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German Pages 240 Year 1994
Rothermund • Geschichte als Prozeß und Aussage
Dietmar Rothermund
Geschichte als Prozeß und Aussage Eine Einführung in Theorien des historischen Wandels und der Geschichtsschreibung Studienausgabe
R. Oldenbourg Verlag München 1995
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Rothermund, Dietmar: Geschichte als Prozess aund Aussage: Eine Einführung in Theorien des historischen Wandels und der Geschichtsschreibung/Dietmar Rothermund. -2. Aufl., Studienausg. - München: Oldenbourg, 1994 ISBN 3-486-56081-6
© 1994 R. Oldenbourg Verlag GmbH, München Das Werk einschließlich aller Abbildungen ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Bearbeitung in elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Dieter Vollendorf Gesamtherstellung: R. Oldenbourg Graphische Betriebe GmbH, München ISBN 3-486-56081-6
Inhalt Vorwort
Seite 7
Einleitung
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Erster Teil: Perspektiven einer historischen Hermeneutik 1. Historische Urteilskraft und hermeneutische Methode 2. Der ratiomorphe Apparat: Der Mensch in der Natur 3. Die Bewußtseinsstellung: Der Mensch über und in der Geschichte 4. Der historische Diskurs: Begriffe und Probleme
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Zweiter Teil: Theorien des historischen Wandels 5. Stufentheorien: Vico, Marx, Rostow 6. Entwicklungsperspektiven des Historismus: Ranke und Meinecke 7. Die Entgrenzung der Welt und das Weltsystem: Braudel und Wallerstein 8. Theorien der Wissenschaftsgeschichte: Foucault, Kuhn, Hull
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Dritter Teil: Analytische Methoden der modernen Geschichtswissenschaft 9. Prosopographie: Die Analyse der Interessengruppen 10. Konjunkturgeschichte und Kliometrie 11. Psycho-Historie und Mentalitätsgeschichte 12. Historische Verhaltensforschung
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Vierter Teil: Die philosophische Konstruktion der historischen Aussage 13. Sprachphilosophie und analytische Geschichtsphilosophie 14. Die Logik der Erzählung und der Narrativismus 15. Wirkungsgeschichtliches Bewußtsein und kommunikatives Handeln
163 175 189
Fünfter Teil: Eine neue "Geschichte in weltbürgerlicher Absicht"? 16. Leitmotive der Geschichtsschreibung 17. Konvergenz und Divergenz in der Geschichte
203 214
Bibliographie
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Register
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65 87
7 Man muß die Vergangenheit wie radioaktives Material behandeln. Arnos Oz*
Vorwort Die Historiker stehen gegenwärtig zumeist allen theoretischen Bemühungen, die sich nicht direkt auf methodische Probleme ihrer Praxis beziehen, sehr skeptisch gegenüber. Doch bei Philosophen und Theoretikern anderer Disziplinen gibt es ein großes Interesse an dem, was Historiker eigentlich tun, wenn sie Geschichte schreiben, und welchen Zugang zur Geschichte wir überhaupt haben. Hier gilt es zu vermitteln und einen Diskurs zu begründen, der beide Seiten anspricht. Ich hoffe, daß ich mit diesem Text Kollegen der verschiedensten Disziplinen erreiche. In erster Linie sind die Adressaten dieses Texts jedoch die Studierenden der Geschichtswissenschaft, denn er ist aus Vorlesungen für Historiker hervorgegangen, deren Interesse an theoretischen Fragen mich dazu bewogen hat, dieses Buch zu schreiben. So sagte zum Beispiel ein Doktorand der Frühgeschichte zur mir: "Ich kenne mich jetzt in der Stratigraphie gut aus und weiß, wie ich alle meine Funde einzuordnen habe, aber eigentlich weiß ich nicht mehr, wozu ich das alles tue." Der vorliegende Text beansprucht nicht, diese Frage nach dem "Wozu" endgültig zu beantworten, sondern will nur Wege zeigen, wie man sich mit Fragen der Theorie auseinandersetzen kann und welche Fülle von Ansätzen zu einer solchen Auseinandersetzung es gibt. Der "Urtext" war ein Vorlesungsmanuskript im Sommer 1983, eine revidierte Version trug ich im Wintersemester 1987/88 vor. Im Wintersemester 1990/91 konzentrierte ich mich dann auf "Theorien des historischen Wandels". Das Interesse des Verlegers Dr. Thomas von Cornides ermutigte mich dazu, die verschiedenen Texte zu einem Buch zusammenzufügen. Dazu mußte vieles neu geschrieben werden, wobei ich auch die Kritik mehrerer Kollegen berücksichtigen konnte, die sich die Mühe gemacht hatten, die eine oder andere Version des Texts zu lesen und mir dann im Gespräch oder in der Korrespondenz Anregungen gaben. Der Biologe Rupert Riedl las bereits den "Urtext" und ermutigte mich zur Publikation, die Philosophen Hans Friedrich Fulda und Michael Theunissen halfen mir mit konstruktiver Kritik. Mit dem Philosophen und Physiker Gerhard Vollmer korrespondierte ich
* ARD-Femsehinterview mit dem israelischen Schriftsteller Amoz Oz nach der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels, 4. Oktober 1992.
8 insbesondere über einen Teil des Texts, der in etwas anderer Form in einem von ihm mitherausgegebenen Sammelband "Denken unterwegs" erschienen und in diesem Buch auf den Seiten 45 bis 52 zu finden ist. Für seine intensive Beratung bei der Entstehung dieses Aufsatzes und für sein Einverständnis, einen Teil davon hier nachzudrucken, bin ich ihm besonders dankbar. Selbstverständlich möchte ich keinen der Genannten mit der Verantwortung für Fehlurteile belasten, die der Text auch nach soviel hilfreicher Kritik noch enthalten mag. Zum Schluß möchte ich noch meinen Studenten für ihre Aufmerksamkeit und Diskussionsbereitschaft danken und meinem Heidelberger Kollegen Detlef Junker dafür, daß er das Seminar, das meine erste Vorlesung zu diesem Thema begleitete, mit mir zusammen leitete und viele Anregungen einbrachte. Heidelberg, Januar 1993
Dietmar Rothermund
Einleitung Das Wort "Geschichte" hat eine doppelte Bedeutung. Wir bezeichnen damit sowohl den Prozeß des Geschehens als auch die Aussage darüber. Die Qualität und Quantität solcher Aussagen hat sich in den letzten Jahrhunderten sehr verändert. Es ist eine Geschichtswissenschaft entstanden, die nahezu in allen Ländern dieser Welt vertreten und die sich über die praktischen Kriterien ihrer Arbeit weitgehend einig ist. Zugleich hat sich eine Vielfalt von neuen Forschungsmethoden etabliert, und es sind neue Bereiche berücksichtigt worden, an die zuvor kaum jemand gedacht hatte. Beschränkten sich Historiker früher auf die "große Politik", so betreiben sie heute Alltagsgeschichte, Familiengeschichte, Frauengeschichte und vieles andere mehr. Geschichte als Aussage ist heute von unübersehbarer Fülle, doch der Deutung der Geschichte als Prozeß ist man damit nicht unbedingt nähergekommen. Die alte Geschichtsphilosophie, die sich inhaltlich auf die Frage nach dem Prozeß der Geschichte einließ, ist in Verruf geraten. Die neue analytische Geschichtsphilosophie beschränkt sich auf die Form der historischen Aussage und geht dem Inhalt bedachtsam aus dem Wege. So werden denn Theorien, die sich inhaltlich auf die Geschichte als Prozeß beziehen, zumeist von Sozial- und Wirtschaftswissenschaftlern entworfen und nicht von Philosophen und Historikern, die das Risiko, das sie dabei eingehen würden, besser zu kennen glauben. Dennoch wird jeder Historiker, wenn man ihn danach fragt, bestätigen, daß es ihm bei seiner Forschung um den historischen Wandel geht, und mancher wird sogar den historischen Vergleich als Ziel seiner Bemühungen nennen. Die Erforschung von Wandel und die Anstellung eines Vergleichs erfordern jedoch Maßstäbe, und die müssen auf irgendeine Weise definiert werden. Wer sich nun auf der Suche nach Maßstäben dem Angebot an Theorien und analytischen Methoden zuwendet, wird auf Reduktionismen und Aporien stoßen. Zwei Teile dieses Buches, der zweite und der dritte, sind daher diesem Problem gewidmet. Theorien und Methoden:
Reduktionismen
und
Aporien
Wie wir im zweiten Teil dieses Buches, der die Theorien des historischen Wandels behandelt, sehen werden, geht es bei solchen Theorien immer darum, eine Triebfeder zu finden, die den historischen Prozeß vorantreibt. Damit ist aber der Reduktionismus bereits vorprogrammiert, denn die be-
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Einleitung
treffende Theorie wird um so eleganter und überzeugender sein, je eindeutiger sie die Konstruktion der Triebfeder aufzeigt. Jeder Reduktionismus führt aber letztlich zur Aporie, weil sich erweist, daß die Theorie doch zu kurz greift und zur Erklärung des historischen Wandels nicht ausreicht. Das gilt auch von den im dritten Teil vorgestellten analytischen Methoden der modernen Geschichtswissenschaft, wenn sie verabsolutiert werden - und dazu ist die Versuchung stets sehr groß. Wer sich einer solchen zumeist sehr arbeitsintensiven Methode verschrieben hat, schwört auf sie und meint, daß richtige historische Forschung eigentlich nur nach der von ihm bevorzugten Methode betrieben werden kann. Es besteht dabei die Gefahr, daß er den Reduktionismus, dem er verfällt, gar nicht bemerkt, weil er die Methode für wertfrei und objektiv hält. Wenn er philosophisch belesen ist, wird er vielleicht noch Popper zitieren und darauf verweisen, daß die betreffende Methode wissenschaftlich unanfechtbar ist, weil sich ihre Ergebnisse nach den Regeln der Methode selbst falsifizieren lassen. Nun hat aber jede solche Methode eine "Gegenstandstheorie", die nicht explizit erörtert, sondern stillschweigend vorausgesetzt wird. Am Beispiel der Prosopographie, die zu Beginn des zweiten Teils diskutiert wird, erweist sich dies als besonders bedeutsam. Der Rückzug der Philosophie aus der Geschichte Man hätte eigentlich erwarten können, daß die Philosophen sich durch die gerade erwähnten Probleme herausgefordert gefühlt und diese Theorien und Methoden kritisch durchleuchtet hätten. Doch wie bereits gesagt, hat die moderne Philosophie sich einem ganz anderen Problem gewidmet und nicht die Arbeit der Geschichtsforschung, sondern die Form der historischen Aussage zu ihrem Gegenstand gemacht. Das hängt damit zusammen, daß die Philosophen sich vom unsicheren Boden der Geschichte zurückgezogen und sich auf das vermeintlich sicherere Terrain der analytischen Sprachphilosophie begeben haben. Diese Entwicklung soll im vierten Teil dieses Buches dem Historiker verständlich gemacht werden, der sonst nur mit Befremden beobachten kann, daß sich viele Philosophen den Kopf darüber zerbrechen, was er tut, wenn er Geschichte schreibt, ohne meist auch nur eine Zeile davon zu lesen. Dem Historiker wird die Lektüre dieses Teils des Buches schließlich auch zeigen, auf welche Weise die philosophische Konstruktion der historischen Aussage, wenn sie auf die Spitze getrieben wird, zum "radikalen Narrativismus" führt. Es kommt dabei heraus, daß Klio nicht nur unter anderem auch dichtet, sondern daß sie nur dichtet und sich dazu bekennen sollte. Der Historiker dürfte das wohl für eine Aporie halten.
Einleitung
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Daß es in der modernen Philosophie nicht nur diesen Ansatz gibt, zeigt das Kapitel, das sich mit dem wirkungsgeschichtlichen Bewußtsein und der kommunikativen Vernunft beschäftigt. Historische Hermeneutik und eine "Geschichte in weltbürgerlicher Absicht" Die drei Teile in der Mitte des Buches, die hier bisher vorgestellt worden sind, referieren und kritisieren ein breites Spektrum von Theorieangeboten, Methoden und philosophischen Debatten. Da erhebt sich die Frage, was der Verfasser selbst vorzuschlagen hat. Diesen Vorschlägen ist der erste und der letzte Teil gewidmet. Der erste Teil beginnt mit der Skizze einer historischen Hermeneutik, die sich an Kants "Kritik der Urteilskraft" orientiert. In den folgenden beiden Kapiteln des ersten Teils wird der Versuch gemacht, eine historische Anthropologie zu entwerfen, die den Menschen in der Natur und den Menschen über und in der Geschichte zum Gegenstand hat. Das letzte Kapitel dieses ersten Teils behandelt zentrale Begriffe des historischen Diskurses (Kausalität, Kontinuität, Struktur, Prozeß, System), die für die Diskussion, um die es in diesem Buch geht, wesentlich sind. Nach dem Durchgang durch die drei zuvor erwähnten Teile in der Mitte des Buches wird im letzten Teil wieder auf eine Anregung Kants zurückgegriffen, der eine "Geschichte in weltbürgerlicher Absicht" forderte, sich dabei aber auf den "Chiliasmus der Philosophie" bezog, den weder Philosophen noch Historiker heute vertreten möchten. Als Alternative dazu bringt das letzte Kapitel eine Betrachtung von Konvergenz und Divergenz in der Geschichte, sie endet mit einer Verlaufsskizze der Weltgeschichte, die sicher auf vielerlei Kritik stoßen wird. Sie ist als eine vorläufige Antwort des Verfassers auf die berechtigte Frage des Lesers gedacht, was er denn selbst für eine Aussage über die Geschichte als Prozeß machen würde.
Erster Teil: Perspektiven einer historischen Hermeneutik
1. Historische Urteilskraft und hermeneutische Methode
Das Wort Geschichte bezeichnet auch die Aussage über das, was sich in der Geschichte als Prozeß vollzieht. Der Historiker, der diese Aussage macht, spricht oder schreibt für gewöhnlich über etwas, was er selbst nicht erlebt hat und was selbst jene, die es erlebt haben, nicht so erleben konnten, wie es der Historiker später sieht, weil er Zusammenhänge und Folgewirkungen überschaut, die dem Zeitgenossen verborgen blieben. Aus diesem Grunde beruft man sich auch gern auf das Urteil der Geschichte und meint damit, daß das eigene Handeln dereinst, wenn die Begleitumstände und Konsequenzen bekannt sind, als gerechtfertigt erscheinen wird. Nun gibt es in diesem Tribunal der Geschichte mancherlei Richter, und es ist notwendig, ihre Urteile kritisch zu prüfen. Dabei erhebt sich die Frage, was denn das historische Urteil überhaupt ist, wie es zustandekommt, und wie es mit der Urteilskraft steht, die dazu befähigt, solche Urteile zu fällen. Kants "Kritik der
Urteilskraft"
Wer sich um eine Klärung des Begriffs der Urteilskraft bemüht, der wird sich daran erinnern, daß Kant sozusagen als Schlußstein seines großen kritischen Unternehmens nach der Kritik der reinen und der praktischen Vernunft eine Kritik der Urteilskraft erstellte. Betrachtet man dieses ganze kritische Unternehmen, so möchte man meinen, daß Kant seine drei Kritiken auch als die der theoretischen, der ethischen und der ästhetischen Vernunft hätte bezeichnen können, denn die Begriffe des Schönen, des Erhabenen und des Sinnhaften in der Natur stehen im Mittelpunkt dieser dritten Kritik. Warum also dieser Bruch in der Thematisierung? Gibt es keine ästhetische Vernunft und hat
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Perspektiven einer historischen Hermeneutik
Kant deshalb den Begriff der Urteilskraft herangezogen? Hier liegt in der Tat das Problem, und seine genauere Untersuchung wird zugleich den Begriff der Urteilskraft deutlicher werden lassen. Die Leistung Kants in den ersten beiden Kritiken war es, die objektive Vernunftfähigkeit des Subjekts sozusagen von innen her zu begründen. Anstelle der "prästabilierten Harmonie" der Monaden, mit der seine Vorgänger operierten, gelang es ihm, dem erkennenden und dem handelnden Subjekt eine Autonomie zu verleihen, die dennoch intersubjektiven Einklang ermöglicht, weil die Grundausstattung eine gemeinsame ist. Während dies für die erkennende (reine) Vernunft am überzeugendsten gelingt, ist es für die ethische (praktische) Vernunft schon schwieriger. Hier könnte die Autonomie zum rücksichtslosen Eigennutz werden. Dem setzt Kant den kategorischen Imperativ entgegen, der das autonome Subjekt auffordert, die Gesellschaft mitzudenken. Das Subjekt wird also nicht vergesellschaftet, sondern die Gesellschaft konstituiert sich aus dem Denken der dem kategorischen Imperativ verpflichteten Einzelnen. Nun ist es denkbar, daß der Wille des Handelnden sich dieser Einsicht fügt, doch subjektive Gefühle und Empfindungen auf die gleiche Weise auf einen Nenner zu bringen ist nicht möglich. Ein kategorischer Imperativ der ästhetischen Vernunft wäre absurd. Kant begründet denn auch keine ästhetische Vernunft und spricht stattdessen von der Urteilskraft, und zwar von einer Urteilskraft, die er im Unterschied zu der bestimmenden, unter Regeln subsumierenden Urteilskraft, eine reflektierende nennt. Nun beschäftigt ihn auch hier die kritische Grundfrage, wie es unter der Voraussetzung der Autonomie der Subjekte zu einer Übereinstimmung der Urteile kommen kann. Da bei der Beurteilung des Schönen nicht eine "Maxime des Empfindens" des autonomen Subjekts herangezogen werden kann, führt Kant das Genie ein und sagt: "Genie ist die angeborene Gemütsanlage, durch welche die Natur der Kunst die Regel gibt." Zum Vermögen des Genies gehört die Einbildungskraft, die es ihm erlaubt, ästhetische Ideen darzustellen. Während nun in dem im engeren Sinne ästhetischen Bereich, in dem es um die Hervorbringung und Beurteilung menschlicher Werke geht, das Genie noch hilfreich sein mag, findet es Kant wesentlich schwerer, für das nicht vom Menschen hervorgebrachte, sondern nur als solches empfundene Erhabene eine ähnliche Instanz zu finden, "denn das eigentliche Erhabene", so schreibt er, "kann in keiner sinnlichen Form enthalten sein, sondern trifft nur Ideen der Vernunft [...]. So kann der weite, durch Stürme empörte Ozean nicht erhaben genannt werden. Sein Anblick ist gräßlich; und man muß das Gemüt schon mit mancherlei Ideen angefüllt haben, wenn es durch eine solche Anschauung in einem Gefühl gestimmt werden soll, welches selbst erha-
Die historische Urteilskraft und die hermeneutische Methode
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ben ist, indem das Gemüt die Sinnlichkeit zu verlassen und sich mit Ideen, die höhere Zweckmäßigkeit enthalten, zu beschäftigen angereizt wird."1 Die "teleologische
Beurteilung"
Von der Konfrontation mit dem Erhabenen schreitet Kant fort zur Betrachtung der Naturzwecke, die er mit Hilfe einer "teleologischen Urteilskraft" in den Griff zu bekommen versucht. Heutzutage würde man das Wort "teleologisch" lieber meiden, weil es den Eindruck einer irreversiblen Entwicklung, die von zukünftigen Zwecken determiniert wird, vermittelt. So hat es Kant aber nicht gemeint, er will Teleologie als regulatives Prinzip für die Beurteilung der Erscheinungen, "denen die Natur nach ihren besondern Gesetzen als unterworfen gedacht werden könne", verstanden wissen, nicht aber "als konstitutives Prinzip der Ableitung ihrer Produkte von ihren Ursachen".2 Darauf folgt eine für die Abgrenzung des Begriffs der Urteilskraft wichtige Stelle: Kant führt aus, daß die Teleologie als konstitutives Prinzip nicht mehr zur reflektierenden, sondern zur bestimmenden Urteilskraft gehören würde, "alsdann aber in der Tat gar nicht der Urteilskraft eigentümlich angehören (wie der Begriff der Schönheit als formaler subjektiver Zweckmäßigkeit), sondern, als Vernunftbegriff, eine neue Kausalität in der Naturwissenschaft einführen, die wir doch nur von uns selbst entlehnen und anderen Wesen beilegen, ohne sie gleichwohl mit uns als gleichartig annehmen zu wollen."3 Kant betont, daß sich die teleologische Beurteilung nicht auf das Dasein des Gegenstandes, sondern auf seine Form bezieht, sie sucht die Ursache für die Besonderheit der Form nicht außerhalb des Gegenstandes, sondern in ihm. Er stellt fest:"Ein organisiertes Produkt der Natur ist das, in welchem alles Zweck und wechselseitig auch Mittel ist."4 Er nennt dies Prinzip eine Maxime der Beurteilung der inneren Zweckmäßigkeit organisierter Wesen. Das Prinzip ist zwar aus der Beobachtung abgeleitet, kann aber nicht bloß auf Erfahrungsgriinden beruhen, sondern muß ein Prinzip a priori sein. Er begründet die Allgemeinverbindlichkeit dieses Prinzips mit der Gleichheit der geistigen Struktur aller Beurteilenden. Er schreibt: "Auch Schönheit der Natur, d.i. ihre Zusammenstimmung mit dem freien Spiel unserer Erkenntnisvermögen in der Auffassung und Beurteilung ihrer Erscheinung, kann [...] als objektive Zweckmäßigkeit der Natur in ihrem Ganzen, als System, worin der Mensch ein Glied ist, betrachtet werden [...]. 1
2 3 4
Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, Werkausgabe Bd X, Frankfurt 1974 (stw), S. 166. Ibid., S. 307. Ibid., S. 307. Ibid., S. 324.
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Perspektiven einer historischen Hermeneutik
Wir können es als eine Gunst, die die Natur für uns gehabt hat, betrachten, daß sie über das Nützliche noch Schönheit und Reize so reichlich austeilet, und sie deshalb lieben, so wie, ihrer Unermeßlichkeit wegen, mit Achtung betrachten, und uns selbst in dieser Betrachtung veredelt fühlen [...] ",5 Die historische
Urteilskraft
- teleologische
Reflexion?
Ich habe hier Kants Ringen um den Begriff der teleologischen, reflektierenden Urteilskraft absichtlich so ausführlich dargestellt, weil ich der Meinung bin, daß die historische Urteilskraft ihr völlig entspricht. Die Phänomene, mit denen es der Historiker zu tun hat, können auch nicht "kausal mechanistisch" (d.h. nur aus Wirkursachen) erklärt werden, sondern sind stets durch Zweckursachen und die Wechselwirkung von Mittel und Zweck gekennzeichnet. Ebenso muß sich der Historiker hüten, seine reflektierende Urteilskraft für eine bestimmende zu halten und gar der Geschichte einen Vernunftbegriff zu unterstellen. Genau das hat nämlich die "Teleologie", wie sie später verstanden wurde, in Mißkredit gebracht. Freilich hat Kant selbst diesen Mißbrauch der "Teleologie" vorbereitet, denn während er in bezug auf die Natur die "teleologische Beurteilung" sehr vorsichtig abgrenzte, scheute er doch nicht davor zurück, am Ende seiner "Kritik der Urteilskraft" den Menschen und seine Kultur als Endzweck der Natur zu deuten und die bürgerliche Gesellschaft als Höhepunkt dieser Entwicklung zu bezeichnen. 6 Wir werden uns später noch mit Kants "Geschichte in weltbürgerlicher Absicht" auseinandersetzen. Hier sollte zunächst nur auf sein Prinzip der teleologischen Beurteilung hingewiesen werden, ohne damit zu implizieren, daß wir bereit wären, Kant auch bei dem Gebrauch seiner eignen historischen Urteilskraft, die er keiner eingehenden Kritik unterzogen hat, zu folgen. Die Distanzierung von Kants historischem Urteil soll wiederum nicht bedeuten, daß seine aus diesem Urteil hervorgegangenen Motive und Leistungen mißachtet werden. Kants großes kritisches Unternehmen stand im Dienst der geistigen Freisetzung des Bürgers und der bürgerlichen Gesellschaft, es war ein Mittel zu einem Zweck, dem er einen hohen Wert beimaß. Die historische Urteilskraft soll hier in Analogie zu Kants teleologischer Beurteilung der Natur gesehen werden und nicht seinem "teleologischen" historischen Urteilen folgen. Verglichen mit der Urteilskraft, die die Natur zum Gegenstand hat, befindet sich diese historische Urteilskraft in einem entscheidenden Nachteil, dem freilich auch ein ebensolcher Vorteil entspricht. Sie kann sich nicht auf die "Gunst der Natur" verlassen, "die mit ihren For5 6
Kant, Kritik der Urteilskraft, S. 329f. Ibid., S. 405ff.
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men unserer Betrachtungsart entgegenkommt", aber sie bezieht sich auf Menschen, also auf Wesen, von denen wir voraussetzen können, daß sie mit uns gleichartig sind. Wir dürfen bei ihnen Vernunftfähigkeit annehmen. Wenn vorhin gesagt wurde, daß es falsch wäre, der Geschichte als Prozeß insgesamt einen Vernunftbegriff zu unterstellen, so soll damit nicht gesagt sein, daß man den jeweils Handelnden in der Geschichte keine Vernunftfähigkeit zuschreiben dürfe. Freilich muß sich der Historiker davor hüten, aus diesem Grunde anzunehmen, daß er unvermittelt alles nachvollziehen kann, was je von Menschen gedacht und getan wurde. Die historische Urteilskraft sollte sich gerade in einer sorgfältigen Prüfung dieses Zugangs bewähren. Wir werden später darauf eingehen, daß sich die Bewußtseinsstellung im Laufe der Geschichte gewandelt hat und daß das historische Bewußtsein selbst ein Ergebnis eines solchen Wandels ist. Die historische Urteilskraft muß daher durch eine Methode angeleitet werden, die als Hermeneutik bezeichnet wird. Ihre Aufgabe besteht darin, das jeweilige Verhältnis vom Besonderen zum Allgemeinen zu klären. Sie folgt damit dem Gang der reflektierenden Urteilskraft, so wie sie Kant definiert hat. Kant hat sich in der "Kritik der Urteilskraft" nicht zur Hermeneutik geäußert, aber er hat ihr wohl den Begriff der "Teleologie" entnommen. Ein Rückblick auf die Geschichte der Hermeneutik soll dies zeigen. Die Entwicklung
der
Hermeneutik
Das griechische Wort "hermeneia" bedeutet Sprache, Rede, Aussage, aber auch Auslegung und Erklärung. Die Hermeneutik enstand schon bei den alten Griechen als die Kunst, den Sinn von Texten auszulegen, die nicht mehr unmittelbar verständlich waren, so etwa die Werke Homers. In diesem Sinne ist Hermeneutik erklärende Traditionsvermittlung. Die Auslegung der Bibel stellte die Theologen vor ähnliche Aufgaben. Dabei sollte eine solche Auslegung jedoch textimmanent sein und nicht spätere Vorstellungen in den Text hineininterpretieren. Die wechselseitige Verweisung des Ganzen auf die Teile und der Teile auf das Ganze wurde zum Grundprinzip einer solchen Hermeneutik. Solange die Kirche als Traditionshüterin bei solcher Auslegungskunst auftretende Widersprüche eliminieren konnte, blieb die Hermeneutik eine dienende Magd, die ihre Arbeit still und geduldig verrichtete. Doch mit der Reformation und der Berufung auf die alleinige Autorität der heiligen Schrift wurde die Magd zur Herrin, und es wurde ihr nun mehr Aufmerksamkeit gewidmet als zuvor. Methodische Lehrbücher und kritische Untersuchungen erschienen. Kants älterer Zeitgenosse Siegmund Jacob Baumgarten veröffentlichte eine höchst einflußreiche "Biblische Hermeneutik"
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Perspektiven einer historischen Hermeneutik
und betonte die "Teleologie" als leitendes Prinzip der Textauslegung. Damit war gemeint, daß der vom Ganzen her alle Teile der Bibel durchwirkende Endzweck für die Interpretation ausschlaggebend sei. Baumgartens Studien beschränkten sich nicht allein auf die Bibel, er wurde auch zum Begründer einer historischen Hermeneutik. Kant aber übertrug die "teleologische Beurteilung" auf die Natur. Man kann wohl sagen, daß, so wie er auf dem Gebiet der Ästhetik die wichtigsten Anregungen Alexander Gottlieb Baumgarten verdankte, er der "teleologischen Hermeneutik" Siegmund Jacob Baumgartens eine wesentliche Bestimmung seiner "reflektierenden Urteilskraft" entnahm und beides in der "Kritik der Urteilskraft" zu einer überraschenden Synthese verband, die dann auch Goethe zutiefst beeindruckte, dem diese letzte die liebste der "Drei Kritiken" war. Doch Kant entlieh nur die Denkfigur der Hermeneutik, ohne sie selbst zum Gegenstand seiner kritischen Untersuchungen zu machen, sonst hätte er vielleicht seine "Kritik der Urteilskraft" zu einer Kritik der "hermeneutischen Vernunft" erweitert. Der "hermeneutische Zirkel" als stochastischer
Prozeß
Die Betonung der Wechselbeziehungen von Teilen zum Ganzen und dem Ganzen zu den Teilen trug den Hermeneutikern bald den Vorwurf strenger Logiker ein, daß sie sich in einem "hermeneutischen Zirkel" bewegten. Kant hatte diesen Zirkel auf das "organisierte Produkt der Natur" bezogen, "in welchem alles Zweck und wechselseitig auch Mittel" ist, und er hatte dieses Prinzip kühn aus dem schöpferischen Erleben abgeleitet, aber es zugleich vorsichtig als nur auf die Form und nicht auf das Dasein des Gegenstandes gerichtet angesehen. Von den folgenden Generationen wurde jedoch die Hermeneutik zu einer umfassenden Philosophie des Verstehens entwickelt, gegen die der Vorwurf des Zirkelschlagens um so mehr erhoben wurde. Dieser Vorwurf traf jedoch nur dann zu, wenn man aHein die statische Struktur der wechselseitigen Bezugnahme in Betracht zog und nicht an einen dynamischen Prozeß des alternierenden Kenntnisgewinnes dachte. Wir würden heute von einem stochastischen Prozeß sprechen. Das griechische Wort "stochazomai" bedeutet sowohl zielen als auch vermuten, und "stochastikos" heißt scharfsinnig. Wir können einen stochastischen Prozeß also einen Zielvermutungsprozeß nennen. Der nicht sehr systematische, aber äußerst scharfsinnige Vater der romantischen Hermeneutik Friedrich Schleiermacher hat einen solchen Prozeß auf sehr eindrucksvolle Weise beschrieben. Er sprach von einem divinatorischen und einem komparativen Verfahren, die sich wechselseitig ergänzen. Das divinatorische Verfahren entspricht einem direkten Zielen auf den "Zustand
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der Gedankenerzeugung" und das komparative einem vergleichenden Vermuten. Er stellt fest, daß schon die Kinder von Anfang an so vorgehen: "Sie haben die Sprache noch nicht, sondern suchen sie erst, aber sie kennen auch die Tätigkeit des Denkens noch nicht, weil es kein Denken gibt ohne Wort: bei welcher Seite also beginnen sie? Vergleichungspunkte haben sie noch gar nicht, sondern erwerben sie erst allmählich als Grundlage zu einem freilich unerwartet schnell sich entwickelnden komparativen Verfahren; aber wie fixieren sie das erste? Sollte man nicht in Versuchung sein zu sagen, daß jeder beides ursprünglich produzierte und nur entweder ursprünglich vermöge einer innern Notwendigkeit mit der Art, wie die andern erzeugt haben, zusammentrifft oder allmählich, wie er eines komparativen Verfahrens fähig geworden ist, sich ihnen annähert. Aber auch dieses schon, die innere Beweglichkeit zur eignen Erzeugung, aber mit der ursprünglichen Richtung auf das Aufnehmen von andern, ist ja nur dasselbe, was wir durch den Ausdruck des Divinatorischen bezeichnet haben.[...] So erstaunenswürdig erscheint mir immer diese erste Tätigkeit auf dem Gebiet des Denkens und Erkennens, daß mir vorkommt, als belächelten wir die falschen Anwendungen, welche die Kinder, und zwar nicht selten nur aus allzugroßer Folgerichtigkeit, von den aufgenommenen Sprachelementen machen, nur, um uns über dieses Übergewicht einer Energie, welche wir nicht mehr aufzuwenden vermögen, zu trösten oder auch dafür zu rächen."7 Schleiermacher hat mit diesen Bemerkungen viele Ergebnisse der neueren Forschung intuitiv vorweggenommen, wenn auch seine Terminologie zeitgebunden ist. Auch die Behauptung, daß Denken ohne Worte unmöglich sei, würde man heute nicht mehr aufstellen. Aber Schleiermacher hat die Dynamik des hermeneutischen Prozesses treffend charakterisiert. Es handelt sich um einen stochastischen Prozeß des Kenntnisgewinns; bei solchen Prozessen sind jeweils Zufallskomponenten mit selektiven Operationen verbunden. Wir werden noch mehrfach auf solche Prozesse zurückkommen und auch die Hermeneutik noch eingehender untersuchen. In diesem ersten Kapitel ging es zunächst nur darum, den Zusammenhang von "teleologischer
Friedrich Schleiermacher, "Über den Begriff der Hermeneutik", in: H.G. Gadamer und G. Boehm (Hg.), Seminar: Philosophische Hermeneutik, Frankfurt (2. Aufl.) 1979, S. 147f.
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Perspektiven einer historischen Hermeneutik
Beurteilung" und Hermeneutik aufzuzeigen und einen Ausgangspunkt für die weitere Diskussion zu finden. In den beiden folgenden Kapiteln sollen die angeborenen Grundkompetenzen des Menschen, sein "ratiomorpher Apparat", und der Wandel seiner Bewußtseinsstellung über und in der Geschichte behandelt werden. Es geht dabei sozusagen um eine historische Anthropologie, die als Voraussetzung für die weitere Diskussion gelten soll.
2. Der ratiomorphe Apparat: Der Mensch in der Natur
2.1. Bewußtsein versus ratiomorpher Apparat Der Begriff "ratiomorpher Apparat" ist von dem Psychologen E. Brunswick geprägt worden und bezeichnet die angeborenen geistigen Grundkompetenzen des Menschen. Im Unterschied zum Bewußtsein, das seine Stellung ändern kann, ist der ratiomorphe Apparat invariant, zumindest im Rahmen der bisher überschaubaren Geschichte der Menschheit. Biologen, die sich mit der Struktur dieses Apparats beschäftigt haben, sprechen daher von der "Unbelehrbarkeit der angeborenen Lehrmeister", wenn sie diese Invarianz kennzeichnen wollen. Die "evolutionäre Erkenntnistheorie" ist eine neue Wissenschaftsrichtung, die sich dieser Thematik gewidmet hat und dabei auf den erbitterten Widerstand der Bewußtseinsphilosophen gestoßen ist, die betonen, daß sich die Vernunft nicht selbst hinterfragen kann. Genau das hatte nämlich der Verhaltensforscher Konrad Lorenz versucht, als er behauptete, daß er die Kategorien, die Kant a priori setzte, aus der menschlichen Stammesgeschichte ableiten könne. 1 Das ist selbstverständlich für die Bewußtseinsphilosophen eine naturalistische Ketzerei, die sie zunächst einfach ignorierten, dann aber entschieden bekämpften.2 Damit ist leider ein Graben aufgerissen worden, der die Kommunikation zwischen den "orthodoxen" Philosophen und den "Ketzern" verhindert. Die "evolutionäre Erkenntnistheorie" ist bisher noch gar keine einheitliche Theorie, sondern eher eine Strömung, die sich aus vielen Quellen speist. Konrad Lorenz hat den Weg zu dieser Theorie gewiesen, der Psychologe Donald Campbell hat einen entscheidenden Beitrag zu ihrer weiteren Entwicklung gemacht, der Anthropologe Gregory Bateson ist auf eigenen Wegen zu ähnlichen Erkenntnissen gelangt, der Physiker und Philosoph Gerhard Vollmer hat versucht, die Theorie systematisch zu fassen, parallel dazu hat der von der Morphologie und Meeresbiologie kommende Rupert Riedl eine "Biologie der Erkenntnis" herausgearbeitet und sich von diesem Ausgangspunkt der Hermeneutik genähert. Das Mißtrauen der Bewußtseinsphilosophen gegenüber der "evolutionären Erkenntnistheorie" rührt daher, daß sie in ihr einen naturalistischen 1
2
Konrad Lorenz, "Kants Lehre vom Apriorischen im Lichte gegenwärtiger Biologie" (1941), in: K. Lorenz, Das Wirkungsgefiige der Natur und das Schicksal des Menschen, München 1983. Robert Spaemann, Hg., Evolutionstheorie und menschliches Selbstverständnis, Weinheim 1984.
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Perspektiven einer historischen Hermeneutik
Reduktionismus vermuten, der ihrem Denken die Grundlage entzieht. Der Titel des Buches von Gregory Bateson "Geist und Natur. Eine notwendige Einheit"3 (und erst recht die Lektüre des Buches) sollte ihnen jedoch zeigen, daß hier eine Synthese und kein einseitiger Reduktionismus angestrebt wird. Die Vertreter der "evolutionären Erkenntnistheorie" behaupten nämlich keineswegs, daß sich alle Leistungen des menschlichen Geistes auf die Funktionen des invarianten ratiomorphen Apparats zurückführen lassen. Sie betonen sogar ausdrücklich, daß der Mensch in der Lage ist, den ihm durch den ratiomorphen Apparat gesetzten Rahmen zu übersteigen. Mit diesem Übersteigen fängt dann sozusagen die Arbeit der Bewußtseinsphilosophie erst an. Ratiomorpher Apparat und Bewußtsein sind verschiedene Ebenen, doch sie sind auf vielfältige Weise miteinander verbunden. Vieles, was wir zunächst der Ebene des Bewußtseins zurechnen würden, erweist sich als Leistung (oder auf der Bewußtseinsebene auch als Fehlleistung) des ratiomorphen Apparats. Mit diesen Leistungen und Fehlleistungen hat sich Rupert Riedl beschäftigt, seine wichtigsten Thesen sollen hier kurz dargestellt werden. Die Ökonomie der "Vor-Urteile" des ratiomorphen
Apparats
Der ratiomorphe Apparat wird durch "Vor-Urteile" gelenkt, die es dem Menschen ermöglichen, auf alles, was ihm in dem "Mesokosmos", in dem er lebt, begegnet, zu reagieren und auf diese Weise zu überleben. Riedl erläutert die Struktur dieser Vor-Urteile in den vier zentralen Kapiteln der "Biologie der Erkenntnis"4 unter den Bezeichnungen: a) Die Hypothese vom anscheinend Wahren b) Die Hypothese vom Ver-Gleichbaren c) Die Hypothese von der Ur-Sache d) Die Hypothese vom Zweckvollen Das erste Vor-Urteil bringt den Menschen dazu, etwas eher für wahr als für falsch, eher für notwendig als für zufällig zu halten und das Falsche und das Zufällige gleichermaßen als irrelevant abzutun. Das als wahr und notwendig Erkannte wird insbesondere bei mehrfacher Wiederholung in einem Lernprozeß gespeichert, das Zufällige dagegen für "falsch" gehalten und deshalb unterschätzt. Ähnlich ist es mit dem zweiten Vor-Urteil, bei dem es um die Gestalterkennung geht. Hier arbeitet der ratiomorphe Apparat mit Gleichheits3 4
Gregory Bateson, Geist und Natur. Eine notwendige Einheit, Frankfurt 1987. Rupert Riedl, Biologie der Erkenntnis, 3. Aufl., Berlin und Hamburg 1981, S. 3 8 ff.
Der ratiomorphe Apparat: Der Mensch in der Natur
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Vermutungen bei annähernder Entsprechung der Wahrnehmung. Dabei sorgt die räumliche Vorstellung für eine angemessene Einordnung. Es ist für das Überleben wichtig, eine von fem auf einen zukommende Gefahr nicht geringzuschätzen, weil sie klein erscheint. Unsere vorbewußte Verrechnung läßt auf diesem Gebiet gar keine Diskussion zu. Auf dem Gebiet der perspektivischen Täuschungen läßt sich daher die Unbelehrbarkeit der angeborenen Lehrmeister am einfachsten demonstrieren. Aufbauend auf diesen beiden ersten Vor-Urteilen der Wahrheits- und Strukturerwartung lehrt uns das dritte Vor-Urteil, daß alles, was wir erfahren, eine Ursache haben muß. Wenn aber das Erfahrene eine Ursache hat, so wird diese ein andermal dieselbe Wirkung haben (wenn/dann, immer wenn/dann). Diese Beziehung wird übrigens schon von Affen erkannt, sie konnten bei Versuchen ein entsprechendes Symbol richtig in eine Symbolkette einordnen. Dieses "Vor-Urteil der exekutiven Kausalität" wie es Riedl nennt, geht über die einzelne Kausalverknüpfung hinaus und läßt uns eine lineare Ursachenkette erwarten. Zufall und Rückkopplung gehen diesem Vor-Urteil sozusagen gegen den Strich und werden daher vernachlässigt. Das vierte Vor-Urteil läßt uns nicht nur Wirkursachen (causa efficiens), sondern auch Zweckursachen (causa finalis) erwarten. Riedl zitiert hierzu Kant, der in der "Kritik der Urteilskraft" sagt, "daß wir in uns selbst ein Vermögen der Verknüpfung nach Zwecken (nexus finalis) wahrnehmen".5 In seinen späteren Werken verweist Riedl in diesem Zusammenhang auch auf die "zerebrale Hermeneutik" (G. Stent) unserer Sinne, die nicht nur analytische, sondern auch synthetische Leistungen vollbringen und Teilinformationen "sinnvoll" ergänzen.6 Die Grenzen
der Urteilskraft
des ratiomorphen
Apparats
Das spontane, unreflektierte Funktionieren des ratiomorphen Apparats und die Ökonomie der Vor-Urteile erforderte eine Unbelehrbarkeit, die sich denn auch für das Überleben im "Mesokosmos" in keiner Weise als hinderlich erwies. Der Mensch kann durch rationale Kritik nun zwar seine Erkenntnis erweitern, aber er kann den ratiomorphen Apparat nicht abschütteln. Dieser hat nun aber die unangenehme Eigenschaft, bei einseitigen Grenzüberschreitungen die rationale Kritik auf Irrwege zu führen, wenn sie sich der Gesamtheit seiner Eigenschaften nicht bewußt ist. Riedl beschreibt dies so: 5 6
Riedl, Biologie der Erkenntnis, S. 160. Rupert Riedl, Die Spaltung des Weltbildes. Biologische Grundlagen des Erklärens und Verstehens, Berlin und Hamburg 1985, S. 217.
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Perspektiven einer historischen Hermeneutik
"Dieser angeborene Ratgeber [...] (sucht nun) Gesetzlichkeit, wo keine ist, Gestalt, wo es keine geben kann, findet Notwendigkeiten schneller als das möglich ist, kann den Zufall an sich nicht erkennen, [...] sieht Ursachen in Kettenform, erwartet, deren Anfänge finden zu können, rechnet kaum mit Rückkoppelung aber durchaus damit, daß Ursachen aus der Zukunft wirken könnten."7 Gerhard Vollmer hat dieses Syndrom in einem Aufsatz über "Das alte Gehirn und die neuen Probleme"8 sehr anschaulich an Fallstudien langfristiger Zinseszinsrechnung (Unterschätzung von exponentiellem Wachstum) und Bevölkerungswachstum (noch größere Unterschätzung des hyperbolischen Wachstums) gezeigt. Schon eine Geschichte aus dem alten Indien bestätigt dies; dort soll der Erfinder des Schachspiels von seinem dankbaren König eine Belohnung gefordert haben, die auf den ersten Blick sehr bescheiden erschien: "Ein Reiskorn auf dem ersten Feld des Schachbretts, zwei auf dem zweiten, vier auf dem dritten usw."Der König willigte ein, doch bald mußten Säcke herbeigeschleppt werden und noch ehe das Ende des Bretts erreicht war, waren seine Speicher leer. Auf einem anderen Gebiet hat der Psychologe Dörner die Fehlleistungen bei Grenzüberschreitungen des ratiomorphen Apparats nachgewiesen. Er ließ Versuchspersonen ein im Computer simuliertes Land oder eine Stadt "entwickeln", meist ruinierten sie das Land oder die Stadt sehr rasch, weil sie Nebenwirkungen und Rückkopplungseffekte übersahen. Personen mit hohem Intelligenzquotienten waren dabei die ärgsten "Sünder", weil sie besonders "konsequent", d.h im Sinne einer linearen exekutiven Kausalität vorgingen. Die menschliche Grundausstattung ist also in ähnlicher Weise begrenzt wie der Problemlösungsbereich, in dem sie sich herausgebildet hat. Die menschliche Sprache verstärkt diese natürliche Beschränktheit. Nach neueren Forschungen nimmt man an, daß zwar nicht die gesprochene Sprache, wohl aber die Kompetenz des Spracherwerbs angeboren ist, so ist die Sprache mit dem ratiomorphen Apparat verbunden. In seinem Buch "Begriff und Welt" spricht Riedl von den "konstruktiven Kompromissen", die eingegangen werden mußten, um Erfahrung in sprachlichen Ausdruck umzusetzen. Zunächst zwingen allein schon die Produktionsbedingungen der Sprache zur linearen Sequenz, dann gesellt sich die Trennung von Ereignis 7 8
Riedl, Biologie der Erkenntnis, S. 186. Gerhard Vollmer, "Das alte Gehirn und die neuen Probleme", in: G. Vollmer, Was können wir wissen? Bd. 1 Die Natur der Erkenntnis, Stuttgart 1985, S. 116ff.
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und Zustand, Nomen und Verb hinzu und schließlich kommt "die Geburtsstunde der Definition, der Erwartung, ein Begriff sei besser durch die Definition seiner Grenzen bestimmbar als durch die Dynamik der Freiheitsgrade (die Gesetzmäßigkeit) seines Inhalts." Riedl führt dann weiter aus: "Man bedenke nur das Definierbarkeits- und Begriffsschärfe-Ideal, das zum Wissenschaftsideal der formalisierten Systeme, der Logik führte. Man denke an den Glauben der durch Logik und Mathematik vermittels Deduktion erwarteten Gewißheiten: an die Unbegründbarkeit der Logik, an den Konflikt zwischen logischem Beweis und empirischer Bestätigung, an das Dilemma der Erkenntnis."9 Die "konstruktiven Kompromisse" der Sprache begünstigen also die lineare Grenzüberschreitung der menschlichen Grundausstattung, die dann in die Richtung des Szientismus und zu einer "Spaltung des Weltbildes" führt. Demgegenüber empfiehlt Riedl eine andere Art der Grenzüberschreitung, nämlich den weiteren Ausbau der in dieser Grundausstattung angelegten Hermeneutik, die nicht linear, sondern zirkulär verfährt. In einer Übersicht über die Wissenschaftspraxis verschiedener Disziplinen zeigt er in seinem Buch "Spaltung des Weltbildes", daß zumeist in diesem Sinne hermeneutisch vorgegangen wird, während die Wissenschaftstheorie andere Wege geht.10 Den hermeneutischen Zirkel skizziert Riedl in diesem Zusammenhang als eine Schraube. Gerhard Vollmer spricht von einer "spiraligen Rückkopplungsstruktur"11, und Gregory Bateson skizziert ein Zickzack-Muster.12 Wir werden uns mit diesem Thema später noch eingehender beschäftigen. Zunächst soll die Biologie der menschlichen Grundausstattung noch weiter verfolgt werden und wir wollen uns mit dem Phänomen der menschlichen "Neotenie" und dann mit dem Aufbau des Gehirns beschäftigen. Die Neotenie
des
Menschen
Bisher ist hier hauptsächlich über die Kritik berichtet worden, die die evolutionäre Erkenntnistheorie am ratiomorphen Apparat und an den Kompromissen und Fehleistungen übt, die sich beim Überschreiten seiner Grenzen einstellen. Diese Kritik dient jedoch nur dem Kenntnisgewinn über die Möglichkeiten des Grenzüberschreitens, denn der ratiomorphe Apparat ist durchaus darauf angelegt, seine Beschränktheit zu überwinden. Diese natür-
9 10 11 12
Rupert Riedl, Begriff und Welt, Biologische Grundlagen des Erkennens und Begreifens, Berlin und Hamburg 1987, S. 101. Riedl, Spaltung des Weltbildes, S. 211 ff. Vollmer, Was können wir wissen? Bd. 1, S. 248ff. Gregory Bateson, Geist und Natur, S. 240ff.
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Perspektiven einer historischen Hermeneutik
liehe Anlage ist durch eine Besonderheit der menschlichen Gattung bedingt, nämlich durch eine "Unreife", die zugleich eine bemerkenswerte Anpassungsfähigkeit und Offenheit mit sich bringt. Diese "Unreife" wird in der Biologie als Neotenie bezeichnet.13 Ursprünglich bezieht sich diese Bezeichnung auf die Geschlechtsreife von Tieren, die noch im Larvenstadium sind. Im weiteren Sinne bezeichnet sie aber jene embryonale Ungeprägtheit, die nicht nur die frühkindliche Entwicklung beeinflußt, sondern als Fortdauer von Jugendmerkmalen eine Neugier und Lernbereitschaft bis ins Alter bewirkt. Die dafür zur Verfügung stehende Energie nimmt freilich ab, wie Schleiermacher so treffend bemerkt hat, aber sie ist ohne Zweifel ein besonderes Merkmal des Menschen. Von entscheidender Bedeutung für diese Anlage ist es, daß der Mensch zu früh geboren wird und damit sehr lange ein extremer Nesthocker bleibt. Vernetzungen im Gehirn, die sich sonst noch "unter Ausschluß der Öffentlichkeit" im Mutterleib vollzogen hätten, finden in den ersten Lebensmonaten statt. Der Biologe Portmann hat auf dieses Phänomen des "sozialen Uterus" hingewiesen (extra-uterines Frühjahr). 14 Offenheit, Neugier und Lernfähigkeit können sich auf diese Weise entfalten. Damit ein derart hilfloser, zu früh geborener Nesthocker überhaupt überleben kann, ist ein gewisser sozialer Kontext von vornherein erforderlich. Neotenie und "sozialer Uterus" müssen also im Laufe der Evolution in unmittelbarer Wechselwirkung entstanden sein. Die Offenheit der menschlichen Grundausstattung ermöglichte einerseits ein breites Spektrum von Sozialisierungsprozessen und andererseits die Einübung neuer Denkweisen, die als solche im ratiomorphen Apparat nicht vorgegeben waren. Für diese Denkweisen ist hauptsächlich das gegenüber allen Tieren überdimensional entwickelte menschliche Großhirn zuständig, dessen Funktionsweise wir daher näher betrachten wollen. 2.2. Der Aufbau
des
Gehirns
Die Evolution muß immer auf bereits vorhandenem Erbmaterial aufbauen. Das wird beim Gehirn besonders deutlich, denn der Mensch hat drei übereinander gelagerte Gehirne, die jeweils einen evolutionären Neuansatz darstellen. Das älteste Gehirn, das in der Nähe des Himstamms sitzt, teilen wir mit den Reptilien, darüber stülpt sich das sogenannte limbische System, das bei allen Säugetieren anzutreffen ist, und darüber wölbt sich schließlich das Großhirn (Neocortex), das erst bei den Primaten die älteren Gehirnpartien 13 14
Geihard Vollmer, Evolutionäre Erkenntnistheorie, Stuttgart 1981, S. 80, 121. Adolf Portmann, Biologische Fragmente zu einer Lehre vom Menschen, Basel 1969, S. 87ff.
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geradezu überwucherte. Diese verschiedenen Teilgehirne bilden ein durch vielerlei Wechselwirkungen verbundenes Ganzes. Die älteren Gehirnpartien hängen nicht etwa wie der Blinddarm funktionslos herum, sondern erfüllen sogar sehr wichtige Aufgaben. Vieles regeln sie selbst, ohne das Großhirn zu Rate zu ziehen, das sozusagen nur dann eingeschaltet wird, wenn es um besondere Probleme geht - doch schon diese Ausdrucksweise trifft die komplexen Wechselwirkungen nicht ganz. Der Hirnforscher MacLean hat die Koexistenz der drei Gehirne treffend gekennzeichnet, als er sagte, wenn ein Psychiater einen Patienten bitte, sich auf die Couch zu legen, so liege zugleich unsichtbar ein Pferd und ein Krokodil neben ihm, die es auch zu beachten gelte.15 Abnorme Erscheinungen und Krankheiten haben einige Aufschlüsse über das gegeben, was im menschlichen Gehirn vorgeht. Kinder, die ohne Großhirn geboren wurden, haben immerhin bis zum vierten Lebensjahr gelebt, alle organischen Funktionen waren normal, sie haben gelallt, gefühlsmäßig reagiert etc. Andererseits haben Affen, denen man das limbische System entfernt hatte, weitergelebt und kein abnormales Bewegungsverhalten gezeigt, aber vieles "falsch" gemacht, was sie sonst instinktiv richtig gemacht hätten. Alle Sinneswahrnehmungen werden wohl an alle drei Gehirne weitergeleitet, aber verschieden "verrechnet". Reflexe und Gefühle sind in erster Linie Angelegenheit der älteren Gehirnteile, das Großhirn übernimmt das eigentliche "Denken". Doch dieses Großhirn ist wiederum in zwei Hälften aufgeteilt, die gewisse Funktionsunterschiede aufweisen. Die beiden Hälften sind durch einen dicken Nervenstrang (Corpus callosum) verbunden, der es ihnen ermöglicht, ihre Arbeitsergebnisse ständig miteinander zu vergleichen. Patienten, bei denen durch eine Operation dieser Strang durchtrennt worden war, zeigten überraschende Phänomene. Wenn sie ein Wort projiziert sahen, von dem das rechte und das linke Auge nur je eine Hälfte sehen konnten, dann konnten sie danach nur jene Hälfte des Wortes aussprechen, die über das rechte Auge an die linke Gehirnhälfte gemeldet worden war, die Buchstaben der anderen Worthälfte konnten sie nur durch Zeigen auf eine Buchstabentafel identifizieren. Dadurch wurden andere Beobachtungen bestätigt, die an rechts- oder linksseitig hirngeschädigten Patienten gemacht worden waren. Die linke Hirnseite ist demgemäß für Sprache, analytisches Denken, Zeitsinn und diskontinuierliche Vorgänge zuständig, die rechte dagegen auf synthetisch-ganzheitliches Denken, Raumvorstellung und kontinuierliche Vorgänge etc. eingestellt.16
15 16
Charles Hampden-Turner, Modelle der Menschen, Weinheim 1982, S. 80f. Ibid., S. 86f.
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Perspektiven einer historischen Hermeneutik
Die neuere Hirnforschung hat anhand von Aufnahmen, die die Durchblutung der Hirnpartien erkennen lassen, festgestellt, daß bei der Hirntätigkeit immer ganze Blöcke zusammengeschaltet werden. Da Gedächtnisinhalte mit Hilfe von Eiweißsynthese mit großer Redundanz an vielen Stellen des Gehirns physisch gespeichert werden, ist die Kombinationsmöglichkeit der auf diese Weise gespeicherten Information durch die besagte Blockschaltung geradezu unermeßlich. Ferner ist es dem Menschen wohl möglich, durch Übung spezielle Vernetzungen herzustellen. Hermann Haken hat dies am Beispiel des Denkens von Schachmeistern eindrucksvoll dargestellt: "Ein Anfänger im Schachspiel [...] probiert beim Spiel in Gedanken die einzelnen Schritte aus und überlegt sich die jeweiligen Folgen [...]. Schachmeister denken hingegen in ganzen Anordnungen. Sie [...] erkennen anhand dieser Konfiguration schon, was ihre nächsten Züge sein müssen, ohne daß sie in das Detail der Bewegungen der einzelnen Figuren zurückgehen müssen. Umgekehrt kann es vorkommen, daß sich ein Schachmeister sehr schwer tut, wenn er durch irgendwelche ganz neuen Gegebenheiten gezwungen wird, wieder an einzelne Figuren zu denken. In diesem Denken in Blöcken besteht ein wichtiger Unterschied zwischen einem Schachmeister und einer Schachrechenmaschine [...]. Diese Maschinen probieren in einer größeren Zahl von Schritten einfach alle Möglichkeiten durch [...]. Offenbar ein ganz stures Vorgehen, im Gegensatz zu der Denkweise in ganzen Konfigurationen."17 Das Denken in solchen Konfigurationen ist ein äußerst konzentriertes Denken ohne Worte. Wir können uns gut vorstellen, was den Schachmeister zwingt, wieder an einzelne Figuren zu denken: der unerwartete Zug des Gegenspielers, der ihm als zufällig erscheinen muß, weil er in seine strategischen Erwartungen nicht hineinpaßt. Das konfigurative Denken ist offenbar nur solange hilfreich, wie das Spiel so läuft, wie der Meister es sich vorstellt. Ein einziger Bruch in diesem Muster kann dem Gegenspieler oft zu einem entscheidenden Vorteil verhelfen, weil der Meister Zeit braucht, um sich eine alternative Konfiguration zu denken und weil er bis dahin in einzelnen Schritten vorgeht.
17
Hennann Haken, Erfolgsgeheimnisse der Natur, Stuttgart 1981, S. 194f.
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Analytisches und synthetisches Denken und das Schachbeispiel Das Denken des Schachmeisters kann uns helfen, den Unterschied zwischen analytischem und synthetischen Denken - zwischen "Erklären" und "Verstehen" - herauszuarbeiten. Aufgrund seines synthetisch-konfigurativen Denkens "versteht" der Meister das Spiel. Wenn man ihn aber bittet, zu "erklären", wie er gespielt hat, dann muß er der linearen Sequenz sprachlicher Aussage folgen und Zug um Zug analysieren, was er getan hat. Ein anderer Schachkenner, der ihn beobachtet hat, wird das vielleicht sogar besser können als er selbst. Die Erklärung wird jedoch immer unvollständig bleiben, weil sie das konfigurative Denken nicht wiedergibt. Nur ein Schachmeister, der selbst so denkt, wird sich vielleicht eine solche "Erklärung" übersetzen können, so daß er das konfigurative Verstehen nachvollziehen kann. An diesem Beispiel wird uns ein Problem deutlich,das man mit einem paradoxen Ausdruck das "Problem der Verständigung über das Verstehen" nennen könnte. Das Verstehen als konfiguratives Denken "in Blöcken" entsteht durch Zusammenschaltung und Rückkopplung. Wer etwas verstanden hat, müßte es eigentlich auch erklären können, dann wäre das Problem der Verständigung gelöst. Aber das "Wie" und "Was" des Verstehens kann durch die Erklärung eben oft nur unzureichend wiedergegeben werden. Riedl bringt dazu das Beispiel des Problems der Beschreibung einer Maschine, deren Funktionsweise nur insgesamt verstanden werden kann. Der erste Satz der Beschreibung setzt sozusagen deren letzten Satz voraus. Um derart komplexe Aussagen geht es auch in der Geschichtsschreibung, die darum ringt, vielfache Wechselwirkungen im Rahmen der von der Struktur der Sprache vorgegebenen linearen Sequenz darzustellen. Diese Sequenz legt eine "wenn/dann" - oder aber "und dann ...und dann....und dann" Form der Darstellung nahe. Diese Art der Darstellung mag unseren "ratiomorphen Apparat" befriedigen, wird aber den historischen Prozessen nicht gerecht. Als letztes Element der menschlichen Grundausstattung, das für den Historiker besonders wichtig ist, wollen wir das Gedächtnis untersuchen, dessen Funktionsweise ebenfalls angeboren ist, dessen Inhalte aber einerseits sehr groß und vielfältig, andererseits aber auch sehr unbeständig und wandelbar sein können. Das Gedächtnis und seine Leistungen Wie bereits erwähnt, beruht das Gedächtnis auf der Eiweißsynthese. Die genetische Information, die die Erbmerkmale festhält, wird übrigens auf ganz
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ähnliche Weise erstellt. Genauso wie man Gene übertragen kann, lassen sich auch Gedächtnisinhalte "verpflanzen". Versuche an Ratten haben erwiesen, daß solche Inhalte mit den entsprechenden Zellen operativ von einem Individuum auf das andere übertragen werden können. Hier ist also geradezu eine physische Intersubjektivität gegeben. Die Eiweißsynthese wird hormonal durch die Hypophyse (Himanhangsdrüse) gesteuert, die mit zum ältesten Inventar des Gehirns gehört. Die Entwicklung des menschlichen Großhirns hat also am Prinzip der Gedächtnisfunktion nichts geändert, aber die Gedächtnisleistung enorm potenziert. Das Hirn hat nämlich kein Gedächtniszentrum, die Information wird mit großer Redundanz überall im Gehirn gespeichert. Verletzungen einzelner Gehimpartien führen daher nicht zum Gedächtnisverlust. Die Speicherung erfolgt - wie Versuche von Karl Pribram ergeben haben - nach der Art des Hologramms, bei dem jeweils noch kleinste Teile einer holographischen Aufnahme die Gesamtstruktur beinhalten. Dabei wird im Gehirn nicht etwa ein einfaches "Abbild" gespeichert, sondern eine Information, die die synthetische Leistung der Sinne - die zerebrale Hermeneutik - ebenfalls enthält, d.h. der Prozeß der Entstehung der betreffenden Information wird mit "abgebildet" und gespeichert.18 Nicht alle Wahrnehmungen werden gespeichert, sondern nur die, die die Schwellen des Ultrakurzzeit- und des Kurzzeitgedächtnisses überwunden und das Langzeitgedächtnis erreicht haben. Das Ultrakurzzeitgedächtnis, das nur ca. 20 Sekunden "anhält", arbeitet rein elektrisch und koordiniert rasche, meist gar nicht reflektierte Handlungen. Nur durch sofortige Befragung kann ein Gedächtnisinhalt dieser Art fixiert werden. Das gilt auch von Träumen, die nur dann das Langzeitgedächtnis erreichen, wenn der Träumende plötzlich erwacht und sich noch an das, was er gerade geträumt hat, "erinnert". Zwischen dem Ultrakurzzeit- und dem Langzeitgedächtnis gibt es einen fließenden Übergang im etwa 20 Minuten "anhaltenden" Kurzzeitgedächtnis, das aber durch Schock gelöscht werden kann. So entstehen zum Beispiel die Gedächtnislücken bei Unfällen. Aber auch im Langzeitgedächtnis können Gedächtnislücken auftreten, wenn durch irgendwelche Einwirkungen oder durch Mangelerscheinungen im Alter die Eiweißsynthese behindert wird. Deshalb können sich alte Menschen oft noch an Erlebnisse ihrer Jugend genau erinnern, aber nicht an das, was gestern war. Erlebnisse, die beziehungsreich und mit mehrfachen Sinneswahrnehmungen verbunden sind, werden eher gespeichert als isolierte Informationen (z.B. Vokabeln). Die Mnemotechnik basiert daher auf der Verknüpfung von Informationen, durch die ein solcher Mehrfacheffekt 18
Hampden-Tumer, Modelle der Menschen, S. 94f.
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hervorgerufen wird. Diese Verknüpfung kann völlig willkürlich sein - wie der Knoten im Taschentuch.19 Die hormonale Steuerung der Eiweißsynthese erlaubt es auch, durch eine Überdosis des betreffenden Hormons die Speicherung zu fördern, d.h. Lernprozesse zu verstärken. Tierversuche haben ergeben, daß eine solche Überdosis aber zugleich das Vergessen erschwert und das Umlernen behindert. Ebenso haben Drogenversuche gezeigt, daß bestimmte Hirnfunktionen gesteigert werden konnten, dafür aber wichtige Hemmungen aufgehoben und das Hirn oft dauerhaft geschädigt wurde. Man kann daher wohl von einem Hirnhaushalt sprechen, der ausgeglichen sein muß, um eine angemessene Funktion des Hirns zu ermöglichen. Zu diesem Himhaushalt gehört offenbar auch eine Proportionalität von Erinnern und Vergessen. Nur wer "Überflüssiges" vergessen kann, kann Neues erlernen. Was aber überflüssig ist, dürfte nicht immer leicht zu entscheiden sein - und diese Entscheidung wird unbewußt vollzogen. Wenn wir uns bewußt vornehmen, etwas zu vergessen, verdrängen wir es meist nur und sind umso mehr betroffen, wenn wir uns schließlich doch wieder daran erinnern.
19
Frederic Vester, Denken, Lernen, Vergessen, Stuttgart (o.J.), S. 58ff.
3. Die Bewußtseinsstellung: Der Mensch über und in der Geschichte Der Mensch als Naturwesen macht und schreibt keine Geschichte. Er muß erst "zu Bewußtsein kommen", um ein geschichtlicher Mensch zu werden. Seine Bewußtseinsstellung aber kann sich wandeln, während sein ratiomorpher Apparat invariant bleibt. Um diesen Wandel der Bewußtseinsstellung geht es uns jetzt. Wir wollen diesen Wandel in verschiedenen Epochen verfolgen und schließlich erkunden, wie das moderne historische Bewußtsein entstanden ist, das den Menschen nicht mehr über, sondern in der Geschichte stehen sieht, den Glauben an eine Invarianz der conditio humana aufgegeben hat und letztlich der Aporie des Historismus begegnet. Zunächst werden wir den Begriff der Bewußtseinsstellung behandeln und dann das Zeitalter des Mythos und den Übergang vom Mythos zur Allegorie betrachten. Im Anschluß daran geht es um die Stellung des Menschen über und in der Geschichte, den Beitrag Hegels zur Sicherung der Stellung des Menschen in der Geschichte und um das Problem des Historismus. Zum Begriff der
Bewußtseinsstellung
Über Stellungen des Bewußtseins hat sich bereits Hegel geäußert und damit den Unterschied von weltanschaulichen Grundeinstellungen in verschiedenen Epochen der Geschichte gemeint. Auch heute noch spielt dieser Begriff in der philosophischen Literatur eine Rolle, vor allem wenn es darum geht, die Besonderheit der "modernen Bewußtseinsstellung" zu bestimmen. Dieter Henrich hat in einem Aufsatz über "Denken und Forschen. Begriffs- und Ortsbestimmungen der Rationalität"1 von der "Historizität der Wissenschaft" gesprochen und den Erkenntnisbegriff der Forschung mit der modernen Bewußtseinsstellung in Verbindung gebracht. Dabei grenzt er diese Bewußtseinsstellung nicht nur zeitlich ein, sondern bezieht sie auch auf einen besonderen Kulturraum und äußert Zweifel an ihrer Übertragbarkeit auf den Boden anderer Kulturen. Er sagt: "Fehlen die Kontextbedingungen, welche die spezifische Subjektstellung der Forschung legitimieren, so bleibt nur die Imitation [.,.]." 2 Während die zuvor dargestellte ratiomorphe Grundausstattung Erbgut aller Menschen ist, wird die Bewußtseinsstellung
1
Dieter Henrich, Fluchtlinien, Frankfurt 1982, S. 65-98.
2
Ibid., S. 97.
Die Bewußtseinsstellung: Der Mensch über und in der Geschichte
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von den Menschen als Kulturgut erworben und unterliegt dem kulturellen Wandel. Der erste Philosoph, der die Frage nach der spezifisch kulturhistorisch bedingten Bewußtseinsstellung zum Zentralthema seiner Arbeit machte, war Graf Paul Yorck von Wartenburg (1835-1897), ein Zeitgenosse und Freund des Philosophen Wilhelm Dilthey, mit dem er in regem Gedankenaustausch stand. Seine nur als Fragment erhaltene Abhandlung "Bewußtseinsstellung und Geschichte"3 blieb lange unbekannt und wurde erst 1956 von Iring Fetscher herausgegeben. Graf Yorck geht ausführlich auf die griechische, die indische und die christlich-jüdische Bewußtseinsstellung ein und analysiert dann die moderne Bewußtseinsstellung, wobei er sich kritisch mit Kant und Hegel auseinandersetzt. Wir werden wieder auf Graf Yorcks Gedanken zurückkommen. Zunächst soll hier jedoch der Vorschlag gemacht werden, die Bewußtseinsstellung als Denkstil mit dem von dem Wissenschaftshistoriker Thomas Kuhn verwendeten Begriff vom "Paradigma" als einem Denkstilelement in Beziehung zu setzen. Dies ist ein Vorgriff auf die spätere Auseinandersetzung mit den Arbeiten Kuhns, in denen das Problem des "Paradigmawechsels" im Mittelpunkt des Interesses steht. Ein solches Paradigma umfaßt die Grundanschauungen einer oder mehrerer Wissenschaften, die revidiert werden müssen, wenn sich neue wissenschaftliche Befunde nicht mehr in der herkömmlichen Art interpretieren lassen. Eine Bewußtseinsstellung kann eine gewisse Varianz der von ihr umfaßten Paradigmen zulassen. Es ist jedoch möglich, daß bei weitreichendem Paradigmawechsel auch ein Wandel der Bewußtseinsstellung eintritt. Um uns die Bedingungen eines solchen Wandels vor Augen zu halten, wollen wir uns zunächst dem Zeitalter des Mythos zuwenden. Das Zeitalter des Mythos hat gerade in neuerer Zeit wieder viele Menschen angezogen. Es gibt daher zu diesem Thema eine unüberschaubare Zahl von Untersuchungen und Veröffentlichungen. Wir wollen uns hier auf einige Zitate aus dem Werk "Das Heilige und das Profane" des rumänischen Indologen und Religionswissenschaftlers Mircea Eliade beschränken: "[...] der religiöse Mensch (betrachtet sich) ebenso wie der profane Mensch als von der Geschichte gemacht, doch die einzige Geschichte, die ihm wichtig ist, ist die in den Mythen offenbarte heilige Geschichte [....].Die große Sünde ist das Vergessen [...]. Das persönliche Gedächtnis spielt keine Rolle: es zählt nur die Erinnerung an das mythische Ereignis, denn nur dieses ist Paul Yorck von Wartenburg, Bewußtseinsstellung und Geschichte, Hamburg 1991.
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Perspektiven einer historischen Hermeneutik
schöpferisch und deshalb erinnemswert. Der Mythos überliefert die wahre Geschichte, die Geschichte der conditio humana; im Mythos also sind die Prinzipien und die Beispiele für jedes Verhalten zu finden [...]. Für den religiösen Menschen bildet die Wiedervergegenwärtigung derselben mythischen Ereignisse die größte aller Hoffnungen; denn mit jeder Vergegenwärtigung erhält er wieder die Möglichkeit, seine Existenz zu verwandeln und dem göttlichen Modell anzugleichen."4 Wiederholung und Vergegenwärtigung bedeuten also in diesem Zusammenhang Erneuerung und werden als positiv empfunden, während nach dem Verlust der mythischen Bewußtseinsstellung die aus der mythischen Überlieferung bekannte zyklische Wiederholung als ewiger Kreislauf, dem man nicht entrinnen kann, eine negative Bedeutung erhält. Auch auf diesen "schrecklichen Aspekt" der "desakralisierten zyklischen Zeit" weist Eliade hin. Die Metapher vom "Rad der Geschichte", der Alexander Demandt eine gründliche Untersuchung gewidmet hat, bezieht sich auf diese zyklische Zeit.5 In der Antike wurde dieses Rad sowohl der Rachegöttin Nemesis als auch der Glücksgöttin Fortuna zugeordnet. Eng verbunden mit dieser Vorstellung vom Rad der Geschichte ist die der Invarianz der conditio humana. Das Gleiche wiederholt sich, weil die Menschen immer so reagieren wie sie nun einmal sind. So gesehen ist auch die Vergegenwärtigung der Vergangenheit kein Problem, sie wird dies erst aufgrund der neuen historischen Bewußtseinsstellung, die die Menschen in der Geschichte aufgehen und die conditio humana zur Funktion der historischen Entwicklung werden läßt. Mit dem Ende des mythischen Zeitalters, das vermutlich im 6. Jahrhundert vor Christus anzusetzen ist, in einer Zeit also, die Karl Jaspers als "Achsenzeit" bezeichnet hat, begann eine Zeit des Überlieferungspluralismus, in der neue Lehren die jeweilige Traditionspraxis in Frage stellten. Dabei wurde die zyklische Zeit als solche vorausgesetzt, aber die Möglichkeit des Ausbruchs aus ihrem sinnleeren Kreislauf durch Selbsterlösung erklärt. Damit eröffneten sich ganz neue Perspektiven. Die Geburt kritischer Wissenschaft aber auch die Entstehung miteinander im Wettstreit liegender Glaubensgemeinschaften waren dabei eng miteinander verbunden. Der Überlieferungspluralismus förderte die Schriftlichkeit der Überlieferung. Der Mythos wurde mündlich überliefert und in rituellen Handlungen nachvollzogen. Die Lehrreden des Buddha aber - um nur ein Beispiel zu nennen - wurden von 4
5
Mircea Eliade, Das Heilige und Profane. Vom Wesen des Religiösen, Hamburg 1957, S. 59-63. Alexander Demandt, Metaphern für Geschichte, München 1978, S. 236ff.
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gelehrten Jüngern aufgezeichnet und in einem umfangreichen Korpus der Nachwelt überliefert. Diese Überlieferung argumentativer Diskurse trug zur Traditionskritik bei. Man könnte auch sagen, daß auf diese Weise eine neue Tradition entstand, die die geistige Auseinandersetzung begünstigte. Die berühmten Jesusworte: "Zu den Alten wurde gesagt [...], ich aber sage Euch [...]" stehen in dieser neuen Tradition. Die Berufung auf eine göttliche Offenbarung, die wörtlich zu nehmen sei, trat an die Stelle mythischer Götterschau. Der auslegungsbedürftige Text wurde geradezu zum Inbegriff der Überlieferung. Damit war zugleich der individuelle Zugang zu den Quellen der Tradition gegeben; Einübung und Nachahmung wurden durch kritisches Textstudium ergänzt. Dadurch ergaben sich später Ansatzpunkte für einen Traditionalismus, der als Fundamentalismus auf die Quellen zurückverweist und zur Tradition gewordene Konventionen, die durch den Text nicht legitimiert sind, verurteilt. Vom Mythos
zur
Allegorie
Mit dem Nachlassen der mythischen Bewußtseinsstellung, für die Symbole eine unmittelbare Wirklichkeit hatten, entstand die Möglichkeit, die symbolischen Sinngehalte allegorisch zu verstehen und in einem neuen Kontext mit dichterischer Freiheit mit ihnen umzugehen. Während der Mythos keinen überlieferten Autor hat, tritt nun der namhafte Dichter auf und deutet den Mythos auf seine Weise. Dabei kann schon in verhältnismäßig kurzer Zeit ein beachtlicher Paradigmawechsel eintreten, der einen Wandel der Bewußtseinsstellung anzeigt. Der Archäologe Bemard Andreae hat das in seinem bemerkenswerten Odysseusbuch6 am Beispiel der beiden dem Homer zugeschriebenen Werke Ilias und Odyssee deutlich gemacht. Er bezieht dabei auch den Stilwandel in der bildenden Kunst ein, um diesen Paradigmawechsel (den er freilich nicht so nennt) zu demonstrieren. Während in der Ilias die Menschen noch unbestimmten inneren Impulsen folgen, bzw. von den Göttern zu dieser oder jener Tat angehalten werden, tritt mit dem listenreichen Odysseus der erste sich weitgehend selbstbestimmende Mensch auf. Die Götter und andere überirdische Wesen spielen in der Odyssee Nebenrollen. Andreae pflichtet denen bei, die behaupten, daß der Autor der Odyssee ein anderer gewesen sein muß als der der Ilias. Er läßt diese Frage aber offen. Es genügt festzustellen, daß in einem Zeitraum von etwa 50 Jahren ein bemerkenswerter Wandel in den Paradigmen der Dichtkunst und der bildenden Kunst auftrat, der den Beginn einer neuen Bewußtseinsstellung anBernard Andreae, Archäologie des europäischen Menschenbildes, Frankfurt 1982.
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kündigte. Nicht umsonst hat Odysseus die Nachwelt immer wieder aufs Neue fasziniert. Die Philosophen Horkheimer und Adorno haben ihm in ihrer "Dialektik der Aufklärung" eine Studie gewidmet. Sie bezeichnen die Odyssee als die Urgeschichte der Subjektivität, die der Vorwelt entrinnt. Die Geschichte der Ausformung dieser neuen Bewußtseinsstellung soll hier nicht näher verfolgt werden, es müßte dazu die Geistesgeschichte von etwa zwei Jahrtausenden zusammengefaßt werden. Ferner wäre zu zeigen, daß auch in Asien ähnliche Phänomene einer neuen Subjektivität zu verzeichnen waren. Statt dessen wollen wir beim Renaissancemenschen einen weiteren Wandel der Bewußtseinsstellung beobachten, dem die ungarische Philosophin Agnes Heller ein ideenreiches Buch gewidmet hat.7 In der Renaissance wurde der christliche Mythos in Analogie zum griechischen Mythos gesehen. Beide wurden miteinander verschmolzen und ergaben einen unerschöpflichen Zitatenschatz für das allegorische Argumentieren, bei dem Symbole beider Mythen zu vielfach verwendbaren Metaphern wurden. Agnes Heller gibt viele Beispiele dafür. Ich möchte ein uns näher liegendes Beispiel anführen: den Herkules an der Fassade des Ott-Heinrich-Baus des Heidelberger Schlosses. Sein Standbild ist mit einer Legende versehen, die mit den Worten beginnt: "Jesus und Herkules werd ich genannt [...]." Ein anderes eindrucksvolles Beispiel ist das Chorgestühl des Ulmer Münsters, das von lebensvollen Porträts der Sybillen und antiken Philosophen geziert wird und auch ein Ebenbild des Meisters Jörg Syrlin zeigt, dessen selbstbewußtes Gesicht etwas von einer neuen Bewußtseinsstellung ahnen läßt. Ein literarisches Zeugnis dieses neuen Bewußtseins ist die Allegorisierung des Schöpfungsmythos durch den Italiener Pico della Mirandola. Agnes Heller zitiert ihn: "Danach beschloß denn der höchste Künstler, daß derjenige, dem etwas Eigenes nicht mehr gegeben werden konnte, das als Gemeinbesitz haben sollte, was den Einzelnen ein Eigenbesitz gewesen war. [...] Daher ließ sich Gott den Menschen gefallen als ein Geschöpf, das kein deutlich unterscheidbares Bild besitzt, stellte ihn in die Mitte der Welt und sprach zu ihm: 'Wir haben Dir keinen bestimmten Wohnsitz noch ein eigenes Gesicht noch irgendeine besondere Gabe verliehen, o Adam, damit du jeden beliebigen Wohnsitz, jedes beliebige Gesicht und alle Gaben, die du dir sicher wünschst, auch nach deinem Willen und nach deiner eigenen Meinung haben und besitzen mögest.
