Spuren in schriftlicher Überlieferung
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auch, dass dem sächsischen Geschichtsschreiber Widukind eine lateinische Dichtung entsprechenden Inhalts bekannt war.
3. Neueinsatz im 12. Jahrhundert. Literatur im Umfeld von Kloster, Stift und Schule Von der Iringsage, die über die lateinische Historiographie, aber wohl auch durch mündliche Tradierung um 1200 Eingang in die mittelhochdeutsche Nibelungen- und Dietrichepik fand, führt ungeachtet ihrer thüringischen Ursprünge kein direkter Weg zur mittelalterlich-volkssprachigen Literatur Thüringens. Deren Anfänge liegen für uns im Dunkel, das sich erst um die Mitte des 12. Jahrhunderts aufzuhellen beginnt. Die vorangehenden Jahrhunderte nun sind keine Epoche ausschließlicher Mündlichkeit; wir können ihnen eine Reihe lateinischer, lateinisch-deutscher und auch deutscher, in der Regel anonym und, wie im Mittelalter üblich, titellos überlieferter Texte zuordnen. Doch lässt sich, soweit es um volkssprachige Denkmäler geht, in keinem Fall anhand sprachlicher oder anderer Kriterien der sichere Nachweis thüringischer Provenienz führen.64 Exemplarisch seien die Schwierigkeiten eines solchen Nachweises an dem Zeitlied ‚De Heinrico‘ verdeutlicht, das gegen Ende des 10. Jahrhunderts in deutsch-lateinischer Sprachmischung verfasst wurde.65 Wir kennen weder den
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erhalten geblieben sind“, rechnete zuletzt Thomas Scharff: Der Sinn der Niederlage. Kriegsniederlagen und ihre historiographische Sinngebung am Beispiel der fränkischen Eroberung des Thüringerreiches. In: Die Frühzeit der Thüringer (Anm. 20), S. 457–474, hier 467. Karin Schneider: Gotische Schriften in deutscher Sprache. I. Vom späten 12. Jahrhundert bis um 1300. Text- und Tafelband. Wiesbaden 1987. Textband, S. 69, betonte: „Deutsche Schriftdenkmäler, deren Sprache auf Entstehung im ostmitteldeutschen, vor allem thüringischen und obersächsischen Raum weist, werden erst aus der Zeit nach 1200 zu besprechen sein [...].“ Das heißt indes nicht, dass solche Denkmäler nicht existiert hätten. Schneider weiter: „Daß hier deutsche Handschriften im letzten Jahrhundertviertel hergestellt wurden, ist nicht zu bezweifeln; in den literarisch interessierten Kreisen des Thüringer Landgrafenhofes, speziell unter Hermann I. (1190–1217), müssen deutschsprachige Bücher vorhanden gewesen sein, deren Spuren sich jedoch völlig verloren haben.“ Nach Heinz Mettke: Sprachgeschichte. In: Wiss. Zs. der Friedrich-Schiller-Universität Jena 16 (1967). Gesellschaftswiss. Reihe, S. 301–305, hier 301, ist „für die ältere Zeit eine sprachliche Trennung zwischen dem Thüringischen und dem Obersächsischen (besonders im Grenzgebiet) auf Grund der bisherigen Forschungslage kaum oder nur schwer möglich“. Ed.: Frühe deutsche Literatur und lateinische Literatur in Deutschland 800–1150. Hg. von Walter Haug u. Benedikt Konrad Vollmann. Frankfurt a. M. 1991 (Bibliothek des Mittelalters 1), S. 294–297 und 1244–1249. Vgl. Haubrichs (Anm. 35), S. 184–189.
3. NEUEINSATZ IM 12. JAHRHUNDERT
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Verfassser des politischen Liedes, das in acht Abschnitten (Strophen) in binnengereimten Langzeilen von dem ehrenvollen Empfang eines Bayernherzogs Heinrich durch einen Kaiser Otto handelt, noch sein Publikum.66 So bleibt als wichtigstes Kriterium für eine Einordnung des Textes die Sprache der althochdeutschen Versteile. Diese hat man ins Nordrheinfränkische gesetzt, aber auch ins nördliche oder westliche Thüringen, und neben weiteren Lokalisierungen wurde eine Verbindung mit dem nordthüringischen Nonnenkloster Homburg an der Unstrut erwogen.67 Angenommen wurde allerdings auch eine altsächsische sowie eine bairische Vorlage des Gedichts. Wenn die Forschung in immer neuem Bemühen eine niederdeutsche, eine thüringische (mitteldeutsche) und eine bairische (oberdeutsche) Vorlage postulieren konnte, erlaubt das wohl kaum einen anderen Schluss als den, dass die Lokalisierung des Textes allein anhand sprachlicher Kriterien nicht zu sicheren Ergebnissen führt.68 ‚De Heinrico‘ steht als Nr. 19 in der Sammlung der ‚Carmina Cantabrigiensia‘ aus dem 11. Jahrhundert, die von einem angelsächsischen Schreiber nach einer rheinischen Vorlage geschrieben wurde. Die um die Mitte des 11. Jahrhunderts am Mittel- oder Niederrhein zusammengestellte Sammlung der ‚Cambridger Lieder‘ enthält ein zweites Stück, das ähnliche Probleme aufgibt. Unter Nr. 28 bringt sie ein um das Jahr 1000 entstandenes lateinisch-deutsches Gedicht in elf binnengereimten Langzeilenstrophen, das Gespräch eines Mannes, wohl eines Klerikers, mit einer Nonne, dem man 66
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Die im Hintergrund stehende historische Situation ist unklar: Ist an den Bayernherzog Heinrich II. den Zänker und Otto III im Jahr 985 zu denken oder eher an die Versöhnung Ottos I. mit seinem Bruder Heinrich I. i. J. 941? Vgl. David R. McLintock: ‚De Heinrico‘. In: VL, Bd. 3 (1981), Sp. 928– 931, hier 928 f., und Haug (Anm. 65), S. 1245 f. Vgl. Wolf (Anm. I, 34), S. 192. Mit Homburg verbindet man die als Nr. 20 der ‚Carmina Cantabrigiensia‘ überlieferte 13strophige Klostersatire ‚Alfrads Eselin‘, entstanden um 1000. Ed.: Die Cambridger Lieder. Hg. von Karl Strecker. Berlin 1926 (MGH. Scriptores 40). Ndr. Hannover 1993, S. 60–62. Einst entfernte sich die starke und treue Eselin der Nonne Alfrad im Kloster Homburh und fiel dem Wolf zum Opfer. Die Hilfe der Nonnen kam zu spät; so stimmten sie die Totenklage an und trösteten Alfrad mit den Worten: Dominus aliam dabit tibi asinam. Wolf von Unwerth: Der Dialekt des Liedes De Heinrico. In: PBB 41 (1916), S. 312–331, hier 329, vermutete, der Verfasser des satirischen Gedichts sei identisch mit dem des Lieds ‚De Heinrico‘ und in Homburg bekannt gewesen. Die Stücke der durch Heinrich III. angeregten Sammlung stammen teils aus Deutschland, teils aus Frankreich. Vgl. Langosch (Anm. 38), S. 138 f., und Anm. 71. Zum Benediktinerinnenkloster, seit 1136 Mönchskloster Homburg vgl. Thüringen. Hg. von Hans Patze. 2., verbesserte und ergänzte Aufl. Stuttgart 1989 (Handbuch der historischen Stätten Deutschlands 9), S. 204 f. Die sprachgeographischen Zuschreibungen bei McLintock (Anm. 66), Sp. 930, im Überblick. Wolf (Anm. I, 34), S. 192, ist in seinem Resümee zuzustimmen, dass die bisherigen Versuche, die Entstehung von ‚De Heinrico‘ im nördlichen oder westlichen Thüringen festzumachen, nicht zu überzeugen vermögen. Wolfgang Beck: „in Dürengen lant“. Die Überlieferung deutscher Literatur des Mittelalters in Thüringen. Habilitationsschrift Jena 2009, S. 24, bestimmte die Sprache des Lieds neuerdings wieder als westmitteldeutsch.
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II. FRÜHZEIT
daher den Titel ‚Kleriker und Nonne‘ gegeben hat.69 Auch hier wollte man in den deutschen Versteilen (Abversen) „Dialektkriterien, die ins Thüringische oder Nordrheinfränkische weisen“,70 ausmachen; doch ist eine genauere Situierung schon der höchst lückenhaften Überlieferung wegen ebensowenig möglich wie im Fall von ‚De Heinrico‘.71 Wenn wir, um vom Sonderfall lateinisch-deutscher Gedichte abzusehen, über die Anfänge volkssprachiger Literatur im mittelalterlichen Thüringen nur wenig wissen, hat das seinen entscheidenden Grund darin, dass es dem Land bis in das 11./12. Jahrhundert an geistigen Mittelpunkten fehlte. Die Situation war also eine andere als im westlich angrenzenden Hessen, das solche Zentren mit den großen Abteien Fulda (gegr. 744), der wichtigsten Bildungsanstalt im frühmittelaterlichen Deutschland, und Hersfeld (gegr. 769/75) schon seit langem besaß.72 Beide Klöster blieben über mehrere Jahrhunderte auch für Thüringen, wo sie über reichen Territorialbesitz verfügten, geistige Bezugspunkte. Zu bedenken ist ferner das Fehlen eines Bischofssitzes, der als ein Kristallisationspunkt geistigen Lebens hätte fungieren können, vergleichbar etwa Bamberg und Magdeburg, Städten, mit denen die Literaturgeschichte seit dem 11. Jahrhundert wichtige Werke verbindet.73 Nach der Aufhebung des von Bonifatius gegründeten Bistums Erfurt noch im 8. Jahrhundert bildete Thüringen nurmehr einen mehrere hundert Kilometer entfernten östlichen Außenbezirk der Erzdiözese Mainz.74 Bildung, Schriftlichkeit, literarische Produktion und alle Formen geistigen Lebens beschränkten sich im frühen Mittelalter hauptsächlich auf die Klöster. Nur sie verfügten über Skriptorien und wenigstens bescheidene Bibliotheken, und nur hier wie an den Dom- und Stiftsschulen konnte man eine triviale oder 69
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Ed.: Die Cambridger Lieder (Anm. 67), S. 74–77, Nr. 28. Vgl. Fidel Rädle: ‚Kleriker und Nonne‘. In: VL, Bd. 4 (1983), Sp. 1213–1215. Wolf (Anm. I, 34), S. 191. Das Reimgedicht wurde seines erotischen Inhalts wegen nachträglich durch Schwärzung und Rasur bis auf wenige Reste getilgt. Vgl. Karl Langosch: ‚Carmina Cantabrigiensia‘. In: VL, Bd. 1 (1978), Sp. 1186–1192, hier 1189. Vgl. auch Brunhölzl (Anm. 39), S. 498 ff. Vgl. Hessen. Hg. von Georg Wilhelm Sante. 3., überarb. Aufl. Stuttgart 1976 (Handbuch der historischen Stätten Deutschlands 4), S. 20–23 und 154–160. Fulda war Überlieferungsort für die ‚Merseburger Zaubersprüche‘, in eine Handschrift aus Fuldaer Buchbesitz wurde um 830/40 das althochdeutsch–altsächsische ‚Hildebrandslied‘ eingetragen, in Fulda könnte auch das altsächsische Bibelepos ‚Heliand‘ (um 840) entstanden sein. Um 1057/65 entstand in der Umgebung des Bamberger Bischofs Gunther das ‚Ezzolied‘. Nach 1290 verfasste Hugo von Trimberg in Bamberg sein Lehrgedicht ‚Der Renner‘. Im Auftrag des Magdeburger Erzbischofs Albrecht II. von Kefernburg (1205–1232) dichtete der Kleriker Odo von Magdeburg den ‚Ernestus‘ (‚Herzog Ernst‘ E), ein der ‚Alexandreis‘ Walthers von Châtillon verpflichtetes lateinisches Hexameterepos. Vgl. Hans K. Schulze: Die Kirche im Hoch- und Spätmittelalter. In: Geschichte Thüringens (Anm. I, 34), S. 50–149, hier 50. Vgl. auch Thüringen (Anm. 67), S. 102.
3. NEUEINSATZ IM 12. JAHRHUNDERT
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auch weiterreichende Bildung erwerben.75 Es fehlte in Thüringen nicht an Klöstern; die Gründungen beginnen im 8. Jahrhundert und setzen sich nach einer Welle im 13. Jahrhundert fort bis in das spätere 15. Die Gesamtzahl der Klöster im mittelalterlichen Thüringen wird auf knapp 200 geschätzt.76 Doch gilt es hier zu differenzieren. Eine frühe Klostergründung bedeutete nicht auto-matisch ein Zentrum der Schriftlichkeit, wie die älteren Gründungen in Südthüringen zeigen. So bestand das 783 von Emhild, einer Hochadligen, gestiftete Benediktinerinnenkloster Milz b. Meiningen, in dem die Stifterin als Äbtissin mit 22 Nonnen lebte, nur wenige Jahre; noch im 9. Jahrhundert verliert sich von ihm jede Spur.77 Ein ähnliches Schicksal traf offenbar auch das im frühen 9. Jahrhundert von einem Grafen Christan und seiner Gemahlin Heilwig auf Königsgut gestiftete Kloster Rohr b. Römhild. Auch diese Gründung verschwindet bald nach ihrer Gründung aus der Überlieferung.78 Früh schon begegnen in Thüringen also adlige Eigenklöster, doch was es nicht gab, waren entsprechend ausgestattete Reichsklöster. Erst die Ottonen bezogen mit der Gründung des Kreuzstiftes in Nordhausen (961) und der Abtei Memleben (976/79) wenigstens das nördliche Thüringen in den Verbund ihrer Reichsabteien ein.79 Dem von Mathilde, der Witwe Heinrichs I., in Nordhausen gegründeten Kanonissenstift (wohl dem einzigen in Thüringen) kommt auch literaturgeschichtliche Bedeutung zu, entstanden hier doch zwei Lebensbeschreibungen der Stifterin, die sich bereits für die Errichtung des Damenstiftes St. Servatii in Quedlinburg engagiert hatte, wo sie 968 starb.80 Beide Viten mischen tendenziöse und fiktive Nachrichten; sie werden, was ihren inneren Gehalt und den historischen Sinn ihrer Verfasser betrifft, von den modernen Historikern nicht sonderlich hoch bewertet.81 Die ältere Vita, auf Wunsch Kaiser Ottos II. um 973/74 in Quedlinburg oder durch eine der 75
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Klosterschulen sind in Thüringen seit dem 11. Jahrhundert nachzuweisen, zuerst in Reinhardsbrunn, seit ca. 1120 auch in Paulinzella. Vgl. Schulze (Anm. 74), S. 144. Vgl. Schulze (Anm. 74), S. 135. Vgl. Schulze (Anm. 74), S. 77. Als Besitzer erscheinen in den Quellen Ludwig der Deutsche und das Kloster Fulda. Im frühen 13. Jh. erfolgte von Fulda aus eine Neugründung als Benediktinerinnenkloster. Vgl. Thüringen (Anm. 67), S. 352 f., und Schulze (Anm. 74.), S. 77 f. Zu Nordhausen vgl. Thüringen (Anm. 67), S. 306, zu Memleben die Beiträge in dem Sammelband: Memleben. Königspfalz – Reichskloster – Propstei. Hg. von Helge Wittmann. 2., durchgesehene und ergänzte Aufl. Petersberg 2009. Ed.: Die Lebensbeschreibungen der Königin Mathilde. Hg. von Bernd Schütte. Hannover 1994 (MGH. Scriptores rerum Germanicarum in usum scholarum separatim editi 66). Vita Mathildis reginae antiquior: S. 107–142; Vita Mathildis reginae posterior: S. 143–202. Vgl. Wilhelm Wattenbach u. Robert Holtzmann: Deutschlands Geschichtsquellen im Mittelalter. Die Zeit der Sachsen und Salier. Erster Teil. Erstes und zweites Heft. Das Zeitalter des Ottonischen Staates (900–1050). Neuausgabe, besorgt von Franz-Josef Schmale. Weimar 1967, S. 38–40.
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II. FRÜHZEIT
Nordhäuser Kanonissen oder einen der für das Stift verantwortlichen Geistlichen verfasst, ist ein durch und durch panegyrischer Text, der nur wenig Brauchbares über Mathildes Leben enthält.82 Gepriesen werden Frömmigkeit, gute Werke und Wunder der Königin-Witwe; bedenkenlos eingearbeitet ist aber auch Material aus älteren Texten, besonders aus der populären Martinsvita des Sulpicius Severus (um 400) und der Vita der hl. Radegunde des Venantius Fortunatus, wodurch anachronistisch Vorgänge des 4. Jahrhunderts ins 10. projiziert werden.83 Die jüngere Vita wurde von Kaiser Heinrich II. in den ersten Jahren seiner Herrschaft (um 1002/03) veranlasst. Ihm war es besonders darum zu tun, den bayerischen Zweig des sächsischen Hauses zur Geltung zu bringen, zumal die mit dem Bayernherzog Heinrich I., dem Bruder Ottos I., sich verbindende Tradition.84 Zu diesem Zweck erfuhr die ältere Vita manche stilistische und inhaltliche Umformung, wobei die vorgenommenen Änderungen überwiegend unglaubwürdig sind. Die beiden Viten gehören in den Kontext einer das Handeln der ottonischen Herrscher begleitenden historischen Überlieferung, insofern sind sie in erster Linie für den Historiker von Interesse. Im Nordhäuser Damenstift entstanden, lassen sie sich geographisch dem nördlichen Thüringen zuordnen, doch ihr kommunikationsgeschichtlicher Ort ist der sächsische Herrscherhof der Ottonen, an dem nicht nur Geschichtsschreibung, sondern auch Dichtung – soweit wir wissen, ausschließlich in lateinischer Sprache – gepflegt wurde, wenn man wiederum von den wenigen lateinisch-althochdeutschen Mischgedichten des Typs ‚De Heinrico‘ absieht. Literarhistorisch gesehen fallen sie in das „lateinische Jahrhundert“, jene Epoche zwischen dem Ausklingen der althochdeutschen Schriftüberlieferung nach 900 und dem Neueinsatz volkssprachiger Schriftlichkeit nach der Mitte des 11. Jahrhunderts. Von den beiden lateinischen Mathilde-Viten führt mithin kein Weg zu einer volkssprachigen Literatur Thüringens. Für das Entstehen einer solchen fehlten bis über die Jahrtausendwende hinaus wichtige bildungsgeschichtliche Voraussetzungen. Die Situation änderte sich erst im letzten Viertel des 11. Jahrhunderts mit der Gründung zweier Klöster im Zuge der Hirsauer Reformbewegung des benediktinischen Mönchtums, die für das geistige und kulturelle Leben Thüringens 82
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Die ältere Vita ist nur durch ihre Aufnahme in die ‚Pöhlder Chronik‘ (12. Jh.) erhalten. Zu Mathildes Bildung vgl. auch Widukinds Sachsengeschichte (Anm. 39), III. Buch, cap. 74. Die Mitteilung in c. 16, Otto d. Gr. sei nicht auf gesetzliche Weise, sondern durch eine gewaltsame Erhebung seiner Truppen auf den Thron gelangt, stammt aus den Dialogen des Sulpicius Severus und betrifft die Erhebung des Kaisers Maximian i. J. 383. Vgl. von Unwerth (Anm. 67), S. 327 f.; Brunhölzl (Anm. 39), S. 428–430, 620. Als Verfasser der jüngeren, wohl in der Umgebung Heinrichs II. in Sachsen entstandenen Vita ist nach Schütte (Anm. 80), S. 12, „eine Kanonisse in Quedlinburg, eine Nonne in Nordhausen oder ein Geistlicher, dem dort die priesterlichen Pflichten oblagen, in Betracht zu ziehen“.
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größte Bedeutung erlangen sollten. 1060 wandelte Erzbischof Siegfried I. von Mainz das Kanonikerstift auf dem Erfurter Petersberg in ein hirsauisches Reformkloster um.85 Die Hirsauer Observanz wurde allerdings erst unter dem aus dem Schwarzwaldkloster stammenden Abt Wernher I. (1127–1138) durchgesetzt, unter dem erstmals auch eine eigenständige Schreib- und Malschule fassbar wird, die man „petrinisch“ genannt hat.86 1085 gründete Graf Ludwig der Springer nahe seiner Stammburg (Schauenburg) in der eremus bei Friedrichroda am Nordwestrand des Thüringer Waldes das gleichfalls hirsauisch orientierte Kloster Reinhardsbrunn, das sich zum Hauskloster und Traditionszentrum der aufstrebenden ludowingischen Dynastie entwickeln sollte und das bis zum Tod Heinrich Raspes IV. ein geistiges Zentrum der Landgrafschaft blieb.87 Unter Giselbert bestand einige Jahre eine Personalunion zwischen Erfurt und Reinhardsbrunn. In beiden Konventen entstand seit dem 12. Jahrhundert eine lateinische Geschichtsschreibung mit je eigenen Schwerpunkten.88 In Reinhardsbrunn bemühte sich, wie aus der Mitte des 12. Jahrhunderts kompilierten Reinhardsbrunner Briefsammlung hervorgeht, der Bibliothekar Sindold, der auch für die Ausbildung des Nachwuchses Sorge trug, in ständigem Austausch mit anderen Klöstern um die Erweiterung der 85
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Vgl. Matthias Werner: Die Gründungstradition des Erfurter Petersklosters. Sigmaringen 1973 (Vorträge und Forschungen. Sonderband 12), S. 62–78; Georg Dehio: Handbuch der Deutschen Kunstdenkmäler. Thüringen. Bearb. von Stephanie Eißing, Franz Jäger und anderen Fachkollegen. Berlin 1998, S. 357–361. Vgl. Erich Kleineidam: Geschichte der Wissenschaft im mittelalterlichen Erfurt. In: Geschichte Thüringens (Anm. I, 34), S. 150–187, hier 151. Vgl. Ernst Koch: Die Bedeutung des Klosters Reinhardsbrunn für das hochmittelalterliche Thüringen. In: Wartburg-Jb. 1995. Eisenach 1996, S. 11–27; Matthias Werner: Reinhardsbrunn. In: LexMA, Bd. 7 (1995), Sp. 667 f. Hans Patze: Die Entstehung der Landesherrschaft in Thüringen. I. Teil. Köln, Graz 1962 (Mitteldt. Forsch. 22), S. 529, resümierte: „Was in diesem ‚Staat‘ an geistiger Leistung vollbracht wird, geschieht und entsteht im Hauskloster: die Schreiben der hohen Politik, die ersten Behelfe einer schriftlichen Landesverwaltung, die offizielle Geschichtsschreibung, die Gebete für die verstorbenen Landesherren. Noch beanspruchen die schriftlichen Erzeugnisse kein Sonderdasein, sondern dienen neben erfundenen Stilübungen den Klosterschülern als Schulbuch.“ Ein Geschichtswerk von hohem Rang sind die von 1197 bis 1215 reichenden ‚Reinhardsbrunner Historien‘, im Original ebenso verloren wie die älteren ‚Reinhardsbrunner Annalen‘ (1152–1181), die sie fortsetzen. Ed: Annales Reinhardsbrunnenses. Hg. von Franz Xaver Wegele. Jena 1854 (Thüring. Geschichtsquellen 1). Die Pflege der ludowingischen Tradition bis ins 14. Jh. bezeugt die vom 6. Jh. bis 1338 reichende ‚Reinhardsbrunner Chronik‘, eines der bedeutendsten Zeugnisse mittelalterlicher Landesgeschichtsschreibung. Vgl. Stefan Tebruck: Die Reinhardsbrunner Geschichtsschreibung im Hochmittelalter. Klösterliche Traditionsbildung zwischen Fürstenhof, Kirche und Reich. Frankfurt a. M. 2001 (Jenaer Beitr. zur Geschichte 4). Im Peterskloster entstand in mehreren Phasen und mit mehreren Fortsetzungen die ‚Erfurter Peterschronik‘ und im 15. Jh. die Kirchengeschichte des Nikolaus von Siegen. Historiographische Werke wurden in späterer Zeit auch in anderen Erfurter Klöstern, so im Predigerkloster und im Franziskanerkloster, verfasst.
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II. FRÜHZEIT
Buchbestände.89 Auch in St. Peter in Erfurt begann man mit dem Aufbau eines Skriptoriums und einer Bibliothek, die später neben jener der Erfurter Kartause (gegr. 1371) die bedeutendste Klosterbibliothek Thüringens war.90 Mit diesen Klöstern, neben denen noch einige andere wie Paulinzella (gegr. 1106) und Georgenthal (gegr. 1143) zu nennen wären, gab es in Thüringen seit dem 12. Jahrhundert Orte, die über eine Schreibwerkstatt und eine Bibliothek verfügten, an denen Handschriften hergestellt und durch Austausch und Kopie beschafft sowie Urkunden ausgestellt wurden, Orte, an denen historiographische Werke wie Annalen, Chroniken und Viten (um die Jahrhundertmitte etwa Sigebotos ‚Vita Paulinae‘, der Gründerin von Paulinzella), aber auch andere literarische Formen tradiert, bearbeitet und neu geschaffen wurden; Orte, an denen nicht nur für den unmittelbaren klösterlichen Bedarf erforderliche Texte und Texttypen wie die ‚Regula S. Benedicti‘, Messbücher und Evangeliare verfügbar waren, sondern auch die maßgeblichen Schulautoren und klassischen Werke wie die ‚Rhetorica ad Herennium‘, Ovids ‚Metamorphosen‘ und die ‚Ars poetica‘ des Horaz, Priscians Grammatik, die ‚Thebais‘ des Statius und die Fabeln Äsops,91 Orte also, die –um einen weitgefassten Begriff zu wählen – in besonderer Weise qualifiziert waren, intellektuelle Dienstleistungen zu erbringen. Neben dem spezifisch monastischen, durchweg lateinischen Literaturbetrieb jener Konvente treten spätestens seit der Mitte des 12. Jahrhunderts 89
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Ed.: Die Reinhardsbrunner Briefsammlung. Hg. von Friedel Peeck. Hannover 1952 (MGH. Epistolae selectae 5). Ndr. München 1985; Werner E. Gerabek: Reinhardsbrunner Briefsammlung. In: LexMA, Bd. 7 (1995), Sp. 668. Tebruck (Anm. 88), S. 235: „Reinhardsbrunn dürfte immerhin bereits im 12. Jahrhundert mit einer sehr guten und umfangreichen Bibliothek ausgestattet gewesen sein und die Mitte des 12. Jahrhunderts angelegte Briefsammlung des Klosterbibliothekars Sindold enthält zahlreiche Zeugnisse für den hohen Bildungsstand des Konvents.“ Werner Gerabek: Sindold von Reinhardsbrunn OSB. In: VL, Bd. 8 (1992), Sp. 1277–1278, hier 1278, über den Abt: „Sein häufigstes Thema sind Tausch und Abschrift von Hss. [...].“ „Über den Umfang und die Bestände der gewiß recht reichen Bibliothek von St. Peter vor dem Brand von 1142 sind keine Angaben möglich [...].“ Werner (Anm. 85), S. 71, Anm. 216. Vgl. Joseph Theele: Die Handschriften des Benediktinerklosters S. Petri zu Erfurt. Ein bibliotheksgeschichtlicher Rekonstruktionsversuch. Leipzig 1920 (Zentralbl. für Bibliothekswesen. Beih. 48); Paul Lehmann: Die Handschriften des Erfurter Benediktinerklosters St. Petri. In: Studien und Mitteilungen zur Geschichte des Benediktiner-Ordens und seiner Zweige. NF 12 (1926), S. 14–31. Vgl. auch die einschlägigen Abschnitte unter Erfurt in: Handbuch der historischen Buchbestände in Deutschland. Bd. 19. Thüringen A–G. Hg. von Friedhilde Krause. Bearb. von Felicitas Marwinski. Hildesheim, Zürich, New York 1998, besonders S. 201–206. Diese Werke sind nachgewiesen für St. Peter in Erfurt. Vgl. Theele (Anm. 90), Nr. 1065, 858, 125, 119, 118, 264. Belegt ist der Büchertausch zwischen St. Peter und Paulinzella um die Mitte des 12. Jh. Vgl. Die Reinhardsbrunner Briefsammlung (Anm. 89), Nr. 92; Franz Josef Worstbrock: Sigeboto von Paulinzella OSB. In: VL, Bd. 8 (1992), Sp. 1231–1232.
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auch literarische Werke in der Volkssprache hervor, für die man wiederholt eine Verbindung mit Thüringen erwogen hat. Mit dem literarischen Schaffen der Benediktiner in reformorientierten Klöstern wie Reinhardsbrunn und St. Peter in Erfurt verbindet sie, bei allen Unterschieden in stofflicher und funktionaler Hinsicht, ihre Verwurzelung in der monastischen Reformbewegung der Zeit. Denn größtenteils handelt es sich um geistliche Dichtungen, verfasst von lateinisch gebildeten geistlichen Autoren – Mönchen, Kanonikern, vielleicht auch Konversen –, die sich, da sie ein Laienpublikum erreichen wollen, der Volkssprache bedienen. In diesem Zusammenhang hat man genannt: die Leipziger und die Schleizer Psalmenfragmente, die ‚Holzmindener Bibelfragmente‘, die ‚Rede vom Glauben‘ des armen Hartmann, die ‚Tugendlehre‘ des Wernher von Elmendorf, das Fragment ‚Christus und Pilatus‘ und die Gedichte ‚Kleriker und Nonne‘, ‚De Heinrico‘ und ‚Alfrads Eselin‘ aus der Sammlung der ‚Carmina Cantabrigiensia‘.92 Die drei letzten, in lateinischdeutscher Sprachmischung bzw. in lateinischen Versen verfassten Werke, die bereits erwähnt wurden, können hier auch deshalb beiseite bleiben, da sie um die Jahrtausendwende entstanden und einer früheren literaturgeschichtlichen Epoche angehörten. Mithin verbleiben folgende Werke, die, um nicht eine problematische Chronologie zu suggerieren, in alphabetischer Folge genannt seien: Hartmanns ‚Rede vom Glauben‘, ‚Christus und Pilatus‘, die ‚Holzmindener Bibelfragmente‘, die Leipziger und die Schleizer Psalmenfragmente und Wernhers von Elmendorf ‚Tugendlehre‘. Hinzu kommt ein erst in jüngerer Zeit bekannt gewordenes Werk, eine für die Schule bestimmte Bearbeitung des ‚Carmen paschale‘ des Sedulius in lateinischer Prosa mit kurzen Kommentaren und deutscher Interlinearversion. Wie schon die Titel erkennen lassen, steht in diesen Werken die Volkssprache im Dienst des Glaubens und der Theologie, dient Literatur einer unabhängig von ihr existierenden unbezweifelbaren, weil geoffenbarten Wahrheit, an deren Verkündigung sie mitwirken will. Was berechtigt nun dazu, diese Werke der Literaturregion Thüringen zuzurechnen? Fünf von ihnen sind nur fragmentarisch, zudem anonym überliefert, nahezu vollständig erhalten ist nur Hartmanns ‚Rede vom Glauben‘.93 Eine zeitliche Ordnung ist nur bedingt möglich. Hartmanns Gedicht wird in die Zeit um 1140/60 gesetzt. Das Fragment von ‚Christus und Pilatus‘ lässt sich dem letzten Viertel des 12. Jahrhunderts zuweisen, es könnte aber auch deutlich jünger sein. Die Sedulius-Bearbeitung dürfte um 1200 entstanden sein. Schröder hielt für den ältesten Text dieser Reihe „die Verdeutschung der Psalmen“, ohne diese Annahme näher zu begründen und ohne zwischen den
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Vgl. Wolf (Anm. I, 34), S. 190–192. Allerdings ist die einzige Handschrift verbrannt, vgl. Anm. 120.
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Leipziger und den Schleizer Fragmenten zu differenzieren.94 Die ‚Leipziger Psalmenfragmente‘ werden ins 12. Jahrhundert datiert.95 Ob sie Anfang, Mitte oder Ende des Jahrhunderts zuzuordnen sind, steht dahin. Noch weniger lässt sich der Entstehungszeitraum der Schleizer Psalmenbearbeitung eingrenzen: die erhaltenen Fragmente könnten mit ihrer altertümlichen Sprache noch auf das 12. Jahrhundert verweisen, doch ist ihre Entstehung im folgenden Jahrhundert wohl wahrscheinlicher.96 Schröders Behauptung, dass der „Verdeutschung der Psalmen“ die Priorität gebühre, lässt sich also nicht sichern. Die Leipziger Fragmente, ein Pergament-Doppelblatt und ein Blattrest, bieten eine recht mechanische, dem lateinischen Text Wort für Wort übergeschriebene deutsche Übersetzung (Interlinearversion). Ps 118 (119), 144, erscheint auf Blatt IIIb wie folgt: gerehtheit vrekvnde din inewe Equitas testimonia tua ineternum.97
Die Schleizer Fragmente, neun, zumeist be- und zerschnittene Pergamentblätter, repräsentierten eine recht freie Übersetzung der Psalmen, also keine Interlinearversion wie die Leipziger Bruchstücke.98 Wie ihre zeitliche Einordnung, ist auch die Bestimmung ihres Schreibdialekts nicht restlos geklärt. Leipziger und Schleizer Psalmenfragmente repräsentieren nur eine unter zahlreichen Bearbeitungen des Psalters in deutscher Prosa, die überwiegend im späteren Mittelalter entstanden. Die Leipziger, vielleicht auch die Schleizer Fragmente gehören zu einer mitteldeutschen Gruppe, der 24 Handschriften 94 95
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Vgl. Schröder (Anm. I, 22), S. 3 f. Ed.: Horst Kriedte: Deutsche Bibelfragmente in Prosa des XII. Jahrhunderts. Halle 1930, S. 54–56 und 147–151, Nr. VII. Vgl. Kurt Erich Schöndorf: ‚Leipziger Psalmen-Fragmente‘. In: VL, Bd. 5 (1985), Sp. 701–702, und Bd. 11 (2004), Korrekturnachtrag, Sp. 915. Die Datierung von Wolf (Anm. I, 34), S. 190, „nach 1100“ lässt sich also präzisieren. Ed.: Kriedte (Anm. 95), S. 57–63 und 152–167, Nr. VIII. Vgl. Karl Bartsch u. Hermann Schults: Bruchstücke zweier Psalmenübersetzungen. In: Germania 23 (1878), S. 58–70, hier 62–70; Kurt Erich Schöndorf: ‚Schleizer Psalmenfragmente‘. In: VL, Bd. 8 (1992), Sp. 713–714. Wie die Leipziger, verdanken auch die Schleizer Fragmente ihren Namen dem neuzeitlichen Aufbewahrungsort. Nach Wolf (Anm. I, 34), S. 190, sind sie „wohl noch dem 12. Jahrhundert“ zuzurechnen. Zu den Leipziger und Schleizer Fragmenten vgl. auch Ernst Hellgardt: Die deutschsprachigen Handschriften im 11. und 12. Jahrhundert. Bestand und Charakteristik im chronologischen Aufriß. In: Deutsche Handschriften 1100–1400. Oxforder Kolloquium 1985. Hg. von Volker Honemann u. Nigel F. Palmer. Tübingen 1988, S. 35–81, hier S. 59, Nr. 72, und S. 60, Nr. 83. Kriedte (Anm. 95), S. 150. Heute Berlin, SBB PK, Fragment 49. Der lateinische Text entspricht im Wesentlichen dem Psalterium Gallicanum. Ps. 118 (119), 144 (aequitas testimonia tua in aeternum) in moderner Übersetzung: „Deine Vorschriften sind auf ewig gerecht.“ Schleiz, Gymnasialbibl., heute verschollen. Wie Schreiberversehen zeigen, handelt es sich um die Abschrift einer wahrscheinlich altsächsischen Vorlage.
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zugerechnet werden. Der zeitliche Ansatz dieser Gruppe und ihr Verhältnis zu anderen, etwa den ‚Altniederfränkischen Psalmenfragmenten‘, bedürfen im Einzelnen noch der Klärung. An die Bearbeitung der Psalmen lassen sich die ‚Holzmindener Bibelfragmente‘ anschließen, zwei Pergamentblätter unbekannter Provenienz, die sich im 19. Jahrhundert in der Holzmindener Gymnasialbibliothek befanden und heute verschollen sind. Beim Umfang des erhaltenen Textes ist nicht sofort klar, ob wir es mit der Übertragung einzelner biblischer Abschnitte oder mit den Resten einer vollständigen Bibelübersetzung zu tun haben, doch hat Ruh gezeigt, dass die Fragmente zu einer Perikopenverdeutschung gehören, und zwar zu einer der ältesten, von der wir wissen. Die Perikopen, d. h. die Abschnitte der Evangelien, die für die gottesdienstlichen Lesungen in der Folge des Kirchenjahrs benötigt werden, fasste man seit dem frühen Mittelalter in einem eigenen Buch, dem Evangelistar (Perikopenbuch), zusammen. Handelte es sich bei den Psalmen-Fragmenten um die Bearbeitung eines biblischen Buchs, so repräsentieren die Holzmindener Fragmente also einen liturgischen Buchtyp.99 Die Entstehungszeit des Werks kann mit dem 12. oder 13. Jahrhundert nur sehr grob angegeben werden. Dagegen lässt die Schreibsprache der Fragmente kaum einen Zweifel daran, dass die Perikopenbearbeitung in Thüringen entstand.100 Auch das Gedicht, dem die Herausgeber den Titel ‚Christus und Pilatus‘ gaben, wird aus sprachlichen Gründen zu den Denkmälern gerechnet, die in Thüringen entstanden sein könnten.101 Es ist jedoch bis auf ein PergamentDoppelblatt, das für einen Bucheinband zerschnitten wurde, verloren. Die Herkunft der Handschrift ist unbekannt. Die erhaltenen 64 Verse gehören zu einer Passionsdichtung, über deren Umfang und Charakter bestenfalls Vermutungen möglich sind; wir wissen nicht einmal, ob sie abgeschlossen war. Das Fragment gestaltet, dem Bericht der Evangelien folgend, mit dem Auftritt Jesu vor dem Prokurator Pilatus eine Szene der Passionsgeschichte. Die einzelnen Abschnitte enthalten je einen lateinischen Kernsatz aus dem Evangelienbericht, der anschließend in deutschen Versen paraphrasierend wiederholt wird, z. B. Matthäus 27, 22: 99
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Psalter und Perikopen wurden mitunter in einem Codex zusammengefasst. Vgl. Kurt Erich Schöndorf: Die Tradition der deutschen Psalmenübersetzung. Untersuchungen zur Verwandtschaft und Übersetzungstradition der Psalmenverdeutschung zwischen Notker und Luther. Köln, Graz 1967 (Mitteldt. Forsch. 46), S. 56, Nr. 16. Vgl. Kurt Ruh: ‚Holzmindener Bibel-Fragmente‘. In: VL, Bd. 4 (1983), Sp. 120. Vgl. Edgar Papp: ‚Christus und Pilatus‘. In: VL, Bd. 1 (1978), Sp. 1238. Weitere Literatur: Francis G. Gentry: Bibliographie zur frühmittelhochdeutschen geistlichen Dichtung. Berlin 1992 (Bibliographien zur deutschen Literatur des Mittelalters 11), S. 239 f. Während das Gedicht gewöhnlich im späten oder ausgehenden 12. Jh. angesetzt wird, dachte Hellgardt (Anm. 96), S. 46, an das 14. Jh.
II. FRÜHZEIT
46 Do sprach aver Pylatus: „quid faciam de Jesu qui dicitur Christus?“ daz spriht „waz sal ich tuon mit Jesus den man dar heiistus?“ do rifen duden gemeine beide gr und cleine: „iz si rehder crum crucifig, crucifige eum!“ daz spri „man sal en an ein cruce slan.“102
Aus der lateinischen Vorlage und ihrer Behandlung ergibt sich, dass der Dichter ein Geistlicher war. Wie der Vergleich von lateinischem Evangelientext und volkssprachiger Versparaphrase erkennen lässt, nahm er immer wieder Zusätze und Erweiterungen aus metrischen und Reimgründen vor.103 Wichtiger noch aber ist der Umstand, dass die erhaltenen Szenen fast gänzlich dialogisiert sind. Die Passion Christi war ein Thema, das im Mittelalter immer wieder gestaltet wurde, nicht nur in erzählenden Dichtungen, sondern auch in Predigten, Traktaten und Betrachtungen und seit dem 13. Jahrhundert zudem in zunächst lateinischen, später auch volkssprachigen geistlichen Spielen.104 Zu den bekannten Zeugnissen für die mittelalterliche Literaturgeschichte Thüringens gehört ein Bericht, der Landgraf habe im Jahr 1227 in Eisenach mit großem Aufwand ein Passionsspiel aufführen lassen. Wir wissen also von Passionsspielaufführungen in Thüringen (jene Eisenacher Aufführung muss nicht die erste gewesen sein) und haben mit einem entsprechenden lateinischen Spiel als Grundlage zu rechnen, und wir besitzen Reste eines stark dialogisch geprägten Passionsgedichts, dessen Nähe zu den Passionsspielen von der Forschung schon früh bemerkt wurde.105 Diese Nähe bekundet sich etwa in der weitgehenden Übereinstimmung der paraphrasierten lateinischen Stellen mit dem Text des ‚Großen Benediktbeurer Passionsspiels‘ (1230/35). 102
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Ed.: Die religiösen Dichtungen des 11. und 12. Jahrhunderts. Nach ihren Formen besprochen und hg. von Friedrich Maurer. Bd. III. Tübingen 1970, S. 429–433, hier Str. 3, 1–9. Die fortgeschrittene Reimtechnik spricht für einen Ansatz Ende des 12. Jh. oder später. In der Vulgata lautet Mt 27, 22: Dicit illis Pilatus quid igitur faciam de Iesu qui dicitur Christus. dicunt omnes crucifigatur. Aus dem knappen dicunt omnes machte der Dichter zwei Verse: „do rifen duden gemeine / beide gr und cleine“. Vgl. Andreas Scheidgen: Die Gestalt des Pontius Pilatus in Legende, Bibelauslegung und Geschichtsdichtung vom Mittelalter bis in die frühe Neuzeit. Literaturgeschichte einer umstrittenen Figur. Frankfurt a. M. 2002 (Mikrokosmos 68). Eine gereimte Passion in 564 Versen enthält das ‚Berliner Evangelistar‘, ein Perikopenbuch in Prosa, entstanden um die Mitte des 14. Jh. im östlichen Thüringen. Vgl. Gustav Ehrismann: Geschichte der deutschen Literatur bis zum Ausgang des Mittelalters. Zweiter Teil. Die mittelhochdeutsche Literatur. I. Frühmittelhochdeutsche Literatur. München 1922 (Handbuch des deutschen Unterrichts VI/2,1), S. 125.
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Helmut de Boor hat die wenn auch auf Grund der schmalen Überlieferung nicht verifizierbare, so doch bedenkenswerte Vermutung ausgesprochen: es müsse auch in Thüringen ein dem ‚Großen Benediktbeurer Passionsspiel‘ ähnliches lateinisches Spiel gegeben haben und das fragmentarisch erhaltene Passionsgedicht ‚Christus und Pilatus‘ habe gleichsam als „Hilfstext für Laien zum Verständnis der lateinischen Aufführung“ jenes thüringischen Passionsspiels gedient.106 Auch bei der Sedulius-Bearbeitung handelt es sich nur um Bruchstücke, zwei Pergamentblätter, die von Vorder- und Hinterdeckel eines theologischen Sammelbands aus dem 15. Jahrhundert in der Lüneburger Ratsbibliothek gelöst wurden. Grundlage der deutschen Bearbeitung ist das Hauptwerk des christlichen Dichters Sedulius, das ‚Carmen paschale‘ (Ostergedicht) aus der ersten Hälfte des 5. Jahrhunderts, ein Bibelepos in lateinischen Hexametern, das sich in der Hauptsache mit dem Leben Christi befasst und besonders auf dem Matthäusevangelium fußt. Das in fünf Bücher gegliederte, stilistisch an Vergil geschulte Epos wurde im Mittelalter in der Schule gelesen, übersetzt, glossiert und kommentiert, worauf zahlreiche Handschriften deuten, darunter eine aus dem Erfurter Peterskloster.107 Die 1985 bekanntgewordenen Lüneburger Fragmente überliefern zusammen rd. 60 Verse aus dem IV. Buch. Sie gehören zu einer lateinisch-deutschen Interlinearversion, also einer Wort für Wort vorgehenden Übersetzung, die über dem lateinischen Text in kleinerer Schrift eingetragen ist, etwa: Also enbrenge wi nicht dicke di allir grostin vroide vnde wi Sic non ferimus sepe maxima gaudia que [pro et] ti-.108
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Helmut de Boor: Die deutsche Literatur von Karl dem Großen bis zum Beginn der höfischen Dichtung 770–1170. 9. Aufl. Bearb. von Herbert Kolb. München 1979 (Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart I), S. 165. Das ‚Große Benediktbeurer Passionsspiel‘ überliefert die um 1230 entstandene Sammlung der ‚Carmina Burana‘. Ed.: Carmina Burana. Die Lieder der Benediktbeurer Handschrift. Zweisprachige Ausgabe. Übersetzung der lateinischen Texte von Carl Fischer, der mittelhochdeutschen Texte von Hugo Kuhn. Anmerkungen und Nachwort von Günter Bernt. München 1979 (dtv 2063), S. 764–807, besonders v. 238 ff. Dazu Hansjürgen Linke: ‚Benediktbeurer Spiele‘ (lat. u. lat.-dt.). In: VL, Bd. 11 (2004), Sp. 229–236. Pommersfelden, Gräfl. Schönbornsche Schlossbibl., cod. 218 (2840), f. 12–31 ‚Sedulii Carmen paschale de Christi minaculis [!] anno 1331 Dom. Laetare fin.‘ und Texte u. a. von Horaz, Ovid und Prudentius. Vgl. Theele (Anm. 90), Nr. 854. Zum Lüneburger Fragment Nikolaus Henkel: Deutsche Übersetzungen lateinischer Schultexte. Ihre Verbreitung und Funktion im Mittelalter und in der frühen Neuzeit. Mit einem Verzeichnis der Texte. München, Zürich 1988 (MTU 90), S. 305 f. Lüneburg, Ratsbücherei, Ms. Theol. 4° 5. Zit. nach Marlis Stähli: Sedulius: Carmen Paschale – Bruchstücke einer frühen deutschen Interlinearversion (Handschriftenfunde zur Literatur des Mittelalters. 92. Beitrag). In: ZfdA 114 (1985), S. 330–337, hier 333 (v. 8).
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II. FRÜHZEIT
Die mit kurzen Kommentaren verbundene lateinische Bearbeitung hat den hexametrischen Verstext bereits in eine natürliche Wortfolge überführt; eingefügt sind Kontextglossen und grammatische Erklärungen. Der Texttyp der Interlinearversion der Lüneburger Fragmente verweist auf die schulische Praxis; sie beansprucht keine Selbstständigkeit, liefert aber durchweg einen lesbaren Text. Ihr Wert liegt nicht zuletzt darin, dass wir keine zweite mittelalterliche deutsche Übersetzung des Werks kennen. Bemerkenswert ist ihr hohes Alter: der Text ist in einer frühgotischen Minuskel geschrieben, die auf die Zeit um 1200 datiert werden kann. Die Schreibsprache weist in den mitteldeutschen Raum, der in dieser Zeit für die Sedulius-Rezeption ansonsten keine Rolle spielt.109 Eine sichere Entscheidung für das Westmitteldeutsche oder das Ostmitteldeutsche oder für den thüringischen Raum, der in Betracht kommt, ist jedoch nicht möglich.110 Bleibt die bereits mehrfach erwähnte ‚Rede vom Glauben‘ des armen Hartmann. Die Selbstnennung des Dichters am Schluss als „ih arme hartman“ (v. 3737) ist bis heute nicht befriedigend geklärt.111 Das Epitheton „arm“ für lateinisch miser ist als Demutsformel gebraucht, die wohl den demütigen, sündigen, erlösungsbedürftigen Menschen akzentuieren will.112 Da Hartmann eine geistliche Dichtung verfasste, sich aber nicht „phaffe“ oder „priester“ nennt, wollte man in ihm einen adligen Laiendichter sehen, der in fortgeschrittenem Alter sich aus der Welt zurückgezogen habe und als Konverse (Laienbruder) ins Kloster eingetreten sei.113 Diese Annahme lässt sich ebensowenig 109
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„Die Sprache zeigt typisch mitteldeutsche Merkmale“, doch weisen „manche Formen auf das Ostmitteldeutsche, andere auf das Westmitteldeutsche.“ Stähli (Anm. 108), S. 330 f. Franz Josef Worstbrock u. Burghart Wachinger: Sedulius. In: VL, Bd. 11 (2004), Sp. 1408–1413, hier 1411, beschränkten sich auf die Angabe „md.“ (mitteldeutsch). Die Vermutung von Stähli (Anm. 108), S. 331, der Codex könnte aus dem Erfurter in das Lüneburger Minoritenkloster gelangt sein, lässt sich kaum verifizieren. Ed.: Deutsche Gedichte des zwölften Jahrhunderts und der nächstverwandten Zeit. Erster Teil. Die Strassburg-Molsheimische Handschrift [...]. Hg. von Hans Ferdinand Massmann. Quedlinburg, Leipzig 1837 (BDNL 3/1). Ndr. Hildesheim 1969, S. 1–42. Die Datierung der Dichtung durch Konrad Kunze: Der arme Hartmann. In: VL, Bd. 1 (1978), Sp. 450–454, hier 451, „zwischen 1140/60“ ist mit dem Reimbefund nur partiell vereinbar, gelten doch zwei Drittel der Reime als rein. Sie korrespondiert vermutlich mit der heute nicht mehr als zwingend geltenden Annahme, die ‚Rede vom Glauben‘ sei vor der ‚Kaiserchronik‘ (um 1140/50) entstanden. Weitere Literatur vgl. Gentry (Anm. 101), S. 75–79. Heinrich von Melk nennt sich in ‚Von des todes gehugde‘ einen „armen chneht“ (v. 1032), und Ebernand von Erfurt in ‚Heinrich und Kunigunde‘ „arm des guotes, / der sinne und ouch des muotes“ (v. 4369 f.). Die ‚Rede vom Glauben‘ gehört zu dem knappen Viertel frühmittelhochdeutscher Dichtungen, die wir mit einem Verfassernamen verbinden können. „Wir glauben einen Mann sprechen zu hören, der selbst aus Weltleid Hab und Gut hergegeben, um im Kloster durch strenge Zucht und Entsagung die ewige Krone zu erringen.“ Ehrismann (Anm. 105), S. 64. Im Sinn des Kirchenrechts meint „Laiendichter“ jemanden, der keine Weihen empfangen hat.
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verifizieren wie jene, er habe dem Prämonstratenserorden angehört.114 Gegen die These des Konversen, des adligen illiteratus, spricht die von der neueren Forschung nachgewiesene gediegene sprachliche und theologische Bildung Hartmanns, die nahelegt, in ihm doch einen Kleriker zu sehen.115 Mit einem Textbestand von etwa 3800 Versen (nach v. 3225 sind durch Blattverlust rd. 400 Verse ausgefallen) gehört seine Reimpaarrede zu den umfangreichen Dichtungen ihrer Zeit. Der heutige Titel ist dem Prolog entlehnt, in dem es heißt: „di rede des geloubin“ (v. 58). Mit „Glauben“ ist das Credo (Glaubensbekenntnis) gemeint, und zwar die gegenüber dem Apostolischen Glaubensbekenntnis längere Version des Nicaeno-Konstantinopolitanum.116 Nacheinander zitiert Hartmann in seinem Lehrgedicht die einzelnen zwölf Artikel des Credo, übersetzt sie in deutsche Verse und erläutert sie knapper oder ausführlicher. In der Gliederung folgt er seiner Vorlage mit der Abfolge der drei göttlichen Personen Vater, Sohn, Heiliger Geist. In den dritten und umfangreichsten Abschnitt über den Heiligen Geist hat er Beispielerzählungen über je drei männliche und weibliche Erzsünder eingeschaltet, u. a. über den Teufelsbündner Theophilus, der in die Fänge des Teufels geriet, jedoch, da er seine Missetat ehrlich bereute, durch Fürsprache der Gottesmutter vor ewiger Verdammnis gerettet wurde. Hartmann beabsichtigte keine gelehrt theologische Auslegung des Credo, er wollte bekannte Gedanken zusammenfassen und in eine planvolle Ordnung bringen; sein Anliegen war praktische Belehrung.117 Der belehrenden Grundtendenz 114
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Vgl. Friedrich von der Leyen: Des armen Hartmann Rede vom Glouven. Eine deutsche Reimpredigt des 12. Jahrhunderts. Untersucht und herausgegeben. Breslau 1897 (German. Abhandlungen 14), S. 13. Während Hartmann Bischöfe, Äbte, Mönche, Priester und Pfaffen einfach aufzählt, ordnet er den Kanonikern das Attribut „gut“ zu („di gvten canoniche“, v. 2929). Gisela Vollmann-Profe: Von den Anfängen zum hohen Mittelalter. Teil 2. Wiederbeginn volkssprachiger Schriftlichkeit im hohen Mittelalter (1050/60–1160/70). Frankfurt a. M. 1986 (Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zum Beginn der Neuzeit I/2), S. 175, resümierte: „Wir müssen daher davon ausgehen, daß Hartmann dem Klerikerstande angehörte.“ Der Bedeutungsumfang von mhd. rede ist groß, gemeint sein kann u. a. ‚Rede, Gespräch, Erzählung, Rede vor Gericht, Nachricht, Epos oder Lehrgedicht, Text eines Gedichts im Gegensatz zu seiner Melodie, Sache‘. Oft ist ein geistliches Gedicht gemeint. Ob Hartmann eine für den mündlichen Vortrag im engeren Sinn bestimmte rede im Sinn hatte oder an einen für die Lektüre bestimmten Traktat, lässt sich wohl kaum ausmachen. Die Forschung drehte sich lange um die Frage, inwieweit Hartmanns Gedicht als eine Geist und Frömmigkeit der cluniazensischen Reform verpflichtete asketische Bußpredigt zu verstehen sei. Für Hermann Schneider: Heldendichtung, Geistlichendichtung, Ritterdichtung. Neugestaltete und vermehrte Aufl. Heidelberg 1943 (Geschichte der deutschen Literatur. Bd. 1), S. 155, war Hartmann „ein düster freudloser Büßer voll heftigen Belehrungsdrangs“. Ähnlich de Boor (Anm. 106), S. 172 f. Eine neue Deutung bei Heinz Rupp: Deutsche religiöse Dichtungen des 11. und 12. Jahrhunderts. Untersuchungen und
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des Werks korrespondiert dessen sachlicher Stil (sermo humilis). Von seiner lehrhaften Absicht spricht der Dichter selbst einleitend: Er habe sein Werk „ze lere den tumben“ (v. 22) verfasst, wobei mit mhd. „die tumben“ hier die ‚Unverständigen, Unerfahrenen‘ gemeint sind. Hartmann wollte also illiterati erreichen. Mit Entschiedenheit kritisiert er das von Prunk und Reichtum bestimmte gottferne Weltleben des ritterlich-adligen Herrn: Dine tabelen di sint breit. du hast ouch bereite semelen di wize; also du wilt inbize, zo dime tische beide fleisch unde viske. da wirt di(r) uore bracht vil manigvalt undertracht. ujl sat du dan izzis. diner sele du uergizzis. in deme kellere din beide mete unde win, morz unde lutertranc ujl ubbich ist dir din gedanc, alse du sat getrinkis. ujl lutzil du gedenkis, daz du bietis dicheine ere dinem sceffere, der dirsz alliz hat gegeben, da zu din selbis leben.
Deine Speisetafel ist groß. Bereit steht dir feines weißes Brot, wenn du speisen willst, auf der Tafel gibt es Fleisch wie auch Fisch. Man trägt dir die verschiedensten Gerichte auf. Ausgiebig speist du dann, dein Seelenheil aber vergisst du, In deinem Keller fehlt es weder an Met noch an Wein, Maulbeerwein und Rotwein. Ausschweifend sind deine Gedanken, wenn du genug getrunken hast. Doch du denkst nicht daran, den zu ehren, der dein Schöpfer ist, der dir das alles gegeben hat, auch dein Leben (v. 2456–2475).
Hartmann wandte sich offenbar an religiös interessierte adlige Laien. Weiter wird man in der Deutung der „tumben“ (Unerfahrenen, Jungen, Ungelehrten) kaum gehen können, etwa, indem man überlegte, ob dieser Adressatenkreis sich in Thüringen näher eingrenzen, vielleicht gar mit einem bestimmten Ort verbinden ließe.118 Denn dafür fehlt bislang eine entscheidende Voraussetzung: der Nachweis, dass der Dichter Thüringer war und sein Reimtraktat in den Kontext der thüringischen Literaturgeschichte gehört. Zwar ist Hartmann mehrfach zum „gebürtigen Thüringer“ erklärt und die Schreibsprache seiner
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Interpretationen. 2. Aufl. Bern, München 1971 (Bibliotheca Germanica 13), S. 134–216. Thematisiert wird das Credo auch im ‚Innsbrucker (thüringischen) Fronleichnamsspiel‘. Die Deutung von Kunze (Anm. 111), Sp. 451: „Vorlesung vor Konversbrüdern“ setzt die Konversenthese voraus, die Vollmann-Profe (Anm. 115), S. 174 f., zurückgewiesen hat. Kritisch zur Gleichsetzung der tumben mit ‚Laienpublikum‘ Dieter Kartschoke: Geschichte der deutschen Literatur im frühen Mittelalter. 3. Aufl. München 2000 (dtv 30777), S. 218.
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Dichtung als thüringisch bestimmt worden, doch können die dafür vorgebrachten Argumente kaum überzeugen.119 Wenn hier auf die Frage der sprachlichen Einordnung näher eingegangen wird, so auch deshalb, weil sie sich für die ältesten volkssprachigen Dichtungen, die die Literaturgeschichte mit Thüringen zu verbinden pflegt, eine grundsätzliche ist. Die behandelten sechs Texte bzw. Fragmente sind ihrem Schreibdialekt nach als mitteldeutsch einzuordnen, aber die nähere Eingrenzung auf das Thüringische ist bei den Schleizer Fragmenten und dem Sedulius-Fragment nicht möglich und im Fall des armen Hartmann umstritten. Da Hartmann historisch nicht identifiziert ist, bleibt nur der Ansatz bei der Schreibsprache seines Gedichts. Die einzige Handschrift, die es überlieferte, die Straßburg-Molsheimer Handschrift, eine nicht ganz vollständige Sammlung frühmittelhochdeutscher geistlicher und weltlicher Dichtungen, fiel 1870 den Flammen zum Opfer, sie ist jedoch durch eine verlässliche Abschrift erhalten.120 Geschrieben wurde sie wohl zu Beginn des 13. Jahrhunderts durch einen elsässischen Schreiber, allerdings wohl nicht im Elsass. Wenn das heute maßgebliche Nachschlagewerk das Überwiegen westmitteldeutscher Eigenheiten in Hartmanns Dichtung betont,121 vermittelt diese Angabe nur einen schwachen Eindruck von der regen Diskussion, die insbesondere um ihre Lokalisierung geführt wurde.122 Doch ist bis heute ungeklärt, welcher Sprachlandschaft Hartmann entstammte und in welcher er die ‚Rede vom Glauben‘ verfasste.123 Fraglos ist nur die mitteldeutsche Schreibsprache des Textes. Doch bleibt diese sprachgeographische Bestimmung insofern unbefriedigend,
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Vgl. Wolf (Anm. I, 34), S. 190. Straßburg, Seminarbibl., Cod. C. V. 16. 6 4°. Die ‚Rede vom Glauben‘ f. 1r–9v. Überschrift und Schluss fügte ein späterer Schreiber hinzu: „Hie hebit sich ane daz boch daz do heizet von deme gelauben“, und: „hi ist vz daz boch von me gelaube.“ Vgl. Edward Schröder: Die Straßburg-Molsheimer Handschrift. In: Nachrichten von der Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen aus dem Jahre 1925. Phil.-hist. Kl. Berlin 1926, S. 148–160. Vgl. Kunze (Anm. 111), Sp. 451. Anfangs sah man in Hartmann einen Österreicher oder Franken (Diemer, Gervinus). Reissenberger lokalisierte ihn im westlichen Mitteldeutschland, von der Leyen glaubte diese Lokalisierung auf „die Gegend nordwestlich Aachens“ einschränken zu können. Diese und weitere Lokalisierungsvorschläge wie Mainz, Worms, Fulda zeigen zusammen lediglich, dass das Problem angesichts der Überlieferungslage offenbar nicht lösbar ist. Die mitteldeutsche Sprache des Textes wurde zumeist als Mittelrheinisch (Ehrismann), auch allgemein als Rheinisch (Thiele) bestimmt, aber auch als Mittelfränkisch (Beckers), zum anderen als Ostmitteldeutsch bzw. Thüringisch (Brüch). Die Lokalisierung in Thüringen wollten einige Forscher auf den Raum Eisenach-Nordhausen oder Mühlhausen-Langensalza einschränken. Methodisch wichtig ist die Unterscheidung der Sprache des Autors und des Schreibers. Der elsässische Schreiber könnte seine Vorlagen sprachlich normalisiert haben; doch das bleibt spekulativ, ebenso Schröders Annahme, Hartmann habe sein Gedicht nicht in seiner Sprachheimat verfasst.
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als damit nicht mehr und nicht weniger als ein breiter Streifen benannt ist, der von Luxemburg im Westen bis zur heutigen deutsch-polnischen Grenze an Oder und Neiße im Osten reicht.124 Seit dem 19. Jahrhundert hat man nun wiederholt sowohl west- wie ostmitteldeutsche Provenienz des Dichters und des Textes nachzuweisen gesucht. Um die ‚Rede vom Glauben‘ der thüringischen Literaturgeschichte zurechnen zu können, müsste sie sich als ostmitteldeutsch und näherhin als thüringisch bestimmen lassen. Diesen Nachweis hat besonders Josef Brüch zu führen gesucht, doch stieß seine Argumentation weithin auf Ablehnung.125 Beim heutigen Forschungsstand ist Hartmanns Gedicht als westmitteldeutsch anzusehen; jedenfalls setzte eine Entscheidung in der Kontroverse: westmitteldeutsch – ostmitteldeutsch eine nochmalige Prüfung aller Argumente voraus und wie auch eine Reflexion des Methodeninstrumentariums.126 Eine mittelalterliche Literaturgeschichte Thüringens kann Hartmann also nicht zu ihrem festen Bestand rechnen.127 Dieser Befund deckt sich sehr genau mit der knappen Formulierung, mit der schon Friedrich
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Vgl. Hermann Paul: Mittelhochdeutsche Grammatik. 25. Auflage neu bearb. von Thomas Klein, Hans-Joachim Solms und Klaus-Peter Wegera. Mit einer Syntax von Ingeborg Schröbler, neu bearb. und erweitert von Heinz-Peter Prell. Tübingen 2007 (Sammlung kurzer Grammatiken germ. Dialekte. A. Hauptreihe 2), § E 6. Vgl. Josef Brüch: Zur Sprache der Rede vom Glauben des armen Hartmann. Lautlehre, Formenlehre und Wortschatz nach den Reimen. Mit einem Anhang: Zur Sprache des Schreibers. Prag 1910 (Prager deutsche Studien 17). Als Hauptargument führte Brüch § 16 die Bindungen von Infinitiv und Wörtern ohne n an, sodann Bindungen des Typs êre : scînbære. Michels (Anm. 11), S. 33, rechnete die ‚Rede vom Glauben‘ unter Berufung auf Brüch zu den thüringisch-obersächsischen Denkmälern. Kritik an Brüch übte neben Schröder besonders Gerhard Thiele: Zu Hartmanns Credo. In: ZfdA 77 (1940), S. 64–65. Die Argumentation von Thiele (Anm. 125) mit den Sprachgrenzen des Deutschen Sprachatlas von 1900 ist bei einem Text aus der Mitte des 12. Jh. nicht unbedenklich. Ähnlich Wolf (I, 34), S. 190: „Einige wortgeographische Kriterien des Denkmals weisen auf Thüringen, die Lautverhältnisse finden ihre nächste Entsprechung in der rezenten Mundart des Raumes Mühlhausen-Langensalza. Man vermutet somit in Hartmann einen gebürtigen Thüringer, der später am Mittelrhein tätig wurde, wo er rheinische Dichtungen kennenlernte.“ Auch die Vermutung, Hartmann habe am Mittelrhein rheinische Formen in seine Sprache aufgenommen, bleibt hypothetisch. Beck (Anm. 68), S. 23, bestimmte die Sprache des Textes als westmitteldeutsch. Zur Überlieferung der ‚Rede vom Glauben‘ vgl. auch Christoph Mackert: Eine Schriftprobe aus der verbrannten ‚Straßburg-Molsheimer Handschrift‘. In: ZfdA 130 (2001), S. 143–165. In den bisherigen literarhistorischen Abrissen ist das Problem durchaus gesehen. Schröder (Anm. I, 22), S. 4, rechnete die ‚Rede vom Glauben‘ zu den literarischen Erzeugnissen Thüringens, betonte jedoch die „eigenartige sprachliche Zwiespältigkeit, welche die ältesten Dichtungen unseres Gebietes“ charakterisiere. Die Anm. 126 zitierte Charakteristik Wolfs bestimmt lediglich Hartmann als Thüringer, lässt aber offen, ob er die ‚Rede vom Glauben‘ in Thüringen dichtete oder ob diese in seine vermutete spätere Schaffenszeit „am Mittelrhein“ (von der wir freilich nichts wissen) falle.
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Vogt den Dichter in seiner Literaturgeschichte charakterisierte: „ein mitteldeutscher, vielleicht thüringischer Geistlicher“.128 Von den bisher genannten Werken, die überwiegend anonym und nur in Bruchstücken erhalten sind, sodass ihre sprachliche Verbindung mit Thüringen oft fraglich bleibt, unterscheidet sich das folgende darin, dass wir – was nur bei wenigen Dichtungen der Zeit der Fall ist – den Verfasser, den Auftraggeber und den Entstehungsort kennen, sodass an seiner Zugehörigkeit zur Literatur Thüringens kein Zweifel besteht. Die Literaturgeschichte hat das um 1170/80 entstandene, titellos überlieferte Werk ‚Tugendlehre‘ benannt. Wir haben es mit einem didaktischen Werk zu tun, das, wie im Mittelalter üblich, in Versen verfasst ist, mit einem Lehrgedicht in Form einer Rede. Wernher belehrt über Gerechtigkeit, Freigebigkeit und Frömmigkeit, über das Verhalten im Krieg, er mahnt zu Beständigkeit und Maßhalten in allen Dingen, und zu seinen Themen gehört auch die Hofkritik. Unsere biographische Kenntnis setzt bei den Angaben des Prologs an. Dort heißt es: daz dichtet der phaphe Wernere, von Elmindorf der capelan, vnd hatez durch daz getan, wandez ane gebot vnde bat der probist von Heligenstat, von Elmindorf her Diterich.129
Gegenüber der weithin anonymen geistlichen Literatur der frühmittelhochdeutschen Epoche stellt die Selbstnennung des Dichters in der 3. Person ein Novum dar. Gewöhnlich sieht man darin den Ausdruck eines gewachsenen dichterischen Selbstbewusstseins, das sich aus einer neuen Wertschätzung der Dichtung durch das Publikum speiste.130 Wernher teilt uns auch seinen Stand mit: Er ist phaphe, Geistlicher, wie der Pfaffe Lambrecht, der Dichter des ersten deutschen Alexanderromans, und der des deutschen ‚Rolandslieds‘.131 Dieser Begriff lässt den Rang in der kirchlichen Hierarchie offen, doch betont der Verfasser selbst seinen Bildungsstatus: Als phaphe ist er lateinisch gebildet (clericus), und das legitimiert ihn zu seiner schriftstellerischen Tätigkeit, um so 128
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Friedrich Vogt: Geschichte der mittelhochdeutschen Literatur. I. Teil. Frühmittelhochdeutsche Zeit. Blütezeit I. Das höfische Epos bis auf Gottfried von Straßburg. 3., umgearb. Aufl. Berlin, Leipzig 1922 (Grundriß der deutschen Literaturgeschichte 2), S. 24. Ed.: Wernher von Elmendorf. Unter Mitarbeit von Udo Gerdes, Joachim Heinzle und Gerhard Spellerberg hg. von Joachim Bumke. Tübingen 1974 (ATB 77), hier v. 8–13. Vgl. Curtius (Anm. II, 7), S. 503–505; Joachim Bumke: Geschichte der deutschen Literatur im hohen Mittelalter. 4. Aufl. München 2000 (dtv 30778), S. 44. f. Zu „Pfaffe“ vgl. Hans Eggers: Deutsche Sprachgeschichte. Bd. 1. Das Althochdeutsche und das Mittelhochdeutsche. Reinbek 1986 (Rowohlts Enzyklopädie 425), S. 127 u. 150.
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mehr, als es sich bei seinem Lehrgedicht um die freie Bearbeitung eines lateinischen Werks, des ‚Moralium dogma philosophorum‘, eines Hauptwerks der frühscholastischen Moralphilosophie, handelt. Den folgenden Versen ist zu entnehmen, dass Wernher als capelan im Kollegiatstift St. Martin im nordthüringischen Heiligenstadt wirkte, das zum Erzbistum Mainz gehörte.132 Dem Autorentyp nach ist er also dem armen Hartmann vergleichbar.133 Wernhers Herkunftsangabe von Elmindorf ist seit dem 19. Jahrhundert kontrovers diskutiert worden und ein bis heute nicht restlos geklärtes Problem. Wernher verfasste sein Lehrgedicht, wie er selbst mitteilt, in Heiligenstadt, nahe der niederdeutschen Sprachgrenze zwar, aber doch am nordwestlichen Rand Thüringens und damit im mitteldeutschen Sprachraum. Dazu stimmt auch die im Wesentlichen mitteldeutsche Schreibsprache, in der die ‚Tugendlehre‘ überliefert ist. Doch 1886 identifizierte man das im Prolog zweimal erwähnte Elmindorf mit dem Ort Elmendorf im oldenburgischen Ammerland und erklärte den Dichter zum Angehörigen eines dort ansässigen Ministerialengeschlechts.134 Gegen diese Lokalisierung, die bald in die Handbücher einging,135 wurde der Einwand erhoben, dass ein entsprechendes Geschlecht nicht nachweisbar sei. Schwerer noch wiegt jedoch der Umstand, dass in der Zeit, der die ‚Tugendlehre‘ angehört, das Mittelniederdeutsche noch keine Literatursprache war und der Autor für eine niederdeutsche Dichtung schwerlich ein Publikum gefunden hätte.136 Wenn Wernher auch keinem oldenburgischen Ministerialengeschlecht angehörte, war doch der Hinweis auf jenes Elmendorf grundsätzlich richtig. Martin Last gelang nämlich der Nachweis, dass ein Zweig des dort ansässigen edelfreien Geschlechts von Elmendorf in Ampfurth b. Wanzleben saß, über eine Burg und weit verstreute Besitzungen verfügte und mehrfach Mitglieder in die vornehmsten geistlichen Konvente der Gegend, so in die Domstifter von Magdeburg und Halberstadt,
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Mhd. capelan von lat. capellanus meint hier nicht den Hofgeistlichen am Königshof, sondern den Stiftsgeistlichen. Vgl. Josef Fleckenstein: Kapellan. In: LexMA, Bd. 5 (1991), Sp. 930. Zum Anteil der Geistlichen an der Genese der höfischen Literatur vgl. Timo ReuvekampFelber: Volkssprache zwischen Stift und Hof. Hofgeistliche in Literatur und Gesellschaft des 12. und 13. Jahrhunderts. Köln, Weimar, Wien 2003 (Kölner german. Studien. NF 12). Vgl. Heinrich V. Sauerland: Wernher von Elmendorf. In: ZfdA 30 (1886), S. 1–58. Für Helmut de Boor: Die höfische Literatur. Vorbereitung, Blüte, Ausklang 1170–1250. 11. Aufl. Bearb. von Ursula Hennig. München 1991 (Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart II), S. 371, war Wernher ein „Niederdeutscher“, der in „einer niederdeutsch eingefärbten thüringischen Sprache“ dichtete. Mit Blick auf das letzte Viertel des 12. Jh. konstatierte der Historiker Martin Lintzel: Die Mäzene der deutschen Literatur im 12. und 13. Jahrhundert. In: Literarisches Mäzenatentum. Ausgewählte Forschungen zur Rolle des Gönners und Auftraggebers in der mittelalterlichen Literatur. Hg. von Joachim Bumke. Darmstadt 1982 (WdF 598), S. 33–67, hier 42: „Sachsen war und blieb literarisch tot.“
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entsandte.137 Mit dieser Familie von Ampfurth/Elmendorf wird man, auch wenn nicht alle der von Last angenommenen genealogischen Beziehungen beweisbar sind,138 den Dichter Wernher und seinen Auftraggeber Dietrich verbinden dürfen. Für das Jahr 1168 ist ein Theodericus de Elmendorp als Kanoniker des Magdeburger Domstifts in der Zeugenreihe einer von Erzbischof Wichmann ausgestellten Urkunde nachgewiesen. Manches spricht für seine Identität mit einem prepositus in Helegenstadt Theodericus, der als Zeuge in einer Urkunde erscheint, die Erzbischof Christian I. von Mainz 1171 in Fritzlar ausstellte.139 Ist das richtig, wäre Dietrich aus der Magdeburger in die Mainzer Diözese übergetreten, um in Heiligenstadt das Amt des Propstes und damit zugleich das des Archidiakons zu übernehmen. Beweisen lässt sich das ebensowenig wie Lasts Vermutung, die mutmaßlichen Brüder Dietrich und Wernher hätten ihre geistliche Laufbahn direkt vom Oldenburgischen aus angetreten. Dahingestellt bleiben muss auch die Identifizierung des Dichters mit einem Wernerus sacerdos et capellanus, der 1187 in der Umgebung des Halberstädter Bischofs Dietrich von Krosigk (1181–1193) nachweisbar ist.140 Lasts Nachweisungen haben die Forschung zweifellos bereichert. Folgt man seinen Schlüssen, waren Dietrich und Wernher von Elmendorf Angehörige eines namhaften mitteldeutschen Adelsgeschlechts, das seit 1144 im Raum Magdeburg – Halberstadt urkundlich bezeugt ist. Für die Sprache des Dichters ergäbe sich, dass die im nordthüringischen Heiligenstadt übliche Schreibsprache nicht mit der Sprache seiner Heimat identisch wäre.141 Lasts Hinweise auf die Burg Ampfurth und den Magdeburg-Halberstädter Raum fallen allerdings quellenbedingt etwas
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Vgl. Martin Last: Die Herkunft des Wernher von Elmendorf. In: ZfdPh 89 (1970), S. 404–418. Last, S. 410, charakterisierte die Familie als „eine der führenden Adelsfamilien des Halberstädter-Magdeburger Raumes“. Zur Burg Ampfurth vgl. Hermann Wäscher: Feudalburgen in den Bezirken Halle und Magdeburg. Textband. Berlin 1962, S. 37; Provinz Sachsen Anhalt. Hg. von Berent Schwineköper. 2., überarb. und ergänzte Aufl. Stuttgart 1987 (Handbuch der historischen Stätten Deutschlands 11), S. 15 f. Etwa die Annahme von Last (Anm. 137), S. 414, Wernher und Dietrich seien Brüder gewesen, und die, dass sie „wohl die Burg in Ampfurth nicht mehr bewohnt, sondern von der Burg in Elmendorf aus direkt ihre geistliche Laufbahn angetreten“ (S. 415) hätten. Vgl. Last (Anm. 137), S. 412. Für die Identifizierung der beiden Geistlichen könnte sprechen, dass der Erstgenannte auch in mehreren Urkunden zwischen 1156 und 1171 ohne Herkunftsbezeichnung auftritt und eben in dem Jahr aus der Magdeburger Urkundenüberlieferung ausscheidet, in dem er als Heiligenstädter Propst bezeugt ist. Vgl. Urkundenbuch des Hochstifts Halberstadt und seiner Bischöfe. Hg. von Gustav Schmidt. Bd. I. Leipzig 1883 (Publikationen aus den K. Preußischen Staatsarchiven 17), Nr. 320. Last (Anm. 137), S. 414, räumte ein: „Diese Identität läßt sich naturgemäß nicht zwingend erweisen [...].“ Last (Anm. 137), S. 415, suchte Wernher sprachlich in die Nähe Eikes von Repgow zu rücken.
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II. FRÜHZEIT
zurückhaltend aus.142 Was endlich den geistlichen Vorgesetzten und hypothetischen Bruder des Dichters, den Propst Dietrich, angeht, wäre zu bedenken, dass der Erzbischof dieses Amt meist Mainzer Domherren übertrug.143 Wernher verfasste also sein Gedicht, wie aus den zitierten Prologversen hervorgeht, in Heiligenstadt im Auftrag seines Propstes. Diese Autor-GönnerBeziehung ist ungewöhnlich, gilt doch als entscheidendes Charakteristikum des Literaturbetriebs im späteren 12. Jahrhundert gerade dessen Verlagerung vom Kloster an den Hof, weshalb man die Literatur jener Zeit als höfische bezeichnet, und tatsächlich sind im folgenden halben Jahrhundert von Laienfürsten in Auftrag gegebene Werke die Regel. Diese Konstellation ist um so auffälliger, als vieles dafür spricht, dass Wernher seine Verhaltenslehre für ein adliges Publikum, einen höfischen Adressaten verfasste. Doch ein solcher wird nicht genannt; stattdessen beruft der capelan (Stiftsgeistliche) sich ausdrücklich auf den Auftrag, den ihm sein „probist“ und d. h. zugleich auch der amtliche Vertreter des Erzbischofs, erteilte: „da zcu demuteget her sich / vnd liz mich in sinen buchen / di selbe re++e suchen“ (v. 14–16)144 Wernher ist offenkundig bemüht, alle Verantwortung für sein literarisches Werk auf den kirchlichen Vorgesetzten zu lenken, den literarischen Auftrag selbst wie die Auswahl der Vorlage. Warum, wird klar, wenn er in den folgenden Versen erklärt, seine „vrkunde“ (Vorlage) sei zwar eine verlässliche, doch paganen Ursprungs („heyden“, v. 21).145 Zu den bildungsgeschichtlichen Signaturen des Jahrhunderts gehörte eine Intensivierung der Rezeption antiker auctores und antiker Wissenschaft, die besonders an den französischen Kathedral- und Stiftsschulen zu beobachten ist, sodass man von einer „Renaissance des 12. Jahrhunderts“ sprechen konnte und – speziell im Blick auf die lateinische Literatur – von einem „ovidianischen Zeitalter“ (aetas ovidiana). Gleichwohl blieb die heidnische Literatur des Altertums für das Mittelalter grundsätzlich ein ambivalenter Wissensbestand: wohl erwies sie sich als unentbehrlich, doch ließ sie sich nicht umstandslos rezipieren. Bereits Augustinus hatte als Rezeptionsstrategie empfohlen, der Christ solle sich der in jenen Büchern enthaltenen Reichtümer bedienen, indem er ihnen das Nützliche, also zur Verkündung der frohen Botschaft Geeignete und nur dieses entnehme. Auf dem Hintergrund dieser Konstellation verlieren die zitierten Prologverse einiges
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Die Annahme Lasts, Dietrich und Wernher hätten sich direkt vom oldenburgischen Elmendorf nach Magdeburg bzw. Heiligenstadt gewandt, und sein Hinweis auf den Ampfurther Zweig des Geschlechts werden argumentativ nicht hinreichend zusammengeführt. Vgl. Bernhard Opfermann: Die Klöster des Eichsfeldes in ihrer Geschichte. Die Ergebnisse der Forschung. 3., bearb. und erweiterte Aufl. Heiligenstadt 1998, S. 19–45. Übers.: „Er ließ sich dazu herab und gestattete mir, in seiner Bibliothek das Material für dieses Gedicht ausfindig zu machen.“ Vgl. Curtius (Anm. II, 7), S. 93–95.
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von ihrer Auffälligkeit, zielen sie doch offenbar auf die Legitimation des literarischen Unternehmens. Das von Wernher deutsch adaptierte ‚Moralium dogma philosophorum‘ (‚Lehre der Moralphilosophen‘) ist ein moralphilosophisches Kompendium, das im nördlichen Frankreich entstand und nach Ausweis der über ganz Europa verstreuten Handschriften große Beliebtheit erlangte.146 Es handelt sich um ein Florilegium aus antiken Schriftstellern, kohärent werden Hunderte von Zitaten aneinandergereiht mit dem Ziel, die antike Ethik, besonders die Tugendlehre, in Definitionen und Distinktionen konzise darstellen. Die Zitate stammen aus den lateinischen Schulautoren sowie aus Macrobius, Seneca und zumal aus Cicero. Stoff, Disposition und Argumentationsgang ergaben sich aus der Quelle der Schrift, der in drei Bücher gegliederten moralphilosophischen Abhandlung Ciceros ‚De officiis‘, demjenigen seiner Werke, das am stärksten auf die Nachwelt wirkte und im 12. Jahrhundert zu den nützlichsten Schriften gerechnet wurde.147 Schon im 19. Jahrhundert interessierte man sich für Wernhers Lehrgedicht als ein Zeugnis der damaligen Antikerezeption und sah, dass es in der Hauptsache antike Autoren kompiliert, während biblische und patristische Autoritäten nur eine geringe Rolle spielten. Schröder nannte es „eine Bestätigung der christlichen Moral aus heidnischen Schriftstellern“.148 Tatsächlich handelt es sich bei Wernhers Gewährsleuten fast ausnahmslos um römische Autoren wie Seneca, Horaz, Cicero, Sallust und Lucan, während Hinweise auf den biblischen König Salomon die Ausnahme bleiben.149 Viele Abschnitte beginnen mit einer formelhaften Quellenangabe: „dez warnit dich alsus / der wise man Salustius“ (v. 75 f.) oder: „ouch wil ich dich lerin, / waz Seneca sprichit von den richterin“ (v. 271 f.). Wernhers Verfahren ist also 146
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Das Kompendium war seit dem 12. Jh. anonym und unter Titeln wie ‚De honesto et utile‘ verbreitet. Seit dem 14. Jh. wurde es Autoritäten wie Wilhelm von Conches und Walther von Châtillon zugeschrieben. Die genaue Entstehungszeit ist unbekannt. Die Angabe „vor 1170–80“ bei Franz Bezner: ‚Moralium dogma philosophorum‘. In: VL, Bd. 11 (2004), Sp. 1012–1016, hier 1012, lässt offen, in welchem zeitlichen Abstand vom Original die Adaptation Wernhers entstand. Vgl. auch Wolfgang Heinemann: Zur Ständedidaxe in der deutschen Literatur des 13.–15. Jahrhunderts. In: PBB (H) 92 (1970), S. 388–391. Cicero befasst sich im 1. Buch mit dem Sittlich-Guten (honestum), im 2. mit dem Nützlichen (utile) und den daraus folgenden Pflichten, im 3. mit dem Verhältnis zwischen honestum und utile. Er sucht die vier Kardinaltugenden Einsicht, Gerechtigkeit, Tapferkeit und Selbstbeherrschung in Regeln für das alltägliche Verhalten eines vornehmen Manns zu übertragen. Dabei vertritt er die These, dass das Nützliche zugleich das Sittliche sei. Den größten Nutzen verdanke der Mensch der Mitmenschlichkeit, indem er sich wohltätig, freigebig, hilfsbereit und bereit zu praktischem Beistand zeige. So könne es keinen Konflikt zwischen Sittlichem und Nützlichem geben; trete ein solcher auf, sei es ein nur scheinbarer. Schröder (Anm. I, 22), S. 4. 46 der 49 Berufungen Wernhers auf Autoritäten entfallen auf antike Schriftsteller. In der Berliner Handschrift (s. u.) sind sie am Rand lateinisch wiedergegeben.
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grundsätzlich ein kompilatorisches.150 Obwohl er seine Quelle trotz mancher Kürzungen im Wesentlichen wiedergibt, teils frei, teils in enger Anlehnung an deren Wortlaut, unterscheidet sich seine Adaptation erheblich von dem lateinischen Moraltraktat. Dieser besitzt einen systematischen Aufbau, der sich an den vier Kardinaltugenden orientiert, denen wiederum bestimmte Tugenden untergeordnet sind und der vom Allgemeinen ausgehend konkrete Beispiele anführt. Wernher war weniger an der Systematik und den Definitionen des ‚Moralium dogma philosophorum‘ interessiert als an dessen praktischem Gehalt, den ableitbaren praktischen Verhaltensweisen.151 Insofern berührt die ‚Tugendlehre‘ sich mit den Fürstenspiegeln und den späteren Lehrgedichten Rothes. Die Tugend der liberalitas ist für Wernher nicht in ihrem Verhältnis zur iustitia wichtig, sondern allein als höfische Tugend, zumal als Herrschertugend der Freigebigkeit, mhd. „milte“.152 Dem Adelsattribut der Großzügigkeit widmet Wernher fast ein Viertel des Werks. Als Grundgedanken formuliert er, man solle ungebeten geben, um dem Bittenden die Scham zu ersparen. Manic man bitet durch not vnd wirt zu hant von scamen rot. dar an tut er wol schin: her liez ez gerne, mochtes sin. o wi selicliche er tete, der deme gebe, e dan her bete, daz her dez schamin erlazen were; sone weiz ich keine gabe so danc bere.153
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Drei Jahrhunderte nach Wernher verfasste der fränkische Adlige Albrecht von Eyb nach dem Studium in Erfurt (1436–1448), dem langjährige Studien an mehreren italienischen Universitäten folgten, ein Laienkompendium, das, 1472 als ‚Ehebüchlein‘ gedruckt, vorgibt, dem Mann Orientierungshilfe bei Beantwortung der Frage zu geben, ob er eine Frau nehmen solle oder nicht. Das Verfahren des Bamberger Kanonikers ist grundsätzlich dasselbe wie das des Heiligenstädter Kanonikers: Beide Werke reihen durch Zwischentexte verbundene loci communes aus antiken Schriftstellern aneinander, und beide waren geeignet, dem, der an den antiken Autoren interessiert war, aber weder über die entsprechende Bibliothek noch über Lateinkenntnisse verfügte, einen Einblick in die antike Gedankenwelt zu eröffnen. Im Unterschied zur ‚Tugendlehre‘ wurde das ‚Ehebüchlein‘ ein Erfolg. Ohne erkennbare Gliederung belehrt Wernher über die Wahl der richtigen Ratgeber, über Gerechtigkeit, Freigebigkeit und Frömmigkeit, gibt Anweisungen zum Verhalten im Krieg und mahnt zu Beständigkeit und zum Maßhalten in allen Lebenssituationen. Wernher stellt die Entsprechung der liberalitas, die höfische Tugend der milte, neben, ja über die iustitia. Nach Joachim Bumke: Die Auflösung des Tugendsystems bei Wernher von Elmendorf. In: ZfdA 88 (1957/58), S. 39–54, hier 44, hat Wernher „die Tugenden aus ihrer Verschachtelung gelöst und damit das ganze System der Quelle ins Wanken gebracht“. V. 337–344. Übers.: „Viele bitten, weil sie sich in einer Notlage befinden, und erröten (wenn sie ihre Bitte vorbringen) sogleich vor Scham. Damit offenbaren sie nur, dass sie die Bitte gern unterließen, wäre es ihnen möglich. Oh, wie glücklich handelte derjenige, der
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Wernhers Gedicht ist nicht sonderlich gut überliefert. Wir besitzen zwei Handschriften, die beide nicht das Original repräsentieren und einen titellosen Text bieten.154 Die Klosterneuburger Handschrift (A) ist eine Sammelhandschrift wohl aus der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts, die in zwei Teilen verschiedene lateinische Traktate und Übersetzungen vereint. Der in einem gemäßigten Mitteldeutsch von einer Hand geschriebene Text ist nicht ganz vollständig, er bricht bei v. 1209 mitten im Satz ab, sodass der Schluss von vielleicht 100 Versen fehlt. Er gibt sich als überaus flüchtige Abschrift einer Vorlage zu erkennen. Die Berliner Fragmente (B), zwei Pergament-Doppelblätter aus einem Codex, der noch dem 12. Jahrhundert angehören könnte, bieten einen nahezu fehlerlosen Text, einen weit besseren als A, überliefern allerdings mit 130 Versen nur etwa ein Zehntel des Werks. Der Text weist eine Kapitelgliederung auf. Eine Besonderheit sind die Nachweise der klassischen Autoren am Rand, die von subtiler Textkenntnis zeugen und wohl von Wernher stammen.155 Die nordmitteldeutsche Schreibsprache der Fragmente dürfte mit der Sprache Wernhers wo gut wie identisch sein. Man nimmt an, dass die Handschrift, aus der die Fragmente stammen, in unmittelbarer Nähe des Dichters, vielleicht unter seiner Aufsicht angefertigt wurde. Dass Wernher das moralphilosophische Florilegium nicht für seine Heiligenstädter Mitkonventualen bearbeitete, ergibt sich schon aus der Wahl der Volkssprache.156 Die bereits von Scherer beobachtete Betonung praktischer, zumal ritterlicher Verhaltensnormen hat immer wieder zu der Vermutung Anlass gegeben, die ‚Tugendlehre‘ sei für junge Adlige, vielleicht für einen angehenden Fürsten bestimmt gewesen. Im Stift entstanden und dem Prolog zufolge von dessen Propst initiiert, wäre sie gleichwohl für einen weltlichen Hof berechnet gewesen.157 Natürlich ist der Gedanke verlockend, es könnte sich dabei um den Thüringer Landgrafenhof und vielleicht gar um einen konkreten Erziehungsauftrag gehandelt haben.158 Doch fehlt es an Anhaltspunkten, eine solche Vermutung abzusichern. Es wird daher dabei bleiben
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gäbe, ehe der Bedürftige ihn gebeten hätte, womit er ihm die Scham ersparte. Ich weiß von keiner Gabe, die verdienstlicher wäre.“ Vgl. Wernher von Elmendorf (Anm. 129), S. XII–XXII. Vgl. Joachim Bumke: Zur Überlieferung Wernhers von Elmendorf. Die alten Fragmente. In: Festgabe für Ulrich Pretzel. Zum 65. Geburtstag dargebracht von Freunden und Schülern. Hg. von Werner Simon, Wolfgang Bachofer, Wolfgang Dittmann. Berlin 1963, S. 33–42, hier 41 f. Vgl. auch Hellgardt (Anm. 96), S. 66, Nr. 160. Die Tatsache, dass Wernher das ‚Moralium dogma philosophorum‘ um 1170/80 in einer bereits interpolierten Fassung benutzte, lässt vermuten, dass das Heiligenstädter Stift wahrscheinlich über Mainz gute Kontakte nach Westen, bis in die Romania besaß. Vgl. Joachim Bumke: Wernher von Elmendorf. In: VL, Bd. 10 (1999), Sp. 925–927. Den „Thüringer Hof“ erwog Joachim Bumke: Höfische Kultur. Literatur und Gesellschaft im hohen Mittelalter. München 1986, S. 663. Vgl. auch Bumke (Anm. 130), S. 92.
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II. FRÜHZEIT
müssen, den Beginn des Literaturbetriebs am Landgrafenhof in die 80er Jahre des 12. Jahrhunderts zu setzen. Nach allem, was wir wissen, hat Wernhers Schrift kaum gewirkt. Immerhin bezeugt die Klosterneuburger Handschrift, dass sie noch im 14. Jahrhundert so interessant war, dass man eine Abschrift von ihr fertigte. Ansonsten scheint die volkssprachige Herrenlehre im Gegensatz zu ihrer lateinischen Vorlage keine Verbreitung erlangt zu haben, jedenfalls ist ihre Kenntnis bei keinem zeitgenössischen oder späteren Dichter sicher nachweisbar. Das besagt nichts über das Können des Dichters und auch nichts über das Urteilsvermögen seines Propstes, der die Bearbeitung des Florilegs veranlasste. Doch offenbar waren die christlich-antiken Wertvorstellungen der ‚Tugendlehre‘ andere als jene, an denen das intendierte Publikum interessiert war – ähnlich sollte es einige Jahrzehnte später dem Halberstädter Geistlichen Albrecht mit seiner Bearbeitung der Ovidschen ‚Metamorphosen‘ gehen. Bedenkt man, dass Wernher seine ‚Tugendlehre‘ fast zeitgleich mit Veldekes Eneasroman verfasste, dessen überwältigende Wirkung wahrscheinlich auf der neuartigen Darstellung der höfischen Liebe beruhte, können die wenigen Verse, die der Heiligenstädter Kaplan der Liebe widmet – eine Warung vor „tummir minne“ (unvernünftiger Liebe, v. 439) – kaum als eine zeitgemäße Behandlung des Themas Liebe gelten.159 Interesse zog die ‚Tugendlehre‘ erst wieder in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts auf sich, als der Germanist Ehrismann in einem großen Aufsatz die Auffassung entwickelte, die höfische Gesellschaft habe ein „ritterliches Tugendsystem“ besessen, das im Wesentlichen auf die antike Tugendlehre zurückgehe, wie man sie in Ciceros Schrift ‚De officiis‘ greift.160 Diese Auffassung erlangte durch seine mehrbändige Literaturgeschichte weite Verbreitung, erfuhr jedoch 1943 scharfe Kritik durch den Romanisten Curtius, der es nicht bei der Richtigstellung sachlicher Fehler beließ, sondern scharfe Angriffe gegen die Mittelaltergermanistik richtete, der er u. a. methodologische Defizienz vorwarf. Was das ritterliche Tugendsystem angehe (so Curtius sarkastisch), scheine dies „in dem systematischen Mißbrauch einer eigens zu diesem Zweck erfundenen Terminologie zu bestehen.“161 Zur Klärung der Probleme hat diese Polemik freilich wenig beigetragen.162 Mit Wernher von Elmendorf sind wir unmittelbar an die Schwelle jenes Zeitabschnitts gelangt, dem die mittelalterliche Literatur Thüringens ihren 159 160
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Vgl. v. 439–470, dazu auch den Stellenkommentar der Ausgabe (Anm. 129), S. 60. Gustav Ehrismann: Die Grundlagen des ritterlichen Tugendsystems. In: ZfdA 56 (1919), S. 137–216. Wieder in: Ritterliches Tugendsystem. Hg. von Günter Eifler. Darmstadt 1970 (WdF 56), S. 1–84. Curtius (Anm. II, 7), S. 506–521, hier 512. Vgl. Bumke (Anm. 158), S. 416–419.
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Ruhm in erster Linie verdankt und der daher in den Handbüchern gewöhnlich entsprechende Aufmerksamkeit findet. Es ist dies die Zeit der höfischen Klassik, die in Thüringen im Wesentlichen mit der Regierungszeit Landgraf Hermanns I. zusammenfällt. Bevor sie behandelt wird, sei ein kurzer Rückblick erlaubt. Der Einsatz der höfischen Literatur in Thüringen in den letzten Jahrzehnten des 12. Jahrhunderts bestätigt zunächst die bekannte Tatsache, dass die von den Laienfürsten geförderte volkssprachige Literatur, die man die höfische nennt, sich vom Süden und Südwesten her allmählich in nördlicher und östlicher Richtung ausbreitete. Andere Regionen waren vorangegangen. Als in Thüringen die ersten Dichtungen entstanden, die ihren Bezugspunkt im Hof der Ludowinger hatten, waren Bayern und das Rheinland längst etablierte Literaturlandschaften, denkt man an Klöster wie St. Emmeram in Regensburg und Siegburg b. Bonn oder auch an städtische Zentren wie Regensburg und Köln, die als wirtschaftliche Zentren wie als Bischofssitze zugleich kulturelle und literarische Mittelpunkte bildeten. Thüringen ist mithin eine Literaturlandschaft jüngeren Alters. In der Förderung volkssprachiger Literatur durch die Fürsten gingen den Ludowingern die Welfen in Süddeutschland (AltdorfWeingarten, Regensburg) und in Sachsen (Braunschweig) voran, während in weiter östlich und nördlich von Thüringen gelegenen Territorien wie Meißen, Brandenburg, Pommern und Schlesien höfische Literatur, etwa Minnesang und Sangspruchdichtung, erst seit dem 13. Jahrhundert eine größere Rolle zu spielen beginnen. Die skizzierten Anfänge einer volkssprachigen Literatur in Thüringen entsprechen in vielem dem Bild, das die frühmittelhochdeutsche Literatur insgesamt bietet. Das gilt für die überwiegende Anonymität der Verfasser, die bruchstückhafte Überlieferung und die damit verbundenen Schwierigkeiten einer genaueren zeitlichen und sprachgeographischen Situierung der Texte. Eine zumindest umrisshafte Bilanz ist gleichwohl möglich. Wie die erhaltenen Textzeugen erkennen lassen, entwickelte sich im Lauf des 12. Jahrhunderts in Thüringen eine volkssprachige Literatur, deren Stoffe und Themen fast ausnahmslos geistliche sind. Auch das entspricht dem Gesamtbild der frühmittelhochdeutschen Literatur; zugleich aber zeichnet sich darin eine Korrespondenz mit der allgemeinen geistigen Entwicklung des Landes ab. Seit Ehrismann ist unumstritten, dass das Gedicht ‚Christus und Pilatus‘, das wahrscheinlich in den Zusammenhang der Passionsspiel-Tradition gehört, einen thüringischen Verfasser hat. Mit Thüringen darf man die durch die Leipziger Bruchstücke repräsentierte Psalmenübertragung verbinden (im 14. Jahrhundert ist dann ein Psalterium in mitteldeutscher Schreibsprache im Erfurter Peterskloster nachweisbar).163 Nach Thüringen weisen auch die Holzmindener 163
Vgl. Schöndorf (Anm. 99), S. 55, Nr. 5. Die Handschrift (dat. 1378) ist heute verschollen.
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Fragmente einer Perikopen-Verdeutschung. Auch die Sedulius-Bearbeitung könnte in Thüringen entstanden sein, und dasselbe gilt für die ‚Schleizer Psalmenfragmente‘. Psalmen, Perikopen, Passions- und Bibeldichtung ergeben ein stimmiges Bild, dem sich auch Hartmanns „rede“ über das Glaubensbekenntnis gut einpassen würde, sofern sie in Thüringen sicher lokalisierbar wäre. Augenfällig ist die Dominanz von Stoffen und Themen, die für Gottesdienst und Seelsorge unabdingbar waren. Als Verfasser kommen schon aus sprachlichen Gründen nur Geistliche in Frage, wobei es nicht entscheidend ist, ob man sie in monastischen oder in Kanonikerkreisen sucht oder, wie im Fall des armen Hartmann geschehen, an einen Konversen glauben will – die Überlieferungslage erlaubt ohnehin in keinem Fall nähere Festlegungen. Als Autorentyp wird der lateinisch geschulte Geistliche fassbar, der lateinische Vorlagen wie Psalter und Evangelien in der Volkssprache bearbeitet, paraphrasiert und der aus der Schule vertraute Übersetzungstechniken wie die Interlinearversion anwendet.164 Für den eigenen Bedarf können jene Werke nicht entstanden sein; als Adressaten der religiösen Unterweisung, der sie dienen sollten, kommen nur lateinunkundige Hörer und Leser in Frage, am ehesten adlige Laien. Alles in allem also eine Literatur, die im Umkreis von Kloster, Klosterschule und Kanonikerstift entsteht. Mit Wernher von Elmendorf scheint sich dann der Übergang vom Kloster zum Hof zu vollziehen, in dem die Literaturgeschichte oft das entscheidende Charakteristikum der literarischen Entwicklung seit der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts gesehen hat.165 Wernher verfasste sein Lehrgedicht – die erste gereimte Tugendlehre in deutscher Sprache – in einem Kollegiatstift, er fand dort unter den „buchen“ seines Vorgesetzten seine lateinische Vorlage, aber wenn wir den Text richtig verstehen, war er für Angehörige des Laienadels bestimmt. Schröder hat die Anfänge volkssprachiger Literatur in Thüringen in den Zusammenhang der Reform des benediktinischen Mönchtums gestellt und gemeint, jene Werke seien initiiert worden durch das Vordringen der rheinischen Zisterzienser und Prämonstratenser nach Osten, nach Thüringen und in die slavischen Gebiete.166 Wenngleich manches für diese These spricht, lässt sie sich doch in keinem einzigen Fall näher absichern.
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Interlinearversionen der Psalmen entstanden schon im frühen 9. Jh. Vgl. Schöndorf (Anm. 99), S. 149, Nr. 1. Bumke (Anm. 158), S. 627, kam von der Kanzleigeschichte her zu dem Ergebnis, „daß die Landgrafen bis nach der Mitte des 12. Jahrhunderts die Schreibstube ihres Hausklosters in Anspruch nahmen“. Zu den frühesten zisterziensischen Gründungen auf deutschem Boden gehört die 1136 von Bernhard von Clairvaux gegründete Abtei Eberbach im Rheingau.
III. Literatur im Umkreis des Landgrafenhofs
1. Antikendichtung und antikisierende Dichtung 1131 waren die Ludowinger, die sich von den im mittleren Maingebiet ansässigen Grafen von Rieneck abzweigten, von König Lothar III. für ihre entschiedene Gegnerschaft zum salischen Königtum mit der Landgrafenwürde belohnt worden. Mit dieser, im Reich bislang unbekannten, oberhalb des Grafentums anzusetzenden, aber nicht mit einem Herzogstitel verbundenen Rangstufe fiel ihnen die Führung im politisch zersplitterten thüringischen Raum zu. Der erste Landgraf, Ludwig I. († 1140), vollzog nach Lothars Tod den Übergang zu den Staufern. Die entscheidende Wende markierte die Heirat seines Sohns, Ludwigs II., mit Jutta, einer Halbschwester Kaiser Friedrichs I. Ihre Nähe zu den Staufern ermöglichte den Ludowingern den Aufstieg in den Kreis der vornehmsten Reichsfürsten. Dieses Interessenbündnis, das sich u. a. in einer intensiven Teilnahme an den staufischen Italien- und Kreuzzügen äußerte, bestand bis in die 40er Jahre des 13. Jahrhunderts. Über sieben Generationen haben die Ludowinger in dem thüringischhessischen Mittelgebirgsstreifen zwischen der Saale im Osten und der Lahn im Westen zunächst eine Adels-, dann eine Fürstenherrschaft ausgeübt. Ihre Politik war vor allem von drei Zielen bestimmt: der Erweiterung und dem Ausbau der Landgrafschaft durch Verbindung des Streubesitzes, d. h. der auseinanderliegenden Teile unter Rückgriff auf eine möglichst zahlreiche Ministerialität, der Durchsetzung der Lehnshoheit über die alteingesessenen Grafen- und Herrengeschlechter und der Durchsetzung des allgemeinen Landfriedens. Wenn sie diese Ziele auch nur partiell erreichten und wenn ihnen bei der territorialen Zusammenfassung des Besitzes wie beim Geltendmachen der Lehnsherrlichkeit, aber auch beim Durchsetzen des allgemeinen Landfriedens der letzte Erfolg versagt blieb, erlangten sie doch innerhalb nur weniger Generationen eine Vormachtstellung unter den Grafen Thüringens, die der Kaiser zu einer königlichen Stellvertreterschaft für ganz Thüringen zu erhöhen und damit zugleich die Ludowinger und Thüringen enger an das Königtum zu binden suchte. Seit 1180 auch im Besitz der Pfalzgrafschaft Sachsen, waren die Ludowinger die bedeutendste Macht im mitteldeutschen Raum.1 Mit der Landgrafschaft war ein neuer politischer Rahmen der Thuringia entstanden, der erstmals eine dauerhafte, erbliche und an die mächtigste 1
Die Pfalzgrafschaft Sachsen beschränkte sich damals im Wesentlichen auf das Gebiet zwischen Saale und unterer Unstrut (Hassegau). Vgl. Heinz-Dieter Starke: Die Pfalzgrafen von Sachsen bis zum Jahre 1088. In: Braunschweigisches Jb. 36 (1955), S. 24–52.
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III. LITERATUR IM UMKREIS DES LANDGRAFENHOFS
Familie gebundene Obergewalt für Thüringen darstellte und bis zum Aussterben der Dynastie im Mannesstamm 1247 von Bestand sein sollte. Der Literaturbetrieb am Landgrafenhof setzte im letzten Viertel des 12. Jahrhunderts unter Ludwig III. († 1190) ein. Unter seinem Bruder Hermann sollte der Thüringer Hof zum wichtigsten Zentrum der höfischen Dichtung aufsteigen. Die zentralen Gattungen, Stoffe und Darstellungsformen der seit 1100 in Frankreich entstehenden höfischen Dichtung: Chanson de geste (Heldenepik), Liebeslyrik, Antikenroman und Artusroman wurden im Abstand nur weniger Jahrzehnte auch im deutschen Sprachraum im Umkreis der weltlichen Fürstenhöfe rezipiert. Der Einsatz dieser Entwicklung ist nach der Jahrhundertmitte zu beobachten. Den Anfang machte um 1150/60 der Alexanderroman des moselfränkischen „Pfaffen“ Lambrecht, das erste höfische Epos auf romanischer Grundlage. Etwa zeitgleich setzte im bayerisch-österreichischen Donauraum mit den Strophen des Kürenbergers und anderer Lyriker Minnesang in deutscher Sprache ein. Um 1170 schuf der sich ebenfalls als „Pfaffe“ bezeichnende Kleriker Konrad im Auftrag Heinrichs des Löwen in Regensburg oder Braunschweig seine deutsche Bearbeitung der altfranzösischen ‚Chanson de Roland‘, und wieder ein Jahrzehnt später begründete Hartmann von Aue mit dem ‚Erec‘ die Tradition der Artusepik in der deutschen Literatur. Höfische Literatur im Umkreis der Ludowinger wird fassbar mit dem Eneasroman Heinrichs von Veldeke, der um 1185 abgeschlossen vorlag. Doch spricht einiges dafür, dass bereits ein Jahrzehnt früher am Landgrafenhof der Minnesang gepflegt wurde. Mehrere thüringische Urkunden, darunter eine, die Ludwig III. am 21. 12. 1174 in Siebleben für das Hauskloster Reinhardsbrunn ausstellte, nennen als Zeugen einen Hugo de Salza.2 Er könnte identisch sein mit jenem „reine[n] Hûg von Salzâ“ (v. 2445), den Heinrich von dem Türlin in seinem Artusroman ‚Diu Crône‘ (1230) in einem Katalog der berühmtesten Dichter der vergangenen Zeit im Anschluss an Minnesänger wie Dietmar von Aist und Ulrich von Gutenburg nennt.3 Hug von Salza wäre als namentlich bekannter Vertreter des frühen mitteldeutschen 2
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Vgl. Regesta diplomatica necnon epistolaria historiae Thuringiae. Bearb. u. hg. von Otto Dobenecker. Bd. 2 (1152–1227). Jena 1900, Nr. 491 (1174) und Nr. 2198 (vor 23. 3. 1225). „Jr soul vnd ir brvke, / Heinrich von Ruke / Vnd von Husen Fridereich, / Von Guotenburch Uolreich / Vnd der rein Haug von Saltza.“ Heinrich von dem Türlin. Die Krone (Verse 1–12281). Nach der Handschrift 2779 der Österreichischen Nationalbibliothek nach Vorarbeiten von Alfred Ebenbauer, Klaus Zatloukal u. Horst P. Pütz. Hg. von Fritz Peter Knapp u. Manuela Niesner. Tübingen 2000 (ATB 112), v. 2441–2445. Vgl. Günther Schweikle: Hug von Salza. In: VL, Bd. 4 (1983), Sp. 220. Es ist jedoch nur schwer vorstellbar, dass der vermutlich aus einem Bürgergeschlecht der Stadt St. Veit in Unterkärnten stammende Heinrich von dem Türlin neben so bekannten Minnelyrikern wie Hausen, Hartmann und Reinmar d. A. einen Thüringer Minnesänger genannt haben sollte, von dem wir keine einzige Zeile besitzen.
1. ANTIKENDICHTUNG
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Minnesangs zeitlich neben Veldeke und vor Heinrich von Morungen einzuordnen, allerdings ist kein einziger Vers von ihm erhalten. Heinrich von Veldeke gilt schon seit langem als eine literarische Gründerfigur, als Wegbereiter der klassisch-höfischen Dichtung, im Grunde seit dem „Literaturexkurs“, einer literaturkritischen Revue, die Gottfried von Straßburg seinem ‚Tristan‘ (1210) einfügte und in der er neben anderen Dichtern seiner Zeit den Minnesänger Veldeke, seine Bildung und seine sprachlich-formale Vollendung pries: „er inpfete daz êrste rîs / in tiutscher zungen: / dâ von sît este ersprungen, / von den die bluomen kâmen, / dâ sî die spæhe ûz nâmen /der meisterlîchen fünde.“4 Veldekes Hauptwerk, der Eneasroman, bezeugt den Eintritt des Landgrafenhofs in die deutsche Literaturgeschichte; Veldeke wurde rasch zum Vorbild für einen ganzen Kreis mitteldeutscher Dichter, und wie Gottfrieds Verse zeigen, galt er auch den höfischen Epikern der nächsten Generation in Süddeutschland als musterhaft. Veldekes Heimat – der Name deutet darauf hin – ist das alte Herzogtum Limburg; der Dichter stammt aus der Nähe von Hasselt im heutigen Belgien.5 Die Umstände, die ihn an den Hof der Ludowinger führten, waren alles andere als gewöhnlich, ja sie sind spektakulär und daher oft erzählt worden. Wenn manche Details auch nach wie vor Probleme bereiten, ist der Vorgang doch im Ganzen klar. Bekannt ist er aus dem Epilog des Romans. Dieser Epilog kann schlecht von Veldeke selbst verfasst worden sein, aber er verrät eine solche Vertrautheit mit Personen und Umständen, dass sein Wahrheitsgehalt noch nie in Zweifel gezogen wurde. Da er höchst aufschlussreich ist für die Genese der höfischen Literatur in Deutschland, zumal für die Datierung der klassisch-höfischen Epik, hat die ältere Forschung in ihm geradezu „ein Stück Fundament der klassischen mittelalterlichen Literaturgeschichte“ sehen wollen.6 Veldeke, so erfahren wir, wurde sein Manuskript des zu vier Fünfteln vorliegenden Werks anlässlich einer Fürstenhochzeit gestohlen; die Folge war eine mehrjährige Unterbrechung der Arbeit, die, ein nicht minder denkwürdiger Umstand, dadurch ein Ende fand, dass dem Dichter die Gelegenheit geboten wurde, das Werk in Thüringen abzuschließen. Die entscheidenden Verse lauten: 4
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„Er pfropfte das erste Reis in deutscher Sprache: Aus dem trieben später Äste, die Blüten trugen, und davon nahmen alle Späteren ihre Kunst und Meisterschaft.“ Gottfried von Strassburg. Tristan. Bd. 1. Text. Hg. von Karl Marold. Bd. 2. Übersetzung von Peter Knecht. Mit einer Einführung in das Werk von Tomas Tomasek. Berlin, New York 2004, v. 4736–4741. Vgl. Gabriele Schieb: Henric van Veldeken. Heinrich von Veldeke. Stuttgart 1965 (SM 42), S. 1 f. Theodor Frings u. Gabriele Schieb: Der Eneideepilog. In: Drei Veldekestudien. Berlin 1949 (Abh. der Deutschen Akad. d. Wiss. zu Berlin. Phil.-hist. Kl. Jg. 1947. Nr. 6), S. 23–74, hier 35.
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III. LITERATUR IM UMKREIS DES LANDGRAFENHOFS
her hete ein lange stunde daz mêrre teil getihtet, in tûsche berihtet, unz daz der hêre Ênêas frowen Lavînen brief gelas, und woldez vollebringen. do beleibz von einem dinge, her liez ez dorch einen zoren: her hete daz bûchelîn verloren. her liez ez einer frouwen ze lesene und ze schouwen, ê danne manz wol schreve, daz was diu grâvinne von Cleve [...]. dô si der lantgrâve nam, dô wart daz bûch ze Cleve verstolen einer frouwen, der ez was bevolen.
des wart diu grâvinne gram dem grâven Heinrîch, der ez nam unde ez dannen sande ze Doringen heim ze lande. dâ wart daz mâre dô gescriben anders dan obz im wâr bliben, daz mach man sagen vor wâr. sint was daz bûch niun jâr meister Heinrîche benomen, daz her dar nâch niht mohte komen, unz her quam ze Doringen in daz lant, dâ her den phalinzgrâven vant von Sassen, der im daz bûch liez unde ez in volmachen hiez: [...] dorch den phalenzgrâven Herman von der Nûwenborch bî der Unstrût.7
Der Epilog nennt Veldeke einen „meister“, der nach französischer Vorlage arbeitete („ûz der welsche“, v. 13431). Die Tatsache, dass es eine „vrouwe“ war, die sich die Handschrift erbat, bestätigt die Erkenntnis, dass die neue Dichtung besonders von weiblichen Angehörigen der höfischen Gesellschaft gefördert wurde.8 Ob man in der Gräfin von Kleve auch die Auftraggeberin des Werks sehen darf, ist nicht sicher. Möglich, dass sie das französische 7
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Ed.: Heinrich von Veldeke. Eneasroman. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch. Nach dem Text von Ludwig Ettmüller ins Neuhochdeutsche übersetzt, mit einem Stellenkommentar und einem Nachwort von Dieter Kartschoke. Stuttgart 1986 (RUB 8303), v. 13436–13477. Übers.: „Er hatte vor längerer Zeit schon den größeren Teil verfaßt und ins Deutsche übertragen, bis dorthin, wo Herr Eneas den Brief der Lavinia las, und wollte es vollenden. Es unterblieb aus einem bestimmten Grund. Er unterließ es wegen einer ärgerlichen Sache: Das Büchlein war ihm abhanden gekommen. Er hatte es einer Dame zu lesen und anzuschauen gegeben, ehe es vollständig geschrieben war. Das war die Gräfin von Kleve [...]. Als der Landgraf sie heiratete, wurde das Buch in Kleve einer Dame gestohlen, die es aufbewahren sollte. Deshalb erzürnte sich die Gräfin über den Grafen Heinrich, der es an sich genommen und weggeschickt hatte nach Thüringen, in seine Heimat. Dort wurde die Geschichte anders geschrieben, als wenn sie bei ihm geblieben wäre, das ist die volle Wahrheit. Danach blieb das Buch neun Jahre lang dem Magister Heinrich entzogen, so daß er es nicht wiedererlangen konnte, bis er nach Thüringen kam, wo er den Pfalzgrafen von Sachsen traf, der ihm das Buch überließ und ihm auftrug, es zu vollenden [...] für den Pfalzgrafen Hermann von der Neuenburg bei der Unstrut.“ Es ist bezeichnend, dass Chrétien de Troyes, der Begründer des höfischen Romans, seine erste Gönnerin in der Gräfin von Champagne fand. Vgl. John F. Benton: Der Hof von Champagne als literarisches Zentrum. In: Literariches Mäzenatentum (Anm. II, 136), S. 168–231.
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Manuskript beschaffte, das Veldeke benötigte. Dieses ist jedoch nicht mit dem entwendeten „bûchelîn“, dem deutschen Roman, zu verwechseln.9 Während der Epilog angibt, wie lange dem Dichter sein Manuskript entzogen war, verbinden sich mit der Hochzeit bis heute ungeklärte Fragen. In der älteren Forschung ist vielfach von „Margarete von Kleve“ die Rede,10 doch Veldeke nennt diesen Namen nicht. Es handelt sich hier um eine neuzeitliche Kontamination von Veldekes „grâvinne von Cleve“ mit dem Namen Margerete, der in thüringischen Geschichtsquellen des späteren Mittelalters wie der ‚Historia Pistoriana‘ und Johannes Rothes ‚Thüringischer Landeschronik‘ begegnet.11 Schwerer noch wiegt, dass jene Fürstenhochzeit historisch nicht bezeugt ist. Wir können sie nur ungefähr um 1175 ansetzen und vermuten, dass sie am Niederrhein, also nicht im ludowingischen Herrschaftsbereich, stattfand. Der Epilog lässt weitere Fragen offen. Während er den Weg des Dichters vom Niederrhein nach Thüringen erklärt, wissen wir nichts über seine Beziehung zu Hermann. Wodurch wurde der Pfalzgraf auf ihn aufmerksam, wo sind die beiden einander zuerst begegnet? In den Literaturgeschichten liest man mitunter von einer Berufung oder einer Einladung Veldekes an den pfalzgräflichen Hof.12 Der Epilog gibt diese Deutung kaum her, heißt es doch nur, dass Veldeke nach Thüringen „quam“ und mit Hermann zusammentraf.13
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Die von Theodor Frings geäußerte Vermutung, der Diebstahl habe der französischen Vorlage gegolten, ist kaum plausibel. Am zwanglosesten lässt sich annehmen, dass dem Dichter sein Arbeitsmanuskript entwendet wurde. Für sich steht Tina Sabine Weicker: „Dô wart daz bûch ze Cleve verstolen“. Neue Überlegungen zur Entstehung von Veldekes ‚Eneas‘. In: ZfdA 130 (2001), S. 1–18, hier 17, mit der These, „daß der Bericht über den Diebstahl des ‚Eneas‘-Manuskripts literarische Fiktion“ sei. Vgl. Manfred Lemmer: Die Neuenburg in Geschichte, Literatur und Kunst des hohen Mittelalters. Freyburg/U. 1993 (novum castrum 2), S. 23. In der Cronica Reinhardsbrunnensis. Hg. von Oswald Holder-Egger. Hannover 1896 (MGH. Scriptores XXX/1), S. 490–656, hier 539, 29 f., heißt es über die Ehe Landgraf Ludwigs III.: ducis Austrie filiam [...] duxit uxorem – „er nahm die Tochter eines Herzogs von Österreich zur Frau“. Vgl. Reinhard Hahn: „unz her quam ze Doringen in daz lant“. Zum Epilog von Veldekes Eneasroman und den Anfängen der höfischen Dichtung am Thüringer Landgrafenhof. In: Archiv 152 [237] (2000), S. 241–266, hier 244 f . „Landgraf Hermann hat Veldeke nach Thüringen berufen und hat die Vollendung der ‚Eneit‘ bewirkt.“ Bumke (Anm. II, 158), S. 122. „Da erging die Einladung an ihn, auf die Neuenburg an der Unstrut zu kommen, es [das Manuskript] wieder in Empfang zu nehmen und zu vollenden. Die Bitte kam von Pfalzgraf Hermann und seinem Bruder Friedrich.“ Lemmer (Anm. I, 33), S. 23. Zurückhaltender L. Peter Johnson: Vom hohen zum späten Mittelalter. Teil 1. Die höfische Literatur der Blütezeit (1160/70–1220/30). Tübingen 1999 (Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zum Beginn der Neuzeit II/1), S. 31: Veldeke „erhielt [...] sein Buch wieder, als er nach Thüringen kam, wo es ihm Hermann, der Pfalzgraf von Sachsen, zurückgab und ihn beauftragte, es zu vollenden“. Man darf die formelhafte Stelle freilich nicht pressen, die Bindung: lant : vant auch ‚Herzog Ernst‘ (B), v. 1045 f. Gesagt wird lediglich, dass Veldeke den pfalzgräflichen Hof aufsuchte.
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III. LITERATUR IM UMKREIS DES LANDGRAFENHOFS
War es ein offenes Geheimnis, in wessen Händen sich das Manuskript befand? Am plausibelsten scheint wohl die Annahme, dass Pfalzgraf und Dichter einander auf dem berühmten dreitägigen Hoffest Kaiser Friedrichs I. Barbarossa Pfingsten 1184 in Mainz begegnet sind, bei dem Minnesänger und Romanciers aus dem deutschen und dem französischen Sprachraum zugegen waren und von dem Veldeke in einer der beiden sogenannten Stauferpartien (v. 13221–13254) berichtet. Bei dieser Gelegenheit könnte in dem Ludowinger der Wunsch erwacht sein, sich gleich dem Kaiser oder einem Reichsfürsten wie dem Sachsenherzog Heinrich dem Löwen einen Namen als Förderer der modernen Dichtung zu machen. Veldeke dürfte damals bereits ein namhafter Minnesänger gewesen sein. Lässt man sich auf diese Annahme ein, ergibt sich für den Diebstahl das Datum 1175. Wie lange Veldeke brauchte, um seinen Roman dem pfalzgräflichen Auftrag gemäß zu „volmachen“, lässt sich nur schwer abschätzen. Hermann wird noch Pfalzgraf genannt, 1190 folgte er seinem Bruder in der Würde des Landgrafen; der Epilog entstand also vor diesem Zeitpunkt. 1186 bot sich Ludwig III. die Möglichkeit, die Witwe des dänischen Königs zu heiraten, worauf er sich von der Gräfin von Kleve mit der üblichen Begründung (angeblich) zu naher Verwandtschaft trennte. Nach 1186 hätte der Dichter oder der Verfasser der Epilogverse das Lob der Gräfin wohl zurückhaltender formuliert. Am Motiv des Diebs dagegen wird man kaum zweifeln können: Die Dichtung, von der er entweder schon gehört hatte oder die ihm anlässlich der Fürstenhochzeit bekannt geworden war, muss eine solche Anziehungskraft auf ihn ausgeübt haben, dass er sie gewaltsam an sich brachte.14 Eine andere, indes kaum zu beantwortende Frage ist die, warum das Manuskript dann lange Jahre verschollen blieb.15 Den im Epilog benannten „grâven Heinrîch, der ez nam“, identifiziert man mit dem Ludowinger Heinrich Raspe III. († 1180). Doch findet sein Name sich nur in den beiden oberdeutschen Handschriften Mw, während die drei mitteldeutschen Manuskripte HEG ausdrücklich einen „greben heinriche von swartzburg“ bzw. „von swartzburg greve heynrich“ 14
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„Daß ein Fürst zum Dieb wurde, um ein höfisches Epos in seinen Besitz zu bringen, beleuchtet die ungeheuere Faszination, die diese moderne Literatur auf den Laienadel ausgeübt haben muß.“ Joachim Bumke: Mäzene im Mittelalter. Die Gönner und Auftraggeber der höfischen Literatur in Deutschland 1150–1300. München 1979, S. 66. Auch nach Ursula Peters: Fürstenhof und höfische Dichtung. Der Hof Landgraf Hermanns von Thüringen als literarisches Zentrum. Konstanz 1981 (Konstanzer Universitätsreden 113), S. 15, macht der Vorgang „die Faszination deutlich, die die neue Romankunst aus Frankreich offenbar auf bestimmte Gruppen des deutschen Hochadels ausgeübt hat“. Johnson (Anm. 12), S. 252: „Man möchte [...] fragen, ob es wahrscheinlich ist, daß ein adliger Literaturfreund [...], dessen Begeisterung [...] ihn zum Diebstahl der Handschrift angetrieben hatte, das Werk dann einfach irgendwo in einem Schrank abschließen und liegenlassen würde?“
1. ANTIKENDICHTUNG
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nennen.16 Bei diesem ist an Graf Heinrich I. von Schwarzburg († 1184) zu denken, und damit sind nun auch andere als nur literarische Interessen zu berücksichtigen. Otto Behaghel hat die Vermutung geäußert, zwar lasse die bloße Nennung des Namens Heinrich nur an einen Ludowinger denken, doch werde „Heinrich von Schwarzburg“ durch Metrik und Überlieferung als Zusatz eines Kopisten erwiesen, der um die Feindschaft zwischen Ludowingern und Schwarzburgern gewusst habe.17 Das Interesse des deutschen Laienadels an Veldekes Roman begründet man mit dem gegenüber Vergil deutlich erweiterten Liebesgeschehen. Schon Scherer bemerkte: „Drei Liebespaare ziehen allen anderen voran über den Rhein und werden in Deutschland wie neue Heilige begrüßt: Flore und Blanscheflur, Tristan und Isolde, Äneas und Dido.“18 Neuere Interpreten betonen stärker das „dynastische Prinzip“ des Romans.19 Man muss freilich das methodische Problem sehen, dass wir das Interesse eines mittelalterlichen Publikums an einem literarischen Werk nur annähernd beurteilen können, und Veldekes Roman bietet eine nur schwer auflösbare Mischung von Mittelalterlichem und Antikem, Historischem und Fiktivem, Wunderbarem und Phantastischem bis hin zum Komischen. Was könnte nun den Schwarzburger zum Diebstahl veranlasst haben? Die Schwarzburger, wohl das älteste edelfreie Geschlecht Thüringens, verfügten im 12. Jahrhundert über kein größeres Zentrum der Schriftlichkeit; weder in ihrem Hauskloster Georgenthal noch in Paulinzella haben sie eine 16
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Zur Überlieferung vgl. Schieb (Anm. 5), S. 39–43; Heinrich von Veldeke. Eneasroman. Die Berliner Handschrift mit Übersetzung und Kommentar. Hg. von Hans Fromm. Mit den Miniaturen der Handschrift und einem Aufsatz von Dorothea und Peter Diemer. Frankfurt a. M. 1992 (Bibliothek des Mittelalters 4), S. 745–754; Thomas Klein: Ermittlung, Darstellung und Deutung von Verbreitungstypen in der Handschriftenüberlieferung mittelhochdeutscher Epik. In: Deutsche Handschriften 1100–1400. Oxforder Kolloquium 1985. Hg. von Volker Honemann u. Nigel F. Palmer. Tübingen 1988, S. 110–167, hier 136–144; K. Schneider (Anm. II, 64), Textband, S. 96–99 (zur Berliner Bilderhandschrift). Den vollständigsten Überblick bietet das MRDH (23. 10. 2011). Vgl. Heinrichs von Veldeke Eneide. Hg. von Otto Behaghel. Heilbronn 1882, S. CLXIV. Dass die Erwähnung Heinrichs von Schwarzburg auf Veranlassung der Ludowinger in den Text gelangte, ist nicht unwahrscheinlich, wies sie doch die Schuld an dem nicht eben ruhmvollen Buchdiebstahl, der mit so beschönigenden Begriffen wie verloren umschrieben wird, einem Rivalen zu und ließ Pfalzgraf Hermann, Friedrich und die anderen Mitglieder des landgräflichen Hauses, die für den Abschluss des Werks sorgten, in um so hellerem Licht erstrahlen. Wilhelm Scherer: Geschichte der Deutschen Literatur. Berlin o. J., S. 167. Aus jüngerer Zeit vgl. Ingrid Kasten: Herrschaft und Liebe. Zur Rolle und Darstellung des „Helden“ im ‚Roman d’Eneas‘ und in Veldekes ‚Eneasroman‘. In: DVjs 62 (1988), S. 227–245. Vgl. Anette Syndikus: Dido zwischen Herrschaft und Minne. Zur Umakzentuierung der Vorlagen bei Heinrich von Veldeke. In: PBB 114 (1992), S. 57–107. Zu den Figuren der Antikenromane vgl. Lexikon der antiken Gestalten in den deutschen Texten des Mittelalters. Hg. von Manfred Kern u. Alfred Ebenbauer. Berlin, New York 2003.
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Darstellung ihrer Geschichte gefunden.20 Die in ihrem Gebiet liegenden Klöster beschränkten sich im Wesentlichen auf die Ausstellung von Urkunden, eine Kanzlei ist erst seit dem zweiten Viertel des 13. Jahrhunderts nachweisbar.21 Die etwaige Absicht Heinrichs, den Roman im eigenen Einflussbereich abschließen zu lassen, kann daher ausgeschlossen werden. Eine neuere Untersuchung gelangte zu dem Schluss, dass der seit 1160 auf der Schwarzburg herrschende Graf mit Ausnahme eines Aufenthalts in der Umgebung Heinrichs des Löwen „den engeren Umkreis seiner Herrschaft kaum verlassen“ habe.22 Angesichts der Aussage des Epilogs, der Dieb habe das Buch „ze Doringen heim ze lande“ gesandt, spricht wohl doch das meiste dafür, sich die Fürstenhochzeit am Niederrhein vorzustellen. Da literarische Interessen Heinrichs weder bekannt noch wahrscheinlich sind, vermutete man auch, er habe mit dem Diebstahl der Handschrift in seiner Auseinandersetzung mit den Ludowingern ein Pfand in die Hand bekommen oder dem stärkeren Rivalen Schaden zufügen wollen.23 Zwar ist er als ein „rücksichtsloser Vertreter seiner eigenen Vorteile“ beschrieben worden, der den Landgrafen „hasste“, als „ein grimmiger Haudegen, der höfisches Verhalten anderen überließ und der um knifflige Rechtsfragen sich kaum kümmerte, ein harter und knorriger Ast am Stamme der Schwarzburger“24. Doch dann hätte sich wohl eher ein wertvolles Manuskript angeboten, etwa ein Missale.25 Zudem fallen die Fehden des Schwarzburgers erst in die Zeit nach dem Diebstahl, und sie lassen ganz andere Methoden der Auseinandersetzung erkennen. So ermunterte Heinrich 1177 zusammen mit dem Grafen von Tonna die Erfurter zur Verwüstung der umliegenden landgräflichen Besitzungen, worauf der Landgraf mit der Zerstörung dreier schwarzburgischer Burgen antwortete.26 20
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Vgl. Hans Patze: Adel und Stifterchronik. Frühformen territorialer Geschichtsschreibung im hochmittelalterlichen Reich. In: Blätter für deutsche Landesgeschichte 100 (1964), S. 8–81, und 101 (1965), S. 67–128, hier 40. Vgl. Hans Herz: Kanzlei und Urkundenwesen der Grafen von Schwarzburg. In: Thüringen im Mittelalter. Die Schwarzburger. Hg. vom Thüringer Landesmuseum Heidecksburg Rudolstadt. Rudolstadt 1995 (Beitr. zur schwarzburgischen Kunst- und Kulturgeschichte 3), S. 147–159. Immo Eberl: Die frühe Geschichte des Hauses Schwarzburg und die Ausbildung seiner Territorialherrschaft. In: Thüringen im Mittelalter (Anm. 21), S. 79–130, hier 93. Vgl. Bernd Bastert: „Dô si der lantgrâve nam“. Zur „Klever Hochzeit“ und der Genese des Eneas-Romans. In: ZfdA 123 (1994), S. 253–273, hier 264. Friedrich Lundgreen: Heinrich II., Graf von Schwarzburg (gest. 1236), Ahnherr des regierenden Fürstenhauses. In: ZThG NF 23 (1918), S. 403–482, hier 406 f. Vgl. Rolf Sprandel: Gesellschaft und Literatur im Mittelalter. Paderborn, München, Wien, Zürich 1982 (UTB 1218), S. 120 f. Eine Bilderhandschrift lässt sich aus der formelhaften Wendung ze lesene und ze schouwen (v. 13446) kaum ableiten. Vgl. Hans Patze: Politische Geschichte im hohen und späten Mittelalter. In: Geschichte Thüringens. Bd. II/1. Köln, Wien 1973 (Mitteldt. Forsch. 48/II/1), S. 1–214, hier 26.
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In der Fehde mit Bernhard von Anhalt 1183 soll er die Stadt Aschersleben zerstört haben. Schließlich lässt sich nicht erklären, wie das „bûch“ aus schwarzburgischem in pfalzgräflichen Besitz gelangte. Berücksichtigt man all dies, spricht doch das meiste dafür, den Dieb in dem Ludowinger Heinrich Raspe III. zu sehen, der auch nach 1174 am Rhein bezeugt ist.27 Veldekes Roman erzählt: Als die Griechen Troja erobern und Menelaos sich für das ihm zugefügte Leid rächt, folgt der mächtige „herzoge“ Eneas dem Spruch der Götter, über das Meer nach Italien (dem Herkunftsland des Dardanus) zu fahren. Mit 300 Rittern und seinem Vater bricht er auf, seine Frau verliert er unterwegs. Da Juno ihm zürnt, lässt sie die Trojaner lange auf dem Meer umherirren; einmal schickt sie einen dreitägigen Sturm, der ein Schiff sinken lässt und die restliche Flotte auseinanderreißt. Nach siebenjähriger Irrfahrt landen die Trojaner an der libyschen Küste (Veldeke stellt den Untergang Trojas anders als Vergil an den Anfang). In Karthago werden sie von der Königin Dido freundlich aufgenommen. Bereitwillig bietet sie ihnen „gût“ und „êre“ im Übermaß und Eneas Teilhabe an der Herrschaft, wenn er für immer bleiben wolle. Venus und Cupido bewirken, dass Dido Eneas heftig zu lieben beginnt. Auf ihr Bitten berichtet Eneas vom Ende Trojas. Dido leidet die größten Liebesqualen, doch Eneas bemerkt nichts davon. Nach langer Zeit kann sie endlich mit ihm zusammensein: bei einer Jagd werden sie von einem Unwetter überrascht, sie flüchten unter einen Baum, und es kommt zur Liebesvereinigung. Die Beziehung der Königin mit dem Landfremden lässt sich nicht verheimlichen, die von Dido einst abgewiesenen Freier erheben sich, und als sie hört, dass Eneas Vorbereitungen zur Weiterfahrt trifft, nimmt sie sich mit dem Schwert das Leben. Im Traum erscheint dem Trojaner sein gestorbener Vater und übermittelt ihm den Auftrag der Götter: Er solle in die Unterwelt gehen, dort werde er ihm die Zukunft vorhersagen. In Begleitung der Seherin Sibylle begibt Eneas sich voller Furcht in die Unterwelt. Diese weist zwar Gestalten und Requisiten der antiken Mythologie wie den Fährmann Charon und den Unterweltfluss Phlegethon auf, enthält jedoch viele Versatzstücke einer Höllenbeschreibung, sodass es dem mittelalterlichen Hörer scheinen musste, Eneas habe die Hölle aufgesucht. Eneas trifft auf Dido, die den Blick abwendet (Veldeke hat sie aus dem Kreis der Selbstmörder in eine andere Region versetzt), er erblickt auch viele Trojaner wie Priamus, Troilus, Paris und Hector, und in den elysischen Gefilden begegnet er seinem Vater, der ihm die Zukunft vorhersagt, seine Nachkommen Silvius, Silivius Eneas, Eneas, Romulus, und die Gründung von Albane. Die Unterweltpartie leitet über zum zweiten Teil des Romans, der von der Landung der Trojaner in der Tibermündung erzählt. König Latinus, der sie 27
Vgl. Regesta diplomatica (Anm. 2), Nr. 504.
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freundlich aufnimmt, bietet Eneas seine Tochter an, da er um seine Auserwähltheit durch die Götter weiß. Doch die Königin will ihre Tochter dem Fürsten Turnus geben. Es folgen die Errichtung der Burg Montalbane und anhaltende Kämpfe zwischen den Trojanern und Turnus um das von den Göttern verheißene Land. Der letzte große Handlungsblock handelt hauptsächlich von der Liebe Lavinias zu Eneas (Vergil hatte darauf verzichtet, aus Lavinia eine Dido gleichwertige Frauengestalt zu machen, seine Lavinia ist nur die Tochter des Königs). Eingeschoben sind Massenkämpfe zwischen Trojanern und Latinern und der entscheidende Zweikampf zwischen Eneas und Turnus, ein Rechtsstreit, in dem dieser den Tod findet, worüber die Königin in Wahnsinn verfällt. Am Ende steht das Hochzeitsfest des Paars, das Gelegenheit bietet zu dem bereits erwähnten Ausblick auf das Mainzer Hoffest von 1184. Es folgt eine von Eneas bis zu Augustus reichende Genealogie, schließlich der Epilog. Die bedeutendste Innovation des mittelalterlichen Romans war die Minnethematik; aus den sechs Versen, die Vergil der Lavinia widmete, wurden im ‚Roman d’Eneas‘ 1400. Vereinfachend könnte man ihn eine Umformung der ‚Aeneis‘ in einen höfischen Minneroman unter dem Einfluss Ovids nennen, wobei indes nicht zu übersehen ist, dass der zentrale Handlungsantrieb des Helden nicht die Liebe ist, sondern nach wie vor der geschichtliche Auftrag, Latium zu gründen und Ahnherr der Römer zu werden. Ovid stieg im Zug der neuen Hinwendung des 12. Jahrhunderts zur Antike („Renaissance des 12. Jahrhunderts“) zu einem Autor ersten Ranges auf, jetzt entstanden belehrende und sentenzenhafte Auszüge seiner Werke, kommentierte man die ‚Metamorphosen‘ und behandelte die ‚Ars amatoria‘ in der Schule. Die ganze Auffassung der Liebe als Krankheit und Verwundung des Herzens, der Liebe als Paradox und andere Vorstellungen sind von Ovid geprägt. Auch für Veldekes Publikum war die Minnethematik und ihre Behandlung die wichtigste Neuerung: die eingehende Darstellung der Liebespsychologie, der Gefühle, von denen die von der Liebe (im Wortsinn) betroffenen Personen bewegt werden, derlei hatte es in der höfischen Epik noch nicht gegeben.28 Der Roman enthält breite Reflexionen über das Wesen der Minne und ihre Erscheinungsformen, Minnemonologe und -dialoge, Belehrungen über die Minne und einen Minnebrief. In langen Monologen reflektieren erst Dido, dann Lavinia und Eneas über ihre Erfahrungen mit der rätselhaften Macht namens Minne. Deren Wesen und Wirkungen bilden auch den Inhalt eingehender Unterredungen zwischen Dido und ihrer Schwester sowie Lavinia und der Königin. Diese 28
„In Thüringen mußte Veldekes moderner Roman, zunächst ohne Konkurrenten, einschlagen wie ein Blitz.“ Schieb (Anm. 5), S. 51 f. Zu dem noch ungeklärten zeitlichen Verhältnis von Eneasroman und Eilharts ‚Tristrant‘ einerseits und Eneasroman und Lambrechts ‚Alexander‘ anderseits ebd., S. 58–60.
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erläutert ihrer Tochter in einem Lehrgespräch das Wesen der Minne; doch Lavinia ist nicht bereit, sich den Qualen der Minne auszusetzen, die noch Pest und Fieber übersteigen. Die Königin: ‚ob dû sâllîche unde wole welles tûn, tohter sô minne Turnûm.‘ „wâ mite sal ich in minnen?“ ‚mit dem herzen und mit den sinnen.‘ „sal ich im mîn herze geben?“ ‚jâ dû‘. „wie soldich danne geleben?“ ‚dune salt ez im sô geben niht.‘ „waz ob ez niemer geschiht?“ ‚und waz, tohter, ob ez tût?‘ „frowe, wie mohte ich mînen mût an einen man gekêren?“ ‚diu Minne sal dichz lêren.‘ „dorch got, wer is diu Minne?“ ‚si is von aneginne gewaldich uber die werlt al und immer mêre wesen sal unz an den jungesten tach, daz ir nieman ne mach neheine wîs widerstân, wande sie is sô getân, daz mans ne hôret noch ensiht. [...]. sô getân is diu minne, daz ez rehte nieman dem anderen gesagen kan,
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dem sîn herze sô stêt, daz si dar in niene gêt, der sô steinlîchen lebet: swer ir aber rehte entsebet unde zû ir kêret, vile si in des lêret, daz im ê was unkunt. si machet in schiere wunt, ez sî man oder wîb, sie begrîfet im den lîb und die sinne garwe und salewet im die varwe mit vil grôzer gewalt. si machet in vil dicke kalt und dar nâch sô schiere heiz, daz her sîn selbes rât ne weiz. solich sint ir wâfen: sie benimt imz slâfen und ezzen unde trinken. si lêret in gedenken vile misselîche. nieman is sô rîche, der sich ir moge erweren noch sîn herze vor ir generen noch ne kan noch ne mach.‘ (v. 9786–9849).29
„Wenn du etwas für dein Glück tun und richtig handeln willst, Tochter, so liebe Turnus.“ „Womit soll ich ihn lieben?“ „Mit dem Herzen und mit dem Verstand.“ „Soll ich ihm mein Herz schenken?“ „Ja, das sollst du.“ „Wie könnte ich dann leben?“ „Du sollst es ihm nicht so geben.“ „Und was ist, wenn es niemals geschieht?“ „Und was, Tochter, wenn es geschieht?“ „Herrin, wie könnte ich meinen Sinn einem Mann zuwenden?“ „Die Minne wird es dich lehren.“ „Um Gottes Willen, was ist ‚die Minne‘?“ „Sie herrscht von Anbeginn über die ganze Welt und wird es auch künftig tun bis zum Jüngsten Tag, daß ihr keiner irgendwie Widerstand leisten kann, weil sie die Eigenschaft hat, daß man sie weder hört noch sieht. [...]. Die Minne ist von einer Art, daß es niemand genau einem andern beschreiben kann, dessen Herz so beschaffen ist, daß sie nicht hineinkommt, weil er so verhärtet ist. Wer sie aber richtig empfindet und sich ihr zuwendet, den lehrt sie vieles, das ihm vorher unbekannt war. Sie verletzt ihn sogleich, Mann oder Frau, nimmt von ihm gänzlich Besitz an Leib und Seele und trübt sein Aussehen mit übermächtiger Gewalt. Sie läßt ihn sehr häufig frieren und kurz darauf wieder so schwitzen, daß er sich nicht zu helfen weiß. Dies sind ihre
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III. LITERATUR IM UMKREIS DES LANDGRAFENHOFS
Es waren wohl in erster Linie mit rhetorischem Raffinement gestaltete Reden wie diese, die dem Roman höchste Aktualität verliehen und zur Nachahmung anregten. Veldekes Roman ist jedoch nicht ausschließlich ein Minneroman; breiten Raum nehmen auch geschickt komponierte Kampfschilderungen ein, sodass man ihn ein „Handbuch der Kriegskunst“ hat nennen können. Erzählt werden Massenkämpfe und Zweikämpfe; eingehend wird geschildert, wie die Burg Montalbane errichtet, dann von Turnus belagert und erbittert umkämpft wird. Neben Rittern kämpfen Fußknechte und Bogenschützen. Zu dem Heer, das Turnus aufbietet, als er den Brief der Königin erhält, gehören einige „risen“, und auch auf trojanischer Seite kämpfen zwei Riesen. Mit der jungfräulichen Königin Camilla und ihren Streiterinnen beteiligen sich zudem Frauen am Kampf. Gekämpft wird mit den ritterlichen Waffen Schwert, Schild und Lanze, aber auch mit Wurfspeer, Bogen, Armbrust und Eisenkolben. Die Kampfweise ist vom ritterlich-höfischen Ideal weit entfernt, manche Details erinnern an die Heldenepik. Der durch Veldeke in die deutsche Literatur eingeführte höfische Roman war nach und neben dem Minnesang die zweite epochemachende Gattung der höfischen Dichtung, für die die entscheidenden Anregungen aus der Romania kamen. Neu, gemessen an der bisherigen Geschichts- und Spielmannsepik, waren zunächst die Stoffe, aber auch und zumal der verfeinerte Darstellungsstil, die Gestaltung höfischer Lebensformen und die narrative Struktur, die als eine schriftliche konzipiert wurde, auch wenn das Werk noch für den mündlichen Vortrag bestimmt war. Zwar erwähnt Veldeke sechsmal den römischen poeta Vergil, doch geht sein Roman nur vermittelt auf die ‚Aeneis‘ zurück, das Nationalepos der augusteischen Zeit, das das Römische Reich unter Berücksichtigung seiner Ursprünge feierte. Seine Vorlage war der anglonormannische ‚Roman d’Eneas‘, der zusammen mit dem ‚Roman de Thèbes‘ und dem ‚Roman de Troie‘ eine Trias volkssprachiger Bearbeitungen der großen Epenstoffe des Altertums bildet, die um 1160/75 vermutlich im Umkreis des anglo-angevinischen Königshauses entstanden.30 Diese Antikenromane, mit denen ein Teil des antik-lateinischen Lektürekanons die weltlichen Fürstenhöfe erreichte, gelten als Frühstufe des höfischen Romans, vermitteln sie doch
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Waffen! Sie raubt ihm den Schlaf und den Appetit. Sie lehrt ihn, ziellos zu grübeln. Niemand ist so mächtig, daß er sich ihrer erwehren könnte oder sein Herz vor ihr schützen; er kann es auf keine Weise.“ Mit dem Schulautor Vergil, der einzigen Autorität, auf die er sich beruft (v. 41, 165, 357, 2706, 4581, 13511) appelliert Veldeke an einen allgemeinen Wissensstand. Daneben finden sich allgemeine Quellenberufungen des Typs wande wirz an den bûchen lesen (v. 3233), „weil wir es in den Büchern gelesen haben“, die zumeist wenig Glaubhaftes absichern sollen.
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gleichsam zwischen geschichtlicher und epischer Phantasie.31 Trotz der gemeinsamen stofflichen Grundlage und des im Wesentlichen übereinstimmenden Handlungsablaufs bedeutet der ‚Roman d’Eneas‘ gegenüber dem antiken Epos eine neue Dichtung mit eigener Sinngebung. Sein Verfasser benutzte den antiken Stoff für ein zeitgemäßes Anliegen, für die Selbstdeutung der ritterlich-höfischen Gesellschaft; so wurde aus dem antiken Epos ein Roman, in dem Fortuna, Venus, Vorsehung und Minne die entscheidenden Kräfte sind, denen gegenüber der Held sich bewähren muss. Veldeke hat am Inhalt seiner Vorlage nur wenig geändert und sie dennoch frei bearbeitet, indem er zahlreiche Details modifizierte. Mitunter verzichtet er auf gelehrten Ballast, doch erzählt er, um Eindringlichkeit bemüht, breiter und lehrhafter, woraus sich auch ein Plus von knapp 3400 Versen erklärt. Neu sind die beiden bereits erwähnten Stauferpartien, die von der Auffindung des Pallas-Grabs durch Kaiser Barbarossa und vom Mainzer Hoffest 1184 erzählen, sowie ein von Eneas bis Augustus führendes Herrscherregister am Schluss. Veldeke verweilt gern beim Gegenständlichen, er erweitert die Beschreibungen zu rhetorischen Prunkstücken, die den heutigen Leser mitunter ermüden: das Jagdgewand der karthagischen Königin, das Aussehen der Sibylle, des Charon, die von Vulcanus für Eneas geschmiedeten Waffen usw. Große Aufmerksamkeit widmet er auch höfischem Zeremoniell, Begrüßungen und Reden. Worin Hermanns Interesse am Eneasroman bestand, ob es eher der modernen Darstellung der Minnehandlung galt oder dem historischen Stoff, wofür einiges zu sprechen scheint, lässt sich allenfalls vermuten. Gesichert ist der Auftrag an den Dichter, das Werk in Thüringen abzuschließen; dass dies, wie oft zu lesen, auf der Neuenburg an der unteren Unstrut, der nordöstlichen Hauptburg der Landgrafschaft, geschehen wäre, geht aus dem Epilog nicht hervor. Nach der Übertragung der Pfalzgrafschaft Sachsen an Hermann durch Barbarossa 1181 in Erfurt baute jener die mächtige, in mehrere Höfe eingeteilte Anlage repäsentativ zur zeitweiligen Residenz aus und ließ sie stark befestigen; am Umbau der Kapelle zu einem doppelgeschossigen Bau waren Bauleute vom Niederrhein beteiligt.32 Die Besatzung stellten edelfreie Burggrafen und landgräfliche Ministerialen; seit 1145 ist ein Burggrafengeschlecht 31
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Der Artusroman bedeutete die Emanzipation des Epikers von historisch fundierten antiken und fränkisch-heroischen Stoffen wie Troja, Aeneas oder Karl d. Gr. Die Unverbindlichkeit der matière de Bretagne eröffnete den Dichtern ganz andere Gestaltungsspielräume. Die von Ludwig dem Springer um 1090 gegründete Burg liegt auf einer Hochfläche über dem Ostufer der Unstrut, rd. 5 km vom Saaletal mit der Stadt Naumburg entfernt. Der Name erklärt sich wohl aus dem Verhältnis zur Wartburg, der älteren Gründung Ludwigs. Die erste chronikalische Erwähnung stammt von 1112, die erste urkundliche von 1145. Vgl. Regesta diplomatica (Anm. 2). Bd. 1 (c. 500–1152). Jena 1896, Nr. 1540. Bei der Belehnung mit der sächsischen Pfalzgrafschaft 1180 erhielten die Ludowinger vermutlich auch die Neuenburg, die sich damals wohl wieder in einem guten Zustand befand.
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nachweisbar, 1178 begegnet der Titel Burggraf, die Urkunden nennen einige castellani, und es gab wohl auch einen Priester, der die Messe las und vielleicht weitere Aufgaben wahrnahm.33 Da auf einer Burg gewöhnlich nur der Burgherr und seine Familie, Burgmannen, Wachpersonal und Gesinde wohnten, dürfte die Neuenburg kein idealer Aufenthaltsort für einen Epiker gewesen sein.34 Wenn Veldeke, wie man gemeint hat, für seine Arbeit neben Vergil auch den ‚Aeneis‘-Kommentator Servius, Ovid, die spätantiken Trojaerzählungen des Dictys und Dares und weitere Quellen heranzog, dann wohl kaum auf der Neuenburg.35 Eher könnte man sich vorstellen, dass er dort aus seinem Werk vortrug.36 Die Vorstellung vom Epiker Veldeke, der seinen Roman auf einer Burg abschließt, ist auch insofern problematisch, als es im Epilog – unserer einzigen Quelle für die Entstehungsgeschichte – lediglich heißt, der Dichter habe sich in Thüringen auf die Bitte Pfalzgraf Hermanns von der Neuenburg bei der Unstrut hin an die Fertigstellung des Romans gemacht.37 Als Veldeke seine Arbeit begann, war seine Vorlage ein Jahrzehnt alt; als er sie abschloss, war der Antikenroman bereits durch den Artusroman abgelöst worden. In diesem Sinn hat man die Bemerkung des französischen Epikers Chrétien de Troyes, einer herausragenden Dichterpersönlichkeit, im Prolog seines um 1176 entstandenen Romans ‚Cligès‘ verstehen wollen: „aber von Griechen oder Römern / spricht man kein Wort mehr. / Die Rede über sie ist 33
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Vgl. Regesta diplomatica (Anm. 2), Namenverzeichnis, s. v. Neuenburg; Patze (Anm. II, 87), S. 350 f.; Provinz Sachsen Anhalt (Anm. II, 137), S. 125–127. Am Umbau der Kapelle zu einem doppelgeschossigen Bau, der wohl im Zusammenhang mit der neuen Würde der Ludowinger zu sehen ist, arbeiteten Bauleute vom Niederrhein bzw. aus dem Kölner Raum. Da in den 80er Jahren eine enge Beziehung zwischen Ludwig III. und dem Kölner Erzbischof Philipp von Heinsberg bestand, lässt sich die Vermittlung der Bauleute auf die Neuenburg erklären. Nach der Übernahme der Landgrafenwürde 1190 verlor die Burg ihre Bedeutung für Hermann. Vgl. Patze (Anm. II, 87), S. 372–374. Eingehend zur Neuenburg Gerd Strickhausen: Burgen der Ludowinger in Thüringen, Hessen und dem Rheinland. Studien zu Architektur und Landesherrschaft im Hochmittelalter. Darmstadt, Marburg 1998 (Quellen und Forschungen zur hessischen Geschichte 109), S. 26, 81 f., 145–156. Vgl. Strickhausen (Anm. 33), S. 145–156; Cord Meckseper: Architektur und Lebensformen. Burgen und Städte als Orte von Festlichkeit und literarischem Leben. In: Mittelalterliche Literatur im Lebenszusammenhang. Ergebnisse des Troisième Cycle Romand 1994. Hg. von Eckart Conrad Lutz. Freiburg/Schweiz 1997 (Scrinium Friburgense 8), S. 15–43. Vgl. auch Gerd Althoff: Vom Zwang zur Mobilität und ihren Problemen. In: Reisen und Reiseliteratur im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit. Hg. von Xenja von Ertzdorff u. Dieter Neukirch. Amsterdam 1992 (Chloe 13), S. 91–111, besonders 95 f. Vgl. Bumke (Anm. 14), S. 65 f. „volmachen herz ouch began / dorch den phalenzgrâven Herman / von der Nûwenborch bî der Unstrût, / want diu rede dûhte in gût“ (v. 13475–13478). Übers.: „Also vollendete er es auch für den Pfalzgrafen Hermann von der Neuenburg bei der Unstrut, weil dem die Geschichte schön [...] erschien.“ Die Neuenburg erscheint also als Teil der pfalzgräflichen Titulatur.
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verstummt / und die lebende Glut erloschen.“38 Veldekes Roman steht am Anfang der Geschichte des höfischen Romans in der deutschen Literatur.39 Schon den Zeitgenossen galt er als erstes Muster des völlig reinen Reims.40 Noch im 12. Jahrhundert fand der Eneasroman im gesamten deutschen Sprachraum Verbreitung und machte seinen Verfasser zu einem gefeierten Dichter. Die mitteldeutsche Epik (Herbort von Fritzlar, Albrecht von Halberstadt) ist von Veldeke beeinflusst, aber auch den oberdeutschen Epikern galt er, wie sich an Gottfrieds Literaturexkurs zeigte, bald als musterhaft. Wichtige Anregungen lieferte er nicht zuletzt Wolfram von Eschenbach, der sich intensiv mit ihm auseinandersetzte und Veldeke mehrfach, u. a. als seinen „meister“, erwähnt.41 Die Handschriften des Eneasromans reichen bis ins 15. Jahrhundert und zeigen damit, dass er auch noch im Spätmittelalter des Abschreibens für wert befunden wurde. Der Schwerpunkt der Überlieferung lag zunächst im oberdeutschen Raum, also nicht im Entstehungsraum; doch schimmert in mehreren Handschriften das Mitteldeutsch der Vorlage durch.42 Die mitteldeutsche Fassung wird erst im 14. Jahrhundert fassbar.43 Eine bereits von J. Grimm erörterte Frage ist die nach der ursprünglichen Sprache des Romans: Begann der Dichter seine Arbeit in der Mundart oder richtiger: Schreibsprache seiner limburgischen Heimat oder bemühte er sich im Blick auf ein (hoch)deutsches Publikum von Anfang an um eine überregional gültige Sprachform? Heute nimmt man an, dass Veldeke seinen Roman von vornherein auf mitteldeutscher Grundlage verfasste und sich dabei an rheinfränkisch-hessischen Vorbildern orientierte, was nicht ausschließt, dass gelegentlich Limburgisches durchschimmert. Dass es einmal eine limburgische „Ur-Eneit“ gegeben habe, ist auch insofern wenig wahrscheinlich, als alle Textzeugen ins Hochdeutsche, die meisten sogar ins Oberdeutsche weisen; von dem vieldiskutierten altlimburgischen Original dagegen 38
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Chrétien de Troyes. Cligès. Auf der Grundlage des Textes von Wendelin Foerster übersetzt und kommentiert von Ingrid Kasten. Berlin, New York 2006, v. 41–44. „Heinrich von Veldeke steht mit seinem ‚Eneasroman‘ an der Schwelle der deutschen höfischen Klassik um 1200.“ Schieb (Anm. 5), S. 61. Noch im ‚Alexander‘ des Rudolf von Ems (Anm. IV, 13) heißt es: „von Veldeke der wîse man / der rehter rîme alrêrst began“ (v. 3113 f.). Veldeke gilt als einer der großen Anreger Wolframs. Wolfram erwähnt ihn im ‚Parzival‘ als Dichter der Minne (292, 18–21), und als erster beklagt er im VIII. Buch des ‚Parzival‘ seinen Tod (404, 28–30). Vgl. auch Pz. 419, 12. Im ‚Willehalm‘ bemerkt der Erzähler: „sô müese ich mînen meister klagen, / von Veldekîn: der kund ez baz“ (76, 24 f.). Übers.: „dann müßt ich klagen, daß mein Meister tot ist, von Veldeke, der könnt es besser.“ So in den Handschriften BM. Zu den Siglen vgl. die Anm. 16 genannte Literatur. Etwa in Handschrift Cologny-Genève, Bibl. Bodmeriana, Cod. Bodm. 83, zentralhessisch, um 1350/75. Eine trotz ihres geringen Alters textkritisch wertvolle Handschrift ist Gotha, FB, Chart. A 584, eine um 1470 in thüringischer Schreibsprache geschriebene Papierhandschrift, die außer dem Eneasroman (f. 2r–94v) Mandevilles ‚Reisen‘ (f. 95r–202v) enthält.
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III. LITERATUR IM UMKREIS DES LANDGRAFENHOFS
fehlt jede Spur.44 Solange man eine limburgisch-niederrheinische Urfassung annahm, ergab sich daraus die weitere Annahme einer sprachlichen Umsetzung des niederfränkischen oder niederrheinischen Torsos in eine hochdeutsche Sprachform.45 Dass Veldeke den Roman nach jener Pause, die nicht neun Jahre gedauert haben muss, einer sprachlichen Überarbeitung unterzog, ist sehr wahrscheinlich, doch können wir über sie nichts Genaues sagen. Im Zusammenhang des thüringischen Abschlusses des Eneasromans verdient hier das Fragment eines weiteren Antikenromans Interesse. Die heute im Staatsarchiv Marburg aufbewahrten Reste eines Pergamentblatts aus einer Handschrift des frühen 14. Jahrhunderts überliefern 36 Verse eines Alexanderromans, der – zusammen mit den drei erhaltenen Fassungen und den beiden erschließbaren Bearbeitungsstufen des Lambrechtschen ‚Alexander‘ – das rege Interesse verdeutlicht, das dieser Stoff in Deutschland fand. Auffällig ist, dass der Text des nach dem Fundort ‚Waldecker Alexander‘ genannten Fragments sich keinem anderen erhaltenen Alexanderepos des 12. und 13. Jahrhunderts zuordnen lässt. Seine Schreibsprache weist nach den Untersuchungen Gabriele Schiebs in den rheinfränkisch-hessisch-thüringischen Raum, auf ein „südlicheres Westmitteldeutsch“.46 Das Schriftmitteldeutsch des Fragments entspricht dem des Waldecker Fragments des Eneasromans, Resten eines Pergamentblatts – offenbar gehörten die Fragmente einer Handschrift an.47 Durch den späthöfischen Epiker Rudolf von Ems wissen wir von mehreren heute verlorenen Alexanderromanen, unter denen hier besonders 44
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Grundlegend: Thomas Klein: Heinrich von Veldeke und die mitteldeutschen Literatursprachen. Untersuchungen zum Veldeke-Problem. In: Th. K. u. Cola Minis: Zwei Studien zu Veldeke und zum Straßburger Alexander. Amsterdam 1985 (Amsterdamer Publikationen zur Sprache und Literatur 61), S. 1–121. Von der Voraussetzung einer altlimburgischen „Ur-Eneit“ bestimmt war die Edition der Leipziger Forscher Schieb und Frings, die einen synoptischen Abdruck der Gothaer Handschrift und eine Umsetzung des Textes in das von ihnen postulierte Altlimburgische bietet. Vgl. Henric van Veldeken. Eneide. Hg. von Theodor Frings u. Gabriele Schieb. Bd. 1. Einleitung – Text. Berlin 1964 (DTM 58). Diese Rekonstruktion konnte sich nicht durchsetzen, heute zitiert man den Roman wieder nach der 1852 erschienenen Ausgabe Ludwig Ettmüllers. Stellvertretend sei Wolf (Anm. I, 34), S. 202, zitiert, demzufolge Veldeke seinen Roman auf der Neuenburg „überarbeitete und in ein ausgeglichenes Mittelhochdeutsch umsetzte“. Gabriele Schieb: Ein neues Alexanderfragment. Hessisches Staatsarchiv Marburg. Bestand 147 (Waldeck, Nachlässe und Handschriften). Bruchstücke deutscher Handschriften in Mappe A. In: PBB (H) 90 (1968), S. 380–394, hier 383. Vgl. auch MRDH (23. 10. 2011). „Es hat also nicht nur eine Handschrift gegeben, die Veldekes Eneasroman zusammen mit dem Trojanerkrieg des Herbort von Fritzlar überlieferte, die 1333 in Würzburg geschriebene Heidelberger Pergamenthandschrift Cod. Pal. germ. 368, sondern auch eine wohl sogar noch ältere Handschrift, die Veldekes Eneasroman zusammen mit einer Fassung des Alexanderromans überlieferte.“ Schieb (Anm. 46), S. 381. Vgl. auch Klein (Anm. 16), S. 144; Trude Ehlert: ‚Waldecker Alexander‘ (Fragment). In: VL, Bd. 10 (1999), S. 612–613.
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der einem Biterolf zugeschriebene Roman Interesse verdient.48 Wir wissen über Biterolf fast nichts, er ist für uns ein „Dichter ohne Werk“. Ein Biterolf wird auch in der Überlieferung vom Sängerkrieg auf der Wartburg als einer der Teilnehmer genannt. Schröder wies den Namen in Erfurter Urkunden des frühen 13. Jahrhunderts nach und glaubte in Biterolf einen Erfurter Dichter sehen zu dürfen. Neuerdings hat man ihn jedoch dem Literaturbetrieb der Zähringer im deutschen Südwesten zugewiesen.49 Gabriele Schieb hat die Möglichkeit eines Zusammenhangs zumindest erwogen: „es wäre wohl allzu kühn, in unserem Fragment rheinfränkisch-hessisch-thüringischer Provenienz ein Stück von Biterolfs Dichtung sehen zu wollen“.50 Angesichts der Schreibsprache des Fragments erinnerte sie an ein Mitglied des Landgrafenhauses, den Ludowinger Friedrich, einen Bruder Hermanns, der zunächst Propst des Mainzer Stephansstifts war, ehe er durch seine Ehe mit Lukardis von Ziegenhain Graf vom hessischen Ziegenhain wurde.51 Veldekes Erzählung von Trojas Ende und von der Gründung eines neuen Troja durch Eneas scheint am Landgrafenhof das Interesse am Trojanischen Krieg selbst geweckt zu haben; jedenfalls handelt es sich bei dem nächsten Werk, das wir sicher mit ihm verbinden können, um einen Trojaroman, Herborts von Fritzlar ‚Liet von Troye‘. Über seinen Auftraggeber, seine Vorlage und über die eigene Person gibt der Dichter in den Rahmentexten und in Exkursen Auskunft. Im Epilog liest man: „Ez tichte von Fritslar Herbort / Ein gelarter schulere“ (v. 18450 f.). Nach Ausweis der von ihm verwendeten Quellen war Herbort ein lateinisch gebildeter Literat, man wird in ihm einen Angehörigen des Chorherrenstifts St. Peter im niederhessischen Fritzlar sehen dürfen, Anhaltspunkte für seine Zugehörigkeit zum Thüringer Hofklerus gibt es nicht.52 In der paradoxen Wendung „gelehrter Schüler“ könnte man, zusammen mit mehreren Hinweisen auf seine Jugend wie „Ich han noch jungers namen“ (v. 14163 ‚ich bin noch Schüler‘), einen Hinweis auf sein jugendliches Alter sehen, doch erwähnt Herbort auch seine Gelehrsamkeit. Da er am Schluss ausdrücklich „Von Veldiche meister Heinrich“ nennt, der in seinem Werk „von Eneas vart“ erzählt habe (v. 17381 f.), liegt die 48
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Im ‚Alexander‘ des Rudolf von Ems (Anm. IV, 13) heißt es: „Ein vruot her Biterolf der hât / ouch durch sîner vuoge rât / getiht ein neizwaz mære / von dem wunderære“ (v. 15789–15792). Vgl. Herwig Buntz: Biterolf. In: VL, Bd. 1 (1978), Sp. 883–884. Vgl. Michael Bärmann: Biterolf. Ein Versuch zur Rezeption des Alexanderstoffes im ehemals zähringischen Herrschaftsgebiet. In: Mittelalterliche Literatur im Lebenszusammenhang (Anm. 34), S. 147–190. Der erwähnte Aufsatz Schröders ist Anm. IV, 222 angeführt. Schieb (Anm. 46), S. 394. Vgl. Patze (Anm. II, 87), pass. Spekulativ bleibt auch eine Ausbildung Herborts in Paris. Die Erwähnung der Hohen Schule zu Paris als Zentrum der Dialektik (v. 10669 ff.) ist dafür kein taugliches Indiz.
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Annahme näher, dass er sich als Schüler Veldekes bekennen will. Den landgräflichen Auftrag erwähnt der Prolog: Daz hiz der furste Herman, der lantgrave von Duringen lant. Diz buch hat im hergesant der grave von Liningen. Sol mir dar ane gelingen, so lenge ich ez mit willen niht. Ich spreche von Troyge daz licht (v. 92–98).53
Landgraf Hermann gab den Auftrag, einen deutschsprachigen Trojaroman abzufassen, und er sorgte für die französische Vorlage, eine Handschrift des ‚Roman de Troie‘, verfasst von Benoît de St-Maure um 1170 im Auftrag des anglo-angevinischen Königshauses. Die Handschrift erhielt Hermann durch Vermittlung der am Mittelrhein ansässigen Grafen von Leiningen, vermutlich Friedrichs I. (Emicho), mit dem er zwischen 1193 und 1217 mehrfach zusammentraf, so auf dem Wormser Reichstag 1195.54 Da der Leininger der Gesandtschaft angehörte, die 1194 den aus staufischer Gefangenschaft entlassenen englischen König Richard Löwenherz und dessen Mutter Eleonore von Aquitanien (in der man die Auftraggeberin des französischen Romans hat sehen wollen) an den anglonormannischen Hof begleitete, kann man sich vorstellen, dass er bei dieser Gelegenheit ein Manuskript mitbrachte und an den Landgrafen weitergab. Während der landgräfliche Auftrag sicher ist und seine Sprache Herbort als Mitteldeutschen ausweist, können wir nur Mutmaßungen darüber anstellen, ob er seinen Roman in Fritzlar verfasste, was angesichts seiner Vertrautheit mit gelehrten Quellen wahrscheinlicher sein dürfte, oder am Thüringer Hof.55 53
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Herbort’s von Fritslâr liet von Troye. Hg. von G. Karl Frommann. Quedlinburg, Leipzig 1837 (BDNL 5). Ndr. Amsterdam 1966. Übers.: „Das befahl Fürst Hermann, Landgraf von Thüringen. Dieses Buch sandte ihm der Graf von Leiningen zu. Soll mein Werk gelingen, werde ich es nicht willentlich ausweiten dürfen. Ich erzähle das Lied von Troja.“ Frommanns Text wird normalisiert zitiert (Einfügung von Interpunktionszeichen, Auflösung von Abkürzungen, Großschreibung von Namen, Normalisierung von i/j und u/v). Vgl. Uwe Meves: Der „graue von Liningen“ als Vermittler der französischen Vorlage des Troja-Romans Herborts von Fritzlar. In: Akten des VIII. Internationalen GermanistenKongresses Tokyo 1990. Begegnung mit dem „Fremden“. Grenzen, Traditionen, Vergleiche. Bd. 6. München 1991, S. 173–182; Johnson (Anm. III, 12), S. 279–286. Die Ludowinger besaßen Grafen-, Herrschafts- und Besitzrechte in Ober- und Niederhessen, u. a. die Vogtei über das zentral gelegene Stift Fritzlar, woraus sich leicht Beziehungen, zumal nach Erfurt ergaben. Vgl. Hessisches Städtebuch. Hg. von Erich Keyser. Stuttgart 1957 (Deutsches Städtebuch. Handbuch städtischer Geschichte IV/1), S. 169–172; Hessen (Anm. II, 72), S. 149–153. Unter den Fritzlarer Kanonikern ist Herbort nicht
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Noch weniger ist eine Entscheidung in der viel diskutierten Datierungsfrage möglich. Einziger Anhaltspunkt ist die Erwähnung Landgraf Hermanns, dessen Regierungszeit 1190–1217 beträchtlichen Spielraum lässt. Erwogen wurde sowohl ein früher Ansatz um 1190 wie auch ein später um 1210. Bei dieser Datierung geht es nun nicht um ein paar Jahre mehr oder weniger, sondern um die grundsätzliche Entscheidung, ob man Herborts Roman noch der frühhöfischen Erzählkunst zurechnet und ihn in der Nachbarschaft des Eneasromans sieht, oder ob man ihn erst gegen Ende der höfischen Klassik, nach Werken wie dem ‚Iwein‘, dem ‚Parzival‘ und dem ‚Tristan‘, anzusetzen hat und damit zu einem Zeitpunkt, zu dem er wohl kaum mehr dem Zeitgeschmack entsprochen haben dürfte. Die Spätdatierung begründete man u. a. mit einem angeblichen Einfluss des Gottfriedschen ‚Tristan‘, auch wollte man in einer zu Beginn des 13. Jahrhunderts geschriebenen französischen Handschrift die unmittelbare Vorlage Herborts sehen.56 Gewichtiger jedoch sind wohl die Indizien für die Frühdatierung, zumal der ausdrückliche Hinweis Herborts auf sein Vorbild „Von Veldiche meister Heinrich“ und dessen Erzählung von Eneas, der einen engeren Zusammenhang zwischen beiden Werken wahrscheinlich macht.57 Man kann sich gut vorstellen, dass Hermann bald nach dem Abschluss des Eneasromans Interesse am Trojastoff fand, während nicht einsichtig ist, warum dieses Interesse erst ein Vierteljahrhundert später, um 1210, entstanden sein sollte.58 Denkbar ist, dass Herborts Roman um 1195 abgeschlossen vorlag. Die Verwandtschaft beider Romane war auch im Mittelalter fraglos; so folgt in der einzigen Vollhandschrift, die wir vom ‚Liet von Troye‘ besitzen, auf dieses der Roman Veldekes. Herborts ‚Liet von Troye‘, der erste erhaltene Trojaroman in deutscher Sprache,59 war für ein nicht-lateinkundiges, ein Laienpublikum bestimmt, das
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nachweisbar. Vgl. Karl E. Demandt: Das Chorherrenstift St. Peter zu Fritzlar. Quellen und Studien zu seiner mittelalterlichen Gestalt und Geschichte. Marburg 1985 (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Hessen 49), S. 8–16. Möglich, dass Herbort dem Landgrafen nie begegnet ist. Die Sprache seines Romans weist ins Südmitteldeutsche, die Entscheidung Hessen oder Thüringen muss offen bleiben. Vgl. Elisabeth Lienert: Deutsche Antikenromane des Mittelalters. Berlin 2001 (Grundlagen der Germanistik 39), S. 111; Hans-Hugo Steinhoff: Herbort von Fritzlar. In: VL, Bd. 3 (1981), Sp. 1027–1031, hier 1028. Bei der Annahme einer Abhängigkeit Herborts von anderen Dichtern hat man wohl auch zu wenig bedacht, dass er da, wo er seine französische Vorlage nicht gerade kürzt, dieser recht genau folgt; Motive wie den Tausch der Herzen verdankte er nicht Hartmann oder Gottfried, sondern Benoît de St-Maure. Das ‚Liet von Troye‘ stimmt in manchen Motiven und Formulierungen mit Veldekes Roman überein, vgl. Behaghel (Anm. 17), S. CCVI ff. und Anmerkungen. Für die Frühdatierung spricht auch das Sterbedatum des Grafen von Leiningen (1212). Man hat vermutet, dass es schon vor Herbort von Fritzlar einen deutschen Trojaroman gegeben habe. In der Vorauer Fassung von Lambrechts ‚Alexander‘ heißt es um 1160: „Man list von guoten chnehten, / die wol getorsten vehten, / in Troiâre liede“ (v. 1329 ff.).
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Hauptinteresse des Dichters galt dem geschichtlichen Wissen über eine heidnische Vergangenheit. Romane wie der Eneas- und der Trojaroman wurden weniger als Fiktion denn als Bericht einer alten Welt verstanden, als res factae, nicht als res fictae. Man neigte dazu, alles Überlieferte, zumal aus dem Altertum, als beglaubigt und wahr zu verstehen; Zweifel an der Historizität der alten Mythen regten sich nur selten. Wie Veldeke bearbeitete auch Herbort eine französische Vorlage; doch zeigt er sich gründlich vertraut auch mit lateinischen Texten, darunter Schultexten, und antiker Mythologie. Bereits im Prolog ordnet er sich mit dem eigenen Werk in die Reihe vorgängiger Trojadichtungen in griechischer und lateinischer Sprache ein.60 Ein gravierender Unterschied gegenüber Veldeke besteht darin, dass er seine in ihren Dimensionen gewaltige Vorlage rigide, fast auf die Hälfte kürzte; 30316 französischen entsprechen 18458 deutsche Verse – ein höchst seltenes Verfahren bei der Adaptation einer französischen Vorlage. Herborts Kürzungen betreffen hauptsächlich für den Handlungsfortgang entbehrliche Partien wie Reden, Kampfschilderungen und Beschreibungen, also den rhetorischen Ornatus. In dieser Reduktion der Vorlage auf die eigentliche Handlung darf man wohl eine Distanzierung des Autors von rhetorischen Konventionen, näherhin vom Romanhaften sehen. Am Handlungsverlauf hingegen hat er (sieht man davon ab, dass er die Zahl der Schlachten von 23 auf 21 reduzierte) kaum geändert. Beibehalten ist ebenfalls die dreiteilige Struktur der Vorlage: Der erste Teil erzählt von den Argonauten, der ersten Zerstörung Trojas und dem Raub der Helena als Vorgeschichte des Kriegs (v. 99–2780), der zweite gestaltet den Trojanischen Krieg von der Mobilmachung der Griechen bis zum Wüten der Sieger in der eroberten Stadt (v. 2781–16521), und der dritte Teil bietet die Nachgeschichte, den Streit und die glücklose Heimkehr der Sieger (v. 16522–18442). Herbort hat seine Vorlage, den französischen Roman, eigenständig bearbeitet. Neben der massiven Kürzung der schmückend erweiternden Partien – der Reduktion also der Erzählung auf das Faktische – besteht eine zweite entscheidende Änderung in der Verschiebung der Konstellation der beiden
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Unklar ist jedoch, ob hier ein deutsches, französisches oder lateinisches Gedicht gemeint ist oder ob lediglich allgemeines Bildungsgut aufgerufen wird. In diesem Sinn ließe sich auch der Eingang des Eneasromans verstehen: „Ir habet wol vernomen daz, / wie der kunich Menelaus besaz Troien die rîchen / vil gewaldechlîchen“ (v. 1–4) „Ihr habt sicher schon davon gehört, wie König Menelaus das mächtige Troja mit gewaltiger Heeresmacht belagerte“. In Hartmanns von Aue ‚Erec‘ heißt es: auf dem Sattel von Enites Pferd war „daz lange liet von Troiâ“ (v. 7546) dargestellt. Vgl. v. 12 ff. Herbort erwähnt als Vorlage „daz welsche bûch“ bzw. „liet“ (v. 65), aber nicht Benoît de St-Maure. Vgl. William Henry Jackson: The Concept of Knighthood in Herbort von Fritzlar’s ‚Liet von Troye‘. In: Forum for Modern Language Studies 17 (1981), S. 131–145.
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Haupthelden Hector und Achilles.61 In der protrojanischen Tradition, der auch Herborts Quelle Benoît angehört, ist Hector der überragende Kämpfer. Herbort hat dagegen planvoll den griechischen Vorkämpfer Achilles zum ebenbürtigen Gegner Hectors aufgewertet und damit die klassische Polarität beider Figuren wiederhergestellt.62 Ein übergreifendes Merkmal seiner Darstellung ist eine Betonung der Faktizität, oder negativ ausgedrückt: eine Rücknahme der von Benoît angestrebten Feudalisierung und Höfisierung des Stoffs. Damit entfernt er sich vom Darstellungsstil des höfischen Romans und nähert sich dem Geschichtsepos an. Zu beachten ist auch, dass er mit der programmatischen Titelgebung „von Troyge daz licht“ (v. 98) „Trojalied“ ein Gattungssignal setzt, das in die Richtung der Heldenepik (‚Nibelungenlied‘) weisen könnte. Der Stil seines Romans ist ein ganz anderer als der des Artusromans. Den größten Teil nimmt die Erzählung des Kriegsgeschehens ein, das als eine unüberschaubare Folge von Massenschlachten und Einzelkämpfen ausgebreitet wird. Herbort erzählt oft knapp und gleichsam registrierend, mitunter fasst er eine Zweikampfschilderung lakonisch in zwei Verse: „Er gap im einen slac, / daz er da tot lac“ (v. 7477f.). Manchmal scheint es, als ringe er um das passende Reimwort, jedenfalls gibt es Bindungen, bei denen man sich fragt, ob sie aus mangelndem dichterischem Vermögen resultieren oder planvoll verfremdend eingesetzt sind, etwa Darm – Arm. Hector wütete auf dem Schlachtfeld und trennte Arme, Beine und Hände ab, er schlug den Gegner „durch den buch in den darm, / durch die hant in den arm“ (v. 8891f.). Es gelingen Herbort aber auch beeindruckende Bilder und Szenen, etwa, wenn Andromache nach einem ahnungsvollen Traum verzweifelt, aber erfolglos
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Deutlich wird diese Verschiebung u. a. am Kampf zwischen Achilles und Troilus. Während bei Dares und Benoît Achilles den Gegner in unrühmlicher Weise im Schlachtgewühl ersticht und den Leichnam schleift, lässt Herbort Troilus durch Kalo (eine eigens von ihm erfundene Figur) schleifen. Achill ist im Kampf nicht zu überwinden; erst als Hekuba ihn in eine Falle lockt (er soll ihre Tochter Polyxena erhalten), gelingt es 20 Trojanern, ihn zu überwältigen. Herbort hatte offenbar ein besonderes Interesse an seiner Gestalt, er hob seine Geschichte als Kontinuum heraus und suchte ihn makellos darzustellen. Im entscheidenden Kampf, den er ohne Erbarmen führt, beweist er seine Überlegenheit; als Hector stirbt, rühmt er dessen Tugenden und empfiehlt seine Seele Gott. Herbort erwähnt das ‚Excidium Troiae‘ des Dares lobend: „Tares der aller beste / den sturm von Troygen weste, / wen er da mit was gewesen“ (v. 53 ff.) Übers.: „Dares wusste den Trojanischen Krieg am besten darzustellen; denn er hatte selbst an ihm teilgenommen.“ Dass bei Herbort die Griechen als Sympathieträger fungieren, zeigt folgende Szene, die zugleich einen Hinweis auf den ludowingischen Auftraggeber gibt: Als sich die Griechen Troja nähern, erblickt Priamus von der Burgwehr herab „Einen schilt von lasure / Dar inne einen Lewen glizen / Von roten vnd von wizzen“ (v. 1328 ff.) und ein Banner mit demselben Wappen, worauf er weiß, dass die feindlichen Krieger von krichlande (v. 1336) kommen. Mit einem roten Löwen in weißem Grund hat Herbort das alte hessisch-thüringische Wappen eingefügt, ähnlich wie Thomas von Bretagne das der Stadt London im ‚Tristan‘.
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Hector vom Kampf abzuhalten sucht, der ihm, wie sie weiß, den Tod bringen wird. Der Fritzlarer Kleriker schreibt im Bewusstsein historischer Distanz; kritisch-distanziert blickt er auf die Geschichte, auf den Krieg und damit auf das Ideal der Ritterschaft und auf die Frauen.63 Die leidenschaftliche Liebe zu Polyxena, die Achilles ergreift, ist nicht vorbildliche höfische Minne, sondern tödliche Passion. Herbort entwirft im ‚Liet von Troye‘ keine ritterliche Idealwelt; ästhetisiert der arthurische Roman den Kampf, so beschreibt er die Schrecken des Kriegs in einer illusionslosen Sprache. Besonders die Kampfschilderungen enthalten, wie der folgende Auszug zeigen mag, drastische und schockierende Partien: Jener ane houbet lac, dirre an hant, der ane bein, jenem uz dem buche schein herze und lunge, jeneme die zunge halp uf den zanen. Die nase lac disem uf den granen. Dem lac die swarte uf dem buche bi dem barte. Dem wappete der bart, jeme waren die ougen vurkart, disme blutte die stirne, schedel und hirne, har und ore lagen im in dem trore, mit blute beflozzen. Der lac erschozzen, der lac erstochen, dirre zubroch(en), dirre zubletzet, jenre zuquexet, dirre ertrunken, der ertrat (v. 5842–5863).64 63
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Vgl. die distanzierte Feststellung: „Susgetan gewerbe / Ist aller der erbe, / Die gerne in strite sind“ (v. 10987 ff.) „Solche Beschäftigung fällt all denen zu, die gerne kämpfen.“ „Jener lag ohne Kopf da, dieser ohne Hand, der ohne Bein, jenem schimmerten aus dem aufgerissenen Leib Herz und Lunge. Jenem lag die Zunge zur Hälfte auf den Zähnen, diesem die Nase auf den Bartstoppeln, dem lag die Kopfhaut zusammen mit dem Bart auf dem Leib. Dem zuckte der Bart, jenem waren die Augen verdreht. Diesem rann Blut von der Stirn. Schädel und Hirnmasse, Haare und Ohren schwammen in Blut und Schweiß. Der lag erschossen, der lag erstochen, diesem waren die Gliedmaßen gebrochen, Der war zerfetzt, der zerquetscht, dieser ertrunken, der zertrampelt.“ Vielleicht waren Herbort Gedichte bekannt, vergleichbar den nur in jüngeren Fassungen erhaltenen Epenenepen ‚Dietrichs Flucht‘ und ‚Rabenschlacht‘ (Anm. II, 62), die vergleichbare Szenen enthalten.
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Auch die Minneszenen unterscheiden Herborts Roman erheblich vom zeitgleichen Artusroman. Die Liebe lässt die Persönlichkeit der Helden unverändert, ihre Vollendung suchen sie allein im Kampf. Der einzige, in dessen Dasein sie schicksalhaft eingreift, ist Achilles; doch auch die Beziehung zwischen ihm und Polyxena ist keine höfische Minnebeziehung. Die Liebe überwältigt Achill und bringt ihn in ein problematisches Verhältnis mit der Sphäre des Kampfes, amor und militia geraten in ein Spannungsverhältnis. Immer wieder begegnen in den Minnepartien komische und groteske Bilder. Herbort vergleicht den liebeskranken Achill mit einem, der an Zahnschmerzen leide, der Grieche Diomedes kommt sich angesichts der schönen Briseis wie ein Fisch an der Angel vor, und Briseis erklärt, sie würde wie eine Kröte am Zaun entlangkriechen, wenn sie so nur den Geliebten zu sehen bekäme: Ginge ich als ein crete gat und solde ich bi eime zune gan und mochte ich din also vil han daz ich dich gesehe, swaz mir geschee, daz vurtruge harte wol (v. 8364–8369).65
Insgesamt erweist Herbort von Fritzlar sich als ein eigenständiger, auch eigenwilliger Dichter, der die Forschung nicht selten irritiert und zu kritischen Urteilen provoziert hat. So ist auch sein Wortschatz weit entfernt von der Zucht und Glätte der zeitgleichen Romane.66 Mit seiner fast naturalistisch zu nennenden Darstellung einer letztlich grausamen Wirklichkeit hielt er offenbar bewusst Abstand zum optimistisch-idealisierenden Artusroman. Seine Absicht war es wohl, den Krieg als Leid und Not darzustellen, jedenfalls bringt er die Wirklichkeit in programmatischer Übersteigerung zur Anschauung. Damit weicht sein Trojaroman von den um 1200 vorherrschenden Darstellungskonventionen der höfischen Epik ab und beweist, dass es vor, neben und nach den klassischen höfischen Romanen immer auch eine realitätsnähere Erzählkunst gab. An Veldekes Roman reicht Herbort nicht heran, doch wäre es unrichtig, ihn allein an seinem unmittelbaren Vorbild zu messen; man muss auch die unterschiedlichen Stoffe berücksichtigen, die beide bearbeiteten. Mit seiner Darstellungstendenz bewegte Herbort sich am Rand der literarhistorischen Entwicklung, ein Veldeke vergleichbarer Erfolg blieb ihm denn auch versagt. Kein späterer Dichter erwähnt ihn, und jüngere Dichtungen wie der 65
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Übers.: „Kriechen wollte ich wie eine Kröte am Zaun entlang kriecht, wenn ich damit von dir nur so viel erlangen könnte, dass ich deiner ansichtig würde. Was immer mir dann widerführe, bereitwillig würde ich es ertragen.“ So nennt Andromache Priamus einen stinkenden Hund und ein übles Aas (v. 9783).
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Torso gebliebene Trojaroman Roman Konrads von Würzburg greifen wieder direkt zurück auf Benoît de St-Maure oder die mit diesem verwandte lateinische Prosaversion des Guido de Columnis, die ‚Historia destructionis Troiae‘. Die geringe Wirkung äußert sich nicht zuletzt in der Überlieferung: Die einzige vollständige Handschrift, eine 1333 in Würzburg geschriebene Pergamenthandschrift, zu der noch drei Fragmente kommen, vereint das ‚Liet von Troye‘ mit Veldekes Roman; letztlich blieb die Dichtung also nur deshalb erhalten, weil man sich in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts noch für den Eneasroman interessierte. Die Forschung hat, nachdem Scherer dem Dichter in seiner Literaturgeschichte 1883 „Freude an Lüsternheiten, an Mord- und Greuelszenen, sowie an Flüchen, Verwünschungen und Schimpfreden“ vorwarf, lange gebraucht, um zu einem ausgewogenen Urteil zu gelangen.67 Erst in neuerer Zeit hat sie sich von dem Missverständnis freigemacht, das ‚Liet von Troye‘ sei ein letztlich missglücktes Jugendwerk, und die rhetorischen Traditionen erkannt, denen Herbort verpflichtet ist.68 Wie ließe sich das große Interesse des Landgrafen an Antikenromanen, an den Erzählungen von Troja und dem Trojaflüchtling Eneas erklären? Dem Mittelalter galt die Überlieferung von der Zerstörung der kleinasiatischen Stadt durch die Griechen nicht als epischer Entwurf, sondern als weltgeschichtliche Realität, die man in den Welt- oder Universalchroniken zeitgleich mit den biblischen Richtern darstellte.69 Das Verständnis der Trojaüberlieferung als eines durch Autoritäten verbürgten historischen Geschehens hatte bis in die Frühe Neuzeit Bestand. Im Mittelalter sah man in Troja eine Vorläuferin des Imperium Romanum; insofern ist es einsichtig, dass der Landgraf nach dem Eneasroman auch Interesse an dessen stofflicher Vorgeschichte, der Erzählung vom Krieg um Troja, zeigte. Gemäß der mittelalterlichen Theorie der translatio imperii war Troja eine Vorläuferin des Reichs, in dem man selbst lebte, letztlich der Ursprung der eigenen Gegenwart.70 Darüber hinaus galt 67
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Scherer (Anm. 18), S. 173. Ähnlich das Urteil von Schneider (Anm. II, 117), S. 270: „Er ist ein plumper Geselle, und gewisse Ansätze zu derber Frische helfen seiner Mittelmäßigkeit nicht auf. Die endlosen Schlachtberichte zu beleben hat er sich wohl redlich gemüht, aber gerade sie zeigen ihn als gefühlskalten Schilderer von Elend, Verstümmelung, Verwüstung [...]. Was er irgend aus sich selbst heraus beisteuert, pflegt voll groben Ungeschicks zu sein.“ Wolf (Anm. I, 34), S. 203, resümierte: „Ihm fehlt das dichterische Ingenium.“ Exemplarisch genannt sei Hans Fromm: Herbort von Fritslar. Ein Plädoyer. In: PBB 115 (1993), S. 244–278. Eine aktuelle Bibliographie bei Lienert (Anm. 56), S. 209–213. Die Zerstörung Trojas markierte wie die Gründung Roms ein Eckdatum der Zeitrechnung, einen weltgeschichtlichen Fixpunkt. Seit Eusebios ordnete man Zerstörung Trojas als Faktum in die Heilsgeschichte ein: 1182 v. Chr. Zerstörung Trojas, 1179 v. Chr. mit Aeneas beginnender Aufstieg des Römischen Reichs, 753 v. Chr. Gründung Roms. Translatio Imperii nennt man ein Deutungsschema für den Verlauf der Weltgeschichte, dessen dem Mittelalter durch Hieronymus vermittelter Grundgedanke die Übertragung der Herrschaft von einem Weltreich an das andere ist (regna transferre), gleichsam die Wanderung
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Troja als Wiege der europäischen Völker (z. B. der Franken) und Dynastien (z. B. der Habsburger). Im Bewusstsein adliger Rezipienten bezeichnete Troja aber auch den Ursprung der für die Gegenwart zentralen Werte Ritterschaft und Minne; im Prolog der um 1200 entstandenen höfischen Verserzählung ‚Moriz von Craûn‘ ist der Weg der Ritterschaft von den vor Troja kämpfenden Griechen über das Römerreich nach „Kerlingen“ (Frankreich) breit entfaltet. Ähnlich der Alexander-Überlieferung war auch die von Troja für unterschiedliche Deutungsperspektiven offen, und so erklärt sich, dass sie oft und in unterschiedlicher Weise gestaltet wurde, nicht nur in Romanen, sondern auch in Weltchroniken, in Liedern und zahlreichen anderen Gattungen. Während die Aeneas-Überlieferung mit Vergil eine kanonische Quelle besaß, fußte die mittelalterliche Troja-Tradition auf verschiedenen Quellen, deren literarischer Rang kein sonderlich hoher war. Homer war lediglich dem Namen nach bekannt, von der ‚Ilias‘ besaß man nicht mehr als eine knappe Zusammenfassung, die ‚Ilias latina‘. Benoit de St-Maure, dessen Roman Herbort bearbeitete, stützte sich hauptsächlich auf die spätantiken pseudohistoriographischen Berichte, die unter den Namen Dares Phrygius und Dictys Cretensis umliefen und deren Verfasser sich als Teilnehmer am Trojanischen Krieg ausgaben.71 Die Geschichte der höfischen Erzählkunst in Deutschland stellt man sich gewöhnlich als einen Dreischritt vor, der eine gewisse Parallele in der französischen Literatur findet: Am Anfang standen epische Dichtungen geschichtlichen und spielmännischen Charakters wie die ‚Kaiserchronik‘ und der ‚König Rother‘, mit denen man etwa in die Mitte des 12. Jahrhunderts gelangt. Auf diesen Texttyp folgten die Antikenromane, in der deutschen Literatur die Trias von Alexander-, Eneas- und Trojaroman. Sie wiederum wurden seit den 80er Jahren vom Artusroman abgelöst, der um 1200 die literarische Landschaft beherrschte und der meist als Höhepunkt und Erfüllung der Gattungsgeschichte verstanden wird. Blickt man nur auf Veldekes Roman, geht die Rechnung auf: Veldeke begann seinen Roman nach 1175 und hätte ihn ohne die Zwangspause wohl Ende der 70er Jahre abgeschlossen. Der Artusroman setzt in der deutschen Literatur mit Hartmanns von Aue ‚Erec‘ um 1180 ein. Bezieht man jedoch Herborts um 1195 entstandenen Trojaroman, der gern als
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der Weltgeschichte von Osten nach Westen. Vorherrschend war die Vier-Reiche-Lehre: Babylonisches, medisch-persisches, griechisches und Römerreich, ein eschatologisches Modell also mit einem Anfang und einem Ende der Geschichte. Die Vorstellung der translatio imperii, derzufolge das Römische Reich fortbestand – die Herrschaft war von den Römern auf Karl d. Gr. übertragen worden – gewann erst seit 1100 größere Bedeutung, während frühere Geschichtsschreiber wie Regino von Prüm gemeint hatten, es sei untergegangen. Vgl. Lienert (Anm. 56), S. 104 f.
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ein literarhistorischer Sonderfall behandelt wird, mit ein, modifiziert sich das Bild. Statt eines glatten Nacheinanders der Texttypen Antikenroman – Artusroman ergibt sich ein Nebeneinander. Hinzu kommt, dass diese Typologie sich nur an der Produktionschronologie orientiert. Berücksichtigt man auch die Ebene der Rezeption, tritt das Nacheinander der Texttypen noch stärker zurück, erweist sich die Unterscheidung einer vor-, früh-, hoch- und späthöfischen Epik als eine literarhistorische Hilfskonstruktion. Zeitlich und stofflich benachbart ist den Romanen Veldekes und Herborts die Bearbeitung der ‚Metamorphosen‘ Ovids durch Albrecht von Halberstadt. Drei Bearbeitungen bedeutender Stoffe der antiken Geschichte und Mythologie, in denen der Ludowinger Hermann als Auftraggeber oder Vermittler der Vorlage ausdrücklich erwähnt wird, erzeugen den Eindruck, dass wir es hier mit einem regelrechten Literaturprogramm zu tun haben, vergleichbar dem des Hofs Heinrichs II. von England, mit dem man die Trias der französischen Antikenromane von Theben, Eneas und Troja zu verbinden pflegt, mit einer mehr oder minder systematischen Aufbereitung der antiken Stoffe zu einem Geschichte und Literatur vereinenden Bildungsprogramm. Jene Stoffe interessierten nicht als historische, vielmehr verstand das Mittelalter die Antike als Ursprung der eigenen Gegenwart, die großen Helden jener Zeit wie Achilles und Aeneas interessierten als Vorbilder fürstlicher Selbstdeutung. Albrechts Ovid-Adaptation nun stellt einen Sonderfall dar, dem die Literarhistoriker vielleicht nicht immer gerecht geworden sind; jedenfalls kann man aus den Handbüchern eine lange Reihe harscher Urteile über Albrecht zusammenstellen: Er soll „keine dichterische Erfindungsgabe“ besessen haben und seiner Vorlage „weder formal noch sprachlich gewachsen“ gewesen sein.72 Diese Urteile bleiben schon deshalb problematisch, weil Albrechts Dichtung in keiner vollständigen Handschrift überliefert ist, sondern nur in fünf mitteldeutschen Fragmenten einer Pergamenthandschrift, die um 1623 in Oldenburg zerschnitten wurde. Die Fragmente überliefern zusammen knapp 700 Verse, der Umfang des vollständigen Werks dürfte das Dreißigfache betragen haben. Da Albrecht auch in keinem der zeitgenössischen Literaturexkurse 72
Ehrismann (Anm. II, 105), S. 109; Wolf (Anm. I, 34), S. 203. Der Begriff der Erfindungsgabe mag der Ästhetik der Goethezeit angemessen sein, aber kaum der des Mittelalters, gilt hier doch die Vorstellung, dass der Dichter eine gegebene materia zu finden und sachgemäß zu bearbeiten, aber nicht zu erfinden hat. An die Genieästethik des 18. Jh. erinnert auch das Urteil von Ludwig Denecke: Ritterdichter und Heidengötter (1150–1220). Leipzig 1930 (Form und Geist 13), S. 140: „Albrecht ist kein poetisches Genie.“ Eine positive Würdigung Albrechts findet sich dagegen bei Schneider (Anm. II, 117), S. 270. Er nannte ihn einen feineren Kopf und gewandteren Dichter. „Seine Leistung ist erstaunlich, wenn man bedenkt, daß der gelehrte und kunstbegabte Mann unmittelbar aus dem Lateinischen übertrug, also als erster und fast einziger die französische Krücke beiseitewarf.“
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oder Dichterkataloge erwähnt wird, kann seine Wirkung nur eine mäßige gewesen zu sein. Zu beträchtlicher Wirkung gelangte sein Werk erst sehr viel später, nämlich um die Mitte des 16. Jahrhunderts, als der Elsässer Georg Wickram, heute vornehmlich als Vertreter des frühen Prosaromans bekannt, es in einer sprachlich überarbeiteten Fassung vorlegte und zusammen mit Holzschnittillustrationen und einer Auslegung durch Gerhard Lorichius 1545 zum Druck beförderte. In den 15 Büchern der ‚Metamorphosen‘ (Verwandlungssagen) stellt Ovid den ständigen Wandel, dem alles Belebte und Unbelebte unterliegt, und den Anteil, den die Götter daran haben, von der Entstehung der Welt aus dem Chaos bis zur Vergöttlichung Caesars dar. Durch allegorische Interpretation ließ das Werk, das 250 selbstständige Geschichten unter dem übergreifenden Gesichtspunkt der Verwandlung zusammenfügt – gleichsam ein Who’s Who der antiken Mythologie – sich dem christlichen Horizont einpassen. Keine andere antike Dichtung wirkte so nachhaltig auf die europäische Literatur und Kunst des Mittelalters und der frühen Neuzeit; jahrhundertelang schöpften Literaten, bildende Künstler, Kunsthandwerker und Musiker ihre Stoffe aus den Verwandlungssagen Ovids. Während Vergils Rang als klassischer Autor niemals strittig war, vollzog sich die Anerkennung Ovids erst später und in mehreren Phasen. Seit dem 11. Jahrhundert stieg er im Rahmen der bereits erwähnten intensivierten Rezeption der Antike zum Schulautor auf; besonders stark wirkte er auf die lateinische Dichtung, und fortan gehörten die ‚Metamorphosen‘ – nach König Alfons dem Weisen von Kastilien die „Bibel der Heiden“ – zur Anfangslektüre im Lateinunterricht. Albrechts Bearbeitung steht in der deutschen Literatur ihrer Zeit isoliert da, es ist die erste direkte Bearbeitung einer antiken Dichtung, die wir kennen, „von latîne zu dûte“ (v. 55).73 Gewöhnlich nahmen die Dichter den Umweg über eine französische Vorlage (Veldeke, Herbort) oder über eine nachantike lateinische Prosavorlage. Statt französischer Epenverse hatte Albrecht also lateinische Hexameter in mittelhochdeutsche Reimpaarverse umzusetzen. Was wir über den Autor und die Umstände seiner Arbeit wissen, verdanken wir dem Prolog, für den wir auf Wickrams Wortlaut angewiesen sind. Hier erfährt man: „Wann eyn Sachs heisset Albrecht / Geboren von Halberstatt / Euch diß bùch gemachet hat / Von Latin zù Teütsche“ (v. 52–55).74 Der sich in der 3. Person nennende Dichter war also ein lateinkundiger Kleriker aus dem damals niederdeutschen Halberstadt. Er teilt uns sogar (ein 73
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Im Folgenden, wenn nicht anders vermerkt, zit. nach Karl Bartsch: Albrecht von Halberstadt und Ovid im Mittelalter. Quedlinburg, Leipzig 1861 (BDNL 38). Ndr. 1965. Zit. nach Georg Wickram. Sämtliche Werke. Hg. von Hans-Gert Roloff. Bd. XIII, 1/2. Ovids Metamorphosen. Berlin, New York 1990 (Ausgaben deutscher Literatur des XV. bis XVIII. Jahrhunderts), hier Teil 1.
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seltener Fall in der mittelalterlichen Literatur) den Beginn seiner Arbeit mit: „Zwelff hundert jor / Und zehene bevorn / Seit unser Herr ward geporn“ (v. 84–86). Diese Angabe bereitet trotz intensiver Diskussion bis heute Kopfzerbrechen: Meint Albrecht nun zwölfhundert Jahre minus zehn (1190) oder zwölfhundert Jahre plus zehn (1210)? Keine der beiden Deutungen lässt sich dem Text zweifelsfrei entnehmen. Ähnlich verhält es sich mit der folgenden Nennung des Gönners. Albrecht erklärt, er habe sein Buch zu Zeiten eines weithin berühmten Fürsten, des Landgrafen Hermann, abgefasst, und wenn er den „Vogt von Türingen lant“ (v. 91) nenne, so deshalb, weil sein Buch in Thüringen entstanden sei. Der „Lantgrafe Herman“ (v. 93) wird also nicht ausdrücklich als Auftraggeber genannt; aber welchen Sinn sollte seine Erwähnung haben, wenn nicht den einer Huldigung und Dedikation? Am nächsten liegt daher wohl die Annahme, dass Hermann dem Kleriker Albrecht den Auftrag erteilte, eine deutschsprachige Bearbeitung der ‚Metamorphosen‘ zu schaffen, einer Dichtung, die thematische Bezüge zu den Antikenromanen Veldekes und Herborts aufwies (Jason und Medea, Zerstörung Trojas, Fahrt des Ulixes). Sollte dies zutreffen, käme eher das Datum 1190 als 1210 für den Beginn der Arbeit in Frage.75 Ob Albrecht sich allerdings je am Thüringer Hof aufhielt, wissen wir nicht; dagegen können wir das Umfeld, in dem er arbeitete, wenigstens in Umrissen ausmachen. Seine Dichtung entstand dem Prolog zufolge „Auff eynem Berg wolbekandt / Er ist Zechenbuch genant“ (v. 97 f.). Mit „Zechenbuch“ ist, wie J. Grimm erkannte, das Augustiner-Chorherrenstift Jechaburg bei Sondershausen gemeint, dessen Obervogt der Landgraf war.76 Das Kollegiatstift Jechaburg war einer der Thüringer Archidiakonatssitze, nächst dem Erfurter Marienstift der größte Archidiakonat. Sein Gebiet reichte von der Unstrut bis zum Harz, die Pröpste kamen aus den Reihen der Mainzer Domherren, also aus edelfreien Geschlechtern Westdeutschlands.77 Vielleicht darf man auch in Albrecht einen Adligen sehen. Es hat nicht an Versuchen gefehlt, ihn mit einem der Träger dieses Namens zu identifizieren, die sowohl in Halberstadt wie in Jechaburg nachgewiesen sind.78 75
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Karl Helm: Heinrich von Morungen und Albrecht von Halberstadt. In: PBB 50 (1927), S. 143–145, vermutete Berührungen zwischen Albrecht und Morungen, wobei er besonders an dessen Lied XXXII dachte, womit eher das Datum 1190 in Frage käme. Für 1210 votierten u. a. Friedrich Neumann: Meister Albrechts und Jörg Wickrams Ovid auf Deutsch. In: PBB (T) 76 (1955), S. 321–389, hier 326 ff., und Kurt Ruh: Höfische Epik des deutschen Mittelalters. Teil I. Von den Anfängen bis zu Hartmann von Aue. 2., verbesserte Aufl. Berlin 1977 (Grundlagen der Germanistik 7), S. 93. Bei Wickram heißt es Zechenbuch. Die Namenform zu Jecheburc stellte Bartsch her, vgl. S. 304. Vgl. Rudolf Herrmann: Thüringische Kirchengeschichte. Bd. 1. Jena 1937 (Register); Schulze (Anm. II, 74), S. 53 und 88 f.; Thüringen (Anm. II, 67), S. 214 f. Vgl. Karl Stackmann: Albrecht von Halberstadt. In: VL, Bd. 1 (1978), Sp. 187–191, hier 188; ders.: Ovid im deutschen Mittelalter. In: Arcadia 1 (1966), S. 231–254.
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Zu den erhaltenen Partien, die eine Beurteilung der dichterischen Leistung Albrechts erlauben, gehört die Erzählung vom musikalischen Wettstreit zwischen Pan und Apollon.79 Pan, der Gott des Kleinviehs, der sich mit seinem Spiel auf der Rohrflöte unübertroffen dünkt, fordert den Gott der Dichtkunst und Musik zum Wettstreit heraus und wird vom Schiedsrichter – dem lydischen Berg Tmolus – nach der bewegenden Darbietung Apollons aufgefordert, sich geschlagen zu geben. Das Urteil ist einhellig, allein der törichte König Midas tritt für Pan ein.80 Apollon bestraft ihn dafür mit Eselsohren, die er schamvoll unter einem Turban zu verbergen sucht. Ein Diener entdeckt das Geheimnis, und da er es nicht laut auszusprechen wagt, gräbt er eine Grube, raunt es hinein und schüttet die Grube zu. An dieser Stelle wächst Schilf empor und säuselt, vom Südwind bewegt, die begrabenen Worte, sodass die Schmach des Königs bekannt wird. Albrecht erzählt diese Geschichte ohne größere Abweichungen nach.81 Einige Zusätze und Änderungen zielen auf die Annäherung des Geschehens an den Verständnishorizont seines Publikums: Der Schiedsrichter „tynolus“82 ist Herr der „wichte“ (v. 4), Pan der „got der twerge“ (v. 25), der purpurne Turban des Königs wird durch „eine hûben von zindale“ (v. 40) ersetzt. Albrecht von Halberstadt hat eine im Ganzen genaue und gewandte Übertragung des Ovidschen Epos geschaffen. Sein Hauptanliegen scheint er darin gesehen zu haben, den Text einem mit der antiken Mythologie nur wenig vertrauten Publikum aufzuschließen. Er entfernt sich kaum von seiner Vorlage, übersetzt jedoch nicht schulmäßig Wort für Wort, sondern lässt, – immer um Verständnissicherung bemüht – mitunter eine Stelle weg (z. B. den Schmuck, in dem Phoebus zum Kampf gerüstetet erscheint) und erzählt eine andere ausführlicher. Nicht alle mythologischen Bezüge gibt er unverändert wieder. Die Behauptung, mit manchen habe er Schwierigkeiten gehabt, überzeugt nicht restlos. Eher wohl war er bestrebt, die antik-heidnische Welt seiner
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Vgl. Publius Ovidius Naso. Metamorphosen. Hg. und übersetzt von Gerhard Fink. Düsseldorf, Zürich 2004 (Sammlung Tusculum), XI 146–193. Den Versen XI 156–193 entsprechen v. 1–71 von Fragment B, Berlin, SBB PK, mgf. 831, früher Oldenburg, Großherzogl. Archiv, ein Pergament-Doppelblatt. Fragment B (MRDH: Fragment a, 28. 4. 2010) wurde hg. von Wilhelm Leverkus: Aus Albrechts von Halberstadt Übersetzung der Metamorphosen Ovids. In: ZfdA 11 (1859), S. 358–374, hier 360–362. In der Ausgabe von Bartsch (Anm. 73) ist die Partie S. 205–207 eingefügt. Midas verkörpert in der antiken Mythologie den Tölpel. Dafür stehen sein törichter Wunsch, mit seiner Berührung alles in Gold zu verwandeln (Met. XI, 81–145), wie sein künstlerisches Fehlurteil. Albrechts Vorlagennähe zeigt sich z. B. bei der Beschreibung der Eselsohren des Midas. Met. XI 176 f. entsprechen Albrechts Verse 35 f. genau. Die als Verlesung von Tmolus zu erklärende Form tynolus lässt vermuten, dass die Handschrift, zu der die Fragmente gehören, eine Abschrift war.
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Vorlage dem Verständnis des Publikums anzunähern, indem er den niederen römischen Gottheiten Namen des germanischen Volksglaubens gab. So gebietet der Gott des Berges Tmolus über Wichte und der Hirtengott Pan über Zwerge. Auch Tiernamen sind mehrfach geändert, und manchmal scheint Albrecht moralisch bedenkliche Stellen weggelassen zu haben. Wie die zitierten Prologverse zeigen, war er sich darüber im klaren, dass seine Sprache sich von der eines Schwaben oder Bayern, aber auch eines Thüringers unterschied. Doch verfasste er seine Bearbeitung nicht im Niederdeutschen seiner Herkunftsregion, sondern wählte eine von niederdeutschen Zügen fast freie Sprachform, die einen Kompromiss zwischen oberdeutscher und mitteldeutscher Tradition darstellte. Halten wir fest: Albrechts Ovid-Bearbeitung dürfte in Landgraf Hermann ihren Empfänger, vielleicht auch ihren Auftraggeber gehabt haben. Ob sie am Thüringer Hof oder auch andernorts rezipiert wurde, wissen wir der bruchstückhaften Überlieferung wegen nicht.83 Wenn sie, worauf einiges hindeutet, kein sonderlicher Erfolg wurde, dann wohl deshalb, weil ihr Stoff abseits der neuen Dichtung, besonders des höfischen Romans mit seinen konstitutiven Themen Minne und Abenteuer lag. Doch ist es methodisch nicht unproblematisch, aus ihrer geringen Wirkung im Umkehrschluss mangelnde dichterische Erfindungsgabe oder dichterisches Vermögen des Verfassers abzuleiten. Zudem war ihre Wirkung nicht ganz so gering, wie gewöhnlich behauptet. Neben der zerschnittenen Oldenburger Handschrift ist noch jene Handschrift zu berücksichtigen, die Wickram in den 40er Jahren des 16. Jahrhunderts erwarb und die einen guten Text bot.84 Lässt sich ein Auftrag Hermanns an den Halberstädter Kleriker auch nicht sichern, gibt es doch ein Zeugnis, das die Annahme stützt, dass antike Stoffe und Themen das persönliche Interesse des Landgrafen fanden. Die Kasseler Bibliothek besitzt eine Sammelhandschrift Fuldaer Provenienz, die auf f. 1r folgende Randnotiz aufweist: H[ermannus] d[e]i gra[tia] Th[uringi]e lantgra(vius) et Saxonie comes palat(inus).85 Der gegen Ende des 10. Jahrhunderts gefertigte und von mehreren Händen korrigierte und glossierte Codex enthält das Epos des römischen Epikers Lucan über den Bürgerkrieg zwischen Caesar und Pompeius, in der handschriftlichen Überlieferung ‚Bellum civile‘ betitelt, aber auch 83
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Die Zwischenüberschrift in der Handschrift: wie laomedon mein eide wart, darf vielleicht als ein Hinweis auf die Rezeptionsform Lektüre gedeutet werden. Wir wissen nichts darüber, wo Wickram in den Besitz der Handschrift gelangte. Denkbar wäre, dass die Erzdiözse Mainz eine Mittlerfunktion ausübte. 1598 erwähnte Cyriacus Spangenberg Albrechts Werk in seiner Schrift ‚Von der Musica und den Meistersängern‘. Zit. nach Manuscripta poetica et romanensia. Manuscripta theatralia. Bearb. von Birgitt Hilberg. Wiesbaden 1993 (Die Handschriften der Gesamthochschulbibliothek Kassel. Landesbibliothek und Murhardsche Bibliothek der Stadt Kassel 4/2), S. 13. Vgl. Gustav Struck: Handschriftenschätze der Landesbibliothek Kassel. Marburg 1930 (Die Landesbibliothek Kassel 1580–1930. Teil 2), S. 11 ff.
1. ANTIKENDICHTUNG
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bekannt als ‚Pharsalia‘.86 Dürfte man die Randnotiz als Besitzeintrag deuten, läge der überaus seltene Fall vor, dass ein deutscher Laienfürst über lateinische Bildung verfügte und sich für eine lateinischen Dichtung der Antike interessierte, die man als Geschichte las. Lucan war ein Lieblingsautor des Mittelalters, man las ihn in der Schule; Konrad von Hirsau, Hartmann von Aue87 und Hugo von Trimberg erwähnen ihn, Herbort von Fritzlar war mit ihm vertraut, Dante und Petrarca begeisterten sich für ihn, und erst im 18. Jahrhundert verlor er im Zusammenhang der intensiven Homer-Rezeption an Beliebtheit. Dachte der Landgraf daran, eine volkssprachige Bearbeitung des Epos anfertigen zu lassen, die dann aus unbekannten Gründen nicht zustandekam oder verloren ging? Diese deutsche Adaptation, die einem wohl auf Lucan zurückgehenden französischen Caesar-Roman entspräche, gehörte dann in eine Reihe mit den Antikenromanen Veldekes und Herborts und der Ovid-Bearbeitung Albrechts von Halberstadt. Jener Eintrag wird heute mitunter skeptisch beurteilt. So meinte Ursula Peters zweifelnd: „Wenn es sich bei diesem Eintrag tatsächlich um einen Eigentümervermerk handelt, dann hätte Hermann sogar – eine Ausnahme unter den deutschen Laienfürsten – die Handschrift eines lateinischen Werks der klassischen Antike besessen.“88 Das Problem dürfte weniger darin liegen, jenen Eintrag als Besitzereintrag aufzufassen, woran von kodikologischer Seite nicht mehr gezweifelt wird.89 Das eigentliche Problem stellen die Konsequenzen aus diesem Befund dar. Hermann müsste wohl als ein lateinisch gebildeter Laienfürst betrachtet werden, und diese Annahme wird heute nahezu einhellig zurückgewiesen. Die ältere Forschung urteilte noch anders: vom späten 19. Jahrhundert bis in die 60er Jahre des 20. Jahrhunderts war in zahlreichen Handbüchern zu lesen, Hermann habe in seiner Jugend am französischen Hof geweilt und an der 86
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Kassel, UB, LB und Murhardsche Bibl. der Stadt, 2° Mss. poet. et roman. 5. Der mit zahlreichen Marginal- und Interlinearglossen versehene Band enthält Suetons Lucan-Vita (f. 1r), das „Argumentum primi libri“ (f. 1v) und die ‚Pharsalia‘ (f. 2r–130v). Hartmann erwähnt „Lûcânus“ im ‚Erec‘, v. 5218. Peters (Anm. 14), S. 19. Nach Lemmer (Anm. I, 33), S. 39, stammt die Handschrift „aus landgräflichem Besitz“. In dem Anm. 85 genannten Handschriftenkatalog ist der Eintrag unter der Rubrik „Besitzvermerke“ angeführt. Wie der Codex aus landgräflichem Besitz nach Fulda gelangte, ist jedoch nicht restlos klar. Karl Christ: Die Bibliothek des Klosters Fulda im 16. Jahrhundert. Die Handschriften-Verzeichnisse. Leipzig 1933 (Zentralblatt für Bibliothekswesen. Beih. 64), S. 210, vermutete, er sei nach Hermanns Tod nach Fulda gelangt: „Ich stimme mit Struck überein, daß ein Besitz-Eintrag vorliegt und dieser auf den Landgrafen Hermann I. von Thüringen (1190–1216) zu beziehen ist, wie es bereits J. Grimm in dem Kasseler Katalog getan hat: Fuit igitur eo tempore codex noster penes principem istum, quem bonorum artium et poeseos amatissimum fuisse constat.“ Ob die Handschrift sich zuerst in Fuldaer oder in landgräflichem Besitz befunden habe, sei kaum auszumachen. Der Eintrag sei um 1200 oder eher noch in der ersten Hälfte des 13. Jh. vorgenommen worden.
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III. LITERATUR IM UMKREIS DES LANDGRAFENHOFS
Hohen Schule in Paris wissenschaftliche Studien getrieben, woraus meistens auch sein Verständnis und Interesse für Bearbeitungen antiker Stoffe erklärt wurde. Zugrunde liegt dieser Annahme der Brief eines lantgravius namens Ludwig – vermutlich Ludwigs II. des Eisernen – an Ludwig VII. von Frankreich, den man auf 1161/62 datiert.90 Darin äußert der Landgraf die Absicht, allen seinen Söhnen eine umfassende literarische Ausbildung zuteil werden zu lassen; wer von ihnen die größte Begabung zeige, solle bei den Wissenschaften bleiben. Zunächst wolle er zwei schicken, die er den König an seinem Hof aufzunehmen bitte, damit sie sich unter seinem Schutz längere Zeit in Paris aufhalten und an der Hohen Schule studieren könnten. Das sei indes erst möglich, wenn die starke Spannung zwischen ihm (dem Landgrafen) und dem Kaiser nicht mehr bestehe.91 Auf diesen Brief rekurrieren die erwähnten Handbücher, wenn auch oft unausgesprochen. So liest man in einem älteren Sammelwerk über die Wartburg: „Indessen Landgraf Hermann, der die Pariser Hochschule besucht hatte, der keinen Abend zur Ruhe ging, ohne sich aus der heiligen Schrift oder aus profanen Heldenbüchern lateinisch oder deutsch vorlesen zu lassen [...].“92 Der Historiker Karl Wenck, von dem dieser Satz stammt, hätte bei dem von ihm paraphrasierten Chronikbericht nur an eine ganz ähnliche Formulierung in Einhards ‚Vita Caroli Magni‘ denken müssen, um sich ihres topischen Charakters bewusst zu werden. Schwerer wiegt sein unkritischer Umgang mit jenem Brief; denn schon im 17. Jahrhundert fragte man nach seiner Echtheit wie nach seiner Entstehungszeit und dachte auch an das 15. Jahrhundert, womit sich die Frage nach Hermanns Parisaufenthalt erledigt hätte.93 Heute
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Vgl. Wolfgang Brandt: Landgraf Hermann I. von Thüringen in Paris? Abbau einer germanistischen Legende. In: Fs. Friedrich von Zahn. Hg. von Reinhold Olesch u. Ludwig Erich Schmitt. Bd. II. Zur Sprache und Literatur Mitteldeutschlands. Köln, Wien 1971 (Mitteldt. Forsch. 50/II), S. 200–222. Der Brief gehört zu einer Sammlung, die wohl Hugo von Champfleury, Bischof von Soissons und Kanzler des französischen Königs, bei seinem Eintritt in das Pariser Augustiner-Chorherrenstift St. Victor mitbrachte. Abdruck: Brandt (Anm. 90), S. 208 f. Karl Wenck: Die heilige Elisabeth. In: Die Wartburg. Ein Denkmal Deutscher Geschichte und Kunst. Dem deutschen Volke gewidmet von Grossherzog Carl Alexander von Sachsen. Hg. von Max Baumgärtel. Berlin 1907, S. 181–210, hier 190 f. Als Grundlage diente wohl die Charakteristik Hermanns durch Friedrich Köditz: „her enging ouch seldin zu bette, he enhette denne vor gehort etwaz gutir rede unde collacien, enzwar von der heiligen schrift zu latin adir zu dutsch, adir von der mutigin freidekeit der aldin furstin unde hern. alsus hatte her lust unde libe zu der schrift.“ Das Leben des heiligen Ludwig, Landgrafen in Thüringen, Gemahls der heiligen Elisabeth. Nach der lateinischen Urschrift übersetzt von Friedrich Ködiz von Salfeld. Hg. von Heinrich Rückert. Leipzig 1851, S. 8, 7–11. Hinsichtlich der Echtheit des Briefs bemerkte Wilhelm Wattenbach: Deutschlands Geschichtsquellen im Mittelalter. Bd. 2. 6. Aufl. Berlin 1894, S. 367: „Ist er echt, so muß der Landgraf einen elenden Concipienten gehabt haben.“
2. ZWEIFELHAFTES
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hält man den Brief für echt und denkt ihn sich 1162 entstanden. Doch weder ist die Identität jenes lantgravius mit Ludwig II. sicher, noch wissen wir, ob der Landgraf sein Vorhaben verwirklichen konnte; und selbst wenn beide Fragen positiv zu beantworten wäre, fehlte der Beweis dafür, dass sich unter den zwei Söhnen, die er nach Paris schickte, Hermann befand. Fraglos hingegen ist Hermanns Mäzenatentum auf dem Gebiet der Buchmalerei. Um 1211/13 gab er vermutlich in einem thüringischen Skriptorium den sogenannten Landgrafenpsalter in Auftrag, eine frühgotische Prachthandschrift, ausgestattet mit einem System von Initialen und Deckfarbenmalereien auf Goldgrund, darunter ein Bildnis des Stifterpaars Hermann und Sophie von Bayern (angeregt vielleicht durch das Evangeliar Heinrichs des Löwen). Etwa zeitgleich entstand das Psalterium der Elisabeth, so benannt, weil es nach einer Eintragung des 14. Jahrhunderts aus dem Besitz der Landgräfin Elisabeth stammt.94
2. Zweifelhaftes Man möchte die Reihe Veldeke – Herbort von Fritzlar – Albrecht von Halberstadt um die Erzählung von ‚Athis von Prophilias‘ verlängern, die sich zeitlich, sprachlandschaftlich und wohl auch stofflich den literarischen Interessen des Landgrafenhofs, wie jene Dichtungen sie erkennen lassen, einfügen ließe. Doch während die Beziehung jener Werke zum Thüringer Hof aus entsprechenden Aussagen in den Rahmentexten hervorgeht, fehlt ein solcher Beleg für ‚Athis und Prophilias‘. Nimmt man diese und verwandte Epen, für deren Verbindung mit der Literaturlandschaft Thüringen mehr oder weniger gute Gründe sprechen, in ihrer Gesamtheit in den Blick, stellen die Romane Veldekes und Herborts und der noch zu behandelnde ‚Willehalm‘ Wolframs von Eschenbach eher Ausnahmen dar. Weit häufiger sieht man sich bei dem Versuch, eine Literaturgeschichte der Region Thüringen zu entwerfen, vor die Schwierigkeit gestellt, dass die Texte weder Hinweise auf den Dichter noch auf den Landgrafen als Auftraggeber oder als Vermittler der Vorlage enthalten, nicht selten schon der trümmerhaften Überlieferung wegen. Wir haben es mit Dichtungen zu tun, deren Verfasser wir nicht kennen, deren Rahmentexte 94
Der Landgrafenpsalter. Vollständige Faksimile-Ausgabe im Originalformat der Handschrift HB II 24 der Württembergischen Landesbibliothek Stuttgart. Mit Kommentarband. Hg. von Felix Heinzer Graz, Bielefeld 1992 (Codices selecti. Phototypice impressi 93). Das Skriptorium vermutete man in Reinhardsbrunn wie im Eisenacher Benedikterinnenkloster St. Nikolaus. Vgl. Kurt Degen: Die Kunst im Mittelalter. In: Geschichte Thüringens. Hg. von Hans Patze u. Walter Schlesinger. Bd. II. Hohes und spätes Mittelalter. Teil 2. Köln 1973 (Mitteldt. Forsch. 48/II/2), S. 250–305, hier 268 f.; Bumke (Anm. III, 14), S. 161 f.
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III. LITERATUR IM UMKREIS DES LANDGRAFENHOFS
verloren sind oder die überhaupt nur in Bruchstücken vorliegen, sodass ihre Datierung und Lokalisierung problematisch und ihre Verbindung mit einem literarischen Zentrum wie dem Landgrafenhof hypothetisch bleibt – ein Beispiel wurde mit Albrecht von Halberstadt bereits behandelt. Da diese Probleme sich für eine größere Zahl erzählender Dichtungen der Zeit um 1200 ähnlich stellen, sollen sie zunächst zusammenfassend skizziert werden. In den meisten Literaturgeschichten und regional orientierten literarhistorischen Abrissen ist es seit Schröder, Schwietering und de Boor üblich, eine Gruppe früh- und hochhöfischer Epen anzusetzen, deren Gemeinsamkeiten im Stofflichen (antike und antikisierende Stoffe, Fehlen des Artusstoffs) und im Sprachlichen (Entstehung im rheinfränkisch-hessisch-thüringischen, also mitteldeutschen Raum) liegen und die sich von der durch Autoren wie Hartmann von Aue und Wolfram von Eschenbach und die stoffliche Dominanz der matière de Bretagne geprägten Erzählkunst des oberdeutschen Raums abheben.95 Auch wenn diese Gruppe in jedem Handbuch etwas anders aussieht, lässt sich doch ein Grundbestand ausmachen. Er umfasst: Eilharts von Oberg ‚Tristrant‘, ‚Graf Rudolf‘, Veldekes Eneasroman, Herborts von Fritzlar Trojaroman, Albrechts von Halberstadt ‚Metamorphosen‘-Dichtung, ‚Athis und Prophilias‘, ‚Pilatus‘ und Ottes ‚Eraclius‘. Trojaroman und Ovid-Bearbeitung wurden bereits behandelt. Eilharts ‚Tristan‘, den man im Lauf der Forschungsgeschichte vom Rheinfränkischen bis zum Thüringischen in den verschiedensten Gegenden des mitteldeutschen Sprachraums hat verorten wollen, kann hier übergangen werden, da er nach heutigem Kenntnisstand zu Beginn der 70er Jahre des 12. Jahrhunderts für ein Publikum am Niederrhein entstand.96 Für den ‚Eraclius‘ – eine Bearbeitung des ‚Eracle‘ des französischen Epikers Gautier d’Arras – fehlen hinreichende Indizien für eine Verbindung mit dem Thüringer Hof. Die ältere Forschung sah in Otte aus sprachlichen Gründen zumeist einen Hessen und erklärte die oberdeutschen Züge seiner Sprache mit seinem Wirken in einem anderen Sprachraum. Besonders Schröder meinte das Problem seiner „Sprachmischung“ bis ins Detail klären zu können: Der Kleriker Otte stamme aus Osthessen, habe sich in jungen Jahren nach Bayern gewandt und sei später am Landshuter Hof der bayerischen Wittelsbacher in der Kanzlei tätig gewesen.97 Damit wäre nicht nur das Nebeneinander mittel- wie auch oberdeutscher 95
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Edward Schröder: Der Dichter des deutschen ‚Eraclius‘. Ein Beitrag zur altbayerischen Literaturgeschichte. München 1924 (Sitzungsberichte der Bayerischen Akad. d. Wiss. Philos.-philol. u. hist. Kl. Jg. 1924. 3. Abteilung), S. 1–18, grenzte sowohl eine Gruppe altthüringischer wie hessischer Denkmäler ab. In Frage kommen die Grafen von Looz (Loon) oder der Limburger Herzogshof. Vgl. Ludwig Wolff u. Werner Schröder: Eilhart von Oberg. In: VL, Bd. 2 (1980), Sp. 410–418. Vgl. Schröder (Anm. 95).
2. ZWEIFELHAFTES
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Merkmale in seiner Sprache geklärt, sondern auch die Selbstcharakteristik als „ein gelêrter man“ (v. 136) im Prolog. Derartige Annahmen über Herkunft, Bildung und Wirkungsort des Dichters werden heute als spekulativ zurückgewiesen; man setzt den Roman zumeist zwischen 1190 und 1230 oder auch erst nach der Mitte des 13. Jahrhunderts an und lässt die Frage nach Auftraggeber und Publikum offen. Richtig ist, dass Schröder den Beweis für seine Verbindung des Dichters mit dem Landshuter Hof schuldig geblieben ist; aber auch in den heutigen Nachschlagewerken finden sich unbeweisbare Annahmen wie die, dass Otte um 1230 für ein städtisches Publikum in Regensburg oder Wien gearbeitet habe.98 Es muss daher einstweilen bei der negativen Feststellung bleiben, dass die Verbindung des Dichters mit dem Thüringer Hof oder einem anderen literarischen Zentrum noch nicht gelungen ist. Eher in die Richtung der alten These Schröders und der neueren Hinweise auf Regensburg und Wien weist die Überlieferung: Alle drei erhaltenen Handschriften (13. und 14. Jahrhundert) stammen aus dem bairischen bzw. dem bairischösterreichischen Sprachraum. Der mitteldeutsche ‚Pilatus‘ wird im Rahmen der geistlichen Literatur vorgestellt. Es verbleiben also zwei Dichtungen, ‚Graf Rudolf‘ und ‚Athis und Prophilias‘. Der frühhöfische Roman, dem W. Grimm den Titel ‚Grave Ruodolf‘ gab, erzählt von dem jungen Rudolf von Arras, Graf von Flandern, der einem päpstlichen Kreuzzugsaufruf folgend ins Heilige Land zieht, dem christlichen König Gilot von Jerusalem dient und sich in wechselvollen Kämpfen gegen die Heiden vor Askalon auszeichnet. Später tritt er zur gegnerischen Seite über, der des Sultans Halap, dessen Tochter er in Liebe zugetan ist. In ihrem Gemach kommt es zum Minnegespräch; Rudolf gesteht ihr: „ich minne uch ane maze“ ‚ich liebe euch grenzenlos‘ (Fragm. E, v. 18). Fortan kämpft er – ein höchst auffälliges Motiv nicht nur für eine Kreuzzugserzählung – erfolgreich gegen die Christen, jedoch, um sie zu schonen, „mit vlacheme sverte“ (Fragm. Fb, v. 53). Im Folgenden stehen nicht mehr die kriegerischen Vorgänge im Heiligen Land im Vordergrund, sondern die Schicksale des Paars. Zur Kreuzzugsthematik tritt also die des Minne- und Abenteuerromans mit dem Schema von Trennung und Wiederfinden in der Tradition des hellenistischen Romans. Da der Text unvollständig ist, bleibt manches undeutlich. Es kommt offenbar zur Trennung des Paars. Die Geliebte erscheint am Hof des Königs von Konstantinopel, begleitet von Rudolfs Neffen Bonifait, während Rudolf in einem christlichen Land in Gefangenschaft geraten zu sein scheint. Zunächst hat sie sich der Werbung des byzantinischen Königs zu
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Vgl. Walliczek (Anm. I, 10), Sp. 200. Johnson (Anm. 12), S. 375, schloss eine Tätigkeit Ottes in einer Stadt wie Landshut oder Regensburg nicht aus. Entstand der ‚Eraclius‘ erst um 1220/30, kommt der Thüringer Hof ohnehin kaum mehr in Frage.
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erwehren, später lässt sie sich auf den Namen Irmengart taufen, ein Motiv, das in Wolframs von Eschenbach ‚Willehalm‘ wiederkehren wird. Rudolf gelingt mit Hilfe eines aus Mänteln zusammengewundenen Seils die Flucht aus dem Kerker; schwer verwundet, schleppt er sich fort. Dann findet das Paar in Konstantinopel wieder zusammen, der Trennung folgt die glückliche Wiedervereinigung. Heimlich verlassen sie den Hof, um in Rudolfs Heimat zu ziehen. Nachts wird die Gruppe von Räubern überfallen. Irmengarts Kämmerer Bonifait will den Grafen nicht wecken und fällt im Kampf. Rudolf erschlägt die Räuber. Mit seinen Klagen um den treuen Freund bricht der Text ab. Wahrscheinlich hätte am Ende das glückliche Leben des Paars in Rudolfs Heimat gestanden. Wir haben es mit einem originellen Werk zu tun, dessen Facetten mit der oft begegnenden Charakteristik als Kreuzzugsepos oder Kreuzzugsroman kaum erschöpfend angedeutet sind. Denn Motive wie die Reise des Helden nach Osten, die Erwerbung einer Braut und der Aufenthalt im Heiligen Land weisen in die Richtung der frühhöfischen Spielmannsepen. Der Roman ist nur fragmentarisch überliefert. Wir besitzen 14 Fragmente einer Pergamenthandschrift, die dem ersten Viertel des 13. Jahrhunderts angehören dürfte, insgesamt rd. 1400 lesbare Verse – vielleicht ein Drittel oder Viertel des Ganzen.99 Anfang und Ende fehlen, und im Inneren gibt es große Lücken. Schon Namen wie Beatrise und Bonifait lassen an eine französische Vorlage denken. Doch ist eine solche nicht erhalten, sodass auch über die Arbeitsweise des Dichters nicht einmal Vermutungen möglich sind. Als Vorlage postulierte man einen ‚Raoul d’Arras‘, eine im nördlichen Frankreich oder in Flandern entstandene Dichtung, womit jedoch bestenfalls eine Arbeitshypothese gewonnen ist. Es scheint, als habe die französische Vorlage romanhafte Züge mit solchen der Chanson de geste-Tradition vereint. Am nächsten steht dem mittelhochdeutschen Gedicht der zweite Teil des französischen Epos ‚Bueve de Hantone‘, das in vier Fassungen des 13. Jahrhunderts überliefert, dessen Stoff jedoch bereits im 12. Jahrhundert bezeugt ist.100 Auch 99
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Ed.: Graf Rudolf. Hg. von Peter F. Ganz. Berlin 1964 (Ph. Stud. u. Qu. 19). Zur Überlieferung vgl. Hellgardt (II, Anm. 96), S. 66, Nr 163. Zur Datierung K. Schneider (Anm. II, 64), S. 117. Thordis Hennings: Französische Heldenepik im deutschen Sprachraum. Die Rezeption der Chansons de Geste im 12. und 13. Jahrhundert – Überblick und Fallstudien. Heidelberg 2008, 171, meinte: „Die Fragmente des ‚Graf Rudolf‘ bleiben in der deutschen literarischen Gattungslandschaft isoliert, aber auch ihre Verankerung in der französischen ist Spekulation.“ Der Ansatz des ‚Bueve de Hantone‘ um 1215/30 schließt eine Rezeption nicht zwingend aus, da die erhaltenen Fassungen wohl bereits überarbeitet sind und die „Ursage“ schon im 12. Jh. bekannt gewesen sein dürfte. Vgl. Hennings (Anm. 99), S. 168 f., sowie Hartmut Beckers: „Wandel vor sine missetat“. Schuldverstrickung und Schulderkenntnis im ‚GrafRudolf‘-Roman. In: „Von wyßheit würt der mensch geert ...“ In: Fs. Manfred Lemmer. Hg. von Ingrid Kühn u. Gotthard Lerchner. Frankfurt a. M., Berlin, Bern 1993, S. 17–37.
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eine genauere zeitliche Einordnung des deutschen Gedichts bereitet Schwierigkeiten. Die Diskussion um seine Datierung hat ergeben, dass eine zeitliche Festlegung auf die Jahre 1170/73 nicht zu sichern, sondern dass ein größerer zeitlicher Rahmen von 1170 bis 1190 anzusetzen ist. Heute pflegt man den Text zeitgleich mit dem Abschluss von Veldekes Roman anzusetzen, um 1187/90 oder auch erst im folgenden Jahrzehnt.101 Über den Verfasser lässt sich kaum mehr sagen, als dass er des Französischen mächtig war und mit höfischem Leben vertraut, weniger dagegen mit den Verhältnissen in Outremer. Seine Sprache oder doch die der Fragmente ist mitteldeutsch; aber ob sie nach Thüringen (Bartsch), Hessen (Bethmann) oder in den maasländisch-rheinischen Literaturkreis (Sanders) weist, ist beim gegenwärtigen Forschungsstand kaum zu entscheiden.102 Eine Beziehung zum Thüringer Hof scheint plausibler als die von Sanders erwogene zum Kölner Erzbischof Philipp von Heinsberg, sie lässt sich jedoch nicht beweisen.103 Die wichtigste Beobachtung, die in die Richtung Thüringens weist, ist die, dass der Roman in der Nachfolge des Eneasromans steht, dem sicher die Priorität zukommt.104 Im letzten erhaltenen Textstück wird die Liebesnacht Rudolfs und Irmengarts in Konstantinopel geschildert, und hier heißt es: die schone kuniginnen intfienc mit vrolichem mùte den edelen greven gùten. sie tvanc in zu iren brusten, lipliche sie in cùste. sie nam in under iren mantel (Fragm. Ib, v. 9–14). 101
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Nach Volker Schupp: Zur Datierung des ‚Grafen Rudolf‘. In: ZfdA 97 (1968), S. 37–56, hier 54, war der Roman „vor 1187, spätestens aber vor 1190 vollendet“. Während Schupp, S. 51, meinte, dass das Gedicht weder Vorläufer noch Nachfolger von Veldekes Roman, vielmehr „gleichzeitig mit Heinrichs zweiter Schaffensperiode“ entstanden sei, betonte Hans Fromm: Der ‚Graf Rudolf‘. In: PBB 119 (1997), S. 214–234, hier 218, die Priorität des Maasländers: „Der Dichter des ‚Grafen Rudolf‘ hat den Eneasroman Veldekes und die durch diesen berühmt gewordene Minnesprache wahrscheinlich gekannt.“ Schon Wilhelm Scherer: Geschichte der deutschen Dichtung im elften und zwölften Jahrhundert. Straßburg, London 1875 (QF 12), S. 129–137, hier 129, setzte den Roman „nach Thüringen“. Schröder (Anm. 95), S. 6, rechnete ihn zu den „altthüringischen Denkmäler[n]“ und zu den Denkmälern, die die Literaturgeschichte „nach Hessen weist“ (S. 10). Fromm (Anm. 101), S. 214: „Von der Sprache läßt sich nicht viel mehr sagen, als daß sie mitteldeutsch ist.“ Ähnlich neuerdings Hennings (Anm. 99), S. 166, Anm. 5. Vgl. Bumke (Anm. 14), S. 106–108; ders. (Anm. II, 130), S. 69. Ähnlich schon Schupp (Anm. 101), S. 56: „Will man nicht mehr als die der Datierung am nächsten liegende Vermutung wagen, so kann man zur Thüringenhypothese zurückkehren. Sprachliche Argumente lassen diese Herkunft des ‚Grafen Rudolf‘ möglich erscheinen, ohne den schlüssigen Beweis zu liefern.“ Nach Schupp, S. 54, kann man „mit einiger Wahrscheinlichkeit sagen, daß der ‚Graf Rudolf‘ in Veldekes Wirkungsbereich gehört“.
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III. LITERATUR IM UMKREIS DES LANDGRAFENHOFS
Es ist wohl mehr als ein Zufall, dass die von W. Grimm als alte Rechtsgeste erkannte Wendung „sie nahm ihn unter ihren Mantel“ sich bereits bei Veldeke findet. Als Eneas und die Königin Dido bei einem Unwetter unter einem Baum Zuflucht und hier zueinander finden, heißt es: dô mûste daz werden, des lange gegeret was. dô nam der hêre Ênêas die frouwen under sîn gewant (v. 1832–1835).105
Es bleibt ein Fazit zu ziehen. Die zweifelsfreie Zuordnung des Romans zu einem literarischen Zentrum und damit einer literarischen Landschaft ist beim heutigen Forschungsstand nicht möglich. Doch wird man, da seine Verbindung mit dem maasländisch-rheinischen Raum nicht überzeugen konnte und in Hessen in der fraglichen Zeit ein literarisches Zentrum nicht auszumachen ist, der mehrfach geäußerten Annahme, der ‚Graf Rudolf‘ sei am oder für den Hof Landgraf Ludwigs III. entstanden, größeres Gewicht einräumen müssen.106 Diese Annahme gewinnt noch dadurch an Plausibilität, dass die ältere Datierung um 1170 heute überwiegend zugunsten eines späteren Ansatzes in den ausgehenden 80er oder frühen 90er Jahren aufgegeben ist, womit der ‚Graf Rudolf‘ von frühhöfischen Epen wie dem ‚Trierer Floyris‘ und Eilharts ‚Tristrant‘ fortgerückt wird und in die zeitliche Nähe von Veldekes Roman tritt. Auch die räumliche Nähe wird durch den sprachlichen Befund nicht ausgeschlossen; die zitierten Verse aus Fragment Ib lassen einen literarischen Zusammenhang zumindest vermuten. Träfe die Verbindung des Romans mit dem Thüringer Hof zu, hieße das, dass die literarischen Interessen des Landgrafenhofs sich damals nicht auf Stoffe antiker Thematik beschränkten, sondern auch den Themenkreis von Liebe und Abenteuer einschlossen. Auch ‚Athis und Prophilias‘ kennen wir nur aus einer Reihe von Fragmenten, deren Schreibsprache in das nördliche Mitteldeutsche weist.107 Es erregte 105
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Übers. „Da geschah nun, was lange schon ersehnt worden war: Herr Eneas nahm die Dame unter seinen Mantel.“ Für die Wirkung von Veldekes Schilderung sprechen auch die Verse 1613–1615 der höfischen Verserzählung ‚Moriz von Craûn‘: „si begreif in mit den armen. / nu begunde er ouch erwarmen / und tet der frouwen, ichne weiz waz“, die wie ein Zitat des Eneasromans klingen, in dem es heißt: „her begreif si mit den armen. / do begunde ime irwarmen / al sîn fleisch und sîn blût“ (v. 1837–1839). Zur Rechtsgeste vgl. A. Fink: Mantel. In: HRG, Bd. 3 (1984), Sp. 251—254. Ganz (Anm. 99), S. 20, hielt für „durchaus möglich oder sogar wahrscheinlich, daß der Graf Rudolf am oder für den Hof Ludwigs des Frommen verfaßt wurde“. Vgl. auch Bumke (Anm. 14), S. 107. Ed.: Mittelhochdeutsches Übungsbuch. Hg. von Carl von Kraus. 2., vermehrte und geänderte Aufl. Heidelberg 1926 (Germ. Bibliothek. I. Sammlung germ. Elementar- und Handbücher. III. Reihe, 2), S. 63–82 u. 276–279. Vgl. Peter Ganz: ‚Athis und Prophilias‘. In: VL,
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schon die Aufmerksamkeit W. Grimms, der das Gedicht seiner besonderen literarischen Qualität wegen rühmte und in einer Edition vorlegte. Der mitteldeutsche Anonymus schuf eine wohl sehr freie, dabei kürzende Bearbeitung eines französischen Romans des späteren 12. Jahrhunderts, dessen Handlung in die Tradition der weitverzweigten sogenannten Freundschaftserzählung gehört, einer lehrhaften Erzählung über ideale Freundschaft. Zwei Männer beweisen einander ihre unverbrüchliche Treue, indem sie dem anderen die größten Opfer bringen: ihm die eigene Braut abtreten, ihn in einem gottesgerichtlichen Zweikampf vertreten, ihn mit dem Blut Unschuldiger vom Aussatz heilen usw. Diese Motive treten in den verschiedenen Varianten der Freundschaftserzählung teils gemeinsam, teils einzeln auf, einige davon in Konrads von Würzburg Roman ‚Engelhard‘ (1257/60). Die Handlung von ‚Athis und Prophilias‘ spielt in Athen und Rom, einem antiken Ambiente also, ohne dass der Stoff antike Wurzeln hätte wie die epischen Vorlagen, die Heinrich von Veldeke und Herbort von Fritzlar ihren Romanen zugrundelegten. Den Kern bildet eine orientalische Freundschaftserzählung, die im Abendland besonders durch die ‚Disciplina clericalis‘ des Petrus Alfonsi, eine lateinische Exempelsammlung des frühen 12. Jahrhunderts, bekannt wurde.108 Es handelt sich mithin um einen antikisierenden Roman, keinen Antikenroman im eigentlichen Sinn. Solche antikisierenden Erzählungen erscheinen gelegentlich auch noch später und in anderen Gattungskontexten, so die zu Athenis spielende Erzählung vom schweigsamen Philosophen Secundus. Auf Grund der bruchstückhaften Überlieferung muss die Handlung des deutschen ‚Athis‘ weithin aus der französischen Vorlage rekonstruiert werden.109 Der Römer Prophilias wird von seinem Vater zur Ausbildung nach Athen gesandt, wo er einen Freundschaftsbund mit Athis schließt. Als er dessen Verlobte Cardiones zu sehen bekommt, wird er von heimlicher Liebe zu ihr ergriffen, die ihn todkrank werden lässt. Als der Freund die Ursache seines Leidens erfährt, überlässt er ihm, um sein Leben zu retten, die Braut unberührt in der Hochzeitsnacht, wovon jene zunächst nichts bemerkt. Als er sie ihm auch in rechtlicher Form abtritt, wird er von seiner Familie enterbt und von den Freunden verstoßen, worauf er sich nach Rom wendet, um nun seinerseits vom Freund Hilfe zu erbitten. Da er sich von Prophilias missachtet
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Bd. 1 (1978), Sp. 511–514, und Bd. 11 (2004), Sp. 172 f. [Korr./Nachtr.]. Vgl. Petrus Alfonsi. Disciplina clericalis (das älteste Novellenbuch des Mittelalters) nach allen bekannten Handschriften. Hg. von Alfons Hilka u. Werner Söderhjelm. Heidelberg 1911 (Sammlung mittellateinischer Texte 1), Exemplum II: De integro amico, S. 4–6; Edith Feistner: Die Freundschaftserzählungen vom Typ ‚Amicus und Amelius‘. In: Fs. Herbert Kolb. Hg. von Klaus Matzel. Bern [u. a.] 1989, S. 97–130; dies.: ‚Amicus und Amelius‘. In: VL, Bd. 11 (2004), Sp. 85–87. Vgl. Erich Köhler: Mittelalter I. Hg. von Henning Krauß. Stuttgart [u. a.] 1985, S. 103–105.
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III. LITERATUR IM UMKREIS DES LANDGRAFENHOFS
glaubt, beschließt er seinem Leben ein Ende zu setzen und bezichtigt sich eines Mordes, dessen unfreiwilliger Zeuge er wurde. Nach altem Brauch (wie der Dichter versichert) schließt man ihn in eine ketínin (Fragm. A, v. 158), um ihn drei Tage lang den Römern zu präsentieren. Hier erkennt ihn der Freund und vergilt ihm die Freundestreue, indem er sich seinerseits jenes Mordes beschuldigt. Nachdem die wahren Mörder sich verraten haben und die Unschuld des Freundespaars offenbar wurde, soll – hier setzt der zweite Teil des französischen Romans ein – Athis eine Verbindung mit Gayete, der wunderschönen Schwester des Freundes, eingehen. Sie ist jedoch bereits dem mächtigen König Bilas von Sizilien versprochen, der sich der Braut mit militärischer Macht zu versichern sucht. Die Freunde greifen ihn vor den Toren Roms an und tragen den Sieg davon. Mit reicher Beute kehren sie nach Rom zurück, wo die Hochzeit eine Woche lang prächtig gefeiert wird. Dann kehrt Athis heim nach Griechenland. Hier hat das Freundespaar weitere Bewährungsproben zu bestehen, ehe sich alles glücklich fügt: unter Theseus und seinem Sohn Pirithous kämpfen sie gegen König Telamon von Korinth. Diese Kämpfe machen den dritten, mit den beiden vorangehenden nur lose verknüpften Teil aus. Die deutsche Bearbeitung des französischen Romans, dessen Verfasser Anregungen von den Antikenromanen und dem ‚Tristan‘ empfing, ist nur trümmerhaft erhalten. 13 Fragmente, Blätter bzw. Hälften oder Querstreifen eines Blatts, die sich drei Pergamenthandschriften des späteren 13. und des 14. Jahrhunderts zuordnen lassen, überliefern zusammen rd. 1560, teilweise unvollständige Verse. Alle drei Manuskripte weisen sprachlich in den mitteldeutschen Raum. Die Mehrzahl der Fragmente stammt aus einem Codex, dessen Schreibsprache als hessisch bestimmt wurde.110 Charakteristisch für die Sprache der zweiten, vielleicht aus Halberstadt stammenden Handschrift ist eine Häufung von Formen, die sowohl im Mitteldeutschen wie im Niederdeutschen möglich sind.111 Die Sprache der dritten wurde als rheinfränkisch, zuletzt als (ost)mitteldeutsch bestimmt.112 Während der Umfang des überlieferten Textes verlässliche Aussagen über den Umgang des deutschen Bearbeiters mit seiner in mehreren Fassungen 110
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Sprachliche Charakteristika: Fehlen der für das Mitteldeutsche und besonders das Thüringische charakteristischen n-losen Infinitive, fehlende Umlautkennzeichnung (vrûnt), erhaltene Mittelsilbenvokale (lebite), unverschobenes dit, das im Hessischen öfter, im Ostmitteldeutschen dagegen nur vereinzelt zu belegen ist. Vgl. Hildegard Waldner: Die Sprache von Athis und Prophilias. Diss. [masch.] Jena 1970. Vgl. Waldner (Anm. 110), S. 67 f. Vgl. Wortindex zu hessisch-thüringischen Epen um 1200. Bearb. von Thomas Klein u. Joachim Bumke unter Mitarbeit von Barbara Kronsfoth u. Angela Mielke-Vandenhouten. Tübingen 1997 (Indices zur deutschen Literatur 31), S. XVII. Beck (Anm. II, 68), S. 23, bestimmte die Sprache des Gedichts als westmitteldeutsch.
2. ZWEIFELHAFTES
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überlieferten französischen Vorlage kaum zulässt, wird immerhin deutlich, dass er ein schulgelehrter Clericus wie Veldeke und Herbort war. Soweit ein Urteil möglich ist, scheint er den von Liebe und ritterlichen Abenteuern erzählenden französischen Roman frei behandelt zu haben.113 Die antiken Umrisse hat er nachgezogen. Die antike Mythologie, deren Rechtfertigung Albrecht von Halberstadt zu schaffen machte, tritt weithin, aber nicht völlig zurück; so wird der „tempil der gotinne, / Die vrouw ist ubir die minne, / Die was do venus gnant“ (C* 101 ff.) mehrfach, jedoch beiläufig erwähnt. Der Versbau zeichnet sich durch einen sorgfältig alternierenden Rhythmus aus, die mitteldeutschen Reime sind rein und einmalig die zahlreichen Reime mit dreisilbiger Kadenz vom Typ lebine : gebine. Gelehrsamkeit und rhetorische Schulung des unbekannten Dichters bezeugen Stichomythie, okkasionelle Wortbildungen und Wortwiederholungen, stilistische Besonderheiten, die man auf das Vorbild der zeitgleichen lateinischen Literatur hat zurückführen wollen. Die besondere Neigung des sprachgewandten Dichters scheint neben den ausführlichen Kampfschilderungen, die immer wieder an Herbort von Fritzlar denken lassen, eher wohl aber ihre Grundlage in der französischen Vorlage haben dürften, der Schilderung innerer Vorgänge und der Darstellung von Gegenständlichem gegolten zu haben. Während er über das tatsächliche Geschehen rasch hinweggeht, verweilt er gern bei der Beschreibung von Waffen, Kleidung und Sitten. Ein Beispiel findet sich schon in Fragment A mit dem Monolog des verzweifelten Athis, der sich von aller Welt verlassen glaubt und seinem Leben ein Ende bereiten will. Die folgenden Verse mögen einen Eindruck von den Kampfschilderungen der Dichtung geben: Karsidorus was ein gùtir, Daz thet er dicke wol schîn, Er liez alle rede sîn Und irbeizt uffín sant. Den helm er ím abe bant, Sam thet er die fanthailín: Do vant ern von den mailín Ze qwetzit am antlitze: Sam vant ern ane witze Da ligínd amme sande Daz er uvoze noch hande Regite noch daz houbit; Also was er bethoubit. Karsidorus sprach ím zù 113
Anders Samuel Singer: Graf Rudolf. In: PBB 47 (1923), S. 350–52, hier 352: „Im ganzen ist der Deutsche dem Original näher geblieben als der Franzose, doch hat natürlich auch er geändert und zugesetzt.“ Vgl. auch Schneider (Anm. II, 117), S. 271.
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III. LITERATUR IM UMKREIS DES LANDGRAFENHOFS
‚Peritheus, wie uers dù? Sprich mir zù, liebir urunt.‘ Do regiter den munt Vnd warf uf dovgín trâge Geín des kvnígis vrâge. ‚Waz ist an mir ir gangin? Bin ich‘, sprach er, ‚geuangin? Han ich gesichirt?‘ ‚neín dù níet‘ Sprach er. ‚son ist mir nicht geschiet, Wend daz ich orsis nicht in hân‘: Und spranc uf von der erdin sân (Fragment E, v. 24–48).114
Seit Lachmann wurde ‚Athis und Prophilias‘ oft um 1210/15 angesetzt. Doch fehlt für eine befriedigende Datierung jeder Anhaltspunkt, sodass es richtiger wäre, die erste Hälfte des 13. Jahrhunderts ins Auge zu fassen.115 Auch formale und stilistische Beobachtungen erlauben keine nähere Eingrenzung. Während die Vers- und Reimtechnik Vogt an die ältere Zeit der höfischen Klassik denken ließ, meinte Ehrismann, dass Reime und Wortgebrauch die Werke der Klassiker Hartmann, Wolfram und Gottfried voraussetzten, und gelangte so zu einem Ansatz gegen Ende dieser Periode.116 Man wird die Entstehungszeit daher kaum enger als um 1200 eingrenzen können. Die Überlieferung lässt vermuten, dass ‚Athis und Prophilias‘ nur wenig über den mitteldeutschen Raum hinaus gewirkt hat. Das bekannteste Zeugnis stammt von Heinrich von Freiberg, der Ende des 13. Jahrhunderts im Prolog eines Preisgedichts auf Johann I. von Michelsberg die Freunde Athis und Prophilias erwähnt, die „nâch ritterschefte strebten, / mit stêten triuwen lebten, / in ritterlicher werdikeit“ (v. 26 ff.).117 Dass die Überlieferungslage eine sichere Verbindung der Fragmente mit dem Thüringer Hof nicht erlaubt, muss kaum betont werden. Falls Prolog oder Epilog Angaben über den Dichter, seine Vorlage 114
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„Karsidorus war von ehrenhafter Gesinnung, wie er oft bewies. Wortlos saß er auf dem Kampfplatz ab, band ihm den Helm auf und öffnete ihm das Visier. Da bemerkte er, dass sein Gesicht von den Panzerringen zerquetscht war, und er nahm wahr, dass er ohne Bewusstsein auf der Kampfstätte lag. Er war so benommen, dass er weder Füße noch Hände noch den Kopf bewegte. Karsidorus wandte sich an ihn mit den Worten: ‚Peritheus, wie geht es dir, antworte mir, lieber Freund!‘ Da bewegte er etwas den Mund und blickte langsam in Richtung des Königs. ‚Was ist mit mir geschehen? Bin ich gefangen?‘ fragte er, ‚habe ich mich für besiegt erklärt?‘ ‚Nein, das hast du nicht.‘ ‚Dann ist mir nichts zugestoßen, nur dass ich mein Pferd eingebüßt habe:‘ Mit diesen Worten sprang er vom Boden voauf.“ Bumke (Anm. II, 130), S. 146, nannte die Datierung „völlig offen“. Vgl. Vogt (Anm. II, 128), S. 197; Ehrismann (II, 105), S. 114. Problematisch die Behauptung von Peter Ganz: Athis und Prophilias. In: LexMA, Bd. 1 (1980), Sp. 1165–1167, hier 1167, es handele sich um eine frühmittelhochdeutsche Dichtung. Vgl. Hans-Hugo Steinhoff: Heinrich von Freiberg. In: VL, Bd. 3 (1981), Sp. 723–730, hier 728 f. Gewirkt hat ‚Athis und Prophilias‘ wohl auch auf Heinrich von Hesler.
2. ZWEIFELHAFTES
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und seinen Auftraggeber enthielten, sind diese mit dem größeren Teil des Gedichts verloren. Gleichwohl sollte der Landgrafenhof als Bezugspunkt nicht vorschnell abgewiesen werden. Mit ihm würde sich der mitteldeutsche Charakter der Schreibsprache ebenso vereinen wie der antikisierende Stoff und die französische Vorlage. So wie der Fritzlarer Kleriker für den Landgrafenhof arbeitete, könnte auch der Verfasser von ‚Athis und Prophilias‘, vermutlich ebenfalls ein hessischer Kleriker, für Hermann I. tätig gewesen sein. Für die Zeit um 1200 ist also eher mit einer thüringisch-hessischen Literaturlandschaft oder doch Literaturtradition als mit einer thüringischen zu rechnen.
Exkurs: Artusepik in Thüringen? Seit langem herrscht Konsens darüber, dass die Konzentration poetischer Bearbeitungen antiker Stoffe im Umkreis des Landgrafenhauses um 1200 ihre entscheidende Ursache im persönlichen Interesse Hermanns I. hatte. Aus dieser Orientierung dürfte sich auch erklären, dass der Typus erzählender Dichtung, der seit dem Ende des 12. Jahrhunderts zunächst im oberdeutschen Raum den Antikenroman ablöste und für längere Zeit schlechthin tonangebend war – der Artusroman – in der Literaturlandschaft Thüringen zurücktritt. Hartmann von Aue, Ulrich von Zatzikhoven, Wirnt von Grafenberg und andere führende Vertreter der Artusepik wirkten vornehmlich im Südwesten und Süden. Das schließt indes nicht aus, dass ihre Werke auch in den angrenzenden mitteldeutschen Regionen kopiert und rezipiert wurden.118 Wir haben dafür manches, in unserem Zusammenhang zumindest zu erwähnendes Zeugnis. Seit langem gilt als fraglos, dass Hartmann von Aue mit dem ‚Erec‘ um 1180 den Artusroman in die deutsche Literatur eingeführt habe. Neuere Handschriftenfunde zwingen nun aber zu der Frage, ob es neben Hartmann möglicherweise einen zweiten deutschen ‚Erec‘-Roman gab. Die Auswertung der Wolfenbütteler Fragmente II und der unlängst aufgetauchten Zwettler Fragmente ist noch nicht abgeschlossen, sodass hier nur einige vorläufige Denkrichtungen der Forschung angedeutet werden können: 1. Die Fragmente gehören zu Hartmanns Roman, und wenn sie nicht zu der einzigen vollständigen Handschrift, dem ‚Ambraser Heldenbuch‘, stimmen, dann deshalb, weil deren Schreiber Hans Ried Hartmanns Roman stark überarbeitete. 2. Hartmann schuf zwei Bearbeitungen von Chrétiens Roman ‚Erec et Enide‘, eine erste, stärker der Vorlage verpflichtete, und eine zweite, freiere, heute durch das ‚Ambraser Heldenbuch‘ repräsentierte. 3. Die Fragmente 118
Vgl. Anm. 127.
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gehören zu einem bisher unbekannten zweiten, von Hartmann unabhängigen ‚Erec‘, etwas jünger als dieser und nach 1200 anzusetzen. Da eine befriedigende Deutung des Befunds noch aussteht, wäre es voreilig, einen ‚Mitteldeutschen Erec‘ auszurufen und hypothetisch mit Thüringen zu verbinden. Gleichwohl besteht schon heute kein Zweifel daran, dass die Fragmente der Stiftsbibliothek Zwettl – zehn kleine Pergamentstreifen unterschiedlicher Größe, Reste mehrerer Doppelblätter, die zu einer Handschrift wohl aus der Mitte des 13. Jahrhunderts gehören – sprachlich ins Mitteldeutsche weisen. Der Text könnte von einem hochdeutsch schreibenden Niederdeutschen geschrieben worden sein, der sich an der thüringisch-hessischen Schreibsprache ausrichtete.119 Gibt der ‚Mitteldeutsche Erec‘ einstweilen noch viele Fragen auf, besitzen wir doch auch Zeugnisse, die keinen Zweifel daran lassen, dass die Artusepik in Thüringen nicht unbekannt blieb. Ein Zeugnis nichtliterarischer Art sind die Iwein-Fresken – bildliche Darstellungen also von Szenen aus Hartmanns von Aue ‚Iwein‘ – im Hessenhof zu Schmalkalden.120 Das ursprünglich romanische, mehrfach umgebaute Bauwerk liegt an der Westseite des im Zuge der ludowingischen Stadterweiterung im späteren 12. Jahrhundert angelegten Neumarkts.121 Es diente als eine Art Stadtresidenz, hier hatte der landesherrliche Amtsvogt seinen Sitz. Die Bilder bedecken in sieben Registern Wände 119
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Ed.: Margarete Springeth u. Charlotte Ziegler unter Mitwirkung von Kurt Gärtner u. Ulrich Müller: Die Stift Zwettler Fragmente. Beschreibung und Transkription. In: PBB 127 (2005), S. 33–61. Bisher sind ca. 65 Verse rekonstruierbar. Vgl. Eberhard Nellmann: Der ‚Zwettler Erec‘. Versuch einer Annäherung an die Fragmente. In: ZfdA 133 (2004), S. 1–21; ders.: ‚Zwettler Erec‘. In: VL, Bd. 11 (2004), Sp. 1709; Thomas Klein: Zur Sprache der Wolfenbütteler und Zwettler ‚Erec‘-Fragmente und zur Herkunft des zweiten ‚Erec‘-Romans. In: Edition und Sprachgeschichte. Hg. von Michael Stolz. Tübingen 2007, S. 229–255. Während das VL die Fragmente als ‚Zwettler Erec‘ bucht, tragen sie im MRDH (28. 4. 2010) den Titel ‚Mitteldeutscher Erec‘. Mittelalterliche Erzählstoffe im Medium der bildenden Kunst sind keine Seltenheit, sie begegnen auf Wandteppichen und Glasfenstern, als Elfenbeinschnitzereien und Skulpturen, als Misericordien im Kirchengestühl, als Stickereien usw. Einen Überblick bietet Norbert H. Ott: Epische Stoffe in mittelalterlichen Bildzeugnissen. In: Epische Stoffe des Mittelalters. Hg. von Volker Mertens u. Ulrich Müller. Stuttgart 1984 (KTA 483), S. 449–474. Im staufisch-welfischen Thronstreit zog Philipp von Schwaben über die am Südhang des Thüringer Waldes gelegene Stadt ab und zerstörte sie. Die Reinhardsbrunner Chronik (Anm. 11), S. 611, Z. 1, erwähnt sie als ludowingische civitas gelegentlich des Aufbruchs Ludwigs IV. zum Kreuzzug (24. 6. 1227). Später kam sie an die Grafen von Henneberg; es folgte die Doppelherrschaft der Henneberger und der Landgrafen von Hessen. Vgl. Thüringen (Anm. II 67), S. 387–391; Christine Müller: Landgräfliche Städte in Thüringen. Die Städtepolitik der Ludowinger im 12. und 13. Jahrhundert. Köln, Weimar, Wien 2003 (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Thüringen. Kleine Reihe 7), S. 129–153; Heinrich L. Nickel: Mittelalterliche Wandmalerei in der DDR. Leipzig 1979, S. 280 f.
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und Decke eines kleinen, tonnengewölbten Raums, der ursprünglich ebenerdig zugänglich war. Über seine Nutzung gibt es nur Mutmaßungen; man dachte an eine Trinkstube, doch vermutet man heute wohl mit größerem Recht einen Öffentlichkeitsraum, der vielleicht für die Rechtsprechung genutzt wurde.122 Der Erhaltungszustand der Malereien war bereits bei ihrer Entdeckung im späten 19. Jahrhundert sehr schlecht, sechs der ursprünglich 26 Einzelszenen sind nicht mehr zu ermitteln.123 Die Bilder haben einen etwas älteren Vorläufer in dem Zyklus von elf Iwein-Fresken auf Burg Rodenegg in Südtirol, die im Allgemeinen auf 1220/30 datiert werden und als die ältesten Zeugnisse profaner Wandmalerei im Mittelalter gelten.124 Beiden Zyklen ist gemeinsam, dass sie Szenen nur aus dem ersten Teil des Romans visualisieren, dessen Handlungsablauf also nur im Auszug bieten.125 Während der Rodenegger Zyklus das Brunnenabenteuer und die Tötung Ascalons wiedergibt und bis zur Versöhnung Iweins mit Laudine führt, reicht der Schmalkalder Zyklus bis zur Löwenaventiure. 15 Bilder sind dem Brunnenabenteuer und der Minnebegegnung mit Laudine gewidmet (bis v. 2550), die übrigen verteilen sich auf die folgende Handlung (bis etwa v. 3900). Die Schmalkalder Bilder sind weniger farbenprächtig in Ocker- und Brauntönen gehalten, auch ihr künstlerischer Rang ist ein geringerer. Die Entstehungszeit lässt sich auf die erste Hälfte, allenfalls auf das zweite Viertel des 13. Jahrhunderts eingrenzen.126 Daraus ergibt sich, dass als Auftraggeber mehrere Landgrafen in Frage kommen, vielleicht auch ein Ministeriale, doch fehlt uns darüber wie über den Auftragsanlass die Kenntnis. Visuell beherrscht wird der 122
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Vgl. Cord Meckseper: Wandmalerei im funktionalen Zusammenhang ihres architektonischräumlichen Orts. In: Literatur und Wandmalerei I. Erscheinungsformen höfischer Kultur und ihre Träger im Mittelalter. Freiburger Colloquium 1998. Hg. von Eckart Conrad Lutz, Johanna Thali, René Wetzel. Tübingen 2002, S. 255–281, hier 263 f. Im Keller unter der Schlosskirche der Wilhelmsburg findet sich eine raumidentische Kopie. Die bildliche Rezeption literarischer Stoffe konzentriert sich im Südwesten und Süden, in den habsburgischen Vorlanden, der Eidgenossenschaft, in Schwaben und im Elsass und in den Herrschaftszentren Tirol und Wien. In diesem geographischen Raum liegen die Fresken von Rodenegg, Runkelstein und Wildenstein, in den Städten Konstanz (Haus zur Kunkel) und Zürich. Die Schmalkalder Fresken machen insofern eine Ausnahme. Zum Rodenegger Zyklus vgl. Volker Schupp u. Hans Szklenar: Yvain auf Schloß Rodenegg. Eine Bildergeschichte nach dem ‚Iwein‘ Hartmanns von Aue. Sigmaringen 1996 (Kulturgeschichtliche Miniaturen). Diese Visualisierungstechnik ist die Regel. Vgl. Norbert H. Ott: Literatur in Bildern. Eine Vorbemerkung und sieben Stichworte. In: Literatur und Wandmalerei (Anm. 122), S. 153–197, hier 166. Der oft begegnende Begriff Iwein-Fresken ist nicht ganz präzise, da es sich nicht um die buon-fresco-Technik auf frischem Kalkputz handelt, sondern um Kalkfarbenmalerei auf der trockenen Wand, also secco-Technik. Vgl. Nicola Hauck: Die Iwein-Darstellungen im Hessenhof von Schmalkalden. Eine Studie zur bildlichen Umsetzung des höfischen Romans. In: Nova Historia Schmalcaldica. Bd. 4. Hg. von Museum Schloß Wilhelmsburg [u. a.]. Schmalkalden 2007, S. 10–102, hier 36–38.
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Raum von der Darstellung eines Gastmahls mit einem gekrönten Paar (dieses Detail ist das einzige erhaltene) in einer Lünette der Nordwand. Diese Szene ist insofern bemerkenswert, als der Text ein solches Mahl allenfalls indirekt thematisiert. Deutlich wird hier, wie bei der Beschränkung des Zyklus auf den ersten Teil der Handlung, ein freierer Umgang mit dem literarischen Vorwurf. Wie die Auftraggeber des Bilderzyklus die Geschichte des Löwenritters Iwein verstanden, ob seine Geschichte als Unterhaltung für Mußestunden betrachtet wurde, dürfte erst zu klären sein, wenn über die Bestimmung des Raums Näheres bekannt ist. In jedem Fall zeigt der Schmalkalder Illustrationszyklus ähnlich wie der Rodenegger, dass das 13. Jahrhundert anders als die moderne Forschung in Iweins Kampf mit dem Burgherrn Ascalon, der für diesen tödlich ausgeht, offenbar nichts Problematisches sah.127 In das spätere 13. Jahrhundert führen drei, insgesamt 571 Verse überliefernde Fragmente eines Romans, der von dem Artusritter Segremors erzählt.128 Seit Chrétien und Hartmann wird dieser in zahlreichen französischen und deutschen Romanen in der Liste der Artusritter erwähnt, jedoch nur selten handelnd dargestellt.129 Zu den Ausnahmen gehört die berühmte BlutstropfenEpisode im VI. Buch des ‚Parzival‘.130 Hier erwirkt der ungestüme junge Ritter – ein Neffe der Königin – von Artus die Zustimmung, als erster mit dem reglos vor dem königlichen Zeltlager verharrenden unbekannten Ritter (Parzival) zu kämpfen. Der Kampf beschert ihm eine Niederlage, und er muss zu Fuß an den Hof zurückkehren (Pz. 284, 26–289, 12). Ähnlich glücklos agiert Segremors im ‚Gauriel von Muntabel‘ des Konrad von Stoffeln (v. 696–751), einem Artusroman des späten 13. Jahrhunderts. Chrétien akzentuiert sein Ungestüm, was dem Artushof kritische Akzente verleiht. Man muss den Tafelrunder mit dem Beinamen „der Unbändige“ binden, um ihn vom Kampf zurückzuhalten. Jene Fragmente nun lassen vier Szenen deutlich werden, die Segremors in artustypischen Situationen zeigen. Der unbekannte Dichter 127
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Mehrere ‚Iwein‘-Handschriften weisen sprachlich ins Ostmitteldeutsche, das Münchner Fragment C (um 1250), das Klagenfurter Fragment (Anfang 14. Jh.) und das Nürnberger Fragment G (um 1300). Aus sprachlichen Gründen wäre mit Thüringen am ehesten zu verbinden Dresden, Sächs. LB, M 175, eine um 1390 gefertigte Papierhandschrift, die in Kaufmannskreisen rezipiert worden zu sein scheint. Zur Produktion von Epenhandschriften im mitteldeutschen Raum vgl. auch K. Schneider (Anm. II, 64), Textband, S. 273. Ed.: Mittelhochdeutsche Übungsstücke. Zusammengestellt von Heinrich Meyer-Benfey. 2. Aufl. Halle 1920, S. 166–180. Vgl. Christoph Cormeau: ‚Segremors‘. In: VL, Bd. 8 (1992), Sp. 1045–1047. Vgl. Hartmann von Aue, ‚Erec‘, v. 1665; ‚Iwein‘, v. 88. Im ‚Erec‘ v. 2670 ff. wird Segremors als tapferer Turnierkämpfer erwähnt. Auch im ‚Lancelot‘-Prosaroman tritt Segremors auf. Vgl. Joachim Bumke: Die Blutstropfen im Schnee. Über Wahrnehmung und Erkenntnis im ‚Parzival‘ Wolframs von Eschenbach. Tübingen 2001 (Hermaea. NF 94).
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scheint eine französische Vorlage benutzt, diese jedoch frei bearbeitet zu haben. Seine Vertrautheit mit der Tradition der klassisch-höfischen Epik verbindet ihn mit der Mehrzahl der Romanciers des 13. Jahrhunderts. Der erhaltene Text deutet auf einen eher durchschnittlich begabten Epiker. Die Fragmente A und B lassen sich einem großformatigen Pergamentcodex aus der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts zuordnen, dessen Äußeres manche Ähnlichkeit mit der ‚Jenaer Liederhandschrift‘ aufweist.131 Fragment C gehört zu einer um 1300 hergestellten Handschrift.132 Der Schreibdialekt aller drei Fragmente kann als ostmitteldeutsch-thüringisch bestimmt werden. Die Entstehungszeit des Romans ist nur sehr grob mit den Daten 1230 und 1300 zu umgrenzen, sodass alle Überlegungen über einen möglichen thüringischen Gönner des unbekannten mitteldeutschen Epikers problematisch bleiben. Dieser könnte von dem Wettiner Heinrich III. dem Erlauchten oder einem seiner beiden Söhne (Albrecht oder Dietrich) einen Auftrag erhalten haben, aber das ist kaum mehr als eine Vermutung.133 Wie die Überlieferung erkennen lässt, blieb die Wirkung seines Romans regional begrenzt. Weniger deutlich als der ‚Segremors‘, der das Vordringen der Artusepik im östlichen Mitteldeutschland im 13. Jahrhundert bezeugt, wird der Text, den die Handbücher unter dem Titel ‚Abor und das Meerweib‘ verzeichnen. Es handelt sich um ein von J. Grimm in der Königlichen Bibliothek in Kopenhagen entdecktes Fragment eines sonst unbekannten höfischen Abenteuerromans aus der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts.134 Die erhaltenen 136 Verse deuten auf einen Märchenroman, auf unterhaltende Literatur für ein ritterliches Publikum. Die Sprache des offenbar mit Heldendichtung und Minnesang vertrauten Dichters hat man als mitteldeutsch (thüringisch oder ostfränkisch) bestimmt. Doch verbietet der geringe Umfang der Überlieferung
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„Ohne daß man hier schon mit Sicherheit auf eine Identität beider Schreiber schließen könnte, besteht doch zumindest Werkstatt- oder Schulgemeinschaft.“ Hans-Jochen Schiewer: „Ein ris ich dar vmbe abe brach / Von sinem wunder bovme“. Beobachtungen zur Überlieferung des nachklassischen Artusromans im 13. und 14. Jahrhundert. In: Deutsche Handschriften 1100–1400. Oxforder Kolloquium 1985. Hg. von Volker Honemann u. Nigel F. Palmer. Tübingen 1988, S. 222–278, hier 229. Fragment A. Weimar, Thüring. Hauptstaatsarchiv, Ernestinisches Gesamtarchiv, Reg. V 1, ein Pergamentblatt, 144 Verse. B. Gotha, FB, Memb. I 133, ein Pergament-Doppelblatt, 288 Verse. C. Berlin, SBB PK, mgq. 662, z. Z. Kraków, Biblioteka Jagiellon´ska, 139 Verse. Die Fragmente stammen aus dem Herrschaftsbereich der Wettiner, dem Amt Wachsenburg b. Arnstadt. Zur Überlieferung Schiewer (Anm. 131), 228–231 und 266–273 mit Abbildungen. Vgl. Schiewer (Anm. 131), S. 229–231. Ed.: Mittelhochdeutsche Übungsstücke (Anm. 128), S. 180–183. Vgl. Ludwig Denecke: ‚Abor und das Meerweib‘. In: VL, Bd. 1 (1978), Sp. 9–11; Edward Schröder: Abor und das Meerweib. In: Nachrichten von der Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen aus dem Jahre 1925. Phil.-hist. Kl. Berlin 1926, S. 161–165; K. Schneider (Anm. II, 64), II, S. 41.
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jede weiterführende Überlegung; man hat sogar eine geschickte Fälschung des 19. Jahrhunderts erwogen.135
3. Der Epiker Wolfram von Eschenbach Wolfram von Eschenbach gilt als der bedeutendste Vertreter der mittelhochdeutschen Klassik, ja als der bedeutendste Dichter des deutschen Mittelalters. Friedrich Schlegel hat ihn den größten Dichter in deutscher Sprache genannt, und ähnliche Urteile ließen sich aus der Gegenwart anführen; doch schon Zeitgenossen wie Wirnt von Grafenberg sahen in ihm einen überragenden Dichter.136 Darauf deutet neben der reichen Überlieferung seiner Romane etwa der Umstand, dass die Namen seiner Figuren im spätmittelalterlichen Adel beliebt waren. Wolfram wird so wenig wie die meisten anderen mittelalterlichen Dichter in einer Urkunde erwähnt. Für die Rekonstruktion seiner Lebensumstände sehen wir uns in der Hauptsache auf seine Werke und auf Erwähnungen durch andere Autoren verwiesen. Wolfram spricht häufig von sich selbst, er thematisiert seine Lebensumstände, seine familiäre Situation, Beziehungen zu anderen Dichtern und Gönnern. So erwähnt der Erzähler des ‚Parzival‘ sein „wîp“ (216, 28), eine „swester“ (686, 29) und seinen „bruodr“ (740, 29), der des ‚Willehalm‘ die Puppe seiner „tohter“ (33, 24).137 Frühere 135
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Ein Neufund ist Erfurt, Bibl. des Evangelischen Ministeriums im Augustinerkloster, Fragm. IX, 20 Strophen einer kürzenden Adaptation des ‚Wigalois‘ des Wirnt von Grafenberg im Bernerton aus einer 1455 geschriebenen Papierhandschrift. Die Schreibsprache weist nach Thüringen, der Autor Ditterich von Houpfgarten ist noch nicht verlässlich identifiziert; mit dem Hopfgart der meistersingerlichen Tradition hat er sicher nichts zu tun. Vgl. Christoph Fasbender: Der ‚Wigalois‘ Wirnts von Grafenberg. Eine Einführung. Berlin, New York 2010, S. 205–207. Die Namenform Wigelis scheint in die Richtung des ‚Amorbacher Cato‘ zu weisen. Vgl. Peter Kesting: ‚Cato‘. In: VL, Bd. 1 (1978), Sp. 1192–1196, hier 1195. Wirnts Urteil im ‚Wigalois‘ lautet: „her Wolfram, ein wîse man von Eschenbach; sîn herze ist ganzes sinnes dach; leien munt nie baz gesprach“ (v. 6343–6346). Übers.: „Herr Wolfram, der weise Mann aus Eschenbach. Sein Herz umschloß vollkommenen Verstand. Nie hat ein Laie besser erzählt.“ Wirnt von Gravenberg. Wigalois. Text der Ausgabe von J. M. N. Kapteyn. Übersetzt, erläutert und mit einem Nachwort versehen von Sabine Seelbach u. Ulrich Seelbach. Berlin, New York 2005. Der ‚Wigalois‘ entstand um 1210/20, die Wertschätzung und Verehrung Wolframs setzte also bereits zu seinen Lebzeiten ein. Ed.: Wolfram von Eschenbach. Parzival. Nach der Ausgabe Karl Lachmanns revidiert und kommentiert von Eberhard Nellmann. Übertragen von Dieter Kühn. Bd. I, II. Frankfurt a. M. 1994 (Bibliothek des Mittelalters 8/1, 2) = Pz. Wolfram von Eschenbach. Willehalm. Nach der Handschrift 857 der Stiftsbibliothek St. Gallen. Mittelhochdeutscher Text, Übersetzung, Kommentar. Hg. von Joachim Heinzle. Mit den Miniaturen aus der Wolfenbütteler Handschrift und einem Aufsatz von Peter und Dorothea Diemer. Frankfurt a. M. 1991 (Bibliothek des Mittelalters 9) = Wh.
3. WOLFRAM VON ESCHENBACH
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Interpreten haben diese und andere Anspielungen mitunter zum Nennwert genommen und aus ihnen ein farbiges Lebensbild zusammengefügt.138 Heute versteht man derartige Stellen nicht mehr umstandslos als autobiographische Bekundungen des Autors, sondern als Ausgestaltung einer Erzähler-Rolle; man betont ihren fiktionalen Status, den es methodisch zu berücksichtigen gilt, und hält allenfalls für möglich, dass sie auch autobiographischen Gehalt besitzen. Die Wahrheit liegt vermutlich zwischen beiden extremen Positionen.139 Natürlich handelt es sich bei der Bemerkung im ‚Titurel‘, Gott möge ihn vor Nachwuchs bewahren, wie Schoysiane ihn dem Fürsten Kiot schenkte, um eine forcierte Selbstinszenierung des Erzählers und nicht um ein verlässliches Zeugnis für des Autors Familienleben.140 Doch daraus folgt noch nicht zwingend, dass alles, was Wolfram seinem Erzähler an entsprechenden Anspielungen in den Mund legt, ohne biographische Referenz wäre. Auch die heutige Forschung geht in ihrer Skepsis nicht so weit, die historisch nachweisbaren Personen und Orte, die er in seinen Werken erwähnt, als biographisch unbrauchbar zu übergehen. Wolfram nennt sich nach dem mittelfränkischen Städtchen Eschenbach zwischen Ansbach und Gunzenhausen.141 Seine ständische Position ist nicht restlos klar; dass er, wie oft angenommen, ein armer Ministeriale gewesen wäre, lässt sich nicht beweisen, und der Miniatur der ‚Großen Heidelberger Liederhandschrift‘, die ihn als gewappneten Ritter darstellt, kommt keine hinlängliche Beweiskraft zu, da zur Zeit ihrer Entstehung längst die Legendenbildung um den gelehrten Laiendichter Wolfram eingesetzt hatte. Eine adlige Familie von Eschenbach ist in seinem Geburtsort erst 1268 bezeugt, sie scheint den berühmten Dichter als ihren Vorfahren betrachtet zu haben. In der Selbstverteidigung des ‚Parzival‘ – einem nachträglich entstandenen und von Lachmann zwischen dem II. und III. Buch eingefügten Exkurs, in dessen 138
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Nach Schneider (Anm. II, 117), 295 f., besaß Wolfram „ein eigenes festes Haus“ und erfreute sich „eines reichen und frohen Familienlebens“. Vgl. die Argumentation von Johnson (Anm. 12), S. 326, am Beispiel der Verse Pz. 184, 30–185, 5, in denen der Erzähler behauptet: wo er Herr und zuhause sei, fänden die Mäuse nur selten etwas zu essen: „und dâ man mich hêrre heizet,/ dâ heime in mîn selbes hûs, / dâ wirt gefreut vil selten mûs, / wan diu müese ir spîse steln. / die dörfte niemen vor mir heln: / ine vinde ir offenlîche niht.“ „daz mich got erlâze in mînem hûs eines solhen ingesindes, / daz ich als tiure müese gelten! / die wîle ih hân die sinne, sô wirt es von mir gewünschet selten.“ Str. 18, 2–4. Übers. „Möge mich Gott vor einem solchen Zuwachs in meinem Haushalt bewahren, den ich so teuer bezahlen muß! Solange ich meine Sinne beisammen habe, wird mir ein solcher Wunsch nie in den Sinn kommen.“ Ed. vgl. Anm. 168. Ober-Eschenbach nennt sich seit 1917 Wolframs-Eschenbach. Wolframs Namen verbürgt auch der wohl aus dem bischöflich-bambergischen Gräfenberg in Oberfranken stammende Epiker Wirnt mit seinen Anm. 136 zitierten Versen. Wie Wolfram zu seinen Französischkenntnissen gelangte, ist unzureichend geklärt.
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Mittelpunkt die Frage steht, ob man die Gunst der Damen eher durch ritterliche Taten oder durch literarische Fähigkeiten erlangen könne – findet sich der vielzitierte Vers „schildes ambet ist mîn art“ (115, 11), ‚Ritter bin ich meinem Herkommen nach‘. Beachtung verdient der Kontext der Stelle: Der Erzähler definiert sich als Laien-Dichter und grenzt sich entschieden ab von den bildungsstolzen Dichtern, die die Damen mit ihren Gedichten und ihrer Gelehrsamkeit umwerben. Verhandelt wird also ein dichtungstheoretisches Problem. Aber Wolfram setzt dem buchgelehrten clericus – das lässt sich nicht aus der Welt schaffen – seinen miles-Status entgegen.142 Auch wenn der Beweis für seine Zugehörigkeit zu einem Ministerialen- oder Adelsgeschlecht nicht zu erbringen ist, an seiner Vertrautheit mit dem Krieger- und Waffenhandwerk, wie sie sich in seinen Schilderungen von Turnieren, Kämpfen und Schlachten allenthalben äußert, ist kaum zu zweifeln. Umstritten ist auch Wolframs Bildungsstatus. Dass er eine geistliche Bildungsstätte wie Veldeke oder Herbort durchlaufen hätte, ist unwahrscheinlich. Wie man den berühmten Vers der Selbstverteidigung: „ine kan decheinen buochstap“ (115, 27) ‚ich bin nicht schriftgelehrt‘ zu verstehen habe, ist schon mehrfach eingehend erörtert worden. Man muss sich klarmachen, dass die Gleichsetzung von „analphabetisch“ und „ungebildet“ eine neuzeitliche ist. Blickt man auf Wolframs Œuvre, ergibt sich: er war wohlvertraut mit der deutschen Literatur seiner Zeit und kannte auch eine Reihe französischer Romane, er bearbeitete zwei französische Großepen in deutscher Sprache, und besonders im ‚Parzival‘ fügte er Partien ein, die umfassende und teilweise spezielle naturkundliche, geographische und astronomische Kenntnisse aus der lateinischen Bildungstradition belegen, was wiederum nicht heißen muss, dass er Lateinkenntnisse besessen hätte. Wolfram war ein etwas jüngerer Zeitgenosse Hartmanns von Aue. Er verfasste, wohl als Berufsdichter, erzählende Werke und Lyrik. Der Roman ‚Parzival‘ mit dem ungewöhnlichen Umfang von 24810 Versen – eine Bearbeitung des unvollendeten ‚Perceval‘ (‚Conte du Graal‘) von Chrétien de Troyes – entstand im ersten Jahrzehnt des 13. Jahrhunderts, bald also nach Hartmanns ‚Iwein‘ und etwa zeitgleich mit dem ‚Nibelungenlied‘ und Gottfrieds von Straßburg ‚Tristan‘. Ihm folgte, wiederum etwa ein Jahrzehnt 142
Zu beachten ist die ironische Grundierung der Partie. Ehe er sich Buchgelehrsamkeit nachsagen ließe, so der Erzähler, würde er sich lieber nackt in der Badewanne präsentieren, wenn er nur seinen Badewedel zur Hand hätte: „disiu âventiure / vert âne der buoche stiure. / ê man si hete für ein buoch, / ich wære ê nacket âne tuoch, /sô ich in dem bade sæze, / ob ichs questen niht vergæze.“ 115, 29–116, 4. Übers.: „Und eh man dies als ‚Buch‘ bezeichnet, säß ich lieber ohne Handtuch nackt im Bad, solang ich nur das Reisigbündel bei mir hätte.“ Zum Verhältnis Autor – Erzähler vgl. Sonja Glauch: An der Schwelle zur Literatur. Elemente einer Poetik des höfischen Erzählens. Heidelberg 2009 (Studien zur historischen Poetik 1), hier S. 129–136.
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beanspruchend, der Roman ‚Willehalm‘ (13988 Verse), die Adaptation des französischen Heldenepos ‚Aliscans‘ aus dem Epenzyklus um Guillaume d’Orange. Ob Wolfram den ‚Willehalm‘ um 1220 oder in den 20er Jahren abschloss oder mit einem nur provisorischen Schluss versah, gehört zu den Streitfragen der Forschung.143 Von einem dritten Erzählwerk, dem ‚Titurel‘, besitzen wir nur zwei Partien von zusammen rd. 175 Strophen. Der ‚Titurel‘, ein formales Experiment, da in sanglichen Strophen und nicht in der überkommenen Form vierhebiger Reimpaarverse abgefasst, geht auf keine französische Vorlage zurück. Er bietet freie Variationen über Parzivals Cousine Sigune und ihre Liebe zu Schionatulander, deren tragisches Ende dem im ‚Parzival‘ erzählten Geschehen vorausliegt, greift also noch einmal zurück auf einen Seitenzweig der Parzivalhandlung. Allgemein gilt er als Alterswerk; er könnte nach dem ‚Willehalm‘, vielleicht auch zeitlich parallel zu diesem entstanden sein. Man hat ihn jedoch auch als Jugendwerk verstehen wie auch in einer Arbeitspause des ‚Parzival‘ um 1203 ansetzen wollen. Während die epischen Dichtungen sich durch Erwähnung historischer Personen und Ereignisse wenigstens grob datieren lassen, entfällt diese Möglichkeit für die neun Lieder, die die Sammelhandschriften Wolfram zuweisen. Sie könnten noch im letzten Jahrzehnt des 12. Jahrhunderts, aber auch in zeitlicher Parallelität zu den Romanen entstanden sein (diese Alternative erinnert an die Diskussion um Veldekes Lieder). Für die Annahme, Wolfram habe als Lyriker begonnen, sprechen die Verse der Selbstverteidigung: „ich bin Wolfram von Eschenbach / unt kan ein teil mit sange“ (114, 12 f.), die man im Allgemeinen als selbstbewusstes Bekenntnis eines Minnelyrikers versteht, der sich seines Könnens sicher ist.144 Am Anfang des ‚Parzival‘ hätten sie auch die Funktion, sich dem Publikum als bereits ausgewiesener Dichter zu präsentieren. Diese Annahme schließt nicht aus, dass Wolfram auch während seiner Arbeit als Epiker gelegentlich Lieder dichtete. Vermutet wurde denn auch, dass die erhaltenen Lieder nur einen Teil seines lyrischen Œuvre darstellen. Wolfram erwähnt in allen drei epischen Dichtungen Landgraf Hermann, aber er nennt nicht seinen oder seine Auftraggeber. Was den ‚Parzival‘, um mit diesem zu beginnen, betrifft, wissen wir nicht einmal zuverlässig, wo und in wessen Auftrag er gedichtet wurde. Wir können seine Entstehungsgeschichte jedoch wenigstens punktuell rekonstruieren und einige seiner Bücher 143
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Wolfram setzte die Arbeit am ‚Willehalm‘ nach dem Tod Landgraf Hermanns (1217) noch über knapp 1500 Verse hinweg fort. Während zumeist angenommen wird, dass er um 1220 gestorben oder doch als Dichter verstummt sei, vermutete Lemmer (Anm. I, 33), S. 54, er sei „am thüringischen Hof unter Ludwig IV. noch bis in die Mitte der 20er Jahre des 13. Jahrhunderts tätig“ gewesen. Dann könnte man die religiöse Problematik des Romans mit dem religiösen Klima am Hof unter Elisabeth und Ludwig IV. in Verbindung bringen. Übers.: „Ich bin Wolfram, aus Eschenbach, und ich kann auch Lieder machen!“
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genauer datieren.145 Der ‚Parzival‘ ist eine freie Bearbeitung des originellsten und tiefsinnigsten Romans, den Chrétien de Troyes, der bedeutendste europäische Epiker des 12. Jahrhunderts, im Auftrag des Grafen von Flandern gedichtet hatte. Der Auftrag, dieses Werk in deutscher Sprache zu bearbeiten und abzurunden, ging gewiss nicht an einen unbekannten Dichter, und er setzte auch einen einflussreichen Gönner mit Beziehungen zu Höfen in der Romania voraus. Der ‚Parzival‘ ist zunächst ein Artusroman, beruht also auf der ursprünglich keltischen Erzähltradition um den König Artus und die Ritter seiner Tafelrunde, die für ein neues, ritterlich-höfisches Leben stand und Leitbildfunktion für die adlige Gesellschaft besaß. Von diesem Typus unterscheidet er sich jedoch darin, dass der höfischen Sphäre des idealen Königs die christlich-sakrale Sphäre der Gemeinschaft vom Gral neben- und übergeordnet ist. Mit dem Gral steht im Mittelpunkt des Romans die religiöse Problematik, woraus ein dem Artusroman sonst fremder moralischer und religiöser Ernst resultiert. Zentrales Motiv ist die Unterlassung einer Frage, ein Märchenmotiv. Auf der Gralburg Munsalvaesche erblickt Parzival den sichtlich leidenden Gralkönig Anfortas, unterlässt jedoch aus Anstand die Frage nach der Ursache seines Leidens. Fortan muss er als Sünder den Weg der Buße, der inneren Umkehr, gehen. Später erst erfährt er, dass Anfortas sein avunculus (Mutterbruder) ist und dass er ihn durch die Frage nach seinem Leiden hätte erlösen können und sollen. Wolfram geht es um den menschheitlichen Aspekt der Sünde, näherhin um die Frage, wie sich die Wertvorstellungen der ritterlich-höfischen Gesellschaft zu den Grundsätzen des christlichen Glaubens verhalten. Die Haupthandlung erzählt von der Gralsuche des Helden Parzival (Bücher III–VI, IX und XV–XVI). Ein zweiter Handlungsstrang gestaltet parallelisierend und kontrastierend die Geschicke des musterhaften Artusritters Gawan (VII–VIII und X–XIV). Einen dritten Helden besitzt der Roman schließlich in Parzivals Vater Gahmuret. Eine Neuerung Wolframs besteht darin, dass er der Parzival- und Gawanhandlung die Geschichte Gahmurets als Vorgeschichte voranstellte (Bücher I–II). Dieser Handlungsstrang wird mit dem Auftreten von Parzivals Halbbruder Feirefiz am Ende des Romans wieder aufgenommen. Manche Indizien lassen vermuten, dass der ‚Parzival‘ nicht in einem Zug entstand, sondern dass er Teilausgaben, Überarbeitungen und Ergänzungen erfuhr, dass es Arbeitspausen und wohl auch Gönnerwechsel gab. Chrétiens Roman beginnt mit der Jugendgeschichte Parzivals und endet in der zweiten Gawanpartie; dem entsprechen Wolframs Bücher III–XIII, die mit rd. 18000 Versen fast den doppelten Umfang des Chrétienschen Werks (9324 Verse)
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Die Einteilung des Romans in 16 Bücher (Großabschnitte) ist seit Lachmanns WolframAusgabe von 1833 üblich (vgl. Anm. IV, 195). Ob sie auf Wolfram zurückgeht, ist ungewiss.
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haben. Mehrfach wurde erwogen, dass Wolfram mit dem III. Buch begonnen, die Gahmuretgeschichte also nachträglich angefügt habe. Wäre dies richtig, würde auch die dem III. Buch vorangestellte Selbstverteidigung besser verständlich, rückte sie doch in die Position eines Prologs ein. Die ersten drei Bücher (d. h. III–VI) verfasste Wolfram wahrscheinlich für Gönner im weiteren Umkreis seiner fränkischen Heimat. Dafür sprechen besonders zwei Stellen. Im IV. Buch erklärt der Erzähler gelegentlich der Beschreibung der belagerten Stadt Pelrapeire: „Mein Herr, der Graf von Wertheim, hätt dort lieber nicht gedient“.146 Die Formulierung „mein Herr“ legt ein näheres Verhältnis zu den Grafen von Wertheim nahe, die am mittleren Main begütert waren, aber auch Besitzungen in Eschenbach hatten; Graf Poppo könnte der Lehnsherr, auch der erste Förderer Wolframs gewesen sein. Im V. Buch beschreibt der Erzähler die mächtigen Kamine der Gralburg und fügt hinzu: „So große Feuer sah noch keiner hier auf Wildenberg – noch nie!“147 Man kann diese Stelle kaum anders verstehen, als dass sie ihr Publikum auf der Burg Wildenberg gefunden hätte. Unter den Burgen dieses Namens kommt am ehesten die von den Freiherren von Durne (Walldürn) als Vogteiburg errichtete Burg Wildenberg bei Amorbach im Odenwald in Frage.148 Rupert I. von Durne, der in Urkunden zusammen mit dem Grafen von Wertheim und mit Landgraf Hermann erscheint, traf 1190 mit dem Grafen von Flandern zusammen, in dessen Auftrag Chrétien den ‚Perceval‘ in Angriff nahm, er hatte also Gelegenheit, mit der neuesten Literatur bekannt zu werden. Das VI. Buch enthält eine Ehrenrettung des Seneschalls Keie, der in der Artusepik, so in den Romanen Hartmanns von Aue, gewöhnlich als Grobian und Prahlhans, bestenfalls jedoch als eine widersprüchliche Persönlichkeit geschildert wird: boshaft, ob seiner ehrverletzenden Bemerkungen verrufen als „quâtspreche“ (Schandmaul), aber tapfer bis zur Tollkühnheit, wenn auch meist glücklos im Kampf, und seiner Tüchtigkeit wegen von Artus mit dem obersten Hofamt betraut. Landauf, landab war bekannt, dass der königliche Seneschall die Manieren eines „rîbalt“ (Schurken) hatte; doch wusste er mit der gemischten Gesellschaft, die den Hof tagtäglich aufsuchte, umzugehen, die Betrüger abzuweisen und die höfisch Gesinnten zuzulassen. Es folgt eine abrupte Unterbrechung des Erzählzusammenhangs (ablesbar am Tempuswechsel), worauf der Erzähler mit folgenden Versen die fiktive arthurische Welt verlässt, um sich an sein Publikum zu wenden: 146 147 148
„mîn hêrre der grâf von Wertheim / wær ungern soldier dâ gewesn.“ 184, 4 f. „sô grôziu fiwer sît noch ê / sach niemen hie ze Wildenberc.“ 230, 12 f. Zur Forschungsdiskussion Uwe Meves: Die Herren von Durne und die höfische Literatur zur Zeit ihrer Amorbacher Vogteiherrschaft. In: Die Abtei Amorbach im Odenwald. Neue Beiträge zur Geschichte und Kultur des Klosters und seines Herrschaftsgebietes. Hg. von Friedrich Oswald u. Wilhelm Störmer. Sigmaringen 1984, S. 113–143.
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von Düringen fürste Herman, etslîch dîn ingesinde ich maz, daz ûzgesinde hieze baz. dir wære och eines Keien nôt, sît wâriu milte dir gebôt sô manecvalten anehanc (297, 16–21).149
Es ist dies eine Stelle, an der so selten wie sonst einmal deutlich wird, dass der Artushof für Dichter und Publikum nicht nur im Märchenland lag, sondern auch als Abbild gegenwärtiger Verhältnisse verstanden wurde. Mit dem Landgrafen führt Wolfram eine zeitgeschichtliche Persönlichkeit ein, die mit der Erzählung nichts zu tun und natürlich keine Entsprechung bei Chrétien hat. Die auf den ersten Blick kritische Stelle – Wolframs Klage, dem Landgrafen fehle eine Zuchtrute wie Keie, trifft sich mit der Walthers von der Vogelweide über das unruhige Treiben am Landgrafenhof – enthält bei näherem Zusehen auch höchstes Lob, wird doch der Eisenacher Hof mit dem des Königs Artus verglichen. Die vertrauliche Anrede „von Düringen fürste Herman“ setzt eine nähere Bekanntschaft beider voraus. Gewöhnlich nimmt man drei Aufenthalte Wolframs in Thüringen an, die ihn auch mit Walther zusammentreffen ließen, worauf im Zusammenhang mit diesem einzugehen ist. Das VII. Buch, mit dem die erste Gawanpartie einsetzt, enthält zahlreiche Details aus der Welt des Krieges, der ansonsten im Artusroman nur von seiner repräsentativen Seite gezeigt wird. Unterwegs zu einem Gerichtskampf in Schanpfanzûn, wird Gawan Zeuge eines großen militärischen Aufmarschs: Er beobachtet Kriegerscharen, deren Feldzeichen ihm unbekannt sind, und ihnen nachziehende Marketenderinnen; man erfährt vom jugendlichen Alter vieler Soldaten und von Berteneisen (Einwohner von Britannien), die zum Kriegsdienst gepresst wurden. Im Auftrag des Königs Meljanz soll das Heer die dem Herzog Lyppaut gehörende Stadt Bêârosche belagern. Seit dem Wolframbuch Albert Schreibers nimmt man an, dass Wolfram für die Schilderung der Vorgänge um Bêârosche ein historisches Vorbild hatte: die kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen König Philipp von Schwaben und dem von ihm abgefallenen Landgrafen Hermann in Thüringen, in deren Verlauf der König sich im Sommer 1203 in die befestigte Stadt Erfurt zurückziehen musste.150 Für diese Annahme spricht, dass Wolframs Darstellung sich 149
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Nellmann (Anm. 137). Übers.: „Fürst Hermann von Thüringen: in deinem Gesinde kenn ich manche, die ‚Gesindel‘ heißen müßten. Du bräuchtest dringend einen Keye! Du bist sehr generös; das brachte dir Anhang ein und Anhängsel.“ Vgl. Albert Schreiber: Neue Bausteine zu einer Lebensgeschichte Wolframs von Eschenbach. Frankfurt a. M. 1922 (Deutsche Forschungen 7), S. 62–71. Grundsätzlich zustimmend Heinz Mettke: Wolfram in Thüringen. In: Studien zu Wolfram von Eschenbach. Fs. Werner Schröder zum 75. Geburtstag. Hg. von Kurt Gärtner u. Joachim Heinzle. Tübingen 1989,
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erheblich von der Chrétiens unterscheidet: er erzählt von einem Krieg, der ‚Perceval‘ dagegen von einem Turnier. Für sie könnte auch manche Einzelheit sprechen, etwa die Erwähnung vermauerter Stadttore und mit Armbrustschützen besetzter Wiekhäuser: Gâwân gein einer porten reit. der burgær site was im leit: sine hete niht betûret, al ir porten wârn vermûret und al ir wîchûs werlîch, dar zuo der zinnen ieslîch mit armbruste ein schütze pflac, der sich schiezens her ûz bewac (351, 23–30).151
Vermauerte Tore werden in der höfischen Epik nur hier erwähnt. Anders die Wiekhäuser, kleine Kampfhäuser in der Ringmauer oder am Fuß eines Turmhelms in der Stadtmauer, die in Bogenschussweite voneinander entfernt lagen, sodass von jedem ein Abschnitt der Befestigung zu überschauen war. In Erfurt gab es sie an den Geschlechtertürmen, es gab sie jedoch auch in anderen Städten, und vor Wolfram begegnen sie bereits in Veldekes Roman.152 Da sie im ‚Parzival‘ schon an früherer Stelle erwähnt werden,153 tragen sie zur Absicherung der von Schreiber bis ins Detail ausgeführten Parallele Bêârosche – Erfurt wenig bei. Vollends unbeweisbar nun ist die Annahme, dass Wolfram an der kriegerischen Auseinandersetzung auf der einen oder anderen Seite teilgenommen haben könnte.154 Dass das VII. Buch gleichwohl auf dem Hintergrund jenes Kriegszugs, den Philipp im Jahr darauf wiederholte, zu sehen ist und dass es wohl auch für ein thüringisches Publikum bestimmt war, zeigen die folgenden Verse, mit denen der Erzähler die Zerstörungen um die Stadt Bêârosche kommentiert: wart inder dâ kein stupfen halm getretet, des enmoht ich niht. Erffurter wîngarte giht
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S. 3–12; ferner Joachim Bumke: Wolframs Willehalm. Studien zur Epenstruktur und zum Heiligkeitsbegriff der ausgehenden Blütezeit. Heidelberg 1959 (Germ. Bibliothek. 3. Reihe), S. 181–198. Zu den historischen Vorgängen Patze (Anm. II, 87), S. 256–268. Nellmann (Anm. 137). Übers.: „Gawan ritt zu einem Tor. Die Aktionen der Bewohner und ihr Aufwand störten ihn: jedes Stadttor war vermauert, jeder Wehrturm war verteidigt, jede Zinne war bewacht von einem dieser Armbrust-Schützen, und alle waren schußbereit.“ Vgl. Veldekes Eneasroman, v. 6980. Unsicher die Lesung von ‚Herzog Ernst‘ B, v. 2242. In Pelrapeire erblickt Parzival wîchûs, perfrit, ärker (183, 25), „Wehrbau, Wartturm, Bastion“. Schreiber (Anm. 150), S. 71, hielt für sicher, „daß W. den thüring. Feldzug und insbesondere die Belagerung Erfurts auf staufischer Seite als Augenzeuge erlebt“ habe.
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von treten noch der selben nôt: manec orses fuoz die slâge bôt (379, 16–20).155
Die Stelle wird auf die Belagerung König Philipps in der Stadt Erfurt durch die Verbündeten des Landgrafen im Sommer 1203 bezogen. Da die Kriegsspuren „noch“ zu sehen sind, lässt sich die Entstehung des VII. Buchs auf 1204, spätestens wohl 1205 datieren. Dass die Anspielung an ein Thüringer Publikum adressiert war, liegt auf der Hand. Mit Thüringen kann schließlich auch das VIII. Buch des Romans in Verbindung gebracht werden, das man sich etwa 1205/07 entstanden denkt. Es enthält eine Konfrontation zwischen einem Fürsten und seinem König, die sich als aktuelles Zeitbild lesen, d. h. auf das Verhältnis Landgraf Hermann – Philipp von Schwaben beziehen ließ. Kingrimursel, der einzige, der im Roman den Titel Landgraf führt, ist „ein vürste wîs“ und ein „wol gelobeter man“. Wolfram hat in ihm offenkundig das Ideal eines untadelig-ehrenhaften, tapferen und selbstbewussten Fürsten gestaltet. Sein jugendlicher Herr, König Vergulaht von Ascalûn, dagegen ist ein schwacher König, der sich mit Schmeichlern und geschwätzigen Feiglingen umgibt und der Ausübung seiner Herrscherpflichten die Falkenjagd vorzieht. Als er von dieser zurückkehrt und sich gegen seinen Gast Gawan stellt, dem Kingrimursel zuvor mit seinem Ehrenwort Schutz zugesichert hatte, schleudert dieser dem König entgegen: hêr, dâ bin ich bekrenket an. hie sehen mîne genôze zuo: diz laster ist uns gar ze fruo. kunnet ir niht fürsten schônen, wir krenken ouch die krônen (415, 18–22).156
Bei König Vergulaht an den Staufer Philipp von Schwaben zu denken, liegt auch deswegen nahe, weil seine Charakteristik als „junge[r] man“ (414, 8) und „süeze[r] man“ (428, 1) an die Worte erinnert, mit denen ihn Walther von der Vogelweide beschrieben hat: „den jungen süezen man“ (L 18, 29). Denkbar ist, dass die Bücher VI–VIII des ‚Parzival‘ in Thüringen entstanden.157 Welchen Anteil der Landgraf an der Entstehung des Romans hatte, bleibt offen. Die beiläufige Bemerkung im XIII. Buch, auf Gawans Hochzeitsfest hätten 155
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Nellmann (Anm. 137). Übers.: „Trat man dort Getreidestoppeln nieder, war’s nicht meine Schuld. Noch heut erzählt das Weingebiet bei Erfurt von den gleichen Schäden: Spuren vieler Pferdehufe ...“ Nellmann (Anm. 137). Übers.: „Ich fühle mich hier sehr verletzt. Meine Freunde seien Zeugen: dies Vergehn kommt uns zu früh! Behandelt Ihr die Fürsten schlecht, so machen wir die Krone schwach.“ Vgl. Mettke (Anm. 150), S. 11.
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die Geiger keinen der zahlreichen neuen Tänze zu spielen gewusst, die aus Thüringen zu uns gelangt sind,158 macht jedoch deutlich, dass die späteren Bücher abermals an einem anderen Hof, vielleicht in Bayern, entstanden, wir für den ‚Parzival‘ also mit mehr als einem Gönner rechnen müssen.159 Der ‚Willehalm‘ erzählt vom Krieg zwischen Christen und Heiden. Die Handlung spielt unter Ludwig dem Frommen (dem Nachfolger Karls des Großen) in der Provence zwischen Orange und dem Mittelmeer. Willehalm, einer der Söhne des mächtigen Grafen von Narbonne, entführte die heidnische Prinzessin Arabel, die in der Taufe den Namen Gyburc annahm und ihn heiratete, worauf ihr Vater, der heidnische Großkönig Terramer, mit einem gewaltigen Heer an der provenzalischen Küste landet. In einer großen Schlacht auf dem Feld von Alischanz erleidet Willehalm eine vernichtende Niederlage. Während Gyburc Oransche verteidigt, zieht er weiter nach Munleun, um vom König Hilfe zu erbitten. Doch nur widerstrebend findet Lâwîs (Ludwig) sich bereit, das Reichsheer gegen die Heiden aufzubieten. Der wichtigste Helfer, den Willehalm in Munleun gewinnt, ist der starke Rennewart, ein Sohn des Heidenkönigs Terramer, der unerkannt als Küchenjunge am königlichen Hof lebt. Willehalm führt das Heer nach Oransche und weiter nach Alischanz, in die zweite Schlacht, in der die Christen dank Rennewarts gewaltiger Kampfkraft den Sieg über die heidnische Übermacht erringen – Rennewart allerdings bleibt am Ende des Kampfs unauffindbar. Willehalm lässt die gefallenen Heidenkrieger mit einer versöhnlichen Botschaft an Terramer in ihre Heimat überführen. An dieser Stelle bricht der Roman ab,
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„dô vrâgte mîn hêr Gâwân / umb guote videlære, / op der dâ keiner wære. / dâ was werder knappen vil, / wol gelêrt ûf seitspil. / irnkeines kunst was doch sô ganz, / sine müesten strîchen alten tanz: / niwer tänze was dâ wênc vernomn, / der uns von Dürngen vil ist komn.“ 639, 4–12. Nellmann (Anm. 137). Übers.: „Herr Gawan fragte daraufhin nach guten Fiedelspielern – ob es hier denn keinen gäbe. Da gab es viele Edelknappen, die das Saitenspiel beherrschten, doch etwas fehlte ihrer Kunst: sie fiedelten nur alte Tänze; man kannte nicht die neuen Tänze, die zu uns in großer Zahl aus Thüringen gekommen sind.“ – Schon der im III. Buch erwähnte hêr Heinrich von Rîspach (297, 27), vielleicht ein Mitglied des herzoglich bayerischen Hofs, lässt vermuten, dass Teile des Romans in Bayern entstanden. Zwischen Bayern und Thüringen bestanden dynastische Verbindungen, Hermann war seit 1196 mit Sophie, der Schwester Ludwigs I. von Bayern, verheiratet. Der thüringisch-ostmitteldeutsche Raum ist in der Überlieferungsgeschichte des ‚Parzival‘ nur schwach vertreten. Als thüringisch können dem Schreibdialekt nach gelten die Fragmente Gotha, FB, Memb. I 130, und Sondershausen, Schlossmuseum, Germ. lit. 2, und zumindest als ostmitteldeutsch die Fragmente Erfurt, Bistumsarchiv, Dt. Fragmente 2, und Weimar, HAAB, Fol. 439a (12). Das Weimarer Fragment Fol. 439a (8), ein PergamentDoppelblatt mit rd. 300 Versen des ‚Willehalm‘, stammt aus einer sprachlich in den oberdeutschen Raum weisenden Handschrift des 14. Jh. Vgl. auch Edward Schröder: Ockstädter Fragmente. In: ZfdA 50 (1908), S. 132–136.
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obwohl Rennewarts Verschwinden unerklärlich ist und auch andere Handlungsstränge nicht zusammengeführt sind. Für die Entstehung des ‚Willehalm‘ besitzen wir zwei feste Daten. Eine Anspielung auf die Kaiserkrönung Ottos IV. („dô der keiser Otte / ze Rôme truoc die krône“ (393, 30 f.) zeigt, dass das VIII. Buch nach dem 4. Oktober 1209 geschrieben sein muss.160 Am Thüringer Hof wird man sie goutiert haben, gehörte Landgraf Hermann doch damals zu den prominenten Gegnern des Welfen. Eine Anspielung im IX. Buch rühmt die Freigebigkeit Hermanns. Rennewart, so der Erzähler, stieß zahlreiche Gegner aus dem Sattel und führte ihre Pferde zu den acht Fürsten, die er aus der Gefangenschaft befreit hatte; daran knüpft er eine Bemerkung, die aus der Erzählwelt des Romans in die Gegenwart des Publikums führt: swaz er dô rîter nider stiez, der guoten orse er dâ niht liez, er zôch se disen ehten dan. lantgrâve von Düringen Herman het in ouch lîhte ein ors gegeben: daz kund er wol al sîn leben halt an sô grôzem strîte, swâ der gerende kom bezîte (417, 19–26).161
Man hat in Zweifel gezogen, dass es sich hier um eine postume Würdigung des Landgrafen handele; doch sagt Wolframs Erzähler unmissverständlich: „das tat er sein ganzes Leben lang“, und damit kann dieser Exkurs nur nach dem 25. April 1217 entstanden sein – Wolfram hat den ‚Willehalm‘ also vor 1217 begonnen und noch nach 1217 an ihm gearbeitet. Beachtet sein will auch, dass der Stelle nur noch rd. 1500 Verse folgen. Wolfram hat den ‚Willehalm‘ nicht zu Ende geführt, es liegt daher nahe, den vorzeitigen Abbruch des Werks mit dem Verlust des Gönners in Verbindung zu bringen. Auch der Torsocharakter des Romans ist zu Unrecht bestritten worden.162 Doch schon 160
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„dô der keiser Otte / ze Rôme truoc die krône, / kom der alsô schône / gevaren nâch sîner wîhe, / mîne volge ich dar zuo lîhe, / daz ich im gihe, des waere genuoc.“ 393, 30–394, 5. Übers.: „Als der Kaiser Otto in Rom die Krone trug – wenn der in solcher Pracht von seiner Weihe kam, dann gebe ich ihm gerne zu: es wär genug gewesen.“ Heinzle (Anm. 137). Übers.: „Wie viele Ritter er da niederstieß, die guten Pferde ließ er nicht zurück, er zog sie fort zu diesen acht. Landgraf Hermann von Thüringen hätt ihnen sicher auch ein Pferd gegeben: das tat er gern sein ganzes Leben – selbst bei so großem Ansturm, wenn nur der Bittende beizeiten kam.“ Seit dem V. Buch des ‚Parzival‘ gliederte Wolfram seine Epen in Dreißiger (Einheiten von je 30 Versen). Der ‚Willehalm‘ endet inmitten eines Dreißigers. Zur Problematik des Werkschlusses zusammenfassend Joachim Bumke: Wolfram von Eschenbach. 8., völlig neu bearb. Aufl. Stuttgart, Weimar 2004 (SM 36), S. 317–319.
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im Mittelalter hielt man das Werk für unabgeschlossen; man meinte, dass Wolfram über der Arbeit gestorben sei – ob zu Recht oder nicht, entzieht sich unserer Kenntnis. Ein Vierteljahrhundert nach dem ‚Willehalm‘ schuf Ulrich von Türheim mit dem ‚Rennewart‘ eine die Nachgeschichte des Wolframschen Romans auserzählende Fortsetzung, die bis zum frommen Tod des Helden im Kloster führt. Die Vermutung, Wolfram habe mit dem Tod des Landgrafen seinen Gönner verloren, bedarf allerdings der Erklärung. Hermann wird schon im Prolog mit der Geschichte Willehalms in Verbindung gebracht, aber in einer Weise, die Spielraum für unterschiedliche Deutungen lässt. Der Landgraf – so Wolfram – habe ihm die Geschichte Willehalms bekannt gemacht: lantgrâve von Düringen Herman tet mir diz maere von im bekant. er ist en franzois genant kuns Gwillâms de Orangis (3, 8–11).163
Fraglich ist, in welcher Gestalt ihm die Erzählung bekant wurde: Beschaffte der Landgraf ihm eine Handschrift der ‚Bataille d’Aliscans‘, oder ließ Wolfram sich das französische Epos vorlesen oder gar vorübersetzen? Da das um 1185 entstandene Epos ‚Aliscans‘ eine schriftliterarische Dichtung, ein Buchepos, ist, wird man sich vorstellen können, dass Hermann für eine französische Handschrift sorgte. Wichtiger jedoch ist die Frage, ob er Wolfram auch den Auftrag erteilte, die Geschichte des „kuns Gwillâms de Orangis“ deutsch zu bearbeiten. Der Landgraf, dessen Erwähnung in die Vorstellung des Helden eingelassen ist, wird weder gelobt noch ausdrücklich als Auftraggeber genannt, berichtet wird allein die Quellenvermittlung. Doch da die Geschichte der klassisch-höfischen Erzählkunst keinen Fall kennt, dass ein Fürst einem Epiker eine französische Vorlage vermittelte, ohne mit dessen Werk weiter zu tun zu haben, wird man Wolframs Mitteilung, dass es Hermann war, der ihn mit der Geschichte Willehalms bekannt machte, so zu verstehen haben, dass dieser an der deutschen Bearbeitung interessiert war.164 Dieses Interesse wäre nicht schwer zu verstehen, bot der Roman doch mit dem Konflikt zwischen dem tapferen und ehrenhaften Markgrafen Willehalm, der alles an die Verteidigung des Reichs setzt, und dem schwachen König Lâwîs, der in Munleun 163
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Übers.: „Von Thüringen Landgraf Hermann gab mir die Geschichte hier von ihm. Man nennt ihn en français comte Guillaume d’Orange.“ Nach Bumke (Anm. 150), S. 183, ist anzunehmen, dass Wolfram den ‚Willehalm‘ „im Auftrag Hermanns schrieb“, für den und wohl auch am Thüringer Hof. Nach Heinzle (Anm. 137), S. 792, hat Hermann „Wolfram [...] mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit den Auftrag erteilt, die deutsche Bearbeitung anzufertigen“. Vgl. auch Joachim Bumke: Wolfram von Eschenbach. In: VL, Bd. 10 (1999), Sp. 1376–1418, hier 1377.