Agnes Heller, Der Mensch in der Renaissance, Köln 1982.
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Den übrigen Wesen ist ihre Natur durch die von uns vorgeschriebenen Gesetze bestimmt und wird dadurch in Schranken gehalten. Du bist durch keinerlei unüberwindliche Schranken gehemmt, sondern du sollst nach deinem eigenen freien Willen, in dessen Hand ich dein Gesicht gelegt habe, sogar jene Natur dir selbst vorherbestimmen'."8 Picos Worte nehmen vieles von dem voraus, was spätere Forscher auf den Begriff der menschlichen Neotenie gebracht haben, von dem bereits die Rede war. In der Form eines allegorisierten Schöpfungsmythos stellte Pico eine wissenschaftliche Hypothese auf, die in der Tat erstaunlich "modern" klingt. Graf Yorck kennzeichnet diese neue Bewußtseinsstellung der Renaissance mit den folgenden Worten: "Ihr charakteristisches Merkmal ist der Begriff der Kraft. Die Gestaltlichkeit ist als Resultat gefaßt, Konstruktion ihre Tendenz. Hinter die Dinge zu kommen, nicht bis zum letzten Dinge, [...] ist das universale Streben, welches auf allen historischen Gebieten, dem wissenschaftlichen im allgemeinen, insbesondere dem astronomischen und dem physikalischen, aber auch dem künstlerischen und sozialpolitischen sich manifestiert, wie denn hieraus sich die innige Verbindung von Wissenschaft und Kunstübung, welche die Renaissance charakterisiert, erklärt. [...] Die Tendenz, hinter die Dinge zu kommen, setzte eine wesentliche Dingfreiheit voraus. Das Evidente war in Frage gestellt und damit das Experiment an Stelle der Evidenz zur [...] Garantie der Wahrheit geworden."9 Der Mensch, den uns Pico vorstellt, kann seine Natur selbst bestimmen, und damit wird diese Natur als Resultat eines Bildungsprozesses gesehen, der die ganze Menschheit umschließt. Doch trotz einer Ahnung von der Veränderlichkeit des Menschen, die sich in Picos Allegorie vom Schöpfungsmythos zeigt, glaubt man zunächst noch an eine Invarianz der conditio humana. Man sieht den Menschen noch als einen über der Geschichte und nicht in der Geschichte stehenden, zugleich macht sich jedoch ein neuer dynamischer Zeitbegriff bemerkbar, der dazu beiträgt, daß diese Stellung des Menschen "über der Geschichte "erschüttert wird.
Heller, Der Mensch in der Renaissance, S. 509f. Yorck von Wartenburg, Bewußtseinsstellung, S. 132,136.
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Perspektiven einer historischen Hermeneutik
Der Mensch über und in der Geschichte Graf Yorck charakterisiert die Stellung des Renaissancemenschen so: "Nicht in, sondern über der Geschichte ist die Stellung des independenten Individuums, welches die Geschichte als eine Rüstkammer für die Darstellung der eigenen Überzeugung ansieht, als einen Schatz von Beispielen zu moralischrhetorischer Verwendung."10 Der sich gleichbleibende autonome Mensch verfügt souverän über die Geschichte. Doch dieser in der Bewußtseinsstellung noch fest verankerte Grundsatz wird durch die Erfahrung einer dynamischen Zeit erschüttert, einer Zeit, die den Menschen geradezu überrennt. Machiavelli hat dies als aufmerksamer Zeitgenosse bemerkt. Agnes Heller zitiert ihn: "Kommen dem Sanften und Bedächtigen die Verhältnisse der Zeit so zustatten, daß sein Verhalten ihnen entspricht, dann ist er glücklich; ändern sich aber Zeiten und Umstände, dann wird er, weil er sein Benehmen nicht auch geändert hat, zugrunde gehen. Niemand aber besitzt Verstand genug, um sein Betragen immer den Zeitverhältnissen anzupassen: Sei es, weil man nicht allezeit seinen inneren Trieben widerstehen, oder sich nicht so leicht entschließen kann, einen Weg zu verlassen, der bisher zum Hafen führte."11 Bei aller Einsicht in die historische Bedingtheit des menschlichen Schicksals stehen sich aber Mensch und Geschichte hier noch unvermittelt gegenüber. Eine Möglichkeit der Vermittlung wird nicht in der historischen Bedingtheit des Menschen selbst gesehen, sondern in der möglichen Koinzidenz seiner Eigenschaften mit den Zeitumständen; ist diese Koinzidenz nicht gegeben, so sieht es Machiavelli, dann ist der Mensch nur in beschränktem Maße fähig, sie von sich aus herzustellen. Der Geschichtsbegriff der Renaissance ist weder historisch noch anti-historisch, wie Agnes Heller betont, und sie warnt davor, alle Züge des modernen Denkens in die Renaissance hineinzuinterpretieren. Der Renaissancemensch sieht sich noch nicht als Produkt eines historischen Prozesses, er betrachtet die Geschichte als Akkumulation von Erfahrungen und Fehlleistungen, auf die man zitierend verweisen kann. Erst als die Zeit den Menschen überrennt, er aber bereits ein Bild von seiner Wandelbarkeit hat, wie es Pico gezeichnet hatte, wird der Mensch als in der Geschichte
Yorck von Wartenburg, Bewußtseinsstellung, S. 113. Heller, Der Mensch in der Renaissance, S. 201.
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und nicht mehr als über der Geschichte stehend gesehen. Dazu bedurfte es der gegenläufigen Tendenzen von Aufklärung und Romantik, die beide die neue Bewußtseinsstellung prägten. Die Philosophie des deutschen Idealismus war ein bedeutsamer Versuch, zwischen diesen beiden Tendenzen zu vermitteln. Der Mensch gab seinen Anspruch, über der Geschichte zu stehen, auf und sicherte sich statt dessen einen zentralen Platz in der Geschichte. Den kühnsten Entwurf dieser Art lieferte Hegel, von dem Graf Yorck sehr treffend bemerkt, daß er versucht habe, die Phantasie zu szientifizieren. Hegels "szientifizierte
Phantasie"
Hegel entwarf im Rahmen der neuen Bewußtseinsstellung ein Paradigma, das die Position des Menschen in der Geschichte sicherte, indem es eine logische Konstruktion des historischen Prozesses anbot. Dieses Angebot wurde von vielen Denkern begeistert aufgenommen, auch von denen, die es - wie Marx im Sinne eines radikalen Paradigmawechsels uminterpretierten. Es meldeten sich aber auch Kritiker zu Wort, die Hegel vorwarfen, daß er den historischen Prozeß in das Prokrustesbett einer teleologischen Rationalität gezwängt habe. Marx, so konnten sie behaupten, habe das Prokrustesbett dann lediglich in eine andere Richtung gedreht. Graf Yorck kritisiert Hegels Vorgehen wie folgt: "Diese abstrakte Rationalität war das Datum Hegels, dessen direkte Voraussetzungen Kant und Wolff sind. Auch bei ihm ist die Rationalität nicht nur denaturalisiert, sondern auch demoralisiert. Die reine logische Okularität als Ergebnis zu fassen, die von den Identitätsphilosophen behauptete Synthesis zwischen Schauen und Bilden, Opsis und Produktion zu vollziehen, und zwar innerhalb der Okularität und mit ihren Mitteln, d.h. auf logische Weise, ist Nerv und Inhalt der Hegeischen Philosophie. Zugrunde lag dem Beginnen das historische Vorurteil, das Dogma von der zentralen und radikalen Erfaßbarkeit der konkreten Lebendigkeit mittels des Vorstellens, diese moderne Tendenz der wurzelhaften Veräußerlichung der gesamten Gegebenheit [...]. Romantisches Gesamteigentum war die Verstärkung des Konstruktionsgedankens zum Produktionsgedanken. Eigentümlich für
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Hegel [...] ist dagegen der ernstliche Vollzug jener postulierten Gleichung zwischen optischem und konstruktivem Verhalten."12 Die Worte "Okularität, Opsis, optisches Verhalten" erscheinen uns heute in diesem Zusammenhang als fremd und ungewöhnlich, sie beziehen sich bei Graf Yorck auf die zeiüose Evidenz. So nennt er die platonischen Ideen Phänomene der inneren Opsis und meint, daß Okularität das griechische Denken bestimmt habe. Schon in der Renaissance glaubt Graf Yorck eine Abkehr von diesem Denken zu sehen, wie wir aus seiner Bemerkung über "Gestaltlichkeit als Resultat" wissen. Wenn er nun sagt, daß Hegel die reine logische Okularität als Ergebnis erfaßt, so geht das in dieselbe Richtung. Den Begriff der Kraft, den er im Zusammenhang mit der Auffassung von Gestaltlichkeit als Resultat erwähnt, betont er in bezug auf die Philosophie seiner Zeitgenossen noch einmal: "Wir haben schon betont, wie das Moment der Kraft auf allen Gebieten der historischen Betätigung zum Prinzip erhoben wird. Produktion aller Gestaltlichkeit manifestiert sich auf mathematischem, auf physischem, auf logischem Gebiet. Vernunft - nous - konnte hiernach nicht mehr in einem Sein, sondern mußte in einem Sollen, mußte teleologisch sein. Der immanente Kausalzusammenhang ist projiziert, veräußerlicht als Zweckgedanke [...]."» Diese teleologische Erfüllung der Vernunft in der Zeit, die zwangsläufig zu dem Schluß führt, daß jeweils die Gegenwart der Höhepunkt der Vernunft ist, wurde nicht nur von Graf Yorck, sondern auch von anderen Philosophen, insbesondere aber von den Historikern verworfen, die wie Ranke meinten, daß alle Epochen unmittelbar zu Gott seien. Das Hegeische Paradigma erschien den Historikern als unakzeptabel, weil seine szientifizierte Phantasie unhistorisch war. Doch mochten die Historiker auch das Hegeische Paradigma ablehnen, so hatten auch sie teil an der Bewußtseinsstellung, aus der dieses Paradigma hervorgegangen war. Die Historiker setzten die Bedingtheit des Menschen durch die Geschichte voraus, überließen aber den Entwurf von Paradigmen den Philosophen, die sie tadeln mochten, deren Ideen sie aber eklektisch aufnahmen und in ihren Werken reflektierten. Dabei bildeten die Historiker und die ihnen geistesverwandten historischen Phi-
" 13
Yorck von Wartenburg, Bewußtseinsstellung, S. 91 f. Ibid., S. 137.
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lologen eine beachtliche Forschungspraxis heraus, ohne ein einheitliches Paradigma hervorzubringen. Der schillernde Begriff "Historismus" bot sich als gemeinsamer Nenner für diese Forschungspraxis an. Den verschiedenen Bedeutungen dieses Begriffs wollen wir uns jetzt zuwenden. Das Problem des
Historismus
Der Begriff "Historismus" hat drei Bedeutungen, die sich nicht ausschließen, sondern von einer allgemeineren Bezeichnung für eine Forschungspraxis bis zur Deutung der ihr zugrunde liegenden philosophischen Position reichen.14 In seiner ersten und allgemeinsten Bedeutung bezeichnet "Historismus" einen "praktischen geisteswissenschaftlichen Positivismus" (Schnädelbach) so, wie er sich im 19Jahrhundert herausbildete, in einem zweiten engeren Sinne ist er eine Denkform, die sich in bewußten Gegensatz zur systematisierenden Denkweise setzt und sich auf die historische Variabilität und Relativität aller Begriffe und Normen beruft. In diesem zweiten Sinne dient der Historismus der Verteidigung der zuvor im allgemeinen Sinne als Historismus bezeichneten Wissenschaftspraxis. In einem dritten Sinne wurde der Begriff Historismus von Ernst Troeltsch gefaßt, der den Historismus als einen Prozeß der "grundsätzlichen Historisierung alles unseres Denkens über den Menschen, seine Kultur und seine Werte" definiert und ihn dem Naturalismus gegenüberstellt. Historismus und Naturalismus sind für Troeltsch die beiden großen Wissenschaftsschöpfungen der modernen Welt. Der Historismus in diesem dritten Sinne wurde später insbesondere von seinen Kritikern auch als Historizismus bezeichnet. 15 Er geht als Schlußfolgerung aus der Annahme der absoluten Bedingtheit des Menschen durch die Geschichte hervor, der auch eine Historizität des Historikers entspricht. Der Historiker hat keinen archimedischen Punkt außerhalb der Geschichte, von dem aus er ihren Verlauf beobachten könnte. Er steht in einer "Wirkungsgeschichte" (Gadamer), die ihm sozusagen die Feder führt. Die absolute historische Bedingtheit wirft freilich die Frage nach den Maßstäben des historischen Urteils auf. Diese Frage ist auf sehr verschiedene Weise beantwortet worden. Arthur Schopenhauer hielt die Geschichte einfach für eine bedeutungslose Farce, und Theodor Lessing prägte das geflügelte Wort von der "Sinngebung des Sinnlosen" 16 . Wer sich dieser Meinung nicht an-
Herbert Schnädelbach, Geschichtsphilosophie nach Hegel. Die Probleme des Historismus, Frankfurt 1974, S. 20ff. Karl Popper, Das Elend des Historizimus, Tübingen 1965 (engl. Orig.; The Poverty of Historicism, London 1965). Theodor Lessing, Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen, München 1921.
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schließen wollte, sah sich schließlich doch auf Hegel zurückgeworfen und mußte nach der Vernunft in der Geschichte suchen. Nicht von ungefähr wurde beim Nachdenken über diese Probleme die Hermeneutik in einem ganz neuen Licht gesehen; war sie früher nur eine Methodenlehre, so wurde sie jetzt zu einer Philosophie des Verstehens, die vor allem der Philosoph Wilhelm Dilthey zu großem Ansehen brachte. Von einer Kunstlehre zur Auslegung von Texten wurde die Hermeneutik zur Selbstauslegung des Geistes und damit zur philosophischen Grundlage der "Geisteswissenschaften", die den Naturwissenschaften, die nicht als historisch bedingt gesehen wurden, fremd und unverbunden gegenüberstanden. Diese Abgrenzung wurde insbesondere deshalb betont, weil die Naturwissenschaften, insbesondere die klassische Physik und die auf ihr aufbauenden Ingenieurwissenschaften, so große Erfolge errungen hatten, daß sie geradezu das Wissenschaftsideal darstellten. Da die Geisteswissenschaften sich mit diesen Wissenschaften buchstäblich nicht messen konnten, mußten sie ihre prinzipielle Andersartigkeit betonen. Die Beschäftigung mit der Wissenschaftsgeschichte hätte eigentlich die historische Bedingtheit auch der naturwissenschaftlichen Erkenntnis deutlich werden lassen müssen, aber eine moderne Wissenschaftsgeschichte, die dies leistet, gab es zunächst einmal gar nicht, und sie steckt selbst heute noch in ihren Anfängen. Der Grund dafür liegt auf der Hand: Wer Wissenschaftsgeschichte betreiben will, muß sowohl die Geschichte als auch die verschiedenen Wissenschaften sehr gut kennen - und das geht meist über die Fähigkeiten des einzelnen Forschers hinaus. Was daher als Wissenschaftsgeschichte angeboten wurde, war meist die von Naturwissenschaftlern geschriebene Geschichte ihrer eigenen Disziplin. Diese "disziplinaren" Wissenschaftsgeschichtsschreiber waren nicht vom Nachdenken über den Historismus und seine Probleme angekränkelt, sondern beschrieben eine lineare "Wirkungsgeschichte" ihrer Zunft, bei der ein Erfolg zum anderen führte. Wie wir freilich später bei der Auseinandersetzung mit den Arbeiten des modernen Wissenschaftshistorikers Thomas Kuhn noch sehen werden, stellt sich bei der Betrachtung der historischen Bedingtheit naturwissenschaftlicher Forschung auch wieder das Dilemma des Historismus ein, daß man entweder eine Beliebigkeit annehmen oder nach der "Vernunft in der Geschichte" suchen muß. Der "disziplinare" Wissenschaftshistoriker alten Typs entging diesem Dilemma, weil er rückschauend einen linearen Fortschritt der Forschung auf seinem Fachgebiet rekonstruierte, der ihm als solcher vernünftig erschien. Die im Dilemma des Historismus befangenen Geisteswissenschaften und die ihrer disziplinaren Vernunft verpflichteten Naturwissenschaften
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entfremdeten sich so sehr voneinander, daß man fast glauben mochte, sie entstammten nicht einer gemeinsamen, modernen Bewußtseinsstellung, sondern entsprächen zwei verschiedenen Bewußtseinsstellungen. Wohlmeinende Philosophen, die die Einheit der Wissenschaft (Unified Science) vertraten, versuchten, die Kluft zu überbrücken, doch es gelang ihnen nicht. Alles, was sie hervorbringen konnten, war eine vernichtende Kritik am "Elend des Historizismus" (Karl Popper), die sich freilich eher gegen teleologische Heilslehren als gegen den Historismus im weiteren Sinne richteten. Die Spaltung des Weltbildes schien unüberwindlich zu sein. Erst in neuerer Zeit unternehmen Naturwissenschaftler, insbesondere Biologen, den Versuch, wieder eine Brücke zu den Geisteswissenschaften zu schlagen, indem sie der Hermeneutik eine wichtige Funktion auch in den Naturwissenschaften zugestehen. Auf die einschlägigen Arbeiten des Biologen Rupert Riedl wurde bereits zuvor hingewiesen. Das Fundament für einen solchen Brückenschlag bieten dabei die Wissenschaftspraxis und gemeinsame Sachfragen und nicht ideologische Prinzipien. Man kommt auf diese Weise zurück auf den Boden einer gemeinsamen Bewußtseinsstellung. In diesem Sinne soll im nächsten Kapitel versucht werden, die Begriffe von Kausalität und Kontinuität, Struktur und Prozeß in der Geschichte zu interpretieren und dabei auf Systemtheorie und Synergetik zurückzugreifen, die derzeit in den Naturwissenschaften immer bedeutsamer werden.
4. Der historische Diskurs: Begriffe und Probleme 4.1. Kausalität Am Schluß dieses ersten Teils, der den Grundlagen unserer Diskussion gewidmet ist, soll eine Auseinandersetzung mit den Schlüsselbegriffen stehen, die für den modernen historischen Diskurs von zentraler Bedeutung sind. Dabei geht es zunächst um den für den Historiker besonders wichtigen Begriff der Kausalität. Es ist das Geschäft des Historikers, den Kausalnexus vergangenen Geschehens zu rekonstruieren und darüber logisch einwandfreie Aussagen zu machen. Da liegt die Versuchung nahe, Kausalität und Logik miteinander in Verbindung zu bringen. Philosophen können sich mit David Hume darauf berufen, daß Logik und Kausalität nichts miteinander zu tun haben, und sich dementsprechend auf die formale Logik beschränken. Humes Annahme, daß Kausalitätsvermutungen als menschliche "Vor-urteile" zu betrachten seien, ist von den bereits zuvor erwähnten Vertretern der evolutionären Erkenntnistheorie bestätigt worden, ja sie haben sogar plausibel machen können, daß der Mensch auf lineare Kausalitätsvermutungen vorprogrammiert ist und solche Kausalität auch dort noch erwartet, wo er dem Zufall begegnet. Diese Art der Kausalitätsvermutung ist sozusagen der Ariadnefaden, der die Orientierung im Labyrinth komplexen Geschehens erleichtert. Als Bestandteil des "ratiomorphen Apparats" ist diese Form der Orientierung angemessen. Im Bereich der Literatur ergibt sich daraus die Beliebtheit des Kriminalromans. Der Historiker aber, der sich allein auf die lineare Kausalitätsvermutung verläßt, produziert vielleicht recht lesbare Geschichtsschreibung, wird aber keine befriedigenden Aussagen über komplexe Zusammenhänge machen können. Wer die Geschichte rückschauend auf einen zwangsläufigen Vorgang reduziert, wird die Rolle des Zufalls in der Geschichte nicht berücksichtigen. Wenn er schlagfertig ist, wird er freilich eine gute Antwort auf die Frage parat haben, warum er sich nicht mit dem Zufall beschäftigt. Ist der Zufall einmal eingetreten, wird er damit zum historischen Ereignis und man kann seine Folgen untersuchen. Daß man den Zufall insgeheim als solchen anerkennt, indem man sich über seine Verursachung ausschweigt, wird dabei nicht betont. Dieses Schweigen hat einen weiteren Vorteil: es erspart es dem Historiker, zufällige Ereignisse von anderen Ereignissen zu unterscheiden, über deren Ursachen er schweigen muß, weil über diese einfach nichts bekannt ist. Zufall und Unkenntnis bekommen auf diese Weise den gleichen Stellenwert. Wenn der Historiker den Zufall bemüht, dann stellt er sich anscheinend ein
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Armutszeugnis aus. Er hat wohl den Ariadnefaden verloren und findet sich im Labyrinth des Geschehens nicht mehr zurecht. Reinhart Koselleck bezeichnet daher den Zufall sehr treffend als "Motivationsrest in der Geschichtsschreibung" und zeigt, wie dieser Rest von der historischen Schule des 19. Jahrhunderts verzehrt wurde, weil der moderne Geschichtsbegriff sich an der Notwendigkeit des Geschehenen orientierte. 1 Der Zufall wurde in der "List der Vernunft" aufgehoben und verlor damit seinen Charakter. Er sollte aber rehabilitiert werden, denn er ist für die Geschichte durchaus von Bedeutung. Wenn Gerhard Vollmer im Hinblick auf die Biologie für einen "systemtheoretisch entschärften Reduktionismus" plädiert, "der die Rolle des Zufalls als konstitutiv für Lebenserscheinungen anerkennt" 2 , dann trifft das im Grunde auch auf die Geschichte zu. Die Geschichtsschreibung, die den Zufall eliminiert, ist ebenfalls ein Reduktionismus, dessen Bezugspunkt der jeweils gegenwärtige Zustand ist, der als zwangsläufiges Ergebnis des vergangenen Geschehens betrachtet wird. Wenn der Historiker sich bewußt mit diesen Fragen auseinandersetzt und die lineare Kausalitätsvermutung zu überwinden versucht, die ihm sein "ratiomorpher Apparat" nahelegt, dann stößt er auf die Probleme, die hier als konvergente Verursachung und disparate Wirkungen bezeichnet werden. Sie hängen miteinander zusammen, sollen aber zunächst nacheinander behandelt werden. Die konvergente Verursachung Die konvergente Verursachung unterscheidet sich von der linearen dadurch, daß mehrere Kausalfaktoren in eine Beziehung zueinander geraten, die einen oder mehrere dieser Faktoren abschwächt oder verstärkt. Man spricht von einem Teufelskreis, wenn man negative Wirkungen beobachtet, die sich gegenseitig so verstärken, daß der Weg unausweichlich in den Abgrund führt. Die einzelnen Faktoren sind dabei zunächst voneinander unabhängig, erst wenn sie zusammenwirken, zeigen sich ihre negativen Eigenschaften. Der Teufelskreis ist ferner dadurch gekennzeichnet, daß der negative Wirkungszusammenhang, wenn er einmal entstanden ist, nicht wieder durchbrochen werden kann. Das Bild vom Teufelskreis macht deutlich, daß es sich hier nicht um einen Vorgang im Sinne des Sprichworts "steter Tropfen höhlt den Stein" handelt. Dieses Sprichwort bezieht sich nämlich auf einen Reinhart Koselleck, Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt 1979, S. 158ff. Gerhard Vollmer, Was können wir wissen? Band 2: Die Erkenntnis der Natur, Stuttgart 1986, S. 210.
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linearen Prozeß, der leicht berechenbar ist, wenn man Frequenz, Gewicht und Fallhöhe des Tropfens und die Härte des Steins kennt. Es gibt bereits historiographische Ansätze zur Berücksichtigung der konvergenten Verursachung, etwa die französische "Konjunkturgeschichte", auf die bei der Behandlung der analytischen Methoden der modernen Geschichtswissenschaft näher eingegangen werden soll. Auch die Wirtschaftswissenschaftler sind auf das Problem der konvergenten Verursachung gestoßen, haben es aber nicht auf diesen Begriff gebracht, sondern von kumulativer Verursachung gesprochen. Gunnar Myrdal erwähnt "zirkuläre und kumulative Verursachung" wohl zum ersten Mal bei seinem Versuch, ungleiche Wirtschaftsentwicklungen zu erklären.3 Doch erst Nicholas Kaldor, der sich gegen das Gleichgewichtsdenken der klassischen und neoklassischen Ökonomen wandte und das industriekapitalistische Wachstum als dynamischen Prozeß darstellte, machte den Begriff der kumulativen Verursachung zum zentralen Konzept seiner Theorien.4 Kaldor betont die positive Entwicklung (virtuous circle) eines sich selbst verstärkenden Wachstums, sieht aber auch die Möglichkeit eines Teufelskreises (vicious circle) der Unterentwicklung. Es geht ihm um das Ineinandergreifen einer Reihe von Wirtschaftsfaktoren (Nachfrage, Produktivitätssteigerung, technischer Fortschritt, Diversifizierung, Investition), die sich wechselseitig unterstützen. Einmal in Gang gesetzt ist dies ein perpetuum mobile, das sich nicht nur selbst weiter antreibt, sondern dazu auch noch expandiert, ja expandieren muß, wenn es nicht der Stagnation verfallen oder gar in den Teufelskreis eines kumulativen Abschwungs geraten will. Der von den Wirtschaftswissenschaftlern geprägte Begriff der kumulativen Verursachung hat für den Historiker gewisse Mängel, weil er weder die Vielfalt exogener Faktoren berücksichtigt noch für Diskontinuitäten (Krisen und Revolutionen) Erklärungsansätze bietet; er ist eben ganz auf eine innere Dynamik bezogen. Im Grunde handelt es sich hier um Rückkopplungseffekte (feedback), und so braucht man nur die Gleichgewichtstheorien durch Regelkreistheorien zu ersetzen. Bei beiden Theorien geht man jedoch davon aus, daß man es mit einem geschlossenen System zu tun habe. Die Versuchung liegt dann nahe, dieses System so umfassend wie möglich zu konzipieren. Die Weltsystem-Geschichtsschreibung des amerikanischen Soziologen Immanuel Wallerstein ist dafür ein interessantes Beispiel. Sie wird im 7. Kapitel ausführlich dargestellt werden. Hier soll der Hinweis genügen, daß die auf endogene Verursachung in abgegrenzten Systemen ausgerichtete C.J. Ricoy,"Cumulative causation",in: J. Eatwell, ed., The New Palgrave. A Dictionary of Economics, London 1987, Vol. I, S.730ff. Nicholas Kaldor, Economics without Equilibrium, Armonk, N. Y. 1985.
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Theoriebildung zum Prokrustesbett werden kann. Wenn deshalb im folgenden von konvergenter Verursachung die Rede ist, so soll damit ausdrücklich nicht ein allein von endogener Dynamik bestimmter zirkulärer Prozeß gemeint sein, sondern einer, der auch von äußeren Faktoren beeinflußt wird. Ein Beispiel: der "Schwarze Tod" Europa in der Zeit des "Schwarzen Todes" mag als Beispiel für diese Art der konvergenten Verursachung dienen. Im 11. bis 13. Jahrhundert hatte Europa einen erstaunlichen Aufschwung erlebt, die Bevölkerung wuchs, mehr und mehr Land wurde unter den Pflug genommen, große Städte wurden gebaut. Sie boten die "kritische Masse" für hohe Kunst und Kultur, aber auch für die Intensivierung von Wirtschaftsbeziehungen. All das ließe sich in ein Modell zirkulärer Verursachung noch einbeziehen. Dann aber kam in der Mitte des 14. Jahrhunderts der "Schwarze Tod", die Lungenpest, verursacht durch ein Virus, das den Rattenfloh als Zwischenwirt nutzt. Etwa 40 Prozent der Bevölkerung Europas wurden in wenigen Jahren dahingerafft.5 Der kulturelle und wirtschaftliche Rückschlag, der Europa auf diese Weise traf, gehört zu den einschneidendsten Ereignissen seiner Geschichte. Hier war offensichtlich ein äußerer Faktor in den Kreislauf der Verursachung eingedrungen. Die Bevölkerungsdichte und die großen Städte lieferten der Epidemie reichen Nährboden, aber sie brachten nicht das Virus hervor. Über die Kausalkette, die zu dieser Epidemie führte, ist viel gerätselt worden.6 Man hat sich mit den Ratten beschäftigt, ist den möglichen Wegen des Erregers nachgegangen, nimmt aber neuerdings an, daß eine Virusmutation der Auslöser für die Katastrophe gewesen sein könnte. Das wäre ein exogener Faktor reinster Art. Nun kann man natürlich ein Modell konstruieren, das die Besonderheit dieses exogenen Faktors eliminiert, indem es auch ihn in ein geschlossenes System zirkulärer Verursachung einbezieht. Man könnte etwa auf die langfristigen Auf- und Abschwünge der Bevölkerungsdichte zurückgreifen und darauf verweisen, daß um die Mitte des 14. Jahrhunderts eben wieder ein Abschwung fällig war; welche Epidemie und welcher Erreger dabei im Spiel waren, wäre dann letztlich gleichgültig. Wäre es das Lungenpestvirus nicht gewesen, hätte sicher ein anderer Erreger diese "geschichtliche Aufgabe" übernommen. Doch bei einer derart makrohistorischen Betrachtung fallen Carlo M. Cipolla und K. Borchardt, Hg., Europäische Wirtschaftsgeschichte, Bd. 1, Stuttgart 1983 (UTB), S. 34. Siehe hierzu Fernand Braudel, Sozialgeschichte des 15.- 18. Jahrhunderts, Bd. 1, München 1990, S.80ff.
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alle sonst von den Historikern für relevant gehaltenen Entwicklungen durch die weiten Maschen des Theorienetzes. Der besonders rasche und tiefe Schnitt des "Schwarzen Todes" hatte unter anderem die Konsequenz, daß das nationale Königtum und die von ihm beherrschten Staaten an Macht zunahmen, weil sowohl die Macht der Städte als auch die der Feudalherren durch den schlagartigen Bevölkerungsverlust gebrochen wurden. Diese historischen Betrachtungen sollen hier nicht weitergeführt werden. Es genügt, im Auge zu behalten, daß konvergente Verursachung für den Historiker ein Zusammenspiel verschiedener endogener und exogener Faktoren bedeuten muß und daß die Verwandlung exogener in endogene Faktoren durch übergreifende Theoriebildung einen Verlust an Trennschärfe bedeutet, der die historische Analyse ad absurdum führt. Es läßt sich einwenden, damit werde der Beliebigkeit die Tür geöffnet, ist doch die Zurechnung der als endogen und als exogen anzusehenden Faktoren durch keinen theoretischen Rahmen festgelegt. Dieses Argument läßt sich theoretisch nicht widerlegen, in der Praxis der Geschichtsforschung wird man aber in jedem gegebenen Fall die Zuordnung der Faktoren so plausibel machen können, daß sich Alternativen diskutieren lassen. Dadurch läßt sich die Fragestellung eingrenzen oder revidieren und die Erklärung verbessern, die freilich nur ein Annäherungsversuch an das zu Erklärende sein kann. Die disparaten
Wirkungen
Die Unsicherheit der Annäherungsversuche an die Deutung konvergent verursachter Ereignisse und Prozesse hat ihre Entsprechung in der Unabsehbarkeit ihres disparaten Fortwirkens. Das Fortwirken vollzieht sich wie eine Streuung von Samenkörnern. Das biblische Gleichnis von den Körnern, von denen nur einige auf fruchtbarem Boden aufkeimen, während manche unter die Dornen fallen oder auf andere Weise vernichtet werden, zeigt, was hier mit disparatem Fortwirken gemeint ist. Auch bei diesem Fortwirken ergibt sich das Zuordnungsproblem: welche Faktoren waren durch die vorhergehende Entwicklung bereits festgelegt und welche traten unversehens hinzu und waren dann ausschlaggebend? Der Historiker kann sich dieser Problematik dadurch entziehen, daß er darauf verweist, daß er das Fortwirken vergangener Geschehnisse ja bereits kennt und es daher für ihn nicht mehr disparat erscheint. Ebenso wenig wie er sich mit dem Zufall zu beschäftigen
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braucht, muß er sich mit "ungeschehener Geschichte" auseinandersetzen, auch wenn Alexander Demandt ihn mit beredten Worten dazu auffordert.7 Doch wenn der Historiker sich nicht auf die reine Aufzählung nach dem Muster "... und dann ..und dann „und dann" beschränken will, muß er Betrachtungen über alternative Wirkungsmöglichkeiten anstellen. Der heute im Diskurs der Historiker so gern gebrauchte Begriff "Handlungsspielraum" weist auf solche Alternativen hin.8 Selbst der Chronist, der sich angeblich auf eine Aufzählung beschränkt, schreibt nicht über alles und jedes, sondern trifft Entscheidungen über die Relevanz dessen, was er mitteilt, freilich meist ohne den Leser über seine Entscheidungsfindung aufzuklären und oft auch ohne sich selbst darüber Rechenschaft abzulegen. Der
Handlungsspielraum
Der Begriff "Handlungsspielraum" weist auf die Bemühung des Historikers hin, die Streuweite möglichen Handelns durch Eingrenzung zu bestimmen. Er setzt voraus, daß es eine konvergent verursachte Einengung von Handlungsspielräumen gibt, die dem auf Wirkung bedachten Handelnden nur noch wenige Freiheitsgrade läßt. Besonders befriedigend ist es dabei für den Historiker, wenn er nachweisen kann, daß der Handelnde gar nicht anders handeln konnte. Der überzeugende Nachweis der Notwendigkeit des Geschehenen ist eine ständige Versuchung für den Historiker: er will ja nicht einfach Beliebiges berichten, sondern erklären, warum es so kam und gar nicht anders kommen konnte. Selbstverständlich wird der Historiker diesen Verdacht von sich weisen, wenn man so unhöflich ist, ihn zu äußern. Aber im Grunde ist sein Handlungsspielraum bei der Geschichtsschreibung noch enger als der der Handelnden, die "Geschichte machen". Sein Wissen um die Wirkung der betreffenden Handlungen läßt ihn das Erwägen von Alternativen, die die Handelnden vielleicht noch hatten, als müßig erscheinen. Eine weitere Tendenz kommt hinzu, die den Hinweis auf "Handlungsspielräume" bei vielen Historikern zum reinen Lippenbekenntnis werden läßt. Dieser Begriff bezieht sich schließlich auf handelnde Menschen, doch wer glaubt schon noch an "Männer, die Geschichte machen"? Langfristige Entwicklungen und kollektive Phänomene werden als wichtiger erachtet. Die Entscheidungen, die die Handelnden im Rahmen ihrer "Spielräume"
Alexander Demandt, Ungeschehene Geschichte. Ein Traktat über die Frage: Was wäre geschehen, wenn...?, Göttingen 1986. Der deutsche Historikertag 1982 hatte das Rahmenthema "Handlungsspielräume in der Geschichte", siehe hierzu Bericht über die 34. Versammlung deutscher Historiker in Münster, Stuttgart 1983.
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getroffen haben, sind so gesehen nur Oszillationen, unbeträchtliche Trendabweichungen, deren Richtung und Größe kaum interessiert. Die große geschichtliche Tat mag oft nur als solche erscheinen, weil das Wissen um ihre Bedingtheit fehlt. So könnte es zum Beispiel sein, daß Gorbatschow, der uns heute als großer Beweger im geschichtlichen Prozeß unserer Tage erscheint, dereinst vor dem Hintergrund eines sich in Auflösung befindlichen Systems gesehen wird, dessen Ende er durch eine Flucht nach vorn aufzuhalten versuchte. Um dem durchaus berechtigten Streben nach Erkenntnis sozialgeschichtlicher Phänomene nachzukommen, die sich nicht auf "Männer, die Geschichte machen" reduzieren lassen, müßte man von "Entwicklungsspielräumen" sprechen. So könnte man beim oben genannten Beispiel vom "Schwarzen Tod" sagen, daß dieser dem nationalen Königtum einen ganz neuen Entwicklungsspielraum eröffnete. Im Rahmen dieses Entwicklungsspielraums sind die erweiterten Handlungsspielräume der einzelnen Könige zu sehen. Diese Spielräume konnten genutzt werden oder auch nicht. Dabei spielte der Zufall eine entscheidende Rolle: War ein tatkräftiger König auf dem Thron, ergriff er die Möglichkeit, seine Macht zu steigern, schwache Könige mochten die Chance ungenutzt lassen. Doch ergab sich aufgrund der Brechung der Macht der Städte und Feudalherren durch die Folgen des "Schwarzen Todes" die Stärkung des Königtums nicht geradezu zwangsläufig? Kann daher hier überhaupt die Rede davon sein, daß diese Stärkung des Königtums zu den disparaten und zunächst nicht ersichtlichen Wirkungen der Epidemie zählte? Es ist eine Gefahr des rückschauenden Reduktionismus, daß er die Bandbreite disparater Wirkungen ausblendet und die aus dem jeweiligen Erkenntnisinteresse am folgenschwersten erscheinende Wirkung herausfiltert. Besteht dieses Erkenntnisinteresse darin, den Aufstieg des modernen Staats zu erklären, dann wird die Stärkung des nationalen Königtums als Folge der Epidemie im Vordergrund stehen. Andere Folgewirkungen der Epidemie, wie der Mangel an Arbeitskräften, die Versorgungsprobleme, das Schrumpfen der Märkte, die den Zeitgenossen unvermittelt vor Augen standen, während der neue Entwicklungsspielraum des Königtums ihnen zunächst nicht offenbar wurde, erweisen sich im nachhinein als Faktoren, die zur Stärkung des Königtums nur zusätzlich beitrugen. Unter dem Blickpunkt dieses Erkenntnisinteresses fügen sich diese Faktoren zu einem neuen Bündel konvergenter Verursachung zusammen, die auf die Entstehung des Nationalstaats hinausläuft. Das Lungenpestvirus als Erreger der Epidemie wird dabei in den Lauf der Geschichte einbezogen, zugleich aber auch an den Rand gedrängt, während die Vorbedingungen der Entstehung des Königtums im Zentrum des In-
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teresses stehen. Die Kontinuität der Institution des Königtums hat dann Vorrang vor dem Virus, das Geschichte machte. Der Kausalnexus
und die Form der historischen
Erklärung
Die bisherige Argumentation ging von einer Trennung von Verursachung und Wirkung aus. Diese Trennung kommt der bereits erwähnten Vorprogrammierung des Menschen auf lineare Kausalitätsvermutung entgegen. Die Vorstellung von einer linearen Kausalkette beinhaltet nämlich auch die Annahme einer jeweils bestimmbaren Grenze, an der die Verursachung endet und die Folgewirkung beginnt. Eine langfristig schleichende Verursachung und eine ebenso verzögerte Folgewirkung sind uns unheimlich, weil wir den Kausalnexus auf den Punkt bringen wollen. Vernetzte Wechselwirkungen gehen buchstäblich über den Horizont unseres Bewußtseins. Die derzeitigen Auseinandersetzungen mit der Umweltproblematik zeigen dies sehr deutlich. Die Geschichtsschreibung sollte eigentlich in der Lage sein, in dieser Hinsicht eine Korrektur unseres Bewußtseins zu bewirken. Der naive Glaube, daß man inhaltlich aus der Geschichte lernen kann, ist längst dahin, aber zumindest methodisch könnte man den Umgang mit langen Zeiten und komplexen Phänomenen einüben, indem man sich mit Geschichte beschäftigt. Doch statt auf diese Weise der Horizonterweiterung zu dienen, hat die Geschichtsschreibung meist zum Ziel gehabt, die Geschichte auf den jeweiligen Zeithorizont zu reduzieren. Dieses Bemühen wird von einer neueren Tendenz der analytischen Geschichtsphilosophie gerechtfertigt, die sich mit dem "Narrativismus" beschäftigt. Hierüber wird im 14. Kapitel berichtet werden. Hier sei nur gesagt, daß die Narrativisten das Problem der Kontinuität der Geschichte thematisiert haben, das neben dem der Kausalität eine entscheidende Rolle im historischen Diskurs spielt. 4. 2.
Kontinuität
"Die Idee der Einheit der Weltgeschichte schließt die ununterbrochene Kontinuität der weltgeschichtlichen Entwicklung ein," schreibt Gadamer und fügt hinzu, daß diese Idee formaler Natur ist und keinen konkreten Inhalt impliziert, erwähnt aber auch, daß der Historiker dazu neigt, diese Form mit Inhalt zu erfüllen. 9 So sah zum Beispiel Ranke in der stetigen Entwicklung der abendländischen Kulturwelt die eigentliche Kontinuität in der Geschichte.
Hans Georg Gadamer, Wahrheit und Methode, Tübingen 1975, S. 196.
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Perspektiven einer historischen Hermeneutik
Die doppelte Versuchung des Historikers besteht darin, das Bewußtsein der Kontinuität als das Bewußtsein zu betrachten, das überhaupt erst Geschichte zu Geschichte macht und dann sein historisches Bewußtsein für das historische Bewußtsein an sich zu halten und der Kontinuität der Geschichte eine inhaltliche Deutung zu geben. Daß der Historiker dieser Versuchung anheimfällt, ist geradezu zwangsläufig, denn das historische Bewußtsein konstituiert sich für ihn nur im konkreten Zusammenhang, den er als Kontinuität rekonstruieren kann. Mit der philosophischen Auskunft, daß die Idee der Kontinuität der Geschichte formaler Natur ist, kann er nicht viel anfangen. Sobald er sich aber an die inhaltliche Ausgestaltung dieser Idee der Kontinuität macht, ist er gezwungen, diese Kontinuität auf ein bestimmtes Feld zu beschränken - etwa die " abendländische Kulturwelt" - und damit fremde Kulturen oder gar solche, die uns nur noch durch archäologische Funde bekannt sind, auszublenden, womit er der formalen Idee der Kontinuität der Weltgeschichte zuwiderhandelt. Es wäre daher besser, die Diskontinuität der Geschichte zu betonen und alle Geschichtsschreibung zunächst einmal unter den Verdacht unzulässiger Kontinuitätsstiftung zu stellen. Sogar das Verständnis der "eigenen" Geschichte müßte in diesem Sinne in Zweifel gezogen werden ("Die Vergangenheit ist ein fremdes Land"). Das bedeutet freilich, daß man den Boden des "wirkungsgeschichtlichen Bewußtseins" (Gadamer) unter den Füßen verliert. Zu dieser Problematik wird im 15. Kapitel Stellung genommen werden. Da aus der Sicht der hermeneutisch orientierten Philosophen die Idee der Kontinuität überhaupt erst das historische Bewußtsein konstituiert, wird der Kontinuitätsleugner unfähig, Geschichte überhaupt denkend zu erfassen. Doch das gilt nur, wenn man die sogenannte hermeneutische Wende der Bewußtseinsphilosophie mitvollzieht. Nach der Ansicht derer, die diese Philosophie vertreten, hat man in dieser Hinsicht gar keine Wahl, es bleibt nur die Einsicht in die Notwendigkeit der Historizität der Vernunft, die allein den Zugang zum Verständnis von Geschichte überhaupt ermöglicht. Der schärfste Kritiker der bewußtseinsphilosophischen Kontinuitätsstifter war in jüngster Zeit Michel Foucault, dessen Theorien im 8. Kapitel vorgestellt werden. Hier sei nur seine emphatische Antwort zitiert, die er seinen kontinuitätsbewußten Kritikern gab: "So wie Ihr es gebraucht, entwertet Ihr das Kontinuierliche. Ihr behandelt es als ein Stützelement, auf das sich alles übrige beziehen muß; Ihr macht aus ihm das erste Gesetz und die essentielle Schwere jeder diskursiven Praxis; Ihr hättet gern, daß man jede Veränderung im Feld dieser Trägheit analysiert, wie man jede Bewegung im Feld der
Der historische Diskurs: Begriffe und Probleme
53
10
Gravitation analysiert." An anderer Stelle schrieb er:" Für die Geschichte in ihrer klassischen Form war das Diskontinuierliche gleichzeitig das Gegebene und Undenkbare: das, was sich in der Art der verstreuten Ereignisse (Entscheidungen, Zufälle, Initiativen, Entdeckungen) bot; und was durch die Analyse umgangen, reduziert und ausgelöscht werden mußte, damit die Kontinuität der Ereignisse erscheinen konnte."11 Foucault leugnete nicht, daß es Kontinuitäten gibt, aber er wollte sie den Diskontinuitäten gleichberechtigt gegenüberstellen. Freilich fehlte es auch Foucault an einer alternativen Basistheorie, mit der er die Bewußtseinsphilosophie ablösen konnte, er sagte nur orakelhaft ihr Ende voraus. Als solche alternativen Basistheorien bieten sich Evolutionstheorie und Systemtheorie an, auf die in den folgenden Abschnitten eingegangen werden soll. Im Vorgriff soll darauf hingewiesen werden, daß auch diese Theorien sich mit der Diskontinuität schwer tun. Die Synergetik dagegen thematisiert Kontingenz und Diskontinuität ausdrücklich, sie soll daher ebenfalls berücksichtigt werden. Kontingenz,
Diskontinuität
und historischer
Wandel
Die Betonung von Kontingenz und Diskontinuität mag zunächst als nutzlose Haarspalterei erscheinen, sie ist jedoch für die Theorien des historischen Wandels, die in den folgenden Kapiteln vorgestellt werden sollen, von größter Bedeutung. Der bisherige Mangel an überzeugenden Theorien des historischen Wandels ist darauf zurückzuführen, daß Kontingenzbewältigung und Diskontinuitätsleugnung vorherrschen. Das erschwert es, den Wandel als solchen überhaupt ins Blickfeld zu bekommen, weil schrittweise eine "zwangsläufige" Entwicklung rekonstruiert wird, die den Wandel als fast unmerkliche, graduelle Änderung erscheinen läßt, wenn sie überhaupt auf ihn hinweist. Im Gegensatz dazu stehen die Stufentheorien, die ganze Epochen auf einen Nenner bringen, bei denen aber dann die Erklärung der Übergänge von einem historischen "Aggregatzustand" in den anderen große Schwierigkeiten bereitet. Das wird am marxistischen Feudalismusbegriff besonders deutlich, von dem im folgenden Kapitel die Rede sein wird. Zwischen dem unmerklichen "Wandel durch Annäherung" und dem krassen Wandel der Stufentheorien gibt es bisher kaum andere Theorieentwürfe, die explizit auf die Geschichte angewandt worden sind. Auch Foucaults Diskursanalyse, die später eingehend betrachtet werden soll, zeigt zwar Kontinuitätsbrüche auf,
10 11
Michel Foucault, Archäologie des Wissens, Frankfiirt (2. Aufl.) 1986, S. 248. Ibid., S. 17.
54
Perspektiven einer historischen Hermeneutik
gibt aber keine Erklärung für sie. Die Systemtheorie bietet hier einen Ansatzpunkt, der eine nähere Betrachtung verdient. 4. 3. Struktur, Prozeß,
System
Neuerdings versuchen auch Historiker, die zuvor allenfalls mit dem Begriff "Strukturgeschichte" vertraut waren, sich mit der Systemtheorie und mit den Prinzipien der Selbstorganisation zu beschäftigen, die in den Naturwissenschaften entwickelt worden sind. Die alte Abgrenzung der Geschichtswissenschaft von den "nomothetischen" Naturwissenschaften versperrte lange Zeit den Historikern den Blick dafür, daß die Naturwissenschaften heutzutage so orthodox nomothetisch gar nicht mehr sind, wie es vor allem die klassische Physik zu sein glaubte. Die Bemühungen wohlmeinender positivistischer Philosophen wie Carl Hempel, die hofften, die Geschichtswissenschaft szientifizieren zu können, haben das Interesse der Historiker für die Naturwissenschaften nicht geweckt, sondern eher abschreckend gewirkt. Deshalb haben sich Historiker den Zugang zu Begriffen wie Struktur und Prozeß mehr oder weniger im Alleingang erarbeitet. Diese historische Begrifflichkeit weicht daher in vielerlei Hinsicht vom Gebrauch der entsprechenden Begriffe in anderen Fachbereichen ab. Es soll deshalb hier mit einer Begriffsklärung begonnen werden, ehe wir uns der Bedeutung von "Strukturgeschichte" etc. zuwenden und schließlich versuchen werden, die Systemtheorie dem Historiker dienstbar zu machen. Zur Begriffsklärung:
Struktur, Prozeß,
System
"Struktur" bedeutet eine Zuordnung von Teilen zu einem Ganzen. Die "Strukturelemente" sind voneinander abhängig, meist kann man ein Element nicht verändern, ohne alle anderen ebenfalls zu verändern oder zumindest ihre Beziehungen zueinander zu beeinflussen. Hauptmerkmal der Struktur ist also die Kohärenz. Eine Struktur im strengen Sinne ist nicht zeitgebunden, sie ist "synchronisch" auch, wenn sie nicht unbedingt in ihrer Gesamtheit aktualisiert wird. Die Struktur einer Sprache besteht auch dann, wenn alle ihre Sprecher gerade schweigen. Einerseits stehen schon wenige gesprochene Worte in vielfaltigen Strukturbeziehungen, andererseits wird auch eine lange Rede nicht alle möglichen Strukturbeziehungen der betreffenden Sprache ausschöpfen. Strukturanalyse bedeutet, genügend Strukturelemente und ihre Beziehungen zueinander zu identifizieren, um den Strukturzusammenhang rekonstruieren zu können.
Der historische Diskurs: Begriffe und Probleme
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"Prozeß" ist das "diachronische" Pendant zur "synchronischen" Struktur. Sein Hauptmerkmal ist die Kontinuität. Er ist zeitgebunden und irreversibel. Beim Experiment im Labor können Prozesse wiederholt werden oder aber mehrere gleichartige Prozesse gleichzeitig ablaufen; das gilt für historische Prozesse nicht, denn sie sind nicht nur irreversibel, sondern auch unwiederholbar. Der strenge Strukturalist wird darauf bestehen, daß sich nichts zugleich "synchronisch" und "diachronisch" betrachten läßt, daß sich also die Analyse von Struktur und Prozeß gegenseitig ausschließen. Während aber der Begriff "Strukturanalyse" sich bereits im Sprachgebrauch eingebürgert hat, klingt "Prozeßanalyse" noch ungewöhnlich, obwohl doch gerade die "Prozeßanalyse" das Hauptanliegen der Historiker und aller historisch arbeitenden Wissenschaften ist. Der Grund für das Befremden, das dieses Wort erweckt, liegt wohl darin, daß man sich "Prozeßanalyse" wiederum nur als Untersuchung der Strukturbedingungen für den Ablauf von Prozessen vorstellen kann. Bei den Juristen ist man daran gewöhnt, von einer Prozeßordnung zu sprechen und meint damit die Strukturbedingungen für den Ablauf eines Gerichtsverfahrens. Die "Ordnung" wird in diesem Fall freilich vorgegeben und nicht erst durch Analyse ermittelt, es sei denn, es handelt sich um eine Untersuchung von Gerichtsverfahren fremder Kulturen, deren "Prozeßordnung" man anhand von Beobachtungen zu rekonstruieren versucht. Eine solche Prozeßordnung läßt sich mit der Struktur einer Sprache vergleichen: Sie wird ebenfalls nur schrittweise aktualisiert. Die Prozeßordnung strukturiert den Verlauf des Gerichtsverfahrens und schaltet bewußt das Beliebige, Zufällige und Willkürliche aus. Jeder andere Prozeß wird aber gerade von unvorherbestimmbaren Ereignissen und Einflüssen geprägt und wird erst damit für eine "Prozeßanalyse" relevant, während die Analyse von Prozessen, die nach einer vorgegebenen Prozeßordnung verlaufen, zur Strukturanalyse wird. Struktur und Prozeß scheinen sich also wie Raum und Zeit als unvereinbare Dimensionen gegenüberzustehen. Man kann jedoch versuchen, sie mit dem Begriff "System" auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen. Dieser Begriff ist freilich sehr vielschichtig. Er wird oft geradezu als Synonym von Struktur im Sinne einer vorgegebenen Ordnung verwendet: Regierungssystem, Verfassungssystem, periodisches System der Elemente, philosophisches System etc. Kohärenz ist auch hier das Hauptmerkmal, doch tritt bei vielen der solchermaßen als "System" bezeichneten Strukturen auch das Merkmal der Kontinuität hinzu. Man denke nur an die Systemanalyse in der elektronischen Datenverarbeitung, die die Grundlage für die Simulation von Prozessen bietet. Die moderne Systemtheorie, von der später noch die Rede sein soll, definiert System als zielgerichtete, komplexe und anpassungsfähige Ge-
56
Perspektiven einer historischen Hermeneutik
samtheit, die zu Strukturveränderungen fähig ist, wenn es um die Systemerhaltung geht. Ehe wir uns jedoch der Systemtheorie zuwenden, wollen wir uns zunächst mit der "Strukturgeschichte" beschäftigen, einem Begriff, der heutzutage allen Historikern geläufig ist, sich aber bei näherem Hinsehen als sehr schillernd erweist. Was ist
Strukturgeschichte?
Nach unserer Definition des Begriffs "Struktur" könnte der Begriff "Strukturgeschichte" eigentlich nur "Geschichte von Struktur" bedeuten. Es wäre dies die Darstellung des Entwicklungsganges einer Struktur. Der Philosoph Graf Yorck von Wartenburg hat über Hegel gesagt, er habe die logische Konstruktion der "Gestaltlichkeit als Ergebnis" vorgenommen. Ganz in diesem Sinne wäre dann auch das, was Marx betrieb, als er die Entstehungsgeschichte der kapitalistischen Produktionsverhältnisse darstellte, "Strukturgeschichte". Die marxistische Geschichtsschreibung wird später noch ausführlicher behandelt werden. Hier sei im Vorgriff darauf nur Lucien Sebag zitiert, der darauf aufmerksam macht, daß "[...] die meisten der marxistischen Analysen dazu neigen, eine strukturale Sprache dann zu gebrauchen, wenn sie ihren Stoff historisch behandeln, oder umgekehrt."12 Nun wird aber der Begriff "Strukturgeschichte", der nach Ansicht der strikten Strukturalisten unzulässig ist, weil synchronische und diachronische Analyse unvereinbar sind, im Sprachgebrauch der Historiker gar nicht so verwendet. Für die Historiker steht Strukturgeschichte im Gegensatz zur kurzatmigen Ereignisgeschichte, die man zugunsten einer Geschichte der "langen Dauer" zurückstellen sollte. Die Geschichte der "langen Dauer" wird bei der Darstellung der Arbeit von Fernand Braudel näher untersucht werden. Hier interessiert zunächst nur der Begriff "Strukturgeschichte" als solcher und seine Definition durch die Historiker. Reinhart Koselleck bezeichnet den Gegenstand der "Strukturgeschichte" in seinem Aufsatz "Darstellung, Ereignis und Struktur" als "Zusammenhänge [...] die nicht in der strikten Abfolge von einmal erfahrenen Ereignissen aufgehen." 13 In Analogie zu der zuvor erwähnten Struktur der Sprache, die gegeben ist, auch wenn sie gerade nicht aktualisiert wird oder nur teilweise in Erscheinung tritt, könnte man an Ordnungsmuster von der statischen Konstanz geographischer Bedingungen oder an religiöse und kulturelle Traditionen und an langlebige Institutionen denken, die der Ereignisgeschichte überhaupt erst Lucien Sebag, Marxismus und Strukturalismus, Frankfurt 1967, S. 127. Reinhart Koselleck, "Darstellung, Ereignis und Struktur", in: Reinhart Koselleck, Vergangene Zukunft, S.144ff.
Der historische Diskurs: Begriffe und Probleme
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ihren Rahmen geben. Alle diese Ordnungsmuster müssen aber, um historisch wirksam zu sein, nicht nur synchronische Kohärenz, sondern auch diachronische Kontinuität aufweisen und haben so nach unserer Definition Systemcharakter. Man sollte daher lieber von Systemgeschichte sprechen, doch das ist für den historischen Sprachgebrauch ungewöhnlich und könnte zu Mißverständnissen führen, weil man meinen könnte, es handele sich dabei um die Geschichte politischer Systeme. Vielleicht wäre es daher besser, von einer systemtheoretisch angeleiteten historischen Prozeßanalyse zu sprechen. Darauf will auch Koselleck hinaus, wenn er den Vorschlag macht, die "Bewegungsstrukturen" der Geschichte zu untersuchen.14 Doch dieses Wort steht derartig quer zu den Definitionen, über die hier gesprochen worden ist, daß man es nicht zur Weiterverwendung empfehlen kann. Es bringt aber sehr deutlich das Unbehagen gegenüber der allzu statisch konzipierten Strukturgeschichte zum Ausdruck, wie sie von der französischen Schule der Strukturhistoriker betrieben wurde, der jegliche Theorie des historischen Wandels fehlt. Dies ist sozusagen ein angeborener Mangel der rigorosen Strukturgeschichte. Ist man jedoch weniger rigoros, gerät man leicht in das Dilemma, das Sebag im Hinblick auf die marxistische Argumentation charakterisierte: Man spricht in einer strukturalen Sprache über historischen Wandel und betreibt Strukturanalyse mit den Mitteln historischer Berichterstattung. Um statt dessen zu einer systemtheoretisch angeleiteten Prozeßanalyse zu kommen, müssen wir uns zunächst mit einigen Grundbegriffen der Systemtheorie beschäftigen und uns fragen, was sie für den Historiker leisten kann. Die Grundbegriffe
der
Systemtheorie
Die Systemtheorie hat viele Väter und ist aus verschiedenen Wissenschaften hervorgegangen. Der Biologe Ludwig von Bertalanffy schuf eine "General Systems Theory", der Soziologe Talcott Parsons bemühte sich um eine "General Theory of Action". In Deutschland hat sich in neuerer Zeit der Soziologe Niklas Luhmann mit der Systemtheorie beschäftigt und versucht, sie mit der Handlungstheorie zusammenzufügen. Zentrale Grundbegriffe der Systemtheorie sind "Komplexität", "Differenzierung", "Kontingenz" und "Emergenz". Einfache Systeme oder Quasi-Systeme haben einen geringen Komplexitätsgrad und sind dementsprechend auch nicht sehr differenziert. Mit steigendem Komplexitätsgrad nimmt die interne Differenzierung zu. Diese Differenzierung dient der "Reduktion von Komplexität". Unter dieser Koselleck, Darstellung, Ereignis und Struktur, S. 157.
58
Perspektiven einer historischen Hermeneutik
Reduktion verstehen die Systemtheoretiker keine Minderung des Komplexitätsgrades, sondern eine Art der Vernetzung, die es erlaubt, Wege durch das Labyrinth der Komplexität zu finden. Während bei einfachen Systemen die Vernetzung der Systemteile viele Querverbindungen zuläßt, tritt bei komplexen Systemen eine Hierarchisierung ein, bei der die Beziehung der Teile zur Gesamtheit des Systems den Vorrang hat. In komplexen Gesellschaften zum Beispiel kennt nicht mehr jeder jeden, sondern die Beziehungen verlaufen in differenzierten und formalisierten Bahnen. In sozialen Systemen erfordert die operative Komplexität die sogenannte Selbstthematisierung, mit anderen Worten,das System muß Orientierungshilfen hervorbringen, um überhaupt bestehen zu können. Während "Komplexität" die Binnenstruktur des Systems betrifft, bezieht sich "Kontingenz" auf seine Außenbeziehungen. Doch lassen sich die Bezeichnungen "komplex" und "kontingent" auch auf Wechselbeziehungen anwenden. Eine "kontingente" Beziehung ist mehr oder weniger frei und unvorherbestimmt und in diesem Sinne auch unberechenbar. Helmut Willke sagt dazu:"Es gibt Beziehungen von hoher Kontingenz und geringer Komplexität und umgekehrt: so kann man die anfänglichen Beziehungen zwischen Robinson und Freitag als extrem wenig komplex und hochkontingent bezeichnen". 15 Systeme in ihrer Gesamtheit haben Qualitäten, die über die Summe (Aggregation) der Teile hinausgehen. Das Hervorbringen von neuen Systemqualitäten wird "Emergenz" genannt. Dieser Begriff ist geradezu der Schlüsselbegriff der Systemtheorie. Emergenz bedeutet Systemveränderung durch die Fusion von Systemteilen oder Untersystemen. Das Wort "Emergenz" gibt gerade in diesem Zusammenhang leider zu Mißverständnissen Anlaß, denn man könnte denken, es handele sich nur um ein "Auftauchen" bereits zuvor angelegter Eigenschaften, während doch gerade die absolute Innovation durch diesen Begriff bezeichnet werden soll. Wie wir noch sehen werden, spricht Konrad Lorenz von "Fulguration", also von einem "Aufblitzen" des Neuen, um diese Art der Systemveränderung zu bezeichnen. Der Historiker, der nicht nur an den Gesetzmäßigkeiten der Systemerhaltung interessiert ist, sondern den historischen Wandel zu erklären versucht, wird sich diesen Theorien der Systemveränderung zuwenden.
Helmut Willke, Systemtheorie, Stuttgart 1982, S. 21.
Der historische Diskurs: Begriffe und Probleme
Wie vollzieht sich
59
Systemveränderung?
In seinem Buch "Evolutionäre Erkenntnistheorie" weist Gerhard Vollmer darauf hin, daß es aus dem Bereich der Naturwissenschaften, aber auch aus der Gestaltpsychologie bekannt sei, daß es durch die Vereinigung von Untersystemen zu völlig neuen Systemeigenschaften kommen könne. 16 Vollmer erwähnt dabei den Begriff der "Fulguration", mit dem Konrad Lorenz das plötzliche Auftreten solch neuer Systemeigenschaften benannt hat. In diesem Zusammenhang betont Vollmer aber auch den Begriff der Doppelfunktion, der für die Evolutionstheorie von besonderer Bedeutung ist.17 Bevor man auf solche Doppelfunktionen aufmerksam wurde, hat man in der Evolutionstheorie mit dem unglücklichen Begriff der "preadaptive advances" 18 gearbeitet, um zu erklären, warum sich plötzlich neue sinnvolle Kombinationen von Organen ergaben. Erst in neuerer Zeit wurde festgestellt, daß es viele Doppelfunktionen von Organen gibt, die in einen neuen Funktionszusammenhang auf überraschende Weise "umfunktioniert" werden können. (Beispiele: Bienenstachel, Gelenkknochen zum Gehör etc.). Derartige Doppelfunktionen lassen sich auch im Bereich der Geschichte beobachten. Christian Meier hat mit seiner Schilderung der Bedeutung des Orakels von Delphi als Kommunikationszentrum der griechischen Demokratie ein anschauliches Beispiel dafür gegeben, freilich ohne sich dabei auf die biologischen Beispiele von Doppelfunktionen zu beziehen.19 Delphi war eine religiöse Stätte, die zum geistigen Zentrum des polypolitischen Systems der Griechen wurde, das den ganzen Mittelmeerraum umfaßte. Es wurde zum Informationsspeicher und Ausgangspunkt von Ratschlägen. Delphi trug zur Selbstthematisierung des komplexen griechischen Systems bei, wie der Systemtheoretiker sagen würde. Aus einer anderen Richtung, nämlich aus der aus der Physik hervorgegangenen Synergetik (Hermann Haken), kommen weitere Anregungen zur Deutung von Prozessen der Systemveränderung. Hier spielen die Begriffe "Fluktuation" und "Symmetriebruch" eine Schlüsselrolle. "Kritische Fluktua16
1
9
Gerhard Vollmer, Evolutionäre Erkenntnistheorie, Stuttgart 1981, S. 82. Gerhard Vollmer, Was können wir wissen? Band 2: Die Erkenntnis der Natur, Stuttgart 1986, S. 24ff. Niklas Luhmann, "Geschichte als Prozeß und die Theorie sozio-kultureller Evolution", in: Karl Georg Faber u. Christian Meier, Theorie der Geschichte, Band 2: Historische Prozesse, München 1978, S. 433. Christian Meier, "Autonomprozessuale Zusammenhänge in der Vorgeschichte der griechischen Demokratie", in: K.G. Faber u. C. Meier (Hg.), Theorie der Geschichte, S. 221 ff.
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Perspektiven einer historischen Hermeneutik
tion" nennt Hermann Haken das Stadium eines Selbstorganisationsprozesses, in dem verschiedene Ordnungsparameter im Wettbewerb miteinander stehen, und es noch nicht klar ist, welcher sich durchsetzen wird.20 Erst der Symmetriebruch bringt die Entscheidung für einen Ordnungsparameter, der dann alle Bestandteile des jeweiligen Systems "versklavt", d.h. ihnen die Richtung vorschreibt. Die bereits erwähnte "Fulguration" kann synergetisch näher bestimmt werden, indem man "Fluktuation" und "Symmetriebruch" untersucht. "Fluktuation" bedeutet Instabilität, in dieser Phase ist die Richtung, in die der Symmetriebruch erfolgen wird, noch ungewiß. Unter diesem Gesichtspunkt lassen sich auch die systemtheoretischen Begriffe "Kontingenz" und "Emergenz" aufeinander beziehen. Die "kritische Fluktuation" ist sozusagen eine höchst kontingente Phase, in der "Emergenz" zustandekommt. Helmut Willke weist in seiner sozialwissenschaftlichen Systemtheorie darauf hin, daß einzelne Handlungen in einem komplexen System gar nichts bewirken und zieht daraus die Konsequenz, daß man effektive Handlungen jeweils auf dem "Emergenzniveau" ansetzen muß.21 Mit anderen Worten, man kann nur dann wirkungsvoll handeln, wenn man in einer Phase der "kritischen Fluktuation" buchstäblich den Ausschlag gibt. Die Entstehung von neuen Systemeigenschaften bei der Synthese von Sub-Systemen legt die Frage nahe, ob dieser Prozeß sich nicht im Sinne der Hegeischen Dialektik fassen ließe, bei der These und Antithese in der Synthese "aufgehoben" (im doppelten Sinne des Überwindens und Aufbewahrens) sind. Doch diese Dialektik zwingt uns, in Gegensatzpaaren zu denken, während die Synergetik in dieser Hinsicht viel umfassender ist. Es muß freilich eingestanden werden, daß die verschiedenen hier vorgestellten Theorieansätze - Systemtheorie, Synergetik, Theorie der Doppelfunktion - noch integriert werden müssen und deshalb im Vergleich mit dem großen Entwurf der Hegeischen Dialektik noch recht unvollkommen anmuten. Doch der Hegelsche Entwurf mündet in eine deterministische Geschichtsphilosophie, während die hier genannten Theorieansätze dazu dienen sollen, historischen Wandel in offenen Systemen zu begreifen. Es kommt dabei auf eine Beachtung der Instabilitätspunkte und der kritischen Fluktuation an. Die nachträgliche Bereinigung historischer Prozesse durch ihre Interpreten verdeckt die Instabilitätspunkte, statt sie hervorzuheben. Hermann Haken, der versucht hat, seine Erkenntnisse auch auf die Analyse von Revolutionen und ähnlicher Vorgänge historischer Systemveränderungen anzuwenden, sagt in bezug auf die Prognose solcher Ereignisse: "Wie wir immer wieder an 2 0 21
Hermann Haken, Erfolgsgeheimnisse der Natur, Stuttgart 1981, S. 70, 148f. Willke, Systemtheorie, S. 110.
Der historische Diskurs: Begriffe und Probleme
61
den einzelnen Beispielen der Synergetik erkennen konnten, ist die weitere Entwicklung eines Systems an seinen Instabilitätspunkten oft nicht mehr eindeutig voraussagbar. Hier können bereits kleine Fluktuationen den entscheidenden Ausschlag geben." 22 Das gilt entsprechend nicht nur für die Zukunftsprognose, sondern auch für die Analyse vergangener Entscheidungen, deren Konsequenzen bekannt sind. Hier neigt man dazu, die "kritische Fluktuation" zu übersehen und die Richtung des Symmetriebruchs für notwendig zu halten. Um in der Terminologie Hakens zu bleiben: Der "Ordner", der sich durchgesetzt hat, "versklavt" nicht nur das jeweilige System, sondern auch den Historiker, der es analysiert, obwohl es dessen Aufgabe sein sollte, die "Fluktuation" zu orten und die Alternativen des "Symmetriebruchs" zu erkennen. Das Prinzip
"Chaos"
Der Begriff der "kritischen Fluktuation" verlangt nach einer Erklärung der Bedingungen, unter denen diese auftreten kann. Damit beschäftigt sich die Chaos-Theorie, die in der Mathematik und in den Naturwissenschaften entwickelt worden ist.23 Diese Theorie zeigt, wie aus Ordnung Unordnung und aus dieser wiederum Ordnung entstehen kann und hebt hervor, daß auf diese Weise die Möglichkeit zur schöpferischen Innovation erhalten bleibt. Unter bestimmten Bedingungen, die mit Hilfe der "Chaos-Mathematik" sogar berechnet werden können, generieren Systeme wilde Unordnung, die dann wieder zum Ausgangspunkt neuer Selbstorganisation wird. In diesem Zusammenhang kann das Phänomen der Rückkopplung (feedback), das aus der Reglertechnik als systemerhaltend bekannt ist, sogar zu einem geradezu explosiven Anstieg von Unordnung führen. Anschauliche Experimente hierzu kann man machen, wenn man eine an einen Fernseher angeschlossene Videokamera auf den Bildschirm richtet. Die Chaos-Theorie spricht davon, daß man Systeme experimentell vom Gleichgewicht ins Nichtgleichgewicht treiben kann und daß sich dann an gewissen Stellen chaotische Reaktionen ergeben. Nun hat sich die Physik bisher sowohl in der Mechanik als auch in der Thermodynamik auf Gleichgewichtszustände konzentriert, die im Grunde Grenzfälle sind, während das Nichtgleichgewicht vorherrscht und nur aus dem Nichtgleichgewicht Neues hervorgehen kann. Dieses Neue geht aus dem Chaos durch Selbstorganisation hervor, die auf den verschiedenen Ebenen jedoch anderen Gesetzen folgt. Diese Gesetze widersprechen sich Hermann Haken, Erfolgsgeheimnisse der Natur, S. 180. Siehe hierzu Paul Davies, Prinzip Chaos. Die neue Ordnung des Kosmos, München 1988.
62
Perspektiven einer historischen Hermeneutik
nicht. Doch lassen sich die Gesetze höherer Ebenen nicht auf die der jeweils niederen Ebenen reduzieren. Aber die Gesetze der höheren Ebene können den Rahmen für die Entwicklungsbedingungen von Vorgängen auf der niederen Ebene bestimmen. Wenn man dies in Rechnung stellt, muß man aber auch einen anderen Kausalitätsbegriff akzeptieren, der über den alten von der klassischen Mechanik geprägten Begriff hinausgeht. Auf diese Konsequenz wurde bereits bei der Behandlung des Kausalitätsbegriffs hingewiesen. Wenn man die "klassische" Kausalität in diesem Sinne als "Aufwärtsverursachung" bezeichnet, so kann man das Einwirken von Phänomenen der höheren Ebene auf die niedere Ebene als "Abwärtsverursachung" bezeichnen. Beide Arten der Verursachung schliessen sich nicht gegenseitig aus. Ein erweiterter Kausalitätsbegriff umfaßt sie beide. Die Abwärtsverursachung wird übrigens auch als "emergenter Interaktionismus" bezeichnet, womit auf den Emergenzbegriff der Systemtheorie verwiesen wird. Eine interessante Verbindung von System- und Chaos-Theorie hat George Soros in seiner sogenannten Reflexivitätstheorie vorgeschlagen, auf die wir im 15. Kapitel zurückkommen werden. Hierbei geht es um Rückkopplungseffekte beim Denken und Handeln der Menschen, die bei ihren Entscheidungen nie über vollständige Kenntnisse des jeweiligen Zusammenhangs verfügen, diesen dann durch ihre Handlungen beeinflussen, wobei sie wiederum die Wirkungen ihres Tuns nie völlig abschätzen können. Es vollziehen sich dabei ständig Lernprozesse, die korrigiert werden müssen, weil man natürlich nicht unbedingt das jeweils "Richtige" lernt. Soros hat diese Theorie zunächst aus der teilnehmenden Beobachtung am Geschehen der Finanzmärkte entwickelt, bei dem aus den unzähligen Einzelentscheidungen der Teilnehmer zusammengesetzten Marktgeschehens nicht ein stetiges Gleichgewicht erzielt wird, sondern im Gegenteil durch Reaktionen und Antizipationen immer wieder Ungleichgewichtszustände entstehen, die sich zu chaotischen Schwankungen aufschaukeln können, dann aber wieder in eine Korrekturphase einmünden. Die Tatsache, daß es sich hier um bewußte Handlungen denkender Menschen handelt und nicht um die Reaktionen von Atomen und Molekülen, bewirkt nicht etwa eine Minderung der Unordnung, sondern eher noch heftigere Auf- und Abschwünge in Fluktuationsphasen, weil diese durch Reflexivität nicht gebremst, sondern verstärkt werden. Freilich ist auch das Potential bewußter Korrektur gegeben und das Wissen um die Möglichkeiten der Einwirkung auf dem "Emergenzniveau". Was Soros freilich noch nicht genügend berücksichtigt, ist die Kompartmentalisierung komplexer Systeme, d.h. selbst bei chaotischen Schwankungen in einem Bereich (z.B. Börse) können Institutionen in anderen Bereichen (z.B.
Der historische Diskurs: Begriffe und Probleme
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Banken, Staatshaushalt) stabil bleiben. Es bleibt zu ergründen, wie Einzelbereichsfluktuationen auf andere Bereiche übergreifen - und umgekehrt - inwieweit Stabilitäten in gewissen Bereichen Einfluß auf den Verlauf von Krise und Korrektur in anderen Bereichen nehmen. Was leistet die Systemtheorie
für den
Historiker?
Die Gefahr liegt nahe, daß sich Historiker die zuvor dargestellte Begrifflichkeit nur aneignen, um neue "Metaphern für Geschichte" zu finden, statt sie für eine Theorie des historischen Wandels zu nutzen. Bisher bieten die zuvor genannten Theoriebereiche auch nur Analogien an, die sich nicht unmittelbar auf die höchst komplexen sozialen Systeme, mit denen es der Historiker zu tun hat, übertragen lassen. Der große Entwurf von Niklas Luhmann24, der den Begriff "Sinn" in den Mittelpunkt seiner Betrachtungen stellt, wird Historiker nicht unbedingt überzeugen. Stattdessen wäre für die historische Prozeßanalyse der Emergenz-Begriff der Systemtheorie hervorzuheben. Dabei wäre der Begriff der "kritischen Fluktuation" und der im oben beschriebenen Sinne erweiterte Kausalitätsbegriff zu beachten. Die "Abwärtsverursachung" schafft Rahmenbedingungen, die sozusagen den Horizont des jeweils Möglichen abstecken. Sie bestimmen, welche kontingenten Ereignisse relevant werden können und welche irrelevant bleiben. Ferner wäre die von Soros vorgeschlagene Reflexivitätstheorie weiterzuentwickeln und zwar im Hinblick auf die Wechselwirkungen von Fluktuationen und Beharrungsmomenten in verschiedenen Systembereichen. Dies ist nämlich das zentrale Problem von Analysen des historischen Wandels, denn dem Historiker geht es um die jeweiligen Zusammenhänge und nicht nur um Prozesse in kompartmentalisierten Einzelbereichen. Ferner hat der Historiker die Aufgabe, eben das wettzumachen, was den Handelnden fehlt, die weder den Stand der Dinge zu ihrer Zeit noch die Wirkungen ihrer Entscheidungen voll überblicken können. Der Historiker hat diesen Überblick, muß aber zugleich die Befindlichkeit der Handelnden im Auge behalten, um ihnen nicht ein Wissen und eine Voraussicht zu unterstellen, die sie nicht haben konnten. Um ihm dafür den Blick zu schärfen, sind die hier angeführten Theorien sehr nützlich. Er wird dann auch die Einseitigkeiten der Stufentheoretiker vermeiden können, die notwendigerweise jeweils einen Bereich herausgreifen und alle anderen Bereiche als abhängige Variablen ansehen.
Niklas Luhmann, Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt (2. Aufl.) 1985.