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III. LITERATUR IM UMKREIS DES LANDGRAFENHOFS
zurückbleibt, während seine Truppen gegen die Heiden ziehen, für einen Reichsfürsten wie Hermann durchaus Identifikationsmöglichkeiten. Manche Details des Romans machen wahrscheinlich, dass er wohl nicht nur durch den Landgrafen gefördert, sondern auch an dessen Hof rezipiert wurde, wobei an Hermann zu denken ist, aber auch an seinen Nachfolger Ludwig IV. Das gilt für mehrere Anspielungen auf Wolframs ersten Roman. Während der Hinweis im Prolog, die Geschichte, die er von Parzival erzählt habe, sei auf Zustimmung wie auf Kritik gestoßen, als Votum Wolframs in seiner Auseinandersetzung mit Gottfried von Straßburg verstanden werden kann,165 setzt der beiläufige Vergleich zu Beginn des IX. Buchs, die Trompeten und Trommeln der angreifenden Heiden hätten das Schlachtfeld erbeben lassen wie einst, „als dâ der werde Gâwân / an Lît marvâle lac“ (403, 20 f.),166 ein Publikum voraus, das die Anspielung auf die berühmte Aventiure Gawans im Schloss des Zauberers Clinschor mit dem „Lit marveile“ verstand. Ähnlich verhält es sich mit der ironischen Bemerkung im VI. Buch: „herre Vogelweide von brâten sanc“.167 Sie gilt Walthers Spießbratenspruch, der, in fürstlichem Interesse gedichtet, am Thüringer Hof bekannt gewesen sein dürfte. Der ‚Titurel‘ schließlich erzählt die aus dem ‚Parzival‘ bekannte Geschichte von Sigune und Schionatulander, die Vorgeschichte also zu einer Geschichte, deren Ende bereits Wolframs erster Roman erzählt hatte und das stets als bekannt vorausgesetzt wird. Schionatulander findet im ritterlichen Zweikampf mit Orilus den Tod, worauf Sigune ihr weiteres Leben der Trauer um ihn widmet, sich in einer Klause einmauern lässt und dort dem Geliebten nachstirbt. Wolfram schildert die Liebe der beiden, die seit ihrer Kindheit ein Paar sind, im ‚Titurel‘ als eine keusche und reine. Da ihre Geschichte nur aus dem ‚Parzival‘ bekannt ist, darf man vermuten, dass er sie im Wesentlichen frei 165
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„swaz ich von Parzivâl gesprach, / des sîn âventiure mich wîste, / etslîch man daz prîste – / ir was ouch vil, die’z smaehten / unde baz ir rede waehten.“ 4, 20–24. Übers.: „Was ich von Parzival erzählte, wie es die Quelle mir befahl, manch einer hat’s gelobt – es gab auch viele, die es schmähten und ihre Dichtung schöner putzten.“ Zur Kontroverse Wolfram – Gottfried vgl. Bumke (Anm. 162), S. 11 und 207 f. Übers.: „davon erbebte mächtig der Fluß Larkant, die Ebene, so wie es bebte, wo der edle Gawan auf dem Lit marvale lag“ (403, 18–21). Als der Küchenmeister dem schlafenden Rennewart Barthaar und Mund versengt, springt dieser auf, packt ihn und befördert ihn in die Glut: „dem er sus stôrte sînen slâf, der bant im, sam er waer ein schâf, elliu vieriu an ein bant und warf in al zehant under einen kezzel in grôzen rôst: sus wart er’s lebens dâ erlôst. er enhiez ûf in niht salzes holn, er rach über in brende und koln. herre Vogelweide von brâten sanc: dirre brâte was dicke und lanc.“ 286, 11–20. Heinzle (Anm. 137). Übers.: „Den er so aus dem Schlaf gerissen hatte, der schnürte ihm, als wäre er ein Schaf, alle Viere mit einem Seil zusammen und warf ihn auf der Stelle unter einen Kessel in die starke Glut: so wurde er das Leben los. Er verlangte nicht nach Salz, um ihn zu würzen, er scharrte Glut und Kohlen über ihn. Herr Vogelweide sang einmal von einem Braten: der Braten hier war dick und lang.“
3. WOLFRAM VON ESCHENBACH
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erfunden hat. Der ‚Titurel‘ wäre damit das erste höfische Epos, das nicht auf eine französische oder lateinische Vorlage zurückgeht. Der irreführende Titel erklärt sich aus dem Usus der mittelalterlichen Schreiber, ein Werk nach dem zuerst auftretenden Namen zu benennen, und das ist hier der des Gralkönigs Titurel, dessen Geschlecht Sigune entstammt.168 Wir besitzen vom ‚Titurel‘ zwei Textstücke von zusammen rd. 175 Strophen; dass Wolfram wesentlich mehr gedichtet hätte, ist wenig wahrscheinlich, jedenfalls nicht beweisbar. Warum das Gedicht nicht zum Abschluss gelangte, ist unbekannt, ebenso die nähere Entstehungszeit. Es war wohl Wolframs letztes Werk. Die Entscheidung für die erzählliedartige Form, d. h. für die bislang nur in Lyrik und Heldenepik gebräuchliche strophische Form – eine wichtige Innovation seines Alterswerks – dürfte unter dem Einfluss des ‚Nibelungenlieds‘ gefallen sein. Erzähldichtung in Strophen ist prinzipiell für den sanglichen Vortrag bestimmt, doch überliefern die erhaltenen Handschriften keine Melodien. Der ‚Titurel‘ wurde auch in seiner unvollständigen Gestalt, vielleicht noch zu Wolframs Lebzeiten, verbreitet. Einige Jahrzehnte nach seinem Tod verfasste Albrecht den ‚Jüngeren Titurel‘, den er – Wolframs Strophen integrierend – zu einem monumentalen Schionatulander-Gral-Roman erweiterte und der einer der größten literarischen Erfolge des Spätmittelalters wurde. Albrecht ahmte sein Vorbild nicht nur in Diktion und Stil nach, sondern verfasste auch den größten Teil seines Werks unter dem Namen Wolfram, eine Autorfiktion, die erst von A. W. Schlegel und J. Grimm als solche durchschaut wurde. Manches spricht dafür, auch Wolframs letztes Erzählwerk mit dem Thüringer Hof zu verbinden. Die einzige zeitgeschichtliche Anspielung im Text gilt jedenfalls dem Landgrafen Hermann. Die fragliche Strophe findet sich abgesehen vom ‚Jüngeren Titurel‘ nur in der Münchner Handschrift, die um 1240/50, also noch vor Albrechts Epos, entstanden sein dürfte, doch spricht nichts gegen ihre Echtheit.169 Die vorangehende Strophe erzählt von Parzivals Vater Gahmuret, zu dessen Gefolge der Knappe Schionatulander gehörte, von seinem Tod im ritterlichen Kampf und seinem Ruhm bei Christen und Heiden, der nicht vergehen werde. Daran schließt sich der Preis des verstorbenen Landgrafen an, der seinerzeit in hohem Ansehen stand und darin alle seine Standesgenossen überragte:
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Das Gedicht beginnt mit einer Abdankungsrede des greisen Gralkönigs: „Dô sich der starke Tyturel mohte gerüeren, er getorste wol sich selben unt die sîne in sturme gefüeren.“ Str. 1, 1 f. Wolfram von Eschenbach. Titurel. Hg., übersetzt und mit einem Stellenkommentar sowie einer Einführung versehen von Helmut Brackert u. Stephan Fuchs-Jolie. Berlin, New York 2003. Übers.: „Als sich der starke Titurel noch rühren konnte, getraute er sich wohl, sich und die Seinen auf vorbildliche Weise in die Schlacht zu führen.“ München, UB, 8° Cod. ms. 154 (Cim 80b). Zur Überlieferung vgl. Bumke (Anm. 162), S. 418 f., Brackert u. Fuchs-Jolie (Anm. 168), S. 26–28; Glauch (Anm. 142), S. 202 f.
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III. LITERATUR IM UMKREIS DES LANDGRAFENHOFS
† Si mürkennen, niht eralten. Her von n wilent êren, der immer unsches . wâ man sinen genôzzen shen, die n gescheid, wie kunde sîn lop die sô pre!†170
Wenn man fragt, warum Wolfram in seinem Alterswerk den verstorbenen Landgrafen mit dem Topos der Überbietung über alle Fürsten seiner Zeit hebt, bietet sich wohl als nächstliegende Antwort an, dass er sich des einstigen Gönners erinnert.171 Als Ergebnis ist festzuhalten: Alle drei Romane lassen erkennen, dass Wolfram von Eschenbach mit Landgraf Hermann bekannt war und sich mehrfach an dessen Hof aufhielt.172 Hier scheint er mit Walther von der Vogelweide zusammengetroffen zu sein, den er im ‚Parzival‘ wie im ‚Willehalm‘ erwähnt. Wenn Wolfram den Landgrafen im ‚Willehalm‘ als Vermittler seiner Vorlage nennt und ihn an späterer Stelle ob seiner Freigebigkeit rühmt, und wenn er noch in seinem letzten Werk, der Sigunedichtung, zunächst den Ruhm Gahmurets erwähnt, um mit diesem dann den Landgrafen zu vergleichen und mit einem Überbietungstopos zu behaupten, Hermann habe an „lop“ all seine Standesgenossen überragt, kann man kaum umhin anzunehmen, dass diese Erwähnungen dem fürstlichen Gönner des Epikers gelten.
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Brackert u. Fuchs-Jolie (Anm. 168), Str. 87. Übers.: „Ihnen allen muß er bekannt sein, er kann gar nicht altern. In hohem Ansehen lebte einst Hermann von Thüringen, der stets vorbildlich zu handeln wußte. Wo immer man von Seinesgleichen reden hört, die vor ihm hingeschieden sind – wie sehr vermochte sein strahlender Ruhm den ihren zu überstrahlen!“ Vgl. auch Joachim Heinzle: Stellenkommentar zu Wolframs ‚Titurel‘. Beiträge zum Verständnis des überlieferten Textes. Tübingen 1972 (Hermaea. NF 30), S. 132. Volker Mertens: Das ‚Fürstenlob‘ des ‚Wartburgkriegs‘ – Heinrich III. von Meißen und die „gemischte Medialität“. In: „... der Welt noch den Tannhäuser schuldig“. Richard Wagner: Tannhäuser und der Sängerkrieg auf Wartburg. Hg. von Irene Erfen in Zusammenarbeit mit der Wartburg-Stiftung Eisenach. Wartburg-Jb. Sonderband 1997. Regensburg 1999, S. 15–31, hier 19, sah in der Strophe ein Indiz für eine nostalgische Wolfram-Pflege am Thüringer Landgrafenhof, die vielleicht die Aufführung des ‚Titurel‘ und seiner Ergänzungen eingeschlossen habe. Vgl. auch Glauch (Anm. 142), S. 199–263. Nach Fuchs-Jolie (Anm. 168), S. 206, ist „mit hoher Wahrscheinlichkeit Wolframs Gönner“ Hermann I. gemeint. Dass Sicherheit hier nicht zu erlangen ist, ergibt sich schon aus der trümmerhaften Überlieferung des Textes. Zurückhaltender Bumke (Anm. 162), S. 14: „Ob Wolfram auch den ‚Titurel‘ im Auftrag Hermanns gedichtet hat, muß offenbleiben.“ Schreiber (Anm. 150), S. 60, hat sich gegen die Annahme, Wolfram habe wiederholt und für längere Zeit am Landgrafenhof geweilt, ausgesprochen. Nach der Schelte der landgräflichen Hofbeamten Pz. 297, 16 ff. sei „das Tischtuch zwischen „W. und dem landgräfl. Hofe endgültig zerschnitten“ gewesen; bei einem neuerlichen Besuch hätten die Hofbeamten dem Dichter zweifellos „einen gar übelen Empfang bereitet“ (S. 62). Dagegen hielt Bernd Schirok: Parzivalrezeption im Mittelalter. Darmstadt 1982 (Erträge der Forschung 174), S. 14, „einen längeren Aufenthalt Wolframs in Thüringen“ für erwägenswert.
4. HÖFISCHE LYRIK UM 1200
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4. Höfische Lyrik um 1200 Dass am Landgrafenhof auch Minnesänger und Spruchdichter aufgetreten sind, wissen wir aus verschiedenen Zeugnissen, vornehmlich aus Anspielungen in den Gedichten. Sicheren Boden betreten wir erst gegen Ende des 12. Jahrhunderts. Das schließt jedoch nicht aus, dass schon in den 70/80er Jahren Lyriker am Thüringer Hof wirkten. Es war bereits die Rede von Hug von Salza, den der späthöfische Epiker Heinrich von dem Türlin in einem Lyrikerkatalog zusammen mit frühen Minnesängern nennt und der vielleicht mit einem Hug von Salza identisch ist, der in zwei landgräflichen Urkunden erscheint. Das Für und Wider dieser Identifizierung zu erörtern, ist allerdings müßig, da von den Liedern Hugs kein einziges erhalten ist. Wie sich noch zeigen wird, ist Hug kein absoluter Einzelfall. Die Minnesangforschung hat nun in anderthalb Jahrhunderten für die meisten Dichter vom Kürenberger bis zu Johannes Hadlaub das urkundliche Material durchgearbeitet, Lebensdaten, Standesverhältnisse und Bildungsstand zu bestimmen gesucht, nach Vorbildern und intertextuellen Bezügen ebenso gefragt wie nach den Wirkungsorten der Dichter und der Rezeption ihrer Lieder. Die nähere Prüfung der solcherart gewonnenen Dichterbilder führt in vielen Fällen zu dem Resultat, dass die meisten Angaben wohl mehr oder weniger plausibel, aber nicht beweisbar sind. Da ein literarhistorisches Bild aber kaum entsteht, wenn man auf entsprechende biographisch-literaturgeschichtliche Umrisslinien gänzlich verzichtet und sich auf die Feststellung beschränkt, ein Dichter habe im 12. Jahrhundert oder um 1200 oder im 13. Jahrhundert gewirkt, werden sie in den Handbüchern gewöhnlich tradiert und sollen auch hier in gewissem Umfang ihren Platz finden. Sind sie auch im strengen Sinn unbeweisbar, fußen sie doch anderseits auf der philologischen Detailarbeit von Generationen. Der Minnesang in Thüringen ist nicht sonderlich gut erforscht, die wenigen Einzeluntersuchungen gehören überwiegend dem 19. Jahrhundert an.173 Erschwerend kommt das Spezifikum der Gattung hinzu, dass die Texte nur ausnahmsweise auf Außerliterarisches verweisen. Während die besprochenen Zeugnisse der höfischen Epik mehrfach den Landgrafen oder den landgräflichen Hof als Auftraggeber oder als Vermittler einer Vorlage nennen, ist in einem Minnelied für solche Angaben kein Raum. Eine Minnekanzone lässt sich zumeist bestenfalls annähernd datieren, und schwerer noch dürfte der Nachweis fallen, wann und von wem sie vorgetragen wurde. Zu den artifiziellen Gedichten Walthers von der Vogelweide gehört das „Vokalspiel“ ‚Diu welt was gelf, rôt unde blâ‘ (L 75, 25. C 52), ein vielleicht durch Heinrich von 173
Wichtig sind nach wie vor die Überblicksdarstellungen von Schröder (Anm. I, 22), Wolf (Anm. I, 34), Bumke (Anm. 14) und Lemmer (Anm. I, 33).
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III. LITERATUR IM UMKREIS DES LANDGRAFENHOFS
Morungen beeinflusstes Minnelied, in dem das Sänger-Ich die Entbehrungen des Winters und die Abwesenheit von Liebesfreuden beklagt. „Vokalspiel“ deshalb, weil alle Verse einer Strophe auf je einen Vokal enden, die erste Strophe auf a, die zweite Strophe auf e usw. Das Lied endet mit dem Bekenntnis des Sängers, ehe er diese entbehrungsreiche Zeit noch länger ertrüge, würde er lieber Mönch zu Toberlû. Die Pointe erschließt sich nicht sofort oder richtiger: nicht überall. Mit Toberlû ist das 1165 gegründete und mit Mönchen aus dem thüringischen Volkenroda besetzte Zisterzienserkloster Dobrilugk (heute Doberlug-Kirchhain) an der Kleinen Elster in der Niederlausitz gemeint, abgeschieden und fern von den Mittelpunkten der wettinischen Herrschaft gelegen.174 Die Nennung dieses Namens war nur in einem begrenzten geographischen Raum sinnvoll, in Köln oder am Hof der Kärntner Herzöge hätte niemand etwas mit dem Ortsnamen slavischer Herkunft anfangen können. Anders am Hof der Markgrafen von Meißen; zu denken wäre vielleicht aber auch an den Landgrafenhof. Walthers „Vokalspiel“ ist eine seltene Ausnahme, bei anderen Lyrikern seiner Zeit findet sich kaum Vergleichbares. Für die Frage, ob Walther in Thüringen als Minnesänger hervorgetreten ist, sieht man sich daher auf Indizien wie seine Rezeption durch spätere Dichter verwiesen – ein Beispiel ist die Rezeption der Waltherschen „Elegie“ durch den von Kolmas. Der etwas ältere Heinrich von Morungen stammt aus Nordthüringen, aber seine Lieder wird er auch am Stauferhof gedichtet und vorgetragen haben, was heißen kann: in Süddeutschland, der Provence oder Italien. Sie enthalten nichts, was dafür oder dagegen spräche. Hug von Salza – um ihn noch einmal zu erwähnen – hat bereits im 19. Jahrhundert die Aufmerksamkeit der Forschung gefunden; Scherer vermutete, er könne wie der von Kürenberg, Meinloh von Sevelingen und einige andere frühe Minnelyriker zu den Wegbereitern der ritterlich-höfischen Dichtung gehört haben.175 Dies würde zugleich den völligen Verlust seines Œuvre besser verständlich machen. Heute nimmt man an, dass er vielleicht „ein Zeitgenosse Heinrichs von Veldeke und Vorläufer Heinrichs von Morungen“ war.176 Aber da die beiden für ihn beanspruchten Urkunden den Zeitraum von 1174 bis 1225 umschließen, ist keineswegs sicher, ob beide sich auf denselben 174
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Das Kloster Doberlug wurde von Graf Dietrich II. von Eilenburg, dem zweiten Sohn Markgraf Konrads des Großen, gegründet. Vgl. Stefan Pätzold: Die frühen Wettiner. Adelsfamilie und Hausüberlieferung bis 1221. Köln, Weimar, Wien 1997 (Geschichte und Politik in Sachsen 6), S. 203–207; Manfred Lemmer: „Münch ze Toberlû“. Anmerkungen zu Walther L 76, 21. In: Röllwagenbüchlein. Fs. Walter Röll. Hg. von Jürgen Jaehrling, Uwe Meves, Erika Timm. Tübingen 2002, S. 43–49, hier 46–48. „In die gleiche Reihe jener Bahnbrecher dürfte Hugo von Salza in Thüringen gehören [...]. Scherer (Anm. III, 102), S. 128. Auf Hug von Salza wies bereits Moriz Haupt hin. Vgl. Konrad Burdach: Salza, Hugo von S. In: ADB, Bd. 30 (1890), S. 289. Schweikle (Anm. 3), Sp. 220.
4. HÖFISCHE LYRIK UM 1200
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Hug bzw. Hugo beziehen.177 Auch die ständische und geographische Herkunft ist unklar; gewöhnlich meint man, er habe einem landgräflichen Ministerialengeschlecht angehört, das bei Bad Langensalza ansässig war, doch bleibt das unbeweisbar.178 Man wird also zögern, Hug als frühesten Vertreter des Minnesangs in Thüringen zur Zeit Ludwigs III. zu beanspruchen. Folgt man der Chronologie, ist als erster Lyriker Heinrich von Veldeke zu nennen, dessen literarisches Schaffen in ludowingischen Diensten der Epilog seines Romans bezeugt. Veldeke war wie andere Dichter seiner Zeit – etwa Hartmann von Aue und Wolfram von Eschenbach – Lyriker und Epiker, neben dem Eneasroman und einem Legendenepos über den Maastrichter Lokalheiligen St. Servatius verfasste er eine größere Zahl lyrischer Strophen.179 Seine Heimat war, wie schon im Kontext des Eneasromans bemerkt, das alte Herzogtum Limburg, und wenn wir seine lyrischen Gedichte mit Thüringen verbinden könnten, wäre dies die Bestätigung einer pointierten Formulierung von Ulrich Wyss: „Regionen definieren sich in der Literaturgeschichte durch das, was sie von anderswo beziehen; sie bezeugen Rezeptionen, nicht den Ursprung.“180 Angesichts der skizzierten Schwierigkeiten, Minnelyrik zeitlich und räumlich näher einzugrenzen, könnte man versucht sein, der zumal in der neueren Diskussion über regionale Literaturgeschichtsschreibung zu findenden Empfehlung zu folgen, nicht „produktionsästhetisch“ bei den Werken und ihrem Entstehungsraum anzusetzen, sondern „rezeptionsästhetisch“ bei ihrer handschriftlichen Tradierung, der zeitlichen und räumlichen Verbreitung der Manuskripte. Das Beispiel Veldekes zeigt jedoch, dass diese Methode wohl grundsätzlich bedenkenswert, aber nicht uneingeschränkt anwendbar ist. Seine Lieder sind nämlich ausschließlich in den drei großen Minnesang-Sammelhandschriften ABC überliefert, die zeitlich und räumlich gleichermaßen weit von ihm abstehen. Handschrift A, die unter seinem Namen 17 Strophen
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Die zweite Urkunde entstand zwischen 1195 und 1225. Dobenecker (Anm. 2), Bd. 2, S. 393, Nr. 2198. Vgl. Regesten deutscher Minnesänger des 12. und 13. Jahrhunderts. Hg. von Uwe Meves unter Mitarbeit von Cord Meyer u. Janina Drostel. Berlin, New York 2005, S. 685–690. Ebd. zur Problematik einer Verwandtschaft Hugs von Salza mit Hermann von Salza (um 1210–1239), dem vierten Hochmeister des Deutschen Ordens, einem engen Berater Kaiser Friedrichs II. Vgl. Patze (Anm. II, 87), S. 352 ff. Die weitgefasste Formulierung deshalb, weil im Einzelnen umstritten ist, wie viele der Strophen, die die Handschriften ABC unter Veldekes Namen überliefern, ihm tatsächlich gehören, und weil nicht immer feststeht, ob es sich um Einzelstrophen, zweistrophige Wechsel oder mehrstrophige Lieder handelt. Ulrich Wyss: Literaturlandschaft und Literaturgeschichte. Am Beispiel Rudolf Borchardts und Josef Nadlers. In: Interregionalität der deutschen Literatur im europäischen Mittelalter (Anm. I, 18), S. 45–63, hier 56.
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III. LITERATUR IM UMKREIS DES LANDGRAFENHOFS
bietet, wurde Ende des 13. Jahrhunderts im Elsass, vielleicht in Straßburg, geschrieben; Handschrift B, deren Veldeke-Corpus 48 Strophen umfasst, könnte um 1310/20 in Konstanz entstanden sein; und die berühmte ‚Große Heidelberger Liederhandschrift‘ C (nach dem mutmaßlichen Initiator Rüdiger Manesse auch ‚Manessische Handschrift‘), die ihm 61 Strophen zuweist, wurde im ersten Drittel des 14. Jahrhunderts in oder bei Zürich zusammengestellt. Diese Sammlungen trennt ein Jahrhundert von der Lebenszeit des Dichters, und da sie im westoberdeutschen Sprachraum entstanden, haben die Schreiber die Lieder des Limburgers ihrer eigenen Schreibsprache angepasst, also alemannisch-hochdeutsch überformt. Grundsätzlich enthalten sie nur die Texte, nicht die zugehörigen Melodien, sodass Vermutungen wie jene, Veldeke werde eine größere Zahl von Melodien geschaffen haben, nicht nachprüfbar sind.181 Für etwaige Wirkungen seiner Lyrik in Thüringen bleibt der überlieferungsgeschichtliche Befund also unerheblich. Während wir wissen, dass Veldeke seinen Roman am Niederrhein begann und an der Unstrut beendete, nachdem er in seiner engeren Heimat den Patron der Maastrichter Kathedrale in einem volkssprachigen Legendenepos dargestellt hatte, fehlen entsprechende Angaben für die Lieder. Was sie betrifft, sind es drei, kaum voneinander zu trennende Fragen, die seit langem diskutiert werden: Wann, für welches Publikum und in welcher Sprache hat Veldeke sie verfasst? Erkennbar sind zwei Grundmuster der Argumentation: 1. Veldeke verfasste die Lieder in seiner Frühzeit für ein Publikum in seiner limburgischen Heimat, daher auch in seinem heimatlichen niederfränkischen Idiom, das im Anschluss an die Forschungen von Frings oft „Altlimburgisch“ genannt wird. Zu den unausgesprochenen, aber unbeweisbaren Prämissen dieser Auffassung gehört die, dass Liebeslyrik sich eher der früheren als einer späteren Schaffensphase eines Dichters zuweisen lasse. 2. Die Lieder verteilen sich über einen größeren Zeitraum, sie entstanden in zeitlicher Parallelität zu den erzählenden Werken, wenigstens zu Teilen nach 1184 (Mainzer Hoftag), mithin für ein hochdeutsches Publikum, auf das der Dichter sich sprachlich einstellte – ob am Stauferhof oder in Thüringen, ist eine weitere, kaum sicher zu beantwortende Frage. Heute gibt man zumeist der zweiten Argumentation den Vorrang, hält also für möglich, dass eine Reihe der oft einstrophigen Lieder Veldekes ihr Publikum auf dem Mainzer Hoffest und später in Thüringen fanden.182 181
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Vgl. Schieb (Anm. 5), S. 23–31, hier 29. Einen neueren Überblick über Veldekes Lieder bietet Günther Schweikle: Mittelhochdeutsche Minnelyrik. I. Frühe Minnelyrik. Texte und Übertragungen, Einführung und Kommentar. Stuttgart, Weimar 1993, S. 414–429. Nach Schweikle (Anm. 181), S. 415, wird „Veldekes lyrisches Werk [...] zwischen etwa 1170 und 1190 anzusetzen sein“. Wolf (Anm. I, 34), S. 203: „In Thüringen wird Veldeke auch seine späte Lyrik geschaffen haben, die dort aber wenig sichtbare Wurzeln geschlagen hat.“
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Mit der Diskussion über Datierung, Sprache und Echtheit der Lieder Veldekes ist die Forschung in eine Sackgasse geraten; denn da gesicherte Aussagen über die Chronologie seines lyrischen Œuvre nicht möglich sind, bleiben alle Annahmen über Tanzlieder der flandrischen Frühzeit und Minnekanzonen der Reifezeit unbeweisbar und letztlich von unausgesprochenen und eher an neuzeitlichen Verhältnissen orientierten Vorannahmen über die Entwicklung eines Lyrikers bestimmt.183 Nicht anders steht es um den Versuch einer Rückübersetzung seiner ausschließlich oberdeutsch überlieferten Lieder in eine Sprache, für die Vergleichsmaterial erst aus späterer Zeit vorliegt, und vollends bedenklich ist die Gewissheit, mit der frühere Philologengenerationen meinten, in der Überlieferung echte von unechten Strophen scheiden zu können, eine Gewissheit, die dazu führte, dass im Lauf eines Jahrhunders über die Hälfte aller Strophen Veldeke abgesprochen wurde.184 Hingegen spricht kein zwingender Grund gegen die Annahme, dass der Dichter, der mit seinem Roman rasch zu einem gefeierten Autor und einem Vorbild für die Epiker in Mitteldeutschland, aber auch im Süden wurde, in Thüringen auch mit Minneliedern hervorgetreten wäre; umgekehrt findet sich in seinen Strophen manches Indiz für diese Annahme. Lied XVIII lautet: Ez tuont diu vogelîn schîn, daz siu die boume sehent gebluot, ir sanc machet mir den muot sô guot, daz ich vrô bin Noch trûric niht kan sîn. got êre sî, diu mir daz tuot, al über den Rîn. daz mir der sorgen gebuot, aldâ mîn lîp verre ist in ellende.185 183
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Nach Schieb (Anm. 5), S. 25, „läßt sich doch, mit aller Zurückhaltung, eine entwicklungsgeschichtliche Folge aufstellen, die psychologisch-künstlerischen Möglichkeiten, einem Weg des Reifens entspricht, und die ihr Gegenstück in der Entwicklung der Lyrik überhaupt hat“. Vgl. Helmut Thomas: Zu den Liedern und Sprüchen Heinrichs von Veldeke. In: PBB (H) 78 (1956), S. 158–264. Die heute maßgebliche Edition der Lieder Veldekes: Des Minnesangs Frühling. Unter Benutzung der Ausgaben von Karl Lachmann u. Moriz Haupt, Friedrich Vogt und Carl von Kraus bearb. von Hugo Moser u. Helmut Tervooren. I. Texte. 38., erneut revidierte Auflage. Mit einem Anhang: Das Budapester und Kremsmünsterer Fragment. Stuttgart 1988, S. 97–149. Hier sind von den 61 unter Veldekes Namen überlieferten Strophen 52 zu 33 Liedern geordnet und vier Lieder als unecht ausgewiesen. Vgl. auch Thomas Bein: „Mit fremden Pegasusen pflügen“. Untersuchungen zu Authentizitätsproblemen in mittelhochdeutscher Lyrik und Lyrikphilologie. Berlin 1998, S. 357–385. MF 64, 17. Übers.: „Es tun die Vöglein kund, daß sie die Bäume aufgeblüht sehen. Ihr Gesang macht mir den Mut so frei, daß ich froh bin und nicht traurig sein kann. Gott ehre sie, die das bei mir bewirkt, – weit über den Rhein hinweg – was mir die Sorgen verscheucht
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III. LITERATUR IM UMKREIS DES LANDGRAFENHOFS
Die Form des einstrophigen Lieds – eine durchgereimte Periodenstrophe – zeigt zunächst, dass Veldeke sich in Vers- und Reimtechnik am Vorbild der romanischen Lyriker orientierte. Dem Inhalt nach lässt die Strophe sich als Natur- und Frauenpreis bestimmen, wobei die Schilderung des Frühlings mit Vogelsang und sich begrünenden Bäumen letztlich nur den Hintergrund bildet für die Gestimmtheit des Sängers; denn der eigentliche Grund seiner Freude ist die Minnedame. Sie bewirkt dies „weit über den Rhein hinweg“, eine Formulierung, die man auf Veldekes Aufenthalt auf Thüringen bezogen hat, wofür auch das Wort ellende (‚in fremdem Lande‘) des Schlussverses sprechen könnte.186 Doch ist das Motiv der Fernliebe ein bekanntes Minnesangmotiv. Anders liegen die Dinge bei Lied XXV: Die minne bit ich unde man, diu mich hât verwunnen al, daz ich die schoenen dar zuo span, daz si mêre mîn geval. Geschiht mir als dem swan, der dâ singet, als er sterben sal, sô verliuse ich ze vil dar an.187
Das auf den ersten Blick unscheinbare kleine Lied erweist sich als eine kunstvoll gebaute, geistreiche Minnewerbung. Im Aufgesang wendet der Sänger sich mit der Bitte an Frau minne (die Liebesgöttin), sie möge die Dame seinen Wünschen geneigt machen. Im Abgesang lässt er eine Mahnung folgen. Veldeke verwendet für sie das seit der Antike als lyrisches Motiv belegte Bild des sterbend singenden Schwans. Es kontrastiert ironisch mit der vorangehenden Bitte; denn wenn diese – so der Sänger – ein Schwanengesang werde, sei das für ihn ein zu großer Verlust. Man könnte den Grundgedanken des Lieds in der ironischen Distanzierung des Sängers vom Liebestod als Konsequenz mangelnder Zuwendung der Dame sehen, aber auch zwischen den Zeilen die Mahnung lesen, dass der Verlierer letztlich nicht der Sänger, sondern die Dame wäre. Diesen Gedanken hat dann Walther von der Vogelweide im
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überall da, wo ich fern in fremdem Lande bin.“ Schweikle (Anm. 181). Vgl. Schweikle (Anm. 181), S. 441. Das Motiv begegnet auch bei Otto von Botenlauben, Lied XII, 1, 5: „swâ diu guote wone al umbe den Rîn“. Zu Ottos Liedern vgl. S. 154 ff. Hier ist gemeint: ‚Wo sie auch wohnen mag im Deutschen Reich‘ (nicht: ‚am Rhein‘). Vgl. auch Frank Willaert: Heinrich von Veldeke und der frühe Minnesang. In: Mittelalterliche Lyrik. Probleme der Poetik. Hg. von Thomas Cramer u. Ingrid Kasten. Berlin 1999 (Ph. St. u. Qu. 154), S. 33–56. MF 66, 9. Übers.: „Die Minne bitte und gemahne ich, die mich ganz überwunden hat, daß ich die Schöne dazu bringe, daß sie sich mir mehr zuneige. Geschieht mir wie dem Schwan, der da singt, wenn er sterben soll, so verliere ich zu viel dabei.“ Schweikle (Anm. 181).
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„sumerlaten“-Lied (L 72, 31. C 49) in drastischer Zuspitzung in die Worte gefasst: „ir leben hât mînes lebennes êre, sterbet si mich, sô ist si tôt,“188 Walthers Abhängigkeit von Veldeke lässt sich kaum beweisen, während die Aufnahme des Motivs vom Schwanengesang durch Morungen für einen unmittelbaren Bezug auf Veldeke spricht.189 Mit Namen wie Morungen und Walther stellt sich die Frage nach Veldekes Wirkung. Bis heute zeichnen die Handbücher das Bild eines besonders durch regionale und volkstümliche Elemente geprägten frühen Außenseiters unter den Minnesängern, dessen Lieder kaum gewirkt hätten.190 Tatsächlich fehlt es schon vor dem Entstehen der Sammelhandschriften keineswegs an Rezeptionsspuren in verschiedenen Literaturlandschaften. Zu Beginn des 13. Jahrhunderts rühmt Gottfried im ‚Tristan‘, den man mit der Stadt Straßburg verbindet, den maasländischen Dichter mit den Worten „wie wol sang er von minnen!“ (v. 4726), die sich schwerlich nur auf den Erzähler beziehen lassen. Ein halbes Jahrhundert später wird „Heinrîch der Veldeggaere“ vom Marner, einem süddeutschen Berufsdichter, in einem Lyrikerkatalog genannt.191 Mehr oder weniger sicher ist Veldekes Wirkung auf Minnesänger wie Friedrich von Hausen, Heinrich von Rugge, Heinrich von Morungen und Günther von dem Forste, die teils in der Umgebung des Stauferhofs, teils in Thüringen wirkten. Dass Veldeke nicht nur zwischen Maas und Rhein bekannt war, beweist auch der Artusroman ‚Die Krone‘ (1220/30), in dem Heinrich von dem Türlin, wohl ein Kärntner, aus Veldekes Lied IV zitiert, das besondere Resonanz gefunden haben muss. Es lautet: Tristran muose sunder sînen danc staete sîn der küneginne, wan in daz poisûn dar zuo twanc mêre danne diu kraft der minne. 188
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Übers.: „[...] erhöht sich ihr Leben durch das meine; sterbe ich jedoch, so ist auch sie tot.“ (Wapnewski, Anm. 239). Morungen, MF 139, 15 ff.: „ich tuon sam der swan, der singet, swenne er stirbet. / waz ob mir mîn sanc daz lîhte noch erwirbet, / swâ man mînen kumber sagt ze maere, / daz man mir erbunne mîner swaere?“ Ein literarisches Motiv wie der sterbend singende Schwan, das sich bei Ovid, ‚Met. XIV, 428 ff., den romanischen Lyrikern und in der mittellateinischen Lyrik findet, besitzt natürlich keine biographische Beweiskraft. Anderseits begegnet es im deutschen Minnesang nur noch einmal bei dem von Gliers, Leich I, v. 109 ff. Bumke (Anm. II, 130), S. 141, meinte, Veldekes Lieder seien „ohne Wirkung“ geblieben. Zu den unausgesprochenen Prämissen dieser Einschätzung dürfte die gehören, dass der Dichter mit lyrischen Strophen in seiner Heimat und damit fern von den Zentren der höfischen Literatur des deutschsprachigen Raums, begonnen habe. Vgl. Dichter über Dichter in mittelhochdeutscher Literatur. Hg. von Günther Schweikle. Tübingen 1970 (Deutsche Texte 12), S. 33, Nr. 12, sowie die Zusammenstellung der Zeugnisse bei Schweikle (Anm. 181), S. 414.
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Des sol mir diu guote sagen danc, wizzen, daz ich sölhen tranc nie genam und ich sî doch minne baz danne er, und mac daz sîn. wol getâne, valsches âne, lâ mich wesen dîn unde wis dû mîn.192
Die kunstvoll gestaltete Strophe, zu der eine zweite gehört, ist eine Werbestrophe.193 Ihre Besonderheit liegt im Rekurs auf eine literarische Beispielfigur: Während Tristan Isolde liebte, weil er vom Minnetrank genossen hatte, habe ich – so Veldekes Sänger – nie davon getrunken, und doch ist meine Liebe größer als die seine. Eine literarische Anspielung enthält auch der durch Rhythmuswechsel hervorgehobene Schluss: „lâ mich wesen dîn unde wis dû mîn.“ Zugrunde liegt die verbreitete Ich-Du-Formel, die hier als Umschreibung der Bitte um Erhörung durch diu guote dient. Die Strophe bezieht sich auf eine breit überlieferte Minnekanzone des nordfranzösischen Romanciers und Lyrikers Chrétien de Troyes über richtige und falsche Liebe, die auch von dem Minnesänger Bernger von Horheim bearbeitet wurde.194 Die Strophe bezeugt nicht nur Veldekes Vertrautheit mit romanischer Liedkunst, sie setzt auch voraus, dass die Geschichte von Tristan und Isolde, die als erster Eilhart von Oberg in seinem ‚Tristrant‘ (1175/80) in deutscher Sprache bearbeitet hatte, seinem Publikum geläufig war. Nach Volker Mertens gibt es „gute Gründe“, sich Veldekes Tristan-Strophe wie die Mehrzahl seiner Minnestrophen nach 1184 am Thüringer Hof entstanden zu denken, der „entwickelte Geselligkeitsformen besessen haben“ werde.195 Tatsächlich weisen manche
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MF 58, 35. Übers.: „Tristan mußte gegen seinen Willen treu sein der Königin, weil ihn der Liebestrank dazu zwang mehr als die Macht der Minne. Dafür soll mir die Gute Dank wissen, daß ich solchen Trank nie zu mir nahm und ich sie dennoch liebe mehr als er, wenn das sein kann. Wohlgestalte ohne Falsch, laß mich dein sein und sei du mein.“ Schweikle (Anm. 181). Lied IV, Str. 2 wurde für unecht erklärt. Vgl. Des Minnesangs Frühling (Anm. 184), Apparat, S. 108 und 110. Widersprüchlich Schieb (Anm. 5), S. 27, sie rechnete das Lied zu den „Stücke[n] höchster und letzter Kunst“, erklärte aber die 2. Strophe für unecht. Ob die Zuschreibung der Kanzone ‚D’Amors, qui m’a tolu a moi‘ an Chrétien de Troyes berechtigt ist oder nicht, ist ungeklärt. Nach Volker Mertens: Intertristanisches – TristanLieder von Chrétien de Troyes, Bernger von Horheim und Heinrich von Veldeke. In: Kultureller Wandel in der Bundesrepublik Deutschland. Vorträge des Augsburger Germanistentags 1991. Hg. von Johannes Janota. Bd. 3. Tübingen 1993, S. 37–55, hier 52, verfasste Chrétien das Lied Ende der 70er Jahre am Hof der Marie de Champagne. Mertens (Anm. 194), S. 52. Bis auf die überholte Annahme, einer der Ludowinger sei mit der französischen Hofkultur in Berührung gekommen, ist Mertens zuzustimmen.
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Indizien in diese Richtung. Erinnert sei noch einmal an die „neuen Tänze“ aus Thüringen, die im XIII. Buch des ‚Parzival‘ bei Gelegenheit von Gawans Hochzeitsfest erwähnt werden. Offenbar verband man um 1200 mit Thüringen viele Tänze. Im ‚Willehalm‘ erwähnt Wolfram, wiederum beiläufig, den Minnesänger Neidhart. Anlass ist der Küchenjunge Rennewert, der mit einer riesigen Stange und einem eben so überdimensionierten Schwert kämpft. Wolfram knüpft daran die launige Erzählerbemerkung: Hätte Herr Neidhart gesehen, wie man dieses Schwert über seinen Dorfhügel trägt, er hätte sich bei seinen Freunden beklagt.196 Die beiläufige Erwähnung des bayerischen Minnelyrikers, dessen Lieder vom Kontrast erhabener Minnegefühle mit bäuerlicher Alltagsrealität leben, lässt vermuten, dass sie um 1215 auch am Landgrafenhof bekannt waren. Während Hug von Salza für die Literaturgeschichte kaum mehr als ein Name ist und die Lokalisierung der Lieder des Maasländers Veldeke bis heute Fragen aufgibt, besteht an der Verbindung Morungens mit der Literaturlandschaft Thüringen kein Zweifel. Heinrich von Morungen, der vor und um 1200 dichtete, ist der erste mitteldeutsche Minnelyriker, den wir kennen. Die Literaturgeschichte zählt ihn zu den klassischen Vertretern der Gattung, er gilt ihr als der neben Walther von der Vogelweide bedeutendste Minnesänger überhaupt.197 Das allerdings ist die heutige Sicht; in seiner Zeit stand Morungen offenbar im Schatten Reinmars des Alten, in den Dichterkatalogen – etwa Gottfrieds von Straßburg – wird er anders als jener nicht erwähnt. Doch seine Wirkung war nicht so gering, wie mitunter behauptet; Spuren seiner Poesie finden sich bei Walther, Hiltbolt von Schwangau, Neidhart und Ulrich von Liechtenstein, und im späten 13. Jahrhundert gab es in Thüringen eine Morungen-Schule, Lyriker, die ihn unverkennbar nachzuahmen suchten, sodass Schröder vermutete, es müsse sich in der Gegend um Sangerhausen „etwas wie der literarische Nachlass des großen Lyrikers befunden“ haben.198 Im 14. Jahrhundert legte der Mainzer Domdekan Rudolf Losse eine Liedersammlung an, die auch Minnelieder enthält, von denen wir sonst nichts wüssten, da sie in den großen Sammelhandschriften fehlen. Darunter findet sich 196
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„man muoz des sîme swerte jehen: / het ez her Nîthart gesehen / über sînen geubühel tragen, / er begund ez sînen vriunden klagen.“ Wh. 312, 11–14. Übers.: „Seinem Schwert muß man das lassen: hätte es Herr Neidhart über seinen Dorfberg tragen sehen, hätt er geklagt bei seinen Freunden.“ Das Motiv der Wendung an die „wîsen vriunde“ begegnet erstmals in Neidharts Winterlied 3, um dann leitmotivisch wiederzukehren. Ed.: Heinrich von Morungen. Lieder. Mittelhochdeutsch und neuhochdeutsch. Text, Übersetzung, Kommentar von Helmut Tervooren. 3. Aufl. Stuttgart 2003 (RUB 9797). Dieses auf Schröder (Anm. I, 22), S. 5, zurückgehende Urteil ist oft nachgesprochen worden, vgl. etwa Lemmer (Anm. I, 33), S. 62: Morungen war „das größte lyrische Talent seiner Zeit.“ Schröder (Anm. I, 22), S. 6.
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das dreistrophige Lied ‚Sehent, lip, nù sehent, wie fruntlich aventure‘ (Nr. 12), das unverkennbar Morungen verpflichtet ist.199 Morungens Erfolg in der Neuzeit erklärt man aus seinem Dichtertum, zu dem er sich dezidiert bekannte und für das er die Formel prägte: „wan ich dur sanc bin ze der welte geborn“ (MF 133, 19), „denn zum Singen (und sonst nichts) bin ich geboren“. Eine Biographie lässt sich zumindest in Umrissen rekonstruieren. Morungen nannte sich höchstwahrscheinlich nach der damals thüringischen Burg Alt-Morungen b. Sangerhausen.200 Ein von dieser Burg stammendes mansfeldisches Ministerialengeschlecht, das wohl zur Reichsministerialität gehörte, ist seit 1226 urkundlich belegt.201 Auf die nordthüringische Herkunft des Dichters weist auch seine Reimsprache.202 Seine Lebensumrisse erhellen zwei Urkunden, die ihn in Verbindung mit dem Markgrafen von Meißen zeigen. In der ersten, wohl im August 1217 ausgestellt, erteilt Markgraf Dietrich der Bedrängte seine Zustimmung, dass der miles emeritus (hochverdiente Ritter) Morungen einen jährlichen Zins von zehn Talenten, den er bisher propter alta uite sue merita (seiner großen Verdienste wegen) von ihm zu Lehen hatte, dem Leipziger Thomaskloster überträgt. In der zweiten, am 17. August 1218 ausgestellten Urkunde erscheint unter den Zeugen Heinricus de Morungen. Beide Urkunden zeigen den Dichter in Verbindung mit dem Wettiner, und wenn die Formulierung miles emeritus auch unterschiedliche Deutungen zulässt, steht doch so viel fest, dass die Urkunde einem Mann in fortgeschrittenem Lebensalter gilt.203 Gleich, ob man in Morungen einen Adligen oder einen Hofmann aus der Umgebung des Markgrafen zu sehen geneigt ist, legen, neben dem miles emeritus, die ausdrücklich gewürdigten großen Verdienste die Annahme 199
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Vgl. Arne Holtorf: Losse, Rudolf. In: VL, Bd. 5 (1985), Sp. 913–919, hier 917; Friedhelm Burgard: Rudolf Losse (um 1310–1364). In: Rheinische Lebensbilder. Bd. 14. Hg. von Franz-Josef Heyen. Köln 1994, S. 47–70. 1158 kaufte Kaiser Friedrich I. die im 11. Jh. errichtete Burg zusammen mit anderen Besitzungen von Graf Rabodo von Abenberg und übertrug sie dem Reich als Kompensation für Güter, die er an Heinrich den Löwen vertauscht hatte. Vgl. Wäscher (Anm. II, 137), Textband, S. 120 f. Vgl. Regesten deutscher Minnesänger (Anm. 177), S. 551–558, zur Frage der Reichsministerialität S. 652. Skeptisch Joachim Bumke: Ministerialität und Ritterdichtung. Umrisse der Forschung. München 1976, S. 110, Anm. 335. Bumke (Anm. II, 130), S. 119, nannte Morungen einen Ostmitteldeutschen, was im Blick auf seine Beziehungen zum Meißner Hof einleuchtet. Doch lag die Burg, nach der er sich nannte, damals an der niederdeutsch-hochdeutschen Sprachgrenze, und ob die dortige Umgangssprache hoch- oder niederdeutsch war, ist ungewiss. Morungens Lieder weisen mitteldeutsche Sprachmerkmale auf, während spezifisch thüringische Kennzeichen für die Zeit um 1200 kaum auszumachen sind. Vgl. Georg Objartel u. Peter Rennings: Morungens Sprache als Problem der Textkritik. In: ZfdPh 87 (1968). Sonderheft, S. 35–47. Lat. miles kann mit ‚Ritter‘, auch mit ‚Vasall‘ übersetzt werden. Das Adjektiv emeritus hat man mit ‚ausgedient‘, aber auch mit ‚hochverdient‘ übersetzt.
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nahe, dass er damals die Sechzig überschritten hatte. Er wäre demnach um die Mitte des 12. Jahrhunderts geboren und 1218 noch am Leben gewesen. Die oft zu lesende Angabe dagegen, er habe sein Leben 1222 im Thomaskloster zu Leipzig beendet, ist allein durch Quellen des 16. Jahrhunderts überliefert, und ganz gewiss ist Morungen nicht nach Indien gereist, wie das Erzähllied vom edlen Möringer (‚Moringer‘) nahelegt. Unsicher bleibt auch die mancherorts als Tatsache behandelte Beziehung Morungens zu den Staufern.204 Für diese Annahme könnte seine Vertrautheit mit den romanischen Lyrikern sprechen, während dem Erwerb der Burg Alt-Morungen durch Kaiser Friedrich I. insofern kaum Beweiskraft zukommt, als die Beziehung des Dichters zu dem erwähnten Ministerialengeschlecht nicht über jeden Zweifel erhaben ist. Die Sammelhandschriften überliefern unter Morungens Namen 115 Strophen in 35 Tönen.205 Morungens Lieder sind dem durch die Unterwerfung des Mannes unter die Frau und deren Unerreichbarkeit charakterisierten Modell der Hohen Minne verpflichtet, kritisieren es indes anders als Hartmann von Aue und Walther von der Vogelweide nicht, entwickeln es jedoch in eigenständiger Weise weiter. Worin besteht nun Morungens Eigenart, was unterscheidet ihn von anderen Lyrikern, worin ragt er über sie hinaus? Gewöhnlich heben die Interpreten eine kühne Phantasie und große Bildkraft hervor, eine feine musikalische Begabung und eine „tiefe Erlebnisfähigkeit und Sensibilität“.206 Der Erlebnisbegriff diente schon im 19. Jahrhundert dazu, Lyrikern wie Klopstock und Goethe gerecht zu werden, es fragt sich indes, ob er wirklich geeignet ist, der ganz anders beschaffenen Dichtung eines Minnesängers gerecht zu werden. Minnesang (diese Erkenntnis ist nicht neu) ist keine Erlebnislyrik, sondern Rollenlyrik, die Texte erlauben keine direkten und meistens auch keine vermittelten Schlüsse auf die seelische Befindlichkeit der Dichter.207 Die meisten der 35 Lieder Morungens sind – nicht ungewöhnlich für den Minnesang der hohen Minne mit dem Grundtenor der unerfüllten Liebe – Minneklagen. Eine wichtige Besonderheit besteht darin, dass Morungen nicht mehr einzelne Bilder verwendete, sondern eine rhetorisch und begrifflich stringente Bildwelt schuf, die er immer neu variierte.208 Ein Beispiel für seine suggestive Bildsprache bietet die dritte Strophe seines V. Lieds: 204
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Wäre diese Annahme richtig, ließe sich Morungens Vertrautheit mit der romanischen Lyrik leichter erklären. Lemmer (Anm. I, 33), S. 65, sprach von Morungens „Zügen zwischen dem staufischen und dem meißnischen Hof“. Ton, mhd. dôn, meint die Einheit von Melodie, Strophenform und Reimschema. So Helmut Tervooren in: Heinrich von Morungen (Anm. 197), S. 201. Helmut Tervoren: Heinrich von Morungen. In: VL, Bd. 3 (1981), Sp. 804–815, hier Sp. 811, argumentierte mit „der leidenschaftlichen Bewegtheit seines Temperaments“. Im älteren Minnesang sind Bilder selten, auch Walthers Minnelyrik ist nicht sonderlich reich an Bildern.
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Mich enzündet ir vil liehter ougen schîn, same daz viur den durren zunder tuot, und ir vremeden krenket mir daz herze mîn same daz wazzer die vil heize gluot. Und ir hôher muot und ir schoene und ir werdecheit und daz wunder, daz man von ir tugenden seit, daz wirt mir vil übel – oder lîhte guot?209
Im Mittelpunkt steht das Bild vom Liebesfeuer, es begegnet auch in der lateinischen Dichtung der Vaganten und bei den Trobadors, letztlich geht es zurück auf Ovid.210 Dem römischen Klassiker verdankt Morungen auch die Metaphorik des Liebeskriegs: zu diesem Bildfeld gehören Vorstellungen wie Fehdeansage und Fehde, Krieg und Gefangenschaft, Waffen, Verwundungen der Seele und des Herzens, wie sie auch in Veldekes Roman begegnen. In Lied XXV heißt es: „Jâ hât si mich verwunt / sêre in den tôt“ („sie hat mich auf den Tod verwundet“) und in Lied XXVII: „Si hât mich verwunt / rehte aldurch mîn sêle / in den vil toetlîchen grunt“ („Sie hat mich verwundet im tiefsten Grund meiner Seele und meinen Lebensnerv getroffen“). Während die älteren Lyriker sich zumeist darauf beschränkten, die inneren Werte der Minnedame, ihre Tugend und Vollkommenheit, zu rühmen, hat Morungen als erster weibliche Schönheit detailliert beschrieben. Er findet nicht nur für jene, nicht leicht zu veranschaulichenden Eigenschaften originelle Formulierungen,211 er zeigt auch die äußere Schönheit der „vrouwe“ in einprägsamen Bildern: Sie hat strahlende Augen, einen roten Mund, weiße ebenmäßige Zähne, frauliche Wangen und einen weißen Hals; sie ist schlank, besitzt ein vollkommenes Benehmen und ein Lachen, das den Sänger betört.212 Zwar enthalten Morungens Lieder eine Vielzahl von Bildern, doch entstammen diese einem eher schmalen Erlebnisbereich. Es dominieren Bilder 209
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212
MF 126, 24. Übers.: „Mich entzündet ihrer hellen Augen Glanz, wie es das Feuer mit dem dürren Zunder tut, und ihr Fernsein macht das Herz mir so wie das Wasser die heiße Glut: und ihr hoher Sinn, ihre Schönheit und ihr Wert, und was man an wunderbaren Eigenschaften von ihr sagt, das ist mein Unglück – doch vielleicht wird’s noch mein Glück.“ Deutsche Lyrik des Mittelalters. Auswahl und Übersetzung von Max Wehrli. 7. Aufl. Zürich 1988 (Manesse Bibliothek der Weltliteratur). In Frage käme Ovid, Met. VI, 455 ff. Über die Tugenden der Dame heißt es etwa: Ihr Ruhm ist verbreitet wie der Glanz des Mondes in der Nacht, ihre Tugend ist wie die Sonne, die im Mai hell strahlt. Daneben finden sich eher konventionelle Formulierungen wie aller wîbe ein krône (MF 122, 9). Bilder und Vergleiche wie die schneeweiße Haut und der purpurrote Mund entstammen einem breiten Traditionsstrom, woraus sich erklärt, dass sie drei Jahrhunderte später in der neulateinischen Dichtung der deutschen Humanisten, etwa bei Konrad Celtis (1459–1508), wieder begegnen.
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aus dem Bereich der visuellen Wahrnehmung, wobei im Mittelpunkt die Sonnenmetaphorik für die Minnedame (ein „wîp ob der sunnen“) steht. Ihr Ruhm reicht so weit wie der nächtliche Schein des Mondes. Ihre Tugend gleicht der Sonne, die durch trübe Wolken dringt. Der Sänger verhält sich zur „vrouwe“ wie der Mond, der seinen Schein von der Sonne empfängt. Ihre Augen entzünden ihn wie Feuer den dürren Zunder. Immer wieder beschwört der Dichter Sonne, nächtlichen Mondschein, Tagesanbruch und Morgen. In der folgenden dritten Strophe des Lieds XV ‚Ez tuot vil wê‘ wird der Tagesablauf zum Sinnbild für das Schicksal des liebenden Sängers: Wâ ist nu hin mîn liehter morgensterne? wê, waz hilfet mich, daz mîn sunne ist ûf gegân? si ist mir ze hôh und ouch ein teil ze verne gegen mittem tage unde wil dâ lange stân. Ich gelebte noch den lieben âbent gerne, daz si sich her nider mir ze trôste wolte lân, wand ich mich hân gar verkapfet ûf ir wân.213
Die bisherigen Beispiele genügen, um die Quellen, denen Morungen seine Anregungen verdankt, deutlich werden lassen. Morungen besaß (wie sich schon mit der Erwähnung Ovids andeutete) Kenntnisse der klassischen Antike, er ist einer der ersten lateinisch gebildeten Minnesänger. Besonders in seiner Motiv- und Bildwahl verrät sich ferner seine Vertrautheit mit der romanischen Lyrik, den Kanzonen der Trobadors und Trouvères. Hier findet sich etwa der Vergleich der Geliebten mit der Sonne. Die stella matutina ist aber auch ein geläufiges Bild der Marienlyrik, womit ein dritter wichtiger Traditionsbereich genannt ist: die geistlich-kirchliche Hymnik und die marianische Literatur, die in seinen Liedern zahlreiche Spuren hinterlassen haben. Unter der heimischen Dichtung waren es vornehmlich die Lieder der rheinischen Minnesänger wie Friedrich von Hausen, die ihn formal beeinflussten. Über dieser Aufzählung von Quellen und Traditionen darf jedoch nicht vergessen werden, dass Minnesang musikalische Lyrik ist, für den sanglichen Vortrag, also für das Ohr bestimmt und nicht für das Auge, die stille Lektüre, und gerade für Morungen, der ein hochentwickeltes Gefühl für Klang und Rhythmus besaß, gilt, dass manche seiner Lieder gleichsam reine Musik sind. Ein Beispiel ist der Frauenpreis von Lied XXV mit seinem ohrenfälligen Wechsel
213
MF 134, 36. Übers.: „Wohin ist nun mein strahlender Morgenstern? Weh, was hilft es mir, daß meine Sonne aufgegangen ist? Sie steht gegen Mittag für mich zu hoch und auch etwas zu fern und wird dort noch lange weilen. Gerne erlebte ich noch den angenehmen Abend, wenn sie sich niederneigen wollte, um mich zu trösten, denn ich habe mich in sie, ein Wunschbild zwar, ganz vergafft.“ Tervooren (Anm. 197).
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daktylischer und jambischer Verse zwischen Aufgesang und Abgesang und weiteren klanglichen Mitteln wie Reimresponsionen und Alliterationen. Die Eingangsstrophe, die einen sonst bei Morungen fehlenden Natureingang bietet, lautet: Uns ist zergangen der lieplîch sumer. dâ man brach bluomen, da lît nu der snê. mich muoz belangen, wenne sî mînen kummer welle volenden, der mir tuot so wê. Jâ klage ich niht den klê, swenne ich gedenke an ir wîplîchen wengel, diu man ze vröide so gerne ane sê.214
Walther von der Vogelweide hat das Lied und hat andere Lieder Morungens gekannt,215 und damit stellt sich die Frage, wo er mit der Dichtung des Älteren bekannt geworden sein könnte. An Berührungsmöglichkeiten wird es kaum gefehlt haben. Markgraf Dietrich, der erste Wettiner, der als Gönner der höfischen Dichter nachzuweisen ist, war mit der Tochter Landgraf Hermanns verheiratet, und wiederholt erscheinen beide Fürsten gemeinsam in den Urkunden. Engere Beziehungen zwischen beiden Höfen sind daher wahrscheinlich, zumal, wenn man die Mobilität der damaligen Herrschaftspraxis bedenkt. Auch angesichts der zeittypischen Reiseherrschaft wäre eine Abgrenzung der Fürstentümer Meißen und Thüringen im Sinn in sich abgeschlossener Literaturlandschaften wenig sinnvoll. Walther hat sich mehrfach in der Umgebung des Landgrafen aufgehalten. Er kann Morungens Lieder aber auch am Meißner Hof kennengelernt haben, an dem er wohl 1212 durch Kaiser Otto IV. eingeführt wurde; sie dürften an beiden Fürstenhöfen erklungen sein.216 Besonders auffällige und vielfältige Morungen-Bezüge zeigt sein Minnelied ‚Ich bin nû sô rehte vrô‘ (L 118, 24. C 91), es enthält ein halbes
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MF 140, 32. Übers.: „Für uns ist der liebliche Sommer vorbei. Dort, wo man Blumen pflückte, liegt nun der Schnee. Die Zeit muß mir lang werden, und ich frage sehnsüchtig, wann sie meiner so schmerzlichen Not ein Ende setzen will. Fürwahr, ich klage nicht wegen des Klees, wenn ich mir ihre fraulichen Wangen vergegenwärtige, die anzusehen Freude und Lust bereitet.“ Tervooren (Anm. 197). Das gilt für Morungens Lieder IX ‚Sîn hiez mir nie widersagen‘ (MF 130, 9), XIV ‚Mîn herze, ir schoene und diu minne‘ (MF 134, 6) und XXXIII1 ‚Ich wil ein reise‘ (MF 145, 33). Walther dichtete zwischen ca. 1195 und 1230. Morungens Lieder entstanden zwischen ca. 1190 und 1220. Vgl. Manfred Günter Scholz: Walther von der Vogelweide. 2., korrigierte und bibliographisch ergänze Aufl. Stuttgart 2005 (SM 244), S. 74–79. Zu Walthers Beziehungen zum Meißner Hof vgl. Melanie Müller: Markgraf Dietrich von Meißen in der politischen Spruchdichtung Walthers von der Vogelweide. Göppingen 2004 (GAG 723).
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Dutzend Anspielungen auf mehrere Lieder des Älteren.217 Wie Jeffrey Ashcroft wahrscheinlich gemacht hat, handelt es sich um eine Parodie.218 Diese Deutung hat den Vorzug, dass sie auch der Schlussstrophe gerecht wird, die bisher Schwierigkeiten bereitete und deshalb mehrfach als unecht beiseite geschoben wurde, obwohl sie gut überliefert ist. Der Dichter Walther scheint sich hier selbst anzureden: „Hoerâ Walther, wie ez mir stât, / mîn trûtgeselle von der Vogelweide“ („Hör doch, Walther, wie es um mich steht, vertrauter Freund von der Vogelweide“, L 119, 11 f.). Dass ein Minnesänger sich selbst namentlich nennt, ist eine Ausnahme und verlangt nach Erklärung. Walthers Parodie beginnt mit der nahezu identischen Übernahme einer Strophenform Morungens (Lied XXIX). Stellt man sich vor, dass er auch dessen Melodie wenigstens partiell aufnahm, vielleicht gar mimische Mittel einsetzte, dürfte er schon mit der ersten Strophe die Aufmerksamkeit des mit Morungens Liedern vertrauten Meißner Publikums geweckt haben. Die folgenden Strophen enthalten immer wieder Morungen-Anspielungen bis hin zu wörtlichen Zitaten. Erwähnt wurden die extravaganten hyperbolischen Aussagen und kosmischen Vergleiche. So heißt es bei Morungen: „dô mîn herze wânde nebent der sunnen stân“ („als mein Herz wähnte, neben der Sonne zu stehen“, MF 143, 11). Walther macht daraus: „sô stîgent mir die sinne / hôher danne der sunnen schîn“ („Mir steigen die Gedanken höher als der Schein der Sonne“, L 118, 28 f.). Von der Minnedame sagt Morungen: „Sie hat mir eine tödliche Wunde beigebracht“, Walther wiederholt auch dieses Motiv ironisch mit den Worten: „Sie kann wohl mein Herz verwunden“ („Wol mac sî mîn herze sêren“, L 119, 3). Könnte man bei diesen Stellen noch zweifeln, ob sie auf Morungen zurückgehen, ist ein wörtliches Zitat sicher, wenn Walther Morungens Anruf an die Minnedame „Erbarmen, Königin“ („genâde, ein küniginne, du tuo mich gesunt“, MF 141, 7) wiederholt: „gnâde, ein küneginne“ (L 118, 29). Eine Parodie wie diese setzt voraus, dass dem Publikum pointierte Wendungen wie Morungens Gleichsetzung der Minnedame mit einer Königin (als Königin wird auch Maria bezeichnet) geläufig waren, anders wäre der Wiedererkennungseffekt ausgeblieben. Walther montiert parodistisch bekannte Versatzstücke aus Morungens Liedern, sozusagen deren Markenzeichen – das Herz hoch wie die Sonne, die 217
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Walther bezieht sich auf Morungens Lieder IV ‚In sô hôher swebender wunne‘ (MF 125, 19), XXII ‚Ich waene, nieman lebe‘ (MF 138, 17), XXV ‚Uns ist zergangen‘ (MF 140, 32) und XXIX ‚Wie sol vröidelôser tage‘ (MF 143, 4). Ed.: Walther von der Vogelweide. Leich, Lieder, Sangsprüche. 14., völlig neubearb. Aufl. der Ausgabe Karl Lachmanns mit Beiträgen von Thomas Bein u. Horst Brunner. Hg. von Christoph Cormeau. Berlin, New York 1996. Vgl. Jeffrey Ashcroft: „Min trutgeselle von der Vogelweide“. Parodie und Maskenspiel bei Walther. In: Euph. 69 (1975), S. 197–218. Die ältere Forschung setzte das Lied in Walthers Zeit als Wiener Hofsänger (1190–1198), heute datiert man es auf 1212, wobei an Walthers Meißner Zeit gedacht ist. Beide Ansätze sind unbeweisbar.
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Dame eine Königin usw. – und spricht in der persona Morungens. Er bedient sich der Maske Morungens, der in seinen Liedern vorwiegend als unglücklich Liebender auftritt – das Publikum scheint nicht den Dichter Walther, sondern Morungen zu hören. Nebenher zeigt Walther, dass er dichten kann, als ob er Morungen wäre. In der Schlussstrophe wendet der unglücklich Liebende (Morungen) sich Hilfe und Rat erflehend an den trûtgesellen von der Vogelweide: „Hoera, Walther …“ Hier geht das Lied offensichtlich in die Burleske über, Walther stilisiert sich als Experte der erfüllten Liebe, worauf er mit dem „brechen bluomen an der liehten heide“ deutlich hinweist. Indirekt übt er Kritik an einem Minnekonzept, in dem die aussichtslose, vergebliche, also unerfüllte Liebe dominiert.219 Walther war nicht nur ein großer Künstler, sondern auch ein alles andere als einfacher Mensch; zu seinem Stil gehört das Auftreten als selbstbewusste Persönlichkeit. Nicht nur sein Verhältnis zum Markgrafen war schwierig, auch das zu Morungen zumindest ambivalent. Er hat von dem Älteren zweifellos Anregungen empfangen, von ihm „gelernt“, es aber auch für nötig gehalten, sich kritisch-ironisch von ihm zu distanzieren.220 Walther hat dieses parodistische Verfahren auch in der Auseinandersetzung mit Reinmar dem Alten angewendet, im „sumerlaten“-Lied fleht der Minnesänger, der im Dienst der Dame ergraute, den Jungen an, er solle ihre alte Haut mit sumerlaten (frischen Schösslingen) traktieren.221 Mit der Lyrik Walthers wiederum war Wolfram von Eschenbach vertraut. Der ‚Parzival‘ enthält mehrfach Anspielungen auf Sangsprüche und Lieder Walthers, zumal solche der sogenannten Reinmar-Fehde. Die vieldiskutierte Stelle Pz. 297, 25 „‚guoten tac, bœs unde guot‘“ deutet wohl auf ein verlorenes Lied Walthers. Im ‚Willehalm‘ ist herablassend-boshaft die Rede von dem „trinken, des diu nahtegal / lebt“ (136, 7 f.) – also vom Wasser. Da in Gottfrieds von Straßburg Literaturexkurs der Lyriker Walther als Nachtigall bezeichnet wird und Wolfram überdies den Bozner Wein (136, 10) erwähnt, hat 219
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„Das Lied sollte nicht ein verbindliches Verhaltensprogramm vorführen, sondern Kompetenz in der Teilnahme am Liebesdiskurs und der Präsentation bestimmter Positionen aufzeigen.“ Volker Mertens: Autor, Text und Performanz. Überlegungen zu Liedern Walthers von der Vogelweide. In: Amsterdamer Beiträge zur älteren Germanistik 43/44 (1995), S. 379–397, hier 383. Zum Verhältnis Walther – Morungen vgl. Scholz (Anm. 216), S. 142–144. Morungenrezeption bezeugt neben ‚Ich bin nû sô rehte vrô‘ auch Walthers Lied ‚Si wunderwol gemachet wîp‘ (L 53, 25. C 30). Als Voraussetzung dieser Rezeption muss ein (spekulatives) Zusammentreffen beider Dichter am Meißner Hof um 1212/13 nicht angenommen werden. Walther zeigt sich schon in früheren Liedern mit Morungens Lyrik vertraut. Einen klaren Fall kritisch intendierter Morungenrezeption stellt das „sumerlaten“-Lied dar, gleich ob man es zeitlich in die Nähe des Preislieds (1203?) rückt oder die Datierungsfrage offen lässt. Vgl. Ricarda Bauschke: Die „Reinmar“-Lieder Walthers von der Vogelweide. Literarische Kommunikation als Form der Selbstinszenierung. Heidelberg 1999 (GRM. Beih. 15), S. 213 ff.
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man diese Verse als eine Abfertigung des auf Herrengunst angewiesenen Fahrenden Walther gelesen. An anderer Stelle heißt es bei Wolfram im ‚Willehalm‘: „herre Vogelweide von brâten sanc: / dirre brâte was dicke und lanc – / ez hete sîn vrouwe dran genuoc, / der er sô holdez herze ie truoc.“222 Hier spielt Wolfram auf Walthers Spießbratenspruch (L 17, 11. C 8 II), eine politische Parabel, an, deutet ihn jedoch in ironischer Absicht wörtlich und bezieht die Aussage auf die typisierte Dame seiner Minnelieder – wiederum eine wohl nicht eben freundlich gemeinte Wendung gegen den Lyriker.223 Seit den Anfängen der Germanistik wird angenommen, dass Walther und Wolfram einander begegnet sind.224 Viele Forscher verlegen diese Begegnung nach Thüringen, wobei die einen darunter die Wartburg verstehen, andere die Stadt Eisenach und wieder andere den (mobilen) Landgrafenhof oder ganz auf eine nähere Eingrenzung verzichten.225 Scholz resümierte in seinem Forschungsüberblick: „Wolfram und Walther sind einander begegnet. Das steht so gut wie fest.“226 Ähnlich der je verschiedenen räumlichen Konkretisierung von „Thüringen“ wird auch der zeitliche Ansatz der Begegnung unterschiedlich beurteilt; doch denkt man zumeist an die Jahre 1203 und 1204.227 Zu den unbezweifelten Annahmen der Wolframforschung gehört, dass der ‚Parzival‘ im ersten Jahrzehnt des 13. Jahrhunderts entstand und dass nach dem Abschluss des VI. Buchs ein Einschnitt liegt. Das Weingartendatum des VII. Buchs legt die Annahme nahe, dass Wolfram diese Partie zwischen dem Spätsommer 1203 und dem Sommer 1204 in Thüringen schuf. In der Waltherforschung wird heute angenommen, dass zu den Fürsten, die dem Dichter Aufenthalt boten, „mehrfach zwischen 1201 und 1214/15 der zuverlässige Gönner Landgraf Hermann von Thüringen“ gehörte.228 Dass Walther und Wolfram in der Umgebung des Landgrafen in den ersten Jahren des 13. Jahrhunderts zusammengetroffen sind, sollte also nicht bezweifelt werden.229 222
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Wh. 286, 19–22. „Herr Vogelweide sang einmal von einem Braten: der Braten hier war dick und lang – der hätt gereicht für seine Dame, die er immer so verehrt hat.“ Tom Albert Rompelman: Walther und Wolfram. Ein Beitrag zur Kenntnis ihres persönlichkünstlerischen Verhältnisses. In: Neophilologus 27 (1942), S. 186–205, hier 188, hat die Stellen zusammengestellt, die er als Belege einer Beziehung zwischen Walther und Wolfram sah. Die Forschung ist ihm darin jedoch nur partiell gefolgt. „Walther hat sich wiederholt kürzere und längere Zeit am Hof des Landgrafen aufgehalten.“ Konrad Burdach: Der mythische und der geschichtliche Walther. In: K. B.: Vorspiel. Gesammelte Schriften zur Geschichte des deutschen Geistes. 1. Band. 1. Teil. Mittelalter. Halle 1925, S. 334–400, hier 382. Bumke (Anm. 164), Sp. 1377, zählte Thüringen zu Wolframs „Erfahrungsraum“. Manfred Günter Scholz: Walther von der Vogelweide und Wolfram von Eschenbach. Literarische Beziehungen und persönliches Verhältnis. Diss. Tübingen 1966, S. 174. Vgl. Scholz (Anm. 226), S. 171–173. Gerhard Hahn: Walther von der Vogelweide. In: VL, Bd. 10 (1999), Sp. 665–697, hier 671. Vgl. Scholz (Anm. 226), S. 171 mit Anm. 2.
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Manche Forscher sehen in diesem Zusammentreffen den Ausgangspunkt der Überlieferung vom Sängerkrieg am Landgrafenhof (‚Wartburgkrieg‘).230 Nach allem, was wir wissen, hat Walther sich dreimal und jeweils für längere Zeit am Thüringer Hof (was nicht heißen muss: auf der Wartburg) aufgehalten. Die Verbindung mit dem Landgrafen dürfte um 1199 zustandegekommen sein, als der Sänger nach dem Verlust seines Minnesängeramts am Wiener Hof Aufnahme im Dienst des Staufers Philipp von Schwaben gefunden hatte und für dessen Interessen im Thronstreit als Sangspruchdichter eintrat. Der zweite Aufenthalt fiel, wie bereits erwähnt, vermutlich in die Zeit um 1203/04, und ein drittes Mal hat er den Landgrafenhof im zweiten Jahrzehnt des 13. Jahrhunderts aufgesucht.231 Mettke sah in Walther geradezu einen thüringischen Hofdichter, und ähnlich hat Schweikle Thüringen „ein zweites Zentrum seines Lebens“ neben Wien genannt.232 Da wir für Walther wie für die Mehrzahl der mittelalterlichen Dichter keine urkundlichen Zeugnisse besitzen, sind wir für die Bestimmung seiner Beziehungen zum Thüringer Hof auf die Interpretation seiner Dichtung angewiesen. Dass seine Minnelieder sich wie die Veldekes, Morungens und anderer von einigen Ausnahmen abgesehen einer zeitlichen Einordnung entziehen, wurde bereits dargelegt. Anders seine Sangspruchdichtung, in der immer wieder Herrscher gerühmt oder getadelt und Ereignisse aus der Reichspolitik erwähnt werden, sodass wir sie vielfach in eine zeitliche Ordnung bringen und bestimmten Auftraggebern zuweisen können. Ein Dutzend Strophen enthält mehr oder weniger deutliche Bezüge zum Landgrafenhof. Am Anfang steht die im Interesse Philipps von Schwaben verfasste „Magdeburger Weihnacht“, eine Sangspruchstrophe, die Walther am Anfang seiner politischen Dichtung bereits auf der Höhe seines Könnens zeigt.233 Walther beschreibt die gegen den welfischen Konkurrenten Otto von 230 231
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Vgl. Scholz (Anm. 226), S. 175–179. Scholz (Anm. 216), S. 14, nannte die Jahre 1201, 1204/05 und nach 1213/14 bis längstens April 1217. Ähnlich Hahn (Anm. 228), Sp. 671. Wenig präzise die Feststellung von Thomas Bein: Walther von der Vogelweide. Stuttgart 1997 (RUB 17601), S. 242, Walther habe „eine Zeitlang am Hof des Landgrafen Hermann von Thüringen (auf der Wartburg)“ gelebt. Walther von der Vogelweide. Werke. Gesamtausgabe. Bd. 1. Spruchlyrik. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch Hg., übersetzt und kommentiert von Günther Schweikle. Stuttgart 1994 (RUB 819), S. 17. Vgl. auch Bumke (Anm. 14), S. 163. ‚Ez gienc eines tages, als unser hêrre wart geborn‘ (L 19, 5. C 9 II). Vgl. ferner ‚Philippe, künic hêre‘ (L 16, 36. C 8 I), ‚Wir suln den kochen râten‘ (L 17, 11. C 8 II), ‚Diu krône ist elter, danne der künic Philippes sî‘ (L 18, 29. C 9 I), ‚Philippes künic, die nâhe spehenden zîhent dich‘ (L 19, 17. C 9 III), ‚Der in den ôren siech von ungesühte sî‘ (L 20, 4. C 9 V), ‚Ich bin des milten lantgrâven ingesinde‘ (L 35, 7. C 12 XV), ‚Rît ze hove, Dietrich!‘ (L 82, 11. C 55 I), ‚Swâ der hôhe nider gât‘ (L 83, 14. C 55 IV), ‚Swer an des edeln lantgrâven râte sî‘ (L 85, 17. C 3 XI), ‚Swâ guoter hande wurzen sint‘ (L 103, 13. C 73 I), ‚Uns irret einer hande diet‘ (L 103, 29. C 72 II), ‚Mir hât her Gêrhart Atze ein pfert‘ (L 104, 7. C 73 III),
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Braunschweig gerichtete Festkrönung, die der Staufer Weihnachten 1199 im Magdeburger Dom vornehmen ließ, und mittels einer Reihe religiöser Assoziationen und Analogien erzeugt er den Eindruck, dass sich im Auftreten des künftigen Kaisers Philipp – Bruder eines Kaisers (Heinrichs VI.) und Sohn eines Kaisers (Friedrichs I.) – und seiner Gemahlin Irene-Maria am Tag der Geburt des Herrn das Wunder der göttlichen Trinität wiederholt habe, womit sich jeder Zweifel an seiner Herrscherlegitimation erledigte.234 Am Ende erwähnt er, dass zu den auf die Seite Philipps übergetretenen Fürsten auch „die Düringe“ gehörten. Die nächste Strophe, die Walther in Beziehung zum Landgrafenhof zeigt, lässt diesen in einem wenig freundlichen Licht erscheinen. Es ist eine Scheltstrophe, die in den größeren Kontext der Hofkritik gehört, die in der lateinischen wie der volkssprachigen Literatur eine Tradition besaß.235 Wer empfindliche Ohren habe, der möge – so Walther – den „hof ze Düringen“ meiden; denn bei dem Lärm und dem unruhigen Treiben, die dort herrschten, werde er sein Gehör einbüßen. Er (so der Sänger) habe an dem Treiben bei Hof („dringen“) lange genug teilgenommen und sei seiner nun überdrüssig. Der Landgraf, so Walther in gereiztem Ton, sei umgeben von trutzigen Recken („stolzen helden“), deren jeder ein Schaukämpfer sein könnte („der iegeslîcher wol ein kenpfe wære“); ihre Bewirtung lasse er sich große Summen kosten. Man hat die Strophe sehr unterschiedlich gedeutet. Burdach meinte, Walther spiele auf die chronische Geldnot Hermanns an und wolle König Philipp dazu bewegen, ihm großzügige Zuwendungen zu machen.236 Doch Texte wie der Spießbratenspruch zeigen, dass Walther keineswegs zögerte, entsprechende Forderungen deutlich auszusprechen.237 Er wollte gewiss nicht, wie man ebenfalls gemeint hat, eine ergötzliche Schilderung des Thüringer Hoflebens bieten, aus seiner Strophe spricht vielmehr Bitterkeit. Der Vorwurf, der
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‚Nû sol der keiser hêre‘ (L 105, 13. C 76 I). „Poetisch raffinierter kann man die alte Vorstellung von der Gottesebenbildlichkeit eines Herrschers wohl kaum ins Bild setzen.“ Ulrich Müller: Klassische Lyrik des deutschen Hochmittelalters – Entfaltung von Minnesang und politischer Lyrik zu weltliterarischem Rang. In: Bräuer, Rolf [u. a.]: Geschichte der deutschen Literatur. Mitte des 12. bis Mitte des 13. Jahrhunderts. Berlin 1990, S. 503–644, hier 571, Vgl. auch Peter Wiegand: Der „milte lantgrâve“ als „Windfahne“? Zum politischen Standort Hermanns I. von Thüringen (1190–1217) zwischen Erbreichsplan und welfisch-staufischem Thronstreit. In: Hessisches Jb. für Landesgeschichte 48 (1998), S. 1–53. Vgl. ‚Der in den ôren siech von ungesühte sî‘ (L 20, 4. C 9 V). Vgl. Burdach (Anm. 224), S. 382 f. Anders Peter Strohschneider: Fürst und Sänger. Zur Institutionalisierung höfischer Kunst, anläßlich von Walthers Thüringer Sangspruch 9, V [L. 20, 4]. In: Literatur und Macht im mittelalterlichen Thüringen. Hg. von Ernst Hellgardt, Stephan Müller, P. S. Köln, Weimar, Wien 2002, S. 85–107. Neben ‚Wir suln den kochen râten‘ vgl. auch die Strophe ‚Philippes künic, die nâhe spehenden zîhent dich‘, in der Walther Philipp zur Großzügigkeit gegenüber den Fürsten mahnt.
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Landgraf schenke seine Gunst den Falschen, ist mehr als nur ein Topos der Hofdichtung, er will ernstgenommen werden. Walther ging es um seine Kunst, den Minnesang, und der scheint dem Landgrafen, der lieber in der Gemeinschaft von „kenpfen“ zechte, nicht sonderlich viel bedeutet zu haben. Walthers Kritik der landgräflichen Hofgesellschaft trifft sich bis in den Wortlaut mit der Wolframs im ‚Parzival‘.238 Während Walther hier nur zwischen den Zeilen darüber klagt, dass in dem ohrenbetäubenden Lärm, der den Hof Tag und Nacht bestimmt, der Sänger sich nicht artikulieren, sich keine Geltung verschaffen könne, hat er diesen Vorwurf in anderen Strophen explizit ausgesprochen. Walther hat seinen Scheltspruch, der sich kaum genauer als zwischen 1198 und 1204/08 datieren lässt, gewiss nicht vor dem Landgrafen vorgetragen, sondern höchstwahrscheinlich an einem anderen Hof, vielleicht dem des Staufers Philipp. Schon hier deutet sich ein ambivalentes Verhältnis zum Thüringer Hof an. Wohl hat Walther an keinem anderen Fürstenhof so viel Unterstützung erfahren wie an dem Hermanns, doch war und blieb seine Position die des fahrenden Sängers, und als solcher war er verglichen mit den eingesessenen Adligen am Landgrafenhof nahezu rechtlos. Von dieser Situation handeln die beiden wohl um 1205 entstandenen AtzeSprüche. Der erste, im Zweiten Thüringerton verfasste Spruch lautet: Mir hât her Gêrhart Atze ein pfert erschozzen zIsenache. daz klage ich dem, den er bestât: der ist unser beider voget. ez was wol drîer marke wert. nû hœrent frœmde sache, sît daz ez an ein gelten gât, wâ mit er mich nû zoget. Er seit von grôzer swære, wie mîn pfert mære dem rosse sippe wære, daz im den vinger abe gebizzen hât ze schanden. ich swer mit beiden handen, daz sî sich niht erkanden: ist ieman, der mir stabe?.239 238
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In der Selbstverteidigung des ‚Parzival‘ nimmt Wolfram den von Walther gebrauchten Begriff des Berufsfechters (kenpfe) auf: „swelhem wîbe volget kiusche mite, / der lobes kemphe wil ich sîn“ (115, 2 f). Übers.: „Wenn eine Frau die Würde wahrt, so kämpf ich für ihr Renommee.“ L 104, 7. Übers.: „Mir hat Herr Gerhard Atze ein Pferd erschossen zu Eisenach. Darob erhebe ich Klage bei dem, in dessen Dienst er steht. Der ist unser beider Gerichtsherr. Es war gut und gern seine drei Mark wert. Nun hört die merkwürdige Einlassung mit der er
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Trotz konkreter Angaben wie der Namen Atze und Eisenach sind die beiden Spruchstrophen, obwohl oft gedeutet, in manchem nach wie vor schwer zu verstehen. Sicher scheint immerhin so viel, dass es sich nicht, wie man seit Uhland wiederholt vermutete, um einen Scherz handelt, sondern um eine für Walther überaus ernste Angelegenheit, vielleicht um seine Behauptung gegenüber der Hofgesellschaft. Das Ich der zitierten Strophe wäre mithin kein rollenhaftes, sondern mit dem Dichter zu identifizieren. Berichtet wird von einer Kollision des fahrenden Sängers mit einem anerkannten Mitglied der Thüringer Hofgesellschaft, dem Ritter Gerhart Atze, die zu seinen Ungunsten ausging, ja die ihn offenbar so sehr in seiner Ehre traf, dass er vor dem Landgrafen als dem für beide zuständigen Gerichtsherrn („der ist unser beider voget“) Klage erhob. Die Klage scheiterte, wie aus dem zweiten Spruch erhellt, am Einspruch Atzes. Hält man sich an den ersten Spruch, büßte der Sänger durch Atze ein wertvolles Reitpferd ein. Walther schreibt seinem Kontrahenten eine skurrile Handlungslogik zu: Er habe sein pfert (Reitpferd) getötet, weil er es dem ros (Arbeitspferd) für verwandt gehalten habe, das ihm einst einen Finger abgebissen. Er lenkt damit die Aufmerksamkeit auf einen körperlichen Fehler seines Kontrahenten, wobei er diesen den Verlust des Fingers selbst erwähnen lässt. Worauf es in der Strophe ankommt, steht – wie so oft in Walthers Sangsprüchen – zwischen den Zeilen. Eine körperliche Beeinträchtigung wie das Fehlen eines Fingers galt im Mittelalter als ein schwerer Makel, war es doch üblich, Diebe mit dem Verlust einer Hand zu bestrafen.240 Absichtsvoll
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jetzt, da es an das Entschädigen geht, mich hinhält: Er berichtet von schwerer Beleidigung, wie nämlich mein wunderbares Pferd jenem Gaul gleich sei, der ihm den Finger abgebissen und ihn damit in seiner Ehre geschändet habe. Ich schwöre mit beiden Händen daß die beiden nichts miteinander zu tun haben. Wer will mein Eideshelfer sein?“ Walther von der Vogelweide. Gedichte. Mittelhochdeutscher Text und Übertragung. Ausgewählt, übersetzt und mit einem Kommentar versehen von Peter Wapnewski. 7., überarbeitete Aufl. Frankfurt a. M. 1970 (Fischer Taschenbuch 6052). Mit dem Hinweis auf den körperlichen Makel Atzes evoziert Walther die Frage, wodurch jener seinen Finger verlor: Wurde er ihm vielleicht wegen eines Meineids oder eines Pferdediebstahls abgehackt? Walther spricht eine so schwerwiegende Anschuldigung nicht aus, führt das Publikum aber in die Nähe solcher Vermutungen. Nach dem mittelalterlichen Spiegelrecht (poena talionis) musste der Delinquent mit dem Körperteil büßen, mit dem er das Verbrechen begangen hatte, dem Gotteslästerer wurde die Zunge herausgerissen, dem Meineidigen die Schwurhand abgehackt usw. In seinem satirischen Gedicht ‚Occultus Erfordensis‘ (1281/84) erwähnt Nikolaus von Bibra einen Priester Bertholdus, der durch Verlust eines Fingergliedes irregulär (zur Ausübung des Priesteramtes untauglich) geworden war. Die Verstümmelung musste ihm hinderlich sein, bei der Messe die heilige Hostie zu brechen, und um sein Amt ausüben zu können, bedurfte er einer päpstlichen Dispens. Vgl. Nicolaus von Bibra. Der ‚Occultus Erfordensis‘. Kritische Edition mit Einführung, Kommentar und deutscher Übersetzung. Hg. von Christine Mundhenk. Weimar 1997 (Schriften des Vereins für die Geschichte und Altertumskunde von Erfurt III), v. 749 ff.
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betont Walther daher am Schluss, er sei bereit, den Eid mit beiden Händen abzulegen, und verweist damit abermals auf das Handicap seines Kontrahenten. Man hat vermutet, der thüringische Ritter habe das Pferd des Dichters erschossen, weil er meinte, dem fahrenden Sänger stehe ein solches Tier nicht zu, weil er also dessen angemaßten Ritterstatus nicht akzeptiert habe; aber das bleibt unsicher. Denkbar wäre auch, dass Atze, der in den Urkunden des Landgrafen erscheint und ein vermögender und angesehener Ritter gewesen zu sein scheint, zu jenen „stolzen helden“ gehörte, die Walther in seinem Scheltspruch getadelt und an denen er sich mit seinen Mitteln zu rächen gesucht hatte.241 Hält man das für wahrscheinlich, muss man nicht einen realen Prozess annehmen; näher läge dann die Annahme, dass Walther sich mit den Mitteln der literarischen Satire an einem Gegner rächte, dem er in der Hierarchie der höfischen Gesellschaft unterlegen war. Der zweite Atze-Spruch ‚Rît ze hove, Dietrich!‘ ist in einem anderen Ton als der erste gedichtet, im Leopoldston, der entstehungsgeschichtlich an den Thüringer Hof der Jahre 1204/05 gehört. Man wollte daher den Zusammenhang beider Strophen bezweifeln, doch ist ein solcher unschwer erkennbar: In beiden Sprüchen ist von dem Ritter Atze und von Reittieren die Rede. Doch bleibt die zweite Strophe in manchem noch rätselhafter als die erste. Walther hat sie als Sketch angelegt, als Dialog zwischen dem ritterlich auftretenden Sänger und seinem (fiktiven) Knappen Dietrich.242 Dieser erhält den Befehl, an den Hof zu reiten, und als er mundartlich salopp erklärt, er besitze kein Pferd („‚hêrre, in mac‘, ‚in hân niht rosses‘“), stellt sein Herr ihn vor die Alternative, ob er lieber eine goldene Katze oder den wunderlichen Gerhart Atze reiten wolle. Amüsiert erklärt Dietrich, Atze sei wahrlich ein seltsames Reittier, seine Augen rollten wie die eines Affen, und er gleiche einem gugaldei, den wolle er reiten. Doch mit dieser Wahl beschwört er den Zorn seines Herrn herauf, der ihm erklärt, nun möge er die Füße heben und sich selbst nach Hause fortbewegen: „nû krümbe dîn bein, rît selbe her hein.“243 Auch diese Strophe ist von einigem Raffinement, insofern ihr ätzender Spott wiederum zu großen Teilen nur zwischen den Zeilen auszumachen ist, etwa das Spiel mit der im Westthüringischen (Eisenach!) vertrauten Bedeutung von Atze ‚Esel‘. Die massiven Angriffe auf Atze – zumal den Vergleich mit einem Affen – hat Walther allerdings wohlweislich dem imaginären Knappen in den 241
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In einer Urkunde, die Landgraf Hermann am 4. 2. 1196 ausstellte, erscheinen unter den Zeugen „Gerhard und s. Bruder Heinrich gen. Atzo“ [Gerhardius et frater eius Heinricus cognomine Atzo]. Dobenecker (Anm. 2), Bd. 2, S. 190, Nr. 999. Johannes Rothe rechnet im ‚Ritterspiegel‘ das Halten eines Knechts zu den sieben Dingen der Ritterschaft (v. 1401–1582). Man hat in Dietrich auch einen Hofnarren sehen wollen. Ob mit hein gemeint ist, dass beide den Landgrafenhof verlassen, ist nicht sicher.
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Mund gelegt.244 Manches Detail des Spruchs ist bis heute unklar, so die Bedeutung von gugaldei (Kuckuck, Gockel, ungebärdiger Mensch?), vor allem aber die „goldene Katze“. Man hat sie als „ein mit ritterlichem Gold herausgeputztes Pferd“ (Karl Kurt Klein) verstehen wollen, womit der Bezug zum ersten Atze-Spruch fraglos wäre. Vermutet wurde aber auch eine Anspielung auf den „Katzenritter“ im Sinn von ‚Sodomit‘.245 Zweierlei immerhin scheint fraglos: Walther hat sich an dem thüringischen Ritter mit seinen, den Mitteln des Dichters gerächt, aber in einer Weise, die ein Verweilen am Landgrafenhof nicht für immer unmöglich machte. Zu der Thüringer Hof-Schelte und den beiden Atze-Sprüchen fügt sich der derselben Zeit angehörende Sangspruch ‚Uns irret einer hande diet‘. Auch in ihm spricht Walther von der Bedrohung des Guten durch das Minderwertige samt den Möglichkeiten der Abhilfe, auch diese Strophe handelt vom Scheitern literarischer Kommunikation am Hof. Eine gewisse Sorte von Leuten („einer hande diet“) – so erklärt der Sänger – lässt den höfisch kultivierten Künstler nicht zu Wort kommen: „die lâzent sîn ze spruche niet“. Wenngleich die in verärgertem Gestus verfasste, mit Vulgärausdrücken wie „drüzzel“ (‚Schnauze‘) durchsetzte Strophe keinen expliziten Thüringenbezug aufweist, dürfte doch auch sie sich auf den landgräflichen Hof beziehen. Im Namen einer gewissen Interessengruppe, so scheint es, erhebt Walther die unpersönlich formulierte Forderung, jene Schwätzer und Kläffer, die alles überschreien, vom Hof zu entfernen. Wiederum wird der Vorwurf laut, am Thüringer Hof gehe es ohrenbetäubend-turbulent zu. Die Strophe endet mit der Resignation des Sängers: „hie gêt diu rede enzwei.“ Im zweiten Jahrzehnt des 13. Jahrhunderts entstand ein Sangspruch, in dem der Thüringer Hof in einem ganz anderen, einem überaus freundlichen Licht erscheint. Ich bin des milten lantgrâven ingesinde. ez ist mîn site, daz man mich iemer bî den tiursten vinde. die andern fürsten alle sint vil milte, iedoch sô stæteclîchen niht. er was ê und ist ez noch. Dâ von kan er baz dan sie dermite gebâren. 244
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Der Vergleich Atzes mit einem Affen ist grob. Der Affe galt als besonders törichtes Tier, weil er alles nachahmt, was er sieht. Einen anderen Aspekt betont um die Mitte des 14. Jh. Konrad von Megenberg im ‚Buch der Natur‘ im Kapitel über die Augen: „welhes augen snell varend sint und scharpfsihtig, der ist ain betrieger, ain hinderlister und ain diep.“ Konrad von Megenberg. Das Buch der Natur. Die erste Naturgeschichte in deutscher Sprache. Hg. von Franz Pfeiffer. Stuttgart 1861 Nachdr. Hildesheim 1994, S. 43, 26–28. Das Gerittenwerden war eine große Schande. Im 13. Jh. handelt davon die Erzählung von ‚Aristoteles und Phyllis‘, in der der greise Philosoph von der schönen Zofe gedemütigt wird, indem er sich von ihr reiten lässt, während der ganze Hof Zeuge des Vorgangs wird.
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er enwil dekeiner lûne vâren. swer hiure schallet und ist hin ze jâre bœse als ê, des lop gruonet unde valwet sô der klê. der Dürnge bluome schînet dur den snê, sumer und winter blüet sîn lop als in den ersten jâren.246
Die zentrale Aussage des Spruchs lautet, der Landgraf, bei dem noch an Hermann zu denken ist, sei nicht nur „milte“ (freigebig), sondern in seiner Generosität auch beständig, was ihn von manch anderem, wankelmütigen Herrn unterscheide. Hermanns Freigebigkeit war sprichwörtlich, auch andere Dichter haben sie gerühmt.247 Bemerkenswert ist das Bekenntnis, mit dem Walther die Strophe eröffnet: Er stehe, erklärt er selbstbewusst, im Dienst des Landgrafen, gehöre zu seiner Hofgesellschaft: „Ich bin des milten lantgrâven ingesinde“. Blickt man von hier noch einmal zurück auf die Kritik der Thüringer Verhältnisse, die Wolfram im VI. Buch des ‚Parzival‘ übte, fallen manche lexikalische Parallelen ins Auge: Hatte Walther in seiner Scheltstrophe das ständige Kommen und Gehen am Hof beklagt („ein schar vert ûz, diu ander in, naht unde tac“), spielt Wolfram in seinem Exkurs mit dem Begriff ingesinde, indem er den Gegenbegriff ûzgesinde bildet, was Friedrich Panzer mit „Gesinde, das Gesindel hieße“ paraphrasierte.248 Ein Jahrzehnt später nun bekennt Walther stolz seinen Status als „ingesinde“, seine Zugehörigkeit zur landgräflichen familia. Auch für diesen Spruch gilt, dass wichtige Aussagen nur zwischen den Zeilen auszumachen sind. Hermann mag sich dem Dichter gegenüber großzügig gezeigt haben, doch dass er in seinem politischen Handeln nichts weniger als beständig war, sich vielmehr in den Jahren des staufischwelfischen Konflikts seit 1198 ein halbdutzendmal für die eine oder andere 246
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L 35, 7. Übers.: „Ich stehe im Gefolge des großzügigen Landgrafen. Es ist meine Art, daß man mich immer bei den Würdigsten findet. Die andern Fürsten zwar sind alle sehr freigebig, jedoch sie sind es nicht auf so beständige Weise: Er war es einst und ist es noch. Deshalb versteht er sich auch besser als sie darauf. Er gibt nicht dem Wechsel der Stimmungen nach. Wer dies Jahr groß tut und nächstes Jahr geizig ist wie einst, dessen Ruhm grünt und welkt dahin wie der Klee. Er aber, Blüte Thüringens, leuchtet durch den Schnee. Sommer und Winter blüht sein Ruhm wie einstmals.“ Wapnewski (Anm. 239). Im ‚Seifried Helbling‘ (1282/99), einer österreichischen Sammlung satirischer Gedichte, heißt es: „ez sol ouch bî den milten sîn der edel künic Salatîn und der milticlîch gemuot, genant von Tenmarke Fruot. ez hât ouch êren vil getân in Düringen lantgrâf Herman, des mêret er der milten schar.“ Seifried Helbling [Der kleine Lucidarius]. Hg. und erklärt von Joseph Seemüller. Halle 1886, VII, v. 363–369. Übers. „Den Freigebigen ist auch der vornehme König Saladin zuzurechnen, ebenso der großzügige Fruote von Dänemark. Großes Ansehen, mit dem er die Schar der Wohltätigen vermehrt, erwarb auch Landgraf Hermann von Thüringen.“ Vgl. Peter Wiegand: Der „milte lantgrâve“ als „Windfahne“? Zum politischen Standort Hermanns I. von Thüringen (1190–1217) zwischen Erbreichsplan und welfisch-staufischem Thronstreit. Hessisches Jb. für Landesgeschichte 48 (1998), S. 1–53. „etslîch dîn ingesinde ich maz, / daz ûzgesinde hieze baz“ (Pz. 297, 17 f.).
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Seite hatte kaufen lassen, war hinlänglich bekannt. Wenn Walther ihn daher als Muster der Berechenbarkeit und Beständigkeit rühmt, dann um andere zu treffen, mit denen er weniger gute Erfahrungen gemacht hatte, die, wie er in einem Naturbild ausführt, grünen und welken wie der Klee. Der Adressat dieser Kritik lässt sich nicht sicher ausmachen, in Frage käme auch aus zeitlichen Gründen der Markgraf von Meißen, Dietrich der Bedrängte. Über seinen unmittelbaren Anlass hinaus ist der Spruch zugleich aufschlussreich für die Lebenswirklichkeit eines auf Fürstengunst angewiesenen fahrenden Sängers wie Walther. Das Urteil, das er hier über den Landgrafenhof fällt, ist einfach gesagt das Gegenteil dessen, was er ein Jahrzehnt zuvor in seinem Scheltspruch vorgebracht hatte. Der Landgraf wird sich kaum in einem solchen Maß verändert haben, dass sich daraus dieser Wandel erklären ließe. Vielmehr dürfte die im 15. Jahrhundert von dem fahrenden Berufssänger Michel Beheim unverblümt ausgesprochene Wahrheit „Wes Brot ich ess, des Lied ich sing“ schon für einen Sangspruchdichter wie Walther gegolten haben.249 Man verstünde den Preis auf Hermann aber nicht recht, wenn man ihn als charakterlose Schmeichelei läse. Vielmehr setzt er voraus, dass es Walther in den vorangehenden Jahren gelungen sein muss, seine Position am Thüringer Hof entschieden zu verbessern. Während die Sprüche, in denen Walther vom Landgrafenhof und vom Fürsten spricht oder sich an diesen wendet, zumeist sicher auszumachen sind,250 ist dies im Fall seiner Lieder aus den genannten Gründen kaum einmal möglich. Ein thüringischer Anteil des Minnesängers Walther ist ungleich schwerer zu ermitteln. Die Waltherforschung hat einsehen müssen, dass eine zeitliche Anordnung der Lieder ein unerreichbares Ziel ist. Selbst ihre relative Chronologie bleibt methodisch ein Problem, da Walther sich nur selten einmal auf ein früheres Gedicht bezieht. Dennoch gibt es eine Reihe von 249
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Beheim beendete seine ‚Pfälzische Reimchronik‘. In: Quellen zur Geschichte Friedrichs I. des Siegreichen, Kurfürsten von der Pfalz. Hg. von Konrad Hofmann. Bd. 2. [...]. München 1863 (Quellen und Erörterungen zur bayerischen und deutschen Geschichte AF 3, 2). Ndr. Aalen 1969, S. 1–258, hier 258, mit dem Bekenntnis „Der furst mich hett in knechtes miet, ich ass sin brot vnd sang sin liet. ob ich zu einem andern kum, ich ticht im auch, tut er mir drum, ich sag lob sinem namen. dyss buch ein end hat, amen.“ Zweifelhaft bleibt der Thüringen-Bezug bei Strophen wie ‚Swâ guoter hande wurzen sint‘ (L 103, 13), die in ihrer parabelhaft-allgemeinen Aussage auch andere Deutungen zulassen. Walther gestaltet in L 103, 13 in der Rolle des überlegen-distanzierten Ratgebers die auf das Matthäusevangelium 13, 24 ff. rekurrierende Parabel vom klugen Gärtner, der das Unkraut von seinem Garten fernhält. Man hat den Spruch als Hofkritik, adressiert an Hermann, verstanden, der aufgefordert werde, zuchtlose Elemente von seinem Hof zu entfernen, aber auch als Ratschlag, der Landgraf möge seinem Sohn Ludwig die entsprechende Erziehung angedeihen lassen, doch weist die Strophe in ihrer allgemein-gleichnishaften Aussage über einen solchen möglichen, vielleicht auch wahrscheinlichen Anlass hinaus. Für einen Thüringen-Bezug spricht der Überlieferungszusammenhang.
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Indizien, die in ihrer Gesamtheit erlauben, die Frage, ob Walther in Thüringen auch als Minnsänger hervorgetreten sei, positiv zu beantworten – ein Beispiel ist noch vorzustellen. Ein wichtiges zeitgenössisches Zeugnis ist die bereits mehrfach erwähnte Überlieferung vom Sängerkrieg auf der Wartburg bzw. am Thüringer Hof. Sie gründet auf der Voraussetzung, dass sich am landgräflichen Hof Sänger wie Walther, Wolfram, Reinmar und andere zusammengefunden hätten, um einen künstlerischen Wettstreit auszutragen. Für den unbekannten Verfasser des Gedichts stand um die Mitte des 13. Jahrhunderts außer Frage, dass Hermanns Hof ein Zentrum auch und gerade der Lyrik war. Zu berücksichtigen ist des weiteren die Überlieferung. Die meisten der erhaltenen Handschriften und Fragmente, die Texte Walthers überliefern, weisen sprachlich in den alemannischen Raum, doch ist auch ein mitteldeutsches und thüringisches Interesse an seinen Gedichten erkennbar. Das zeigen die Fragmente Ux und Uxx, zwei Pergament-Doppelblätter aus einer Handschrift des ausgehenden 13. Jahrhunderts, geschrieben von einem niederdeutschen Schreiber in mitteldeutsch-thüringisch-hessischem Schreibdialekt. Anderes wurde bereits erwähnt. Walther zeigt sich vertraut mit der Lyrik Morungens, es gibt Motivparallelen („Verstummen vor der Geliebten“) und wörtliche Anklänge in Walthers Liedern, z. B. in ‚Ich hân ir sô wol gesprochen‘ (L 40, 19. C 17) und ‚Ich bin nû sô rehte vrô‘, wobei sich natürlich im Einzelfall nicht stringent beweisen lässt, ob Walther ein Lied des thüringischen Lyrikers in Meißen oder Eisenach kennenlernte. So wie spätere Thüringer Lyriker sich vielfach auf Morungens Lieder beziehen, bezeugen andere die Vertrautheit mit denen Walthers: der Tugendhafte Schreiber, Günther von dem Forste, der von Kolmas, Heinrich Hetzbold von Weißensee. Mertens hat schon für die letzten Jahrzehnte des 12. Jahrhunderts eine ludowingische „Minnesang-Kultur“ diagnostiziert, eine „thüringische Liedkunst“ im Umkreis des Landgrafenhofs, die „romanisch und mittellateinisch geprägt“ gewesen sei, aber nicht volkstümlich.251 Dazu passen manche Lieder Walthers, die auf den ersten Blick eher volkstümlich-tanzliedhaft wirken, tatsächlich aber durch die lateinische Dichtung der Vaganten inspiriert sein werden – Mertens hat sie „ein tänzerisches Repertoire“ genannt. Dazu würde auch die Erwähnung neuer Tänze aus Thüringen im ‚Parzival‘ (639, 4–12) stimmen. Auch wenn Mertens etwas überzeichnet haben mag,252 sind seine Beobachtungen in unserem Zusammenhang wichtig. 251
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Mertens (Anm. 194), S. 53. Vgl. auch Bumke (Anm. 14), S. 167. Nach Wolf (Anm. I, 34), S. 201, ist Walther am Thüringer Hof wohl „lediglich mit seinen politischen Sprüchen aufgetreten“. Nach Scholz (Anm. 216), S. 25, ist der thüringisch-obersächsische Raum an der Überlieferung der Gedichte Walthers „überraschenderweise gar nicht“ beteiligt. Die von Mertens betonten Naturbilder, die sich bei Veldeke, Morungen und Walther finden, begegnen auch bei Lyrikern wie Neidhart.
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Das Fragment Ux enthält auch eine Strophe des Waltherschen Lieds ‚Ich hân ir sô wol gesprochen‘, das eine Auseinandersetzung mit dem Konzept des Hohen Sangs bietet. Der Sänger tritt vor den Richterstuhl der Frau Minne, um durch sie Recht und Hilfe gegenüber der Geliebten zu erlangen, die er in vielen Liedern lobte, ohne dafür je auch nur den geringsten Gunsterweis erhalten zu haben. Mit der Aufforderung, dieses Unrecht als gegen sie gerichtet zu betrachten, wendet er sich an seine Lehnsherrin, die personifizierte Minne: „frowe Minne, daz sî iu getân“. Walther führt noch einen zweiten Bildbereich ein, den des Liebeskriegs. Die Herrin Minne hat den Sänger mit ihrem Pfeil getroffen und verwundet. Die Topik des Liebeskriegs berührt sich mit mehreren Liedern Morungens; auch in dessen einstrophigem Lied XIV wendet der Sänger sich in direkter Rede an die minne (MF 134, 9). Wichtiger noch ist ein zweiter intertextueller Bezug. Wolfram verspottet Walthers Klage vor der Frau Minne in einem Minne-Exkurs im VI. Buch des ‚Parzival‘: „frou Minne, hie seht ir zuo: / ich wæn manz iu ze laster tuo: / wan ein gebûr spræche sân, / mîme hêrrn sî diz getân“ (294, 21–24).253 Nur ein Bauer, so Wolframs Erzähler, würde eine Beleidigung gleich auf seinen Herrn beziehen, weil er nicht imstande wäre, sich selbst Genugtuung zu verschaffen. Das VI. Buch lag 1203 vor, Walthers Lied muss Wolfram zu diesem Zeit bekannt gewesen sein, und dafür kommt am ehesten die Begegnung beider Dichter am Landgrafenhof in Frage. Da in der Sängerkrieg-Überlieferung nebeneinander Walther und Wolfram agieren, ist auch nach Wolframs Liedern zu fragen. Der von Eschenbach ist ähnlich Hartmann von Aue in erster Linie mit erzählenden Dichtungen hervorgetreten, und Hartmann wie er waren schon für die Zeitgenossen bewunderte und vielfach nachgeahmte Vorbilder. Daneben erprobten beide sich auch als Lyriker. Wolfram schreiben die Sammelhandschriften insgesamt 34 Strophen in neun Tönen zu, die heute alle als echt angesehen werden.254 Da neun Lieder ein recht schmales lyrisches Œuvre sind, hat man vermutet, dass nicht alle Lieder Wolframs erhalten seien. Doch dagegen ließe sich einwenden, dass wir dann vielleicht deutlichere Spuren der Wirkung Wolframs bei anderen Lyrikern fänden. Die erhaltenen Dichtungen verteilen sich auf zwei Gruppen: eine kleinere Gruppe bilden mehr oder minder konventionelle Werbungslieder des hohen Sangs, die größere Gruppe besteht aus Tageliedern, die sich durch die Einführung und Ausgestaltung der Wächterfigur wie durch 253
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Nellmann (Anm. 137). Übers.: „Herrin Liebe, aufgepaßt – ich glaub, Ihr werdet hier beschimpft! (Nur ein Bauer würd gleich sagen: ‚Ihr tut dies meinem Herren an!‘).“ Peter Wapnewski: Die Lyrik Wolframs von Eschenbach. Edition, Kommentar, Interpretation. München 1972; Des Minnesangs Frühling (Anm. 184), S. 436–451; KLD, Bd. I, S. 596–604, Nr. 69, und Bd. II, S. 646–707 (Kommentar).
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ungewöhnliche Bilder auszeichnen. Unsere mangelnde biographische Kenntnis erlaubt nicht, die Frage, ob Wolfram am Landgrafenhof Lieder gedichtet oder vorgetragen habe, sicher zu beantworten. Die Forschung ist in der Datierungsfrage über Vermutungen kaum hinausgelangt; die Sicherheit, mit der frühere Generationen die Lieder vor 1202 ansetzen und sogar die Reihenfolge ihrer Entstehung festlegen zu können meinten, ist einer nüchterneren Sicht gewichen. Für die Tagelieder nimmt man heute Entstehung eher nach dem ‚Parzival‘ an.255 Die Minnelieder dagegen könnten schon vor oder zeitgleich mit diesem entstanden sein, spricht Wolfram doch an mehreren Stellen seines Romans von seinem Minnesang und dem anderer. Das wichtigste Zeugnis in diesem Kontext ist die bereits erwähnte Selbstverteidigung, ein Exkurs von 60 Versen, der heute zwischen dem II. und III. Buch des ‚Parzival‘ steht und so den Erzählzusammenhang unterbricht und dessen zentrales Thema das Dichten im Frauendienst ist. Selbstbewusst verweist Wolfram hier auf sein Können als Minnesänger: „ich bin Wolfram von Eschenbach, / unt kan ein teil mit sange“ (114, 12 f.) – „ich bin Wolfram, aus Eschenbach, und ich kann auch Lieder machen!“ Man wird daraus schließen dürfen, dass er sich zu diesem Zeitpunkt bereits einen Namen als Lyriker gemacht hatte. Sein Verhältnis zur höfischen Liedkunst ist jedoch offenbar ein ambivalentes: Einerseits hat er selbst Lieder in der Tradition des grand chant courtois verfasst, anderseits distanziert er sich in mehreren Erzählerexkursen seines Romans vom Minnesang, zumal in der artifiziellen Ausprägung, die ihm der Wiener Hofsänger Reinmar verliehen hatte. Seine ironischen und kritischen Äußerungen legen die Annahme nahe, dass er den höfischen Frauendienst in Gestalt des Minnesangs mit ritterlichem Standesgefühl für unvereinbar hielt. So heißt es in der Selbstverteidigung: „swelhiu mich minnet umbe sanc, / sô dunket mich ir witze kranc“ (115, 13 f.).256 Im XII. Buch wendet er sich dann gegen die anderen Minnesänger mit der Bemerkung, die meisten hätten die Liebe, von der ihre Lieder handelten, noch nie erlebt: „maneger hât von minnen sanc, / den nie diu minne alsô getwanc“ (587, 7 f.).257 In einer epilogartigen Partie des VI. Buchs, mit dem der ‚Parzival‘ in einer frühen Fassung ursprünglich endete, erklärt der Erzähler: „ich kunde wîben sprechen baz / denne als ich sanc gein einer maz“ (337, 5 f.).258 Wolfram will sagen, er
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Vgl. Werner Schröder: Wolfram von Eschenbach. In: Deutsche Dichter. Leben und Werk deutschsprachiger Autoren. Hg. von Gunter E. Grimm u. Frank Rainer Max. Bd. 1. Mittelalter. Stuttgart 1989, S. 180–216, hier 192. Nellmann (Anm. 137). Übers.: „Wenn eine [...] mich wegen meiner Liedkunst liebt, so scheint die mir nicht klar im Kopf.“ Nellmann (Anm. 137). Übers.: „So manchem, der von Liebe sang, dem setzte Liebe nie so zu!“ Nellmann (Anm. 137). Übers.: „ich erzähl von Frauen besser, als ich von der einen sang!“
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werde den Frauen als Erzähler besser gerecht denn als Minnesänger, habe er doch einer bestimmten Dame mit einem Lied eine Kränkung zugefügt. Ein solches Lied nun ist nicht erhalten. Am nächsten kommt ihm das Minnelied ‚Ein wîp mac wol‘, in dem mit Falke, Eule und Storch eine ungewöhnliche Vogel-Metaphorik aufgeboten wird. In einem Minnelied würde man am ehesten die Nachtigall erwarten, doch Wolframs Sänger vergleicht sich mit der Eule: Wie diese des Nachts Ausschau halte, erblicke sein Herz die Dame auch im Dunkeln. In der dritten Strophe verdeutlicht er seine Harmlosigkeit durch den Vergleich mit einem Storch in der Saat: „Nu seht waz ein storch sæten schade: / noch minre schaden hânt mîn diu wîp.“259 Für dieses Lied wäre aus mehreren Gründen eine Entstehung in Thüringen zu erwägen. Man dachte es sich nach der Selbstverteidigung und in zeitlicher Nähe des epilogartigen Abschlusses im VI. Buch des ‚Parzival‘ entstanden.260 Jene frühe Separatfassung der Bücher I bis VI oder auch nur III bis VI lag nach der opinio communis der Forschung Anfang 1203 vor. Die folgende Arbeitspause hat man auf einen Gönnerwechsel zurückführen wollen; zu bedenken wären auch die kriegerischen Auseinandersetzungen in Thüringen im Sommer 1203, deren Zeuge Wolfram geworden zu sein scheint. Denkt man sich die Bücher V bis VIII vollständig in Thüringen entstanden, wäre diesem Zeitraum auch ‚Ein wîp mac wol‘ einzuordnen. Das Lied bezieht sich deutlich auf Walther von der Vogelweide und seine literarischen Fehde mit dem Minnesänger Reinmar dem Alten, indem es schon eingangs Walthers Reinmar-Parodie seinerseits parodiert.261 Vom Eingangsvers „Ein wîp mac wol erlouben mir“ (‚eine Frau mag mir gütigst gestatten‘), der auf Walthers Eingangsvers „Ein man verbiutet ein spil âne pfliht“ antwortet, bis zu identischen Reimworten ist Wolframs Lied eine kritische Auseinandersetzung mit den in seinen Augen hohlen Überbietungsversuchen der Minnesänger.262 Besonders eindrucksvolle Bilder enthalten seine Tagelieder. Im Typenspektrum der höfischen Lyrik gehört das 259
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Übers.: „Sagt selbst, was denn kann ein Storch der Saat für Schaden antun? Weniger Schaden noch haben die Frauen von mir zu fürchten.“ Wapnewski (Anm. 254), S. 175. Wolfgang Achnitz: Wolfram als Minnesänger. Intertextualität und Autoreferentialität der Liebeslyrik um 1200. In: ZfdA 139 (2010), S. 277–298, hier 282, hat gezeigt, dass Wolfram auf eine Fabel des griechischen Dichters Babrios anspielt: Ein Bauer fing unter einer Menge von Kranichen, die seine Saat zerstörten, in seinen Netzen auf dem Acker auch einen Storch. Als dieser sich auf seine Unschädlichkeit berief, erklärte ihm der Bauer, er werde ihn nach dem Prinzip „Mitgefangen, mitgehangen“ behandeln. Wolframs Sänger will also sagen: Obwohl ich der Dame nicht schade, muss ich für das schlechte Benehmen der anderen Männer büßen. Vgl. Wapnewski (Anm. 254), S. 193. Vgl. Walthers Lied ‚Ein man verbiutet ein spil âne pfliht‘ (L 111, 22. C 81). Achnitz (Anm. 259), S. 283, vermutete, ein Lied wie dieses, das auf eine im Mittelalter kaum bekannte Fabel anspielt, „könnte damit maßgeblich zu derjenigen Rolle beigetragen haben, die Wolfram als Sänger im fiktiven Wettstreit auf der Wartburg zugewiesen wird“.
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Tagelied gleich der Pastorelle zu den objektiven, d. h. erzählenden Gattungen, weshalb man vermutet hat, dass diese Art einer erzählenden Lyrik dem Epiker Wolfram besonders gelegen haben werde.263 Tatsächlich gibt es Verbindungslinien zu seinen Romanen; so enthält der ‚Willehalm‘ zwei Partien, die als Tageliedszenen gelten können.264 Wolframs Tagelieder wirkten auf andere Minnesänger, darunter Otto von Botenlauben, der hier aus geographischen Gründen nicht übergangen werden darf. Otto von Botenlauben entstammt dem mächtigen Geschlecht der Grafen von Henneberg, deren Besitzungen im nördlichen Franken und im südlichen Thüringen zwischen Bad Kissingen, Münnerstadt, Schleusingen und Römhild lagen und die über mehrere Generationen hinweg am höfischen Literaturbetrieb teilnahmen.265 Als vierter Sohn Graf Poppos VI. erscheint er zwischen 1197 und 1244 häufig in den Urkunden, sodass wir über sein Leben gut unterrichtet sind. Seit 1206 nannte er sich nach der Burg Botenlauben über Kissingen, auf der er von 1221 bis 1234 ansässig war.266 Die Urkunden bezeugen ihn seit 1197 wiederholt in der Umgebung des staufischen Kaiserhofs. Sie zeigen ferner, dass er bis 1220 mit einigen Unterbrechungen über 20 Jahre in Syrien lebte, wo ihm durch Heirat große Besitzungen nahe Akkon zugefallen waren. Seine letzten Lebensjahre hat Otto in frommer Zurückgezogenheit
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Vgl. Müller: Klassische Lyrik (Anm. 234), S. 556. Die epische Dimension des Typus bleibt deutlich, auch wenn monologische und dialogische Partien hinzutreten. Ein Beispiel für Wolframs Bildersprache bietet Lied II ‚Sîne klâwen‘, in dem der anbrechende Tag in Gestalt eines furchterregenden Tiers beschrieben wird, das seine Klauen durch die Wolken schlägt. Im II. Buch (100, 2 ff.), nach Willehalms Heimkehr aus der ersten Schlacht, und im VI. Buch (279, 1 ff.), vor dem Aufbruch in die zweite Schlacht, wird erzählt, wie der Markgraf und Gyburc die Freuden der Liebe genießen, zweimal ist es die Nacht, die sie von der umgebenden unheilvollen Welt von Krieg und Tod trennt. Die namengebende Burg der aus dem Grabfeld stammenden Henneberger lag an der Straße von Meiningen nach Würzburg. In der ersten Hälfte des 12. Jh. gründeten die Henneberger das Prämonstratenser-Chorherrenstift Veßra im südlichen Vorland des Thüringer Waldes als Hauskloster und Grablege. Seit dem 12. Jh. gab es mehrere Linien des Geschlechts. Für die literarhistorische Bedeutung der Henneberger spricht neben ihrer Erwähnung im ‚Wartburgkrieg‘, dass der Tannhäuser, Bruder Wernher und der Marner ihnen Preisstrophen widmeten. „Von Grafen Otten / dem vierten des namens / Grafen von Henneberg: Herrn zu Bodenleube“ handelte Cyriacus Spangenberg 1599 in der ‚Hennebergischen Chronica‘, II. Buch, c. 18, S. 97–99. Vgl. Thüringen (Anm. II, 67), S. 197–199; Johannes Mötsch: Die gefürsteten Grafen von Henneberg und ihre fürstlichen Standessymbole. In: Hochadelige Herrschaft im mitteldeutschen Raum (1200 bis 1600). Formen – Legitimation – Repräsentation. Hg. von Jörg Rogge u. Uwe Schirmer. Stuttgart 2003 (Quellen und Forschungen zur sächsischen Geschichte 23), S. 227–241. 1234 verkaufte Otto die Burg Botenlauben an die Würzburger Kirche. Vgl. Bernd Ulrich Hucker: Regesten des Grafen Otto von Botenlauben 1197–1244. In: Otto von Botenlauben. Minnesänger, Kreuzfahrer, Klostergründer. Würzburg 1994 (Bad Kissinger ArchivSchriften 1), S. 471–503, hier 488 f., Nr. 32.
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verbracht; 1231 gründete er zusammen mit seiner Gemahlin in der Nähe von Kissingen ein Zisterzienserinnenkloster.267 1244 oder 1245 ist er gestorben. Ottos lyrisches Œuvre entstand wahrscheinlich in den ersten drei Jahrzehnten des 13. Jahrhunderts, in zeitlicher Nähe also zu den Liedern Walthers und Wolframs.268 Wenigstens ein Teil seiner lyrischen Produktion fällt in die Zeit nach Landgraf Hermann, in der höfische Dichtung am Thüringer Hof offenbar einen wesentlich anderen Status hatte. Die südwestdeutschen Sammelhandschriften weisen ihm 23 (24) Strophen und einen (unstrophischen) Leich in der üblichen alemannischen Überformung zu. Sein schmales, aber konturenreiches Œuvre, eine Mischung aus Altem und Neuem, gehört zum Minnesang der Hohen Minne: Die Dame steht unerreichbar hoch über dem Ritter, der ihr und nur ihr in unwandelbarer Treue dient; Minneerfüllung bleibt ein angestrebtes, aber nie zu erreichendes Ziel, Otto gebraucht dafür das traditionelle Motiv der „wân“-Minne. Neben einer Gruppe mehr oder minder konventioneller Werbungslieder und neben Liedern mit Kreuzzugsthematik steht eine Folge von vier Tageliedern, die den Einfluss Wolframs erkennen lassen. Die drei Strophen des Liedes XIII sind aus der Perspektive des Wächters, der Dame und des Ritters gesprochen, ein reines Gesprächslied also.269 Otto hat die Typen Tagelied und Dialoglied kombiniert, der Refrain verweist auf das Vorbild der Alba. Die Eingangsstrophe lautet: ‚Wie sol ich den ritter nû gescheiden und daz schœne wîp die dicke bî ein ander lâgen ê? dâ rât ich in rehten triuwen beiden und ûf mîn selbes lîp daz sie sich scheiden und er dannen gê. mâze ist zallen dingen guot. lîp und êre ist unbehuot, ob man iht langer lît. ichn singe eht anders niht wan: es ist zît. stant ûf, ritter!‘270 267
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In der Kirche in Frauenroth, deren Mittelschiff erhalten ist, findet sich das Hochgrab des Stifterpaars. Die Grabplatte ist eine eindrucksvolle frühgotische Skulptur. Ed.: KLD, Bd. I, S. 307–316, Nr. 41, und Bd. II, S. 358–380 (Kommentar). Eine Edition mit Übersetzung und Kommentar bietet Klaus Dieter Jaehrling: Die Lieder Ottos von Bodenlouben. Hamburg 1970 (Geistes- und sozialwissenschaftliche Dissertationen 5). Die 2. Strophe wurde, wahrscheinlich wegen des ähnlichen Baus, namenlos in die mittellateinische Sammlung der ‚Carmina Burana‘ aufgenommen. Vgl. Carmina Burana (Anm. II, 106), Nr. 48, S. 134/135. Lied XIII, Str. 1, KLD, Bd. 1, S. 314 f. Übers.: „Wie soll ich den Ritter und die schöne Frau nun voneinander trennen, die so oft schon beieinander waren? Da rate ich beiden in rechter Treue und auf eigene Gefahr, daß sie sich trennen und er von dannen gehe. Maßhalten ist
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Otto von Botenlauben, ein Zeitgenosse der klassischen Minnesänger, zeigt sich vertraut mit den Leitwörtern, Motiven und Typen, allgemeiner: mit den Traditionen des Minnesangs einschließlich seiner romanischen Vorbilder. Er weiß, wie ein Minnelied auszusehen hat, er kennt den Formel- und Motivschatz des Hohen Sangs: die Klage über unerfüllte Liebe, das Motiv „Sterben aus Liebe“, Oxymora wie den „süezen kumber“, die Terminologie des Liebeskriegs und anderes. Die Literaturgeschichte hat ihm allerdings bisher nicht sonderlich viel Beachtung geschenkt. Reichen die südthüringischen Besitzungen der Henneberger hin, Otto der Literaturregion Thüringen zuzurechnen? Die Antwort muss wohl negativ ausfallen, lassen sich doch zumindest direkte literarische Beziehungen nicht ausmachen. Zu berücksichtigen wäre auch, dass die Henneberger weder politisch noch verfassungsrechtlich zum Einflussbereich der Ludowinger gehörten.271 Da wir nicht wissen, wo Otto seine Lieder dichtete und vortrug, wird man am ehesten annehmen können, dass sie am Hof seines Bruders Poppo VII. und seines Neffen Hermann I. bekannt waren.272 Gewirkt haben sie wohl vornehmlich im Umkreis der Staufer, zunächst Heinrichs VI., dann Friedrichs II. und Heinrichs VII.273 Das erklärte den Einfluss Friedrichs von Hausen und der Hausenschule auf seine Dichtung wie umgekehrt seine Wirkung auf spätstaufische Lyriker wie Ulrich von Winterstetten. Um 1300 lässt der Didaktiker Hugo von Trimberg in seinem Lehrgedicht ‚Der Renner‘ einen Lyrikerkatalog mit Otto von Botenlauben beginnen, er erwähnt ihn lobend zusammen mt Morungen, noch vor Walther von der Vogelweide.274 Man kann sich vorstellen, dass Ottos Lebensumstände den Anlass für eine Dichtersage ähnlich der vom edlen Ritter Moringer abgegeben hätten. Cyriacus Spangenberg berichtet denn auch 1599 in seiner ‚Hennebergischen Chronica‘, er habe
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bei allen Dingen richtig. Leben und Ansehen stehen auf dem Spiel, wenn sie länger liegen bleiben. Ich singe also nichts anderes als: es ist Zeit. Steh auf, Ritter!“ Minnesang. Mittelhochdeutsche Texte mit Übertragungen und Anmerkungen. Hg., übersetzt und mit einem Anhang versehen von Helmut Brackert. Frankfurt a. M. 1983 (Fischer Taschenbuch 6485). Vgl. auch Dietrich Huschenbett: Die Dichtung Ottos von Botenlauben. In: Otto von Botenlauben (Anm. 266), S. 203–237, hier 228. Otto erscheint bei Wolf (Anm. I, 34), S. 196 f., umstandslos als thüringischer Dichter, aber auch Sammelwerke wie ‚Fränkische Lebensbilder‘ und ‚Fränkische Klassiker‘ buchen ihn. Vgl. Bumke (Anm. 14), S. 213. Während Huschenbett (Anm. 270) offen ließ, wo Otto seine Lieder dichtete, wollte de Boor (Anm. II, 135), S. 310, sie mit dem Hof Heinrichs VII. verbinden. „Von Botenloube und von Môrungen. / Von Limburc und von Windesbecke, / Von Nîfen, Wildonie und von Brûnecke, / Her Walther von der Vogelweide: / Swer des vergêze der tête mir leide.“ Hugo von Trimberg. Der Renner. Hg. von Gustav Ehrismann [1908–1911]. Mit einem Nachwort und Ergänzungen von Günther Schweikle. Bd. I–IV. Berlin 1970 (Deutsche Neudrucke. Reihe: Texte des Mittelalters). Bd. I, v. 1184–1188. Vgl. auch den Abdruck in: Dichter über Dichter (Anm. III, 191), S. 29 f., Nr. 11.
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einst „ein geschrieben buch von reymen gesehen: darinnen viel von diesem Herrn Otten von Bodenleube / vnd seinen ritterlichen thaten geschrieben war“, und zitiert einige Verse nach der Erinnerung; doch habe er die Handschrift nicht noch einmal einsehen können.275 Das Ende der ludowingischen Zeit erreichen wir mit dem Tugendhaften Schreiber, der Lieder und wohl auch einige Sangsprüche verfasst hat und der noch im Rahmen der Sängerkrieg-Überlieferung zu behandeln ist.276 Der Codex Manesse weist ihm elf Lieder und eine Spruchfolge zu.277 Die Lieder – zumeist fünf- und dreistrophige Minnekanzonen in der Tradition des hohen Sangs – zeichnen sich durch kunstvolle Reimgestaltung aus und enthalten deutliche Anklänge an Morungen.278 Sie könnten noch in der Regierungszeit Ludwigs IV. († 1227) oder der Heinrich Raspes († 1247) entstanden sein, der Dichter wäre dann fast noch ein Zeitgenosse Walthers gewesen. Wenn de Boor von ihnen etwas herablassend als von „zierlichen und freundlichen Liedchen“ und von Gedichten „ohne eigene Physiognomie“ sprach, dürfte im Hintergrund noch die alte Epigonenthese stehen.279 Bei der Frage nach der Wirkung eines Minnelyrikers sollte man sich nicht auf die literarischen Zentren beschränken, an denen er aufgetreten sein könnte (zumeist weltliche Höfe); schon deshalb nicht, weil darüber so gut wie nie zuverlässige Nachrichten vorliegen. Ergiebiger dürfte die Suche nach Wirkungen seines Œuvre, nach intertextuellen Bezügen sein. Morungen wirkte vornehmlich in der Umgebung der Staufer; jedenfalls erscheint er erst 1217/18 in den Urkunden des Wettiners Dietrich von Meißen, und für eine Verbindung mit Thüringen fehlen verlässliche Zeugnisse. Aber nicht nur Walther von der Vogelweide
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Cyriacus Spangenberg: ‚Hennebergische Chronica‘ (Anm. 265), S. 97. Vgl. Edward Schröder: Spangenberg, Cyriacus S. In: ADB, Bd. 35 (1893), S. 37–41; Jens Haustein: Spangenberg, Cyriakus. In: Killy, Bd. 11 (1991), S. 85. Der Dichter ist noch nicht identifiziert, der Name könnte eine Berufsbezeichnung sein. Zum Notar Heinrich von Weißensee vgl. Bumke (II, 158), S. 627. Ed.: KLD, Bd. I, S. 406–414, Nr. 53, und Bd. II, S. 499–507. Vgl. Gisela Kornrumpf: Der Tugendhafte Schreiber. In: VL, Bd. 9 (1995), Sp. 1138–1141; Andreas Krass: Die Ordnung des Hofes. Zu den Spruchstrophen des Tugendhaften Schreibers. In: Literatur und Macht im mittelalterlichen Thüringen (Anm. 236), S. 127–141, hier 128 f. Das Dichterbild des Codex Manesse, das den Dichter mit angelegten Fußfesseln zeigt, ist vielleicht gar nicht so rätselhaft, wie man meinte, sondern vom Maler aus den Eingangsversen von Lied III entwickelt: „Minn ê was sô tiure daz man sie mit guote / niht kunde vergelden.“ Übers.: „Einst war die Liebe so kostbar, dass man sie für Geld nicht zu erlangen vermochte.“ Vgl. etwa Lied IX: „Ein lachen machen kan ir süezez mündel rôt, / daz ez gêt durch diu ougen mîn. / der sachen krachen muoz daz herze mîn vor nôt, / ich wânde ez wær der sunnen schîn“ (3, 1–4) mit Anklängen an Morungens Lieder XV und XXII. De Boor (Anm. II, 135), S. 327. Ähnlich das folgende Urteil: „Was wir von ihm kennen, scheint uns wenig bedeutend“ (ebd.). An anderer Stelle rechnete de Boor den Tugendhaften Schreiber „den thüringischen Lokalgrößen“ zu.
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zeigt sich mit seinen Liedern gründlich vertraut; auch spätere Dichter tun dies in einer Weise, die sich am ehesten dadurch erklären lässt, dass Morungens Lieder in Thüringen lange fortlebten. So kehrt der Vergleich des Sängers mit den den Tagesanbruch erwartenden Vögeln in Morungens Elbenlied (V) wieder in Lied IV des Tugendhaften Schreibers.280
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Morungen, Lied V, Str. 4, 5–7: „Ich muoz vor ir stên / unde warten der vröiden mîn / rehte alsô des tages diu kleinen vogellîn“ (MF 126, 36 ff.). Übers.: „Ich muß vor ihr stehen und auf meine Freude warten, ganz wie die kleinen Vögel auf den Tag.“ Tervooren (Anm. 197). Beim Tugendhaften Schreiber heißt es: „gen ir süezen güete / fröit sich mîn gemüete / sam diu kleinen vogellîn, / sô sie sehent den morgenschîn.“ Str. 5, 7–10.
IV. Wandlungen vom Hoch- zum Spätmittelalter
1. Späte Lieddichtung. Minnereden Mit Otto von Botenlauben wurde bereits ein Minnesänger vorgestellt, der nicht mehr zur Periode der höfischen Klassik gehört. Während Veldeke der frühhöfischen Dichtung zuzurechnen ist, repräsentieren Morungen, Walther und Wolfram – jeder auf seine Weise – die früher als Blütezeit bezeichnete klassische Phase höfischer Dichtung, die den Zeitraum etwa von 1180/90 bis 1220/30 ausfüllt. Auch nach Botenlauben begegnen in unserem Raum bis in das frühe 14. Jahrhundert höfische Lyriker, zumeist Minnesänger, aber auch einige Spruchdichter. Für diese, auf die höfische Klassik folgende Phase gebrauchen die Handbücher Bezeichnungen wie nachklassisch, nachstaufisch und späthöfisch. Für unsere Zwecke empfiehlt es sich, jene späteren Dichter unter dem Kennwort des 13. Jahrhunderts zusammenzufassen. Setzt man das Ende der höfischen Klassik um 1220/30 an, wird man darauf aufmerksam, dass die literarhistorische Periodisierung sich mit der allgemeingeschichtlichen nur partiell deckt. Das Ende der Stauferherrschaft und das folgende Interregnum – um nur zwei besonders markante Punkte zu nennen – fallen in die zweite Jahrhunderthälfte, und andere wichtige Vorgänge der Epoche wie der Aufstieg der Städte und die Ausbreitung der Bettelorden in ihnen sind mit Jahreszahlen ohnehin kaum zu fassen. Wendet man den Blick wieder der Literaturlandschaft Thüringen zu, sind abermals andere zeitliche Marken zu setzen. Ein wichtiges Ereignis war der Tod Landgraf Hermanns 1217. Mit seiner Regierungszeit ging eine glanzvolle Phase höfischen Literaturbetriebs zu Ende. Sein Nachfolger Ludwig IV. war nach allem, was wir wissen, an weltlicher Dichtung nicht sonderlich interessiert; ähnlich seiner Gemahlin Elisabeth scheint er eher geistliche Dichtung geschätzt zu haben.1 Das einschneidendste Ereignis jedoch in diesem Zeitraum, das von Zeitgenossen und Geschichtsschreibern als eine tiefe Zäsur wahrgenommen wurde, war das Aussterben der ludowingischen Dynastie mit dem erbenlosen Tod
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„Nach seinem [Hermanns] Tode hörten Thüringen und die Wartburg überhaupt auf, ein literarisches Zentrum zu sein, von dem Impulse ausgingen. Thüringen und das östliche Norddeutschland haben bis zur Mitte des Jahrhunderts für uns überhaupt kein literarisches Gesicht. Schattenhaft erscheinen ein paar wenig bedeutende Lyriker, und für die Epik müssen wir [...] einen Mann wie Berthold von Holle mit einbeziehen [...].“ De Boor (Anm. II, 135), S. 200. An geistlicher Lyrik stammt vielleicht das Weihnachtslied ‚Gelobet sistu Jesu Christ‘ (14. Jh.), überliefert u. a. in Gotha, FB, Memb. II, 84, aus Thüringen, nach Walther Lipphardt: ‚Gelobet sistu Jesu Christ‘. In: VL, Bd. 2 (1980), Sp. 1184–1186, hier 1185, „wohl aus dem Umkreis der md.-thüringischen Mystik“.
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IV. WANDLUNGEN VOM HOCH- ZUM SPÄTMITTELALTER
des Landgrafen und „Pfaffenkönigs“2 Heinrich Raspe 1247 und der Übergang der Landgrafschaft an das Haus Wettin. Zunächst jedoch kam es zu einem anderthalb Jahrzehnte währenden mörderischen Erbfolgekrieg um die ludowingische Hinterlassenschaft, in dem eine ganze Reihe von Dynastien mehr oder minder gut begründete Erbansprüche anmeldete: Elisabeths Tochter Sophie (1224–1275), die Gemahlin des Herzogs von Brabant, die ihrem Sohn Heinrich dem Kind das Land Hessen, aber wohl auch die Landgrafschaft Thüringen sichern wollte, der Herzog von Braunschweig-Lüneburg, der Graf von Anhalt, der Herzog von Sachsen-Wittenberg und andere.3 In harten Kämpfen setzte sich am Ende der Wettiner Heinrich III. der Erlauchte, Markgraf von Meißen (um 1215–1288), durch. Er konnte sich auf eine Eventualbelehnung (Anwartschaft) berufen, die Kaiser Friedrich II. ihm 1243 für den Fall des erbenlosen Tods des Ludowingers zugesichert hatte. Heinrich musste jedoch um die Landgrafschaft hart kämpfen. Eine wichtige Etappe in diesem Kampf war der Vertrag von Weißenfels im Jahr 1249, in dem eine größere Gruppe thüringischer Grafen und anderer Großer ihn als neuen Herrn und als Landgrafen anerkannte.4 Im Jahr darauf verkündete Heinrich an der alten landgräflichen Landdingstätte in Mittelhausen b. Erfurt einen Landfrieden, und 1252 wurde er von König Wilhelm von Holland mit der Landgrafschaft Thüringen, einem Reichslehen, belehnt. Endgültig durchgesetzt hatte er seine Machtposition jedoch erst 1264, als seine schärfste Konkurrentin Sophie ihre Ansprüche auf Thüringen und die Pfalzgrafschaft Sachsen aufgab und er, nunmehr im Besitz dreier Reichslehen, zu den reichsten und mächtigsten Fürsten im Reich zählte.5 Im Ergebnis dieses Erbfolgekriegs wurde das von der Saale im Osten bis zur Lahn im Westen reichende ludowingische Erbe geteilt: Die Landgrafschaft Thüringen wurde für mehr als zwei Jahrhunderte dem wettinischen Herrschaftskomplex eingegliedert, der sich von der Lausitz im Osten bis an die Werra im Westen erstreckte, dessen Machtzentren Meißen, Dresden, Freiberg und Leipzig jedoch sämtlich östlich der Saale lagen, während die Grafschaft Hessen an Sophie von Brabant kam und sich in der Folge zu einer eigenen Landgrafschaft mit den Zentren Marburg und Kassel entwickelte. 2
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Der Beiname bezieht sich auf die Krönung Heinrich Raspes zum deutschen König durch die drei rheinischen Erzbischöfe am 22. 5. 1246 in Veitshöchheim b. Würzburg. Vgl. Patze (Anm. III, 26), S. 40. Fürstliche Herrschaft war im 13. Jh. nur als eine dynastische, nicht aber im Rahmen einer Wahlmonarchie denkbar. Vgl. Holger Kunde, Stefan Tebruck, Helge Wittmann: Der Weißenfelser Vertrag von 1249. Die Landgrafschaft Thüringen am Beginn des Spätmittelalters. Erfurt 2000. Vgl. Werner Mägdefrau: Thüringen im Mittelalter. Strukturen und Entwicklungen zwischen 1130 und 1310. Erfurt 1999, S. 135–161; Jörg Rogge: Die Wettiner. Aufstieg einer Dynastie im Mittelalter. Ostfildern 2005, S. 59–81.
1. SPÄTE LIEDDICHTUNG. MINNEREDEN
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In dem Jahrhundert nach dem Aussterben der Ludowinger erlebte Thüringen eine wechselvolle Zeit: Die Jahrzehnte von der Mitte des 13. Jahrhunderts bis zur Mitte des 14. waren erfüllt von Fehden der Landesherren gegen mächtige Grafengeschlechter des Landes. Verstand Heinrich III. den wettinischen Machtanspruch in Thüringen in langen Kämpfen und zahlreichen Friedensschlüssen durchzusetzen, wurde das von ihm Erreichte durch seinen Sohn Albrecht den Entarteten wieder vertan.6 Albrecht fehlte das rechte Augenmaß, immer wieder provozierte er Konflikte.7 Mit seinem gewaltsamen Vorgehen gegen thüringische Adlige brachte er eine Opposition in der Landgrafschaft gegen sich auf, als deren Sprecher Graf Otto III. von Orlamünde sich 1277 um Hilfe an Rudolf von Habsburg wandte und dem König die Landgrafschaft anbot, was reichsrechtlich möglich war.8 Hinzu kamen die innerwettinischen Auseinandersetzungen: der Zwist Albrechts mit seinem Bruder Dietrich von Landsberg, später das Zerwürfnis mit dem Vater. Ein Jahrzehnt darauf brach der offene Konflikt zwischen Albrecht und seinem Sohn Friedrich aus, der dem Bestreben des Königtums, in Thüringen Fuß zu fassen, entgegenkam.9 Da Albrecht in chronischen Geldnöten steckte, verbündete er sich mit der nach der Reichsfreiheit strebenden Stadt Erfurt. Tiefverschuldet, verkaufte er 1294 das Reichslehen Thüringen für 11000 oder 12000 Mark Silber an König Adolf von Nassau unter Vorbehalt des Nießbrauchs zu seinen Lebzeiten. Auf den Landgrafen zielt die Frage des Nikolaus von Bibra in dem 1281/84 entstandenen satirischen Gedicht ‚Occultus Erfordensis‘: „O Tod, warum holst du dir nicht den Menschen, mit dem du dem ganzen Verbrechen ein Ende machen könntest?“10 Den Versuchen des Königtums, Thüringen für das Reich zurückzugewinnen, war indes kein dauerhafter Erfolg beschieden. In 6
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Heinrich III. nannte sich Landgraf von Thüringen, doch regierte seit den späten 50er Jahren in Thüringen sein noch unmündiger Sohn Albrecht als Statthalter, auch der jüngere Sohn Dietrich von Landsberg. Neben ihnen begegnet noch Graf Hermann I. von Henneberg, der Stiefbruder Heinrichs des Erlauchten, als Landrichter. Vgl. Herbert Helbig: Der wettinische Ständestaat. Untersuchungen zur Geschichte des Ständewesens und der landständischen Verfassung in Mitteldeutschland bis 1485. Münster, Köln 1955 (Mitteldt. Forsch. 4), S. 29. Patze (Anm. III, 26), S. 53, nannte Albrecht eine „zwielichtige Persönlichkeit“. Härter noch urteilte Willy Flach: Land und Städte in Thüringen. In: Willy Flach (1903–1958). Beiträge zum Archivwesen, zur thüringischen Landesgeschichte und zur Goetheforschung. Hg. von Volker Wahl. Weimar 2003 (Veröffentlichungen aus thüringischen Staatsarchiven 9), S. 179–190, hier 181, der Albrechts Herrschaft eine „unglückliche und unverantwortliche“ nannte. Vgl. auch Rogge (Anm. 5), S. 81. Vgl. Patze (Anm. III, 26), S. 51 f. Ende 1289 erschien König Rudolf in Erfurt und hielt einen Reichstag ab. Vgl. Winfried Leist: Landesherr und Landfrieden in Thüringen im Spätmittelalter 1247–1349. Köln, Wien 1975 (Mitteldt. Forschungen 77), S. 41–49. „Cur, mors, / Non rapis hunc hominem, per quem posses dare finem / Totius sceleris?“ (v. 1079–1081 ff.). Nikolaus von Bibra (Anm. III, 240).
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der nächsten Generation verstand es Albrechts Sohn Friedrich der Freidige, den wettinischen Gesamtstaat von Osten her wiederherzustellen. Mit dem Dynastiewechsel hing zusammen, dass, wie bereits Rothe in der ‚Weltchronik‘ vermerkte, die Wartburg und die Stadt Eisenach an Bedeutung einbüßten. Wohl blieb die Wartburg vorerst wichtig: Albrecht der Entartete bevorzugte sie 1288 bis 1306, Friedrich der Freidige starb auf ihr, ebenso die Landgrafen Friedrich der Ernsthafte und Balthasar. Doch in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts war Gotha die „Hauptresidenz“ der thüringischen Wettiner, Friedrich der Freidige nutzte auch Eisenberg als Residenz, und seit 1400 suchte man verstärkt Weimar auf, während die Wartburg verfiel. Man kann die Verlagerung des politischen Schwergewichts nach Osten auch an den Sterbeorten und Grablegen der Landgrafen nachweisen. Heinrich III. wurde im Zisterzienserkloster Altzelle b. Nossen begraben, sein Sohn Albrecht starb verarmt in Erfurt, dessen erste Gemahlin Margarete in Frankfurt. Friedrich der Freidige wurde im Zisterzienserinnenkloster St. Katharinen in Eisenach beigesetzt. Der Sohn Friedrichs des Ernsthaften, Balthasar, und dessen Sohn Friedrich der Friedfertige ließen sich im alten ludowingischen Hauskloster Reinhardsbrunn beisetzen und Landgraf Wilhelm III. der Tapfere 1482 im Franziskanerkloster in Weimar.11 Das Fehlen eines kulturellen Mittelpunkts dürfte zumindest einer der Gründe dafür gewesen sein, dass die Tradition der höfischen Dichtung nach 1400 in Thüringen durch Dichter und Sammler keine nennenswerte Pflege mehr fand, während sie im Süden, denkt man etwa an den Münchner Hof der Wittelsbacher und die Rottenburger Hofhaltung Mechthilds von der Pfalz, bis weit in das 15. Jahrhundert lebendig blieb.12 Wenden wir uns nun den Dichtern zu. In dem Jahrhundert nach der höfischen Klassik lassen sich etwa zehn Lyriker mehr oder weniger sicher mit Thüringen verbinden. Darunter sind einige Problemfälle wie der schon als Epiker erwähnte Biterolf, den wir abgesehen von seiner Rolle in der Sängerkrieg-Überlieferung nur aus einer Erwähnung des späthöfischen Epikers Rudolf von Ems kennen. Wie sein Alexanderroman gehören auch „sîniu liet“ zu den Überlieferungsverlusten, sodass sich über den Dichter Biterolf nichts 11
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Balthasar (1349–1406) war der letzte Landgraf, der auf der Wartburg residierte. Vgl. Hans Patze: Die Bildung der landesherrlichen Residenzen im Reich während des 14. Jahrhunderts. In: H. P.: Ausgewählte Aufsätze (Anm. I, 31), S. 729–788, hier 742–744. Friedrich der Friedfertige starb 1440 auf Burg Weißensee, er war der letzte Landgraf, den man in Reinhardsbrunn beisetzte. Vgl. Hans Patze: Verfassungs- und Rechtsgeschichte im hohen und späten Mittelalter. In: Geschichte Thüringens. Hg. von H. P. u. Walter Schlesinger. Bd. II. Teil 1. Köln 1974 (Mitteldt. Forsch. 48/II/1), S. 215–282, hier 235. Bedeutsam für die wettinische Hausgeschichte wurden die Klöster Lauterberg b. Halle und Altzelle, wo die Grablege der Wettiner entstand. Es ist bezeichnend, dass Rothe in der ‚Passion‘ (um 1425) den Vater Atus der Pilatussage (vgl. Anm. 255) mit König Artus identifiziert, „Den dy luthe nach nennin Artus“ (v. 457).
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sagen lässt.13 Ein spezieller Fall ist auch Markgraf Heinrich der Erlauchte, dessen bevorzugte Aufenthaltsorte Tharandt, Meißen und Dresden waren und der für höfische Feste mit Musik, Tanz und Ritterspielen14 Sorge trug. Der Wettiner Fürst ist selbst als Minnesänger hervorgetreten (der Codex Manesse überliefert unter dem Namen Margraue von Misen sechs Lieder)15 wie auch als Komponist geistlicher Musik. Man wird sein literarisches und musikalisches Schaffen allerdings in erster Linie mit der Mark Meißen zu verbinden haben und weniger mit der Landgrafschaft Thüringen.16 Hier indes liegt, wie bei Behandlung der Sangspruchdichtung und der Wolfram-Rezeption noch deutlicher werden wird, ein bisher ungenügend beachtetes Problem: Wie sinnvoll ist im späteren 13. Jahrhundert eigentlich die Abgrenzung einer thüringischen und einer meißnischen Literaturlandschaft? Die verbleibenden Dichter werden in der mutmaßlichen chronologischen Folge behandelt, zunächst die Minnesänger, dann die Spruchdichter. Gemeinsam ist den meisten von ihnen die adlige Lebensform und die Zugehörigkeit zur feudalen Gesellschaft. Was sie von den Lyrikern der klassischen Zeit um 1200 unterscheidet, ist, dass wir sie nicht mehr umstandslos mit dem Landgrafenhof verbinden können.17 Soweit wir überhaupt biographische Nachrichten besitzen, scheinen diese zu anderen, kleineren Herrschaftszentren zu führen. Nur wenige dieser Lyriker haben bislang nähere Beachtung erfahren, in den Anthologien sind sie mit Ausnahme Botenlaubens nur sehr spärlich vertreten. Noch in das erste Drittel des 13. Jahrhunderts gehört Christan von Hamle, dem der Codex Manesse sechs Lieder zuweist, die man gewöhnlich um 1225
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In dem Dichterkatalog, den Rudolf von Ems seinem ‚Alexander‘ einfügte, heißt es über Biterolf: „ob des sprüche als ebene gânt als ebene sîniu liet“ (v. 15795 f.). Rudolf von Ems. Alexander. Ein höfischer Versroman des 13. Jahrhunderts. Zum ersten Male hg. von Victor Junk. Bd. 2. Leipzig 1929 (StLV 274). Das große Turnier, das Heinrich III. 1263 vor den Toren der Stadt Nordhausen abhielt und mit dem er, vielleicht aus Anlass der erfolgreichen Kämpfe um Thüringen, demonstrierte, dass er zur obersten Schicht der fürstlichen Hierarchie zählte (er herrschte nunmehr über die Markgrafschaft Meißen, die Landgrafschaft Thüringen, die Pfalzgrafschaft Sachsen und das Pleißenland), war ein Glanzpunkt höfischer Festkultur. Weitere Turniere hielt er 1241 und 1265 in Meißen und 1286 in Merseburg ab. Die letzten gut anderthalb Jahrzehnte seines Lebens hat Heinrich überwiegend in Dresden verbracht. Ed.: KLD, Bd. I, S. 153–156, Nr. 21, und Bd. II, S. 182–186 (Kommentar). Die Lieder I, IV und VI mit Übers. in: Ostdeutscher Minnesang. Auswahl und Übertragung von Margarete Lang. Melodien. Hg. von Walter Salmen. Lindau, Konstanz 1958, S. 26–31. Vgl. Volker Mertens: Markgraf Heinrich III. von Meißen. In: VL, Bd. 3 (1981), Sp. 785–787; Bumke (Anm. III, 14), pass.; Regesten deutscher Minnesänger (Anm. III, 177), S. 431–650. Nur wenige der 477 Urkunden aus den Jahren 1221–1288 sind in Eisenach oder auf den landgräflichen Burgen Creuzburg, Neuenburg und Wartburg ausgestellt. Ob einer der späteren thüringischen Minnesänger am Wettiner Hof wirkte, ist ungewiss. Die Burg Meißen wurde von den Wettinern erst spät als Residenz ausgebaut.
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datiert.18 Da historische Zeugnisse fehlen, ist seine Standeszugehörigkeit unklar. Zwar ordnet die Handschrift ihn in die Gruppe der Freiherren ein, doch ist ein Geschlecht seines Namens nicht bezeugt.19 Das Dichterbild zeigt, wie der Sänger von der Dame in einer Holzbütte mittels einer Seilwinde am Burgturm aufgezogen wird. Das erinnert an die mittelalterliche Sage vom Zauberer Vergil und an das Motiv von der Weiberlist. Vielleicht aber hat der Illustrator auch den Namen ausgedeutet. Das mhd. Maskulinum hamel bedeutet u. a. ‚schroff abgebrochene Anhöhe, Berg‘. Für Christans Verbindung mit Thüringen verweist man zum einen auf seine Sprache,20 zum anderen auf enge Verbindungen zu Morungen, insbesondere im Bereich der sensuellen Motivik, die sich in Strophen wie der folgenden äußern: Wol ir, wie sie valsches âne in wîplîchen zühten lebet. rehte alsam der liehte mâne in den sternen dicke swebet, dem stât wol gelîch diu reine. nieman vint dâ schœne al eine: sie ist ganzer tugende vol.21
De Boor hat den Dichter einen nicht ungewandten Eklektiker genannt.22 Das ist nicht falsch; denn Christan hat glatte, gefällige Lieder gedichtet, die konzeptionell zum Minnesang der Hohen Minne gehören und motivisch Vertrautheit mit Morungen verraten, aber auch mit Wolfram und anderen. Christan ist einer der ersten Lyriker, bei denen der Kult des Dienstes und der Entbehrung zurücktritt zugunsten des Glücks, das die Minnedame mit ihrer Schönheit, ihrer Umarmung spendet; Leitwort seiner Lieder ist fröide. Lied VI ist ein Tagelied, ein reiner Dialog zwischen Wächter und Dame über vier 18
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Ed.: KLD, Bd. I, S. 220–224, Nr. 30, und Bd. II, S. 267–275. Vgl. Franz Josef Worstbrock: Christan von Hamle. In: VL, Bd. 1 (1978), Sp. 1201–1202 (skeptisch zu o. g. Datierung); Barbara Weber: Œuvre-Zusammensetzungen bei den Minnesängern des 13. Jahrhunderts. Göppingen 1995 (GAG 60), S. 140–150. Die Namenform Christan nach dem VL. Das Wappen in Handschrift C ist falsch, bis auf die Farben stimmt es mit dem Leutholds von Seven überein; Schildzeichen und Kleinod fehlen. „Die Sprache Hamles weist nach Thüringen oder auf alle Fälle in eine Gegend, die Infinitive ohne Nasal kannte [...].“ KLD, Bd. II, S. 267. Lied III, Str. 3, KLD, Bd, I, S. 222. Übers.: „Glücklich sei die Makellose, wie sie in weiblichem Anstand lebt. Wie der glänzende Mond sich oft unter den Sternen zeigt, so erscheint sie, die Vollkommene. Niemand findet eine Schönheit, die sich ihrer vergliche. Sie gebietet über alle Tugenden.“ Man darf Christans Traditionsbezug jedoch nicht auf Morungen reduzieren, auch bei Walther von der Vogelweide gibt es Verse wie „alsam der sunne gegen den sternen stât“ (L 46, 15). Vgl. auch KLD, Bd. II, S. 272 f. Vgl. de Boor (Anm. II, 135), S. 326.
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Strophen hinweg, offenkundig Lied III Ottos von Botenlauben verpflichtet.23 Lied I scheint unter dem Einfluss von Wolframs Tagelied II einen Preis der ehelichen Liebe anzustimmen. Wir wissen nichts darüber, wo Christan seine Lieder vorgetragen hat; man könnte an den Meißner Hof denken, wie umgekehrt die literarischen Vorbilder Heinrichs III. von Meißen es nicht ausgeschlossen erscheinen lassen, dass die Anregung zu seinen Minneliedern von Thüringen ausging.24 Jedenfalls soll Christan Ton II des fürstlichen Minnesängers Heinrich III. formal variiert haben.25 In diesem, über die Landgrafschaft auf den sächsisch-thüringischen Herrschaftsbereich der Wettiner insgesamt ausgreifenden Zusammenhang sei ein Dichter wenigstens erwähnt, der abgesehen von seinem Nachleben in der Dichtersage vornehmlich als Minnelyriker hervorgetreten ist: der Tannhäuser. Während die Frage nach seiner Herkunft von der heutigen Forschung offen gelassen wird, gilt als sicher, dass er eine Zeitlang enge Beziehungen zu Friedrich II. dem Streitbaren von Österreich unterhielt, also wohl am Wiener Hof wirkte, und nach dem frühen Tod des letzten Babenbergers 1246 wieder das Leben eines fahrenden Berufsdichters führte.26 Das entscheidende Zeugnis hierfür enthält sein VI. Leich (1256/66), der Herrscherlob und Zeitklage miteinander verbindet, indem er über 150 Verse hinweg die bedeutendsten fürstlichen Gönner der Vergangenheit und der Gegenwart aufzählt und den Verlust rechter milte in der Gegenwart beklagt. Unter den Fürsten und Herren, die der Tannhäuser aufzählt, finden sich nicht wenige aus dem östlichen Mitteldeutschland, so die Grafen Dietrich und Konrad von Brehna (v. 58 und 62), der thüringische Landgraf Albrecht (v. 71 f.), dessen Vater Markgraf Heinrich III. von Meißen (v. 103) und dessen Stiefbruder Graf Hermann I. von Henneberg (v. 112), sodass man schon im 19. Jahrhundert vermutete, dass er in jenem Raum bekannt gewesen sein müsse.27 In welchem Verhältnis 23
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KLD, Bd. I, S. 224. Übers.: Tagelieder des deutschen Mittelalters. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch. Ausgewählt, übersetzt und kommentiert von Martina Backes. Einleitung von Alois Wolf. Stuttgart 1992 (RUB 8831), S. 124–127. Vgl. Bumke (Anm. III, 14), S. 214. Vgl. Mertens (Anm. 16), Sp. 787. Gegen diese Annahme spricht allerdings der Ansatz von Christans Liedern „um 1225“, vgl. Worstbrock (Anm. 18), Sp. 1201. Selbst wenn man annehmen will, dass der 1215 oder 1216 geborene Heinrich III. von Meißen in seiner Jugend am Henneberger und am Wiener Hof mit Minnesang in Berührung kam, bleibt hier ein chronologisches Problem, das wohl am ehesten in der Weise zu lösen wäre, dass man die Datierung Christans von Hamle noch einmal überprüfte. Ed.: Johannes Siebert: Der Dichter Tannhäuser. Leben, Gedichte, Sage. Halle 1934. Ndr. Hildesheim 1979. Vgl. Burghart Wachinger: Der Tannhäuser. In: VL, Bd. 9 (1995), Sp. 600–610, hier 601. Vgl. Friedrich Wilhelm Tittmann: Geschichte Heinrichs des Erlauchten, Markgrafen zu Meißen und im Osterlande, und Darstellung der Zustände in seinen Landen. Bd. II. 2. Ausgabe. Leipzig 1850, S. 90 f.
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er zu jenen Fürsten stand, ob er mit ihnen persönlich bekannt, ihnen als Gönnern verpflichtet war, wird unterschiedlich beurteilt.28 Es lässt sich kaum mehr sagen, als dass er Beziehungen zum Wettiner Fürstenhaus und hier insbesondere zu den Grafen von Brehna unterhielt.29 Welche anderen Lyriker mit Heinrich dem Erlauchten in Verbindung standen, wissen wir nicht. Unter dem Namen Gunther vz dem Vorste bzw. Gv'nther von dem vorste überliefern die Minnesang-Sammelhandschriften A und C 40 insgesamt Strophen in sechs Tönen.30 Dass ihr Verfasser in den Rahmen der thüringischen Literaturgeschichte gehörte, ist nun keineswegs sicher. Weder ist bislang seine Identifizierung gelungen, sodass auch die regionale Einordnung offen bleiben muss (zumal da der Beiname „von dem Forste“ von Kärnten über Tirol und Graubünden bis in die Niederlande nachweisbar ist), noch herrscht Einigkeit über den zeitlichen Ansatz seiner Lieder.31 Das 19. Jahrhundert sah in Günther von dem Forste einen bayerischen Dichter, da er in C inmitten bayerisch-österreichischer Autoren stehe. Dieses Argument hat indes wenig Gewicht, bedenkt man, dass Handschrift A ihn in die Nachbarschaft nieder- und mitteldeutscher Lyriker wie Veldeke und Morungen stellt. Im 20. Jahrhundert sahen Forscher wie von Kraus und de Boor in Günther auf Grund seiner Reimsprache (Infinitive ohne Nasal) einen Thüringer.32 Auch diese Annahme ist nicht unumstritten,33 doch kommt ihr größeres Gewicht zu als der oft wiederholten Vermutung, der Dichter werde einem Ministerialengeschlecht entstammen bzw. ritterlichen Standes sein, einer Vermutung, die nicht falsch
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Zurückhaltend Wachinger (Anm. 26), Sp. 601: „welche von ihnen für ihn persönlich wichtig geworden sind, muß offen bleiben“. „Es gibt Anhaltspunkte dafür, daß Tannhäuser mit dem Wettiner Fürstenhaus und speziell wohl mit den Grafen von Brehna in persönlichem Kontakt gestanden hat.“ Bumke (Anm. III, 14), S. 179. Ed.: KLD, Bd. I, S. 131–140, Nr. 17, und Bd. II, S. 167–173 (Kommentar). Vgl. Günther Schweikle: Günther von dem Forste. In: VL, Bd. 3 (1981), Sp. 313–315; Weber (Anm. 18), S. 118–126. Die geographische Herkunft des Dichters sei „durch den Nachweis einer Menge thüringischer Reime wohl endgültig entschieden“. Helmut de Boor: Die deutsche Literatur im späten Mittelalter. Zerfall und Neubeginn. Erster Teil. 1250–1350. Mit einem bibliographischen Anhang von Klaus P. Schmidt. 4. Aufl. München 1973 (Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart III/1), S. 329. Carl von Kraus stellte die meisten n-losen Infinitive allerdings gegen AC her. Dieses Verfahren rechtfertigen Reime wie sî : bî (I, 2, 4); denn „die meisten Dichter, die Infinitive ohne Nasal in den Reim setzen, gebrauchen daneben solche mit Nasal. Auch wird die Nasallosigkeit der Infinitive dadurch erwiesen, daß unser Dichter bei keinen anderen Wortformen solchen Abfall eintreten läßt; jene Reime sind also mundartlich, nicht unrein, und weisen nach Thüringen und auf dessen literarische Einflußsphäre, wie schon Rosenhagen unter Hinweis auf Michels, Mhd. Elementarbuch § 1433 [...] betont hat.“ KLD, Bd. II, S. 168. Zur Kritik an dem Vorgehen von von Kraus vgl. Schweikle (Anm. 31), Sp. 313 f.
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sein muss, aber durch nichts zu belegen ist.34 Die Vorschläge für die Datierung seiner Lieder reichen von der ersten Hälfte des 13. bis zum Beginn des 14. Jahrhunderts. Richtig sein dürfte ihr Ansatz noch vor der Mitte des 13. Jahrhunderts, da als Vorbilder Dichter wie Walther von der Vogelweide erkennbar sind, aber nicht spätere Lyriker wie Gottfried von Neifen und Ulrich von Winterstetten. Günthers Lieder sind weithin konventionelle Dichtungen in schlichter Diktion und einfachen Stollenstrophen. Es dominieren die Liedtypen Minneklage und Frauenpreis.35 Ein Sonderfall ist Lied V, ein Tagelied in 23 Strophen, eigentlich eine Ballade, ein episches Gedicht im Präteritum mit einem mehrfach hervortretenden Erzähler, das in vielen Einzelheiten mit den Gattungskonventionen bricht und das man daher auch als eine Parodie auf die Gattung hat lesen wollen.36 Geringer sind die Schwierigkeiten im Fall eines Dichters, der in der Überlieferung den Namen von Kolmas trägt. Eine um 1300 in alemannischer Schreibsprache geschriebene Pergamenthandschrift des ‚Schwabenspiegels‘ überliefert in einem Nachtrag acht lyrische Strophen, darunter eine vierstrophige Altersklage, überschrieben Disiu lied sank ein here hiez von Kolmas.37 Die ältere Forschung ordnete den Dichter noch im 12. Jahrhundert, in zeitlicher Nähe Morungens, ein.38 Deutliche Walther-Bezüge sprechen jedoch für einen späteren Ansatz; auch der Reimtechnik nach gehört das Lied eher in die Mitte des folgenden Jahrhunderts.39 Allgemein anerkannt ist die Identifizierung des Dichters mit Heinrich von Kolmas, dem Angehörigen einer Ministerialenfamilie aus Culmitzsch b. Weida in Ostthüringen, der später Besitzungen
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De Boor (Anm. 32), S. 330, hielt für „wahrscheinlich, daß Günther ritterlichen Standes war“. Die 1. Strophe des IV. Lieds lautet: „Si liebe, si schœne, si guote, / si kiusche, si klâre, si vruote, / si vröude, si sælde, si wunne! / mêr geschehe ir liebes dan ich erdenken kunne / unde ich ir wol gunne.“ Übers.: „Die Liebenswerte, Anmutige, Treffliche, die Reine, Schöne, Kluge, sie bedeutet Freude, Seligkeit, Wonne. Möge ihr mehr Liebes widerfahren, als ich erdenken und ihr wünschen kann.“ KLD, Bd. I, S. 133–139. Übers.: Tagelieder des deutschen Mittelalters (Anm. 23), S. 133–147. Vgl. de Boor (Anm. 32), S. 348 f.; André Schnyder: Das Tagelied Günthers von dem Forste: Ein parodistisches Kunstwerk? In: JOWG 10 (1998), S. 327–339. Ed.: Deutsche Liederdichter des zwölften bis vierzehnten Jahrhunderts. Eine Auswahl von Karl Bartsch. 4. Aufl. besorgt von Wolfgang Golther. Berlin 1906. Ndr. Darmstadt 1966, S. 45–46, Nr. XIII. Übers.: Gedichte von den Anfängen bis 1300. Nach den Handschriften in zeitlicher Folge. Hg. von Werner Höver u. Eva Kiepe. München 1978 (Epochen der deutschen Lyrik 1), S. 354 f. Der Dichter war daher in ‚Des Minnesangs Frühling‘ (Nr. XVII) enthalten. Seit der Bearbeitung durch Friedrich Vogt ist er ausgeschieden. Die Angabe von Volker Mertens: Der von Kolmas. In: VL, Bd. 5 (1985), Sp. 39–40, hier 39, der Dichter stamme „aus dem heutigen Culmitzsch in der Nähe von Weida“, ist insofern zu präzisieren, als das Dorf 1964 dem Uranbergbau weichen musste.
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in der Nähe von Eisenach erwarb.40 Seine Lebens- und Schaffenszeit erhellen 31 urkundliche Belege, die von 1262 bis 1280 reichen.41 Sie haben Anlass zu der Vermutung gegeben, dass er ein Ministeriale des Vogtes Heinrich I. von Gera († vor 1274) war und seit den späten 60er Jahren im Dienst Landgraf Albrechts des Entarteten stand.42 Zwei Urkunden zeigen ihn Ende der 70er Jahre als Inhaber von Lehen in der Eisenacher Gegend.43 Die Ausstellungsorte der Urkunden und der sprachliche Befund des Liedes ergeben ein übereinstimmendes Bild, sodass man in dem Dichter einen Thüringer sieht.44 Das erhaltene Lied weist Heinrich als formal-stilistisch gewandten Dichter aus. Es ist eine geistlich getönte Altersklage, also kein Minnelied; es ist denn auch nicht in einer Minnesang-Handschrift überliefert. Themen sind die Unausweichlichkeit des Alterns, Sehnsucht nach dem himmlischen Jenseits und das Lob der Gottesmutter; am Schluss steht der Aufruf zur Umkehr. Die Strophenform (zäsurierte Langzeilen) ahmt die Elegie Walthers von der Vogelweide, ‚Owê war sint verswunden alliu mîniu jâr!‘ (L 124, 1. C 97), nach.45 Die Qualität des Liedes legt die Annahme nahe, dass Heinrich, der wohl in Verbindung mit Heinrich dem Erlauchten stand, weitere Lieder, vermutlich auch Minnelieder, verfasst hat, die nicht auf uns gekommen sind.46
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Diese Identifizierung findet sich, nachdem die Lesung des Herkunftsnamens Kolmar als Irrtum erkannt war, schon in: Des Minnesangs Frühling. Hg. von Karl Lachmann u. Moriz Haupt. Zweite Ausgabe. Besorgt von Wilhelm Wilmanns. Leipzig 1875, S. 278 f. Vgl. Regesten deutscher Minnesänger (Anm. III, 177), S. 699–718. Der Name des Dichters variiert: Hinricus de Colmas, Heinricus miles de Colmas, Heinricus de Colmas, Henricus de Colmatz, Heinrich von Colmar, dominus Henricus de Colmas, Heinricus de Colmast usw. In den Urkunden des Vogtes von Gera erscheint Heinrich 1262 und 1267. Vgl. Regesten deutscher Minnesänger (Anm. III, 177), Nr. 1, 4. In den Urkunden Landgraf Albrechts erscheint Heinrich zwischen 1262 und 1280. Vgl. Regesten, Nr. 2, 3, 6, 7, 9, 10 u. a. Zu den Beziehungen zwischen den Vögten von Gera und den Wettinern, die daran interessiert waren, Gera als Brücke zwischen ihren meißnischen und thüringischen Gebietsteilen in die Hand zu bekommen, vgl. Patze (Anm. III, 26), S. 162–179. Vgl. Regesten deutscher Minnesänger (Anm. III, 177), Nr. 27, 28. Ausstellungsorte sind Altenburg (Nr. 10), Dresden (Nr. 8), Eisenach (Nr. 27), Erfurt (Nr. 9, 11), Freiberg (Nr. 13), die Wartburg (Nr. 16) u. a. Zur „heimischen Mundart des Dichters“ vgl. Deutsche Liederdichter (Anm. 37), S. 46. Schröder (Anm. I, 22), S. 6, meinte: „aus der Eisenacher Gegend“. Vgl. ferner Gustav Rosenhagen: Der von Kolmas. In: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. Hg. von Wolfgang Stammler. Bd. 2. Berlin 1936, Sp. 837; zuletzt Regesten deutscher Minnesänger (Anm. III, 177), S. 699: „Die Verortung nach Thüringen wird auch von mundartlichen Kriterien gestützt [...].“ Vgl. Horst Brunner: „Disiu lied sank ein herre hiez Kolmaz“. Das Alterslied des Heinrich von Kolmas. In: „vorschen, denken, wizzen“. Vom Wert des Genauen in den ‚ungenauen Wissenschaften‘. Fs. Uwe Meves. Hg. von Cord Meyer, Ralf G. Päsler, Matthias Janßen. Stuttgart 2009, S. 121–129. Die Charakteristik des Dichters durch Lemmer (Anm. I, 33), S. 85: „Kein Minnesänger“, ist daher möglicherweise zu eng gefasst.
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Unter dem Namen her Wachsmùt vo(n) Mülnhusen überliefert Handschrift C elf Minnesangstrophen in fünf Tönen.47 Eine der Strophen (IV, 1) lieferte vermutlich die Anregung für den Maler. Auf der Miniatur sieht man links eine Dame zu Pferde mit einem großen Pfeil in der Hand, der auf den rechts neben ihr stehenden Mann gerichtet ist. Eine sichere Identifizierung des Dichters ist noch nicht gelungen; diskutiert wurden Mühlhausen im Elsass, am Neckar und in Thüringen.48 Für die Annahme, dass Wachsmut sich nach der thüringischen Reichsstadt nannte, scheint die Sprache seiner Lieder zu sprechen, wobei freilich zu bedenken bleibt, dass Handschrift C in Zürich entstand.49 Auch mehrere Dichterkataloge, die einen Wachsmut nennen, helfen nicht weiter, da sie auch den oberdeutschen Lyriker Wachsmut von Künzingen meinen könnten.50 Wachsmut dichtete wahrscheinlich in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts, etwa zeitgleich mit Konrad von Würzburg.51 Vorherrschend ist der Typ der Minnekanzone, formal dominieren zweistrophige Lieder mit stolligem Strophenbau, ihre Grundstimmung ist hoffnungsvoll froh. Wachsmut orientiert sich an den klassischen Vorbildern, direkte Morungen-Bezüge fehlen, doch verwendet er ähnlich diesem die Metaphorik des Liebeskriegs. Wachsmut liebt die witzige Säkularisierung geistlicher Motive. So mündet die 47
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Ed.: KLD, Bd. I, S. 561–563, Nr. 61, und Bd. II, S. 606–609 (Kommentar). Übers.: Thüringische Minnelieder. „Frouwe, frouwe, frouwe mîn“. Mit einer Übertragung hg. von Gerhard Tänzer. Bucha b. Jena 2005, S. 38–47. Vgl. Gert Hübner: Wachsmut von Mühlhausen. In: VL, Bd. 10 (1999), Sp. 557–559; Lemmer (Anm. I, 33), S. 81. Geographische und ständische Einordnung des Dichters bedürfen noch der verlässlichen Bestimmung. Ob er einem freien Geschlecht in Südwestdeutschland angehörte (Grimme) oder Bürger der thüringischen Reichsstadt Mühhausen war (Lemmer), ob seine Sprache mittelrheinische Züge trägt (Bartsch) oder Motivübereinstimmungen mit anderen Dichtern eher auf den ostdeutschen Minnesang weisen (Hübner), bedarf weiterer Klärung. „Mitteldeutscher, am wahrscheinlichsten nach der thüringischen Stadt Mühlhausen benannt“. De Boor (Anm. 32), S. 330. Nach Hübner (Anm. 47), Sp. 559, weisen Wachsmuts Lieder „eher auf den ostdeutschen als auf den schwäbisch-schweizerischen Minnesang“. Ähnlich schon Gustav Rosenhagen: Wachsmut von Mühlhausen. In: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon (Anm. 44). Bd. 2. Berlin 1953, Sp. 729: „Die Mundart weist md. Züge auf, die Herkunft aus dem thüringischen Mühlhausen ist nicht unmöglich.“ Vgl. Franz-Josef Holznagel: Wachsmut von Künzingen (Künzich). In: VL, Bd. 10 (1999), Sp. 555–557. Um die Jahrhundertmitte wird in einem anonymen Katalog nicht mehr lebender Dichter im Hofton Reinmars von Brennenberg auch „einer, hiez Wahsmuot“, genannt (KLD, Bd. I, S. 332, Nr. 44, IV, 13). Etwas später heißt es in einem Lyrikerkatalog des Marners: „Lebt von der Vogelweide / noch mîn meister hêr Walthêr, / der Venis, der von Rugge, zwêne Regimâr, / Heinrîch der Veldeggaere, Wahsmuot, Rubîn, Nîthart!“ Der Marner. Hg. von Philipp Strauch. Straßburg 1876 (QF 14), XIV, 18, 1–4. Für die Datierung zieht man den Vers: wære ich künig in Tschampanige (II, 2, 3) heran. Gemeint sein kann eigentlich nur der berühmte Trouvère Graf Tedbald [Thibaut] IV. von Champagne († 1253), der 1234 zum König von Navarra gekrönt wurde.
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– einen Schönheitspreis formulierende – erste Strophe von Lied I in den Gedanken „lieber bei ihr als bei Gott im Paradies“.52 Was auf den ersten Blick kühn klingt, ist bei näherem Zusehen ein Motiv, das sich schon bei Trobadors wie Daude de Pradas und Arnaut de Maruehl findet. In der zweiten Strophe des Liedes V, das das Blasphemische streift, parallelisiert Wachsmut die Minnedame mit der Himmelskönigin, beginnend mit der dreimaligen Anrufung der frouwe und einem deutlichen Hinweis auf die Trinität sowie der trinitarischen Formel. Frouwe, frouwe, frouwe mîn, der drîer solt du eine sîn. aller tugende ein keiserîn, du bist diu drî und bist diu ein, du bist diu vierde diech dâ mein, du bist gelîch der sunnen schîn. – ich wæne ich bin vil tump, sost sî vil wîs. daz sol diu werde mir vertragen daz ich ir lop sol hôhe sagen, si wol gebluotez meienrîs.53
In einem Nachtrag enthält Handschrift C sieben Lieder mit der Autorbeischrift Der Dv'ring.54 Auf die thüringische Herkunft des Dichters weist auch die Sprache der Lieder; gestützt wird die geographische Einordnung zudem durch den Umstand, dass in der Handschrift die beiden thüringischen Minnesänger Christan von Luppin und Heinrich Hetzbold von Weißensee vorangehen.55 Der Düring ist historisch nicht fassbar, de Boor rechnete ihn „zu der Zunft
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„Si treit krûs hâr, krisp unde gel, / si treit ein unvertwelten lîp, / si treit ein klâr snêwîze kel, / al diu werlt hât niht schôner wîp. / mir wære ê liep bî ir ze sîne / dann bî gote in paradîs: / got herre, machet mich ir minne wîs.“ – Übers.: „Sie hat gekräuseltes Haar, lockig und blond. Sie hat eine makellose Gestalt. Sie hat einen Hals, weiß leuchtend wie Schnee. Auf der ganzen Welt gibt es keine schönere Frau! Bei ihr wäre ich lieber als bei Gott im Paradies. O Herrgott, laß mich doch ihre Liebe erfahren!“ Tänzer (Anm. 47), S. 39. Lied V, Str. 2, KLD, Bd. I, S. 563. Übers.: „‚Herrin, Herrin, meine Herrin!‘ In dieser Dreiheit vereint, seist du angerufen, du Inbegriff aller Vorzüglichkeit. Du bist die Drei und bist die Eine, du bist auch jene Vierte, die ich dazu noch im Sinn habe: Du gleichst dem Glanz der Sonne. Ich hoffe, je unbesonnener ich jetzt bin, umso verständiger wird sie sein. Verzeihen möge mir die Herrliche, daß ich sie einfach in den Himmel heben muß, sie, ein so prächtig erblühter Frühlingszweig.“ Tänzer (Anm. 47), S. 47. Ed.: KLD, Bd. I, S. 54–58, Nr. 8, und Bd. II, S. 55–61 (Kommentar). Nach von Kraus, KLD, Bd. II, S. 55, beweist die Sprache des Dichters „unzweifelhaft, daß seine Heimat in Thüringen gewesen ist“. Zur Einordnung des Dichters im Codex Manesse und zur Frage seiner geographischen Herkunft sowie zum Namen vgl. Bumke (Anm. III, 201), S. 80 und 98.
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der bürgerlichen Fahrenden“.56 Seine wahrscheinlich dem späten 13. Jahrhundert angehörenden Lieder lassen vermuten, dass er sich nach Süddeutschland wandte, wo er zunächst in der Tradition Gottfrieds von Neifen dichtete (Lied VI und VII), dann aber unter den Einfluss des Formkünstlers Konrad von Würzburg geriet.57 Interesse verdienen sie weniger ihres insgesamt konventionellen Inhalts (besungen wird das Leid unerfüllter, aber auch das Glück erfüllter Liebe) als ihres artistischen Anspruchs wegen. Von dem hohen rhetorisch-formalen Kunstbegriff des Dichters zeugen zahlreiche Kunstmittel (Epitheta, Antonomasien, Metaphern, Binnenreime, Schlagreime und Pausenreime). Ein Beispiel ist Lied I, in dem innerhalb einer Periode (v. 1–8, 9–12, 13–18) jede Silbe spiegelverkehrt mit einer anderen reimt: die erste mit der letzten, die zweite mit der vorletzten usw., bis sie sich in der Mitte treffen; ein virtuoses Gebilde mithin, dessen Versstruktur auf Kosten von Syntax und Versgliederung geht und vielleicht als Versuch zu verstehen ist, das Reimkunststück Konrads von Würzburg in Lied 30 zu überbieten.58 Einer der letzten thüringischen Minnesänger ist Christan von Luppin, dessen Lieder ebenfalls der Codex Manesse überliefert. In der zweiten Hälfte der Sammlung findet sich eine Dichterreihe, die eindeutig nicht, wie sonst, nach ständischem, sondern nach geographischem Gesichtspunkt geordnet ist: Klingsor von Ungerland, Christan von Luppin, Heinrich Hetzbold von Weißensee und der Düring.59 Es handelt sich bei ihnen um thüringische Dichter mit der Ausnahme Klingsors, den die Sammler für eine historische Person hielten und mit der Sängerkrieg-Überlieferung und ihrem Schauplatz Eisenach verbanden, während heute feststeht, dass es ihn nur in der Dichtersage gegeben hat. Die Einordnung Christans als Thüringer erhellt auch daraus, dass im Register hinter seinem Namen, der so wie der Hetzbolds und des Düring
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De Boor (Anm. 32), S. 328. Die Verbindung des Dichters mit einem ritterlichen Geschlecht, für die man auf einen Ritter Thüring verwies, der in einer 1244 in Altenburg ausgestellten Urkunde erscheint (vgl. Dobenecker [Anm. III, 2], Bd. 3 (1228–1266). Jena 1925, Nr. 1206), bleibt ungewiss. Vgl. Franz Josef Worstbrock: Der Düring. In: VL, Bd. 2 (1980), Sp. 247–248, hier 247. Vgl. de Boor (Anm. 32), S. 328. Anders Lemmer (Anm. I, 33), S. 83, der „gewisse literarische Berührungen“ mit Christan von Luppin betonte. Für de Boors Annahme spricht auch der Name „Düring“, der darauf hinzudeuten scheint, dass der Dichter außerhalb Thüringens wirkte. Die 1. Periode des Lieds lautet: „Spil minnin wundir volbringin man gît / î wîvin, der drûwin deil prîsin ir êre / schône: ich spê dâ hô sterke, / dî mich hân virladin. / Schadin irgân ich hî merke. / sô lâ mê dich krône, hêre / dir, wîsin, heil nûwin. wer lîvin î rît / an ringin wol sundir sinnin vil?“ V. 1 bezieht sich auf v. 8, also spil : vil, minnin : sinnin usw. Klingsor (f. 219v , Nr. 72), Christan von Luppin (f. 226v , Nr. 73), Heinrich Hetzbold von Weißensee (f. 228r, Nr. 74), der Düring (f. 229v, Nr. 75). Der Nachtragscharakter ergibt sich aus dem Register der Handschrift.
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nachgetragen wurde, der Zusatz ein dv'ring erscheint.60 Seine Lieder gehören wie die jener anderen Thüringer zu den Nachträgen und damit zur jüngsten Schicht der Sammlung.61 Wahrscheinlich verfügten Sammler und Schreiber des Codex Manesse über schriftliche Vorlagen aus Thüringen, von denen sich allerdings nichts erhalten hat. Christan wird mit dem Angehörigen eines nordthüringischen Ministerialengeschlechts identifiziert, das auf der Rothenburg am Kyffhäuser und in Kelbra in der Goldenen Aue bezeugt ist und in Beziehungen zu den Grafen von Beichlingen stand.62 Diese Identifizierung ist jedoch nicht ganz unbedenklich, und das nicht nur, weil die Handschrift Christan das Adelsprädikat „Herr“ verweigert und die Miniatur ein Phantasiewappen zeigt.63 Die Luppine 60
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Der Grundstock des Codex Manesse wurde um 1305 geschrieben, die Nachträge reichen bis 1340. Die ursprüngliche Ordnung zeigt das Register f. 5r, in dem auf klinsore von vngerlant Ulrich von Liechtenstein folgt. Neben Klingsor wurden dann, da die Seite bereits mit 47 Namen gefüllt war, rechts die Namen Christan vô luppin ein dv'ring, Her Heinrich Hetzbolt vô wissensç und der dv'ring nachgetragen. Ed.: KLD, Bd. I, S. 225–229, Nr. 31, und Bd. II, S. 275–279 (Komm). Übers.: Tänzer (Anm. 47), S. 18–33. Vgl. Emil Gottschau: Über Heinrich von Morungen. In: PBB 7 (1880), S. 335–408, hier 403–407; August Nebe: Drei thüringische Minnesänger. Christian Luppin, Heinrich Hetzbolt von Weißensee und Heinrich von Kolmas. In: Zeitschrift des HarzVereins für Geschichte und Altertumskunde. NF 19 (1886), S. 173–223. Die auf dem nördlichen Ausläufer des Kyffhäusergebirges rd. 200 m über Kelbra im Tal gelegene Rothenburg war eine Gipfelburg. Man blickte von ihr zu den jenseitigen Bergketten des Harzes, wo die Stammburg des Ministerialengeschlechts von Morungen stand. 1110 lebten auf der Burg Grafen, die den Namen von Rothenburg führten. 1254 gehörte sie einem Grafen Friedrich von Rothenburg, im frühen 13. Jh. scheint sie in den Besitz der Beichlinger übergegangen zu sein. Als Christan und sein Bruder Friedrich 1293 ein Siegel mit der Legende „von Rothenburg“ führten, befand sie sich als Reichslehen im Besitz der Grafen von Beichlingen, die sie den Luppinen vermutlich als Burgmannen überließen. Die Beziehungen zwischen Rothenburgern und Beichlingern sind mangelhaft geklärt. Schon Fritz Grimme: Der Minnesänger Kristân von Lupîn und sein Verhältnis zu Heinrich von Morungen. Heiligenstadt 1885, S. 7, konstatierte: „Leider sind wir über das Verhältnis, in dem das Geschlecht von Luppin zu den Grafen von Beichlingen und Rotenburg stand, gar nicht unterrichtet.“ Seither sind keine neuen Tatsachen bekanntgeworden. Um 1343 kam die Burg an den Landgrafen, der sie 1376 an die Grafen von Schwarzburg verpfändete. Wann die seit dem frühen 12. Jh. in der Umgebung Kaiser Lothars nachweisbare Linie Rothenburg ausstarb, ist unbekannt. Die Burg verfiel im 16. Jh. Erhalten sind der runde Bergfried und die Mauern eines zweigeschossigen frühgotischen Palas. Die Angaben über das Geschlecht und die Geschichte der namengebenden Burg differieren in den Handbüchern. Vgl. Wäscher (Anm. III, 200), Textband, S. 129 f.; Michael Gockel: Die deutschen Königspfalzen. Repertorium der Pfalzen, Königshöfe und übrigen Aufenthaltsorte der Könige im Deutschen Reich des Mittelalters. Bd. 2. Thüringen. Göttingen 2000, S. 607 f. Das Problematische der Identifizierung wird in den Handbüchern nicht immer deutlich. Das Verfasserlexikon enthält die Kompromissformel, die Luppine würden als „Ministerialen und Burgmannen der thüringischen Grafen von Beichlingen“ angesehen. Franz Josef Worstbrock: Christan von Luppin. In: VL, Bd. 1 (1978), Sp. 1208–1209, hier 1208.
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sind als Ministerialen und Burgmannen seit 1229 urkundlich nachweisbar, und zwar zumeist in Urkunden der Grafen von Beichlingen.64 Die von 1292 bis 1312 reichenden Zeugnisse für Christan von Luppin weisen alle in den Raum Kelbra – Rothenburg.65 1311 erscheint Christan als hoher Hofbeamter im Dienst des Markgrafen Heinrich I. von Brandenburg und Landsberg, eines Halbbruders des Minnesängers Otto IV. von Brandenburg (Otto mit dem Pfeil).66 Offenbar stand er mit Persönlichkeiten in Verbindung, die auch literaturgeschichtlich bedeutsam sind. Die sieben, dem Zeitstil entsprechend zumeist dreistrophigen Lieder Christans sind Lieder der Hohen Minne mit den Hauptthemen Frauenpreis und Werbung. Rhythmisch und stilistisch gehören sie der Spätzeit der Gattung an; Mittel wie die Mischung daktylischer und alternierender Verse und Binnen- und Schlagreime sind technisch routiniert eingesetzt.67 Bei einem Lyriker dieser Zeit erstaunt es nicht, dass man auf Schritt und Tritt Anklänge an Dichter wie Reinmar, Morungen und andere zu hören meint. Der Nachhall thüringischer Sangestradition, insbesondere Morungens, ist unüberhörbar, fast alle Lieder enthalten mehr oder weniger deutliche Morungen-Reminiszenzen.68 Christan ist ein guter Lyriker, seine Lieder weisen jedoch nur wenige Facetten auf.69 Ähnlich Wachsmut von Mühlhausen wagt er kühne Hyberbeln,
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In den Urkunden finden sich Namen wie Christian, Friedrich und Heinrich. 1245 erscheint ein Graf Friedrich von Rothenburg in einer Urkunde des Grafen von Beichlingen. 1263 führt eine Beichlinger Urkunde einen Henricus dictus Luppin unter den milites et servi in Rodenburch auf. 1293 begegnen Friedrich und Christian, filii Luppini, als Verwandte Graf Gosmars von Kirchberg, ihr Siegel trägt die Legende S. Friderici et Christiani de Rotenburc (die Linie der Grafen von Kirchberg wurde um 1155 durch Christian I. von Rothenburg begründet). Vgl. Patze (Anm. III, 26), S. 179–183; Thüringen (Anm. II, 67), S. 339. Die Zeugnisse stammen von 1292, 1293, 1297, 1305, 1311 und 1312. Vgl. Regesten deutscher Minnesänger (Anm. III, 177), S. 243–250. In der Urkunde vom 11. 2. 1311 heißt es: „Kristian Lupyn unse Marschalk“. Zit. nach Regesten deutscher Minnesänger (Anm. III, 177), S. 249. Denkt man sie sich um 1300 entstanden, käme man in die Regierungszeit Albrechts des Entarteten. Die dreistrophige Form kam einem festen Aufbauschema entgegen: Frauenpreis – Minneklage – Erfüllungswunsch. Drei Beispiele: wirt sie mir nicht hie, secht, sô wirt sie mir dâ (I, 3, 4) knüpft an Morungen „sol mir hie niht guot geschehen / von iuwerm werden lîbe, / sô muoz mîn sêle iu des verjehen, / dazs iuwerre sêle dienet dort als einem reinen wîbe“ (MF 147, 12 ff.) an. daz vor fröiden in dem lîbe erschricke (III, 2, 3) hat ein Vorbild in Morungen „Daz mîn lîp von vröide erschrac“ (MF 126, 5) und secht an ir kele, ir weichen hende (III, 2, 6) in Morungen „seht an ir kele wîz und prüevent ir munt“ (MF 141, 2). Morungen war auch das Vorbild für die gemischten Rhythmen und für klangliche Mittel wie den Hebungsprall. Zu den Traditionsbezügen Christans vgl. Worstbrock (Anm. 63), Sp. 1208; Lemmer (Anm. I, 33), S. 81. Dreimal etwa rühmt der Sänger die weichen, weißen Hände der Minnedame.
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ist jedoch weniger originell.70 In Lied I wünscht der Sänger um der Dame willen ins Himmelreich zu kommen; doch wenn er sie schon hier erringe, wolle er lieber bleiben und den Himmel den Würdigen überlassen. Man seit, in himilrîch sî fröiden vil, swes den man gelüst, diu fröide sî im nâ. durch iren willen ich dar komen wil. wirt sie mir nicht hie, secht, sô wirt sie mir dâ. möchte ab mir ir hulde hie noch werden, ich belibe ûf erden al hie: got lieze ich dort die werden.71
Nachfolge fand Christan besonders durch Heinrich Hetzbold von Weißensee. Man identifiziert ihn mit einem Ritter, der, zwischen 1319 und 1345 urkundlich bezeugt, als Burgmann auf der landgräflichen Burg Weißensee b. Sömmerda wirkte. Auch seine Lieder – acht dreistrophige Minnekanzonen – kennen wir aus dem Codex Manesse. Sie wurden wie die des Düring durch den Nachtragschreiber Fs aufgezeichnet und gehören zur jüngsten Schicht der Überlieferung. Sie müssen nicht, wie man vermutete, aus einer früheren Lebensphase als die urkundlichen Zeugnisse stammen.72 Das Dichterbild der Sammlung ist durch den Namen Hetzbold angeregt: es zeigt eine Sauhatz.73 Daraus könnte man schließen, dass die Zürcher Sammler keine Kenntnis über
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Das auf den ersten Blick originelle Motiv, dass der Sänger sich die Strafe wünscht, von der Geliebten in ihren weißen Armen gefangengehalten zu werden: „Ich wolde ir gevangen sîn gern unverdrozzen, / sô daz sie mich / dort solde in ir blanken arme haben geslozzen“ (III, 3, 1 ff.), führt zurück zum Elbenlied Heinrichs von Morungen (V) in der Fassung des Codex Manesse: „hei wan solt ich ir noch sô gevangen sin“ (MF 126, 18), aber auch zu Morungens Lied IX ‚Sîn hiez mir nie widersagen‘: in dem es heißt: „der sî an siht, / der muoz ir gevangen sîn“ (MF 130, 17 f.). Lied I, Str. 3, KLD, Bd. I, S. 225. Übers.: „Es heißt, das Himmelreich sei voller Freuden, nach welchem Glück der Mensch auch verlange, es werde ihm zuteil. Ihretwegen wünsche ich mich dorthin. Denn kriege ich sie nicht hier, nun gut, dann eben dort. Sollte sie mich aber doch noch hier erhören, dann würde ich weiter hier auf Erden wandeln, und drüben im Jenseits überließe ich dem lieben Gott die aller Hochachtung Werten.“ Tänzer (Anm. 47), S. 19. Ed.: KLD, Bd. I, S. 148–152, Nr. 20, und II, S. 177–182 (Kommentar). Übers.: Tänzer (Anm. 47), S. 52–71. Nach Volker Mertens: Hetzbold, Heinrich, von Weißensee. In: VL, Bd. 3 (1981), Sp. 1204–1205, hier 1204, stammen die Lieder aus seinen „jüngeren Jahren“. Zu bedenken ist jedoch, dass der Dichter ein Zeitgenosse der Sammler des Codex Manesse war. Vgl. Codex Manesse. Die Miniaturen der Großen Heidelberger Liederhandschrift. Hg. und erläutert von Ingo F. Walther unter Mitarbeit von Gisela Siebert. 6. Aufl. Frankfurt a. M. 2001, S. 152. Die thüringische Provenzienz des Dichters zeigen nasallose Infinitive im Reim wie daz mag mir vröude bringe (VIII, 1, 3). Das Bild f. 228r stammt vom ersten Nachtragsmaler.
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den Dichter besaßen, doch gehört Hetzbolds Wappen zu den historisch richtigen.74 De Boor hat über die große Schar der Minnesänger im 13. Jahrhundert so geurteilt: „Über mehr als einen dieser Späten ist wirklich nicht mehr zu sagen, als daß er oft Gesagtes anmutig wiederholt.“75 Für Hetzbold gilt das nicht, ähnlich Günther von dem Forste ist er eine eigentümliche Gestalt in der Spätzeit der Gattungsgeschichte. Zusammen mit Christan von Luppin zählt er zu den letzten Vertretern des Minnesangs in Thüringen; seine urkundliche Bezeugung setzt da ein, wo die des Luppiners endet. Unter den aufgeführten Dichtern, deren wichtigste Gemeinsamkeit die Morungen-Imitatio ist, gehören besonders Christan von Luppin und Hetzbold, aber auch der Düring enger zusammen.76 Hetzbolds Lieder sind tanzliedartig beschwingte Werbungs- und Frauenpreislieder.77 Ihre Ordnung könnte auf ihn selbst zurückgehen, da ein Versteckname für die Geliebte viermal wiederkehrt. Hetzbold ist ein gewandter Dichter; seine Reimkunst scheint er an oberdeutschen Mustern wie Walther, Ulrich von Liechtenstein und Konrad von Würzburg geschult zu haben, sein wichtigstes Vorbild jedoch war, wie schon mit dem ersten Vers des I. Lieds („Könd ich erwerben ein lachen zart“) deutlich wird, Morungen. Neben metrisch-rhythmischen Gemeinsamkeiten zwischen beiden Lyrikern gibt es solche in Bildlichkeit, Motivik und Wortschatz.78 Besonders deutlich zeigt sich dies an Lied II, einem Schönheitspreis der Geliebten. An Morungen erinnern die Daktylen und einzelne Motive. Die 3. Strophe lautet: Sêt an ir munt, in ir ougen und brüevet ir kinne unde merket ir kele, der ich muoz iemer vil tougen den lîp und die sinne an ir gnâde bevele. diu ist ân ende gewaltig nu mîn: ich vald ir herze unde hende, gnâd, ein keiserinne, ich muoz dîn eigen sîn.79 74
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Nach Mertens (Anm. 72), Sp. 1204, entspricht das Wappen ungefähr Hetzbolds Siegel von 1345. Wie die Sammler zur Kenntnis des Siegels gelangten, ist kaum auszumachen. Vgl. Bumke (Anm. III, 201), S. 93. De Boor (Anm. 32), S. 300. „Sie haben zu gleicher Zeit auf engem Raume ihre Lieder ertönen lassen; es konnte kaum ausbleiben, daß sie sich mittelbar oder unmittelbar beeinflußten.“ Karl Theodor Heinrich Jung: Beiträge zur Geschichte des nord- und mitteldeutschen Minnesangs, besonders in Thüringen. Diss. Göttingen 1890. Teildr. Frankfurt a. M. 1891, S. 43. Hetzbold steht damit in seiner Zeit nicht allein. Es gibt im 13. Jh. ein rundes Dutzend von Lyrikern mit einem kleineren Œuvre ausschließlich konventioneller Werbungslieder. Beispiele sind das Motiv des Minnetods („zwâr solte ich sterben“ I, 1, 6), das seit Morungen beliebte Singen über das Singen („al mîn sanc“ I, 2, 3) und die Erwähnung der Wangen der Geliebten („swenne ich ir wangen bedenke“ II, 1, 3). Lied II, Str. 3, KLD, Bd. I, S. 149. Übers.: „Schaut euch nur ihren Mund an, seht ihr in die Augen, beurteilt ihr Kinn und schätzt ihren Hals: Sie ist die Frau, deren Wohlwollen ich allezeit ganz im Stillen Leib wie auch Geist anvertraue. Und ohne jede Einschränkung
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Enthalten Hetzbolds Lieder auch zahlreiche Anklänge an Morungen, die belegen, dass dieser in Thüringen ein Jahrhundert lebendig blieb, sind sie doch keine epigonale, im Sinn de Boors oft Gesagtes noch einmal variierende Dichtung. Bei genauerem Hinsehen offenbaren sie vielmehr Anzeichen für ein Abgehen von manchen Konventionen der Gattung. So nimmt Hetzbold um der daktylischen Verse willen mitunter schwere Tonbeugungen in Kauf, die man damit erklärt hat, dass die Dichter seiner Generation das Wägen der Silben durch das bei Heinrich von Hesler und den Dichtern des Deutschen Ordens zu beobachtende Prinzip der Silbenzählung ersetzten. Manche, für sich genommen unscheinbare Details zeigen, dass Hetzbold bereits einer Zeit angehört, in der der höfische Minnesang in die Gesellschaftslyrik des späteren Mittelalters, das Liebeslied des 14. Jahrhunderts überzugehen beginnt. So beobachtet der Sänger die Grübchen in den Wangen der Geliebten, braucht für diese die ungewöhnliche Anrede „mîn zuckerkrûtken“ (VII, 3, 3) ‚mein süßes Kräutlein‘ und benutzt mit der Selbstcharakteristik als „tummer affe“ (I, 2, 6) Wortschatz, der den klassisch-höfischen Dichtern fremd ist.80 Am deutlichsten werden die Wandlungen, die der Minnesang im frühen 14. Jahrhundert erfuhr, wenn der Dichter sein I. Lied mit der Autorsignatur „ich bin dir holt: / ûf richen solt / dir singet Hetzebolt“ (I, 3, 6 f.) beschließt. Die namentliche Nennung des Dichters bedeutete einen unübersehbaren Bruch mit der Tradition höfischen Minnewerbens, für die stets das Gebot der Heimlichkeit („tougen minne“) galt.81 Ein gesellschaftliches Umfeld für Hetzbolds Lieder, die mithin eine tiefe Umbildung der Gattung erkennen lassen, ist so wenig wie für die der anderen späteren thüringischen Minnesänger auszumachen; auch das Amt als Kastellan der Burg Weißensee hilft hier nicht weiter. Mit seinen Liedern ist die Grenze erreicht, an der der höfische Minnesang in das Liebeslied des 14. Jahrhunderts überging. Hetzbold ist der letzte thüringische Minnesänger, von dem wir wissen. Der Ausklang der höfischen Liebeslyrik in Thüringen um die Wende des 13. Jahrhunderts zum 14. entspricht der allgemeinen Gattungsgeschichte. Bereits seit dem späten 13. Jahrhundert entstanden die das Liedgut zusammenfassenden großen Sammelhandschriften, deren bedeutendste der Codex Manesse ist, und um die Mitte des 14. Jahrhunderts war der Prozess der Kanonisierung der Gattung weithin abgeschlossen. Die Sammelcodices konzentrieren sich im Südwesten des Reichs, im alemannischen Sprachraum, aber zumindest ein bescheidener Anteil an der Bewahrung der höfischen Liedkunst entfällt auch
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unterwerfe ich mich jetzt ihrer Gewalt: Ich falte vor ihr Herz und Hände: Erbarme dich, du meine Herrscherin, ich muß dein Eigen sein!“ Tänzer (Anm. 47), S. 57. Von einer Demutsformel wird man hier nicht mehr sprechen können. Man muss nicht gleich so weit wie de Boor (Anm. 32), S. 331, gehen, der in der Namennennung die „bürgerliche Sanktionierung eines wohlanständigen Werbens“ ausmachte.
1. SPÄTE LIEDDICHTUNG. MINNEREDEN
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auf Thüringen. Er verbindet sich zunächst mit dem Namen des vielseitig interessierten Protonotars Markgraf Friedrichs II. des Ernsthaften, Johann von Eisenberg. 1330 nutzte er einen Aufenthalt seines Herrn bei dessen kaiserlichem Schwiegervater Ludwig IV. dem Bayern, um in Augsburg zwei dreistrophige Minnelieder aus einer oberdeutschen Handschrift in die fürstlichen Reiserechnungsbücher zu kopieren.82 Johann, der später zum Bischof von Meißen aufstieg, war also nicht Dichter, sondern Sammler.83 Bekannter als Johann von Eisenberg ist der aus einer Eisenacher Ministerialenfamlie stammende Rudolf Losse (um 1310–1364), der nach der kirchenrechtlichen Ausbildung in Montpellier um 1332 in die kurtrierische Kanzlei des politisch bedeutenden Erzbischofs Balduin eintrat und hier neben seiner Tätigkeit als Notar, Diplomat und Offizial Texte aus seinen weitgespannten Tätigkeits- und Interessengebieten kopieren ließ.84 In eines seiner sieben Kopialbücher ließ er um 1338/39 eine Sammlung teils anonymer, teils verschiedenen Autoren zugewiesener mittelhochdeutscher Lieder, Sangsprüche und Reimpaarreden und eine Sammlung lateinischer Lieder aufnehmen.85 Der Wert seiner Kollektaneen liegt wesentlich darin, dass die größtenteils nur hier überlieferten volkssprachigen Lieder und anderen Gedichte unser Bild der Überlieferung ergänzen und korrigieren, das durch die im alemannischen Raum sich konzentrierenden, die einzelnen Landschaften also in unterschiedlichem Maß erfassenden Sammelhandschriften geprägt ist.86 So zeigen ein formal anspruchsvolles dreistrophiges Lied des Schenken von Lißberg aus Oberhessen (Nr. 1810) und ein gleichfalls dreistrophiges Lied in der Nachfolge Morungens (Nr. 1817), dass der mitteldeutsche Raum produktiver war, als 82
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Ed.: Woldemar Lippert: Zwei höfische Minnelieder des 14. Jahrhunderts. In: ZfdA 40 (1896), S. 206–211. Die Urkunde: Dresden, Sächsisches Hauptstaatsarchiv, 10001, Ältere Urkunden, Nr. 2537, fol. 7, ist verschollen. Die in einer ostmitteldeutsch-thüringischen Schreibsprache aufgezeichneten Lieder sind konventionelle Minneklagen. Vgl. Brigitte Streich: Zwischen Reiseherrschaft und Residenzbildung. Der wettinische Hof im späten Mittelalter. Köln, Weimar, Wien 1989 (Mitteldt. Forsch. 101), S. 190 u. 589. Die Arbeit ist für Höfe und Hofkultur der Wettiner im Spätmittelalter grundlegend. Vgl. Ludwig Erich Schmitt: Untersuchungen zu Entstehung und Struktur der „Neuhochdeutschen Schriftsprache“. I. Bd. Sprachgeschichte des Thüringisch-Obersächsischen im Spätmittelalter. Die Geschäftssprache von 1300 bis 1500. 2. Aufl. Köln, Wien 1982 (Mitteldt. Forsch. 36/I), S. 81–88; Holtorf (Anm. III, 199); Gisela Kornrumpf: Deutsche Lieddichtung im 14. Jahrhundert. Ein Aspekt der Überlieferung. In: Zur deutschen Literatur und Sprache im 14. Jahrhundert. Dubliner Colloquium 1981. Hg. von Walter Haug, Timothy R. Jackson, Johannes Janota. Heidelberg 1983 (Reihe Siegen 45), S. 292–304. Kassel, UB, LB und Murhardsche Bibl. der Stadt Kassel, 2° Ms. iurid. 25, f. 263r–266r und 269r/v . Datierung im MRDH: 2. Viertel 14. Jh. (13. 08. 2010). Die im westlichen Mitteldeutschland, wohl in Trier, geschriebene Handschrift enthält in der Hauptsache Kopien von über 570 Briefen und Urkunden. Vgl. Boor (Anm. 32), S. 312 f.
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jene Sammelcodices erkennen lassen.87 Der Schreibdialekt der mittelhochdeutschen Gedichte verrät unterschiedliche Provenienzen. Losse pflegte zeitlebens enge Kontakte in die thüringische Heimat, in der er Pfründen, Güter und Renten besaß. Nach Thüringen weist der formal und motivisch Morungen verpflichtete Frauenpreis ‚Sehent, lip nù sehent, wie fruntlich aventure‘. Für diese Annahme spricht auch, dass das Lied neben Bezügen zu Morungen solche zu Heinrich Hetzbold von Weißensee aufweist.88 An dieser Stelle kann eine kleine Gruppe von Gedichten angeschlossen werden, die derselben Epoche wie die eben behandelten angehören und mit der höfischen Liebeslyrik die Thematik gemeinsam haben, aber in einen anderen Gattungskontext gehören: die Minnereden. Sie bilden eine Untergruppe des so umfangreichen wie vielgestaltigen Corpus kleinerer Reimpaargedichte (Reimreden) des späteren Mittelalters und handeln teils lehrhaft, teils erzählend von der Geschlechterliebe. Ihre Blütezeit fällt in das 14. Jahrhundert. Zwar ist die Zahl der weithin anonym überlieferten Minnereden sehr hoch, doch liegen die Schwerpunkte der Gattung vornehmlich im westlichen und im südlichen Deutschland.89 Minnereden, die in Thüringen verfasst oder tradiert wurden, sind vergleichsweise selten.90 Der früheste Vertreter findet sich in Rudolf Losses Sammlung. Das heute ‚Minneklage (aus Thüringen)‘ betitelte Gedicht, das noch dem 13. Jahrhundert angehören dürfte, gilt als einer der 87
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Ed.: Nova Alamanniae. Urkunden, Briefe und andere Quellen besonders zur deutschen Geschichte des 14. Jahrhunderts vornehmlich aus den Sammlungen des Trierer Notars und Officials, Domdekans von Mainz Rudolf Losse aus Eisenach in der Ständischen Landesbibliothek zu Kassel und im Staatsarchiv zu Darmstadt. Hg. von Edmund E. Stengel. Unter Mitwirkung von Klaus Schäfer. 2. Hälfte. Teil II. Hannover 1976, S. 995 (Nr. 1810) und 1004 (Nr. 1817). Mit Kommentar: Edmund E. Stengel u. Friedrich Vogt: Zwölf mittelhochdeutsche Minnelieder und Reimreden. In: AKG 38 (1956), S. 174–217. Vgl. Burghart Wachinger: Schenk von Lißberg (Liebesberg). In: VL, Bd. 5 (1985), Sp. 850. Vgl. Friedhelm Burgard: Der thüringische Bildungskreis am Hofe des Trierer Erzbischofs Balduin von Luxemburg (1307–1354). In: ZTh G 49 (1995), S. 151–174, besonders 165 ff. De Boor (Anm. 32), S. 331, konstatierte: „Thüringen bleibt eine Morungenlandschaft.“ Der Ton des Liedes ‚Sehent, lip nù sehent, wie fruntlich aventure‘ entspricht Morungens Lied X ‚Ich hân sî vür alliu wîp‘ (MF 130, 31). Das Hauptmotiv, die Minnedame als Räuberin, stammt aus Morungens Lied IX ‚Sîn hiez mir nie widersagen‘ (MF 130, 9). In die Richtung Morungens weisen auch Wendungen wie „zartz mùndeln royt“. Tilo Brandis: Mittelhochdeutsche, mittelniederdeutsche und mittelniederländische Minnereden. Verzeichnis der Handschriften und Drucke. München 1968 (MTU 25), verzeichnete 525 Titel. Vgl. den Überblick von Ingeborg Glier in: Die deutsche Literatur im späten Mittelalter. 1250–1370. Zweiter Teil. Reimpaargedichte, Drama, Prosa. Hg. von I. G. München 1987 (Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart III/2), S. 74–85. Vgl. Ingeborg Glier: Artes amandi. Untersuchung zu Überlieferung, Geschichte und Typologie der deutschen Minnereden. München 1971 (MTU 34), S. 83, Anm. 76.
1. SPÄTE LIEDDICHTUNG. MINNEREDEN
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frühesten Vertreter der Gattung.91 Es ist zweigeteilt in eine kürzere allgemeine Klage an die Öffentlichkeit wegen Nichterhörung durch die Geliebte (v. 1–16) und eine lange, direkte Ansprache an die „sùze twingarinne“, die als Preis, Bitte, Darstellung der Sehnsucht und Werbung entfaltet wird (v. 17–110). Die Minne ist also nicht ausschließliches Thema, hinzu treten Preis der Geliebten und Werbung um sie. Die Situation des Gedichts entspricht grundsätzlich der eines Minnelieds: hier wie dort spricht das Ich zu und von der Geliebten. Die Metaphern, die der unbekannte Dichter verwendete, entstammen dem Minnesang und der Marienhymnik, und gelegentlich meint man Anklänge an Heinrich Hetzbold von Weißensee und die Morungen-Rezeption der späten Thüringer Lyriker zu hören.92 Die Sprache weist das Gedicht zweifelsfrei nach Thüringen. Am plausibelsten ist die Annahme, dass Losse jene Sammlung von Gedichten in der Zeit seines Wirkens in der kurtrierischen Kanzlei anlegte und sich hierfür Texte aus Thüringen zusenden ließ. Thüringischer Provenienz könnte auch eine Minneklage sein, die in der einzigen den Text enthaltenden Handschrift ‚Daz brechen leit‘ überschrieben ist.93 Der 368 Verse zählende Text gehört wohl der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts an. Überliefert ist er in einer Sammelhandschrift, die bald nach 1350 in Thüringen, vielleicht in Erfurt, geschrieben wurde.94 Den Titel übernahm der Schreiber aus dem ersten Vers der Einleitung, einem Reigen von Mädchen unter Bezeichnungen von Pflanzen, Vögeln und Geräten (v. 1–34). Gemeint sein könnte eine Pflanze (Lein-Lolch).95 Die ersten 16 Verse bilden mit der Minneklage keinen unmittelbaren Zusammenhang, der eigentliche Anfang des Gedichts fehlt. Themen der Minnerede sind Frauenpreis, Klage und Minnebitte. Den Schluss bildet ein detaillierter Schönheitspreis mit einer langen Reihe von Apostrophen an die Dame aus dem Inventar der höfischen und geistlichen Dichtung: „Mîn meigen rîs, / Mîn paradîs, / Mîn zarter engel, / Mîn rôsen sprengel, / Mîner lîbe glenste, / Der trûwe ein obirenste, / Mîn 91
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Ed.: Nova Alamanniae (Anm. 87), S. 991–994, Nr. K 540. Das Gedicht ist nur in Losses Kopialbuch überliefert. Losse überschrieb es Precatorium ad virginem, Gebet an eine Jungfrau. Vgl. Walter Blank: ‚Minneklage (aus Thüringen)‘. In: VL, Bd. 6 (1987), Sp. 580-581. Die Geliebte wird als „zucker suze“ (v. 29) apostrophiert, vgl. Hetzbolds „zuckerkrûtken“. Es fehlt nicht der Hinweis auf ihr „rotes mùndelin“ (v. 38), und auffällig ist die wenn auch spielerisch verhüllende Namennennung der Dame: „ich meine dich, libis Alkelin“ (v. 72), die gegen die Konventionen des Minnesangs und der frühen Minnerede verstößt. An eine Morungen-Reminszenz könnte man bei dem Vers „Wil duz tù, so sp[ri]ch ia“ (v. 101) denken, vgl. Morungen, Lied XX, „maht dû doch eteswenne sprechen jâ“ MF 137, 24. Ed.: Mitteldeutsche Gedichte. Hg. von Karl Bartsch. Stuttgart 1860 (StLV 53), S. 73–83. Vgl. Brandis (Anm. 89), S. 47 f., Nr. 27. Zu Pommersfelden, Gräfl. Schönbornsche Schlossbibl., Codex 54 vgl. Anm. 217. Zur Deutung von brechen leit und Lolium remotum vgl. Volker Mertens: ‚Daz brechen leit‘. In: VL, Bd. 1 (1978), Sp. 1011–1012.
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frouden tanz, / Der êren cranz ...“ (v. 287–294). Die Schreibsprache des Gedichts wurde als thüringisch bestimmt.96 Die Handschrift enthält auch eine anonyme Minnerede, die nicht näher datier- und lokalisierbar ist.97 Das auch ‚Minner und Trinker‘ betitelte Gedicht (214 Verse) repräsentiert nach Struktur und Motivik den Typus des Streitgesprächs.98 Es inszeniert den Streit zweier Männer um den Vorzug einer den Freuden der Minne gewidmeten oder einer Wein und Tafelfreuden bevorzugenden Lebenshaltung. Der lüderer (Schlemmer) bekennt sich zu Weingenuss („Jch mynne den wein vör alle weip“, v. 19) und „Magen freüde“ (v. 117), verspottet den Minner als Märtyrer und prophezeit ihm, einst wie andere vor ihm erschlagen vor der Tür der Geliebten aufgefunden zu werden. Der Minner rühmt roten Mund, weiße Hände und zärtliche Blicke seiner Dame, erklärt: „Wer mynnet, der ist sörgen frey“ (v. 183) und schilt den lüderer einen Schlauch, der, wenn er die Zeche nicht mehr bezahlen könne, vom Wirt mit Faustschlägen davongejagt werde. In einem kurzen Ausblick scheint der Erzähler das Urteil dem Publikum anheimzustellen; doch ist er nicht ganz unparteiisch, lautet der letzte Vers doch: „Wünschet alle, daz ez der klüg mynner sey“ (v. 214). Mit der Konfrontation einer stilisierten höfischen Minne-Haltung und einer grobianischen Lebensweise konzentrieren sich in dem Gedicht Tendenzen, die sich in der Lieddichtung des 13. Jahrhunderts finden, im Minnesang wie im Anti-Minnesang Steinmars und Hadlaubs. ‚Minner und Trinker‘ ist breit überliefert, die älteste Handschrift entstand um 1330/50, der Schreiber der in Thüringen entstandenen Pommersfelder Handschrift scheint eine oberdeutsche Vorlage abgeschrieben zu haben.99 Thüringische Provenienz wird auch für die Minnerede ‚Der Minne Klaffer‘ erwogen, ein Gedicht von 309 Versen wohl aus der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts.100 Der Titel geht zurück auf die Selbstnennung des Dichters am Schluss als der mynnen klaffer (v. 307).101 Den Hauptteil der durch den topischen 96 97
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Mertens (Anm. 95), Sp. 1011: „nach Ausweis der Reimklänge in Thüringen entstanden“. Ed.: Codex Karlsruhe 408. Bearb. von Ursula Schmid. Bern, München 1974 (Deutsche Sammelhandschriften des späten Mittelalters), S. 61–66. In der Pommersfelder Handschrift ist es überschrieben Von dem luderer vnd von dem mynere. Verbreitet war besonders der Streit der Jahreszeiten, Sommer und Winter, Herbst und Mai. Vgl. Ingrid Kasten: ‚Minner und Trinker‘. In: VL, Bd. 6 (1987), Sp. 594–595. Zur Überlieferung vgl. Brandis (Anm. 89), S. 162, Nr. 418. Das Gedicht ist nur im Karlsruher Codex 408 überliefert, geschrieben um 1430/35 im schwäbisch-bairisch-ostfränkischen Übergangsgebiet. Zur Frage der thüringischen Provenienz des Gedichts Brandis (Anm. 89), S. 91, Nr. 243, und Ingeborg Glier: ‚Der Minne Klaffer‘. In: VL, Bd. 6 (1987), Sp. 555. Ed.: Codex Karlsruhe 408 (Anm. 97), S. 67–74. Die in demselben Codex überlieferte Minneklage ‚Der rote Mund‘, von Wolf (Anm. I, 34), S. 212 f., als thüringisch eingeordnet, entstand nach heutigem Forschungsstand in der ersten Hälfte des 14. Jh. in Ostfranken.
2. SANGSPRUCHDICHTUNG, ‚WARTBURGKRIEG‘ UND WOLFRAM-NACHFOLGE
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Schönheitspreis einer Frau eingeleiteten Minnerede bilden zwei Werbungsgespräche, die sich erheblich in der Stillage unterscheiden. Im ersten, in der Ich-Form gehaltenen Gespräch gehen die Partner miteinander höfisch um. Im zweiten, in der Er-Form gehaltenen Gespräch weist die Frau den Werbenden recht derb und schnippisch zurück, aber auch der Mann bedient sich einer wenig höfischen Diktion. Dieses zweite Gespräch wird durch eine drastisch geschilderte Verführungsszene beschlossen (v. 298–305).
2. Sangspruchdichtung, ‚Wartburgkrieg‘ und Wolfram-Nachfolge Die zweite Hauptgattung der höfischen Lyrik, die annähernd zeitgleich mit dem Minnesang seit der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts auftretende Spruchdichtung, wurde bereits am Beispiel Walthers von der Vogelweide behandelt, der nach allem, was wir wissen, um 1190 in Wien als Minnesänger begonnen hatte, aber durch die Ungunst der Umstände gezwungen war, den Babenberger Hof 1198 zu verlassen und für über zwei Jahrzehnte seinen Unterhalt an den verschiedensten Höfen, darunter dem Eisenacher, als fahrender Sänger zu bestreiten. Auch nach Walther lassen sich mehrfach Spruchdichter in Thüringen ausmachen, wenngleich nicht unbedingt am Landgrafenhof und in geringerer Zahl als die Liederdichter in der Nachfolge Morungens. Der künstlerische Rang ihrer Dichtungen mag insgesamt ein geringerer sein, doch sollen sie in diesem Überblick nicht fehlen. Der Begriff „Spruchdichtung“ konserviert ein Missverständnis des 19. Jahrhunderts; denn auch diese Gedichte waren in Strophen abgefasst und für den sanglichen Vortrag bestimmt, also musikalische Lyrik.102 Man hat daher die Existenz zweier eigenständiger Gattungen in Frage gestellt, jedoch sicher zu Unrecht.103 Denn Sammelhandschriften wie die ‚Große Heidelberger Liederhandschrift‘ und die ‚Jenaer Liederhandschrift‘ belegen hinlänglich, dass schon die Sammler des 14. Jahrhunderts Minnelieder und Spruchstrophen auseinander zu halten wussten. Die Unterschiede beider Gattungen liegen weniger in der äußeren Form als im Realitätsbezug (die Spruchdichtung ist wirklichkeitsnäher) und in der sozialen Stellung der Dichter. Während für den Minnesang adlige Dilettanten charakteristisch sind, die wie Heinrich III. von Meißen den höchsten gesellschaftlichen
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Vgl. Glier (Anm. 90), S. 118; dies.: ‚Der rote Mund‘. In: VL, Bd. 8 (1992), Sp. 264–265. Für die Spruchdichtung hat sich der Terminus Sangspruchdichtung eingebürgert, der den gesungenen Spruch vom gesprochenen Spruch des Freidank-Typs abgrenzt. Vgl. Ulrich Müller: Ein Beschreibungsmodell zur mittelhochdeutschen Lyrik. In: ZfdPh 98 (1979), S. 53–73.
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Kreisen angehören konnten, war die Spruchdichtung eine Domäne der auf Herrengunst angewiesenen Berufsdichter, die von Hof zu Hof ziehend sich um die „milte“ ihrer Gönner bemühen und dabei, wie die Atze-Sprüche Walthers zeigen, manche Demütigung hinnehmen mussten. Sucht man die Autoren in eine chronologische Ordnung zu bringen, ist zunächst der schon als Minnelyriker behandelte Tugendhafte Schreiber zu nennen, mit dem sich indes mehrere Probleme verbinden. Wir kennen den Dichter mit dem schwer deutbaren Namen „Der tuginthafte Schriber“ zum einen aus Sammelhandschriften wie dem Codex Manesse und der ‚Jenaer Liederhandschrift‘ und zum anderen aus der Überlieferung vom Sängerkrieg, die seit der Mitte des 13. Jahrhunderts in der Dichtung und in der Folgezeit auch in der thüringischen Historiographie und Elisabeth-Hagiographie hervortritt.104 Hier erscheint er von Anbeginn an der Seite Walthers von der Vogelweide unter den Sängern, die am landgräflichen Hof um die Meisterschaft streiten. Das spricht für seine Verbindung mit der Literaturlandschaft Thüringen und näherhin mit dem Landgrafenhof. Seit langem schon identifiziert man den Dichter mit einem landgräflichen Beamten, dem thüringischen Ministerialen Heinrich von Weißensee, der zwischen 1208 und 1244 als Henricus scriptor bzw. als notarius in Urkunden des Landgrafen Hermann und seiner Nachfolger erscheint und unter Ludwig IV. die landgräfliche Kanzlei leitete. So schön die im Codex Manesse unter dem Namen „Der tuginthafte Schriber“ überlieferten Strophen, der Notar bzw. Protonotar der landgräflichen Kanzlei und die Überlieferung vom Sängerkrieg auch zusammenzupassen zu scheinen, ist diese Identifizierung doch bei näherem Zusehen keineswegs sicher. Letztlich kann sie sich nur auf den Vornamen Heinrich stützen, der indes erst in Quellen des 15. Jahrhunderts auftritt, sodass sich Historiker und Literarhistoriker wiederholt skeptisch gezeigt haben.105 Zu erwähnen wäre noch das Fehlen thüringischer Sprachspuren in seiner Dichtung. Im Codex Manesse folgt auf die Lieder des Schreibers ein Dialog in fünf Sangspruchstrophen, ein Streitgedicht zwischen den Artusrittern Gawan und Keie über die Vor- und Nachteile des Hoflebens, ein Thema, das in der höfischen Dichtung oft und in verschiedenen Gattungen behandelt wurde. Während der Musterritter Gawan mit Emphase erklärt, er sei weder willens noch bereit, die Gunst der Herren durch Lügen und Schmeichelei zu erwerben, und ohne „triuwe“, „êre“ und „wârheit“ sei höfische Lebensfreude nicht zu verwirklichen, gibt der Truchsess Keie, dessen zwiespältiges Wesen von Wolfram im ‚Parzival‘ gestaltet wurde, den advocatus diaboli und erklärt zynisch: 104
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Nach von Kraus, KLD, Bd. II, S. 500, meint der Beiname einen Dichter, der „Verstand und Sangeskunst besitzt“. Vgl. auch Kornrumpf (Anm. III, 277). Vgl. Patze (Anm. II, 87), S. 531; Bumke (Anm. III, 14), S. 167. Nach Bumke (Anm. II, 158), S. 627, bleibt diese Identifizierung „ganz unsicher“.
2. SANGSPRUCHDICHTUNG, ‚WARTBURGKRIEG‘ UND WOLFRAM-NACHFOLGE
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Wer bei Hof erfolgreich sein wolle, müsse ebendies tun und dürfe den Mächtigen nie widersprechen. Er für seine Person sei bereit, um des Vorteils willen von Lügen und Schmeichelworten Gebrauch machen, denn: „die alten sprüche sagent uns daz: swes brôt man ezzen wil, / des liet sol man ouch singen gerne, unt sol ouch spiln mit vlîze, swes er spil.“106 Man könnte fragen, wie denn ein landgräflicher Beamter solche Kritik habe üben können, doch darf man die Ironiesignale des Textes nicht übersehen, die nicht erst mit dem Schluss einsetzen.107 Gegen die Autorschaft des Tugendhaften Schreibers könnte anderes sprechen. Die Strophen bilden im Codex Manesse einen Nachtrag, der zu den vorangehenden Liedern nicht sonderlich gut passt, zudem sind sie in der Alment, einem Ton des Spruchdichters Stolle, verfasst.108 Die ‚Jenaer Liederhandschrift‘ bringt die Strophenfolge denn auch am Ende des Stolle-Corpus.109 Aber man kann sich vorstellen, dass sie weder von Stolle noch vom Tugendhaften Schreiber stammt, sondern von einem unbekannten Dichter. Man könnte indes auch die Gegenrechnung aufmachen und betonen, dass die Strophen unter dem Namen des Tugendhaften Schreibers im Codex Manesse stehen und dass das von Gawan und Keie erörterte Thema gut an den Landgrafenhof passen würde, an dem man beide Protagonisten der arthurischen Welt aus dem ‚Parzival‘ kannte. Die Forschung ist noch nicht zu einer befriedigenden Lösung gekommen und die Argumente, die ihre Skepsis begründen, verdienten eine erneute Prüfung.110 Offene Fragen verbinden sich auch mit einer Spruchstrophe, die erst 1988 mit dem ‚Maastrichter Fragment‘ bekannt wurde.111 Bei diesem handelt es sich 106
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Ed.: Mittelalter. Texte und Zeugnisse. Hg. von Helmut de Boor. Teilband 1. München 1965 (Die deutsche Literatur. Texte und Zeugnisse I/1), S. 829–831, hier 830. Vgl. Ingrid Kasten: Studien zu Thematik und Form des mittelhochdeutschen Streitgedichts. Diss. Hamburg 1973, S. 68–73. Keie beschließt den Dialog mit den Worten: „Her Gâwân, niht enlât iu dise rede wesen zorn: der hof, der Hiunen künec Etzel, und iuwer muoter magtuom ist verlorn.“ Übers.: „Herr Gawan, lasst euch diese Worte nicht verdriessen, der Hof, der Hunnenkönig Etzel und die Jungfernschaft eurer Mutter sind dahin.“ De Boor (Anm. 106), S. 831. Vgl. Gisela Kornrumpf u. Burghart Wachinger: Alment. In: Deutsche Literatur im Mittelalter. Kontakte und Perspektiven. Hugo Kuhn zum Gedenken. Hg. von Christoph Cormeau. Stuttgart 1979, S. 356–411, bes. 398 und 401 f. Die ‚Kolmarer Liederhandschrift‘ überliefert die Melodie zum ‚Winsbecken‘ als Grußweise des Tugendhaften Schreibers. Die ‚Jenaer Liederhandschrift‘ bringt unter dem Namen „meyster Stolle“ (f. 2r–7v ) 40 Strophen unterschiedlicher Provenienz. Die skeptischen Stimmen von Bartsch bis de Boor berufen sich in der Regel auf: Die Gedichte Reinmars von Zweter. Hg. von Gustav Roethe. Leipzig 1887, S. 270, Anm. 326. Abdruck: Helmut Tervooren u. Thomas Bein: Ein neues Fragment zum Minnesang und zur Sangspruchdichtung. In: ZfdPh 107 (1988), S. 1–26, hier 4 f. Die Verse 13 f. sind durch Blattbeschneidung nur unvollständig überliefert. Vgl. ferner Franz Josef Holznagel: Wege in die Schriftlichkeit. Untersuchungen und Materialien zur Überlieferung der mittelhochdeutschen Lyrik. Tübingen, Basel 1995 (Bibliotheca Germanica. 32), S. 372 f. und 387–395.
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um ein Pergament-Doppelblatt aus einer Lyrikhandschrift, die um 1300 am Niederrhein oder im niederdeutschen Sprachraum, aber nach oberdeutscher Vorlage angefertigt wurde und die Lied- und Spruchstrophen Neidharts, Reinmars von Zweter und anderer enthält. Der im Zweiten Philippston Walthers von der Vogelweide verfasste Spruch des Tugendhaften Schreibers gehört in den Bereich der allgemeinen Tugendlehre: Ein rechtschaffener Mann soll sich nicht um die Worte eines Menschen von niederer Gesinnung kümmern; gleich, ob der „schalk“ Lob oder Tadel äußert, seine Worte sind als nichtig anzusehen. Als Begründung wird das biblische Gleichnis von der Heilung der zwei besessenen Gadarener (Mt 8, 31 ff.) angeführt. Dem Tugendhaften Schreiber hat man die Strophe zugewiesen, weil zwischen der zweiten und dritten Strophe des ersten Blatts die Worte „Der tugent scribere“ eingetragen sind. Doch da alle anderen Texte des Fragments ohne Verfassernamen überliefert sind, wird man zögern, dieser Identifizierung umstandslos zu folgen, zumal da der Eintrag von der Namenform „tuginthafter schriber“ in C abweicht; und wie bei dem Streitgedicht zwischen Gawan und Keie wäre auffällig, dass der Dichter den Ton eines anderen benutzt hätte. Einige Literaturgeschichten beanspruchen für die Literaturregion Thüringen auch den bereits erwähnten Spruchdichter Stolle, den wir u. a. aus der ‚Jenaer Liederhandschrift‘ kennen. Aus „dem thüringisch-hessischen Übergangsraum nördlich der Rhön“ stammend, habe Meister Stolle in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts gedichtet.112 Diese Angaben finden indes durch die neuere Forschung keine Bestätigung: Stolle lässt sich geographisch nicht einordnen, und seine Sprüche gehören in die erste Jahrhunderthälfte, wofür auch seine Platzierung in der ‚Jenaer Liederhandschrift‘ zwischen den Dichtern Walther von der Vogelweide und Bruder Wernher spricht.113 Zu der großen Schar wandernder Literaten, die wir in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts beobachten, zählt der Henneberger, dessen Name auf die Herkunft aus der gleichnamigen Grafschaft im fränkisch-südthüringischen Raum verweist.114 Nachrichten über ihn, die auch nur die Umrisse einer Biographie ergäben, besitzen wir nicht. Die ‚Jenaer Liederhandschrift‘ überliefert unter dem Namen „Der hynnenberger“ elf Sangspruchstrophen in einem 112 113
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Wolf (Anm. I, 34), S. 198. Ähnlich Lemmer (Anm. I, 33), S. 85. Der Namenzusatz „der alte“ begegnet erstmals im Codex Manesse. Vermutlich gab es im 13. oder frühen 14. Jh. einen zweiten Dichter dieses Namens. Vgl. Gisela Kornrumpf: Stolle (Der Alte Stolle). In: VL, Bd. 9 (1995), Sp. 356–359; Volker Mertens u. Burghart Wachinger: Der Junge Stolle. In: VL, Bd. 4 (1983), Sp. 913–915. Das Kernland des hennebergischen Hausguts lag an der oberen Werra von der Rhön bis zum Thüringer Wald. Die Stammburg des Geschlechts, die Burg Henneberg, lag zwischen Meiningen und Mellrichstadt, 10 km sw. Meiningen inmitten des Grabfelds. Die alte Grenze zwischen dem Hennebergischen und dem Thüringischen bildete der auf dem Kamm des Thüringer Waldes verlaufende Rennsteig. Vgl. auch Anm. III, 265.
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zwölfzeiligen Ton mit Melodie, die zumeist konventionelle Themen in lehrhaft-mahnendem Gestus behandeln. Es ist dies ein eher bescheidenes Œuvre, und offenbar ein ungeordnetes, gehen doch religiöse Themen, Zeitklagen und Tugendlehre durcheinander.115 Man kann es nur annähernd in die Jahrhundertmitte setzen oder vielleicht auch in die Folgezeit.116 Noch weniger wissen wir über die Höfe, die der Dichter aufgesucht haben mag, und vollends offen bleiben muss die Frage, ob er, wie verschiedentlich vermutet, eine gelehrte Ausbildung genossen hat (in die Richtung einer geistlichen Ausbildung könnte weisen, dass etwa die Hälfte der Strophen religiösen Inhalts ist). Der Spruch ‚Swer da gerne ritter wirt‘ (1) bietet einen Fürstenspiegel in nuce. Der Ritter soll sich von der Tugend leiten lassen, Gott fürchten, gute Ratgeber heranziehen und die Waffen zum Schutz des Friedens einsetzen. Den heutigen Leser mag die Allgemeinheit dieser Postulate irritieren; doch wenn solche scheinbar selbstverständliche Normen vorgetragen wurden, ist zu vermuten, dass sie im Alltag eben nicht selbstverständlich waren, sondern immer wieder eingeschärft werden mussten. In einem anderen Spruch (2) entwickelt der Henneberger in schlichten Worten den Gedanken, dass ein Freund für den Freund immer und das heißt auch in der Not da sein müsse. Das Freundschaftsthema spielte auch in der erzählenden Dichtung der Zeit eine wichtige Rolle, etwa in Konrads von Würzburg Roman ‚Engelhard‘ und zuvor schon in der oben besprochenen Erzählung ‚Athis und Prophilias‘. Die folgende Strophe (7) ist in mancher Hinsicht charakteristisch für den Dichter und für die Gattung Sangspruchdichtung im Allgemeinen. Sie handelt von Gottes Schöpfungswundern, wendet sich an den einfachen Laien und belehrt ihn darüber, wie er sich jenen gegenüber verhalten soll, bezieht mit den „pfaffen“ aber auch die Gebildeten ein. Der sternen kraft, der sunnen glast, des mânen schîn, wie die mit gotes wîsheit underscheiden sîn, daz kan kein tumber leie niht durchgründen. Jâ wær’ es einem wîsen pfaffen al ze vil, des sich vil maniger tumber underwîsen wil: der tiefen vrâge unde ouch der spæhen vünde. Wie wazzer, erde getempert sî, unt wie diu luft mit dem vil heizen viure, 115
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Ed.: Die Jenaer Liederhandschrift. I. Getreuer Abdruck des Textes. Hg. von Georg Holz. II. Übertragung, Rhythmik und Melodik. Bearb. von Eduard Bernoulli u. Franz Saran. Leipzig 1901. Ndr. Hildesheim 1966. Hier Bd. I, S. 63–66. Vgl. Helmut Tervooren: Der Henneberger. In: VL, Bd. 3 (1981), Sp. 1006–1008; ders.: Einzelstrophe oder Strophenbindung. Untersuchungen zur Lyrik der Jenaer Handschrift. Diss. Bonn 1967, S. 203 f. Zur Datierungsproblematik vgl. Ulrich Müller: Untersuchungen zur politischen Lyrik des Mittelalters. Göppingen 1974 (GAG 55/56), S. 115.
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daz wizzen gotes personen drî: sich, tumber leie, der sin ist uns ze tiure, wâ man den meisterlîchen strît mit rehter kunst entstricken siht, mit dœnen und mit guoter rede, dar wære ein tumber leie gar ein wiht.117
Das Anliegen der Strophe erschließt sich erst bei näherem Hinsehen. Der Henneberger bleibt nicht dabei stehen, dem „tumben leien“, den er dreimal erwähnt (das Adjektiv „tump“ begegnet sogar viermal) die Unergründlichkeit der Schöpfung, bei der selbst die gelehrten Geistlichen an ihre Grenzen geraten könnten, mahnend vor Augen zu stellen. Den Schluss bildet ein absichtsvoll im Unpersönlichen bleibender Hinweis auf einen „meisterlîchen strît mit rehter kunst“, auf Gelehrte, die ihren Disput mit wahrhaftem Können austragen, und zwar tun sie dies mit dœnen und mit guoter rede. Mit der Melodie aber und dem Wort gehen die Sangspruchdichter um, ihnen also – darin liegt die Pointe – kommt die Deutungskompetenz für gelehrte Fragen zu. Der Dichtername wird gewöhnlich als Indiz für dessen Herkunft aus der Grafschaft Henneberg verstanden (dass er nicht dem gleichnamigen Grafengeschlecht angehörte wie Otto von Botenlauben, versteht sich).118 Man hat diese Herleitung mit dem Argument angezweifelt, der Name „Der hynnenberger“ finde sich nur in der ‚Jenaer Liederhandschrift‘.119 Das gilt freilich auch für andere Dichter dieser Sammlung wie z. B. für Reinolt von der Lippe, und dass die Namenform mit der heutigen nicht völlig übereinstimmt, besagt nicht sonderlich viel, bedenkt man die mannigfachen Variationen, die mittelalterliche Dichternamen im Lauf der Überlieferungsgeschichte erfuhren.120 Wichtiger dürfte sein, dass der Name „der Henneberger“ dem Dichter vermutlich erst außerhalb seiner engeren Heimat verliehen wurde, am wahrscheinlichsten in Süddeutschland, wie man dies gewöhnlich auch für den 117
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Text nach de Boor (Anm. 106), S. 389 f. Übers.: „Wie die [Leucht]kraft der Sterne, der Glanz der Sonne und auch der Schein des Mondes in der Weisheit Gottes unterschieden sind, kann kein ungebildeter Laie ergründen. Ja, es wäre selbst für einen gelehrten Geistlichen zu schwer, was an tiefschürfenden Fragen und Tüfteleien sich so mancher Ungebildete vornimmt. Wie Wasser, Erde, die Luft und das glühende Feuer gemischt sind, das wissen [nur] die drei göttlichen Personen. Sieh, ungebildeter Laie, diese Einsicht ist für uns zu hoch! Wo man vorgeführt bekommen kann, wie der Streit der Gelehrten mit wahrhaftem Können in Melodien und guten Texten ausgetragen wird, wäre ein ungebildeter Laie eine Null.“ Gedichte von den Anfängen bis 1300 (Anm. 37), S. 390. Nach Tervooren (Anm. 115), Sp. 1006, weist der „Name auf die fränkische Grafschaft Henneberg als Heimat“. Ähnlich de Boor (Anm. 106), S. 390: „Wanderdichter aus der ostfränkischen Grafschaft Henneberg“. Vgl. Bumke (Anm. III, 14), S. 403, Anm. 184. So konnte aus Biterolf Peter Wolf werden, aus Reinmar von Zweter Römer von Zwickau und aus Eilhart von Oberg Seghart von Baubemberg und Filhart von oberet. Im Codex Manesse heißt es statt Eschenbach Eschilbach, statt Morungen Morunge und statt Veldeke Veldig.
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Düring annimmt. Da wir nicht wissen, an welchen Höfen der Henneberger auftrat, können wir nicht ausschließen, dass auch solche in Thüringen unter ihnen waren; denn die Tatsache, dass seine Sprüche Aufnahme in die Jenaer Handschrift fanden, weist ihn grundsätzlich in den mitteldeutschen Raum. Anders liegen die Dinge im Fall des etwas jüngeren Friedrich von Sonnenburg, eines bei Zeitgenossen und Späteren angesehenen Sangspruchdichters, dessen Werk eine größere Zahl von Strophen in vier Tönen umfasst. Zeitgeschichtliche Anspielungen in seinem umfangreichen und breit überlierten Œuvre erlauben die Eingrenzung seiner Schaffenszeit auf das dritte Viertel des 13. Jahrhunderts. Seine Heimat sieht man gewöhnlich im Pustertal b. Brixen in Südtirol, wozu auch Merkmale seiner Schreibsprache stimmen.121 Es überrascht daher nicht, den „gernden“ (fahrenden Dichter) überwiegend an Fürstenhöfen des Südens und Südostens zu treffen, so dem des Bayernherzogs Otto II. und seines Sohns Heinrich XIII. des Streitbaren und am böhmischen Königshof.122 Um so auffälliger ist eine Preisstrophe auf einen thüringischen Grafen, über den in den Handbüchern manche unrichtige Angabe zu finden ist. Sie beginnt mit den Worten: Der wol gelobete Vriderich, der graf von Bichelingen, der groze, hohe in wirdicheit, der eren sageraere, Sin lop daz wil ich williclich uz reinem sinne singen (v. 1–5).123
Die zu den alteingesesssenen edelfreien Geschlechtern Thüringens zählenden Grafen von Beichlingen waren zwischen Kyffhäuser und Thüringer Becken im Raum Kelbra, Frankenhausen, Kölleda begütert und hatten die Vogtei über das Kloster Oldisleben inne.124 In ihrem Einflussbereich errichteten die 121
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Im Pustertal gab es ein Benediktinerinnenstift namens Sonnenburg, mhd. Suonenburg. Der Dichter könnte aus dem urkundlich belegten Geschlecht von Ministerialen dieses Klosters stammen. Ed.: Die Sprüche Friedrichs von Sonnenburg. Hg. von Achim Masser. Tübingen 1979 (ATB 86). Das Thema Geben und Nehmen spielt bei dem Fahrenden Friedrich von Sonnenburg eine wichtige Rolle, so in dem Spruch ‚Swer giht, die guot den gernden geben‘ (C 9, J 58), Masser, S. 46 f., Nr. 67. Masser (Anm. 122), S. 41, Nr. 60. Übers.: „Der ruhmreiche Friedrich, Graf von Beichlingen, der Mächtige und Hochangesehene, ein Schatzbehälter der Ehren, sein Lob will ich aus freien Stücken und aufrichtig singen.“ Vgl. auch den Abdruck der Strophe bei Bumke (Anm. III, 14), S. 606. Die ‚Jenaer Liederhandschrift‘ überliefert f. 63v–72v unter der Rubrik „Meister vriderich von svnnenburc“ 63 Strophen, darunter den Dank an den Beichlinger. Der Dichter ist auch in den Kollektaneen Rudolf Losses vertreten. Das zweite Hauskloster des Geschlechts war Frankenhausen. Die bereits von Thietmar von Merseburg zum Jahr 1014 erwähnte Burg in Beichlingen befand sich seit ca. 1141 im Besitz des gleichnamigen Grafengeschlechts. Vgl. Patze (Anm. III, 26), S. 179–183.
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Ludowinger im 12. Jahrhundert die Runneburg bei Weißensee, eine der drei landgräflichen Hauptburgen. Im 13. Jahrhundert teilte das Geschlecht sich in die Linien Beichlingen-Lohra und Beichlingen-Rothenburg. Der Name Friedrich ist bei den Beichlingern häufig. Bei der Preisstrophe Friedrichs von Sonnenburg ist am ehesten an Friedrich IV. († nach 1281) zu denken, der 1249 zu den thüringischen Grafen gehörte, die Heinrich III. von Meißen in Weißenfels huldigten.125 Plausibel ist folgende Alternative: Friedrich von Sonnenburg war zu Gast am Hof der Grafen von Beichlingen, und jene Strophe stellt seinen Dank an den Gönner dar.126 Möglich aber auch, dass der Dichter sich niemals im mittleren Deutschland aufgehalten hat; die Gunst des thüringischen Grafen könnte er auch andernorts erfahren haben. Ähnlich dem Spruchdichter Sigeher scheint Friedrich von Sonnenburg den Böhmenkönig Ottokar II. (1253–1278) auf dessen Kriegszügen begleitet und ihm dabei als eine Art Kriegsberichterstatter gedient zu haben, so auf dem Ungarnfeldzug im Frühjahr 1271.127 Wie wir aus der ‚Österreichischen Reimchronik‘ Ottokars von Steiermark wissen, wurde der Böhmenkönig dabei durch den Landgrafen von Thüringen und Hilfstruppen Heinrichs III. von Meißen unterstützt.128 Man kann sich also vorstellen, dass der Dichter Graf Friedrich IV. von Beichlingen im Zusammenhang jenes Kriegszugs begegnete und von ihm „mit gebenden henden“ bedacht wurde.129 Wie immer es sich verhalten haben mag: der Spruchdichter aus der Südtiroler Heimat Oswalds von Wolkenstein bestätigt die Feststellung von Wyss: „Regionen definieren sich in der Literaturgeschichte durch das, was sie von anderswo beziehen; sie bezeugen Rezeptionen, nicht den Ursprung“.130 Den Ausklang der Gattungstradition und den allmählichen Übergang zur meisterlichen Liedkunst und zum institutionalisierten Meistergesang repräsentiert, wohl in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts, Hugo von Meiningen. Seinen Namen kennen wir aus einem Lied im Langen Ton Regenbogens über die Schöpfung und Gottes Sohn vor der Schöpfung, das die Selbstnennung als 125
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Die Angabe von Gisela Kornrumpf: Friedrich von Sonnenburg. In: VL, Bd. 2 (1980), Sp. 962–965, hier 962, die Strophe sei „dem sächsischen Grafen Friedrich (III.?) von Beichlingen († 1275)“ gewidmet, ist zu korrigieren. Friedrich III. († um 1225) kommt nicht in Frage. Von „den sächsischen Grafen“ sprach auch Müller (Anm. 116), S. 133. „In Thüringen hat er den Grafen Friedrich von Beichlingen besungen.“ Bumke (Anm. II, 130), S. 322. Vgl. auch Bumke (Anm. III, 14), S. 271. In diese Richtung weist Spruch 52, der mit den Worten beginnt: „Ich was do siben wochen reit / mit richer küniges werdicheit / der künic von Behein da gewan.“ Wahrscheinlich trat der Dichter wenig später vor sein Publikum, um es mit seinen Sprüchen über das aktuelle Geschehen zu unterrichten. Vgl. Ottokars österreichische Reimchronik. Hg. von Joseph Seemüller. Hannover 1890–1893 (MGH. Dt. Chroniken V, 1/2). Ndr. München 1980, v. 10836–10844. So Masser (Anm. 122), S. XXIII und XXV. Wyss (Anm. III, 180), S. 56.
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kunstenloser hug von meiningen enthält.131 Seine Identität scheint jedoch nicht ganz sicher zu sein; jedenfalls erwähnt der Nürnberger Meistersinger Konrad Nachtigall in einem Katalog von 80 Töneerfindern und Textdichtern um 1460/80 einen Hügo von Memingen, was eher auf die süddeutsche Reichsstadt Memmingen deutet als auf das südthüringische Meiningen. Nach diesem Überblick über die Sangspruchdichter, die sich im 13. Jahrhundert mehr oder minder verlässlich mit der Literaturregion Thüringen verbinden lassen, bleibt noch jenes Gedicht zu behandeln, das – wie de Boor treffend bemerkt hat – der Zunft der wandernden Literaten ihre Ursprungsgeschichte lieferte: das Gedicht vom Sängerkrieg auf der Wartburg.132 Vorausgeschickt sei eine Skizze der bereits erwähnten ‚Jenaer Liederhandschrift‘, einer Haupthandschrift des Gedichts. Die nach ihrem heutigen Bibliotheksort benannte Handschrift stellt in mehrfacher Hinsicht einen Sonderfall dar: Sie stammt nicht aus dem Südwesten wie die meisten anderen Lyriksammlungen des späten 13. und frühen 14. Jahrhunderts, sondern aus dem nördlichen Mitteldeutschland; sie bevorzugt statt des Minnesangs die Sangspruchdichtung, sodass die Bezeichnung „Liederhandschrift“ nur in einem weiten Sinn zutrifft; und sie überliefert anders als jene südwestdeutschen Sammlungen auch die Melodien.133 Gefertigt wurde sie um 1330 in einer niederdeutschen Schreibwerkstatt, doch benutzte der Kopist bzw. benutzten die Kopisten eine mitteldeutsche Schreibsprache.134 Die ‚Jenaer Liederhandschrift‘ ist ein Codex in ungewöhnlich großem Format, gefertigt aus bestem Pergament und sorgfältig geschrieben in einer großen kalligraphischen Schrift mit farbig ausgeführten und ornamentierten Initialen.135 Die heute noch erhaltenen 133 Blätter stellen letztlich nur einen Torso dar; es fehlen Blätter am Anfang, am Ende und im Inneren des Codex, und manches spricht dafür, dass die Sammlung ursprünglich aus zwei Bänden bestand, deren erster verloren ist. Den heutigen Renaissanceeinband 131
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Ed.: Die kleineren Liederdichter des 14. und 15. Jahrhunderts. Hg. von Thomas Cramer. Bd. 2. München 1979, S. 63–67. Das Lied ist in einer aus Bayern und Nürnberg stammenden Meisterliederhandschrift überliefert. Wahrscheinlich hat Hugo weitere Lieder gedichtet. Bei Hans Sachs die Namenform Hugo durch daran hengen! Vgl. Reinhold Schröder: Hugo von Meiningen. In: VL, Bd. 4 (1983), Sp. 242–243; ders.: Huge. In: VL, Bd. 4 (1983), Sp. 221; Horst Brunner: Nachtigall, Konrad (Kunz). In: VL, Bd. 6 (1987), Sp. 845–848. Vgl. de Boor (Anm. 32), S. 20. Jena, ThULB, El. fol. 101, in der Forschung unter der Sigle J zitiert. Vgl. Franzjosef Pensel: Beschreibendes Verzeichnis der altdeutschen und ausgewählter neuerer deutscher Handschriften in der Universitätsbibliothek Jena. Berlin 1986 (DTM 70/2), S. 307–324; Burghart Wachinger: ‚Jenaer Liederhandschrift‘. In: VL, Bd. 4 (1983), Sp. 512–516. Nach Karl Bartsch: Untersuchungen zur Jenaer Liederhandschrift. Leipzig 1923 (Palaestra 140), S. 92, ist der Schreibdialekt von J ein „auf niederdeutschem Boden erwachsenes Schriftmitteldeutsch“. J übertrifft mit dem Format von ca 56 x 41 cm noch den Codex Manesse.
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bekam der erhaltene Band zwischen 1536 und 1541 durch den Wittenberger Buchbinder Wolfgang Schreiber. Die Handschrift bietet eine umfangreiche Sammlung von Spruchdichtung des 13. und frühen 14. Jahrhunderts, zwei Drittel der Texte kennen wir nur aus ihr. Erhalten sind insgesamt 919 Sangspruch- und Liedstrophen in 102 Tönen; hinzu kommen drei Leichs, eine nur selten verwendete unstrophische Groß- und Prunkform der höfischen Lyrik. Den meisten Tönen sind die Melodien in sorgfältig ausgeführter Quadratnotation beigegeben.136 Minnesängerisches begegnet nur vereinzelt, so die nachträglich eingefügten Lieder Wizlavs.137 Die Gedichte gehören 28 Spruchdichtern der nachklassischen Zeit, deren ältester Bruder Wernher und deren jüngster Frauenlob († 1318) ist. Den Schluss bildet die vielstrophige Sängerkrieg-Dichtung. Wenngleich der geographische Rahmen von Südtirol (Friedrich von Sonnenburg) bis Pommern (Wizlav) reicht, fällt doch auf, dass eine große Zahl der Dichter dem mittleren und nördlichen Deutschland entstammt. Damit hat die Jenaer Handschrift einen deutlich anderen Sammelschwerpunkt als die Manessische.138 Auch wenn sie, wie erwähnt, nur unvollständig erhalten ist, lassen sich doch einige Ordnungsprinzipien ausmachen. Zunächst die bereits erwähnte Konzentration auf die Gattung Sangspruch. Sie ist unübersehbar, vergleicht man die Überlieferung solcher Dichter, die Sprüche wie auch Lieder verfassten, in der Jenaer und der Manessischen Handschrift. Offenbar sollte die Gattung Sangspruch in ihrer ganzen thematischen Breite dokumentiert werden. Die Gedichte sind ähnlich wie im Codex Manesse nach Autoren geordnet (ein Beispiel wurde mit der Verfasserangabe „Der hynnenberger“ bereits genannt). Sofern ein Dichter mehrere Töne schuf, sind die Strophen nach Tönen geordnet, ein Ordnungsprinzip, das auf den Meistergesang vorausweist. Bei der Anordnung der Autoren ging es den Sammlern vielleicht darum, berühmte Tonmeister an den Anfang zu stellen (das erste Gedicht, ein anonymer geistlicher Text in der Form des Leichs Walthers von der Vogelweide, wurde wohl kaum zufällig an diese Stelle gesetzt) und mit namhaften Dichtern des späteren 13. Jahrhunderts wie Friedrich von Sonnenburg, dem Meißner, Konrad
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Mit Noten versehen ist jeweils die erste Strophe eines Spruchtons und eines Liedes, notiert sind zudem zwei der drei Leichs. Einige Notensysteme sind leer geblieben, einige Melodien verloren gegangen. An dem Codex waren insgesamt wohl sieben Schreiber beteiligt. Seine Identifizierung mit Fürst III. Wizlav von Rügen († 1325) wird heute skeptisch beurteilt. Vgl. Burghart Wachinger: Wizlav. In: VL, Bd. 10 (1999), Sp. 1292–1298, hier 1293 f. Mit der Manessischen Handschrift teilt J nur etwa ein Fünftel des Bestandes. Dem mittelund niederdeutschen Raum werden zugerechnet Hermann Damen, Fegfeuer, Frauenlob, der Guter, Höllefeuer, Kelin, der Meißner, Reinolt von der Lippe, Rumelant von Sachsen, der Unverzagte und Wizlav. Unter den oberdeutschen Dichtern vermisst man Reinmar von Zweter und den Marner.
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von Würzburg und Frauenlob zu schließen, während den Mittelteil kleinere Œuvres (z. B. Höllefeuer, der Goldener, Singauf) bilden. Wer könnte die Sammlung in Auftrag gegeben haben? Wir wissen es nicht. Während der Band 1543 in der Wittenberger Bibliothek der sächsischen Kurfürsten nachweisbar ist, aus der er 1549, also nach dem Verlust der Kurwürde infolge des Schmalkaldischen Kriegs, nach Jena überführt wurde, liegt seine frühere Geschichte im Dunkeln; weder kennen wir den Auftraggeber noch das Schreibatelier, in dem die Arbeit ausgeführt wurde. Sicher ist nur, dass der Auftrag zu einem solch aufwendigen Codex von einem Fürsten ausgegangen sein muss.139 Bei der Suche nach einem fürstlichen Auftraggeber, der in Frage kommen könnte, sind verschiedene Gesichtspunkte zu berücksichtigen: Es muss sich um einen Hof handeln, für den ein literarischer Betrieb bezeugt ist, die Lebensdaten des Herrschers müssen mit der Entstehungschronologie der Sammlung harmonisierbar sein, und endlich muss sich mit dem Hof auch der schreibsprachliche Befund in Einklang bringen lassen. Datierung und Schreibdialekt von J wurden im Lauf der Forschungsgeschichte unterschiedlich beurteilt. 1901 meinte der Herausgeber Georg Holz, die Sprache der Handschrift weise „nach dem östlichen Mitteldeutschland“.140 Das gab ihm die Möglichkeit, den Wettiner Friedrich II. den Ernsthaften, Markgraf von Meißen und Landgraf von Thüringen, als Auftraggeber zu postulieren. Doch nachdem die Schreibsprache der Sammlung als ein „auf niederdeutschem Boden erwachsenes Schriftmitteldeutsch“ bestimmt war, musste der Meißner Hof zugunsten eines nördlicher gelegenen aufgegeben werden. Nun favorisierte man den Askanier Rudolf I., Herzog von SachsenWittenberg (1298–1356), der an der mittleren Elbe residierte.141 Heute gilt die Entstehung von J in Wittenberg als wenig wahrscheinlich, da ihre Schreibsprache, wie man meinte, „eher auf Entstehung westlich der Elbe“ deute.142 Erwogen werden westelbische Residenzen wie Salzwedel und Stendal in der Altmark oder die weiter östlich gelegenenen askanischen Hausklöster Lehnin und Chorin.143 Für die brandenburgischen Askanier spricht neben dem dialektgeographischen Kriterium der Umstand, dass in ihrem Herrschafts-
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Wolf (Anm. I, 34), S. 200, wollte die Entstehung der Handschrift „mit dem kunstsinnigen und literarisch aufgeschlossenen Patriziat des westlichen Thüringen“ verbinden. Die Jenaer Liederhandschrift. I (Anm. 115), S. V. So Wachinger (Anm. 133), Sp. 512 f. Gisela Kornrumpf: Jenaer Liederhandschrift. In: Killy, Bd. 6 (1990), S. 92–94, hier 93. Vgl. Thomas Klein: Zur Verbreitung mittelhochdeutscher Lyrik in Norddeutschland (Walther, Neidhart, Frauenlob). In: ZfdPh 106 (1987), S. 72–112, hier 106–111. Vgl. zuletzt Lorenz Welker: Die ‚Jenaer Liederhandschrift‘ im Kontext großformatiger Bücher des 14. Jahrhunderts aus dem deutschen Sprachraum. In: Die ‚Jenaer Liederhandschrift‘. Codex – Geschichte – Umfeld. Hg. von Jens Haustein u. Franz Körndle. Berlin, New York 2010, S. 137–147.
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bereich über mehrere Generationen ein literarischer Betrieb nachweisbar ist. Markgraf Otto IV. von Brandenburg (1281–1308) gehört wie Heinrich III. von Meißen in die Reihe fürstlicher Minnesänger im Codex Manesse.144 Keine dieser Hypothesen lässt sich absichern, und keine einzige Strophe der Handschrift enthält einen Hinweis auf einen jener Fürsten. Vielleicht gelingt es, die Entstehung der Sammlung anhand der Handschriften bzw. Bruchstücke, die man zuverlässig derselben Werkstatt zuweisen kann, aufzuhellen. Erste Schritte in dieser Richtung haben Zusammenhänge zwischen der ‚Jenaer Liederhandschrift‘ und den bereits besprochenen Fragmenten des Romans über den Artusritter Segremors wahrscheinlich gemacht, die ebenfalls einem großformatigen Pergamentcodex entstammen und die die gleiche übergroße Schrift sowie vergleichbaren Initialenschmuck aufweisen. Heute nimmt man an, dass die Fragmente, in denen man Reste einer (ein- oder zweibändigen) repräsentativen Epensammlung sehen darf, und die Liederhandschrift einer Werkstatt entstammen, vielleicht sogar auf dieselben Schreiber zurückgehen.145 Dieser Befund scheint nun, da die Romanfragmente nachweislich aus wettinischem Besitz stammen, wieder zurück in die Richtung Friedrichs des Ernsthaften und der Wettiner zu führen.146 Die Dichtung vom Sängerkrieg erhielt von ihrem Herausgeber Karl Simrock den Namen ‚Wartburgkrieg‘.147 Simrock knüpfte dabei an die thüringische Historiographie an, insbesondere an den Eisenacher Chronisten Johannes Rothe, der nicht weniger als viermal vom Sängerkrieg erzählt, so in seiner ‚Thüringischen Landeschronik‘ unter dem Stichwort „der krigk von Wartperg“.148 In jener Dichtung indes spielt die Wartburg als Schauplatz kaum eine Rolle; erst in einer späten Zusatzstrophe heißt es beiläufig, die Landgräfin sei „ze Wartperc ûf den palas“ gekommen.149 Erklärungsbedürftig ist auch das mhd. Wort kriec. Seine ursprüngliche Bedeutung ist: Anstrengung, Streben 144
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Die Handschrift enthält sieben seiner Lieder. Vgl. Ingeborg Glier: Markgraf Otto IV. von Brandenburg (mit dem Pfeil). In: VL, Bd. 7 (1989), Sp. 213–215. Zur Werkstattgemeinschaft vgl. Schiewer (Anm. III, 131), S. 229. Nach Klaus Klein u. Helmut Lomnitzer: Ein wiederaufgefundenes Blatt aus dem ‚Wartburgkrieg‘-Teil der Jenaer Liederhandschrift. In: PBB 117 (1995), S. 381–403, hier 387, stammen die ‚Segremors‘Fragmente „vom Hauptschreiber der Jenaer Liederhandschrift“ oder sind „doch zumindest in der gleichen Schreibstube entstanden“. Vgl. Schiewer (Anm. III, 131), S. 229 f. Ed.: Der Wartburgkrieg. Hg., geordnet, übersetzt und erläutert von Karl Simrock. Stuttgart, Augsburg 1858. Vgl. Burghart Wachinger: ‚Der Wartburgkrieg‘. In: VL, Bd. 10 (1999), Sp. 740–766. Johannes Rothe. Thüringische Landeschronik und Eisenacher Chronik. Hg. von Sylvia Weigelt. Berlin 2007 (DTM 87), S. 49, 13. Der Wartburgkrieg, Str. 88, 2 (= C 61, 2). Zu dieser auch im ‚Lohengrin‘ enthaltenen Strophe vgl. Anm. 167.
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nach oder auch gegen etwas, dann Streit, Kampf mit Worten, Wettstreit. Mit ‚Wartburgkrieg‘ ist also ein Wettstreit der Sänger gemeint.150 Die Berichte Rothes und anderer trugen dazu bei, dass die Sängerkriegüberlieferung nie völlig in Vergessenheit geriet, und seit der Wiederentdeckung der alten Texte im 18. Jahrhundert fand sie auch jenseits wissenschaftlicher Bestrebungen Interesse als eine Künstlererzählung aus dem deutschen Mittelalter. Genannt seien nur der Künstlerroman ‚Heinrich von Ofterdingen‘ des Friedrich von Hardenberg (Novalis) und E. T. A. Hoffmanns Erzählung ‚Der Kampf der Sänger‘. Wenn die Überlieferung vom Sängerwettstreit am Landgrafenhof seit dem 19. Jahrhundert einen festen Platz im kulturellen Gedächtnis der Deutschen einnimmt, ist das jedoch vornehmlich den Musikdramen Richard Wagners zu danken, voran seiner Oper ‚Tannhäuser und der Sängerkrieg auf Wartburg‘ (1845), in der die Büßerlegende vom Tannhäuser mit der Überlieferung vom Sängerwettstreit verknüpft ist.151 Heute begegnet der Mythos vom Sängerwettstreit jedem, der die Wartburg aufsucht und im Landgrafenzimmer, im sogenannten Sängersaal und im Gang zur Kapelle die Fresken sieht, die Moritz von Schwind im Zuge der Restaurierung der Burg durch Großherzog Carl Alexander von Sachsen-Weimar Mitte des 19. Jahrhunderts schuf.152 Seit dem späten 13. Jahrhundert erscheint die Überlieferung vom Sängerwettstreit in Werken thüringischer Provenienz wie dem lateinischen Elisabethleben Dietrichs von Apolda und den Chroniken Rothes, teils breit ausgeführt, teils in einem Satz zusammengedrängt. Unter den Teilnehmern sind historisch bezeugte Dichter der Zeit um 1200 wie Walther von der Vogelweide und Wolfram von Eschenbach, mit Reinmar von Zweter aber auch ein Lyriker der folgenden Generation und mit dem vielumrätselten Heinrich von Ofterdingen eine rein fiktive Gestalt.153 Grundlage all jener Darstellungen ist nun nicht ein historisches Geschehen, sondern eine Dichtung, die sich nicht mit einem 150
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Der Begriff kriec begegnet auch sonst in der Wettstreit-Metaphorik der Sangspruchdichter. In dem Legendenroman ‚Das Leben der heiligen Elisabeth‘ findet sich um 1300 die Wendung in kriges wis singen (v. 199). Wagner stützte sich auf eine Arbeit des Königsberger Philologen C. T. L. Lucas, er kannte auch die erwähnte Erzählung E. T. A. Hoffmanns. Vgl. Volker Mertens: Richard Wagner und das Mittelalter. In: Richard-Wagner-Handbuch. Hg. von Ulrich Müller u. Peter Wapnewski. Stuttgart 1986, S. 19–59, bes. 21–26. Vgl. auch Mertens (Anm. III, 170). Vgl. Angelika Pöthe: Carl Alexander. Mäzen in Weimars ‚Silberner Zeit‘. Köln, Weimar, Wien 1998; Werner Noth: Die Wartburg. 4., durchgesehene Aufl. Leipzig 1974, S. 112–130; Ernst Badstübner: Die Wartburg. Historisches Bauwerk und gebautes Geschichtsmonument. Weimar 1996 (Ettersburger Hefte). Reinmar von Zweter gehört nicht zu den Dichtern im Umkreis Landgraf Hermanns, vielmehr hielt er sich 1242/44 am Hof des Wettiners Heinrich III. von Meißen auf. Zu Ofterdingen bemerkte de Boor (Anm. 32), S. 419: „Historische oder mythische Figur – diese Frage bleibt ungelöst.“ Vgl. Burghart Wachinger: Heinrich von Ofterdingen. In: VL, Bd. 3 (1981), Sp. 855–856. Zu Klingsor vgl. Anm. 164.
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kurzen Wort charakterisieren lässt, da es ihr an klaren Konturen fehlt.154 Was Simrock unter dem Titel ‚Wartburgkrieg‘ zusammenfasste, ist nämlich weniger ein geschlossenes Werk als ein Konglomerat einzelner Gedichte, die seit 1235/40 offenbar ausnahmslos in Thüringen entstanden, um 1260 zusammengefügt wurden und die in den Handschriften zumeist zusammenhängend, allerdings in sehr unterschiedlichen Konfigurationen überliefert sind. Abgefasst sind sie in zwei kompakten Sangspruchtönen, sodass sie rein formal zur Spruchdichtung zu rechnen sind.155 Doch haben sie partienweise auch erzählenden und – da sie weithin dialogisiert sind – auch dramatisch bewegten Charakter. Die Verfasser haben sich bis heute nicht ermitteln lassen, obwohl es an kühnen Hypothesen nicht gefehlt hat, und auch ihre Quellen sind nur unzureichend geklärt. Im engeren Sinn verdienen nur drei der sieben von Simrock edierten Teilgedichte den Namen ‚Wartburgkrieg‘: das ‚Fürstenlob‘, das ‚Rätselspiel‘ und dessen Fortsetzung ‚Zabulons Buch‘. Diese drei Kerntexte handeln von einem Sängerwettstreit vor dem Thüringer Hof zur Zeit des Landgrafen Hermann.156 In der Überlieferung erscheinen sie seit dem 14. Jahrhundert in weit auseinandergehenden Fassungen, divergierend nach 154
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Da der von Rothe im ‚Elisabethleben‘ auf „Zwelf hundert jar sybin“ (v. 226) datierte Sängerkrieg nach allem, was wir wissen, kein historisches Ereignis war, handelt es sich eher um einen Mythos als um eine Sage. „Beweise dafür, daß dieser Sängerwettkampf tatsächlich stattgefunden hat, gibt es nicht.“ Bumke (Anm. II, 130), S. 325 f. Gelegentlich wird der Sängerkrieg noch heute als historisches Faktum behandelt, vgl. Handbuch der historischen Buchbestände in Deutschland. Bd. 19. Thüringen. Hg. von Friedhilde Krause. Bearb. von Felicitas Marwinski. Hildesheim, Zürich, New York 1998 (Handbuch der historischen Buchbestände in Deutschland), S. 23. Unkritisch auch Werner Mägdefrau: Thüringen im Mittelalter. Strukturen und Entwicklungen zwischen 1130 und 1310. Erfurt 1999, S. 138. Der ältere der beiden Töne, in der ‚Kolmarer Liederhandschrift‘ Klingsor zugeschrieben, ist eine zehnzeilige Kanzonenstrophe, deutbar als Weiterentwicklung der Titurelstrophe. In ihm sind das ‚Rätselspiel‘ und andere Teile abgefasst. Jünger ist der Fürstenton Heinrichs von Ofterdingen, eine Spruchstrophe aus 16 zumeist langen Zeilen. Er wurde vielleicht (durch Heinrich III. von Meißen?) aus dem Schwarzen Ton entwickelt. Im Fürstenton sind ‚Fürstenlob‘ und ‚Zabulons Buch‘ verfasst. Aus der Sanglichkeit der strophischen Form erklärt sich die Aufnahme des ‚Wartburgkrieg‘-Corpus in die Lyrik-Sammlungen. Die Meistersinger tradierten beide Töne bis in die Frühe Neuzeit. Der Schwarze Ton wurde auch für epische Gedichte wie den ‚Lohengrin‘ benutzt, sodass man die beiden ‚Wartburgkrieg‘-Töne als eine Hybridform von Epenton und Sangspruchton bestimmen kann. Zusammengehalten werden sie durch ihren szenischen Rahmen: den über vier Tage und eine Nacht vor dem landgräflichen Paar ausgetragenen Wettstreit. Der auch in der Überlieferung hervortretende engere Zusammenhang dieser drei Teile beruht auf der Situation der agonalen Rede (Überbietungsrede) und auf dem Thema des geheimen Wissens und seiner Zugänglichkeit. Doch da die Anfänge des ‚Rätselspiels‘ um 1240 anzusetzen sind, während ‚Zabulons Buch‘ erst Ende des 13. Jh. entstand, stellt sich die Frage, inwieweit wir es mit einem komplexen Werk zu tun haben oder mit verschiedenen Gedichten, die erst im Abstand eines Jahrhunderts in der Überlieferung zu einem Fortsetzungszusammenhang zusammengefügt wurden.
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Strophenzahl, -folge und Wortlaut.157 Unstrittig ist nur das zentrale Problem, das sie verhandeln: die künstlerische Meisterschaft und die Stellung von Dichtung und Kunst in der Gesellschaft. Damit ist der ‚Wartburgkrieg‘ ein wichtiges Dokument für das Selbstverständnis der meister, der spätmittelalterlichen Sangspruchdichter. Das je nach Handschrift 23 bis 25 Strophen zählende ‚Fürstenlob‘, der inhaltlich kohärenteste, verständlichste und am besten überlieferte Teil, inszeniert einen Sängerwettstreit vor dem Landgrafen und der Landgräfin. Die Streitfrage lautet, welcher Fürst ob seiner milte (Freigebigkeit) am höchsten zu preisen sei; Gegenstand des Lobwettstreits ist also die herrscherliche Ehre.158 Als Herausforderer tritt Heinrich von Ofterdingen auf mit der provozierenden Behauptung, die tugent des Fürsten aus Österreich sei unübertroffen und kaum mit der dreier anderer Fürsten aufzuwiegen. Die Eingangsstrophe lautet: Von Oftertingen. Daz êrste singen hie nu tuot Heinrich von Ofterdingen in des edeln fürsten dôn von Dürengen lant; der teilte uns ie sîn guot und wir im Gotes lôn. Der meister gât in kreizes zil, gegen allen singern, die nu leben, er ûfgeworfen hât, benennet er si wênic oder vil, alsam ein kempfe er stât. Nu hœrent wie er kampfes kan gegen allen meistern pflegen: des fürsten tugent ûz Ôsterrîch wil er ûf wâge legen, ob si im die nu wider wegen mit drîer fürsten milte, sô sis beste vinden megen: und hânt die alle nu sô hôhen prîs an tugende leben, in diebes wîs wil er sich des gevangen hiute geben.159
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Der Wartburgkrieg. Kritisch hg. von T[om] A[lbert] Rompelman. Amsterdam, Paris 1939, S. 30: „Man kann etwas übertreibend sagen, der ‚Wartburgkrieg‘ als Dichtung ist nur eine Fiktion.“ Auch die Tonnamen variieren in der Überlieferung. So erscheint der Thüringer Fürstenton um 1460 in der ‚Kolmarer Liederhandschrift‘ als Gekaufter Ton Ofterdingens. Das Herrscherlob gehört zu den ältesten Themen der Sangspruchdichter. Der Wartburgkrieg, Str. 1 (= C 1). Übers.: „Heinrich von Ofterdingen. Das erste Singen hier nun thut Heinrich von Ofterdingen in des edeln Fürsten Ton von Thüringen: der theilt uns stäts sein Gut und wir ihm Gottes Lohn. Der Meister steht bereit im Kreiß und ruft zum Kampf mit sich heraus die Sänger fern und nah; obgleich er nicht die Namen alle weiß, ein Kämpe steht er da. Nun höret wie er kann des Kampfs mit allen Meistern pflegen: Des Fürsten Preis aus Oestreich will er auf die Wage legen, ob man ihm die weiß aufzuwägen mit dreier Fürsten Milde: stellt die Besten ihm entgegen! Und haben dann die drei so hohen Preis durch reines Leben, in Diebesweis will er sich heute hier gefangen geben.“
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Nacheinander treten Ofterdingen Walther und der Tugendhafte Schreiber entgegen; sie weisen seinen Anspruch zurück und rühmen der Düringe herre(n). Der Sängerwettstreit ist weit mehr als ein lebhafter Disput, ein Kampf in tôdes zil (auf Leben und Tod), worauf die Erwähnung des Scharfrichters und zahlreiche Begriffe aus der Rechtssphäre hindeuten. Als kieser (Kampfrichter) werden Reinmar von Zweter und der von Eschenbach benannt, die in der Folge jedoch nicht neutral bleiben. Nach Walther und dem Schreiber greift später Biterolf in den Kampf ein, um seinerseits den Grafen von Henneberg zu rühmen. Diese Strophen dürften nachträglich inseriert worden sein, da sie sich dem Handlungsablauf mehr schlecht als recht einfügen.160 Das Gedicht baut auf den verteilten Rollen der Akteure auf; sein dramatischer Charakter wird noch dadurch verstärkt, dass der Streit ständig an Schärfe gewinnt. Ein narrativer Rahmen ist nur angedeutet, vorherrschend ist die direkte Rede.161 Im Codex Manesse sind den Strophen die einzelnen Rollen vorangestellt: von Oftertingen, her Walther, der Schrîber usw. Die Entscheidung wird am zweiten Tag des Wettstreits durch Walther herbeigeführt, der dem Herausforderer eine Falle stellt. Als Ofterdingen seinen Herrn mit der Sonne vergleicht, weil er ihm damit höchstes Lob zuzuerkennen meint, erwidert Walther, dass der Tag die Sonne übertreffe. Triumphierend hält er ihm entgegen: „Ich gihe der tac hât prîses mê / dan sunne, mâne, sterneglast als ichz bescheiden wil.“162 Ofterdingen beklagt sich, dass man ihm in Thüringen ungleiche Würfel vorgelegt habe, während die anderen Sänger seinen Tod fordern. Doch die Landgräfin nimmt sich seiner an, er erhält Aufschub, um den Magier Klingsor aus Ungarn nach Eisenach zu holen. Das Urteil wird also vertagt. Mit Ofterdingens Ruf nach Klingsor ist die Verknüpfung des ‚Fürstenlobs‘ mit dem nächsten Teilgedicht, dem ‚Rätselspiel‘, geschaffen, die in der Manesssischen Handschrift über die formale Grenze des Tonwechsels hinweg (das ‚Rätselspiel‘ ist im Schwarzen Ton verfasst) durch eine rote Überschrift markiert ist.163 Während es am Ende des ‚Fürstenlobs‘ heißt, Klingsor solle 160
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Vgl. Bertram Lesser: „Von Hennenberc der hochgeborn“. Literarische und historische Hintergründe der Henneberg-Interpolation im ‚Wartburgkrieg‘. In: Jb. des HennebergischFränkischen Geschichtsvereins 22 (2007), S. 61–81. Erkennbar ist folgende Gliederung: Exposition (Str. 1–4). Ofterdingen gegen den Tugendhaften Schreiber (Str. 5–11). Ofterdingen gegen Biterolf (Str. 12–16). Urteile Reinmars von Zweter und Wolframs und Einsprüche Ofterdingens (Str. 17–20). Walther gegen Ofterdingen (Str. 21–23). Ofterdingens Begnadigung durch die Landgräfin (Str. 24–25). Der Wartburgkrieg, Str. 22, 1 f. ( = C 63, 1 f.). Übers.: „Der Tag muß doch preiswürdiger sein als Sonne, Mond und Sternenglanz wie ich vermeinen will.“ Kaum zufällig ist es gerade der 1198 von Leopold VI. von Österreich abgewiesene Sänger Walther von der Vogelweide, der den Ludowinger rühmt und Ofterdingens Preis des Babenbergers zurückweist. „hie ist Clinsor komen vnd singet er vnd der von eschelbach wider einander. vnd vahet das Clinsor an. vnd singet disiu drú lieder div hie nach geschriben stant.“ Der Codex Manesse bringt gemäß seinem Prinzip, alle Texte einem Autornamen zuzuweisen, den gesamten
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Ofterdingen im Lobwettstreit beistehen, trägt in dem mit Strophe 26 einsetzenden ‚Rätselspiel‘ nicht der im ‚Fürstenlob‘ unterlegene Ofterdingen, sondern Klingsor einen Rätselwettstreit aus mit dem von Eschenbach; die Verbindung der einzelnen Teile ist also nicht nahtlos gelungen. Statt der sechs Sänger des ‚Fürstenlobs‘ agieren nun Wolfram und Klingsor und als dessen Helfer zeitweise noch der Teufel Nasion. Man kann zeigen, dass das ‚Rätselspiel‘ das älteste Teilgedicht ist; es entstand um 1240, rd. zwei Jahrzehnte vor dem ‚Fürstenlob‘, in Thüringen, wenn auch vielleicht nicht am landgräflichen Hof. Alle Anspielungen auf das ‚Fürstenlob‘ müssen also nachträglich eingefügt worden sein. Das ‚Rätselspiel‘ ist ein künstlerisch hochstehendes Gedicht in der Tradition des Streitgedichts, hat also nichts mit dem Volksrätsel zu tun. Man kann es den Zeugnissen der literarischen WolframNachfolge zurechnen, lässt es doch den Dichter Wolfram von Eschenbach mit seiner eigenen literarischen Schöpfung disputieren – hinter der Klingsorgestalt steht der Zauberer Clinschor aus dem ‚Parzival‘.164 Der Verfasser war gut vertraut mit den Werken Wolframs, der im ‚Fürstenlob‘ nicht zufällig als „ir aller meister“ erscheint.165 Zentrales Thema des Rätselwettstreits, der ebenfalls vor dem Landgrafen ausgetragen wird, ist die Meisterschaft. Die Rätsel sind zumeist allegorische Bildreden, so das Rätsel vom Kind, das auf einem Seedamm schläft und von seinem Vater dreimal vergeblich zu wecken versucht wird, ehe der Damm bricht. Lösung: Dem Kind entspricht der sündige Mensch, dem Vater Gott. Auch die anderen Rätsellösungen betreffen Moral- und christliche Glaubenslehre, sodass man das Gedicht mit den Interessen der Mendikanten in Verbindung gebracht hat, die seit 1230 in Thüringen an Einfluss zu gewinnen begannen.166 Nach dem Zeugnis Rothes besaßen die Rätsel einen hohen Bekanntheitsgrad. Das Auftreten Wolframs im ‚Rätselspiel‘ ist keineswegs selbstverständlich, ist er doch nie als Spruchdichter hervorgetreten. Wahrscheinlich war es die für sein Werk kennzeichnende Verbindung von Laien-gelehrsamkeit und Manierismus, die ihn den „meistern“ des 13. Jahrhunderts vorbild-
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‚Wartburgkrieg‘-Komplex unter der als Autorbezeichnung zu verstehenden Überschrift Klingesor von vngerlant. Dagegen überschreibt Handschrift J das ‚Fürstenlob‘ mit Der von Ofterdingen und das ‚Rätselspiel‘ mit Her Wolueram. Vgl. Burghart Wachinger: Klingsor. In: VL, Bd. 4 (1983), Sp. 1220–1221. Genannt seien die Würfelmetaphorik des ‚Rätselspiels, die auch im ‚Parzival‘ eine wichtige Rolle spielt, und die Sternkunde. Im ‚Parzival‘ liest der Heide Flegetânîs aus den Sternen das Wesen des Grals (454, 17 ff.). Ein anderes Beispiel ist das Quaterrätsel. Ein Vierer (Quater) hält beim Würfelspiel eine Drei und wird von ihr gehalten. Lösung: Die Vier bedeutet die Evangelisten, die Drei die göttliche Trinität. Jene enthalten die Lehre von der Trinität, und umgekehrt sind die Evangelisten von der Trinität inspiriert. Das Rätsel zielt auf die allegorische Deutung nach der Lehre vom mehrfachen Schriftsinn.
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haft erscheinen ließ. Am Ende des Rätselwettstreits muss sich der Herausforderer, der „Meisterpfaffe“ Klingsor, der naiven Weisheit des frommen Laien Wolfram beugen, der sich zu einem ebenbürtigen Kontrahenten entwickelt, sodass die Konstellation sich allmählich wandelt, gleichsam zum Fachgespräch unter ebenbürtigen Gebildeten. Der Repräsentant der Schulgelehrsamkeit unterliegt auf seinem ureigensten Feld, dem des gelehrten Heilswissens, der Kompetenz des scharfsinnigen, lebenserfahrenen und glaubensfesten Laien – ein Thema, das auch bei Friedrich von Sonnenburg anklang. Das ‚Rätselspiel‘ ist weniger kohärent überliefert als das ‚Fürstenlob‘, Strophenbestand und -folge variieren beträchtlich. In der Jenaer Handschrift sind es trotz Blattverlustes 67 Strophen, im Codex Manesse, der eine jüngere Fassung bietet, nur 44. Hier ist auch der ‚Lohengrin‘ zu nennen, ein um 1285 von einem unbekannten Dichter verfasster Roman in 768 Strophen im Schwarzen Ton, der Strophenform also des ‚Rätselspiels‘.167 Der Schwanenritter Lohengrin wird vom Gral der bedrängten Herzogin Elsam von Brabant zu Hilfe gesandt, muss sie aber später wieder verlassen, da sie ihr Versprechen, ihn nie nach seiner Herkunft zu fragen, brach. Die Geschichte Lohengrins erscheint bereits kurz angedeutet am Ende des ‚Parzival‘ (823, 27 ff.).168 Die Handlung des ‚Lohengrin‘ ist aus dem ‚Rätselspiel‘ entwickelt: Die Landgräfin begibt sich mit ihrem mehr als 40 Damen zählenden Gefolge „ze Wartberc ûf den palas“ (Str. 30, 2), sodann fordert Klingsor Wolfram zum Beginn seines Vortrags auf: „‚nû singet, meister wîse‘“ (Str. 30, 10), wodurch dieser in die Rolle des Erzählers tritt. Kurz erwähnt sei noch ‚Zabulons Buch‘, das thematisch an das ‚Rätselspiel‘ anknüpft, mit dem Fürstenton aber dieselbe kunstvolle Strophenform wie das ‚Fürstenlob‘ aufweist. Auf den Lobwettstreit des ersten und den Rätselwettstreit des zweiten Teils folgt nun ein Erzählwettstreit zwischen Wolfram und Klingsor, in dessen Mittelpunkt die Geschichte der Entstehung und Auffindung eines Zauberbuchs steht. Seinen Namen verdankt das schwer verständliche, mitunter auch krause Gedicht dem Sternseher Zabulon.169 Von
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Ed.: Thomas Cramer: Lohengrin. Edition und Untersuchungen. München 1971. Zum Verhältnis ‚Lohengrin‘ – ‚Wartburgkrieg‘ vgl. S. 34–45. Der Dichter, seiner Sprache nach ein Bayer, nennt sich in einem Akrostichon in der latinisierten Form Nouhuwius. Vgl. Thomas Cramer: ‚Lohengrin‘. In: VL, Bd. 5 (1985), Sp. 899–904. Die Erzählung vom Schwanritter gehört zum Sagenkreis des dämonischen Helfers, der wieder verschwinden muss, wenn man nach seinem Namen fragt. Im 13. Jh. gestaltete sie Konrad von Würzburg im ‚Schwanritter‘ und Albrecht im ‚Jüngeren Titurel‘. Hinter Zabulon steht der alttestamentliche Sebulun, der zehnte Sohn Jakobs und der sechste Sohn Leas. Vgl. Gn 29, 31–30,24. 49, 13. Vgl. Ios. 19, 10 ff. Heinrich von Hesler erwähnt Zabulon im ‚Evangelium Nicodemi‘, v. 2864. In Lambrechts ‚Alexander‘ heißt es: Alexander zerstörte Galiläa, dann „Neptalimlant“, und dann: „Alsô tet er Zabulon, / die rîchen burch Naason“ (v. 680 f.).
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ihm handelt die Binnenerzählung. Zabulon, Sohn eines Heiden und einer Jüdin, befasste sich als erster mit Astronomie.170 1200 Jahre vor Christus sagte er dessen Geburt voraus und suchte sie mittels eines magischen Buchs zu verhindern. Doch der Zauberer Virgilius wusste dem später listig entgegenzuwirken, indem er zusammen mit anderen Römern zum Agetstein (Magnetberg) fuhr, das Buch entwendete und nach Rom überführte.171 Später kam das Wissensbuch an Wolfram.172 Wechselweise erzählen Klingsor und Wolfram nun die immer wieder durch Abschweifungen unterbrochene abenteuerliche Geschichte, in der ein Geist, Sirenen, Krokodile, Greifen und Zwerge auftreten, und verlängern sie um eine Vorgeschichte und alternative Erzählungen. Das wohl in den letzten Jahrzehnten des 13. Jahrhunderts entstandene dialogische Gedicht sucht die älteren Teile ‚Fürstenlob‘ und ‚Rätselspiel‘ zu verbinden.173 Mit jenem hat es die dialogische Struktur gemeinsam, mit diesem die Akteure Klingsor und Wolfram und den Charakter eines Weisheitskampfs, der wiederum vor dem Landgrafen ausgetragen wird. Die Binnenerzählung vom Sternseher Zabulon und dem Zauberer Virgilius scheint vor curiositas zu warnen, die zur Sünde der superbia (Hoffart) führt. ‚Zabulons Buch‘ stellt sich erkennbar in die Nachfolge Wolframs, indem es in Motiven und sprachlichem Ausdruck das Dunkle und Abgelegene sucht. Oft ist der Gestus des arkanen Wissens wichtiger als dieses selbst; doch scheint gelegentlich auch wirklich gelehrtes Wissen durch. Verhandelt werden Probleme des höfischen Sangs.
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„er was ein jude von der muoter art, / und ein heiden vaterhalp, / Und was der êrste der sich Astromîe underwant.“ Str. 156, 7–9 (= C 72, 7–9). „daz Virgilius ûf dem agetstein / mit grôzer nôt gewan“. Str. 156, 3 f. (= C 72, 3 f.). In Str. 159, 6 (= C 75, 6) heißt es: „des buoches dâ Virgilius ûz nam sîn meisterschaft“. In dem Minne- und Abenteuerroman ‚Reinfried von Braunschweig‘ wird erzählt: Reinfried schließt mit dem im Zweikampf besiegten König von Persien Freundschaft und reist nach einem Besuch der heiligen Stätten nach Persien. Auf dem Weg zum Magnetstein stoßen sie auf die Pygmäen, für die Reinfried einen zinsfordernden Riesen erschlägt. Darauf unterstützen sie den König von Aschalon im Krieg gegen den König von Assirie. Mit Hilfe eines Wunderkrauts wird ein Schiff für die Reise gebaut. Auf dem Magnetberg berichtet ein Buch über dessen Ausbau durch den Zwerg Savilon (v. 15359 ff.). Vgl. Alfred Ebenbauer: ‚Reinfried von Braunschweig‘. In: VL, Bd. 7 (1989), Sp. 1171–1176. Aus ‚Zabulons Buch‘ gelangte der Erzählstoff im 15. Jh. in ein Meisterlied im Langen Ton Heinrichs von Mügeln. Vgl. Frieder Schanze: ‚Virgils Fahrt zum Magnetberg‘. In: VL, Bd. 10 (1999), Sp. 377–379. Von Zabulons Buch erzählen auch die ‚Erweiterte Christherre-Chronik‘ und der ‚Reinfried von Braunschweig‘. Reinfried entdeckt am Magnetberg das Grabmal des Savilone (v. 21290). Ein angekettetes Buch enthält in einer jedem verständlichen Sprache die Geschichte des Magnetbergs von anegenge bis uf ein ort (v. 21311). Zit. nach: Reinfried von Braunschweig. Faksimileausgabe der Handschrift Memb. II 42 der Forschungsbibliothek Gotha. Mit einer Einleitung hg. von Wolfgang Achnitz. Göppingen 2002 (Litterae 120). Vgl. Wachinger (Anm. 147), Sp. 753–756. Nach Rompelman (Anm. 157), S. 70, weist die Sprache des Gedichts „noch deutlicher als bei FL und RS auf einen thüringischen Verfasser“. Zur Sprache des ‚Wartburgkriegs‘ vgl. zuletzt Beck (Anm. II, 68), S. 222–224.
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Wem gebührt der Status eines meisterlichen Sängers, welche Geltung kommt dem Sang zu und welche magischen und heiligen Schriften sind als die maßgeblichen anzusehen? Während Wolfram als Gewährsmann Brandan nennt und sich seiner astronomischen Kenntnisse rühmt, warnt ihn Klingsor unter Verweis auf jenes von Zabulon verfasste Zauberbuch. Im Codex Manesse versandet die Erzählung vom Zauberer Virgilius, die das alte Buch mit den beiden Akteuren der Gegenwart, Wolfram und Klingsor, in Verbindung zu bringen hätte, in zwei fragmentarischen Versionen. Die Handschrift überliefert den Text mit 18 Strophen nur rudimentär, die Überlieferung bricht mitten in der Binnenhandlung ab. Von ‚Zabulons Buch‘ führen wenn auch nur lose Fäden zu einem Gedicht aus einem ganz anderen Raum, dem kleinen Heldenpos ‚Laurin‘ aus dem Stoffkreis um Dietrich von Bern.174 Der ‚Laurin‘ wurde im 13. Jahrhundert von einem Südtiroler Dichter verfasst. Ein erster Teil erzählt vom Kampf Dietrichs und seiner Mannen mit dem kampfmutigen Zwergenkönig Laurin, in dessen wunderbaren Rosengarten in den Südtiroler Bergen sie gewaltsam eindrangen, ein zweiter von der mit schweren Kämpfen verbundenen Befreiung aus Laurins Berg, in den er die Helden mit einer List lockte. Der ‚Laurin‘ ist breit überliefert, und er liegt in fünf verschiedenen, mit einer Ausnahme in höfischen Reimpaarversen abgefassten Versionen vor. Die Bearbeiter sind unbekannt. Die jüngere Vulgatversion schreibt die Geschichte Heinrich von Ofterdingen zu, eine Angabe, die man als Fiktion betrachten darf.175 Was verbindet nun ‚Laurin‘ und ‚Wartburgkrieg‘? Die letzten Strophen von ‚Zabulons Buch‘ handeln von Laurins Bruder Sinnels, dessen Reich auf dem Berg Palakers am Lebermeer liegt, und von Dietrich von Bern. Laurin rät dem Berner, er solle bei seinem Bruder im Inneren eines feurigen Bergs noch viele Jahre in Freuden leben, während man ihn für längst umgekommen halte. Der Berner folgt dem Rat und lebt tûsent jâr (S 173, 11) im Reich des Zwergenkönigs. Es ist dies eine positive Umdeutung der auf die Kirche zurückgehenden Tradition, Theoderich der Große sei auf einem Rappen in den Ätna, d. h. in die Hölle gesprengt, angeregt vielleicht durch eine ‚Laurin‘-Fortsetzung, in
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Ed.: Laurin und der kleine Rosengarten. Hg. von Georg Holz. Halle 1897. Vgl. Joachim Heinzle: ‚Laurin‘. In: VL, Bd. 5 (1985), Sp. 625–630. „Heinrich von Ofterdingen / dis âventiure gesungen hât, / daz si sô meisterlîche stât. / des wâren ime die vürsten holt: / si gâben im silber unde golt, / pfenninge unde rîche wât“ (v. 2822–2827). Übers.: „Diese Erzählung hat Heinrich von Ofterdingen vorgetragen, so meisterhaft, dass ihm die Fürsten dafür ihre Huld schenkten und ihn mit Silber, Gold, Geld und kostbarer Kleidung begabten.“ Ofterdingen galt dieser Namennennung wegen bis ins 19. Jh. als Dichter eines Heldenepos. Vgl. Johannes Rettelbach: Heinrich von Ofterdingen zwischen Dichtung und Philologie. In: Archiv 236/151 (1999), S. 33–52. Zur jüngeren Vulgatversion vgl. Joachim Heinzle: Einführung in die mittelhochdeutsche Dietrichepik. Berlin, New York 1999, S. 160–162.
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der Laurins Oheim Walberan, der Herrr der Zwerge im Orient, zu einem Rachezug gegen Dietrich antritt. Ein thüringisches Interesse am ‚Laurin‘ bezeugt auch die Überlieferung. Eine im 14. Jahrhundert wohl in Erfurt entstandene Sammelhandschrift enthält neben kleineren Reimpaarerzählungen auch ‚Laurin‘ und ‚Rosengarten‘.176 Aus dem 15. Jahrhundert stammt eine weitere Sammelhandschrift wohl aus dem Raum Merseburg – Zeitz.177 Bleibt die Frage, wer der Adressat des ‚Wartburgkriegs‘ war und ob man mit einem solchen zu rechnen hat. Wer könnte an dem Gedicht und zumal am ‚Fürstenlob‘ interessiert gewesen sein? Nicht alle Literarhistoriker rechnen mit einem Auftraggeber.178 Geht man aus von der Entstehungszeit der vorgestellten drei Teilgedichte, gelangt man in die Zeit nach dem Übergang der Herrschaft in der Landgrafschaft an die Wettiner, und hier käme am ehesten Markgraf Heinrich III. von Meißen in Frage, in dessen Regierungszeit die Teile des Konglomerats zusammengefügt wurden. Man könnte sich jedenfalls vorstellen, dass das ‚Fürstenlob‘ mit seinem Preis des Ludowingers Hermann und seiner glanzvollen Hofhaltung, mit der Erinnerung also an einen berühmten Vorfahren und Vorgänger, in seinem politischen Interesse lag.179 Am Ende dieses Überblicks über die höfische Lyrik von der klassischen Zeit um 1200 bis zum Ausklang der Gattungstradition im ersten Drittel des 14. Jahrhunderts empfiehlt sich ein Ausblick auf einige Dichtungen, die teils die Grenzen der Gattung überschreiten, teils in anderen Gattungskontexten 176
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Pommersfelden, Gräfl. Schönbornsche Schlossbibl., Cod. 54, f. 77v–101r. Vgl. Wilhelm Schum: Erfurter Handschriften in auswärtigen Bibliotheken. In: Mitteilungen des Vereins für die Geschichte und Alterthumskunde von Erfurt 6 (1873), S. 253–279, hier 263. Zeitz, Stiftsbibl., 8° DHB Ms. chart. 83 (früher Cod. LXXXIV) ist ein kleinformatiger Sammelcodex, der ‚Laurin‘ f. 23r–46r in einer kürzenden Fassung. Ed.: Julius Zacher: Laurin, aus der Handschrift des Domcapitelarchivs zu Zeitz. In: ZfdA 11 (1859), S. 501–535. De Boor (Anm. 32), S. 422, dachte an eine thüringische Dichterschule, an „Männer, die sich als Nachfolger und Weiterbildner der großen Meister der klassischen Zeit, namentlich Wolframs, empfanden“. In ihrem Kreis könnte der Gedanke entstanden sein, im ‚Fürstenlob‘ die alten Meister um den großen Mäzen Hermann zu versammeln und noch einmal den Glanz seines literarischen Hofes heraufzubeschwören und damit zugleich das eigene Kunststreben zu bestätigen. „War der Hauptheld des Fürstenpreises Walther, so hat ein anderer im Rätselspiel die Aristie Wolframs hinzugefügt, ein dritter in der Totenklage den thüringischen Lokalgrößen, Biterolf und dem Tugendhaften Schreiber, die Hauptrolle gegeben. Man könnte sich vorstellen, daß das Gedicht vom Wartburgkrieg, wie es in unseren Handschriften vorliegt, aus einer Sammlung hervorgegangen ist, die einige Gleichstrebende aus ihren Gedichten zusammengestellt haben.“ Vgl. Helmut de Boor: Drei Fürsten im mittleren Deutschland. In: Fs. Ingeborg Schröbler. Tübingen 1973 (PBB 95. Sonderheft 1973), S. 238–257, hier 244. Ähnlich Joachim Heinzle: Vom hohen zum späten Mittelalter. Teil. 2. Wandlungen und Neueinsätze im 13. Jahrhundert (1220/30–1280/90). Kronberg/Ts. 1984 (Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zum Beginn der Neuzeit. Hg. von J. H. Bd. II/2), S. 130.
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stehen, aber mit der Spruchdichtung und der Literaturlandschaft Thüringen auf die eine oder andere Weise verbunden sind, wobei in jedem Fall ein besonderer Bezug auf Wolfram von Eschenbach, seine Werke, sein Wirken am Landgrafenhof und seinen Stil deutlich wird. Kein anderer Autor wirkte so stark auf die Dichter der Folgezeit wie er. Seine erzählenden Werke wurden fast drei Jahrhunderte abgeschrieben, bearbeitet und gelesen, waren im späteren Mittelalter also immer präsent.180 Die Verehrung Wolframs begann, wie erwähnt, schon zu seinen Lebzeiten. Die meisten Dichterkataloge nennen ihn mit besonderer Verehrung, und seit Wirnt von Grafenberg standen besonders die erzählenden Dichter unter seinem Einfluss. Im 13. und 14. Jahrhundert kann man eine regelrechte Wolfram- und eine Hartmannschule unterscheiden, und die bedeutendsten der späthöfischen Epiker suchten an beide Traditionen anzuknüpfen. Wolframs Name lebte auch in der Lyrik fort, in der meisterlichen Liedkunst und später im institutionalisierten Meistergesang der süddeutschen Reichsstädte.181 Für diese facettenreiche und eng mit dem mitteldeutsch-thüringischen Raum verbundene Rezeptions- und Wirkungsgeschichte des Dichters hat sich der Begriff der Wolfram-Nachfolge eingebürgert. Gemeint sind damit recht verschiedene Phänomene: Fortsetzungen und Erweiterungen seiner Erzählwerke wie die Fortsetzung des ‚Willehalm‘ durch Ulrich von Türheim (um 1245) und der ‚Rappoltsteiner Parzifal‘ (1331/36) von Claus Wisse und Philipp Colin,182 Umschreibungen seiner Romane in Prosa (‚Willehalm‘) oder auch in Strophen (‚Parzival‘), das Auftreten Wolframs in der Rolle des meisterlichen Laiendichters im ‚Wartburgkrieg‘,183 Werke, die wie der ‚Lohengrin‘ 180
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„Kein anderer mittelalterlicher Epiker ist breiter überliefert. Drei Jahrhunderte lang sind Wolframs Werke kopiert und weitergegeben worden.“ Bumke (Anm. III, 162), S. 31. Die ‚Kolmarer Liederhandschrift‘ schreibt Wolfram zwei Töne zu, und in einigen Schulkünsten über die Zwölf alten Meister, etwa in dem Lied Lupold Hornburgs, erscheint Wolfram unter den Begründern des Meistergesangs. Dieser Traditionsbezug weist in die Richtung der ‚Wartburgkrieg‘-Tradition, da Wolfram keine einzige Sangspruchstrophe verfasst hat. Zu den Eigentümlichkeiten der Wolfram-Nachfolge gehört, dass jene Fortsetzungen und Einschübe die Ausgangstexte an Umfang übertreffen. So zählt Wolframs ‚Parzival‘ knapp 25000, der ‚Rappoltsteiner Parzifal‘ von Wisse und Colin dagegen fast 37000 Verse. Ein Fragment der ‚Rennewart‘ betitelten ‚Willehalm‘-Fortsetzung in mehr als 36000 Versen, die Ulrich von Türheim um 1245 schuf, in Jena, ThULB, Ms. G.B. 32(5). Das PergamentDoppelblatt entstammt einer Handschrift, die in der ersten Hälfte des 14. Jh. in einer mitteldeutschen Schreibsprache geschrieben wurde. Vgl. Christoph Fasbender: Bruchstück einer unbekannten ‚Rennewart‘-Handschrift. In: ZfdA 134 (2005), S. 186–190. De Boor (Anm. 179), S. 255 f., beschrieb das durch den ‚Rätselspiel‘-Dichter entworfene „thüringische“ Wolfram-Bild so: „Er ist der wissende und tiefsinnig denkende meister, der durch den wahren Glauben gestärkt die gelehrt verschlüsselten Rätsel des heidnischen Zauberers Klingsor zu lösen weiß und Klingsors teuflischen Helfer Nasion überwindet. Diesem einseitig nach dem Meisterlichen hin sublimierten Bild des Dichters Wolfram entspricht die
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stofflich an seine Romane anknüpfen, aber auch die stilistische Nachahmung des verehrten Dichters bis hin zum Verfassen eigener Werke unter der Autorfiktion „Wolfram“.184 Es ist charakteristisch für die Rezeption Wolframs seit dem späteren 13. Jahrhundert, dass sie neben seinen eigenen Werken auch deren Erweiterungen und Bearbeitungen durch andere einschloss wie auch Dichtungen, die man ihm zuschrieb. Deutlich zeigt das etwa der Umstand, dass der Straßburger Drucker Johann Mentelin 1477 Wolframs ‚Parzival‘ und Albrechts ‚Jüngeren Titurel‘ in zwei Schwesterdrucken herausbrachte, in der Annahme, zwei Werke eines Dichters zu publizieren.185 Mit dem ‚Wartburgkrieg‘ verschränkt ist eine mitteldeutsche Dichtung, die heute den Titel ‚König Tirol‘ trägt.186 Dieser Titel bezeichnet allerdings kein kohärentes Gedicht, sondern drei Textkomplexe, die in keiner Handschrift gemeinsam überliefert sind und deren Zusammenhang problematisch ist. Gemeinsam ist ihnen das Personal (ein König Tirol und sein Sohn Fridebrant) und die Tirolstrophe, eine sangbare Strophe, die im 15. Jahrhundert als Mühlweise bekannt war und Wolfram von Eschenbach zugeschrieben wurde.187 Das erste Stück ist ein Rätselgedicht: Ein König legt seinem Sohn zwei geistliche bispel zur Auslegung vor, die dieser zu lösen weiß, indem er sie auf die Priester bezieht (24 Strophen). Das zweite Stück, wie das erste im Codex Manesse überliefert, ist ein Lehrgedicht: Ein König will seinen Sohn rechtes fürstliches Verhalten gegenüber seinen Untergebenen lehren (21 Strophen).
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Fortbildung von Wolframs dunkler Sprache und dunklem Stil zu der Pracht einer manieristischen geblümten Rede, die zu ihrem Verständnis wirklich der tiutære bedarf [...].“ Dieses Bild findet sich auch in der thüringischen Historiographie bei Friedrich Köditz. Vgl. Das Leben des heiligen Ludwig (Anm. III, 92), S. 12, 8–23. Stilistisch dem ‚Willehalm‘ verpflichtet ist etwa ‚Die Kreuzfahrt Landgraf Ludwigs des Frommen‘. Der anonyme Dichter des ‚Göttweiger Trojanerkriegs‘ (um 1280) nennt sich mehrfach Wolfram, z. B.: „Die dem kaysser warend tod, / Erschlagen lagend und erfaltt, / Ich Wolfran han sy gezaltt“ (v. 3574 ff.). Der Göttweiger Trojanerkrieg. Hg. von Alfred Koppitz. Berlin 1926 (DTM 29). In dem Heldenepos ‚Wolfdietrich‘ D (um 1300) heißt es: „daz sage ich, Wolferam, der werde, meister von Eschebach“ (Str. 969, 3). Vgl. John L. Flood: Johann Mentelin und Ruprecht von Pfalz-Simmern. Zur Entstehung der Straßburger ‚Parzival‘-Ausgabe vom Jahre 1477. In: Studien zu Wolfram von Eschenbach. Fs. Werner Schröder. Hg. von Kurt Gärtner u. Joachim Heinzle. Tübingen 1989, S. 197–209. Ed.: Winsbeckische Gedichte nebst Tirol und Fridebrant. Hg. von Albert Leitzmann. 3., neubearb. Aufl. von Ingo Reiffenstein. Tübingen 1962 (ATB 9), S. 76–96. Vgl. Ingo Reiffenstein: ‚König Tirol‘. In: VL, Bd. 5 (1985), Sp. 94–98; Christoph Gerhardt: Zu den Rätselallegorien in ‚Tirol und Fridebrant‘. In: Euph. 77 (1983), S. 72–94. Die Tirolstrophe ist einfacher gebaut als die Titurelstrophe, die wohl die Anregung lieferte. Sie besteht aus drei vierhebigen Reimpaaren, deren letztes durch eine Waise gespalten ist. Zur Mühlweise vgl. Repertorium der Sangsprüche und Meisterlieder des 12. bis 18. Jahrhunderts. Katalog der Texte. Älterer Teil. Bd. 5. Q–Z. Bearb. von Frieder Schanze u. Burghart Wachinger. Tübingen 1991, S. 579–582.
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Das dritte Stück ist nur in kläglichen Resten erhalten: zwei stark beschnittenen Pergament-Doppelblättern aus dem Grimm-Nachlass (18 vollständige und 39 fragmentarische, unzusammenhängende Strophen). Sie deuten auf einen Wolfram von Eschenbach verpflichteten phantastischen Abenteuerroman, dessen Protagonisten König Tirol und sein Sohn Fridebrant sind.188 Denkbar ist, dass Rätsel und Lehrgedicht Teile des offenbar umfangreichen, aber nur in kümmerlichen Bruchstücken überlieferten Romans waren.189 Nachwirkungen sind nur beim ersten Stück auszumachen. Das Rätselgedicht wirkte auf den ‚Wartburgkrieg‘, ablesbar an einer Strophe in ‚Zabulons Buch‘, die den sonst nirgends bezeugten König Tirol erwähnt. Als Entstehungszeit des Gedichts kommt der Zeitraum von 1230 bis 1250 in Frage.190 Seine Schreibsprache weist es in den hessisch-thüringischen Raum. Von ganz anderen Dimensionen ist eine in den späten 70er Jahren des 13. Jahrhunderts abgeschlossene Dichtung, über deren Verbindung mit der Literaturlandschaft Thüringen unterschiedlich geurteilt wurde: der ‚Jüngere Titurel‘.191 Der heute übliche Titel verweist auf das kühne Unterfangen des fast unbekannten Dichters, den 50 Jahre älteren ‚Titurel‘ Wolframs von Eschenbach, d. h. die im ‚Parzival‘ nur beiläufig erwähnte, tragisch endende Erzählung von dem Paar Sigune und Schionatulander,192 zu vollenden. Um die 188
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Erzählt wird von der Gefangennahme von Riesen, einer Königin und ihrem Hoffest, der Klage eines Fremden über einen verlustreichen Kampf sowie von zwei halpliuten und merwundern (Monstra), wobei Realien wie Dromedare und der Heidengott Tervigant in den Orient weisen, der bei Wolfram in der Gahmuret-Geschichte des ‚Parzival‘ wie auch im ‚Willehalm‘ gestaltet ist. Vgl. die Ritterlehre, die Parzival durch Gurnemanz erhält, und die Unterweisung des jungen Schionatulander durch Gahmuret im ‚Titurel‘. Die zeitlichen Grenzen bilden zum einen die epischen Werke Wolframs, auf die die ‚König Tirol‘-Strophen sich beziehen (mit Fridebrant von Schotten und Gahmuret werden Figuren des ‚Parzival‘ erwähnt), und zum anderen das ‚Wartburgkrieg‘-Teilgedicht ‚Zabulons Buch‘ mit einer Erwähnung des edelen künec Dirol (S 161, 12 = C 77, 12). Ed.: Albrecht von Scharfenberg. Jüngerer Titurel. Bd. I–II/2. Hg. von Werner Wolf. Bd. III/1–IV. Hg. von Kurt Nyholm. Berlin 1955–1995 (DTM 45, 55, 61, 73, 77, 79). Vgl. Dietrich Huschenbett: Albrecht, Dichter des ‚Jüngeren Titurel‘. In: VL, Bd. 1 (1978), Sp. 158–173. Im ‚Parzival‘ trifft der Held auf Sigune, eine Verwandte, die ihren toten Geliebten Schionatulander im Schoß hält. Sie klärt den unerfahrenen Jüngling, der noch nicht einmal seinen Namen kennt, über seine Identität auf und beantwortet seine naive Frage nach dem Schicksal des toten Ritters in ihrem Schoß mit den lakonischen Worten: „ein bracken seil gap im den pîn“ (141, 16) – „ein Brackenseil bracht’ ihm den Tod.“ Die I. Partie des ‚Titurel‘ erzählt die Kindheitsgeschichte von Sigune und Schionatulander (131 Strophen), die II. Partie entwirft die Exposition der leidvollen Erzählung vom Brackenseil (39 Strophen). Der seit seiner Kindheit in Minne mit der aus dem Gralgeschlecht stammenden Sigune verbundene junge Tschinotulander (so die Namenform bei Albrecht), ein Verwandter von Parzivals Vater Gahmuret, fängt auf einer Lichtung einen bracken (Spürhund) mit einem kostbar beschrifteten brackenseil (Leitseil). Sigune beginnt die Inschrift auf dem Seil zu lesen, eine
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beiden ‚Titurel‘-Partien Wolframs baute er ein monumentales Großepos, eine Weltalter und -räume umspannende Geschichte der Artus- und Gralwelt, die mit Troja beginnt, Christenwelt und Heidenwelt und Schauplätze in Europa, Afrika und Asien einbezieht und über Scheitern und Tod des Helden noch hinausführt. Albrecht stammte wohl aus Bayern, verfasste sein großes Epos jedoch in der Hauptsache im mittleren Deutschland. Sein Gedicht ist schon in der Stoffwahl Wolfram verpflichtet, aber auch formal, da es in einer aus dem ‚Titurel‘ entwickelten Strophenform abgefasst ist, die durch die Nibelungenstrophe angeregt war. Mit einer Zahl von 6327 Strophen (das entspricht etwa dem doppelten Umfang des ‚Parzival‘) ist der ‚Jüngere Titurel‘ die umfangreichste weltlich-erzählende Dichtung des gesamten 13. Jahrhunderts und zugleich das bedeutendste Werk in der Nachfolge Wolframs, das dessen fortdauernden Ruhm in den beiden folgenden Jahrhunderten wesentlich begründete.193 Im Bewusstsein des Spätmittelalters galt der ‚Jüngere Titurel‘ als der eigentliche ‚Titurel‘ Wolframs. Wenn man in jener Epoche zwischen den ursprünglichen Werken Wolframs und deren Bearbeitungen nicht mehr unterschied und den ‚Jüngeren Titurel‘ bis in die Zeit der Romantik Wolfram zuschrieb, so wohl auch deshalb, weil dessen Verfasser sich des Pseudonyms „Wolfram“ bediente und der Erzähler sich erst gegen Ende ih, Albreht nennt und nun von Wolfram in der 3. Person spricht, jedoch nur im Überlieferungszweig I (Handschriften ABCE).194 Nach anfänglicher Hochschätzung durch die Romantiker galt das nun nicht mehr Wolfram zugeschriebene Gedicht lange als ein schon seines schieren Umfangs, aber auch seiner manierierten Diktion wegen nur schwer genießbares, ja langweiliges Werk.195 Zu dieser negativen Beurteilung trug auch der Gebrauch der Wolfram-Fiktion bei, ließ sie sich doch als Anmaßung des nachgeborenen Dichters missverstehen.
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Tugendlehre, die später auf einem Fest am Artushof verlesen wird, da reißt der Hund sich los. In Sigunes Auftrag sucht Tschinotulander in den Besitz des Brackenseils zu gelangen, doch vergeblich. Nach einer langen Serie von Kämpfen findet er im Zweikampf mit Orilus, der ein Zaubergold des Barucs von Baldac einsetzt, den Tod. Für den bayerischen Bibliophilen Jakob Püterich von Reichertshausen, einen vorzüglichen Literaturkenner, war der ‚Jüngere Titurel‘, wie er 1462 in seinem ‚Ehrenbrief‘ erklärte, „das haubt ab teutschen puechen“ (Str. 100). Vgl. Klaus Grubmüller: Püterich, Jakob, von Reichertshausen. In: VL, Bd. 7 (1989), Sp. 918–923. „Die aventiure habende bin ich, Albreht, vil gantze“ (Str. 5961, 1). „Über die Aventiure gebiete vollständig ich, Albrecht“, also: „ich, Albrecht, bin Autor der ganzen Erzählung“. Über Wolfram heißt es: „man giht, wie dem von Eschenbach an siner hohen kunst dar an gebreche“ (Str. 5991, 4). Zu dieser Erzählerfiktion Volker Mertens: Wolfram als Rolle und Vorstellung. Zur Poetologie der Authentizität im ‚Jüngeren Titurel‘. In: Geltung der Literatur. Formen ihrer Autorisierung und Legitimierung im Mittelalter. Hg. von Beate Kellner, Peter Strohschneider, Franziska Wenzel. Berlin 2005 (Ph. Stud. u. Qu. 190), S. 203–226. Karl Lachmann: Wolfram von Eschenbach. 6. Ausgabe. Berlin, Leipzig 1926. Ndr. Berlin 1965, S. XXIX, tadelte „den ganzen langweiligen und albernen Titurel“.
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Die Entstehungsgeschichte des ‚Jüngeren Titurel‘ darf man sich so vorstellen.196 Albrecht begann seine Arbeit in den 60er Jahren im Auftrag dreier Fürsten: des Markgrafen Heinrich III. von Meißen und seiner beiden Söhne Albrecht und Dietrich.197 Einige Jahre später eskalierten die von dem älteren Sohn Albrecht verursachten schweren Zerwürfnisse im Haus Wettin, worauf Heinrich seine Söhne 1270 zu einer Art Sicherheitsvertrag zwingen musste.198 In dieser Situation verlor der Dichter die Förderung seiner Gönner, und die Arbeit an seinem zu fünf Sechsteln abgeschlossenen ritterlichen Kolossalgemälde geriet ins Stocken. Darauf weist die verklausulierte Klage, er habe keine Veranlassung mehr, jenen Fürsten „der mitte wol uf dFtscher terre“ (in der Mitte Deutschlands) für ihre Gaben zu danken, da die Freigebigkeit sich fern von ihnen niedergelassen habe.199 Albrecht wandte sich nun wieder nach Bayern und bemühte sich um die Unterstützung des Wittelsbachers Ludwig II., Herzogs von Bayern und Pfalzgrafen bei Rhein.200 Doch offenbar ohne 196
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Die vielfältigen Probleme der Forschung seien hier zumindest angedeutet: Ist Albrechts Heimat das mittlere Deutschland (Röll), das östliche Mitteldeutschland (Fromm) oder Bayern (de Boor), oder ist sie unbekannt (Huschenbett)? Ist er mit Albrecht von Scharfenberg identisch (Wolf) oder nicht (Heinzle), und verfasste er das ganze Epos, oder stammt der Schluss von einem anderen (Lachmann)? War er ritterlicher Herkunft (de Boor), Mönch oder Priester (Fromm)? Waren seine Gönner die Wittelsbacher (Wolf), Albrecht II. von Sachsen-Wittenberg (Röll) oder die Wettiner (de Boor), umschreibt Albrecht mit den drei Fürsten die göttlichen Personen der Trinität (Kern), oder sind seine Angaben über Gönner reine Fiktion? Zur neueren Forschung vgl. Thomas Neukirchen: Die ganze „aventiure“ und ihre „lere“. Der ‚Jüngere Titurel‘ Albrechts als Kritik und Vervollkommnung des ‚Parzival‘ Wolframs von Eschenbach. Heidelberg 2006 (Beih. zum Euphorion 52), S. 12–35. „Das großte Titurel-Werk war das Familienunternehmen dreier Fürsten aus dem Hause Wettin.“ De Boor (Anm. 179), S. 243. Die drei in der Prologstrophe 64 erwähnten fürstlichen Gönner dürften identisch sein mit den „fursten“ von Str. 5844. Zum Vertrag von Tharandt vgl. Patze (Anm. III, 26), S. 50; Rudolf Kötzschke u. Hellmut Kretzschmar: Sächsische Geschichte. Werden und Wandlungen eines Deutschen Stammes und seiner Heimat im Rahmen der Deutschen Geschichte. Bd. 1. Dargestellt von Rudolf Kötzschke. Dresden 1935, S. 130–132; Leist (Anm. 9), S. 10. Die kontrovers gedeutete Absagestrophe 5844 (H 5768), die sich nur in einem Teil der Überlieferung findet, lautet vollständig: „Wer dise fursten wæren, der wil ich gerne swigen. / si lant sich niht vermæren, wan ich ir gabe nimmer darf genigen. / si sint der mitte wol uf dFtscher terre / und sint der kerge nahen: diu milte, diu hat in gehuset verre!“ Übers.: „Wer diese Fürsten [die bisherigen Förderer des Werks] wären, darüber möchte ich schweigen. Sie bekannt zu machen, besteht kein Anlass; denn für ihre Gabe muss ich mich nun nicht mehr dankend verneigen. Sie leben in der Mitte Deutschlands in der Nachbarschaft der Sparsamkeit. Großzügigkeit hat sich fern von ihnen niedergelassen.“ Um 1270 lagen also rd. 5800 Strophen vor. Nach dem Verlust der Protektion durch die Wettiner war die WolframFiktion hinfällig, deshalb nun die Nennung des Namens Albrecht. Das geht aus dem 1817 von Sulpiz Boiserée entdeckten ‚Heidelberger Verfasserbruchstück‘ hervor, das an den Wittelsbacher adressierte Huldigungsstrophen enthält. Vgl. Huschenbett (Anm. 191), Sp. 171. Die Erwähnung Ludwigs II. des Strengen (1253–1294) ergibt einen terminus ad quem: der ‚Jüngere Titurel‘ muss 1294 abgeschlossen vorgelegen haben.