Zweiter Teil: Theorien des historischen Wandels
5. Stufentheorien: Vico, Marx, Rostow 5.1. Die "Neue Wissenschaft" des Giambattista Vico Stufentheorien haben schon im Altertum die Menschen fasziniert; da waren es freilich oft eher Verfallstheorien als Fortschrittstheorien. Ein Musterbeispiel ist die alte indische Theorie von den vier Weltaltem Satyayuga, Tretayuga, Dwaparyuga, Kaliyuga. Das erste, das Weltalter der Wahrheit, ist das Goldene Zeitalter, das letzte, in dem wir leben, ist das schwarze, das böse Zeitalter. Da es aber einen Zyklus der Weltalter gibt, kommt irgendwann einmal wieder ein Satyayuga. Das Verhalten der Menschen wird durch das Zeitalter, in dem sie leben, bestimmt, sie selbst können keinen Einfluß darauf nehmen. Die neueren Stufentheorien der westlichen Welt unterscheiden sich grundlegend von diesen alten Vorstellungen. Alle neuzeitlichen Stufentheorien des historischen Wandels haben folgende Prämissen: 1) Der Mensch macht die Geschichte. 2) Er tut dies nicht, indem er einen bewußten Plan verwirklicht, sondern infolge der Auswirkungen seiner Handlungen, die oft im Widerspruch zu seinen Zielen stehen. 3) Er kann nichtsdestoweniger Einsicht in den historischen Prozeß erlangen. 4) Dieser Prozeß vollzieht sich nach bestimmten Gesetzen, die zwar nicht das individuelle Leben determinieren, wohl aber die Abfolge gesellschaftlicher Zustände. 5) Der Prozeß ist dialektisch, er verläuft nicht linear, sondern ist durch Umschläge von einem Zustand in einen anderen gekennzeichnet. 6) Es gibt einen Mechanismus oder Motor, der den historischen Prozeß vorantreibt. 7) Die Wirkungsweise dieses Motors läßt sich mit einigen Grundregeln beschreiben, die als solche konstant bleiben. Alle diese Prämissen gelten bereits für den ersten großen Entwurf einer neuzeitlichen Stufentheorie, den Vico in seiner "Neuen Wissenschaft" vorgelegt hat.
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Theorien des historischen Wandels
Vicos "Szienza Nuova" Vico wurde 1668 in Neapel geboren und starb dort 1744, sein Hauptwerk "Principi d'una scienza nuova d'intorno alla commune natura delle nazioni" erschien 1725.1 Er wandte sich gegen das von naturrechtlichen Ideen geprägte Menschen- und Geschichtsbild der Aufklärung und die Vorstellungen von einem linearen Fortschritt der Menschheit. Stattdessen entwarf er eine Stufentheorie, bei der freilich die Entwicklung letztlich wieder zur Degeneration und damit zum Anfang eines neuen Zyklus führen mußte. Er betont, daß der Mensch die von ihm gemachte historische Welt erkennen kann und rekonstruiert die Anfange der Menschheit, indem er auf drei Gemeinsamkeiten aller Völker und aller Zeiten hinweist: Sie haben alle eine Religion, sie schließen Ehen und sie bestatten ihre Toten. Daraus leitet er die Prizipien seiner neuen Wissenschaft ab: "Da ihre Prinzipien die göttliche Vorsehung, die Mäßigung der Leidenschaften durch die Ehen und die Unsterblichkeit der menschlichen Seelen durch die Begräbnisse sind, und da das Kriterium, das sie anwendet, darin besteht, in dem, was von allen oder der Mehrzahl der Menschen als gerecht empfunden wird, die Regel des gesellschaftlichen Lebens zu sehen, [...] müssen diese Prinzipien die Grenzen der menschlichen Vernunft bilden." 2 Vico postuliert übrigens einen Gemeinsinn des Menschengeschlechts, der durchaus mit dem individuellen Streben nach Eigennutz koexistiert. Die "Ricorsi" und die Tropen Im Anfang wurde die Menscheit von einer primitiven aber starken sinnlichen Einbildungskraft geprägt, und die Dichtertheologen schufen göttliche Mythen, schreibt Vico. Er bringt dann eine ungewöhnliche Definition der menschlichen Willensfreiheit: "Denn die Menschen begannen [...], die Freiheit des menschlichen Willens zu üben, die darin besteht, die Bewegungen des Körpers in Schranken zu halten [...]. Aus ihm heraus entsagten die Giganten ihrer tierischen Gewohnheit, im großen Wald der Erde umherzuirren und gewöhnten sich an eine ganz entgegengesetzte Sitte, nämlich für lange Zeit verborgen und ansässig in ihren Höhlen zu bleiben."3 Aus dieser verborgenen Seßhaftigkeit entstand sowohl die Idee des Besitzes als auch die Ehe im 1
2 3
Giambattista Vico, Die Neue Wissenschaft von der gemeinschaftlichen Natur der Nationen, Frankfurt 1981. Ibid., S. 46. Ibid., S. 58f.
Stufentheorien: Vico, Marx, Rostow
67
Sinne einer häuslichen Gemeinschaft. Ferner entwirft Vico eine Geistesgeschichte der Entwicklung der frühen Menschheit anhand der vier Typen von Redewendungen (Tropen). Die Metapher ist die erste Stufe, jede Metapher ist sozusagen ein Mikro-Mythos, die Metonymie entstand, als man noch nicht verstand, die Formen und Qualitäten von den Subjekten zu abstrahieren, und die Synekdoche bezeichnet die Fähigkeit, vom Besonderen zum Allgemeinen überzugehen. Die Ironie aber ist ein späteres Phänomen: "Die Ironie konnte sicherlich nicht vor den Zeiten der Reflexion beginnen; denn sie wird aus dem Falschen gebildet, kraft einer Reflexion, die sich die Maske der Wahrheit vorhält."4 Die Entstehung
von
Herrschaftsgewalt
Vico ging es aber nicht nur um die Entwicklung des menschlichen Geistes, sondern vor allem um die Entstehung von Herrschaftsgewalt. Diese ergab sich auf der ersten Stufe dadurch, daß sich die noch im Freien herumschweifenden Menschen unter den Schutz der Väter in den Höhlen stellten und sich so ein Klientelverhältnis ausbildete. Daraus wurde im Laufe der Zeit ein Herrschaftsverhältnis. Die Klienten wurden unterdrückt und lehnten sich auf, die Väter in den Höhlen verbündeten sich miteinander. Es entstand ein Adel, der sich wiederum differenzierte und schließlich entstand das Königtum. Doch die Plebejer bemühten sich, es dem Adel gleichzutun und so entstand die Volkssouveränität, in der es nach Vicos Ansicht die Römer am weitesten brachten, weshalb sie dann auch die Welt regierten. Schließlich degenerierten die Volksstaaten und mit ihnen die Philosophie, die sich dem Skeptizismus zuwandte. In diesem Stadium der Degeneration müssen die Völker entweder aus sich selbst heraus einen Monarchen wie den Augustus hervorbringen oder aber sich von einem auswärtigen Monarchen unterwerfen lassen. Wenn aber auch das nicht geschieht, so verfallen die Menschen in eine zweite Barbarei, der sie nur nach langer Zeit wieder entrinnen können, zumal diese zweite Barbarei nicht wild und großherzig ist wie die erste, sondern "von reflektierter Bosheit" gekennzeichnet ist. Erst wenn sie wieder einfach und fromm geworden sind, finden die Menschen den Weg zu einem neuen Aufstieg. Vico behauptet, daß diese Welt aus einem Geist hervorgegangen ist, der jene beschränkten Zwecke der Menschen seinen höheren Zwecken dienstbar gemacht hat.
Vico, Die Neue Wissenschaft, S. 72.
68
Theorien des historischen Wandels
"Die Menschen wollen ihre tierische Wollust befriedigen und ihre Kinder sich selbst überlassen, und sie machen daraus die Keuschheit der Ehen, aus der die Familien hervorgehen. Die Väter wollen ihre väterliche Gewalt über die Klienten hemmungslos ausüben, und sie unterwerfen sie dabei der staatlichen Gewalt, aus der die Gemeinwesen entstehen. Die herrschenden Adelsstände wollen die Herrenfreiheit über die Plebejer mißbrauchen, und sie geraten dabei unter die Herrschaft der Gesetze, die die Volksfteiheit ausmachen. Die freien Völker wollen sich von der Fessel ihrer Gesetze lösen, und sie begeben sich in die Abhängigkeit von Monarchen. Die Monarchen wollen ihre Macht sichern, indem sie ihre Untertanen durch alle Laster der Sittenlosigkeit erniedrigen, und sie bereiten sie so darauf vor, als Sklaven das Joch stärkerer Nationen zu ertragen. Die Nationen wollen sich selbst zerstreuen, und sie retten so ihre Überbleibsel in die Einöden, aus denen sie wie der Phönix neu erstehen."5 Im Einzelnen mutet Vicos Theorie antiquiert an, doch sein Grundgedanke eines Geistes, der die Menschen, die ihre engen eigensüchtigen Zwecke verfolgen, auf ein höheres, ihnen verborgen bleibendes Ziel hinlenkt, taucht bei Kant als "List der Vernunft" und bei Adam Smith als jene "unsichtbare Hand" wieder auf, die den eigensüchtigen homo oeconomicus in einer freien Gesellschaft zum Träger des allgemeinen Wirtschaftswachstums macht. In dieser Tradition steht auch Marx, der freilich der historischen Entwicklung keinen Geist und keine "List der Vernunft" unterstellt, sondern das Wirken rein materieller Kräfte annimmt. Für Vicos Theorie ist übrigens die Annahme eines "Geistes" auch nicht zwingend notwendig, da er eine dialektische Eigendynamik aufzeigt. Der Prozeß
des historischen
Wandels
Ein anderer Grundgedanke Vicos, der sich auch bei Marx wiederfindet, ist der des Umschlags von Quantität in Qualität. Der Wandel vollzieht sich zunächst kumulativ, bis sich ein Instabilitätspunkt ergibt, aus dem neue Organisationsformen hervorgehen. Die Väter unterdrücken die Klienten bis diese rebellieren..., das Volk mißbraucht seine Freiheit, verfällt in Sittenlosigkeit, und schließlich erhebt sich ein Monarch, der eine neue Ordnung einVico, Die Neue Wissenschaft, S. 89.
Stufentheorien: Vico, Marx, Rostow
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führt. Ferner beansprucht Vico wie später auch Marx universale Geltung für seine Theorie; sie soll für alle Völker gelten, wenn auch seine Beispiele sich auf die mediterrane Welt beschränken. Wie wir noch sehen werden, machte Marx freilich durch die Postulation einer "asiatischen Produktionsweise" eine Ausnahme in Bezug auf die Gleichförmigkeit der Entwicklung aller Völker. Schließlich ist die Irreversibilität der Stufenabfolge eine Grundannahme der Theorien von Vico und Marx. Es führt kein Weg zurück von der Monarchie zur Volksfreiheit etc., es ist lediglich eine völlige Degeneration und ein Neubeginn auf der ersten Stufe in Vicos Theorie denkbar. Er muß offenbar mit einem völligen Verlust der Erinnerung an frühere Entwicklungen verbunden sein, weshalb Vico auch sehr lange Zeiträume der Degeneration annimmt, die einem Neubeginn vorangehen müssen. Der Motor der Geschichte ist für Vico das sich elementar sinnlich manifestierende Streben nach Glauben, Sittlichkeit und Unsterblichkeit, das sich zuerst im Mythos, in der Institution der Ehe und in der Bestattung der Toten manifestiert. Von hier aus ist immer wieder ein Neubeginn möglich. Bei Marx ist der Motor der Geschichte der Klassenkampf. Nach der Errichtung der Diktatur des Proletariats und einer klassenlosen Gesellschaft fällt dieser Motor aus, damit ist auch ein Neubeginn unmöglich. Die Theorie von Marx ist eschatologisch, die von Vico zyklisch. Wenn hier auf gewisse Ähnlichkeiten der Grundannahmen bei den Stufentheorien von Marx und Vico hingewiesen wurde, so soll dies nicht bedeuten, daß es einen direkten wirkungsgeschichtlichen Zusammenhang gegeben hat. Vico geriet im 18. Jahrhundert bald in Vergessenheit und wurde erst im Laufe des 19. Jahrhunderts wiederentdeckt. Kant und Hegel wurden nicht von Vico beeinflußt. Die "List der Vernunft" ging nicht auf Vicos "Vorsehung" zurück. Die Ähnlichkeit der Argumentation ergibt sich zwangsläufig, wenn man annimmt, daß der Mensch die Geschichte macht, zugleich aber der einzelne Mensch nur seinen unmittelbaren Interessen folgt, so wie er sie sieht und dabei aber doch eine gewisse Ordnung entsteht, also eine Selbstorganisation stattfindet, die sich aus der Zwecksetzung der einzelnen Menschen nicht erklären läßt. Vicos Theorie im Licht späterer
Kommentare
Vicos Theorie war einerseits seiner Zeit voraus, sie stand quer zum linearen Fortschrittsdenken der Aufklärung und wurde daher von seinen aufgeklärten Zeitgenossen nicht rezipiert, andererseits war diese Theorie besonders in ihrer inhaltlichen Gestaltung durchaus zeitgebunden und wirkte daher bei
70
Theorien des historischen Wandels
ihrer späten Wiederentdeckung besonders im Hinblick auf den zyklischen Neubeginn, den Vico postulierte, seltsam archaisch. Doch bei genauerer Betrachtung erweisen sich Vicos Ideen als erstaunlich "modern". In seinem Buch "Arbeit am Mythos" sagt Hans Blumenberg dazu: "Indem Vico sich dem cartesischen Programm des absoluten Anfangs gegen alles Bisherige als mögliche Vorbelastung widersetzte, vermied er das ungelöste Hauptproblem der Aufklärung, das ihrer geschichtlichen Selbsterfassung. Sie beansprucht, einen neuen Anfang kraft der natürlichen Vernunft gemacht zu haben und diesen Faden nicht wieder verlieren zu können. Aber auf ihr lastet, nun auch begründen zu müssen, wie es dieselbe Vernunft dahin kommen lassen konnte, daß ein radikaler Geschichtsschnitt überhaupt notwendig wurde. Wenn Vernunft eine Konstante der menschlichen Ausstattung ist, auf die man sich fortan sollte verlassen können, läßt sich nur schwer einsehen, weshalb sie nicht eine Konstante der menschheitlichen Geschichte seit jeher gewesen war." 6 Siegfried Kracauer würdigt Vico auf ähnliche Weise: "So stellt sein großes und bizarres Werk (welches übrigens vieles an moderner Methodik historischer Forschung vorwegnimmt) unter anderem einen gültigen Versuch dar, den transzendentalen Satz von der Vorsehung mit der immanenten Notwendigkeit des gesamten historischen Prozesses zu versöhnen." 7 Kracauer zieht Vico auch als ein Beispiel für solche Denker heran, die nicht vom "Zeitgeist" geprägt, sondern weitgehend von ihm unabhängig waren. Er sagt dazu: "Vico ist ein hervorragendes Beispiel für chronologische Exterritorialität; [..,]."8 Mit diesem ungewöhnlichen Ausdruck meint er, daß sich der Denker nicht in eine lineare ideengeschichtliche Zeitfolge integrieren läßt. Vico widersteht jedoch auch den Versuchen einer rückschauenden Verklammerung mit angeblich verwandten Geistern. So wurde er nach seiner Wiederentdeckung oft in einem Atemzug mit Herder genannt, weil beide sich gegen den linearen Fortschrittsglauben der Aufklärung wandten. Herder entwarf zudem auch eine Stufentheorie, die auf den ersten Blick etwas mit Vicos Theorie gemeinsam zu haben scheint. Doch Herders Theorie ist eine Theorie des Aufstiegs nach der Analogie von Kindheit, Jugend und Mannesalter, die von den Ägyptern über die Griechen zu den Römern führt. Konsequent weitergeführt müßte dann eigentlich Greisenalter und Tod kommen, doch Herder springt von der einen metaphorischen Analogie zur anderen und vergleicht den weiteren Gang der Geschichte mit einem Baum, der sich vielfältig verästelt. Die von der Forschung bisher nicht gelöste Frage, ob Herder Vicos 6 7 8
Hans Blumenberg, Arbeit am Mythos, Frankfurt 1981, S. 415. Siegfried Kracauer, Geschichte - Vor den letzten Dingen, Frankfun 1973, S. 48. Ibid., S. 86.
Stufentheorien: Vico, Marx, Rostow
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Werk gekannt hat oder nicht, kann meines Erachtens schon durch den Vergleich ihrer Theorien verneint werden. Wenn man Vicos Theorie im Sinne der Systemtheorie und der Chaostheorie umformuliert, so besagt sie, daß immer wieder bestimmte Tendenzen, die sich aus eigennützigen Motiven der Menschen ergeben, das jeweilige System aus dem Gleichgewicht treiben, so daß sich Chaos ergibt, aus dem neue Prozesse der Selbstorganisation hervorgehen. Diese sehr abstrakte Formel könnte man auch zur Charakterisierung der Stufentheorie von Marx verwenden, über die anschließend berichtet werden soll.
5.2. Karl Marx: Die Dialektik
der
Klassenkämpfe
Wie bereits bei der Darstellung der Stufentheorie Vicos gesagt wurde, muß man einen Mechanismus oder Motor annehmen, der den historischen Prozeß vorantreibt. Für Marx ist der Klassenkampf dieser Motor. In jeder Epoche der Geschichte stehen sich zwei Klassen antagonistisch gegenüber. Der Kampf endet jeweils mit dem Sieg einer Klasse, die sich die Staatsmacht aneignet. Der Kampf beginnt erneut, weil die siegreiche Klasse einen neuen Antagonisten hervorruft. Der Prozeß verläuft dialektisch, seine Grundlage ist materialistisch. Marx bemühte keinen Geist wie Vico und Hegel, er behauptete stolz, Hegel vom Kopf auf die Füße gestellt zu haben und behielt dessen Dialektik explizit bei. Er machte sie zum Grundprinzip seiner Modellkonstruktionen. Die Dialektik hat bei Hegel und Marx eine Bedeutung, die weit über die ursprüngliche hinausging. In der antiken Philosophie war die Dialektik ein Teil der Eristik, der Kunst des Streitgesprächs. Später bezeichnete man die Regeln der Beweisführung als Dialektik, und diese wurde zu einer Methode, mit der man alles beweisen und alles widerlegen konnte. Hegel betonte dann den Dreischritt von These, Antithese und Synthese, wobei These und Antithese in der Synthese "aufgehoben" wurden. Er verwendete ferner die Analogie der Irreversibilität des Syllogismus (Beispiel: Alle Stühle sind Möbel, aber nicht alle Möbel sind Stühle) und der Irreversibilität der Zeit und begründete damit das Fortschreiten der Vernunft in der Geschichte. Im Rückgriff auf das, was bereits über Logik und Kausalität gesagt worden ist, kann man das dialektische Projekt entweder als unzulässige Verquickung beider Bereiche oder aber im Sinne der Erweiterung des Kausalitätsbegriffs (Aufwärts- und Abwärtsverursachung) beurteilen. Doch handelt es sich hier um eine Erweiterung, die zum Determinismus führt. Der "emergente Interaktionismus" spielt sich hier nicht in einem offenen System ab, sondern in einem
72
Theorien des historischen Wandels
durch die Regeln der "Logik" in seiner Kohärenz und Kontinuität begründeten System. Bei Hegel, der keine Stufentheorie konzipierte, führte dies dazu, daß die jeweils gegenwärtige Situation zugleich die höchste Entwicklungsstufe darstellt. Bei Marx wurde daraus eine sowohl vorwärts als rückwärts gewandte Prophetie, die einen zwangsläufigen Verlauf der Weltgeschichte rekonstruierte und auf eine Endzeit der Geschichte bisheriger Art hinauslief. In dieser Endzeit würden die dem Menschen durch die historische Entwicklung auferlegten Sachzwänge sich sozusagen ad absurdum führen, so daß dann die Geschichte des freien Menschen beginnen kann, weil eine klassenlose Gesellschaft entsteht und der Staat abstirbt, da er nicht mehr als Instrument der herrschenden Klasse gebraucht wird. Der Sachzwang der Akkumulation des Kapitals muß letztlich der kapitalistischen Produktionsweise ein Ende setzen. Der historische Materialismus wird so zur eschatologischen Heilslehre. Der Staat, der Hegel soviel bedeutete, daß er alle staatenlosen Gesellschaften als geschichtslos ansah, wird von Marx nur als Instrument der Unterdrückung gesehen, doch wird er gerade in dieser negativen Form für seine Stufentheorie bedeutsam, denn ohne dieses Instrument funktioniert der Klassenkampf nicht, der der Motor der Geschichte ist. Seine Heilslehre bezieht sich auf die Überwindung des Staates. Wie leitete Marx seine Endzeitlehre aus der Sequenz der Produktionsweisen ab? Um diese Frage beantworten zu können, müssen wir zunächst Marx' Lehre von den Produktionsverhältnissen betrachten. Sie sind nach Marx vom Willen der einzelnen Menschen unabhängige Verhältnisse, die sie eingehen müssen, um die ihrer Gesellschaft zur Verfügung stehenden Produktivkräfte zu nutzen. Die Form der Nutzung dieser Produktivkräfte ist die Produktionsweise, die vom Stand der Technik und von Naturgegebenheiten etc. abhängig ist. Produktionsverhältnisse, die bis zu einem gewissen Punkt der Entfaltung der Produktivkräfte dienen, können dann zu deren Fesseln werden. Es muß deshalb zu einer "Umwälzung" kommen, die auch den rechtlichen und politischen Überbau der Gesellschaft in Mitleidenschaft zieht. Doch Marx behauptete: "Eine Gesellschaftsformation geht nie unter, bevor alle Produktivkräfte entwickelt sind, für die sie weit genug ist, und neue höhere Produktionsverhältnisse treten nie an die Stelle, bevor die materiellen Existenzbedingungen derselben im Schoß der alten Gesellschaft selbst ausgebrütet worden sind." 9 Er behauptete ferner: "In großen Umrissen können asiatische, antike, feudale und moderne bürgerliche Produktionsweisen als progressive Epochen der ökonomischen Gesellschaftsformation be-
Karl Marx/Friedrich Engels, Werke (MEW), Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, Hg., Berlin 1958-1968, Bd. 13, S. 9.
Stufentheorien: Vico, Marx, Rostow
73
10
trachtet werden." Da nun die langfristige Entwicklung der Produktionsweisen und selbst auch noch die Zeitspanne einer Umwälzungsperiode über den Horizont der Menschen geht, und, wie Marx es sagt, das Sein das Bewußtsein und nicht das Bewußtsein das Sein bestimmt, kann man aus den Selbstzeugnissen der Menschen nichts entnehmen, was auf den wahren Verlauf der Geschichte hindeutet, allein historische Quellen, die über die materiellen Gegebenheiten Aufschluß geben, sind für die historische Analyse bedeutsam, geistesgeschichtliche Phänomene sind nur insoweit interessant, als sie den "Überbau" reflektieren. Der Ausnahmezustand:
Die asiatische
Produktionsweise
Ehe wir uns den drei Stufen der antiken, feudalen und bürgerlich-kapitalistischen Produktionsweise zuwenden, müssen wir der seltsamen Kategorie der asiatischen Produktionsweise unsere Aufmerksamkeit widmen. Nach dem obigen Zitat könnte man glauben, daß Marx in ihr eine Vorstufe der antiken Produktionsweise sah und sie damit in seine progressive Stufentheorie einband. Er verwendet sie jedoch eher als eine Residualkategorie, in die er alle jene Gesellschaften einordnet, die sozusagen das Klassenkampfziel nicht erreichen und auf dieser untersten Stufe verharren. Dies gab ihm die Möglichkeit, über alle Gesellschaften hinwegzugehen, die sich nicht in seinem Sinne entwickelten und nicht über den Feudalismus zum Kapitalismus heranreiften. Die asiatische Produktionsweise ist zur statischen Geschichtslosigkeit verdammt. Der asiatische Staat ist despotisch und läßt die Heranbildung von antagonistischen Klassen gar nicht zu. Alles Land wird als Eigentum des Herrschers betrachtet, dadurch kann es kein Privateigentum geben. Diese Ansicht war nicht neu, sie stammte aus der Kriegspropaganda der Griechen gegen die Perser und gehörte zum Traditionsgut europäischer Asieninterpretation, das Marx übernahm. Wie wir später sehen werden, hat Marx im "Kapital" die Charakterisierung der asiatischen Produktionsweise durch die Darstellung der besonderen Arbeitsteilung in der indischen Dorfgemeinschaft ergänzt. Auch diese führte darauf hinaus, daß ein statisches Gleichgewicht erhalten blieb, das keinen Ansatzpunkt zum Klassenkampf und damit zum Übergang von einer Stufe zur anderen bot. Die asiatische Produktionsweise war also nicht eine Vorstufe, sondern eine Kategorie für sich. Die Einführung dieser Residualkategorie erlaubte es Marx, seine Stufentheorie auf Europa zu beschränken. Eine Einbeziehung Asiens in den Verlauf der Weltgeschichte konnte nur durch die Expansion europäischer Herrschaft er10
MEW, Bd. 13, S. 9.
74
Theorien des historischen Wandels
folgen, die mit Gewalt die Kruste der asiatischen Produktionsweise sprengte. In seinen Kommentaren zur britischen Herrschaft in Indien hat Marx dies ausdrücklich festgestellt.11 Diese für die Zeitung "New York Herald Tribüne" geschriebenen Berichte zur Zeit der indischen "Mutiny" von 1857/58 entstanden schon vor der zuvor zitierten Einleitung "Zur Kritik der politischen Ökonomie" von 1859. Mit dieser Identifizierung der asiatischen Produktionsweise als statisch und geschichtslos entfiel auch die Notwendigkeit, den Übergang von dieser zur antiken Produktionsweise zu erklären - er fand eben gar nicht statt. Die einzigen erklärungsbedürftigen Übergänge waren die von der antiken zur feudalen, von dieser zur kapitalistischen und schließlich zum Niedergang des Kapitalismus. Das Problem
des Übergangs
von einer Produktionsweise
zur
anderen
Das Hauptziel, das Marx sich gesetzt hatte, war es, die Wirkungsweise des Kapitalismus zu erklären und abzuleiten, auf welche Weise diese Produktionsweise in ihrem eignen Schöße ihr zwangsläufiges Ende hervorbringt. Verkürzt läßt sich das wie folgt darstellen: Kapitalakkumulation ist das Erfolgsgeheimnis des Kapitalismus; dieses Kapital besteht aus dem Mehrwert der Arbeit der ausgebeuteten Arbeiterklasse. Die Regeln der Kapitalakkumulation führen zwangsläufig zu einer Polarisierung. Der Wettbewerb führt zur Kapitalkonzentration in immer weniger Händen, ländliche und städtische Mittelklassen werden fortschreitend proletarisiert. Schließlich werden die Proletarier klassenbewußt und beseitigen die wenigen Kapitalisten, die ihnen noch gegenüberstehen. Eine ähnliche Polarisierung muß auch bei den Übergängen von einer zur anderen Produktionsweise auf den früheren Stufen erfolgt sein. Marx hat seine Stufentheorie mehrmals skizziert und sie dabei abgewandelt. Die erste Skizze findet sich in seiner Abhandlung über die "Deutsche Ideologie" (1845), in der er sich unter anderem mit der Philosophie von Ludwig Feuerbach (1804 - 1872) auseinandersetzt. Sie ist noch sehr rudimentär und weist nur drei Stufen auf. Er schreibt hier : "Die verschiedenen Entwicklungsstufen der Teilung der Arbeit sind ebensoviel verschiedene Formen des Eigentums; d.h., die jedesmalige Stufe der Teilung der Arbeit bestimmt auch die Verhältnisse der Individuen zueinander in Beziehung auf das Material, Instrument und Produkt der Arbeit."12 In diesem Sinne zählt er 11 12
MEW, Bd. 9, S. 133. MEW, Bd. 3, S. 22.
Stufentheorien: Vico, Marx, Rostow
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dann die folgenden Stufen auf: 1) Stammeseigentum, Sammler und Jäger, erste Ansätze zum Ackerbau. Die Gesellschaft gliedert sich in Stammhäupter, Stammitglieder und Sklaven, wobei Marx behauptet, daß "die Sklaverei in der Familie latent ist" und sich erst allmählich mit der Vermehrung der Bevölkerung entwickelt. 2) Das antike Gemeinde- und Staatseigentum, das namentlich aus der Vereinigung mehrerer Stämme zu einer Stadt durch Eroberung oder Vertrag hervorgeht und bei dem die Sklaverei fortbestehen bleibt. "Die Staatsbürger besitzen nun in ihrer Gemeinschaft die Macht über die arbeitenden Sklaven und sind schon deshalb an die Form des Gemeindeeigentums gebunden." Dieses verfällt in dem Maße, in dem sich Privateigentum an Immobilien entwickelt. Der Gegensatz von Stadt und Land und das Klassenverhältnis von Bürgern und Sklaven ist nun voll ausgebildet. 3) Feudales oder ständisches Eigentum. Während das Altertum von der Stadt geprägt wurde, war das Mittelalter vom Land geprägt. Die Bevölkerung war dünn und verstreut. Der Verfall des römischen Reiches hatte viele Produktivkräfte zerstört. Der Ackerbau war niedergegangen, die Industrie aus Mangel an Absatzchancen verfallen, der Handel eingeschlafen oder aber gewaltsam unterbrochen worden. Der Feudalismus entwickelte sich unter dem Einfluß der germanischen Heeresverfassung. Der feudalen Ordnung auf dem Lande entsprach in den Städten die Organisation der Zünfte. Marx bezeichnet dies als "bornierte Produktionsverhältnisse" und behauptet: "Die Teilung der Arbeit fand in der Blüte des Feudalismus wenig statt." Uber den Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus spricht Marx in der "Deutschen Ideologie" noch nicht. Von der asiatischen Produktionsweise ist ebenfalls noch nicht die Rede. Der von ihm behauptete Mangel an Arbeitsteilung in der Periode des Feudalismus zeigt an, daß dieser Faktor noch nicht die zentrale Rolle spielt, die er ihm später beimißt. Ebensowenig spürt man etwas von dem Motor, der die Geschichte von einer Stufe zur anderen vorantreibt und die neuen Produktionsweisen jeweils im Schöße der alten heranreifen läßt. Das Axiom, daß das Sein das Bewußtsein bestimmt, taucht jedoch in der "Deutschen Ideologie" bereits auf, wobei Marx hier statt "Sein" noch "Leben" sagt. Bei der Skizze der drei Stufen fällt auf, daß einerseits sehr allgemeine Charakteristika genannt werden, andererseits aber auch sehr spezifische Umstände (Verfall des römischen Reiches, Einfluß der germanischen Heeresverfassung). Wenn man hier also eine Grundlage erwartet, auf die Marx später nur noch zu verweisen braucht, wird man enttäuscht. Die zweite Skizze findet sich im bereits zitierten Vorwort "Zur Kritik der politischen Ökonomie "(1859). Sie ist dort, wie bereits erwähnt, ebenfalls nicht sehr überzeugend formuliert. Im Hauptwerk "Das Kapital" wird die Stufentheorie kaum erwähnt. Sie wird dort bereits stillschweigend vorausge-
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Theorien des historischen Wandels
setzt. Es finden sich nur gelegentliche Hinweise zur Charakterisierung einzelner Stufen. So beschreibt Marx im 12.Kapitel des 1.Bandes, wo er die Teilung der Arbeit und die Manufaktur behandelt, die asiatische Produktionsweise anhand der Struktur der indischen Dorfgemeinschaft: "(Die kleinen indischen Gemeinwesen) bilden sich selbst genügende Produktionsganze [...]. Die Hauptmasse der Produkte wird für den unmittelbaren Selbstbedarf der Gemeinde produziert, nicht als Ware, und die Produktion selbst ist daher unabhängig von der durch Warenaustausch vermittelten Teilung der Arbeit im großen und ganzen der indischen Gesellschaft. Nur der Überschuß der Produkte verwandelt sich in Ware [...]. Der Gemeindemechanismus zeigt planmäßige Teilung der Arbeit, aber ihre manufakturmäßige Teilung ist unmöglich [...]. Das Gesetz, das die Teilung der Gemeindearbeit regelt, wirkt hier mit der unverbrüchlichen Autorität eines Naturgesetzes, während jeder besondre Handwerker [...] nach überlieferter Art, aber selbständig und ohne Anerkennung irgendeiner Autorität in seiner Werkstatt, alle zu seinem Fach gehörigen Operationen verrichtet. Der einfache produktive Organismus [....] liefert den Schlüssel zum Geheimnis der Unveränderlichkeit asiatischer Gesellschaften, so auffallend kontrastiert durch die beständige Auflösung und Neubildung asiatischer Staaten [...]. Die Struktur der ökonomischen Grundelemente der Gesellschaft bleibt von den Stürmen der politischen Wolkenregion unberührt."13 Die besondere Struktur der Arbeitsteilung, die die Entstehung von Klassenkämpfen verhindert oder begünstigt, rückt damit in den Mittelpunkt des Interesses. Klassenkampf kann nur durch eine sich dynamisch polarisierende Arbeitsteilung entstehen und nur in einem solchen Kontext wird der Staat zum Instrument der herrschenden Klasse und verbleibt nicht in einer "politischen Wolkenregion". In der antiken Gesellschaft standen sich Grundbesitzer und Sklaven gegenüber. Der Staat war ein Instrument der Grundbesitzer, und Sklavenaufstände waren Widerstand gegen die Staatsgewalt. Doch es waren letztlich nicht diese Aufstände, sondern die Tatsache, daß die Rekrutierung von Sklaven an ihre Grenzen stieß, die zum Untergang dieser Produktionsweise führte. Sklaven waren in erster Linie Kriegsgefangene. Die auf Sklavenhaltung beruhende Produktionsweise erforderte also, daß 13
MEW. Bd. 23, S. 378.
Stufentheorien: Vico, Marx, Rostow
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immer neue Gebiete erobert werden mußten. Damit stieß der Staat der Sklavenhalter auf mehr und mehr äußere Widerstände und brach daran zusammen. Er wurde ersetzt durch den Staat der Feudalherren, die keine Sklaven, sondern Bauern ausbeuteten, die ihre eigene Scholle bebauten, aber zu Abgaben verpflichtet waren und die Scholle nicht verlassen durften. Der Übergang vom Feudalismus
zum
Kapitalismus
Während der Übergang von der Sklavenhaltergesellschaft zum Feudalismus auf diese Weise recht plausibel erklärt werden konnte, bereitete der Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus größere Schwierigkeiten. Die feudale Gesellschaft muß in ihrem Schöße zwei verschiedene Schichten hervorbringen: den freien Eigentümer, der über Geld verfügt und den freien Arbeiter, der seine Arbeitskraft verkauft, denn nur so kann es zur ursprünglichen Akkumulation kommen, die die Grundbedingung des Kapitalismus ist. Marx widmet diesem Prozeß das 24. Kapitel des ersten Bandes seines Werkes "Das Kapital". Die Freisetzung des Arbeiters steht dabei im Mittelpunkt des Interesses. Dieser Prozeß hat sich in verschiedenen Ländern auf ganz verschiedene Weise vollzogen; Marx hält jedoch das englische Beispiel für "klassisch" und stellt den Prozeß in erster Linie anhand dieses Beispiels dar. Das "Bauernlegen" vollzieht sich in England ganz rapide im späten 15. und frühen 16. Jahrhundert, weil der Aufstieg des flandrischen Wollhandels es profitabler macht, Ackerland in Schafweiden zu verwandeln. Dadurch werden große Massen von Bauern zu Proletariern, die sich nur vom Verkauf ihrer Arbeitskraft ernähren können. Marx betont die Massenhaftigkeit dieses Phänomens (Umschlag von Quantität in Qualität). Die auf diese Weise Freigesetzten fanden jedoch nicht gleich Arbeitsplätze in den Manufakturen, sondern vermehrten die Schar der Vagabunden, gegen die harte Gesetze erlassen wurden, die Marx genau beschreibt. Gelegentlich kam es dabei zu einer neuen Sklaverei, weil rückfällige Vagabunden gebrandmarkt und jedem, der sie haben wollte, als Sklaven übereignet wurden. Der Aufstieg der Kapitalisten folgte dem der Proletarier mit zeitlicher Verzögerung. Sie kamen aus zwei verschiedenen Schichten, denen der kapitalistischen Pächter, die mit Lohnarbeitern Nutzfrüchte für den Markt anbauten, und denen der Wucherer und Händler, die unter feudaler Herrschaft und Zunftwesen keinen Ansatzpunkt für eine kapitalistische Produktionsweise gefunden hatten. Niedriger Lohn und durch harte Disziplinierung gesteigerte Arbeitsproduktivität trugen zu dem Mehrwert bei, dessen Akkumulation die Voraussetzung für den Kapitalismus ist. Marx zieht gelegentlich Beispiele aus anderen Ländern heran, aber der "klassische" Fall England bietet
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Theorien des historischen Wandels
ihm das beste Anschauungsmaterial für den Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus. Er überließ späteren marxistischen Historikern die mühsame Aufgabe, den Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus weltweit zu rekonstruieren. Für ihn war dies nämlich durchaus ein universaler Prozeß, der alle Länder betraf, mit Ausnahme jener, die in der asiatischen Produktionsweise verharrten. Die Betonung des "klassischen" Falls England war bei Marx nicht mit Diffusionstheorien verbunden, wie sie uns später bei den nicht- marxistischen Wirtschaftshistorikern Rostow und Gerschenkron begegnen. Freilich bekam Marx in späteren Jahren Zweifel daran, inwieweit der "klassische" Fall für Entwicklungen in anderen Ländern Modellcharakter hatte, und er bezog sich auf germanische und slawische Sonderentwicklungen. Besondere Schwierigkeiten machte es, die zunächst völlig unabhängig voneinander erfolgende Entstehung eines freien Proletariats und einer "ursprünglich akkumulierenden" Klasse von Kapitalisten zu erklären, die beide dem Schöße der feudalen Gesellschaft entspringen und Produkte eines Klassenkampfs sein mußten, der sich innerhalb dieser Gesellschaft abspielte. Die überzeugende Rekonstruktion des Übergangs vom Feudalismus zum Kapitalismus war zwar für Marx und seine Gefolgschaft nicht so wichtig wie die Theorie über den notwendigen Niedergang des Kapitalismus aufgrund seiner eigenen Gesetzmäßigkeit. Aber wenn die Entstehung des Kapitalismus aus dem Schöße des Feudalismus nicht einwandfrei erklärt werden konnte, dann konnten auch Zweifel an der Theorie vom notwendigen Niedergang des Kapitalismus entstehen. Die Determiniertheit des Niedergangs des Kapitalismus ergab sich aus seiner Entstehung, und daher war die Stufentheorie von zentraler Bedeutung für Marx, obwohl er ihr nie die besondere Aufmerksamkeit geschenkt hat, die sie so gesehen unbedingt verlangte. Sie blieb in seinem Werk zunächst skizzenhafte Andeutung und wurde dann zur stillschweigenden Voraussetzung. Eine systematische Darstellung erschien ihm wohl als ein allzu gewagtes Unternehmen. Er hinterließ seiner Gefolgschaft auf diese Weise ein fragwürdiges Erbe. Wer sich in Kenntnis der vielen Debatten, die sich im Lauf der Zeit aus dieser Theorie ergeben haben, den Originaltexten zuwendet und bei Marx selbst nach den Ausformungen dieser Theorie sucht und weit weniger findet, als er aufgrund der gewaltigen Nachwirkung dieser Theorie erwartet hätte, kann sich eine Enttäuschung nicht ersparen.
Stufentheorien: Vico, Marx, Rostow
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53. Walt W. Rostow: Die Stufen des Wirtschaftswachstums Stufentheorien der Wirtschaftsentwicklung wurden im späten 19. Jahrhundert in großer Zahl hervorgebracht. Als die Volkswirtschaftslehre sich enthistorisierte und versuchte, eine exakte Wissenschaft zu werden, gerieten alle diese Theorien in Verruf und wurden rasch vergessen. Die Konfrontation mit dem Phänomen der "Unterentwicklung" nach dem zweiten Weltkrieg ließ dann jedoch die Frage entstehen, warum und wie sich einige Länder entwikkelt hatten und andere nicht. Der amerikanische Wirtschaftshistoriker Walt Whitman Rostow beantwortete diese Frage mit seinem Buch "The Stages of Economic Growth" und wurde damit weltberühmt. 14 Vor allem seine eingängige Formel vom "take-off to selfsustained growth" war bald in aller Munde, weil sie als eine Botschaft der Hoffnung erschien. Das Phänomen des "take-off" wurde geradezu zu einem neuen Forschungszweig. Ein eindrucksvoller von Rostow herausgegebener Sammelband "The Economics of Take-Off into Sustained Growth" erschien 1963.15 Schließlich veröffentlichte Rostow 1971 den Band "Politics and the Stages of Growth" 16 , in dem er versuchte, den Zusammenhang von Wirtschaftswachstum und politischer Entwicklung darzustellen. Mit dem Abflauen des Wachstumsoptimismus in den späten 1970er Jahren wurde es um Rostow und seine Theorien wieder still. In den gegenwärtigen wirtschaftspolitischen Debatten spielen sie keine Rolle mehr, die Sorge um die Umwelt und um knappe Ressourcen hat die Wachstumstheorien in den Schatten gestellt. Aber als Entwurf einer Stufentheorie des historischen Wandels verdienen Rostows Ideen weiterhin Beachtung. Rostow wurde, wie er selbst berichtet hat, als Student in den 1930er Jahren von Marx' Stufentheorie beeinflußt und bemühte sich um eine eigene Theorie der Entstehung des Industriekapitalismus und um die Erklärung der Vorbedingungen, die für diese Entstehung erforderlich waren. Er setzte sich mit der allzu statischen "General Theory of Action" der Soziologen Parsons und Shils auseinander und versuchte, eine dynamische Theorie zu entwikkeln, die jedoch nicht für ganze Gesellschaften, ja nicht einmal für Wirtschaftstätigkeit insgesamt gültig sein wollte, sondern den dynamischen Wandel bewußt zu lokalisieren versuchte. Rostows Vorstellungen entsprachen den damals gängigen Theorien vom "ungleichgewichtigen Wachstum" Walt W. Rostow, The Stages of Economic Growth, Cambridge 1960. Walt W. Rostow, ed„ The Economics of Take-Off into Sustained Growth, New York 1963. Walt W. Rostow, Politics and the Stages of Growth, Cambridge 1971.
80
Theorien des historischen Wandels
(unbalanced growth), die postulierten, daß gezielte Investitionen in einen Sektor einen Wachstumsschub auslösen würden, der dann weitere Teile der Wirtschaft mitreiße. Das kam allen jenen sehr gelegen, die hofften, durch Investitionen in die Schwerindustrie den Wachstumsprozeß in Gang zu setzen. So war denn auch Jawaharlal Nehru von Rostows Ideen begeistert und sah in ihnen eine Bestätigung seiner Industriepolitik.17 Die
Stufenfolge
Rostows wirtschaftsgeschichtliches Modell hat folgende Stufen: 1) Ausgangspunkt: Traditionale Gesellschaft, 2) Anlaufszeit (Preconditions), 3) Beginn des dynamischen Wirtschaftswachstums (take-off), 4) Erreichen eines technischen Reifestadiums (drive to technological maturity), 5) Phase des hohen Massenkonsums. Im Nachhinein hat er aus der Erfahrung der 1960er Jahre noch eine sechste Stufe angedeutet: die der Dienstleistungsgesellschaft, in der ein Großteil des Volkseinkommens nicht mehr von der Industrie, sondern vom tertiären Sektor erbracht wird. Der Mechanismus, der die Entwicklung auf Stufe 3 treibt und darüberhinaus zu Stufe 4, ist ein reagierender Nationalismus (reactive nationalism) der jeweiligen "Nachzügler". Auf Stufe 5 wird dieser Mechanismus eigentlich bereits irrelevant, und es bleibt unklar, wie es weitergeht, denn Rostow will ja nicht das Zeitalter des hohen Massenkonsums mit Marx' Endzeit einer klassenlosen Gesellschaft gleichsetzen. Die zündenden Formeln, die die Zeitgenossen begeisterten, waren denn auch die des "take-off und des "drive to technological maturity". Sie schienen eine Dynamik zu beschreiben, die automatisch nach oben führt. Politiker und Technokraten in den Entwicklungsländern fanden sie besonders attraktiv. Rostow betonte übrigens in seinem späteren Buch, daß die Entwicklung gar nicht so zwangsläufig war, wie sie erschien, wenn man seine kühnen Formeln beim Wort nahm. Auf jeder Stufe lauerte die Möglichkeit eines Abgleitens, wenn die Dynamik schwächer wurde und nicht durch die Einbeziehung neuer Wirtschaftszweige wieder Energiezufuhr erhielt. Der Übergang von einem "leading sector" zum anderen war hierfür entscheidend. Die Textilindustrie war zumeist der erste "leading sector", ihr folgten die Industriezweige, die zum Bau und Betrieb der Eisenbahn erforderlich waren, danach war es die Schwer- und Grundstoffindustrie und die Maschinenbauindustrie und im Zeitalter des Massenkonsums schließlich die Autoindustrie und andere Konsumgüterindustrie (durable consumer goods). Verpaßte eine Bemerkungen Nehrus in einem Interview mit dem Verfasser, Januar 1961.
Stufentheorien: Vico, Marx, Rostow
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Volkswirtschaft den entsprechenden Übergang, dann drohte ihr der Rückfall. Für die Sowjetunion, mit der sich Rostow schon früher intensiv beschäftigt hatte, sah er diese Katastrophe sich schon in den 1960er Jahren anbahnen, als die Sowjetunion den Übergang von Stufe 4 zu 5 nicht schaffte. Ein besonderes Problem war für Rostow die Erklärung des Startschusses, mit dem der ganze Prozeß begann: die industrielle Revolution in England. Im Unterschied zu Marx, der sich ja um eine universale Theorie des Übergangs vom Feudalismus zum Kapitalismus bemühte, sich selbst aber in erster Linie auf das "klassische" Beispiel England berief, setzte Rostow bei England an und sah die weitere Entwicklung im Sinne einer Diffusion jeweiliger nationalistischer Reaktionen der Nachzügler auf die Vorgänger. Wenn nun aber für die "Nachzügler" der "reactive nationalism" der Beweggrund für den "take-off" war, dann mußte wohl auch England auf ähnliche Weise einen Entwicklungsanstoß bekommen haben, und er sah diesen in den ständigen Auseinandersetzungen Englands mit den Niederlanden und Frankreich. Dabei ging es meist um die Beherrschung des Seehandels und diesen sieht Rostow als den "leading sector" der vorindustriellen Zeit. Der Konkurrenzdruck auf diesem Gebiet erzeugte sozusagen die "kritische Masse", die erforderlich war, um in England die industrielle Revolution hervorzubringen. Zugleich ergab sich damit die Frage nach den "preconditions" für den ersten "takeoff". Hier nennt Rostow Faktoren wie Handel, Volksbildung etc. In seinem späteren Buch, in dem er die politischen Bedingungen in seine Stufentheorie mit einbezieht, nennt er für die "Anlaufszeit" eine viel längere Zeitspanne und beginnt mit der Glorious Revolution von 1688, während er unter rein ökonomischen Gesichtspunkten 1750 als den Beginn der Anlaufszeit bezeichnet und den "take-off' in die 1780er Jahre datiert. In den kontinentaleuropäischen Ländern sind aus verschiedenen Gründen die Anlaufszeiten wesentlich länger, und der "take-off" erfolgt in Frankreich in den 1830er, in Deutschland in den 1850er, und in Rußland in den 1890er Jahren. Dafür konnten die "Nachzügler" bei ihrem "drive to technological maturity" schneller voranschreiten, weil sie nicht alles neu erfinden mußten und von vornherein größere Produktionsstätten errichten und auf großzügigere Weise finanzieren konnten. In dieser Hinsicht wurde Rostows Theorie von seinem Kollegen Alexander Gerschenkron ergänzt,18 den er aber wohl eher als Rivalen denn als Bundesgenossen betrachtete, denn Gerschenkrons Buch wird in Rostows Buch von 1971 mit keinem Wort erwähnt. Er zitiert nur kurz Gerschenkrons Arbeiten zur russischen Wirtschaftsgeschichte.
Alexander Gerschenkron, Economic Backwardness in Historical Perspective, Cambridge (Mass.) 1962.
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Theorien des historischen Wandels
Vermutlich wollte Rostow mit diesem Buch Gerschenkron "überholen" und den von vielen Kritikern getadelten idealtypischen Schematismus seiner Stufentheorie aus eigner Kraft überwinden. Gerschenkron hatte nämlich den institutionellen Rahmenbedingungen (Investitionsbanken, staatliche Industrieförderung) besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Hier galt es ihn durch eine umfassende Theorie zu übertreffen, die Gerschenkron selbst wohlweislich vermieden hatte. Die Mängel
der Rostowschen
Stufentheorie
Der von Rostow in den "Stages of Economic Growth" skizzierte Verlauf ließ in der Tat vieles zu wünschen übrig. Die Stufentheorie erschien beim näheren Hinsehen auf eine Theorie des "take-off" zusammenzuschrumpfen. Die "preconditions" waren aus der Definition des Wachstums abgeleitete und in die Vergangenheit zurückprojizierte Elemente. Über den "drive to technological maturity" sagte Rostow eigentlich nur, daß er aus einem Nachziehen anderer Sektoren besteht, die dem Wachstumssprung des "leading sector" folgen. Der "Reife" die Würde einer eignen Stufe zuzuerkennen, hätte eigentlich nur dann Sinn, wenn sich ein direkter Zusammenhang mit der nächsten Stufe des Massenkonsums feststellen ließe. Aber Rostow gesteht selbst ein, daß Australien und Kanada schon vor ihrem Eintritt in das Reifestadium die Stufe des Massenkonsums erreicht hatten. So bleibt eigentlich nur der "take-off', der sich durch rasches Ansteigen der Investitionsrate bestimmen und quantitativ erfassen läßt. Doch selbst in dieser Hinsicht blieb Rostow nicht unwidersprochen. Simon Kuznets wies mit Rückgriff auf statistische Daten nach, daß der Übergang viel allmählicher war, als Rostow ihn mit seinem dramatischen Bild des "take-off" erscheinen ließ.19 Rostow erwiderte auf diese Kritik, daß auf diese Weise mit den Mitteln der Datenaggregation die Einsicht in die strategischen Momente der Entwicklung versperrt werde. Doch statt sich nun seinerseits auf detaillierte statistische Studien einzulassen, wich er auf das Feld der qualitativen Argumentation aus und versuchte, Parallelen seiner Stufenfolge auf dem Gebiet der politischen Entwicklung nachzuweisen.
Simon Kuznets, "Notes on the Take-Off' in: Walt W. Rostow, The Economics of Take-Off, S. 22ff.
Stufentheorien: Vico, Marx, Rostow
Die Politik
und die
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Wachstumsstufen
In "Politics and the Stages of Growth" untersucht Rostow die Entwicklung von acht Staaten jeweils unter den drei Gesichtspunkten: Sicherheit, Wohlfahrt und Verfassungsordnung. Die acht Staaten sind Großbritannien, USA, Frankreich, Deutschland, Rußland, Japan, China, Türkei, Mexiko. Er betont, daß die Interpretation der Politik im Rahmen der Wachstumsstufentheorie nicht bedeute, daß er an eine ökonomische Determiniertheit der Politik glaube. Er hebt hervor, daß er ja den "reactive nationalism" zum Schlüsselelement der Wachstumsfolge gemacht habe und schon daher keinen ökonomischen Determinismus postulieren könne. Doch er behauptet, daß alle Gesellschaften einen optimalen sektoralen Wachtumspfad zu verfolgen trachteten und daß die politische Entwicklung parallel dazu verlaufe, wenn es auch auf politischen Gebiet nie gelänge, einen Gleichgewichtszustand zu erreichen. Gleich zu Beginn seines Buches zeigt er auf, daß der Wachstumspfad eine ständig steigende Rolle des Staates mit sich bringt, der einen immer größeren Anteil des Bruttosozialprodukts beansprucht, um die Ausgaben für die Verteidigung und für den Ausbau des Wohlfahrtsstaats zu erhöhen. In den USA wuchs dieser Anteil von 7.1 % (1890) auf 28.5 % (1957) an, davon Verteidigung 1,4 % (1890) und 10,7 % (1957), in Großbritannien von 8,9 % (1890) auf 36,6 % (1955), davon Verteidigung 2,4 % (1890) und 9,6 % (1955), in Deutschland von 13,2 % (1891) auf 44,1 % (1958), davon Verteidigung 2,5 % (1891) und 5,2 % (1958). Diese Angaben zeigen sehr unterschiedliche Entwicklungsprofile, auf die Rostow jedoch nicht näher eingeht. So fällt auf, daß die Staatsquote 1957/58 für die USA weit geringer ist als für Deutschland, die USA aber wesentlich mehr für Verteidigung ausgeben. Man könnte also sagen, daß die USA eher ein Sicherheitsstaat und Deutschland ein Wohlfahrtsstaat sei. Großbritannien liegt etwa in der Mitte zwischen diesen beiden Polen. Dies bezieht sich natürlich auf einen langfristigen Trend, die beiden Weltkriege bleiben dabei ausgespart. Statt nun den Entwicklungspfad in einzelnen Ländern in seiner ganzen Differenziertheit nachzuzeichnen, geht Rostow von einer allgemeinen Entwicklungsstufe zur anderen und gibt jeweils Fallbeispiele aus dem Repertoire der von ihm ausgewählten Länder. Den USA widmet er dagegen ein eignes Kapitel unter der Überschrift "American politics: a not so special case". Die Begründung, daß die USA kein Sonderfall sind, erfordert einigen Aufwand, denn auf den ersten Blick lief dort vieles anders, als es der Stufentheorie zufolge hätte laufen sollen. Sowohl der Unabhängigkeitskrieg als
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Theorien des historischen Wandels
auch der Krieg von 1812 waren klare Fälle eines "reactive nationalism", und es gab auch schon Stimmen, die eine amerikanische Industrialisierung forderten, aber die USA blieben ein Agrarland, ja sie wurden sogar ein führendes Agrarexportland. Der Baumwollexport der auf Sklavenarbeit beruhenden Plan tagen Wirtschaft des Südens nahm geradezu bedrohliche Ausmaße an. Der industrielle "take-off" blieb auf den Norden beschränkt. Rostow behauptet, daß dieser "take-off" den Bruch zwischen Nord und Süd und damit den Bürgerkrieg heraufbeschworen hätte. Doch man könnte eher betonen, daß die Erschließung des Westens durch die Eisenbahn und die von freier Arbeit getragene Weizenlandwirtschaft den Ausschlag gegenüber dem Süden gaben. Rostow erwähnt diese auch, aber nicht an erster Stelle. Ebenso gehen Verfassungsentwicklung und Demokratisierung in Amerika dem "take-off weit voraus. Rostows Bemühungen, die USA in sein Schema zu pressen, bleiben unbefriedigend. Dagegen sind seine Betrachtungen über die USA am Ende der Periode, in der der hohe Massenkonsum zum Motor des Wirtschaftswachstums wurde, von großem Interesse. Die USA erreichten dieses Stadium vor allen anderen Ländern der Welt, und die Auswirkungen des Wandels machten sich gerade in der Zeit bemerkbar, als Rostow die "Stages of Growth" schrieb. Erst in "Politics and the Stages of Growth" konnte er rückschauend bewerten, was da geschehen war. Der Verlust der Dynamik des hohen Massenkonsums Das Auto, sozusagen das "Leitfossil" der dynamischen Phase des hohen Massenkonsums, verlor seine Zugkraft schon in den 1950er Jahren, als die Zahl der Autos sich allmählich von 0,3 auf 0,5 pro Kopf zubewegte, so daß Präsident Eisenhower 1958 eine Propagandakampagne "Auto Buy Now" starten mußte, um eine Wirtschaftsrezession zu überwinden. Inzwischen waren aber auch die anderen "Renner" wie Kühlschränke, Waschmaschinen etc. (durable consumer goods) an eine Nachfragegrenze, die nicht einfach nur eine Kaufkraftgrenze war, gestoßen. Was nun? Rostow nennt die nächste Epoche eine der "Suche nach Qualität", die vor allem in einer Suche nach differenzierten Dienstleistungen ihren Ausdruck findet. Die Politik, die dieser neuen Epoche entspricht, steht in den USA vor völlig neuen Aufgaben, die Rostow recht eindringlich skizziert. Da geht es einerseits um die Erhaltung und Mehrung von Qualität in solchen Bereichen wie Bildung, Gesundheitsfürsorge, soziale Wohlfahrt, andererseits aber um die Bewältigung von Arbeitslosigkeit und Stagflation, die - wie Rostow meint - nicht mit den bewährten Mitteln der Steuer- und Geldpolitik in den Griff zu bekommen sind, sondern eine spezifische Steuerung des Lohn-Preis-Verhältnisses und eine
Stufentheorien: Vico, Marx, Rostow
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sehr sorgfältige Haushaltspolitik der Regierung erfordern. Nach einem Intermezzo, das von Monetarismus und Reaganomics geprägt worden ist, klingen diese Mahnungen Rostows erst heute wieder aktuell. Wenn man diese Mahnungen liest, begreift man, warum nicht nur der "take-off'-Optimist Rostow, sondern auch der mahnende Rostow in jüngster Zeit in Vergessenheit geraten ist. Das Schicksal seiner Ideen ist ein anschauliches Beispiel für den raschen Wandel auf dem Gebiet der ökonomischen Lehrmeinungen und der Diskontinuität politischer und wissenschaftlicher Debatten.
6. Entwicklungsperspektiven des Historismus: Ranke und Meinecke 6.1. Leopold von Ranke: Universalgeschichte aus westlicher Sicht Nach den Stufentheoretikern des historischen Wandels, die entweder universale Theorien wie Vico und Marx oder aber Diffusionstheorien wie Rostow aufstellten, kommen wir nun zu den prominenten Vertretern des deutschen Historismus, die überhaupt keinerlei explizite Theorien des historischen Wandels aufstellten, dafür aber implizite Vorstellungen von diesem Wandel hatten, die sie in ihre Darstellung der Geschichte einbauten. Daß Ranke insgeheim doch ein Stufentheoretiker war, werden wir jedoch bald sehen. Ranke deutete schon früh die Richtung seines Erkenntnisinteresses an. Im Jahre 1820 schrieb der junge Gymnasiallehrer Ranke an seinen Bruder: "[...] ich möchte etwas lernen vom Leben der Nationen im 15. Jahrhundert, von dem nochmaligen Aufgehen aller Keime, die das Altertum gesäet - [...]. Ich weiß noch nichts davon. Zum voraus aber weiß ich, daß dies Streben, Bilden, Wollen nicht beim literarischen Adel blieb, sondern in gewisser Gestalt da war beim Volk. Ich weiß es aus der Reformation. Denn obwohl das Evangelium ganz ursprünglich durch Gottes Gnade Luthern geoffenbaret worden, so ruht doch der Erfolg der Mitteilung noch auf ganz anderen Gründen. Nur das trockene Holz faßt sogleich die Hamme. - So werd ich denn lernen, hoff ich, ahnen wenigstens, wie Kaisertum und Papsttum gestorben und ein neues Leben mit neuem Odem daherbläst, [...J."1 Die zentrale Bedeutung der Reformation, das Erbe des Altertums, die Rolle des Papsttums, der Geist des Volkes und damit die Ausprägung moderner Nationen - alle Themen also, denen Ranke im Laufe seines Lebens umfangreiche Werke widmen sollte, waren hier bereits angesprochen. Zugleich zeigt diese Aussage, daß er um eine geschichtliche Gesamtschau bemüht war. Es ging ihm nicht nur um die Flamme, sondern auch um das trockene Holz, das sie erfaßte, und wie es dazu gekommen war, daß dieses Holz bereitlag. Es fiel ihm jedoch anfangs schwer, eine Konzeption zu finden, um den historischen Prozeß, den er zu erkennen glaubte, deuten zu können. Die Flamme der Reformation zog ihn an, aber er umkreiste sie zunächst nur. Ein Lutherfragment von 1817 blieb unveröffentlicht. Das Erstlingswerk, das 1825 seinen Ruf begründete - "Geschichten der romanischen Zitiert von Emst Schulin, Traditionskritik und Rekonstruktionsversuch, Göttingen 1979, S. 55.
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und germanischen Völker, 1494-1535", - erschien nur mit einem ersten Band, der die Zeit bis 1514 behandelte und die Reformation noch aussparte. Leonhard Krieger, der das Gesamtwerk Rankes eingehend untersucht hat, weist auf diese Problematik hin und stellt fest, daß Ranke eine neue Konzeption erst in seiner "ersten Synthese" fand, die durch die Geschichte der Päpste und die ihr folgende Geschichte der deutschen Reformation gekennzeichnet ist.2 Ranke wandte sich also zunächst der Gegenseite zu und schilderte das Papsttum als niedergehende Institution des christlichen Universalismus, dem der neue Geist der Nationalstaaten gegenüberstand. Diese Nationalstaaten eigneten sich den alten christlichen Universalismus auf neue Weise an und wurden zu historischen Individuen, um deren nähere Bestimmung es Ranke von nun an ging. Die Geschichte der deutschen Reformation war ein erster Ansatz zu dieser Geschichte der Nationalstaaten, die in Rankes zweiter Synthese - wie Krieger das nennt - im Vordergrund stand. Damit war zugleich eine immer stärkere Hinwendung zur politischen Geschichte gegeben. Diese Hinwendung wurde sowohl durch die neue Konzeption als auch durch Rankes Arbeitsweise bedingt. Er war der erste Historiker, der systematisch anhand von Quellen arbeitete, die er in den Archiven fand - und dies waren der Natur der Sache nach politische Quellen. Es kam hinzu, daß der zunächst unpolitische Ranke durch Erlebnisse seiner Zeit politisiert wurde, die für ihn geradezu traumatisch waren. Die Revolution von 1848 erschütterte ihn zutiefst. Krieger zitiert einen Brief von Karl Varnhagen von Ense, in dem dieser erwähnt, Ranke habe völlig den Kopf verloren, möchte gern fliehen, wisse aber nicht wohin, sähe den Untergang der zivilisierten Welt nahe herbeigekommen und meine, dergleichen Barbarei und ungezügelte Gewalttätigkeit habe es noch nie zuvor gegeben. Varnhagen fügte sarkastisch hinzu: "Dieser Narr will ein Historiker sein."3 Das Erlebnis der Revolution ließ Ranke von nun an dem Gegensatz von Monarchie und Volkssouveränität größte Beachtung schenken. Er sah dies als das zentrale Thema der Geschichte der europäischen Nationalstaaten an. In der Geschichte Frankreichs und seiner absoluten Monarchie sah er diesen Konflikt am reinsten dargestellt. Er widmete sich daher zunächst der französischen Geschichte des 16. und 17. Jahrhunderts. In der Geschichte Englands sah er dann den Ausgleich der beiden gegensätzlichen Prinzipien und schrieb in diesem Sinne eine Geschichte Englands im 17. Jahrhundert. Zur gleichen Zeit, als er diese großen Nationalgeschichten schrieb, hielt er dem König von Bayern eine Reihe von Privatvorlesungen, die erst nach seinem Tode unter 1 3
Leonhard Krieger, Ranke. The Meaning of History, Chicago 1977. Ibid., S. 205.
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dem Titel "Über die Epochen der neueren Geschichte" veröffentlicht wurden. Diese Vorlesungen dokumentieren Rankes universalgeschichtliche Perspektive auf sehr eindrucksvolle Weise. Sie sollen daher hier eingehender behandelt werden. Die Privatvorlesungen
für König Max II. von Bayern
Max hatte als junger Prinz 1831 bei Ranke in Berlin studiert. Nachdem er 1848 auf den Thron gekommen war, bemühte er sich darum, Ranke an die Universität München berufen zu lassen. Ranke lehnte diesen Ruf schließlich ab, folgte aber einer Einladung des Königs nach Berchtesgaden im Herbst 1854. Dort überraschte der König ihn mit der Bitte, ihm eine Reihe von Privatvorlesungen zu halten. Er konnte sich auf diese Vorlesungen nicht vorbereiten und hatte kein einziges Buch zur Hand, doch schließlich hatte er große Freude an dieser unerwarteten Aufgabe. Der König ließ die Vorlesungen durch seinen Stenographen aufzeichnen, und so wurden sie später veröffentlicht. Sie behielten den Charakter des mündlichen Vortrags, der sich an einen kenntnisreichen, aber nicht spezialisierten Zuhörer wandte. Ranke war zu jener Zeit 59 Jahre alt, er sprach aufgrund einer reichen Erfahrung und präsentierte die Quintessenz seiner Arbeit. Gleich im ersten Vortrag nahm er zum Begriff des Fortschritts Stellung, wandte sich ausdrücklich gegen Hegel und prägte das geflügelte Wort: "Jede Epoche ist unmittelbar zu Gott". Er fuhr fort: "und ihr Wert beruht gar nicht auf dem, was aus ihr hervorgeht, sondern in ihrer Existenz selbst."4 An anderer Stelle sagte er freilich auch: "In jeder Epoche der Menschheit äußert sich [...] eine bestimmte große Tendenz, und der Fortschritt beruht darauf, daß eine gewisse Bewegung des menschlichen Geistes in jeder Periode sich darstellt, welche bald die eine, bald die andere Tendenz hervorhebt und in derselben sich eigentümlich manifestiert."5 Einen materiellen Fortschritt und ein kontinuierliches Anwachsen der Erkenntnis und Beherrschung der Natur erkannte er an, einen moralischen Fortschritt leugnete er jedoch. Ferner betonte er, daß es Beispiele dafür gäbe, daß Kulturen hinter einen einmal erreichten Stand zurückfielen und erwähnte Asien als Beispiel, von dem er sagte: "[...] die älteste Epoche der asiatischen Kultur war die blühendste, die zweite und dritte Epoche aber, in welcher das griechische und römische Element dominierte, war schon nicht mehr so bedeutend, und mit dem Einbrechen der Barbaren - der Mongolen - fand die Kultur in Asien vollends 4
5
Leopold von Ranke, Über die Epochen der neueren Geschichte, Darmstadt 1982, S. 7. Ibid., S. 7.
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Theorien des historischen Wandels 6
ein Ende." Der Vorlesung schloß sich dann ein Gespräch mit dem König an, der ihn fragte, ob nicht doch jetzt eine höhere Anzahl von Individuen zu einer höheren moralischen Entwicklung gediehen als früher. Ranke äußerte sich skeptisch und sagte dann:"Als Mensch scheint es mir wahrscheinlich, daß die Idee der Menschheit, die nur historisch in den großen Nationen repräsentiert ist, allmählich die ganze Menschheit umfassen sollte, und dies wäre dann der innere moralische Fortschritt. Die Historie opponiert sich dieser Anschauung nicht, weist sie aber nicht nach. Insbesondere müssen wir uns hüten, diese Anschauungen zum Prinzip der Geschichte zu machen. Unsere Aufgabe ist es, uns bloß an das Objekt zu halten."7 Auf diesen vorsichtigen Einleitungsvortrag, mit dem sich Ranke sowohl von Kants als auch von Hegels Geschichtsinterpretation distanziert, folgt dann ein Überblick über Entstehung und Aufgabe des römischen Reiches, der alles andere als vorsichtig und skeptisch, sondern geradezu euphorisch ist. Ranke behauptet: "Man kann sagen, daß alle alte Geschichte in die römische sich hineinergießt [...] und daß die ganze neuere Geschichte wieder von der römischen ausgeht. Ich wage es zu behaupten, daß die ganze Geschichte nichts wert wäre, wenn die Römer nicht existiert hätten."8 Schon bei der Behandlung dieser Epoche zeigt sich Rankes Vorliebe für eine dialektische Betrachtungsweise. Er betont den Gegensatz zwischen griechischer Demokratie und persischer Monarchie, die Synthese dieser gegensätzlichen Prinzipien war die Monarchie des weit in den Orient ausgreifenden Alexander. Derselbe Gegensatz beherrscht die römische Geschichte in ihrem Wandel von der republikanischen zur monarchischen Verfassung. Da die römische Monarchie das republikanische Erbe bewahrt (aufhebt hätte Hegel gesagt), ist sie jedoch grundverschieden von der orientalischen Monarchie. Die Verschmelzung römischer und germanischer Rechtsauffassungen ist wiederum ein dialektischer Prozeß. Bei den Römern herrschte das unpersönliche Recht vor, bei den Germanen der "Kitt der Treue". Ranke sagt dazu: "So barbarisch nun auch diese Kombination von Rechtssätzen sich ausnahm, so war sie doch ein Fortschritt des gesetzlichen Geistes, und es ist dieselbe eines der wichtigsten Ereignisse dieser Zeit, aus welchem wir gleichfalls die Propagation der Weltidee wahrnehmen können." 9 Dieser Hinweis auf die Propagation einer Weltidee enthüllt Rankes Geschichtsphilosophie, die er sonst nicht so deutlich artikuliert. Der Fortschritt des gesetzlichen Geistes als Propagation einer Weltidee wird im EinleitungsVortrag nicht so rückhaltlos 6 7 8 9
Ranke, Über die Epochen, S. 6. Ibid., S. 10. Ibid., S. 13. Ibid., S. 36.
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ausgesprochen. Dort heißt es nur: "Es gibt Elemente der großen historischen Entwickelung, die sich in der römischen und germanischen Nation fixiert haben. Hier gibt es allerdings eine von Stufe zu Stufe sich entwickelnde geistige Macht." 10 Während dieser Hinweis eine Stufentheorie nahelegt und man erwarten würde, daß Ranke sie explizit skizziert, tut er dies nicht, doch bildet sie praktisch die Grundlage seiner Darstellung der Epochen der Geschichte, und erst im Zuge dieser Darstellung stellt er Behauptungen auf, die enthüllen, daß er eine Stufentheorie des geistigen Fortschritts verkündet, der in eine ganz bestimmte Richtung geht. Von besonderer Bedeutung für Rankes Theorie war der Universalismus des römischen Staates, der für ihn auch die Vorbedingung für die Ausbreitung des Christentums als Weltreligion war, deshalb betonte er, daß der Staat schon allein daher den Vorrang vor der Kirche habe, die erst auf dieser Grundlage entstehen konnte. Dieses Verhältnis verkehrte sich in dem, was Ranke das " hierarchische Zeitalter" nennt (11.- 13. Jh.), in dem nach langen Auseinandersetzungen zwischen Papsttum und Kaisertum der Papst obsiegte. Die Gotik ist für Ranke der Stil, der diese Tendenz des hierarchischen Zeitalters ausdrückt. Wenn Ranke auch gewiß nicht auf der Seite des Papsttums steht, so gesteht er doch zu, daß der europäische Geist an diesem Gegensatz von Papsttum und Kaisertum gereift sei. Am Schluß der Betrachtung des "hierarchischen Zeitalters" fügt Ranke hinzu: "Während diese überaus merkwürdige Entwickelung des Westens vor sich ging, verfiel der Orient in die vollständigste Barbarei". Er verweist dabei auf den Mongolensturm und sagt schließlich: "Die Barbarei, welche damals über den Orient sich ergoß, beherrscht ihn auch noch heutzutage, und wir sehen hier an einem eklatanten Beispiel, wie wenig an einen Fortschritt des menschlichen Geschlechts zu denken sei."11 Damit wiederholte er, was er bereits im ersten Vortrag über Asien gesagt hatte, doch stellte er an dieser Stelle Orient und Okzident noch dramatischer gegenüber und begründete, warum Asien in seiner Universalgeschichte keinen Platz hatte. War es schon vorher von zweitrangiger Bedeutung, so schied es nun endgültig aus dem Rennen aus. Das "hierarchische Zeitalter" war die vierte Epoche (nach der Antike, dem Aufstieg der Germanen und Araber und dem Reich der Karolinger), die Ranke dem König vorführte. Es folgte die fünfte Epoche (14.- 15. Jh.), eine Zeit des Umbruchs, in der das Schisma das Papsttum schwächte, das alte Byzanz den Türken zum Opfer fiel und damit die Besonderung der westeuropäischen Geschichte noch stärker hervortrat, und sich die Ansätze der Natio10 11
Ranke, Über die Epochen, S. 6. Ibid., S. 80.
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nalstaaten bildeten. Die sechste Epoche war die der Reformation und der Religionskriege und die siebte das Zeitalter der Großmächte. Als achte und letzte Epoche behandelte Ranke das Zeitalter der Revolution, in der das Gegensatzpaar Volkssouveränität und Monarchie sich am deutlichsten artikulierte. Die Bedeutung dieses Gegensatzpaars war Ranke durch das Erlebnis der Revolution von 1848 vor Augen geführt worden, und es scheint so, daß Ranke mit dem, was er sechs Jahre später dem König vortrug, eine Bewältigung dieses Erlebnisses vollzog, indem er die ganze Geschichte der westlichen Welt auf diese Auseinandersetzung hinauslaufen ließ. Als Ranke in der Stille der Berge dem König diese Vorlesungen hielt, tobte gerade der Krimkrieg, und er erwähnte ihn am Ende des letzten Vortrages, schloß dann aber mit den optimistischen Worten: "Weil alles auf dem tiefen Boden der europäischen Geschichte beruht, so erweckt der Rückblick auf die Erfahrungen der Vergangenheit die Hoffnung, daß aus den größten Gärungen und Gefahren [...] wieder vernünftige Zustände hervorgehen werden."12 Das gemahnt sehr an Hegels Worte, daß es in der Geschichte vernünftig zugegangen sein muß. Die universalgeschichtliche
Perspektive
Wie schon diese Privatvorlesungen zeigen, entwickelte Ranke eine universalgeschichtliche Perspektive, die entschieden "westlich" war. Er betonte insbesondere in seiner Arbeit zur englischen Geschichte, die er als einen universalgeschichtlichen Beitrag verstanden wissen wollte, die Verschiebung des Zentrums der westlichen Welt vom Mittelmeerraum in den atlantischen Raum. Angezeigt hatte er diese Perspektive freilich schon in seinem Erstlingswerk,wo er schrieb: "In der Tat gehen uns Neuyork und Lima näher an als Kiew und Smolensk." 13 "Universalgeschichtlich" bedeutet daher bei Ranke immer der Bezug auf die Gesamtentwicklung der westlichen Welt, die er als ein System begreift (ohne es so zu nennen), dessen Systemveränderungen er nachspürt. Dieses System ist eine Individualität, das die nationalen Individualitäten umfaßt, deren Bestimmung es ist, sich immer deutlicher herauszubilden. Der Prozeß dieser Individuation wird von einer Dialektik beherrscht, die sehr hegelianisch anmutet, obwohl Ranke - wie bereits erwähnt - die Konsequenzen der Philosophie Hegels ablehnte. Ranke denkt in dialektischen Gegensatzpaaren. So sind es zunächst die alten universalen Institutionen - Papsttum und Kaisertum -, die einerseits im Kampf gegeneinander, andererseits gemeinsam im Gegensatz zu den neuen Nationalstaaten stehen.
Ranke, Über die Epochen, S. 163. Schulin, Traditionskritik und Rekonstruktionsversuch, S. 51.
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In diesen Nationalstaaten kommt es dann zum Kampf zwischen Monarchie und Volkssouveränität, die in England zu ihrer besten Synthese finden und dem Land zum Aufstieg zur Weltmacht verhelfen. Ein typisches Beispiel der Rankeschen Dialektik ist seine Charakterisierung der Gegensätze "die in den romanisch- germanischen Staaten einander ewig widerstreben. Von dem Begriffe der erblichen Monarchie und der absoluten Gewalt des Staates aus würde man zu allgemeiner Knechtschaft, von dem Begriffe des ständischen Wesen und der individuellen Freiheit aus zur Republik oder zur Wahlmonarchie kommen. Auf der Gegenwirkung beider Prinzipien und ihrer gegenseitigen Einschränkung beruhen unsere Staaten." 14 Im Grunde ist dieser Gegensatz schon in der Antike angelegt, wie es Ranke dem bayrischen König demonstrierte. Es fällt auf, daß Ranke, dem es zunächst um die Geschichte der deutschen Reformation ging, durch die Dialektik seiner Geschichtsschreibung von der deutschen Geschichte weggeführt wurde. Deutschland ist in mehrfacher Hinsicht "peripher". Die Verlagerung des Zentrums der westlichen Welt vom Mittelmeerraum zum Atlantik geht buchstäblich an Deutschland vorbei. Deutschland fehlt es in der Zeit, in der Ranke schreibt, auch an einem Nationalstaat, also an der typischen Individuation des westlichen Systems, die im Mittelpunkt seines Interesses steht. Deshalb fehlt es auch an einem Brennpunkt für das Ringen von Monarchie und Volkssouveränität. Ranke war nun aber kein Nationalrevolutionär, der für einen deutschen Nationalstaat kämpfte, sondern er war ein konservativer Historiker, der die Welt anschaute, wie sie seiner Meinung nach war, aber nicht danach trachtete, sie zu verändern. Als es am Ende seines langen Lebens zur deutschen Reichsgründung kam, die er zwar nicht ihrer Form nach, wohl aber in ihrem Inhalt billigte, entstand dann eine dritte Synthese, die Leonhard Krieger unter der Überschrift "World History from a German Perspective" behandelt. Reichsgründung
und
"Weltgeschichte"
Ranke kehrte zunächst einmal zur deutschen Geschichte zurück und führte sie von dort, wo er sie mit der Geschichte der Reformation verlassen hatte, bis zum Dreißigjährigen Krieg weiter und fügte dem noch eine Biographie Wallensteins hinzu, der für Ranke wohl der Prototyp eines großdeutschen Nationalisten war. Dann vertiefte er sich in die preußische Geschichte und wurde auf seine alten Tage geradezu ein preußischer Hofhistoriker. Im letzten Jahrzehnt seines Lebens widmete sich Ranke dem großen Projekt einer Zitiert von Ulrich Muhlack in N. Hammerstein, Hg., Deutsche Geschichtswissenschaft um 1900, Stuttgart 1988, S. 25.