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Erfolg; denn die letzten 300 Strophen scheint er wiederum im mittleren Deutschland verfasst zu haben.201 In der vollständigen Wiedergabe der ‚Titurel‘-Stücke, der Aufnahme von Partien des ‚Parzival‘ und im Rekurs auf den ‚Willehalm‘ ist der ‚Jüngere Titurel‘, als dessen Helden Albrecht Gahmuret, Parzival und Tschinotulander nennt (Str. 5752), zunächst ein Werk der Wolfram-Nachfolge.202 Aber er ist auch und zumal eine künstlerisch eigenständige Dichtung, das ehrgeizigste und anspruchsvollste Unternehmen späthöfischer Erzählkunst, was nicht zwangsläufig heißt, dass Albrecht ein großer Dichter war.203 Mit der Wiedergabe der zweiten wolframschen ‚Titurel‘-Partie liegt erst ein Fünftel des Werks vor. Es folgen noch rd. 5000 Strophen, in denen Albrecht die Geschichte Tschinotulanders von seinem Versprechen an, das Brackenseil zu erwerben, erzählt: seine Kämpfe im Dienst des Barucs Akerin und auf seiten des Königs Artus gegen den römischen Kaiser Lucius bis zu seinem Zweikampf mit Orilus, in dem er den Tod findet. Darauf folgen in rd. 1000 Strophen die Geschichte Parzivals und die weitere Geschichte der Gralleute und des Grals bis zu dessen Überführung nach „St. Thomas Land“ (Indien), worauf am Ende durch den greisen Gralkönig Titurel das Geheimnis des Grals gelüftet wird: Es handelt sich um die Abendmahlsschale des Joseph von Arimathia. Ein Werk eigenen Rangs ist der ‚Jüngere Titurel‘ auch in formaler und stilistischer Hinsicht. An Wolframs manierierten Altersstil anknüpfend, verfasste Albrecht sein für ein elitäres Publikum (das natürlich die WolframMaske durchschaute und als Gesellschaftsspiel nahm) bestimmtes Epos in einem für das spätere Mittelalter charakteristischen Stil, den man als Geblümten Stil bezeichnet, zu dessen Kennzeichen Genitivumschreibungen, Fremdwörter, Synonymreihen, dunkle Metaphern und schwer verständliche Bilder und aparte Reime gehören und der in seiner artifiziell-verrätselten Diktion zur 201
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Die Anm. 194 angeführte Str. 5961 (H 5883) fährt fort: „von dem wal al drabende bin ich, sit mir zebrach der helfe lantze / an einem fursten, den ich wol kunde nennen: / in allen richen verre, in dFtschen landen moht man in erkennen.“ Übers.: „Nachdem mir die Lanze der Hilfe an einem Fürsten, dessen Namen ich wohl nennen könnte, zerbrach, verlasse ich den Kampfplatz zu Pferde.“ „Die Forschung ist recht einhellig der Meinung, daß die mitteldeutsch-thüringische große Wolfram-Bewegung um die Jahrhundertmitte, die im ‚Wartburgkrieg‘ Wolfram zur literarischen Figur avancieren ließ, im ‚Jüngeren Titurel‘ ihren äußersten und prägnantesten Ausdruck gefunden habe.“ Hans Fromm: Der ‚Jüngere Titurel‘. Das Werk und sein Dichter. In: H. F.: Arbeiten zur deutschen Literatur des Mittelalters. Tübingen 1989, S. 235–257, hier 237. Ähnlich Glauch (Anm. III, 142), S. 201. Der ‚Jüngere Titurel‘ ist weit mehr als eine Erzählung über Sigune und Tschinotulander, wiederholt er doch in großem Umfang Figuren und Szenen des ‚Parzival‘. Insofern ist der Begriff der Fortsetzung kaum angemessen. Über Wolframs Gesamtwerk hinaus benutzte Albrecht nur wenige Quellen; am wichtigsten ist hier der fingierte Brief des Priesterkönigs Johannes oder ‚Presbyterbrief‘ (vgl. Anm. 369).
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Unverständlichkeit tendiert. Albrechts Werk gilt als das bedeutendste Zeugnis dieser Stilrichtung im 13. Jahrhundert.204 Als Beispiel sei eine Strophe aus der höfisch-christlichen Tugendlehre zitiert, die in das Brackenseil eingraviert ist: Pfaffen unde vrowen an eren nieman krenke. sin wirde wirt verhowen; ich wen, er hoher eren anker senke in schanden grunt, da er immer lit versunken. nu hFte wol der verte, du mùst mich anders ungevaren bedunken! (Str. 1909).205
Wie die reiche Überlieferung des ‚Jüngeren Titurel‘ über fast zwei Jahrhunderte hinweg bezeugt, war seine Akzeptanz, obwohl Albrecht sich wohl an einen engeren Kreis wandte, keine geringere als die der Wolframschen Erzählwerke. Hier kann abschließend festgehalten werden: Nach allem, was wir wissen, sind wir berechtigt, im ‚Jüngeren Titurel‘ ein Werk der thüringisch-meißnischen Literaturlandschaft zu sehen, deren Konturen im späteren Mittelalter freilich noch der Erhellung bedürfen.206 Albrechts Angaben über seine Gönner lassen sich wohl doch am zwanglosesten auf das Wettiner Fürstenhaus beziehen, und auch die Wolfram-Fiktion erklärt sich auf dem Hintergrund thüringischmitteldeutscher Wolfram-Rezeption. Größeres Gewicht noch kommt dem Umstand zu, dass Albrecht viermal dem Landgrafen Hermann huldigt, der zum damaligen Zeitpunkt bereits mehr als ein halbes Jahrhundert tot war. Ein Wittelsbacher hätte am Preis des Ludowingers, dessen Mäzenatenrolle bereits mythisch verklärt war, kaum interessiert sein können, während das Lob des berühmten Vorfahren Enkel und Urenkeln, Heinrich III. und seinen Söhnen, nur recht sein konnte. Am Ende dieses Ausblicks ist der bereits erwähnte ‚Lohengrin‘ zu nennen. Er entstand nicht in Mitteldeutschland, sondern in den 80er Jahren in Bayern, vielleicht in der Umgebung des Wittelsbachers Ludwig II.207 Der Dichter nennt sich in einem Strophenakrostichon Nouhuwius, seine Sprache weist ihn nach Bayern, und besonders in stilistischer Hinsicht ist er dem ‚Jüngeren Titurel‘ verpflichtet. Mit der thüringisch-mitteldeutschen Literaturlandschaft 204
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De Boor (Anm. 179), S. 256: „Es ist die bewußt verrätselte Sprache einer gelehrten Elite, die nur der Kenner, der meister verstehen und würdigen kann. Zu dieser Stilnachfolge gehört auch die Verwendung der Strophe für umfängliche Dichtungen.“ H 1872. Übers.: „Niemand soll Geistliche und Frauen von Stand in ihrer Ehre kränken. Sein Ansehen erführe sonst eine tödliche Verletzung. Er versenkte, so meine ich, den Anker hoher Ehrenhaftigkeit im Abgrund der Schande, in dem er für immer versunken bleibt. Nun achte wohl auf den Weg, ansonsten muss ich dich für unerfahren halten.“ Vgl. die Problemskizze bei de Boor (Anm. 179), S. 255–257. Kurt Ruh: Epische Literatur des deutschen Spätmittelalters. In: Europäisches Spätmittelalter. Hg. von Willi Erzgräber. Wiesbaden 1978 (Neues Handbuch der Literaturwissenschaft), S. 117–188, hier 127, rechnete mit einem „Empfängerkreis auf der Wartburg“. Vgl. Cramer (Anm. 167), S. 179; Bumke (Anm. III, 14), S. 196.
3. ERZÄHLUNGEN
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ist der ‚Lohengrin‘ gleichwohl in mehrfacher Hinsicht verbunden. Mit der Schwanrittererzählung knüpft er stofflich an den ‚Parzival‘, an die Geschichte des Parzivalsohns Loherangrin, an und gehört damit ebenfalls in den Kontext der thüringischen und mitteldeutschen Wolfram-Nachfolge (bereits erwähnt wurde die Erzählerrolle Wolfram im ‚Lohengrin‘). Deutlicher noch wird seine Verbindung mit Thüringen durch die Aufnahme des Schwarzen Tons aus dem ‚Wartburgkrieg‘, und wie ebenfalls bereits erwähnt, sind die ersten 30 Strophen des Werks dem ‚Rätselspiel‘ entnommen, ohne dass die Gründe für diese Übernahme restlos geklärt wären. Früher vermutete man daher, der ‚Lohengrin‘ sei das Werk zweier Verfasser. Die ersten 67 Strophen wollte man einem thüringischen Dichter zuschreiben, den weiteren Text dem bayerischen Dichter, doch bleibt diese Annahme spekulativ.208
3. Erzählungen Mit der Spruchdichtung war bereits eine Gattung zu behandeln, deren Anfänge zwar im 12. Jahrhundert liegen, deren eigentliche Entfaltung jedoch erst dem 13. angehört. Ähnlich verhält es sich mit der Erzählung.209 Die kleinere Erzählung war wohl die erfolgreichste literarische Neuschöpfung des späteren Mittelalters, und sie wurde, wie ihr Fortleben bis ins 16. Jahrhundert erweist, neben Großformen wie höfischem Roman und Heldenepos durchaus geschätzt.210 Die im dritten Viertel des 13. Jahrhunderts einsetzenden Sammelhandschriften überliefern insgesamt Tausende kleinerer Reimpaarerzählungen. Den Kernbereich ihres Bestandes bilden schwankhafte Erzählungen von Streichen und Betrügereien, Leichtgläubigkeit und komischen Missverständnissen und zumal von erotischen Verwicklungen, Erzählungen, deren Material
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Vgl. Cramer 1971 (Anm. 167), S. 34–45. Ähnlich dem ‚Jüngeren Titurel‘ galt auch der ‚Lohengrin‘ lange als ein Werk Wolframs von Eschenbach. Man hat diese bis ins 15. Jh. zumeist in Versen abgefassten Erzählungen früher als „Novellen“ und später mit dem Begriff „Märe“ von mhd. mæere ‚Erzählung‘ bezeichnet, an dem sich eine rege gattungstheoretische Debatte entzündete. Daneben ist der Kollektivbegriff „Kleinepik“ üblich, der schwankhafte und höfische Erzählungen ebenso einschließt wie Fabel, Bispel, Mirakel und andere Erzähltypen. Vgl. den knappen Überblick bei Gerhard Köpf: Märendichtung. Stuttgart 1968 (SM 166), sowie de Boor (Anm. 32), S. 221–297. Neueren Datums: Johannes Janota Orientierung durch volkssprachige Schriftlichkeit (1280/90–1380/ 90). Tübingen 2004 (Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zum Beginn der Neuzeit III/1), S. 253–268; Klaus Grubmüller: Die Ordnung, der Witz und das Chaos. Eine Geschichte der europäischen Novellistik im Mittelalter: Fabliau – Märe – Novelle. Tübingen 2006. Vgl. auch Anm. 211.
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IV. WANDLUNGEN VOM HOCH- ZUM SPÄTMITTELALTER
gleichsam die Dummheit und die Sünde sind. Die neue Gattung entstand in einer Zeit, in der Laienorientierung und Lebenslehre großen Raum gewannen – erinnert sei an die Spruchdichter und das von ihnen beanspruchte Lehreramt und an die lehrhaften Partien des ‚König Tirol‘ . Die Erzählungen sind grundsätzlich lehrhaft; ihre Verfasser wollen Regeln menschlichen Zusammenlebens illustrieren, Maßstäbe rechten Verhaltens vermitteln. Im ‚Klugen Knecht‘ des Strickers, der als Begründer der Gattung gelten darf, löst der Knecht den Konflikt, indem er eine gleichnishafte Geschichte (in der Geschichte) erzählt, die seinem Herrn, dem Bauern, zur Erkenntnis verhilft. Zur Beliebtheit der Gattung dürfte auch ihr engerer Wirklichkeitsbezug beigetragen haben; debattiert der höfische Roman Werte und Normen, setzt die Erzählung diese voraus. Eine solche, in unzähligen Erzählungen verhandelte Norm ist die Unterordnung der Frau unter den Mann, ihren meister. Die weltlichen Erzählungen des späteren Mittelalters lassen sich drei Typen zuordnen: Neben einer großen Zahl von Schwankerzählungen stehen solche in der Tradition der höfischen Erzählkunst, und eine dritte Gruppe bilden moralisch-exemplarische Geschichten. Beliebte Themen sind der listig arrangierte Ehebetrug oder seine Entdeckung und Bestrafung, die schlaue Rettung aus drohender Gefahr, der Kampf zwischen Mann und Frau um die Herrschaft, erotische Naivität, Schelmenstreiche und Betrügeren, komische Missverständnisse, Beispiele treuer Liebe bis in den Tod, endlich die Demonstration allgemein-menschlicher Laster. Die Grenzen zur geistlichen Erzählung können fließend sein. Ein Beispiel ist die im 13. Jahrhundert entstandene fromme Erzählung vom Mönch Felix, der ins Paradies entrückt wird und nach seiner Rückkehr alles verändert findet – die Variation einer verbreiteten Entrückungslegende. Die Sprache der Erzählung weist in den mitteldeutschen Raum; doch ob sie, wie man meinte, von einem Zisterzienser in Südthüringen verfasst wurde, bleibt ungewiss.211 Unser Wissen über Autoren, Vortrag und Publikum beschränkt sich auf Hinweise in den Texten. Als Dichter begegnen adlige Dilettanten, Hofbeamte, Handwerker und Berufsdichter wie Konrad von Würzburg. Vielfach kennen wir ihre Namen, darunter sind Künstlernamen wie der Stricker, der Freudenleere, Niemand. Den Vortrag der Texte denkt man sich nach dem Abendessen in geselliger Runde, nach Musik und Tanz.212 Doch wir wissen fast nichts über das Verhältnis von Dichtern und 211
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Typologie und Themenschwerpunkte nach Hanns Fischer: Studien zur deutschen Märendichtung. 2., durchgesehene u. erweiterte Aufl. besorgt von Johannes Janota. Tübingen 1983, S. 94–100. Einen südthüringischen Zisterzienser als Autor vermutete Erich Mai: Das mittelhochdeutsche Gedicht vom Mönch Felix auf textkritischer Grundlage philologisch untersucht und erklärt. Berlin 1912 (Acta Germanica 4), S. 53 und 103. Vgl. Nigel F. Palmer: ‚Mönch Felix‘. In: VL, Bd. 6 (1987), Sp. 646–469. Vgl. Fischer (Anm. 211), S. 269–271.
3. ERZÄHLUNGEN
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bloß reproduktiv tätigen Sprechern (Deklamatoren), über das Publikum und seine literarische Bildung, über die Auftraggeber und Besitzer der Sammelhandschriften. Anders auch als im Fall der höfischen Romane kann man für die Erzählungen des 13. und 14. Jahrhunderts nicht mehr mit fürstlichen Auftraggebern rechnen. Hinsichtlich ihrer Entstehungsumstände gelangt man daher über bloße Vermutungen kaum einmal hinaus. Hier liegt zugleich die Erklärung für den scheinbaren Widerspruch, dass einerseits auf der Karte in Hanns Fischers ‚Studien zur deutschen Märendichtung‘ in Thüringen eine einzige Erzählung, zudem mit Fragezeichen, verzeichnet ist, anderseits aber, wie der Bearbeiter von von der Hagens ‚Gesamtabenteuer‘ konstatierte, „Mitteldeutschland nicht nur an der Märendichtung, sondern auch an der handschriftlichen Überlieferung der Gattung beträchtlichen Anteil hat“.213 Auch die jüngste Zusammenstellung verbindet mit Thüringen eine größere Zahl von Texten.214 Wie verhält es sich nun tatsächlich? Die Antwort erfordert einige Differenzierungen. Grundsätzlich ist zu unterscheiden zwischen Erzählungen, die in Thüringen verfasst wurden, wobei wir über die Autoren mit einer Ausnahme keine Kenntnisse besitzen, und solchen, die hier lediglich abgeschrieben und gelesen wurden. Doch wird eine solche Unterscheidung nach Produktion und Rezeption dem literarischen Leben nur partiell gerecht. Überlieferungs- und sprachgeschichtliche Indizien belegen eine rege Pflege der kleineren Reimpaarerzählung in Thüringen. Teils kann die thüringische Herkunft des Autors wahrscheinlich gemacht werden, teils weist der Schreibdialekt einer Handschrift nach Thüringen, und eine Erzählung kann hier entstanden und später andernorts überarbeitet worden sein oder umgekehrt. Für diese Prozesse der Produktion, Tradierung und Rezeption einige Beispiele. Eine umfangreichere Sammlung von Erzählungen wurde um die Mitte des 14. Jahrhunderts wahrscheinlich in Ostthüringen zusammengestellt.215 Die 213
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Vgl. Fischer (Anm. 211), Karte 1, nach S. 542. Zitat: Heinrich Niewöhner: Erfurter Bruchstücke einer mitteldeutschen Bispel- und Märensammlung. In: PBB 65 (1942), S. 175–181, hier 175. Niewöhner plante eine Neubearbeitung der Anthologie ‚Gesamtabenteuer‘, die von der Hagen nach der Registerüberschrift einer mittelalterlichen Handschrift benannte; doch ist sein ‚Neues Gesamtabenteuer‘ nicht über einen Band hinausgelangt. Beck (Anm. II, 68), S. 277–296, behandelte: Stricker, ‚Das heiße Eisen‘, ‚Rittertreue‘, ‚Der Ritter mit den Nüssen‘, ‚Dulciflorie‘, ‚Die Heidin‘, ‚Schampiflor‘, ‚Der Schüler zu Paris‘ A, ‚Frauentreue‘, ‚Die halbe Birne‘ A, ‚Mönch Felix‘, Zwickauer, ‚Des Mönches Not‘, ‚Das Frauenturnier‘, Sibote, ‚Frauenzucht‘, Rüdiger von Munre, ‚Irregang und Girregar‘, Heinrich Rafold, ‚Der Nussberg‘. ‚Dulciflorie‘ ist weiter westlich, vielleicht im Rheinfränkischen entstanden. Zum Gattungsstatus von ‚Mönch Felix‘ s. o. Zu ergänzen wäre ‚Der Reiher‘. Torun´, UB, Rps 10/I. Vgl. Ralf G. Päsler: Katalog der mittelalterlichen deutschsprachigen Handschriften der ehemaligen Staats- und Universitätsbibliothek Königsberg. Nebst Beschreibungen der mittelalterlichen deutschsprachigen Fragmente des ehemaligen Staatsarchivs Königsberg. Hg. von Uwe Meves. München 2000 (Schriften des Bundesinstituts für
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IV. WANDLUNGEN VOM HOCH- ZUM SPÄTMITTELALTER
erhaltenen 19 Pergamentblätter bewahren – mehr oder minder vollständig – drei Stücke.216 In größerem Umfang ist eine etwas jüngere Papierhandschrift überliefert, die ebenfalls in Thüringen, vielleicht in Erfurt entstand; ihre Sprache gilt als ostmitteldeutsch-thüringisch.217 Die erhaltenen Seiten bieten neben anderen Texten eine Sammlung von fünf Erzählungen.218 Hinzu kommen Fragmente aus verschiedenen Handschriften des 14. Jahrhunderts, die Erzählungen des Strickers und anderer Autoren enthalten.219 Nur ein Teil dieser Texte ist in Thüringen auch entstanden. Die Handschriften, deren Entstehungsort sich in keinem Fall genauer bestimmen lässt, belegen mithin die Wanderung von Erzählungen von einer Literaturlandschaft in die andere. Dass man sich den mittelalterlichen Literaturbetrieb weder statisch noch kleinräumig vorstellen darf, zeigt die Erzählung ‚Frauenzucht‘ (um 1250).220 Ihr Verfasser war Thüringer, aber sein Wirkungsort der Hof des Staufers Manfred von Sizilien. Das wissen wir aus der ‚Österreichischen Reimchronik‘, in der Ottokar von Steiermark in einer Liste der am Hof tätigen Unterhaltungskünstler auch von Ertfurt meister Sîbot (v. 328) nennt.221 Nun ist weder die Identität des von Ottokar erwähnten videlaere (Spielmann) mit dem Dichter Sibote strikt beweisbar noch Schröders Annahme, dieser könne „sehr wol ein Erfurter gewesen sein“222. Doch weist den Dichter seine Reimsprache als Thüringer aus, zudem findet sich die breit überlieferte Erzählung auch in einer der genannten Sammelhandschriften thüringischer Provenienz.223 Sibote
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ostdeutsche Kultur und Geschichte 15), S. 106–108. 1. Sibote, ‚Frauenzucht‘, 2. Rüdiger von Munre, ‚Studentenabenteuer‘ B, 3. Heinrich Rafold, ‚Der Nussberg‘. 2. und 3. sind nur hier überliefert. Pommersfelden, Gräfl. Schönbornsche Schlossbibl., Cod. 54. Erhalten sind 133 Blätter. 1. ‚Der Schüler zu Paris‘ A, 2. Stricker, ‚Das heiße Eisen‘, 3. ‚Die Heidin‘ A, 4. ‚Schampiflor‘, 5. ‚Die halbe Birne‘ A. Wahrscheinlich enthielt die heute am Anfang und am Ende unvollständige Handschrift weitere Erzählungen. Berlin, SBB PK, Fragm. 113, Sammelhandschrift, um 1350, ostmitteldeutsch, Zwickauer, ‚Des Mönches Not‘; ebd., mgq. 663, Sammelhandschrift, um 1350, ostmitteldeutsch, ‚Dulciflorie‘, ‚Frauentreue‘; Erfurt, Bistumsarchiv, Dt. Fragmente 4, erste Hälfte 14. Jh., thüringischhessisch, ‚Rittertreue‘; Dt. Fragmente 5, zweites Viertel 14. Jh., thüringisch-hessisch, Stricker, ‚Pfaffe Amis‘, Volrat, ‚Die alte Mutter‘; Freiberg/Sa., Bibl. des Geschwister-SchollGymnasiums, ohne Sign., um 1300, mitteldeutsch oder thüringisch, ‚Das Frauenturnier‘; Römhild, Pfarrarchiv der Stadt- und Stiftskirche, Nr. 19/17, um oder nach 1350, bairisch oder mitteldeutsch nach bairischer Vorlage, Stricker, ‚Das heiße Eisen‘, ‚Die drei Wünsche‘. Ed.: Cornelie Sonntag: Sibotes ‚Frauenzucht‘. Kritischer Text und Untersuchungen. Hamburg 1969 (Hamburger philologische Studien 8). Zitate nach: Neues Gesamtabenteuer (Anm. 228). Österreichische Reimchronik. (Anm. 128). Die Partie über König Manfreds „videlære“ v. 303–355. Vgl. Hans-Joachim Ziegeler: Sibote. In: VL, Bd. 8 (1992), Sp. 1134–1138. Edward Schröder: Erfurter Dichter des dreizehnten Jahrhunderts. In: ZfdA 51 (1909), S. 143–156, hier 155. Vgl. auch Fischer (Anm. 211), S. 180 f. In der Anm. 215 genannten ehemals Königsberger, heute Thorner Handschrift, f. 1ra–6ra.
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variiert das Thema von der Zähmung einer Widerspenstigen. Ein Ritter nimmt ein übelez wîp zur Frau und schüchtert sie massiv ein, indem er zunächst seinen Habicht tötet, dann seinen Hund, endlich sein Pferd, worauf sie ihm als Reittier dienen muss. Bei einem Besuch der Schwiegereltern erklärt er dem Vater, er werde auch dessen Frau „heilen“. Er lässt sie binden, fügt ihr am Schenkel eine tiefe Wunde zu und zeigt ihr darauf eine bereitgehaltene Schafsniere mit den Worten: das sei der „Zornbraten“, der ihr bisheriges Verhalten bewirkt habe.224 Den Schluss bildet der Rat des Erzählers an alle Frauen, „daz si ir manne warten baz / danne disiu vrouwe tæte!“ (v. 822 f.) Etwas jünger ist die Erzählung ‚Rittertreue‘ (1250/70), verfasst von einem thüringischen Dichter, der für ein ritterliches Publikum arbeitete.225 Graf Willekin von Muntaburc löst auf dem Weg zu einem Turnier, das eine Landesherrin (wohl in Italien) um ihre Hand ausrufen lässt, mit seiner ganzen Barschaft, 70 Mark, bei einem Bürger einen verstorbenen Ritter aus, der im Mist verscharrt wurde, weil er verschuldet in dem Haus gestorben war. Für das Turnier leiht er sich von seinem Gastgeber, dem Münzmeister der Stadt, Geld. Ein fremder Ritter überlässt ihm sein Streitross, doch muss er ihm die Hälfte seines Turniergewinns versprechen. Tatsächlich gewinnt er das Turnier und vermählt sich mit der Landesherrin. Da erscheint abends nach dem ersten Beilager der frühere Besitzer des Pferdes und fordert seinen Anteil an der Braut. Schweren Herzens tritt Willekin ihm, um nicht wortbrüchig zu werden, die Frau für die zweite Nacht ab. Da gibt sich ihm der Fremde zu erkennen: es ist der Geist des Ritters, den er auslöste. Er verzichtet auf alle Ansprüche und Willekin kann dem Münzmeister das geliehene Geld zurückzahlen und damit abermals Vertragstreue beweisen. Den Schluss bildet der an die Ritter gerichtete Appell, die triuwe (Verlässlichkeit) hochzuhalten: „Ir ritter, halt die triuwe wert; / sent iu Got hie niht ein pfert, / Er gibt iu dort ze lône / daz himelrîche schône“ (v. 859–862).226 Im Zentrum der Erzählung steht der immaterielle Wert der „triuwe“ als einer Lebenshaltung, die aus dem ritterlichen Ehrenkodex erwächst. Besonderes Interesse verdient die Überlieferung. 224
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Mit Zorn, lat. ira, wird eine der sieben Todsünden thematisiert. In dem französischen Fabliau, dem Sibotes Erzählung am nächsten steht, erklärt der Schwiegersohn, die Mutter habe zwei männliche Hoden, die die Ursache ihres unleidlichen Wesens seien. Ed.: Gesamtabenteuer. Hundert altdeutsche Erzählungen: Ritter- und Pfaffen-Mären, Stadtund Dorfgeschichten, Schwänke, Wundersagen und Legenden [...]. Hg. von Friedrich Heinrich von der Hagen. Bd. 1–3. Stuttgart, Tübingen 1850. Ndr. Darmstadt 1961, Bd. 1, S. 105–128, Nr. 6; Mittelhochdeutsche Novellen. II. Rittertreue. Schlegel. Hg. von Ludwig Pfannmüller. Bonn 1912 (Kleine Texte für Vorlesungen und Übungen 95), S. 5–26. Vgl. Karl-Heinz Schirmer: ‚Rittertreue‘. In: VL, Bd. 8 (1992), Sp. 110–112; Ulla Williams: ‚Rittertreue‘. In: Killy, Bd. 9 (1991), S. 489; de Boor (Anm. 32), S. 257 f. Übers.: „Darum, Ritter, haltet die Treue in Ehren. Schenkt Gott euch nicht für das irdische Leben ein Pferd, so wird er euch für das künftige Leben mit dem Himmelreich belohnen.“
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IV. WANDLUNGEN VOM HOCH- ZUM SPÄTMITTELALTER
Während die älteren Ausgaben der ‚Rittertreue‘ überwiegend auf der Heidelberger Sammelhandschrift Cpg 341 beruhen, die in Nordböhmen hergestellt wurde, machte Albert Leitzmann 1936 mit dem Erfurter Fragment, das etwa ein Drittel des Versbestands enthält, einen Textzeugen zugänglich, der einen weit besseren und ursprünglicheren Text bietet, da er aus dem thüringischen Umkreis des anonymen Dichters stammt.227 Erfurter und Heidelberger Handschrift zeigen zugleich, dass die ‚Rittertreue‘ zu jenen Erzählungen thüringischer Provenienz gehört, die überregionale Verbreitung erlangten. Von zwei Schwankerzählungen gilt als sicher, dass sie um 1300 in Thüringen entstanden. ‚Der Reiher‘ handelt von einer Auseinandersetzung zwischen Mann und Frau, die diese zu ihren Gunsten zu entscheiden weiß.228 Ein Mann möchte einen Reiher, den er mit einem gezähmten Hahn jagte (eine Parodie auf die im Adel beliebte Beizjagd), seinem Herrn zum Mahl vorsetzen; doch die Frau verspeist den Leckerbissen mit ihrer Gevatterin. Den Zorn ihres Gemahls fürchtend, überredet sie jene, sie in der nächsten Nacht im Ehebett zu vertreten. Nachts zerschlägt der Mann drei Ruten auf dem Rücken der Gevatterin und schneidet ihr die Zöpfe ab. Er ist daher am nächsten Morgen aufs höchste erstaunt, seine Frau unversehrt und im üblichen Haarschmuck wiederzusehen. Nun ist er bereit, sich von ihr einreden zu lassen, dass er nicht recht bei Sinnen sei. Der Anonymus, der sich als Behendigaere (geschickter Mann, v. 26) einführt, kündigt ein hovelichez mære (v. 25) an, eine Erzählung also, bestimmt für ein höfisches Publikum. Dieses muss, wie eine Anspielung auf die heldenepischen Erzählungen um Dietrich von Bern zeigt, literarisch beschlagen gewesen sein.229 Die Erzählung fand Eingang in die großen Sammelhandschriften, die in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts entstanden. Auch in der zeitgleich in Thüringen entstandenen Erzählung ‚Schampiflor‘ (462 Verse), deren Namen auf eine französische Vorlage deuten, ist die Frau die intellektuell Überlegene und weiß sich durch Reaktionsschnelligkeit und 227
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Vgl. Albert Leitzmann: Erfurter Fragmente der Rittertreue. In: PBB 60 (1936), S. 305–320. Abdruck des Fragments S. 307–313. Erfurt, Bistumsarchiv, Dt. Fragmente 4 (vgl. Anm. 219) fand um 1600 im Raum Mühlhausen als Akteneinband Verwendung. Nach Walter Röll: Zur ‚Rittertreue‘. In: PBB (T) 97 (1975), S. 59–67, hier 59, stammt das Fragment „wohl geographisch aus dem weiteren thüringischen Wirkungskreis des Autors“. Ed.: Neues Gesamtabenteuer. Das ist Fr. H. von der Hagens Gesamtabenteuer in neuer Auswahl. Die Sammlung der mittelhochdeutschen Mären und Schwänke des 13. und 14. Jahrhunderts. Bd. I. Hg. von Heinrich Niewöhner. 2. Aufl. hg. von Werner Simon, mit den Lesarten besorgt von Max Boeters u. Kurt Schacks. Dublin, Zürich 1967, S. 100–107, Nr. 15. Übers.: Altdeutsches Decamerone. Hg. u. übertragen von Wolfgang Spiewok. Berlin 1982, S. 252–261. Vgl. Karl-Heinz Schirmer: ‚Der Reiher‘. In: VL, Bd. 7 (1989), Sp. 1141–1142; ders.: Der mittelhochdeutsche Schwank vom Reiher – eine Parodie. In: Das Märe. Hg. von K.-H. S. Darmstadt 1983, S. 183–202. Wenn es die beiläufige Bemerkung, der Mann sei in Wolfhartes muote (v. 374) zu Bett gegangen, verstand, so war es mit Epen wie ‚Nibelungenlied‘ und ‚Dietrichs Flucht‘ vertraut.
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Schlagfertigkeit aus einer prekären Lage zu befreien. Schampiflor, eine wohlsituierte Pariser Bürgerin, hat nach längerem, durch eine tribe (Kupplerin) vermittelten Werben endlich nachgegeben und ist bereit, sich mit Rupart, dem Bruder des englischen Königs, im Haus der Kupplerin zu treffen. Als das Rendezvous vereinbart ist und Schampiflor im Haus der Kupplerin wartet, ist Rupart unabkömmlich. In ihrer Not spricht die Kupplerin auf der Straße einen gut aussehenden Herrn an, der ihr auch in das Haus folgt. Als er eintritt, sieht Schampiflor sich ihrem Ehemann gegenüber. Geistesgegenwärtig beschimpft und schlägt sie ihn ob seiner nun offenbaren Untreue.230 Manche Erzählungen lassen sich nur annähernd datieren; sie können im 13., aber auch erst im 14. Jahrhundert entstanden sein. Zu ihnen gehört ‚Der Schüler zu Paris‘, dessen älteste Fassung (A) dem ostthüringischen Raum angehört.231 Die trotz einiger Schwankmotive ernste, vielleicht auf einer französischen Vorlage beruhende Erzählung gehört zum Themenkreis der treuen Minne. Eine Pariser Bürgertochter entbrennt in heißer Liebe zu einem Studenten. Als ihr Vater davon erfährt, verbannt er sie in eine Kemenate unter die Obhut mehrerer Bewacherinnen. Doch mittels einer List weiß das Mädchen regelmäßige Zusammenkünfte mit dem Geliebten herbeizuführen. Eines Tages jedoch verblutet der Student, nachdem er zur Ader ließ, in ihrem Bett. Das Mädchen erwirkt von seinem Vater das Recht, an der Totenmesse für den Geliebten teilzunehmen. Vom Leid übermannt, bekennt sie sich vor dem Leichnam öffentlich zu ihrer Liebe und sinkt tot zusammen (das Motiv des Liebestods über der Leiche des Geliebten entstammt dem ‚Tristan‘). Etwas jünger könnte der routiniert erzählte Eheschwank ‚Der Ritter mit den Nüssen‘ sein, der als ein bispil für den Einfallsreichtum mancher Frauen angekündigt wird.232 Eine Frau wird von ihrem vorzeitig heimkehrenden Ehemann überrascht und verbirgt ihren Geliebten hinter dem Bettvorhang. Während das Paar die vom Ehemann mitgebrachten Nüsse knackt, erklärt die Frau – während sie dem Liebhaber einige Nüsse zuwirft – ihrem erstaunten Mann, sie habe im Bett hinter dem Vorhang einen Mann versteckt, er möge sich von der Richtigkeit ihrer Worte überzeugen. Der Mann hält so viel Tollkühnheit für 230
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Ed.: Neues Gesamtabenteuer (Anm. 228), S. 63–69, Nr. 10. Vgl. Hans-Joachim Ziegeler: ‚Schampiflor‘. In: VL, Bd. 8 (1992), Sp. 601–603. Zum Motiv des Ehebruchs und seiner listigen Vertuschung vgl. de Boor (Anm. 32), S. 280 f., und Janota (Anm. 210), S. 261 f. Ed.: Hans-Friedrich Rosenfeld: Mittelhochdeutsche Novellenstudien. Berlin 1927 (Palaestra 153), S. 394–449. Vgl. Wilhelm Stehmann: Die mittelhochdeutsche Novelle vom Studentenabenteuer. Berlin 1909 (Palaestra 67), S. 146–153. Zu Überlieferung und Datierung vgl. Rolf Max Kully: ‚Der Schüler zu Paris‘ A, B, C. In: VL, Bd. 8 (1992), Sp. 867–869. Ed.: Neues Gesamtabenteuer (Anm. 228), S. 172–179, Nr. 26. Übers.: Altdeutsches Decamerone (Anm. 228), S. 548–552. Der im Orient verbreitete Stoff wurde in Europa durch die ‚Disciplina clericalis‘ des Petrus Alfonsi bekannt. Vgl. Karl-Heinz Schirmer: ‚Der Ritter mit den Nüssen‘. In: VL, Bd. 8 (1992), Sp. 102–103.
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ausgeschlossen und zweifelt an der Geistesverfassung seiner Frau. Diese erklärt schließlich, sie könne einen Liebhaber von ihm unbemerkt entkommen lassen. Als der Mann sie fragt, wie das möglich sein sollte, nimmt sie seinen Kopf und verbirgt ihn spielerisch unter ihrem Gewand, worauf der Liebhaber sich eilig entfernt. Den Schluss bildet eine Warnung vor übelen wiben (v. 200). Während für die bisher genannten Texte vornehmlich aus sprachlichen Gründen thüringische Autoren angenommen werden könnnen, gibt es einige weitere, die in einem anderen Sprachraum entstanden, aber von thüringischen Schreibern kopiert wurden, oder die, etwa ihrer fragmentarischen Überlieferung wegen, nicht sicher lokalisierbar sind. In drei Fassungen überliefert ist die Erzählung ‚Die alte Mutter‘ eines sonst unbekannten Dichters namens Volrat, der im späteren 13. Jahrhundert im ostfränkischen Raum wirkte.233 Eine erblindete alte Frau verklagt ihren Sohn, dessen Lebensweise sie für verschwenderisch hält, vor dem Kaiser. Die folgende Geschichte lebt von der Komik, die aus verschiedenen Missverständnissen und deren Bewältigung erwächst. Die mittlere der drei Fassungen (B) ist in einer thüringischen Handschrift nachweisbar.234 Die ebenfalls in mehreren Fassungen erhaltene Erzählung ‚Studentenabenteuer‘ handelt von einem erotischen Abenteuer zweier nach Paris ziehender Scholaren mit der jungen Frau und der Tochter ihres Gastgebers.235 Fassung B der mit rd. 1450 Versen recht umfangreichen Erzählung kennen wir nur aus der oben erwähnten ostthüringischen Sammelhandschrift. Hier wird am Ende der Name des Dichters genannt, „Ruediger von Munre“ (v. 1428).236 Diesen Namen hat man als Herkunftsnamen gedeutet und mit einem Dorf in Nordthüringen in Verbindung gebracht, doch ist die Erzählung sprachlich eher im westlichen Mitteldeutschland zu lokalisieren.237 Ähnlich verhält es sich mit der nur bruchstückhaft überlieferten Erzählung ‚Der Nussberg‘. Die erhaltenen Partien erzählen von der Gefangennahme 233
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Ed.: Gesamtabenteuer (Anm. 225), Bd. 1, S. 89–100, Nr. 5. Vgl. Frieder Schanze: Volrat. In: VL, Bd. 10 (1999), Sp. 509–512; de Boor (Anm. 32), S. 268; Fischer (Anm. 211), S. 203. Das Anm. 219 genannte Erfurter Fragment 5, ein quer durchgetrenntes Doppelblatt aus einer Sammelhandschrift, deren Schreibsprache Niewöhner (Anm. 213), S. 176, als mitteldeutsch (thüringisch-hessisch) bestimmte, überliefert die letzten 29 Verse der Erzählung. Ed.: Gesamtabenteuer (Anm. 225), Bd. 3, S. 37–82, Nr. 55. Dort ist die heute ‚Studentenabenteuer‘ benannte Erzählung ‚Irregang und Girregar‘ betitelt. Codex unicus ist die ehemals Königsberger, heute Thorner Handschrift (vgl. Anm. 215), f. 6rb –19rb . Der Dichter wird eingangs in der 3. Person genannt: der sage Ruedigêre dank (v. 6) und noch einmal am Schluss: Ruediger von Munre (v. 1428). Edward Schröder: Aus der Reimpraxis frühmhd. Dichter. In: ZfdA 75 (1938), S. 201–215, hier 203, war sich sicher: „dieser Ort seiner Herkunft kann nichts anderes sein als das heutige Pfarrdorf Monnra im Kreise Eckartsberga“. Gemeint ist das heutige Großmonra b. Kölleda. Schröders Annahme bleibt Vermutung. Heute favorisiert man als Heimat des Dichters Hessen. Vgl. Rolf Max Kully: Rüdeger [!] von Munre. In: VL, Bd. 8 (1992), Sp. 310–312, hier 310. Ähnlich Janota (Anm. 210), S. 258: „wohl hessischer Autor“.
4. GEISTLICHE LITERATUR
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eines Heidenkönigs durch einen tapferen Ritter und der Befreiung des auf Burg „Nuzberk“ Gefangengehaltenen durch die Frau des Ritters, die dazu durch die Minne veranlasst wurde.238 Der eingangs genannte Dichter, Heinrich Rafold, gilt als Bayer, doch kennen wir seine Erzählung nur aus der genannten thüringischen Sammelhandschrift, sodass man annehmen muss, dass das Gedicht gewandert ist.239 Die Gruppe der Zweifelsfälle ließe sich noch vermehren um den Schwank ‚Des Mönches Not‘, der das Thema der sexuellen Unerfahrenheit an einem Mönch durchspielt, der sich geschwängert glaubt.240 Der Verfasser, der in den Handschriften Zwickowaere und Zwingewer heißt, ist nicht identifizierbar. In der Überlieferung mischen sich ältere mitteldeutsche und jüngere oberdeutsche Einflüsse.241 Bereits an früherer Stelle erwähnt wurde die antikisierende Erzählung ‚Secundus‘. Da sie jedoch trotz ihrer misogynen Tendenz deutlich anderen Charakters als die hier vorgestellten Schwankerzählungen und zudem in einer Chronik überliefert ist, wird sie im Zusammenhang der Historiographie behandelt.
4. Geistliche Literatur Eine auch nur annähernd vollständige Aufzählung aller Werke und Verfasser geistlicher Literatur des späteren Mittelalters, die sich auf die eine oder andere Weise mit dem Raum Thüringen in Verbindung bringen lassen, würde den Rahmen dieser Darstellung sprengen. Neben geistlichen Dichtungen im engeren Sinn, z. B. über die Passion, wären Texttypen und Sachbereiche zu berücksichtigen wie Bibelübersetzung und -kommentar, Predigt und geistliche Belehrung, Passionsbetrachtungen, Katechetisches, hagiographische Texte (Heiligenlegenden), Mystik und anderes mehr. Die Zahl geistlicher Spiele thüringischer Provenienz ist so groß, dass auf sie gesondert einzugehen ist.
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Ed.: Gesamtabenteuer (Anm. 225), Bd. 1, S. 445–447, Nr. 19. Heinrich Rafolt getihtet hât (v. 1). Die Handschrift überliefert 78 Verse. Die Beziehung des Dichters zu den Herren von Nussberg ist unklar. Unter den Burgen namens Nussberg kommt am ehesten die bei St. Veit in Unterkärnten in Frage. Vgl. Hans-Joachim Ziegeler: Rafold, Heinrich. In: VL, Bd. 7 (1989), Sp. 974–976, und de Boor (Anm. 32), S. 280. Ed.: Novellistik des Mittelalters. Märendichtung. Hg., übersetzt u. kommentiert von Klaus Grubmüller. Frankfurt a. M. 1996 (Bibliothek des Mittelalters 23), S. 666–695. Ältere Titel der Erzählung sind ‚Von einem Mönche, der ein Kind trug‘ und ‚Der schwangere Mönch‘. Nach André Schnyder: Zwickauer (Zwingäuer). In: VL, Bd. 10 (1999), Sp. 1623–1625, hier 1624, liegt der Schwerpunkt der jüngeren Überlieferung im oberdeutschen Raum. Beck (Anm. II, 68), S. 289 f., betonte mitteldeutsche Grundlagen der Überlieferung zumindest des 14. Jh. Vgl. auch Fischer (Anm. 211), S. 205.
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IV. WANDLUNGEN VOM HOCH- ZUM SPÄTMITTELALTER
Mehr als einmal auch gehört ein Text nicht umstandslos nur einer Gattung zu. Das mitteldeutsche Gedicht von ‚Brandans Reise‘ ist zu gleichen Teilen Heiligenvita, Reisebericht und Visionsbericht, und auch das vom ‚Priesterkönig Johannes‘ lässt sich nicht ohne weiteres nur einer Gattung zuordnen.242 Zudem gibt es zwischen jenen Gruppen zahlreiche Überschneidungen: Die von Friedrich Köditz verfasste Vita des Landgrafen Ludwig gehört zur Historiographie, aber der Landgraf wird als Heiliger dargestellt. Das auch in Thüringen rezipierte ‚Marienleben‘ Bruder Philipps bildet in einigen Handschriften der ‚Weltchronik‘ Heinrichs von München den Grundstock des neutestamentlichen Teils. Bei anonymen Werken stößt zudem die Lokalisierung über die Bestimmung der Schreibsprache nicht selten an ihre Grenzen. So hat man für den ‚Brandan‘ als Vorlage eine Handschrift aus dem Gebiet des Deutschen Ordens, aber auch eine thüringische Handschrift angenommen.243 Hier seien noch einige prinzipielle Überlegungen angefügt. Wie bereits angedeutet, weist der Literaturbetrieb des späteren und späten Mittelalters gegenüber der klassischen Zeit manche Veränderungen auf. Selbst wenn die Wartburg nach dem Übergang der Herrschaft an die Wettiner noch ein literarisches Zentrum gewesen sein sollte, worüber wir indes nur wenig wissen, gab es doch nun mit den wettinischen Höfen in Meißen, Gotha, später auch Weimar weitere für den Literaturbetrieb zu berücksichtigende Orte; und damit verbindet sich die prinzipielle Frage, inwieweit wir es in dieser Zeit mit einer thüringischen oder aber mit einer thüringisch-meißnischen Literaturlandschaft zu tun haben. Als ein generelles Kennzeichen des späthöfischen Literaturbetriebs gilt dessen Ausdehnung auch auf die Dynastenhöfe. Für Thüringen besitzen wir hierfür nur spärliche Nachrichten wie im Fall des Sangspruchdichters Friedrich von Sonnenburg und seiner Kontakte zu den Grafen von Beichlingen. Für die Erzählung ‚Rittertreue‘ konnte ein höfischer Adressatenkreis wahrscheinlich gemacht, aber nicht näher bestimmt werden. Zunehmend wichtig wird in dieser späteren Zeit der städtische Literaturbetrieb, wie er sich in Erfurt, Eisenach, Mühlhausen, Sondershausen, Arnstadt und andernorts entfaltet. Gegenüber dem höfischen bedeutet er eine Diversifizierung der Wirkungsorte.244 Als Autoren wie als Auftraggeber treten Stadtbewohner auf, 242
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Ed.: Brandan. Die mitteldeutsche ‚Reise‘-Fassung. Hg. von Reinhard Hahn u. Christoph Fasbender. Heidelberg 2002 (Jenaer german. Forschungen. NF 14). „Der ‚Brandan‘ des Mgo 56 geht wohl auf eine Vorlage zurück, die ihrerseits bereits im Deutschen Orden beheimatet war.“ Brandan (Anm. 242), S. XXXII f. Dagegen vermutete Beck (Anm. II, 68), S. 142, „dass der Schreiber eine thüringische Vorlage kopiert hat“. Systematisch kann man in unserem Zeitraum als Orte des Literaturbetriebs Kloster, Hof und Stadt unterscheiden. Sie können ineins fallen, denkt man etwa an das Benediktinerkloster St. Peter in Erfurt, und die Größe Hof kann der Präzisierung bedürfen. So kopierte im späteren 15. Jh. der aus Jena stammende Urban Schlorff, der in Leipzig studiert hatte, historiographische und hagiograpische Schriften über die Geschichte des Landgrafenhauses
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häufiger noch aber sind es Angehörige der verschiedenen Orden, die sich jetzt – eine weitere Neuerung gegenüber früheren Jahrhunderten – in den Städten niederlassen, voran der Franziskaner und der Dominikaner, mit denen wir Predigtcorpora, Chroniken und andere Werke verbinden, während in den Frauenklöstern musikalische Handschriften entstanden und Legendendichtung für die Tischlesung gebraucht wurde. Das gilt vornehmlich, aber nicht allein für Erfurt, das geistige Zentrum Thüringens, mit seinen zahlreichen Ordensniederlassungen.245 Diese unterhielten oft Bibliotheken (die größte Berühmtheit erlangte die der Kartause) sowie Schulen, an denen ein reiches wissenschaftliches Schrifttum in lateinischer Sprache entstand.246 Neben sie trat im 14. Jahrhundert die von der Bürgerschaft gegründete Universität.
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auf Schloss Tenneberg b. Waltershausen, das dem Amtmann der Wartburg, Bruno von Teutleben, zu Lehen gehörte. Seine Vorlagen bezog Schlorff wohl aus dem früheren ludowingischen Hauskloster Reinhardsbrunn. In seinem Fall wäre die Unterscheidung von klösterlichem, höfischem und städtischem Literaturbetrieb nur begrenzt sinnvoll. Bevorzugte Aufenthaltsorte des landgräflichen Hofs in den Sommermonaten waren in späterer Zeit neben Tenneberg die Schlösser Gotha und Käfernburg. Zu den wettinischen Höfen und Residenzen im Spätmittelalter vgl. Streich (Anm. 83), besonders S. 247–301. Die wichtigsten Ordensniederlassungen in Erfurt: Um 1060 Umwandlung eines Chorherrenstifts in das Benediktinerstift St. Peter (Nr. 4). 1117 Niederlassung der AugustinerChorherren, wegen ihrer Regel (vita canonica) Regler genannt, ihr Kloster Reglerstift (Nr. 28). 1123 S. Cyriaci, Kloster der Benediktinerinnen, das vornehmste Frauenkloster der Stadt, außerhalb der Stadtmauer (Nr. 40). Mitte 12. Jh. Schottenkloster St. Jacob. Die Schottenmönche gehörten zum Benediktinerorden, ihr Kloster war ein Nationalkloster, seine irischen Angehörigen wurden „Schotten“ genannt (Nr. 23). 1196 vertauschten die Augustiner-Chorfrauen ihr Gebäude vor der Stadt, das die Marie-Magdalenerinnen (Weißfrauen) übernahmen, mit einem Gelände im Süden der Stadt, Neuwerkskloster (Nr. 36). 1222/24 Niederlassung der Franziskaner in der Stadtmitte am Breitstrom (Nr. 31). 1228/29 Niederlassung der Dominikaner auf der anderen Seite des Breitstroms (Nr. 32). 1266 Kloster der Augustiner-Eremiten im Nordosten der Stadt erwähnt. 1309 Verlegung eines Konvents von Zisterzienserinnen in die Pfarrkirche S. Martini extra, die dem Kloster einverleibt wurde (Nr. 39). 1311 Marienknechte (Serviten). 1372 Niederlassung der Kartäuser auf dem Salvatorberg, die letzte mittelalterliche Klostergründung in Erfurt. Vgl. Ulman Weiß: Die frommen Bürger von Erfurt. Die Stadt und ihre Kirche im Spätmittelalter und in der Reformationszeit. Weimar 1988, S. 11–15. Die obigen Nummern nach der Karte bei Stephanie Wolf: Erfurt im 13. Jahrhundert. Städtische Gesellschaft zwischen Mainzer Erzbischof, Adel und Reich. Köln, Weimar, Wien 2005 (Städteforschung. A 67), Innenseite des vorderen Einbands. Exemplarisch genannt sei der vermutlich in Paris ausgebildete Thomas von Erfurt, Magister und Rektor an der Schule von St. Severi und der des Schottenstifts, der um 1300 Schriften zur Grammatiktheorie, aber auch Schultexte wie das ‚Fundamentum puerorum‘ verfasste und in der Geschichte der Aristoteles-Rezeption des 14. Jh. eine Rolle spielte. Vgl. Franz Josef Worstbrock: Thomas von Erfurt. In: VL, Bd. 9 (1995), Sp. 852–856. Zur Bibliothek der Erfurter Kartause vgl. Anm. V, 4 sowie Frank-Joachim Stewing: Zum Buchbesitz Erfurter Stiftsgeistlicher im 15. und frühen 16. Jahrhundert. In: Bücher und Bibliotheken in Erfurt. Hg. von Michael Ludscheidt u. Kathrin Paasch. Erfurt 2000, S. 71–111.
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Offizielles Gründungsdatum ist das Jahr 1392, doch bestand das Studium bereits seit längerem.247 Was hier an zumeist wissenschaftlicher Literatur hervorgebracht, gebraucht und tradiert wurde, kann allenfalls gestreift werden. Volkssprachige Legendendichtung begegnet in Thüringen vom 12. Jahrhundert bis zum Ausgang des Mittelalters.248 Dabei spielt seit dem zweiten Drittel des 13. Jahrhunderts Elisabeth von Thüringen, eine der beliebtesten Heiligen des späten Mittelalters, eine wichtige Rolle, zunächst in lateinischen, dann auch in deutschen Texten. An den Anfang ist jedoch ein wohl zu Beginn des 13. Jahrhunderts entstandenes mitteldeutsches Pilatus-Gedicht zu stellen, das seiner schlechten Überlieferung wegen wichtige Fragen offen lässt.249 Der einzige Codex, der es überlieferte, die Straßburg-Molsheimer Sammelhandschrift, enthielt nur 621 Verse, sodass man den Umfang des vollständigen Werks nur grob auf vielleicht 2000 bis 4000 Verse schätzen kann.250 Der erhaltene Text lässt auf einen begabten Verfasser schließen; sein Gedicht ist nach Darstellung und Verstechnik der höfischen Dichtung verpflichtet. Nach mittelalterlichem Geschichtsverständnis hatte mit dem Auftreten Christi das letzte der sechs Weltzeitalter begonnen, an dessen Ende Christi Wiederkehr und das Endgericht stehen würden. Es herrschte ein großes Interesse an den Personen, die im Leben Jesu, zumal in der Passionsgeschichte eine Rolle spielten; und da die kanonischen Evangelien sich hier nicht selten lakonisch äußern, entstanden früh schon apokryphe, oft ebenfalls als Evangelien bezeichnete Texte, aber auch noch im 12. Jahrhundert legendarische
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Zum Erfurter Schulwesen vgl. auch Nikolaus von Bibra (Anm. III, 240), v. 1571 ff. Die Erfurter Schulen hatten sich bereits im späteren 13. Jh. zusammengeschlossen. Vgl. Erich Kleineidam: Universitas Studii Erffordensis. Überblick über die Geschichte der Universität Erfurt. Teil I. Spätmittelalter 1392–1460. Leipzig 1985 (Erfurter Theologische Studien 14), S. 3–40, und Almuth Märker: Geschichte der Universität Erfurt 1392–1816. Weimar 1993 (Schriften des Vereins für die Geschichte und Altertumskunde von Erfurt 1), S. 11–19. Legendendichtung in deutscher Sprache tritt um die Mitte des 12. Jh. auf. Die Legende, von lat. legenda ‚was gelesen werden soll‘, hatte ihren Platz im Stundengebet der Mönche, in den Lektionen am Festtag des betreffenden Heiligen und in der Lesung der Ordensgeistlichen während der Mahlzeiten. Daneben trat später die private Andacht – für die Laien-Lektüre bestimmt war etwa das ‚Heiligenleben‘ Hermanns von Fritzlar. Vgl. Werner WilliamsKrapp: Legende. In: Killy, Bd. 13 (1992), S. 503–507; Edith Feistner: Historische Typologie der deutschen Heiligenlegende des Mittelalters von der Mitte des 12. Jahrhunderts bis zur Reformation. Wiesbaden 1995 (Wissensliteratur im Mittelalter 20). Ed.: Karl Weinhold: Zu dem deutschen Pilatusgedicht. Text, Sprache und Heimat. In: ZfdPh 8 (1877), S. 253–288 (272–288). Der ‚Pilatus‘, der letzte Text der Handschrift, die, so Weinhold, S. 253, „nicht besonders sorgfältig geschrieben“ war, füllte die Blätter 29r–30v. Vgl. Joachim Knape: ‚Pilatus‘. In: VL, Bd. 7 (1989), Sp. 669–682; Scheidgen (Anm. II, 104). Für die Handschrift muss heute der diplomatische Abdruck durch Hans Ferdinand Massmann (Anm. II, 111), S. 145–152, einstehen. Zur Handschrift vgl. Anm. II, 120.
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Berichte über Gestalten wie Pilatus und Judas.251 Auf einem solchen lateinischen Text beruht auch der mitteldeutsche ‚Pilatus‘.252 Der römische Prokurator in der Provinz Judäa, Pontius Pilatus (26–36), der Jesus zum Tod verurteilte und das Urteil vollstreckte, zählte in mittelalterlicher Sicht zu den Erzverrätern und ersten Feinden der Christenheit (eine wichtige Rolle spielen die Pilatus-Szenen auch im geistlichen Spiel).253 Das Gedicht handelt also nicht von einem sanctus (Heiligen), sondern von einem Widersacher Jesu und insofern – ähnlich der im 12. Jahrhundert entstandenen Judaslegende – von einem Anti-Heiligen.254 Das Fragment überliefert im Anschluss an einen umfangreichen Prolog, der von den Schwierigkeiten, in deutscher Sprache zu dichten handelt, nur einen kleinen Teil der Pilatusgeschichte.255 Als Herodes von der Härte hört, mit der Pilatus das rauhe Bergvolk von Pontus unterwarf, wünscht er ihn zu sich zu rufen, um die Juden besser unterdrücken zu können. Hier bricht der Text ab. Die eigentliche Erzählung (Pilatus wird später zum Tode verurteilt, bringt sich jedoch vor der Hinrichtung selbst um, und als man seinen Leichnam in den Tiber wirft, bricht ein Sturm aus) ist also nur zu einem geringen Teil erhalten. Gut zwei Jahrhunderte später wurde der Stoff von dem Eisenacher Autor Rothe in einer seiner letzten geistlichen Dichtungen gestaltet, die man nicht ganz zutreffend ‚Passion‘ genannt hat. Erhalten 251
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Hauptquelle für das Verhör Jesu durch Pilatus war das ursprünglich griechische, dann ins Latein übersetzte apokryphe ‚Evangelium Nicodemi‘ (4./5. Jh.), das als Ergänzung des Passionsgeschehens über die heilsgeschichtlich bedeutsamen Ereignisse zwischen Jesu Prozess vor Pilatus und der späteren Befreiung der Altväter aus der Hölle durch Christus unterrichten sollte. Die wirkmächtigste Bearbeitung des deutschen Mittelalters schuf im späteren 13. Jh. Heinrich von Hesler. Wichtigste, wenn auch nicht alleinige Quelle war die romanhafte ‚Historia apocrypha‘ der ‚Legenda aurea‘, eine lateinische Prosaerzählung des 12. Jh., die u. a. Veronikalegende und Judasvita integriert. Auf seine Quelle verweist der Dichter mit den Worten: „Sus vant ih an latîne“ (v. 177). Das Pilatusbild der ‚Historia apocrypha‘ ist ein durch und durch negatives, aber nicht das einzige des Mittelalters. Zum historischen Pilatus Peter Christan Jacobsen u. Josef Engemann: Pilatus. In: LexMA, Bd. 6 (1993), Sp. 2147–2148. Das Verhör Jesu durch Pilatus ist auch dargestellt in der ‚Erlösung‘ (v. 4609–4758), einem heilsgeschichtlichen Epos des frühen 14. Jh., und im ‚Evangelium Nicodemi‘. Vgl. Wilhelm Creizenach: Legenden und Sagen von Pilatus. In: PBB 1 (1874), S. 89–107. Pilatus- und Judaslegende weisen gewisse Parallelen auf. Beide sind böse, und was geschieht, ist Frucht ihrer Bosheit. Vgl. Franz Josef Worstbrock: ‚Judaslegende‘. In: VL, Bd. 4 (1983), Sp. 882–887. Nach Joachim Knape: Die mittelhochdeutsche Pilatus-Dichtung und die Literatur im Umfeld des Thüringerhofs 1190–1227. In: JOWG 6 (1990/91), S. 45–57, hier 50, wäre das vollständige Werk weniger eine Legende als „eine Versdichtung in der Tradition chronographischer Historien“ gewesen. Die Pilatusgeschichte ist, angefangen bei der Ausdeutung des Namens Pilatus, pseudohistorisch eingebettet. Pilatus ist der Sohn eines Königs von Mainz namens Tyrus und einer Müllerstochter Pila, deren Vater Atus hieß (deshalb der Name Pilatus), er wird vom Mainzer Hof nach Rom gesandt, von dort nach Pontus usw.
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sind nur Teile des Reimpaargedichts (2051 Verse), die die Judas- und die Pilatuslegende mit Christi Leiden verbinden.256 Wie ‚Graf Rudolf‘ und ‚Athis und Prophilias‘ gehört der mitteldeutsche ‚Pilatus‘ zu einer Gruppe von Dichtungen, deren Sprache in den westlichen Teil des mitteldeutschen Raums weist.257 Seit langem gilt als sicher, dass sein Dichter, der sich am Ende vermutlich genannt hat, ein Hesse war. Schröder wollte ihn mit Herbort von Fritzlar identifizieren, er dachte sich den ‚Pilatus‘ nach dem ‚Liet von Troye‘ entstanden.258 Im Zusammenhang damit hat man auch eine Verbindung der Pilatuslegende mit dem Literaturbetrieb am Landgrafenhof erwogen, also an einen Auftrag Hermanns gedacht.259 Während dies Vermutung bleiben muss, spricht doch einiges für die Zuschreibung des Gedichts an den Fritzlarer Kleriker: zunächst der biblisch-legendarische Stoff und die lateinische Vorlage, die einen klerikal gebildeten Bearbeiter voraussetzt, sodann eine Reihe grammatischer und lexikalischer Übereinstimmungen mit dem Dichter des ‚Liets von Troye‘, die schon Karl Weinhold zusammenstellte.260 Natürlich bleibt Schröders Autorschaftshyptothese schon der schlechten Überlieferung wegen unbeweisbar, doch verdient sie, solange keine triftigen Gegenargumente genannt sind, bedacht zu werden. Besser unterrichtet sind wir über einen rd. 4700 Verse zählenden Legendenroman, der um 1220 entstand. Am Ende erklärt der Dichter, wie man seinen Namen erfahren könne: ist der leser kluoc, hât er an kunste die gefuoc, er lese die houbtbuochstabe von êrst wan an daz ende herabe,
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Ed.: Johannes Rothes Passion. Mit einer Einleitung und einem Anhange. Hg. von Alfred Heinrich. Breslau 1906 (German. Abh. 26). Die einzige Handschrift, Dresden, Sächs. LB, M 199, ist durch Wasserschäden im II. Weltkrieg unlesbar geworden. Der um 1458 in Thüringen geschriebene Band befand sich vielleicht im Besitz des Erfurter Petersklosters, vgl. Beck (Anm. II, 68), S. 44–46. Eine Abschrift des Pilatusteils enthält Berlin, SBB PK, mgq. 1527. Rothe erzählt die Pilatusgeschichte auch in seiner ‚Weltchronik‘, c. 76–79. Bumke (Anm. III, 14), S. 105: „Die Sprache des Schreibers war moselfränkisch oder rheinfränkisch.“ Knape (Anm. 249), Sp. 676: „Der Schreiber der Hs. stammte aus dem mittelrhein. Gebiet (Hessen), in der Sprache ist mosel- oder lahnfrk. Färbung zu erkennen.“ Vgl. Knape (Anm. 254); ders.: War Herbort von Fritzlar der Verfasser des ‚Vers-Pilatus‘? Zu den kontroversen Standpunkten Edward Schröders und Friedrich Neumanns. In: ZfdA 115 (1986), S. 181–206. Parallelen zwischen ‚Pilatus‘ und ‚Moriz von Craûn‘ im Rekurs auf die ‚Historia apocrypha‘ als Quelle konstatierte Glauch (Anm. III, 142), S. 284 f. Zuletzt vermutete Werner Williams-Krapp: Pilatus. In: Killy, Bd. 9 (1991), S. 164–165, hier 165, dass der ‚Pilatus‘ „wahrscheinlich am Hof Hermanns von Thüringen entstand“. Vgl. Weinhold (Anm. 249), S. 256–270. Die Feststellung: „die geistige art beider dünkt mich durchaus verschieden“ (S. 272), bleibt etwas vage.
4. GEISTLICHE LITERATUR
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darmite die verse erhaben sint. er ensî dan genzlîch ein kint, den namen vindet er lîhte, ez saget im daz getihte (v. 4453–4460).261
Folgt man dieser Anweisung, ergeben die Initialen der ersten acht Abschnitte den Namen EBERNANT, und im Weiteren erfährt man, dass der Dichter den Erfurtern bekannt sei und der Titel seines Werks ‚Kaiser und Kaiserin‘.262 Während man den Autor zunächst für einen Geistlichen hielt, suchte man ihn später mit einem Erfurter burgensis bzw. civis zu identifizieren, der zwischen 1192 und 1227 als Ebernandus, Ebirnand, Hebernand usw. in den Urkunden erscheint.263 So reizvoll es auch wäre, in ihm den ersten stadtbürgerlichen Dichter zu sehen, der uns zuverlässig Namen und Werktitel mitteilt, spricht doch mehr gegen als für diese Identifizierung. Denkbar wäre allenfalls, dass Ebernand zu einem späteren Zeitpunkt in einen der Erfurter Konvente eintrat; denn so gut wie alles an seinem Gedicht weist auf einen monastischen Zusammenhang.264 Kaiser und Kaiserin, von denen es erzählt, das sind der von tiefer Frömmigkeit erfüllte Sachsenkaiser Heinrich II., der im Bewusstsein der Nachwelt vor allem als Bistums- und Kirchengründer fortlebte, und seine Gemahlin Kunigunde. Heinrich gründete das Bistum Bamberg, er stattete Bamberg 261
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Zit. nach: Ebernand von Erfurt. Heinrich und Kunigunde. Hg. von Reinhold Bechstein. Quedlinburg, Leipzig 1860 (BDNL 39). Ndr. Amsterdam 1968. Vgl. auch die Transkription von James Walker Scott: ‚Keisir vnde Keisirin‘ by Ebernand von Erfurt. A New Edition. Diss. Princeton Univ. 1971. Ann Arbor, Mich. Univ. Microfilms Internat. 1994. Übers.: „Ist der Leser verständig und in Kunstdingen bewandert, mag er die Anfangsbuchstaben der Verse vom Anfang bis zum Ende lesen; so wird er, ist er nicht gerade kindisch, meinen Namen mühelos finden und auch den Titel des Gedichts.“ Ebernand hat seinen Namen in einem Akrostichon aus den Anfangsbuchstaben der 61 Abschnitte verborgen: EBERNANT SO HEIZIN ICH DI ERFVRTERE IRKENNINT MICH KEISIR VNDE KEISIRINN. In der Forschung hat sich der Titel ‚Heinrich und Kunigunde‘ durchgesetzt. Rechnete Ebernand also zuallererst mit Lesern? Anders Bumke (Anm. II 158), S. 727. Zum Texttyp legenda vgl. auch Anm. 248. Vgl. George Madison Priest: Ebernand von Erfurt. Zu seinem Leben und Wirken. Diss. Jena 1907. Nach Schröder (Anm. 222), S. 145, kommt unter den fünf nachweisbaren Erfurter Trägern des Namens Ebernand „der 1212 und 1217 in zusammen vier urkunden bezeugte ratsfähige Ebernandus iuvenis“ in Frage. Schröder weiter: „Ebernand war kein cleriker, sondern ein bürger Erfurts: aus angesehehener familie, aber in bescheidenen vermögensumständen“ (S. 147). Zur Erfurter Sozialstruktur vgl. S. Wolf (Anm. 245). Vgl. Hans Jürgen Schröpfer: ‚Heinrich und Kunigunde‘. Untersuchungen zur Verslegende des Ebernand von Erfurt und zur Geschichte ihres Stoffes. Göppingen 1969 (GAG 8); Ulrich Wyss: Theorie der mittelhochdeutschen Legendenepik. Erlangen 1973 (Erlanger Studien 1), S. 32–130; Achim Masser: Bibel- und Legendenepik des deutschen Mittelalters. Berlin 1976 (Grundlagen der Germanistik 19), S. 178 f.
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überreich mit Königsgut aus, ließ den Bamberger Dom errichten und an seinem 40. Geburtstag weihen und gründete in Bamberg das Kanonikerstift St. Stephan und das Kloster Michelsberg. 1024 starb Heinrich, 1014 zum Kaiser gekrönt, kinderlos, Kunigunde 1033 in dem von ihr gestifteten Kloster Kaufungen.265 Die Bamberger hatten mithin gute Gründe, dem Herrscher dankbar zu sein. Um 1145 entschloss man sich, den Heinrichskult vom Papst sanktionieren zu lassen, nun entstand eine lateinische Legende, die ‚Vita Sancti Heinrici regis et imperatoris‘, und im Jahr darauf wurde der vom Volk bereits als Heiliger Verehrte von Eugen III. heiliggesprochen. Kunigunde wurde 1200 durch Innozenz III. kanonisiert; im Jahr darauf wurden ihre Gebeine in Bamberg im Beisein Philipps von Schwaben erhoben.266 Die Heiligsprechung der Kaiserin lag, als Ebernand an seinem Werk arbeitete, also erst wenige Jahre zurück. Aktualität kam seinem Gedicht auch insofern zu, als es darum ging, Gelder für den Aufbau des 1185 abgebrannten Bamberger Doms zu beschaffen. ‚Heinrich und Kunigunde‘ wäre nicht die einzige Legende, deren Entstehung sich letztlich pragmatischen Gründen verdankte.267 Ebernand wird ein so kostspieliges Werk nicht ohne einen Auftrag begonnen haben; die Auftraggeber darf man in Thüringen vermuten, doch weist eine deutliche Spur nach Bamberg. Wie der Verfasser selbst mitteilt, arbeitete er auf Veranlassung eines befreundeten Laienbruders namens Reimbote aus dem Zisterzienserkloster Georgenthal b. Gotha, der zuvor in Bamberg gewirkt hatte und der ihn mit Bamberger Nachrichten versorgte. Man kann sich vorstellen, dass Reimbote etwas für „seine“ Heiligen in Thüringen tun wollte; und da seinem Orden viele ungebildete Laienbrüder angehörten, bot sich hier eine Dichtung in der Volkssprache an.268 265
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Eine Totenklage auf Heinrich II. unter den ‚Carmina Cantabrigiensia‘ (Nr. 9). Vgl. LThK, Bd. 4, Sp. 1375 f., und Bd. 6, Sp. 527 f.; Renate Klauser: Der Heinrichs- und Kunigundenkult im mittelalterlichen Bistum Bamberg. Bamberg 1957. Heinrich und Kunigunde werden auch in den volkssprachigen Weltchroniken wie der Heinrichs von München behandelt. Heinrichs Festtag ist der 15. 7. (Bamberg 13. 7.), der Kunigundes der 3. 3. (Bamberg 13. 7.). Vgl. Paul Stintzi: Heinrich II. der Heilige. In: LCI, Bd. 6, Sp. 478–481; Georg Kiesel: Kunigunde. In: LCI, Bd. 7, Sp. 357–360; Hiltgart L. Keller: Reclams Lexikon der Heiligen und der biblischen Gestalten. Legende und Darstellung in der bildenden Kunst. 6., durchgesehene Aufl. Stuttgart 1987 (RUB 10154), S. 276 und 369. Zu erinnern wäre an Elisabeth von Thüringen, an Veldeke, der bei der Arbeit am ‚Servatius‘ von dem Maastrichter Kustos Hessel beraten wurde, und an den späthöfischen Epiker Rudolf von Ems, der wie Ebernand in Beziehungen zu den Zisterziensern stand. Die Georgenthaler Zisterzienser besaßen, wie andere große thüringische Konvente, einen Wirtschaftshof in Erfurt. Reimbote hatte früher in Bamberg als Küster gewirkt und hier mit einer Vision zur Kanonisation Kunigundes beigetragen. In einer schweren Krankheit erschien ihm Kaiser Heinrich und verhieß ihm und seinem kranken Kind Genesung, wenn er für die Heiligsprechung Kunigundes eintrete, worauf beide am nächsten Morgen vollständig genesen waren. Da Reimbote mit seiner Vision nicht nur auf Zustimmung stieß,
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Ebernands Hauptquelle war die seit dem 12. Jahrhundert verbreitete lateinische Vita Heinrichs II.269 Ebernand hat sie keineswegs in sklavischer Treue wiedergegeben, wie verschiedentlich behauptet.270 Schon das Akrostichon spricht für einen planvollen Bau des Werks. Dieser äußert sich auch darin, dass die Kaiserkrönung Heinrichs mit dem 30. Kapitel genau in der Mitte platziert ist, das Hochzeitsfest im 15. Kapitel, also in der Mitte des ersten Teils, und Heinrichs Tod im 33. Kapitel (eine Anspielung auf die Lebensjahre Christi). Ebernand ist sicher kein überragender Erzähler, aber auch nicht der trocken-langweilige Epiker, als der er oft hingestellt wurde. Im Wesentlichen bietet er legendär stilisierte Geschichte: Leben und Taten Kaiser Heinrichs, wichtige Ereignisse der Bamberger Bistumsgeschichte, Hochzeit und keusche Ehe des Paars, Todesankündigung und Sterben. Das heiligmäßige Leben des Herrscherpaars wird durch zahlreiche Wunder beglaubigt. Gegen Ende erklärt Ebernand: „ich bin ein Durenc von art geborn“ (v. 4467), um zu begründen, warum er sein Werk in der ihm vertrauten Sprache, dem Thüringischen, verfasst habe, womit er wohl sagen will, dass er sich absichtlich nicht an der Norm der oberdeutschen Epiker orientiert habe. Die Nachahmung einer anderen als der eigenen Sprache nennt er „effenlîche“ (v. 4472). Eine sonderliche Wirkung ist von Ebernands Dichtung offenbar nicht ausgegangen. Jedenfalls kennen wir sie nur aus einer jungen Papierhandschrift, die um 1440 in Mühlhausen geschrieben wurde. Der auch aus zwei anderen Manuskripten bekannte Schreiber Caspar Lewenhagen, der wahrscheinlich dem dortigen Dominikaner- oder Franziskanerkloster angehörte, hat vermutlich eine sehr alte, dem Original bzw. Archetypus nahe stehende Vorlage benutzt.271 Im 14. Jahrhundert löste man das Gedicht in Prosa auf; von dieser
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wandte er sich zu den grauen Mönchen in Georgenthal. Bei Ebernand heißt es über seine Bamberger Zeit: „er dulde michel ungemach / und harte grôze vêde / durch die heilegen bêde“ (v. 4034 ff.). Übers.: „Der beiden Heiligen wegen erlitt er große Drangsal und mächtige Feindschaft.“ Die Heiligen Heinrich und Kunigunde waren vornehmlich von lokaler Bedeutung, sie genossen weder in Georgenthal noch in Erfurt kultische Verehrung. Ed.: Die Vita sancti Heinrici regis et confessoris und ihre Bearbeitung durch den Bamberger Diakon Adelbert. Hg. von Marcus Stumpf. Hannover 1996 (MGH. SS rer. Germ. in usum scholarum separatim editi 69), S. 223–324. Diese und weitere Quellen Ebernands lassen eben doch an einen geistlichen Verfasser denken. Selbst wenn Ebernand seine Bildung an einer der Erfurter Schulen erworben haben sollte, bliebe doch die Frage offen, wo ihm Quellen wie jene zugänglich waren. Zur ‚Vita Heinrici II. imperatoris‘ und zur Autorschaftsproblematik vgl. Rudolf Schieffer: Adalbert von Bamberg. In: VL, Bd. 1 (1978), Sp. 29–31. Etwa von Bartels (Anm. I, 27), S. 5. Gegen diese Behauptung spricht abgesehen davon, dass wir die genauen Quellen Ebernands nicht kennen, der Umstand, dass über 2100 Verse des Gedichts keine Entsprechung in den einschlägigen lateinischen Texten haben. Princeton, University Library, Garrett Collection of Medieval and Renaissance Manuscripts in the division for Rare Books and Special Collections of the Princeton University Library, Princeton, New Jersey, Ms. No. 132. Die Handschrift befand sich im 19. Jh. im Besitz
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Fassung ist ein Fragment aus dem Kollegiatstift Neiße erhalten.272 Die Prosafassung ging in Gestalt von Einzellegenden Heinrichs und Kunigundes in die große Sammlung von Prosalegenden ein, die um 1390 im Nürnberger Dominikanerkloster entstand und unter dem Titel ‚Der Heiligen Leben‘ das populärste volkssprachige Legendar des europäischen Mittelalters wurde.273 1511 brachte der Bamberger Pater Nonnosus Stettfelder ‚Dye legend und leben des heyligen sandt Keyser Heinrich‘ bei Johann Pfeyl im Druck heraus, die auf ‚Der Heiligen Leben‘ und damit vermittelt auf Ebernands Gedicht beruht. Die Legenden von Pilatus und vom Kaiserpaar sind nicht die einzigen, die sich mit Thüringen in Verbindung bringen lassen. Im 13. und 14. Jahrhundert erfuhren Heiligenverehrung und hagiographische Literatur zumal unter dem Einfluss der Bettelorden noch einmal einen großen Aufschwung. Heilige wie Katharina von Alexandrien erscheinen zudem nicht nur in Legendaren, sondern auch in der Predigtliteratur und im geistlichen Spiel. In Thüringen wurden auch andernorts verfasste Legenden wie die des Ritterheiligen Georg abgeschrieben und bearbeitet, und zu den Grenzfällen kann ferner die bereits erwähnte Mirakelerzählung von dem ins Paradies entrückten Mönch Felix gerechnet werden, die keine Legende im strengen Sinn ist.274 Außerordentlich weit verbreitet war die Legende der Margareta von Antiochien. Als einer der vier Virgines Capitales (Hauptjungfrauen) kam ihr überregionale Bedeutung zu; angerufen wurde sie besonders als Helferin in Kindsbettnöten.275 Heute sind nicht weniger als 27 volkssprachige Vers- und Prosafassungen ihrer Legende bekannt, die seit dem 12. Jahrhundert entstanden. Darunter findet sich eine breit überlieferte anonyme Versfassung aus der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts, deren Sprache nach Thüringen weist.276 Das 776 Verse zählende,
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Reinholds Bechsteins, 1903 wurde sie durch ein Antiquariat in die USA verkauft. Vgl. Schröpfer (Anm. 264), S. 44–49; Scott (Anm. 261), S. 49–63. Berlin, SBB PK, mgf. 825. Zwei Doppelblätter einer Pergamenthandschrift des 14. Jh., die zum ‚Bamberger Legendar‘ gehören, der Vorstufe zu ‚Der Heiligen Leben‘. Vgl. Werner Williams-Krapp: ‚Bamberger Legendar‘. In: VL, Bd. 11 (2004), Sp. 208–210. Vgl. Der Heiligen Leben. Hg. von Margit Brand, Bettina Jung, Werner Williams-Krapp. Bd. I. Sommerteil, Tübingen 1996 (TTG 16), S. 233–244, Nr. 55 (Heinrich), und 245–250, Nr. 56 (Kunigunde). ‚Der Heiligen Leben‘ war das hagiographische Quellenbuch schlechthin, noch Luther setzte sich mit ihm auseinander. Zu Reinbots von Durne ‚Georg‘ und den Krakauer und Nürnberger Fragmenten eines Discissus vgl. Beck (Anm. II, 68), S. 121. ‚Mönch Felix‘: Ed.: Mai (Anm. 211), S. 433–448. Zur Quellenfrage der Erzählung ebd., S. 165–217. Zu den vier Hauptjungfrauen, der hl. Barbara, Dorothea, Katharina von Alexandrien und Margareta von Antiochien, vgl. Keller (Anm. 266), S. 395 f. Vgl. Werner Williams-Krapp: ‚Margareta von Antiochien‘. In: VL, Bd. 5 (1985), Sp. 1239–1247 (zu Reimfassung I Sp. 1240 f.), und Bd. 11 (2004), S. XIV und Sp. 967. Besondere Bedeutung kommt zu München, Bayerische Staatsbibliothek, Cgm 441, einer Sammelhandschrift, geschrieben 1428 von Conradus BFticz zu Borne in mitteldeutscher
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schlichte Gedicht, das sich nur selten von der lateinischen Legende entfernt, ist anonym überliefert.277 Über den Verfasser lässt sich kaum mehr sagen, als dass er aus dem mitteldeutschen Raum stammte.278 Die Margaretenlegende ist eine typische Variante der Jungfrauen-Passio. Zur Zeit der Diokletianschen Verfolgungen weigerte sich die schöne christliche Jungfrau, den Stadtpräfekten Olybrius zu heiraten und seine Götter anzubeten, worauf dieser sie in den Kerker werfen und mit eisernen Klammern und brennenden Fackeln martern ließ. Den ihr mehrfach erscheinenden Versucher überwand sie mit dem Kreuzeszeichen. Vor ihrer Enthauptung betete sie für ihre Verfolger und alle, die ihr Gedächtnis anrufen würden, besonders Frauen in Kindsnöten. Der mitteldeutsche Anonymus hat ihre Passion detailliert ausgemalt.279 Dass er sich an ein weibliches Publikum wandte, geht schon aus dem Prolog hervor: Die reine Jungfrau werde Frauen, die von ihrer Marter hörten oder läsen, in ihrer Not, die Gott einst über Eva verhängt, beistehen.280 Mehrere Sammelhandschriften und Drucke legen die Vermutung nahe, dass die Legende des mitteldeutschen Anonymus zu einem Passionsbüchlein gehörte, das auch die Legenden Barbaras, Dorotheas und Katharinas enthielt.281 Besonderes Interesse unter den zahlreichen Textzeugen verdient das Erfurter Fragment aus dem Anfang des 15. Jahrhunderts.282 In mehreren Fassungen ist auch die Veronikalegende, d. h. die Erzählung vom Antlitz Jesu überliefert, die gewöhnlich nicht selbständig auftritt, sondern eingebettet in die Pilatuslegende.283 Eine dieser Fassungen ist die ‚Fronica‘, ein Lied in Regenbogens Briefweise (formal also der Sangspruchdichtung zuzurechnen), das wohl im 14. Jahrhundert entstand und in vielen Fassungen unterschiedlichsten Umfangs tradiert wurde und 1497 noch in den Druck
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(thüringischer) Schreibsprache. Reimfassung I wurde seit 1492 mehrfach gedruckt. Ed.: Bûchelîn der heiligen Margarêta. Beitrag zur Geschichte der geistlichen Literatur des XIV. Jahrhunderts. Hg. von Karl Stejskal. Wien 1880. „Die Heimat des Dichters war Mitteldeutschland und speziell Thüringen [...].“ Stejskal (Anm. 277), S. 4. „der grâve hîz si in die luft / hengen gar mit grôzer guft. / her lîz si slagen sêre / durch die gotes êre, / daz daz blût zû der erden flôz“ (v. 185–189). „Ez sullen alle frouwen / die marter gerne schouwen, / hôren unde lesen /und stête dar an wesen. / Margarêtâ die reine meit, / dâ von uns diz bûchlîn seit, / si kan vortrîben wol die nôt, / die got selber gebôt, / dô ez Êvan missegînc“ (v. 1–9). Die Göttinger Handschrift wurde für eine Frau namens Anna gefertigt. Vgl. Sibylle Jefferis u. Konrad Kunze: ‚Passienbüchlein von den vier Hauptjungfrauen‘. In: VL, Bd. 7 (1989), Sp. 325–328. Erfurt, Stadtarchiv, Cod. 5/940. Zwei unsignierte Pergament-Blätter, vielleicht aus einem Lektionar der Erfurter Marienknechte. Das erste enthält Reste einer mystischen Predigt, das zweite die Verse 435–562 der Margaretenlegende. Vgl. Wilhelm Schum: Mittelhochdeutsche Predigt- und Legendenbruchstücke. In: Germania 18 (1873), S. 96–109. Vgl. Anm. 252.
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gelangte. Als Herkunftsraum der ‚Veronika‘ II gilt ebenfalls das östliche Mitteldeutschland.284 Oft ist die Schreibsprache einer Handschrift das einzige Kriterium. Im Fall der Legende der hl. Hedwig von Schlesien aber ist am Ende festgehalten, dass ein Meininger Franziskaner seine deutsche Fassung der Legende (‚Legenda maior‘) in Erfurt abschloss.285 Besondere Bedeutung jedoch kommt der Legende Elisabeths von Thüringen zu. Die ungarische Königstochter Elisabeth (1207–1231) war im Alter von einem Jahr mit Hermann, dem Sohn des Landgrafen Hermann I., verlobt, seit 1211 an dessen Hof erzogen und nach dem Tod ihres Verlobten 1221 mit dem seit 1217 regierenden Landgrafen Ludwig IV. vermählt worden, dem sie drei Kinder gebar.286 Vier Jahre nach Ludwigs Tod auf dem Kreuzzug starb sie im Alter von 24 Jahren, nachdem sie sich der religiösen Armutsbewegung zugewandt und sich 1228 mit einem feierlichen Gelübde von allen weltlichen Bindungen losgesagt hatte, um fortan – geleitet von den Idealen der Barmherzigkeit und Nächstenliebe – dem Wohl der Armen und Kranken zu dienen. Mit ihrem Gelübde durchbrach sie alle Normen ihres Standes. Statt eine neuerliche Ehe einzugehen oder in ein Kloster einzutreten, gründete sie mit ihrem Vermögen in Marburg ein Franziskus von Assisi geweihtes Spital, in dem Männer und Frauen, die Armut, Keuschheit und Gehorsam gelobt hatten und als gemeinsame Tracht ein graues Gewand trugen, Dienst an Armen und Kranken taten. Von ihrem Beichtvater, dem Dominikaner Konrad von Marburg (einem religiösen Fanatiker, der 1232 von Adligen erschlagen wurde, als er seine Ketzerverfolgung auf sie ausdehnen wollte), wurde sie unerbittlich zu letzter psychischer und physischer Selbstentäußerung getrieben, sodass sie völlig entkräftet bereits 1231 starb. Nur vier Jahre nach ihrem Tod wurde Elisabeth auf Betreiben Konrads, des Landgrafenhauses und des Deutschen Ordens in den Kanon der Heiligen aufgenommen. Zu Pfingsten 1235 verkündete Gregor IX. in der Dominikanerkirche von Perugia ihre Heiligsprechung. Als ein Jahr später in Marburg ihre Gebeine erhoben (in einen Schrein umgebettet) wurden, versammelte sich eine ungezählte Menschenmenge, darunter Kaiser Friedrich II. Es war dies eines der größten religiösen Ereignisse des ganzen Mittelalters. Das Schicksal der jungen Landgräfin erschütterte die Zeitgenossen; bereits sie sahen das Unerhörte ihres Handelns. Dass eine Königstochter sich radikal aller Bindungen ihrer Herkunft entledigte, mit dem Ideal franziskanischer 284 285 286
Vgl. Frieder Schanze: ‚Veronika‘ II (‚Fronica‘). In: VL, Bd. 9 (1992), Sp. 297–299. Vgl. Anm. 309. Vgl. Matthias Werner: E. v. Thüringen, hl. In: LexMA, Bd. 3 (1986), Sp. 1838–1841; Norbert Ohler: Elisabeth von Thüringen. Fürstin im Dienst der Niedrigsten. 3. Aufl. Göttingen 1997 (Persönlichkeit und Geschichte 114/115); Elisabeth von Thüringen – eine europäische Heilige. Aufsätze. Hg. von Dieter Blume u. Matthias Werner. Petersberg 2007.
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Frömmigkeit und Armut Ernst machte und ein Leben in äußerster Selbsterniedrigung führte, das hatte es noch nicht gegeben, das machte Elisabeth zu einer besonderen Heiligen, für manche auch zum Skandalon. Schon wenige Jahre nach ihrer Heiligsprechung strahlte ihre Verehrung in weite Teile Europas aus, wobei Thüringen allerdings weithin ausgenommen blieb. Getragen wurde diese Verehrung insbesondere von Elisabeths Familie, vom Hochadel sowie den Bettelorden. Noch in den 30er Jahren des 13. Jahrhunderts errichtete der Deutsche Orden über ihrem Grab in Marburg eine Ordens- und Wallfahrtskirche, die zu einer bedeutenden christlichen Wallfahrtsstätte wurde. Rasch nahm sich der neuen Heiligen auch die Hagiographie an. Seit den 30er Jahren entstanden Schriften über Elisabeth in Latein und in der Volkssprache, in Prosa, Versen und Reimprosa, romanhaft ausgeweitet oder balladesk zusammengedrängt; ihre Legende fand Eingang in alle großen Legendare, die ‚Legenda aurea‘ des italienischen Dominikaners Jacobus de Voragine, das ‚Passional‘, das ‚Heiligenleben‘ Hermanns von Fritzlar, die ‚Elsässische Legenda aurea‘ und ‚Der Heiligen Leben‘.287 Die lückenlose Aufzählung aller einschlägigen Werke, die sich gewöhnlich noch einmal in kürzende und erweiternde Versionen aufspalten, ist hier weder möglich noch sinnvoll. Von Interesse ist in unserem Kontext die Tradition, die sich mit dem Namen des Dominikaners Dietrich von Apolda verbindet. Der als frater Theoderic de Apolt bezeugte Autor, der über ein halbes Jahrhundert dem Erfurter Konvent angehörte, war der erfolgreichste mittelalterliche Biograph der Heiligen.288 1297 schloss er seine lateinische ‚Vita S. Elisabeth‘ ab, die überaus weite Verbreitung fand.289 Die Zahl der Handschriften ist bis heute noch nicht überschaubar, und zu den Abschriften und Redaktionen kommen eine deutsche Versbearbeitung und mindestens zehn Prosaübersetzungen, auch sie wiederum in divergierenden Fassungen. Die Vita Dietrichs kann also als die
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Vgl. Helmut Lomnitzer: Die heilige Elisabeth in deutschen Prosalegendaren des ausgehenden Mittelalters. In: Elisabeth, der Deutsche Orden und ihre Kirche. Festschrift zur 700jährigen Wiederkehr der Weihe der Elisabethkirche Marburg 1983. Hg. von Udo Arnold u. Heinz Liebing. Marburg 1983 (Quellen und Studien zur Geschichte des Deutschen Ordens 18), S. 52–77; Konrad Kunze: Jacobus a (de) Voragine (Varagine). In: VL, Bd. 4 (1983), Sp. 448–466. Vgl. Helmut Lomnitzer: Dietrich von Apolda. In: VL, Bd. 2 (1980), Sp. 103–110. „Die Zahl der lateinischen Handschriften, Vertreter verschiedenster Redaktionen, ist Legion.“ Helmut Lomnitzer: Zu deutschen und niederländischen Übersetzungen der Elisabeth-Vita Dietrichs von Apolda. In: ZfdPh 81 (1970), S. 53–65, hier 60. Ed.: Die Vita der heiligen Elisabeth des Dietrich von Apolda. Hg. von Monika Rener. Marburg 1983 (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Hessen 53). Leben und Legende der heiligen Elisabeth. Nach Dietrich von Apolda. Mit 14 Miniaturen der Handschrift von 1481. Übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Rainer Kößling. Frankfurt a. M., Leipzig 1997 (Insel-Bücherei 1172).
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klassische Darstellung gelten.290 Eine jener Bearbeitungen wurde in Thüringen, im ludowingischen Hauskloster Reinhardsbrunn, abgeschrieben.291 In den Rahmen der deutschen Literaturgeschichte nun gehört eine Versbearbeitung, die den mehr oder minder stark verändernden Übersetzungen der lateinischen Vita, die sich auf die verschiedensten Gegenden Deutschlands vom Süden bis zum Niederrhein verteilen, zeitlich vorangeht. Es handelt sich um einen Legendenroman von rd. 10500 Versen, der nur wenige Jahre nach dem lateinischen Text vorlag.292 Er erzählt in überwiegend sachlichem Gestus von der frommen ungarischen Königstochter, deren Denken von Kindheit an auf Christus und dessen Nachfolge gerichtet war, und ihrem späteren Leben in entsagungsvoller Askese im Dienst der Nächstenliebe. Der Weggang aus Eisenach wird legendengemäß als Vertreibung geschildert: Di frouwen uz ir herschaft Mit leide si verstiezen; ... Di frouwe nit erkande Waz endes si bequeme, Da si herburge neme. Si gienc von hohe so zu dal Alse ein enlende fr?we sal, Di kuneges dochter here Weinende aber sere Mit irem ingesinde, Ir megden ane kinde Zu Isenache al in di stat, Al da si herburge bat In einer wintaberne. Da bleib di frouwe gerne
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Uber nacht, di gude, Geistliche fro in mude, Biz man nu metten lute. Zu mitter nacht di drute In drurekeide unmuzen Gienc zu den barfuzen: Di reine frouwe so zu stat Di minren bruder alle bat, Daz si durch godelichen danc Der werden engele lobesanc Sungen, der da ludet sus: ‚Te deum laudamus.‘ Vro was si vil gewisse Umme ir bedrubnisse: Si dankete gode ouch alle wege Siner gnedeclichen plege (v. 4894–4926).293
„Das Hauptwerk, von dem die stärkste, bis in die Neuzeit reichende Wirkung ausgegangen ist [...].“ Ludwig Wolff: Die heilige Elisabeth in der Literatur des deutschen Mittelalters. In: Hessisches Jb. für Landesgeschichte 13 (1963), S. 23–38, hier 26. Vgl. Matthias Werner: Die Elisabeth-Vita des Dietrich von Apolda als Beispiel spätmittelalterlicher Hagiographie. In: Geschichtsschreibung und Geschichtsbewußtsein im späten Mittelalter. Hg. von Hans Patze. Sigmaringen 1987 (Vorträge und Forschungen 31), S. 523–541. Vgl. Lomnitzer (Anm. 288), Sp. 106, Fassung c. Ed.: Das Leben der heiligen Elisabeth vom Verfasser der Erlösung. Hg. von Max Rieger. Stuttgart 1868 (StLV 90). Vgl. Ludwig Wolff u. Helmut Lomnitzer: ‚Das Leben der heiligen Elisabeth‘ (mhd. Verslegende). In: VL, Bd. 5 (1985), Sp. 632–635. „Sie verjagten Elisabeth nämlich aus ihrer Stellung als Landesherrin [...]. Die Frau wußte nicht, wohin sie gehen, wo sie Unterkunft finden könne. So wurde die erhabene Fürstin aus ihrer hohen Stellung verdrängt und von der Wartburg ins Elend gestoßen. Mit ihrem Gesinde, aber ohne ihre Kinder, kam sie tränenden Auges von der Burg herunter in die
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Als Autor kommt schon der lateinischen Vorlage wegen nur ein Geistlicher in Frage. In diese Richtung weist auch, dass er, ähnlich dem Verfasser des ‚Passionals‘, seinen Namen unterdrückt. Seine Adressaten wird er in klösterlichen und in adligen Kreisen gefunden haben. Die Entstehung denkt man sich so: Der Dichter, vielleicht Angehöriger eines Konvents, arbeitete in Marburg, dem Zentrum der Elisabeth-Verehrung. Hier könnte er einen Auftrag des Deutschen Ordens ausgeführt haben.294 Als Entstehungsort wurde aber auch das Prämonstratenserinnen-Kloster Altenberg b. Wetzlar erwogen, dem Elisabeths Tochter Gertrud als Äbtissin vorstand.295 Diese Unentschiedenheit resultiert daraus, dass wir außer der oberhessischen Schreibsprache des Romans keine verlässlichen Indizien für die Rekonstruktion der Textgenese besitzen. Als Entstehungsraum wurde daher auch Thüringen erwogen.296 In den zeitlichen, wenn auch nicht in den engeren stofflich-thematischen Umkreis der romanhaft gestalteten Legende der hl. Elisabeth gehört ein Sammelwerk über Heilige, von dem wir wenig mehr wissen, als dass es noch im 13. Jahrhundert im thüringisch-mitteldeutschen Raum entstand: das in Prosa verfasste ‚Jenaer Martyrologium‘. Martyrologien nennt man seit dem
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Stadt Eisenach, wo sie in einer Weinschenke Zuflucht suchte. Dort blieb die Fromme, deren Seele ganz auf den Herrn vertraute, die Nacht über, bis man zur Frühmette läutete. Dann ging sie, während es noch ganz dunkel war, voller Betrübnis zu den Barfüßern und bat die Minderbrüder, daß sie, um Gottes Gnade zu erwirken, den Lobgesang der heiligen Engel anstimmen möchten, der da lautet ‚Te deum laudamus‘, das ist ‚Dich, Gott, loben wir‘. Das erleichterte ihren Kummer ein wenig, und sie dankte Gott immerfort, daß er sich ihrer so gnädig angenommen.“ Das Leben der heiligen Elisabeth von einem unbekannten Dichter aus dem Anfang des 14. Jahrhunderts. Aus dem Mittelhochdeutschen übersetzt und hg. von Manfred Lemmer. Berlin 1981, S. 83. Die Vertreibung Elisabeths von der Wartburg wird auch in der thüringischen Geschichtsschreibung thematisiert. So erwähnt Friedrich Köditz (Anm. III, 92), S. 67,18–20, „den jungen lantgraven Heinrichen, lantgravin Lodewigis brudir, der di enelenden witwen untogintlichen von Wargperg getrebin hatte“. Elisabeth erfuhr im Deutschen Orden besondere Verehrung, wurde jedoch nicht zu dessen alle überragender Heiliger. Die als Heiligenlegende verfasste ‚Vita s. Elyzabeth lantgravie‘ (1236/37) des rheinischen Zisterziensers Caesarius von Heisterbach ist dem Prior und den Brüdern des Deutschen Hauses in Marburg gewidmet. Vgl. Karl Langosch: Caesarius von Heisterbach. In: VL, Bd. 1 (1978), Sp. 1152–1168, hier 1162. Ein außerliterarisches Zeugnis der Elisabeth-Devotion des Deutschen Ordens findet sich im Turm der 1221 von den Deutschherren erbauten Nikolaikirche in Erfurt. Hier entdeckte man Fresken von hoher Qualität, die, wie eine Inschrift des 14. Jh. belegt, Elisabeth darstellen. Zu denken wäre daher auch an eine Altenberger Nonne als Verfasserin; doch sagt der Erzähler eingangs: „ich unwiser man“ (v. 65). Die frühere Identifizierung des Verfassers mit dem des heilsgeschichtlichen Epos ‚Die Erlösung‘ hat sich als unhaltbar erwiesen. L. Wolff (Anm. 290), S. 28: „Es ist nicht sicher, ob der Verfasser hier in Marburg gedichtet hat, was E. Sievers beweisen zu können meinte, oder doch in Thüringen geschrieben hat“. Ulla Williams: Das Leben der hl. Elisabeth. In: Killy, Bd. 7 (1990), S. 185, beschränkte sich hinsichtlich der Entstehung auf die Angabe „im mitteldeutschen Raum“.
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Frühmittelalter in verschiedenen Formen verbreitete, durchweg lateinische Werke, die tageweise die Namen der Heiligen, die Verehrung erfahren, nach ihrem jährlichen Gedenktag anordnen.297 Aufgeführt werden Eremiten wie Paulus, Bischöfe wie Urban, Ordensgründer wie Franziskus von Assisi und heilige Jungfrauen wie Margareta. Mitunter sind die Lebensläufe oder einzelne biographische Daten wie Stand, Todesart, Begräbnis- und Kultort ergänzt, wie sie sich ähnlich in den verbreiteten Sammelwerken wie der ‚Legenda aurea‘ und ‚Der Heiligen Leben‘ finden.298 Die Martyrologien wandten sich vornehmlich an ein monastisches Publikum, besonders in den Frauenklöstern; für Nichtgeistliche dürften sie kaum von Interesse gewesen sein. Ihre wichtigste Gebrauchsfunktion war die tägliche Lesung im Stundengebet; doch wird man auch mit privater Andacht rechnen dürfen. Auch das in einer Pergamenthandschrift, vermutlich dem Rest einer breiteren Überlieferung, erhaltene ‚Jenaer Martyrologium‘, das älteste in deutscher Sprache, geht vermittelt auf eine lateinische Vorlage zurück, die ihrerseits mehrere Martyrologien des 9. und 10. Jahrhunderts kompiliert zu haben scheint, aber noch nicht näher bestimmt ist.299 Als Vorlage diente dem Schreiber des liturgischen Werks bereits ein deutschsprachiges Martyrologium. Der Verfasser, dessen Schreibdialekt in den mitteldeutschen Raum weist, ist unbekannt. Das ‚Jenaer Martyrologium‘ nimmt insofern eine Sonderstellung ein, als der Prosatext mit einem 297
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Das ‚Jenaer Martyrologium‘ gehört zum Typus der historischen Martyrologien. Vgl. Werner Williams-Krapp: ‚Jenaer Martyrologium‘. In: VL, Bd. 4 (1983), Sp. 517; ders.: Die deutschen und niederländischen Legendare des Mittelalters. Studien zu ihrer Überlieferungs-, Textund Wirkungsgeschichte. Tübingen 1986 (TTG 20), S. 22 f. Kompendienartige Zusammenfassungen von Heiligenlegenden, wie sie unter maßgeblichem Einfluss der Bettelorden seit dem 13. Jh. entstanden, waren etwas Neues. Das einflussreichste dieser Werke war die ‚Legenda aurea‘ des Jacobus de Voragine. Exemplarisch sei die Erzählung vom Eremiten Paulus zitiert, der der Legende nach vom hl. Antonius aufgesucht wurde und im Alter von 113 Jahren entschlief. Sie findet sich in der ‚Legenda aurea‘ wie im ‚Jenaer Martyrologium‘, wo es heißt: „der was der erste einsiedil. vnd von dem male daz he sechcen iar alt was biz an sin hunderste iar al eine was in dem walde. vnd vil da durch got leit. vnd zM lestin do quam sanctus anthonius zM im. vnd der gùte got der im alle tage ein halb brot sante bi deme rabin. der sante im do durch sines gastis liebe ein ganz brot. vnd die wile daz sie von otmMticheit zMsamene strietin wer daz brechin solde do teilte sich daz brot an ir beider hant. vnd sente anthonius sach wo die engele sine fele furtin in der apostolin vnd prophetin chor.“ f. 4r . Ed.: Friedrich Wilhelm: Das Jenaer Martyrologium und die Unterweisung zur Vollkommenheit. In: Münchener Museum für Philologie des Mittelalters und der Renaissance. Bd. 5. H. 1. München 1928, S. 1–98, hier 3. Zur Überschneidung der Martyrologien mit Kalendarien und Legendaren vgl. Jacques Dubois: Martyrologium, -ien. In: LexMA, Bd. 6 (1993), Sp. 357–360; Konrad Kunze: ‚Der Heiligen Leben‘ (‚Prosa-‘, ‚Wenzelpassional‘). In: VL, Bd. 3 (1981), Sp. 617–625. Besondere Verbreitung erlangte das um 860 entstandene Martyrologium des Benediktiners Usuard von St. Germain-des-Prés. Vgl. Konrad Kunze: Usuard OSB (und deutsche Martyrologien). In: VL, Bd. 10 (1999), Sp. 141–144.
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Illustrationsprogramm von 366 in den Text integrierten kolorierten Federzeichnungen ausgestattet ist, das auch für die Vorlage vorausgesetzt werden darf. Die wohl noch im 13. Jahrhundert hergestellte Handschrift gelangte 1549 aus der Wittenberger kurfürstlichen Bibliothek nach Jena. Ob sie aus dem Prämonstratenserkloster Mildenfurth b. Weida stammt, wie man seit dem 19. Jahrhundert vermutet hat, ist nicht sicher.300 Die letzten drei Blätter der Handschrift füllt ein von derselben Hand geschriebenes geistliches Lehrgedicht in 342 Versen, das man nach einem Leitwort ‚Unterweisung zur Vollkommenheit‘ genannt hat.301 Das wahrscheinlich in Ostthüringen entstandene Gedicht, im Wesentlichen eine Kompilation von Lehrsprüchen, ist titellos und anonym überliefert. Die Selbstcharakteristik des Autors als „arm man“ (v. 23) dürfte in die Richtung eines geistlichen Verfassers weisen, der einer religiösen Gemeinschaft angehörte; aber ob er sich an eine klösterliche Gemeinschaft oder an ein Laienpublikum wandte, ist kaum zu entscheiden. Das überwiegend paargereimte Gedicht wird durch ein Gespräch zwischen Autor, Maria und Christus (v. 1–78) eingeleitet. Der Hauptteil bringt christlich-asketische Belehrung allgemeiner Art, vorgetragen in einer schlichten, fast bilderlosen Sprache; angedeutet wird immerhin ein Stufenweg zur „vollenkvmeheit“ (v. 31). Formal ist dieser Teil, in dem der Autor sich zunächst an einen Adressaten, dann an mehrere wendet („vor war ich vch daz sagin sol“, v. 305), in der Hauptsache eine Reihung priamel- und sentenzartiger Zahlensprüche, etwa „Ane drù ding sullen die wesin leit. / Daz ist sunde vnnutz. vnd itelcheit“ (v. 175 f.), von denen anzunehmen ist, dass sie weiter verbreitet waren.302 Die Aussagen bleiben jedoch sehr allgemein: Man soll sich selbst erkennen, aber auch Gottes Güte, man soll nach Demut, Bescheidenheit, Geduld und Nächstenliebe streben und sich vor Ungeduld und Zorn hüten, andere nicht tadeln, sich nicht selbst loben. 300
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Zu Handschrift Jena, ThULB, Ms. Bos. q. 3 vgl. Pensel (Anm. 133), S. 35 f. („um 1300“). Die nachträglich eingefügten Illustrationen haben ihre nächsten Entsprechungen in einigen Codices mitteldeutscher Provenienz wie Gotha, FB, Memb. I 90, einer um 1275 im elbostfälischen Raum gefertigten Pergamenthandschrift, die in der Hauptsache die ‚Sächsische Weltchronik‘ enthält. Denkbar, dass auch die Vorlage, vielleicht sogar der Archetypus des ‚Jenaer Martyrologiums‘ aus dem mitteldeutschen Raum stammt. Ed.: Vgl. Günter Kämpf: Die Sprache der Unterweisung zur Vollkommenheit (Bose q. 3 der Universitätsbibliothek Jena). Ein Beitrag zur Sprachgeschichte der thüringischen literarischen Texte des 13. und 14. Jhs. Diss. [masch.] Jena 1965, S. 11–17; Fedor Bech: Unterweisung zur Vollkommenheit. Ein geistliches Lehrgedicht aus dem Kloster Mildenfurt (14. Jahrhundert). In: Germania 22 (1877), S. 167–181, hier 167–174; Wilhelm (Anm. 298), S. 99–102 [diplomatischer Abdruck]. Als Entstehungsraum erwog Kämpf den ostthüringischen Raum Gera – Weida. Ansprechend die Überlegung von Volker Honemann: ‚Unterweisung zur Vollkommenheit‘. In: VL, Bd. 10 (1999), Sp. 104–106, hier 106, das Gedicht lasse sich als „eine Art poetischer Epilog“ zum Martyrologium verstehen. „Dreierlei soll dir verhasst sein, Sünde, Schaden und leerer Hochmut.“
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Die Allgemeinheit dieser Lehre macht es unmöglich, eine bestimmte Quelle anzugeben, zumal, das fällt auf, jede Berufung auf Autoritäten wie z. B. Kirchenlehrer fehlt. Ob der Dichter, der sich selbst als geistlichen Ratgeber bezeichnet („Andirin lùtin rat ich vil“, v. 4), identisch ist mit dem Verfasser des vorangehenden Martyrologiums (die ostthüringische Schreibsprache beider Texte spräche nicht dagegen), muss ebenso offen bleiben wie sein Wirkungsort. Wir kennen nur diese Handschrift, und eine Wirkung der ‚Unterweisung zur Vollkommenheit‘ ist nirgends auszumachen. Von einem anderen Manuskript wissen wir zuverlässig, dass es aus dem Prämonstratenserkloster Mildenfurth stammt, einer lateinischen Sammelhandschrift kanonistischen (kirchenrechtlichen) und theologischen Inhalts. In sie trug Cunrad Merbot von Weida 1399 im Anschluss an einen lateinischen Beichtspiegel einen in flüssiger Prosa abgefassten deutschen ein, der für die Praxis des Seelsorgers bestimmt war.303 Da diese Handschrift auch eine Schrift des Juristen Heinrich von Merseburg enthält, die Merbot abschrieb, könnte man sich vorstellen, dass er dem Kloster Mildenfurth angehörte.304 Zum Motivreservoir heilsgeschichtlicher Dichtung gehört seit dem 12. Jahrhundert der Streit der vier Töchter Gottes. Anknüpfend an eine Auslegung von Psalm 84, treten die vier Attribute Gottes: Wahrheit, Gerechtigkeit, Barmherzigkeit und Friede als allegorische Gestalten auf und streiten am Beginn des Erlösungswerks mit dem Gottessohn um das Schicksal des gefallenen Menschen.305 Der Streit gilt der Frage, ob Adams Schuld angesichts der Wahrheit und Gerechtigkeit Gottes Strafe verdient habe oder im Blick auf Barmherzigkeit und Frieden Gottes Vergebung. Die Schwestern Barmherzigkeit und Friede fordern von dem König (Gott), seinem Knecht Adam zu vergeben, ihre Schwestern Gerechtigkeit und Wahrheit dagegen, ihn zu bestrafen. Der Sohn (Christus) beendet das Dilemma des Vaters und schlichtet den Streit der Schwestern, indem er sich zur Menschwerdung entschließt, um die Menschheit zu erlösen. Das Gedicht endet mit einem knappen Leben Jesu, das mit der Verkündung von dessen Wiederkehr zum Jüngsten Gericht endet. Das Motiv wurde zuerst in einer Predigt Bernhards von Clairvaux gestaltet, später auch in den Volkssprachen sowohl selbstständig wie in verschiedenen 303
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Jena, ThULB, Ms. El. f. 48, f. 267ra –268vb . Vgl. Die mittelalterlichen lateinischen Handschriften der Electoralis-Gruppe. Beschrieben von Bernhard Tönnies. Wiesbaden 2002 (Die Handschriften der Thüringer Universitäts- und Landesbibliothek Jena. Bd. 1), S. 126–130. Ed.: Heinz Mettke: Die Beichte des Cunrad Merbot von Weida. Halle 1958, S. 20–28. Der Beichtspiegel ist in aufsteigender Folge der katechetischen Stücke angelegt. zweierlei Sünden (innere und äußere), dreierlei Sünden (Leib, Welt, böser Geist), viererlei Sünden (nach den vier Elementen) usw. Zum 7. Gebot zählt er ein Reimpaar auf, was man nicht stehlen soll: „huner gense enten swin / holcz fleysch benke vnd wyn. Vgl. Karin Schneider: Merbot, Cunrad, von Weida (Beichtspiegel des C. M.). In: VL, Bd. 11 (2004), Sp. 992–993. Ps 84, 11: misericordia et veritas occurrerunt, iustitia et pax deosculatae sunt.
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Gattungskontexten, in Chroniken und Predigten, in Epen wie der ‚Erlösung‘ und geistlichen Spielen wie der ‚Erfurter Moralität‘, einem Weltgerichtsspiel. Die älteste selbstständige und geschlossenste Bearbeitung bietet eine geistliche Rede mit dem Titel ‚Von gotes barmherzigkeit‘ (485 Verse), die ein nicht ungewandter thüringischer Anonymus, höchstwahrscheinlich ein Geistlicher, in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts verfasste.306 Das Gedicht ist sehr breit überliefert und wahrscheinlich verwandt mit ‚Der Sünden Widerstreit‘, einem großen allegorischen Gedicht, das den Kampf der Tugenden gegen die Laster um die Seele des Menschen gestaltet. Wenn eine regionale Literaturgeschichte nach Autoren und Werken eines bestimmten Kulturraums fragt, nach Verfassern, die ihm entstammten oder die in ihm tätig waren, und Texten, die in ihm geschaffen und vielleicht tradiert wurden, wird sie doch immer auch nach Formen des literarischen Transfers zwischen diesem Kultur- und Literaturraum und anderen fragen müssen. Am ‚Jüngeren Titurel‘ zeigte sich, dass wir im späteren 13. Jahrhundert eher mit einer thüringisch-meißnischen als mit einer thüringischen Literaturlandschaft zu rechnen haben, und für die hagiographische Tradition Elisabeths von Thüringen erwies sich als kennzeichnend, dass der maßgebliche lateinische Text, auf dem alle volkssprachigen aufruhen, aus Erfurt stammt, während die romanhafte Darstellung der Heiligen in der Volkssprache in Hessen zu lokalisieren ist. Man könnte noch die Märendichtung nennen; hier sind wir zumeist außerstande, Entstehungsort oder -raum eines Textes anzugeben; allenfalls lassen sich einzelne Fassungen bzw. Handschriften ihrer Schreibsprache nach der einen oder anderen Region des deutschen Sprachraums zuweisen. Regionenübergreifend stellt sich auch die Legende der hl. Hedwig von Schlesien dar, deren thüringische Rezeption erklärt sein will. Die volkssprachigen Fassungen verteilen sich vom südsteiermärkischen Marburg an der Drau im äußersten Südosten des deutschen Sprachraums bis nach Erfurt und von Schwaben im Südwesten bis nach Breslau im mitteldeutschen Osten, ohne dass diese Verteilung, wie man erwarten könnte, ihren Ausgang von Schlesien nähme. Hedwig (1178/80–1243), eine Tochter Graf Bertholds V. von Andechs, wurde nach ihrer Erziehung im Benediktinerinnenkloster Kitzingen im Alter von zwölf Jahren mit dem Piastenherzog Heinrich von Schlesien verheiratet. Nach 20jähriger Ehe, aus der mehrere Söhne und Töchter hervorgingen, 306
Ed.: Die Erlösung. Mit einer Auswahl geistlicher Dichtungen. Hg. von Karl Bartsch. Quedlinburg [u. a.] 1858 (BNDL 1/37), S. IX–XX. Vgl. Waltraud Timmermann: ‚Streit der vier Töchter Gottes‘. In: VL, Bd. 9 (1995), Sp. 396–402; Glier (Anm. 89), S. 107; Janota (Anm. 210), S. 273, 368. In die Tradition der allegorischen Dichtung gehört auch Rothes ‚Lob der Keuschheit‘, ein allegorisches Gemälde der Keuschheit in einer Reihe von Sinnbildern wie Turteltaube und Lilie, gewidmet einer Nonne im Eisenacher Zisterzienserinnenkloster.
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legte das Paar vor dem Bischof ein Keuschheitsgelübde, aber kein Ordensgelübde ab und lebte fortan getrennt. Nach Heinrichs Tod (1238) zog Hedwig sich in das von ihr 1202 gegründete Zisterzienserinnenkloster Trebnitz n. Breslau, das erste Frauenkloster Schlesiens, zurück, wo sie 1243 starb. Bereits 1267 wurde sie von Clemens IV. ihres umfangreichen karitativen Werks und ihrer asketischen Lebensführung wegen heiliggesprochen. Am Anfang der hagiographischen Tradition Hedwigs, die durch die Dynastie der Piasten und durch den Zisterzienserorden befördert wurde, steht eine lateinische Legende, die ‚Legenda maior‘ (um 1300). Verfasst wurde sie vermutlich von einem Franziskaner, doch ist sie im Ganzen eher ein Werk zisterziensischer Spiritualität.307 Bekannt sind fünf deutsche Übersetzungen aus der Zeit von 1380 bis 1476, wobei bemerkenswert ist, dass die Breslauer Fassung erst um die Mitte des 15. Jahrhunderts entstand.308 Die hier interessierende thüringische Übertragung kennen wir nur aus einer Papierhandschrift des 15. Jahrhunderts, die geistliche Texte vereint. Der Schluss lautet: Also nymet ein end daz leben sent hedewigis, daz da gemacht ist von eynem barfuszin brudir vnnd nù auch virduczst ist von eynem andirn brudir dez selbin ordens. Nach crist geburt virczen hundirt iar vnnd vir vnd czwenczig iar ist dysz vorduczschung gescheen, an dem dinstag vor sent michels tag, czù erfort von eynem francken kylian genant usz dem clostir czu meyningen.309
Die Legende führt von Hedwigs Kindheit über die Ehe mit Heinrich dem Bärtigen, der ihr in Demut und Askese nachzueifern suchte, sodass er einem Mönch ähnelte, bis zu ihren Wundern und Prophezeiungen, ihrem Tod und den damit einhergehenden Zeichen und endlich zu ihrer Heiligsprechung und der Erhebung ihrer Gebeine. Betont werden Frömmigkeit und Askese der Fürstin. Sie zeigte sich in allem demütig, mied jede Hoffart, führte später ein keusches Leben, trug schmucklose Kleider, übte sich in Schweigen und küsste 307
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Vgl. Teresa Dunin-W¹sowicz: Hedwig. In: LexMA. Bd. 4 (1989), Sp. 1985 f.; Friederike Werner: Hedwig von Schlesien. In: LCI, Bd. 6, Sp. 473– 478. Ed. siehe Anm. 314. Vgl. Werner Williams-Krapp: ‚Hedwig von Schlesien‘. In: VL, Bd. 3 (1981), Sp. 565–569; ders.: Die deutschen und niederländischen Legendare (Anm. 297), S. 418. Schleusingen, Bibl. des Naturhistorischen Museums, G 189, S. 242. Übers.: „Damit endet die Lebensbeschreibung der heiligen Hedwig, verfasst von einem Barfüßerbruder und nun verdeutscht von einem anderen Bruder desselben Ordens. Diese Übersetzung wurde im Jahr 1424 nach Christi Geburt am Dienstag vor St. Michael (26. 9.) abgeschlossen.“ Edition von Vorrede und c. 1–2: Bruno Obermann: Daz lebin sent hedewigis. Handschrift der Bibliothek des Schleusinger Gymnasiums. In: Königl. Preussisches Hennebergisches Gymnasium zu Schleusingen. Oster-Programm 1880. Meiningen 1880, S. 3–23, hier 16–23. Vgl. Sabine Seelbach: Hedwig in Thüringen. Kontexte der volkssprachigen Rezeption einer lateinischen Heiligenlegende. In: „wort unde wîse, singen unde sagen.“ Fs. Ulrich Müller. Hg. von Ingrid Bennewitz. Göppingen 2007 (GAG 741), S. 121–135; MRDH (5. 12. 2011).
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das Chorgestühl und die Handtücher ihrer Dienerinnen, selbst Unflat, den sie fand. „Sulche demut, dy dyse heylge fraw in orem leben gelart hatte, vorlisz sy mit nicht bisz in den tod.“310 Das thüringische Interesse an der schlesischen Heiligen dürfte genealogische Gründe haben. Aber welche? Man hat darauf verwiesen, dass Elisabeths Mutter Gertrud ebenfalls aus dem Andechser Grafenhaus stammte, sie war eine Schwester Hedwigs, diese also eine Tante Elisabeths von Thüringen, was eingangs auch erwähnt wird.311 Richtiger ist es aber wohl, den am Schluss genannten Angaben nachzugehen. Wenn der sonst nicht bekannte Meininger Franziskaner seine Arbeit, für die man einen Auftrag voraussetzen darf, im Erfurter Konvent ausführte, dann vielleicht deshalb, weil ihm dort anders als in seinem Heimatkloster die lateinische Legende (‚Legenda maior‘), zur Verfügung stand.312 Sein Manuskript, vielleicht die Reinschrift der kurz zuvor beendeten Übersetzung, wurde jedoch weder in Erfurt noch in Meiningen, sondern in Schleusingen gebunden, und damit kommt als Auftraggeberin der Übersetzung die verwitwete Gräfin Mechthild von Henneberg (1368–1425) in Frage.313 Für diese Annahme spricht mehr noch als die Beziehungen der Henneberger zum Meininger Minoritenkloster der Umstand, dass Mechthild sich als geborene Markgräfin von Baden sah. Auch diese genealogische Beziehung wird in der lateinischen Legende betont und von Kilian getreu wiedergegeben: „Diese fraw hatt czu einem vatir den 310 311
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Zit. nach Obermann (Anm. 309), S. 23. „Hy begynnet sich daz lebin sent Hediwigis, dy da waz ein herczogin czu Slesyen vnnd ein tochtir des margrauen von Baden vnnd ein wase sent Elisabeth.“ Zit. nach Beck (Anm. II, 68), S. 122. Dass Elisabeths Mutter Gertrud von Andechs und Hedwig Schwestern waren, wird auch im Eingangskapitel bei der Aufzählung der Geschwister der Heiligen betont: „dy andir [wurde verheiratet mit] andres dem konige von hvngern, von der geboren wart dy lobeliche heilige fraw sent elisabeth, ein lantgreven czu duringen, der lichnam rùwet czu martburg.“ Zit. nach Obermann (Anm. 309), S. 17. Über Kilian ist nichts Näheres bekannt. Mit „fränkisch“ dürfte seine hennebergische Herkunft gemeint sein. Das 1239 gegründete Meininger Barfüßerkloster gehörte zur Diözese Würzburg. Vgl. Hermann Pusch: Das Meininger Franziskanerkloster. Meiningen 1919 (Neue Beiträge zur Geschichte des deutschen Altertums 29). Sabine Seelbach: Translatio sanctitatis. Die heilige Hedwig als Integrationsfigur deutscher Adelsdynastien im Spätmittelalter: Habsburg – Oettingen – Henneberg. In: Jb. der Schlesischen Friedrich-WilhelmsUniversität zu Breslau 49 (2008), S. 11–31, hier 21 f., bezweifelte die Angabe des Übersetzers, die Legende stamme von einem Franziskaner, da man deren Entstehen eher mit den Zisterziensern verbindet; doch da im 15. Jh. auch die Franziskaner ihrer Tracht wegen Graue Mönche genannt wurden, sei der Irrtum erklärlich. Kilian gebraucht indes nur die Bezeichnung Barfüßer. Sicher zisterziensischer Herkunft dagegen ist die lateinische Vita der Mystikerin Lukardis (um 1276–1309), der im Zisterzienserinnenkloster Oberweimar zahlreiche Gnadenerlebnisse zuteil wurden. Vgl. Peter Dinzelbacher: ‚Lukardis von Oberweimar‘ OCist. In: VL, Bd. 5 (1985), Sp. 1045–1046; Theele (Anm. II, 90), Nr. 383 und 833. Vielleicht beabsichtigte Mechthild, die von ihr wohl in Auftrag gegebene Handschrift bei einem Eintritt in ein Kloster mitzunehmen. Vgl. Seelbach (Anm. 309), S. 127 und 131 f.
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tüern fursten hern bertold der da was ein marggraue czu baden ein graue tyrolensis vnd herczog czu meran.“314 Wenn in diesem Überblick eine vollständige Behandlung oder auch nur Aufzählung aller geistlichen Gedichte und Spiele, Legenden, Traktate und Predigtsammlungen, die sich mit Thüringen in Verbindung bringen lassen, nicht möglich ist, darf doch ein Autor nicht fehlen, der seit seiner wissenschaftlichen Wiederentdeckung zu Beginn des 19. Jahrhunderts unbestritten zu den herausragenden Geistesgrößen des Mittelalters zählt: Meister Eckhart.315 Eckhart von Hochheim wurde vor 1260 in Tambach im Thüringer Wald geboren. Obwohl die Familie, der der Aufstieg aus der Ministerialität in den Ritterstand gelungen war, Beziehungen zu den Zisterziensern im nahen Georgenthal und Gotha unterhielt, trat der Sohn in das Erfurter Kloster der Dominikaner ein, eines der ältesten und angesehensten in der Ordensprovinz Teutonia. Da das früheste urkundliche Zeugnis für Eckhart erst aus dem Jahr 1294 stammt, bleibt vieles in seiner ersten Lebenshälfte im Dunkeln.316 Er absolvierte – wohl nach dem Besuch einer Grammatikschule, die die nötigen Lateinkenntnisse vermittelte, und nach dem Noviziat – ein mehrjähriges Studium der Freien Künste in seinem Hauskloster, an das sich ein Studium der Theologie wahrscheinlich an der Ordenshochschule in Köln anschloss. 1294 erscheint Eckhart als lector sententiarum an der Universität in Paris; er leitete also als theologischer Bakkalar die dortige Übung über die ‚Sentenzen‘ des Petrus Lombardus, das theologische Standardwerk des Mittelalters. Nach der Rückkehr nach Erfurt wählte man Eckhart zum Prior seines Klosters (hier 314
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Zit. nach Seelbach (Anm. 312), S. 24. Die lateinische Legende nennt Hedwig eine magnifici principis Bertoldi, marchionis Badensis comitis Tyrolensis atque ducis Meranie filia. Vita beatae Hedwigis. Hg. und übersetzt von Peter Moraw. In: Der Hedwigs-Codex von 1353. Sammlung Ludwig. Hg. von Wolfgang Braunfels. Bd. 1. Faksimile der vollständigen Handschrift. Bd. 2. Texte und Kommentare. Berlin 1972, Bd. 2, S. 71–155, hier 72. Mechthilds Vater war Markgraf Rudolf VI. von Baden. Zu „fraw Mechtild (sonst Metze genand)“ und ihren Eltern vgl. auch Cyriacus Spangenbergs ‚Hennebergische Chronica‘, S. 206 f. Vgl. Kurt Ruh: Meister Eckhart. In: VL, Bd. 2 (1980), Sp. 327–348; ders.: Meister Eckhart. Theologe, Prediger, Mystiker. 2., überarb. Aufl. München 1989; ders.: Geschichte der abendländischen Mystik. Bd. 3. Die Mystik des deutschen Predigerordens und ihre Grundlegung durch die Hochscholastik. München 1996, S. 216–353; Alois Maria Haas: Meister Eckhart. In: Die deutsche Literatur im späten Mittelalter (Anm. 89), S. 254–268; Kurt Flasch: Meister Eckhart. Philosoph des Christentums. München 2010. Exemplarisch genannt sei der vermutete, aber nicht gesicherte Aufenthalt Eckharts 1286 in Paris. Vgl. Georg Steer: Eckhart von Hochheim. In: Killy, Bd. 3 (1989), S. 171–176, hier 171. Die urkundlichen Zeugnisse zur Biographie hg. von Loris Sturlese in: Meister Eckhart. Die deutschen und lateinischen Werke. Hg. im Auftrag der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Die lateinischen Werke. Hg. von Albert Zimmermann u. Loris Sturlese. Bd. 5. Stuttgart 2006, S. 153–193.
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hielt er seine ersten deutschen Predigten) und zum Vikar des Provinzials Dietrich von Freiberg in der Ordensprovinz Teutonia.317 1302/03 hatte Eckhart an der Pariser Universität als Magister den theologischen Lehrstuhl des Dominikanerordens inne; dieser hat seine Begabung offenbar früh erkannt und anerkannt.318 Es folgte ein knappes Jahrzehnt der Tätigkeit in Erfurt und in der neugeschaffenen Ordensprovinz Saxonia, die ganz Mittel- und Norddeutschland umfasste, und 1307 kam das Amt des Generalvikars der Provinz Böhmen hinzu, bis man Eckhart 1311/13 ein zweites Mal auf den Nichtfranzosen vorbehaltenen Dominikanerlehrstuhl in Paris berief – eine seltene Ehrung, die erst wenigen zuteil geworden war. In dieser Zeit entfaltete er eine rastlose wissenschaftliche Tätigkeit. Seit 1314 lebte er in Straßburg, betraut vermutlich mit Predigt und cura monialium, der Seelsorge für Nonnenklöster und Beginen, die es in der oberrheinischen Metropole und in Süddeutschland überhaupt in reicher Zahl gab.319 Diesen Jahren gehören die meisten seiner deutschen Predigten an. 1323 ist er in Köln bezeugt, wohl um am Generalstudium des Ordens zu lehren. 1326 eröffnete der Kölner Erzbischof Heinrich II. von Virneburg ein Inquisitionsverfahren gegen ihn, gegründet auf Einzelsätze, die Denunzianten seines Ordens aus seinen Schriften gezogen hatten. Eckhart erkannte die Rechtmäßigkeit des Verfahrens nicht an, appellierte an den päpstlichen Stuhl in Avignon und beteuerte in einer öffentlichen Predigt in Köln seine Rechtgläubigkeit. Von der Kurie vorgeladen, zog er nach Avignon, um seine Lehre zu verteidigen. Dort ist er wohl Anfang 1328 gestorben, vor Abschluss des Prozesses, der seine letzten Jahre überschattete. Die päpstliche Bulle ‚In agro dominico‘ wurde am 27. März 1329 veröffentlicht; in ihr verurteilte Johannes XXII. 17 Sätze Eckharts als häretisch und elf als übelklingend und häresieverdächtig.320 Welcher Platz kommt Meister Eckhart in einer Literaturgeschichte des mittelalterlichen Thüringen zu? Eckhart war Philosoph, Theologe, Prediger und Mystiker, und er war wie andere Gelehrte ein zweisprachiger Autor: er 317
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Zu Dietrich von Freiberg, der Eckhart philosophisch maßgeblich beeinflusste, vgl. Loris Sturlese: Dietrich von Freiberg. In: VL, Bd. 2 (1980), Sp. 127–137. Der Beiname „Meister“ meint also: Eckhart hatte in Paris 1302 den theologischen Magistergrad erworben. Die seelsorgerliche Betreuung der Ordensfrauen und Beginen durch Predigt, Beichte und geistliche Beratung wurde den Dominikanern 1267 durch Clemens IV. auferlegt, nachdem die Zahl der Frauenklöster rasch angewachsen war. Eckhart folgte dieser Verpflichtung und verfasste Predigten, in die die Ordensfrauen sich meditierend versenken konnten. Die cura monialium war eine wichtige Quelle für die Genese des literarischen Typs der Lesepredigt. Edition der Prozessakten durch Loris Sturlese in: Meister Eckhart (Anm. 316), S. 195–617. Vgl. Winfried Trusen: Der Prozeß gegen Meister Eckhart. Vorgeschichte, Verlauf und Folgen. Paderborn, München, Wien [u. a.] 1988 (Rechts- und Staatswissenschaftliche Veröffentlichungen der Görres-Gesellschaft. NF 54), besonders S. 113–133.
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redete und schrieb lateinisch und deutsch. Seine wichtigsten Tätigkeitsfelder waren die universitäre Lehre und die Ordensseelsorge, die für sein Œuvre bestimmenden Gattungen und Textmuster sind Predigt, Traktat, Expositio (Auslegung), Kommentar und Quaestio (eine Form des scholastischen Unterrichts), Formen also, die nicht alle eine Entsprechung in der Volkssprache hatten. Es bedarf mithin eines weiten Literaturbegriffs, will man sich diesem Œuvre, das vornehmlich für Kirchen-, Philosophie-, Rechts- und Frömmigkeitshistoriker, auch für Bildungs- und Sprachgeschichte von Interesse ist, nähern. Auch der Blick auf die späteren Wirkungsstätten Paris, Straßburg und Köln zeigt, dass Eckhart nur eingeschränkt als „thüringischer“ Autor gelten kann. Doch hat die neuere Forschung nachgewiesen, dass die knapp zwei Jahrzehnte im Erfurter Konvent zwischen 1293 und 1311 die für sein Denken und Schaffen entscheidenden waren: in ihnen konzentrieren sich die intellektuellen und geistlichen Einflüsse, die seinen spekulativen Denkentwurf wie seine Predigttätigkeit unverwechselbar machten.321 Sein lateinisches Werk ist hier nur am Rande zu erwähnen. Auf Diskussionen, die Eckhart an der Pariser Universität mit anderen Theologen führte, gehen die nachträglich aufgezeichneten und redigierten ‚Quaestiones Parisienses‘ zurück. Noch nicht aufgefunden wurde die oben erwähnte Auslegung der ‚Sentenzen‘ des Petrus Lombardus. Eine umfassende Gesamtdarstellung seiner eigenen Lehre in drei Teilen solllte das ‚Opus tripartitum‘ bringen, das er, wie man heute weiß, in Erfurt konzipierte, aber wohl nicht abschloss. Das „dreigeteilte Werk“ sollte sich zusammensetzen aus einer Sammlung von Thesen, aus Fragen, schließlich aus Auslegungen. Diesem letzten Teil sind wahrscheinlich die erhaltenen lateinischen Predigtentwürfe zuzurechnen. Das deutsche Werk Eckharts ist umfangreich.322 Es umfasst drei Traktate und rd. 110 Predigten. In die Jahre 1294/98, also in die Erfurter Zeit, gehören ‚Die
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„Die Erfurter Jahre waren für Eckhart die wichtigsten in seinem Leben.“ Georg Steer: Meister Eckharts deutsche „reden“ und „predigten“ in seiner Erfurter Zeit. In: Meister Eckhart in Erfurt. Hg. von Andreas Speer u. Lydia Wegener. Berlin, New York 2005 (Miscellanea Mediaevalia 32), S. 34–55, hier 55. Vgl. auch Loris Sturlese: Meister Eckhart in der Bibliotheca Amploniana. Neues zur Datierung des ‚Opus tripartitum‘. In: Die Bibliotheca Amploniana. Ihre Bedeutung im Spannungsfeld von Aristotelismus, Nominalismus und Humanismus. Hg. von Andreas Speer. Berlin, New York 1995 (Miscellanea Mediaevalia 23), S. 434–446, hier 434–436. Ed.: Meister Eckhart. Werke. Hg. und kommentiert von Niklaus Largier. Bd. 1, 2. Frankfurt a. M. 1993 (Bibliothek des Mittelalters 20, 21). Taschenausgabe 2008. Die vorzüglich kommentierte Ausgabe enthält neben den deutschen Werken auch eine Auswahl aus den lateinischen. Grundlegend: Meister Eckhart. Die deutschen und lateinischen Werke. Hg. im Auftrag der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Abt. 1. Die deutschen Werke. Hg. von Josef Quint u. Georg Steer. Stuttgart 1936–2003. Abt. 2. Die lateinischen Werke. Hg. von Josef Koch, Albert Zimmermann, Loris Sturlese [u. a.]. Bd. 1–7. Stuttgart 1936–2007.
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rede der underscheidunge‘.323 Eckhart behandelt in seinen collationes (Lehrgesprächen) vornehmlich moralische und praktische Fragen des religiösen Lebens von Ordensleuten, beginnend mit dem Gehorsam. Gegenwärtig sind aber auch schon alle philosophischen und theologischen Grundgedanken seines späteren Werks; im Ganzen bieten die Gespräche nicht weniger als eine christliche Lebenslehre. Bei den eingangs erwähnten „kindern“ handelt es sich um jüngere Angehörige des Erfurter Konvents, auch Novizen. Eckhart unterwies sie also, obwohl sie des Lateins mächtig waren, in der Volkssprache, nicht in der gewohnten Schulsprache. Wie die handschriftliche Überlieferung erkennen lässt, erreichte er mit den ‚Reden der Unterweisung‘ eine breitere Öffentlichkeit.324 Nach 1314 entstand der ‚Liber Benedictus‘, bestehend aus dem ‚Buch der goetlîchen troestunge‘, einem Traktat in der Tradition der Trostliteratur, und der Lesepredigt ‚Von dem edeln menschen‘.325 Nicht ganz gesichert ist die Authentizität des Traktats ‚Von abegescheidenheit‘; vielleicht geht er auf einen Bearbeiter zurück, dem Notizen Eckharts vorlagen. Die zentrale Textgruppe des deutschen Werks sind die Predigten, die schon von den Zeitgenossen als ein geistiges Ereignis begriffen wurden. Die frühen Predigten gehören in den zeitlichen Umkreis der ‚Reden der Unterweisung‘, eine zweite Gruppe bilden solche aus der Zeit als Provinzial bis 1311 und eine dritte die der Straßburger und Kölner, also der späteren Zeit. Die meisten Predigten sind Auslegungen von Schriftworten (Homilien), die in ihrem Aufbau den rhetorischen Anforderungen der akademischen Predigt genügten; es handelt sich also keineswegs um volkstümliche Predigten. Das Schriftwort wird ausgelegt, spekulativ gedeutet und moralisch auf das Leben des Einzelnen oder im Rückbezug auf das Thema gedeutet oder die Gemeinde wird abschließend zu rechtem Handeln angehalten. Zum Verständnis der Eckhartschen Predigten gehört, ihren Ort mitzudenken, ihren liturgischen Kontext also, die Stellung im Kirchenjahr. Eckhart behandelt in ihnen alle wichtigen Themen von der Kosmologie über Gott bis hin zu Armut, Gelassenheit, Ruhe, Vernunft und dem Einen. Zu Recht hat man ihn seit je als 323
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„Daz sint die rede, die der vicarius von türingen, der prior von erfurt, bruoder eckhart predigerordens mit solchen kindern hâte, diu in dirre rede vrâgeten vil dinges, dô sie sâzen in collationibus mit einander.“ Meister Eckhart. Werke (Anm. 322), Bd. 2, S. 334, 3–6. Vgl. Uta Störmer-Caysa: Der Wille in Meister Eckharts Erfurter ‚Reden‘, ein ungenannter Gegner des Duns Scotus und einige Fragen an die Textgeschichte. In: Mittelalterliche Sprache und Literatur in Eisenach und Erfurt. Hg. von Martin Schubert, Jürgen Wolf, Annegret Haase. Frankfurt a. M. [u. a.] 2008 (Kultur, Wissenschaft, Literatur 18), S. 86–103. Ein Pergament-Doppelblatt aus einer in der ersten Hälfte des 14. Jh. in thüringischem Schreibdialekt geschriebenen Handschrift bezeugt den Ausgang der Überlieferung von Thüringen: Zeitz, Domherrenbibl., Fragment 98. Vgl. Fedor Bech: Bruchstücke aus Meister Eckhart. In: Germania 20 (1875), S. 223–226. Der Titel ‚Liber Benedictus‘ ist den Prozessakten entnommen.
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Meister der deutschen Sprache gewürdigt. Er war einer der ersten, die den Wortschatz der Scholastik, der Theologie überhaupt in die Volkssprache übertrugen und diese zu einem Medium der Spiritualität erhoben. Eckhart weiß in seinen Predigten hochkomplizierte Dinge wie die Zeitlichkeit und die Überzeitlichkeit der menschlichen Seele zu erläutern, und dies in einer Sprache von seltener Klarheit und Linearität. Hier ein kurzer Auszug aus einer Predigt, die nach dem zweiten Pariser Magisterium in Erfurt entstand: Die besten meister sprechent, daz diu vernünfticheit schele alzemâle abe und nimet got blôz, als er lûter wesen ist in im selben. Bekantnisse brichet durch wârheit und güete und vellet ûf lûter wesen und nimet got blôz, als er âne namen ist. Ich spriche: noch bekantnisse noch minne eneiniget niht. Minne nimet got selben, als er guot ist, und entviele got dem namen güete, minne enkünde niemer vürbaz. Minne nimet got under einem velle, under einem kleide. Des entuot vernünfticheit niht; vernünfticheit nimet got, als er in ir bekant ist; dâ enkan si in niemer begrîfen in dem mer sîner gruntlôsicheit. Ich spriche: über disiu beidiu, bekantnisse und minne, ist barmherzicheit; dâ würket got barmherzicheit in dem hœhsten und in dem lûtersten, daz got gewürken mac.326
Eckharts volkssprachige Predigten sind nur sekundär und verstreut überliefert, wir kennen sie vornehmlich aus Teilsammlungen späteren Kompilatoren wie der Gothaer Handschrift Chart. A 13.327 Wofern größere Textkomplexe auftreten, stammen sie erst aus späterer Zeit. Diese Überlieferungslage hat zweifellos mit der kirchlichen Verurteilung zu tun. In enger Verbindung mit Eckharts Predigttätigkeit steht ein Predigtbuch, das wohl im Erfurter Dominikanerkloster zusammengestellt wurde und als eine der bedeutendsten Predigtsammlungen des Mittelalters gilt. Der unbekannte Kompilator, vermutlich ein Angehöriger des Erfurter Konvents, 326
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Meister Eckhart. Werke (Anm. 322), Bd. I, S. 92, 9–22. Übers.: „Die besten Meister sagen, die Vernunft schäle völlig ab und erfasse Gott entblößt, wie er reines Sein in sich selbst sei. Das Erkennen bricht durch die Wahrheit und Gutheit hindurch und wirft sich auf das reine Sein und erfaßt Gott bloß, wie er ohne Namen ist. Ich sage: Weder das Erkennen noch die Liebe einigen. Die Liebe ergreift Gott selbst, insofern er gut ist, und entfiele Gott dem Namen ‚Gutheit‘, so würde die Liebe nimmermehr weiterkommen. Die Liebe nimmt Gott unter einem Fell, unter einem Kleide. Das tut die Vernunft nicht; die Vernunft nimmt Gott so, wie er in ihr erkannt wird; sie kann ihn aber niemals erfassen im Meer seiner Unergründlichkeit. Ich sage: Über diese beiden, Erkennen und Liebe ragt die Barmherzigkeit; im Höchsten und Lautersten, das Gott zu wirken vermag, dort wirkt Gott Barmherzigkeit.“ S. 93, 11–26. In Quints Ausgabe Predigt Nr. 7. Der Band, eine geistliche Sammelhandschrift, die im zweiten Viertel des 15. Jh. im oberrheinischen Sprachraum zusammengestellt wurde, enthält f. 125vb–166rb eine Predigtsammlung, darunter Texte Meister Eckharts. Vgl. Karin Morvay u. Dagmar Grube: Bibliographie der deutschen Predigt des Mittelalters. Veröffentlichte Predigten. München 1974 (MTU 47), S. 69–92, T 75.
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vereinte unter dem Titel ‚Paradisus anime intelligentis‘ 64 Predigten von zwölf Predigern zumeist thüringischer Provenienz, von denen zehn als Dominikaner identifizierbar sind.328 Es sind ausnahmslos Fachtheologen, gelehrte lesemeister und Theologieprofessoren wie Helwic von Germar (Nr. 52) und Meister Eckhart, auf den mit 32 Predigten exakt die Hälfte der Sammlung entfällt.329 Der erste Teil folgt dem Kirchenjahr (beginnend mit dem Advent), während der zweite Heiligenpredigten bietet. Die ursprüngliche Fassung ist verloren; die zwei erhaltenen Handschriften repräsentieren eine zweite, redigierte und gekürzte Fassung, die um 1340 entstanden sein dürfte, als der Prozess gegen Eckhart nicht mehr aktuell, die Erinnerung an ihn in Erfurt aber noch lebendig war.330 Die Sammlung ist überaus sorgfältig ausgestattet, ein Register weist jede Predigt einem Verfasser namentlich zu, bemerkenswert ist schon der Titel.331 Er findet sich auch volkssprachig, hier lautet er: „Dit buchelin heizit ein paradis der fornuftigin sele“ und ist programmatisch zu verstehen.332 Die beiden großen Bettelorden stritten damals um die Priorität von Vernunft und Willen in der Frage der Gotteserkenntnis; während die Franziskaner den Willen akzentuierten, war nach dominikanischer Lehrmeinung der intellectus entscheidend, worauf hier das Adjektiv „fornuftig“ hinweist. Diesem Streitpunkt sind denn auch mehrere Predigten der Sammlung gewidmet. Verdeutlicht ist das theologische Anliegen dadurch, dass ein unter all den Dominikanern der Kompilation kaum zufällig namenlos bleibender Franziskaner (Nr. 62), gleichsam als schwarzes Schaf, aufgenommen ist, von dem es im Register 328
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Ed.: Paradisus anime intelligentis (Paradis der fornuftigen sele). Aus der Oxforder Handschrift Cod. Laud. Misc. 479 nach E. Sievers Abschrift. Hg. von Philipp Strauch. Berlin 1919 (DTM 30). 2. Aufl., mit einem Nachwort versehen von Niklaus Largier u. Gilbert Fournier. Hildesheim 1998 (DTM 30). Vgl. Kurt Ruh: ‚Paradisus anime intelligentis‘ (‚Paradis der fornuftigen sele‘). In: VL, Bd. 7 (1989), Sp. 298–303. Vgl. Morvay u. Grube (Anm. 327), S. 102–110, T 92–103. Das entspricht fast einem Drittel seiner volkssprachigen Predigten. Die Sammlung enthält auch die oben angezogene Predigt (hier 19). Eckhart hat wohl nicht alle Predigten, die in die Sammlung aufgenommen wurden, in Erfurt gehalten. Aus der Reihe der anderen Prediger seien genannt Eckhart Rube (Nr. 9, 23, 32, 44, 45, 64), Giselher von Slatheim (Nr. 12, 14, 25, 39, 41), Albrecht von Treffurt (Nr. 38, 53) und Thomas von Apolda (Nr. 6). Vgl. Ruh (Anm. 311), S. 60–71; ders.: Deutsche Predigtbücher des Mittelalters. In: Beiträge zur Geschichte der Predigt. Vorträge und Abhandlungen. Hg. von Heimo Reinitzer. Hamburg 1981 (Vestigia Bibliae 3), S. 11–30, hier 23–27. Ruh (Anm. 311), S. 61, nannte die Hamburger und die Oxforder Handschrift „sorgfältige Abschriften des verlorenen Erfurter Originals“. Dieses könnte zwischen den beiden Pariser Magisterien 1302/03 und 1311/13 entstanden sein. Vgl. auch Steer (Anm. 321), S. 46–55. Predigtsammlungen mit Titel begegnen in größerer Zahl erst im 15. Jh. Das Interesse der Sammler galt gewöhnlich mehr den Predigtinhalten als den Predigern. Vgl. auch Janota (Anm. 210), S. 419–421. Paradisus (Anm. 328), S. 1. Der volkssprachige Titel ist dem Register vorangestellt. Der lateinische Titel beschließt die Sammlung: Explicit paradisus anime intelligentis (S. 139, 21).
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IV. WANDLUNGEN VOM HOCH- ZUM SPÄTMITTELALTER
nicht eben freundlich heißt, die Predigerbrüder und Lesemeister hätten trefflich gegen ihn disputiert und ihm „nicht einis wortis“ geglaubt.333 Der ‚Paradisus anime intelligentis‘ ist für Meister Eckhart und das Schrifttum in seiner Nachfolge eine wichtige Quelle. Eckhart war der Repräsentant der gelehrten Dominikanerpredigt in der Volkssprache; wahrscheinlich hat er nicht nur in den Frauenklöstern, sondern auch vor seinen Erfurter Brüdern deutsch gepredigt.334 Über den Adressaten der Sammlung wie über Zeit und Ort ihrer Entstehung herrscht allerdings Uneinigkeit. Vielleicht dachte der Kompilator um 1340 an eine Art Hausbuch, das die Erinnerung an die große Zeit des Konvents, als Eckhart und andere begabte Prediger ihm angehörten, festhielt. Da sich unter den Themen der Sammlung hochanspruchsvolle finden, kommen Laien als Adressaten nicht in Betracht; es handelt sich um Lesepredigten für die Brüder in den Dominikanerkonventen. Die enthaltenen Predigten Eckharts müssen aber nicht alle aus den Jahren 1303/11 stammen, und die Sammlung ließe sich auch verstehen als eine Antwort auf die päpstliche Verurteilung von 1329; sie zielte dann auf die Verteidigung seiner Lehre, indem sie zeigte, dass Eckhart mit seinem Predigtstil keineswegs allein stand. In den Kontext der Wirkung Eckharts gehört auch ein um oder nach 1300 in Thüringen entstandenes mystisches Lied, das theologisch wie sprachlichpoetisch von hohem Rang ist. Nur wenig jünger ist ein – vielleicht auf denselben Autor zurückgehender – lateinischer Kommentar, dem das Gedicht seinen Titel ‚Granum sinapis‘ (Senfkorn) verdankt.335 Durchgängiges Thema ist das Erkennenwollen des Menschen, sein Streben nach Erkenntnis Gottes und Vereinigung mit ihm. Die ersten drei Versikel preisen in hoher Stillage die Trinität. Die beiden folgenden Versikel bringen für den verborgenen Gott (Deus absconditus) mit der Wüste, dem Nichts, eine der ältesten Metaphern überhaupt. Die folgende Versgruppe umschreibt die unfassbare Gottheit in 333
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Paradisus (Anm. 328), S. 7, 1. Die Predigt des Barfüßers, Paradisus (Anm. 328), S. 131–133, bestätigte also in glücklicher Weise die dominikanische Grundannahme, „daz diz werc der fornuft edilir ist dan diz werc dez willen in deme ewigin lebine“ (S. 5, 4 f.). Zur Theologie der Sammlung, die auf Eckhart aufbauend die These der Inkarnation als Gottesgeburt im Menschen vertritt, vgl. Niklaus Largier: Vernunft und Seligkeit. Das theologische und philosophische Programm des ‚Paradisus anime intelligentis‘. In: ‚Paradisus anime intelligentis‘. Studien zu einer dominikanischen Predigtsammlung aus dem Umkreis Meister Eckharts. Hg. von Burkhard Hasebrink, Nigel F. Palmer, Hans-Jochen Schiewer. Tübingen 2009, S. 1–15. Ed.: Deutsche Lyrik des späten Mittelalters. Hg. von Burghart Wachinger. Frankfurt a. M. 2006 (Bibliothek des Mittelalters 22), S. 426–431. Vgl. Kurt Ruh: Textkritik zum Mystikerlied ‚Granum sinapis‘. In: Fs. Josef Quint. Hg. von Hugo Moser, Rudolf Schützeichel, Karl Stackmann. Bonn 1964, S. 169–185; ders.: ‚Granum sinapis‘. In: VL, Bd, 3 (1981), Sp. 220–224. Der vollständige Titel Granum sinapis de divinitate pulcherrima in vulgari (ein Senfkorn von der allerherrlichsten Gottheit in der Volkssprache) meint: Das Gedicht ist gleich einem Senfkorn klein in der Substanz, aber groß in seiner Kraft.
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paradoxer Form, und die beiden Schlussversikel ermahnen den Menschen, aus seinem Ich herauszutreten und in „gotis nicht“ zu versinken. Der lateinische Kommentar, dessen Verfasser dem Lieddichter zumindest nahegestanden haben dürfte, legt das Lied Strophe für Strophe aus.336 Das Gedicht ist einem beliebten Sequenzstrophentypus abgefasst, den man Adam von St. Viktor zuschreibt; Vers- und Reimkunst sind makellos. Wir wissen nichts darüber, ob das Lied für den Gesangvortrag vielleicht in einem Dominikanerinnenkonvent bestimmt war, doch ist dies wohl wenig wahrscheinlich. Als Verfasser des in allen Handschriften anonym überlieferten Werks wurde auch Meister Eckhart erwogen.337 Unter den Textzeugen ist die Zeitzer Handschrift zu erwähnen, eine Papierhandschrift des 15. Jahrhunderts, die das Lied, eingefasst von dem lateinischen Kommentar, enthält und deren thüringische Schreibsprache auf den Entstehungsraum des Gedichts verweist.338 In das erste Drittel des 14. Jahrhunderts gehört eine weitere, umfangreiche Predigtsammlung thüringischer Provenienz. Ihr Kompilator erscheint in der Überlieferung als Hartwig, Hartung und Heinrich von Erfurt; richtig sein dürfte die Namenform Hartwig.339 Zwar lässt sich nicht beweisen, dass er das in der Forschung ‚Postille‘ genannte Predigtbuch, in das er verschiedene Texte zumeist in bearbeiteter Form aufnahm, in Erfurt zusammenstellte, doch zeigt er sich mit der Predigtliteratur des thüringischen Raums vertraut (aufgenommen ist eine auch im ‚Paradisus anime intelligentis‘ enthaltene Predigt des Giselher von Slatheim).340 Hartwig selbst schreiben mehrere Handschriften 336
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Der Kommentator scheint Meister Eckhart zu kennen, ohne ihn jedoch zu zitieren. Seine wichtigste Autorität ist Ps.-Dionysius Areopagita. Manche Aussagen des Lieds verweisen auf die dionysische Mystik, atmen also den Geist des Neuplatonismus. Vgl. Steer (Anm. 312), S. 172. Zu den zahlreichen Zeugnissen der Eckhart-Rezeption gehört auch der mystische Traktat ‚Von Vollkommenheit‘, der im 14. Jh. im mitteldeutschen Raum, vielleicht in Thüringen, entstand. Vgl. Kurt Ruh: ‚Von Vollkommenheit‘ (‚Sechs Übungen zur Vollkommenheit‘). In: VL, Bd. 10 (1999), Sp. 493–496. Zeitz, Bibl. der Michaeliskirche, Nr. 347 (verschollen). Vgl. Ralf G. Päsler: Ein neuer Textzeuge des ‚Granum sinapis‘ aus der ehemaligen Königsberger Dombibliothek. In: ZfdA 136 (2007), S. 58–67, hier 62. Vgl. Volker Mertens: Hartwig (Hartung) von Erfurt. In: VL, Bd. 3 (1981), Sp. 532–535; Morvay u. Grube (Anm. 327), S. 119–123, T 111; Janota (Anm. 210), S. 424 f. Gegen die Ansicht von Adolf Spamer: Über die Zersetzung und Vererbung in den deutschen Mystikertexten. Diss. Gießen 1910, S. 122, es handele sich um zwei verschiedene Personen, vgl. Volker Mertens: Hartwig (Hartung/Heinrich) von Erfurt, Postille. In: ZfdA 107 (1978), S. 81–91, hier 84: „Eine Identifikation mit einer historisch nachgewiesenen Person in Erfurt, etwa dem 1289 bezeugten dominus Harthungus oder dem 1314 urkundenden Dekan des Marienstiftes Herwich, ist unbeweisbar, außerdem deutet der Herkunftsname eher auf einen Aufenthalt außerhalb von Erfurt zur Zeit der Abfassung der Postille.“ Zu der älteren Annahme, die Sammlung sei nicht von Hartwig, sondern von Giselher von Slatheim kompiliert, vgl. Ruh: Geschichte der abendländischen Mystik (Anm. 315), S. 393; Lauri Seppänen: Giselher (Gisilher) von Slatheim. In: VL, Bd. 3 (1981), Sp. 46–47, hier 47.
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eine Predigt auf den Mittwoch vor Pfingsten zu. Sein zwischen 1321 und 1343 zusammengestelltes Predigtbuch enthält in der wichtigsten Handschrift 174 nach den Stationsfasttagen und den Sonntagen des Jahreskreises geordnete Predigten, zumeist Epistel- und Evangelienpredigten.341 Das theologische Profil der Sammlung ist nicht eindeutig: Neben Predigten, die in Glaubensund Moralfragen unterweisen, findet sich spekulative Mystik in der Nachfolge Meister Eckharts; beliebte Themen sind die Gottesgeburt in der Seele und die Lehre von den Seelenkräften. Da auch die Armutsthematik begegnet, wollte man in Hartwig einen Franziskaner sehen, doch lassen seine Predigtkenntnisse wohl eher an einen Dominikaner denken (zu seinen Quellen gehört die von den Dominikanern etablierte literarische Predigt).342 Anders als der ‚Paradisus anime intelligentis‘ war Hartwigs ‚Postille‘ nicht für den Vortrag durch den Prediger bestimmt, sondern für die nachvollziehende oder erbauende private Lektüre von Laien und die Tischlesung im Kloster.343 Den Erfolg der Sammlung bezeugt eine größere Zahl von Handschriften und Fragmenten zumeist des 15. Jahrhunderts, die sprachlich überwiegend in den oberdeutschen Raum weisen. Wie Hartwig aus verschiedenen Predigtcorpora schöpfte, gingen umgekehrt seine Predigten in andere Werke ein. Berührungen bestehen mit dem ‚Heiligenleben‘ Hermanns von Fritzlar und den ‚Leipziger Predigten‘ (da das Material zum Großteil noch ungedruckt ist, 341
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Frankfurt a. M., UB, Ms. germ. qu. 3, eine Papierhandschrift, gefertigt im ersten Viertel des 15. Jh. in nordbairischer Schreibsprache. Vgl. Mertens (Anm. 339), Sp. 532 f. Das Predigtbuch (f. 2r–393v ) ist überschrieben: „Ditz sint postillen de tempore von der zeit daz gantze iar dez suntages und die gantz vasten. Ein weil die Epistel. Ein weil daz Ewangelium.“ Vom Kompilator heißt es: „man heizzet mich bruder und Heinrich und von Erfurt“. Exemplarisch genannt sei Dietrich von Freiberg, vgl. Ruh: Geschichte der abendländischen Mystik (Anm. 315), S. 198. Zur Dominikanerpredigt vgl. Georg Steer: Geistliche Prosa. In: Die deutsche Literatur im späten Mittelalter (Anm. 89), S. 306–370, hier 334–337. Hartwigs Sammlung berührt sich mit weiteren Werken, u. a. dem Evangelienbuch des Hallenser Klausners Matthias von Beheim, das dieser jedoch weder verfasste noch schrieb. Die 1343 in Altzelle in ostmitteldeutscher Schreibsprache geschriebene Pergamenthandschrift Leipzig, UB, Ms. 34 bietet bereits die verbesserte Rezension einer Evangelienübertragung, mit der man in das 13. Jh. und nach Mitteldeutschland gelangt. Thüringen allerdings scheidet als Entstehungsraum aus sprachlichen Gründen aus. Vgl. Märta Åsdahl Holmberg u. Kurt Ruh: ‚Evangelien-Übertragungen‘. In: VL, Bd. 2 (1980), Sp. 653–659, hier 656. Seit 1318 entfaltete Heinrich von Friemar d. Ä. im Erfurter Augustinerkloster eine rege literarische Tätigkeit. Ins Deutsche übertragen wurden jedoch nur ‚De quatuor instinctibus‘, ein Traktat über die Unterscheidung der Geister, und ‚De decem praeceptis‘, eine scholastische Erklärung der Zehn Gebote. Heinrichs Ruf beruhte vornehmlich auf seinen breit überlieferten Predigten, besonders beliebt war das ‚Opus sermonum de sanctis‘. Ed.: Der Traktat Heinrichs von Friemar über die Unterscheidung der Geister. Lateinisch-mittelhochdeutsche Textausgabe mit Untersuchungen. Bearb. von Robert G. Warnock u. Adolar Zumkeller OSA. Würzburg 1977 (Cassiacum 32). Vgl. Robert G. Warnock: Heinrich von Friemar der Ältere. In: VL, Bd. 3 (1981), Sp. 730–737, und Bd. 11 (2004), Sp. 623 f.
4. GEISTLICHE LITERATUR
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sind die Abhängigkeitsverhältnisse jedoch nur schwer zu beurteilen).344 Der unfeste Werkcharakter der ‚Postille‘ begünstigte die Aufnahme einzelner Stücke in andere Sammlungen, so in ein wiederum breiter überliefertes Plenar, das 93 Predigten der ursprünglichen Kompilation enthält und diese mit anderen für die Messe bestimmten Texten verbindet.345 Seit 1400 erscheinen Hartwigs Predigten schließlich in einer Sammlung theologischer Traktate. Die Funktion dieses Überlieferungstyps dürfte dieselbe wie die der Predigtsammlung gewesen sein.346 Querbeziehungen in der Übertragung biblischer Texte ergeben sich zwischen Predigt und Perikopen (gottesdienstlichen Lesungen aus der Bibel), wie sie im ‚Berliner Evangelistar‘ begegnen. Volkssprachige Evangelistare gehören vornehmlich dem 14. und 15. Jahrhundert an; mit der Durchsetzung von Vollmissalien verloren sie ihre Bedeutung. Das ‚Berliner Evangelistar‘ bietet die Perikopen de tempore in fortlaufender Folge, eingefügt ist eine gereimte Passion. Überliefert ist es in einer Sammelhandschrift, die um die Mitte des 14. Jahrhunderts wohl in Ostthüringen geschrieben wurde.347 In diesem Zusammenhang ist schließlich noch ein Werk zu nennen, das der hessischen Literaturgeschichte angehört, aber eng verbunden mit Hartwig und
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Vgl. Volker Mertens: ‚Leipziger Predigten‘. In: VL, Bd. 5 (1985), Sp. 695–701. Nicht zu verwechseln mit dieser Sammlung ist eine aus St. Peter in Erfurt stammende Sammlung von 57 nach den Sonn- und Festtagen des Kirchenjahrs geordneten Predigten (es fehlen einige Feiertage), vielleicht Lesepredigten, geschrieben 1385 von Dietrich von Gotha in mitteldeutschem Schreibdialekt. Hauptthema ist die Aufforderung zu Beichte und Buße. Leipzig, UB, Ms. 1663. Auszug: Ostmitteldeutsche Chrestomathie. Proben der frühen Schreib- und Druckersprache des mitteldeutschen Ostens. Hg. von Johannes Erben. Berlin 1961 (Deutsche Akad. d. Wiss. zu Berlin. Veröffentlichungen des Instituts für Sprache und Literatur 24), S. 98–102. Vgl. Kurt Illing: ‚Leipziger Predigtsammlung Dietrichs von Gotha‘. In: VL, Bd. 5 (1985), Sp. 701; Morvay u. Grube (Anm. 327), S. 153, T 131. Plenarien sind illustrierte Sammlungen der deutschsprachigen Bibeltexte, die der gottesdienstlichen Lesung und Predigt zugrundelagen. Sie gliedern sich der Ordnung des Kirchenjahrs folgend in Winterteil und Sommerteil, erfassen vollständig die Texte der Evangelien und Briefe und enthalten die Lesungstexte zu Sonntagen, Wochentagen und Heiligentagen. Vgl. Heimo Reinitzer u. Olaf Schwencke: Plenarien. In: VL, Bd. 7 (1989), Sp. 737–763. Als ältester Vertreter können die oben behandelten ‚Holzmindener Bibelfragmente‘ gelten. „Zweckbestimmung von Postille und Plenar dürfte nachvollziehende oder erbauende Lektüre gewesen sein.“ Mertens (Anm. 340), S. 83. Die die Traktatsammlung überliefernde Handschrift Nürnberg, Stadtbibl., Cod. Cent. IV, 37, weist sprachlich in den mitteldeutschen (thüringischen?) Raum. Vgl. Beck (Anm. II, 68), S. 51. Ed.: Das Evangelistar der Berliner Handschrift MS. GERM. 4° 533. Hg. und im Rahmen der thüringisch-obersächsischen Prosawerke des 14. Jahrhunderts nach Lauten und Formen analysiert von Günter Feudel. Teil I, II. Berlin 1961 (Deutsche Akad. d. Wiss. Veröffentlichungen des Instituts für deutsche Sprache und Literatur 23/I). Der Schreiber nennt sich Henricus de Landishut. Vgl. Hans Jeske: ‚Evanglien-Perikopen der Passion‘ (mhd. Verse). In: VL, Bd. 2 (1980), Sp. 652–653.
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anderen Erfurter Predigern ist: Hermanns von Fritzlar ‚Heiligenleben‘.348 Der Verfasser, ein begüterter Laie, der sich vielleicht in späteren Jahren aus der Welt zurückzog, nennt sich selbst einen heimlichen Gottesfreund und armen menschen, gehörte jedoch keinem Orden an.349 Das Vorrede und Schlussschrift zufolge zwischen 1343 und 1349 kompilierte ‚Heiligenleben‘ bezeugt enge geistige Beziehungen zu den Mystikerkreisen der Erfurter Dominikaner und Franziskaner, voran Hartwig.350 Es ist eine summa de sanctis, eine Sammlung von Heiligenlegenden in der Ordnung des Kirchenjahrs, vereint mit mystisch gefärbten Predigten auf die Heiligentage des Jahres und einige Herrenfeste des Winterteils. Bestimmt war sie für die private Lektüre von Laien: als Betrachtungs- und Erbauungsbuch, das jene im Leiden stärken und sie zu wahrer Frömmigkeit anleiten sollte. Wie Hermann selbst erklärt, handelt es sich um eine Blütenlese, eine Kompilation: „Diz buch ist zu sammene gelesen ûzze vile anderen bucheren und ûzze vile predigâten und ûzze vil lêrêren.“351 Die Quellen sind nur teilweise bekannt. Eine Predigt steht im ‚Paradisus anime intelligentis‘ unter dem Namen Eckhart Rube, eine andere gehört dem Kölner Dominikaner Gerhard von Sterngassen.352 Für zehn Predigten diente ihm Hartwigs von Erfurt ‚Postille‘ als Quelle. Hermann erzählt nüchtern und sachbezogen, ohne zu werten. Kein Stück ist in seinem vollständigen Umfang übernommen. In den erzählenden Partien reiht er manchmal verschiedene Fassungen einer Vita mehr oder minder unverbunden aneinander und fügt mystische Fragen und Erörterungen an. Die Vita von „Sente Elsebêten tac der landesvrowen zu Duringen“ leitet er durch das Rosenwunder ein, das hier
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Ed.: Deutsche Mystiker des 14. Jahrhunderts. Hg. von Franz Pfeiffer. Bd. I. Leipzig 1845. Ndr. Aalen 1962, S. 1–258. Bibliographie: Morvay u. Grube (Anm. 327), S. 123–125, T 112. Vgl. Wilfried Werner u. Kurt Ruh: Hermann von Fritzlar. In: VL, Bd. 3 (1981), Sp. 1055–1059; Schmitt (Anm. IV, 84), S. 231 f. Früher schrieb man Hermann auch den theologischen Traktat ‚Die Blume der Schauung‘ zu, in dem mehrfach Meister Eckhart, wenn auch nicht namentlich, zitiert wird. Nach Kurt Ruh: ‚Die Blume der Schauung‘. In: VL, Bd. 11 (2004), Sp. 264–266, hat er jedoch nichts mit Hermann von Fritzlar zu tun. Die Selbstcharakteristik als armer Mensch am Schluss, Deutsche Mystiker (Anm. 348), S. 258, 31 f., entsprechend lat. homo miser, erinnert an die des armen Hartmann, die ebenfalls das miser-Epitheton der Demutsformel enthält. Obwohl Hermann an zwei Stellen die Vita des hl. Dominicus einfügt, franziskanische Ideale wie Armut und Gehorsam preist und das Grab des hl. Franziskus erwähnt, ist es schon wegen des von ihm bezahlten Schreibers wenig wahrscheinlich, dass er einem der beiden Bettelorden angehörte. Erfurt, das im ‚Heiligenleben‘ S. 218, 31 ff. und 227, 27 ff., erwähnt wird, war Hermanns geistige Heimat. Die Vermutung von Mettke (Anm. I, 32), S. 81, er habe sich dort in späteren Jahren niedergelassen und „dort sicherlich gewohnt“, scheint sich auf einen anderen Träger des Namens zu beziehen. Deutsche Mystiker (Anm. 348), S. 4, 15–17. Vgl. Freimut Löser: Rube, Eckhart OP. In: VL, Bd. 8 (1992), Sp. 290–293, und Volker Honemann: Gerhard von Sterngassen. In: VL, Bd. 2 (1980), Sp. 1240–1243.
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zum ersten Mal in einer volkssprachigen Fassung begegnet.353 Hermanns Anliegen war wohl die Zusammenstellung möglichst vieler eindrucksvollwundersamer Ereignisse, die den vermittelnden Kontakt der Heiligen zu Gott betonen. Seiner Kompilation eignet eine gewisse Inhomogenität, ein Schwanken zwischen Legenden- und Predigtsammlung; an einem Legendar des herkömmlichen Typs war ihm offenbar nicht gelegen. Wie die schmale Überlieferung zeigt, hat das ‚Heiligenleben‘ – das älteste erhaltene Prosalegendar in deutscher Sprache – kaum über den hessischen Raum hinaus gewirkt. Vollständig überliefert ist es nur in einer, um die Mitte des 14. Jahrhunderts in Mitteldeutschland gefertigten zweibändigen Pergamenthandschrift.354 Mit jenen Predigtbüchern und Kompilationen ist ein ganz anders geartetes Werk zumindest in seiner katechetischen Absicht verwandt, sodass es hier seinen Platz finden mag, die ‚Biblia pauperum‘. Mit diesem Titel bezeichnet man heute ein typologisches Werk, das in einer auf neun Blätter verteilten Folge von 34 Bildergruppen, die mit knappen erläuternden Texten versehen sind, die wichtigsten Themenkreise des Neuen Testaments (Antitypen) und die auf sie vorausweisenden alttestamentlichen (Typen) zusammenfasst.355 Beim Blick auf die aufgeschlagene Handschrift sieht man auf jeder Seite zwei Bildergruppen, die so angeordnet sind, dass je eine neutestamentliche Szene von vier Prophetenbrustbildern umgeben ist und von einer alttestamentlichen
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Deutsche Mystiker (Anm. 348), S. 242, 11–246, 15. Das Rosenwunder S. 242, 18–29. Dazu Lomnitzer (Anm. 287), S. 53–59. Heidelberg, UB, Cpg 113 und 114, geschrieben vielleicht 1349, mitteldeutsch. Pfeiffer sah in der erst nachträglich auf zwei Bände aufgeteilten Handschrift „die unter Hermanns augen gefertigte urschrift“. Deutsche Mystiker (Anm. 348), S. XIV. Das ‚Heiligenleben‘ verkörpert einen seit dem 13. Jh. bezeugten Typ des Predigtlegendars. Vgl. Janota (Anm. 210), S. 448. Im Mittelalter bezeichnete man mit biblia pauperum Bearbeitungen der Bibel in kurzer Übersicht, bestimmt möglicherweise für Bettelmönche oder wenig bemittelte Weltgeistliche. Als Bezeichnung für das in der Überlieferung gewöhnlich titellose Hauptwerk der spätmittelalterlichen Typologie erscheint der Begriff erst seit dem 14. Jh. Zum zunächst innerbiblischen, christusbezogenen Auslegungsverfahren der Typologie vgl. Rudolf Suntrup: Typologie1. In: RLW, Bd. 3 (2003), S. 707–709. Das verbreitetste typologische Bild-TextWerk des 13. und 14. Jh. ist das um 1320 entstandene ‚Speculum humanae salvationis‘, eine illustrierte Darstellung der Heilsgeschichte von der Schöpfung bis zum Jüngsten Gericht, bestimmt für die Unterweisung von Laien wie auch Gelehrten. Der Hauptteil besteht aus 42 Kapiteln von je vier Miniaturen und 100 Zeilen Reimprosa, die eine Szene des Neuen Testaments (vornehmlich aus dem Leben Marias und Jesu) mit Präfigurationen des Alten Testaments verbinden, also das Gestaltungsprinzip der ‚Biblia pauperum‘ fortführen. Unter den Vers- und Prosaübertragungen ragt eine weit verbreitete anonyme deutsche Versübersetzung heraus. Mehrere Handschriften stammen aus dem ostmitteldeutschen Raum, zwei, so Beck (Anm. II, 68), S. 62, „der Schreibsprache zufolge aus Thüringen“. Vgl. Hans-Walter Stork u. Burghart Wachinger: ‚Speculum humanae salvationis‘. In: VL, Bd. 8 (1992), Sp. 52–65.
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Szene links und rechts flankiert.356 Später erweiterte man das Bildprogramm, dem gegenüber dem Text die Priorität zukommt, änderte die Reihenfolge und übersetzte die Begleittexte ins Deutsche. Den Ursprung des seit dem 14. Jahrhundert in zahlreichen Handschriften verbreiteten und noch in den Druck gelangten Werks vermutet man um die Mitte des 13. Jahrhunderts in Österreich oder Bayern im Umkreis der Augustiner-Chorherren.357 Aus einer Gruppe von Handschriften, die aus einer mitteldeutschen Werkstatt hervorgingen, ragt die wahrscheinlich um 1340/50 gefertigte Weimarer Handschrift heraus, eine der ältesten mit deutscher Übersetzung und ein Prachtstück mittelalterlicher Miniaturmalerei und Handschriftenillustration. Die Blätter 1–9 des großformatigen Pergamentcodex enthalten zunächst die lateinisch-deutsche Armenbibel. Auf den Blättern 11–22 folgen, was an sich unüblich ist, Bilder der lateinischen Apokalypse. Blatt 10 enthält sodann eine weitere Bildergruppe zum Weltende nach unbekanntem Vorbild; doch blieb die untere Hälfte der Seite frei, da der Zeichner wohl überfordert war. Zuerst wurden die Zeichnungen eingetragen und koloriert, dann der Text überaus sorgfältig eingetragen. Bei den erläuternden lectiones ist der lateinische Text auf die Hälfte gekürzt, die Prophetensprüche sind nur deutsch ausgeführt, und die tituli werden zunächst lateinisch, dann deutsch wiedergegeben. Das Schwergewicht sollte also auf dem deutschen Text liegen, der vollständig wiedergeben ist. Die Schreibsprache (ob die des letzten Schreibers oder der Vorlage, ist nicht auszumachen) weist ins Niederhessische, in den Raum um Kassel, Hersfeld, Fritzlar, vielleicht noch Fulda. Erkennbar wird eine mitteldeutsche Vorlage, die aus Mainz, eventuell auch aus dem Ostfränkischen (Bamberg, Würzburg) stammen könnte. Ein späterer Besitzvermerk (liber sancti petri in erfordia) lässt vermuten, dass die Handschrift um 1340/50 im Erfurter
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Ein Beispiel: Auf Christi Auferstehung (Bildergruppe VII) verweist zum einen Simson, der die Stadttore von Gaza herausriss (et inde consurgens adprehendit ambas portae fores cum postibus suis et sera inpositasque umeris portavit ad verticem montis. „Da stand er auf um Mitternacht und ergriff beide Torflügel am Stadttor samt den beiden Pfosten, hob sie auf seine Schultern und trug sie hinauf.“ Buch der Richter, 16, 3), zum anderen der Prophet Jona (et erat Iona in ventre piscis tribus diebus et tribus noctibus. „Und Jona war im Leibe des Fisches drei Tage und drei Nächte,“ Buch Jona, 2, 1). Die typologische Bedeutung der alttestamentlichen Ereignisse erläutern kurze Texte, die lectiones, ansonsten beschränkt der Text sich auf die Überschriften und kurze Prophetensprüche; die Textmenge ist also gering. Der Titel ist ungeklärt. Ob die „Armenbibel“ für Bettelmönche und unbemittelte Weltgeistliche oder als Replik auf häretische Bewegungen bestimmt war, ist strittig. Dass sie nicht für des Lesens Unkundige gedacht war, ergibt sich aus dem lateinischen Text wie dem theologisch anspruchsvollen typologischen Programm. Vgl. Karl-August Wirth: ‚Biblia pauperum‘. In: VL, Bd. 1 (1978), Sp. 843–852; Henning Wendland: Biblia pauperum. In: Lexikon des gesamten Buchwesens. 2., völlig neubearb. Auflage. Hg. von Severin Corsten, Günther Pflug, Friedrich-Adolf Schmidt-Künsemüller. Bd. I. Stuttgart 1987, Sp. 363–365.
5. THÜRINGEN UND DIE LITERATUR DES DEUTSCHEN ORDENS
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Peterskloster hergestellt wurde.358 Vielleicht entstanden hier auch die anderen Handschriften der mitteldeutschen Gruppe.359
5. Thüringen und die Literatur des Deutschen Ordens Zur Literatur Thüringens im späteren Mittelalter gehören nicht zuletzt ihre Beziehungen zu der des Deutschen Ritterordens, mit dem ein neuartiger Träger literarischer Interessen in den Blick rückt. Zwar erlangte Ordensliteratur seit dem 13. Jahrhundert mit der Schriftlichkeit der Bettelorden – zumal der Dominikaner und Franziskaner – auch sonst einen wichtigen Platz im literarischen Spektrum, doch stellte der Deutsche Ritterorden etwas ganz Neues dar, fanden mit ihm doch erstmals die Lebensformen des Mönchs und des Ritters zu einer Einheit, die man als Verchristlichung der Ritterschaft verstehen kann.360 Die Literatur, die sich mit ihm verbinden lässt, war streng auf die Bedürfnisse einer geistlichen Kriegergemeinschaft ausgerichtet. Überwiegend handelt es sich um geistliche Dichtung, erkennbar sind aber weitere 358
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Biblia pauperum. Apocalypsis. Die Weimarer Handschrift. Mit Beiträgen von Rainer Behrends, Konrad Kratzsch, Heinz Mettke. Leipzig 1977. Ndr. Leipzig 2007. Mettke, S. 68, gelangte zu dem Schluss, „daß die Sprache der Weimarer B. p. und die ihrer unmittelbaren Vorlage ins Niederhessische weist“. Zum Archetypus: „Mainz und Fulda könnten durchaus für den Archetypus in Frage kommen [...]“ (ebd.). Die Handschrift wurde 1809 durch Christian August Vulpius vom letzten Abt des Erfurter Petersklosters für die Herzogliche Bibliothek in Weimar erworben. Zur Weimarer Handschriftenfamilie gehören zwölf lateinische und lateinisch-deutsche Handschriften. Eng verwandt mit der Weimarer sind die um 1350/60 entstandenen lateinisch-deutschen Handschriften Berlin, SBB PK, mgf. 1362, und Leipzig, UB, Ms. 1676 (beschnittenes Einzelbl. aus einer neunblättrigen ‚Biblia pauperum‘). Vgl. Heinz Mettke: Zum Verhältnis der ältesten deutschen Biblia-pauperum-Handschriften. In: Arbeiten zum Frühneuhochdeutschen. Fs. Gerhard Kettmann. Hg. von Rudolf Bentzinger u. Norbert Richard Wolf. Würzburg 1993 (Würzburger Beitr. zur deutschen Philologie 11), S. 74–85; Katalog der deutschsprachigen illustrierten Handschriften des Mittelalters. Begonnen von Hella Frühmorgen-Voss. Fortgeführt von Norbert H. Ott zus. mit Ulrike Bodemann. Bd. 2. München 1996, S. 255–258, Nr. 16.0.1 (Berlin), S. 279 f., Nr. 16.0.9 (Leipzig), S. 316–319, Nr. 16.0.22 und Abb. 124, 125 (Weimar); Theele (Anm. II, 90), S. 182, Nr. 876. Die Angehörigen des Deutschen Ordens gelobten Gehorsam, Keuschheit und persönliche Armut, dagegen spielte monastische Spiritualität kaum eine Rolle. Das kriegerische Element betonen die lateinischen, seit etwa 1250 auch volkssprachig gebrauchten Statuten, deren Gesetze Feigheit im Kampf zu den schwersten Vergehen rechnen. 39, 4: „Ob ein brûder von deme vanen oder von dem here als der verzagete vluhet“. Ed. der Statuten Anm. 386. Vgl. Jürgen Sarnowsky: Geistliche Ritterorden. In: Kulturgeschichte der christlichen Orden Hg. von Peter Dinzelbacher u. James Lester Hogg. Stuttgart 1997 (KTA 450), S. 329–348, besonders 333 f.; Ortwin Gamber: Ritterorden. In: LexMA, Bd. 7 (1995), Sp. 878–879.
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thematische Schwerpunkte.361 Den wichtigsten bilden Versparaphrasen, später auch Prosabearbeitungen biblischer Bücher, zumal des Alten, dann auch des Neuen Testaments (Judit, Ester, Makkabäer, Hiob, Daniel, Apostelgeschichte, Offenbarung des Johannes u. a.), die Anlass zu der Vermutung gaben, dass eine vollständige Bibelübersetzung beabsichtigt gewesen sei. Hinzu kommen zwei umfangreiche Sammelwerke mit halbhistorischer bzw. nachchristlicher Legendendichtung, das ‚Passional‘, ein Verslegendar, und das ‚Väterbuch‘, eine Sammlung von Viten und Aussprüchen frühchristlicher Eremiten. Zu nennen sind ferner geistliche Gedichte wie das vom Beginn der Heilsgeschichte handelnde ‚Von siben ingesigeln‘ des Tilo von Kulm und Helwigs ‚Märe vom heiligen Kreuz‘‚ eine Bearbeitung der auch im ‚Heiligenleben‘ Hermanns von Fritzlar enthaltenen Kreuzlegende. Einen zweiten Schwerpunkt neben Bibel- und Legendenepik bildet die Geschichtsschreibung des Ordens; sie reicht von kürzeren Berichten wie dem Hartmanns von Heldrungen über die Vereinigung des Livländischen Schwertbrüderordens mit dem Deutschen Orden bis zu der ‚Kronike von Pruzinlant‘ des Nikolaus von Jeroschin. Der Orden brachte auch pragmatische Literatur hervor wie die (lateinischen, seit dem 13. Jh. auch deutsch gebrauchten) Ordensstatuten und das Tresslerbuch (Rechnungsbuch), und endlich verbinden wir mit ihm Werke wie den ‚Priesterkönig Johannes‘, die sich einer raschen Klassifizierung widersetzen. Der Deutsche Orden wurde als dritter der während der Kreuzzüge entstandenen drei großen geistlichen Ritterorden 1198 in Palästina von einer Fürstenversammlung gegründet, der auch der Landgraf von Thüringen angehörte. 1199 betraute ein päpstliches Anerkennungsprivileg die Spitalbruderschaft des Deutschen Hauses auch mit dem Heidenkampf, erhob sie also zum Ritterorden. 1206 nahm Philipp von Schwaben den neuen Orden in den Königsschutz auf und gestattete ihm, sich Reichslehen von Schenkern übertragen zu lassen. Der Orden war zunächst in Palästina tätig, hier erwarb er reichen Grundbesitz und hier befand sich bis 1271 der Sitz des Hochmeisters. 1214/15 wurde der Deutsche Orden durch Kaiser Friedrich II. in Thüringen freigebig beschenkt; umfangreiche Zuwendungen erfuhr er auch seitens der Landgrafen und anderer thüringischer Adliger. 1234 erreichte Landgraf Konrad, der Bruder Heinrich Raspes, dass das von Elisabeth in Marburg gegründete Spital dem Orden übertragen wurde. Er ließ sich selbst in den Orden aufnehmen und trat 1239 als Hochmeister an dessen Spitze; mit seiner Amtszeit endete die Gründungsperiode des Ordens.362 Von Anfang an bestanden 361
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„Aus dem Orden ist kein Minnesänger und kein Artusroman hervorgegangen.“ De Boor (Anm. 32), S. 486. Vgl. den Überblick von Hans-Georg Richert: Die Literatur des deutschen Ritterordens. In: Europäisches Spätmittelalter (Anm. 206), S. 275–286. Als eigentlicher Ordensgründer gilt der thüringische Ministeriale Hermann von Salza, der vierte Hochmeister (1209–1239).
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enge Beziehungen zwischen Thüringen und dem Deutschen Orden, sodass dieser geradezu auf dem Weg war, „zu einem kaiserlich-thüringischen Orden zu werden“.363 Diese enge Bindung löste sich um die Jahrhundertmitte wieder auf, auch die besondere Stellung Marburgs blieb nicht erhalten und Elisabeth wurde nicht zu der alle anderen überragenden Heiligen des Ordens.364 Bereits im 13. Jahrhundert kamen mehrere Hochmeister, Landmeister und Bischöfe aus Thüringen, z. B. der Bischof von Samland Kristan von Mühlhausen. Um die Jahrhundertmitte existierten in Thüringen fast ein Dutzend Ordensniederlassungen. Zu den ältesten gehören Porstendorf und Zwätzen b. Jena (1221). Die Ballei Thüringen, einer von zwölf Verwaltungsbezirken des Ordens im Reich, umfasste 17 Kommenden (Deutschordenshäuser), in denen bis zum Ende des Jahrhunderts rd. 340 Ritter lebten, die zumeist gräflichen und edelfreien Familien, auch der landgräflichen Ministerialität entstammten.365 Die Ballei Thüringen war die älteste des Ordens, in der sich ein reges kulturelles Leben entfaltete (Förderung des Schulwesens, Aufbau von Bibliotheken in den Niederlassungen, damit verbundene Sammeltätigkeit).366 Thüringer hatten auch erheblichen Anteil an der Entwicklung des späteren Ordensstaats, als Einwanderer wie als Amtsinhaber. Ist in der Zeit um 1200 eine Literaturlandschaft Thüringen zu erkennen, die im Wesentlichen mit der Landgrafschaft einschließlich ihrer hessischen Territorien zusammenfällt, und seit dem späteren 13. Jahrhundert dann eine Literaturregion, bei der zwischen den Territorien Thüringen und Meißen eine deutliche Grenze kaum mehr auszumachen ist, stellen sich die literarischen Beziehungen Thüringens zum Deutschen Orden wieder anders dar: als Beziehungen zwischen zwei Territorien, die – denkt man an die Stadt Erfurt als Zentrum Thüringens und die Marienburg an der Nogat als Zentrum des Ordenslands – 800 km voneinander entfernt waren. Das Hauptproblem bei der Beurteilung dieser literarischen Beziehungen liegt nun darin, dass man bei einer Reihe von Werken wie dem ‚Passional‘, die in je eigener Weise einen Bezug zur Literatur des Deutschen Ordens erkennen lassen, überlieferungsbedingt nicht entscheiden kann, ob sie in Preußen oder in Thüringen und hier 363
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Hartmut Boockmann: Der Deutsche Orden. Zwölf Kapitel aus seiner Geschichte. 3. Aufl. München 1989, S. 53. Dazu trug u. a. das Aussterben des ludowingischen Geschlechts bei. Der Orden nannte sich Ordo fratrum hospitalis sanctae Mariae Theutonicorum Ierosolimitanorum, kurz Ordo Theutonicorum. Die Ballei erstreckte sich von Magdeburg im Nordwesten bis Zschillen (Wechselburg) an der Zwickauer Mulde und Eger, umfasste also den gesamten ostmitteldeutschen Raum. Vgl. Bernhard Sommerlad: Der Deutsche Orden in Thüringen. Geschichte der Deutschordensballei Thüringen von ihrer Gründung bis zum Ausgang des 15. Jahrhunderts. Halle 1931 (Forschungen zur thüringisch-sächsischen Geschichte 10), S. 164–185; Fritz Karg: Das literarische Erwachen des deutschen Ostens im Mittelalter. Halle 1932 (Mitteldeutsche Studien 1), S. 14.
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vielleicht im Auftrag des Ordens entstanden. Teils ist die Datierung problematisch, teils der sprachliche Befund mehrdeutig, und erschwerend kommt die Anonymität vieler Werke hinzu. Der früher übliche Begriff Deutschordensliteratur suggeriert, dass es sich um eine bestimmte literarische Gattung handele, was nicht der Fall ist, und er betont die Ebene der Produzenten.367 Geht man dagegen aus von Literatur im Deutschen Ritterorden, gewinnt man die nötige Flexibilität; denn wenn jenen Werken auch gemeinsam ist, dass sie im oder für den Orden geschaffen bzw. ihm dediziert und im Ordensland gebraucht und tradiert wurden, gehören sie doch verschiedenen Textsorten an und stammen aus unterschiedlichen Landschaften und von Verfassern, die nicht notwendig Ordensangehörige waren.368 Die so verstandene Literatur des Deutschen Ordens umfasst in Preußen von Ordensangehörigen geschaffene Werke wie das Gedicht des samländischen Kanonikers Tilo von Kulm, Werke, die in Preußen von Nicht-Ordensangehörigen, aber im Auftrag des Ordens verfasst wurden wie die Übersetzung der Großen und Kleinen Propheten durch den Franziskaner Klaus Kranc, Werke wie die Hiob-Paraphrase, die in Preußen entstanden und dem Orden gewidmet wurden, Werke wie das ‚Schachbuch‘ des Pfarrers zu dem Hechte in Westpreußen, die mit dem Orden in keinem erkennbaren Zusammenhang stehen, und endlich solche, die von Nicht-Ordensangehörigen in entfernten Gegenden verfasst und dem Orden dediziert wurden wie das in der Kartause Seitz in der Südsteiermark gedichtete ‚Marienleben‘ des Bruders Philipp, wohl die wirkmächtigste Reimpaardichtung des deutschen Mittelalters. Die Werke, für die ein Zusammenhang mit Thüringen diskutiert wurde, werden im Folgenden in der Reihenfolge ihrer mutmaßlichen Entstehungszeit skizziert. 367
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Vgl. Jelko Peters: Zum Begriff „Deutschordensdichtung“. Geschichte und Kritik. In: Berichte und Forschungen 3 (1995), S. 7–38; Freimut Löser: Überlegungen zum Begriff der Deutschordensliteratur und zur Bibelübersetzung. In: Studien zu Forschungsproblemen der deutschen Literatur in Mittel- und Osteuropa. Hg. von Carola L. Gottzmann u. Petra Hörner. Frankfurt a. M. 1998 (Deutsche Literatur in Mittel- und Osteuropa. Mittelalter und Neuzeit 1), S. 7–37. Nach Masser (Anm. 264), S. 70 f., beginnt in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts „das, was wir mit gutem Grund die Deutschordensdichtung nennen. Man darf das nicht in dem schlichten Sinn verstehen, daß jeder der uns begegnenden Dichter Mitglied des Deutschen Ordens gewesen und jedes Werk im Ordensland entstanden wäre. Das gibt es natürlich, aber daneben finden wir die Dichtung, deren Autor in irgendeiner der im Reiche gelegenen Komtureien schrieb, ebenso wie solche, die zwar im Ordensland Preußen verfaßt wurden, aber deren Schöpfer selbst nicht dem Orden angehörten. Zumindest für einen Teil von ihnen steht fest, daß sie Auftragsdichtungen, das heißt von vornherein als Lektüre für die Brüder vom Deutschen Hause bestimmt waren. Anderes wurde dem Orden von Außenstehenden dediziert, wie das Marienleben des Bruders Philipp, das man deshalb mit Recht unter die Literatur des Deutschen Ordens reiht. Die Frage der Provenienz darf also auch hier nicht als ausschlaggebend für die Zuordnung zur Ordensliteratur angesehen werden.“
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Der älteste der fraglichen Texte ist das Gedicht vom ‚Priesterkönig Johannes‘ (‚Presbyterbrief‘), ein fingierter lateinischer Brief an den byzantinischen Kaiser Manuel I. Komnenos, verfasst von einem christlichen Priesterkönig von Indien, der die Wunschvorstellung einer geeinten christlichen Welt und die weitgehende Identität von Kirche und Staat – also eine mittelalterliche Utopie – entwirft. Die Herkunft des Textes ist bis heute ungeklärt; vielleicht wurde er um 1165 von einem Würzburger Kleriker verfasst.369 Den größten Teil des Briefs, in dem der imaginäre Priesterkönig von seiner unerhörten Macht und dem unvergleichlichen Reichtum seines riesigen Reichs berichtet, nimmt die Aufzählung all dessen ein, was die abendländische Literatur über die mirabilia der „drei Indien“ zu berichten wusste:, über ungeheure Mengen von Edelsteinen, Kräuter mit wunderbaren Eigenschaften und fabelhafte Tiere wie das Einhorn. Abschließend wird das theokratische Staatswesen des Johannes geschildert, das weder Diebe noch Arme kennt, keine Schmeichler, Ehebrecher und Häretiker. Der Brief wurde ein großer literarischer Erfolg; bis in die Frühe Neuzeit war er in mindestens 200 Handschriften in sechs verschiedenen Fassungen verbreitet, neben die Übersetzungen in mehrere Volkssprachen traten. Unter den fünf deutschen Bearbeitungen, die heute bekannt sind, interessiert in unserem Zusammenhang jene, die eine Sammelhandschrift aus dem Deutschen Orden eröffnet.370 Der ‚Presbyterbrief‘ entzieht sich nun einer einfachen Gattungszuordnung, er verbindet Züge des ethnographischen Berichts und des Naturbuchs mit solchen der christlichen Mahnrede. Wahrscheinlich beruhte seine Faszination auf dem detaillierten Bericht über die auch aus anderen Quellen wie dem Alexanderroman bekannten Wunder des
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Die früheste Erwähnung des Priesterkönigs Johannes im deutschsprachigen Raum enthält die ‚Chronica‘ (1146) des staufischen Geschichtsschreibers Otto von Freising, ein Hauptwerk mittelalterlicher Geschichtsphilosophie. Die Wirkungsgeschichte des ‚Presbyterbriefs‘ in der deutschen Literatur beginnt mit Wolframs ‚Parzival‘: Der in Indien geborene Sohn von Parzivals Halbbruder Feirefiz und Repanse de schoye heißt priester Jôhan (822, 25). Vgl. Dietrich Huschenbett: ‚Priesterkönig Johannes‘ (‚Presbyterbrief‘). In: VL, Bd. 7 (1989), Sp. 828–842; Anna-Dorothee von den Brincken: Presbyter Iohannes, Dominus Dominantium – ein Wunsch-Weltbild des 12. Jahrhunderts. In: Ornamenta Ecclesiae. Kunst und Künstler der Romanik. Katalog zur Ausstellung des Schnütgen-Museums in der JosefHaubrich-Kunsthalle. Köln 1985. Bd. I. Hg. von Anton Legner. Köln 1985, S. 83–97; Bettina Wagner: Die ‚Epistola presbiteri Johannis‘ lateinisch und deutsch. Überlieferung, Textgeschichte, Rezeption und Übertragungen im Mittelalter. Mit bisher unedierten Texten. Tübingen 2000 (MTU 115); Udo Friedrich: Zwischen Utopie und Mythos. Der Brief des Priester Johannes. In: ZfdPh 122 (2003), S. 73–92. Berlin, SBB PK, mgo. 56, f. 1r–13v . Ed.: Vom Priester Johann. In: Altdeutsche Blätter. Hg. von Moriz Haupt u. Heinrich Hoffmann. Bd. 1. Leipzig 1836, S. 308–324. Neuausgabe: Friedrich Zarncke: Der Priester Johannes. Leipzig 1879 (Abh. der Phil.-hist. Kl. der Königlich-Sächsischen Gesellsch. der Wiss. Bd. 7), S. 947–955.
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Ostens, hier beglaubigt durch die Person des Priesterkönigs.371 Kaum zufällig folgen in der Handschrift mit ‚Brandans Reise‘ und dem ‚Lucidarius‘ zwei Texte, in denen ebenfalls Wissen über entlegene Länder und Völker eine wichtige Rolle spielt. Eine deutsche Bearbeitung des ‚Presbyterbriefs‘ in einer Handschrift des Deutschen Ordens versteht sich, wenn man bedenkt, dass nur wenige Ordensangehörige lateinisch gebildet, ja viele von ihnen Illiteraten waren. Was verbindet nun den Berliner ‚Priesterkönig‘ mit Thüringen? Die Handschrift, ein kleinformatiger Pergamentcodex, wurde nach der Mitte des 14. Jahrhunderts im Ordensland von einem Ordensangehörigen in ostmitteldeutscher Schreibsprache geschrieben.372 Die auf Grund von Blattverlust nur unvollständig überlieferte Dichtung (erhalten sind 627 Verse) ist aber wesentlich älter, sie könnte noch dem ausgehenden 12. Jahrhundert angehören. Da eine Literatur des Deutschen Ordens sich erst ein Jahrhundert später herausbildete, handelt es sich also um die sekundäre Rezeption eines Gedichts im Ordensland, dessen Ursprung in einer anderen Region liegt.373 Zunächst vermutete man aus sprachlichen Gründen, es sei im nördlichen Deutschland unweit der hochdeutsch-niederdeutschen Sprachgrenze entstanden, vielleicht in Nordthüringen.374 Die Sprache des Textes ist jedoch inhomogen und daher ähnlich wie seine Entstehungszeit sehr verschieden beurteilt worden. Die Handschrift bietet eine durchgreifende Bearbeitung in der ostmitteldeutschen Literatursprache des Ordens. Von dieser Sprache ist die des ursprünglichen Gedichts zu unterscheiden, und diese scheint, zumal in den für eine dialektgeographische Einordnung maßgeblichen Reimen, in den mitteldeutschen
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Hier eine knappe Probe: „Noch sint in minem lande / Lute einerhande, / Manne wibe vnde kint, / Die sint gehornet als ein rint. / Ouch sint in dem lande / Lute die heizen gygande / (Man heizet sie risen dutschen so): / Der minneste ist vierzig elen ho; / Die sint min stritgeselle“ (v. 84–92). Übers.: „Zudem lebt in meinem Reich eine Art von Leuten, Männer, Weiber und Kinder, die sind gehörnt wie Rinder. Ferner gibt es in ihm Menschen, Gigantes genannt (auf deutsch heißen sie Riesen), deren kleinster 40 Ellen hoch gewachsen ist. Mit denen ziehe ich in den Kampf.“ Der Verfasser schöpfte aus verbreiteten Texten wie der Literatur über Alexander d. Gr. und der ‚Physiologus‘-Literatur. Janota (Anm. 210), S. 412, rückte den Text in die Nähe der Reiseberichte. Beschreibung der Handschrift bei Wagner (Anm. 369), S. 486–490; MRDH (2. 12. 2010). Über die Motive für die Aufnahme des Gedichts in den Sammelcodex kann man bestenfalls spekulieren. Wagner (Anm. 369), S. 519, vermutete: „Für die Berliner Reimpaarfassung der ‚Epistola‘ ist die Verbindung von Didaxe mit unterhaltenden Zügen kennzeichnend, was wohl zur Aufnahme des Presbyterbriefs in eine Deutschordenshandschrift beitrug.“ Es dürfte schwerfallen, ein Gedicht jener Zeit finden, das nicht unterhaltende und belehrende Züge aufwiese. Vgl. Zarncke (Anm. 370), S. 947. Zustimmend Edward Schröder: Das älteste Gedicht vom Priester Johannes. In: ZfdA 70 (1933), S. 129–135, hier 129. Auch nach Wolf (Anm. I, 34), S. 216, wurde das Gedicht von einem „Nordthüringer“ verfasst.
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Westen, näherhin auf die Literatursprache des mittelfränkischen Raums zu weisen. Wenn der ‚Priesterkönig Johannes‘ hier zu lokalisieren ist, wie Bettina Wagner zu zeigen suchte, gehörte er in den Kontext der weltlichen und der Legendenepik des späteren 12. Jahrhunderts im mittleren und nördlichen Rheinland; mit der Literaturlandschaft Thüringen hätte er dann nichts zu tun.375 Das letzte Wort über seinen Entstehungsraum scheint jedoch noch nicht gesprochen zu sein, jedenfalls ist neuerdings wieder „eine Rezeption des ‚Priesterkönig Johannes‘ in Thüringen“ postuliert worden.376 Kein Zweifel besteht dagegen an der thüringischen Provenienz der ältesten in Ordenskreisen gelesenen Bibeldichtung, einer Bearbeitung des Buchs Judit. Überliefert ist sie in einem großformatigen prachtvollen Pergamentcodex des späteren 14. Jahrhunderts aus der Hochmeister-Bibliothek Mergentheim, einem Band, der zusammenfassen sollte, was im Deutschen Orden damals an Bibeldichtung verfügbar war.377 Die Schreibsprache der Handschrift ist, wie zu erwarten, ostmitteldeutsch, aber die Reimsprache des Gedichts weist nach Thüringen, sodass als sicher gilt, dass es von einem Ordensangehörigen in der Ballei Thüringen verfasst wurde.378 Über den Autor, wohl einen Geist-lichen, wissen wir nichts. Intensiv diskutiert wurde die Entstehungszeit des Werks, obwohl es am Schluss unmissverständlich heißt, es sei 1254 verfasst worden.379 Da sich eine Literatur im Orden erst nach Abschluss der Eroberung Preußens gegen Ende des 13. Jahrhunderts etablierte, erklärte man, um die 375 376
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Vgl. Wagner (Anm. 369), S. 490–506. So Beck (Anm. II, 68), S. 140. Leider bleiben die Ausführungen über die Sprache von Gedicht und Handschrift S. 140 f. vage. Ist „Rezeption“ des Gedichts in Thüringen so zu verstehen, dass es hier entstand? Ähnlich vage die Bemerkung, die Handschrift sei „in den Umkreis des Deutschen Ordens“ (S. 141) zu situieren. Bisher wurde noch nie angezweifelt, dass sie im Ordensland von einem Ordensangehörigen geschrieben wurde, vgl. Wagner (Anm. 369), S. 520 mit Anm. 175. In der Schreibsprache der Handschrift wies Beck Merkmale nach, die er teils als ostmitteldeutsch, teils als thüringisch bestimmte, während er auf das Westmitteldeutsche anders als Wagner nicht einging. Die für Thüringen beanspruchten n-losen Infinitive sowie die Formen kegen und verterbe nannte Michels (Anm. II, 11), § 10 und 143, für das Thüringische wie für das Ostfränkische bzw. für das Thüringische und das Obersächsische. Vgl. auch Paul (Anm. II, 124), § E 33, 2. 3. 4, und M 70, Anm. 15. Über das Verhältnis der ostmitteldeutschen Literatursprache des Ordens zum Thüringischen vgl. Erik Rooth: Rez. Evald Johansson: Die Deutschordenschronik des Nicolaus von Jeroschin. In: Studia Neophilologica 37 (1965), S. 203–220, besonders 205 ff. Stuttgart, LB, Cod. HB XIII poet. Germ. 11, f. 37ra –45vc . Die Datierungsvorschläge im MRDH (15. 2. 2011) reichen vom 2. Viertel des 14. Jh. bis 1400. Richert (Anm. 361), S. 275, nannte den Codex „eine der schönsten Handschriften der deutschsprachigen Literatur des Mittelalters“. Ed.: Judith. Aus der Stuttgarter Handschrift HB XIII 11. 2. Aufl. besorgt von Hans-Georg Richert nach der Ausgabe von Rudolf Palgen. Tübingen 1969 (ATB 18). Hans-Georg Richert: ‚Judith‘ (ostmitteldeutsch). In: VL, Bd. 4 (1983), Sp. 899–900, hier 899: „Kleriker des Deutschen Ordens (Ballei Thüringen)“. Ebenso Löser (Anm. 367), S. 23. Vgl. v. 2765–2771.
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‚Judith‘ für die „Deutschordensliteratur“ zu retten, die Jahreszahl für falsch und ersetzte sie durch 1304 oder 1354.380 Doch die Überlieferung ist eindeutig, und so liegt der Fall einer in Thüringen entstandenen Bibeldichtung vor, die, wiederum sekundär, im Deutschen Orden in Preußen rezipiert wurde.381 Den Beweis dafür liefern die Ordensbibliotheken Marienburg und Königsberg, in denen das Gedicht vorhanden war, sowie eine Prosaauflösung des späten 15. Jahrhunderts durch Jörg Stuler.382 Dass die ‚Judith‘ nicht für die Gemeinschaft der Ordensritter entstand, zeigt auch ihre Widmung an einen jüngeren Geistlichen, der sich Belehrung anhand der Heiligen Schrift erbat und der mehrfach als „vrunt unde bruder“ (v. 73) apostrophiert wird.383 Das mit 2814 Versen umfangreiche Gedicht bietet über weite Strecken eine getreue Wiedergabe des lateinischen Bibeltextes, während einige mystisch-allegorische Auslegungen zurücktreten. In ebendieser Vorlagentreue sah der Dichter sein Anliegen; wenn man seine mangelnde Begabung, gar ein misslungenes Werk konstatierte, hat man wohl zu wenig bedacht, dass dem unbekannten thüringischen Geistlichen sprachliche und metrische Regeln weniger wichtig waren als die getreue Wiedergabe der Vulgata. Die Erzählung von der schönen, reichen und glaubensstarken Witwe Judit, die bei der Belagerung Betulias durch den assyrischen Feldherrn Holofernes diesen für sich gewinnt, ihm den Kopf abschlägt und dadurch die Juden rettet, eignete sich als Exemplum einer teufelüberwindenden Reinheit, die einen Geistlichen ebenso wie die Gemeinschaft der Ordensbrüder in Preußen anzusprechen vermochte.384 Biblische Bücher wie Judit, Daniel und die Makkabäer konnten 380
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Vgl. Karl Helm u. Walther Ziesemer: Die Literatur des Deutschen Ritterordens. Gießen 1951 (Gießener Beitr. zur Philologie 94), S. 73 f. Damit hängt zusammen, dass in den Handbüchern teils behauptet wird, der ‚Judith‘-Dichter habe das gegen Ende des 13. Jh. entstandene ‚Passional‘ gekannt, z. B. von Helm u. Ziesemer, S. 73, umgekehrt aber auch, der ‚Passional‘-Dichter habe die ‚Judith‘ gekannt, so Richert (Anm. 378), Sp. 900. Masser (Anm. 264), S. 76, der an der überlieferten Datierung festhielt, konstatierte: „für Ordensritter war die Dichtung zunächst jedenfalls nicht bestimmt“. Wenn das Gedicht um die Jahrhundertmitte entstand, fällt es in eine Zeit, als ein päpstliches Dekret gerade alle Äbte, Prioren und Ordensleute aufgefordert hatte, die Gebiete an der Weichsel mit Büchern und Schreibmaterial zu unterstützen. Vgl. Das große Ämterbuch des Deutschen Ordens. Hg. von Walther Ziesemer. Danzig 1921, S. 847; Gisela Kornrumpf: Stuler, Jörg OT. In: VL, Bd. 9 (1995), Sp. 464–466, hier 465. Man hat den „Freund und Bruder“ sowohl real-biographisch zu deuten gesucht wie auch als literarischen Topos verstanden. Die Szene, in der Judit dem trunkenen Feldherrn Holofernes das Haupt abschlägt und mit diesem und mit ihrer Magd nach Betulia zurückkehrt, lautet: „sie erhub daz swert menlich / und sluc ez vil genendeclich. / zwene slege sie im gab / und sluc im daz houbet ab. / do sie im daz ab gesluc, / da mite duchte siez genuc. / sie gab ez irre meit Abra / und nam daz vliegennetze da. / sie giengen dar uz vil gereit / beide nach der gewonheit, / als sie da vor ouch pflagen“ (v. 1859–1869).
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und sollten den Ritterbrüdern als Beispiele dienen für die Behauptung des Gottesvolks im Kampf gegen die Ungläubigen. Aus den Ordensregeln, die monastische Gelübde enthalten, wissen wir, dass die volkssprachige Bibeldichtung für die Tischlesung bestimmt war.385 Die 13. Regel bestimmte: Daruber sal man daz behalten in allen hûseren, dâ convent von brûderen ist, daz sint zwelf brûdere unde ein commendûr zu der gezal der iungeren unseres hêrren Jhêsu Christi, daz man dâ pflegelîche dî lectien zu tische habe, die alle, die dâ ezzent, mit swîgene sulen hôren, daz in alleine die gûmen iht werden gespîset, sunder ouch ir ôren hungere nâch Gotes worte. Doch mugen, dî an der tavelen sint, durch nôtdurft gemêliche reden mit den unde kurzlîche, die dâ dienent, oder mit anderen lûten, mit den sie iht kurceliches geschefedes hânt zu tune.386
Auch bei Heinrich von Hesler stehen Herkunft und Schaffenszeit nicht fest.387 Setzte man seine Dichtungen – drei geistliche Reimpaarwerke – früher um und nach 1300 an, zwingt der Neufund eines Handschriftenfragments nun zu der Einsicht, dass sie deutlich früher, nämlich schon um die Mitte des 13. Jahrhunderts entstanden sind.388 Auch sie wurden mithin erst sekundär in den literarischen Bestand des Deutschen Ordens aufgenommen. Heinrich stammt 385
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Unter den zahlreichen Abschriften der Deutschordensregeln und -statuten findet sich ein beträchtlicher Teil in (ost-)mitteldeutscher Schreibsprache. Nach Thüringen weist Darmstadt, Hessische LB, Hs. 741, eine nach 1450 gefertigte Pergamenthandschrift. Die Statuten des Deutschen Ordens nach den ältesten Handschriften. Hg. von Max Perlbach. Halle 1890. Ndr. Hildesheim, New York 1975, Regel 13, S. 40, col. 4–42, col. 4, hier S. 41, col. 4. Übers.: „Des weiteren soll man in allen Häusern, in denen ein Konvent von Brüdern lebt, d. h. zwölf Brüder und ein Komtur gemäß der Zahl der Jünger unseres Herrn Jesus Christus, den Brauch einhalten, dass man in hergebrachter Weise die Lesung bei Tisch übt, der alle, die dort essen, schweigend folgen sollen, sodass nicht nur ihr Gaumen Nahrung erhält, sondern auch der Hunger ihrer Ohren nach Gottes Wort gestillt werde. Doch dürfen die, die an der Tafel sitzen, mit denen langsam und knapp reden, die dort Dienst tun, oder mit anderen, mit denen sie kurz etwas zu regeln haben.“ Der Besitz von Büchern und anderem persönlichem Eigentum war den Brüdern untersagt. Die im Besitz der Gemeinschaft befindlichen Bücher waren ausschließlich zur liturgischen Lesung oder zur Lesung bei der gemeinsamen Mahlzeit bestimmt. Urkundliche Zeugnisse fehlen. Der Versuch von Edward Schröder: Heinrich von Hesler urkundlich? In: ZfdA 53 (1912), S. 400, den Dichter mit einem Heinricus de Hessler zu identifizieren, der 1333 als Propst und einige Jahre später als Komtur der Kommende Zschillen (Wechselburg) b. Rochlitz an der Mulde bezeugt ist, dürfte sich mit der Neudatierung seiner Gedichte erledigt haben. Vgl. Achim Masser: Heinrich von Hesler. In: VL, Bd. 3 (1981), Sp. 749–755, hier 750, und den Nachtrag in Bd. 11 (2004), Sp. 624 f. Vgl. Colmar, Archives Départementales du Haut-Rhin, Fragments de Ms. no. 332. Zur Datierung Thomas Klein: Heinrich von Hesler und ‚Athis und Prophilias‘. In: „mit clebeworten underweben“. Fs. Peter Kern. Hg. von Thomas Bein [u. a.]. Frankfurt a. M. 2007 (Kultur, Wissenschaft, Literatur. Beitr. zur Mittelalterforschung 16), S. 97–124, hier 98 f. Heinrichs Schaffen um und nach 1250 stützt zugleich die Datierung der ‚Judith‘ auf 1254.
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wahrscheinlich aus dem heutigen Burgheßler b. Nebra an der Unstrut, 15 km w. Naumburg gelegen. Er nennt sich selbst einen „nothaften rittere“, womit er vielleicht auf bescheidene Lebensverhältnisse hinweist, und er verrät eine beachtliche theologische Bildung, von der wir indes nicht zu sagen wissen, auf welchen Wegen er sie erwarb.389 Geistlicher war er wohl nicht, nennt er sich doch einen Laien und kritisiert die „munche“.390 An seiner ostmitteldeutschen Sprache fallen die Abwesenheit thüringischer Merkmale wie anderseits typisch niederdeutsche Einsprengsel auf.391 Heinrichs Beziehungen zum Deutschen Orden werden kontrovers beurteilt.392 Da sich weder ein Aufenthalt in Preußen noch seine Zugehörigkeit zur Ballei Thüringen belegen lässt, dürfte die Frage eher negativ zu beantworten sein. Am richtigsten ist es, in ihm einen Autor nordthüringischer Herkunft zu sehen, der sich als Dichter um die Jahrhundertmitte sprachlich und reimtechnisch an der thüringisch-hessischen Epik der Jahrzehnte um 1200 orientierte und erst sekundär zu einem Dichter des Deutschen Ordens wurde. Heinrich zeigt sich in Lexik und Reimtechnik von ‚Athis und Prophilias‘ beeinflusst.393 Man schreibt ihm eine anonyme Bearbeitung des apokryphen ‚Evangelium Nicodemi‘ (5392 Verse) zu. Als seine Hauptleistung gilt die ‚Apokalypse‘, eine Deutung der Offenbarung des Johannes in 23254 Versen. Von einem dritten, ohne zureichenden Grund ‚Erlösung‘ benannten Gedicht sind lediglich zwei 389
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Die Bezeichnung als Ritter in der ‚Apokalypse‘, v. 16480. Hier sagt der Autor: Heinrich heiz ich mins rechten namen, / Hesler ist min hus genant (v. 154 f.) – „Heinrich ist mein Name, und in Hesler ist meine Familie ansässig.“ Vgl. Volker Honemann: Die ‚Apokalypse‘ des Heinrich von Hesler. In: V. H.: Literaturlandschaften. Schriften zur deutschsprachigen Literatur im Osten des Reiches. Hg. von Rudolf Suntrup, Maryvonne Hagby, Franziska Küenzlen [u. a.]. Frankfurt a. M. 2008 (Medieval to Early Modern Culture. Kultureller Wandel vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit 11), S. 47–84. In der ‚Erlösung‘ nennt er sich Heinrich / von Hasiliere (v. 60 f.). Gegen Hesler b. Gelsenkirchen und Beckum in Westfalen spricht, dass dort keine Burg nachweisbar ist. Für Burgheßler spricht: Zu Nebre (‚Apokalypse‘, v. 16471). Gemeint sein dürfte Nebra an der Unstrut. Vgl. Müller (Anm. III, 121), S. 272–275. Kritik des Ordensklerus: ‚Apokalypse‘, v. 6632 ff. Zurechnung zum Kreis der leien v. 13098. Mit den z. B. in ‚Der Sünden Widerstreit‘ vorhandenen n-losen Infinitiven fehlt ein Hauptmerkmal des Thüringischen. Ins Niederdeutsche weisen Bindungen wie geburt : kurt. Die ältere Forschung behalf sich mit der Hypothese, dass Heinrich in jungen Jahren in das Ordensland gekommen und dort sprachlich nachhaltig beeinflusst worden sei. Vgl. Klein (Anm. 388), S. 98–102. Klein, S. 109, rechnete Heinrich von Hesler zu einer das östliche Ostfalen und Nordthüringen umfassenden Literaturregion, der man Autoren wie Heinrich von Morungen, den Dichter von ‚Athis und Prophilias‘, Heinrich von Kröllwitz (b. Merseburg) und Brun von Schönebeck (b. Magdeburg) zuzählen kann. Für Helm u. Ziesemer (Anm. 380), S. 88, stand Heinrichs Ordenszugehörigkeit fest. Anders Sabine Schmolinsky: Heinrich von Hesler. In: Killy, Bd. 5 (1990), S. 163–164, hier 163. Wie Klein (Anm. 388), S. 102 ff., gezeigt hat, sind die von Heinrich bevorzugten seltenen, zumal gespaltenen (geteilten) Reime des Typs dienist : geschen ist (‚Apokalypse‘, v. 6517 f.) wohl durch ‚Athis und Prophilias‘ (Fragm. C*, v. 1 f.) beeinflusst.
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Fragmente erhalten.394 Die Frage nach dem zeitlichen Verhältnis der Werke ist heute wieder offen. Stofflich gehören sie zur neutestamentlichen Bibelepik, während man im Ordensland bei der Bearbeitung biblischer Bücher das Alte Testament bevorzugte.395 Heinrich von Hesler war weder der erste noch der einzige, der das weitverbreitete ‚Evangelium Nicodemi‘ vollständig nachdichtete, doch hat seine Bearbeitung am stärksten und nachhaltigsten gewirkt.396 Die Darstellung reicht über die Lebensgeschichte Christi hinaus bis zum Zug Vespasians gegen die Juden. Im Zentrum steht die Aburteilung Jesu durch Pilatus. Heinrich überträgt weithin fortlaufend, theologische Betrachtungen treten zurück. Der Schlussteil bringt die Legenden von Tiberius, Vespasian und Veronika. Eine Zutat Heinrichs ist eine am Schluss eingefügte antijüdische Polemik von rd. 600 Versen, in der auch soziale Kritik anklingt.397 Das ‚Evangelium Nicodemi‘ wurde bis ins 15. Jahrhundert abgeschrieben und in Teilen in andere Werke wie das ‚Marienleben‘ des Kartäusers Philipp interpoliert.398 394
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Ed.: Otto von Heinemann u. Elias Steinmeyer: Aus zerschnittenen Wolfenbütteler Handschriften. In: ZfdA 32 (1888), S. 69–123, u. Elias Steinmeyer: Noch einmal Heinrich von Hesler. In: ZfdA 32 (1888), S. 446–449. Im zweiten Fragment wird vom Engelsturz, Adams Sündenfall und Gottes Erbarmen erzählt, doch ist das Gedicht, sicher nicht das erste Heinrichs, nicht rekonstruierbar. Vgl. Peter Wiedmer: Sündenfall und Erlösung bei Heinrich von Hesler. Ein Beitrag zum Verständnis der deutschen Bibelepik des späten Mittelalters. Bern 1977 (Basler Studien zur deutschen Sprache und Literatur 53), S. 122–125. In den Bücherverzeichnissen dominieren Legenden (z. B. Barbara) und Legendensammlungen (Jacobus de Voragine), Bearbeitungen biblischer Bücher wie Heinrichs von Hesler appokalipse, geistliche Texte und Sammelwerke, Predigtsammlungen, selentrost, buch der veter, martirologium. Genannt werden auch Rechtsbücher wie die Privilegien und die Statuten des Ordens, und nebeneinander stehen deutsche und lateinische Titel. Vereinzelt tauchen Werke aus dem Umkreis der höfischen Dichtung auf wie Ruland, das ‚Rolandslied‘ in der Bearbeitung des Strickers, und der welsche gast des Thomasin von Zerklaere. Vgl. Das große Ämterbuch des Deutschen Ordens (Anm. 382), Register, 845–848. Ed.: Das Evangelium Nicodemi von Heinrich von Hesler. Hg. von Karl Helm. Tübingen 1902 (StLV 224). Ndr. Hildesheim, New York 1976. Der ursprünglich griechische, dann lateinische apokryphe Text, der im 5. Jh. aus zwei ursprünglich selbstständigen Teilen, den sog. Pilatusakten und dem ‚Descensus ad inferos‘, entstand, fand im Mittelalter größtes Interesse, da er das in den kanonischen Evangelien nur Angedeutete ausführt. Der erste Teil schmückt die Evangelienberichte über den Prozess, die Grablegung und Auferstehung Jesu aus, während der zweite schildert, wie Christus nach seiner Ankunft die Unterwelt mit den Seelen der alttestamentlichen Väter aufbricht. Christi Auferstehung und Höllenfahrt werden auch in den geistlichen Spielen wie dem ‚Innsbrucker (thüringischen) Osterspiel‘ gestaltet. Heinrich kritisiert den Unglauben der Juden wie ihre wirtschaftliche Macht, fordert sie auf, sich zum christlichen Glauben zu bekehren, und beklagt, dass die Fürsten sie sich als Kammerknechte hielten, um an ihr Geld zu gelangen. Vgl. Wiedmer (Anm. 394), S. 12 f. Erhalten sind fünf vollständige Handschriften und zehn Fragmente. Die Überlieferung setzt noch im 13. Jh. ein. Zur Interpolation des Werks in Philipps ‚Marienleben‘ Kurt Gärtner: Bruder Philipp OCart. In: VL, Bd. 7 (1989), Sp. 588–597, hier 590.
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Mit der Bearbeitung der Offenbarung des Johannes sah Heinrich von Hesler sich vor keine leichte Aufgabe gestellt, handelt es sich doch um einen visionären, nur schwer darstellbaren Stoff.399 Heinrich erwähnt denn auch Anfeindungen, die er erfuhr.400 Sein Anliegen sah er darin, ein rechtes Verständnis des biblischen Textes zu sichern. Für seine Arbeit zog er eine größere Zahl theologischer Kommentare heran. Das umfangreiche Gedicht ist von Erörterungen und Reflexionen über die verschiedensten Lebensbereiche durchzogen. Thematisiert werden die Vorzüge des ehelichen Lebens, aber auch der Wert der Beichte, Kritik erfährt das Mönchswesen, in einem längeren Exkurs vertritt Heinrich engagiert die Gleichheit aller Menschen, und an anderer Stelle erklärt er die Prinzipien, nach denen er seine Verse baut.401 Sein eigentliches Interesse gilt dem Verhältnis von freiem Willen und Vorbestimmung. Auch die ‚Apokalypse‘ ist breit überliefert. Unter den Handschriften, die aus dem Besitz des Ordens stammen und damit dessen Interesse an der Dichtung belegen, finden sich mehrere illustrierte. Die ‚Apokalypse‘ wurde in dieselbe Sammelhandschrift aufgenommen, die auch die ‚Judith‘ enthält, und sie ist in den Ordensbibliotheken Marienburg und Schlochau nachweisbar. Auch scheint sie auf die im Bereich des Ordens entstandene ‚Königsberger Apokalypse‘ – eine Prosabearbeitung – stilistisch gewirkt zu haben. Zu den bedeutendsten literarischen Leistungen, die man mit dem Deutschen Orden verbindet, gehören zwei große gereimte Legendenwerke, das ‚Väterbuch‘ und das ‚Passional‘ – warum ihre Verbindung mit Thüringen wiederum offen bleiben muss, wird noch deutlich werden. Beide Werke entstanden im letzten Viertel des 13. Jahrhunderts, und beide werden ein und demselben Autor zugeschrieben, einem an den höfischen Epikern geschulten Dichter, der seinerseits auf spätere Autoren nicht nur in Preußen wirkte, sodass man ihn den letzten schulbildenden Epiker des deutschen Mittelalters nennen konnte.402 Das wohl zuerst begonnene, mit 41542 Versen überaus umfangreiche ‚Väterbuch‘ gründet auf der Tradition des frühchristlichen Mönchtums.403 In der Hauptsache bietet es eine freie Übersetzung großer Partien der ‚Vitaspatrum‘, einer in ihrem Bestand variierenden spätantiken 399
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Ed.: Die Apokalypse Heinrichs von Hesler aus der Danziger Handschrift. Hg. von Karl Helm. Berlin 1907 (DTM 8). Heinrich hat nur den ersten Teil und die Schlusskapitel des neutestamentlichen Buchs bearbeitet. Zum Stuttgart-Mergentheimer Codex vgl. Anm. 377. „Gnugen luten misgezimet, / Die wunder dar umme nimet, / Sint daz diz buch ist also swar, / Daz ich michz underwinden tar / In dutsch diz buch zu tichtene“ (v. 755–759). Vgl. v. 1317–1482. Heinrich fordert u. a. Verse mit 6 bis 8 Silben und reine Reime. Vgl. Edward Schröder. Zwei Editionen des Passionals. In: ZfdA 40 (1896) S. 301–304. Ed.: Das Väterbuch aus der Leipziger, Hildesheimer und Straßburger Handschrift. Hg. von Karl Reissenberger. Berlin 1914 (DTM 22), Ndr. 1967. Dorothea Borchardt u. Konrad Kunze: ‚Väterbuch‘. In: VL, Bd. 10 (1999), Sp. 164–170, hier 165, vermuteten „am ehesten omd. Herkunft“ des Dichters. Zur Herkunftsfrage vgl. auch Anm. 414.
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Sammlung von Lebensbeschreibungen, Lehrgesprächen und Aussprüchen der ersten christlichen Eremiten und Mönche, die, ursprünglich griechisch aufgezeichnet und später ins Latein übertragen, im Mittelalter als Erbauungsbuch weit verbreitet war.404 Daneben benutzte der Dichter die ‚Legenda aurea‘, die ihm als Hauptquelle für das ‚Passional‘ diente. Das ‚Väterbuch‘ vereint 306 Stücke, gegliedert in fünf Teile. Für eine Legendensammlung ungewöhnlich ist die heilsgeschichtliche Rahmung durch Weltanfang und Jüngstes Gericht. Den Anfang macht eine umfangreiche Vita des Mönchsvaters Antonius, der seit 275 als Eremit in der thebaischen Wüste lebte, wo er 356 starb, früh schon berühmt ob seiner Askese und Frömmigkeit. Das ‚Väterbuch‘ erzählt in zahlreichen Einzelviten von Leben und Wundern der ersten Mönche, die sich in die Einsamkeit des Vorderen Orients zurückzogen und später als Väter der Mönche verehrt wurden. Zu ihrem täglichen Umgang gehören Engel und Teufel, göttliche Wunder und diabolische Anfechtungen rufen kein Erstaunen hervor. So greift der heilige Apollonius, von Gottes Stimme angerufen, in seinen Nacken, wo er ein schwarzes Teufelchen packt, das er in den Sand tritt.405 Der Dichter weiß seinen Stoff in gleichmäßig dahinfließenden Versen lebendig zu erzählen, sodass sein Werk dem ‚Buch der Märtyrer‘ – einem anderen Verslegendar jener Zeit – deutlich überlegen ist.406 Der Epiker, der sein Werk „Zu horen der gemeinschaft“ (v. 165), also für die von der Regel vorgeschriebene Tischlesung schuf, verfolgt ein lehrhafterbauliches Anliegen. Indem er die heroische Askese der Mönchsväter schildert, stellt er den Laienbrüdern des Ordens ein Vorbild vor Augen mit Idealen wie Demut, Keuschheit, Besitzlosigkeit, Gehorsam und Eintracht; und nicht unwichtig dürfte auch sein, dass jene frommen Väter immer wieder zahlreiche Menschen bekehrten. Am Ende heißt es, der Rezipient solle sich die Viten jener guten Leute „Zu pild im selber“ (v. 41488) nehmen. Dass mit diesen Rezipienten die Laienbrüder des Deutschen Ordens gemeint sind, auch wenn dieser an keiner Stelle genannt wird, scheint sicher. So rechnet der Epiker, wenn er am Schluss die Schicksale der Verdammten und der Seligen schildert, 404
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Vgl. Ulla Williams u. Werner J. Hoffmann: ‚Vitaspatrum‘ (‚Vitae patrum‘). In: VL, Bd. 10 (1999), Sp. 449–466. „Do greif er uf den hals sin / Und vant alsam ein kindelin / Gar virschaffen und swartz / Als pech und ungenemes hartz. / Daz warf er nider santzuhant / Und trat ez vor im in den sant, / Darinne er ez gar berach. / Do schrei ez ‚owe‘ und sprach: / ‚Wafen, nu bin ich virtriben / Da ich gerne were beliben. / Ich bin ein tuvel von der art / Daz ich phlege hohvart / Und in maniger zite / Uf den helsen rite‘“ (v. 6279–6292). Zu Anachorese und Mönchsfrömmigkeit vgl. Hans Lietzmann: Geschichte der Alten Kirche. Mit einem Vorwort von Christoph Markschies. Berlin, New York 1999, IV. Die Zeit der Kirchenväter, Kap. 6. Vgl. Konrad Kunze: ‚Buch der Märtyrer‘ (‚Märterbuch‘). In: VL, Bd. 1 (1978), Sp. 1093–1095. Die Zuschreibung auch der Bibeldichtung ‚Hester‘ (erstes Viertel 14. Jh.) an den ‚Passional‘-Dichter hat sich nicht durchgesetzt.
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die Brüder des Ordens zusammen mit Franziskanern und Dominikanern zu den Guten, die vor dem Weltenrichter selig gesprochen werden: Ein rot soltu noch schawen Bei der schonen junchfrawen, Gotes muter, Marien: Di mit hertzen freien Di werlt hin varn liessen Und Marie ritter hiessen; Ir liebes chind si rachen Durch irn willen prachen Ritterlich si manig sper. Ein plutig tod was ir ger (v. 40757–40766).407
Wie das ‚Väterbuch‘ ist auch das ‚Passional‘, das älteste, wirkmächtigste und seinem dichterischen Rang nach bedeutendste Verslegendar des deutschen Mittelalters, anonym überliefert.408 Der heutige Titel führt irre; denn erzählt wird nicht von Märtyrern, sondern – stärker noch als im ‚Väterbuch‘ in heilsgeschichtlicher Ausrichtung – von Maria, der Patronin des Ordens, den Aposteln und den Heiligen. An ihrem vorbildlichen Leben zeigt der Dichter das wundervolle Wirken Gottes in der sündigen Welt. Das mit knapp 110000 Versen gewaltige Werk ist in drei Bücher gegliedert. Das erste, „vnser vrowen buch“ überschrieben, bietet ein Marienleben, das von Marias Geburt bis zu ihrer Himmelfahrt reicht und dem 25 Marienmirakel und ein Marienlob folgen. Das zweite, „der boten buch“ betitelt, bringt die Legenden der Apostel und weitere Legenden. Das dritte und umfangreichste Buch vereint die Legenden 75 nachbiblischer Heiliger in der Folge des liturgischen Jahrs, beginnend mit Nikolaus. In der Legende Elisabeths fehlt die oft erzählte Episode, wie die Fürstin von der Wartburg vertrieben wurde; stattdessen wird geschildert, wie sie in Marburg ein Spital gründete, um hier den Bedürftigen zu dienen: hievon si durch gut vloch mit tugenden behende zu Marpurg uf daz ende 407
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Übers.: „Eine Schar betrachte noch, die der lieblichen Jungfrau und Gottesmutter Maria, jene, die freien Herzens die Welt aufgaben und sich Ritter Mariens nannten. Für deren liebes Kind nahmen sie Rache und brachen, ritterlich für sie kämpfend, unzählige Lanzen. Ihr Verlangen war ein blutiger Tod.“ Ed.: Das alte ‚Passional‘. Hg. von Karl August Hahn. Frankfurt a. M. 1845 [nur Buch I und II]. Das Passional. Eine Legenden-Sammlung des dreizehnten Jahrhunderts. Hg. von Friedrich Karl Köpke. Quedlinburg, Leipzig 1852 (BDNL 32) [Buch III]. Ndr. 1966. Marienlegenden aus dem Alten Passional. Hg. von Hans-Georg Richert. Tübingen 1965 (ATB 64).
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an ires herren lande, da si ir arbeit wande zu allen guten sachen. si liez da selbes machen ein spital schone und groz, des manic armer do genoz und genuzet ouch hute.409
Das ‚Passional‘ fand rasch Verbreitung in Preußen und in den Balleien. Heute sind über 100 Textzeugen, zumeist aus der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts, nachweisbar, weit mehr, als wir vom ‚Väterbuch‘ kennen, das bald durch neue Übersetzungen der ‚Vitaspatrum‘ verdrängt wurde. Mit dem Übergang zur Prosa in der Legende seit der Jahrhundertmitte fand die intensive Überlieferung des Legendars ein Ende, sieht man davon ab, dass Teile in Prosa aufgelöst und in Werke wie die ‚Weltchronik‘ Heinrichs von München integriert wurden.410 Das ‚Passional‘ wird wie das ‚Väterbuch‘ seit langem mit der Literatur des Deutschen Ordens in Verbindung gebracht, ja zu ihren Hauptleistungen gerechnet, aber es enthält an keiner Stelle einen expliziten Hinweis auf den Orden.411 Für jene Verbindung können nur sprachliche und überlieferungsgeschichtliche Indizien geltend gemacht werden, z. B. Handschriften, die in den mittelalterlichen Inventaren vieler Ordensbibliotheken nachgewiesen sind. Über den Dichter hingegen wissen fast nichts. Fraglos scheint nur, dass er beide Legendare verfasste und damit einer der produktivsten Dichter des deutschen Mittelalters war, dass er dem geistlichen Stand angehörte und dass seine Sprache in den mitteldeutschen Raum weist.412 Früher meinte man, er 409
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Köpke (Anm. 408), S. 623, 48–57. Übersetzung: „Um allem Besitz zu entsagen, wandte sie sich in ihrer vorbildlichen Haltung nach Marburg, auf die Besitzungen ihres Gemahls, wo sie alle Mühe darauf verwendete, Gutes zu tun. Dort ließ sie ein großes, stattliches Spital errichten, das vielen Bedürftigen zugute kam und noch kommt.“ Die ‚Passional‘-Überlieferung konzentriert sich in Preußen und Böhmen. Ob die Handschriften, wie man vermutete, tatsächlich unter der Aufsicht des Ordens gefertigt wurden, scheint fraglich. Die drei Bücher wurden zumeist unabhängig voneinander verbreitet, keine einzige Handschrift enthält alle drei. Vgl. Hans-Georg Richert: Wege und Formen der ‚Passional‘-Überlieferung. Tübingen 1978 (Hermaea. NF 40); Kurt Gärtner: Zur Überlieferungsgeschichte des ‚Passionals‘. In: ZfdPh 104 (1985), S. 35–69. Das MRDH verzeichnet für das ‚Passional‘ 25 Handschriften und 81 Fragmente und für das ‚Väterbuch‘ sieben Handschriften und 28 Fragmente (13. 1. 2011). „Der Text enthält keinen Hinweis auf genuine Beziehungen zum Deutschen Orden [...].“ Hans-Georg Richert: ‚Passional‘. In: VL, Bd. 7 (1989), Sp. 332–340, hier 335 f. Annahmen wie die von Helm und Ziesemer (Anm. 380), S. 68, der Dichter werde in Elbing gearbeitet haben, bleiben spekulativ. Im ‚Passional‘ sagt der Dichter einmal: „der mich zu pristere hat gewit“. Köpke (Anm. 408), S. 319, 6. Der Geistliche verrät sich gelegentlich auch durch lateinische Wendungen, etwa die Kapitelüberschrift De eodem im ‚Väterbuch‘.
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habe seinen Namen und den seiner in Ordenskreisen vermuteten hochgestellten Auftraggeber absichtlich verschwiegen, da er bei der Vorveröffentlichung von Teilen des Werks Kritik erfahren habe. Aber ob er dem Orden angehörte, muss offen bleiben, man hat in ihm auch einen Franziskaner vermutet, zudem ist die Unterdrückung des Verfassernamens in der volkssprachigen Hagiographie nicht ungewöhnlich. Beim heutigen Forschungsstand kann die Herkunft des ‚Passionals‘ aus dem Deutschen Orden nicht als gesichert gelten.413 Auch die nähere Bestimmung der Sprache des Dichters – man hat sie als ostmitteldeutsch bewertet, aber auch Thüringen erwogen – steht noch aus.414 In die zeitliche und wohl auch stilistische Nachbarschaft des ‚Passionals‘ gehört ‚Der Sünden Widerstreit‘, ein großes, in acht Teile gegliedertes allegorisches Gedicht, das in 3524 Versen als Hauptthema den Kampf der Tugenden gegen die Laster gestaltet.415 Es ist die erste Allegorie in großepischer Form in der deutschen Literatur und gehört in die Tradition der Psychomachie.416 Das aufziehende Heer der Tugenden, dem der Sieg gehören wird, führt der Hauptmann Liebe an, das Heer der Laster bzw. Todsünden (Hoffart, Neid, Zorn, Trägheit usw.) wird von der Sünde angeführt.417 Dem zentralen Thema sind weitere Personifikationen zugeordnet. So mahnt der Dichter eingangs, das Gewand der Sünde ab- und das neue Kleid der Christusliebe anzulegen, und er ruft dazu auf, sich in Christi Namen einer neuen Ritterschaft einzugliedern und gegen die Sünden zu kämpfen. Als Verfasser kommt nur ein Geistlicher in Frage, dafür spricht schon der von Anfang an deutliche Gestus geistlicher 413
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Werner Williams-Krapp: Passional. In: Killy, Bd. 9 (1991), S. 86–87, verwies darauf, dass die Legende der hl. Barbara fehlt, deren Schädel als Reliquie im Ordensland aufbewahrt wurde. Helm u. Ziesemer (Anm. 380), S. 66: „Der Reimgebrauch weist mit Sicherheit auf mitteldeutsches Gebiet.“ De Boor (Anm. 32), S. 530: „Seiner Sprache nach stammt der Dichter aus dem westlichen Mitteldeutschland [...].“ Ähnlich schon Reissenberger (Anm. 403), S. IX f. Nach Richert (Anm. 410), Sp. 337, kommt er „aus dem omd. Raum (Thüringen?)“. Vgl. auch Anm. 403. Wolf (Anm. I, 34), S. 217, erwog, der Dichter sei vielleicht ein Niedersachse gewesen, der später „die Sprache des westlichen Thüringen“ angenommen habe. Ed.: Der Sünden Widerstreit. Eine geistliche Dichtung des 13. Jahrhunderts. Hg. von Victor Zeidler. Graz 1892. Nach Dietrich Schmidtke: ‚Der Sünden Widerstreit‘. In: VL, Bd. 9 (1995), Sp. 527–530, hier 528, entstand das Gedicht „kaum nach 1275“. Der Titel der sunden widerstrît (v. 3428) ist dem Schluss entnommen. Berührungen mit dem ‚Passional‘ gibt es im Wortschatz wie in der Reimtechnik (Mehrfachreime, Reimformeln). Die ‚Psychomachia‘ (Kampf um die Seele) des christlichen lateinischen Dichters Prudentius, ein Lehrgedicht im antiken Stil, das den Sieg der personifizierten christlichen Tugenden über die heidnischen Laster darstellt, wirkte stilbildend für die Allegorien des Mittelalters. Eine kleine Textprobe: „dî êrste untugent ist ein knecht, / der der Sunde gar ist recht, / und der durch iren valschen rât / ubels vil begangen hât. / derst geheizen Hôchvart, / dâ von der engel tûvel wart; / der ander Ungehôrsam, / dâ mite zum êrsten Âdam / von dem paradîso quam; / der dritte knecht der heizet Zorn, / und hât uns gnâde vil verlorn, / und ist von Hôchvart geborn“ (v. 580–591). Die Aufzüge der Tugend- und Lasterheere gehen zurück auf Gregors d. Gr. ‚Moralia in Iob‘.
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Belehrung. Dass er ein Thüringer war, zeigt besonders deutlich die Reimsprache des Gedichts, womit allerdings noch nicht ausgemacht ist, ob er in Thüringen oder im Ordensland wirkte.418 Zumeist wird ‚Der Sünden Widerstreit‘ in Thüringen lokalisiert.419 Nach Ausweis der Überlieferung (drei Handschriften und zwei Fragmente) wurde es aber auch im Deutschen Orden gelesen.420 Wir können also festhalten: Die geistliche Rede ‚Der Sünden Widerstreit‘ wurde um 1275 von einem thüringischen Geistlichen, vielleicht einem Angehörigen des Deutschen Ordens, verfasst und später auch im Ordensland rezipiert. Künftiger Forschung bleibt es vorbehalten zu klären, ob der Verfasser Einflüsse vom ‚Passional‘-Dichter empfing, oder ob die Einflüsse (auch dies wurde angenommen) in umgekehrter Richtung liefen. In den Kontext der literarischen Beziehungen zwischen Thüringen und dem Deutschen Orden gehört auch ein um 1300 oder wenig später entstandenes geistliches Gedicht, das nach einem Schlussvers ‚Märe vom heiligen Kreuz‘ betitelt wurde.421 Es bietet in 980 Versen eine Bearbeitung der in zahlreichen lateinischen und volkssprachigen Fassungen verbreiteten Legende vom Kreuz Christi, die über den Paradiesbaum die Erlösungstat Christi mit der biblischen Erzählung von Adam und dem Sündenfall verbindet und ihren Platz im Kirchenjahr mit den Festen der Kreuzauffindung (inventio crucis, 3. Mai) und Kreuzerhöhung (exaltatio crucis, 14. September) hat. In einem zweiten Teil führt es die Geschichte des Kreuzesholzes über Christi Tod hinaus fort bis zu seiner Entführung durch Chosrau II., seiner Rückeroberung durch Herakleios und seiner Wiederauffindung durch die Kaiserin Helena in Jerusalem; dieser Teil überschneidet sich mit Ottes ‚Eraclius‘.422 Die literarische
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„Der dialect des originals ist thüringisch.“ Zeidler (Anm. 415), S. 27, Ausführlich zur Sprache des Gedichts ebd., S. 22–32. Vgl. auch Bumke (Anm. II, 130), S. 410. Nach Karg (Anm. 366), S. 15, handelt es sich um ein Gedicht „einwandfrei thüringischen Ursprungs“. Ähnlich Helm u. Ziesemer (Anm. 380), S. 71: „Geschrieben hat er sein Werk wohl in einem thüringischen Ordenshaus.“ Ähnlich in neuerer Zeit Glier (Anm. 89), S. 109. Vgl. Schmidtke (Anm. 415), Sp. 527. Handschrift Heidelberg, UB, Cpg 367, ein 1415 in ostmitteldeutschem Schreibdialekt geschriebener Pergamentcodex, enthält so wichtige Werke des Deutschen Ordens wie die ‚Kronike von Pruzinlant‘ des Nikolaus von Jeroschin und die ‚Livländische Reimchronik‘. Vgl. die Beschreibung im MRDH (20. 8. 2011). Die um 1280 geschriebene Handschrift Gießen, UB, Hs. 876 kann wohl kaum, wie früher angenommen, als Beweis für die Entstehung des Gedichts in Thüringen gelten. Ed.: Helwigs Märe vom heiligen Kreuz nach der einzigen Handschrift zum ersten Male hg. von Paul Heymann. Berlin 1908 (Palaestra 75) [mit problematischen Eingriffen in die Überlieferung]. Zur traditionellen Verbindung des Gedichts mit dem Deutschen Orden vgl. Edward Schröder: Helwig. In: ZfdA 69 (1932), S. 124. Helm u. Ziesemer (Anm. 380), S. 48, rechneten das Gedicht „mit allem Vorbehalt“ zur Literatur des Deutschen Ordens. Hauptquellen des Dichters waren eine noch nicht näher bestimmte Fassung der lateinischen Legende und die ‚Legenda aurea‘. Vgl. Erich Wimmer: Helwig (von Waldirstet). In: VL, Bd. 3 (1981), Sp. 987–989. Eine Bearbeitung der Kreuzesholzlegende schuf der im Kontext von
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Qualität des nicht sonderlich bekannten Gedichts ist allenfalls durchschnittlich; von Interesse hingegen sind die Umstände seiner Entstehung und Überlieferung. In den Handbüchern heißt der Dichter teils Helwig, teils Helwig (von Waldirstet).423 In der Ausgabe beginnt der Prolog mit den Versen: Got, den ein reine mait gebar Muze vor sunden uns bewar In jogent und in alder! So wunsche ich von WaldirStet der getruwe Helwic.424
In der einzigen Handschrift indes lauten die fraglichen Verse: So wunsche ich von waldir. / So tet der getrFwe helwig.425 Da dieser Text nur partiell verständlich ist, übernahm der Herausgeber von seinem Lehrer Gustav Roethe die Konjektur von Waldirstet. Der Name „Helwig von Waldirstet“ ist also ein Konstrukt, ein Philologenname wie „Reinmar von Hagenau“, der sich in keiner einzigen Handschrift findet. Die Herstellung von Waldirstet vermag nur auf den ersten Blick zu überzeugen; denn für die Verteilung eines dreisilbigen Herkunftsnamens auf zwei Verse dürften sich kaum Parallelen beibringen lassen, die Selbstnennungen der höfischen Epiker jedenfalls sehen anders aus.426 Der Name des Dichters ist also unsicher, und alle Versuche, ihn mit einem Ort wie Waldstedt b. Gotha, Wolfersdorf b. Allstedt oder Waltershausen zu verbinden, bleiben spekulativ.427 Unzweifelhaft aber ist, dass er Thüringer war. Seinen Auftraggeber nennt er am Schluss: „Dit buch daz hiz tichte / Von
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‚Athis und Prophilias‘ erwähnte Heinrich von Freiberg; sie findet sich auch im ‚Passional‘ und in Hermanns von Fritzlar ‚Heiligenleben‘. Vgl. H. W. van Os u. Géza Jászai: Kreuzlegende. In: LCI, Bd. 2, Sp. 642–648; Werner Williams-Krapp: ‚Kreuzesholzlegende‘. In: VL, Bd. 5 (1985), Sp. 371–372. Die erste Namenform bei Jan van Dam: Helwig: In: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon (Anm. 44). Bd. 2, Sp. 393 f., die zweite bei Wimmer (Anm. 422). Heymann (Anm. 421), v. 1–5. Zit. nach Hermann Menhardt: Verzeichnis der altdeutschen literarischen Handschriften der Österreichischen Nationalbibliothek. Bd. 2. Berlin 1961 (Deutsche Akad. d. Wiss. zu Berlin. Veröffentlichungen des Instituts für deutsche Sprache und Literatur 13/2), S. 1128, der den Namen des Dichters mit „Von Walter“ angab. Vgl. Veldekes Eneasroman (Anm. III, 7): „Daz was von Veldeke Heinrîch“ (v. 13433), und Wirnts ‚Wigalois‘ (Anm. III, 136): „er heizet Wirnt von Grâvenberc“ (v. 141). Heymann (Anm. 421), S. 66, räumte ein, dass es sich bei der Verteilung des Namens Waldir-stet auf zwei Verse um den grellsten Fall von Reimbrechung handele, „die, so roh sie uns scheint, doch der mhd. Kunst sogar Konrads von Würzburg nicht ganz fremd war“. Dagegen befand (der mit Roethe verschwägerte) Edward Schröder: Helwig. In: ZfdA 69 (1932), S. 124, dass es sich um eine „einleuchtende Emendation“ handele. Vgl. etwa Wolf (Anm. I, 34), S. 219; Gustav Ehrismann: Rez. der Ausgabe von Heymann (Anm. 421). In: ZfdPh 45 (1913), S. 305–306.
5. THÜRINGEN UND DIE LITERATUR DES DEUTSCHEN ORDENS
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Baden here Fredirich“ (v. 968 f.). Manche Indizien sprechen dafür, dass Helwig sich damals im badischen Freiburg aufhielt.428 Den Auftraggeber wird man wohl am ehesten mit Markgraf Friedrich aus der Linie Baden-Hachberg identifizieren dürfen, der nach dem Vorgang seines Vaters Heinrich II. um 1298 in den Deutschen Orden eintrat. Da Helwig auf fürstliche Titel verzichtet und ihn nur here nennt, wird man sich wohl auch ihn als Ordensangehörigen denken dürfen – dass er Geistlicher war, ist auf Grund seiner lateinischen Vorlagen sicher. Bei seiner literarischen Arbeit, die er wohl in der Kommende Freiburg ausführte, hielt er sich besonders anfangs eng an seine lateinischen Vorlagen. Doch fügte er seiner deutschen Bearbeitung der Kreuzlegende immer wieder Verse mit einer in den Vorlagen so nicht vorhandenen antijüdischen Tendenz ein, die vielleicht antijüdische Positionen des Ordens um und nach 1300 spiegeln.429 Wir kennen das ‚Märe vom heiligen Kreuz‘ nur aus einer späten Abschrift, einer Sammelhandschrift des 15. Jahrhunderts, die fachliterarische mit religiösen Texten wie der Veronikalegende vereint.430 Auch im 14. Jahrhundert noch entstanden im Bereich des Deutschen Ordens Versbearbeitungen biblischer Bücher, unter denen man mehrere mit mehr oder minder plausiblen Gründen thüringischen Verfassern zugeschrieben hat. Das gilt zunächst für eine 1331 oder wenig später entstandene, in zwei Handschriften und einem Fragment überlieferte Bearbeitung des Buchs Daniel in 8348 Versen.431 Der Deutschordens-Kontext ergibt sich aus der Aufnahme des Werks in die bereits im Zusammenhang der ‚Judith‘ erwähnte 428
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Zwischen den Balleien Thüringen und Baden bestanden Beziehungen. So ist 1292 ein thüringischer Ordensangehöriger namens Helwig im Breisgau bezeugt. Vgl. Urkundenbuch der Deutschordensballei Thüringen. Hg. von Karl H. Lampe. Erster Band. Jena 1936 (Thüring. Geschichtsquellen. NF 7), S. 451 f., Nr. 528. Detailliert nachgewiesen bei Winfried Frey: Helwigs ‚Märe vom heiligen Kreuz‘ und die „widerspenstigen Juden“. In: JOWG 6 (1990/91), S. 129–142. Zum historischen Kontext, insbesondere dem sog. Rindfleisch-Kreuzzug, vgl. Edith Feistner: Heilsgeschichte und Antisemitismus. Der Thüringer Helwig und sein ‚Märe vom heiligen Kreuz‘. In: ZfdPh 110 (1991), S. 337–348, besonders 344–348. Wien, ÖNB, Cod. 5305, dreiteilige Sammelhandschrift: 1. lateinische medizinische Abhandlungen. 2. Vers- und Prosatexte zumeist in deutscher Sprache, u. a. der ‚Deutsche Macer‘, Veronikalegende, Stellen aus Bibel und Kirchenvätern. 3. Irmhart Ösers ‚Epistel des Rabbi Samuel an Rabbi Isaac‘ u. a. Das von einem thüringischen Schreiber geschriebene ‚Märe vom heiligen Kreuz‘ f. 367va 374va . Vgl. Menhardt (Anm. 425), S. 1126–1129. Da es an einer Stelle heißt: „daz schribe ich paffe witschuch vô alsfelt“, vermutete man früher, die Handschrift stamme aus dem Kloster Alsfeld, doch ist die Angabe aus einem älteren Manuskript abgeschrieben, Witschuh wirkte im 14. Jh. als Dichter. Vgl. William C. Crossgrove: Witschuh von Alsfeld. In: VL, Bd. 10 (1999), Sp. 1275–1276. Ed.: Die poetische Bearbeitung des Buches Daniel aus der Stuttgarter Handschrift. Hg. von Arthur Hübner. Berlin 1911 (DTM 19). Die Datierung erschließt sich aus der Angabe des Dichters, er sei zu seinem Werk durch Bruder Luder (v. 8321), den Hochmeister Luder von Braunschweig, angeregt worden.
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IV. WANDLUNGEN VOM HOCH- ZUM SPÄTMITTELALTER
Stuttgart-Mergentheimer Sammelhandschrift. Zudem erklärt der anonyme Dichter, der sich mit Dichtungen wie dem ‚Passional‘ vertraut zeigt, er habe sein Werk „Zu eren den beschriben / Die da mit strit vertriben / Haben uz Pruzen lande / Abgote mancherhande / Mit ritterlichem swerte“ (v. 33–37). Ausdrücklich widmet er es den Herren „Von deme dutsche huse“ (v. 46). Sein Ziel war eine verständliche Übertragung des alttestamentlichen Buchs. In seiner Bearbeitung verbindet er Nachdichtung und Auslegung: er übersetzt seine Vorlage, die Vulgata, und beschließt jedes Kapitel mit einer sogenannten Glosse, einer tropologischen Auslegung. Für sie zog er Bibelkommentare und verbreitete Handbücher wie die ‚Historia scholastica‘ des Petrus Comestor heran, er dürfte also Geistlicher gewesen sein. Seine Reimsprache weist nach Thüringen oder Ostfranken.432 Aber die Erwähnung des Hochmeisters Luder von Braunschweig zeigt, dass er seine Bibeldichtung in Preußen verfasste, und zwar offenbar in reiferen Jahren.433 Mit Thüringen wollte man auch die Übersetzung der Großen und Kleinen Propheten in Verbindung bringen, die der bereits erwähnte Franziskaner Kranc um die Mitte des 14. Jahrhunderts schuf.434 Krancs Heimat ist unbekannt.435 Wir wissen kaum mehr über ihn, als er im Akrostichon einer seinem Prosatext vorangestellten Reimvorrede mitteilt.436 Demnach wirkte er als
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„Thüringen oder Ostfranken mag seine Heimat gewesen sein [...].“ Helm u. Ziesemer (Anm. 380), S. 104. Ebenso Günther Jungbluth: ‚Daniel‘. In: VL, Bd. 2 (1980), Sp. 42–43, hier 42, und Löser (Anm. 367), S. 25. Eingangs heißt es: „Nu wil ich vurbaz eben / Uch allen bitten daz ir / Sullet gar vertragen mir / Ob ich die ryme breche, / Daz dutsch nicht rechte spreche. / Doch wil ich ez bewaren. / Wand ich bi minen jaren / Nie dutsche buch gemachet / Habe, da von nicht sachet / Zu mir die vergezzenheit“ (v. 54–63). Übers.: „Ferner möchte ich euch alle bitten, mir nachzusehen, wenn ich die Verse brechen und das Deutsche nicht in rechter Weise brauchen sollte. Ich werde mich jedoch bemühen; denn ich habe bisher noch nie deutsche Bücher verfasst. Ihr solltet mir daher nicht Nachlässigkeit vorwerfen.“ Spricht der Dichter hier eine Differenz zwischen seiner Sprache und der des Deutschen Ordens an? Ed.: Die Prophetenübersetzung des Claus Cranc. Hg. von Walther Ziesemer. Halle 1930 (Schriften der Königsberger Gelehrten Gesellschaft. Sonderreihe 1). Ein Auszug bei de Boor (Anm. 106), S. 237–241. Vgl. Irmgard Meiners: Kranc (Cranc), Klaus. In: VL, Bd. 5 (1985), Sp. 337–338. Ziesemer (Anm. 434), S. IV: „Jedenfalls hat Cranc in Thorn gelebt und dort auch seine Prophetenübersetzung angefertigt. Woher Cranc stammt, wissen wir nicht [...].“ Ähnlich Helm u. Ziesemer (Anm. 380), S. 123: „Die Heimat des Claus Cranc kennen wir nicht. Doch entstammte er wohl dem Ordensland; jedenfalls hat er, als er die Propheten übersetzte, gewiß längst schon dort gelebt.“ Das Akrostichon lautet: „Gote czw lobe diner geer ritter gvt brvder Siwrid w[lies: v]on Taenvelt hoyste marscalc des dwtschen ordens ich minner brvder Claws Cranc cvstos zw P[rwssen] habe di grossin und minnern propheten mit Marien hvlfe hy zu dwzche bracht“. Ziesemer (Anm. 434), S. 1–5. Aus der Amtszeit des Marschalls 1347–1359 ergibt sich die Datierung des Werks.
5. THÜRINGEN UND DIE LITERATUR DES DEUTSCHEN ORDENS
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Kustos der franziskanischen Kustodie in Preußen und lebte daher vermutlich an seinem Amtssitz in Thorn (Toruñ). Seine Übertragung verfasste er im Auftrag des Obersten Marschalls des Ordens und Komturs zu Königsberg Siegfried von Dahenfeld. Die von souveräner Sprachbeherrschung zeugende, nahe am Duktus der Vulgata bleibende Prosaübersetzung ist überaus gelungen, sie gilt als die bedeutendste Bibelübersetzung vor Luther. Dass sie in Preußen entstand, ergibt sich aus dem Wort hy ‚hier‘ (v. 164 f.) im Akrostichon. Die einzige das Werk überliefernde Handschrift, die sogenannte Preußenbibel, ein prachtvoller, mit Miniaturen ausgestatteter Pergamentcodex des späteren 14. Jahrhunderts, der zwei weitere Werke aus der Literatur des Deutschen Ordens enthält, ist in ostmitteldeutscher Schreibsprache geschrieben. Für eine Verbindung des wohl aus dem Ordensland stammenden Verfassers mit Thüringen spricht nicht mehr als die in der älteren Forschung zu findende Vermutung, er werde seine Ausbildung bei den Franziskanern in Erfurt erfahren haben.437 Diese Annahme reicht für eine Verbindung des Werks mit Thüringen allerdings kaum aus. Zur Literatur des Deutschen Ordens gehören auch Geschichtswerke in Latein und häufiger noch, da für die Ritterbrüder bestimmt, in der Volkssprache, anfangs in Versen, später in Prosa. Eines der frühesten Werke dieses Themenkreises ist der Bericht über die Vereinigung des 1202 gegründeten Livländischen Schwertbrüderordens mit dem Deutschen Orden im Jahr 1237. Man schreibt ihn sicher zu Recht Hartmann II. von Heldrungen zu, der aus einem bedeutenden, in der Gegend von Sangerhausen begüterten edelfreien Geschlecht stammte, das in engerem Kontakt zu den Landgrafen stand. Schon bald nach seinem Eintritt in den Orden (1234?) bekleidete Hartmann hohe Ämter: 1238 begegnet er als Landkomtur von Sachsen, später als Deutschmeister und als Großkomtur in Palästina. 1273 schließlich trat er die Nachfolge des aus einer ludowingischen Ministerialenfamilie stammenden Hochmeisters Anno von Sangerhausen an.438 Hartmanns poetisch geformter 437
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Nach Helm u. Ziesemer (Anm. 380), S. 123, erwarb Kranc „seine geistige und geistliche Ausbildung“ offenbar am dortigen Studium generale. Ein solches bestand in Erfurt jedoch erst später. Vgl. Ludger Meier: Die Barfüßerschule zu Erfurt. Münster 1958 (Beitr. zur Geschichte der Philosophie und Theologie des Mittelalters XXXVIII/2), S. 10 und 13. Ed.: Hartmanns von Heldrungen Bericht über die Vereinigung des Schwertbrüderordens mit dem Deutschen Orden und über die Erwerbung Livlands durch den letztern. Hg. von Ernst Strehlke. In: Scriptores rerum Prussicarum. Die Geschichtsquellen der preußischen Vorzeit bis zum Untergang der Ordensherrschaft. Hg. von Theodor Hirsch, Max Töppen, E. S. Bd. 5. Leipzig 1874, S. 168–172. Vgl. Udo Arnold: Hartmann von Heldrungen. In: VL, Bd. 3 (1981), Sp. 523–524. Ausführlich zu dem Geschlecht und zum Ordensritter Hartmann von Heldrungen Helge Wittmann: Im Schatten der Landgrafen. Studien zur adeligen Herrschaftsbildung im hochmittelalterlichen Thüringen. Köln, Weimar, Wien 2008 (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Thüringen. Kleine Reihe 17), S. 25–105.
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Text berichtet aus guter Kenntnis über die Vereinigung der Reste des Livländischen Ritterordens mit dem Deutschen Orden. Der nur wenige Seiten füllende, von späteren Geschichtsschreibern des Ordens wie Peter von Dusburg benutzte Text entstand um die Jahrhundertmitte wohl in Thüringen. Er ist nicht im Original, sondern nur in einer jüngeren Fassung erhalten.439 Von größerem Gewicht ist die im letzten Jahrzehnt des 13. Jahrhunderts abgeschlossene ‚Livländische Reimchronik‘ (rd. 12000 Verse), das erste bedeutende Werk der Ordensgeschichtsschreibung, das weite Verbreitung erlangte, allerdings nur in zwei jüngeren Abschriften erhalten ist.440 Sie handelt von der Verbreitung des Christentums in Livland zunächst durch den Schwertbrüderorden, dann durch den Deutschen Orden, wobei im Mittelpunkt die bis 1290 andauernden Kämpfe gegen Liven, Letten, Kuren und Litauer stehen, während der Missionsgedanke in den Hintergrund tritt. Die Chronik war zum Vorlesen bestimmt, in erster Linie wohl als Tischlektüre für den Ordenskonvent – die Gebrauchssituation ist also dieselbe wie die der Bibelbearbeitungen und der Legendare. Wenn der unbekannte Verfasser den Geistlichen Feigheit vorwirft und auch am Episkopat Kritik übt, wird deutlich, dass er selbst dem Kreis der Ritterbrüder angehörte.441 Aber wir können kaum mehr über ihn sagen, als dass er seiner Sprache nach zu urteilen aus dem östlichen Mitteldeutschland stammte, sich in militärischen Fragen auskannte und wohl auch über eine gewisse literarische Bildung verfügte. Das reicht, bedenkt man die geographische Ausdehnung des mitteldeutschen Sprachraums, für eine verlässliche Verbindung mit Thüringen nicht aus, schon deshalb, weil eine über „mitteldeutsch“ hinausgehende nähere dialektale Eingrenzung noch nicht gelungen ist.442
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Wien, Zentralarchiv des Deutschen Ordens, Hs. 205, f. 121r–123v. Die Handschrift entstand 1514, überliefert aber wohl eine Fassung aus der zweiten Hälfte des 14. Jh. Ed.: Livländische Reimchronik mit Anmerkungen, Namenverzeichnis und Glossar. Hg. von Leo Meyer. Paderborn 1876. Ndr. Hildesheim 1963. „die pfaffen vurchten sêre den tôt. / daz was ie ir alder site / und wonet in noch vil vaste mite. / sie jehen, man sulle sich vaste wern: / mit vlîhen sie sich gerne nern“ (v. 6632–6636). Übers.: „Die Geistlichen fürchten den Tod überaus; das ist seit jeher ihre Art gewesen und ist es unverändert heute noch. Sie sagen, man solle sich wacker wehren, sie selbst aber suchen ihre Haut durch die Flucht zu rettten.“ Helm u. Ziesemer (Anm. 380), S. 149, vermuteten: „Er wird aus Mitteldeutschland stammen [...].“ Bei Udo Arnold: ‚Livländische Reimchronik‘ (‚Ältere L. R.‘). In: VL, Bd. 5 (1985), Sp. 855–862, hier 855, findet sich zunächst die engere Bestimmung: „Als Herkunftsgebiet wird anhand sprachlicher Eigenheiten Ostmitteldeutschland angenommen.“ Sie wird jedoch Sp. 861 wieder durch die Bestimmung „mitteldeutsch“ relativiert: „[...] ein mitteldeutscher Ordensritter, der 1279 nach Livland kam, das Land recht gut kennenlernte, vor allem aber in Kurland sich auskannte.“ Wolf (Anm. I, 34), S. 219, hat seine Annahme, der Dichter stamme „sicher“ aus Thüringen, nicht begründet.
V. Spätmittelalter
1. Geschichtsepik und Geschichtsschreibung Der Titel dieses Schlusskapitels bedarf der Erklärung. Während die vorangehenden Kapitel im Wesentlichen in chronologischer Ordnung die literarische Produktion, gelegentlich auch Rezeption des frühen, hohen und späteren Mittelalters behandeln, sind im Folgenden auch literarische Formen und Themenbereiche in den Blick zu nehmen, die sich epochenübergreifend durch die Jahrhunderte verfolgen lassen. Das gilt zunächst für Geschichtsepik und Historiographie, die verschiedentlich schon zu berücksichtigen waren, so im Zusammenhang der Heldenepik (Widukinds Sachsengeschichte aus ottonischer Zeit), im Fall Elisabeths (Vita des Caesarius von Heisterbach) und bei Behandlung der Literatur des Deutschen Ordens. Das gilt aber auch und mehr noch für jene informierenden und belehrenden, also stets didaktischen Texte in Versen und Prosa, die man unter dem Begriff der pragmatischen Schriftlichkeit zusammenfasst. Hingegen sind dramatisches Spiel und politisches Lied charakteristische literarische Ausdrucksformen des Spätmittelalters. Die mittelalterliche Geschichtsdichtung und Historiographie Thüringens umfasst Werke sehr unterschiedlichen Zuschnitts: lateinische Viten wie die ältere Vita der Königin Mathilde und die der Klostergründerin Paulina, die in den Klöstern gepflegte Annalistik, die Chroniken der Bettelorden, auch Universalchroniken, und im Medium der Volkssprache gereimte Weltchroniken, später auch Prosachroniken und historisch fundierte Dichtungen. Das Mittelalter unterschied nicht streng zwischen Geschichtsschreibung und Dichtung; man hörte oder las die in deutschen Versen von den Helden Trojas erzählenden Romane Heinrichs von Veldeke und Herborts von Fritzlar Jahrhunderte lang ebenso als Geschichte wie die ‚Kaiserchronik‘ und das ‚Rolandslied‘, die das vorbildliche Herrschertum Karls des Großen darstellten, und Romane wie Ottes ‚Eraclius‘ und der ‚Trojanerkrieg‘ Konrads von Würzburg wurden in die Weltchronik-Kompilationen des späten Mittelalters eingefügt. Hier gilt die Feststellung des Historikers Herbert Grundmann: „In Versen Geschichte zu hören, war für die Laien noch immer die ihnen allein zugängliche Weise, und die ‚Pfaffen‘, die ihnen etwas beibringen wollten, ließen sich darauf ein.“1 1
Herbert Grundmann: Geschichtsschreibung im Mittelalter. Gattungen, Epochen, Eigenart. 4. Aufl. Göttingen 1987 (Kleine Vandenhoeck-Reihe 1209), S. 10. Zur mitteldeutschen Überlieferung und Rezeption des ‚Rolandslieds‘ gehören die Fragmente Sondershausen, Schlossmuseum, Germ. lit. 1, Anfang 13. Jh., mittelfränkisch (rheinfränkisch-hessisch), und Erfurt, UB, Cod. Ampl. 4° 65, Beilage, nicht vor 1220, mittelfränkisch (moselfränkisch?).
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V. SPÄTMITTELALTER
Hauptstätten der thüringischen Geschichtsschreibung waren die Stadt Erfurt mit dem mainzischen Benediktinerkloster St. Peter, das Kloster Reinhardsbrunn, in dem die Geschichtsschreibung des ludowingischen Landgrafenhauses ihre Pflegestätte hatte, und die Stadt Eisenach, in der ähnlich wie in Erfurt die Bettelorden wichtige Geschichtswerke schufen. Solche Werke entstanden auch andernorts. Genannt sei die ‚Historia universalis‘, die Siegfried von Balnhausen, Landpfarrer zu Balnhausen b. Weißensee, im frühen 14. Jahrhundert verfasste, eine gelehrte universalgeschichtliche Kompilation.2 Der folgende Überblick stellt die volkssprachigen Werke in den Vordergrund, während die lateinische Geschichtsschreibung nur gestreift wird.3 Seit dem 13. Jahrhundert entstanden nach dem Vorbild der lateinischen Historiographie (Otto von Freising, Petrus Comestor) Weltchroniken in der Volkssprache, die stets einem festen Schema folgen: Beginnend mit dem Schöpfungsbericht, erzählen sie die biblische Geschichte des Alten Testaments, behandeln die Weltreiche und gelangen über Christi Geburt zu Caesar als Gründer des in die Gegenwart fortbestehenden Römischen Reichs. Diese, zumeist sehr umfangreichen und mehr als einmal Torso gebliebenen Werke gehörem vornehmlich dem oberdeutschen Raum an, sie sind jedoch alle in der einen oder anderen Form auch in Thüringen nachweisbar, angefangen bei der ‚Kaiserchronik‘, dem ersten nach Umfang und Anspruch großen Geschichtswerk in deutscher Sprache. Die um 1140/50 in Regensburg verfasste, Kaiserund Papstgeschichten reihende Reimchronik entfaltete seit dem 13. Jahrhundert eine starke Wirkung, ablesbar an der Zahl erhaltener Handschriften, Umarbeitungen und Prosaauflösungen. Ein Pergament-Doppelblatt, das aus einem Erfurter Bucheinband gelöst wurde, zeigt, dass sie sich auch in der Bibliothek der dortigen Kartause fand, deren Katalog sie denn auch verzeichnet.4 Um 1470/75 allerdings besaß die inzwischen über 300 Jahre alte Chronik
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Das Manuskript der bis 1304 reichenden, von Rothe für seine Weltchronik benutzten ‚Historia universalis‘ stammt aus dem Erfurter Peterskloster. Eine ebenfalls autograph überlieferte, bis 1306 reichende Bearbeitung nannte der Autor ‚Compendium historiarum‘. Ed.: Sifridi Presbyteri de Balnhusin historia universalis et compendium historiarum. Hg. von Oswald Holder-Egger. In: MGH. SS. XXV. Hannover 1880, S. 679–718. Zu Anlage und Quellen vgl. Birgit Studt: Siegfried von Balnhausen. In. VL, Bd. 8 (1992), Sp. 1200–1204. Vgl. Hans Patze: Landesgeschichtsschreibung in Thüringen. Willy Flach zum Gedächtnis (1903–1958). In: Jb. für die Geschichte Mittel- und Ostdeutschlands. Bd. 16/17. Berlin 1968, S. 95–168; Ulman Weiß: Städtische Geschichtsschreibung im spätmittelalterlichen Thüringen. In: Mittelalterliche Sprache und Literatur (Anm. IV, 323), S. 188–206. Die Bibliothek der Kartause Montis Sancti Salvatoris zählte Ende des 15. Jh. über 800 Codices. Sie sind nach einem festen theologischen System vorbildlich aufgeschlüsselt in dem berühmten Bibliothekskatalog, einem wissenschaftlichen Großunternehmen, das um 1470 begonnen und bis ins frühe 16. Jh. ergänzt wurde. Den in verschiedene Teile, u. a. ein alphabetisches Schlagwortregister und ein Standortregister, gegliederten Katalog schrieb zu
1. GESCHICHTSEPIK UND GESCHICHTSSCHREIBUNG
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für die Erfurter Mönche offenbar keinen ideellen Wert mehr, sodass der Codex nun für Bucheinbände makuliert werden konnte.5 Eine intensivere Rezeption erfuhr die nach 1230 wohl im welfischen Einflussbereich in mittelniederdeutscher Prosa verfasste ‚Sächsische Weltchronik‘. Sie wurde ins Hochdeutsche übertragen und erlangte Verbreitung im gesamten deutschen Sprachraum. Erhalten sind über 50 Handschriften und Fragmente (darunter zwei lateinische) in drei Rezensionen; mehrere wurden in Erfurt oder anderen thüringischen Städten geschrieben.6 Charakteristisch für die Textgeschichte der Chronik ist eine größere Zahl von kurzen Anhängen und Fortsetzungen, darunter eine in zwei Handschriften erhaltene ‚Thüringische Fortsetzung‘, die die universalgeschichtliche Darstellung um die Geschichte Thüringens und Erfurts ergänzt. Sie bietet eine annalistische Darstellung der Geschehnisse vom Kreuzzug Kaiser Friedrichs II. bis zum Jahr 1353, die im Wesentlichen aus einer lateinischen Chronik des Erfurter Petersklosters abgeleitet ist.7 Handelt es sich bei den eben genannten Geschichtswerken um Beispiele literarischer Rezeption, ist mit der ‚Christherre-Chronik‘ nun eine Dichtung thüringischer Herkunft vorzustellen. Die nach ihrem Eingangsvers Crist herre keiser uber alle craft benannte Weltchronik wurde um die Mitte des 13. Jahrhunderts, zeitgleich also mit den älteren ‚Wartburgkrieg‘-Gedichten, von einem thüringischen Dichter verfasst.8 Seine wichtigsten Quellen waren die
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einem großen Teil Jakob Volradi († 1498), dem ein zweiter Kartäuser behilflich war. Vgl. Almuth Märker: Volradi, Jakob OCart. In: VL, Bd. 10 (1999), Sp. 506–509. Vgl. Mittelalterliche Bibliothekskataloge Deutschlands und der Schweiz. Hg. von der Bayerischen Akad. d. Wiss. in München. Bd. II. Bistum Mainz. Erfurt. Bearb. von Paul Lehmann. München 1928 (Mittelalterliche Bibliothekskataloge II). Ndr. München 1969, S. 239–593. Der Codex, aus dessen Einband das Fragment Erfurt, UB, Cod. Erf. 8° 24 (Beilage), gelöst wurde, unter L 63. Das Fragment stammt auseiner nach 1250 in mitteldeutsch-niederdeutschem Schreibdialekt geschriebenen Handschrift der Fassung A. Vgl. Christoph Fasbender: Der Erfurter Discissus der ‚Kaiserchronik‘ (A). In: ZfdA 135 (2006), S. 435–449. Ed.: Sächsische Weltchronik. Hg. von Ludwig Weiland. In: Deutsche Chroniken und andere Geschichtsbücher des Mittelalters. Hannover 1877 (MGH. Dt. Chroniken II). Ndr. München 2001. ‚Thüringische Fortsetzung‘ S. 287–319. Thüringische Handschriften: Nr. 10, 10a, 18, 19, 21, 111. Als älteste Handschrift gilt die illustrierte Handschrift Nr. 24: Gotha, FB, Memb. I 90, geschrieben um 1275 in elbostfälischem Schreibdialekt. Vgl. Schneider (Anm. II, 64), Textband, S. 264; Beck (Anm. II, 68), S. 178 ff. Vgl. Hubert Herkommer: ‚Sächsische Weltchronik‘. In: VL, Bd. 8 (1992), Sp. 473–500, hier 490. Ob die wahrscheinlich von einem Franziskaner verfasste Chronik um 1225/30 oder erst um 1260/75 entstand, ist umstritten. Vgl. zusammenfassend Herkommer, Sp. 482–484. Eine Edition des gesamten Chroniktextes fehlt bis heute, obwohl sich schon der Gottsched-Schüler Gottfried Schütze mit dem Werk beschäftigte. Eine Transkription der Handschrift Göttingen, UB, Cod. 2° Philol. 188/10 durch Monika Schwabbauer ist online als PDF-Datei verfügbar. Eine überlieferungskritische Edition bereitet Kurt Gärtner vor. Vgl. Norbert H. Ott: ‚Christherre-Chronik‘. In: VL, Bd. 1 (1978), Sp. 1213–1217.
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V. SPÄTMITTELALTER
lateinische Bibel (Vulgata) und die ‚Historia scholastica‘ des Pariser Gelehrten Petrus Comestor, ein verbreitetes Bibelhandbuch, das von der Schöpfung bis zu Christi Himmelfahrt reicht. Über weite Strecken bietet die Chronik nichts anderes als eine wörtliche Paraphrase des Bibeltextes in Versen.9 Obwohl mit 24331 Versen das umfangreichste Zeugnis thüringischer Dichtung im 13. Jahrhundert, ist die ‚Christherre-Chronik‘ ein Torso, der nur wenig über die fünf Bücher Mose hinausreicht. Von dem Ziel der Universalchroniken, eine Darstellung der Heils- und Weltgeschichte von der Schöpfung bis zur Gegenwart zu bieten, blieb der unbekannte Dichter also weit entfernt. Sein Text bricht schon zu Beginn des biblischen Buchs der Richter mit Josuas Tod ab.10 Anders als Rudolf von Ems, dessen ‚Weltchronik‘ ihm zum Vorbild diente, hat er seinen Namen nicht genannt. Schon seiner lateinischen Quellen wegen kann er nur ein Geistlicher gewesen sein; offenbar, wenn seine Klagen über die noch zu bewältigenden Stoffmassen nicht bloße Topik sind, bereits in fortgeschrittenem Alter. Obwohl der Chronist an vier Stellen seinen fürstlichen Gönner erwähnt und ihn zweimal lantgreue Heinrich nennt, lässt sich nicht entscheiden, welcher Landgraf dieses Namens gemeint ist.11 Da die Entstehungszeit der Chronik nicht genau festliegt, kommen (will man die Erwähnung des Auftraggebers nicht als literarische Fiktion ansehen) zwei Fürsten in Frage, der Ludowinger Heinrich Raspe IV. und der Wettiner Heinrich der Erlauchte. War Heinrich Raspe der Auftraggeber, muss die Chronik in den Jahren 1242/46 entstanden sein, da nach seiner Wahl zum staufischen Gegenkönig 1246 die Titulatur Landgraf nicht mehr in Frage kam. Doch ist nicht bekannt, dass der Sohn Landgraf Hermanns literaturgeschichtlich eine Rolle gespielt hätte. Eher kommt daher – auch seiner schon erwähnten literarischen Interessen wegen – der Wettiner in Frage, der sich zwischen 1248 und 1263 Landgraf von Thüringen nannte, jedoch stets auch Markgraf von Meißen. Die Chronik fiele dann in die Zeit des thüringischen Erbfolgekriegs.12 Festzuhalten bleibt also: 9 10
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Vgl. Dorothea Klein: Petrus Comestor (Manducator). In: VL, Bd. 11 (2004), Sp. 1205–1225. Die Weltchroniken oder Universalchroniken, deren deutschsprachige Reihe die ‚Sächsische Weltchronik‘ eröffnet, gliedern ihren Stoff gewöhnlich in sechs aetates mundi (Weltzeitalter), beginnend mit der Schöpfung. Die vorchristlichen (1–5) fallen mit der Zeit des Alten Testaments zusammen, das mit Christi Geburt beginnende 6. Weltalter, die „neue Ee“, mündet in eine Geschichte der römischen und deutschen Kaiser und der Päpste. Vgl. Kurt Gärtner: Der Landgraf Heinrich von Thüringen in den Gönnerzeugnissen der ‚Christherre-Chronik‘, in: „Von wysheit würt der mensch geert ...“. Fs. Manfred Lemmer. Hg. von Ingrid Kühn u. Gotthard Lerchner. Frankfurt a. M. [u. a.] 1993, 65–85. Vgl. auch Bumke (Anm. III, 14), S. 216. 1263 gab Heinrich der Erlauchte die Herrschaft über die Landgrafschaft an seinen Sohn Albrecht den Entarteten ab. Sein ältester Enkel Heinrich ohne Land (1256–1282), der 1279 als Henricus dei gracia Thuringiae lantgravius iunior urkundete, kommt aus chronologischen
1. GESCHICHTSEPIK UND GESCHICHTSSCHREIBUNG
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Die ‚Christherre-Chronik‘ entstand zwischen 1242 und 1263 im Auftrag eines Laienfürsten. Offenbar war ein mitteldeutsches Pendant zu der Weltchronik des Vorarlberger Dichters Rudolf von Ems beabsichtigt, deren Verwendung durch den Anonymus nachweisbar ist.13 Doch während Rudolf in schlichtem Ton Laienunterweisung bietet, erzählt der thüringische Autor in epischer Breite, und mehrfach breitet er geistliche Gelehrsamkeit aus, etwa, wenn er die sieben Tage des Schöpfungswerks auf die sieben Stationen des Erlösungswerks Christi auslegt (v. 1221–1734). Beide Chroniken indes waren gleichermaßen für ein Laienpublikum bestimmt, und sie stießen nach Ausweis der Text- und Überlieferungsgeschichte auf ein höchst reges Interesse. Wie Rudolf bezieht auch der thüringische Anonymus die Profangeschichte ein in Gestalt sogenannter incidentia (der Begriff nach Petrus Comestor), rd. zwei Dutzend kleinerer Einschübe, die sich über den ganzen Text verteilen und die Geschichte der weltlichen Reiche, aber auch Mythologisches behandeln, etwa die Geschichte der Amazonen. Allerdings ist er den Primat der Heilsgeschichte vor der profanen zu betonen bemüht. Die ‚Christherre-Chronik‘ ist eines der am reichsten überlieferten Werke des 13. Jahrhunderts.14 Wir kennen rd. 100 Handschriften und Fragmente, die bis ins 15. Jahrhundert reichen – in dieser Zeit wurden die gereimten Weltchroniken dann in Prosa aufgelöst und in die Historienbibeln integriert. Die Überlieferung der Weltchroniken weist einige Besonderheiten auf. Vielfach fanden sie Aufnahme in illustrierte Codices, die in den Bibliotheken hochgestellter Auftraggeber oder späterer Besitzer als Repräsentationsstücke dienten.15 Charakteristischer noch für den Texttyp sind Kompilationshandschriften, Manuskripte also, die verschiedene Chroniken oder Chronikteile verbinden, insbesondere die ‚Christherre-Chronik‘ mit der des Rudolf von Ems und/oder der des Jans von Wien.16 Aus diesen Mischredaktionen, die die Texte in unterschiedlichen Graden von der bloßen Reihung bis zur innigen Durchdringung miteinander verbinden, erwuchs dann ein unter dem Namen
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Gründen kaum in Frage. Auch die für den Stauferkönig Konrad IV. geschaffene ‚Weltchronik‘ Rudolfs von Ems ist Torso geblieben. Vgl. Ralf Plate: Die Überlieferung der ‚Christherre-Chronik‘. Wiesbaden 2005 (Wissensliteratur im Mittelalter 28). Vgl. Jörn-Uwe Günther: Die illustrierten mittelhochdeutschen Weltchroniken in Versen. Katalog der Handschriften und Einordnung der Illustrationen in die Bildüberlieferung. München 1993 (tuduv-Studien. Reihe Kunstgeschichte 48), S. 43–61. Exemplarisch genannt sei die in drei Handschrifen überlieferte ‚Erweiterte ChristherreChronik‘, die u. a. im Buch der Richter größere Teile aus dem ‚Trojanerkrieg‘ Konrads von Würzburg integriert. Auch sie ist Torso geblieben. Vgl. Johannes Rettelbach: ‚Erweiterte Christherre-Chronik‘. In: VL, Bd. 11 (2004), Sp. 420–423, und Ralf Plate: ‚Leipziger Schluß der Christherre-Chronik‘. In: VL, Bd. 11 (2004), Sp. 915–917.
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V. SPÄTMITTELALTER
‚Weltchronik Heinrichs von München‘ laufendes Werk, das in einigen Handschriften einen geradezu gigantischen Umfang von 100000 Versen aufweist.17 Mehrere Handschriften der ‚Christherre-Chronik‘ weisen sprachlich in den mitteldeutschen, vielleicht den thüringischen Raum. Ein Fragment des Bistumsarchivs Erfurt stammt aus einer großformatigen illustrierten Pergamenthandschrift, die um 1360 in ostmitteldeutschem Schreibdialekt geschrieben wurde und deren Vorlage wohl in Erfurt entstand.18 Der erste, der dem universalgeschichtlichen Anspruch gerecht wurde, war Jans von Wien. Er führte seine knapp 29000 Verse zählende ‚Weltchronik‘ (1280/90) bis in die Gegenwart, um den Preis allerdings, dass das der Geschichte der Kaiser bis auf Friedrich II. gewidmete letzte Drittel erhebliche Auslassungen (z. B. die ganze neutestamentliche Geschichte), Raffungen (z. B. zwischen Konstantin und Karl dem Großen) und Einschübe von Legenden, Sagen und Anekdoten aufweist.19 Jans verfasste seine Werke in der Stadt Wien, deren Oberschicht er angehörte,20 aber seine Chronik wurde auch in Thüringen bearbeitet und gelesen. Unter den zahlreichen Handschriften und Fragmenten, die sich bis in die zweite Hälfte des 15. Jahrhunderts erstrecken, sind mehrere Textzeugen, die sprachlich nach Thüringen weisen.21 Eines dieser Manuskripte, Mitte des 15. Jahrhunderts in thüringischer Schreibsprache geschrieben, füllt die Lücken in der Kaisergeschichte ab Augustus mit Einschüben aus einer Erfurter Franziskanerchronik in deutscher Übersetzung, der ‚Compilatio chronologica‘.22 Zwischen Hadrian und Antoninus Pius (nach
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Teiledition: Die Weltchronik Heinrichs von München. Hg. von Frank Shaw, Johannes Fournier, Kurt Gärtner. Berlin 2008 (DTM 88). Vgl. Norbert H. Ott: Heinrich von München. In: VL, Bd. 3 (1981), Sp. 827–837. Reste dreier Pergamentblätter mit drei, in den Schriftspiegel integrierten Deckfarbenminiaturen. Vgl. Günther (Anm. 15), S. 144–147; Plate (Anm. 14), S. 249–251 mit Abb. 25. Ed.: Jansen Enikels Werke. Weltchronik. Fürstenbuch. Hg. von Philipp Strauch. Hannover, Leipzig 1891–1900 (MGH. Deutsche Chroniken III/1–2). Vgl. Karl-Ernst Geith: Enikel, Jans. In: VL, Bd. 2 (1980), Sp. 565–569. De Boor (Anm. IV, 32), S. 193, nannte Jans von Wien (wie der Autor heute genannt wird) einen „Geschichtenerzähler“. „Der ditz getiht gemachet hât, / der sitzt ze Wienn in der stat / mit hûs und ist Johans genant. / an der kôroniken er ez vant. / der Jansen enikel sô hiez er“ (v. 83–87). Genannt sei Wolfenbüttel, HAB, Cod. 417 Helmst., eine Sammelhandschrift aus der ersten Hälfte des 15. Jh., mitteldeutsch (thüringisch?) mit niederdeutschen Elementen. Das MRDH verzeichnet 18 Handschriften und eine größere Zahl von Fragmenten (14. 2. 2011). Berlin, SBB PK, mgf. 927. Auf die ‚Weltchronik‘ und die in diese integrierte Erzählung ‚Secundus‘ (f. 177r–180v) folgt die (fragmentarische) Legende ‚Margareta von Antiochien‘, Fassung III. Vgl. Strauch (Anm. 19), S. XXI f.; Monumenta Erphesfurtensia saec. XII. XIII. XIV. Hg. von Oswald Holder-Egger. Hannover, Leipzig 1899 (Scriptores rerum Germanicarum in usum scholarum), S. 513; Dorothea Klein: Studien zur gereimten deutschen Weltchronistik. In: Studien zur ‚Weltchronik‘ Heinrichs von München. Bd. 1. Überlieferung, Forschungsbericht, Untersuchungen, Texte. Hg. von Horst Brunner. Wiesbaden 1998
1. GESCHICHTSEPIK UND GESCHICHTSSCHREIBUNG
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v. 24776) bringt sie die nur hier überlieferte Erzählung vom schweigenden Philosophen Secundus (518 Verse), die in Thüringen, vielleicht in Erfurt, entstand.23 Die ursprünglich wohl selbstständige Erzählung besitzt gewisse Ähnlichkeiten mit den antikisierenden Dichtungen der Zeit um 1200. Secundus hört beim Studium in Athen den Lehrsatz, jede Frau sei zur Hurerei bereit, wenn diese nur verborgen bleibe. Nach dem Tod des Vaters will er den Satz an seiner Mutter erproben. Als Pilger verkleidet, nähert er sich ihr und gewinnt sie mittels einer Magd und Geldversprechungen für eine Nacht, um dann wie ein Kind zwischen ihren Brüsten zu schlafen. Als er sich am nächsten Morgen zu erkennen gibt, stirbt sie vor Scham. Da Secundus ihren Tod durch sein Reden verschuldete, schweigt er fortan. Als Kaiser Adrianus in Athen von dem schweigenden Philosophen hört, lässt er ihn rufen, da er an seiner Weisheit interessiert ist. Doch Secundus ist durch nichts zum Reden zu bringen, selbst angesichts des Henkers bleibt er standhaft. Vermittels einer „tafeln“ (v. 323), auf die er seine Antwort schreibt, kann er sich dem Kaiser erklären. Es folgt ein Katalog von 21 Wissensfragen, die Secundus dem Kaiser beantwortet, etwa: Was ist die Welt, was ist das Meer, was ist Gott. Am Ende befiehlt der Herrscher, die Antworten in der Bibliothek aufzubewahren. Die Erzählung, die sich bis zu einem griechischen Papyrus des 3. Jahrhunderts zurückverfolgen lässt, besteht offenkundig aus disparaten Teilen; das Thema des Schweigens hat mit den folgenden Fragen und Antworten nichts zu tun. Lateinische und deutsche Weltchroniken entstanden auch in der Folge. Erwähnt sei der aus dem niedersächsischen Einbeck stammende Dietrich Engelhus (um 1362–1434), der 1393 von der Prager an die Erfurter Universität wechselte, an der er als consiliarius der theologischen Fakultät erscheint. In den 20er Jahren verfasste er neben anderen Werken eine als Kompendium für den Schulgebrauch bestimmte Weltchronik, die, auf zahlreiche Quellenwerke gestützt, von der Erschaffung der Welt bis ins frühe 15. Jahrhundert reicht und die er mehrfach erweiterte und 1424 in einer kürzenden niederdeutschen Fassung vorlegte. Zu seinem Œuvre gehören auch zwei kleine Erfurter Stadtchroniken, die vom Jahr 438 bis 1351 bzw. 1422 reichen.24
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(Wissensliteratur im Mittelalter 29), S. 1–112, hier 111, Nr. 152. Ed.: Philipp Strauch: Secundus. In: ZfdA 22 (1878), S. 389–406. Vgl. Burghart Wachinger: ‚Secundus‘. In: VL, Bd. 11 (2004), Sp. 1402–1408. Nach Strauch, S. 400, gehört die Erzählung „in das 14. Jh.“ Nach Wachinger, Sp. 1407, entstand sie „wohl im 15. Jh.“ Vgl. Helge Steenweg: Zur Biographie des Dietrich Engelhus. In: Dietrich Engelhus. Beiträge zu Leben und Werk. Hg. von Volker Honemann. Köln, Weimar, Wien 1991 (Mitteldt. Forsch. 104), S. 11–29. Das ‚Chronicon‘ bzw. die ‚Chronica nova‘ des Dietrich Engelhus wurde von anderen fortgesetzt. Die deutsche Chronik ist noch unediert. Zu den beiden Erfurter Chroniken vgl. Dieter Berg u. Franz Josef Worstbrock: Engelhus (-husen, -husius), Dietrich (Theodoricus). In: VL, Bd 2 (1980), Sp. 556–561, hier 558.
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V. SPÄTMITTELALTER
Eng verbunden mit den seit dem 14. Jahrhundert auch in Prosa aufgelösten Weltchroniken sind die Historienbibeln, die im 15. Jahrhundert im gesamten deutschen Sprachraum Verbreitung fanden. Sie bieten, auf der Vulgata und Handbüchern wie der ‚Historia scholastica‘ fußend, den biblischen, überwiegend alttestamentlichen, Erzählstoff möglichst vollständig, nicht selten ergänzt um apokryphe und profangeschichtliche Partien, in deutscher Prosa, und gehören damit in den Rahmen der spätmittelalterlichen Bibelübersetzung.25 Die Grenze zwischen den Historienbibeln, die vermutlich von Geistlichen als Schul-, Erbauungs- und Geschichtsbücher geschaffen,26 aber wenig später durch die deutschen Bibeldrucke verdrängt wurden, und den Reimchroniken verläuft nicht immer geradlinig; so gehören zu ihren Quellen auch Chroniken wie die Rudolfs von Ems. Die Historienbibeln sind in fast 100 Handschriften erhalten, darunter zahlreichen illustrierten. Mindestens acht weisen sprachlich in den mitteldeutschen, näherhin in den thüringischen Raum.27 Zwei entstanden in Erfurt. Die eine wurde der Schlussschrift zufolge 1428 von Conrad Büchner im Haus, vielleicht auch im Auftrag des einem namhaften Patriziergeschlecht angehörenden domicellus (Klerikers) Konrad Ziegler in der Futtergasse geschrieben.28 Ziegler hat den Band in späteren Jahren möglicherweise der Universitätsbibliothek übereignet. Mit diesem verwandt ist ein zweiter, weniger sorgfältig geschriebener, hergestellt um 1430
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Vgl. Christoph Gerhardt: ‚Historienbibeln‘ (deutsche). In: VL, Bd. 4 (1983), Sp. 67–75. Die allgemein akzeptierte Definition des Texttyps bei Hans Vollmer: Ober- und mitteldeutsche Historienbibeln. Berlin 1912 (Materialien zur Bibelgeschichte und religiösen Volkskunde des Mittelalters. Bd. I), S. 5. Aus neuerer Zeit Ute von Bloh: Die illustrierten Historienbibeln. Text und Bild in Prolog und Schöpfungsgeschichte der deutschsprachigen Historienbibeln des Spätmittelalters. Bern [u. a.] 1993 (Vestigia Bibliae 13/14). Zur Gebrauchsfunktion vgl. Rudolf Bentzinger: Historienbibeln als Gebrauchsliteratur. Edition mit Quellenerschließung und Dokumentation rezeptionsbezogener Varianz. In: Deutsche Texte des Mittelalters zwischen Handschriftennähe und Rekonstruktion. Hg. von Martin J. Schubert. Tübingen 2005 (Beih. zu editio 23), S. 269–285. Die Mühlhäuser Handschrift (1451), die Berliner Handschrift (Gruppe V), die heute in Erfurt, Meiningen und Halle liegenden Handschriften (Gruppe VI) und die Dessauer und die Zwickauer Handschrift (Gruppe VII). Vgl. Vollmer (Anm. 25), S. 37–40 und 182–208. Erfurt, UB, Dep. Erf. CE. 2° 14. Vgl. Sirka Heyne: Die mittelalterlichen Codices in der Universitäts- und Forschungsbibliothek Erfurt/Gotha. Erfurt, Gotha 2005, S. 11 f.; Katalog der deutschsprachigen illustrierten Handschriften des Mittelalters. Begonnen von Hella Frühmorgen Voss. Fortgeführt von Norbert H. Ott zusammen mit Ulrike Bodemann. Bd. 7, Lfg. 1/2. Historienbibeln. Bearb. von Ulrike Bodemann. München 2008, S. 156 f., Nr. 59.10.1; Vollmer (Anm. 25), S. 188–190; Theele (Anm. II, 90), S. 59. Die Erfurter Handschrift ist die älteste der Gruppe VI. Zu Ziegler und dem Schreiber, der sich f. 221rb nennt, vgl. Rudolf Bentzinger: Studien zur Erfurter Literatursprache des 15. Jahrhunderts an Hand der Erfurter ‚Historienbibel‘ vom Jahre 1428. Berlin 1973, S. 40–44, 183 f. und Tafelteil.
1. GESCHICHTSEPIK UND GESCHICHTSSCHREIBUNG
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im Erfurter Peterskloster und bestimmt für innerklösterlichen Gebrauch.29 Beide Manuskripte gehen auf eine gemeinsame oberdeutsche Vorlage zurück. Der Ursprung der Gruppe von Historienbibeln, zu der sie gehören, liegt in Thüringen in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts.30 Aus Thüringen stammt auch die Berliner Historienbibel. Sie wurde von Heinrich von Brandenstein „czu Ranis rytter amptman czu wyssenfels vnd fryburg“ in Auftrag gegeben und 1468/69 von Jörgen Unverloschen geschrieben.31 Die Erfurter Geschichtsschreibung – bis ins Spätmittelalter klösterliche Historiographie in lateinischer Sprache, zunächst der Benediktiner, später auch der Bettelorden – kann hier schon aus Umfangsgründen nicht behandelt werden.32 Den Anfang machten Annalen, und im 13. Jahrhundert entstand mit der die Zeit von 1070 bis 1355 umfassenden ‚Cronica S. Petri Erfordensis moderna‘ das wichtigste Werk der hoch- und spätmittelalterlichen Erfurter Historiographie. Für den Bereich der Bettelorden sei die bis 1261 reichende ‚Chronica Minor Minoritae Erphordensis‘ erwähnt, eine franziskanische Kompilation, die an Erfurter Lokalgeschichte nur wenig bietet. Ein besonders wichtiges Geschichtswerk ist die Kirchengeschichte, die Nikolaus von Siegen im Erfurter Peterskloster wohl im Auftrag seines Abtes Gunther von Nordhausen33 verfasste. Sein in den Rahmen der Bursfelder Reformbewegung gehörendes ‚Chronicon ecclesiasticum‘ (1494/95), für das er eine Vielzahl von Quellen heranzog, ist angelegt als eine Geschichte des Benediktinerordens, die in eine Geschichte Thüringens und seiner Klöster und Kirchen mündet und ab 1440 Zeitgeschichte bietet.34 Wichtig ist die umfangreiche Darstellung nicht
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Halle, ULB, Cod. Stolb.-Wernig. Zb 8. Auftraggeber und Schreiber sind unbekannt. Vgl. Vollmer (Anm. 25), S. 193 f.; Theele (Anm. II, 90), S. 200, Nr. 1046. Auszug: Frühneuhochdeutsche Texte. Ausgewählt und eingeleitet von Gerhard Kettmann. 2. Aufl. Leipzig 1985, S. 242–244. Eine Edition der Erfurter Historienbibel bereitet Rudolf Bentzinger vor. Aus dem oberdeutschen Raum stammt auch die verhältnismäßig alte Handschrift Jena, ThULB, Ms. Prov. f. 158 aus dem Jahr 1463. Vgl. Pensel (Anm. IV, 133), S. 365 f.; Astrid Stedje: Die Nürnberger Historienbibel. Textkritische Studien zur handschriftlichen Überlieferung mit einer Ausgabe des Weidener Fragments. Hamburg 1968 (Deutsches BibelArchiv. Abh. und Vorträge 3), S. 77 f. und 149. Berlin, SBB PK, mgf. 1277. Der Schreiber begann die in thüringischer Schreibsprache geschriebene Handschrift in Freyburg und beendete sie auf der Veste Coburg. Auf die Historienbibel (f. 1ra–226va ) folgt Irmhart Ösers ‚Epistel des Rabbi Samuel an Rabbi Isaac‘. Vgl. Vollmer (Anm. 25), S. 185 f. Einen Überblick bietet Patze (Anm. I, 31). Wie das Beispiel des ‚Liber cronicorum sive annalis Erfordensis‘ (1350) zeigt, ist die Ordenszugehörigkeit der Verfasser nicht in jedem Fall auszumachen. Vgl. Enno Bünz: Gunther von Nordhausen. VL, Bd. 11 (2004), Sp. 568–571. Ed.: Chronicon Ecclesiasticum Nicolai de Siegen O. S. B. Hg. von Franz Xaver Wegele. Jena 1855 (Thüring. Geschichtsquellen 2). Der Ansatz ist also ähnlich der Rotheschen Weltchronik ein universaler, der sich im Fortgang der Darstellung auf Thüringen verengt.
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V. SPÄTMITTELALTER
zuletzt deshalb, weil Nikolaus – ein methodisch bemerkenswertes Vorgehen – für seine Rekonstruktion der Vergangenheit möglichst nur glaubwürdige Quellen heranzuziehen bemüht ist. Von der Erfurter Peterschronik führen Verbindungslinien zum ludowingischen Hauskloster Reinhardsbrunn, dem Ort, der sich über mehrere Jahrhunderte der Geschichtsschreibung des Landgrafenhauses widmete.35 Hier entstanden neben lateinischer Annalistik und Chronistik – wenigstens genannt sei die 1340/49 kompilierte umfangreiche ‚Cronica Reinhardsbrunnensis‘ – auch Werke, die Erwähnung verdienen. Bald nach dem Tod Ludwigs IV., des Gemahls der Elisabeth, auf dem Weg zum Kreuzzug 1227 in Otranto, verfasste dessen langjähriger Kaplan und Vertrauter Berthold eine annalistisch angelegte Lebensbeschreibung, (‚Gesta Ludowici‘), die zu den zuverlässigsten Werken der thüringischen Historiographie gerechnet wird.36 Sie ist nicht in ursprünglicher Gestalt überliefert, sondern nur erschließbar aus Reinhardsbrunner Geschichtswerken wie der Reinhardsbrunner Chronik, Dietrichs von Apolda Elisabethleben und einer deutschen Übersetzung, die Friedrich Köditz, Schulmeister der Reinhardsbrunner Klosterschule, zwischen 1314 und 1323 schuf.37 Seine in einer gewandten Prosa verfasste Darstellung verbindet Züge der Vita mit solchen der Heiligenlegende, was sich schon darin äußert, dass auf den Bericht von Ludwigs Tod noch ein reichliches Drittel folgt. Ludwig IV. ist für den Reinhardsbrunner Schulmeister, wie er schon eingangs deutlich macht, ein Heiliger. Er war Gemahl einer Heiligen, hatte ein keusches Leben geführt, sich mit guten Werken wie der Kreuznahme das „ewige leben vordint“ und eignete sich damit vorzüglich als Mittler bei Gott für die Lebenden. Gott zeichnete „sinen liben diner“ denn auch mit vielen Wunderzeichen aus: „blindin lamen stummen toubin sin dicke mit gesuntheit getrost, di besezzin von dem bosin geiste erlost, di totin sin ouch worden lebin, daz solt ir alle merkin ebin.“38 Nicht weniger als 153 Wunder weiß Köditz im VI. und umfangreichsten Buch
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Das Autograph, heute Weimar, Thüring. Hauptstaatsarchiv, wurde von Goethe zum Druck befördert. Vgl. Patze (Anm. 3), S. 104–107. Zum Peterskloster vgl. Constanze Proksch: Klosterreform und Geschichtsschreibung im Spätmittelalter. Köln, Weimar, Wien 1994, S. 103–108. Vgl. Patze (Anm. III, 20), S. 35–40, und Anm. II, 88. Vgl. Helmut Lomnitzer: Bertholdus Capellanus. In: VL, Bd. 1 (1978), Sp. 805–807. Die bald nach 1308 entstandene ‚Vita Ludowici‘ ist verloren und nur erschließbar. Ed.: Das Leben des heiligen Ludwig (Anm. III, 92). Vgl. Helmut Lomnitzer: Köditz, Friedrich. In: VL, Bd. 5 (1985), Sp. 5–7; Ute Rißland: Die Laute und Formen der Vita des Landgrafen Ludwig IV. von Thüringen in der Übersetzung von Friedrich Ködiz von Saalfeld. In: Beiträge zur Erforschung der deutschen Sprache 7 (1987), S. 182–206. Das Leben des heiligen Ludwig (Anm. III, 92), S. 69, 31–34. Übers.: „Blinde, Lahme, Stumme, Taube erhielten oft ihre Gesundheit zurück, vom Teufel Besessene wurden vom bösen Geist erlöst und die Toten ins Leben zurückgerufen. Das müsst ihr alle bedenken.“
1. GESCHICHTSEPIK UND GESCHICHTSSCHREIBUNG
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zu berichten, zumeist wunderbare Heilungen körperlicher Gebrechen.39 Dass er mit seinem Ludwigsleben sein Kloster, in dem der Landgraf beigesetzt war, das sich ein halbes Jahrhundert nach dem Aussterben der ludowingischen Dynastie jedoch im Niedergang befand und zudem 1292 durch einen großen Brand zerstört worden war, für Pilger interessant zu machen suchte, ist unübersehbar.40 Sein Werk ist mit acht Handschriften des 15. Jahrhunderts, die alle dem thüringischen Raum angehören, breit überliefert.41 Von Ludwig IV. handelt auch (wenngleich vielleicht unwillentlich) ‚Die Kreuzfahrt Landgraf Ludwigs des Frommen‘, verfasst 1301 von einem unbekannten Geistlichen aus dem Troppauer Land am Prager Hof Wenzels II. von Böhmen.42 Das dichterisch wenig bedeutende, zwischen höfischem Epos, Fürstenpreis und Geschichtsdarstellung stehende Werk erzählt in 8178 Versen von Landgraf Ludwig III. und stilisiert ihn zum Helden des III. Kreuzzugs. Den Hauptteil bildet eine Schilderung der Belagerung von Akkon. Hier sei Ludwig als Retter in der Not empfangen worden und habe die verzweifelten Christen zu neuem Kampf angespornt; anders als die Franzosen sei er nicht beim zweiten Vorstoß geflüchtet, sondern habe nach der Erscheinung eines himmlischen Schlachthelfers Saladins Truppen geschlagen. Nach zahlreichen Siegen habe Ludwig, durch einen Steinwurf aus der Stadt schwer getroffen, auf der Rückreise auf dem Schiff sein Leben als peregrinus beendet.43 Das Geschichtsepos enthält also auch Züge der Heiligenvita. Mehrfach stößt man
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Zwei blinde Jungfrauen erhielten am Grab des Landgrafen ihr Augenlicht zurück, eine lahmende Jungfrau wurde gesunt, eine weitere, die einen Buckel hatte, wurde slecht (gerade), ein ertrunkener Knabe, den die Eltern dem Heiligen gelobten, wurde wieder lebinde usw. Geheilt wurden vornehmlich Blinde, Lahme, Stumme, Taube und Gichtbrüchige. Patze (Anm. I, 31), S. 118, sah im Ludwigsleben des Friedrich Köditz einen Endpunkt der Reinhardsbrunner Geschichtsschreibung. Zu diesem Zeitpunkt sei die dynastisch orientierte Historiographie des ehemaligen benediktinischen Reformklosters durch die Geschichtsschreibung der Bettelorden in den Städten abgelöst worden. Ältester und bester Textzeuge ist Coburg, LB, Ms. Cas. 102, eine Pergamenthandschrift, die 1404 in Reinhardsbrunn von Nikolaus Götze aus Mühlhausen im Auftrag des Abtes Dither Nekil geschrieben wurde. Um 1440 wurde die Handschrift, in der man gewissermaßen das Original sehen kann, um Johannes Rothes ‚Elisabethleben‘ ergänzt. Eine 1487 von Urban Schlorff auf Schloss Tenneberg b. Waltershausen geschriebene Handschrift verbindet die Lebensbeschreibung mit zwei der drei Chroniken Rothes. Eine weitere Handschrift befand sich im Besitz des Erfurter Petersklosters. Ed.: Die Kreuzfahrt des Landgrafen Ludwigs des Frommen von Thüringen. Hg. von Hans Naumann. Berlin 1923 (MGH. Deutsche Chroniken IV/2). Ndr. München 1980. Wie der Bericht von Ludwigs Verwundung durch einen Steinwurf sind auch andere Details, etwa die Angabe, Ludwigs Bruder Hermann habe ebenfalls an der Eroberung von Akkon teilgenommen, nicht anhand historischer Quellen verifizierbar. Inwieweit die genannten Anachronismen (zu ihnen Naumann, Anm. 42, zweiter Apparat) Versehen sind oder der Darstellung absichtsvoll eingefügt, wäre noch zu untersuchen.
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V. SPÄTMITTELALTER
auf irritierende Unstimmigkeiten. So lässt der Epiker Barbarossa an der Belagerung von Akkon teilnehmen, obwohl der greise Kaiser im Sommer 1190 in Kleinasien ertrunken war, das Heilige Land also gar nicht erreicht hatte.44 Bedenklicher noch ist die Verwechslung Ludwigs III., der im Oktober 1190 auf der Rückfahrt nach Europa starb, mit Ludwig IV., womit aus dem Helden des III. Kreuzzugs der Gemahl der hl. Elisabeth wird. Ein Anachronismus liegt auch vor, wenn „die von dem Dûtschen hûse“ ihre Zelte vor Akkon aufschlagen, wurde der Deutsche Ritterorden doch erst 1198 gegründet. Wer konnte ein halbes Jahrhundert nach dem Aussterben der Ludowinger am Prager Hof ein Interesse an der Verherrlichung Landgraf Ludwigs haben? Die Erklärung muss beim Auftraggeber, dem schlesischen Piastenherzog Bolko I. von Schweidnitz-Jauer († 1301), ansetzen. Er war ein Urenkel der hl. Hedwig von Schlesien, über Hedwigs Nichte Elisabeth von Thüringen mit den Ludowingern verwandt und, da Hedwigs Mutter eine Tochter Markgraf Dedos von Rochlitz war, auch mit den Wettinern.45 Bolko war wohl auch an einer Festigung seiner Beziehungen zum Prager Hof gelegen. Das Geschichtsepos handelt also von einem (oder auch zwei) Landgrafen von Thüringen, hat aber mit der Literaturgeschichte Thüringens nichts zu tun. Wie die schmale Überlieferung zeigt, ging von ihm keine nennenswerte Wirkung aus.46 Der bedeutendste Repräsentant der spätmittelalterlichen Geschichtsschreibung Thüringens und einer der vielseitigsten Literaten seiner Epoche ist Johannes Rothe. Geboren um 1360 in einer ratsfähigen Familie in Creuzburg an der Werra, wirkte Rothe von den 80er Jahren bis zu seinem Tod 1434 in Eisenach zunächst im angesehenen Amt des Stadtschreibers (der Eisenacher Schöffenstuhl war Oberhof der landgräflichen Städte), dann als Priester an der Liebfrauenkirche, Kanoniker an der Georgenkirche und Leiter der Stiftsschule St. Marien. Diese enge Bindung an eine Stadt erinnert an Hans Sachs, der Nürnberg nach seiner Gesellenwanderung kaum mehr verlassen hat. Rothes umfangreiches, im Lauf eines halben Jahrhunderts entstandenes Œuvre umfasst Vers- und Prosatexte verschiedener Gattungen und unterschiedlichen
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„[...] nu / was der furste mit allem her / bi den schiffen, bi dem mer / sach er, wie keiser Friderîch / zû zôch, ouch der von Ôsterrîch“ (v. 3556–3560). Übers.: „Als der Fürst sich mit der gesamten Streitmacht bei den Schiffen am Meer aufhielt, sah er Kaiser Friedrich und auch den (Herzog) von Österreich [recte: Leopold] nahen.“ „Bolkos I. Großvater war Herzog Heinrich II., der Sohn Heinrichs I. und der heiligen Hedwig, die eine Tante der heiligen Elisabeth von Thüringen war.“ Naumann (Anm. 42), S. 196. Das Gedicht ist überliefert in einer Pergamenthandschrift des frühen 14. Jh., geschrieben in schlesischer Schreibsprache, Wien, ÖNB, cod. 2737. Vgl. Dietrich Huschenbett: ‚Die Kreuzfahrt Landgraf Ludwigs des Frommen‘. In: VL, Bd. 5 (1985), Sp. 372–375; de Boor (Anm. 32), S. 210–212.
1. GESCHICHTSEPIK UND GESCHICHTSSCHREIBUNG
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Niveaus, Rückwärtsgewandtes und Modernes. Rothe ist ein gelehrter, in der lateinischen Literatur belesener, insbesondere juristisch gebildeter Autor; ob er eine Universität besuchte, ist unbekannt. Seine erbaulichen, didaktischen und historischen Werke, die hier nur in Auswahl genannt werden können, stehen zumeist in der einen oder anderen Weise in Verbindung mit seinem vielfältigen Wirken in der Stadt Eisenach. So gingen die beiden Ratsgedichte und der ‚Fürstenratgeber‘ aus seiner Tätigkeit als städtischer notarius hervor, während der ‚Ritterspiegel‘ (1415), eine Ständedidaxe für junge Adlige, vielleicht für seine adligen Schüler am Liebfrauenstift bestimmt war, vielleicht auch für den landgräflichen Hof.47 Auch das frühe Lehrgedicht ‚Lob der Keuschheit‘, eine Auslegung allegorischer Bilder der Keuschheit und anderer Tugenden in rd. 5600 Versen, das Rothe einer Nonne im Eisenacher Zisterzienserinnenkloster St. Katharina widmete, verhandelt Aspekte, die die Erfahrung des Zusammenlebens der Menschen auf engem Raum in der Stadt voraussetzen.48 Seine Adressaten fand Rothe denn auch zunächst und vornehmlich in Eisenach, daneben auch am Landgrafenhof. Charakteristisch für den Autor Rothe ist ferner, dass die jüngeren Werke immer wieder auf die älteren zurückgreifen, das ‚Elisabethleben‘ etwa und die nur unvollständig erhaltene ‚Passion‘ auf die Weltchronik.49 Obwohl Rothe die Versform höher schätzte (als das formal ansprechendste seiner Reimwerke gilt der ‚Ritterspiegel‘), waren es, vom ‚Elisabethleben‘ abgesehen, gerade zwei seiner drei in flüssiger Prosa geschriebenen Chroniken, die stark wirkten.50 Mit seinen Chroniken, die Rothe in fortgeschrittenem Alter verfasste, beginnt die thüringische Geschichtsschreibung in der Volkssprache, die von 47
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Ed.: Johannes Rothes Ratsgedichte. Hg. von Herbert Wolf. Berlin 1971 (Texte des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit 25). Johannes Rothe. Der Ritterspiegel. Hg., übersetzt und kommentiert von Christoph Huber u. Pamela Kalning. Berlin, New York 2009. Vgl. Volker Honemann: Rothe, Johannes. In: VL, Bd. 8 (1992), Sp. 277–285; ders.: Johannes Rothe in Eisenach. Literarisches Schaffen und Lebenswelt eines Autors um 1400. In: Autorentypen. Hg. von Walter Haug u. Burghart Wachinger. Tübingen 1991 (Fortuna vitrea 6), S. 69–88; Ursula Peters: Literatur in der Stadt. Studien zu den sozialen Voraussetzungen und kulturellen Organisationsformen städtischer Literatur im 13. und 14. Jahrhundert. Tübingen 1983 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 7), S. 242–248. Ed.: Johannes Rothe. Das Lob der Keuschheit. Hg. von Hans Neumann. Berlin 1934 (DTM 38). Im Zisterzienserinnenkloster St. Katharinen lebte Rothes Schwester Jutta. Ed.: Weigelt (IV, 148). Johannes Rothe. Düringische Chronik. Hg. von Rochus von Liliencron. Jena 1859 (Thüring. Geschichtsquellen 3). Johannes Rothe. Elisabethleben. Aufgrund des Nachlasses von Helmut Lomnitzer hg. von Martin J. Schubert u. Annegret Haase. Berlin 2005 (DTM 85). Zur ‚Passion‘, für die ein Adressat nicht auszumachen ist, vgl. Anm. IV, 256. Eine Neuedition der Weltchronik ist ein Desiderat. Im Prolog der ‚Thüringischen Landeschronik‘ (v. 43 f.) wie in dem der ‚Thüringischen Weltchronik‘ rechtfertigt Rothe den Gebrauch der Prosa: das is ungereymet ist (v. 122). Eine gereimte Weltchronik war zu Beginn des 15. Jh. also noch möglich.
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V. SPÄTMITTELALTER
Autoren wie Hartung Kammermeister und Konrad Stolle fortgesetzt wurde. Am Anfang steht die vergleichsweise schmale Chronik der Stadt Eisenach (1414), bestimmt für die Ratsherren der Stadt, für Reinhard Pinkernail vielleicht. Dieser Adressatenkreis ergibt sich schon aus der Wahl der Sprache; die Eisenacher Bettelmönche jedenfalls hätten das Latein bevorzugt. Auf sie gehen mehrere große Geschichtswerke zurück: die Ende des 14. Jahrhunderts im Predigerkloster entstandene breit überlieferte ‚Chronica Thuringorum‘ und die zwei Jahrzehnte später im Minoritenkloster verfasste annalistisch angelegte ‚Historia de landgraviis Thuringiae‘.51 Diese, die Chronik der Franziskaner, war Rothes Hauptquelle; ganze Partien seiner bis zum Jahr 1409 reichenden Darstellung hat er aus ihr übernommen, sodass man fast von einer Übersetzung sprechen könnte. Seine Chronik enthält jedoch auch große Abschnitte thüringischer Geschichte, näherhin der Landgrafengeschichte, deren Pflege bisher in den Händen der Reinhardsbrunner Mönche gelegen hatte, hier nun bestimmt für Stadtbewohner. Im Mittelpunkt steht die Stadt Eisenach, die im Jahr 152 n. Chr. gegründet worden sein soll. Rothe verbindet mit der landgräflichen Residenz Eisenach Vorgänge wie den Sängerkrieg und das Wirken der Landgräfin Elisabeth, und wirkungsvoll weiß er sagenhafte Überlieferungen wie die vom Landgrafen Friedrich mit der gebissenen Wange einzufügen. Wie die Überlieferung in nur einer Handschrift zeigt, hat seine erste Chronik jedoch nicht über Eisenach hinaus gewirkt.52 Die ‚Thüringische Landeschronik‘ (1418) widmete Rothe einem landgräflichen Beamten, Bruno von Teutleben, Amtmann der Wartburg.53 Die bis zum Jahr 1407 reichende Darstellung bietet eine aus der universalen Perspektive entwickelte Geschichte des Landes Thüringen und seiner Regenten. Ihr eigentliches Thema ist die Landgrafschaft in ihrem Werden und ihrer Beschaffenheit. Rothe zeigt sich interessiert an Besitzverhältnissen und ihren Veränderungen und an rechtlichen Fragen überhaupt; wenn er eingehend die Gerichtsorganisation der Landgrafschaft schildert, so vielleicht mit Rücksicht auf seinen Adressaten. Rothe hat nahezu alle für Thüringen wichtigen Quellen wie die Erfurter Peterschronik, die Reinhardsbrunner Chronistik, die Elisabethvita Dietrichs von Apolda und das Ludwigsleben des Friedrich Köditz herangezogen und kompilatorisch benutzt. Seinen Namen enthält keine 51
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Die ‚Chronica Thuringorum‘ wird nach ihrem Herausgeber Pistorius auch ‚Pistoriana‘ genannt und die ‚Historia de landgraviis Thuringiae‘ nach ihrem Heraugeber Eccard auch ‚Eccardiana‘. Vgl. Patze (Anm. 3), S. 119 f. und zu Rothes Chroniken S. 121–124. Da dieser Befund nicht nur auf die ‚Eisenacher Chronik‘ zutrifft, darf man vermuten, dass Rothe nicht sonderlich daran interessiert war, über die Stadt Eisenach hinaus zu wirken. Ob Rothe Bruno von Teutleben, in dem man auch den Adressaten des ‚Ritterspiegels‘ sehen wollte, aus einem besonderen Dienstverhältnis verpflichtet war, ist unbekannt. Vgl. Schmitt (Anm. IV, 84), S. 179.
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einzige der 39 aus Thüringen, Hessen und Sachsen stammenden Handschriften; erst Fedor Bech gelang die Entschlüsselung des Akrostichons im gereimten Prolog.54 Seine letzte Chronik, die ‚Thüringische Weltchronik‘ (1421), verfasste Rothe im Auftrag der Landgräfin Anna von Schwarzburg.55 Gegenüber dem Vorgängerwerk bedeutet sie abermals eine Horizonterweiterung, insofern der Blick sich zunächst ins Universalgeschichtliche öffnet. Es ist eine Weltchronik mit zunehmender Konzentration der Perspektive auf Thüringen.56 Schematisch ausgedrückt: die erste Hälfte bietet Universalgeschichte, die zweite Landesgeschichte.57 Erst mit dem 329. der 802 Kapitel zählenden sehr umfangreichen Darstellung wendet Rothe sich kontinuierlich der Geschichte Thüringens zu. Er bringt aitiologische Sagen wie die von der Errichtung der Wartburg durch Ludwig den Springer, berichtet wiederum vom Sängerkrieg am Landgrafenhof, erzählt über mehr als 40 Kapitel hinweg von Ludwig IV. und seiner Gemahlin Elisabeth, wiederholt den Bericht über die Aufführung eines geist-lichen Spiels am Landgrafenhof 1321.58 Dem modernen Leser fallen massive Anachronismen auf wie die, dass Rothe einen Trojaner nach Deutschland gelangen lässt, dass die Sachsen und Thüringer 1200 Jahre nach der Sintflut am Meer leben oder dass Caesar „die graven von Bichelingen zu amptmannen unde voyten zu Kuffhussen“ einsetzte.59 Doch Rothe verfährt
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Wichtigster Textzeuge: Gotha, FB, Chart B 180, geschrieben 1487 von Urban Schlorff, Schösser auf Schloss Tenneberg b. Waltershausen, vgl. Anm. IV, 244. Auftraggeber der Handschrift, in der Schlorff zusammenfasste, was ihm über die Geschichte der Landgrafen zugänglich war, könnte Kurfürst Friedrich der Weise gewesen sein. Vgl. Weigelt (Anm. IV, 148), S. XXVII–XXIX, zur Überlieferung S. XXVI–LXVI. Das Akrostichon im Reimprolog, Weigelt, S. 1–6, lautet: DEME GESTRENGE BRVNEN VON TEITELEIBIN AMCHTMANE UF WARTBERG. Vgl. Fedor Bech: Über Johannes Rothe. In: Germania 6 (1861), S. 45–80, und 257–287. Für Rothes Schaffen nach wie vor wichtig: Julius Petersen: Das Rittertum in der Darstellung des Johannes Rothe. Straßburg 1909 (QF 106). Der paradoxe Titel ‚Thüringische Weltchronik‘ ist ein moderner. Anna von Schwarzburg, die zumeist in Gotha residierte, nahm die Regierungsgeschäfte wahr, da ihr Gemahl, Landgraf Friedrich IV. der Friedfertige (1407–1440) dazu nicht in der Lage war. So Patze (Anm. 3), S. 123. Vgl. ferner Peter Johanek: Weltchronistik und regionale Geschichtsschreibung im Spätmittelalter. In: Geschichtsschreibung und Geschichtsbewußtsein im späten Mittelalter. Hg. von Hans Patze. Sigmaringen 1987 (Vorträge und Forschungen 31), S. 287–330. Wie die Landeschronik wird auch die Weltchronik durch einen Reimprolog mit z. T. identischen Strophen eröffnet, vgl. Liliencron (Anm. 49), S. 1–10. Als Gott am dritten Schöpfungstag Bäume, Kräuter, Berge, Täler usw. werden ließ, „do worden ouch yn dem lande zu Doryngen das gebirge die welde unde die wasser noch der schickunge alsso sie noch synt.“ Liliencron (Anm. 49), S. 12, c. 3. Dieser Stoff kehrt wieder in der mit 45 Federzeichnungen ausgestatteten ‚Landeschronik von Thüringen und Hessen‘ des Wigand Gerstenberg von Frankenberg (1457–1522). Liliencron (Anm. 49), S. 55, c. 62.