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Weltgeschichte. Krieger meint dazu, daß Ranke von dem Optimismus, der ihn seit der Reichsgründung erfüllte, zu dieser Leistung angespornt worden sei. Ranke sah eine Weltgemeinschaft entstehen, die einer Weltgeschichte bedurfte, doch diese Weltgemeinschaft war die der westlichen Nationalstaaten, in deren Reihe sich nun auch das deutsche Reich ebenbürtig einordnen konnte. Was er dieser westlichen Weltgemeinschaft mit auf den Weg geben wollte, war aber nicht etwa ein Panorama der Zeitgeschichte, sondern eine Geschichte ihrer Anfänge von der Antike bis zum Jahre 1500 - also die Vorgeschichte der Zeit, der er bisher seine Aufmerksamkeit gewidmet hatte. Hatte seine konservative Grundhaltung ihn früher eher zur Skepsis verpflichtet, so sprach er jetzt gern vom Fortschritt und sah die Entwicklung der Weltkultur in einem rosigen Licht. Die "unhistorischen"Völker, selbst die asiatischen Hochkulturen, die nach Rankes Meinung keinen Sinn für Geschichte hatten, blieben von seiner Weltgeschichte ausgeschlossen - auch hierin ähnelte Rankes Urteil dem Hegels. Rankes Aussage, daß alle Epochen unmittelbar zu Gott seien, mit der er sich Hegels Geschichtsphilosophie widersetzte, hätte ihn eigentlich auch zu dem Schluß führen müssen, daß alle Völker unmittelbar zu Gott seien und ihre Geschichte zu respektieren sei. Die großen Geister der Aufklärung waren in dieser Hinsicht viel weltbürgerlicher gesonnen, und Herder, der zu den Vätern des deutschen Historismus gehört, hatte ebenfalls einen weiteren Horizont. Rankes Horizontverengung war jedoch nicht zufällig, sie war durch sein Erkenntnisinteresse bedingt. Dieses wurde gerade in seiner Weltgeschichte besonders deutlich. Der Universalismus des römischen Reichs und seine Auseinandersetzung mit dem Partikularismus der europäischen Völker war für ihn das eigentliche Thema der Weltgeschichte. Der dialektische Gegensatz von Universalismus und Partikularismus bedingte die Dynamik der westlichen Welt. Der moderne Nationalstaat war für Ranke die partikulare Ausformung der universalen Staatsidee, die auf das römische Erbe zurückging. Die Individuation der Nationen hatte sich durch eine Internalisierung des Universalismus vollzogen. Auch das war sehr hegelianisch gedacht, wie denn überhaupt Ranke als praktizierender Hegelianer bezeichnet werden kann, wenn er auch die Konsequenzen der Lehre Hegels ablehnte.
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Die "List der Vernunft" und die "notwendige
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Zukunft"
Die "List der Vernunft" taucht bei Ranke immer wieder auf, wenn er sich auch hütet, sie so zu nennen. Sein raffinierter Stil der Geschichtserzählung ermöglicht es ihm, diese "List" im Gewand suggestiver Rhetorik zu verbergen. Hans Robert Jauß hat in einer Analyse der narrativen Aussagen Rankes gezeigt, auf welche Weise die Ziele der von Ranke identifizierten Entwicklungsprozesse in seiner Erzählung vorweggenommen wurden. Jauß zitiert Rankes Schilderung der Vertreibung der Engländer aus Frankreich (um 1450, Ende des 100jährigen Krieges): "Sie behielten nichts als Calais. Für die Besiegten vielleicht ebenso ein Glück, wie für die Sieger, denn die Nationen mußten sich trennen, wenn eine jede sich nach ihrem eigenen inneren Triebe entwickeln sollte."15 So wird die von Ranke thematisierte Struktur (das Europa der Nationalstaaten) und der historische Prozeß ihrer Entwicklung ("nach ihrem eigenen Triebe") in die Darstellung früherer Epochen eingebettet. Die Entwicklung wird vorweggenommen und sozusagen als notwendige Zukunft eingeführt. Gadamer hat in "Wahrheit und Methode" an Ranke Kritik geübt und bemerkt, daß er "Subsumieren als Summieren denkt und schreibt" und daß dies für die geheime Gesinnung der historischen Schule höchst bezeichnend sei. Er mahnt an, daß sich qualitativ ungleiche Posten nicht summieren. Summierung setzt voraus, daß die Einheit, unter der sie zusammengefaßt werden, ihre Zusammenfassung schon vorgängig leitet.16 Diese Kritik ist sicher berechtigt. Ranke hat, wie wir gesehen haben, bestimmte Vorstellungen, die ihm als solche "Einheit der Zusammenfassung" dienen, doch er stellt sie nicht als Prämissen auf, sondern betrachtet die Geschichte jeweils nach ihren Endergebnissen und blendet diese dann als notwendige Zukunft in seine Darstellung ein. Selten nur deutet er alternative Verlaufsmöglichkeiten an, seine Darstellung ist "teleologisch gekämmt", wie Christian Meier das nennt. Er erreicht dies mit den Mitteln eines narrativen Stils, der bewußt das vom Fluß der Erzählung abgehobene moralische oder analytische Urteil meidet. Die "Geschichtlichkeit des Menschen" fand auf diese Weise einen überzeugenden Ausdruck.
Hans Robert Jauß, Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik, Frankfurt 1982, S. 339. Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 195.
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Die Kritiker Rankes Ranke galt schon gegen Ende seines Lebens als "überholt", weil er nicht in das Konzept der kleindeutschen Nationalhistoriker von der Art Treitschkes paßte. In der Krise des Historismus nach dem ersten Weltkrieg wurden ihm alle Dinge zur Last gelegt, die man am Historismus allgemein kritisierte. Nach dem zweiten Weltkrieg hat eine neue Historikergeneration an ihm bemängelt, daß er eine naive Anschauung von historischer Objektivität hatte, seine Geschichtsschreibung auf die Welt der Staaten beschränkte und kein sozialwissenschaftliches Interesse zeigte. Den Strukturhistorikern galt er obendrein als typischer Vertreter der reinen Ereignisgeschichte, obwohl er doch - wie oben erwähnt - das dialektische Verhältnis "ewiger Gegensätze" thematisiert hatte. Weil Rankes Kritiker meist selbst nur auf dem Gebiet der europäischatlantischen Geschichte tätig waren, die für Ranke der eigentliche Gegenstand seines Geschichtsinteresses war, hat keiner von ihnen betont, daß die Beschränkung der "Weltgeschichte" auf die europäisch- atlantische der wichtigste Kritikpunkt ist, den man gegen Ranke anführen kann. Der fortschreitende Prozeß der Weltgeschichte verlief für Ranke vom Universalismus des römischen Imperiums zum Heranreifen des europäisch-atlantischen Staatensystems. Die Mittler dieses Prozesses waren die germanisch-romanischen Völker und keine anderen. Alle anderen Völker blieben entweder im Dunkel der Geschichtslosigkeit oder wurden von der Entwicklung des allein weltgeschichtlich bedeutsamen Staatensystems erfaßt und mitgezogen, ohne ihrerseits einen Beitrag zum historischen Prozeß zu leisten; sie waren allenfalls passive Opfer oder Nutznießer und daher letztlich irrelevant. Dieses Rankesche Erbe bestimmt immer noch die Sichtweise der meisten europäisch-atlantischen Historiker, so kritisch sie sich auch sonst über Ranke äußern mögen. 6.2. Friedrich Meinecke: Triumph und Tragik des Historismus Als Friedrich Meinecke studierte, tobte der große Methodenstreit, bei dem es um die Wissenschaftlichkeit der Geschichtswissenschaft und der Geisteswissenschaften überhaupt ging. Der Grad der Wissenschaftlichkeit wurde in jener Zeit an der so überaus erfolgreichen klassischen Physik gemessen. Der Historismus fiel jedoch diesem Methodenstreit nicht zum Opfer, sondern ging geradezu triumphierend aus ihm hervor. Die hermeneutische Philosophie des "forschenden Verstehens" wurde zur neuen Grundlage der Geisteswissenschaften, die sich selbstbewußt von den Naturwissenschaften absetzten. Friedrich Meinecke, Rankes bedeutendster Nachfolger, wuchs geistig in der
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Atmosphäre dieses Methodenstreits auf. Schon seine Staatsexamensarbeit, die er in Rankes Todesjahr schrieb, war dem Thema "Vergleichung der Geschichts- und Naturwissenschaften hinsichtlich ihrer Methoden" gewidmet. Vermutlich war ihm dieses Thema von seinem Lehrer Dilthey gegeben worden, der der prominenteste Vertreter der neuen hermeneutischen Philosophie war. Die geistige Schulung im Methodenstreit prägte Meineckes Stil und Forschungsthematik. Er vermied es, "notwendige Zukunft" in seine historische Darstellung hineinzugeheimnissen und wählte nicht von ungefähr die Geistesgeschichte zu seinem Hauptarbeitsgebiet. Individualität und Geschichtlichkeit des Geistes ließen sich eben am besten anhand der Werke der großen Denker erweisen. Auf diesem Gebiet konnte der Historismus triumphieren, und Meineckes großes Werk "Weltbürgertum und Nationalstaat", das 1907 erschien, wurde geradezu zu einem Manifest dieses aus dem Methodenstreit siegreich hervorgegangenen Historismus.17 Meinecke knüpfte an Rankes Zentralthema an, gab ihm aber eine neue Wendung. Ranke wollte zeigen, wie das Erbe des römischen Universalismus bei der Individuation der Nationalstaaten internalisiert und damit zum Grundprinzip dieser Individuation geworden war. Bei Meinecke trat an die Stelle des römischen Universalismus das Weltbürgertum im Sinne der romantischen Idee einer "Menschheitsnation", die sich im deutschen Nationalstaat individuiert hatte. Die Befreiungskriege gegen Napoleon waren für Meinecke ein wichtiges Datum in dieser Hinsicht, und er behauptete, daß dieses Erlebnis auch für Ranke entscheidend gewesen sei. Ranke, Hegel und Bismarck sind das Dreigestirn, das im Mittelpunkt der geistesgeschichtlichen Gratwanderung Meineckes in "Weltbürgertum und Nationalstaat" steht. Rankes Beitrag ist die Individualität der Nation, Hegel begründet die Individualität des Staates und Bismarck bewirkt, daß diese beiden Ideen sich endlich in einem konkreten deutschen Nationalstaat verkörpern können. Die geistige Versöhnung dieser an sich heterogenen Beiträge ist Meineckes große Leistung, sie machte ihn berühmt, denn für das deutsche Bildungsbürgertum war es ein Problem geblieben, den Bismarckschen Machtstaat als den Nationalstaat anzusehen, den man ersehnt hatte. Obwohl Meinecke das Weltbürgertum apostrophierte, bedeutete sein Ansatz eine nochmalige Verengung der historischen Perspektive. Ranke hatte die Entwicklung vom römischen Universalismus zum westeuropäisch-atlantischen Staatensystem aufgezeigt. Sein Problem war es gewesen, daß Deutschland nicht in das Muster der westeuropäischen Nationalstaaten paßte. Erst mit der Reichsgründung schien sich Deutschland nun auch in dieses Muster Friedrich Meinecke, Weltbürgertum und Nationalstaat (Werke Bd. 5), München 1962.
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einzufügen. Hier konnte Meinecke ansetzen, aber gerade deshalb beschränkte er sich auf eine nationalstaatliche Perspektive und vernachlässigte die Weltgeschichte, die bei Ranke - wenn auch nur in westlicher Sicht - noch im Mittelpunkt gestanden hatte. Die Wende zum tragischen
Historismus
Der triumphierende Historismus Meineckes stand und fiel mit dem konkreten Nationalstaat, um dessen geistige Rechtfertigung er sich bemüht hatte. Der Zusammenbruch dieses Staates aufgrund des verlorenen Weltkriegs löste die "Krise des Historismus" aus, die für Meinecke auch eine ganz persönliche, geistige Krise war, die er jedoch auf erstaunliche Weise bewältigte. Er entdeckte das Tragische in der Geschichte und begründete einen tragischen Historismus. Vor der Krise hatte er den Plan, seinem "Weltbürgertum und Nationalstaat" ein Werk mit dem Titel "Staatskunst und Geschichtsauffassung" folgen zu lassen, das sicher zu einem weiteren Zeugnis des triumphierenden Historismus geworden wäre. Statt dessen erschien 1924 "Die Idee der Staatsräson in der neueren Geschichte", ein Werk, das man geradezu als Manifest des tragischen Historismus bezeichnen kann.18 Meinecke wendet sich von Hegels Staatsidee ab, der Staat ist für ihn nicht mehr ein geistig-sittliches Über-Ich, sondern ein von Menschen gestaltetes Gebilde, das stets in der Gefahr steht, durch die Dämonie der Macht entstellt zu werden. Doch er sieht nicht nur die Dämonie der Macht, sondern auch die des ihr zugrundeliegenden Denkens. Die Legitimierung des praktischen Machiavellismus in der idealistischen Philosophie Hegels verurteilt er jetzt, und Rankes praktischen Hegelianismus findet er bedenklich. Auch Bismarck, der Dritte in dem von ihm in "Weltbürgertum und Nationalstaat" verherrlichten Bunde, zeigt sich nun in ganz anderem Licht: Er verkörpert die machtpolitische Staatsräson. Bismarck huldigte dem praktischen Machiavellismus und nicht dem idealistischen Hegels. Er war nicht Vollstrecker einer historischen Idee, sondern Architekt eines prekären Staatsgebildes, das nur mit den Mitteln seiner Politik erhalten werden konnte. Diese Politik ist sowohl rücksichtslos als auch besonnen - je nachdem worauf es ankommt. Das aber ist der Inbegriff der Staatsräson, die der Selbsterhaltung des Staates dient. Es ist jedoch bezeichnend, daß Bismarck, der in Meineckes früherem Werk eine Schlüsselrolle spielt, in der "Idee der Staatsräson" nur noch beiläufig erwähnt wird. Statt Bismarck nimmt nun Friedrich der Große eine Schlüsselrolle ein, der für Meinecke der reinste Repräsentant der Staatsräson ist. Eingeschwo-
Friedrich Meinecke, Die Idee der Staatsräson (Werke Bd. 1), München 1957.
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ren auf den Primat der Geistesgeschichte bleibt Meinecke nach wie vor. Er behält auch seine Methode der Gratwanderung von einem bedeutenden Denker zum anderen bei. Es ist jedoch bemerkenswert, daß er im Schlußkapitel der "Idee der Staatsräson" plötzlich ganz andere Töne anschlägt und Nationalismus, Militarismus und Kapitalismus als die großen Kräfte seiner Zeit identifiziert, deren weiteres Zusammenwirken gefährliche Konsequenzen haben dürfte. Methodisch gesehen geht er in seinem Aufsatz "Kausalitäten und Werte in der Geschichte", der bald nach der "Idee der Staatsräson" entstand, noch einen Schritt weiter.19 Er erkennt jetzt mechanische, biologische und geistigsittliche Kausalitäten an, die weitgehend unabhängig voneinander sind und deren Wechselwirkungen der Historiker ergründen muß. Dabei ist er auf eindeutige Wertsetzungen angewiesen, denn ohne diese kann er keine Kausalitäten erkennen. Meinecke geht dabei über Max Weber hinaus, der in der Nachfolge Heinrich Rickerts Wertbeziehung und Werturteil streng voneinander trennen wollte und eine wertfreie Wissenschaft forderte. Meinecke, der nun einsah, daß der Mangel an einer Wertlehre ein entscheidender Nachteil des Historismus war, hielt eine solche Trennung für unmöglich und verlangte das klare Werturteil. Dies war ein integraler Bestandteil seiner Wende vom triumphierenden zum tragischen Historismus - war er zuvor ein Historiker gewesen, der den historischen Prozeß von seinem vermeintlich positiven Endergebnis her zu würdigen verstand, so wurde er jetzt zum Mahner, der vor den Gefahren der Zukunft warnte. Die Aporie des tragischen
Historismus
Meinecke gerät mit seiner Forderung nach dem Werturteil in eine Aporie. Das Werturteil gehört zum geistig-sittlichen Bereich, dem er bei aller Anerkennung "mechanischer und biologischer Kausalitäten" weiterhin den Vorrang gibt. Nur kann er nicht sagen, wie geistig-sittliche Wertsetzungen die Erforschung dieser anderen Kausalitäten begründen können. Er gesteht selbst ein, daß dies ein Rätsel sei, das der Historiker nicht lösen könne und das es nur im Glauben zu lösen sei, fügt aber gleich hinzu: "Aber den Glauben, daß irgendein Philosoph diese transzendente Lösung gegeben hat oder noch geben könnte, haben wir verloren."20 Diese Aporie beschäftigte Meinecke bis ans Ende seines Lebens. Er hätte sich ihr entziehen können, indem er den Historismus aufgegeben und eine
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Friedrich Meinecke, Zur Theorie und Philosophie der Geschichte (Werke Bd. 4), München 1965, S. 61ff. Ibid., S.81.
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andere Grundlage für die Arbeit des Historikers gesucht hätte. Statt dessen bemühte er sich um eine Rehabilitierung des Historismus in seinem dritten großen Werk, das unter dem Titel "Die Entstehung des Historismus" erschien und daher auf den ersten Blick den Eindruck erwecken muß, als handele es sich lediglich um einen Beitrag zur Wissenschaftsgeschichte.21 Wer an das Werk unter diesem Gesichtspunkt herangeht, wird zu seiner Verwunderung feststellen, daß es da aufhört, wo es eigentlich anfangen sollte und in einer ausführlichen Auseinandersetzung mit Goethe gipfelt, von dem niemand sonst behauptet hätte, daß er zu den Vätern des Historismus gehöre. Der Grund für Meineckes Apotheose Goethes liegt darin, daß er - wie bereits erwähnt - den Glauben an die Philosophen verloren hatte, aber in Goethe den Denker zu finden hoffte, der ihn aus der Aporie, in der er sich befand, hinausführen konnte. Goethes harmonisches Verhältnis zu Natur und Geist bedeutete einen Brückenschlag über Abgründe, die sich vor Meineckes Augen auftaten, nachdem er Hegels "Weltgeist" die Gefolgschaft aufgekündigt hatte. Nun behauptete Meinecke, der in seinen früheren Werken kaum etwas mit Goethe anzufangen wußte und sogar etwas abschätzig von seinem Quietismus gesprochen hatte, daß Goethe bereits schon vor Ranke den Bann gebrochen hätte, in den die teleologische Auffassung der Universalgeschichte das geschichüiche Denken schlug. Die Flucht zu Goethe aus der Aporie des tragischen Historismus war für andere Historiker nicht leicht nachvollziehbar. Selbst Meinecke tat sich schwer, mit all jenen krassen Bemerkungen fertig zu werden, die Goethe über die Geschichte gemacht hatte, die Goethes geistigem Ordnungssinn so sehr zuwider war - und er ging dieser Auseinandersetzung nicht aus dem Wege. Dagegen wirkte das, was er zum Nachweis eines historischen Sinns bei Goethe vorbringen konnte, wenig überzeugend. Es war in erster Linie der Entwicklungsgedanke bei Goethe, der von Hegel dann vollendet, aber auch vergewaltigt wurde, den Meinecke hervorhob. Der Werdegang des Entwicklungsgedankens bis zu Goethe ist denn auch der eigentliche Gegenstand der "Entstehung des Historismus". Die "Entstehung des Historismus"
als seine
Rehabilitierung
Meinecke holt weit aus, um seinen Gegenstand in den Griff zu bekommen. Es ist die platonisch-plotinische Tradition (Piaton 427-347 v.Chr, Plotinos 205-270 n.Chr.), auf die er zurückgreift. In der neueren Zeit setzt er bei Shaftesbury (1671-1713) und bei Leibniz (1646-1716) an und diskutiert auch die Friedrich Meinecke, Die Entstehung des Historismus (Werke Bd. 3), München 1965.
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Ideen Vicos (1668-1744) ausführlich. Während Shaftesbury und Leibniz dem am Individualitätsprinzip orientierten Denken Meineckes nahestanden, war dies bei Vico problematisch, weil es ihm eher um unbewußte kollektive Geschichtsprozesse ging als um Geistesgeschichte und Individuation, die für Meinecke so wichtig waren. Doch empfahl Vico sich Meinecke dadurch, daß er ganz entschieden quer zur naturrechtlichen Sichtweise der Aufklärung stand. Die Sichtweise der Aufklärung, die von der Annahme der menschlichen Invarianz geprägt war, war mit dem Historismus unvereinbar. Meinecke setzte sich aber auch mit den prominenten Vertretern der Aufklärung wie Voltaire (1694-1778) und Montesquieu (1689-1755) auseinander. An Voltaire schätzt er die klare Darstellung der Idee der Staatsräson, und Montesquieu, den er für bedeutender hielt als Voltaire, erschien ihm geradezu als verkappter Vertreter des Historismus, den nur die Ungunst der frühen Geburt nicht zur vollen Entfaltung seiner Einsichten gelangen ließ. Er schreibt über ihn: "Hier haben wir nun einen der Fälle in der Geistesgeschichte, wo das geistige Klima einer Zeit die Entwicklung eingeborener Fähigkeiten und Triebe, die in einem anderen Zeitalter sich vielleicht prachtvoll hätten entfalten können, niederhält oder umbiegt." 22 Sehr ausführlich behandelt er auch Hume (1711-1776), zu dessen Geschichtsschreibung er etwas sagt, was er wohl aus der eigenen Erfahrung ableitete: "Große Geschichtsschreibung entspringt immer aus der werdenden Geschichte selbst, das heißt aus dem Leben, und erhält ihre erste Grundrichtung durch die Lebenskämpfe und Lebensziele, in deren Mitte der Erzähler steht. Je nachdem blickt er verschieden auf die Dinge, ob er in beruhigter oder kampferfüllter Zeit schreibt, ob er einen Siegesbericht erstattet oder die Ursachen erlebten Grauses zu ergründen sucht."23 Er sieht Humes Hauptinteresse darin zu erklären, wie es zum "Government of Laws" in England gekommen sei. Dies veranlaßte ihn, sich zuerst mit der Zeit der Stuarts zu beschäftigen, und dann "drängte ihn dies Grundinteresse immer weiter in die ihn viel weniger anziehenden älteren Zeiten, um die Kette der Kausalitäten [...] vollständig zu machen." Die von einer Wertsetzung angetriebene Kausalitätsforschung, die Meinecke forderte, wird ihm also an diesem Beispiel deutlich. Einen Höhepunkt erreicht das historische Denken in England dann in Edmund Burke (1729-1797), und Meinecke fragt sich, warum sich gerade in England dieser historische Sinn ausbildete und gibt darauf die Antwort: "weil es dasjenige Staatswesen Europas war, das die stärkste Integration in sich bisher erfahren, das heißt [...] die Interessen der Gesellschaft mit den
23
Meinecke, Historismus, S. 157. Ibid., S. 216.
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Interessen und Institutionen des Staates verschmolzen hatte."24 Dies klingt wie ein Echo der Meinung Rankes, der in England den vollendetsten europäischen Nationalstaat sah. Ferner lobt Meinecke Burkes "konservative Weltfrömmigkeit" und bezeichnet sie als eine "Grundstimmung, deren der kommende Historismus bedurfte, um in der irrational gewachsenen geschichtlichen Welt dennoch eine Vernunft zu finden, die nicht mit der reinen Vernunft allein, sondern nur im Zusammenwirken aller seelischen Kräfte zu finden war. Shaftesbury [...] hatte diese Weltfrömmigkeit schon besessen. In Goethe erreichte sie dann ihre tiefste und reichste Ausbildung, in Ranke ihre universalste Anwendung auf die geschichtliche Welt."25 Damit ist zugleich Zweck und Ziel der Rehabilitierung des Historismus angesprochen. "Die deutsche
Bewegung"
Nach diesem Streifzug durch die europäische Geistesgeschichte wendet sich Meinecke im zweiten Teil seines Buches der "deutschen Bewegung" zu, die er in zwei Gruppen aufteilt: Auf der einen Seite stehen Lessing, Winckelmann, Schiller und Kant und auf der anderen Moser, Herder und Goethe. Die erste Gruppe, die einem rationalistisch-progressistischen Geschichtsbegriff huldigt, scheidet er für die weitere Betrachtung aus und wendet sich allein der zweiten zu, die von einem schöpferischen Antrieb beseelt ist und das Geheimnis der Individualität im Leben und in der Geschichte kennt. Bei Justus Moser (1720-1794) lobt er das Streben nach "Totaleindrücken", die Bemühung, "Tangenten anzulegen" an den Gegenstand der historischen Forschung, um ihn von allen Seiten zu erfassen, auch die kritische Sorgfalt, mit der er der Überlieferung begegnet. Er zitiert Moser (1767): "Ich fühle alle Augenblicke, daß das Kostüm der Worte und der damit verknüpften modernen Begriffe dem Geschichtsschreiber unendliche Mühe macht." Meinecke bezeichnet Mosers Denken als typisch konservativ und bemerkt dazu: "Es gehört vielleicht zum Wesen des modernen Historismus, daß seine Entstehung verbunden war mit einem Unbehagen, einer Kritik an der eigenen Zeit und dem in ihr waltenden Geiste, f...]."26 Man möchte dazu anmerken - was Meinecke freilich nicht tut - daß es dem Historismus schlecht bekam, als er sich in seiner triumphierenden Phase allzu behaglich fühlte, und daß er erst nach seiner tragische Wende wieder eine kritische Potenz erwies, sich aber auch seiner Aporie bewußt wurde.
1 4 25 26
Meinecke, Historismus, S. 268. Ibid., S. 275. Ibid., S. 346.
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Den eigentlichen Durchbruch des von ihm so hoch geschätzten Individualitätsgedankens sieht Meinecke dann im Werk Herders (1744-1803), der für ihn eine zutiefst tragische Erscheinung ist. In seinen früheren Werken hatte er ihn nur beiläufig erwähnt, war er doch für die Kulturnation und gegen den Staat und die Staatsräson - und war daher für ihn damals fast ebenso unbrauchbar wie Goethe. Jetzt aber zog ihn die Tragik Herders an, und er versuchte, sie zu ergründen. Herder litt an dem Deutschland seiner Zeit und haßte den preußischen Eroberungsstaat. Sein Humanitätsideal war mit dem Staat als geschichtlichem Phänomen, so wie er sich entwickelt hatte, nicht vereinbar. Er wurde dem Staat innerlich gram. "Derart, daß seine Absicht, jedes geschichtliche Phänomen als Naturerzeugnis zu verstehen, an diesem Grame zerschellte."27 Nun fühlte sich Meinecke dem Staat, in dem er lebte als er dies schrieb, auch nicht gerade sehr verbunden, und das mag sein Verständnis für Herders Situation sehr gefördert haben. Ähnlich steht es wohl mit den Worten, mit denen Meinecke die Lage des späten Herder nach der französischen Revolution schildert: "Es gehört zu den schwersten Belastungen historischen Denkens, wenn der Denkende in keinem der miteinander kämpfenden Heerlager der Zeit einen Hoffnungspunkt für die Zukunft zu finden vermag." 28 Herders Humanitätsideal war das Gegengewicht zum historischen Relativismus, doch gerade dieses Humanitätsideal verwehrte ihm die Einsicht in die Notwendigkeit der Entwicklung der modernen Nationalstaaten. Meineckes Empathie für Herder, die ihm früher gefehlt hatte, ist bezeichnend, doch gerade, da er sich jetzt mit ihm weitgehend identifiziert, möchte er dort nicht stehenbleiben, wo Herder scheiterte, mit Goethe brach und gegen Kant polemisierte, sondern wirft nun alle seine Hoffnung auf Goethe. "Die deutsche
Katastrophe"
Am Ende seines langen Lebens wurde Meinecke Zeuge des zweiten Zusammenbruches des deutschen Nationalstaats und schrieb darüber sein letztes Buch: "Die deutsche Katastrophe".29 Im Bemühen, die Gründe dieser Katastrophe zu erklären, wendet er sich von seiner früheren Methode der "Gratwanderung" ab und berücksichtigt den Einfluß der Massen auf die Politik, die dann auch zu einem "Massenmachiavellismus" führen kann. Er erwähnt in diesem Zusammenhang auch die Bevölkerungsvermehrung und bezeichnet Nationalismus und Sozialismus als "instinktiv tastende Versuche, 1
'
28
29
Meinecke, Historismus, S. 421. Ibid., S. 432. Friedrich Meinecke, Die deutsche Katastrophe, Wiesbaden 1946, 6. Aufl. 1965.
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die Probleme für die Menschheit zu lösen, die durch den in der Weltgeschichte bisher unerhörten Bevölkerungszuwachs entstanden waren."30 Ferner beschäftigt er sich mit dem neuen Menschentyp des "Homo faber", der einseitig auf technische Hochleistung ausgerichtet ist und, wenn er dann plötzlich ein metaphysisches Defizit verspürt, bereit ist, sich irgendeinem Glauben zu verschreiben, der gerade in Mode ist. Der Techniker Alfred Rosenberg, der den "Mythos des 20. Jahrhunderts" schrieb und zu Hitlers Chefideologen wurde, verkörpert für Meinecke diesen Typ.31 Doch Meinecke beschäftigt sich nicht nur mit dem Hintergrund der Katastrophe, sondern auch mit den Ereignissen, die zu ihr beigetragen haben. Dabei betont er die Rolle des Zufalls in der Geschichte und bezieht sich dabei auf Hindenburg, der ohne zwingende Notwendigkeit nach seiner kurz zuvor erfolgten Wiederwahl zum Reichspräsidenten Hitler die Machtergreifung ermöglichte, indem er ihn zum Reichskanzler ernannte. Die Katastrophe, die Meinecke schildert, war daher für ihn keineswegs unvermeidlich. Sie wurde durch Fehlentscheidungen herbeigeführt, die er benennen zu können glaubt. Die Tragik der Katastrophe liegt also nicht in ihrer schicksalhaften Unabwendbarkeit, sondern darin, daß es möglich gewesen wäre, sie zu verhindern, daß aber der Mann, der die Macht dazu gehabt hätte und der vom Vertrauen der Mehrheit des Volkes getragen war, unfähig war, diese Macht zu nutzen. Zu den Problemen des Historismus nahm Meinecke in diesem letzten Werk nicht mehr Stellung. Für die Erklärung des historischen Wandels ergeben seine Hinweise auf den Bevölkerungszuwachs, die Rolle der Massen und den Aufstieg des "Homo faber" einige Ansätze. Im Grunde knüpfte er hier an das an, was er in seinem Aufsatz über "Kausalitäten und Werte in der Geschichte" gesagt hatte und ging nicht wesentlich darüber hinaus. Die Tragik seines eigenen Lebens war es, daß er, der zu Beginn des Jahrhunderts die Synthese von Macht und Geist im deutschen Nationalstaat verkündet hatte, miterleben mußte, wie dieser Staat in Ohnmacht und Ungeist zusammenbrach. Als der Zweite Weltkrieg in Deutschland endete, war Meinecke 82 Jahre alt. Man hätte ihm nicht verargen können, wenn er verbittert geschwiegen hätte, dennoch schrieb er die "Deutsche Katastrophe" und schloß das Buch mit den Worten: "Wir heißen Euch hoffen."
30 31
Meinecke, Katastrophe, S. 15 f. Ibid., S. 60.
7. Die Entgrenzung der Welt und das Weltsystem: Braudel und Wallerstein 7.1. Fernand Braudel: Vom Mittelmeer zur entgrenzten Welt Fernand Braudel (1902 - 1985) war der bedeutendste Vertreter der AnnalesSchule der Geschichtswissenschaft, über die im 10. Kapitel im Zusammenhang mit der "Konjunkturgeschichte" berichtet werden soll. Er schuf in seinem großen Werk über den Mittelmeerraum im 16. Jahrhundert geradezu ein Monument der Annales-Schule. 1 Dieses monumentale Werk soll hier zunächst näher betrachtet werden. Die Struktur dieses auf drei Ebenen angelegten Werks ist schon in seinem etwas umständlichen Titel angedeutet: Titel
Teile des Buches
Sachgebiet
La Méditerranée et le monde méditerranéen a l'époque de Philippe II
La part du milieu Destins collectifs et mouvements d'ensemble Les événements,la politique et les hommes
Strukturgeschichte Konjunkturgeschichte Ereignisgeschichte
Das Werk wurde offenbar bewußt als Beispiel einer Synthese der Methoden der Annales-Schule geschrieben und die Bezeichnung "époque de Philippe II" - statt einer neutraleren Bezeichnung wie etwa "XVIe siècle" - nicht etwa deshalb gewählt, weil dieser König seine Epoche entscheidend geprägt hat, sondern um Braudel die Gelegenheit zu geben, zu zeigen, wie nebensächlich die Tatsache, daß dieser König damals herrschte, letztlich war. Der König ist für Braudel der Repräsentant der Ereignisgeschichte, die von zweitrangiger oder genauer gesagt sogar drittrangiger Bedeutung ist. Wo immer sich eine Gelegenheit bietet, demonstriert Braudel den ephemeren Charakter großer Ereignisse. Über die berühmte Seeschlacht von Lepanto (1571), die er ausführlich schildert, sagt er, daß sie letztlich keine bedeutsamen Konsequenzen gehabt habe. Es ist dies für ihn geradezu ein Paradebeispiel für die Unwichtigkeit der Ereignisgeschichte, die er nur zu gern betont. Fernand Braudel, La Méditerranée et le monde méditerranéen a l'époque de Philippe II, 2 Bde., Paris (2. Aufl.) 1966.
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Braudels großes Werk hat die Proportionen eines riesigen Deckengemäldes, in dem verschiedene freischwebende Gruppen in Beziehungen zueinander stehen, die erst bei intensiverer Betrachtung deutlich werden. Braudel hatte schon zuvor etliche "konjunkturgeschichtliche" Einzelstudien zum Mittelmeerhandel verfaßt, daher ist der zweite Teil des Werks der forschungsintensivste. Der erste Teil wurde vorgeschaltet, um den Ort der Handlung zu charakterisieren, der dritte Teil aber absichtlich als ein Schattenspiel inszeniert, in dem die Gestalten der Ereignisgeschichte vor den monumentalen Strukturen und Konjunkturen der "longue durée" vorübergleiten. Diese meisterhafte Inszenierung ist Braudel vielleicht deshalb so gut gelungen, weil er das große Werk im Gefangenenlager fast ohne Hilfsmittel schrieb und ihm diese Arbeit half, über die bedrückende Ereignisgeschichte seiner Zeit hinwegzukommen. Die Strukturgeschichte ist in diesem Buch eine Geschichte der nahezu statischen geographischen und klimatischen Gegebenheiten. Das eigentlich Faszinierende ist dagegen die Konjunkturgeschichte, insbesondere die Geschichte des Seehandels und der Zirkulation des Geldes im Mittelmeerraum in diesem letzten Jahrhundert, in dem dieser Raum noch von weltgeschichtlicher Bedeutung war, während er bald darauf zu einem Seitenschauplatz der Weltgeschichte wurde. Bemerkenswert an dieser Konjunkturgeschichte ist es, daß sie nationale Grenzen überschreitet und christliche und islamische Mächte als gleichgestellte Mächte im Kampf um die Beherrschung der Handelswege zeigt. Braudels Geschichtsauffassung steht der von Marx nahe; auch er glaubt, daß sich die wichtigsten Vorgänge in der Geschichte dem Bewußtsein der Menschen entziehen und erst durch die analytische Rekonstruktion erkannt werden können. Aber Marx hätte wohl an Braudels Konjunkturgeschichte kritisiert, daß er neben der Entwicklung des Handels und der Zirkulation des Geldes nicht genug über die Produktionsverhältnisse ausgesagt hat. Hätte Braudel versucht, das zu tun, wäre dadurch der Rahmen seines Werkes gesprengt worden. Seehandel und Geldzirkulation gaben dem Mittelmeerraum eine Einheit und damit Braudels Werk eine Struktur. Die Erforschung der Produktionsverhältnisse hätte viele regionale Fallstudien erfordert. Das Monumentalwerk der Annales-Schule ist also auf diesem Gebiet nicht richtungsweisend, und es ist kein Zufall, daß es hauptsächlich Seehandelshistoriker begeistert hat.
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Braudels Weg zur entgrenzten Welt In dem großen Werk über die Geschichte des Mittelmeerraums hat Braudel den historischen Wandel überhaupt nicht thematisiert. Sein in erster Linie kulturgeographischer Ansatz läßt den Zusammenhang im Raum deutlicher erscheinen als den Wandel in der Zeit. Erst das ebenfalls räumliche Konzept der fortschreitenden Entgrenzung gibt ihm einen Zugang zum historischen Wandel. Das Mittelmeer hat als weltgeschichtlicher Schauplatz am Ende des 16. Jahrhunderts ausgedient. Die großen Seefahrten und Entdeckungen, die von dort ausgegangen waren, bezogen nach und nach alle Weltmeere in einen neuen weltgeschichtlichen Zusammenhang ein, um den es Braudel in seinem großen Werk "Civilisation materiélle, économie et capitalisme, XV e XVIII e siècle" (1979) geht.2 Wieder ist es eine Trilogie, die einen Schichtenbau skizziert. Der erste Band hat den etwas irreführenden Titel "Les structures du quotidien" - in der deutschen Übersetzung einfach "Der Alltag". Der Untertitel "Le possible et l'impossible" trifft die Absicht seiner Darstellung wesentlich besser. Es geht um Themen wie Demographie, Nahrungsmittel, Technik, Geld, sozusagen um die Rahmenbedingungen der Entfaltung dessen, was im zweiten Band über den Handel gesagt wird. Der Handel ist die Vernetzung, um die es ihm eigentlich geht, er ist auch der Entstehungsgrund für den Handelskapitalismus, den er in allen Einzelheiten darstellt. Erst der dritte Band über den Aufbruch zur Weltwirtschaft kommt dann zum Thema des Übergangs zum Industriekapitalismus, der aus dem Handelskapitalismus hervorgeht. Braudel bekennt, daß er der Stufentheorie von Marx folgt, aber nicht an die zwangsläufige Sequenz der Stufen glaubt. Die Anlage seiner Trilogie, so sagt er, schreitet vom unbewußten Fundament zur bewegten Spitze des Kapitalismus fort. Er entwickelt dieses große Thema Schritt für Schritt und breitet viel illustratives Material aus. Auch hier mutet seine Darstellung wieder wie ein großes Deckengemälde an, dessen freischwebende Einzelfiguren sich erst bei längerer Betrachtung in ihrem Zusammenhang erkennen lassen. Die "Konjunkturen" und die langfristigen Trends faszinieren ihn wie immer. Sie zwingen ihn dazu, über das 15. Jahrhundert in die Vergangenheit zurückzugehen und die Zeit des 11. bis 13. Jahrhunderts und den schweren Rückschlag im Europa des 14. Jahrhunderts ins Blickfeld zu nehmen.
Fernand Braudel, Civilisation materiélle, économie et capitalisme, X V e - X V l I l e siècle, 3 Bde, Paris 1979 (dt. Übers.: Sozialgeschichte des 15.-18. Jahrhunderts, 3 Bde., München 1986).
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Die europäischen Städte als Knotenpunkte des Handels stehen im zweiten Band im Mittelpunkt seines Interesses, und er verfolgt die Sequenz der Vorherrschaft von Städten, die in ihrer Periode jeweils die europäische Weltwirtschaft beherrschen (Venedig, Antwerpen, Amsterdam), die alle Methoden des Handelskapitalismus ausbilden, die sie selbst nicht erfunden haben, sondern nur effizient anwenden. Er betont auch, daß diese Städte mit der Macht des Geldes alles beherrschen, was zu ihrer Entfaltung erforderlich ist und sich daher auch nicht um die Entwicklung des Primärsektors zu kümmern brauchen, von dem sie sich emanzipiert haben. Doch er widmet auch dem Staat seine Aufmerksamkeit, der die Städte unter seine Herrschaft zwingt, sie integriert und bremst, aber oft zu neuer Blüte bringt. Die großen Handelsstädte haben internationale Bedeutung, doch erst die Entstehung von nationalen Märkten und die Funktion der Städte in diesem Kontext führt zur Ausprägung des modernen Kapitalismus. London schafft einen Staat nach seinem Bilde, während diese durchschlagende Wirkung früheren Handelsmetropolen versagt blieb. In dem Band, der der Weltwirtschaft gewidmet ist und den bezeichnenden Titel "Le temps du monde" hat, skizziert Braudel die Entgrenzung der Welt, die darin besteht, daß die über verschiedene Stufen fortschreitende europäische Weltwirtschaft, die vom Mittelmeer aus den ganzen europäischen Kontinent umfaßt, die drei anderen großen Weltwirtschaften, die russische, die sich bis nach Sibirien ausdehnt, die islamisch-türkische und den "Fernen Osten" durchdringt. Im Unterschied zu dem Tableau oder Panorama der ersten beiden Bände ist in diesem dritten die zeitliche Entfaltung von zentraler Bedeutung. Die europäische Expansion zwingt Braudel zur Auseinandersetzung mit der außereuropäischen Welt. Er gesteht ein, daß seine Sichtweise dabei notgedrungen eurozentrisch ist, aber er bemüht sich, die Eigendynamik der anderen Weltwirtschaften im Auge zu behalten. Das wird besonders bei seiner Behandlung des "Fernen Ostens" deutlich, wo er sich Indien als Beispiel vornimmt und die Entwicklung einer Weltwirtschaft zeigt, die in Produktion und handelskapitalistischer Organisation Europa vieles voraus hatte, aber letztlich doch unter europäische Herrschaft geriet. Am Ende seines großen Werks bemüht er sich um eine Erklärung des Übergangs vom Handelskapitalismus zum Industriekapitalismus in England und faßt dabei die neuere Forschung zur industriellen Revolution zusammen, die die Bedeutung der vorgeschalteten agrarischen und finanziellen Revolutionen betont, die Bedeutung der Technik herabstuft und statt dessen die organisatorischen Faktoren hervorhebt. Es geht letztlich um das Problem der gesellschaftlichen Effizienz, das Braudel nicht so benennt, aber doch anvisiert.
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Das Alterswerk: Die Zuwendung zur Geschichte Frankreichs Am Ende seines Lebens plante Braudel noch einmal eine große Trilogie, die "La identité, la naissance" und "Le destin de la France" umfassen sollte. Sie blieb unvollendet, nur der erste Teil wurde vollendet und liegt jetzt in drei Bänden vor.3 Der erste Band (Raum und Geschichte) ist wie der erste Teil von "La Méditerranée" der historischen Geographie gewidmet, beim zweiten Band (Die Menschen und die Dinge) steht die Bevölkerungsgeschichte im Vordergrund und im dritten Band (Die Dinge und die Menschen) geht es um die Wirtschaftsgeschichte. Die Botschaft des ersten Bandes ist die ungeheure Vielfalt Frankreichs. Braudel schildert das Muster der vielen kleinen Regionen, aber auch die große Sprach- und Volkstumsgrenze zwischen Süden und Norden. In der zweiten Hälfte dieses ersten Bandes geht es um die Städte als Knotenpunkte. Es werden dabei Beispiele herausgegriffen wie Besançon, das wegen seiner natürlichen Befestigung in einer Flußschleife eine bedeutende Handels- und Verwaltungsstadt war, in neuerer Zeit aber isoliert und vergessen wurde, weil es im Abseits der großen Eisenbahn- und Straßenstrecken liegt. Historischer Wandel wird auf diese Weise nur immer episodisch eingeblendet. Braudels Entwurf ist wieder einmal ein faszinierender Bilderbogen. Es geht ihm hauptsächlich darum, dem Mythos der Einheit Frankreichs und der zentralistischen Betrachtungsweise entgegenzuwirken. Das gelingt ihm sehr gut, doch treten dabei natürlich die zentrifugalen gegenüber den zentripetalen Tendenzen in den Vordergrund. "La naissance de la France", die er nicht mehr beschreiben konnte, sollte dann wohl vor diesem vielfältigen Hintergrund die zentripetalen Tendenzen hervorheben. Die im zweiten Band dargestellte Bevölkerungsgeschichte holt weit aus. Braudel beginnt mit den vorgeschichtlichen Wanderungsbewegungen, um nachzuweisen, daß Frankreich schon früh zu einer Art Fischreuse wurde, in der Wanderungen aller Art ihren Endpunkt fanden. Dies führte zu einer gemischten Bevölkerung und zu einer für vorgeschichtliche Verhältnisse bereits beträchtlichen Bevölkerungsdichte. Die Kelten überlagerten diese Bevölkerung und beherrschten einen Raum mit fortgeschrittenem Ackerbau und entwickelter Infrastruktur. Dies ermöglichte es den Römern unter Cäsar, Gallien rasch zu erobern, während das weniger entwickelte Spanien ihnen größere Schwierigkeiten bei der Eroberung entgegensetzte. Es kam hinzu, daß die Römer schon ein Jahrhundert vor Cäsar ihre Position in Südfrankreich ausgebaut hatten (Provence). Unter den Römern erFernand Braudel, Frankreich, 3 Bde., Stuttgart 1989/1990.
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Theorien des historischen Wandels
lebte Gallien einen raschen Aufschwung, der aber auch mit der besonderen Art der mit Sklaven auf Latifundien betriebenen Landwirtschaft zusammenhing. Aufstände marginalisierter Bauern und in den Wäldern Zuflucht suchender "Banditen" flammten immer wieder auf. Die "Barbarenstürme", die dem römischen Reich auch in Gallien ein Ende setzten, relativiert Braudel und weist statt dessen auf einen langen Abschwung hin, der von ca. 150 bis 950 andauerte. Auch das karolingische Reich relativiert er, weil es seiner Ansicht nach ephemerer Art war und das Territorium, das ihm zugeschrieben wird, nur sehr indirekt beherrschte. Die Herrschaft Karls des Großen und sein Kaisertum sieht Braudel nicht als Beginn einer neuen Zeit an; er vergleicht ihn eher mit Diokletian und läßt ihn so als Vertreter einer alten Ordnung und nicht als den Stifter einer neuen erscheinen. Der neue Aufschwung ab 950, der bis 1350 reicht, wird von Braudel geradezu als eine erste Neuzeit bezeichnet. Sie zeichnet sich durch die auf der Leibeigenschaft beruhende Ausdehnung der Landwirtschaft und das feudale Lehnswesen aus. Den vier Jahrhunderten dieses Aufschwungs folgt ein Jahrhundert des raschen und schrecklichen Abschwungs. Erst 1450 beginnt ein neuer Aufschwung, der bis heute anhält. Die Bevölkerungsvermehrung, die Frankreich von ca. 1000 bis 1300 von rund 6 auf 20 Mill. Einwohner anwachsen läßt, stößt bereits vor 1300 an gewisse Grenzen, denn die Rodung der Wälder und die Ausdehnung der Nutzfläche kann nicht noch weiter vorangetrieben werden. Zunächst bedeuten mehr Menschen eine bessere Verteidigungsbereitschaft (die Barbareneinfälle hören im 10. Jahrhundert auf), mehr Handel (die Messen der Champagne werden bedeutsam) und ein Ausgreifen über die Grenzen (die Kreuzzüge). Braudel spricht von einer Geburt Europas, das nun über das mediterrane Rom hinauswächst. Neue Technologien gehen Hand in Hand mit dieser Bevölkerungsvermehrung (Wassermühlen, das Anspannen der Pferde, das tiefere Pflügen mit eisernen Pflügen etc.). Doch in diesem Rahmen bleibt die Technologie auch, es gibt keine weiterführenden Neuerungen. Bevölkerungsstagnation und Hungersnöte machen sich dann schon vor dem Ansturm des "Schwarzen Todes" bemerkbar, der von 1350 bis 1450 die Bevölkerung Frankreichs um mehr als die Hälfte reduziert. Der "Hundertjährige Krieg" tut ein Übriges, um Frankreich zu ruinieren. Doch auch eine andere Entwicklung hat negative Auswirkungen auf Frankreich: der Aufstieg Venedigs, das einerseits über die Alpen mit Deutschland Handel treibt, andererseits zur See die flämisch- niederländische Küste versorgt, führt zu einer Umgehung Frankreichs. Bevölkerungsentwicklung und Verschiebung der Hauptrouten des Langstreckenhandels sind für Braudel die wichtigsten Determinanten des histori-
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sehen Prozesses, sowohl vor als auch nach der großen Katastrophe von 1350 bis 1450. Im Zeitalter des langen Aufschwungs nach 1450 treten ab dem 18. Jahrhundert neue Faktoren hinzu: die Praktiken der Empfängnisverhütung, die Errungenschaften der Medizin und der technische Fortschritt in Gestalt der industriellen Revolution, die er im dritten Band ausführlich behandelt. Braudels Theorie des historischen Wandels Nach der Betrachtung des Lebenswerks dieses großen Historikers stellt sich die Frage, welche Theorie des historischen Wandels man aus diesem Werk destillieren kann, denn er selbst hat eine solche Theorie nie systematisch vorgetragen. Wenn er sich überhaupt zur Aufgabe der Theorie in der Geschichtswissenschaft äußerte, dann wies er ihr allenfalls die Rolle zu, die Darstellung der Fakten adäquat zu organisieren. Er tastete sich an eine Theorie des Schichtenaufbaus heran, die besagt, daß tiefere, unbewußte Schichten langer Dauer sich in Wechselwirkungen mit sehr effektiven, aber ephemeren "Spitzenschichten" befinden. In dem großen Werk über den Mittelmeerraum im 16. Jahrhundert waren die Tiefenschichten noch die menschenunabhängigen geographischen Gegebenheiten und die Spitzenschicht die der letztlich belanglosen Ereignisgeschichte. Im sozialgeschichtlichen Hautpwerk war die Tiefenschicht dagegen die sehr menschliche des Alltagslebens und der Unterscheidung von Möglichem und Unmöglichem, die damit gegeben war. Die Spitzenschicht war nun aber die des von oben herabwirkenden Kapitalismus, die - wie Hermann Haken es sagen würde - die unteren Ebenen "versklavt". Das aber geht schon weit über Braudels Theoriebildung hinaus, die nicht einem systematisch denkenden Kopf entsprang, sondern einer mitfühlenden Seele, die sich mit erstaunlicher Empathie in vergangene Zeiten zu versetzen verstand und dabei die abstrakte Zahl mit der Anschaulichkeit des menschlichen Schicksals zu verbinden wußte.
7.2. Immanuel Wallerstein: Die Theorie vom "Welt-System" Immanuel Wallerstein ist ein amerikanischer Soziologe, der sich zunächst mit Afrika unter europäischer Kolonialherrschaft beschäftigt hatte und dabei erfuhr, daß es im Grunde keine autonome afrikanische Gesellschaft gab, sondern viele Gesellschaften, die auf verschiedene Weise von der ihnen von den Kolonialmächten übergestülpten staatlichen Ordnung geprägt worden waren. Doch auch diese staatlichen Ordnungen bildeten nicht Systeme für sich,
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sondern waren nur in einem größeren Zusammenhang zu erklären, so fand er sich auf das System der Systeme - das kapitalistische Weltsystem - verwiesen. In seinem akademischen Werdegang war er mit zwei entgegengesetzten Theorien konfrontiert worden, der marxistischen und der anti-marxistischen, die geistig-moralische Werte als primäre Motive menschlichen Handelns hervorhob. Er fand beide unzureichend, die marxistische erschien ihm zu mechanisch, die Werte-Theorie sogar noch mehr, weil sie eine noch viel engere Verbindung von Ideologie und sozialer Struktur annahm, als es der klassische Marxismus je getan hatte. 4 Auf seiner Suche nach Alternativen fand er in Fernand Braudel und seiner materiellen Strukturgeschichte einen Bundesgenossen, doch im Gegensatz zu dem kulturgeographisch geprägten Historiker Braudel, der von den nahezu statischen Strukturen langer Dauer ausging, war für ihn als Soziologen das soziale System der Ausgangspunkt. Dieses System konnte aber nicht ein beliebiges unter anderen sein, um diesem Zweck zu dienen, es mußte das System der Systeme sein; wenn es das aber war, dann war es einzigartig und bot keinen Anhaltspunkt für eine vergleichende Analyse, man konnte nur seine Geschichte erzählen. Der Zwang zur
Systemgeschichtsschreibung
Wallerstein sah sich durch die Logik seiner Argumente dazu gezwungen, genau das zu tun, was er eigentlich nicht wollte: er mußte Systemgeschichte schreiben. So konstatierte er: "I was not interested in writing its history, nor did I begin to have the empirical knowledge necessary for such task."5 Doch obwohl er diese Aufgabe zunächst von sich wies, widmete er sich ihr doch mit großem Fleiß. Er wußte von vornherein, daß er mehrere Bände füllen mußte, um seiner Aufgabe gerecht zu werden. Der erste Band "The Modem World-System I: Capitalist Agriculture and the Origins of the European World- Economy in the Sixteenth Century" erschien 1974, der zweite "The Modern World-System II: Mercantilism and the Consolidation of the European World-Economy, 1600-1750" erschien 1980, der dritte Band wurde 1989 veröffentlicht: "The Modern World-System III: The Second Era of Great Expansion of the Capitalist World-Economy, 1730-1840s". 6 Weitere Bände sind in Vorbereitung.
4
5
6
Immanuel Wallerstein, The Modern World-System I. Capitalist Agriculture and the Origins of the European Worid-Economy in the Sixteenth Century, New York 1974, S. 4. Ibid., S. 7. Der Verlagsort für alle genannten Bände ist New York (Academic Press).
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Der im ersten Band angekündigte Plan sah vier Bände vor, wobei der zweite bis 1815 führen sollte, der dritte dann die industrielle Revolution und die globale Ausdehnung des Weltsystems bis 1917 und der letzte die Zeitgeschichte behandeln sollte. Doch mit der Ausdehnung des Weltsystems wächst auch die Fülle der empirischen Fakten, die Wallerstein in sein magnum opus einzubeziehen hat und zugleich wachsen die Verdauungsbeschwerden, die sich einstellen, wenn man alles in ein System bringen will. Um hier gleich die Rezeptionsgeschichte vorwegzunehmen: Die ersten beiden Bände, vor allem der erste, machten Wallerstein berühmt und gaben zu einer Fülle von Diskussionen und Konferenzen Anlaß. Diese Phase gipfelte bald nach dem Erscheinen des zweiten Bandes in der Gründung seines nach Fernand Braudel benannten "Centers" an der State University of New York, Binghampton (SUNY). Doch danach wurde es still um Wallerstein, und er teilte in gewisser Hinsicht das Schicksal Rostows, der auf seine Weise eine unaufhaltsame Expansion der Weltwirtschaft nach einem bestimmten Muster projiziert hatte. Wallerstein selbst setzte sich übrigens mit Rostow nicht auseinander und deutete nur in einer Fußnote im zweiten Band an, daß man auch eine Wachstumstheorie vertreten könne, die der optimistischen Rostows entgegengesetzt sei, führt dies aber nicht näher aus. Im dritten Band verweist er kurz auf Rostows Begriff "take-off", doch auch dort kontrastiert er Rostows Theorie nicht mit seiner eigenen. Wallerstein gehört ohne Zweifel zu den wichtigsten Theoretikern des historischen Wandels und hat dem Historiker viel zu sagen, obwohl dem Historiker die Art und Weise, wie Wallerstein seine emsige Blütenlese betreibt, um seine Theorie zu beweisen, nicht immer behagen mag. Weltsystem
versus
Weltreich
Eine wichtige Unterscheidung, die Wallerstein gleich zu Beginn seines Werkes einführt, ist die zwischen einem Weltsystem und einem Weltreich. Das Weltsystem ist ein ökonomisch vernetztes System verschiedenster, politischer Gebilde, das Weltreich ein zentral gelenkter Staat, der in sich ökonomisch vernetzt sein kann aber nicht sein muß. Weltreiche unterdrücken sogar - so sieht es Wallerstein - die für ein Weltsystem erforderliche, grenzüberschreitende ökonomische Vernetzung. Er arbeitet dabei besonders mit dem Gegensatz China-Europa und macht den chinesischen Erfolg bei der Erhaltung eines Weltreichs verantwortlich für die Tatsache, daß es nicht in der Lage war, ein Weltsystem zu begründen. Europa wiederum konnte nur deshalb ein Weltsystem hervorbringen, weil der Versuch der Habsburger, im 16. Jahrhundert ein europäisches Weltreich zu
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schaffen, scheiterte. Diese Gegenüberstellung klingt plausibel, ist aber nicht unbedingt stichhaltig. Es gab in Asien durchaus ökonomische Vernetzungen, und die Kontrollfunktion von Weltreichen war dort bei weitem nicht so intensiv, wie es die schematische Vereinfachung erscheinen läßt. Es gab auch dort grenzübergreifende "Wirtschaftsweiten", die bei Braudel "économie monde" im Unterschied zur Weltwirtschaft (économie mondiale) heißen. Indem er diesen Unterschied nicht macht, der Braudel eine größere Fexibilität bei der Deutung der Beziehung mehrerer Systeme zueinander erlaubt, bringt sich Wallerstein in Schwierigkeiten. Doch diese sind sozusagen "systembedingt", denn von seinem Ansatz her kann Wallerstein eigentlich nicht von separaten Systemen sprechen (obwohl er es dennoch gelegentlich tut), sondern nur von einem und den in ihm enthaltenen Sub-Systemen. "Systembedingt" ist auch seine Festlegung auf das lange 16. Jahrhundert (1450 - 1640) als Geburtszeit des "Weltsystems", an der Braudel Kritik übt, der hier eine größere Fexibilität in der Zeit (Rückgriff auf das Mittelalter) fordert, so wie er sie in bezug auf den Raum durch die Existenz mehrerer "Wirtschaftswelten" postuliert.7 Die Differenzierung
des Weltsystems:
Kern, Semi-Peripherie,
Peripherie
Da Wallerstein auf die Einheit des Systems festgelegt ist und klar zwischen "System" und "Nicht-System" unterscheiden muß, kann er das System nur intern differenzieren. Er tut dies aber nicht, indem er das System in mehr oder weniger autonome Sub-Systeme zerlegt, sondern indem er eine räumlichhierarchische Ordnung einführt: Das System ist am besten repräsentiert durch seine "Kernstaaten", die von einer weitläufigen Peripherie umgeben sind, die jedoch nur in bezug auf diesen Kern definiert ist und nicht etwa als Grenzbereich zu anderen Systemen, die es definitionsgemäß außerhalb des Weltsystems nicht gibt. Zwischen Kern und Peripherie gibt es nun eine ambivalente Mittelzone, die Semi-Peripherie. Wallerstein definiert sie zunächst nach der Form des Arbeitseinsatzes in der Landwirtschaft. An der Peripherie (Osteuropa und Lateinamerika) wird mit Zwangsarbeit oder Sklaverei gearbeitet, in den Kernstaaten gibt es freie Landarbeiter und Pächter, in den Ländern der Semiperipherie wird hauptsächlich mit Teilpächtern gearbeitet (SüdFrankreich, Italien). Das System insgesamt expandiert und steigt auf, aber innerhalb des Systems ist durchaus ein Abstieg möglich: Spanien verschwindet aus der Reihe der Kemstaaten und wird zunächst zur Semiperipherie und sinkt später zur Peripherie ab.
Braudel, Sozialgeschichte , Bd. 3, S. 55, 57.
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Die im 16. Jahrhundert noch nicht kolonisierten Länder Asiens und Afrikas gehören nicht zur Peripherie; sie bleiben völlig außerhalb des Systems, obwohl sie Handelsverbindungen mit ihm haben. Die "externe Arena", wie Wallerstein dies nennt, liefert nicht mindere Güter, deren Produktion arbeitsintensiv ist (Erze, Holz, Getreide) wie die Peripherie, sondern Luxusartikel, die - so könnte man hinzufügen - auch entfallen könnten und damit nicht von wesentlicher Bedeutung sind. Wallerstein ist im Gegensatz zu Braudel produktionsorientiert und nicht handelsorientiert. Der Kapitalismus ist eine Produktionsweise und kann als solche nicht aus dem Handelskapitalismus hervorgehen, den Braudel hervorhebt. Wallerstein kommt es auf die Arbeitsteilung innerhalb des Systems an und auf die Kontrolle des Arbeitseinsatzes, die im Kern, in der Semiperipherie und Peripherie jeweils andere Formen annimmt. Die "externe Arena" ist dafür irrelevant. Wallersteins Eurozentrismus ist ebenso "systembedingt" wie die bereits zuvor erwähnten Festlegungen. Aufgrund dieser Sichtweise kann Wallerstein im Unterschied zu Braudel die große Bedeutung des internationalen Seehandels nicht erfassen, er erwähnt ihn zwar, aber dieser Handel bleibt eben für ihn buchstäblich "extern". Dagegen werden die Beziehungen zwischen Kern, Semiperipherie und Peripherie innerhalb des Systems sehr ausführlich behandelt. Die Schwerpunktverlagerungen im System werden von ihm betont, aber nicht hinreichend erklärt, weil sie eben durch die Verlagerung von Handelsströmen und die Interaktion mit der "externen Arena" bedingt sind und nicht in erster Linie durch systeminternen Wandel der Agrarproduktion und des Arbeitseinsatzes. Expansion
und Konsolidation
des Systems:
A-Phase
und
B-Phase
Eine Grundthese Wallersteins ist es, daß das von ihm identifizierte kapitalistische Weltsystem, nachdem es einmal aus der Krise des Feudalismus hervorgegangen ist, ständig weiter expandieren muß, wobei es zu Stagnations- und Konsolidierungsphasen kommen kann, aber nicht (oder zumindest zunächst noch nicht) zu einer Krise des Kapitalismus. Das System stabilisiert sich selbst. Die sogenannte A-Phase der zügigen Expansion (1450 - 1640) ist in dieser Hinsicht problemlos, Probleme bereitet dagegen die danach einsetzende B-Phase, die in der Literatur als "die Krise des 17. Jahrhunderts" bekannt ist. Wallerstein bezeichnet diese Phase jedoch als eine Periode der Konsolidierung und kontrastiert sie mit der Krise des Feudalismus von 1300 bis 1450, die auch einer Zeit des Aufschwungs gefolgt war. Dem Feudalismus fehlte es eben an dem Stabilisierungspotential, das der aufstrebende Kapitalismus hatte. Während Wallerstein aber in der A-Phase die die politischen
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Einheiten übergreifenden Wirkungsmechanismen des Systems hervorhob, sind in der B-Phase die "starken Kernstaaten" für ihn von besonderer Bedeutung, und das sind England und die Niederlande und erst an dritter Stelle Frankreich, während Spanien und Portugal in die Peripherie abrutschen. Der Kampf dieser Kernstaaten untereinander ist denn auch ein Hauptthema seines zweiten Bandes. Er unterteilt die Darstellung dieses Kampfs in zwei Perioden: 1651 - 1689 und 1689 - 1763. Der Kampf der Kernstaaten des Systems In der ersten Periode dieses Kampfs der Kernstaaten geht es in erster Linie um die Kontrolle des Seehandels von den "Navigation Acts" (1651) bis zur "Glorious Revolution", die dazu führt, daß Wilhelm von Oranien in London den Thron besteigt, die beiden Vormächte vereint und sie gemeinsam zum Kampf gegen die dritte - Frankreich - führt, woraus sich ein nur hier und da unterbrochener Dauerkrieg ergibt, der am Ende der zweiten Periode mit dem Frieden von Paris sein Ende findet. Die Stärke des Staates besteht für Wallerstein letztlich darin, daß er zum effizienten Instrument der herrschenden Klasse wird. Absolutistische Propaganda täuscht dabei eher über Schwächen hinweg, als daß sie echte Stärke manifestiert. Er beschreibt dies wie folgt: "Eine selbstbewußte Bourgeoisie kann ein Einverständnis über die notwendigen kollektiven Maßnahmen erzielen, die anderenorts nur von einem mächtigen König durchgesetzt werden können, und sie vermeidet dabei die Gefahren der Herrschaftsform, die einen solchen mächtigen König dazu verleiten kann, den Versuch zu unternehmen, eine "Universalmonarchie" in einer kapitalistischen Weltwirtschaft zu errichten. Es war genau diese fehlgeleitete Nachahmung Karls V., die Burckhardt Ludwig XIV. und später Napoleon vorwarf. Es war eine Torheit, die aus der Schwäche erwuchs." 8 Die Niederlande und nach ihnen England verstanden es besser, den Staat zum Instrument der Bourgeoisie zu machen. Die Konsolidierungsphase, die von den in diesem Sinne starken Staaten beherrscht wurde, war übrigens eine Phase, in der es der großen Masse der armen Bevölkerung schlecht ging und die Umverteilung von unten nach oben, die bereits in der A-Phase eingesetzt hatte, unvermindert fortschritt. Preise und Löhne blieben langfristig sehr niedrig. Die Nachfrage nach Gütern des gehobenen Bedarfs blieb daher beschränkt. Der Handel mit Agrarprodukten war immer noch wesentlich bedeutsamer als jeder andere. Er
Wallerstein, The Modern World-System, Bd. 2, S. 114.
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spielte auch weiterhin für die Beziehungen der Kernstaaten zu Semiperipherie und Peripherie die wichtigste Rolle. Semiperipherie, Peripherie und externe Arena im 17. Jahrhundert Die Staaten außerhalb der Kemstaaten ergeben im 17. Jahrhundert ein krauses Muster. Semiperipherie und Peripherie bilden keine konzentrischen Kreise. Dänemark, Spanien, Portugal, Italien werden zur Peripherie, Schweden, Brandenburg und die nordamerikanischen Kolonien steigen zur Semiperipherie auf. Der Maßstab bleibt weiterhin die Art und Weise der Produktion von Gütern, aber die hierarchische Ordnung der Formen des Arbeitseinsatzes, die Wallerstein im ersten Band betonte, wird im zweiten Band durch die der relativen Stärke der betreffenden Staaten ersetzt. Es zählt dabei nicht die Herrschaftsform, sondern das sozio-ökonomische Potential des Staats. Kriterien, die im ersten Band für die Charakterisierung der Semiperipherie aufgestellt wurden, entfallen nun, denn sonst hätten sich Schweden etc. durch die Verbreitung der Teilpacht auszeichnen müssen. Die außereuropäische Welt mit Ausnahme der nordamerikanischen Kolonien bleibt bis 1750 weiterhin die dem Weltsystem "externe Arena", ja sie bleibt es eigentlich noch bis 1815 meint Wallerstein, aber vermutlich nötigte ihn die Auseinandersetzung mit den europäischen Aktivitäten in dieser Arena dazu, die Untersuchung des Weltsystems im zweiten Band nur bis 1750 fortzuführen, weil ihm bis dahin eine Abgrenzung gegenüber der "externen Arena" noch zu gelingen schien, während der Aufstieg britischer Kolonialherrschaft in Indien sich doch nicht mehr so recht als "extern" verbuchen ließ. Über die niederländische Kolonialherrschaft in Indonesien und die Profite, die die niederländische Ostindiengesellschaft im 17. Jahrhundert nicht nur aus dem interkontinentalen, sondern vor allem auch aus dem intraasiatischen Handel zog, sagt Wallerstein übrigens kaum etwas. Er erwähnt nur den Interkontinentalhandel und meint, daß dieser im wesentlichen dem Muster des Langstreckenhandels mit Luxusgütern zwischen Weltreichen entsprach. Die Bemühungen der Ostindiengesellschaften, die Produktionsstätten der Güter, mit denen sie handelten, auf die eine oder andere Weise unter ihre Kontrolle zu bringen, passen nicht in Wallersteins "System", sie hätten einer Art Enklavenperipheralisierung entsprochen, die in seinem Schema nicht vorgesehen war. In der Systemgeschichte, die er erzählt, werden daher solche Aspekte vernachlässigt.
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Die Eliminierung der französischen und der industriellen Revolution Im dritten Band überrascht Wallerstein seine Leser mit einer kühnen Interpretation der französischen und der industriellen Revolution, die diesen Ereignissen ihren revolutionären Charakter abspricht. Auch das ist "systembedingt", denn Wallerstein will ja die kontinuierliche Entwicklung des Weltsystems aufzeigen und da ist für revolutionäre Kontinuitätsbrüche kein Platz. Es ist geradezu eine Ironie, daß seine Bände in einer Reihe erscheinen, die den Titel "Studies in Social Discontinuity" trägt, denn die Diskontinuität ist Wallerstein zuwider, wenn es um sein Weltsystem geht. So widmet er nahezu die Hälfte seines dritten Bandes der Analyse des allmählichen Wandels in Frankreich und England, um die Idee der "Revolution" ad absurdum zu führen. Ganz anders erscheint die Inkorporation weiter Teile der "externen Arena" in das Weltsystem, das diese in relativ kurzer Zeit zur Peripherie umformt. Dieser Prozeß setzte nach seiner Ansicht recht plötzlich um 1750 ein. Dieser nahezu revolutionär anmutende Inkorporationsprozeß ist wiederum "systembedingt", denn, wie bereits gesagt wurde, ging es Wallerstein darum, die "externe Arena" sorgfältig vom Weltsystem abzugrenzen. Wenn die Ostindiengesellschaft zum Beispiel bereits im frühen 18. Jahrhundert sorgfältig gebleichte, weiße Baumwolltuche sozusagen als industrielle Halbfabrikate an die Textildrucker in London lieferte, die sie dort bedruckten, dann gehörte Indien zu dieser Zeit bereits nicht mehr zur "externen Arena" und paßte damit nicht in Wallersteins Schema.9 Auf der Suche nach einem Kriterium, mit dem sich der Wandel von der externen Arena zur Peripherie bestimmen läßt, stößt Wallerstein schließlich auf den Fluß der Edelmetalle von Europa nach Asien. Sobald dieser Strom versiegt, hat die Inkorporation stattgefunden, und der entsprechende Teil der externen Arena wird zur Peripherie. Das ist ein sehr merkwürdiges Kriterium, denn es legt den umgekehrten Schluß nahe, daß bei der Wiederaufnahme von Silberexporten eine Lösung aus der Peripherie und eine Rückkehr in die externe Arena erfolgt. Nun gibt es aber bei Wallerstein prinzipiell keine rückläufigen Prozesse dieser Art. Die Willkür seiner Systemgeschichtsschreibung wird gerade in diesem dritten Band besonders deutlich.
Zur Belieferung der Londoner Textildruckereien mit indischen Halbfertigwaren (gebleichte Tuche) siehe Sergio Aiolfi, Calico und gedrucktes Zeug, Stuttgart 1987.
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Wallersteins Probleme und die Kritik an seinem "Weltsystem" Die Schwächen der "Systemgeschichte", die Wallerstein präsentierte, ergeben sich aus ihren Stärken. Der deutliche Anfang dieser Geschichte im 16. Jahrhundert, die klare Gliederung in Kern, Semiperipherie und Peripherie und die konsequente Ausgrenzung der "externen Arena" - das sind die Stärken seiner Darstellung, doch sie lassen sich alle anzweifeln und offenbaren sich dann als Schwächen, weil sich die "Systemgeschichte" als solche nicht durchhalten läßt. Die amerikanischen Wirtschaftswissenschaftler P.M. Hohenberg und L.H.Lees verweisen in ihrem Buch über die Urbanisierung Europas zunächst anerkennend auf Wallerstein, betonen jedoch dann, daß das europäische Städtenetzwerk und seine Funktion nicht erst unter dem Einfluß des aufkommenden kapitalistischen Weltsystems entstanden, sondern durch dieses lediglich modifiziert worden ist.10 Deshalb greifen sie auf das Jahr 1000 zurück. Ferner wenden sie sich gegen seine "simplistische Dreiteilung von Dominanz, Abhängigkeit und Semiperipherie". Doch damit haben sie zwei wesentliche Bestandteile seiner "Systemgeschichte" in Frage gestellt. Die Ausgrenzung der "externen Arena" könnte von Spezialisten, die sich mit dem Asienhandel etc. befaßt haben, ebenfalls in Zweifel gezogen werden, einige Andeutungen dazu sind ja bereits gemacht worden. Ein weiteres Problem der Theorie Wallersteins, das bisher noch nicht behandelt wurde, weil es nicht die frühe Zeit, sondern die weitere Entwicklung des Systems betrifft, ist dessen unilineare Richtung, die zwar Stockungen und "Konsolidierungen" zuläßt, aber keine Sonderwege und Abkoppelungen. Die "externe Arena" schrumpft und wird peripheralisiert, und das bedeutet, daß sie in abhängiger Produktion dem Kern des Systems zuarbeitet. Hier berührt sich Wallersteins Theorie mit der Dependenztheorie, die von lateinamerikanischen Autoren vorgetragen worden ist. Wiederum läßt sich die Vielfältigkeit der Entwicklung in Asien auf diese Weise schwer erfassen, und so bleibt denn Asien sowohl in seiner früheren Gestalt als "externe Arena" als auch gegenwärtig in seiner Funktion als "Peripherie" ein Problem für Wallerstein. Er ist sich dieses Problems durchaus bewußt und hat sich deshalb in jüngster Zeit vermehrt mit Asien beschäftigt und einige junge Mitarbeiter des Fernand Braudel Centers auf asiatische Themen angesetzt. Der heuristische Wert seiner Theorie zeigt sich auf diese Weise, und der kann ihr gewiß nicht abgesprochen werden.
10
P.M. Hohenberg and L.H. Lees, The Making of Urban Europe, 1000-1950, Cambridge Mass. 1985, S. 163 ff.
8. Theorien der Wissenschaftsgeschichte: Foucault, Kuhn, Hull 8.1. Michel Foucault: Der Diskurswandel Im letzten Kapitel dieses zweiten Teils von "Geschichte als Prozeß und Aussage" geht es um die Wissenschaftsgeschichte, die in ihrer "orthodoxen" Form geradezu Musterbeispiele einer "teleologisch gekämmten" Darstellung des kontinuierlichen wissenschaftlichen Fortschritts bietet. Der Natur der Sache nach wird Wissenschaftsgeschichte meist als die Geschichte einzelner Disziplinen von deren Vertretern geschrieben. Für diese ist "Geschichte" eigentlich gar nicht von Interesse, sondern nur der logische Fortschritt von einer wissenschaftlichen Errungenschaft zur nächsten. In diese logische Ordnung sind völlig unabhängig voneinander zwei "heterodoxe" Wissenschaftshistoriker eingebrochen, der französische Philosoph Foucault und der amerikanische Physiker Kuhn. Es geht ihnen darum, die Brüche statt der Kontinuitäten hervorzuheben. Foucault thematisiert die Diskontinuität so sehr, daß die Übergänge zum Problem werden und man sich fragt, wie es denn überhaupt dazu kommt, daß der menschliche Geist zu neuen Ufern aufbricht - wie er es so poetisch nennt. Kuhn ist weniger poetisch und mehr praktisch orientiert und versucht zu zeigen, wie es zu einem "Paradigmawechsel" kommt - wie sich also der Übergang von einer zur anderen Sichtweise vollzieht. Der Philosoph und Biologe Hull schließlich, der Kuhn und seine Kritiker bereits zur Kenntnis genommen hat, versucht, über Kuhn hinauszukommen, indem er anhand einer detaillierten Fallstudie spezieller neuerer Lehrmeinungen in der systematischen Zoologie nachzuweisen versucht, wie Selektionsprozesse im Bereich der Wissenschaft funktionieren und dazu führen, daß sich eine Theorie gegenüber einer anderen durchsetzt. Während sich Hull sehr intensiv mit Kuhn auseinandersetzt, erwähnt er Foucault nur ganz kurz in bezug auf dessen Einschätzung von Cuvier und Darwin. Das formale Denken des französischen Philosophen ist Hull fremd und läßt ihn kalt, obwohl er sonst philosophische Fragen kenntnisreich behandelt. Die Werke der drei hier vorzustellenden Autoren sind also nicht Teil ein und desselben "Diskurses"; das zu erläutern, wird eine wichtige Aufgabe dieses Kapitels sein. Foucaults Methode der "Diskursanalyse" wird dabei von Bedeutung sein. Er soll daher hier als erster der drei Autoren vorgestellt werden.