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hier mit seinem Material nicht grundsätzlich anders als seine Vorgänger und in seinen früheren Chroniken. Seine Leistung besteht in der Zusammenfassung dessen, was es an thüringischer Geschichtsschreibung gab, womit zusammenhängt, dass seine letzte, breit überlieferte Chronik Fortsetzungen und Überarbeitungen erfuhr und Späteren als Quelle diente.60 Eine Generation nach ihm wurde sie von dem Erfurter Patrizier Hartung Kammermeister fortgesetzt. Kammermeister hatte seine Laufbahn als landgräflicher Geleitsmann begonnen und sich später in Erfurt niedergelassen, wo er 1442 in den sitzenden Rat aufgenommen wurde und seit 1447 fünfmal das Amt des obersten Bürgermeisters bekleidete. Als er Rothes Chronik zu ergänzen und fortzuführen begann, hatte er bereits in landesherrlichen wie in städtischen Diensten politische und geschichtliche Erfahrungen gesammelt.61 In seiner in nüchternem Duktus verfassten Prosachronik, die er bis zu seinem Tod 1467 fortführte und die als wichtige Quelle der thüringisch-sächsischen Geschichte gilt, bietet er Zeitgeschichte, berichtet er von lokalen Vorgängen wie dem Bruderkrieg der Wettiner, aber auch von der Kleidung der Erfurter Frauen und ermöglicht so Einblicke in Geschichtsbewusstsein und Weltbild eines Erfurter Bürgermeisters jener Zeit.62 Mehrfach schildert er bedeutende Ereignisse wie den Empfang, der dem Kardinal Nikolaus von Kues 1451 durch den Rat der Stadt bereitet wurde. Die Position des Patriziers wird besonders deutlich in der Beschreibung der Vitzthumschen Fehde; hier feiert Kammermeister die Rolle der Stadt, indem er das Lied von der Einnahme der Wachsenburg durch die Erfurter aufnimmt.63 Rothes Chroniken wurden auch von dem Erfurter Stiftsgeistlichen Konrad Stolle benutzt. Stolle, der aus dem Dorf Niederzimmern b. Weimar stammte, hielt sich nach dem Besuch der Schulen am Kollegiatstift St. Severi in Erfurt und in Langensalza mehrere Jahre in Rom und Florenz auf, ehe er 1463 zum Priester geweiht wurde. 1464 bezog er eine Vikarie am Severistift, zu der später eine weitere am Weißfrauenkloster kam.64 Die Genese seiner von ihm 60
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Die Überlieferung umfasst ein Dutzend Handschriften und Fragmente. Die Münchner Handschrift stammt aus dem Erfurter Peterskloster. Hier wurde Rothes Weltchronik von Nikolaus von Siegen als Quelle benutzt. Die Chronik Hartung Cammermeisters. Bearb. von Robert Reiche. Halle 1896 (Geschichtsquellen der Provinz Sachsen und angrenzender Gebiete 35). Vgl. Patze (Anm. 3), S. 109 f. Zur Überlieferung vgl. Hubert Herkommer: Kammermeister, Hartung. In: VL, Bd. 4 (1983), Sp. 981–983. Laut testamentarischer Verfügung Kammermeisters sollte die Chronik im Chor der St.Georgs-Kirche öffentlich zugänglich sein; doch übergab man sie dem Rat zur Verwaltung. Vgl. Reiche (Anm. 61), S. 113–127, c. 58. Zu Wachsenburglied vgl. Kap. V. 3. Ein Universitätsbesuch ist nicht nachweisbar, vom italienischen Humanismus war Stolle wohl unbeeinflusst. Stolle starb 1501, sein Grabstein befindet sich in der Severikirche. Vgl. Volker Honemann: Stolle, Konrad. In: VL, Bd. 9 (1995), Sp. 359–362. Zu den Lebensdaten
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selbst memoriale (Denkbuch) genannten Chronik ist auffällig.65 Stolle begann in den 70er Jahren mit zeitgeschichtlichen Aufzeichnungen. Später stellte er ihnen Auszüge aus Rothes Landeschronik und Weltchronik, die er zu großen Teilen übernahm, voran; der Plan einer Chronik entstand also erst später. Zwar beginnt das ‚Memoriale‘ im Stil der Universalchroniken mit dem Bau der Arche Noah und behandelt auch welthistorische Ereignisse wie die Eroberung Konstantinopels, doch gelangt Stolle, seine Vorlagen raffend, rasch zur Geschichte Thüringens und Erfurts, die bis zum Einzug des Kardinals Raimund Peraudi im Jahr 1502 behandelt wird (dieses Ereignis ist allerdings von anderer Hand nachgetragen).66 Seine Darstellung ist weniger eine in sich gerundete Chronik als eine Sammlung geschichtlicher und kulturgeschichtlicher Notizen aus Vergangenheit und Gegenwart, der besonders für die zweite Hälfte des 15. Jahrhunderts ein hoher Quellenwert zukommt. Ausführlich stellt Stolle – mündlich Überliefertes wie schriftliche Quellen verarbeitend – den sächsischen Bruderkrieg dar (die Teilung des Landes unter Kurfürst Friedrich und seinem Bruder Landgraf Wilhelm mit den anschließenden Auseinandersetzungen); hier ist er mitunter genauer als Kammermeister.67 Mehrfach sind politische Lieder eingefügt wie das über die Auseinandersetzung zwischen der Stadt Erfurt und dem Mainzer Erzbischof im Jahr 1481.68 Die von Rothe begründete Tradition lebte noch im 16. Jahrhundert fort. Eine ‚Landeschronik von Thüringen und Hessen‘ (1493/1515) verfasste der
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jetzt Enno Bünz: Neues zur Biographie des Chronisten Konrad Stolle (1436–1501). In: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 56 (2000), S. 201–211. „Als man schreib noch gotis geburt unsers hern vierczenhundirt unnd achte unnd sobenczigk jar [...] ich conradus stolle ditcz al heer colligert habe unnd in myn memorial geschreben habe.“ Memoriale. Thüringisch-erfurtische Chronik von Konrad Stolle. Bearb. von Richard Thiele. Halle 1900 (Geschichtsquellen der Provinz Sachsen und angrenzender Gebiete 39), S. 387 f. Als memoriale bezeichnete Stolle vielleicht nur den Teil ab c. 226. Vgl. Nigel F. Palmer: Peraudi, Raimund. In: VL, Bd. 7 (1989), Sp. 398–401. Zu Stolles Quellen gehört auch die Chronik Kammermeisters, und mitunter stimmt seine Darstellung mit der thüringisch-hessischen Landeschronik Gerstenbergs überein. Thüringische und Erfurter Geschichte behandeln im Wesentlichen die Partien S. 374–526, c. 316–390. Vgl. c. 198–216. Über den sächsischen Bruderkrieg heißt es in c. 198: „Nymant was ouch sicher zu gene, zu ryten, noch zu faren; wer den andern vor mochte, der greiff on an, unnd slugen sich underenander, unnd einer nam dem andern, was her hatte. Do disse geschicht also erging, do was ich conrad stolle, der ditte geschreben had, by mynen XVI jarn, also das ich der ebenture wol gedochte; unnd was do heime in deme dorffe zu czimmern under deme eitersberge; do hatte ich vater unnd muter unnd ging do by einem kerchenere in dy schule unnd sach ouch dy fur der dorffer umme her in des jungen hern lande, das man dy brante.“ Thiele (Anm. 65), S. 238. Vgl. S. 413–415, c. 329. Jena, ThULB, Ms. Sag. q. 3, eine Sammelhandschrift, 15./16. Jh., gilt als Autograph Stolles. Die Abschnitte nach c. 368 stammen von jüngerer Hand. Exzerpte aus dem ‚Memoriale‘ in mehreren Handschriften. Vgl. Pensel (Anm. IV, 133), S. 535–542.
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Weltgeistliche Wigand Gerstenberg. Thüringische Geschichte enthält der erste, bis 1247 reichende Teil. Gerstenberg berichtet von der Vertreibung der Thüringer durch die Sachsen, er bringt die Iring-Überlieferung und erzählt von Ludwig dem Springer, dem Sängerkrieg, der Vertreibung Elisabeths von der Wartburg.69 Derselben Generation wie Gerstenberg gehört Johannes Nuhn an, Weltgeistlicher wie dieser und ebenfalls an der Erfurter Universität ausgebildet. Er schuf in fürstlichen Diensten ein umfangreiches historiographisches Œuvre u. a. über die Markgrafen von Meißen, das jedoch zum größten Teil verloren zu sein scheint. Im Dienst der Henneberger entstand das sogenannte ‚ABC‘, das Lebensbeschreibungen von acht Henneberger Grafen, die in den geistlichen Stand traten, vereint. Dieses Werk wurde noch von späteren Geschichtsschreibern wie Cyriacus Spangenberg benutzt, ist aber nicht im Original erhalten. Breit überliefert – mehrfach zusammen mit Rothes ‚Thüringischer Landeschronik‘ – ist Nuhns ‚Chronica und altes Herkommen der Landtgrawen zu Döringen und Hessen und Marggraven zu Meißen‘, die von 477 v. Chr. bis 1480 reicht. Bemerkenswert ist, dass Nuhn fiktionale Erzählwerke wie den ‚Wilhalm von Orlens‘ des Rudolf von Ems und den ‚Huge Scheppel‘ der Elisabeth von Nassau-Saarbrücken als historische Quellen verwendet. Die eigentliche Geschichte der Landgrafen von Thüringen übergeht er, um mit Landgraf Heinrich I. von Hessen, dem Sohn von Elisabeths Tochter Sophie, fortzufahren.70 Allenfalls durch lose Fäden mit der thüringischen Geschichtsepik und Historiographie verknüpft ist ‚Karl und Elegast‘, eine nachhöfische, novellistisch begrenzte, von wenigen Personen getragene Erzählung in 1830 Versen aus dem Sagenkreis um Karl den Großen, die um die Mitte des 14. Jahrhunderts entstanden sein dürfte.71 In den Grundzügen stimmt sie überein mit dem
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Ed.: Die Chroniken des Wigand Gerstenberg von Frankenberg. Bearb. von Hermann Diemar. Marburg 1909 (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Hessen und Waldeck VII/1). Wigand Gerstenberg von Frankenberg 1457–1522. Die Bilder aus seinen Chroniken Thüringen und Hessen, Stadt Frankenberg. Hg. von Ursula Braasch-Schwersmann u. Axel Halle. Marburg 2007 (Untersuchungen und Materialien zur Verfassungs- und Landesgeschichte 23). Vgl. Hubert Herkommer: Gerstenberg, Wigand. In: VL, Bd. 2 (1980), Sp. 1274–1276. Der 1. Teil der Landeschronik (Diemar, S. 1–210) ist der thüringischen Geschichte gewidmet, der 2. Teil (Diemar, S. 211–318), der hessischen „wie Doringen von dem lande zu Hessen abekummen ist“. Vgl. Peter Johanek,: Nuhn (Nhun, Nohe, Nohen), Johannes. In: VL, Bd. 6 (1987), Sp. 1240–1247; Patze (Anm. 3), S. 127. Erwähnt sei noch Adam Ursinus, der eine bis zum Jahr 1500 reichende Chronik verfasste. Ed.: Karel ende Elegast und Karl und Elegast. Hg. und übersetzt von Bernd Bastert, Bart Besamusca und Carla Dauven-van Knippenberg. Münster 2005 (Bibliothek mittelniederländischer Literatur 1), S. 81–183. Der mitteldeutsche Karl und Elegast nach der Zeitzer
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niederländischen ‚Karel ende Elegast‘, hängt aber weder von diesem ab noch von dessen deutscher Version, die in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts in die Aachener ‚Karlmeinet‘-Kompilation einging. Dieses Werk bietet eine poetische Lebensgeschichte Karls des Großen in rd. 36000 Versen, geschaffen wohl von einem Geistlichen, vermutlich einem Mitglied des Aachener Münsterstiftes, aus ursprünglich selbstständigen Gedichten wie dem ‚Rolandslied‘.72 Die Erzählung ist also aus dem Rhein-Maas-Raum nach Osten gewandert. Sie handelt von der wunderbaren Rettung Karls vor einem heimtückischen Mordanschlag, bewirkt durch Gottes wundersame Fügung, von Verrat also und Treue im Umkreis des Herrschers. In der Nacht vor einem Hoftag wird Karl von Gottes Stimme aufgefordert, auszureiten und zu stehlen, andernfalls werde er den nächsten Tag nicht überleben. Widerstrebend bricht Karl auf und trifft auf Elegast, der vor 33 Jahren seinen Schwestersohn Ludwig im Zorn mit einem Schachbrett erschlug und seither – von Karl seines Herzogtums enthoben – von Raub und Diebstahl lebt. Unter dem Namen Olbrecht begibt Karl sich mit ihm auf nächtliche Diebestour. Elegast hat sich seine sittlichen Qualitäten und seinem Herrn die Treue bewahrt; als Olbrecht Karl tadelt, entgegnet er ihm: „Wer uff Karle wolt unrecht reden, / der mùß hangen an einer wedde“ (v. 440 f.).73 Elegast erweist sich als ein Karl im Herzen treu gebliebener Retter. Er deckt ein Mordkomplott von Karls Schwager Eckerich auf (v. 707 ff.), und er bewährt seine Treue unter Einsatz seines Lebens im gerichtlichen Zweikampf mit dem Verräter, den er erschlägt. Die Erzählung vom Meisterdieb und edlen Räuber verbindet in einer Weise, die an die Spielmannsepik erinnert, Ernst und Komik.74 So wird die Tageliedsituation parodiert: Ist es in diesem Liedtypus die Dame, die das Anbrechen des Tags beklagt, da es den Abschied des Geliebten erfordert, ist es hier Karls Wunsch, dass die Nacht möglichst lange währen möge. Über die Entstehungsgeschichte wissen wir nichts.75 Die einzige Handschrift, 1455 in ostmitteldeutsch-thüringischer Schreibsprache geschrieben, überliefert den
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Handschrift. Hg. von Josef Quint. Bonn 1927 (Rheinische Beitr. und Hülfsbücher zur germ. Philologie und Volkskunde 14). Vgl. Hartmut Beckers: ‚Karl und Elegast‘. In: VL, Bd. 4 (1983), Sp. 999–1002. Die dem rheinischen Kulturraum angehörende ‚Karlmeinet‘-Kompilation ist vollständig nur in einer um 1470 in Köln in ripuarischem Schreibdialekt gefertigten Handschrift überliefert. Über die Umstände der Entstehung, Auftraggeber und Wirkung ist kaum etwas bekannt. Vgl. Hartmut Beckers: ‚Karlmeinet‘-Kompilation. In: VL, Bd. 4 (1983), Sp. 1012–1028. Übers.: „Wer schlecht über Karl redet, der sollte am Strick hängen.“ Herbert Kolb: Chanson de geste parodistisch. Der mitteldeutsche ‚Karl und Elegast‘. In: Wolfram-Studien. Bd. 11. Berlin 1989, S. 147–165, hier 147, nannte sie „das verblüffendste Stück der thematisch gewiß nicht eintönigen Karlsepik“. De Boor (Anm. IV, 32), S. 125, sprach von „einem mitteldeutschen, rheinfränkischen Gedicht des 14. Jahrhunderts“.
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Text nur mangelhaft.76 Was diesen mit Thüringen und mit der Stadt Zeitz im Besonderen verbindet, ist unklar. Das ursprüngliche mitteldeutsche Gedicht dürfte deutlich älter gewesen sein. Hat ‚Karl und Elegast‘ mit Karl dem Großen als Protagonisten eine historische Persönlichkeit, kann das von dem Heldenepos ‚Rosengarten zu Worms‘ allenfalls mit größter Einschränkung gelten. Zwar ruht die mittelalterliche Heldenepik grundsätzlich auf historischen Grundlagen, und für den Sagenkreis um Dietrich von Bern sind dies die Geschehnisse um Theoderich den Großen bei der Errichtung des Ostgotenreichs in Oberitalien. Doch die Gedichte vom Rosengarten gehören zur aventiurehaften Dietrichepik, einem Kreis von Dichtungen, die sagenfern und frei von allen historischen Bindungen über ihren Stoff verfügen. Dass der „Berner“ des Gedichts an den Ostgotenkönig Theoderich anknüpft, kann man nur wissen, aber nicht mehr erkennen. Wenn das Epos hier angeführt wird, ist das also kaum mehr als eine Verlegenheitslösung. Der im Hildebrandston abgefasste ‚Rosengarten zu Worms‘ entstand in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts, vielleicht – wie die meisten Heldenepen – im bairisch-österreichischen Raum.77 Er nimmt Bezug auf die Nibelungensage, gehört insofern auch in die Rezeptionsgeschichte des ‚Nibelungenlieds‘. Zahlreiche Handschriften besonders des 15. und 16. Jahrhunderts und fünf, nach Inhalt und Umfang stark divergierende Fassungen lassen erkennen, dass das Epos eine beliebte Lektüre des späten Mittelalters war, an dessen Überlieferung alle deutschen Landschaften Anteil hatten. Kriemhild, die Tochter des Burgundenkönigs Gibich, besitzt zu Worms einen prächtigen Rosengarten, bewacht von den zwölf stärksten Helden und Riesen, darunter Hagen, Volkêr, Ortwîn, Walther und ihrem Verlobten Sivrit. Sie wünscht, dass Sivrit sich im Kampf mit dem Berner messe, und so lässt sie diesen durch einen Trutzbrief herausfordern. Dietrich nimmt die Herausforderung an und zieht mit elf Helden an den Rhein. Dem Sieger winken als Lohn ein Rosenkranz und ein Kuss Kriemhilds. In zwölf Einzelkämpfen tritt 76
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Zeitz, Dombibliothek, cod. 60. Der Schreiber nennt sich Johannes Walß. Formen wie kreßekâmer für mhd. tresekamere ‚Schatzkammer‘ zeigen, dass er manches nicht mehr verstand. Zur Handschrift vgl. Bastert (Anm. 71), S. 208, zur Sprache Beck (Anm. II, 68), S. 268 f. Die Handschrift, offenkundig die wenig sorgfältige Kopie einer älteren Vorlage, enthält noch Philipps ‚Marienleben‘, das in Thüringen eine durch mehrere Handschriften bezeugte Bearbeitung erfahren hat, und die Zeno-Legende. Ihr Programm scheint ein heilsgeschichtliches zu sein; von Interesse war wohl eher das hagiographische Potential des heiliggesprochenen Kaisers als die chanson de geste-Tradition. Um die Mitte des 14. Jh. wurde die Karlsverehrung durch Karl IV. erneuert (Gründung des Ingelheimer Karlsstifts 1354). Ed.: Die Gedichte vom Rosengarten zu Worms. Hg. von Georg Holz. Halle 1893. Ndr. Hildesheim, New York 1982. Im Anschluss an die handschriftliche Überlieferung nennt man das Gedicht auch ‚Großer Rosengarten‘ zur Unterscheidung vom ‚Kleinen Rosengarten‘, dem Heldenepos ‚Laurin‘. Vgl. Heinzle (Anm. IV, 175), S. 169–187.
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je ein Berner gegen einen der Hüter des Rosengartens an. Auf Wormser Seite kämpfen vier Riesen, vier Helden und vier Könige; der letzte und wichtigste Kampf wird von Dietrich und Sivrit ausgetragen. Hildebrand schlägt Dietrich mit der Faust in den Mund, was diesen so zornig macht, dass er den Kampf aufnimmt, und als die Berner – eine zweite List – ihm zurufen, dass Hildebrand nicht mehr am Leben sei, gerät er in solche Raserei, dass ihm eine Flamme aus dem Mund schlägt, sodass sein Feueratem die Hornhaut des Gegners erweicht und er Sivrit, den Kriemhild vor seinen tödlichen Schlägen schützt, überwinden kann. Dem Epiker, einem belesenen Dichter, ging es um das Kräftemessen der beiden großen Sagenhelden, wobei seine Sympathie unverkennbar Dietrich gehört und Kriemhilds Verhalten eine kritische Bewertung erfährt. Er benutzte das ‚Nibelungenlied‘, mit dem er sich indirekt auseinandersetzt, und aventiurehafte Dietrichepen wie die ‚Virginal‘, der das Motiv des Zwölfkampfs entstammt. Zwei Fassungen des Gedichts sind im östlichen Mitteldeutschland, wahrscheinlich in Thüringen, zu lokalisieren: um 1270/80 die Fassung P und die nur trümmerhaft in drei Fragmenten des 14. Jahrhunderts überlieferte Fassung F, die das höfische Moment der Erzählung stark betont.78 Wie das Epos aus dem Süden nach Mitteldeutschland gelangte und wo und in wessen Interesse jene Bearbeitungen entstanden, ist unbekannt. Man kann sich vorstellen, dass es zum Repertoire wandernder Berufsdichter gehörte, die es auch an kleineren Adelssitzen vortrugen.79 Schon die Forschung des 19. Jahrhunderts vermutete, „irgendein Spielmann“ habe eine ‚Laurin‘ und ‚Rosengarten‘ enthaltende Handschrift „nach Mitteldeutschland“ gebracht.80 Keiner der bisher bekannten Fassungen zuzuordnen ist das erst in jüngerer Zeit entdeckte in mitteldeutscher Schreibsprache geschriebene Fragment R19. Möglicherweise stammt es aus einer Fassung, die vor einem thüringischen Adelspublikum vorgetragen wurde. Bemerkenswert ist jedenfalls, dass hier der bereits im Zusammenhang der Iring-Überlieferung und der ‚Nibelungenlied‘-Tradition erwähnte Landgraf Irnfrit von Thüringen auftaucht. 81
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Von F sind nur Passagen aus dem Anfang des Textes erhalten, insgesamt 30 Strophen. Holz (Anm. 77), S. LXXXIX, bestimmte F, zu der auch das älteste Fragment R2 aus dem Anfang des 14. Jh. gehört (die Handschrift könnte im hessisch-thüringischen Grenzgebiet entstanden sein), als „sicher thüringisch“. P setzte er „in das östliche Mitteldeutschland nahe an die niederdeutsche Sprachgrenze“. Zur Überlieferung vgl. Joachim Heinzle: ‚Rosengarten zu Worms‘. In: VL, Bd. 8 (1992), Sp. 187–192, hier 187 f. Vgl. de Boor (Anm. IV, 32), S. 172. Holz (Anm. 77), S. LXXXIX. Fragment R19: Berlin, SBB PK, Ms. theol. lat. fol. 82, erstes Drittel 14. Jh. Vgl. Bernhard Schnell: Eine neue Fassung des Rosengarten? In: ZfdA 108 (1979), S. 33–55; Heinzle (Anm. 78), Sp. 191. ‚Rosengarten‘ und ‚Nibelungenlied‘ waren also in Thüringen bekannt.
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2. Geistliche und weltliche Spiele Fester Bestandteil des spätmittelalterlichen literarischen Lebens, zumal des städtischen, waren geistliche Spiele, deren Aufführung sich, wie wir aus Chroniken, Briefwechseln, Rechnungen und anderen Quellen wissen, über den gesamten deutschen Sprachraum von der inneren Schweiz bis nach Preußen verteilte. Diese Tradition endete im Allgemeinen mit der Reformation. Heute sind annähernd 200 Texte lateinischer, mischsprachiger und deutscher geistlicher Spiele aus der Zeit vom 13. bis ins 16. Jahrhundert bekannt.82 Sie sind teils vollständig, teils bruchstückhaft überliefert in Handschriften, die zumeist für die Aufführungspraxis bestimmt, mitunter aber auch als Lesehandschrift angelegt waren. Thematisch gruppieren die Spiele sich vornehmlich um die kirchlichen Hauptfeste; danach unterscheidet man Osterspiele, Passions- und Fronleichnamsspiele und Weihnachtsspiele.83 Hinzu treten Dramatisierungen biblischer Szenen wie der Parabel vom Verlorenen Sohn, Legendenspiele (Katharina, Dorothea, Veronika) und eschatologische Spiele. Zwar konzentriert die Überlieferung sich besonders im Rheinfränkisch-Hessischen, in Tirol und in Luzern, doch besitzen wir auch für Thüringen eine stattliche Reihe von Zeugnissen, die die Lebendigkeit dieser Tradition vom frühen 13. Jahrhundert bis an die Wende der Neuzeit belegen. Das früheste Zeugnis verdanken wir Caesarius von Heisterbach. In seiner Elisabeth-Vita berichtet er, auf Augenzeugen gestützt, Ludwig IV. habe vor seinem Aufbruch zum Kreuzzug im Juni1227 „zum Zeichen seiner großen Frömmigkeit“ in Eisenach ein Passionsspiel aufführen lassen; offen bleibt, ob ein lateinisches oder ein volkssprachiges. Wahrscheinlich handelte es sich nicht um eine Osterfeier, sondern um eine aus dem kirchlichen Rahmen gelöste, offenbar mit beträchtlichem Aufwand verbundene Aufführung eines lateinischen Spiels durch Geistliche in der landgräflichen Stadtresidenz.84
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Vgl. das Spieleverzeichnis bei Rolf Bergmann: Katalog der deutschsprachigen geistlichen Spiele und Marienklagen des Mittelalters. München 1986 (Veröffentlichungen der Kommission für deutsche Literatur des Mittelalters der Bayerischen Akad. d. Wiss.), S. 27–34, und Bernd Neumann: Geistliches Schauspiel im Zeugnis der Zeit. Zur Aufführung mittelalterlicher religiöser Dramen im deutschen Sprachgebiet. Bd. 1, 2. München 1987 (MTU 84/85), besonders die chronologische Übersicht S. 64–97. Ein frühes Zeugnis weist überlieferungsgeschichtlich nach Nordthüringen: niederdeutsche Fragmente eines Passionsspiels aus der Mitte des 13. Jh. Der Schreibdialekt ist südostfälisch mit thüringischen Spuren. Aufgefunden wurden sie im Servitenkloster Himmelgarten in Nordhausen, das allerdings erst 1295 gegründet wurde. Vgl. Rolf Bergmann: ‚Himmelgartner (südostfälische) Passionsspielfragmente‘. In: VL, Bd. 4 (1983), Sp. 27–28. „Qui beatus in signum sue magne devotionis in castro Ysennacke per clericos traditionem Salvatoris, passionem et mortem, acsi ea oculis presentialiter intueretur, presentari fecit, eiusdem ludi omnes expensas solvens, sicut ab illis didici qui presentes erant.“ Die Schriften
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Spiele wie das durch Caesarius von Heisterbach bezeugte besaßen vorrangig Gebrauchscharakter und waren erst in zweiter Linie literarische Zeugnisse; auch das verbindet den Texttyp geistliches Spiel mit der Predigt. Zu den späten Zeugnissen gehört die Erwähnung einer solchen Aufführung in Gotha im Jahr 1505 durch Mutianus Rufus, das Oberhaupt des Erfurter Humanistenkreises.85 Die geistlichen Spiele, deren Verfasser grundsätzlich anonym bleiben, wandten sich an höfische, aber auch und zunehmend an städtische Adressaten. Im späten 13. Jahrhundert erwähnt Nikolaus von Bibra in seinem zeitgeschichtlich-satirischen ‚Occultus Erfordensis‘ in der IV. Distinktion, die ein mit Schwank und Anekdote durchsetztes großes Sittenbild der Stadt Erfurt bietet, beiläufig, am Domberg würden in einer Cavate „erfreuliche Schauspiele“ geboten.86 Das zweifellos berühmteste und entsprechend oft zitierte Zeugnis betrifft die Aufführung eines erschütternden Weltgerichtsspiels in Eisenach im Jahr 1321. Nach dem Bericht Johannes Rothes in seiner Landeschronik, die hier der ‚Erfurter Peterschronik‘, dem wichtigsten Werk der Erfurter Geschichtsschreibung im hohen und späten Mittelalter, folgt, gab man in jenem Jahr nach ostern verczehn tage [...] eyn spel czu Ysenache von den funff wyßen unde von den funff torichten jungfrawen, alßo das euwangelium ußwißt. Unde also die funff torichten jungfrawen vortumet worden, da tathen sie czu male clegelichen unde unße libe frawe und die heiligen bathen alle vor sie unde das half allis nicht. [...]. Czu deme spele quam auch landtgrave Friddrich der freidige unde sach das unde bilditte das in sich unde wart czu male czornig unde sprach: ‚Was ist der cristen glawbe, was ist nue unßer hoffenunge? Hilfft nicht, das vor uns sundere unße libe frawe betet unde alle gotis heiligen geflehin mogen! Worzcu dinen wir on? Wurumbe sollen wir sie eren, sollen wir nicht gnade erwerben?‘ Unde bleib also funff tage in großeme ummuthe [...]. Unde do slug on der slag, das her lam wart an eyner sythen, unde die sprache entpfil om, das man on obile vornam. Unde her lebete dar nach wol virdehalb jar unde besatczte sin selgerethe unde starb.87
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des Caesarius von Heisterbach über die heilige Elisabeth von Thüringen. Hg. von Albert Huyskens. In: Die Wundergeschichten des Caesarius von Heisterbach. Hg. von Alfons Hilka. Bd. 3. Bonn 1937 (Publikationen der Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde 43/3), S. 329–390, hier 354, 24–28. Von jenem Spiel ist nichts erhalten; möglich, dass Teile davon in später überlieferten Osterspielen aufgingen. Passionsspiele führte man in Thüringen bis ins 16. Jh. auf, z. B. 1501 in Arnstadt unter Leitung eines Magisters und zweiter Baccalare Anfang Juni nach Pfingsten. Vgl. Neumann (Anm. 82), S. 117 f., Nr. 27–29. Vgl. Neumann (Anm. 82), S. 382 f., Nr. 1849 f. Est ibi caffata prebens spectacula grata. Nikolaus von Bibra (Anm. III, 240), v. 1511. Übers.: „Es gibt dort eine Cavate, in der sich erfreuliche Schauspiele bieten.“ Weigelt (Anm. IV, 148), S. 79, 2–20. Übers.: „... zwei Wochen nach Ostern in Eisenach ein Spiel von den fünf klugen und den fünf törichten Jungfrauen, wie sie das Evangelium hat. Und als die fünf törichten Jungfrauen verdammt waren, erhoben sie heftige Klagen, und
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Rothes wertvoller Bericht ist in mehrfacher Hinsicht aufschlussreich. Er zeigt zunächst, dass Literatur in der Stadt nicht mit bürgerlicher Literatur gleichbedeutend sein muss, waren doch die Akteure des vom Endgericht handelnden Schauspiels die Eisenacher Dominikaner und ihr Adressat der Landgraf mit der Hofgesellschaft. Die Aufführung fand nicht 1322 statt, wie in den Chroniken angegeben, sondern am 4. Mai 1321, was eher zu der Angabe stimmt, der Landgraf habe danach noch dreieinhalb Jahre (virdehalb jar) gelebt.88 Der von Rothe in der Weltchronik genannte Aufführungsort, uf dem plane den man nennet die Rolle, war der Platz vor dem 1160 errichteten Steinhof südlich der Georgenkirche.89 In diesem Gebäude hielten die Landgrafen gelegentlich Hof. Nach Rothes Bericht folgte Ludwig IV. im Jahr 1226 vom Fenster des Landgrafenhofs aus einem Tanzfest.90 Hier also spielten sich Volksleben, Feste und Feiern ab. Die Aufführung dürfte auf dem Marktplatz stattgefunden haben. Es handelte sich mithin um eine Simultanbühne, auf der die Spieler während der gesamten Aufführung ihren festen Platz hatten. Bemerkenswert ist vor allem die Wirkung, die der Chronikbericht der Aufführung zuschreibt. Die gnadenlose Härte, mit der die fünf fatuae (törichten Jungfrauen) von Christus ungeachtet aller Fürbitte Mariens und der Heiligen abgewiesen werden, erschütterte den zu diesem Zeitpunkt bereits körperlich und seelisch angegriffenen Fürsten so heftig, dass er die Aufführung vorzeitig verließ und ein paar Tage später einen Schlaganfall erlitt. Ob der von den Chronisten behauptete Kausalzusammenhang zwischen beiden Ereignissen tatsächlich bestand, lässt sich nicht nachprüfen. Wichtiger ist, dass
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unsere Liebe Frau und die Heiligen baten alle für sie, aber das verschlug gar nichts. [...]. Die Aufführung besuchte auch Landgraf Friedrich der Freidige, und er verinnerlichte, was er sah, und geriet darob in großen Zorn und fragte: ‚Was ist nun Christenglaube wert, und worauf können wir hoffen? Hilft es denn nicht, dass unsere Liebe Frau für uns Sünder betet und alle Heiligen Gottes Fürbitte einlegen? Wozu dienen wir ihnen dann, warum sollen wir sie verehren, wenn wir doch keine Gnade erlangen werden!‘ Fünf Tage lang verharrte er in großer Trübsal. [...]. Da traf ihn der Schlag, sodass er auf einer Seite gelähmt war, und er vermochte kaum mehr zu sprechen, sodass man ihn nur mit Mühe verstand. Dreieinhalb Jahre etwa hatte er noch zu leben, dann machte er seine letztwillige Schenkung und starb.“ Der Bericht der Erfurter Peterschronik in: Monumenta Erphesfurtensia (Anm. 22), S. 117–369, hier. 351, 1–23. Danach zit. bei Neumann (Anm. 82), S. 306, Nr. 1481. Auch dieses Datum stimmt nicht restlos; denn Friedrich der Freidige (auch: „mit der gebissenen Wange“, da seine Mutter ihn der Sage nach im Abschiedsschmerz in die Wange biss), starb am 16. 11. 1323 auf der Wartburg, die er seit 1316 als Residenz bevorzugte. Sein Siechtum setzte 1320 ein, worauf in der Folge seine zweite Gemahlin die Regentschaft ausübte. Auch Stolle setzte im ‚Memoriale‘ (Anm. 65) die Aufführung in das Jahr 1322. Der Bericht in der Weltchronik ist detaillierter, vgl . Liliencron (Anm. 49), S. 547 f., c. 640. Rothes Angabe meint den Platz zwischen Georgenkirche und Franziskanerkloster. Vgl. Liliencron (Anm. 49), S. 358. Der Steinhof übertraf in der Folge die Wartburg an Bedeutung. Vgl. Thüringen (Anm. II, 67), S. 89 f.; Streich (Anm. IV, 83), S. 258 f.
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Geschichtsschreiber wie der Erfurter Chronist im 14. Jahrhundert und Rothe im 15. an ihn glaubten.91 Das zeigt, welche mächtige Wirkung Zeitgenossen und Nachfahren der Aufführung eines geistlichen Spiels auf das Publikum zutrauten. Ziel der Spiele war es, möglichst eindrucksvoll einer Predigt ähnlich zu Reue und Buße zu veranlassen. Dieser Effekt erklärt sich aus der Thematik des Stücks, dessen stoffliche Grundlage die Parabel von den klugen und törichten Jungfrauen im Matthäusevangelium (25, 1 ff.) ist, die in der ‚Erfurter Moralität‘, einem großen Spiel des 15. Jahrhunderts, wiederkehrt. Nach der Lehre von den sechs aetates mundi ist die Menschheit mit dem christlichen Weltalter in die letzte Geschichtsepoche eingetreten, mit Christi Auferstehung hat sie die eigentliche Endzeit erreicht. Diese Thematik war den Menschen seit den Endzeiterwartungen und Weltuntergangsängsten der Jahrtausendwende vertraut, auch aus der Sakralplastik wie der Paradiespforte des Magdeburger Doms (um 1245). Eschatologische Spiele wie das in Eisenach aufgeführte sind paränetisch-didaktisch angelegt: sie wollen dem Zuschauer die Einsicht vermitteln, dass sein künftiges Heilsschicksal von seinem jetzigen Verhalten abhängt.92 Bis in das 16. Jahrhundert waren sie neben der volkssprachigen Predigt wohl das wirksamste Mittel religiöser Laienbeeinflussung. Unsicher, aber auch nicht auszuschließen ist, dass jene in den Chroniken bezeugte Eisenacher Aufführung in Zusammenhang steht mit einem Zehnjungfrauenspiel, das um die Mitte des 14. Jahrhunderts in Nordthüringen entstand und als eines der eindrucksvollsten Weltgerichtsspiele des deutschen Mittelalters gilt und möglicherweise auch auf andere geistliche Spiele wie das ‚Künzelsauer Fronleichnamsspiel‘ wirkte. Das Original ist verloren, erhalten sind nur zwei jüngere Bearbeitungen. Die ältere, ursprünglichere Fassung, die 576 Verse zählt, ist nicht ganz vollständig in einer Mühlhäuser Handschrift überliefert, einer lateinisch-deutschen Sammelhandschrift aus dem dritten Viertel des 14. Jahrhunderts, die auch ein Katharinenspiel enthält; die jüngere, rd. 100 Verse umfangreichere Fassung wurde 1428 in Oberhessen nach einer 91
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Die Frage wird in der Literatur unterschiedlich beantwortet; einen Zusammenhang betonte Patze (Anm. III, 26), S. 74. Vgl. auch den Bericht über die Aufführung des Spiels in der ‚Thüringischen Fortsetzung‘ der ‚Sächsischen Weltchronik‘ (Anm. 6), S. 314, 45–315, 10. Die Eschatologie ist die Lehre von den Letzten Dingen zwischen Tod, individuellem Gericht, das über den Zustand der leibgetrennten Seele entscheidet und sie Himmel, Paradies, Fegfeuer usw. zuweist, und Auferstehung. Seit dem 12. Jh. im System der Theologie verankert, antwortet sie auf die Frage nach der Zukunft des Menschen: Auferstehung der Toten (der vorangehende Zwischenzustand der Seelen wird selten erwähnt), allgemeines Gericht, ewiges Leben bzw. ewige Verwerfung., Die Vollendung beginnt in der siebenten aetas mundi mit Christi Wiederkehr. Die eschatologische Thematik begegnet in den Zehnjungfrauenspielen, die das Schicksal der Seele nach dem Tod gestalten, den Antichristspielen, die das Schicksal der Menschheit vor dem Anbruch des Endgerichts gestalten, und den Weltgerichtsspielen, die den Untergang der Menschheit mit der alten Welt gestalten.
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thüringischen Vorlage abgeschrieben.93 Die dem Original näher stehende Mühlhäuser Fassung wird man einem Kleriker als Verfasser zuweisen dürfen, sie bleibt liturgisch gebunden und enthält die liturgischen Texte vollständig in lateinischer Sprache. Die unabhängig von ihr auf derselben Vorlage fußende oberhessische Bearbeitung ist in einer Lesehandschrift überliefert, die vermutlich für einen Einzelleser bestimmt war. Sie ist theatralisch lebendiger durch gelegentliche Erweiterungen des Textes, die darauf zielen, die Sünden der Törichten zu veranschaulichen. Die lateinischen liturgischen Gesänge sind weggelassen, womit der Wechsel von Melodie- und Sprechgesang entfiel, und die meisten Pantomimen weggelassen oder dialogisiert. Das Spiel will warnen vor der Unerbittlichkeit Christi denen gegenüber, die ihre Aussichten auf das Seelenheil leichtfertig verspielt haben. Zur vorwiegend volkssprachigen Dramatisierung der Evangelienverse treten Maria, Engel und Teufel, auch der Schluss ist hinzuerfunden.94 Das Spiel ist mit vier loca (Bühnenständen) und 19 bzw. 16 Darstellern bescheiden dimensioniert, bleibt jedenfalls weit zurück hinter den Weltgerichtsspielen des 15. und 16. Jahrhunderts. Gott fordert seine „holden“ durch Engel auf, sich bereitzuhalten, zu seiner „grozen hochzit“ zu kommen und zum Zeichen rechten Glaubens brennende Lampen zu tragen (Bräutigam und Hochzeit stehen für Jesus und die Heilsvollendung). Die Klugen, wissend, dass der himmlische Lohn alles irdische Leid hundertfach aufwiegt, verhalten sich entsprechend, worauf Christus ihnen „ewic lon vnd ewic leben“ (v. 200) verheißt. Die törichten Jungfrauen dagegen wollen jetzt und hier leben (als Chiffren ihres sündigen Treibens werden Ball und Brettspiel genannt). Das Geschehen nimmt seinen Lauf; die Törichten werden von Christus abgewiesen, worauf sie sich an Maria wenden, deren Fürbitte jedoch vergeblich bleibt. Nun erscheint Luzifer zusammen mit anderen Teufeln und beansprucht die „vorvluchten“ (v. 299) für die Hölle. Christus stimmt zu und weist eine abermalige Bitte Mariens ab. Die klugen Jungfrauen scheiden verhältnismäßig früh aus der Handlung aus; es folgt noch eine lange Klage der Törichten, die indes an ihrer ewigen Verdammnis nichts mehr ändern kann. Gegen Ende wendet sich ihre Klage an das Publikum: „Nù horet, selgen, dy nù leben: / wy syn vch czù eyme spigele 93
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Ed.: Das Eisenacher Zehnjungfrauenspiel. Hg. von Karin Schneider. Berlin 1964 (Texte des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit 17). Vgl. Hansjürgen Linke: ‚Thüringische Zehnjungfrauenspiele‘. In: VL, Bd. 9 (1995), Sp. 915–918; Bergmann (Anm. 82), S. 255–257, Nr. 114 (Mühlhäuser Handschrift), und S. 90–92, Nr. 33 (Darmstädter Handschrift). Wo Mühlhausen, Stadtarchiv, Ms. 87/20 entstand, bleibt unsicher. In Darmstadt, Hess. Landes- und UB, Hs. 3290, geht dem Spiel der Legendenroman ‚Das Leben der heiligen Elisabeth‘ (f. 1r–211v) voran. Zu den Handschriften vgl. auch die Angaben im MRDH (12. 11. 2011). Die Bibelstellen des lateinischen Textes haben mit dem Gleichnis nur wenig zu tun; sie sollen die Handlung strukturieren und kommentieren.
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gegebyn.“ (v. 470 f.). Hier wird die paränetische Intention des Stücks sehr deutlich, aber nicht erst hier.95 Der Verfasser zeigt die Doktrin des Stücks in ihrer ganzen gnadenlosen Härte: dass jene, die ihr Seelenheil leichtfertig verspielt haben, auf die göttliche Gnade nicht hoffen können. Das Spiel endet mit der Klage der Törichten: „Des sy wy ewiclichen vorlorn“. Das in der Mühlhäuser Handschrift dem Zehnjungfrauenspiel vorangehende, etwas besser überlieferte Katharinenspiel entstand um 1340/50.96 Es dramatisiert in rd. 700 Versen das Leben der hl. Katharina von Alexandrien vom Opfergebot des Kaisers Maxentius bis zum Märtyrertod der Heiligen.97 Der Stoff lässt sich auf die ‚Legenda aurea‘, das ‚Passional‘ und das ‚Buch der Märtyrer‘ zurückführen. Der unbekannte Verfasser, vielleicht ein Erfurter Dominikaner, wollte nicht die vollständige Vita gestalten, sondern nur das Martyrium, das er um Teufelsauftritte und Himmelfahrtszenen erweiterte. Das Stück beginnt mit dem Gebot des Kaisers, seinen „aptgoten“ zu opfern, und endet mit dem Auftritt der Teufel, die, während Katharina mit der Märtyrerkrone himmlischen Lohn empfängt, Luzifer in der Hölle „Maxentium und alle sine rittere und knechte“ (v. 695) übergeben. Die in zehn Teile gegliederte Handlung schreitet rasch voran: Katharina weiß die vom Kaiser herbeigerufenen Gelehrten zu Christus zu bekehren, die Maxentius darauf ins Feuer werfen lässt. Nun soll sie auf einem Rad mit scharfen Messern gemartert werden, doch ein gottgesandtes Unwetter zerschlägt das Folterinstrument. 95
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So sind den Klugen schon eingangs die Worte in den Mund gelegt: „wy sullen in vnser kyntheyt / werbyn vmme eyne sicherheit; / wert iz an daz alder gespart, / we magen vorsùmen dy wirtschaft. / vindit vns der brutegum bereyt, / so werde wy geleyt / in dy vroude, dy nicht ende hat.“ v. 55–61. Ed.: Otto Beckers: Das Spiel von den zehn Jungfrauen und das Katharinenspiel. Untersucht und hg. Breslau 1905 (German. Abh. 24), S. 128–157. Vgl. Heinrich Biermann: ‚Mühlhäuser (thüringisches) Katharinenspiel‘. In: VL, Bd. 6 (1987), Sp. 721–723; Janota (Anm. IV, 210), S. 373 f. Die gelehrte Königstochter demonstrierte, nachdem sie auf Christus verwiesen worden war und sich hatte taufen lassen, in Alexandrien dem Kaiser Maxentius, dass seine Götter Abgötter seien, und widerlegte 50 Philosophen, die er rufen ließ, sodass sie sich zu Chistus bekannten, worauf er sie dem Feuer überantwortete. Sie wurde gegeißelt und in den Kerker geworfen; als sie auf einem Rad gemartert werden sollte, wurde dieses auf wunderbare Weise zerstört. Katharina wurde enthauptet, worauf Engel ihren Leib auf den Sinai trugen und in einen Marmorsarkophag betteten. Katharina, eine der vier virgines capitales, zählte seit dem 14. Jh. zu den 14 Nothelfern, man rief sie an gegen Leiden wie Gehemmtheit der Zunge. Vgl. Keller (Anm. IV, 266), S. 352 f. Im 6./7. Jh. scheint es eine griechische Urfassung der Legende gegeben zu haben, im lateinischen Westen ist sie seit dem 12. Jh. nachweisbar. In deutscher Sprache erscheint sie in Versen seit dem 13. Jh. (‚Passional‘) und in Prosa seit dem 14. Jh. Wohl in der ersten Hälfte des 14. Jh. entstand eine ostmitteldeutsche Katharinen-Passio (rd. 500 Verse), die meist zusammen mit den Legenden von Barbara, Dorothea und Margareta erscheint. Vgl. Peter Assion: ‚Katharina von Alexandrien‘. In: VL, Bd. 4 (1983), Sp. 1055–1073.
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Daraufhin lässt Maxentius sie enthaupten, worauf Engel ihren Leib auf den Sinai befördern. Die Grundidee des geschickt gebauten Märtyrerspiels ist klar: Der Zuschauer wird im Zeichen der göttlichen Gerechtigkeit zur Umkehr nach dem Vorbild der Blutzeugen aufgerufen, zur Überwindung der Welt im contemptus mundi, wobei ihm die Fürbitte der Heiligen eine konkrete Hilfe ist. Während die Märtyrer himmlischer Lohn erwartet, verfallen die Christenverfolger den Schrecken der Hölle. Vermittelt werden Normen wie Demut, Duldung, Keuschheit, Armut und Unterordnung. Das Ensemble umfasst 24 Personen und vier oder fünf Statistengruppen. Die Handlung setzt eine Simultanbühne mit rd. zehn Bühnenständen voraus. Die Darstellungstechnik des Schauspiels ist durch zahlreiche musikalische Einlagen geprägt. Der Verfasser nahm 20 lateinische Gesänge auf, neben den Texten des Katharinenfestes vornehmlich solche, die am Fest plurimum martyrium oder unius virginis verwendet werden konnten. Meist folgt auf den liturgischen Gesang eine paraphrasierende Übertragung in deutschen Versen.98 Einige Lokalangaben sprechen dafür, dass das Spiel für eine Aufführung in Erfurt entstand. Die letzten Verse lauten: „Lucifer respondet: / Ie sit mir lib, wan ir sit risch und drete, / habet uch daz kapellichen vor den greten, / davon sal uch zu lone werde / di fleischdeise an deme Stalberge! / „Ho ho“ clamant omnes etc.“ (v. 698 ff.). Das kapellichen (kleine Kapelle), mit dem Luzifer seine Gesellen belohnt, ist eine ironische Umschreibung für das Drillhäuschen, eine Zuchtanstalt, am Erfurter Domplatz, und mit der deise, einem Ort zum Dörren oder Räuchern von Fleisch und Wurst, ist der Galgen am Stollberg, einer Hinrichtungsstätte im Norden der Stadt, gemeint.99 Manches spricht nun dafür, dass das thüringische Spiel 98
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Nach Renate Amstutz: Die liturgisch-dramatische Feier der Consecratio virginum nach dem Pontifikat des Bischofs Durandus (Ende 13. Jh.). Eine Studie zur Rezeption der Zehnjungfrauen-Parabel in Liturgie, Ritus und Drama der mittelalterlichen Kirche. In: Ritual und Inszenierung. Geistliches und weltliches Drama des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Hg. von Hans-Joachim Ziegeler. Tübingen 2004, S. 71–112, hier 72, könnte dem in der Mühlhäuser Handschrift überlieferten Spiel „ein vollständiges, in sich stimmiges liturgisches Zehnjungfrauenspiel“ vorausgegangen sein. Zu deise f. vgl. DWb II (1860), Sp. 914. Nach Beckers (Anm. 96), S. 5, entstand das Spiel höchstwahrscheinlich in Erfurt. Christian Krollmann: Das mittelalterliche Spiel von der Heiligen Katharina in Königsberg. In: Altpreußische Forschungen 5 (1928), S. 45–50, hier 47, sah in dem Schluss „eine Bosheit der Mühlhäuser Dominikaner gegen Erfurter Geistliche“. Wurde das Spiel am Erfurter Domberg aufgeführt, war dies ein raffinierter Schluss, erlebten die Zuschauer doch, dass die Teufel mitten unter ihnen und sie selbst mit ihrem gottfernen Leben dem Lebensausgang eines Maxentius viel näher waren als dem Idealzustand einer in den Himmel eingegangenen Bekennerin. „Mutmaßungen zu den Aufführungen“ bei Kaspar Königshof: Zur Geschichte des geistlichen Theaters in der Stadt Erfurt und ihrer Umgebung. [...]. Leipzig 1992, S. 112–124. Ein Indiz für eine Erfurter Aufführung wollte Königshof, S. 98, in den zahlreichen Darstellungen Heiliger im Dom sehen.
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identisch ist mit einem Katharinenspiel, das einem Chronikeintrag zufolge zu Pfingsten 1323 auf dem Markt in Königsberg, aufgeführt wurde; als Vermittler wären Thüringer Dominikaner denkbar.100 Auch die im Folgenden zu nennenden Spiele lassen sich nicht auf die Literaturregion Thüringen beschränken. Ein 1391 gefertigter Sammelcodex enthält drei geistliche Spiele thüringischer Provenienz. Die heute in Innsbruck liegende Handschrift ist spätestens seit 1445 im Augustiner-Chorherrenstift Neustift b. Brixen nachweisbar; doch da ihr Entstehungsort nicht bekannt ist, bedürfen die Beziehungen zwischen den Literatur- bzw. Spiellandschaften Thüringen und Tirol der weiteren Klärung. Die in gespaltenem Folioformat von einer Hand geschriebene Papierhandschrift enthält ein Spiel von Mariae Himmelfahrt (f. 1r–34v), ein Osterspiel (f. 35v–50r) und ein Fronleichnamsspiel (f. 51r–59r). Am Rand nachgetragene Regieanweisungen und Rollenbezeichnungen deuten darauf hin, dass sie als Regiebuch dienen sollte. Die Handschrift bietet Abschriften oder richtiger: Bearbeitungen, deren Vorlagen noch der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts angehören.101 Während der thüringische Ursprung der Stücke sich zwingend aus ihrem Schreibdialekt ergibt, wissen wir nicht, ob ein thüringischer Schreiber die Abschrift in Neustift vornahm oder ob ein aus dem mittleren Deutschland stammender Chorherr eine thüringische Vorlage mit nach Neustift gebracht und die Handschrift dort angefertigt hat.102 Die zuverlässige Identifizierung des Schreibers steht 100
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„Eodem anno [1323, R. H.] fuit ludus de beata Katharina Penthe[costen].“ Zit. nach Neumann (Anm. 82), S. 424, Nr. 1984. Für die Aufführung des thüringischen Katharinenspiels in Königsberg könnten intensive Beziehungen zwischen der thüringischen Reichsstadt und dem Ordensland sprechen (es gab zwei Kommenden in Mühlhausen, die meisten Kirchen waren im Besitz des Ordens, und zahlreiche Ordensangehörige stammten aus der Reichministerialität der Stadt). Dann allerdings käme nicht die nach Biermann (Anm. 96), Sp. 721, um 1340/50 entstandene Fassung in Frage, wie sie in der Mühlhäuser Handschrift in Abschrift vorliegt, sondern nur eine frühere. Märtyrerspiele wie das von der hl. Katharina sind seltener bezeugt als etwa Passionsspiele. Faksimile: Die Neustifter-Innsbrucker Spielhandschrift von 1391 (Cod. 960 der Universitätsbibliothek Innsbruck). In Abbildung hg. von Eugen Thurnher u. Walter Neuhauser. Mit einer Bibliographie von Walter Neuhauser u. Sieglinde Sepp. Göppingen 1975 (Litterae 40). Rolf Steinbach: Die deutschen Oster- und Passionsspiele des Mittelalters. Versuch einer Darstellung und Wesensbestimmung nebst einer Bibliographie zum deutschen geistlichen Spiel des Mittelalters. Köln, Wien 1970 (Kölner german. Studien 4), S. 60, hat betont, „daß gemeinhin jede Niederschrift zugleich auch eine neue Bearbeitung bedeutet, eine neue Stufe, die das Spiel in seinem ständigen Wandel erreicht hat“. Wie Innsbruck, UB, Cod. 960 nach Neustift gelangte, ist unbekannt. Vgl. Die NeustifterInnsbrucker Spielhandschrift (Anm. 101), S. 3–18. Den Herausgebern zufolge wurde „die Hs. so gut wie sicher im Kloster Neustift bei Brixen geschrieben“ (S. 8). Anders Jens Haustein u. Winfried Neumann: Zur Lokalisierung der ‚Innsbrucker (thüringischen) Spielhandschrift‘. In: Magister et amicus. Fs. Kurt Gärtner. Hg. von Václav Bok u. Frank Shaw. Wien 2003, S. 385–394, hier 388: „Ob die Handschrift 1391 in Thüringen oder Tirol
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jedenfalls noch aus.103 Ungewiss ist auch, ob eines der drei Spiele, die wahrscheinlich zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten entstanden, je in Neustift aufgeführt wurde.104 Das gegen die liturgische Ordnung vorangestellte Spiel von Mariae Himmelfahrt ist mit 3168 Versen das bei weitem umfangreichste der Sammlung, obwohl die Handschrift den Schluss nur unvollständig überliefert.105 Es ist zudem der älteste und einzige vollständig erhaltene Vertreter dieses Typs. Das durchweg ernste Spiel handelt von Tod, Begräbnis und Himmelfahrt Marias, neben dieses Thema tritt das der Ausbreitung des Christenglaubens nach dem Tod seines Stifters durch die Apostel. Als stoffliche Grundlage dienten apokryphe Werke wie der ‚Transitus Mariae‘ des Ps.-Melito. Ihnen zufolge starb Maria 22 Jahre nach Christi Himmelfahrt. Drei Tage zuvor wurde ihr durch einen Engel aus dem Paradies ihr Tod angekündigt, worauf die Apostel unter Führung des Johannes aus allen Erdgegenden zurückkehrten, sich um ihr Sterbebett versammelten und sie anschließend im Tal zu Josaphat zu Grabe trugen. Drei Tage später wurde sie von ihrem Sohn ins Himmelreich aufgenommen.106 Die Handlung ist in fünf Blöcke gegliedert, deren jeder mit einer Vorrede beginnt. Das Spiel enthält eine Vielzahl lateinischer liturgischer Gesänge aus verschiedenen Marienoffizien.107 Eine Aufführung, die durch
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entstand, ist ungewiß; momentan spricht mehr für Thüringen als für Tirol.“ Vgl. auch Bergmann (Anm. 82), S. 1601–163, Nr. 67. Nach Max Siller: Die Innsbrucker Spielhandschrift und das geistliche Volksschauspiel in Tirol. In: ZfdPh 101 (1982), S. 389–411, hier 389, wurde die Handschrift bald nach 1391 „durch Hermann Smed von Mitteldeutschland nach Neustift gebracht“. Das gilt auch für Aufführungen andernorts. Mit Aufführungen in Neustift rechnete auch Siller (Anm. 103), S. 390. Anders Bergmann (Anm. 82), S. 162: „Entgegen vielfach wiederholten Behauptungen ist festzustellen, daß Aufführungen der drei Spiele nicht bezeugt sind. Es liegen keine Aufführungsnachrichten vor, die mit der Handschrift verbunden werden könnten; die Handschrift selbst ist als Sammelhandschrift sicher nicht unmittelbar zu Aufführungszwecken angelegt worden.“ Ed.: Altteutsche Schauspiele. Hg. von Franz Joseph Mone. Quedlinburg, Leipzig 1841 (BDNL 21), S. 19–106. Der Text bricht mit einem Et cetera ab. Vgl. Bernd Neumann: ‚Innsbrucker (thüringisches) Spiel von Mariae Himmelfahrt‘. In: VL, Bd. 4 (1983), Sp. 403–406; David Brett-Evans: Von Hrotsvit bis Folz und Gengenbach. Eine Geschichte des mittelalterlichen deutschen Dramas. 2. Teil. Religiöse und weltliche Spiele des Spätmittelalters. Berlin 1975 (Grundlagen der Germanistik 18), S. 24–26; Wolfgang F. Michael: Das deutsche Drama des Mittelalters. Berlin, New York 1971 (Grundriß der germ. Philologie 20), S. 110 f. Da der Entstehungsort der Handschrift unbekannt ist, lässt sich die Spitzenposition des Spiels kaum mit der besonderen Verehrung Mariens in Neustift begründen. Vgl. Apokryphen zum Alten und Neuen Testament. Hg., eingeleitet und erläutert von Alfred Schindler. 5. Aufl. Zürich 1993 (Manesse Bibliothek der Weltliteratur), S. 703–720. Zu den Vorstufen des Spiels gehörte vielleicht ein verlorenes lateinisches Spiel. Vgl. Rudolf Heym: Bruchstück eines geistlichen Schauspiels von Marien Himmelfahrt. In: ZfdA 52 (1910), S. 1–56.
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eine Prozession aller Mitwirkenden eröffnet wurde, war überaus aufwendig, sie erforderte eine weiträumige Gerüstbühne mit sechs bis sieben Bühnenständen, mindestens 59 Darsteller und eine Spieldauer von zwei Tagen.108 Das in der Handschrift folgende Osterspiel ist, schon seiner hohen textlichen Qualität wegen, ein wichtiger Vertreter dieses Spieltyps, dessen Mittelpunkt Auferstehung und Höllenfahrt Christi, der Besuch der Frauen am leeren Grab und die Erscheinung Jesu vor Maria Magdalena bilden.109 Die ältere Forschung hat die lateinisch-deutschen und deutschen Osterspiele aus der von acht oder neun Geistlichen aufgeführten dreiszenigen lateinischen Osterfeier, einem liturgischen Typus also, hergeleitet; mit der Zahl der Szenen (z. B. der Krämerszene) und Akteure hätten stufenweise auch Drastik und Komik zugenommen.110 Heute sieht man die Urform des deutschen Osterspiels in einem sieben Szenen umfassenden Osterspiel, das im ostmitteldeutschen Spielgebiet entstand.111 Das thüringische Osterspiel ist mit 1317 Versen 108
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Am ersten Tag führte man die Handlung von der Teilung der Apostel bis zur Bekehrung eines Großteils der Juden auf, am zweiten Tag die von der körperlichen Himmelfahrt Marias bis zur neuerlichen Heidenmission der Apostel und der Bekehrung eines heidnischen Königs und seinem Kriegszug gegen eine jüdische Stadt. Vgl. Hansjürgen Linke: Drama und Theater. In: Die deutsche Literatur im späten Mittelalter (Anm. IV, 89), S. 153–233, hier 201–203. Ed.: Altteutsche Schauspiele (Anm. 105), S. 107–144; Das Drama des Mittelalters. Osterspiele. Mit Einleitungen und Anmerkungen auf Grund der Handschriften hg. von Eduard Hartl. Leipzig 1937 (DLE. Reihe Drama des Mittelalters 2), S. 136–189. Eine befriedigende Edition des Spiels steht noch aus. Vgl. Bernd Neumann: ‚Innsbrucker (thüringisches) Osterspiel‘. In: VL, Bd. 4 (1983), Sp. 400–403; Michael (Anm. 105), S. 69–73. Als Grundlage der Höllenfahrt diente das ‚Evangelium Nicodemi‘. Mit einer Vorstufe des thüringischen Osterspiels offenbar verwandt ist, wie wörtliche Übereinstimmungen belegen, ein fragmentarisch erhaltenes Osterspiel, das im 14. Jh. auf dem Eichsfeld entstand. Vgl. Wilhelm Seelmann: Das Berliner Bruchstück einer Rubinscene. In: ZfdA 63 (1926), S. 257–267; Hansjürgen Linke: ‚Berliner (thüringisches) Osterspiel-Fragment‘. In: VL, Bd. 1 (1978), Sp. 733–734. Beziehungen bestehen auch zu anderen Osterspielen wie dem ‚Wiener Osterspiel‘ und dem ‚Erlauer Osterspiel‘. Vgl. Bernd Neumann: ‚Erlauer Spiele‘. In: VL, Bd. 2 (1980), Sp. 592–599, hier 596. Vgl. Das Innsbrucker Osterspiel. Das Osterspiel von Muri. Mittelhochdeutsch und neuhochdeutsch. Hg., übersetzt, mit Anmerkungen und einem Nachwort versehen von Rudolf Meier. Stuttgart 1962 (RUB 8660), S. 163–172. Die folgenden Zitate nach dieser Ausgabe. Vgl. Ursula Hennig: Die Klage der Maria Magdalena in den deutschen Osterspielen. Ein Beitrag zur Textgeschichte der Spiele. In: ZfdPh 94 (1975), Sonderheft: Mittelalterliches deutsches Drama, S. 108–138, besonders S. 137 f. Hennig lokalisierte jene Urform im ostmitteldeutschen Sprach- und Spielraum. Hans Rueff: Das rheinische Osterspiel der Berliner Handschrift Ms. germ. fol. 1219. Mit Untersuchungen zur Textgeschichte des deutschen Osterspiels. Berlin 1925 (Abh. der Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen. Phil.-hist. Kl. NF 18, 1) hatte noch den umgekehrten Weg, die Wanderung eines im westlichen Mitteldeutschland entstandenen Spiels nach Osten, angenommen. Mit Hennigs Lokalisierung des Urspiels im ostmitteldeutschen Raum ist das von Haustein u. Neumann (Anm. 102), S. 391,
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von beträchtlichem Umfang, und es ist eines der ältesten volkssprachigen Osterspiele. Besonders in den alten Kernszenen wie der visitatio sepulchri (Besuch der Frauen am Grab) verrät sich noch der Zusammenhang mit der liturgisch gebundenen lateinischen Tradition. Die lateinischen Gesänge sind nicht alle ins Deutsche übersetzt, lateinisch abgefasst sind auch die Regieanweisungen. Das deutet auf einen Geistlichen als Verfasser, und sicher entstand das Spiel für ein städtisches Publikum, wobei nach wie vor am meisten für seine Entstehung in Westthüringen, vielleicht in Schmalkalden, spricht.112 Spielleiter und Akteure stammten wahrscheinlich aus den Reihen des niederen Klerus, endet das Spiel doch mit dem Aufruf an die Zuschauer, nun für die Klosterschüler zu spenden: Ouch hatte ich mich vorgessen: dy armen schuler haben nicht czu essen! den sult ir czu tragen braten, schuldern vnd ouch vladen: wer yn gebit ire braten, den wil got hute vnd vmmirmer beraten.113
Die weltlichen Partien des thüringischen Osterspiels sind – ein Zugeständnis an das Unterhaltungsbedürfnis des Publikums – breit ausgeführt, das Teufelsspiel nimmt etwa ein Achtel ein, und die von dem Bibelwort emerunt aromata114 angeregte Mercatorszene (Salbenkrämerszene) umfasst mit rd. 500 Versen über ein Drittel des Spiels, während die Marienszenen zurücktreten. Die Handlung, die um das Jahr 30 im Heiligen Land spielt, ist der Lebenswelt des Publikums angenähert; besonders im Krämerspiel fehlt es nicht an Derbheiten, Schimpfwörtern und Zügen der Unsinnpoesie.115 Wie sich aus manchen Details ergibt, fand die Aufführung nicht mehr im Kirchenraum statt, sondern unter freiem Himmel, wofür über 40 Darsteller und ein Bühnenpodium
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angedeutete schreibsprachliche „hessisch-nordthüringische Substrat“ bzw. eine „hessischnordthüringische Vorlage“ (S. 393) kaum zu vereinbaren. Vgl. Rudolf Höpfner: Untersuchungen zu dem Innsbrucker, Berliner und Wiener Osterspiel. Breslau 1913 (German. Abh. 45). V. 1303–1308. „Zudem hatte ich vergessen: die armen Schüler haben nichts zu essen! Denen müßt ihr Braten zutragen, geräucherte Schinken und dazu Fladen: wer ihnen zuwendet ihre Braten, dem wird Gott beistehen heute und immerdar.“ Meier (Anm. 110). „Dy pristere vnd dy schulere alle“ werden nochmals v. 1312 erwähnt. Auch die Eisenacher Aufführung eines Weltgerichtsspiels am 4. 5. 1321 wurde von clericis et scolaribus getragen. Mc 16, 1: „Und als der Sabbat vergangen war, kauften Maria von Magdala und Maria, die Mutter des Jakobus, und Salome wohlriechende Öle, um hinzugehen und ihn zu salben.“ Rubin auf die Frage des Salbenkrämers: „Rubin, stampes du dy worcze? / Rubin dicit: / Neyn, herre, ich stampphe eßels fFrcze!“ (v. 816 ff.). Übers.: „Rubin, stampfst du die Wurzeln? Rubin spricht: Nein, Herr, ich stampfe Eselsfurze!“
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erforderlich waren.116 Dass vor einem städtischen Publikum gespielt wurde, zeigt besonders das ständesatirische Teufelsspiel. Aufgebracht darüber, dass Christus die „selen“ aus der Hölle befreite, beauftragt Luzifer seinen Gesellen Sathanas, ihm neue Seelen zuzuführen, und nun erscheinen auf der Bühne nacheinander die Repräsentanten zahlreicher Stände vom Papst bis zum Klatschweib. Alle sind sie betrügerisch und ehrlos, alle müssen sie ein Sündenbekenntnis ablegen und in die Hölle einziehen, wobei besonders viele Vertreter städtischer Berufe auftreten wie Bierschenken, Bäcker, Fleischer, Weber und Zimmerleute, aber auch städtische Beamte und hohe Geistliche, während die Bauern fehlen.117 Die Moral: Der Zuschauer soll aller Sünde entsagen. Luzifers Aufzählung potentieller Opfer zeigt die Allgegenwärtigkeit des Teufels, vor dem niemand sicher sein kann, weder die Handwerker noch die Vertreter der unehrlichen Berufe, weder Pfaffen noch Mönche, nicht einmal der Papst in Avignon. Das Kirchenfest Fronleichnam war ein junges Kirchenfest. Eingeführt 1246 durch Urban IV., fand es erst seit dem frühen 14. Jahrhundert allgemeine Verbreitung. Hauptkennzeichen des am Donnerstag nach Trinitatis begangenen Fests war eine von Klerikern und Laien gemeinsam begangene prunkvolle Prozession. Die aus dieser letztlich erwachsenen Spiele, die von ihrer heilsgeschichtlichen Funktion her den Passionsspielen nahestehen, mit denen sie sich auch thematisch überschneiden, waren mithin eine junge Gattung. Sie ruhen nicht auf lateinischer Grundlage, sondern treten von Anfang an in volkssprachiger Gestalt auf. Ihre Überlieferung ist spärlich und trümmerhaft. Das thüringische Spiel (756 Verse), das man traditionell in Ostthüringen (Rudolstadt, Blankenburg) lokalisiert und noch dem 14. Jahrhundert zuweist, ist der älteste Vertreter des Typus, zugleich der einzige vollständig erhaltene Text.118 Es steht noch in engem Zusammenhang mit dem Gottesdienst. Zwar ist es in der Handschrift Ludus de corpore Christi überschrieben, doch handelt es sich nicht um ein Schauspiel mit einer dramatischen Fabel. Es verzichtet ganz 116
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Die Regieanweisung Tunc Lucifer currit ad pallatium, clamans alta voce nach v. 361 enthält mit palatium den terminus technicus für ‚Podium‘. Die geistlichen Spiele wurden gewöhnlich auf dem Markt aufgeführt. Man spielte zu ebener Erde auf einer abgegrenzten Spielfläche oder auf einem hölzernen Bühnenpodium in der Mitte des Platzes, während die Zuschauer die Bühne stehend oder sitzend umlagerten. Lucifer: „brenge mir den byrschencken, / [...], brenge mir den becken mit dem wecke / [...], / den fleyshewer mit der kw / vnd den webir dar czu, / brenge mir ouch den czymmerman“ (v. 408–414). Ed.: Altteutsche Schauspiele (Anm. 105), S. 145–164. Vgl. Bernd Neumann: ‚Innsbrucker (thüringisches) Fronleichnamsspiel‘. In: VL, Bd. 4 (1983), Sp. 398–400; David Brett-Evans: Von Hrotsvit bis Folz und Gengenbach. Eine Geschichte des mittelalterlichen deutschen Dramas. 1. Teil. Von der liturgischen Feier zum volkssprachlichen Spiel. Berlin 1975 (Grundlagen der Germanistik 15), S. 148–151; Michael (Anm. 105), S. 122–124.
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auf dramatische Aktion und reiht lehrhafte Monologe und Wechselgespräche aneinander, die von Adam und Eva, die als Vertreter des sündigen Menschen fungieren, je zwölf Propheten und Aposteln, Johannes dem Täufer, den Heiligen Drei Königen und dem Papst gesprochen werden. Gleichsam als exegetische Schlusspredigt dienen die Worte des Papstes, die noch einmal den kultisch-kirchlichen Charakter der Aufführung betonen.119 Im Mittelpunkt des Spiels stehen Betrachtung und Verehrung des Sakraments: erläutert werden soll die innere Handlung der Messe, insbesondere das Dogma der Transsubstantation. Propheten und Apostel sprechen je paarweise, die Propheten wiederholen ihre Voraussage von Christi Geburt, und jeder Apostel trägt einen Satz des Glaubensbekenntnisses vor. Die Absicht der theologischen Didaxe ist also stark ausgeprägt. Das thüringische Fronleichnamsspiel ist ein Prozessionsspiel, strukturiert als eine Revue von Auftritten und monologartigen Reden. Die vorüberziehenden Personen stehen nicht in handlungsmäßigem Zusammenhang, es gibt nicht einmal dialogischen Austausch zwischen ihnen. Die prozessuale Form ermöglichte zugleich den Verzicht auf jegliche Art von Bühne. Die Akteure defilieren an dem als rector processionis fungierenden Priester vorbei, der die Hostie hält, auf die ihre Reden Bezug nehmen. In seiner Vorliebe für die systematische Unterweisung in Glaubenswahrheiten zeigt das Fronleichnamsspiel geistige Verwandtschaft mit der ‚Erfurter Moralität‘, einem allegorischen Spiel des 15. Jahrhunderts. Woher stammen die Vorlagen der drei Spiele, die die Innsbrucker Handschrift in überarbeiteter Gestalt vereint? Dass die Stücke zeitgleich und an einem Ort von einem Autor verfasst worden wären, ist wenig wahrscheinlich. Als sicher darf gelten, dass sie etwa ein halbes Jahrhundert vor der Handschrift, die vielleicht als eine Art Arbeitsmanuskript dienen sollte, auf das man für künftige Aufführungen zurückgreifen konnte, in Thüringen entstanden. Für das Spiel von Mariae Himmelfahrt vermutet man Entstehung im Hennebergischen, vielleicht in Schmalkalden. Das Osterspiel könnte „irgendwo im östlichen Thüringen“ entstanden und dann ins Hennebergische gelangt sein, wenn es nicht auch dort verfasst worden sei.120 Die Sprache des Fronleichnamsspiels weist, wie erwähnt, nach Ostthüringen. Neuerdings lokalisiert man alle drei Spiele im östlichen Thüringen.121 Diese Annahme bedarf indes noch 119
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„nue fallet alle uff uwir knye, / dye got gesamment hat alhye, / hebit uf uwir hende / und bit en umm eyn gut ende, / daz wir nymmer mueßen ersterben, / wir mußen gotes hulde erwerben, / daz uns sin heylger lychnam werde gegeben / czue eynem geleyte in daz ewige leben.“ Altteutsche Schauspiele (Anm. 118), v. 747–754. Höpfner (Anm. 112), S. 44. Zur Sprache von Schreiber und Dichter vgl. S. 3–28 und 28–38. Nach Haustein u. Neumann (Anm. 102), S. 391, ist die Schreibsprache des Osterspiels wie des Spiels von Mariae Himmelfahrt eher als ins Hennebergische „ins Ilm- oder Ostthüringische zu lokalisieren“.
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weiterer Fundierung.122 Die Spiele der Innsbrucker Handschrift sind nicht die einzigen, deren Entstehungsregion noch nicht endgültig geklärt ist.123 Das in der Innsbrucker Handschrift ohne Schluss überlieferte Spiel von Mariae Himmelfahrt endet mit der Zerstörung Jerusalems durch den römischen Kaiser Titus.124 Dasselbe Thema war auch Gegenstand eines älteren, nur bruchstückhaft erhaltenen thüringischen Legendenspiels, das jedoch eine vom Legendeninhalt stark abweichende Gestaltung des Stoffs bietet. Wahrscheinlich begann es mit der Veronikalegende und endete mit der Bestrafung Neros durch Vespasian und Titus wegen der Verfolgung der Apostel.125 Bei den ‚Gothaer (thüringische) Botenrolle‘ benannten Bruchstücken handelt es sich um zwei nur schwer lesbare Blätter einer Papierhandschrift aus der ersten 122
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Haustein u. Neumann (Anm. 102), S. 393 f., resümierten: „Die Lokalisierung der ‚Innsbrucker (thüringischen) Spielhandschrift‘ ins Hennebergische, speziell Schmalkalden, ist aufzugeben. Die Schreibsprache der Handschrift verweist, möglicherweise auf einer hessischnordthüringischen Vorlage fußend, in den ostthüringischen Sprachraum (zwischen Saalegrenze und Altenburg). Da die omd. Herkunft etwa des ‚Innsbrucker Osterspiels‘ von Höpfner bis U. Hennig und darüber hinaus opinio communis der Forschung ist, rückt der Entstehungsort der Handschrift dem des Spiels nun deutlich näher.“ Hier bleiben Unschärfen wie die Alternative Ilmthüringisch – Ostthüringisch, und mit der hessisch-nordthüringischen Vorlage klingt die alte These von der westmitteldeutschen Provenienz des Osterspiels nach, während Hennig (Anm. 111) gerade die Ausstrahlung einer ostmitteldeutschen Spielkultur „nach Westen“ (S. 138) betonte. Ihr Urteil stützt auch nicht eine Lokalisierung des Spiels östlich der Saale, sprach sie doch ausdrücklich von einem „Spiel aus dem westlichen Thüringen“ (ebd.). Im Jenaer Repertorium zur Überlieferung deutscher Literatur des Mittelalters aus dem thüringischen Raum (14. 5. 2011) ist ohne nähere Angaben das Berliner ‚Alexiusspiel‘Fragment aufgeführt: 268 Verse eines wohl umfangreicheren Legendenspiels, eingetragen in die Handschrift, die das ‚Berliner (rheinische) Osterspiel‘ enthält. Ed.: Rueff (Anm. 111), S. 207–216. Die Handschrift, heute Berlin, SBB PK, mgf. 1219, wurde 1460 wahrscheinlich in Mainz von einem Helffricus geschrieben. Bergmann (Am. 82), S. 66, bestimmte ihre Schreibsprache so: „Rheinfränkisch, nach H. Rueffs eingehender Untersuchung weist die Sprache in das nördliche Rheinhessen und den Rheingau, also in das Gebiet um Mainz.“ Dieselbe sprachliche Einordnung im MRDH (14. 5. 2011). Vgl. auch Hans-Friedrich Rosenfeld: ‚Alexius‘. In: VL, Bd. 1 (1978), Sp. 226–235, hier Sp. 232 f. Solange keine neueren Erkenntnisse vorliegen, muss es bei der Einordnung des ‚Alexiusspiel‘-Fragments in den rheinfränkischen bzw. Mainzer Raum bleiben. Den geschichtlichen Hintergrund bildet der durch Übergriffe der römischen Behörden in Judäa hervorgerufene jüdische Aufstand, der i. J. 70 mit der Eroberung Jerusalems und der Zerstörung des Tempels durch Titus endete. Der Stoff begegnet schon Mitte des 12. Jh. in der ‚Kaiserchronik‘. Vgl. Joachim Knape: ‚Zerstörung Jerusalems‘. In: VL, Bd. 10 (1999), Sp. 1545–1549, hier 1548. Ed.: Rolf Bergmann: Die Gothaer Botenrolle. In: Studien zur deutschen Literatur des Mittelalters. Hg. von Rudolf Schützeichel. Bonn 1979, S. 589–609; Edward Schröder: Die Gothaer Botenrolle. In: ZfdA 38 (1894), S. 222–224. Vgl. Hansjürgen Linke: ‚Gothaer (thüringische) Botenrolle‘. In: VL, Bd. 3 (1981), Sp. 116–117; Bergmann (Anm. 82), S. 143, Nr. 59; Königshof (Anm. 99), S. 142–144.
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Hälfte des 15. Jahrhunderts in dem für die Überlieferung geistlicher Spiele des 15. und 16. Jahrhunderts üblichen Schmalfolioformat.126 Erhalten sind mehrere Auftritte eines Boten, der sich mit Anreden an die Apostel Petrus und Paulus, an Pilatus, Titus, Nero, wohl auch Vespasian und immer wieder an das Publikum („Nu horit ir hern mit scha ... / ir ritter vnd ir knechte ...“, v. 16 f.) wendet. Daneben treten Personifikationen wie die Christenheit und Frau Hoffart auf. Von dem zweimal erscheinenden Namen Otteber steht nicht fest, ob er einer Rolle oder (wohl weniger wahrscheinlich) einem Darsteller gehört. Nur wenige Szenen sind allenfalls erkennbar: der Bote bei Veronika, die Zerstörung Jerusalems, die Botschaft des Tiberius an Pilatus. Über den Anlass der Aufzeichnung ist sowenig bekannt wie über eine Aufführung des Spiels, doch wird man mit einer solchen wohl rechnen dürfen, handelt es sich doch um den Auszug eines Einzelrollentextes (der Text des Boten ist nicht vollständig aufgezeichnet, mehrfach besteht er nur aus Schlagversen). Da im Text vom „zweiten Tag“ (alter die) die Rede ist, denkt man an eine mindestens zweitägige Aufführung. In diesem Zusammenhang ist von Interesse, dass im Jahr 1603 in Schmalkalden ein Spiel von der Zerstörung Jerusalems aufgeführt wurde.127 Manche Berührungspunkte mit dem ‚Alsfelder Passionsspiel‘ weisen auch in die Richtung der hessischen Spielgruppe. Das bemerkenswerteste mittelalterliche Spiel thüringischer Provenienz und eines der ungewöhnlichsten Dramen des deutschen Mittelalters überhaupt ist die ‚Erfurter Moralität‘. Der Verfasser ist unbekannt, ebenso die genauere Entstehungszeit des Stücks. Die einzige Handschrift liegt heute in Coburg, aber der Schreiber Heinrich Czun, der seine Arbeit 1448 abschloss, arbeitete wohl in Erfurt. Der Codex, eine sorgfältig geschriebene großformatige theologische Sammelhandschrift, enthält überwiegend mystische und eschatologische Literatur; die ‚Erfurter Moralität‘ ist als reiner Lesetext eingerichtet.128
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Gotha, FB, Chart. B 1582, zwei beschädigte, ursprünglich selbstständige Einzelblätter, gelöst aus einem Bucheinband. Lesbar sind noch rd. 130 mehr oder weniger vollständige Verse. Die Schreibsprache ist im MRDH als ostthüringisch bestimmt (15. 5. 2011). Anders Bergmann (Anm. 82), S. 144: „Thüringisch, wohl aus dem südthüringischen Übergangsgebiet zum Ostfränkischen.“ Auch nach der sprachlichen Bestimmung, die Bergmann 1979 (Anm. 125) vornahm, kommt „das südthüringische Übergangsgebiet zum Ostfränkischen“ (S. 593) in Frage. Vgl. Bergmann 1979 (Anm. 125), S. 597. Coburg, LB, Ms. Cas. 43 (ol. 8789), der erste Teil dat. 1448. Schreibsprache: thüringisch. Das Spiel, die nicht ganz fehlerlose Abschrift einer Vorlage, füllt die Blätter 205ra–273ra, die ander als die übrigen Teile dreispaltig eingerichtet sind. Nach Bergmann (Anm. 82), S. 89, ist „aufgrund des Einbandes Entstehung in Erfurt anzunehmen“ (er trägt die Signatur eines Meister Adam). Abbildung von f. 205r bei Königshof (Anm. 99), S. 128. Das seit 1936 bekannte Spiel, früher auch ‚Spiel von den Frauen Ehre und Schande‘ benannt, ist unediert. Vgl. Hansjürgen Linke: ‚Erfurter Moralität‘. In: VL, Bd. 2 (1980), Sp. 576–582.
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Ungewöhnlich ist zunächst der alles Vergleichbare übertreffende Umfang von rd. 18000 Versen. Nahezu singulär ist ferner der Spieltyp. Moralitäten waren zunächst besonders in Frankreich, England und den Niederlanden verbreitet, in Deutschland dagegen kaum anzutreffen. Zu nennen wäre nur die ein halbes Jahrhundert jüngere ‚Berliner Moralität‘. Moralitäten sind ernste, lehrhafte Spiele. Anders als die letztlich aus dem Gottesdienst erwachsenen geistlichen Spiele dramatisieren sie grundsätzlich nicht biblische oder Legendenstoffe, sondern abstrakte Moralvorstellungen wie Tugenden und Laster, Leben und Tod, Geiz und Nächstenliebe, personifiziert durch handelnde oder redende Figuren. Ein einfaches Beispiel: die menschliche Neigung, dem Verlangen nach Prasserei nachzugeben, wird in der ‚Erfurter Moralität‘ durch einen Wirtshausknecht mit dem sprechenden Namen Slunt (Vielfraß) personifiziert. Die lehrhafte Tendenz des Spieltyps ist offensichtlich, er zeigt die menschliche Seele im Kampf zwischen Tugenden und Lastern, die entweder von den Tugenden gerettet oder durch die Gestalt des Todes mit der eigenen Lebensweise konfrontiert wird. Die allegorische Personifikation war im mittelalterlichen Theater das wichtigste Mittel, dem Zuschauer Einblick in das Innere einer Figur, ihre Seele zu ermöglichen.129 Ungewöhnlich ist endlich der höchst kunstvolle Bau des Spiels. Es besteht aus einem Vorspiel und einer zweigeteilten Haupthandlung, deren erster Teil ein Tugendspiel und deren zweiter eine eschatologische Moralität (Weltgerichtsspiel) bietet.130 Das von Herolden und Knappen eröffnete Vorspiel konfrontiert die von „frauwe ere“ geführten Tugenden, darunter Barmherzigkeit und Gerechtigkeit, und die von Frau Schande angeführten Hauptsünden in Gestalt männlicher Personifikationen, u. a. Ira (Zorn) und Invidia (Neid). Zu ihnen treten wiederum Gruppen zahlreicher Untertugenden und Laster, weitere Personifikationen wie ecclesia, die Evangelisten und Gestalten des Alten Testaments. Der erste Teil der Haupthandlung dramatisiert – was die Behandlung des Stücks im Kontext geistlicher Spiele rechtfertigt – drei biblische Gleichnisse, die die abstrakte Lehre exemplarisch konkretisieren sollen: das Gleichnis von den klugen und törichten Jungfrauen, das vielleicht nicht zufällig in zwei räumlich benachbarten Stücken, dem thüringischen Zehnjungfrauenspiel und hier, erscheint, das vom verlorenen Sohn, das gleichsam das Rückgrat der Handlung bildet, und das vom reichen Mann und armen Lazarus. Mit der Verdammung des Reichen wird das individuelle Gericht (iudicium particulare) 129
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Vgl. Hansjürgen Linke: Figurengestaltung in der ‚Erfurter Moralität‘. Geistliche Dramatik als Lebensorientierung. In: ZfdA 124 (1995), S. 129–142, hier 141. Einen Überblick über die Handlung ermöglicht das Schema bei Hansjürgen Linke: Die Komposition der Erfurter Moralität. In: Medium aevum deutsch. Beiträge zur deutschen Literatur des hohen und späten Mittelalters. Fs. Kurt Ruh. Hg. von Dietrich Huschenbett, Klaus Matzel, Georg Steer [u. a.]. Tübingen 1979, S. 215–236, hier S. 224 f.
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vollzogen, das Jüngste Gericht folgt am Schluss. Durch zahlreiche Eingriffe, u. a. über personelle Gemeinsamkeiten, hat der Autor die drei Gleichnisse zu einer kohärenten Geschehnisfolge zu verknüpfen gewusst. Das im zweiten Hauptteil folgende Weltgerichtsspiel verbindet die drei biblischen Parabeln mit drei außerbiblischen eschatologischen Themen. Am Anfang steht der aus Ps 84, 11 entwickelte Streit der Töchter Gottes (litigatio sororum) der schon gelegentlich der geistlichen Rede ‚Von gotes barmhertzigkeit‘ zu behandeln war und der hier von der Gerechtigkeit entschieden wird. Der reiche Prasser wird zu ewiger Pein verdammt, vergebens fleht er aus der Hölle, sein Leiden zu mildern. Das iudicium generale (Jüngste Gericht) endlich wird am Fatuus, der modellhaften Verkörperung unkluger Lebensführung, und seinen törichten Jungfrauen, vollzogen, die exemplarisch für alle Verdammten stehen. Den Schluss bilden die nicht endenwollenden Wehklagen des Fatuus: Owe jamer, owe leit, owe der grossen bitterkeit, die wir armen dulden. Owe, wir sin von schulden gevallen in ummer wernde not und in den ewiglichin tot. [...]. in der tyffen helle sarg, do uns vilmanig tufel arg so freißlich angesicht. Owe, do werden wir bericht, gespiset mit dem ewigen füre, da wirt uns gnade türe.
Owe, wir vorfluchten, das wir nicht geruchtin Gotis der da unns geschuf. Des müsse wir der tufele ruf myt wuchsin hore schrien. Nu müssen wir vns vorczien der hummelischin wonne. Jhesus die clare sonne ist uns dinster worden. Owe, der engele orden müssen wir iender myden vnd gros jamer lyden, das nymer mag vorswinden.131
Im Zentrum der ‚Erfurter Moralität‘ steht mithin die Frage nach dem rechten Leben. Das Stück will Fragen provozieren, den Zuschauer zum Nachdenken über die rechte Lebensführung anregen. Der Mensch, so zeigt es, hat die Wahl: er kann verstockt sein und bleiben wie der reiche Prasser, vor dessen Tür Lazarus liegt, er kann aber auch Reue und Einsicht zeigen wie der verlorene Sohn (Adolescens). Auch der Sünder also kann auf Erlösung hoffen, wenn er den rechten Weg erkennt und ihn nicht wieder verlässt; insofern will das Spiel den zuschauenden Gläubigen ermutigen. Wie es dem Menschen geht, der verstockt bleibt, demonstriert der Schluss mit dem Gericht, das am Reichen und am Fatuus vollzogen wird: sie verfallen ewiger Verdammnis. 131
Nach der Handschrift, f. 270vc. Aufführungsbelege sind nicht bekannt. Für eine Aufführung wären 154 Akteure ohne Statisten und ca. zwölf Bühnenstände erforderlich gewesen. Zum Spieltyp vgl. auch Ekkehard Simon: Moralität. In: RLW, Bd. 2 (2000), S. 636–638.
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Bei der bereits erwähnten ‚Berliner Moralität‘ handelt es sich um ein erst in jüngerer Zeit bekannt gewordenes Fragment von 112 Versen, das einer um 1500 in ostmitteldeutschem Schreibdialekt geschriebenen Handschrift entstammt.132 Man ordnet den erhaltenen Text einer Moralität zu, als Akteure werden der Tod (Mors), verschiedene Teufel und Hauptsünden wie Hoffart, Luxuria und Avaritia deutlich. Die Dialoge sind in deutscher, die Regieanweisungen in lateinischer Sprache abgefasst. Parallelen zur ‚Erfurter Moralität‘, die teilweise bis in den Wortlaut reichen, lassen vermuten, dass das ein halbes Jahrhundert ältere Stück von dem unbekannten Verfasser ausgeschrieben wurde. Beide Spiele zusammen zeigen, dass der Spieltyp Moralität im ostmitteldeutschen Raum offenbar während des 15. Jahrhunderts fortlebte, also weniger selten war, als früher angenommen. An die Grenze des Mittelalters führt das ‚Spiel von Frau Jutten‘, eine Dramatisierung der fabulösen Überlieferung von der Päpstin Johanna in 1724 Versen. Wir kennen es nur aus einem Druck, den der Mühlhäuser Reformator Hieronymus Tilesius 1565 bei Andreas Petri in Eisleben herausbrachte, um dem „christlichen Leser“ seiner Zeit in den konfessionellen Auseinandersetzungen zwischen Protestanten und Katholiken die Augen über Abgötterei und Irrlehren der Papstkirche zu öffnen. Sind die Angaben der Vorrede zuverlässig, wurde das Spiel in den frühen 80er Jahren des 15. Jahrhunderts von Dietrich Schernberg in der Reichsstadt Mühlhausen verfasst.133 Dort ist der Verfasser zwischen 1483 und 1502 urkundlich bezeugt als kaiserlicher Notar und als Vikar an der Johanniskapelle.134 Sein Spiel ist ein Legendenspiel,
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Berlin, SBB PK, Fragm. 244. Das Fragment stammt wahrscheinlich aus einem Bucheinband. Das für die Handschrift verwendete Papier wurde um 1470/80 in Süddeutschland hergestellt, fand aber auch im mitteldeutschen Raum Verwendung. Ed.: Renate Schipke: Die ‚Berliner Moralität‘. Ein unbekanntes Fragment aus dem Bestand der Deutschen Staatsbibliothek. In: Studien zum Buch- und Bibliothekswesen 4 (1986), S. 36–45. Vgl. dies.: ‚Berliner Moralität‘. In: VL, Bd. 11 (2004), Sp. 238–239; Bergmann (Anm. 82), S. 58, Nr. 14a; Neumann (Anm. 82), S. 829, Nr. 3611/1. Ed.: Dietrich Schernberg: Ein schön spiel von Frau Jutten. Nach dem Eislebener Druck von 1565. Hg. von Manfred Lemmer. Berlin 1971 (Texte des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit 24). Vgl. Bergmann (Anm. 82), S. 147 f., Nr. 61, und VD 16 ZV 13860. Die von Tilesius wohl weithin unverändert wiedergegebene Handschrift, früher im Stadtarchiv Mühlhausen, ist verloren, sodass über die ursprüngliche Textgestalt wenig auszumachen ist. Nach dem Titelblatt entstand das Spiel 1485, nach der Vorrede 1480; in diesem Jahr soll es auch gespielet und agiert worden sein. Das Fehlen von Aufführungsbelegen besagt nicht viel. Eine Aufführung auf der Simultanbühne erforderte vier loca (Paris, Rom, Hölle, Himmel) und gut zwei Dutzend Rollendarsteller und Statisten, größere Partien wurden wohl mit musikalischer Begleitung gesungen. Schernbergs ursprünglich wohl dem niederen Adel angehörende Familie ist zwischen 1310 und 1449 in Mühlhausen und Erfurt nachweisbar. Vgl. Richard Haage: Dietrich Schernberg und sein Spiel von Frau Jutten. Diss. Marburg 1891, S. 11–17. Bei Hansjürgen Linke:
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zugleich ein Teufelsbündnerspiel, auch wenn ein Teufelspakt im Stück nicht ausdrücklich geschlossen wird. Mit der Erzählung von der Päpstin Johanna (im Spiel: Bapst Jutta), die im späten 9. oder auch im späten 11. Jahrhundert zwei Jahre regiert haben soll, griff er einen Stoff auf, der, seit dem späteren 13. Jahrhundert in Geschichtswerken wie der ‚Weltchronik‘ des Heinrich von München tradiert, mit der Aura eines authentischen historischen Geschehens umgeben war und erst im 19. Jahrhundert als Papstfabel erkannt wurde. In Thüringen begegnet er früh schon in der Erfurter Minoritenchronik und noch anderthalb Jahrhunderte später volkssprachig in Rothes Weltchronik.135 Jutta wird ein Opfer ihrer übergroßen Klugheit und Eitelkeit und von ihrem Verlangen nach Anerkennung in die Arme des Teufels getrieben, der sie verführt, indem er ihre, ihm bekannten, geheimen Wünsche erfüllt. Zunächst geht Jutta in Männerkleidern136 als Iohan von Engelland zusammen mit ihrem Geliebten an die Hohe Schule zu Paris, wo sie den Doktorgrad erwirbt. Später erlangen beide in Rom einen Kardinalshut, wird Jutta gar zum Papst erhoben. Doch das päpstliche Glück währt nicht lange. Als Jutta einen jungen Römer durch einen Exorzismus vom Teufel befreien soll, scheut sie vor diesem zurück, und als der Teufel Vnuersün (der Unsinnige) sich bedrängt fühlt, stellt er sie schließlich mit den Worten bloß: Nu höret zu alle gleich / Die hie in diesem saal gesamlet sind / Der Bapst der tregt fürwar ein Kind / Er ist ein Weib vnd nicht ein Man / Daran solt jhr kein zweiffel han. Darumb seid jhr jemmerlich betrogen / Vnd mit blindheit vmbzogen.137
Von Christus vor die Alternative gestellt, ewigen Tod oder weltliche Schande zu wählen, entscheidet Jutta sich für die weltliche Schande. Umgehend findet
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Schernberg, Dietrich. In: VL, Bd. 8 (1992), Sp. 647–651, hier 547, klingen wie schon bei Reinhold Bechstein in der Frühzeit der Forschung Zweifel an Schernbergs Autorschaft an. ‚Chronica minor‘: Fuit et alius pseudopapa, cuius nomen et anni ignorantur. Nam mulier erat. Monumenta Erphesfurtensia (Anm. 22), S. 486–704, hier 618. Hier wie in anderen älteren Quellen fehlt der Name Johanna. Die Datierung des Geschehens schwankt zwischen der Mitte des 9. Jh. und dem 11. Jh. Vgl. Achim Thomas Hack: Päpstin Johanna in Thüringen. In: ZThG 65 (2011), S. 7–24; Elisabeth Gössmann: Mulier Papa. Der Skandal eines weiblichen Papstes. Zur Rezeptionsgeschichte der Gestalt der Päpstin Johanna. München 1994 (Archiv für philosophie- und theologiegeschichtliche Frauenforschung 5), S. 86–91. Dt 22, 5 heißt es: non induetur mulier veste virili nec vir utetur veste feminea abominabilis enim apud Deum est qui facit haec. – „Eine Frau soll nicht Männersachen tragen, und ein Mann soll nicht Frauenkleider anziehen; denn wer das tut, der ist dem Herrn, deinem Gott, ein Greuel.“ Ein schön spiel von Frau Jutten (Anm. 133), v. 756–762.
2. GEISTLICHE UND WELTLICHE SPIELE
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sich der Tod ein, Jutta stirbt bei der Geburt ihres Kindes auf offener Straße, und der Teufel Vnuersün holt ihre Seele. Doch da sie alle Qualen in festem Glauben insbesondere an die Gottesmutter erträgt, vermögen deren inständige Bitten und jene des hl. Nikolaus Christus schließlich zur Gnade bewegen. Nun befreit Michael ihre Seele aus der Hölle und geleitet sie in den Himmel. Das Spiel besitzt einen überlegten, ausgewogenen Bau, indem es zunächst die weltliche Karriere der Heldin darstellt und dann, in gegenläufiger Bewegung, ihr Seelenschicksal.138 Schernberg war ein belesener Autor; für sein Spiel zog er eine größere Zahl von Quellen heran, darunter Johannes Rothes Weltchronik.139 Ausgiebig bediente er sich, wie dies üblich war, bei anderen Spielen: einem in mehreren Fassungen verbreiteten Spiel über den Teufelsbündner Theophilus, dem thüringischen Zehnjungfrauenspiel und mehreren Osterund Passionsspielen. Das Juttenspiel ist sehr unterschiedlich beurteilt worden. Gottsched, der es 1765 als literarische Rarität druckte, hielt es für das älteste deutsche Trauerspiel, während man es später in die Nähe der Fastnachtspiele rückte, aber auch an eine Satire auf den Klerus dachte. Am nächsten steht es einem Legendenspiel wie dem ‚Theophilus‘, wobei an seiner Tendenz kein Zweifel besteht: Kein Sünder soll an der unerschöpflichen Gnade Gottes und der Heiligen verzweifeln, auch dem ärgsten gilt Erlösungsgewissheit. Mit dieser Botschaft bildet es ein Gegenstück zum thüringischen Zehnjungfrauenspiel, das mit der gnaden- und bedingungslosen Verdammung der fünf Törichten endet, an der selbst die wunderbare Macht der Gottesmutter nichts zu ändern vermag. Die Vermutung, Schernberg habe einen bewussten Gegenentwurf zu diesem Spiel beabsichtigt, lässt sich nicht beweisen; doch ist anzunehmen, dass dem Mühlhäuser Autor das in einem Mühlhäuser Codex überlieferte Zehnjungfrauenspiel bekannt war.140 Im Juttenspiel obsiegt im Streit zwischen Iustitia und Misericordia über die Bewertung der unvergleichlich viel schwereren Sünden 138
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Vgl. Hansjürgen Linke: Bauformen geistlicher Dramen des späten Mittelalters. In: Zeiten und Formen in Sprache und Dichtung. Fs. Fritz Tschirch. Hg. von Karl-Heinz Schirmer u. Bernhard Sowinski. Köln, Wien 1972, S. 203–225, hier 209–213. „Alsso man zalte noch Cristus gebort 856 jar do starp Rabanus der bischouf zu Mentze. Dornoch wart ein babist der hiess Adrianus der ander, der loste den keisser Lotharium uss dem banne. Noch deme qwam eynn babist der hiess Johannes, der was von Mentz, der was drethalp jar eynn babist. Diesser babist was eyn weip. unde do sie jungk was, do furte sie eyner yn mannescleidern mit om zu Athenas zu schule unde do lernete sie vil kunste, unde wart alsso behende, das man nyrgen do yren gleichen vant. Do qwam sie keigen Rome unde lass zu schule unde erkreigk alsso eynen grossen lumunt, das man sie zu babiste koss. unde do beslieff sie eyner ir dyner, das sie tragende wart. do sie die zeit der gebort nicht enwoste unde do sie von sente Petir keigen Latheran zoch, do gebar sie eyn kynd underwegen unde sie zubarst mit dem kynde.“ Liliencron (Anm. 49), S. 168. Vgl. Haage (Anm. 134), S. 48 f.
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V. SPÄTMITTELALTER
Juttas die Barmherzigkeit, vermag Maria mit ihrer Fürbitte zusammen mit dem hl. Nikolaus Christus zur Gnade zu bewegen. Die abschließenden Worte Christi glorifizieren noch einmal Maria: „Wenn Maria die liebe Mutter mein / Hat dir gethan jhre hFlffe schein / Mit dem heiligen Nicolao.“141 Das Juttenspiel ist ein Zeugnis spätmittelalterlicher Marienfrömmigkeit; sein Anliegen entsprach der Marienfrömmigkeit und dem seelsorgerlich-heilspädagogischen Impetus der geistlichen Spiele der Zeit. Dass neben Maria auffällig oft der hl. Nikolaus erwähnt wird, dürfte lokale Gründe haben: Der Heilige erfreute sich in Mühlhausen und Umgebung besonderer Verehrung; in Mühlhausen ist ihm eine Kirche gewidmet, nicht weit entfernt von der Kapelle des Vikars Schernberg.142 Die ganz anderen Ziele, die der Reformator Tilesius, dessen Druck wir die Kenntnis des Juttenspiels verdanken, verfolgte, sind hier nicht mehr zu betrachten. Am Schluss bleibt die Frage nach der Berechtigung des kritischen Urteils vieler Handbücher über die literarische Leistung Schernbergs.143 Tatsächlich hat dieser seinen Stoff mit Geschick gewählt und nicht minder geschickt disponiert und mit seinem Spiel von der Teufelsbündnerin einen neuen Spieltyp geschaffen, der noch in einer Zeit Interesse finden konnte, in der der Fauststoff dramatisiert wurde. Man wird daher eher dem Urteil Haages zustimmen können, der Verfasser sei „nicht unter die Versemacher gewöhnlichen Schlages zu rechnen, an denen das ausgehende Mittelalter so reich war“.144
3. Politische Lieder Mit Heinrich Hetzbold von Weißensee wurde bereits ein Lyriker behandelt, dessen Œuvre insofern exemplarisch für das spätere Mittelalter ist, als sich in ihm der Übergang vom nachklassischen Minnesang zum Gesellschaftslied der Folgezeit abzeichnet. Diese Entwicklung lässt sich indes nicht kontinuierlich verfolgen, wir kennen keine Verfasser von oder Sammelhandschriften mit
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Ein schön spiel von Frau Jutten (Anm. 133), v. 1697–1699. Schon v. 872 erklärt Christus: „So mag jhr Seelen werden rath.“ Die Kirche St. Nikolai, die größte unter den Vorstadtkirchen, liegt vor dem Felchtaer Tor. Vgl. Georg Dehio: Handbuch der Deutschen Kunstdenkmäler. Thüringen. Bearb. von Stephanie Eißing u. Franz Jäger. Berlin 1998, S. 841 f. Vgl. auch Haage (Anm. 134), S. 14. Michael (Anm. 105), S. 105, nannte Schernbergs Stück „eine reichlich unbeholfene Dramatisierung“, und Brett-Evans (Anm. 105), S. 35, „aufs ganze gesehen unbeholfen und leblos“. Der oft wiederholte Vorwurf der unbeholfenen Sprache relativiert sich angesichts des Umstands, dass wir das Stück nur aus einem Druck von 1565 kennen. Haage (Anm. 134), S. 40.
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entsprechender Lyrik aus Thüringen. Stattdessen tritt hier, wie in anderen Regionen auch, seit dem 14. Jahrhundert ein neuer Typus ins Licht der Überlieferung: Lieder, die, oft mit einer Formel wie „Aber so wöln wirs heben an“ einsetzend, mitunter literarisch anspruchslos und über viele Strophen hinweg über Kriege, Schlachten, Fehden und andere Rechtstreitigkeiten berichten oder lobend, tadelnd oder spottend von bekannten Zeitgenossen handeln, wobei sie Partei ergreifen und polemisch zuspitzen, also eher agitatorischen als objektiv berichtenden Charakter besitzen. Als Blütezeit dieser spätmittelalterlichen Gattung gilt das 15. Jahrhundert. Das 19. Jahrhundert verstand diese Lieder als „historische Volkslieder“.145 Dieser wenig brauchbare Begriff beruht ähnlich dem der Volksbücher auf einem romantischen Missverständnis. Denn abgesehen von ihrer vorherrschenden Anonymität haben jene Lieder mit Volksliedern wenig gemeinsam, schon gar nicht eine lange Tradierungsgeschichte. Doch auch neuere Benennungen wie historisches Ereignislied, politisches Lied, historisch-politisches Lied und historisch-politische Ereignisdichtung bezeugen die Schwierigkeiten einer adäquaten Benennung.146 Historisch sind aus heutiger Sicht die Ereignisse, an die die Texte anknüpfen; doch waren dies stets aktuell-gegenwärtige, z. B. der Ausgang einer Schlacht oder der Auseinandersetzung zwischen einer Stadt und ihrem Stadtherrn, sodass eher von aktuellen Liedern zu reden wäre. Um politische Lieder handelt es sich insofern, als die Verfasser Partei nehmen (zumeist für die siegreiche Seite) und Öffentlichkeit herstellen wollen, weshalb man die Texte auch als „gereimte Agitationsliteratur“ hat charakterisieren können.147
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Viele Lieder handeln von den Kriegen der Eidgenossen, Schlachten wie der von Göllheim 1298, später vom Bauernkrieg. Nach wie vor wichtig ist die über 600 Texte vereinende Sammlung: Die historischen Volkslieder der Deutschen vom 13. bis 16. Jahrhundert. Gesammelt und erläutert von Rochus von Liliencron. Bd. 1–5. Leipzig 1865–1869. Ndr. Hildesheim 1966. Karina Kellermann: Abschied vom „historischen Volkslied“. Studien zu Funktion, Ästhetik und Publizität der Gattung historisch-politische Ereignisdichtung. Tübingen 2000 (Hermaea. NF 90), S. 5, hat als Gattungsbezeichnung „historisch-politische Ereignisdichtung“ vorgeschlagen, die auch die Reimpaarreden gleicher Thematik einschließt. Dagegen votierte Volker Honemann: ‚Herzog Casimir von Pommern‘ und ‚Busse von Erxleben‘. Zwei politische Lieder des deutschen Spätmittelalters im Vergleich. In: V. H.: Literaturlandschaften. Schriften zur deutschsprachigen Literatur im Osten des Reiches. Hg. von Rudolf Suntrup, Maryvonne Hagby, Franziska Küenzlen [u. a.]. Frankfurt a. M. 2008 (Medieval to Early Modern Culture. Kultureller Wandel vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit 11), S. 227–245, hier 228, für „politisches Lied“ bzw. „politischer Spruch“. Paul-Gerhard Völker: Das historische Volkslied. In: Winfried Frey, Walter Raitz, Dieter Seitz: Einführung in die deutsche Literatur des 12. bis 16. Jahrhunderts. Bd. 3. Bürgertum und Fürstenstaat – 15./16. Jahrhundert. Opladen 1981, S. 12–37, hier 13. Knapp informierend: Rolf-Wilhelm Brednich: Historisches Lied. In: LexMA, Bd. 5 (1991), Sp. 54–56. Der agitatorische Impetus unterscheidet den Typus „politisches Lied“ von der niederdeutschen
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Die politischen Lieder waren für den sanglichen Vortrag bestimmt, lebten also primär in der Sphäre der Mündlichkeit.148 Wahrscheinlich wurden sie rasch populär und wirkten regional begrenzt, um bald wieder in Vergessenheit zu geraten.149 Eine dichtere schriftliche Überlieferung beginnt erst mit dem 14. Jahrhundert. Eingang in die Liederhandschriften fanden diese Lieder nicht; wenn sie, was nicht selten der Fall war, in Chroniken wie Cyriacus Spangenbergs ‚Mansfeldische Chronica‘ (1572) aufgenommen wurden, handelt es sich mithin um eine sekundäre Rezeption. Gegen Ende des 15. Jahrhunderts kam die Verbreitung in Gestalt von Einblattdrucken hinzu. Dass die Verfasser ihr Ziel, die politische Meinungsbildung zu beeinflussen, in vielen Fällen erreichten, ihre Lieder also eine starke Wirkung entfalteten, ist an mannigfachen Reaktionen ablesbar, an Gegenliedern, Verboten und immer wieder an Repressalien gegenüber den Dichtern, die von Verhör und Arrest bis zu Verbannung und Lynchmord reichten.150 Neben Lieddichtern, die ihren Namen nennen und dann oft als Augsburger, Nürnberger oder Mainzer Bürger identifizierbar sind, zogen andere es daher vor, ein Pseudonym zu benutzen und sich hinter sprechenden Namen wie Heinz Übertwerch (etwa: Heinz Querkopf), Bürenfiendt (Bauernfeind) oder Pfaffenfeind zu verbergen, wenn sie nicht gänzlich in der Anonymität verblieben. Nachweisbar sind Hofdichter ebenso wie Stadtbewohner unterschiedlicher Berufe und Gruppen, Bergleute und Landsknechte, Fahrende, vereinzelt auch Vertreter des niederen Adels. Manche Dichter haben ihre Lieder berufsmäßig verfasst, aber nicht alle Lieder gehen auf einen Auftrag zurück, und kein Liedœuvre besteht ausschließlich aus politischen Liedern. Dass solche Lieder auch in Thüringen verfasst, gesungen und mündlich und schriftlich tradiert wurden, wissen wir vornehmlich aus mittelalterlichen Geschichtswerken. Die ‚Reinhardsbrunner Annalen‘ berichten im Zusammenhang der Kriegszüge, die König Adolf von Nassau nach dem Verkauf der
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Ballade über Elisabeth von Thüringen. Sie erzählt in 21 Strophen vom Abschied Ludwigs IV. von seiner Gemahlin beim Aufbruch zum Kreuzzug 1227, seinem Tod in der Fremde, für den ein „heidnisches Weib“ verantwortlich gemacht wird, der Überbringung der Trauerbotschaft und Elisabeths völliger Abkehr von der Welt. Obwohl erst um 1470 melodielos im ‚Wienhäuser Liederbuch‘ überliefert, dürfte die Ballade in die erste Hälfte des 13. Jh. zurückreichen; die Quellen belegen ein entsprechendes Lied schon für das Jahr 1233. Vgl. Helmut Lomnitzer. ‚Elisabeth von Thüringen‘ (Ballade). In: VL, Bd. 2 (1980), Sp. 494–495. Die Behauptung, die politischen Lieder seien der Fasslichkeit der Melodien wegen in kurzen Strophen gedichtet, ist zu allgemein; denn es gibt auch Lieder in ausladenden Strophenformen. Ähnliches gilt für die Vielstrophigkeit, die Bandbreite reicht von 5 bis zu 77 Strophen. Henze Gutjars Totenklage auf Wilhelm III. von Henneberg-Schleusingen z. B. besaß in Süddeutschland oder am Rhein nicht das Interesse wie in Thüringen und Franken. Der Dichter Has wurde nach dem Tod seines Gönners, des Würzburger Bischofs, von aufgebrachten Bürgern im Main ertränkt. Vgl. Kellermann (Anm. 146), S. 272.
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Landgrafschaft durch Albrecht den Entarteten an das Reich 1294 und 1295 in Thüringen unternahm, von volkssprachigen Liedern, die bis auf den heutigen Tag umliefen: Dicitur etiam et adhuc vulgares clamant cantilene.151 Der Satz wird wörtlich wiederholt in der Chronik des Erfurter Petersklosters, und hier ist ein solches dreistrophiges Lied im Wortlaut wiedergegeben.152 Im frühen 15. Jahrhundert kehrt es dann wieder in Rothes ‚Weltchronik‘, eingebettet in einen Bericht über die Ereignisse.153 Im Spätsommer 1294 brach der König mit einem vornehmlich am Rhein angeworbenen großen Heer von Nürnberg aus nach Thüringen auf, um von dem Land in aller Form Besitz zu ergreifen. Er zog in Erfurt ein, während das Heer vor den Toren der Stadt lagerte, ergriff dann Besitz von der alten Gerichtsstätte Mittelhausen und zog, nachdem er die Reichsstädte Mühlhausen und Nordhausen verpfändet hatte, im Oktober weiter über die Saale und Groitzsch in den Raum Borna – Leipzig. Seine Soldaten verübten unterdessen nach dem übereinstimmenden Bericht der Chronisten Greueltaten („schemeliche wergk“ nennt sie das Lied) an der bäuerlichen Bevölkerung wie an Welt- und Ordensgeistlichen, von denen der König sie vergebens abzuhalten suchte.154 Bei Rastenberg wurden einige der Soldaten nach der Plünderung eines Klosters von Kriegern des Landgrafen ergriffen. Die thüringischen Grafen und Herren – aufs äußerste aufgebracht, waren doch die eigenen „nyfteln unde ander fromer lewte kynder“ geschändet worden – wollten die Übeltäter zunächst hinrichten lassen, entschieden sich jedoch anders. Wie, erzählt die zweite Strophe des Lieds:
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Annales Reinhardsbrunnenses (Anm. II, 88), S. 271. Die ‚Reinhardsbrunner Annalen‘ , die die Zeit von 1152 bis 1181 behandeln, sind nur rekonstruierbar über die sie fortsetzenden ‚Reinhardsbrunner Historien‘ und die im 14. Jh. kompilierte ‚Cronica Reinhardsbrunnensis‘. Zum historischen Kontext vgl. S. 169 f. S. Petri Erfordensis Moderna. In: Monumenta Erphesfurtensia (Anm. 22), S. 150–308, hier 310 f. Vgl. auch das ‚Carmen de Adolfo rege Thuringiam invadente‘ ebd., S. 402–405. Zur Erfurter Geschichtsschreibung Wilhelm Wattenbach u. Franz-Josef Schmale: Deutschlands Geschichtsquellen im Mittelalter. Vom Tode Kaiser Heinrichs V. bis zum Ende des Interregnum. Bd. 1. Darmstadt 1976, S. 405–410; zu Reinhardsbrunn S. 410–414. Vgl. Liliencron (Anm. 49), S. 471–487. Knapper berichtet Konrad Stolle im ‚Memoriale‘ (Anm. 65), c. 137. Er weiß lediglich, dass der Landgraf das Land an König Adolf habe verkaufen wollen, aber nichts von Adolfs Kriegszügen in Thüringen, im Oster- und Pleißenland und Meißen. Zu den historischen Vorgängen Patze (Anm. III, 26), S. 59–63; Leist (Anm. IV, 9), S. 50–67. Vom zügellosen Treiben der königlichen Truppen meint Rothe, „das sulchis dynges yn dutzschen landen vonn cristen lewten nymmer erfaren wart“. Liliencron (Anm. 49), S. 473. Sie hätten erst vom Plündern der Kirchen abgelassen, nachdem der König einige der Übeltäter habe ergreifen und „yrem itzlichen seyne rechte hant abe hawin“ (S. 476) lassen. Vgl. auch Rothes Bericht in der ‚Thüringischen Landeschronik‘, Weigelt (Anm. IV, 148), S. 72, 7–33. Ähnlich die ‚Thüringische Fortsetzung‘ der ‚Sächsischen Weltchronik‘ (Anm. 6), S. 305, 45–307, 13.
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Got mochte syn nicht erleiden, ere buthel liess her sneiden, das waren lesterliche mer. Sie han noch meyme geduncken yre hellir do vortruncken, das on die butel worden ler.155
Während das Lied die Taten der Söldner mit „schemeliche wergk“ nur andeutet, von der Strafe immerhin sagt, dass sie von „Got“ verhängt wurde, beschreibt Rothe diese im Detail: Sie „zougen sie uss bis uf ir underrocke unde liessen on do monchen unde gelzen alle mit eynander, den [!] die sie yn dem dorffe hatten, unde santen die irbarn lewte alsso ungeschatzt deme konige weder ynn das heer zu schabernack unde zu schanden“.156 Die Söldner wurden also entmannt, und zwar (was in Liliencrons Edition kaum deutlich wird) durch den „Gelzenschneider“, den Mann, der die Kastration der Schweine besorgte.157 Am Rhein seien sie, so die letzte Strophe, „obil entphangen“ worden, als „yre weip vornomen, das sie die heller hatten vorloren“ – eine Schmach, der der Tod vorzuziehen sei. Hier wird verständlich, warum der Reinhardsbrunner Annalist sagt, jene Lieder würden gegrölt (clamant). Rothes Bericht erweckt den Anschein, dass der König seinen Feldzug aus Scham über das Treiben seiner Söldner und deren Bestrafung abgebrochen habe.158 Hätte Rothe Recht, wofür indes wenig spricht – eine Bestrafung der rheinischen edeln, die so schmachvoll war, dass ihr noch die ehrlose Hinrichtung am Galgen vorzuziehen wäre („vil besser were gehangen“, 3, 5) –, so wäre jenes Spottlied ein erstaunlicher Beleg für die Wirksamkeit von Ereignisdichtung.159 Vermutlich waren es grell ausgeleuchtete Einzelszenen wie
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Ed.: Liliencron (Anm. 145), Bd. 1, S. 9–10, Nr. 3. Hier nach Liliencron (Anm. 49), S. 478. Liliencron (Anm. 49), S. 477. Zum Verständnis der Stelle vgl. auch Fedor Bech [Rez.]: Düringische Chronik des Johannes Rothe. In: Germania 5 (1860), S. 226–247, hier 239. Vgl. Reinhard Hahn: „Döringerland / du bist ein fein gut Land“. Lieddichtung in Thüringen – Thüringen in der Lieddichtung. In: Mittelalterliche Sprache und Literatur in Eisenach und Erfurt. [...]. Hg. von Martin Schubert, Jürgen Wolf, Annegret Haase. Frankfurt a. M. [u. a.] 2008 (Kultur, Wissenschaft, Literatur 18), S. 230–252, hier 237 f. Ungenau die Ausführungen bei Bertrand Michael Buchmann: „Daz jemant singet oder sait ...“ Das volkstümliche Lied als Quelle zur Mentalitätsgeschichte des Mittelalters. Frankfurt a. M., Berlin, New York 1995, S. 89–92. „do begunde her sich ouch zu schemen unde furchte das om sogethanis hoens mer geschege, dormete seyn koniglicher name yn den landen eynen bosen lumundt gewonne, unde hiess das heer ufbrechen unde zouch vonn Mittelhusen zu Molhusen unde lagk do yn der stat.“ Liliencron (Anm. 49), S. 477. Vgl. Sonja Kerth: „Der landsfrid ist zerbrochen“. Das Bild des Krieges in den politischen Ereignisdichtungen des 13. bis 16. Jahrhunderts. Wiesbaden 1997 (Imagines medii aevi 1), S. 314 f.
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diese, die in der Erinnerung fortlebten und durch Geschichtsschreiber und Dichter tradiert wurden. Rothe zufolge wurden sogleich nach dem Vorgang „vonn dem konige nawe reyen geslagen yn deme lande vonn der untogunt, die seyn gesynde begangen hatte“.160 Aber Rothe hat das Lied kaum „aus dem Volksmund aufgezeichnet“,161 wie Liliencron erwog; er fand es in der Erfurter Peterschronik. Es kehrt wieder in der ‚Chronik der Sachsen und Thüringer‘, die der in kursächsischen Diensten tätige Humanist Spalatin kompilierte, aber nicht zum Abschluss brachte. Spalatin beendet seinen Bericht, „Wie der Romisch konig zùsambt seinem Folck aùs Mulhauwsen ist getriben worden“, mit den Worten, nach Adolfs Abzug seien „Lÿd von dem konig vnnd seinem Folck gemacht, gesùngen vnnd angeslagenn“ worden, „Vnd vnter andernn aùch nachfolgende reÿmenn. Die Edeln von dem Reÿn“, worauf der Liedtext folgt.162 Ein Halbjahrhundert später erscheint das „Thüringisch Liedlin“ noch einmal in Spangenbergs ‚Mansfeldischer Chronica‘.163 Von einer militärischen Aktion in der Zeit des sächsischen Bruderkriegs handelt ein Lied, das die Chronik Hartung Kammermeisters überliefert.164 Hier fand es seinen Platz, weil die Stadt Erfurt jene Aktion erfolgreich bestanden hatte. Über den Dichter heißt es: „In diszen louften was so balde in der stad Erffurthe ein fromder persofant, ein sprecher, der machte so balde ein getichte von den berurten geschichten und mit namen, das die von Erffurthe Waszinburg gewunnen hatten“.165 Kammermeister bezeichnet den Verfasser, der sich am Schluss Rosenberg (v. 243) nennt und in Erfurt offenbar unbekannt war, als persofant (Persevant, frz. poursuivant) und sprecher; wahrscheinlich gehörte er der untersten Stufe der Heroldshierarchie an. Es dürfte 160 161 162
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Liliencron (Anm. 49), S. 477. Liliencron (Anm. 145), Bd. 1, S. 10. Coburg, LB, Cas. 11 (Anm. II, 43), f. 111v. Zit. nach der Online-Ausgabe. Netzadresse: http://spalatin.franconica.uni-wuerzburg.de/login/frame.php (16. 6. 2011). Die Szene kehrt wieder in einem 1600 entstandenen Meisterlied Lied des aus St. Gallen stammenden Nürnberger Meistersingers Benedict von Watt ‚Tiraney K: Adolphi Kriegsvolcks‘. Hier dient sie als Exemplum für die einfache Wahrheit, dass, wer übel handelt, von Gott gestraft wird. Im Repertorium der Sangsprüche und Meisterlieder (Anm. IV, 187), Bd. 13, Tübingen 1989, S. 80, ist die Quelle von 2Wat/167a angegeben mit ‚Thüringische Chronik‘, die von 2 Wat/415 mit ‚Düringische Cronica‘ (S. 161 f.). Vgl. Cyriacus Spangenberg: Mansfeldische Chronica. Der Erste Theil. Von Erschaffung vnd Austheilung der Welt / vnd insonderheit von der Graueschafft Mansfelt [...]. Eisleben. Andreas Petri, 1572, c. 272, f. 319v. Ed.: Die kleineren Liederdichter (Anm. IV, 131). Bd. 3. München 1982, S. 144–150 (zit.); Die historischen Volkslieder (Anm. 145), Bd. 1, S. 443–449, Nr. 96; Reiche (Anm. 61), S. 123–126. Der sog. sächsische (wetttinische) Bruderkrieg zwischen Kf. Friedrich II. dem Sanftmütigen (1428–1464) und seinem Bruder Wilhelm III. dem Tapferen, zwei Söhnen Hzg. Friedrichs IV. des Streitbaren von Sachsen, brach 1446 aus und wurde 1451 beigelegt. Reiche (Anm. 61), S. 123.
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sich um einen Phantasienamen oder ein Pseudonym handeln.166 Das ‚Liedt, wie die Erffurdter Wassinburgk gewonnen‘ handelt von einer Fehde, die Ende 1451 zwischen Landgraf Wilhelm III. dem Tapferen und seinen beiden intriganten Räten Apel III. Vitztum und Bernhard I. Vitztum von Apolda, denen er jahrelang hörig gewesen war, ausbrach.167 Die Vitztume hatten den Landfrieden gebrochen und eine Gesandtschaft, die im Auftrag des Kurfürsten an den burgundischen Hof gereist war, auf dem Rückweg in der Nähe von Naumburg abgefangen und teils in Kapellendorf, das sie von Erfurt zu Pfand besaßen, teils auf der Leuchtenburg gefangen gesetzt. Nun kam es zum Bündnis des Landesherrn mit den Städten Erfurt, Nordhausen und Mühlhausen; man belagerte mehrere Schlösser der Vitztume und verbrannte ihre Dörfer. Wilhelm zog vor Kapellendorf, während die Erfurter sich vor die Wachsenburg legten. Mit drei Batterien schleuderte man Steinkugeln gegen die Mauern, und als die gewünschte Wirkung ausblieb, ließ man Mansfelder Bergleute kommen, die einen Stollen bis unter die Mauer trieben, worauf diese auf einer langen Strecke einstürzte. Das erfahren wir aus der Schilderung Kammermeisters und der in Stolles ‚Memoriale‘.168 Nach drei Wochen wurde
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Ähnliche Heroldsnamen sind Königsberg, Missenland (Herold Mgf. Friedrichs IV. des Streitbaren), Döringerlant (Herold Hzg. Wilhelms des Tapferen). Sprechende Namen begegnen schon in der Sangspruchdichtung und Kleinepik. Für einen Amts- oder Dienstnamen spricht nichts, auch ein Ort wie die Festung Rosenberg über Kronach oder ein Adelsgeschlecht dürfte kaum in Frage kommen. Vgl. Isolde Neugart: Rosenberg: In: VL, Bd. 8 (1992), Sp. 177–179; Kerth (Anm. 159), S. 21 f.; Ursula Peters: Herolde und Sprecher in mittelalterlichen Wappenbüchern. In: ZfdA 105 (1976), S. 233–250. Zum historischen Kontext vgl. Patze (Anm. III, 26), S. 132–139. „XIV. Nu [...] zcogen sie szo balde vor daz slos Wassinburg mit buchszen und mit anderm gezeuge und bestalten das unde logirten sich in das dorf Harhusen am montage nach Martini (15. November) MCCCCLI.c das selbe slos Wassinburg was hertzogen Wilhelms erbe und stundt ern Busszen Vitzthum phands. Nu die selbin von Erffurthe schickten ore buchszen an funf ende umbe das sloz unde schoszin an underlaz tag und nacht daryn. sie hatten ouch bestalt vierczig bergknechte, die zcu dem slosze gruben. dy selbin knechte toden grosze erbeit, so das ynne wenig dren wochen einen groszen gang under der erdin bis under die innerste brucken nahe dem keller hatten gegraben. XV. Als nu dy won Erffurtte das sloz sere hattin zuschossen und ein grosz stucke der muren neddir geleit hattin und vier wochin mynner drier tage davor hattin gelegin, fandt sichs, das sie uf den fritag nach Concepcionis Marie (10. December) das sloz gewunnen und stackten daruffe yr banyr usz unde phiffen unde posunten dy gantze nacht.“ Reiche (Anm. 61), S. 118 f. Vgl. Stolles ‚Memoriale‘, c. 214, Thiele (Anm. 65), S. 272 f. Die eigentliche Pointe ist die Entdeckung der großen Summe an Geld, das die Belagerten in Siefeln, Jacken, Hosen, Sätteln und Helmen verborgen hatten und beim Abzug unbemerkt mit sich führen zu können hofften. „Also wart das uffenbar, unnd griffen sy alle, dy uff der borg worn, unnd satczten sy in den torm in der nacht, unnd besuchten sy, do funden sy by on dryhundert XLII ungerissche gulden, unnd achczeen hundert unnd XXII rinsche gulden, unnd anders geldes also vele, das es macht an der summe meher danne sechs tusent gulden. Unnd dy hatten vor zu den
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die Burg erobert, wobei den Belagerern reiche Beute zufiel.169 Einige Wochen später fielen auch Leuchtenburg, Kapellendorf und Dornburg, belagert vom Landgrafen zusammen mit Erfurter, Nordhäuser und Mühlhäuser Bürgern, und weitere Schlösser. Apel floh nach Böhmen, wo er fortan lebte, auch sein Bruder musste Thüringen verlassen. Von dieser Belagerung erzählt in 244 Versen Rosenbergs Lied.170 Man erinnert sich an das berühmte Lied Oswalds von Wolkenstein ‚„Nu huss!“ sprach der Michel von Wolkenstein‘, doch der Vergleich fällt kaum zugunsten des unbekannten Herolds aus. Thematische Schwerpunkte seines Lieds sind Fürstenmahnung und Städtepreis, immer wieder beschwört er die Wichtigkeit guten Einvernehmens zwischen Fürsten und Städten, lobt die Verlässlichkeit der Städte und schärft dem Fürsten ein, diesen den gebührenden Lohn nicht zu versagen. Der Bericht über die Belagerung beginnt in der Mitte des Lieds: „(J)a Wassinburg / das wart zustort / durch mechtige stett“ (v. 119–121). Auch im Folgenden kehrt Rosenberg mehrfach zurück zu seinem eigentlichen Thema: der stete lob. Von der Belagerung des Raubnestes scheint er nur gehört zu haben: „als ich das han vornommen“ (v. 178). Verglichen mit seinem Lied liest sich der Bericht über die Eroberung der Wachsenburg bei den Erfurter Geschichtsschreibern Kammermeister und Stolle geradezu fesselnd. Während Stolle jedoch nur „dy von erffort“ nennt, betont der Herold unablässig die Städte in ihrer Loyalität gegenüber dem Fürsten und bedient sich dabei auch der 1. Pers. Plur.: „so mügen wir ergetzin / rieten zù hof“ (v. 110 f.), sodass zu überlegen ist, ob man in ihm einen Stadtbewohner zu sehen hat, wobei die Sprache des Lieds nach Thüringen weist.171 Unter den genannten Städten wird Mühlhausen durch die Beschreibung seines Wappens ausgezeichnet: (E)in silbern rad im roten feilt had sich zu storme gegebin:
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heilgen gesworn, sy wolden nicht mee neme, danne pferde unnd harnasch, das or were, unnd worden also meyeneyde.“ 27 Gefangene wurden nach Erfurt überführt, wobei man nicht zimperlich war, einem der Anführer „wart uff der borg dy stern abe geschossen, das her zu hant starp“. S. 273. Zur Wachsenburg vgl. Thüringen (Anm. II, 67), S. 456 f. Wassenborg ist der alte, ursprüngliche Name, von ahd. (h)was ‚scharf, spitz‘ nach dem markanten Profil des Bergs. Das Lied ist in einer Variante von Muskatbluts Hofton gedichtet. Vgl. Repertorium der Sangsprüche und Meisterlieder (Anm. IV, 187), Bd. 5, S. 305 f. Dort auch zur Parallelüberlieferung des Lieds. Vgl. Heinz Endermann: Dichtung im Dienst der Stadtpolitik. Rosenbergs Lied von der Eroberung der Wachsenburg. In: Mittelalterliche Sprache und Literatur in Eisenach und Erfurt (Anm. 157), S. 253–277. Herolde erhielten neben ihrem Lohn und Belohnungen für überbrachte Nachrichten ein eingerichtetes Haus oder den Gegenwert in Geld. Vgl. Václav Vok Filip: Einführung in die Heraldik. Wiesbaden 2000, S. 38.
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Molhusen ich do selbir melt, ir banir sach man swebin, der adeler hoch (v. 172–175).172
Manches an diesen unterschiedlich deutbaren Versen weist in die Richtung der Reichsstädte Mühlhausen und Nordhausen, während das Rad sich mit Erfurt in Verbindung bringen ließe.173 Sollte Rosenberg aus Mühlhausen kommen, erklärte dies auch, wieso ihm die Belagerung nur vom Hörensagen bekannt war, wurde sie doch von den Erfurtern und ihren Mansfelder Helfern durchgeführt.174 Vielleicht ein Jahr vor Rosenbergs Lied entstand ein siebenstrophiges Lied, das die Nöte beklagt, die dem Fürsten, den Städten und der bäuerlichen Bevölkerung daraus erwuchsen, dass Landgraf Wilhelm sich seinen Räten und mit ihnen skrupellosen Finanziers ausgeliefert habe. Überliefert ist es in Spangenbergs ‚Mansfeldischer Chronica‘ unter der Überschrift „Lieder von der Fürsten Ampt“.175 Obwohl „ein fein gut land“ – so der unbekannte Dichter –, vermöge Thüringen seinen Landesherrn nicht mehr zu ernähren. Der Herzog könne das jedoch ändern und wieder „gute zeiten“ heraufführen, wenn er sich aus der Hand jener Kräfte befreie.176
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Die kleineren Liederdichter (Anm. 164), S. 149. Liliencron (Anm. 145), Bd. 1), S. 448, paraphrasierte: „Mühlhausen brachte (im queergetheilten Wappen) ein silbernes Rad im rothen Feld und (drüber schwarz in Silber) den Adler in die Schlacht.“ Das silberne Rad im roten Feld ließe jedoch vielleicht eher an das Erfurter Stadtwappen denken, während das Mühleisen im Mühlhäuser Wappen wohl nicht ohne weiteres als rad zu beschreiben ist. Das Mühlhäuser Stadtwappen zeigt den schwarzen Reichsadler, in seiner jüngeren geteilten Form oben einen schwarzen Adler in Gold und unten ein silbernes Mühleisen (?) in Rot. Von der Heraldik handelt Johannes Rothe in seinem ‚Ritterspiegel‘, v. 565–724. Dazu Petersen (Anm. 54), S. 95–112. Aus Mühlhausen stammen mehrere Lieder aus der Zeit des Bauernkriegs 1525. Vgl. Kerth (Anm. 159), S. 151–154, mit weiterer Literatur. Ed.: Die historischen Volkslieder (Anm. 145), Bd. 1, S. 449–451, Nr. 97, überschrieben ‚Ermahnung an die Obrigkeit‘. Spangenberg (Anm. 163), c. 331, f. 387r, berichtet: „Daher wurden diese zeit Lieder gemachet vnd gesungen / darinnen die Oberkeit erinnert vnd ermanet ward / In der Regierung gleichmessigkeit zuhalten / dem Adel nicht zuuiel Freyheit vnd Gewalt zuuorhengen / den Bürgern in Stedten nicht zuuiel Pracht vnd Geprenges zuuorstadten / das gemeine Bawrsuolck nicht vber macht zu beschweren / Die Strassen rein zu halten / vnd jederman Recht vnd Billigkeit wider faren zulassen / Von welchen Liedern sind noch etliche Gesetzlin vorhanden / so etwan von alten Leuten / die sie in jhrer Jugend von jhren Eltern gehöret / gesungen worden / vnd ohngefehr also lauten.“ Folgt das Lied f. 387r/v. Die 2. Strophe lautet: „Döringer land, du bist ein fein gut land, / wer dich mit trewen tet meinen, / du gibst uns des weizen und des weins also vil, / du köntest einen landesherren wol erneren, / und bist ein lendlin also kleine.“ Das Lied arbeitet mit der gattungstypischen Tierallegorese: Die Räte (Vitztume) werden mit Geiern verglichen, die die Kücken (armen Leute) bedrohen, und „die pfaffen und Jüden“ (6, 2) mit Jagdhunden, die jene hetzen.
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Ein Nachspiel des sächsischen Bruderkriegs war die Aktion des Ritters Kunz von Kauffungen im Juli 1455.177 Einige Ritter waren bei der Einnahme von Gera in böhmische Gefangenschaft geraten, hatten, da Kurfürst Friedrich II. versäumte, sie freizukaufen, dies selbst getan und forderten nun Schadenersatz. Unter ihnen war Kunz von Kauffungen, der eine zeitlang als kurfürstlicher Vogt und Amtmann auf dem Altenburger Schloss gewirkt und im Bruderkrieg auf Seiten des Kurfürsten gestanden hatte. Nun geriet er mit diesem der Entschädigung wegen, vielleicht auch aus anderen, nicht restlos geklärten Gründen in Konflikt. Als ein von Friedrich nach Altenburg einberufenes Schiedsgericht Ende Juni zu seinen Ungunsten entschied, entschloss er sich zu einem waghalsigen Unternehmen. In der Nacht vom 7. zum 8. Juli stieg er – die Abwesenheit des Kurfürsten ausnutzend – mit einigen Leuten im Altenburger Schloss ein, entführte die beiden Prinzen Ernst und Albrecht und ritt mit ihnen in Richtung Böhmen davon. Am nächsten Tag fand man einen von ihm zurückgelassenen vordatierten Brief (die Fehdeansage erfolgte also verspätet) und nahm alsbald die Verfolgung auf. Noch am selben Tag ergriff man Kunz nahe der böhmischen Grenze mit dem Prinzen Albrecht und setzte ihn in Zwickau gefangen, worauf jene, die mit Ernst unterwegs waren, aufgaben. Am 14. Juli 1455 wurde Kunz von Kauffungen ohne ordentlichen Prozess in Freiberg auf dem Markt hingerichtet; die Kraftprobe zwischen Kurfürsten und fehdeführendem Adel war damit zugunsten des Landesherrn entschieden. Kammermeister erzählt den Vorfall in seiner Chronik.178 Ein zweites Zeugnis ist ein wohl unmittelbar nach dem Geschehen entstandenes Lied.179 Es wurde erstmals 1704 gedruckt, bis dahin also offenbar handschriftlich, wohl ohne Melodie, tradiert.180 Das elfstrophige Lied setzt den Prinzenraub
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Vgl. Hans-Jürgen Rieckenberg: Kauffungen, Kunz von. In: NDB, Bd. 11 (1977), S. 345; Patze (Anm. III, 26), S. 139. Kunz von Kauffungen war kein fränkischer Adliger, wie bei Kellermann (Anm. 146), S. 175, Anm. 180, zu lesen. Er entstammte einem zwischen Penig und Waldenburg begüterten meißnischen Adelsgeschlecht. Seit 1449 stand er mehrere Jahre als Hauptmann im Dienst der Reichsstadt Nürnberg während des sog. Markgrafenkriegs. Vgl. Kammermeister, c. 78. Cuncz von Kouffungen wird H. Friederichs feindt (a. 1456). Reiche (Anm. 61), S. 152 f. Ed.: Die historischen Volkslieder (Anm. 145), Bd. 2, S. 480–484, Nr. 104. Wolfgang Vulpius: Plagium Kauffungense. Das ist: Der Chur-Fürstl. Sächs. Printzen Durch Conrad (Curt/Cuntz) von Kauffung geschehene Entführung aus dem Schlosse zu Altenburg im Osterlande oder Meissen [....]. Weißenfels 1704, f. F 3 f. Die Geschichte des Lieds zwischen Entstehung und Erstdruck liegt im Dunkeln. Vulpius will es von einem alten Bergmann erhalten haben, wohl handschriftlich. Vielleicht fand er es auch in der Chronik ‚De rebus Saxoniae, Thuringiae, Libanothiae, Misniae et Lusatiae‘ des Zwickauer Arztes und Geschichtsschreibers Erasmus Stella, eig. Stüler (um 1460–1521), einem, so Franz Xaver Wegele: Stella, Erasmus. In: ADB, Bd. 36 (1893), S. 30–31, hier 31, „Machwerk“, das 1518
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V. SPÄTMITTELALTER
nicht ungekonnt als Raub von Adlerjungen durch den Geier ins Bild: „Der Adler hat uf den felß gebawt / ein schönes nest mit jungen“ (2, 1 f., das Altenburger Schloss mit den Prinzen), „und wie er einst ware geflogen aus“ (als der Kurfürst nach Leipzig geritten war), „holet ein geyer die jungen vogel raus“ (2, 3 f.). Die folgenden Strophen geben die Ebene der Bildlichkeit wieder auf und erzählen den Vorgang bis zur Bestrafung der Täter: „schwerdt, rad, zangen und strick die warn ihr lohn / Man sah die rümper hangen, ja hangen“. (9, 4 f.).181 Das Lied vertritt klar die Position des Kurfürsten und warnt vor Auflehnung gegen die Obrigkeit. Die vorletzte Strophe lautet: So gehts, wer widr die öberkeit sich unbesonnen empöret, wer es nicht meynt, der schaw an Cuntzen, syn Kop thu zu Freyberg noch herußer schmuntzen und jederman davon lehret, ja lehret.182
Von einer Revolte auf dem Eichsfeld in der Zeit der Mainzer Stiftsfehde (1461/63) wissen wir nur aus einem politischen Lied.183 Es wurde im dritten Viertel des 15. Jahrhunderts auf einem Blatt Papier aufgezeichnet, vermutlich in nicht allzu großem zeitlichem Abstand zu den geschilderten Ereignissen und nach Meinung Schröders „aus dem gedächtnis“184. Das Blatt fand sich im Duderstädter Archiv, und in Duderstadt dürfte das Lied auch entstanden sein; zumindest weist seine Schreibsprache: niederdeutsch mit thüringischen Einschlägen, an den südlichen Saum des niederdeutschen Sprachgebiets. Gegen Ende erklärt der Verfasser, der sein Lied zunächst als ein „eyn hofesch gedicht“ (1, 2), aber auch als einen „reigen“ (13, 1) bezeichnet, er sei „keyn stummer leige“ (13, 3). Dies und die Erwähnung der Heiligenstädter Patrone Aureus und Justinus und St. Martins, des Patrons des Mainzer Erzstifts, weist in die Richtung eines Duderstädter Geistlichen.
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unter dem Namen von Stellas Lehrer Garzo erschien und 1546 in einer deutschen Ausgabe. Die 3. Strophe ist dem Lied ‚Ermahnung an die Obrigkeit‘ (Anm. 175) entlehnt. Nach Vulpius (Anm. 180). Vgl. auch Des Knaben Wunderhorn. Alte deutsche Lieder gesammelt von Achim von Arnim und Clemens Brentano. Hg. und kommentiert von Heinz Rölleke. Bd. 1. Stuttgart 1987 (RUB 1250), S. 269–270. Ed.: Edward Schröder: Ein Lied auf den Heiligenstädter Putsch von 1462. In: ZfdA 42 (1898), S. 367–371. Über die Eroberung der Stadt Mainz 1462 durch Adolf von Nassau berichtete der Mainzer Bürger Hans Gutkorn in der Mainzer Chronik 1459–1484. In: Die Chroniken der mittelrheinischen Städte. Mainz. Bd. 2. Leipzig 1882. 2. Aufl. Göttingen 1968 (Die Chroniken der deutschen Städte vom 14. bis ins 16. Jahrhundert 18), S. 14–86, hier 75–81. Gutkorn bezahlte seine Parteinahme für den später unterlegenen Diether von Isenburg-Büdingen im Bistumsstreit mit Verbannung. Schröder (Anm. 183), S. 367.
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Die Mainzer Stiftsfehde wurde durch Pius II. ausgelöst, als dieser 1461 den Mainzer Erzbischof Diether II. von Isenburg-Büdingen absetzte und zu dessen Nachfolger Graf Adolf II. bestimmte.185 Sie erfasste militärisch die Länder am Rhein, betraf aber auch die Stadt Erfurt, die zunächst neutral zu bleiben suchte, was vom Papst jedoch nicht akzeptiert wurde, schließlich aber Adolf von Nassau anerkannte. Zu Unruhen kam es auch auf dem Eichsfeld. Während man in Hessen auf Seiten Adolfs stand, gab es in Heiligenstadt zwei Lager. Rat und obere Schichten hielten zum Isenburger, während Gilden und untere Schichten sich Adolf zuwandten. Das Lied erzählt in 14 Strophen anschaulich, unter Verwendung sprichwörtlicher Redensarten und nicht ohne Humor von einem Versuch, den Heiligenstädter Rat während der Abwesenheit Adolfs am „vastelavent“ des Jahres 1462 zu stürzen.186 Die Aufständischen suchten sich im Bündnis mit Eschwege, Allendorf und Witzenhausen der Stadt zu bemächtigen. Doch schlugen sie offenbar zu früh los, jedenfalls trafen die Verbündeten aus den hessischen Werrastädten zu spät ein, während dem Heiligenstädter Rat die Schützen aus dem nahen Duderstadt zu Hilfe eilten, sodass er rasch die Oberhand über „die bosen wichte“ gewann. Der Aufstand war bald niedergeschlagen, und die Verschwörer mussten sich den Spott gefallen lassen, wie er in dem Lied zum Ausdruck kommt. Die Position des namenlos bleibenden Dichters ist eindeutig: Seine Sympathie gilt „den fromen luden“ (13, 5), während er die Revolte als „bosheyt“ (7, 6) ablehnt und darüber frohlockt, dass sie „den schelken ... misselungen“ (13, 6) sei. Er spricht offenbar aus genauer Kenntnis des Vorgangs, so nennt er einen gewissen „Rupenkol“, der sich unter den Aufrührern besonders hervortat, und erklärt, er könnte auch die anderen nennen, wären es nicht „alto fele“ (7, 2). Hatte die Mainzer Stiftsfehde zunächst vornehmlich die Länder am Rhein ergriffen, geriet zwei Jahrzehnte später auch die Stadt Erfurt in den Bannkreis ihrer späten Folgen. Nach dem Tod Adolfs von Nassau 1475 wurde dessen einstiger Gegenspieler Diether von Isenburg zum zweiten Mal zum Erzbischof gewählt, ohne jedoch die kaiserliche Anerkennung zu erlangen. In der Folge kam es zum Konflikt zwischen dem Erzstift, das sich mit den Wettinern verbündete, der Stadt Erfurt und den sächsischen Fürsten, in dem es letztlich
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Vgl. Patze (Anm. III, 26), S. 59–63; Thüringen (Anm. II, 67), S. 110 f.; Leist (Anm. IV, 9), S. 140 f.; Die Bischöfe des Heiligen Römischen Reiches 1448–1648. Ein biographisches Lexikon. Hg. von Erwin Gatz. Berlin 1996, S. 4–6 und 330–332. Str. 2 lautet: „Wy se den rad to Hilgenstad / wolden han erslagen, / mestere unde barden / up se hadden gedragen; / dey dör han se upgesloten, / de Hessen darin gelaten. / de klocke was gegoten / vor mannigem leivedaghe.“ Übers.: „Wie sie beabsichtigten, den Rat von Heiligenstadt zu erschlagen. Mit Messern und Äxten waren sie auf ihn gezogen, die Tür haben sie aufgeschlossen und die Hessen hereingelassen. Die Glocke war schon viele Tage früher gegossen worden (dieser Plan war schon lange vorher geschmiedet worden).“
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um die Frage ging, ob die Stadt ihre bisherige politische Selbstständigkeit würde behaupten können oder aber einen Wettiner etwa in Gestalt eines im Mainzer Hof residierenden Provisors als Stadtherrn anerkennen müssen. Das Ergebnis war ein für die Stadt negatives: 1483 musste sie in zwei Verträgen die Rechte des Erzstifts anerkennen wie auch die Schutzherrschaft der Wettiner, der eigentlichen Gewinner der Auseinandersetzung. Die mit diesen Zugeständnissen verbundenen Geldforderungen trugen zum finanziellen Niedergang Erfurts erheblich bei. Von den Vorgängen, die der Unterwerfung vorausgingen, handelt, aus Erfurter Perspektive, ein sechzehnstrophiges Lied im Lindenschmidt-Ton, das Konrad Stolle in seinem ‚Memoriale‘ überliefert.187 Der Dichter, der sich Henze Gutjar nennt, wirbt in seinem 1481 verfassten Lied beim Erzbischof um Verständnis für die Position Erfurts: „Wirdiger furste von Mentze so gut, / haldet die von Erffort in uwerer hudt“ (11, 1 f.). Die zentrale Aussage enthält die 15. Strophe: Die Stadt, so Gutjar, gehört zum Erzstift und will mainzisch bleiben. Was sie nicht will, ist ein neuer Herr, und sie würde sich wehren, suchte man ihr einen solchen aufzuzwingen. Gemeint ist ihre Abtretung an die sächsischen Fürsten, wozu man in Erfurt mit der Ernennung des Wettiners Albrecht zum Provisor den Anfang gemacht sah.188 Gutjar hütet sich, brisante Sachverhalte beim Namen zu nennen; wo er sie berührt, bedient er sich einer sententiös-bildlichen Diktion wie in den Versen: „man spricht doch ubirlute, / wer sinen garten vorkouft, / der darf numme dar zu krute“ (9, 3–5).189 Mit dem Krautgarten ist das Eichsfeld gemeint und mit dem Verkäufer der Erzbischof, der das Provisoramt auf dem Eichsfeld dem jungen Sohn des Kurfürsten (wie man erzählte) gegen eine größere Summe übertrug, die aus den Einnahmen finanziert wurde, die die sächsischen Fürsten aus dem Silberbergbau in Schneeberg bezogen.190 Am Schluss erklärt Gutjar selbstbewusst, die Erfurter würden ihren Nutzen davon haben, wenn sie dem bedürftigen Dichter den gebührenden Lohn zukommen ließen: Hencze Gutiar uns ditz lidelin sang, sine winterkleidern die sint ome krank, ir merket wol, wie ichs meine.
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Vgl., ‚Memoriale‘ (Anm. 65), c. 329, S. 413–415. Zit. nach: Die kleineren Liederdichter (Anm. IV, 131). Bd. 1. München 1977, S. 268–270. Str. 15 lautet: „Das thun die von Erffort wol mit eren, / wann sie begern keins andern herren, / danne bei dem stifte zu bliben. / sie undirstehen sich des zu wehren, / wil man sie darvon triben. Str. 9, 3–5. Übers.: „Hat einer, wie man zu sagen pflegt, seinen Garten verkauft, darf er ihn nicht mehr zum Krautschneiden aufsuchen.“ Zum historischen Kontext vgl. Patze (Anm. III, 26), S. 141 f. Vgl. auch die Erläuterungen bei Liliencron (Anm. 145), Bd. 2. Leipzig 1866, S. 166–168.
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mine hern von Erffort, die cleitten mich wol, und schad on werlich kleine.191
Erhalten ist ein zweites, wohl früher entstandenes Lied Gutjars, eine zwölfstrophige Totenklage auf Graf Wilhelm III. von Henneberg-Schleusingen, der Pfingsten 1480 auf der Rückreise von einer Romfahrt in Salurn b. Bozen gestorben war.192 Gutjar zeigt sich auch in diesem, ebenfalls im populären Lindenschmidt-Ton verfassten Lied vertraut mit den Gattungskonventionen, sodass man in ihm einen Berufsdichter und -sänger wird sehen dürfen. Eine dem Lied beigefügte Notiz nennt ihn einen „Bergmann vndt Bürger zu Sula, Heintz Guttjar“.193 Da „die hennebergischen Landtsassen vnd vnterthanen“ erwähnt werden, kann Sula mit Suhl identifiziert werden. Vermutlich stand Gutjar zunächst im Dienst des Hennebergers, den er in der Totenklage „mein herr graf Wilhelm“ (2, 4) nennt.194 Die Wendung am Schluss des Lieds für die Erfurter: „mine hern von Erffort“ bezeugt dann ein neues Dienstverhältnis.195 Da die Lohnheische am Ende dieses Lieds sich nur schlecht mit dem sozialen Prestige eines Bergmanns vereint, kann man sich vorstellen, dass Gutjar seinen ursprünglichen Beruf aufgegeben hatte, um fortan als Berufsdichter und -sänger zu wirken, ähnlich seinem Generationsgenossen, dem fahrenden Berufssänger Michel Beheim, der zunächst das Weberhandwerk erlernt hatte.196 Von seinem Lied auf den Henneberger sagt Gutjar am Schluss: „er hats gar oft mus singen“ (12, 3), und im Lied von den Erfurtern heißt es am Ende: „Hencze Gutiar uns ditz lidelin sang“ (16, 1).
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Str. 16.. Übers.: „Das Lied hat uns Henze Gutjar gesungen. Sein Winterkleid ist abgetragen – ihr versteht schon, was ich sagen will. Es gereichte meinen Herren von Erfurt nicht zum Schaden, wenn sie mich neu einkleideten.“ Ed.: Die kleineren Liederdichter (Anm. 187), S. 266–267. Das Lied ist auf einem handschriftlichen Blatt überliefert, das im Exemplar der ‚Hennebergischen Chronica‘ Cyriacus Spangenbergs, Dresden, Sächs. LB, K 97, zwischen S. 242 und 243 eingelegt ist. Über den von Gutjar beklagten Fürsten, nach der Zählung der regierenden Grafen Wilhem III. (1444–1480), berichtet Spangenberg im V. Buch seiner Chronik, c. 36, S. 229–243. Zit. nach Thomas Cramer: Gutjar, Henze. In: VL, Bd. 3 (1981), Sp. 336–337, hier 337. Der Dichter nennt sich in Lied I Heintz Gutjar (12, 1), in Lied II Hencze Gutiar (16, 1). Das Lied für die Erfurter steht nicht, wie bei Cramer, Sp. 337 angegeben, in der Jenaer Handschrift Bud. f. 145, sondern in Jena, ThULB, Ms. Sag. q. 3, f. 244r–245v, „Eyn lid von den von erffort vnnd deme bisschoff von mentcze“. Vgl. Pensel (Anm. IV, 133), S. 535–542. Mit dem hennebergischen Raum darf man wohl auch Wilhelm Nuen aus Römilt verbinden, der 1525 ein Lied über die Ereignisse des Bauernkriegs in Franken verfasste; denn mit Römilt dürfte die südthüringische Stadt Römhild gemeint sein. Der Herausgeber des ‚Memoriale‘ (Anm. 65), S. 413, vermutete, Gutjar stamme „wohl aus Erfurt“. Eher dürfte er aus hennebergischen in Erfurter Dienste gewechselt sein. Vgl. Ulrich Müller: Beheim, Michel. In: VL, Bd 1 (1978), Sp. 672–680, hier 672.
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Kaum mehr dem Mittelalter zuzurechnen ist ein Lied, das in 21 Strophen von einem sagenhaften Ereignis aus ludowingischer Frühzeit erzählt: ‚Die Frau zu Weißenburg‘.197 Im Mittelpunkt stehen Adelheid, die Witwe Pfalzgraf Friedrichs III. von Sachsen, und Ludwig der Springer. Der Pfalzgraf wurde nach knapp vierjähriger Ehe von drei Adligen auf der Jagd bei Zscheiplitz an der Unstrut ermordet.198 Die Chronisten haben die Umstände der Tat unterschiedlich bewertet; Rothe referiert sie in der ‚Landeschronik‘, während die ‚Weltchronik‘ einen kleinen „Minne-Roman“ bietet. Bei ihm ist es die Gemahlin Friedrichs, die ihren Geliebten Ludwig zum Mord anstachelt, und diese Version ist im Lied aufgegriffen.199 Dieses kennen wir nur aus einem Geschichtswerk des 16. Jahrhunderts, seine Entstehungszeit bleibt unsicher.200
4. Pragmatische Schriftlichkeit Die hier zusammengefassten Werke besitzen nur eine Gemeinsamkeit: sie haben nichts zu tun mit Literatur im Sinn von „schöner Literatur“, wenngleich es unter ihnen auch Verstexte gibt, sodass sie mit „nicht-dichterische Texte“ nur unpräzise bezeichnet wären. Im Übrigen stammen sie aus den verschiedensten Lebenszusammenhängen. Dass es im Mittelalter, und zwar insbesondere seit dem 13. und mehr noch dem 14. Jahrhundert, eine solche Literatur in ständig anwachsender Fülle gab, ist seit längerem bekannt, und die jüngere Forschung bringt ihr im Zeichen des „erweiterten Literaturbegriffs“ auch größeres Interesse entgegen als frühere Generationen. Doch abgesehen von Desiderata in diesem oder jenem Einzelfall fehlt für sie eine allgemein
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Ed.: Altdeutsches Liederbuch. Volkslieder der Deutschen nach Wort und Weise aus dem 12. bis zum 17. Jahrhundert. Gesammelt und erläutert von Franz M. Böhme. 2. Aufl. Leipzig 1913, S. 107–110, Nr. 34. Vgl. Dietrich Huschenbett: Eine Mord- und MinneGeschichte aus Thüringen. Zur Darstellung der Ermordung des sächsischen Pfalzgrafen Friedrich III. durch Ludwig den Springer, Graf von Thüringen. In: Strukturen der Gesellschaft im Mittelalter. Interdisziplinäre Mediävistik in Würzburg. Hg. von Dieter Rödel u. Joachim Schneider. Wiesbaden 1996, S. 35–49. „Die Quellen wollen wissen, daß er bei der Ermordung des Pfalzgrafen die Hand im Spiele hatte.“ Patze (Anm. II, 87), S. 176. Vgl. auch Thüringen (Anm. II, 67), S. XXXI. Vgl. Weigelt (Anm. IV, 148), S. 30, 38–31, 12, und Liliencron (Anm. 49), c. 260–263. Der Mordplan c. 340: „unde yn deme sso riet sie om, das her yren hern den phaltzgraven toten sulde unde sie nemen zu der ee“ (S. 262). Str. 2 des Lieds lautet: „Sie ließ ein brieflein schreiben / gar fern ins Türingerland / Zu Ludewig, irem bulen, / daß er käm zuhand.“ Ernst Brotuff: Chronica und Antiquitatas des alten keiserl. Stiffts [...] Colonia und der Stadt Marsburg an der Salah in Obern Sachsen. Leipzig: Georg Hantzsch, 1557 [VD 16 B 8432], f. 71b . Das Lied ist auch abgedruckt in ‚Des Knaben Wunderhorn‘ (Anm. 182), S. 214–216.
4. PRAGMATISCHE SCHRIFTLICHKEIT
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akzeptierte Bezeichnung. In den Handbüchern finden sich in verwirrender Konkurrenz Begriffe wie Artesliteratur, Fachliteratur, Sachliteratur, Wissensliteratur oder Wissenschafts- und Sachliteratur, die, wiewohl nur partiell deckungsgleich, letztlich doch demselben Textcorpus gelten.201 Wenn hier dem Begriff der pragmatischen Schriftlichkeit der Vorzug gegeben wird, so deshalb, weil er weiter ist und mehr umfasst als die Artesliteratur und weil er ohne den assoziationsreichen Begriff der Literatur auskommt.202 Die im Folgenden zu behandelnden Texte sind, wie schon angedeutet, nach Gegenstand, Sprache, Form und Adressatenbezug höchst verschiedenartig. Neben Rechtstexten finden sich Schriften, die sich an bestimmte Stände wenden oder auch ständeübergreifende Verhaltenslehren vermitteln wollen, und wenigstens in exemplarischer Auswahl sind einzelne Wissenschaftsgebiete wie Medizin und Grammatik einzubeziehen. Neben lateinischen stehen deutsche Werke und neben Prosaschriften Verstexte, wobei im Mittelalter der Grundsatz galt, dass man für Übersetzungen lateinischer Fachtexte die Prosa wählte, hingegen, wenn man Laien erreichen wollte, der besseren Memorierbarkeit halber die Versform bevorzugte.203 Die in der einen oder anderen Weise mit Thüringen verbundene pragmatische Schriftlichkeit kann hier schon aus quantitativen Gründen nur in Auswahl vorgestellt werden, wobei mit „quantitativ“ die Fülle der Texte wie der Überlieferung gemeint ist. So sind von dem ‚Abstractum-Glossar‘ nicht weniger als 120 Textzeugen bekannt.204 Die schriftliche Produktion, die sich mit den in Erfurt ansässigen Orden und seit dem 14. Jahrhundert mit der
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Einen Überblick bietet Peter Assion: Altdeutsche Fachliteratur. Berlin 1973 (Grundlagen der Germanistik 13). Eine charakteristische Textsorte des Spätmittelalters sind die Pestregimina, die, sofern für Laien bestimmt, in Versen abgefasst sind. Man verstünde diese Texte, die situationsgerechtes Verhalten im Fall einer Epidemie lehren wollen, falsch, sähe man sie ihrer Form wegen als Dichtung an. Der Begriff der Sach- oder Fachliteratur anderseits ist auch deshalb nicht völlig unproblematisch, weil bestimmte Wissensbestände, etwa auf dem Gebiet der Pferdezucht, jahrhundertelang nur mündlich tradiert und erst in späterer Zeit literarisiert wurden. Der Erfurter Franziskaner Helwicus von Magdeburg († 1252) schuf mit dem ‚Lombardus metricus‘ eine Hexameter-Zusammenfassung der ‚Sentenzen‘ des Petrus Lombardus für Unterrichtszwecke. Vgl. Christine Stöllinger: Helwicus von Magdeburg. In: VL, Bd. 3 (1981), Sp. 982–984. Im 14. Jh. verfasste der als Person sonst nicht greifbare Berthold von Eisenach das Vokabular ‚De rarissimis vocabulis‘, ein Lehrgedicht in Gestalt leoninischer Hexameter, überliefert u. a. in Erfurt, UB, CA 8° 378. Vgl. Wilhelm Schum: Beschreibendes Verzeichnis der Amplonianischen Handschriften-Sammlung zu Erfurt. Berlin 1887, S. 633–636, Nr. 5; Franz Josef Worstbrock: Berthold von Eisenach (Bertoldus Isenacensis, Thuringensis). In: VL, Bd. 11 (2004), Sp. 245–246. Vgl. MRDH (4. 8. 2011). Zu Erfurt, UB, CA 2° 147, einer auf 1378 datierten Papierhandschrift, vgl. Schum (Anm. 203), S. 97 f., und Anm. 257.