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Foucaults "Archäologie des Wissens" Michel Foucault (1926-1984) hat sich zunächst mit der Grenze "vernünftiger" Erfahrung, nämlich mit dem Wahnsinn beschäftigt - es interessierte ihn dabei nicht der Wahnsinn an sich, sondern wie man ihn definierte und was man mit den so definierten Wahnsinnigen tat: Ausgrenzen und Einsperren, dann aber Untersuchen und Behandeln. (Folie et déraison. Histoire de la folie à l'âge classique, 1961). Sein zweites großes Werk über die Geburt der Klinik galt dem Wandel in der Medizin (Naissance de la clinique, 1963). Später widmete er dem Gefängnis als "geschlossener Anstalt" seine Aufmerksamkeit. Das Hauptwerk, in dem er seine Methode der Diskursanalyse vorstellte, war jedoch "Die Ordnung der Dinge".1 Diesem ließ er wenig später einen methodologischen Kommentar unter dem Titel "Archäologie des Wissens" folgen. 2 Diese "Archäologie" steht im erklärten Gegensatz zum "wirkungsgeschichtlichen Bewußtsein" und nähert sich dem vergangenen Diskurs als einem fremden "Monument", das es aus sich heraus zu rekonstruieren gilt, indem man seine Konturen nachzeichnet. (Es ist daher nicht von ungefähr, daß Foucault Cuviers Leistung höher schätzte als die Darwins). Der Gegenstand dieses "archäologischen" Rekonstruktionsversuchs ist die Diskurspraxis. Foucault setzt sich dezidiert von der kontinuitätsstiftenden Ideengeschichte ab, interessiert sich auch nicht für das Subjekt, sondern für die im Diskurs aufscheinenden Objekte, diese Objekte sind jedoch nicht "objektiv", sondern sie werden im Diskurs konstituiert. Foucault nennt die so konstituierten Objekte "Positivitäten". Sie sind dem zeitlichen Wandel unterworfen, tauchen auf und verschwinden wieder. Die Diskursanalyse versucht, die Beziehungen zu verfolgen, die im Diskurs hergestellt werden und dabei Parallelen in verwandten Wissensgebieten aufzuzeigen, aber auch darzustellen, was zu bestimmten Zeiten thematisiert werden konnte und was nicht. Individuelle Autoren oder Werke interessieren dabei nicht, sondern der Diskurs insgesamt, so wie er von unzähligen Teilnehmern getragen wird. Dabei bedeutet Diskurs keineswegs Übereinstimmung in den Meinungen, sondern nur eine allgemeine Übereinkunft über das, was zur Debatte steht. Foucault gesteht selbst ein, daß bei diesem Verfahren die Diskontinuität gegenüber der Kontinuität und der Bruch gegenüber dem allmählichen Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge, Frankfurt (3. Aufl.) 1980 (frz. Orig.: Les mots et les choses, Paris 1966). Michel Foucault, Die Archäologie des Wissens, Frankfurt (2. Aufl.) 1986 (frz. Orig.: L'archéologie du savoir, Paris 1969).
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Wandel hervorgehoben wird und schließlich ein solcher Bruch nur konstatiert, aber nicht erklärt werden kann. Er fordert zwar die Aufstellung von Transformationsregeln, die den Wandel von einer "Positivität" in eine andere und damit eine Erklärung des Diskurswandels überhaupt zum Gegenstand haben. Doch seine "Archäologie" kann das nicht leisten und so ergänzt er sie in späteren Werken durch eine "Genealogie". Die "Ordnung der Dinge" ist jedoch noch ganz "archäologisch" konzipiert. Das Buch besticht durch das Aufzeigen von Strukturbrüchen in der Diskurspraxis, doch diese Brüche werden beschrieben und nicht erklärt. Sein Hauptinteresse gilt der großen Wende am Ende des 18. Jahrhunderts, von ihr aus richtet er den Blick zurück auf Anfang und Ende der "klassischen Epoche", der er sich offenbar geistesverwandt fühlt - obwohl natürlich eine Geistesverwandtschaft für einen "Archäologen" im Sinne Foucaults eigentlich unstatthaft ist. Die Strukturbrüche vor und nach der "klassischen Epoche" Foucault dokumentiert Strukturbrüche in der ersten Hälfe des 17. Jahrhunderts und um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert, indem er drei Wissenschaftsbereiche untersucht: Philologie, Biologie und Ökonomie. Er betont dabei, daß man von Philologie und Biologie erst recht eigentlich nach dem zweiten Strukturbruch reden kann, zuvor gab es die in engem Zusammenhang mit der Logik stehende Grammatik und die rein taxonomisch orientierte Naturgeschichte. Das Metaparadigma vor dem ersten Bruch wird von ihm nur kurz behandelt. In jener frühen Zeit wurde die Ordnung der Dinge in einem Raster von Ähnlichkeiten eingefangen. Er schreibt: "Convenientia, aemulatio, Analogie und Sympathie sagen uns, wie die Welt sich verschliessen, sich reduplizieren, sich reflektieren oder verketten muß, damit die Dinge sich ähneln können." 3 Die Dinge tragen Signaturen, die es zu deuten gilt. Der entscheidende Bruch entsteht, als die Dinge und die Signaturen auseinandertreten. Die Signatur wird zum Zeichen, das das jeweilige Ding repräsentiert. Die Zeichen werden nach ihrem Ursprung, dem Typ der Verbindung und der Gewißheit der Verbindung definiert. Seinem Ursprung nach kann ein Zeichen entweder natürlich sein, wie etwa ein Reflex im Spiegel, oder es kann auf Übereinkunft beruhen, wie etwa ein Wort das für eine Idee steht; seiner Verbindung nach kann ein Zeichen der Gesamtheit zugehören, die es bezeichnet, oder aber davon getrennt sein (z.B. ein Symbol, das für etwas anderes steht); seiner Gewißheit nach kann ein Zeichen von konstanter Zuverläßigkeit sein (der Atem für das Leben) oder aber nur eine Wahrschein-
Foucault, Ordnung der Dinge, S. 56.
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lichkeit andeuten. Das Zeichen bildet sich in allen diesen Fällen immer nur in einem Akt der Erkenntnis. Wahrscheinlichkeitsvermutung, Analyse, Kombinatorik, Wahrnehmung von Systemcharakter und gedankliche Konstruktion einer Universalsprache gehen alle aus dieser neuen Zeichenlehre hervor. Foucault beruft sich dabei besonders auf die Logik von Port Royal (maßgebend: Blaise Pascal,16231662), die als Inbegriff des Zeichens, das ein Ding oder eine Idee repräsentiert, die Karte oder graphische Darstellung erwähnt. Alle Wissengebiete werden sozusagen kartiert oder taxonomisch erfaßt. Dies gilt unter anderem auch für die drei Wissensgebiete, um die es Foucault geht: Die Sprachwissenschaft erscheint als eine der Logik verwandte Grammatik, die Biologie als Naturgeschichte, in der es in erster Linie um taxonomische Ordnungssysteme geht, und die Ökonomie zeigt sich als Geld- und Tauschwerttheorie. Foucault geht ausführlich auf die merkantilistischen Wirtschaftslehren ein und zeigt ihren statischen Charakter, der für die Dynamik der Produktion und des Wirtschaftswachstums keinen Verständnisansatz bot. Er hätte noch darauf verweisen können, daß die Grundannahme der merkantilistischen Theorien die eines Nullsummenspiels war, bei dem jeweils der Gewinn des einen den Verlust eines anderen bedeuten mußte. Aus diesen Bahnen bricht das Denken gegen Ende des 18. Jahrhunderts aus, und es beginnt ein Zeitalter der Geschichte, in der sich eine Dynamisierung und Historisierung aller Wissenschaften bemerkbar macht. Foucault fragt: "Wie geschieht es, daß das Denken sich von jenen Ufern löst, die es einst bewohnte?" Die Archäologie des Wissens kann darauf keine Antwort geben, sie kann den Bruch aufzeigen, aber nicht erklären. Foucault meint: "Allein das Denken, das sich selbst bei der Wurzel seiner Geschichte packte, könnte ohne Zweifel begründen, was in ihm selbst die einsame Wahrheit dieses Ereignisses gewesen ist."4 Foucault sagt es nicht, aber könnte darauf verwiesen haben, daß Hegel mit seinem Panlogismus, mit seiner Dynamisierung der zuvor nur klassifizierenden und definierenden Logik, versucht hat, das Denken sich bei der Wurzel seiner Geschichte packen zu lassen. Foucaults Reaktion auf diesen Panlogismus und seine Folgen besteht darin, daß er im Grunde auf die taxonomische Denkweise des Zeitalters zurückgreift, dessen Ablösung durch das "Zeitalter der Geschichte" er so eindrucksvoll dokumentiert hat. Als Franzose bezeichnet er diese Zeit von ca. 1630-1790 als das "klassische Zeitalter" und bewundert es, obwohl er seinen Untergang so überzeugend darstellt.
Foucault, Ordnung der Dinge, S. 269.
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Foucaults "Archäologie des Wissens" ist im Prinzip eine Taxonomie des Zeitgeistes, er kartiert die geistige Landschaft. Er sagt selbst: "Wenn man das Gebiet des Wissens vom Menschen über seine Grenzen hinaus ausdehnt, dehnt man gleichzeitig die Herrschaft der Repräsentation darüber hinaus aus und stellt sich erneut in eine Philosophie klassischen Typs."5 Sein Werk ist vom "klassischen Typ", deshalb tritt das alles beherrschende Metaparadigma bei ihm auch so deutlich hervor. Vorboten eines neuen Denkens interessieren ihn nicht. All jene, die Friedrich Meinecke in seiner "Entstehung des Historismus" als Vorläufer dieses neuen Denkens vorstellte, spielen bei Foucault keine Rolle. Freilich hätte wohl auch Meinecke in der Grundannahme Foucault zugestimmt, denn wir erinnern uns, daß er über Montesquieu sagte, daß sein Denken ein Beispiel dafür sei, daß "das geistige Klima einer Zeit [...] eingeborene Fähigkeiten [...] niederhält oder umbiegt." So überzeugend Foucaults Kartierungen der Metaparadigmen auch sind, so wenig erlauben sie irgendeine Aussage über den Metaparadigmawechsel, es sei denn die, daß er sich auf unergründliche Weise vollzieht. Ein neues
Menschenbild?
Die Prophezeiungen über einen bevorstehenden weiteren Metaparadigmawechsel, die Foucault macht, sind dementsprechend orakelhaft. Der Mensch sei eine verhältnismäßig junge Erfindung des menschlichen Denkens und sei weder das älteste noch das konstanteste Problem, das sich diesem Denken gestellt hat, und wenn sich die Dispositionen wieder so grundlegend ändern wie damals am Ende des 18. Jahrhunderts, "dann kann man sehr wohl wetten, daß der Mensch verschwindet wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand." 6 Er meint damit nicht die physische Auslöschung des Menschen, sondern nur die des Menschenbildes, das vom derzeit noch herrschenden Metaparadigma geprägt wurde. Mit anderen Worten, die Positivität "Mensch", so wie sie sich im bewußtseinsphilosophisch geprägten Diskurs ausgebildet hat, wird durch eine andere Positivität ersetzt werden. Die entsprechende Transformationsregel bleibt uns Foucault schuldig. Es fehlt ihm zunächst auch noch an einem Motor des historischen Wandels so wie etwa das Fortschreiten der Vernunft oder die Dialektik der Klassenkämpfe. Er findet ihn erst in seinen späteren Werken, in denen er das Streben nach Macht zur Grundlage aller seiner Betrachtungen macht und im Nachhinein auch seine Interpretationen der Ausgrenzung der Wahnsinnigen und die 5 6
Foucault, Ordnung der Dinge, S. 436. Ibid., S. 462.
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Entwicklung ihrer "Behandlung" als gesellschaftliche Disziplinierungsmaßnahmen deutet, die der Machterhaltung dienen. Wissen wird zunehmend Herrschaftswissen, die Theorie von der "strukturellen Gewalt", die der Gesellschaft innewohnt und von keiner einzelnen Person oder Instanz konkret ausgeübt wird, steht diesem Denken Foucaults nahe. Foucaults Begriff von der Macht war stark von Nietzsches "Willen zur Macht" beeinflußt, auch Nietzsches "öffentlich meinender Scheinmensch" war wohl ein Vorbild für Foucaults Diskursteilnehmer. Doch während Nietzsche eine heroische Auflehnung predigte, waren für Foucault Diskurs und Macht anonyme Phänomene, gegen die eine Auflehnung gar nicht denkbar war, was er freilich selbst nicht explizit eingestand. Jürgen Habermas hat sich intensiv mit Foucaults Denken auseinandergesetzt und auf die Aporie hingewiesen, in die sich Foucault mit seiner Betonung der Macht begibt. Foucault versuche, dem heillosen Objektivismus der durch die Bewußtseinsphilosophie geprägten Humanwissenschaften zu entkommen und verfiele bei seiner radikal historistischen Auslöschung des Subjekts einem heillosen Subjektivismus, meint Habermas. Auf diese Kritik an Foucault, die Habermas in seinen Vorlesungen zum Thema "Der philosophische Diskurs der Moderne" geübt hat, kann hier nicht näher eingegangen werden, es sei hier nur auf sie hingewiesen.7
8.2. Thomas Kuhn: Der
Paradigmawechsel
Thomas Kuhn veröffentlichte 1962 sein Buch "The Structure of Scientific Revolutions" 8 . Er hatte zuerst Physik studiert und sich dann der Wissenschaftsgeschichte gewidmet und war zu der Erkenntnis gekommen, daß im Gegensatz zur herrschenden Meinung, daß Naturwissenschaftler theoriegeleitet arbeiten, sie sich eher an einer eingeübten Forschungspraxis orientieren, die er "Paradigma" nannte, und daß Innovationen mit einem Paradigmawechsel einhergehen, der dann weite Gebiete der Wissenschaft erfaßt. Er hatte sich zunächst mit der berühmten "kopernikanischen Revolution" beschäftigt und dabei festgestellt, daß es das neue Weltbild gar nicht leicht hatte, sich gegen das etablierte geozentrische Weltbild durchzusetzen, und zwar nicht nur aus ideologischen Gründen, sondern auch im Rahmen des "normalen" Wissenschaftsbetriebs. Für die Berechnung der PlanetenbeweJiirgen Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne, Frankfurt 1985, S. 279ff. Thomas Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, Frankfurt (5. Aufl.) 1981.
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gungen war das bestehende ptolemäische System genauso gut, wenn nicht besser. Erst die Verbesserung der neuen Theorie durch Kepler und Galilei erwies ihre Überlegenheit auch auf diesem praktischen Gebiet. Keplers Option für Kopemikus aber gehörte zu jenen "subjektiven" Phänomenen der "Theoriewahl", auf die Kuhn bei näheren Untersuchungen immer häufiger stieß. Kuhn contra Popper: Normale Wissenschaft und Falsifikation Es wurde Kuhn bei seinen Untersuchungen klar, daß Wissenschaftshistoriker im Nachhinein die "Theoriewahl" rationalisieren ("teleologisch kämmen"). Er versuchte, Verständnis für jene aufzubringen, die - rückschauend gesehen völlig irrational - an alten Theorien festhielten und zeigte, daß sie eigentlich rational handelten, während die Innovation als irrational erscheinen mußte. Im Unterschied zu Karl Poppers Falsifikationsoptimismus, der den Theoriefortschritt logisch zwangsläufig erscheinen läßt, betonte Kuhn die Regeln des "normalen" Wissenschaftsbetriebs, in dem das eingeübte Paradigma der gängigen Lehrbuchwissenschaft dominiert. Wissenschaft bedeutet das Lösen von Rätseln; wenn einem Wissenschaftler eine von ihm angestrebte Rätsellösung im Rahmen des vorgegebenen Paradigmas nicht gelingt, dann zweifelt die Gemeinde der Fachvertreter zunächst einmal an der Fähigkeit des Wissenschaftlers, aber nicht an der herrschenden Theorie. Neue Theorien entstehen deshalb nicht automatisch, sobald man an die Grenzen der Reichweite der herrschenden Theorie stößt, sondern zeigen sich meist als neue Entwürfe, die von der Mehrzahl der Fachvertreter abgelehnt werden. Kuhn weist auch darauf hin, daß die berühmten Experimente, die in den Lehrbüchern zum Beweis für den notwendigen Sieg neuer Theorien aufgeführt werden, immer nach dem Entwurf der betreffenden Theorien durchgeführt wurden. Er wendet sich gegen den Induktivismus, der dem Glauben huldigt, Theorien entstünden als Summe "richtiger" Beobachtungen. Ebenso wendet er sich aber auch gegen den Deduktivismus, d. h. die Vorstellung, daß Theorien aus allgemeinen Prinzipien abgeleitet werden und dann die beobachteten Fakten erklären. Ein Theorieentwurf ist eher so etwas wie ein Schuß auf den sprichwörtlichen Neger im Tunnel. Man hat in diesem Zusammenhang von der Kuhnschen "Rationalitätslücke" gesprochen. Ferner hat man seinen Paradigmabegriff kritisiert, weil Kuhn in der Tat über seine zunächst gemeinte Bedeutung des Paradigmas als schulemachenden Lehrbeispiels weit hinausgegangen war, indem er die gesamte disziplinare Matrix als Paradigma bezeichnet und dann diese beiden Bedeutungen nicht immer klar unterschieden hatte. In späteren Veröffentlichungen hat er dies
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korrigiert, ist aber bei seiner Grundthese geblieben, daß die Wissenschaftler eben nicht ständig ihre Theorien vor Augen haben und sie täglich von Neuem einer Prüfung unterziehen, um zu sehen, ob sie sich nicht doch "falsifizieren" lassen, sondern sich statt dessen am eingeübten Paradigma und damit der Schulmeinung der Fachvertreter orientieren. Kuhn warf Popper vor, daß er in seiner "Logik der Forschung" ein Bild der Wissenschaft gezeichnet habe, das dem normalen Wissenschaftsbetrieb nicht entspräche, sondern allenfalls auf jene außerordentlichen Momente des Theoriewandels zuträfe, daß er aber dann wiederum das Außerordentliche an solchem Wandel nicht erfassen könne, weil er es als logische Norm gesetzt habe. Es war daher auch nicht von ungefähr, daß Kuhn vorzugsweise von Paradigmawechsel statt von Theoriewandel oder gar von Theoriewahl sprach. Erst wenn die neue Theorie sich soweit durchgesetzt hatte, daß sie zum neuen Schulbeispiel (Paradigma) wurde, war der Wandel wirklich eingetreten. Doch dabei spielten oft Faktoren eine Rolle, die über die reine Wissenschaftslogik hinausgingen, z.B. der Generationswechsel, der dafür sorgte, daß die Vertreter alter Theorien ausstarben oder zumindest emeritiert wurden. Die
"Rationalitätslücke"
Die Brisanz der Thesen Kuhns bestand darin, daß er auf einem Gebiet, auf dem man bis dahin das Walten der "Logik der Forschung" im Sinne einer reinen Rationalität zu sehen glaubte, historische Verhaltensforschung betrieb und Zusammenhänge aufzeigte, die man nicht erwartet oder einfach nicht zur Kenntnis genommen hatte. Natürlich kann man Kuhn entgegenhalten, daß überzeugende neue Theorien sich früher oder später ohnehin durchsetzen und daß es auf die Begleitumstände des Theoriewandels gar nicht so sehr ankommt. Hätte Kepler nicht die Akzeptanz der kopernikanischen Wende gefördert, indem er elliptische statt der kreisförmigen Planetenbahnen entworfen und dadurch ihre Berechenbarkeit ermöglicht hatte, so wäre wohl ein anderer Astronom bald auf diese Idee gekommen. Der parallele Wandel auf verschiedenen Gebieten, den Foucault so überzeugend aufgezeigt hat, scheint darauf hinzudeuten, daß der jeweilige Theoriewandel geradezu in der Luft liegt, und es daher wohl gar nicht darauf ankommt, wer den entscheidenden Durchbruch bewirkt. Aber es geht Kuhn ja nicht darum, dies auszuschließen und den Wandel an der Person des Genies festzumachen, dem etwas Neues eingefallen ist, er will nur zeigen, daß sich Einfall und Paradigmawechsel nicht zwangsläufig ergeben, indem sie logisch aus dem jeweiligen Stand der Wissenschaft hervorgehen. In dieser Hinsicht stimmt Kuhn mit
128
Theorien des historischen Wandels
Foucault überein, der ebenfalls rational nicht erklärbare Brüche in der Entwicklung der Wissenschaften nachgewiesen hat. Relativismus und Anarchie Kuhns Thesen wurden begeistert rezipiert, aber die, die sie rezipierten, sahen in ihm in erster Linie einen Relativisten, der der einst für so streng und unbestechlich erachteten Methodenlehre der Naturwissenschaft den Teppich unter den Füßen weggezogen hatte. Einer dieser begeisterten Rezipienten, Paul Feyerabend, ging sogar noch einen Schritt weiter und verkündete die Anarchie als Grundprinzip wissenschaftlichen Denkens. 9 Feyerabend berief sich auf Kuhn, nahm das Thema der Akzeptanz der kopernikanischen Revolution wieder auf und konzentrierte sich dabei auf den Beitrag Galileis. Er behauptete, daß Galilei nicht in erster Linie durch Beweise, sondern durch geschickte Propaganda der neuen Lehre zum Sieg verholfen hatte. Feyerabends berühmtes Schlagwort war "anything goes", und er plädierte geradezu für eine anarchische Theorienvielfalt. Damit schoß er aber offensichtlich über das Ziel hinaus, und die, die mehr von der wissenschaftlichen Praxis verstanden als er, wiesen darauf hin, daß eine solche Beliebigkeit der Theorienproduktion weder der Wissenschaft zuträglich noch in der Tat je beobachtet worden sei, denn die Zahl der jeweils zur Debatte stehenden Theorien sei immer sehr gering.10 Kuhn wehrte sich in den Jahren nach dem Erscheinen seines Buches sowohl gegen übereifrige Rezipienten als auch gegen seine Kritiker, die ihm vorwarfen, einem allgemeinen Relativismus und Irrationalismus Vorschub zu leisten. In einem Nachwort, das er 1969 einer Neuauflage seines Buches beigab, bekannte er sich ausdrücklich zum wissenschaftlichen Fortschritt, für den man im Nachhinein sogar eine Art Stammbaum rekonstruieren könne: "Man stelle sich einen Stammbaum vor, der die Entwicklung der modernen wissenschaftlichen Spezialgebiete aus ihren gemeinsamen Ursprüngen etwa in der primitiven Naturphilosophie und dem Handwerk darstellt. Eine Aufwärtslinie an diesem Baum, die nirgends wieder zurückläuft und vom Stamm bis zum Ende eines Astes reicht, würde eine Folge von Theorien darstellen, die durch Abstammung miteinander verwandt sind. Betrachtet man zwei solche Theorien an Punkten, die ihrem Ursprung nicht zu nahe sind, Paul Feyerabend, Against Method. Outline of an anarchistic theory of knowledge, London 1975. David Hull, Science as a Process, Chicago 1988, S. 472f.
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dann müßte es einfach sein, eine Liste von Kriterien zu erstellen, die es einem unvoreingenommenen Beobachter ermöglichen, die frühere von der späteren Theorie zuverlässig zu unterscheiden. Zu den nützlichsten Kriterien würden gehören: Genauigkeit der Voraussage, besonders der quantitativen Voraussage [...] und die Anzahl der verschiedenen gelösten Probleme [...]. Wenn dem so ist, dann ist die wissenschaftliche Entwicklung wie die biologische ein eindeutig gerichteter und nicht umkehrbarer Vorgang. Spätere wissenschaftliche Theorien sind besser als frühere geeignet, Probleme in den oft ganz unterschiedlichen Umwelten, auf die sie angewendet werden, zu lösen. Dies ist keine relativistische Position, und in diesem Sinne bin ich fest überzeugt vom wissenschaftlichen Fortschritt."11 Kuhn beeilte sich freilich nach diesem Zugeständnis, den Fortschritt im Sinne der Problemlösungen vom Fortschritt im Sinne der Annäherung an die "Wahrheit" zu unterscheiden und fuhr fort: "[...]; die Vorstellung von einer Übereinstimmung zwischen der Ontologie einer Theorie und ihrem »realen« Gegenstück in der Natur scheint mir jetzt prinzipiell trügerisch zu sein. Als Historiker finde ich außerdem diese Ansicht sehr wenig einleuchtend. Ich bezweifle beispielsweise nicht, daß die Newtonsche Mechanik die Aristotelische und die Einsteinsche Mechanik die Newtonsche als ein Instrument der Problemlösung verbessert. Ich kann aber in ihrer Abfolge keine einheitliche Richtung einer ontologischen Entwicklung sehen. Im Gegenteil, in manchem wichtigen Punkt [...] ist Einsteins allgemeine Relativitätstheorie Aristoteles näher; Newton scheint beiden da ferner zu sein."12 Kuhns Vorschlag, den wissenschaftlichen Fortschritt evolutionistisch zu interpretieren, wurde von dem amerikanischen Philosophen und Biologen David Hull aufgenommen, dessen Werk im nächsten Abschnitt vorgestellt werden soll.
11 12
Kuhn, Die Struktur, S. 217. Ibid., S. 218.
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83. David Hull: Der Selektionsprozeß David Hulls großes Werk "Science as a Process. An Evolutionary Account of the Social and Conceptual Development of Science" (Chicago 1988) ist in mehrfacher Hinsicht bedeutsam: 1. Er gibt einen hervorragenden Überblick über die Geschichte der Evolutionsbiologie. 2. Er untersucht als "teilnehmender Beobachter" die Entwicklung von zwei Schulen der systematischen Zoologie. 3. Er entwirft eine allgemeine Theorie der Wissenschaft als Selektionsprozeß. Der zweite Aspekt seiner Arbeit ist besonders wichtig, weil er hier einlöst, was Kuhn nur versprochen hatte, nämlich die Untersuchung der Interaktionen in ganz konkreten Gruppen von Wissenschaftlern, die rivalisierende Theorien vertreten. Hull kritisiert Kuhn, weil er sehr allgemein von Wissenschaftlern einer Disziplin als "Gemeinschaft" spreche und nicht erkläre, wie die Interaktionen in einer solchen Gemeinschaft verlaufen. Wenn man von einer solchen Gemeinschaft spricht, so meint Hull, dann muß sie lokalisierbar sein und sich um die Lösung spezifischer Probleme bemühen, die sich genau definieren lassen. Hull geht es darum, die Evolution von wissenschaftlichen Begriffen nach denselben Regeln zu untersuchen wie die Evolution der Arten. Damit dies überhaupt möglich ist, muß er sich abgrenzen von jenen, die Begriffe und Arten für unveränderliche Wesenheiten halten und muß statt dessen betonen, daß sowohl Begriffe als auch Arten historische Gebilde sind, die es historisch zu erklären gilt. Andererseits muß er sich von den "Externalisten" unter den Wissenschaftshistorikern abgrenzen, die behaupten, die Wissenschaft werde nur durch äußere Faktoren bedingt. Für Hull haben wissenschaftliche Begriffe durchaus eine "innere" Geschichte. Da diese Abgrenzungen für das Verständnis seines Werkes besonders wichtig sind, sollen sie hier zunächst behandelt werden. Die Argumente gegen "Essentialisten" und "Externalisten" Der "Essentialismus" besteht in einem Glauben an ewige, von Zeit und Raum unabhängige Wesenheiten. Wenn man nun aber historischen Gebilden solche Qualität unterstellt, so stiftet man Verwirrung. Hull argumentiert: "Just as species cannot be treated simultaneously as historical entities and as eternal and immutable kinds, neither can concepts. [...] if an evolutionary account of conceptual change is going to have any chance of succeeding, the basic units of both evolutionary biology and conceptual evolution must be viewed as the same sort of thing - either as spatiotemporally unrestricted classes or as spatiotemporally connected lineages. In my account, I opt for
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the second alternative. The things which are evolving as a result of selection, whether species or concepts, must be treated as historical entities."13 Und an einer andereren Stelle schreibt er: "Scientists tend to view scientific theories and research programs as being timeless and immutable, just as many early biologists viewed species. Each theory has its own essence [...]. Everyone agrees, friend and foe alike, that Darwinism has an essence [...]. Instead of arguing endlessly about the one true essence of Darwinism, one might entertain the hypothesis that scientific theories have no essences. The essence of scientific theories, as is the case of historical entities in general, is to have no essence." 14 Doch wie kann man sich nun von diesem Standpunkt aus gegen die "Externalisten" unter den Wissenschaftshistorikern abgrenzen, wie kann man eine "innere" Geschichte wissenschaftlicher Begriffe verteidigen? Hull hält den Externalisten zunächst einmal vor, daß ihre Forschungsergebnisse höchst unbefriedigend sind und sich keine stichhaltigen Korrelationen zwischen äußeren Anlässen, politischen Meinungen etc. und den wissenschaftlichen Überzeugungen bestimmter Forscher ergeben. Die Externalisten können daher allenfalls Einzelfälle summieren, aus denen sich keine Regeln ableiten lassen. "[...] the only sort of science of science that is going to be possible is a serial listing of which external factors happened to influence which scientist in each case - one damned thing after another - and this seems to be the current state of [...] the sociology of knowledge." 15 Die "Internalisten" haben - so zeigt Hull - auch ihre Probleme, wenn sie sich auf die Ebene der Analyse der Anschauungen einzelner Wissenschaftler begeben. Hull betont, daß dies die falsche Ebene sei und man sich auf eine höhere Ebene begeben müsse, um Regeln feststellen zu können. Dies gilt auch für die Evolutionsbiologie: "There can be no law of particular species. Whatever regularities exist in the evolutionary process, they occur at a much higher level of generality. The evolution of sexual reproduction is the sort of thing that can receive a theoretical explanation, but not the evolution of the horse qua horse [...]. The evolution of horses can be explained only by invoking a whole series of regularities and contingencies that apply to other species as well. Any regularities about evolutionary processes, whether biological, social or conceptual, must concern convergences, not particular evolutionary homologies."16 Konvergenz auf der über-individuellen Ebene ist also der Schlüsselbegriff für Hulls Programm. Im Begrifflichen zeigt sich die Konvergenz als Konsen1
3
14 15 16
Hull, Ibid., Ibid., Ibid.,
Science as Process, S. 17. S. 203. S. 386. S. 388.
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sus. Konsensusbildung ist ein adäquater Untersuchungsgegenstand, hier lassen sich Regeln finden, nicht aber für die Meinungsbildung einzelner Wissenschaftler. Für die Konsensusbildung ist der Selektionsprozeß relevant, um den es Hull geht. Er kann am besten untersucht werden, wenn man sich isolierte Populationen von Wissenschaftlern vornimmt, genau wie auch die Evolutionsbiologen Populationen studieren, wenn es darum geht, Mutation und Selektion zu erforschen. Die Isolation der Wissenschaftler-Populationen, die Hull untersucht, ist natürlich keine "externe", sondern eine "interne". Sie setzen sich geistig von einander ab, kooptieren Gesinnungsgenossen, zitieren eher die Mitglieder der eigenen "Population" als die der anderen, bemühen sich um die Kontrolle von Fachzeitschriften, gründen Vereinigungen und organisieren Konferenzen etc. Hull hat zwei solche "Populationen" mit großem empirischen Aufwand untersucht. Damit ersichtlich ist, worum es dabei überhaupt geht, sollen die Programme dieser beiden "Populationen" zunächst einmal vorgestellt werden. Evolution
und Systematik:
"Pheneticists" und
"Cladists"
Es geht um zwei Schulen der systematischen Zoologie, die sich heftig bekriegen. Hull war sowohl Schriftleiter der Zeitschrift "Systematic Zoology" und schließlich auch Präsident der entsprechenden wissenschaftlichen Gesellschaft und neigt - wie wir sehen werden - der zweiten Schule zu, bemüht sich aber darum, die Position der ersten Schule ebenfalls zu würdigen. Für den Laien mag die systematische Zoologie als eine langweilige Grundwissenschaft erscheinen, denn es geht bei ihr um Klassifikation - also wohl um das Ordnen gesicherter Fakten. Doch was ein Faktum in diesem Sinne ist, das bestimmt der klassifizierende Systematiker - und damit beginnt der wissenschaftliche Streit. Dabei geht es um die zentrale Frage, wie Evolution sich überhaupt vollzieht. Julian Huxley (The New Systematics, 1940) sagte: "Fundamentally, the problem of systematics [...] is that of detecting evolution at work." 17 Die zwei Schulen, um die es hier geht, wurden von einem alten Systematiker, Emst MayT, mit den Spitznamen "Pheneticists" and "Cladists" belegt, die sie schließlich als adäquate Bezeichnungen ihrer Programme akzeptierten. Die erste Schule erfaßte mit der Hilfe großer Computerprogramme die Informationen über alle möglichen Arten, um eine Übersicht über die Ähnlichkeiten des Erscheinungsbildes (daher "Pheneticists") zu erstellen, ohne sich zuvor auf Abstammungstheorien festzulegen. Foucault hätte das vielleicht eine Hull, Science as Process, S. 102.
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"Archäologie der Arten" nennen können. Das Ziel dieses Programms war es offensichtlich, induktiv aus der Fülle der Beobachtungen den Evolutionsprozeß zu erschließen. Die andere Schule dagegen erforschte die Verzweigungen ( daher "Cladists" von griech. klados = Zweig) der Stammbäume. Auf den ersten Blick könnte man meinen, daß sich die beiden Programme ergänzten, doch die Vertreter der beiden Schulen betonten den erkenntnistheoretischen Unterschied. Nach Meinung der Cladisten konnte man aus dem Querschnitt der Erscheinungsvielfalt der Arten gar nichts entnehmen, sie diente allenfalls der Demonstration der Vielfalt, aber über den Evolutionsprozeß sagte sie nichts aus. ("Pattern without process is not science" 18 .) Den Cladisten wiederum wurde umgekehrt der Vorwurf gemacht, daß sie voreilig Verzweigungen rekonstruierten. Die "Pheneticists", die ihr Forschungsprogramm "numerische Taxonomie" nannten, hatten ihre Hochburg in der Universität von Kansas, und es gelang ihnen in den 1960er Jahren, ihre Position auszubauen, die Zeitschrift "Systematic Zoology" mit ihren Aufsätzen zu füllen und Umfang und Verbreitung dieser Zeitschrift wesentlich zu vergrößern. Ihre Vertreter behandelten andere Systematiker, die nicht quantitativ arbeiteten und keine Computer benutzten, von oben herab. Doch bereits Ende der 1960er Jahre wendete sich das Blatt, die "Cladists" traten ihren Siegeszug an, und es gelang ihnen auch, die Zeitschrift "Systematic Zoology" zu erobern. Ihre Hochburg wurde das American Museum of Natural History, New York, das viele hochqualifizierte Forscher beschäftigt. Den "Cladists" gelang es auch, zwei ausländische Schutzheilige zu rekrutieren, den ostdeutschen Biologen Willi Hennig und den zu jener Zeit in Venezuela lebenden französischen Biologen Leon Croizat, deren Werke sie recht eigenwillig für ihre Zwecke nutzten. Im Jahre 1980 gründeten die "Cladists" sogar eine "Hennig Society", um sich deutlich von den anderen Systematikern abzusetzen. Insgesamt setzten sich die "Cladists" gegenüber den "Pheneticists" durch. Beide Schulen waren aus Bemühungen um eine neue Systematik entstanden. Der Selektionsprozeß hatte dazu geführt, daß die zweite Schule obsiegte, wobei die erste zwar noch nicht ganz verschwand, aber zunehmend marginalisiert wurde. Das von Max Planck und nach ihm von Kuhn betonte "Aussterben" von Vertretern einer Theorie spielte dabei keine Rolle, beide Schulen wurden von nahezu gleichaltrigen Wissenschaftlern vorangetrieben, und die meisten Protagonisten, über die Hull berichtet, leben noch und manche von ihnen haben sogar das Manuskript seines Buches vor der Veröffentlichung gelesen. Hull vergleicht diese Bildung verschiedener wissenschaftlicher Schulen mit der
Hull, Science as Process, S. 120.
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Artenbildung der Evolution in der Natur. Warum waren nun die "Cladists" erfolgreicher als die "Pheneticists"? Hull meint, daß die "Cladists" ihren Erfolg der Tatsache zu verdanken hatten, daß sie sich auf eine spezifische Methode konzentrierten, die leicht erlernbar und anwendbar war, während die "Pheneticists" auf allen möglichen Gebieten arbeiteten, die sich mit numerischer Taxonomie erschließen ließen und dabei die Aufgaben der systematischen Zoologie fast aus den Augen verloren und daher auf die Dauer keinen überzeugenden Beitrag zur Entwicklung dieses Wissenschaftsgebiets machen konnten. Die Übertragung der Prinzipien der Evolutionsbiologie auf die Wissenschaftsgeschichte mag viele Leser befremden, doch Hull zeigt, daß die gegenwärtigen Probleme der Evolutionsbiologie selbst nach einer umfassenderen Theoriebildung verlangen und daß eine Theorie, die dieser Aufgabe gerecht wird, zugleich auch den Prozeß der Wissenschaftsentwicklung erklären kann. Eine neue
Evolutionstheorie
Hull betont, daß die gegenwärtigen Probleme der Evolutionsbiologie hauptsächlich daher rühren, daß sich die Wissenschaftler nicht von alten Vorstellungen über die hierarchische Ordnung des Lebens befreien können. (Oberhalb des Organismus: Population, Art, etc., unterhalb des Organismus: Organ, Zelle, Gen). Dementsprechend streiten sie sich darüber, auf welcher Ebene der Hierarchie der Selektionsprozeß eigentlich ansetzt. Es stellt sich heraus, daß die Selektion auf den verschiedensten Ebenen ansetzen kann und sozusagen von Ebene zu Ebene wandert. Statt dessen empfiehlt Hull einen anderen Ansatz: "I define the entities that function in the evolutionary process in terms of the process itself, without referring to any particular level of organization". Er fährt fort: "Instead of organisms always being compared to organisms and species to species, sometimes organisms are compared to species, genes to organisms and so on [...]."19 Dieser Ansatz ermöglicht es dann auch, Hulls Analyse des Selektionsprozesses auf den soziokulturellen Wandel zu übertragen. Um eine Theorie von einem Allgemeinheitsgrad zu entwerfen, die den oben genannten Aufgaben gerecht wird, schlägt Hull die folgenden Definitionen vor: 1. Replicator - an entity that passes on its structure largely intact in successive replications (e.g. a gene) 2. Interactor - an entity that interacts as a cohesive whole with its environment in such a way that this interaction causes replication to be differential (e.g. an organism, but 19
Hull, Science as Process, S. 402.
Theorien der Wissenschaftsgeschichte: Foucault, Kuhn, Hüll
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also DNA which interacts with its cellular environment). Unter Verwendung dieser Definitionen läßt sich Selektion wie folgt definieren: 3. Selection - a process in which the differential extinction and proliferation of interactors cause the differential perpetuation of the relevant replicators. Und das Resultat dieses Prozesses definiert er so: 4. Lineage - an entity that persists indefinitely through time either in the same or an altered State as a result of replication. 20 Anhand dieser allgemeinen Definitionen präsentiert Hull dann seine Theorie des Selektionsprozesses in der Wissenschaft und spricht dabei von "Conceptual Replication" und "Conceptual Interaction". Er muß sich dabei mit dem Argument auseinandersetzen, daß sich die "natürliche" von der "rationalen" Evolution dadurch unterscheidet, daß die "natürliche" nicht intentional ist, die "rationale" aber gerade durch ihre Intentionalität gekennzeichnet ist. Ferner wird in der Evolutionsbiologie kein Anspruch auf einen offensichtlichen Fortschritt der Evolution erhoben, während man doch wohl von einem Fortschritt der Wissenschaft sprechen muß. Hull gesteht ein, daß man von einem Fortschritt der Wissenschaft sprechen kann, räumt der Intentionalität dabei aber nur eine geringfügige Bedeutung ein. Er betont, daß wir Fortschritt und Intentionalität nur deshalb in Beziehung zueinander setzen, weil wir in der Wissenschaftsgeschichte nur die letztlich erfolgreichen Forschungsprogramme berücksichtigen, während die große Fülle von Programmen, die zu nichts führen, vergessen wird. Man könnte hierzu in Abwandlung eines alten Sprichworts sagen: Die Irrwege der Wissenschaft sind mit guten Absichten gepflastert. Replikation und Interaktion von Begriffssystemen wird daher durch die Intentionalität nicht so sehr gefördert, daß sie der "natürlichen" Replikation und Interaktion überlegen wären. Auch mit einem weiteren Gegenargument setzt sich Hull auseinander, das die Geschwindigkeit von Replikation und Interaktion betrifft. Hull betont, daß man hier die uniforme physische Zeit durch die Generationszeit ersetzen müsse, um Vergleiche anstellen zu können. Viren hätten zum Beispiel eine viel kürzere Generationszeit und damit eine raschere Replikationsgeschwindigkeit, als sie Ideen je haben könnten. Wie steht es mit der
"Anpassung"?
Der Laie, der von der Evolutionsbiologie nur gehört hat, daß sie etwas mit "Anpassung" zu tun hat, würde nun erwarten, daß Hull letztlich den wissenschaftlichen Fortschritt damit erklärt, daß die Forschungsprogramme erfolgHull, Science as Process, S. 408 f.
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Theorien des historischen Wandels
reich sind, die der Umwelt, d.h. der jeweils zu erforschenden Realität am besten "angepaßt" sind. An einer Stelle macht er Bemerkungen, die man so deuten könnte. Er sagt nämlich: "Conceptual evolution, especially in science, [...] is progressive, not because scientists are conscious agents, not because they are striving to reach both local and global goals, but because these goals exist. External and immutable regularities exist out there in nature."21 Aber in bezug auf die natürliche Selektion ist er sehr vorsichtig, wenn es um die Anpassung geht: "The global goal of natural selection may well be increased adaptation, but for particular lineages the particular goals keep changing [...] because so many of the aspects of the environment to which organisms must adapt keep changing." Er hätte hinzufügen können, daß die moderne Evolutionsbiologie die "Anpassung" und daher auch den Selektionsprozeß längst nicht mehr im Sinne einer Anpassung an etwas Gegebenes interpretiert, sondern als eine dialektische Beziehung. Auf den an sich widersinnigen Begriff der "preadaptive advances" wurde hingewiesen. Er ist nicht nur widersinnig, weil man nicht von einer vorweggenommenen Anpassung sprechen kann, während ein "vorauseilender Gehorsam" durchaus denkbar ist, denn der setzt voraus, daß der Betreffende schon weiß, worum es geht. Es ist auch widersinnig, in diesem Zusammenhang von "advances" zu sprechen, da dies eine vorgegebene Richtung andeutet. Insgesamt meint dieser unmögliche Ausdruck jedoch etwas Bedeutsames: Die Entstehung von Phänomenen, die im gegebenen Kontext "unangepaßt" sind und sich erst im weiteren Verlauf der Entwicklung als "passend" erweisen. Hull erwähnt dieses Phänomen nicht, obwohl er es gerade auch auf seine wissenschaftsgeschichtliche Studie hätte anwenden können. Das Beispiel des Phylogenetikers Hennig ließe sich hier erwähnen. Seine Arbeiten, die später von den "Cladists" so sehr gerühmt wurden, waren weit früher und in einer ganz anderen wissenschaftlichen Umwelt entstanden als ihre Arbeiten. Weil sie nur in deutscher Sprache vorlagen, konnten sie zunächst nicht rezipiert werden, und weil Hennig den Diskussionszusammenhang in Amerika nicht kannte, war er selbst nicht in der Lage, seine Ideen dort einzubringen. Es ist kein Zufall, daß Hull Hennig zwar mehrfach erwähnt und seine Arbeiten würdigt, ihn aber nicht so recht in seiner Schilderung des Selektionsprozesses unterbringen kann und ihn als
"Schutzheiligen"
vorstellt, der von den "Cladists" für ihre Zwecke "rekrutiert" wurde. In dieser Beziehung läßt das sonst so überzeugende Werk Hulls noch zu wünschen übrig.
Hull, Science as Process, S. 476.
Dritter Teil: Analytische Methoden der modernen Geschichtswissenschaft
9. Prosopographie: Die Analyse der Interessengruppen
Nach dem Überblick über die Theorien des historischen Wandels wollen wir uns nun den Hauptrichtungen der modernen Geschichtswissenschaft zuwenden, die nicht versuchten, den historischen Wandel zu erklären, sondern das jeweils dominante Geschichtsbild zu revidieren, indem sie neue analytische Methoden einsetzten. Es ging dabei fast immer um Ideologiekritik. Das traditionelle Geschichtsbild wurde unter die Lupe genommen und zerlegt. Die analytischen Methoden wurden dabei oft verabsolutiert; sie galten als wertfrei und erschienen daher über jeden Ideologieverdacht erhaben. Ihre begeisterten Verfechter merkten gar nicht, wie sehr sie selbst einer neuen Ideologie Vorschub leisteten und sich dabei in Aporien verstrickten. Bei den Protagonisten der prosopograpischen Methode wurde das besonders deutlich. Sie neigten dazu, alle politischen Ideen und Bewegungen auf ein Interessenkalkül zu reduzieren. Dieser Reduktionismus führte dann dazu, daß sie die Vielfalt menschlicher Motive aus den Augen verloren. Dies geschah vor allem deswegen, weil sie in erster Linie antraten, um Motive, die die Historiker früher hervorgehoben hatten, zu entlarven. Damit soll nicht gesagt sein, daß die prosopograpische Methode kein wichtiges Hilfsmittel der historischen Analyse ist. Es soll nur von vornherein vor ihrem Mißbrauch gewarnt werden. Die prosopographische Methode steht im Zusammenhang mit anderen modernen Methoden, bei denen qualitative Phänomene durch quantitative Untersuchungen angegangen werden. Dies gilt sogar für die Mentalitätsgeschichte, über die später noch mehr gesagt werden soll. So wog zum Beispiel der französische Historiker Vovelle Kerzen, die über ein Jahrhundert in Kirchen gespendet worden waren, um den Wandel der Frömmigkeit der Bevölkerung festzustellen oder analysierte eine Unzahl von Testamenten, um aus der Frequenz der darin verwendeten Klauseln und Floskeln Rückschlüsse auf die Mentalität der Erblasser zu ziehen. Doch zunächst soll hier von einigen besonders bedeutsamen Werken die Rede sein, die auf musterhafte Weise den prosopographischen Ansatz zeigen.
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Analytische Methoden der modernen Geschichtswissenschaft
Das griechische Wort "Prosopon" bedeutet Gesicht, Maske, Rolle, Person. Prosopographie ist also Rollen- oder Personenbeschreibung und war in dieser Bedeutung schon seit alter Zeit bekannt. In der neueren Geschichtsschreibung trat die Prosopographie in einer sehr spezifischen Form erst Anfang des 20. Jahrhunderts als bewußte Reaktion auf die primär geistes- und politikgeschichtliche Tradition auf. Sie stand also in direktem Gegensatz zu Meineckes Methode der "Gratwanderung" von einem großen Denker zum anderen. Sie versuchte, von den Ideen solcher Denker bewußt abzusehen, ja sie als Epiphänomene abzutun und statt dessen die handfesten Wirtschaftsund Machtinteressen der Menschen zu betonen. Hierbei gab es Berührungspunkte mit dem historischen Materialismus, doch ohne Übernahme der Doktrin, daß das Sein das Bewußtsein bestimmte. Die erste bahnbrechende Arbeit dieser Art war die des amerikanischen Historikers Charles Beard. 1 Sie soll hier kurz vorgestellt werden, um die Schlagkraft der neuen Methode, aber auch ihre Neigung zu Determinismus und Reduktionismus zu verdeutlichen. Charles Beard und die amerikanische Verfassung Beards These ist es, daß in allen Bundesstaaten der jungen Republik zwei einander entgegenstehende Hauptinteressengruppen vertreten waren. Die einen hatten in erster Linie Geldvermögen (personalty), die anderen Grundbesitz (realty). Das Geldvermögen bestand zumeist aus Wertpapieren, insbesondere Regierungsanleihen; wer diese besaß, mußte an einer starken Zentralregierung und an einer restriktiven Geldpolitik interessiert sein, damit die Anleihen, die bereits zu einem Zwanzigstel ihres Nennwerts gehandelt wurden, ihren Wert wiedergewinnen konnten. Dieser typischen Gläubigergesinnung stand nun die der Grundbesitzer entgegen, die nicht an einer starken Zentralregierung interessiert waren und eine Politik des leichten Geldes (easy money) bevorzugten. Die Initiative, eine verfassungsgebende Versammlung einzuberufen (Philadelphia Convention 1787), ging von den Gläubigern aus. Die Delegierten wurden nicht direkt gewählt, sondern von ihren Staatsparlamenten entsandt. Alle 13 Staaten außer Rhode Island entsandten Delegierte, insgesamt rund 60 Personen. Beard gelang es, über 54 dieser Delegierten aus Biographien und Listen des Finanzministeriums genügend Informationen zusammenzustellen, 41 von ihnen hatten in der Versammlung Meinungen geäußert, die Rückschlüsse auf ihre Interessen erlaubten. Aufgrund dieser Informationen konnte Beard überzeugend
Charles Beard, An Economic Interpretation of the Constitution of the United States of America, New York 1913.
Prosographie: Die Analyse der Interessengruppen
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nachweisen, daß sich die Vertreter des Geldvermögens auf der ganzen Linie durchsetzten und eine gläubigerfreundliche Verfassung schufen. Beards kritische Revision der Geschichte entsprang einer radikalen Absicht, doch der eigentliche Held seiner Darstellung ist Alexander Hamilton, dem seine Zeitgenossen üble Motive persönlicher Bereicherung unterstellt hatten. Beard spricht Hamilton von diesen Vorurteilen frei und stellt ihn als einen Mann dar, der, weil er als Finanzminister an den Hebeln der Macht saß, genau wußte, wie man mit Interessen einen Staat macht. Hamilton ist also der überlegen Handelnde im historischen Prozeß, der nicht mit Ideologien und Phrasen arbeitet, sondern es versteht, handfeste Interessen auf einen Nenner zu bringen und auf diese Weise die zentripetalen Kräfte zu stärken und die zentrifugalen zu schwächen. ("He knew at first hand the stuff of which government is made.") Die Methode der Elite-Prosopographie ist damit deutlich geworden. Man braucht eine klar definierte Grundgesamtheit (in diesem Fall die Delegierten), und man benötigt möglichst viele vergleichbare Informationen (Vermögen, Karriere, Verwandtschaftsbeziehungen etc.) über die große Mehrheit dieser Grundgesamtheit. Diese Daten werden dann als "objektive" Zeugnisse der Interessenlage betrachtet, während politische Rhetorik etc. als subjektiv erachtet wird. Beards Paukenschlag erschütterte zwar die amerikanische Geschichtswissenschaft, fand aber zunächst kein Echo in Form einer Anwendung seiner Methode auf anderen Gebieten. Auch die in der Folgezeit entstehenden soziologischen Elitetheorien (Pareto, Mosca) wurden von der Geschichtswissenschaft nicht rezipiert. Die britische Schule der Prosopographie, die in den späten 1920er Jahren entstand, bedeutete daher praktisch einen Neubeginn. Lord Namier und König George III.
Der führende Kopf der neuen britischen Schule der Geschichtsschreibung war der polnische Emigrant Namierowski, der seinen Namen anglisierte und, für seine Verdienste um die Geschichtswissenschaft geadelt, als Lord Lewis Namier berühmt wurde. Sein bahnbrechendes Werk war "The Structure of Politics at the Accession of George III."2 Während Beard von einem radikalen Erkenntnisinteresse geleitet worden war, nahm Namier einen konservativen Standpunkt ein und bemühte sich nachzuweisen, daß der von den Whig-Historikern so sehr betonte Kampf des Parlaments gegen den angeb-
Lewis B. Namier, The Structure of Politics at the Accession of George III., London, 1957.
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Analytische Methoden der modernen Geschichtswissenschaft
lieh absolutistisch gesonnenen George III. gar nicht stattgefunden hätte, weil der König sehr verfassungstreu war. Namier wandte sich gegen die Beurteilung der Parteipolitik des 18. Jahrhunderts nach den Maßstäben einer späteren Zeit und bemühte sich darum zu zeigen, daß es damals nur Interessencliquen gegeben hatte. Er analysierte zu diesem Zweck die Karrieren und Interessen sämtlicher Parlamentsabgeordneter. Diese Grundgesamtheit war gut dokumentiert und erlaubte ihm, das von ihm vorausgesetzte Interessenkalkül zu rekonstruieren. Darauf holte er zu einem weiteren Schlag gegen die Whig-Historiker aus und zeigte, daß auch die Amerikapolitik des Königs in ganz anderem Licht gesehen werden mußte.3 Der König, so argumentierte er, war auch in dieser Hinsicht so verfassungstreu, daß er nicht einmal daran zu denken wagte, die amerikanischen Kolonien der Jurisdiktion des territorial so eng gebundenen Parlaments zu entziehen und ihnen unter seiner Oberhoheit eine neue Verfassung zu geben. Ferner wandte sich Namier dagegen, England als aristokratisch und die amerikanischen Kolonien als demokratisch zu charakterisieren und sah den eigentlichen Konflikt in der Unmöglichkeit der Interessenaggregation, wie wir das heute nennen würden. Der wichtigste Grund dafür war die territoriale Beschränktheit der Interessen und Kenntnisse der Parlamentarier, die sich mit der Methode der Prosopographie sehr gut nachweisen läßt. Die Methode, die Namier mit großem Geschick und Überzeugungskraft angewandt hatte, und ihre Stoßrichtung - die Entthronung der alten liberalen Geschichte politischer Ideen und Institutionen - machten Schule wie kaum je eine andere. Material und Themen, die man nach diesem Muster behandeln konnte, boten sich in Hülle und Fülle an. Das Rezept für unzählige Dissertationen war geradezu verführerisch einfach: Man nehme irgendeine Interessengruppe im Parlament und studiere ihr Verhalten in einem klar abgegrenzten Zeitraum. Es kamen dabei aber auch Fehlanzeigen heraus. Cyril Philips, der 1940 nach dem Vorbild des Meisters die Parlamentarier untersuchte, die Direktoren oder Aktionäre der Ostindiengesellschaft waren, konnte nicht nachweisen, daß diese "Interessengruppe" im Parlament ein einheitliches Verhalten zeigte.4 Bei jeder wichtigen Kontroverse waren die Mitglieder dieser Gruppe fast gleichgewichtig auf beiden Seiten vertreten. Das erkennt der Leser aber nur, wenn er das Buch aufmerksam liest, denn Philips hatte es keineswegs geschrieben, um die Methode des Meisters ad absurdum zu führen, sondern er wollte einen weiteren Beweis für ihre Effizienz erbringen, daher hütete er sich, die Fehlanzeige explizit anzukündigen. 3 4
Lewis B. Namier, England in the Age of the American Revolution, London (2. Aufl.) 1961. Cyril Philips, The East India Company, 1734-1834, London 1940.
Prosographie: Die Analyse der Interessengruppen
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Roland Syme und der Kaiser Augustus Die prosopographische Methode wurde zur gleichen Zeit auch auf dem Gebiet der römischen Geschichte mit Erfolg eingesetzt. Basierend auf zwei älteren deutschen Werken (M. Geizer, Die Nobilität der römischen Republik, Berlin 1912, und F.Münzer, Römische Adelsparteien und Adelsfamilien, Stuttgart 1920) schrieb Ronald Syme sein aufsehenerregendes Buch "The Roman Revolution", mit dem er den Nachweis zu führen versuchte, daß bisher dem Augustus zu Unrecht angelastet worden sei, die römische Republik zerstört zu haben, die man allzusehr nach neuzeitlichen liberal-republikanischen Gesichtspunkten eingeschätzt habe. 5 Ganz ähnlich wie Namier für Georg III. unternahm also Syme für Augustus eine Art Ehrenrettung, die jedoch nicht darin bestand, den Monarchen zu loben, sondern statt dessen seine Gegenspieler prosopographisch auseinanderzunehmen. Diese Tendenz der Geschichtswissenschaft war offensichtlich so dominant, daß Syme sie osmotisch aufgenommen hatte, denn er behauptete gegenüber Kollegen, Namier nie gelesen zu haben. Der "Namierismus" hat sich unter britischen Historikern bis auf den heutigen Tag gehalten und dazu geführt, daß die Geschichte auf ein Interessenkalkül reduziert wird und politische Ideen und selbst auch Institutionen nicht ernst genommen werden oder allenfalls als Epiphänomene oder abhängige Variablen betrachtet werden. Die Behandlung der Geschichte des indischen Freiheitskampfes durch britische Historiker in der jüngsten Vergangenheit liefert viele Belege dafür. Der Nationalismus wird in solchen Darstellungen zur reinen Spiegelfechterei. Es fällt dann freilich schwer zu erklären, warum Menschen bereit waren, sich zusammenschlagen zu lassen oder jahrelang im Gefängnis zu sitzen, wenn es doch nur um ein Interessenkalkül ging. Ursprünglich war die prosopographische Methode von Namier eingesetzt worden, um der liberalen Geschichtsschreibung ein Korrektiv entgegenzusetzen. Doch der Reduktionismus dieser Methode entfaltete bald eine Eigendynamik. Letztlich machte sich aber auch ein gewisses Unbehagen gegenüber der Elite-Prosopographie bemerkbar, und dies führte zur Betonung der Massen-Prosopographie, die sich neben der Elite-Prosopographie und zum Teil in bewußtem Gegensatz zu ihr entwickelt hat.
Roland Syme, The Roman Revolution, Oxford 1939, siehe hierzu Lawrence Stone, The Past and the Present, Boston 1981, S. 62 ff.
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Analytische Methoden der modernen Geschichtswissenschaft
Die Massen-Prosopographie: Das Leben der kleinen Leute Bei der Massen-Prosopographie geht es um das Schicksal der kleinen Leute, das frühere Historiker für nicht der Rede wert erachteten. Doch diese Prosopographie stößt auf methodische Schwierigkeiten, weil sich selten genug Quellen erschließen lassen, die vergleichbare Daten liefern. Die größten Erfolge haben auf diesem Gebiet Historiker wie Emmanuel Le Roy Ladurie errungen, die anhand ungewöhnlicher Quellen (z.B. Inquisitionsprotokolle) das Leben der kleinen Leute in einer bestimmten Region oder in einem Dorf rekonstruieren konnten.6 Solche Quellen sind natürlich nicht repräsentativ, da sie aufgrund besonderer Umstände entstanden sind und meist verfolgte Minoritäten betreffen. Doch sicher wird sich dieser Bereich noch als fruchtbarer erweisen als der der Elite-Prosopographie nach dem Muster Namiers und seiner Epigonen.
Emmanuel Le Roy Ladurie, Montaillou. Ein Dorf vor dem Inquisitor 1294 bis 1324, Berlin 1980 (frz. Orig.: Montaillou. Village occitan 1294 à 1324, Paris 1975).
10. Konjunkturgeschichte und Kliometrie Während die Prosopographie eine analytische Methode ist, die in erster Linie zur Revision bestehender Geschichtsbilder benutzt wurde, ohne die Geschichtswissenschaft als solche aus den Angeln heben zu wollen, hatten die französische Konjunkturgeschichte und die in den angelsächsischen Ländern betriebene Kliometrie den Anspruch erhoben, Form und Inhalt der Geschichtsschreibung auf eine ganz neue Grundlage zu stellen. Mit quantitativen Methoden sollten sozialgeschichtliche Tatbestände in den Griff genommen werden. Dazu sollten neue Quellen erschlossen werden und die bisherige Konzentration der Historiker auf die "Haupt- und Staatsaktionen" überwunden werden. Das französische Wort "conjuncture", das dabei eine Schlüsselrolle spielte, geht über den deutschen Begriff von Konjunktur weit hinaus. Es bezieht sich auf alle möglichen Entwicklungen in der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, so wie sie Fernand Braudel im zweiten Teil von "La Mediterranée" thematisiert hat. Die Kliometrie widmet sich im Grunde demselben Sachgebiet, betont aber in bewußter Anlehnung an die Ökonometrie die Konstruktion von Modellen und die Erfassung von umfangreichen Datenreihen. Hier soll zunächst von der Konjunkturgeschichte die Rede sein, die von Vertretern der französischen "Annales"-Schule geprägt wurde. Die Zeitschrift
"Annales"
Die Zeitschrift "Annales. Economies - Sociétés - Civilisations" wurde 1929 von Lucien Febvre und Marc Bloch begründet. Sie hatte aber schon einen Vorläufer in der "Revue de Synthese Historique", die 1900 von Henri Bengegründet worden war. Die Stoßrichtung beider Zeitschriften ging gegen die politische Geschichte alter Art. Man wollte aber nicht nur eine neue Wirtschafts- und Sozialgeschichte neben die alte politische stellen, sondern wollte die Gesamtheit der Geschichte neu erfassen, wie schon das Wort "Synthese" im Namen der ersten Zeitschrift programmatisch andeutete. Der Ranke dieser neuen Richtung war Lucien Febvre (1878-1956), der schon in seiner Dissertation von 1912 "Philippe II et la Franche Comté" ein Beispiel für die neue Art der Geschichtsschreibung gab, indem er die Sozialstruktur einer einzelnen Region intensiv durchleuchtete und mit Bevölkerungs- und Wirtschaftsstatistiken arbeitete. In späteren Jahren widmete er sich Arbeiten, die für die Mentalitätsgeschichte wegweisend wurden. Febvre veröffentlichte 1922 "La terre et l'évolution humaine" und verkündete damit bereits das Programm, das in der sieben Jahre später gegründeten Zeitschrift
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Analytische Methoden der modernen Geschichtsschreibung
"Annales" verwirklicht werden sollte. Marc Bloch (1886-1944), Febvres Partner bei der Gründung, der durch seine Arbeiten über die feudale Gesellschaft bekannt wurde, war als Mediävist der geeignete Mann, um die Botschaft der "Annales" auch in die Reihen derer hineinzutragen, die durch die strenge Schule der Ecole des Chartes gegangen waren und einer politischantiquarischen Geschichte huldigten. Die Bedeutung
der
Konjunkturgeschichte
Als dritter bedeutender Historiker kam Ernest Labrousse hinzu, der 1933 sein großes Werk "Esquisse du mouvement des prix et des revenues en France au XVIIIe siècle" veröffentlichte, das exemplarische Werk der "Konjunkturgeschichte". Labrousse ist es später gelungen, den Ausbruch der französischen Revolution durch eine Analyse des Zusammentreffens langfristig und kurzfristig bedingter Konjunkturkrisen zu erklären. Die Annales-Gruppe fand 1947 mit der Gründung der Sixième Section der Ecole Pratique des Hautes Etudes eine gesicherte institutionelle Basis. Präsident der neuen Sektion wurde Lucien Febvre und nach ihm Fernand Braudel. Als Meisterschüler Febvres schuf Braudel in seinem großen Werk über den Mittelmeerraum im 16. Jahrhundert, das bereits zuvor diskutiert wurde, geradezu ein Monument der Annales-Schule und kombinierte auf eindrucksvolle Weise die Methoden von Febvre und Labrousse, die in Anlehnung an die Humangeographie entstandene Strukturgeschichte und die "Konjunkturgeschichte". In der nächsten Generation war es besonders Emmanuel Le Roy Ladurie, der durch vielseitige Arbeiten die Konjunkturgeschichte vorantrieb und auch Mentalitätsgeschichte schrieb. Er verband die Analyse von Agrarpreisstatistiken mit demographischen und klimatologischen Untersuchungen. Sein interessanter Aufsatz über "Die Geschichte von Sonnenschein und Regenwetter" gibt Einblick in die Verwendung verschiedenster Quellen, so etwa der Weinlesedaten, der Gletscherforschung und der Dendrochronologie (Messung der Jahresringe der Bäume).1 Die Vielfalt der Arbeitsmöglichkeiten, die die Konjunkturgeschichte den Historikern anbot, war schier unerschöpflich. Bereits bei Namier und seinen Interessengruppenforschern haben wir auf die Gefahr der unermüdlichen Reproduktion ähnlicher Arbeiten hingewiesen, die sich ergibt, wenn eine solche Methode "Schule macht". Der Fragestellung kommt in diesem Zusammenhang besondere Bedeutung zu. Emmanuel Le Roy Ladurie, "Die Geschichte von Sonnenschein und Regenwetter" in: Claudia Honegger (Hg.), M. Bloch, F. Braudel, L. Febvre u.a., Schrift und Materie der Geschichte, Frankfurt 1977, S. 220 ff.
Konjunkturgeschichte und Kliometrie
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Vor allem muß die Illusion vermieden werden, die Datenreihen seien "wertfreie" Dokumente und als solche "objektiv". Die kreativsten Vertreter der Konjunkturgeschichte sind nicht in diesen Fehler verfallen. Doch es kann kritisch vermerkt werden, daß sie sich mit Vorliebe auf die Regionalgeschichte und auf die Zeit vor dem 19. Jahrhundert beschränkt haben. Die alte Agrargesellschaft und nicht die moderne Industriegesellschaft zog sie in ihren Bann. Die Vertreter der angelsächsischen Kliometrie setzten in dieser Hinsicht andere Schwerpunkte. Kliometrie
und "New
History"
In England und Amerika hatte sich parallel zur Entwicklung der AnnalesSchule in Frankreich und ebenfalls in Opposition zum Erbe des deutschen Historismus eine "New History" entwickelt. Neben dem deutschen Historismus war es aber auch die liberale angelsächsische Tradition der "Whig History", die die Errungenschaften der britischen politischen Entwicklung pries und in Amerika Revolution, Verfassung und die Politik der Präsidenten zum Gegenstand hatte, gegen die sich die "New History" richtete. Gegen den Verfassungs- und Personenkult trat Charles Beard auf, über dessen Werk bereits berichtet wurde. Er machte seine Leser darauf aufmerksam, daß die Verfassung von Menschen gemacht worden sei, eine Ermahnung, die offenbar nötig war, da man die Verfassung für sakrosankt hielt, und Beards Analyse für manche Leser geradezu an Blasphemie grenzte. Bei seinem polemischen Protest gegen die bisherige Geschichtsschreibung geriet Beard in die Gefahr, einem einseitigen ökonomischen Determinismus zu huldigen, aber sein Protest gab der "New History" den entscheidenden Auftrieb. Beards Bemühungen fanden später ein Echo in einer neuen Schule der amerikanischen Geschichtswissenschaft, die sich in Anlehnung an die "econometrics" der Wirtschaftswissenschaften, das Wort "cliometrics" (Kliometrie) zum Motto wählten. Die Ökonometrie hatte sich erst in den 1930er Jahren etabliert und die Kliometrie nach i960. 2 Mit Hilfe statistischer Methoden wurden große Grundgesamtheiten quantitativer Daten untersucht. Bahnbrechend war das große Werk von Robert Fogel und Stanley Engerman, "Time on the Cross", mit dem nachgewiesen wurde, daß die Sklavenarbeit in den amerikanischen Südstaaten ökonomisch durchaus rentabel war.3 Damit wurde die alte These widerlegt, daß die Südstaaten ökonomisch Roderick Floud, "Cliometrics", in: J. Eatwell, ed., The New Palgrave. A Dictionary of Economics, London 1987, Bd. 1, S. 452 ff. Robert Fogel and Stanley Engermann, Time on the Cross: The Economics of American Negro Slavery, 2 Bde., Boston 1974.
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Analytische Methoden der modernen Geschichtsschreibung
stagnierten, und die Sklaverei nur aus Prestigegründen aufrechterhalten wurde. Die Kliometrie erwies auf diese Weise ihre Überlegenheit gegenüber der rein qualitativ argumentierenden Geschichte, die sich auf falsche Annahmen gestützt hatte. Zuvor hatte Fogel bereits mit seinem Buch "Railroads and American Economic Growth"4 Aufsehen erregt. Er hatte den methodischen Kunstgriff der "kontrafaktischen Geschichte" (counterfactual history) für die Kliometrie nutzbar gemacht, indem er im Computer die Eisenbahn wegsimulierte und ausrechnete, welche Transportkosten der amerikanischen Volkswirtschaft entstanden wären, wenn es die Eisenbahnen nicht gegeben hätte. Sein Resultat war, daß die durch die Eisenbahn bewirkten Kosteneinsparungen gering waren. Damit zerstörte er den Mythos, daß die Eisenbahn der Hauptfaktor des amerikanischen Wirtschaftswachstums gewesen sei. Wie schon bei den Prosopographen zeigt es sich auch hier, daß das wesentliche Motiv beim Einsatz der neuen analytischen Methoden darin lag, traditionelle Geschichtsbilder zu revidieren. Man könnte sozusagen von einem ikonoklastischen Siegeszug der neuen Methoden sprechen. Dieser Siegeszug machte manche Adepten der Kliometrie übermütig. Sie sahen verächtlich auf die von ihnen als "Traditionalisten" abqualifizierten anderen Historiker herab, die nichts zu zählen, sondern nur etwas zu erzählen hatten. Die erbosten Traditionalisten setzten sich zur Wehr, indem sie die Prämissen oder die Datenbasis der Kliometriker in Frage stellten. Der wahre Grund des Konflikts lag jedoch tiefer. Wie jede der verschiedenen erfolgreichen Schulen der Geschichtswissenschaft neigte auch die Kliometrie zum Reduktionismus; man kann es auch den Rückfall in die Ontologie nennen, der einer Schule immer dann droht, wenn sie die eigene Methode verabsolutiert. Historische Trends und "Kräfte", die man mit geradezu naturwissenschaftlicher Genauigkeit durch die Analyse großer Datenmengen nachweisen konnte, beherrschten offensichtlich die Geschichte und machten die Einzelentscheidungen der handelnden Personen zu Epiphänomenen, mit deren Untersuchung man sich gar nicht abzugeben brauchte. Dabei konnte der übereifrige Kliometriker auch noch der Illusion verfallen, daß er doch nur die Daten mit technisch einwandfreien Methoden zum Sprechen brachte. Auf diese Weise vom Kliometriker zum Sprechen gebracht, sagte die Geschichte sich selber aus. Es war diese Hybris, die die "Traditionalisten" so sehr reizte, denn wenn die Kliometriker diesen Anspruch erhoben, dann vertraten sie allein die "wahre Geschichte", während alle anderen nur subjektive Dichtung betrieben. Im Eifer dieses Methodenstreits übersah man auf beiden Seiten, daß die Kliometrie nichts mehr und nichts weniger ist als eine nützliche hiRobert Fogel, Railroads and American Economic Growth, Baltimore 1964.
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storische Hilfswissenschaft, die ohne Zweifel dazu gedient hat, alte Lehrmeinungen zu widerlegen, neue Fragestellungen hervorzubringen und eine große Menge neuer Quellen zu erschließen. Der britische Mediävist G.R. Elton hat sich in einem gemeinsam mit Fogel veröffentlichtem Buch "Which Road to the Past?" scharf mit den neuen Methoden der Kliometrie und Prosopographie auseinandergesetzt.5 Er rügte besonders die Annahme, daß es irgendwelche Strukturen und Kräfte in der Geschichte gebe. Ferner warnte er vor "Kürzeln", die sich dann als Kategorien verselbständigen - und für Elton ist sogar der "Feudalismus" ein "Kürzel" dieser Art. Ebenso betonte er, daß die Geschichtsforschung zwar eine "Matrix" definieren kann, innerhalb der das Denken früherer Epochen operierte, daß es aber gefährlich sei, einer solchen mit quantitativen Daten belegten Matrix zu vertrauen, weil sie sich leicht als Prokrustesbett erweisen könne. Man kann Eltons Mahnungen zu fünf Thesen zusammenfassen: 1. Unterstelle historischen Prozessen keine nicht näher identifizierbaren "Kräfte". 2. Halte "Kürzel" nicht für Kategorien. 3. Hüte dich vor Überinterpretationen einer "Matrix", die nur Parameter angibt, aber keine Rückschlüsse auf historisch signifikante Abweichungen erlaubt. 4. Führe keine Analogieschlüsse als Beweise an, wenn der Beweis im jeweiligen historischen Kontext nicht erbracht ist. 5. Vermeide Rückschlüsse von reduktionistischen Strukturanalysen auf den Charakter historischer Prozesse. In England begann die "New History" und die Abkehr von der rein politisch orientierten "Whig History" mit der Auseinandersetzung über die Geschichte der industriellen Revolution. Dabei standen zunächst im engeren Sinne wirtschaftshistorische Fragen im Vordergrund, dann kamen soziale Fragen hinzu. Die neue Richtung fand einerseits Ausdruck in dem 1929 (zur gleichen Zeit wie die "Annales") gegründeten "Economic History Review" und andererseits in der Gründung der Zeitschrift "Past and Present", die bis 1959 den programmatischen Untertitel "A Journal of Scientific History" trug und sich erst dann den unverbindlichen Untertitel "A Journal of Historical Studies" zulegte. Die Aufgabe des programmatischen Untertitels zeigte an, daß die von Marxismus und Positivismus gleichermaßen behauptete Wissenschaftlichkeit nach dem Vorbild der exakten Naturwissenschaften nicht mehr vertreten werden konnte. Beispielhaft für die marxistisch inspirierte "New History" waren die Arbeiten von E.P. Thompson und E.J. Hobsbawm, die sich mit der Sozialgeschichte der Arbeiterschaft, aber auch mit Themen wie "The Moral Economy of the English Crowd in the 18th Century "(Thompson, Past and Present, Feb.1971) R.W. Fogel and G.R. Elton, Which Road to the Past? Two Views of History, New Haven 1983, S. 71 ff.
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Analytische Methoden der modernen Geschichtsschreibung
oder mit "Primitive Rebeis" 6 beschäftigten. So wie in Frankreich unter dem Einfluß der Annales-Schule wurde nun in England, inspiriert von der "New History", die historische Demographie zu einer rasch wachsenden Spezialdisziplin. Die technisch-methodologischen Ansprüche und die Hut des Quellenmaterials, das sich aufgrund neuer Fragestellungen erschloß, haben freilich den Elan der "New History" auch wieder gebremst. Ursprünglich war man ja angetreten, um die alte konservative oder liberale politische Geschichte zu entthronen und durch eine neue gesellschaftsbezogene Gesamtgeschichte zu ersetzen. Doch erwies es sich auf diesem neuen Gebiet als viel schwerer, die Geschichte auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen, als in der politischen Geschichte nach dem Muster Rankes oder der Whig History. Die Zahl der sozialgeschichtlichen Einzelstudien wuchs und wuchs, aber die Synthese blieb aus. In der Wirtschaftsgeschichte arbeitete man mit modernsten statistischen und ökonometrischen Methoden und mehrte das Wissen, ohne dabei auch die Erkenntnis zu vertiefen. Die "Economic History ofBritain" Hochgradige Spezialisierung erschwert die Kommunikation unter den Fachleuten. Als Beispiel sei hier abschließend die in jeder Hinsicht vorbildliche "Economic History of Britain since 1700" erwähnt. 7 Diese hochmoderne Wirtschaftsgeschichte ist von insgesamt 30 Experten geschrieben, die sich die Arbeit nach Sachgebieten wie Außenhandel, Investitionen, Einkommensverteilung und Nachfrage etc. aufgeteilt haben. Wichtige Prozesse, wie etwa der der Auswanderung, fallen dabei aus dem streng gezogenen Rahmen der Sub-Disziplinen. Nur hier und da ist von Auswanderung die Rede, wobei sich die Aussagen der Experten widersprechen. So stellt der Spezialist, der über den Arbeitsmarkt schreibt und am Ende seines Berichts auch die Auswanderung erwähnt, verwundert fest, daß die Auswanderung mit steigender Industrialisierung anstieg, statt zu fallen, obwohl man doch das Gegenteil hätte erwarten müssen, wenn es sich bei den Auswanderern um Landflüchtige auf der Suche nach Industriearbeitsplätzen handelte. Er kommt dann zu dem Schluß, daß britische Investitionen in Amerika und die Auswanderung nach dort Hand in Hand gingen. Der Außenhandelsexperte meint dagegen in seinem Beitrag, daß es in England an Arbeitskräften fehlte, die man hätte einsetzen können, um eine größere Nachfrage nach Exportgütern zu befriedigen. Es ist hier nicht der Ort, um sich in eine Debatte 6 7
E.J. Hobsbawm, Primitive Rebeis, Manchester 1959. Roderick Floud and Donald McCloskey, eds., The Economic History of Britain since 1700, 2 Bde., Cambridge 1981.
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über Fragen der britischen Wirtschaftsgeschichte einzulassen, das Beispiel wurde nur erwähnt, um zu zeigen, wie schlecht es um die Synthese von Erkenntnissen bestellt ist, die auf verschiedenen Spezialgebieten erworben werden. Die Rezeption der "New History" in
Deutschland
Sowohl die Arbeiten der Annales-Schule als auch die der "New History" wurden in Deutschland erst sehr spät rezipiert. In der Zeit zwischen den Weltkriegen war der Historismus in Deutschland noch sehr mächtig, wenn er auch - wie wir gesehen haben - im Werk von Friedrich Meinecke zum tragischen Historismus wurde. Selbst die Anregungen Max Webers wurden von den deutschen Historikern nicht rezipiert, geschweige denn die neuen Ideen, die aus dem Ausland kamen. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg war überhaupt die Möglichkeit einer solchen Rezeption wieder gegeben. Doch die älteren Historiker knüpften meist an die Vorkriegstradition an. Erst die jüngere Generation, die auch die Gelegenheit zum Studium im Ausland hatte, griff die neuen Anregungen auf. Die Chance des Auslandsstudiums wurde übrigens von Historikern weit weniger genutzt als von Studenten anderer Disziplinen. Das lag insbesondere an der nationalen Bezogenheit der Geschichtswissenschaft, die unter dem Vorzeichen der Bewältigung der eigenen jüngsten Vergangenheit neue Impulse bekam. Es kam hinzu, daß für diese Aufgabe Quellen in überreichem Maße zur Verfügung standen. Die "Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte" wurden zu einem Forum für diese Art der Geschichtsschreibung. Erst viel später entstand mit der Zeitschrift "Geschichte und Gesellschaft" ein Sprachrohr der jüngeren Historikergeneration, die nun auch die Anregungen rezipierte, von denen hier die Rede war. Ulrich Wehler und Jürgen Kocka sind die Pioniere dieser neuen Richtung. Die Kliometrie hat in Deutschland außer im engeren Fachbereich der Wirtschaftshistoriker nur wenig Aufsehen erregt. Doch einer ihrer Zweige, die historische Demographie, die weit über die reine Rekonstruktion von Bevölkerungszahlen vorgedrungen ist und die Sozialgeschichte der Familie, den Verlauf des Lebens von der Wiege bis zur Bahre, die Phänomene von Einund Auswanderung und vieles andere mehr erforscht, hat auch in Deutschland Beachtung gefunden. Hier hat insbesondere Arthur Imhof Pionierarbeit geleistet. So hat er unter anderem die Frage aufgegriffen, welche sozialgeschichtliche Bedeutung der enorme Anstieg der Lebenserwartung hat, der es den Menschen ermöglicht, Jahrzehnte mit Leben zu erfüllen, die ihren Ahnen
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nicht vergönnt waren. In solchen Bereichen berührt sich die quantitative Geschichtsforschung mit der Psycho-Historie und der Mentalitätsgeschichte, denen es darum geht zu erforschen, wie das Leben erlebt wird, wobei es der Psycho-Historie ihrer Methode nach in erster Linie um das individuelle Erleben, der Mentalitätsgeschichte aber um das kollektive Bewußtsein geht.
11. Psycho-Historie und Mentalitätsgeschichte Während die Prosopographie versucht, Gruppeninteressen als treibende Kräfte der Handelnden zu erfassen, und Konjunkturgeschichte und Kliometrie die Handelnden weitgehend von der Bühne der Geschichte verbannt, bemüht sich die Psycho-Historie darum, die psychischen Triebfedern der Handelnden freizulegen. Die Prosopographie hält sich an bewußte Interessen und geht davon aus, daß die Handelnden sich auch dann und gerade dann dieser Interessen bewußt sind, wenn sie sie nicht als solche artikulieren, sondern sich hinter Rechtfertigungsideologien verstecken. Die Psycho-Historie sucht in Anlehnung an Freud dagegen unbewußte Triebkräfte zu entdecken, die durch Psychoanalyse erschlossen werden können. Betont man dabei, wie Freud es getan hat, die frühkindlichen Erlebnisse, dann setzt das Nichtvorhandensein von Quellen dem Historiker sofort eine Grenze. Deshalb hat der prominenteste Vertreter der PsychoHistorie, Eric Erikson, sich auch nicht auf die frühkindlichen Erlebnisse beschränkt, sondern die "Identitätskrisen" der erwachsenen Menschen unter die Lupe genommen. Sein "junger Luther"1 ist ein Paradebeispiel für diese Methode, die er dann in etwas modifizierter Weise auch auf Gandhi angewandt hat.2 Dabei hebt er den von Gandhi organisierten Textilarbeiterstreik in Ahmedabad als Zeitpunkt einer solchen Identitätskrise hervor, obwohl frühere Ereignisse in Südafrika eher als solche Krisen gedeutet werden könnten. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, daß hier eine gewisse Willkür bei der Auswahl signifikanter Krisen waltet. Auch ist die Psycho-Historie eigentlich nur dann für die Geschichtswissenschaft nutzbar, wenn sich zeigen läßt, daß die Krisen eines den Lauf der Geschichte bestimmenden großen Mannes wesentlichen Einfluß auf seine Entscheidungen gehabt haben. Erfolgversprechender ist da schon der Versuch, die Psycho-Historie mit der Prosopographie zu verbinden und Identitätskrisen in einer größeren Grundgesamtheit zu orten. Einen solchen Versuch hat der amerikanische Historiker David Kopf unternommen; er soll hier etwas ausführlicher dargestellt werden, weil es sich um einen signifikanten Fehlschlag handelt, der die Probleme dieser Methodenkombination aufzeigt. David Kopf kommt ursprünglich von der Geistesgeschichte her und hat seine Meisterschaft auf diesem Gebiet mit seinem Buch über "British OrienEric Erikson, Young Man Luther, A Study in Psychoanalysis and History, New York 1958. Eric Erikson, Gandhi's Truth, New York 1969.
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talism and the Bengal Renaissance" bewiesen.3 Danach wandte er sich der oben genannten Methodenkombination zu und schrieb ein Buch über "The Brahmo Samaj and the Shaping of the Modern Indian Mind".4 Das Buch berechtigte aufgrund der Voraussetzungen des Autors zu großen Hoffnungen, denn die Geistesgeschichte ist der blinde Fleck der Prosopographie, und die Psycho-Historie, die sich mit der unbewußten Psyche und nicht mit dem bewußten Geist beschäftigt, hat auf diesem Gebiet auch nicht viel zu bieten. Kopf hätte diese Lücke füllen können, doch er verlegte sich selbst den Weg, indem er eine willkürliche, geistesgeschichtliche Unterscheidung zum Maßstab der Identitätskrisen seiner Probanden machte. Er erfaßte mit großer Akribie eine beträchtliche Zahl namhafter Angehöriger der Hindu-Reformsekte Brahmo Samaj. Ihre Hinwendung zum Nationalismus betrachtete er dann als Stadium eines Reifungsprozesses, doch wenn sie dieses Stadium im Verlauf ihrer Identitätskrise nicht überwanden und sich nicht zum Universalismus durchrangen, erhielten sie von Kopf die Note "unreif". Kopf zeigt seine Präferenz für den Universalismus und seine Antipathie gegenüber dem Nationalismus sehr deutlich. Ideologische Differenzen, die von den Prosopographen nicht ernst genommen werden, werden bei dem geistesgeschichtlich orientierten Kopf zu psychohistorischen Entwicklungshemmungen. Der doppelte Reduktionismus, dem Kopf verfällt - die Reduktion der Persönlichkeitsentwicklung auf die Bewältigung der Identitätskrise und die Reduktion der erfolgreichen Bewältigung der Krise auf die Entscheidung für den Universalismus und gegen den Nationalismus - zeigt, welche absurden Ergebnisse man bei einer unkritischen Methodenkombination erzielen kann. Mentalitätsgeschichte
Das gerade erwähnte Beispiel zeigt den mißglückten Versuch einer Methodenkombination, die bei umsichtiger Anwendung eine Brücke von der Prosopographie zur Mentalitätsgeschichte schlagen könnte. Die Mentalitätsgeschichte wurde nicht von britischen und amerikanischen, sondern von französischen Historikern betrieben, die sich von Dürkheims Lehre vom Kollektivbewußtsein inspirieren ließen, statt sich an der Psychoanalyse zu orientieren. Wie bereits erwähnt, hat Lucien Febvre, der mit seinen Arbeiten, die von der Humangeographie beeinflußt waren, der Strukturgeschichte entscheidende Impulse gegeben hat, auch auf dem David Kopf, British Orientalism and the Bengal Renaissance, 1773-1835, Berkeley 1969. David Kopf, The Brahmo Samaj and the Shaping of the Modem Indian Mind, Princeton 1979.
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Gebiet der Mentalitätsgeschichte Pionierarbeit geleistet. Sein Buch über den Unglauben bei Rabelais sollte zeigen, daß Rabelais gar nicht der konsequente Atheist sein konnte, als den ihn spätere Generationen sahen, weil dem "Unglauben" zu seiner Zeit noch enge Grenzen gezogen waren.5 In einem Aufsatz von 1941 ("La sensibilité et l'histoire. Comment reconstituer la vie affective d'autrefois?"), der kurz vor dem Rabelais-Buch erschienen war, forderte Febvre eine Geschichte der großen Emotionen, der Liebe, des Todes, des Hasses, der Grausamkeit und der Angst. 6 Vieles davon haben seine Schüler später geleistet. Als er davon schrieb, galt dergleichen noch als für die Geschichtswissenschaft völlig unzugängliches Gebiet. Er bezeichnete die Emotionen als ansteckend und begründete so ihre Intersubjektivität, genau wie Max Scheler die Tradition als ansteckend bezeichnet hatte.7 Literatur, Kunst und Musik sollten als Quellen für eine solche Geschichte der Emotionen herangezogen werden. Febvre weist in diesem Aufsatz auf den großen Vorläufer der Mentalitätsgeschichte, den holländischen Mediävisten, Johan Huizinga (1872-1945) hin, dessen Buch "Herbst des Mittelalters" zuerst 1919 in holländischer Sprache erschienen war.8 Freilich vermerkt er auch kritisch, daß Huizinga eher ein großartiges Gemälde als eine analytische Untersuchung geliefert habe und Fragen wie die, ob man annehmen dürfe, daß es in der Geschichte Perioden prädominierender Intellektualität gegeben habe, die auf solche besonders ausgeprägter Affektivität folgten, nicht gestellt habe. Wegen seiner großen Bedeutung für die Mentalitätsgeschichte soll Huizingas Buch hier kurz vorgestellt werden. Huizinga gab dem "Herbst des Mittelalters" den Untertitel "Studien über Lebens- und Geistesformen des 14. und 15. Jahrhunderts in Frankreich und den Niederlanden". Gleich im ersten Kapitel "Die Spannung des Lebens" entwirft Huizinga ein dramatisches Bild von der Mentalität dieser Zeit: "So grell und bunt war das Leben, daß es den Geruch von Blut und Rosen in einem Atemzuge vertrug. Zwischen höllischen Ängsten und kindlichstem Spaß, zwischen grausamer Härte und schluchzender Rührung schwankt das Volk hin und her wie ein Riese mit einem Kinderkopf. Es lebt in Extremen, zwischen der gänzlichen Verleugnung aller weltlichen Freude und einem
Lucien Febvre, Le problem de l'incroyance au XVIe siècle.La religion de Rabelais, Paris 1942. Lucien Febvre, Das Gewissen des Historikers, Berlin 1988, S. 91 ff. Zu Schelers Traditionsbegriff siehe Alice Kohli-Kunz, Erinnern und Vergessen, Berlin 1973, S. 55 ff. Johan Huizinga, Herbst des Mittelalters, Stuttgart 1961.
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wahnsinnigen Hang zum Reichtum und zum Genuß, zwischen düsterstem Haß und der lachlustigsten Gutmütigkeit [...]. Die Zeiten nach der Reformation haben die Hauptsünden Hochmut, Jähzorn und Habgier nicht mehr in jener purpurnen Vollblütigkeit und unverschämten Dreistigkeit gesehen, mit denen sie unter der Menschheit des fünfzehnten Jahrhunderts umherwandelten [...]. Man kann Hochmut und Habsucht einander als die Sünden der alten und der neuen Zeit gegenüberstellen. Der Hochmut ist die Sünde der feudalen und hierarchischen Periode, in der Besitz und Reichtum noch wenig beweglich sind [...]. Der Habsucht nun fehlt der symbolische und theologische Charakter des Hochmuts; sie ist die natürliche und materielle Sünde, der rein irdische Trieb. Sie ist die Sünde einer Zeit, in der der Geldverkehr die Bedingungen der Machtentfaltung verändert und freigemacht hat."9 Das Zitat zeigt, mit welch plastischen Worten Huizinga seine Mentalitätsgeschichte schrieb. Seine Sichtweise war von der niederländischen Malerei geprägt, mit der er sich intensiv beschäftigt hatte. Diese Bildhaftigkeit steckt den Leser geradezu an - wie Febvre es von den Emotionen gesagt hat. Die Mentalitätsgeschichtsschreibung erhält auf diese Weise jene intersubjektive Suggestivität, die als Grundannahme für die ganze Forschungsrichtung gilt. Es ist daher kein Wunder, daß Febvre von Huizinga fasziniert war, freilich ist auch seine Kritik an ihm berechtigt, daß er das Problem der Genese nicht beachtet habe. Huizinga kontrastiert einfach das bunte Panorama der spätmittelalterlichen Welt mit der andersartigen Neuzeit, sagt aber nichts darüber aus, wie dieser Umschwung bewirkt wurde und welche Gründe es für die Entwicklung der Mentalität gab, die er so farbig darstellte. Diese schroffe Gegenüberstellung ohne Beachtung des Wandlungsprozesses hat ihren Grund in der wissenschaftlichen Debatte, an der Huizinga teilnahm. Er wollte den damals herrschenden Lehrmeinungen entgegentreten, denen zufolge das Spätmittelalter die Neuzeit vorbereitete, und statt dessen die krasse Andersartigkeit der Epoche, die er beschrieb, hervorheben. Er selbst hat die Idee, die ihm plötzlich kam und erst Jahre später in seinem Buch ihren Ausdruck fand, so charakterisiert: "[...] ging mir die Einsicht auf: das späte Mittelalter ist nicht Ankündigung eines Kommenden, sondern ein Absterben dessen, was dahingeht."10 Aus dieser y 10
Huizinga, Herbst des Mittelalters, S. 29ff. Ibid., S. VII.
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Perspektive konnte er das Andersartige, das Absterbende scharf erfassen. Mit den Übergängen und den Tendenzen, die sich fortsetzten, tut er sich dabei naturgemäß schwer. Das zeigt sich auch bei seiner einfühlsamen Charakterisierung der Habsucht, die oben zitiert wurde. Im Unterschied zu der bildhaft-intuitiven Mentalitätsgeschichte Huizingas hat sich die moderne französische Forschung auf diesem Gebiet mit quantitativen Methoden und intensiven Regionalstudien um die Dokumentation des Mentalitätswandels bemüht. 11 Führend ist auf diesem Gebiet zur Zeit Michel Vovelle, der als Schüler von Ernest Labrousse die statistische Konjunkturgeschichte gelernt hatte und im Sinne seines Meisters Mentalitäten zunächst als "Widerstände" betrachtete, bis er auf den Gedanken kam, durch die Auswertung "massenhafter" Quellen den Wandel der Mentalität zu erkunden. Auf sein Kerzenwiegen und Testamentelesen haben wir bereits hingewiesen. Darüber hinaus hat er Volksfeste und Bauernunruhen studiert und zur Geschichte der Französischen Revolution einen bemerkenswerten Beitrag geleistet, indem er die revolutionären Entchristianisierungskampagnen regional dokumentierte, um auf diese Weise zu zeigen, wo die revolutionäre Bewegung ihre Hochburgen hatte und wo sie sich nicht sehr intensiv auswirkte. 12 An die Stelle von Huizingas Mentalitätspanorama und Labrousses "Mentalität als Widerstand" tritt bei Vovelle eine Beweglichkeit der Mentalität - von der schleichenden Bewegung bis zum plötzlichen Umbruch. Auf diese Weise wird Vovelle zu einem der ersten neuen Historiker, der es wieder wagt, sich einem Ereignis zu nähern, nachdem die Ereignisgeschichte von der Geschichte der "langen Dauer" so ganz und gar in den Schatten gestellt worden war. Von Huizinga bis zu Vovelle hat die Mentalitätsgeschichte bedeutende Fortschritte gemacht, die nun auch den Brückenschlag zur historischen Verhaltensforschung ermöglichen, über die gesondert berichtet werden soll. Zunächst soll aber noch ein Wort zu den Konvergenzen der drei Schulen der Geschichtswissenschaft gesagt werden, um die es hier ging. Konvergenzen Zu Beginn sei gesagt, daß diese drei Schulen der Geschichtswissenschaft den gemeinsamen Nenner haben, daß sie der Ansicht sind, daß das Bewußtsein das Sein bestimmt. Nur was das für ein Bewußtsein ist und wie es auf das Sein einwirkt, das bleibt natürlich die große Frage, auf die 11
Ulrich Rauff, Hg., Mentalitätengeschichte, Berlin 1987. Michel Vovelle, Die Französische Revolution. Soziale Bewegung und Umbruch der Mentalitäten, München 1982.
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verschiedene Antworten gegeben werden können. Die Prosopographie postuliert ein klar umrissenes Bewußtsein von handfesten Interessen (Besitzstandwahrung, Macht etc.), Interessen, die durch konzertierte Aktionen durchgesetzt oder verteidigt werden. Kann man diese Interessen identifizieren und den Akteuren zuordnen, so läßt sich der Lauf der Geschichte erklären; mit Epiphänomenen wie Ideologie und Rhetorik, Parteien und Institutionen etc. braucht man sich dann gar nicht mehr lange aufzuhalten, denn man kann sie von den Interessen ableiten. Die PsychoHistorie hat eine ähnlich starke Position, wenn sie alles von unbewußten Antrieben und Identitätskrisen ableitet. Beide Methoden bergen die Gefahr eines überzeugenden und methodisch gut organisierten Reduktionismus in sich. Die Mentalitätsgeschichte arbeitet differenzierter, tendiert aber dazu, die Mentalität in erster Linie als "Widerstand", als beharrende Größe von "langer Dauer" zu sehen und hat dann Schwierigkeiten, sich der konkreten Handlung und dem konkreten Ereignis zu nähern. Alle drei Schulen haben jedoch die Geschichtswissenschaft sehr bereichert, indem sie neue Perspektiven eröffnet und neue Quellen erschlossen haben. Wenn man den spezifischen Reduktionismen, die diese Schulen kennzeichnen, nicht verfällt, kann man ihre Ergebnisse nutzen. Die Reduktionismen haben freilich für die betreffenden Schulen paradigmatischen Charakter (im Sinne Thomas Kuhns). Vor allem die prosopographische Schule hat in den angelsächsischen Ländern in den letzten Jahrzehnten als ein so überzeugendes Paradigma gegolten, daß sie dort (wieder im Sinne Kuhns) geradezu zur "normalen" Geschichtswissenschaft geworden ist. Eine Nutzung der Forschungsergebnisse bei Zurückweisung des zugrundeliegenden Paradigmas kann leicht zum Eklektizismus führen, dasselbe gilt auch für die bei weitem nicht so verbreitete psychohistorische Schule. Eine Mentalitätsgeschichte, mit prosopographischen und psychohistorischen Versatzstücken angereichert, wäre eine verlockende, aber auch eine sehr problematische Weiterentwicklung der hier aufgezeigten Tendenzen der Geschichtswissenschaft. Wir wollen nun sehen, ob die historische Verhaltensforschung eine Möglichkeit bietet, die bisherigen Forschungsergebnisse in ein neues Paradigma einzuordnen. Thomas Kuhns Thesen sollen dabei beachtet werden, denn auch er gehört zu den historischen Verhaltensforschern, obwohl er sich nicht als ein solcher bezeichnet.
12. Historische Verhaltensforschung Die historische Verhaltensforschung ist eine neue Richtung der Geschichtswissenschaft, die in den 1960er Jahren entstanden ist und sehr verschiedene Ursprünge hat. In der Tat ist die Entstehungsgeschichte dieser neuen Wissenschaftsrichtung selbst ein typisches Beispiel für das, was sie zum Hauptthema ihrer Forschung gemacht hat: den parallelen Wandel auf verschiedenen Gebieten des Denkens und Verhaltens. Der deutsche Mediävist August Nitschke, der französische Philosoph Michel Foucault und der amerikanische Wissenschaftshistoriker Thomas Kuhn haben unabhängig voneinander und nahezu gleichzeitig Phänomene des Wandels der Anschauungen und Erkenntnisse in verschiedenen Epochen und verschiedenen Wissensgebieten untersucht und sind zu ähnlichen Ergebnissen gekommen, nämlich daß sich dieser Wandel weitgehend unbewußt vollzieht, und daß sich erstaunliche Parallelen finden lassen, die andeuten, daß die jeweiligen Zeitgenossen sozusagen auf der "gleichen Wellenlänge" dachten, ohne dies zu bemerken. Bisher hat die historische Verhaltensforschung keine analytischen Methoden entwickelt, die sich mit denen der Prosopographie oder Kliometrie vergleichen lassen. Von Thomas Kuhn, der sein Buch "The Structure of Scientific Revolutions" 1962 veröffentlichte und von Michel Foucault, der "Les mots et les choses" 1966 publizierte, ist bereits die Rede gewesen. Kurz darauf erschien 1967 das Werk von August Nitschke über "Naturerkenntnis und politisches Handeln im Mittelalter"1. Nitschke wies nach, daß sich ein paralleler Wandel in den Anschauungen von der Natur und im Bereich der politischen Ideen und Rechtslehren vollzogen hatte. Seine Arbeit war weder von Kuhn noch von Foucault beeinflußt. Eine Synthese der Forschungsergebnisse dieser drei Autoren erfolgte zunächst nicht, sie nahmen auch weiterhin kaum Notiz voneinander. Nitschke versuchte dann in seinem Arbeitsbuch "Historische Verhaltensforschung" 2 , übergreifende Themen zu entwickeln, auf die wir gleich näher eingehen werden, doch er erwähnte dabei Foucault nur beiläufig und Kuhn überhaupt nicht. Er zitiert Foucault nur in bezug auf die Denkweise des 17. und 18. Jahrhunderts, setzt sich aber nicht mit seiner Methode der "Archäologie des Wissens" auseinander. Er behandelt zunächst die von der Mentalität einer Gruppe abhängigen Verhaltensweisen und stellt die Grundfragen: "Welche Affekte werden kontrolliert? Welcher Art sind die August Nitschke, Naturerkenntnis und politisches Handeln im Mittelalter. Körper, Bewegung, Raum, Stuttgart 1967. August Nitschke, Historische Verhaltensforschung, Stuttgart 1981.
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Empfindungen? Wie wird Gedachtes beim Denken verbunden? Welche Bedürfnisse dominieren?" Dann wendet er sich den von Aktionen abhängigen Verhaltensweisen zu und fragt: "Wer bewirkt Veränderungen? Was wird beim Menschen verändert?" Bei der Affektkontrolle folgt Nitschke hauptsächlich Norbert Elias.3 Beim Empfinden knüpft er an Febvres "ansteckende Emotionen" an. Beim Denken weist er auf den Unterschied zwischen symbolischem und kausal-genetischem Denken hin und zitiert Huizinga, aber auch Levy-Bruhl und LéviStrauss. Bei der Frage nach den Bedürfnissen bezieht er sich auf McClellands Leistungsgesellschaft. Im zweiten Teil seines Arbeitsbuches verläßt Nitschke die Mentalitätsforschung und wendet sich der Interaktionsforschung zu. Hier bezieht er sich auf eigene Arbeiten und auf die seines Schülers Henning Eichberg, der sich besonders mit Sport und Leistung im europäischen und außereuropäischen Kontext beschäftigt hat.4 Bewegungsabläufe und Reaktionen auf Bewegungen stehen dabei im Vordergrund des Interesses. Insgesamt kommt den Erwartungen der Menschen und der Spannweite dessen, was sie überhaupt für möglich halten können, in Nitschkes Untersuchungen besondere Bedeutung zu. Gegen Ende seines Buches charakterisiert Nitschke seine Methode folgendermaßen: "Die Erwartungen einer Gesellschaft sind [...] nicht dadurch zu rekonstruieren, daß ein Historiker nach den geäußerten Wünschen oder dem Zeitverständnis einer Gesellschaft fragt, er muß vielmehr genau sagen können, welche Veränderungen die Angehörigen einer Gesellschaft für möglich hielten und an welche sie noch nicht einmal denken konnten. Diese für möglich gehaltenen Veränderungen lernt er kennen, wenn er die Verhaltensweisen rekonstruiert, mit denen die Menschen auf Geschehnisse, auf Handlungen und Bewegungen in ihrer Umwelt reagierten."5 Diese Forderungen löst Nitschke in diesem Buch selbst nur sehr begrenzt ein. Er wirft mehr Fragen auf, als er beantworten kann. An einer überzeugenden Erklärung des Wandels fehlt es auch bei ihm. Er schließt zwar jeden Abschnitt seines Buches mit einigen Seiten ab, die "Der Wandel" überschrieben sind. Aber bei näherem Hinsehen entdeckt man dort wenig, was sich auf eine Erklärung des Prozesses des spezifischen Wandels bezieht. Es handelt sich zumeist nur um Überleitungen von einem Thema zum anderen. Es wird auf Unterschiede in Mentalität und Aktionsweisen hingewiesen, aber eigentNorbert Elias, Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen, 2 Bde. Frankfurt 1978. Henning Eichberg, Leistung, Spannung, Geschwindigkeit. Sport und Tanz im gesellschaftlichen Wandel des 18./19. Jahrhunderts, Stuttgart 1978. Nitschke, Verhaltensforschung, S. 219.
Historische Verhaltensforschung
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lieh nichts über das gesagt, was den Wandel bewirkt. Die einzige explizite Theorie des sozialen Wandels, die Nitschke referiert, ist die McClellands, der alles Neue zuerst in der Phantasie entstehen sieht, die dann in Literatur umgesetzt wird und nach zwei oder drei Generationen die Handlungen der Mitglieder einer Gesellschaft beeinflußt. 6 Ich muß gestehen, daß mich dieser spürbare Mangel an einer Theorie des Wandels bei Nitschke dazu bewogen hat, mich intensiv mit den Theorien zu beschäftigen, die ich im zweiten Teil dieses Buches vorgestellt habe. Nach der Auseinandersetzung mit diesen Theorien konnte ich Nitschkes Dilemma besser verstehen, der stets den Wandel thematisiert und doch keine angemessene Theorie findet, die es ihm ermöglicht, den Wandel zu erklären. Nitschke versucht, einen Ausweg aus diesem Dilemma zu finden, indem er Interaktionsmuster als Zeugen des Wandels heranzieht, die mehr aussagen, als bewußt formulierte Texte. In dieser Hinsicht hat der Germanist Walter Falk, der sich auf Nitschke und Foucault beruft, ein interessantes Beispiel vorgestellt, indem er die Geschichte des spanischen Stierkampfs über die Jahrhunderte verfolgte und die typischen Interaktionsmuster analysierte.7 Die Analyse von Interaktionsmustern: Der spanische Stierkampf Das Interaktionsmuster des Stierkampfs in seiner Gegenüberstellung von Stier und Mensch zeigt nach Falks Untersuchungen eine große zeitliche Kontinuität, es ist sozusagen eine der Strukturen von "langer Dauer". Dennoch vollzog sich in diesem allgemeinen Bezugsrahmen ein bemerkenswerter historischer Wandel, in dessen Verlauf der Kampf jeweils zur Ausdrucksform neuer sozialer Umstände wurde und Verhaltensweisen aus anderen Bereichen des Lebens widerspiegelte. In einer ersten Phase war der Stierkampf nur eine Art Jagdschauspiel, bei dem abgerichtete Hunde auf eingefangene Stiere gehetzt wurden und erst am Ende der Mensch als Schlächter auftrat. In einer weiteren Phase stellten dann Jäger zu Pferde dem Stier nach, und erst in einer dritten trat der große Einzelkämpfer auf, der auf einem Pferd saß, dessen Augen verbunden waren und den Angriff des Stiers mit der Lanze abfing. Aus dem Jagdspiel wurde auf diese Weise der Zweikampf, bei dem der furchtlose, besonnene Mensch mit innerer Kraft der ungezügelten Wut des Stiers standhielt. Kaiser Karl V. und andere hohe Adlige hielten es nicht für unter ihrer Würde, sich diesem Test zu stellen und so ihre innere Kraft zu beweisen. Nachdem dieses Ideal Nitschke, Verhaltensforschung, S. 65ff. Walter Falk, Vom Strukturalismus zum Potentialismus. Ein Versuch zur Geschichts- und Literaturtheorie, Freiburg 1976, S. 151f.
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unterging und statt der adligen Herren professionelle Kämpfer antraten, die keine guten Pferde hatten, wurde der Stierkampf zum blutrünstigen Pferdegemetzel. Erst in einer weiteren Phase traten wieder die Adligen auf, die nun die Rolle von Beschützern ihrer Pferdekämpfermannschaften spielten und erst in den Kampf eingriffen, wenn der Stier sie "beleidigt" hatte und sie ihre Schutzfunktion wahrnehmen mußten. Nach dieser Phase höfischer Stilisierung des Stierkampfs trat dann wieder der heroische Einzelkämpfer auf, aber diesmal ein Mann aus dem Volke und kein adliger Herr - und nicht zu Pferde, sondern zu Fuß. Dieser Kämpfer mußte einen Standpunkt in unmittelbarer Nähe des Stiers finden, um ihm mit seinem Degen von oben den Todesstoß durchs Herz zu geben. Es mußte also eine Technik gefunden werden, die es diesem Kämpfer erlaubte, wie einst die hohen Herren zu Pferde mit innerer Ruhe dem wütenden Stier zu trotzen. Diese Technik erfand 1775 der berühmte Matador Costillares, der mit einem kleinen roten Tuch, der Muleta, in der linken Hand, den Stier in einer Kurve links um sich herumführte, so daß er ihm mit der rechten von oben herab den Todesstoß versetzen konnte. Falk verbindet diese Darstellung des historischen Wandels des Stierkampfes mit Hinweisen auf parallele Entwicklungen in der Literatur und in anderen Bereichen. Insbesondere vergleicht er die neue Technik des Costillares, bei der sich Mensch und Stier sozusagen als Gleichberechtigte begegnen, der Mensch aber mit überlegener Führung die Bewegungen des Stiers unter Kontrolle behält, mit dem Umbruch der europäischen Literatur zu jener Zeit, als sich - um es mit Foucaults Worten zu sagen - "das Denken von jenen Ufern löste, die es zuvor bewohnt hatte". Das ist eine gewagte Interpretation, doch Falk bezieht den Mut zu diesem Wagnis aus den Arbeiten von Foucault und Nitschke, auf die er sich ausdrücklich beruft. Es begegnet uns hier freilich wieder das alte Problem, daß ein höchst interessanter Wandel untersucht und auch Parallelen dazu in anderen Bereichen aufgezeigt werden, aber letztlich keine Gründe für den Wandel gefunden werden können. Die historische Verhaltensforschung öffnet also viele überraschende Perspektiven und ist auch frei von rigorosen Reduktionismen, wie wir sie bei anderen Methoden der modernen Geschichtswissenschaft beobachten konnten; sie zeigt im Gegenteil eine große Vielfältigkeit und Parallelität von Phänomenen, die sich jeder Reduktion widersetzen, aber sie kann eben deshalb keine verbindliche Erklärung für den historischen Wandel liefern. Sie verweist auf unbewußte Schichten, in denen sich der eigentliche Wandel vollzieht, während der beobachtbare Wandel nur Symptome und Epiphänomene erkennen läßt. Falks Analyse des Stierkampfs könnte uns aber Hinweise auf eine Durchleuchtung des Wandlungsprozesses geben. Es handelt sich hier um ein In-
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teraktionsspiel mit einer ihm eigenen Dramaturgie, die die gesellschaftlichen Verhältnisse widerspiegelt und sie auf ein Rollenspiel reduziert. Das ist sozusagen ein immanenter Reduktionismus und nicht einer, der nachträglich vom Historiker vorgenommen wird. Ganz ähnlich ist auch die Sprache eine solche Dramaturgie, wenn auch von komplexerer Art. Es ist daher nicht von ungefähr, daß Foucault von der Sprachwissenschaft einen entscheidenden Durchbrach auf dem Gebiet der Erforschung des sozialen Wandels erhofft. Er selbst hat sprachliche Zeugnisse sozusagen als Leitfossilien bei seiner "Archäologie des Wissens" benutzt, und er hat mit seiner Diskursanalyse versucht, die Dramaturgie der Sprache und des Sprechens zu erschließen. Das enzyklopädische Unternehmen der "Geschichtlichen Grundbegriffe" 8 , das von Werner Conze angeregt und von Reinhard Koselleck weitergeführt wurde, scheint genau in diese Richtung zu führen, deshalb soll es hier abschließend als ein weiterer Zweig der Verhaltensforschung erwähnt werden. Begriffsgeschichte als historische
Verhaltensforschung?
Man könnte sich eine historische Diskursanalyse vorstellen, die bestimmte Schlüsselwörter in ihrem jeweiligen Kontext untersucht und anhand von Textbelegen aus den Quellen zeigt, welchen Bedeutungswandel diese Wörter erlebt haben. Alltagstexte - man denke an Vovelles Testamente - müßten dabei ebenso berücksichtigt werden wie literarische Produkte etc. Es käme ja darauf an, den Gebrauch dieser Wörter zu dokumentieren und nicht nur auf einer "Gratwanderung" nach dem Vorbild Meineckes die großen Geister zu besuchen und zu zitieren, welche Bedeutung sie den betreffenden Wörtern beimaßen. Eine jüngst veröffentlichte Kritik von sprachwissenschaftlicher Seite hebt jedoch hervor, daß das große Unternehmen des erwähnten Lexikons der Begriffsgeschichte genau das nicht geleistet hätte, sondern zwischen Sachgeschichte und Ideengeschichte hin- und hergerissen kein einheitliches Konzept durchhalten könnte und die Hoffnungen, die man in es gesetzt hätte, letztlich enttäuschen müßte. 9 Zur Verhaltensforschung lieferte dieses Unternehmen also keinen Beitrag, in vielen Artikeln des Lexikons wurde nur Ideengeschichte alten Stils in neuem Gewände betrieben. Die zitierten Zeugen der Zeit beschränken sich zumeist auf die kleine Schar der großen Geister jeder Epoche - also doch wieder eine "Gratwanderung", wie Meinecke sie liebte. Dem sprachwissenschaftlich Otto Brunner, Werner Conze, Reinhard Koselleck (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Stuttgart 1972ff. Dietrich Busse, Historische Semantik. Analyse eines Programms, Stuttgart 1987, S. 66 ff.
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Analytische Methoden der modernen Geschichtsschreibung
geschulten Kritiker Busse fällt es freilich leicht, den unbeholfenen Historiker zu kritisieren. Er bietet sogar den Entwurf einer historischen Semantik an, mit dem wir uns später noch beschäftigen werden. Zunächst wollen wir aber dem Hinweis auf die Sprachphilosophie nachgehen und untersuchen, ob und wie weit sie dem Historiker entgegenkommt. Historische Verhaltensforscher späterer Generationen werden vielleicht die philosophischen Texte unserer Zeit analysieren und staunend feststellen, daß die Philosophen sich in ihrer großen Mehrheit auf ein rein formales Denken zurückgezogen und sich konsequent vor allen inhaltlichen Einlassungen gehütet haben. Das gilt auch für die philosophische Konstruktion der historischen Aussage, der wir uns in den folgenden Kapiteln zuwenden wollen. Wir werden sehen, daß sich die Philosophen weder mit Theorien des historischen Wandels noch mit den analytischen Methoden der modernen Geschichtswissenschaft auseinandersetzen, sondern ihre Aufmerksamkeit darauf konzentrieren zu definieren, was eine historische Aussage überhaupt ist und welche Form eine historische Erklärung haben kann.
Vierter Teil: Die philosophische Konstruktion der historischen Aussage 13. Sprachphilosophie und analytische Geschichtsphilosophie 13.1. Das Problem der Sprachphilosophie Die meisten Historiker haben gar nicht zur Kenntnis genommen, daß sich die moderne Philosophie sehr intensiv damit auseinandergesetzt hat, was Historiker eigentlich tun, wenn sie Geschichte schreiben. Diese Auseinandersetzung bezog sich freilich nur auf die formalen Aspekte der Aussage des Historikers und nicht auf inhaltliche Fragen. Die Theorien des historischen Wandels oder die analytischen Methoden der modernen Geschichtswissenschaft sind für die Philosophen kein Thema. Wer sich darauf einläßt, begibt sich in die Gefahr, der alten Geschichtsphilosophie zu nahe zu kommen, die sich mit Inhalt und Sinn der Geschichte beschäftigte und dadurch letztlich in Verruf geriet. Doch die Geschichte als Aussage ist ein angemessener Gegenstand für die moderne Philosophie, die von der Sprachphilosophie herkommt. Die moderne Sprachphilosophie ist heute eine dominante Schule der Philosophie, denn sie hat es vermocht, die Philosophie aus der Sackgasse herauszuführen, in der sie sich befand, nachdem die großen philosophischen Systeme zerbrochen waren, und auch die Verwandlung der Philosophie in eine der Geschichte nahestehende "Geisteswissenschaft" ihr keine neue Grundlage bot. Die Erneuerung der Philosophie als Sprachphilosophie war aber nicht eigentlich ein Aufbruch zu völlig neuen Ufern, sondern eine Rückkehr zu Ufern, die das Denken bereits einmal bewohnt hatte. Jene "klassische Epoche", die Foucault mit den Mitteln seiner "Archäologie des Wissens" erfaßt hatte, wurde plötzlich wieder aktuell. Neue Zeichentheorien wurden entworfen, die teils stringenter, teils umfassender waren als die der "klassischen Zeit". Leibniz und Pascal hätten sich in der Gesellschaft eines Frege oder Peirce - von denen gleich noch mehr zu berichten ist - sehr wohl gefühlt. Die Orientierung an solchen Zeichentheorien ermöglichte der neuen Sprachphilosophie überzeugende Leistungen, setzte ihr aber auch Grenzen. Um diese Leistungen und Grenzen soll es uns hier zunächst einmal gehen. Wir werden uns dann der analytischen Geschichtsphilosophie zuwenden,
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Die philosophische Konstruktion der historischen Aussage
die versucht, mit den Mitteln der Sprachphilosophie die Aussagen der Historiker zu durchleuchten. Schließlich werden wir untersuchen, was Semantik, Diskursanalyse und Sprachpragmatik dem Historiker zu bieten haben. Sprachphilosophie
als Befreiung
von der klassischen
Ontotogie
Bei der Untersuchung der tieferen Bedeutung, die die Sprachphilosophie für die Befreiung von der klassischen Ontologie hat, ist es gut, sich der Führung Ernst Tugendhats anzuvertrauen, der ein Kenner der antiken Philosophie und zugleich ein gründlicher Interpret der modernen Sprachphilosophie ist.1 Er nennt die "Seinslehre" (Ontologie) der griechischen Philosophie eine "Gegenstandstheorie", die in der Philosophie der Neuzeit zu einem umstrittenen Problem geworden sei. Sie wurde zunächst aufgewertet und galt als "Metaphysik des Seins", dann wurde sie von Kant in eine Transzendentalphilosophie umgewandelt als ein "System aller Verstandesbegriffe und Grundsätze, aber nur insofern als sie auf Gegenstände gehen, welche den Sinnen gegeben sind und als solche durch Erfahrung belegt werden können". Bei Hegel wurde die Ontologie zur "Lehre von den abstrakten Bestimmungen des Wesens". Auf diese Weise gebändigt und entmythologisiert, geriet die Ontologie fast in Vergessenheit. Sie trieb aber ihr geheimes Unwesen weiter, indem sie nun eine Verdinglichung der Begriffe stiftete. Tugendhat zeigt die Problematik dieses "gegenstandstheoretischen Ansatzes" in einer Auseinandersetzung mit Husseri anhand des Begriffes der "Röte", an der alle als rot bezeichneten Gegenstände auf eine mysteriöse Weise teilhaben müssen. 2 Er zeigt dann den Weg der Befreiung von der klassischen Ontologie durch die Hinwendung zur formalen Semantik: "Die formale Semantik ist einerseits ein sprachanalytisches Unternehmen: sie ist Semantik, analysiert die Bedeutungen sprachlicher Ausdrücke. Andererseits ist sie in demselben Sinne formal, in dem es die Ontologie war, und da sie deren immanent nicht auflösbare Schwächen behebt, kann sie mit dem Anspruch auftreten, deren legitime Nachfolgerin zu sein."3 Die Befreiung von den Fesseln der Ontologie, die sich einmal als Metaphysik über alles erhob, ein andermal aber in den Untergrund ging und die Begriffe verdinglichte, ist ohne Zweifel eine große Leistung der sprachphilosophischen Wende, doch wie die Sprachanalyse betrieben werden soll und 1
2 3
Emst Tugendhat, Vorlesungen zur Einführungen in die sprachanalytische Philosophie, Frankfurt, 2. Aufl. 1979. Ibid., S. 169ff. Ibid., S. 47.
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ob sie wirklich eine verläßliche Grundlage für die Philosophie bietet, ist keineswegs unumstritten. Die neue philosophische Semantik ist ebenso schillernd, wie es die Ontologie war. Alte Gegensätze wie die zwischen "Realisten" und "Nominalisten" treten auch auf diesem Gebiet wieder auf. So schließt denn Tugendhat sein Buch mit dem bescheidenen und skeptischen Satz: "Die Frage, was es heißt, einen sprachlichen Ausdruck zu verstehen, erscheint, wenn wir uns nichts vormachen, so ungeklärt wie nur je." 4 Nicht alle sprachanalytischen Philosophen sind so vorsichtig und bescheiden. Im Gegenteil, sie haben mit großem Elan verschiedene Wege eingeschlagen, um die alte Ontologie hinter sich zu lassen und festen Boden für ihre sprachanalytischen Versuche zu finden. Dabei boten sich die folgenden Richtungen als Alternativen an: 1. Die Gegenstandstheorie zu ignorieren und eine möglichst konsistente Zeichentheorie zu schaffen, eine Kunstsprache also, die allen Forderungen der Logik genügte, und ein Deutungssystem zu entwerfen, in dem die Frage der Bedeutung (meaning) allein durch den Bezug (reference) geklärt werden konnte. 2. Die lebendige Sprache (ordinary language) zur Grundlage jeglicher Bedeutung zu machen und den Gebrauch (use) der Wörter zu ermitteln. Beide Wege führten, wenn sie konsequent verfolgt wurden, in Sackgassen. Der erste wurde, je konsistenter man die Zeichentheorie formulierte, um so künstlicher und beschränkter, der zweite führte zu einer "Relativitätsthese", da es ja viele menschliche Sprachen gibt und in jeder auch noch verschiedene Sprachebenen. Wir wollen diese beiden Wege noch etwas genauer verfolgen. Begriffsschrift, Prädikatenlogik und "lebendige Sprache" Der Pionier des ersten Weges, auf den die meisten weiteren Entwicklungen auf diesem Gebiet zurückgehen, war der Jenaer Mathematiker Gottlob Frege (1848-1925), der von seinen Zeitgenossen kaum beachtet, dafür von seinen Nachfolgern wie Bertrand Russell und anderen hoch geschätzt wurde. Frege veröffentlichte 1879 seine "Begriffsschrift", eine der Arithmetik nachgebildete Formelsprache des reinen Denkens. 5 Sie wird auch heute noch mit nur wenigen Änderungen von den Logikern benutzt. Er erfüllte damit einen alten Wunsch Leibniz', der bereits gefordert hatte, man müsse eine universale Kunstsprache schaffen, in der sich alle Aussagen unzweideutig formulieren lassen. Doch ließ es Frege nicht bei der Begriffsschrift bewenden, er ging darüber hinaus und machte den Aussagesatz zur Grundlage seiner Logik, der
Tugendhat, Vorlesungen, S. 520. Günther Patzig, Sprache und Logik, Göttingen 1970.
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Prädikatenlogik. Das erlaubte es ihm, die alte Frage nach der Bedeutung zu umgehen, indem er sie durch die Frage nach dem Bezug ersetzte.6 Dieser bedeutsame Gewinn geht freilich mit einer wichtigen Einschränkung Hand in Hand: Die Stringenz der Fregeschen Analyse läßt sich nur innerhalb des einzelnen Satzes und auch da nur bei bestimmten Typen von Sätzen, den sogenannten Behauptungssätzen oder assertorischen Sätzen einhalten. Welche Probleme sich daraus für Semantik und Pragmatik ergeben, wird uns später noch beschäftigen. Günther Patzig betont freilich zurecht, daß Freges großes Verdienst darin bestünde, daß er "eine neue Verantwortlichkeit des Sprechens begründete " und den Späteren auch die Mittel an die Hand gebe, um den hohen Anforderungen, die er gestellt hätte, gerecht zu werden.7 Einen ähnlichen Ansatz hatte auch die Philosophie des frühen Wittgenstein (1889-1951), der in seinem "Tractatus Logico-Philosophicus" (1921) die Transformation umgangssprachlicher Aussagen in eine logisch stringente Idealsprache gefordert hatte. Die Sprache war für ihn zu jener Zeit noch Abbild einer Wirklichkeit, die von der Sprache unabhängig ist. Kunst- und Idealsprachen, in denen sich eindeutige Bezüge herstellen lassen, erfordern zwangsläufig die Isolierung vom Gebrauchskontext der lebendigen Sprache und eine Beschränkung auf einen kleinen, dafür aber nun hell erleuchteten Bereich der assertorischen Sätze, die sich mit der Prädikatenlogik analysieren lassen. Wittgenstein rang mit diesem Problem und vollzog dann eine geradezu revolutionäre Wende: Er begründete die "ordinary language philosophy", in der - wie bereits erwähnt - der Gebrauch (use) der Wörter anstelle des Bezugs (reference) bei der Bedeutungsanalyse herangezogen wurde. Er arbeitete seit den 1930er Jahren an diesem neuen Ansatz. Seine Schrift "Philosophische Untersuchungen"(1953), in der er die neue Theorie vorstellte, erschien aber erst nach seinem Tode. Der Schlüsselbegriff dieser Untersuchungen ist das "Sprachspiel". Die kommunikative Handlung steht nun im Mittelpunkt des Interesses: Richtig und falsch ist, was Menschen sagen; und in der Sprache stimmen die Menschen überein. Dies ist keine Übereinstimmung der Meinungen, sondern der Lebensform. 8 Auf diese Weise war natürlich dem Relativismus Tür und Tor geöffnet, und die Ontologie erschien auch wieder und nistete sich in der "Lebensform" ein. Dieses Problem soll noch eingehender behandelt werden, zunächst wollen wir jedoch betrachten, was Prädikatenlogik einerseits und "ordinary language philosophy", andererseits für Semantik und Pragmatik bedeuten. 6 7
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Franz von Kutschera, Sprachphilosophie, München 1975, S. 57ff. Patzig, Sprache und Logik, S. 79. Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, Frankfurt 1967, S. 263.
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Semantik und Pragmatik In der Sprachanalyse wird zwischen Semantik, Syntax und Pragmatik unterschieden. Semantik ist die Bedeutungslehre, Syntax die Lehre vom Satzbau und Pragmatik die Lehre vom Sprachgebrauch oder auch vom Sprachhandeln.9 Eigentlich schließt die Pragmatik die Syntax und diese wiederum die Semantik ein. Doch wie wir gleich sehen werden, haben sich durch die Besetzung dieser Felder durch verschiedene Theorien Grenzen verhärtet, die dem Laien zunächst seltsam erscheinen mögen. Dies gilt insbesondere von der Abgrenzung von Semantik und Pragmatik. Im Feld der formalen Semantik haben sich die strengen sprachanalytischen Philosophen angesiedelt, und in dem weiten Gefilde der Pragmatik tummeln sich die Kommunikationstheoretiker. Wie bereits zuvor gesagt, wagen sich die Adepten der formalen Semantik nicht über den magischen Zirkel des Satzes hinaus. Tugendhat erläutert dies so: "Man könnte darauf hinweisen, daß deijenige Sinn von Formalisierung, der sich bei der Gewinnung des Gegenstandsbegriffs ergab, nur in Bezug auf Sätze sinnvoll ist, und daß infolgedessen die Erweiterung der formalen Disziplin über den Bereich der Sätze hinaus keinen Sinn mehr hat. Ich gestehe, daß ich zu dieser Auffassung neige."10 Er gesteht dann freilich auch ein: "Die an den Sätzen orientierte Thematik präjudiziert ebenso wie die an den Gegenständen orientierte eine atomisierende Betrachtungsweise. Deswegen hat sich neuerdings eine Disziplin unter dem Titel "Pragmatik" konstituiert, die diese Begrenzung übersteigen will."11 Während Tugendhat die Möglichkeit einer solchen "Pragmatik" mit Skepsis beurteilt, verzweifelt Habermas an der formalen Semantik und fordert dringend eine solche "Pragmatik". Über das Hindernis, das es dabei zu überwinden gilt, weiß er Bescheid: "Die Prädikatenlogik steht quer zu Linguistik und Pragmatik" 12 . Habermas betont dagegen die Kommunikation und steht damit Wittgenstein sehr nahe. Wenn man sich jedoch der Pragmatik zuwendet, um den Bannkreis der formalen Semantik zu durchbrechen, bewegt man sich auf sehr unsicherem Boden. Die Suche nach pragmatischen Universalien, die unabhängig von der jeweiligen konkreten lebendigen Sprache sind, ist weit schwieriger als die Suche nach solchen
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Zum Sprachhandeln s. John R. Searle, Speech Acts, An Essay in the Philosophy of Language, Cambridge 1969. Tugendhat, Vorlesungen, S. 78. Ibid., S. 79. Jürgen Habermas und Niklas Luhmann, Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie - Was leistet die Systemforschung, Frankfurt 1971, S. 108.
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Universalien im begrenzten Feld des assertorischen Satzes. Die besondere kulturelle Prägung der Sprache, die Bedeutungen, die sich in ihr herangebildet haben, die Perspektiven, die sie eröffnet oder verschließt, werden zum Problem und legen eine "Relativitätsthese" nahe, die besagt, daß die Sprache traditionsgebunden ist und eine Individualität hat, die sich durch eine Universalpragmatik nicht erfassen läßt. Die Sackgasse der "Relativitätsthese" Die biblische Legende von der babylonischen Sprachverwirrung ist ein früher Vorläufer der Relativitätsthese. Wilhelm von Humboldt gehört zu ihrer jüngeren Ahnengalerie, und die amerikanischen Sprachforscher Eduard Sapir und Benjamin Lee Whorf sind ihre prominentesten Vertreter in unserer Zeit gewesen. Die Grundannahme der Sprachrelativisten ist die, daß unser Denken allein durch die uns gegebene Sprache beeinflußt ist und daß daher die Sprache das Denken in denselben Grenzen hält, die auch ihr gesetzt sind. Konsequent weitergedacht bedeutet das, daß jede Sprache eine eigene Ontologie (Gegenstandstheorie) hat. Whorf hat dies anhand einiger Indianersprachen nachzuweisen versucht. Diese Sprachmonadentheorie, wie man sie auch nennen könnte, beinhaltet zugleich einen grundsätzlichen Zweifel an der Übersetzbarkeit von Sprachen. Sobald man also der Pragmatik soweit folgt, daß man der "Lebensform" der Umgangssprache vertraut, gerät man in die Sackgasse der babylonischen Sprachverwirrung. Zwar betont Franz von Kutschera, daß die Relativitätsthese keine skeptische These und daß die Sprache ein offenes System sei.13 Aber die Probleme der Pragmatik sind nicht zu übersehen. Der einzige Ausweg, die an der Zeichentheorie orientierte Semantik mit einer Universalpragmatik zu verbinden, scheint dann gegeben zu sein, wenn man eine Zeichentheorie entwirft, die das Gebiet der Pragmatik umgreift. Das haben Charles Sanders Peirce und in seinem Gefolge Umberto Eco getan, die ihre besondere Disziplin "Semiotik" nennen. Die Semiotik: Charles Sanders Peirce und Umberto Eco Charles Sanders Peirce (1839-1914) war Mathematiker wie Frege und entwickelte etwa zur gleichen Zeit wie dieser eine Zeichentheorie, die wesentlich umfassender war als die Freges. Peirce ist der Begründer des amerikanischen Pragmatismus als philosophischer Schule; als solcher wurde er be1
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Kutschera, Sprachphilosophie, S. 343.
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kannt, während seine Zeichentheorie, ähnlich wie die Freges, zunächst unbeachtet blieb. Sie wurde zunächst von Logikern rehabilitiert, aber erst Umberto Eco hat in jüngster Zeit eine noch umfassendere Semiotik auf dem Fundament der von Peirce entworfenen Zeichentheorie begründet.14 Ehe wir uns Ecos weiterführenden Theorien zuwenden, soll hier zunächst das Zeichensystem von Peirce in seinen Grundzügen vorgestellt werden.15 Das System umfaßt zehn Klassen von Zeichen, von denen nur die grundlegendsten vorgestellt werden sollen. Er postuliert eine triadische Beziehung von Zeichen (sign), Gegenstand (object) und Interpretans (interpretant), wobei letzteres wiederum zum Zeichen wird und weitere Interpretationsvorgänge in Gang setzen kann. Diese unendliche Verknüpfung des Interpretans begründet die Flexibilität und Ausbaufähigkeit der Semiotik bei Peirce. Sie gibt Eco die Möglichkeit, eine umfassende Kommunikationstheorie zu entwerfen, die sich an Peirce anschließt. Die Zeichen (signs) teilt Peirce in drei Hauptklassen ein: Ikon (icon), Index (index) und Symbol (symbol). Ikon ist ein Abbild, das mit und ohne Objektbezug einen Eigenwert hat, es kann ein Bild, ein Diagramm, aber auch eine algebraische Formel sein, die zwar im einzelnen aus nicht-ikonischen Symbolen besteht, aber in ihrer Gesamtheit ein Ikon ist. Index ist ein Zeichen, das in physischer Beziehung zu einem Objekt steht (Beispiele: Wetterfahne, Meßwert, aber auch der Gang eines Menschen, der darauf schließen läßt, daß er ein Matrose ist). Symbol ist ein Zeichen, das weder ein Abbild ist noch in physischer Beziehung zu einem Objekt steht, sondern allein ein konventionelles Zeichen ist, das "für" ein Objekt steht (also alle Wörter, mathematische Zeichen etc.). Die drei Hauptklassen der Zeichen werden von Peirce auch als "Firstness" (icon), "Secondness" (index), und "Thirdness" (symbol) bezeichnet. Die zehn Zeichenklassen ergeben sich dann durch die folgende Kombination: Ikon Symbol ©111 (V)113 Vm(133) (X) 333 (11)112 (VI)123 (DC) 233 (IO) 122 (VH) 223 (IV) 222 Index
Umberto Eco, Einführung in die Semiotik, München 1972 (Ital. Orig.: La struttura assente, Milano 1968). Charles Sanders Peirce, "Logic as Semiotic: The Theoiy of Signs", in: J. Buchler, ed., Philosophical Writings of Peirce, New York 1955, S. 98ff.
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Die Eckklassen sind reine "Firstness, Secondness, Thirdness", die weiteren Klassen haben jeweils Komponenten der anderen in sich. Besonders interessant ist die Klasse (VI) 123; hier bringt Peirce die deiktischen Zeichen unter (z.B. hinweisende Fürwörter), die in der sprachanalytischen Philosophie besondere Probleme bereiten, weil sie den geschlossenen Bezugsrahmen des Satzes aufbrechen und den Semantiker dazu zwingen, von der Behandlung des Satzes zur Behandlung des Sprechereignisses fortzuschreiten. Die Klasse IX enthält bei Peirce die "propositions", mit denen sich die strikte Semantik beschäftigt, und die Klasse X umschließt "arguments", und das können auch ganze Dissertationen sein. Noam Chomsky hat hervorgehoben, daß Peirce in seinen Bemühungen um die Erkenntnis der apriorischen Bedingungen menschlichen Denkens geradezu ein Vorläufer von Konrad Lorenz war - und damit zur Ahnenreihe der evolutionären Erkenntnistheorie zählt.16 Für Chomsky, der sich für die Anerkennung einer angeborenen Sprachkompetenz beim Menschen einsetzt, lag eine solche Peirce-Interpretation nahe. Doch Peirce war anti-naturalistisch eingestellt und wollte dementsprechend auch seine Zeichentheorie nicht als Wiedergabe einer Tiefenstruktur des menschlichen Geistes verstanden wissen, sondern nur als den Entwurf eines Erklärungsmodells, das jegliche Art von Kommunikation und nicht nur die Sprache umfassen sollte. Diesen Entwurf führte Umberto Eco weiter, indem er die Semiotik auch auf Phänomene wie Film und Fernsehen, Reklame, Architektur etc. bezog und zu einer allgemeinen Kommunikationstheorie ausbaute. Nach Eco ist die Semiotik "die Wissenschaft, welche alle Kulturphänomene so untersucht, als ob sie Zeichensysteme wären - wobei sie von der Hypothese ausgeht, daß in Wirklichkeit alle Kulturphänomene Zeichensysteme sind, d.h. daß Kultur im wesentlichen Kommunikation ist [...]."17 Außer Peirce ist es vor allem die strukturale Linguistik, auf die sich Eco beruft. Doch er grenzt sich scharf gegen den ontologischen Strukturalismus von Claude Lévi-Strauss ab und weist nach, daß sich ein solcher Strukturalismus auf der Suche nach einer UrStruktur ad absurdum führt, weil eine solche Ur-Struktur selbst gar nicht mehr strukturiert sein kann. Die mit brillanter Polemik vorgetragene Widerlegung des in die Ontologie zurückgefallenen Strukturalismus kommt auch im italienischen Orginaltitel seines Buches "La struttura assente" (die abwesende Struktur) zum Ausdruck. Diese Widerlegung ist für Ecos Kommunikationstheorie von grundlegender Bedeutung, denn Kommunikation ist ein Prozeß, und der ontologische Strukturalismus ist sozusagen prozeßfeind-
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Noam Chomsky, Sprache und Geist, Frankfurt 1973, S. 155f. Eco, Einführung in die Semiotik, S. 295.
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lieh. Eco spricht von der "erbarmungslosen Schlacht zwischen Struktur und Geschichte" und führt diese darauf zurück, daß "die betreffende Struktur nicht als ein Instrument für die synchronische Untersuchung von zutiefst historisch bedingten Phänomenen betrachtet wurde, sondern weil sich schon von vornherein die Struktur als Negation der Geschichte darstellte, insofern sie Begründung des Identischen sein wollte." 18 Ecos Kommunikationstheorie soll später noch im Zusammenhang mit der Theorie des kommunikativen Handelns genauer betrachtet werden. Hier sollte er zunächst nur als Vertreter einer neuen Semiotik vorgestellt werden, die dabei helfen kann, die bereits dargestellten Probleme der Sprachphilosophie zu überwinden. Wie wir in der anschließenden Übersicht über die Ansätze der analytischen Geschichtsphilosophie sehen werden, die auf der Sprachphilosophie basiert, ist eine solche Hilfestellung durch die Semiotik dringend erforderlich, weil diese Geschichtsphilosophie sonst ebenfalls in eine Sackgasse gerät und in Debatten unter Philosophen endet, die sich den Kopf darüber zerbrechen, was die Historiker tun und lassen, ohne daß diese von solchen Debatten Notiz nehmen.
13.2. Das Spektrum der analytischen
Geschichtsphilosophie
Die analytische Geschichtsphilosophie entwickelte sich unter dem Einfluß verschiedener Strömungen der englischen und amerikanischen Philosophie. Der logische Positivismus, Wittgenstein, Russell, Whitehead et al. standen dabei Pate. Zunächst hatten die analytischen Philosophen mit der Geschichte nicht viel im Sinn. Allenfalls drängte sich die Geschichte unter dem Aspekt "Aussagen über die Vergangenheit" (propositions about the past) auf. Ein typisches Beispiel dafür, wie man mit diesem Problem fertig wurde, bietet das sehr einflußreiche Buch von Alfred J. Ayer "Language, Truth and Logic" 19 . Ayer betrachtet solche "propositions about the past" als "rules for the prediction of those historical experiences which are commonly said to verify them" und vergleicht dann die Situation dessen, der Aussagen über die Vergangenheit macht, mit dessen, der Aussagen über etwas macht, was an einem anderen Ort geschehen ist und folgert "just as it is a contingent fact that a person happens at a given moment to be occupying a particular position in space, so it is a contingent fact that he happens to be living at a particular time". 20 Was die historische Erfahrung nun aber sei und wie sie zur 18
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Eco, Einführung in die Semiotik, S. 420. Alfred J. Ayer, Language, Truth and Logic, London 1954. Ayer, Language, Truth and Logic, S. 19.
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Verifikation der Aussagen über die Vergangenheit dienen könne, darüber schwieg sich Ayer aus. Mochten doch die Historiker damit fertig werden. Der strikte Analytiker vom Typ Ayer hatte aber auch noch einen anderen Grund, sich nicht lange mit der Geschichte aufzuhalten, denn das Problem der Verursachung, das für den Historiker von zentraler Bedeutung ist, bedrückte ihn nicht, weil es mit der Logik gar nichts zu tun hat. Ayer konnte sich auf Hume berufen, der gezeigt hatte: "[...] first that the relation of cause and effect was not logical in character, since any proposition asserting a causal connection could be denied without self-contradiction, secondly that causal laws were not analytically derived from experience, since they were not deducible from any finite number of experiential propositions, and, thirdly, that it was a mistake to analyse propositions asserting causal connections in terms of a relation of necessitation which held between particular events, since it was impossible to conceive of any observation which would have the slightest tendency to establish the existence of such a relation". 21 Ayer radikalisiert Humes Standpunkt noch, indem er sagt: "[...] we agree with him that there can be no other justification for inductive reasoning than its success in practice, while insisting more strongly than he did that no better justification is required".22 So gesehen hätten die analytischen Philosophen sich mit Geschichte und Geschichtsschreibung gar nicht zu beschäftigen brauchen, denn über den Erfolg historischer Erklärungen konnten sie ohnehin nicht urteilen, sondern mußten das den Historikern überlassen. Dennoch wagten sich etliche Philosophen daran, die Arbeit der Historiker analytisch zu durchleuchten. Ein Ansporn dazu kam von Carl Hempel, einem der neopositivistischen Verfechter der Einheitswissenschaft, der mit seinem "Covering Law Model" den sehr umstrittenen Versuch machte, die Geschichtswissenschaft mit den Naturwissenschaften auf einen Nenner zu bringen. Patrick Gardiner unternahm den Versuch, Hempels Ansprüche an die Geschichtswissenschaft so zu modifizieren, daß sie mit der Praxis der Historiker verträglich sind, insbesondere verlagerte er die Betonung von strikter Kausalität auf Kontext und Motivation.23 Dabei machte er noch keinen Unterschied zwischen Geschichtsforschung und Geschichtsschreibung und zwischen einzelnen Aussagen und der historischen Erzählung. Diesen Schritt machte dann Morton White.24 Auch er nahm Hempels Anspruch an und behauptete, daß der "explanatory sketch", wie Hempel die Aussage des 21 22 2
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24
Ayer, Language, Truth and Logic, S. 54. Ibid., S. 55. Patrick Gardiner, The Nature of Historical Explanation, London (O.U.P.) 1961. Morton White, The Foundations of Historical Knowledge, New York 1965.
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Historikers nannte, recht eigentlich die historische Erzählung (narrative) selbst sei, und daß es gelte, diese zu analysieren: "My argument will be devoted to showing (1) that narratives contain singular causal statements which are factually true (2) that they imply chronicles composed of noncausal singular statements which are factually true (3) that they imply the existence of general statements which are factually true, and (4) that they do not involve any appeal to certain kinds of value judgements." 25 Whites Analyse der historischen Erzählung und das Verhältnis von Erzählung und Chronik soll im Zusammenhang mit der Logik der Erzählung später eingehend behandelt werden. Hier ging es zunächst nur darum, White in das Spektrum der analytischen Geschichtsphilosophie einzureihen. Während White sich nicht explizit auf die moderne, sprachanalytische Philosophie bezog, tat das Arthur Danto, der im gleichen Jahr (1965) seine "Analytical Philosophy of History" publizierte und ebenfalls die historische Erzählung als historische Erklärung bezeichnete. 26 Auch über ihn soll später noch mehr berichtet werden. In ähnlichem Sinne meldeten sich nun mehr und mehr Philosophen zu Wort. Die Zeitschrift "History and Theory" wurde zum Forum ihrer Debatten. Der "Narrativismus" wurde zur Grundtendenz dieser neuen sprachanalytischen Geschichtsphilosophie. Da man nun aber vom Satz zur Erzählung vorstieß, mußten sich alle jene Probleme ergeben, auf die zuvor ausführlich hingewiesen worden ist, und die hier abschließend im Hinblick auf eine historische Semantik und Pragmatik noch einmal angesprochen werden sollen. Historische Semantik und Pragmatik Die historische Erzählung ist ein komplexes Gebilde, das nur im Rahmen einer umfassenden Pragmatik analysiert werden kann und sich dem Zugriff einer auf den Satz konzentrierten Semantik entzieht. Den analytischen Philosophen ist es selbst aufgefallen, daß eine solche Erzählung (narrative) insgesamt verworfen werden kann, auch wenn sie ganz und gar aus Sätzen besteht, die jeder semantischen Analyse standhalten. Der Sprung von der Semantik zur Pragmatik ist aber für die Sprachphilosophen ein sehr riskantes Unternehmen, wie wir bereits gesehen haben. Danto versucht mit Hilfe einer Analogie eine Brücke von der Semantik zur Pragmatik zu schlagen, indem er vom Satz als "atomic narrative" und von der Erzählung als "molecular narrative" spricht. 27 Doch diese interessante Analogie dürfte für die Pragmatik
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White, Foundations of Historical Knowledge, S. 7. Arthur Danto, Analytische Philosophie der Geschichte, Frankfurt 1980. Danto, Analytische Philosophie, S. 399f.
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noch nicht viel erbringen. Bei White ergibt sich aus der Wechselbeziehung von erklärender Erzählung und deskriptiver Chronik, die in der Erzählung enthalten ist, eine Anleitung für eine narrative Pragmatik. Neben den sprachanalytischen Werken ist es besonders die in der modernen Literaturwissenschaft betriebene Erzählforschung, die in diesem Zusammenhang bedeutsam wird. Eberhart Lämmert und Hans Robert Jauß wären hier in erster Linie zu nennen. Einen interessanten Versuch hat der Literaturwissenschaftler Dietrich Busse mit seinem Werk "Historische Semantik" unternommen, auf das bereits mit Bezug auf seine Kritik an der Begriffsgeschichte hingewiesen worden ist und auf das wir hier nochmals eingehen wollen, weil es die Probleme, um die es uns hier geht, auf ganz andere Weise in den Griff zu bekommen versucht. Für Busse ist Sprache kommunikative Interaktion, die handlungstheoretisch erschlossen werden muß. Er beruft sich auf Wittgensteins Sprachspiele und Foucaults Diskursanalyse. Die Probleme der Sprachphilosophen und Zeichentheoretiker berühren ihn nicht. Frege, Peirce und Eco kommen in seinem "Diskurs" nicht vor. Einen Unterschied von Semantik und Pragmatik gibt es für ihn nicht. Die von ihm vorgeschlagene historische Diskurssemantik könnte daher auch Kommunikationspragmatik genannt werden. Doch soll es auch Aufgabe dieser historischen Diskurssemantik sein, das "Szenario des kollektiven Wissens einer gegebenen Diskursgemeinschaft in einer gegebenen Epoche" 28 zu entwerfen. Mit dieser Forderung stößt Busse auf Fragen, die sich rein handlungstheoretisch wohl nicht beantworten lassen. Eine Ergänzung seines Programms durch die Zeichentheorie wäre wünschenswert. Auch die Theorie des kommunikativen Handelns von Habermas läßt Busse aus, obwohl man erwartet hätte, daß er sich mit ihr intensiv beschäftigt. Da wir das noch zu tun gedenken, werden wir in diesem Zusammenhang dann wieder auf Busses historische Diskurssemantik zurückkommen. Zunächst soll aber im folgenden Kapitel die Logik der Erzählung behandelt werden, die im Zentrum der Debatten um den historischen Narrativismus steht
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Busse, Historische Semantik, S. 267.
14. Die Logik der Erzählung und der Narrativismus Die analytische Geschichtsphilosophie versuchte nachzuweisen, daß die Aussagen der Historiker den Ansprüchen, die Carl Hempel an sie gestellt hatte, durchaus genügten und Geschichte nicht nur beschrieben, sondern erklärten. Der Historiker expliziert seine Erklärung nicht, sie ist in seiner Erzählung impliziert. Damit kam der Logik der Erzählung besondere Bedeutung zu, und man geriet in den Bannkreis der literarischen Erzählforschung. Von Hempels Angebot, die Aussage des Historikers als "Erklärungsskizze" (explanatory sketch) anzuerkennen, wurde ausgiebig Gebrauch gemacht und die Erzählung als die eigentliche Form historischer Erklärung etabliert. Es kam auf diese Weise zu der paradoxen Entwicklung, daß analytische Philosophen dem Narrativismus eine ungeahnte neue Würde verliehen, während analytische Historiker sich gerade darum bemühten, die alte narrative Geschichtsschreibung hinter sich zu lassen und zu neuen Ufern aufzubrechen. Ein Streitgespräch zwischen Historikern und Philosophen über diese Paradoxie kam nicht zustande, weil die Philosophen sich zwar den Kopf darüber zerbrachen, was die Historiker machen, wenn sie Geschichte schreiben, aber nur selten historische Werke lasen, während die Historiker kaum Notiz davon nahmen, was die Philosophen auf diesem Gebiet produzierten. Wäre eine Debatte zustande gekommen, hätte man wohl aneinander vorbeigeredet, denn die Historiker hätten unter diesem "Narrativismus" nur eine Art der Darstellung verstanden, während die Philosophen in ihm die einzig mögliche Art historischer Erklärung überhaupt sehen wollten. Die Bedeutung der narrativen Erklärung wurde dabei vom einzelnen Satz bis zum ganzen Buch ausgeweitet. Das Problem des Übersteigens der Grenze der Semantik zur Pragmatik, von dem zuvor berichtet wurde, schien sich durch den Narrativismus lösen zu lassen. Mit dem Rückgriff auf die Poetik des Aristoteles wurde die Strategie der Erzählung zum Mittel der Versöhnung von Logik, Semantik und Pragmatik. Das Wort "plot" wurde zum Schlüsselwort dieses neuen Narrativismus. Es läßt sich schwer ins Deutsche übersetzen. Eberhard Lämmert, der führende deutsche Erzählforscher, umschreibt "plot" als "die unter ein Ordnungsprinzip gestellte Geschehensfolge". 1 Die Strategie des Autors, der eine Geschehensfolge in diesem Sinne unter ein Ordnungsprinzip stellt, wird "emplotment" genannt - auch dafür läßt sich kein eingängiges Eberhard Lämmert, Bauformen des Erzählens, Stuttgart 1980, S. 2.
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deutsches Wort finden. Diese beiden Wörter sollen daher im Folgenden jeweils im Originalton wiedergegeben werden. Der Sprung von Hempels "explanatory sketch" zum "plot" erlaubte es den Philosophen nun, ein ganz neues Konzept der historischen Aussage vorzulegen. Die im Rahmen des "plot" vom Autor zugelassenen Ereignisse gewinnen ihren Stellenwert überhaupt nur aus diesem "plot". So gesehen gibt es eigentlich keine Grenzen zwischen dem Faktischen und dem Fiktiven, zwischen Geschichtsschreibung und Dichtung. Es ist daher kein Wunder, daß die radikalen Narrativisten die Muse Klio dichten sahen, wo sie doch gerade von den analytischen Historikern zur Kliometrie verpflichtet worden war. Der große Kronzeuge der Narrativisten, Aristoteles, hätte sich über den Gebrauch, den man von seinen Schriften machte, sehr gewundert. Er hatte die Geschichte ausdrücklich von der Dichtkunst abgegrenzt. Mit der Geschichte hatte er nicht viel im Sinn, sie war der episodischen Kontingenzbewältigung verhaftet. Die Aussagen der Historiker waren für ihn eine Angelegenheit des praktischen Verstandes (phronesis). Nur der Dichter war frei in der Gestaltung seines Werkes, und deshalb lohnte es sich, für ihn eine "Poetik" zu schreiben. Doch die Narrativisten ließen sich von dieser Haltung des Meisters nicht abschrecken und machten von seiner "Poetik" Gebrauch, um die Logik der Erzählung zu konstruieren und der Geschichtsschreibung zu verordnen. Die Tendenz zu einer Radikalisierung des Narrativismus war in diesem Rückgriff auf die "Poetik" bereits angelegt. Hatte man sich schon einmal über die vom Meister gezogene Grenze hinweggesetzt, so konnte man bis zur völligen Gleichsetzung von Geschichtsschreibung und Dichtung vorstoßen. Diese Entwicklung der narrativistischen Deutungsversuche soll hier anhand der Werke von Arthur Danto, Hans Michael Baumgartner, Paul Ricoeur und Hayden White untersucht werden. Abschließend wollen wir dann auf die ganz anders geartete "Grundlegung des historischen Wissens" durch Morton White zurückkommen. Der analytische Narrativismus: Erzählung als Erklärung (A. Danto) Danto setzte sich wie alle anderen analytischen Geschichtsphilosophen mit Hempels Auffassung von der historischen Erklärung auseinander und fand in der "temporalen Struktur" der Sprache und der historischen Aussage einen Ansatzpunkt für die Deutung von Erzählung als Erklärung. Er betonte, daß alle historischen Erzählungen immer einen Anfang, eine Mitte und ein Ende haben, wobei sich Anfang und Mitte vom Ende her konstituieren, und die Mitte jeweils das die Veränderung auslösende Faktum enthält. (In der Poetik des Aristoteles wird dies die Peripetie genannt.) Danto drückt dies in der
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folgenden Formel aus: (1) x ist F in tl, (2) H ereignet sich mit x in t2, (3) x ist G in t3.2 Er wandelt ferner die Hempelsche Charakterisierung des "explanatory sketch" um und zeigt, daß solche "Skizzen" nicht eigentlich Stellen freilassen, in die Gesetze eingeschoben werden können, sondern daß diese Gesetze stillschweigend angenommen werden und, falls erforderlich, durch "Redeskription" explizit gemacht werden können. Eine solche "Redeskription" wäre aber unnötige Pedanterie, weil es jeweils um das spezifische Faktum in der Klasse aller möglichen unter dem Gesetz denkbaren Handlungen und Ereignisse geht.3 Bei der Behandlung solcher Gesetze, die der Historiker stillschweigend voraussetzt, muß Danto freilich eingestehen, daß diese vom sozialen Erbe abhängen. Wir müßten nicht immer wieder selbst die Assoziationen herstellen, indem wir individuell die induktiven Generalisierungen durchführten, die es uns gestatteten, Kausalerklärungen zu liefern, so meint Danto, weil die Masse dieser Generalisierungen über Generationen akkumuliert und in die Vorstellungen und Begriffe eingebaut worden sei, die wir anwendeten, um Erfahrung zu organisieren. Deshalb sei es auch leicht einzusehen, daß "manche Philosophen davon überzeugt sein konnten, daß eine besondere Art Vermögen, ein intuitives Begreifen oder Verstehen, am Werk sein müsse"4. Diese Bemerkungen Dantos führen uns zum Problem der "Wirkungsgeschichte", das später diskutiert werden soll. Danto hält sich bei dieser Problematik nicht lange auf und kehrt zur "Einheit der Erzählung" zurück, die vorausgesetzt werden muß, wenn die Erzählung Erklärung sein will. Die Einheit der Erzählung, die durch ihr Ende bestimmt wird, erfordert auch die Einheit des Subjekts. Danto definiert das so: "Wenn also E eine Erzählung ist, dann ermangelt E der Einheit, wenn nicht (a) E von demselben Subjekt handelt, (b) E die Veränderung, der jenes Subjekt unterliegt, [...] adäquat erklärt, und (c) E nur soviel Information enthält, wie von (b) gefordert wird"5. Damit ist bereits das umrissen, was spätere Narrativisten mit ihrer Betonung des "plot" und der Strategie des "emplotment" im Sinn hatten. Da ein solcher "plot" erst von seinem Ende her konzipiert werden kann, sind die Zeitgenossen, die das Ende noch nicht kennen, nicht in der Lage, den "plot" zu erkennen. Die Geschichte wird von den Historikern gemacht, sagt Danto am Schluß seines Buches.6 L 3 4 5 6
Danto, Analytische Philosophie der Geschichte, S. 37ff. Ibid., S. 362ff. Ibid., S. 384. Ibid., S. 398. Ibid., S. 465.
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Dieser Schluß könnte zu. der Annahme führen, daß Danto einem Relativismus huldigt und die Geschichtsschreibung als willkürliche Projektion gegenwärtiger Vorstellungen auf die Vergangenheit betrachtet. Dagegen hat er sich aber schon zu Beginn seines Buches in dem Kapitel über "Beweis und historischen Relativismus" abgesichert, freilich auf eine recht merkwürdige Art: "[...] ist es nach meiner Auffassung eine Tatsache, daß wir unsere Konzeption von einer Vergangenheit automatisch erwerben, genauso wie wir unsere Sprache erwerben, die reich an vergangenheits-bezogenen Prädikaten ist. Ohne diesen Sachverhalt ist es mir unmöglich, einzusehen, wie Geschichte überhaupt beginnen sollte. Es war eine großartige Erkenntnis Vicos, die Entstehung der Sprache und den Beginn der Geschichte in einem Begründungszusammenhang darzustellen." 7 Die Möglichkeit eines objektiven Geschichtsverständnisses ist also in der Objektivität der Sprache begründet, und daher kommt auch der Einbettung der Geschichte in eine sprachliche Organisationsform, nämlich die Erzählung, eine besondere Bedeutung zu. Auch hier wird wieder die Problematik der "Wirkungsgeschichte" deutlich, auf die Danto immer wieder verweist, ohne sie als solche beim Namen zu nennen. Wie wir gleich sehen werden, hat der radikale Narrativismus hier angesetzt und ist über Danto hinausgegangen. Der radikale Narrativismus: Erzählung als Sinnstiftung (H.M.Baumgartner) Dantos Ansicht von der "Einheit der Erzählung" lud geradezu dazu ein, den Versuch zu unternehmen, von dieser Einheit zu einer "Einheit der Geschichte" vorzustoßen, wie sie die früheren Geschichtsphilosophen auf ihre Weise postuliert hatten, die man nicht mehr nachvollziehen mochte. Dantos Aussagen waren ambivalent, und man konnte verschiedene Konsequenzen daraus ziehen, einerseits hatte er auf den Zusammenhang der "Wirkungsgeschichte" verwiesen und sich dabei der philosophischen Hermeneutik genähert, andererseits hatte er einen strikten Formalismus der Logik der Erzählung vorexerziert. Für Jürgen Habermas war der "wirkungsgeschichtliche" Danto interessant, und er versuchte, ihn in diesem Sinne zu interpretieren und auszuwerten. 8 Das forderte den Widerspruch Hans Michael Baumgartners heraus, der den "formalistischen" Danto beim Wort nahm und einen radikalen Narrativismus verkündete. In seinem Buch "Kontinuität und Geschichte" griff Baumgartner die Geschichtsphilosophen Danto, Analytische Philosophie der Geschichte, S. 153. Jürgen Habermas, "Zur Logik der Sozialwissenschaften", in: Philosophische Rundschau, Beiheft 5, 1967, S. 161 f.