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V. SPÄTMITTELALTER
Erfurter Universität verbindet, kann kaum gestreift werden.205 Doch nicht nur die schiere Textmenge zwingt zur Beschränkung. Nicht selten auch erweist sich die Beziehung eines Textes zu Thüringen als so lose, dass seine Berücksichtigung wenig gerechtfertigt wäre. Auch dafür ein Beispiel: Eine Sammlung von Fischfangrezepten, die man ‚Erfurter Fischbüchlein‘ genannt hat, verbindet mit Thüringen nicht mehr als der Druckort Erfurt; zugrunde liegt ein Fischbüchlein, das um 1480 am Oberrhein entstand.206 Ähnlich verhält es sich mit einer ‚Gothaer Medizinalwässer‘ betitelten medizinischen Schrift, die nach Art einer Summa 57 verschiedene medizinisch belangvolle Wässer (aquae medicinales) behandelt: einfache pflanzliche Drogen, zusammengesetzte Mittel usw., deren Wurzeln aber im niederfränkischen Raum liegen.207 In wieder anderen Fällen bleibt die Verbindung eines Werks mit Thüringen hypothetisch, da wir zu wenig über Autor und Entstehungsort wissen. Eine Anfang des 14. Jahrhunderts entstandene Sammlung von Musterbriefen, deren Kompilator in der Überlieferung Thymo de Ertfordia genannt wird, könnte in Erfurt entstanden sein, da ihr Schwerpunkt beim Korrespondenzbedarf einer Stadt und des weltlichen Adels liegt, doch mehr vermögen wir über das Werk nicht zu sagen.208 Ähnlich liegen die Dinge beim ‚Hubrilugus‘, einem lateinisch-deutschen Vokabular, das in den Lateinschulen benutzt wurde. Sein Verfasser Hermann Kappel ist 1424/25 in Mühlhausen als Geistlicher nachweisbar, spätere Quellen zeigen ihn jedoch als Notar und Gerichtsschreiber in Mainz. Mit der Literaturlandschaft Thüringen hat er nichts zu
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Exemplarisch genannt sei der Theologe Jakob von Paradies (1381–1465), der seit 1442 in der Erfurter Kartause wirkte. Als deren langjähriger Vikar entfaltete er eine umfängliche und einflussreiche schriftstellerische Tätigkeit im Dienst der klösterlichen Reform. Sein Œuvre umfasst über 100 Schriften, die von kurzen Erörterungen bis zu Quaestionenreihen und Predigtzyklen reichen und in ca. 450 Handschriften überliefert sind, zum Teil auch noch zum Druck gelangten. Vgl. Dieter Mertens: Jakob von Paradies (Jakob Kuniken [Coneken], doctor Jacobus de Paradiso, de Claratumba, de Cracovia, de Polonia, Carthusiensis, de Erfordia, Doctor Jacob Carthuser zu Erdfurt; ‚Jacobus Junterbuck‘, ‚de Juterbog‘, ‚de Clusa‘). In: VL, Bd. 4 (1983), Sp. 478–487. Vergleichbar der von ihm beeinflusste Johannes Hagen (1415–1475 oder 1476). Vgl. Schulze (Anm. II, 74), S. 105, und Anm. 246. Vgl. Assion (Anm. 201), S. 128. Das ‚Büchlein, wie man Fische und Vögel fangen soll‘, erschien 1498 bei Hans Sporer, der auch Volmars ‚Steinbuch‘ druckte. Vgl. GW 05681 und M 51328. Sporer brachte auch Unterhaltungsliteratur heraus, u. a. 1497 ‚Der Graf von Savoyen‘, ein Erzähllied in 15 Strophen im Langen Ton Regenbogens. Vgl. GW 12578. Der heutige Titel des Werks, dessen Stoff der anonyme Autor offenbar aus verschiedenen Quellen, u. a. dem ‚Macer floridus‘, selbst zusammenstellte, leitet sich vom Bibliotheksort der einzigen Handschrift her, einer um oder nach 1400 entstandenen niederdeutschen Sammelhandschrift: Gotha, FB, Chart. A 980. Vgl. Agi Lindgren: ‚Gothaer Medizinalwässer‘. In: VL, Bd. 3 (1981), Sp. 114–116. Vgl. Franz Josef Worstbrock: Thymo von Erfurt. In: VL, Bd. 9 (1995), Sp. 918–920.
4. PRAGMATISCHE SCHRIFTLICHKEIT
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tun, sein Wörterbuch wirkte im Südwesten.209 Nicht zuletzt ist nach dem literarhistorischen Erkenntniswert eines Textes zu fragen. Gehört (um auch hierfür ein Beispiel anzuführen) der Traktat eines sonst unbekannten Albert von Erfurt über die Eigenschaften des Branntweins, den ein Breslauer Codex des 15. Jahrhunderts unter der Überschrift Proprietates et virtutes vini tradiert, wirklich in den Rahmen der Literaturgeschichte (und wenn ja: welcher) oder nicht eher in den der Medizin- und Pharmaziegeschichte?210 Anders als ein Vollständigkeit anstrebendes Lexikon hat eine Literaturgeschichte hier auszuwählen.211 Eine letzte Vorbemerkung: Eine chronologische Ordnung der Texte ist nur partiell möglich, da ihre Entstehungszeit sich nur selten mit wünschenswerter Genauigkeit ermitteln lässt und jene Gebrauchstexte gerade dadurch charakterisiert sind, dass sie jahrhundertelang immer erneut abgeschrieben, erweitert, gekürzt, bearbeitet, prosifiziert oder versifiziert wurden. Ihre literatur- und textgeschichtliche Realität ist daher weniger ein chronologisches Nacheinander als die Simultaneität von Texten unterschiedlichen Alters. An den Anfang seien einige Rechtstexte aus der Zeit um und nach 1200 gestellt, die schon ihres hohen Alters wegen Interesse verdienen. Welcher Rang Rechtstexten zukam, zeigt besonders eindrucksvoll die handschriftliche Überlieferung. In einer der Handschriften, die die Chronik Kammermeisters überliefern, gehen dieser auf den Blättern 1–90 voran: die WassermeisterAmts-Ordnung und Wasserordnung zu Erfurt von 1483, die Stadtrechte von Arnstadt (Ältere und Jüngere Statuten), die Erfurter Statuten von 1306, der Vertrag zwischen Erfurt und Mainz von1483 und der Vertrag zwischen Erfurt und Kurfürst Ernst von Sachsen und Herzog Albrecht von Sachsen von 1483.212 Das germanische Rechtssystem war von der Mündlichkeit geprägt und, sofern es zur Verschriftlichung von Rechtsakten kam, an das Latein gebunden. Ein Wandel zeichnet sich hier erst nach der Wende des 12. Jahrhunderts zum 13. ab, nun begann man juristische Sachverhalte häufiger in der Volkssprache schriftlich zu fixieren. Ein frühes Zeugnis für diese Entwicklung ist der in mittelniederdeutscher Prosa abgefasste ‚Sachsenspiegel‘ (1225/35) des Eike von Repgow und ein noch früheres der ‚Erfurter Judeneid‘.
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Vgl. Gerhardt Powitz: Kappel, Hermann, von Mühlhausen. In: VL, Bd. 4 (1983), Sp. 993–994; Schmitt (Anm. IV, 84), S. 174. Vgl. Wolfram Schmitt: Albert von Erfurt. In: VL, Bd. 1 (1978), Sp. 123. Ein literatur- oder überlieferungsgeschichtliches Lexikon wird auch Abführmittel, Aderlassregeln, alchimistische Texte, Harnlehren, Horoskopschemata und Rezepte zum Zähneausbrechen, wie sie in den Handschriften reichlich auftreten, berücksichtigen, anders eine Literaturgeschichte. Vgl. Karl Bertau: Über Literaturgeschichte. Literarischer Kunstcharakter und Geschichte in der höfischen Epik um 1200. München 1983, besonders S. 40 f. Beschreibung der Handschrift: Pensel (Anm. IV, 133), S. 96–98. Die beiden Verträge wurden im Zusammenhang mit Henze Gutjars Lied für die Erfurter erwähnt.
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V. SPÄTMITTELALTER
Juden mussten in Rechtsstreitigkeiten mit Nicht-Juden das iuramentum Judeorum zu Beweiszwecken ablegen; entsprechende lateinische Eidformeln gab es seit karolingischer Zeit.213 Wir kennen Judeneide aus vielen Städten (Augsburg, Görlitz, Nordhausen, Wien u. a.), die Zahl der überlieferten lateinischen und volkssprachigen Eidformeln ist überaus groß.214 Der um 1200 aufgezeichnete Erfurter Eid nun ist die älteste erhaltene deutschsprachige Eidformel.215 Er steht auf einem urkundenähnlichen Pergamentblatt, an dem kopfständig das Wachssiegel der Stadt hängt.216 Der 13 Zeilen füllende Text wurde vermutlich in Erfurt in einer frühgotischen Minuskel (Buchschrift) geschrieben.217 Er ist in Prosa abgefasst, doch mehrfach durchschimmernde Reime wie gras : was lassen kaum einen Zweifel daran, dass die ursprüngliche Fassung aus vierhebigen Versen bestand, womit sie sich ungleich besser zur abschnittweisen Wiedergabe durch den Schwörenden geeignet haben dürfte.218 Der Eid wurde der Stadt, die eine der größten jüdischen Gemeinden im damaligen Reich besaß, vom Stadtherrn, dem Mainzer Erzbischof Konrad I. (1161–1165 und 1183–1200), verliehen.219 Der Beschuldigte hatte ihn vor dem erzbischöflichen Gericht abzulegen. Der Anlass der Privilegierung ist nicht
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Eike von Repgow erwähnt die Eidesleistung der Juden im ‚Sachsenspiegel‘. Jürgen Wolf: Zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit. Die frühen deutschen Judeneide im 13. Jahrhundert. In: Magister et amicus (Anm. 102), S. 839–874, hier 840, sprach von „einer extrem verbreiteten und mutablen Textsorte“. Der Nordhäuser Judeneid wurde Anfang des 14. Jh. in der Handschrift nachgetragen, die das ‚Mühlhäuser Reichsrechtsbuch‘ enthält. Ed.: Denkmäler deutscher Poesie und Prosa aus dem VIII–XII Jahrhundert. Hg. von Karl Müllenhoff u. Wilhelm Scherer. 3. Aufl. von Elias Steinmeyer. Berlin 1892. Ndr. Berlin, Zürich 1964. Bd. 1, S. 320–321, Nr. C. Einen alten volkssprachigen Judeneid überliefert auch das ‚Görlitzer Rechtsbuch‘. Vgl. Ruth Schmidt-Wiegand: ‚Görlitzer Rechtsbuch‘. In: VL, Bd. 3 (1981), Sp. 99–101. Erfurt, Stadtarchiv, O-O/A XLVII, Nr. 1. Zur Parallelüberlieferung vgl. Ruth SchmidtWiegand: ‚Erfurter Judeneid‘. In: VL, Bd. 2 (1980), Sp. 574–576, hier 574. Das Siegel zeigt den Patron des Mainzer Erzstifts und damit auch Erfurts St. Martin, auf dessen zerschlissenen Mantel Henze Gutjar in seinem Lied für die Erfurter anspielt: „Sente Mertins mantel der slißt sich sere“ (14, 1). Farbabbildung der Erfurter Handschrift: „... mit Brief und Siegel“. Dokumente aus Archiven der Deutschen Demokratischen Republik. Hg. von Friedrich Beck u. Manfred Unger. Leipzig 1979, S. 42, Nr. 21. Das kalligraphische Niveau der Aufzeichnung ist hoch, die Majuskeln sind rubriziert, der Schriftspiegel golden eingefasst. Nach Wolf (Anm. 214), S. 853 f., könnte die Aufzeichnung aus demselben, wohl thüringischen Skriptorium stammen, in dem etwa zeitgleich der Landgrafenpsalter (vgl. Anm. III, 94) gefertigt wurde. Der Versuch einer Rückgewinnung der metrischen Form bei Mettke (Anm. I, 32), S. 78. Der Schluss lautet: „Dit is der iuden eit den dî biscof Cuonrât dirre stat gegebin hât.“ Vgl. Alois Gerlich: K[onrad] I., Ebf. v. Mainz. In: LexMA, Bd. 5 (1991), Sp. 1352–1353. In jüngerer Zeit wurden in Erfurt wichtige Zeugen jüdischen Lebens wie die alte Synagoge (inzwischen als Museum zugänglich) und die Mikwe (Ritualbad) wieder entdeckt.
4. PRAGMATISCHE SCHRIFTLICHKEIT
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bekannt; wir wissen auch nicht, ob der Erzbischof ein Mainzer Original übernahm oder ob man in Erfurt eine Vorlage überarbeitete, bevor der Text auf das Pergament gelangte. Die mitteldeutsche Sprachform war jedenfalls in Erfurt gültig. Der Erfurter Eid ist noch frei von entwürdigenden Zusätzen für den Schwörenden, wie sie sich in manchen späteren Formeln finden.220 Zu den frühen volkssprachigen Rechtstexten nicht nur Thüringens gehört das ‚Mühlhäuser Reichsrechtsbuch‘; neben dem ‚Sachsenspiegel‘ ist es eine der ältesten Quellen kodifizierten Rechts in der Volkssprache.221 Es gilt als die früheste Aufzeichnung städtischen Rechts im damaligen Reich und als „die älteste Stadtrechtsaufzeichnung in deutscher Sprache“.222 Wir kennen Stadtrechtsbücher auch aus anderen thüringischen Städten, aus Eisenach, Gotha, Saalfeld. In Eisenach, dem Oberhof für die Landgrafschaft, stellte Johannes Rothe in seiner Eigenschaft als Stadtschreiber vor 1394 aus einer größeren Zahl von Quellen (u. a. dem Eisenacher Stadtrecht von 1283) das ältere ‚Eisenacher Rechtsbuch‘ zusammen.223 Dieses Werk, eine bedeutende Leistung, ist nur fragmentarisch erhalten in der Bearbeitung, die sein Nachfolger im Stadtschreiberamt, Johannes Purgoldt, 1503/04 vornahm.224 Mühlhausen, seit 1135 als Reichsstadt (civitas imperatoris) bezeugt, war in Nordthüringen eine der ältesten sogenannten Freien Reichsstädte; diesen Status erlangte sie noch vor Mainz. Das ‚Mühlhäuser Reichsrechtsbuch‘ entstand zwischen 1224 und 1230. Der eingebürgerte Titel trifft die Sache nur bedingt; denn tatsächlich handelt
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Der Eidstaber (Richter) sprach dem Schwörenden die Formel vor, dieser musste sie wohl vers- bz. abschnittweise wiederholen, daher die 2. Pers. Sing.: Des dich dirre sculdiget. Der Richter brauchte also die Anrede „du“. Die Situation der Juden hatte sich seit den Kreuzzügen verschlechtert, das zeigen Pogrome (Halle 1207, Erfurt 1221, Breslau 1226) und später die Ritualmordbeschuldigungen. Zur Rechtsstellung der Juden und zur Erfurter Judengemeinde vgl. Patze (Anm. IV, 12), S. 360–363; S. Wolf (Anm. IV, 245), S. 160–162. Beide Rechtsbücher entstanden zeitlich parallel. „Es ist nicht auszuschließen, daß Hoyer von Falkenstein, der enge Beziehungen zu Mühlhausen hatte, dort die Anregung zur Abfassung eines dt. Rechtsbuchs eimpfing, die er an Eike von Repgow weitergab [...].“ Peter Johanek: ‚Mühlhäuser Reichsrechtsbuch‘. In: VL, Bd. 6 (1987), Sp. 719–721, hier 720. Die Statuten der Reichsstadt Mühlhausen in Thüringen. Hg. von Wolfgang Weber u. Gerhard Lingelbach. Köln, Wien 2005, S. XI f. Das zeitlich nächste Stadtrechtsbuch, das Augsburger, stammt aus dem Jahr 1276, das Wiener erst aus der Mitte des 14. Jh. Ed.: Eisenacher Rechtsbuch. Hg. von Peter Rondi [u. Karl August Eckhardt]. Weimar 1950 (Germanenrechte. NF. Abt. Stadtrechtsbücher. Bd. 3). Vgl. Patze (Anm. IV, 12), S. 346 und 365 f.; Friedrich Ebel: Eisenacher Rechtsbuch. In: LexMA, Bd. 3 (1986), Sp. 1755; Honemann (Anm. 47), Sp. 278 f. Zu Gotha vgl. Ulrich-Dieter Oppitz: Deutsche Rechtsbücher des Mittelalters. Bd. II. Köln, Wien 1990, S. 296, zu Saalfeld S. 63. Rothes Name ist im Prolog zu Buch V stehengeblieben. Vgl. Volker Honemann: Purgoldt, Johannes. In: VL, Bd. 7 (1989), Sp. 917–918; Schmitt (Anm. IV, 84), S. 186. „Rothes Rb. war wohl Teil einer umfangreicheren Rechtssammlung, aus der auch das nicht überlieferte Eisenacher Kettenbuch geschöpft ist.“ Oppitz (Anm. 223), Bd. I, S. 58.
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V. SPÄTMITTELALTER
es sich um die private Bearbeitung des Stadtrechts von Mühlhausen.225 Als staufische Reichsstadt jedoch war Mühlhausen dem ius imperii, dem Landfriedensrecht der deutschen Könige, in besonderer Weise unterworfen. Die volkssprachig fixierte Ratsverfassung ist Ausdruck städtischer Freiheit, sie dokumentiert in schriftlicher Form das gelebte Recht der Stadt. In 49 Kapiteln werden Strafrecht, Besitzrecht, Gerichtsverfassung und Bürgerrecht behandelt: Delikte wie Körperverletzung, Zechprellerei und Abernten fremden Getreides, Rechtsfragen wie das Erbrecht ehelicher Kinder, der Erwerb des Bürgerrechts und die Haftung für Tierschaden.226 Als Stadtrechtsbuch gehört das ‚Mühlhäuser Reichsrechtsbuch‘ zunächst in den Umkreis der Stadtbücher.227 Neben dem lokalen Bezug berührt es sich jedoch auch mit dem Landfriedensrecht der deutschen Könige und mit der Spruchtätigkeit des staufischen Königsgerichts. Als Verfasser kommt nur einer der stadtgesessenen Reichsministerialen in Frage, in deren Händen Stadtverwaltung und Besetzung des Stadtschultheißenamts bis 1231 ausschließlich lagen. Manches spricht für den von 1222 bis 1246 urkundlich bezeugten Ministerialen Henricus scolaris, einen literarisch gebildeten Angehörigen der staufischen Verwaltungselite, manches auch für Swigger von Mühlhausen, der 1230 das Schultheißenamt bekleidete. Das Rechtsbuch ist in zwei jüngeren Handschriften überliefert, die aus Mühlhausen und Nordhausen stammen.228 Das Mühlhäuser Stadtrecht blieb in der Stadt auch nach dem Sturz der Ministerialenherrschaft 1256 in Geltung, wurde aber durch lateinisches Statutenrecht ergänzt, das von den Rechten und Pflichten der Bürger handelt. Die deutschsprachigen Statuten sind im späteren 13. Jahrhundert von der Stadt Nordhausen übernommen worden, sie waren also von einigem Einfluss. Weniger bekannt ist die lateinisch abgefasste Rechtssatzung von 1311, kein Rechtsbuch im eigentlichen Sinn, aber einem solchen nahekommend. Erwähnt sei noch die Willkür der Stadt Erfurt. Eigentliche Domäne der sogenannten Willküren229 war das Stadtrecht. Die Stadtherren billigten den 225
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Der Titel rekurriert auf die Anfangsworte des Textes in der Nordhäuser Handschrift (vgl. Anm. 228): „incipit liber iuris secundum ius imperii.“ Ed.: Das Mühlhäuser Reichsrechtsbuch aus dem Anfang des 13. Jahrhunderts. Deutschlands ältestes Rechtsbuch nach den altmitteldeutschen Handschriften hg., eingeleitet und übersetzt von Herbert Meyer. 2., verbesserte Aufl. Weimar 1934. Vgl. Peter Johanek: Stadtbücher. In: VL, Bd. 11 (2004), Sp. 1140–1453. Mühlhausen/Thür., Stadtarchiv, 10/T 8c Nr. 1a, früher Ms. A n. 96. Pergament, Ende 13., Anfang 14. Jh., Schreibsprache: thüringisch. Nordhausen, Stadtarchiv, Ms. II, Na 6. Pergament, Ende 13. Jh., Schreibsprache: thüringisch, Inc. „liber iuris secundum ius imperii.“ Mhd. willekür bedeutet ‚freiwillige Entschließung, Vertrag, Satzung‘. Ursprünglich meint der im Mittelalter noch nicht pejorativ konnotierte Begriff die Vereinbarung zu einem bestimmten Verhalten mit der Verpflichtung, sich im Fall der Verletzung festgesetzten Regeln zu unterwerfen. Vgl. Friedrich Ebel: Willkür. In: LexMA, Bd. 9 (1998), Sp. 1217–1218.
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Städten schon früh das Recht zu, sich Willküren zu geben. Wir kennen solche vom Rat vorgenommenen Rechtssatzungen, die nicht der Bestätigung durch den Stadtherrn bedurften, aus zahlreichen Städten (Breslau, Dresden, Eisenach, Halle, Königsberg, Leipzig, Schweidnitz usw.). Das Erfurter ‚Buch der Willkür‘ stammt aus dem frühen 14. Jahrhundert und ist damit eines der ältesten Stadtrechtsbücher.230 Die Erfurter Willkür kodifiziert das Gewohnheitsrecht der Bürgerschaft: 42 Statuten enthalten das Stadtrecht mit Festlegungen über die Ratsverfassung und die bürgerlichen Rechtsverhältnisse in Handel, Gewerbe und Besitzrecht. Das in einer mitteldeutschen Schreibsprache abgefasste Rechtsbuch wurde oft abgeschrieben, drei Handschriften gehören noch dem 14. Jahrhundert an. Wichtigster und ältester erhaltener Textzeuge ist ein aufwendig ausgestatteter Pergamentcodex, der die Satzung auf 56 Blättern enthält, überschrieben „Dit ist di willekur der stat zu Erfurtt“.231 Bis ins frühe 18. Jahrhundert hat man die Erfurter Willkür immer wieder kopiert.232 Bekannt sind insgesamt 28 Handschriften, zumeist Abschriften aus dem 16. und 17. Jahrhundert.233 Zeitgleich mit dem ‚Mühlhäuser Reichsrechtsbuch‘ entstand vielleicht in Thüringen die deutsche Fassung eines der bekanntesten Medizintexte des Mittelalters: der deutsche ‚Macer‘.234 Zugrunde liegt ein pharmazeutisches Lehrgedicht über Heilpflanzen und Drogen in rd. 2000 lateinischen Hexametern, das um 1070 wohl von dem Kleriker Odo von Meung (Loire) verfasst
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Vorläufer der Erfurter Willkür sind, wenngleich nicht im Wortlaut, das ‚Mühlhäuser Reichsrechtsbuch‘ und das ‚Magdeburger Weichbildrecht‘. Vgl. auch Peter Johanek: Stadtrechtsbücher. In: VL, Bd. 11 (2004), Sp. 1454–1455. Erfurt, Stadtarchiv, 2/100–3. Farbabbildung: Beck u. Unger (Anm. 216), S. 43, Nr. 22. Die Handschrift wurde Anfang des 14. Jh. begonnen, der die Willkür enthaltende Teil war um 1359/60 fertiggstellt. Das ganze Jahrhundert hindurch wurden Nachträge vorgenommen (schon 1310 kam es zu einer Veränderung in der sozialen Zusammensetzung des Rats). Dem 14. Jh. gehören noch an: Erfurt, Stadtarchiv, 2/100–1, geschrieben 1376/80, und Erfurt, Stadtarchiv, 2/100–4. Nach Ernst Pfeffer: Die Sprache des Erfurter ‚Buches der Willkür‘ nach den Handschriften des 14. Jahrhunderts. Laute, Formen und einige Fragen der Syntax. In: PBB (H) 93 (1972), S. 102–187, hier 106, handelt es sich bei beiden Handschriften um „Kopien der Urschrift“. Zu ihnen gehört Jena, ThULB, Ms. Prov. f. 176, eine Papierhandschrift des 16. Jh. (ein Teil dat. 1514), die eine Sammlung von Rechtstexten enthält (Sächsisches Landrecht, Stadtrecht von Erfurt und Willkür, Sachsenspiegel Lehnrecht, Stadtrecht). Stadtrecht und Willkür der Stadt Erfurt beginnen f. 57v: „Hy hebit statrecht vnd willekoer an.“ Vgl. Pensel (Anm. IV, 133), S. 368–371; Oppitz (Anm. 223), Bd. II, S. 176. Ed.: Der deutsche ‚Macer‘. Vulgatfassung. Mit einem Abdruck des lateinischen Macer Floridus ‚De viribus herbarum‘. Hg. von Bernhard Schnell u. William Crossgrove. Tübingen 2003 (TTG 50), S. 323–382. Das Werk fußt auf der Humoralpathologie, die besagt, dass Krankheiten entstehen, wenn die natürliche Säftemischung des Menschen gestört wird.
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wurde und im Mittelalter unter dem Namen ‚Macer floridus‘ bekannt war.235 Das lateinische Werk, das in seiner ursprünglichen Fassung in 77 Kapiteln Pflanzen wie Knoblauch, Lilie, Nessel, Rose, Salbei, Senf und Wermut hinsichtlich ihrer therapeutischen Verwertbarkeit behandelt, vermittelte gelehrtes Wissen der Antike und des Mittelalters, als Werk der „Volksmedizin“ wäre es missverstanden. Man verwendete es mehrere Jahrhunderte im klösterlichen Unterricht und in den neu entstehenden medizinischen Schulen, wobei seine additive Struktur Veränderungen der Kapitelzahl und -folge und andere Eingriffe erleichterte.236 Seit dem 12. Jahrhundert schrieb man es auch im deutschsprachigen Raum ab. Wohl um 1220/25 entstand eine deutsche Prosaübertragung, der deutsche ‚Macer‘ (Vulgatfassung), die nach Ausweis der überwältigenden handschriftlichen Überlieferung ein großer Erfolg wurde.237 Der deutsche ‚Macer‘ ist weit mehr als eine einfache Übersetzung: Die Hexameter der Vorlage sind in Prosa aufgelöst, die Kapitelfolge ist eine neue, der Textbestand erweitert; katalogisiert werden 95 Heilpflanzen, und zwar in verständlicher Weise und einfacher Gliederung. Dass der Text in Thüringen entstand, steht nicht unzweifelhaft fest. Sicher ist nur, aus sprachlichen Gründen, seine Entstehung im ostmitteldeutschen Raum. Die Entstehungszeit lässt
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Abdruck: Der deutsche ‚Macer‘ (Anm. 234), S. 409–473. Das Gedicht ‚De viribus herbarum‘ war seit dem 12. Jh. als ‚Macer floridus‘ bekannt. Man hielt es offenbar für ein antikes Werk und brachte es mit dem Schriftsteller Aemilius Macer, einem Freund Ovids, in Verbindung. Entstehungszeit und Autorschaft sind unsicher, in den Handbüchern erscheint es teils unter ‚Macer‘, teils unter Odo von Meung. Vgl. William C. Crossgrove: ‚Macer‘. In: VL, Bd. 5 (1985), Sp. 1109–1116. Kräuterbücher zählen zu den Großformen der mittelalterlichen Medizinliteratur. Medikamente gewann man aus pflanzlichen, tierischen und mineralischen Substanzen, das Ziehen medizinisch verwertbarer Kräuter gehörte besonders zur klösterlichen Gärtnerkunst. Das Wissen beruhte auf antiken Autoren wie Plinius, hinzu kam der Einfluss der berühmten medizinischen Schule von Salerno, die auch die arabische Medizin vermittelte. In der Ausgabe (Anm. 234) sind rd. 130 Handschriften ausgewertet. Ältester Textzeuge ist die lateinisch-deutsche medizinische Sammelhandschrift Wien, ÖNB, cod. 2524. Der deutsche ‚Macer‘ (unvollständig), f. 33r–41v, wurde im letzten Viertel des 13. Jh. in mitteldeutscher bzw. thüringischer Schreibsprache geschrieben, vgl. Ausgabe, S. 139. Aus dem späteren 14. Jh. stammt die in thüringischer Schreibsprache geschriebene Handschrift London, BL, Ms. Add. 16892, die auch den ‚Bartholomäus‘ enthält, im 15. Jahrhundert das am weitesten verbreitete Arzneibuch in Deutschland. Ed.: Der Hochdeutsche Bartholomäus. Kritisch-kommentierter Text eines mittelalterlichen Arzneibuches auf Grund der Londoner Handschriften Brit. Mus. Add. 16,892, Brit. Mus. Arundel 164, Brit. Mus. Add. 17,527, Brit. Mus. Add. 34,304. Hg. von Walter L. Wardale u. James Follan. Dundee 1993. Deutscher ‚Macer‘ und ‚Bartholomäus‘ erscheinen häufig zusammen, z. B. in der Sammelhandschrift Weimar, HAAB, Fol. 63a. Mehrere ‚Macer‘-Handschriften stammen aus dem Erfurter Peterskloster, zwei sind bezeugt für die Erfurter Kartause. Von der Vulgatfassung unabhängig ist eine Reimpaarfassung, überliefert in Gotha, FB, Chart. B 174, f. 2r–169r, geschrieben um 1460 vielleicht in Österreich.
4. PRAGMATISCHE SCHRIFTLICHKEIT
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sich kaum genauer als auf die erste Hälfte des 13. Jahrhunderts eingrenzen.238 Etwas schwankend sind die Angaben zur räumlichen Einordnung: sie reichen von Mitteldeutschland über den thüringisch-obersächsischen Raum bis zu Thüringen oder Schlesien.239 Der Übersetzer, der, wie in der Sachliteratur üblich, in der Anonymität verbleibt, war nicht nur literarisch und sprachlich versiert, er muss auch das nötige Fachwissen besessen und am Ort seiner Arbeit über die nötigen lateinischen Quellen verfügt haben.240 Über seine Motive und seinen Adressaten sind allenfalls Vermutungen möglich. Die Wahl der Prosa zeigt zunächst, dass das Werk nicht für die Schule bestimmt war, und die der Volkssprache, dass es sich nicht an Fachleute, etwa Wundärzte, wandte, sondern an Apotheker, Laienärzte, Mönche und Nonnen. Vorangestellt ist, ähnlich wie im ‚Lucidarius‘ und im ‚Sachsenspiegel‘, ein Reimprolog; doch anders als dort wird hier kein Adressat genannt. Der Übersetzer erklärt nur, auf Veranlassung einer Dame gearbeitet zu haben: Ouch bat ein vrowe mich das durch iren willen ich, der ich dienstes bin bereit, bestunde disse arbeit, das ich ir di wurze nente, swas ich der erkente unde ir crapht wolde scriben: das ensolde beliben unwrschult wider mich (v. 27–35).241
Diese Angabe kann, muss aber nicht literarische Fiktion sein. Das Publikum des deutschen ‚Macer‘ darf man sich am ehesten an einem Hof vorstellen, doch könnte der Hinweis auf eine „vrowe“ auch an eine Äbtissin mit ihrem 238
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Crossgrove (Anm. 235), Sp. 1110, setzte die Vulgatfassung „um 1200“ an. Nach Bernhard Schnell: Übersetzungen in der Fachliteratur. Zum ‚Älteren deutschen Macer‘. In: WolframStudien. Bd. 14. Berlin 1996, S. 185–207, hier 187, entstand sie „vermutlich in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts“. Die Ausgabe (Anm. 234) nennt die Datierung „um 1220“. Vgl. Crossgrove (Anm. 235), Sp. 1110; Ausgabe (Anm. 234), S. 59; Gundolf Keil: O. v. Meung. In: LexMA, Bd. 6 (1993), Sp. 1360 („Thüringen oder Schlesien“). Dieser Ort kann, wie das Beispiel Herborts von Fritzlar zeigt, ein anderer gewesen sein als der Sitz des Auftraggebers. Dass es sich bei der Übertragung des Kräuterbuchs für ein lateinunkundiges Publikum um ein Auftragswerk handelte, ergibt sich nicht zuletzt aus dem Aufwand, den die Beschaffung der Quellen darstellte. Übers. „Zudem bat mich eine Dame, der ich zu Diensten bin, diese Arbeit (der Übersetzung) auszuführen, ihre alle mir bekannten Kräuter zu nennen und ihre therapeutischen Eigenschaften zu beschreiben. Das würde auf meinem Schuldkonto ausgeglichen werden.“ Zur Trennung des Hofstaats von Fürst und Fürstin bei den Wettinern, die wahrscheinlich schon seit Heinrich dem Erlauchten anzunehmen ist, vgl. Streich (Anm. IV, 83), S. 262.
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V. SPÄTMITTELALTER
Frauenkonvent denken lassen242 Die Herausgeber des Werks kamen zu dem Schluss, es werde „um 1220 an einem thüringisch-obersächsischen Hof, der literarische Interessen hatte, das Mäzenatentum pflegte und eine gewisse literarische Tradition aufwies,“ entstanden sein243 Die Zahl der in Frage kommenden Höfe ist überschaubar; doch hat aus gutem Grund bisher noch niemand den deutschen ‚Macer‘ mit dem Hof der Landgrafen von Thüringen oder dem der Markgrafen von Meißen in Verbindung gebracht, da dafür jeglicher Anhaltspunkt fehlt, und ähnlich schwierig dürfte die Ermittlung eines passenden Frauenklosters sein. Um 1400 entstand im Erfurter Kartäuserkloster das ‚Erfurter Kartäuserregimen‘.244 Der lateinische Traktat bietet einen auf die Bedürfnisse des Ordens zugeschnittenen Kommentar des ‚Regimen sanitatis Salernitanum‘, einer gereimten Gesundheitslehre in 364 Hexametern, die um 1300 vielleicht in Salerno entstand und sich im Lauf der Zeit zu einem umfangreichen Kompendium auswuchs.245 Der versifizierte diätetische Leitfaden war sehr wirkmächtig: da er schulmedizinisches Wissen über Körperpflege, Essen und Bewegung in schlichter, das Memorieren erleichternder Form bot, wurden seine Merkverse in alle europäischen Sprachen übertragen und später oft gedruckt. Das ‚Erfurter Kartäuserregimen‘ gehört zur deutschen, aber nicht zur deutschsprachigen Rezeption, und zwar in das Grenzgebiet von Medizin und Theologie, insofern es Gesundheitsregeln für Ordensangehörige behandelt. Der medizinisch wie theologisch gut unterrichtete Autor schreibt als Konventsangehöriger (quidam Kartusiensis aput Erfordiam) für seine Brüder; er wertet die Gesundheitspflege als Bestandteil des Gottesdienstes auf und misst medizinischen wie geistlichen Gesichtspunkten das gleiche Gewicht zu. Von der Schulmedizin abzuheben, aber im weiteren Sinn der Heilkunde zuzurechnen sind die Segen, deren Tradition sich durch das ganze Mittelalter
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Vgl. Ausgabe (Anm. 234), S. 65. Gundolf Keil: Hildegard von Bingen deutsch: Das ‚Speyrer Kräuterbuch‘. In: Hildegard von Bingen in ihrem historischen Umfeld. [...].Internationaler wissenschaftlicher Kongreß zum 900jährigen Jubiläum 13.–19. September 1998, Bingen am Rhein. Hg. von Anselm Haverkamp. Mainz 2000, S. 441–458, hier 449, vermutete: „Widmungsempfängerin könnte die junge Hedwig, schlesische Herzogin am Breslauer Hof, gewesen sein.“ Ausgabe (Anm. 234), S. 60. Ed.: Koch, Manfred Peter: Das ‚Erfurter Kartäuserregimen‘. Studien zur diätetischen Literatur des Mittelalters. Diss. med. Bonn 1969, S. 16–133. Der Traktat ist in einer um 1470 geschriebenen lateinisch-deutschen Sammelhandschrift überliefert, die sich später in Augsburg befand. Die deutschen Texte sind in thüringischer und in ostschwäbischer Schreibsprache geschrieben. Heute München, Bayerische Staatsbibliothek, Cgm 742. Die regimen (Leitfaden) genannten Schriften wollten zu einer gesundheitsgerechten Lebensführung anhalten. Vgl. Gundolf Keil: ‚Regimen sanitatis Salernitanum‘ (‚Salernitanisches Gesundheitsgedicht‘; ‚Flos medicinae [Salernitanae]‘). In: VL, Bd. 7 (1989), Sp. 1105–1111.
4. PRAGMATISCHE SCHRIFTLICHKEIT
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zieht. Unter den Zaubersprüchen und Segen, die seit dem 9. Jahrhundert in die Handschriften aufgenommen wurden, zielt eine große Gruppe auf die Heilung von Krankheiten und Beschwerden des Menschen wie von Haustieren: sie sollen Augenleiden, Fieber, Gicht und Epilepsie heilen und immer wieder Blutungen stillen. Die Zahl der Segen, die noch im Spätmittelalter in die Handschriften gelangten, ist beträchtlich. Auch in Thüringen lebten entsprechende Vorstellungen und (dem Anspruch nach rationale) Praktiken fort. Das bezeugt ein Traktat ‚De arte magica‘, den man dem Erfurter Kartäuser Johannes Hagen, einem überaus produktiven geistlichen Schriftsteller, zuschreibt.246 Allein an Segen, deren Anwendung der Traktat kritisiert, werden genannt: Formeln zur Heilung von Krankheiten, gegen nagende Würmer, gegen Wölfe, zur Heilung von Verwundungen, zum Ausziehen von Geschossen, zur Stillung des fließenden Bluts.247 Die Sprüche, die sich mit dem mitteldeutschen Raum verbinden lassen (Blutsegen, Gichtsegen, Pfeilsegen, Wundsegen, Wurmsegen), stammen allerdings zumeist aus späterer Zeit, von so berühmten Denkmälern wie den ‚Merseburger Zaubersprüchen‘ trennt sie ein Abstand von mehreren Jahrhunderten.248 Nichts mit Thüringen zu tun hat der ‚Gothaer Fiebersegen‘, eine wohl für den Priester bestimmte Segensformel, die um 1200 in Echternach in einen großformatigen Codex, der in der Hauptsache eine lateinische Bibel enthält, in moselfränkischem Schreibdialekt eingetragen wurde.249 Ähnlich verhält es sich mit einem Erfurter Blutsegen: Der heute in Erfurt liegende Codex, eine mehrteilige medizinische Sammelhandschrift des 12. Jahrhunderts, entstand in
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Nach Dieter Mertens: Hagen, Johannes (von Hagen, J. Indaginis, de Indagine, J. Bremer od. Brewer de Haghen). In: VL, Bd. 3 (1981), Sp. 388–398, hier 389, entfaltete Hagen „seit 1451 eine enorm anschwellende und kaum zu überblickende schriftstellerische Aktivität“. Zu Autorschaft und Inhalt des nach 1462 geschriebenen Traktats vgl. Joseph Klapper: Der Erfurter Kartäuser Johannes Hagen. Ein Reformtheologe des 15. Jahrhunderts. I. Teil. Leben und Werk. Leipzig 1960–1961 (Erfurter Theologische Studien 9), S. 76 f. Aus einer Handschrift des 12. oder 13. Jh. stammt ein fragmentarischer Tobiassegen, d. h. ein gereimter Reisesegen: drei Pergamentfalze, die aus dem Einband des Erfurter CA 4° 387 gelöst wurden. Abdruck: Denkmäler deutscher Poesie und Prosa (Anm. 215), Bd. 2, S. 291. Vgl. Heather Stuart: ‚Tobiassegen‘. In: VL, Bd. 9 (1995), Sp. 947–949. „Das Stück ist offenbar eine Anweisung für den Priester, wie er in Fieberfällen sich dem Kranken und um Beistand Bittenden gegenüber verhalten soll.“ Friedrich Wilhelm: Denkmäler deuscher Prosa des 11. und 12. Jahrhunderts. München 1960 (German. Bücherei 3), S. 132. Abdruck des Textes ebd., S. 51–52. Der den Segen f. 407ra und 414vb enthaltende Codex, früher Gotha, FB, Memb. I, 1 („Gothaer Riesenbibel“), befindet sich heute in Luxemburg, Bibl. Nationale, Ms. 264. Die Angaben bei Heather Stuart u. Fred Walla: Die Überlieferung der mittelalterlichen Segen. In: ZfdA 116 (1987), S. 53–79, hier 62 und 67, sind entsprechend zu korrigieren. Vgl. Hellgardt (Anm. II, 96), S. 71, Nr. 216. Vgl. auch Karl Regel: Mitteldeutscher Fiebersegen aus dem zwölften Jahrhundert. In: ZfdPh 6 (1875), S. 94–98.
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V. SPÄTMITTELALTER
Italien. Wenn er dennoch erwähnt wird, so auch deshalb, weil Blutsegen sehr häufig auftreten. In den Text des lateinischen ‚Macer floridus‘ hinein wurden auf Blatt 8r am Seitenrand in kleinerer Schrift zwei gereimte Segen zur Blutstillung nachgetragen. Der erste beginnt mit den Worten: „Crist wart wunt, des wart er gesunt. sta(n)t blùt stant blùt“; der zweite folgt unmittelbar darauf, beginnend Item.250 Die Formeln sind verwandt mit dem Bamberger und dem Millstätter Blutsegen, sogenannten Jordansegen. Gemeint ist: So wie bei Christi Taufe der Legende nach der Jordan stillstand (davon erzählt die epische Vorbildhandlung des in vielen Varianten verbreiteten Spruchs), soll jetzt (zweiter Teil) N. das Blut zum Stillstand bringen, der magische Mechanismus also von der Vergangenheit auf die Gegenwart ausgreifen (Analogiezauber). Wir kennen jedoch auch Sprüche mitteldeutscher, wenn nicht thüringischer Provenienz. So trug man in die Handschrift des ‚Berliner Evangelistars‘, die um die Mitte des 14. Jahrhunderts gefertigt wurde, man einen Gichtsegen ein.251 Eine im frühen 15. Jahrhundert angelegte Handschrift mit lateinischen Schultexten enthält auf dem letzten Blatt Segen gegen Blattern, Würmer und Blutung in mitteldeutschem Schreibdialekt.252 In einem anderen lateinischen Sammelcodex trug man auf der hinteren Hülle einen Wurmsegen nach.253 Dass man noch im Spätmittelalter Segen aufschrieb, belegt auch die bereits im Zusammenhang des ‚Laurin‘ erwähnte Zeitzer Handschrift, ein Manuskript des 15. Jahrhunderts in ostthüringischem Schreibdialekt, das im Anschluss an das Heldenepos einen Wund-, einen Blut- und einen Pfeilsegen überliefert.254 Für den Bereich der Schule sei das schon genannte ‚Abstractum-Glossar‘ angeführt, ein lateinisch-deutsches Wörterbuch zur Erklärung philosophischer 250
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Ed.: Die kleineren althochdeutschen Sprachdenkmäler. Hg. von Elias von Steinmeyer. Berlin 1916. Ndr. Dublin, Zürich 1971 (Deutsche Neudrucke. Reihe: Texte des Mittelalters), S. 378; Verena Holzmann: „Ich beswer dich wurm vnd wyrmin ...“. Formen und Typen altdeutscher Zaubersprüche und Segen. Bern, Berlin, Bruxelles [u. a.] 2001 (Wiener Arbeiten zur germ. Altertumskunde und Philologie 36), S. 184, Nr. 107, und S. 231, Nr. 211. Die Segen verstehen sich als Gegenmittel zu den im Text beschriebenen Anwendungsbereichen. Vgl. Katalog der althochdeutschen und altsächsischen Glossenhandschriften. Bearb. von Rolf Bergmann u. Stefanie Stricker. [...]. Bd. I. Berlin, New York 2005, S. 388 f. Schulhandschriften wie diese sind oft weit gewandert; so stammt die den ‚Macer floridus‘ enthaltende Handschrift Zeitz, Stiftsbibl., 8° Ms. perg. 84 aus Südfrankreich. Berlin, SBB PK, mgq 533, f. 125v. Die Schreibsprache wurde als thüringisch-obersächsisch bestimmt, vgl. Anm. IV, 347. Erfurt, UB, CA 4° 65, f. 153: „Daz ist vor dy blattern – Daz ist vor den vngenanten – Daz ist vor daz bluot“, geschrieben von mehreren Händen. Vgl. Schum (Anm. 203), S. 337 f. Erfurt, UB, CA 4° 253, geschrieben 1416. Vgl. Schum (Anm. 203), S. 504 f. Ein Wurmsegen findet sich auch in Weimar, HAAB, Fol. 63a, einer deutsch-lateinischen medizinischen Sammelhandschrift aus der Mitte des 15. Jh., die u. a. den ‚Macer‘ enthält. Die drei Segen folgen f. 56v– 57v Abdruck: Holzmann (Anm. 250), S. 159, Nr. 60, S. 174 f., Nr. 89, S. 240, Nr. 227. Zur Handschrift vgl. auch Anm. IV, 177.
4. PRAGMATISCHE SCHRIFTLICHKEIT
341
und theologischer Begriffe, benannt nach dem ersten Lemma.255 Entstanden ist es um 1300 vielleicht im Umfeld des Erfurter Franziskanerstudiums; darauf weisen die Sprachformen der volkssprachigen Interpretamente. Bestimmt war es als Einführung und Lesehilfe: es sollte dem Anfänger mit Wortgleichungen wie proportio – ebenmezsigkeyt den Wortschatz der älteren Franziskanerschule in der Volkssprache erschließen. Nachweisbar ist das Glossar auch im Betrieb der Erfurter Universität.256 In seiner ältesten Fassung zählt es 410 lateinische Lemmata und volkssprachige Interpretamente, womit es eines der kleinsten und ältesten zweisprachigen Fachglossare ist. Später schwoll die Zahl der Einträge auf mehr als 2000 an. Als Autor wird gelegentlich der schlesische Zisterzienser Konrad von Heinrichau genannt; doch ob er der Verfasser war oder nur ein Bearbeiter, ist noch nicht geklärt. Fest steht nur, dass er die Glossare in der Breslauer Handschrift cod. IV Q 92 schrieb.257 Das ‚Abstractum-Glossar‘ ist allerdings älter; es findet sich bereits in zwei Handschriften, die das Bibelvokabular des Guilelmus Brito enthalten, und zwar in einer Kurzfassung, die auf den um 1300 in Erfurt wirkenden bedeutenden Franziskanerkanonisten und -theologen Johannes von Erfurt zurückgeht.258 Das ‚Abstractum-Glossar‘ erfuhr also Erweiterungen und Kürzungen, es ging Symbiosen mit anderen Glossaren ein, und es ist nicht das einzige, das wir mit Thüringen und Erfurt im Besonderen verbinden können.259
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Ed.: Glossar für das XII.–XIV. Jahrh. Hg. von Heinrich Hoffmann u. Wilhelm Wackernagel. In: Fundgruben für Geschichte deutscher Sprache und Literatur. Hg. von H. H. 1. Teil. Berlin 1830, S. 347–400 (357–400). Vgl. Assion (Anm. 201), S. 61 f. Eine Kurzfassung des ‚Abstractum-Glossars‘ enthält auf den Blättern 81ra–82va die Anm. 204 erwähnte Handschrift aus dem Erfurter Collegium Porta Coeli. Das Glossar bietet nicht ausschließlich Fachwortschatz, sondern auch Lexik wie z. B. ebenwîhtac (Neujahrstag) und smuz (Kuss). Da die früheste Fassung eine Reihe flektierter Wortformen enthält, ist denkbar, dass ursprünglich ein lateinischer Text interlinear glossiert wurde und die Lemmata erst später in eine alphabetische Ordnung gebracht wurden. Vgl. Kurt Illing: ‚AbstractumGlossar‘. In: VL, Bd. 1 (1978), Sp. 20–22. In der Handschrift folgt den Glossaren Konrads von Heinrichau das ‚Abstractum-Glossar‘ (f. 67va –71va). Vgl. Klaus Grubmüller: Vocabularius Ex quo. Untersuchungen zu lateinischdeutschen Vokabularien des Spätmittelalters. München1967 (MTU 17), S. 49–52; Volker Honemann: Konrad von Heinrichau. In: VL, Bd. 5 (1985), Sp. 202–204. Das auf die Erschließung des Litteralsinns der Bibel zielende Wörterbuch ‚Expositiones vocabulorum biblie‘ des französischen Franziskaners wirkte auf die spätere lateinischdeutsche Lexikographie; sekundäre Einschübe aus seinem Werk finden sich in vielen Vokabularen. Vgl. Klaus Grubmüller: Guilelmus Brito. In: VL, Bd. 3 (1981), Sp. 300–302. Die 1309 entstandene Kurzfassung des Johannes von Erfurt bietet den Rahmen, in dem das ‚Abstractum-Glossar‘ zum ersten Mal auftritt. Vgl. Norbert Brieskorn u. Volker Honemann: Johannes von Erfurt. In: VL, Bd. 4 (1983), Sp. 583–589, hier 587; LThK, Bd. 5, Sp. 904. Zu dem Vokabular Bertholds von Eisenach vgl. Anm. 203. Zu Hermann Kappels ‚Hubrilugus‘ vgl. Gerhardt Powitz: Hubrilugus und Huwilogus. In: ZfdA 93 (1964), S. 226–238.
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V. SPÄTMITTELALTER
Beträchtlich ist die Zahl der in Latein und in Deutsch, in Versen wie in Prosa abgefassten Werke, die sich an den Menschen schlechthin, an einzelne Stände wie Ritter, Herrscher oder Studenten wenden, um rechtes Verhalten zu lehren, Pflichten in Erinnerung zu rufen und vor den Folgen falscher Lebensführung zu warnen. Manche dieser Werke wurden – anders als die ‚Tugendlehre‘ Wernhers von Elmendorf – jahrhundertelang gelesen, aktualisiert und tradiert. Das gilt für den oberdeutschen Dichter Freidank, einen etwas jüngeren Zeitgenossen Wolframs von Eschenbach, dessen Spruchsammlung ‚Bescheidenheit‘ bis weit in das 15. Jahrhundert fortlebte, in die Schullektüre gelangte, in lateinische Hexameter umgesetzt und noch gedruckt wurde. Die ‚Bescheidenheit‘ (der Titel meint das Unterscheidungsvermögen, lat. discretio) ist eine Sammlung kurzer, eingängiger Sprüche, Sprichwörter und Sentenzen über Themen wie Gott und die Welt, Tugend und Laster, Armut und Reichtum. Grundbaustein ist der epigrammatisch zugespitzte Zweizeiler des Typs: „Daz wirste lit, daz iemen treit / daz ist diu zunge, sô man seit.“260 Im Spätmittelalter hielt man die Sprüche Freidanks, die weithin durchschnittliches Erfahrungswissen bieten, nicht nur auf Pergament und Papier fest, sondern gravierte sie auch in Steine, Balken und Richtschwerter. In Erfurt versah man mit ihnen in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts lederbezogene hölzerne Rundschilde, obwohl in ihnen nirgends vom Bürger, wohl aber vom Adel die Rede ist. Neben anderen Schilden zierten sie das hölzerne Tonnengewölbe des großen Saals im alten Rathaus. 26 dieser Schilde sind erhalten.261 Auf Kreidegrund zeigen sie in Temperamalerei je eine Männergestalt im Brustbild auf Goldgrund, umgeben von einem Spruchband. Auf einem der Schilde findet sich auch der oben zitierte Spruch. Auf einem anderen steht in Spiegelschrift: WIN WIP TOPILSPIL MACHET TVMMER LVTE VIL, also „Wein, Weib, Würfelspiel machen dummer Leute viel“.262 Eines jener das ganze Mittelalter hindurch gelesenen Werke sind die ‚Disticha Catonis‘ aus dem 3. oder 4. Jahrhundert. In 144 Distichen, also in leicht 260
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Ed.: Fridankes Bescheidenheit. Hg. von H. E. Bezzenberger. Halle 1872, hier 164, 3 f. „Übers.: „Das schlimmste Glied, das der Mensch besitzt, ist die Zunge, wie man sagt.“ Vgl. Uwe Heckert: Die Ausstattung des Großen Saales im alten Erfurter Rathaus. Ein Beitrag zum politischen Selbstverständnis eines Stadtrats im späten Mittelalter. In: Mundus in imagine. Bildersprache und Lebenswelten im Mittelalter. Festgabe für Klaus Schreiner. Hg. von Andrea Löther, Ulrich Meier, Norbert Schnitzler [u. a.]. München 1996, S. 303–318, hier 311–315. Die Schilde sind ausgestellt im Angermuseum, darunter der bei Alfred Overmann: Erfurt in zwölf Jahrhunderten. Eine Stadtgeschichte in Bildern. Erfurt 1929, S. 69, abgebildete, und im Stadtmuseum Erfurt. Freidank-Sprüche auch in einigen Erfurter Handschriften, z. B. Erfurt, UB, CA 4° 63, f. 125vb (1395). Schild 7. Vgl. Freidank 48, 9 f.: „Irriu wîp, zern unde spil / diu machent tumber liute vil.“ Übers.: „Dirnen, Schlemmerei und Spiel haben schon viele zum Toren gemacht.“ Ähnlich Johannes Rothe im ‚Ritterspiegel‘ (Anm. 47), v. 1759 ff.
4. PRAGMATISCHE SCHRIFTLICHKEIT
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memorierbarer Form, bieten sie elementare Verhaltenslehren, den Umgang mit den eigenen Affekten betreffend, mit Leid, mit Fremden, Freunden, der eigenen Frau.263 Man soll Gott dienen, nicht zu viel schlafen, denn wer tagsüber schläft, neigt zu Laster und Trägheit, man soll das Schweigen dem Reden vorziehen usw. Seit karolingischer Zeit nutzte man die spätantike Sentenzensammlung im Lateinunterricht, verband sie doch sprachliches Material mit pragmatischen Lebensregeln. Der ‚Cato‘ avancierte zu einem verbreiteten Schulbuch und wurde noch von Autoren wie Sebastian Brant und Martin Opitz bearbeitet; er wurde kopiert, kommentiert und seit dem 13. Jahrhundert mehrfach auch ins Deutsche übersetzt.264 Mit der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts begann eine regelrechte Übersetzungswelle; die Verfasser sind zumeist unbekannt und nur selten literarisch ambitioniert. Eine dieser insgesamt kaum überschaubaren, in der Wirkung begrenzten Übertragungen enthält eine Handschrift aus dem Erfurter Collegium Amplonianum.265 Der 1419/20 von einem Duderstädter Magister geschriebene Band war offenbar für die Hand eines Lehrenden bestimmt; neben kleineren Vers- und Prosatexten für den Grammatikunterricht enthält er an 19. Stelle den lateinischen ‚Cato‘ mit vollständiger Übersetzung.266 Die Symbiose von lateinischem und deutschem Text weist auf die Gebrauchssituation Unterricht. Lateinischer Text und Übertragung sind optisch kaum voneinander unterschieden; der deutsche ist in den lateinischen Text versweise integriert.267 Gelegentlich finden sich erläuternde
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Ed.: Leopold Zatoèil: Cato a Facetus. Pojednáni a texty. Zu den deutschen Cato- und Facetusbearbeitungen. Untersuchungen und Texte. Brno 1952 (Spisy Masarykowy Universitety v Brnì 48), S. 229–237. Seinen Titel verdankt das Werk dem Umstand, dass die Reden des Cato Censorius für ihren schlagfertigen Witz bekannt waren. Vgl. Henkel (Anm. II, 107), S. 228–231; Michael Baldzuhn: Schulbücher im Trivium des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Die Verschriftlichung von Unterricht in der Text- und Überlieferungsgeschichte der ‚Fabulae‘ Avians und der deutschen ‚Disticha Catonis‘. Bd. 1, 2. Berlin, New York 2009 (QF. NF 44/1, 2); Kesting (Anm. III, 135). Erfurt, UB, Dep. Erf. CA. 12° 4, der lateinisch-deutsche ‚Cato‘ f. 161r–181r, Inc.: „[H]y hebet sych ein buchelin an daz gemachet hat eyn wyse man, der da Tulius ward genand, dyssem buch her eynen namen vand, her hyz ez nicht nach dem namen sin, besundern Katho hyz her daz buchelin.“ Vgl. Schum (Anm. 203), S. 759–761; Baldzuhn (Anm. 264), Bd. 2, S. 522–527. Wie der Band nach Erfurt gelangte, ist bislang ungeklärt. Eine ‚Cato‘Handschrift aus dem Besitz des Erfurter Petersklosters liegt heute in Eisleben, Turmbibl. der St. Andreaskirche, M 969, eine andere Handschrift, die 1487 in Erfurt geschrieben wurde, in Wolfenbüttel, HAB, Cod. Guelf. 37.34 Aug. 2°. Der noch unedierte Erfurter ‚Cato‘ gehört zur Textgruppe III; seine nähere Einordnung steht noch aus. Vgl. Baldzuhn (Anm. 264), Bd. 1, S. 240 f. F. 161v etwa bietet folgendes Bild: 2 lateinische Zeilen, 7 deutsche Zeilen, 5 lateinische Zeilen, 8 deutsche Zeilen, 2 lateinische Zeilen, 2 deutsche Zeilen. Eine Abbildung der Seite bei Michael Baldzuhn: ‚Disticha Catonis‘. Datenbank der deutschen Übersetzungen. Netzadresse: http://www.rrz.uni-hamburg.de/disticha-catonis (07. 08. 2011).
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V. SPÄTMITTELALTER
Glossen, und ab Blatt 164v sind jedem Distichon lateinische Tugendbegriffe zugeordnet, wiederum ein Hinweis auf den gelehrten Schreiber. In Thüringer Bibliotheken gibt es weitere Handschriften mit Gedichten wie dem ‚Cato‘, die man mehrere Jahrhunderte in der Schule las. Viele Manuskripte überliefern den ‚Cato‘ zusammen mit dem lateinischen Lehrgedicht ‚Facetus‘ aus dem 12. Jahrhundert. Der ‚Facetus Cum nihil utilius‘ ist eine Sammlung moralischer Sprüche in zumeist endgereimten Hexametern. An den ‚Cato‘ anknüpfend, erteilt er Anstands- und Verhaltenslehren für verschiedene Lebenslagen, bei Tisch, auf Wanderschaft usw.268 Die älteste deutsche Übertragung entstand um die Mitte des 14. Jahrhunderts im Südwesten und wanderte über Thüringen und Sachsen weiter nach Schlesien. Zuerst begegnet sie in einer Gothaer Handschrift des späteren 14. Jahrhunderts.269 Nahe verwandt mit ihr ist der lateinisch-deutsche ‚Facetus‘, den wir durch das etwa zeitgleiche Jenaer Fragment einer Pergamenthandschrift kennen.270 Der deutsche ‚Cato‘ und ‚Facetus‘ sind im Spätmittelalter im mittleren Deutschland handschriftlich überliefert, jedoch keine thüringischen Gedichte. Ein drittes Lehrgedicht ist hier zu erwähnen, der um die Mitte des 13. Jahrhunderts wohl unter dem Einfluss der ‚Facetus‘-Gedichte entstandene ‚Fagifacetus‘. Sein Verfasser, Reiner der Deutsche, wurde mit der Kanzlei der Ludowinger oder Wettiner in Verbindung gebracht, jedoch kaum zu Recht. Der ‚Fagifacetus‘ ist eine Tischzucht in 440 zumeist reimlosen Hexametern.271 Er will Tischsitten lehren, den Umgang mit Essen und Trinken im Beisein von Gleichgestellten, einem Herrn, einer Tischgefährtin.272 Über den Verfasser ist kaum etwas bekannt.
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Ed. des lateinischen Textes und der deutschen Übertragungen: Carl Schröder: Der deutsche Facetus. Berlin 1911 (Palaestra 86). Älteste Handschrift des lateinischen Gedichts ist Erfurt, UB, CA 4° 75, f. 84v–86 v. Vgl. Schum (Anm. 203), S. 343 f. Gotha, FB, Chart. A 216, f. 95v –98r. Ed.: C. Schröder (Anm. 268), S. 221–238. Vgl. Rüdiger Schnell: ‚Facetus‘. In: VL, Bd. 2 (1980), Sp. 700–703; Baldzuhn (Anm. 264), S. 1001 f. Jena, ThULB, Ms. Prov. o. 17, Schreibsprache: obersächsisch. Vgl. Pensel (Anm. IV, 133), S. 417 f.; Baldzuhn (Anm. 264), Bd. 2, 1003. Ed. Paul Crain: Bruchstück eines lateinischdeutschen Facetus in der Jenaer Universitätsbibliothek. In: ZfdA 51 (1909), S. 218–226. Tischzuchten sind Gedichte, die über richtiges Benehmen bei Tisch belehren wollen und, der besseren Memorierbarkeit halber meist in Reimpaarversen, Regeln formulieren wie: „Czu dem tisch nieman ge, / Er hab sein hend gewaschen ee.“ Die gewöhnlich anonymen, poetisch anspruchslosen kurzen Gedichte, vielfach Bearbeitungen älterer Werke, gehören besonders dem Spätmittelalter an. Wohl als Reaktion auf eine Flut belehrender Literatur begegnen seit dem 15. Jh. sog. grobianische Tischzuchten, die ihre Lehre als satirischen Preis des Gegenteils bieten. Vgl. Dieter Harmening: Tischzuchten. In: VL, Bd. 9 (1995), Sp. 941–947. Auch der ‚Fagifacetus‘ ist in Erfurter und Gothaer Handschriften überliefert. Eine deutsche Übersetzung schuf Sebastian Brant 1490. Ed.: Sebastian Brants Narrenschiff. Hg. von Friedrich Zarncke. Leipzig 1854. Ndr. Hildesheim 1961, S. 147–153. Vgl. Jürgen Stohlmann: Reiner der Deutsche (Reinerus, Reynerus Alemannicus, Renerus Alamannus). In: VL, Bd. 7 (1989), Sp. 1161–1165; Henkel (Anm. II, 107), S. 297–299.
4. PRAGMATISCHE SCHRIFTLICHKEIT
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Seine Identifizierung mit einem Lütticher Benediktiner ist unwahrscheinlich und die Annahme, er habe sich an gebildete Kreise der prosperierenden Städte Limburgs, Flanderns und Brabants gewandt, kaum beweisbar. In der reichen Überlieferung wird er als Deutscher (quidam Alemanus) bezeichnet, als Sachse (Reynerus de Saxonia) und früh schon als magister – tatsächlich zeigt er sich mit den klassischen Autoren vertraut. Dass der ‚Fagifacetus‘ nun in Thüringen entstand, ist wenig wahrscheinlich. Zwar bezeichnet eine späte Handschrift den Verfasser als Kanzler der Landgrafen von Thüringen, und andere nennen ihn protonotarius, doch ist weder für die Ludowinger noch für die Wettiner in jener Zeit ein Notar namens Reiner(us) nachweisbar, sodass diese Angaben als unzuverlässig gelten müssen.273 Erwähnt sei noch ein verwandtes Werk, das man ‚Erfurter Tischregeln‘ genannt hat. Eine Sammelhandschrift mit lateinischen und deutschen Texten, die im späten 15. Jahrhundert wahrscheinlich in Erfurt geschrieben wurde, enthält neben einer Tischzucht in deutschen Reimpaarversen zwei mit ihr zusammenhängende lateinische Stücke, leges bzw. statuta mensae, die Regeln für studentische Stammtische mit Beitritts- und Strafgebühren angeben.274 Eine spezielle Gruppe innerhalb der verhaltensorientierenden Literatur bilden die Fürstenspiegel, Texte, die ethische, pädagogische, ökonomische und politische Fragen mit dem Ziel behandeln, einem Fürsten das Musterbild seines Standes zu entwerfen. Thematisiert werden seine Stellung zu Gott und seiner Kirche, Forderungen persönlicher Tugendhaftigkeit, die Haltung gegenüber Untergebenen und Fragen der Kriegsführung. Das Ideal ist der rex iustus, der tugendhafte Herrscher, der sich durch Gerechtigkeit und Frömmigkeit auszeichnet und den Frieden wahrt. Seit dem 13. Jahrhundert verarbeiteten die Fürstenspiegel die organische Staatstheorie des Aristoteles. Klassisches Muster wurde die Schrift ‚De regimine principum‘ (1277/79) des Augustiner-Eremiten Aegidius Romanus, die in die meisten europäischen Sprachen übersetzt wurde. Eine der sechs, voneinander unabhängigen deutschen Bearbeitungen schuf um 1371/79 der Erfurter Augustiner-Eremit Johannes von Vippach.275 Auftraggeberin seiner ‚Katherina divina‘ betitelten Schrift war die mit dem Wettiner
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Der Autorname findet sich v. 1–15 als Akrostichon: Reinervs me fecit. In München, BSB, clm 4394, heißt es 1475: Reinherii cancellarii landgravii Thuringensis (f. 128v). Die Angabe von Hans Walther: Reinerus (Rainerus, Reinherius, Rhenerus) Alemannicus (Almanicus). In: Die deutsche Literatur des Mittelalters (Anm. IV, 44). Bd. 5. Berlin 1955, Sp. 972–975, hier 972, Reiner erscheine „in Urkunden Thüringens vor 1247“, ist im neuen VL aufgegeben. Göttingen, SUB, cod. philol. 235, f. 21r–22v . Ed.: Karl Meyer: Erfurter Tischregeln. In: ZfdA 36 (1892), 56–63 (60–63). Vgl. Gerd Brinkhus: ‚Fürstenspiegel nach Aegidius Romanus‘. In: VL, Bd. 2 (1980), Sp. 1023–1026. Die Schrift des Aegidius Romanus ist in Erfurter Klöstern und Kollegien in einer Reihe von Exemplaren nachweisbar.
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V. SPÄTMITTELALTER
Friedrich III. dem Strengen verheiratete Gräfin Katharina von Henneberg.276 Der in sachlicher Prosa abgefasste Text gibt das zweite und dritte Buch seiner Hauptquelle ‚De regimine principum‘ (Ökonomik und Staatslehre) kürzend wieder, meistzitierte Autorität ist Aristoteles. Mehrfach finden sich Verseinlagen, sodass man überlegt hat, ob Johannes ursprünglich eine Versfassung beabsichtigte.277 Ungeklärt ist auch, ob jene Kürzungen auf ihn selbst zurückgehen oder ob ihm die Schrift des Aegidius Romanus bereits im Auszug vorlag. Aus dem ostmitteldeutschen Raum stammt nach Ausweis der Sprache eine zweite Bearbeitung des lateinischen Fürstenspiegels, nach ihren Anfangsworten benannt ‚Welch furste sich vnde syne erbin‘.278 Der anonyme Text des frühen 15. Jahrhunderts bietet ebenfalls eine auswählende, freie Übertragung von ‚De regimine principum‘, die besonders das zweite Buch über die Kindererziehung herausstellt. Vielleicht war auch er für den Hof der Wettiner bestimmt. Lateinische Fürstenspiegel für verschiedene Adressaten schrieb der Erfurter Kartäuser Johannes Hagen. Für Landgraf Wilhelm III. den Tapferen und seine Amtleute entstand die Schrift ‚De regimine principis‘, die durch den Kanzler Thomas von Buttelstedt ins Deutsche übersetzt werden sollte.279 Mehrere, an verschiedene Gruppen der Gesellschaft adressierte lehrhafte Gedichte verfasste Johannes Rothe. Seiner Zeit als Eisenacher Ratsschreiber entstammen die beiden Ratsgedichte und der Fürstenratgeber.280 Diese, trotz ihrer unterschiedlichen Adressaten eng zusammen gehörenden Gedichte sind nur in teils korrupten, teils unvollständigen Fassungen erhalten; vielleicht
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Ed.: Die ‚Katherina divina‘ des Johannes von Vippach. Ein Fürstenspiegel des 14. Jahrhunderts. Eingeleitet und hg. von Michael Menzel. Köln, Wien 1989 (Mitteldt. Forsch. 99). Johannes ist 1344–1375 als Lektor des Erfurter Konvents urkundlich nachweisbar. Vgl. Gerd Brinkhus: Johannes von Vippach (Vitpech). In: VL, Bd. 4 (1983), Sp. 793. Der Titel bezieht sich auf die Bußübungen und öffentlichen Gebete, mit denen Katharina nach dem Tod eines Sohns Gottes Segen für weitere Nachkommen erflehte. Ein so anspruchsvoller Text wie die ‚Katherina divina‘ war an einem Wettiner Hof nicht selbstverständlich. „Was Katharina von Henneberg sich leistete, war sonst nur an bedeutenderen Höfen als dem Meißener üblich.“ Menzel, S. 43 f. Katharina hielt sich meist in der Grafschaft Coburg auf. Zur Form des Prosimetrums vgl. Menzel (Anm. 276), S. 36 f. Der Traktat ist überliefert in der Sammelhandschrift, Göttingen, SUB, 4° Cod. Ms. philos. 21, f. 12vb–138vb , geschrieben 1463 von Matthias Molitor in Weida in mitteldeutscher Schreibsprache. Ed.: Welch furste sich vnde syne erbin. Auf der Grundlage der Handschrift Chart. B 69 der Forschungsbibliothek Gotha. Hg. von Uta Störmer. In: Zwei ostmitteldeutsche Bearbeitungen lateinischer Prosadenkmäler. [...]. Hg. von Hildegard Boková, Václav Bok, U. S. Berlin 1990 (DTM 76), S. 189–292. Vgl. D. Mertens (Anm. 246 ), Sp. 394 u. 396; Klapper (Anm. 247), S. 149. Ed.: Johannes Rothes Ratsgedichte (Anm. 47). 1. Ratsgedicht, S. 45–59; 2. Ratsgedicht, S. 61–79; Fürstenratgeber S. 84–100. Vgl. Wolfgang Heinemann: Zur Ständedidaxe in der deutschen Literatur des 13.–15. Jahrhunderts. In: PBB (H) 89 (1967), S. 290–403, hier S. 361–369.
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sollten sie ursprünglich als Vorreden zu Rothes juristischen Büchern dienen.281 Adressat der Ratsgedichte war wohl der Eisenacher Ratsherr Reinhard Pinkernail. Das erste Gedicht (rd. 280 Paarreime) beschreibt den Aufbau der Verwaltung und die soziale Struktur der Stadt anhand der antiken Organismusmetapher: Bürgermeister und Rat entsprechen Kopf und Herz, die Kämmerer den Händen, der Schreiber den Augen usw. bis hin zu Haut, Adern und Eingeweiden. Jedem Glied ist seine Aufgabe zugewiesen, keines ist entbehrlich, doch sind sie im Rang verschieden. Die Kaufleute werden mit der Lunge verglichen: Wie diese den Atem zum Mund führt und wieder ausstößt, handeln jene, indem sie Waren in die Stadt bringen und solche, an denen kein Bedarf besteht, mit Gewinn ausführen.282 Rothe bietet allgemeine Tugendlehre und greift auf die Fürsten- und Ritterspiegel zurück, während Elemente eines spezifisch bürgerlichen Denkens kaum auszumachen sind. Deutlich wird seine Wertschätzung einer klaren Hierarchie: Wie überall sei auch in der Stadt ein gedeihliches Zusammenleben nicht möglich ohne einen „ratmeister“ als Oberhaupt. Das zweite, in rd. 395 leoninischen Hexametern verfasste Gedicht belehrt Rat und Stadtbeamte über ihre Pflichten, besonders über das rechte ethische Verhalten. Zentrales Thema des Gedichts ‚Von der Forstin ratgebin‘ (rd. 520 Verse) ist die Wahl rechter Ratgeber durch den Fürsten, ein in den Fürstenspiegeln häufig behandeltes Thema. Die Ratgeber müssen frei sein von Eigenschaften wie Machtgier und Bestechlichkeit. Rothe veranschaulicht seine Gedanken mit Exempeln überwiegend aus Bibel und Antike. Rothes ‚Ritterspiegel‘ ist eine großangelegte Standeslehre in 4108 kreuzgereimten Versen; er gilt als das formal ansprechendste seiner Reimwerke. Den Verfassernamen enthält ein Initialen-Akrostichon, das sich durch das ganze Werk zieht: IOHANNES UON CRVZCEBORG ROTHE GENANT.283 Der ‚Ritterspiegel‘, entstand um 1415, als Rothe seine Chroniken zur thüringischen Geschichte ausarbeitete. Er soll dem Rittertum zu kritischer Selbsterkenntnis verhelfen, es mit den wahren Werten konfrontieren, als deren wichtigster die Tugend bestimmt wird, und ihm Vorbilder vor Augen stellen. Diesem Zweck dienen Zitatreihen aus Antike und Patristik sowie Exempel aus Bibel und Geschichte in der Tradition der mittelalterlichen Specula-Literatur. Rothe beginnt nach einem Prolog mit einer großangelegten Spiegel-Allegorie. Der zweite Teil handelt von der Heerschildordnung und der Heraldik. Der dritte 281
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Fulda, Hess. LB, cod. D 31, f. 54v – 64v , und Berlin, SBB PK, mgq. 13, f. 130r–139v. Vgl. Honemann (Anm. IV, 47), Sp. 277. „Sy glichen sich der lungen: / [...] / Als mag ez vmb die koufflute sin, / Dy da brengen in die stat, / Wez man darff vnd nicht enhad, / Vnd wez czu vil ist darynne, / Daz furen sie vz nach irm gewynne.“ v. 215–224. Ed.: Johannes Rothe. Der Ritterspiegel (Anm. 47). Vgl. Petersen (Anm. 54), S. 32–180.
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Teil bringt sittliche Belehrungen, die symbolisch auf Ausrüstung, Symbole und Privilegien des Ritters wie das Schwert gedeutet werden. Der vierte Teil bietet praktische Unterweisungen über die Kriegsführung. Rothe zitiert, weithin nach dem Gedächtnis, antike Autoren, Kirchenschriftsteller, die ‚Disciplina clericalis‘ des Petrus Alfonsi, den Fürstenspiegel des Johannes von Vippach. Seine Hauptquelle für Ethik und Praxis des Kriegshandwerks sind die ‚Epitoma rei militaris‘ des spätrömischen Autors Publius Flavius Vegetius.284 Während frühere Didaktiker gewöhnlich die Wirklichkeit im Blick auf das Ideal darstellen, dem sie sub specie aeternitatis genügen sollte, nimmt Rothe zum Ausgangspunkt seiner Standeslehre die gesellschaftliche Realität; doch kennt er das Rittertum nur aus der Außenperspektive des Stadtbürgers. Vom Turnier sagt er wenig, von der Jagd nichts, die höfische Dichtung mit ihren Themen Minne und Aventiure war ihm wohl nicht mehr bekannt. Vor der Minne warnt er geradezu, statt dessen empfiehlt er Schreiben, Lesen und Unterricht in den sieben freien Künsten.285 Die eigentliche höfische Erziehung wird kurz abgetan. Rothe betrachtet die soziale und politische Realität des Rittertums also nüchterner als frühere Didaktiker. Er unterscheidet drei Gruppen: jene, die weder Ehre noch Besitz haben; die geburtsständischen Ritter, die sich in die Heerschildordnung einfügen, aber unstandesgemäß vom Raub leben, ritter obir kuwedrecke (v. 943‚ ‚Ritter über Kuhdreck‘); und jene, die mit Fürsten und Herren für das Gemeinwohl kämpfen, für den Landfrieden oder gegen Ketzer und Heiden. Sie gelten ihm als die wahren, edil zu nennenden Standesvertreter. Das Rittertum soll ein sozial und ethisch hochstehender Kriegerstand sein. Rothe sieht es anders als frühere Didaktiker nicht mehr unter dem Eindruck tradierter Ideale, von den idealisierenden Ordo-Darstellungen des 13. Jahrhunderts ist er weit entfernt. Schon eingangs klingen soziale Probleme an, der Aufstieg von Bauernsöhnen (die Standesgrenzen sind mithin nicht mehr undurchlässig), Existenznöte des Adels. Die Erklärung für diese Entwicklungen sucht er bei god (v. 11) und dem glucke (v. 18), da dem Rittertum seinem Verständnis nach ein fester Platz in Gottes Weltordnung zukommt. Anderseits konfrontiert er dem Adel der Geburt jenen der Tugend: „Dez libis adil ist gar gud / Noch deme zcidlichin guthe, / Abir vel beßir ist, waz man tud / Noch eyme ediln muthe“ (v. 1461 ff.).286 Als höchstes irdisches Ziel gilt ihm 284 285
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Vgl. Frank Fürbeth: Vegetius, Publius Flavius. In: VL, Bd. 11 (2004), Sp. 1601–1613. Minne reduziert sich auf gehofiren den schönen frowen (v. 3398). „Ez sted eyme gudin ritter wol / Kunne geschribin und gelesin; / Ist her gelart und kunste vol, / Gar selig mag her wesin“ (v. 2605–2608). Übers.: „Es steht einem guten Ritter wohl an, schreiben und lesen zu können; wenn er gelehrt und voll von Kentnissen ist, kann er vollkommen glücklich sein.“ Übers.: „Der Adel der Geburt ist sehr gut als zeitliches Gut, doch viel besser ist das, was man aufgrund einer edlen Gesinnung tut.“ Dieser Gedanke beherrscht das ganze Werk, vgl. etwa v. 315 ff., 1516 ff., 1529 ff., 1545 ff. Dazu Heinemann (Anm. 280), S. 361–365.
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der wie der Tugendgedanke immer wieder betonte nutz gemeyne (v. 999). Der Adressat des Werks steht nicht fest. Man hat an die adligen Schüler an der Stiftsschule gedacht, mehr aber spricht wohl für den Amtmann der Wartburg Bruno von Teutleben, der aus einer alteingesessenen thüringischen Ministerialenfamilie stammte und des Lateins vermutlich nicht mächtig war.287 Rothes Standesdidaxe scheint kein Echo gefunden zu haben; jedenfalls kennen wir sie nur aus einer, in Eisenach entstandenen, ihm zeitlich, räumlich und sprachlich nahestehenden Handschrift, die auch sein Rechtsbuch enthält.288 Zu den literarischen Gattungen, die bestimmten Gruppen Orientierungshilfe bieten wollen, gehört auch die Reiseliteratur. Die längste, bis ins 14. Jahrhundert zurückreichende Tradition haben hier die Pilgerberichte, die in Latein oder der Volkssprache über Reisen zu den drei großen Pilgerorten Jerusalem, Santiago de Compostela und Rom berichten. Diese Reisen waren religiös legitimiert, sodass sie nicht der auf Augustinus zurückgehende Vorwurf einer selbstbezogenen Neugier (curiositas) traf. Verglichen mit den Pilgerberichten, deren Zahl in die Hunderte geht, ist die Reihe der Berichte über Reisen in ferne, exotische Länder überschaubar. Wohl der berühmteste unter ihnen sind die ‚Reisen‘ (um 1356/71) des Jean de Mandeville; sie erlangten europäische Verbreitung und genossen größte Glaubwürdigkeit, während ihr Verfasser heute als der „mittelalterliche Karl May“ gilt.289 Um 1300 kam es zu einer Neubelebung der großen Pilgerfahrten, die als Sühne- oder Bußwallfahrt unternommen wurden. Eine Reise nach dem Heiligen Land galt, ähnlich einem Kriegszug, als eine tapfere Tat. Was die Teilnahme an einer solchen Reise im späten Mittelalter zumal für junge Edelleute und Herren reizvoll machte, war neben den Ablässen, die man zu erwerben hoffte, die Aussicht auf den Erwerb des Ritterschlags am Grab des Erlösers in Jerusalem, der als eine große Würde galt. Früh schon finden sich unter den Jerusalem-Reisenden auch Thüringer. Im Sommer 1385 unternahm der aus einer Eisenacher Ratsfamilie stammende Merseburger Domprobst Peter Sparnau zusammen mit dem Arnstädter Bürger Ulrich von Tennstedt eine Pilgerfahrt, die beide zunächst vom thüringischen Plaue nach Venedig führte, wo man sich, wie dies üblich war, mit Pilgern aus Süddeutschland zu einer größeren Reisegruppe
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Zu Bruno von Teutleben vgl. Schmitt (Anm. IV, 84), S. 179, und Anm. 53. Zur Adressatenfrage Petersen (Anm. 54), S. 108 f.; Sylvia Weigelt: Studien zur ‚Thüringischen Landeschronik‘ des Johannes Rothe und ihrer Überlieferung. Habilitationsschrift Jena 1999, S. 28 f. Kassel, UB /LMB, 4° Ms. poet. et roman. 8, erstes Viertel 15. Jh. Auf den ‚Ritterspiegel‘ (f. 1r–80v ) folgt das ‚Eisenacher Rechtsbuch‘ (f. 81ra–154va). Rudolf Simek: Erde und Kosmos im Mittelalter. Das Weltbild vor Kolumbus. München 1992, S. 75. Simek nannte Mandevilles ‚Reisen‘ den „lügenhaftesten, aber populärsten Reisebericht des Mittelalters“ (ebd.).
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zusammenschloss.290 Die Reise führte nach Alexandria und dann über den Sinai nach Bethlehem, Jerusalem, Damaskus und Beirut. Die Rückreise erfolgte von Konstantinopel an auf dem Landweg über den Balkan. Über die Pilgerfahrt verfasste Sparnau einen Bericht, der in einer Sammelhandschrift aus dem Erfurter Kartäuserkloster erhalten ist.291 In nüchterner Prosa gibt er präzise Auskunft über den Verlauf der Reise; über die üblichen Entfernungsangaben hinaus erfährt man etwa, wieviel Tage man von Plaue bis Venedig zu Pferde brauchte, wie Knecht, Mitreisende und Patron (Schiffseigner) hießen und welche Kosten für Lebensmittel und Überfahrt anfielen. Ein reichliches Jahrhundert jünger ist der Pilgerführer, den der Servitenmönch Hermann Künig in Vacha verfasste. Wohl unmittelbar nach einer Pilgerreise, die ihn nach Santiago de Compostela geführt hatte, dichtete er 1495 einen Pilgerführer in rd. 650 Reimversen, der unter dem Titel ‚Sant Jacobs Straß‘ in Straßburg gedruckt wurde.292 Das Büchlein, das weitere Ausgaben erfuhr, zeichnet sich durch genaue geographische Angaben aus, es scheint von späteren Santiago-Pilgern benutzt worden zu sein. Zur Reiseliteratur zählen in gewisser Weise auch die ‚Gesta Ernesti ducis‘, eine der zahlreichen Adaptationen des frühhöfischen Epos vom Bayernherzog Ernst, seinem Kampf mit dem Reich und mehr noch seinen Abenteuern im Orient.293 Der um 1160/70 entstandene ‚Herzog Ernst‘ (A) gehört zur Spielmannsepik, also zu einer ganz anderen Gattung; aber die 1927 von Paul Lehmann in Erfurt entdeckte lateinische Prosabearbeitung erscheint im spätmittelalterlichen Thüringen in einem neuen Gattungs- und Gebrauchskontext,
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Ulrich von Tennstedt ist 1384 urkundlich in Arnstadt nachgewiesen. Vgl. W. Günther Rohr: Sparnau, Peter. In: VL, Bd. 9 (1995), Sp. 31–32, und Schmitt (Anm. IV, 84), S. 339–342. Weimar, HAAB, Cod. Oct. 55b, f. 171v–182v, geschrieben 1481 in ostmitteldeutscher Schreibsprache. Der Bericht, dem eine Liste der heiligen Stätten in Jerusalem und Umgebung vorangeht, beschließt eine Folge zumeist geistlicher Texte. Ed.: Die Jerusalemfahrt des Peter Sparnau und Ulrich von Tennstaedt (1385). Hg. von Reinhold Röhricht. In: Zeitschrift der Gesellschaft für Erdkunde 26 (1891), S. 479–491. Ed.: Konrad Häbler: Das Wallfahrtsbuch des Hermannus Künig von Vach und die Pilgerreisen der Deutschen nach Santiago de Compostela. Straßburg 1899 (Drucke und Holzschnitte des 15. und 16. Jahrhunderts in getreuer Nachbildung 1). Vgl. Volker Honemann: Künig, Hermann, von Vach. In: VL, Bd. 5 (1985), Sp. 437–438; Waldemar Küther unter Mitarbeit von Hans Goller: Vacha und sein Servitenkloster im Mittelalter. Mit einem Urkunden- und Regestenanhang. Wien 1971 (Mitteldt. Forsch. 64), S. 148–153. Ed.: Gesta Ernesti ducis. Die Erfurter Prosa-Fassung der Sage von den Kämpfen und Abenteuern des Herzogs Ernst. Hg. von Peter Christian Jacobsen u. Peter Orth. Erlangen 1997 (Erlanger Forschungen A 82). Vgl. Hans Szklenar u. Hans-Joachin Behr: ‚Herzog Ernst‘. In: VL, Bd. 3 (1981), Sp. 1170–1191, hier 1188; Jasmin Schahram Rühl: Welfisch? Staufisch? Babenbergisch? Zur Datierung, Lokalisierung und Interpretation der mittelalterlichen ‚Herzog-Ernst‘-Fassungen seit König Konrad III. auf der Grundlage der Wortgeschichte von „Burg“ und „Stadt“. Wien 2002, S. 90 f.
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nämlich in einem Sammelcodex eingefügt in eine Sequenz berühmter Reiseberichte von Mandevilles ‚Reisen‘ in lateinischer Fassung über den ‚De itinere Terrae Sanctae liber‘ (‚Reisebuch‘) des Ludolf von Sudheim bis zu dem 1298 entstandenen Bericht Marco Polos über seine Reise durch Asien. Die Handschrift mit der Erzählung vom nobilissimus bauarie dux Ernestus stammt aus dem Besitz des Gelehrten Amplonius Ratinck; der betreffende Teil wurde 1445/46 geschrieben.294 Der Schwerpunkt der um oder schon vor 1220 entstandenen lateinischen Bearbeitung des ‚Herzog Ernst‘ liegt erkennbar auf den Orientabenteuern des Helden, während die politische Dimension des Stoffs überspielt wird, womit der Neubearbeitung des mittelalterlichen Erzählstoffs Interesse in einer Zeit häufiger Pilgerfahrten ins Heilige Land zukam. Im Jahr 1461 unternahm der Wettiner Wilhelm III. eine Pilgerreise ins Heilige Land. Der Landgraf wurde auf der Reise, die Ende März in Weimar begann und Anfang Oktober dort endete, von rd. 100 Personen begleitet, darunter 42 Adligen, u. a. dem Grafen von Stolberg.295 Deren Aufzählung, die sich wie ein Who’s who des thüringischen Adels liest, nimmt in dem Reisebericht mehrere Seiten ein. Der Bericht ist in verschiedenen Fassungen erhalten, über deren Zahl lange Zeit Unklarheit herrschte. Heute steht fest, dass es sich um drei parallele Berichte handelt.296 Die anonyme, nach Art eines Tagebuchs angelegte Fassung A ist in einer größeren Zahl von Handschriften überliefert, aber auch in Drucken; Auszüge enthält Cyriacus Spangenbergs ‚Mansfeldische Chronica‘.297 Auf A beruht die kürzende Fassung B, als deren Verfasser ein „bruder Henrich“ genannt wird. Fassung C stammt von dem Salzburger Goldschmied und Patrizier Hans Koplär – ein letzter Beleg für die Tatsache, dass Literaturregionen von „Importen“ leben, sachlich ausgedrückt: dass Produktion und Rezeption von Literatur areal nicht deckungsgleich sein müssen. Koplär verfasste seinen Bericht wohl erst einige Jahre nach der Reise. Die Tagebuchform ist zugunsten einer Zweiteilung aufgegeben. Im ersten Teil werden Reisestationen, Entfernungen und andere Details penibel genau aufgezählt. Der zweite Teil gerät zunehmend zu einer Liste der von den Pilgern aufgesuchten heiligen Stätten. Über diejenigen in Jerusalem erfährt man:
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Erfurt, UB, CE 2° 132, f. 72v–92r. Vgl. Heyne (Anm. 28), S. 27–29. Vgl. Dietrich Huschenbett: Graf Heinrich zu Stolberg. In: VL, Bd. 3 (1981), Sp. 880. Zum Gefolge des sächsischen Fürsten gehörten Leibarzt, Beichtvater, Mundschenk, Küchenmeister, Kammerschreiber, Stallknechte und andere Diener. Der erste Teil des Berichts stammt wahrscheinlich von dem herzoglichen Kammerschreiber Apel Steinhausen. Vgl. Randall Herz: ‚Wilhelms III. von Thüringen Pilgerfahrt ins Hl. Land‘. In: VL, Bd. 10 (1999), Sp. 1142–1145. Der Verfasser ist vielleicht identisch mit dem Schreiber der 1461 gefertigten Handschrift Gotha, FB, Chart. B 54, f. 2v–112v, die bald nach der Reise in ostmitteldeutscher Schreibsprache geschrieben wurde. Eine komprimierte Fassung enthält Gotha, FB, Chart. A 159.
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Jtem da vnser Fraw gen schuel ist gangen. Jtem Pilatus haws, da Christus verspot ward. Jtem Herodes haus, da Christus verurtailt ward. Jtem darnach sicht man in gottes vnd Salomon tempel zu dem tör hinein. Jtem peÿ dem selben tempel ist die lacken, da Cristus den krancken gesundt macht. Vnd Sand Anna haws, da vnser Frau geboren ist.298
Jerusalemfahrten sächsischer Fürsten fanden auch in der Folgezeit statt.299 Im März 1493 brach Kurfürst Friedrich der Weise in Torgau mit einem Hofstaat von 100 Personen zu einer Wallfahrt ins Heilige Land auf. Ende Juni erreichte die Gruppe, der sich weitere fürstliche und adlige Pilger angeschlossen hatten, auf dem üblichen Seeweg Jerusalem. Ein Anonymus verfasste über die Pilgerfahrt einen Bericht. Wir kennen ihn in einer Fassung, die der kursächsische Hofhistoriograph Spalatin nach dem Tod Friedrichs, im Abstand also mehrerer Jahrzehnte, über die „Meerfahrt gin Jerusalem“ anfertigte oder richtiger wohl: nach jenem Bericht eines Teilnehmers redigierte.300 Doch mit Spalatin, der als Erfurter Student mit dem Humanistenkreis um Mutianus Rufus in Verbindung getreten war und später am kursächsischen Hof im Auftrag Friedrichs Kontakt mit Luther aufgenommen hatte, ist bereits die Schwelle überschritten vom Mittelalter zur Zeit des Humanismus und der Reformation.
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Ed.: Randall Herz: Hans Koppler, ‚Rais in das hailig Land‘. In: Fünf Palästina-Pilgerberichte aus dem 15. Jahrhundert. Hg. und eingeleitet von R. H., Dietrich Huschenbett, Frank Scesny. Wiesbaden 1998 (Wissensliteratur im Mittelalter 33), S. 175–224, hier 216, 14–20. Überlieferung: Wien, ÖNB, cod. 3080, und München, Bayerische Staatsbibliothek, Cgm 337. Vgl. Europäische Reiseberichte des späten Mittelalters. Eine analytische Bibliographie. Hg. von Werner Paravicini. Teil 1. Deutsche Reiseberichte. Bearb. von Christian Halm. Frankfurt a. M. [u. a.] 1994 (Kieler Werkstücke. Reihe D. 5), S. 136–140. Vgl. Cordula Nolte: Erlebnis und Erinnerung. Fürstliche Pilgerfahrten nach Jerusalem im 15. Jahrhundert. In: Fremdheit und Reisen im Mittelalter. Hg. von Irene Erfen u. KarlHeinz Spieß. Stuttgart 1997 (Mittelalterzentrum Greifswald), S. 65–92. Nichts mit der Literaturlandschaft Thüringen zu tun hat Konrad Grünenbergs ‚Bericht über die Pilgerfahrt ins Hl. Land 1486‘. Handschrift Gotha, FB, Chart. A 541 entstand um 1490 im Bodenseeraum (Konstanz?). Wie sie nach Gotha gelangte, ist unbekannt. Ed.: Andrea Denke: Konrad Grünembergs Pilgerreise ins Heilige Land 1486. Untersuchung, Edition und Kommentar. Köln, Weimar, Wien 2011 (Stuttgarter Historische Forschungen 11), S. 275–508. Vgl. Winfried Stelzer: Grünenberg (Grünemberg), Konrad. In: VL, Bd. 3 (1981), Sp. 288–290. Ed.: Georg Spalatin’s historischer Nachlaß und Briefe. Aus den Originalschriften hg. von Christian Gotthold Neudecker u. Ludwig Preller. Bd. 1. Das Leben und die Zeitgeschichte Friedrichs des Weisen. Jena 1851, Beilage 1, S. 76–91. Vgl. Dietrich Huschenbett: ‚Friedrichs des Weisen Jerusalemfahrt‘. In: VL, Bd. 2 (1980), Sp. 965–966; Carina Brumme: Das spätmittelalterliche Wallfahrtswesen im Erzstift Magdeburg, im Fürstentum Anhalt und im sächsischen Kurkreis. Entwicklung, Strukturen und Erscheinungsformen frommer Mobilität in Mitteldeutschland vom 13. bis zum 16. Jahrhundert. Frankfurt a. M. [u. a.] 2010 (Europäische Wallfahrten 6), S. 209–216.
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354 HAAB Hl. HRG Hs., Hss. Hzg. Jb. JOWG Kg. Killy KLD Ks. KTA LB LCI Lex LexMA Lgf. Lgfn. LThK MF Mgf. MGH mhd. Mitteldt. Forsch. MMS MRDH MTU NDB NF ÖNB PBB Pfgf. Ph. St. u. Qu. QF Rez.
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KAPITEL I RGA RLW RUB SBB PK SM StB StLV Str. SUB ThULB TTG v. UB VD 16 VL
WdF Wiss. Zs. ZfdA ZfdPh ZThG
355 Reallexikon der Germanischen Altertumskunde von Johannes Hoops. 2., völlig neu bearb. und stark erweiterte Aufl. hg. von Heinrich Beck, Dieter Geuenich, Heiko Steuer. Berlin, New York 1973 ff. Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Hg. von Klaus Weimar [u. a.]. Bd. 1–3. Berlin, New York 1997–2003. Reclams Universalbibliothek Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz Sammlung Metzler Staatsbibliothek Bibliothek des Literarischen Vereins in Stuttgart Strophe Staats- und Universitätsbibliothek Thüringer Universitäts- und Landesbibliothek Jena Texte und Textgeschichte Vers Universitätsbibliothek Verzeichnis der im deutschen Sprachbereich erschienenen Drucke des XVI. Jahrhunderts [...]. Red.: Irmgard Bezzel. Bd. 1 ff. Stuttgart 1983 ff. Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. Begr. von Wolfgang Stammler, fortgef. von Karl Langosch. 2., völlig neu bearb. Aufl. hg. von Kurt Ruh [Bd. 1–8] u. Burghart Wachinger [Bd. 9 ff]. Berlin, New York 1978 ff. Wege der Forschung Wissenschaftliche Zeitschrift Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur. 1841 ff. Zeitschrift für deutsche Philologie. 1869 ff. Zeitschrift des Vereins für Thüringische Geschichte und Altertumskunde. 1854–1943. Zeitschrift des Vereins für Thüringische Geschichte. 1993–2007. Zeitschrift für Thüringische Geschichte 2008 ff.
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KAPITEL I
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KAPITEL I
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KAPITEL II
361
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KAPITEL III
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KAPITEL V
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VII. Personen- und Werkregister
Erfasst sind historische Personen und literarische Werke, nicht aber mythologische, literarische und Sagengestalten wie Helena, Klingsor und Heinrich von Ofterdingen. Moderne Forscher sind berücksichtigt, soweit in Text und Anmerkungen Forschungspositionen diskutiert werden. ,Abor und das Meerweib‘, 109 f. ,Abstractum-Glossar‘, 329, 340 f. Adalbert (Adelbert) v. Bamberg, 225 Adam v. St. Viktor, 245 Adelheid v. Stade, Gemahlin Gf. Ludwigs des Springers, 328 Adolf v. Nassau, dt. Kg., 161, 316–319 Adolf II. v. Nassau, Ebf. v. Mainz, 324 f. Aegidius Romanus, ,De regimine principum‘, 345 f. Aemilius Macer, 336 Äsop (Aisopos, Aesopus), 42 Aëtius, Flavius, 29 ,In agro dominico‘, 239 Albert v. Erfurt, ‚Proprietates et virtutes vini‘, 331 Albrecht (Adalbert), Provisor v. Erfurt, Administrator des Erzbistums Mainz, 326 Albrecht d. Beherzte, Hzg. v. Sachsen, 323 f., 331 Albrecht d. Entartete, Mgf. v. Meißen, Lgf. v. Thüringen, 109, 161 f., 165, 168, 173, 206, 208, 276, 317 Albrecht II., Hzg. v. Sachsen-Wittenberg, 160, 206 Albrecht II. v. Kefernburg, Ebf. v. Magdeburg, 38 Albrecht, ,Jüngerer Titurel‘, 123, 198, 203–209, 235 Albrecht v. Eyb, ,Ehebüchlein‘, 58 Albrecht v. Halberstadt, Metamorphosen‘, 4 f., 60, 77, 88–93, 95 f., 103 Albrecht v. Scharfenberg, 206 Albrecht v. Treffurt, 243 Alexander d. Gr., makedon. Kg., 78, 87, 198, 256 ,Alexanderroman‘, 87, 255 ,Alexiusspiel‘, 307 Alfons X. d. Weise, Kg. v. Kastilien-Léon, 28, 89 ,Alfrads Eselin‘, 37, 43
,Aliscans‘ (,Bataille d’Aliscans‘), 113, 121 ,Alsfelder Passionsspiel‘, 308 ,Altniederfränkische Psalmenfragmente‘, 45 Amalaberga, Gemahlin des thür. Kg.s Herminafrid, 20, 24–26, 29, 34 Amalfrida, Nichte Theoderichs d. Gr., 20 ,Ambraser Heldenbuch‘, 105 ,Amorbacher Cato‘ 110 Amstutz, Renate, 300 Andreas II., Kg. v. Ungarn, 237 Anna v. Schwarzburg, Gemahlin Lgf., Friedrichs des Friedfertigen, 287 Anna, 227 ,Annales Quedlinburgenses‘, 28, 33 Anno v. Sangerhausen, 271 Antonius Eremita, 232, 263 Antoninus Pius (Titus Aelius Hadrianus Antonius), 278 Apel III. Vitztum v. Apolda, 320–322 Apollonius, Hl., 263 Aristoteles, 219, 345 f. ,Aristoteles und Phyllis‘, 147 Der arme Hartmann, ,Rede vom Glauben‘, 43, 48–54, 62, 248 Arnaut de Maruehl, 170 Arnim, Achim v. u. Clemens Brentano, ,Des Knaben Wunderhorn‘, 324, 328 Ashcroft, Jeffrey, 139 Assmann, Jan, 31 ,Athis und Prophilias‘, 95–97, 100–105, 185, 222, 260, 268 Attila, Herrscher des hunnischen Großreichs, 32–34 Atze, Gerhard, thür. Ritter, 145–147 Augustinus, Aurelius, 56, 349 Augustus (Octavianus A.), 72, 75, 278 Aureus, Hl., 324 Babrios, 161 Baderich, thür. Kg., 24 f. Balduin v. Luxemburg, Ebf. v. Trier, 177
PERSONEN- UND WERKREGISTER Balthasar, Mgf. v. Meißen, Lgf. v. Thüringen, 162 ,Bamberger Blutsegen‘, 340 ,Bamberger Legendar‘, 226 Barbara, Hl., 226 f., 261, 266, 299 Barbarossa, siehe Friedrich I. Bartels, Adolf, 7–9 ,Bartholomäus‘, 336 Bartsch, Karl, 99, 169, 183, 189 Bech, Fedor, 287 Bechstein, Reinhold, 226, 312 Beck, Wolfgang, 257 Beckers, Hartmut, 51 Behaghel, Otto, 69 Beheim, Michel, ,Pfälzische Reimchronik‘, 149, 327 Beichlingen, Gf.en v., 172 f., 187 f., 218, 287 Benedict v. Watt, 319 ,Großes Benediktbeurer Passionsspiel‘ (Ludus paschalis de passione Domini‘), 46 f. Benoît de St-Maure, ,Roman de Troie‘, 74, 80–83, 86 f. Bergmann, Rolf, 302, 307 f. ,Berliner Evangelistar‘, 46, 247, 340 ,Berliner Moralität‘, 309, 311 ,Berliner (rheinisches) Osterspiel‘, 307 ,Berliner (thüringisches) Osterspiel-Fragment‘, 303 Bernger v. Horheim, 132 Bernhard, Gf. v. Anhalt, Hzg. v. Sachsen, 71 Bernhard v. Clairvaux, 62, 234 Bernhard I. Vitztum v. Apolda, 320–322 Berthachar, thür. Kg., 24 Berthold V., Gf. v. Andechs, 235, 238 Berthold v. Eisenach, ,De rarissimis vocabulis‘, 329, 341 Berthold v. Holle, 159 Bertholdus, Priester, 145 Bertholdus Capellanus, ,Gesta Ludowici‘, 282 Bethmann, Johannes, 107 Bezner, Franz, 63 ,Biblia pauperum‘, 249–251 ,Die halbe Birne‘, 211 f. Biterolf, Verf. eines Alexanderromans; Figur im ,Wartburgkrieg‘, 5, 79, 162 f., 186, 196, 201
413 ,Biterolf und Dietleib‘, 35 ,Die Blume der Schauung‘, 248 Blutsegen, 339 f. Boiserée, Sulpiz, 206 Bolko I., Hzg. v. Schweidnitz-Jauer u. Herr v. Fürstenberg, 284 Bonifatius (Winfrid), 38 Boor, Helmut de, 14, 47, 54, 96, 156 f., 164, 166 f., 170 f., 175 f., 178, 183 f., 186, 189, 193 f., 201 f., 206, 278, 291 ,Brandans Reise‘, 200, 218, 256 Brant, Sebastian, 343 f. ,Daz brechen leit‘, 179 f. Brett-Evans, David, 314 Brotuff, Ernst, ,Chronica und Antiquitates‘, 328 Brüch, Josef, 51 f. Brun v. Schönebeck, 260 v. Brunecke (Der von Brauneck), 156 Bruno v. Teutleben, 219, 286, 349 ,Buch der Märtyrer‘, 263, 299 ,Büchlein, wie man Fische und Vögel fangen soll‘, 330 Büchner, Conrad, 280 Bürenfiendt, 316 ,Bueve de Hantone‘, 98 Bumke, Joachim, 62, 121, 131, 134, 170 Burdach, Konrad, 143 BFticz, Conradus, 226 Caesar, Caius Julius, 89, 92 f., 274, 287 Caesarius v. Heisterbach, ,Vita s. Elyzabeth lantgravie‘, 231, 273, 294 f. Carl Alexander, Großhzg. v. Sachsen, 193 Carl August, Hzg. u. Großhzg. v. Sachsen-Weimar-Eisenach, 14 ,Carmina Burana‘, 47, 155 ,Carmina Cantabrigiensia‘, 37 f., 43, 224 Cato, (Marcus Porcius C.), 343 ,Cato‘ (,Disticha Catonis‘), s. auch unter ,Amorbacher Cato‘, 118, 342–344 Celtis, Konrad, 136 ,Chanson de Roland‘, 30 f., 64 Chlodwig I., Kg. d. Franken, 26, 29 Chlothachar, 25, 29 Chosroes (Chosrau) II., Großkg. d. Sasanidenreichs, 267 Chrétien de Troyes, ,Cligès‘, ,Erec et Enide‘, ,Perceval‘ (,Conte du Graal‘), 66, 76 f., 105, 108, 112, 114–117, 132
414 Christ, Karl, 93 Christan (Christian), Gf., 39 Christan v. Hamle, 163–165 Christan v. Luppin, 170–175 ,Christherre-Chronik‘, 207, 275–278 Christian I., Ebf. v. Mainz, 55 Christian, Gf. v. Rothenburg, 172 f. ,Christus und Pilatus‘, 43, 45–47, 51 61 Chronica Minor Minoritae Erphordensis‘ (,Erfurter Minoritenchronik‘), 281, 312 ,Chronica Thuringorum‘, 286 Cicero (Marcus Tullius C.), ,De officiis‘, 57, 60, 343 Clemens IV., Papst, 236, 239 Colin, Philipp u. Claus Wisse, ,Rappoltsteiner Parzifal‘, 202 ,Compilatio chronologica‘, 278 Cranach, Lucas, d. Ä., 28 ,Cronica S. Petri Erfordensis moderna‘, 41, 281 f., 286, 295–297, 317, 319 ,Cronica Reinhardsbrunnensis‘, 41, 67, 107, 282, 317 Curtius, Ernst Robert, 1, 16 f., 60 Czun, Heinrich, 308 Dam, Jan van, 268 Damen, Hermann, 190 ,Daniel‘, 252, 258, 269 f. Dante Alighieri, 93 Dares Phrygius, ,Excidium Troiae‘, 76, 83, 87 Daude de Pradas, 170 Dedo v. Rochlitz, 284 Denecke, Ludwig, 88 ,Descensus ad inferos‘, 261 ,Deutschordensregeln und -statuten‘, 251 f, 259, 261 Dictys Cretensis, 76, 87 Diether (Dieter) II. v. Isenburg-Büdingen, Ebf. v. Mainz, 324–326 Dietmar v. Aist, 64 Dietrich d. Bedrängte, Mgf. v. Meißen, 134, 138, 149, 157 Dietrich, Mgf. v. Landsberg, 109, 161, 206, 208 Dietrich II. (v. Landsberg), Gf. v. Eilenburg, Mgf. d. Lausitz, 126 Dietrich, Gf. v. Brehna, 165 f. Dietrich v. Apolda, ,Vita S. Elisabeth‘, 193, 229 f., 282, 286
PERSONEN- UND WERKREGISTER Dietrich v. Elmendorf, 53, 55 f., 59 f. Dietrich v. Freiberg, 239, 246 Dietrich v. Gotha, siehe ,Leipziger Predigtsammlung‘ Dietrich v. Hopfgarten, ,Wigelis‘, 13, 110 Dietrich v. Krosigk, Bf. v. Halberstadt, 55 ,Dietrichs Flucht‘, 35, 84, 214 Diokletian (C. Aurelius Valerius Diocletianus), röm. Ks., 227 Ps.-Dionysius Areopagita, 245 Döringerlant, Herold, 320 Dominicus, Hl., 248 Dorothea, Hl., 226 f., 294, 299 ,Dulciflorie‘, 211 f. Der Düring, 170–172, 174 f., 186 Durne, Frh. v., 115 Ebenbauer, Alfred, 5, 9 Ebernand v. Erfurt, ,Heinrich und Kunigunde‘, 5, 48, 222–226 Eccard, Johann Georg, 286 Meister Eckhart (Eckhart v. Hochheim), ,Von abegescheidenheit‘, ,Liber benedictus‘, ,Opus tripartitum‘, deutsche Predigten, ,Die rede der underscheidunge‘, 3, 238–246, 248 Ehrismann, Gustav, 15, 48, 51, 60 f., 104 Eike v. Repgow, ,Sachsenspiegel‘, 55, 331–333, 335, 337 Eilhart v. Oberg, ,Tristrant‘ (Tristan und Isolde), 69, 72, 96, 100, 132, 186 Einhard, ,Vita Caroli Magni‘, 94 Eleonore (Aliénor), Kgn. v. Frankreich, Kgn. v. England, 80 Elisabeth, Lgfn. v. Thüringen, Hl., 95, 113, 159 f., 182, 220, 224, 228–231, 235, 237, 248, 252 f., 264, 273, 282, 284, 286 f., 290, 294, 315 f. ,Elisabeth von Thüringen‘ (Ballade), 315 f. Elisabeth v. Nassau-Saarbrücken, ,Huge Scheppel‘, 290 Elisabethpsalter, 95 ,Elsässische Legenda aurea‘, 229 Emhild, 39 Emicho, siehe Friedrich I. (Emig), 80 Engelhus, Dietrich, ,Weltchronik‘, 279 Enikel, siehe Jans v. Wien ‚Erfurter Fischbüchlein‘, 330 ,Erfurter Judeneid‘, 18, 331–333 ,Erfurter Kartäuserregimen‘, 338
PERSONEN- UND WERKREGISTER ,Erfurter Moralität‘ (,Spiel von den Frauen Ehre und Schande‘), 235, 297, 306, 308–311 ,Erfurter Peterschronik‘, siehe ,Cronica S. Petri Erfordensis moderna‘ ,Erfurter Tischregeln‘, 345 ,Erlauer Osterspiel‘, 303 ,Erlösung‘, 221, 231, 234 f. ,Ermahnung an die Obrigkeit‘ (‚Döringer land‘), 322, 324 Ernst, Kf. v. Sachsen, 323–325, 331 ,Erweiterte Christherre-Chronik‘, 199, 277 Ettmüller, Ludwig, 78 Etzel, siehe Attila Eugen III., Papst, 224 Eusebios v. Kaisareia, 86 ,Evangelium Nicodemi‘, 221 f., 260 f., 303 ,Ezzolied‘, 38 ,Facetus Cum nihil utilius‘, 344 Fegfeuer, 190 Fischer, Hanns, 210 f. Flach, Willy, 161 Franziskus v. Assisi, Hl., 228, 232, 248, 272 ,Die Frau zu Weißenburg‘, 328 Frauenlob, d. i. Heinrich v. Meißen, 190 f. ,Frauentreue‘, 210 f. ,Frauenturnier‘, 210 f. Freidank, ,Bescheidenheit‘, 181, 342 Der Freudenleere, 210 Frey, Winfried, 269 Frick, Wilhelm, 8 Friedrich I. Barbarossa, Ks., röm,.dt. Kg., Kg. v. Sizilien, 63, 68, 75, 94, 134 f., 143, 284 Friedrich I. d. Freidige, Mgf. v. Meißen, Lgf. v. Thüringen, 46, 161 f., 286, 295–297 Friedrich I. (Emicho), Gf. v. Leiningen, 80 f. Friedrich II. Ks., röm.-dt. Kg., Kg. v. Sizilien, 127, 156, 160, 228, 252, 275, 278 Friedrich II. d. Ernsthafte, Mgf. v. Meißen, Lgf. v. Thüringen, 162, 177, 191 f. Friedrich (V.) II. d. Sanftmütige, Mgf. v. Meißen, Kf. v. Sachsen, 289, 319 f., 323 f. Friedrich II. d. Streitbare, Hzg. v. Österreich und Steiermark, 165
415 Friedrich III., Gf. v. Beichlingen, 188 Friedrich III. d. Strenge, Mgf. v. Meißen, Lgf. v. Thüringen, 346 Friedrich III. d. Weise, Kf. u. Hzg. v. Sachsen, 28, 287, 296, 352 Friedrich III., Pfgf. v. Sachsen, 328 Friedrich (IV.) I. d. Streitbare, Hzg. u. Kf. v. Sachsen, 319 f. Friedrich IV., Gf. v. Beichlingen, 188, 218 Friedrich, Mgf. v. Baden-Hachberg, 12, 269 Friedrich, Gf. v. Rothenburg, 172 f. Friedrich, Gf. v. Wildungen u. Ziegenhain, 67, 69, 79 Friedrich IV. d. Friedfertige, Lgf. v. Thüringen, 162, 287 Friedrich v. Hausen, 64, 131, 137, 156 Friedrich v. Sonnenburg, 187 f., 190, 198, 218 Frings, Theodor, 67, 78, 128 Fromm, Hans, 99, 206 ,Welch furste sich vnde syne erbin‘, 346 ,Fürstenlob‘, siehe ,Wartburgkrieg‘ Ganz, Peter, 104 Gärtner, Kurt, 275 Garzo, Giovanni, 324 Gautier d’Arras, ,Eracle‘, 96 ,Gelobet sistu Jesu Christ‘, 159 Genzmer, Felix, 35 Georg, Hl., 226 Gerhard v. Sterngassen, 248 Gerstenberg, Wigand, ,Landeschronik von Hessen und Thüringen‘, 28, 287, 289 f. Gertrud, Tochter Lgf. Ludwigs IV., 231 Gertrud v. Andechs, 237 Gervinus, Georg Gottfried, 51 Gichtsegen, 340 Girnus, Wilhelm, 9 Giselbert, Abt, 41 Giselher v. Slatheim, 243, 245 Glier, Ingeborg, 274 Der v. Gliers, 131 Goedeke, Karl, 8 ‚Görlitzer Rechtsbuch‘, 332 Goethe, Johann Wolfgang, 5, 8, 88, 135, 282 Der Goldener, 191 Gosmar, Gf. v. Kirchberg, 173
416 Von gotes barmherzigkeit‘, 235, 310 ,Gothaer Fiebersegen‘, 339 ,Gothaer Medizinalwässer‘, 330 ,Gothaer (thüringische) Botenrolle‘, 307 f. Gottfried v. Neifen, 156, 167, 171 Gottfried v. Straßburg, ,Tristan‘, 65, 77, 81, 104, 112, 122, 131, 133, 140, 215 Gottsched, Johann Christoph, 275, 313 ‚Göttweiger Trojanerkrieg‘, 203 Goetz, Walter, 14 Götze, Nikolaus, 283 ,Graf Rudolf‘, 96–100, 222 ,Der Graf von Savoyen‘, 330 ,Granum sinapis‘, 244 f. Gregor I. d. Gr., ,Moralia in Iob‘, 266 Gregor IX., Papst, 228 Gregor v. Tours, ,Historia Francorum‘, 23–26 Grimm, Hans, 1 Grimm, Jacob, 17, 23 f., 77, 90, 93, 109, 123, 204 Grimm, Wilhelm, 23 f., 97, 100 f., 204 Grimme, Fritz, 169, 172 Grünenberg (Grünemberg), Konrad, ‚Bericht über die Pilgerfahrt ins Hl. Land 1486‘, 352 Grundmann, Herbert, 273 Guido de Columnis, ,Historia destructionis Troiae‘, 86 Guil(l)elmus Brito, ,Expositiones vocabulorum biblie‘, 341 Guillaume d’Orange, 121 Gundahar, Kg. d. Burgunden, 29 Gunther, Bf. v. Bamberg, 38 Günther v. dem Forste, 131, 150, 166 f., 175 Gunther v. Nordhausen, 281 Der Guter, 190 Gutjar, Henze (Heinz), Lied von den Erfurtern, Totenklage auf Gf. Wilhelm III v. Henneberg-Schleusingen, 289, 316, 326 f., 331 f. Gutkorn, Hans, 324 Haage, Richard, 314 Hadlaub, Johannes, 125, 180 Hadrian (Publius Aelius Hadrianus), 278 Hadrian II., Papst, 313 Hagen, Friedrich Heinrich v. der, 211
PERSONEN- UND WERKREGISTER Hagen, Johannes, ,De arte magica‘, ,De regimine principis‘, 330, 339, 346 Hardenberg, siehe Novalis Hartmann, siehe Der arme Hartmann Hartmann v. Aue, ,Erec‘, ,Iwein‘, Lieder, 64, 81 f., 87, 93, 96, 104–108, 112, 115, 127, 137, 135, 151, 202 Hartmann v. Heldrungen, 252, 271 f. Hartwig (Hartung) v. Erfurt, ,Postille‘, 245–248 Has, 316 Haupt, Moriz, 126 Haustein, Jens, 13, 301, 303, 306 f. Hebbel, Friedrich, 8 Hedwig v. Schlesien, Hl., 228, 235–238, 284, 338 ,Die Heidin‘, 211 f. ,Der Heiligen Leben‘, 226, 229, 232 Heilwig (Heilwich), 39 Heinrich I. d. Vogler, Kg. d. ostfrk.-dt. Reichs, 39 Heinrich I., Hzg. v. Bayern, 37, 40 Heinrich I., Mgf. v. Brandenburg u. Landsberg, 173 Heinrich I. das Kind, Lgf. v. Hessen, 160, 290 Heinrich I. d. Bärtige, Hzg. v. Schlesien, 235 f., 284 Heinrich I., Vogt v. Gera, 168 Heinrich I., Gf. v. Schwarzburg, 68–71 Heinrich II., Ks., dt. Kg., Hl., 40, 223–226 Heinrich II., Kg. v. England, 88 Heinrich II. d. Zänker, Hzg. v. Bayern, 37 Heinrich II., Hzg. v. Brabant, 160 Heinrich II., Mgf. v. Baden-Hachberg, 269 Heinrich II., Hzg. v. Niederschlesien, 284 Heinrich II. v. Virneburg, Ebf. v. Köln, 239 Heinrich III., Ks., dt. Kg., 37 Heinrich III. d. Erlauchte, Mgf. v. Meißen, Lgf. v. Thüringen, 10, 109, 160–163, 165 f., 168, 181, 188, 192–194, 201, 206, 208, 276, 337 Heinrich VI., Ks., röm.-dt. Kg., Kg. v. Sizilien, 143, 156 Heinrich VII., dt. Kg., Kg. v. Sizilien, 156 Heinrich, Gf. v. Stolberg, 351 Heinrich XIII. d. Streitbare, Hzg. v. Bayern, 187
PERSONEN- UND WERKREGISTER Heinrich ohne Land, 276 Heinrich d. Löwe, Hzg. v. Bayern u. Sachsen, 64, 68, 70, 95, 134 Heinrich Raspe III., 68, 71 Heinrich Raspe IV. Lgf. v. Thüringen, dt. Gegenkg., 41, 157, 160, 231, 252, 276 Heinrich v. Brandenstein, 281 Heinrich v. Freiberg, 105, 268 Heinrich v. Friemar d. Ä., ‚De decem praeceptis‘, ,Opus sermonum de sanctis‘, ‚De quatuor instinctibus‘, 246 Heinrich v. Hesler, ,Apokalypse‘, ,Erlösung‘, ,Evangelium Nicodemi‘, 104, 176, 198, 221, 259–262 Heinrich v. Kolmas, siehe Der v. Kolmas Heinrich v. Kröllwitz, 260 Heinrich v. Landshut (Henricus de Landishut), 247 Heinrich v. Meißen, siehe Frauenlob Heinrich v. Melk, ,Von des todes gehugde‘, 48 Heinrich v. Merseburg, 234 Heinrich v. Morungen, 5, 65, 98, 125 f., 131, 133–140, 142, 150 f., 156–159, 164, 166 f., 169, 172–181, 186, 260 Heinrich v. Mügeln, 199 Heinrich v. München, ,Weltchronik‘, 224, 265, 278, 312 Heinrich v. Rugge, 64, 131, 169 Heinrich d. Teichner, 11 Heinrich v. dem Türlin, ,Die Krone‘, 64, 125, 131 Heinrich v. Veldeke, Lieder, ,Servatius‘, Eneasroman, 3–5, 60, 64–82, 85–90, 93, 95 f., 99–101, 103, 112 f., 117, 126–133, 136, 142, 150, 159, 166, 169, 186, 224, 268, 273 Heinrich v. Weißensee (Henricus scriptor), 157, 174, 182 ,De Heinrico‘, 36–38, 40, 43 Heinzle, Joachim, 206 Helena, Mutter Konstantins d. Gr., 267 Helffricus, 307 ,Heliand‘, 38 Hellgardt, Ernst, 45 Helm, Karl, 258, 260, 265, 267, 271 f. Helwic v. Germar, 243 Helwicus v. Magdeburg, ,Lombardus metricus‘, 329
417 Helwig ,Märe vom heiligen Kreuz‘, 12, 252, 267–269 Helwig, thür. Deutschordensritter, 269 Der Henneberger, 184–187, 190 Hennig, Ursula, 310, 307 Hennings, Thordis, 98 f. Bruder Henrich, 351 Henricus scolaris, 334 Herakleios, Ks., 267 Herbort v. Fritzlar, ,Liet von Troye‘, 5, 77–90, 93, 95 f., 101–103, 105, 112, 222, 273, 337 Hermann I., Pfgf. v. Sachsen, Lgf. v. Thüringen, 5, 14, 36, 61, 64, 66–69, 75 f., 79–81, 86, 88, 90, 92–95, 105, 113, 115 f., 118–124, 138, 141–146, 148–150, 155 f., 159, 182, 193 f., 201, 208, 222, 228, 252, 276, 283 Hermann I., Gf. v. Henneberg, 156, 161, 165 Hermann, Sohn Lgf. Hermanns I. v. Thüringen, 228 Hermann v. Fritzlar, ,Heiligenleben‘, 220, 229, 246–249, 252, 268 Hermann v. Salza, 127, 252 Herminafrid (Irminfridus, Irminfrid), thür. Kg., 24–31, 33 Herodes, 221 Herrand von Wildonie, 156 ,Herzog Ernst‘, siehe auch unter Odo v. Magdeburg, 35, 67, 117, 350 f. ,Herzog Ernst Erf.‘ (,Gesta Ernesti ducis‘), 350 f. Hessel, 224 ‚Hester‘, 263 Hetzbold, Heinrich, v. Weißensee, 150, 170–172, 174–176, 178 f., 314 Heusler, Andreas, 24, 30, 32, 34 Hieronymus, 86 ,Hildebrandslied‘, 15, 28, 38 Hiltbolt v. Schwangau, 133 ,Himmelgartner (südostfäl.) Passionsspielfragmente‘, 294 ,Hiob‘, 254 ,Historia apocrypha‘, s. Jacobus de Voragine ,Historia de landgraviis Thuringiae‘, 286 ,Historia Pistoriana‘, 67, 286 Hoffmann, E. T. A., ,Der Kampf der Sänger‘, 193
418 Hofmannsthal, Hugo v., 1 Der Höllefeuer, 190 f. Holz, Georg, 191 ,Holzmindener Bibelfragmente‘, 43, 45, 51, 61, 247 Homer, ,Ilias‘, 87, 93 Honemann, Volker, 233, 315 Hopfgart, 110 Höpfner, Rudolf, 307 Horaz (Quintus Horatius Flaccus), ,Ars poetica‘, 42, 47, 63 Hornburg, Lupold, 202 Höß, Irmgard, 11 Hoyer IV., Gf. v. Falkenstein, 333 Hrabanus Maurus, Ebf. v. Mainz, 313 Hübner, Gert, 169 Hug v. Salza, 64, 125–127, 133 Huga, siehe Chlodwig Hugo de Salza, 72 Hugo v. Champfleury, 94 Hugo v. Meiningen, 188 f. Hugo v. Trimberg, ,Der Renner‘, 38, 93, 156 ,Hundeshagensche Handschrift‘, 35 ,Hunnenschlachtlied‘, 29–31 Huschenbett, Dietrich, 206 ,Ilias latina‘, 87 Innozenz III., Papst, 224 ,Innsbrucker (thüringisches) Fronleichnamsspiel‘, 301, 305–307 ,Innsbrucker (thüringisches) Osterspiel‘, 261, 301, 303–307 ,Innsbrucker (thüringisches) Spiel von Mariae Himmelfahrt‘, 301 f., 306 f. Irene-Maria, Gemahlin Philipps v. Schwaben, 143 ,Iringlied‘, 16, 23 f., 27, 32, 35 Irminfrid, siehe Herminafrid Jacobus de Voragine, ,Legenda aurea‘, 221 f., 229, 232, 261, 263, 267, 299 Jakob v. Paradies, 13, 330 Jans v. Wien, ,Weltchronik‘, 277 f. ,Jenaer Martyrologium‘, 231–234 Jesus v. Nazareth, 45 f., 220 f., 227, 234, 249, 261, 298, 303 Johann v. Eisenberg, Protonotar, Bf. v. Meißen, 177 Johanna (Jutta), sog. Päpstin, 311 f.
PERSONEN- UND WERKREGISTER Johannes, 302 Johannes XXII., Papst, 239 Johannes v. Erfurt, 341 Johann I. v. Michelsberg, 105 Johannes v. Vippach (Vitpech), ,Katherina divina‘, 345 f., 348 Johnson, L. Peter, 67, 97 Judas Iskariot, 221 f. ‚Judaslegende‘, 221 f. ,Judith‘ (ostmitteldeutsch), 252, 257–259, 262, 269 Jungbluth, Günther, 270 Justinus, Hl., 324 Jutta, Gemahlin Lgf. Ludwigs II. v. Thüringen, 63 Jutta, Tochter Lgf. Hermanns I. v. Thüringen, 138 Jutta, Schwester Johannes Rothes, 285 Kämpf, Günter, 241 ,Kaiserchronik‘, 33, 48, 87, 273–275, 307 Kammermeister, Hartung, 286, 288 f., 319–321, 323, 331, 351 Kappel, Hermann, v. Mühlhausen, ,Hubrilugus‘, 330 f., 341 ‚Karel ende Elegast‘, 291 Karg, Fritz, 274 Karl d. Gr., Kg. d. Franken u. Langobarden, Ks., 21, 30, 75, 87, 119, 273, 278, 290–292 Karl IV., röm.-dt. Ks., 292 ,Karl und Elegast‘, 290–292 ,Karlmeinet‘, 291 Kartschoke, Dieter, 56 Katharina v. Alexandrien, Hl., 226 f., 272, 294, 297, 299, 301 Katharina, Gfn. v. Henneberg, Gemahlin Mgf. Friedrichs III. v. Meißen, 345 f. Kellermann, Karina, 315, 323 Kelin, 190 Kelling, Dieter, 1 Kern, Peter, 206 Kilian (v. Meiningen), ,Legenda maior‘ Hedwigs v. Schlesien dt., 228, 236–238 ,Klage‘, siehe ,Nibelungenklage‘ Klein, Karl Kurt, 147 Klein, Klaus, 200 Klein, Thomas, 268 ,Kleriker und Nonne‘, 37 f., 43
PERSONEN- UND WERKREGISTER Kleve, Gf.in v., 66–68 Klopstock, Friedrich Gottlieb, 135 Knape, Joachim, 221 Köditz, Friedrich, ,Leben des hl. Ludwig‘, 94, 203, 218, 231, 282 f., 286 Kolb, Herbert, 291 Der v. Kolmas, 126, 150, 167 f. ,König Rother‘, 87 ,König Tirol‘, 203 f., 210 Königsberg, Herold, 320 ,Königsberger Apokalypse‘, 262 Königshof, Kaspar, 300 Konrad I. v. Wittelsbach, Ebf. v. Mainz, 332 f. Konrad IV., dt. Kg., 277 Konrad, Lgf. v. Thüringen, 252 Konrad d. Gr., Mgf. v. Meißen, 126 Konrad, Gf. v. Brehna, 165 f. Pfaffe Konrad, ,Rolandslied‘, 53, 64, 261, 273, 291 Konrad v. Heinrichau, 341 Konrad v. Hirsau, 93 Konrad v. Marburg, Dominikaner, 228 Konrad v. Megenberg, ,Buch der Natur‘, 147 Konrad v. Stoffeln, ,Gauriel von Muntabel‘, 108 Konrad v. Würzburg, ,Engelhard‘, ‚Der Schwanritter‘, ,Trojanerkrieg‘, 86, 101, 169, 171, 175, 185, 190 f., 198, 210, 268, 273, 277 Konstantin, röm. Ks., 278 Koplär (Koppler), Hans, 351 Kornrumpf, Gisela, 188 Kranc, Klaus, Propheten-Übersetzung, 254, 270 f. Kraus, Carl v., 166, 170, 182 ,Die Kreuzfahrt Landgraf Ludwigs des Frommen‘, 203, 283 f. Kristan v. Mühlhausen, Bf. v. Samland, 253 Krollmann, Christian, 2, 300 ,Kudrun‘, 24 Kugler, Hartmut, 14 Kuhn, Hans, 24, 32 Kully, Rolf Max, 216 Künig, Hermann, v. Vach (Vacha), ,Sant Jacobs Straß‘, 350 Kunigunde, Gemahlin Ks. Heinrichs II., 223–226
419 Kunz v. Kauffungen (Kaufungen), 323 Kunze, Konrad, 48, 50 ,Künzelsauer Fronleichnamsspiel‘, 297 Der v. Kürenberg, 64, 125 f. Lachmann, Karl, 34, 104, 111, 114, 205 f. Pfaffe Lambrecht, ,Alexander‘, 24, 53, 64, 72, 78, 81, 198 ,Lancelot‘ (,Lancelot-Gral-Prosaroman‘), 108 Landgrafenpsalter, 95, 332 Last, Martin, 54–56 ,Laurin‘, 200 f., 292 f., 340 ,Leben der heiligen Elisabeth‘, 193, 230 f., 298 ,Legenda maior‘ (Hedwigslegende lat.), 228, 236 f. Lehmann, Paul, 350 ,Leipziger Predigten‘, 246 f. ,Leipziger Predigtsammlung Dietrichs von Gotha‘, 247 ,Leipziger Psalmen-Fragmente‘, 43 f., 61 Leitzmann, Albert, 214 Lemmer, Manfred, 10, 75, 93, 113, 133, 135, 168 f., 179, 185 Leopold VI., Hzg. v. Österreich, 196, 284 Lessing, Gotthold Ephraim, 8 Leuthold v. Seven, 164 Leverkus, Wilhelm, 99 Lewenhagen, Caspar, 225 ,Lex Ribuaria‘, 21 f. ,Lex Salica‘, 22 ,Lex Saxonum‘, 23 ,Lex Thuringorum‘, 21–23 Leyen, Friedrich v. der, 51 ,Liber cronicorum sive annalis Erfordensis‘, 281 Lied vom Heiligenstädter Putsch, 324 f. Lied vom sächsischen Prinzenraub (Kunz von Kauffungen), 323 f. Lied von den Söldnern Adolfs von Nassau, 317–319 Liliencron, Rochus v., 318 f. Schenk v. Limburg, 156 Linke, Hansjürgen, 316, 318 f. Lintzel, Martin, 60 Schenk v. Lißberg (Liebesberg), 177 ‚Livländische Reimchronik‘, 267, 272 ,Lohengrin‘, 192, 194, 198, 202, 208 f. Lomnitzer, Helmut, 200
420 Loon (Looz), Gf.en v., 96 Lord, Albert, 16 Lorichius, Gerhard, 89 Löser, Freimut, 277 Losse, Rudolf, 133 f., 177–179, 187 Lothar, Ks., fränk. Kg., 313 Lothar III., Ks., dt. Kg., 63, 172 Lubos, Arno, 9 Lucan (Marcus Annaeus L.), ,Bellum civile‘ (,Pharsalia‘), 63, 92 f. Lucas, Christian Theodor Ludwig, 193 ,Lucidarius‘, 256, 337 Luder v. Braunschweig, 269 f. Ludolf v. Sudheim, ,De itinere Terrae Sanctae liber‘, 351 Ludowinger, Lgfen. v. Thüringen, 61–65, 68–71, 75 f., 79 f., 88, 96, 132, 156, 160 f., 188, 196, 201, 208, 228, 276, 284, 344 f. Ludwig d. Deutsche, ostfränk. Kg., 39 Ludwig d. Fromme, Ks., 108, 119 Ludwig d. Springer, thür. Gf., 41, 75, 287, 290, 328 Ludwig I., Hzg. v. Bayern, 119 Ludwig I., Lgf. v. Thüringen, 63 Ludwig II. der Strenge, Hzg. v. Bayern u. Pfgf. bei Rhein, 206, 208 Ludwig II. d. Eiserne, Lgf. v. Thüringen, 63, 94 f. Ludwig III. d. Fromme, Lgf. v. Thüringen, 64, 66–68, 70, 75 f., 95, 100, 127, 283 f. Ludwig IV. d. Bayer, röm.-dt. Ks., 177 Ludwig IV. d. Heilige, Lgf. v. Thüringen, 46, 106, 113, 122, 149, 157, 159, 182, 218, 228, 265, 282–284, 287, 294, 296, 315 f. Ludwig VII., Kg. v. Frankreich, 94 Ludwig, Otto, 8 Lukardis v. Oberweimar, 237 Lukardis (Liutgard) v. Ziegenhain, 79 Luther, Martin, 5, 11, 226, 271, 352 ,Macer‘ (deutscher ,Macer‘), 269, 335–338 ,Macer floridus‘ (,De viribus herbarum‘), 330, 336 f., 340 Macrobius (Ambrosius Theodosius M.), 57 Magdeburger Weichbildrecht, 335 Mägdefrau, Werner, 194 Mandeville, Jean de, ,Reisen‘, 77, 349, 351
PERSONEN- UND WERKREGISTER Manesse, Rüdiger, 136 Manfred Kg. v. Sizilien, 12, 212 Manuel I. Komnenos, byzant. Ks., 255 Marcus v. Weida, 14 Margareta v. Antiochien, Hl., 226 f., 232, 299 ,Margareta von Antiochien‘ (Legende), 226 f., 278 Margarete v. Kleve siehe Gf.in v. Kleve Margarete, Gemahlin Lgf. Albrechts des Entarteten v. Thüringen, 162 Marie de Champagne, 66, 132 Marner, 139, 154, 169, 190 Martin, Bf. v. Tours, Reichsheiliger d. fränk. Könige, 40, 272, 324, 332 Masser, Achim, 254, 258 Mathilde, Witwe Kg. Heinrichs I., 39 f., 273 Matthias v. Beheim, ‚Evangelienbuch‘, 246 Maxentius, 299 f. Maximianus, 40 May, Karl, 349 Mechthild v. d. Pfalz, 162 Mechthild, Gfn. v. Henneberg, 237 f. Mechthild v. Magdeburg, 3 Meinloh v. Sevelingen, 126 Der Meißner, 190 f. Ps.-Melito, ,Transitus Mariae‘, 302 Mentelin, Johann, Drucker, 203 Merbot, Cunrad, v. Weida, 234 ,Merseburger Zaubersprüche‘, 16, 38, 339 Mertens, Volker, 132, 150, 167, 174 f., 205, 245 Mettke, Heinz, 10, 36, 142, 248, 251 Michael, Wolfgang F., 314 Michels, Victor, 166, 265 ,Millstätter Blutsegen‘, 340 ,Der Minne Klaffer‘, 180 f. ‚Minneklage (aus Thüringen)‘, 178 f. ,Minner und Trinker‘, 180 Missenland, Herold, 320 Molitor, Matthias, 346 ,Mönch Felix‘, 210 f., 226 ,Des Mönches Not‘, 211 f., 217 ,Moralium dogma philosophorum‘, 54, 57–59 ,Moringer‘ (,Der edle Moringer‘), 135, 156 ,Moriz von Craûn‘ (,Mauritius von Craûn‘), 87, 100, 222
PERSONEN- UND WERKREGISTER ,Mühlhäuser Reichsrechtsbuch‘, 332–335 ,Mühlhäuser (thüringisches) Katharinenspiel‘, 297, 299–301 Muskatblut, 321 Mutianus Rufus (Konrad Muth), 295, 352 Nachtigall, Konrad, 189 Nadler, Josef, 1–9, 11, 13–15 Neckel, Gustav, 30 Neidhart, 133, 150, 169, 184 Nekil, Dither, Abt v. Reinhardsbrunn, 283 Nero (N. Claudius Caesar), 307 f. Neumann, Friedrich, 230 Neumann, Winfried, 301, 303, 306 f. ,Nibelungenklage‘, 35 ,Nibelungenlied‘, 28–35, 83, 112, 123, 214, 292 f. Niemand, 210 Niewöhner, Heinrich, 211, 216 Nikolaus, Hl., 264, 313 f. Nikolaus v. Bibra, ,Occultus Erfordensis‘ (,Carmen satiricum‘), 145, 161, 295 Nikolaus v. Jeroschin, ,Kronike von Pruzinlant‘, 252, 267 Nikolaus v. Kues, Kard. u. Bf., 288 Nikolaus v. Siegen, ,Chronicon ecclesiasticum‘, 41, 281 f., 288 ,Ältere Not‘, 32–34 Novalis, d. i. Georg Friedrich Philipp Frh. v. Hardenberg, ‚Heinrich von Ofterdingen‘, 193 Nuhn, Johannes, ‚ABC‘, ‚Chronica und altes Herkommen der Landtgrawen zu Döringen [...]‘, 290 Nuen, Wilhelm, 327 Odo v. Magdeburg, ,Ernestus‘ (,Herzog Ernst‘ E), 38 Odo v. Meung-sur-Loire, 335 f. Odoaker, Kg. in Italien, 31 Opitz, Martin, 343 ,De origine gentis Swevorum‘, 33 Öser, Irmhart, ,Epistel des Rabbi Samuel an Rabbi Isaac‘, 269, 281 Oswald v. Wolkenstein, 188, 321 Otte I., ,Eraclius‘, 3, 5, 96 f., 267, 273 Otto I. d. Gr., Ks., dt. Kg., 37, 40 Otto I. (das Kind), Hzg. v. BraunschweigLüneburg, 160 Otto II., Ks., dt. Kg., 39
421 Otto II., Hzg. v. Bayern, 187 Otto III., Ks., dt. Kg., 37 Otto III., Gf. v. Orlamünde, 161 Otto IV. (Otto v. Braunschweig), röm.dt. Kg. u. Ks., 120, 138, 142 f. Otto IV., Mgf. v. Brandenburg, 173, 192 Otto v. Botenlauben, 130, 138, 154–157, 159, 163, 165, 186 Otto v. Freising, ,Chronica de duabus civitatibus‘, 255, 274 Ottokar II. Pøemysl, Kg. v. Böhmen, 188 Ottokar v. Steiermark, ,Österreichische Reimchronik‘, 188, 212 Ovid (Publius O. Naso), ,Ars amatoria‘, ,Metamorphosen‘, 5, 42, 47, 56, 60, 72, 76, 88–93, 96, 131, 136 f., 336 Panzer, Friedrich, 32, 148 ,Paradisus anime intelligentis‘, 242–246, 248 Parry, Milman, 16 ,Passional‘, 229, 231, 252 f., 258, 262–268, 270, 299 Patze, Hans, 10, 182, 214, 283, 288, 297 Paulus, Apostel, Hl., 308 Paulus Eremita, 232 Peraudi, Raimund, 289 Peter v. Dusburg, 272 Peters, Ursula, 76, 93 Petrarca, Francesco, 93 Petri, Andreas, Drucker, 311, 319 Petrus, Apostel, Hl., 308 Petrus Alfonsi, ,Disciplina clericalis‘, 101, 215, 348 Petrus Comestor, ,Historia scholastica‘, 270, 274, 276 f., 280 Petrus Lombardus, ,Liber sententiarum‘ (,Sentenzen‘), 238, 240, 329 Pfaffenfeind, 316 Pfarrer zu d. Hechte, ,Schachbuch‘, 254 Pfeiffer, Franz, 257 Pfeyl, Johannes, Drucker, 226 Philipp v. Schwaben, röm.-dt. Kg., 106, 116–118, 142–152, 224, 252 Philipp v. Heinsberg, Ebf, v. Köln, 76, 99 Philipp, Gf. v. Flandern, 114 Bruder Philipp, ,Marienleben‘, 218, 254, 261, 292 ,Physiologus‘, 256 ‚Pilatus‘, 45, 96 f., 220–222, 226
422 Pilatus, Pontius, 45 f., 221 f., 226 f., 261, 308, 352 Pinkernail, Reinhard, 286, 347 Pistorius, Johannes d. J., 286 Pius II., Papst, 325 Plinius d. Ä. (Gaius P. Secundus), 336 ,Pöhlder Chronik‘, 40 Polo, Marco, ,Il Milione‘, 350 Pompeius, 92 Poppo VI., Gf. v. Henneberg, 154, 156 Poppo VII., Gf. v. Henneberg, 156 Poppo I. oder II., Gf. v. Wertheim, 115 ,Priesterkönig Johannes‘ (,Presbyterbrief‘), 207, 218, 252, 255–257 Priscianus, ,Institutiones grammaticae‘, 42 Prokopios aus Kaisareia, 23 Prudentius (Aurelius P. Clemens), ,Psychomachia‘, 47, 266 ,Psalterium Gallicanum‘, 44 Purgoldt, Johannes, ,Eisenacher Rechtsbuch‘, 333 Püterich, Jakob (III.), v. Reichertshausen, ,Ehrenbrief‘, 205 Quedlinburger Annalist, siehe ,Annales Quedlinburgenses‘ ,Rabenschlacht‘, 35, 84 Rabodo, Gf. v. Abenberg, 134 Radegunde, Tochter des thür. Königs Berthachar, 24 f., 40 Rafold, Heinrich, ,Der Nussberg‘, 211 f., 216 f. ,Raoul d’Arras‘, 98 Ratinck, Amplonius, 351 ,Rätselspiel‘, siehe ,Wartburgkrieg‘ Regenbogen, 188, 227, 330 ,Regimen sanitatis Salernitanum‘, 338 Regino v. Prüm, 87 ,Regula S. Benedicti‘, 42 ,Der Reiher‘, 211, 214 Reimbote, Zisterzienser, 224 f. ,Reimverse eines Begarden‘, 12 Reinbot v. Durne, ,Georg‘, 226 Reiner d. Deutsche, ,Fagifacetus‘, 344 f. ,Reinfried von Braunschweig‘, 199 ,Reinhardsbrunner Annalen‘ (,Annales Reinhardsbrunnenses‘), 41, 316–318 ,Reinhardsbrunner Historien‘, 41, 317
PERSONEN- UND WERKREGISTER Reinmar d. Alte, 64, 133, 140, 150, 152 f., 169, 173, 268 Reinmar v. Brennenberg, 169 Reinmar v. Zweter, 169, 184, 186, 190, 193, 196 Reinolt v. d. Lippe, 186, 190 Reissenberger, Karl, 51 ,Rhetorica ad Herennium‘, 42 Richard I. Löwenherz, Kg. v. England, 80 Richert, Hans-Georg, 257 f., 266 Ried, Hans, 105 Rieneck, Gf.en v., 63 ,Der Ritter mit den Nüssen‘, 211, 215 f. ,Rittertreue‘, 211–214, 218 Rohrwasser, Michael, 13 Rolandslied‘, siehe Pfaffe Konrad Röll, Walter, 206, 214 ,Roman d’Eneas‘, 69, 72, 74–76 ,Roman de Thèbes‘, 74 Römer v. Zwickau, s. Reinmar v. Zweter Rompelman, Tom Albert, 141, 195, 199 Rosenberg, Wachsenburglied, 288, 319–322 ,Rosengarten zu Worms‘, 201, 292 f. Rosenhagen, Gustav, 166, 169 ,Der rote Mund‘, 180 Roethe, Gustav, 268 Rothe, Johannes, ,Eisenacher Chronik‘, ,Eisenacher Rechtsbuch‘, ,Elisabethleben‘, ,Fürstenratgeber‘, ,Lob der Keuschheit‘, ,Passion‘, ,Ratsgedichte‘, ,Ritterspiegel‘, ,Thüringische Landeschronik‘, ,Thüringische Weltchronik‘ 14, 28, 58, 67, 146, 162, 192–194, 197, 221 f., 235, 274, 281, 283–290, 295–297, 312 f., 317–319, 322, 328, 333, 342, 346–349 Rube, Eckhart, 243, 248 Rubin, 169 Rüdiger v. Munre, ,Studentenabenteuer‘ B (,Irregang und Girregar‘), 211 f., 216 Rudolf v. Habsburg, dt. Kg., 161 Rudolf I., Hzg. v. Sachsen-Wittenberg, 191 Rudolf VI., Mgf. v. Baden, 238 Rudolf v. Ems, ,Alexander‘, ,Weltchronik‘, ,Willehalm von Orlens‘, 77–79, 162 f., 224, 276 f., 280, 290 Rudolf v. Fenis, 169 Rudolf v. Fulda, 28, 33
PERSONEN- UND WERKREGISTER Ruh, Kurt, 10, 13, 15, 45, 208, 243, 248 Rumelant v. Sachsen, 190 Rupert I., Frh. v. Durne (Walldürn), 115 Rupp, Heinz, 55 Sachs, Hans, 189, 284 Sächsische Weltchronik‘, 233, 275 f., 297, 317 Saladin, Sultan, 148, 283 Sallust (Gaius Sallustius Crispus), 57 Sanders, Willy, 99 Sauer, August, 6 f., 9 ,Schampiflor‘, 211 f., 214 f. Scharff, Thomas, 41 Scheidgen, Andreas, 52 Scherer, Wilhelm, 4–7, 59, 69, 86, 99, 126 Schernberg, Dietrich, ,Spiel von Frau Jutten‘, 311–314 Schieb, Gabriele, 78 f., 129, 132 Schiller, Friedrich, 8, 110 Schlegel, August Wilhelm, 123 Schlegel, Friedrich, 110 ,Schleizer Psalmen-Fragmente‘, 11, 43–45, 51, 62 Schlesinger, Walter, 10 Schlorff, Urban, 218 f., 283, 287 Schmidtke, Dietrich, 274 Schmolinsky, Sabine, 268 Schneider, Hermann, 27, 49, 86, 88 Schneider, Karin, 42 Schnyder, André, 225 Scholz, Manfred Günter, 141 f., 150 Schreiber, Albert, 116 Schreiber, Wolfgang, 190 Schröder, Edward, 7, 43 f., 51 f., 57, 62, 79, 96 f., 99, 125, 133, 212, 216, 222 f., 256, 259, 268, 324 ,Der Schüler zu Paris‘, 211 f., 215 Schupp, Volker, 13, 99 Schütte, Bernd, 46 Schütze, Gottfried, 275 Schwabbauer, Monika, 275 ,Schwabenspiegel‘, 167 Schwarzburg, Gf.en v., 69 f., 172 Schweikle, Günther, 128, 142 Schwietering, Julius, 96 Schwind, Moritz v., 193 ,Secundus‘, 101, 217, 278 f. Sedulius, ,Carmen paschale‘, 43, 47 f., 51, 62
423 Seelbach, Sabine, 237 f. ‚‚Seelentrost‘, 261 Segen gegen Blattern, Würmer, Blutung, 340 ,Segremors‘, 13, 108 f., 192 ,Seifried Helbling‘, 148 Seneca d. J. (Lucius Annaeus S.), 57 Servatius, hl. Bischof v. Tongern, 127 f. Servius (Maurus S. Honoratus), ,Aeneis‘Kommentar, 76 Sibote, ,Frauenzucht‘ (,Frauenerziehung‘), 12, 211–213 Siegfried I., Ebf. v. Mainz, 41 Siegfried I., Gf. v. Anhalt, 160 Siegfried v. Balnhausen, ,Historia universalis‘, Compendium historiarum‘, 274 Siegfried v. Dahenfeld, 270 f. Sievers, Eduard, 231 Sigeboto von Paulinzella, ‚Vita Paulinae‘, 42, 273 Sigeher, 188 Siller, Max, 302 Simrock, Karl, 192, 194 Sindold, ‚Reinhardsbrunner Briefsammlung‘, 41 f. Singauf, 191 Smed, Hermann, 302 Sonderegger, Stefan, 18 Sophie v. Bayern, Gemahlin Lgf. Hermanns I. v. Thüringen, 95, 119 Sophie v. Brabant, 160, 290 Sophia v. Minsk, 2. Gemahlin Lgf. Ludwigs III., 68 Spalatin, Georg, ,Chronik der Sachsen und Thüringer‘, ‚Meerfahrt gin Jerusalem‘, 28, 319, 352 Spangenberg, Cyriacus, ,Hennebergische Chronica‘, ,Mansfeldische Chronica‘, ,Von der Musica und den Meistersängern‘, 30, 92, 154, 156 f., 238, 290, 316, 319, 322, 327, 351 Sparnau, Peter, 349 f. ,Speculum humanae salvationis‘, 249 Sporer, Hans, Drucker, 330 Stähli, Marlis, 54 Statius, Publius Papinius, ,Thebais‘, 42 Steinbach, Franz, 14 Steinbach, Rolf, 301 Steinhausen, Apel, 351 Steinmar, 180
424 Stella, Erasmus, d. i. Johannes Stüler, ,De rebus Saxoniae‘, 323 f. Stephanus, Hl., 272 Stettfelder, Nonnosus, ,Dye legend und leben des heyligen sandt Keyser Heinrich‘, 226 Stolle, 183 f. Stolle, Konrad, ,Memoriale‘, 28, 286, 288 f., 296, 317, 320 f., 326 f. Storm, Theodor, 8 Strauch, Philipp, 278 f. Stricker, ,Das heiße Eisen‘, ,Karl‘, ,Der kluge Knecht‘, ,Pfaffe Amis‘, ,Die drei Wünsche‘, 210–212, 261 ,Studentenabenteuer‘, 220, 224 Stuler, Jörg, ,Historienbibel‘, 258 Sueton (Caius Suetonius Tranquillus), 93 Sulpicius Severus, ,Vita Martini‘, 40 ,Summarium Heinrici‘, 18 ,Der Sünden Widerstreit‘, 235, 260, 266 f. Swigger v. Mühlhausen, 334 Tacitus (Publius Cornelius T.), ,Germania‘, 19 Taine, Hippolyte, 6 Tannhäuser, 154, 165 f., 193 Tedbald (Thibaut) IV., Gf. v. Champagne, 169 Tervooren, Helmut, 194 Theoderich d. Gr., Kg. d. Ostgoten, 20, 31, 33, 200, 292 Theophilus, Hl., 49, 313 ,Theophilus‘, 313 Theudebert I., merow. Kg., 25 Theuderich (Thiadrich) I., merow. Kg., 25–29, 31 ,Thidrekssaga‘, 32 Thiele, Gerhard, 51 f. Thietmar v. Merseburg, 187 Thomas v. Apolda, 243 Thomas v. Bretagne, ,Tristan‘, 69, 83, 102 Thomas v. Buttelstedt, 346 Thomas v. Erfurt, ,Fundamentum puerorum‘, 219 Thomasin v. Zerklaere, ,Der welsche Gast‘, 261 Thrasamund, Kg. d. Vandalen, 20 Thum, Bernd, 14 Thüring, Ritter, 171
PERSONEN- UND WERKREGISTER ,Thüringische Zehnjungfrauenspiele‘, 297–300, 309, 313 Thymo v. Erfurt, 330 Tiberius, röm. Ks., 261, 308 Tilesius, Hieronymus, 311, 314 Tilo v. Kulm, ,Von siben ingesigeln‘, 252, 254 Titus (T. Flavius Vespasianus), 307 f. ,Tobiassegen‘, 339 Tonna, Gf. v., 70 ,Trierer Floyris‘ (‚Flore und Blanscheflur‘), 69, 100 Tucholsky, Kurt, 7 f. Der Tugendhafte Schreiber, 150, 157 f., 182–184, 196, 201 Übertwerch, Heinz, 316 Uhland, Ludwig, 145 Ulrich v. Gutenburg, 64 Ulrich v. Liechtenstein, 133, 172, 175 Ulrich v. Tennstedt, 349 Ulrich v. Türheim, ,Rennewart‘, 121, 202 Ulrich v. Winterstetten, 156, 167 Ulrich v. Zatzikhoven, ,Lanzelet‘, 105 ,Unterweisung zur Vollkommenheit‘, 233 f. Unverloschen, Jörgen, 281 Der Unverzagte, 190 Unwerth, Wolf v., 43 Urban IV., Papst, 305 Urban, Bf., 232 Ursinus, Johannes, 290 Usuard v. St. Germain-des-Prés, Martyrologium, 232 ,Väterbuch‘, 252, 262–265 Vegetius (Flavius V. Renatus), ,Epitoma rei militaris‘, 348 Venantius Fortunatus, 40 Vergil (Publius Vergilius Maro), ,Aeneis‘, 47, 69, 71 f., 74, 76, 87, 89, 164 ,Veronika‘ II (,Fronica‘), 227 f. Veronikalegende, 221, 227 f., 261, 269, 294, 307 f. Vespasian(us), röm. Ks., 261, 307 f. ,Virgils Fahrt zum Magnetberg‘, 199 ,Virginal‘, 293 ,Vita sancti Heinrici regis et confessoris‘, 224 f. ,Vita Ludowici‘, 282
PERSONEN- UND WERKREGISTER ,Vita Mathildis‘, 39 f., 273 ,Vitaspatrum‘, 262 f., 265 Vogt, Friedrich, 53, 104, 167 ,Von Vollkommenheit‘, 245 Volmar, ,Steinbuch‘, 330 Volradi, Jakob, 274 Volrat, ,Die alte Mutter‘, 212, 216 Vulpius, Christian August, 251 Vulpius, Wolfgang, ,Plagium Kauffungense‘, 323 f. Wachinger, Burghart, 174, 279 Wachsmut v. Künzingen, 169 Wachsmut v. Mühlhausen, 169 f., 173 Wagner, Bettina, 256 f. Wagner, Richard, ,Tannhäuser und der Sängerkrieg auf Wartburg‘, 193 ,Waldecker Alexander‘, 78 Waldemar I., Kg. v. Dänemark, 68 Walß, Johannes, 292 Walther v. Châtillon, ,Alexandreis‘, 38, 57 Walther v. der Vogelweide, 13, 116, 118, 122, 124–126, 130 f., 133, 135, 138–151, 153, 155–157, 159, 164, 167–169, 174 f., 181 f., 184, 190, 193, 196, 201 ,Wartburgkrieg‘, 12, 142, 150, 154, 181, 189, 192–204, 207, 209, 275 Wattenbach, Wilhelm, 94 Wegele, Franz Xaver, 323 Wehrli, Max, 17 Weinhold, Karl, 220, 222 Wenck, Karl, 94 Wenzel II., Kg. v. Böhmen, 283 Wernher I. Abt, 41 Bruder Wernher, 154, 184, 190 Wernher v. Elmendorf, ,Tugendlehre‘, 43, 53–62, 342 Wettiner, Mgfen. v. Meißen, Lgfen. v. Thüringen, 10, 13, 109, 134, 138, 157, 160–163, 165 f., 168, 191–193, 201, 206, 208, 218, 276, 284, 288, 325 f., 337, 344–346, 351 Wichmann, Ebf. v. Magdeburg, 55 Wickram, Georg, Bearbeitung von Ovids ,Metamorphosen‘, 89 f., 92 Widukind v. Corvey, ,Res gestae Saxonicae‘, 23, 25–34, 36, 40, 273 ,Wiener Osterspiel‘, 303 ,Wienhäuser Liederbuch‘, 316
425 Wilhelm II., Gf. v. Holland, dt. (Gegen-) Kg., 160 Wilhelm III. d. Tapfere, Hzg. v. Sachsen, Lgf. v. Thüringen, 162, 289, 319–322, 346, 351 Wilhelm III., Gf. v. Henneberg-Schleusingen, 316, 327 Wilhelm Ernst, Großhzg. v. Sachsen-Weimar, 7 Wilhelm v. Conches, 57 Wilhelm Ernst, Großhzg. v. Sachsen, 7 ‚Wilhelms III. von Thüringen Pilgerfahrt‘ ins Hl. Land‘, 351 f. ,Willehalm‘ (Prosaroman), 202 Williams-Krapp, Werner, 230, 273 ,Willkür der Stadt Erfurt‘, 334 f. Wimmer, Erich, 275 v. Windesbecke (‚Winsbecke‘), 156 ‚Winsbecke‘, 183 Wirnt v. Grafenberg, ,Wigalois‘, 105, 110 f., 202, 268 Wisse, Claus, siehe Colin, Philipp Witschuh v. Alsfeld, 269 Wizlav III., Fs. v. Rügen, 190 Wizlav, 190 Wolf, Herbert, 10 f., 13, 23, 37, 44, 52, 78, 128, 150, 180, 191, 206, 256, 266, 272 ,Wolfdietrich‘ D (,Großer Wolfdietrich‘), 203 Wolfram v. Eschenbach, Lieder, ,Parzival‘, ,Titurel‘, ‚Willehalm‘, 3–5, 7 f., 11, 77, 81, 95 f., 98, 104, 108, 110–124, 127, 133, 140 f., 144, 148, 150–155, 159, 163–165, 181–183, 186, 193, 196–209, 255, 342 Worstbrock, Franz Josef, 54 Wund-, Blut- und Pfeilsegen, 340 Wurmsegen, 340 Wyss, Ulrich, 127, 188 ,Zabulons Buch‘, siehe ,Wartburgkrieg‘ Zeidler, Victor, 274 ,Zeno‘ (Zeno-Legende), 292 Ziegler, Konrad, 280 Ziegler, Tilomann d. J., 11 Ziesemer, Walther, 258, 260, 265, 267, 271 f. ,Zwettler Erec‘ (,Mitteldeutscher Erec‘), 13, 105 f. Zwickauer (Zwingäuer), 211 f., 217
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urKundEnrEgEstEn 1130–1573.
Von henneberg-römhild
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TT093
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böhlau verlag, ursulaplatz 1, d-50668 köln, t: + 49 221 913 90-0 [email protected], www.boehlau-verlag.com | wien köln weimar
Veröffentlichungen der historischen Kommission für thüringen neue Folge. Kleine reiHe Herausgegeben von Werner greiling eine ausWaHl
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Jena 1630–1730
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geschichte der mittelalterlichen
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deutschen literatur thüringens
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