Die Logik der Erzählung und der Narrativismus
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an, die die Kontinuität immer wieder in der Geschichte suchen, er betonte dagegen, daß diese Kontinuität immer nur in der "Einheit der Erzählung" bestehe, die eine reine Konstruktion sei.9 Baumgartner bedauert, daß Danto sich nicht eindeutig zum Problem der historischen Kontinuität geäußert und zwischen dieser und der narrativen Kontinuität nicht deutlich genug unterschieden habe: "In der Verschiebung des Problems narrativer Einheit auf eine als möglich präjudizielle historische Ontologie liegt daher [...] ein merkwürdiger Widerspruch der Dantoschen Geschichtstheorie." 10 Doch Baumgartner meinte, daß Danto zumindest den Weg gezeigt habe, den es konsequent zu verfolgen gelte. Dabei zögert er nicht, "Dantos eigene Intention gegen ihn selbst zu kehren", wenn es darum geht, einen Narrativismus zu fordern, der sich offen dazu bekennt, daß historische Kontinuität nicht ontologisch begründet ist, sondern konstruierend erzeugt wird. Damit bestätigt Baumgartner die Aussage Dantos, daß der Historiker die Geschichte macht, setzt sich aber nun auch einem völligen Relativismus aus, den Danto von vornherein auszuschließen versuchte. Die Beliebigkeit historischer Sinn- und Kontinuitätsstiftung, die dem radikalen Narrativismus zum Vorwurf gemacht werden kann, wird für Baumgartner zum Problem. Das von Habermas entworfene Schema narrativer Konstruktion, die von handlungsorientierendem Interesse und übergeordnetem Interesse an Selbstreflexion angeleitet wird, erinnert ihn zu sehr an Hegel, und er möchte lieber auf Kant und Fichte zurückgreifen, die die Idee der Totalität als Konstituens des menschlichen Geistes ansahen, die aber nur eine regulative Funktion hatte und der kein möglicher, denkbarer, objektiver Gegenstand entsprach. Auf diese Weise versucht sich Baumgartner, gegen eine ontologische Geschichtsphilosophie abzugrenzen, sich zugleich aber auf die Idee der Totalität als transzendental-regulativer Größe zu berufen. Er hütet sich, die Idee der Totalität mit der Idee der Kontinuität der Geschichte gleichzusetzen und betont: "Die Vorstellungswelt eines Sinnzusammenhanges der Geschichte setzt die Idee der Totalität als notwendige Bedingung voraus, ohne sich aus ihr herleiten zu lassen."11 Baumgartner bezeichnet die abschließenden Reflexionen seines Buches als Skizze, die weitergeführt werden müsse. Diese Skizze deutet auf den Begriff der "Intentionalität des historischen Wissens" hin, um den das Werk von Paul Ricoeur kreist, der sich wie Baumgartner zu einem radikalen Narrativismus bekennt, aber sehr viel vorsichtiger an seine Aufgabe herangeht, die y 10 11
Hans Michael Baumgartner, Kontinuität und Geschichte, Frankfurt 1972, S. 289f. Ibid., S. 292. Ibid., S. 325.
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Die philosophische Konstruktion der historischen Aussage
verschiedensten Geschichtstheoretiker berücksichtigt und auch die Arbeiten der Historiker aufmerksam rezipiert. Bei aller Aufmerksamkeit ist Ricoeur jedoch Baumgartners "Kontinuität und Geschichte" entgangen, obwohl dieses Buch bereits elf Jahre vor Ricoeurs 1983 veröffentlichtem ersten Band des magnum opus "Temps et Récit"12 erschienen war. Die Erzählung
und die "Intentionalität
des historischen
Wissens"
(P.Ricoeur)
Als französischer Philosoph, der sich dem Narrativismus widmet, hat Paul Ricoeur eine besonders schwierige Aufgabe, denn die zeitgenössischen Historiker seiner Nation sind analytisch und anti-narrativistisch eingestellt. Er geht dieser Herausforderung nicht aus dem Wege und studiert sogar ihre Werke, insbesondere Braudels "La Méditerranée" hat er mit großem Feingefühl untersucht, um nachzuweisen, daß auch Braudel eine Erzählung schreibt und daß sein Werk mit den Mitteln der Logik der Erzählung interpretiert werden kann. Doch ehe wir uns dieser interessanten Interpretation zuwenden, wollen wir den Ausgangspunkt der Überlegungen Ricoeurs betrachten. Ricoeur ruft zunächst zwei große Geister der Vergangenheit als Kronzeugen auf: Augustinus und Aristoteles. Die intentio und distentio animi in den Meditationen des Augustinus über Zeit und Ewigkeit sind die Grundlage für Ricoeurs Theorie über die menschliche Erfahrung der Zeit. Aus der Poetik des Aristoteles entnimmt er die Begriffe von Mythos und Peripetie, wobei der erste Begriff die narrative Strategie des "emplotment" umfaßt und der zweite den bedeutsamen Umschlag, der die Mitte eines "plots" bildet. (Der zweite Schritt in Dantos zuvor erwähnter Formel). Ferner entnimmt Ricoeur aus der "Poetik" den Begriff der Mimesis, den er dreifach unterteilt: Mimesis 1 ist die "Nacherzählung" mit direktem Bezug auf ein Objekt, Mimesis 2 die kreative Erzählung, die ein "emplotment" voraussetzt und Mimesis 3 die Erzählung in bezug auf den Adressaten.13 Ricoeur erwähnt, daß Aristoteles in der "Poetik" die Zeiterfahrung außer acht ließe - weshalb denn auch Augustinus bemüht werden müßte - und daß auch Mimesis 3 von Aristoteles in der "Poetik" vernachlässigt würde, da sie zum Bereich der Rhetorik gehöre. Die Strategie des "emplotment", die die Peripetie umgreift, gibt den Ereignissen, die es zu erzählen gilt, ihren Stellenwert. Der mimetische Prozeß kommt ohne Ereignisse nicht zustande, doch ebenso bleibt ein Ereignis, das 12 13
Paul Ricoeur, Time and Narrative, Vol. 1, Chicago 1984 (frz. Org.: Temps et Récit, Paris 1983). Ibid., S. 52.
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nicht in diesen Prozeß einbezogen wird, ein Nicht-Ereignis. Jeder historische Wandel kann sich nur als Ereignis in einem "plot" offenbaren. Wie kann Ricoeur bei dieser Ausgangsposition mit der resoluten Ablehnung der Ereignisgeschichte durch die französischen Historiker fertig werden? Er tut dies, indem er den Ereignisbegriff erweitert und schließlich von Quasi-Plot, QuasiPerson und Quasi-Ereignis spricht. Die "totale soziale Tatsache", die die französischen Historiker in den Mittelpunkt ihrer Geschichtsschreibung stellen, aus der die großen Männer, die Geschichte machen, ebenso verdrängt worden sind wie die nur als episodisch angesehenen Ereignisse, wird bei Ricoeur zur Quasi-Person und der Wandel, dem sie unterworfen ist, zum Quasi-Ereignis. Was immer die Historiker von solchen Quasi-Personen und Quasi-Ereignissen zu berichten haben, sie kommen nicht umhin, es in einen Quasi-Plot einzuordnen, wenn es nicht eine Anhäufung beziehungsloser Informationen bleiben soll. Ricoeur zeigt das anhand einer eingehenden Inhaltsanalyse von Braudels "La Méditerranée", einem Werk, das, wie wir bereits zuvor gesehen haben, auf den ersten Blick einen "plot" vermissen läßt und in dem die Ereignisgeschichte bewußt an den Rand gedrängt wird.14 Ricoeurs narrativistische Analyse von Braudels magnum opus ist eine bewunderswerte tour de force. Er deckt sozusagen die Tiefenstruktur der Arbeit Braudels auf und zeigt, was für ein "emplotment" der große Gegner narrativer Ereignisgeschichte vorgenommen hat. Die Quasi-Person ist die gesamte mittelmeerische Gesellschaft, das Quasi-Ereignis ist der Verlust der historischen Vorrangstellung, den diese Gesellschaft erleidet. Auch die Regel, das eine Geschichte einen Anfang, eine Mitte und ein Ende haben muß, wird von Braudel beachtet. Im Anfang wird die Quasi-Person vorgestellt, die statische Strukturgeschichte ist diesem Unternehmen durchaus angemessen; im konjunkturgeschichtlichen Mittelteil wird das Quasi-Ereignis dargestellt und der dritte Teil läuft auf das Ende zu, das durch den Tod Philipps II. symbolisiert wird. Das bedeutsame letzte Kapitel des ersten Bandes von Ricoeurs Werk, das auch die Interpretation von Braudels "La Méditerranée" enthält, steht unter der Überschrift "Historische Intentionalität". Das ist der Schlüsselbegriff, der Ricoeurs Bemühungen kennzeichnet. Er meint damit die "Intentionalität des historischen Wissens", sie ist die konstitutive noetische Intention, die Geschichte zu dem macht, was sie ist und sie von anderen Wissensbereichen unterscheidet. "Noetisch" darf in diesem Zusammenhang wohl als "sinnverleihend" verstanden werden, weil Ricoeur sich an Husserls Philosophie orientiert, der das Wort mit dieser Bedeutung verwendete. Übersetzt man RiRicoeur, Time and Narrative, S. 208ff.
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coeurs von Husserl geprägte Terminologie in die von Baumgartner bevorzugte Sprache der Philosophie Kants und Fichtes, so kann man feststellen, daß die beiden radikalen Narrativisten zu ähnlichen Ergebnissen kommen. Baumgartner bleibt freilich ganz und gar auf dem Gebiet der Philosophie im engeren Sinne und begibt sich nicht in den Bereich der "Poetik", der für Ricoeur so wichtig ist. In diesem letzteren Bereich verbindet Ricoeur vieles mit einem anderen radikalen Narrativisten, Hayden White, der ebenfalls von "emplotment" spricht, aber von einer spezifisch historischen "noetischen Intention" keine Notiz nimmt und die dieser Intention verpflichtete Muse Klio für Poetik und Rhetorik reklamiert. Ricoeur hat sich in seinem Werk kritisch mit White auseinandergesetzt. Wir werden zu dieser Kritik zurückkehren, nachdem wir zunächst die Grundzüge der Arbeiten Whites betrachtet haben. Die Fiktion des Faktischen (Hayden
White)
Der amerikanische Historiker Hayden White, der sich hauptsächlich mit der Geistesgeschichte, insbesondere mit dem deutschen Idealismus und mit Giambattista Vico beschäftigt hat, ist den Weg des Narrativismus noch weiter gegangen als alle anderen Vertreter dieser Richtung.15 Seiner Ansicht nach ist der Text des Historikers eine Fiktion, ein Abbild einer möglichen Wirklichkeit. Er unterliegt daher den gleichen Regeln wie der literarische Text und muß daher literaturwissenschaftlich analysiert werden. Wie die anderen Narrativisten greift auch White auf die klassische Poetik zurück und interessiert sich nicht nur für das "emplotment", sondern auch für die Tropen, die Redewendungen, die bereits von den alten Griechen genau beschrieben und klassifiziert worden sind. Vier solche Tropen hebt er hervor: Metapher, Metonymie, Synekdoche und Ironie. Die alten Griechen verstanden unter den Tropen freilich nur Sprachspiele, bei denen man ein Wort durch ein anderes ersetzt und damit nicht nur öde Wiederholungen vermeidet, sondern Anspielungen machen kann, die auf verschiedene Zusammenhänge verweisen. Wenn man zum Beispiel die Metapher von der Blüte eines Reiches verwendet, so ordnet man die Geschichte dieses Reiches in einen Prozeß des Werdens und Vergehens ein und deutet an, daß man die Periode, von der man gerade spricht, für die schönste hält. Huizingas "Herbst des Mittelalters" und Spenglers "Untergang des Abendlandes" sind weitere Beispiele für "Metaphern für Geschichte", über die Alexander Demandt in seinem gleichnamigen Buch berichtet hat. Hayden White, Auch Klio dichtet oder Die Fiktion des Faktischen, Stuttgart 1986 (amerik. Orig.: Tropics of Discourse).
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Metonymie und Synekdoche sind nun eigentlich nur spezielle Formen von Metaphern. Diese beiden Formen sind nicht leicht voneinander abzugrenzen. Bei der Metonymie handelt es sich um eine "Umbenennung", die das Benannte in einen anderen Zusammenhang stellt oder personifiziert, Amor für die Liebe, Mars für den Krieg, Hauptstadt für die Nation, Adresse für eine Regierung oder ein Ministerium und damit für die betreffende Politik etc. Bei der Synekdoche wird etwas "mitverstanden", das nicht gesagt wurde. So steht der Teil für das Ganze oder das Ganze für eines seiner Teile, z.B. Segel für Schiffe, "der Mensch" für die Menschheit etc. Die Ironie, die "Verstellung", ist dagegen eine Art Supertrope, denn sie kann alle anderen Tropen jeweils in ihr Gegenteil verkehren und statt eines positiven Vergleichs, eines Umbenennens oder Mitverstehens eine mehr oder weniger hintergründige Anspielung machen. So wird Lob zum Tadel, Ehrerbietung zum Hohn etc. Bereits Vico hat nun in diese Tropen mehr hineingeheimnist als ihnen nach ihrer ursprünglichen Bedeutung zukam. Für Vico wurden diese Tropen zu Signaturen der Bewußtseinsstellung ganzer Epochen der Geschichte.16 Das metaphorische Denken des reinen Vergleichs war kennzeichnend für jene frühe Zeit, als dem Menschen der Donner zum Zorn Gottes wurde. Darauf folgte das metonymische Denken, in dem nun wieder Menschen vergöttlicht wurden, und solche Heroen dann eine aristokratische und schließlich gar monarchische Herrschaft errichteten. Gegen diese lehnte sich das synekdochische Denken der Beherrschten auf, die ihren Anteil am Ganzen forderten und der demokratischen Republik den Boden bereiteten. Doch diese Grundlage wurde dann vom ironischen Denken der Skeptiker und Sophisten zerstört. Die Menschen fielen darauf in eine neue Barbarei, und der Kreislauf begann aufs Neue. Hayden White übernimmt von Vico diese Ansicht von den Tropen als Bewußtseinsstellungen, ohne jedoch seiner geschichtsphilosophischen Kreislauflehre zu folgen. Statt dessen versucht er, die Entwicklungspsychologie Jean Piagets tropologisch zu deuten, indem er die erste Phase der kindlichen Entwicklung als metaphorisch bezeichnet, die zweite, die mit der Sprachentwicklung und der Benennung der Objekte einsetzt, als metonymisch einordnet, die dritte, in der das Bewußtsein vom Verhältnis des Ganzen zu seinen Teilen erwacht, als synekdochisch betrachtet und schließlich das in der Adoleszenz entstehende kritische Bewußtsein als ironisch deutet. Während bei Vico die Tropologie den Geschichtsverlauf vorzeichnet, charakterisiert sie bei White nur die Einstellung des Historikers zur Geschichtsschreibung. 16
Vico, Die Neue Wissenschaft, S. 69ff.
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Durch die Berufung auf die Entwicklungspsychologie verleiht er der Tropologie freilich doch eine gewisse Gesetzmäßigkeit, ja er geht sogar noch weiter und ordnet den vier Tropen sowohl literarische Gattungen als auch ideologische Einstellungen zu. Es ergibt sich auf diese Weise das folgende Zuordnungsmuster: Trope
Gattung
Ideologie
Metapher Metonymie Synekdoche Ironie
Romanze Tragödie Komödie Satire
anarchistisch radikal konservativ liberal
Statt einer Bezeichnung für einzelne Redewendungen werden die Tropen bei White zu Signaturen für das Gesamtwerk des Historikers. Er zeigt dies am Beispiel der Geschichtsschreibung über die französische Revolution: "Burke dekodiert die Ereignisse der Revolution, die seine Zeitgenossen als Groteske erfahren, und rekodiert sie im Modus der Ironie; Michelet rekodiert diese Ereignisse im Modus der Synekdoche; Tocqueville rekodiert sie im Modus der Metonymie."17 White fügt hinzu, daß in jedem Fall die Beschreibung der Ereignisse der Revolution zu einem Drama gemacht wird, "das wir je nachdem als satirisch, romantisch, bzw. tragisch erkennen können." Fast alle Ideen Whites gehen auf den großen amerikanischen Literaturtheoretiker Kenneth Burke zurück, dessen "Grammar of Motives" er zwar gelegentlich zitiert, dessen Bedeutung für sein gesamtes Werk er aber nicht hervorhebt.18 Burke hatte schon in seinen frühen Werken wie "Attitudes Towards Histoiy" (1937) und "The Philosophy of Literary Form" (1941) den Begriff der "symbolischen Handlung" betont und einen "Dramatismus" begründet, einen umfassenden Entwurf einer Theorie der Strategie des sprachlichen Kunstwerks. Er hatte sich ebenfalls schon für Piagets Entwicklungspsychologie interessiert und die Sprachhandlung sowohl in ihrer symbolischen als auch in ihrer kommunikativen Bedeutung analysiert. Er nannte diese Sprachhandlung "the dancing of an attitude" und wandte seine Theorie auf dem Gebiet der praktischen Literaturkritik mit großem Erfolg an. Eine seiner Meisterleistungen war die sprachliche Analyse von Hitlers "Mein 17 1
8
H. White, Auch Klio dichtet, S. 119. Kenneth Burke, A Grammar of Motives, Berkeley 1969.
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Kampf', in der er vieles von dem voraussagte, was Hitler später wirklich tat. Burke war davon überzeugt, daß die Sprache eines Menschen ein untrügliches Zeugnis für seine wahren Absichten ist: "A man can, on the surface, maintain any insincerety he prefers. But in the depth of his imagery, he cannot lie." Die Tropen als geistige Grundstrukturen sprachlichen Ausdrucks wurden von Kenneth Burke bereits in seiner "Grammar of Motives" (1945) hervorgehoben. Dort wurden die von White erwähnten Tropen die vier "master tropes" genannt. Die Verbindung von literarischer und politischer Analyse war Burke ein ganz besonderes Anliegen. Er stand dem Marxismus nahe und lernte bei Marx die Ideologiekritik, die er mit Freuds Psychoanalyse verband. Mit der Geschichtsschreibung hat sich Burke nicht explizit beschäftigt - sein Buch "Attitudes Towards History" handelt nicht davon - so blieb es denn White vorbehalten, die Theorien des Meisters auf dieses Gebiet anzuwenden. Wer nun wiederum auf White zurückgreift, wie Ricoeur es tut, bekommt letztlich die Ideen Burkes nur aus zweiter Hand. Doch Ricoeur hat dabei immerhin eine gewisse Umsicht bewiesen, denn er übernimmt zwar den "Dramatismus", den White von Burke hat, distanziert sich aber vorsichtig von Whites Tropologie, die er mit vornehmer Zurückhaltung "recht zerbrechlich" nennt. 19 Wir mögen weniger zurückhaltend sagen, daß White den Narrativismus mit seiner Tropologie auf die Spitze getrieben und der Sache, für die er sich einsetzt, damit keinen Dienst erwiesen hat. Er selbst findet übrigens Historiker, die die Trope, die er ihnen zuschreibt, nicht durchhalten und zwischen den Tropen oszillieren, viel interessanter als jene, die sich von ihm bequem einordnen lassen. Dieses Geständnis hätte ihn eigentlich dazu bringen müssen, die Nützlichkeit seiner tropologischen Taxonomie zu überdenken. Im Unterschied zu dem brillanten und vielseitigen Kenneth Burke neigt White jedoch zu einer gewissen Rigidität. Er hat in der Tropologie einen Leisten gefunden, über den er nun alles schlagen will, koste es was es wolle. Eine nüchterne und kritische Annäherung an den Narrativismus, wie sie lange vor Hayden White der Philosoph Morton White versucht hat, scheint dem Problem eher gerecht zu werden als die Tropologie. Erzählung und Chronik: Kausale und nicht-kausale Aussagen (Morton White) Morton White und Arthur Danto veröffentlichten ihre Bücher zur gleichen Zeit. Beide gingen von einer Auseinandersetzung mit Carl Hempels "CoverRicoeur, Time and Narrative, S. 163.
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ing Law Model" aus, und beide begnügten sich nicht mit einer Analyse einzelner, erklärender Sätze, sondern setzten sich mit der Erzählung als Erklärung auseinander, Morton White tat dies sogar noch gründlicher als Danto. Doch während Danto, wie wir gesehen haben, letztlich einem radikalen Narrativismus den Weg bahnte, blieb White auf dem Boden einer pragmatisch-analytischen Philosophie, die wesentlich bescheidener anmutet, aber der Arbeit des Historikers näher steht als die narrativistischen Höhenflüge. Im Zentrum der Untersuchung Whites steht die analytische Unterscheidung von Erzählung und Chronik. Er betont, daß Erzählung und Chronik in der Praxis ineinander verwoben sind und einander bedingen, daß sich die kausalen Aussagen der Erzählung (Warum? Weil ...) aber analytisch sehr wohl von den nicht-kausalen Aussagen der Chronik ("und dann, und dann, und dann") trennen lassen. White gesteht zu, daß der Historiker die Chronik nach den Erfordernissen der Erzählung zusammenstellt, doch sein Narrativismus geht nicht soweit, wie der der radikalen Narrativisten, die allein die "Einheit der Erzählung" gelten lassen und einer solchen "Chronik" jede Eigenständigkeit absprechen. 20 Jeder praktizierende Historiker wird jedoch bestätigen, daß es durchaus möglich ist, die "Erzählung" eines Historikers anzuzweifeln, ohne seine "Chronik" in Frage zu stellen, oder aber seine Erzählung für plausibel zu halten, ihm aber Lücken oder Unstimmigkeiten seiner Chronik nachzuweisen. Der Fortschritt historischer Erkenntnis beruht ja geradezu auf einer ständigen Kritik des Verhältnisses von Erzählungen zu Chroniken. Eine Chronik ist zwar durch die Selektionskriterien der Erzählung bestimmt, aber wenn der Historiker dies berücksichtigt, kann er aus der Chronik selbst dann Nutzen ziehen, wenn er die Erzählung verwirft. Der Anmerkungsapparat historischer Werke dient in erster Linie der Dokumentation der Chronik. Ein Historiker, der ein neues Werk in die Hand bekommt, wird oft diese Anmerkungen zuerst durchsehen, um zu prüfen, ob es sich überhaupt lohnt, die Erzählung, die sich auf diese Art von Chronik stützt, zu lesen. Auf diese Gepflogenheiten der Praxis des Historikers geht White nicht ein, aber seine Analyse ist sozusagen praxiskonform, während die der radikalen Narrativisten es nicht ist. White erwähnt, daß die Chronik freilich nicht nur reine nicht-kausale Aussagen enthält, sondern auch "abgeleitete Aussagen" (derivative statements), die entweder eine Ursache oder eine Wirkung implizieren. Er setzt sich dann mit dem Problem der adäquaten Verursachung und dem weit schwierigeren Problem der Zuordnung von Wirkungen auseinander und sagt dazu:" Wenn wir folgern, daß die Ursache für die Entgleisung eines Zuges nicht die Ge20
M. White, Foundations, S. 222ff.
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schwindigkeit war, weil Züge bei gleicher Geschwindigkeit manchmal entgleisen und manchmal auch nicht, dann zeigen wir, daß wir an d i e Ursache denken - die verbogene Schiene zum Beispiel -, die allein den Unterschied zwischen einer normalen Fahrt und einer Entgleisung ausmacht. Eine ähnliche Schlußfolgerung steht uns nicht zur Verfügung, wenn wir d i e Wirkung auswählen wollen, die in einer Chronik [...] festgehalten werden soll."21 Mit anderen Worten, während man bei der Beurteilung der adäquaten Verursachung Kriterien finden kann, über die ein Konsensus zustande kommt, bleiben Kausalbehauptungen über die Auswirkung bestimmter Fakten problematisch, und eine Erzählung, die auf diesem Gebiet eine andere an Überzeugungskraft übertrifft, wird wohl als die bessere angesehen werden. Dieses grundsätzliche Problem, das White aufgreift, wird in der eleganten Darstellung von Danto geschickt übergangen. Danto spricht ja von Anfang, Mitte und Ende einer Geschichte, wobei Anfang und Mitte vom Ende bestimmt sind. Wenn man so argumentiert, hat man es immer nur mit der adäquaten Verursachung zu tun und braucht die Pluralität möglicher Wirkungen nicht zu berücksichtigen, weil man vom Ende, d.h. von der allein interessierenden Wirkung ausgeht und alle weiteren Wirkungen des Mittelgliedes, die nicht zu diesem "Ende" geführt haben, außer acht läßt. Historiker sind aber ebenso sehr an Wirkungen wie an Ursachen interessiert. Denkt man an das Thema "Krieg", so betreiben sie sowohl Kriegsursachen- als auch Kriegsauswirkungsforschung. Wie man aber den Wirkungspluralismus in den Griff bekommt und wie man unter diesem Gesichtspunkt beurteilen kann, welche Geschichte die beste ist, darüber kann auch White keine verbindlichen Aussagen machen. Hier bleibt nach wie vor nur die alte Aussage des Aristoteles, daß es dem praktischen Verstand (phronesis) überlassen bleibt, ein historisches Urteil zu fällen. Es ist Whites Verdienst, diese Problematik hervorgehoben zu haben, die von den Nairativisten von Danto bis zu Hayden White vernachläßigt wird. Deshalb fehlt es den Narrativisten letztlich an jeglichen Kriterien für die Beurteilung historischer Werke an sich. Sie können nur literarische Maßstäbe anlegen, und dann wäre die Geschichte die beste, deren Verfasser Anfang, Mitte und Ende richtig gewählt und seine Darstellung konsequent vom Ende her organisiert hat. Diese Geschichte mag dann nach formalen Gesichtspunkten in der Tat die beste sein. Wenn die Historiker Kritik an ihr üben, können die Narrativisten sich nur mit der Ausflucht retten, das Werk des Historikers sei letztlich nicht widerlegbar - und das hat Hayden White in der Tat behauptet.22
M. White, Foundations, S. 235f. H. White, Auch Klio dichtet, S. 111.
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Nach diesem Hinweis auf die Aporie des radikalen Narrativismus wollen wir uns der Theorie des kommunikativen Handelns zuwenden und auch die Problematik der "Wirkungsgeschichte" behandeln, die einen Kommunikationszusammenhang herstellt. Im Rahmen einer solchen Theorie des kommunikativen Handelns läßt sich vielleicht auch die "Erzählung als Erklärung" einordnen und die Aporie des Narrativismus vermeiden.
15. Wirkungsgeschichtliches Bewußtsein und kommunikatives Handeln Die Auseinandersetzung mit dem Narrativismus hat uns auf das Problem der Beurteilung der "besten Geschichte" verwiesen, die letztlich eine Angelegenheit des praktischen Verstandes (phronesis) ist. Die Engländer nennen diesen praktischen Verstand "common sense" und respektieren ihn ebenso wie ihr historisch gewachsenes "common law". Das Wort "common" weist auf die Allgemeingültigkeit hin. "Common sense" ist immer intersubjektiv. Doch für den Philosophen ist die Intersubjektivität ein tiefes Problem, für den philosophisch orientierten Historiker vertieft sich dieses Problem noch mehr, denn er ist nicht nur von der Frage der synchronischen Intersubjektivität betroffen, sondern darüber hinaus noch mit der Notwendigkeit der diachronischen Überwindung der Distanz konfrontiert, die ihn von den Menschen vergangener Zeiten trennt. Wir haben gesehen, daß Danto an ein "soziales Erbe" appelliert, das uns den Zugang zur Geschichte und den Konsensus in ihrer Beurteilung überhaupt erst ermöglicht.1 Mit diesem Hinweis kam Danto der deutschen hermeneutischen Philosophie sehr entgegen; das was er nur vage andeutete, entsprach nämlich dem "wirkungsgeschichtlichen Bewußtsein", das Hans Georg Gadamer in seinem Werk "Wahrheit und Methode" hervorgehoben hat. Mit diesem großen Entwurf einer Kontinuität der Tradition hat sich Jürgen Habermas kritisch auseinandergesetzt und eine "Theorie des kommunikativen Handelns" konzipiert.2 Bei der Diskussion der "sozio-kulturellen Lebenswelt" hat sich Habermas explizit auf Danto berufen. 3 Wir wollen zunächst die beiden Entwürfe von Gadamer und Habermas vorstellen und dann auf die Frage nach der "besten Geschichte" zurückkommen. Das "wirkungsgeschichtliche
Bewußtsein"
(Hans Georg
Gadamer)
Gadamer setzt sich zunächst mit Dilthey auseinander, der sich um eine "Kritik der historischen Vernunft" bemühte und für den das "geschichtliche Bewußtsein" an die Stelle von Hegels Metaphysik trat. Doch damit, so weist Gadamer nach, verstrickte sich Dilthey in die Aporien des Historismus. Gadamer hebt dagegen die Leistung von Diltheys Freund Graf Yorck von Wartenburg hervor, der "auf dem Niveau der Identitätsphilosophie des spekulativen Idealismus" weiterdachte und sich darum bemühte, Bewußtseinser1
2 3
Danto, Analytische Philosophie der Geschichte, S. 384. Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, 2 Bde, Frankfurt 1982. Ibid., Bd. 2, S. 207.
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gebnisse von ihrem Ursprung her zu verstehen.4 Was Gadamer über Graf Yorck sagt, gilt auch für sein eigenes Werk. Der Schlüsselbegriff "wirkungsgeschichtliches Bewußtsein", den Gadamer einführt, zeigt an, daß auch er sich bemüht, "auf dem Niveau der Identitätsphilosophie" weiterzudenken. Er steht Hegel nahe, will ihn aber vor den Konsequenzen des Hegeischen Systems retten. So schreibt er: "Wir werden daher die Struktur des wirkungsgeschichtlichen Bewußtseins im Blick auf Hegel und in Abhebung von Hegel zu bestimmen haben." Das "wirkungsgeschichtliche Bewußtsein" sei nicht der "Weltgeist", es sei auch keine "vis a tergo", die Denken und Handeln determiniere, sondern es hätte die "Struktur der Erfahrung", und diese sei prinzipiell offen.5 Gadamer entfaltet übrigens die Bedeutung des Begriffs des "wirkungsgeschichtlichen Bewußtseins" anhand einer Analyse der Arbeit des Historikers, die er mit der des Philologen kontrastiert. Der Philologe steht dem ursprünglichen Anliegen der Hermeneutik, dem Verstehen von Texten, näher. Der Historiker aber überbietet das "hermeneutische Geschäft" geradezu, denn er will nicht nur den Text verstehen, sondern er sieht ihn als Zeugnis eines größeren Zusammenhanges, den es zu verstehen gilt. Historisches und philologisches Bewußtsein geraten in Konflikt, denn es gilt für den Historiker grundsätzlich, daß die Überlieferung in einem anderen Sinne zu interpretieren ist, als die Texte von sich aus verlangen. Nachdem Gadamer diesen Konflikt aufgezeigt hat, schreitet er fort zu einer Vermittlung: "Es ist das wirkungsgeschichtliche Bewußtsein, worin sich beide als in ihrer wahren Grundlage zusammenfinden."6 Die Wirkungsgeschichte verbindet den Verstehenden mit dem, was es zu verstehen gilt, sie ist nicht Gegenstand des hermeneutischen Bewußtseins, sondern seine Grundlage. Sie überbrückt den zeitlichen Abstand. Gadamer kritisiert den naiven Historismus, der glaubte, sich in den Geist vergangener Zeiten versetzen zu müssen, oder gar das Geschehen einer Zeit nur mit den Begriffen dieser Zeit analysieren zu dürfen. Die Wirkungsgeschichte, in der die Vergangenheit sozusagen "aufgehoben" ist, erlaubt es nicht nur, sondern fordert es geradezu, daß man gegenwärtig denkt, dabei aber seine eigene Geschichtlichkeit mitdenkt. Wirkungsgeschichte kann nie vollendet gewußt werden, das wirkungsgeschichtliche Bewußtsein ist ein Moment des Vollzuges des Verstehens selbst. Ein Text wird immer neu verstanden und wirkt auf diese Weise fort. Werk und Wirkung werden als Einheit betrachtet. Gadamer wendet sich entschieden gegen eine Operation, die er "hermeneutische Re4 5 6
Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 238. Ibid., S. 328f. Ibid., S. 318, 323.
Wirkungsgeschichtliches Bewußtsein und kommunikatives Handeln
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duktion" nennt: "Die hermeneutische Reduktion auf die Meinung des Urhebers ist ebenso unangemessen wie bei geschichtlichen Ereignissen die Reduktion auf die Absicht der Handelnden."7 Die Gefahr liegt nahe, die Einbindung in die Wirkungsgeschichte, die sich als so umfaßend erweist, deterministisch zu deuten. Gadamer hebt jedoch hervor, daß das wirkungsgeschichtliche Bewußtsein "um die unabschließbare Offenheit des Sinngeschehens, an dem es teilhat", weiß. Er beruft sich auf die Analogie des Gesprächs, das auch immer offen bleibt. So wie das Verhältnis zwischen Ich und Du im Gespräch ist auch das Verhältnis zwischen dem Denkenden und dem historischen Bewußtsein. Man kann sich aus einem solchen Verhältnis nicht herausreflektieren. Wer sich aus dem Lebensverhältnis zur Überlieferung herausreflektiere, zerstöre den wahren Sinn dieser Überlieferung, warnt Gadamer.8 Die offene Gesprächssituation und die offene Struktur der Erfahrung sind es, die zur Begründung der Offenheit des wirkungsgeschichtlichen Bewußtseins herangezogen werden. Entgeht man nun aber auf diese Weise der Geschlossenheit des Determinismus, so könnte nun die andere Gefahr der unbegrenzten Beliebigkeit drohen. Ihr entzieht sich Gadamer durch den Hinweis auf die Wechselbeziehung von Frage und Antwort und auf das, was es bedeutet, wenn man "Erfahrungen macht". Die Offenheit einer Frage ist nicht uferlos, eine Frage muß gestellt werden und damit ist ein Fragehorizont gegeben. Ähnlich ist es mit der Erfahrung, die man "macht".9 Sie bedeutet eine Korrektur vorheriger Erwartungen. In der dialektischen Interpretation der Erfahrung bezieht sich Gadamer explizit auf Hegels "Phänomenologie des Geistes", in der gezeigt wird, wie das Bewußtsein, das seiner selbst gewiß werden will, seine Erfahrungen macht. Die Betonung von Verstehen und Verständigung, Gespräch und Sprache führt dazu, daß Gadamer zu der Aussage kommt, daß die Sprache das universale Medium ist, in dem sich Verstehen selber vollzieht, und daß die Sprachlichkeit des Verstehens die Konkretisierung des wirkungsgeschichtlichen Bewußtseins ist. Er sagt damit nicht, daß Denken ohne Sprache unmöglich ist, aber daß Überlieferung der Sprache bedarf, und es ohne Überlieferung kein wirkungsgeschichtliches Bewußtsein geben könne. Die Kritik an "Wahrheit und Methode" findet hier ihren wichtigsten Ansatzpunkt. Gadamer sagt dies selbst in seinem Nachwort, das gut ein Jahrzehnt nach der ersten Veröffentlichung von "Wahrheit und Methode" geschrieben wurde:"[...] der gewichtigste Einwand [...] ist der, daß ich angeblich aus der Sprachge7 8 9
Gadamer, Wahrtieit und Methode, S. 355. Ibid., S. 343. Ibid., S. 346.
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Die philosophische Konstruktion der historischen Aussage
bundenheit alles Verstehens und aller Verständigung die grundlegende Bedeutung des Einverständnisses folgere und damit ein gesellschaftliches Vorurteil zugunsten der bestehenden Verhältnisse legitimiere."10 Gadamer bezieht sich hier besonders auf seinen Kritiker Habermas, der übrigens nicht nur dies tadelte, sondern das Vertrauen auf Wirkungsgeschichte und Überlieferung als Autoritätsgläubigkeit bezeichnete und Gadamer einen Konservativismus unterstellte, der allen kritisch-emanzipatorischen Bestrebungen zuwiderlief. Gadamer hielt dagegen: "Die hermeneutische Erfahrung reicht in Wahrheit so weit, wie die Gesprächsbereitschaft vernünftiger Wesen überhaupt reicht." Aber er wies auch die "Verketzerung aller Autorität" zurück und betonte: "Was der Reflexion unterwerfbar ist, ist stets begrenzt gegenüber dem, was durch vorgängige Prägung bestimmt ist."11 Er gestand nun auch, daß er Hegels "Einsicht in die Geschichtlichkeit des Geistes" weitgehend gefolgt sei. Aber er hatte in der Tat Hegels "Metaphysierung des Lebens" vermieden und einen Weg gezeigt, von dem er meinte, daß Graf Yorck ihn gesucht, aber wohl noch nicht gefunden hatte. Die Wirkungsgeschichte war nicht die immanente Triebkraft der Geschichte, die erst in ihrer Vollendung zu sich kam, sondern sie bewährte sich "immer schon" im Vollzug des Verstehens. Rankes "Unmittelbarkeit zu Gott" jeder Epoche, die mit Hegels Geschichtsphilosophie unvereinbar ist, widerspricht Gadamers Wirkungsgeschichte nicht. Gadamer, so scheint es, hat Hegel aus der Zwangsjacke seines eigenen Denkens befreit und seine deterministische Dialektik in die Offenheit des Dialogs verwandelt. Doch auch die "Wirkungsgeschichte", die Hegels Zwangsjacke abgelegt hat, ist nicht frei von deterministischen Faktoren. Eben diese ihre Eigenschaft ist es, die die Verbindung zwischen dem Verstehenden und dem, was es zu verstehen gilt, sichert. Aber diese Verbindung fehlt, wenn der wirkungsgeschichtliche Zusammenhang nicht gegeben ist, wie etwa bei der Deutung der Geschichte einer fremden Kultur. Hegels "szientifizierte Phantasie", wie Graf Yorck sie nannte, konnte sich mit der Immanenz des Weltgeistes über alles hinwegsetzen. Die Wirkungsgeschichte ist nicht immanent, sie ist von Menschen überliefert. Dort wo die Überlieferung nicht wirksam ist, muß auch sie verstummen. Gadamers Gegenspieler Habermas, der sich von der Bewußtseinsphilosophie abwendet und sein Heil in einer Theorie des kommunikativen Handelns sucht, entgeht der Problematik der "Wirkungsgeschichte" und stellt den
10 11
Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 529. Ibid., S. 534.
Wirkungsgeschichtliches Bewußtsein und kommunikatives Handeln
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Kommunikationszusammenhang in einer "Lebenswelt" her, die aber - wie wir sehen werden - auch nicht problemlos ist. Kommunikatives Handeln und Lebenswelt (Jürgen Habermas)
Habermas sieht das Problem der Bewußtseinsphilosophie darin, daß sie einem Solipsismus verhaftet bleibt, der keine Grundlage für die Intersubjektivität bietet. Das Subjekt kann nur die Beziehung zu einem Objekt mit den Mitteln der instrumentellen Vernunft herstellen, ja es ist bei der Selbstreflexion gezwungen, sogar sich selbst als Objekt zu setzen. Friedrich Schlegel hat diese Paradoxie schon früh in der einprägsamen Formel von der "Vernunft, die nichts vernehmen will" ausgedrückt. Habermas zitiert diese Formel nicht, aber seine ausführliche Kritik der instrumentellen Vernunft und sein Bemühen um eine kommunikative Vernunft bedeuten, daß es ihm um eine Vernunft geht, die etwas vernehmen kann und will. Es ist jedoch nicht leicht, der "Wirkungsgeschichte" der Bewußtseinsphilosophie zu entkommen und eine rezeptive und damit kommunikationsfähige Vernunft zu begründen. Habermas vertraut sich daher der Führung durch den amerikanischen Philosophen und Sozialpsychologen George Herbert Mead (1863-1931) an, der in der bewußtseinskritischen Tradition von Charles Sanders Peirce stand, und bezieht sich insbesondere auf Meads posthum erschienenes Werk "Mind, Seif and Society" (1934).12 Mead, der die intersubjektive Kommunikation bis hin zu den Gesten und Lauten der Tiere verfolgte, entfaltete die Bedeutung des "interpretant", das in der Zeichenlehre von Peirce eine so wichtige Rolle spielt. Zur Ergänzung der rein sozialpsychologischen Kommunikationstheorie Meads zieht Habermas dann Dürkheims kollektives Normenbewußtsein heran und wendet sich der Idee der "Lebenswelt" zu, die Alfred Schütz in Anlehnung an Husserl konzipiert hat. Habermas versucht, den "Verkürzungen" aller dieser Mentoren zu entkommen. Mead greift seiner Ansicht nach zu kurz, weil er sich auf die Sozialisierung von Individuen beschränkt, Dürkheim, weil er bei einer integrationistischen Sozialisierungstheorie bleibt und Schütz und sein Nachfolger Luckmann, weil ihre Theorie in eine Wissenssoziologie mündet, die der Fülle der "Lebenswelt" nicht gerecht wird. Um die "Schrumpfungen der Lebenswelttheorie" zu vermeiden, kombiniert Habermas alle drei Ansätze. Er behauptet: "Ohne die Klammer einer im kommunikativen Handeln zentrierten Lebenswelt fallen Kultur, Gesellschaft und
Habermas, Kommunikatives Handeln, Bd. 2, S. 12ff.
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Die philosophische Konstruktion der historischen Aussage
Persönlichkeit auseinander."13 Diese Behauptung steht zwar im Zusammenhang seiner Auseinandersetzung mit Talcott Parsons, der drei prästabilierte, sich gegenseitig durchdringende Systeme - Persönlichkeit, Gesellschaft und Kultur - postulierte, aber der Hinweis auf die "Klammer" bedeutet über diese Debatte hinaus eine grundsätzliche Charakterisierung der Funktion der Lebenswelt, wie sie Habermas sich vorstellt. Die Lebenswelt ist "fraglos gegeben". In seiner neueren Arbeit "Der philosophische Diskurs der Moderne" sagt Habermas dazu: "die Lebenswelt kann nur a tergo eingesehen werden. Aus der frontalen Perspektive der verständigungsorientiert handelnden Subjekte selber muß sich die immer nur 'mitgegebene' Lebenswelt der Thematisierung entziehen."14 An einer anderen Stelle führt er weiter aus: "Soweit die Lebenswelt Ressourcenfunktionen übernimmt, hat sie den Charakter eines intuitiven, unerschütterlich gewissen und holistischen Wissens, das nicht nach Belieben problematisiert werden kann - und in dieser Hinsicht kein 'Wissen' im strikten Sinne darstellt. [...] Als Ressource [...] bildet die Lebenswelt ein Äquivalent für das, was die Subjektphilosophie als Leistungen der Synthesis dem Bewußtsein überhaupt zugeschrieben hatte."15 Mit dieser Charakterisierung der Lebenswelt durch Habermas befinden wir uns plötzlich wieder in unmittelbarer Nähe von Gadamers "wirkungsgeschichtlichen Bewußtsein", über das wir zuvor Ähnliches gehört haben, so etwa, daß Wirkungsgeschichte nie vollkommen gewußt werden kann, daß sie nicht Gegenstand, sondern Grundlage des hermeneutischen Bewußtseins ist und daß man sich aus ihrem Zusammenhang nicht herausreflektieren kann. Der Unterschied besteht freilich darin, daß Gadamer auf dem Boden der Subjektphilosophie bleibt, den Habermas zu verlassen versucht. Doch gerade deshalb hat er es mit der Begründung seiner "Lebenswelt" gar nicht leicht, vor allem, wenn er diese Lebenswelt nicht nur als Verständigungshorizont definiert, sondern auch ihre materielle Reproduktion betrachtet. Hier sieht er sich gezwungen, die Lebenswelt als ein "grenzerhaltendes System zu vergegenständlichen" und gerät damit in die Nähe der Systemtheoretiker, deren funktionalistische Vernunft er sonst kritisiert. Die Systemtheoretiker, so meint er, haben "leichtfüßig die Bewußtseinsphilosophie beerbt" indem sie einfach die Subjekt-Objekt-Beziehung durch die System- Umwelt-Beziehung ersetzt haben.16 Er wirft ihnen vor, die Lebenswelt als Horizont kommunikativen Handelns zu übersehen, gesteht aber ein, daß die materielle Reproduktion dieser Lebenswelt Vorgänge einschließt, die über diesen
14 15 16
Habermas, Kommunikatives Handeln, Bd. 2, S. 338. Habermas, Diskurs der Moderne, S. 349. Ibid., S. 378f. Habermas, Kommunikatives Handeln, Bd. 2, S. 197.
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Verständigungshorizont hinausgehen und nur den kontraintuitiven Sozialwissenschaften zugänglich seien. Damit aber ist der Systemtheorie Tür und Tor geöffnet, so sehr Habermas bedauert, daß es dieser Theorie am Maßstab der kommunikativen Rationalität mangelt. Die Fraglosigkeit der Lebenswelt und die Unbelehrbarkeit der angeborenen Lehrmeister Die Probleme, vor denen Habermas steht, lassen sich im Rahmen der evolutionären Erkenntnistheorie auf eine Weise diskutieren, die wenn nicht eine Problemlösung so doch ein besseres Problemverständnis ermöglicht. Die fraglos mitgegebene Lebenswelt hat ihre Parallele in der Unbelehrbarkeit der angeborenen Lehrmeister unseres "ratiomorphen Apparats", der an einen Mesokosmos angepaßt ist. Mikro- und Makrokosmos sind nur mit dem Mittel kontraintuitiver Theorien zugänglich. Die Lebenswelt ist so gesehen ein sozialer Mesokosmos, in dem sich kommunikatives Handeln in einem fraglos angenommenen Verständigungshorizont vollziehen kann. Die Lebenswelt ist freilich nicht angeboren, doch die Fraglosigkeit, mit der sie angenommen wird, beruht auf der Leistung des angeborenen ratiomorphen Apparats. In diese Fraglosigkeit wird aber auch das, was Danto das soziale Erbe oder Gadamer die Wirkungsgeschichte nennt, hineingenommen. Wenn wir das, was der ratiomorphe Apparat leistet, intuitiv nennen, so können wir das tradierte Wissen der Lebenswelt als quasi-intuitiv bezeichnen, denn es wird ebenso selbstverständlich vorausgesetzt. Während aber der ratiomorphe Apparat nicht dem historischen Wandel unterworfen ist, erfährt die Lebenswelt sowohl als Verständigungshorizont als auch in bezug auf ihre materielle Reproduktion einen oft sogar recht raschen und tiefgreifenden Wandel. Die Thematisierung dieses Wandels ist jedoch problematisch, denn die Fraglosigkeit der Lebenswelt steht ihr entgegen. Habermas hat dies an einer Stelle mit sehr drastischen Worten betont: "Die Weise, in der die Lebenswelt unproblematisch ist, muß in einem radikalen Sinne verstanden werden: sie kann als Lebenswelt gar nicht problematisch werden, sie kann allenfalls zusammenbrechen."17 Doch an einer anderen Stelle spricht er in Anlehnung an Dürkheim davon, "daß die Lebenswelt ihre präjudizierende Gewalt über die kommunikative Alltagspraxis in dem Maße verliert, wie die Aktoren ihre Verständigung eigenen Interpretationsleistungen verdanken" 18 . Zu solchen eigenen Interpretationsleistungen gehört dann wohl
17 18
Habermas, Kommunikatives Handeln, Bd. 2, S. 198f. Ibid., S. 203.
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Die philosophische Konstruktion der historischen Aussage
auch das Einbringen kontra-intuitiver sozialwissenschaftlicher Erkenntnisse in den Kommunikationszusammenhang der Lebenswelt. Doch hier sieht Habermas eher die Gefahr der Abspaltung von Expertenkulturen, die in einer Art Kommunikationsghetto von der Interaktion mit der Lebenswelt abgeschnitten bleiben. Die Umsetzung kontra-intuitiver Erkenntnisse in quasiintuitives Wissen, das in der Lebenswelt zur Verfügung steht, ist denn in der Tat eine schwierige Aufgabe, die nicht zuletzt auch dem Historiker gestellt ist, der den historischen Wandel als Prozeß erfaßt und als Aussage in das kommunikative Handeln der Lebenswelt einbringt. Nun hat Dieter Henrich in "Zwölf Thesen gegen Jürgen Habermas" an dem Konzept der Lebenswelt und an der Theorie des kommunikativen Handelns grundsätzliche Kritik geübt.19 Er nennt diese Lebenswelt "strukturlos" und wirft Habermas die Leichtigkeit vor, mit der er Selbstverhältnisse von Kommunikationen hergeleitet sein läßt. Ohne die Stütze der Subjektphilosophie wird fraglich, was da miteinander kommuniziert. Henrichs Kritik gipfelt darin, daß er Habermas eine Entscheidungsblindheit gegenüber einem Grundproblem der Gesellschaftstheorie nachweist: "Sind es zuletzt nur die Individuen selbst, deren Interaktionsverhalten [...] die reale Basis für die Ausbildung des Begriffs der 'Lebenswelt' abgeben? Oder ist es notwendig, den Individuen vorgängige Formen von Assoziation in Ansatz zu bringen, die zwar ohne Individuen keinen Bestand haben könnten, die aber ihrem 'ontologischen' Status nach von den Individuen insofern unabhängig sind, als sie deren Sozialverhalten so determinieren wie der newtonische Raum die Positionen der Körper in ihm?"20 Henrich kritisiert ferner, daß Habermas dieser Frage durch eine Anleihe bei der Systemtheorie auszuweichen versucht, und betont, daß 'Lebenswelt' und 'System' ihrer Anlage nach inkommensurable Begriffe seien.21 Henrichs Kritik an der Ambivalenz in Habermas' Argumentation ist sicher berechtigt. Die evolutionäre Erkenntnistheorie mit ihrem Hinweis auf die angeborenen Kompetenzen, zu denen auch die Kommunikationskompetenz in der Form der Spracherwerbskompetenz gehört, kann helfen, die Diskrepanz, die Henrich aufzeigt, zu überbrücken. Geht man von einem dem Individuum angeborenen Fundus von Grundkompetenzen aus, den es mit allen anderen Individuen gemein hat und daher auch intuitiv voraussetzen kann, so braucht man keine "vorgängigen Formen von Assoziation" mit eigenem ontologischen Status zu postulieren. Die evolutionäre Erkenntnistheorie weist freilich auch die Erkenntnisgrenzen auf, die mit diesen Grundkompetenzen 19 20 21
Dieter Henrich, Konzepte, Frankfurt 1987, S. llff. Ibid., S. 41. Ibid., S. 42.
Wirkungsgeschichtliches Bewußtsein und kommunikatives Handeln
197
gegeben sind, zeigt aber zugleich die Möglichkeiten und Risiken des Übersteigens dieser Grenzen an. Würde sich Habermas auf diese Theorie berufen, dann geriete er freilich in die Gefahr, als überführter Anhänger des "Naturalismus" angeprangert zu werden - und der "Naturalismus" ist für die Philosophen noch immer eine Ketzerei, ja geradezu ein gräßlicher Rückfall, bei dem alles aufs Spiel gesetzt wird, was die Philosophie seit Kant gewonnen hat. Die Behauptung von Konrad Lorenz, daß die evolutionäre Erkenntnistheorie nur nachweisen wolle, daß das, was Kant a priori setzen zu müssen glaubte, zu den angeborenen Grundkompetenzen des Menschen gehöre, wird dabei nicht als Vermittlungsvorschlag akzeptiert, sondern als Anmaßung verurteilt. Die Vernunft, so sagen die Bewußtseinsphilosophen, kann sich nur setzen und sich nicht selbst hinterfragen. Daher ist es für Habermas auch so schwierig, eine kommunikative Vernunft zu begründen. Er kann dies nur auf dem Umweg der Rationalitätserwartung tun, die das Subjekt bei der Kommunikation voraussetzt, ohne daß er angeben kann, wodurch diese Erwartung gerechtfertigt ist und wie sich eine Art prästabilierter Korrespondenz dieser Erwartungen in der "Lebenswelt" ergibt. Die Entscheidungsblindheit, die Henrich ihm vorwirft, ist eigentlich keine Blindheit, sondern ein Zögern am Rande des vermeintlichen Abgrunds, den die Philosophen mit der Warntafel: "Vorsicht, Naturalismus!" versehen haben. Ein Autor, der lange mit der "Last des Bewußtseins" gerungen und keine Scheu davor hat, sich dem Vorwurf des Naturalismus auszusetzen, kann uns hier ein Stück weiterführen: George Soros hat eine Theorie der "reflexiven Interaktion" entwickelt, die Habermas' Theorie der kommunikativen Vernunft auf überraschende Weise ergänzt. Habermas hat in seinen Schriften von den nichtsprachlichen Medien Geld und Macht gesprochen, die in die Lebenswelt eingriffen. Nun ist George Soros ein Mann, der es beim Umgang mit dem Medium Geld zu großem Erfolg gebracht hat. Er leitet einen New Yorker Investitionsfond, den Quantum Fund, dessen Wert er in wenigen Jahren um ein Dreifaches mehrte. Danach schrieb er "The Alchemy of Finance", 22 nachdem er jahrelang an einem Buch gearbeitet hatte, das er "Die Last des Bewußtseins" (The Bürden of Consciousness) nennen wollte. Es ist sicher kein Zufall, daß er dieses Werk nie beenden konnte, dafür aber in seinem Werk über "Die Alchemie der Finanz" einen neuen Ansatz fand, um die Fragen zu beantworten, die ihn geplagt hatten.
George Soros, The Alchemy of Finance. Reading the Mind of the Market, New York 1987.
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Die philosophische Konstruktion der historischen Aussage
Kommunikation als reflexive Interaktion (George Soros) Soros räumt mit allen gängigen ökonomischen Theorien auf und zeigt, daß der Markt keineswegs einem Gleichgewicht zuneigt, wenn er sich selbst überlassen bleibt. Den Monetarismus nennt er eine falsche Ideologie und betont dagegen die von den Monetaristen vernachlässigte Bedeutung des Kredits. Ferner hebt er hervor, daß das Medium Geld keineswegs nur passiv ist und den Tauschwert der Güter anzeigt, sondern diesen beeinflussen kann. Er spricht der Wirtschaftswissenschaft wie auch allen anderen Sozialwissenschaften die Bezeichnung Wissenschaft im Sinne der Naturwissenschaften ab, und zwar weil sie es im Unterschied zu den letzteren mit denkenden und handelnden Menschen zu tun haben, die das, was ihnen widerfährt, selbst mitgestalten. Denken und Handeln sind reflexiv miteinander verbunden; das Denken ist dabei immer beschränkt und von Vorurteilen und lückenhafter Information geprägt und das Handeln dementsprechend fehlerhaft. Deshalb ist auch das Marktgeschehen keineswegs auf Ausgleich und adäquate Allokation der Ressourcen angelegt, sondern tendiert zu extremen Abweichungen vom Gleichgewicht, das darum eher zum Grenzfall als zum Regelfall wird. Andererseits birgt die reflexive Interaktion aber auch die Möglichkeit des Lernens und der Projektion von Ereignissen, deren Eintreten oder Ausbleiben auf diese Weise beeinflußt wird. Doch wie sich dieser Einfluß bemerkbar macht, ist durch keine "gesetzmäßige" Voraussage erfaßbar. Soros betont, daß reflexive Prozesse niemals ein vorherbestimmtes Ergebnis haben, sondern daß dieses Ergebnis im Prozeßverlauf zustande kommt. Reflexive Prozesse sind für ihn historische Prozesse. 23 Der Kern seines Buches ist eine Art Tagebuch, in dem er die Gründe für seine Investitionsentscheidungen und ihre Rahmenbedingungen über einen Zeitraum von August 1985 bis Juli 1986 festgehalten hat. 24 Er nennt dies sein "Real Time Experiment" und erwähnt, daß ihm dieses Experiment nicht nur geholfen hat, seine Ideen schärfer in den Blick zu bekommen, sondern auch erfolgreiche Entscheidungen zu treffen. Reflexive Interaktion läßt sich also bewußt erfahren, sie ist keinesfalls ein Vorgang, der sich dem Bewußtsein der Handelnden entzieht. Am Beispiel des Experiments, das Soros gemacht hat, erweist sich, daß nur, wenn man die reflexive Interaktion im Blick hat, sich der Prozeß, an dem man interessiert ist, dem Bewußtsein erschließt, während das Vertrauen auf angebliche Gesetzmäßigkeiten, die die Reflexivi-
24
Soros, The Alchemy of Finance, S. 105. Ibid., S. 141.
Wirkungsgeschichtliches Bewußtsein und kommunikatives Handeln
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tat außer acht lassen, nur ein falsches Bewußtsein erzeugen kann. Bei der Interaktion denkender Menschen seien Fakten und ihre Wahrnehmung jeweils in einem Zickzackmuster miteinander verwoben, wie man es an einem Schnürsenkel sehen könne - und auf diese Weise, so sagt Soros, komme man zu einer "Schnürsenkel"-Theorie der Geschichte. Er greift dabei übrigens auf dasselbe Muster zurück, das auch Gregory Bateson in seinem Buch "Geist und Natur" erwähnt hat, um Phänomene der Rückkopplung zu verdeutlichen. Das ist kein Zufall, denn Soros weist am Ende seines Buches ausdrücklich auf Bateson hin und erkennt seinen Einfluß auf sein Denken an.25 Eine weitere Parallele zu dem, was Soros vorträgt, findet sich in Niklas Luhmanns Diskussion der Reflexivität in seinem Buch "Soziale Systeme". In diesem Fall liegt keine gegenseitige Beeinflussung vor, denn die beiden Autoren haben einander nicht zur Kenntnis genommen. Doch was Luhmann schreibt, klingt so, als ob es in eine Rezension des Buches von Soros passen könnte: "Reflexivität ist ein sehr allgemeines Prinzip der Ausdifferenzierung und Steigerung. Sie ermöglicht Steuerungs- und Kontroileistungen des Prozesses durch sich selbst [...]. Gesellschaften, die über viel Reflexivität verfügen, verbinden dann leichte und folgenreiche Störbarkeit mit hoher Rekuperationsfähigkeit. Das Geldwesen ist dafür das vielleicht eindrucksvollste Beispiel."26 Es ist also kein Wunder, daß Soros bei seiner Konzentration auf das Geldwesen auf seine Theorie der reflexiven Interaktion gestoßen ist. Doch sein Begriff geht über Luhmanns Reflexivitätsbegriff hinaus. Für Luhmann ist Reflexivität Kommunikation über Kommunikation, für Soros ist sie die ständige Wechselwirkung zwischen Wahrnehmung und Aktion. Habermas, der Luhmann vorwirft, die Systemrationalität kurzerhand an die Stelle der subjektzentrierten Vernunft gesetzt zu haben, wäre wohl mit der auf den denkenden und handelnden Menschen bezogenen Reflexivitätstheorie, die Soros vorschlägt, eher einverstanden, zumal er diese auch noch anhand des Geldwesens entwickelt hat, das Luhmann als besonderes Beispiel der Systemreflexivität hervorgehoben hat. Soros geht sogar so weit zu behaupten, daß historische Prozesse durch die Mißverständnisse der an ihnen Beteiligten geprägt werden, und daß die Ideen, die Geschichte gemacht haben, meist fruchtbare Irrtümer waren. Ein fruchtbarer Irrtum erscheint zunächst als Einsicht, seine Unzulänglichkeiten zeigen sich erst bei der Umsetzung in die Praxis. Jeder solche Irrtum führt zu neuen Erfahrungen und trägt zu einem Lernprozeß bei, falls die Menschen lernbereit sind.27
25
27
Soros, The Alchemy of Finance, S. 348. Luhmann, Soziale Systeme, S. 616. Soros, The Alchemy of Finance, S. 43.
200
Die philosophische Konstruktion der historischen Aussage
Die Dynamik der reflexiven Interaktion, die Soras aufzeigt, scheint sowohl der glatten Systemrationalität Luhmanns als auch der Lebenswelt, die Habermas zeichnet, überlegen zu sein. Luhmann und Habermas haben je auf ihre Weise versucht, die Probleme der Bewußtseinsphilosophie zu überwinden, indem sie jeweils "System" und "Lebenswelt" dort einsetzten, wo zuvor die synthetische Leistung des Bewußtseins gestanden hatte. Soras, der "Die Last des Bewußtseins" liegen ließ, hat einen theoretisch weniger anspruchsvollen, aber lebensnahen Entwurf vorgelegt. Dieser Entwurf zwingt zumindest nicht dazu, irgendwelchen vermeintlichen Entitäten "ontologischen Status" zu verleihen. Wer dagegen von der Bewußtseinsphilosophie ausgeht und ihr mit ihren eigenen Mitteln zu entkommen versucht, muß einen archimedischen Punkt setzen, der letztlich nur ein neues Subjekt ist. Habermas spricht mit Hinblick auf Luhmann vom "unermüdlichen Reißwolf der Rekonzeptualisierung", mit dem alte Begriffe verarbeitet und in neue Begriffe der Systemtheorie umgeformt würden. 28 Wenn Habermas auch keinen solchen Reißwolf betreibt, so hat er doch seine eigene Wiederaufbereitungsanlage, aus der ein Begriff wie "Lebenswelt" mit neuen Bedeutungen überfrachtet hervorgeht. Die Frage nach der "besten Geschichte" Wir haben diese Betrachtung mit der Frage nach der intersubjektiven Beurteilung einer "besten Geschichte" begonnen, nachdem wir zuvor festgestellt hatten, daß die Narrativisten dem Historiker keine Antwort darauf geben können, sondern sich allein auf ein Urteil über die "Bauform der Erzählung" beschränken müssen. Die Beschäftigung mit dem wirkungsgeschichtlichen Bewußtsein, dem kommunikativen Handeln und der reflexiven Interaktion sollte dazu dienen, einen "Maßstab kommunikativer Rationalität" zu finden, wie Habermas das nennen würde, der es uns erlaubt, die Frage nach der jeweils besten Geschichte zu beantworten. Dabei sind wir schließlich auf die schillernde "Lebenswelt" gestoßen, die einerseits "fraglos mitgegeben" ist, anderseits durch eigene Interpretationsleistungen der Akteure überstiegen und dann wohl auch bereichert - werden kann. Wir haben dann versucht, diese Lebenswelt als sozialen Mesokosmos, also als einen Bereich und nicht als ein Subjekt, zu definieren. In diesem Bereich haben sich die Aussagen des Historikers zu bewähren. Es ist seine Aufgabe, Erkenntnisse in diese Lebenswelt einzubringen. Wir haben uns schließlich dem Theorieentwurf der reflexiven Interaktion zugewandt und sind auf die Bedeutung komplexer 2
8
Habermas, Diskurs der Moderne, S. 411.
Wirkungsgeschichtliches Bewußtsein und kommunikatives Handeln
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Wechselwirkungen zwischen Wahrnehmung und Aktion aufmerksam gemacht worden. Diese Wechselwirkungen sind, da sie von menschlichen Vorurteilen und Mißverständnissen, aber auch von Lernprozessen und Problemlösungsversuchen beeinflußt werden, nicht leicht zu erfassen. Als jeweils "beste Geschichte" eines bestimmten Erfahrungsbereichs wird wohl die zu gelten haben, die das Gewebe der Wechselwirkungen durchdringt und veranschaulicht. Nun ist unsere Sprache nicht gut dazu geeignet, Wechselwirkungen darzustellen, wie Bateson betont, denn sie hebt immer nur eine Seite der jeweiligen Wechselwirkung hervor. Die "beste Geschichte" muß sich also nicht nur dadurch auszeichnen, daß sie "reflexive Interaktion" erfaßt, sondern auch den sprachlichen Widerstand überwindet, der ihrer adäquaten Darstellung entgegensteht. In dieser letzteren Hinsicht käme dem Historiker die kritische Aufmerksamkeit der Narrativisten durchaus zugute. Doch haben diese sich mit dieser Frage kaum beschäftigt, es sei denn, man zählt die Diskussion über das "emplotment" zu den Bemühungen um das Problem der adäquaten Darstellung von Wechselwirkungen. Die bisherigen Betrachtungen haben sich auf die Hervorbringung und Beurteilung historischer Aussagen beschränkt, und wir sind zu dem Schluß gekommen, daß es die Aufgabe des Historikers ist, Wechselwirkungen möglichst umfassend zu erforschen und diese Erkenntnisse durch adäquate Aussagen in die jeweilige Lebenswelt einzubringen. Nun stellt sich die Frage nach Sinn und Zweck solcher Aussagen. Selbst wenn man sich darüber einigen könnte, was in bezug auf ein bestimmtes Thema die "beste Geschichte" ist, bleibt noch die Frage, weshalb diese Geschichte überhaupt geschrieben werden mußte und für wen die dargestellten Wechselwirkungen von Interesse sind. Die Übersicht über die Methoden der Geschichtswissenschaft hat uns gezeigt, daß das Angebot historischer Aussagen überaus reichhaltig ist und die Produktion bestimmter Schulen geradezu eine beängstigende Eigendynamik entfaltet. Doch gibt es noch irgendein Leitmotiv der Geschichtsschreibung, das dem ganzen Unternehmen eine Richtung weist? Kant wußte zu seiner Zeit eine Antwort auf diese Frage. Er skizzierte die Idee einer "Geschichte in weltbürgerlicher Absicht". Wir werden der Frage nachzugehen haben, was das für eine Absicht war und ob wir auch heute noch ein solches Leitmotiv wählen können.
Fünfter Teil: Eine neue "Geschichte in weltbürgerlicher Absicht"? 16. Leitmotive der Geschichtsschreibung Die Frage nach der "besten Geschichte" läßt sich letztlich nicht aufgrund von textimmanenten Kriterien der Konsistenz und Plausibilität beantworten; sie geht darüber hinaus und betrifft die Leitmotive der Geschichtsschreibung oder das "erkenntnisleitende Interesse", wie Habermas es nennen würde. Über diese Leitmotive gab es nun bereits zu Beginn der Zeit, die sich durch das neue historische Bewußtsein auszeichnete, heftige Kontroversen. Es ist gut, sich an diese Kontroversen zu erinnern und dabei besonders den beiden Protagonisten Herder und Kant einige Aufmerksamkeit zu widmen. Johann Gottfried Herder veröffentlichte 1774 sein temperamentvolles Manifest "Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit"1, dem erst zehn Jahre später seine "Ideen zur Geschichte der Menschheit" folgten, auf die Kant mit seiner kleinen Skizze "Idee zu einer Geschichte in weltbürgerlicher Absicht" (1784) antwortete. Herder polemisierte gegen die seiner Ansicht nach sterile Geschichtsauffassung der Aufklärung. Er wandte sich entschieden gegen jeden historischen Vergleich unter Gesichtspunkten der Gegenwart und versuchte, frühere Epochen der Geschichte in ihrem jeweils eigenen Sinn zu erfassen. Dabei machte er freilich Gebrauch von fragwürdigen Analogien und bezeichnete die ägyptische Kultur als die des Schulzwangs im Knabenalter, die der Griechen als die Freiheit des Jünglings und die der Römer als die Tugenden des Mannesalters. Eine Fortführung dieser Analogien hätte ihn unvermeidlich zu einer Niedergangstheorie führen müssen; er vermied dies, indem er von der Analogie der Lebensalter zu der eines Baumes überging, dessen oberste und schwankendste Zweige sein eigenes Zeitalter darstellten. Durch die aufgeklärte Kritik am Mittelalter herausgefordert, fühlte er sich dazu berufen, auch diese Periode in ihrer Eigenständigkeit vorzustellen. Mit Hohn bedachte er den Fortschrittsglauben seiner Zeitgenossen und betrachtete insbesondere die europäische Expansion sehr skeptisch: "Die ganze Erde leuchtet beinahe schon von Voltaires Klarheit! Und wie scheint dies immer fortzugehen! Wo kommen nicht europäische Kolonien hin, und werden hinkommen! Überall werden die WilJohann Gottfried Herder, Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit, Frankfurt 1967.
204
Eine neue "Geschichte in weltbürgerlicher Absicht"?
den, je mehr sie unsern Branntwein und Üppigkeit liebgewinnen, auch unsrer Bekehrung reif! Nähern sich [...] unsrer Kultur - werden bald, hilf Gott! alle Menschen wie wir sein! gute, starke, glückliche Menschen!"2 Herder:
"Das menschliche
Gefäß ist keiner Vollkommenheit
fähig"
Herder widersprach dem aufklärerischen Glauben an die Perfektibilität des Menschen: "Das menschliche Gefäß ist einmal keiner Vollkommenheit fähig: muß immer verlassen indem es weiter rückt. Griechenland rückte weiter: Ägyptische Industrie und Polizei konnte ihnen nicht helfen, weil sie kein Ägypten und keinen Nil [...] hatten: [...]!"3 Das "Weiterrücken" ist bei Herder also kein linearer Fortschritt und keine Perfektion nach einheitlicher Norm, sondern eine Anpassung an neue Gegebenheiten, so wie es später Toynbee als "challenge and response" formulieren sollte. In diesem Sinne lehnte es Herder ab, frühere Leistungen der Menschheit als Mittel zum Zweck des allgemeinen Fortschritts zu erklären. Alles ist für ihn zugleich Mittel und Zweck, und jede Epoche hat den Mittelpunkt ihrer Glückseligkeit in sich selbst - so wie es auch Ranke ausdrückte, als er davon sprach, daß jede Epoche "unmittelbar zu Gott" sei. Schon in der Vorrede zu "Auch eine Philosophie [...]" betonte Herder die erstaunliche Anpassungsfähigkeit des Menschen:"[...] es könnte gar vielleicht sein, daß die menschliche Natur eine solche Biegsamkeit und Wandelbarkeit hätte, sich auf den verschiedensten Stellen ihrer Wirksamkeit auch das verschiedenste Ideal ihrer Handlungen zu dem, was man Tugend, und das verschiedenste Ideal ihrer Empfindungen zu dem, was man Glück nennet, ausbilden und sich so lange darin erhalten zu können, bis sich die Umstände ändern und man weiter bildet."4 Diese Änderung der Umstände sind nach Herders Auffassung - so wie auch Vico es bereits gesehen hatte - dem Einfluß der Menschen weitgehend entzogen: "Zuerst muß ich zum überhohen Ruhm des menschlichen Verstandes sagen, daß immer weniger er [...] als ein blindes Schicksal, was die Dinge warf und lenkte, an dieser allgemeinen Weltveränderung würkte. Entweder warens so große, gleichsam hingeworfene Begebenheiten, die über alle menschliche Kräfte und Aussichten gingen, denen sich die Menschen meistens widersetzten, wo niemand die Folge als überlegten Plan träumte; oder es waren kleine Zufälle, mehr Funde als Erfindungen, Anwendungen einer Sache, die man lange gehabt und nicht gesehen, nicht gebraucht hatte
L 3 4
Herder, Auch eine Philosophie der Geschichte, S. 88f. Ibid., S. 31. Ibid., S. 144.
Leitmotive der Geschichtsschreibung
205
[,..]". 5 Von diesem Gesichtspunkt aus relativierte Herder auch die Errungenschaften seiner aufgeklärten Zeitgenossen: "Der aufgeklärte Mensch der späteren Zeit, Allhörer nicht bloß will er sein, sondern selbst der letzte Summenton aller Töne [...]. Das altkluge Kind lästert f...]".6 Kants
Emanzipationsgeschichte
Herder setzte auf diese Weise dem Geschichtsbild der Aufklärung eine "andere Geschichte" entgegen, die den Menschen in der Auseinandersetzung mit Kräften zeigte, auf die er keinen unmittelbaren Einfluß hat. Diese Herausforderung nahm Kant an und skizzierte dagegen eine Emanzipationsgeschichte, bei der er die politische Vergesellschaftung des Menschen im Staat und über den Staat hinaus in einem weltbürgerlichen Völkerbund in den Mittelpunkt des Interesses stellte. Die Gattungsgeschichte des Menschen zeigte nach Kant eine eindeutig fortschrittliche Tendenz, der eine Naturabsicht zugrunde liegen mußte: "Die Geschichte [...] läßt dennoch von sich hoffen, daß, wenn sie das Spiel der Freiheit des menschlichen Willens im großen betrachtet, sie einen regelmäßigen Gang derselben entdecken könne; und daß auf die Art, was an einzelnen Subjekten verwickelt und regellos in die Augen fällt, an der ganzen Gattung doch als eine stetig fortgehende obgleich langsame Entwickelung der ursprünglichen Anlagen derselben werde erkannt werden können [...]. Einzelne Menschen und selbst ganze Völker denken wenig daran, daß, indem sie, ein jedes nach seinem Sinne und einer oft wider den anderen, ihre eigene Absicht verfolgen, sie unbemerkt an der Naturabsicht, die ihnen selbst unbekannt ist, als an einem Leitfaden fortgehen [...]. Am Menschen (als dem einzigen vernünftigen Geschöpf auf Erden) sollten sich diejenigen Naturanlagen, die auf den Gebrauch seiner Vernunft abgezielt sind, nur in der Gattung, nicht aber im Individuum vollständig entwickeln [...]. Befremdend bleibt es immer hierbei: daß die ältern Generationen nur scheinen um der späteren willen ihr mühseliges Geschäft zu treiben, um nämlich diesen eine Stufe zu bereiten, von der diese das Bauwerk, welches die Natur zur Absicht hat, höher bringen könnten; und daß doch nur die spätesten das Glück haben sollen, in dem Gebäude zu wohnen, woran eine lange Reihe ihrer Vorfahren (zwar freilich ohne ihre Absicht) gearbeitet hatten, ohne doch selbst an dem
6
Herder, Auch eine Philosophie der Geschichte, S. 70. Ibid., S.106.
206
Eine neue "Geschichte in weltbürgerlicher Absicht"?
Glück, das sie vorbereiteten, Anteil nehmen zu können. Allein so rätselhaft dieses auch ist, so notwendig ist es doch zugleich, wenn man einmal annimmt: eine Tiergattung soll Vernunft haben, und als Klasse vernünftiger Wesen, die insgesamt sterben, deren Gattung aber unsterblich ist, dennoch zu einer Vollständigkeit der Entwickelung ihrer Anlagen gelangen." 7 Kant rehabilitiert also gegenüber Herder ganz eindeutig die aufklärerische Gewißheit von der Perfektibilität des Menschen, überträgt diese aber auf die Gattung und postuliert zudem, daß die Naturabsicht den menschlichen Mitwirkenden verborgen bleibt. Die Späteren sind allemal die Glücklicheren, und Herders Grundsatz vom Mittelpunkt der Glückseligkeit in jeder Epoche wird von Kant verworfen. Das Ziel der Entwicklung zeigt Kant ebenfalls deutlich an: "Das größte Problem für die Menschengattung, zu dessen Auflösung die Natur ihn zwingt, ist die Erreichung einer allgemein das Recht verwaltenden bürgerlichen Gesellschaft [...]".8 Der Chiliasmus der Philosophie Die Zeit der Reformation, in der solche Visionen mit den unruhigen "Schwarmgeistern" verbunden waren, die Luther hart getadelt hatte, war noch nicht so fern, und Kant sah in seiner Emanzipationsgeschichte durchaus die Parallele zu den chiliastischen Erwartungen eines tausendjährigen Reiches. Er grenzte sich dagegen auf die folgende Weise ab: "Man sieht, die Philosophie könne auch ihren Chiliasmus haben, aber nur einen solchen, zu dessen Herbeiführung ihre Idee, obgleich nur sehr von weitem, selbst beförderlich werden kann, der also nichts weniger als schwärmerisch ist". 9 Die Prophezeiung des Reiches der Vernunft ist also nicht "schwärmerisch", weil sie eine "self-fulfilling prophecy" der Philosophie und nicht die irrationale Erwartung religiöser Visionäre ist, die die Errichtung des tausendjährigen Reiches von der Intervention übernatürlicher Kräfte erwarteten. Die entwicklungsfördernde Rolle, die Kant der Philosophie zuerkennt, fällt seines Erachtens auch der Geschichtsschreibung zu. Er fordert geradezu eine allgemeine Weltgeschichte "nach einem Plane der Natur, der auf die vollkommene bürgerliche Vereinigung in der Menschengattung abziele [...]". Er behauptet, daß die Abfassung einer solchen Weltgeschichte für diese Naturabsicht förderlich sei. Er selbst unterzog sich dieser Aufgabe jedoch nicht, 7
8 9
Immanuel Kant, "Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht", in: I. Kant, Weikausgabe, Bd.XI, Frankfurt 1977 (stw.), S.33ff. Ibid., S.39. Ibid., S. 45.
Leitmotive der Geschichtsschreibung
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sondern ließ es bei einer kurzen Skizze bewenden. Wie üblich führte ihn der Weg dabei von Griechenland nach Rom und er sagte schließlich: "So wird man einen regelmäßigen Gang der Verbesserung der Staatsverfassung in unserem Weltteile (der wahrscheinlicher Weise allen anderen dereinst Gesetze geben wird) entdecken."10 Zum aufgeklärten Glauben an den Fortschritt und das Glück der Spätesten kommt hier nun auch noch der an den Vorrang unseres Weltteiles, der anderen die Gesetze geben wird. So wird eine Hierarchie begründet, an deren Spitze der aufgeklärte Europäer steht, der dazu bestimmt ist, die "Primitiven" zum Licht zu führen. Rudyard Kipling gab dieser Lehre später Ausdruck, als er den Europäer ermahnte "take up the white man's bürden". Diese Last sah Kipling darin, daß der weiße Mann "the lesser breed without the law" seine Gesetze aufzwingen müsse. Doch ehe Kipling dies imperialistische Glaubensbekenntnis formulierte, hatte der "Chiliasmus der Philosophie" bereits in den Lehren von Hegel und Marx ihren Höhepunkt erreicht - und überschritten. Das Zusammendenken der Vernünftigkeit der Geschichte und der Geschichtlichkeit der Vernunft war an seine Grenzen gestoßen. Eine neue Geschichte
in weltbürgerlicher
Absicht?
Kants Forderung nach einer Geschichte in weltbürgerlicher Absicht ist nicht nur durch den "Chiliasmus der Philosophie" ad absurdum geführt, sondern ist darüber hinaus auch noch durch die historistische Apotheose des Nationalstaats überholt worden. Der Historiker entzog sich dem "Chiliasmus der Philosophie", stellte sich dafür aber als eine Art säkularer Priester in den Dienst der nationalen Identitätsfindung. Der Nationalstaat wurde zu einem Überich, das gerade in Deutschland, mit dem Erbe des Idealismus ausgestattet, große Bedeutung erlangte. Das Zerbrechen dieses Nationalstaates hinterließ daher nicht nur ein politisches, sondern auch ein geistiges Vakuum. Eine "Geschichte in weltbürgerlicher Absicht" könnte dieses Vakuum füllen, doch wie läßt sie sich ohne den "Chiliasmus der Philosophie" überhaupt begründen? Ein Rückblick auf die Debatte zwischen Herder und Kant mag Hinweise auf einen Mittelweg geben, der sowohl die Konsequenzen des "Chiliasmus" als auch die Versuchungen falscher Analogien meidet. Kant und Herder stimmen darin überein, daß die Geschichte Gattungsgeschichte ist. Herder betont die große Anpassungsfähigkeit des Menschen und den historischen Wandel seiner Wertvorstellungen, er lehnt die Idee des linearen Fortschritts 10
Kant, Weltgeschichte, S. 48.
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Eine neue "Geschichte in weltbürgerlicher Absicht"?
ab und spricht statt dessen vom "Weiterrücken". Sowohl Kant als auch Herder betonen, daß der Mensch an seiner Geschichte mitwirkt, ohne sich dieser Mitwirkung im Einzelnen bewußt zu sein. Beide gestehen dem Menschen jedoch ein allgemeines Geschichtsbewußtsein zu. Kant glaubt, direkt an dieses Bewußtsein appellieren zu können und mißt daher der "Geschichte in weltbürgerlicher Absicht" die Bedeutung bei, daß sie selbst zur Errichtung einer weltbürgerlichen Ordnung beitragen könne. Dieser Prozeß der Bewußtseinsbildung wird von ihm zwar dann mit dem "Chiliasmus der Philosophie" verbunden, doch ist es nicht unbedingt notwendig, diesen Schritt nachzuvollziehen. Gewiß ist der Glaube an eine Parallelität von Bewußtseinsbildung und geheimer "Naturabsicht" sehr attraktiv, doch man kann "Geschichte in weltbürgerlicher Absicht" auch schreiben, wenn man sich der "Naturabsicht" nicht sicher ist, wohl aber hofft, daß eine Bewußtseinsbildung möglich ist. Diese Hoffnung auf die Möglichkeit der Bewußtseinsbildung setzt auch nicht den Glauben an eine Perfektibilität des Menschen voraus, sondern ist durchaus mit Herders Behauptung, daß das "menschliche Gefäß zu keiner Vollkommenheit fähig" sei, vereinbar. Gerade die UnVollkommenheit erfordert die Bewußtseinsbildung, und die von Herder hervorgehobene "Biegsamkeit und Wandelbarkeit" des Menschen setzt die Bewußtseinsbildung voraus. Kants Begriff des "Weltbürgers" geht über den formalen Begriff der Gattungsgeschichte hinaus und bedeutet eine Wertsetzung. Der "Weltbürger" ist ein mündiger Bürger, der an der Welt teilhat und an ihrer Gestaltung mitwirkt, so beschränkt seine Einsicht in diesen Wirkungszusammenhang auch sein mag. "Geschichte in weltbürgerlicher Absicht" bedeutet eine Vertiefung und Erweiterung dieser Einsicht. Es wäre nun verfehlt, unter dieser "Geschichte in weltbürgerlicher Absicht" die e i n e Geschichte der Menschheit zu verstehen und von dieser gar nach den narrativistischen Kriterien zu verlangen, daß sie einen Anfang, eine Mitte und ein Ende haben müsse und ihr "plot" sich vom Ende her bestimme. "Geschichte in weltbürgerlicher Absicht" kann nur eine regulative Idee sein. Ein Adept der Kliometrie, der quantitative Daten interpretiert, und auch ein Historiker, der die Geschichte einer Nation oder die Biographie eines bedeutenden Menschen schreibt, kann dies in "weltbürgerlicher Absicht" tun. Der Historiker, der in "weltbürgerlicher Absicht" forscht und schreibt, arbeitet für eine Weltgemeinschaft, die es in dieser Form noch gar nicht gibt. Er ist nicht nur "rückwärtsgewandter Prophet", sondern orientiert sich an Werten, von denen er annimmt, daß sie auch in Zukunft Geltung haben - oder überhaupt erst dann zur Geltung kommen. Geschichtsschreibung ist kommunikatives Handeln mit dem Blick auf die Zukunft. Das mag pathetisch
Leitmotive der Geschichtsschreibung
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klingen, ist aber im Grunde eine triviale Feststellung. Kein Historiker veröffentlicht ein Werk, ohne zu hoffen, daß es eine zukünftige Wirkung haben wird. Er wird sich daher daran orientieren, was man auch in Zukunft über das, was er da schreibt, wird wissen wollen. Das kann er natürlich selbst nicht mit Sicherheit wissen, er kann sich nur eine Vorstellung davon machen - und die kann falsch sein. Viele Historiker machen sich solche Vorstellungen nicht bewußt, sondern setzen sie unreflektiert voraus, denn ganz ohne Aussicht auf zukünftige Wirkung würden sie ihre Arbeit wohl einstellen. Wer Geschichte in weltbürgerlicher Absicht schreibt, setzt voraus, daß die Gattungsgeschichte der Menschheit in Richtung auf eine zukünftige Weltgemeinschaft läuft, ohne dabei unbedingt annehmen zu müssen, daß ein Weltteil allen anderen "seine Gesetze gibt", wie Kant meinte. Kommunikatives Handeln schließt immer eine Rationalitätserwartung ein wie Habermas betont. Doch denkt man bei dem Begriff vom kommunikativen Handeln zunächst an den jeweils gegenwärtigen Vollzug im Dialog mit Zeitgenossen. Ist es nicht geradezu sinnwidrig, von einem kommunikativen Handeln mit dem Blick auf die Zukunft zu sprechen? Die Praxis des Historikers zeigt, daß es das nicht ist: er vertraut auf die zukünftige Wirkung seiner Argumente und projiziert damit eine Rationalitätserwartung in die Zukunft; er projiziert diese Erwartung aber auch in die Vergangenheit, sonst hätte er keinen Zugang zu ihr. Rationalitätserwartung bedeutet dabei nicht eine Reduktion auf logische Folgerichtigkeit und Wahrhaftigkeit, denn dann könnte der Historiker Irrtum, Täuschung und Betrug, mit denen er in der Geschichte ständig konfrontiert wird, nicht erfassen. Schon im Dialog mit Zeitgenossen wäre eine dermaßen reduzierte Rationalitätserwartung unangemessen. Deshalb schlägt Herbert Schnädelbach in seiner Kritik an Habermas vor, "in der Theorie der Rationalität den Kognitivismus aufzugeben, d.h. diese Theorie nicht mit einem Wissenstheorem zu belasten".11 Denn der Kognitivismus bindet die Vernunft an Wahrheit und muß alles Unwahre als irrational abtun. Läßt man den Kognitivismus aus, dann kann Rationalitätserwartung nur bedeuten, daß eine allgemeine Handlungsrationalität vorausgesetzt wird, die auch die genannten Phänomene des Irrtums und der Täuschung umfaßt. Wenn sich jemand irrt, tut er es nicht absichtlich, aber aus bestimmten Gründen. Ein Betrüger hat vermutlich ein Motiv, auch orientiert er sich, um nicht sofort entlarvt zu werden, selbst an der Rationalitätserwartung seiner Zeitgenossen, und wenn er gar ein Urkundenfälscher ist, so wird er sich bemühen, auch künftige Generationen erfolgreich zu täuschen und ihre Rationalitätserwartung in Rechnung stellen. Herbert Schnädelbach, Vernunft und Geschichte, Frankfurt 1987, S. 246.
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Eine neue "Geschichte in weltbürgerlicher Absicht"?
Die Varianz der
Rationalitätserwartung
Der Historiker darf jedoch bei der in die Vergangenheit zurückprojizierten Erwartung einer Handlungsrationalität nicht eine Konstanz dieser Rationalität annehmen, sondern muß ihre Varianz berücksichtigen, denn sonst wird er leicht das, was von einer solchen Konstanz abweicht, als irrational bezeichnen. Während er sonst im oben genannten Sinne selbst Irrtum, Täuschung und Betrug in einer umfassenden Handlungsrationalitätserwartung erklären könnte, würde er unter diesen Umständen zu dem Schluß kommen, daß das von seinen Rationalitätskriterien abweichende Verhalten der Menschen, das er in einer früheren Zeit oder in einer fremden Kultur erkundet, völlig aus dem Rahmen der Handlungsrationalität fällt. Das altbekannte Urteil über die in Irrtum und Aberglauben befangenen "Heiden" ist ein Beispiel für die Betrachtungsweise, die eine Varianz der Handlungsrationalität ausschließt. Der Historiker muß also nicht nur den Kognitivismus aus seiner Theorie der Rationalität verbannen, sondern auch auf die Annahme überzeitlicher und interkultureller Invarianz verzichten. Dennoch bedeutet Varianz nicht Beliebigkeit, sondern gewissermaßen eine Änderung des Fluchtpunkts, an dem sich die jeweilige Perspektive orientiert. Die Kulturanthropologie, die sich um die Analyse fremder Kulturen bemüht, ist von vornherein darauf angewiesen, solche alternativen Fluchtpunkte zu ermitteln. Der in die "Wirkungsgeschichte" eingebettete Historiker ist in dieser Hinsicht meist nicht sehr flexibel. In neuerer Zeit haben aber Historiker,die sich mit der Mentalitätsgeschichte beschäftigen, eingesehen, daß man gut daran tut, sich einer früheren Epoche der eigenen Kulturgeschichte so zu nähern, als handele es sich um eine fremde, die es mit kulturanthropologischen Mitteln zu erschließen gilt. "Geschichte in weltbürgerlicher Absicht" sollte in diesem Sinne angegangen werden, sie sollte die eigene Wirkungsgeschichte "verfremden", um sich fremde Wirkungsgeschichte anzueignen. Dieses Aufeinanderzugehen von Kulturanthropologie und Geschichtswissenschaft ist ein neues Phänomen, denn lange Zeit wurde eine disziplinare Abgrenzung beachtet, derzufolge die Geschichtswissenschaft für alles zuständig ist, was durch schriftliche Zeugnisse belegt ist und sich durch staatliche Organisationsformen auszeichnet, während die Anthropologie sich den Stammeskulturen ohne schriftliche Überlieferung widmet, die so gesehen keine "Geschichte" haben. Diese Abgrenzung drückte sich auch in der Art der Forschungstätigkeit aus: Der Historiker saß im Staatsarchiv, der Anthropologe setzte sich in ein Dorf oder ging mit Nomaden auf die Wanderschaft.
Leitmotive der Geschichtsschreibung
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Das Problem der Varianz von Handlungsrationalität, mit dem beide Wissenschaften konfrontiert sind, wurde von ihnen jeweils im Alleingang in Angriff genommen. Der Historiker versuchte mit hermeneutischer Raffinesse, zwischen den Zeilen der Texte zu lesen, der Anthropologe bastelte strukturalistische Modelle, um Mythen und Verwandtschaftssysteme zu deuten. Die Geschichtsfeindlichkeit des Strukturalismus tat ein Übriges, um den Graben zwischen den beiden Disziplinen zu vertiefen. Diese Geschichtsfeindlichkeit war darin begründet, daß die Struktur als Konstante gesetzt und damit jedes Bemühen um die Erkenntnis historischer Varianz ad absurdum geführt wurde. Umberto Ecos Kritik am ontologischen Strukturalismus hat uns das deutlich vor Augen geführt. Die Versöhnung von Anthropologie und Geschichtswissenschaft muß ein zentrales Anliegen der "Geschichte in weltbürgerlicher Absicht" sein. Ein Beitrag zu dieser Versöhnung wäre es, wenn es einerseits den Historikern gelänge, die Anthropologen aus den Verstrickungen in einen "Strukturkognitivismus" zu befreien wie man dieses Phänomen in Anlehnung an die oben zitierte Kritik Schnädelbachs an Habermas nennen könnte - während andererseits die Anthropologen den Historikern dabei helfen könnten, sich aus ihrer Wirkungsgeschichte herauszureflektieren - ein Unternehmen, das nach Gadamers Aussage zwar nicht möglich sein soll, aber für eine "Geschichte in weltbürgerlicher Absicht" unerläßlich ist. Die relative Invarianz des biologischen
Substrats
Eine gewisse Begrenzung der Variationsbreite anthropologischer und historischer Rationalitätserwartung ergibt sich aus der relativen Invarianz des biologischen Substrats. Im zweiten Kapitel wurde darüber ausführlich berichtet. Wir wissen daher, daß es gattungsspezifische Elemente der menschlichen Wahrnehmungssynthese gibt, die sich in den Jahrtausenden der uns überhaupt einigermaßen zugänglichen Geschichte wohl nicht geändert haben. Es wurde freilich auch erwähnt, daß unser Denken und unsere Sprache uns das Verständnis der Wahrnehmungssynthese des biologischen Substrats eher erschweren als erleichtern. Der Anthropologe und der Historiker müssen den durch das biologische Substrat gegebenen Rahmen beachten, doch ihre eigentliche Forschungsaufgabe setzt erst dort an, wo die "Biegsamkeit und Wandelbarkeit des Menschen"(Herder) sich in einer bemerkenswerten Varianz der Handlungsrationalität zeigt, die sich, wie die Biologen selbst sagen, weitgehend autonom vom biologischen Substrat entfaltet. Diese Autonomie geht sogar so weit, daß es jetzt in der Macht der Menschen zu stehen scheint, das biologische Substrat insgesamt zu vernichten. Diese Vernich-
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Eine neue "Geschichte in weltbürgerlicher Absicht"?
tung braucht nicht einmal die Form eines Atomkriegs anzunehmen, sondern könnte durch kumulative Effekte in jenem Bereich der Handlungsrationalität, den wir mit Irrtum, Täuschung und Betrug bezeichnet haben, erfolgen. Geschichte
als kritische
Tradition
Die Aufgabe der Geschichtswissenschaft in einer gefährdeten Welt, die zerbrechen kann, ehe es eine Weltgemeinschaft gibt, der die "Geschichte in weltbürgerlicher Absicht" dienen soll, besteht darin, eine kritische Tradition zu wahren. An sich ist "kritische Tradition" eine contradictio in adiecto denn Tradition wird meist als das verstanden, was kritikfest ist. So spricht Habermas von einer "kritikfest interpretierten Lebenswelt" und setzt dagegen "die durch Dauerkritik verflüssigten, aber zugleich professionell abgesicherten Traditionen" kultureller Subsysteme. Ein solches Subsystem ist auch die Geschichtswissenschaft. Solche Subsysteme werden aber leicht zu abgespaltenen Expertenkulturen, wie Habermas ebenfalls betont. Ihre kommunikative Vernunft bleibt auf den Fachdiskurs beschränkt und erreicht die Öffentlichkeit nicht. Die bis in kleinste Details gehende Vergangenheitsbewältigung der deutschen Nachkriegshistoriker, die alles, was im Dritten Reich geschehen ist, in einer Unmenge von Monographien aufgearbeitet haben, und der geringe Einfluß, den diese Bemühungen auf das öffentliche Geschichtsbewußtsein gehabt haben, sind ein Beispiel für diese Isolierung des Fachdiskurses. Es sollte die Aufgabe des Historikers sein, diese Isolierung zu überwinden und einen Beitrag zur Erweiterung des Kommunikationshorizonts in weitbürgerlicher Absicht zu leisten. Doch kann er dies überhaupt, ist er nicht vielmehr nur in der Lage, eine Horizonterweiterung nachzuvollziehen, statt an ihr mitzuwirken? Ist er nicht letztlich nur ein Nachlaßverwalter? Die Historiker vergangener Generationen haben sich durchaus nicht mit dieser Rolle begnügt. Sie waren zumeist Künder der Bedeutung ihres jeweiligen Nationalstaates und haben aktiv an einer Identitätsrepräsentation dieses Staates mitgewirkt. Wir mögen dies heute sehr kritisch sehen und dieses Leitmotiv in Zweifel ziehen, doch sollten wir deshalb nicht auf jegliches Leitmotiv verzichten und uns auf einen isolierten Fachdiskurs beschränken, der sich auch weiterhin zumeist auf die nationale Geschichte bezieht, ohne explizit dem genannten Leitmotiv früherer Historiker zu huldigen. Unser Leitmotiv sollte es sein, die Geschichte einer interdependenten Welt zu schreiben und sie in die "kritische Tradition" einzubringen. Es wurde bereits betont, daß die "Geschichte in weltbürgerlicher Absicht" eine regulative Idee ist und nicht etwa ein Programm, das jeden Historiker dazu verpflichtet, eine
Leitmotive der Geschichtsschreibung
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Weltgeschichte zu schreiben. Schließlich haben auch die Nationalhistoriker früherer Generationen nur in den seltensten Fällen eine Gesamtdarstellung der Geschichte ihrer Nation geschrieben. Die Weltgeschichtsschreibung stellt dem Historiker enorme Aufgaben: sie verlangt es, die Methoden anderer Wissenschaften in die Geschichtswissenschaft einzubeziehen, sie erfordert Kenntnisse der Errungenschaften aller Schulen der Geschichtswissenschaft und eine Überwindung ihrer jeweiligen Reduktionismen. Sie ist eine Herausforderung, die jeder Historiker annehmen sollte, dem es darum geht, den Kommunikationshorizont dieser Welt zu erweitern.
17. Konvergenz und Divergenz in der Geschichte Nach diesen allgemeinen Empfehlungen zur Geschichtsschreibung in weitbürgerlicher Absicht soll hier zum Abschluß der Versuch unternommen werden, die Perspektiven einer solchen Geschichtsschreibung zu skizzieren. Der Begriff der Konvergenz der Geschichte, der dabei im Mittelpunkt unserer Überlegungen steht, soll sich auf eine "Wirkungsgeschichte" beziehen, die durch das nicht von Menschenhand gesteuerte Zusammenwirken verschiedener Prozesse geprägt worden ist. Im Gegensatz dazu ist als divergent zu bezeichnen, was wirkungslos geblieben ist und sozusagen ins Abseits geriet. Das Urteil darüber, was als konvergent und was als divergent zu bewerten ist, wird oft nicht leicht sein. Auch soll die Unterscheidung nicht bedeuten, das divergente Phänomene keine Beachtung verdienen. Wenn wir uns zum Beispiel dem Urteil Braudels anschließen und die Seeschlacht von Lepanto für ein divergentes, weil seiner Ansicht nach völlig wirkungsloses, Ereignis halten, mögen wir sie dennoch analysieren, weil sie Aufschluß über die Art und Weise der Seekriegsführung, die relative Stärke verschiedener Staaten auf diesem Gebiet etc. gibt. Genau in diesem Sinne hat sich Braudel mit dieser Schlacht sehr eingehend beschäftigt. Doch Braudels Zuordnung dieser Schlacht zum divergenten Bereich der Geschichte braucht nicht auf die Dauer unwidersprochen zu bleiben. Andere Historiker mögen sie für den konvergenten Bereich reklamieren. Vico hat behauptet, daß der Mensch bei aller Kurzsichtigkeit seines jeweiligen Handelns letztlich doch in der Lage ist, bewußt - und nicht etwa durch irgendeine Offenbarung - den Gang der Geschichte im Nachhinein zu erkennen und Konvergenz von Divergenz zu unterscheiden, wie wir es hier genannt haben. Wir können seine Theorie, wie auch alle anderen Theorien des historischen Wandels, als eine Skizze der Konvergenz der Geschichte bezeichnen. Wie wir gesehen haben, war Vicos Skizze letztlich nicht sehr überzeugend. Auch Marx, der die Konvergenz in seiner Stufentheorie einer Geschichte der Klassenkämpfe darstellte, oder Rostow, der eine Stufentheorie des Wirtschaftswachstums projizierte und den "reaktiven Nationalismus" zum auslösenden Faktor des Entwicklungsprozesses machte, schienen keine schlüssigen Lösungen anzubieten. Rankes große Vision vom Fortwirken des Universalismus des römischen Reiches, der im Partikularismus der europäischen und transatlantischen Nationalstaaten im Sinne universaler Rechtsprinzipien wiederauferstanden war, erschien im weltgeschichtlichen Rahmen als zu eng, weil hier die Konvergenz auf die Geschichte der westlichen Nationen eingeschränkt und die Geschichte aller anderen Völker als divergent oder geradezu nicht-existent betrachtet wurde. Braudels sozialgeschichtli-
Konvergenz und Divergenz in der Geschichte
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che Theorie einer fortschreitenden Entgrenzung der Welt zeigte sich in dieser Hinsicht flexibler und im buchstäblichen Sinne "weltoffener". Doch fehlte es ihr andererseits an einer Erklärung der Triebkräfte der Entgrenzung. Diese Triebkräfte schien Wallerstein in seiner Theorie vom kapitalistischen Weltsystem deutlich dargestellt zu haben, doch erwies sich sein Ansatz in zweierlei Hinsicht als zu eng, einmal im Hinblick auf die "Geburt" des Weltsystems im 16. Jahrhundert und zum anderen in seiner Abgrenzung gegenüber der "externen Arena". Ferner zeigten sich auch Ungereimtheiten in der Charakterisierung von Zentrum, Semiperipherie und Peripherie dieses Systems, die einmal nach den Kriterien freier, halbfreier und unfreier Arbeit in der Landwirtschaft abgegrenzt wurden, dann aber nach den Kriterien der Entwicklung staatlicher Macht und Organisation. Die Wissenschaftshistoriker Foucault und Kuhn haben uns Brüche und Diskontinuitäten vorgeführt, ohne einen Entwurf der historischen Konvergenz zu liefern. Lediglich Hull hat versucht, den Selektionsprozeß als Erklärung für Konvergenz anzubieten. Er hat auch erwähnt, daß eine solche Konvergenz immer vor dem Hintergrund vielfältiger Divergenz gesehen werden muß. Die Zahl gescheiterter Projekte und vergeblicher Bemühungen ist weit größer als die der erfolgreichen und weiterführenden, die allein zum Gegenstand der Wissenschaftsgeschichte werden. Dieser Hinweis auf das Scheitern unzähliger Intentionen in der Geschichte führt uns zu einer Frage, die Hull nicht behandelt hat, die man aber als die Frage nach der Tragik in der Geschichte bezeichnen kann. Die Tragik in der Geschichte Das Wort "tragisch" ist im Sprachgebrauch sehr herabgekommen, jeder Unfall, der zum Tod führt, wird meist so genannt. Tragisch ist ein solcher Unfall nur in einem sehr allgemeinen Sinne, denn die Intentionen des Opfers standen offensichtlich im Widerspruch zu dem Schicksal, das es ereilte. Oft ist dabei auch eine subjektive Verkennung der Umstände im Spiel, die zu dem Unfall führten: die Unterschätzung einer Gefahr, die Überschätzung der eignen Möglichkeiten usw. Damit kommt man der ursprünglichen Bedeutung der von den alten Griechen konzipierten Tragik schon näher. Der schicksalhafte Irrtum (hamartia = Irrtum, Fehler, Vergehen, Sünde), der die Intentionen des Helden zu schuldhaften Verstrickungen werden läßt, bezeichnet den Ursprung der Tragödie. Man denke nur an Ödipus, der ausgesetzt wird, weil er einer Weissagung zufolge seinen Vater erschlagen soll, diesen dann in Unkenntnis tötet, seine Mutter heiratet und damit doppelt schuldig und seinem Volk zum Verhängnis wird. Bei der griechischen Tragödie steht das
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Eine neue "Geschichte in weltbiirgerlicher Absicht"?
Schicksal des Helden im Mittelpunkt, die kollektive Tragik ergibt sich nur daraus, daß die Schuld des Helden die Gemeinschaft, zu der er gehört, belastet und in Mitleidenschaft zieht. Wenn hier von der Tragik in der Geschichte die Rede sein soll, dann geht es natürlich nicht um diesen mythischen Zusammenhang, sondern um jene Tragik, die wir im Werk von Meinecke kennengelernt haben, der sich gezwungen sah, vom triumphierenden zum tragischen Historismus fortzuschreiten. Sein "Held" ist nicht ein einzelner Staatsmann, sondern die deutsche Nation, die die hohe Intention eines geistigen Weltbürgertums in einen realen Nationalstaat einbringt. Erst nach dem Erlebnis des ersten Weltkriegs wird dieser "Held" zu einer tragischen Figur, der Nationalstaat wird als gescheiterter Machtstaat entlarvt, in den sich der "Held" schuldhaft verstrickt hat. Meinecke sagt dann bereits die Folgen der weiteren Verstrickung voraus und schreibt nach dem zweiten Weltkrieg "Die deutsche Katastrophe" - auch dies ganz im Sinne der klassischen Tragödie, in der die Katastrophe den Schluß bezeichnet, bei dem der Untergang des Helden sich aus seinen schuldhaften Verstrickungen ergibt. Der tragische und geradezu katastrophale Verlauf der Geschichte gehört durchaus in den Bereich der Konvergenz und nicht etwa in den der Divergenz. Neben dem "schöpferischen" Irrtum, der dazu führt, daß eine ursprüngliche Intention zu "besseren" als den zunächst angestrebten Ergebnissen führt, ist immer auch der tragische Irrtum möglich, der im schlimmsten Fall zur Katastrophe führen kann. Die Selbstzerstörung der Menschheit wäre dabei als äußerste Katastrophe durchaus denkbar - und zwar gerade aufgrund einer weltgeschichtlichen Konvergenz, denn ohne diese wären die Mittel zu einer Selbstzerstörung gar nicht gegeben. Eine Skizze der
Weltgeschichte
Im Anschluß an diese allgemeinen Bemerkungen soll nun die zuvor angekündigte Skizze weltgeschichtlicher Konvergenz folgen, die die Einseitigkeiten der Stufentheorien, von denen zuvor die Rede war, vermeidet und universalhistorisch konzipiert ist. Die Skizze soll sich auf die Geschichte der gesamten Menschheit beziehen und weiter zurückgreifen, als es Entwürfe dieser Art sonst tun. Als Ausgangspunkt soll die neolithische Revolution dienen, also der Übergang zum seßhaften Ackerbau. Das soll nicht bedeuten, daß sich vor dieser Zeit keine historische Entwicklung vollzogen hat. Die großen Felsbilder und Höhlenmalereien, die uns Jäger und Sammler früherer Jahrtausende hinterlassen haben, deuten darauf hin, daß sich in jener Zeit religiöse Vorstellungen und das Bild vom Menschen in dieser Welt entwickelt
Konvergenz und Divergenz in der Geschichte
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haben. Vermutlich gab es auch schon Formen von Gemeinschaftsbildung und sprachlicher Kommunikation. Gerade auf dem Gebiet der Entwicklung der Sprache gibt es Debatten darüber, daß die ältesten uns zugänglichen Überlieferungen geschriebener oder mündlich tradierter Texte formal und inhaltlich höchst differenziert und keineswegs "primitiv" sind. Das Gebiet der sprachlichen, literarischen und im weitesten Sinne geistigen Entwicklung der Menschheit ist jedoch so komplex, daß es in der folgenden Skizze nur gelegentlich erwähnt werden soll, während die sogenannte "materielle Kultur" im Vordergrund steht. Das soll nicht bedeuten, daß die geistige Kultur als ein von der materiellen Kultur abhängiger "Überbau" betrachtet wird. Ganz im Gegenteil: die materielle Kultur wurde durch geistige Leistungen geprägt. Doch diese Prägung wurde dann für die Gestaltung des Lebens der großen Mehrheit jeweils bestimmend und gab ihnen "Handlungsspielräume" vor. Die Suche nach dem Phänomen der Konvergenz in der Geschichte setzt daher am besten bei der materiellen Kultur an und richtet von da aus den Blick auf die anderen Bereiche der Kultur. Eine Besonderheit, die dabei zu Tage tritt, ist, daß die Zeugnisse der materiellen Kultur darauf hinweisen, daß bis zur europäischen Expansion in der frühen Neuzeit in weit voneinander entfernten Teilkulturen der Menschheit in den jeweiligen Epochen durchaus ähnliche Bedingungen gegeben waren. Erst die europäische Überlegenheit in der bewaffneten interkontinentalen Seefahrt, die dann die Möglichkeit für die Entstehung der industriellen Revolution und ihrer weltweiten Verbreitung schuf, führte dazu, daß die weltgeschichtliche Konvergenz von einem Diffusionszentrum aus beeinflußt wurde. Die neolithische
Revolution
Im Unterschied zu früheren Auffassungen von einer Diffusion der neolithischen Revolution von einem Zentrum aus (etwa Ägypten) soll davon ausgegangen werden, daß sich diese Revolution in verschiedenen Bereichen der Erde unabhängig voneinander vollzogen hat. Der Begriff "Revolution" hat sich hierfür eingebürgert. Er suggeriert freilich einen plötzlichen Vollzug, doch handelte es sich um einen Prozeß, der sich mindestens über ein Jahrtausend erstreckte (ca.6000 bis 5000 v.Chr. erste Funde, die auf Getreideanbau schließen lassen in Ägypten und Baluchistan - am Rande der späteren Induskultur). Vermutlich waren die Pioniere des seßhaften Ackerbaus zunächst nur jahreszeitlich seßhaft und ergänzten das, was sie als Jäger und Sammler erwerben konnten, durch den Anbau von Getreide etc. Brandrodungsbau und Wanderhackbau, die es noch heute in Rückzugsgebieten gibt, erlauben Rückschlüsse auf das Verhalten der Pioniere. Der
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Eine neue "Geschichte in weltbürgerlicher Absicht"?
seßhafte Ackerbau förderte schließlich gemeinsame Siedlungen (Dörfer), wahrscheinlich schon im Hinblick auf die Notwendigkeit der gemeinsamen Abwehr von Jägern und Sammlern, mit denen diese Dorfkulturen koexistierten. Es scheint auf den ersten Blick plausibel, die neolithische Revolution durch einen Sachzwang zu erklären: die Bevölkerung nahm zu, die Beute wurde knapp, also widmete man sich der Landwirtschaft. Vermutlich war es jedoch genau umgekehrt: erst durch die hohen Erträge der Landwirtschaft wuchs die Bevölkerung. Nur sehr viel später führte in einigen Gegenden der Bevölkerungsdruck zur Intensivierung der Landwirtschaft. Genau wie bei der ersten bedeutenden Entdeckung des Menschen, der Zähmung des Feuers, war es nicht ein Sachzwang, der die Menschen dazu brachte, etwas Neues zu beginnen, sondern Beobachtungsgabe und Experimentierlust. Genau wie in der Evolutionstheorie der Begriff der "Anpassung" eine unglückliche Rolle gespielt hat, weil man sich darunter einen zwangsläufigen Prozeß vorstellte, drängt sich bei der Deutung der Geschichte die Vorstellung von Sachzwängen auf, an die sich die Menschen anpassen mußten. Wenn hier von der Konvergenz in der Geschichte die Rede ist, sind damit nicht solche vordergründigen Sachzwänge gemeint. Neuerungen ergeben sich meist geradezu zwanglos. Die Pioniere der neolithischen Revolution haben ihre Experimente wahrscheinlich sozusagen als "Nebenerwerbslandwirte" gemacht. Erst die vollentwickelte Landwirtschaft, z. B. der Naßreisanbau, schuf durch ihre Komplexität (Bewässerung, Bodenbearbeitung, Auspflanzen etc.) Sachzwänge, die der Bauer genau beachten mußte. Jäger und Sammler bevorzugten offene Landschaften (Savannen, Gelände im Windschatten von Gebirgen etc.). Auch die ersten Siedlungen der Pioniere des seßhaften Ackerbaus sind meist in Randgebieten zu finden und nicht im Zentrum der großen Flußlandschaften. In diese wagte man sich erst allmählich vor, weil es nicht leicht war, die Lebensbedingungen dort zu meistern. Die Erschließung fruchtbarer Flußtäler für den seßhaften Ackerbau förderte und forderte den Einsatz übergeordneter Spezialisten (Astronomie, Geometrie, Techniken der Bewässerung und Drainage) und damit auch die Ansatzmöglichkeiten staatlicher Organisation, die mit der Entwicklung entsprechender religiöser Kulte Hand in Hand ging. Mit solchen Organisationsformen ist auch die Entstehung von Städten um 3000 v. Chr. verbunden, die insbesondere am Nil und am Indus, aber auch in Mesopotamien bald beträchtliche Ausmaße hatten. Stadtkultur und Schriftkultur gehen Hand in Hand. Das schließt nicht aus, daß sich bei viehzüchtenden Nomaden zur gleichen Zeit eine mündliche, überlieferte "Literatur" ausbildete, man denke nur an die sogenannten Arier, die Avesta und Veda hervorbrachten.
Konvergenz und Divergenz in der Geschichte
Die "Achsenzeit" und die weiträumigen
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Großreiche
Um 500 v. Chr. (von Karl Jaspers als "Achsenzeit" bezeichnet) wird in vielen Hochkulturen fast gleichzeitig ein Reflexionsniveau erreicht, das es der Philosophie erlaubt, aus dem Bannkreis religiösen und kultischen Denkens herauszutreten und sowohl eine neue Metaphysik als auch ethische Handlungsanweisungen zu entwerfen (Buddha, Konfuzius, die griechischen Philosophen). In Griechenland ist dies auch die Zeit der Geburt der Tragödie, die aus dem Kultspiel hervorgeht und die schicksalhafte Verstrickung des Menschen zum Gegenstand hat. In anderen Kulturen findet dieses tragische Gefühl einen anderen Ausdruck, in Indien etwa in den Upanishaden und in Buddhas Lehre vom notwendig leidvollen Leben des Menschen. Diese Entwicklung hat ebenfalls mehrere eigenständige Ursprünge und ist nicht durch Diffusion von einem Ort aus erklärbar, genau wie zuvor die Entstehung der seßhaften Landwirtschaft oder die Geburt der Stadt. Der Achsenzeit folgt eine Epoche von Großreichsbildungen, die sich von den früheren, auf einzelne fruchtbare Kerngebiete beschränkten Staatsbildungen dadurch unterscheiden, daß sie erobernd weit ausgreifen, Langstrekkenhandelswege kontrollieren, Rückzugsgebiete von Stämmen etc. aussparen, aber eine weiträumige kulturelle Ausstrahlungskraft haben, die nach dem Zerfall der Großreiche die Nachfolgestaaten prägt. Solange diese Art der Großreichsbildung sich noch in machtfreien Räumen ausbreiten kann, in denen sie auf keine ebenbürtigen Gegner trifft, erlebt sie immer wieder einen Aufschwung (siehe Rom, die indischen Großreiche bis zum Niedergang der Gupta- Dynastie, die T'sin- und Han- Dynastien in China). Die Völkerwanderung, die in den von Nomaden bewohnten Gebieten Zentralasiens ihren Ursprung hatte, trägt zur Erschütterung der alten Reiche bei. Das
"Weltmittelalter"
Die Ausstrahlung der antiken Großreiche bedingt eine Proliferation von Machtmitteln und Organisationsformen. Die machtfreien Räume schwinden, es beginnt eine Zeit, die man als "Weltmittelalter" bezeichnen könnte. Neue Reichsbildungen können ihren Ursprung nur noch in zuvor peripheren Gebieten nehmen (Ausbreitung des Islam von Arabien aus, das Karolingerreich in Nord-Europa), doch auch diese lösen sich in einer Vielfalt kleinerer Reiche auf, die in bezug auf Machtmittel und Organisationsformen auf mehr oder weniger gleichem Niveau stehen und sich gegenseitig kulturell beeinflußen, zum Teil auch gemeinsame religiöse Autoritäten anerkennen (Papst, Kalif). In
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Eine neue "Geschichte in weltbürgeriicher Absicht"?
den letzten Jahrhunderten dieses "Weltmittelalters" trägt wiederum eine von den Nomaden Zentralasiens ausgehende Unruhe zur Erschütterung der seßhaften Herrschaftsstrukturen bei. Die bedeutendste Neuerung dieser Zeit ist der Einsatz professioneller Kavallerietruppen, die eine sehr viel größere Interventionsreichweite und Interventionsgeschwindigkeit haben als alle Heere vor ihnen. Alle Herrscher müssen sich dieser neuen Mittel bedienen, wenn sie nicht besiegt werden wollen. Die Verbindung dieser ursprünglich nomadischen Kampfesweise mit Herrschaftsgebieten, die sich auf die Landwirtschaft stützen, führte zu neuen Methoden der Abschöpfung des Mehrwerts aus der Landwirtschaft (Der Reiterkrieger als Steuereintreiber). Die einzige Methode, diese Art der Kriegsführung zu übertreffen, war der Einsatz von Feuerwaffen. Das Schießpulver wurde in China erfunden und (vermutlich davon unabhängig) später auch in Europa. Große, meist recht unbewegliche Kanonen wurden im späten Mittelalter schon in vielen Teilen der Welt bei Belagerungen oder zur Verteidigung von Festungen eingesetzt. In Indien spielten sie in den Kämpfen des Delhi-Sultanats gegen die Mongolen eine Rolle. Schlachtentscheidend wurden aber erst die bewegliche Feldartillerie und zielgenaue Handfeuerwaffen, die zuerst in Europa in Gebrauch kamen und dann von den Türken nach Asien vermittelt wurden. Mit der Entwicklung der Kriegstechnik ging die Entstehung neuer Organisationsformen der Streitkräfte und der staatlichen Administration Hand in Hand. Genügte es dem Herrscher im Mittelalter noch, einen Krieg in seiner Festung zu überstehen, um danach wieder die Kontrolle über sein mehr oder weniger genau definiertes Territorium zu erringen, so wurde später sein Schicksal zunehmend in der Feldschlacht großer, stehender Heere entschieden, deren Unterhalt und Bewaffnung enorme Steuergelder erforderte, die nur eine flächendeckende Administration eintreiben konnte. Der Aufstieg der Seemächte Während alle früheren Epochen durch eine Beschränkung von Machtmitteln und Organisationsformen auf das Festland gekennzeichnet waren, beginnt die Neuzeit mit der Beherrschung der Weltmeere. Zwar hatte es bereits in Altertum und Mittelalter einen beträchtlichen Langstreckenseehandel gegeben, die große Errungenschaft der Neuzeit war aber der Einsatz von mit Kanonen bestückten Schiffen auf interkontinentalen Routen. Diese Neuerung sicherte den Nationen, die sie vorantrieben, sehr bald eine entscheidende Überlegenheit. Zunächst aber waren die auf eine Kombination von Kavallerie und Feldartillerie vertrauenden Agrar-Großreiche (Mogulreich,
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osmanisches Reich etc.) noch einige Zeit weit mächtiger als die bewaffneten Seefahrer. Sie neigten jedoch dazu, ihre Agrarbasis zu sehr zu belasten, da die Erhaltung ihrer Machtmittel sehr teuer war. Zugleich bedingte die Proliferation von Handfeuerwaffen ein wachsendes Potential für den Widerstand gegen solche Reiche. Dem entsprach auf den Weltmeeren die Proliferation der Piraterie, aber da die Piraten meist Einzelkämpfer waren, konnten sie die führenden Seemächte nie ernsthaft beeinträchtigen. Während alle zuvor genannten Innovationen vom seßhaften Ackerbau bis zur Erfindung des Schießpulvers und dem Einsatz von Feuerwaffen nicht das Monopol einer einzigen Weltregion waren, wurde die bewaffnete Hochseeschiffahrt von wenigen westeuropäischen Nationen betrieben, die sich damit rasch einen Vorsprung sicherten. Die großen Expeditionen des südindischen Chola-Reichs im frühen 11. Jahrhundert und die des chinesischen Admirals Zheng He im frühen 15. Jahrhundert blieben Episoden, die man dem Divergenzbereich und nicht dem Konvergenzbereich der Geschichte zurechnen muß. Die Bemühungen des osmanischen Großreichs um eine erfolgreiche Seekriegsführung scheiterten an der Überlegenheit europäischer Mächte, die freilich ebenfalls bald wieder von anderen europäischen Mächten in ihrer Führungsrolle abgelöst wurden. Der Erfolg auf diesem Gebiet war eng verflochten mit wirtschaftlichen und organisatorischen Voraussetzungen (Schiffbau, Zugriff auf Bauholz etc., Finanzierungsmethoden, nautische Kenntnisse etc.). Das Ausgreifen auf die Weltmeere stellte auch große Ansprüche an die Naturwissenschaften (Astronomie, Geometrie, Kartographie, Optik etc.). Es setzte eine im wahren Sinne des Wortes "globale Weltanschauung" voraus und eine Ablösung von der bisher auf die Existenz des Menschen auf dem Lande bezogenen Sichtweise. Diese neue Weltanschauung war kontra-intuitiv, sie ging buchstäblich über den Horizont der Menschen hinaus. Die industrielle
Revolution
Von der neolithischen bis zur industriellen Revolution, in einem Zeitraum von rund sieben Jahrtausenden, hatten sich die Grundbedingungen menschlichen Lebens nicht wesentlich geändert. Die Landwirtschaft gab der großen Mehrheit der Menschheit Arbeit und Brot (oder Reis), ihre Ausbreitung hatte fast alle Teile der Erde erreicht und die Bevölkerungszahlen enorm gesteigert. Dabei war es nicht immer so, daß landwirtschaftliche Produktionssteigerung der Bevölkerungszunahme vorausging. Es ließ sich auch der umgekehrte Vorgang beobachten: Bevölkerungsdruck verursachte eine Intensivierung der Landwirtschaft bis hin zur Aufgabe der Weidewirtschaft und
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der Konzentration auf den Futtermittelanbau. In einigen Gebieten der Erde war die Ausbreitung und Intensivierung der Landwirtschaft wohl auch bereits an die Grenzen gestoßen, die ihr im Rahmen konventioneller Methoden gesetzt waren. Der große Rückschlag in Europa im 14. Jahrhundert kann so gedeutet werden. Die Antwort darauf waren eine Reihe von Neuerungen in der Landwirtschaft, die höhere Flächenerträge sicherten. Auf dieser Basis war es dann möglich, Arbeitskräfte freizusetzen und zu ernähren, die außerhalb der Landwirtschaft eingesetzt werden konnten. Auch die industrielle Revolution erfolgte nicht von einem Tag auf den anderen; sie vollzog sich freilich wesentlich schneller als die neolithische. Auch in diesem Zusammenhang erwartet man zunächst einen Sachzwang, der die Menschen dazu trieb, sich nicht mehr allein auf die Landwirtschaft zu verlassen, sondern in der Industrie ihr Heil zu suchen. Der Bevölkerungsdruck bietet sich wiederum als plausibel erscheinende Erklärung an. Doch ebensowenig wie er die neolithische Revolution herbeiführte, verursachte er die industrielle Revolution. Wiederum war es umgekehrt: die Bevölkerung wuchs erst nach der industriellen Revolution in England rasch an. In den Wirren des 17. Jahrhunderts hatte England einen Rückschlag des Bevölkerungswachstums erlebt. Im 18. Jahrhundert lebten nur etwa fünf Millionen Menschen in Großbritannien, in Frankreich dagegen rund 25 Millionen. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts überholte Großbritannien Frankreich in dieser Beziehung, weil das Bevölkerungswachstum in Frankreich sehr langsam, in Großbritannien aber sehr stürmisch voranschritt. Im Unterschied zur neolithischen Revolution, die sich vermutlich in verschiedenen Regionen parallel vollzog, war die industrielle Revolution eine englische Errungenschaft und verbreitete sich durch Diffusion. Sie erstreckte sich über mehr als hundert Jahre und beschränkte sich nicht auf wenige Jahrzehnte um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert. Ihr wesentlicher Grundzug war die Steigerung der Produktivität der menschlichen Arbeitskraft durch die Ausstattung der betreffenden Arbeitsplätze mit mechanischen Hilfsmitteln unter Einbeziehung neuer Energiequellen, zuerst der Wasserkraft und dann der Dampfkraft. Dies führte zu bedeutsamen Neuerungen auf dem Gebiet der Arbeitsorganisation, denn die Ausstattung des Arbeitsplatzes erforderte nun Investitionen, die der einzelne Arbeiter nicht vornehmen konnte. Er mußte sich im buchstäblichen Sinn seine Arbeitsbedingungen von dem diktieren lassen, der diese Investitionen vornahm. In der Frühzeit der industriellen Revolution, etwa bei den Färbern und Textildruckern in London im frühen 18. Jahrhundert, waren dies noch die Handwerksmeister, die oft schon beträchtliche Summen für ihre mechanischen Geräte aufbringen mußten. Erst später löste sich der "Kapitalist" mehr und mehr von der Produktionsstätte und be-
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schränkte sich auf die Unternehmensführung, bis er auch diese an bezahlte Betriebsführer und Manager abgab und in der Anonymität der Aktiengesellschaft verschwand. Die industrielle Revolution ging auf diese Weise mit einem raschen Wandel der Organisationsformen von Arbeit, Betriebsführung und Kapitalbeschaffung Hand in Hand. Zugleich bedingte sie neue Möglichkeiten der technisierten Kriegsführung, die sich im Vergleich zur Entwicklung der Feuerwaffen, die noch in den Bereich des "Kriegshandwerks" gehörte und mehrere Jahrhunderte beanspruchte, in geradezu atemberaubender Weise veränderte. Der "Arbeitsplatz" des einzelnen Soldaten wurde ebenso zum Gegenstand der Produktivitätssteigerung durch Investitionen wie der des Industriearbeiters, nur daß es beim Soldaten nicht um Produktion, sondern um Vernichtung bis hin zum "overkiH" ging. Es ist bemerkenswert, daß die industrielle Revolution parallel mit jener Epochenwende verlief, bei der sich der "Geist von Ufern löste, die er einst bewohnte" wie es Foucault so eindrücklich geschildert hat. Der Übergang von einer statisch-taxonomischen zu einer dynamisch-genetischen Weltanschauung war offenbar Teil eines parallelen Wandels auf den Gebieten der literarischen, wissenschaftlichen und materiellen Kultur, den es noch genauer zu erforschen gilt. Es gibt dazu schon manche Ansätze in den verschiedenen geisteswissenschaftlichen Disziplinen. Der industriellen Revolution folgte sehr rasch eine Proliferation technischer Kenntnisse und Erfindungen. Dazu gehörten auch die medizinischen Fortschritte in der globalen Seuchenbekämpfung, die zur Bevölkerungsexplosion des 20. Jahrhunderts beitrugen. Während in den westlichen Industrieländern um die Jahrhundertwende und nur eine Generation später in Japan der demographische Umschlag erfolgte, d.h. nach dem Absinken der Sterberate folgte diesem ein ebensolches Sinken der Geburtenrate, blieb dieser Umschlag in den meisten anderen Ländern der Welt aus. Die Sterberaten sanken, aber die Geburtenraten folgten ihnen nicht in demselben Maße. Wie wir gesehen haben, bezeichnete schon Meinecke den Bevölkerungszuwachs als eine der Kausalitäten, die den Gang der Geschichte in neue Bahnen lenkte. Dabei war dieser Zuwachs zu seiner Zeit noch vergleichsweise bescheiden. Als er sich mit dieser Frage beschäftigte, lebten etwa zwei Milliarden Menschen, nun werden wir bald sechs Milliarden verzeichnen können, und ein globaler demographischer Umschlag ist noch nicht in Sicht. Verglichen mit den Erfahrungen früherer Epochen der Geschichte sind die dieses Jahrhunderts von atemberaubender Vielfalt und Geschwindigkeit. Die Ausbreitung der Errungenschaften der neolithischen Revolution nahm mehrere Jahrtausende in Anspruch, und die landwirtschaftliche Produktivität ist bis heute auf der Welt sehr unterschiedlich. Das gilt auch von der indu-
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striellen Revolution, die zwar eine weit höhere Ausbreitungsgeschwindigkeit hatte, aber dafür auch zu enormen Unterschieden in der Arbeitsproduktivität geführt hat. Wenn hier von weltgeschichtlicher Konvergenz die Rede ist, dann soll dabei Konvergenz nicht als ein Ausgleich von Gegensätzen verstanden werden. Im Gegenteil, die hier charakterisierte Konvergenz hat die Diskrepanzen menschlicher Lebensbedingungen enorm gesteigert. Solche Diskrepanzen hat es seit der neolithischen Revolution immer gegeben, so etwa zwischen dem Zentrum der Induskultur in der großen Stadt Harappa (Panjab) und dem nur wenige hundert Kilometer weiter nördlich gelegenen Kashmirtal, in dem die Zeitgenossen dieser Hochkultur in Erdgruben wohnten. Heutzutage sind diese Diskrepanzen nicht nur um vieles größer, sondern sie stoßen sich auch enger im Raum, vor allem, wenn wir an die sogenannten "Entwicklungsländer" denken, wo der mit Pfeil und Bogen bewaffnete Jäger und Sammler, der nicht einmal an der neolithischen Revolution teilgehabt hat, nicht weit von einem modernen Stahlwerk oder einem Atomreaktor angetroffen werden kann. Konvergenz
und
Intelligenz
Die geistigen Leistungen, die der hier geschilderten weltgeschichtlichen Konvergenz zugrunde liegen, wurden von menschlichen Gehirnen vollbracht, die in ihrer biologischen Grundausstattung keine Differenzen aufwiesen. Wir können davon ausgehen, daß die menschliche Intelligenz als Potenz in den hier behandelten Jahrtausenden konstant geblieben ist, und der Jäger mit Pfeil und Bogen, der sich in der Nähe eines modernen Stahlwerks herumtreibt, unter Umständen genauso intelligent ist, wie der Konstrukteur dieses Stahlwerks. Die Diskrepanz zwischen ihnen ergibt sich nur aus einem gesellschaftlich bedingten Bildungsprozeß. Dieser Prozeß nun ist Hand in Hand mit der Entwicklung der materiellen Kultur gegangen, die zuvor behandelt worden ist. Die Beziehung dieser beiden Prozesse zueinander ist dialektisch. So wie man die Härte eines in Watte gewickelten Diamanten nur beweisen kann, indem man ihn auswickelt und eine Glasscheibe mit ihm ritzt, so erweist sich auch die geistige Leistung des Menschen nur in der Auseinandersetzung mit der jeweiligen Umwelt; diese aber ist zum Teil naturgegeben, zum Teil von seinen Vorfahren bereits gestaltet worden. "Lehren aus der Geschichte" in dem so oft beschworenen Sinne gibt es nicht, wohl aber Lehren, die durch "Bildung" aller Art weitergegeben werden. Diese können falsch und revisionsbedürftig sein, aber daß sie es sind, kann man nur erfahren, wenn man sich mit ihnen auseinandersetzt.
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"Das alte Gehirn und die neuen Probleme" Der Hinweis auf die Bildungsfähigkeit der Menschen sollte uns jedoch nicht allzu optimistisch stimmen. Es ist an der Zeit, an die Möglichkeit des tragischen Verlaufs historischer Prozesse zu erinnern, die bereits angesprochen wurde. Die Wahrscheinlichkeit des tragischen Verlaufs wird dadurch erhöht, daß die Menschen an eine Grenze stoßen, die sie bisher im Rahmen der oben geschilderten weltgeschichtlichen Konvergenz nicht berührt haben. Diese Grenze ist durch die ihnen angeborene Vorstellungskraft gegeben, mit der sie alle bisher angetroffenen Probleme mehr oder weniger gut meistern konnten. Gerhard Vollmer hat dies in einem Aufsatz unter dem Titel "Das alte Gehirn und die neuen Probleme" einprägsam dargestellt.1 Das "alte Gehirn" ist zur Orientierung in einem "Mesokosmos" ausgelegt, der Mensch kann diese Grenzen überschreiten, doch das, was er dann erkennen kann, ist "kontra-intuitiv" und läßt sich daher nur schwer vermitteln. Exponentielles Wachstum zum Beispiel kann man berechnen, aber sich nicht wirklich "vorstellen". Schätzwerte, die sich an der Vorstellungskraft orientieren, liegen meist weit unter den Zahlen, die der Mathematiker berechnet. Damit ist es dem Menschen mit seinem "alten Gehirn" aber auch nicht vorstellbar, wie sich die Bevölkerungsvermehrung vollzieht oder wie sich die Belastung der Umwelt im globalen Maßstab auswirkt usw. Nun könnte man natürlich argumentieren, daß, wenn sich die bisherige weltgeschichtliche Konvergenz nichtintentional vollzogen hat, an eine intentionale Steuerung solcher Prozesse ohnehin nicht zu denken ist. Es wäre in der Tat vermessen anzunehmen, daß der Mensch, der bisher ein Produkt seiner Geschichte ist, sich zum Herrn der Geschichte aufschwingen und alles nach seinem Plan gestalten könnte. Dies wäre, wenn es überhaupt möglich wäre, auch nicht zu begrüßen, denn wessen Pläne sollten sich dann wohl durchsetzen? Es wäre aber denkbar, daß sich ein Konsensus darüber erzielen ließe, welche Entwicklungen sich in den Divergenzbereich verweisen ließen, d.h. in ihren Auswirkungen beschränkt bleiben sollten. Die gegenwärtigen Debatten um Umweltprobleme und Kriegsereignisse liefern eine Fülle von Beispielen für das, was man künftig unterlassen sollte, wenn man nicht die Existenz der Menschheit aufs Spiel setzen will. Vorschriften über das, was man tun soll, lassen sich weder von Historikern aus der Geschichte ableiten noch von Zukunftsforschern aus ihren Projektionen ablesen, doch über das,
Gerhard Vollmer, "Das alte Gehirn und die neuen Probleme" in: G. Vollmer, Was können wir wissen? Bd. 1: Die Natur der Erkenntnis, Stuttgart 1985, S. 116f.
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was man auf alle Fälle unterlassen sollte, läßt sich vielleicht doch ein weitgehendes Einverständnis erzielen. Im Rückblick auf die bisherige Weltgeschichte klingt der Hinweis auf ein mögliches Einverständnis über das, was man nicht machen sollte, geradezu paradox. Der Mensch hat immer das Machbare erprobt, die Betrachtung der neolithischen und der industriellen Revolution hat uns dies vor Augen geführt. Der mythische Prometheus ist der Idealtyp des Menschen, der das Neue wagt. Es waren nicht Sachzwänge, die ihn dazu bewegten, diese ergaben sich jeweils erst aus den Folgen des Machbaren. Diese Folgen aber haben die Menschheit jetzt eingeholt und bewegen sich mit unheimlicher Konvergenz auf eine Katastrophe zu. Im weltgeschichtlichen Maßstab gesehen ist dieser Prozeß geradezu rasant. Die Bevölkerungsvermehrung von zwei auf sechs Milliarden erforderte nicht mehr als die Zeit eines Menschenlebens. Wenn die Lebensgewohnheiten des reichsten Zehntels der Menschheit auch nur annähernd von den übrigen neun Zehnteln übernommen werden, dürften die Energievorräte bald erschöpft, die Wälder verschwunden und die Schadstoffemission unerträglich sein. Doch aus dem Blickwinkel des Alltags gesehen, ist dies eine schleichende Konvergenz, die nicht unmittelbar ins Bewußtsein dringt. Ein Wandel der Bewußtseinsstellung ist dringend erforderlich. Der Mensch steht nicht mehr über der Geschichte, er kann sich aber auch nicht mehr in der Geschichte aufgehoben fühlen, er muß sozusagen in der Geschichte gegen den Strom zu schwimmen lernen. Er muß sich seiner Beschränkungen und Grenzen bewußt werden und mit kontra-intuitiven Erkenntnissen umgehen können. Geschichte als Aussage in "weltbürgerlicher Absicht" muß zu diesem Wandel der Bewußtseinsstellung beitragen.
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235
Register A-Phase, 115 Abwärtsverursachung, 62f Achsenzeit, 3 4 , 2 1 9 Ackerbau, 217f Adorno, T., 36 advance, preadaptive, 5 9 , 1 3 6 Affektkontrolle, 158 Ägypter, 7 0 , 2 1 7 Akkumulation, 74, 77 Alexander, 90 Allegorie, 32, 35 Annales-Schule, 105, 143 Amsterdam, 108 Andreae, B., 35 Anpassung, 135, 218 Antwerpen, 108 Arbeitsproduktivität, 77 Arbeitsteilung, 76 Arena, externe, 115, 117, 119 Arier, 218 Aristoteles, 129, 175f, 180, 187 Asien, 89, 91 atomic narrative, 174 Aufklärung, 35, 39, 70 Aufwärtsverursachung, 62f Augustinus, 180 Augustus, 141 Australien, 82 Auswanderung, 148 Auto, 84 Autonomie, 14, 211 A vesta, 218 Ayer, A.J., 171 f a priori, 15 B-Phase, 115 Barbarei, 67 Bateson, G., 21f, 25, 199, 201 Bauernlegen, 77 Baumgarten, A.G., 18 Baumgarten, S.J., 18 Baumgartner, H.M., 176, 178f, 181 Beard, Ch., 138f, 145 Bedeutung, 165 Begriffsgeschichte, 161 Begriffsschrift, 165 Bengal Renaissance, 152 Berr, H „ 143 Bertalanffy, L. von, 57 Besançon, 109 Bestattung, 69 Bevölkerungsdichte, 47 Bevölkerungsverlust, 48
Bevölkerungszunahme, 1 0 3 , 1 1 0 , 2 2 1 f f Bewässerung, 218 Bewegungsstruktur, 57 Bewußtsein, 21f Bewußtsein, wirkungsgeschichtliches, 52, 121, 189ff, 1 9 4 , 2 0 0 Bewußtseinsphilosophie, 21, 1 9 3 , 2 0 0 Bewußtseinsstellung, 17, 32f, 36, 381', 183 Bibel, 17 Biologie, 122f Bismarck, O. von, 971 Bloch, E„ 143f' Blumenberg, H., 70 Bourgeoisie, 116 Brahmo Samaj, 152 Brandrodungsbau, 217 Braudel, F., 56, 105ff, 109ff, 144, 180f, 214, Brunswick, E., 21 Bruttosozialprodukt, 83 Buddha, 34 Burke, E „ lOlf, 184 Burke, K „ 184f Busse, D „ 162 Byzanz, 91f Campbell, D„ 21 Cäsar, 109 Chaos, 61 Chaostheorie, 6 I f f , 71 Chiliasmus der Philosophie, 206IT Chola-Reich, 221 Chomsky, N„ 170 Christentum, 91 Chronik, 173, 186, Cladists, 133, 136 common sense, 189 Conze, W„ 161 Corpus callosum, 27 Covering Law Model, 172 Croizat, L „ 133 Cuvier, G., 120f Danto, A., 173, 176ff, 186ff Darwin, C h „ 120 Deduktivismus, 126 deiktisch, 170 Demandt, A., 34, 49, 182 Demographie, 107, 148f Dendrochronologie, 144 Deutschland, 81, 83, 93, 97, 103, 207 Dialektik, 60, 71 Dienstleistungsgescllschaft, 80 Diffusionstheorie, 78
236 Dilthey, W„ 33, 42, 189 Diokletian, 110 Diskontinuität, 52f Diskursanalyse, 53, 120f, 165, 174 Doppelfunktion, 59 Dorfgemeinschaft, 76 Dorfgemeinschaft, indische, 73 Dürkheim, E„ 152, 193, 195 Dwapaiyuga, 65 Eco, U.. 168ff, 174,211 Economic History Review, 147 économie monde, 114 économie mondial, 114 Ehe, 66, 69 Eichberg, H., 158 Einheitswissenschaft, 172 Einstein, A., 129 Eisenbahn, 80, 84, 109, 146 Eiweißsynthese, 28ff, 31 Eliade, M., 33 Elias, N„ 158 Elton, G.R., 147 Emergenz, 58,60 Empfängnisverhütung, 111 emplotment, 175, 177, 180ff, 201 Endzeit, 72 Engermann, St., 145 England, 77f, 81, 87, 93, lOlf, 116, 118, 222 Entwicklungspsychologie, 183f Entwicklungsspielraum, 50 Ereignisgeschichte, 105f, 181 Erhabene,das, 14 Erikson, E., 151 Erinnern, 31 Eristik, 71 Erkenntnistheorie, evolutionäre, 21f, 25,44, 59, 170, 195ff Erklären, 29 Essentialist, 130f Europa, 119 Evolutionstheorie, 134 Externalist, 130 Falk, W„ 159ff Falsifikation, 126 Febvre, L„ 143f, 152ff, 158 Feedback, 46,61 Feldartillerie, 220 Fernand Braudel Center, 119 Fetscher, I., 33 Feudalherr, 48 Feudalismus, 75, 77 Feuerbach, L., 74 Feuerwaffe (s. Handfeuerwaffe) Feyerabend, P., 128
Fichte, J.G., 179, 182 Fluktuation, 59ff Fogel, R., 145ff Fortuna, 34 Foucault, M„ 52f, 120ff, 127, 132, 157, 159ff, 163, 215, 223 Frankreich, 81, 109, 116, 118, 222 Frege, G., 163, 165, 168, 174 Friedrich der Große, 98 Fulguration, 58f Futtermittelanbau, 222 Gadamer, H.G., 41, 51f„ 95,189ff, 194, 211 Galilei, G., 126, 128 Gallien, 109f Gandhi, M„ 151 Gardiner, P., 172 Geburtenrate, 223 Gedächtnis, 29 Gedächtnisinhalt, 28 Gedächtnisliickc, 30 Gegenstandstheorie, 164, 168 Gehirn, 26f Geld, 107f, 197f Genie, 14 Geometrie, 218 George III., 140 Gerschenkron, A., 78, 81 Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, 16 Geschichte und Gesellschaft, 149 Geschichte, kontrafaktische, 146 Geschichte, Rad der, 34 Geschichtslosigkeit, 73 Geschichtsphilosophie, 163 Geschichtsphilosophie, analytische, 51, 163, 171, 175 Gesellschaft, 14 Gesellschaft, bürgerliche, 16 Gesellschaft, klassenlose, 72, 80 Gewalt, strukturelle, 125 GleichgewichLstheorie, 46 Goethe, J.W., 18, 100, 102f Gorbatschow, M. 50 Gotik, 91 Großbritannien (s. England) Großhirn, 27, 30 Großreich, 219 Großreich, Agrar-, 220 Habermas, J.,125, 167, 174, 1781', 189, 192ff, 199f, 203, 209, 212 Habsucht, 154f Haken, H„ 28, 59ff, 111 Hamilton, A„ 139 Handel, 107 Handeln, kommunikatives 189, 196 Handelskapital, 107 Handelskapitalismus, 108
237 Handfeuerwaffe, 220f, 223 Handlungsspielraum, 4 9 , 2 1 7 Harappa, 224
Jauß, H.R., 95, 174 Jesus, 35
Harmonie, präslabilierte 14 Hegel, G.F.W., 32f, 39, 41, 56, 69, 71f, 89f, 92, 94, 97f, 100, 123, 164, 179, 189ff, 207
Kaliyuga, 65 Kaldor, N„ 46 Kanada, 82 Kanone, 220 Kant, I., 13ff.,17, 21, 23, 33, 39, 681, 90, 102, 164, 179, 182, 197, 203, 205IT Kapital, Akkumulation des, 72 Kapitalbeschaffung, 223 Kapitalismus, 77, 99 Karl der Große, 110 Kausalität, 2 3 , 4 4 , 62f, 101, 172 Kavallerietnippe, 220 Kelten, 109 Kepler, J„ 126 Kipling, R „ 207 Kirche, 91
Heller, A „ 36, 38 Hempel, C., 54, 172, 175ff Hennig, W „ 133, 136 Henrich, D „ 32, 196 Herder, J.G., 7 0 , 9 4 , 102f, 203ff Hermeneutik, 17, 20f, 25, 41, 43, 178 Hermeneutik, biblische, 18 Hermeneutik, zerebrale, 23, 30 Herrschaftsgewalt, 67 Hindenburg, P. von, 104 Hirnhaushalt, 31 Historismus, 32, 40, 4 2 94, 96, 98ff, 145, 149, 216, Historizismus, 41 f Hitler, A., 104, 184f Hobsbawm, E.J., 147 Hochmut, 154 Hologramm, 30 Homer. 17, 35 Horkheimer, M., 35 Huizinga, J., 153ff, 158, 182 Hull, D„ 120, 130, 132, 135, 215 Humboldt, W.v., 168 Hume, D „ 44, 101, 172 Husserl, E „ 164, 181, 193 Huxley, J., 132 Hypophyse, 30 Idealismus, 39 Identitätskrise, 151f, 156 Ikon (Icon), 169 Ilias, 35 Imhof, A „ 149 Imperativ, kategorischer, 14 Index, 169 Indien, 7 3 , 1 0 8 Induktivismus, 126 Industriekapitalismus, 108 Intentionalität, 179ff Interactor, 134 Interaktion, reflexive, 197f, 200 Interaktionsmuster, 159 Interesse, erkenntnisleitendes, 203 Interprétant, 169,193 InterSubjektivität, 189, 193 Ironie, 6 7 , 1 8 2 f f Irreversibilität, 69, 71 Irrtum, 216 Jaspers, K., 34, 219
Klassenkampf, 69, 71, 76 Klassifikation, 132 Kliometrie, 143, 145ff, 149, 151, 157, 176,
208 Kocka, J., 149 Kognitivismus, 209 Kollektivbewußtsein, 152 Kommunikationstheorie, 1701 Komödie, 184 Komplexität, 58 Königtum, 48 Konjunkturgeschichtc, 46, 106, 1431, 151 Konsensusbildung, 132 Kontingenz, 53, 58, 60 Kontinuität, 51 ff, 55, 1781' Konvergenz, 214 Kopernikus, N., 126 Kopf, D., 151f Koselleck, R „ 45, 56f, 161 Kracauer, S„ 70 Kredit, 198 Krieg, hundertjähriger, 110 Krieger, L., 87, 93 Kriegsführung, 223 Krimkrieg, 92 Kuhn, T h „ 33, 42, 120, 125, 127f, 130, 133, 156f, 215 Kultur, 16, 170, 204 Kulturanthropologic, 210 Kulturnation, 103 Kurzzeitgedächtnis, 30 Kutschera, F.v., 168 Kuznets, S„ 82 Labrousse, E., 144, 155 Lämmert, E., 1741 Langstreckenhandcl, 117 Langzeitgedächtnis, 30
238 Le Roy Ladurie, E., 142, 144 leading sector, 80f Lebenswelt, 189,193ff, 199f, 212 Leibeigenschaft, 110 Leibniz, G.W., lOOf, 163, 165 Lepanto, 105, 214 Lernprozeß, 31, 62, 201 Lessing, G.E., 102 Lessing, T„ 41 Lévi-Strauss, C., 158, 170 Levy-Bruhl, L., 158 Lineage, 135 Logik, 2 5 , 4 4 Lohn, 77 London, 108, 118 Lorenz, K„ 21, 58f, 170, 197 Luhmann, N„ 57, 63, 193, 199f Lungenpest, 47 Luther, M., 86, 151, 206 Luxusgilter, 117 Macht, 124, 197 Manufakturen, 77 Marx, K„ 39, 56, 65, 68f, 71ff, 77f, 80, 106, 207, 214 Massenkonsum, 80, 82, 84 Materialismus, historischer, 72,138 Mayr, E., 132 McClelland, D„ 158f Mead, G.H., 193 Medizin, 111 Mehrwert, 74, 77 Meier, Ch„ 59., 95 Meinecke, F., 86, 96ff, 103 149, 161,216, 223 Mentalitätsgeschichte, 137, 144, 150, 151ff, 210 Mesokosmos, 200, 225 Metapher, 67 Metaphysik, 164 Methodenstreit, 96f Metonymie, 67, 182ff Michelet, J„ 184 Militarismus, 99 Mimesis, 180 Mittelmeer, 105, 107f Mnemotechnik, 30 molecular narrative, 174 Monaden, 14 Monarchie, 92f Monetarismus, 85, 198 Mongolen, 89, 91, 220 Montesquieu, C., 101 Mosca, G., 139 Möser, J., 102 Mutation, 132 Myrdal, G„ 46
Mythos, 32f, 35, 69, 180 Nachzügler, 81 Namier, L.B., 139ff, 144 Napoleon, 97 Narrativismus, 51, 173ff, 178f, 182, 185, 189 Nationalismus, 80, 99, 104, 141, 152 Nationalstaat, 97f, 102 Natur, 15f Naturalismus, 197 Naturgeschichte, 123 Navigation Acts, 116 Nehru, J., 80 Nemesis, 34 Neotenie, 25f„ 37 Nesthocker, 26 New History, 145, 1471 Newton, I., 129 Niederlande, 81, 116 Nietzsche, F., 125 Nitschke, A„ 157ff Nomothetisch, 54 Nullsummenspiel, 123 Odyssee, 35 Odysseus, 35 Okularität, 39f Ökonomie, 122f Ontologie, 164ff, 168, 170, 179 ordinary language philosophy, 166 Ordnungsparametcr, 60 Orientalism, 151f Ostindiengesellschall, 117, 140 Papsttum, 861, 91 Paradigma, 156 Paradigmawechsel, 33, 125, 127 Pareto, W„ 139 Parsons, T„ 57, 79, 194 Pascal, B., 123, 163 Past and Present, 147 Patzig, G., 166 Peirce, Ch.S., 163, 168ff, 174, 193 Peripetie, 176, 180 Peripherie, 114, 119 Pheneticists, 132f Philips, C., 140 Philologie, 122 phronesis, 176, 187, 189 Physik, 96 Piaget, J., 183f Pico della Mirandola, G„ 36, 38 Piraterie, 221 Planck, M„ 133 Platon, 100 plot, 175ff, 180ff, 208
239 Plotinus, 100 Poetik, 175, 182 Popper, K„ 43, 126f Port Royal, 123 Portmann, A., 26 Positivität, 121f, 124 Prädikatenlogik, 165f Pragmatik, 166f, 173, 175 Pragmatismus, 168 Pribram, K., 30 Privateigentum, 73 Produktionsverhältnisse, 72, 74, 106 Produktionsweise, asiatische, 69, 73, 76 Produktionsweise, kapitalistische, 72 Produktionsweisen, 75f Produktivitätssteigerung, 223 Produktivkräfte, 72 Prometheus, 226 Prosopographie, 137f, 140, 147, 151f, 157 Prozeß, 54f Prozeß, stochastischer, 18 Prozeßanalyse, 55 Prozeßordnung, 55 Psycho-Historie, 150ff, 156 Rabelais, 153 Ranke, L.von, 51, 86ff, 91, 94ff, 100, 102, 192, 214 Rationalität, 32 Rationalitätslücke, 127 ratiomorpher Apparat, 21f, 44, 195 Rattenfloh, 47 Redeskription, 177 Reduktion, hermeneutische, 190f Reduktionalismus, 137 Reflexivität, 62 Reformation, 18, 86f,92f, 154, 206 Regelkreistheorie, 46 Reich, römisches, 75, 90, 110 Relativismus, 128, 178f Relativitätsthese, 165, 168 Renaissance, 36, 38, 40 Replicator, 134 Revolution, französische, 118, 184 Revolution, Glorious, 81, 116 Revolution, industrielle, 81, 108, l l l f , 118, 147, 22Iff, 226 Revolution, kopemikanische, 125 Revolution, neolithische, 217f, 222ff, 226 Rhetorik, 180, 182 Rickert, H„ 99 Ricoeur, P., 176, 179ff, 185 Ricorsi, 66 Riedl, R„ 2Iff, 29, 43 Robinson, 58 Romantik, 39 Romanze, 184
Römer, 109 Rosenberg, A., 104 Rostow, W„ 65, 78f, 82, 214 Rückkopplung, 23, 29, 61, 199 Rückkopplungseffekt, 46 Rückkopplungsstruktur, 25 Rückzugsgebiet, 217 Russell, B., 165, 171 Rußland (s. Sowjetunion) Sapir, E., 168 Satire, 184 Satyayuga, 65 Schachspiel, 24, 28 Scheler, M„ 153 Schießpulver, 220 Schiller, F., 102 Schlegel, F., 193 Schleiermacher, F., 19, 26 Schnädelbach, H„ 41, 209, 211 "Schnürsenkel"-Theorie, 199 Schopenhauer, A„ 41 Schriftlichkeit, 34 Schütz, A„ 193 Sebag, L„ 56f Seehandel, 81,106 Seemacht, 220 Selbstorganisation, 54, 59ff, 69 Selbstthematisierung, 58f Selektionsprozeß,120,130 132ff Semantik, 164ff, 173ff Semi-Peripherie, 114, 117 Semiotik, 168ff Seuchenbekämpfung, 223 Shaftesbury, A. Earl of, 1001 f Shils, E., 79 Sklaven, 68, 74,761,84, 110, 145 Sklaverei, 75 Smith, A„ 68 Solipsismus, 193 Soras, G„ 62, 197ff Sowjetunion, 81, 83 Sozialismus, 104 Spanien, 114 Spengler, 0 . , 182 Sprache, 19, 24f, 27 Sprachphilosophie, 163f Sprachpragmatik, 164 Sprachspiel, 166, 174 Sprachwissenschaft, 123,161 Staatsquote, 83 Staatsräson, 98f, 101, 103 Stadt, 47f Stammesgeschichte, 21 Sterberate, 223 Stierkampf, 159fr Struktur, 54
240 Strukturalismus, 170 Strukturanalyse, 54f Strukturgeschichte, 54, 56, 105f, 112, 152 Stufentheorie, 65 Syllogismus, 71 Symbol, 169 Syme, R „ 141 Symmetriebruch, 59ff Synekdoche, 6 7 , 1 8 2 f f Synergetik, 53, 59f Syntax, 167 System, 54f, 58 System, limbisches, 26 Systemgeschichtsschreibung, 112 Systemtheorie, 53, 55, 57, 60, 63, 71, 196 take-off, 79ff, 84, 113 Taxonomie, 133 Technik, 218 Teilpacht, 117 Teleologie, 16ff Teufelskreis, 46 Textauslegung, 18 Textilindustrie, 80 Theoriewahl, 126f Thompson, E.P., 147 Tocqueville, A. de, 184 Tod, schwarzer, 47f, 5 0 , 1 1 0 Toynbee, A., 204 Tragik, 215f Tragödie, 184 Traum, 30 Treitschke, H. von, 96 Tretayuga, 65 Troeltsch, E „ 41 Tropen, 182, 184 Tugendhat, E„ 164f, 167 Türken, 92 Überbau, 72 Überlieferungspluralismus, 34 Ultrakurzzeitgedächtnis, 30 Umschlag, demographischer, 223 Universalgeschichte, 86, 91 f Universalismus, 152 Unterentwicklung, 79 Urbanisierung, 119 Urteilskraft, 15 Urteilskraft, Kritik der, 13 Urteilskraft, telelogische, 15 USA, 83f Vagabunden, 77 Vamhagen von Ense, K., 87 Veda, 218 Venedig, 108 Verfahren, divinatorisches, 19
Vergessen, 31, 33 Verhaltensforschung, historische, 127, 157 Vernunft, 13 Vernunft, List der, 68f, 95 Verstehen, 18, 29, 41, 96, 177, 191 f Verteidigung, 83 Verursachung, konvergente, 45 Verursachung, kumulative, 46 Vico, G „ 65ff, 101, 178, 182f, 214 Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 149 Virus, 47 Volkssouveränität, 67, 92, 93 Vollmer, G „ 24f, 45, 59, 225 Voltaire, F., 101, 203 Vorurteil, 22 Vovelle, M „ 137, 155, 161 Wachstum, exponentielles, 225 Wachstumstheorie, 113 Wallerslein, 1., 46, 93, 111IT, 215 Wanderhackbau, 217 Weber, M „ 99, 149 Wehler, U„ 149 Weltbürgertum, 97 Weltmittelalter, 219 Weltreich, 113, 117 Weltsystem, 46, 111, 113 Weltwirtschaft, 108,114 Wertbeziehung, 99 Werturteil, 99 Whig-Historiker, 140 White, H., 176, 182f, 185, 187 White, M., 173, 176, 185f Whitehead, A.N., 171 Whorf, B.L., 168 Wilhelm von Oranien, 116 Willensfreiheit, 66 Willke, H „ 58, 60 Winckelmann, J „ 102 Wirkung, disparate, 48 Wirkungsgeschichte, 41, 1771', 192, 210, 214 Wirtschaftslehren, merkantilistische, 123 Wirtschaftswelten, 114 Wissenschaftsgeschichte, 120 Wissenssoziologie, 193 Wittgenstein, L„ 1661, 171, 174 Wolff, C „ 39 Yorck von Wartenburg, Graf Paul, 33, 37fr, 56, 189f, 192 Zeichentheorie, 163, 165, 168f, 174 Zeit, zyklische, 34 Zheng He, 221 Zirkel, hermeneutischer, 18, 25 Zufall, 23, 44f, 50 Zukunft, notwendige, 95